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Agglomeration: Die Architekten müssen den Wildwuchs zähmen 15.05.

23, 13:45

Die Agglomeration ist das


Aschenputtel der Vorstadt. Sie muss
endlich wachgeküsst werden
Heute ist die Vorstadt eine verwirrende Mischung aus
Einfamilienhausgruppen, Gartenkolonien, Bürogebäuden,
leerstehenden oder umgenutzten Fabriken. Sie muss neu komponiert
werden. Eine sorgfältige städtebauliche Gestaltung schafft die
Voraussetzung für wertvollen Lebensraum.

Vittorio Magnago Lampugnani


05.03.2023, 05.30 Uhr

DENNER

Goran Basic / NZZ


In der Agglomeration passt noch zu häufig zu wenig
zusammen: Strassenszene in Dübendorf. In einer
Glasfassade spiegelt sich das Unzusammenhängende
von Alt und Neu.

In einem Text, der 1936 in der Tageszeitung «L’Ambrosiano» erschien,


karikierte der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda höhnisch die Mailänder
Peripherie als böswillige stadtarchitektonische Schöpfung der Königin
Unlust und des Königs Schlechter Geschmack. Zu deren Regeln gehörte:
Kein Haus sollte gleich hoch sein wie das benachbarte; die Dächer
sollten aufs Geratewohl und mit beliebigen Materialien ausgeführt
werden, mit Töpfen, Kaminhauben, Tortenstücken, Fischerangeln und
verrosteten Blitzableitern; keiner der Plätze sei quadratisch oder rund,
sondern alle schief; sämtliche Bäume, die über fünf Jahre alt waren,
würden zu Kleinholz zerhackt.

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Mailand war für den Schriftsteller und ausgebildeten Ingenieur ein


exemplarischer Fall. Seit dem Aufkommen der Industrialisierung und
der damit zusammenhängenden Migration vom Land in die Stadt waren
in ganz Europa die Ballungsgebiete stark und überwiegend
unkontrolliert gewachsen. Von den Stadtzentren aus frass sich die
Peripherie entlang der Bahngleise und Ausfallstrassen ins Umland,
verstreute konzeptionslos Siedlungen neben Produktionsanlagen,
generierte weitere Verkehrsinfrastrukturen und überwucherte sowohl
Dörfer als auch landwirtschaftliche Flächen. Inzwischen ist der
suburbane Raum ungleich grösser als der urbane; etwa 70 Prozent der
Europäer wohnen dort.

Die Zeiten, in denen ausserhalb der Stadt nur die Ärmsten der Armen in
trostlosen Baracken unmittelbar neben stinkenden und lärmenden
Fabriken hausten, sind längst vorbei. Heute ist die Agglomeration eine
verwirrende Mischung aus Gartenstädten, Einfamilienhausgruppen,
Gartenkolonien, Schlafsiedlungen, Bürogebäuden, Kleinindustrie,
leerstehenden oder umgenutzten Fabriken, Gewerbekomplexen,
Einkaufszentren, Sportbauten, Logistiklagern. Und, natürlich, gewaltigen
Infrastrukturbauwerken.

Beispiele dafür sind in Zürich das Glatttal und das Limmattal. Solche
suburbanen Gebiete stehen weiterhin unter starkem Entwicklungsdruck
und sind die grosse Aufgabe, die Chance, aber auch das Sorgenkind der
zeitgenössischen Stadtplanung. Denn wenngleich ihre Akzeptanz in den
letzten Jahrzehnten zugenommen hat, mit den beliebten zentralen
Quartieren der Stadt können sie es noch lange nicht aufnehmen.

Strategien der Urbanisierung

Was muss getan werden, um das Aschenputtel der europäischen


Urbanisierung in eine begehrenswerte Prinzessin zu verwandeln? Die
Liste der Aufgaben ist lang: Die Nutzungen müssen sorgfältig
ausbalanciert werden, die Bauten brauchen eine massvolle Verdichtung,
die Strassen und Plätze, die Gärten und die Parkanlagen gilt es räumlich
zu fassen und attraktiv zu gestalten. Schliesslich müssen die wirren
suburbanen Konglomerate der Peripherie in urbane Quartiere
verwandelt werden, ihrerseits untereinander und mit dem Stadtzentrum
vernetzt.

Das ist nur durch eine Planung möglich, die nicht vor den
Eigentumsgrenzen haltmacht. Die anspruchsvollen Einzelarchitekturen,
die mittlerweile auch am Stadtrand entstehen, setzen attraktive

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Akzente, helfen aber strukturell wenig. Ebenso wenig geben die


verschiedenen Richt- und Strukturpläne Orientierung, da sie kaum über
technokratische Abstraktionen hinausgehen. Was die Agglomeration
dringend braucht, sind übergreifende, grossmassstäbliche Entwürfe, die
auch die Stadträume und deren Charakter definieren.

Nur sie können den Entwicklungsrahmen bilden, der funktionale,


ökonomische und soziale Synergien schafft. Nur sie können die
Neubauten mit den bestehenden Baustrukturen verbinden und beide
zur Geltung kommen lassen. Nur sie können aus dem belanglosen
Nebeneinander von Gebäuden, Freiräumen und Verkehrsinfrastrukturen
ein spannungsvolles urbanes Ganzes machen.

Freiheit dank Planung

Planungen, die über die unsichtbaren und topografisch überwiegend


zufälligen Linien der Eigentumsbezeichnung hinweg gestalten, sind
nicht von ungefähr Mangelware. Einer Gesellschaft, deren grosser
Mehrheit es primär um ein Häuschen mit Garten oder um eine
bezahlbare Wohnung mit Kinderspielplatz und Tiefgarage geht,
erscheinen sie überflüssig. Überdies werden planerische Festlegungen
als unzulässige Einschränkung einer jedem Bürger und jeder Bürgerin
zustehenden Freiheit betrachtet – und als Bedrohung für die urbane
Wertschöpfung.

Die Freiheit, zu bauen, wo und wie man wolle, griff Max Frisch, der
Schriftsteller, der auch Architekt war, bereits 1955 in dem Buch
«Achtung: die Schweiz» an. Mit seinen Co-Autoren Lucius Burckhardt
und Markus Kutter prangerte er die Zersiedlung an, erklärte das
Nichtplanen zur schlechten Ordnung und zog den Schluss: «Wir sind vor
einem Punkt, wo die Freiheit nur noch durch Planung zu retten ist.»

Die wirtschaftliche Beeinträchtigung durch städtebauliche Gestaltung


aber befürchten nur diejenigen, die von Immobiliengeschäften wenig
verstehen: Die Lage ist für den Wert eines Hauses massgeblich, und ihre
Qualität wird entscheidend vom Umfeld und also durch den Entwurf der
Stadt bestimmt.

In der dramatischen Rezession von 1906 erkannte das Finanzkapital von


Chicago, dass sein Produktionsstandort einer grundlegenden
Neuordnung bedurfte. Um zur Überwindung der Krise beizutragen und
für einen neuen Aufschwung bereit zu sein, beauftragte es den
damaligen Stararchitekten Daniel Hudson Burnham mit einem Entwurf

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für die Stadt und das gesamte dazugehörige metropolitane Gebiet.

Das Areal umfasste 10 000 Quadratkilometer. Drei Jahre später wurde


der Plan fertig. Er war von atemberaubend präziser Schönheit. Die
privaten Unternehmer schenkten ihn grossmütig, doch keineswegs
selbstlos der Stadtverwaltung. Er wurde zwar nicht vollumfänglich
umgesetzt, prägte aber jahrzehntelang die Entwicklung der Stadt und
war massgeblich für ihren späteren wirtschaftlichen Erfolg
mitverantwortlich.

Wertvoller Bestand

Heute muss der Träger einer übergreifenden Planung, die im


Spannungsfeld zwischen Privatinteressen und Öffentlichkeit das
Gemeinwohl vertritt, die Verwaltung sein. Es werden ihr, und nicht
immer zu Unrecht, technokratische Abstraktionen und sinnlose
Reglementierungen vorgeworfen. Sie hatte jedoch auch in Städten wie
Zürich Sternstunden, als Stadtarchitekten des Kalibers eines Friedrich
Fissler oder eines Hermann Herter die Verantwortung trugen und
Planungsanstrengungen wie jene des Wettbewerbs Gross-Zürich von
1915 unternommen wurden. Als prädestinierter Anwalt des
gemeinschaftlichen Interesses kann sie, auch in Allianz mit
kompetenten Architekten und aufgeklärten Unternehmern,
Stadtentwürfe für eine Urbanisierung der Agglomeration erarbeiten.

Auch wenn Letztere nicht, wie Gadda sarkastisch unterstellte, Ergebnis


des absichtlich hässlichen Plans des königlichen Ehepaars Unlust und
Schlechter Geschmack ist: Ihr planloses Wuchern hat zu einem ebenso
unansehnlichen wie unökonomischen baulichen Sammelsurium
geführt. Es zu ordnen und zu beruhigen, ist umso anspruchsvoller, als es
nicht darum gehen kann, alles abzureissen und neu zu bauen.

Aus wirtschaftlichen, aber auch aus ökologischen und nicht zuletzt aus
kulturellen Gründen muss weitgehend mit dem architektonischen
Bestand gearbeitet werden. Wie wertvoll dieser sein kann, zeigen die
revitalisierten Industriebauten, die vielerorts geschmeidige
Funktionalität mit identitätsstiftendem Charme verbinden.

Doch kann auch dies nur Teil eines grösseren Wurfs sein: Insgesamt
müssen in sich schlüssige Anlagen entstehen, die durch konsistente
Gestaltung der Strassen und Plätze und durch ästhetische Beziehungen
der Bauten zusammengehalten werden. Also: keine wild
zusammengewürfelten Häuser mit Dächern aufs Geratewohl an schiefen

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Plätzen, vor denen es Gadda schauderte. Und die Bäume nicht zu


Kleinholz zerhackt, sondern zu Alleen und Gärten komponiert.

Sind also die Strategien für die Peripherie identisch mit jenen, die für
das Stadtzentrum, für die kompakte, historisch gewachsene Stadt
gelten? In der Tat, das Ziel ist hier wie dort das gleiche: eine gut
funktionierende, menschenfreundliche, attraktive und in jeder Hinsicht
nachhaltige urbane Umwelt.

Allerdings ist in der Agglomeration die Ausgangslage anders und


verzwickt. An den Autobahnausfahrten und Rangierbahnhöfen werden
keine neuen Gründerzeit-Viertel entstehen, sondern zeitgenössische
Quartiere mit zeitgenössischem Charakter. Sie werden anders sein als
die historischen, aber nicht schlechter. Die moderne Stadt ist eine
Komposition von Architekturen und Quartieren, die so unterschiedlich
sind wie die Epochen und Umstände, die sie hervorgebracht haben.

Doch jeder dieser Orte muss qualitativ gleichwertig sein: funktional,


sozial und ästhetisch. Wenn das gelingt, wird die moderne Stadt auch
einer modernen, fairen und zukunftsfähigen Gesellschaft entsprechen.

Vittorio Magnago Lampugnani ist Architekt und lehrte bis 2016 Geschichte des
Städtebaus an der ETH Zürich.

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