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Gilles Deleuze

Differenz
und
Wiederholung
Aus dem Französischen
von
Joseph Vogl

Wilhelm Fink Verlag


Titel der französischen Originalausgabe:
Gilles Deleuze, Différence et répétition
0 by Presses Universitaires de France, Paris, 1968; 6. Aufl. 1989

Für die Übersetzung wurde der deutsch-französische Übersetzerpreis 1988


der DVA-Stiftung vergeben.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Deleuze, Gilles :
Differenz und Wiederholung / Gilles Deleuze.
Aus dem Franz. von Joseph Vogl. - München : Fink, 1992
Einheitssacht. : Differente et répétition <dt.>
ISBN 3-7705-2730-5

ISBN-3-7705-2730-5
0 der deutschen Ausgabe: Wilhelm Fink Verlag, München, 1992
Gesamtherstellung: Hofmann-Druck Augsburg GmbH
INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . .................11

EINLEITUNG: WIEDERHOLUNG UND DIFFERENZ . . . . . . . 15


Wiederholung und Allgemeinheit: erste Unterscheidung unter dem
Gesichtspunkt der Verhalten, 15. - Die zwei Ordnungen der Allgemein-
heit: Ähnlichkeit und Gleichheit, 17. - Zweite Unterscheidung, unter
dem Gesichtspunkt des Gesetzes, 18. - Wiederholung, Gesetz der Natur,
Sittengesetz 19.
Programm einer Philosophie der Wiederholung nach Kierkegaard, Nietz-
sche, Péguy, 20. - Die wahre Bewegung, das Theater und die Repräsenta-
tion, 23.
Wiederholung und Allgemeinheit: dritte Unterscheidung unter dem Ge-
sichtspunkt des Begriffs, 28. - Der Inhalt des Begriffs und das Phänomen
der ,,Blockierung“, 28. - Die drei Fälle der ,,natürlichen Blockierung“
und die Wiederholung: Nominalbegriffe, Begriffe der Natur, Begriffe der
Freiheit, 29.
Die Wiederholung wird nicht durch die Identität des Begriffs expliziert;
ebensowenig durch eine bloß negative Bedingung, 33. - Die Funktionen
des ,,Todestriebs“: die Wiederholung in ihrem Verhältnis zur Differenz
und mit ihrer Forderung nach einem positiven Prinzip (am Beispiel der
Begriffe der Freiheit), 34.
Die beiden Wiederholungen: durch Identität des Begriffs und negative
Bedingung; durch Differenz und Exzeß in der Idee (am Beispiel der
Natur- und Nominalbegriffe), 37. - Das Nackte und das Verkleidete in
der Wiederholung, 42.
Begriffliche Differenz und begrifflose Differenz, 45. - Aber der Begriff
der Differenz (Idee) läßt sich nicht auf eine begriffliche Differenz redu-
zieren, und ebensowenig das positive Wesen der Wiederholung auf eine
begrifflose Differenz, 46.
DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ERSTES KAPITEL: DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST. . . . . . . 49

Die Differenz und der dunkle Untergrund, 49. - Muß die Differenz
repräsentiert werden ? Die vier Aspekte der Repräsentation (vierfache
Wurzel), 50. - Der glückliche Augenblick, die Differenz, das Große und
das Kleine, 51.
Begriffliche Differenz: die größte und beste, 51. - Die Logik der Diffe-
renz nach Aristoteles und die Verwechslung des Begriffs der Differenz
mit der begrifflichen Differenz, 53. - Artdifferenz und Gattungsdiffe-
renz, 54. - Die vier Aspekte oder die Unterordnung der Differenz: unter
die Identität des Begriffs, die Analogie des Urteils, den Gegensatz der
Prädikate, die Ähnlichkeit des Wahrgenommenen, 55. - Die Differenz
und die organische Repräsentation, 57.

Univozität und Differenz, 58. - Die zwei Verteilungstypen, 59. -


Unmögliche Vereinbarkeit zwischen Univozität und Analogie, 61. - Die
Momente des Univoken: Duns Scotus, Spinoza, Nietzsche, 63. - Die
Wiederholung in der ewigen Wiederkunft definiert die Univozität des
Seins, 65.
Die Differenz und die orgische Repräsentation (das unendlich Große und
unendlich Kleine), 66. - Der Grund als ratio, 67. - Logik und Ontologie
der Differenz nach Hegel: der Widerspruch, 69. - Logik und Ontologie
der Differenz nach Leibniz: die Vize-Diktion (Stetigkeit und Ununter-
scheidbares), 71. - Wie die orgische oder unendliche Repräsentation der
Differenz nicht den vorigen vier Aspekten entkommt, 74.
Die Differenz, die Bejahung und die Verneinung, 76. - Die Illusion des
Negativen, 79. - Die Aussonderung des Negativen und die ewige Wieder-
kunft, 81.
Logik und Ontologie der Differenz nach Platon, 87. - Die Figuren der
Methode der Teilung: die Bewerber, die Grund-Prüfung, die Problem-
Fragen, das (Nicht)-Sein und der Status des Negativen, 88.

Was im Problem der Differenz entscheidend ist: das Trugbild, der Wider-
stand des Trugbilds, 94.
INHALTSVERZEICHNIS 7

ZWEITES KAPITEL: DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST. 99

Die Wiederholung: etwas hat sich geändert, 99. - Erste Synthese der Zeit;
die lebendige Gegenwart, 100. - Habitus, passive Synthese, Kontraktion
Betrachtung, 102. - Das Problem der Gewohnheit, 103.
Zweite Synthese der Zeit: die reine Vergangenheit, 110. - Das Gedächtnis,
die reine Vergangenheit und die Vergegenwärtigung der Gegenwar-
ten, 111. - Die vier Paradoxa der Vergangenheit, 113. - Die Wieder-
holung in der Gewohnheit und im Gedächtnis, 114. - Materielle und
geistige Wiederholung, 116.

Kartesianisches Cogito und kantisches Cogito, 118. - Das Unbestimmte,


die Bestimmung, das Bestimmbare, 119. - Das gespaltene Ego, das passive
Ich und die leere Form der Zeit, 120. - Unzulänglichkeit des Gedächtnis-
ses: die dritte Synthese der Zeit, 121. - Form, Ordnung, Gesamtheit und
Reihe der Zeit, 122. - Die Wiederholung in der dritten Synthese: ihre
defiziente Bedingung, ihr Handelndes in der Metamorphose, ihr unbe-
dingter Charakter, 123. - Das Tragische und das Komische, die Ge-
schichte, der Glaube, unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung in der
ewigen Wiederkunft, 125.

Die Wiederholung und das Unbewußte: ,,Jenseits des Lustprinzips“, 130. -


Die erste Synthese und die Bindung: Habitus, 13 1. - Zweite Synthese: die
virtuellen Objekte und die Vergangenheit, 133. - Eros und Mnemosyne,
137 . - Wiederholung, Verschiebung und Verkleidung: die Differenz,
138. - Folgen für die Natur des Unbewußten: serielles, differentielles und
fragendes Unbewußtes, 142. - Der dritten Synthese oder dem dritten
,,Jenseits“ entgegen: das narzißtische Ich, der Todestrieb und die leere
Form d e r Z e i t , 147. - Todestrieb, Gegensatz und materielle Wieder-
holung, 148. - Todestrieb und Wiederholung in der ewigen Wieder-
kunft, 149.
Ähnlichkeit und Differenz, 154. - Was ist ein System?, 156. - Der dunkle
Vorbote und das ,,Differenzierende“, 157. - Das literarische System,
159. - Das Phantasiegebilde oder Trugbild, die drei Gestalten des Identi-
schen im Verhätnis zur Differenz, 163.

Der wahre Beweggrund des Platonismus liegt im Problem des Trug-


bilds, 166. - Trugbild und Wiederholung in der ewigen Wieder-
kunft, 167.
8 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

DRITTES KAPITEL: DAS BILD DES DENKENS . . . . . . . . . . . 169

Das Problem der Voraussetzungen in der Philosophie, 169. - Erstes


Postulat: das Prinzip der Cogitatio natura univenalis, 171.

Zweites Postulat: das Ideal des Gemeinsinns, 173. - Das Denken und die
Doxa, 174. - Drittes Postulat: das Modell der Rekognition, 176. - Ambi-
guität der Kantischen Kritik, 178. - Viertes Postulat: das Element der
Repräsentation, 179.

Differentielle Theorie der Vermögen, 181. - Der diskordante Gebrauch


der Vermögen: Gewalt und Grenze eines jeden, 182. - Ambiguität des
Platonismus, 184. - Denken: seine Genese im Denken, 186.

Fünftes Postulat: das ,,Negative” des Irrtums, 192. - Problem der


Dummheit, 195.

Sechstes Postulat: das Privileg der Bezeichnung, 198. - Sinn und Satz,
199. - Die Paradoxa des Sinns, 200. - Sinn und Problem, 202. - Siebentes
Postulat: die Modalität der Lösungen, 204. - Die Illusion der Lösungen in
der Lehre der Wahrheit, 206. - Ontologische und epistemologische
Bedeutung der Kategorie des Problems, 209.

Achtes Postulat: das Resultat des Wissens, 212. - Was bedeutet ,,Lernen“,
213. - Zusammenfassung der Postulate als Hindernisse für eine Philo-
sophie der Differenz und der Wiederholung, 215.

VIERTES KAPITEL: IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ . . . 217

Die Idee als problematische Instanz, 217. - Unbestimmtes, Bestimmbares


und Bestimmung, 2 19.

Das Differential, 220. - Die Quantitabilität und das Prinzip der Bestimm-
barkeit, 221. - Die Qualitabilität und das Prinzip der Wechselbestim-
mung, 222. - Die Potentialität und das Prinzip durchgängiger Bestim-
mung (die serielle Form), 224.

Unbrauchbarkeit des unendlich Kleinen in der Differentialrechnung,


226. - Differentielles und Problematisches, 230. - Theorie der Probleme:
Dialektik und Wissenschaft, 232.
INHALTSVERZEICHNIS

Idee und Mannigfaltigkeit, 233. - Die Strukturen: ihre Kriterien, die


Ideentypen, 235. - Verfahren der Vize-Diktion: das Singulare und das
Reguläre, das Ausgezeichnete und das Gewöhnliche, 241.

Die Idee und die differentielle Theorie der Vermögen, 243. - Die Impera-
tive und das Spiel, 247. - Problem und Frage, 250.

Die Idee und die Wiederholung, 254. - Die Wiederholung, das Ausge-
zeichnete und das Gewöhnliche, 255. - Die Illusion des Negativen, 256. -
Differenz, Negation und Gegensatz, 258. - Genese des Negativen, 261.

Idee und Virtualität, 264. - Die Realität des Virtuellen: ens omni mo-
do ..‘) 265. - Differentiation und Differenzierung; die beiden Hälften
des Objekts, 266. - Die beiden Aspekte jeder Hälfte, 267. - Die Unter-
s c h e i d u n g des Virtuellen vom Möglichen, 267. - Das differentielle
Unbewußte; das Deutlich-Dunkle, 269.
Die Differenzierung als Aktualisierungsprozeß der Idee, 271. - Die
Dynamiken oder Dramen, 273. - Universalität der Dramatisierung, 276. -
Der komplexe Begriff der Differentiation/zierung, 278.

FÜNFTES KAPITEL: ASYMMETRISCHE SYNTHESE


DES SINNLICHEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .281

Die Differenz und das Verschiedene, 281. - Differenz und Identität, 282.

Die Tilgung der Differenz, 283. - Gesunder Menschenverstand und


Gemeinsinn, 284. - Die Differenz und das Paradox, 287.

Intensität, Qualität, Extension: die Illusion der Tilgung, 289. - Die Tiefe
oder spatium, 291.

Erstes Merkmal der Intensität: das Ungleiche an sich, 294. - Rolle des
Ungleichen in der Zahl, 295. - Zweites Merkmal: Bejahung der Diffe-
renz, 296. - Die Illusion des Negativen, 297. - Das Sein des Sinnlichen,
299. - Drittes Merkmal: die Implikation, 300. - Wesensdifferenz und
graduelle Differenz, 30 1. - Die Energie und die ewige Wiederkunft,
304. - Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft ist weder qualitativ
noch extensiv, sondern intensiv, 305.

Intensität und Differential, 308. - Rolle der Individuation in der Aktuali-


sierung der Idee, 310. - Individuation und Differenzierung, 311. - Die
Individuation ist intensiv, 3 12.
10 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Individuelle Differenz und individuierende Differenz, 3 15. - ,,Perplika-


tion” , ,,Implikation“, ,,Explikation“, 3 17.

Evolution der Systeme, 320. - Die Umhüllungszentren, 321. - Individuie-


rende Faktoren, Ego und Ich, 322. - Natur und Funktion des Anderen in
den psychischen Systemen, 326.

SCHLUSS: DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG . . . . . . . . . . 329

Kritik der Repräsentation, 329. - Unbrauchbarkeit der Alternative end-


lich/unendlich, 330. - Identität, Ähnlichkeit, Gegensatz und Analogie:
wie sie die Differenz entstellen (die vier Illusionen), 333. - Wie sie aber
auch die Wiederholung entstellen, 337.

Der Grund als ratio: seine drei Bedeutungen, 340. - Vom Grund zum
Ungrund, 342. - Unpersönliche Individuationen und präindividuelle Sin-
gularitäten, 345.

Das Trugbild, 346. - Theorie der Ideen und der Probleme, 348. - Der
Andere, 350. - Die beiden Typen des Spiels: ihre Merkmale, 351. - Kritik
der Kategorien, 354.

Die Wiederholung, das Identische und das Negative, 355. - Die beiden
Wiederholungen, 357. - Pathologie und Kunst, Stereotypie und Refrain:
die Kunst als Raum der Koexistenz aller Wiederholungen, 360. - Einer
dritten, ontologischen Wiederholung entgegen, 362.

Die Form der Zeit und die drei Wiederholungen, 365. - Selektive Kraft
der dritten: die ewige Wiederkunft und Nietzsche (die Trugbilder), 368. -
Was nicht wiederkehrt, 369. - Die drei Bedeutungen des Selben: die
Ontologie, die Illusion und der Irrtum, 372. - Analogie des Seins und
Repräsentation, Univozität des Seins und Wiederholung, 3 75.

BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
SACHREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
KONKORDANZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
VORWORT

Die Schwächen eines Buchs sind oft der Ausgleich für leere Intentionen, die
sich nicht verwirklichen ließen. In diesem Sinne zeugt eine Absichtserklärung
von einer echten Bescheidenheit hinsichtlich des idealen Buchs. Oft wird
gesagt, Vorreden dürften nur zum Schluß gelesen werden Umgekehrt muß
der Sch luß jeweils zu Begi nn gelesen werden; dies trifft auf unser Buch zu, in
dem der Schluß die Lektüre des Rests erübrigen könnte.
Das hier verhandelte Thema liegt ganz offenbar im Geist der Zeit. Die
Zeichen dafür lassen sich festhalten: die immer schärfere Ausrichtung Hei-
deggers auf eine Philosophie der ontologischen Differenz; die Anwendung
strukturalistischer Verfahren, die auf einer Verteilung differentieller Merk-
male in einem Raum von Koexistenz beruhen; die Kunst des zeitgenössi-
schen Romans, der um Differenz und Wiederholung kreist, und zwar nicht
nur in seiner abstraktesten Reflexion, sondern auch in seinen handgreifli-
chen Techniken; die in allen möglichen Gebieten vollzogene Entdeckung
einer Macht, die der Wiederholung eignet und ebensogut dem Unbewuß-
ten, der Sprache, der Kunst zukäme. All diese Zeichen können einem
verallgemeinerten Antihegelianismus zugeschlagen werden: Die Differenz
und die Wiederholung sind an die Stelle des Identischen und des Negati-
ven, der Identität und des Widerspruchs getreten.* Denn nur in dem Maße,
wie man die Differenz weiterhin dem Identischen unterordnet, impliziert
sie das Negative und ‘laßt sich bis zum Widerspruch treiben. Der Vorrang
der Identität, wie immer sie auch gefaßt sein mag, definiert die Welt der
Repräsentation. Das moderne Denken aber entspringt dem Scheitern der
Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all
der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken. Die
moderne Welt ist die der Trugbilder [simulacres]. Hier überlebt der
Mensch nicht Gott, überlebt die Identität des Subjekts nicht die der Sub-
stanz. Alle Identitäten sind nur simuliert und wie ein optischer ,,Effekt“
durch ein tieferliegendes Spiel erzeugt, durch das Spiel von Differenz und
Wiederholung.
. Wir wollen die Differenz an sich selbst und den Bezug des
Differenten zum Differenten denken, unabhängig von den Formen der
12 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Repräsentation, durch die sie auf das Selbe zurückgeführt und durch das
Negative getrieben werden.
Unser modernes Leben ist so beschaffen, daß wir ihm angesichts von vollendet
mechanischen und stereotypen Wiederholungen in uns und außerhalb
unaufhörlich kleine Differenzen, Varianten und Modifikationen abringen.
Umgekehrt stellen geheime, verkleidete und verborgene Wiederholungen, her-
vorgerufen durch die fortwährende Verschiebung einer Differenz, in uns und
außerhalb wiederum nackte, mechanische und stereotype Wiederholungen
her. Im Trugbild beruht die Wiederholung bereits auf Wiederholungen,
beruht die Differenz bereits auf Differenzen. Es wiederholen sich die Wieder-
holungen, es differenziert sich das Differenzierende. Das Geschäft des Lebens
besteht darin, alle Wiederholungen in einem Raum koexistieren zu lassen, in
dem sich die Differenz verteilt. Am Ursprung dieses Buchs stehen zwei Unter-
suchungsrichtungen: Die eine betrifft einen Begriff negationsloser Differenz,
gerade weil die Differenz, insofern sie nicht dem Identischen untergeordnet
ist, nicht bis zum Gegensatz und zum Widerspruch reichen würde oder
,,dürfte“; die andere betrifft einen Begriff von Wiederholung der Art, wie etwa
die physischen, mechanischen oder nackten Wiederholungen (Wiederholung
des Selben) ihren Grund in den tieferliegenden Strukturen einer verborgenen
Wiederholung finden würden, in der sich ein ,,Differentielles“ verkleidet und
verschiebt. Diese beiden Untersuchungen haben sich von selbst miteinander
verschränkt, weil sich diese Begriffe einer reinen Differenz und einer komple-
xen Wiederholung unter allen Umständen zu vereinigen und zu verschmelzen
schienen. Die permanente Divergenz und Dezentrierung der Differenz ist eng
mit einer Verschiebung und einer Verkleidung in der Wiederholung verbun-
den.
Es ist durchaus gefährlich, sich auf reine, vom Identischen befreite und vom
Negativen losgelöste Differenzen zu berufen. Die größte Gefahr besteht darin,
den Vorstellungen [représentations} der schönen Seele zu verfallen: nichts als
Differenzen, miteinander vereinbar und versöhnbar, fernab von blutigen
Kämpfen. Die schöne Seele sagt: Wir unterscheiden uns voneinander, sind
einander aber nicht entgegengesetzt . . . Und auch der Begriff des Problems,
den wir mit dem der Differenz verknüpft sehen werden, scheint die Gemüts-
lage der schönen Seele zu nähren: Es zählen einzig die Probleme und Fra-
gen . . . Wenn jedoch die Probleme den ihnen eigenen Grad an Positivität
erreichen und wenn die Differenz zum Gegenstand einer entsprechenden
Bejahung wird, so setzen sie, wie wir glauben, eine Aggressions- und Selek-
tionsmacht frei, die die schöne Seele zerstört, indem sie diese ihrer Identität
selbst beraubt und ihren guten Willen bricht. Das Problematische und das
Differentielle bewirken Kämpfe oder Zerstörungen, denen gegenüber die des
Negativen nur Schein sind und die frommen Wünsche der schönen Seele
ebensoviele im Schein befangene Mystifikationen. Das Trugbild ist nicht etwa
ein Abbild, reißt vielmehr alle Abbilder nieder, indem es auch die Urbilder
stürzt: Jeder Gedanke wird zur Aggression.
VORWORT 13

Ein philosophisches Buch muß einesteils eine ganz besondere Sorte von
Kriminalroman sein, anderenteils eine Art science fiction. Mit Kriminalroman
meinen wir, daß sich die Begriffe mit einem gewissen Aktionsradius einschal-
ten müssen, um einen lokalen Sachverhalt zu lösen. Sie verändern sich selbst
mit den Problemen. Sie besitzen Einflußsphären, auf die sie, wie wir sehen
werden, in Verbindung mit ,,Dramen” und mittels einer gewissen ,,Grausam-
keit” einwirken. Sie müssen untereinander kohärent sein, aber diese Kohärenz
darf ihnen nicht entspringen. Sie müssen ihre Kohärenz anderswoher be-
ziehen.
Dies ist das Geheimnis des Empirismus. Der Empirismus ist keineswegs eine
Reaktion gegen die Begriffe oder ein bloßer Appell an die gelebte Erfahrung.
Er bewerkstelligt vielmehr die verrücktesten Begriffsschöpfungen, die man je
gesehen oder gehört hat. Der Empirismus ist der Mystizismus des Begriffs,
sein Mathematismus. Aber er behandelt den Begriff eben als Gegenstand einer
Begegnung, als ein Hier-und-Jetzt, oder eher noch als ein Erewhon, aus dem
in unerschöpflicher Folge die immer neuen und anders verteilten ,,Hier“ und
7 Jetzt“ ausfließen. Nur der Empirist kann sagen: Die Begriffe sind die Dinge
selbst, aber in einem freien und wilden Zustand, jenseits der ,,anthropologi-
schen Prädikate“. Ich verfertige, erneuere und zerlege meine Begriffe ausge-
hend von einem schwankenden Horizont, von einem stets dezentrierten Zen-
trum und einer immer verschobenen Peripherie, die sie wiederholt und diffe-
renziert. Es gehört zu den Merkmalen moderner Philosophie, daß sie die
Alternativen zeitlich/zeitlos, historisch/ewig, besonders/allgemein hinter sich
läßt. Im Gefolge Nietzsches entdecken wir, daß das Unzeitgemäße tiefer
reicht als Zeit und Ewigkeit: Die Philosophie ist weder Philosophie der Ge-
schichte noch Philosophie des Ewigen, sondern unzeitgemäß, immer und
einzig unzeitgemäß, und das heißt, ,,gegen die Zeit [. . .] und hoffentlich
zugunsten einer kommenden Zeit“ gewendet. Im Gefolge Samuel Butlers
entdecken wir das Erewhon, das zugleich das ursprüngliche ,,Nirgendwo“ wie
das verschobene, verkleidete, veränderte und immer neu erschaffene ,,Hier-
und-Jetzt“ bedeutet. Weder empirische Besonderheiten noch abstraktes Uni-
versales: Cogito für ein aufgelöstes Ich. Wir glauben an eine Welt, in der die
Individuationen unpersönlich und die Singularitäten präindividuell sind: die
Herrlichkeit des ,,MAN“. Daher der Aspekt von science fiction, der sich
notwendig von jenem Erewhon ableitet. Was dieses Buch hätte vergegenwärti-
gen sollen, ist also das Nahen einer Kohärenz, die der unseren, der des
Menschen, ebensowenig entspricht wie derjenigen Gottes oder der Welt. In
diesem Sinne hätte dies ein apokalyptisches Buch sein sollen (die dritte Zeit in
der Reihe der Zeit).
Science fiction auch in einem anderen Sinn, in dem die Schwächen hervortre-
ten, Wie läßt sich anders schreiben als darüber, worüber man nicht oder nur
ungenügend Bescheid weiß? Gerade darüber glaubt man unbedingt etwas zu
sagen zu haben. Man schreibt nur auf dem vordersten Posten seines eigenen
Wissens, auf jener äußersten Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwis-
14 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

sen trennt und das eine ins andere übergehen läßt. Nur auf diese Weise wird
man zum Schreiben getrieben. Behebt man die Unwissenheit, so verschiebt
man das Schreiben auf morgen oder macht es vielmehr unmöglich. Vielleicht
existiert hier eine noch bedrohlichere Beziehung als diejenige, die das Schrei-
ben, wie man sagt, zum Tod, zum Schweigen unterhält. Wir haben also über
science auf eine Weise gesprochen, von der wir - leider - doch ahnen, daß sie
nicht wissenschaftlich war.
Die Zeit naht, in der es kaum mehr möglich sein wird, ein philosophisches
Buch so zu schreiben, wie man es über so lange Zeit hinweg getan hat: ,,Ach
ja! der alte Stil . . .“ Die Suche nach neuen philosophischen Ausdrucksmitteln
wurde von Nietzsche eingeleitet und muß heute entsprechend den Neuerun-
gen in manchen anderen Künsten, im Theater oder im Film etwa, fortgesetzt
werden. In dieser Hinsicht können wir von nun an die Frage nach der Ver-
wendung der Philosophiegeschichte stellen. Die Philosophiegeschichte muß,
wie uns scheint, eine ganz ähnliche Rolle wie die Collage in einem Gemälde
übernehmen. Die Geschichte der Philosophie ist die Reproduktion der Philo-
sophie selber. Die Nacherzählung sollte in der Philosophiegeschichte als eine
regelrechte Kopie wirken und die der Kopie entsprechende maximale Modifi-
kation enthalten. (Man stelle sich einen Hegel mit -philosophisch - aufgemal-
tem Bart, einen philosophisch kahlrasierten Marx vor, ganz wie eine schnurr-
bärtige Mona Lisa). Man sollte dahin gelangen, ein wirkliches Buch der ver-
gangenen Philosophie so zu erzählen, als ob es ein imaginäres und fingiertes
Buch wäre. Bekanntlich zeichnet sich Borges durch die Nacherzählung imagi-
närer Bücher aus. Aber er geht noch weiter, wenn er ein wirkliches Buch, den
Don Quixote etwa, als imaginäres Buch behandelt, das selber von einem
imaginären Autor wiedergegeben wird, von Pierre Menard, den er seinerseits
wiederum für wirklich hält. Die exakteste, die strengste Wiederholung korre-
liert dann mit dem Maximum an Differenz (,,Die Texte von Cervantes und
Menard sind im Wortlaut identisch, der letztere aber ist auf nahezu unermeß-
liche Weise reicher . . .“ ). Die Nacherzählungen der Philosophiegeschichte
müssen eine Art Zeitlupe, Erstarrung oder Stillstand des Textes darstellen:
nicht nur des Textes, auf den sie sich beziehen, sondern auch des Textes, in den
sie sich einfügen. So daß sie eine Doppelexistenz führen und einem doppelten
Ideal der wechselseitigen Wiederholung des alten und des gegenwärtigen Tex-
tes entsprechen. Aus diesem Grund mußten wir in unseren eigenen Text
bisweilen historische Anmerkungen einbinden, um dieser doppelten Existenz
1 1
nahezukommen.
EINLEITUNG

WIEDERHOLUNG UND DIFFERENZ

Die Wiederholung ist nicht die Allgemeinheit. Die Wiederholung muß von
der Allgemeinheit in mehrfacher Hinsicht unterschieden werden. Jede Formel,
die ihre Verwechslung nahelegt, ist fatal: Etwa wenn wir sagen , zwei Dinge
ähneln einander wie ein Ei dem anderen; oder wenn wir den Satz ,,es gibt
Wissenschaft nur vom Allgemeinen“ gleichsetzen mit: ,,es gibt Wissenschaft
nur von dem, was sich wiederholt”. Es besteht ei n wesentlicher Unterschied
zwischen der Wiederholung und jeder noch so großen Ähnlichkeit.
Die Allgemeinheit macht zwei große Ordnungen geltend, die qualitative Ord-
nung der Ähnlichkeiten und die quantitative Ordnung der Äquivalenzen.
Zyklen und Gleichheiten sind deren Symbole. In jedem Fall aber bringt die
Allgemeinheit einen Gesichtspunkt zum Ausdruck, demgemäß ein Term
gegen einen anderen ausgetauscht oder durch einen anderen Term ersetzt
werden kann. Tausch oder Ersetzung von Besonderem definiert ein Verhalten,
mit dem wir der Allgemeinheit entsprechen. Darum haben die Empiristen
nicht unrecht, wenn sie die allgemeine Idee als eine an sich selbst besondere
darstellen, wenn man nur zugleich glaubt, sie könne durch jede andere beson-
dere Idee ersetzt werden, die ihr in bezug auf ein Wort ähnelt. Demgegenüber
erkennen wir genau, daß die Wiederholung eine notwendige und begründete
Verhaltensweise nur im Verhältnis zum Unersetzbaren ergibt. Als Verhaltens-
weise und als Gesichtspunkt betrifft die Wiederholung eine untauschbare,
unersetzbare Singularität. Die Spiegelungen, Echos, Doppelgänger, Seelen
gehören nicht zum Bereich der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz; und SO
wenig echte Zwillinge einander ersetzen können, so wenig kann man seine
Seele tauschen Ist der Tausch das Kriterium der Allgemeinheit, SO sind Dieb-
stahl und Gabe Kriterien der Wiederholung. Zwischen beiden besteht also
eine ökonomische Differenz.
Wiederholen heißt sich verhalten, allerdings im Verhältnis zu etwas Einzigarti-
gem oder Singulärem das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist. Und
vielleicht ist diese Wiederholung als äußeres Verhalten ihrerseits Widerhall
16 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

eines noch heimlicheren Bebens, einer inneren und tieferen Wiederholung im


Singulären, das sie beseelt. In der Gedenkfeier liegt gerade dieses Paradox
offen zutage: ein ,, Unwiederbringliches “ wiederholen. Nicht ein zweites und
ein drittes Mal dem ersten hinzufügen, sondern das erste Mal zur ,,n-ten“
Potenz erheben. Mit diesem Bezug zur Potenz verkehrt sich die Wiederho-
lung, indem sie sich nach innen stülpt; es ist, wie Péguy sagt, nicht die Feier
des 14. Juli, die den Sturm auf die Bastille erinnert oder repräsentiert, vielmehr
ist es der Sturm auf die Bastille, der im voraus alle Jahrestage feiert und
wiederholt; oder es ist die erste Seerose Monets, die alle weiteren wiederholt’.
Man stellt also die Allgemeinheit als Allgemeinheit des Besonderen der
Wiederholung als Universalität des Singulären gegenüber. Man wiederholt ein
Kunstwerk als begrifflose Singularität, und nicht zufällig muß ein Gedicht
auswendig [par cetir-/ gelernt werden. Der Kopf ist das Organ der Tauschakte,
das Herz [ceur] aber das in die Wiederholung verliebte Organ. (Freilich
betrifft die Wiederholung auch den Kopf, aber nur als dessen Schrecken oder
Paradox.) Mit vollem Recht unterschied Pius Servien zwei Sprachen: die
Sprache der Wissenschaft, vom Gleichheitszeichen beherrscht, in der jeder
Term durch andere ersetzt werden kann; und die lyrische Sprache, in der jeder
Term unersetzbar ist und nur wiederholt werden kann2. Die Wiederholung
läßt sich stets als eine äußerste Ähnlichkeit oder eine vollendete Äquivalenz
,,repräsentieren“. Aber die Tatsache, daß man in winzigen Schritten von einer
Sache zur anderen gelangt, verschlägt nicht, daß eine Wesensdifferenz zwi-
schen beiden besteht.
Zudem gehört die Allgemeinheit zur Ordnung der Gesetze. Aber das Gesetz
bestimmt nur die Ähnlichkeit der ihm unterworfenen Subjekte und deren
Äquivalenz mit Termen, die es bezeichnet. Weit davon entfernt, die Wieder-
holung zu begründen, zeigt das Gesetz vielmehr, auf welche Weise die
Wiederholung für reine Gesetzessubjekte - die Besonderen - unmöglich
bliebe. Es verurteilt sie zum Wandel. Als leere Form der Differenz, als invaria-
ble Form der Variation nötigt das Gesetz seine Subjekte dazu, das Gesetz nur
um den Preis ihrer eigenen Veränderungen zu illustrieren. Zweifellos enthalten
die vom Gesetz bezeichneten Terme Konstanten ebenso wie Variablen; und in
der Natur Beharrlichkeit und Perseverationen ebenso wie Ströme und Varia-
tionen. Aber eine Perseveration ergibt genausowenig eine Wiederholung. Die
Konstanten eines Gesetzes sind ihrerseits die Variablen eines noch allgemei-
neren Gesetzes, ähnlich wie die härtesten Felsen im geologischen Maß einer
Jahrmillion weiche und flüssige Stoffe werden. Und auf jeder Ebene sind es
große und beharrliche Objekte in der Natur, vor denen ein Gesetzessubjekt
seine eigene Unfähigkeit zur Wiederholung erfährt und entdeckt, daß diese
Unfähigkeit bereits im Objekt enthalten, im beharrlichen Objekt reflektiert

I Vgl. Charles Péguy: Clio, Paris (1917) 1931, S. 45 u.114.


2 Pius Servien: Principes d’esthétique, Paris 1935, S. 3-5; Science et poésie, Paris 1947,
s. 44-47.
EINLEITUNG 17

ist, in dem es seine Verurteilung liest. Das Gesetz vereinigt den Wechsel des
fließenden Wassers mit der Beharrlichkeit des Flusses. Elie Faure sagt von
Watteau : ,,Er hatte das Flüchtigste dorthin gebannt, wo unser Blick dem
Daurerhaftesten, dem Raum und den großen Wäldern, begegnet.” Dies ist die
Methode des 18. Jahrhunderts. In LU Noudk ffdo%e hatte Wolmar daraus
ein System gemacht: Die Unmöglichkeit der Wiederholung, der Wandel als
allgemeine Verfassung, zu der das Gesetz der Natur alle besonderen
Geschöpfe zu verurteilen scheint, wurde im Verhältnis zu feststehenden Ter-
men erfaßt (die zweifellos selbst wiederum variabel im Verhältnis zu anderen
Beharrlichkeiten, in Abhängigkeit von anderen, noch allgemeineren Gesetzen
sind). Und dies ist der Sinn der Baumgruppe, der Grotte, des ,,heiligen”
Gegenstands. Saint-Preux erfährt, daß er nicht wiederholen kann, nicht nur
aufgrund seiner und Julies Veränderungen, sondern aufgrund der großen
Beharrlichkeiten der Natur, die einen symbolischen Wert gewinnen und ihn
nichtsdestoweniger von einer echten Wiederholung ausschließen. Wenn die
Wiederholung möglich ist, so entspricht sie eher dem Wunder als dem Gesetz.
Sie steht gegen das Gesetz: gegen die ähnliche Form und den äquivalenten
Gehalt des Gesetzes. Wenn die Wiederholung selbst in der Natur noch vorge-
funden werden kann, so im Namen einer Macht, die sich gegen das Gesetz
manifestiert und unter, vielleicht auch über den Gesetzen wirksam ist. Und
wenn die Wiederholung existiert, so drückt sie jeweils eine Singularität gegen
das Allgemeine aus, eine Universalität gegen das Besondere, ein Ausgezeichne-
’ tes gegen das Gewöhnliche, eine Augenblicklichkeit gegen die Variation, eine
Ewigkeit gegen die Beharrlichkeit. Die Wiederholung ist in jeder Hinsicht
Überschreitung. Sie stellt das Gesetz in Frage, sie denunziert dessen nomina-
len oder allgemeinen Charakter zugunsten einer tieferen und künstlerischeren
Wirklichkeit.
Dennoch erscheint es schwierig, aus der Perspektive des wissenschaftlichen
Experiments selber jeden Bezug der Wiederholung zum Gesetz zu leugnen.
Wir müssen allerdings danach fragen, unter welchen Bedingungen das Experi-
ment eine Wiederholung, garantiere. Die Naturphänomene geschehen unter
freiem Himmel und lassen in weitläufigen Zyklen von Ähnlichkeit alle mögli-
chen Schlußfolgerungen zu: In diesem Sinne reagiert alles mit allem, ähnelt
alles allem (die Ähnlichkeit des Verschiedenen mit sich). Das Experiment
entwirft aber relativ geschlossene Milieus, in denen wir ein Phänomen in
Abhängigkeit von einer kleinen Anzahl ausgewählter Faktoren definieren
(zumindest zweier Faktoren, des Raumes und der Zeit etwa, um die Bewegung
eines Körpers allgemein im Vakuum zu bestimmen). Es besteht folglich kein
Grund, nach der Anwendung der Mathematik in der Physik zu fragen: Die
Physik ist unmittelbar mathematisch, da die berücksichtigten Faktoren oder
geschlossenen Milieus ebensogut geometrische Koordinatensysteme konsti-
tuieren. Unter diesen Bedingungen erscheint ein Phänomen notwendig gleich-
gesetzt mit einer bestimmten quantitativen Relation zwischen ausgewählten
Faktoren. Es handelt sich also beim Experiment darum, eine Ordnung von
18 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Allgemeinheit durch eine andere zu ersetzen: eine Ordnung. von Ähnlichkeit


durch eine Ordnung von Gleichheit. Man zerlegt die Ähnlichkeiten, um eine
Gleichheit zu entdecken, die es erlaubt, ein Phänomen unter den besonderen
Bedingungen des Experiments zu identifizieren. Die Wiederholung erscheint
hier nur im Übergang von einer allgemeinen Ordnung zur anderen und tritt
nur zugunsten und gelegentlich dieses Übergangs zutage. Alles geschieht so,
als ob die Wiederholung für einen Augenblick zwischen und unter zwei
Allgemeinheiten hervorstechen würde. Aber auch hier läuft man Gefahr, eine
Wesensdifferenz für eine bloß graduelle zu halten. Denn die Allgemeinheit
repräsentiert und bedingt nur eine hypothetische Wiederholung: Wenn die
gleichen Um stände gegeben sind, dann .. . Diese Formel meint: Bei ähnlichen
Totalitäten wird man immer identische Faktoren erhalten und auswählen
können, die das Gleichsein des Phänomens repräsentieren. Damit aber unter-
schlägt man, wodurch die Wiederholung gebildet wird , ebens o das Kategori-
sche daran und das, was sich in der Wiederholung von Rechts wegen Geltung
verschafft (nämlich ,,n“ Mal als Potenz eines einzigen Mals, ohne daß man ein
zweites, ein drittes Mal durchlaufen müßte). Die Wiederholung verweist in
ihrem Wesen auf eine einzigartige Macht3, deren Natur von der Allgemeinheit
abweicht, selbst wenn sie, um zur Erscheinung zu gelangen, vom künstlichen
Übergang von einer allgemeinen Ordnung zur anderen profitiert.
Der ,,stoische“ Irrtum besteht darin, die Wiederholung vom Naturgesetz zu
erwarten. Der weise Mann muß sich in einen tugendhaften verwandeln; der
Traum, ein Gesetz zu finden, das die Wiederholung ermöglichte, wird auf das
Sittengesetz übertragen. Immer muß im täglichen Leben eine Aufgabe wieder
begonnen, eine Anhänglichkeit erneuert werden, in einem Leben, das mit der
wiederholten Bejahung der Pflicht verschmilzt. Büchner läßt seinen Danton
sagen: ,,Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen
drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder heraus zu
kriechen und einen Fuß immer so vor den anderen zu setzen; da ist gar kein
Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und daß Millionen es
schon so gemacht haben, und daß Millionen es wieder so machen werden, und
daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche
tun, so daß alles doppelt geschieht - das ist sehr traurig.“ Wozu aber diente
das Sittengesetz, wenn es nicht die Reiteration heiligte und sie vor allem
ermöglichte, um uns eine gesetzgebende Gewalt zu verleihen, von der uns das
Naturgesetz ausschließt? Es kommt vor, daß der Moralist die Kategorien des
Guten und des Bösen folgendermaßen darstellt: Immer wenn wir die Wieder-
holung der Natur nach anstreben, und zwar als Naturwesen (die Wiederho-
lung einer Lust, eines Vergangenen, einer Leidenschaft), stürzen wir uns in
eine teuflische und schon fluchbeladene Versuchung, die nur in Verzweiflung
oder Langeweile münden kann. Das Gute dagegen würde uns die Möglichkeit

3 Frz. puissance, d. h. Potenz, Macht, Fähigkeit, im Sinne von lat. potentia [A.d.Ü.].
EINLEITUNG
19

der Wiederholung, Erfolg und Geistigkeit der Wiederholung verschaffen, weil


cs von einem Gesetz abhinge, das nicht mehr dem Naturgesetz, sondern dem
der Pflicht entspräche und dem wir, als sittliche Wesen, nur als zugleich
Gesetzgebende unterworfen wären. Und was ist die höchste Prüfung, wie
Kant es nennt, anderes als eine Gedankenprobe, die bestimen soll, was von
Rechts wegen reproduziert werden kann, d. h. widerspruchsfrei unter der
Form des Sittengesetzes wiederholt werden kann? Der Mann der Pflicht hat
eine ,,Prüfung” der Wiederholung erfunden, er hat bestimmt, was vom Stand-
nunkt des Rechts aus wiederholt werden konnte. Er glaubt
- also, das Teuflische
und das Langweilige gleichermaßen besiegt zu haben. Und liegt hierin, in
diesem Echo auf Dantons Kummer, in dieser Antwort auf jenen Kummer,
nicht ein Moralismus, der bis zum erstaunlichen Sockenhalter reicht, den Kant
sich angefertigt hatte, bis zu jener Wiederholungsmaschine, die seine Biogra-
phen so präzise beschreiben, die Unveränderlichkeit seiner täglichen
- Spazier-
gänge etwa (ein Moralismus in dem Sinne, wie die Vernachlässigung der
Toilette und der Mangel an Disziplin zu Verhaltensweisen gehören, deren
Maxime nicht widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz gedacht und darum
nicht Gegenstand einer rechtmäßigen Wiederholung werden kann)?
Die Ambiguität des Gewissens aber besteht darin: Es kann sich selbst nur
dann denken, wenn es das Sittengesetz außerhalb, oberhalb und unabhängig
vom Naturgesetz ansiedelt, es kann aber die Anwendung des Sittengesetzes
nur denken, wenn es in sich selbst das Bild und das Modell des Naturgesetzes
wiederherstellt. So daß uns das Sittengesetz keineswegs eine echte Wiederho-
lung bietet, sondern uns noch innerhalb der Allgemeinheit festhält. Die Allge-
meinheit ist hier nicht mehr die der Natur, sondern der Gewohnheit als
zweiter Natur. Es ist müßig, sich auf die Existenz unsittlicher, schlechter
Gewohnheiten zu berufen; das wesentlich Sittliche, das formal Gute ent-
spricht der Form der Gewohnheit oder, wie Bergson sagte, der Gewohnheit,
Gewohnheiten anzunehmen (das Ganze der Verpflichtung). Nun stoßen wir
in diesem Ganzen oder in dieser Allgemeinheit der Gewohnheit wiederum auf
die beiden großen Ordnungen: die der Ähnlichkeiten, und zwar in der wech-
selnden Konformität von Handlungselementen im Verhältnis zu einem vor-
ausgesetzten Modell, solange die Gewohnheit nicht angenommen ist; und die
der Äquivalenzen, und zwar mit der Gleichheit von Handlungselementen in
verschiedenen Situationen, sobald die Gewohnheit Fuß gefaßt hat. SO daß die
Gewohnheit niemals eine echte Wiederholung bildet: Einmal verändert und
vervollkommnet sich die Handlung, während die Intention konstant bleibt;
das andere Mal bleibt die Handlung bei unterschiedlichen Intentionen und in
verschiedenen Kontexten gleich. Auch hier erscheint die Wiederholung, sofern
sie möglich ist, nur zwischen und unter diesen beiden Allgemeinheiten der
Vervollkommnung und der Integration, immer auf die Gefahr hin, sie zu
stürzen und dabei eine ganz andere Macht zu bekunden.
Die Wiederholung ist nur gegen das Sittengesetz wie gegen das Naturgesetz
möglich. Bekanntlich gibt es zwei Arten, das Sittengesetz zu stürzen. Einer-
20 DIFFERENZ UNDWIEDERHOLUNG

seits durch einen Wiederaufstieg in der Prinzipienreihe: Man ficht die Ord-
nung des Gesetzes als sekundär, abgeleitet, entlehnt, ,,allgemein“ an; man
denunziert im Gesetz ein Prinzip zweiter Hand, das eine ursprüngliche Kraft
verfälscht oder eine ursprüngliche Macht usurpiert. Dagegen wird andererseits
das Gesetz um so sicherer zu Fall gebracht, wenn man zu den Folgen hinab-
steigt, wenn man sich ihm mit übergenauer Sorgfalt unterwirft; mit dieser
Anschmiegung an das Gesetz gelingt es einer heuchlerisch unterwürfigen
Seele, das Gesetz zu umgehen und in den Genuß der Lüste zu kommen, die es
doch verbieten sollte. Dies zeigt sich in allen apagogischen Beweisführungen,
im minutiösen Dienst nach Vorschrift, aber auch in manchen masochistischen
Verhaltensweisen voll unterwürfigen Spotts. Die erste Art, das Gesetz zu
stürzen, ist ironisch, und die Ironie erscheint hier als eine Kunst der Prinzi-
pien, als eine Kunst, zu den Grundsätzen hinaufzusteigen und sie zu Fall zu
bringen. Die zweite Art besteht im Humor, das heißt, in einer Kunst der
Folgen und Abstiege, der Schwebe und des Falls. Muß man die Tatsache, daß
die Wiederholung in dieser Schwebe und in jenem Aufstieg auftaucht, so
begreifen, als ob sich die Existenz selbst erneuern und ,,wiederholen“ würde,
sobald sie nicht mehr dem Zwang der Gesetze unterliegt? Die Wiederholung
ist Sache des Humors und der Ironie; sie ist ihrer Natur nach Überschreitung,
Ausnahme und behauptet immer eine Singularität gegen die dem Gesetz
unterworfenen Besonderheiten, ein Universales gegen die Allgemeinheiten, die
als Gesetz gelten.

Kierkegaard und Nietzsche haben eine Kraft gemeinsam. (Man müßte noch
Péguy hinzufügen, um das Triptychon aus Pastor, Antichrist und Katholik zu
bilden. Auf seine Art machte jeder der drei die Wiederholung nicht nur zur
eigentlichen Macht der Sprache und des Denkens, zu einem Pathos und einer
höheren Pathologie, sondern auch zur Grundkategorie der zukünftigen Philo-
sophie. Mit jedem von ihnen verbindet sich ein Testament und überdies ein
Theater, ein theatralisches Konzept, und eine Hauptfigur in diesem Theater,
die als Held der Wiederholung agiert: Hiob-Abraham, Dionysos-Zarathustra,
Jeanne d’Arc-Clio.) Das Trennende zwischen ihnen ist beträchtlich, offen-
sichtlich und weitgehend bekannt. Nichts aber wird jene ungeheure Begeg-
nung im Umkreis eines Denkens der Wiederholung auslöschen: Sie stellen die
Wiederholung allen Formen der Allgemeinheit gegenüber. Und sie begreifen
das Wort ,,Wiederholung“ nicht metaphorisch, im Gegenteil, in gewisser Hin-
sicht begreifen sie es buchstäblich und lassen es in den Stil eindringen. Man
kann, man muß zunächst die wichtigsten Aussagen aufzählen, die die Über-
einstimmung zwischen ihnen kennzeichnen:
1. Aus der Wiederholung selbst etwas Neues machen; sie an eine Prüfung, an
eine Selektion, an eine selektive Prüfung knüpfen; und sie als höchsten Gegen-
21
EINLEITUNG

stand des Willens und der Freiheit darstellen. Kierkegaard präzisiert: der
Wiederholung nicht etwas Neues abgewinnen, nichts Neues entlocken.
Denn nur die Betrachtung, der von außen betrachtende Geist ,,entlockt“.
Demgegenüber geht es hier um das Handeln, geht es darum, aus der
Wiederholung als solcher eine Neuheit zu machen, d.h. eine Freiheit und
eine
* Aufgabe der Freiheit. Und Nietzsche: den Willen von allen Fesseln
befreien, indem die Wiederholung gerade zum Gegenstand des Wollens
gemacht wird. Zweifellos ist bereits die Wiederholung die Fessel; aber wenn
m a n an der Wiederholung stirbt, so ist es doch wiederum sie, die rettet und
heilt und zunächst von der anderen Wiederholung heilt. In der Wiederho-
lung vollzieht sich also zugleich das ganze mystische Spiel von Verderben
und Heil, das ganze theatralische Spiel von Tod und Leben, das ganze posi-
tive Spiel von Krankheit und Gesundheit (vgl. Zarathustra, der an ein und
derselben Macht erkrankt und genest, an der Macht der Wiederholung in
der ewigen Wiederkehr).
2. Folglich die Wiederholung den Gesetzen der Natur gegenüberstellen. Kier-
kegaard erklärt, daß er gar nicht einmal von der Wiederholung in der Natur
spreche, von Zyklen und Jahreszeiten, von Austausch und Gleichheiten. Viel-
mehr: Wenn die Wiederholung das Innerste des Willens betrifft, so deshalb,
weil sich dem Naturgesetz zufolge alles um den Willen herum ändert. Gemäß
dem Naturgesetz ist die Wiederholung unmöglich. Darum verurteilt Kierke-
.gaard unter dem Namen ästhetische Wiederholung jede Anstrengung, die auf
die Wiederholung der Naturgesetze abzielt, wie es nicht nur der Epikureer,
sondern auch der Stoiker tut, wenn er sich mit dem gesetzgebenden Prinzip
identifiziert. Man wird einwenden, bei Nietzsche sei die Lage nicht so klar.
Dennoch sind Nietzsches Erklärungen nachdrücklich. Wenn er die Wiederho-
lung in der Physis selbst entdeckt, so deshalb, weil er in der Physis auf etwas
stößt, das über der Herrschaft der Gesetze steht: einen sich selbst über alle
Veränderungen hinweg wollenden Willen, eine gegen das Gesetz gerichtete
Macht, einen Erdinnenraum der sich den Gesetzen der Oberfläche widersetzt.
Nietzsche stellt ,,seine“ Hypothese der zyklischen Hypothese gegenüber. Er
begreift die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft als Sein, stellt aber
dieses Sein jeder gesetzmäßigen Form, dem Ähnlichsein ebenso wie dem
Gleichsein gegenüber Und wie könnte der Denker, der die Kritik am Begriff
des Gesetzes am weitesten vorangetrieben hat, die ewige Wiederkunft als
Gesetz der Natur wiedereinführen? Und wie könnte er, als Kenner der Grie-
chen, sein eigenes Denken mit gutem Grund für gewaltig und neu halten,
wenn er sich damit begnügte, jene naturwüchsige Platitüde, jene seit der
Antike altbekannte All gemeinheit der Natur zu formulieren? In zwei Ansät-
zen korrigiert Zarathustra die falschen Interpretationen der ewigen Wieder-
kunft: im Zorn, gegen seinen Dämon (,,DU Geist der Schwere [. . .] mache dir
es nicht zu leicht!“); und mit Milde gegenüber seinen Tieren (,,O ihr Schalks-
narren und Drehorgeln! [. . .] ih r machtet schon eine Leier-Lied daraus?“). Das
Leier-Lied ist die ewige Wiederkunft als Zyklus oder Kreislauf, als Ähn-
22 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

lichsein und Gleichsein, kurz: als naturwüchsige tierhafte Gewißheit und


sinnliches Gesetz der Natur selbst.
3. Die Wiederholung dem Sittengesetz gegenüberstellen, sie zur Suspension
der Ethik, zum Denken jenseits von Gut und Böse machen. Die Wiederho-
lung erscheint als Logos des Einzelgängers, des Einzelnen, als Logos des
,,privatisierenden Denkers“. Bei Kierkegaard wie bei Nietzsche entwickelt
sich der Gegensatz des privatisierenden Denkers, des kometenhaften Den-
kers und Trägers der Wiederholung zum Professor publicus und Gesetzes-
kundigen, dessen Diskurs zweiter Hand die Vermittlung bemüht und seine
moralisierende Quelle in der Allgemeinheit der Begriffe findet (vgl. Kierke-
gaard gegen Hegel, Nietzsche gegen Kant und Hegel, und Péguy, in dieser
Hinsicht, gegen die Sorbonne). Hiob ist der unendliche Protest, Abraham
die unendliche Resignation, aber beide sind ein und dasselbe. Hiob stellt
das Gesetz ironisch in Frage, weist alle Erklärungen aus zweiter Hand
zurück, entmächtigt das Allgemeine, um das Singulärste als Prinzip, als
Universales zu erlangen. Abraham unterwirft sich humoristisch dem Gesetz,
findet aber gerade in dieser Unterwerfung wieder die Singularität des einzi-
gen Sohns, dessen Opferung das Gesetz befahl. Die Wiederholung, wie
Kierkegaard sie versteht, ist das gemeinsame transzendente Korrelat von
Protest und Resignation als psychischer Intentionen. (Und beide Aspekte
wird man auch in Péguys Zweiteilung finden: Jeanne d’Arc und Gervaise.)
Im krassen Atheismus Nietzsches prägen Gesetzeshaß und amor fati,
Aggressivität und Einverständnis das doppelte Gesicht Zarathustras, der
Bibel entnommen und gegen sie gewendet. In gewisser Weise wenigstens
sieht man Zarathustra mit Kant rivalisieren, und zwar hinsichtlich der Prü-
fung der Wiederholung im Sittengesetz. Die ewige Wiederkehr wird so for-
muliert: Du sollst, was immer du willst, so wollen, daß du auch dessen
ewige Wiederkunft willst. Es liegt hier ein ,,Formalismus“ vor, der Kant auf
dessen eigenem Boden zu Fall bringt, eine Prüfung, die weiter reicht, da sie -
anstatt die Wiederholung auf ein angenommenes Sittengesetz zu beziehen -
aus der Wiederholung selbst die einzige Form eines Gesetzes jenseits der
Moral zu machen scheint. In Wirklichkeit aber ist dies noch komplizierter.
Die Form der Wiederholung in der ewigen Wiederkehr ist die brutale Form
des Unmittelbaren, die Form, in der sich Singuläres und Universales verei-
nigen, und die jedes allgemeine Gesetz entthront, die Vermittlungen zer-
schmelzen und die dem Gesetz unterworfenen Besonderen untergehen läßt.
Es gibt ein Jenseits und ein Diesseits des Gesetzes, die sich in der ewigen
Wiederkehr wie die schwarze Ironie und der schwarze Humor Zarathustras
vereinen.
4. Die Wiederholung nicht nur den Allgemeinheiten der Gewohnheit, sondern
auch den Besonderheiten des Gedächtnisses gegenüberstellen. Denn vielleicht
ist es die Gewohnheit, der es gelingt, einer von außen betrachteten Wiederho-
lung etwas Neues ,,abzugewinnen”. Wir handeln in der Gewohnheit nur unter
der Bedingung, daß in uns ein kleines betrachtendes Ich existiert: Dieses Ich
23
EINLEITUNG

gewinnt das Neue, d. h. das Allgemeine, aus der Pseudo-Wiederholung der


besonderen Fälle. Und vielleicht spürt das Gedächtnis die in die Allgemein-
heit eingeschmolzenen Besonderen. auf. Diese psychologischen Bewegungen
sind nicht weiter wichtig; bei Nietzsche wie bei Kierkegaard verblassen sie
a n g e s i c h t s d e r Wiederholung, verstanden als doppelte Verdammung von
Gewohnheit und Gedächtnis. Damit ist die Wiederholung das Denken der
Z u k u n f t : S i e t r i t t der antiken Kategorie der Wiedererinnerung und d e r
modernen Kategorie des Habitus gegenüber. In der Wiederholung und
durch die Wiederholung wird das Vergessen zur positiven Macht und das
Unbewußte zu einem positiven höheren Unbewußten (so ist etwa das Ver-
gessen als Kraft integrierender Bestandteil der gelebten Erfahrung der ewi-
gen Wiederkunft). Alles vereinigt sich in der Macht [puissance]. Wenn Kier-
kegaard von der Wiederholung als zweiter Potenz [puissance] des Bewußt-
seins spricht, so meint ,,zweite“ nicht ein zweites Mal, sondern das Un-
endliche, das von einem einzigen Mal ausgesagt wird, die Ewigkeit, die von
einen Augenblick, das Unbewußte, das vom Bewußtsein ausgesagt wird, die
,,n-t6 Potenz. Und wenn Nietzsche die ewige Wiederkunft als unmittelbaren
Ausdruck des Willens zur Macht vorführt, so meint Wille zur Macht keines-
wegs ,> Machtstreben“, sondern im Gegenteil: das Gewollte, was immer man
will, zur ,,n-ten“ Potenz erheben, d.h. dessen höhere Form freisetzen, und
z w a r dank des selektiven Verfahrens des Denkens in der ewigen Wiederkunft,
dank der Singularität der Wiederholung in der ewigen Wiederkunft selbst.
’ Höhere Form dessen, was ist: Dies ist die unmittelbare Identität von ewiger
Wiederkunft und Übermensch4.

’ Im vorangehenden Vergleich gehören die Texte, auf die wir uns beziehen, zu den
bekanntesten Texten Nietzsches und Kierkegaards. Bei Kierkegaard handelt es sich
um folgende: Die Wiederholung (Gesammelte Werke, Düsseldorf u. Köln 1956 ff.,
5. Abt.f; Passagen aus dem Tagebuch (IV, B 117, nicht in deutschen Ausgaben von
Kierkegaards Tagebüchern enthalten; im Anhang der französischen Übersetzung von
Tisseau veröffentlicht: La répétition, Paris 1843; d.Ü.); Furcht und Zittern (4. Abt.);
und die äußerst wichtige Anmerkung aus Der Begriff der Angst (11. U. 12. Abt.,
s. 14-16). U n d zur Kritik des Gedächtnisses vgl. Philosophische Brocken und Stadien
LZRf dem Lebensweg (10. bzw. 15. Abt.). - Was Nietzsche angeht, so handelt es sich
um Also sprach Zarathustra (in* . Werke, hg. v. K.Schlechta, München 1969 (6), Bd. 2;
darin vor allem ,,Von der Erlösung“ aus dem Zweiten Teil; und die beiden großen
Passagen des Dritten Teils: ,,Vom Gesicht und Rätsel” und ,,Der Genesende“, von
denen die eine den kranken und mit seinem Dämon streitenden Zarathustra, die
andere den genesenden und mit seinen Tieren streitenden Zarathustra betrifft); aber
auch um die Aufzeichnungen aus den Jahren 1881-1882, (in denen Nietzsche aus-
drücklich ,,seine” Hypothese der zyklischen Hypothese gegenüberstellt und alle
Vorstellungen von Ähnlichkeit, Gleichheit, Gleichgewicht und Identität kritisiert;
vgl. Werke Leipzig 1901 ff Bd 12 (Nachgelassene Fragmente), $, 106, S. 58 ff.). - Bei
Péguy wird man sich schließlich im wesentlichen auf Jeanne d’Arc und Clio be-
ziehen.
24 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Wir wollen keinerlei Ähnlichkeit zwischen Nietzsches Dionysos und dem


Gott Kierkegaards unterstellen. Im Gegenteil, wir nehmen an, wir glauben,
daß der Unterschied unüberwindlich ist. Um so mehr aber: Woher rührt
die Übereinstimmung hinsichtlich des Themas der Wiederholung, hinsicht-
lich jenes grundlegenden Ziels, selbst wenn dieses Ziel auf unterschiedliche
Weise gefaßt wird? Kierkegaard und Nietzsche gehören zu denjenigen, die
die Philosophie um neue Ausdrucksmittel
. bereichern. Mit Blick auf sie
spricht man gerne von einer Überschreitung der Philosophie. Was nun in
ihrem gesamten Werk verhandelt wird, ist die Bewegung. Hegel werfen sie
vor, bei der falschen Bewegung, bei der abstrakten logischen Bewegung,
d.h. bei der ,,Vermittlung”, stehenzubleiben. Sie wollen die Metaphysik in
Bewegung, in Gang setzen. Sie wollen sie zur Tat zu unmittelbaren Taten
antreiben. Es genügt ihnen folglich nicht, bloß eine neue Repräsentation der
Bewegung vorzulegen; die Repräsentation ist bereits Vermittlung. Es han-
delt sich im Gegenteil darum, im Werk eine Bewegung zu erzeugen, die
den Geist außerhalb jeglicher Repräsentation zu erregen vermag; es handelt
sich darum, aus der Bewegung selbst - und ohne Zwischenschritt - e i n
Werk zu machen; die mittelbaren Repräsentationen durch direkte Zeichen
zu ersetzen; Schwingungen, Rotationen, Drehungen, Gravitationen, Tänze
oder Sprünge auszudenken, die den Geist direkt treffen. Dies ist die Idee
eines Theatermanns, eines Regisseurs - seiner Zeit voraus. Gerade in diesem
Sinne beginnt mit Kierkegaard und Nietzsche etwas völlig Neues. Sie
reflektieren über das Theater nicht in Hegelscher Manier. Sie betreiben
nicht länger philosophisches Theater. Sie erfinden in der Philosophie ein
unglaubliches Äquivalent zum Theater und begründen damit jenes Theater
der Zukunft und gleichzeitig eine neue Philosophie. Man wird einwenden,
daß zumindest vom Standpunkt des Theaters aus nichts dergleichen reali-
siert wird; weder Kopenhagen um 1840 und der Pfarrersberuf, noch Bay-
reuth und der Bruch mit Wagner stellten günstige Bedingungen dar. Eines
ist jedoch gewiß: Wenn Kierkegaard vom antiken Theater und modernen
Drama spricht, ist man bereits in einem anderen Element, befindet sich
nicht mehr im Element der Reflexion. Man entdeckt einen Denker, der das
Problem der Masken lebt, der jene innere Leere erfährt, die der Maske
eigentümlich ist, und der sie auszugleichen, aufzufüllen versucht, und sei es
durch das ,,absolut Verschiedene“, d. h. dadurch, daß er die ganze Differenz
zwischen Endlichem und Unendlichem dorthin verlegt und damit die Idee
eines Theaters des Humors und des Glaubens erschafft. Wenn Kierkegaard
erklärt, der Glaubensritter sehe einem Spießbürger im Sonntagsstaat zum
Verwechseln ähnlich, so muß man diesen philosophischen Hinweis als Sze-
nenanweisung lesen, die angibt, wie der Glaubensritter gespielt werden soll.
Und wenn er Hiob oder Abraham kommentiert, wenn er sich die Varianten
der Sage von Agnes und dem Wassermann ausmalt, so trügt die Art, wie er
dies tut, nicht, es ist die Art eines Szenarios. Bis hin zu Abraham und Hiob
hallt Mozarts Musik wider; und es geht darum, zur Melodie dieser Musik
25
EINLEITUNG

zu ,,springen”. ,,[I]ch achte bloß auf die Bewegungen“ - hier der Satz eines
Regisseurs, der das höchste Theaterproblem aufwirft, das Problem einer
Bewegung, die die Seele direkt treffen, die Bewegung der Seele selbst sein
soll5.
Dies gilt mit noch größerem Recht für Nietzsche. Die Geburt der Tragödie ist
keine Reflexion über das antike Theater, sondern die praktische Gründung
eines Theaters der Zukunft, die Offnung eines Wegs, auf dem es Nietzsche
noch möglich scheint, Wagner weiterzutreiben. Und der Bruch mit Wagner ist
keine Sache der Theorie; er ist ebensowenig eine Sache der Musik; er betrifft
die jeweilige Rolle des Textes, der Geschichte, der Geräusche, der Musik, des
Lichts, des Lieds, des Tanzes und der Ausstattung in jenem von Nietzsche
erträumten Theater. Zarathustra greift die beiden dramatischen Versuche über
Empedokles auf. Und wenn Bizet besser ist als Wagner, so aus der Perspektive
des Theaters und für die Tänze Zarathustras. Nietzsche wirft Wagner vor, die
,,Bewegung“ verkehrt und verfälscht zu haben: Er habe uns platschen und
schwimmen, ein nautisches Theater, und nicht schreiten und tanzen gemacht.
Zarathustra ist ganz und gar philosophisch, aber auch gänzlich für die Bühne
konzipiert. Hier ist alles vertont, verbildlicht, in Bewegung, in Gang und zum
Tanzen gebracht. Und wie läßt er sich lesen, ohne nach dem exakten Laut für
den Schrei des Übermenschen zu suchen, wie läßt sich die Vorrede lesen, ohne
den Seiltänzer zu inszenieren, mit dem die ganze Geschichte beginnt? In
manchen Momenten ist dies eine opera buffa über schreckliche Dinge; und
nicht zufällig spricht Nietzsche von der Komik des Übermenschen. Man
erinnere sich an das Lied Ariadnes, das dem alten Zauberer in den Mund
gelegt wurde: Zwei Masken überlagern sich hier - die einer jungen Frau, fast
einer Kore, die sich über eine abstoßende Greisenmaske stülpt. Der Schauspie-
ler muß die Rolle eines Greises spielen, während er zugleich die Rolle der
Kore spielt. Und auch hier geht es Nietzsche darum, die innere Leere der
Maske in einem Bühnenraum auszufüllen: indem er die übereinandergestülp-
ten Masken vervielfältigt, indem er die Allgegenwart des Dionysos in diese
Überlagerung einschreibt, indem er in sie das Unendliche der realen Bewe-
gung wie die absolute Differenz in der Wiederholung der ewigen Wiederkunft
hineinträgt. Wenn Nietzsche sagt, der Übermensch ähnle eher Borgia als
Parsifal, wenn er nahelegt, der Übermensch gehöre dem Jesuitenorden wie
dem preußischen Offizierskorps gleichermaßen an, so kann man auch hier

5 Vgl. Kierkegaard: Furcht und Zittern a.a.O., S. 36ff. Zur Natur der wirklichen \
Bewegung, die ,,Wiederholung“ und nicht Vermittlung ist und sich der falschen ’
abstrakten logischen Bewegung Hegels gegenüberstellt, vgl. die Bemerkungen im
Tagebuch, a bge druc k t im Anhang zur französischen Übersetzung von Die wieder-
holung (I, d répéition, a.a.O.). - Auch bei Péguy findet man eine tiefgreifende
Kritik d er ,,logischen Bewegung”. Péguy denunziert diese als eine konservierende,
akkumulierende und kapitalisierende Pseudo-Bewegung: vgl. Clio, a.a.O., s. 45ff.
Dies kommt der Kritik Kierkegaards nahe.
26 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

diese Texte nur verstehen, wenn man sie als das nimmt, was sie sind, als
Szenenanweisungen, die angeben, wie der Übermensch ,,gespielt“ werden soll.
Das Theater ist die reale Bewegung; und aus allen Künsten, die es verwendet,
gewinnt es die reale Bewegung. Da wird uns also gesagt: Diese Bewegung, das
Wesen und die Interiorität der Bewegung ist die Wiederholung, nicht der
Gegensatz, nicht die Vermittlung. Hegel wird als derjenige angeprangert, der
an Stelle der Bewegung der Physis und der Psyche eine Bewegung des abstrak-
ten Begriffs vorführt. Hegel ersetzt das wahre Verhältnis zwischen Singulärem
und Universalem in der Idee durch das abstrakte Verhältnis zwischen dem
Besonderen und dem Begriff überhaupt. Er bleibt also beim Reflexionselement
der ,,Repräsentation“, bei der bloßen Allgemeinheit stehen. Er repräsentiert
Begriffe, anstatt die Ideen zu dramatisieren: Er macht ein falsches Theater, ein
falsches Drama, eine falsche Bewegung. Man muß erkennen, wie Hegel das
Unmittelbare entstellt und verfälscht, um auf diesem Unverständnis seine
Dialektik zu begründen und die Vermittlung in eine Bewegung einzuführen,
die nurmehr die seines eigenen Denkens und der Allgemeinheiten dieses Den-
kens ist. Die spekulativen Abfolgen ersetzen die Koexistenzen, die Gegensätze
überdecken und verbergen die Wiederholungen. Wenn man behauptet, die
Bewegung sei dagegen die Wiederholung und unser wahres Theater spiele sich
gerade in ihr ab, so spricht man nicht vom Bemühen des Schauspielers, der nur
in dem Maße ,,repetiere“, wie das Stück noch nicht eingelernt sei. Man denkt
an den Bühnenraum, an die Leere dieses Raums, an die Art und Weise, wie er
durch Zeichen und Masken erfüllt und bestimmt wird, mit denen der Schau-
spieler eine Rolle und diese wiederum andere Rollen spielt, man denkt daran,
wie sich die Wiederholung von einem ausgezeichneten Punkt zu einem ande-
ren entspinnt und dabei die Differenzen in sich einschließt. (Wenn Marx
ebenso die falsche abstrakte Bewegung oder Vermittlung der Hegelianer kriti-
siert, so wird er selbst auf eine Idee gebracht, die er eher andeutet als entwik-
kelt, auf eine wesentlich theatralische Idee: Sofern die Geschichte ein Theater
ist, bilden die Wiederholung, das Tragische und Komische in der Wiederho-
lung eine Bedingung der Bewegung, unter der die ,,Akteure“ oder ,,Helden“
etwas wahrhaft Neues in der Geschichte hervorbringen.) Das Theater der
Wiederholung tritt dem Theater der Repräsentation gegenüber, wie die Bewe-
gung dem Begriff und der Repräsentation gegenübertritt, durch die sie auf den
Begriff bezogen wird. Im Theater der Wiederholung erfährt man reine Kräfte,
dynamische Bahnen im Raum, die unmittelbar auf den Geist einwirken und
ihn direkt mit der Natur und der Geschichte vereinen, eine Sprache, die noch
vor den Wörtern spricht, Gesten, die noch vor den organisierten Körpern,
Masken, die vor den Gesichtern, Gespenster und Phantome, die vor den
Personen Gestalt annehmen - den ganzen Apparat der Wiederholung als
,,schrecklicher Macht“.
Mühelos lassen sich nun die Unterschiede zwischen Kierkegaard und Nietz-
sche ansprechen. Aber selbst diese Frage darf nicht mehr auf der spekulativen
Ebene einer letzten Natur von Abrahams Gott oder des Dionysos aus dem
EINLEITUNG
27

Zarathustra gestellt werden. E s handelt sich eher um die Frage, was ,,die
Bewegung machen” meint, oder was es heißt, ZU wiederholen, die Wiederho-
lung zu erlangen. Handelt es sich um den Sprung, wie Kierkegaard glaubt?
Oder handelt es sich um den Tanz, wie Nietzsche denkt, der die Verwechs-
lung von Tanzen und Springen vermeiden will (einzig der Affe Zarathustras,
sein Dämon, sein Zwerg, sein Possenreißer, springt6. Kierkegaard bietet uns
ein Theater des Glaubens; und der logischen Bewegung stellt er die spirituelle
Bewegung, die Bewegung des Glaubens gegenüber. Daher kann er uns auffor-
dern, jede ästhetische Wiederholung ZU überschreiten, die Ironie und selbst
den Humor zu überschreiten, während er sich doch schmerzlich bewußt ist,
daß er uns nur das ästhetische, ironische und humoristische Bild einer derarti-
gen Überschreitung bietet. Bei Nietzsche ist es ein Theater des Unglaubens,
d e r Bewegung als Physis, schon ein Theater der Grausamkeit. Humor und
Ironie sind hier unüberschreitbar und wirken im Grund der Natur. Und was
w ä r e die ewige Wiederkunft, wenn man vergäße, daß sie eine schwindelerre-
gende Bewegung ist, daß sie über eine Kraft verfügt, die auswählt, ausstößt
und er-schafft, zerstört und erzeugt, nicht aber das Selbe überhaupt wiederkeh-
ren läßt? Nietzsches großer Gedanke liegt darin, daß er die Wiederholung in
der ewigen Wiederkunft auf den Tod Gottes und auf die Auflösung des Ich
zugleich gründet. Im Theater des Glaubens aber herrscht ein ganz anderes
Bündnis; Kierkegaard erträumt es sich zwischen einem wiedergefundenen
Gott und einem wiedergefundenen Ich. Alle möglichen Unterschiede schlie-
ßen sich daran an: Vollzieht sich die Bewegung in der Sphäre des Geistes oder
in den Eingeweiden der Erde, die weder Gott noch Ich kennt? Wo wird man
besser gegen die Allgemeinheiten, gegen die Vermittlungen geschützt sein? Ist
die Wiederholung übernatürlich, und zwar insofern, als sie über den Naturge-
setzen steht? Oder ist sie das Natürlichste, Wille der Natur an sich selbst und
sich selbst als Physis wollend, weil die Natur durch sich selbst über ihren
eigenen Reichen und ihren eigenen Gesetzen steht? Hat Kierkegaard mit
seiner Verurteilung der ,,ästhetischen” Wiederholung nicht die verschieden-
sten Dinge durcheinandergebracht: eine Pseudo-Wiederholung, die man den
allgemeinen Gesetzen der Natur zuschreiben muß, eine echte Wiederholung in
der Natur selbst; eine Wiederholung von Leidenschaften nach einem patholo-
gischen Modus eine Wiederholung in der Kunst und im Kunstwerk? Wir
können an dies’er Stelle keines dieser Probleme lösen* wir haben uns damit
begnügt, die theatralische Bestätigung eines irreduziblen Unterschieds zwi-
s
chen Allgemeinheit und Wiederholung zu finden.

6 W - Nietzsche: Also spch Zarathustra, Dritter Teil, ,,Von alten und neuen Tafeln”,
$ 4: ,,Ab er nur ein Possenreißer denkt: ,der Mensch kann auch übersprungen wer-
den
“’ (a.a.O., S. 446).
28 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Wiederholung und Allgemeinheit traten einander unter dem Aspekt des Ver-
haltens und unter dem Aspekt des Gesetzes gegenüber. Es muß nun noch der
dritte Gegensatz präzisiert werden, der sich unter dem Gesichtspunkt des
Begriffs oder der Repräsentation ergibt. Wir wollen eine Frage quid juris
aufwerfen: Der Begriff kann sich von Rechts wegen auf ein existierendes
besonderes Ding beziehen und hat dann einen unendlichen Inhalt. Der unend-
liche Inhalt ist Korrelat einer Extension = 1. Es ist von großer Wichtigkeit,
daß dieses Unendliche des Inhalts als aktuell und nicht als virtuell oder bloß
unbestimmt gesetzt wird. Gerade unter dieser Bedingung bewahren sich die
Prädikate als Momente des Begriffs und wirken im Subjekt, dem sie sich
zuschreiben. Der unendliche Begriffsinhalt ermöglicht somit das Erinnern und
die Rekognition, das Gedächtnis und das Selbstbewußtsein (selbst wenn diese
beiden Vermögen ihrerseits nicht unendlich sind). Repräsentation nennt man
den Bezug zwischen Begriff und seinem Objekt unter diesem doppelten Ge-
sichtspunkt, wie er in jenem Gedächtnis und in jenem Selbstbewußtsein ver-
wirklicht wird. Daraus lassen sich die Grundsätze eines allgemeinverständli-
chen Leibnizianismus gewinnen. Einem Differenzprinzip - zufolge ist jede
Bestimmung in letzter Instanz begrifflich, oder sie ist aktualiter Teil des
Inhalts eines Begriffs. Einem Prinzip zureichenden Grunds zufolge gibt es
stets einen Begriff pro besonderem Ding. Der Umkehrung, dem Prinzip des
Nichtzuunterscheidenden zufolge gibt es pro Begriff ein und nur ein Ding.
Die Gesamtheit dieser Prinzipien bildet die Darstellung der Differenz als
begrifflicher Differenz oder die Entfaltung der Repräsentation als Vermitt-
lung.
Allerdings kann ein Begriff auf der Ebene jeder seiner Bestimmungen, jedes
der Prädikate, die er enthält, blockiert werden. Das Prädikat als Bestimmung
hat die Eigenschaft, im Begriff unveränderlich zu bleiben, im Ding aber ein
anderes zu werden (,,Tier“ wird beim Menschen und beim Pferd jeweils ein
anderes, ,,Menschheit” bleibt nicht dasselbe bei Peter und bei Paul). Gerade
darum ist der Inhalt des Begriffs unendlich: im Ding ein anderes geworden, ist
das Prädikat gleichsam das Objekt eines anderen Prädikats im Begriff. Darum
aber bleibt auch jede Bestimmung allgemein oder definiert eine Ähnlichkeit,
insofern sie unveränderlich im Begriff und von Rechts wegen einer Unend-
lichkeit von Dingen zukommt. Der Begriff wird hier so gebildet, daß in seiner
realen Anwendung sein Inhalt gegen unendlich geht, in seiner logischen
Anwendung aber stets eine künstliche Blockierung erfahren kann. Jede logi-
sche Beschränkung des Begriffsinhalts versieht diesen mit einer Extension, die
größer als 1, von Rechts wegen unendlich ist, versieht ihn folglich mit einer
Allgemeinheit, die so beschaffen ist, daß ihr kein existierendes Individuum hic
et nunc entsprechen kann (Regel der indirekten Proportion von Inhalt und
Extension). Auf diese Weise stellt sich das Prinzip der Differenz - als Diffe-
renz im Begriff - der Apprehension von Ähnlichkeiten nicht entgegen, son-
dern läßt ihr im Gegenteil den größtmöglichen Spielraum. Schon von den
Ratespielen aus betrachtet läßt sich die Frage ,,welcher Unterschied besteht?“
EINLEITUNG 29

immer umwandeln in: Welche Ähnlichkeit besteht? Vor allem in den Klassifi-
kationen aber impliziert und . bedingt die Bestimmung der . Arten eine konti-
nuierliche Taxierung der Ähnlichkeiten. Sicher ist die Ähnlichkeit keine par-
tielle Identität; dies aber nur, weil das Prädikat im Begriff kraft seines Anders-
werdens im Ding kein Teil dieses Dings ist.
Wir mochten den Unterschied zwischen diesem künstlichen Blockierungstyp
und einem ganz anderen Typ kennzeichnen, den man natürliche Blockierung
des Begriffs nennen muß. Der eine verweist auf die einfache Logik, der andere
aber auf eine transzendentale Logik oder auf eine Dialektik der Existenz.
Nehmen wir nun an, es wird einem Begriff, der in einem bestimmten Moment,
an dem sein Inhalt endlich ist, erfaßt wird, gewaltsam ein Ort in Raum und
.
Zeit zugewiesen, d. h. eine Existenz, die normalerweise der Extension = 1
entspricht. Man würde dann sagen, daß eine Gattung, eine Art hic et nunc
ohne Vergrößerung des Begriffsinhalts in die Existenz übergeht. Diese dem
Begriff vorgeschriebene Extension = 1 und die Extension = 00, die sein schwa-
cher Inhalt prinzipiell verlangt, werden auseinandergerissen. Das Resultat
wird eine ,,diskrete Extension“ sein, d.h. ein Wuchern von Individuen, die
hinsichtlich des Begriffs völlig identisch sind und an derselben Singularität in
der Existenz partizipieren (Paradox der Doppelgänger oder Zwillinge7). Die-
ses Phänomen diskreter Extension impliziert eine natürliche Blockierung des
Begriffs, die wesentlich von der logischen Blockierung differiert: Sie bildet
eine echte Wiederholung in der Existenz, anstatt eine Ähnlichkeitsordnung im
Denken zu errichten. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Allge-
meinheit, die stets eine logische Macht des Begriffs bezeichnet, und der
Wiederholung, die von seiner Ohnmacht oder seiner realen Grenze zeugt. Die
Wiederholung ist das reine Faktum eines Begriffs mit endlichem Inhalt, der als
solcher zum Übergang in die Existenz gezwungen wird: Kennen wir Beispiele
eines derartigen Übergangs? Das Atom Epikurs wäre eines dieser Beispiele; als
im Kaum verortetes Individuum besitzt es nichtsdestoweniger einen dürftigen
lnhalt, der mit einer diskreten Extension wettgemacht wird, so daß eine
Unendlichkeit von Atomen gleicher Form und gleicher Größe existiert. Es
läßt sich allerdings an der Existenz des Epikurschen Atoms zweifeln. Dagegen
Iäßt sich nicht an der Existenz der Wörter zweifeln, die in gewisser Weise
sprachliche Atome darstellen. Das Wort besitzt einen notwendig endlichen
Begriffsinhalt, da es ja von Natur aus Gegenstand einer bloß nominalen Defi-
nition ist. Hiermit ist uns ein Grund gegeben, weswegen der Inhalt des
Begriffs nicht gegen unendlich gehen kann: Ein Wort wird nur durch eine
begrenzte Anzahl von Wörtern definiert. Jedoch verschaffen Rede und Schrift,
mit denen es untrennbar verbunden ist, dem Wort eine Existenz hic et nunc;
die Gattung geht damit als solche in die Existenz über; und auch hier wird die

7 Formel und Phänomen der diskreten Extension werden in einem demnächst erschei-
nenden Text von Michel Tournier deutlich herausgearbeitet [Les météores, Paris
1975; dt . . Zwillinsterne, Hamburg 1977; A.d.Ü.].
l
30 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Extension durch Verstreuung, durch Diskretheit wettgemacht, und zwar im


Zeichen einer Wiederholung, die die reale Macht der Sprache in der Rede und
in der Schrift darstellt.
Die Frage lautet: Gibt es noch andere natürliche Blockierungen als die der
diskreten Extension oder des endlichen Inhalts? Nehmen wir einen Begriff mit
unbestimmtem (virtuell unendlichem) Inhalt. So weit man diesen Inhalt auch
abschreiten mag, man wird stets denken können, er subsumiere völlig identi-
sche Objekte. Im Gegensatz zu dem, was im aktuellen Unendlichen geschieht,
in dem der Begriff von Rechts wegen zur Unterscheidung seines Objekts von
jedem anderen Objekt hinreicht, sehen wir uns nun mit einem Fall konfron-
tiert, in dem der Begriff seinem Inhalt auf unbestimmte Weise folgen kann und
dabei stets eine selbst unbestimmte Pluralität von Objekten subsumiert. Auch
hier ist der Begriff für verschiedene Objekte das Selbe, auf unbestimmte Weise
derselbe. Wir müssen dann die Existenz nicht-begrifflicher Differenzen zwi-
schen diesen Objekten anerkennen. Am deutlichsten kennzeichnete Kant die
Korrelation zwischen Begriffen mit einer bloß unbestimmten Spezifikation
und nicht-begrifflichen, rein raum-zeitlichen oder gegensätzlichen Bestim-
mungen (Paradox der symmetrischen Objekte)!
Gerade diese Bestimmungen aber sind nur die Figuren der Wiederholung:
Raum und Zeit sind selbst Medien der Wiederholung; und der reale Gegensatz
ist nicht ein Maximum an Differenz, sondern ein Minimum an Wiederholung,
eine auf zwei reduzierte Wiederholung, Wiederkehr und Echo ihrer selbst,
eine Wiederholung, die das Mittel zu ihrer eigenen Definition gefunden hat,
Die Wiederholung erscheint folglich als die begrifflose Differenz, die sich der
unbestimmt kontinuierlichen begrifflichen Differenz entzieht. Sie drückt eine
spezifische Macht des Existierenden aus, eine Hartnäckigkeit des Existieren-
den in der Anschauung, die jeder Spezifikation durch den Begriff widersteht,
so weit man diese auch treiben mag. So weit man im Begriff auch voranschrei-
ten mag, sagt Kant, man wird immer wiederholen, d. h. ihm mehrere Objekte

8 Bei Kant gibt es zwar eine unendliche Spezifikation des Begriffs; weil aber dieses
Unendliche nur virtuell (unbestimmt) ist, kann man daraus kein Argument zugun-
sten der Aufstellung eines Prinzips des Nichtzuunterscheidenden ableiten. - Im
Gegenteil, Leibniz zufolge ist es von großer Wichtigkeit, daß der Inhalt des Begriffs
eines (möglichen oder wirklichen) existierenden Dings aktualiter unendlich ist: Leib-
niz bekräftigt dies ganz klar in über die Freiheit (,,Gott sieht [. . .] nicht das Ende der
Auflösung - denn ein solches Ende gibt es nicht”; in: Hauptschriften zur Grund-
legung der Philosophie, hg. v. E.Cassirer u. A.Buchenau, Bd. 2, Leipzig 1924, S. 501).
Wenn Leibniz das Wort ,,virtuell“ benutzt, um die Inhärenz des Prädikats im Fall
der faktischen Wahrheiten zu charakterisieren (vgl. etwa Metaphysische Abhandlung,
§ 8, ebd.), so darf virtuell nun nicht als Gegenteil von aktuell, es muß vielmehr im
Sinne von ,,eingehüllt”, ,,impliziert”, ,,eingedrückt” verstanden werden, was die
Aktualität keineswegs ausschließt. Zwar beruft sich Leibniz im strengen Sinn auf den
Begriff des Virtuellen, allerdings nur hinsichtlich einer Art notwendiger Wahrheiten
(nichtreziproke Sätze); vgl. über die Freiheit.
EINLEITUNG 31

zuordnen können, zumindest -aber zwei, eines für die linke und eines für die
rechte Seite, eines für das Mehr und eines für das Weniger, eines für das
positive und eines für das Negative.
Eine derartige Situation läßt sich besser begreifen, wenn man bedenkt, daß die
Begriffe unbestimmten
. Inhalts die Begriffe der Natur sind. Als solche befin-
den sie sich stets in etwas anderem: Sie sind nicht in der Natur, sondern im
Geist, der diese betrachtet oder beobachtet und sie sich vorstellt [représente].
Darum sagt man, die Natur sei entfremdeter Begriff, entfremdeter Geist, sich
selbst entgegengesetzt. Derartigen Begriffen entsprechen Objekte, die selber
ohne Gedächtnis sind, d.h. ihre eigenen Momente nicht besitzen und in sich
aufnehmen. Man fragt, warum die Natur wiederhole: weil sie partes extra
partes, mens momentanea ist. Die Neuheit geht an den sich vorstellenden
Geist über: Weil der Geist ein Gedächtnis besitzt oder Gewohnheiten
annimmt, vermag er Begriffe überhaupt zu bilden und der von ihm betrachte-
ten Wiederholung etwas Neues abzugewinnen, etwas Neues zu entlocken.
Die Begriffe mit endlichem Inhalt sind die Nominalbegriffe; die Begriffe mit
unbestimmtem Inhalt, aber ohne Gedächtnis, sind die Begriffe der Natur.
Nun sind mit diesen beiden Fällen die Beispiele natürlicher Blockierung noch
nicht erschöpft. Gegeben sei eine individuelle Notion oder eine besondere
Vorstellung [représentation] mit unendlichem Inhalt, die zwar Gedächtnis,
aber kein Selbstbewußtsein besitzt. Die begriffliche Vorstellung ist zwar an
sich, die Erinnerung ist vorhanden und umfaßt die ganze Besonderheit eines
Akts, einer Szene, eines Ereignisses, eines Seins. Aus einem bestimmten natur-
lichen Grund fehlt aber das Fürsich des Bewußtseins, die Rekognition. Es
fehlt dem Gedächtnis das Erinnern, oder besser die Durcharbeitung. Zwischen
der Vorstell ung und dem Ego’ errichtet das Bewußtsein eine Beziehung, die
wesentlich tiefer reicht als diejenige, die im Ausdruck ,,ich habe eine Vorstel-
ung“ erscheint; es bezieht die Vorstellung auf das Ego wie auf ein freies
Vermögen, das sich in keines seiner Produkte einschließen läßt, für das aber
jedes Produkt bereits als vergangen gedacht und wiedererkannt ist, Anlaß
einer im inneren Sinn bestimmten Veränderung. Wenn das Bewußtsein des
Wissens oder die Durcharbeitung der Erinnerung fehlt, so ist das Wissen als
Wissen an sich nurmehr die Wiederholung seines Objekts: Es wird gespielt,
d. h. wiederholt, agiert anstatt erkannt. Die Wiederholung erscheint hier als
das Unbewußte des freien Begriffs, des Wissens oder der Erinnerung, als das
unbewußte der Vorstellung. Freud war es, der den natürlichen Grund einer
derartigen Blockierung festgemacht hat: die Verdrängung, der Widerstand, der
aus der Wiederholung sogar eine regelrechte ,,Nötigung”, einen ,,Zwang“
macht, Hier liegt also ein dritter Fall von Blockierung vor, der nun die

’ Frz. Je; die terminologische Unterscheidung zwischen einem aktiven Ego [/e/ und
einem passiven Ich (moi/ wird im Folgenden - wenn nicht anders angegeben -
beibehalten [A.d.Ü.]. ‘?
32 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Begriffe der Freiheit betrifft. Und aus der Perspektive eines gewissen Freudia-
nismus läßt sich auch hier das Prinzip der indirekten Proportion zwischen
Wiederholung und Bewußtsein, Wiederholung und Erinnern, Wiederholung
und Rekognition herausstellen (Paradox der ,,Grabstätte“ oder vergrabenen
Objekte): Man wiederholt seine Vergangenheit um so mehr, je weniger man
sich wieder an sie erinnert, je weniger bewußt man sich seines Erinnerns ist -
erinnert euch, arbeitet die Erinnerung durch, um nicht zu wiederholen”. Das
Selbstbewußtsein in der Rekognition erscheint als Vermögen der Zukunft oder
Funktion des Zukünftigen, als Funktion des Neuen. Stimmt es denn nicht, daß
einzig diejenigen Toten wiederkehren, die man zu schnell und allzu tief begra-
ben hat, ohne ihnen die nötige Schuldigkeit zu zollen, und daß das Schuldge-
fühl weniger von einem Übermaß an Gedächtnis als von einer Ohnmacht oder
einem Versagen in der Durcharbeitung einer Erinnerung zeugt?
Es gibt eine Tragik und eine Komik der Wiederholung. Die Wiederholung
erscheint sogar immer doppelt, einmal im tragischen Geschick, das andere Mal
im komischen Charakter. Im Theater wiederholt der Held, eben weil er von
einem unendlichen wesentlichen Wissen abgeschnitten ist. Dieses Wissen liegt
in ihm, ist in ihn eingesenkt, wirkt in ihm, wirkt aber als ein Verborgenes, als
blockierte Vorstellung. Der Unterschied zwischen dem Komischen und dem
Tragischen beruht auf zwei Elementen: auf der Natur des verdrängten Wis-
sens, das bald unmittelbares natürliches Wissen, bloße Gegebenheit des
Gemeinsinns, bald schreckliches esoterisches Wissen ist; und folglich auch auf
der Art und Weise, wie die Figur davon ausgeschlossen ist und ,,nicht weiß,
daß sie weiß”. Das praktische Problem überhaupt besteht in Folgendem:
Dieses ungewußte Wissen muß als eines vorgestellt werden, das die ganze
Bühne überflutet, alle Elemente des Stücks durchtränkt, alle Mächte der Natur
und des Geistes in sich einschließt; zugleich aber darf es der Held nicht sich
selbst vorstellen, er muß es vielmehr agieren, spielen, wiederholen. Bis hin zu
jenem kritischen Augenblick, den Aristoteles ,,Wiedererkennung“ nannte, an
dem Wiederholung und Vorstellung einander verschränken, miteinander rin-
gen, ohne jedoch ihre beiden Ebenen zu vermischen, wobei sich die eine in der
anderen reflektiert, von ihr zehrt, und das Wissen nun als dasselbe wieder-
erkannt wird, sofern es auf der Bühne vorgestellt und vom Schauspieler
wiederholt wird.

l” Si g mund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: Gesammelte Werke,


London 1940ff., Bd. 10, S. 126-136. - Diesem Weg einer negativen Interpretation
der psychischen Wiederholung (man wiederholt, weil man sich täuscht, weil man die
Erinnerung nicht durcharbeitet, weil man sich nicht bewußt ist, weil man keine
Triebe hat) ist Ferdinand Alquie wie kein anderer und mit unvergleichlicher Strenge
gefolgt: L.e dksir d’kternitk, Paris 1943, Kap. 2-4.
33
EINLEITUNG

Das Diskrete, das Entfremdete, das Verdrängte sind die drei Fälle von natürli-
cher Blockierung, die den Nominalbegriffen, den Naturbegriffen und den
Freiheitsbegriffen entsprechen. In all diesen Fällen aber beruft man sich auf die
Form des Identischen im Begriff, auf die Form des Selben in der Repräsenta-
tion, um der Wiederholung gerecht zu werden: Die Wiederholung wird von
Elementen ausgesagt, die wirklich unterschieden sind und dennoch strikt
denselben Begriff besitzen. Die Wiederholung erscheint folglich als Diffe-
renz, aber als absolut begrifflose und in diesem Sinne indifferente Differenz.
Die Wörter ,,wirklich“, ,,strikt“, ,, absolut“ sollen hier auf das Phänomen der
natürlichen Blockierung verweisen, im Gegensatz zur logischen Blockierung,
-- - nur eine Allgemeinheit bestimmt. Dieser ganze Versuch wird jedoch durch
die
einen großen Nachteil gefährdet. Solange wir-uns auf die absolute Identität des
Begriffs für verschiedene Objekte berufen, legen wir nur eine negative und
defiziente Erklärung nahe. Dabei bleibt es sich-gleich, ob dieser Mangel in der
jeweiligen Natur des Begriffs oder der Repräsentation selber begründet ist. Im
ersten Fall gibt es Wiederholung, weil der Nominalbegriff von Natur aus
einen endlichen Inhalt besitzt. Im zweiten Fall gibt es Wiederholung, weil der
Naturbegriff von Natur aus ohne Gedächtnis, entfremdet, außer sich ist. Im
dritten Fall, weil der Freiheitsbegriff unbewußt, die Erinnerung und die Vor-
stellung verdrängt bleiben. In all diesen Fällen wiederholt dasjenige, was
wiederholt, nur dadurch, daß es nicht ,,begreift“, sich nicht erinnert, nicht
w e i ß oder kein Bewußtsein besitzt. Überall ist es die Unzulänglichkeit des
Begriffs und seiner repräsentativen Begleitmomente (Gedächtnis und Selbstbe-
wußtsein, Erinnern und Rekognition), die für die Wiederholung verantwort-
lich sein soll. Darin liegt folglich der Mangel jedes Arguments, das sich auf die
Identitätsform im Begriff gründet: Diese Argumente liefern uns nur eine
nominale Definition und eine negative Explikation der Wiederholung. Sicher
läßt sich die formale Identität, die der bloßen logischen Blockierung ent-
spricht, der realen Identität (dem Selben) gegenüberstellen, wie sie in der
natürlichen Blockierung erscheint. Aber die natürliche Blockierung bedarf
selbst einer überbegrifflichen positiven Kraft, die sie und mit ihr zusammen
die Wiederholung zu explizieren vermag.
Kommen wir auf das Beispiel der Psychoanalyse zurück: Man wiederholt,
weil man verdrängt . . . Freud hat sich niemals mit einem solchen negativen
Schema zufriedengegeben, in dem man die Wiederholung durch Amnesie
erklärt. Freilich bezeichnet die Verdrängung von Anfang an eine positive
Macht. Aber diese Positivität entlehnt sie dem Lustprinzip oder dem Realitäts-
prinzip: eine bloß abgeleitete und über den Gegensatz bestimmte Positivität.
Die große Wende der Freudschen Theorie erscheint in Jenseits des Lustprin-
zips: Der Todestrieb wird nicht in Zusammenhang mit den destruktiven Ten-
denzen, nicht in Zusammenhang mit der Aggressivität entdeckt, sondern auf
Grund einer direkten Berücksichtigung der Wiederholungsphänomene. Seltsa-
merweise wird der Todestrieb als ursprüngliches positives Prinzip für die
Wiederholung namhaft gemacht, hierin liegt sein Gebiet und sein Sinn. Er
34 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

spielt die Rolle eines transzendentalen Prinzips, während das Lustprinzip nur
psychologischer Natur ist. Darum ist er vor allem verschwiegen (nicht in der
Erfahrung gegeben), während das Lustprinzip Lärm um sich macht. Die erste
Frage müßte also lauten: Wie kann das Thema des Todes, das doch das
Negativste im psychologischen Leben zusammenzufassen scheint, an sich zum
Positivsten, transzendental Positiven werden, und zwar derart, daß es die
Wiederholung bejaht? Wie kann es auf einen ursprünglichen Trieb bezogen
werden? Aber eine zweite Frage fällt unmittelbar mit dieser zusammen. In
welcher Form wird die Wiederholung durch den Todestrieb bejaht und vorge-
schrieben? In der tiefsten Schicht handelt es sich um das Verhältnis zwischen
der Wiederholung und den Verkleidungen. Verdecken die Verkleidungen in
der Traumarbeit oder Symptombildung - die Verdichtung, die Verschiebung,
die Dramatisierung - eine rohe und nackte Wiederholung (als Wiederholung
des Selben), indem sie sie abschwächen? Schon in der ersten Theorie der
Verdrängung wies Freud einen anderen Weg: Dora leistet eine Durcharbei-
tung ihrer eigenen Rolle und wiederholt ihre Liebe zum Vater nur über andere
Rollen, die von anderen besetzt werden, und die sie selbst im Verhältnis zu
diesen anderen einnimmt (K., Frau K., die Gouvernante . . .). Die Verkleidun-
gen und Varianten, die Masken oder Travestien werden nicht ,,darüber“
gestülpt, sondern sind im Gegenteil die inneren genetischen Elemente der
Wiederholung selbst, ihre integrierenden und konstitutiven Bestandteile. Die-
ser Weg hätte die Analyse des Unbewußten zu einem wahrhaften Theater
hinführen können. Wenn er jedoch nicht ans Ziel gelangt, so liegt dies darin,
daß Freud nicht umhin kann, das Modell einer rohen Wiederholung wenig-
stens tendenziell aufrechtzuerhalten. Man sieht das deutlich, wenn er die
Fixierung dem Es zuschreibt; die Verkleidung wird nun aus der Perspektive
eines bloßen Kräftegegensatzes begriffen, die verkleidete Wiederholung ist
nurmehr die Frucht eines sekundären Kompromisses zwischen den entgegen-
gesetzten Kräften des Ich und des Es. Selbst im Jenseits des Lustprinzips
bleibt die Form einer nackten Wiederholung erhalten, da Freud den Tode-
strieb als eine Tendenz zur Rückkehr in den Zustand unbelebter Materie
interpretiert, die am Modell einer gänzlich physischen oder materiellen
Wiederholung festhält.
Der Tod hat nichts mit einem materiellen Modell zu tun. Es genügt, wenn
man demgegenüber den Todestrieb in seinem spirituellen Verhältnis zu den
Masken und Travestien begreift. Tatsächlich ist die Wiederholung das, was
sich verkleidet, indem es sich konstituiert, und sich nur insofern konstituiert,
als es sich verkleidet. Sie liegt nicht unter den Masken, sondern bildet sich von
einer Maske zur anderen, wie von einem ausgezeichneten Punkt zu einem
anderen, von einem privilegierten Augenblick zu einem anderen, mit und in
den Varianten. Die Masken verdecken nichts, nur andere Masken. Es gibt
keinen ersten Term, der wiederholt würde; und noch unsere Kinderliebe zur
Mutter wiederholt andere Lieben, die wir als Erwachsene für andere Frauen
empfinden, ein wenig wie der Held der Recherche mit seiner Mutter Swanns
EINLEITUNG 35

Leidenschaft für Odette nachspielt. Es gibt also nichts Wiederholtes, das von
d e r Wiederholung isoliert oder abstrahiert werden könnte, in der es sich
bildet, aber auch verbirgt. Es gibt keine nackte Wiederholung, die von der
Verkleidung selbst abstrahiert oder erschlossen werden könnte. Dasselbe Ding
verkleidet und ist verkleidet. Es war ein entscheidender Moment in der Psy-
choanalyse, als Freud in gewissen Punkten auf die Hypothese realer Kind-
heitsereignisse als letzter verkleideter Terme verzichtete, um sie durch die
Macht der Phantasie zu ersetzen, die in den Todestrieb eintaucht, wo alles
schon Maske und noch Verkleidung ist. Kurz, die Wiederholung ist in ihrem
Wesen symbolisch, das Symbol, das Trugbild ist der Buchstabe der Wiederho-
lung selbst. Kraft der Verkleidung und der Ordnung des Symbols ist die
Differenz in der Wiederholung enthalten. Darum werden die Varianten nicht
von Außen aufgepfropft, drücken sie keinen sekundären Kompromiß zwi-
schen einer verdrängenden und einer verdrängten Instanz aus und dürfen nicht
von den noch negativen Formen des Gegensatzes, der Umwendung oder der
Verkehrung aus begriffen werden. Die Varianten drücken eher differentielle
Mechanismen aus, die zum Wesen und zur Genese dessen gehören, was sich
wiederholt. Man müßte selbst die Verhältnisse zwischen dem ,,Nackten“ und
dem ,,Bekleideten“ in der Wiederholung verkehren. Gegeben sei eine nackte
Wiederholung (als Wiederholung des Selben), etwa ein zwangsneurotisches
Zeremoniell oder eine schizophrene Stereotypie: Das Mechanische an der
Wiederholung, das offensichtlich wiederholte Handlungselement dient als
Decke einer tieferliegenden Wiederholung, die sich in einer anderen Dimen-
sion, in einer geheimen Vertikalität abspielt, in der die Masken und Rollen
vom Todestrieb gespeist werden. Theater des Schreckens, sagte Binswanger
hinsichtlich der Schizophrenie. Und das ,,nie Gesehene“ [jamais vu] ist hier
nicht das Gegenteil des-,,De+-vü, beide meinen dasselbe und werden jeweils
im anderen erlebt. Nervals .Sylvie führte uns bereits in dieses Theater, und
Gradiva zeigt uns, mit einer großen gedanklichen Nähe zu Nerval, den Hel-
den, wie er die Wiederholung als solche und zugleich das erlebt, was sich als
stets Verkleidetes in der Wiederholung wiederholt. In der Analyse der
Zwangsneurose taucht das Thema des Todes in dem Augenblick auf,‘an dem
der Zwangsneurotiker über alle Figuren seines Dramas verfügt und sie in einer
Wiederholung vereint, für die das ,,Zeremoniell” nur die äußere Umhüllung
darstellt. Überall ist die Maske, die Travestie, das Bekleidete die Wahrheit des
Nackten. Die Maske ist das wahre Subjekt der Wiederholung. Weil die
Wiederholung ihrer Natur nach von der Vorstellung abweicht, kann das
Wiederholte nicht vorgestellt werden, sondern muß immer bedeutet werden,
maskiert mit dem, wodurch es bedeutet wird, und selbst Maske dessen, was es
bedeutet.
Ich wiederhole nicht, weil ich verdränge. Ich verdränge, weil ich wiederhole,
ich vergesse weil ich wiederhole. Ich verdränge, weil ich zunächst manche
Dinge oder ‘manche Erfahrungen nur im Modus der Wiederholung erleben
kann. Ich bin zur Verdrängung dessen bestimmt, was mich daran hindern
36 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

würde, sie so zu erleben: d. h. der Vorstellung, die das Erlebte vermittelt,


indem sie es auf die Form eines identischen oder ähnlichen Objekts bezieht.
Eros und Thanatos unterscheiden sich darin, daß Eros wiederholt werden
muß und nur in der Wiederholung erlebt werden kann, daß Thanatos (als
transzendentales Prinzip) aber Eros zur Wiederholung veranlaßt und ihn der
Wiederholung unterwirft. Nur ein derartiger Standpunkt kann uns in den
ungeklärten Problemen des Ursprungs der Verdrängung, ihrer Natur, ihren
Ursachen und der genauen Terme, auf die sie sich bezieht, voranbringen.
Wenn nämlich Freud jenseits der ,,eigentlichen“ Verdrängung, die sich auf
Vorstellungen [représentations] bezieht, die Notwendigkeit zur Annahme
einer Urverdrängung aufzeigt, die zunächst reine Darstellungen [présentations]
oder die Art betrifft, wie die Triebe notwendigerweise erlebt werden, so
glauben wir, daß er damit einem inneren positiven Grund der Wiederholung
am nächsten kommt, der ihm später im Todestrieb bestimmbar erscheinen
wird und die Blockierung der Vorstellung in der eigentlichen Verdrängung
erklären soll - und keineswegs durch diese erklärt wird. Darum ist das Gesetz
einer indirekten Proportion Wiederholung/Erinnern in jeder Hinsicht wenig
befriedigend, soweit es die Wiederholung von der Verdrängung abhängig
macht.
Von Anfang an betonte Freud, daß es zur Unterbrechung der Wiederholung
nicht genügte, sich abstrakt (ohne Affekt) zu erinnern oder einen Begriff
überhaupt zu bilden oder sich das verdrängte Ereignis in seiner ganzen Beson-
derheit vorzustellen: Man mußte vielmehr die Erinnerung an ihrer ursprüngli-
chen Stelle aufsuchen, sich sofort in der Vergangenheit einrichten, um die
lebendige Verbindung zwischen Wissen und Widerstand, Vorstellung und
Blockierung herzustellen. Man kuriert also nicht durch bloße Mnesie, wie man
auch nicht an Amnesie erkrankt. Hier wie anderswo hat die Bewußtwerdung
nicht viel zu bedeuten. Das ungleich theatralischere und dramatischere Verfah-
ren, durch das man geheilt und auch nicht geheilt wird, hat einen Namen: die
Übertragung. Nun ist die Übertragung noch Wiederholung, vor allem
Wiederholung”. Wenn uns die Wiederholung krank macht, so werden wir
gerade durch sie auch kuriert; wenn sie uns fesselt und zerstört, so werden wir
gerade durch sie wiederum befreit, wobei sie in beiden Fällen ihre ,,dämoni-

11 Freud beruft sich gerade auf die Übertragung, um sein pauschales Gesetz der
indirekten Proportion in Frage zu stellen. Vgl. Jenseits des Lustprinzips, Gesammelte
Werke, a.a.O., Bd. 13, S. 17: Erinnerung und Reproduktion, Erinnern und Wieder-
holung stehen einander prinzipiell entgegen, in der Praxis aber muß man sich damit
abfinden, daß der Kranke in der Kur gewisse verdrängte Elemente von Neuem
durchlebt: ,,Das Verhältnis, das sich zwischen Erinnerung und Reproduktion her-
stellt, ist für jeden Fall ein anderes.“ - Am nachdrücklichsten insistierten Ferenczi
und Rank auf den therapeutischen und befreienden Aspekt der Wiederholung, wie
er in der Übertragung erscheint: Entwicklungsziele der Psychoanalyse. Neue Arbei-
ten zur ärztlichen Psychoanalyse, Wien 1924.
EINLEITUNG
37

sche“ Macht bezeugt. Die Kur insgesamt . ist eine Reise zum Grund der
Wiederholung. ES . besteht zwar in der Übertragung eine gewisse Analogie
z u m wissenschaftlichen Experimentieren, da ja der Kranke die Gesamtheit
seiner Störung unter idealen künstlichen Bedingungen wiederholen soll, indem
er die person des Analytikers zum ,,Objekt“ nimmt. Aber die Wiederholung
hat in der Übertragung weniger die Funktion, Ereignisse, Personen und Lei-
denschaften zu identifizieren, als die Echtheit von Rolle zu erweisen und
Masken auszuwählen. Die Übertragung ist kein Experiment, sondern ein
Prinzip, das die analytische Erfahrung insgesamt begründet Die Rollen selbst
sind von Natur aus erotisch, die Prüfung der R ollen aber appelliert an jenes
höhere Prinzip, an jenen profunderen Richter - den Todestrieb. Tatsächlich
war die Reflexion über die Übertragung ein bestimmendes Motiv der Entdek-
kung eines ,,Jenseits“. In diesem Sinne konstituiert die Wiederholung aus sich
selbst heraus das selektive Spiel unserer Krankheit und unserer Gesundheit,
unseres Verderbens und unseres Heils. Wie läßt sich dieses Spiel auf den
Todestrieb beziehen? Sicher in einem ähnlichen Sinn, wie es Miller in seinem
wunderbaren Buch über Rimbaud sagt: ,,Ich begriff, daß ich frei war, daß
mich der Tod, der mir widerfahren war, befreit hatte.“ Es wird deutlich, daß
die Idee eines Todestriebs in Abhängigkeit von drei komplementären parado-
xalen Forderungen begriffen werden muß: der Wiederholung ein positives
ursprüngliches Prinzip, aber auch eine autonome Verkleidungsmacht und
schließlich einen immanenten Sinn zu verleihen, in dem sich der Schrecken
innig mit der Bewegung der Selektion und der Freiheit vermengt.

Unser Problem betrifft das Wesen der Wiederholung. Es handelt sich um die
Frage, warum sich die Wiederholung nicht durch die Identitätsform im Begriff
oder in der Repräsentation erklären läßt - in welchem Sinne sie ein höheres
,,positives” Prinzip verlangt. Diese Frage muß sich auf die Gesamtheit der
Natur- und Freiheitsbegriffe beziehen. Betrachten wir, an der Grenze zwi-
schen beiden Fällen, die Wiederholung eines Schmuckmotivs: Eine Figur wird
unter einem absolut identischen Begriff reproduziert . . . In Wirklichkeit aber
verfahrt der Künstler nicht auf diese Weise. Er reiht nicht Exemplare der Figur
aneinander, er kombiniert vielmehr jedesmal ein Element eines Exemplars mit
einem anderen Element eines folgenden Exemplars. In den dynamischen Kon-
struktionsprozeß fuhrt er ein Ungleichgewicht, eine Instabilität, eine Asym-
metrie, eine Art Aufklaffen ein, die nur in der Gesamtwirkung gebannt sein
werden. Im Kommentar zu einem derartigen Fall schreibt Levi-Strauss:
,,Diese Elemente verzahnen sich ineinander, und erst am Ende gewinnt die
gesamte Figur eine Stabilität , die den dynamischen Prozeß ihrer Entstehung
sowohl bestätigt wie verleugnet‘c12. Diese Bemerkungen gelten für den Kau-
-
l2 Claude Lévi-St rauss: Tristes Tropiques, Paris 1955, S. 197-199 (dt.: Traurige Tropen,
Frankfurt/M. 1978, s. 181-183).
38 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

salitätsbegriff allgemein. Denn in der künstlerischen oder natürlichen Kausali-


tät zählen nicht die vorhandenen Symmetrieelemente, sondern diejenigen Ele-
mente, die fehlen und nicht in der Ursache liegen - die Möglichkeit, daß die
Ursache weniger symmetrisch als die Wirkung ist. Und mehr noch, die Kausa-
lität bliebe auf ewig hypothetisch, eine bloße logische Kategorie, wenn diese
Möglichkeit nicht zu einem beliebigen Augenblick wirklich eingelöst würde.
Darum läßt sich das logische Kausalitätsverhältnis nicht von einem physikali-
schen Prozeß der Signalisierung trennen, ohne den es nicht aktiv würde.
,,Signal“ nennen wir ein System, das asymetrische Elemente und Ordnungen
disparater Größen enthält; ,,Zeichen“ nennen wir, was in einem derartigen
System geschieht, was im Intervall aufblitzt, etwa eine Kommunikation, die
sich zwischen den Disparata herstellt. Das Zeichen ist zwar eine Wirkung,
aber die Wirkung besitzt zwei Aspekte, einen, mit dem sie als Zeichen die
produktive Asymmetrie ausdrückt, einen anderen, durch den sie sie aufzuhe-
ben versucht. Das Zeichen entspricht nicht völlig der Ordnung des Symbols;
es bereitet sie jedoch vor, indem es eine innere Differenz impliziert (aber die
Bedingungen seiner Reproduktion noch außerhalb hält).
Der negative Ausdruck ,,Mangel an Symmetrie“ darf uns nicht irreführen: Er
bezeichnet den Ursprung und die Positivität des Kausalprozesses. Er ist die
Positivität selbst. Das Wesentliche, wie es uns durch das Beispiel des
Schmuckmotivs nahegelegt wird, liegt für uns in der Zergliederung der Kau-
salität, um in ihr zwei Wiederholungstypen zu unterscheiden, einen, der nur
die abstrakte Gesamtwirkung betrifft, und andererseits die Wirkursache. Die
eine Wiederholung ist statisch, die andere dynamisch. Die eine resultiert aus
dem Werk, die andere aber ist gleichsam die ,,Evolution“ der Geste. Die eine
verweist auf einen und denselben Begriff, der nur eine äußere Differenz zwi-
schen den gewöhnlichen Exemplaren einer Figur fortbestehen läßt; die andere
ist Wiederholung einer inneren Differenz, die sie in jedem ihrer Momente
umschließt und von einem ausgezeichneten Punkt zum anderen transportiert.
Man kann versuchen, diese Wiederholungen gleichzusetzen, indem man
behauptet, daß sich vom ersten zum zweiten Typ nur der Begriffsinhalt geän-
dert habe oder daß sich die Figur anders zusammenfüge. Aber dies wäre eine
Verkennung der jeweiligen Ordnung jeder Wiederholung. Denn in der dyna-
mischen Ordnung gibt es weder repräsentativen Begriff noch Figur, die in
einem vorgängigen Raum repräsentiert würde. Es gibt nur eine Idee und eine
reine schöpferische Dynamik des korrespondierenden Raums.
Die Studien zum Rhythmus oder zur Symmetrie bestätigen diese Dualität.
Man unterscheidet eine arithmetische Symmetrie, die auf eine Skala von ganz-
zahligen oder gebrochenen Koeffizienten verweist, und eine geometrische
Symmetrie, die auf irrationalen Proportionen oder Verhältnissen beruht; eine
statische Symmetrie kubischen oder hexagonalen Typs, und eine dynamische
Symmetrie pentagonalen Typs, die sich in einem spiralförmigen Verlauf oder
in einer Frequenz mit geometrischer Progression niederschlägt, kurz in einer
lebendigen und tödlichen ,,Evolution“. Nun befindet sich der zweite Typ im
EINLEITUNG
39

Herzen des ersten, er ist. dessen Herz, dessen aktiver, positiver Prozeß. In
einem Netz deckungsgleicher Quadrate entdeckt man strahlenförmige Ver-
läufe, deren asymmetrischer Pol im Zentrum eines Fünfecks oder eines Penta-
gramms liegt. Das Netz ist wie ein Gewebe über ein Gerüst gebreitet, ,,aber
der Schnitt, der Grundrhythmus dieses Gerüsts ist fast immer ein von diesem
Netz unabhängiges Thema“: so das asymmetrische Element, das zugleich als
Prinzip der Genese und der Reflexion für ein symmetrisches Ensemble
dient 13. Die statische Wiederholung im Netz deckungsgleicher Quadrate ver-
weist also auf eine dynamische Wiederholung, die durch ein Fünfeck und ,,die
abnehmende Reihe der Pentagramme, die darin von Natur aus eingeschrieben
sind ILL, gebildet wird. Ebenso legt uns die Rhythmuslehre eine unmittelbare
Unterscheidung zwischen zwei Typen von Wiederholung nahe. Die metrische
Wiederholung ist eine regelmäßige Zeiteinteilung, eine isochrone Wiederkehr
identischer Elemente. Eine Dauer aber existiert nur dann, wenn sie durch
einen betonten Akzent bestimmt, von Intensitäten gesteuert wird. Man würde
sich über die Funktion der Akzente täuschen, wenn man behauptete, sie
reproduzierten sich in gleichen Intervallen. Die betonten und intensiven Werte
wirken im Gegenteil durch die Erzeugung von Ungleichheiten, Inkommensu-
rabilitäten in metrisch gleichen Dauern oder Räumen. Sie schaffen ausgezeich-
nete Punkte, privilegierte Augenblicke, die stets eine Polyrhythmie kennzeich-
nen. Auch hier ist das Ungleiche das Positivste. Das Metrum ist nur die Hülle
eines Rhythmus und eines Verhältnisses von Rhythmen. Die Reprise von
Ungleichheitspunkten, Extrempunkten und rhythmischen Ereignissen reicht
tiefer als die Reproduktion homogener gewöhnlicher Elemente; so daß wir
überall die metrische Wiederholung und die rhythmische Wiederholung aus-
einanderhalten müssen, wobei die erste nur die Erscheinung oder die abstrakte
Wirkung der zweiten ist. Eine materielle und nackte Wiederholung (als
Wiederholung des Selben) erscheint nur insofern, als sich eine andere Wieder-
holung in ihr verkleidet, sie konstituiert und sich selbst konstituiert, indem sie
sich verkleidet. Selbst in der Natur sind die isochronen Rotationen nur die
Erscheinung einer tieferliegenden Bewegung, sind die Umlaufzyklen nur
abstrakt; im Verhältnis zueinander offenbaren sie evolutive Zyklen, Spiralen
mit variablem Krümmungsgrad, deren Trajektorie zwei asymmetrische
Aspekte wie die linke und die rechte Seite besitzt. Die Geschöpfe entspinnen
ihre Wiederholung stets in dieser Kluft, die nicht mit dem Negativen zusam-
menfällt, und erhalten zugleich damit die Gabe des Lebens und des Todes.
Kommen wir nun zu den Nominalbegriffen zurück. Wird die Wiederholung
des Worts durch die Identität des Nominalbegriffs erklärt? Gegeben sei das
Beispiel des Reims: Er ist zwar verbale Wiederholung, eine Wiederholung
aber, die die Differenz zwischen zwei Wörtern umfaßt und sie ins Innere einer
poetischen Idee einschreibt > in einen Raum , den er bestimmt. Daher liegt sein

Matila Ghyka: Le nombre d’or, Paris 1931, Bd, 1, S. 65.


40 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Sinn auch nicht in der Kennzeichnung gleicher Intervalle, sondern eher - wie
man es an einer Gestaltung des starken Reims sieht - darin, daß er die
Klangwerte in den Dienst des betonten Rhythmus stellt und die Unabhängig-
keit der betonten Rhythmen gegenüber den arithmetischen Rhythmen unter-
stützt. Die Wiederholung ein und desselben Worts nun müssen wir als ,,verall-
gemeinerten Reim” begreifen; und nicht den Reim als reduzierte Wiederho-
lung. Zwei Verfahren prägen diese Verallgemeinerung: Entweder garantiert
ein Wort mit zweierlei Bedeutung [sens] eine paradoxe Ähnlichkeit oder Iden-
tität zwischen diesen beiden Bedeutungen. Oder es übt - mit nur einer Bedeu-
tung - eine Anziehungskraft auf die benachbarten Wörter aus und überträgt
auf sie eine außerordentliche Gravitation, bis eines dieser angrenzenden Wör-
ter die Nachfolge antritt und seinerseits zum Wiederholungszentrum wird.
Raymond Roussel und Charles Péguy waren die großen ,Repetitoren’ der
Literatur; sie vermochten die pathologische Macht der Sprache auf ein überle-
genes künstlerisches Niveau zu heben. Roussel geht von Wörtern mit zwei
Bedeutungen oder Homonymen aus und überbrückt den ganzen Abstand
zwischen diesen Bedeutungen durch eine Geschichte und durch Objekte, die
selbst zweigeteilt sind und zweimal dargestellt werden; er triumphiert damit
über die Homonymie auf deren eigenem Terrain und schreibt das Maximum
an Differenz in die Wiederholung wie in den offenen Raum im Innern des
Worts ein. Dieser Raum wird von Roussel zudem als Raum der Masken und
des Todes dargestellt, wo zugleich eine fesselnde und eine rettende Wiederho-
lung entstehen - eine rettende Wiederholung, die zuallererst vor der fesseln-
den rettet. Roussel erschafft eine After-Sprache, in der einst, nachdem alles
gesagt worden ist, alles sich wiederholt und von Neuem beginnt14. Ganz
anders die Technik Péguys: Sie setzt die Wiederholung nicht an die Stelle der
Homonymie, sondern der Synonymie; sie betrifft das, was die Linguisten
Kontiguitätsfunktion nennen, und nicht mehr die Funktion der Similarität; sie
bildet eine Vor-Sprache, eine Sprache der Frühe, in der man mit kleinen
Differenzen allmählich den Innenraum der Wörter erzeugt. Dieses Mal mün-
I
l4 Zum Verhältnis der Wiederholung zur Sprache, aber auch zu den Masken und zum
Tod im Werk Raymond Roussels vgl. das schöne Buch Michel Foucaults, Raymond
Roussel, Paris 1963 (dt.: Frankfurt/M. 1989): ,,Die Wiederholung und die Differenz ;
sind so gut ineinander verschachtelt und ergänzen sich mit einer solchen Genauig-
keit, daß man nicht zu sagen vermag, was zuerst kommt [. . .]“ (S. 35-37; dt.: X--3?).
,,Weit davon entfernt, eine Sprache zu sein, die einen Neubeginn anstrebt, handelt es
sich dabei um die zweite Gestalt von bereits gesprochenen Worten: Es geht um die
übliche Sprache, die durch die Destruktion und den Tod bearbeitet wurde. [. . .] Von
Natur aus ist sie wiederholend. [. . .] [N]icht die laterale Wiederholung der Dinge,
die man nachspricht; sondern jene radikale, die über die Nicht-Sprache hinausge-
gangen ist und dieser überschrittenen Leere ihren poetischen Status verdankt [. . .]“
(S. 61-63; dt: 56-59). - Eb enso wird man den Aufsatz Michel Butors über Roussel
(in: Répertoire 1, Paris 1960; dt.: Repertoire 1, München 1961) heranziehen, der den
doppelten Aspekt einer fesselnden und rettenden Wiederholung untersucht.
41
EINLEITUNG

det alles in das Problem der Frühverstorbenen und des Alters, aber auch hier,
bei diesem Problem, in die unerhörte Möglichkeit, eine Wiederholung ZU
bejahen, die vor der fesselnden rettet. Beide, Péguy und Roussel, treiben die
Sprache an eine ihrer Grenzen (Similarität oder Selektion bei Roussel, das
,,distinktive Merkmal” zwischen billard und pillard; Kontiguität oder Kombi-
.
nation bei Péguy, die berühmten Stickstiche). Alle beide ersetzen die horizon-
tale Wiederholung, die Wiederholung gewöhnlicher Wörter, die man nach-
spricht, durch eine Wiederholung von ausgezeichneten Punkten, durch eine
vertikale Wiederholung, über die man ins Innere der Wörter hinaufsteigt. Die
defiziente, mangelhafte Wiederholung des Nominalbegriffs oder der Wortvor-
stellung durch eine positive, überschießende Wiederholung einer sprachlichen
und stilistischen Idee. Auf welche Weise wird die Sprache durch den Tod
inspiriert, der immer gegenwärtig ist, wenn die Wiederholung hervortritt?
Die Reproduktion des Selben ist kein Beweggrund der Gesten. Bekanntlich
enthält bereits die einfachste Nachahmung die Differenz zwischen Innen und
Außen. Mehr noch, die Nachahmung übernimmt nur eine sekundäre regula-
tive Rolle im Aufbau eines Verhaltens, sie ermöglicht eine Korrektur von sich
vollziehenden Bewegungen, nicht deren Begründung. Der Lernprozeß ergibt
sich nicht im Verhältnis zwischen Vorstellung und Handlung (als Reproduk-
tion des Selben), sondern im Verhältnis zwischen Zeichen und Antwort (als
Begegnung mit dem Anderen). Das Zeichen umfaßt Heterogenität zumindest
in dreierlei Hinsicht: zunächst im Objekt, das es trägt oder aussendet und
notwendig eine Ebenendifferenz aufweist, wie zwei disparate Größen- oder
Realitätsordnungen, zwischen denen das Zeichen aufblitzt; andererseits an
sich selbst, weil das Zeichen ein anderes ,,Objekt“ innerhalb der Grenzen des
Trägerobjekts umhüllt und eine Macht der Natur oder des Geistes (Idee)
verkörpert; schließlich in der Antwort, die es hervorruft, wobei die Bewegung
der Antwort nicht der des Zeichens ,,ähnelt“. Die Bewegung des Schwimmers
ähnelt nicht der Bewegung der Welle; und gerade die Bewegungen des
Schwimmlehrers, die wir im Trockenen reproduzieren, sind nichtig im Ver-
hältnis ZU den Bewegungen der Welle, die wir nur dadurch abzufangen lernen,
daß wir sie in der Praxis als Zeichen auffassen. Darum ist es so schwierig
anzugeben, wie jemand lernt: Es gibt eine praktische, angeborene oder erwor-
bene Vertrautheit mit den Zeichen, die aus jeder Erziehung etwas Liebevolles,
aber auch Tödliches macht. Wir lernen nichts von dem, der uns sagt: Mache es
wie ich. Unsere Lehrer sind einzig diejenigen, die sagen: ,,Mache es mit mir
zusammen”, und die, anstatt uns bloß die Reproduktion von Gesten abzuver-
langen, Zeichen auszusenden vermochten, die man im Heterogenen zu entfal-
ten hat. Mit anderen Worten Es gibt keine Ideomotorik, sondern bloß Sensu-
motorik. Wenn der Körper seine ausgezeichneten Punkte mit denen der Welle
vereinigt, S O knüpft er das Prinzip einer Wiederholung, die nicht mehr das
Selbe betrifft, sondern das Andere umfaßt, die Differenz von einer Geste und
einer Woge zur anderen umfaßt und diese Differenz in den so gebildeten
repetitiven Raum hineinträgt . Lernen heißt also in der Tat, diesen Raum der
42 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Begegnung mit den Zeichen zu erstellen, wo sich die ausgezeichneten Punkte


wechselseitig aufgreifen und die Wiederholung sich bildet, während sie sich
zugleich verkleidet. Und immer gibt es Bilder des Todes im Lernprozeß,
begünstigt durch die Heterogenität, die er entfaltet, an den Grenzen des von
ihm erschaffenen Raums. In der Ferne verloren, ist das Zeichen tödlich; und
ebenso, wenn es uns mit voller Gewalt trifft. Ödipus empfängt das Zeichen
einmal aus allzugroßer Ferne, einmal aus zu großer Nähe; und dazwischen
entspinnt sich die schreckliche Wiederholung des Verbrechens. Zarathustra
empfängt sein ,,Zeichen“ einmal aus zu großer Nähe, einmal aus zu großer
Ferne und erahnt erst am Ende die richtige Entfernung, die das, was ihn an der
ewigen Wiederkunft krank macht, in eine befreiende, heilbringene Wiederho-
lung verwandeln wird. Die Zeichen sind die wahren Elemente des Theaters.
Sie zeugen von den Mächten der Natur und des Geistes, die unter den reprä-
sentierten Wörtern, Gesten, Figuren und Objekten wirken. Sie bedeuten die
Wiederholung als reale Bewegung, im Gegensatz zur Repräsentation als fal-
scher Bewegung des Abstrakten.
Wir können mit Recht von Wiederholung sprechen, wenn wir identischen
Elementen mit absolut demselben Begriff gegenüberstehen. Von diesen diskre-
ten Elementen, von diesen wiederholten Objekten müssen wir aber ein gehei-
mes [secret] Subjekt unterscheiden, das sich über sie hinweg wiederholt, das
wahre Subjekt der Wiederholung. Man muß die Wiederholung im pronomina-
len Sinn denken, das Selbst der Wiederholung finden, die Singularität in dem,
was sich wiederholt. Denn es gibt keine Wiederholung ohne ein Wiederholen-
des, nichts Wiederholtes ohne wiederholende Seele. Eher noch als Wiederhol-
tes und Wiederholendes, Objekt und Subjekt müssen wir schließlich zwei
Formen von Wiederholung unterscheiden. In jedem Fall ist die Wiederholung
die begrifflose Differenz. In einem Fall aber ist die Differenz bloß als dem,
Begriff äußerliche gesetzt, als Differenz zwischen Objekten, die unter demsel-
ben Begriff repräsentiert werden, und fällt in die Indifferenz des Raums und
der Zeit. Im anderen Fall ist die Wiederholung der Idee immanent; sie entfaltet
sich als reine schöpferische Bewegung eines dynamischen Raums und einer
dynamischen Zeit, die der Idee entsprechen. Die erste Wiederholung ist
Wiederholung des Selben, die sich durch die Identität des Begriffs oder der
Repräsentation expliziert; die zweite ist diejenige, die die Differenz umfaßt
und sich selbst in der Andersheit der Idee, in der Heterogenität einer ,,Apprä-
sentation“ umfaßt. Die eine ist negativ, aufgrund des Mangels des Begriffs, die
andere affirmativ, aufgrund des Überschusses der Idee. Die eine ist hypothe-
tisch, die andere kategorisch. Die eine ist statisch, die andere dynamisch. Die
eine ist Wiederholung in der Wirkung, die andere in der Ursache. Die eine ist
extensiv, die andere intensiv. Die eine gewöhnlich, die andere ausgezeichnet
und singulär. Die eine horizontal, die andere vertikal. Die eine ist entfaltet,
expliziert; die andere umhüllt und muß interpretiert werden. Die eine ist
revolutiv, die andere evolutiv. Die eine besteht aus Gleichheit, Kommensura-
bilität, Symmetrie; die andere gründet sich auf das Ungleiche, Inkommensura-
EINLEITUNG
43

ble oder Asymmetrische. Die eine ist materiell, die andere spirituell, selbst in
der Natur und in der Erde. Die eine ist unbelebt, die andere enthält das
Geheimnis unserer Tode und Leben, unseres Gefangenseins und unserer
Befreiungen, des Dämonischen und des Göttlichen. Die eine ist eine ,,nackte“
Wiederholung, die andere eine bekleidete Wiederholung, die sich selbst bildet,
indem sie sich bekleidet, maskiert, verkleidet. Die eine besteht aus Exaktheit,
die andere entspricht dem Kriterium der Echtheit.
Die beiden Wiederholungen sind nicht unabhängig voneinander. Die eine ist
das singuläre Subjekt, das Herz und die Interiorität der anderen, die Tiefe der
anderen. Die andere ist bloß die äußere Hülle, die abstrakte Wirkung. Die
asymmetrische Wiederholung verbirgt sich in den symmetrischen Zusammen-
hängen oder Wirkungen; eine Wiederholung von ausgezeichneten Punkten
unter der Wiederholung von gewöhnlichen Punkten; und überall das Andere
in der Wiederholung des Selben. Jene ist die geheime, die tiefste Wiederho-
lung: Sie allein ergibt die ratio der anderen, den Grund für die Blockierung der
Begriffe. Und auf diesem Gebiet, wie im Sartor Resartus15, sind es die Maske,
das Verkleidete, die Travestie, die schließlich die Wahrheit des Nackten aus-
machen. Und zwar notwendigerweise, da die Wiederholung nicht durch etwas
anderes verdeckt wird, sondern sich bildet, indem sie sich verkleidet, ihren
eigenen Verkleidungen nicht vorausgeht und - indem sie sich bildet - die
nackte Wiederholung konstituiert, in die sie sich einhüllt. Die daraus resultie-
renden Folgen sind entscheidend. Wenn wir einer Wiederholung gegenüber-
stehen, die als maskierte voranschreitet oder Verschiebungen, Beschleunigun-
gen , Verzögerungen , Varianten , Differenzen enthält, die uns im äußersten Fall
weit vom Ausgangspunkt fortzuziehen vermögen, so neigen wir dazu, darin
einen Mischzustand zu erkennen, in dem die Wiederholung nicht pur, sondern
nur annäherungsweise gegeben ist: Selbst das Wort Wiederholung scheint uns
dann nur symbolisch, metaphorisch oder analog verwendet zu sein. Freilich
haben wir die Wiederholung streng als begrifflose Differenz definiert. Aber
wir hätten Unrecht, sie auf eine Differenz zu reduzieren, die in die Exteriori-
tät, in Gestalt des Selben im Begriff, zurückfällt, ohne zu bemerken, daß sie
sich im Innern der Idee befinden und an sich selbst über alle Mittel des
Zeichens, des Symbols und der Andersheit verfügen kann, die den Begriff als
solchen überschreiten. Die oben angeführten Beispiele betrafen die verschie-
densten Fälle, Nominalbegriffe, Naturbegriffe oder Freiheitsbegriffe; und man
könnte uns vorwerfen, alle möglichen Arten von Wiederholungen, psychische
und physische, durcheinandergeworfen zu haben; und noch auf psychischem
Gebiet: nackte Wiederholungen vom Typ Stereotypie und latente und symbo-
lische Wiederholungen. Das rührt daher, daß wir die Koexistenz dieser Instan-
zen in jeder repetitiven Struktur demonstrieren wollten, daß wir zeigen

-
15
Verweis auf die Kleidermotive in Thomas Carlyles Sartor Resartus. The Life and
Opinions of Herr Teufelsdröckh (1833/34) [A.d.UJ
44 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

wollten, wie die manifeste Wiederholung identischer Elemente notwendig auf


ein latentes Subjekt verwies, das sich selbst über diese Elemente hinweg
wiederholte und dabei eine ,,andere“ Wiederholung im Herzen der ersten
ausbildete. Diese andere Wiederholung, so werden wir behaupten, ist also
keineswegs approximativ oder metaphorisch. Sie ist im Gegenteil der Geist
jeder Wiederholung. Sie ist selbst der Buchstabe jeder Wiederholung, der sich
schemenartig oder als konstitutive Chiffre abzeichnet. Sie ist es, die das Wesen
der begrifflosen Differenz, der nicht vermittelten Differenz konstituiert und
jede Wiederholung zusammensetzt. Sie ist der ursprüngliche, buchstäbliche
und spirituelle Sinn der Wiederholung. Der materielle Sinn ergibt sich aus dem
anderen, abgesondert [sécréte] wie eine Muschelschale.
Wir haben mit der Unterscheidung zwischen Allgemeinheit und Wiederho-
lung begonnen. Dann haben wir zwei Formen von Wiederholung unterschie-
den. Diese beiden Unterscheidungen greifen ineinander; die erste entfaltet ihre
Folgen nur in der zweiten. Wenn wir uns nämlich damit begnügen, die
Wiederholung unter Abzug ihrer Interiorität auf abstrakte Weise zu setzen, so
bleibt es uns unbegreiflich, warum und wie ein Begriff auf natürliche Weise
blockiert werden und eine Wiederholung erscheinen lassen kann, die nicht mit
der Allgemeinheit verschmilzt. Wenn wir umgekehrt das buchstäbliche Innere
der Wiederholung entdecken, so können wir damit nicht nur die äußere
Wiederholung als Decke erfassen, sondern auch die Ordnung der Allgemein-
heit einholen (und, dem Wunsch Kierkegaards folgend, die Versöhnung des
Einzelnen mit dem Allgemeinen vollziehen). Denn in dem Maße, wie sich die
innere Wiederholung durch eine nackte Wiederholung, die sie überdeckt,
hindurch abzeichnet, erscheinen die in ihr enthaltenen Differenzen als entspre-
chend viele Faktoren, die sich der Wiederholung widersetzen, sie abschwächen
und nach ,,allgemeinen” Gesetzen variieren lassen. Unter dem allgemeinen
Wirken der Gesetze aber hält stets das Spiel der Singularitäten an. Die Allge-
meinheiten von Zyklen in der Natur sind die Maske einer Singularität, die
durch ihre Interferenzen hindurch aufscheint; und unter den Allgemeinheiten
der Gewohnheit im moralischen Leben stoßen wir auf singuläre Lernprozesse.
Das Gebiet der Gesetze muß zwar erfaßt werden, stets ausgehend aber von
einer Natur und einem Geist, die über ihren eigenen Gesetzen stehen und ihre 1
Wiederholungen zunächst in den Tiefen der Erde und des Herzens entspin-
nen, dort, wo die Gesetze noch nicht existieren. Das Innere der Wiederholung
wird immer von einer Differenzordnung affiziert; und in dem Maße, wie ein
Ding auf eine Wiederholung einer von ihm verschiedenen Ordnung bezogen
wird, erscheint die Wiederholung ihrerseits außerhalb und nackt und das Ding
selbst den Kategorien der Allgemeinheit unterworfen. Die Nichtentsprechung
von Differenz und Wiederholung begründet die Ordnung des Allgemeinen. In
diesem Sinne legte Gabriel Tarde nahe, daß die Ähnlichkeit selbst nur eine
verschobene Wiederholung sei: Die wahre Wiederholung entspricht direkt
einer Differenz gleichen Grades. Und wie keinem anderen ist Tarde die Ent-
wicklung einer neuen Dialektik gelungen, indem er in der Natur und im Geist
EINLEITUNG
45

das geheime Bestreben entdeckte, eine immer genauere Entsprechung zwi-


schen Differenz und Wiederholung herzustellen?

Solange wir die Differenz als begriffliche, als innerlich begriffliche Differenz
und die Wiederholung als äußerliche Differenz zwischen Objekten setzen, die
unter demselben Begriff repräsentiert werden, so scheint das Problem ihrer
Beziehungen faktisch gelöst werden zu können. Ja oder nein, gibt es Wieder-
holungen? Oder ist jede Differenz in letzter Instanz innerlich und begrifflich?
Hegel machte sich über Leibniz lustig, der die Hofdamen einlud, experimen-
telle Metaphysik auf Gartenspaziergängen zu betreiben, um festzustellen, daß
zwei Baumblätter nicht denselben Begriff besitzen. Ersetzen wir die Hof-
damen durch wissenschaftliche Polizisten: Es gibt keine zwei völlig identische
Staubkörner, keine zwei Hände mit denselben ausgezeichneten Punkten, keine
zwei Maschinen mit demselben Anschlag, keine zwei Revolver, die ihre
Kugeln auf dieselbe Weise riffeln . . . Was aber läßt uns ahnen, daß das Pro-
blem nicht richtig gestellt ist, solange wir das Kriterium eines principium
individuationis in den Fakten suchen? Das rührt daher, daß eine Diffferenz
eine innere und doch unbegriffliche Differenz sein kann (wie es bereits der
Sinn des Paradoxes symmetrischer Objekte ist). Ein dynamischer Raum muß
vom Standpunkt eines mit diesem Raum verbundenen Beobachters aus defi-
niert werden, nicht von einer Position außerhalb. Es gibt innere Differenzen,
die eine Idee dramatisieren, bevor sie ein Objekt repräsentieren. Die Differenz
befindet sich hier innerhalb einer Idee, obwohl sie außerhalb des Begriffs als
Objektvorstellung liegt. Darum scheint sich der Gegensatz zwischen Kant und
Leibniz in dem Maße abzuschwächen, wie man die dynamischen Faktoren
berücksichtigt, die in beiden Lehren vorhanden sind. Wenn Kant in den

” In Les Zoz~ & lJimitation (Paris 1890) zeigt Tarde, wie die Ähnlichkeit - etwa
zwischen Arten unterschiedlichen Typs - auf die Identität des physischen Milieus
verweist, d. h. auf einen Wiederholungsprozeß, der Elemente affiziert, die unterhalb
der betrachteten Formen liegen. - Die ganze Philosophie Tardes gründet - wie wir
noch genauer sehen werden - auf den beiden Kategorien von Differenz und Wieder-
holung: Die Differenz ist zugleich der Ursprung und das Ziel der Wiederholung,
und zwar in einer zunehmend ,,mächtigen und erfinderischen“ Bewegung, die ,,den
Graden von Freiheit mehr und mehr Rechnung trägt“. Diese differentielle und
differenzierende Wiederholung soll nach Tarde in allen Gebieten den Gegensatz
ablösen. Roussel oder Peguy könnten seine Formel für sich beanspruchen: ,,Die
Wi&-holung ist ein wesentlich kraftvolleres und weniger ermüdendes stilistisches
Verfahren als die Antithese, und sie ist zugleich besser geeignet, ein Thema ZU
erneuern‘c (L’opposition universelle, Paris 1897, S. 119). In der Wiederholung sah
Tarde einen typisch franzosischen Gedanken; und tatsächlich sah Kierkegaard in ihr
-einen typisch dänischen Begriff . Sie meinten damit, daß sie eine ganz andere Dialek-
tik als die kegelsehe begründet.
46 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Anschauungsformen äußerliche Differenzen erkennt, die nicht auf die Ord-


nung der Begriffe reduzierbar sind, so sind diese Differenzen dennoch
,,innere“ Differenzen, obwohl sie kein Verstand als ,,innerliche“ angeben kann
und sie nur in ihrem äui3eren Verhältnis zum Raum insgesamt vorstellbar
sind”. In Übereinstimmung mit manchen neokantianischen Interpretationen
bedeutet dies, daß sich allmählich ein innerer dynamischer Aufbau des Raums
ergibt, der der ,,Vorstellung“ [représentation] des Ganzen als Form von Exte-
riorität vorangehen muß. Das Element dieser inneren Genese scheint uns eher
in der intensiven Quantität als im Schema zu liegen und sich eher auf die Ideen
als auf die Verstandesbegriffe zu beziehen. Wenn die räumliche Ordnung
äußerlicher Differenzen und die begriffliche Ordnung innerlicher Differenzen
letztendlich miteinander harmonieren, wie das Schema belegt, so liegt der
tiefere Grund dafür in jenem intensiven differentiellen Element, der Synthese
des Kontinuums im Augenblick, die in Form einer continua repetitio den
Raum in Übereinstimmung mit den Ideen zunächst im Innern erzeugt. Doch
appellierte bereits bei Leibniz die Affinität zwischen äußerlichen Differenzen
und innerlichen begrifflichen Differenzen an den inneren Prozeß einer conti-
nua repetitio, an einen Prozeß, der sich auf ein intensives differentielles Ele-
ment gründet, das die punktuelle Synthese des Kontinuums vollzieht, um den
Raum des Innen zu erzeugen.
Es gibt Wiederholungen, die nicht bloß äußerliche Differenzen sind; es gibt
innere Differenzen, die nicht innerlich oder begrifflich sind. Wir können
damit die Quelle der vorangehenden Ambiguitäten besser lokalisieren. Wenn
wir die Wiederholung als begrifflose Differenz bestimmen, so glauben wir auf
den bloß äußerlichen Charakter der Differenz in der Wiederholung schließen
zu können; wir sind dann der Ansicht, daß jede innere ,,Neuheit“ genügt, um
uns vom Buchstaben zu entfernen, und nur mit einer approximativen, das
heißt: durch Analogie gegebenen Wiederholung vereinbar ist. Dem ist nicht
so. Denn wir wissen noch nicht, welches das Wesen der Wiederholung ist, was
durch den Ausdruck ,,begrifflose Differenz“ positiv bezeichnet wird, die
Natur der Interiorität, die er zu implizieren vermag. Wenn wir umgekehrt die
Differenz als begriffliche Differenz bestimmen, so glauben wir der Bestim-
mung des Begriffs der Differenz als solcher Genüge getan zu haben. Dennoch
verfügen wir auch hier über keinerlei Idee von Differenz, über keinen Begriff
der eigentlichen Differenz. Es war vielleicht der Fehler der Philosophie der
Differenz von Aristoteles über Leibniz bis Hegel, daß sie den Begriff der
Differenz mit einer bloß begrifflichen Differenz verwechselte, indem sie sich
mit der Einschreibung der Differenz in den Begriff überhaupt begnügte. In
Wirklichkeit hat man, solange man die Differenz in den Begriff überhaupt

l7 Zur inneren Differenz, die dennoch keine innerliche oder begriffliche ist vgl. Kant,
Prolegomena, § 13 (in: Werke, hg. v. W.Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. 5,
S. 147-149) (vgl. d en Gegensatz zwischen ,,innerer Verscheidenheit“ und ,,inner-
licher Verschiedenheit“).
EINLEITUNG 47

einschreibt, keine singuläre Idee der Differenz und bleibt nur beim Element
einer bereits durch die Repräsentation vermittelten Differenz stehen. Wir sind
also mit zwei Fragen konfrontiert: Welches ist der Begriff der Differenz - der
sich nicht auf die bloße begriffliche Differenz reduzieren läßt, sondern eine
eigene Idee, gleichsam eine Singularität in der Idee beansprucht? Und welches
ist andererseits das Wesen der Wiederholung - das sich nicht auf eine begriff-
lose Differenz reduzieren läßt, nicht mit dem sichtbaren Merkmal der unter
demselben Begriff repräsentierten Objekte verschmilzt, sondern seinerseits die
Singularität als Macht der Idee bezeugt? Die Begegnung der beiden Begriffe,
Differenz und Wiederholung, kann nicht mehr . von Anfang an gesetzt werden,
sie muß vielmehr durch Interferenzen und Überschneidungen zwischen diesen
beiden Linien zur Erscheinung gelangen, von denen die eine das Wesen der
Wiederholung, die andere die Idee der Differenz betrifft.
ERSTES KAPITEL

DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST

Die Indifferenz hat zwei Aspekte: den undifferenzierten Abgrund, das


schwarze Nichts, das unbestimmte Lebewesen, in dem alles aufgelöst ist - aber
auch das weiße Nichts, die wieder ruhig gewordene Oberfläche, auf der
unverbundene Bestimmungen wie vereinzelte Glieder treiben, Kopf ohne
Hals, Arm ohne Schulter, Augen ohne Stirn. Das Unbestimmte ist völlig
indifferent, ebenso unbestimmt aber sind frei treibende Bestimmungen im
Verhältnis zueinander. Vermittelt die Differenz zwischen diesen beiden Extre-
men? Oder ist sie nicht das einzige Extrem, der einzige Moment von Präsenz
und Präzision? Die Differenz ist jener Zustand, in dem man von DER Bestim-
mung sprechen kann. Die Differenz ,,zwischen“ zwei Dingen ist bloß empi-
risch, und die entsprechenden Bestimmungen sind nur äußerlich. Stellen wir
uns aber anstatt eines Dings, das sich von einem anderen unterscheidet, etwas
vor, das sich unterscheidet - und doch unterscheidet sich das, wovon es sich
unterscheidet, nicht von ihm. Der Blitz zum Beispiel unterscheidet sich vom
schwarzen Himmel, kann ihn aber nicht loswerden, als ob er sich von dem
unterschiede, was sich selbst nicht unterscheidet. Man könnte sagen, der
Untergrund steige zur Oberfläche auf, bleibe aber weiterhin Untergrund. ES
liegt auf beiden Seiten etwas Grausames, ja Ungeheuerliches in diesem Kampf
gegen einen unfaßbaren Gegner in dem sich das Unterschiedene einer Sache
entgegensetzt, die sich nicht von ihm unterscheiden kann und immer weiter
mit dem vereinigt, was sich von ihr absetzt. Die Differenz ist diese Fassung
der Bestimmung als einseitiger Unterscheidung. Von der Differenz muß also
gesagt werden daß man sie macht oder daß sie sich macht, entsprechend des
Ausdrucks ,,einen Unterschied machen“. Diese Differenz oder DIE Bestim-
mung ist zugleich die Grausamkeit. Die Platoniker sagten, das Nicht-Eine
unterscheide sich vom Einen nicht aber umgekehrt, da sich das Eine nicht
dem entzieht was sich ihm entzieht* und die Form unterscheide sich, auf der
Gegenseite, von der Materie oder vom Untergrund, nicht aber umgekehrt, da
die Unterscheidung selbst eine Form ist. Eigentlich lösen sich alle Formen auf,
50 DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG

wenn sie sich in jenem aufsteigenden Untergrund reflektieren. Er selbst ist


nicht länger das reine Unbestimmte, das im Hintergrund bleibt, aber auch die
Formen sind nicht länger koexistente oder komplementäre Bestimmungen.
Der aufsteigende Untergrund ist nicht mehr im Hintergrund, sondern gewinnt
autonome Existenz; die Form, die sich in diesem Grund reflektiert, ist keine-
Form mehr, sondern eine abstrakte Linie, die unmittelbar auf die Seele ein-
wirkt. Wenn der Untergrund zur Oberfläche aufsteigt, zerfällt das mensch-
liche Gesicht in jenem Spiegel, in dem das Unbestimmte wie die Bestimmun-
gen nun zu einer einzigen Bestimmung verschmelzen, die den Unterschied
,,macht“. Es ist ein dürftiges Rezept zur Herstellung eines Ungeheuers, ver-
schiedenartige Bestimmungen aufzuhäufen oder das Tier überzudeterminie-
ren. Besser läßt man den Untergrund aufsteigen und die Form schwinden,
Goya arbeitete mit Aquatinta und Radierung, mit den Grautönen der einen
und der Strenge der anderen. Odilon Redon mit dem Helldunkel und der
abstrakten Linie. Im Verzicht auf die Modellierung, d.h. auf das plastische
Symbol der Form, gewinnt die abstrakte Linie ihre ganze Kraft und partizi-
piert umso gewaltsamer am Untergrund, als sie sich von ihm unterscheidet,
ohne daß dieser sich von ihr unterscheidet’. So daß sich in einem derartigen
Spiegel die Gesichter verformen. Und es ist nicht sicher, ob es nur der Schlaf
der Vernunft ist, der die Ungeheuer gebiert. Ebenso ist es das Wachen, die
Schlaflosigkeit des Denkens, denn das Denken ist jener Moment, in dem die
Bestimmung eins wird, und zwar durch die Stützung eines einseitigen und
präzisen Bezugs zum Unbestimmten. Das Denken ,,macht” den Unterschied,
die Differenz aber ist das Ungeheuer. Man braucht sich nicht darüber zu
wundern, daß die Differenz verflucht erscheint, als Verstoß oder Sünde, als die
der Sühne anheimgestellte Gestalt des Bösen. Die einzige Sünde besteht darin,
den Untergrund aufsteigen zu lassen und die Form aufzulösen. Man erinnere
sich der Idee Artauds: die Grausamkeit ist nichts anderes als DIE Bestim-
mung, genau jener Punkt, an dem das Bestimmte seine wesentliche Beziehung
zum Unbestimmten unterhält, jene strenge abstrakte Linie, die vom Helldun-
kel gespeist wird.
Das Projekt der Philosophie der Differenz scheint nun darin zu liegen, die
Differenz ihrem Stand der Verfluchung zu entreißen. Kann die Differenz nicht
ein harmonischer Organismus werden und die Bestimmung auf andere Be-

l Vgl. Odilon Redon: A soi-mhe. Journal, Paris 1961, S. 63 (dt.: Selbstgespräch.


Tagebücher und Aufzeichnungen 1867-1915, München 1971, S. 2): ,,Lassen sie mich
hier indes ansprechen, daß sich keine plastische Form in meinen Werken finden läßt -
ich meine, ihre objektive Erfassung -, die, nach den Gesetzen des Schattens und des
Lichts, mit den konventionellen Mitteln der Modellierung ausgeführt würde. [. . l 1
Meine gesamte Kunst beschränkt sich auf die alleinigen Hilfsmittel des Helldunkels;
viel verdankt sie auch den Wirkungen der abstrakten Linie, dieser aus tiefen Quellen
kommenden Kraft, die unmittelbar auf den Geist wirkt” [Übersetzung leicht verän-
dert; d.Ü.1.
DIE DIFFERENZ AN SICH S E L B S T 51

stimmungen in erner Form beziehen, d. h. im kohärenten Element einer orga-


nischen Repräsentation? Als ,,ratio” besitzt das Element der Repräsentation
vier Hauptaspekte: die Identität in der Form des unbestimmten Begriffs, die
Analogie im Verhältnis zwischen letzten bestimmbaren Begriffen, den Gegen-
satz im Verhältnis der Bestimmungen im Innern des Begriffs, die Ähnlichkeit
im bestimmten Objekt des . Begriffs selbst. Diese Formen sind gleichsam die
vicr Häupter oder das vierfache Band der Vermittlung. Man wird von einer
,,vermittelten“ Differenz sprechen, insofern es gelingt, sie der vierfachen Wur-
zel der Identität und des Gegensatzes, der Analogie und der Ähnlichkeit zu
unterwerfen. Ausgehend von einem ersten Eindruck (die Differenz ist das
Übel) nimmt man sich vor, die Differenz zu ,,retten”, indem man sie repräsen-
tiert, und sie zu repräsentieren, indem man sie auf die Erfordernisse des
Begriffs überhaupt bezieht. Es handelt sich also darum, einen glücklichen
Augenblick zu bestimmen - den glücklichen Augenblick der Griechen -, in
dem die Differenz mit dem Bergriff versöhnt erscheint. Die Differenz muß
ihre Höhle verlassen und darf nicht länger ein Ungeheuer bleiben; oder es darf
zumindest nur das als Ungeheuer fortbestehen, was sich dem glücklichen
Augenblick entzieht und bloß eine schlechte Begegnung, eine schlechte Gele-
genheit darstellt. Der Ausdruck ,,einen Unterschied machen” wechselt hier
seine Bedeutung. Er bezeichnet nun eine selektive Prüfung, die bestimmen
soll, welche Differenzen auf welche Weise in den Begriff überhaupt eingetra-
gen werden können. Tatsächlich scheint eine derartige Prüfung, eine derartige
Selektion durch das Große und das Kleine verwirklicht. Denn das Große und
das Kleine werden naturgemäß nicht dem Einen, sondern zuerst der Differenz
zugeschrieben. Man fragt also, wie weit die Differenz reichen kann und muß -
wie groß, wie klein? -, um in die Begrenzung des Begriffs einzutreten, ohne
sich diesseits zu verlieren oder jenseits zu entweichen. Selbstverständlich läßt
sich nur schwer in Erfahrung bringen, ob das Problem auf diese Weise richtig
gestellt ist: War die Differenz tatsächlich ein Übel an sich? War es nötig, die
Frage in diesen moralischen Begriffen zu stellen? Mußte die Differenz ,,ver-
mittelt“ werden, um sie erträglich und denkbar zugleich zu machen? Mußte
die Selektion in jener Prüfung bestehen? . Mußte die Prüfung auf diese Weise
und mit diesem Ziel begriffen werden ? Wir werden aber diese Fragen nur
dann beantworten können, wenn wir die mutmaßliche Natur des glücklichen
Augenblicks genauer bestimmen.

Aristoteles sagt: Es gibt eine Differenz, die zugleich die größte wie auch
vollendetste ist (p~y~oq> ‘~&lo~. Die Differenz allgemein unterscheidet sich
von der Verschiedenheit oder Andersheit; denn zwei Terme differieren von-
einander, wenn sie nicht durch sich selbst, sondern durch etwas unterschieden
52 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

sind, wenn sie also auch in etwas anderem zusammenpassen, in einer Gat-
tung hinsichtlich der Artdifferenzen, oder selbst in einer Art hinsichtlich
der Differenzen der Zahl, oder noch im ,,Sein gemäß der Analogie“ hin-
sichtlich der Gattungsdifferenzen. - Welche Differenz ist unter diesen
Bedingungen die größte ? Die größte Differenz ist immer der Gegensatz.
Aber welche unter all den Gegensatzformen ist die vollendetste, die voll-
ständigste, diejenige, die am besten ,,paßt “ ? Die relativen Glieder sagen sich
wechselseitig aus; der Widerspruch sagt sich bereits von einem Subjekt aus,,
um allerdings dessen Bestand unmöglich zu machen, und qualifiziert nur
die Veränderung, in der es zu existieren beginnt oder aufhört; und auch die
Privation bringt noch eine bestimmte Ohnmacht des existierenden Subjekts
zum Ausdruck. Einzig der konträre Gegensatz repräsentiert die Fähigkeit
eines Subjekts, Entgegengesetztes zu erfahren und dabei doch substanziell
dasselbe zu bleiben (hinsichtlich der Materie oder der Gattung). Unter wel-
chen Bedingungen jedoch überträgt die Kontrarietät ihre Vollendetheit auf”
die Differenz? Solange wir das konkrete Sein in seiner Materie betrachten,
sind die konträren Gegensätze, die es affizieren, körperliche Modifikatio-
nen, die uns bloß den akzidentiellen empirischen Begriff einer noch äußer-
lichen Differenz verschaffen (extra quidditatem). Das Akzidens läßt sich
vom Subjekt abtrennen wie ,,weiß“ und ,,schwarz” von ,,Mensch“, oder es
ist untrennbar mit ihm verbunden wie ,,männlich“ und ,,weiblich“ mit
,,Lebewesen“: Je nach Fall wird die Differenz communis oder propria hei-
ßen, aber sie wird stets akzidentiell sein, sofern sie von der Materie her-
rührt. Einzig eine Kontrarietät im Wesen oder in der Form gibt uns also
den Begriff einer selbst wesentlichen Differenz (differentia essentialis aut
propriissima). Die konträren Entgegensetzungen sind also Modifikationen,
die ein fragliches Subjekt hinsichtlich seiner Gattung affizieren. Im Wesen
nämlich liegt das Eigentümliche der Gattung darin, daß sie durch Differen-
zen wie ,,befußt“ oder ,,geflügelt“ eingeteilt ist, die sich als konträre Entge-
gensetzungen einander zuordnen. Kurz, die vollendete und maximale Diffe-
renz ist die Kontrarietät in der Gattung, und die Kontrarietät in der Gat-
tung ist die Artdifferenz. Jenseits und diesseits davon strebt die Differenz
wieder zur bloßen Andersheit zurück und entzieht sich fast der Identität
des Begriffs: Die Gattungsdifferenz ist zu groß, errichtet sich zwischen
nicht-kombinierbaren Gliedern, die keine konträren Bezüge ergeben; die
individuelle Differenz ist zu klein und besteht zwischen unteilbaren Glied
dern, die ebenfalls keine Kontrarietät aufweisen2.

2 Aristoteles: Metaphysik, X, 4, 8 und 9. Zu den drei Arten von Differenz, der


gemeinen, eigentümlichen und wesentlichen, vgl. Porphyrios: Isagogos, 8-9 (frz.
Übersetzung von J.Tricot, Paris 1947), und die thomistischen Lehrbücher, etwa das
Kapitel ,,de differentia“ in Joseph Gredts Elementa philosophiae aristotelico-thomisti-
cae (Freiburg i. Br. 1937’, Bd. 1, S. 122-125).
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 53

Dagegen scheint es tatsächlich,: als entspreche die Artdifferenz allen Erfor-


dernissen eines harmonischen Begriffs oder einer organischen Repräsenta-
tion. Sie ist rein, weil formal; innerlich, da sie im Wesen wirkt. Sie ist qua-
litativ; und in dem Maße, wie die Gattung das Wesen bezeichnet, ist die
Differenz sogar eine ganz spezielle Qualität, ,,dem Wesen gemäß”, eine
Qualität des Wesens selbst. Sie ist synthetisch, weil die Spezifikation eine
Zusammensetzung ist, und die Differenz tritt aktualiter zur Gattung hinzu,
die sie nur potentialiter enthält. Sie ist vermittelt, sie ist selbst Vermittlung,
Mittelbegriff schlechthin. Sie ist produktiv, denn die Gattung teilt sich nicht
in Differenzen auf, sondern wird durch Differenzen aufgeteilt, die in ihr die
entsprechenden Arten hervorbringen. Darum ist sie stets Ursache, formale
Ursache: Der kürzeste Weg ist die Artdifferenz der geraden Linie, das Ver-
dichtende die Artdifferenz der schwarzen Farbe, das Auflösende die der
weißen Farbe. Darum ist sie auch ein Prädikat so besonderen Typs, da sie
sich ja der Art zuschreibt, ihr zugleich aber die Gattung zuschreibt und die
Art konstituiert, der sie sich zuschreibt. Ein solches synthetisches und kon-
stitutives Prädikat, das eher zuschreibt als zugeschrieben wird, eine wahre
Produktionsregel, hat schließlich eine letzte Eigenschaft: die nämlich, daß
s i e d a s v o n ihr Zugeschriebene mit sich reißt. Denn die Qualität des
Wesens ist speziell genug, um aus der Gattung etwas anderes zu machen,
nicht bloß etwas, das eine andere Qualität besitzt3. Der Gattung ist also
eigentümlich, daß sie für sich dieselbe bleibt, während sie in den Differen-
zen, durch die sie eingeteilt wird, zu einem anderen wird. Die Differenz
transportiert die Gattung und alle Zwischendifferenzen mit sich. Als Trans-
port der Differenz, Diaphora der Diaphora, verknüpft die Spezifikation die
Differenz mit der Differenz in den sukzessiven Ebenen der Einteilung, bis
eine letzte Differenz, die der species infima, in der gewählten Richtung die
Gesamtheit des Wesens und seiner fortgesetzten Qualität verdichtet, diese
Gesamtheit in einem Anschauungsbegriff zusammenfaßt und ihn mit dem
zu definierenden Term verschmelzen läßt und dabei selbst unteilbares einzi-
ges Ding w i r d (&copov, &61otcpo~ov &og). Die Spezifikation garantiert
damit die Kohärenz und die Kontinuität im Inhalt des Begriffs.
Kommen wir zum Ausdruck ,,die größte Differenz“ zurück. Es wurde
deutlich, daß d i e Artdifferenz nur ganz relativ die größte ist. Absolut
gesprochen ist der Widerspruch größer als die Kontrarietät - und insbeson-
dere die Gattungsdifferenz größer als die Artdifferenz. Schon die Art und
Weise, wie Aristoteles die Differenz von der Verschiedenheit oder Anders-
heit unterscheidet, bringt uns auf die Spur: Nur in bezug auf die vorausge-

3 PorPhyriw: Isagogos 8 20: ,,Die Differenz des Vernünftigen, die zum Sinnenwesen
hinzutritt,macht es ‘zi einem anderen, während die Differenz der Bewegung es
gegenüber dem ruhenden Lebewesen nur mit einer anderen Qualität versieht.”
54 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

setzte Identität eines Begriffs wird die Artdifferenz die größte genannt.
Mehr noch, gerade in bezug auf die Identitätsform im Gattungsbegriff
reicht die Differenz bis an den Gegensatz, wird sie bis zur Kontrarietät ’
getrieben. Die Artdifferenz repräsentiert also keineswegs einen universalen
Begriff
- für alle Singularitäten und die Wendepunkte der Differenz (d.h.
einer Idee), sondern bezeichnet einen besonderen Moment, an dem sich die
Differenz nur mit dem Begriff überhaupt versöhnt. Daher ist auch die Dia-
phora der Diaphora bei Aristoteles nur ein falscher Transport: Niemals
sieht man die Differenz hier ihre Natur ändern, niemals entdeckt man in
ihr ein Differenzierendes der Differenz, das das Universalste und das Sin-
gulärste i n ihrer jeweiligen Unmittelbarkeit aufeinander bezöge. Die Art-
differenz bezeichnet nur ein ganz relatives Maximum, einen Akommoda-
tionspunkt für das griechische Auge, und zudem für das griechische
Durchschnittsauge, das den Sinn für den dionysischen Taumel [transports]
und die Metamorphosen verloren hat. Dies ist das Prinzip einer Verwechs-
lung, die für jede Philosophie der Differenz fatal ist: Man verwechselt die
Zuweisung eines eigenen Begriffs der Differenz mit der Einschreibung der
Differenz in den Begriff überhaupt - man verwechselt die Bestimmung des (
Differenzbegriffs mit der Einschreibung der Differenz in die Identität eines
unbestimmten Begriffs. Dies ist das im glücklichen Augenblick implizierte
Taschenspielerstück (und vielleicht rührt der Rest daher: die Unterordnung
.
der Differenz unter den Gegensatz, unter die Analogie, unter die Ähn-
lichkeit, all die Aspekte der Vermittlung). Damit kann die Differenz nur
noch ein Prädikat im Inhalt des Begriffs sein. Diese prädikative Natur der
Artdifferenz ruft Aristoteles beständig in Erinnerung; er ist allerdings ge-
zwungen, ihr sonderbare Kräfte zu verleihen, die Kraft der Zuschreibung
ebenso wie diejenige, zugeschrieben zu werden, oder die Kraft zur
Abwandlung der Gattung ebenso wie diejenige, deren Qualität zu modifi-
zieren. Ausgehend von der grundlegenden Verwechslung offenbaren sich
somit all die Weisen, mit denen die Artdifferenz die Erfordernisse eines
eigenen Begriffs zu erfüllen scheint (Reinheit, Inwendigkeit, Produktivität,
Transport . . .), als trügerisch und gar widersprüchlich.
Die Artdifferenz ist also klein im Verhältnis zu einer größeren Differenz,
die die Gattungen selbst betrifft. Selbst in der biologischen Klassifikation
wird sie vollends klein im Verhältnis zu den großen Gattungen: sicher
keine materielle Differenz, aber dennoch eine bloße Differenz ,,in“ der
Materie, die über das Mehr und das Weniger verfährt. Das rührt daher, daß
die Artdifferenz das Maximum und die Vollendung ist, aber nur unter der
Bedingung der Identität eines unbestimmten Begriffs (Gattung). Dagegen ist
sie geringfügig, wenn man sie mit der Differenz zwischen den Gattungen
als letzten bestimmbaren Begriffen (Kategorien) vergleicht. Denn diese
unterliegen nicht mehr der Bedingung, daß sie ihrerseits einen identischen
Begriff oder eine gemeinsame Gattung aufweisen müßten. Behalten wir den
Grund im Auge, weswegen das Sein selbst keine Gattung ist: weil nämlich,
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 55

wie Aristoteles sagt, die Differenzen sind (die Gattung müßte sich also
. .
ihren Differenzen an sich zuschreiben können: als ob das Sinnenwesen ein-
mal von der Menschenart, ein anderes Mal aber von der vernunftmäßigen
Differenz ausgesagt würde, indem es eine andere Art bildet . . .)4. Dieses
Argument ist also der Natur der Artdifferenz entnommen, von der aus auf
eine andere Natur der Gattungsdifferenzen geschlossen werden kann. Dies
alles geschieht so, als ob es zwei von Natur aus verschiedene ,,Logoi” gäbe,
die sich jedoch miteinander vermischen: Es gibt den Logos der Arten, den
Logos dessen, was man denkt und sagt, einen Logos, der auf der Bedin-
gung von Identität oder Univozität eines Begriffs überhaupt, als Gattung
verstanden, beruht; und den Logos der Gattungen, den Logos dessen, was
sich durch uns hindurch denkt und aussagt, einen Logos, der sich, von der
Bedingung befreit, in der Äquivozität des Seins wie in der Verschiedenheit
der allgemeinsten Begriffe
. regt. Wenn wir das Univoke aussagen, sagt sich
dann nicht noch das Aquivoke in uns aus.? Und muß man hierin nicht eine
Art Riß erkennen, der dem Denken zugefügt wurde und sich weiter in eine
andere (nicht-aristotelische) Atmosphäre fortgraben wird? Ist dies aber vor
allem nicht schon eine neue Chance für die Philosophie der Differenz?
Wird sie sich nicht einem absoluten Begriff annähern, wenn sie erst einmal
von der Bedingung befreit ist, die sie in einem gänzlich relativen Maximum
festhielt?
Nichts davon jedoch bei Aristoteles. Tatsache ist, daß die gattungsmäßige
oder kategoriale Differenz eine Differenz im aristotelischen Sinne bleibt und
nicht in die bloße Verschiedenheit oder Andersheit zurückfällt. Das kommt
folglich daher, daß ein identischer oder gemeinsamer Begriff weiterhin
Bestand hat, wenn auch auf ganz spezielle Art und Weise. Dieser Seins-
begriff ist nicht kollektiv, wie eine Gattung im Verhältnis zu ihren Arten,
sondern nur distributiv und hierarchisch: Er besitzt keinen Inhalt an sich,
sondern bloß einen Inhalt, der nach dem Verhältnis der formal verschiede-
nen Terme bemessen ist, mit denen er prädiziert wird. Diese Terme (Katego-
rien) bedürfen keines gleichmäßigen Bezugs zum Sein; es genügt, daß der
Bezug eines jeden davon zum Sein ihm jeweils inwendig ist. Die beiden
Merkmale des Seinsbegriffs - daß er einen gemeinen Sinn nur in distributiver
Hinsicht und einen ersten Sinn in hierarchischer Hinsicht besitzt - zeigen
deutlich, daß er im Verhältnis zu den Kategorien nicht die Rolle einer Gat-
tung im Verhältnis zu univoken Arten einnimmt. Aber sie zeigen ebenso,
daß die Äquivozität des Seins ganz und gar besonders ist: Es handelt sich
um eine Analogie? Wenn man nun danach fragt, welche Instanz den Begriff

4 Aristoteles: Metaphysik, 111, 3, 998 b, 20-27; und Topik, VI, 6, 144 a, 35-40.
5 Bekanntlich spricht Aristoteles nicht selbst von Analogie hinsichtlich des Seins. Er
bestimmt die Kategorien als JQ+S EV und sicher auch als Erp&@ig (außerhalb der
reinen Äquivozität sind dies die beiden Fälle, in denen ,,Differenz“ ohne gemeinsame
56 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

nach dem Verhältnis von Termen oder Subjekten, mit denen er affirmiert
wird, zu bemessen vermag, so ist die Antwort klar: die Urteilskraft. Denn die
Urteilskraft hat eben zwei wesentliche Funktionen, und nur zwei: die Vertei-
lung, die sie durch das Teilen des Begriffs gewährleistet, und die Hierarchisie-
rung, die sie durch das Maß der Subjekte garantiert. Der einen entspricht
dasjenige Vermögen in der Urteilskraft, das man Gemeinsinn nennt; der ande-
ren dasjenige, das man gesunden Menschenverstand (oder ersten Sinn) nennt.
Alle beide bilden das rechte Maß, die ,,Gerechtigkeit“ als Wert der Urteils-
kraft. In diesem Sinne nimmt die ganze Philosophie der Kategorien die
Urteilskraft zum Vorbild - wie man es bei Kant und selbst noch bei Hegel
sieht. Mit ihrem Gemeinsinn und ihrem ersten Sinn aber läßt die Analogie des
Urteils die Identität eines Begriffs fortbestehen, sei es in einer impliziten und
verworrenen Form, sei es in einer virtuellen Form. Die Analogie ist selbst das
Analogon der Identität in der Urteilskraft. Die Analogie ist das Wesen der
Urteilskraft, aber die Analogie des Urteils ist das Analogon der Identität des
Begriffs. Darum können wir von der gattugsmäßigen oder kategorialen Diffe-
renz ebensowenig wie von der Artdifferenz erwarten, daß sie uns einen eige-
nen Begriff der Differenz liefert. Während sich die Artdifferenz damit
begnügt, die Differenz in die Identität des unbestimmten Begriffs überhaupt
einzuschreiben, begnügt sich die (distributive und hierarchische) Gattungsdif-
ferenz ihrerseits damit, die Differenz in die Quasi-Identitäten der allgemein-

Gattung besteht). - Die ZQOC CY werden im Verhältnis zu einem einzigen Term


ausgesagt. Dieser ist ein gemeiner Sinn; aber dieser Gemeinsinn ist keine Gattung.
Denn er bildet nur eine distributive (implizite und verworrene) Einheit und nicht wie
die Gattung eine kollektive, explizite und distinkte Einheit. Wenn die Scholastik die
3tQO& mit ,,Analogie der Verhältnismäßigkeit“ übersetzt, so hat sie folglich recht.
Freilich darf diese Analogie nicht im strikt mathematischen Sinn begriffen werden
und bedingt keinerlei Gleichheit im Verhältnis. Sie definiert sich - und dies ist etwas
gänzlich anderes - durch eine Inwendigkeit des Verhältnisses: Das Verhältnis jeder
Kategorie zum Sein ist jeder Kategorie immanent, sie ihrerseits besitzen jeweils
Einheit und Sein dank ihrer eigenen Natur. Dieser distributive Charakter wird von
Aristoteles deutlich hervorgehoben, wenn er die Kategorien mit thaq&mg gleich-
setzt. Und entgegen manchen neueren Deutungen besteht tatsächlich eine Aufteilung
des Seins, die den Weisen entspricht, wie es sich auf ,,Seiendes“ verteilt. - Aber in
den J& EY ist der einzige Term nicht bloß das Sein als gemeiner Sinn, sondern
bereits die Substanz als erster Sinn. Daher die Bedeutungsverschiebung hin zur Idee
von Erp&?&, die eine Hierarchie impliziert. Die Scholastik wird hier von ,,Analogie
der Verhältnismäßigkeit“ sprechen: Es gibt keinen distributiven Begriff mehr, der
sich formal auf verschiedene Terme bezieht, sondern einen seriellen Begriff, der sich
in formal-herausragender Weise auf einen Hauptterm und nur in geringerem Mai3 auf
andere bezieht. Das Sein ist zuerst, in actti, Analogie der Verhältnismäßigkeit; stellt
es aber nicht ebenso , ,,virtuell“, eine Verhältnisanalogie dar?
DIE D IFFERENZ AN SICH SELBST 57

sten bestimmbaren Begriffe einzuschreiben, das heißt: in die Analogie des


Urteils selbst. Die ganze aristotelische Philosophie der Differenz hängt an
dieser doppelten komplementären Einschreibung, die auf einem und demsel-
ben Postulat beruht und die willkürlichen Grenzen des glücklichen Augen-
blicks zieht.
Zwischen den Gattungs- und Artdifferenzen knüpft sich das Band eines
geheimen Einverständnisses in der Repräsentation. Weit gefehlt, daß sie glei-
cher Natur wären: Die Gattung läßt sich nur von außen durch die Artdiffe-
renz bestimmen, und diese Identität der Gattung im Verhältnis zu den Arten
steht im Gegensatz dazu, daß das Sein unmöglich eine ähnliche Identität im
Verhältnis zu den Gattungen selbst ausbilden kann. Es ist aber gerade die
Natur der Artdifferenzen (die Tatsache, daß sie sind), die diese Unmöglichkeit
begründet und die Gattungsdifferenzen daran hindert, sich auf das Sein wie
auf eine gemeinsame Gattung zu beziehen (wenn das Sein eine Gattung wäre,
so wären seine Differenzen mit Artdifferenzen vergleichbar, aber man könnte
nicht mehr sagen, sie ,,seien“, da sich ja die Gattung nicht ihren Differenzen
an sich zuschreibt). In diesem Sinne verweist die Univozität der Arten in einer
gemeinsamen Gattung auf die Äquivozität des Seins in den verschiedenen
Gattungen: Die eine reflektiert die andere. Man wird dies deutlich an den
Erfordernissen des Ideals der Klassifikation sehen: Die großen Einheiten -
~E:YY) @ylo’ca, die man schließlich Stämme nennen wird - bestimmen sich nach
Analogieverhältnissen, die eine durch die Urteilskraft in der abstrakten Vor-
stellung [représentation] getroffene Merkmalsauswahl bedingen, und zugleich
bestimmen sich die kleinen Einheiten, die kleinen Gattungen oder Arten, in
einer direkten Wahrnehmung von Ähnlichkeiten, die eine Kontinuität der
sinnlichen Anschauung in der-konkreten Vorstellung bedingt. Selbst der Neo-
Evolutionismus wird diese beiden Aspekte in ihrer Verbindung mit den Kate-
gorien des Großen und des Kleinenwiederfinden, wenn er die Unterschei-
dung zwischen großen Differenzierungen im embryonalen Frühstadium und
kleinen innerartlichen oder artbildenden Differenzierungen des späteren adul-
ten Stadiums treffen wird. Obwohl nun diese beiden Aspekte in Widerstreit
miteinander geraten können, je nach dem, ob die großen Gattungen oder die
Arten als Begriffe der Natur verstanden werden, konstituieren alle beide die
Grenzen der organischen Repräsentation und Requisita, die gleichermaßen zur
Klassifikation notwendig sind: Die methodische Kontinuität in der Wahrneh-
mung der Ähnlichkeiten ist ebenso unabdingbar wie die systematische Vertei-
lung im Analogieurteil Unter beiden Gesichtspunkten aber erscheint die Dif-
ferenz nur als refelxiver Begriff. Denn die Differenz ermöglicht den Übergang
von benachbarten ähnlichen Arten zur Identität einer Gattung, die sie subsu-
miert, ermöglicht also die Entnahme oder den Ausschnitt von Gattungsidenti-
täten aus dem Fluß einer sinnlich gegebenen kontinuierlichen Reihe. Am
anderen Ende ermöglicht sie den Übergang von jeweils identischen Gattungen
zu den Analogieverhältnissen, die sie untereinander im Intelligiblen unterhal-
t
en* Als Reflexionsbegriff zeugt die Differenz von ihrer vollständigen Unter-
58 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

werfung unter alle Erfordernisse der Repräsentation, die eben durch sie zur
,,organischen Repräsentation” wird. Im Reflexionsbegriff nämlich unterwirft
sich die vermittelnde und vermittelte Differenz mit vollem Recht der Identität
des Begriffs, dem Gegensatz der Prädikate, der Analogie des Urteils, der
Ähnlichkeit der Wahrnehmung. Man stößt hier wiederum auf den notwendig
vierteiligen Charakter der Repräsentation. Die Frage lautet., ob die Differenz
unter all diesen reflexiven Aspekten nicht ihren eigenen Begriff und ihre eigene
Realität zugleich verliert. Denn die Differenz bleibt weiterhin ein reflexiver
Begriff und gewinnt einen wahrhaft realen Begriff nur in dem Maße zurück,
wie sie Katastrophen bezeichnet: seien es Kontinuitätsbrüche in der Reihe der
Ähnlichkeiten, seien es unüberschreitbare Verwerfungen zwischen den analo-
gen Strukturen. Sie bleibt reflexiv nur, um katastrophisch zu werden. Und
sicher kann sie das eine nicht ohne das andere sein. Zeugt aber nicht gerade die
Differenz als Katastrophe von einem irreduziblem aufrührerischen Unter-
grund, der unter dem scheinbaren Gleichgewicht der organischen Repräsenta-
tion fortwirkt?

Es gab immer nur einen ontologischen Satz [proposition]: Das Sein ist univok.
Es gab immer nur eine Ontologie, die des Duns Scotus, die dem Sein eine
einzige Stimme verleiht. Wir nennen Duns Scotus, weil er das univoke Sein zu
höchster Subtilität zu erheben wußte, sei es auch um den Preis der Abstrakt-
heit. Doch von Parmenides bis Heidegger wird immer wieder dieselbe Stimme
aufgenommen, in einem Widerhall, der schon für sich allein die ganze Entfal-
tung des Univoken darstellt. Eine einzige Stimme erzeugt das Gebrüll des
Seins. Ohne Mühe können wir begreifen, daß das Sein, wenn es absolut
gemein ist, deswegen noch keine Gattung ist; es genügt, daß man das Modell
des Urteils durch dasjenige des Satzes ersetzt. Im Satz, begriffen als komplexe
Entität, unterscheidet man: die Bedeutung [sens] oder das Ausgedrückte des
Satzes; das Bezeichnete (was sich im Satz ausdrückt); das Ausdrückende oder
Bezeichnende, die numerische Modi darstellen, d. h. differentielle Faktoren,
die die bedeutung- oder bezeichnungtragenden Elemente kennzeichnen. Man
bemerkt, daß Namen oder Sätze nicht dieselbe Bedeutung besitzen, während
sie doch strikt dieselbe Sache bezeichnen (den berühmten Beispielen zufolge:
Abendstern/Morgenstern, Israel/Jakob, plan/blanc). Die Unterscheidung zwi-
schen diesen Bedeutungen ist zwar eine reale Unterscheidung (distinctio rea-
lis), sie hat aber nichts Numerisches und noch weniger Ontologisches an sich:
Sie ist eine formale, qualitative oder semiologische Unterscheidung. Die Frage,
ob die Kategorien unmittelbar mit solchen Bedeutungen gleichzusetzen sind
oder sich mit noch größerer Wahrscheinlichkeit daraus ableiten, muß vorläufig
hintangestellt werden. Das Entscheidende ist, daß man mehrere formal
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 59

geschiedene Bedeutungen auffassen kann, die sich aber auf das Sein als ein
einziges - ontologisch eines - Bezeichnetes beziehen. Freilich reicht ein derar-
tiger Gesichtspunkt noch nicht hin, um uns davon abzuhalten, diese Bedeu-
tungen als analoge Glieder und diese Einheit des Seins als Analogie zu
betrachten. Es muß hinzugefügt werden, daß das Sein, dieses gemeinsame
Bezeichnete, sofern es sich ausdrückt, seinerseits in ein und derselben Bedeu-
tung von all den numerisch geschiedenen bezeichnenden oder ausdrückenden
Elementen ausgesagt wird. Im ontologischen Satz ist also nicht nur das
Bezeichnete für qualitativ geschiedene Bedeutungen ontologisch dasselbe,
ebenso ist die Bedeutung für individuierende Modi, für numerisch geschiedene
bezeichnende oder ausdrückende Elemente ontologisch dieselbe: Dies ist die
Zirkelbewegung im ontologischen Satz (Ausdruck in seiner Gesamtheit).
Allerdings liegt das Wesentliche der Univozität nicht darin, daß sich das Sein
in ein und derselben Bedeutung aussagt. Vielmehr darin, daß es sich in ein und
derselben Bedeutung von all seinen individuierenden Differenzen oder innerli-
chen Modalitäten aussagt. Das Sein ist für all diese Modalitäten dasselbe, aber
diese Modalitäten sind nicht dieselben. Es ist für alle ,,gleich“, sie selbst aber
sind nicht gleich. Es sagt sich in einer einzigen Bedeutung von allen aus, sie
selbst aber haben nicht dieselbe Bedeutung. Es gehört zum Wesen des univo-
ken Seins, daß es sich auf individuierende Differenzen bezieht, diese Differen-
zen aber besitzen nicht dasselbe Wesen und variieren das Wesen des Seins
nicht - wie sich das Weiß auf verschiedene Intensitäten bezieht, wesentlich
aber dasselbe Weiß bleibt. Es gibt nicht zwei ,,Wege” [voies], wie man im
Gedicht des Parmenides geglaubt hatte, sondern eine einzige ,,Stimme“ [voix]
des Seins, die sich auf all seine Modi, die verschiedensten, verschiedenartig-
sten, differenziertesten, bezieht. Das Sein sagt sich in ein und derselben
Bedeutung von all dem aus, wovon es sich aussagt, das aber, wovon es sich
aussagt, differiert: Es sagt sich von der Differenz selbst aus.
Sicher gilt auch im univoken Sein eine Hierarchie und eine Verteilung, die die
individuierenden Faktoren und ihre Bedeutung betreffen. Aber ,,Verteilung“
und selbst ,,Hierarchie“ werden auf zwei völlig verschiedene, unmöglich ver-
einbare Weisen verwendet; ebenso die Ausdrücke logos, nomos, sofern sie
selbst auf Verteilungsprobleme verweisen. Zunächst müssen wir eine Vertei-
lung unterscheiden, die ein Aufteilen des Verteilten impliziert: Es handelt sich
um die Zuteilung des Verteilten als solchem. Die Analogieregeln in der
Urteilskraft sind hierin allmächtig. Der Gemeinsinn [sens commun] oder der
gesunde Menschenverstand [bon sens] als Qualitäten der Urteilskraft werden
somit als Zuteilungsprinzipien repräsentiert, die sich selbst zu den bestverteil-
ten erklären. Ein derartiger Verteilungstyp verfährt über feste und propositio-
nale Bestimmungen, die mit ,,Besitztümern”” oder begrenzten Territorien in
der Repräsentation gleichzusetzen sind. Möglicherweise hatte die Agrarfrage

6 Frz. propriété Besitz; Eigenschaft [A.d.Ü.].


60 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

eine große Bedeutung für diese Organisation der Urteilskraft als Vermögen
zur Unterscheidung der Teile (,,einesteils und andernteils“). Selbst unter den
Göttern hat jeder sein Gebiet, seine Kategorie, seine Attribute, und sie alle
verteilen unter den Sterblichen Grenzen und Anteile, die dem Schicksal gemäß
sind. Ganz anders eine Verteilung, die man nomadisch nennen muß, ein
nomadischer nomos, ohne Besitztum, Umzäunung und Maß. Hier gibt es kein
Aufteilen eines Verteilten mehr, sondern eher die Zuteilung dessen, was sich
verteilt, in einem unbegrenzten offenen Raum, in einem Raum, der zumindest
keine genauen Grenzen kennt’. Niemand hat Anspruch und Eigentumsrecht
auf etwas, alle aber sind hier und dort angeordnet, und zwar so, daß sie den
größtmöglichen Raum bedecken. Selbst wenn es sich um den Ernst des Lebens
handelt, würde man von einem Spielraum, von einer Spielregel sprechen, im
Gegensatz zum Raum wie zum nomos der Seßhaftigkeit. Einen Raum ausfül-
len, sich in ihm aufteilen, ist sehr verschieden von einer Aufteilung des Raums.
Jenes ist eine umherschweifende und gar ,,wahnsinnige“ Verteilung, in der sich
die Dinge über die ganze Ausdehnung eines univoken und ungeteilten Seins
hinweg ausbreiten. Es teilt sich nicht das Sein gemäß den Erfordernissen der
Repräsentation auf, vielmehr verteilen sich in ihm alle Dinge in der Univozität
der bloßen P räsenz (das All-Eine). Eine derartige Verteilung ist eher dämo-
nisch als göttlich; denn die Besonderheit der Dämonen besteht darin, daß sie
in den Zwischenräumen zwischen den Aktionsfeldern der Götter wirken, über
die Barrieren oder Umzäunungen springen und die Besitztümer in Unordnung
bringen. Der Chor des Ödipus ruft aus: ,,Welcher Dämon sprang mit größe-
ren als den weitesten Sprüngen [. . .] ?“ Hier zeugt der Sprung von den verwir-
renden Erschütterungen, die die nomadischen Verteilungen in den seßhaften
Strukturen der Repräsentation stiften. Und man muß dasselbe von der Hierar-
chie sagen. Es gibt eine Hierarchie, die die Wesen nach ihren Grenzen und
nach dem Grad ihrer jeweiligen Nähe oder Ferne im Verhältnis zu einem
Prinzip bemißt. Ebenso aber gibt es eine Hierarchie, die die Dinge und Wesen
unter dem Gesichtspunkt der Macht berücksichtigt: Es handelt sich nicht um
absolut betrachtete Grade an Macht, sondern nur um die Frage, ob ein Wesen
möglicherweise ,,springt”, d. h. seine Grenzen überschreitet, indem es bis an
das Ende seiner Fähigkeit geht, was immer auch deren Grad sein mag. Man

7 Vgl. E. Laroche: Histoire de la racine nem- en grec ancien, Paris 1949. - E. Laroche
zeigt, daß die Idee der Verteilung in YOIJOC-Y+,O nicht in einem einfachen Verhältnis
zu derjenigen des Aufteilens (z6pv0, Mo, GLcqEo) steht. Der pastorale Sinn von
YE~o (weiden lassen) impliziert erst später ein Aufteilen des Lands. Die homerische
Gesellschaft kennt weder Umzäunung noch Besitz des Weidelands: Es handelt sich
nicht um eine Verteilung des Lands auf das Vieh, sondern im Gegenteil darum, das
Vieh selbst zu verteilen, es hier und dort über einen unbegrenzten Raum, Wald oder
Berghang hinweg aufzuteilen. Der YO~OC bezeichnet zunächst einen besetzten Ort,
allerdings ohne genaue Grenzen (etwa das Umland einer Stadt). Daher auch das
Thema des ,,Nomadischen“.
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 61

wird einwenden, ,, bis an das Ende“ definiere immer noch eine Grenze. Aber
die Grenze, &~ac, bezeichnet hier nicht mehr das, wodurch das Ding unter
einem Gesetz festgehalten und begrenzt oder abgetrennt wird, sie bezeichnet
vielmehr dasjenige, von dem aus es sich ausbreitet und seine ganze Macht
entfaltet; die Hybris ist nicht länger bloß verdammenswert, und das Kleinste
gleicht nun dem Größten, sobald es nicht mehr von dem, wozu es fähig ist,
abgeschnitten ist. Dieses umhüllende Maß ist für alle Dinge dasselbe, dasselbe
auch für die Substanz, die Qualität, die Quantität usw., denn es bildet das
alleinige Maxium, an dem die entwickelte Verschiedenheit aller Grade an die
Gleichheit rührt, die sie umhüllt. Dieses ontologische Maß steht der Maßlosig-
keit der Dinge näher als dem ursprünglichen Maß; diese ontologische Hierar-
chie steht der Hybris und der Anarchie der Wesen näher als der ursprüngli-
chen Hierarchie. Sie ist das Ungeheuerliche aller Dämonen. Die Worte ,,Alles
ist gleich” können nun ertönen, aber als fröhliche Worte, vorausgesetzt sie
werden von dem ausgesagt, was in diesem univoken gleichen Sein nicht gleich
ist: Das gleiche Sein ist in allen Dingen unmittelbar gegenwärtig, ohne Ver-
mittler und Vermittlung, obwohl sich die Dinge auf ungleiche Weise in diesem
gleichen Sein aufhalten. Alle aber stehen in absoluter Nähe zueinander, und
zwar dort, wohin die Hybris sie treibt, und ob groß oder klein, niedrig oder
hoch - keines von ihnen partizipiert mehr oder weniger am Sein oder erhält es
durch Analogie zugesprochen. Das univoke Sein ist nomadische Verteilung
und gekrönte Anarchie’ zugleich.
Läßt sich jedoch nicht eine Vereinbarkeit zwischen Analogie und Univozität
erkennen? Wenn nämlich das Sein an sich selbst, als Sein, univok ist, ist es
dann nicht ,,analog“, sobald man es mit seinen innerlichen Modi oder indivi-
duierenden Faktoren erfaßt (die wir weiter oben das Ausdrückende, das
Bezeichnende nannten)? Wenn es an sich selbst gleich ist, ist es dann nicht
ungleich in den Modalitäten, die sich in ihm aufhalten? Wenn es eine gemein-
same Entität bezeichnet, geschieht dies dann nicht für jeweils Existierendes,
das ,,in Wirklichkeit“ nichts gemein hat? Wenn es eine metaphysische Verfas-
sung von Univozität hat, hat es dann nicht eine physische Verfassung von
Analogie? Und wenn die Analogie einen identischen Quasi-Begriff anerkennt,
erkennt dann nicht die Univozität ein analogisches Quasi-Urteil an, und sei es
nur, um das Sein jeweils auf jenes besondere Existierende zu beziehen’? Der-
artige Fragen aber laufen Gefahr, die beiden Thesen, die sie einander annähern
wollen, zu verfälschen. Denn das Wesentliche der Analogie beruht, wie wir
gesehen haben, auf einem gewissen Einverständnis (trotz ihrer Wesensdiffe-
renz) zwischen Gattungsdifferenzen und Artdifferenzen: Das Sein kann nicht

8 Anspielung auf A. Artauds Text Héliogabale ou L’anarchiste couronné (1934), in:


Oeuvres complétes, Paris 1982, Bd. 2 [A.d.Ü.].
9 Etienne Gilson wirft alle diese Fragen in seinem Buch über Duns Scotus auf (Jean
Duns Scot, Paris 1952, S. 87-88, 114, 236-237, 629). Er insistiert auf den Bezug der
Analogie zum Urteil und ganz besonders zum Existenzurteil (S. 101).
62 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

als eine gemeinsame Gattung gesetzt werden, ohne den Grund zu vernichten,
warum man es auf diese Weise setzt, d. h. die Seinsmöglichkeit der Artdiffe-
renzen . . . Man wird sich also nicht wundern, daß sich unter dem Gesichts-
punkt der Analogie alles über Vermittlung und Allgemeinheit - Identität des
Begriffs allgemein und Analogie der allgemeinsten Begriffe - in den mittleren
Gebieten der Gattung und der Art vollzieht. Unvermeidlich gerät daher die
Analogie in eine ausweglose Schwierigkeit: Sie muß das Sein wesentlich auf
besonderes Existierendes beziehen, zugleich aber kann sie nicht angeben, was
dessen jeweilige Individualität bildet. Sofern sie nämlich im Besonderen nur
das einbehält, was mit dem Allgemeinen (Form und Materie) übereinstimmt,
sucht sie das Individuationsprinzip in diesem oder jenem Element der bereits
konstituierten Individuen auf. Wenn wir dagegen sagen, daß sich das univoke
Sein wesentlich und unmittelbar auf individuierende Faktoren bezieht, so
verstehen wir darunter sich nicht die in der Erfahrung konstituierten Indivi-
duen, sondern das, was in ihnen als transzendentales Prinzip, als bildnerisches,
anarchisches und nomadisches Prinzip wirksam wird, das mit dem Individua-
tionsprozeß gleichzeitig ist und die Individuen ebenso aufzulösen und zu
vernichten wie vorübergehend zu konstituieren vermag: innerliche Modalitä-
ten des Seins, die von einem ,,Individuum” zum anderen übergehen und unter ’
den Formen und Materien zirkulieren und kommunizieren. Das Individuie-
rende ist nicht das bloß Individuelle. Unter diesen Bedingungen genügt es
nicht, daß man sagt, die Individuation unterscheide sich naturgemäß von der
Spezifikation. Es genügt nicht einmal, dies auf die Art des Duns Scotus zu tun,
der sich doch nicht mit der Analyse der Elemente eines bereits gebildeten
Individuums begnügte, sondern sich bis zum Entwurf einer Individuation als
,,letzter Aktualität der Form“ erhob. Man muß nicht nur zeigen, wie die
individuierende Differenz wesentlich von der Artdifferenz abweicht, sondern
zuerst und vor allem, wie die Individuation von Rechts wegen der Form und
der Materie, der Art und den Teilen und jedem anderen Element des konsti-
tuierten Indidividuums vorausgeht. Sofern sie sich unmittelbar auf die Diffe-
renz bezieht, verlangt die Univozität des Seins, daß man nachweist, wie die
individuierende Differenz im Sein den Gattungsdifferenzen, Artdifferenzen
und noch den individuellen Differenzen vorausgeht - wie ein vorgängiges
Individuationsfeld im Sein sowohl die Spezifikation der Formen, als auch die
Bestimmung der Teile und ihre individuellen Variationen bedingt. Wenn sich
die Individuation weder über die Form noch über die Materie, weder qualita-
tiv noch extensiv vollzieht, so deshalb, weil sie durch die Formen, Materien
und extensiven Teile bereits vorausgesetzt wird (und nicht nur, weil sie sich
wesentlich davon unterscheidet).
Allgemein vermitteln sich die Gattungs- und Artdifferenzen in der Analogie
des Seins hinsichtlich der individuellen Differenzen also keineswegs auf die-
selbe Weise, wie sich in der Univozität das univoke Sein unmittelbar von den
individuierenden Differenzen aussagt, oder wie sich das Universale unabhän-
gig von jeder Vermittlung vom Singulärsten aussagt. Wenn es stimmt, daß die
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 63

Analogie das Sein als eine gemeinsame Gattung zurückweist, weil die (artbil-
denden) Differenzen ,,sind”, so ist umgekehrt das univoke Sein tatsächlich
gemein in dem Maße, wie die (individuierenden) Differenzen ,,nicht sind“ und
nicht sein dürfen. Sicher werden wir sehen, daß sie in einem ganz besonderen
Sinn nicht sind: Wenn sie nicht sind, so deshalb, weil sie im univoken Sein von
einem negationslosen Nicht-Sein abhängen. Es wird in der Univozität aber
bereits deutlich, daß nicht die Differenzen sind oder sein müssen. Vielmehr ist
es das Sein, das Differenz ist, und zwar in dem Sinne, wie es sich von der
Differenz aussagt. Und nicht wir sind es, die univok in einem Sein sind, das es
selbst nicht ist; vielmehr bleiben wir, bleibt unsere Individualität äquivok in
einem Sein, für ein univokes Sein.
Die Geschichte der Philosophie bestimmt drei Hauptmomente in der Aus-
arbeitung der Univozität des Seins. Für den ersten steht Duns Scotus. Im
Opus Oxoniense, dem größten Buch reiner Ontologie, wird das Sein als
univok gedacht, aber das univoke Sein wird als neutral, neuter, indifferent
gegenüber dem Unendlichen und Endlichen, dem Singulären und Universalen,
dem Erschaffenen und Nicht-Erschaffenen gedacht. Scotus verdient also den
Titel eines ,,Doctor subtilis”, weil sein Blick das Sein diesseits der Verflech-
tung von Universalem und Singulärem ausmacht. Um die Analogiekräfte im
Urteil zu neutralisieren, kommt er ihnen zuvor und neutralisiert zuerst das
Sein in einem abstrakten Begriff. Darum hat er das univoke Sein bloß gedacht.
Und man erkennt den Feind, dem zu entkommen er sich - gemäß den Forde-
rungen des Christentums - abmüht: den Pantheismus, in den er verfallen
würde, wäre das gemeinsame Sein nicht neutral. Er vermochte indessen zwei
Typen von Unterscheidung zu definieren, die jenes indifferente neutrale Sein
auf die Differenz bezogen. Denn die formale Unterscheidung ist zwar eine
reale Unterscheidung, da sie im Sein oder im Ding gründet, sie ist aber nicht
notwendig eine numerische Unterscheidung, weil sie sich zwischen Wesenhei-
ten oder Bedeutungen, zwischen ,, formalen Gründen“ errichtet, die die Ein-
heit des Subjekts, dem sie zugeschrieben werden, fortbestehen lassen können.
Auf diese Weise setzt sich nicht nur die Univozität des Seins (im Verhältnis zu
Gott und den Geschöpfen) in der Univozität der ,,Attribute“ fort, sondern es
kann auch Gott, seine Unendlichkeit vorausgesetzt, die formal geschiedenen
univoken Attribute besitzen, ohne daß seine Einheit irgend beeinträchtigt
wurde. Der andere Unterscheidungstyp, die modale Unterscheidung, errichtet
sich zwischen dem Sein oder den Attributen einerseits und den intensiven
Variationen, zu denen sie fähig sind, andererseits. Diese Variationen, wie etwa
die Abstufungen des Weißen, sind individuierende Modalitäten, deren singu-
läre Intensitäten gerade durch das Unendliche und das Endliche gebildet
werden. Unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen Neutralität impliziert
das univoke Sein also nicht nur qualitative Formen oder distinkte Attri-
bute, die selbst univok sind, sondern es bezieht sich und bezieht sie auf
intensive Faktoren oder individuierende Grade, die seinen und ihren Modus
variieren, ohne sein und ihr Wesen als Sein zu verändern. Wenn es stimmt,
64 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

daß die Unterscheidung überhaupt das Sein auf die Differenz bezieht, so sind
die formale Unterscheidung und die modale Unterscheidung die beiden
Typen, unter denen sich das univoke Sein an sich und durch sich selbst auf die
Differenz bezieht.
Mit dem zweiten Moment bewirkt Spinoza einen beträchtlichen Fortschritt.
Anstatt das univoke Sein als neutrales oder indifferentes zu denken, macht er
aus ihm ein Objekt reiner Bejahung. Das univoke Sein verschmilzt mit der
einzigen, universalen und unendlichen Substanz: Es wird als Deus sive Natura
gesetzt. Und der Kampf, den Spinoza gegen Descartes aufnimmt, ist nicht
ohne Beziehung zu demjenigen, den Duns Scotus gegen den heiligen Thomas
führte. Gegen die ganz von Analogie durchdrungene kartesianische Theorie
der Substanzen, gegen das kartesianische Konzept der Unterscheidungen, das
das Ontologische, das Formale und das Numerische innig vermischt (Sub-
stanz, Qualität und Quantität), organisiert Spinoza eine bewundernswerte
Aufteilung der Substanz, der Attribute und Modi. Schon auf den ersten Seiten
der Ethik macht er geltend, daß die realen Unterscheidungen niemals nume-
risch, sondern nur formal sind, d.h. qualitativ oder wesentlich (wesentliche
Attribute der einzigen Substanz); und daß umgekehrt die numerischen Unter-
scheidungen niemals real sind, sondern nur modal (innerliche Modi der einzi-
gen Substanz und ihrer Attribute). Die Attribute verhalten sich in Wirk-
lichkeit wie qualitativ verschiedene Bedeutungen [sens], die sich auf die Sub-
stanz als ein und dasselbe Bezeichnete beziehen; und diese Substanz verhält
sich ihrerseits wie eine ontologisch eine Bedeutung im Verhältnis zu den
Modi, die sie ausdrücken und in ihr individuierenden Faktoren oder intensi-
ven innerlichen Graden entsprechen. Daraus entspringen eine Bestimmung des
Modus als Grad an Fähigkeit [puissance] und eine einzige ,,Verpflichtung“ für
den Modus, nämlich seine ganze Fähigkeit oder sein Sein in der Grenze selbst
zu entfalten. Die Attribute sind also der Substanz und den Modi absolut
gemein, obwohl Substanz und Modi nicht dieselbe Wesenheit besitzen; das
Sein selbst sagt sich in ein und derselben Bedeutung von der Substanz und den
Modi aus, obwohl Modi und Substanz nicht dieselbe Bedeutung besitzen oder
dieses Sein nicht auf dieselbe Weise (in se und in alio) innehaben. Jede Hierar-
chie, jeder Vorrang wird verneint, sofern die Substanz von allen Attributen
derem Wesen gemäß auf gleiche Weise bezeichnet wird, von allen Modi gemäß
ihres Grads an Fähigkeit auf gleiche Weise ausgedrückt wird. Seit Spinoza ist
das univoke Sein nicht länger neutralisiert, wird vielmehr expressiv und zu
einem wahrhaften bejahenden expressiven Satz.
Trotzdem bleibt noch eine Indifferenz zwischen der Substanz und den Modi
bestehen: Die spinozistische Substanz erscheint als unabhängig von den Modi,
und die Modi hängen von der Substanz ab, allerdings als von etwas anderem.
Die Substanz müßte sich selbst von den Modi, und nur von den Modi aussa-
gen. Eine derartige Bedingung kann nur um den Preis einer allgemeineren
kategorischen Umkehrung erfüllt werden, derzufolge sich das Sein vom Wer-
den, die Identität vom Differenten, das Eine vom Vielen usw. aussagt. Daß die
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 65

Identität nicht primär ist, daß sie als Prinzip, aber als sekundäres Prinzip, als
gewordenes Prinzip existiert; daß sie um das Differente kreist - dies ist die
Natur einer kopernikanischen Revolution, die der Differenz die Möglichkeit
ihres eigenen Begriffs eröffnet, anstatt sie unter der Herrschaft eines-Begriffs
überhaupt festzuhalten, der bereits als identisch gesetzt ist. Mit der ewigen
Wiederkunft wollte Nietzsche nichts anderes sagen. Die ewige Wiederkunft
kann nicht die Wiederkehr des Identischen meinen, da sie im Gegenteil eine
Welt (die Welt des Willens zur Macht) voraussetzt, in der alle vorgängigen
Identitäten abgeschafft und aufgelöst sind. Wiederkehren ist das Sein, aber nur
das Sein des Werdens. Die ewige Wiederkunft läßt nicht ,,das Selbe” wieder-
kehren, die Wiederkehr bildet vielmehr das einzige Selbe dessen, was wird.
Wiederkehren ist das Identisch-Werden des Werdens selbst. Wiederkehren ist
folglich die einzige Identität, die Identität aber als sekundäre Macht [puis-
sance], die Identität der Differenz, das Identische, das sich vom Differenten
aussagt, um das Differente kreist. Eine solche, durch die Differenz hervorge-
brachte Identität wird als Wiederholung bestimmt. Daher besteht auch die
Wiederholung in der ewigen Wiederkehr darin, das Selbe ausgehend vom
Differenten zu denken. Aber dieses Denken ist keine theoretische Repräsenta-
tion mehr: Es vollzieht praktisch eine Selektion von Differenzen gemäß dessen
produktivem Vermögen, d.h. wiederzukehren oder der Prüfung der ewigen
Wiederkunft standzuhalten. Der selektive Charakter der ewigen Wiederkehr
tritt deutlich in der Idee Nietzsches zutage: Was wiederkehrt, ist nicht das
Ganze, das Selbe oder die vorgängige Identität überhaupt. Ebensowenig sind
es das Kleine oder Große als Teile des Ganzen oder Elemente des Selben.
Einzig die extremen Formen kehren wieder - jene Formen, die sich, ob klein
oder groß, in der Grenze entfalten und bis ans Ende der Fähigkeit gehen, sich
transformieren und ineinander übergehen. Einzig das Extreme, Exzessive
kehrt wieder, dasjenige, was ins andere übergeht und identisch wird. Darum
sagt sich die ewige Wiederkunft nur von der Theaterwelt der Metamorphosen
und Masken des Machtwillens aus, von den reinen Intensitäten dieses Willens
als den individuierenden beweglichen Faktoren, die sich nicht mehr in den
künstlichen Grenzen dieses oder jenes Individuums, dieses oder jenes Ichs
festhalten lassen. Die ewige Wiederkunft, die Wiederkehr drückt das allen
Metamorphosen gemeine Sein aus, das Maß des gemeinsamen Seins all dessen,
was extrem ist, aller Grade von Macht, sofern sie verwirklicht sind. Sie ist das
Gleich-Sein all dessen, was ungleich ist und seine Ungleichheit vollständig
verwirklichen konnte. Alles, was extrem ist und das Selbe wird, kommuniziert
in einem gleichen und gemeinsamen Sein, das dessen Wiederkunft bestimmt.
Darum ist der Übermensch definiert durch die höhere Form all dessen, was
,,ist”. Man muß durchschauen, was Nietzsche vornehm nennt: Er belehnt die
Sprache des Energiephysikers, er nennt vornehm die Energie, die sich zu
transformieren vermag. Wenn Nietzsche sagt, die Hybris sei das wahre Pro-
blem jedes Herakliteers, oder die Rangordnung sei das Problem der freien
Geister, so meint er ein und dasselbe: daß jeder in der Hybris das Sein findet,
66 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

das ihn wiederkehren läßt, und ebenso jene Art gekrönter Anarchie, jene
umgekehrte Rangordnung, die, um die Selektion der Differenz zu gewähr-
leisten, mit der Unterordnung des Identischen unter das Differente
beginnt”. Unter diesen Aspekten ist die ewige Wiederkunft die Univozität
des Seins, die tatsächliche Verwirklichung dieser Univozität. In der ewigen
Wiederkunft ist das univoke Sein nicht nur gedacht und sogar bejaht, es ist
vielmehr tatsächlich verwirklicht. Das Sein sagt sich in ein und derselben
Bedeutung aus, diese Bedeutung aber ist die der ewigen Wiederkunft als
Wiederkunft oder Wiederholung dessen, wovon es sich aussagt. Das Rad in
der ewigen Wiederkunft ist zugleich Erzeugung der Wiederholung ausge-
hend von der Differenz, und Selektion der Differenz ausgehend von der
Wiederholung.

Die Prüfung des Kleinen und Großen schien uns die Selektion zu verfäl- i
schen, weil sie zugunsten der Erfordernisse der Identität des Begriffs über-
haupt auf einen eigenen Begriff der Differenz verzichtete. Sie legte nur die
Grenzen fest, zwischen denen die Bestimmung Differenz wurde, indem sie
sich in den identischen Begriff oder in die analogen Begriffe (Minimum und
Maximum) einschrieb. Darum schien uns die Selektion, die darin besteht,
den Unterschied zu machen, einen anderen Sinn zu haben: die extremen
Formen in der bloßen Präsenz eines univoken Seins erscheinen und sich
entfalten zu lassen - und weniger die mittleren Formen nach den Erforder-
nissen der organischen Repräsentation abzumessen und aufzuteilen. Können
wir jedoch sagen, daß wir alle Mittel des Kleinen und Großen erschöpft
haben, sofern sie auf die Differenz angewendet werden? Werden wir sie
nicht als eine charakteristische Alternative der extremen Formen selbst
wiederfinden? Denn das Extreme scheint sich über das Unendliche im Klei-
nen oder im Großen zu definieren. Das Unendliche bedeutet in diesem
Sinne sogar die Identität des Großen und Kleinen, die Identität der
Extreme. Wenn die Repräsentation in sich das Unendliche findet, so er-

10 Vgl. Nietzsche: ,,J enes gefährliche Wort, Hybris, ist in der Tat der Prüfstein für
jeden Herakliteer” (Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Werke,
hg. v. K. Schlechta, München i969”, Bd. 3, S. 376). Und zum Problem der Hierar-
chie, zum ,,Problem der Rangordnung”, das ,,unser Problem ist, wir freien Geister,“
vgl. Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band, Vorrede, § 6-7 (Werke, a.a.O.,
Bd. 1, S. 442-444). - Un d zum Übermenschen als ,,höchste Art alles Seienden“: Ecce
Homo (Also sprach Zarathustra, § 6; in: Werke, Bd. 2, S. 1135).
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 67

scheint sie als orgische, und nicht mehr als organische Repräsentation: Sie
entdeckt in sich den Aufruhr, die Unruhe und die Leidenschaft unter der
scheinbaren Ruhe oder den Grenzen des Organisierten. Sie stößt wieder auf
das Ungeheuer. Es handelt sich dann nicht mehr um einen glücklichen
Augenblick, der den Eintritt und den Austritt der Bestimmung im Begriff
überhaupt markierte, das relative Minimum und das relative Maximum, den
punctum proximum und den punctum remotum. Es ist vielmehr ein kurz-
sichtiges Auge, ein weitsichtiges Auge gefordert, damit der Begriff für alle
Momente einsteht: Der Begriff ist nun das Ganze, sei es, daß er seinen
Segen auf alle Teile hin ausdehnt, sei es, daß sich die Spaltung und das
Unglück der Teile in ihm reflektieren, um eine Art Absolution zu erhalten.
Der Begriff folgt also und vereinigt sich mit der Bestimmung von einem
Ende zum anderen, in all ihren Metamorphosen, und repräsentiert sie als
reine Differenz, indem er sie einem Grund ausliefert, hinsichtlich dessen die
Frage bedeutungslos geworden ist, ob man sich nun vor einem relativen
Minimum oder einem relativen Maximum, vor einem Großen oder einem
Kleinen oder vor einem Anfang oder einem Ende befindet, da beide im
Grund als einem und demselben ,,totalen“ Moment zusammenfallen, in
einem Moment, in dem ebenso die Differenz verlöscht und erzeugt wird,
verschwindet und erscheint.
Man wird in diesem Sinne feststellen, wie sehr Hegel - nicht weniger als
Leibniz - der unendlichen Bewegung des Verlöschens als solchem Gewicht
verleiht, d.h. dem Moment, in dem die Differenz schwindet, der mit dem
zusammenfällt, in dem sie entsteht. Der Begriff der Grenze selbst erhält eine
völlig andere Bedeutung: Er bezeichnet nicht mehr die Schranken der endli-
chen Repräsentation, sondern im Gegenteil die Matrix, in der die endliche
Bestimmung fortwährend verschwindet und entsteht, sich fortwährend in der
orgischen Repräsentation umhüllt und entfaltet. Er bezeichnet nicht mehr die
Beschränkung einer Form, sondern die Konvergenz auf einen Grund hin;
nicht mehr die Unterscheidung der Formen, sondern die Korrelation von
Begründetem und Grund; nicht mehr das Aussetzen der Macht, sondern das
Element, in dem die Macht verwirklicht und gegründet ist. Die Differential-
rechnung ist nämlich ebenso wie die Dialektik eine Sache der ,,Macht”” und
der Macht der Grenze. Wenn man die Schranken der endlichen Repräsenta-
tion als zwei abstrakte mathematische Bestimmungen behandelt, die denen des
Kleinen und des Großen entsprechen, so bemerkt man wiederum, daß Leibniz
(und Hegel) die Frage völlig gleichgültig ist, ob das Bestimmte klein oder
groß, das Größte oder das Kleinste ist; die Berücksichtigung des Unendlichen
macht das Bestimmte von dieser Frage unabhängig, indem sie es einem archi-
tektonischen Element unterstellt, das in allen Fällen das Vollendetste oder

11 Vgl. Anmerkung 3, S. 18 [A.d.Ü.].


68 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Bestbegründete offenbart12. In diesem Sinne muß von der orgischen Repräsen-


tation gesagt werden, sie mache die Differenz, da sie sie durch die Einführung
dieses Unendlichen auswählt, das sie auf den Grund bezieht (sei es eine
Begründung durch das Gute, das als Wahl- und Spielprinzip wirksam wird, sei
es eine Begründung durch die Negativität, die als Schmerz und Arbeit wirk-
sam wird). Und wenn man die Schranken der endlichen Repräsentation, d. h.
das Kleine und das Große selbst, im konkreten Merkmal oder Inhalt verhan-
delt, der ihnen durch die Gattungen und Arten verliehen wird, so macht auch
hier die Einführung des Unendlichen in die Repräsentation das Bestimmte
unabhängig von der Gattung als bestimmbarer und von der Art als Bestim-
mung, indem sie die wahre Universalität, die sich der Gattung entzieht, und
ebenso die authentische Singularität, die sich der Art entzieht, in einem Mittel-
begriff festhält. Kurz, das Prinzip der orgischen Repräsentation ist der Grund
und ihr Element das Unendliche - im Gegensatz zur organischen Repräsenta-
tion, die als Prinzip die Form und als Element das Endliche bewahrte. Das
Unendliche ist es, wodurch die Bestimmung denkbar und auswählbar wird:
Die Differenz erscheint folglich als orgische Repräsentation der Bestimmung,
nicht mehr als ihre organische Repräsentation.
Anstatt Urteile über die Dinge hervorzurufen, macht die orgische Repräsenta-
tion aus den Dingen selbst entsprechend viele Ausdrücke, Sätze: unendliche
analytische oder synthetische Sätze. Warum aber besteht eine Alternative in
der orgischen Repräsentation, während die beiden Punkte, das Kleine und das
Große, das Maximum und das Minimum, indifferent oder identisch im
Unendlichen und die Differenz völlig unabhängig von ihnen im Grund gewor-
den ist? Dies rührt daher, daß das Unendliche nicht der Ort ist, an dem die
endliche Bestimmung verschwunden ist (das hieße, die falsche Auffassung der
Grenze ins Unendliche zu projizieren). Die orgische Repräsentation kann das
Unendliche in sich nur dadurch entdecken, daß sie die endliche Bestimmung
fortbestehen läßt, und mehr noch, daß sie das Unendliche von dieser endlichen

l2 Zur Indifferenz gegenüber dem Kleinen oder Großen vgl. Leibniz: Tentamen
anagogicum, in: Die philosophischen Schriften, hg. v. C. J-Gerhardt, Berlin 1890
(Nachdruck: H’ld 1 e s heim u. New York 1978), Bd. 7. - Man wird feststellen, daß sich
für Leibniz wie für Hegel die unendliche Repräsentation nicht auf eine mathemati-
sche Struktur reduzieren läßt: Es gibt in der Differentialrechnung und in der Stetig-
keit ein architektonisches, nicht-mathematisches oder über-mathematisches Ele-
ment. Umgekehrt scheint Hegel in der Differentialrechnung tatsächlich die Anwe-
senheit eines wahrhaften Unendlichen zu erkennen, das das Unendliche des
,,Verhältnisses“ ist; sein Vorwurf gegenüber dem Kalkül lautet nur, daß es dieses
wahrhafte Unendliche in der mathematischen Form der ,,Reihe” ausdrückt, die
selbst ein falsches Unendliches ist. Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik 1, in: Werke,
hg. v. E. Mollenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt 1986, Bd. 5, S. 279 ff. - Die
moderne Interpretation verhandelt die Differentialrechnung bekanntlich in den
Begriffen der endlichen Repräsentation; wir analysieren diesen Gesichtspunkt im
vierten Kapitel.
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 69

Bestimmung selbst aussagt, daß sie sie nicht als verloschen und verschwunden
repräsentiert, sondern als verlöschend und im Augenblick ihres Verschwin-
dens und damit auch im Prozeß ihres Entstehens im Unendlichen. Diese
Repräsentation ist so beschaffen, daß das Unendliche und das Endliche darin
dieselbe Unruhe besitzen, die es gerade ermöglicht, das eine im anderen zu
repräsentieren. Wenn sich aber das Unendliche vom Endlichen selbst unter
den Bedingungen der Repräsentation aussagt, so kann es dies auf zwei Arten
tun: entweder als unendlich Kleines oder als unendlich Großes. Diese beiden
Arten, diese beiden ,,Differenzen“ sind keineswegs symmetrisch. Auf diese
Weise wird die Dualität wieder in die orgische Repräsentation hineingetragen,
und zwar nicht mehr in Form einer Komplementarität oder einer Reflexion
von zwei zuschreibbaren unendlichen Momenten (wie dies bei der Artdiffe-
renz und der Gattungsdifferenz der Fall war), sondern in Form einer Alterna-
tive zwischen zwei unendlichen und nicht zuschreibbaren Prozessen - in
Form einer Alternative zwischen Leibniz und Hegel. Wenn es stimmt, daß
sich das Kleine und das Große im Unendlichen treffen, so treten das unendlich
Kleine und das unendlich Große erneut auseinander, und das umso hartnäcki-
ger, als sich das Unendliche vom Endlichen aussagt. Leibniz und Hegel ent-
kommen jeweils gesondert der Alternative des Großen und des Kleinen, beide
aber verfallen von Neuem der Alternative zwischen unendlich Kleinem und
unendlich Großem. Darum öffnet sich die orgische Repräsentation auf eine
Dualität hin, die ihre Unruhe verdoppelt oder gar deren wahrhafte ratio
darstellt und sie in zwei Typen teilt.
Es zeigt sich, daß der ,,Widerspruch“ nach Hegel kaum ein Problem darstellt.
Er hat eine ganz andere Funktion: Der Widerspruch löst sich und löst, indem
er sich löst, die Differenz dadurch auf, daß er sie auf einen Grund bezieht. Die
Differenz stellt das einzige Problem. Seinen Vorgängern wirft Hegel vor, bei
einem gänzlich relativen Maximum stehengeblieben zu sein, ohne das absolute
Maximum zu erreichen, d. h. den Widerspruch, das Unendliche (als unendlich
Großes) des Widerspruchs. Sie wagten nicht, bis ans Ende zu gehen: ,,Der
Unterschied überhaupt ist schon der Widerspruch an sich. [. . .] Die Mannig-
faltigen werden erst auf die Spitze des Widerspruchs getrieben regsam und
lebendig gegeneinander und erhalten in ihm die Negativität, welche die inne-
wohnende Pulsation der Selbstbewegung und Lebendigkeit ist. [. . .] Näher
den Unterschied der Realität genommen, so wird er aus der Verschiedenheit
zum Gegensatze und damit zum Widerspruch und der Inbegriff aller Realitä-
ten überhaupt zum absoluten Widerspruch in sich selbst“13. Wie Aristoteles
bestimmt Hegel die Differenz durch den Gegensatz der Extreme oder des
Entgegengesetzten. Aber der Gegensatz bleibt abstrakt, solange er nicht bis

13 Hegel* . Wissenschaft der Logik, Bd. 1, in: Werke, a.a.O., Bd. 6, S. 65 u. 78. Vgl. auch
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Werke Bd. 8, § 116-122. - Zu
diesem Übergang von der Differenz zum Gegensatz und zum Widerspruch vgl. die
Kommentare Jean Hyppolites: Logique et existence, Paris 1953, S. 146-157.
70 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ins Unendliche geht, und das Unendliche bleibt abstrakt immer dann, wenn
man es außerhalb endlicher Gegensätze setzt: Die Einführung des Unendli-
chen zieht hier die Identität des Entgegengesetzten nach sich oder macht aus
dem Entgegengesetzten des Anderen ein Entgegengesetztes des Selbst. Freilich
repräsentiert die Kontrarietät nur im Unendlichen die Bewegung der Inwen-
digkeit; diese läßt Indifferenz fortbestehen, weil jede Bestimmung, sofern sie
das Andere enthält, unabhängig vom Anderen wie von einem Bezug zum
Außen ist. Zudem muß jedes Entgegengesetzte sein Anderes aus sich heraus-
treiben, sich also aus sich selbst heraustreiben und zum Anderen werden, das
es heraustreibt. Dies ist der Widerspruch als Bewegung der Äußerlichkeit oder
der realen Objektivierung, der die wahre Pulsation des Unendlichen bildet. In
ihm wird also die bloße Identität des Entgegengesetzten als Identität des
Positiven und Negativen überschritten. Denn Positives und Negatives sind
nicht auf gleiche Weise das Selbe; das Negative ist nun das Werden des
Positiven, wenn das Positive verneint wird, und zugleich die Wiederkehr des
Positiven, wenn es sich selbst verneint oder ausschließt. Sicher war keines der
als positiv und negativ bestimmten Entgegengesetzten bereits der Wider-
spruch, ,,[a]ber das Positive ist nur an sich dieser Widerspruch; das Negative
dagegen der gesetzte Widerspruch“. Die Differenz erfährt im gesetzten Wider-
spruch ihren eigenen Begriff, wird in ihm als Negativität bestimmt, wird in
ihm rein, innerlich, wesentlich, qualitativ, synthetisch, produktiv und läßt
keine Indifferenz fortbestehen. Im Aushalten, in der Erregung des Wider-
spruchs liegt die selektive Prüfung, die den Unterschied ,,macht“ (und zwar
zwischen dem Tatsächlich-Realen und dem flüchtigen oder kontingenten Phä-
nomen). Auf diese Weise wird die Differenz bis zum Ende getrieben, d. h. bis
zum Grund, der ihre Wiederkunft oder Reproduktion ebenso wie ihre Ver-
nichtung ist.
Obwohl es sich vom endlichen Gegensatz oder von der endlichen Bestim-
mung aussagt, ist dieses Hegelsche Unendliche noch das unendlich Große der
Theologie, des Ens quo nihil majus . . . Man muß sogar bedenken, daß die
Natur des realen Widerspruchs, sofern er ein Ding von all dem, was es nicht
ist, unterscheidet, zuerst von Kant formuliert wurde, der ihn mit dem Namen
,,durchgängige Bestimmung“ von der Setzung eines Ganzen der Realität als
Ens summum abhängen läßt. Es besteht also kein Grund, eine mathemathische
Verhandlung dieses unendlich Großen der Theologie, dieser Erhabenheit des
unendlich Großen zu erwarten. Anders bei Leibniz. Denn aufgrund der
Bescheidenheit der Geschöpfe, und um jede Vermischung von Gott und den
Geschöpfen zu vermeiden, kann Leibniz das Unendliche nur in Form d e s
unendlich Kleinen ins Endliche einführen. Man wird in diesem Sinne jedoch
mit der Behauptung zögern, er ginge ,,weniger weit“ als Hegel. Auch er
überschreitet die organische Repräsentation auf eine orgische Repräsentation
hin, wenngleich auf anderem Weg. Wenn Hegel in der heiteren Repräsentation
die Trunkenheit und Unruhe des unendlich Großen entdeckt, so entdeckt
Leibniz in der endlichen klaren Idee die Unruhe des unendlich Kleinen, die
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 71

ebenso aus Trunkenheit, Taumel, Verlöschen und gar Tod besteht. Es scheint
also, als rühre der Unterschied zwischen Hegel und Leibniz an zwei Arten,
das Organische zu überschreiten. Sicherlich sind das Wesentliche und das
Unwesentliche nicht voneinander zu trennen, ebensowenig das Eine und das
Viele, das Gleiche und das Ungleiche, das Identische und das Differente.
Hegel aber geht vom Wesentlichen als Gattung aus; und durch das Unendliche
wird die Spaltung in die Gattung und die Aufhebung der Spaltung in die Art
gebracht. Die Gattung ist also sie selbst und die Art, das Ganze ist es selbst
und der Teil. Sie enthält demnach das Andere in essentia, sie enthält es
wesentlich14. Leibniz dagegen geht, was die Phänomene betrifft, vom Unwe-
sentlichen aus - von der Bewegung, vom Ungleichen, vom Differenten. Dank
des unendlich Kleinen ist es das Unwesentliche, das nun als Art und als
Gattung gesetzt wird und sich als solche in der ,,entgegengesetzten Quasi-
Art“ vollendet: Das bedeutet, daß es das andere nicht in essentia, sondern nur
als Eigenschaft, als Fall enthält. Es ist falsch, der infinitesimalen Analyse
folgende Alternative aufzuzwingen: Ist sie eine Sprache von Wesenheiten oder
eine bequeme Fiktion ? Denn die Subsumierung unter den ,,Fall“ oder die
Sprache der Eigenschaften besitzen ihre eigene Originalität. Dieses Verfahren
des unendlich Kleinen, das die Unterscheidung der Wesenheiten aufrechterhält
(sofern eine im Verhältnis zur anderen die Rolle des Unwesentlichen über-
nimmt), ist völlig verschieden von der Kontradiktion; man muß ihm daher
einen besonderen Namen, den Namen ,,Vize-Diktion“ geben. Im unendlich
Großen steht das Gleiche in Kontradiktion zum Ungleichen, sofern es dieses
in essentiu besitzt, und widerspricht sich selbst, sofern es sich selbst negiert,
indem es das Ungleiche negiert. Im unendlich Kleinen aber steht das Unglei-
che in Vize-Diktion zum Gleichen, in Vize-Diktion zu sich selbst, sofern es
das, wodurch es in essentia ausgeschlossen wird, als Fall einschließt. Das
Unwesentliche umfaßt das Wesentliche als Fall, während das Wesentliche das
Unwesentliche in essentia enthielt.
Muß man sagen, die Vize-Diktion gehe weniger weit als die Kontradiktion,
unter dem Vorwand, sie betreffe nur die Eigenschaften? In Wirklichkeit weist
der Ausdruck ,,unendlich kleine Differenz“ zwar darauf hin, daß die Differenz
im Verhältnis zur Anschauung verlischt; aber sie findet ihren Begriff, und es
ist eher die Anschauung, die selbst zugunsten des Differentialquotienten ver-
lischt. Man weist dies nach, indem man sagt, dx sei nichts im Verhältnis zu x,
u’y nichts im Verhältnis zu y, aber dyldx sei das innere qualitative Verhältnis,
das das Universale einer Funktion losgelöst von seinen besonderen Zahlen-
werten ausdrückt. Wenn aber das Verhältnis keine numerischen Bestimmun-
gen besitzt, so hat es dennoch Variationsgrade, die mit verschiedenen Formen
und Gleichungen übereinstimmen. Diese Grade entsprechen selbst den Ver-

l4 Zum Unendlichen, zur Gattung und Art vgl. Phänomenologie des Geistes, in:
Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 130-133, 140-143, 221-225.
72 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

hältnissen des Universalen; und die Differentialquotienten werden in diesem


Sinne vom Prozeß einer Wechselbestimmung erfaßt, der die Interdependenz
der variablen Koeffizienten wiedergibt? Wiederum aber drückt die Wechsel-
bestimmung nur den ersten Aspekt eines wahrhaften Vernunftprinzips aus;
der zweite Aspekt ist die vollständige, die durchgängige Bestimmung. Denn
jeder Grad oder jedes Verhältnis, verstanden als das Universale einer Funk-
tion, bestimmt die Existenz und die Auftei lung von ausgezeichneten Punkten
der entsprechenden Kurve. Wir müssen hier große Sorgfalt darauf wenden,
nicht das ,,Vollständ ige“ mit dem ,,Ganzen“ zu verwechseln; denn etwa für
die Gleichung einer Kurve verweist der Differentialquotient nur auf gerade
Linien, die durch die Natur der Kurve bestimmt sind; er ist bereits vollstän-
dige Bestimmung des Objekts und drückt dennoch nur einen Teil des ganzen
Objekts aus, den als ,,abgeleitet“ betrachteten Teil (der andere Teil, der durch
die sogenannte primitive Funktion ausgedrückt wird, kann nur durch Integra-
tion gefunden werden, die sich keineswegs damit begnügt, die Umkehrung der
Differentiation darzustellen; ebenso ist es die Integration, die die Natur der
vorher bestimmten ausgezeichneten Punkte definiert). Darum kann ein Objekt
duchgängig bestimmt sein - ens omni modo determinutum -, ohne darum
schon über seine integrale Beschaffenheit zu verfügen, die allein seine aktuelle
Existenz ausmacht. Aber unter dem doppelten Gesichtspunkt der Wechselbe-
stimmung und der durchgängigen Bestimmung wird bereits offenbar, daß der
Grenzwert mit der Macht selbst zusammenfällt. Der Grenzwert wird durch
die Konvergenz definiert. Die Zahlenwerte einer Funktion finden ihre Grenze
im Differentialverhältnis; die Differentialquotienten finden ihre Grenze in den
Variationsgraden; und bei jedem Grad sind die ausgezeichneten Punkte die
Grenze von Reihen, die sich analytisch ineinander fortsetzen. Nicht nur ist das
Differentialverhältnis das reine Element der Potentialität, vielmehr ist die
Grenze die Macht des Stetigen, wie die Stetigkeit die der Grenzen selbst. Die
Differenz erhält damit ihren Begriff in einem Negativen, in einem Negativen
reiner Beschränkung aber, einem nihil respectivum (dx ist nichts im Verhältnis
zu x). Aus all diesen Perspektiven bildet die Unterscheidung zwischen Ausge-
zeichnetem und Gewöhnlichem, Singulärem und Regulärem im Stetigen die
beiden eigentlichen Kategorien des Unwesentlichen. Sie rufen die ganze Spra-
che der Grenzen und Eigenschaften16 ins Leben, sie konstituieren die Struktur
des Phänomens als solchen; in diesem Sinne werden wir sehen, was alles die

l5 Vgl. Leibniz: Nova calculi differentialis applicatio . . . (1694), in: Mathematische


Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt, Halle 1858 (Nachdruck: Hildesheim u. New York
1971), Bd. 5, S. 301-396. - Zu einem Prinzip von Wechselbestimmung, wie es
Salomon Maimon Leibniz entnimmt, vgl. M. Guéroult: La philosophie transcenden-
tale de Salomon Maihzon, Paris 1929, S. 75ff. (aber weder Maimon noch Leibniz
unterscheiden die Wechselbestimmung der Verhältnisse und die durchgängige
Bestimmung des Objekts).
16 Vgl . Anmerkung 6, S. 59 [A.d.Ü.].
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 73 ~

Philosophie von einer Verteilung von ausgezeichneten und gewöhnlichen


Punkten hinsichtlich der Beschreibung der Erfahrung zu erwarten hat. Aber
schon die beiden Arten von Punkten bahnen und bestimmen im Unwesentli-
chen die Konstitution der Wesenheiten selbst. Das Unwesentliche bezeichnet
hier nicht das Bedeutungslose, sondern im Gegenteil das Tiefste, den Stoff
oder das universale Kontinuum, woraus die Wesenheiten selbst schließlich
gemacht sind.
Tatsächlich hat Leibniz seinerseits nie einen Widerspruch zwischen dem
Gesetz der Stetigkeit und dem Prinzip des Nichtzuunterscheidenden gesehen.
Das eine reguliert die Eigenschaften, die Affektionen oder vollständigen Fälle,
das andere die Wesenheiten, die als ganze individuelle Notionen verstanden
werden. Bekanntlich drückt jede dieser ganzen Notionen (Monaden) die Tota-
lität der Welt aus; aber sie drückt sie gerade in einem gewissen Differentialver-
hältnis und in der Umgebung gewisser ausgezeichneter Punkte aus, die diesem
Verhältnis entsprechen ‘. In dieser Hinsicht zeigen die Differentialquotienten
und die ausgezeichneten Punkte bereits im Stetigen Umhüllungszentren an,
mögliche Implikations- oder Involutionszentren, die durch die individuellen
Wesenheiten verwirklicht werden. Es genügt der Nachweis, daß das Konti-
nuum von Affektionen und Eigenschaften rechtmäßig, in gewisser Weise, der
Konstitution dieser individuellen Wesenheiten vorangeht (was mit anderen
Worten heißt, daß die ausgezeichneten Punkte selbst präindividuelle Singulari-
täten sind; und dies widerspricht keineswegs der Idee, daß die Individuation
der aktuellen Spezifikation vorangeht, obwohl sie dem gesamten differentiel-
len Kontinuum nachgestellt ist). Diese Bedingung wird in der Philosophie
Leibniz’ folgendermaßen erfüllt: Als ein allen Monaden gemeinsames Ausge-
drücktes existiert die Welt vor ihren Ausdrücken. Dennoch trifft es freilich zu,
daß sie nicht außerhalb dessen, wodurch sie ausgedrückt wird, existiert, außer-
halb der Monaden selbst; diese Ausdrücke aber verweisen auf das Ausge-
drückte wie auf das Requisitum ihrer Konstitution. In diesem Sinne setzt (wie
es Leibniz beständig in seinen Briefen an Arnauld in Erinnerung ruft) die
Inhärenz der Prädikate in jedem Subjekt die Kompossibilität der von all diesen
Subjekten ausgedrückten Welt voraus: Gott hat nicht den sündigen Adam
geschaffen, sondern zuerst die Welt, in der Adam gesündigt hat.,Die Kompos-
sibilität jeder Welt wird zweifellos durch die Stetigkeit definiert; und die

Leibniz an Arnauld (1687), in: Die philosophischen Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 111-
112: ,,Ich hatte gesagt, daß die Seele von Natur aus das ganze Universum in
gewissem Sinne und gemäß des Verhältnisses ausdrückt, das die anderen Körper ZU
dem ihrigen haben, und daß sie demnach die Vorgänge, die sich in den Teilen ihres
Körpers abspielen, unmittelbar wiedergibt. Sie wird daher kraft der Gesetze des
Verhältnisses, die ihr wesentlich sind, bestimmte außergewöhnliche Bewegungen der
Teile ihres Körpers in besonderer Weise ausdrücken“ (deutsche Übersetzung, leicht
verändert, nach Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. V. A.
Buchenau u. E. Cassirer, Leibzig 1924, Bd. 2, S. 232).
74 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

wirkliche Welt ist die beste aller nur in dem Maße, wie sie ein Maximum an
Stetigkeit in einem Maximum von Fällen, in einem Maximum von Verhältnis-
sen und ausgezeichneten Punkten aufweist. Das bedeutet, daß sich für jede
Welt eine Reihe, die in Umgebung eines ausgezeichneten Punktes konvergiert,
in alle Richtungen in anderen Reihen fortzusetzen vermag, die in der Umge-
bung anderer Punkte konvergieren, wobei sich im Gegenteil die Inkompossi-
bilität der Welten in der Nachbarschaft von Punkten definiert, die die erhalte-
nen Reihen voneinander divergieren lassen würden. Man sieht, warum der
Gedanke der Inkompossibilität keineswegs auf den Widerspruch hinausläuft
und nicht einmal einen wirklichen Gegensatz impliziert: Er impliziert nur die
Divergenz; und die Kompossibilität gibt bloß die Originalität des Prozesses
der Vize-Diktion als analytische Fortsetzung wieder. Im Kontinuum einer
kompossiblen Welt bestimmen die Differentialquotienten und ausgezeichne-
ten Punkte also expressive Zentren (individuelle Wesenheiten oder Substan-
zen), in denen sich immer jeweils die gesamte Welt unter einem gewissen
Gesichtspunkt einhüllt. Umgekehrt entwickeln und entfalten sich diese Zen-
tren, indem sie die Welt restituieren und dann selbst die Rolle von bloßen
ausgezeichneten Punkten und ,,Fällen“ im ausgedrückten Kontinuum über-
nehmen. Das Gesetz der Stetigkeit erscheint hier als ein Gesetz der Eigen-
schaften oder Fälle der Welt, als ein Gesetz der Entwicklung [développement],
das auf die ausgedrückte Welt, aber auch auf die Monaden selbst in der Welt
angewendet wird; das Prinzip des Nichtzuunterscheidenden ist ein Prinzip der
Wesenheiten, ein Prinzip der Umhüllung [enveloppement], das auf die Aus-
drücke, d.h. auf die Monaden und die Welt in den Monaden angewendet
wird. Die beiden Sprachen übersetzen sich unaufhörlich ineinander. Zusam-
mengenommen beziehen alle beide die Differenz als unendlich kleine und als
endliche Differenz zugleich auf die ratio sufficiens als einen Grund, der selek-
tiert, d. h. die beste aller Welten auswählt - wobei die beste aller Welten in
diesem Sinne zwar einen Vergleich impliziert, aber keinen Komparativ dar-
stellt; jede Welt ist unendlich, und das ist ein Superlativ, der die Differenz zu
einem absoluten Maximum treibt, und zwar noch in der Prüfung des unend-
lich Kleinen. Die endliche Differenz ist in der Monade als Ge biet der klar
ausgedrückten Welt bestimmt, die unendlich kleine Differenz als verworrener
Untergrund, der diese Klarheit bedingt. Auf diese zweifache Weise vermittelt
die orgische Repräsentation die Bestimmung, macht aus ihr einen Begriff der
Differenz, indem sie ihr eine ,,ratio“ zuschreibt.
Die endliche Repräsentation ist die einer Form, die eine Materie umfaßt, eine
sekundäre Materie allerdings, insofern sie durch die konträren Entgegenset-
zungen geformt ist. Wir haben gesehen, daß sie die Differenz repräsentierte,
indem sie sie vermittelte, sie der Identität als Gattung unterordnete und indem
sie diese Unterordnung in der Analogie der Gattungen selbst garantierte, im
logischen Gegensatz der Bestimmungen wie in der Ähnlichkeit der spezifisch
materiellen Inhalte. Mit der unendlichen Repräsentation verhält es sich anders,
weil sie das Ganze umfaßt, d. h. den Untergrund als ursprüngliche Materie
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST

und das Wesen als Subjekt, als Ich oder absolute Form. Die unendliche
Repräsentation bezieht zugleich das Wesen und den Untergrund [fond] und
die Differenz zwischen beiden auf einen Grund [fondement] oder eine ratio
sufficiens. Die Vermittlung selbst ist Grund geworden. Aber einmal ist der
Untergrund die unendliche Stetigkeit der Eigenschaften des Universalen, das
sich selber in die als Wesenheiten betrachteten, endlichen und besonderen Ichs
einhüllt. Ein anderes Mal ist das jeweilige Besondere bloß Eigenschaft oder
Gestalt, die sich im unendlichen universalen Untergrund entwickelt, die aber
auf die Wesenheiten als wahre Bestimmungen eines reinen Ichs oder besser
eines ,,Selbst“ verweist, das in diesen Untergrund eingehüllt ist. In beiden
Fällen ist die unendliche Repräsentation Gegenstand einer doppelten Rede:
einer Rede von Eigenschaften und von Wesenheiten - von physischen Punk-
ten und von metaphysischen Punkten oder Gesichtspunkten bei Leibniz, von
Gestalten und von Momenten oder Kategorien bei Hegel. Man wird nicht
behaupten können, Leibniz ginge weniger weit als Hegel; es gibt bei ihm sogar
mehr Tiefe, mehr Orgismus oder bacchantisches Delirium in dem Sinne, wie
der Untergrund über einen größeren Antrieb verfügt. Aber anscheinend reicht
in beiden Fällen die unendliche Repräsentation ebenfalls nicht hin, das Den-
ken der Differenz aus der Abhängigkeit von der bloßen Analogie der Wesen-
heiten oder der bloßen Gleichartigkeit der Eigenschaften zu lösen. Denn in
letzter Instanz befreit sich die unendliche Repräsentation nicht vom Identitäts-
prinzip als Voraussetzung der Repräsentation. Darum unterliegt sie weiterhin
der Bedingung der Konvergenz der Reihen bei Leibniz, unterliegt sie weiter-
hin der Bedingung der monozentrischen Anordnung der Kreise bei Hegel. Die
unendliche Repräsentation macht einen Grund geltend. Wenn aber der Grund
nicht das Identische selber ist, so ist er dennoch eine Art und Weise, das
Identitätsprinzip besonders ernst zu nehmen, ihm einen unendlichen Wert zu
verleihen, es koextensiv zum Ganzen zu machen und damit über die Existenz
selbst herrschen zu lassen. Es ist unwichtig, ob die Identität (als Identität der
Welt und des Ich) nun analytisch, in der Art des unendlich Kleinen, oder
synthetisch, in der Art des unendlich Großen verstanden wird. In einem Fall
steht die ratio sufficiens, der Grund in Vize-Diktion zur Identität; im anderen
Fall in Kontradiktion zu ihr. In allen Fällen aber bringt die ratio sufficiens, der
Grund, im Durchgang durchs Unendliche das Identische nur dazu, in seiner
Identität selbst zu existieren. Und dies läßt sich bei Leibniz ebenso klar wie
bei Hegel erkennen. Der Hegelsche Widerspruch verneint nicht die Identität
oder den Nicht-Widerspruch; er besteht im Gegenteil darin, die beiden Nein
des Nicht-Widerspruchs ins Existierende einzutragen, und zwar so, daß das
Identische unter dieser Bedingung, in dieser Grundlegung [fondation] hin-
reicht, das Existierende als solches zu denken. Die Formulierungen, denen
zufolge ,,das Ding verneint, was es nicht ist“ oder ,,sich von allem unterschei-
det, was es nicht ist“, sind logische Monstren (das Ganze dessen, was nicht das
Ding ist) im Dienste der Identität. Man sagt, die Differenz sei die Negativität,
sie führe oder müsse bis zum Widerspruch führen, sobald man sie bis an ihr
76 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Ende treibt. Dies stimmt nur in dem Maße, wie die Differenz bereits auf einen
Weg gebracht, an einen Faden gebunden ist, der von der Identität ausgelegt
wird. Dies stimmt nur in dem Maße, wie sie durch die Identität bis dorthin
getrieben wird. Die Differenz ist der Untergrund, allerdings nur der Unter-
grund zur Manifestation des Identischen. Hegels Kreis ist nicht die ewige
Wiederkunft, sondern bloß die unendliche Zirkulation des Identischen im
Durchgang durch die Negativität. Die Hegelsche Kühnheit ist die letzte und
mächtigste Hommage an das alte Prinzip. Es ist zwischen Leibniz und Hegel
nicht sonderlich entscheidend, ob das von der Differenz vorausgesetzte Nega-
tive als vize-diktorische Beschränkung oder als kontradiktorischer Gegensatz
gedacht wird; und ebensowenig, ob dieunendliche Identität selbst als analytisch
oder synthetisch gesetzt wird. In jedem Fall bleibt die Differenz der Identität
untergeordnet, aufs Negative reduziert, in der Gleichartigkeit und in der
Analogie eingekerkert. Darum ist in der unendlichen Repräsentation das Deli-
rium nichts als ein falsches vorgeformtes Delirium, das nirgends die Ruhe oder
die Heiterkeit des Identischen stört. Die unendliche Repräsentation besitzt also
denselben Mangel wie die endliche Repräsentation: Sie verwechselt nämlich den
eigenen Begriff der Differenz mit der Niederschrift der Differenz in die Identität
des Begriffs überhaupt (obwohl sie die Identität als reines unendliches Prinzip
und nicht als Gattung begreift, und obwohl sie die Rechte des Begriffs über-
haupt aufs Ganze ausdehnt, anstatt dessen Schranken zu fixieren).

Die Differenz kennt ihre kritische Erfahrung: Immer wenn wir uns vor oder
in einer Beschränkung, vor oder in einem Gegensatz befinden, müssen wir
danach fragen, was eine derartige Situation voraussetzt. Sie setzt ein Gewim-
mel von Differenzen voraus, einen Pluralismus von freien, wilden oder unge-
zähmten Differenzen, einen im eigentlichen Sinn differentiellen, ursprüngli-
chen Raum und eine differentielle, ursprüngliche Zeit, die über die Vereinfa-
chungen der Grenze oder des Gegensatzes hinweg fortbestehen. Damit
Kräftegegensätze oder Formbegrenzungen Gestalt annehmen, ist zunächst ein
tieferes reales Element notwendig, das sich als eine formlose und potentielle
Mannigfaltigkeit definiert und bestimmt. Die Gegensätze sind mit groben
Umrissen aus einer feingesponnenen Umgebung von einander überlappenden
Perspektiven ausgeschnitten, von kommunizierenden Entfernungen, Diver-
genzen und Disparitäten, von heterogenen Potentialen und Intensitäten; und
es handelt sich zunächst nicht darum, Spannungen im Identischen aufzulösen,
sondern darum, Disparata in einer Mannigfaltigkeit zu verteilen. Die Be-
schränkungen entsprechen einer einfachen Macht der ersten Dimension - in
einem Raum mit nur einer Dimension und einer Richtung kann es, wie in
Leibniz’ Beispiel von Schiffen, die von der Strömung davongetragen werden,
Stöße geben, aber diese Stöße gelten notwendig als Beschränkung und Aus-
gleich, nicht als Neutralisierung und Gegensatz. Was den Gegensatz betrifft,
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 77 I
so repräsentiert er seinerseits die Macht der zweiten Dimension, und zwar als
eine Ausbreitung der Dinge in einem ebenen Raum, als eine Polarisierung, die
auf eine einzige Ebene reduziert ist; und die Synthese selbst vollzieht sich bloß
in einer falschen Tiefe, d.h. in einer fiktiven dritten Dimension, die zu den
anderen hinzutritt und sich damit begnügt, die Ebene zu halbieren. In jedem
Fall entgeht uns die ursprüngliche, intensive Tiefe, die die Matrix des gesamten
Raums und die erste Affirmation der Differenz darstellt; im Zustand freier )
Differenzen regt sich und brodelt in ihr, was erst in der Folge als lineare
Beschränkung und planer Gegensatz erscheinen wird. Überall setzen die
Paare, die Polaritäten Bündel und Netze voraus; und die aufgestellten Gegen-
sätze Strahlungen in jede Richtung. Die stereoskopischen Bilder bilden einen
Gegensatz nur als planen und flachen; ansonsten jedoch verweisen sie auf eine
Staffelung von mobilen koexisterenden. Flächen, auf eine ,,Disparation“ [dispa-
ration] in der ursprünglichen Tiefe. Überall ist die Tiefe der Differenz primär;
und es ist zwecklos, die Tiefe als dritte Dimension wiederzufinden, wenn man
sie nicht als Umhüllung der beiden anderen und als ihre eigene Umhüllung als
dritte Dimension an den Anfang gestellt hat. Raum und Zeit manifestieren
Gegensätze (und Beschränkungen) nur an der Oberfläche, setzen aber in ihrer
realen Tiefe Differenzen voraus, die in viel höherem Maße Dichte besitzen,
bejaht und verteilt werden und sich nicht auf die Flachheit des Negativen
reduzieren lassen. Wie in Lewis Carrolls Spiegel, in dem auf der Oberfläche
alles entgegengesetzt und verkehrt, in der Tiefendimension aber ,,different“
erscheint. Wir werden sehen, daß es sich ebenso mit jedem geometrischen,
physikalischen, biopsychischen, sozialen und sprachlichen Raum verhält (wie
wenig gesichert erscheint in dieser Hinsicht die prinzipielle Erklärung Tru-
betzkoys: ,,Die Idee des Unterschieds setzt die Idee des Gegensatzes voraus (
“). Es gibt eine falsche Tiefe des Kampfes, unter dem Kampf aber den
Spielraum der Differenzen. Das Negative ist das Bild der Differenz, allerdings
ihr flachgedrücktes und verkehrtes Bild, wie die Kerze im Ochsenauge - im
Auge des Dialektikers, der von einem nichtigen Kampf träumt?
Auch in diesem Sinne geht Leibniz weiter, d. h. tiefer als Hegel, wenn er im
Untergrund die ausgezeichneten Punkte und differentiellen Elemente einer
Mannigfaltigkeit verteilt und in der Schöpfung der Welt ein Spiel entdeckt:
Man konnte also sagen, daß die erste Dimension, die der Grenze, trotz ihrer
Unvollkommenheit näher an die usprüngliche Tiefe heranreicht. Bestünde der
einzige Fehler Leibniz’ nicht darin, daß er die Differenz ans Negative der
Beschränkung gebunden hat, weil er die Vorherrschaft des alten Prinzips
aufrechterhielt, weil er die Reihen an eine Konvergenzbedingung knüpfte,
ohne zu bemerken, daß die Divergenz selbst Gegenstand von Bejahung ist,
oder daß die Inkompossibilitäten derselben Welt zugehören und sich als größ-
tes Verbrechen und größte Tugend - aus ein und derselben Welt der ewigen
Wiederkunft stammend - bejahen?
Nicht die Differenz setzt den Gegensatz voraus, sondern der Gegensatz die
Differenz; und weit davon entfernt, sie aufzulösen, d.h. auf einen Grund ZU
78 DIFFERENZUNDWIEDERHOLUNG

führen, entstellt und verfälscht der Gegensatz die Differenz. Wir behaupten
nicht nur, die Differenz an sich sei nicht ,,schon“ Widerspruch, wir behaupten
vielmehr, sie lasse sich nicht auf den Widerspruch reduzieren und bringen,
weil dieser weniger tief, und nicht etwa tiefer ist als sie. Denn unter welcher
Bedingung wird die Differenz derart in einen ebenen Raum überführt und
projiziert. ? Eben dann, wenn man sie gewaltsam in eine vorgängige Identität
gezwängt hat, wenn man sie auf jenen Abhang des Identischen gestellt hat, der
sie notwendig dorthin trägt- und sie sich dort reflektieren läßt, wo das Identi-
sche sie haben will, nämlich im Negativen”. Man hat oft bemerkt, was zu
Beginn der ,Phänomenologie‘ geschieht, die Nachhilfe der Hegelschen Dialek-
tik: Das Hier und das Jetzt werden als leere Identitäten, als abstrakte Univer-
salitäten gesetzt, die die Differenz mit sich ziehen sollen; aber gerade die
Differenz folgt keineswegs und bleibt in der Tiefe ihres eigenen Raums hän-
gen, im Hier-und-Jetzt einer differentiellen Realität, die immer schon aus
Singularitäten besteht. Manchen Denkern unterlief es, wie man sagt, die Bewe-
gung für unmöglich zu erklären, was das Zustandekommen der Bewegung
nicht verhinderte. Bei Hegel ist es umgekehrt: Er vollführt die Bewegung,
selbst die Bewegung des Unendlichen, da er sie aber mit Wörtern und Reprä-
sentationen vollzieht, ist sie eine falsche Bewegung, und nichts folgt. Das-
selbe geschieht jedesmal in der Vermittlung oder Repräsentation. Der Reprä-
sentant sagt: ,, Alle Welt anerkennt, daß . . .“, aber es gibt stets eine nichtreprä-
sentierte Singularität, die nicht anerkennt, eben weil sie nicht alle Welt oder
das Universale ist. ,,Alle Welt“ anerkennt das Universale, da sie ja selbst das
Universale ist, das Singuläre aber erkennt es nicht an, das tiefe sinnliche
Bewußtsein nämlich, das jedoch dessen Unkosten tragen soll. Das Unglück -
beim Sprechen besteht nicht im Sprechen, sondern darin, für die anderen zu

18 Louis Althusser denunziert an der Philosophie Hegels die Allmacht der Identität,
d. h. die Einfachheit eines inneren Prinzips: ,,Die Einfachheit des Hegelschen Wider-
spruchs ist in der Tat nur durch die Einfachheit des inneren Prinzips möglich, das
das Wesen jeder historischen Periode bildet. Weil es von Rechts wegen möglich ist,
die Totalität die unendliche Diversität einer gegebenen historischen Gesellschaft auf
ein einfaches inneres Prinzip zu reduzieren [. . .], kann sich eben diese, somit rechtens
vom Widerspruch erworbene Einfachheit darin reflektieren.“ Darum wirft er dem
Hegelschen Kreis vor, daß er nur ein einziges Zentrum hat, in dem sich alle Gestal-
ten reflektieren und bewahren. Althusser stellt Hegel ein Prinzip des multiplen oder
überdeterminierten Widerspruchs entgegen, das er bei Marx zu finden glaubt: ,,Das
besagt, daß die ,Unterschiede‘, die alle auf dem Spiel stehenden Instanzen bilden
[. ..], wenn sie zu einer wirklichen Einheit ,verschmelzen‘, sich nicht wie eine reine
Erscheinung in der inneren Einheit eines einfachen Widerspruchs ‘verlieren’.“
(Immerhin ist es nach Althusser noch der Widerspruch, der überdeterminiert und
differentiell ist, und immerhin geht die Gesamtheit seiner Differenzen legitimerweise
in einem Grundwiderspruch auf.) - Vgl. Pour Marx, Contradiction et surdétermina-
tion, Paris 1965, S. 100-103 (dt.: Für Marx, Widerspruch und Überdeterminierung,
Frankfurt/M. 1968, S. 68 u. 65).
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 79 ~

sprechen oder etwas zu repräsentieren. Das sinnliche Bewußtsein (d.h. das


Etwas, die Differenz oder z& &hha) bleibt verstockt. Man kann stets vermit-
teln, zur Antithese übergehen, die Synthese arrangieren, die These aber folgt
nicht, verharrt in ihrer Unmittelbarkeit, in ihrer Differenz, die an sich die
wahre Bewegung vollzieht. Die Differenz ist der wahre Inhalt der These, die
Eigensinnigkeit der These. Das Negative, die Negativität fängt nicht einmal
das Phänomen der Differenz ein, sondern erhält bloß deren Phantom oder
Epiphänomen, und die gesamte ,Phänomenologie‘ ist eine Epiphänomenolo-
gie.
Dies ist es, was die Philosophie der Differenz zurückweist: omnis determina-
tio negatio . . . Man weist die allgemeine Alternative der unendlichen Reprä-
sentation zurück: entweder das Unbestimmte, das Indifferente, das Undiffe-
renzierte, oder eine bereits als Negation bestimmte Differenz, die das Nega-
tive impliziert und umhüllt (damit weist man auch die besondere Alternative
zurück: Negatives der Beschränkung oder Negatives des Gegensatzes). Die
Differenz ist ihrem Wesen nach Gegenstand von Bejahung, Bejahung selbst.
In ihrem Wesen ist die Bejahung selbst Differenz. Aber läuft hier die Philoso-
phie der Differenz nicht Gefahr, als eine neue Gestalt der schönen Seele zu
erscheinen? Die schöne Seele nämlich sieht überall Differenzen, appelliert an
achtenswerte, versöhnbare und vereinbare Differenzen noch dort, wo sich die
Geschichte weiterhin in blutigen Widersprüchen vollzieht. Die schöne Seele
gebärdet sich wie ein aufs Schlachtfeld verschlagener Friedensrichter, der
bloße ,,Streitigkeiten“ und vielleicht Mißverständnisse in den unstillbaren
Kämpfen erkennen möchte. Um jedoch die Lust an reinen Differenzen an die
schöne Seele zurückzuverweisen und das Geschick der realen Differenzen mit
dem des Negativen und des Widerspruchs zu verschweißen, genügt es umge-
kehrt nicht, sich leichthin zu verhärten und auf die altbekannten Komplemen-
taritäten von Affirmation und Negation, Leben und Tod, Erschaffung und
Zerstörung - zu berufen - als ob sie hinreichend eine Dialektik der Negativität
begründen könnten. Denn derartige Komplementaritäten verschaffen uns
noch keinerlei Kenntnis über den Bezug eines Terms zum anderen (resultiert
die bestimmte Bejahung aus einer bereits negativen oder negierenden Diffe-
renz, oder resultiert das Negative aus einer bereits differentiellen Bejahung?).
Wir sagen ganz allgemein, daß es zwei Arten gibt, an ,,notwendige Zerstörun-
gen” zu appellieren: die des Dichters, der im Namen einer schöpferischen
Macht spricht, die alle Ordungen und Repräsentationen umzustürzen vermag,
um die Differenz im Status permanenter Umwälzung der ewigen Wiederkunft
ZU bejahen; und die des Politikers, der sich zunächst um die Verneinung des
n Abweichenden” kümmert, um eine bestehende Ordnung in der Geschichte
ZU bewahren und zu festigen, oder um eine historische Ordnung zu errichten,
die in der Welt bereits auf die Formen ihrer Repräsentation drängt. In einem
besonders bewegten Augenblick mögen beide Zusammenfallen, niemals aber
sind sie dasselbe. Niemand weniger als Nietzsche kann für eine schöne Seele
gehalten werden. Seine Seele ist in höchstem Maße schön, aber nicht im Sinne
80 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

der schönen Seele; niemand besitzt mehr als er den Sinn für die Grausamkeit,
die Lust an der Zerstörung. Aber gerade er stellt in seinem ganzen Werk
unaufhörlich zwei Konzeptionen des Verhältnisses Affirmation/Negation ge-
geneinander.
Zwar ist in einem Fall die Negation Motor und Macht. Die Bejahung resultiert
aus ihr - wie, sagen wir, ein Ersatz. Und vielleicht sind zwei Negationen nicht
zuviel, um ein Phantom von Bejahung, einen Ersatz von Bejahung zu ergeben.
Wie aber könnte die Bejahung aus der Negation resultieren, wenn sie nicht das
Verneinte konservieren würde? Darum macht Nietzsche auch auf den fürch-
terlichen Konservativismus einer derartigen Konzeption aufmerksam. Die
Bejahung wird zwar erzeugt, aber nur um zu allem Negativen und Verneinen-
den, zu allem, was verneint werden kann, Ja zu sagen. Der Esel Zarathustras
sagt auf solche Weise Ja; aber bejahen bedeutet für ihn tragen, auf sich
nehmen, schleppen. Er trägt alles: die Bürden, die man ihm auflädt (die
göttlichen Werte), die Bürden, mit denen er sich selbst belädt (die mensch-
lichen Werte), das Gewicht seiner erschöpften Muskeln, wenn er nichts mehr
zu tragen hat (das Fehlen von Werten)lS. Es gibt eine schreckliche Lust an der
Verantwortung bei diesem Esel, bei diesem dialektischen Ochsen, einen mora-
lischen Nachgeschmack, als ob man nur durch vieles Büßen bejahen könnte,
als ob man nur durch das Unglück der Spaltung und der Zerrissenheit zum
Jasagen gelangen könnte. Als ob die Differenz das Übel und schon das Nega-
tive wäre, das die Bejahung nur durch Buße hervorbringen könnte, das heißt
dadurch, daß es sich zugleich das Gewicht des Verneinten wie der Negation
selbst auflüde. Stets der alte Fluch, der vom Identitätsprinzip herabtönt: Nicht
das bloß Repräsentierte, sondern einzig die unendliche Repräsentation (der
Begriff) wird erlöst, die das Negative bewahrt, um schließlich die Differenz
ans Identische auszuliefern. Unter allen Bedeutungen von Aufheben [i. 0. dt.]
ist die wichtigste die des Emporhebens. Es gibt zwar einen dialektischen Kreis,
aber dieser unendliche Kreis besitzt überall nur ein einziges Zentrum, das alle
anderen Kreise, alle anderen momentanen Zentren in sich festhält. Die Repri-
sen oder Wiederholungen der Dialektik drücken nur die Konservierung des
Ganzen, aller Gestalten und aller Momente, in einem gigantischen Gedächtnis
aus. Die unendliche Repräsentation ist konservierendes Gedächtnis. Die
Wiederholung ist hier nichts als ein Konservatorium, eine Macht des Gedächt-

l9 Nietzsche denunziert fortwährend die Gleichsetzung von ,,bejahen“ und ,,tragen“


(vgl. Jenseits von Gut und Böse, § 213, in: Werke, Bd. 2, S. 679: ,,,Denken‘ und eine
Sache ,ernst nehmen‘ , ,schwer nehmen‘ das gehört bei ihnen zueinander: so allein
haben sie es ,erlebt“‘). Denn tragen impliziert eine falsche Tätigkeit, eine falsche
Bejahung, die sich bloß mit den Erzeugnissen des Nihilismus belädt. So definiert
Nietzsche Kant und Hegel als ,,philosophische Arbeiter“, die eine große Menge
bestehender Werturteile anhäufen und konservieren, selbst wenn es sich für sie dabei
um einen Sieg über das Vergangene handelt; sie sind in diesem Sinne noch Sklaven
des Negativen (§ 211).
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 81 ~

nisses selbst. Zwar gibt es eine zirkuläre dialektische Selektion, aber stets nur
zu Gunsten dessen, was sich in der unendlichen Repräsentation bewahrt, d. h.
selbst trägt und getragen wird. Die Selektion arbeitet gegen den Strom und
eliminiert unerbittlich, was den Kreis unwuchtig machen oder die Transparenz
der Erinnerung brechen würde. Den Schatten der Höhle gleich treten Träger
und Last unaufhörlich ein und gehen hinaus, um zurückzukehren, in die
unendliche Repräsentation - und wollen damit die eigentlich dialektische
Macht übernommen haben.
Der anderen Konzeption zufolge aber ist die Bejahung ursprünglich: Sie
bejaht die Differenz, die Distanz. Die Differenz ist die leichte, die ätherische,
die bejahende. Bejahen heißt nicht tragen, sondern ganz das Gegenteil: entla-
sten, erleichtern. Es ist nicht mehr das Negative, das ein Phantom von Beja-
hung als einen Ersatz erzeugt. Das Nein resultiert vielmehr aus der Bejahung:
Es ist nun seinerseits der Schatten, aber eher im Sinne von Folge, von Nach-
folge [i. 0. dt.], wie man sagen könnte. Das Negative ist das Epiphänomen.
Die Verneinung ist, wie eine Pfütze, die Wirkung einer allzustarken, allzu
verschiedenen Bejahung. Und vielleicht sind zwei Affirmationen nötig, um
den Schatten der Negation als Nachfolge [i.O. dt.] zu erzeugen; und vielleicht
gibt es zwei Augenblicke, die Differenz als Mitternacht und Mittag, in denen
der Schatten selbst verschwindet. In diesem Sinne konfrontiert Nietzsche das
Ja und das Nein des Esels mit dem Ja und dem Nein von Dionysos-Zarathu-
stra; den Standpunkt des Sklaven, der aus dem Nein das Phantom einer
Bejahung gewinnt, mit dem Standpunkt des ,,Herren“, der aus dem Ja eine
Folge von Verneinung, von Zerstörung gewinnt; den Standpunkt der Bewah-
rer alter Werte mit dem Standpunkt der Schöpfer neuer Werte2’. Die Herren,
wie Nietzsche sie nennt, sind ganz gewiß Machtmenschen [hommes de puis-
sance], nicht aber die Machthaber [hommes du pouvoir], da sich die Herr-
schaftsmacht nach der Zuweisung geläufiger Werte bemißt; der Sklave bleibt
Sklave, auch wenn er zur Herrschaft gelangt, und das Gesetz des Weltlaufs
und der Oberfläche der Welt besteht gerade darin, daß sie von den Sklaven
regiert wird. Die Unterscheidung zwischen bestehenden Werten und Schöp-
fung darf nicht so sehr im Sinne eines historischen Relativismus begriffen
werden, als ob die bestehenden Werte zu ihrer Zeit neu gewesen wären und
die neuen sich durchsetzen müßten, sobald ihre Stunde gekommen ist. Es
besteht im Gegenteil eine Wesensdifferenz, eine Differenz zwischen der kon-
servativen Ordnung der Repräsentation und einer schöpferischen Unordnung,
einem genialischen Chaos, das immer nur mit einem Augenblick der Ge-
schichte zusammenfallen kann, ohne mit ihr zu verschmelzen. Die tiefste
Wesensdifferenz besteht zwischen den mittleren und den extremen Formen

20 Jenseits von Gut und Böse, § 211. Zum ,,Nein“ des Herren als Folge im Gegensatz
zum ,,Nein” des Sklaven als Prinzip vgl. Zur Genealogie der Moral, Erste Abhand-
lung, § 10.
82 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

(neuen Werten): Man erreicht das Extrem nicht, indem man die mittleren
Formen ins Unendliche treibt, indem man sich ihres Gegensatzes im Endli-
chen bedient, um ihre Identität im Unendlichen zu bejahen. In der unendli-
chen Repräsentation läßt uns die Pseudo-Bejahung nicht aus den mittleren
Formen heraustreten. Darum wirft Nietzsche allen Selektionsprozessen, die
sich auf den Gegensatz oder den Kampf gründen, vor, sich zum Vorteil des
Mittelmaßes zu wenden und zugunsten der ,,großen Zahl“ zu wirken. Der
ewigen Wiederkunft bleibt es vorbehalten, die wahre Auslese zu bewerkstelli-
gen, weil sie im Gegenteil die mittleren Formen aussondert und ,,die höhere
Form alles Seienden“ freisetzt. Das Extreme besteht nicht in der Identität des
Entgegengesetzten, sondern viel eher in der Univozität des Differenten; die
höhere Form ist nicht die unendliche Form, sondern viel eher das ewig Formlose
der ewigen Wiederkunft selber über die Metamorphosen und Transformationen
hinweg. Die ewige Wiederkunft macht den Unterschied, weil sie die höhere
Form schafft. Die ewige Wiederkunft bedient sich der Negation als Nachfolge
[i. 0. dt.] und erfindet eine neue Formel der Negation der Negation: alles, was
verneint werden kann, wird verneint, muß verneint werden. Das Genie der
ewigen Wiederkunft liegt nicht im Gedächtnis, sondern in der Verschwendung,
im tätig gewordenen Vergessen. Alles Negative und Verneinende, all jene
mittleren Bejahungen, die das Negative tragen, all jene fahlen und mißgeratenen
Jas, die aus dem Nein hervorgehen, all das, was der Prüfung der ewigen
Wiederkunft nicht standhält, muß verneint werden. Wenn die ewige Wieder-
kunft ein Rad ist, so muß man dieses allerdings mit einer gewaltigen zentrifuga-
len Bewegung ausstatten, die all das ausstößt, was verneint werden ,,kann” und
der Prüfung nicht standhält. Nietzsche verkündet denen, die nicht an die ewige
Wiederkunft ,,glauben“ werden, bloß eine milde Strafe: Sie werden nur ein
vergängliches Leben erfahren, nur ein vergängliches Leben leben! Sie werden
sich als das erfahren und erkennen, was sie sind - als Epiphänomene; dies wird
ihr Absolutes Wissen sein. Somit resultiert die Negation als Folge aus der vollen
Bejahung, verzehrt alles Negative und verzehrt sich selbst im beweglichen
Zentrum der ewigen Wiederkunft. Wenn nämlich die ewige Wiederkunft ein
Kreis ist, so befindet sich im Zentrum die Differenz und das Selbe lediglich an
der Peripherie - ein in jedem Augenblick dezentrierter und beständig unwuchti-
ger Kreis, der sich nur um das Ungleiche dreht.
Die Negation ist die Differenz, die Differenz aber von der kleinen Seite, von
unten aus gesehen. Aufgerichtet jedoch, von oben nach unten gesehen, ist die
Differenz die Bejahung. Aber dieser Satz hat viele Bedeutungen; daß die
Differenz Objekt von Bejahung ist; daß die Bejahung selbst mannigfaltig ist;
daß sie Schöpfung ist, aber auch dasjenige, was erschaffen werden muß, als das
die Differenz Bejahende, als Differenz an sich selbst. Nicht das Negative ist
der Motor. Viel eher gibt es positive differentielle Elemente, die zugleich d.ie
Genese der Bejahung und die bejahte Differenz bestimmen. Daß es eine
Genese der Bejahung als solcher gibt - dies entgeht uns immer dann, wenn wir
die Bejahung im Unbestimmten belassen oder die Bestimmung ins Negative
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 83

verlegen. Die Negation resultiert aus der Bejahung: Dies meint, daß die Nega-
tion im Gefolge oder neben der Bejahung auftaucht, aber nur als Schatten des
tieferen genetischen Elements - jener Macht oder jenes ,,Willens“, der die
Bejahung und die Differenz in der Bejahung erzeugt. Die das Negative tragen,
wissen nicht, was sie tun: Sie halten den Schatten für Wirklichkeit, geben den
Phantomen Nahrung, schneiden die Folge von den Prämissen ab, verleihen
dem Epiphänomen den Rang des Phänomens und des Wesens.
Die Repräsentation läßt die bejahte Welt der Differenz entweichen. Die
Repräsentation hat nur ein einziges Zentrum, eine einzige und fliehende Per-
spektive und eben damit eine falsche Tiefe; sie vermittelt alles, aber mobilisiert
und bewegt nichts. Die Bewegung ihrerseits impliziert eine Pluralität von
Zentren, eine Überlagerung von Perspektiven, ein Gewirr von Blickpunkten,
eine Koexistenz von Momenten, die die Repräsentation wesentlich deformie-
ren: Bereits ein Gemälde oder eine Skulptur sind derart ,,deformierend“ und
zwingen uns zur Bewegung, d.h. zur Kombination eines streifenden Blicks
mit einem eindringenden Blick, zum Auf und Ab im Raum, während man
voranschreitet. Genügt eine Multiplikation der Repräsentationen, um einen
derartigen ,,Effekt” zu erhalten? Die unendliche Repräsentation umfaßt eben
eine Unendlichkeit von Repräsentationen, sei es, daß sie die Konvergenz aller
Blickpunkte in demselben Objekt oder derselben Welt garantiert, sei es, daß
sie aus allen Momenten die Eigenschaften deselben Ichs macht. Aber sie
bewahrt damit ein einziges Zentrum, das alle anderen sammelt und repräsen-
tiert, und zwar als eine serielle Einheit, die ein für alle Mal die Terme und ihre
Verhältnisse ordnet und organisiert. Das rührt daher, daß die unendliche
Repräsentation nicht trennbar ist von einem Gesetz, durch das sie ermöglicht
wird: durch die Form des Begriffs als Identitätsform, die bald das Ansich des
Repräsentierten (A ist A), bald das Fürsich des Repräsentanten (Ich = Ich)
bildet. Das Präfix RE im Wort Repräsentation meint diese begriffliche Form
des Identischen, die sich die Differenzen unterwirft. Man erhält also das
definite Unmittelbare als ,,Sub-Repräsentatives” nicht dadurch, daß man die
Repräsentationen und Blickpunkte multipliziert. Im Gegenteil, schon jede
Teilrepräsentation muß deformiert, umgelenkt, aus ihrem Zentrum gerissen
werden. Jeder Blickpunkt muß selbst das Ding sein, das Ding zum Blickpunkt
gehören. Das Ding darf also nichts Identisches sein, muß vielmehr in einer
Differenz zerteilt werden, in der die Identität des gesehenen Objekts wie des
sehenden Subjekts schwindet. Die Differenz muß zum Element, zur letzten
Einheit werden, sie muß also auf andere Differenzen verweisen, durch die sie
nie identifiziert, sondern differenziert wird. Jeder Term einer Reihe, der schon
Differenz ist, muß in ein variables Verhältnis zu anderen Termen gesetzt
werden und dadurch andere Reihen ohne Zentrum und Konvergenz bilden.
Noch innerhalb der Reihe selbst muß die Divergenz und die Dezentrierung
bejaht werden. Jedes Ding, jedes Wesen muß seine eigene Identität in der
Differenz vernichtet sehen, wobei jedes nichts als eine Differenz unter Diffe-
renzen ist. Man muß die Differenz im Verlauf ihrer Differenzierung zeigen.
84 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Bekanntlich versucht das moderne Kunstwerk diese Bedingungen zu verwirk-


lichen: Es wird in diesem Sinne ein regelrechtes Theater, bestehend aus Meta-
morphosen und Permutationen. Ein Theater ohne Fixpunkt, ein Labyrinth
ohne Faden (Ariadne hat sich erhängt). Das Kunstwerk verläßt das Gebiet der
Repräsentation, um ,,experimentelle Erfahrung“21 zu werden, transzendenta-
ler Empirismus oder Wissenschaft vom Sinnlichen.
Seltsamerweise hat man die Ästhetik (als Wissenschaft vom Sinnlichen) darauf
zu gründen vermocht, was im Sinnlichen repräsentiert werden kann. Freilich
taugt der umgekehrte Weg nicht besser, der von der Repräsentation das reine
Sinnliche abzieht und es als dasjenige zu bestimmen versucht, was übrigbleibt,
wenn die Repräsentation einmal entfernt ist (etwa ein widersprüchlicher
Strom, eine Rhapsodie von Empfindungen).
. In Wirklichkeit wird der Empiris-
mus transzendental und die Ästhetik eine apodiktische Disziplin, wenn wir im
Sinnlichen direkt das auffassen, was nur empfunden werden kann, das Sein
selbst des Sinlichen: die Differenz, die Differenz im Potential, die Intensitäts-
differenz als ratio des qualitativ Verschiedenen. Die Differenz ist es, in der das
Phänomen aufblitzt, sich als Zeichen expliziert und in der die Bewegung sich
als ,,Effekt“ ergibt. Die intensive Welt der Differenzen, in der die Qualitäten
ihre ratio finden und das Sinnliche sein Sein, ist eben der Gegenstand eines
höheren Empirismus. Dieser Empirismus lehrt uns eine fremdartige ,,ratio”,
das Viele und das Chaos der Differenz (nomadische Verteilungen, gekrönte
Anarchien). Immer sind es die Differenzen, die sich ähneln, die analog, entge-
gengesetzt oder identisch sind: Die Differenz steht hinter jedem Ding, hinter
der Differenz aber gibt es nichts. Es ist Sache der Differenz, alle anderen zu
durchlaufen und sich selbst über alle anderen hinweg zu ,,wollen“ oder
wiederzufinden. Darum taucht die ewige Wiederkehr nicht an zweiter Stelle
auf oder kommt nicht nachträglich hinzu, sondern ist bereits in jeder Meta-
morphose gegenwärtig, gle ichzeitig mit dem, was sie wiederkehren läßt. Die
ewige Wiederkunft bezieht sich auf eine Welt von Differenzen, die sich wech-
selseitig implizieren, auf eine komplizierte, identitätslose, im eigentlichen Sinn
chaotische Welt. Joyce präsentierte den vicus of recirculation als dasjenige, was
einen Chaosmos in Umlauf hält; und schon Nietzsche sagte, daß Chaos und
ewige Wiederkunft nicht zwei verschiedene Dinge seien, sondern ein und
dieselbe Bejahung. Die Welt ist weder endlich noch unendlich, wie in der
Repräsentation: Sie ist vollendet und unbegrenzt. Die ewige Wiederkunft ist
das Unbegrenzte des Vollendeten selbst, das univoke Sein, das sich von der
Differenz aussagt. In der ewigen Wiederkunft steht die Chao-Erranz22 der
Kohärenz der Repräsentation gegenüber; sie schließt die Kohärenz eines sich
repräsentierenden Subjekts ebenso aus wie die eines repräsentierten Objekts.
Die Repetition steht der Repräsentation gegenüber, das Präfix hat eine andere

21 Frz . expérience . Erfahrung; (wissenschaftliches) Experiment [A.d.Ü.].


l

22 Frz. chao-errance: Neologismus aus chaos und errance (Irrfahrt, Umherirren) mit
Anklang an cohérence (Kohärenz) [A.d.Ü.].
DI E DIFFERENZ AN SICH SELBST 85

Bedeutung angenommen, denn in einem Fall sagt sich die Differenz nur im
Verhältnis zum Identischen aus, im anderen Fall aber ist es das univoke Sein,
das sich im Verhältnis zum Differenten aussagt. Die Wiederholung ist das
formlose Sein aller Differenzen, die formlose Macht des Untergrunds, die
jedes Ding in jene extreme ,,Form“ bringt, in der seine Repräsentation zerfällt.
Das Disparse ist das letzte Element der Wiederholung, das der Identität der
Repräsentation gegenübertritt. Daher ist auch der Kreis der ewigen Wieder-
kunft, der Kreis von Differenz und Wiederholung (der den Kreis des Identi-
schen und des Widerspruchs auflöst) ein unwuchtiger Kreis, der das Selbe nur
von dem aussagt, was differiert. Der Dichter Blood formuliert das Glaubens-
bekenntnis des transzendentalen Empirismus als regelrechte Ästhetik: ,,Die
Natur ist wesentlich kontingent, exzessiv und mystisch . . . Die Dinge sind
fremd . . . Das Universum ist wild . . . Das Selbe kehrt nur wieder, um Diffe-
rentes zu liefern. Der langsame Kreis auf der Drehbank des Graveurs nimmt
nur um Haaresbreite zu. Die Differenz aber verteilt sich auf die Kurve insge-
samt, die niemals genau trifft“23.
Zuweilen stellt man einen beträchtlichen philosophischen Wandel zwischen
zwei vom Präkantianismus und Postkantianismus repräsentierten Momenten
fest. Jener würde sich über das Negative der Beschränkung, dieser über d a s
Negative des Gegensatzes definieren. Der eine durch analytische Identität, der
andere durch synthetische Identität. Der eine vom Standpunkt der unendli-
chen Substanz, der andere vom Standpunkt des endlichen Ichs. In der großen
Leibnizschen Analyse wird in die Entfaltung des Unendlichen bereits das
endliche Ich eingeführt, aber in der großen Hegelschen Synthese wird in die
Operation des endlichen Ichs das Unendliche wiedereingeführt. Man sollte
jedoch an der Tragweite derartiger Wandlungen zweifeln. Für eine Philoso-
phie der Differenz ist es nicht sonderlich wichtig, ob das Negative als Negati-
ves der Beschränkung oder des Gegensatzes, und die Identität als analytische
oder synthetische konzipiert wird, da die Differenz ja in jedem Fall aufs
Negative reduziert und dem Identischen untergeordnet wird. Einzigartigkeit
und Identität der göttlichen Substanz sind in Wahrheit der einzige Garant des
einen und identischen Ichs, und Gott bleibt erhalten, solange man das Ich
bewahrt. Synthetisches endliches Ich oder analytische göttliche Substanz, das
ist dasselbe. Darum sind die Permutationen Mensch/Gott so enttäuschend und
bringen uns nicht einen Schritt vorwärts. Nietzsche scheint wohl als erster
gesehen zu haben, daß der Tod Gottes nur mit der Auflösung - des Ichs
wirklich wird. Was dann zutage tritt, ist das Sein, das sich von Differenzen

23 Zitiert in Jean Wahl: Les philosophies pluralistes d’Angleterre et d’Amérique, Paris


1920, S. 111. - Jean Wahls gesamtes Werk ist eine tiefgehende Betrachtung über die
Differenz; über die Möglichkeiten des Empirismus, deren poetische, freie und wilde
Natur auszudrücken; über die Unmöglichkeit, die Differenz auf das bloße Negative
zu reduzieren; über die nicht-hegelschen Beziehungen zwischen Bejahung und Ver-
neinung.
86 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

aussagt, die weder in der Substanz noch in einem Subjekt liegen: entsprechend
viele unterirdische Bejahungen. Wenn die ewige Wiederkunft das höchste,
d. h. intensivste Denken darstellt, so deshalb, weil ihre extreme Kohärenz am
höchsten Punkt die Kohärenz eines denkenden Subjekts, einer gedachten Welt
wie eines Gottes als Garant dafür ausschließt24. Eher als dafür, was vor und
nach Kant passiert (und aufs Selbe hinausläuft), müssen wir uns für genau ein
Moment des Kantianismus interessieren, für ein eklatantes flüchtiges Moment,
das selbst bei Kant keine Fortsetzung findet und noch weniger sich im Post-
kantianismus fortsetzt - außer vielleicht bei Hölderlin, in der Erfahrung und
in der Idee einer ,,kategorischen Umkehr“. Wenn nämlich Kant die rationale
Theologie infrage stellt, führt er im selben Zug eine Art Ungleichgewicht, Riß
oder Sprung, eine rechtmäßige Entfremdung, die von Rechts wegen unüber-
Schreitbar ist, ins reine Ich des Ich denke ein: Das Subjekt kann sich seine
eigene Spontaneität nurmehr als die eines Anderen vorstellen und beruft sich
damit in letzter Instanz auf eine mysteriöse Kohärenz, die seine eigene, die der
Welt und die Gottes ausschließt. Cogito für ein aufgelöstes Ich: Das Ich des
,,Ich denke“ enthält in seinem Wesen eine Rezeptivität für Anschauungen,
bezüglich derer ICH bereits ein anderer ist. Nicht weiter wichtig, daß die
synthetische Identität, dann die Sittlichkeit der praktischen Vernunft die Inte-
grität des Ichs, der Welt und Gottes wiederherstellen und die nachkantischen

24 In zwei Aufsätzen, die die Interpretation Nietzsches erneuern, hat Pierre Klossow-
ski dieses Element herausgestellt: ,,Gott ist tot meint nicht, daß die göttliche Natur
als eine Erklärung der Existenz verlischt, es meint vielmehr, daß der absolute Garant
der Identität des Ichs am Horizont von Nietzsches Bewußtsein untergeht, welcher
seinerseits mit diesem Untergang verschmilzt. [. . .] [Das Bewußtsein] kann nur noch
erklären, daß seine Identität selbst ein zufälliger Umstand ist, der bloß auf willkür-
liche Weise als notwe ndiger bewahrt wird, auf die Gefahr hin, daß es sich selbst für
jenes universale Glücksrad hält, daß es nach Möglichkeit die Totalität der Fälle
umschließt, das Zufällige selbst in seiner notwendigen Totalität. Was fortbesteht, ist
also das Sein und das Verb sein, das sich niemals auf das Sein selber, sondern aufs
Zufällige bezieht“ (Nietzsche, le polythkisme et la parodie, in: Un si funeste désir,
Paris 1963, S. 220-221). - ,,Heißt dies, daß das denkende Subjekt auf der Grundlage
eines kohärenten Denkens, durch das es selber ausgeschlossen wird, seine Identität
verliert? [. . .] Worin besteht mein Anteil an dieser Kreisbewegung, der gegenüber
ich inkohärent bin, und gegenüber diesem so vollkommen kohärenten Denken, daß
es mich in genau dem Augenblick ausschließt, in dem ich es denke? [. . .] Inwiefern
beeinträchtigt sie die Gegenwärtigkeit des Ichs, jenes Ichs, dessen hohe Stimmung
sie doch erregt? Indem sie die Fluktuationen freisetzt, die es als Ich auf eine Weise
bezeichnet haben, daß immer nur das Vergangene in seiner Gegenwart widerhallt.
[. . .] Mit Circulus vitiosus deus wird nur jenes Zeichen benannt, das hier eine
göttliche Physiognomie nach dem Vorbild des Dionysos annimmt“ (Oubli et ana-
mnése dans l’expérience vécue de Mernel retour du Meme, in: Nietzsche, Cahiers de
Royaumont, Paris 1966, S. 233-235; dt. in: Nietzsche und der Circulus vitiosus deus,
München 1986, S. 104-106; Übersetzung verändert, d.Ü.).
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST

Synthesen vorbereiten; für einen kurzen Augenblick sind wir in jene rechtmä-
ßige Schizophrenie eingetreten, die die höchste Macht des Denkens kenn-
zeichnet und das Sein direkt auf die Differenz hin öffnet, ungeachtet aller
Vermittlungen, aller Versöhnungen des Begriffs.

Die Aufgabe der modernen Philosophie wurde definiert: als Umkehrung des
Platonismus. Daß diese Umkehrung viele platonische Merkmale bewahrt, ist
nicht nur unvermeidbar, sondern wünschenswert. In der Tat repräsentiert der
Platonismus bereits die Unterordnung der Differenz unter die Mächte des
Einen, des Analogen, des Ähnlichen und selbst des Negativen. Wie bei einem
Tier, dessen Bewegungen während der Dressur in einem letzten Anfall besser
als im Stand der Freiheit von einer bald verlorenen Natur zeugen: Die herakli-
tische Welt rumort im Platonismus. Mit Platon ist der Ausgang noch unsicher;
die Vermittlung hat noch nicht ihre endgültige Bewegung gefunden. Die Idee
ist noch kein Objektbegriff, der die Welt den Erfordernissen der Repräsenta-
tion unterstellt, sondern viel eher eine rohe Präsenz, die in der Welt nur in
Abhängigkeit davon evoziert werden kann, was in den Dingen nicht ,,reprä-
sentierbar“ ist. Daher hat sich die Idee noch nicht entschieden, die Differenz
auf die Identität eines Begriffs überhaupt zu beziehen; sie hat noch nicht
darauf verzichtet, einen reinen Begriff, einen eigenen Begriff der Differenz als
solcher zu finden. Das Labyrinth oder das Chaos sind entwirrt, aber ohne
Faden, ohne die Hilfe eines Fadens. Aristoteles hat wohl gesehen, was am
Platonismus unersetzlich ist, wenngleich er gerade daraus eine Kritik an Pla-
ton machte: Die Dialektik der Differenz hat eine ihr eigene Methode - die
Teilung -, diese aber verfährt ohne Vermittlung, ohne Mittelbegriff oder ratio,
agiert im Unmittelbaren und beruft sich eher auf die Eingebungen der Idee als
auf die Erfordernisse eines Begriffs überhaupt. Und tatsächlich ist die Teilung,
gegenüber der von einem Begriff bedingten Identität, ein launisches, inkohä-
rentes Verfahren, das von einer Singularität zur anderen springt. Aber ist das
nicht seine Kraft vom Standpunkt der Idee aus? Und ist es nicht die Teilung -
weit davon entfernt, ein dialektisches Verfahren unter anderen abzugeben, das
durch weitere ergänzt oder abgelöst werden müßte -, die im Augeblick ihres
Erscheinens die anderen Verfahren ersetzt, die ganze dialektische Macht
zugunsten einer wahrhaften Philosophie der Differenz sammelt und zugleich
den Platonismus wie die Möglichkeit zu seiner Umkehrung ermißt?
Unser Fehler besteht darin, daß wir die platonische Teilung von den Forde-
rungen des Aristoteles aus zu begreifen versuchen. Nach Aristoteles geht es
um die Teilung einer Gattung in entgegengesetzte Arten; nun fehlt diesem
Verfahren nicht nur ,,ratio“ [raison] durch sich selbst, es fehlt ihm auch ein
Grund [raison], nach dem man entscheidet, daß etwas eher zu dieser Art als zu
jener gehört. So teilt man etwa die Künste in Künste der Hervorbringung und
Künste des Erwerbs; warum aber gehört das Angeln zum Erwerb? Es fehlt
88 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

hier die Vermittlung, d. h. die Identität eines Begriffs, der als Mittelbegriff
dienen kann. Offensichtlich aber fällt der Einwand weg, wenn die platonische
Teilung in keiner Weise beabsichtigt, die Arten einer Gattung zu bestimmen.
Oder vielmehr, sie beabsichtigt dies, aber nur oberflächlich und gar ironisch,
um unter dieser Maske ihr wirkliches Geheimnis besser verbergen zu kön-
nen25. Die Teilung ist nicht das Gegenteil einer ,,Verallgemeinerung”, sie ist
keine Spezifikation. Es handelt sich ganz und gar nicht um eine Methode der
Spezifikation, sondern der Selektion. Es handelt sich nicht um die Teilung
einer bestimmten Gattung in definite Arten, sondern um die Teilung einer
verworrenen Art in reine Stammlinien oder um die Selektion einer reinen
Linie ausgehend von einem Material, das dies nicht ist. Man könnte von
,,Platononen“ im Gegensatz zu ,,Aristotelonen“ sprechen, ganz wie die Biolo-
gen die ,,Jordanonen” den ,,Linnéonen“ gegenüberstellen. Denn die aristoteli-
sche Art ist, obzwar unteilbar, species infima, noch eine große Art. Die
platonische Teilung wirkt auf einem ganz anderen Gebiet, auf dem Gebiet der
kleinen Arten oder Linien. Darum ist ihr Ausgangspunkt auch unterschiedslos
eine Gattung oder Art; diese Gattung aber, diese große Art wird als undiffe-
renzierte logische Materie, als indifferentes Material, als Gemisch, als indefi-
nite Mannigfaltigkeit gesetzt, die repräsentiert, was ausgeschieden werden
muß, um die Idee als reine Linie zutage zu fördern. Die Suche nach Gold: das
ist das Modell der Teilung. Die Differenz ist nicht artbildend, zwischen zwei
Bestimmungen der Gattung, sie fällt vielmehr gänzlich auf die eine Seite, in die
Linie, die man auswählt: nicht mehr die konträren Entgegensetzungen dersel-
ben Gattung, sondern das Reine und Unreine, Gute und Schlechte, Echte und
Unechte in einem Gemisch, das eine große Art bildet. Die reine Differenz, der
reine Differenzbegriff, und nicht die im Begriff überhaupt, in der Gattung und
den Arten vermittelte Differenz. Sinn und Zweck der Teilungsmethode ist die
Selektion der Rivalen, die Prüfung der Bewerber - nicht &v~&xxotc, sondern
&p(p’oß~npl~ (dies wi r d an den beiden Hauptbeispielen Platons deutlich; im
Politikos, wo der Politiker als derjenige definiert wird, der ,,die Menschen zu
hüten“ vermag, eine Reihe von Leuten aber, Kaufleute, Ackerbauern, Bäcker,
Gymnasten, Arzte, ankommen und sagen: Der wahre Hüter der Menschen
bin ich! Und im Phaidros, wo es um die Definition des guten Wahnsinns und
des wahrhaft Liebenden geht und viele Bewerber vorstellig werden, um zu
sagen: Der Liebende, die Liebe bin ich!). Keine Frage von Art bei alledem,
außer ironischerweise. Keinerlei Gemeinsamkeit mit den Sorgen des Aristote-

25 Zur Kritik der platonischen Teilung durch Aristoteles vgl. Erste Analytik, 1, 31;
Zweite Analytik, II, 5 und 13 (gerade in letzterem Text behält Aristoteles für die
Teilung eine gewisse Rolle in der Bestimmung der Art bei, wenn er auch die
Unzulänglichkeiten, die er in Platons Konzeption zu entdecken glaubt, durch ein
Kontinuitätsprinzip korrigiert). - Wie sehr aber die Bestimmung von Arten bloß ein
ironisches Spiegelgefecht und nicht das Ziel der platonischen Teilung ist, wird etwa
im Politikos (266 b-d) deutlich.
DI E DIFFERENZ AN SICH SELBST 89

les: Es geht nicht um Identifikation, sondern um den Nachweis der Echtheit.


Das einzige Problem, das die gesamte Philosophie Platons durchzieht und
seine Klassifikation der Wissenschaften oder Künste leitet, ist stets die Be-
wertung der Rivalen, die Auswahl der Bewerber, die Unterscheidung zwi-
schen dem Ding und seinen Trugbildern im Innern einer Pseudo-Gattung
oder einer großen Art. Es geht darum, den Unterschied zu machen: also
darum, in den Tiefen des Unmittelbaren die Dialektik des Unmittelbaren,
die gefährliche Prüfung ohne Faden und ohne Netz zu vollziehen. Denn
nach antikem Brauch - wie im Mythos oder Epos - müssen die falschen
Bewerber sterben.
Unsere Frage lautet noch nicht, ob die selektive Differenz tatsächlich zwi-
schen den wahren und den falschen Bewerbern besteht, und zwar auf die
Weise, wie Platon dies sagt; sondern eher: wie Platon dank seiner Teilungsme-
thode diesen Unterschied macht. Der Leser erfährt hier eine lebhafte Überra-
schung; denn Platon schaltet einen ,,Mythos“ ein. Man könnte also sagen, daß
die Teilung, sobald sie ihre Maske der Spezifikation fallen läßt und ihren
wahren Zweck entdeckt, dennoch auf dessen Verwirklichung verzichtet und
sich durch das bloße ,,Spiel“ eines Mythos ablösen läßt. In der Tat beruft sich
der Politikos, sobald man an die Frage nach den Bewerbern gerät, auf das Bild
eines Gottes, der der Welt und den Menschen in der archaischen Zeit gebietet:
Einzig dieser Gott verdiene im eigentlichen Sinn den Namen eines Hüter-
Königs der Menschen. Gerade im Verhältnis zu ihm aber sind nicht alle
Bewerber gleich wert: Es gibt eine gewisse ,,Besorgung” der menschlichen
Gemeinschaft, die ganz besonders auf den Politiker verweist, weil er dem
Urbild des archaischen Hüter-Königs am nächsten kommt. In gewisser Weise
werden die Bewerber nach einer Rangfolge wahlverwandter Partizipation
bewertet; und unter den Rivalen des Politikers kann man (gemäß diesem vom
Mythos gelieferten ontologischen Maßstab) Verwandte, Diener, Gehilfen und
schließlich Scharlatane, Fälschungen unterscheiden26. Dasselbe Vorgehen im
Phaidros: Als es um die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des
,,Wahnsinns“ geht, beruft sich Platon unvermittelt auf einen Mythos. Er
beschreibt den Kreislauf der Seelen vor der Verkörperung, die Erinnerung, die
sie von den Ideen, die sie betrachten konnten, mitnehmen. Diese mythische
Betrachtung, die Natur oder der Grad dieser Betrachtung, die Art der Gele-
genheiten, die zur Wiedererinnerung nötig sind - all das bestimmt den Wert
und die Rangfolge der verschiedenen Typen von aktuellem Wahnsinn: Wir
können bestimmen, wer der falsche Liebhaber, wer der wahre Liebhaber ist;
wir könnten sogar bestimmen, wer - Liebhaber, Dichter, Priester, Wahrsager

26 Unter diesem Gesichtspunkt muß der Mythos um ein Modell anderer Art ergänzt
werden, um das Paradigma, das die analogische Unterscheidung zwischen den Ver-
wandten, Dienern, Gehilfen, Fälschungen ermöglicht. Ebenso umfaßt die Prüfung
des Golds mehrere Selektionen: Ausscheidung von Unreinheiten, Ausscheidung
anderer Metalle ,,gleicher Familie“ (vgl. Politikos, 303 d-e).
90 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

oder Philosoph - wahlverwandt an der Wiedererinnerung und der Betrachtung


partizipiert, wer der wahre Bewerber, der wahrhaft Partizipierende ist, und in
welcher Rangfolge die anderen. (Man wird einwenden, daß der dritte große
Text, der die Teilung verhandelt, Sophistes, keinen Mythos vorweist; das
kommt daher, daß sich Platon durch eine Paradoxale Anwendung der Metho-
de, durch eine Gegen-Anwendung, vornimmt, hier den falschen Bewerber
schlechthin zu isolieren, denjenigen, der ohne irgendein Recht Anspruch auf
alles erhebt: den ,,Sophisten“.)
Diese Einführung des Mythos jedoch scheint alle Einwände des Aristoteles zu
bestätigen: Aus Mangel an Vermittlung hätte die Teilung keinerlei Beweiskraft
und müßte sich durch einen Mythos ablösen lassen, der ihr ein Äquivalent an
Vermittlung in imaginärer Form lieferte. Aber auch hier entstellen wir den
Sinn dieser doch so geheimnisvollen Methode. Wenn es nämlich stimmt, daß
der Mythos und die Dialektik zwei deutlich geschiedene Kräfte im Platonis-
mus überhaupt sind, so verliert diese Unterscheidung ihre Gültigkeit, sobald
die Dialektik in der Teilung ihre wahrhafte Methode entdeckt. Die Teilung ist
es, die die Dualität überwindet und den Mythos in die Dialektik integriert, aus
dem Mythos ein Element der Dialektik selbst macht. Die Struktur des Mythos
lar bei Platon: Er ist der Kreis mit seinen beiden dynamischen
rehung- und Wiederkehr, Verteilung -oder Zuteilung -- die Zutei-
lung der Anteile gehört zum sich drehenden Rad wie die Seelenwanderung zur
ewigen Wiederkunft. Die Gründe, aus denen Platon sicher kein Protagonist
der ewigen Wiederkunft ist, kümmern uns hier nicht weiter. Dennoch bleibt
bestehen, daß der Mythos, im Phaidros wie im Politikos oder anderswo, das
Modell eines partiellen Kreislaufes erstellt, in dem ein Grund erscheint, der
geeignet ist, die Differenz zu machen, d.h. die Rollen oder Ansprüche abzu-
messen. Dieser Grund wird im Phaidros in Form der Ideen bestimmt, wie sie
von den Seelen betrachtet werden, die über dem Himmelsgewölbe kreisen; im
Politikos in Form des Hüter-Gotts, der selbst der Kreisbewegung des Univer-
sums vorsteht. Als Zentrum oder Motor des Kreises wird der Grund im
Mythos als das Prinzip einer Prüfung oder einer Selektion aufgestellt, das
seinen ganzen Sinn der Methode der Teilung verleiht, indem er die Grade
einer wahlverwandten Partizipation fixiert. In Übereinstimmung mit der älte-
sten Überlieferung ist der Kreismythos also tatsächlich die Wiederholungser-
zählung einer Gründung. Die Teilung verlangt ihn als den Grund, der die
Differenz zu machen vermag; umgekehrt verlangt er die Teilung als Verfas-
sung der Differenz in dem, was begründet werden muß. Die Einteilung ist die
wahrhafte Einheit von Dialektik und Mythologie, des Mythos als Gründung
und des Logos als h6yo~ aop~6~.
In aller Klarheit erscheint diese Rolle des Grunds in der platonischen Auffas-
sung der Partizipation. (Und sicher ist sie es, die der Teilung die Vermittlung
verschafft, die ihr zu fehlen schien, und die im selben Zug die Differenz auf
das Eine bezieht; aber auf eine doch so besondere Weise . . .) Partizipieren
meint teilhaben, nachträglich, an zweiter Stelle haben. An erster Stelle besitzt
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 91 ~

der G-und selbst. E’mzig die Gerechtigkeit ist gerecht, sagt Platon; was dieje-
nigen angeht, die man die Gerechten nennt, so besitzen sie die Qualität des
Gerechtseins erst an zweiter oder an dritter oder an vierter Stelle . . . oder als
Trugbild. Daß einzig die Gerechtigkeit gerecht sei, ist kein einfacher analyti-
scher Satz. Es ist die Bezeichnung der Idee als Grund, der an erster Stelle
besitzt. Und das Eigentliche des Grunds liegt darin, daß er Partizipation
verschafft, an zweiter Stelle gibt. Damit ist das, was partizipiert und mehr oder
weniger, in unterschiedlichen Graden partizipiert, notwendig ein Bewerber.
Der Bewerber ist es, der an einen Grund appelliert, der Anspruch ist es, der
begründet (oder als grundlos verurteilt) werden muß. Der Anspruch ist kein
Phänomen unter anderen, sondern die Natur jedes Phänomens. Der Grund ist
eine Prüfung, die den Bewerbern mehr oder weniger Partizipation am Objekt
des Anspruchs verleiht; und in diesem Sinne bemißt und macht der Grund die
Differenz. Man muß also unterscheiden: die Gerechtigkeit als Grund; die
Qualität ,,gerecht“ als Gegenstand des Anspruchs, den das Begründende
besitzt; die Gerechten als Bewerber, die auf ungleiche Weise am Objekt
partizipieren. Darum liefern uns auch die Neuplatoniker ein so tiefgehendes
Verständnis des Platonismus, wenn sie ihre geheiligte Triade darlegen: Das
Nicht-Partizipierbare, das Partizipierte, die Partizipierenden. Das begrün-
dende Prinzip ist gleichsam das Nicht-Partizipierbare, gibt aber etwas zur
Partizipation und gibt es dem Partizipierenden, dem Besitzer an zweiter Stelle,
d.h. dem Bewerber, der die Prüfung des Grunds zu bestehen wußte. Man
könnte sagen: Vater, Tochter und Bewerber. Und weil sich die Triade einer
Reihe von Partizipationen entlang reproduziert, weil die Bewerber in einer
Rangfolge und in Graden teilhaben, die die Differenz in mtu repräsentieren,
haben die Neuplatoniker ganz richtig das Wesentliche gesehen: daß die Eintei-
lung nicht die Unterscheidung der Arten ihrer Größe nach bezweckte, son-
dern die Errichtung einer seriellen Dialektik, die Erstellung von Reihen und
Stammlinien der Tiefe nach, die die Operationen eines selektiven Grunds als
einer wahlverwandten Partizipation kennzeichnen (Zeus 1, Zeus 11 usw.).
Damit wird deutlich, daß der Widerspruch keineswegs die Prüfung des
Grunds selbst meint, sondern im Gegenteil die Verfassung eines unbegründe-
ten Anspruchs an der Grenze der Partizipation repräsentiert. Wenn der rich-
tige Bewerber (der zuerst begründete, der wohlbegründete, der echte) Rivalen
hat, die gleichsam seine Verwandten, seine Gehilfen, seine Diener sind und auf
unterschiedliche Weise an seinem Anspruch partizipieren, so hat er auch seine
Trugbilder, seine Fälschungen, die durch die Prüfung denunziert werden:
Nach Platon ist dies der ,,Sophist“, der Possenreißer, Zentaur oder Satyr, der
Anspruch auf alles erhebt und mit seinem Anspruch auf alles niemals begrün-
det ist, sondern allem und sich selbst widerspricht . . .
Worin aber besteht die Prüfung des Grunds genau? Der Mythos sagt es uns:
stets eine Aufgabe, die erfüllt, ein Rätsel, das gelöst werden muß. Man befragt
das Orakel, aber die Antwort des Orakels ist selber ein Problem. Die Dialek-
tik ist Ironie, die Ironie aber die Kunst der Probleme und Fragen. Die Ironie
92 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

besteht darin, die Dinge und Wesen als ebenso viele Antworten auf verbor-
gene Fragen zu behandeln, als ebenso viele Fälle für Probleme, die zu lösen
sind. Man erinnere sich, daß Platon die Dialektik als ein Verfahren definiert,
das sich in ,,Problemen“ abwickelt, über die hinweg man sich zu einem
begründenden Prinzip aufschwingt, d. h. zu einem Prinzip, das sie als solche
bemißt und die entsprechenden Lösungen verteilt; und der Menon legt die
Wiedererinnerung nur mit Bezug auf ein geometrisches Problem dar, das vor
seiner Lösung begriffen werden muß und seine passende Lösung derart erfah-
ren soll, wie es der Sicherinnernde begriffen hat. Wir haben uns nun nicht um
die Unterscheidung zu kümmern, die man zweckmäßigerweise zwischen den
beiden Instanzen des Problems und der Frage trifft, sondern müssen eher
bedenken, auf welche Weise ihr Zusammenhang eine wesentliche Rolle in der
platonischen Dialektik spielt - eine Rolle, die ihrer Bedeutung nach derjenigen
vergleichbar ist, die später das Negative, etwa in der Hegelschen Dialektik,
einnehmen wird. Aber es ist eben nicht das Negative, das bei Platon diese
Rolle einnimmt. Und zwar in einem Maße, daß man sich fragen muß, ob die
berühmte These aus dem Sophistes trotz gewisser Zweideutigkeiten nicht auf
folgende Weise verstanden werden muß: Das ,,Nicht“ im Ausdruck ,,Nicht-
Sein“ drückt etwas anderes als das Negative aus. Hinsichtlich dieses Punkts
liegt der Fehler der traditionellen Theorien darin, daß sie uns eine zweifelhafte
Alternative aufzwingen: Wenn wir das Negative zu bannen versuchen, so
erklären wir uns zufriedengestellt, wenn wir zeigen, daß das Sein volle positive
Realität ist und keinerlei Nicht-Sein zuläßt; wenn wir umgekehrt die Negation
zu begründen versuchen, so sind wir zufrieden, wenn es uns gelingt, im Sein
oder in Beziehung zum Sein ein beliebiges Nicht-Sein zu setzen (es scheint
uns, daß dieses Nicht-Sein notwendig das Sein des Negativen oder der Grund
der Negation ist). Die Alternative ist also die folgende: Entweder gibt es kein
Nicht-Sein und die Negation ist Scheinhaft und unbegründet; oder es gibt
Nicht-Sein, das das Negative ins Sein bringt und die Negation begründet.
Vielleicht können wir jedoch mit guten Gründen beides zugleich behaupten:
daß es Nicht-Sein gibt und daß das Negative Scheinhaft ist.
Das Problem oder die Frage sind keine subjektiven, privativen Bestimmungen,
die ein Moment von Unzulänglichkeit in der Erkenntnis kennzeichnen. Die
problematische Struktur ist Teil der Objekte und erlaubt, sie als Zeichen zu
erfassen, ganz wie die fragende oder problematisierende Instanz Teil der
Erkenntnis ist und deren Positivität, deren Spezifizität im Akt des Lernens zu
erfassen erlaubt. Noch tiefer gesehen ist es das Sein (Platon sagte: die Idee),
das dem Wesen des Problems oder der Frage als solcher ,,korrespondiert”. Es
gibt gleichsam eine ,,Öffnung“, ein ,,Aufklaffen“, eine ontologische ,,Falte“,
die das Sein und die Frage aufeinander bezieht. In diesem Bezug ist das Sein
die Differenz selber. Das Sein ist ebenso Nicht-Sein, aber das Nicht-Sein ist
nicht das Sein des Negativen, vielmehr das Sein des Problematischen, das Sein
des Problems und der Frage. Die Differenz ist nicht das Negative, vielmehr ist
es das Nicht-Sein, das die Differenz ist: ET&QO’V, und nicht Ivav~iov. Darum
DI E DIFFERENZ AN SICH SELBST 93

müßte das Nicht-Sein eher (Nicht)-Sein oder noch besser ?-Sein geschrieben
werden. In diesem Sinne mag der Infinitiv, das ,,esse“ weniger einen Satz als
die Frage bezeichnen, auf die man den Satz als Antwort erwartet. Dieses
(Nicht)-Sein ist das differentielle Element, in dem die Bejahung als mannigfal-
tige Bejahung das Prinzip ihrer Genese findet. Die Negation hingegen ist nur
der Schatten dieses höchsten Prinzips, der Schatten der Differenz neben der
hervorgebrachten Bejahung. Wenn wir das (Nicht)-Sein mit dem Negativen
verwechseln, so wird unweigerlich der Widerspruch ins Sein getragen; der
Widerspruch aber ist immer noch der Schein oder das Epiphänomen, die vom
Problem projizierte Illusion, der Schatten einer Frage, die offen bleibt, und der
Schatten des Seins, das als solches mit dieser Frage korrespondiert (bevor es
eine Antwort auf sie gibt). Kennzeichnet nicht schon in diesem Sinne der
Widerspruch nur bei Platon die Verfassung der sogenannten aporetischen
Dialoge? Jenseits des Widerspruchs die Differenz - jenseits des Nicht-Seins
das (Nicht)-Sein, jenseits des Negativen das Problem und die Frage.

ANMERKUNG ZU HEIDEGGERS PHILOSOPHIE DER DIFFERENZ. -


Anscheinend bezogen sich die hauptsächlichen Mißverständnisse, die Heidegger nach
Sein und Zeit und Was ist Metaphysik? als Irrmeinungen zu seiner Philosphie denun-
zierte, auf Folgendes: Das Heideggersche NICHT verwies nicht auf das Negative im
Sein, sondern auf das Sein als Differenz; und nicht auf die Negation, sondern auf die
Frage. Als Sartre zu Beginn von L’Etre et le néant [dt.: Das Sein und das Nichts] die
Befragung analysierte, bereitete er damit die Entdeckung des Negativen und der Nega-
tivität vor. In gewisser Hinsicht war dies das Gegenteil zu Heideggers Vorgehen.
Freilich gab es dabei keinerlei Mißverständnis, da Sartre nicht vorhatte, Heidegger zu
kommentieren. Merleau-Ponty aber kam der Wirklichkeit von Heideggers Überlegun-
gen näher, als er schon in der Phénoménologie de la perception [dt.: Die Phänomenolo-
gie der Wahrnehmung] von ,,Falte“ oder ,,Faltung“ (im Gegensatz zu den ,,Löchern“
und ,,Seen von Nicht-Sein“ bei Sartre) sprach - und als er in seinem Posturnen Buch Le
visible et l’invisible [dt.: Das Sichtbare und das Unsichtbare] auf eine Ontologie der
Differenz und der Frage zurückkam.
Die Thesen Heideggers lassen sich, so scheint uns, folgendermaßen zusammenfassen:
1. Das Nicht drückt nicht das Negative, sondern die Differenz zwischen Sein und
Seiendem aus. Vgl. das Vorwort zu Vom Wesen des Grundes (Frankfurt/M. 19553,
S. 5): ,,Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein“; und das
Nachwort aus Was ist Metaphysik? (Frankfurt/M. 19495, S. 41): ,,[Entschleiert sich
nicht], was nie und nirgends ein Seiendes ist, als das von allem Seienden Sichunterschei-
dende [. . .]?“ 2. Diese Differenz besteht nicht ,,zwischen . . .“ im gewöhnlichen Wort-
sinn. Sie ist die Falte , Jwiefalt“ [i.O. dt.]. Sie ist konstitutiv für das Sein und die
Weise, wie das Sein das Seiende konstituiert, und zwar in der doppelten Bewegung von
,,Lichtung“ und ,,Verdeckung“. Das Sein ist wahrhaft das Differenzierende der Diffe-
renz. Daher der Ausdruck: ontologische Differenz (vgl. Überwindung der Metaphysik,
in: Vorträge und Aufsätze 1, Pfullingen 1954, S. 71 ff.). 3. Die ontologische Differenz
korrespondiert mit der Frage. Sie ist das Sein der Frage, das sich in Problemen entfaltet,
indem es bestimmte Felder im Verhältnis zum Seienden absteckt (vgl. Vom Wesen des
Grundes, a.a.O. S. 15-16). 4. So verstanden ist die Differenz nicht Gegenstand von
Repräsentation. Als Element der Metaphysik ordnet die Repräsentation die Differenz
94 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

der Identität unter, und wäre es nur durch ihren Bezug - auf ein tertium als Zentrum
eines Vergleichs zwischen zwei Termen, die sich der A n n a h m e nach von einander
unterscheiden (Sein und Seiendes). Heidegger räumt ein, daß dieser Gesichtspunkt der
metaphysischen Repräsentation noch in Vom Wesen des Grundes vorhanden ist
(a.a.O., S. 16, wo das Dritte in der ,,Transzendenz des Daseins” aufgefunden wird).
Aber die Metaphysik ist unfähig, die Differenz an sich selbst und die Tragweite dessen
zu denken, was ebenso trennt wie vereint (das Differenzierende). Es gibt in der
Differenz keine Synthese, Vermittlung oder Versöhnung, sondern im Gegenteil ein
hartnäckiges Festhalten an der Differenzierung. Dies ist die ,,Kehre“ jenseits der
Metaphysik: ,,[D]as Sein selbst [kann] den in ihm verwahrten Unterschied von Sein
und Seiendem erst dann in seiner Wahrheit lichten [. . .], wenn der Unterschied sich
selbst eigens ereignet“ (Überwindung der Metaphysik, a.a.O., S. 78). Zu diesem Punkt
siehe auch: Beda Allemann, Hölderlin und Heidegger (Zürich 1954, S. 119-123, 128-
139 und Jean Beaufret, Introduction au Poéme de Parmenide (Paris 1955, S. 45-55,
69-72). 5. Die Differenz läßt sich also nicht dem Identischen oder Gleichen unterord-
nen, aber sie muß im Selben und als das Selbe gedacht werden; vgl. Identität und
Differenz (Pfullingen 1957). Und . . . dichterisch wohnet der Mensch (Vorträge und
Aufsätze 1, a.a.O., S. 193): ,,Das selbe deckt sich nie mit dem gleichen, auch nicht mit
dem leeren Einerlei des bloß Identischen. Das gleiche verlegt sich stets auf das Unter-
schiedslose, damit alles darin übereinkomme. Das selbe ist dagegen das Zusammenge-
hören des Verschiedenen aus der Versammlung durch den Unterschied. Das selbe läßt
sich nur sagen, wenn der Unterschied gedacht wird. [. . .] Das selbe verbannt jeden
Eifer, das Verschiedene immer nur in das Gleiche auszugleichen. Das selbe versammelt
das Unterschiedene in eine ursprüngliche Einigkeit. Das gleiche hingegen zerstreut in
die fade Einheit des nur einförmig einen.“
Als grundlegend vermerken wir die ,,Korrespondenz” von Differenz und Frage, von
ontologischer Differenz und Sein der Frage. Man wird sich indessen fragen, ob nicht
Heidegger selbst die Mißverständisse förderte, und zwar durch seine Konzeption des
,,Nichts“, durch die Art, wie er das Sein ,,durchstrich“, anstatt das (Nicht) des Nicht-
Seins in Klammern zu setzen. Und genügt es darüber hinaus, das Selbe dem Identi-
schen gegenüberzustellen, um die ursprüngliche Differenz zu denken und sie den
Vermittlungen zu entreißen. 7 Wenn es zutrifft, daß manche Kommentatoren bei Hus-
serl einen Widerhall des Thomismus entdecken konnten, so gehört Heidegger dagegen
auf die Seite des Duns Scotus und verleiht der Univozität des Seins neuen Glanz.
Vollzieht er aber die Konversion, der-zufolge das univoke Sein sich nur von der
Differenz aussagen darf und in diesem Sinne um das Seiende kreisen muß? Faßt er das
Seiende so, daß es wahrhaftig jeder Unterordnung gegenüber der Identität der Reprä-
sentation entzogen ist.? Es scheint dem nicht so zu sein, siehe seine Kritik an der
ewigen Wiederkunft Nietzsches.

Die vier Figuren der platonischen Dialektik sind also: die Selektion der Diffe-
. renz, die Einführung eines mythischen Kreises, die Errichtung einer Grün-
dung, die Aufstellung eines Komplexes Frage/Problem. Über diese Figuren
aber ist die Differenz noch auf das Selbe oder das Eine bezogen. Und zweifel-
los darf das Selbe nicht mit der Identität des Begriffs überhaupt verwechselt
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 95

werden; es kennzeichnet eher die Idee, die das Ding ,,selber” ist. In dem Maße
aber, wie es die Rolle eines wahrhaften Grunds spielt, kann man seine Wir-
kung kaum anders sehen als darin, daß es das Identische im Begründeten
existieren läßt, sich der Differenz bedient, um das Identische existieren zu
lassen. In Wahrheit ist die Unterscheidung zwischen dem Selben und dem
Identischen nur dann fruchtbar, wenn man am Selben eine Konversion
bewerkstelligt, die es auf das Differente bezieht, während gleichzeitig die
Dinge und Wesen, die sich im Differenten unterscheiden, auf entsprechende
Weise eine radikale Zerstörung ihrer Identität hinnehmen müssen. Nur unter
dieser Bedingung wird die Differenz an sich selbst gedacht und nicht repräsen-
tiert, nicht vermittelt. Dagegen wird der ganze Platonismus von der Idee einer
Unterscheidung beherrscht, die zwischen ,,dem Ding selber“ und den Trugbil-
dern zu treffen sei. Anstatt die Differenz an sich selbst zu denken, bezieht er
sie bereits auf einen Grund und führt die Vermittlung in mythischer Form ein.
Umkehrung des Platonismus meint hier: das Primat eines Originals gegenüber
dem Abbild, eines Urbilds gegenüber dem Bild anfechten. Das Reich der
Trugbilder und Spiegelungen verherrlichen. Pierre Klossowski hat in den oben
zitierten Aufsätzen diesen Punkt unterstrichen: Im strengen Sinn bedeutet die
ewige Wiederkunft, daß jedes Ding nur als wiederkehrendes existiert, Abbild
einer Unendlichkeit von Abbildern, die kein Original und sogar keinen Ur-
sprung fortbestehen lassen. Darum heißt die ewige Wiederkunft ,,parodi-
stisch”: Sie qualifiziert das, was durch sie ist (und wiederkehrt), als Trug-
bild27. Das Trugbild ist der wahre Charakter oder die Form dessen, was ist -
des ,,Seienden“ -, wenn die ewige Wiederkunft die Macht des Seins (das
Formlose) ist. Wenn die Identität der Dinge aufgelöst ist, entweicht das Sein,
erlangt es Univozität und beginnt das Differente zu umkreisen. Was ist oder
wiederkehrt, besitzt keine vorgängige und konstituierte Identität: Das Ding ist
zur Differenz verdammt, durch die es zerteilt wird, und zu allen in dieser
implizierten Differenzen, die es durchläuft. In diesem Sinne ist das Trugbild
das Symbol selbst, d. h. d a s Zeichen, sofern es die Bedingungen seiner eigenen
Wiederholung interiorisiert. Das Trugbild hat eine konstituierende Disparität
im Ding erfaßt, das durch jenes seines Rangs als Urbild enthoben wird. Wenn
die ewige Wiederkunft, wie wir gesehen haben, die Funktion besitzt, eine
Wesensdifferenz zwischen den mittleren und den höheren Formen zu schaf-
fen, so besteht ebenso eine Wesensdifferenz zwischen den mittleren oder
gemäßigten Positionen der ewigen Wiederkunft (seien es die partiellen Zyklen,
sei es die approximative globale Wiederkehr in specie) und ihrer strengen oder

27Siehe oben S. 86, Anm. 24. (Und zu dieser Idee des Trugbilds, wie es bei Klossowski
in Bezug zur ewigen Wiederkunft erscheint, vgl. Michel Foucault, La prose d’Ac-
téon, in: Nouvelle Revue fraqaise, März 1964 [dt.: Aktaions Prosa, in: Schriften zur
Literatur, Frankfurt/M. u.a. 1979]; und Maurice Blanchot, Le rire des dieux, in:
Nouvelle Revue fraqaise, Juli 1965.)
96 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

kategorischen Position. In all ihrer Macht bejaht, ermöglicht die ewige


Wiederkunft nämlich keinerlei Einführung einer Grund-Begründung: Sie zer-
stört, verschlingt im Gegenteil jeden Grund als Instanz, der die Differenz
zwischen dem Ursprünglichen und dem Abgeleiteten, zwischen dem Ding
und den Trugbildern setzen würde. Sie läßt uns dem universalen Zu-Grunde-
gehen2’ beiwohnen. Unter ,,Zu-Grunde-gehen“ muß jene Freiheit des nicht-
vermittelten Untergrunds verstanden werden, jene Entdeckung eines Unter-
grunds hinter jedem anderen Untergrund, jener Bezug des Untergrunds zum
Unbegründeten, jene unmittelbare Reflexion des Formlosen und der höheren
Form, die die ewige Wiederkunft ausmacht. Jedes Ding, Tier oder Wesen wird
in den Zustand des Trugbilds versetzt; der Denker der ewigen Wiederkunft,
der sich sicher nicht aus der Höhle hervorzerren läßt, sondern eher eine
weitere Höhle jenseits davon finden würde, stets eine weitere, in die er sich
vergraben kann, dieser Denker kann dann mit gutem Recht sagen, er selbst sei
betraut mit der höheren Form all dessen, was ist, wie der Dichter: ,,betraut
mit der Menschheit, allen Tieren sogar“29. Diese Worte selbst finden ihr Echo
in den sich überlagernden Höhlen. Und diese Grausamkeit, von der wir zu
Beginn den Eindruck gewannen, daß sie das Ungeheuer darstelle, gesühnt
werden müsse und nur durch die repräsentative Vermittlung besänftigt werden
könne, scheint uns nun die Idee zu bilden, d. h. den reinen Begriff der Diffe-
renz im umgekehrten Platonismus: das Unschuldigste, den Stand der
Unschuld und ihren Widerhall.
Platon hat das höchste Ziel der Dialektik abgesteckt: den Unterschied machen.
Nur besteht dieser nicht zwischen dem Ding und den Trugbildern, dem
Urbild und den Abbild ern. Das Ding ist das Trugbild selbst, das Trugbild ist
die höhere Form, und die Schwierigkeit liegt für jedes Ding darin, sein eigenes
Trugbild zu erlangen, seinen Status als Zeichen in der Kohärenz der ewigen
Wiederkunft. Platon stellte die ewige Wiederkunft dem Chaos gegenüber, als
ob das Chaos ein widersprüchlicher Zustand wäre, an den von außen eine
Ordnung oder ein Gesetz herangetragen werden müßte, gleich dem Unterneh-
men des Demiurgen, der eine aufrührerische Materie bezwingt. Platon verwies
den Sophisten an den Widerspruch, an jenen mutmaßlichen Zustand des
Chaos, d.h. an die niedrigste Potenz [puissance], an den geringsten Grad an
Partizipation. In Wahrheit aber durchläuft die n-te Potenz nicht zwei, drei,
vier, sie bejaht sich unmittelbar, um das Höchste zu bilden: Sie bejaht sich am
Chaos selbst; und Chaos und ewige Wiederkunft sind, wie Nietzsche sagt,

28
Frz. effondement: Wortkreuzung aus fondement (Grund) und effondrement (Ein-
sturz, Zusammenbruch) [A.d.Ü.].
29
Rimbaud in einem Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1875; in: Lettres de la vie
littéraires d’Arthur Rimbaud, hg. v. J.-M. Carré, Paris 1931, S. 64; dt.: Arthur
Rimbaud. Briefe und Dokumente, hg. v. C. Ochwaldt, Heidelberg 1961, S. 29
[A.d.ü.].
DIE DIFFERENZ AN SICH SELBST 97

nicht zwei verschiedene Dinge. Der Sophist ist nicht das Sein (oder das Nicht-
Sein) des Widerspruchs, sondern derjenige, der alle Dinge in den Zustand des
Trugbilds trägt und sie alle in diesem Zustand trägt. Mußte Platon nicht die
Ironie bis dahin treiben - bis hin zu dieser Parodie? Mußte Platon nicht der
erste gewesen sein, der den Platonismus umkehrte oder zumindest die Rich-
tung einer derartigen Umkehrung anzeigte? Man erinnere sich an das gran-
diose Ende des Sophistes: Die Differenz ist verschoben, die Teilung wendet
sich gegen sich selbst, arbeitet gegen den Strich und demonstriert durch die
fortwährende Vertiefung des Trugbilds (der Traum, der Schatten, die Spiege-
lung, die Malerei) die Unmöglichkeit, es vom Original oder Urbild zu unter-
scheiden. Der Fremde gibt eine Definition des Sophisten, die sich nicht mehr
von Sokrates selbst unterscheiden kann: der ironische Nachahmer, der mittels
kurzer Argumente (Problemen und Fragen) verfährt. Jedes Moment der Diffe-
renz muß damit seine wahre Gestalt gewinnen, die Selektion, die Wiederho-
lung, das Zu-Grunde-gehen, der Komplex Frage/Problem.
Wir haben die Repräsentation einer Formation anderer Art gegenübergestellt.
Die elementaren Begriffe der Repräsentation sind die Kategorien, die als
Bedingungen möglicher Erfahrung definiert sind. Diese aber sind zu allge-
mein, zu weit für das Reale. Das Netz ist so weitmaschig, daß die größten
Fische entwischen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich die Ästhetik in
zwei irreduzible Gebiete aufspaltet, in das der Theorie des Sinnlichen, das vom
Realen nur seine Übereinstimung mit der möglichen Erfahrung einbehält, und
das der Theorie des Schönen, das die Realität des Realen insofern einfängt, als
sie sich anderweitig reflektiert. Alles wird anders, wenn wir Bedingungen
realer Erfahrung bestimmen, die nicht weiter gefaßt sind als das Bedingte und
sich wesentlich von den Kategorien unterscheiden: Die beiden Bedeutungen
der Ästhetik vermischen sich derart, daß sich das Sein des Sinnlichen im
Kunstwerk offenbart und das Kunstwerk gleichzeitig als Experiment
erscheint. Der Vorwurf gegen die Repräsentation lautet, daß sie bei der Identi-
tätsform stehenbleibt, und zwar in doppelter Hinsicht des gesehenen Dings
und des sehenden Subjekts. Die Identität wird in jeder Teilrepräsentation
ebenso bewahrt wie im Ganzen der unendlichen Repräsentation als solcher.
Die unendliche Repräsentation mag wohl die Blickpunkte vervielfältigen und
sie in Reihen anordnen; dennoch sind diese Reihen der Bedingung unterwor-
fen, nach der sie auf dasselbe Objekt, auf diesselbe Welt hin konvergieren. Die
unendliche Repräsentation mag wohl die Figuren und Momente vervielfälti-
gen, sie in Kreisen mit Eigenbewegung anordnen; dennoch haben diese Kreise
ein einziges Zentrum, das dem des großen Kreises des Bewußtseins entspricht.
Wenn das moderne Kunstwerk dagegen seine permutierenden Reihen und
seine Zirkelstrukturen entfaltet, so weist es der Philosophie einen Weg, der
zur Preisgabe der Repräsentation führt. Es genügt nicht, die Perspektiven zu
vervielfältigen, um Perspektivismus zu betreiben. Jede Perspektive oder jeder
Blickpunkt muß einem autonomen Werk entsprechen, das einen zureichenden
Sinn hat: Was zählt, ist die Divergenz der Reihen, die Dezentrierung der
98 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Kreise, das ,,Ungeheuer“. Die Gesamtheit der Kreise und Reihen ist also ein
formloses, zu-Grunde-gegungenes [effondé] Chaos, das kein anderes ,,Gesetz“
kennt als seine eigene Wiederholung, seine Reproduktion in der Entfaltung
dessen, was divergiert und dezentriert. Man weiß, wie diese Bedingungen
bereits in Werken wie Mallarmes Livre oder Finnegans Wake von Joyce
verwirklicht wurden: in wesentlich problematischen Werken3’. Die Identität
des gelesenen Dings löst sich hier wirklich in divergente Reihen auf, die durch
die Geheimwörter definiert werden, wie sich die Identität des lesenden Sub-
jekts in den dezentrierten Kreisen der möglichen Mehrfachlektüre auflöst.
Dennoch geht nichts verloren, da jede Reihe nur in der Wiederkehr der
anderen existiert. Alles ist Trugbild geworden. Denn unter Trugbild dürfen
wir nicht eine bloße Nachahmung verstehen, sondern eher den Akt, durch den
noch die Idee eines Urbilds oder einer privilegierten Position angefochten,
gestürzt wird. Das Trugbild ist die Instanz, die eine Differenz in sich schließt,
als (zumindest) zwei divergente Reihen, auf denen es sein Spiel treibt, ohne
jede Ähnlichkeit, ohne daß man von nun an die Existenz eines Originals und
eines Abbilds angeben kann. Die Bedingungen nicht der möglichen, sondern
der realen Erfahrung (Selektion, Wiederholung usw.) müssen in dieser Rich-
tung gesucht werden. Dort finden wir die gelebte Realität eines subrepräsenta-
tiven Gebiets. Wenn es stimmt, daß die Repräsentation die Identität als Ele-
ment und ein Ähnliches als Maßeinheit besitzt, so hat die reine Präsenz, wie
sie im Trugbild erscheint, das ,,Disparse“ als Maßeinheit, d.h. stets eine
Differenz von Differenz als unmittelbares Element.

3o Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1973. - Eco zeigt deutlich,
daß das ,,kl assische“ Kunstwerk unter meheren Perspektiven gesehen wird und
mehreren Interpretationen unterliegt; daß aber jedem Blickpunkt oder jeder Inter-
pretation noch kein autonomes Werk entspricht, das im Chaos eines großen Werks
inbegriffen wäre. Das Merkmal eines ,,modernen“ Kunstwerks erscheint als Abwe-
senheit von Zentrum oder Konvergenz (vgl. Kap. 1 und 4).
ZWEITES KAPITEL

DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST

Die Wiederholung ändert nichts am sich wiederholenden Objekt, sie ändert


aber etwas im Geist, der sie betrachtet: Diese berühmte These Humes führt
uns zum Kern des Problems. Wie könnte die Wiederholung etwas am sich
wiederholenden Fall oder Element ändern, da sie ja von Rechts wegen eine
völlige Unabhängigkeit jeder Präsentation impliziert? Die Regel der Diskonti-
nuität oder Augenblicklichkeit in der Wiederholung - lautet: Das eine erscheint
nur, wenn das andere verschwunden ist. So der Zustand der Materie als mens
momentanea. Wie aber könnte man vom ,,zweiten“, vom ,,dritten“, vom
,,selben“ sprechen, da sich doch die Wiederholung in dem Maße auflöst, wie
sie entsteht? Sie hat kein Ansich. Dagegen ändert sie etwas im Geist, der sie
betrachtet. Dies ist das Wesen der Modifikation. Hume nimmt als Beispiel
eine Fallwiederholung vom Typ AB, AB, AB, A . . . Jeder Fall, jede objektive
Sequenz AB ist von der anderen unabhängig. Die Wiederholung (aber man
kann eben noch nicht von Wiederholung sprechen) ändert nichts am Objekt,
am Sachverhalt AB. Dagegen ergibt sich eine Veränderung im betrachtenden
Geist: eine Differenz, etwas Neues im Geist. Wenn A erscheint, erwarte- ich
nun das Erscheinen von B. Ist dies das Fürsich der Wiederholung als eine
ursprüngliche Subjektivität, die notwendig in deren Bildung eingehen muß?
Besteht das Paradox der Wiederholung nicht darin, daß man von Wiederho-
lung nur auf Grund der Differenz oder Veränderung sprechen kann, die sie in
den Geist einführt, der sie betrachtet? Auf Grund einer Differenz, die der
Geist der Wiederholung entlockt?
Worin besteht diese Veränderung? Hume erklärt, daß sich die unabhängigen
identischen oder ähnlichen Fälle in der Einbildungskraft vereinigen. Die Ein-
bildungskraft definiert sich hier als eine Kontraktionskraft: als photographi-
sche Platte hält sie das eine fest, wenn das andere erscheint. Sie zieht die Fälle,
die Elemente, die Erschütterungen, die homogenen Augenblicke zusammen
und verschmilzt sie zu einem qualitativen inneren Eindruck mit einem gewis-
sen Gewicht. Wenn A erscheint, erwarten wir B mit einer Stärke, die dem
100 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

qualitativen Eindruck aller kontrahierten ABs entspricht. Dies ist alles


andere als ein Gedächtnis oder eine Operation des Verstandes: Die Kon-
traktion ist keine Reflexion. Strenggenommen bildet sie eine Synthese der
Zeit. Eine Abfolge von Augenblicken ergibt nicht die Zeit, sie löst sie eben-
sosehr auf; sie kennzeichnet bloß deren immer schon gescheiterten Geburts-
moment. Die Zeit bildet sich nur in der ursprünglichen Synthese, die sich
auf die Wiederholung der Augenblicke bezieht. Diese Synthese zieht die
unabhängigen sukzessiven Augenblicke jeweils ineinander zusammen. Sie
bildet damit die gelebte Gegenwart, die lebendige Gegenwart. Und diese
Gegenwart ist es, in der sich die Zeit entfaltet. Sie ist es, der Vergangenheit
und Zukunft zukommen: die Vergangenheit in dem Maße, wie die vorange-
henden Augenblicke in der Kontraktion festgehalten werden; die Zukunft,
weil die Erwartung Antizipation in ebendieser Kontraktion ist. Vergangen-
heit und Zukunft bezeichnen keine Augenblicke, die von einem der
Annahme nach gegenwärtigen Augenblick geschieden wären, sondern die
Dimensionen der Gegenwart selbst, sofern sie die Augenblicke kontrahiert.
Die Gegenwart braucht nicht aus sich herauszutreten, um von der Vergan-
genheit bis zur Zukunft zu reichen. Die lebendige Gegenwart reicht also
von der Vergangenheit bis zur Zukunft, die sie innerhalb der Zeit konsti-
tuiert, das heißt auch: vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Besonderen,
das sie jeweils in der Kontraktion umhüllt [enveloppe], zum Allgemeinen,
das sie im Feld ihrer Erwartung entfaltet [développe] (die im Geist erzeugte
Differenz ist die Allgemeinheit selbst, sofern sie eine lebendige Regel der
Zukunft bildet). Diese Synthese muß in jeder Hinsicht ,,passive Synthese“
genannt werden. Sie ist zwar konstitutiv, aber darum noch nicht aktiv. Sie
wird nicht vom Geist hergestellt, erstellt sich aber im betrachtenden Geist,
geht jedem Gedächtnis und jeder Reflexion voraus. Die Zeit ist subjektiv,
allerdings ist dies die Subjektivität eines passiven Subjekts. Die passive
Synthese oder Kontraktion ist wesentlich asymmetrisch: Sie reicht von der
Vergangenheit zur Zukunft in der Gegenwart, also vom Besonderen zum
Allgemeinen, und richtet damit den Vektor der Zeit aus.
Indem wir die Wiederholung im Objekt betrachteten, blieben wir diesseits der
Bedingungen, die eine Idee-von Wiederholung ermöglichen. Indem wir aber
die Veränderung im Subjekt betrachten, sind wir bereits jenseits davon und
mit der allgemeinen Form der Differenz konfrontiert. Daher impliziert die
ideelle Konstitution der Wiederholung eine Art retroaktiver Bewegung zwi-
schen diesen beiden Grenzen. Sie entspinnt sich zwischen den beiden. Diese
Bewegung ist es, die Hume gründlich analysiert, wenn er zeigt, daß die in der
Einbildungskraft kontrahierten oder verschmolzenen Fälle im Gedächtnis
oder im Verstand dennoch geschieden bleiben. Nicht daß man zum Zustand
der Materie zurückkäme, die einen Fall nur hervorbringt, wenn der andere
verschwunden ist. Ausgehend aber vom qualitativen Eindruck der Einbil-
dungskraft stellt das Gedächtnis die besonderen Fälle als deutlich geschiedene
wieder her und bewahrt sie im ,,Zeit-Raum“, der ihm eignet. Die Vergangen-
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 101

heit ist dann nicht mehr die unmittelbare Vergangenheit der Retention, son-
dern die reflexive Vergangenheit der Repräsentation, die reflektierte und
reproduzierte Besonderheit. Entsprechend ist auch die Zukunft nicht mehr die
unmittelbare Zukunft der Antizipation und wird stattdessen zur reflexiven
Zukunft der Vorhersage, zur reflektierten Allgemeinheit des Verstandes (der
Verstand bemißt die Erwartung der Einbildungskraft nach der Zahl der beob-
achteten und erinnerten distinkten ähnlichen Fälle). Das heißt, daß die aktiven
Synthesen des Gedächtnisses und des Verstandes die passive Synthese der
Einbildungskraft überlagern und sich auf sie stützen. Die Konstitution der
Wiederholung impliziert bereits drei Instanzen: jenes Ansich, das sie im
Undenkbaren beläßt oder sie in dem Maße auflöst, wie sie sich bildet; das
Fürsich der passiven Synthese; und auf diese gegründet die reflektierte Reprä-
sentation eines ,,Füruns” in den aktiven Synthesen. Die Assoziationslehre
besitzt unersetzlichen Scharfsinn. Man sollte sich nicht wundern, daß Bergson
die Analysen Humes wiederentdeckt, sobald er auf ein analoges Problem
stößt: Es schlägt vier Uhr . . . Jeder Schlag, jede Erschütterung oder jeder Reiz
ist vom anderen logisch unabhängig, mens momentanea. Aber wir ziehen sie
zu einem inneren qualitativen Eindruck zusammen, außerhalb jeder Erinne-
rung oder gesonderten Berechnung, in jener lebendigen Gegenwart, in jener
passiven Synthese, die die Dauer ist. Danach restituieren wir sie in einem
behelfsmäßigen Raum, in einer abgeleiteten Zeit, wo wir sie als entsprechend
viele quantifizierbare Außeneindrücke reproduzieren, reflektieren, zählen
können.
Sicher ist Bergsons Beispiel nicht mit dem Humes identisch. Das eine bezeich-
net eine abgeschlossene Wiederholung, das andere eine offene. Zudem
bezeichnet das eine eine Wiederholung von Elementen des Typs A A A A (tik,
tik, tik, tik), das andere eine Wiederholung von Fällen, AB AB AB A . . . (tik-
tak, tik-tak, tik-tak, tik . ..). Die Hauptunterscheidung zwischen diesen For-
men beruht auf Folgendem: In der zweiten erscheint die Differenz nicht nur

1 Bergsons Text befindet sich in Essai sur les données immédiates de la conscience,
zweites Kapitel, in: Q%vres (Edition du centenaire), Paris 1970, S. 82-85 (dt.: Zeit
und Freiheit, Meisenheim 1949, S. 103-107). Bergson unterscheidet hier deutlich die
beiden Aspekte der Verschmelzung oder Kontraktion im Geist und der Entfaltung
im Raum. Die Kontraktion als Wesen der Dauer und dasjenige, was auf die elementa-
ren materiellen Erschütterungen wirkt, um die wahrgenommene Qualität zu bilden,
wird noch genauer in Matiére et mémoire [dt.: Materie und Gedächtnis] analysiert.
Humes Texte befinden sich in A Treatise of Human Nature, vor allem im dritten
Teil, 16. Abschnitt (dt.: Traktat über die menschliche Natur, Hamburg und Leipzig
1898, S. 237-240). H ume unterscheidet ganz scharf die Vereinigung oder Verschmel-
zung von Fällen in der Einbildungskraft - eine Vereinigung, die sich unabhängig von
Gedächtnis oder Verstand vollzieht - und die Unterscheidung ebendieser Fälle im
Gedächtnis oder Verstand.
102 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

in der Kontraktion der Elemente überhaupt, sie existiert auch in jedem


besonderen Fall zwischen zwei Elementen, die durch eine Oppositionsrela-
tion bestimmt und vereinigt werden. Die Funktion des Gegensatzes besteht
hier darin, die elementare Wiederholung von Rechts wegen zu begrenzen,
sie zur einfachsten Gruppe abzuschließen, sie auf ein Minimum von zwei
zu reduzieren (das Tak als umgekehrtes Tik). Die Differenz scheint also
ihre erste Gestalt von Allgemeinheit aufzugeben, verteilt sich im Besonde-
ren, das sich wiederholt, allerdings um neue lebendige Allgemeinheiten her-
vorzurufen. Die Wiederholung wird in den ,,Fall“ eingeschlossen, auf zwei
reduziert, erschließt sich aber ein neues Unendliches, das die Wiederholung
der Fälle selbst ist. Es wäre also falsch, würde man glauben, jede Fallwie-
derholung sei von Natur aus offen und jede Elementwiederholung abge-
schlossen. Die Wiederholung der Fälle ist offen nur insofern, als sie über
die Abgeschlossenheit einer binären Opposition zwischen Elementen ver-
läuft; umgekehrt ist die Wiederholung der Elemente nur insofern abge-
schlossen, als sie auf Fallstrukturen verweist, in denen sie selbst in ihrer
Gesamtheit die Rolle eines der beiden entgegengesetzten Elemente über-
nimmt: vier ist nicht nur eine Allgemeinheit gegenüber den vier Schlägen,
vier Uhr steht vielmehr im Konflikt mit der vorangehenden oder nachfol-
genden halben Stunde und sogar, vor dem Horizont der gesamten Wahr-
nehmungswelt, mit den jeweils umgekehrten ,,vier Uhr” des Morgens und
des Abends. Die beiden Wiederholungsformen verweisen in der passiven
Synthese stets aufeinander: Die Wiederholung der Fälle setzt die der Ele-
mente voraus, die der Elemente aber überschreitet sich notwendig zu der
Wiederholung der Fälle hin (daher die natürliche Tendenz der passiven
Synthese, das Tik-Tik als Tik-Tak zu empfinden).
Mehr noch als die Unterscheidung der beiden Formen zählt darum die Unter-
scheidung von Ebenen, in denen sich die eine und die andere auswirken und
kombinieren. Humes Beispiel ebenso wie Bergsons läßt uns bei der Ebene der
sinnlichen und perzeptiven Synthesen stehen. Die empfundene+ Qualität ver-
schmilzt mit der Kontraktion elementarer Reize; aber das wahrgenommene
Objekt selbst impliziert eine Kontraktion von Fällen dergestalt, daß eine
Qualität in der anderen gelesen wird, und es impliziert eine Struktur, in der
sich die Objektform mit der Qualität zumindest als intentionalem Teil verbin-
det. In der Ordnung der konstitutiven Passivität aber verweisen die perzepti-
ven Synthesen auf organische Synthesen, wie die Sinnlichkeit der Sinne auf
eine primäre Sinnlichkeit, die wir sind. Wir sind Kontraktionen aus Wasser,
Erde, Licht und Luft, nicht nur bevor wir diese erkennen und repräsentieren,
sondern noch bevor wie sie empfinden. Jeder Organismus ist mit seinen
rezeptiven und perzeptiven Elementen, aber auch in seinen Eingeweiden, eine
Summe von Kontraktionen, Retentionen und Erwartungen. Auf der Ebene
dieser primären vitalen Sinnlichkeit konstituiert die lebendige Gegenwart
schon in der Zeit eine Vergangenheit und eine Zukunft. Diese Zukunft
erscheint im Bedürfnis als organische Form der Erwartung; die Vergangenheit
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 103

der Retention erscheint im Erbgut der Zellen. Mehr noch: indem sich diese
organischen Synthesen mit den auf ihnen aufgebauten perzeptiven Synthesen
kombinieren, entfalten sie sich von Neuem in den aktiven Synthesen eines
Gedächtnisses und einer Intelligenz psycho-organischer Natur (Instinkt und
Lernprozeß). Wir müssen also nicht nur Wiederholungsformen im Verhältnis
zur passiven Synthese unterscheiden, sondern auch Ebenen von passiven
Synthesen und Kombinationen dieser Ebenen untereinander und Kombinatio-
nen dieser Ebenen mit den aktiven Synthesen. All das bildet ein reichhaltiges
Gebiet von Zeichen, die jedesmal das Heterogene umhüllen und das Verhalten
anregen. Denn jede Kontraktion, jede passive Synthese ist konstitutiv für ein
Zeichen, das in den aktiven Synthesen interpretiert oder entfaltet wird. Die
Zeichen, an denen das Tier die Nähe des Wassers ,,fühlt“, ähneln nicht den
Elementen, die seinem durstigen Organismus fehlen. Die Art, wie die Empfin-
dung, die Wahrnehmung, aber auch das Bedürfnis und die Erbanlage, der
Lernprozeß und der Instinkt, die Intelligenz und das Gedächtnis an der
Wiederholung teilhaben, bemißt sich in jedem Fall an der Kombination der
Wiederholungsformen, an den Ebenen, in denen sich diese Kombinationen
herstellen, an der Korrelierung dieser Ebenen, an der Interferenz von aktiven
und passiven Synthesen.
Worum handelt es sich in diesem ganzen Gebiet, das wir bis zum Organi-
schen hin ausdehnen mußten? Hume sagt es präzise: Es handelt sich um
das Problem der Gewohnheit. Wie aber läßt sich erklären, daß wir uns mit
den Stundenschlägen Bergsons wie mit den Kausalfolgen Humes dem
Mysterium der Gewohnheit tatsächlich so nahe fühlten und dennoch nichts
von dem erkannten, was man ,,gewöhnlich“ eine Gewohnheit nennt? Der
Grund dafür muß vielleicht in den Illusionen der Psychologie gesucht wer-
den. Diese hat die Tätigkeit zu ihrem Fetisch gemacht. Ihre rasende Angst
vor Introspektion bewirkt, daß sie nur das beobachtet, was sich bewegt. Sie
fragt, wie man Gewohnheiten durch Handeln annimmt. Damit aber läuft
jede Untersuchung des learning Gefahr, entstellt zu werden, solange man
nicht die vorgängige Frage stellt: Nimmt man Gewohnheiten durch Han-
deln an . . . oder im Gegenteil durch Betrachtung? Die Psychologie hält es
für ausgemacht, daß sich das Ich nicht selbst betrachten kann. Aber das ist
nicht die Frage, die Frage lautet vielmehr, ob nicht das Ich selbst eine
Betrachtung ist, ob es nicht an sich selbst eine Betrachtung ist -- und ob
man auf andere Weise lernen, ein Verhalten und sich selbst bilden kann als
durch Betrachtung.
Die Gewohnheit entlockt der Wiederholung etwas Neues: die Differenz (die
zunächst als Allgemeinheit gesetzt ist). Die Gewohnheit ist in ihrem Wesen
Kontraktion. Die Sprache belegt das, wenn sie von ,,contracter“ une habitude
[eine Gewohnheit annehmen] spricht und das Verb contracter nur mit einem
Komplement verwendet, das einen Habitus zu bilden vermag. Man wendet
ein, daß das Herz, wenn es sich kontrahiert [contracte], nicht mehr Gewohn-
heit hat (oder ist), als wenn es dilatiert. Aber das kommt daher, daß wir
104 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

zwei gänzlich verschiedene Arten von Kontraktion durcheinanderbringen:


Die Kontraktion kann eines der beiden aktiven Elemente, einen der beiden
entgegengesetzten Takte in einer Reihe vom Typ tik-tak . . . bezeichnen, wobei
das andere Element Entspannung oder Dilation ist. Aber die Kontraktion
bezeichnet auch die Verschmelzung der sukzessiven Tik-Taks in einer
betrachtenden Seele. Dies ist die passive Synthese, die die Gewohnheit unseres
Lebens ausmacht, d.h. unsere Erwartung, daß ,,es“ weitergehe, daß eines der
beiden Elemente nach dem anderen eintrete und damit das Fortbestehen unse-
res Falls garantiere. Wenn wir sagen, die Gewohnheit sei Kontraktion, so
sprechen wir folglich nicht von der augenblicklichen Handlung, die sich mit
der anderen zur Bildung eines Wiederholungselements zusammensetzt, son-
dern von der Verschmelzung dieser Wiederholung im betrachtenden Geist.
Man muß dem Herz, den Muskeln, den Nerven, den Zellen eine Seele
zuschreiben, allerdings eine betrachtende Seele, deren ganze Rolle in der
Annahme der Gewohnheit [contracter I’habitude] besteht. Darin liegt keine
barbarische oder mystische Hypothese: Die Gewohnheit manifestiert hierin
im Gegenteil ihre volle Allgemeinheit, die nicht nur die sensu-motorischen
Gewohnheiten betrifft, die wir (in psychologischer Hinsicht) haben, sondern
zunächst die primären Gewohnheiten, die wir sind, die Tausende von passiven
Synthesen, aus denen wir organisch bestehen. Indem wir kontrahieren, sind
wir Gewohnheiten, zugleich aber kontrahieren wir durch Betrachtung. Wir
sind Betrachtungen, wir sind Einbildungen, wir sind Allgemeinheiten, wir
sind Ansprüche, wir sind Befriedigungen. Denn das Phänomen des Anspruchs
ist wiederum nichts anderes als die kontrahierende Betrachtung, durch die wir
unser Recht und unsere Erwartung dem gegenüber behaupten, was wir kon-
trahieren, und unsere Zufriedenheit mit uns selbst, sofern wir betrachten. Wir
betrachten nicht uns selbst, aber wir existieren nur als Betrachtende, d. h.
indem wir kontrahieren2, woraus wir hervorgehen. Die Frage, ob die Lust
selbst eine Kontraktion, eine Spannung ist, oder ob sie stets an einen Prozeß
der Entspannung gebunden ist, ist falsch gestellt; man wird Elemente von Lust
in der aktiven Abfolge der Entspannungen und Kontraktionen von Reizquel-
len finden. Eine ganz andere Frage aber ist, warum die Lust nicht bloß ein
Element oder ein Fall in unserem psychischen Leben ist, sondern ein Prinzip,
das dieses in allen Fällen souverän regiert. Die Lust ist ein Prinzip, sofern sie
die Unruhe einer erfüllenden Betrachtung ist, die in sich selbst die Fälle von
Entspannung und Kontraktion kontrahiert. Es gibt eine Glückseligkeit der
passiven Synthese; und wir alle sind Narziß in der Lust, die wir in der
Betrachtung empfinden (Selbstbefriedigung), obwohl wir etwas ganz anderes
als uns selbst betrachten. Wir sind stets Aktaion in dem, was wir betrachten,
wenngleich auch Narziß in der Lust, die wir daraus beziehen. Betrachten heißt

2 Das heißt auch: ,,annehmen” [A.d.Ü.].


DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 105

entlocken. Immer muß etwas anderes betrachtet werden, das Wasser, Diana
oder die Wälder, damit man von einem Bild seiner selbst erfüllt wird.
Samuel Butler hat wie kein anderer gezeigt, daß es keine andere Kontinuität
als die der Gewohnheit gibt und daß wir keine anderen Kontinuitäten haben
als die unserer tausend Teilgewohnheiten, die in uns entsprechend viele aber-
gläubische und betrachtende Ichs, entsprechend viele Bewerber und Befriedi-
gungen bilden: ,, Denn noch das Korn der Felder gründet sein Wachstum auf
einen Boden voller Aberglauben, was seine Existenz betrifft, und verwandelt
die Erde und die Feuchtigkeit nur dank eines vermessenen Vertrauens zu
Weizen, dank eines Vertrauens, das es in sein eigenes Geschick dazu setzt,
Vertrauen oder Glauben an sich selbst, ohne den es kraftlos wäre”3. Nur dem
Empiristen kann das Wagnis derartiger Formulierungen glücken. Es gibt eine
Kontraktion von Erde und Feuchtigkeit, die man Weizen nennt, und diese
Kontraktion ist eine Betrachtung und die Selbstbefriedigung aus dieser
Betrachtung. Die Feldlilie singt durch ihre bloße Existenz den Ruhm der
Himmel, der Göttinnen und Götter, d. h. der Elemente, die sie betrachtet,
indem sie kontrahiert. Welcher Organismus ist nicht aus Wiederholungsele-
menten und -fällen gemacht, aus Wasser, Stickstoff, Kohlenstoff, Chloriden,
Sulfaten, die kontrahiert und betrachtet werden, und verflicht nicht auf diese
Weise all die Gewohnheiten, aus denen er sich zusammensetzt? Die Organis-
men erwachen unter den erhabenen Worten der dritten Enneade: Alles ist
Betrachtung! Und vielleicht ist es ,,Ironie“ zu sagen, alles sei Betrachtung,
selbst die Felsen und die Wälder, die Tiere und Menschen, selbst Aktaion und
der Hirsch, Narziß und die Blume, selbst unsere Handlungen und unsere
Bedürfnisse. Aber die Ironie ihrerseits ist noch eine Betrachtung, nichts ande-
res als eine Betrachtung . . . Plotin sagt: Man bestimmt und genießt sein eigenes
Bild nur, indem man sich zwecks dessen Betrachtung dem zukehrt, woraus
man hervorgeht.
Mühelos lassen sich die Gründe vervielfältigen, die die Gewohnheit von der
Wiederholung unabhängig machen: Handeln ist niemals wiederholen, weder
in der sich vollziehenden noch in der vollendeten Handlung. Wir haben
gesehen, wie die Handlung eher das Besondere als Variable und die Allge-
meinheit als Element besaß. Wenn es aber stimmt, daß die Allgemeinheit
etwas gänzlich anderes ist als die Wiederholung, so verweist sie dennoch auf
die Wiederholung als die verborgene Basis, auf der sie sich errichtet. Die
Handlung bildet sich in der Ordnung der Allgemeinheit und auf dem Feld der
ihr entsprechenden Variablen nur durch die Kontraktion von Wiederholungs-
elementen. Nur geschieht die Kontraktion nicht in ihr, sondern in einem Ich,
das betrachtet und das Handelnde verdoppelt. Und um die Handlungen in
eine komplexere Handlung zu integrieren, müssen die primären Handlungen
ihrerseits die Rolle von Wiederholungselementen in einem ,,Fall“ spielen, stets

3 Samuel Butler: Life and Habit, London 1878, S. 82.


106 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

aber im Verhältnis zu einer betrachtenden Seele, die unterhalb des Subjekts der
zusammengesetzten Handlung liegt. Unter dem handelnden Ich liegen kleine
Ichs, die betrachten und die Handlung wie das aktive Subjekt ermöglichen.
Wir sagen ,,ich“ nur mittels der tausend Zeugen, die in uns betrachten; immer
ist es ein Dritter, der ,,ich“ sagt. Und selbst bei der Ratte im Labyrinth und in
jedem Muskel der Ratte müssen diese betrachtenden Seelen angenommen
werden. Da jedoch die Betrachtung zu keinem Augenblick aus der Handlung
hervortritt, da sie sich stets im Hintergrund hält, da sie nichts ,,tut“ (obwohl
sich etwas, und zwar etwas völlig Neues, in ihr tut), kann man sie leicht
vergessen und den ganzen Prozeß aus Reiz und Reaktion ohne Bezugnahme
auf die Wiederholung interpretieren, da dieser Bezug nur im Verhältnis der
Reaktionen wie Reize zu den betrachtenden Seelen erscheint.
Der Wiederholung etwas Neues entlocken, ihr die Differenz entlocken - dies
ist die Rolle der Einbildungskraft [imagination] oder des Geistes, der in seinen
mannigfaltigen und zersplitterten Zuständen betrachtet. Daher ist die Wieder-
holung in ihrem Wesen imaginär, da einzig die Einbildungskraft hier das
99Mo ment” der vis repetitiva unter dem Gesichtspunkt der Konstitution bildet
und demjenigen Existenz verschafft, was sie als Wiederho lungsel emente oder
-fälle kontrahiert. Die imaginäre Wiederholung ist keine falsche Wiederho-
lung, die die Abwesenheit der wahren ausgleichen würde; die wahre Wieder-
holung liegt in der Einbildungskraft. Zwischen einer Wiederholung, die an
sich fortwährend zerfällt, und einer Wiederholung, die sich für uns im Raum
der Repräsentation entfaltet und bewahrt, gab es die Differenz, die das Fürsich
der Wiederholung, das Imaginäre darstellt. Die Differenz bewohnt die
Wiederholung. Einerseits läßt uns die Differenz - gleichsam der Länge nach -
von einer Ordnung der Wiederholung zur anderen übergehen: von der augen-
blicklichen Wiederholung, die an sich zerfällt, zur aktiv repräsentierten
Wiederholung, und zwar über die Vermittlung der passiv en Synthese. Ande-
rerseits läßt uns die Differenz - der Tiefe nach - von e i n e r Wiederholungsord-
nung zur anderen und von einer Allgemeinheit zu einer anderen übergehen,
und zwar in den passiven Synthesen selbst. Das Kopfzucken des Huhns
begleitet die Herzschläge in einer organischen Synthese, bevor es dazu dient,
in der perzeptiven Synthese Getreidekörner aufzupicken.
. Und schon am Ur-
sprung verteilt sich die durch die Kontraktion der ,,Tiks“ gebildete Allgemein-
heit wieder auf Besonderheiten in der komplexeren Wiederholung der ihrer-
seits kontrahierten ,,Tik-Taks“, und zwar in der Reihe der passiven Synthesen.
Die materielle und nackte Wiederholung, die sogenannte Wiederholung des
Selben, ist jedenfalls - gleich einer sich ablösenden Haut - die äußere Hülle
eines Kerns von Differenz und von komplizierteren inneren Wiederholungen.
Die Differenz liegt zwischen zwei Wiederholungen. Heißt das nicht umge-
kehrt, daß die Wiederholung auch zwischen zwei Differenzen liegt, daß sie uns
von einer Differenzordnung zur anderen übergehen läßt? Gabriel Tarde
steckte auf diese Weise die dialektische Entwicklung ab: die Wiederholung als
Übergang von einem Zustand allgemeiner Differenzen zur singulären Diffe-
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 107

renz, von äußeren Differenzen zur inneren Differenz - kurz, die Wiederho-
lung als das Differenzierende der Differenz 4.
Die Synthese der Zeit bildet die Gegenwart in der Zeit. Nicht daß die Gegen-
wart eine Dimension der Zeit wäre. Allein die Gegenwart existiert. Die
Synthese bildet die Zeit als lebendige Gegenwart, und Vergangenheit und
Zukunft als Dimensionen dieser Gegenwart. Diese Synthese ist jedoch inner-
zeitlich, was bedeutet, daß diese Gegenwart vorübergeht. Sicher kann man
eine immerwährende Gegenwart ersinnen, eine Gegenwart in Koextension zur
Zeit; man muß nur die Betrachtung auf das Unendliche der Abfolge von
Augenblicken ausdehnen. Aber es gibt keine physische Möglichkeit einer

4 Die Philosophie Gabriel Tardes ist eine der letzten großen Philosophien der Natur in
der Nachfolge Leibniz’. Sie entwickelt sich auf zwei Ebenen. Auf einer ersten Ebene
bringt sie drei Grundkategorien ins Spiel, die alle Phänomene beherrschen: Wieder-
holung, Gegensatz, Anpassung (vgl. Les lois sociales, Paris 1898). Aber der Gegensatz
ist nur die Gestalt, in der sich eine Differenz in der Wiederholung verteilt, um diese
zu begrenzen und auf eine neue Ordnung oder auf ein neues Unendliches hin zu
öffnen; wenn etwa das Leben seine Teile zu zweien einander gegenüberstellt, so
verzichtet es auf ein indefinites Wachstum oder eine indefinite Vervielfältigung, um
begrenzte Ganzheiten zu schaffen, erlangt aber auf diese Weise ein Unendliches
anderer Art, eine Wiederholung anderer Natur, die Wiederholung der Fortpflanzung
(L’opposition universelle, Paris 1897). Die Anpassung selbst ist die Gestalt, in der die
Wiederholungsströme einander überkreuzen und sich in eine höhere Wiederholung
integrieren. So daß die Differenz zwischen zwei Arten von Wiederholung erscheint
und jede Wiederholung eine Differenz gleichen Grads bedingt (die Nachahmung als
Wiederholung einer Erfindung, die Reproduktion als Wiederholung einer Variation,
die Ausbreitung als Wiederholung einer Störung, die Summation als Wiederholung
eines Differentiellen . . .; vgl. Les lois de I’imitation, Paris 1890).
Auf einer tieferen Ebene aber ist es eher die Wiederholung, die ,,für“ die Differenz
ist. Denn weder Gegensatz noch Anpassung bekunden die freie Gestalt der Diffe-
renz: die Differenz, ,,die zu nichts -in Gegensatz tritt und zu nichts dient”, als
,,Endzweck der Dinge“ (L’opposition universelle, S. 445). Unter diesem Gesichts-
punkt liegt die Wiederholung zwischen zwei Differenzen und läßt uns von einer
Ordnung der Differenz zur anderen übergehen: von der äußeren Differenz zur
inneren Differenz, von der elementaren Differenz zur transzendenten Differenz, von
der infinitesimalen Differenz zur personalen und monadologischen Differenz. Die
Differenz ist folglich der Prozeß, durch den die Differenz weder größer noch kleiner
wird, sondern ,,zunehmend differiert“ und ,,sich selbst zum Zweck setzt“ (vgl.
Monadologie et sociologie und La Variation universelle, in: Essais et mélanges sociolo-
giques, Paris 1895).
Es ist völlig falsch, die Soziologie Tardes auf einen Psychologismus oder gar auf eine
Interpsychologie zu reduzieren. Tardes Vorwurf gegen Durkheim lautet, daß dieser
sich vorgibt, was erklärt werden muß. nämlich ,,die Gleichartigkeit von Millionen
v o n M e n s c h e n “ . Die Alternative: unpersönliche Gegebenheiten oder Ideen großer
Männer ersetzt er durch die kleinen Ideen der kleinen Männer, durch die kleinen
Erfindungen und die Interferenzen zwischen Nachahmungsströmen. Tarde begrün-
108 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

derartigen Gegenwart: Die Kontraktion in der Betrachtung bewirkt stets die


Qualifizierung einer Wiederholungsordnung nach Elementen oder Fällen. Sie
bildet notwendig eine Gegenwart von einer gewissen Dauer, eine Gegenwart,
die sich erschöpft und vorübergeht und je nach berücksichtigten Arten, Indi-
viduen, Organismen und Teilen von Organismen variiert. Zwei aufeinander-
folgende Gegenwarten können gleichzeitig mit ein und derselben dritten sein,
die hinsichtlich der Zahl der von ihr kontrahierten Augenblicke eine größere
Ausdehnung besitzt. Ein Organismus verfügt über eine Gegenwartsdauer,
über verschiedene Gegenwartsdauern, und zwar je nach der natürlichen
Reichweite der Kontraktion seiner betrachtenden Seelen. Das heißt, daß die
Müdigkeit wirklich der Betrachtung zugehört. Man sagt richtig, daß der,
welcher nichts tut, ermüde; die Ermüdung markiert jenen Augenblick, an dem
die Seele das, was sie betrachtet, nicht mehr kontrahieren kann, an dem
Betrachtung und Kontraktion zerfallen. Wir bestehen aus Müdigkeiten ebenso
wie aus Betrachtungen. Darum kann ein Phänomen wie das Bedürfnis unter
dem Gesichtspunkt der Handlung und der aktiven Synthesen, die es bestimmt,
als ,,Mangel” begriffen werden, dagegen unter dem Gesichtspunkt der passi-
ven Synthese, durch die es bedingt wird, als extreme ,,Sättigung“, als ,,Ermü-
dung“. Eben das Bedürfnis markiert die Grenzen der variablen Gegenwart.
Die Gegenwart erstreckt sich zwischen zwei Vorkommen des Bedürfnisses
und verschmilzt mit der Zeit, die eine Betrachtung dauert. Die Wiederholung
des Bedürfnisses und all dessen, was davon abhängt, drückt die eigentliche Zeit
der Synthese der Zeit aus, den innerzeitlichen Charakter dieser Synthese. Die
Wiederholung ist wesentlich dem Bedürfnis eingeschrieben, weil das Bedürfnis
auf einer Instanz beruht, die wesentlich die Wiederholung betrifft, das Fürsich
der Wiederholung bildet, das Fürsich einer gewissen Dauer. Ausgehend von
unseren Betrachtungen definieren sich alle unsere Rhythmen, unsere Reserven,
unsere Reaktionszeiten, die tausend Verflechtungen, die Gegenwarten und
Müdigkeiten, aus denen wir bestehen. Die Regel lautet, daß man nicht schnel-
ler machen kann, als es die eigene Gegenwart oder eher die eigenen Gegenwar-
ten zulassen. Die Zeichen, wie wir sie als Habitus oder als aufeinander verwei-
sende Kontraktionen definiert haben, gehören stets zur Gegenwart. Eine der
Größen des Stoizismus liegt darin, daß er gezeigt hat, daß jedes Zeichen
Zeichen einer Gegenwart ist, und zwar unter dem Gesichtspunkt der

det die Microsoziologie, die sich nicht notwendig zwischen zwei Individuen ergibt,
sondern bereits in ein und demselben Individuum ihren Grund hat (etwa das Zögern
als ,,infinitesimaler sozialer Gegensatz“, oder die Erfindung als ,,infinitesimale soziale
Anpassung”; vgl. Les lois sociales). Mit dieser Methode, die mit Monographien
arbeitet, wird man zeigen, wie die Wiederholung die kleinen Variationen summiert
und integriert, stets um das ,,auf differente Weise Differente“ freizusetzen (La logi-
que sociale, Paris 1893). Die Gesamtheit von Tardes Philosophie stellt sich folgender-
maßen dar: eine Dialektik der Differenz und der Wiederholung, die die Möglichkeit
einer Mikrosoziologie auf eine regelrechte Kosmologie gründet.
D I E W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 109

passiven Synthese, in der Vergangenheit und Zukunft eben nur Dimensionen


der Gegenwart selbst sind (die Narbe ist nicht das Zeichen der vergangenen
Wunde, sondern ,,der gegenwärtigen Tatsache, eine Wunde gehabt zu haben“:
sagen wir, sie sei Betrachtung der Wunde, sie ziehe alle Augenblicke, die mich
von ihr trennen, in einer lebendigen Gegenwart zusammen). Oder aber wir
haben hier den wahren Sinn der Unterscheidung zwischen natürlich und
künstlich vor Augen. Natürlich sind demnach die Zeichen der Gegenwart, die
in dem, was sie bedeuten, auf die Gegenwart verweisen, die auf die passive
Synthese gegründeten Zeichen. Künstlich dagegen die Zeichen, die auf Ver-
gangenheit oder Zukunft als geschiedene Dimensionen der Gegenwart verwei-
sen, von denen die Gegenwart ihrerseits möglicherweise abhinge; derartige
Zeichen implizieren aktive Synthesen, d. h. den Übergang von der spontanen
Einbildung zu den aktiven Vermögen der reflektierten Repräsentation, des
Gedächtnisses und der Intelligenz.
Das Bedürfnis selber ist also-gemäß den negativen Strukturen, die es bereits
auf die Tätigkeit beziehen, nur höchst unvollständig erfaßt. Es genügt nicht
einmal, sich auf eine im Entstehen, im Vollzug befindliche Tätigkeit zu beru-
fen, wenn man nicht den betrachtenden Boden bestimmt, auf dem sie sich
vollzieht. Auch hier, auf diesem Boden, wird man dazu gebracht, im Negati-
ven (im Bedürfnis als Mangel) den Schatten einer höheren Instanz zu sehen.
Das Bedürfnis drückt das Aufklaffen einer Frage aus, bevor es das Nicht-Sein
oder die Abwesenheit einer Antwort ausdrückt. Betrachten heißt Fragen. Ist
es nicht das Eigentümliche der Frage, eine Antwort zu ,,entlocken“? Die Frage
ist es, die zugleich jene Hartnäckigkeit oder Unnachgiebigkeit, jene Mattig-
keit, jene Müdigkeit vorstellt, die dem Bedürfnis entsprechen. Welche Diffe-
renz besteht . . .? - so lautet die Frage, die die betrachtende Seele an die
Wiederholung richtet und mit der sie der Wiederholung die Antwort entlockt.
Die Betrachtungen sind Fragen, und die Kontraktionen, die sich in ihr herstel-
len und sie erfüllen, sind entsprechend viele endliche Bejahungen, die entste-
hen wie die Gegenwarten, die ausgehend von der immerwährenden Gegen-
wart in der passiven Synthese der Zeit entstehen. Die Konzeptionen des
Negativen entstammen der Voreiligkeit, mit der wir das Bedürfnis im Verhält-
nis zu den aktiven Synthesen begreifen, die sich in Wirklichkeit nur auf diesem
Untergrund entwickeln. Mehr noch: wenn wir die aktiven Synthesen selbst
auf diesen Grund, den sie voraussetzen, zurückverlegen, so sehen wir, daß die
Tätigkeit eher die Konstitution problematischer Felder im Verhältnis zu den
Fragen meint. Jedes Gebiet des Verhaltens, die Verflechtung von künstlichen
und natürlichen Zeichen, das Eingreifen von Instinkt und Lernprozeß, von
Gedächtnis und Intelligenz zeigen, wie die Fragen der Betrachtung sich in
aktiven problematischen Feldern entfalten. Der ersten Synthese der Zeit ent-
spricht ein erster Komplex Frage/Problem, wie er in der lebendigen Gegen-
wart erscheint (Dringlichkeit des Lebens). Diese lebendige Gegenwart und mit
ihr das gesamte organische und psychische Leben beruhen auf der Gewohn-
heit. Im Gefolge Condillacs müssen wir die Gewohnheit als Gründung anse-
110 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

hen, von der sich alle anderen psychischen Phänomene ableiten. Dies aber
kommt daher, daß alle anderen Phänomene entweder auf Betrachtungen beru-
hen oder selbst Betrachtungen sind: selbst das Bedürfnis, selbst die Frage,
selbst die ,,Ironie“.
Diese tausend Gewohnheiten, aus denen wir bestehen - diese Kontraktionen,
Betrachtungen, Ansprüche, Anmaßungen, Befriedigungen, Müdigkeiten,
variablen Gegenwarten - bilden also das Ausgangsgebiet der passiven Synthe-
sen. Das passive Ich definiert sich nicht einfach durch Rezeptivität, d. h. durch
die Fähigkeit, Empfindungen zu erfahren, sondern durch die kontrahierende
Betrachtung, die den Organismus selbst noch vor der Ausbildung seiner Emp-
findungen bildet. Daher besitzt dieses Ich auch kein Merkmal von Einfach-
heit: Es genügt nicht einmal, das Ich zu relativieren, zu pluralisieren, während
man ihm doch stets eine abgeschwächte einfache Form erhält. Die Ichs sind
larvenhafte Subjekte; die Welt der passiven Synthesen konstituiert das System
des Ichs unter näher zu bestimmenden Bedingungen, allerdings das System des
aufgelösten Ichs. Es gibt Ich, sobald irgendwo eine flüchtige Betrachtung
entsteht, sobald irgendwo eine Kontraktionsmaschine arbeitet, die für einen
Augenblick der Wiederholung eine Differenz zu entlocken vermag. Das Ich
kennt keine Modifikationen, es ist selbst eine Modifikation, wobei dieser
Begriff eben die entlockte Differenz bezeichnet. Letztendlich ist man nur das,
was man hat, nur durch ein Haben bildet sich hier das Sein, ist das passive Ich.
Jede Kontraktion ist eine Anmaßung, ein Anspruch, das heißt, sie äußert eine
Erwartung oder ein Recht bezüglich dessen, was sie kontrahiert, und zerfällt,
sobald ihr Gegenstand ihr entwischt. In allen seinen Romanen hat Samuel
Beckett das Inventar der Besitztümer geschildert, dem sich die Larvensubjekte
müde und leidenschaftlich verschreiben: die Reihe von Molloys Kieselsteinen,
Murphys Keksen, Malones Besitzstücken - immer geht es darum, der Wieder-
holung der Elemente oder der Organisation der Fälle eine kleine Differenz,
eine armselige Allgemeinheit zu entlocken. Zweifellos liegt eine der tiefsten
Absichten des ,,Nouveau Roman“ darin, diesseits der aktiven Synthese das
Gebiet der passiven Synthesen zu erreichen, aus denen wir bestehen, Modifi-
kationen, Tropismen und kleine Besitztümer. Und in all seinen Teilmüdigkei-
ten, in all seinen dürftigen Selbstbefriedigungen, in seinen lächerlichen An-
maßungen, in seinem Elend und seiner Armseligkeit singt das aufgelöste Ich
noch den Ruhm Gottes, d.h. dessen, was es betrachtet, kontrahiert und
besitzt.

Die erste Synthese der Zeit ist, wenngleich ursprünglich, dennoch innerzeit-
lich. Sie konstituiert die Zeit als Gegenwart, allerdings als Gegenwart, die
vorübergeht. Die Zeit bleibt der Gegenwart verhaftet, die Gegenwart aber
bewegt sich unaufhörlich in Sprüngen, die ineinander übergehen. Dies ist das
Paradox der Gegenwart: Sie konstituiert die Zeit, geht aber in dieser konsti-
D I E W I E D E R H O L U N G FÜR S I C H SELBST 111

tuierten Zeit vorüber. Wir dürfen der notwendigen Konsequenz nicht auswei-
chen: Es ist eine andere Zeit als diejenige gefordert, in der sich die erste
Synthese der Zeit vollzieht. Diese verweist notgedrungen auf eine zweite
Synthese. Indem wir auf die Endlichkeit der Kontraktion insistierten, haben
wir die Wirkung dargestellt, aber keineswegs gezeigt, warum die Gegenwart
vorüberging oder wodurch sie gehindert wurde, koextensiv zur Zeit zu sein.
Die erste Synthese, die Synthese der Gewohnheit, ist tatsächlich die Gründung
der Zeit; wir müssen aber Gründung und Grund auseinanderhalten. Die
Gründung betrifft den Boden und zeigt, wie sich etwas auf diesem Boden
einrichtet, ihn besetzt und in Besitz nimmt; der Grund aber kommt eher vom
Himmel herab, reicht vom First bis zu den Fundamenten, schätzt Boden und
Besitzer einem Besitztitel gemäß gegeneinander ab. Die Gewohnheit ist die
Gründung der Zeit, der schwankende Boden, der von der vorübergehenden
Gegenwart besetzt wird. Gerade im Vorübergehen liegt der Anspruch der
Gegenwart. Was aber die Gegenwart vorübergehen läßt und Gegenwart und
Gewohnheit aufeinander abstimmt, muß als Grund der Zeit bestimmt werden.
Der Grund der Zeit ist das Gedächtnis. Wir haben gesehen, daß das Gedächt-
nis als abgeleitete aktive Synthese auf der Gewohnheit beruht: Tatsächlich
ruht alles auf der Gründung. Wodurch aber das Gedächtnis konstituiert wird,
ist damit nicht gegeben. In dem Augenblick, wie es sich auf die Gewohnheit
gründet, muß das Gedächtnis durch eine andere passive Synthese, die sich von
der Gewohnheit unterscheidet, begründet werden. Und die passive Synthese
der Gewohnheit verweist selbst auf jene tiefere passive Synthese, das Gedächt-
nis: Habitus und Mnemosyne, oder die Vereinigung von Himmel und Erde.
Die Gewohnheit ist die ursprüngliche Synthese der Zeit, die das Leben der
vorübergehenden Gegenwart bildet; das Gedächtnis ist die grundlegende
Synthese der Zeit, die das Sein der Vergangenheit (das Sein dessen, was die
Gegenwart vorübergehen läßt) ausmacht.
Man könnte zunächst sagen, die Vergangenheit sei zwischen zwei Gegenwar-
ten eingekeilt: derjenigen, die sie gewesen ist, und derjenigen, bezüglich wel-
cher sie vergangen ist. Die Vergangenheit ist nicht die frühere Gegenwart
selbst, sondern das Element, in dem man diese intendiert. Daher liegt die
Besonderheit nun auch im Intendierten, d.h. in dem, was ,,gewesen ist“,
während die Vergangenheit selbst, das ,,war“, von Natur aus allgemein ist. Die
Vergangenheit allgemein ist das Element, in dem man jede frühere Gegenwart
im besonderen und als besondere intendiert. In Übereinstimmung mit Hus-
serls Terminologie müssen wir Retention und Reproduktion unterscheiden.
Was wir aber oben Retention der Gewohnheit nannten, war der Zustand
sukzessiver Augenblicke, die in einer Gegenwart von bestimmter Dauer kon-
trahiert wurden. Diese Augenblicke bildeten die Besonderheit, d. h. eine
unmittelbare Vergangenheit, die naturgemäß zur aktuellen Gegenwart gehört;
die Gegenwart selbst, die in der Erwartung zur Zukunft hin geöffnet ist,
bildete das Allgemeine. Von der Reproduktion des Gedächtnisses aus gesehen
ist dagegen die Vergangenheit (als Vermittlung der Gegenwarten) allgemein
112 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

und die Gegenwart (die aktuelle ebenso wie die frühere) besonders geworden.
In dem Maße, wie die Vergangenheit allgemein das Element ist, in dem man
jede darin bewahrte frühere Gegenwart intendieren kann, wird die frühere
‘Gegenwart in der aktuellen ,,repräsentiert“? Die Grenzen dieser Repräsenta-
tion oder Reproduktion werden in Wirklichkeit durch die variablen Ähn-
lichkeits- u n d Kontiguitätsbeziehungen bestimmt, die man unter dem Namen
der Assoziation kennt; denn die frühere Gegenwart ähnelt, wenn sie repräsen-
tiert werden soll, der aktuellen und dissoziiert in teilweise simultane Gegen-
warten von ganz unterschiedlicher Dauer, die also einander und äußerstenfalls
die akt uelle Gegenwart berühren. Die Größe der Assoziationspsychologie
besteht darin, daß sie eine regelrechte Zeichentheorie auf diesen Asssoziations-
beziehungen gegründet hat.
Nun wird die frühere Gegenwart nicht in der aktuellen repräsentiert, ohne daß
die aktuelle selbst in dieser Repräsentation repräsentiert ist. Es gehört zum
Wesen der Repräsentation, daß sie nicht nur etwas, sondern ihre eigene Reprä-
sentativität repräsentiert. Frühere und aktuelle Gegenwart entsprechen also
nicht zwei sukzessiven Augenblicken auf der Geraden der Zeit, die aktuelle
Gegenwart enthält vielmehr notwendig eine zusätzliche Dimension, in der sie
die frühere re-präsentiert und in der sie auch sich selbst repräsentiert. Die
aktuelle Gegenwart wird nicht als künftiger Gegenstand einer Erinnerung
behandelt, sondern als dasjenige, was sich reflektiert und dabei gleichzeitig die
Erinnerung der früheren Gegenwart bildet. Die aktive Synthese besitzt also
zwei wechselseitig sich bedingende und dennoch nicht symmetrische Aspekte:
Reproduktion und Reflexion, Sicherinnern und Erkennen, Gedächtnis und
Verstand. Man hat oft bemerkt, daß die Reflexion mehr als die Reproduktion
impliziert; aber dieses Mehr ist bloß jene zusätzliche Dimension, in der jeg-
liche Gegenwart sich als aktuelle reflektiert und zugleich die frühere repräsen-
tiert . Jeder Bewußtseinszustand verlangt eine Dimension mehr als das, dessen
Erinnerung er impliziert“? So daß man-das Prinzip der Repräsentation aktive
Synthese des Gedächtnisses nennen kann, und zwar in dieser zweifachen
Hinsicht: Reproduktion der früheren Gegenwart und Reflexion der aktuellen.
Diese aktive Synthese des Gedächtnisses gründet sich auf die passive Synthese
der Gewohnheit, da diese jede mögliche Gegenwart allgemein konstituiert. Sie
weicht allerdings entscheidend von ihr ab: Die Asymmetrie liegt nun in der
konstanten Zunahme der Dimensionen, in ihrer unendlichen Proliferation.
Die passive Synthese der Gewohnheit konstituierte die Zeit als Kontraktion
der Augenblicke unter der Bedingung der Gegenwart, die aktive Synthese des
Gedächtnisses aber konstituiert sie als Schachtelung der Gegenwarten selbst.
Das ganze Problem lautet: unter welcher Bedingung? Durch das reine Ele-

5 Frz. représenté: hier auch - im Sinne Husserls - als ,,vergegenwärtigt“ zu verstehen


(vgl. E. Husserl: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Hamburg
1985,s. 46ff., 163 ff.) [A.d.ü.].
6 Michel Souriau: Le Temps, Paris 1937, S. 55.
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 113

ment der Vergangenheit als Vergangenheit allgemein, als Vergangenheit a


priori, wird diese frühere Gegenwart reproduzierbar, durch sie reflektiert sich
die aktuelle Gegenwart. Die Vergangenheit leitet sich keineswegs von der
Gegenwart oder von der Repräsentation ab, sondern wird von jeder Repräsen-
tation vorausgesetzt. In diesem Sinne mag sich die aktive Synthese des
Gedächtnisses nach Belieben auf die passive (empirische) Synthese der
Gewohnheit gründen, sie kann dagegen nur durch eine andere passive (trans-
zendentale) Synthese begründet werden, die dem Gedächtnis selbst eignet.
Während die passive Synthese der Gewohnheit die lebendige Gegenwart in
der Zeit konstituiert und Vergangenheit und Zukunft zu den beiden asymme-
trischen Elementen dieser Gegenwart macht, konstituiert die passive Synthese
des Gedächtnisses die reine Vergangenheit in der Zeit und macht die frühere
und die aktuelle Gegenwart (also die Gegenwart in der Repräsentation und die
Zukunft in der Reflexion) zu den beiden asymmetrischen Elementen dieser
Vergangenheit als solcher. Was aber bedeutet reine Vergangenheit, Vergangen-
heit a priori, allgemein oder als solche? Matiére et mémoire ist vielleicht
deswegen ein großes Buch, weil Bergson tief in das Gebiet dieser transzenden-
talen Synthese einer reinen Vergangenheit eingedrungen ist und all deren
konstitutive Paradoxata freigelegt hat.
Vergeblich würde man versuchen, die Vergangenheit ausgehend von einer der
Gegenwarten, die sie einkeilen, wieder zusammenzusetzen - sei es diejenige,
die sie gewesen ist, oder die, bezüglich welcher sie nun vergangen ist. Wir
können nämlich nicht glauben, daß sich die Vergangenheit erst dann konsti-
tuiert, nachdem sie Gegenwart gewesen ist, oder weil eine neue Gegenwart
erscheint. Wenn die Vergangenheit eine neue Gegenwart abwarten würde, um
sich als Vergangenheit zu bilden, so würde weder die frühere Gegenwart
vorübergehen noch die neue geschehen. Niemals würde eine Gegenwart ver-
gehen, wenn sie nicht ,,zur gleichen Zeit“ vergangen wie gegenwärtig wäre;
niemals würde sich eine Vergangenheit bilden, wenn sie sich nicht zunächst
,,zur gleichen Zeit, als sie Gegenwart gewesen ist, gebildet hätte. Dies ist das
erste Paradox: das Paradox der Gleichzeitigkeit der Vergangenheit mit der
Gegenwart, die sie gewesen ist. Es gibt uns den Grund für die vorübergehende
Gegenwart an. Darum nämlich, weil die Vergangenheit zu sich selbst als
Gegenwart gleichzeitig ist, geht jede Gegenwart vorüber und vergeht zu Gun-
sten einer neuen Gegenwart. Ein zweites Paradox folgt daraus, das Paradox
der Koexistenz. Wenn nämlich jede Vergangenheit gleichzeitig zu der Gegen-
wart ist, die sie gewesen ist, so koexistiert die gesamte Vergangenheit mit der
neuen Gegenwart, bezüglich welcher sie nun vergangen ist. Die Vergangenheit
ist ebensowenig ,,in“ dieser zweiten Gegenwart, wie sie ,,nach“ der ersten
folgt. Daher der Gedanke Bergsons, jede aktuelle Gegenwart sei nichts als die
Vergangenheit insgesamt im Zustand größter Kontraktion. Die Vergangenheit
läßt keine der Gegenwarten vergehen, ohne die andere geschehen zu lassen, sie
selbst aber vergeht weder, noch geschieht sie. Darum ist sie keineswegs eine
Dimension der Zeit, sondern die Synthese der Zeit insgesamt, wobei Gegen-
114 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

wart und Zukunft bloß deren Dimensionen sind. Man kann nicht sagen: Sie
war. Sie existiert nicht mehr, sie existiert nicht, sondern sie insistiert, sie
besteht [consiste], sie ist. Sie insistiert mit der früheren Gegenwart, sie besteht
[consiste] zusammen mit. der aktuellen oder neuen. Sie ist das Ansich der Zeit
als letzter Grund des Übergangs. In diesem Sinne prägt sie ein reines, allge-
meines Element a priori aller Zeit. Wenn wir nämlich sagen, sie sei gleichzeitig
zur Gegenwart, die sie gewesen ist, so sprechen wir notgedrungen von einer
Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war, da sie sich nicht ,,nachher“ bil-
det. Ihre Art der Gleichzeitigkeit mit sich als Gegenwart besteht darin, sich als
schon-da zu setzen, wobei sie durch die vergehende Gegenwart vorausgesetzt
wird und diese selbst vergehen läßt. Ihre Art der Koexistenz mit der neuen
Gegenwart liegt darin, sich an sich zu setzen, wobei sie sich an sich bewahrt
und von der neuen Gegenwart vorausgesetzt wird, die nur insofern geschieht,
als sie sie kontrahiert. Das Paradox der Präexistenz ergänzt also die beiden
anderen: Jede Vergangenheit ist gleichzeitig zur Gegenwart, die sie gewesen
ist, jede Vergangenheit koexistiert mit der Gegenwart, bezüglich welcher sie
vergangen ist, aber das reine Element der Vergangenheit allgemein ist gegen-
über der Gegenwart, die vergeht, präexistent’. Es gibt also ein substantielles
Element der Zeit (Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war), das die Rolle
des Grunds übernimmt. Es selbst wird nicht repräsentiert. Repräsentiert wird
immer nur die Gegenwart als frühere oder aktuelle Gegenwart. Die reine
Vergangenheit aber ist es, durch die sich die Zeit auf diese Weise in der
Repräsentation entfaltet. Die transzendentale passive Synthese bezieht sich auf
jene reine Vergangenheit, und zwar in der dreifachen Hinsicht von Gleichzei-
tigkeit, Koexistenz und Präexistenz. Die aktive Synthese ist demgegenüber die
Repräsentation der Gegenwart, und zwar unter dem doppelten Aspekt der
Reproduktion der früheren und Reflexion der neuen Gegenwart. Diese wird
durch jene begründet; und die neue Gegenwart verfügt stets deshalb über eine
zusätzliche Dimension, weil sie sich im Element der reinen Vergangenheit
allgemein reflektiert, während die frühere Gegenwart bloß als besondere durch
dieses Element hindurch intendiert wird.
Wenn wir die passive Synthese der Gewohnheit mit der passiven Synthese des
Gedächtnisses-vergleichen, so sehen wir, wie sehr sich die Aufteilung von
Wiederholung und Kontraktion im Übergang von der einen zur anderen
verändert hat. Zweifellos erscheint die Gegenwart in jedem Fall als Frucht
einer Kontraktion, die allerdings auf gänzlich verschiedene Dimensionen
bezogen ist. In einem Fall ist die Gegenwart der am stärksten kontrahierte
Zustand von sukzessiven Augenblicken oder Elementen, die an sich voneinan-
der unabhängig sind. Im anderen Fall bezeichnet die Gegenwart den höchsten

7 Diese drei Paradoxata sind Gegenstand des dritten Kapitels aus Matiére et mémoire.
(Unter diesen drei Gesichtspunkten stellt Bergson die reine Vergangenheit oder reine
Erinnerung, die ist, ohne psychologische Existenz zu besitzen, der Vorstellung
(représentation] gegenüber, d. h. der psychologischen Realität des Erinnerungsbildes.)
DI E W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 115

Kontraktionsgrad einer Vergangenheit insgesamt, die an sich gleichsam koexi-


stierende Totalität ist. Nehmen wir entsprechend den Notwendigkeiten des
zweiten Paradoxes tatsächlich an, daß sich die Vergangenheit nicht in der
Gegenwart bewahrt, bezüglich der sie vergangen ist, sondern sich an sich
bewahrt, wobei die aktuelle Gegenwart nur die maximale Kontraktion all
dieser Vergangenheit ist, die mit ihr koexistiert: Zunächst wird diese Vergan-
genheit insgesamt mit sich selbst koexistieren müssen, und zwar in verschiede-
nen Graden von Entspannung.. . und Kontraktion. Die Gegenwart ist nur
dann der höchste Kontraktionsgrad der Vergangenheit, die neben ihr koexi-
stiert, wenn die Vergangenheit zuerst mit sich in einer Unendlichkeit von
unterschiedlichen Entspannungs- und Konraktionsgraden und auf unendlich
vielen Ebenen koexistiert (dies meint Bergsons berühmte Metapher vom Kegel
oder das vierte Paradox der Vergangenheit)*. Betrachten wir nun, was man in
einem Leben, genauer: in einem geistigen Leben, Wiederholung nennt. Gegen-
warten folgen aufeinander, greifen ineinander. Und dennoch haben wir den
Eindruck, daß jede von ihnen - so stark die mögliche Inkohärenz oder Oppo-
sition der sukzessiven Gegenwarten auch sein mag - ,,dasselbe Leben“ auf
unterschiedlicher Ebene durchspielt. Dies nennt man Schicksal. Das Schicksal
besteht niemals in deterministischen Bezügen, die sich allmählich zwischen
den sukzessiven Gegenwarten gemäß der Ordnung einer repräsentierten Zeit
herstellen würden. Es impliziert nicht-lokalisierbare Verbindungen zwischen
den sukzessiven Gegenwarten, Fernwirkungen, Systeme aus Reprise, Reso-
nanz und Echos, objektive Zufälle, Signale und Zeichen, Rollen, die die räum-
lichen Positionen und zeitlichen Abfolgen transzendieren. Von Gegenwarten,
die aufeinanderfolgen und ein Schicksal ausdrücken, könnte man sagen, sie
spielten stets dieselbe Sache, die selbe Geschichte durch, abgesehen von der
Differenz der Eben e: hier mehr oder weniger entspannt, dort mehr oder
weniger kontra hiert . Darum läßt sich das Schicksal so schwer mit dem Deter-

’ Bergson, Matiére et mémoire: ,,So wiederholt sich dasselbe psychische Leben unend-
lich viele Male in denselben aufeinanderfolgenden Stockwerken des Gedächtnisses,
derselbe geistige Vorgang kann sich in ganz verschiedener Höhe abspielen“ (in:
G?uvr-es, a.a.O., S. 250; dt.: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Frank-
furt/M. 1964, S. 127); es gibt Platz ,,für tausend und abertausend Wiederholungen
unseres seelischen Lebens, die wir durch ebenso viele Schnitte A’B’, A”B” usw.
desselben Kegels darstellen [. . .]“ (S. 302; dt.: S. 174). - Man wird feststellen, daß die
Wiederholung hier das psychische Leben betrifft, selbst aber nicht psychologisch ist:
Die Psychologie beginnt nämlich erst mit dem Erinnerungsbild, während sich die
Schnitte oder Stockwerke des Kegels in der reinen Vergangenheit abzeichnen. Es
handelt sich also um eine metapsychologische Wiederholung des psychischen
Lebens. Wenn Bergson andererseits von ,,aufeinanderfolgenden Stockwerken”
spricht, so muß aufeinanderfolgend ganz bildhaft, in Abhängigkeit von unserem
Auge, das die von Bergson vorgelegte Zeichnung durchläuft, verstanden werden;
denn ihre eigentliche Wirklichkeit wird darin gesehen, daß all diese Stockwerke
miteinander koexistieren.
116 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

minismus vereinbaren, so leicht aber mit der Freiheit: Freiheit heißt, die Ebene
wählen. In der Abfolge der aktuellen Gegenwarten tritt nur etwas Tieferes
zutage: die Art und Weise, wie jede davon das gesamte Leben von Neuem
aufnimmt, auf einer Ebene oder in einem Grad allerdings, der von dem der
vorangehenden abweicht, wobei alle Ebenen oder Grade nebeneinander koexi-
stieren und sich zur Wahl darbieten, aus dem Untergrund einer Vergangenheit
heraus, die niemals gegenwärtig war. Empirischen Charakter nennen wir die
Abfolge- und Simultaneitätsbeziehungen zwischen Gegenwarten, aus denen
wir bestehen, ihre Assoziationen gemäß Kausalität, Kontiguität, Ähnlichkeit
und selbst Gegensatz. Noumenalen Charakter aber die Beziehungen virtueller
Koexistenz zwischen Ebenen einer reinen Vergangenheit, wobei jede Gegen-
wart nur eine dieser Ebenen aktualisiert oder repräsentiert. Kurz, was wir in
empirischer Hinsicht als Abfolge von Gegenwarten erleben, die sich unter
dem Gesichtspunkt der aktiven Synthese unterscheiden, ist zugleich die stets
anwachsende Koexistenz von Vergangenheitsebenen in der passiven Synthese.
Jede Gegenwart kontrahiert eine Ebene insgesamt, diese Ebene aber besteht
bereits aus Entspannung und Kontraktion. Das heißt: Das Zeichen der Gegen-
wart ist ein Übergang zur äußersten Grenze, eine maximale Kontraktion, die
als solche die Wahl einer beliebigen Ebene - selbst an sich kontrahiert oder
entspannt - aus einer Unendlichkeit anderer möglichen Ebenen sanktioniert.
Und was wir von einem Leben sagen, können wir auch von mehreren Leben
sagen. Da jedes davon eine vorübergehende Gegenwart ist, kann ein Leben ein
anderes auf einer anderen Ebene wiederaufnehmen: als ob Philosoph und
Schwein, Verbrecher und Heiliger auf den verschiedenen Ebenen eines gigan-
tischen Kegels dieselbe Vergangenheit durchspielten. Was man Seelenwande-
rung nennt. Jeder wählt seine Höhe oder seinen Tonfall, vielleicht seinen Text,
die Melodie aber ist ganz dieselbe - und zu allen Worten dasselbe Tralala, zu
allen möglichen Tönen und in jeder Höhe.
Es besteht ein großer Unterschied zwischen den beiden Wiederholungen, der
materiellen und der geistigen. Die eine ist eine Wiederholung von unabhängi-
gen sukzessiven Augenblicken oder Elementen; die andere ist eine Wiederho-
lung des Ganzen auf verschiedenen koexistierenden Ebenen (es sei, wie Leib-
niz sagte, ,, alles und immer nach verschiedenen Graden der Vollkommenheit
dasselbe“)‘. Daher stehen auch beide Wiederholungen in einem ganz unter-
schiedlichen Verhältnis zur ,,Differenz“ selbst. Die Differenz wird der einen
entlockt, und zwar in dem Maße, wie sich die Elemente oder Augenblicke in
einer lebendigen Gegenwart kontrahieren. In der anderen ist sie in dem Maße
enthalten, wie das Ganze die Differenz zwischen seinen Ebenen umfaßt. Die
eine ist nackt, die andere bekleidet; die eine bezieht sich auf Teile, die andere
auf das Ganze; die eine auf die Abfolge, die andere auf die Koexistenz; die

9 Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain [dt.: Neue Abhandlungen über
den menschlichen Verstand], erstes Buch, Kap. 1.
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 117

eine ist aktuell, die andere virtuell; die eine horizontal, die andere vertikal. Die
Gegenwart ist stets kontrahierte Differenz; aber in einem Fall kontrahiert sie
die indifferenten Augenblicke, im anderen Fall - im Übergang zur äußersten
Grenze - eine differentielle Ebene des Ganzen, das selbst aus Entspannung
oder Kontraktion besteht. So daß die Differenz der Gegenwarten selber zwi-
schen den beiden Wiederholungen liegt, der Wiederholung der elementaren
Augenblicke, der sie entlockt wird, und der Wiederholung der Ebenen des
Ganzen, in denen sie erfaßt wird. Und der Bergsonschen Hypothese zufolge
muß die nackte Wiederholung als äußere Umhüllung der bekleideten begriffen
werden: d.h. die sukzessive Wiederholung der Augenblicke als geringster
Spannungsgrad der koexistierenden Ebenen, die Materie als Traum oder als
entspannteste Vergangenheit des Geistes. Keine der beiden Wiederholungen,
ist streng genommen repräsentierbar. Denn die materielle Wiederholung zerfällt
in dem Maße, wie sie sich herstellt und wird nur durch die aktive Synthese
repräsentiert, die deren Elemente in einen Raum von Berechnung und Bewah-
rung projiziert; zugleich aber wird diese Wiederholung, nun Gegenstand von
Repräsentation, der Identität der Elemente oder der Ähnlichkeit der bewahrten
und addierten Fälle untergeordnet. Und die geistige Wiederholung entwickelt
sich im Sein an sich der Vergangenheit, während die Repräsentation nur
Gegenwarten in der aktiven Synthese erreicht und betrifft und damit jede
Wiederholung der Identität der aktuellen Gegenwart in der Reflexion wie der
Ähnlichkeit der früheren in der Reproduktion unterwirft.
Die passiven Synthesen sind offensichtlich sub-repräsentativ. Uns stellt sich
aber vor allem die Frage, ob wir in die passive Synthese des Gedächtnisses
eindringen können. In gewisser Weise das Sein an sich der Vergangenheit
leben, wie wir die passive Synthese der Gewohnheit leben. Die ganze Vergan-
genheit bewahrt sich an sich, wie aber können wir sie für uns retten, wie in
dieses Ansich eindringen, ohne sie auf die frühere Gegenwart, die sie gewesen
ist, oder auf die aktuelle Gegenwart, bezüglich der sie vergangen ist, zu
reduzieren. Wie läßt sie sich für uns retten? - dies ungefähr ist der Punkt, an
dem Proust Bergson fortführt und ablöst. Nun scheint die Antwort schon seit
langem gegeben worden zu sein: in der Wiedererinnerung. Diese bezeichnet
nämlich eine passive Synthese oder ein unwillkürliches Gedächtnis, das sich
wesentlich von jeder aktiven Synthese des willkürlichen Gedächtnisses unter-
scheidet. Combray taucht nicht in der Art wieder auf, wie es gegenwärtig war
oder sein könnte, sondern in einem Glanz, der nie erlebt wurde, als eine reine
Vergangenheit, die schließlich ihre doppelte Unreduzierbarkeit offenbart: auf
die Gegenwart, die sie gewesen ist, aber auch auf die aktuelle Gegenwart, die
sie sein könnte - dank einer Verkeilung beider. Die früheren Gegenwarten
lassen sich in der aktiven Synthese jenseits des Vergessens repräsentieren,
soweit das Vergessen empirisch besiegt ist. Hier aber taucht Combray im
Vergessen und als Unvordenkliches in Form einer Vergangenheit auf, die
niemals gegenwärtig war: das Ansich Combrays. Wenn es ein Ansich der
Vergangenheit gibt, so ist die Wiedererinnerung sein Noumenon oder das
118 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Denken, das es besetzt. Die Wiedererinnerung führt uns nicht einfach von
einer aktuellen Gegenwart auf frühere Gegenwarten zurück, unsere gegenwär-
tigen Lieben auf Kinderlieben, unsere Geliebten auf unsere Mütter. Auch hier
übergeht das Verhältnis der vorübergehenden Gegenwarten die reine Vergan-
genheit, die unter deren Schutz nun unterhalb der Repräsentation auftauchen
kann: die Jungfrau, die niemals erlebt wurde, jenseits der Geliebten und
jenseits der Mutter, in Koexistenz mit der einen und gleichzeitig zur anderen.
Die Gegenwart existiert, nur die Vergangenheit aber insistiert und liefert das
Element, in dem die Gegenwart vorübergeht und die Gegenwarten sich inein-
ander verkeilen. Der Widerhall der beiden Gegenwarten bildet nur eine persi-
stierende Frage, die sich in der Repräsentation als ein Problemfeld mit dem
unerbittlichen Imperativ zur Suche, zur Antwort, zur Lösung entfaltet. Die
Antwort aber kommt stets anderswo her: Jede Wiedererinnerung ist erotisch,
ob es sich um eine Ortschaft oder eine Frau handelt. Immer ist es Eros, das
Noumenon, der uns in jene reine Vergangenheit an sich, in jene jungfräuliche
Wiederholung, Mnemosyne, eindringen läßt. Er ist der Begleiter, der Bräuti-
gam Mnemosynes. Woher hat er diese Macht, warum ist die Erforschung der
reinen Vergangenheit erotisch? Warum besitzt Eros das Geheimnis der Fragen
und ihrer Antworten zugleich, das Geheimnis einer Insistenz in all unserer
Existenz? Es sei denn, wir verfügten noch nicht über das letzte Wort und es
gäbe eine dritte Synthese der Zeit . . .

Nichts ist lehrreicher in zeitlicher Hinsicht, d.h. unter dem Gesichtspunkt


einer Theorie der Zeit, als die Differenz zwischen dem kantischen und dem
kartesianischen Cogito. Alles geschieht so, als ob das Cogito Descartes’ mit
zwei logischen Werten arbeitete: der Bestimmung und der unbestimmten
Existenz. Die Bestimmung (ich denke) impliziert eine unbestimmte Existenz
(ich bin, da ich ja ,,sein muß, um denken zu können“) - und bestimmt sie eben
als Existenz eines denkenden Wesens: Ich denke, also bin ich, ich bin ein
Ding, das denkt. Die gesamte Kantische Kritik läuft auf den Einwand gegen
Descartes hinaus, daß die Bestimmung unmöglich direkt auf das Unbestimmte
bezogen werden könne. Die Bestimmung ,,ich denke“ impliziert selbstver-
ständlich etwas Unbestimmtes (,,ich bin“), noch aber sagt uns nichts, wie
dieses Unbestimmte durch das ich denke bestimmbar ist. ,,[I]m Bewußtsein
meiner selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber
freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist“*‘. Kant fügt also einen
dritten logischen Wert hinzu: das Bestimmbare, oder eher die Form, in der das
Unbestimmte (durch die Bestimmung) bestimmbar ist. Dieser dritte Wert

Io Kant: Kritik der reinen Vernunft, Allgemeine Anmerkung, den Übergang von der
rationalen Psychologie zur Kosmologie betreffend, in: Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 358.
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 119

reicht hin, um aus der Logik eine transzendentale Instanz zu machen. Er stellt
die Entdeckung der Differenz dar, nicht mehr als empirischer Differenz zwi-
schen zwei Bestimmungen, sondern als transzendentaler Differenz zwischen
DER Bestimmung und dem, was sie bestimmt - nicht mehr als äußerer
Differenz, die trennt, sondern als innerer Differenz, die das Sein und das
Denken a priori aufeinander bezieht. Kants Antwort ist berühmt: Die Form,
in der die unbestimmte Existenz durch das Ich denke bestimmbar ist, ist die
Form der Zeit . . .‘i Die Konsequenzen daraus sind unabsehbar: Meine unbe-
stimmte Existenz kann nur in der Zeit bestimmt werden, als Existenz eines
Phänomens, eines passiven oder rezeptiven phänomenalen Subjekts, das in der
Zeit erscheint. So daß die Spontaneität, deren ich im Ich denke bewußt bin,
nicht als Attribut eines substanziellen und spontanen Wesens, sondern nur als
Affektion eines passiven Ichs begriffen werden kann, das fühlt, daß sein
eigenes Denken, seine eigene Intelligenz, dasjenige, wodurch es ICH [JE] sagt,
in ihm und auf es - und nicht durch es - wirkt. Damit beginnt eine lange
unerschöpfliche Geschichte: ICH [JE] ist ein anderer, oder das Paradox des
inneren Sinns. Die Tätigkeit des Denkens gilt einem rezeptiven Sein, einem
passiven Subjekt, das sich folglich diese Tätigkeit eher vorstellt, als daß sie sie
in die Tat umsetzt, das eher deren Effekt fühlt als den Antrieb dazu besitzt,
und das sie als ein Anderes in sich erlebt. Dem ,,Ich denke“ und dem ,,Ich bin“
muß das Ich [moi] hinzugefügt werden, d.h. die passive Position (was Kant
Rezeptivität der Anschauung nennt); der Bestimmung und dem Unbestimm-
ten muß die Form des Bestimmbaren, d. h. die Zeit, hinzugefügt werden. Und
hinzufügen“ ist noch ein unpassendes Wort, weil es ja eher darum geht, den
Unterschied zu machen und die Differenz ins Innere des Seins und des Den-
kens einzuführen. Von einem Ende zum anderen ist das ICH [JE/ gleichsam
von einem Riß durchzogen: von einem Riß, der ihm durch die reine und leere
Form der Zeit zugefügt wurde. In dieser Form ist es das Korrelat des passiven
Ich [moi], das in der Zeit erscheint. Ein Sprung oder ein Riß im Ego [Je], eine
Passivität im Ich [moi]l* - dies ist die Bedeutung der Zeit; und die Korrelation
zwischen passivem Ich und gespaltenem Ego stellt die Entdeckung des Trans-
zendentalen oder das Element der kopernikanischen Revolution dar.
Descartes konnte seinen Schluß nur dadurch ziehen, daß er das Cogito auf den
Augenblick reduzierte und die Zeit ausschied, sie an Gott im Wirken der
unausgesetzten Schöpfung übertrug. Allgemeiner noch hat die angenommene
Identität des Ego keine andere Garantie als die Einheit Gottes selbst. Daher
hat die Ersetzung des Standpunkts ,,Gottes“ durch den des ,,Ego” eine we-
sentlich geringere Bedeutung als angenommen, solange das eine eine Identität
bewahrt, die es gerade dem anderen verdankt. Gott lebt weiter, solange das

11 Ebd., Analytik, Anmerkung zu § 25.


12 Diese terminologische Unterscheidung zwischen einem aktiven Ego [Je] und einem
passiven Ich [moi] wird im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, beibehalten
[A.d.ü.].
120 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Ego über den Bestand durch sich selbst, die Einfachheit, die Identität verfügt,
die seine ganze Ähnlichkeit mit dem Göttlichen ausdrücken. Umgekehrt läßt
der Tod Gottes die Identität des Ego nicht fortbestehen, sondern errichtet und
interiorisiert in ihm eine wesentliche Unähnlichkeit, eine ,,Fehlzeichnung”
anstatt der Kennzeichnung oder des Siegels Gottes. In der Kritik der reinen
Vernunft hat Kant dies zumindest an einer Stelle ganz scharf erkannt: das
gleichzeitige Verschwinden der rationalen Theologie und der rationalen
Psychologie, die Art, wie der spekulative Tod Gottes eine Spaltung des Ego
nach sich zieht. Wenn der größte Antrieb der Transzendentalphilosophie
darin besteht, die Form der Zeit in das Denken als solches einzuführen, so
meint diese Form ihrerseits, als reine und leere Form, unauflöslich den toten
Gott, das gespaltene Ego und das passive Ich. Freilich folgt Kant diesem
Antrieb nicht weiter: Gott und Ego erfahren eine praktische Wiederauferste-
hung. Und selbst auf spekulativem Gebiet wird der Riß unversehens durch
eine neue Form von Identität, durch die aktive synthetische Identität gekittet,
während das passive Ich nur durch die Rezeptivität definiert wird und als
solches keinerlei synthetische Kraft besitzt. Demgegenüber haben wir gesehen,
daß die Rezeptivität als Fähigkeit zur Empfindung von Affektionen nur eine
Folge war und daß das passive Ich in einer tieferen Schicht durch eine
Synthese gebildet wurde, die selbst passiv ist (Betrachtung/Kontraktion).
Daher rührt die Möglichkeit, Eindrücke oder Empfindungen zu erhalten. Es
ist unmöglich, die Kantische Aufteilung beizubehalten, die in einer höchsten
Anstrengung zur Rettung der Welt der Repräsentation besteht: Die Synthese
wird hier als aktiv begriffen und appelliert an eine neue Identitätsform im Ego;
die Passivität wird dabei als bloße Rezeptivität ohne Synthese aufgefaßt. Eine
ganz andere Einschätzung des passiven Ichs ist es, in der das Kantische
Unternehmen wieder aufgenommen werden kann und die Form der Zeit den
toten Gott wie das gespaltene Ego aufrechterhält. Es kann in diesem Sinne zu
Recht gesagt werden, daß der Ausgang aus dem Kantianismus nicht bei Fichte
oder Hegel, sondern nur bei Hölderlin liegt, der die Leere der reinen Zeit und
in dieser Leere die beständige Umkehr des Göttlichen, den fortgesetzten Riß
im Ego und die konstitutive Leidenschaft des Ichs entdeckt13. In dieser Form
der Zeit sah Hölderlin das Wesen des Tragischen oder das Abenteuer des

l3 Zur reinen Form der Zeit und zum Riß oder zur ,,Zäsur“, die sie ins Ego einführt,
vgl. Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus, Anmerkungen zur Antigonä, und den
Kommentar von Jean Beaufret, der den Einfluß Kants auf Hölderlin nachdrücklich
hervorhebt: Hölderlin et Sophocle, in: Remarques sur (Edipe et sur Antigone de
Hölderlin, Paris 1965, vor allem S. 16-26.
(Zum Thema eines ,,Risses“ im Ego, und zwar im Wesenszusammenhang mit der
Form der Zeit, die als Todestrieb verstanden wird, wird man sich dreier großer,
jedoch sehr verschiedener literarischer Werke erinnern: La bete humaine [dt.: Die
Bestie im Menschen] von Zola, The Crack-up [Der Zusammenbruch] von F. S.
Fitzgerald, Under the Volcano [Unter dem Vulkan] von M.Lowry.
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 121

Ödipus, und zwar als einen Todestrieb mit komplementären Gestalten. Kann
die kantische Philosophie damit die Erbschaft des Ödipus antreten?
Ist jedoch die Einführung der Zeit ins Denken als solches der herausragende
Beitrag Kants ? Bereits die platonische Wiedererinnerung schien nämlich die-
sen Sinn zu haben. Das Angeborensein ist ein Mythos, ebenso wie die Wieder-
erinnerung; ein Mythos des Augenblicklichen allerdings, weswegen er Descar-
tes zupaß kommt. Wenn Platon ausdrücklich die Wiedererinnerung dem
Angeborensein gegenüberstellt, so meint er damit, daß dieses nur das abstrakte
Bild des Wissens repräsentiert, die reale Bewegung des Erlernens aber die
Unterscheidung eines ,,Vorher“ und eines ,,Nachher“ in der Seele impliziert,
d. h. die Einführung einer ersten Zeit, in der das einst Gewußte vergessen
wird, da wir doch erst zu einer zweiten Zeit das Vergessene wiederfinden4.
Die ganze Frage aber lautet: In welcher Form führt die Wiedererinnerung die
Zeit ein? Selbst hinsichtlich der Seele handelt es sich um eine physische Zeit,
um eine Zeit der Physis, periodisch oder zirkulär, die den Ereignissen unter-
geordnet ist, die in ihr vorübergehen, oder den Bewegungen, die sie mißt, den
Wechselfällen, die sie skandieren. Zweifellos findet diese Zeit ihren Grund in
einem Ansich, d. h. in der reinen Vergangenheit der Idee, die die Reihenfolge
der Gegenwarten gemäß ihrer abnehmenden und wachsenden Ähnlichkeit mit
dem Ideal zu einem Kreis anordnet, die aber ebenso die Seele, welche das
Land des Ansich für sich bewahren oder wiederfinden konnte, aus dem Kreis
vertreibt. Dennoch bleibt bestehen, daß die Idee gleichsam der Grund ist, von
dem aus sich die sukzessiven Gegenwarten im Kreis der Zeit anordnen, so daß
sich die reine Vergangenheit, durch die sie selbst definiert wird, notwendig
noch in Begriffen der Gegenwart ausdrückt, als einstige mythische Gegenwart.
Dies war bereits die ganze Zweideutigkeit der zweiten Synthese der Zeit, die
ganze Ambiguität der Mnemosyne. Denn diese überwindet und beherrscht
von ihrer reinen Vergangenheit herab die Welt der Repräsentation: Sie ist
Grund, Ansich, Noumenon, Idee. Sie ist aber noch relativ zur Repräsentation,
die sie begründet. Sie stockt die Prinzipien der Repräsentation auf, nämlich die
Identität, aus der sie das Merkmal des Unvordenklichen Urbilds macht, und
die Ähnlichkeit, aus der sie das Merkmal des gegenwärtigen Bilds macht: das
Selbe und das Ähnliche. Sie ist nicht auf die Gegenwart reduzierbar und steht
über der Repräsentation; und dennoch macht sie die Repräsentation der
Gegenwarten bloß zirkulär oder unendlich (selbst bei Leibniz oder Hegel
wird die Entfaltung der Repräsentation im Unendlichen noch durch Mne-
mosyne begründet). Die Unzulänglichkeit des Grunds liegt darin, daß er
relativ zu dem ist, was er begründet, daß er die Merkmale dem entnimmt, was
er begründet, und sich über sie beweist. Gerade in diesem Sinne schließt er
sich zum Zirkel: Er bringt eher die Bewegung in die Seele, als die Zeit ins

14 Zur expliziten Gegenüberstellung von Wiedererinnerung und Angeborensein vgl.


Phaidon, 76 a-d.
122 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Denken. Ebenso wie der Grund in gewisser Weise ,,gekrümmt“ ist und uns in
ein Jenseits hinabstürzen muß, überschreitet sich die zweite Synthese der Zeit
auf eine dritte hin, die die Illusion des Ansich als noch korrelativ zur Reprä-
sentation denunziert. Das Ansich der Vergangenheit und die Wiederholung in
der Wiedererinnerung wären damit eine Art ,,Effekt“, gleichsam ein optischer
Effekt oder eher noch der erotische Effekt des Gedächtnisses selbst.
Was bedeutet: leere Form der Zeit oder dritte Synthese? Der Prinz aus dem
Norden sagt: ,,Die Zeit ist aus den Angeln gehoben“? Sagt der Philosoph des
Nordens möglicherweise dasselbe und ist Hamletianer, weil ödipal? Der
Angelpunkt, cardo, ist dasjenige, was die Unterordnung der Zeit unter eben
die Kardinalpunkte gewährleistet, über die die periodischen Bewegungen ver-
laufen, die er mißt (Zeit und Zahl der Bewegung, hinsichtlich der Seele wie der
Welt). Die aus den Angeln gehobene Zeit meint dagegen die verrückte Zeit,
die aus der Krümmung geraten ist, die ihr ein Gott verliehen hat, ihrer allzu
einfachen Kreisgestalt entbunden, befreit vom Zwang der Ereignisse, die ihren
Inhalt ausmachten, eine Zeit, die ihr Verhältnis zur Bewegung verkehrt, kurz,
sich als leere und reine Form entdeckt. Die Zeit selbst läuft ab (das heißt: ist
augenscheinlich nicht länger ein Kreis), anstatt daß etwas in ihr abläuft (gemäß
der allzu simplen Gestalt des Kreises). Sie ist nicht länger kardinal und wird ’
ordinal, eine reine Ordnung der Zeit. Hölderlin sagte, sie ,,reime“ sich nicht
länger, weil sie sich ungleichmäßig zu beiden Seiten einer ,,Zäsur“ verteile, der
zufolge Anfang und Ende nicht mehr zusammenfallen. Wir können die Ord-
nung der Zeit als diese rein formale Verteilung des Ungleichen in Abhängig-
keit von einer Zäsur definieren. Man unterscheidet dann eine mehr oder
weniger lange Vergangenheit, eine Zukunft mit umgekehrter Proportion,
Zukunft und Vergangenheit aber sind hier keine empirischen und dynami-
schen Bestimmungen der Zeit: Sie sind formale und fixe Merkmale, die der
Ordnung a priori entstammen, als eine statische Synthese der Zeit. Zwangsläu-
fig statisch, da die Zeit nicht mehr der Bewegung untergeordnet ist; Form
radikalster Veränderung, aber die Form der Veränderung verändert sich nicht.
Die Zäsur und das von ihr ein für allemal festgelegte Vorher und Nachher sind
es, die den Riß im Ego ausmachen (die Zäsur ist genau der Ursprungsort des
Risses).
Nachdem sie ihrem empirischen Inhalt abgeschworen, ihren eigenen Grund
verkehrt hat, definiert sich die Zeit nicht nur durch eine leere formale Ord-
nung, sondern auch noch durch eine Gesamtheit und eine Reibe. Die Idee
einer Gesamtheit entspricht zuallererst folgendem: daß die beliebige Zäsur im
Bild einer Tat, eines einzigartigen und gewaltigen Ereignisses bestimmt wer-
den muß, das der Zeit insgesamt angemessen ist. Dieses Bild selbst existiert in
einer zerissenen Form, in zwei ungleichen Stücken; und dennoch versammelt

15 In der Schlegel-Tieckschen Übersetzung des Hamlet heißt es genau: ,,Die Zeit ist
aus den Fugen“ [A.d.Ü.].
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 123

es auf diese Weise die Gesamtheit der Zeit. Es muß Symbol genannt werden,
auf Grund der ungleichen Teile, die es subsumiert und - allerdings als unglei-
che - versammelt. Ein derartiges Symbol, das der Gesamtheit der Zeit ent-
spricht, drückt sich auf viele Arten aus: die Zeit aus den Angeln heben, die
Sonne zerspringen lassen, sich in den Vulkan stürzen, Gott oder den Vater
töten. Dieses symbolische Bild konstituiert die Gesamtheit der Zeit, sofern es
die Zäsur, das Vorher und das Nachher versammelt. Aber es ermöglicht eine
Reihe der Zeit, sofern es deren Verteilung im Ungleichen vollzieht. Stets gibt
es nämlich eine Zeit, zu der die Tat in ihrem Bild als ,,zu groß für mich“
dargestellt ist. Dies ist es, wodurch die Vergangenheit oder das Vorher a priori
definiert wird: Es ist kaum von Bedeutung, ob das Ereignis selbst vollendet
oder unvollendet, die Tat vollbracht oder nicht vollbracht ist; Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft verteilen sich nicht nach diesem empirischen Krite-
rium. Ödipus hat die Tat bereits vollbracht, Hamlet noch nicht; in jedem Fall
aber erleben sie den ersten Teil des Symbols in der Vergangenheit, leben sie
selbst in der Vergangenheit und werden in sie zurückgeworfen, solange sie das
Bild der Tat als zu groß für sich empfinden. Die zweite Zeit, die auf die Zäsur
selber verweist, ist folglich die Gegenwart der Metamorphose, das Gleichwer-
den mit der Tat, die Zweiteilung des Ichs, die Projektion eines Idealichs ins
Bild der Tat (es wird durch die Seereise Hamlets oder durch das Ergebnis der
Nachforschung des Ödipus gekennzeichnet: Der Held wird zur Tat ,,fähig“).
Was die dritte Zeit angeht, die die Zukunft offenbart - so bedeutet sie, daß das
Ereignis, die Tat eine geheime Kohärenz besitzen, die die des Ichs ausschließt,
sich gegen das ihnen angeglichene Ich wendet, es in tausend Stücke auseinan-
derschleudert, als ob der Zeuger einer neuen Welt durch den Ausbruch dessen,
was er zum Mannigfaltigen erweckt, fortgerissen und zerstreut würde: Das
Ich hat sich dem Ungleichen an sich angeglichen. Auf diese Weise entsprechen
einander das gemäß der Ordnung der Zeit gespaltene Ego und das gemäß der
Reihe der Zeit geteilte Ich und finden einen gemeinsamen Ausweg: im Mann
ohne Namen, ohne Familie, ohne Eigenschaften, ohne Ich oder Ego, im
,,nichtswürdigen“ Bewahrer eines Geheimnisses, schon Übermensch, dessen
verstreute Glieder das erhabene Bild umkreisen.
Alles ist Wiederholung in der Reihe der Zeit, im Verhältnis zu jenem symboli-
schen Bild. Die Vergangenheit selbst ist defiziente Wiederholung und bereitet
jene andere Wiederholung vor, die durch die Metamorphose in der Gegenwart
gebildet wird. Der Historiker mag wohl empirische Korrespondenzen zwi-
schen Gegenwart und Vergangenheit suchen; wie ergiebig es auch immer sein
mag, bildet d ieses Netz aus historischen Korrespondenzen Wiederholung
doch nur durch Gleichartigkeit und Analogie. In Wirklichkeit ist die Vergan-
genheit - wie die Gegenwart - an sich selbst Wiederholung, auf zwei verschie-
dene Weisen, die sich ineinander wiederholen. Es gibt in der Geschichte keine
Wiederholungstatsachen, die Wiederholung ist vielmehr die historische Bedin-
gung, unter der etwas Neues wirklich entsteht. Die Ähnlichkeit zwischen
Luther und Paulus, zwischen der Revolution von 1789 und der Römischen
124 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Republik usw. offenbart sich nicht in der Reflexion des Historikers, vielmehr
sind die Revolutionäre zunächst für sich selbst dazu bestimmt, sich als
,,wiedererstandene Römer” zu erleben, bevor sie zur Tat fähig werden, die sie
durch Wiederholung im Modus einer eigenen Vergangenheit begonnen haben,
also unter Bedingungen, unter denen sie sich notwendig mit einer Gestalt der
historischen Vergangenheit identifizierten. Die Wiederholung ist eine Bedin-
gung der Tat, bevor sie zu einem Reflexionsbegriff wird. Wir bringen Neues
nur unter der Bedingung hervor, daß wir das eine Mal im Modus, durch den
die Vergangenheit gebildet wird, wiederholen, ein anderes Mal in der Gegen-
wart der Metamorphose. Und das Hervorgebrachte, das absolut Neue selber
ist seinerseits nichts anderes als Wiederholung, die dritte Wiederholung, dies-
mal überschießend, die Wiederholung der Zukunft als ewige Wiederkunft.
Denn obwohl wir die ewige Wiederkunft so darlegen konnten, als ob sie die
ganze Reihe oder die Gesamtheit der Zeit affizieren würde, die Vergangenheit
und die Gegenwart nicht weniger als die Zukunft, so bleibt diese Darlegung
bloß vorbereitend und hat nur problematischen und unbestimmten Wert, hat
nur die Funktion, das Problem der ewigen Wiederkunft zu stellen. In ihrer
esoterischen Wahrheit betrifft die ewige Wiederkunft nur die dritte Zeit der
Reihe und kann nur sie betreffen. Nur in ihr findet sie ihre Bestimmung.
Darum wird sie buchstäblich Zukunftsglaube, Glaube an die Zukunft
genannt. Die ewige Wiederkehr affiziert nur das Neue, d.h. was unter der
Bedingung des Mangels und vermittels der Metamorphose hervorgebracht
wird. Aber sie läßt weder die Bedingung noch das Handelnde wiederkehren;
im Gegenteil, sie stößt sie aus, verleugnet sie mit all ihrer zentrifugalen Kraft.
Sie bildet die Autonomie des Hervorgebrachten, die Unabhängigkeit des
Werks. Sie ist überschießende Wiederholung, die vom Mangel oder vom
Gleichwerden nichts fortbestehen läßt. Sie ist selbst das Neue, die ganze
Neuheit. Sie ist sich selbst die dritte Zeit der Reihe, die Zukunft als solche. Sie
ist, wie Klossowski sagt, jene geheime Kohärenz, die nur unter Ausschluß
meiner eigenen Kohärenz auftaucht, unter Ausschluß meiner eigenen Identi-
tät, der Identität des Ichs, der Welt, Gottes. Sie läßt nur den Nichtswürdigen,
den Namenlosen wiederkehren. Sie bringt in ihrem Kreis den toten Gott und
das aufgelöste Ich mit sich. Sie läßt nicht die Sonne wiederkehren, da sie deren
Zerbersten bedingt; sie betrifft nur die Sternennebel, sie verschmilzt mit
ihnen, hat Bewegung nur für sie. Daher machen wir es uns zu leicht, wie
Zarathustra einmal zum Dämon sagt, wenn wir die ewige Wiederkunft so
darstellen, als ob sie die Gesamtheit der Zeit affizierte; wir machen ein Leier-
Lied aus ihr, wie er ein andermal zu seinen Tieren sagt. Das heißt: Wir bleiben
beim allzu simplen Kreis stehen, der die vorübergehende Gegenwart beinhal-
tet und nach der Vergangenheit der Wiedererinnerung gestaltet ist. Gerade die
Ordnung der Zeit aber, die Zeit als bloße und leere Form, hat diesen Kreis
aufgelöst. Nun hat sie ihn zwar aufgelöst, allerdings zugunsten eines weniger
einfachen und wesentlich geheimeren, wesentlich unwuchtigeren und nebel-
hafteren Kreises, eines für immer exzentrischen Kreises, des dezentrierten
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 125

Kreises der Differenz, der sich einzig und allein in der dritten Zeit der Reihe
von neuem bildet. Die Ordnung der Zeit hat den Kreis des Selben nur darum
aufgebrochen, sie hat die Zeit nur darum auf die Reihe umgelegt, um am Ende
der Reihe einen Kreis des Anderen erneut zu bilden. Das ,,ein für allemal“ der
Ordnung besteht nur für das ,,jedesmal“ des esoterischen letzten Kreises. Die
Form der Zeit besteht nur für die Offenbarung des Formlosen in der ewigen
Wiederkunft. Die äußerste Formhaftigkeit besteht nur für ein exzessives
Formloses (das ,,Unförmliche“ [i.O.dt.] Hölderlins). Damit wurde der Grund
auf einen Ungrund hin überschritten, auf ein universales Zu-Grunde-gehen,
das in sich selbst kreist und nur das Zu-Kommende [Lvenir] wiederkehren
1äßt.

ANMERKUNG ZU DEN DREI WIEDERHOLUNGEN. Die Theorie der histori-


schen Wiederholung bei Marx, wie sie insbesondere in Der achtzehnte Br-urnah-e des
Louis Napoleon erscheint, dreht sich um folgendes Prinzip, das von den Historikern
nicht hinreichend begriffen worden zu sein scheint: daß die Wiederholung in der
Geschichte keine Analogie und kein Reflexionsbegriff des Historikers ist, sondern
zunächst eine Bedingung historischen Handelns selbst. Harold Rosenberg hat auf
einigen sehr schönen Seiten diesen Punkt erhellt: Die Akteure, die Handelnden der
Geschichte vermögen nur durch ihre Identifikation mit Figuren der Vergangenheit
Neues zu schaffen; gerade in diesem Sinne ist die Geschichte ein Theater. ,,Ihre Tat
wurde von selbst die-Wiederholung einer einstigen Rolle . . . Darin besteht die revolu-
tionäre Krise, die zu leistende Anstrengung, um etwas ,,völlig Neues“ zu schaffen, das
die Geschichte zwingt, sich im Mythos zu verhüllen . . .” (The Tradition of the New,
darin Kap. 12 mit dem Titel ,,The Resurrected Romans“, Chicago u. London (1960)
1982, S. 155456).
Marx zufolge ist die Wiederholung komisch, wenn sie fehlschlägt, d.h. wenn sie eine
Art von Involution, das Gegenteil zu einer authentischen Schöpfung bildet, anstatt zur
Metamorphose und zur Produktion des Neuen zu führen. Die komische Travestie
ersetzt die tragische Metamorphose. Es scheint allerdings, daß diese komische oder
groteske Wiederholung für Marx notwendig nach der tragischen, evolutiven oder
schöpferischen Wiederholung geschieht (,,alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen
und Personen [ereignen] sich sozusagen zweimal [. . .]: das eine Mal als Tragödie, das
andere Mal als Farce“). - Diese zeitliche Ordnung erscheint jedoch nicht unbedingt
begründet. Die komische Wiederholung vollzieht sich aus Mangel, im Modus der
eigentlichen Vergangenheit. Der Held wird notwendig mit dieser Wiederholung kon-
frontiert, insofern ,,die Tat zu groß für ihn ist“: Der Mord an Polonius - defizient - ist
komisch; ebenso die Nachforschung des Ödipus. Die tragische Wiederholung kommt
danach, sie ist der Moment der Metamorphose. Freilich sind diese beiden Momente
nicht unabhängig voneinander und existieren nur für den dritten, jenseits von Komik
und Tragik: für die dramatische Wiederholung in der Produktion von etwas Neuem,
die den Helden selbst ausschließt. Wenn aber die ersten beiden Elemente eine abstrakte
Unabhängigkeit gewinnen oder Gattungen werden, so folgt die komische Gattung auf
die tragische, als ob das bis ins Absolute gesteigerte Scheitern der Metamorphose eine
einstige, bereits vollzogene Metamorphose voraussetzte.
Man wird bemerken, daß die dreitaktige Struktur der Wiederholung Hamlet ebenso
wie Ödipus betrifft. Für Ödipus hatte Hölderlin dies mit unvergleichlicher Schärfe
126 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

gezeigt: das Vorher, die Zäsur, das Nachher. Er signalisierte, daß die relativen Dimen-
sionen von Vorher und Nachher gemäß der Position der Zäsur variieren können (etwa
der schnelle Tod Antigones gegenüber dem langen Irrweg des Ödipus). Das Wesent-
liche aber liegt im Fortbestand der triadischen Struktur. In dieser Hinsicht interpretiert
Rosenberg Hamlet auf eine Weise, die ganz und gar dem Schema Hölderlins entspricht,
wobei die Zäsur durch die Seereise gebildet wird (vgl. Kap. 11, S. 121-154). Hamlet
ähnelt Ödipus nicht nur in stofflicher Hinsicht, sondern auch in der dramatischen
Form. Das Drama besitzt nur eine Form, die die drei Wiederholungen vereinigt. Ganz
klar ist Nietzsches Zarathustra ein Drama, d.h. ein Theater. Das Vorher nimmt den
größten Teil des Buches ein, im Modus des Mangels oder der Vergangenheit: Diese Tat
ist zu groß für mich (vgl. die Idee des ,,bleichen Verbrechers“ oder die ganze komische
Geschichte vom Tod Gottes oder all die Angst Zarathustras vor der Offenbarung der
ewigen Wiederkunft - ,,deine Früchte sind reif, aber du bist nicht reif für deine
Früchte“). Dann kommt der Augenblick der Zäsur oder der Verwandlung, ,,das Zei-
chencc, an dem Zarathustra fähig wird. Fehlt noch der dritte Augenblick, der Augen-
blick der Offenbarung und der Bejahung der ewigen Wiederkunft, der den Tod Zara-
thustras einschließt. Bekanntlich hatte Nietzsche nicht die Zeit, diesen geplanten Teil
niederzuschreiben. Darum konnten wir immer wieder in Betracht ziehen, daß Nietz-
sches Lehre von der ewigen Wiederkunft nicht ausformuliert und einem künftigen
Werk vorbehalten war: Nietzsche hat nur die vergangene Bedingung und die gegen-
wärtige Verwandlung,vorgestellt, nicht aber das Unbedingte, das sich als ,,Zukunft“
daraus ergeben mußte.
Das Thema der drei Zeiten läßt sich schon in der Mehrzahl zyklischer Konzeptionen
finden, wiederfinden: so in den drei Testamenten des Joachim von Floris; oder in Vicos
drei Zeitaltern, in den Zeitaltern der Götter, der Helden und der Menschen. Das erste
ist notwendig defizient und gleichsam in sich abgeschlossen; das zweite ist offen und
bezeugt die heroische Verwandlung; das Wesentlichste oder Geheimnisvollste aber
geschieht im dritten, das die Rolle des ,,Bezeichneten“ gegenüber den beiden anderen
übernimmt (so schrieb Joachim von Floris: ,,Es gibt zwei bezeichnende Dinge für ein
bezeichnetes Ding”; in: Concordia Novi ac Veteris Testamenti, Venedig 1519 (Nach-
druck Frankfurt/M. 1983, S. 7b; französische Übersetzung: L’EvangiZe éternel, Paris
1928, S. 42). Pierre Ballanche, der Joachim und Vico zusammen viel verdankt, bemüht
sich, dieses dritte Zeitalter als die Epoche des Nichtswürdigen, des Odysseus oder
,,Jedermann“, des ,,Namenlosen“, des Königsmörders oder des modernen Ödipus zu
bestimmen, ,,der die weit verstreuten Glieder des großen Opfers sucht” (vgl. die
sonderbaren Essais de palingénésie sociale, Paris 1827).
Aus diesem Blickwinkel müssen wir mehrere mögliche Wiederholungen unterscheiden,
die nicht exakt vereinbar sind: 1. Eine innerzyklische Wiederholung, die in der Art und
Weise besteht, wie die beiden ersten Zeitalter einander wiederholen, oder besser: wie
sie dasselbe ,,Ding”, künftige Tat oder künftiges Ereignis, wiederholen. Dies ist vor
allem die These des Joachim von Floris, der eine Tafel von Entsprechungen zwischen
dem Alten und dem Neuen Testament aufstellt; aber diese These vermag noch nicht die
bloßen Analogien der Reflexion zu überwinden. 2. Eine zyklische Wiederholung, bei
der man annimmt, daß am Ende des dritten Zeitalters und am äußersten Punkt eines
Zerfalls alles beim ersten Zeitalter wieder von neuem beginnt (Vico). 3. Das ganze
Problem aber besteht darin: gibt es nicht eine Wiederholung, die dem dritten Zeitalter
eignete und allein den Namen der ewigen Wiederkunft verdiente? Was nämlich die
ersten beiden Zeitalter wiederholten, erschien für sich nur im dritten; im dritten
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 127

Zeitalter aber wiederholt sich jenes ,,Ding“ an sich selbst. Die beiden ,,Bezeichnungen”
wiederholen bereits, das Bezeichnete selbst aber ist reine Wiederholung. Gerade diese
höhere Wiederholung, begriffen als ewige Wiederkunft im dritten Zustand, reicht hin,
um zugleich die innerzyklische Hypothese zu korrigieren und der zyklischen Hypo-
these zu widersprechen. Denn einerseits evoziert die Wiederholung in den beiden
ersten Momenten nicht mehr die Analogie der Reflexion, sondern die Bedingungen der
Tat, unter denen die ewige Wiederkehr tatsächlich hervorgebracht wird; andererseits
kehren die beiden ersten Momente nicht wieder, da sie im Gegenteil durch die Repro-
duktion der ewigen Wiederkehr im dritten eliminiert werden. Unter diesen beiden
Gesichtspunkten hat Nietzsche zutiefst Recht, wenn er ,,seinen“ Entwurf jeder zykli-
schen Konzeption entgegenstellt (vgl. Schriften und Entwürfe am den Jahren 1881-
1885, in: Werke, Bd. 12, Leipzig 1901, $ 106).

In dieser dritten Synthese der Zeit sind nun also Gegenwart und Vergangen-
heit ihrerseits bloß Dimensionen der Zukunft: die Vergangenheit als Bedin-
gung, die Gegenwart als Handelndes. Die erste Synthese, die Synthese der
Gewohnheit, bildete die Zeit als eine lebendige Gegenwart, und zwar in einer
passiven Gründung, von der Vergangenheit und Zukunft abhingen. Die zweite
Synthese, die Synthese des Gedächtnisses, bildete die Zeit als eine reine Ver-
gangenheit, und zwar unter dem Gesichtspunkt eines Grunds, der die Gegen-
wart vergehen und eine andere heraufkommen läßt. In der dritten Synthese
aber ist die Gegenwart nurmehr ein Akteur, ein Autor, ein zur Selbstauslö-
schung bestimmtes Handelndes; und die Vergangenheit ist nurmehr eine
Bedingung, die aus Mangel wirkt. Die Synthese der Zeit bildet hier eine
Zukunft, die zugleich den unbedingten Charakter des Hervorgebrachten im
Verhältnis zu seiner Bedingung und die Unabhängigkeit des Werks im Ver-
hältnis zu seinem Autor oder Akteur affirmiert. Durch die drei Synthesen
hindurch offenbaren sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als Wieder-
holung, aber in drei sehr verschiedenen Modi. Die Gegenwart ist das Wieder-
holende, die Vergangenheit die Wiederholung selbst, die Zukunft aber ist das
wiederholte. Nun liegt das Geheimnis der Wiederholung insgesamt im
Wiederholten als zweifach Bezeichneten. Die königliche Wiederholung ist die
Wiederholung der Zukunft, die sich die beiden anderen unterwift und sie ihrer
Autonomie beraubt. Denn die erste Synthese betrifft nur den Inhalt und die
Gründung der Zeit; die zweite ihren Grund; jenseits davon aber garantiert die
dritte Synthese die Ordnung, die Gesamtheit, die Reihe und den Endzweck
der Zeit. Eine Philosophie der Wiederholung durchläuft alle ,,Stadien“ und
bleibt dazu verurteilt, die Wiederholung selbst zu wiederholen. Aber über
diese Stadien hinweg stellt sie ihr Programm sicher: die Wiederholung zur
Kategorie der Zukunft machen; sich der Wiederholung der Gewohnheit und
des Gedächtnisses bedienen, sich ihrer aber als Stadien bedienen und sie auf
ihrem Weg hinter sich lassen; mit einer Hand gegen Habitus, mit der anderen
gegen Mnemosyne kämpfen; den Inhalt einer Wiederholung zurückweisen,
die sich schlecht und recht die Differenz (Habitus) ,,entlocken“ läßt; die Form
einer Wiederholung zurückweisen, die die Differenz enthält, allerdings um sie
128 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

noch dem Selben und dem Ähnlichen (Mnemosyne) unterzuordnen; die


allzu einfachen Zyklen verwerfen, den Zyklus, dem eine gewohnheitsmäßige
Gegenwart unterliegt (Zyklus der Gewohnheit), ebenso wie den Zyklus, der
eine reine Vergangenheit erstellt (Zyklus des Gedächtnisses oder des Unvor-
denklichen); den Grund des Gedächtnisses zu einer einfachen defizienten
Bedingung umändern, ebenso aber die Gründung der Gewohnheit zu einem
Scheitern des ,,Habitus“, zur Metamorphose des Handelnden; das Han-
delnde und die Bedingung im Namen des Werks oder des Hervorgebrach-
ten ausstoßen; aus der Wiederholung nicht dasjenige machen, dem man eine
Differenz ,,entlockt“ oder das die Differenz als Variante enthält, sondern
aus ihr das Denken und die Hervorbringung des ,,absolut Verschiedenen”
machen; bewerkstelligen, daß die Wiederholung für sich selbst die Differenz
an sich selbst ist.
Die meisten Punkte dieses Programms motivieren eine protestantische und
eine katholische Forschung: Kierkegaard und Peguy. Niemand wußte besser
als diese beiden Autoren ,,seine“ Wiederholung der Wiederholung der
Gewohnheit und des Gedächtnisses entgegenzusetzen. Niemand konnte bes-
ser als sie die Unzulänglichkeit einer gegenwärtigen oder vergangenen Wieder-
holung bloßstellen, die Einfachheit der Zyklen, die Falle der Wiedererinnerun-
gen, den Status der Differenzen, die man der Wiederholung zu ,,entlocken“
oder, im Gegenteil, als bloße Varianten zu begreifen versucht. Niemand hat
sich mehr als sie auf die Wiederholung als eine Kategorie der Zukunft berufen.
Niemand hat mit größerer Sicherheit den antiken Grund der Mnemosyne und
mit ihm die platonische Wiedererinnerung verworfen. Der Grund ist nurmehr
eine mangelhafte Bedingung, weil im Sündenfall verloren, und muß in Chri-
stus zurückgegeben werden. Und die gegenwärtige Gründung des Habitus
wird nichtsdestoweniger zurückgewiesen: Sie entkommt nicht der Metamor-
phose des Akteurs oder des Handelnden in der modernen Welt, sollte er dabei
auch seine Kohärenz, sein Leben, seine Gewohnheiten verlieren?
Nur waren Kierkegaard und Peguy, so sehr sie die größten Meister der
Wiederholung sind, nicht bereit, den dafür notwendigen Preis zu bezahlen.
Jene höchste Wiederholung als Kategorie der Zukunft übertrugen sie dem
Glauben. Nun besitzt der Glaube sicher ausreichend Kraft, um sowohl die

16 Zur Art und Weise, wie Kierkegaards Wiederholung dem Zyklus der Gewohnheit
und auch dem Kreis der Wiedererinnerungen entgegensteht vgl. die Kommentare
Micea Eliades zum Opfer Abrahams: Le mythe de l’éternel retour (Paris 1949, S.
161 ff.). Der Autor schließt daraus die Neuheit der Geschichts- und Glaubenskate-
gorien.
Kierkegaards äußerst wichtiger Text über die wahrhafte Wiederholung, die sich
keine Differenz ,,abgewinnen“ lassen darf, findet sich in Der Begriff der Angst (in:
Gesammelte Werke, a.a.O., 11. Abteilung, S. 15-16). Kierkegaards Theorie der
Bedingung, des Unbedingten und des absolut Verschiedenen wird in den Philosophi-
schen Brocken verhandelt.
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 129

Gewohnheit wie die Wiedererinnerung, das Ich der Gewohnheiten wie den
Gott der Wiedererinnerungen, die Gründung wie den Grund der Zeit aufzulö-
sen. Aber der Glaube fordert uns dazu auf, Gott und das Ich ein für allemal in
einer gemeinsamen Auferstehung wiederzufinden. Kierkegaard und Péguy
vollendeten Kant, sie verwirklichten den Kantianismus, indem sie dem Glau-
ben die Sorge um die Überwindung des spekulativen Tods Gottes und um den
Ausgleich der Wunde im Ich übertrugen. Von Abraham bis zu Jeanne d’Arc
ist dies ihr Problem: das Verlöbnis eines wiedergefundenen Ichs mit einem
wiedergegebenen Gott, so daß man nicht wirklich die Bedingung und das
Handelnde hinter sich läßt. Und mehr noch: Man restauriert die Gewohnheit
und frischt das Gedächtnis wieder auf. Es gibt aber ein Abenteuer des Glau- ,,
bens, demgemäß man immer der Narr seines eigenen Glaubens, der Komödi-
ant seines Ideals ist. Das rührt daher, daß der Glaube ein Cogito hat, das ihm
eignet und ihn seinerseits bedingt, das Gefühl der Gnade als innere Erleuch-
tung. Dieses ganz besondere Cogito ist es, in dem sich der Glaube reflektiert
und erfährt, daß seine Bedingung ihm nur als ,,wieder-gegebene“ gegeben
werden kann und daß er nicht nur von dieser Bedingung abgetrennt, sondern
in ihr entzweit ist. Der Glaubende sieht sich dann nicht nur als tragischer
Sünder, weil der Bedingung beraubt, sondern als Komödiant oder Narr, als
Trugbild seiner selbst, weil in der Bedingung entzweit und reflektiert. Zwei
Gläubige betrachten einander nicht ohne ZU lachen. Als gegebene wie als
fehlende betreibt die Gnade den Ausschluß. Ki.erkegaard sagte ganz richtig, er
wäre eher Dichter als Ritter des Glaubens, kurz: ein ,,Humorist“. Das ist nicht
sein Fehler, sonder der Fehler des Glaubensbegriffs; und das schreckliche
Abenteuer Gogols ist vielleicht noch exemplarischer. Wie sollte der Glaube
nicht seine eigene Gewohnheit und seine eigene Wiedererinnerung, und wie
die Wiederholung, die er zum Gegenstand nimmt - eine Wiederholung, die
sich paradoxerweise ein für allemal vollzieht -, nicht komisch sein? Unter ihr
rumort eine andere Wiederholung, die Nietzscheanische Wiederholung, die
Wiederholung der ewigen Wiederkunft. Und dies ist ein anderes Verlöbnis,
eine Totenfeier eher, die den toten Gott und das aufgelöste Ich vereint, die
damit die wahre defiziente Bedingung, die wahre Metamorphose des Handeln-
den prägen und alle beide im unbedingten Charakter des Hervorgebrachten
verschwinden. Die ewige Wiederkunft ist kein Glaube, sondern die Wahrheit
des Glaubens: Sie hat den Doppelgänger oder das Trugbild abgesondert, sie
hat das Komische freigesetzt, um aus ihm ein Element des Übermenschen zu
machen. Darum ist sie, wie wiederum Klossowski sagt, keine Lehre, sondern
das Trugbild jeder Lehre (die höchste Ironie), sie ist keine Glaubensvorstel-
lung, sondern die Parodie jeglicher Glaubensvorstellung (der höchste Humor):
eine auf ewig zukünftige Glaubensvorstellung und Lehre. Man hat uns allzu
oft gedrängt, den Atheisten von der Seite des Glaubens, der Gläubigkeit aus,
die ihn angeblich noch beseele, kurz: von der Seite der Gnade aus zu beurtei-
len, als daß wir nicht versucht wären, die umgekehrte Bewegung zu vollzie-
hen: den Gläubigen nach dem gewalttätigen Atheisten zu beurteilen, der in
130 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ihm wohnt, nach dem auf ewig in der Gnade und für ,,allemal“ gegebenen
Antichrist.

Das biopsychische Leben impliziert ein Individuationsfeld, in dem sich Intensi-


tätsdifferenzen in Form von Erregungen hier und dort verteilen. Lust wird der
zugleich quantitative wie qualitative Prozeß der Differenzlösung genannt. Ein
derartiger Zusammenhang, die unbeständige Aufteilung von lokalen Differen-
zen und Lösungen in einem intensiven Feld, entspricht dem, was Freud das Es
genannt hat, zumindest der primären Schicht des Es. Das Wort ,,es” [CG]
bezeichnet in diesem Sinn nicht nur ein unbekanntes furchterregendes Prono-
men, sondern auch ein unbestimmtes Lokaladverb, ein ,,hier und dort“ [@ et l&]
von Erregungen und ihren Lösungen. Und gerade hier beginnt das Problem
Freuds: Es handelt sich um die Frage, wie die Lust nicht länger ein Prozeß
bleibt, um zu einem Prinzip zu werden, wie sie von einem lokalen Prozeß zum
Rang eines empirischen Prinzips aufsteigt, das darauf abzielt, das biopsychische
Leben im Es zu organisieren. Es ist evident, daß die Lust Lust bereitet, aber das
ist keinesfalls ein Grund dafür, daß sie systematischen Rang gewinnt, demgemäß
man sie ,,prinzipiell“ suche. Dies ist mit Jenseits des Lustprinzips zunächst
gemeint: keineswegs Ausnahmen von diesem Prinzip, sondern im Gegenteil die
Bestimmung der Bedingungen, unter denen die Lust tatsächlich zum Prinzip wird.
Die Antwort Freuds lautet, daß die Erregung als freie Differenz in gewisser
Hinsicht ,,besetzt“ , ,,gebunden“, gefesselt werden muß, und zwar derart, daß ihre
Lösung auf systematische Weise möglich ist. Die Bindung oder Besetzung der
Differenz ist es, die keineswegs die Lust selbst, sondern den von der Lust
eingenommenen Rang eines Prinzips allgemein ermöglicht: Somit geht man von
einem Zustand vereinzelter Lösung zu einem Status von Integration über, der die
zweite Schicht des Es oder den Beginn einer Organisation bildet.
Nun ist diese Bindung eine regelrechte Reproduktionssynthese, d. h. ein Habi-
tus. Ein Lebewesen bildet ein Auge aus, indem es die vereinzelten und diffu-
sen Lichtreize veranlaßt, sich auf einer privilegierten Oberfläche seines Kör-
pers zu reproduzieren. Das Auge bindet das Licht, es ist selbst gebundenes
Licht. Dieses Beispiel zeigt hinreichend die Komplexität der Synthese. Denn
es gibt zwar eine Reproduktionstätigkeit, deren Gegenstand die zu bindende
Differenz ist; in einer tieferen Schicht aber gibt es eine Leidenschaft der
Wiederholung, aus der eine neue Differenz entsteht (das gebildete Auge oder
das sehende Ich). Die Erregung als Differenz war schon die Kontraktion einer
elementaren Wiederholung. In dem Maße, wie die Erregung ihrerseits Element
einer Wiederholung wird, wird die kontrahierende Synthese auf eine zweite
Potenz angehoben, die eben durch die Bindung oder Besetzung repräsentiert
ist. Die Besetzungen, Bindungen oder Integrationen sind passive Synthesen,
Betrachtungen/Kontraktionen zweiten Grades. Die Triebe sind nichts anderes
als gebundene Erregungen. Auf der Ebene jeder Bindung bildet sich ein Ich im
ES; allerdings ein passives, partielles, larvenhaftes, betrachtendes und kontra-
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 131

hierendes Ich. Das Es bevölkert sich mit lokalen Ichs, die die dem Es eigene
Zeit konstituieren, die Zeit der lebendigen Gegenwart, und zwar dort, wo die
den Bindungen entsprechenden Integrationen wirksam werden. Daß diese Ichs
unmittelbar narzißtisch sind, erklärt sich unschwer, wenn man bedenkt, daß
der Narzißmus nicht eine Betrachtung seiner selbst ist, sondern die Erfüllung
eines Selbst-Bildes, wenn man etwas anderes betrachtet: Das Auge, das
sehende Ich erfüllt sich mit einem Bild seiner selbst, indem es die von ihm
gebundene Erregung betrachtet. Es erzeugt sich selbst oder ,,entlockt sich”
dem, was es betrachtet (und dem, was es in der Betrachtung kontrahiert und
besetzt). Darum ist die aus der Bindung resultierende Befriedigung zwangsläu-
fig eine ,, halluzinatorische“ Befriedigung des Ichs selbst, obwohl die Halluzi-
nation hier in keiner Weise der Wirklichkeit der Bindung widerspricht. In all
diesen Bedeutungen repräsentiert die Bindung eine reine passive Synthese,
einen Habitus, der der Lust den Rang eines Befriedigungsprinzips überhaupt
verleiht; die Organisation des Es ist die Organisation der Gewohnheit.
Das Problem der Gewohnheit ist also falsch gestellt, solange man diese der
Lust unterordnet. Bald meint man, die Wiederholung in der Gewohnheit
erkläre sich durch den Wunsch, eine erlangte Lust zu reproduzieren; bald
meint man, sie könne Unlust-Spannungen an sich selbst betreffen, allerdings
um sie zu meistern, und mit dem Ziel, Lust zu gewinnen. Es ist klar, daß diese
beiden Hypothesen bereits das Lustprinzip voraussetzen: Die Idee der
gewonnenen Lust, die Idee der zu gewinnenden Lust werden nur unter dem
Prinzip wirksam und bilden daraus zwei Anwendungen, eine vergangene und
eine künftige. Die Gewohnheit als passive Synthese der Bindung aber geht
dagegen dem Lustprinzip voraus und macht es möglich. Und die Idee der Lust
resultiert daraus, wie Vergangenheit und Zukunft - wie wir gesehen haben -
aus der Synthese der lebendigen Gegenwart resultieren. Die Bindung zieht die
Errichtung des Lustprinzips nach sich; sie kann keinen Gegenstand haben, der
dieses Prinzip voraussetzt. Wenn die Lust die Dignität eines Prinzips erlangt,
dann und nur dann wirkt die Idee der Lust als durch das Prinzip subsumierte,
und zwar in einer Erinnerung oder einem Vorhaben. Die Lust übersteigt dann
ihre eigene Augenblicklichkeit, um sich als eine Befriedigung überhaupt zu
verhalten (und die Versuche, die als allzu subjektiv eingeschätzte Instanz der
Lust durch ,,objektive“ Begriffe wie Gelingen oder Erfolg zu ersetzen, bezeu-
gen noch jene durch das Prinzip verliehene Extension, wobei vorausgesetzt
wird, daß die Idee der Lust diesmal nur dem Experimentator durch den Kopf
gegangen ist). Es mag sein, daß wir in empirischer Hinsicht die Wiederholung
so erleben, als sei sie einer gewonnenen oder zu gewinnenden Lust unter-
geordnet In der Reihenfolge der Bedingungen aber gilt das Umgekehrte. Die
Synthese’ der -Bindung laßt sich nicht durch die Absicht oder Anstrengung
erklären, eine Erregung zu meistern, obwohl sie diese Wirkung hat”. Einmal

l7 Daniel Lagache hat die Anwendungsmöglichkeit des psychologischen Begriffs der


Gewohnheit auf das Unbewußte und auf die Wiederholung im Unbewußten unter-
132 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

mehr müssen wir uns davor hüten, die Reproduktionstätigkeit mit der in ihr
verborgenen Wiederholungsleidenschaft zu verwechseln. Der wahre Gegen-
stand der Wiederholung der Erregung liegt in der Anhebung der passiven
Synthese zu einer Potenz, der das Lustprinzip und seine künftigen und ver-
gangenen Anwendungen entspringen. Die Wiederholung in der Gewohnheit
oder die passive Synthese der Bindung ist also ,,jenseits“ des Prinzips. __
Dieses erste Jenseits konstituiert bereits eine Art transzendentaler Ästhetik.
Wenn uns diese Ästhetik profunder als die Kantische erscheint, so aus folgen-
den Gründen: Mit der Definition des passiven Ichs durch bloße Rezeptivität
gab sich Kant bereits die fertigen Empfindungen vor, indem er sie nur auf die
Form a priori ihrer als Raum und Zeit bestimmten Repräsentation bezog.
Damit vereinheitlichte er nicht nur das passive Ich, indem er es sich versagte,
den Raum nach und nach zusammenzusetzen, damit beraubte er nicht nur
dieses passive Ich jeglicher synthetischen Kraft (da die Synthese der Tätigkeit
vorbehalten bleibt); sondern er riß überdies die beiden Teile der Ästhetik
auseinander, das objektive Element der Empfindung, das durch die Form des
Raums verbürgt wird, und das subjektive Element, das in Lust und Schmerz
verkörpert ist. Demgegenüber bezweckten die vorangehenden Analysen den
Nachweis, daß die Rezeptivität definiert werden muß durch die Bildung loka-
ler Ichs, durch passive Synthesen von Betrachtung und Kontraktion, die
zugleich der Möglichkeit zur Erfahrung von Empfindungen, der Macht, sie zu
reproduzieren, und dem von der Lust eingenommenen Rang eines Prinzips
gerecht werden.
Ausgehend von der passiven Synthese aber tritt eine doppelte Entwicklung in
zwei ganz unterschiedliche Richtungen in Erscheinung. Einerseits errichtet
sich eine aktive Synthese auf der Gründung der passiven Synthesen: Sie
besteht darin, daß sie die gebundene Erregung auf ein als real und als End-
punkt unserer Handlungen gesetztes Objekt bezieht (Synthesis der Rekogni-
tion, die sich auf die passive Synthese der Reproduktion stützt). Dies ist die
Realitätsprüfung in einer sogenannten ,,Objekt”-Beziehung, die die aktive
Synthese definiert. Und eben dem Realitätsprinzip zufolge strebt das Ich
danach, sich zu ,,aktivieren“, sich aktiv zu vereinheitlichen, alle seine kleinen
passiven, betrachtenden Teil-Ichs zu versammeln und sich topisch vom Es ZU
unterscheiden. Die passiven Ichs waren bereits Integrationen, allerdings, wie
es bei den Mathematikern heißt, bloß lokale Integrationen; das aktive Ich ist
ein globaler Integrationsversuch. Es wäre ganz und gar ungenau, die Realitäts-
setzung als eine durch die Außenwelt erzeugte Wirkung oder gar als Resultat
von Mißerfolgen anzusehen, die der passiven Synthese zustießen. Im Gegen-
teil, die Realitätsprüfung mobilisiert und belebt, inspiriert jegliche Tätigkeit

sucht (aber es scheint dann, daß die Wiederholung einzig aus der Perspektive einer
Meisterung von Spannungen betrachtet wird): Vgl. Le probléme du transfert, in:
Revue fraqaise de psychanalyse, Januar 1952, S. S4--97.
DI E W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 133

des Ichs: nicht so sehr in Form eines negativen Urteils, sondern in Form einer
Überschreitung der Bindung in Richtung auf ein ,,Substantiv“, das dem Band
als Träger dient. Es wäre ebenfalls ungenau, das Realitätsprinzip so zu verste-
hen, als würde es einen Gegensatz zum Lustprinzip bilden, es begrenzen und
ihm Verzichtleistungen abverlangen. Beide Prinzipien schließen unmittelbar
aneinander an, wenn auch das eine das andere überschreitet. Denn der Ver-
zicht auf unmittelbare Lust ist bereits in der Rolle als Prinzip enthalten, die
die Lust selbst erlangt, d. h. in der Rolle, die die Idee der Lust im Verhältnis
zu einer Vergangenheit und einer Zukunft einnimmt. Kein Prinzip, das ohne
Übernahme von Pflichten entstünde. Die Realität und die Verzichtleistungen,
die sie uns nahelegt, bevölkern nur den Spielraum oder die Extension, die das
Lustprinzip schon erlangt hat, und das Realitätsprinzip bestimmt nur eine
aktive Synthese, sofern diese schon auf vorausgehende passive Synthesen
gründet.
Aber die realen Objekte, das als Realität oder Träger des Bands gesetzte
Objekt, bilden nicht die einzigen Objekte des Ichs und erschöpfen ebensowe-
nig die Gesamtheit der sogenannten Objektbeziehungen. Wir unterschieden
zwei simultane Dimensionen: So überschreitet sich die passive Synthese nicht
in Richtung auf eine aktive Synthese, ohne sich zugleich in eine-andere Rich-
tung zu vertiefen, in der sie passive und betrachtende Synthese bleibt, wenn sie
sich auch der gebundenen Erregung bedient, um etwas Neues zu erlangen,
allerdings auf andere Weise als das Realitätsprinzip. Vielmehr wird deutlich,
daß sich die aktive Synthese niemals auf der passiven Synthese aufbauen
könnte, wenn diese nicht gleichzeitig fortbestünde, sich ihrerseits nicht gleich-
zeitig entwickelte und nicht einen neuen Modus finden würde, asymmetrisch
und zugleich komplementär zur Tätigkeit. Ein Kind, das zu laufen beginnt,
begnügt sich nicht damit, Erregungen in einer passiven Synthese zu binden,
selbst wenn man annimmt, diese Erregungen seien endogen und entspringen
seinen eigenen Bewegungen. Niemals wurde auf endogene Weise gelaufen
Einerseits überschreitet das Kind die gebundenen Erregungen in Richtung auf
die Setzung oder Intentionalität eines Objekts, etwa die Mutter als Ziel eines
Bemühens, als aktiv und ,,in Wirklichkeit” zu erreichender Endpunkt, hin-
sichtlich dessen es seine Mißerfolge und Erfolge ermißt. Aber andererseits und
gleichzeitig schafft sich das Kind ein anderes Objekt, einen ganz anderen
Objekttyp, ein virtuelles Objekt oder Zentrum, das die Fortschritte oder
Mißerfolge seiner realen Tätigkeit regelt und kompensiert: Es steckt mehrere
Finger in seinen Mund, umfaßt dieses Zentrum mit dem anderen Arm und
beurteilt die Gesamtheit der Situation von dieser virtuellen Mutter aus. Die
Tatsache, daß der Blick des Kindes auf die reale Mutter gerichtet ist, daß das
virtuelle Objekt Endpunkt einer sichtbaren Tätigkeit (des Fingerlutschens
etwa) ist, birgt die Gefahr eines Fehlurteils seitens des Beobachters. Das
Fingerlutschen geschieht nur, um ein virtuelles Objekt zu beschaffen, das in
einer Vertiefung der passiven Synthese betrachtet werden kann; umgekehrt
wird die reale Mutter nur betrachtet, um als Ziel der Handlung und als
134 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Kriterium zur Beurteilung der Handlung in einer aktiven Synthese zu dienen.


Man kann nicht ernsthaft-von einem Egozentrismus des Kindes sprechen. Das
Kind, das nachahmend mit einem Buch zu hantieren beginnt, ohne lesen zu
können, täuscht sich niemals: Es hält das Buch immer verkehrt herum. Als ob
es das Buch dem anderen, dem realen Endpunkt seiner Tätigkeit, hinhalten
würde, während es selbst gleichzeitig dessen Rückseite als virtuelles Zentrum
seiner Leidenschaft, seiner vertieften Betrachtung erfaßt. Ganz verschiedene
Phänomene wie Linkshändigkeit, Spiegelschrift,- manche Formen des Stot-
terns, gewisse Stereotypien könnten mit dieser Dualität der Zentren in der
Welt des Kindes erklärt werden. Das Wesentliche aber ist, daß weder das eine
noch das andere dieser Zentren das Ich ist. Mit ein und demselben Unver-
ständnis interpretiert man die Verhaltensweisen des Kindes in Abhängigkeit
zu einem vorgeblichen ,,Egozentrismus“ und interpretierte den kindlichen
Narzißmus als Ausschluß der Betrachtung eines anderen. In Wahrheit kon-
struiert sich das Kind auf einer doppelten Reihe, von der passiven Synthese
der Bindung, von den gebundenen Erregungen ausgehend. Beide Reihen aber
sind Objekthaft: die Reihe der Realobjekte als Korrelate der aktiven Synthese,
die Reihe der virtuellen Objekte als Korrelate einer Vertiefung der passiven
Synthese. In der Betrachtung virtueller Zentren wird das vertiefte passive Ich
nun von einem narzißtischen Bild erfüllt. Eine Reihe könnte nicht ohne die
andere bestehen; und dennoch ähneln sie einander nicht. Darum hat Henri
Maldiney, als er etwa die Entwicklung des Kindes analysiert, recht, wenn er
sagt, die Welt des Kindes sei keinesfalls kreisförmig oder egozentrisch, son-
dern elliptisch, mit einem doppelten Zentrum, das sich wesentlich unterschei-
det, wobei dennoch alle beide objektiv oder Objekthaft sind? Vielleicht bildet
sich zwischen beiden Brennpunkten aufgrund ihrer Unähnlichkeit sogar eine
Überkreuzung, eine Torsion, eine Helix, die Form einer 8. Und das Ich: was
ist es, wo befindet es sich, in seiner topischen Unterscheidung vom Es, wenn
nicht auf der Kreuzung der 8, auf dem Berührungspunkt der einander schnei-
denden asymmetrischen Kreise, des Kreises der Realobjekte und des Kreises
der virtuellen Objekte oder Zentren?
Die Differenzierung zwischen Erhaltungstrieben und Sexualtrieben muß mit
dieser Dualität zweier korrelativer Reihen verknüpft werden. Denn erstere
sind untrennbar von der Konstitution des Realitätsprinzips, von der Grün-
dung der aktiven Synthese und des aktiven Gesamtichs, von den Beziehungen
zu dem als befriedigend oder bedrohend aufgefaßten Realobjekt. Die letzteren
sind nicht weniger untrennbar von der Konstitution virtueller Zentren oder
von der Vertiefung der passiven Synthese und des passiven Ichs, die ihnen
entsprechen: In der prägenitalen Sexualität sind die Handlungen stets Beob-
achtungen, Betrachtungen, aber das Betrachtete, Beobachtete ist immer ein

l8 Vgl. Henri Maldiney: Le Moi, Abriß der Vorlesung, in: Bulletin Faculté de Lyon,
1967.
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 135

Virtuelles. Daß die beiden Reihen nicht ohne die jeweils andere existieren,
bedeutet, daß sie nicht nur komplementär sind, sondern sich auf Grund
ihrer Unähnlichkeit oder ihrer Wesensdifferenz wechselseitig belehnen und
erhalten. Man stellt fest, daß die virtuellen Objekte der Reihe der realen
entnommen und zugleich der Reihe der realen einverleibt sind. Diese Ent-
nahme impliziert zunächst eine Isolierung oder einen Aufschub, der das
Realobjekt gerinnen läßt, um ihm eine Pose, einen Aspekt, einen Teil abzu-
gewinnen. Diese Isolierung aber ist qualitativ; sie besteht nicht bloß darin,
vom Realobjekt einen Teil abzuziehen; der abgezogene Teil gewinnt viel-
mehr eine neue Natur, indem er als virtuelles Objekt fungiert. Das virtuelle
Objekt ist ein Partialobjekt, nicht bloß weil ihm ein im Realen verbliebe-
ner Teil fehlt, sondern an sich und für sich selbst, weil es sich in zwei
virtuelle Teile spaltet und teilt, von denen der eine stets dem anderen fehlt.
Kurz, das virtuelle Objekt unterliegt nicht dem globalen Charakter, der die
Realobjekte affiziert. Nicht nur in seinem Ursprung, sondern in seiner
eigentlichen Natur ist es Fetzen, Fragment, abgeworfene Hülle. Es fehlt
seiner eigenen Identität. Die gute oder böse Mutter, oder der ernste oder
spielerische Vater gemäß der väterlichen Dualität, sind nicht zwei Partial-
Objekte, sondern ein und dasselbe, insofern es seine Identität im Doppel-
gänger verloren hat. Während die aktive Synthese die passive Synthese in
Richtung auf globale Integrationen und die Setzung von identischen totali-
sierbaren Objekten überschreitet, überschreitet die passive Synthese in ihrer
Vertiefung sich selbst in Richtung auf die Betrachtung von Partialobjekten,
die nicht totalisiert werden können. Diese virtuellen oder Partialobjekte fin-
den sich auf unterschiedliche Weise auch im guten und im bösen Objekt
Melanie Kleins wieder, im ,,transitionellen“ Objekt, im Fetisch-Objekt und
vor allem im Objekt a Lacans. Freud hatte unwiderleglich gezeigt, wie die
prägenitale Sexualität aus Partialtrieben besteht, die dem Gebrauch der
Selbsterhaltungstriebe entnommen sind; eine derartige Anleihe setzt die
Konstitution von Objekten voraus, die selbst Partialobjekte sind und als
ebenso
. viele virtuelle Zentren, als stets gespaltene Pole der Sexualität fun-
gieren.
Umgekehrt sind diese virtuellen Objekte den Realobjekten einverleibt. Sie
können in diesem Sinne mit Teilen des Körpers des Subjekts oder einer
anderen Person oder gar mit ganz besonderen Objekten des Typs Spielzeug
oder Fetisch korrespondieren. Die Einverleibung ist keineswegs eine Identifi-
kation und nicht einmal eine Introjektion, da sie die Grenzen des Subjekts
übersteigt. Alles andere als ein Gegensatz zur Isolierung, ist sie deren Komple-
ment. Wie immer auch die Realität beschaffen sein mag, die sich das virtuelle
Objekt einverleibt - es wird durch sie nicht integriert: Es wird in sie eher
eingepflanzt, eingerammt und findet im Realobjekt nicht eine Hälfte, die es
ergänzt, sondern bezeugt in diesem Objekt vielmehr die andere, virtuelle
Hälfte, die ihm auch weiterhin fehlt. Wenn Melanie Klein zeigt, wie viele
virtuelle Objekte der Körper der Mutter enthält, so darf das nicht so verstan-
136 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

den werden, daß er sie totalisiere, einschließe oder besitze, sondern eher so,
daß sie wie Bäume einer anderen Welt, wie die Nase bei Gogol oder die
Steine des Deukalion in ihn eingepflanzt sind. Nichtsdestoweniger bleibt
bestehen, daß die Einverleibung die Bedingung ist, unter der die Erhaltungs-
triebe und die ihnen entsprechende aktive Synthese ihrerseits, mit ihren eige-
nen Mitteln, die Sexualität auf die Reihe der Realobjekte zurechtzustutzen
und von Außen in das vom Realitätsprinzip beherrschte Gebiet zu integrieren
vermogen.
Das virtuelle Objekt ist wesentlich vergangen. In Mathe et memoire unter-
breitete Bergson das Schema einer Welt mit zwei Zentren, einem realen und
einem virtuellen, denen einerseits die Reihe der ,,Wahrnehmungsbilder“, ande-
rerseits die ,,Erinnerungsbilder“ entsprangen, wobei sich beide in einem end-
losen Kreislauf organisierten. Das virtuelle Objekt ist keine frühere Gegen-
wart; denn die Qualität der Gegenwart und die Modalität des Vorübergehens
affizieren nun exklusiv die Reihe des Realen, wie es durch die passive Synthese
gebildet ist. Die reine Vergangenheit aber, wie sie oben definiert wurde: die
gleichzeitig zu ihrer eigenen Gegenwart, präexistent gegenüber der vorüberge-
henden Gegenwart ist und jede Gegenwart vorübergehen läßt - diese reine
Vergangenheit qualifiziert das virtuelle Objekt. Das virtuelle Objekt ist ein
Fetzen reiner Vergangenheit. Von meiner Betrachtung der virtuellen Zentren
herab erlebe und leite ich meine vorübergehende Gegenwart und die Abfolge
von Realobjekten, in die sie einverleibt werden. Den Grund dafür findet man
in der Natur dieser Zentren. Dem gegenwärtigen Realobjekt entnommen,
differiert das virtuelle Objekt wesentlich von ihm; es fehlt ihm nicht nur etwas
im Verhältnis zum Realobjekt, von dem es sich abzieht, es fehlt ihm auch
etwas an sich selbst, da es stets eine Hälfte seiner selbst ist, deren andere
Hälfte es als unterschieden, als abwesend setzt. Nun ist diese Abwesenheit,
wie wir sehen werden, das Gegenteil eines Negativen: Als ewige Hälfte seiner
selbst ist es da, wo es ist, nur unter der Bedingung, daß es nicht ist, wo es sein ’
soll. Es ist da, wo man es findet, nur unter der Bedingung, daß es dort gesucht
wird, wo es nicht ist. Es ist nicht im Besitz derer, die es haben, zugleich aber
wird er von denjenigen gehabt, die es nicht besitzen. Es ist immer ein ,,war “.
In dieser Hinsicht erscheinen uns die Seiten Lacans beispielhaft, auf denen er
das virtuelle Objekt mit dem entwendeten Brief Edgar Allan Poes gleichsetzt.
Lacan zeigt, daß die Realobjekte kraft des Realitätsprinzips dem Gesetz unter-
liegen, irgendwo zu sein oder nicht zu sein, während die Eigenart des virtuel-
len Objekts im Gegenteil darin besteht, daß es dort ist und nicht ist, wo es ist,
wohin auch immer es gelangen mag: ,, [W]as versteckt ist, [ist] immer nur das
[. . .], was an seinem Platz fehlt, wie es der Auftragszettel ausdrückt, wenn ein
Band in der Bibliothek verloren gegangen ist. [. . .] Das kommt daher, daß man
nur von dem, was seinen Ort wechseln kann, das heißt vom Symbolischen,
buchstäblich sagen kann, daß es an seinem Platz fehle. Denn für das Reale, in
welche Unordnung man es auch immer bringt, befindet es sich immer und in
jedem Fall an seinem Platz, es trägt ihn an seiner Sohle mit sich fort, ohne daß
DI E W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 137

es etwas gibt, das es aus ihm verbannen könnte“19. Niemals wurde der Gegen-
satz schärfer herausgestellt, der zwischen der Gegenwart, die vergeht und sich
selbst mit sich fortträgt, und der reinen Vergangenheit besteht, deren univer-
sale Beweglichkeit, deren universale Ubiquität die Gegenwart vorübergehen
läßt und fortwährend von sich selbst abweicht. Das virtuelle Objekt ist nie im
Verhältnis zu einer neuen Gegenwart vergangen; ebensowenig ist es im Ver-
hältnis zu einer Gegenwart vergangen, die es gewesen ist. Vergangen ist es,
insofern es gleichzeitig zur Gegenwart ist, die es ist, in einer geronnenen
Gegenwart; insofern es einesteils dem Teil fehlt, der es andernteils zugleich ist;
insofern es verschoben ist, wenn es an seinem Ort ist. Darum existiert das
virtuelle Objekt nur als Fragment seiner selbst: Es wird nur als verlorenes
gefunden - es existiert nur als wiedergefundenes. Verlust oder Vergessen sind
hier keine Bestimmungen, die überwunden werden müssen, sondern bezeich-
nen im Gegenteil die objektive Natur dessen, was man im Innern des Verges-
sens und als Verlorenes wiederfindet. Gleichzeitig mit sich selbst als Gegen-
wart, als seine eigene Vergangenheit, jeder in der Realreihe vorübergehenden
Gegenwart präexistent, ist das virtuelle Objekt reine Vergangenheit. Es ist
reines Fragment und Fragment seiner selbst; wie im physikalischen Experi-
ment aber ist es die Einverleibung des reinen Fragments, die die Qualität
verwandelt und die Gegenwart in der Reihe der Realobjekte vorübergehen
läßt.
Dies ist das Band zwischen Eros und Mnemosyne. Eros entreißt der reinen
Vergangenheit virtuelle Objekte und läßt sie uns erleben. Unter allen virtuel-
len oder Partialobjekten entdeckt Lacan den ,,Phallus“ als symbolisches
Organ. Er kann dem Begriff des Phallus deshalb diese Extension verleihen
(alle virtuellen Objekte zu subsumieren), weil dieser Begriff tatsächlich die
vorangehenden Merkmale umfaßt: seine eigene Abwesenheit und sich selbst
als vergangen bezeugen, im Verhältnis zu sich selbst wesentlich verschoben
sein, nur im Verlust gefunden werden, mit einer stets fragmentarischen Exi-
stenz, die ihre Identität im Doppelgänger verliert - da er ja nur an der
Mutter gesucht und entdeckt werden kann und die paradoxe Eigenart
besitzt, seinen Platz zu wechseln, und dabei nicht im Besitz derer ist, die
einen ,,Penis“ haben, während er von denjenigen gehabt wird, die ihn nicht
haben, wie es das Thema der Kastration zeigt. Der symbolische Phallus

19 Jacques Lacan: Le séminaire sur la lettre volée (in: Ecvits, Paris 1966, S. 25; dt.:
Schviften 1, Weinheim u. Berlin 1986, S. 24). Zweifellos ist dieser Text Lacans
derjenige, in dem er seine Konzeption der Wiederholung am umfassendsten entwik-
kelt. Manche Schüler Lacans haben mit allem Nachdruck an diesem Thema des
3cht-Identischen“ und an dem daraus resultierenden Verhältnis von Differenz
und Wiederholung festgehalten: vgl. J.-A. Miller: La suture; J.-C. Milner: Le Point
du signifiant; S. Leclaire: Les dements en jeu dans une psychanalyse, in: Cahiers
Pour hnalyse, Nr. 1, 3 u. 5, 1966.
138 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

meint den erotischen Modus der reinen Vergangenheit ebenso wie das Unvor-
denkliehe der Sexualität. Das Symbol ist das stets verschobene Fragment und
gilt für eine Vergangenheit, die nie gegenwärtig war: das Objekt = x. Was aber
meint jener Gedanke, daß die virtuellen Objekte in letzter Instanz auf ein
Element verweisen, das selbst symbolisch ist?
Zweifellos steht das ganze psychoanalytische Spiel, d. h. Liebesspiel der
Wiederholung zur Diskussion. Die Frage lautet, ob man die Wiederholung
so fassen kann, daß sie sich von einer Gegenwart zur anderen - einer aktuel-
len und einer vergangenen - in der Realreihe abwickelt. In diesem Fall
würde die frühere Gegenwart die Rolle eines komplexen Punkts überneh-
men, gleichsam eines letzten oder ursprünglichen Terms, der an seinem Platz
bliebe und Anziehungskraft ausübte: Das zu wiederholende Ding würde von
ihm gestellt, von ihm würde der gesamte Wiederholungsprozeß bedingt, in
diesem Sinne aber wäre er von ihm unabhängig. Die Begriffe der Fixierung
und der Regression, ebenso des Traumas, der Urszene verleihen jenem
ersten Element Ausdruck. Demnach würde sich der Wiederholungsprozeß
von Rechts wegen nach dem Modell einer materiellen, rohen und nackten
Wiederholung als Wiederholung des Selben richten: Die Idee eines ,,Auto-
matismus “ artikuliert hier den Modus des fixierten Triebs, oder besser die
durch Fixierung oder Regression bedingte Wiederholung. Und wenn dieses
materielle Modell in Wirklichkeit durch alle möglichen Verkleidungen, durch
tausendfache Travestien oder Verschiebungen, die die neue Gegenwart von
der früheren unterscheiden, gestört und verdeckt wird, so geschieht dies
bloß auf sekundäre und gleichwohl notwendig begründete Weise: In der
Mehrzahl der Fälle gehörte die Deformierung nicht zur Fixierung oder zur
Wiederholung selbst, sondern käme zusätzlich zu ihnen hinzu, überlagerte,
bekleidete sie, als von Außen herangetragen allerdings, da sie sich durch
die Verdrängung erklärt, die den Konflikt zwischen Wiederholer und
Wiederholtem (in der Wiederholung) wiedergibt. Die drei ganz verschiede-
nen Begriffe der Fixierung, des Wiederholungsautomatismus und der Ver-
drängung bezeugen jene Aufteilung zwischen einem der Annahme nach letz-
ten oder ersten Term im Verhältnis zur Wiederholung, einer mutmaßlich
nackten Wiederholung im Verhältnis zu den Verkleidungen, die sie überdek-
ken, und den Verkleidungen, die unter dem Druck eines Konflikts dazu
hinzutreten. Noch und vor allem die Freudsche Konzeption des Todestriebs
als einer Rückkehr zur unbelebten Materie bleibt untrennbar sowohl mit der
Setzung eines letzten Terms, mit dem Modell einer materiellen und nackten
Wiederholung, als auch mit dem konfliktgeladenen Dualismus zwischen
Leben und Tod verbunden. Es hat nur geringe Bedeutung, daß die frühere
Gegenwart nicht in ihrer objektiven Realität, sondern in der Form wirksam
wird, in der sie erlebt oder eingebildet wurde. Denn die Einbildungskraft
greift hier nur ein, um zwischen den beiden Gegenwarten in der Reihe des
Realen als gelebter Gegenwart die Resonanzen zu sammeln und die Verklei-
dungen sicherzustellen. Die Einbildungskraft sammelt die Spuren der
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 139

früheren Gegenwart, sie bildet die neue Gegenwart nach dem Modell der
früheren. Die traditionelle Theorie des Wiederholungszwangs in der Psy-
choanalyse bleibt wesentlich realistisch, materialistisch und subjektiv .oder
individualistisch. Realistisch, weil alles Geschehen zwischen Gegenwarten
,,passiert“. Materialistisch, weil das Modell einer automatischen rohen
Wiederholung die latente Grundlage bleibt. Individualistich, subjektiv,
solipsistisch oder monadisch: weil die frühere Gegenwart, d.h. das wieder-
holte, verkleidete Element, und die neue Gegenwart, d. h. die aktuellen
Terme der travestierten Wiederholung nur als unbewußte und bewußte,
latente und manifeste, verdrängende und verdrängte Vorstellungen [représen-
tations] des Subjekts angesehen werden. Die gesamte Theorie der Wiederho-
lung ist auf diese Weise den Erfordernissen der einfachen Repräsentation
untergeordnet, und zwar aus der Perspektive ihres Realismus, ihres Materia-
lismus und ihres Subjektivismus. Man unterwirft die Wiederholung einem
Identitätsprinzip in der früheren Gegenwart und einer Ähnlichkeitsregel in
der aktuellen. Wir glauben nicht, daß die Freudsche Entdeckung einer
Phylogenese oder die Jungsche Entdeckung der Archetypen die Unzuläng-
lichkeiten einer derartigen Konzeption korrigieren. Selbst wenn man die
Rechte des Imaginären im Ganzen den Gegebenheiten der Realität gegen-
überstellt, handelt es sich immer noch um eine psychische ,,Realität“, die als
letzte oder ursprüngliche angesehen wird; selbst wenn man Geist und
Materie gegeneinanderstellt, handelt es sich immer noch um einen nackten,
entschleierten Geist, der auf seiner endgültigen Identität aufsitzt und sich
auf seine abgeleiteten Analogien stützt; selbst wenn man dem individuellen
Unbewußten ein kollektives oder kosmisches Unbewußtes gegenüberstellt,
wirkt dieses nur durch die Kraft, mit der es bei einem solipsistischen Sub-
jekt - sei es das Subjekt einer Kultur oder der Welt - Vorstellungen her-
vorruft.
Man hat oft die Schwierigkeiten unterstrichen, die darin bestehen, den Pro-
zeß der Wiederholung zu denken. Wenn man die beiden Gegenwarten, die
beiden Szenen oder die beiden Ereignisse (das infantile und das im Erwach-
senenalter) in ihrer zeitlich getrennten Realität reflektiert, wie könnte dann
die frühere Gegenwart aus der Ferne auf die aktuelle einwirken und sie
modellieren, während sie doch von ihr rückwirkend all ihre Effizienz erhal-
ten soll? Und wenn man sich auf die imaginären Operationen beruft, die
zur Ausfüllung des Zeitraums unabdingbar sind, wie sollten dann diese
Operationen nicht im äußersten Fall die ganze Realität der beiden Gegen-
warten absorbieren und dabei die Wiederholung bloß als Illusion eines
solipsistischen Subjekts fortbestehen lassen.? Wenn es aber zutrifft, daß die
beiden Gegenwarten mit einer variablen Entfernung in der Reihe der Rea-
lobjekt e aufeinanderfolgen, so bilden sie eher zwei im Verhältnis zum vir-
tuellen Objekt einer anderen Natur koexistierende Realreihen, im Verhältnis
zum virtuellen Objekt, das fortwährend in ihnen zirkuliert und sich in
ihnen verschiebt (selbst wenn die Figuren, die Subjekte, die die Positionen,
140 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Terme und Beziehungen jeder Reihe realisieren, ihrerseits zeitlich distinkt


bleiben). Die Wiederholung vollzieht sich nicht von einer Gegenwart zur
anderen, sondern zwischen den beiden koexistierenden Reihen, die diese
Gegenwarten in Abhängigkeit vom virtuellen Objekt (Objekt = x) bilden.
Weil es beständig zirkuliert und stets im Verhältnis zu sich selbst ver-
schoben ist, bestimmt es in den beiden Realreihen, in denen es erscheint -
und sei es zwischen den beiden Gegenwarten -, Transformationen von Ter-
men und Modifikationen imaginärer Beziehungen. Die Verschiebung des
virtuellen Objekts ist also keine Verkleidung neben den anderen, sie ist das
Prinzip, aus dem in Wirklichkeit die Wiederholung als verkleidete Wieder-
holung resultiert. Die Wiederholung konstituiert sich nur mit und in den
Verkleidungen, die die Terme und die Beziehungen der Reihen der Realität
affizieren; dies aber, weil sie vom virtuellen Objekt als einer immanenten
Instanz abhängig ist, deren Eigenart zuerst in der Verschiebung besteht. Wir
können folglich nicht annehmen, daß sich die Verkleidung durch die Ver-
drängung erkläre. Im Gegenteil: Weil die Wiederholung auf Grund der cha-
rakteristischen Verschiebung ihres bestimmenden Prinzips notwendig ver-
kleidet ist, entsteht die Verdrängung, und zwar als eine Konsequenz, die
sich auf die Repräsentation der Gegenwarten bezieht. Freud spürte dies
sehr wohl, als er nach einer tieferliegenden Instanz als der der Verdrängung
suchte, wenn er sie auch im selben Modus, als eine sogenannte ,,Ur”-Ver-
drängung faßte. Man wiederholt nicht, weil man verdrängt, sondern man
verdrängt, weil man wiederholt. Und - was aufs Selbe hinausläuft - man
verkleidet nicht, weil man verdrängt, man verdrängt, weil man verkleidet,
und man verkleidet kraft des bestimmenden Zentrums der Wiederholung.
So wenig die Verkleidung im Verhältnis zur Wiederholung sekundär ist, ist
die Wiederholung sekundär im Verhältnis zu einem fixen, der Annahme
nach letzten oder ursprünglichen Term. Wenn nämlich die beiden Gegen-
warten, die frühere und die aktuelle, zwei koexistierende Reihen in Abhän-
gigkeit vom virtuellen Objekt bilden, das sich in ihnen und im Verhältnis
zu sich selbst verschiebt, so kann keine dieser beiden Reiben mehr als die
ursprüngliche oder die abgeleitete bezeichnet werden. Sie bringen verschie-
dene Terme und Subjekte in einer komplexen Intersubjektivität ins Spiel,
wobei jedes Subjekt seine Rolle und seine Funktion in seiner Reihe der
zeitlosen Stellung verdankt, die es im Verhältnis zum virtuellen Objekt ein-
nimmt2’. Was dieses Objekt selbst betrifft, so kann es nicht länger als ein

20 Die Existenz der Reihen wurde von Lacan in zwei äußerst wichtigen Texten her-
ausgestellt: im oben zitierten Seminar über den ,,Entwendeten Brief“ (erste Reihe:
,,König-Königin-Minister”, zweite Reihe: ,,Polizei-Minister-Dupin“), und in Le
mythe individuel du n&z~osk (Paris 1956), einem Kommentar zum ,,Rattenmann“
(die beiden Reihen von Vater und Sohn, die in verschiedenen Situationen die
Schulden, den Freund, die arme und die reiche Frau ins Spiel bringen). Die Ele-
D I E W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 141

letzter oder ursprünglicher Term behandelt werden: Denn dies hieße, ihm
einen festen Platz und eine Identität zu verschaffen, der seine ganze Natur
widerstrebt. Wenn es mit dem Phallus ,,identifiziert“ werden kann, so nur in
dem Maße, wie dieser mit den Worten Lacans immer an seinem Platz fehlt,
seiner Identität fehlt, seiner Repräsentation fehlt. Kurz, es gibt keinen letz-
ten Term, unsere Lieben verweisen nicht auf die Mutter zurück; in der für
unsere Gegenwart konstitutiven Reihe besetzt unsere Mutter einfach einen
bestimmten Platz im Verhältnis zum virtuellen Objekt, der notwendig von
einer anderen Figur in der Reihe, die die Gegenwart einer anderen Subjekti-
vität konstituiert, ausgefüllt wird, unter steter Berücksichtigung der Ver-
schiebungen dieses Objekts = x. Ein wenig wie der Held der Recherche mit
der Liebe zu seiner Mutter bereits die Liebe Swanns zu Odette wiederholt.
Die Elternfiguren sind nicht die äußersten Terme eines Subjekts, sie sind
vielmehr für verschiedene Subjekte die Mittelbegriffe einer Intersubjektivität,
die Formen von Kommunikation und Verkleidung zwischen den Reihen,
insofern diese Formen durch den Transport des virtuellen Objekts bestimmt
werden. Hinter den Masken stehen also weitere Masken, und die verborgen-
ste ist selbst noch ein Versteck, bis ins Unendliche. Keine andere Illusion als
diejenige, etwas oder jemanden zu demaskieren. Der Phallus, das symboli-
sche Organ der Wiederholung, ist ebenso sehr Maske wie selbst verborgen.
Denn die Maske hat zwei Bedeutungen. ,,Gib mir, ich bitte dich, gib mir . . .
Was denn? Eine andere Maske.“ Die Maske meint zunächst die ,Verkleidung,
die auf imaginäre Weise die Terme und die Beziehungen der beiden de jure
koexistierenden Realreihen affiziert; in einer tieferen Schicht aber meint sie
die Verschiebung, die wesentlich das symbolische virtuelle Objekt, in dessen
Reihe wie in den Realreihen, in denen es fortwährend zirkuliert, affiziert.
(So etwa die Verschiebung, die die Augen des Trägers mit dem Mund der
Maske in Deckung bringt oder das Gesicht des Trägers nur als Körper ohne

mente und Beziehungen in jeder Reihe werden in Abhängigkeit von ihrer Stellung
bezüglich des stets verschobenen virtuellen Objekts bestimmt: des Briefs im
ersten Beispiel, der Schulden im zweiten. ,,[N]icht allein das Subjekt, sondern die
Subjekte, in ihrer Intersubjektivität begriffen, reihen sich dem Zug ein [...] [D]ie
Verschiebung des Signifikanten [bestimmt] die Subjekte in ihren Handlungen, in
ihrem Geschick, in ihren Weigerungen, in ihren Verblendungen, in ihrem Erfolg
und ihrem Schicksal ungeachtet ihrer angeborenen Anlagen und ihrer sozialen
Erwerbungen, ohne Rücksicht auf den Charakter und das Geschlecht [...]“
(b-its, S. 30; Schriften 1, S. 29). Auf diese Weise definiert sich ein intersubjekti-
ves Unbewußtes, das sich weder auf ein individuelles noch auf ein kollektives
Unbewußtes reduzieren läßt, bezüglich dessen man nicht mehr der einen Reihe
einen ursprünglichen, der anderen einen abgeleiteten Charakter zumessen kann
(obwohl Lacan diese Termini aus sprachlicher Bequemlichkeit, so scheint es, bei-
behält).
142 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Kopf erscheinen läßt, auch wenn sich seinerseits wiederum ein Kopf auf dem
Körper abzeichnet.)
Die Wiederholung ist also in ihrem Wesen symbolisch, spirituell, intersub-
jektiv oder monadologisch. Es ergibt sich daraus eine letzte Konsequenz, die
die Natur des Unbewußten betrifft. Die Phänomene des Unbewußten lassen
sich nicht in der allzu simplen Form des Gegensatzes oder des Konflikts
begreifen. Nicht nur die Theorie der Verdrängung, sondern auch der Dualis-
mus in der Triebtheorie begünstigen bei Freud den Primat eines Konflikt-
modells. Doch sind die Konflikte die Resultante weit subtilerer differentiel-
ler Mechanismen (Verschiebungen und Verkleidungen). Und wenn die
Kräfte v o n N a t u r a u s in Oppositionsrelationen zueinander treten, so
geschieht dies von differentiellen Elementen aus, die eine tieferliegende
Instanz ausdrücken. Unter seinem doppelten Aspekt von Beschränkung und
Gegensatz ist uns das Negative überhaupt sekundär im Verhältnis zur
Instanz der Probleme und Fragen erschienen: Das heißt zugleich, daß das
Negative nur im Bewußtsein den Schatten der grundlegend unbewußten Fra-
gen und Probleme ausdrückt, und daß es seine offenbare Macht dem unver-
meidlichen Anteil an ,,Falschem“ in diesen Problemen und Fragen, wie sie
naturgemäß aufgeworfen werden, entlehnt. Freilich wünscht das Unbewußte,
wünscht es ausschließlich. Im selben Zug aber, wie der Wunsch das Prinzip
seiner Differenz zum Bedürfnis im virtuellen Objekt findet, erscheint er
nicht als Macht der Negation oder als das Element eines Gegensatzes, son-
dern viel eher als eine Kraft des Suchens, als fragende und problematisie-
rende Kraft, die sich auf einem anderen Feld als dem von Bedürfnis und
Befriedigung entfaltet. Fragen und Probleme sind keine spekulativen Akte,
die als solche völlig vorläufig blieben und die momentane Unwissenheit
eines empirischen Subjekts kennzeichneten. Sie sind lebendige Akte, die die
speziellen Objektivitäten des Unbewußten besetzen und dazu bestimmt sind,
den vorläufigen und partiellen Status, der hingegen die Antworten und
Lösungen affiziert, zu überleben. Die Probleme ,,korrespondieren“ mit der
wechselseitigen Verkleidung der Terme und Beziehungen, die die Reihen der
Realität konstituieren. Als Problemquellen korrespondieren die Fragen mit
der Verschiebung des virtuellen Objekts, in dessen Abhängigkeit sich die
Reihen entwickeln. Weil er mit dem Raum seiner Verschiebung verschmilzt,
wird der Phallus als virtuelles Objekt in Rätseln und Ratespielen immer an
dem Ort bezeichnet, an dem er fehlt. Selbst die Konflikte des Ödipus gehen
zunächst auf die Frage der Sphinx zurück. G e b u r t u n d T o d , d i e
Geschlechtsdifferenz sind komplexe Problemkreise, bevor sie zu einfachen
Gegensatzbegriffen werden. (Vor dem Geschlechtsgegensatz, der durch
Besitz und Verlust des Penis bestimmt ist, steht die ,,Frage“ nach dem Phal-
lus, der in jeder Reihe die differentielle Position der geschlechtlich spezifi-
zierten Figuren bestimmt.) Möglicherweise liegt in jeder Frage, in jedem
Problem wie in ihrer Transzendenz bezüglich der Antworten, in ihrem
Drängen [insistance] über die Lösungen hinweg, in der Art, wie sie ihr eige-
DIE WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 143

ries Aufklaffen erhalten - möglicherweise liegt darin zwangsläufig etwas Ver-


raucktes”.
Die Frage muß nur, wie bei Dostojewski oder Schestow, insistierend genug
gestellt werden, um jegliche Antwort zum Schweigen zu bringen, anstatt sie
hervorzurufen. An dieser Stelle offenbart sie ihre im eigentlichen Sinn ontolo-
gische Bedeutung, das (Nicht)-Sein der Frage, das sich nicht aufs Nicht-Sein
des Negativen reduzieren läßt. Es gibt weder ursprüngliche noch letzte Ant-
worten-oder Lösungen, nur die Problem-Fragen sind ursprünglich und end-
gültig, und zwar dank einer Maske hinter jeder Maske und einer Verschiebung
hinter jedem festen Ort. Es wäre naiv zu glauben, die Probleme von Leben

21 Serge Leclaire hat eine Theorie der Neurose und Psychose im Verhältnis zum
Begriff der Frage als einer grundlegenden Kategorie des Unbewußten skizziert. In
diesem Sinne unterscheidet er den Fragemodus beim Hysteriker (,,bin ich Mann
oder Frau?“) und beim Zwangsneurotiker (,,bin ich tot oder lebendig?“); ebenso
unterscheidet er die jeweilige Stellung von Neurose und Psychose bezüglich die-
ser Frageinstanz. - Vgl. La mort dans la vie de l’obsed& in: La Psychanalyse,
Nr. 2, 1956; A la recherche des principes d’une psychothérapie des psychoses, in:
Evolution psychiatrique, 2, 1958. Diese Untersuchungen zu Form und Inhalt der
vom Kranken erlebten Fragen besitzen in unseren Augen große Bedeutung und
führen zu einer Revision der Rolle des Negativen und des Konflikts im Unbe-
wußten überhaupt. Auch hier haben sie ihren Ursprung in den Hinweisen
Lacans: zu den Fragetypen in Hysterie und Zwangsneurose vgl. Ecrits, S. 303-
304 (Schriften 1, S. 147-148); und zum Wunsch [désir], zu seinem Unterschied
zum Bedürfnis, zu seinem Verhältnis zum ,,Anspruch“ und zur ,,Frage“ vgl.
f?crits, S. 627-630 u. 690-693 (Schriften 1, S. 218-222 u. Schiften 2, S. 125-
130).
War einer der wichtigsten Punkte von Jungs Theorie nicht bereits folgender: die
Kraft der ,,Befragung” im Unbewußten, die Konzeption des Unbewußten als
Unbewußtes von ,,Problemen“ und ,,Aufgaben“? Jung zog die Konsequenz dar-
aus: die Entdeckung eines Differenzierungsprozesses, der tiefer liegt als die dar-
aus resultierenden Gegensätze (vgl. Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem
Unbewußten Darmstadt 1928). Freilich kritisiert Freud diesen Standpunkt heftig:
so im Wolfsmann (Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, § 5), wo er
daran festhält, daß das Kind-nicht fragt, sondern wünscht, nicht mit Aufgaben,
sondern mit Erregungen konfrontiert ist, die vom Gegensatz bestimmt werden -
und ebenso in Dora (Bruchstück einer Hysterie-Analyse, § 2), wo er zeigt, daß
der Kern des Traums nur ein Wunsch sein kann, der in einen entsprechenden
Konflikt verwickelt ist. Dennoch ist die Diskussion zwischen Jung und Freud
vielleicht nicht richtig gelagert, da es ja darum geht, ob das Unbewußte noch
anderes vermag als wüschen, oder nicht. Muß man in Wahrheit nicht viel eher
danach fragen, ob der Wunsch bloß eine Gegensatzkraft oder eine Kraft ist, die
insgesamt in der Macht der Frage gründet? Selbst der Traum Doras, auf den sich
Freud beruft, läßt sich nur in der Perspektive eines Problems (mit den beiden
Reihen Vater-Mutter, Herr K.-Frau K.) interpretieren, eines Problems, das eine
Frage hysterischer Form entwickelt (mit dem Schmuckkästchen, das die Rolle des
Objekts = x übernimmt).
144 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

und Tod, von Liebe und Geschlechtsdifferenz wären von ihren Lösungen und
gar ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Gestelltseins her zu beurteilen,
obwohl dieses Gestelltsein und diese Lösungen notwendig auftreten, notwen-
dig zu einem gewissen Zeitpunkt im Verlauf ihres Entwicklungsprozesses
vorkommen müssen. Die Probleme betreffen die ewige Verkleidung, die Fra-
gen die ewige Verschiebung. Um den Preis ihrer Leiden erforschen die Neuro-
pathen, die Psychopathen vielleicht jenen letzten ursprünglichen Untergrund,
wobei die einen danach fragen wie sich das Problem verschieben, die anderen,
wo sich die Frage stellen läßt. Gerade ihr Leiden, ihr Pathos ist die einzige
Antwort auf eine Frage, die sich fortwährend in sich selbst verschiebt, auf ein
Problem, das sich fortwährend in sich selbst verkleidet. Nicht was sie sagen
oder denken, sondern ihr Leben ist exemplarisch und überschreitet sie. Sie
lassen jene Transzendenz, jenes höchst ungewöhnliche Spiel von Wahrem und
Falschen erkennen, wie es sich nicht mehr auf der Ebene von Antworten und
Lösungen, sondern in den Problemen selbst, in den Fragen selbst ergibt, d. h.
unter Bedingungen, unter denen das Falsche zum Modus der Erforschung des
Wahren, zum eigentlichen Raum seiner wesenhaften Verkleidungen oder sei-
ner grundlegenden Verschiebung wird: Das Pseudos ist hier zum Pathos des
Wahren geworden. Die Macht der Fragen rührt stets anderswoher als die
Antworten und verfügt über einen freien und unauflösbaren Untergrund. Das
Drängen, die Transzendenz, die ontologische Wahrung der Fragen und Pro-
bleme artikulieren sich nicht in Form der Finalität eines zureichenden Grunds
(Wozu? Warum?), sondern in der diskreten Form der Differenz und der
Wiederholung: Welche Differenz besteht? und ,,wiederhole ein wenig”. Nie-
mals gibt es die Differenz, dies aber nicht, weil sie in der Antwort auf dasselbe
hinausläuft, sondern weil sie sich nirgendwo sonst als in der Frage und in der
Wiederholung der Frage befindet, die deren Transport und Verkleidung
garantiert. Die Probleme und Fragen gehören folglich zum Unbewußten,
ebenso aber ist das Unbewußte von Natur aus differentiell und iterativ, seriell,
problematisch und befragend. Wenn man danach fragt, ob das Unbewußte
letzten Endes gegensätzlich oder differentiell, ob es das Unbewußte großer
konfligierender Kräfte oder kleiner serieller Elemente, das Unbewußte großer
gegensätzlicher Vorstellungen oder kleiner differenzierter Wahrnehmungen
sei, so gibt man sich den Anschein, als wolle man die alte Unschlüssigkeit und
auch die alten Polemiken zwischen der Leibnizschen und der Kantischen
Tradition wieder zum Leben erwecken. Wenn Freud aber völlig auf Seiten
eines hegelschen Postkantianismus stand, d. h. auf Seiten eines gegensätzlich
strukturierten Unbewußten, warum hat er dann dem Leibnizianer Fechner
und dessen differentieller Genauigkeit, der Genauigkeit eines ,,Symptomatolo-
gen“, eine derart große Hochschätzung entgegengebracht? In Wahrheit geht es
nicht um die Frage, ob das Unbewußte ein Nicht-Sein logischer Beschränkung
oder ein Nicht-Sein realen Gegensatzes impliziere. Denn in jeder Hinsicht
sind diese beiden Fälle von Nicht-Sein Gestalten des Negativen. Weder
Beschränkung noch Gegensatz, weder Unbewußtes der Degradation noch
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 145

Unbewußtes des Widerspruchs, betrifft das Unbewußte die Probleme und


Fragen in ihrer Wesensdifferenz gegenüber den Antworten/Lösungen: als
(Nicht)-Sein des Problematischen, das die beiden Formen des negativen
Nicht-Seins gleichermaßen zurückweist, da diese nur die Sätze des Bewußteins
bestimmen. Der berühmte Ausspruch, das Unbewußte kenne kein Nein, muß
wörtlich genommen werden. Die Partialobjekte sind die Elemente kleiner
Wahrnehmungen. Das Unbewußte ist differentiell und besteht aus kleinen
Wahrnehmungen, eben darin aber unterscheidet es sich wesentlich vom
Bewußtsein, es betrifft die Probleme und Fragen, die sich niemals auf die
großen Gegensätze oder auf die Gesamtwirkungen reduzieren lassen, die das
Bewußtsein daraus bezieht (wir werden sehen, daß bereits die Leibnizsche
Theorie diesen Weg weist).
Wir haben also ein zweites Jenseits des Lustprinzips, eine zweite Synthese der
Zeit im Unbewußten selbst kennengelernt. Die erste passive Synthese, die
Synthese des Habitus, präsentierte die Wiederholung als Band, im Modus des
Wiederanfangs einer lebendigen Gegenwart. Sie garantierte die Gründung des
Lustprinzips in zwei komplementären Bedeutungen, da daraus zugleich der
allgemeine Status der Lust als einer Instanz, der das psychische Leben im Es
nunmehr unterworfen war, und die besondere halluzinatorische Befriedigung,
die jedes passive Ich mit einem narzißtischen Bild seiner selbst erfüllte, resul-
tierte. Die zweite Synthese ist’ die von Eros-Mnemosyne, die die Wiederho-
lung als Verschiebung und Verkleidung setzt und als Grund des Lustprinzips
fungiert: Es handelt sich dann nämlich um die Frage, wie dieses Prinzip auf
das von ihm Beherrschte Anwendung findet, unter der Bedingung welchen
Gebrauchs, um den Preis welcher Beschränkungen und welcher Vertiefungen.
Die Antwort ist in zweierlei Richtung gegeben, in Richtung eines Gesetzes
allgemeiner Realität, demgemäß sich die erste passive Synthese auf eine aktive
Synthese und ein aktives Ich hin überschreitet, und in einer anderer Richtung,
der-zufolge sie sich, im Gegenteil, in einer zweiten passiven Synthese vertieft,
die die besondere narzißtische Befriedigung sammelt und sie auf die Betrach-
tung virtueller Objekte bezieht. Das Lustprinzip erhält hier neue Bedingun-
gen, und zwar hinsichtlich einer erzeugten Realität wie einer konstituierten
Sexualität. Der Trieb, der sich bloß als gebundene Erregung definierte,
erscheint nun in einer differenzierten Form: als Erhaltungstrieb der aktiven
Realitätslinie folgend, als Sexualtrieb in jener neuen passiven Tiefe. Wenn die
erste passive Synthese eine ,,Ästhetik“ begründet, so kann man die zweite mit
Recht als das Äquivalent einer ,,Analytik“ definieren. Wenn die erste passive
Synthese die Synthese der Gegenwart ist, ist die zweite die Synthese der
Vergangenheit. Wenn sich die erste der Wiederholung bedient, um ihr eine
Differenz zu entlocken, so umfaßt die zweite passive Synthese die Differenz
im Innern der Wiederholung; denn die beiden Figuren der Differenz, der
Transport und die Travestie, die Verschiebung, die in symbolischer Hinsicht
das virtuelle Objekt affiziert, und die Verkleidungen, die in imaginärer Hin-
sicht die Realobjekte, denen es einverleibt wurde, affizieren, sind zu den
146 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Elementen der Wiederholung selbst geworden. Darum verspürt Freud eine


gewisse Scheu, Differenz und Wiederholung vom Gesichtspunkt des Eros aus
zu verteilen, insofern er den Gegensatz zwischen diesen beiden Faktoren
aufrechterhält und die Wiederholung mit dem materiellen Modell der annul-
lierten Differenz begreift, während er den Eros durch die Einführung oder gar
die Erzeugung neuer Differenzen definiert22. Tatsächlich aber leitet sich die
Wiederholungskraft des Eros unmittelbar von einer Macht der Differenz ab,
nämlich derjenigen, die Eros der Mnemosyne entlehnt und die die virtuellen
Objekte als ebenso viele Fragmente einer reinen Vergangenheit affiziert. Nicht
die Amnesie, sondern eher eine Hypermnesie, wie Janet es in mancher Hin-
sicht geahnt hatte, erklärt die Rolle der erotischen Wiederholung und ihre
Kombination mit der Differenz. Das ,,Nie-Gesehene“ [jdmais-vti/, das ein
stets verschobenes und verkleidetes Objekt kennzeichnet, taucht ins ,,deja--vu”
als dem Kennzeichen der reinen Vergangenheit allgemein ein, der dieses
Objekt entnommen ist. Entsprechend der objektiven Natur des Problemati-
schen weiß man nie, wann oder wo man es gesehen hat; und im äußersten Fall
ist nur das Fremde vertraut, wiederholt sich nur die Differenz.
Freilich leidet die Synthese von Eros und Mnemosyne noch an einer Ambigui-
tät. Denn die Reihe des Realen (oder der Gegenwarten, die im Realen vor-
übergehen) und die Reihe des Virtuellen (oder einer Vergangenheit, die we-
sentlich von jeglicher Gegenwart abweicht) bilden zwei divergente Kreislinien,
zwei Kreise oder sogar zwei Bögen ein und desselben Kreises im Verhältnis
zur ersten passiven Synthese des Habitus. Aber im Verhältnis zum Objekt = x,
das als immanente Grenze der Reihe der Virtualobjekte und als Prinzip der
zweiten passiven Synthese begriffen wird, sind es die sukzessiven Gegenwar-
ten der Realität, die nun die koexistierenden Reihen, Kreise oder sogar Bögen
ein und desselben Kreises bilden. Unweigerlich vermischen sich die beiden
Verweise, unweigerlich fällt die reine Vergangenheit in den Status einer frühe-
ren und womöglich mythischen Gegenwart zurück und errichtet dabei die
Illusion, die sie aufdecken sollte, wieder von neuem, läßt jene Illusion eines
Ursprünglichen und eines Abgeleiteten wiedererstehen, jene Illusion einer
Identität im Ursprung und einer Ähnlichkeit im Abgeleiteten. Und noch
mehr: Eros selbst ist es, der sich als Zyklus oder als Element eines Zyklus
erlebt, dessen anderes, entgegengesetzes Element in der Tiefe des Gedächtnis-
ses nur Thanatos sein kann, wobei sich beide wie Liebe und Haß, Aufbau und
Zerstörung, Anziehung und Abstoßung miteinander verbinden. Stets die glei-
che Ambiguität des Grunds, die darin besteht, daß er sich im Kreis, den er

22 Insofern Eros die Vereinigung zweier Zellkörper impliziert und damit neue vitale
Differenzen einführt, können ,,wir gerade für den Sexualtrieb jenen Charakter des
Wiederholungszwangs nicht nachweisen [. . .], der uns zuerst zur Aufspürung der
Todestriebe führte“ (Freud: Jenseits des Lustprinzips, Gesammelte Werke, a.a.O.,
Bd. 13, S. 60).
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 147

dem von ihm Begründeten aufzwingt, repräsentiert, daß er als Element in den
Umlauf der Repräsentation eintritt, die er als Prinzip bestimmt.
Der wesentlich im Verlust liegende Charakter der virtuellen Objekte und der
wesentlich in der Travestie liegende Charakter der Realobjekte sind die mäch-
tigen Motivationen des Narzißmus. Wenn aber die Libido auf das Ich sich
umwendet oder zurückfließt, wenn das passive Ich ganz und gar narzißtisch
wird, so geschieht dies dadurch, daß es die Differenz zwischen den beiden
Linien interiorisiert und sich selbst beständig auf der einen verschoben und
beständig auf der anderen verkleidet fühlt. Das narzißtische Ich bleibt nicht
nur mit einer konstitutiven Wunde, sondern auch mit Verkleidungen und
Verschiebungen untrennbar verwachsen, die sich von einem Rand zum ande-
ren entspinnen und seine Modifikation begründen. Als Maske für andere
Masken, als Travestie unter anderen Travestien unterscheidet sich das Ich
nicht von seinen eigenen Possenreißern und läuft hinkend auf einem grünen
und einem roten Bein. Dennoch läßt sich die Bedeutung der Reorganisation,
die sich auf dieser Ebene im Gegensatz zum vorhergehenden Stadium der
zweiten Synthese herstellt, nicht hoch genug einschätzen. Denn gleichzeitig
mit dem passiven Ich, das narzißtisch wird, muß und kann die Aktivität nur
als die Affektion, als die Modifikation selbst gedacht werden, die das narzißti-
sche Ich [moi] seinerseits passiv fühlt, wobei es folglich auf die Form eines
Ego [Je] verweist, das auf es als ein ,,Anderer“ wirkt. Das aktive, aber gespal-
tene Ego ist nicht nur die Basis des Über-Ichs, es ist in einem komplexen
Zusammenhang, den Paul Ricoeur treffend ,,gescheitertes Cogito“ genannt
hat23, das Korrelat des narzißtischen, passiven und verwundeten Ichs. Es gibt
allerdings kein anderes Cogito als ein gescheitertes, kein anderes Subjekt als
ein larvenhaftes. Wir haben oben gesehen, daß der Riß im Ego bloß die Zeit
als leere und reine, von ihren Inhalten befreite Form war. Das kommt daher,
daß das narzißtische Ich zwar in der Zeit erscheint, aber keinesfalls einen
zeitlichen Inhalt darstellt; die narzißtische Libido, der Rückfluß der Libido
aufs Ich abstrahierte von jeglichem Inhalt. Das narzißtische Ich ist eher das
Phänomen, das der Form der leeren Zeit entspricht, ohne sie zu füllen, es ist
das räumliche Phänomen dieser Form überhaupt (und dieses Raumphänomen
zeigt sich auf unterschiedliche Weise, in der neurotischen Kastration und in
der psychotischen Zerstückelung). Die Form der Zeit im Ego bestimmte eine
Ordnung, eine Gesamtheit und eine Reihe. Die formale statische Ordnung
von Vorher, Während und Nachher markiert in der Zeit die Teilung des
narzißtischen Ichs oder die Bedingungen seiner Betrachtung. Die Gesamtheit
der Zeit sammelt sich im Bild der gewaltigen Tat, wie sie durch das Über-Ich
zugleich dargestellt, verboten und vorausgesagt ist: Tat = x. Die Reihe der Zeit
bezeichnet die Konfrontation des geteilten narzißtischen Ichs mit der Gesamt-

23 Vgl. Paul R’ICCXUI-: De l’interpretation, Paris 1965, S. 413-414 (dt.: Die Interpreta-
tion. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1969, S. 435).
148 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

heit der Zeit oder dem Bild der Tat. Das narzißtische Ich wiederholt ein erstes
Mal im Modus des Vorher oder des Mangels, im Modus des Es (diese Tat ist
zu groß für mich); ein zweites Mal im Modus eines unendlichen Gleich-
Werdens im Sinne des Idealichs; ein drittes Mal in einem Modus des Nachher,
der die Voraussage des Über-Ichs realisiert (das Es und das Ich, die Bedingung
und das Handelnde selbst werden vernichtet)! Denn das praktische Gesetz
selber meint nichts anderes als diese Form der leeren Zeit.
Wenn das narzißtische Ich den Platz der virtuellen und realen Objekte ein-
nimmt, wenn es für die Verschiebung der einen wie für die Verkleidung der
anderen einsteht, so ersetzt es nicht einen zeitlichen Inhalt durch einen ande-
ren. Im Gegenteil, wir sind in die dritte Synthese eingetreten. Man könnte
sagen, die Zeit habe jedweden mnetischen Inhalt preisgegeben und damit den
Kreis aufgebrochen, in den Eros sie verwickelte. Sie ist abgelaufen, von neuem
erstanden, sie hat die äußerste Gestalt des Labyrinths angenommen, des gerad-
linigen Labyrinths, das, wie Borges sagt, ,,unsichtbar, stetig“ ist. Eben die
leere, aus den Angeln gehobene Zeit mit ihrer strengen formalen und stati-
schen Ordnung, mit ihrer erdrückenden Gesamtheit, ihrer irreversiblen Reihe,
ist der Todestrieb. Der Todestrieb tritt nicht in einen Zyklus zusammen mit
Eros ein, er verhält sich diesem gegenüber keinesfalls komplementär oder
antagonistisch und in keiner Weise symmetrisch, sondern läßt eine ganz
andere Synthese erkennen. Die Korrelation von Eros und Mnemosyne wird
durch die zwischen einem narzißtischen und gedächtnislosen, schwer an
Amnesie leidenden Ich und einem Todestrieb, bar von Liebe und Sexualität,
ersetzt. Das narzißtische Ich hat nurmehr einen toten Körper, es hat den
Körper zugleich mit den Objekten verloren. Über den Todestrieb reflektiert
es sich im Idealich und erahnt sein Ende im Über-Ich - wie in zwei Stücken
des gespaltenen Ego. Dieser Bezug zwischen narzißtischem Ich und Todes-
trieb wird von Freud sehr eindringlich gekennzeichnet, wenn er sagt, daß die
Libido nicht aufs Ich zurückfließe, ohne sich zu desexualisieren, ohne eine
neutrale verschiebbare Energie zu bilden, die sich ihrem Wesen nach in den
Dienst des Thanatos zu stellen vermag24. Warum aber setzt Freud damit den
Todestrieb als präexistent gegenüber jener desexualisierten Energie, als prinzi-
piell von ihr unabhängig? Aus zwei Gründen zweifellos, von denen der eine
auf den Fortbestand des dualistischen und konfliktbestimmten Modells ver-
weist, das die gesamte Triebtheorie inspiriert, der andere auf das materielle
Modell, das die Theorie der Wiederholung beherrscht. Darum insistiert Freud
einerseits auf der Wesensdifferenz zwischen Eros und Thanatos, derzufolge
Thanatos für sich selbst im Gegensatz zu Eros qualifiziert werden muß;
andererseits auf einer Differenz in Rhythmus oder Amplitude, als ob Thanatos
zum Zustand der unbelebten Materie zurückkehrte und sich dadurch mit jener
Macht roher und nackter Wiederholung identifizierte, die von den vitalen und

24 Freud: D a s Ich und das Es, in: Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 13, S. 269-271.
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 149

auf Eros zurückgehenden Differenzen - der Annahme nach - nur überdeckt


und gestört würde. In jedem Fall aber besitzt der Tod, der als qualitative und
quantitative Rückkehr des Lebendigen zu jener unbelebten Materie bestimmt
ist, nur eine äußerliche, wissenschaftliche und objektive Definition; sonderba-
rerweise weist Freud jede andere Dimension des Todes zurück, jeden Prototy-
pus oder jede Darstellung des Todes im Unbewußten, obwohl er die Existenz
derartiger Prototypen für Geburt und Kastration einräumt2? Nun offenbart
die Reduktion des Todes auf die objektive Bestimmung der Materie jenes
Vorurteil, demzufolge die Wiederholung ihr letztes Prinzip in einem undiffe-
renzierten materiellen Modell finden muß, jenseits der Verschiebungen und
Verkleidungen einer sekundären oder entgegengesetzten Differenz. In Wahr-
heit aber ist die Struktur des Unbewußten nicht konfliktbestimmt, gegensätz-
lich oder widersprüchlich, sie ist fragend und problematisierend. Ebensowenig
ist die Wiederholung eine rohe und nackte Macht jenseits der Verkleidungen,
die sie nun sekundär als entsprechend viele Varianten affizieren würden; sie
entspinnt sich vielmehr in der Verkleidung, in der Verschiebung als den
konstitutiven Elementen, denen gegenüber sie nicht präexistent ist. Der Tod
erscheint nicht im objektiven Modell einer unterschiedslosen und unbelebten
Materie, zu der das Lebendige ,,zurückkehrte“; er ist im Lebendigen als
subjektive und differenzierte, prototypisch gegebene Erfahrung gegenwärtig.
Er entspricht nicht einem materiellen Zustand, er entspricht vielmehr einer
reinen Form, die jeglicher Materie abgeschworen hat - der leeren Form der
Zeit. (Und die Unterordnung der Wiederholung unter die äußerliche Identität
einer toten Materie oder unter die innerliche Identität einer unsterblichen
Seele ist gänzlich einerlei, nämlich eine Art und Weise, die Zeit zu füllen.)
Denn der Tod läßt sich nicht auf die Negation oder auf das Negative des
(Gegensatzes oder auf das Negative der Beschränkung reduzieren. Weder die
Beschränkung des sterblichen Lebens durch die Materie noch der Gegensatz
eines unsterblichen Lebens zur Materie ergeben einen Prototyp des Todes.
Der Tod ist eher die letzte Form des Problematischen, die Quelle von Proble-
men und Fragen, das Zeichen ihrer Beharrlichkeit jenseits jeder Antwort, das
Wo? und Wann?, das jenes (Nicht)-Sein bezeichnet, von dem sich jede Affir-
mation nährt.
Blanchot sagte ganz richtig der Tod habe zwei Aspekte: einen persönlichen,
der das Ego [Je], das Ich [moi] betrifft und dem ich mich im Kampf stellen
oder dem ich an einer Grenze begegnen, den ich jedenfalls in einer Gegenwart
antreffen kann, die alles vorübergehen läßt. Aber auch einen anderen, seltsam
unpersönlichen, ohne Bezug zu ,,mir“ [moi], weder gegenwärtig noch vergan-
gen, vielmehr stets ausstehend, Quelle eines unaufhörlichen und vielfältigen
Abenteuers in einer beharrlichen Frage: ,, Die Tatsache, daß ich sterben werde,

2
5 Freud: Hemmung Symptom Angst in-. Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 14, S.
159ff. Um so seltsamer erscheint es,’ daß Freud an Rank den Vorwurf richtet, er
mache sich eine allzu objektive Vorstellung von der Geburt.
150 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

schließt eine radikale Verkehrung ein, durch die der Tod, der die extreme
Form meiner Macht war, nicht nur dahin kommt, mich kraftlos zu machen,
indem er mich aus meiner Macht, den Anfang und selbst das Ende noch
herbeizuführen, hinausdrängt, sondern er verliert auch jede Beziehung zu mir,
jegliche Macht über mich, er wird zum Unmöglichen schlechthin, zur Irreali-
tät des Unbestimmten. Eine Umkehrung, die ich mir nicht vorstellen kann, die
ich nicht einmal als endgültig ansehen kann, die nicht der unwiderrufliche
Übergang dorthin ist, jenseits dessen es keine Rückkehr gibt, denn sie ist, was
sich nicht vollendet, das Unbeendbare und Unablässige . . . Zeit ohne Gegen-
wart, zu der ich keine Verbindung besitze, dasjenige, wohin ich mich nicht
aufschwingen kann, denn in [ihr] sterbe nicht ich, habe ich meine Macht zu
sterben eingebüßt, in [ihr] stirbt man, stirbt man unaufhörlich und ohne Ende
[. . .]. Nicht das Ende, sondern das Unbeendbare, nicht der eigene Tod, son-
dern irgendein Tod, nicht der wahrhafte Tod, sondern, wie Kafka sagt, das
Grinsen seines Grundfehlers . . . “26. Wenn man diese beiden Aspekte gegen-
einanderstellt, so bemerkt man wohl, daß noch der Selbstmord sie nicht
miteinander vereinbart und in Deckung bringt. Nun meint der erste Aspekt
jenes persönliche Verschwinden der Person, den Widerruf jener Differenz, die
vom Ego, vom Ich repräsentiert wird. Einer Differenz, die nur dem Absterben
verschrieben war und deren Verschwinden objektiv in einer Rückkehr zur
unbelebten Materie, wie in einer Art Entropie errechnet, repräsentiert werden
kann. Allem Anschein entgegen kommt dieser Tod stets- - gerade in dem
Augenblick, in dem er die persönlichste Möglichkeit darstellt - von Außen
und - noch im Augenblick, in dem er die höchste Gegenwart erreicht - aus der
Vergangenheit her. Der andere aber, das andere Gesicht, der andere Aspekt
des Todes bezeichnet den Zustand freier Differenzen, wenn sie nicht mehr der
Form unterliegen, die ihnen ein Ego, ein Ich aufprägte, wenn sie sich in einer
Gestalt entwickeln, die meine eigene Kohärenz ebenso wie die einer Identität
überhaupt ausschließt. Immer gibt es ein ,, man stirbt“ hinter dem ,,ich sterbe‘4,
und es sind nicht bloß die Götter, die unaufhörlich und auf vielfältige Weisen
sterben; als ob Welten erstünden, in denen das Individuelle nicht mehr in der
personalen Form des Ego und des Ich eingesperrt ist, in denen selbst das
Singuläre nicht mehr in den Grenzen des Individuums gefangen ist - kurz: das
unbeherrschte Viele, das sich im ersten Aspekt nicht ,,wiedererkennt“. Freuds
gesamte Konzeption jedoch verweist auf den ersten Aspekt; gerade darum
aber verfehlt sie den Todestrieb und die entsprechende Erfahrung oder den
entsprechenden Prototyp.
Wir sehen folglich keinen Grund dafür, einen Todestrieb anzunehmen, der
sich von Eros unterscheiden würde, sei es durch eine Wesensdifferenz zwi-
schen zwei Kräften, sei es durch eine Differenz im Rhythmus oder in der
Amplitude zwischen zwei Bewegungen. In den beiden Fallen wäre die Diffe-

26 Maurice Blanchot: L’espace littéraire, Paris 1955, S. 107 u. 160-161.


DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 151

renz bereits gegeben und Thanatos unabhängig. Demgegenüber scheint uns,


daß Thanatos gänzlich mit der Desexualisierung des Eros verschmilzt, mit der
Bildung jener neutralen und verschiebbaren Energie, von der Freud spricht.
Diese tritt nicht in den Dienst von Thanatos, sondern konstituiert ihn: Es
besteht zwischen Eros und Thanatos keine analytische, d. h. bereits in ein und
derselben ,,Synthese“ gegebene Differenz, in einer Synthese, die alle beide
vereinigte oder alternieren ließe. Nicht daß die Differenz weniger groß wäre;
im Gegenteil, als synthetische ist sie noch größer, eben weil Thanatos eine
ganz andere Synthese der Zeit meint als Eros, eine um so exklusivere Synthese,
a1s sie diesem entnommen und auf dessen Trümmern errichtet ist. Es geschieht
gleichzeitig, daß Eros aufs Ich zurückfließt, das Ich selbst für die Verkleidun-
gen und Verschiebungen, die die Objekte kennzeichnen, einsteht, um sie zu
seiner eigenen tödlichen Affektion zu machen; daß die Libido jeglichen mneti-
schen Inhalt verliert, die Zeit ihre zirkuläre Gestalt verliert, um eine unerbitt-
liche geradlinige Form anzunehmen; und daß schließlich der Todestrieb zuta-
getritt, identisch mit jener reinen Form, desexualisierte Energie aus dieser
narzißtischen Libido. Die Komplementarität von narzißtischer Libido und
Todestrieb definiert die dritte Synthese, sofern Eros und Mnemosyne die
zweite definierten. Und wenn Freud sagt, daß mit dieser als Korrelat der
nunmehr narzißtischen Libido desexualisierten Energie vielleicht der Denk-
prozeß überhaupt verknüpft werden muß, so müssen wir uns darüber im
klaren sein, daß es sich im Gegensatz zum alten Dilemma nicht mehr darum
handelt, ob das Denken angeboren oder erworben sei. Weder angeboren noch
erworben, ist es genital, das heißt: desexualisiert und jenem Rückstrom ent-
nommen, der uns auf die leere Zeit hin öffnet. ,,Ich bin von Geburt an
genital”, sagte Artaud und meinte damit ebenso: ein ,,desexualisierter
Erwerb“, um diese Genese des Denkens in einem stets gespaltenen Ego zu
kennzeichnen. Es besteht kein Anlaß, daß man das Denken erwirbt oder als
angeboren praktiziert, vielmehr, daß man den Denkakt im Denken selbst
erzeugt, vielleicht unter Einwirkung einer Gewalt, die die Libido auf das
narzißtische Ich zurückfließen läßt, und daß man parallel dazu Thanatos aus
dem Eros gewinnt, die Zeit von jeglichem Inhalt abstrahiert, um deren reine
Form freizusetzen. Es gibt eine Erfahrung des Todes, die dieser dritten
Svnthese entspricht.
Nach Freud kennt das Unbewußte drei entscheidende Dinge nicht: das Nein,
den Tod und die Zeit Und dennoch geht es im Unbewußten nur um die Zeit,
den Tod und das Nein. Heißt das bloß, sie werden agiert, ohne vorgestellt zu
werden? Mehr noch; das Unbewußte kennt das Nein nicht, weil es vom
(Nicht)-Sein der Probleme und Fragen lebt, nicht aber vom Nicht-Sein des
Negativen, das nur das Bewußtsein und seine Vorstellungen [représentations]
affiziert. Es kennt den Tod nicht, weil sich jede Vorstellung des Todes auf den
inadäquaten Aspekt bezieht, während das Unbewußte die Rückseite erfaßt,
das andere Gesicht aufdeckt. Es kennt die Zeit nicht, weil es niemals den
empirischen Inhalten einer Gegenwart unterliegt, die in der Vorstellung vor-
152 DIFFERENZUNDWIEDERHOLUNG

übergeht, sondern die passiven Synthesen einer ursprünglichen Zeit vollzieht.


Man muß wieder auf diese drei Synthesen als die konstitutiven Synthesen des
Unbewußten zurtickkommen. Sie entsprechen den Gestalten der Wiederho-
lung, wie sie im Werk eines großen Romanciers erscheinen: die Schnur, der
stets von Neuem auftauchende Bindfaden; der immer verschobene Fleck an
der Wand; der stets verschwundene Radiergummi27. Die Schnur-Wiederho-
lung, die Fleck-Wiederholung, die Gummi-Wiederholung: das dreifache Jen-
seits des Lustprinzips. Die erste Synthese drückt die Gründung der Zeit auf
eine lebendige Gegenwart aus, eine Gründung, die der Lust ihren Rang als
empirisches Prinzip überhaupt verleiht, dem der Inhalt des psychischen
Lebens im Es unterliegt. Die zweite Synthese drückt den Grund der Zeit aus,
wie er durch eine reine Vergangenheit geliefert wird, einen Grund, der die
Anwendung des Lustprinzips auf die Inhalte des Ichs bedingt. Die dritte
Synthese aber bezeichnet den Ungrund, in den uns der Grund selbst hinab-
stürzt: Thanatos offenbart sich tatsächlich an dritter Stelle als dieser Ungrund
jenseits des Grunds des Eros und der Gründung des Habitus. Daher besteht
zwischen Thanatos und Lustprinzip ein verwirrender Beziehungstyp, den man
oft mit den unerforschlichen Paradoxa einer mit Schmerz verbundenen Lust
ausdrückt (tatsächlich aber handelt es sich um etwas ganz anderes: Es handelt
sich um die Desexualisierung in dieser dritten Synthese, insofern sie die
Anwendung des Lustprinzips als leitender und vorgängiger Idee hemmt, um
daraufhin zu einer Resexualisierung voranzuschreiten, in der die Lust nurmehr
ein reines und kaltes, apathisches und eisiges Denken besetzt, wie man es am
Fall des Sadismus oder Masochismus sieht). In gewisser Hinsicht vereinigt die
dritte Synthese alle Dimensionen der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart,
Zukunft, und läßt sie nun in der reinen Form ablaufen. In anderer Hinsicht
veranlaßt sie ihre Reorganisation, da die Vergangenheit vom Es als die defi-
ziente Bedingung in Abhängigkeit zu einer Gesamtheit der Zeit abgewiesen
und die Gegenwart durch die Verwandlung des Handelnden im Idealich defi-
niert wird. In noch anderer Hinsicht betrifft die letzte Synthese nur die
Zukunft, da sie im Über-Ich die Zerstörung des Es und des Ichs, der Vergan-
genheit wie der Gegenwart, der Bedingung wie des Handelnden ankündigt.
Auf dieser äußersten Spitze bildet die gerade Linie der Zeit von neuem einen
Kreis, der aber auf einzigartige Weise unwuchtig ist, oder es offenbart hier der
Todestrieb eine unbedingte Wahrheit seines ,,anderen“ Gesichts - eben die
ewige Wiederkunft, insofern diese nicht alles wiederkehren läßt sondern im
Gegenteil eine Welt affiziert, die sich des Mangels der Bedingung und der
Gleichheit des Handelnden entledigt hat, um bloß das Exzessive und Unglei-
che, das Unbeendbare und Unablässige, das Formlose als Produkt der äußer-
sten Formhaftigkeit zu bejahen. Damit geht die Geschichte der Zeit zuende:

27 Verweis auf drei Romane von Alain Robbe-Grillet: Le Voyeur (dt.: Der Augen-
zeuge), La Jalousie (dt.: Die Jalousie oder die Eifersucht) und Les Gommes (dt.: Ein
Tag zuviel) [A.d.Ü.].
DIE W IEDERHOLUNG FÜR S I C H SELBST 153

Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie ihren allzu zentrierten physischen oder
natürlichen Kreis auflöst und eine gerade Linie bildet, eine Linie aber, die im
Sog ihrer eigenen Länge von neuem einen auf ewig dezentrierten Kreis bil-
d et .
Die ewige Wiederkunft ist Macht zur Bejahung, sie bejaht aber alles am
Vielen, am Differenten, am Zufall, ausgenommen das, was diese unter das
Eine, das Selbe, die Notwendigkeit unterwirft, ausgenommen das Eine, das
Selbe, das Notwendige. Das Eine, so heißt es, habe sich das Viele ein für
allemal unterworfen. Und ist das nicht das Gesicht des Todes? Aber liegt nicht
das andere Gesicht darin, ein für allemal all das seinerseits sterben zu lassen,
was ein für allemal wirkt? Wenn die ewige Wiederkehr wesentlich mit dem
Tod zusammenhängt, so deshalb, weil sie ,,ein für allemal“ den Tod dessen,
was Eines ist, herbeiführt und impliziert. Wenn sie wesentlich mit der Zukunft
zusammenhängt, so deshalb, weil die Zukunft die Entfaltung und Explikation
des Vielen, des Differenten, des Zufälligen für sich selbst und ,,für allemal“ ist.
Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft schließt zwei Bestimmungen
aus: das Selbe oder die Identität eines subordinierenden Begriffs, und das
Negative der Bedingung, die das Wiederholte aufs Selbe beziehen und die
Subordination garantieren würde. Die Wiederholung in der ewigen Wieder-
kunft schließt zugleich das Gleich-Werden oder Ähnlich-Werden mit dem
Begriff und die defiziente Bedingung eines derartigen Werdens aus. Sie betrifft
im Gegenteil exzessive Systeme, die das Differente ans Differente binden, das
Viele ans Viele, das Zufällige ans Zufällige, und zwar in einer Gesamtheit von
Bejahungen, die zu den gestellten Fragen und den getroffenen Entscheidungen
stets koextensiv sind. Es wird behauptet, der Mensch wisse nicht zu spielen:
Das kommt daher, daß er, selbst wenn er sich einen Zufall oder eine Mannig-
faltigkeit vorgibt, seine Bejahungen so begreift, als müßten sie ihn begrenzen,
seine Entscheidungen, als müßten sie seine Wirkung bannen, seine Reproduk-
tionen, als müßten sie das Selbe unter einer Gewinnhypothese wiederkehren
lassen. Dies eben ist das schlechte Spiel, das Spiel, in dem man Gefahr läuft,
ebenso zu verlieren wie zu gewinnen, weil man dabei nicht den ganzen Zufall
bejaht: Der von vornherein feststehende Charakter der fragmentierenden
Regel hat die defiziente Bedingung als Korrelat beim Spieler, der nicht weiß,
welches Fragment dabei herauskommen wird. Demgegenüber muß das System
der Zukunft ein göttliches Spiel genannt werden, weil die Regel nicht im
voraus existiert, weil sich das Spiel bereits auf seine eigenen Regeln bezieht,
weil das spielende Kind nur gewinnen kann - da der ganze Zufall jedesmal
und für allemal bejaht wird. Keine restriktiven oder begrenzenden Bejahun-
gen, vielmehr Bejahungen, die zu den gestellten Fragen und zu den Entschei-
dungen, die aus ihnen hervorgehen, koextensiv sind: Ein derartiges Spiel zieht
die Wiederholung des notwendig siegreichen Wurfs nach sich, da es sich nur
durch den fortwährenden Einschluß aller möglichen Kombinationen und
Regeln im System seiner eigenen Wiederkunft vollzieht. Bei diesem Spiel von
Differenz und Wiederholung, wie es vom Todestrieb gespielt wird, ist Borges
154 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

so weit gegangen wie niemand sonst, und zwar in seinem gesamten, außerge-
wöhnlichen Werk: ,,Wenn die Lotterie eine Verstärkung des Zufalls, eine
periodische Ergießung des Chaos in den Kosmos ist, müßte dann nicht der
Zufall gerechterweise in alle Etappen der Ziehung Einlaß finden, nicht nur in
eine einzige? Ist es nicht lächerlich, daß der Zufall irgendwessen Tod verfügt,
daß aber die Umstände dieses Tods - Ausschluß oder Anwesenheit der Öf-
fentlichkeit, Vollstreckung binnen einer Stunde oder eines Jahrhunderts -
nicht dem Zufall unterworfen sind? [. . .] In Wirklichkeit ist die Zahl der
Ziehungen unendlich. Kein Entscheid ist endgül tig, alle verzweigen sich in
andere. Die Unwissenden sind der Meinung, daß unendliche Ziehungen eine
unendliche Zeit erfordern; in Wahrheit braucht die Zeit nur unendlich teilbar
zu sein [. . .].“ ,,In allen erdichteten Werken entscheidet sich ein Mensch
angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und scheidet die anderen aus;
im Werk des schier unentwirrbaren Ts’ui Pen entscheidet er sich - gleichzeitig -
für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die eben-
falls auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman.
Fang (sagen wir) hütet ein Geheimnis; ein Unbekannter klopft an seine Türe;
Fang beschließt, ihn zu töten. Natürlich gibt es verschiedene mögliche Lösun-
gen. Fang kann den Eindringling töten, der Eindringling kann Fang töten;
beide können davonkommen, beide können sterben usw. Im Werk von Ts’ui
Pen kommen sämtliche Lösungen vor; jede ist der Ausgangspunkt weiterer
Verzweigungen“28.

Welches sind die Systeme, die von der ewigen Wiederkunft affiziert werden?
Betrachten wir die beiden Sätze: Einzig was sich ähnelt, unterscheidet sich;
und: einzig die Unterschiede ähneln einander29. Die erste Formel setzt die
Ähnlichkeit als Bedingung der Differenz; sicher fordert sie auch die Mög-
lichkeit eines identischen Begriffs für die zwei Dinge, die sich unter der
Bedingung ihrer Ähnlichkeit voneinander unterscheiden; und impliziert
außerdem eine Analogie in der Beziehung jedes Dings zu diesem Begriff; und
führt schließlich zur Reduktion der Differenz auf einen durch diese drei
Momente bestimmten Gegensatz. Demgegenüber können der anderen Formel

28 Jorge Luis Bor-ges: Fiktionen, in: Gesammelte Werke, Bd. 3/I, Erzählungen 1935-
1944, München 1981, S. 135-136 u. 164.
29 Vgl. Claude Levi-Strauss: Le totémisme aujourd’hui, Paris 1962, S. 111: ,,Nicht die
Ähnlichkeiten, sondern die Differenzen ähneln einander.“ - Levi-Strauss zeigt, wie
sich dieses Prinzip in der Konstitution zumindest zweier Reihen entwickelt, wobei
sich die Terme jeder Reihe jeweils voneinander unterscheiden (etwa was den Tote-
mismus betrifft: die Reihe der verschiedenen Tierarten und die Reihe der differen-
tiellen sozialen Positionen): Die Ähnlichkeit besteht ,,zwischen diesen beiden Syste-
men von Differenzen“.
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 155

nach die Ähnlichkeit und ebenso die Identität, die Analogie, der Gegensatz
nurmehr als Wirkungen angesehen werden, als Produkte einer ersten Diffe-
renz oder eines ersten Systems von Differenzen. Gemäß dieser anderen For-
mel muß die Differenz die sich unterscheidenden Terme unmittelbar aufeinan-
der beziehen. Entsprechend der ontologischen Anschauung Heideggers muß
die Differenz an sich selbst Verknüpfung und Verbindung sein, muß sie ohne
irgendeine Vermittlung durchs Identische oder Ähnliche, Analoge oder Entge-
gengesetzte das Differente aufs Differente beziehen. Es wird eine Differenzie-
rung der Differenz verlangt, ein Ansich als Differenzierendes, als Sich-Unter-
scheidendes [i.O.dt.], wodurch das Differente gleichzeitig versammelt wird,
anstatt unter der Bedingung einer vorgängigen Ähnlichkeit, Identität, Analo-
gie, eines vorgängigen Gegensatzes repräsentiert zu werden. Was diese Instan-
zen betrifft, die nicht länger Bedingungen sind, so sind sie nurmehr Wirkun-
gen der ersten Differenz und ihrer Differenzierung, Gesamt- oder Oberflä-
cheneffekte, die die denaturierte Welt der Repräsentation kennzeichnen und
der Art und Weise Ausdruck verleihen, wie das Ansich der Differenz sich
selbst verbirgt, indem es hervorruft, wodurch es verdeckt wird. Wir müssen
danach fragen, ob die beiden Formeln bloß zwei Redeweisen sind, die nichts
weiter verändern; oder ob sie sich auf gänzlich verschiedene Systeme bezie-
hen; oder ob sie bei ihrer Anwendung auf dieselben Systeme (im äußersten
Fall auf das System der Welt) nicht zwei unvereinbare und unterschiedlich
stichhaltige Interpretationen meinen, von denen die eine alles zu andern ver-
mag.
Es sind dieselben Bedingungen, unter denen sich das Ansich der Differenz
verbirgt und die Differenz unter die Kategorien der Repräsentation fällt.
Unter welchen anderen Bedingungen enfaltet die Differenz dieses Ansich als
,,Differenzierendes“ und versammelt das Differente jenseits jeder möglichen
Repräsentation? Das erste Merkmal scheint uns die Organisation in Reihen zu
sein. Ein System muß sich auf der Basis zweier oder mehrerer Reihen errich-
ten, wobei jede Reihe durch die Differenzen zwischen den Termen, aus denen
sie besteht, definiert wird. Wenn wir annehmen, daß die Reihen unter Einwir-
kung einer beliebigen Kraft zu kommunizieren beginnen, so wird deutlich,
daß diese Kommunikation Differenzen auf andere Differenzen bezieht oder
Differenzen von Differenzen im System ausbildet: Diese Differenzen zweiten
Grades übernehmen die Rolle eines ,,Differenzierenden“, d. h. sie beziehen die
Differenzen ersten Grades jeweils aufeinander. Dieser Sachverhalt drückt sich
entsprechend in manchen physikalischen Begriffen aus: Kopplung zwischen
heterogenen Reihen; woraus sich eine interne Resonanz im System ableitet;
woraus sich eine erzwungene Bewegung ableitet, deren Amplitude die Basis-
reihen selbst übersteigt. Man kann die Natur dieser Elemente bestimmen,
deren Wert zugleich in ihrer Differenz in einer Reihe, zu der sie gehören, und
in ihrer Differenz von Differenz zwischen den Reihen besteht: Sie sind Inten-
sitäten, wobei das Eigentliche der Intensität darin liegt, daß sie durch eine
Differenz gebildet wird, die selbst auf andere Differenzen verweist (E-E’,
156 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

wobei E auf e-e’ und e auf E-E’ . . . verweist). Die intensive Natur der in
Betracht gezogenen Systeme verbietet uns jeden Vorgriff auf ihre Qualifizie-
rung: mechanisch, physikalisch, biologisch, psychisch, sozial, ästhetisch, phi-
losophisch usw. Sicher besitzt jeder Systemtyp seine besonderen Bedingungen,
die sich allerdings den vorangehenden Merkmalen fügen, auch wenn sie ihnen
eine geeignete Struktur im jeweiligen Fall verleihen: So sind etwa die Wörter
in manchen ästhetischen Systemen wahrhafte Intensitäten, ebenso sind die
Begriffe Intensitäten aus der Perspektive des philosophischen Systems. Man
wird bemerken, daß sich - dem berühmten Entwurf Freuds von 1895 zufolge
- das biopsychische Leben in der Form eines derartigen intensiven Feldes
darstellt, in dem sich Differenzen, die sich als Erregungen bestimmen lassen,
und Differenzen von Differenzen, die sich als Bahnungen bestimmen lassen,
verteilen. Vor allem aber verkörpern die Synthesen der Psyche ihrerseits die
drei Dimensionen der Systeme überhaupt. Denn die psychische Bindung
(Habitus) bewirkt eine Kopplung von Erregungsreihen; Eros bezeichnet die
spezifische Verfassung interner Resonanz, die daraus hervorgeht; der Todes-
trieb verschmilzt mit der erzwungenen Bewegung, deren Amplitude die Reso-
nanzreihen selbst übersteigt (daher die Amplitudendifferenz zwischen Todes-
trieb und dem in Resonanz befindlichen Eros).
Wenn heterogene Reihen miteinander in Kommunikation getreten sind, erge-
ben sich daraus alle möglichen Folgen im System. Es ,,passiert“ etwas zwi-
schen den Rändern; Ereignisse brechen los, Phänomene leuchten auf, wie Blitz
oder Blitzschlag. Raum-zeitliche Dynamiken erfüllen das System und drücken
zugleich die Resonanz der verkoppelten Reihen wie die Amplitude der
erzwungenen Bewegung aus, die sie übersteigen. Subjekte bevölkern das
System, Larvensubjekte und passive Ichs zugleich. Passive Ichs, weil sie mit
der Betrachtung der Kopplungen und Resonanzen verschmelzen; und Larven-
Subjekte, weil sie Träger oder Leidendes der Dynamiken sind. Denn in ihrer
notwendigen Teilhabe an der erzwungenen Bewegung kann eine reine raum-
zeitliche Dynamik nur an der Grenze des Erträglichen erfahren werden, unter
Bedingungen, außerhalb welcher sie den Tod jeglichen wohlgeformten, unab-
hängigen und aktiven Subjekts nach sich ziehen würde. Es gilt bereits als
Wahrheit der Embryologie, daß es systematische vitale Bewegungen, Verlage-
rungen, Torsionen gibt, die einzig der Embryo ertragen kann: Das ausgewach-
sene Exemplar würde dadurch zerrissen werden. Es gibt Bewegungen, die man
nur als Leidendes erfahren kann, das Leidende seinerseits aber kann nur eine
Larve sein. Die Evolution vollzieht sich nicht im Freien, und nur das Rückge-
bildete entwickelt sich fort. Der Alptraum ist vielleicht eine psychische Dyna-
mik, die weder der Wachende noch selbst der Träumende ertragen könnte,
sondern nur der Schlafende des Tiefschlafs, des traumlosen Schlafs. In diesem
Sinne ist ungewiß, ob das Denken, wie es die spezifische Dynamik des philo-
sophis chen Systems konstituiert, auf ein vollend etes, wohlgeformtes substan-
zielles Subjekt bezogen werden kann, wie im kartesianischen Cogito: Das
Denken fällt eher unter jene schrecklichen Bewegungen, die nur unter den
Die WIEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 157

Bedingungen eines Larvensubjekts erträglich sind. Das System enthält nur


solche Subjekte, denn sie allein können die erzwungene Bewegung vollführen,
indem sie sich zum Leidenden der Dynamiken machen, die ihr Ausdruck
verleihen. Selbst der Philosoph ist das Larvensubjekt seines eigenen Systems.
Darum also definiert sich das System nicht nur durch die heterogenen Reihen,
die es begrenzen; nicht nur durch die Kopplung, die Resonanz und die
erzwungene Bewegung, die dessen Dimensionen prägen; sondern auch durch
die Subjekte, die es bevölkern, und durch die Dynamiken, die es erfüllen; und
schließlich durch die Qualitäten und Ausdehnungen, die sich von diesen
Dynamiken aus entfalten.
Die Hauptschwierigkeit aber bleibt bestehen: Ist es wirklich die Differenz, die
in diesen intensiven Systemen das Differente aufs Differente bezieht? Bezieht
die Differenz von Differenz ohne andere Vermittlung die Differenz auf sich
selbst? Wenn wir von der Herstellung einer Kommunikation heterogener
Reihen, von einer Kopplung und einer Resonanz sprechen, geschieht dies
nicht unter Voraussetzung eines Minimums an Ähnlichkeit zwischen den
Reihen und einer Identität im Handelnden, das die Kommunikation herstellt?
Würde nicht ,,allzuviel“ Differenz zwischen den Reihen jegliche Operation
unmöglich machen? Ist man nicht dazu verurteilt, einen privilegierten Punkt
ausfindig zu machen, an dem sich die Differenz nur vermöge einer Ähnlichkeit
der Dinge, die sich unterscheiden, und einer Identität eines Dritten denken
laßt? An dieser Stelle müssen wir der jeweiligen Rolle der Differenz, der
Ähnlichkeit und der Identität größte Aufmerksamkeit widmen. Und was ist
zunächst jenes Handelnde, jene Kraft, die die Kommunikation garantiert? Der
Blitzschlag entlädt sich zwischen verschiedenen Intensitäten, es geht ihm aber
ein unsichtbarer, unspürbarer dunkler Vorstrom3’ voraus, der im vorhinein
dessen umgekehrten Weg wie im Negativabdruck bestimmt. Ebenso enthält
jedes System seinen dunklen Vorboten, der die Kommunikation der Begren-
zungsreihen sicherstellt. Wir werden sehen, daß diese Rolle je nach Beschaf-
fenheit des Systems von ganz unterschiedlichen Bestimmungen erfüllt wird.
Allerdings handelt es sich dabei unbedingt um die Frage, wie der Vorbote
diese Rolle ausübt. Es besteht kein Zweifel, daß es eine Identität des Vorboten
und eine Ähnlichkeit der Reihen, deren Kommunikation er herstellt, gibt.
Dieses ,,es gibt“ bleibt aber völlig unbestimmt. Sind Identität und Ähnlichkeit
hier Bedingungen oder, im Gegenteil, Wirkungen im Funktionieren des dunk-
len Vorboten, der notwendig die Illusion einer fiktiven Identität auf sich selbst
und die Illusion einer wechselseitigen Ähnlichkeit auf die von ihm versammel-
ten Reihen projizieren würde? Identität und Ähnlichkeit wären dann nurmehr
unvermeidliche Illusionen, d. h. Reflexionsbegriffe, die unserer tief verwurzel-
ten Gewohnheit Rechnung tragen würden, die Differenz von Kategorien der

30
Frz. pr&trseur sombre: schwache elektrische Entladung, die dem Blitzschlag vor-
ausgeht, in nicht-physikalischen Zusammenhängen hier auch mit ,,dunkler Vorbote“
übersetzt [A. d. ü.].
158 DIFFERENZUNDWIEDERHOLUNG

Repräsentation aus zu denken - dies aber nur, weil der unsichtbare Vorbote
sich selbst und sein Funktionieren und im selben Zug das Ansich als wahre
Natur der Differenz verbergen würde. Sind zwei heterogene Reihen, zwei
Reihen von Differenzen gegeben, so agiert der Vorbote als das Differenzie-
rende dieser Differenzen. Auf diese Weise bringt er sie unmittelbar in Bezie-
hung zueinander, mit der ihm eigenen Macht: Er ist das Ansich der Differenz
oder das ,,verschieden Differente“, d. h. die Differenz zweiten Grades, die
Differenz mit sich, die das Differente durch sich selbst aufs Differente bezieht.
Weil der von ihm beschriebene Weg unsichtbar ist und nur verkehrt herum -
sofern von den Erscheinungen, die er im System induziert, verdeckt und
durchlaufen - sichtbar werden wird, besitzt er nur jenen Ort, an dem er
,,fehlt“, nur jene Identität, der er abgeht: Er ist eben das Objekt = x, dasjenige,
das ,,an seinem Platz“ wie seiner eigenen Identität ,,fehlt“. So daß die logische
Identität, die die Reflexion ihm auf abstrakte Weise verleiht, und die physische
Ähnlichkeit, die die Reflexion den von ihm versammelten Reihen zuspricht,
nur die statistische Wirkung seines Funktionierens auf die Gesamtheit des
Systems ausdrückt, d.h. die Art und Weise, wie er sich notwendig unter
seinen eigenen Wirkungen verbirgt, weil er sich beständig in sich verschiebt
und sich beständig in den Reihen verkleidet. Damit können wir die Identität
eines Dritten und die Ähnlichkeit der Teile nicht als eine Bedingung für das
Sein und das Denken der Differenz ansehen, sondern nur als eine Bedingung
für ihre Repräsentation, die einer Denaturierung dieses Seins und dieses Den-
kens Ausdruck verleiht, gleich einem optischen Effekt, der den wahren Status
der Bedingung, wie sie an sich ist, nur verfälschen würde.
Wir nennen den dunklen Vorboten dispars, jene Differenz an sich, zweiten
Grades, die die heterogenen oder disparaten Reihen selbst korreliert. Sein
Verschiebungsraum und sein Verkleidungsprozeß bestimmen in jedem einzel-
nen Fall eine relative Größe der miteinander korrelierten Differenzen. Man
weiß, daß in manchen Fällen (in manchen Systemen) die Differenz der ins
Spiel gebrachten Differenzen ,,sehr groß“ sein kann; daß sie in anderen Syste-
men ,,sehr klein” sein muß3! Aber man hätte Unrecht, würde man in diesem
zweiten Fall den reinen Ausdruck einer vorgängigen Forderung nach Ähn-
lichkeit sehen, die im ersten Fall bloß erlahmen würde, indem sie sich auf den
Weltmaßstab hin ausdehnte. Man besteht etwa darauf, daß notwendig die
disparaten Reihen nuhezu ähnlich, die Frequenzen benachbart (03 benachbart

31 Leon Selme zeigte, daß die Illusion einer Beseitigung von Differenzen um so stärker
sein muß, je kleiner die in einem System verwirklichten Differenzen sind (so etwa in
den thermischen Maschinen): PGncipe de Carnot contre formule empirique de
Clausius, Paris 1917. - Hinsichtlich der Bedeutung der disparaten Reihen und ihrer
inneren Resonanz in der Bildung der Systeme wird man sich auf Gilbert Simondon
beziehen: L’individu et sa genese physico-biologique, Paris 1964, S. 20. (G. Simon-
don fordert als Bedingung allerdings weiterhin die Ähnlichkeit zwischen Reihen
oder die Kleinheit der ins Spiel gebrachten Differenzen; vgl. S. 254-257).
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 159

zu CI-)~), kurz, die Differenz klein sein müßten. Aber es gibt - eben keine
Differenz, die nicht ,,klein“ wäre, selbst im Weltmaßstab, wenn man die
Identität des Handelnden voraussetzt, das das jeweils Differente miteinander
kommunizieren läßt. Klein und groß lassen sich, wie wir gesehen haben, sehr
schlecht auf. die Differenz anwenden, weil sie sie nach den Kriterien des Selben
und des Ähnlichen beurteilen. Wenn man die Differenz auf ihr Differenzie-
rendes bezieht, wenn man sich hütet, dem Differenzierenden eine Identität zu
verleihen, die es nicht besitzt und nicht besitzen kann, so wird die Differenz
gemäß ihren Zerlegungsmöglichkeiten klein oder groß genannt werden, d. h.
gemäß der Verschiebung und Verkleidung des Differenzierenden, in keinem
Fall aber wird man behaupten können, daß eine kleine Differenz eine strikte
Ähnlichkeitsbedingung belege, und ebensowenig, daß eine große Differenz für
den Bestand einer bloß erlahmten Ähnlichkeit zeuge. Die Ähnlichkeit ist in
jedem Fall eine Wirkung, ein Arbeitsprodukt, ein äußeres Resultat - eine
Illusion, die immer dann auftaucht, sobald das Handelnde sich eine ihm
ermangelnde Identität anmaßt. Das Wesentliche liegt also nicht darin, daß die
Differenz klein oder groß und schließlich stets klein im Verhältnis zu einer
weit umfassenderen Ähnlichkeit ist. Das Wesentliche für das Ansich liegt
darin, daß die Differenz, ob klein oder groß, intern ist. Es gibt Systeme mit
großer äußerer Ähnlichkeit und kleiner innerer Differenz. Das Gegenteil ist
möglich: Systeme mit kleiner äußerer Ähnlichkeit und großer innerer Diffe-
renz. Unmöglich aber ist das Widersprüchliche; immer ist die Ähnlichkeit
außerhalb, und die Differenz, ob klein oder groß, bildet den Kern des
Systems.
Gegeben seien Beispiele aus ganz verschiedenen literarischen Systemen. Im
Werk Ravmond Roussels sind wir mit Wortreihen konfrontiert: Die Rolle des
Vorboten wird von einem Homonym oder einem Quasi-Homonym über-
nommen (billtrd-pillard), aber dieser dunkle Vorbote ist um so weniger sicht-
bar und spürbar, als eine der beiden Reihen notfalls verborgen bleibt. Seltsame
Geschichten werden die Differenz zwischen den beiden Reihen ausgleichen,
um einen Effekt äußerer Ähnlichkeit und Identität zu induzieren. Nun wirkt
der Vorbote keineswegs durch seine Identität, sei es eine nominale oder
homonyme Identität; dies wird an der Quasi-Homonymie deutlich, die nur in
der völligen Verschmelzung mit dem differentiellen Charakter zweier Wörter
(b und p) wirksam wird. Ebenso erscheint das, Homonym hier nicht als die
nominale Identität eines Signifikanten, sondern als das Differenzierende
distinkter Signifikate, das sekundär einen Ähnlichkeitseffekt bei den Signifika-
-
ten wie einen Identitätseffekt im Signifikanten erzeugt. Es wäre daher unzurei-
chend zu behaupten, das System gründe sich auf eine gewisse negative Bestim-
mung, nämlich auf den Mangel der Wörter im Verhältnis zu den Dingen,
weswegen ein Wort dazu verdammt sei, mehrere Dinge zu bezeichnen. Dies
ist dieselbe Illusion, die uns die Differenz von einer vorgängigen, vorausge-
setzten Ähnlichkeit und Identität ausgehend denken und sie als negativ
erscheinen läßt. Nicht durch die Beschränktheit ihres Vokabulars, sondern
160 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

durch ihre Überfülle, durch ihre positivste syntaktische und semantische


Macht erfindet die Sprache in Wahrheit die Form, in der sie die Rolle des
dunklen Vorboten übernimmt, d.h. in der sie - wenn sie von verschiedenen
Dingen spricht - diese Differenzen differenziert, indem sie sie unmittelbar
aufeinander bezieht, und zwar in Reihen, die sie in Resonanz geraten läßt.
Darum erklärt sich, wie wir gesehen haben, die Wiederholung von Wörtern
ebensowenig negativ, wie sie als nackte, differenzlose Wiederholung darge-
stellt werden kann. Das Werk Joyces nimmt offensichtlich ganz andere Ver-
fahren in Anspruch. Stets aber handelt es sich darum, ein Höchstmaß an
disparaten Reihen zu versammeln (im äußersten Fall alle divergenten Reihen,
die-den Kosmos bilden), indem man dunkle Vorboten der Sprache in Gang
setzt (hier: Geheimwörter, Wortkreuzungen), die auf keiner vorgängigen
Identität beruhen und vor allem nicht prinzipiell ,,identifizierbar“ sind, son-
dern in der Gesamtheit des Systems und als Resultat des Differenzierungspro-
zesses der Differenz an sich ein Höchstmag an Ähnlichkeit und Identität
induzieren (vgl. den kosmischen Brief in Finnegan’s Wake). Was im System
zwischen in Resonanz geratenen Reihen und unter Einwirkung des dunklen
Vorboten geschieht, nennt sich ,,Epiphanie“. Die kosmische Extension fällt
mit der Amplitude einer erzwungenen Bewegung zusammen, überflutet und
übersteigt die Reihen, Todestrieb in letzter Instanz, Stephens ,,Nein“, das
nicht das Nicht-Sein des Negativen, sondern das (Nicht)-Sein einer beharrli-
chen Frage ist, der, ohne auf sie zu antworten, das kosmische Ja Molly Blooms
entspricht, weil sie einzig durch dieses Ja angemessen besetzt und erfüllt wird.

ANMERKUNG ZU DEN ERFAHRUNGEN PROUSTS. - Sie besitzen eindeutig


eine ganz andere Struktur als die Epiphanien Joyces. Es geht allerdings ebenfalls um
zwei Reihen, um die Reihe einer früheren Gegenwart (Combray, wie es erlebt wurde)
und die Reihe einer aktuellen Gegenwart. Sicher besteht, wenn man bei einer ersten
Dimension der Erfahrung verweilt, eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Reihen (das
Madeleinegebäck, das Frühsütck) und sogar eine Identität (der Geschmack nicht nur
als eine mit sich ähnliche, sondern identische Qualität in den beiden Momenten).
Dennoch liegt d a s Gehei mnis nicht hier. Der Geschmack besitzt Macht nur insofern,
als er etwas = x umhüllt, das s i c h n i c h t mehr durch eine Id entität definiert: Er umhüllt
Combray, wie es an sich ist, Fragment reiner Vergangenheit, und zwar in ihrer doppel-
ten Unreduzierbarkeit auf eine Gegenwart, die sie gewesen ist (Wahrnehmung), und
auf die aktuelle Gegenwart, in der man ihr wiederbegegnen oder sie wiederherstellen
könnte (willkürliches Gedächtnis). Nun definiert sich dieses Combray an sich aber
durch seine eigene wesentliche Differenz, durch eine ,,qualitative Differenz“, von der
Proust sagt, sie existiere nicht ,,auf der Erdoberfläche“, sondern nur in einer einzigarti-
gen Tiefe. Und sie ist es, die, indem sie sich einhüllt, die Identität der Qualität wie die
Ähnlichkeit der Reihen erzeugt. Identität und Ähnlichkeit sind also auch hier nur das
Ergebnis eines Differenzierenden. Und wenn die beiden Reihen aufeinander folgen, SO
koexistieren sie dagegen im Verhältnis zu Combray an sich als dem Objekt = x, das sie
in Resonanz bringt. Es kommt übrigens vor, daß die Resonanz der Reihen in einen
Todestrieb mündet, der sie alle beide übersteigt: so etwa die Stiefelette und die Erinne-
DI E W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 141

rung an die Großmutter. Eros wird durch die Resonanz gebildet, überschreitet sich
aber zu einem Todestrieb hin, der durch die Amplitude einer erzwungenen Bewe-
gung gebildet wird (der Todestrieb wird im Kunstwerk seinen glorreichen Abschluß
finden, jenseits der erotischen Erfahrungen des unwillkürlichen Gedächtnisses).
Prousts Formulierung ,,etwas Zeit im Reinzustand“ bezeichnet zunächst die reine
Vergangenheit, das Sein an sich der Vergangenheit, d.h. die erotische Synthese der
Zeit, sie bezeichnet aber in einer tieferen Schicht die reine und leere Form der Zeit,
die letzte Synthese,
. die Synthese des Todestriebs, der in die Ewigkeit der Wieder-
kunft in der Zeit mündet.

Die Frage, ob die psychische Erfahrung sprachlich strukturiert sei, oder gar
die Frage, ob die psychische Welt einem Buch vergleichbar sei, hängt von der
Natur der dunklen Vorboten ab. Ein sprachlicher Vorbote, ein esoterisches
Wort, besitzt nicht durch sich selbst Identität, und sei sie nominal, und
ebensowenig besitzen seine Bedeutungen [~ignificztions] Ähnlichkeit, mag sie
auch bis ins Unendliche erlahmt sein; er ist nicht bloß ein komplexes Wort
oder ein bloßer Zusammenschluß von Wörtern, sondern ein Wort über die
Wörter, das völlig mit dem ,,Differenzierenden“ der Wörter ersten Grades
und mit dem ,,Nichtähnelndem“ ihrer Bedeutungen verschmilzt. Daher gilt er
nur in dem Maße, wie er den Anspruch erhebt, nicht etwas, sondern den Sinn
[sezzs/ dessen, was er sagt, auszusagen. Nun schließt aber das Gesetz der
Sprache, wie es sich in der Repräsentation entfaltet, diese Möglichkeit aus; der
Sinn eines Worts kann nur durch ein anderes Wort ausgesagt werden, das das
erste zum Gegenstand nimmt. Daher diese paradoxe Situation: Der sprach-
liche Vorbote gehört einer Art Metasprache an und kann sich nur in einem
Wort verkörpern, das von den Reihen der Wortvorstellungen ersten Grades
aus gesehen sinnlos ist. Dies eben ist der Refrain. Diese doppelte Verfassung
des Geheimworts, das seinen eigenen Sinn aussagt, ihn aber nicht aussagt,
ohne sich und ihn als Unsinn zu-repräsentieren, drückt deutlich die fortwäh-
rende Verschiebung des Sinns und seine Verkeidung in den Reihen aus. So daß
das Geheimwort das eigentlich sprachliche Objekt = x ist, das Objekt = x aber
auch die psychische Erfahrung als Erfahrung einer Sprache strukturiert -
vorausgesetzt, daß die fortwährende unsichtbare und verschwiegene Verschie-
bung des sprachlichen Sinns berücksichtigt wird. In gewisser Weise sprechen
alle Dinge und haben einen Sinn, vorausgesetzt die Rede ist zugleich auch
verschwiegen, oder besser: der Sinn i s t das, was in der Rede schweigt. In
seinem herrlichen Roman Kosmos [dt. : In dizien] zeigt Gombrowicz, wie zwei
Reihen heterogener Differenzen (des Aufhängens und der Münder) ihre wech-
selseitige Kommunikation über verschiedene Zeichen hinweg provozieren, bis
hin zur Einführung eines dunklen Vorboten (der Mord am Kater), der hier als
das Differenzierende ihrer Differenzen, als der - wenngleich in einer widersin-
nigen Vorstellung verkörperte - Sinn wirksam wird, von dem aus aber die
Dynamiken in Gang kommen und die Ereignisse im System ‘Kosmos’ entste-
hen werden, die ihren endgültigen Abschluß in einem Todestrieb finden wer-
162 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

den, der die Reihen übersteigt32. Damit werden die Bedingungen freigelegt,
unter denen ein Buch ein Kosmos und der Kosmos ein Buch ist. Und es
entfaltet sich über ganz verschiedene Techniken hinweg die letzte Joycesche
Identität, eine Identität, die man wiederum bei Borges oder Gombrowicz
findet: Chaos = Kosmos.
Jede Reihe bildet eine Geschichte: nicht verschiedene Blickwinkel auf ein und
dieselbe Geschichte, wie die Blickwinkel auf die Stadt bei Leibniz, sondern
völlig distinkte Geschichten, die sich gleichzeitig entwickeln. Die Basisreihen
sind divergent. Nicht relativ in dem Sinne, daß man nur kehrtmachen müßte,
um den Konvergenzpunkt zu finden, sondern absolut divergent in dem Sinne,
daß der Konvergenzpunkt, der Konvergenzhorizont in einem Chaos liegt und
in diesem Chaos immer verschoben wird. Dieses Chaos selbst ist das Positiv-
ste, wie die Divergenz gleichzeitig Objekt von Bejahung ist. Es verschmilzt
mit dem Stein der Weisen33, der alle komplizierten Reihen umfaßt, alle simul-
tanen Reihen bejaht und kompliziert. (Nicht verwunderlich, daß Joyce so sehr
an Bruno interessiert war, dem Theoretiker der complicatio.) Die Dreiheit
Komplikation/Explikation/Implikation trägt der Gesamtheit des Systems
Rechnung, d.h. dem alles umfassenden Chaos, den divergenten Reihen, die
daraus hervorgehen und dahin zurückkehren, und dem Differenzierenden, das
sie aufeinander bezieht. Jede Reihe expliziert oder entwickelt sich, allerdings
in ihrer Differenz zu den anderen Reihen, die sie impliziert und durch die sie
impliziert wird, die sie umhüllt und durch die sie umhüllt wird, in diesem alles
komplizierenden Chaos. Die Gesamtheit des Systems, die Einheit der diver-
genten Reihen als solcher, entspricht der Objektivität eines ,,Problems“; daher
die Methode der Probleme/Fragen, mit denen Joyce sein Werk beseelt, und
daher bereits die Art und Weise, wie Lewis Caroll die Wortkreuzungen mit
dem Status des Problematischen verband.
Das Wesentliche ist die Simultaneität, die Gleichzeitigkeit, die Koexistenz aller
divergenten Reihen zusammen. Sicherlich sind die Reihen von den in der
Repräsentation vorübergehenden Gegenwarten aus gesehen sukzessive, die
eine ,,vorher“, die andere ,,nachher“. Gerade unter diesem Gesichtspunkt
heißt es von der zweiten Reihe, sie ähnle der ersten. Aber nichts dergleichen
mehr in Bezug auf das Chaos, das sie enthält, in Bezug zum Objekt = x, das
sie durchläuft, zum Vorboten, der sie miteinander kommunizieren läßt, zur
erzwungenen Bewegung, die sie übersteigt: Stets läßt das Differenzierende sie
nebeneinander koexistieren. Mehrfach sind wir jenem Paradox der aufeinan-
derfolgenden Gegenwarten begegnet, oder dem Paradox der Reihen, die in
Wirklichkeit aufeinanderfolgen, in Bezug auf die reine Vergangenheit oder das

32 Witold Gombrowicz: Indizien [Kosmos], Pfullingen 1966. - Das Vorwort zu KOS-


mos skizziert eine Theorie disparater Reihen, ihrer Resonanz und des Chaos.
Ebenso wird man sich auf das Thema der Wiederholung in Ferdydurke (Pfullingen
1960, S. 80 ff.) beziehen.
33 Frz . grand azuvre* . wörtlich ,,großes Werk” [A.d.Ü.].
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 163

virtuelle Objekt aber symbolisch koexistieren. Wenn Freud zeigt, daß sich
eine Phantasie auf zumindest zwei Basisreihen gründet, auf eine infantile und
prägenitale, und auf eine genitale und postpubertäre, so wird deutlich, daß
diese Reihen vom solipsistischen Unbewußten des fraglichen Subjekts aus
gesehen zeitlich aufeinanderfolgen. Die Frage lautet dann, wie man dem Phä-
nomen der ,,Verspätung“ gerecht wird, d. h. der Zeit, die notwendig ist, damit
die infantile und vermeintlich ursprüngliche Szene nur aus der Entfernung
wirksam wird, in einer adulten Szene, die jener ähnelt und ,abgeleitet‘ genannt
\vird3’ . Es handelt sich hier zwar um ein Problem der Resonanz zwischen
zwei Reihen. Aber gerade dieses Problem ist nicht richtig gestellt, solange man
nicht eine Instanz berücksichtigt, bezüglich welcher die beiden Reihen in
einern intersubjektiven Unbewußten koexistieren. In Wahrheit lassen sich die
beiden Reihen, die infantile und die adulte, nicht auf ein und dasselbe Subjekt
aufteilen. Das Kindheitsereignis bildet nicht eine der beiden Realreihen, son-
dern eher den dunklen Vorboten, der die beiden Basisreihen miteinander
kommunizieren läßt, die Reihe der Erwachsenen, die wir als Kinder kannten,
und die Reihe des Erwachsenen, der wir zusammen mit anderen Erwachsenen
und anderen Kindern sind. So der Held in der Recherche du Temps perdu:
Seine Kinderliebe zur Mutter ist das Handelnde einer Kommunikation zwi-
s c h e n z w e i adulten Reihen, der Reihen, die Swann mit Odette und der
erwachsene Held mit Albertine bilden - und stets das gleiche Geheimnis in
beiden, die ewige Verschiebung, die ewige Verkleidung der Gefangenen, die
schließlich den Punkt anzeigt, an dem die Reihen im intersubjektiven Unbe-
wußten nebeneinander koexistieren. Es besteht kein Anlaß zur Frage, wie sich
das Kindheitsereignis erst verspätet auswirke. Es ist diese Verspätung, aber
diese Verspätung selbst ist die reine Form der Zeit, die Vorher und Nachher
koexistieren läßt. Wenn Freud entdeckt, daß die Phantasie vielleicht äußerste
Wirklichkeit ist und etwas impliziert, das die Reihen übersteigt, so darf man
daraus nicht folgern, daß die Kindheitsszene irreal oder imaginär sei, sondern
eher, daß die empirische Bedingung der zeitlichen Abfolge in der Phantasie
der Koexistenz der beiden Reihen weicht, der Koexistenz des Erwachsenen,
der wir sein werden, mit den Erwachsenen, die wir ,,gewesen sind“ (vgl. was
Ferenczi die Identifikation des Kindes mit dem Aggressor genannt hat). Die
Phantasie ist die Manifestation des Kindes als dunkler Vorbote. Und in der
Phantasie ist nicht eine Reihe im Verhältnis zur anderen ursprünglich,
ursprünglich ist vielmehr die Differenz der Reihen, insofern sie eine Reihe von
Differenzen auf eine andere Reihe von Differenzen bezieht, wobei von ihrer
empirischen Abfolge in der Zeit abstrahiert wird.
Wenn es im System des Unbewußten nicht mehr möglich ist, eine sukzessive
Ordnung zwischen den Reihen zu errichten, wenn alle Reihen koexistieren, so

34 z u d’leser Fragestellung vgl. Jean Laplanche und J. B. Pontalis: Fantasme originaire,


fantasmes des origines, origine du fantasme, in: Les Temps modernes, April 1964.
164 DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG

ist es ebenso unmöglich, eine dieser Reihen als ursprünglich und die andere als
abgeleitet, die eine als Urbild und die andere als Abblid zu betrachten. Denn
die Reihen werden als koexistent, aufierhalb der Bedingung der Abfolge in der
Zeit, und zugleich als different erfaßt, außerhalb jeglicher Bedingung, derzu-
folge die eine die Identität eines Urbilds und die andere die Ähnlichkeit eines
Abbilds besäße. Wenn zwei divergente Geschichten sich simultan entwickeln,
so ist es unmöglich, der einen vor der anderen den Vorzug zu geben; man
kann dann wohl sagen, daß alles gleich wert sei, aber ,,alles ist gleich wert“
wird nur von der Differenz ausgesagt, wird ausschließlich von der Differenz
zwischen den beiden ausgesagt. So klein die innere Differenz zwischen den
beiden Reihen, zwischen den beiden Geschichten auch sein mag - die eine
reproduziert nicht die andere, die eine dient der anderen nicht als Modell,
vielmehr sind Ähnlichkeit und Identität nur die Wirkungen der Funktions-
weise dieser Differenz, die allein im System ursprünglich ist. Es läßt sich also
mit Recht sagen, daß das System die Zuweisung eines Ursprünglichen und
eines Abgeleiteten als eines ersten und eines zweiten Mals ausschließt, da die
Differenz der einzige Ursprung ist und unabhängig von jeglicher Ähnlichkeit
das Differente, das sie aufs Differente bezieht, koexistieren läßt3? Unter
diesem Aspekt zweifellos offenbart sich die ewige Wiederkunft als das
,,Gesetz“ ohne Grund dieses Systems. Die ewige Wiederkunft läßt nicht das
Selbe und das Ähnliche wiederkehren, sondern leitet sich selber aus einer Welt
der reinen Differenz ab. Jede Reihe kehrt wieder; und zwar nicht nur in den
anderen, die sie implizieren, sondern für sich selbst, da sie in den anderen nur
dann impliziert wird, wenn sie ihrerseits vollständig als diejenige wiederherge-
stellt wird, die jene impliziert. Die ewige Wiederkunft hat keinen anderen Sinn
als den folgenden: die Absenz eines zuschreibbaren Ursprungs, d.h. die
Zuweisung des Ursprungs als die Differenz, die das Differente aufs Differente
bezieht, um es (oder sie) als solche(s) wiederkehren zu lassen. In diesem Sinne
ist die ewige Wiederkunft tatsächlich die Folge einer ursprünglichen, reinen,

35 In einer Passage, die sich insbesondere mit der Freudschen Phantasie beschäftigt,
schreibt Jacques Derrida: ,,Die Verspätung ist also ursprünglich. Ansonsten wäre
der Aufschub [djrf z krame/ die Frist, die sich ein Bewufitsein, ein Selbstgegenwärtig-
sein der Präsenz gewährt. [. . .] Den Aufschub [d;fferdnce] als ursprünglich ZU
bezeichnen, heißt zugleich den Mythos eines präsenten Ursprungs auszustreichen.
Deshalb muß ,,ursprünglich” als ausgestrichen verstanden werden, widrigenfalls
leitete man den Aufschub aus einem vollen Ursprung ab. Die Ursprungslosigkeit ist
es, die ursprünglich ist” (L’tkriture et la diff&-ence, Paris 1967, S. 302-303; dt.: Die
Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1977, S. 311-312). Vgl. auch Maurice Blan-
chot: Le rire des dieux, in: Nouvelle Revue Francaise, Juli 1965: ,,Das Bild darf nicht
länger sekundär im Verhältnis zu einem vorgeblich ersten Gegenstand sein und rnuß
einen gewissen Vorrang geltend machen, wie zugleich das Original, dann der Ur-
sprung ihre Privilegien als Anfangsmächte verlieren werden. [. . .] Es gibt kein
Original mehr, vielmehr ein ewiges Flimmern, mit dem sich im Glanz der Abkehr
und der Wiederkehr die Ursprungslosigkeit zerstreut.“
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 165

synthetischen Differenz an sich (was Nietzsche Willen zur Macht nannte).


Wenn die Differenz das Ansich ist, so ist die Wiederholung in der ewigen
Wiederkehr das Fürsich der Differenz. Und dennoch, wie läßt sich leugnen,
daß die ewige Wiederkehr untrennbar vom Selben sei? Ist sie nicht selbst
ewige Wiederkunft des Selben? Wir müssen allerdings auf die verschiedenen
Bedeutungen, zumindest drei, des Ausdrucks ,,das Selbe, das Identische, das
Ähnliche“ achten.
Entweder bezeichnet das Selbe ein vorausgesetztes Subjekt der ewigen Wieder-
kunft. Es bezeichnet dann die Identität des Einen als Prinzip. Aber gerade das ist
der größte, der am längsten wahrende Irrtum. Nietzsche sagt richtig: Wenn es
das Eine wäre, das wiederkehrte, so hätte es damit begonnen, nicht aus sich
selbst herauszutreten; wenn es das Viele dazu bestimmen müßte, ihm zu ähneln,
SO hätte es damit begonnen, seine Identität in dieser Abstufung des Ähnlichen
nicht zu verlieren. Die Wiederholung ist Beharrlichkeit des Selben ebensowenig
wie Ähnlichkeit des Vielen. Das Subjekt der ewigen Wiederkehr ist nicht das
Selbe, sondern das Differente, nicht das Ähnliche, sondern das Unähnliche,
nicht das Eine, sondern das Viele, nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall.
Viel eher impliziert die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft die Zerstö-
rung aller Formen, die deren Funktionieren behindern, der Kategorien der
Repräsentation, die in der Vorbedingung des Selben, des Einen, des Identischen
und des Gleichen verkörpert sind. Oder das Selbe und das Ähnliche sind bloß
ein Effekt der Funktionsweise der Systeme, die der ewigen Wiederkehr unterlie-
gen. Damit wird notwendig eine Identität auf die ursprüngliche Differenz
projiziert oder besser: zurückgeworfen, notwendig eine Ähnlichkeit in den
divergenten Reihen interiorisiert. Von dieser Identität, von dieser Ähnlichkeit
müssen wir sagen, sie seien ,,simuliert“: Sie sind im System erzeugt, das über die
Differenz das Differente aufs Differente bezieht (weswegen ein derartiges
System selbst ein Trugbild [simulucre] ist). Das Selbe, das Ähnliche sind durch
die ewige Wiederkunft erzeugte Fiktionen. Es liegt hierin nun kein Irrtum mehr
vor, sondern eine Illusion: eine unvermeidliche Illusion an der Quelle des
Irrtums, eine Illusion allerdings, die von ihm geschieden werden kann. Oder das
Selbe und das Ähnliche unterscheiden sich nicht von der ewigen Wiederkunft
selbst. Sie sind gegenüber der ewigen Wiederkunft nicht präexistent: Weder das
Selbe noch das Ähnliche kehren wieder, vielmehr ist die ewige Wiederkunft das
einzige Selbe, die einzige Ähnlichkeit dessen, was wiederkehrt. Ebensowenig
lassen sie sich von der ewigen Wiederkunft abstrahieren, um auf die Ursache
zurückzuwirken. Das Selbe sagt sich von dem aus, was sich unterscheidet und
different bleibt. Die ewige Wiederkehr ist das Selbe des Differenten, das Eine des
Vielen, das Ähnliche des Unähnlichen. Als Quelle der vorigen Illusion erzeugt
und bewahrt sie diese nur, um sich daran zu erfreuen und sich darin wie im
Effekt ihrer eigenen Optik zu spiegeln, ohne jemals in den daran angrenzenden
Irrtum zu verfallen.
166 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Diese differentiellen Systeme aus disparaten und in Resonanz befindlichen


Reihen, aus dunklen Vorboten und erzwungener Bewegung heißen Trugbilder
[simulacres] oder Phantasiegebilde [phantasmes]. Die ewige Wiederkunft
betrifft nur die Trugbilder, Phantasiegebilde und läßt nur sie wiederkehren.
Und vielleicht stoßen wir hier auf den wesentlichsten Punkt des Platonimus
und des Antiplatonismus, des Platonismus und der Umkehrung des Platonis-
mus, auf ihren Prüfstein. Denn im vorangehenden Kapitel haben wir so getan,
als ob sich das Denken Platons um eine Unterscheidung von besonderer
Bedeutung, um die Unterscheidung von Original und Bild, Urbild und Abbild
drehen würde. Das Urbild soll über eine übergeordnete ursprüngliche Identi-
tät verfügen (einzig die Idee ist nichts anderes, als sie ist, einzig der Mut ist
mutig, einzig die Frömmigkeit fromm), während sich das Abbild nach einer
abgeleiteten inneren Ähnlichkeit bemißt. Gerade in dieser Hinsicht kommt die
Differenz erst an dritter Stelle, nach Identität und Ähnlichkeit, und kann nur
durch sie gedacht werden. Die Differenz wird nur im vergleichenden Spiel
zweier Gleichartigkeiten gedacht, der exemplarischen Gleichartigkeit eines
identischen Originals und der nachahmenden Gleichartigkeit eines mehr oder
weniger ähnlichen Abbilds: Dies ist die Prüfung oder der Maßstab der Bewer-
ber. In einer tieferen Schicht aber verschiebt sich die wahre Unterscheidung
Platons und verändert sich wesentlich: Sie besteht nicht zwischen Original
und Bild, sondern zwischen zwei Arten von Bildern. Sie besteht nicht zwi-
schen Urbild und Abbild, sondern zwischen zwei Arten von Bildern (Nach-
bildungen), von denen die Abbilder (Ebenbilder) nur die erste Art darstellen,
während die andere durch die Trugbilder (Phantasiegebilde) konstituiert wird.
Die Unterscheidung Urbild/Abbild besteht nur, um die Unterscheidung
Abbild/Trugbild zu begründen und anzuwenden; denn die Abbilder werden
im Namen der Identität des Urbilds und dank ihrer inneren Ähnlichkeit mit
diesem idealen Urbild gerechtfertigt, bewahrt und ausgewählt. Der Begriff des
Urbilds schaltet sich nicht ein, um sich der Welt der Bilder in ihrer Gesamtheit
entgegenzusetzen, sondern um die guten Bilder, die Bilder mit innerer Ähn-
lichkeit, die Ebenbilder auszuwählen und die schlechten, die Trugbilder aus-
zusondern. Der ganze Platonismus ist auf diesen Willen aufgebaut, die Phan-
tasiegebilde oder Trugbilder auszutreiben, die mit dem Sophisten selbst gleich-
gesetzt werden, mit jenem Teufel, jenem Einbläser oder Heuchler, jenem
falschen, stets verkleideten und verschobenen Bewerber. Darum schien es uns,
daß mit Platon eine philosophische Entscheidung allergrößter Bedeutung
getroffen wurde: nämlich die Unterordnung der Differenz unter die als
anfänglich vorausgesetzten Mächte des Selben und des Ähnlichen, die Erklä-
rung der Differenz zum Undenkbaren an sich selbst und ihre Rückführung,
die Rückführung der Differenz und der Trugbilder, auf einen Ozean ohne
Grund. Gerade aber weil Platon noch nicht über die ausgeformten Kategorien
der Repräsentation verfügt (sie werden mit Aristoteles erscheinen), muß er
seine Entscheidung auf eine Theorie der Idee gründen. Was nun in seiner
reinsten Ausprägung erscheint, ist eine moralische Sicht der Welt, noch bevor
DIE W IEDERHOLUNG FÜR SICH SELBST 167

sich die Logik der Repräsentation entfalten kann. Aus moralischen Gründen
zunächst muß das Trugbild ausgetrieben werden, muß eben darum die Diffe-
renz dem Selben und dem Ähnlichen untergeordnet werden. Aus diesem
Grund aber trifft Platon die Entscheidung, da der Sieg noch nicht gesichert ist,
wie er es in der gesicherten Welt der Repräsentation sein wird, der Feind
rumort, lauert überall im platonischen Kosmos, die Differenz widersetzt sich
ihrem Joch, Heraklit und die Sophisten machen einen Höllenlärm. Ein
befremdlicher Doppelgänger, der Sokrates auf Schritt und Tritt folgt, der noch
im Stil Platons spukt und mit den Wiederholungen und Variationen dieses
Stils zusammenhängt3?
Denn das Trugbild oder das Phantasiegebilde ist nicht bloß ein Abbild des
Abbilds, eine bis ins Unendliche erlahmte Ähnlichkeit, ein verblaßtes Eben-
bild. Der von den platonischen Kirchenvätern so sehr geprägte Katechismus
hat uns mit der Idee eines Bilds ohne Ähnlichkeit vertraut gemacht: Der
Mensch ist nach Gottes Bild gemacht und ihm ähnlich, durch den Sündenfall
aber haben wir die Ähnlichkeit verloren, so sehr wir auch das Bild wahren . . .
Das Trugbild ist eben genau ein dämonisches Bild, frei von Ähnlichkeit; oder
es hat vielmehr, im Gegensatz zum Ebenbild, die Ähnlichkeit nach außen
gekehrt und lebt von Differenz. Wenn es einen äußeren Ähnlichkeitseffekt
erzeugt, so als Illusion, nicht als inneres Prinzip; es ist selbst auf einer Dispari-
tät errichtet, es hat die Ungleichartigkeit seiner konstitutiven Reihen, die
Divergenz seiner Blickwinkel interiorisiert, so daß es mehrere Dinge zugleich
zeigt, mehrere Geschichten zugleich erzählt. Dies ist sein erstes Merkmal.
Aber heißt das nicht, daß, wenn sich das Trugbild selbst auf ein Urbild
bezieht, dieses Urbild nicht mehr die Identität des idealen Selben besitze und
demgegenüber Urbild des Anderen, anderes Urbild, Urbild der Differenz an
sich sei, von der die interiorisierte Ungleichartigkeit herrührt? Unter den
ungewöhnlichsten Passagen bei Platon, die den Antiplatonismus im Herzen
des Platonismus offenbaren, gibt es diejenigen, die nahelegen, daß das Diffe-
rente, das Unähnliche, das Ungleiche, kurz: das Werden, sehr wohl nicht bloß
Mängel sein könnten, die das Abbild affizieren, als Preis für seinen zweitrangi-
gen Charakter, als Ausgleich für seine Ähnlichkeit, sondern daß sie selbst
Urbilder sind, schreckliche Urbilder des Pseudos, in denen sich die Macht des

36 Platons Gedankengänge werden von stilistischen Reprisen und Wiederholungen


skandiert, die eine Sorgfalt bekunden, gleichsam eine Anstrengung, ein Thema
,,zurechtzubiegen“, es gegen ein verwandtes, aber unähnliches Thema, das sich
,,eingeschlichen“ hat, zu verteidigen. Was durch die platonische Themenwiederho-
lung gebannt und neutralisiert wird, ist die Wiederkehr vorsokratischer Themen:
Auf diese Weise wird der Vatermord mehrmals begangen, und am meisten dort, w o
Platon den Stil derer nachahmt, die er anprangert. Vgl. I? M. Schuhl: Remarques sur
la technique de la r+tition dam le Phkdon, in: Etudes platoniciennes, Paris 1960, S.
118-125 (P. M. Schuh1 nennt dies ,,die Litaneien der Idee”).
168 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Falschen entfaltet3’. Die Hypothese wird sofort verworfen, verdammt, verbo-


ten, sie ist aber immerhin aufgetaucht, und sei es nur wie ein Blitz, der in der
Nacht eine anhaltende Aktivität der Trugbilder, ihr unterirdisches Wirken und
die Möglichkeit ihrer eigenen Welt bezeugt. Besagt dies nicht noch mehr, an
dritter Stelle, daß das Trugbild Anlaß bietet, sowohl den Begriff des Abbilds,
als auch den Begriff des Urbilds anzufechten? Das Urbild geht in der Diffe-
renz unter, und gleichzeitig versinken die Abbilder in der Ungleichartigkeit
der Reihen, die sie interiorisieren, ohne daß man jemals sagen könnte, welches
das Abbild und welches das Urbild wäre. So der Schluß des Sophistes: der
mögliche Triumph der Trugbilder, denn Sokrates unterscheidet sich vom
Sophisten, der Sophist aber unterscheidet sich nicht von Sokrates und stellt die
Legitimität einer derartigen Unterscheidung infrage. Götzenbilddämmerung.
Wird damit nicht der Punkt bezeichnet, an dem die Identität des Urbilds und
die Ähnlichkeit des Abbilds Irrtümer, das Selbe und das Ähnliche aus der
Funktionsweise des Trugbilds geborene Illusionen sind? Das Trugbild funk-
tioniert von alleine, indem es die dezentrierten Zentren der ewigen Wieder-
kunft immer von Neuem durchläuft. Dies ist nicht mehr das platonische
Bestreben, den Kosmos dem Chaos gegenüberzustellen, als ob der Kreis
Abdruck der transzendenten Idee wäre, die ihre Ähnlichkeit einer widerspen-
stigen Materie aufzudrücken vermag. Gerade das Gegenteil ist der Fall: die
immanente Identität des Chaos mit dem Kosmos, das Sein in der ewigen
Wiederkunft, ein weit eher unwuchtiger Kreis. Platon versuchte, die ewige
Wiederkunft zu zähmen, indem er sie zur Wirkung der Ideen machte, d. h.
indem er sie ein Urbild nachbilden ließ. Aber in der unendlichen Bewegung
der von Abbild zu Abbild abgestuften Ähnlichkeit erreichen wir jenen Punkt,
an dem sich alles wesentlich ändert, an dem sich das Abbild selbst zum
Trugbild verkehrt, an dem schließlich die Ähnlichkeit, geistige Nachahmung,
der Wiederholung weicht.

37 Zu diesem ,,anderen“ Urbild, das im Platonismus eine Art Äquivalent zum bösen
Geist oder allmächtigen Betrüger bildet, vgl. Theaitetos, 176 e, und vor allem
Timaios, 28 b ff.
Die wesentlichen Texte zum Phantasiegebilde, zur Unterscheidung der Ebenbilder
und Phantasiegebilde befinden sich in Sophistes, 235 e-236 d, 264 c-268 d (vgl. auch
Politeia, X, 601 d ff.).
DRITTES KAPITEL
DAS BILD DES DENKENS

Das Problem des Anfangs in der Philosophie wurde mit vollem Recht immer
als äußerst heikel angesehen. Denn Anfangen heißt alle Voraussetzungen aus-
schließen. Während man sich aber in der Naturwissenschaft mit objektiven
Voraussetzungen konfrontiert sieht, die durch eine strenge Axiomatik ausge-
schlossen werden können, sind die philosophischen Voraussetzungen subjek-
tiv ebenso wie objektiv. Objektive Voraussetzungen nennt man Begriffe, die
durch einen gegebenen Begriff explizit vorausgesetzt werden. So will etwa
Descartes in der zweiten Meditation den Menschen nicht als animal rationale
definieren, da eine derartige Definition die Begriffe des Vernünftigen und des
Sinnenwesens explizit als bekannt voraussetzt: Indem er das Cogito als eine
Definition darstellt, behauptet er also alle objektiven Voraussetzungen - zu
bannen, die die mit Gattung und Differenz operierenden Verfahrensweisen
belasten. Es ist dennoch offenkundig, daß er Voraussetzungen anderer Art,
nämlich subjektiven oder impliziten, nicht entkommt, d. h. Voraussetzungen,
die in einem Gefühl und nicht in einem Begriff verpuppt sind: Es wird
vorausgesetzt, daß jedermann ohne Begriff weiß, was Ich, Denken, Sein
bedeute. Das reine Ich des Ich denke ist also ein Anschein von Anfang nur,
weil es alle seine Voraussetzungen ins empirische Ich verlegt hat. Und auch
wenn bereits Hegel dies Descartes vorhält, scheint er seinerseits nicht anders
zu verfahren: Das reine Sein ist seinerseits ein Anfang nur, indem es alle seine
Voraussetzungen ins empirische, sinnliche und konkrete Sein verlegt. Eine
derartige Haltung, die in der Zurückweisung der objektiven Voraussetzungen
besteht, vorausgesetzt allerdings, daß entsprechend viele subjektive Vorausset-
zungen vorgegeben werden (die übrigens vielleicht dieselben in anderer Form
sind) - eine derartige Haltung nimmt noch Heidegger ein, wenn er sich auf ein
vorontologisches Verständnis des Seins beruft. Daraus läßt sich der Schluß
ziehen, daß es keinen wahren Anfang in der Philosophie gibt, oder vielmehr,
daß der wahre philosophische Anfang, d.h. die Differenz, an sich selbst
bereits Wiederholung ist. Diese Formel aber, und die Erinnerung an die
170 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Philosophie als Zirkel, sind Gegenstände so vieler möglicher Deutungen, daß


man nicht genug Vorsicht walten lassen kann. Wenn es sich nämlich darum
handelt, am Ende wiederzufinden, was zu Beginn war, wenn es sich darum
handelt, das, was ohne Begriff und auf implizite Weise bloß bekannt war,
wiederzuerkennen, ans Licht zu ziehen, explizit zu machen oder auf den
Begriff zu bringen - wie komplex die Ziehung auch sein mag, welche Unter-
schiede zwischen den Verfahrensweisen dieses oder jenes Autors auch beste-
hen mögen -, so läßt sich doch sagen, daß all dies noch zu einfach ist und daß
der Kreis wahrhaftig nicht unwuchtig genug ist. Das Bild des Kreises würde
für die Philosophie eher eine Unfähigkeit zum wirklichen Anfang, aber auch
zur echten Wiederholung bezeugen.
Ermitteln wir besser, was eine subjektive oder implizite Voraussetzung ist: Sie
hat die Form des ,,Jedermann weiß, daß . . .“. Jedermann weiß, noch ohne
Begriff und auf vorphilosophische Weise . . ., jedermann weiß, was Denken
und Sein bedeutet . . ., so daß der Philosoph - wenn er sagt: Ich denke, also bin
ich - das Universale seiner Prämissen, was Sein und Denken meint . . ., als
implizit begriffen voraussetzen kann und niemand abzustreiten vermag, daß
Zweifeln Denken sei und Denken Sein . . . Jedermann weiß, niemand vermag
abzustreiten - dies ist die Form der Repräsentation und der Diskurs des
Repräsentanten. Wenn die Philosophie ihren Anfang durch implizite oder
subjektive Voraussetzungen absichert, so kann sie also Unschuld heucheln, da
sie nichts beibehalten hat, außer freilich das Wesentliche, d. h. die Form dieses
Diskurses. Also stellt sie dem Schulmeister den ,,Idioten“, Epistemon Eudo-
xus gegenüber, dem überreichen Verstand den guten Willen, dem von den
Allgemeinheiten sein er Zeit verdorbenen Mann den Privatmann, der einzig
mit seinem naturwüchsigen Denkvermögen begabt ist’. Die Philosophie
schlägt sich auf die Seite des Idioten als eines Mannes ohne Voraussetzungen.
In Wahrheit aber trifft Eudoxus nicht weniger Voraussetzungen als Episte-
mon, nur trifft er sie in einer anderen, impliziten oder subjektiven, ,,privaten”
und nicht ,,öffentlichen“ Form, in Form eines naturwüchsigen Denkvermö-
gens, die es der Philosophie erlaubt, sich den Anschein des Anfangens, eines
voraussetzungslosen Anfangs zu geben.
Hier jedoch erheben sich Schreie, vereinzelte und leidenschaftliche Schreie.
Wie sollten sie nicht vereinzelt sein, da sie ja abstreiten, daß ,,jedermann
wisse . . . “ ? Und wie nicht leidenschaftlich, da sie ja abstreiten, was niemand,
wie man sagt, abzustreiten vermag? Dieser Protest geschieht nicht im Namen
aristokratischer Vorurteile: Es geht nicht darum zu sagen, daß nur Wenige
denken und wissen, was Denken heißt. Demgegenüber aber gibt es einen, und
sei es nur einer, mit der nötigen Bescheidenheit, der es nicht schafft, davon

1 Vgl. Descartes: La rccherchc dc La vkrite par la lumi&c naturel/elDic Suche nach der
Wahrheit durch das natürliche Licht, hg. v. G. Schmidt, Würzburg 1989.
DAS BILD DES DENKENS 171

Kenntnis zu erhalten, was alle Welt weiß, und in aller Bescheidenheit abstrei-
tet, was doch jedermann wiedererkennen2 soll. Einen, der sich nicht repräsen-
tieren läßt, der aber ebensowenig was immer auch repräsentieren mag. Nicht
ein Privatmann [particulier] mit gutem Willen und naturwüchsigem Denkver-
mögen, sondern ein Einzelner [singulier]3 voll bösen Willens, dem das Denken
mißlingt, in der Natur ebenso wie im Begriff. Er allein ist ohne Voraussetzun-
gen. Er allein beginnt wirklich und wiederholt wirklich. Und für ihn sind die
subjektiven Voraussetzungen ebenso Vorurteile wie die objektiven, sind
Eudoxus und Epistemon ein und derselbe Betrüger, dem man zu mißtrauen
hat. Auf die Gefahr hin, den Idioten zu spielen, wollen wir dies wenigstens
nach russischer Art tun: ein Mann aus dem Kellerloch, der sich in den subjek-
tiven Voraussetzungen eines naturwüchsigen Denkvermögens ebensowenig
wiedererkennt wie in den objektiven Voraussetzungen einer Kultur seiner Zeit
und nicht über den Kompaß verfügt, um einen Kreis zu beschreiben. Ach ja,
Schestow, und die Fragen, die er zu stellen weiß, der böse Wille, den er zu
demonstrieren weiß, die Unfähigkeit zu denken, die er ins Denken hinein-
bringt, die doppelte Dimension, die er in diesen drängenden Fragen entfaltet,
den radikalsten Anfang und die hartnäckigste Wiederholung zugleich betref-
fen.
Eine Menge Leute verfolgen ihr eigenes Interesse mit der Behauptung, daß
jedermann ,,dies“ wisse, daß jedermann dies anerkenne, daß niemand dies
abstreiten könne. (Sie haben einen leichten Sieg, solange sich nicht ein verdros-
sener Gesprächsteilnehmer mit der Antwort erhebt, er wolle nicht auf diese
Weise repräsentiert werden, er streite dies ab und er erkenne diejenigen, die in
seinem Namen sprechen, nicht an.) Freilich geht der Philosoph unparteiischer
vor: Was er als allgemein anerkannt setzt, ist nur die Bedeutung von Denken,
Sein, Ich, d.h. nicht ein Dies, sondern die Form der Repräsentation oder der
Rekognition überhaupt. Doch enthält diese Form Materie, allerdings eine
reine Materie, ein Element. Dieses Element besteht nur in der Setzung des
Denkens als natürlicher Ausübung eines Vermögens unter Voraussetzung
eines naturwüchsigen Denkens, das zum Wahren fähig und geneigt ist, und
zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und
einer rechten Natur des Denkens. Denn jedermann denkt von Natur aus, und
jedermann sollte doch implizit wissen, w’as Denken bedeutet. Die allgemeinste
Form der Repräsentation liegt also im Element eines Gemeinsinns als rechter
Natur und guten Willens (Eudoxus und Orthodoxie). Die implizite Voraus-
setzung
.. der Philosophie findet sich im Gemeinsinn als cogitatio natura univer-
salis, von der aus die Philosophie ihren Ausgang nehmen kann. ES ist zweck-

’ Frz. reconnaitre; vgl. Fußnote 5, S. 176 [A.d.Ü.].


Der Gegensatz von Privatmann und Einzelnem spielt hier also auf die Gegenüber-
stellung von Besonderem /particuLier/ u n d Singulärem [singulier] an [A.d.Ü.l.
172 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

los, die Erklärungen der Philosophen zu vervielfältigen, von ,,Alle Men-


schen streben von Natur nach Wissen“ bis hin zu ,,Der gesunde Verstand
ist die bestverteilte Sache der Welt“, um die Existenz der Voraussetzung
zu verifizieren. Denn diese gilt weniger aufgrund der expliziten Sätze, die
sie provoziert, als aufgrund ihres hartnäckigen Fortbestands bei den Philo-
sophen, die sie eben im Dunkeln lassen. Die Postulate der Philosophie
sind nicht Sätze, deren Zugeständnis der Philosoph einfordert, sondern im
Gegenteil Themen von Sätzen, die implizit bleiben und auf vorphiloso-
phische Weise verstanden werden. In diesem Sinne ist die implizite Vor-
aussetzung des philosophischen Begriffsdenkens ein vorphilosophisches und
naturwüchsiges Bild des Denkens, das dem reinen Element des Gemein-
sinns entlehnt ist. Diesem Bild zufolge ist das Denken dem Wahren zuge-
neigt, besitzt es das Wahre in formaler Hinsicht und will das Wahre in
materieller Hinsicht. Und nach diesem Bild weiß jeder, sollte jeder wissen,
was denken bedeutet. Es ist dann nicht sonderlich wichtig, ob die Philoso-
phie mit dem Objekt oder mit dem Subjekt, mit dem Sein oder dem
Seienden beginnt, solange das Denken diesem Bild unterworfen bleibt, das
bereits alles, sowohl die Aufteilung von Subjekt und Objekt wie die von
Sein und Seiendem, präjudiziert.
Dieses Bild des Denkens können wir dogmatisches oder orthodoxes Bild,
moralisches Bild nennen. Sicherlich besitzt es Varianten: So wird es etwa in
den Annahmen der ,,Rationalisten“ und ,,Empiristen“ keineswegs auf gleiche
Weise festgelegt. Und mehr noch: die Philosophen verspüren, wie wir sehen
werden, in vielfacher Hinsicht Reue und lassen dieses implizite Bild nicht
gelten, ohne es um zahlreiche, der expliziten Reflexion des Begriffs entstam-
mende Züge zu ergänzen, die sich gegen es wenden und es zu stürzen versu- .
chen. Es hält jedoch im Impliziten stand, selbst wenn der Philosoph präzisiert,
alles in allem sei die Wahrheit ,,kein leicht zu erlangendes und für jeden
zugängliches Ding“. Darum sprechen wir nicht von diesem oder jenem Bild
des Denkens, das sich je nach Philosophie ändert, sondern von einem einzigen
Bild überhaupt, das die subjektive Voraussetzung der Philosophie in ihrer
Gesamtheit bildet. Nietzsche sagt, als er sich nach den allgemeinsten Voraus-
setzungen der Philosophie fragt, sie seien wesentlich moralisch, denn einzig
die Moral könne uns davon überzeugen, daß das Denken eine gute Natur und
der Denker einen guten Willen besitzen, und einzig das Gute könne die
vorausgesetzte Affinität zwischen dem Denken und dem Wahren stiften. Was
sonst denn als die Moral? Was sonst als jenes Gute, das das Denken dem
Wahren und das Wahre dem Denken verschreibt . . . Seither kommen die
Bedingungen einer Philosophie, die ohne Voraussetzungen irgendwelcher Art
wäre, besser zur Geltung: Anstatt sich auf das moralische Bild des Denkens zu
stützen, würde sie ihren Ausgangspunkt in einer radikalen Kritik des Bilds
und der von ihm implizierten ,,Postulate“ nehmen. Sie würde ihre Differenz
oder ihren wahren Anfang nicht in einem Einverständnis mit dem vorphiloso-
phischen Bild, sondern in einem unerbittlichen Kampf gegen das als Nicht-
DAS B I L D DES DENKENS 173

Philosophie verurteilte Bild finden”. Entsprechend würde sie ihre echte


Wiederholung in einem bildlosen Denken finden, und sei es um den Preis
größter Zerstörungen, größter Demoralisierungen und einer Hartnäckigkeit
der Philosophie, die nur das Paradox als Verbündeten hätte und auf die
Form der Repräsentation wie auf das Element des Gemeinsinns verzichten
müßte. Als ob das Denken nur durch die Befreiung vom Bild und von den
Postulaten ZU denken beginnen und immer von Neuem beginnen könnte.
Vergeblich sucht man die Lehre der Wahrheit umzuarbeiten, wenn man nicht
zunächst die Postulate erfaßt, die dieses deformierende Bild vom Denken
entwerfen.

De facto läßt es sich nicht von selbst verstehen, daß Denken die natürliche
Ausübung eines Vermögens sei, daß dieses Vermögen eine gute Natur und
einen guten Willen besitze. ,,Jedermann“ weiß sehr wohl, daß die Menschen
de facto selten und eher unter Einwirkung eines Schocks als im Eifer einer
Vorliebe denken. Und der berühmte Satz von Descartes, der gesunde Men-
schenverstand (das Vermögen zu denken) sei die bestverteilte Sache der Welt,
beruht bloß auf einem alten Scherz, da er ja in der Erinnerung daran besteht,
daß sich die Menschen allenfalls über einen Mangel an Gedächtnis, Einbil-
dungskraft oder gar Gehör beklagen, hinsichtlich der Intelligenz und des
Denkens aber stets annähernd dieselbe Meinung teilen. Wenn aber Descartes
Philosoph ist, so deshalb, weil er sich dieses Scherzes bedient, um ein Bild des
Denkens, wie es de jure ist, zu prägen: Die gute Natur und die Neigung zum
Wahren würden dem Denken von Rechts wegen zukommen, wie groß die
Schwierigkeit auch sein mag, den Rechtsanspruch in die Tatsachen zu überset-
zen oder ihn hinter den Tatsachen wiederzufinden. Der naturwüchsige Men-
schenverstand oder Gemeinsinn wird folglich als Bestimmung des reinen Den-
kens begriffen. Sinn und Verstand bleibt es vorbehalten, ihre eigene Universa-
lität zu präjudizieren; und sich als von Rechts wegen universal, als von Rechts
wegen mitteilbar zu postulieren. Zur Erhebung, zur Wiederauffindung des

4 Feuerbach gehört ZU denen, die hinsichtlich des Problems des Anfangs am weitesten
gegangen sind. Er prangert die impliziten Voraussetzungen in der Philosophie im
allgemeinen und in der Philosophie Hegels im besonderen an. Er zeigt, daß die
Philosophie nicht von ihrem Einverständnis mit einem vor-philosophischen Bild,
sondern von ihrer ,,Differenz“ zur Nicht-Philosophie ausgehen muß. (Er glaubt
allerdings, daß diese Forderung nach dem wahren Anfang ausreichend verwirklicht
ist, wenn man vom empirischen, sinnlichen und konkreten Sein ausgeht.) - Vgl. Zur
Kritik der Hegelschen Philosophie, in: Gesammelte Werke, hg. v. W. Schuffenhauer,
Berlin 1970, Bd. 9, S. 38-39.
174 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Rechtsanspruchs, d.h. zur Anwendung des wohlbegabten Geistes, ist eine


explizite Methode nötig. Es ist also sicher de facto schwierig zu denken. Aber
das Schwierigste de facto gilt als Leichtestes de jure; weshalb von der Natur
des Denkens aus die Methode selbst leicht genannt wird (es ist nicht übertrie-
ben zu sagen, dieser Begriff des Leichten vergifte den ganzen Kartesianismus).
Wenn die Philosophie ihre Voraussetzung in einem Bild des Denkens findet,
das rechtmäßige Geltung beansprucht, so können wir uns folglich nicht damit
begnügen, es mit entgegengesetzten Tatsachen zu konfrontieren. Man muß die
Diskussion auf die Ebene des Rechtsanspruchs selbst hinüberführen und
ermitteln, ob dieses Bild nicht das Wesen selbst des Denkens als reines Den-
ken verrät. Sofern es von Rechts wegen gilt, setzt dieses Bild eine gewisse
Aufteilung des Empirischen und des Transzendentalen voraus; und eben diese
Aufteilung muß beurteilt werden, d. h. jenes transzendentale Modell, das im
Bild impliziert wird.
Es gibt ja tatsächlich ein Modell, das der Rekognition. Die Rekognition defi-
niert sich durch die Ausübung aller Vermögen auf ein Objekt, das als das-
selbe vorausgesetzt wird: Dasselbe Objekt ist es, das gesehen, berührt, erin-
nert, imaginiert, begriffen . . . werden kann. Oder es ist, wie Descartes vom
Wachsstück behauptet, ,, dasselbe, das ich sehe, das ich betaste, das ich mir
bildlich vorstelle, kurz, dasselbe was ich von Anfang an gemeint habe“.
Zweifellos hat jedes Vermögen seine besonderen Gegebenheiten, das sinnlich
Erfahrbare, das Erinnerbare, das Vorstellbare, das Intelligible . . ., und seinen
besonderen Stil, seine besonderen Akte, die das Gegebene besetzen. Ein
Objekt aber wird erkannt, wenn es von einem Vermögen als identisch mit
dem eines anderen angesehen wird, oder vielmehr wenn alle Vermögen zu-
sammen ihr Gegebenes und sich selbst auf eine Identitätsform des Objekts
beziehen. Die Rekognition beansprucht also ein subjektives Prinzip der Zu-
sammenarbeit der Vermögen für ,,jedermann“, d.h. einen Gemeinsinn als
concordia facultatum; und gleichzeitig beansprucht die Identitätsform des
Objekts für den Philosophen einen Grund in der Einheit eines denkenden
Subjekts, dessen andere Vermögen alle notwendig Modi sind. Dies ist der
Sinn des Cogito als Anfang: Es verleiht der Einheit aller Vermögen im Sub-
jekt Ausdruck, es verleiht also der Möglichkeit Ausdruck, die für alle Ver-
mögen besteht, nämlich sich auf eine Objektform zu beziehen, die die sub-
jektive Identität reflektiert, es verschafft der Voraussetzung des Gemeinsinns
einen philosophischen Begriff, es ist der philosophisch gewendete Gemein-
sinn. Bei Kant wie bei Descartes ist es die Identität des Ichs im Ich denke,
die die Übereinstimmung aller Vermögen und ihren Einklang hinsichtlich
der Form eines als dasselbe vorausgesetzten Objekts begründet. Man wird
einwenden, daß wir niemals einem formalen Objekt, irgendeinem universa-
len Objekt überhaupt gegenüberstehen, sondern stets diesem oder jenem
Objekt, das durch einen bestimmten Beitrag der Vermögen zugerichtet und
spezifiziert wird. Hier aber muß die genaue Differenz zwischen zwei kom-
plementären Instanzen, Gemeinsinn und gesunder Menschenverstand, ins
DAS BILD DES DENKEN S 175

Spiel gebracht werden. Wenn nämlich der Gemeinsinn vom Standpunkt des
reinen Ichs und der Form eines ihm entsprechenden Objekts überhaupt aus
die Identitätsnorm darstellt, SO ist der gesunde Menschenverstand vom
Standpunkt der empirischen Ichs und der jeweils einzeln qualifizierten
Objekte aus die Verteilungsnorm
- (dasjenige,
- weswegen er sich universal ver-
teilt glaubt). Der gesunde Menschenverstand ist es, der den Beitrag der Ver-
mögen in jedem einzelnen Fall bestimmt, wenn der Gemeinsinn die Form
des Selben liefert. Und wenn das Objekt überhaupt nur als qualifiziertes
existiert, so vollzieht sich umgekehrt die Qualifizierung nur durch die
Annahme des Objekts überhaupt. Wir werden später sehen, wie gesunder
Menschenverstand und Gemeinsinn damit ganz zwangsläufig einander im
Bild des Denkens ergänzen: Sie beide allein bilden die beiden Hälften der
Doxa. Für den Augenblick genügt es, die Voreiligkeit der Postulate selbst zu
kennzeichnen: das Bild eines von Natur aus richtigen Denkens, das zudem
weiß, was Denken bedeutet; das reine Element des Gemeinsinns, das sich
daraus ,,von Rechts wegen“ herleitet; das Modell der Rekognition oder
bereits die Form der Repräsentation, die sich ihrerseits daraus ergibt. Es
wird angenommen, das Denken sei von Natur aus richtig, weil es kein Ver-
mögen wie die anderen ist, sondern, bezogen auf ein Subjekt, die Einheit
aller anderen Vermögen, die bloß seine Modi darstellen und von ihm auf
die Form des Selben im Modell der Rekognition hin ausgerichtet werden.
Das Modell der Rekognition ist im Bild des Denkens notwendig einge-
schlossen. Und wenn man Platons Theaitetos, Descartes’ Meditationes, die
Kritik der reinen Vernunft betrachtet, so ist es immer noch dieses Modell,
das gebietet und die philosophische Analyse dessen, was Denken bedeutet,
,,ausrichtet“.
Eine derartige Ausrichtung ist für die Philosophie fatal. Denn die Annahme
der dreifachen Ebene eines von Natur aus richtigen Denkens, eines von
Rechts wegen natürlichen Gemeinsinns, einer Rekognition als transzendenta-
les Modell kann nur ein Orthodoxieideal ergeben. Die Philosophie verfügt
über keinerlei Mittel mehr, ihr Projekt, den Bruch mit der Doxa, ZU ver-
wirklichen. Sicher verwirft die Philosophie jede besondere Doxa; sicher hält
sie keinen einzigen besonderen Satz des gesunden Menschenverstands oder
des Gemeinsinns aufrecht. Sicher anerkennt sie nichts im besonderen. Sie
bewahrt aber das W esentliche der Doxa, nämlich die Form; und das Wesent-
liche des Gemeinsinns, nämlich das Element; und das Wesentliche der Reko-
gnition, nämlich das Modell (Übereinstimmung der Vermögen, die im als
universal begriffenen denkenden Subjekt gründet und sich auf das Objekt
überhaupt wendet) Das Bild des Denkens ist nur die Gestalt, in der man die
Doxa universalisiert indem man sie auf rationale Ebene hebt. Man bleibt
aber Gefangener der Doxa wenn man bloß von ihrem empirischen Inhalt
abstrahiert, während man den Gebrauch der Vermögen wahrt, der ihr ent-
spricht und implizit am Wesentlichen des Inhalts festhält. Mag man auch
eine überzeitliche Form oder gar unterzeitliche, unterirdische erste Materie
176 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

oder Urdoxa [i.O.dt.] entdecken - man wird dennoch keinen Schritt voran-
kommen, Gefangener derselben Höhle oder der Ideen der Zeit, mit deren
,,Wiederfinden“ man bloß kokettiert, indem man sie mit dem Zeichen des
Philosophischen segnet. Niemals hat die Rekognition anderes als das
Wiedererkennbare und Wiedererkannte5 geheiligt, niemals hat die Form
anderes als Konformitäten eingegeben. Und wenn die Philosophie auf einen
Gemeinsinn als ihre implizite Voraussetzung zurückgeht, WOZU braucht der
Gemeinsinn dann die Philosophie, er, der - leider! - tagtäglich beweist, daß
er sie nach seiner Fasson zurichten kann? Eine doppelte, zum Ruin führende
Gefahr für die Philosophie. Einerseits ist es offenkundig, daß die Rekogni-
tionsakte existieren und einen großen Teil unseres täglichen Lebens einneh-
men: Das ist ein Tisch, das ist ein Apfel, das ist ein Wachsstück, guten Tag,
Theaitetos. Wer aber kann glauben, daß hierin das Schicksal des Denkens
auf dem Spiel steht und daß wir denken, wenn wir erkennen? Man mag
wohl wie Bergson zwei Rekognitionstypen unterscheiden, die Rekognition
der Kuh angesichts des Grases und die des Menschen, der seine Erinnerun-
gen wachruft - der zweite Typ kann dennoch ebensowenig wie der erste ein
Modell dessen, was Denken bedeutet, abgeben. Wir sagten, man müsse das
Bild des Denkens hinsichtlich seiner recht-mäßigen Ansprüche und nicht den
tatsächlichen Einwänden zufolge beurteilen. Was aber diesem Bild des Den-
kens zum Vorwurf gemacht werden muß, liegt eben darin, daß es sein ver-
meintliches Recht auf die Extrapolation gewisser Tatsachen, auf die Extrapo-
lation besonders insignifikanter Tatsachen, auf die alltägliche Banalität
höchstpersönlich, die Rekognition, gegründet hat, als ob das Denken seine
Modelle nicht in ferneren und riskanteren Abenteuern suchen dürfte. Neh-
men wir das Beispiel Kants: Unter allen Philosophen ist es Kant, der das
ungeheure Gebiet des Transzendentalen entdeckt. Er gleicht einem großen
Entdecker; keine andere Welt, sondern Gebirge oder Höhlenlandschaft die-
ser Welt. Doch was macht er? In der ersten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft beschreibt er detailliert drei Synthesen, die den jeweiligen Beitrag
der Denkvermögen ermessen, wobei sie alle in der dritten gipfeln, in der
Synthese der Rekognition, die sich in der Form des Objekts überhaupt als
Korrelat des Ich denke ausdrückt, auf das sich alle Vermögen beziehen. Es
ist klar, daß Kant damit die sogenannten transzendentalen Strukturen auf die
empirischen Akte eines psychologischen Bewußtseins durchpaust: Die trans-
zendentale Synthese der Apprehension wird unmittelbar von einer empiri-
schen Apprehension
-- induziert usw. Zur Vertuschung eines so deutlich sicht-
baren Vorgehens unterdrückt Kant diesen Text in der zweiten Auflage. Bes-

5 Frz. reconnaissa ble bzw. reconn 24: von reconnattre, das hier in einer Ambiguität von
,,erkennen”, ,,w iedererkennen“ und ,,anerkennen” verwendet ist; vgl. Fußnote 2, So
171 [A.d.ü.].
DAS B I L D DES DENKENS 177

s e r vertuscht, besteht die Abklatschmethode nichtsdestoweniger fort, mit all


ihrem ,,Psychologismus“.
Zum Zweiten ist die Rekognition nur als spekulatives Modell insignifikant,
aber sie ist es nicht länger in den Zwecken, denen sie dient und zu denen sie
u n s mitzieht. Das Erkannte ist ein Objekt, zugleich aber eine Bewertung des
Objekts (die Werte sind sogar wesentlich an den durch den gesunden Men-
schenverstand vollzogenen Verteilungen beteiligt). Wenn die Rekognition
ihre praktische Zweckmäßigkeit in den ,,bestehenden Werten“ findet, so
bezeugt jegliches Bild des Denkens als Cogitatio natura unter diesem Modell
eine beunruhigende Willfährigkeit. Tatsächlich scheint die Wahrheit, wie
Nietzsche sagt, ,,ein bequemes und gemütliches Wesen [zu sein], ,welches
allen bestehenden Gewalten wieder und wieder versichert, niemand solle
ihrethalben irgendwelche Umstände haben; man sei ja nur ‘reine Wissen-
schaft’ [. . .]‘? Was ist das für ein Denken, das niemandem Böses tut, weder
dem Denkenden noch den anderen? Das Zeichen der Rekognition feiert ein
schauerliches Verlöbnis, in dem das Denken zum Staat ,,zurückfindet“, zur
,,Kirche“ zurückfindet, zu allen Werten der Zeit zurückfindet, die es scharf-
sinnig in die reine Form eines ewigen, auf ewig abgesegneten Objekts über-
haupt eingehen ließ. Wenn Nietzsche die Schaffung neuer Werte und die
Rekognition bestehender Werte unterscheidet, so darf diese Unterscheidung
mit Sicherheit nicht auf relative, historische Art und Weise begriffen werden,
als ob die geltenden Werte zu ihrer Zeit neu gewesen wären und als ob die
neuen Werte bloß Zeit bräuchten, um sich häuslich einzurichten. In Wahr-
heit handelt es sich um eine formale und wesentliche Differenz, und in sei-
ner Macht des Anfangs und des Neuanfangs bleibt das Neue für immer neu,
wie das Bestehende von Anbeginn eingesessen war, selbst wenn es etwas
empirische Zeit dauerte, bis man es anerkannte. Was sich im Neuen einrich-
tet, ist gerade nicht das Neue. Denn das Eigentliche des Neuen, d.h. die
Differenz, liegt darin, Kräfte im Denken zu erwecken, die weder heute noch
morgen der Rekognition zugehören, Mächte eines ganz anderen Modells, in
einer niemals wiedererkannten oder wiedererkennbaren terra incognita. Und
d u r c h welche Kräfte gelangt es ins Denken, von welchem Zentrum einer
bösen Natur und eines bösen Willens aus, durch welchen zentralen Zusam-
menbruch, der das Denken seines ,,Angeborenseins“ beraubt und es stets
von Neuem als etwas behandelt, das nicht schon immer existiert hat, son-
dern beginnt, gezwungen und genötigt? Wie lächerlich sind daneben die
willkürlichen Kämpfe für die Rekognition. Kampf gibt es immer nur unter
einem Gemeinsinn und im Umkreis bestehender Werte, mit dem Zweck,
sich gängige Werte (Ehre, Reichtum, Herrschaft) zuzusprechen oder zuspre-

6 Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Schopenhauer als Erzieher, in: Werke,


a-a-o-, Bd. 1, S. 299.
178 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

chen zu lassen. Seltsamer Kampf der Bewußtseine um die Eroberung der


Trophäe, die durch die Cogitatio natura universalis gebildet wird, um die
Trophäe der reinen Rekognition und Repräsentation. Nietzsche lachte beim
bloßen Gedanken daran, daß es sich bei dem, was er Willen zur Macht
nannte, um all dies handeln könnte. Und nicht nur Hegel, sondern auch
Kant nannte er ,,philosophische Arbeiter“, weil ihre Philosophie von die-
sem untilgbaren Modell der Rekognition gezeichnet blieb.
Dennoch schien Kant gerüstet, das Bild des Denkens zu stürzen. Den
Begriff des Irrtums ersetzte er durch den der Illusion: innere, der Vernunft
inhärente Illusionen, anstatt von außen herrührende Irrtümer, die bloß die
Wirkung einer Kausalität des Körpers wären. An die Stelle des substantiel-
len Ichs setzte er das durch die Linie der Zeit gänzlich gespaltene Ich; und
in ein und derselben Bewegung erlagen Gott und das Ich einer Art speku-
lativen Tods. Trotz allem aber wollte Kant nicht auf die impliziten Vor-
aussetzungen verzichten, selbst auf die Gefahr hin, den Begriffsapparat der
drei Kritiken aufs Spiel zu setzen. Das Denken mußte weiterhin über eine
rechte Natur verfügen, und die Philosophie durfte nicht weiter und in
keine anderen Richtungen als der Gemeinsinn selbst oder der ,,gemeine
Verstand“ gehen. Die Kritik besteht dann höchstens darin, das Denken,
das unter dem Gesichtspunkt seines Naturgesetzes betrachtet wird, in den
Bürgerstand zu erheben: Kants Unternehmen vervielfältigt den Gemein-
sinn, erzeugt soviele Gemeinsinne, wie es natürliche Interessen des ver-
nünftigen Denkens gibt. Wenn es nämlich zutrifft, daß der Gemeinsinn
überhaupt stets eine Zusammenarbeit der Vermögen unter einer Form des
Selben oder ein Rekognitionsmodell impliziert, so bleibt nichtsdestoweniger
bestehen, daß von Fall zu Fall ein aktives Vermögen neben den anderen
damit beauftragt ist, diese Form oder dieses Vermögen zu liefern, dem die
anderen ihren Beitrag unterstellen. Auf diese Weise arbeiten Einbildungs-
kraft, Vernunft und Verstand in der Erkenntnis zusammen und bilden
einen ,,l ogischen Gemeinsinn“; allerdings ist es der Verstand, der hier das
gesetzgebende Vermögen darstellt und das spekulative Modell liefert, dem-
gemäß die beiden anderen zur Mitarbeit angehalten sind. Hinsichtlich des
praktischen Modells der Rekognition hingegen ist es die Vernunft, die im
moralischen Gemeinsinn gesetzgebend wirkt. Freilich gibt es ein drittes
Modell, in dem die Vermögen zu einem freien Zusammenspiel in einem
spezifisch ästhetischen Gemeinsinn gelangen. Wenn alle Vermögen tatsäch-
lich in der Rekognition überhaupt zusammenarbeiten, so unterscheiden
sich die Formeln dieser Zusammenarbeit je nach den Bedingungen dessen,
was erkannt werden soll, Erkenntnisobjekt, moralischer Wert, ästhetische
Wirkung . . . Weit davon entfernt, die Form des Gemeinsinns zu stürzen,
hat Kant ihn also bloß vervielfältigt. (Gilt nicht dasselbe für die Phä-
nomenologie. ? Entdeckt diese nicht einen vierten Gemeinsinn, der sich
nun auf die Sinnlichkeit als passiver Synthese gründet und dennoch, um
eine Urdoxa [i.O.dt.] zu bilden, in der Form der Doxa gefangen
DAS B ILD DES DENKENS 179

bleibt?‘). Man sieht, bis zu welchem Punkt die Kantische Kritik letztendlich
ehrenwert ist: Niemals werden die Erkenntnis, die Moral, die Reflexion, der
Glaube selbst infragegestellt, da sie für Entsprechungen natürlicher Interessen
der Vernunft gehalten werden, sondern nur der Gebrauch der Vermögen, den
man gemäß des einen oder anderen dieser Interessen für gerechtfertigt oder
ungerechtfertigt erklärt. Überall legt das variable Modell der Rekognition den
richtigen Gebrauch fest, in einer Eintracht der Vermögen, die durch die
Vorherrschaft eines Vermögens unter einem Gemeinsinn bestimmt wird.
Darum läßt sich der illegitime Gebrauch (die Illusion) nur dadurch erklären:
daß das Denken in seinem natürlichen Stand seine Interessen durcheinander-
bringt und seine Herrschaftsgebiete widerrechtlich aufeinander’ übergreifen
läßt. Was nicht verschlägt, daß es im Grunde über eine gute Natur, ein gutes
Naturgesetz verfüge, dem die Kritik ihre bürgerrechtliche Billigung entgegen-
bringt; und daß die Herrschaftsgebiete, Interessen, Grenzen und Besitztümer
geheiligt und auf einem unveräußerlichen Recht gegründet seien. Alles ist in
der Kritik vorhanden, ein Friedensgericht, eine Registrierbehörde, ein Kata-
steramt - nur nicht die Macht einer neuen Politik, die das Bild des Denkens
stürzen würde. Selbst der tote Gott und das gespaltene Ego sind bloß ein
ungünstiger Moment, der vorübergeht, der spekulative Moment; besser einge-
bunden und zuverlässiger denn je, selbstsicherer erstehen sie von neuem,
allerdings in einem anderen Interesse, im praktischen oder moralischen Inter-
esse.
Dies ist die Welt der Repräsentation allgemein. Wir sagten oben, die Repräsen-
tation definiere sich durch gewisse Elemente: durch die Identität im Begriff,
den Gegensatz in der Bestimmung des Begriffs, die Analogie im Urteil, die
Ähnlichkeit im Objekt. Die Identität des Begriffs überhaupt konstituiert die
Form des Selben in der Rekognition. Die Bestimmung des Begriffs impliziert
den Vergleich der möglichen Prädikate mit ihrem jeweiligen Gegensatz, und
zwar in einer doppelten, regressiven wie progressiven Reihe, welche einerseits

y Zum Gemeinsinn und zum Fortbestand des Modells der Rekognition vgl. Maurice
Merleau-Pony Phenom&logie de la perception, Paris 1961, S. 276ff. u. 366ff.;
dtJ’b&zomenoZogie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 281 ff. u. 363 ff. - Zur kanti-
schen Theorie der Gemeinsinne vgl. vor allem: Kritik der Urteilskraft, § 18-22 und
40. Ebenso die Grundsatzerklärungen der Kritik der reinen Vernunft: ,,[. . -1 die
höchste Philosophie [kann es] in Ansehung der menschlichen Natur [*. l 1 nicht
weiterbringen [. . .], als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat
angedeihen lassen“; der ,,bloße Mißbrauch“ der Ideen der reinen Vernunft ,,muß es
allein machen, daß uns von ihnen ein trügerischer Schein entspringt; denn sie sind
uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben, und dieser oberste Gerichtshof
aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüng-
liche Täuschungen und Blendwerke enthalten” (Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 695 und
582).
180 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

vom Erinnern, andererseits von einer Einbildungskraft durchlaufen wird, die


auf ein Wiederfinden, auf eine Wiedererschaffung abzielt (erinnernd-imagina-
tive Reproduktion). Die Analogie bezieht sich entweder auf die höchsten
bestimmbaren Begriffe oder auf die Beziehungen der bestimmten Begriffe zu
ihrem jeweiligen Objekt und appelliert an die Aufteilungsmacht in der Urteils-
kraft. Was das Begriffsobjekt an sich selbst oder im Verhältnis zu anderen
Objekten betrifft, so verweist es auf die Ähnlichkeit als dem Requisitum einer
Kontinuität in der Wahrnehmung. Jedes Element ruft also auf besondere
Weise ein Vermögen wach, installiert sich aber zugleich von einem Vermögen
zum anderen im Innern eines Gemeinsinns (so etwa die Ähnlichkeit zwischen
einer Wahrnehmung und einem Erinnerungsvorgang). Das Ich denke ist das
allgemeinste Prinzip der Repräsentation, d.h. die Quelle dieser Elemente und
die Einheit all dieser Vermögen: Ich begreife, ich urteile, ich stelle mir vor und
erinnere mich, ich nehme wahr - als die vier Äste des Cogito. Und eben an
diesen Ästen wird die Differenz gekreuzigt. Eine vierfache Zwangsjacke, in
der einzig das als unterschieden gedacht werden kann, was identisch, ähnlich,
analog und entgegengesetzt ist; die Differenz wird zum Gegenstand der
Repräsentation immer nur im Verhältnis zu einer begriffenen Identität, einer
beurteilten Analogie, eines vorgestellten Gegensatzes, einer wahrgenommenen
Ähnlichkeit8. Man verleiht der Differenz einen zureichenden Grund als princi-
pium comparationis in dieser vierfachen Gestalt zugleich. Darum ist die Welt
der Repräsentation durch ihre Unfähigkeit, die Differenz an sich selbst ZU
denken, gekennzeichnet; und ebenso durch die Unfähigkeit, die Wiederholung
[repetition] für sich selbst zu denken, da diese nurmehr über die Rekognition,
die Aufteilung [repartition], die Reproduktion, die Ähnlichkeit [ressemblance]
erfaßt wird, sofern sie das Präfix RE in den bloßen Allgemeinheiten der
Repräsentation veräußern. Das Postulat der Rekognition war also ein -erster
Schritt in Richtung auf ein noch sehr viel allgemeineres Postulat der Repräsen-
tation.

,,Ich zeige dir also, sprach ich, wenn du es siehst, in den Wahrnehmungen
einiges, was gar nichtdie Vernunft zum Nachdenken auffordert, als werde es
schon hinreichend durch die Wahrnehmung bestimmt, anderes hingegen, was
auf alle Weise jene herbeiruft zum Nachdenken, als ob dabei die Wahrneh-
mung nichts Gesundes ausrichte. - Offenbar, sagte er, meinst du, was sich nur
von Ferne zeigt und was nach Licht und Schatten gezeichnet ist. - Diesmal,

8 Zur doppelten Unterordnung der Differenz unter die begriffene Identität und die
wahrgenommene Ähnlichkeit in der ,,klassischen“ Welt der Repräsentation vgl.
Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris 1966, S. 66ff. und 82 ff.; dt.: Die
Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1971, S. 84 ff. und 103 ff.
DAS BILD DES DENKENS 181

sprach ich, hast du nicht SO recht getroffen, was ich meine . . .cC9. Dieser Text
unterscheidet also zwei Arten von Dingen: diejenigen, von denen das Denken
nicht behelligt wird, und (Platon wird es weiter unten sagen) diejenigen, die
zum Denken nötigen. Die ersteren sind die Objekte der Rekognition. Das
Denken und all seine Vermögen mag mit ihnen hinreichend beschäftigt sein;
das Denken mag sie sich angelegen sein lassen, aber diese Angelegenheit und
diese Beschäftigung haben nichts mit Denken zu tun. Bei ihnen wird das
Denken nur mit einem Bild seiner selbst erfüllt, in dem es sich um so besser
erkennt, als es die Dinge erkennt: Das ist ein Finger, das ist ein Tisch, guten
Tag, Theaitetos. Daher die Frage von Sokrates’ Gesprächspartner: Denkt man
wahrhaft dann, wenn man nicht oder nur mit Mühe erkennt? Der Gesprächs-
partner scheint bereits Kartesianer zu sein. Es ist aber klar, daß uns das
Zweifelhafte nicht aus dem Standpunkt der Rekognition heraustreten läßt.
Darum ruft es auch nur einen lokalen Skeptizismus hervor, oder eine verall-
gemeinerte Methode, wenn nur das Denken bereits den Willen zur Erkenntnis
dessen hat, wodurch sich Gewißheit und Zweifel wesentlich unterscheiden.
Mit den zweifelhaften Dingen verhält es sich wie mit den gewissen: Sie setzen
den guten Willen des Denkenden und die gute Natur des Denkens voraus, die
als Ideal der Rekognition begriffen werden, jene vorgebliche Neigung zum
Wahren, jene qxhicx, die zugleich das Bild des Denkens und den Begriff der
Philosophie vorherbestimmt. Und die gewissen Dinge nötigen ebensowenig
wie die zweifelhaften zum Denken. Daß die drei Winkel eines Dreiecks not-
wendig zwei rechten Winkeln gleich sind - damit wird das Denken vorausge-
setzt, der Wille zum Denken, der Wille, ans Dreieck und noch an seine
Winkel zu denken: Descartes bemerkte, daß man diese Gleichheit nicht leug-
nen könne, wenn man sie denkt, daß man aber sehr wohl denken, selbst ans
Dreieck denken könne, ohne an diese Gleichheit zu denken. Alle Wahrheiten
dieser Art sind hypothetischer Natur, da sie unfähig sind, den Akt des Den-
kens im Denken entstehen zu lassen, da sie all das voraussetzen, was infrage-
steht. In Wahrheit bezeichnen die Begriffe immer nur Möglichkeiten. Ihnen
fehlt eine Kralle, die die der absoluten Notwendigkeit wäre, d. h. einer
ursprünglichen Gewalt, die dem Denken zugefügt würde, einer Fremdheit,
einer Feindschaft, die allein es aus seinem naturwüchsigen Stupor oder seiner
ewigen Möglichkeit heraustreiben könnte: so sehr gibt es Denken nur als
unwillkürliches, als im Denken hervorgerufenen Zwang, der um so mehr
absolute Notwendigkeit besitzt, als er einbruchartig aus dem Zufälligen der
Welt entsteht . Am Anfang des Denkens steht der Einbruch, die Gewalt, der
Feind, und nichts setzt die Philosophie voraus, alles beginnt mit einer Misoso-
phie. Zählen wir nicht auf das Denken, um die relative Notwendigkeit dessen,

9 Platon: Politeia, VIII, 523 b ff. [Sc hl eiermachers Übersetzung leicht verändert;
A.d.ü.1.
182 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

was es denkt, zu festigen, sondern im Gegenteil auf die Kontingenz einer


Begegnung mit dem, was zum Denken nötigt, um die absolute Notwendigkeit
eines Denkakts, einer Leidenschaft zum Denken aufzureizen und anzusta-
cheln. Die Bedingungen einer wahrhaften Kritik und einer wahrhaften Schöp-
fung sind die nämlichen: Zerstörung des Bilds eines Denkens, das sich selbst
voraussetzt, Genese des Denkakts im Denken selbst.
Es gibt etwas in der Welt, das zum Denken nötigt. Dieses Etwas ist Gegen-
stand einer fundamentalen Begegnung, und nicht einer Rekognition. Was
einem begegnet, mag Sokrates, der Tempel oder der Dämon sein. Es mag in
verschiedenen affektiven Klangfarben erfaßt werden, Bewunderung, Liebe,
Haß, Schmerz. In seinem ersten Merkmal aber, und in ganz gleich welcher
Klangfarbe, kann es nur empfunden werden. Gerade in dieser Hinsicht wider-
setzt es sich der Rekognition. Denn das Sinnliche ist in der Rekognition
keineswegs das, was nur empfunden werden kann, sondern dasjenige, was sich
unmittelbar auf die Sinne in einem Objekt bezieht, das erinnert, imaginiert,
begriffen werden kann. Das Sinnliche ist nicht nur auf ein Objekt bezogen,
das mehr als bloß empfunden werden kann, es kann vielmehr selbst von
anderen Vermögen intendiert werden. Es setzt also den Gebrauch der Sinne
und den Gebrauch der anderen Vermögen in einem Gemeinsinn voraus. Dage-
gen läßt das Objekt der Begegnung wirklich die Sinnlichkeit im Sinn entste-
hen. Dies ist kein aio@@v, sondern ein aio0qi;Eov. Das ist keine Qualität,
sondern ein Zeichen. Kein sinnliches Sein, sondern das Sein des Sinnlichen.
Nicht das Gegebene, sondern das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Darum
ist es in gewisser Weise auch das Unsinnliche. Das Unsinnliche gerade vom
Standpunkt der Rekognition aus, d h vom Standpunkt eines empirischen
Gebrauchs, in dem die Sinnlichkeit nur d as erfaßt, was auch andere Vermögen
erfassen können, und sich unter einem Gemeinsinn auf ein Objekt bezieht, das
auch von den anderen Vermögen aufgefaßt werden muß. Angesichts dessen,
was nur empfunden werden kann (des Unsinnlichen zugleich), befindet sich
die Sinnlichkeit vor einer ihr eigenen Grenze - dem Zeichen - und schwingt
sich zu einem transzendenten Gebrauch auf - der n-ten Potenz. Der Gemein-
sinn ist nicht mehr da, um den spezifischen Beitrag der Sinnlichkeit unter
Voraussetzung einer gemeinsamen Arbeit zu begrenzen; diese tritt in ein
diskordantes Spiel ein, ihre Organe werden metaphysisch.
Zweites Merkmal: Was nur empfunden werden kann (das sentiendum oder das
Sein des Sinnlichen) erschüttert die Seele, macht sie ,,perplex”, d. h. zwingt sie,
ein Problem zu stellen. Als ob der Gegenstand der Begegnung, das Zeichen,
Träger des Problems wäre - als ob er problematisch wäre”. Muß man, in

10 Ebd., 524 a-b - Man wird bemerken, wie Gaston Bachelard in Le rationalisme
dppZique (Paris’ 1949, S. 55-56) das P r o bl em oder das Träger-Objekt des Problems
dem kartesianischen Zweifel gegenüberstellt und das Modell der philosophischen
Rekognition denunziert.
DAS BILD DES DENKENS 183

Übereinstimmung mit anderen Texten Platons, das Problem oder die Frage
mit dem singulären Objekt eines transzendentalen Gedächtnisses identifizie-
ren, das einen Lernprozeß auf diesem Gebiet ermöglicht, indem es das
erfaßt, was nur erinnert werden kann? Alles weist darauf hin; denn die Pla-
tonische Wiedererinnerung will tatsächlich das Sein der Vergangenheit fas-
sen, Unvordenkliches oder memorandum, und zugleich mit einem wesentli-
chen Vergessen geschlagen, gemäß dem Gesetz des transzendenten
Gebrauchs, das bestimmt, daß das, was nur erinnert werden kann, zugleich
unmöglich (im empirischen Gebrauch) zu erinnern ist. Es besteht ein großer
Unterschied zwischen diesem wesentlichen Vergessen und einem empiri-
schen Vergessen. Das empirische Gedächtnis wendet sich an Dinge, die auf
andere Weise erfaßt werden können oder gar müssen: Was ich erinnere, muß
ich gesehen, gehört, mir vorgestellt oder gedacht haben. Im empirischen Sinn
ist das Vergessene dasjenige, was man nicht wieder ins Gedächtnis zu rufen
vermag, wenn man es ein zweites Mal sucht (es liegt zu weit zurück, das
Vergessen trennt mich von der Erinnerung oder hat sie gelöscht). Das trans-
zendentale Gedächtnis aber erfaßt das, was beim ersten Mal, vom ersten Mal
an nur erinnert werden kann: nicht eine kontingente Vergangenheit, sondern
das Sein der Vergangenheit als solcher, seit jeher vergangen. Als vergessenes -
so erscheint das Ding leibhaftig, und zwar dem Gedächtnis, das es dem
Wesen nach auffaßt. Es wendet sich nicht ans Gedächtnis, ohne sich
zugleich ans Vergessen im Gedächtnis zu wenden. Das memorandum ist hier
zugleich das Unerinnerbare, das Unvordenkliche. Das Vergessen ist nicht
mehr eine kontingente Unfähigkeit, die uns von einer selbst kontingenten
Erinnerung trennt, es existiert vielmehr in der wesentlichen Erinnerung als
der n-ten Potenz des Gedächtnisses, hinsichtlich seiner Grenze oder hin-
sichtlich dessen, was nur erinnert werden kann. Dasselbe galt für die Sinn-
lichkeit: Dem kontingenten Sinnlichen, das für unsere Sinn; im empirischen
Gebrauch zu klein und zu weit entfernt ist, steht ein wesentliches Unsinn-
liches gegenüber, d a s mit dem verschmilzt, was vom transzendenten
Gebrauch-aus gesehen nur empfunden werden kann. Nun also nötigt die
Sinnlichkeit, die durch die Begegnung genötigt wurde, das sentiendum ZU
empfinden, ihrerseits das Gedächtnis, sich des memorandum zu erinnern,
dessen, was nur erinnert werden kann. Und schließlich nötigt - drittes
Merkmal - das transzendentale Gedächtnis seinerseits das D enken dazu, das
zu erfassen, was nur gedacht werden kann, das cogitandum, das YO@OV,
das Wesen: nicht das Intelligible, denn dieses ist immer noch bloß der
Modus, in dem man denkt, was nicht unbedingt nur gedacht werden muß,
sondern das Sein des Intelligiblen als höchster Potenz des Denkens und
zugleich das Undenkbare. Vom sentiendum zum cogitandum hat sich die
Gewalt dessen entfaltet, was zum Denken nötigt. Jedes Vermögen ist aus
seinen Angeln gehoben. Was aber sind die Angeln, wenn nicht die Form des
Gemeinsinns, der alle Vermögen kreisen und konvergieren ließ? Jedes davon
hat seinerseits und in seiner Ordnung die Form des Gemeinsinns, der es im
184 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

empirischen Element der doxa festhielt, aufgebrochen, um seine n-te Potenz


wie das Element des Paradoxons im transzendenten Gebrauch zu erlangen.
Anstatt daß alle Vermögen konvergieren und dem gemeinsamen Bemühen zur
Erkenntnis eines Objekts zuarbeiten, wohnt man einem divergenten Bemühen
bei, wobei jedes Vermögen hinsichtlich dessen, was es wesentlich betrifft,
seinem ,,Eigenen” gegenübergestellt wird. Zwietracht der Vermögen, An-
griffskette oder Schützenkordon, wo jedes seiner Grenze trotzt und vom
anderen nichts weiter erfährt (oder ihm nichts weiter mitteilt) als eine Gewalt,
die es mit seinem eigenen Element wie mit seinem disparaten und unvergleich-
lichen konfrontiert.
Verweilen wir dennoch bei der Art und Weise, mit der Platon die Natur
der Grenzen im jeweiligen Fall bestimmt. Der Text der Politeia definiert
das, was wesentlich Gegenstand der Begegnung ist und sich notwendig von
jeglicher Rekognition unterscheidet, als ,,Empfindung, die zugleich ihr
Gegensatz is tCc . Während der Finger immer nur ein Finger und stets ein
Finger ist, der die Erkenntnis wachruft, ist das Harte niemals hart, ohne
zugleich weich zu sein, da es untrennbar mit einem Werden oder einer
Relation verbunden ist, die den Gegensatz in es hineintragen (entsprechend
das Große und das Kleine, das Eine und das Viele). Die Koexistenz der
Gegensätze, die Koexistenz des Mehr und des Weniger in einem unbe-
grenzten qualitativen Werden also ist es, die das Zeichen oder den Aus-
gangspunkt dessen bildet, was zu denken nötigt. Die Rekognition dagegen
bemißt und begrenzt die Qualität, indem sie sie auf etwas bezieht, sie
bringt deren Verrückt-Werden zum Stillstand. Verwechselt Platon aber,
indem er die erste Instanz durch diese Form von Gegensatz oder qualitati-
ver Kontrarietät definiert, nicht bereits das Sein des Sinnlichen mit einem
bloßen sinnlichen Sein, mit einem reinen qualitativen Sein (a;o@t@v)? Der
Verdacht verstärkt sich, sobald man die zweite Instanz, die Instanz der
Wiedererinnerung betrachtet. Denn die Wiedererinnerung bricht nur schein-
bar mit dem Modell der Rekognition. Sie begnügt sich eher damit, deren
Schema zu komplizieren: Während sich die Erkenntnis auf ein wahrnehm-
bares oder wahrgenommenes Objekt bezieht, betrifft die Wiedererinnerung
ein anderes Objekt, von dem man annimmt, es sei mit dem ersten assoziiert
oder eher noch in ihm verhüllt, ein Objekt, das den Anspruch erhebt,
unabhängig von einer distinkten Wahrnehmung für sich selbst erkannt zu
werden. Dieses andere, im Zeichen verhüllte Ding, müßte zugleich das Nie-
Gesehene /jamais-vu] und dennoch Schon-Wiedererkannte [dejd-reconnti],
die Unheimlichkeit sein. Es ist dann verführerisch, als Dichter zu sprechen
und zu sagen, daß dies gesehen worden sei, allerdings in einem anderen
Leben, in einer mythischen Gegenwart: Du bist die Ähnlichkeit.. . Damit
aber ist alles preisgegeben: zunächst die Natur der Begegnung, insofern
diese der 1Rekognition nicht eine besonders schwierige Prüfung, eine beson-
ders schwer aufzufaltende Hülle bietet, sondern sich jeder möglichen Reko-
gnition widersetzt. Sodann die Natur des transzendentalen Gedächtnisses
DAS BILD DES DENKENS 185

und dessen, was nur erinnert werden kann; denn diese zweite Instanz wird
nur in Form der Gleichartigkeit in der Wiedererinnerung begriffen. Und
zwar in einem Maße, daß sich derselbe Einwand erhebt; die Wiedererinne-
rung verwechselt das Sein der Vergangenheit mit einem vergangenen Sein
und beruft sich, da sie keinen empirischen Moment festmachen kann, an
dem diese Vergangenheit gegenwärtig war, auf eine ursprüngliche oder my-
thische Gegenwart. Die Größe des Begriffs der Wiedererinnerung (und der
Grund, warum er sich radikal vom kartesianischen Begriff des Angeboren-
seins unterscheidet) liegt darin, daß er die Zeit, die Dauer der Zeit ins Den-
ken als solches einführt: Dadurch erwirkt er eine dem Denken eigentüm-
liche Opazität und bezeugt dabei eine böse-Natur wie einen bösen Willen,
die von außen, durch die Zeichen erschüttert werden müssen. Weil aber,
wie wir gesehen haben, die Zeit hier nur als physischer Zyklus und nicht in
ihrer reinen Form oder ihrem Wesen eingeführt ist, unterstellt man dem
Denken immer noch eine gute Natur, eine strahlende Klarheit, die sich in
den Widrigkeiten des natürlichen Zyklus’ bloß verdunkelt oder verirrt
haben. Die Wiedererinnerung bietet dem Modell der Rekognition noch
Zuflucht; und nicht weniger als Kant kopiert Platon den Gebrauch des
transzendentalen Gedächtnisses nach der Figur des empirischen Ge-
brauchs (wie es in der Darstellung des Phaidon ganz deutlich zu erkennen
ist).
Was die dritte Instanz betrifft, die Instanz des reinen Denkens oder dessen,
was nur gedacht werden kann, so bestimmt Platon sie als den abgetrennten
Gegensatz: die Größe, die nichts anderes als groß ist, die Kleinheit, die
nichts anderes als klein ist, die Schwere, die nur schwer, die Einheit, die nur
eine ist - dies also werden wir unter dem Druck der Wiedererinnerung zu
denken genötigt. Folglich ist es die Form der realen Identität (das Selbe als
(li!~O ~aCYc&o begriffen), die nach Platon das Wesen definiert. All das gip-
felt im großen Prinzip: daß es trotz und vor allem eine Affinität, eine Filia-
tion oder, wie man vielleicht besser sagen würde, ein Philiation des Denkens
zum Wahren gibt, kurz: eine gute Natur und ein gutes Verlangen, die in
letzter Instanz auf der Analogieform im Guten gründen. So daß Platon, der
den Text der Politeia schrieb, auch der erste war, der das dogmatische und
moralisierende Bild des Denkens erstellte, das diesen Text neutralisiert und
ihn nur noch als eine ,,Bußübung”” funktionieren läßt. Wo Platon den
höheren oder transzendenten Gebrauch der Vermögen entdeckt, ordnet er
ihn den Formen des Gegensatzes im Sinnlichen, der Gleichartigkeit in der
Wiedererinnerung, der Identität im Wesen und der Analogie im Guten

11 Frz. wpcntir: Reue, Buße, aber auch die Abänderung einer Zeichnung beziehungs-
weise eines Gemäldes bei der Ausführung oder die Korrekturen während des Schrei-
bens [A.d.Ü.]. .
186 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

unter; damit bereitet er der Welt der Repräsentation den Boden, er vollzieht
die erste Verteilung ihrer Elemente und verdeckt bereits den Gebrauch des.
Denkens mit einem dogmatischen Bild, durch das es voraussetzt und preisge-
geben wird.
Die transzendentale Form eines Vermögens verschmilzt mit seinem geson-
derten, höheren oder transzendenten Gebrauch. Transzendent bedeutet
keineswegs, daß sich das Vermögen an Objekte außerhalb der Welt rich-
tet, sondern im Gegenteil, daß es innerhalb der Welt das erfaßt, von dem ’
es ausschließlich betroffen ist und in der Welt erzeugt wird. Wenn der
transzendente Gebrauch kein Abklatsch des empirischen sein darf, so
gerade deshalb, weil er auffaßt, was nicht von einem Gemeinsinn aus
erfaßt werden kann, welcher die empirische Anwendung aller Vermögen
beurteilt, und zwar nach Maßgabe dessen, was jedem von ihnen in der
Form ihrer Zusammenarbeit zukommt. Darum untersteht das Transzen-
dentale seinerseits einem höheren Empirismus, der allein dessen Herr-
schaftsbereich oder dessen Gebiete zu erforschen vermag, d a es, im
Gegensatz zu Kants Ansicht, nicht aus den gewöhnlichen empirischen
Formen, wie sie unter der Bestimmung des Gemeinsinns erscheinen,
erschlossen werden kann. Der Mißkredit, in den heute die Lehre von den
Vermögen geraten ist, dieses trotz allem durchweg notwendige Teilstück
im System der Philosophie, erklärt sich durch die Verkennung dieses spe-
zifisch transzendentalen Empirismus, den man vergeblich durch einen
Abklatsch des Transzendentalen vom Empirischen ersetzte. Jedes Vermö-
gen muß an den äußersten Punkt seiner Störung getrieben werden, an dem
es gleichsam zur Beute einer dreifachen Gewalt wird, der Gewalt dessen,
wodurch es zum Vollzug genötigt wird, der Gewalt dessen, was zu erfas-
sen es genötigt wird und was allein es zu erfassen vermag, obgleich dieses
(vom Standpunkt des empirischen Gebrauchs aus) auch das Unfaßbare ist.
Dreifache Grenze der letzten Macht [puissance]. Jedes Vermögen stößt
dann auf die Leidenschaft, die ihm eignet, d.h. auf seine radikale Diffe-
renz und seine ewige Wiederholung, auf sein differentielles und repetitives
Element, gleichsam die augenblickliche Zeugung seines A kts und d a s ewige
Wiederkäuen seines Objekts, seine Ar t z u entstehen, indem e s bereits
wiederholt. Wir fragen etwa: Was nötigt die Sinnlichkeit dazu, zu empfin-
den? Und was kann nur empfunden werden? Und ist zugleich das Nicht-
Sinnliche? Und diese Frage müssen wir überdies nicht nur hinsichtlich des
Gedächtnisses und des Denkens stellen, sondern auch hinsichtlich der Ein-
bildungskraft - gibt es ein imaginandum, ein cpawadov, das zugleich
die Grenze, das unmöglich Imaginierbare ist? Gibt es für die Sprache ein
loquendum, das zugleich Schweigen ist ? Und für andere Vermögen, die
ihren Platz wiederum in einer vollständigen Lehre finden würden - die
Vitalität, deren transzendentes Objekt auch das Ungeheuer wäre, die
Soziabilität, deren transzendentes Objekt auch die Anaichie wäre -, und
schließlich hinsichtlich noch ungeahnter Vermögen, die zur Entdeckung
Das B ILD DES DENKENS 187

anstehen 12. Denn es läßt sich nichts im Voraus sagen, man kann der Suche
nicht vorgreifen: Möglich, daß sich bei manchen, bekannt-allzubekannten
Vermögen das Fehlen einer eigenen Grenze, eines Verbaladjektivs herausstellt,
da sie nicht aufgezwungen werden und sich nur in Form des Gemeinsinns dem
Gebrauch stellen; möglich aber auch, daß neue Vermögen aufkommen, die
durch diese Form des Gemeinsinns verdrängt wurden. Diese Ungewißheit
hinsichtlich der Ergebnisse der Suche, diese Komplexität im Studium des
besonderen Falls jedes Vermögens sind für eine Lehre allgemein keineswegs
beklagenswert; der transzendentale Empirismus ist im Gegenteil das einzige
Mittel dafür, das Transzendentale nicht von den Gestalten des Empirischen
abzupausen.
Wir beschäftigen uns hier nicht mit der Erstellung einer derartigen Lehre der
Vermögen. Wir versuchen nur, die Natur ihrer Forderungen zu bestimmen. In
dieser Hinsicht aber können die platonischen Bestimmungen nicht befriedi-
gend sein. Denn es sind nicht schon vermittelte und auf die Repräsentation
bezogene Gestalten, sondern im Gegenteil freie oder wilde Zustände der
Differenz an sich selbst, die die Vermögen an ihre jeweiligen Grenzen zu
treiben vermögen. Nicht der qualitative Gegensatz im Sinnlichen, sondern ein
Element, das an sich selbst Differenz ist, erzeugt zugleich die Qualität im
Sinnlichen und den transzendenten Gebrauch in der Sinnlichkeit: Dieses Ele-
ment ist die Intensität als reine Differenz an sich, es ist das Unsinnliche für die
empirische Sinnlichkeit, welche Intensität nur insofern erfaßt, als sie bereits
durch die von ihr erzeugte Qualität verdeckt und vermittelt ist; und es ist
doch zugleich dasjenige, was nur empfunden werden kann, und zwar von der
transzendenten Sinnlichkeit aus, die es unmittelbar in der Begegnung auffaßt.
Und wenn die Sinnlichkeit ihren Zwang auf die Einbildungskraft überträgt,
wenn sich die Einbildungskraft ihrerseits zum transzendenten Gebrauch
erhebt, so ist es das Phantasiegebilde, die Disparität im Phantasiegebilde, die

12 Der Fall der Einbildungskraft:Dieser Fall ist der einzige, in dem Kant ein von der
Form des Gemeinsinns-gelostes Vermögen in Betracht zieht und, was sie betrifft,
einen legitimen und wahrhaft ,,transzendenten“ Gebrauch entdeckt. Freilich unter-
steht die schematisierende Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft noch
dem sogenanten logischen Gemeinsinn; untersteht die reflektierende Einbildungs-
kraft im Geschmacksurteil noch dem ästhetischen Gemeinsinn. Im Erhabenen aber
ist die Einbildungskraft nach Kant genötigt, gezwungen, ihrer eigenen Grenze zu
trotzen, ihrem cpov’too’~Iov, ihrem Maximum, das zugleich das Unvorstellbare, das
Formlose oder Ungestalte in der Natur ist (Kritik der Urteilskraft, § 26). Und sie
überträgt ihren Zwang aufs Denken, das seinerseits genötigt ist, das Übersinnliche
zu denken, als Grund der Natur und des Denkvermögens: Denken und Einbil-
dungskraft begeben sich hier in eine wesentliche Diskordanz, in eine wechselseitige
Gewalt, die einen neuen Typ von Einklang bedingt (§ 27). So daß das Modell der
Rekognition oder die Form des Gemeinsinns im Erhabenen zu Gunsten einer ganz
anderen Konzeption des Denkens ins Unrecht gesetzt werden (§ 29).
188 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

das cpccv~c~o-c~ov bildet, dasjenige, was nur imaginiert werden kann, das empi-
rische Nicht-Imaginierbare. Und wenn der Augenblick des Gedächtnisses
eintritt, so ist es nicht die Gleichartigkeitkeit in der Wiedererinnerung, son-
dern im Gegenteil das Unähnliche in der reinen Form der Zeit, das das
Unvordenkliche eines transzendenten Gedächtnisses ausmacht. Und es ist ein
durch diese Form der Zeit gespaltenes Ego, das sich schließlich genötigt sieht,
dasjenige zu denken, was nur gedacht werden kann, nicht das Selbe, sondern
jenen transzendenten ,, aleatorischen Punkt“, das von Natur aus stets Andere,
in dem alle Wesenheiten als Differentiale des Denkens umhüllt werden und
das die höchste Macht [puissance] des Denkens nur dadurch meint, daß es
immer auch das Undenkbare oder die Unfähigkeit [impuissance] zu denken in
der empirischen Anwendung bezeichnet. Man erinnere sich der profunden
Texte Heideggers, die zeigen, daß das Denken, solange es bei der Vorausset-
zung seiner guten Natur und seines guten Willens, unter der Form eines
Gemeinsinns, einer ratio, einer cogitatio natura universalis verharrt, gar nichts
denkt und Gefangener der Meinung, in einer abstrakten Möglichkeit erstarrt 8
bleibt . . .: ,,Der Mensch kann denken, insofern er die Möglichkeit dazu hat.
Allein dieses Mögliche verbürgt uns noch nicht, daß wir es vermögen“; das
Denken denkt nur, insofern es angesichts dessen, was ,,zu denken gibt“, des
Bedenklichen, dazu gezwungen und genötigt wird - und das Bedenkliche ist
zugleich das Undenkbare oder das Nicht-Denken, d.h. das beständige Fak-
tum, daß ,,wir noch nicht denken“ (gemäß der reinen Form der Zeit)13.
Freilich geht auf dem Weg, der auf das Bedenkliche hinführt, alles von der
Sinnlichkeit aus. Vom Intensiven zum Denken - stets ist es eine Intensität,
durch die uns das Denken zustößt. Das Privileg der Sinnlichkeit als Ursprung
erscheint darin, daß das, was zur Empfindung nötigt, und das, was nur
empfunden werden kann, in der Begegnung ein und dasselbe sind, während
die beiden Instanzen in den anderen Fällen voneinander geschieden sind.
Denn das Intensive, die Differenz in der Intensität, ist zugleich das Objekt der
Begegnung und das Objekt, zu dem die Begegnung die Sinnlichkeit empor-
hebt. Nicht die Götter sind es, denen man begegnet; selbst als verborgene sind
die Götter bloß Formen für die Rekognition. Man begegnet vielmehr den
Dämonen, Mächten des Sprungs, des Intervalls, des Intensiven oder des

l3 Heidegger: Was beißt Denken ?, Tübingen 1954, S. 1-2. - Allerdings hält Heidegger
am Thema eines Wunsches, einer qxhia fest, am Thema einer Analogie oder besser
Homologie zwischen dem Denken und dem, was gedacht werden muß. Das kommt
daher, daß er den Vorrang des Selben beibehält, selbst wenn von diesem angenom-
men wird, daß es die Differenz als solche versammle und enthalte. Daher die
Metaphern der Gabe, die die der Gewalt ersetzen. In all diesen Hinsichten verzichtet
Heidegger nicht auf das, was wir oben die subjektiven Voraussetzungen genannt
haben. Wie man es in Sein und Zeit (Tübingen 1972, S. 5-6) sieht, gibt es tatsachlich
ein vorontologisches und unausdrückliches Seinsverständnis, obwohl sich, wie Hei-
degger präzisiert, der explizite Begriff nicht daraus ergeben darf.
DAS BILD DES DENKENS 189

Augenblicks, die die Differenz nur mit Differentem ausfüllen; sie sind die
Zeichen-Träger. Und das ist das Wichtigste: Von der Sinnlichkeit zur Einbil-
dungskraft, von der Einbildungskraft zum Gedächtnis, vom Gedächtnis zum
Denken - wenn jedes gesonderte Vermögen dem anderen die Gewalt über-
trägt, die es an seine eigene Grenze treibt - erweckt jedesmal eine freie Gestalt
der Differenz das Vermögen, erweckt sie es als das Differente dieser Differenz.
Entsprechend die Differenz in der Intensität, die Disparität im Phantasiege-
bilde, die Unähnlichkeit in der Form der Zeit, das Differential im Denken.
Der Gegensatz, die Ähnlichkeit, die Identität und selbst die Analogie sind nur
Effekte,- die durch diese Darstellungen [prhentations] der Differenz hervorge-
rufen wurden, und sie sind nicht die Bedingungen, die sich die Differenz
unterwerfen und aus ihr etwas Repräsentiertes machen. Niemals läßt sich von
einer cplhia sprechen, die einen Wunsch, eine Liebe, eine gute Natur oder
einen guten Willen bezeuge, durch die die Vermögen bereits das Objekt - ein
Objekt, zu dem sie durch die Gewalt emporgehoben werden - besitzen oder
anstreben und durch die sie eine Analogie mit ihm oder eine Homologie
untereinander darstellen würden. Jedes Vermögen, das Denken inbegriffen,
kennt kein anderes Abenteuer als das Unwillkürliche; die willkürliche Anwen-
dung bleibt dem Empirischen verhaftet. Der Logos zerspringt in Hierogly-
phen, von denen jede die transzendente Sprache eines Vermögens spricht.
Selbst der Ausgangspunkt, die Sinnlichkeit in der Begegnung mit dem, was zu
empfinden nötigt, setzt keinerlei Affinität oder Prädestinierung voraus. Im
Gegenteil, Zufall oder Kontingenz der Begegnung sind es, die die Notwendig-
keit dessen, was durch sie zu denken genötigt wird, gewährleisten. Keine
Freundschaft - wie etwa die des Ähnlichen mit dem Selben oder noch dieje-
nige, die die Gegensätze vereint - verbindet die Sinnlichkeit bereits mit dem
sentiendum. Es genügt der dunkle Vorbote, der das Differente als solches
kommunizieren läßt und es mit der Differenz kommunizieren läßt: Der dunk-
le Vorbote ist kein Freund. Der Gerichtspräsident Schreber griff die drei
Momente Platons auf seine Weise auf, indem er sie in ihrer ursprünglichen
u n d kommunikativen Gewalt wiederherstellte: die Nerven und der Nervenan-
hang, die geprüften Seelen und der Seelenmord, das erzwungene Denken oder
der Denkzwang.
Gerade das Prinzip einer Kommunikation - und geschähe sie auch mit Gewalt -
scheint die Form eines Gemeinsinns aufrechtzuerhalten. Dem ist jedoch nicht
so. Zwar existiert eine Verknüpfung der Vermögen und eine Ordnung in
dieser Verknüpfung. Aber weder Ordnung noch Verknüpfung implizieren ein
Zusammenspiel bezüglich einer Form eines der Annahme nach selben Objekts
oder einer subjektiven Einheit in der Natur des Ich denke. Es ist eine erzwun-
gene und aufgebrochene Kette, die die Stücke eines aufgelösten Ichs wie die
Ränder eines gespaltenen Ego durchzieht. Die transzendente Anwendung der
Vermögen ist eine im eigentlichen Sinn Paradoxale Anwendung, die sich ihrem
d u r c h einen Gemeinsinn regulierten Gebrauch widersetzt. Daher kann der
Einklang der Vermögen nur als ein diskordanter Einklang erzeugt werden, da
190 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

jedes davon dem anderen nur die Gewalt mitteilt, durch die es mit seiner
Differenz und seiner Divergenz zu allen anderen konfrontiert wird14. Kant hat
als erster das Beispiel eines derartigen Einklangs durch Diskordanz gezeigt, .
und zwar mit dem Fall des Verhältnisses von Einbildungskraft und Denken,
wie sie sich im Erhabenen vollziehen. Es gibt also etwas, das sich von einem
Vermögen zum anderen mitteilt, sich aber verwandelt und keinen Gemeinsinn
ergibt. Ebenso könnte man sagen, daß es Ideen gibt, die alle Vermögen
durchlaufen und doch nicht Gegenstand von irgendeinem im Besonderen sind.
Vielleicht muß man tatsächlich, wie wir sehen werden, den Namen Ideen nicht
den reinen cogitanda, sondern eher den Instanzen vorbehalten, die von der ’
Sinnlichkeit zum Denken und vom Denken zur Sinnlichkeit reichen und in
der Lage sind, in jedem Fall gemäß einer ihnen eigentümlichen Ordnung das
Grenz- oder transzendente Objekt eines jeden Vermögens zu erzeugen. Die
Ideen sind die Probleme, die Probleme aber liefern nur die Bedingungen, unter
denen die Vermögen zu ihrem höheren Gebrauch gelangen. Unter diesem
Gesichtspunkt gehen die Vermögen, weit davon entfernt, in einem gesunden
Menschenverstand (bon Sens] oder Gemeinsinn [sens commun] ihr Medium zu
finden, auf einen Para-Sinn [para-sens] zurück, der die einzige Kommunika-
tion zwischen den gesonderten Vermögen bestimmt. Daher werden sie nicht
durch ein natürliches Licht beschienen; sie schimmern vielmehr wie differen-
tielle Funken, die überspringen und sich verwandeln. Gerade die Vorstellung
eines natürlichen Lichts ist untrennbar mit einem bestimmten Wert, den man
bei der Idee voraussetzt, dem ,,klar und deutlich“, und mit einem bestimmten
vorausgesetzten Ursprung, dem ,,Angeborensein” verbunden. Aber das Ange-
borensein repräsentiert nur die gute Natur des Denkens, und zwar vom
Standpunkt einer christlichen Theologie oder - allgemeiner - der Erforder-
nisse der Schöpfung aus (darum stellte Platon die Wiedererinnerung dem
Angeborensein gegenüber und machte diesem zum Vorwurf, daß es die Rolle
einer Form der Zeit in der Seele in Abhängigkeit vom reinen Denken vernach-
lässige, oder auch die Notwendigkeit einer formalen Unterscheidung zwischen
einem Vorher und einem Nachher, die das Vergessen in dem, was zu Denken
nötigt, zu begründen vermag). Das ,,klar und deutlich” selbst ist nicht vom
Modell der Rekognit ion als Instru ment jeglicher - und sei es rationaler -
Orthodoxie zu trennen. Das Klare und Deutliche ist die Logik der Rekogni-
tion, wie das Angeborensein die Theologie des Gemeinsinns; alle beide haben
die Idee bereits an die Repräsentation überwiesen. Die Restitution der Idee in
der Lehre der Vermögen bringt eine Zersplitterung des Klaren und Deutlichen
mit sich, oder die Entdeckung eines dionysischen Werts, demzufolge die Idee
notwendig dunkel ist, sofern sie deutlich ist, um so dunkler, je deutlicher sie

l4 Der Begriff eines ,,diskordanten Einklangs“ wird von Kostas Axelos zutreffend
bestimmt, der ihn auf die Welt anwendet und sich eines besonderen Zeichens
bedient (,,oder/und”), um die ontologische Differenz in diesem Sinne zu bezeichnen
(vgl. Vers La pensee plandaire, Paris 1964).
DAS BILD DES DENKENS 191

ist. Das Deutlich-Dunkle wird hier zur wahren Klangfarbe in der Philosophie,
zur Symphonie der diskordanten Idee.
Es gibt kein besseres Beispiel als den Briefwechsel zwischen Jacques Riviere
und Antonin Artaud. Riviere hält am Bild einer autonomen Denkfunktion
fest, die mit einer Natur und einem Willen de jure ausgestattet ist. Natürlich
bereitet uns das Denken die größten Schwierigkeiten de facto: Mangel an
Methode, an Technik oder Applikation, Mangel sogar an Gesundheit. Aber
diese Schwierigkeiten sind Glücksfälle: nicht nur weil sie die Natur des Den-
kens daran hindern, unsere eigene Natur zu verschlingen, nicht nur weil sie
das Denken ins Verhältnis zu den Hindernissen als entsprechend vielen ,,Fak-
ten“ setzen, ohne die es sich nicht orientieren könnte, sondern auch weil
unsere Anstrengungen zu ihrer Überwindung uns ermöglichen, ein Ideal des
Ichs im reinen Denken zu bewahren, gleichsam einen ,,höheren Grad von
Identität mit uns selbst“, über alle Variationen, Differenzen und Ungleichhei-
ten hinweg, die uns de facto unaufhörlich affizieren. Erstaunt stellt der Leser
fest, daß sich Riviere, je mehr er Artaud nahezukommen und ihn zu verstehen
glaubt, um so weiter von ihm entfernt und von etwas anderem spricht. Selten
gab es ein derartiges Mißverständnis. Denn Artaud spricht nicht einfach von
seinem ,,Fall“, ahnt vielmehr in diesen Jugendbriefen bereits, daß sein Fall ihn
mit einem verallgemeinerten Denkprozeß konfrontiert, der sich nicht mehr
hinter dem beruhigenden dogmatischen Bild verschanzen kann und, im
Gegenteil, mit der völligen Zerstörung dieses Bilds verschmilzt. Daher dürfen
die Schwierigkeiten, die er zu verspüren behauptet, nicht als Fakten, sondern
nur als Schwierigkeiten de jure begriffen werden, die das Wesen dessen, was
Denken bedeutet, betreffen und affizieren. Artaud sagt, daß das Problem (für
ihn) nicht darin liege, sein Denken zu orientieren, noch darin, den Ausdruck
dessen, was er denkt, zu vervollkommnen, noch darin, Applikation und Me-
thode zu erwerben oder seine Gedichte zu perfektionieren, sondern darin,
ganz einfach dahin zu gelangen, etwas zu denken. Für ihn ist dies das einzig
denkbare ,,Werk”; es setzt einen Impuls, einen Zwang zu denken voraus, der
alle Arten von Gabelungen durchläuft, von den Nerven ausgeht und sich der
Seele mitteilt, um zum Denken zu gelangen. Folglich ist das, was zu denken
das Denken genötigt ist, zugleich seine zentrale Erschütterung, sein Riß, seine
eigene natürliche ,,Unfähigkeit“ [impouvoir], die mit der größten Macht [puis-
sance] verschmilzt, d. h. mit den cogitanda, jenen geheimen Kräften, wie mit
ebenso vielen Diebstählen und Einbrüchen im Denken. In all dem verfolgt
Artaud die schreckliche Offenbarung eines bildlosen Denkens und die Erobe-
rung eines neuen Rechts, das sich nicht repräsentieren läßt. Er weiß, daß die
Schwierigkeit als solche und ihr Gefolge von Problemen und Fragen kein
Zustand de facto ist, sondern eine Struktur de jure des Denkens. Daß es ein
Azephales im Denken wie ein Moment von Amnesie im Gedächtnis gibt, ein
Aphasisches in der Sprache und ein Agnostisches in der Sinnlichkeit. Er weiß,
daß Denken nicht angeboren ist, sondern im Denken erzeugt werden muß. Er
weiß, daß das Problem nicht darin liegt, ein von Natur und de jure präexisten-
192 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

tes Denken methodisch zu lenken oder zu applizieren, sondern darin, das


noch nicht Existierende zu erzeugen (es gibt kein anderes Werk, der ganze
Rest bleibt willkürlich und bloßes Schnörkel). Denken heißt erschaffen, es
gibt keine andere Schöpfung, aber erschaffen heißt zunächst, ,,denken“ im
Denken zu zeugen. Darum stellt Artaud im Denken die Genitalität dem
Angeborensein, aber auch der Wiedererinnerung gegenüber und setzt somit
das Prinzip eines transzendentalen Empirismus: ,,Ich bin von Geburt an geni-
tal [. . .]. Es gibt Schwachsinnige, die sich für Wesen, Wesen durch Angeboren-
sein halten./ Ich, ich bin derjenige, der, um sein zu können, sein Angeboren- ,
sein auspeitschen muß./ Derjenige, der durch Angeborensein derjenige ist, der
ein Wesen sein, das heißt, stets diese Art negativen Hundezwingers auspeit-
schen muß, o Hündinnen der Unmöglichkeit. [. . .]/ Unter der Grammatik
liegt das Denken begraben, das ein viel schwieriger zu bezwingender Schand-
fleck ist, eine Jungfrau, die viel zu spröde, viel zu widerspenstig ist, um
überwunden zu werden - hält man es für eine angeborene Tatsache./ Denn das
Denken ist eine Matrone, die nicht immer existiert hat“?

Es geht nicht darum, dem dogmatischen Bild des Denkens ein anderes, etwa
der Schizophrenie entlehntes gegenüberzustellen. Sondern eher darum, in
Erinnerung zu rufen, daß die Schizophrenie nicht nur ein menschliches Fak-
tum ist, daß sie vielmehr eine Möglichkeit des Denkens ist, die sich als solche
nur in der Beseitigung des Bilds offenbart. Es ist nämlich bemerkenswert, daß
das dogmatische Bild seinerseits nur den Irrtum als Mißgeschick des Denkens
anerkennt und alles auf die Figur des Irrtums reduziert. Dies ist in unserer
Zählung sogar noch ein fünftes Postulat: der Irrtum, dargestellt als das einzige
,,Negative“ des Denkens. Und zweifellos hängt dieses Postulat von den ande-
ren ab, wie die anderen von ihm: Was kann einer Cogitatio natura universalis,
die einen guten Willen des Denkers sowie eine gute Natur des Denkens
voraussetzt, anderes passieren, als sich zu täuschen, d.h. das Falsche für das
Wahre zu halten (das Falsche nach der Natur für das Wahre dem Willen
zufolge)? Und zeugt nicht der Irrtum selbst von der Form eines Gemeinsinns,
da es unmöglich einem Vermögen allein passiert, daß es sich täuscht, sondern -
hinsichtlich ihrer Zusammenarbeit - wenigstens zweien, wobei das Objekt
des einen Vermögens mit einem anderen Objekt des anderen verwechselt
wird? Und was ist ein Irrtum, wenn nicht immer schon eine falsche Rekogni-
tion? Und woher rührt der Irrtum, wenn nicht von einer falschen Aufteilung
der Elemente der Repräsentation, von einer falschen Einschätzung des Gegen-

15 Antonin Artaud: Korrespondenz mit Jacques Rivi&e, in: Frühe Schriften, München
1983, S. 7-9. - Z u d iesen Briefen siehe die Kommentare Maurice Blanchots: Le livre
d venir, Paris 1959.
DAS BILD DES DENKENS 193

satzes, der Analogie, der Ähnlichkeit und der Identität? Der Irrtum ist nur die
Kehrseite einer rationalen Orthodoxie und spricht noch zu Gunsten dessen,
wovon er sich entfernt, zu Gunsten einer Rechtschaffenheit, einer guten Natur
und eines guten Willens dessen, der sich angeblich täuscht. Der Irrtum huldigt
also d e r ,,Wahrheit“ in dem Maße, wie er, der keine Form besitzt, dem
Falschen die Form des Wahren verleiht. In diesem Sinne entwirft Platon im
Theaitetos, und zwar unter offenbar ganz anderen Vorzeichen als in der
Politeia, zugleich das positive Modell der Rekognition oder des Gemeinsinns
und das negative Modell des Irrtums. Nicht nur übernimmt das Denken das
Ideal einer ,,Orthodoxie”, nicht nur findet der Gemeinsinn seinen Gegenstand
in den Kategorien von Gegensatz, Gleichartigkeit, Analogie und Identität;
vielmehr ist es der Irrtum, der an sich selbst diese Transzendenz eines
Gemeinsinns gegenüber den Empfindungen und einer Seele gegenüber allen
Vermögen impliziert, die durch ihn in der Form des Selben zur Mitarbeit
(d&hoylo@q) bestimmt werden. Wenn ich nämlich nicht zwei Dinge, die ich
wahrnehme oder begreife, miteinander verwechseln kann, so kann ich doch
stets ein Ding, das ich wahrnehme, mit einem anderen, das ich begreife oder
an das ich mich erinnere, verwechseln, wie in dem Fall, in dem ich das
gegenwärtige Objekt meiner Empfindung in das Engramm eines anderen
Objekts meines Gedächtnisses stecke - also etwa ,,Guten Tag, Theodoros“
sage, wenn Theaitetos vorübergeht. Noch in seiner Mißlichkeit spricht der
Irrtum für die Transzendenz der Cogitatio natura. Man könnte vom Irrtum
behaupten, er sei eine Art Versager des gesunden Menschenverstands in der
Form eines Gemeinsinns, der intakt und unbescholten bleibt. Damit bestätigt
er die vorangehenden Postulate des dogmatischen Bilds, insofern er sich dar-
aus ableitet und für sie einen apagogischen Beweis erbringt.
Freilich ist dieser Beweis völlig unwirksam, da er sich im selben Element wie
die Postulate selbst vollzieht. Was die Vereinbarkeit des Theaitetos mit dem
Text der Politeia betrifft, so läßt sie sich womöglich leichter ausfindig machen,
als es zunächst schien. Nicht von Ungefähr ist der Theaitetos ein aporetischer
Dialog; und die Aporie, mit der er schließt, ist eben die der Differenz oder
diaphora (so sehr das Denken für die Differenz eine Transzendenz bezüglich
der ,,Meinung“ fordert, so sehr fordert die Meinung für sich selbst eine
Immanenz der Differenz). Der Theaitetos ist die erste große Theorie des
Gemeinsinns, der Rekognition und der Repräsentation und des Irrtums als
Korrelat. Die Aporie der Differenz aber zeigt von Anbeginn an deren Schei-
tern und die Notwendigkeit, eine Lehre des Denkens in einer ganz anderen
Richtung zu suchen: in einer Richtung, die mit dem siebten Buch der Politeia
angezeigt wird? . . . Mit diesem Vorbehalt jedoch wirkt das Modell des Theai-
tetos weiterhin unterschwellig fort, gefährden die hartnäckigen Elemente der
Repräsentation noch die neue Sichtweise der Politeia.
Der Irrtum ist das ,,Negative”, das sich naturgemäß in der Hypothese der
Cogitatio natura universalis entfaltet. Dennoch verkennt das dogmatische Bild
keineswegs, daß dem Denken andere Mißgeschicke widerfahren als der Irr-
194 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

tum, Schmähungen, die viel schwerer zu meistern, Negativfälle, die weit


schwieriger zu entfalten sind. Es verkennt nicht, daß sich der Wahnsinn, die
Dummheit, die Bösartigkeit - jene schreckliche Dreiheit, die nicht aufs selbe
hinausläuft - ebensowenig auf den Irrtum reduzieren lassen. Aber noch hier
gibt es für das dogmatische Bild wiederum nur Fakten. Die Dummheit, die
Bösartigkeit, der Wahnsinn werden als Fakten einer äußeren Kausalität
betrachtet, die Kräfte ins Spiel bringen, die selbst äußerlich sind und die
Rechtschaffenheit des Denkens von Außen her auf Abwege zu bringen vermö-
gen - und dies in dem Maße, wie wir nicht ausschließlich Denkende sind.
Aber gerade die bloße Wirkung dieser Kräfte im Denken wird mit dem Irrtum
gleichgesetzt, von dem man annimmt, er versammle de jure alle Wirkungen
der äußeren Kausalitäten de facto. Die Reduktion der Dummheit, der Bösar-
tigkeit, des Wahnsinns auf die bloße Gestalt des Irrtums muß also de jure
begriffen werden. Daher der hybride Charakter dieses schalen Begriffs, der
nicht zum reinen Denken gehören würde, wenn dieses nicht von außen irrege-
führt würde, der aber nicht aus diesem Außen resultierte, wenn nicht inner-
halb des reinen Denkens. Darum können wir unsererseits uns nicht damit
begnügen, bestimmte Fakten gegen das Bild de jure des dogmatischen Den-
kens anzuführen. Wie bei der Rekognition müssen wir die Auseinanderset-
zung auf der Ebene des Rechtsanspruchs betreiben, indem wir nach der Legiti-
mität der Verteilung zwischen Empirischem und Transzendentalem fragen,
wie sie vom dogmatischen Denken vollzogen wird. Denn es scheint uns eher,
daß es irrtümliche Fakten gibt. Aber welche Fakten? Wer sagt ,,Guten Tag,
Theodoros“, wenn Theaitetos vorübergeht, und ,,Es ist drei Uhr“, wenn es
halb vier ist, und 7 + 5 = 13? Der Kurzsichtige, der Zerstreute, das kleine
Schulkind. Hierin liegen wirkliche Beispiele von Irrtümern, die aber, wie die
Mehrzahl der ,,Fakten“, künstlich oder kindisch bleiben und ein groteskes
Bild des Denkens wiedergeben, da sie es auf äußerst simple Fragen beziehen,
auf die man mit unabhängigen Sätzen antworten kann und muß? Der Irrtum
gewinnt Sinn nur, wenn das Spiel des Denkens mit seinem spekulativen Cha-
rakter bricht, um eine Art Quizsendung zu werden. Es muß also alles verkehrt
werden: Der Irrtum selbst ist ein Faktum, willkürlich extrapoliert, willkürlich
ins Transzendentale projiziert; und was die wahren transzendentalen Struktu-
ren des Denkens und das ,,Negative”, das sie umhüllt, betrifft - vielleicht muß
man sie anderswo, in anderen Gestalten als denen des Irrtums suchen.

16 V g1. Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 41: ,,Der Dogmatismus der
Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie ist nichts anderes als die
Meinung, daß das Wahre in einem Satz, der ein festes Resultat ist oder auch der -
unmittelbar gewußt wird, bestehe. Auf solche Fragen: wann Cäsar geboren worden,
wie viele Toisen ein Stadium betrug usf., soll eine nette Antwort gegeben werden
[. . .]. Aber die Natur einer solchen sogenannten Wahrheit ist verschieden von der
Natur der philosophischen Wahrheiten.”
DAS BILD DES DENKENS 195

In gewisser Weise haben die Philosophen stets ein lebhaftes Bewußtsein dieser
Notwendigkeit besessen. Nur wenige verspürten nicht das Bedürfnis, den
Begriff des Irrtums mit Bestimmungen anderer Natur anzureichern. (Zitieren
wir einige Beispiele: den Begriff des Aberglaubens, wie er von Lukrez, Spi-
noza und den Philosophen des 18. Jahrhunderts, insbesondere Fontenelle,
ausgeführt wurde. Es ist klar, daß sich der ,,Widersinn“ eines Aberglaubens
nicht auf seinen irrtümlichen Kern reduzieren läßt. Entsprechend unterschei-
det sich die Unwissenheit oder das Vergessen Platons vom Irrtum wie die
Wiedererinnerung selbst vom Angeborensein. Der stoische Betriff der stultitia
meint zugleich Wahnsinn und Dummheit. Die kantische Vorstellung einer
inneren, der Vernunft immanenten Illusion unterscheidet sich radikal vom
äußerlichen Mechanismus des Irrtums. Die Entfremdung der Hegelianer
bedingt eine tiefgreifende Überarbeitung des Verhältnisses wahr/falsch. Die
schopenhauerschen Begriffe der Gewöhnlichkeit und der Dummheit implizie-
ren eine vollständige Verkehrung des Verhältnisses Wille/Verstand.) Was aber
diese ergiebigeren Bestimmungen daran hindert, sich für sich selbst zu entfal-
ten, ist trotz allem das Festhalten am dogmatischen Bild und, in seinem
Gefolge, an den Postulaten des Gemeinsinns, der Rekognition und der Reprä-
sentation. Die Korrektive können dann nur als ,,Bußübungen“i erscheinen,
die das Bild für einen Augenblick komplizieren oder trüben, ohne dessen
implizites Prinzip zu stürzen.
Die Dummheit ist nicht das Wesen des Tiers. Dem Tier verbürgen spezifische
Formen eine Absicherung gegen das ,,Dumm”-Sein? Man hat oft formale
Entsprechungen zwischen dem menschlichen Gesicht und den Tierköpfen,
d. h. zwischen individuellen Differenzen beim Menschen und artbildenden
Differenzen beim Tier hergestellt. Auf diese Weise aber wird man der Dumm-
heit [betise] als spezifisch menschlicher Vertiertheit [bestiditk] nicht gerecht.
Wenn der Satiriker alle Register der Beleidigung zieht, so bleibt er nicht bei
den tierischen Formen stehen, sondern geht noch weiter zurück, von Fleisch-
fressern zu den Pflanzenfressern, und landet schließlich bei einer Kloake, bei
einem allesverdauenden und vegetativen Urgrund. Tiefer noch als die äußere
Geste des Angriffs oder die Bewegung der Gefräßigkeit liegt der innere Pro-
zeß der Verdauung, die Dummheit mit den peristaltischen Bewegungen.
Darum hat der Tyrann nicht nur einen Ochsenkopf, sondern einen Birnen-,
Kohl- oder Kartoffelkopf. Niemals steht einer ober- oder außerhalb dessen,
wovon er profitiert: Der Tyrann institutionalisiert die Dummheit, aber er ist
der erste Diener seines Systems und als erster im Amt, stets ist es ein Sklave,
der den Sklaven gebietet. Und wie könnte auch hier noch der Begriff des
Irrtums dieser Einheit aus Dummheit und Grausamkeit, aus Groteskem und
Schrecklichem, die den Lauf der Welt verdoppelt, gerecht werden? Die

17Vgl. Fußnote 11, S. 185 [A.d.Ü.].


18 Fr-z. bete: dumm, einfältig; Tier, Vieh [A.d.Ü.].
196 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Gemeinheit, die Grausamkeit, die Niedertracht, die Dummheit sind nicht bloß
körperliche Mächte oder charakterliche und soziale Tatsachen, sondern Struk-
turen des Denkens als solchen. Die Landschaft des Transzendentalen belebt
sich; man muß in ihr den Platz des Tyrannen, des Sklaven und des Dumm-
kopfs umreißen - ohne daß der Platz demjenigen ähnelt, der ihn besetzt, und
ohne daß das Transzendentale jemals Abklatsch der empirischen Gestalten
wäre, die es ermöglicht. Was uns daran hindert, aus der Dummheit ein tran-
szendentales Problem zu machen, liegt stets an unserem Glauben an die
Postulate der Cogtatio: Die Dummheit kann nur eine empirische Bestimmung
sein, die auf die Psychologie oder die Anekdote - schlimmer noch: auf Pole-
mik und auf Beleidigungen - und auf die Stilblütensammlung als besonders
abscheuliche pseudo-literarische Gattung verweist. Wessen Fehler aber? Liegt
der Fehler nicht zuerst bei der Philosophie , die sich vom Irrtumsbegriff
überzeugen ließ, wenn sie ihn selbst auch den Fakten entnahm, allerdings
wenig signifikanten und äußerst willkürlichen Fakten? Die schlechteste Litera-
tur fabriziert Stilblüten; die beste aber wurde vom Problem der Dummheit
heimgesucht, das sie bis an die Pforten der Philosophie heranzuführen ver-
mochte, indem sie ihm seine ganze kosmische, enzyklopädische und gnoseolo-
gische Dimension verlieh (Flaubert, Baudelaire, Bloy). Die Philosophie hätte
dieses Problem nur mit ihren eigenen Mitteln und der nötigen Bescheidenheit
aufgreifen müssen, eingedenk dessen, daß die Dummheit nie die des anderen,
sondern der Gegenstand einer spezifisch transzendentalen Fragestellung ist:
Wie ist die Dummheit (und nicht der Irrtum) möglich?
Sie ist möglich dank des Bands, das zwischen Denken und Individuation
besteht. Dieses Band reicht wesentlich tiefer als dasjenige, das im Ich denke
erscheint; es knüpft sich in einem Intensitätsfeld, das bereits die Sinnlichkeit
des denkenden Subjekts konstituiert. Denn das Ego oder Ich sind vielleicht
bloß Artmerkmale: die Menschheit als Art und Teile. Sicher ist die Art zu
einer impliziten Verfassung im Menschen übergegangen; so daß das Ego, als
Form, der Rekognition und der Repräsentation als universales Prinzip dienen
kann, während die expliziten artspezifischen Formen von ihm bloß erkannt
werden und die Spezifikation nur die Regel eines der Elemente der Repräsen-
tation ist. Das Ego ist also keine Art, aber eher deswegen, weil es implizit
enthält, was die Gattungen und Arten explizit entfalten, nämlich das Reprä-
sentiert-werden der Form. Sie haben ein gemeinsames Los, Eudoxus und
Epistemon. Demgegenüber hat die Individuation nichts mit einer irgendwie
verlängerten Spezifikation zu tun. Sie unterscheidet sich nicht nur wesentlich
von jeglicher Spezifikation, sondern ermöglicht sie und geht ihr voraus, wie
wir sehen werden. Sie besteht in Feldern aus fließenden intensiven Faktoren,
die ebensowenig die Form des Ego oder Ichs belehnen. Die Individuation als
solche, wie sie in allen Formen wirkt, läßt sich nicht von einem reinen Unter-
grund trennen, den sie auftauchen läßt und nicht los wird. Es ist schwierig,
diesen Untergrund und zugleich den Schrecken und die Anziehung, die er
erregt, zu beschreiben. Den Untergrund aufwühlen ist die gefährlichste Be-
DAS BILD DES DENKENS 197

schäftigung, aber in den Momenten von Stupor eines abgestumpften Willens


auch die verführerischste. Denn dieser Untergrund steigt, zusammen mit dem
Individuum, an die Oberfläche und nimmt dennoch keine Form oder Gestalt
an. Er ist da, fixiert uns, jedoch ohne Augen. Das Individuum unterscheidet
sich von ihm, er aber unterscheidet sich nicht von jenem und fährt fort, sich
mit dem zu vermählen, was sich von ihm scheidet. Er ist das Unbestimmte,
aber nur insofern er fortfährt, sich an die Bestimmung zu heften, wie Erde an
die Schuhsohle. Nun sind die Tiere in gewisser Weise gegen diesen Unter-
grund d urc h Ihre expliziten Formen geschützt. Das Gleiche gilt nicht für das
Ego und das Ich, unterhöhlt durch Individuationsfelder, durch die sie umge-
trieben werden, schutzlos dem Emporsteigen des Untergrunds ausgeliefert,
der ihnen seinen ungestalten oder verunstaltenden Spiegel vorhält und in dem
sich alle von nun an gedachten Formen auflösen. Die Dummheit ist weder der
Untergrund noch das Individuum, wohl aber jener Bezug, in dem die Indivi-
duation den Untergrund emporsteigen läßt, ohne ihm Form verleihen zu
können (über das Ego hinweg steigt er empor und dringt ins Innerste der
Möglichkeit des Denkens ein, bildet das Nicht-Erkannte jeglicher Rekogni-
tion). Alle Bestimmungen werden grausam oder schlecht, da sie nurmehr von
einem Denken erfaßt werden, das sie betrachtet und erfindet, abgezogen,
abgetrennt von ihrer lebendigen Form und nun dabei, auf diesem öden Unter-
grund zu treiben. Auf diesem passiven Untergrund wird alles Gewalt. Alles
Angriff auf diesem verdauendem Untergrund. Hier wird der Hexensabbat der
Dummheit und der Bösartigkeit gefeiert. Vielleicht ist dies der Ursprung der
Melancholie, die auf den schönsten Gesichtern des Menschen lastet: die
Ahnung einer Scheußlichkeit, die dem menschlichen Antlitz eignet, eines
Emporsteigens der Dummheit, einer Verunstaltung im Bösen, einer Reflexion
im Wahnsinn. Denn vom Standpun .kt der Philosophie der Natur aus taucht
d e r Wahnsinn an dem Punkt auf, an dem sich das Individuum in diesem freien
Untergrund reflektiert - und demzufolge und daraufhin die Dummheit in der
Dummheit, die Grausamkeit in der Grausamkeit - und sich nicht mehr ertra-
gen kann. ,,Nun entwickelte sich in ihrem Geist ein erbärmliches Talent: die
Dummheit zu sehen und sie nicht zu ertragen““. Es ist wahr, daß dieses
erbärmlichste Vermögen zugleich zum königlichen Vermögen wird, wenn es
die Philosophie als Philosophie des Geistes animiert, d. h. wenn es alle anderen
Vermögen zu diesem transzendenten Gebrauch verleitet, der eine gewaltsame
Versöhnung von Individuum, Untergrund und Denken ermöglicht. Die Fak-

19 Flaubert: Bouvard und Pecuchet, Frankfurt/M. 1979, S. 297. - Über das Böse
(Dummheit und Bösartigkeit), über seine Quelle, die gleichsam der autonom gewor-
dene Untergrund (in einem wesentlichen Bezug zur Individuation) ist, und über die
ganze Geschichte, die daraus folgt, schrieb Schelling glänzende Seiten (Philosophi-
sche Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Werke, hg. V. M.
Schröter, Bd. 4, München 1927 [Nachdruck 1958], S. 269-272): Gott ließ ,,den
Grund in seiner Independenz wirken [. . .].“
198 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

toren intensiver Individuation halten sich dann für Objekte, und zwar so, daß
sie das höchste Element einer transzendenten Sinnlichkeit, das sentiendum
bilden; und von Vermögen zu Vermögen wird der Untergrund ins Denken
hineingetragen, stets als Nicht-Gedachtes und Nichts-Denkendes, aber dieses
Nicht-Gedachte ist zur notwendigen empirischen Form geworden, in der das
Denken im gespaltenen Ego (Bouvard und Pecuchet) schließlich das cogi-
tandum denkt, d. h. das transzendente Element, das nur gedacht werden kann
(die Tatsache, ,, daß wir noch nicht denken“, oder: Was ist die Dummheit?).

Schon die Lehrer wissen recht gut, daß man in den ,,Schulaufgaben” (außer in
den Übungen, in denen man Satz für Satz übersetzen oder ein feststehendes
Ergebnis erzielen muß) selten Irrtümer oder etwas Falsches antrifft. Vielmehr
Unsinniges, Bemerkungen ohne Belang und Bedeutung, wichtig genommene
Banalitäten, Verwechslungen von gewöhnlichen ,,Punkten“ mit singulären,
schlecht gestellte oder abwegig formulierte Probleme - das ist das Schlimmste
und geschieht am häufigsten, unheilschwanger dennoch, unser aller Los.
Wenn die Mathematiker polemisieren, so wird man bezweifeln, daß einer dem
anderen vorwirft, er habe sich in seinen Resultaten oder Berechnungen
getäuscht; eher machen sie einander zum Vorwurf, ein insignifikantes Theo-
rem, ein unsinniges Problem geschaffen zu haben. Die Philosophie muß die
Konsequenzen daraus ziehen. Das Element des Sinns [sens] wurde von der
Philosophie wohl erkannt und ist uns sogar sehr vertraut geworden. Indessen
genügt dies vielleicht noch nicht. Man definiert den Sinn als Bedingung des
Wahren; da man aber annimmt, daß die Bedingung eine größere Extension als
das Bedingte behält, begründet der Sinn die Wahrheit nicht, ohne auch den
Irrtum zu ermöglichen. Ein falscher Satz bleibt also dennoch ein sinnvoller
Satz. Und der Unsinn wäre das Merkmal dessen, was weder wahr noch falsch
sein kann. Man unterscheidet an einem Satz [proposition] zwei Dimensionen:
die Dimension des Ausdrucks, derzufolge der Satz etwas Ideelles aussagt,
ausdrückt; und die der Bezeichnung, der-zufolge er Gegenstände anzeigt und
bezeichnet, auf die sich die Aussage oder das Ausgedrückte bezieht. Das eine
wäre die Dimension des Sinns, das andere die des Wahren und des Falschen.
Damit aber würde der Sinn die Wahrheit eines Satzes nicht begründen, ohne
hinsichtlich dessen, was er begründet, indifferent zu bleiben. Das Wahre und
das Falsche wären eine Sache der Bezeichnung (wie Russe11 sagt: ,,die Frage
von Wahrheit und Falschheit betrifft dasjenige, was die Terme und Aussagen
anzeigen, nicht was sie ausdrücken“). Man befindet sich dann in einer seltsa-
men Lage: Man entdeckt das Gebiet des Sinns, aber man verlegt ihn bloß in
ein psychologisches Gespür oder einen logischen Formalismus. Je nach Bedarf
fügt man den klassischen Werten des Wahren und des Falschen einen neuen
Wert hinzu, den des Unsinns oder Widersinnigen. Aber man nimmt an, das
DAS B ILD DES DENKENS 199

Wahre und das Falsche mögen in gleicher Verfassung wie zuvor fortbestehen,
d. h. so, wie sie unabhängig von der Bedingung, die man ihnen zuschreibt,
oder des neuen Werts, den man ihnen hinzufügt, beschaffen waren. Man sagt
darüber zuviel oder nicht genug: zuviel, weil die Suche nach einem Grund das
Wesentliche einer ,,Kritik“ ausmacht, die uns zu neuen Denkweisen anregen
sollte; nicht genug, weil diese Kritik, solange der Grund größer als das
Begründete bleibt, bloß dazu dient, die traditionellen Denkweisen zu rechtfer-
tigen. Man nimmt an, daß das Wahre und das Falsche unberührt bleiben von
der Bedingung, die das eine nicht begründet, ohne das andere zu ermöglichen.
Indem man das Wahre und das Falsche auf die Bezeichnungsrelation im Satz
zurückführt, gibt man sich ein sechstes Postulat vor, ein Postulat des Satzes
selbst oder der Bezeichnung, das die vorangehenden zusammenfaßt und sich
mit ihnen verknüpft (die Bezeichnungsrelation ist nur die logische Form der
Rekognition).
De facto muß die Bedingung Bedingung der wirklichen Erfahrung und nicht
der möglichen Erfahrung sein. Sie bildet eine innerliche Genese, nicht eine
äußerliche Bedingtheit. In jeder Hinsicht ist die Wahrheit eine Sache von
Produktion, nicht von Adäquation. Eine Sache von Genitalität, nicht von
Angeborensein oder Wiedererinnerung. Wir können nicht glauben, daß das
Begründetete dasselbe bleibt, dasselbe, das es zuvor war, als es nicht begründet
war, als es nicht die Prüfung des Grunds durchgemacht hatte. Wenn die ratio
sufficiens, der Grund, ,,gekrümmt“ ist, so deshalb, weil er das von ihm
Begründete auf einen regelrechten Ungrund bezieht. Es läßt sich wohl sagen:
Man erkennt es nicht mehr wieder. Begründen heißt verwandeln. Das Wahre
und das Falsche betreffen nicht eine bloße Bezeichnung, die der Sinn bloß
ermöglichte, selbst dabei aber indifferent bliebe. Der Bezug des Satzes zum
Objekt, das er bezeichnet, muß im Sinn selbst errichtet werden; es eignet dem
ideellen Sinn, sich auf ein bezeichnetes Objekt hin zu überschreiten. Niemals
wäre die Bezeichnung begründet, wenn sie nicht - verwirklicht im Fall eines
wahren Satzes - als die Grenze genetischer Reihen oder ideeller Verbindun-
gen, die den Sinn konstituieren, gedacht werden müßte. Wenn sich der Sinn
aufs Objekt hin überschreitet, so kann dieses nicht mehr in der Wirklichkeit
als außerhalb des Sinns gesetzt werden, sondern nur als Grenze seines Prozes-
ses. Und der Bezug des Satzes zu dem von ihm Bezeichneten wird, sofern
dieser Bezug verwirklicht ist, in der Einheit des Sinns konstituiert, und zwar
gleichzeitig mit dem Objekt, das ihn verwirklicht. Es gibt nur einen einzigen
Fall, in dem das Bezeichnete für sich selbst gilt und außerhalb des Sinns bleibt:
Eben im Fall von Einzelsätzen, die als Beispiel verwendet und willkürlich aus
ihrem Kontext herausgelöst werden2’. Wie kann man aber auch hier noch
annehmen, kindische und künstliche Schulbeispiele könnten das Bild des Den-

” Daher R ussells Haltung, der Einzelsätze bevorzugt: vgl. seine Kontroverse mit
Carnap, in: An inquiry into meaning and truth, London 1940, S. 310-317.
200 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

kens rechtfertigen ? Wann immer ein Satz in den Kontext des lebendigen
Denkens zurückversetzt ist, wird deutlich, daß er genau die Wahrheit besitzt,
die er seinem Sinn nach verdient, die Falschheit, die ihm dem jeweiligen Unsinn
zufolge, den er impliziert, zukommt. Wir selbst haben stets den Teil des
Wahren, den wir gemäß dem Sinn dessen, was wir sagen, verdienen. Der Sinn ist
die Genese oder die Produktion des Wahren, und die Wahrheit ist nur das
empirische Resultat des Sinns. In allen Postulaten des dogmatischen Bilds
stoßen wir auf dieselbe Konfusion, die darin besteht, eine bloße Gestalt des
Empirischen auf transzendentale Ebene zu heben, auf die Gefahr hin, die wah-
ren Strukturen des Transzendentalen ins Empirische abgleiten zu lassen.
Der Sinn ist das Ausgedrückte des Satzes, was aber ist das Ausgedrückte? Es
läuft weder aufs bezeichnete Objekt hinaus noch auf die erlebte Verfassung
dessen, der sich ausdrückt. Wir müssen sogar Sinn [sens] und Bedeutung
[signiflcation] folgendermaßen unterscheiden: Die Bedeutung verweist nur auf
den Begriff und auf die Art und W eise, wie er sich auf Objekte bezieht, die in
einem Repräsentationsfeld bedingt sind; der Sinn aber ist gleichsam die Idee,
die sich in den sub- repräsentativen Bestimmungen entfaltet. Man wird nicht
darüber erstaunt sein, daß es leichter fällt zu sagen, was der Sinn nicht ist, als
das, was er ist. In der Tat können wir niemals zugleich einen Satz und seinen
Sinn formulieren, niemals können wir den Sinn dessen sagen, was wir sagen.
Aus diesem Blickwinkel ist der Sinn das wahrhafte loquendum, dasjenige, was
in der empirischen Anwendung nicht gesagt werden kann, obwohl es in der
transzendenten Anwendung nur gesagt werden kann. Die Idee, die alle Ver-
mögen durchzieht, läßt sich jedoch nicht auf den Sinn reduzieren. Weil sie
ihrerseits nämlich zugleich Unsinn ist; und es besteht keinerlei Schwierigkeit,
jenen doppelten Aspekt in Einklang zu bringen, durch den die Idee aus
strukturalen Elementen gebildet wird, die selber keinen Sinn besitzen, sie
selbst aber den Sinn all dessen, was sie hervorbringt, konstituiert (Struktur
und Genese). Es gibt nur ein Wort, das sich selbst und seinen Sinn aussagt,
eben das Wort Unsinn, Abraxas, Snark oder Blituri. Und wenn der Sinn für
die empirische Anwendung der Vermögen notwendig Unsinn ist, so sind
umgekehrt die so häufigen Fälle von Unsinn in der empirischen Anwendung
gleichsam das Geheimnis des Sinns für den gewissenhaften Beobachter, dessen
Vermögen allesamt auf eine transzendente Grenze hin ausgerichtet sind. Der
Mechanismus des Unsinns ist, wie soviele Autoren auf unterschiedliche Weise
erkannt haben (Flaubert oder Lewis Caroll), die höchste Zweckmäßigkeit des
Sinns, ebenso wie der Mechanismus der Dummheit die höchste Zweckmäßig-
keit des Denkens ist. Wenn es stimmt, daß wir nicht den Sinn dessen sagen,
was wir sagen, so können wir doch wenigstens den Sinn, d.h. das Ausge-
drückte eines Satzes, als das Bezeichnete eines anderen Satzes nehmen - dessen
Sinn wir wiederum nicht sagen, bis ins Unendliche. So daß das Bewußtsein,
sofern wir jeden Satz des Bewußtseins ,,Name“ nennen, in einen unendlichen
nominalen Regreß hineingezogen wird, wobei jeder Name auf einen anderen
Namen verweist, der den Sinn des vorangehenden bezeichnet. Die Ohnmacht
DAS BILD DES DENKENS 201

des empirischen Bewußtseins aber ist hier gleichsam die ,,n-te” Potenz der
Sprache, und ihre transzendente Wiederholung die unendliche Befähigung,
Wörter selbst auszusprechen oder über die Wörter zu sprechen. In jedem
Fall wird das Denken durch das dogmatische Bild und im Postulat der Sätze
verraten, dem zufolge die Philosophie einen Anfang in einem ersten Satz des
Bewußtseins, Cogito, finden müßte. Aber vielleicht ist Cogito der Name,
der keinen Sinn besitzt und kein anderes Objekt als den unbestimmten
Regreß als Reiterationsmacht (ich denke, daß ich denke, daß ich denke . . ).
Jeder Satz des Bewußtseins impliziert ein Unbewußtes des reinen Denkens,
das die Sphäre des Sinns bildet, in der man dem Regreß ins Unendliche
unterliegt.
Das erste Paradox des Sinns ist also das der Proliferation, dem zufolge das
Ausgedrückte eines ,,Namens“ das Bezeichnete eines anderen Namens ist, der
den ersten verdoppelt. Und zweifellos kann man diesem Paradox entgehen,
allerdings nur, um in ein anderes zu geraten: Dieses Mal stellen wir den Satz
still, machen ihn unbeweglich, gerade für die Zeit, die wir benötigen, um ihm
einen Doppelgänger zu entnehmen, der nur dessen ideellen Gehalt, dessen
immanente Gegebenheit festhält. Die der Sprache wesentliche Paradoxale
Wiederholung besteht dann nicht mehr in einer Verdoppelung, sondern in
einer Halbierung; nicht mehr in einer Fluchtbewegung, sondern in einem
Schwebezustand. Dieser Doppelgänger des Satzes ist es, der uns vom Satz
selbst, von dem, der ihn formuliert, und vom Objekt, auf das er sich bezieht,
gleichermaßen unterschieden erscheint. Er unterscheidet sich vom Subjekt und
vom Objekt, weil er nicht außerhalb des Satzes existiert, den er ausdrückt. Er
unterscheidet sich vom Satz selbst, weil er sich auf das Objekt als sein logi-
sches Attribut, sein ,,Aussagbares“ oder ,,Ausdrückbares“, bezieht. Das ist das
komplexe Thema des Satzes und damit der erste Term der Erkenntnis. Um es
zugleich vom Objekt (von Gott, vom Himmel zum Beispiel) und vom Satz
(Gott ist, der Himmel ist blau) zu unterscheiden, wird man es in einer infiniti-
ven oder partizipialen Form aussagen: Gott-sein oder Gott-seiend, das Blau-
Sein des Himmels. Dieser Komplex ist ein ideelles Ereignis. Eine objektive
Entität, von der man aber nicht einmal sagen kann, sie existiere an sich: Sie
insistiert, subsistiert, besitzt ein Quasi-Sein, ein Außer-Sein, das Minimum
von Sein, das die wirklichen, möglichen und gar unmöglichen Objekte gemein
haben. Auf diese Weise geraten wir allerdings in ein Wespennest von sekundä-
ren Schwierigkeiten. Denn wie läßt sich vermeiden, daß die widersprüchlichen
Sätze denselben Sinn besitzen, da doch Affirmation und Negation bloß propo-
sitionale Modi sind? Und wie läßt sich vermeiden, daß ein widersprüchliches,
an sich unmögliches Objekt einen Sinn besitzt, obwohl es keine ,,Bedeutung“
hat (das Quadrat-Sein des Kreises)? Und wie läßt sich überdies die Flüchtig-
keit eines Objekts mit der Ewigkeit seines Sinns vereinbaren? Und wie kann
man schließlich der Spiegelung-entgehen: Ein Satz muß wahr sein, weil sein
Ausdrückb ares wahr ist. aber das Ausdrückbare ist nur dann wahr, wenn der
Satz wahr ist? All diese Schwierigkeiten haben einen gemeinsamen Ursprung:
202 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Indem man dem Satz einen Doppelgänger entnommen hat, hat man ein blo-
ßes Phantom beschworen. Der auf diese Weise definierte Sinn ist nur Dunst,
der die Grenze von Dingen und Wörtern umspielt. Der Sinn erscheint hier,
am Ende einer der mächtigsten Anstrengungen der Logik, allerdings als das
Wirkungslose, unkörperlich Sterile, seiner genetischen Macht beraubt”.
Lewis Caroll lieferte eine wunderbare Aufzählung all dieser Paradoxa: Das
Paradox der neutralisierenden Halbierung findet seine Gestalt im Grinsen
ohne Katze, und das der wuchernden Verdoppelung beim Ritter, der dem
Namen des Lieds stets einen neuen Namen gibt - und zwischen diesen bei-
den Extremen all die sekundären Paradoxa, die die Abenteuer von Alice
ausmachen.
Wäre etwas gewonnen, wenn man den Sinn eher in einer interrogativen als
einer infinitiven oder partizipialen Form ausdrückte (,,ist Gott?“ anstatt Gott-
sein oder das Seiende Gottes)? Auf den ersten Blick ist der Gewinn mager. Er
ist aber mager, weil eine Befragung [interrogation] stets Abklatsch von erhält-
lichen, wahrscheinlichen oder möglichen Antworten ist. Sie ist also selbst der
neutralisierte Doppelgänger eines der Annahme nach präexistenten Satzes, der
ihr als Antwort dienen kann oder muß. Der Redner wendet seine ganze Kunst
darauf, Befragungen zu konstruieren, die den Antworten entsprechen, welche
er hervorrufen will, d. h. Sätzen entsprechen, von denen er uns überzeugen
will. Und selbst wenn wir die Antwort nicht kennen, fragen wir nur, indem
wir sie als bereits gegeben annehmen, de jure in einem anderen Bewußtsein
präexistent. Darum erhebt sich die Interrogation, ihrer Etymologie zufolge,
immer im Rahmen einer Gemeinschaft: Sie impliziert nicht nur einen Gemein-
sinn, sondern einen gesunden Menschenverstand, eine Verteilung des Wissens
und des Gegebenen im Verhältnis zu den empirischen Bewußtseinen, gemäß
ihren Situationen, ihren Standpunkten, ihren Funktionen und ihrer Kompe-
tenzen, und zwar derart, daß ein Bewußtsein bereits wissen soll, was das
andere nicht weiß (wie spät ist es? - Sie, der Sie eine Armbanduhr haben oder
in der Nähe einer Uhr stehen. Wann wurde Cäsar geboren? - Sie, der Sie die
römische Geschichte kennen). Trotz dieser Schwäche hat die interrogative
Formel dennoch einen Vorteil: Während sie uns auffordert, den ihr entspre-

21 Vgl. das ausgezeichnete Buch von Hubert Elie, Le complexe s@zific&le (Paris
1936), das die Bedeutung und die Paradoxa dieser Theorie des Sinns zeigt, wie sie
sich im 14. Jahrhundert in der Schule Ockhams (Gregorius von Rimini, Nicolaus
von Autrecourt) entwickelt und wie sie auch Meinong wiederentdecken wird. - Die
auf diese Weise begriffene Sterilität und Wirkungslosigkeit des Sinns erscheint noch
bei Husserl, wenn er schreibt: ,,Die Schicht des Ausdrucks ist [. . .] nicht produktiv*
Oder, wenn man will: Ihre Produktivität, ihre noematische Leistung erschöpft sich
im Ausdrücken und der mit diesem neu hereinkommenden Form des BegrifflicbenC’
(Ideen ZU einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, in:
Gesammelte Werke (Husserliana), Bd. 3, Haag 1950, S. 306).
DAS BILD DES DENKENS 203

chenden Satz als Antwort zu betrachten, öffnet sie uns gleichzeitig einen
neuen Weg. Ein als Antwort begriffener Satz ist stets ein besonderer
Losungsfall und wird für sich selbst auf abstrakte Weise betrachtet, abge-
trennt von der höheren Synthese, die ihn zusammen mit anderen Fällen auf
ein Problem als Problem beziehen würde. Die Befragung verleiht ihrerseits
also der Art und Weise Ausdruck, wie ein Problem in der Erfahrung und für
das Bewußtsein zerstückelt, verscherbelt, verraten wird, und zwar gemäß
seinen jeweils als verschieden aufgefaßten Lösungsfällen. Obwohl sie uns eine
unzulängliche Idee verschafft, erweckt sie bei uns die Ahnung dessen, was sie
zerstückelt.
Der Sinn liegt im Problem selbst. Der Sinn wird im komplexen Thema konsti-
tuiert, das komplexe Thema aber ist jene Gesamtheit von Problemen und
Fragen, bezüglich welcher die Sätze als Antwortelemente und Lösungsfälle
dienen. Indessen verlangt diese Definition, daß man sich einer Illusion entle-
digt, die dem dogmatischen Bild des Denkens eignet: Man muß damit aufhö-
ren, die Probleme und Fragen als Abklatsch der entsprechenden Sätze zu
begreifen, die ihnen als Antwort dienen oder dienen können. Wir kennen das
Handelnde der Illusion; nämlich die Befragung, die im Rahmen einer Gemein-
schaft die Probleme und Fragen zerstückelt und sie gemäß den Sätzen des
empirischen Allgemeinbewußtseins rekonstituiert, d. h. gemäß den Wahr-
scheinlichkeiten einer bloßen doxa. Damit kompromittiert sich der große
logische Traum eines Problemkalküls oder einer Kombinatorik. Man hat
geglaubt, das Problem, die Frage wären nur die Neutralisierung eines korre-
spondierenden Satzes. Wie sollte man folglich nicht annehmen, das Thema
oder der Sinn sei nur ein wirkungloser Doppelgänger, ein Abklatsch des Typs
von Sätzen, die darunter subsumiert werden, oder gar eines Elements, das
vermeintlich jedem Satz gemein ist (die Indikativ-These)? Weil man nicht
sieht, daß Sinn oder Problem außerpropositional sind, daß sie sich wesentlich
von jeglichem Satz unterscheiden, verfehlt man das Wesentliche, die Genese
des Denkakts, den Gebrauch der Vermögen. Die Dialektik ist die Kunst der
Probleme und Fragen, die Kombinatorik das Kalkül der Probleme als solcher.
Aber die Dialektik verliert die ihr eigentliche Kraft - und damit beginnt die
Geschichte ihrer lange währenden Verfälschung, durch die sie unter die Macht
des Negativen gerät -, wenn sie sich mit dem Abklatsch der Probleme von den
Sätzen begnügt. Aristoteles schreibt: ,,Sagt man: Ist auf Füßen gehendes zwei-
beiniges Sinnenwesen die Definition von Mensch? und ist Sinnenwesen die
Gattung von Mensch? so gibt es einen Satz. Sagt man dagegen: Ist auf Füßen
gehendes zweibeiniges Sinnenwesen die Definition von Mensch oder ist sie es
nicht? und: Ist Sinnenwesen Gattung von Mensch (oder nicht)? so gibt es ein
Problem. Und so auch im übrigen./ Man versteht hiernach, daß Probleme und
Sätze sich an Zahl gleich sind. Aus jedem Satz kann man mit Änderung der
Form ein Problem machen.“ (Noch bei den zeitgenössischen Logikern sieht
man, wie die Illusion um sich greift. Das Problemkalkül wird als außermathe-
matisch dargestellt; was zutrifft, da es doch wesentlich logisch, d.h. dialek-
204 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

tisch ist; es wird aber aus einem bloßen Satzkalkül erschlossen, das stets von
den Sätzen selbst kopiert, abgepaust ist)22.
Man macht uns glauben, die Probleme seien als fertige gegeben und ver-
schwänden in den Antworten oder der Lösung; schon unter diesem doppelten
Aspekt können sie bloß Phantome sein. Man macht uns glauben, die Denktä-
tigkeit, und ebenso das Wahre und Falsche bezüglich dieser Tätigkeit, beginne
erst mit der Suche nach Lösungen, betreffe nur die Lösungen. Dieser Glauben
hat wahrscheinlich denselben Ursprung wie die anderen Postulate des dogma-
tischen Bilds: stets kindische, von ihrem Kontext gelöste, willkürlich zum
Modell genommene Beispiele. Es ist ein infantiles Vorurteil, demgemäß der
Lehrer ein Problem stellt, wobei unsere Aufgabe darin besteht, es zu lösen,
und das Ergebnis der Aufgabe von einer mächtigen Autorität für wahr oder
falsch erachtet wird. Es ist ein soziales Vorurteil mit dem sichtbaren Interesse,
uns kindlich zu halten, ein Vorurteil, das uns stets zur Lösung von Problemen
auffordert, die anderswo herrühren, und uns damit tröstet oder ablenkt, daß
uns gesagt wird, wir hätten gewonnen, wenn wir endlich die Antwort gefun-
den hätten: das Problem als Hindernis und der Antwortende als Herkules.
Dies ist der Ursprung eines grotesken Bilds der Kultur, das man ebenso in den
Tests, in den Aufrufen der Regierung, in den Preisausschreiben der Zeitungen
findet (wo man jedermann dazu auffordert, nach seinem Geschmack zu urtei-
len, vorausgesetzt dieser Geschmack stimmt mit dem aller überein). Seien Sie
Sie selbst, und zwar so verstanden, daß dieses Ich das der anderen sein soll.
Als ob wir nicht Sklaven blieben, solange wir nicht über die Probleme selbst,
über eine Teilhabe an den Problemen, ein Recht zu Problemen, eine Verwal-
tung von Problemen verfügten. Es ist das Los des dogmatischen Bilds des
Denkens, daß es sich stets auf psychologisch kindische, sozial reaktionäre
Beispiele stützt (die Fälle von Rekognition, die Fälle von Irrtum, die Fälle

22 Vgl. Aristoteles: Topik, 1, 4, 101 b, 30-35. - Dieselbe Illusion reicht noch in die
moderne Logik hinein: Das Problemkalkül, wie es insbesondere von Kolmogoroff
definiert wird, ist noch Abklatsch eines Satzkalküls und bildet mit ihm einen JSO-
morphismus“ (vgl. Paulette Destouches-Fevrier: Rapports entre Ze cahl des probh-
mes et le calcul des propositions, Comptes rendues des seances de 1’Academie des
Sciences, April 1945). W ir werden sehen daß das Unternehmen einer ,,negations-
freien Mathematik“ wie das von G. F. C. Griss seine Grenze nur in Bezug auf diese
falsche Konzeption der Kategorie des Problems findet.
Leibniz dagegen ahnt den variablen, aber stets tiefgreifenden Abstand zwischen den
Problemen oder Themen und den Sätzen* . ,,Man kann sogar sagen, dai3 es Setzungen
gibt, die zwischen einer Idee und einem Urteil die Mitte halten: und zwar sind dies
die Fragen, unter denen es wieder solche gibt, die als Antwort nur ein einfaches Ja
oder Nein verlangen, und diese stehen den Urteilen [propositions] am nächsten.
Doch gibt es auch solche, in welchen es auf das Wie und die näheren Umstande
ankommt; und hier bedarf es einer weitergehenden Ergänzung, um sie zu Urteilen
umzubilden“ (Neue Abhandlungn über den menschlichen Verstand, in: Philosophi-
sche Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 412-413).
DAS BILD DES DENKENS 205

einfacher Sätze, die Fälle von Antworten oder Lösung), um im voraus dar-
über zu urteilen, was das Höchste im Denken sein müßte, d.h. die Genese
des Denkakts und der Sinn des Wahren und des Falschen. Darum ist ein
siebentes Postulat den anderen hinzuzufügen: das Postulat der Antworten
und Lösungen, dem zufolge das Wahre- und das Falsche erst mit den
Lösungen beginnen oder die Antworten qualifizieren. Doch schon wenn es
in einem wissenschaftlichen Examen passiert, daß ein falsches Problem
,,gegeben” wird, ist dieses glückliche Skandalon dazu angetan, die Familien
daran zu erinnern, daß die Probleme nicht fertig vorhanden sind, sondern
in ihren eigenen symbolischen Feldern konstituiert und besetzt werden
müssen; und daß das Buch des Meisters zu seiner Fertigstellung notwendig
eines - notwendig fehlbaren - Meisters bedarf. Pädagogische Versuche
haben sich vorgenommen, Schüler - selbst in sehr jungem Alter - an der
Verfertigung von Problemen, an ihrer Konstitution, an ihrer Stellung als
Probleme teilhaben zu lassen. Mehr noch, jedermann ,,anerkennt“ in gewis-
ser Weise, daß die Probleme das wichtigste sind. Es genügt aber nicht, dies
de facto anzuerkennen, als ob das Problem nur eine vorübergehende und
kontingente Bewegung wäre, dazu bestimmt, in der Formation des Wissens
zu verschwinden, und seine Bedeutung nur den negativen empirischen
Bedingungen verdankte, denen das erkennende Subjekt unterliegt; im
Gegenteil, diese Entdeckung muß auf die transzendentale Ebene übertragen
werden, und die Probleme dürfen nicht als ,,gegeben“ (data), sondern müs-
sen als ideelle ,,Gegenständlichkeiten“ betrachtet werden, die selbstgenüg-
sam sind und konstitutive und besetzende Akte in ihren symbolischen Fel-
dern implizieren. Weit davon entfernt, die Lösungen zu betreffen, affizieren
das Wahre und das Falsche zunächst die Probleme. Eine Lösung besitzt
stets die Wahrheit, die sie gemäß des Problems, auf das sie antwortet, ver-
dient; und das Problem stets die Lösung, die es gemäß seiner eigenen
Wahrheit oder Falschheit, d. h. gemäß seines Sinns verdient. Dies ist in der
Tat die Bedeutung berühmter Wendungen wie ,,die wahren großen Pro-
bleme werden erst gestellt, wenn sie gelöst werden“, oder ,,die Mensch-
heit stellt sich nur die Probleme, die sie zu lösen vermag“: keineswegs, weil
d i e - praktischen oder spekulativen - Probleme der Schatten vorgängiger
Losungen wären, sondern im Gegenteil, weil die Lösung sich notwendig
aus den vollständigen Bedingungen ergibt, unter denen man das Problem als
Problem bestimmt, aus den Mitteln und Termen, über die man verfügt, um
es zu stellen. Das Problem oder der Sinn ist zugleich der Ort einer
ursprünglichen Wahrheit und die Genese einer abgeleiteten Wahrheit. Die
Begriffe von Unsinn, falschem Sinn, Widersinn müssen auf die Probleme
selbst bezogen werden (manche Probleme sind falsch duch Unbestimmtheit,
andere durch Überbestimmtheit; und die Dummheit schließlich ist das Ver-
mögen zu falschen Problemen, belegt eine Unfähigkeit zur Konstitution,
Erfassung und Bestimmung eines Problems als solchen). Die Philosophen
und Wissenschaftler träumen davon, die Prüfung des Wahren und Falschen
206 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

in die Probleme hineinzutragen; dies ist der Gegenstand der Dialektik als
höheres oder kombinatorisches Kalkül. Aber auch hier übernimmt dieser
Traum nur die Funktion einer ,,Bußübung“23, solange die transzendentalen
Konsequenzen daraus nicht explizit gezogen werden und das dogmatische
Bild des Denkens de jure fortbesteht.
Die natürliche Illusion (die im Abklatsch der Probleme von den Sätzen
besteht) setzt sich nämlich in einer philosophischen Illusion fort. Man aner-
kennt den kritischen Anspruch, man bemüht sich, die Prüfung des Wahren
und des Falschen bis in die Probleme hineinzutragen; aber man hält daran
fest, daß die Wahrheit eines Problems bloß in seiner Lösungsmöglichkeit
bestehe. Die neue Gestalt der Illusion, ihr technischer Charakter rührt dies-
mal daher, daß man die Form der Probleme nach der Möglichkeitsform der
Sätze modelliert. Dies ist bereits bei Aristoteles der Fall - Aristoteles wies
der Dialektik ihre reale Aufgabe, ihre einzige wirkliche Aufgabe zu: die
Kunst der Probleme und Fragen. Während uns die Analytik das Mittel zur
Lösung eines bereits gegebenen Problems oder zur Beantwortung einer
Frage bereitstellt, soll die Dialektik zeigen, wie man die Frage legitimer-
weise stellt. Die Analytik untersucht den Prozeß, mit dem der Syllogismus
notwendig schlußfolgert, die Dialektik aber erfindet die Themen der Syllo-
gismen (die Aristoteles eben ,,Probleme“ nennt) und erzeugt die ein Thema
betreffenden Elemente des Syllogismus (,,Sätze“). Zur Beurteilung eines
Problems aber fordert uns Aristoteles auf, ,,die Meinungen, die von allen
oder von den meisten Menschen oder von den Weisen für richtig erachtet
werden“, zu berücksichtigen, um sie auf allgemeine (prädikable) Gesichts-
punkte zu beziehen und auf diese Weise Topoi zu bilden, die es ermögli-
chen, sie in einer Diskussion zu beweisen oder zu widerlegen. Die Gemein-
plätze sind also die Prüfung des Gemeinsinns selbst; wobei jedes Problem
als falsches Problem angesehen werden wird, dessen entsprechender Satz
einen logischen Fehler hinsichtlich Akzidens, Gattung, Eigenschaft oder
Definition enthält. Wenn die Dialektik bei Aristoteles abgewertet, auf die
bloßen Wahrscheinlichkeiten der Meinung oder der doxa reduziert
erscheint, so nicht deshalb, weil er deren wesentliche Aufgabe schlecht
begriffen hätte, sondern im Gegenteil deshalb, weil er die Verwirklichung
dieser Aufgabe schlecht angelegt hat. Als Opfer der natürlichen Illusion
macht er die Probleme zum Abklatsch der Sätze des Gemeinsinns; als
Opfer der philosophischen Illusion läßt er die Wahrheit der Probleme von
Gemeinplätzen abhängen, d.h. von der logischen Möglichkeit, eine Lösung
zu erhalten (wobei die Sätze selbst mögliche Lösungsfälle bezeichnen).
Im Laufe der Philosophiegeschichte variiert bestenfalls die Form der Mög-
lichkeit. So gedenken sich die Parteigänger einer mathematischen Methode
der Dialektik zu widersetzen; dennoch bewahren sie das Wesentliche

23 Vgl . Fußnote 11, S. 185 [A.d.Ü.].


DAS B ILD DES D ENKENS 207

davon, nämlich das Ideal einer Kombinatorik oder eines Problemkalküls.


Aber anstatt auf die logische Form des Möglichen zu rekurrieren, stellen
sie eine andere, spezifisch mathematische Möglichkeitsform heraus - sei sie
geometrischer oder algebraischer Natur. Die -Probleme sind also weiterhin
Abklatsch von entsprechenden Sätzen und werden weiterhin gemäß ihrer
Lösungsmöglichkeit bewertet. Genauer noch: von einem geometrischen
und synthetischen Gesichtspunkt aus werden die Probleme aus Sätzen
eines besonderen Typs, Theoreme genannt, gefolgert. Dies ist eine allge-
meine Tendenz der griechischen Geometrie, nämlich einesteils die Pro-
bleme zu Gunsten der Theoreme zu begrenzen, andernteils die Probleme
den Theoremen selbst unterzuordnen. Das rührt daher, daß die Theoreme
die Eigenschaften der einfachen Wesenheit auszudrücken und zu entfalten
scheinen, während die Probleme bloß die Ereignisse und Affektionen
betreffen, die von einer Abschattung, von einer Projektion der Wesenheit
in die Einbildungskraft zeugen. Da-mit aber wird der Gesichtspunkt der
Genese zwangsläufig auf einen niedrigeren Rang verwiesen: Man beweist,
daß etwas nicht nicht sein kann, anstatt zu zeigen, daß es ist und warum
es ist (daher die Häufigkeit von negativen, indirekten und apagogischen
Beweisführungen bei Euklid, die die Geometrie unter der Herrschaft des
Identitätsprinzips festhalten und sie daran hindern, zu einer Geometrie des
zureichenden Grundes zu werden). Von einem algebraischen und analyti-
schen Standpunkt aus bleibt sich das Wesentliche der Situation gleich. Die
Probleme sind nun Abklatsch von algebraischen Gleichungen und werden
gemäß der Möglichkeit bewertet, bezüglich der Koeffizienten der Glei-
chung eine Gesamtheit v o n Operationen durchzuführen, die die Wurzeln
liefert. Ebenso aber wie wir uns in der Geometrie das Problem als gelöstes
vorstellen, verfahren wir in der Algebra hinsichtlich unbekannter Quantitä-
ten, als ob sie bekannt wären: darin setzt sich die Arbeit fort, die in der
Reduktion der Probleme auf die Form von Sätzen besteht, die ihnen als
Lösungsfall zu dienen vermögen. Bei Descartes wird dies deutlich. Die
kartesianische Methode (die Suche nach Klarheit und Deutlichkeit) ist eine
Methode zur Lösung von als gegeben Vorausgesetzen Problemen, keine
Erfindungsmethode, die zur Konstitution der Probleme selbst und zum
Verständnis der Fragen geeignet wäre. Die Regeln, die die Probleme und
Fragen betreffen, spielen nur eine sekundäre und untergeordnete Rolle. In
seinem Kampf gegen die aristotelische Dialektik hat Descartes dennoch
einen Punkt mit ihr gemein, einen entscheidenden Punkt: Das Kalkül der
Probleme und Fragen wird weiterhin aus einem Kalkül ,,einfacher Sätze“,
die als vorgängig vorausgesetzt werden, gefolgert, immer noch das Postulat
des dogmatischen Bilds24.

24
Descartes unterscheidet zwischen den a u f ,,einfache Propositionen” u n d den auf
,,Fragen“ bezogenen G eboten (Regulae ad directionem ingenii/Regeln zur A usrich-
208 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Die Variationen werden weitergeführt, allerdings in derselben Perspektive.


Was betreiben die Empiristen anderes als die Erfindung einer neuen Form von
Möglichkeit: der Wahrscheinlichkeit oder physikalischen Lösungsmög- ’
lichkeit? Und Kant selbst? Meher als jeder andere jedoch forderte Kant, daß die
Prüfung des Wahren und des Falschen in die Probleme und Fragen hineinge-
tragen werden müsse; gerade damit definierte er die Kritik. Als problematisie-
rende und problematische erlaubte es ihm seine profunde Theorie der Idee, die
wahre Quelle der Dialektik wiederzufinden und gar die Probleme in den
geometrischen Entwurf der praktischen Vernunft einzuführen. Allein, weil die
kantische Kritik unter der Herrschaft des dogmatischen Bilds oder des
Gemeinsinns verharrt, definiert Kant die Wahrheit eines Problems noch über
dessen Lösungsmöglichkeit: Es handelt sich dieses Mal um eine transzenden-
tale Möglichkeitsform, in Übereinstimmung mit einem legitimen Gebrauch
der Vermögen, wie er in jedem Fall durch diese oder jene Organisation des
Gemeinsinns (der das Problem entspricht) bestimmt wird. - Stets finden wir
die beiden Aspekte der Illusion wieder: die natürliche Illusion, die im
Abklatsch der Probleme von vermeintlich vorgegeben Sätzen, von logischen
Meinungen, geometrischen Theoremen, algebraischen Gleichungen, physikali-
schen Hypothesen, transzendentalen Urteilen besteht; und die philosophische
Illusion, die in der Bewertung der Probleme gemäß ihrer ,,Lösbarkeit“
besteht, d.h. gemäß der variablen äußerlichen Form ihrer Lösungsmög-
lichkeit. Unausweichlich ist der Grund dann selbst nur eine bloße äußere
Bedingtheit. Seltsamer Sprung auf der Stelle und Teufelskreis, mit denen der
Philosoph beabsichtigt, die Wahrheit, Lösungen bis an die Probleme heranzu-
tragen, jedoch - immer noch Gefangener des dogmatischen Bilds - die Wahr-
heit der Probleme auf die Möglichkeit ihrer Lösungen zurückführt. Verfehlt
wird die innere Charakteristik des Problems als solchen, das innere imperative

tung der Erkenntnis, Hamburg 1973, Regel NI). Eb e n d iese letzeren beginnen erst
mit der 13. Regel und leiten sich von den ersteren ab. Descartes unterstreicht selbst
den Punkt, in dem seine Methode und die aristotelische Dialektik einander ähneln:
,,Dies eine nun tun wir den Dialektikern nach: ebenso wie sie beim Vortrag der
syllogistischen Formen voraussetzen, daß deren Begriffe oder deren Materie bekannt
sei, SO fordern auch wir im voraus, daß das Problem vollkommen verstanden sei”
(Regel XIII). - Eb enso die untergeordnete Rolle der ,,Fragen“ bei Malebranche: Vgl.
Recherche de Za vb-itcf, VI, 2, 7. Kap. Und bei Spinoza erscheint keinerlei ,,Problem“
in der Anwendung der geometrischen Methode.
In seiner Geometrie jedoch unterstrich Descartes die Bedeutung des analytischen
Verfahrens aus dem Blickwinkel der Konstitution von Problemen und nicht nur
ihrer Lösungen (in einer sehr schönen Passage insistiert Auguste Compte auf diesem
Punkt und zeigt, wie die Aufteilung von ,,Singularitäten“ die ,,Bedingungen des
Problems“ bestimmt; vgl. Tyaite &%nentaire de geometrie analytique, 1843). In
dieser Hinsicht läßt sich sagen, daß Descartes als Spezialist der Geometrie weiter
geht als der Philosoph Descartes.
DAS BILD DES DENKENS 209

Element, das zuerst über seine Wahrheit und Falschheit entscheidet und seine
innerliche genetische Macht bemißt: das Objekt selbst der Dialektik oder
Kombinatorik, das ,,Differentielle”. Die Probleme sind Prüfungen und Selek-
tionen. Das Wesentliche liegt darin, daß sich im Kern der Probleme eine
Genese der Wahrheit, eine Produktion des Wahren im Denken vollzieht. Das
Problem ist das differentielle Element im Denken, das genetische Element im
Wahren. Wir können also den einfachen Gesichtspunkt der Bedingtheit durch
einen Gesichtspunkt der wirklichen Genese ersetzen. Das Wahre und das
Falsche verharren nicht in der Indifferenz des Bedingten hinsichtlich seiner.
Bedingung, noch die Bedingung in der Indifferenz hinsichtlich dessen, was
durch sie ermöglicht wird. Eine Produktion des Wahren und des Falschen
durch das Problem und nach Maßgabe des Sinns - dies ist die einzige Art und
Weise, die Ausdrücke ,,wahres und falsches Problem“ ernst zu nehmen. Zu
diesem Zweck muß man nur darauf verzichten, die Probleme von möglichen
Sätzen zu kopieren wie die Wahrheit der Probleme durch die Möglichkeit
einer Lösung zu definieren. Im Gegenteil, die ,,Lösbarkeit“ ist es, die von
einer inneren Charakteristik abhängen muß: Sie muß durch die Bedingungen
des Problems bestimmt werden, wie gleichzeitig die realen Lösungen- durch
das Problem und im Problem erzeugt werden müssen. Ohne diese Umkeh-
rung ist die berühmte kopernikanische Revolution null und nichtig. Aus
diesem Grund geschieht keine Revolution, solange man bei der euklidischen
Geometrie verharrt: Man muß zu einer Geometrie des zureichenden Grundes,
einer differentiellen Geometrie Riemannschen Typs gelangen, die das Diskon-
tinuierliche vom Kontinuum aus zu erzeugen oder die Lösungen in den Bedin-
gungen der Probleme zu begründen versucht.
Nicht nur ist der Sinn ideell, vielmehr sind die Probleme die Ideen selbst.
Zwischen den Problemen und den Sätzen besteht stets eine Wesensdifferenz,
ein wesentlicher Abstand. Ein Satz ist durch sich selbst besonders und reprä-
sentiert eine bestimmte Antwort. Eine Gesamtheit von Sätzen kann sich in der
Weise verteilen, daß die von ihnen repräsentierten Antworten die Fälle einer
allgemeinen Lösung bilden (so etwa bei den Werten einer algebraischen Glei-
chung). Gerade die Sätze aber, ob allgemein oder besonders, finden ihren Sinn
nur im unterschwelligen Problem, das sie hervorruft. Einzig die Idee, einzig
das Problem ist universal. Nicht die Lösung ist es, die ihre Allgemeinheit dem
Problem überträgt, vielmehr überträgt das Problem seine Universalität der
Lösung. Es genügt nie, ein P roblem mit Hilfe einer Reihe von einfachen Fällen
zu lösen, die die Rolle von analytischen Elementen übernehmen; allerdings
müssen die Bedingungen bestimmt werden, unter denen das Problem das
Maximum an Inhalt und Extension erlangt, den Lösungsfällen seine eigene
ideelle Kontinuität mitzuteilen vermag. Selbst bei einem Problem, das nur
einen einzigen Lösungsfall hätte, würde der Satz, der diesen bezeichnete,
seinen Sinn nur in einem Komplex finden, der imaginäre Situationen zu
umfassen und ein Kontinuitätsideal zu integrieren vermag. Lösen bedeutet
stets die Erzeugung der Diskontinuitäten auf der Grundlage einer Kontinuität,
210 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

die als Idee fungiert. Sowie wir das Problem ,,vergessen“, haben wir nurmehr
eine allgemeine abstrakte Lösung vor uns; und da diese Allgemeinheit durch
nichts mehr gestützt werden kann, kann diese Lösung durch nichts daran
gehindert werden, in die besonderen Sätze, die deren Fälle ausmachen, zu
zerfallen. Vom Problem abgetrennt fallen die Sätze in den Stand besonderer
Sätze zurück, deren einziger Wert in der Bezeichnung liegt. Das Bewußtsein
bemüht sich dann um die Rekonstitution des Problems, allerdings gemäß des
neutralisierten Doppelgängers von besonderen Sätzen (Befragungen, Zweifel,
Wahrscheinlichkeiten, Hypothesen) und gemäß der leeren Form von allgemei-
nen Sätzen (Gleichungen, Theoreme, Theorien . . .)25. Es beginnt sodann die
doppelte Konfusion, die das Problem mit der Reihe der hypothetischen Sätze
gleichsetzt und es der Reihe der kategorischen unterordnet. Die Natur des
Universalen ist verloren; mit ihr aber ebenso die Natur des Singulären. Denn
das Problem oder die Idee ist die konkrete Singularität ebenso wie die wahre
Universalität. Den Beziehungen, die das Universale des Problems konstituie-
ren, entsprechen die Aufteilungen von ausgezeichneten und singulären Punk-
ten, die die Bestimmung der Bedingungen des Problems konstituieren.
Obwohl Proclus das Primat des Theorems über das Problem beibehielt, hatte
er dieses strikt dadurch definiert, daß es sich auf eine Ordnung von Ereignis-
sen und Affektionen bezieht2? Und Leibniz vermerkte richtig, was das Pro-
blem und die Sätze voneinander trennte: alle Arten von Ereignissen, ,,das Wie
und die Umstände”, in denen die Sätze ihren Sinn finden. Aber diese Ereig-
nisse sind ideelle Ereignisse, von anderer Natur und tiefgreifender als die
realen Ereignisse, die sie in der Ordnung der Lösungen bestimmen. Unter den
großen lärmenden Ereignissen die kleinen Ereignisse des Schweigens, und
unter dem natürlichen Licht entsprechend das kurze Aufblitzen der Idee. Die
Singularität liegt ebensowenig jenseits der besonderen Sätze wie das Univer-
sale jenseits des allgemeinen Satzes. Die problematischen Ideen sind keine
einfachen Wesenheiten, sondern Komplexe, Vielheiten von Bezügen und ent-
sprechenden Singularitäten. Vom Standpunkt des Denkens aus sind die pro-
blematische Unterscheidung zwischen Gewöhnlichem und dem Singulärem
und der jeweilige Unsinn, der auf einer schlechten Aufteilung in den Bedin-
gungen des Problems beruht, zweifellos wichtiger als die hypothetische oder

25 Eines der originellsten Kennzeichen der modernen Epistemologie ist die Anerken-
nung dieser doppelten Unreduzierbarkeit des ,,Problems“ (in diesem Sinne erscheint
uns die substantivische Verwendung des Worts p r o b l e m a t i s c h als ein unabdingbarer
Neologismus). - Vgl. Georges Bouligand und seine Unterscheidung zwischen dem
,,Problemelement“ und dem ,,globalen Syntheseelement“ (insbesondere in: Le di&
des absolues mathsmatico-logiques, Paris 1949); Georges Canguilhem und seine
Unterscheidung Problem-Theorie (insbesondere in: Le normal et le pathologique,
Paris 1966; dt.: Das Normale und das Pathologische, München 1974).
26 Proclus Diadochus . Euklid-Kommentar hg. v. M. Steck, Halle 1945, S. 219ff.
J
DAS BILD DES DENKENS 211

kategorische Dualität von Wahrem und Falschem einschließlich der ,,Irrtü-


mer“, die bloß auf deren Konfusion in den Lösungsfällen beruhen.
Ein Problem existiert nicht außerhalb seiner Lösungen. Aber weit davon
entfernt ZU verschwinden, insistiert und persistiert es in diesen Losungen, die
es überdecken. Ein Problem bestimmt sich zur selben Zeit wie es gelöst wird;
aber seine Bestimmung verschmilzt nicht mit der Lösung, die beiden Elemente
unterscheiden sich wesentlich, und die Bestimmung ist gleichsam die Genese
der begleitenden Lösung. (So gehört die Aufteilung der Singularitäten voll-
ständig zu den Bedingungen des Problems, während ihre Spezifikation bereits
auf die Lösungen verweist, die unter diesen Bedingungen konstruiert werden.)
Das Problem ist zugleich transzendent und immanent bezüglich seiner Losun-
gen. Transzendent, weil es aus einem System von ideellen Verbindungen oder
Differentialverhältnissen zwischen genetischen Elementen besteht. Immanent,
weil diese Verbindungen oder Verhältnisse sich in den aktuellen Relationen
verkörpern, die ihnen unähnlich sind und durch das Lösungsfeld definiert
werden. Albert Lautman hat in seinem bewundernswerten Werk wie kein
anderer gezeigt, daß die Probleme zunächst platonische Ideen waren, ideelle
Verbindungen zwischen dialektiscben Begriffen, die sich auf ,,mögliche Situa-
tionen des Existierenden” beziehen; daß sie sich aber auch in den realen
Relationen aktualisieren, die für die gesuchte Lösung auf einem mathemati-
schen oder physikalischen usw. Feld konstitutiv sind. Nach Lautman hat die
Wissenschaft in diesem Sinne stets an einer sie überschreitenden Dialektik teil,
d. h. an einer metamathematischen und extrapropositionalen Macht, obwohl
diese Dialektik ihre Verbindungen nur in den Sätzen tatsächlicher wissen-
schaftlicher Theorien verkörpert27. Die Probleme sind stets dialektisch; darum
verliert die Dialektik, sobald sie ihren intimen Bezug zu den Problemen als
Ideen ,,vergißt“, sobald sie sich mit dem Abklatsch der Probleme von den
Sätzen begnügt, ihre wahrhafte Macht, um unter die Herrschaft des Negativen
zurückzufallen, und ersetzt notwendig die ideelle Gegenständlichkeit des Pro-
blematischen durch eine bloße Konfrontation von entgegengesetzen, konträ-
ren oder widersprüchlichen Sätzen. Eine langwährende Verfälschung, die mit
der Dialektik selbst beginnt und ihre äußerste Form im Hegelianismus findet.
Wenn es aber zutrifft, daß die Probleme prinzipiell dialektisch, ihre Lösungen
wissenschaftlich sind, so müssen wir eine vollständigere Unterscheidung tref-
fen: das Problem als transzendente Instanz; das symbolische Feld, in dem sich
die Bedingungen des Problems in seiner Immanenzbewegung ausdrückten; das
Feld wissenschaftlicher Lösbarkeit, in dem sich das Problem verkörpert und in

27Albert Lautman: Essai sur les notions de structure et d’existence en mathemathiques,


Paris 1938, Bd. 1, S. 13; Bd. 2, S. 149 (,,d a s einzige von uns erfaßte Element a priori
i s t in der Erfahrung jener Dringlichkeit der Probleme gegeben, die der Entdeckung
ihrer Lösungen vorausgeht . . .“>. - Und zum doppelten Aspekt der Problem-Ideen,
Transzendenz und Immanenz, vgl. Nouvelles recherches sur Za structure dialectique
des matbhnathiques, Paris 1939, S. 14-15.
212 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

dessen Abhängigkeit sich der vorausgehende Symbolismus definiert. Einzig


eine allgemeine Theorie des Problems und der entsprechenden ideellen
Synthese wird den Bezug zwischen diesen Elementen präzisieren können.

Die Probleme und ihre Symboliken sind auf Zeichen bezogen. Die Zeichen
sind es, die ,,Probleme machen” und sich in einem symbolischen Feld entfal-
ten. Die paradoxe Anwendung der Vermögen und zuerst der Sinnlichkeit im
Zeichen verweist also auf die Ideen, die alle Vermögen durchlaufen und sie
ihrerseits wachrufen. Umgekehrt verweist die Idee auf die paradoxe Anwen-
dung jeden Vermögens und verleiht selber der Sprache den Sinn. Es läuft auf
daselbe hinaus, ob man die Idee erforscht oder jedes der Vermögen zu seinem
transzendenten Gebrauch anhebt. Das sind die beiden Aspekte eines Erler-
nens, eines wesentlichen Lernprozesses. Denn einerseits ist der Lernende der-
jenige, der praktische oder spekulative Probleme als solche konstituiert und
besetzt. Lernen ist der Name, der den subjektiven Akten zukommt, die ange-
sichts der Gegenständlichkeit des Problems (Idee) vollzogen werden, während
Wissen bloß die Allgemeinheit des Begriffs oder den ruhigen Besitz einer
Regel für die Lösungen bezeichnet. Ein berühmter psychologischer Test in-
szeniert einen Affen, den man seine Nahrung in Schachteln einer bestimmten
Farbe zwischen anderen mit verschiedenen Farben suchen läßt; dabei tritt eine
paradoxe Phase ein, in der die Zahl der ,,Irrtümer“ abnimmt, ohne daß jedoch
der Affe schon das ,,Wissen“ oder die ,,Wahrheit“ einer Lösung für jeden Fall
besitzen würde. Welch glücklicher Moment, wenn der Philosophen-Affe für
die Wahrheit empfänglich wird und selbst das Wahre produziert, allerdings
nur in dem Maße, wie er in die farbige Dichte eines Problems einzudringen
beginnt. Man sieht hier, wie sich die Diskontinuität der Antworten vor dem .
Hintergrund der Kontinuität eines ideellen Lernprozesses erzeugt und wie
sich das Wahre und das Falsche nach Maßgabe dessen verteilen, was man vom
Problem erfaßt, wie die endgültige Wahrheit, wenn sie erlangt ist, als die
Grenze des vollständig erfaßten und bestimmten Problems auftaucht, als das
Produkt genetischer Reihen, die den Sinn bilden, oder als Resultat einer
Genese, die nicht nur im Kopf eines Affen abläuft. Lernen heißt in das
Universale der Verhältnisse eindringen, die die Idee bilden, und in die Singula-
ritäten, die ihnen entsprechen. Die Idee des Meers etwa ist, wie Leibniz zeigte,
ein System von Verbindungen oder Differentialverhältnissen zwischen Parti-
keln und von Singularitäten, die den Variationsgraden dieser Verhältnisse
entsprechen - wobei sich die Gesamtheit des Systems in der realen Wellenbe-
wegung verkörpert. Schwimmenlernen bedeutet die Konjugation der ausge-
zeichneten Punkte-unseres Körpers mit den singulären Punkten der objektiven
Idee, um ein problematisches Feld zu bilden. Diese Konjugation bestimmt für
DAS BILD DES DENKENS 213

uns eine Bewußtseinsschwelle, auf deren Höhe sich unsere realen Akte unse-
ren Wahrnehmungen der realen Beziehungen des Objekts anpassen und damit
eine Problemlösung liefern. Gerade die problematischen Ideen aber sind
zugleich die letzten Elemente der Natur und das subliminale Objekt der
kleinen Wahrnehmungen. So daß ,,lernen“ sich stets übers Unbewußte, sich
stets im Unbewußten vollzieht und dabei das Band eines tiefen Einverständ-
nisses zwischen Natur und Geist knüpft.
Andererseits erhebt der Lernende jedes Vermögen zum transzendenten
Gebrauch. In der Sinnlichkeit sucht er jene zweite Macht entstehen zu lassen,
die erfaßt, was nur empfunden werden kann. Das sind die Lehrjahre der Sinne.
Und von einem Vermögen zum anderen überträgt sich die Gewalt, die aber
stets das Andere im Unvergleichlichen eines jeden umfaßt. Von welchen Zei-
chen der Sinnlichkeit aus, durch welche Schätze des Gedächtnisses wird das
Denken hervorgerufen werden, unter Torsionen, die durch die Singularitäten
welcher Idee bestimmt werden? Man weiß niemals im voraus, wie jemand
lernen wird - durch welche Liebschaften man gut in Latein wird, durch
welche Begegnungen man Philosoph ist, in welchen Wörterbüchern man den-
ken lernt. Die Grenzen der Vermögen schieben sich ineinander, und zwar in
der gebrochenen Form dessen, wodurch die Differenz getragen und übermit-
telt wird. Es gibt keine Methode zur Auffindung der Schätze und ebensowenig
eine Methode des Lernens, vielmehr eine gewaltsame Zucht, eine Bildung oder
Paideia, die das ganze Individuum durchdringt (ein Albino, dem der Empfin-
dungsakt in der Sinnlichkeit entsteht, ein Aphatiker, dem die Rede in der
Sprache entsteht, ein Azephalus, dem das Denken im Denken entsteht). Die
Methode ist das Mittel des Wissens, das die Zusammenarbeit aller Vermögen
reguliert; daher ist sie auch die Manifestation eines Gemeinsinns oder die
Realisierung einer Cogitatio natura, die einen guten Willen als eine ,,wohl-
überlegte Entscheidung“ des Denkenden voraussetzen. Bildung aber ist die
Bewegung des Lernens, das Abenteuer des Unwillkürlichen, das eine Sinn-
lichkeit, ein Gedächtnis und dann ein Denken miteinander verknüpft, mit
allen gebotenen Gewaltanwendungen und Grausamkeiten, wie Nietzsche
sagte, um eben ,,ein Volk von Denkern zu züchten“, ,,dem Geiste Zucht zu
verleihen“.
Selbstverständlich wird die Bedeutung und die Würde des Lernens oft aner-
kannt. Aber dies entspricht einer Huldigung an die empirischen Bedingungen
des Wissens: Man entdeckt Vornehmheit in dieser vorbereitenden Bewegung,
die dennoch im Ergebnis verschwinden soll. Und selbst wenn man auf der
Eigentümlichkeit des Lernens und auf der im Lernprozeß implizierten Zeit
insistiert, so nur deswegen, um die Skrupel eines psychologischen Bewußt-
seins zu besänftigen, das sich sicher nicht erlaubt, dem Wissen das eingeborene
Recht streitig zu machen, das ganze Transzendentale zu repräsentieren. Ler-
nen
.. ist nur die Vermittlung zwischen Nichtwissen und Wissen, der lebendige
Übergang vom einen zum anderen. Man mag noch so sehr behaupten, Lernen
sei zuletzt eine unendliche Aufgabe; diese -wird nichtsdestoweniger auf die
214 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Seite der Umstände und des Erwerbs abgewälzt und nach draußen verlegt,
außerhalb des der Annahme nach einfachen Wesens des Wissens als Angebo-
rensein, apriorischem Element oder gar regulativer Idee. Und schließlich gerät
der Lernprozeß eher auf die Seite der Ratte im Labyrinth, während der
Philosoph außerhalb der Höhle bloß das Ergebnis - das Wissen - davonträgt,
um daraus die transzendentalen Prinzipien hervorzuholen. Selbst bei Hegel
bleibt der enorme Lernprozeß, dem man in der Phänomenologie beiwohnt,
mit seinem Ergebnis ebenso wie mit seinem Prinzip dem Ideal des Wissens als
absolutem Wissen untergeordnet. Freilich bildet auch hier Platon die Aus-
nahme. Denn bei ihm ist Lernen tatsächlich die transzendentale Bewegung der
Seele und ebensowenig aufs Wissen wie aufs Nichtwissen reduzierbar. Die
transzendentalen Bedingungen des Denkens müssen dem ,,Lernen” - und
nicht dem Wissen - entnommen werden. Darum werden die Bedingungen
durch Platon in der Form der Wiedererinnerung und nicht des Angeboren-
seins bestimmt. Auf diese Weise dringt Zeit ins Denken ein, und zwar nicht
als die empirische Zeit des Denkenden, der faktischen Bedingungen unterliegt
und für den Denken Zeit braucht, sondern als Zeit des reinen Denkens oder
rechtmäßige Bedingung (die Zeit braucht Denken). Und die Wiedererinnerung
findet ihr eigenes Objekt, ihr memorandum in der spezifischen Materie des
Lernprozesses, d. h. in den Fragen und Problemen als solchen, in der Dring-
lichkeit der Probleme unabhängig von ihren Lösungen, in der Idee. Warum
müssen soviele Grundprinzipien, die das betreffen, was Denken bedeutet,
durch die Wiedererinnerung selbst aufs Spiel gesetzt werden? Weil, wie wir
gesehen haben, die platonische Zeit ihre Differenz ins Denken - und der
Lernprozeß seine Heterogenität - nur darum einführt, um sie noch der mythi-
schen Form der Ähnlichkeit und der Identität, also dem Bild des Wissens
selbst zu unterstellen. So daß die ganze platonische Theorie des Lernprozesses
als eine Bußübung2* fungiert, erdrückt durch das entstehende dogmatische
Bild, und einen Ungrund heraufbeschwört, den sie auch weiterhin nicht ZU
erforschen vermag. Ein neuer Menon würde sagen: Das Wissen, es ist nichts
anderes als eine empirische Gestalt, bloßes Resultat, das in die Erfahrung fällt
und zurückfällt, Lernen aber ist die wahre transzendentale Struktur, die die
Differenz mit der Differenz, die Unähnlichkeit mit der Unähnlichkeit vereint,
ohne sie zu vermitteln, und die Zeit ins Denken einführt, allerdings als reine
Form der leeren Zeit überhaupt und nicht als diese oder jene mythische
Vergangenheit, diese oder jene frühere mythische Gegenwart. Stets stoßen wir
auf die Notwendigkeit, die angenommenen Beziehungen oder Aufteilungen
des Empirischen und des Transzendentalen zu verkehren. Und als achtes
Postulat im dogmatischen Bild müssen wir das Postulat des Wissens berück-
sichtigen, das alle anderen in einem vermeintlich einfachen Resultat bloß
rekapituliert und aufsammelt.

28 Vgl . Fußnote 11, S. 185 [A.d.Ü.].


DAS BILD DES DENKENS 215

Wir haben acht Postulate gezählt, wovon jedes zwei Gestalten besitzt: 1. das
Postulat des Prinzips oder der Cogitatio. natura universalis (guter Wille des
Denkenden, gute Natur des Denkens); 2. das Postulat des Ideals oder des
Gemeinsinns (der Gemeinsinn als concordiu facultatum und der gesunde Men-
schenverstand als Aufteilung, die diese Eintracht gewährleistet); 3. das Postu-
lat des Modells oder der Rekognition (die Rekognition, die alle Vermögen
dazu auffordert, sich auf ein Objekt, das der Annahme nach dasselbe ist, zu
wenden, und die Möglichkeit von Irrtum, die sich in der Aufteilung daraus
ableitet, wenn ein Vermögen eines seiner Objekte mit einem anderen Objekt
eines anderen Vermögens verwechselt); 4. das Postulat des Elements oder der
Repräsentation (wenn die Differenz den komplementären Dimensionen des
Selben und des Ähnlichen, des Analogen und des Entgegengesetzten unter-
geordnet ist); 5. das Postulat des Negativen oder des Irrtums (in dem der
Irrtum ausdrückt, was im Denken an Mißlichem passieren kann, dies aber
zugleich als Produkt äußerer Mechanismen); 6. das Postulat der logischen
Funktion oder des Satzes (die Bezeichnung wird als Topos der Wahrheit
genommen, während der Sinn nur der neutralisierte Doppelgänger des Satzes
oder seine unbestimmte Verdoppelung ist); 7. das Postulat der Modalität oder
der Lösungen (die Probleme, die material Abklatsch der Sätze oder formal
durch ihre Lösungsmöglichkeit definiert sind); 8. das Postulat des Zwecks
oder des Resultats, das Postulat des Wissens (die Unterordnung des Lernens
unter das Wissen, der Bildung unter die Methode). Wenn jedes Postulat zwei
Gestalten hat, so deshalb, weil es einmal natürlich, einmal philosophisch ist;
weil es einmal im Willkürlichen der Beispiele, einmal in der Voraussetzung des
Wesens liegt. Die Postulate brauchen nicht ausgesprochen zu werden: Sie
agieren im Schweigen umso besser, in jener Voraussetzung des Wesens wie in
der Wahl der Beispiele; alle zusammen bilden sie das dogmatische Bild des
Denkens. Sie erdrücken das Denken unter einem Bild, das dem des Selben und
des Ähnlichen in der Repräsentation entspricht, das aber restlos preisgibt, was
Denken bedeutet, insofern es die beiden Mächte der Differenz und der
Wiederholung, des philosophischen Anfangs und Wiederanfangs veräußert.
Das Denken, das im Denken entsteht, der in seiner Genitalität erzeugte Denk-
akt, der weder im Angeborensein gegeben noch in der Wiedererinnerung
vorausgesetzt ist - das ist das bildlose Denken. Was aber ist ein derartiges
Denken und sein Verlauf in der Welt?
VIERTES K APITEL

IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ

Kant ruft unablässig in Erinnerung, daß die Ideen wesentlich ,,problematisch“


seien. Umgekehrt sind die Probleme die Ideen selbst. Sicher zeigt er, daß uns
die Ideen in falsche Probleme stürzen. Dieses Merkmal aber ist nicht das
tiefgreifendste: Wenn die Vernunft nach Kant falsche Probleme im besonderen
stellt und in ihrem Innern also die Illusion trägt, so deshalb, weil sie zunächst
Vermögen zum Aufwerfen von Problemen überhaupt ist. Ein derartiges Ver-
mögen hat, in seinem Naturzustand begriffen, noch nicht das Mittel zur
Unterscheidung dessen, was es an Wahrem oder Falschem gibt, was in einem
von ihm gestellten Problem begründet oder unbegründet ist. Die kritische
Operation aber verfolgt gerade den Zweck, ihm dieses Mittel zu verschaffen:
,,Die Kritik hat sich nicht um die Gegenstände der Vernunft zu kümmern,
sondern um die Vernunft selbst oder die Probleme, die ihrem Innern entsprin-
gen“‘. Man wird erfahren, daß die falschen Probleme an einen illegitimen
Gebrauch der Idee gebunden sind. Daraus geht hervor, daß nicht jedes Pro-
blem falsch ist: Entsprechend ihrer richtig gefaßten kritischen Natur verfügen-
die Ideen über einen völlig legitimen, sogenannten ,,regulativen“ Gebrauch,
demzufolge sie wahre Probleme konstituieren oder wohlbegründete Probleme
stellen. Regulativ meint darum problematisch. Die Ideen sind, für sich allein
genommen, problematisch, problematisierend - und trotz mancher Texte, in
denen er die Begriffe gleichsetzt, bemüht sich Kant, die Differenz zwischen
,,prob1ematisch “ einerseits und ,,hypothetisch“, ,,erdichtet” , ,,allgemein“ oder
,,abstrakt“ andererseits zu zeigen. In welchem Sinne also stellt oder konsti-
tuiert die kantische Vernunft, als Vermögen von Ideen, Probleme? Weil einzig

’ 1. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, in: Werke, a.a.O.,
Bd. 3, S. 29: ,,Denn das hat die reine spekulative Vernunft Eigentümliches an sich,
daß sie ihr eigenes Vermögen, nach Verschiedenheit der Art, wie sie sich Objekte
zum Denken wählt, ausmessen, und auch selbst die mancherlei Arten, sich Aufgaben
[frz.: problthes] vorzulegen, vollständig auszählen [. . .] s o l l .
218 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

sie die Fähigkeit besitzt, die verschiedenen Verstandeshandlungen, die einen


Komplex von Gegenständen betreffen, zu einem Ganzen zusammenzufassen2.
Für sich allein genommen würde der Verstand in vereinzelte Handlungen
verstrickt bleiben, Gefangener von partiellen empirischen Befragungen oder
Forschungen, die sich auf diesen oder jenen Gegenstand beziehen, niemals
aber würde er sich zur Konzeption eines ,,Problems“ erheben, die allen seinen
Handlungen eine systematische Einheit zu verleihen vermag. Nur der Ver-
stand würde hier und dort Resultate oder Antworten erhalten, niemals aber
würden diese eine ,,Auflösung“ bilden. Denn jede Auflösung setzt ein Pro-
blem voraus, d. h. die Konstitution eines einheitlichen systematischen Feldes,
das die Forschungen oder Befragungen ausrichtet und subsumiert, und zwar
derart, daß die Antworten ihrerseits eben Lösungsfälle bilden. Es kommt vor,
daß Kant behauptet, die Ideen seien ,,Probleme ohne alle Auflösung“. Er
meint damit nicht, daß die Ideen notwendigerweise falsche Probleme, also
unlösbar seien, vielmehr im Gegenteil, daß die wahren Probleme Ideen seien
und daß diese Ideen nicht durch ,,ihre“ Lösungen beseitigt werden, da sie die
unerläßliche Bedingung sind, ohne die keine Auflösung jemals existieren
würde. Über einen legitimen Gebrauch verfügt die Idee nur bezüglich der
Verstandesbegriffe; umgekehrt aber finden die Verstandesbegriffe den Grund
ihres vollen experimentellen Gebrauchs (Maximum) nur in dem Maße, wie sie
auf die problematischen Ideen bezogen werden, sei es, daß sie sich auf Linien
anordnen, die in einem idealen Fokus außerhalb der Erfahrung konvergieren,
sei es, daß sie sich vor dem Hintergrund eines höheren Horizonts, der sie alle
umschließt, reflektieren’. Derartige Brennpunkte, derartige Horizonte sind
die Ideen, d. h. die Probleme als solche, und zwar in ihrer zugleich immanen-
ten wie transzendenten Natur.
Die Probleme besitzen einen objektiven Wert, die Ideen besitzen in gewisser
Weise ein Objekt. ,,Problematisch“ meint nicht nur eine besonders wichtige
Art von subjektiven Akten, sondern auch eine Dimension der Objektivität als
solcher, die von diesen Akten besetzt wird. Ein Objekt außerhalb der Erfah-
rung kann nur in problematischer Form repräsentiert werden; was nicht heißt,
daß die Idee kein reales Objekt besitze, sondern daß das Problem als Problem
das reale Objekt der Idee ist. Das Objekt der Idee ist, wie Kant in Erinnerung
ruft, weder eine Fiktion noch eine Hypothese, noch ein Vernunftwesen: Es ist
ein Objekt, das weder gegeben noch erkannt werden kann, sondern vielmehr
repräsentiert werden muß, ohne daß es direkt bestimmt werden könnte. Kant
sagt gerne, die Idee als Problem habe einen zugleich objektiven wie unbe-
stimmten Wert. Das Unbestimmte ist nicht länger eine bloße Unvollkommen-
heit in unserer Erkenntnis oder ein Mangel im Objekt; es ist eine objektive,
vollkommen positive Struktur, die als Horizont oder Brennpunkt bereits in

2 Ebd., Von den transzendentalen Ideen, S. 331.


3 Die beiden Bilder finden sich im Anhang zur transzendentalen Dialektik, Bd. 4, S.
565 und 575.
IDEELLE SYNTHESE DER D IFFERENZ 219

der Wahrnehmung wirkt. Das unbestimmte Objekt, das Objekt in ideeller


Hinsicht dient uns nämlich dazu, andere Objekte (die der Erfahrung) zu
repräsentieren, denen es ein Maximum an systematischer Einheit verleiht. Die
Idee würde die formalen Verstandeshandlungen nicht systematisieren, wenn
nicht das Objekt der Idee den Erscheinungen eine ähnliche Einheit hinsicht-
lich ihrer Materie verleihen würde. Damit aber ist das Unbestimmte nur das
erste objektive Moment der Idee. Denn auf der anderen Seite wird das Objekt
der Idee indirekt bestimmbar: Es ist bestimmbar in Analogie mit jenen Objek-
ten der Erfahrung, denen es die Einheit verleiht, die ihm aber als Gegenlei-
stung eine Bestimmung verschaffen, die ,,analog“ zu den Beziehungen ist, die
sie untereinander unterhalten. Schließlich trägt das Objekt der Idee das Ideal
einer unendlichen durchgängigen Bestimmung in sich, da es ja eine Spezifika-
tion der Verstandesbegriffe gewährleistet, durch welche diese mehr und mehr
Differenzen umfassen, indem sie über ein eigentlich unendliches Kontinuitäts-
feld verfügen.
Die Idee weist also drei Momente auf: unbestimmt in ihrem Objekt, bestimm-
bar im Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung, Trägerin des Ideals einer
unendlichen Bestimmung im Verhältnis zu den Verstandesbegriffen. Offen-
sichtlich greift die Idee hier die drei Aspekte des Cogito auf: das Ich bin als
unbestimmte Existenz, die Zeit als Form, in der diese Existenz bestimmbar ist,
das Ich denke als Bestimmung. Die Ideen sind exakt die Gedanken des Cogito,
die Differentiale des Denkens. Und sofern das Cogito auf ein gespaltenes Ego
verweist - von einem zum anderen Ende durch die Form der Zeit zerspalten,
durch die es durchdrungen wird -, muß von den Ideen gesagt werden, daß sie
im Riß wimmeln, daß sie beständig an den Rändern dieses Risses auftauchen,
unaufhörlich gehen und kommen und sich auf tausend verschiedene Weisen
zusammensetzen. Keine Frage also nach Auffüllung dessen, was nicht aufge-
füllt werden kann. Ebenso aber wie die Differenz unmittelbar vereint und
verknüpft, was durch sie geschieden wird, wie der Riß zusammenhält, was er
spaltet, umfassen die Ideen auch ihre zerrissenen Momente. Die Ideen haben
die Eigenschaft, den Riß und seine Bewohner, sein Ameisengewimmel zu
interiorisieren. Es besteht in der Idee keinerlei Gleichsetzung oder Verschmel-
zung, sondern eine innere problematische objektive Einheit des Unbestimm-
ten, Bestimmbaren und der Bestimmung. Dies ist es vielleicht, was bei Kant
nicht genügend deutlich wird: zwei der drei Momente bleiben ihm zufolge
äußerliche Merkmale (wenn die Idee an sich selbst unbestimmt ist, so ist sie
nur im Verhältnis zu den Objekten der Erfahrung bestimmbar und trägt das
Ideal der Bestimmung nur im Verhältnis zu den Verstandesbegriffen). Mehr
noch, Kant ließ diese Momente in verschiedenen Ideen Gestalt annehmen: Das
Ich ist vor allem unbestimmt, die Welt bestimmbar und Gott das Ideal der
Bestimmung. Vielleicht muß man hier die wahren Gründe dafür suchen, daß
Kant, wie ihm die Postkantianer vorwarfen, am Gesichtspunkt der Bedingtheit
festhält, ohne den der Genese zu erreichen. Und wenn der Fehler des Dogma-
tismus stets darin besteht, das aufzufüllen, was trennt, so liegt der Fehler des
220 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Empirismus darin, das Getrennte außerhalb zu lassen; in diesem Sinn gibt es


in der Kritik noch zuviel Empirismus (und zuviel Dogmatismus bei den
Postkantianern). Der Horizont oder Brennpunkt, der ,,kritische“ Punkt, an
dem die Differenz als Differenz die Funktion der Vereinigung übernimmt, ist
noch nicht bezeichnet.

Wir stellen Nicht-A dx gegenüber, und entsprechend dem Symbol des Wider-
Spruchs das der Differenz (Differenzphilosophie [i.O.dt.]) - und ebenso der
Negativität die Differenz an sich selbst. Freilich sucht der Widerspruch die
Idee seitens der größten Differenz, während das Differential Gefahr läuft, in
den Abgrund des unendlich Kleinen zu stürzen. Das Problem ist damit aber
nicht richtig gestellt: Es ist falsch, den Wert des Symbols dx mit der Existenz
der Infinitesimalen zu verbinden; aber es ist ebenso falsch, im Namen ihrer
Ablehnung jenem Symbol jeglichen ontologischen oder gnoseologischen Wert
zu verweigern. So daß in den alten, den sogenannten barbarischen oder vor-
wissenschaftlichen Interpretationen der Differentialrechnung ein Schatz vor-
handen ist, der aus seiner infinitesimalen Einbindung geborgen werden muß.
Es ist sehr viel wahrhaft philosophische Naivität und viel Begeisterung nötig,
um das Symbol dx ernst zu nehmen: Was Kant und selbst Leibniz betrifft, so
haben sie darauf verzichtet. Aber in der geheimen Geschichte der differentiel-
len Philosophie erstrahlen drei Namen: Salomon Maimon begründet den Post-
kantianismus paradoxerweise durch eine leibnizsche Neuinterpretation der
Infinitesimalrechnung (1790); Ho&&Wronski, der tiefsinnige Mathematiker,
entwickelt ein zugleich positivistisches, messianisches und mystisches System,
das eine kantische Interpretation des Kalküls impliziert (1814); Bordas-
Demoulin gibt, anläßlich einer Reflexion über Descartes, dem Kalkül eine
platonische Deutung (1843). Hier dürfen viele philosophische Reichtümer
nicht der modernen wissenschaftlichen Technik geopfert werden: ein Leibniz,
ein Kant, ein Platon der Infinitesimalrechnung. Das Prinzip einer differentiel-
len Philosophie überhaupt muß Gegenstand einer strengen Darlegung sein
und darf in keiner Weise vom unendlich Kleinen abhängen. Das Symbol dx
erscheint zugleich als unbestimmt, als bestimmbar und als Bestimmung. Die-
sen drei Aspekten entsprechen drei Prinzipien, die den zureichenden Grund
bilden: Dem Unbestimmten als solchem (dx, dy) entspricht ein Prinzip der
Bestimmbarkeit; dem real Bestimmbaren (dxldy) entspricht ein Prinzip von
Wechselbestimmung; dem wirklich Bestimmten (Werte von dxldy) entspricht
ein Prinzip durchgängiger Bestimmung. Kurz, dx ist die Idee - die platoni-
sche, leibnizsche oder kantische Idee, das ,,Problem“ und dessen Sein.
Die Idee des Feuers subsumiert das Feuer als eine einzige kontinuierliche
Masse, die anzuwachsen vermag. Die Idee des Silbers subsumiert ihr Objekt
als flüssige Kontinuität von Edelmetall. Wenn es aber zutrifft, daß das Konti-
nuum auf die Idee und ihren problematischen Gebrauch bezogen werden
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 221

muß, so unter der Bedingung, daß es nicht mehr durch Merkmale, die der
sinnlichen oder gar geometrischen Anschauung entnommen sind, definiert
wird, wie es noch dann der Fall ist, wenn man von Interpolation von
Zwischenwerten, von unendlichen interkalaren Folgen oder von Teilen, die
niemals die kleinstmöglichen sind, spricht. Das Kontinuum gehört tatsächlich
zur Idee nur in dem Maße, wie man eine ideelle Ursache der Kontinuität
bestimmt. Zusammen mit ihrer Ursache gefaßt bildet die Kontinuität das reine
Element der Quantitabilität. Diese verschmilzt weder mit den fixen Quantita-
ten der Anschauung (quantum) noch mit den variablen Quantitäten als Ver-
standesbegriffe (qtiantitas). Daher ist das Symbol, durch das sie ausgedrückt
wird, völlig unbestimmt: dx ist strenggenommen nichts im Verhältnis zu x, dy
nichts im Verhältnis zu y. Das ganze Problem aber liegt in der Bedeutung
dieser Nullwerte. Als Anschauungsobjekte haben Quanten stets besondere
Werte; und noch in der Vereinigung zu einer Bruchrelation behält jedes davon
einen von seinem Verhältnis unabhängigen Wert. Die quantitas als Verstan-
desbegriff besitzt einen allgemeinen Wert, wobei die Allgemeinheit hier eine
Unendlichkeit von möglichen besonderen Werten bezeichnet, sofern die
Variable sie annehmen kann. Stets aber ist ein besonderer Wert nötig, der die
Aufgabe hat, die anderen zu repräsentieren und für sie einzustehen: so in der
algebraischen Gleichung des Kreises x* + y* - R* = 0. Anders verhält es sich
bei der Gleichung y l dy + x= dx = 0, die ,,das Universale des Umfangs oder
der entsprechenden Funktion“ bedeutet. Die Nullwerte von dx und dy verlei-
hen der Vernichtung des Quantums und der Quantitas, des Allgemeinen wie
des Besonderen Ausdruck, und zwar zu Gunsten ,,des Universalen und seiner
Erscheinung“. Darin liegt die Stärke der Interpretation von Bordas-Demoulin:
Was sich in dyldx oder O/O aufhebt, sind nicht die differentiellen Quantitäten,
sondern bloß das Individuelle und die Verhältnisse des Individuellen in der
Funktion (unter ,,Individuellem“ versteht Bordas zugleich das Besondere wie
das Allgemeine). Man ist von einem Genus zum anderen wie auf die andere
Seite des Spiegels gelangt; die Funktion hat ihren veränderlichen Teil oder ihre
Variationseigenschaft eingebüßt, sie repräsentiert nurmehr das Unveränder-
liche zusammen mit der Operation, die es hervortreten ließ. ,,Was sich verän-
dert, hebt sich in ihr auf und läßt in seiner Aufhebung jenseits davon sichtbar
werden, was sich nicht verändertc‘4. Kurz, der Grenzwert darf nicht als
Grenzwert der Funktion begriffen werden, sondern als regelrechter Schnitt,
als Grenze zwischen dem sich Verändernden und Nicht-Verändernden in der
Funktion selbst. Newtons Fehler liegt also darin, die Differentiale mit Null
gleichzusetzen, der Fehler Leibniz aber darin, sie mit dem Individuellen oder
der Variabilität zu identifizieren. Damit kommt Bordas bereits der modernen

4 Jean Bordas-Demoulin: Le Cartksianisme ou la vh-itable rknovation des sciences,


Paris 1843, Bd. 1, S. 133ff. und 453 ff. - Trotz seiner Ablehnung der Thesen von
Bordas widmet ihnen Charles Renouvier eine verständnisvolle und tiefgehende Ana-
lyse, in: La critique philosophique, 6. Jg., 187%
222 DIFFERENZ UNDWIEDERHOLUNG

Interpretation der Infinitesimalrechnung nahe: Der Grenzwert setzt nicht


mehr die Ideen von stetigen Variablen und unendlicher Annäherung voraus.
Im Gegenteil, gerade der Begriff des Grenzwerts begründet eine neue statische
und rein ideelle Definition der Stetigkeit und impliziert zwecks seiner eigenen
Definition nur die Zahl oder besser: das Universale in der Zahl. Es bleibt der
modernen Mathematik vorbehalten, die Natur dieses Universalen der Zahl
dahingehend zu präzisieren, daß es im ,,Schnitt“ (im Sinne Dedekinds)
besteht: in diesem Sinne ist es der Schnitt, der das genus proximum der Zahl
konstituiert, die ideelle Ursache der Stetigkeit oder das reine Element der
Quantitabilität.
Dx ist im Verhältnis zu x völlig unbestimmt, dy im Verhältnis zu y, im
Verhältnis zueinander aber sind sie vollkommen bestimmbar. Darum ent-
spricht dem Unbestimmten als solchem ein Prinzip von Bestimmbarkeit. Das
Universale ist kein Nichts, weil es, mit dem Ausdruck von Bordas, ,,Verhält-
nisse des Universalen“ gibt. Im Besonderen wie im Allgemeinen sind dx und
dy ganz ohne Differenzierung [sont indiff &enci&], unterliegen aber, im und
durch das Universale, vollkommen der Differentiation [sont diff~renties]. Der
Quotient dyldx entspricht keinem Bruch, der sich zwischen besonderen
Quanten in der Anschauung ergibt, ist aber ebensowenig ein allgemeines
Verhältnis zwischen variablen Größen oder algebraischen Quantitäten. Jeder
Term existiert absolut nur in seinem Verhältnis zum anderen; es ist nicht mehr
nötig und nicht einmal mehr möglich, eine unabhängige Variable anzugeben.
Darum entspricht der Bestimmbarkeit des Verhältnisses von nun an ein Prin-
zip von Wechselbestimmung als solches. Ihre wirklich synthetische Funktion
bildet und entwickelt die Idee in einer reziproken Synthese. Die ganze Frage
lautet also: In welcher Form ist der Differentialquotient bestimmbar? Er ist
bestimmbar zunächst in qualitativer Form, und in dieser Form drückt er eine
Funktion aus, die wesentlich von der sogenannten Stammfunktion abweicht.
Wenn die Stammfunktion die Kurve ausdrückt, so drückt dy/dx = -x/y sei-
nerseits die trigonometrische Tangente des Winkels aus, den die Kurventan-
gente mit der Abszissenachse bildet; und man hat auch die Bedeutung dieser
qualitativen Differenz oder dieser ,,Änderung der Funktion“, die im Differen-
tial enthalten ist, oft betont. Ebenso bezeichnet der Schnitt irrationale Zahlen,
die wesentlich von den Termen der Reihe rationaler Zahlen abweichen. Aber
dies ist nur ein erster Aspekt; denn der Differentialquotient bleibt, sofern er
eine andere Qualität ausdrückt, noch mit den individuellen Werten oder
quantitativen Variationen verbunden, die dieser Qualität entsprechen (etwa
der Tangente). Er ist also seinerseits differenzierbar [diffhentiuble] und belegt
bloß die Macht der Idee, eine Idee der Idee zu veranlassen. Das Universale
bezüglich einer Qualität darf also nicht mit den individuellen Werten ver-
wechselt werden, die es noch bezüglich einer anderen Qualität besitzt. In
seiner Funktion als Universales drückt es nicht bloß diese andere Qualität aus,
sondern ein reines Element der Qualitabilität. In diesem Sinne ist der Diffe-
rentialquotient Gegenstand der Idee: Sie integriert nunmehr die Variation, und
IDEELLE SYNTHESE DER D IFFERENZ 223

zwar keineswegs mehr als variable Bestimmung eines als konstant vorausge-
setzten Quotienten (,,Variabilität“), sondern im Gegenteil als Variationsgrad
des Quotienten selbst (,,Varietät“), dem etwa die qualifizierte Reihe der Kur-
ven entspricht. Wenn die Idee die Variabilität ausschließt, so zu Gunsten
dessen, was man Varietät oder Mannigfaltigkeit nennen muß. Die Idee als
konkretes Universales steht dem Verstandesbegriff gegenüber und besitzt
einen umso @fieren Inhalt, je größer ihre Extension ist. Die reziproke
Abhängigkeit der Grade des Quotienten und, äußerstenfalls, die reziproke
Abhängigkeit der Quotienten untereinander - diese Abhängigkeit definiert die
universale Synthese der Idee (Idee der Idee, usw.).
Salomon Maimon ist es, der eine grundlegende Umarbeitung der Kritik vor-
legt, indem er die kantische Dualität von Begriff und Anschauung überwindet.
Eine derartige Dualität verwies uns auf das äußerliche Kriterium der Kon-
struktibilität und beließ uns in einem äußeren Verhältnis zwischen dem
Bestimmbaren (der kantische Raum als reine Gegebenheit) und der Bestim-
mung (der Begriff als gedachter). Daß sich eins dem anderen über die Vermitt-
lung durch das Schema anpaßt, verstärkt zusätzlich das Paradox einer bloß
äußeren Harmonie in der Lehre der Vermögen: daher die Reduktion der
transzendentalen Instanz auf eine bloße Bedingtheit und der Verzicht auf
jeglichen genetischen Anspruch. Bei Kant bleibt also die Differenz außerhalb
und daher unrein, empirisch, der Äußerlichkeit der Konstruktion anhängig,
,,zwischen“ der bestimmbaren Anschauung und dem bestimmenden Begriff.
Maimons Genie liegt im Nachweis dessen, wie ungenügend der Gesichtspunkt
der Bedingtheit für eine Transzendentalphilosophie ist: Die beiden Terme der
Differenz müssen in gleicher Weise gedacht werden - das heißt, daß die
Bestimmbarkeit selbst so gedacht werden muß, daß sie sich auf ein Prinzip
von Wechselbestimmung hin überschreitet. Die Verstandesbegriffe kennen
sehr wohl die reziproke Bestimmung, etwa in der Kausalität oder in der
Wechselwirkung, allerdings nur auf eine ganz und gar formale und reflexive
Weise. Die reziproke Synthese der Differentialquotienten als Quelle der Pro-
duktion der Realobjekte: dies ist die Materie der Idee im gedachten Element
der Qualitabilität, in das sie eingebettet ist. Daraus ergibt sich eine dreifache
Genese: die Genese der Qualitäten, die als die Differenzen der Realobjekte der
Erkenntnis hervorgebracht werden; die Genese des Raums und der Zeit als
Bedingungen der Erkenntnis der Differenzen; die Genese der Begriffe als
Bedingungen für die Differenz oder die Unterscheidung der Erkenntnisse
selbst. Auf diese Weise ist das physikalische Urteil bestrebt, sein Primat über
das mathematische Urteil sicherzustellen, und die Genese der Ausdehnung
läßt sich nicht von der Genese der Objekte trennen, die sie bevölkern. Die
Idee erscheint als das System idealer Verbindungen, d. h. von Differentialquo-
tienten zwischen reziprok bestimmbaren genetischen Elementen. Das Cogito
gewinnt alle Macht aus einem differentiellen Unbewußten, einem Unbewuß-
ten des reinen Denkens, das die Differenz zwischen dem bestimmbaren Ich
[Moi] und dem bestimmenden Ego [Je] interiorisiert und ins Denken als
224 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

solchem etwas Ungedachtes hineinlegt, ohne das seine Ausübung für immer
unmöglich und leer wäre.
Maimon schreibt: ,,Wenn ich z. B. sage: roth ist von grün verschieden; so wird
der reine Verstandsbegriff der Verschiedenheit nicht als Verhältnis der sinnli-
chen Qualitäten, (denn sonst bleibt die kantische Frage quid juris übrig),
sondern entweder nach der kantischen Theorie, als das Verhältnis ihrer
Räume, als Formen a priori, oder auch nach der meinigen, als Verhältnis ihrer
Differenzialen, die Vernunftideen a priori sind, betrachtet. [. . .] Die besondere
Regel des Entstehens eines Objekts, oder die Art seines Differentials macht es
zu einem besonderen Objekt, und die Verhältnisse verschiedener Objekte
entspringen aus den Verhältnissen ihrer Entstehungsregeln, oder ihrer Diffe-
rentialen“5. Um die von Maimon gestellte Alternative besser zu verstehen,
wollen wir auf ein berühmtes Beispiel zurückgreifen: Die gerade Linie ist der
kürzeste Weg. Das Kürzeste läßt sich auf zwei Arten deuten: entweder vom
Standpunkt der Bedingtheit aus, als ein Schema der Einbildungskraft, das den
Raum in Übereinstimmung mit dem Begriff bestimmt (gerade Linie der Defi-
nition nach: als in allen ihren Teilen mit sich selbst deckungsgleich) - und in
diesem Fall bleibt die Differenz außerhalb, verkörpert durch eine Konstruk-
tionsregel, die sich ,,zwischen“ dem Begriff und der Anschauung errichtet.
Oder ,,das Kürzeste“ wird vom Standpunkt der Genese aus gedeutet, als eine
Idee, die die Dualität von Begriff und Anschauung überwindet, überdies die
Differenz der Geraden und der Kurve interiorisiert und diese interne Diffe-
renz in Form einer Wechselbestimmung und unter den Minimum-Bedingun-
gen eines Integrals ausdrückt. Der kürzeste Weg ist nicht mehr Schema,
sondern Idee; oder er ist ideales Schema, nicht mehr Schema eines Begriffs.
Der Mathematiker Houel bemerkte in diesem Sinne, daß die kürzeste Entfer-
nung keineswegs eine euklidische Vorstellung war, sondern eine archimedi-
sche, eher eine physikalische als eine mathematische; daß sie untrennbar von
einer Exhaustionsmethode war und daß sie weniger zur Bestimmung der
Geraden als zur Bestimmung der Länge einer gekrümmten Linie mittels der
Geraden diente - ,,man betrieb Integralrechnung, ohne es zu wissen’?
Der Differentialquotient zeigt schließlich ein drittes Element, das Element der
reinen Potentialität. Die Potenz ist die Form der Wechselbestimmung, der
zufolge variable Größen als Funktionen voneinander begriffen werden; darum
berücksichtigt die Differentialrechnung auch nur Größen, von denen eine
zumindest eine höhere Potenz als die andere besitzt. Sicher besteht der erste
Schritt des Kalküls in einer ,,Depotenzierung“ der Gleichung (an Stelle von

5 Salomon Maimon: Versuch über die Transzendentalphilosophie, Berlin 1790, S. 32-


33. - Vgl. das äußerst wichtige Buch von Martial Gu&-oult: La philosophie transzen-
dantale de Salomon Mdi’mon, Paris 1929 (insbesondere zu ,,Bestimmbarkeit“ und zur
,,reziproken Bestimmung”, S. 53 ff., 76 ff.).
6 Jules Houtil: Essai critique sur les principes fondamentaux de la giomh-ie G’men-
taire, Paris 1867, S. 3 und 75.
IDEELLE SYNTHESE DER D IFFERENZ 225

d
2ax - x2 = y2 erhält man etwa 2 = -“). Das Entsprechende aber fand sich
Y
bereits in den beiden vorangehenden Figuren, in denen das Verschwinden des
quantum und der quantitas das Erscheinen des Elements der Quantitabilität
und die Entqualifizierung das Erscheinen des Elements der Qualitabilität
bedingte. Dieses Mal bedingt, gemäß der Darstellung von Lagrange, die Depo-
tenzierung die reine Potentialität, indem sie eine Entwicklung der Funktion
einer Variablen in einer Reihe ermöglicht, die durch die Potenzen von i
(unbestimmte Quantität) und die Koeffizienten dieser Potenzen (neue Funk-
tionen von x) gebildet wird, und zwar so, daß die Entwicklungsfunktion
dieser Variable mit denen der anderen vergleichbar ist. Das reine Element der
Potentialität erscheint im ersten Koeffizienten oder in der ersten Ableitung,
wobei die anderen Ableitungen und folglich alle Terme der Reihe aus der
Wiederholung derselben Operationen resultieren; das ganze Problem aber
besteht gerade darin, jenen ersten Koeffizienten, der selbst unabhängig von i
ist, zu bestimmen. An dieser Stelle erhebt sich der Einwand Ho&&Wronskis,
der sich gegen die Darstellungen Lagranges (Taylor-Reihe) wie Carnots (Feh-
lerkompensation) gleichermaßen richtet. Gegen Carnot wendet er ein, daß die
sogenannten Hilfsgleichungen nicht deshalb ungenau seien, weil sie dx und dy
implizieren, sondern deshalb, weil sie gewisse komplementäre Quantitäten
vernachlässigen, die gleichzeitig mit dx und dy abnehmen: Folglich erklärt die
Darstellung Carnots keineswegs die Natur der Differentialrechnung, setzt sie
vielmehr voraus. Das Gleiche gilt für die Reihen Lagranges, in denen die
diskontinuierlichen Koeffizienten - vom Standpunkt eines strengen Algorith-
mus aus, der nach Ho&+-Wronski die ,,Transzendentalphilosophie“ charak-
terisiert - Bedeutung nur durch die Differentialfunktionen erhalten, aus denen
sie zusammengesetzt sind. Wenn es stimmt, daß der Verstand eine ,,unstetige
Summation“ liefert, so ist diese nur die Materie für die Erzeugung von
Quantitäten; einzig die ,,Graduierung“ oder Stetigkeit bildet deren Form, die
den Vernunftideen zukommt. Darum entsprechen die Differentiale mit Sicher-
heit keinerlei erzeugten Quantität, sondern sind eine unbedingte Regel für die
Genese der Erkenntnis der Quantität und für die Erzeugung der Unstetigkei-
ten, die deren Materie bilden, oder für die Konstruktion der Reihen’. Wie
Ho&+--Wronski sagt, ist das Differential ,,eine ideale Differenz“, ohne welche
die unbestimmte Quantität Lagranges nicht die Bestimmung durchführen
könnte, die man von ihr erwartet. In diesem Sinne ist das Differential tatsäch-
lich reine Potenz, wie der Differentialquotient reines Element der Potentialität.

7 Hohne Wronski: Philosophie de Z’~nfini, Paris 1814, und: Philosophie de la Tecbnie


aZgorithmique, Paris 181% In diesem letzten Buch legt Hohne Wronski seine Theorie
und seine Formeln der Reihen dar. Hohne Wronskis mathematische Werke wurden
1925 bei Hermann neu herausgegeben. - Zur Philosophie vgl. Francis Warrain:
L’cwvre philosophique de Hotine Wronski, Paris 1933, der die nötigen Gegenüber-
stellungen mit der Philosophie Schellings l e i s t e t .
226 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Dem Element der Potentialität entspricht ein Prinzip durchgängiger Bestim-


mung. Man darf die durchgängige Bestimmung nicht mit der reziproken
Bestimmung verwechseln. Diese betraf die Differentialquotienten und ihre
Grade, ihre Varietäten in der Idee, die verschiedenen Formen entsprechen.
Jene betrifft die Werte eines Quotienten, d.h. die Zusammensetzung einer
Form oder die Verteilung von -singulären Punkten, die sie charakterisieren,
etwa wenn der Quotient null oder unendlich oder O/O wird. Es handelt sich
tatsächlich um eine durchgängige Bestimmung der Teile des Objekts: Nun
muß man im Objekt, etwa in der Kurve, Elemente finden, die das vorher
definierte ,,lineare“ Verhältnis aufweisen. Und erst hier gewinnt die serielle
Form in der Potentialität ihren ganzen Sinn; es wird sogar notwendig, dasje-
nige, was ein Quotient ist, als eine Summe darzustellen. Denn eine Reihe von
Potenzen mit numerischen Koeffizienten umgibt einen singulären Punkt, und
zwar immer nur einen. Die Bedeutung und die Notwendigkeit der seriellen
Form erscheinen in der Pluralität der Reihen, die sie subsumiert, in ihrer
Abhängigkeit hinsichtlich der singulären Punkte, in der Art und Weise, wie
man von einem Teil des Objekts, in dem die Funktion durch eine Reihe
repräsentiert wird zu einem anderen gelangt, in dem sie sich in einer von ihr
verschiedenen Reihe ausdrückt, sei es, daß die beiden Reihen konvergieren
oder einander fortsetzen, sei es im Gegenteil, daß sie divergieren. Ganz wie
sich die Bestimmbarkeit auf die Wechselbestimmung hin überschritt, über-
schreitet sich diese auf die durchgängige Bestimmung hin: Alle drei bilden die
Gestalt des zureichenden Grundes, und zwar im dreifachen Element der
Quantitabilität, der Qualitabilität und der Potentialität. Die Idee ist ein kon-
kretes Universal, in dem Extension und Inhalt Hand in Hand gehen, nicht nur
weil sie Varietät oder Mannigfaltigkeit in sich enthält, sondern weil sie die
Singularität in jeder ihrer Varietäten umfaßt. Sie subsumiert die Verteilung der
ausgezeichneten oder singulären Punkte; ihre ganze Distinktion, d.h. das
Distinkte als Kennzeichen der Idee, besteht eben in der Aufteilung des
Gewöhnlichen und Ausgezeichneten, des Singulären und des Regulären, und
in der Verlängerung des Singulären über die regulären Punkte bis hin in die
Umgebung zu einer anderen Singularität. Jenseits des Individuellen, jenseits
des Besonderen wie des Allgemeinen gibt es kein abstraktes Universales: das
,,Präindividuelle“ ist die Singularität selbst.

Die Frage der Interpretation der Differentialrechnung hat sich zweifellos in


folgender Form gestellt: Sind die unendlich kleinen Werte real oder fiktiv?
Von Anfang an -aber handelt es sich auch um etwas anderes: Hängt das
Schicksal der Differentialrechnung an den unedlich kleinen Werten, oder muß
sie vom Standpunkt der endlichen Repräsentation aus nicht eine unwiderleg-
bare Stellung erhalten? Die wahre Grenze, durch die die moderne Mathematik
definiert wird, läge nicht in der Differentialrechung selbst, sondern in anderen
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 227

Entdeckungen wie der der Mengenlehre, die, selbst wenn sie ihrerseits ein
Axiom des Unendlichen benötigt, nichtsdestoweniger eine strikt endliche
Interpretation der Differentialrechnung vorschreibt. Man weiß nämlich, daß
der Begriff des Grenzwerts seinen phoronomischen Charakter eingebüßt hat
und nur noch statische Erwägungen umfaßt; daß die Variabilität nicht länger
einen progressiven Durchgang durch alle Werte eines Intervalls repräsentiert,
um bloß die disjunktive Annahme eines Werts in diesem Intervall zu bedeu-
ten; daß die Ableitung und das Integral eher Ordnungsbegriffe als quantitative
Begriffe geworden sind; daß das Differential schließlich nur eine Größe
bezeichnet, die man unbestimmt läßt, um sie bei Bedarf mit einem Wert
kleiner als dem einer festgesetzten Zahl zu versehen. An dieser Stelle ist der
Strukturalismus entstanden, während zugleich die genetischen oder dynami-
schen Bestrebungen der Differentialrechnung abgestorben sind. Wenn man
von der ,,Metaphysik“ der Differentialrechnung spricht, so handelt es sich
eben um diese Alternative zwischen der unendlichen und der endlichen Reprä-
sentation. Freilich ist diese Alternative, und folglich die Metaphysik, in der
Technik des Kalküls selbst unverbrüchlich enthalten. Darum wurde die
metaphysische Frage von Anfang an ausgesprochen: Warum kann man die
Differentiale in technischer Hinsicht vernachlässigen, und warum müssen sie
im Resultat verschwinden? Offensichtlich hat die Berufung auf das unendlich
Kleine und die unendlich kleine Beschaffenheit des Fehlers (wenn es denn
,,Fehler“ gibt) hier keinen Sinn und greift der unendlichen Repräsentation vor.
Die strenge Antwort lieferte Carnot in seinen berühmten Reflexions, allerdings
gerade vom Standpunkt einer endlichen Interpretation aus: Die Differential-
gleichungen sind bloße ,,Hilfsgleichungen‘, die die Bedingungen des Problems
ausdrücken, dem eine gesuchte Gleichung entspricht; zwischen ihnen aber
vollzieht sich eine strikte Fehlerkompensation, die die Differentiale nicht im
Resultat fortbestehen läßt, da sich dieses nur zwischen festen oder endlichen
Quantitäten ergeben kann.
Indem er sich aber wesentlich auf die Begriffe ,,Problem“ und ,,Problembedin-
gungen“ berief, eröffnete Carnot der Metaphysik einen Weg, der den Rahmen
seiner Theorie sprengte. Schon Leibniz hatte gezeigt, daß die Infinitesimal-
rechnung Instrument-einer Kombinatorik war, d. h. Probleme ausdrückte, die
man vorher nicht lösen und sogar und vor allem nicht einmal stellen konnte
(transzendente Probleme). Man-wird insbesondere an die Rolle regulärer und
singulärer Punkte denken, die in die durchgängige Bestimmung einer Kurven-
art eingehen. Die Spezifikation singulärer Punkte (etwa Sattelpunkte, Knoten-
punkte, Brennpunkte, Zentren) vollzieht sich zweifellos nur in der Form von
Integralkurven, die auf die Lösungen der Differentialgleichung verweisen.
Nichtsdestoweniger gibt es eine durchgängige Bestimmung hinsichtlich der
Existenz und der Verteilung dieser Punkte, die von einer ganz anderen Instanz
abhängt, nämlich vom Vektorenfeld, das durch ebendiese Gleichung definiert
wird. Die Komplementarität der beiden Aspekte beseitigt nicht ihre Wesens-
differenz, im Gegenteil. Und wenn die Spezifikation der Punkte bereits die
228 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

notwendige Immanenz des Problems in der Lösung zeigt, seine Einbindung in


die Lösung, die es verdeckt, so belegen die Existenz und die Verteilung die
Transzendenz des Problems und seine leitende Rolle in der Organisation der
Lösungen selbst. Kurz, die durchgängige Bestimmung eines Problems ver-
schmilzt mit der Existenz, der Zahl, der Aufteilung der bestimmenden Punkte,
die gerade deren Bedingungen liefern (ein singulärer Punkt veranlaßt zwei
Bedingungsgleichungen)‘. Es wird nun aber immer schwieriger, von Fehler
oder Fehlerkompensation zu sprechen. Die Bedingungsgleichungen sind
weder bloße Hilfsgleichungen noch, wie Carnot sagte, unvollkommene Glei-
chungen. Sie sind konstitutiv für das Problem und seine Synthese. Weil man
die objektive ideelle Natur des Problematischen nicht versteht, reduziert man
sie auf - wenn auch nützliche - Fehler oder auf - wenn auch wohlbegründete -
Fiktionen, jedenfalls auf ein subjektives Moment des unvollkommenen, appro-
ximativen oder fehlerhaften Wissens. ,,Problematisch“ nannten wir die
Gesamtheit des Problems und seiner Bedingungen. Wenn die Differentiale im
Resultat verschwinden, so in dem Maße, wie die Probleminstanz wesentlich
von der Lösungsinstanz differiert, so in der Bewegung, mit der die Lösungen
notwendig das Problem überdecken, und so in dem Sinne, wie die Bedingungen
des Problems Gegenstand einer Synthese in der Idee sind, die sich nicht in der
Analyse der propositionalen Begriffe, die die Lösungsfälle bilden, ausdrücken
läßt. So daß die erste Alternative: real oder fiktiv? unhaltbar wird. Weder real
noch fiktiv, drückt das Differential die Natur des Problematischen als solchen
aus, seine objektive Konsistenz wie seine subjektive Autonomie.
Vielleicht wird auch die andere Alternative unhaltbar, die Alternative der
unendlichen oder endlichen Repräsentation. Das Unendliche und das Endliche
sind tatsächlich, wie wir gesehen haben, die Merkmale der Repräsentation,
sofern der Begriff, den sie impliziert, seinen ganzen möglichen Inhalt entfaltet
oder ihn im Gegenteil blockiert. Und in jedem Fall verweist die Repräsenta-
tion der Differenz auf die Identität des Begriffs als Prinzip. Daher kann man
auch die Repräsentationen als Sätze des Bewußtseins behandeln, welche

8 Albert Lautman hat diese Wesensdifferenz zwischen der Existenz oder der Auftei-
lung singulärer Punkte, die auf das Problem-Element verweisen, und der Spezifika-
tion ebendieser Punkte, die auf das Lösungs-Element verweist, deutlich markiert
(vgl. Le problkme du temps, Paris 1946, S. 42). E r unterstreicht daher die Rolle der
singulären Punkte in ihrer problematisierenden, lösungserzeugenden Funktion: Die
singulären Punkte ,,ermöglichen 1 . die Bestimmung eines Grundsystems von Lösun-
gen, die sich analytisch auf jedem Weg fortsetzen lassen, der keinen Singularitäten
begegnet; 2. [. . .] ihre Rolle liegt in der Zerlegung eines Bereichs, und zwar derart,
daß die Funktion, die die Repräsentation gewährleistet, in diesem Bereich definierbar
ist; 3. sie ermöglichen den Übergang von der lokalen Integration der Differentialglei-
chungen zur globalen Charakterisierung der analytischen Funktionen, welche Lösun-
g e n z u d i e s e n G l e i c h u n g e n sind” (Essai sur les no tions de structure et d’existence en
m&!.Gmdtiques, Paris 1 9 3 6 , Bd. 2, S. 138).
IDEELLE SYNTHESE DER D IFFERENZ 229

Lösungsfälle im Verhältnis zum allgemein gefaßten Begriff bezeichnen. Mit


seinem extrapropositionalen Charakter aber fällt das Element des Problemati-
schen nicht in die Repräsentation. Weder besonders noch allgemein, weder
endlich noch unendlich ist es das Objekt der Idee als Universales. Dieses
differentielle Element ist das Spiel der Differenz als solcher, die sich weder
durch die Repräsentation vermitteln noch der Identität des Begriffs unterord-
nen läßt. Die Antinomie des Endlichen und des Unendlichen taucht genau
dann auf, wenn sich Kant, kraft des speziellen Charakters der Kosmologie,
verpflichtet glaubt, den entsprechenden Inhalt der Idee von Welt in die Reprä-
sentation einfließen zu lassen. Und ihm zufolge wird die Antinomie aufgelöst,
wenn er einesteils - noch immer in der Repräsentation - ein auf das Endliche
sowie Unendliche irreduzibles Element entdeckt (Regression); und wenn er
andernteil-s diesem Element das reine Denken eines anderen Elements hinzu-
fügt, das wesentlich von der Repräsentation abweicht (Noumenon). In dem
Maße aber, wie dieses reine Denken unbestimmt bleibt - nicht als Differential
bestimmt ist -, wird die Repräsentation ihrerseits nicht wirklich überschritten,
und ebensowenig die Sätze des Bewußtseins, die die Materie und den jeweili-
gen Gegenstand der Antinomien bilden. Auf eine andere Weise nun hält uns
auch die moderne Mathematik in der Antinomie fest, weil die strenge endliche
Interpretation, die sie von der Differentialrechnung gibt, dennoch ein Axiom
des Unendlichen in der Mengenlehre, durch welche sie begründet wird, vor-
aussetzt, obwohl dieses Axiom keine Illustration in der Differentialrechnung
findet. Was uns stets entgeht, ist das extrapropositionale oder subrepräsenta-
tive Element, das in der Idee durch das Differentielle ausgedrückt wird, und
zwar genau im Modus des Problems.
Man muß eher von einer Dialektik der Differentialrechnung als von einer
Metaphysik sprechen. Unter Dialektik verstehen wir nicht im geringsten ir-
gendeine Zirkulation entgegengesetzter Repräsentationen, die sie in der Identi-
tät eines Begriffs koinzidieren ließe, sondern das Element des Problems,
sofern es sich vom spezifisch mathematischen Element der Lösungen unter-
scheidet. Den allgemeinen Thesen Lautmans zufolge hat das Problem drei
Aspekte: seine Wesensdifferenz zu den Lösungen; seine Transzendenz im
Verhältnis zu den Lösungen, die es von seinen eigenen bestimmenden Bedin-
gungen aus erzeugt; seine Immanenz in den Lösungen, die es überdecken,
wobei das Problem umso besser gelöst wird, je mehr es sich bestimmt. Die
idealen Bindungen, die für die problematische (dialektische) Idee konstitutiv
sind, verkörpern sich hier also in den realen Beziehungen, die durch die
mathematischen Theorien gebildet und als Lösungen an die Probleme heran-
getragen werden. Wir haben gesehen, wie all diese Aspekte, diese drei
Aspekte, in der Differentialrechnung gegenwärtig waren; die Lösungen sind
gleichsam die Diskontinuitäten, die sich mit den Differentialgleichungen ver-
einbaren lassen, und entstehen auf einer ideellen Kontinuität in Abhängigkeit
von den Bedingungen des Problems. Ein wichtiger Punkt allerdings muß
präzisiert werden. Offenkundig gehört die Differentialrechnung in die Mathe-
230 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

matik, sie ist ein ganz und gar mathematisches Instrument. Es würde also
schwer fallen, in ihr das platonische Zeugnis einer Dialektik zu erkennen, die
über der Mathematik stünde. Es wäre zumindest dann schwierig, wenn uns
der Immanenzaspekt des Problems nicht eine triftige Erklärung geben würde.
Die Probleme sind stets dialektisch, die Dialektik hat keinen anderen Sinn,
auch die Probleme haben keinen anderen Sinn. Mathematisch (oder physika-
lisch, biologisch, psychologisch, soziologisch . . .) sind die Lösungen. Aller-
dings trifft es zu, daß zum einen die Natur der Lösungen auf verschiedene
Problemordnungen in der Dialektik selbst verweist; und daß andererseits sich
die Probleme, kraft ihrer Immanenz, die nicht weniger wesentlich ist als die
Transzendenz, selber technisch in jenem Lösungsbereich ausdrücken, den sie
in Abhängigkeit von ihrer dialektischen Ordnung erzeugen. Wie die Gerade
und der Kreis durch das Lineal und den Zirkel verdoppelt werden, so wird
jedes dialektische Problem von einem symbolischen Feld verdoppelt, in dem
es sich ausdrückt. Darum muß man sagen, daß es mathematische, physika-
liche, biologische, psychologische, soziologische Probleme gibt, obwohl jedes
Problem von Natur aus dialektisch ist und es kein anderes Problem als ein
dialektisches gibt. Die Mathematik umfaßt also nicht nur Problemlösungen;
sie enthält auch den Ausdruck der Probleme bezüglich des Lösbarkeitsfeldes,
das sie definieren und das sie gerade durch ihre dialektische Ordnung definie-
ren. Darum gehört die Differentialrechnung ganz und gar in den Bereich der
Mathematik, und zwar gerade in dem Augenblick, in dem sich ihr Sinn in der
Freilegung einer Dialektik herausstellt, die die Mathematik überschreitet.
Man kann nicht einmal in Betracht ziehen, daß die Differentialrechnung in
technischer Hinsicht der einzige mathematische Ausdruck der Probleme als
solcher sei. In ganz verschiedenen Bereichen spielten die Exhaustionsmetho-
den diese Rolle, ebenso die analytische Geometrie. In jüngerer Zeit konnte
diese Rolle besser von anderen Verfahren erfüllt werden. Man erinnert sich
freilich des Zirkels, in dem sich die Theorie der Probleme bewegt: Ein Pro-
blem ist lösbar nur in dem Maße, wie es ,,wahr“ ist, aber wir tendieren stets
dazu, die Wahrheit eines Problems durch seine Lösbarkeit zu definieren.
Anstatt das äußerliche Kriterium der Lösbarkeit in der inneren Eigenart des
Problems (Idee) zu begründen, lassen wir die interne Eigenart vom bloßen
äußeren Kriterium abhängen. Wenn nun ein derartiger Zirkel aufgebrochen
wurde, so zuerst von dem Mathematiker Abel; er ist es, der eine regelrechte
Methode entwickelt, derzufolge die Lösbarkeit sich aus der Form des Pro-
blems ergeben muß. Anstatt aufs geratewohl danach zu suchen, ob eine Glei-
chung allgemein lösbar ist, müssen die Problembedingungen bestimmt wer-
den, die fortschreitend Lösbarkeitsfelder spezifizieren, und zwar so, daß ,,die
Aussage den Keim der Lösung enthält“. Hier liegt eine radikale Umkehrung
im Verhältnis Lösung/Problem vor, eine noch beachtlichere Revolution als die
kopernikanische. Man konnte behaupten, Abel habe auf diese Weise eine neue
Kritik der reinen Vernunft ins Leben gerufen und gerade Kants Äußer-
lichkeitslehre hinter sich gelassen. Dasselbe Urteil bestätigt sich, wenn man es
IDEELLE SYNTHESE DER D IFFERENZ 231

auf die Arbeiten von Galois wendet: Ausgehend von einem Grund-“Körper“
(R) ermöglichen die sukzessiven Adjunktionen (R’, R”, R”’ . . .) zu diesem
Körper eine immer genauere Unterscheidung der Wurzeln einer Gleichung,
und zwar durch fortschreitende Beschränkung der möglichen Substitutionen.
Es gibt also eine Kaskade ,,partieller Resolventen“ oder eine Schachtelung von
> Gruppen“, die die Lö s u n g aus den Problembedingungen selbst hervortreten
lassen: Daß etwa eine Gleichung algebraisch nicht lösbar ist, wird nicht mehr
am Ende einer empirischen Untersuchung oder eines tastenden Versuchs ent-
deckt, sondern gemäß den Merkmalen der Gruppen und partiellen Resolven-
ten, die die Synthese des Problems und seiner Bedingungen bilden (eine
Gleichung ist nur dann nicht algebraisch, d. h. über Radikale, lösbar, wenn die
partiellen Resolventen binomische Gleichungen und die Gruppenindizes
Primzahlen sind). Die Theorie der Probleme ist völlig transformiert und
schließlich begründet, weil wir uns nicht mehr in der klassischen Situation
eines Lehrers und eines Schülers befinden - in der der Schüler ein Problem nur
in dem Maße erfaßt und verfolgt, wie der Lehrer dessen Lösung kennt und
dementsprechend die nötigen Adjunktionen macht. Denn die Gruppe der
Gleichung kennzeichnet, wie Georges Verriest bemerkt, zu einem bestimmten
Zeitpunkt nicht, was wir über Wurzeln wissen, sondern die Objektivität
dessen, was wir nicht über sie wissen’. Umgekehrt ist dieses Nichtwissen
nichts Negatives, keine Unzulänglichkeit mehr, sondern eine Regel, ein Ler-
nen, dem eine Grunddimension im Objekt entspricht. Ein neuer Menon, das
pädagogische Verhältnis insgesamt ist umgeändert, zusammen aber mit noch
etlichen anderen Dingen, der Erkenntnis und dem zureichenden Grund. Die
,,progressive Unterscheidbarkeit” von Galois vereint in ein und derselben
kontinuierlichen Bewegung den Prozeß der Wechselbestimmung und den der
durchgängigen Bestimmung (Wurzelpaare und Unterscheidung der Wurzeln
in einem Paar). Sie bildet die totale Gestalt des zureichenden Grunds und
führt die Zeit in ihn ein. Mit Abel und Galois ist die Theorie der Probleme
mathematisch in der Lage, alle spezifisch dialektischen Forderungen zu erfül-
len und den Zirkel, dem sie erlag, aufzubrechen.
Man läßt also die moderne Mathematik besser mit der Gruppentheorie oder
der Mengenlehre als mit der Differentialrechnung beginnen. Dennoch ist es
kein Zufall, wenn Abels Methode vor allem die Integration der Differential-
formeln betrifft. Wichtig für uns ist weniger die Bestimmung dieses oder jenes

9 Vgl. Georges Verriest: Evariste Galois et La theorie des Quations algebriques, in: E.
Galois: (Euvres mathemathiques, Paris 1961, S. 41. - Das große Manifest zum
Verhältnis Problem/Lösung befindet sich in den (Euvres compktes von N. H. Abel
(Christiania lSSl), Bd. 2: Sur la rksolution algkbrique des Qxations. - Zu Abel und
Galois vgl. die beiden grundlegenden Kapitel aus Jules Vuillemin: La philosophie de
l’algebre, Paris 1962, Bd. 1. Vuillemin analysiert die Rolle einer Theorie der Pro-
bleme und einer neuen Konzeption der Kritik der Vernunft bei Abel, die Rolle eines
neuen Bestimmungsprinzips bei Galois (insbesondere S. 213-221, 229-233).
232 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Einschnitts in der Geschichte der Mathematik (analytische Geometrie, Diffe-


rentialrechnung, Gruppentheorie . ..) als die Art und Weise, wie sich in jedem
Augenblick dieser Geschichte die dialektischen Probleme, ihr mathematischer
Ausdruck und die gleichzeitige Genese von Lösbarkeitsfeldern zusammenset-
zen. Unter diesem Gesichtpunkt besteht eine Homogenität und eine konti-
nuierliche Teleologie im Werden der Mathematik, die die Wesensdifferenzen
zwischen Differentialrechnung und anderen Instrumenten zweitrangig
erscheinen lassen. Die Differentialrechnung räumt Differentiale verschiedener
Ordnung ein. Auf ganz andere Weise aber entsprechen die Begriffe des Diffe-
rentials und der Ordnung zunächst der Dialektik. Die dialektische, problema-
tische Idee ist ein System von Bindungen zwischen differentiellen Elementen,
ein System von Differentialverhältnissen zwischen genetischen Elementen. Es
gibt unterschiedliche Ordnungen von Ideen, die sich wechselseitig vorausset-
zen, und zwar je nach der idealen Natur der berücksichtigten Verhältnisse und
Elemente (Idee der Idee usw.). Diese Definitionen sind noch keineswegs
mathematisch. Die Mathematik taucht zusammen mit den Lösungsfeldern auf,
in denen die dialektischen Ideen letzter Ordnung verkörpert werden, ebenso
mit dem Ausdruck der Probleme bezüglich dieser Felder. Andere Ordnungen
in der Idee werden in anderen Feldern und in anderen Ausdrücken verkörpert,
die anderen Wissenschaften entsprechen. So vollzieht sich ausgehend von den
dialektischen Problemen und ihren Ordnungen eine Genese diverser wissen-
schaftlicher Fachgebiete. Die Differentialrechnung im engsten Sinn ist nur ein
mathematisches Instrument, das selbst auf seinem Gebiet nicht notwendig die
vollendetste Form des Ausdrucks der Probleme und der Konstitution der
Lösungen im Verhältnis zur Ordnung der dialektischen Ideen, die sie verkör-
pert, darstellt. Nichtsdestoweniger besitzt sie einen weit gefaßten Sinn, mit
dem sie auf universale Weise die Gesamtheit der Verbindung: Problem oder
dialektische Idee/wissenschaftlicher Ausdruck eines Problems/Errichtung
eines Lösungsfeldes bezeichnen soll. Noch allgemeiner müssen wir den Schluß
ziehen, daß keine Schwierigkeit hinsichtlich einer beabsichtigten Anwendung
der Mathematik und insbesondere der Differentialrechnung oder der Grup-
pentheorie auf andere Gebiete besteht. Vielmehr besitzt jedes erzeugte Gebiet,
in dem sich die ‘dialektischen Ideen dieser oder jener Ordnung verkörpern,
sein eigenes Kalkül. Die Ideen haben stets ein Element von Quantitabilität,
Qualitabilität und Potentialität; stets Prozesse der Bestimmbarkeit, der rezi-
proken Bestimmung und der durchgängigen Bestimmung; stets Verteilungen
von ausgezeichneten und gewöhnlichen Punkten, stets adjungierte Körper, die
die synthetische Progression eines zureichenden Grunds bilden. Es liegt hier
keinerlei Metapher vor, ausgenommen die der Idee gleichwesentliche Meta-
pher, die Metapher des dialektischen Transports oder der ,,Diaphora“. Hierin
liegt das Abenteuer der Ideen. Nicht die Mathematik ist es, die auf andere
Gebiete angewendet wird, vielmehr ist es die Dialektik, die für ihre Probleme,
vermöge ihrer Ordnung und ihrer Bedingungen, die Differentialrechnung ein-
führt, die dem betrachteten Gebiet unmittelbar angemessen ist und eignet. Der
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 233

Universalität der Dialektik entspricht in diesem Sinne eine mathesis universa-


lis. Wenn die Idee das Differential des Denkens ist, so entspricht jeder Idee
eine eigene Differentialrechnung, ein Alphabet dessen, was Denken bedeutet.
Die Differentialrechnung ist nicht das platte Kalkül des Utilitaristen, nicht das
grobe arithmetische Kalkül, das das Denken anderen Dingen wie anderen
Zwecken unterordnet, sondern die Algebra des reinen Denkens, die höhere
Ironie der Probleme selbst - das einzige Kalkül ,,jenseits von Gut und Böse“.
Genau dieser abenteuerliche Charakter der Ideen muß noch beschrieben wer-
den.

Die Ideen sind Mannigfaltigkeiten, jede Idee ist eine Mannigfaltigkeit, eine
Varietät. In diesem riemannschen Gebrauch des Worts ,,Mannigfaltigkeit“ (das
von Husserl und auch von Bergson aufgegriffen wurde)” muß man die größte
Bedeutung der substantivischen Form zumessen: Die Mannigfaltigkeit darf
nicht eine Kombination aus Vielem und Einem bezeichnen, sondern im
Gegenteil eine dem Vielen als solchem eigene Organisation, die keinerlei
Einheit bedarf, um ein System zu bilden. Das Eine und das Viele sind Verstan-
desbegriffe, die die allzu weiten Maschen einer verfälschten Dialektik bilden,
die über den Gegensatz verfährt. Die größten Fische entwischen. Kann man
wirklich glauben, das Konkrete zu erhalten, wenn man die Unzulänglichkeit
eines Abstraktums mit der Unzulänglichkeit seines Gegenteils kompensiert?
Über lange Zeit hinweg kann man sagen: ,,Das Eine ist das Viele, und das
Viele ist das Eine“ - man redet wie die jungen Leute bei Platon, die nicht
einmal das Federvieh verschonten. Man kombiniert das Konträre, man verfer-
tigt Widersprüche; zu keinem Zeitpunkt hat man das Entscheidende gesagt,
,,wieviel“, ,,wie“ , ,,in welchem Fall“. Nun ist aber das Wesen nichtig, hohle
Allgemeinheit, wenn es von diesem Maß, von dieser Art und Weise und von
dieser Kasuistik getrennt ist. Man kombiniert die Prädikate, man verfehlt die
Idee - eine leere Rede, leere Kombinationen, in denen ein Substantiv fehlt.
Das wahre Substantiv, die Substanz selbst, ist ,,Mannigfaltigkeit“, die das Eine
und nicht weniger das Viele überflüssig macht. Die variable Mannigfaltigkeit
ist das Wieviel, das Wie, das Jeder Fall. Jedes Ding ist eine Mannigfaltigkeit,
sofern es die Idee verkörpert. Selbst das Viele ist eine Mannigfaltigkeit; selbst
das Eine ist eine Mannigfaltigkeit. Daß das Eine eine Mannigfaltigkeit ist (wie
dies auch Bergson und Husserl gezeigt haben) - das genügt, um den Adjektiv-

” Dieser Gebrauch des Begriffs der Mannigfaltigkeit (als kontinuierlicher Vielheit)


unterscheidet sich also strikt von seiner vertrauten - und insbesondere von Kant
formulierten - philosophischen Bedeutung, die sinnlich gegebenen Daten, den Stoff
der Anschauung betreffend; vgl. dazu insbesondere: G. Deleuze: Le bergsonisme
Paris 1966, S. 31-33 (dt.: Bergson zur Einführung, hg. v. M. Weimann, Hamburg
1989, S. 55-56) [A.d.ü.].
234 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

sätzen vom Typ des Ein-Vielen und des Viel-Einen gleichermaßen unrecht zu
geben. Überall ersetzen die Differenzen von Mannigfaltigkeiten und die Diffe-
renz in der Mannigfaltigkeit die schematischen und plumpen Oppositionen.
Es gibt nur die Varietät der Mannigfaltigkeit, d. h. die Differenz, anstatt des
riesigen Gegensatzes des Einen und des Vielen. Und vielleicht ist es Ironie zu
sagen: Alles ist Mannigfaltigkeit, selbst das Eine, selbst das Viele. Aber die
Ironie selbst ist eine Mannigfaltigkeit, oder besser: die Kunst der Mannigfal-
tigkeiten, die Kunst, in den Dingen die Ideen, die Probleme zu fassen, die sie
verkörpern, und die Dinge als Inkarnationen zu fassen, als Lösungsfälle für
Ideenprobleme.
Eine Idee ist eine definierte und kontinuierliche Mannigfaltigkeit mit n
Dimensionen. Die Farbe, oder besser die Idee der Farbe, ist eine Mannigfaltig-
keit mit drei Dimensionen. Unter Dimensionen muß man die Variablen oder
Koordinaten verstehen, von denen ein Phänomen abhängt; unter Kontinuität
muß man die Menge der Beziehungen zwischen den Veränderungen dieser
Variablen verstehen, etwa eine quadratische Form der Differentiale der Koor-
dinaten; unter Definition muß man die durch diese Beziehungen reziprok
bestimmten Elemente verstehen, die sich nicht verändern können, ohne daß
die Mannigfaltigkeit die Ordnung oder die Metrik wechselt. Wann und unter
welchen Bedingungen müssen wir von Mannigfaltigkeit sprechen? Diese
Bedingungen sind drei an der Zahl und erlauben die Definition des Emergenz-
moments der Idee: 1. Die Elemente der Mannigfaltigkeit dürfen weder sinn-
liche Form noch begriffliche Bedeutung und folglich keine zuweisbare Funk-
tion besitzen. Sie besitzen nicht einmal aktuelle Existenz und sind untrennbar
von einem Potential oder einer Virtualität. In diesem Sinne implizieren sie
keinerlei vorgängige Identität, keinerlei Setzung von irgendetwas, das man
Eines oder Dasselbe nennen könnte; ihre Unbestimmtheit aber ermöglicht
demgegemüber die Manifestation der Differenz als von jeglicher Unterord-
nung befreit. 2. Tatsächlich müssen diese Elemente bestimmt werden, aller-
dings wechselseitig, durch reziproke Beziehungen, die keinerlei Unabhängig-
keit fortbestehen lassen. Derartige Verhältnisse sind eben ideale, nicht lokali-
sierbare Bindungen, sei es, daß sie die Mannigfaltigkeit global charakterisieren,
sei es, daß sie mit Juxtaposition von Nachbarschaften operieren. Immer aber
ist die Mannigfaltigkeit auf intrinsische Weise definiert, ohne daraus herauszu-
treten oder auf einen gleichförmigen Raum zu rekurrieren, in den sie eingebet-
tet wäre. Die raum-zeitlichen Relationen bewahren zweifellos die Mannigfal-
tigkeit, verlieren aber deren Interiorität; die Verstandesbegriffe bewahren die
Interiorität, verlieren aber die Mannigfaltigkeit, die sie durch die Identität
eines Ich denke oder eines Etwas an Gedachtem ersetzen. Die interne Mannig-
faltigkeit ist, im Gegenteil, das Merkmal der Idee allein. 3. Eine ideale mannig-
faltige Bindung, ein Differentialverhältnis muß sich in verschiedenen raum-
zeitlichen Relationen aktualisieren, während sich zugleich seine Elemente
aktualiter in Termen und verschiedenartigen Formen verkörpern. Die Idee
definiert sich damit als Struktur. Die Struktur, die Idee, das ist das ,,komplexe
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 235

Thema“, eine interne Mannigfaltigkeit, d. h. ein System nicht lokalisierbarer


mannigfaltiger Bindung zwischen differentiellen Elementen, das sich in realen
Relationen und aktuellen Termen verkörpert. Wir sehen in diesem Sinne
keinerlei Schwierigkeit, Genese und Struktur miteinander zu vereinbaren.
Lautmans und Vuillemins Arbeiten zur Mathematik entsprechend erscheint
uns der ,,Strukturalismus“ als das einzige Mittel, mit dem eine genetische
Methode ihre Bestrebungen verwirklichen kann. Man braucht nur Zu begrei-
fen, daß sich die Genese nicht von einem aktuellen Term, wie klein er auch
sein mag, zu einem anderen aktuellen Term in der Zeit vollzieht, sondern vom
Virtuellen zu seiner Aktualisierung, d. h. von der Struktur zu ihrer Verkörpe-
rung, von den Problembedingungen zu den Lösungsfällen, von den differen-
tiellen Elementen und ihren idealen Bindungen zu den aktuellen Termen und
verschiedenen realen Relationen, die zu jedem Zeitpunkt die Aktualität der
Zeit bilden. Genese ohne Dynamik, die sich notwendig im Element einer
Übergeschichtlichkeit entwickelt, statische Genese, die sich als Korrelat des
Begriffs von passiver Synthese versteht und ihrerseits diesen Begriff erhellt.
Lag der Fehler der modernen Interpretation der Differentialrechnung nicht
darin, daß sie deren genetische Bestrebungen verurteilte, und zwar unter dem
Vorwand, sie hätte eine ,,Struktur“ freigelegt, die das Kalkül von jeder phoro-
nomischen und dynamischen Überlegung trennte? Es gibt Ideen, die den
mathematischen Realitäten und Relationen entsprechen, und andere, die den
physikalischen Fakten und Gesetzmäßigkeiten entsprechen. Es gibt weitere,
die gemäß ihrer Ordnung den Organismen, den Psychismen, den Sprachen,
den Gesellschaften entsprechen:
- Diese Entsprechungen ohne Ähnlichkeit sind
struktural-genetisch. Wie die Struktur nicht von einem Identitätsprinzip
abhängt, so ist die Genese unabhängig von einer Ähnlichkeitsregel. Eine Idee
aber taucht unter so vielen Abenteuern auf, daß sie möglicherweise manchen
strukturalen und genetischen Bedingungen schon genügt, anderen noch nicht.
Daher muß auch die Anwendung dieser Kriterien in ganz verschiedenen
Gebieten, fast der Zufälligkeit der Beispiele überlassen, aufgesucht werden.
Erstes Beispiel, der Atomismus als physikalische Idee. - Der antike Atomismus
hat nicht nur das parmenidische Sein vervielfacht, er hat die Ideen als Mannig-
faltigkeiten von Atomen aufgefaßt, wobei das Atom das objektive Element des
Denkens war. Infolgedessen ist es in der Tat wesentlic h, daß sich das Atom
innerhalb einer Struktur, die sich in den sinnlich wahrnehmbaren Zusammen-
setzungen aktualisiert, auf ein anderes Atom bezieht. Das clinamen ist in
dieser Hinsicht keineswegs eine Richtungsänderung in der Bewegung des
Atoms; und noch weniger eine Unbestimmtheit, die von einer physikalischen
Freiheit zeugen würde. Es ist die ursprüngliche Bestimmung der Bewegungs-
richtung, die Synthese der Bewegung und ihrer Richtung, die das Atom auf
das andere Atom bezieht. Incerto tempore heißt nicht unbestimmt, sondern
nicht zuweisbar, nicht lokalisierbar. Wenn es stimmt, daß das Atom, Element
des Denkens, sich ,,mit der Schnelligkeit des Gedankens“ bewegt, wie Epikur
im Brief an Herodot sagt, dann ist das clinamen die reziproke Bestimmung,
236 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

die sich ,,in dem kürzesten Kontinuum der Zeit”, einstellt. Es ist nicht ver-
wunderlich, daß Epikur hier das Vokabular der Exhaustion verwendet: Im
clinamen besteht eine gewisse Analogie zu einem Verhältnis zwischen Diffe-
rentialen von sich bewegenden Atomen. Es gibt hier eine Deklination, die
ebenso die Sprache des Denkens formt, es gibt hier etwas im Denken, das von
einer Grenze im Denken zeugt, von dem ausgehend es aber denkt: schneller
als das Denken, ,,in dem kürzesten Kontinuum der Zeit . . .“. - Nichtsdesto-
weniger wahrt das Atom Epikurs allzuviel Unabhängigkeit, eine Gestalt und
eine Aktualität. Die Wechselbestimmung besitzt hier noch zu sehr den Aspekt
einer raum-zeitlichen Relation. Die Frage, ob der moderne Atomismus dem-
gegenüber alle Bedingungen der Struktur erfüllt, muß in Abhängigkeit von
den Differentialgleichungen gestellt werden, die die Naturgesetze bestimmen,
in Abhängigkeit von Typen von ,,mannigfaltigen und nicht lokalisierbaren
Bindungen” zwischen den Partikeln und vom Merkmal der ,,Potentialität“,
das diesen Partikeln ausdrücklich zuerkannt wird.
Zweites Beispiel, der Organismus als biologische Idee. - Geoffroy Saint-Hilaire
scheint der erste zu sein, der die Berücksichtigung von Elementen fordert, die
er abstrakt nennt, lösgelöst von ihren Formen und Funktionen begriffen.
Darum wirft er seinen Vorgängern, aber auch seinen Zeitgenossen (Cuvier)
vor, bei einer empirischen Aufteilung von Differenzen und Ähnlichkeiten
stehenzubleiben. Diese rein anatomischen - und atomischen - Elemente, Knö-
chelchen etwa, werden durch ideale Verhältnisse reziproker Bestimmung ver-
eint: Sie bilden damit eine ,,Wesenheit“, gleichsam das Tier an sich. Diese
Differentialverhältnisse zwischen reinen anatomischen Elementen sind es, die
sich in den verschiedenen Gestalten des Tierreichs, in den verschiedenen
Organen und ihren Funktionen verkörpern. Das ist der dreifache Charakter
der Anatomie: atomisch, vergleichend und transzendent. In den Notions
synthktiques et historiques de philosophie naturelle (1837) kann Geoffroy sei-
nen Traum präzisieren, der auch, wie er sagt, der Traum des jungen Napoleon
war: nämlich der Newton des unendlich Kleinen zu sein, unterhalb des plum-
pen Spiels von sinnlich wahrnehmbaren und begrifflichen Differenzen oder
Ähnlichkeiten die ,,Welt der Einzelheiten“ oder der idealen Bindungen ,,mit
ganz kurzer Entfernung“ zu entdecken. Ein Organismus ist eine Gesamtheit
von Termen und realen Relationen (Dimension, Position, Zahl), die ihrerseits,
in diesem oder jenem Entwicklungsgrad, die Verhältnisse zwischen differen-
tiellen Elementen aktualisiert: So hat etwa das Zungenbein der Katze neun
Knöchelchen, während das des Menschen nur aus fünf besteht, wobei die vier
anderen zum Schädel h i n verlagert sind, außerhab des Organs, das somit
durch die aufrechte Haltung reduziert wurde. Die Genese oder die Entwick-
lung der Organismen müssen folglich als eine Aktualisierung des Wesens
begriffen werden, wie sie sich gemäß milieubestimmten verschiedenartigen
Geschwindigkeiten und Gründen ergibt, gemäß den Beschleunigungen oder
Stockungen, aber unabhängig von jeglichem transformistischen Übergang von
einem aktuellen Term zu einem anderen aktuellen Term.
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 237

Geoffroys Genie. Aber auch hier hängt die Frage eines Strukturalismus in
biologischer Hinsicht (dem Wort ,,Struktur“ entsprechend, das Geoffroy oft
verwendet) von der letzten Bestimmung der differentiellen Elemente und
ihren Verhältnistypen ab. Vermögen anatomische Elemente, hauptächlich auf
den Knochenbau bezogen, diese Rolle zu übernehmen, als ob die Notwendig-
keit der Muskeln ihren Verhältnissen keine Grenzen auferlegen würde; und als
ob sie nicht selbst noch eine aktuelle, eine allzu aktuelle Existenz besitzen
würden? Möglicherweise entsteht dann die Struktur auf einer ganz anderen
Ebene von neuem, mit anderen Mitteln, mit einer gänzlich neuen Bestimmung
differentieller Elemente und idealer Bindungen. Dies ist in der Genetik der
Fall. Ebenso viele Unterschiede vielleicht zwischen der Genetik und Geoffroy
wie zwischen dem modernen Atomismus und Epikur. Aber die Chromoso-
men erscheinen als loci, d.h. nicht bloß als Orte im Raum, sondern als
Komplexe von Nachbarschaftsverhältnissen; und die Gene drücken differen-
tielle Elemente aus, die ebensogut einen Organismus auf globale Weise kenn-
zeichnen und die Rolle von ausgezeichneten Punkten in einem doppelten
Prozeß von reziproker und durchgängiger Bestimmung übernehmen; der dop-
pelte Aspekt des Gens liegt in der Steuerung mehrerer Merkmale zugleich und
darin, daß es nur im Verhältnis mit anderen Genen wirksam wird; die
Gesamtheit bildet ein Virtuelles, ein Potential; und diese Struktur verkörpert
sich in den aktuellen Organismen, hinsichtlich ihrer Spezifikation ebenso wie
hinsichtlich der Differenzierung ihrer Teile, und zwar den Rhythmen entspre-
chend, die man eben ,,differentiell“ nennt, der vergleichsweisen Schnelligkeit
oder Langsamkeit entsprechend, die die Bewegung der Aktualisierung bemes-
sen.
Drittes Beispiel: Gibt es soziale Ideen, in einem marxistischen Sinn? - Mit dem,
was Marx ,,abstrakte Arbeit“ nennt, abstrahiert man von den qualifizierten
Produkten der Arbeit und von der Qualifikation der Arbeiter, nicht aber von
den Produktionsbedingungen, von der Arbeitskraft und den Arbeitsmitteln in
einer Gesellschaft. Die soziale Idee ist das Element von Quantitabilität, Quali-
tabilität und Potentialität der Gesellschaften. Sie drückt ein System von ideel-
len mannigfaltigen Bindungen oder von Differentialverhältnissen zwischen
differentiellen Elementen aus: Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die
sich nicht zwischen konkreten Menschen, sondern zwischen Atomen errich-
ten, die Träger von Arbeitskraft oder Vertreter des Eigentums sind. Das
Ökonomische wird durch eine derartige soziale Mannigfaltigkeit konstituiert,
d.h. durch die Varietäten dieser Differentialquotienten. Es ist eine derartige
Varietät von Verhältnissen, mit den ihr entsprechenden ausgezeichneten Punk-
ten, die sich in den differenzierten konkreten Arbeiten, die eine bestimmte
Gesellschaft kennzeichnen, in den realen Relationen dieser Gesellschaft (juri-
stischen, politischen, ideologischen), in den aktuellen Termen dieser Relatio-
nen (etwa Kapitalist-Lohnabhängiger) verkörpert. Althusser und seine Mitar-
beiter haben also zutiefst recht, wenn sie im Kapital das Vorkommen einer
regelrechten Struktur aufzeigen und die historistischen Deutungen des Marxis-
238 DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG

mus zurückweisen, da diese Struktur ja keineswegs auf transitive Weise und


gemäß der sukzessiven Abfolge in der Zeit wirkt, sondern durch die Verkör-
perung ihrer Varietäten in verschiedenen Gesellschaften und dadurch, daß sie
in der jeweiligen Gesellschaft stets die Simultaneität aller Relationen und
Terme berücksichtigt, die deren Aktualität ausmachen: Darum ist das ,,Öko-
nomische“ niemals im eigentlichen Sinne gegeben, es bezeichnet vielmehr eine
interpretationsbedürftige differentielle Virtualität, die stets durch ihre Aktuali-
sierungsformen überdeckt wird, ein Thema, ein ,,Problematisches“, das stets
durch seine Lösungsfälle überdeckt wird”. Kurz, das Ökonomische ist die
soziale Dialektik selbst, d.h. die Gesamtheit der Probleme, die sich einer
gegebenen Gesellschaft stellen, das synthetische und problematisierende Feld
dieser Gesellschaft. Strenggenommen gibt es soziale Probleme nur als ökono-
mische, obwohl deren Lösungen juristisch, politisch, ideologisch sind und die
Probleme sich auch in diesen Lösbarkeitsfeldern ausdrücken. Der berühmte
Satz aus Zur Kritik der politischen Ökonomie - ,,Die Menschheit [stellt sich] .
immer Aufgaben, die sie lösen kann“ - bedeutet nicht, daß die Probleme bloß
Schein oder bereits gelöst seien, sondern im Gegenteil, daß die ökonomischen
Bedingungen des Problems die Art und Weise bestimmen oder erzeugen, wie
es im Rahmen der realen Relationen einer Gesellschaft seine Lösungen findet,
ohne daß jedoch der Beobachter den geringsten Optimismus daraus beziehen
kann, da diese ,,Lösungen“ die Dummheit und die Grausamkeit, die Entsetz-
lichkeit des Kriegs oder der ,,Lösung der Judenfrage“ anzunehmen vermögen.
Noch genauer ist die Lösung stets diejenige, die eine Gesellschaft verdient,
von ihr hervorgebracht wird, je nach Art und Weise, wie sie in ihren realen
Relationen die Probleme zu stellen vermochte, die sich in ihr und für sie mit
den durch sie verkörperten Differentialverhältnissen aufwerfen.
Die Ideen sind Komplexe von Koexistenz, alle Ideen koexistieren in gewisser
Weise. Allerdings in Punkten, an Rändern, unter einem Funkeln, das niemals
die Gleichförmigkeit eines natürlichen Lichts besitzt. Ihrer Unterschiedenheit
entsprechen stets Schattenzonen, Dunkelheiten. Die Ideen unterscheiden sich,
aber keineswegs auf die selbe Weise, wie sich die Formen und Terme unter-
scheiden, in denen sie sich verkörpern. Sie bilden und zersetzen sich objektiv,
gemäß den Bedingungen, die ihre fließende Synthese bestimmen. Dies rührt
daher, daß sie das größte Vermögen zu ihrer Differentiation mit dem Unver-
mögen zu ihrer Differenzierung vereinigen. Die Ideen sind Varietäten, die
Subvarietäten in sich enthalten. Unterscheiden wir drei Dimensionen von
Varietät. Zunächst Ordnungsvarietäten, der Höhe nach, gemäß der Natur der
Elemente und Differentialverhältnisse: mathematische Idee, mathematisch-
physikalische Idee, chemische, biologische, psychologische, soziologische,
linguistische Idee . . . Jede Ebene impliziert Differentiale einer unterschiedli-

11 Vgl. Louis Althusser/Etienne Balibar/Roger Establet: Lire le Cdpit~~l, Paris 196%


Bd. 2, insbesondere S. 150ff. und 204ff.
IDEELLE SYNTHESE DER DI F F E R E N Z 239

chen dialektischen ,,Ordnung“; aber die Elemente einer Ordnung können


unter neuen Verhältnissen in die einer anderen übergehen, sei es, daß sie sich
in der umfassenderen höheren Ordnung au flösen, sei es, daß sie sich in der
niedrigeren Ordnung reflektie ren. Sodann charakteristische Varietäten, der
Breite-nach, die den Graden eines Differentialverhältnisses in ein und dersel-
b e n Ordnung und den Verteilungen von singulären Punkten für jeden Grad
entsprechen (wie etwa die Gleichung von Kegeln, die je nach ,,Fall“ eine
Ellipse, eine Hyperbel, eine Parabel, eine Gerade ergibt; oder die Varietäten
beim Tier, die selbst unter dem Gesichtspunkt der Kompositionseinheit
geordnet sind; oder die Vatietäten von Sprachen, unter dem Gesichtspunkt des
phonologischen Systems). Schließlich axiomatische Varietäten, der Tiefe nach,
die ein gemeinsames Axiom für Differentialquotienten unterschiedlicher Ord-
nung bestimmen, vorausgesetzt dieses Axiom fällt selbst mit einem Differen-
tialquotienten dritter Ordnung zusammen (etwa Addition realer Zahlen und
Komposition von Verschiebungen; oder, auf einem ganz anderen Gebiet, das
Sprechen-Weben bei den Dogon, wie sie von Griaule beschrieben wurden). -
Die Ideen, die Unterscheidungen von Ideen sind nicht von ihren Varietäts-
typen und von der Art und Weise zu trennen, wie jeder Typus die anderen
durchdringt. Wir schlagen den Namen Perplikation vor, um diese distinktive
und koexistierende Verfassung der Idee zu bezeichnen. Nicht daß die Jerple-
sität“ als korrespondierender Begriff einen Koeffizienten von Zweifel, Zögern
oder Erstaunen bezeichnen würde, oder was immer auch in der Idee unvoll-
kommen sein mag. Es handelt sich im Gegenteil um die Identität von Idee und
Problem, um den erschöpfend problematischen Charakter der Idee, d.h.
darum, wie die Probleme objektiv durch ihre Bedingungen zur wechselseitigen
Partizipation bestimmt sind, und zwar gemäß den nach den jeweiligen
Umständen gebotenen Anforderungen der Synthese der Ideen.
Die Idee ist keineswegs die Wesenheit. Als Objekt der Idee befindet sich das
Problem auf der Seite der Ereignisse, der Affektionen, der Akzidentien eher
als auf der Seite des theorematischen Wesens. Die Idee entwickelt sich in den
Hilfsgleichungen, in den adjungierten Körpern, die ihre synthetische Macht
ermessen. So daß das Gebiet der Idee das Unwesentliche ist. Sie beruft sich auf
das Unwesentliche in ebenso entschiedener Weise, mit ebensolcher wildent-
schlossener Hartnäckigkeit, wie der Rationalismus, im Gegenteil, den Besitz
und die begriffliche Erfassung des Wesens für sich beanspruchte. Der Rationa-
lismus wollte das Schicksal der Idee mit der abstrakten und toten Wesenheit
verknüpft sehen; und er wollte sogar - in dem Maße, wie die problematische
Form der Idee anerkannt wurde - diese Form an die Frage nach dem Wesen,
d. h. an die Frage ,,Was ist?“ gebunden sehen. Wieviele Mißverständnisse aber
in diesem Willen. Freilich bedient sich Platon dieser Frage, um Wesen und
Schein einander gegenüberzustellen und diejenigen zurückzuweisen, die sich
damit begnügen, Beispiele anzuführen. Allein, er hat dann kein anderes Ziel,
als die empirischen Antworten zum Schweigen zu bringen, um den unbe-
stimmten Horizont eines transzendenten Problems als Objekt der Idee ZU
240 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

öffnen. Sowie es um die Bestimmung des Problems oder der Idee als solcher
geht, sowie es darum geht, die Dialektik in Bewegung zu setzen, weicht die
Frage Was ist? anderen, wesentlich wirkungsvolleren und schärferen, wesent-
lich zwingenderen Fragen: wieviel, wie, in welchem Fall? Die Frage ,,Was
ist?“ beseelt nur die sogenannten aporetischen Dialoge, d. h. diejenigen, die
durch die Form der Frage selbst in den Widerspruch gedrängt und in den
Nihilismus getrieben werden, zweifellos weil sie bloß einen propädeutischen
Zweck verfolgen - den Zweck, die Region des Problems überhaupt zu
erschließen, indem sie anderen Verfahren die Sorge darüber überlassen, es als
Problem oder als Idee zu bestimmen. Als die sokratische Ironie ernst genom-
men wurde, als die Dialektik insgesamt mit ihrer Propädeutik zusammenging,
ergaben sich daraus äußerst fatale Folgen; denn die Dialektik war dann nicht
länger die Wissenschaft von den Problemen und verschmolz im äußersten Fall
mit der bloßen Bewegung des Negativen und des Widerspruchs. Die Philoso-
phen begannen wie die jungen Leute über das Federvieh zu sprechen. Unter
diesem Gesichtspunkt ist Hegel die Vollendung einer langen Tradition, die die
Frage Was ist.7 ernst nahm und sich ihrer bediente, um die Idee als Wesenheit
zu bestimmen, die aber damit die Natur des Problematischen durch das Nega-
tive ersetzte. Dies war der Abschluß einer Verfälschung der Dialektik. Und
wieviele theologische Vorurteile in dieser Geschichte, denn ,,Was ist?” ist
immer Gott, als Ort einer Kombinatorik von abstrakten Prädikaten. Es ist
bemerkenswert, wie wenig Philosophen der Frage Was ist? vertrauten, um
eine Idee zu haben. Aristoteles, vor allem Aristoteles nicht . . . Sobald die
Dialektik ihr eigenes Geschäft verfolgt, anstatt sich leer auf propädeutische
Zwecke zu richten, ertönt von überall ,,wieviel“, ,,wie“, ,,in welchem Fall“ -
und ,,welches?“, dessen Rolle und dessen Sinn wir später sehen werden12.
Diese Fragen sind Fragen nach dem Akzidens, dem Ereignis, der Mannigfal-
tigkeit - der Differenz -, gegen die Frage nach dem Wesen, gegen die nach
dem Einen, nach dem Konträren und dem Widersprüchlichen gehalten. Über-
all triumphiert Hippias, sogar und bereits bei Platon, Hippias, der das Wesen
zurückwies und sich dennoch nicht mit Beispielen begnügte.
Das Problem gehört zur Ordnung des Ereignisses. Nicht nur, weil die
Lösungsfälle als reale Ereignisse auftauchen, sondern weil die Bedingungen
des Problems selbst Ereignisse, Schnitte, Ablationen, Adjunktionen implizie-
ren. In diesem Sinne ist es triftig, eine doppelte Reihe von Ereignissen zu
repräsentieren, die sich auf zwei Ebenen abspielen und ohne Ähnlichkeit
ineinander widerhallen, die einen real auf der Ebene der erzeugten Lösungen,
die anderen ideell oder ideal in den Bedingungen des Problems, als Akte oder

12 Jacques Brunschwig etwa hat deutlich gemacht, daß die aristotelischen Fragen Ei TO
6~ und Bis fi O~~icc keineswegs ,,Was ist das Sein?” und ,,Was ist das Wesen* ?”
bedeuteten, sondern: Welches ist das Sein (welches das Seiende)? und Welches ist
Substanz (oder besser, wie Aristoteles sagt: Welches sind die Dinge, die Substanzen
sind)? - Vgl. Dialectique et ontologie chez Aristote, in: Revue philosophique, 1964.
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 241

e h e r Träume von Göttern, die unsere Geschichte verdoppeln würden. Die


ideelle Reihe verfügt über eine zweifache Eigenschaft von Transzendenz und
Immanenz bezüglich des Realen. Denn wir haben gesehen, wie die Existenz
und die Aufteilung von singulären Punkten vollständig der Idee zugehörten,
obwohl ihre Spezifikation den Lösungskurven ihrer Nachbarschaft, d. h. den
realen Relationen, in denen sich die Idee verkörpert, immanent war. In seiner
bewundernswerten Beschreibung des Ereignisses ordnete zwei Linien
an, die eine horizontal, die andere aber vertikal, die in der Tiefe die ausge-
zeichnten Punkte aufnahm, die der ersten entsprachen und darüber hinaus auf
ewig diesen ausgezeichneten Punkten und ihrer Verkörperung in der ersten
vorauslief und sie erzeugte. Am Schnittpunkt der beiden Linien schürzte sich
das ,,zeitlich Ewige“ - das Band zwischen Idee und Aktuellem, die Pulverspur -
und entschied sich unsere größte Meisterschaft, unsere größte Macht, eine
Macht, die die Probleme selbst betrifft: ,,Und plötzlich fühlen wir, daß wir
nicht mehr dieselben Sträflinge sind. Nichts ist geschehen. Und ein Problem,
dessen Ende man nicht absah, ein auswegloses Problem, ein Problem, in dem
eine ganze Welt angestaut war, existiert mit einem Mal nicht mehr, und man
fragt sich, wovon die Rede war. Anstatt eine Lösung zu erhalten, eine
gewöhnliche Lösung, eine Lösung, die man findet, hat dieses Problem, diese
Schwierigkeit, diese Unmöglichkeit einen sozusagen physikalischen Auflö-
sungspunkt durchlaufen. Einen kritischen Punkt. Und zwar deswegen, weil
zur gleichen Zeit die ganze Welt einen sozusagen physikalischen Krisenpunkt
durchlaufen hat. Es gibt kritische Punkte des Ereignisses, wie es kritische
Temperaturpunkte gibt, Schmelzpunkte, Gefrierpunkte; Siedepunkte, Tau-
punkte; Gerinnungspunkte; Kristallisationspunkte. Und es gibt im Ereignis
sogar jene Zustände von Unterkühlung, die nur dann ausgefällt werden, die
sich nur dann kristallisieren, nur dann bestimmen, wenn ein Fragment des
künftigen Ereignisses hinzutritt“13.
Das Verfahren der Vize-Diktion, geeignet, die Mannigfaltigkeiten und The-
men zu durchlaufen und zu beschreiben, ist darum wichtiger als das Verfahren
der Kontradiktion, das die Wesenheit bestimmen und deren Einfachheit
bewahren will. Man wird einwenden, daß das ,,Wichtigste“ von Natur aus das
Wesen sei. Eben das aber ist die Frage; und sie lautet zunächst, ob die Begriffe
von Wichtigkeit und Unwichtigkeit nicht gerade Begriffe sind, die das Ereig-
nis, das Akzidens betreffen und im Innern des Akzindens ,,wichtiger“ sind als
die grobe Opposition von Wesen und Akzidens selber. Das Problem des
Denkens ist nicht ans Wesen gebunden, sondern an die Bewertung dessen, was
Wichtigkeit oder keine Wichtigkeit besitzt, an die Aufteilung des Singulären
und Regulären, des Ausgezeichneten und Gewöhnlichen, die sich gänzlich im
Unwesentlichen oder in der Beschreibung einer Mannigfaltigkeit ergibt, und
zwar im Verhältnis zu den idealen Ereignissen, die die Bedingungen eines

” Charles Peguy: Clio, a.a.O., S. 269.


242 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

,,Problems“ bilden. Eine Idee haben bedeutet nichts anderes; der falsche Geist,
die Dummheit selbst, definiert sich vor allem durch seine fortwährenden
Verwirrungen bezüglich des Wichtigen und Unwichtigen, Gewöhnlichen und
Singulären. Es ist der Vize-Diktion vorbehalten, die Fälle ausgehend von den
Hilfsgleichungen und Adjunktionen zu erzeugen. Sie ist es, die die Aufteilung
der ausgezeichneten Punkte in der Idee steuert; sie ist es, die darüber entschei-
det, wie eine Reihe fortgesetzt werden muf3, von einem singulären Punkt über
reguläre Punkte bis zu einem weiteren singulären Punkt, und welchem; sie ist
es, die bestimmt, ob die in der Idee erhaltenen Reihen konvergent oder
divergent sind (es gibt also Singularitäten, die entsprechend der Konvergenz
der Reihen selbst gewöhnlich, und Singularitäten, die deren Divergenz zufolge
ausgezeichnet sind). Die beiden Verfahren der Vize-Diktion, die in die .
Bestimmung der Bedingungen des Problems und in die korrelative Genese der
Lösungsfälle zugleich eingreifen, sind einerseits die Prüzisierung der adjun-
gierten Körper, andererseits die Verdichtung der Singularitäten. Einerseits
nämlich müssen wir in der progressiven Bestimmung der Bedingungen die
Adjunktionen entdecken, die den Ausgangskörper des Problems als solchen
vervollständigen, nämlich die Varietäten der Mannigfaltigkeit in allen Dimen-
sionen, die Fragmente künftiger oder vergangener idealer Ereignisse, die
gleichzeitig das Problem lösbar machen; und wir müssen den Modus festlegen,
in dem sie sich mit dem Ausgangskörper verknüpfen oder verschachteln.
Andererseits müssen wir alle Singularitäten verdichten, alle Umstände,
Schmelzpunkte, Gefrierpunkte, Taupunkte in einer sublimen Gelegenheit,
Kairos, ausfällen, die die Lösung als etwas Jähes, Gewaltsames, Revolutionäres
explodieren läßt. Auch dies heißt: eine Idee haben. Jede Idee hat gleichsam
zwei Gesichter wie Liebe und Zorn: Liebe in der Suche nach den Fragmenten,
in der progressiven Bestimmung und der Verknüpfung der idealen Adjunk-
tionskörper; Zorn in der Verdichtung der Singularitäten, die mittels idealer
Ereignisse die Sammlung einer ,,revolutionären Situation” definiert und die
Idee ins Aktuelle explodieren läßt. Gerade in diesem Sinne hatte Lenin Ideen.
(Es gibt eine Objektivität der Adjunktion und der Verdichtung, eine Objekti-
vität der Bedingungen, die bedeutet, daß sich die Probleme ebensowenig wie
die Ideen nur in unserem Kopf befinden, sondern hier und da sind, in der
Produktion einer aktuellen historischen Welt). Und in all diesen Ausdrücken,
,,singuläre und ausgezeichnete Punkte“, ,,Adjunktionskörper“, ,,Verdichtung
von Singularitäten”, dürfen wir keine mathematischen Metaphern sehen; keine
physikalischen Metaphern in ,,Schmelzpunkt, Gefrierpunkt . . .“; keine lyri-
schen oder mystischen Metaphern in ,,Liebe und Zorn“. Sie sind die Katego-
rien der dialektischen Idee, die Extensionen der Differentialrechnung (die
mathesis universalis, ebenso aber die universale Physik, die universale Psycho-
logie, Soziologie), die der Idee in all ihren Gebieten von Mannigfaltigkeit
entsprechen. Die Ideen sind dadurch, was an Revolutionärem und Zärtlichem
in ihnen steckt, stets unregelmäßiges Funkeln von Liebe und grimmigem
Zorn, das keineswegs ein natürliches Licht ergibt.
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 243

(Das Wichtigste in Schellings Philosophie ist die Berücksichtigung der Poten-


zen. Wie ungerecht die Kritik Hegels, in dieser Hinsicht, an den schwarzen
Kühen. Von den beiden Philosophen ist es Schelling, der die Differenz aus der
Nacht des Identischen heraustreten läßt, mit noch feineren, mannigfaltigeren,
entsetzlicheren Blitzen als denen des Widerspruchs: im Fortschreiten. Zorn
und Liebe sind Potenzen der Idee, die sich von einem ~4 6, ausgehend
entwickeln, d. h. nicht von einem Negativen oder einem Nicht-Sein -(OUX Ov),
sondern von einem problematischen Sein oder einem Nicht-Existierenden,
einem impliziten Sein der Existenzen jenseits des Grundes. Der Gott der Liebe
und der Gott des Zorns reichen gerade aus, um eine Idee zu haben. A, A2, A3
bilden das Spiel der Depotenzierung und der reinen Potentialität, bezeugen in
Schellings Philosophie das Vorhandensein einer der Dialektik angemessenen
Differentialrechnung. Schelling war Leibnizianer. Aber auch Neuplatoniker.
Der große neuplatonische Wahn, der auf das Problem des Phaidros antwor-
tete, staffelt, verschachtelt die Zeuse nach einer Exhaustionsmethode und nach
einer Methode der Entwicklung von Potenzen: Zeus, Zeus2, Zeus3.. . Hier
erhält die Einteilung ihre volle Gültigkeit, die nicht der Breite nach in der
Differenzierung der Arten ein und derselben Gattung liegt, sondern der Tiefe
nach in der Ableitung und Potenzierung, schon in einer Art Differentiation. In
einer seriellen Dialektik werden sodann die Potenzen einer Differenz lebendig,
die sammelt und zusammenrückt (6 o~vovlxoQ und titanisch im Zorn,
demiurgisch in Liebe und zudem apollinisch, areisch, athenäisch wird14.)

So wenig ein Gegensatz Struktur/Genese besteht, so wenig gibt es einen


Gegensatz zwischen Struktur und Ereignis, Struktur und Sinn. Die Strukturen
umfassen ebenso viele ideale Ereignisse wie Varietäten von Verhältnissen und
singulären Punkten, die sich mit den realen Ereignissen, die sie bestimmen,
überschneiden. Was man Struktur nennt, ein System von differentiellen Ver-
hältnissen und Elementen, ist zugleich Sinn in genetischer Hinsicht, und zwar
in Abhängigkeit von aktuellen Relationen und Termen, in denen sie sich
verkörpert. Der wahre Gegensatz besteht im übrigen zwischen der Idee
(Struktur/Ereignis/Sinn) und der Repräsentation. In der Repräsentation ist der
Begriff gleichsam die Möglichkeit; das Subjekt der Repräsentation aber
bestimmt das Objekt noch als dem Begriff real entsprechend, als Wesenheit.

” Vgl. eines der wichtigsten Bücher des Neuplatonismus, das eine serielle und poten-
tie!le Dialektik der Differenz ins Spiel bringt, die DubitAones et solutiones de primis
PGzcipiis von Damaskios (hg. v. C. H. Ruelle, Paris 1889). - Zur Theorie der
Differenz und der Potenzen bei Schelling vgl. insbesondere die Stuttgarter Privat-
vorlesungen (1810) und Die Weltalter, in: Werke, a.a.O., Bd. 4.
244 DIFFERENZUNDWIEDERHOLUNG 7

Darum ist die Repräsentation in ihrer Gesamtheit das Element des Wissens,
das sich in der Andacht vor dem gedachten Objekt und seiner Rekognition
durch ein denkendes Subjekt verwirklicht. Die Idee aber macht ganz andere I
Merkmale geltend. Die Virtualität der Idee hat nichts mit einer Möglichkeit
zu tun. Die Mannigfaltigkeit verträgt keinerlei Abhängigkeit vom Identi-
schen im Subjekt oder im Objekt. Die Ereignisse und die Singularitäten der
Idee lassen keinerlei Setzung des Wesens als ,,das, was das Ding ist“, beste- :
hen. Und sicher kann man, wenn man Wert darauf legt, das Wort Wesen
beibehalten, vorausgesetzt jedoch man fügt hinzu, daß das Wesen eben das
Akzidens, das Ereignis, der Sinn ist, nicht nur das Gegenteil dessen, was
man gewöhnlich Wesen nennt, sondern das Gegenteil des Gegenteils: Die +
Mannigfaltigkeit ist ebensowenig Schein wie Wesen, ebensowenig mannigfal- *
tig wie eins. Die Verfahren der Vize-Diktion lassen sich daher nicht in
Begriffen der Repräsentation, und sei sie unendlich, ausdrücken; sie verlieren
dabei, wie man es bei Leibniz gesehen hat, ihre wichtigste Kraft, die in der
Affirmation der Divergenz oder der Dezentrierung besteht. In Wahrheit ist
die Idee nicht das Element des Wissens, sondern eines unendlichen ,,Ler-
nens“, das sich wesentlich vom Wissen unterscheidet. Denn Lernen entwik-
kelt sich gänzlich im Erfassen der Probleme als solcher, in der Apprehension
und Verdichtung der Singularitäten, in der Zusammensetzung der idealen
Körper und Ereignisse. Schwimmen lernen, eine Fremdsprache lernen heißt,
die singulären Punkte seines eigenen Körpers oder seiner eigenen Sprache
mit denen einer anderen Gestalt, eines anderen Elements zusammenzusetzen,
das uns zerstückelt, uns aber in eine Welt von bisher unbekannten, unerhör-
ten Problemen eindringen läßt. Und wozu sind wir bestimmt, wenn nicht ZU
Problemen, die sogar die Transformation unseres Körpers und unserer Spra-
che verlangen ? Kurz, die Repräsentation und das Wissen modellieren sich
vollständig nach den Sätzen des Bewußtseins, die Lösungsfälle bezeichnen;
diese Sätze aber geben selbst einen völlig ungenauen Begriff der Instanz ,
wieder, die sie klären oder lösen und von der sie als Fälle erzeugt werden.
Demgegenüber drücken die Idee und das ,,Lernen“ diese problematische,
extrapropositionale oder subrepräsentative Instanz aus: die Präsentation des
Unbewußten, nicht die Repräsentation des Bewußtseins. Man wird sich
nicht wundern, daß der Strukturalismus bei den Autoren, die ihn propagie-
ren, so oft von einem Appell an ein neues Theater oder eine neue (nicht-
aristotelische) Interpretation des Theaters begleitet wird: an ein Theater der
Mannigfaltigkeiten, das in jeder Hinsicht dem Theater der Repräsentation
entgegensteht, ein Theater, das die Identität eines repräsentierten Dings nicht
länger bestehen läßt, weder die Identität eines Autors, noch eines
Zuschauers, noch einer Figur auf der Bühne, keinerlei Repräsentation, die
über die Peripetien des Stücks hinweg zum Gegenstand einer letzten Reko-
gnition oder einer Sammlung des Wissens werden könnte, vielmehr ein
Theater von stets offenen Problemen und Fragen, das den Zuschauer, die
Bühne und die Figuren in der realen Bewegung eines Lernprozesses des
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 245

ganzen Unbewußten mit sich reißt, dessen äußerste Elemente wiederum die
Probleme selbst sind.
W i e ist der notwendig unbewußte Charakter der Ideen zu verstehen? Muß
man die Idee als Objekt eines exklusiven besonderen Vermögens verstehen,
d a s sein transzendentes oder Grenze1 ement um so leichter in sich vorfindet, als
es dieses nicht vom Standpunkt des empirisehen Gebrauchs a u s fassen kann?
Diese Hypothese hätte bereits den Vorteil, die Vernunft oder sogar den Ver-
stand als Vermögen der Ideen auszuschließen, und noch allgemeiner jedes für
einen Gemeinsinn konstitutive Vermögen auszuschließen, für einen Gemein-
sinn, unter den der empirische Gebrauch der anderen Vermögen bezüglich
eines als selbes vorausgesetzten Objekts subsumiert wird. Daß etwa das Den-
ken in sich etwas vorfindet, das es nicht denken kann, das Undenkbare und
zugleich das, was gedacht werden muß, das Undenkbare und das, was nur
gedacht werden kann - dies ist unverständlich nur aus der Perspektive eines
Gemeinsinns oder eines Gebrauchs, der Abklatsch des Empirischen ist. Einem
oft gegen Maimon vorgebrachten Einwand zufolge nehmen die als Differen-
tiale des Denkens begriffenen Ideen ein Minimum an ,,Gegebenem“ in sich
auf, das nicht gedacht werden kann; sie restaurieren die Dualität eines unendli-
chen und eines endlichen Verstands als Existenz- und Erkenntnisbedingungen,
eine Dualität, die die kantische Kritik doch gerade beseitigen wollte. Dieser
Einwand hat aber nur in dem Maße Gültigkeit, wie die Ideen nach Maimon
den Verstand als Vermögen besitzen, wie sie Kant zufolge die Vernunft als
Vermögen besaßen, d. h. jedenfalls ein Vermögen,- das einen Gemeinsinn kon-
stituiert, der selber in seinem Innern nicht die Anwesenheit eines Kerns zu
ertragen vermag, an dem der empirische Gebrauch der miteinander verbunde-
nen Vermögen zerbrechen würde. Nur unter diesen Bedingungen muß das
Undenkbare im Denken oder das Unbewußte eines reinen Denkens in einem
unendlichen Verstand als Ideal des Wissens verwirklicht werden, und nur
unter diesen Bedingungen sind die Differentiale dazu verurteilt, zu bloßen
Fiktionen zu werde;, wenn sie in diesem unendlichen Verstand nicht das Maß
einer völlig aktuellen Realität finden. Aber die Alternative ist wiederum falsch
gestellt. Und das bedeutet, daß die Eigenart des Problematischen und die
Zugehörigkeit des Unbewußten zum endlichen Denken verkannt bleiben.
Anders verhält es sich, wenn die Ideen auf den transzendenten Gebrauch eines
besonderen Vermögens bezogen werden , das von keinem Gemeinsinn belastet
wird.
Indessen glauben wir nicht, daß diese erste Antwort ausreicht und daß die
Ideen oder Strukturen auf ein besonderes Vermögen verweisen. Denn die Idee
durchläuft und betrifft alle Vermögen. Sie ermöglicht, ihrer Ordnung gemäß,
zugleich die Existenz eines Vermögens, das als solches bestimmt ist, und das
differentielle Objekt oder den transzendenten Gebrauch dieses Vermögens.
Gegeben sei die linguistische Mannigfaltigkeit als ein virtuelles System von
reziproken Bindungen zwischen ,,Phonemen‘, das sich in den aktuellen Rela-
tionen und Termen der verschiedenen Sprachen verkörpert: Eine derartige
246 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Mannigfaltigkeit ermöglicht die Rede als Vermögen, ermöglicht das transzen-


dente Objekt dieser Rede, jene ,,Metasprache”, die im empirischen Gebrauch
einer gegebenen Sprache nicht gesprochen werden kann, die aber gesprochen
werden muß, die im poetischen Gebrauch der Rede nur gesprochen werden
kann, in einem Gebrauch, der der Virtualität koextensiv ist. Gegeben sei die
soziale Mannigfaltigkeit: Sie bestimmt die Soziabilität als Vermögen,
zugleich aber das transzendente Objekt der Soziabilität, das in den aktuellen
Gesellschaften, in denen sich die Mannigfaltigkeit verkörpert, nicht gelebt
werden kann, das aber im Element des gesellschaftlichen Umsturzes gelebt
werden muß und nur dort gelebt werden kann (ganz einfach die Freiheit
nämlich, die stets von den Resten einer alten Ordnung und von den Anfän-
gen einer neuen verdeckt wird). Man könnte dasselbe von den anderen Ideen
oder Mannigfaltigkeiten sagen: von den psychologischen Mannigfaltigkeiten,
der Einbildungskraft und der Phantasie; den biologischen Mannigfaltigkei-
ten, der Vitalität und dem ,,Monstrum“; den physikalischen Mannigfaltigkei-
ten, der Sinnlichkeit und dem Zeichen . . . Damit aber korrespondieren die
Ideen abwechselnd mit allen Vermögen und sind nicht ausschließlicher
Gegenstand irgendeines Vermögens im besonderen, nicht einmal des Den-
kens. Das Wesentliche jedoch ist, daß wir damit keineswegs wieder die
Form eines Gemeinsinns einführen, im Gegenteil. Wir haben gesehen, wie
die Zwietracht der Vermögen, definiert durch die Ausschließlichkeit des
transzendenten Objekts, das von jedem Vermögen aufgefaßt wird, nichtsde-
stoweniger einen Einklang implizierte, dem zufolge jedes davon seine
Gewalt auf das andere überträgt, einer Pulverspur entlang, aber eben einen
“diskordanten Einklang“, der die Form von Identität, von Konvergenz und
Zusammenarbeit des Gemeinsinns ausschließt. Gerade diese einstimmige
Diskordanz schien uns der Differenz zu entsprechen, die durch sich selbst
verknüpft oder vereint. Es gibt also einen Punkt, an dem denken, sprechen,
einbilden, fühlen usw. ein und dieselbe Sache sind, aber diese Sache bestätigt
bloß die Divergenz der Vermögen in ihrem transzendenten Gebrauch. E S
handelt sich also nicht um einen Gemeinsinn, sondern im Gegenteil um
einen ,,Para-Sinn“ (in der Hinsicht, in der das Paradox auch das Gegenteil
des gesunden Menschenverstands ist). Dieser Para-Sinn hat die Ideen als Ele-
ment, eben weil die Ideen reine Mannigfaltigkeiten sind, die keinerlei Identi-
tätsform in einem Gemeinsinn voraussetzen, sondern im Gegenteil den ge-
trennten Gebrauch der Vermögen in transzendenter Hinsicht erwecken und
beschreiben. Damit sind die Ideen Mannigfaltigkeiten differentiellen Fun-
kelns, gleichsam irrlichternd zwischen den Vermögen, ,,virtuelle Feuerspur“,
ohne jemals die Homogenität jenes natürlichen Lichts zu erhalten, die den
Gemeinsinn kennzeichnet. Darum kann Lernen auf zwei komplementäre
Arten definiert werden, die sich gleichermaßen der Repräsentation im Wis-
sen widersetzen: entweder heißt lernen, in die Idee, in ihre Varietäten und .
ausgezeichneten Punkte eindringen; oder lernen heißt, ein Vermögen zu sei-
nem getrennten transzendenten Gebrauch emporheben, es zu jener Begeg-
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 247

nung und jener Gewalt emporheben, die sich den anderen mitteilen. Darum
besitzt auch das Unbewußte zwei komplementäre Bestimmungen, die es
notwendig von der Repräsentation ausschließen, es aber einer reinen Prä-
sentation würdig und zugänglich machen: Sei es, daß sich das Unbewußte
durch den extrapropositionalen und nicht aktuellen Charakter der Ideen im
Para-Sinn definiert, sei es, daß es sich durch den nicht empirischen Charak-
ter des paradoxalen Gebrauchs der Vermögen definiert.
Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, daß die Ideen in einem ganz besonde-
ren Verhältnis zum reinen Denken stehen. Zweifellos darf das Denken hier
nicht als eine Identitätsform aller Vermögen betrachtet werden, sondern als
ein besonderes Vermögen, das ebenso wie die anderen durch sein differen-
tielles Objekt und seinen gesonderten Gebrauch definiert ist. Jedenfalls
weisen der Para-Sinn oder die Gewalt, die sich von einem Vermögen zum
anderen in einer bestimmten Reihenfolge mitteilt, dem Denken einen
besonderen Platz zu: Erst am äußersten Ende der Gewaltkette, die von
einer Idee zur anderen zunächst die Sinnlichkeit und ihr sentiendum usw.
in Bewegung setzt, ist das Denken dazu bestimmt, sein eigenes cogitandum
zu fassen. Dieses äußerste Ende kann zugleich als radikaler Ursprung der
Ideen betrachtet werden. In welchem Sinne aber müssen wir ,,radikaler Ur-
sprung“ verstehen? In ebendiesem Sinn müssen die Ideen ,,Differentiale“
des Denkens, ,,Unbewußtes“ des reinen Denkens genannt werden, gerade
in dem Augenblick, in dem der Gegensatz des Denkens zu jeder Form des
Gemeinsinns lebhafter denn je bleibt. Daher beziehen sich die Ideen kei-
neswegs auf ein Cogito als Satz des Bewußtseins oder Grund, sondern auf
das gespaltene Ego eines aufgelösten Cogito, d. h. auf das universale Zu-
Grunde-Gehen [effon d ement], das das Denken als Vermögen in seinem
transzendenten Gebrauch charakterisiert. Die Ideen sind nicht Gegenstand
eines besonderen Vermögens, zugleich aber betreffen sie auf einzigartige
Weise ein besonderes Vermögen derart, daß sich sagen läßt: Sie entsprin-
gen ihm (um den Para-Sinn aller Vermögen zu bilden). Noch einmal, was
heißt hier entspringen oder seinen Ursprung finden? Woher kommen die
Ideen, woher kommen die Probleme, ihre idealen Elemente und Verhält-
nisse?
Es ist der Moment gekommen, die Differenz zwischen den beiden Instan-
zen des Problems und der Frage zu bestimmen, die wir bisher im Vagen
belassen hatten. Es muß daran erinnert werden, wie sehr der Komplex
Frage/Problem eine Errungenschaft des modernen Denkens ist, auf der
Basis der Wiedergeburt der Ontologie: Das rührt daher, daß dieser Kom-
plex nicht länger als Ausdruck einer provisorischen und subjektiven Ver-
fassung in der Repräsentation des Wissens betrachtet wurde, sondern zur
Intentionalität des Seins schlechthin oder zur einzigen Instanz wurde, der
das Sein strenggenommen antwortet, ohne daß dadurch die Frage aufgeho-
ben oder überholt würde, da ja im Gegenteil sie allein über eine Öffnung
verfügt, die koextensiv zu dem ist, was ihr antworten soll und ihr nur ant-
248 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

worten kann, indem es sie aufrechterhält, von neuem stellt und wiederholt.
Diese Konzeption der Frage als ontologischer Bereich beseelt das Kunst-
werk ebenso wie das philosophische Denken . Das Werk entw ickelt sich an
und um einen Riß, den es niemals auffüllt. Daß der Ro man, insbesondere
seit Joyce, eine ganz neue Sprache nach Art des ,,Fragebogens“ oder
,,InquisitoriumP gefunden hat, daß er wesentlich problematische Ereig-
nisse und Figuren dargestellt hat, bedeutet selbstverständlich nicht, daß man
keiner Sache sicher ist, ist selbstverständlich nicht die Anwendung einer
verallgemeinerten Methode des Zweifels, ist nicht das Zeichen eines moder-
nen Skeptizismus, sondern im Gegenteil die Entdeckung des Problemati-
schen und der Frage als transzendentaler Horizont, als transzendentaler
Brennpunkt, die den Wesen, den Dingen, den Ereignissen ,,wesentlich”
eignen. Es ist die Entdeckung der Idee im Roman, oder im Theater, in der
Musik, in der Philosophie . . .; und gleichzeitig die Entdeckung eines trans-
zendenten Gebrauchs der Sinnlichkeit, des Bild-Gedächtnisses, der Sprache,
des Denkens, wodurch jedes dieser Vermögen mit den anderen in seiner
völligen Diskordanz kommuniziert und sich auf die Seinsdifferenz hin öff-
net, indem es seine eigene Differenz zum Gegenstand, d.h. zur Frage
macht: so jene Schreibweise, die nichts anderes mehr ist als die Frage Was
ist schreiben?, oder jene Sinnlichkeit, die nichts ist als Was ist empfinden?
und jenes Denken - Was bedeutet denken? Daher rühren die größten
Monotonien, die größten Schwächen eines neuen Gemeinsinns, wenn der
Genius der Idee fehlt; aber auch die mächtigsten ,,Wiederholungen“, die
herrlichsten Erfindungen im Para-Sinn, wenn die Idee mit aller Gewalt her-
vorbricht. Rufen wir uns lediglich die Prinzipien dieser Ontologie der Frage
in Erinnerung: 1. Weit davon entfernt, eine empirische Verfassung des Wis-
sens zu meinen, das dazu bestimmt ist, in den Antworten zu verschwinden,
wenn die Antwort einmal gegeben ist - bringt die Frage all die empirischen
Antworten, durch die sie beseitigt werden soll, zum Schweigen, um die ein-
zige Antwort zu ,,erzwingen“, die die Frage aufrechterhält und stets von
Neuem aufgreift: so Hiob in seinem Beharren auf eine Antwort aus erster
Hand, die mit der Frage selbst verschmilzt (erste Macht des Absurden).
2. Daher die Macht der Frage, die den Fragenden ebenso ins Spiel bringt
wie das, wonach er fragt, und sich selbst infrage stellt: so Ödipus und seine
Art, nicht von der Sphinx loszukommen (zweite Macht des Rätsels).
3. Daher die Offenbarung des Seins als Entsprechung zur Frage, das sich
nicht auf das Befragte und nicht auf den Fragenden reduzieren läßt, sondern
sie in der Artikulation seiner eigenen Differenz vereint: I,CI 6,, was nicht
Nicht-Sein oder Sein des Negativen ist, sondern Nicht-Seiendes oder Sein

. v. Salomon
l5 Anspielung auf die Romane von E (Der Fragebogen, Hamburg 1951)
u n d R . Pinget (L’hquisitoire, Paris 1962; dt. : hquisitorium, Hamburg 1965)
[A.d.ü.].
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 249

der Frage (so Odysseus und die Antwort ,,Niemand“ - dritte Macht, die der
philosophischen Odyssee).
Doch diese moderne Ontologie hat ihre Schwächen. Sie spielt zuweilen das
Unbestimmte als objektive Macht der Frage aus, um allerdings ein völlig
vages Subjektives passieren zu lassen, das sie dem Sein zugutehält, und
dabei die Kraft der Wiederholung durch die Kümmerlichkeit eines Nach-
Ieierns oder die Stereotypien eines neuen Gemeinsinns ersetzt. Außerdem
widerfährt es ihr sogar, daß sie den Komplex auflöst, daß sie das Bemühen
um die Fragen der Religiosität einer schönen Seele anvertraut, indem sie die
Probleme auf äußere Hindernisse abwälzt. Was wäre jedoch eine Frage,
wenn sie sich nicht unter problematisierenden Feldern entwickeln würde,
die allein sie in einer charakteristischen “Wissenschaft“ zu bestimmen ver-
mögen? Die schöne Seele kommt nicht davon los, sich ihre ureigene Frage,
die Frage nach dem Verlöbnis zu stellen; wieviele Bräute aber verschwan-
den oder wurden verlassen, sobald die Frage ihr passendes Problem fand,
das auf sie reagierte, sie korrigierte und um die ganze Differenz eines
Gedankens verschob (so etwa Prousts Held mit der Frage ,,Werde ich
Albertine heiraten?“, einer Frage, die er aber im Problem des geplanten
Kunstwerks entfaltet, in dem die Frage selbst eine radikale Metamorphose
durchläuft). Wir müssen unsere Suche-darauf lenken, wie sich die Fragen als
Probleme in einer Idee entfalten, wie sich die Probleme als Fragen im Den-
ken einhüllen. Und auch hier muß man das klassische Bild des Denkens
einem anderen Bild gegenüberstellen, dem Bild, das von jener Wiedergeburt
der Ontologie heute nahegelegt wird.
Denn von Platon bis zu den Postkantianern hat die Philosophie die Bewe-
gung des Denkens als einen gewissen Übergang vom Hypothetischen zum
Apodiktischen definiert. Selbst das kartesianische Unternehmen - vom Zwei-
fel zur Gewißheit zu gelangen - ist eine Variante dieses Übergangs. Eine
andere Variante ist der Übergang von der hypothetischen Notwendigkeit
zur metaphysischen Notwendigkeit im radikalen Ursprung. Aber bereits bei
Platon definierte sich die Dialektik folgendermaßen: von Hypothesen ausge-
hen, sich der Hypothesen als Sprungbretter, d.h. als ,,Probleme“ bedienen,
um bis zum an-hypothetischen Prinzip aufzusteigen, das die Lösung der
Probleme ebenso Wie die Wahrheit der Hypothesen bestimmen soll; die
ganze Struktur des Parmenides leitet sich daraus ab, und zwar unter Bedin-
gungen, die es von nun an unmöglich machen, darin - wie man es doch so
leichthin getan hat - ein Spiel, eine Propädeutik, eine Gymnastik, eine for-
male Übung zu sehen. Kant selbst ist platonischer, als er denkt, wenn er
von der Kritik der reinen Vernunft, die gänzlich der hypothetischen Form
der möglichen Erfahrung verschrieben ist, zur Kritik der praktischen Ver-
nunft übergeht, in der er mit Hilfe von Problemen die pure Notwendigkeit
eines kategorischen Prinzips entdeckt. Um so mehr noch die Postkantianer,
wenn sie an Ort und Stelle, und ohne die ,,Kritik“ zu wechseln, die
Umwandlung des hypothetischen Urteils in ein thetisches Urteil vollziehen
250 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

wollen”. Es ist also durchaus gerechtfertigt, auf diese Weise die Bewegung der
Philosophie von Platon über Descartes bis zu Fichte oder Hegel ZU resümie-
ren, wie verschieden die Anfangshypothesen und die apodiktischen Endurteile
auch sein mögen. Es gibt zumindest eine Gemeinsamkeit: den in einer ,,Hypo-
these“ gefundenen Ausgangspunkt, d.h. in einem Satz des Bewußtseins, das
von einem Unsicherheitskoeffizienten (und sei es der kartesianische Zweifel)
affiziert wird; und den in einem apodiktischen Urteil oder einem Imperativ
eminent moralischer Natur gefundenen Endpunkt (das Gut-Eine Platons, der
nicht täuschende Gott des kartesianischen Cogito, das Prinzip des Besten bei
Leibniz, Kants kategorischer Imperativ, Fichtes Ich, Hegels ,,Wissenschaft“).
Nun steht dieses Verfahren in engster Berührung mit der wahren Bewegung
des Denkens, verrät und verfälscht sie aber auch in höchstem Maße; diese
Gemeinschaft aus Hypothetismus und Moralismus, dieser wissenschaftliche
Hypothetismus und dieser rationalistische Moralismus machen unkenntlich,
woran sie sich annähern.
Wenn wir sagen: die Bewegung verläuft nicht vom Hypothetischen zum
Apodiktischen, sondern vom Problematischen zur Frage - so scheint der
Unterschied zunächst sehr fein zu sein. Umso feiner noch, als die Frage -
wenn das Apodiktische nicht von einem moralischen Imperativ zu lösen ist -
ihrerseits nicht von einem Imperativ, wenn auch anderer Art, zu trennen ist.
Dennoch besteht eine Kluft zwischen diesen Formeln. In der Gleichsetzung
des Problems mit einer Hypothese liegt bereits der Verrat gegenüber dem

l6 Zu Platon vgl. Politeia VI, 511 b: ,,[. . .] der denkende Geist [. . .] verwendet die
Hypothesen nicht als Prinzipien, sondern als echte Hypothesen, wie Stützpunkte
und Sprungbretter; mit ihrer Hilfe dringt er bis zum anhypothetischen Urbeginn des
Ganzen vor, hält sich an diesem Prinzip und dann wieder an dem, was von ihm
abhängt, und steigt so wieder herab und zurück zum Ende [. . .] @it. nach der
neueren Übersetzung von Karl Vretska, Stuttgart 1978~, im Sinne der Terminologie
Deleuzes leicht verändert; d.Ü.). - Dieser Text wurde ausfühlich von Proclus kom-
mentiert, der ihn als Darstellung der Methode des Parmenides begreift und sich
seiner bedient, um die bereits zu seiner Zeit gängigen formalen oder skeptischen
Deutungen zu denunzieren: Es ist klar, daß das Eine, wie es in den Hypothesen des
Parmenides dargestellt wird, nicht dem anhypothetischen Einen entspricht, bei dem
der Dialektiker von Hypothese zu Hypothese fortschreitend endet und das die
Wahrheit jeder einzelnen prüft. Vgl. Proclus: Commentaire SW Le Pawzenide de
Platon, 2 Bde., Leiden I%Q/Leuven 1985.
Zur Umwandlung des hypothetischen Urteils in ein kategorisches in der Philosophie
Maimons und Fichtes vgl. Martial Gu&oult: L’&olution et la structure de la Doc-
trine de La Science cbez Fichte, Paris WO, Bd. 1, S. 127ff.
Zu Hegel und der analogen Umwandlung vgl. das Verhältnis von Ansich und
Fürsich in der P h ä n o m e n o l o g i e ; das Verhältnis zwischen der Phänomenologie selbst
und der Logik; die hegelsche Vorstellung von ,,Wissenschaft” und den Übergang
vom empirischen Satz zum spekulativen Satz.
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 251

Problem oder der Idee, der illegitime Prozeß ihrer Reduktion auf Sätze des
Bewußtseins und auf Repräsentationen des Wissens: Das Problematische
unterscheidet sich wesentlich vom Hypothetischen. D a s Thematische ver-
schmilzt keineswegs mit dem Thetischen. Und was in diesem Unterschied
auf dem Spiel steht, ist die gesamte Aufteilung, die ganze Bestimmtheit, der
ganze Zweck, der gesamte Gebrauch der Vermögen in einer Lehre über-
haupt. Es sind überdies sehr verschiedene Dinge, von der apodiktischen
Instanz oder der Frage-Instanz zu sprechen, weil es sich dabei um zwei in
jeder Hinsicht unvergleichbare Imperativformen handelt. Die Fragen sind
Imperative, oder eher: die Fragen drücken das Verhältnis der Probleme zu
den Imperativen, aus denen sie hervorgehen, aus. Muß man das Beispiel der
Polizei bemühen, um die imperative Natur der Fragen zu demonstrieren?
,,Ich bin es, der hier die Fragen stellt”, in Wahrheit aber ist es bereits das
aufgelöste Ich des Befragten, das durch seinen Peiniger hindurch spricht. Die
Probleme oder Ideen stammen aus zufälligen Imperativen oder Ereignissen,
die sich als Fragen präsentieren. Darum sind die Probleme nicht von einer
Entscheidungsgewalt zu lösen, von einem fiat, das uns zu halbgöttlichen
Wesen macht, wenn es uns durchfährt. Zählt sich der Mathematiker nicht
bereits zum Geschlecht der Götter? In den beiden grundlegenden Verfahren
der Adjunktion und Verdichtung wird am höchsten Punkt jene Entschei-
dungsgewalt, die sich in der Natur der zu lösenden Probleme gründet, aus-
geübt, da eine Gleichung ja stets im Verhältnis zu einem vom Mathematiker
adjungierten idealen Körper reduzierbar oder nicht reduzierbar wird.
Unendliche Macht, eine willkürliche Quantität hinzuzufügen: Es handelt
sich nicht mehr um ein Spiel nach leibnizscher Art, in dem sich der morali-
sche Imperativ vorbestimmter Regeln mit der Bedingung eines gegebenen
Raums kombiniert, der ex hypothesi gefüllt werden muß. Es handelt sich
eher um einen Würfelwurf und um den gesamten Himmel als offenen Raum
und um den Wurf als einzige Regel. Die singulären Punkte stehen auf dem
Würfel; die Fragen sind die Würfel selbst; der Imperativ ist der Wurf. Die
Ideen sind die problematischen Kombinationen, die aus den Würfen resultie-
ren. Und zwar deswegen, weil der Würfelwurf nicht im geringsten den
Zufall (den Zufallshimmel) abschaffen will. Den Zufall abschaffen heißt, ihn
nach den Wahrscheinlichkeitsregeln in meherere Würfe zu zerlegen, so daß
das Problem darin bereits in Hypothesen, in Hypothesen von Gewinn und
Verlust, zergliedert und der Imperativ im Prinzip einer Wahl des Besten
moralisiert ist, das den Gewinn bestimmt. Demgegenüber bejaht der Würfel-
wurf in einem einzigen Mal den Zufall, jeder Würfelwurf bejaht jedesmal
den ganzen Zufall. Die Wiederholung der Würfe unterliegt nicht mehr dem
Fortbestand ein und derselben Hypothese oder der Identität einer konstan-
ten Regel. Das schwierigste ist, aus dem Zufall ein Objekt von Bejahung zu
machen, dies aber ist der Sinn des Imperativs und der Fragen, die er auf-
wirft. Die Ideen stammen daher, wie die Singularitäten jenem aleatorischen
Punkt entstammen, der jedesmal den ganzen Zufal1 in einem einzigen Mal
252 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

verdichtet. Man wird sagen, daß wir dadurch, daß wir diesem Punkt den
imperativen Ursprung der Ideen zumessen, nur das Willkürliche, das bloß
Willkürliche eines Kinderspiels, das Gott-Kind geltend machen. Damit aber
mißverstünde man, was ,,bejahen“ bedeutet. Es gibt Willkürliches im Zufall
nur, insofern er nicht bejaht, nicht genügend bejaht wird, insofern er in
einem Raum, auf eine Zahl und unter Regeln aufgeteilt wird, die ihn
beschwören sollen. Wird der Zufall genügend bejaht, so kann der Spieler
nicht mehr verlieren, da jede Kombination und jeder Wurf, der sie
erzeugt, von Natur aus dem beweglichen Ort und dem beweglichen Gebot
des aleatorischen Punkts entsprechen. Was heißt also: den ganzen Zufall
jedesmal, in einem einzigen Mal bejahen ? Diese Bejahung bemißt sich an
der Herstellung von Resonanz zwischen den disparaten Momenten, die
dem selben Wurf entstammen und unter dieser Bedingung ein Problem bil-
den. Der ganze Zufall liegt also tatsächlich in jedem Wurf, auch wenn die-
ser partiell ist, und er liegt darin mit einem einzigen Mal, auch wenn die
erzeugte Kombination Gegenstand einer progressiven Bestimmung ist. Der
Würfelwurf vollführt das Kalkül der Probleme, die Bestimmung der diffe-
rentiellen Elemente oder die Verteilung der singulären Punkte, die für eine
Struktur konstitutiv sind. Auf diese Weise bildet sich die zirkuläre Relation
der Imperative mit den Problemen, die sich daraus ergeben. Die Resonanz
konstituiert die Wahrheit eines Problems als solchen, in der sich der Impe-
rativ erprobt, obwohl das Problem selbst aus dem Imperativ hervorgeht.
Ist der Zufall bejaht, so ist jedesmal alles Willkürliche abgeschafft. Ist der
Zufall bejaht, so ist die Divergenz selbst Gegenstand von Affirmation in
einem Problem. Die idealen Adjunktionskörper, die ein Problem bestim-
men, würden dem Willkürlichen ausgeliefert bleiben, wenn der Grundkör-
per nicht in Resonanz geriete, indem er sich all die durch den adjungierten
Körper ausdrückbaren Größen einverleibt. Ein Werk schlechthin ist stets,
an ihm selbst, ein idealer Körper, ein idealer Adjunktionskörper. Das
Werk ist ein aus dem Imperativ entstandenes Problem, es ist umso perfek-
ter und vollkommener mit einem Wurf, je besser das Problem progressiv
als Problem bestimmt ist. Der Autor des Werks kann also sehr wohl Ope-
rator der Idee genannt werden. Wenn Raymond Roussel seine ,,Faktenglei-
chungen“ als zu lösende Probleme aufstellt, als ideale Fakten oder Ereig-
nisse, die unter der Einwirkung eines Sprachimperativs in Resonanz gera-
ten, als Fakten, die selbst ein fiat s i n d ; wenn, sich viele moderne
Romanautoren an jenem aleatorischen Punkt, an jenem ,,blinden“, gebie-
tenden, fragenden Fleck einrichten, von dem aus sich das Werk als Pro-
blem entfaltet, indem es seine divergenten Reihen widerhallen läßt - so
betreiben sie keine angewandte Mathematik, formulieren sie keinerlei ma-
thematische oder physikalische Metapher, sondern errichten jene ,,Wissen-
schaft“, universale mathesis, die jedem Gebiet unmittelbar zugehört, so
machen sie das Werk zu einem Lernen und einem Experiment und zugleich
zu etwas, das mit jedem Mal total ist, wo der Zufall in jedem Fall bejaht
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 253

wird, jedesmal wiederholbar ist, ohne daß jemals ein Willkürliches fortbesteht,
vielleicht”.
Diese Entscheidungsgewalt im Kern der Probleme, diese Schöpfung, dieser
Wurf, der uns zum Geschlecht von Göttern macht - sie ist dennoch nicht
unsere. Die Götter selbst sind der Ananke unterworfen, d. h. dem Zufallshim-
mel. Die Imperative oder Fragen, die uns durchdringen, entstammen nicht
dem Ego, es ist nicht einmal geschaffen, sie zu vernehmen. Die Imperative
gehören zum Sein, jede Frage ist ontologisch und verteilt ,,das, was ist“, auf
die Probleme. Die Ontologie ist der Würfelwurf - Chaosmos, dem der Kos-
mos entspringt. Wenn die Imperative des Seins einen Bezug zum Ego unter-
halten, so zum gespaltenen Ego, dessen Riß sie jedesmal gemäß der Ordnung
der Zeit verschieben und wiederherstellen. Die Imperative bilden also die
cogitanda des reinen Denkens, die Differentiale des Denkens, zugleich das,
was nicht gedacht werden kann, was aber gedacht werden muß und vom
Standpunkt-des transzendenten Gebrauchs aus nur gedacht werden kann. Und
die Fragen sind diese reinen Gedanken der cogitanda. Die Imperative in
Frageform meinen also meine größte Ohnmacht, zugleich aber jenen Punkt,
von-dem Maurice Blanchot fortwährend spricht, jenen ursprünglichen, blin-
den, azephalen, aphatischen aleatorischen Punkt, der die ,,Unmöglichkeit zu
denken, was das Denken ist“, bezeichnet, sich im Werk als Problem entfaltet
und in dem sich die ,,Unfähigkeit“ in Macht umwandelt. Die Imperative
verweisen keineswegs auf das Cogito als Satz des Bewußtseins, sondern wen-
den sich ans gespaltene Ego wie ans Unbewußte des Denkens. Denn das Ego
hat das Recht zu einem Unbewußten, ohne das es nicht denken würde und vor
allem nicht das reine cogitandum denken würde. Im Gegensatz dazu, was der
platte Satz des Bewußtseins aussagt, denkt das Denken nur von einem Unbe-
wußten aus und denkt dieses Unbewußte im transzendenten Gebrauch. Ge-
nauso sind die Ideen, die sich aus den Imperativen ergeben, keineswegs Eigen-
schaften oder Attribute einer denkenden Substanz, sondern betreten und ver-
lassen das Ego durch diesen Spalt, nichts weiter, was dazu führt, daß stets ein
anderer in mir denkt, der selbst gedacht werden muß. Am Anfang des Den-

” Zitieren wir als Beispiel den Roman Drame von Philippe Sollers (Paris 1965; dt.:
Drama, Frankfurt/M. 1968). Dieser Roman nimmt eine Formel von Leibniz zum
Motto: ,,Denn nehmen wir beispielsweise an, einer mache aufs Geratewohl eine
bestimmte Menge Punkte aufs Papier . . . ich sage, daß es möglich ist, eine geometri-
sche Linie zu finden, deren stetige, gleichförmige Aufzeichnung einer bestimmten
Regel folgt, derart, daß diese Linie durch alle jene Punkte geht [. . .]“ (dt.: S. 138).
Der ganze Anfang des Buchs ist auf die beiden Formeln hin angelegt: ,,Problem . . . “
und ,,Fehlgeschlagen . . . “. Reihen nehmen in Zusammenhang mit den singulären
Punkten des Körpers des Erzählers Gestalt an, eines idealen Körpers, ,,eher gedacht
als wahrgenommen“. - Zum ,,blinden Fleck“ als Ursprungspunkt des Werks vgl. die
Stellungnahmen von Philippe Sollers und Jean-Pierre Faye in Dibat sur Ie roman
(Tel Quel 17, 1964).
254 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

kens steht der Diebstahl. Natürlich kann die Ohnmacht Ohnmacht bleiben,
aber auch nur sie allein kann zur höchsten Macht angehoben werden. Genau
dies ist es, was Nietzsche unter Machtwillen verstand: jene imperativische
Umwandlung, die die Ohnmacht selbst zum Gegenstand nimmt (sei feige,
faul, gehorsam, wenn Du willst! vorausgesetzt . . .) - jener Würfelwurf, der
den ganzen Zufall zu bejahen vermag, jene Fragen, die uns in hitzigen oder
eisigen Stunden durchdringen, jene Imperative, die uns den Problemen auslie-
fern, die sie aufwerfen. Denn ,,[e]s gibt etwas Unbelehrbares im Grund des
Geistes: einen Granit von Fatum, von vorausbestimmter Entscheidung aller
Probleme im Mass und Verhältnis zu uns, und ebenso ein Anrecht auf
bestimmte Probleme, eine eingebrannte Abstempelung derselben auf unseren
Namen” “.

Wie enttäuschend aber scheint die Antwort zu sein. Wir fragten nach dem
Ursprung der Ideen, nach der Herkunft der Probleme; und wir berufen uns
auf Würfelwurf, auf Imperative und Fragen des Zufalls anstatt auf ein apodik-
tisches Prinzip, auf einen aleatorischen Punkt, wo alles zu-Grunde-geht
[effonde], anstatt auf einen soliden Grund. Wir stellen diesen Zufall dem
Willkürlichen in dem Maße gegenüber, wie er bejaht, imperativisch bejaht
wird, bejaht nach jenem ganz besonderen Modus der Frage; diese Bejahung
selbst aber bemessen wir an der Resonanz, die sich zwischen den aus dem
Würfelwurf stammenden problematischen Elementen herstellt. In welchem
Zirkel drehen wir uns, so daß wir nicht anders vom Ursprung sprechen
können? Wir haben vier Instanzen unterschieden: die imperativischen, ontolo-
gischen Fragen; die dialektischen Probleme oder die Themen, die daraus
hervorgehen; die symbolischen Felder der Lösbarkeit, in denen sich diese
Probleme ,,wissenschaftlich“, in Abhängigkeit von ihren Bedingungen aus-
drücken; die Lösungen, die sie in diesen Feldern erhalten, indem sie sich in der
Aktualität der Fälle verkörpern. Was aber sind, schon am Ursprung, jene
flammenden Imperative, jene Fragen, die Weltanfänge sind? Denn jedes Ding
beginnt in einer Frage, man kann aber nicht sagen, daß die Frage selbst
beginne. Hätte die Frage, wie der Imperativ, den sie ausdrückt, keinen anderen
Ursprung als die Wiederholung? Großen Autoren unserer Zeit kommt es ZU,
jenes innigste Verhältnis zwischen Frage und Wiederholung hergestellt zu
haben (Heidegger, Blanchot). Nicht jedoch daß es genüge, ein und dieselbe
Frage zu wiederholen, die man am Ende unbeschädigt wiederfinden würde,
wie etwa Wie steht es ums Sein? Es sind die schlechten Würfe, die sich in

18 Nietzsche*. Gesammelte Werke (Musarionausgabe), Bd. 16, München 1925, S. 35.


IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 255

dieselben Hypothesen einschreiben (welche die Satze des Bewußtseins oder


die Meinungen eines Gemeinsinns repräsentieren) und sich demselben apo-
diktischen Prinzip (das die Bestimmung des Gewinns repräsentiert) mehr
oder weniger - annähern. Es sind die schlechten Spieler, die nur dadurch
wiederholen, daß sie den Zufall immer wieder in mehere Würfe zerlegen.
Demgegenüber bejaht der gute Würfelwurf den ganzen Zufall mit einem Mal;
und gerade hierin liegt das Wesen dessen, was man Frage nennt. Dennoch
gibt es mehrere Würfe, der Würfelwurf wiederholt sich. Jeder aber packt den
Zufall in einem einzigen Mal, und anstatt das Differente, verschiedene Kom-
binationen, als Resultat des Selben zu erhalten, erhält er dasselbe oder die
Wiederholung als Resultat des Differenten. In diesem Sinn steht die der Frage
gleichwesentliche Wiederholung am Ursprung der ,,Perplikation“ der Ideen.
Das Differentielle der Idee ist selbst nicht vom Wiederholungsprozeß trenn-
bar, der bereits den Würfelwurf definiert. Im Kalkül gibt es eine Iteration, in
den Problemen eine Wiederholung, die selber die Wiederholung der Fragen
oder Imperative reproduziert, aus denen sie hervorgehen. Doch ist dies auch
hier keine gewöhnliche Wiederholung. Das Gewöhnliche ist die Verlänge-
rung, die Fortsetzung, jene Länge der Zeit, die sich als Dauer erstreckt:
nackte Wiederholung (sie kann diskontinuierlich sein, bleibt aber grundsätz-
lich Wiederholung des Selben). Welches aber verlängert sich auf diese Weise?
Eine Singularität, und zwar bis in die Nachbarschaft einer anderen Singulari-
tät. Die wechselseitige Wiederaufnahme der Singularitäten, die wechselseitige
Verdichtung der Singularitäten, im selben Problem oder in derselben Idee
ebenso wie von einem Problem zum anderen, von einer Idee zur anderen,
definiert demgegenüber die außerordentliche Macht der Wiederholung, die
verkleidete Wiederholung, die tiefer liegt als die nackte Wiederholung. Die
Wiederholung ist jener Wurf der Singularitäten, stets in einem Echo, in einer
Resonanz, die aus jeder den Doppelgänger der anderen, aus jeder Konstella-
tion die Neuverteilung der anderen macht. Und es ist einerlei, ob man auf der
Ebene der Probleme die verkleidete Wiederholung tiefer ansetzt, oder ob man
auf der Ebene der Fragen, aus denen sie hervorgehen, die Wiederholung als
Resultat des Differenten ansieht.
Heidegger zeigt deutlich, wie sich die Wiederholung der Frage selber in der
Bindung des Problems an die Wiederholung entfaltet: ,,Unter der Wiederho-
lung eines Grundproblems verstehen wir die Erschließung seiner ursprüngli-
chen, bislang verborgenen Möglichkeiten, durch deren Ausarbeitung es ver-
wandelt und so erst in seinem Problemgehalt bewahrt wird. Ein Problem
bewahren heißt aber, es in denjenigen inneren Kräften frei und wach halten,
die es als Problem im Grunde seines Wesens ermöglichen. Die Wiederholung
des Möglichen bedeutet gerade nicht das Aufgreifen dessen, was ,gang und
gäbe’ ist. [. . .] Das Mögliche in dieser Bedeutung verhindert gerade eine echte
Wiederholung und damit überhaupt ein Verhältnis zur Geschichte. [. . . Eine
richtige Deutung muß demgegenüber entscheiden], wie weit das alle Wieder-
holung leitende Verstehen des Möglichen reicht und ob es dem Wiederholba-
256 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ren gewachsen ist“‘? Was ist dieses Mögliche im Kern des Problems, das sich
den Möglichkeiten oder Sätzen des Bewußtseins, den Meinungen, die gang
und gäbe sind und Hypothesen bilden, entgegenstellt? Nichts anderes als die
Potentialität der Idee, ihre bestimmbare Virtualität. Damit ist Heidegger
Nietzscheaner. Wovon wird die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft
ausgesagt, wenn nicht vom Willen zur Macht, von der Welt des Machtwillens,
sein en Imperativen und Würfen und von seinen au s dem Wurf hervorgegange-
n e n Problemen ? Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft meint niemals
die Fortsetzung, den Fortbestand, die Verlängerung, sie meint nicht einmal die
diskontinuierliche Wiederkehr von etwas, das zumindest fähig wäre, sich in
einem partiellen Zyklus fortzusetzen (eine Identität, ein Ego, ein Ich); sie
meint vielmehr im Gegenteil die Wiederaufnahme von präindividuellen Singu-
laritäten, die zunächst - damit sie als Wiederholung gefaßt werden kann - die
Auflösung aller vorgängigen Identitäten bedingt. Jeder Ursprung ist eine Sin-
gularität, jede Singularität ist ein Anfang auf der horizontalen Linie, der Linie
der gewöhnlichen Punkte, auf der er sich wie ebenso viele Reproduktionen
oder Kopien fortsetzt, die die Momente einer nackten Wiederholung bilden.
Aber er ist ein Wiederanfang auf der vertikalen Linie, die die Singularitäten
verdichtet und auf der sich die andere Wiederholung entspinnt, der Linie der
Zufallsbejahung. Wenn das ,,Seiende“ zunächst Differenz und Anfang ist, so
ist das Sein selbst Wiederholung, Wiederanfang des Seienden. Die Wiederho-
lung ist das ,,vorausgesetzt“ der Bedingung, die die Imperative des Seins
beglaubigt. Stets ist dies die Ambiguität des Ursprungsbegriffs und der Grund
unserer vorangehenden Enttäuschung: Ein Ursprung wird nur in einer Welt
festgesetzt, die das Original ebenso wie die Kopie anficht, ein Ursprung setzt
einen Grund nur in einer Welt fest, die bereits in das universale Zu-Grunde-
Gehen gestürzt ist.
Daraus resultiert eine letzte Konsequenz, die den Status der Negation betrifft.
ES gibt ein Nicht-Sein, und dennoch gibt es kein Negatives und keine Nega-
tion ES gibt ein Nicht-Sein, das in keiner Weise das Sein des Negativen,
sondern das Sein des Problematischen ist. Dieses (Nicht)-Sein, dieses ?-Sein
hat das Symbol O/O. Die Null bezeichnet hier nur die Differenz und ihre.
Wiederholung. Im sogenannten expletiven NE, mit dessen Deutung die
Grammatiker soviel Mühe haben, begegnet man jenem (Nicht)-Sein, das der
Form eines problematischen Feldes entspricht, obwohl die Modalitäten des
Satzes dazu neigen, es mit einem negativen Nicht-Sein gleichzusetzen: Immer
in Bezug auf Fragen, die in Problemen entfaltet werden, erscheint ein expleti-
ves NE im Satz als Zeuge einer extrapropositionalen grammatischen Instanz 20 .
Das Negative ist eine Illusion: Es ist nur der Schatten der Probleme. Wir

19 M . Heidegger. Kant und das Problem der Metaphysik , Frankfurt/M. 1951, S. 185.
20 In der französischen Verneinung ne . . . pas ist das ne nicht die eigentliche Instanz
der Negation; es erscheint zuweilen in Nebensätzen alleine, und zwar in Abhängig-
keit von einer Problematisierung, die durch den Hauptsatz vorgegeben ist [A.d.Ü.].
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 257

haben gesehen, wie das Problem notwendig durch die möglichen Sätze ver-
deckt wurde, die den Lösungsfällen entsprechen; anstatt als Problem gefaßt zu
werden, erscheint es dann nurmehr als Hypothese, als Reihe von Hypothesen.
Als Satz des Bewußtseins wird jede dieser Hypothesen von einem negativen
Doppelgänger flankiert: Wenn das Eine ist, wenn das Eine nicht ist . . . wenn
schönes Wetter ist, wenn kein schönes Wetter ist . . . Das Negative ist eine
Illusion, weil die Form der Negation zusammen mit den Sätzen auftaucht, die
das Problem, von dem sie abhängen, nur insofern ausdrücken, als sie es
verfalschen, seine tatsächliche Struktur verbergen. Sobald das Problem in eine
Hypothese übersetzt ist, wird jede hypothetische Bejahung von einer Nega-
tion verdoppelt, die nun den Status des durch seinen Schatten entstellten
Problems repräsentiert. Es gibt keine Idee von Negativem, ebensowenig eine
Hypothese in der Natur, wiewohl die Natur mittels Problemen verfährt.
Darum hat es keine besondere Bedeutung, ob das Negative als logische
Beschränkung oder realer Gegensatz begriffen wird. Betrachten wir die gro-
ßen Negativbegriffe, des Vielen im Verhältnis zum Einen, der Unordnung im
Verhältnis zur Ordnung, des Nichts im Verhältnis zum Sein: Es ist gleichgül-
tig, ob man sie als die Grenze einer Degradation oder als Antithese zu einer
These deutet. Allenfalls wird der Prozeß bald in der analytischen Substanz
Gottes, bald in der synthetischen Form des Ich begündet. Aber Gott oder Ich
sind dasselbe. In beiden Fällen verbleibt man im hypothetischen Element des
bloßen Begriffs, d em man einmal die unendlichen Abstufungen einer identi-
schen Repräsentation, einmal den unendlichen Gegensatz zweier konträrer
Repräsentationen unterordnet. Die Kritiken am Negativen sind also niemals
entscheidend, solange sie sich auf die Rechte eines ersten Begriffs (das Eine,
die Ordnung, das Sein) berufen; und sie sind es ebensowenig, solange sie sich
mit der Übersetzung des Gegensatzes in Beschränkung begnügen. Die Kritik
am Negativen ist effizient nur dann, wenn sie die Indifferenz von Gegensatz
und Beschränkung denunziert, wenn sie eben dadurch das hypothetische
begriffliche Element anprangert, das notwendig das eine oder das andere und
sogar das eine im anderen bewahrt. Kurz, die Kritik am Negativen muß von
der Idee aus, vom ideellen, differentiellen und problematischen Element aus
geübt werden. Der Begriff von Mannigfaltigkeit ist es, der zugleich das Eine
und das Viele, die Beschränkung des Einen durch das Viele und den Gegensatz
von Vielem und Einem bloßstellt. Die Varietät ist es, die zugleich die Ord-
nung und die Unordnung denunziert, das (Nicht)-Sein, das ?-Sein ist es, das
zugleich das Sein und das Nicht-Sein denunziert. Überall muß das heimliche
Einverständnis von Negativem und Hypothetischem aufgelöst werden zugun-
sten einer tieferen Bindung des Problematischen an die Differenz. Denn die
Idee besteht aus reziproken Verhältnissen zwischen differentiellen Elementen,
die in diesen Verhältnissen durchgängig bestimmt sind, sie besteht aus Ver-
haltnissen, die nie irgendeinen negativen Term oder eine Relation von Negati-
vität enthalten. Wie plump erscheinen die Gegensätze, die Konflikte, die
Widersprüche im Begriff, als schwerfälliges Abwägen, als schwerfällige appro-
258 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ximative Maßstäbe gegenüber den feinen differentiellen Mechanismen, die die


Idee charakterisieren - die leichtbewegte. Wir müssen den Ausdruck Positivi-
tät für die Bezeichnung dieses Status der mannigfaltigen Idee oder dieser
Konsistenz des Problematischen reservieren. Und jedesmal müssen wir über
die Art und Weise wachen, wie dieses völlig positive (Nicht)-Sein einem
negativen Nicht-S ein z uneigt und daz u tendiert, mit seinem Sch atten zu ver-
schmelzen, dabei aber zugun sten der Illusion d.es Bewußtseins seine größte
Verfälschung erfährt.
Nehmen wir das heute so oft beanspruchte Beispiel der sprachlichen Idee. Die
sprachliche Idee, wie sie in der Phonologie definiert wird, trägt gewiß alle
Merkmale einer Struktur: das Vorhandensein differentieller Elemente, Pho-
neme genannt, die dem kontinuierlichen Lautstrom entnommen sind; die
Existenz von Differentialverhältnissen (distinktive Merkmale), die diese Ele-
mente reziprok und durchgängig bestimmen; der Wert von singulären Punk-
ten, der in dieser Bestimmung von den Phonemen angenommen wird (rele-
vante Besonderheiten); der Charakter von Mannigfaltigkeit des damit konsti-
tuierten Sprachsystems, sein problematischer Charakter, der objektiv die
Gesamtheit der Probleme repräsentiert, die sich die Sprache selbst stellt und in
der Ausbildung der Bedeutungen löst; der unbewußte, nicht aktuelle, virtuelle
Charakter der Elemente und Verhältnisse und ihre doppelte, transzendente
wie immanente Verfassung bezüglich der aktuellen artikulierten Laute; die
doppelte Aktualisierung von differentiellen Elementen, die zweifache Verkör-
perung der Differentialverhältnisse zugleich in den verschiedenen Sprachen
wie in den verschiedenen signifikativen Teilen derselben Sprache (Differenzie-
rung), wobei jede Sprache gewisse Verhältnisvarietäten und gewisse singuläre
Punkte verkörpert; die Komplementarität von Sinn und Struktur, von Genese
und Struktur, und zwar als passive Genese, die in dieser Aktualisierung zutage
tritt. - Trotz all dieser Gesichtspunkte nun, die eine gänzlich positive Mannig-
faltigkeit definieren, geschieht es fortwährend, daß die Linguisten in negativen
Begriffen sprechen und dabei die Differentialverhältnisse zwischen Phonemen
mit Oppositionsrelationen gleichsetzen. Man wird vielleicht sagen, daß es sich
hier nur um eine Frage terminologischer Konvention handelt und daß ,,Oppo-
sition“ für ,,Korrelation“ steht. Denn tatsächlich erscheint der Oppositionsbe-
griff bei den Phonologen einzig im Plural, relativiert, da jedes Phonem meh-
rere distinkte Oppositionen zu anderen Phonemen, unter jeweils verschiede-
nen Gesichtspunkten unterhält. In Trubetzkoys Klassifikation etwa ist die
Opposition derart in koexistierende Verhältnisvarietäten zergliedert und auf-
geteilt, daß sie nicht mehr als Gegensatz, sondern viel eher als komplexer oder
perplexer differentieller Mechanismus existiert. Ein Hegelianer wurde hierin
sein Lieblingkind, d. h. die Einheitlichkeit des großen Widerspruchs nicht
wiederfinden. Dennoch rühren wir an einen wesentlichen Punkt: Hier wie
anderswo, in der Phonologie wie in anderen Gebieten und anderen Ideen, geht
es um die Frage, ob man sich mit der Pluralisierung des Gegensatzes oder der
Überdeterminierung des Widerspruchs begnügen kann, mit deren Verteilung
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 259

auf verschiedene Figuren, die noch und trotz allem die Form des Negativen
bewahren. Uns scheint der Pluralismus ein weit gefährlicheres und folgen-
schwereres Verfahren zu sein: Man betreibt die Zersplitterung nicht ohne
Umsturz. Die Entdeckung einer Pluralität von koexistierenden Oppositionen
auf jedem Gebiet läßt sich nicht von einer noch tiefgreifenderen Entdeckung
trennen, der Entdeckung der Differenz, die das Negative und den Gegensatz
selbst als Schein im Verhältnis zum problematischen Feld einer positiven
Mannigfaltigkeit entlarvt21. Man pluralisiert den Gegensatz nicht, ohne dessen
Gebiet zu verlassen und in die Höhlen der Differenz einzutreten, die den
Widerhall ihrer reinen Positivität ertönen lassen und den Gegensatz als ein
bloß von außen gesehenes Schattenloch abweisen.
Kommen wir also zur sprachlichen Idee zurück: Warum fügt Saussure gerade
dann, als er entdeckt, ,, daß es in der Sprache nur Differenzen gibt“, hinzu,
diese Differenzen seien ohne ,,positive Terme“, ,,auf ewig negativ“? Warum
hält Trubetzkoy als geheiligtes Prinzip aufrecht, daß die für die Sprache
konstitutive ,,Idee von Differenz“ eine ,,Idee von Gegensatz bedingt”? Alles
belegt das Gegenteil. Wird damit nicht der Standpunkt des aktuellen Bewußt-
seins und der aktuellen Repräsentation dort wiedereingeführt, wo die trans-
zendente Erforschung der Idee des sprachlichen Unbewußten, d.h. der
höchste Gebrauch der Rede [parole] im Verhältnis zum Nullpunkt der Spra-
che [langage] geschehen sollte? Wenn wir die Differenzen als negative und
unter der Kategorie des Gegensatzes deuten, stehen wir dann nicht bereits auf
Seiten desjenigen,
- der zuhört, der nicht einmal richtig- verstanden hat, der
zwischen mehreren möglichen aktuellen Versionen zögert, der sich darin
,,wiederzuerkennen“ versucht, indem er Gegensätze aufstellt, die kleine Seite
der Sprache und nicht die Seite desjenigen, der spricht und den Sinn festlegt?

* In der Klassifikation von multiplen Oppositionen, die für jedes Gebiet gilt, ist
niemand weiter gegangen als Gabriel Tarde: Er unterscheidet in formaler Hinsicht
statische Oppositionen (Symmetrien) oder dynamische Oppositionen; sukzessive
dynamische Oppositionen (Rhythmen) oder simultane; lineare simultane Opposi-
tionen (Polaritäten) oder strahlenförmige. In materieller Hinsicht serielle qualitative
Oppositionen oder quantitative; quantitative Oppositionen nach Grad oder Stärke.
Vgl. G. Tarde: L’opposition universelle, Paris 1897.
Tarde scheint uns der einzige zu sein, der die Konsequenz einer derartigen Klassifi-
kation herausstellt: Die Opposition, alles andere als autonom, als ein Maximum an
Differenz, ist eine minimale Wiederholung im Verhältnis zur Differenz selbst.
Daher die Setzung der Differenz als Realität eines virtuellen multiplen Feldes und
die Bestimmung von Mikroprozessen in jedem Gebiet, wobei die Oppositionen nur
summarische Resultate oder vereinfachte und vergröberte Prozesse sind. Zur
Anwendung dieser Gesichtspunkte auf die Sprache und zum Prinzip einer Mikro-
linguistik vgl.: Les ZoZs sociales, Paris 1898,s. 150 ff. - Offenbar nimmt Georges
Gurvitch in vielerlei Hinsicht einen Gedankengang auf, der dem Tardes nahesteht,
und zwar in: Dialectique et Sociologie, Paris 1962.
260 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Haben wir nicht bereits die Natur des Sprachspiels verraten, d.h. den Sinn
dieser Kombinatorik, dieser Imperative oder dieser sprachlichen Würfe, die
wie die Schreie Artauds nur durch denjenigen aufgefaßt werden können,
der im transzendenten Gebrauch spricht? Kurz, die Übersetzung der Diffe-
renz in den Gegensatz scheint uns keineswegs eine bloße Frage von Termi- \
nologie oder Konvention zu betreffen, sondern tatsächlich das Wesen der
Sprache und der sprachlichen Idee. Wenn man die Differenz als einen
Gegensatz liest, hat man sie bereits der ihr eigentümlichen Dichte beraubt,
in der sie ihre Positivität bejaht. Der modernen Phonologie fehlt eine
Dimension, die sie daran hindern würde, auf einer einzigen Ebene mit
Schatten zu spielen. Dies ist es in gewisser Hinsicht, was der Linguist
Gustave Guillaume immer wieder in seinem ganzen Werk ausgesprochen
hat, dessen Bedeutung man heute zu erkennen beginnt. Denn der Gegen-
satz gibt uns in keiner Weise Aufschluß über die Natur dessen, was angeb-
lich entgegengesetzt ist. Die Selektion der Phoneme, die in dieser oder jener
Sprache einen relevanten Wert besitzen, läßt sich nicht von den Morphemen
als Elementen grammatischer Konstruktionen trennen. Nun sind die Mor-
pheme, die ihrerseits die virtuelle Gesamtheit der Sprache ins Spiel bringen,
Gegenstand einer progressiven Bestimmung, die sich in ,,differentiellen
Schwellen“ vollzieht und eine rein logische Zeit impliziert, die die Genese
oder Aktualisierung zu messen vermag. Die formale Wechselbestimmung
der Phoneme verweist auf diese progressive Bestimmung, die die Ein-
wirkung des virtuellen Systems auf den Phonischen Stoff ausdrückt; und
nur wenn man die Phoneme abstrakt betrachtet, d.h. wenn man das Vir-
tuelle auf ein bloßes Mögliches reduziert hat, haben ihre Relationen die
negative Form eines leeren Gegensatzes und besetzen nicht mehr die diffe-
rentiellen Positionen um eine Schwelle. Die Ersetzung des Prinzips distink-
tiver Opposition durch ein Prinzip differentieller Position ist der grundle-
gende Beitrag von Guillaumes Werk22. Diese Ersetzung geschieht in dem
Maße, wie die Morphologie nicht bloß die Phonologie fortsetzt, sondern
spezifisch problematische Werte einführt, die die signifikative Selektion der
Phoneme bestimmen. Von diesem linguistischen Standpunkt aus wird für
uns die notwendige Auflösung des Nicht-Seins bestätigt: einerseits in einem
NE, das man ,,diskordantiell“, dispars oder differentiell nennen konnte,
nicht negativ, in einem problematischen NE, das (Nicht)-Sein oder ?-Sein

22 Vgl. insbesondere Gustave Guillaume: Confrences de I’hstitut de Linguistique de


Paris, 1939. - Eine Interpretation von Guillaumes Werk befindet sich im schönen
Buch von Edmond Ortigues: Le discours et Ze Symbole, Paris 1962. Zum expletiven
NE und zur Verneinung vgl. ebenso Ortigues, S. 102-109; und in der Zitation durch
Ortigues: Jacques Damourette/Edouard Pichen: Essai de grammaire de Za Zangue
frangaise, Paris 1911-1952, Bd. 6, Kap. 4 und 5. Die Unterscheidung von ,,diskor-
dantiell“ und ,,verwerfend“ verdankt man Damourette und Pichen.
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 261

geschrieben werden muß; andererseits in einem sogenannten ,,verwerfenden”


PAS23, das Nicht-Sein geschrieben werden muß, im generierten Satz aber nur
das Resultat des vorangehenden Prozesses markiert. In Wahrheit ist es nicht
das expletive NE, das einen besonderen, schwer erklärbaren Fall von Vernei-
nung darstellt; das expletive NE ist im Gegenteil der ursprüngliche Sinn,
woraus nun die Negation PAS resultiert, aber als notwendige Konsequenz wie
als unvermeidliche Illusion zugleich. ,,Ne . . .pas” unterteilt sich in das proble-
matische NE und das negative PAS als den beiden Instanzen, die einander
wesentlich unterscheiden und deren letztere die erste nur insofern anzieht, als
sie sie entstellt.
Die Genese des Negativen vollzieht sich folgendermaßen: Die Bejahungen
des Seins sind genetische Elemente in Form von imperativen Fragen; sie
entfalten sich in der Positivität von Problemen; die Sätze des Bewußtseins
entsprechen generierten Bejahungen, die die Lösungsfälle bezeichnen. Jeder
Satz aber besitzt eben einen negativen Doppelgänger, der den Schatten des
Problems im Bereich der Lösungen ausdrückt, d.h. die Art und Weise, wie
das Problem durch das deformierte Bild hindurch fortbesteht, das die
Repräsentation von ihm wiedergibt. Die Formel ,,es ist nicht der Fall“
meint, daß eine Hypothese ins Negative übergeht, insofern sie nicht die
aktualiter von einem Problem erfüllten Bedingungen repräsentiert, denen
hingegen ein anderer Satz entspricht. Das Negative ist also tatsächlich der
Schlagschatten des Problematischen auf die Gesamtheit der Sätze, die dieses
als Fälle subsumiert. In der Regel bleibt die Kritik am Negativen ineffizient,
solange sie die Form einer bereits feststehenden Bejahung im Satz annimmt.
Radikal und wohlbegründet ist die Kritik am Negativen nur, wenn sie eine
Genese der Bejahung und gleichzeitig die Genese des Scheins von Vernei-
nung vollzieht. Denn es handelt sich um die Frage, wie die Bejahung selbst
mannigfaltig oder wie die Differenz als solche Gegenstand reiner Bejahung
sein kann. Dies ist nur in dem Maße möglich, wie die Bejahung als Modus
des Satzes von extrapropositionalen genetischen Elementen aus erzeugt wird
(den imperativen Fragen oder ursprünglichen ontologischen Bejahungen),
wie sie dann über die Probleme hinweg ,,durchgeführt“ und von den Pro-
blemen bestimmt wird (problematische Ideen oder Mannigfaltigkeiten,
ideelle Positivitäten). Gerade unter diesen Voraussetzungen muß freilich
gesagt werden, daß sich das Negative im Satz an der Bejahung festklammert,
aber nur als der Schatten des Problems, als dessen Antwort der Satz gilt,
d.h. als der Schatten der genetischen Instanz, durch die die Bejahung selbst
erzeugt wird.
Die Ideen enthalten alle Varietäten von Differentialverhältnissen und alle Ver-
teilungen singulärer Punkte, die in verschiedenen Ordnungen koexistieren und
einander ,,perplizieren” . Wenn sich der virtuelle Inhalt der Idee aktualisiert,

I3 Vgl. Fußnote 20, S. 256 [A.d.Ü.].


262 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

verkörpern sich die Verhältnisvarietäten in unterschiedlichen Arten, und in


Korrelation dazu verkörpern sich die singulären Punkte, die den Werten einer
Varietät entsprechen, in unterschiedlichen Teilen, die für diese oder jene Art
kennzeichnend sind. Die Idee der Farbe etwa entspricht dem weißen Licht,
das die genetischen Elemente und Verhältnisse aller Farben in sich perpliziert,
sich aber in den verschiedenen Farben und ihren jeweiligen Räumen aktuali-
siert; oder auch die Idee des Lauts, die dem weißen Rauschen entspricht.
Ebenso gibt es eine weiße Gesellschaft, eine weiße Sprache (welche in ihrer
Virtualität alle Phoneme und Verhältnisse enthält, die sich in den verschiede-
nen Sprachen und in den ausgezeichneten Teilen ein und derselben Sprache
aktualisieren sollen). Mit der Aktualisierung nimmt also ein neuer, artbilden-
der und partitiver Unterscheidungstyp den Platz der fließenden ideellen
Unterscheidungen ein. Differentiation nennen wir die Bestimmung des vir-
tuellen Inhalts der Idee; Differenzierung nennen wir die Aktualisierung dieser
Virtualität in Arten und in unterschiedenen Teilen. Eine Differenzierung von
Arten und Teilen, wie sie den Lösungsfällen entsprechen, vollzieht sich stets
im Verhältnis zu einem Problem und Problembedingungen, die der Differen-
tiation unterliegen. Eine Differenzierung im Innern des Milieus wird stets
durch ein problematisches Feld bedingt, das sich in jenem Milieu verkörpert.
Wir wollen folglich nichts anderes sagen, als daß das Negative weder im
Prozeß der Differentiation noch im Prozeß der Differenzierung erscheint. Die
Idee kennt keine Verneinung. Der erste Prozeß verschmilzt mit der Beschrei-
bung einer reinen Positivität im Modus des Problems, in dem differentielle
Verhältnisse und Punkte, Plätze und Funktionen, Positionen und Schwellen
festgesetzt sind, die jede negative Bestimmung ausschließen und ihre Quelle in
genetischen und produktiven Elementen von Bejahung finden. Der andere
Prozeß verschmilzt mit der Produktion von endlichen generierten Bejahun-
gen, die sich auf die aktuellen Terme beziehen, welche diese Plätze und
Positionen besetzen, auf die realen Relationen, welche diese Verhältnisse und
Funktionen verkörpern. Freilich treten die Formen des Negativen in den
aktuellen Termen und realen Relationen in Erscheinung, allerdings nur, sofern
sie von der durch sie aktualisierten Virtualität und von der Bewegung ihrer
Aktualisierung abgeschnitten sind. Dann, und nur dann, erscheinen die endli-
chen Bejahungen an sich selbst beschränkt, einander entgegengesetzt, für sich
selbst an Mangel oder Privation leidend. Kurz, das Negative ist stets abgeleitet
und repräsentiert, niemals ursprünglich oder präsent; der Prozeß der Diffe-
renz und der Differenzierung geht immer dem des Negativen und des Gegen-
satzes voran. Die Kommentatoren von Marx, die auf dem grundlegenden
Unterschied zwischen Marx und Hegel insistieren, rufen mit gutem Recht in
Erinnerung, daß die Kategorie der Differenzierung im Innern einer sozialen
Mannigfaltigkeit (Arbeitsteilung) im Kapital an die Stelle der Hegelschen
Begriffe von Gegensatz, Widerspruch und Entfremdung treten - Begriffe, die
bloß eine Bewegung des Scheins ausmachen und nur für die abstrakten Wir-
kungen gelten, losgelöst vom Prinzip und der wahren Bewegung ihrer Her-
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 263

\Torbringung24. Ganz offensichtlich muß die Philosophie der Differenz hier


befürchten, zum Diskurs der schönen Seele zu werden: Differenzen, nichts als
Differenzen, in einer der Idee nach friedlichen Koexistenz von sozialen Plät-
zen und Funktionen . . . Aber der Name Marx genügt, um sie vor dieser
Gefahr zu bewahren.
Die Probleme einer Gesellschaft, wie sie in der Infrastruktur in Form der
sogenannten ,, abstrakten“ Arbeit bestimmt sind, werden durch den Prozeß
der Aktualisierung oder Differenzierung (Teilung der konkreten Arbeit)
gelöst. Während jedoch der Schatten des Problems über die Gesamtheit der
differenzierten Fälle, die die Lösung ausmachen, gebreitet bleibt, geben gleich-
zeitig diese Fälle ein verfälschtes Bild vom Problem selbst wieder. Man kann
nicht einmal sagen, die Verfälschung komme nachträglich hinzu; sie begleitet,
verdoppelt die Aktualisierung. Stets reflektiert sich das Problem, während es
gelöst wird, in falschen Problemen, so daß die Lösung überhaupt durch eine
untrennbare Falschheit entstellt wird. So ist etwa der Fetischismus nach Marx
in der Tat eine ,,Verrücktheit“, eine Illusion des sozialen Bewußtseins, voraus-
gesetzt man versteht darunter nicht eine subjektive Illusion, die dem Bewußt-
sein entspringen würde, sondern eine objektive Illusion, eine transzendentale
Illusion, die den Bedingungen des sozialen Bewußtseins im Verlauf der Aktua-
lisierung entsprungen ist. Es gibt Menschen, deren ganze differenzierte soziale
Existenz an den falschen Problemen hängt, von denen sie leben, und andere,
deren soziale Existenz insgesamt in diesen falschen Problemen festgehalten
wird, in Problemen, an denen sie leiden und deren scheinhafte Positionen sie
ausfüllen. Am objektiven Körper des falschen Problems erscheinen alle
Gestalten des Unsinns: d. h. die Fälschungen der Bejahung, die Mißbildungen
der Elemente und Verhältnisse, die Verwechslungen des Ausgezeichneten mit
dem Gewöhnlichen. Die Geschichte ist darum ebensosehr Schauplatz des
Unsinns und der Dummheit wie Prozeß des Sinns. Die Probleme entwischen
naturgemäß dem Bewußtsein, das Bewußtsein selbst hat die Eigenschaft, fal-
sches Bewußtsein zu sein. Der Fetisch ist der natürliche Gegenstand des
sozialen Bewußtseins als Gemeinsinn oder Werterkennung. Die sozialen Pro-
bleme können bloß in einer ,,Richtigstellung“ erfaßt werden, wenn sich das

P-l Louis Al&usser/Jacques Ranch-e/Pierre Macherey/Etienne Balibar: Lire le C+dZ,


Paris 1965 (zur Natur und zur Rolle der Begriffe von Gegensatz, Widerspruch und
Entfremdung vgl. Ranciere, Bd. 1, S. 141 ff., Macherey, Bd. 1, S. 233 ff., Balibar, Bd.
2, S. 298ff.) - H insichtlich des Schemas ,,Problem/Differenzierung“ als Kategorie
der Geschichte wird man sich auf Arnold Toynbee beziehen, der ja kaum des
Marxismus verdächtig ist: ,,Eine Gruppe oder Gesellschaft, so können wir wohl
sagen, sieht sich im Verlauf ihres Lebens einer Reihe von Fragen gegenüber, die
jedes Mitglied nach bestem Können beantworten muß. Der Zusammenprall mit
jeder Frage ist eine Herausforderung und erneute Prüfung; und es ist die Folge
dieser Prüfungen, wodurch sich die Glieder der Gesellschaft nach und nach vonein-
ander absetzen“ (Studie zur Weltgeschichte, Zürich 1949, S. 16).
264 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Vermögen der Soziabilität zu seinem transzendenten Gebrauch erhebt und die


Einheit-des fetischistischen Gemeinsinns aufbricht. Das transzendente Objekt
des Soziabilitätsvermögens ist die Revolution. Die Revolution ist in diesem
Sinne die soziale Macht der Differenz, das Paradox einer Gesellschaft, der
Zorn, der der sozialen Idee eignet. Die Revolution durchläuft in keiner Weise
das Negative. Wir konnten die erste Bestimmung des Negativen, als Schatten
des Problems als solchen, nicht fixieren, ohne bereits auf eine zweite Bestim-
mung gestoßen zu werden: Das Negative ist der objektive Körper des falschen
Problems, der Fetisch selber. Als Schatten des Problems ist das Negative auch
das falsche Problem schlechthin. Die Praxis des Kampfes durchläuft nicht das
Negative, sondern die Differenz und ihre Macht zur Bejahung; und der Krieg
der Gerechten ist die Eroberung der höchsten Gewalt, nämlich über die
Probleme zu entscheiden, indem sie ihrer Wahrheit zurückgegeben werden,
indem diese Wahrheit jenseits der Repräsentationen des Bewußtseins und der
Formen des Negativen ermittelt wird, indem man schließlich zu den Imperati-
v e n vord ringt, von denen sie abhängen.

Wir haben nicht davon abgelassen, uns auf das Virtuelle zu berufen. Heißt das
nicht, daß wir wieder der Verschwommenheit einer Begriffsvorstellung verfal-
len, die eher dem Unbestimmten als den Bestimmungen der Differenz nahe-
kommt? Gerade das jedoch wollten wir vermeiden, indem wir eben vom
Virtuellen sprachen. Wir haben das Virtuelle dem Realen gegenübergestellt;
diese Terminologie, die noch nicht exakt sein konnte, muß nun korrigiert
werden. Das Virtuelle steht nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen
gegenüber. Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles. Vom Virtuellen
muß gen au da s gesagt werd en, was Proust von den Resonanzzuständen sagte:
Sie seien ,,real ohne aktuell ZU sein, ideal ohne abstrakt zu sein“; und symbo-
lisch ohne fiktiv ZU sein. Das Virtuelle muß selber als ein strikt dem Realob-
jekt zugehöriger Teil definiert werden - als ob das Objekt einen seiner Teile
im Virtuellen hätte und darin wie in einer objektiven Dimension eingelassen
wäre. In der Darlegung der Differentialrechnung setzt man das Differential oft
mit einer ,,Teildifferenz“ gleich. Oder man fragt gemäß der Methode Lagran-
ges danach, welcher der Teile am mathematischen Objekt als abgeleitet ange-
sehen werden muß und die fraglichen Verhältnisse abbildet. Die Realität des
Virtuellen besteht in den differentiellen Elementen und Verhaltnissen und in
den singulären Punkten, die ihnen entsprechen. Die Struktur ist die Realität
des Virtuellen. Wir müssen gleichermaßen vermeiden, den Elementen und
Verhältnissen, die eine Struktur bilden, eine Aktualität zuzusprechen, die sie
nicht besitzen, und die Realität abzusprechen, über die sie verfugen. Wir
haben ,gesehen, daß ein doppelter Prozeß von reziproker und durchgängiger
Bestimmung diese Realität definierte: alles andere als unbestimmt, ist das
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 265

Virtuelle vollständig bestimmt. Wenn sich das Kunstwerk auf eine Virtualität
beruft, in die es eingelassen ist, so macht es keinerlei verworrene Bestimmung
geltend, sondern die vollständig bestimmte Struktur, die durch seine geneti-
schen differentellen Elemente, durch seine ,,virtualierten”, ,,embryonierten“
Elemente gebildet wird. Die Elemente, die Verhältnisvarietäten, die singulären
Punkte koexistieren im Werk oder im Objekt, im virtuellen Teil des Werks
oder des Objekts, ohne daß man einen privilegierten Standpunkt gegenüber
anderen, ein Zentrum, das die anderen Zentren vereinigen würde, festlegen
könnte. Wie aber ist es möglich, von durchgängiger Bestimmung und zugleich
bloß von einem Teil des Objekts zu sprechen? Die Bestimmung soll eine
vollständige Bestimmung des Objekts sein und dennoch nur einen Teil davon
prägen. Das rührt daher, daß man - den Hinweisen Descartes’ in den R+onses
2 Arnutild25 zufolge - sorgfältig zwischen dem Objekt als vollständigem und
dem Objekt als ganzem unterscheiden muß. Das vollständige ist nur der
ideelle Teil des Objekts, der mit anderen Objektteilen an der Idee partizipiert
(anderen Verhältnissen, anderen singulären Punkten), der aber nie eine Inte-
grität als solche bildet. Der vollständigen Bestimmung fehlt die Gesamtheit
der Bestimmungen, die der aktuellen Existenz zukommen. Ein Objekt kann
ens oder besser (non)-ens omni modo determinatum sein, ohne daß es gänzlich
bestimmt wäre oder aktuell existieren würde.
Es gibt also einen anderen Teil des Objekts, der durch die Aktualisierung
bestimmt wird. Der Mathematiker fragt nach diesem anderen Teil, der durch
die sogenannte Stammfunktion repräsentiert wird; die Integration ist in die-
sem Sinne keineswegs die Umkehrung der Differentiation, sondern bildet eher
einen ursprünglichen Differenzierungsprozeß. Während die Differentiation
den virtuellen Inhalt der Idee als Problem bestimmt, drückt die Differenzie-
rung die Aktualisierung dieses Virtuellen und die Konstitution der Lösungen
(durch lokale Integrationen) aus. Die Differenzierung ist gleichsam der zweite
Teil der Differenz, und man muß den komplexen Begriff Differentiation/zie-
rung [diffhenthiation] prägen, um die Integrität oder Integralität des Objekts
ZU bezeichnen. tidtion und zierurig [t und c] sind hier das Unterscheidungs-
merkmal oder das phonologische Verhältnis der Differenz selbst. Jedes Objekt
ist doppelt, ohne daß sich seine beiden Hälften ähneln, von denen die eine das
virtuelle Bild, die andere das aktuelle Bild ist. Unpaarige ungleiche Hälften.
Die Differentiation selbst besitzt ihrerseits bereits zwei Aspekte, die den
Verhältnisvarietäten und den von den Werten jeder Varietät abhängigen singu-
lären Punkten entsprechen. Die Differenzierung aber, was sie betrifft, enthält
zwei Aspekte, von denen der eine sich auf die verschiedenen Qualitäten oder
Arten bezieht, welche die Varietäten aktualisieren, der andere auf die Zahl
oder die distinkten Teile, die die singulären Punkte aktualisieren. So verkör-

25 Dt.: Erwiderungen an Arnauld, in: Meditationen, hg. v. A. Buchenau, Hamburg


1972 (1915), S. 199ff.
266 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

pern sich etwa die Gene als System von Differentialverhältnissen zugleich in
einer Art und in den organischen Teilen, aus denen sie zusammengesetzt ist,
Es gibt keine Qualität allgemein, die nicht auf einen Raum verwiese, der durch
die Singularitäten definiert ist, welche wiederum den in jener Qualität verkör-
perten D iff erentialverhältnissen entsprechen . Die Arbeiten von Lavelle u n d
Nogue etwa haben deutlich die Existenz von Räumen nachgewiesen, die je n e n
Qualitäten zukommen, und sie haben die Art und Weise aufgezeigt, wie sich
diese Räume in der Umgebung von Singularitäten aufbauen: so daf3 eine
Qualitätsdifferenz stets von einer räumlichen Differenz (Diaphora) begrenzt
wird. Mehr noch, von der Reflexion der Maler erfahren wir alles über den
Raum jeder Farbe und über die Verbindung dieser Räume in einem Werk.
Arten sind nur insofern differenziert, als jede davon Teile besitzt, die selbst
differenziert sind. Die Differenzierung ist stets gleichzeitig Differenzierung
von Arten und Teilen, von Qualitäten und Ausdehnungen: Qualifizierung
oder Spezifikation, aber auch Partition oder Organisation. Wie also verknüp-
fen sich diese beiden Aspekte der Differenzierung mit den beiden vorangehen-
den Aspekten der Differentiation? Wie verschachteln sich die beiden unähnli-
chen Hälften des Objekts? Die Qualitäten und Arten verkörpern die Verhält-
nisvarietäten in einem aktuellen Modus; die organischen Teile verkörpern die
entsprechenden Singularitäten. Die Präzision der Schachtelung aber kommt in
zwei komplementären Gesichtspunkten besser zur Erscheinung.
Einerseits vollzieht die durchgängige Bestimmung die Differentiation der Sin-
gularitäten; sie bezieht sich aber nur auf ihre Existenz und ihre Verteilung. Die
Natur der singulären Punkte wird nur durch die Form der Integralkurven in
ihrer Umgebung spezifiziert, d. h. in Abh ängikeit von aktuellen oder differen-
zierten Arten oder Räumen. An dererseits finden die wesentlichen Aspekte des
zureichenden Grunds, Bestimmbarkeit, Wechselbestimmung, durchgängige-
Bestimmung, ihre systematische Einheit in der progressiven Bestimmung. Die
Reziprozität der Bestimmung bedeutet nämlich nicht eine Regression oder
Stagnation, sondern eine wirkliche Progression, in der die reziproken Terme
allmählich erreicht und die Verhaltnisse selbst untereinander ins Verhältnis
gesetzt werden müssen. Die Vollständigkeit der Bestimmung impliziert nichts-
destoweniger die Progressivität der Adjunktionskörper. Wenn wir von A nach
B gehen und dann von B nach A zurückkehren, stoßen wir nicht auf einen
Ausgangspunkt wie in der nackten Wiederholung; zwischen A und B, B und
A ist die Wiederholung eher die Weglänge oder die progressive Beschreibung
der Gesamtheit eines problematischen Felds. Dies verhalt sich wie im Gedicht
Vitracs, in dem die verschiedenen Schritte2$ die jeweils ein Gedicht bilden
(sein Schreiben, sein Träumen, sein Vergessen, sein Gegenteil suchen, seine
Humorisierung, sein Wiederfinden in der An&yse) progressiv die Gesamtheit
des Gedichts als Problem oder Mannigfaltigkeit bestimmen. In diesem Sinne

26 Frz dhnarcbes Verweis auf Roger Vitracs Gedicht Dbnarcbes d’un pobne (1931)
[A.d. ü.]. l
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 267

enthält jede Struktur, kraft dieser Progressivität, eine rein logische, ideelle
oder dialektische Zeit. Aber diese virtuelle Zeit bestimmt selbst eine Differen-
zierungszeit oder eher Rhythmen, verschiedene Aktualisierungzeiten, die den
Verhältnissen und den Singularitäten der Struktur entsprechen und ihrerseits
den Übergang vom Virtuellen zum Aktuellen bemessen. Vier Terme sind in
dieser Hinsicht synonym: aktualisieren, differenzieren, integrieren, lösen. Die
Natur des Virtuellen ist so beschaffen, daß Aktualisierung für es Differenzie-
rung bedeutet. Jede Differenzierung ist eine lokale Integration, eine lokale
Lösung, die sich mit anderen in der Gesamtheit der Lösung oder in der
globalen Integration zusammenfügt. Auf diese Weise zeigt sich im Bereich des
Lebendigen der Aktualisierungsprozeß zugleich als lokale Differenzierung
von Teilen, globale Ausbildung eines inneren Milieus, Lösung eines Problems,
das im Konstitutionsfeld eines Organismus gestellt wird27. Der Organismus
wäre nichts, wenn er nicht die Lösung eines Problems wäre, ebenso jeder
seiner differenzierten Teile, wie etwa das Auge, das ein Licht-,,Problem” löst;
aber nichts an ihm, kein Organ- wäre differenziert ohne das innere Milieu, das
mit einem allgemeinen Wirkungsvermögen oder einer integrierenden Steue-
rungsmach t ausgestattet ist. (Auch hier sind die negativen Formen des Gegen-
satzes und d es Widerspruchs im Leben, d e s Widerstands und des Bedü rfnisses
sekundär und abgeleitet im Verhältnis zu den Imperativen eines Organismus,
der aufgebaut, und eines Problems, das gelöst werden soll.)
Die einzige Gefahr bei all dem liegt darin, das Virtuelle mit dem Möglichen zu
verwechseln. Denn das Mögliche steht dem Realen entgegen; der Prozeß des
Möglichen ist also eine ,,Realisierung“. Demgegenüber steht das Virtuelle dem
Realen nicht entgegen; es besitzt volle Realität durch sich selbst. Sein Prozeß
ist die Aktualisierung. Man hätte Unrecht, hierin nur einen Streit um Worte
zu sehen: Es geht umdie Existenz selbst. Immer wenn wir das Problem in den
Begriffen des Möglichen und des Realen stellen, werden wir genötigt, die
Existenz als pures Auftauchen, reinen Akt und Sprung zu begreifen, der stets
hinter unserem Rücken geschieht, dem Gesetz von allem oder nichts unter-
worfen. Welcher Unterschied kann dabei zwischen dem Existierenden und
Nicht-Existierenden bestehen, wenn das Nicht-Existierende bereits möglich,
im Begriff aufgesammelt ist, und zwar mit allen Merkmalen, die ihm der

” Zur Korrelation von innerem Milieu und Differenzierung vgl. Frarqois Meyer:
Probk’matique de /‘hohion, Paris 1954. - H. F. Osborn gehört zu denen, die am
nachhaltigsten auf das Leben als dem Aufwerfen und Lösen von ,,Problemen”, von
mechanischen, dynamischen oder spezifisch biologischen Problemen insistiert
haben; vgl. : Henry F. Osborn: The o@in and evolution of life. On the theory of
action, reaction and interaction of energy, London 1918. Die verschiedenen Augen-
formen können etwa nur in Abhängigkeit von einem allgemeinen physikalisch-
biologischen Problem und den Variationen von dessen Bedingungen in verschiede-
nen Tierarten untersucht werden. Die Regel für die Lösungen lautet, daß jede davon
zumindest einen Vorteil und einen Nachteil besitzt.
268 D I F F E R E N Z U N D W IEDERHOLUNG

Begriff als Möglichkeit zuschreibt? Die Existenz ist dieselbe wie der Begriff,
aber außerhalb des Begriffs. Man verlegt also die Existenz in Raum und Zeit,
allerdings als indifferente Milieus, ohne daß sich die Hervorbringung der
Existenz selbst in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit voll-
ziehe. Die Differenz kann nurmehr das durch den Begriff bestimmte Negative
sein: sei es die Beschränkung des Möglichen durch das Mögliche,. damit es sich
realisieren kann, sei es der Gegensatz des Möglichen zur Realität des Realen.
Demgegenüber ist das Virtuelle das Kennzeichen der Idee; ausgehend gerade
von seiner Realität wird die Existenz hervorgebracht, und zwar gemäß einer
Zeit und einem Raum, die der Idee immanent sind.
In zweiter Linie unterscheiden sich das Virtuelle und das Mögliche auch darin,
daß das eine auf die Identitätsform im Begriff verweist, während das andere
eine reine Mannigfaltigkeit in der Idee bezeichnet, die das Identische als
Vorausbedingung radikal ausschließt. Schließlich wird das Mögliche, sofern es
sich der ,,Realisierung” verschreibt, selbst als Bild des Realen erfaßt, und das
Reale als Ähnlichkeit mit dem Möglichen. Darum wird so wenig begriffen,
was die Existenz dem Begriff hinzufügt, insofern sie das Ähnliche um das
Ähnliche verdopplt. Dies ist der Makel des Möglichen, ein Makel, der es als
nachträglich hervorgebracht, rückwirkend hergestellt denunziert, selbst nach
dem Bild dessen gemacht, was ihm ähnelt. Dagegen vollzieht sich die Aktuali-
sierung des Virtuellen stets über Differenz, Divergenz oder Differenzierung.
Die Aktualisierung bricht mit der Ähnlichkeit als Prozeß ebenso wie mit der
Identität als Prinzip. Niemals ähneln die aktuellen Terme der Virtualität, die
sie aktualisieren: Die Qualitäten und Arten ähneln nicht den Differentialver-
hältnissen, die sie verkörpern; die Teile ähneln nicht den Singularitäten, die sie
verkörpern. Die Aktualisierung, die Differenzierung ist in diesem Sinne stets
eine wirkliche Schöpfung. Sie entsteht nicht durch Beschränkung einer präexi-
stenten Möglichkeit. Es ist widersprüchlich, wenn man, wie manche Biologen,
von ,,Potential“ spricht und die Differenzierung durch die bloße Beschrän-
kung eines globalen Vermögens definiert, als würde das Potential mit einer
logischen Möglichkeit verschmelzen. Sich aktualisieren bedeutet für ein Poten-
tial oder ein Virtuelles stets die Schaffung divergenter Linien, die ohne Ähn-
lichkeit der virtuellen Mannigfaltigkeit entsprechen. Das Virtuelle besitzt die
Realität einer zu erfüllenden Aufgabe, nämlich eines zu lösenden Problems;
das Problem ist es, das die Lösungen ausrichtet, bedingt, erzeugt, diese aber
ähneln nicht den Bedingungen des Problems. Daher hatte Bergson recht, wenn
er sagte, daß vom Standpunkt der Differenzierung aus selbst die Ähnlichkei-
ten, die auf divergenten Evolutionsl inien auftauchen (etwa das A u g e als
,,analoges” Organ), zunächst auf die Heterogenität im Mechanismus ihrer
Hervorbringung bezogen werden müssen. Und ein und dieselbe Bewegung ist
es, in der die Unterordnung der Differenz unter die Identität und die Unter-
ordnung der Differenz unter die Gleichartigkeit umgestoßen werden muß.
Was aber ist diese Korrespondenz ohne Ähnlichkeit, diese schöpferische Dif-
ferenzierung? Das Bergsonsche Schema, das L’&&tion &atrice und Matiere
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 269

et mkmoire vereint, beginnt mit dem Entwurf eines gigantischen Gedächtnis-


ses, einer Mannigfaltigkeit, die durch die virtuelle Koexistenz aller ,,Kegel“-
Schnitte gebildet wird, wobei jeder einzelne Schnitt der Wiederholung aller
anderen entspricht und sich von ihnen nur durch die Ordnung der Verhält-
nisse und die Verteilung der singulären Punkte unterscheidet. Die Aktualisie-
rung dieses mnemonischen Virtuellen erscheint sodann als die Erschaffung
divergenter Linien, von denen jede einzelne einem virtuellen Schnitt entspricht
und jeweils die Art einer Problemlösung repräsentiert, indem sie allerdings die
Ordnung der Verhältnisse und die Verteilung von Singularitäten, wie sie dem
betrachteten Schnitt zukommen, in differenzierten Arten und Teilen verkör-
pert2’. Die Differenz und die Wiederholung im Virtuellen begründen die
Bewegung der Aktualisierung, der Differenzierung als Schöpfung und ersetzen
somit die Identität und die Ähnlichkeit des Möglichen, die nur eine Pseudo-
Bewegung auslösen, die falsche B ewegung der Realisierung als abstrakter
Beschränkung.
Fatal jede Unentschiedenheit zwischen dem Virtuellen und dem Möglichen,
zwischen der Ordnung der Idee und der Ordnung des Begriffs, da sie die
Realität des Virtuellen aufhebt. In der Philosophie Leibniz’ findet man die
Spuren eines derartigen Schwankens. Denn immer wenn Leibniz von Ideen
spricht, stellt er sie als virtuelle Mannigfaltigkeiten dar, die aus Differentialver-
hältnissen und singulären Punkten bestehen und vom Denken in einem
Zustand aufgefaßt werden, der dem Schlaf, dem Taumel, der Bewußtlosigkeit,
dem
. Tod, der Amnesie, dem Gemurmel oder der Trunkenheit . . . verwandt
ist29. Jedoch wird das, worin sich die Ideen aktualisieren, eher als ein Mög-
liches, als ein realisiertes Mögliches begriffen. Diese Unentschiedenheit zwi-
schen Möglichem und Virtuellem erklärt, daß Leibniz in der Erforschung des
zureichenden Grundes unübertroffen ist; und daß er dennoch die Illusion
einer Unterordnung dieses zureichenden Grundes unter das Identische am
hartnäckigsten aufrechterhalten hat. Niemand hat sich so sehr einer Bewegung
der Vize-Diktion in der Idee angenähert, niemand aber hat stärker am vorgeb-

28
Bergson ist der Autor, der die Kritik des Möglichen am weitesten vorantreibt,
zugleich aber am beharrlichsten den Begriff des Virtuellen geltend macht. Schon seit
Les donnkes imm&diates de Za conscience ist die Dauer als nicht aktuelle Mannigfal-
tigkeit definiert ((Euvres, a.a.O., S. 81; dt.: Zeit und Freiheit, a.a.O., S. 101-102). In
Matzhe et memoire ist der Kegel der reinen Erinnerungen - mit seinen Schnitten
und seinen ,,leuchtenden Punkten“ auf jedem Schnitt (S. HO; dt.: Materie und
Gedd’chtnis, a.a.O., S. 181) - vollständig real, aber ausschließlich virtuell. In L%oZu-
tion creatrice wird die Differenzierung, die Erschaffung divergenter Linien als eine
Aktualisierung begriffen, wobei jede Aktualisierungslinie einem Kegelschnitt zu
entsprechen scheint (S. 637; dt.: Die schöpferische Entwicklung, Jena 1912, S. 172-
173).
29 Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain [Neue Abhandlungen über den
menschlichen Verstand], 2. Buch, 1. Kapitel.
270 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

lichen Recht der Repräsentation festgehalten, wenn er sie auch ins Unendliche
wendete. Niemand vermochte besser als er das Denken ins Element der Diffe-
renz einzusenken, es mit einem differentiellen Unbewußten zu versehen, es
mit schwachen Schimmern und Singularitäten zu umgeben; all das aber nur,
um die Homogenität eines natürlichen Lichts a la Descartes zu retten und
abzugehen. Descartes nämlich ist es, bei dem das höchste Prinzip der Reprä-
sentation als gesunder Menschenverstand oder Gemeinsinn erscheint. Wir
können dieses Prinzip das Prinzip des ,,Klaren und Deutlichen” [clair et
distinct] oder der Verhältnismäßigkeit von Klarem und Deutlichem nennen:
Eine Idee ist umso deutlicher, je klarer sie ist; das Klar-Deutliche bildet jenes
Licht, das das Denken im gemeinsamen Gebrauch aller Vermögen ermöglicht.
Nun kann man aber angesichts dieses Prinzips die Bedeutung einer Bemer-
kung kaum überschätzen, die Leibniz in seiner Ideenlogik beständig wieder-
holt: Eine klare Idee sei durch sich selbst verworren, sie sei als klare verwor-
ren. Zweifellos läßt sich diese Bemerkung mit der kartesianischen Logik ver-
einbaren und mag nichts weiter bedeuten, als daß eine klare Idee verworren
sei, weil sie noch nicht in allen ihren Teilen klar genug ist. Und tendiert nicht
Leibniz selbst schließlich dazu, sie auf diese Weise zu deuten? Ist sie aber
nicht zugleich für eine andere, radikalere Deutung empfänglich: daß nämlich
eine wesensmäßige, nicht mehr bloß graduelle Differenz zwischen dem Klaren
und dem Deutlichen bestünde, so daß das Klare durch sich selbst verworren
und umgekehrt das Deutliche durch sich selbst dunkel wäre? Was ist dieses
Deutlich-Dunkle, das dem Klar-Verworrenen entspricht? Kehren wir zu
Leibniz’ berühmten Texten über das Meeresrauschen zurück; auch hier zwei
mögliche Deutungen. Entweder sagen wir, die Apperzeption des Gesamtge-
räusches sei klar aber verworren (nicht deutlich), weil die kleinen Teilwahr-
nehmungen selbst nicht klar, sondern dunkel seien. Oder wir sagen, die
kleinen Wahrnehmungen seien selbst deutlich und dunkel (nicht klar): deut-
lich, weil Differentialverhältnisse und Singularitäten erfassend, dunkel, weil
noch nicht ,,unterschieden“, noch nicht differenziert - und diese sich verdich-
tenden Singularitäten bestimmen eine Bewußtseinsschwelle im Verhältnis ZU
unserem Körper, gleichsam eine Schwelle von Differenzierung, von der aus
sich die kleinen Wahrnehmungen aktualisieren, sich aber in einer Apperzep-
tion aktualisieren, die ihrerseits nur klar und verworren ist, klar, weil unter-
schieden und differenziert, und verworren, weil klar. Das Problem stellt sich
dann nicht mehr in Begriffen von Teilen/Ganzes (von einer logischen Mög-
lichkeit her gesehen), sondern in Begriffen von virtuell/aktuell (Aktualisierung
von Differentialverhältnissen, Verkörperung von singulären Punkten). Hier
also wird der Wert der Repräsentation im Gemeinsinn in zwei unreduzierbare
Werte im Para-Sinn aufgebrochen: ein Deutliches, das nur dunkel sein kann
und umso dunkler erscheint, je deutlicher es ist, und ein Klar-Verworrenes,
das nur verworren sein kann. Es eignet der Idee, daß sie deutlich und dunkel
ist. Und das heißt exakt, daß die Idee real ist, ohne aktuell zu sein, der
Differentiation und nicht der Differenzierung unterliegt, vollständig ist, ohne
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 271

ganz zu sein. Das Deutlich-Dunkle ist die spezifisch philosophische Trunken-


heit, der spezifisch philosophische Taumel oder die dionysische Idee. An der
Meeresküste oder nahe der Wassermühle hat Leibniz Dionysos nur um weni-
ges verfehlt. Und vielleicht bedarf es Apolls, des Denkers des Klar-Verworre-
nen, um die Ideen des Dionysos zu denken. Niemals aber vereinigen sich die
beiden, um ein natürliches Licht wiederherzustellen. Sie bilden eher zwei in
der philosophischen Sprachform verschlüsselte Sprachen, und zwar für den
divergenten Gebrauch der Vermögen: das Disparate des Stils.

Wie vollzieht sich die Aktualisierung in den Dingen selbst? Warum ist die
Differenzierung wechselseitig Qualifikation und Komposition, Spezifikation
und Organisation ? Warum differenziert sie sich in diese beiden komplemetä-
ren Bahnen? Tiefer als die aktuellen Qualitäten und Ausdehnungen, als die
aktuellen Arten und Teile liegen die raum-zeitlichen Dynamiken. Sie sind es,
die aktualisieren und differenzieren. Man muß sie für jedes Gebiet verzeich-
nen, obwohl sie gewöhnlich durch bereits gebildete Ausdehnungen und Qua-
litäten verdeckt sind. Die Embryologen zeigen ganz klar, daß die Gliederung
eines Eis in einzelne Teile zweitrangig bleibt gegenüber wesentlich signifikan-
teren morphogenetischen Bewegungen: Vergrößerung freier Oberflächen,
Streckung von Zellschichten, Invagination durch Faltung, regionale Verschie-
bungen der Gruppen. Es erscheint eine regelrechte Kinematik des Eis, die eine
Dynamik impliziert. Allerdings drückt diese Dynamik etwas Ideelles aus. Der
Transport ist dionysisch und göttlich, ist Delirium, bevor er zum lokalen
Transfer wird. Die Eiformen unterscheiden sich also in Ausrichtung, Entwick-
lungsachsen, in differentiellen Geschwindigkeiten und Rhythmen als den
ersten Faktoren der Aktualisierung einer Struktur, die einen Raum und eine
Zeit erschaffen, wie sie dem, was sich aktualisiert, entsprechen. Baer schloß
daraus einerseits, daß die Differenzierung vom Allgemeineren zum weniger
Allgemeinen voranschreitet, da die dynamischen strukturalen Merkmale der
großen Typen oder Stämme vor den bloß formalen Merkmalen der Art, der
Gattung oder gar der Klasse erscheinen; und andererseits, daß die Verwerfun-
gen zwischen diesen Typen oder die Unreduzierbarkeit von Dynamiken ins-
besondere die Möglichkeiten der Evolution begrenzten und aktuelle Unter-
scheidungen [distinctions] zwischen Ideen verfügten. Diese beiden Punkte
jedoch werfen große Probleme auf. Denn zunächst sind die höchsten Allge-
meinheiten Baers Allgemeinheiten nur für einen erwachsenen Beobachter, der
sie von außen betrachtet. An sich selbst werden sie vom embryonalen Indivi-
duum in seinem Individuationsfeld erlebt. Mehr noch, sie können, wie Vialle-
ton, Baers Schüler, bemerkte, nur erlebt werden, und sie können nur vom
embryonalen Individuum erlebt werden: Es gibt ,,Dinge“, die nur der Embryo
272 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

machen kann, Bewegungen, die einzig er vollführen oder eher: ertragen kann
(so unterliegen etwa bei den Schildkröten die Vordergliedmagen einer relati-
ven Verschiebung von 180 Grad, oder der Hals impliziert das Vorrutschen
einer variablen Anzahl von Urwirbeln)30. Die Großtaten und das Schicksal des
Embryos liegen darin, das Unerträgliche als solches zu leben, das Ausmaß von
erzwungenen Bewegungen, die jedes Skelett zerbrechen oder die Gelenkbän-
der zerreißen würden. Freilich verläuft die Differenzierung progressiv, kaska-
denartig: Die Merkmale der großen Typen erscheinen vor denen der Gattung
und der Art in der Abfolge der Spezifikation; und in der Abfolge der Organi-
sation ist eine Knospe erst die Knospe einer Pfote, bevor sie rechte oder linke
Pfote wird. Aber diese Bewegung zeigt weniger eine Differenz im Allgemein-
heitsgrad als eine Wesensdifferenz an; und man entdeckt nicht so sehr das
Allgemeinere unter dem weniger Allgemeinen als reine raum-zeitliche Dyna-
miken (das vom Embryo Erlebte) unter den morphologischen, histologischen,
anatomischen, physiologischen usw. Merkmalen, die die bereits gebildeten
Qualitäten und Teile betreffen. Eher als vom Allgemeineren zum weniger
Allgemeinen gelangt man vom Virtuellen zum Aktuellen, und zwar der pro-
gressiven Bestimmung und den ersten Aktualisierungsfaktoren entsprechend.
Der Begriff der ,,Allgemeinheit“ hat hier den Nachteil, eine Vermengung des
Virtuellen, sofern es sich durch Schöpfung aktualisiert, mit dem Möglichen,
sofern es sich durch Beschränkung realisiert, nahezulegen. Und vor dem
Embryo als allgemeinem Träger von Qualitäten und Teilen existiert der
Embryo als individuelles Subjekt und Leidendes von raum-zeitlichen Dynami-
ken, das Larvensubjekt.
Was den anderen Aspekt betrifft, den einer Möglichkeit der Evolution, so
müssen wir ihn unter Berücksichtigung prä-evolutionistischer Polemiken den-
ken. Die große Polemik zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire bezieht
sich auf die Kompositionseinheit: Gibt es ein Lebewesen an sich als eine Idee
des universalen Lebewesens - oder führen die großen Stämme unüberschreit-
bare Verwerfungen zwischen Tiertypen herbei? Die Diskussion erhält ihre
poetische Methode und ihre poetische Prüfung in der Faltung: Kann man
durch Faltung vom Wirbeltier zum Kopffüßer gelangen? Kann man das Wir-
beltier SO falten, daß die beiden Teile des Rückgrats einander annähern, der
Kopf ZU den Füßen, das Becken zum Nacken kommt und die Eingeweide sich
wie bei den Kopffüßern anordnen ? Cuvier streitet ab, daß die Faltung eine
derartige Anordnung ergeben könnte. Und welches Tier wurde die Probe
ertragen, selbst wenn es auf sein blankes Knochengerüst reduziert wird? Frei-
lich behauptet Geoffroy nicht, die Faltung vollziehe tatsachlich den übergang,
sein Argument reicht weiter: Es würde Entwicklungsstadien geben, die dieses
oder jenes Tier an diesem oder jenem Kompositionsgrad anhielten (,,das

30 Louis Vialleton: . Membres et ceintures des vertebres ttftrapodes, Paris 1924, S. 6OOff.
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 273

Organ A wird in einer außerordentlichen Relation zum Organ C stehen, wenn


B noch nicht hervorgebracht ist, wenn die Entwicklungpause, die dieses vor-
zeitig betroffen hat, seine Hervorbringung verhindert hat‘c)31. Die Einführung
des Zeitfaktors ist wesentlich, obwohl Geoffroy diesen in Form von Pausen
begreift, d. h. in Form von Etappen, die fortlaufend in der Realisierung eines
allen Tieren gemeinsamen Möglichen angeordnet sind. Man muß der Zeit nur
ihren wahren Sinn von schöpferischer Aktualisierung verleihen, damit die
Evolution ein sie bedingendes Prinzip erhält. Wenn nämlich unter dem Ge-
sichtspunkt der Aktualisierung die Dynamik der räumlichen Ausrichtungen
eine Differenzierung der Typen bestimmt, so begründen die mehr oder weni-
ger schnellen Zeitabläufe, die diesen Dynamiken immanent sind, deren Über-
gang untereinander oder den Übergang von einem differenzierten Typus zu
einem anderen, sei es durch Verlangsamung, sei es durch Übereilung. Man
erschafft andere Räume durch kontrahierte oder entspannte Zeitabläufe, je
nach Beschleunigungs- oder Verzögerungsquotient. Selbst die Pause gewinnt
den Aspekt einer Aktualisierung in der Neotenie. Prinzipiell ermöglicht der
Zeitfaktor die Umwandlung der Dynamiken, obwohl sie asymmetrisch, räum-
lich irreduzibel und völlig differenziert oder eher selbst differenzierend sind.
In diesem Sinne erkannte Perrier Phänomene von ,,beschleunigter Wiederho-
lung“ (Tachygenese) am Ursprung der Stämme im Tierreich und fand im
vorzeitigen Erscheinen von Typen einen überragenden Beleg für die Evolution
selbst32.
Die Welt insgesamt ist ein Ei. Die doppelte Differenzierung von Arten und
Teilen bedingt stets raum-zeitliche Dynamiken. Gegeben sei eine Teilung in
24 Zellelemente mit ähnlichen Merkmalen: Wir erfahren noch nichts darüber,
durch welchen dynamischen Prozeß man sie erhalten hat - 2 12 oder (2 2) +
l l

(2 10) oder (2 4) + (2
l l l. . .? Selbst die platonische Teilung verfügte über
8)

keinerlei Regel, um zwei Seiten zu unterscheiden, wenn sie nicht durch die
Bewegungen und Ausrichtungen, durch die Bahnen im Raum eine Regel
erhalten würde. Dasselbe beim Fischen: die Beute einfangen oder verwunden,
sie von oben nach unten oder von unten nach oben verwunden? Das sind
dynamische Prozesse, die die Aktualisierung der Idee bestimmen. In welchem
Bezug aber stehen sie zu ihr? Sie sind exakt Dramen, sie dramatisieren die
Idee. Einerseits erschaffen, entwerfen sie einen Raum, der den Differential-
quotienten und Singularitäten entspricht, die aktualisiert werden sollen. Wenn
eine Zellwanderung entsteht, wie es Raymond Ruyer zeigt, so wird die Situa-
tion durch die Anforderung einer ,,Rolle“ in Abhängigkeit vom strukturalen

31 Etienne Geoffroy Saint-Hilaire: Principes de philosophie zoologique, Paris 1830, S.


70. - Die Texte zum Streit mit Cuvier sind in dieses Buch aufgenommen.
32 Edmond Perrier: Les colonies animales et la formation des organismes, Paris 1881, S.
701 ff.
274 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

,,Thema“ bestimmt, das aktualisiert werden soll, nicht umgekehrt33. Die Welt
ist ein Ei, das Ei selbst aber ist ein Theater: ein Regietheater, in dem die Rollen
über die Schauspieler, die Räume über die Rollen, die Ideen über die Räume
siegen. Mehr noch, kraft der Komplexität einer Idee und ihrer Beziehungen zu
anderen Ideen spielt sich die räumliche Dramatisierung auf mehreren Ebenen
ab: in der Konstitution eines inneren Raums, aber auch in der Art und Weise,
wie dieser Raum auf die äußere Ausdehnung übergreift und darin eine Region
besetzt. Man darf etwa nicht den inneren Raum einer Farbe mit der Art und
Weise verwechseln, wie sie eine Ausdehnung besetzt, in der sie mit anderen
Farben in Beziehung tritt, wie sehr beide Prozesse auch verwandt sein mögen.
Ein Lebewesen definiert sich nicht nur genetisch, über die Dynamiken, die
sein inneres Milieu bestimmen, sondern auch ökologisch, durch die äußeren
Bewegungen, die seine Verteilung in der Ausdehnung steuern. Eine Kinetik
der Population verbindet sich ohne Ähnlichkeit mit einer Kinetik des Eis; ein
geographischer Isolationsprozeß wirkt ebenso artbildend wie die inneren
genetischen Variationen und geht diesen zuweilen voraus34. All das ist noch
komplizierter, wenn man berücksichtigt, daß der innere Raum selbst aus
mannigfaltigen Räumen besteht, die lokal integriert, verbunden werden müs-
sen; daß dieser Zusammenschluß, der sich auf viele Weisen vollziehen kann,
das Ding oder das Lebewesen an seine eigenen Grenzen treibt und in Berüh-
rung mit dem Außen bringt; daß dieser Bezug zum Außen und zu anderen
Dingen und anderen Lebewesen seinerseits globale Zusammenhänge oder
Integrationen impliziert, die wesentlich von den vorangehenden abweichen.
Überall eine Inszenierung auf mehreren Ebenen.
Andererseits sind die Dynamiken nicht weniger zeitlich als räumlich. Sie
bilden Aktualisierungs- oder Differenzierungszeiten, wie sie Aktualisierungs-
räume entwerfen. Nicht allein Räume beginnen die Differentialverhältnisse
zwischen reziprok und durchgängig bestimmten Strukturelementen zu ver-
körpern; vielmehr verkörpern auch Differenzierungszeiten die Zeit der Struk-
tur, die Zeit der progressiven Bestimmung. Derartige Zeiten können differen-
tielle Rhythmen genannt werden, und zwar auf Grund ihrer Rolle in der
Aktualisierung der Idee. Und schließlich begegnet man unter den Arten und
Teilen nur diesen Zeiten, diesen Wachstumsquoten, diesen Entwick-
lungstempi, diesen Verlangsamungen oder Übereilungen, diesen Tragezeiten.
Man kann durchaus sagen, daß einzig die Zeit ihre Antwort an eine Frage,

33Raymond Ruyer: . La genese des for-mes vivantes, Paris 1958, S. 91 ff.: ,,Man kann das
Geheimnis der Differenzierung nicht dadurch auflösen, indem man aus dieser die
Wirkung von situativen Differenzen macht, die durch die gleichmäßigen Teilungen
entstanden sind . . .“ - Nicht weniger als Bergson hat Ruyer die Begriffe von
Virtuellem und Aktualisierung gründlich analysiert; seine ganze biologische Philo-
sophie beruht auf ihnen und auf dem Gedanken des ,,Thematischen“; vgl. Ehnents
de psycho-biologie, Paris 1946, Kap. 4.
34 Lucien Cu6not: L’espkce, Paris 1936, S. 241.
IDEELLE S YNTHESE DER DIFFERENZ 275

einzig der Raum seine Lösung an ein Problem heranträgt. Ein Beispiel, das die
Sterilität oder Fruchtbarkeit (beim weiblichen Seeigel und bei männlichen
Anneliden) betrifft - Problem: Werden manche Chromosomen väterlicherseits
in die neuen Zellkerne inkorporiert werden oder werden sie sich im Proto-
plasma verteilen? - Frage: Werden sie rechtzeitig ankommen? Aber die Unter-
scheidung ist zwangsläufig relativ; es ist offenkundig, daß die Dynamik
zugleich zeitlich und räumlich, raum-zeitlich ist (hier die Ausbildung der
Teilungsspindel, die Halbierung der Chromosomen und die Bewegung, die sie
an die Pole der Spindel führt). Die Dualität existiert nicht im Aktualisierungs-
prozeß selbst, sondern nur an seinem Endpunkt, in den aktuellen Termen, den
Arten und Teilen. Allerdings handelt es sich nicht um eine reale Unterschei-
dung, sondern um eine strikte Komplementarität, insofern die Art die Qualität
der Teile und entsprechend die Teile die Zahl der Art bezeichnen. Die Art
speichert eben in einer Qualität (Löwenartigkeit, Froschheit) die Zeit der
Dynamik, während die Teile deren Raum detaillieren. Eine Qualität blitzt
stets in einem Raum auf und dauert genau die Zeit dieses Raums. Kurz, die
Dramatisierung ist die Differenzierung der Differenzierung, qualitativ und
quantitativ zugleich. Indem wir aber zugleich sagen, behaupten wir, daß sich
die Differenzierung selbst in diese beiden korrelativen Bahnen, Arten und
Teile, Spezifikation und Einteilung differenziert. Und ebenso, daß es eine
Differenz der Differenz gibt, die das Differente versammelt, daß es eine
Differenzierung der Differenzierung gibt, die das Differenzierte integriert und
verschweißt. Ein in dem Maße notwendiges Ergebnis, wie die Dramatisierung
die beiden Merkmale der Id e e untrennbar verkörpert, Differentialverhältnisse
und entsprechende singuläre Punkte, wobei diese sich in den Teilen, jene sich
in den Arten aktualisieren.
Diese raum-zeitlichen dynamischen Bestimmungen - sind sie nicht schon das,
was Kant Schemata nannte? Dennoch besteht ein großer Unterschied. Zwar ist
das Schema eine Regel zur Bestimmung der Zeit und zur Konstruktion des
Raums, es wird aber in Bezug zum Begriff als logischer Möglichkeit gedacht
und umgesetzt; diese Bezugnahme ist in seiner Natur selbst gegenwärtig, und
zwar in dem Maße, wie es bloß die logische Möglichkeit in transzendentale
Möglichkeit umwandelt. Es bringt die raum-zeitlichen Relationen mit den
logischen Relationen des Begriffs in Übereinstimmung. Außerhalb des Begriffs
jedoch ist nicht ersichtlich, wie es die Harmonie von Verstand und Sinn-
lichkeit gewährleisten kann, da es selbst - ohne Berufung auf ein Wunder -
nicht seine eigene Harmonie mit dem Verstandesbegriff zu garantieren ver-
mag. Der Schematismus besitzt eine außerordentliche Kraft: Durch ihn kann
ein Begriff gemäß einer Typologie geteilt und spezifiziert werden. Ein Begriff
ist ganz und gar unfähig, sich durch sich selbst zu spezifizieren oder zu teilen;
was unterhalb seiner als verborgene Kunst, als ein Handelndes der Differen-
zierung, wirksam wird, sind die raum-zeitlichen Dynamiken. Ohne sie würde
man stets bei den Fragen stehenbleiben, die Aristoteles gegen die platonische
Teilung erhoben hat: Und woher kommen die Hälften? Doch trägt das
276 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Schema nicht jener Macht Rechnung, mit der es wirksam wird. Alles wird
anders, wenn man die Dynamiken nicht mehr als Begriffsschemata sondern als
Ideendramen setzt. Wenn nämlich die Dynamik außerhalb des Begriffs - und
daher Schema - ist, so befindet sie sich innerhalb der Idee und ist daher Drama
oder Traum. Die Art ist in Linien geteilt, das Linneon in Jordanonen, der
Begriff in Typen, aber diese Teilungen unterliegen nicht demselben Kriterium
wie das Geteilte, sind nicht homogen mit dem Geteilten und errichten sich in
einem Gebiet außerhalb des Begriffs, aber innerhalb der Ideen, die die Teilung
selbst steuern. Die Dynamik umfaßt dann ihre eigene Macht zur Bestimmung
von Raum und Zeit, da sie unmittelbar die der Idee immanenten Differential-
verhältnisse, Singularitäten und Progressivitäten verkörpert35. Der kürzeste
Weg ist nicht einfach das Schema des Begriffs der Geraden, sondern der
Traum, das Drama oder die Dramatisierung der Idee der Linie, insofern sie die
Differenzierung von Gerade und Kurve ausdrückt. Wir unterscheiden die
Idee, den Begriff und das Drama: Die Rolle des Dramas liegt in der Spezifika-
tion des Begriffs, indem es die Differentialverhältnisse und die Singularitäten
der Idee verkörpert.
Die Dramatisierung geschieht im Kopf des Träumenden, aber ebenso unter
dem kritischen Auge des Wissenschaftlers. Sie wirkt diesseits des Begriffs und
der Repräsentationen, die er subsumiert. Es gibt nichts, was nicht seine Identi-
tät, wie sie im Begriff enthalten ist, und seine Gleichartigkeitkeit, wie sie der
Repräsentation entspricht, verliert, wenn man den dynamischen Raum und die
dynamische Zeit seiner aktuellen Konstitution entdeckt. Der ,,Typ Hügel“ ist
nurmehr ein Geriesel in parallelen Linien, der ,,Typ Küste“ ein Ausstrich
harter Schichten, an denen entlang die Felsen senkrecht zu den Hügeln ausge-
höhlt werden; die härtesten Felsen ihrerseits aber sind im Maßstab von Jahr-
millionen, die ihre Aktualisierungszeit darstellen, flüssige Stoffe, die unter
dem sanften Druck auf ihre Singularitäten versinken. Jede Typologie ist dra-
matisch, jede Dynamik eine Katastrophe. Es liegt notwendig etwas Grausames
in dieser Weltentstehung, die ein Chaosmos ist, in diesen Welten von Bewe-
gungen ohne Subjekt, von Rollen ohne Akteur. Als Artaud vom Theater der
Grausamkeit sprach, definierte er es nur durch einen extremen ,,Determinis-
mus“, durch einen Determinismus raum-zeitlicher Bestimmung, sofern sie
eine Idee der Natur oder des Geistes verkörpert, als einen ,,bewegten Raum“,
eine kreisende und verletzende Gravitationsbewegung, die den Organismus
direkt zu treffen vermag, reine Inszenierung ohne Autor, ohne Akteur und
ohne Subjekte. Man gräbt Räume, man drängt oder verlangsamt die Zeit nur

35 Die kantische Theorie des Schematismus wächst übrigens in zwei Richtungen über
sich hinaus: in Richtung auf eine dialektische Idee, die sich selbst ihr eigenes Schema
ist und die Spezifizierung des Begriffs garantiert (Kritik der reinen Vernunft, ,,von
der Endabsicht der natürlichen Dialektik“); und in Richtung auf die ästhetische
Idee, die das Schema dem komplexeren und umfassenderen Prozeß der Symbolbil-
dung dienstbar macht (Kritik der Urteilskraft, § 49 und 59).
IDEELLE SYNTHESE DER DIFFERENZ 277

um den Preis von Torsionen und Verschiebungen, die den ganzen Körper
mobilisieren, gefährden. Wir werden von gleißenden Punkten durchstoßen,
von Singularitäten zerzaust, überall der Schildkrötenhals und sein schwindel-
erregender Rutsch der Urwirbel. Selbst der Himmel erleidet seine Himmels-
richtungen und Sternbilder, die wie ,,Sonnen-Akteure“ eine Idee in sein
Fleisch einschreiben. - Es gibt daher zwar Akteure und Subjekte, aber nur als
Larven , weil einzig sie die -Verläufe, die Rutschbewegungen und die Rotatio-
nen zu ertragen vermögen. Nachher ist es zu spät. Tatsächlich macht uns jede
Idee zu Larven, nachdem sie die Identität des Ego wie die Ähnlichkeit des’ Ich
niedergerissen hat. Was kaum durch Regression, Fixierung oder Entwick-
lungspause ausgedrückt werden kann. Denn wir sind nicht an einen Zustand
oder einen Moment fixiert, sondern werden stets durch eine Idee wie durch
das Funkeln eines Blicks fixiert, stets fixiert in einer Bewegung, die sich gerade
vollzieht. Was wäre eine Idee, wenn nicht die fixe und grausame Idee, von der
Villiers de l’Isle-Adam spricht? Was die Idee angeht, ist man immer schon
Leidendes. Aber dies ist kein gewöhnliches Erleiden, keine gewöhliche Fixie-
rung. Das Fixe ist nicht das Fertige oder Abgemachte. Wenn wir Embryonen
bleiben oder von neuem werden, so ist es eher diese reine Bewegung der
Wiederholung, die sich grundlegend von jeglicher Regression unterscheidet.
Die Larven tragen die Ideen in ihrem Fleisch, selbst wenn wir bei den Reprä-
sentationen des Begriffs stehenbleiben. Sie ignorieren das Gebiet des Mögli-
chen und sind dabei dem Virtuellen ganz nahe, dessen erste Aktualisierungen
sie als ihre Wahl übernehmen. Wie die Verwandtschaft von Blutegel und
höherem Menschen sind sie zugleich Traum und Wissenschaft, Gegenstand
des Traums und Gegenstand der Wissenschaft, Biß und Erkenntnis, Mundöff-
nung und Gehirn. (Es war Perrier, der vom Konflikt von Mund und Hirn,
zwischen Wirbeltieren und Ringelwürmern sprach.)
Eine Idee dramatisiert sich auf mehreren Ebenen, aber ebenso geben Dramati-
sierungen verschiedenerer Ordnungen einander Echo und durchlaufen die
Ebenen. Gegeben sei die Idee der Insel: Die geographische Dramatisierung
differenziert sie oder teilt ihren Begriff nach zwei Typen, dem ursprünglichen
ozeanischen Typus, der eine Eruption, eine Erhebung aus dem Wasser kenn-
zeichnet, und dem abgeleiteten kontinentalen Typus, der auf eine Abtrennung,
auf einen Bruch verweist. Wer aber die Insel träumt, stößt auf diese doppelte
Dynamik, da er ja davon träumt, wie er sich am Ausgang einer langen Ver-
schiebung unendlich weit ablöst, zugleich aber, wie er in einem radikalen
Gründungsakt völlig von neuem beginnt. Man hat oft darauf aufmerksam
gemacht, daß das gesamte Sexualverhalten von Mann und Frau darauf abzielt,
die Bewegung ihrer Organe zu reproduzieren, und daß diese Bewegung ihrer-
seits darauf abzielt, die Dynamik der Zellelemente zu reproduzieren: drei
Dramatisierungen verschiedener Ordnungen geben einander Echo - psychi-
sche, organische, chemische. Wenn es dem Denken zukommt, das Virtuelle
bis auf den Grund seiner Wiederholungen zu erforschen, so ist es Sache der
Einbildungskraft, die Aktualsierungsprozesse unter dem Gesichtspunkt dieser
278 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Reprisen oder dieser Echos zu erfassen. Die Einbildungskraft ist es, die die
Gebiete, die Ordnungen und die Ebenen durchquert und dabei die Trenn-
wände niederreißt, sich über die Welt hin ausbreitet, unseren Körper leitet und
unsere Seele erweckt, die Einheit von Natur und Geist auffaßt, ein larvenhaf-
tes Bewußtsein, das sich fortwährend von der Wissenschaft zum Traum und
zurück bewegt.
Die Aktualisierung vollzieht sich in drei Reihen, im Raum, in der Zeit, aber
auch in einem Bewußtsein. Jede raum-zeitliche Dynamik ist die Emergenz
eines elementaren Bewußtseins, das selbst die Richtungen weist, die Bewegun-
gen und Migrationen verdoppelt und an der Schwelle der Singularitäten ent-
steht, die im Verhältnis zum Körper oder Objekt, deren Bewußtsein es ist,
verdichtet sind. Es genügt nicht zu sagen, das Bewußtsein sei Bewußtsein von
Etwas, es ist der Doppelgänger dieses Etwas, und jedes Ding ist Bewußtsein,
weil es einen Doppelgänger besitzt, mag er ihm noch so fern oder fremd sein.
Die Wiederholung ist überall, in dem, was sich aktualisiert, ebenso wie in der
Aktualisierung. Sie ist zunächst in der Idee, sie durchläuft die Verhältnisvarie-
täten und die Verteilung der singulären Punkte. Sie bestimmt auch die Repro-
duktionen von Raum und Zeit, als Reprisen des Bewußtseins. Aber in all
diesen Fällen ist die Wiederholung die Macht der Differenz und der Differen-
zierung: sei es, daß sie die Singularitäten verdichtet, sei es, daß sie die Zeit
beschleunigt oder verlangsamt, sei es, daß sie die Räume variiert. Niemals
erklärt. sich die Wiederholung durch die Identitätsform im Begriff oder durch e
das Ähnliche in der Repräsentation. Sicher fördert die Blockierung des
Begriffs eine nackte Wiederholung zutage, die man tatsächlich als Wiederho-
lung des Selben repräsentiert. Wodurch aber wird der Begriff blockiert, wenn
nicht durch die Idee? Daher vollzieht sich, wie wir gesehen haben, die Blok-
kierung gemäß den drei Figuren des Raums, der Zeit und des Bewußtseins.
Der Exzeß der Idee ist es, der den Mangel des Begriffs erklärt. Und entspre-
chend ist es die verkleidete Wiederholung, die außerordentliche oder singuläre
Wiederholung, abhängig von der Idee - die die gewöhnliche und nackte
Wiederholung erklärt, diejenige, die vom Begriff abhängt und nur die Rolle
einer letzten Verkleidung spielt. In der Idee und ihrer Aktualisierung entdek-
ken wir zugleich den natürlichen Grund der Blockierung des Begriffs und den
übernatürlichen Grund einer Wiederholung, die über der vom blockierten
Begriff subsumierten Wiederholung steht. Was außerhalb des Begriffs bleibt,
verweist noch tiefer darauf, was innerhalb der Idee ist. Die Idee insgesamt ist
im mathematisch-biologischen System der Differentiation/zierung enthalten.
Mathematik und Biologie aber sind hier nur als technische Modelle zur Erfor-
schung der beiden Hälften der Differenz beteiligt, der dialektischen und der
ästhetischen Hälfte, der Darlegung des Virtuellen und des Prozesses der
Aktualisierung. Die dialektische Idee ist doppelt bestimmt, in der Varietät der
Differentialverhältnisse und in der Verteilung der korrelativen Singularitäten
(Differentiation). Die ästhetische Aktualisierung ist auf doppelte Weise
bestimmt, in der Spezifikation und in der Komposition (Differenzierung). Die
ID E E L L E SY N T H E S E DER DIFFERENZ 279

Spezifikation verkörpert die Verhältnisse, die Komposition die Singularitäten.


Die aktuellen Qualitäten und Teile, die Arten und Zahlen entsprechen dem
Element der Qualitabilität und dem Element der Quantitabilität in der Idee.
Wodurch aber wird der dritte Aspekt des zureichenden Grundes, das Element
der Potentialität der Idee verwirklicht? Zweifellos durch die präquantitative
und präqualitative Dramatisierung. Sie nämlich bestimmt oder provoziert, sie
differenziert die Differenzierung des Aktuellen, in ihrer Korrespondenz mit
der Differentiation der Idee. Woher aber rührt diese Macht der Dramatisie-
rung? Ist sie nicht - unterhalb der Arten und Teile, der Qualitäten und Zahlen -
der intensivste oder individuellste Akt? Wir haben nicht gezeigt, wodurch die
Dramatisierung bezüglich des Aktuellen wie in der Idee als Entfaltung des
dritten Elements des zureichenden Grundes begründet wurde.
FÜNFTES KAPITEL

ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN

Die Differenz ist nicht das Verschiedene. Das Verschiedene ist gegeben. Die
Differenz aber ist das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Sie ist das,
wodurch das Gegebene als Verschiedenes gegeben ist. Die Differenz ist nicht
das Phänomen, sondern das Noumenon, das dem Phänomen am nächsten
kommt. Es mag also zutreffen, daß Gott die Welt mit seinen Rechnungen
erschafft, aber diese Rechnungen gehen niemals auf, und diese Unstimmigkeit
im Ergebnis, diese irreduzible Ungleichung bildet die Bedingung der Welt.
Die Welt ,,entsteht“, während Gott rechnet; es gäbe keine Welt, wenn die
Rechnung aufginge. Die Welt ist stets einem ,,Rest“ gleichzusetzen, und das
Reale in der Welt kann nur in Form von Bruchzahlen oder gar inkommensu-
rablen Größen gedacht werden. Jedes Phänomen verweist auf die Unglei-
chung, die es bedingt, jede Verschiedenheit, jede Veränderung verweist auf
eine Differenz, die deren zureichenden Grund darstellt. Alles Geschehende
und Erscheinende ist korrelativ zu Differenzordnungen: Höhen-, Tempera-
tur-, Druck-;” Spannungs-, Potentialdifferenz, Intensitätsdifferenz. Das Car-
not-Prinzip formuliert es auf die eine, das Curie-Prinzip auf die andere
W e i s e ’ . Überall die Schleuse. Jedes Phänomen blitzt in einem System Signal/
Zeichen auf. Signal nennen wir das System, wie es durch mindestens zwei
heterogene Reihen, durch zwei disparate Ordnungen konstituiert oder
gesäumt wird, die miteinander in Kommunikation zu treten vermögen; das
Phänomen ist ein Zeichen, d.h. etwas, das in diesem System dank der Kom-
munikation der disparaten Ordnungen aufblitzt. ,,In seinen Facetten birgt der
Smaragd eine Nixe mit leuchtenden Augen . . .“: Jedes Phänomen entspricht
dem Typ ,,Nixe mit leuchtenden Augen“, ein Smaragd macht es möglich.
Jedes Phänomen ist zusammengesetzt, weil die beiden Reihen, die es säumen,
nicht nur heterogen sind, jede ist selbst aus heterogenen Termen zusammenge-

1 Zur Asymmetrie als ,,zureichendem Grund“ vgl. Louis Rougier: En marge de Curie,
de Carnot et d’Einstein, Paris 1922.
282 DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG

setzt, begrenzt durch heterogene Reihen, die entsprechend viele Unterphäno-


mene ergeben. Der Ausdruck ,,Intensitätsdifferenz“ ist eine Tautologie. Die
Intensität ist die Form der Differenz als Grund des Sinnlichen. Jede Intensität
ist differentiell, Differenz an sich selbst. Jede Intensität ist E-E’, worin E selbst
auf e-e’ und e auf E-E’ usw. verweist: Jede Intensität ist bereits eine Kopplung
(in der jedes Element des Paars seinerseits auf Elementenpaare einer anderen
Ordnung verweist) und offenbart damit den spezifisch qualitativen Inhalt der
Quantität2. Diesen Zustand der unendlich geteilten Differenz, die ins Unend-
liche widerhallt, nennen wir Disparität. Die Disparität, d. h. die Differenz oder
die Intensität (Intensitätsdifferenz) ist der zureichende Grund des Phänomens,
die Bedingung dessen, was erscheint. Mit seinem Turmalin kommt Novalis
den Bedingungen des Sinnlichen näher als Kant mit dem Raum und der Zeit.
Der Grund des Sinnlichen, die Bedingung dessen, was erscheint, ist nicht der
Raum und die Zeit, sondern das Ungleiche an sich, die Disparation, wie sie in
der Intensitätsdifferenz, in der Intensität als Differenz enthalten und bestimmt
1st.

Wir stoßen jedoch auf große Schwierigkeiten, wenn wir das Carnot-Prinzip
oder das Curie-Prinzip als regionale Manifestationen eines transzendentalen
Prinzips zu betrachten versuchen. Wir kennen nur Energieformen, die bereits
in der Ausdehnung lokalisiert und verteilt sind, wir kennen nur Ausdehnun-
gen, die bereits durch Energieformen qualifiziert sind. Die Energetik defi-
nierte eine Energie durch die Kombination zweier Faktoren, eines intensiven
und eines extensiven (etwa Kraft und Länge hinsichtlich der linearen Energie,
Oberflächenspannung und Oberfläche hinsichtlich der Oberflächenenergie,
Druck und Vo l umen hinsichtlich der Volumenenergie, Höhe und Gewicht

2 J.-H.Rosny, der Ältere (Boex-Borel): Les sciences et le ph&nw, Paris 1922, S. 18:
,,Die Energetik zeigt, daß alle Arbeit auf Temperatur-’ Potential-, Höhendifferenzen
zurückgeht, wie übrigens jede Beschleunigung Geschwindigkeitsdifferenzen bedingt:
Wahrscheinlich impliziert jede berechenbare Energie Faktoren der Form E-E’, in
denen E und E’ selbst Faktoren der Form e-e’ bergen . . . Wenn die Intensität bereits
eine Differenz ausdrückt’ so müßte zwangsläufig besser definiert werden, was man
darunter ZU verstehen hat, und insbesondere müßte man klarmachen’ daß sich die
Intensität nicht aus zwei homogenen Termen, sondern zumindest aus zwei Reihen
heterogener Terme zusammensetzen kann.” - In diesem äußerst gelungenen Buch
über die intensiven Quantitäten entwickelt Rosny zwei Thesen: 1. Die Ähnlichkeit
bedingt die Differenz’ die Differenzen sind es, die einander ähneln; 2. ,,allein die
Differenz macht das Sein faßbar“. Rosny war ein Freund Curies. In seinem Roman-
werk erfindet er eine Art intensiven Naturalismus, der sich daher an den beiden
äußersten Rändern der Intensitätsskala auf die prähistorischen Höhlen und auf die
zukünftigen Räume der science fiction hin öffnet.
ASYMMETRISCHE S YNTHESE DES S INNLICHEN 283

hinsichtlich der Schwerkraft, Temperatur und Entropie hinsichtlich der ther-


mischen Energie . . .). Es wird deutlich, daß die intensio (Intensität) in der
Erfahrung untrennbar ist von einer extensio (Extensität), durch die sie auf das
extensum (Ausdehnung) bezogen wird. Und unter diesen Bedingungen
erscheint die Intensität selbst den Qualitäten untergeordnet, die die Ausdeh-
nung erfüllen (physische Qualität erster Ordnung oder qualitas, sinnliche
Qualität zweiter Ordnung oder quale). Kurz, wir kennen Intensität nur als
bereits in einer Ausdehnung entfaltete und von Qualitäten verdeckte. Daher
rührt unser Bestreben, die intensive Quantität als empirischen und obendrein
schlecht begründeten Begriff zu betrachten, als eine unreine Mischung aus
einer sinnlichen Qualität und der Ausdehnung oder gar aus einer physischen
Qualität und einer extensiven Quantität.
Freilich würde dieses Bestreben ergebnislos bleiben, wenn die Intensität
ihrerseits nicht selbst ein entsprechendes Bestreben in der Ausdehnung, die
sie entfaltet, und unter der Qualität, die sie verdeckt, darbieten würde. Die
Intensität ist Differenz, diese Differenz aber strebt danach, sich in der Aus-
dehnung und unter der Qualität zu verneinen und zu tilgen. Freilich sind die
Qualitäten Zeichen und blitzen in der Spanne einer Differenz auf; aber sie
ermessen eben die Zeit eines Ausgleichs, d.h. die von der Differenz benö-
tigte Zeit, um sich in der Ausdehnung, in der sie sich verteilt, zu tilgen. Dies
ist der allgemeinste Inhalt der Prinzipien von Carnot, Curie, Le Chatelier
usw.: Die Differenz ist zureichender Grund von Veränderung nur in dem
Maße, wie diese Veränderung danach strebt, sie zu verneinen. Gerade auf
diese Weise erfährt das Kausalitätsprinzip im Prozeß der Signalisierung seine
kategorische physikalische Bestimmung: Für eine Reihe irreversibler
Zustände definiert die Intensität einen objektiven Sinn, und zwar als ein
,,Vektor der Zeit“, demzufolge man vom Differenzierteren zum weniger
Differenzierten, von einer produktiven Differenz zu einer reduzierten und
im äußersten Fall getilgten Differenz voranschreitet. Es ist bekannt, wie am
Ende des 19. Jahrhunderts diese Themen einer Reduzierung der Differenz,
einer Vereinheitlichung des Verschiedenen, eines Ausgleichs des Ungleichen
zum letzten Mal die Seltsamste Allianz stifteten: zwischen der Wissenschaft,
dem gesunden Menschenverstand und der Philosophie. Die Thermodynamik
war der mächtige Schmelzofen dieser Legierung. Es entwickelte sich ein
System von Basisdefinitionen, das alle und jeden zufriedenstellte, einen
gewissen Kantianismus inbegriffen: das Gegebene als Verschiedenes; die
Vernunft als Bestreben nach Identität, als Prozeß der Identifikation und des
Ausgleichs; das Widersinnige oder Irrationale als Widerstand des Verschie-
denen gegen jene identifizierende Vernunft. Die Worte ,,das Wirkliche ist
vernünftig” fanden hier einen neuen Sinn, denn die Verschiedenheit strebte
in gleichem Maße danach, in der Natur wie in der Vernunft aufzugehen. So
daß die Differenz weder ein Gesetz der Natur noch eine Kategorie des Gei-
stes sondern nur den Ursprung = x des Verschiedenen bildete: das Gege-
bene, nicht den ,,Wert” (mit Ausnahme eines regulativen oder kompensa-
284 DI F F E R E N Z UND W IEDERHOLUNG

torischen Werts)3. In Wahrheit würde unser epistemologisches Bestreben, den


Gedanken der intensiven Quantität anzuzweifeln, nichts beweisen, wenn es
nicht mit jenem anderen Bestreben zusammenginge, mit jenem Bestreben der
Intensitätsdifferenzen, sich in den qualifiziert& räumlichen Systemen zu til-
gen. Wir ziehen die Intensität nur deswegen in Zweifel, weil sie zum Selbst-
mord zu führen scheint.
Die Wissenschaft und die Philosophie verschafften hier also dem gesunden
Menschenverstand eine letzte Genugtuung. Denn was infrage steht, ist nicht
die Wissenschaft, die der Ausbreitung des Carnot-Prinzips gegenüber indiffe-
rent bleibt - und ebensowenig die Philosophie, die in gewisser Weise dem
Carnot-Prinzip selbst gegenüber indifferent bleibt. Immer wenn Wissenschaft,
Philosophie und gesunder Menschenverstand einander begegnen, hält sich der
gesunde Menschenverstand selber unvermeidlich für eine Wissenschaft und
eine Philosophie (weswegen diese Begegnungen mit größter Sorgfalt vermie-
den werden müssen). Es geht also um das Wesen des gesunden Menschenver-
Stands. Dieses Wesen wird von Hegel in Differenz des Fichteschen und Schel-
lingschen Systemes der Philosophie klar benannt: Der gesunde Menschenver-
stand ist die Halbwahrheit, sofern das Gefühl des Absoluten hinzutritt. Die
Wahrheit als Vernunft ist in ihm in unvollständiger Verfassung, und das
Absolute ist in ihm nur als Gefühl. Auf welche Weise aber tritt das Gefühl des
Absoluten zur Halbwahrheit hinzu? Der gesunde Menschenverstand ist we-
sentlich verteilend, aufteilend: einesteils und andernteils sind die Formeln
seiner Flachheit oder seiner falschen Tiefe. Er trägt dem Seinest& Rechnung.
Es versteht sich jedoch von selbst, daß nicht jede Verteilung dem gesunden
Menschenverstand entspricht: Es gibt Verteilungen des Wahnsinns, verrückte
Aufteilungen. Und vielleicht gehört es sogar zum gesunden Menschenver-
stand, daß er den Wahnsinn voraussetzt und daß er als zweiter antritt, um zu
korrigieren, was an einer vorangehenden Verteilung verrückt ist. Eine Vertei-
lung stimmt mit dem gesunden Menschenverstand überein, wenn sie durch
sich selbst danach strebt, die Differenz im Verteilten zu bannen. Nur unter der
Annahme, daß sich die Ungleichheit der Teile mit der Zeit und in der Mitte
tilgen wird, stimmt die Aufteilung tatsächlich mit dem gesunden Menschen-
verstand überein oder folgt einem Verstand, den man ,,gesund” nennt. Der
gesunde Menschenverstand ist von Natur aus eschatologisch, Prophet einer
endültigen Kompensation oder Vereinheitlichung. Wenn er als zweiter antritt,
so deswegen, weil er die verrückte Verteilung voraussetzt - die nomadische,

3 Vgl. Andre Lalande: Valeur de Za difference, in: Revue philosophique, April 195%
WO Andre Lalande seine Hauptthesen zusammenfa&. Die Position Emile Meyersons
ist sehr ähnlich, obwohl Meyerson die Rolle und den Sinn des Garnot-Prinzips ganz
anders bewertet. Er übernimmt aber dasselbe Definitionssystem. Ebenso Albert
Camus, der sich in Le mythe de Sisyphe [dt.: Der Mythos von Sisyphos] auf Nietz-
sehe, Kierkegaard und Schestow beruft, aber der Tradition Meyersons und Lalandes
wesentlich näher steht.
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 285

momentane Verteilung, die gekrönte Anarchie, die Differenz. Er aber, seßhaft


und geduldig, er, der über die Zeit verfügt, er korrigiert die Differenz, er tragt
sie in eine Mitte4, die die Tilgung der Differenzen oder die Kompensation der
Teile mit sich bringen muß. Er selbst ist die Mitte. Da er sich zwischen den
Extremen denkt, bannt er sie und füllt deren Zwischenraum. Er verneint nicht
die Differenzen, im Gegenteil; er veranlaßt vielmehr, daß sie sich verneinen,
und zwar unter den Bedingungen der Ausdehnung und in der Ordnung der Zeit.
Er multipliziert die Mittelglieder und ruht - wie der Schöpfergott Platons -
nicht eher, bis er in aller Geduld das Ungleiche im Teilbaren gebannt hat. Der
gesunde Menschenverstand ist die Ideologie des Mittelstands, der sich in der
Gleichheit als abstraktem Produkt wiedererkennt. Er träumt weniger vom
Handeln als davon, das natürliche Medium zu bilden, das Element einer
Handlung, die vom Differenzierteren zum weniger Differenzierten führt: so
der gesunde Menschenverstand der politischen Ökonomie im 18. Jahrhundert,
die in der Händlerklasse die natürliche Kompensation der Extreme und im
Florieren des Handels den mechanischen Prozeß des Ausgleichs der Anteile
sieht. Er träumt also weniger vom Handeln als von der Voraussicht und
davon, das Handeln als Seinesgleichen geschehen zu lassen, das vom Unvor-
hersehbaren zum Vorhersehbaren führt (von der Produktion der Differenzen
zu ihrer Reduktion). Weder kontemplativ noch aktiv ist er vorausschauend.
Kurz, er führt vom Seinesteils [Part des choses/ zum Teil des Feuers [Part du
f eu 1 j: von den produzierten Differenzen zu den reduzierten Differenzen. Er
ist thermodynamisch. In eben diesem Sinne fügt er der Halbwahrheit das
Gefühl des Absoluten hinzu. Er ist weder optimistisch noch pessimistisch; er
nimmt eine pessimistische oder optimistische Färbung an je nachdem, ob ihm
der Teil des Feuers, der alles erfaßt und alle Teile vereinheitlicht, von einem
unvermeidlichen Tod und einem unvermeidlichen Nichts gezeichnet erscheint
(wir sind alle gleich vor dem Tod), oder ob er im Gegenteil die glückliche
Fülle dessen, was ist, zu besitzen scheint (wir alle haben gleiche Chancen dem
Leben gegenüber). Der gesunde Menschenverstand verneint nicht die Diffe-
renz; er erkennt sie vielmehr an, er anerkennt aber gerade das, was nötig ist,
um zu bekräftigen, daß sie sich mit genügend Ausdehnung und Zeit verneint.
Zwischen der verrückten Differenz und der getilgten Differenz, zwischen dem
Ungleichen im Teilbaren und dem angeglichenen Teilbaren, zwischen der
Verteilung des Ungleichen und der verte:lten Gleichheit muß der gesunde
Menschenverstand zwangsläufig als Regel universaler Aufteilung und folglich
als universal Verteiltes gelebt werden.

’ Frz. milieu: d. h. hier auch ,,Medium“ [A.d.Ü.].


’ h-z. il va de Za part des choses d Za part du feu: Spiel mit den unübersetzbaren
Wendungen faire la part de qc (einer Sache Rechnung tragen) und faire la part du feu
(dem F euer überlassen, was nicht zu retten ist; etwas preisgeben, um anderes zu
retten) [A.d.Ü.].
286 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Der gesunde Menschenverstand gründet sich auf eine Synthese der Zeit, auf
eben jene, die wir als erste Synthese, als die Synthese der Gewohnheit
bestimmt haben. Der gesunde Menschenverstand ist gesund nur, weil er sich
Sinn und Verstand der Zeit nach dem Vorbild dieser Synthese aneignet. Indem
er eine lebendige Gegenwart (und die Ermüdung dieser Gegenwart) bezeugt,
führt er von der Vergangenheit zur Zukunft, vom Besonderen zum Allgemei-
nen. Er definiert aber diese Vergangenheit als das Unwahrscheinliche oder a,m
wenigsten Wahrscheinliche. Da nämlich der Ursprung jedes Teilsystems in
einer Differenz liegt, die sein Gebiet individualisiert - wie könnte dann ein im
System befindlicher Beobachter die Differenz anders denn als vergangen und
im höchsten Maße ,,unwahrscheinlich“ erfassen, da sie ja hinter ihm liegt? Im
Innern desselben Systems dagegen identifiziert der Vektor der Zeit, d.h. der
gesunde Menschenverstand: die Zukunft, das Wahrscheinliche, die Aufhebung
der Differenz. Diese Bedingung begründet die Voraussicht selbst (man hat oft
festgestellt, dai3 man bei allmählicher Differenzierung von Temperaturen, die
zunächst ununterscheidbar sind, nicht würde voraussehen können, welche
ansteigen und welche sinken wird; und daß die Viskosität mit zunehmender
Akzeleration die beweglichen Körper aus ihrer Ruhelage reif3en würde, aller-
dings in eine unvorhersehbare Richtung). Berühmte Passagen bei Boltzmann
kommentieren diese wissenschaftliche und thermodynamische Absicherung
des gesunden Menschenverstands; sie zeigen, wie sich in einem Teilsystem
einerseits Vergangenheit, Unwahrscheinliches und Differenz, andererseits
Zukunft, Wahrscheinliches und Einheitlichkeit miteinander identifizieren!
Diese Vereinheitlichung, dieser Ausgleich vollzieht sich nicht nur in jedem
Teilsystem, sondern träumt sich in einem wahrhaft universalen gesunden
Menschenverstand von einem System zum anderen fort, d. h. in einem univer-
salen Menschenverstand, der den Mond mit der Erde, das Gefühl des Absolu-
ten mit dem Zustand der Teilwahrheiten verbindet. Aber diese Verbindung ist
(wie Boltzmann zeigt) nicht legitim, sowenig diese Synthese der Zeit zurei-
chend ist.
Wir sind zumindest in der Lage, die Beziehungen zwischen gesundem Men-
schenverstand und Gemeinsinn zu präzisieren. Der Gemeinsinn definierte sich
subjektiv durch die angenommene Identität eines Ich als Einheit und Grund
aller Vermögen, objektiv durch die Identität des Objekts überhaupt, auf das
sich alle Vermögen beziehen sollen. Aber diese doppelte Identität bleibt sta-
tisch. So wenig wir das universale Ich sind, so wenig stehen wir dem universa-
len Objekt überhaupt gegenüber. Die Objekte sind durch und in Individua-
tionsfelder zerschnitten, ebenso das jeweilige Ich. Der Gemeinsinn mui3 sich
also auf eine andere, dynamische Instanz hin überschreiten, die das Objekt
überhaupt als dieses oder jenes zu bestimmen und das in eine derartige
Objektmenge versetzte Ich zu individualisieren vermag. Diese andere Instanz

6 Ludwig Bokzmann: Vorbungen über Gastheorie, Bd. 2, Leipzig 1898, S. 256 ff.
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 287

ist der gesunde Menschenverstand, der von einer Differenz am Ursprung der
Individuation ausgeht. Gerade aber weil er deren Verteilung in der Weise
gewährleistet, daf3 sie danach strebt, sich im Objekt aufzuheben; weil er eine
Regel vorschreibt, derzufolge die verschiedenen Objekte selbst danach stre-
ben, sich anzugleichen - und die verschiedenen Ichs danach, sich zu verein-
heitlichen -, überschreitet sich der gesunde Menschenverstand seinerseits auf
die Instanz des Gemeinsinns hin, die ihm die Form des universalen Ichs wie
des Objekts überhaupt verschafft. Der gesunde Menschenverstand besitzt also
selbst zwei Definitionen, eine objektive und eine subjektive, die denen des
Gemeinsinns entsprechen: Regel universaler Aufteilung, universal verteilte
Regel. Gesunder Menschenverstand und Gemeinsinn, beide verweisen jeweils
auf den anderen, beide reflektieren jeweils den anderen und bilden jeweils die
Hälfte der Orthodoxie. In dieser Wechselseitigkeit, in dieser doppelten Refle-
xion können wir den Gemeinsinn durch den Prozeß der Rekognition und den
gesunden Menschenverstand durch den Prozei3 der Voraussicht definieren.
Den einen als die qualitative Synthese des Verschiedenen, als statische
Synthese der qualitativen Verschiedenheit, die auf ein Objekt bezogen ist, das
für alle Vermögen desselben Subjekts als identisch angenommen wird; den
anderen als die quantitative Synthese der Differenz, als dynamische Synthese
der Quantitätsdifferenz, die auf ein System bezogen ist, in dem sie sich
objektiv und subjektiv tilgt.
Jedenfalls ist die D‘ff
1 erenz nicht das Gegebene selbst, sondern das, wodurch
das Gegebene gegeben ist. Wie könnte das Denken vermeiden, bis dahin zu
gehen, wie könnte es vermeiden zu denken, was sich am schärfsten dem
Denken widersetzt? Denn mit dem Identischen denkt man zwar alle seine
Kräfte, allerdings ohne den geringsten Gedanken zu haben; hat man nicht
demgegenüber im Differenten den höchsten Gedanken, den man allerdings
nicht denken kann? Dieser Einspruch des Differenten ist voll des Sinns. Selbst
wenn die Differenz danach strebt, sich im Verschiedenen zu verteilen, um
darin zu verschwinden, wenn sie danach strebt, dieses von ihr erzeugte Ver-
schiedene zu vereinheitlichen, muß sie zunächst als das empfunden werden,
wodurch das Verschiedene der Empfindung gegeben ist. Und sie muß als das
gedacht werden, wodurch das Verschiedene erzeugt wird. (Nicht daß wir nun
zum gemeinsamen Gebrauch der Vermögen zurückkehrten, sondern weil die
dissoziierten Vermögen eben jenes Gewaltverhältnis eingehen, in das eines
seinen Zwang jeweils auf das andere überträgt.) Am Grund des gesunden
Menschenverstands befindet sich das Delirium, und darum ist der gesunde
Menschenverstand stets sekundär. Das Denken muß die Differenz denken,
jenes vom Denken absolut Differente, das dennoch zu denken aufgibt, ihm
einen Gedanken verschafft. In einer sehr schönen Passage sagt Lalande, die
Realität sei Differenz, während das Gesetz der Realität, als das Prinzip des
Denkens, die Identifikation sei: ,,Die Realität steht also im Gegensatz- zum
Gesetz der Realität, der aktuelle Stand im Gegensatz zu seinem Werden. Wie
konnte ein derartiger Sachverhalt entstehen? Wie wird die physische Welt
288 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

durch eine grundlegende Eigenschaft konstituiert, die durch ihre eigenen


Gesetze fortwährend abgeschwächt wird?“‘. Das heißt also: Das Reale ist
nicht das Ergebnis der Gesetze, die es beherrschen, und ein saturnischer Gott
verschlingt an einem Ende, was er am anderen gemacht hat, erläf3t Gesetze
gegen seine Schöpfung, da er gegen seine Gesetzgebung erschafft. Damit sind
wir genötigt, die Differenz sowohl zu empfinden wie zu denken. Wir empfin-
den etwas, das den Gesetzen der Natur entgegengesetzt ist, wir denken etwas,
das den Prinzipien des Denkens entgegensteht. Und selbst wenn die Hervor-
bringung der Differenz definitionsgern8 ,,nicht explizierbar” ist, wie läßt sich
dennoch vermeiden, daß das Nicht-Explizierbare im Innern des Denkens
selbst impliziert wird? Wie wäre das Undenkbare nicht im Zentrum des
Denkens? Und das Delirium nicht im Zentrum des gesunden Menschenver-
stands? Wie könnte man sich damit begnügen, das Unwahrscheinliche an den
Beginn einer Teilevolution zu verbannen, ohne es zugleich als höchste Macht
der Vergangenheit, als das Unvordenkliehe im Gedächtnis zu begreifen?
(Gerade in diesem Sinne stieß uns die Teilsynthese der Gegenwart bereits in
eine andere Synthese der Zeit, des Unvordenklichen Gedächtnisses, die uns
dann vielleicht noch tiefer hinabstürzt . . .)
Die Philosophie manifestiert sich nicht im gesunden Menschenverstand, son-
dern im Paradox. Das Paradox ist Pathos oder Passion der Philosophie. Es
gibt allerdings mehrere Arten von Paradox, die sich den komplementären
Formen der Orthodoxie, dem gesunden Menschenverstand und dem Gemein-
sinn, entgegenstellen. Subjektiv bricht das Paradox den gemeinsamen
Gebrauch auf und führt jedes Vermögen an seine eigene Grenze, an sein
Unvergleichbares, das Denken an das Undenkbare, das jedoch allein durch es
gedacht werden kann, das Gedächtnis an das Vergessen, das zugleich sein
Unvordenkliches ist, die Sinnlichkeit an das Unsinnliche, das mit seinem
Intensiven verschmilzt.. . Zugleich aber überträgt das Paradox dieses Verhält-
nis, das nicht dem gesunden Menschverstand entspricht, auf die aufgebroche-
nen Vermögen und situiert sie auf einer vulkanischen Linie, die eines durch
den Funken des anderen auflodern läßt, von einer Grenze zur anderen sprin-
gend. Und objektiv macht das Paradox das Element geltend, das sich nicht in
einem gemeinsamen Zusammenhang totalisieren läßt, aber auch die Differenz,
die sich nicht in Richtung eines Gemeinsinns ausgleichen oder tilgen läßt.
Zurecht sagt man, die einzige Widerlegung der Paradoxa liege im gesunden
Menschenverstand und Gemeinsinn selbst; aber nur unter der Bedingung, daf3
man ihnen schon alles überträgt, die Rolle des Richters samt der der Partei,
das Absolute samt der Halbwahrheit.

’ Andre Lalande: Les illusions hoZutionn&s, Paris 1930, S. 347-348. Und S. 378:
,,Die Hervorbuingungung der Differenz - eine Sache, die den allgemeinen Gesetzen
des Denkens entgegensteht - ist, streng genommen, ~zbbt explizierbar.”
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 289

Dafl die Differenz buchstäblich ,,nicht-explizierbar“ sei, ist kein Grund zur
\rerwunderung. Die Differenz expliziert sich, sie strebt aber gerade danach,
sich im System, in dem sie sich expliziert, zu tilgen. Was blof3 bedeutet, dai3
die Differenz wesentlich impliziert ist, daß das Sein der Differenz die Implika-
tion ist. Sich explizieren heißt für sie, sich zu tilgen, die sie konstituierende
Ungleichheit zu bannen. Die Formel ,,Explizieren heißt identifizieren“ stellt
eine Tautologie dar. Aus ihr läßt sich nicht folgern, daß sich die Differenz
tilgt, zumindest an sich tilgt. Sie tilgt sich, sofern sie außer sich gebracht wird,
in die Ausdehnung und in die Qualität, die diese Ausdehnung ausfüllt. Diese
Qualität wie diese Ausdehnung aber werden durch die Differenz geschaffen.
Die Intensität expliziert sich, entfaltet sich in einer Extension (extensio).
Durch diese Extension wird sie auf die Ausdehnung (extensum) bezogen, in
der sie außerhalb ihrer selbst erscheint, verdeckt durch die Qualität. Die
Intensitätsdifferenz tilgt sich in diesem System oder strebt danach, sich in ihm
zu tilgen; sie aber ist es, die dieses System erschafft, indem sie sich expliziert.
Daher der doppelte Aspekt der Qualität als Zeichen: Sie verweist auf eine
implizierte Ordnung von konstitutiven Differenzen, und sie strebt danach,
diese in der räumlichen Ordnung, durch die sie expliziert werden, zu tilgen.
Darum findet auch die Kausalität in der Signalisierung zugleich einen Ur-
sprung und eine Ausrichtung, eine Bestimmungsrichtung, wobei diese den
Ursprung in gewisser Weise widerlegt. Und das Eigentümliche der Wirkung
im kausalen Sinn liegt darin, einen ,,Effekt” in perzeptiver Hinsicht hervorzu-
rufen und mit einem Eigennamen belegt werden zu können (Seebeck-Effekt,
Kelvin-Effekt . . .), weil diese Wirkung in einem spezifisch differentiellen Indi-
viduationsfeld erscheint, das durch den Namen symbolisiert werden kann.
Gerade das Schwinden der Differenz läßt sich nicht von einem ,,Effekt“
trennen, dessen Opfer wir sind. Als Intensität bleibt die Differenz an sich
selbst impliziert, wenn sie sich durch ihre Explizierung in der Ausdehnung
tilgt. Um das Universum vor dem Wärmetod zu retten oder die Aussichten
der ewigen Wiederkunft zu wahren, ist es daher nicht nötig, sich höchst
,,unwahrscheinliche“ extensive Mechanismen vorzustellen, von denen man
sich die Fähigkeit zur Wiederherstellung der Differenz verspricht. Denn die
Differenz ist weiterhin an sich, ist weiterhin an sich impliziert, wenn sie sich
aufierhalb ihrer selbst expliziert. Es gibt also nicht nur Sinnestäuschungen,
sondern eine transzendentale physikalische Illusion. Wir glauben, daß in die-
ser Hinsicht Leon Selme eine grundlegende Entdeckung gemacht hatte*. Als er
Garnot Clausius gegenüberstellte, wollte er zeigen, daß die Zunahme an En-
tropie trügerisch war. Er gab gewisse empirische oder kontingente Faktoren
der Täuschung an: die relative Geringfügigkeit der in den thermischen Ma-
schinen realisierten Temperaturdifferenzen, das große Ausmaß von Amortisie-
rungen, das die Herstellung eines ,,thermischen Widders“ auszuschließen

’ Eon Selme: Principe de Garnot contre formule empirique de Clausius, Paris 1917.
290 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

scheint. Vor allem aber stellte er eine transzendentale Form der Illusion her-
aus: Von allen Extensionen ist die Entropie die einzige, die nicht direkt
meßbar ist, sie ist nicht einmal indirekt durch ein von der Energetik unabhan-
@ges Verfahren mef3bar; wenn es sich ebenso mit dem Volumen oder der
Elektrizitätsmenge verhielte, so wäre der Eindruck unabweisbar, daß sie in
den irreversiblen Umwandlungen anwachsen würden. Das Paradox der Entro-
pie ist folgendes: Die Entropie ist ein extensiver Faktor, im Unterschied aber
zu allen anderen extensiven Faktoren ist sie eine Extension, eine ,,Explika-
tion” , die als solche in der Intensität impliziert wird, nur als implizierte
existiert, nicht außerhalb der Implikation existiert, und dies deswegen, weil sie
als Ermögfichung der allgemeinen Bewegung fungiert, durch die sich das
Implizierte expliziert oder Ausdehnung verschafft. Es gibt also eine transzen-
dentale Illusion, die wesentlich an die qdita Wärme und an die Extension
Entropie geknüpft ist.
Es ist bemerkenswert, daß die Ausdehnung nicht den Individuationen Rech-
nung trägt, die sich in ihr ergeben. Sicher sind Oben und Unten, Rechts und
Links, Form und Hintergrund individuierende Faktoren, die in der Ausdeh-
nung Stürze und Aufstiege, Ströme, Einbrüche vorzeichnen. Ihr Wert ist -
allerdings nur relativ, da sie sich in einer bereits entfalteten Ausdehnung
vollziehen. Daher entstammen sie auch einer ,,tieferen“ Instanz: der Tiefe
selbst, die keine Extension, sondern reines implex ist. Sicher ist jede Tiefe eine
mögliche Länge, eine mögliche Breite. Aber diese Möglichkeit verwirklicht
sich nur, sofern ein Beobachter seinen Standort wechselt und in einem
abstrakten Begriff zusammenfaßt, was Länge für ihn selbst und Länge für
einen anderen ist: In Wirklichkeit ist es stets eine neue Tiefe, von der aus die
frühere Tiefe L”ange geworden ist oder sich als Länge expliziert. Es macht
offenbar keinen Unterschied, ob man eine einfache Ebene oder eine dreidi-
mensionale Ausdehnung betrachtet, deren dritte Dimension homogen mit den
beiden anderen ist. Sowie die Tiefe als extensive Quantität erfaßt ist, wird sie
Teil der erzeugten Ausdehnung und enthält an sich nicht länger ihre eigene-
Heterogenität im Verhältnis zu den beiden anderen. Dann stellen wir fest, da&
sie die letzte Dimension der Ausdehnung ist, aber wir konstatieren dies nur als
ein Faktum, ohne dessen Grund zu begreifen, da wir ja nicht mehr wissen, daß
sie ursprünglich ist. Ebenso stellen wir dann die Präsenz individuierender
Faktoren in der Ausdehnung fest, ohne allerdings zu begreifen, woher ihre
Macht rührt, da wir nicht mehr wissen, daß sie die ursprüngliche Tiefe aus-
drücken. Die Tiefe ist es, die sich in Links und Rechts in der ersten Dimen-
sion, in Oben und Unten in der zweiten, in Form und Hintergrund in der
homogenisierten dritten ausdrückt. Die Ausdehnung erscheint nicht, entfaltet
sich nicht, ohne eine linke und eine rechte Seite, ein Oben und ein Unten, eine
Ober- und eine Unterseite vorzuführen, die gleichsam die asymmetrischen
Markierungen ihres eigenen Ursprungs sind. Und die Relativität dieser Be-
stimmungen belegt noch das Absolute, dem sie entstammen. Die Ausdehnung
insgesamt geht aus den Tiefen hervor. Die Tiefe als heterogene (letzte und
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 291

ursprüngliche) Dimension ist die Matrix der Ausdehnung, einschließlich der drit-
ten Dimension, die man als homogen mit den beiden anderen betrachtet.
Insbesondere ist der Hintergrund uon@, wie er in einer homogenen Ausdeh-
nung erscheint, eine Projektion des ,,Tiefen“ [~rofon~~: Dieses allein kann
Ungrund [i.O.dt.] oder grundlos [&zns fand] genannt werden. Niemals würde
das Gesetz von Form und Hintergrund für ein Objekt gelten, das sich von
neutralem Grund oder vom Hintergrund anderer Objekte abhebt, wenn nicht
das Objekt selbst zunächst einen Bezug zu seiner eigenen Tiefe unterhielte.
Die Relation zwischen Form und Hintergrund ist nur eine äußerliche plane
Relation, die eine innere und dichte Beziehung der Oberflächen zur Tiefe, die
sie umhüllen, bedingt. Diese Synthese der Tiefe, die das Objekt mit seinem
Schatten versieht, es aber aus diesem Schatten hervortreten läßt, bezeugt die
fernste Vergangenheit wie die Koexistenz der Vergangenheit mit der Gegen-
wart. Man sollte sich nicht darüber wundern, daß die reinen räumlichen
Synthesen hier die vorher bestimmten zeitlichen Synthesen aufgreifen: Die
Explikation der Ausdehnung beruht auf der ersten Synthese, der Synthese der
Gewohnheit oder der Gegenwart; die Implikation der Tiefe aber beruht auf
der zweiten Synthese, auf der Synthese des Gedächtnisses und der Vergangen-
heit. Allerdings muß man in der Tiefe die Nähe und das Brodeln der dritten
Synthese erahnen, die das universale ,,Zu-Grunde-Gehen“ [effondement]
ankündigt. Die Tiefe entspricht der berühmten geologischen Linie von Nord-
ost nach Südwest, jener Linie, die diagonal aus dem Innersten der Dinge
stammt und die Vulkane verteilt, um eine brodelnde Sinnlichkeit mit einem
Denken zu vereinen, das ,,in seinem Krater donnert”. Schelling wußte es
auszusprechen: Die Tiefe tritt nicht von außen zur Länge und zur Breite
hinzu, sondern bleibt vergraben als das erhabene Prinzip des Streits, der sie
erschafft.
Daß die Ausdehnung aus den Tiefen hervorgeht, ist nur möglich, wenn sich
die Tiefe unabhängig von der Ausdehnung definieren läßt. Die Ausdehnung,
deren Genese wir zu ermitteln versuchen, ist die extensive Größe, das
extensum oder der Referenzterm aller extensiones. Demgegenüber ist die
ursprüngliche Tiefe zwar der Raum insgesamt, allerdings als intensive Quanti-
tät: reines sputium. Wir wissen, daß Empfindung oder Wahrnehmung einen
ontologischen Aspekt besitzen: eben in den Synthesen, die ihnen entsprechen,
angesichts dessen, was nur empfunden, oder dessen, was nur wahrgenommen
werden kann. Nun wird deutlich, daß die Tiefe in der Wahrnehmung der
Ausdehnung wesentlich impliziert ist: Man beurteilt die Tiefe und die Entfer-
nungen- nicht nach der erscheinenden Größe der Objekte, vielmehr schließt,
im Gegenteil, die Tiefe in sich selbst die Entfernungen ein, die sich ihrerseits
in den erscheinenden Größen explizieren und sich in der Ausdehnung entfal-
ten. Ebenso wird deutlich, daß die Tiefe und die Entfernungen in diesem
Status von Implikation grundlegend an die Intensität der Empfindung gebun-
den sind: Das Degradationsvermögen der empfundenen Intensität ist es, das
eine Wahrnehmung der Tiefe verschafft (oder eher der Wahrnehmung Tiefe
292 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

verleiht).. Die wahrgenommene Qualität setzt die Intensität voraus, weil sie
nur ein Ahnlichkeitsmerkmal für einen ,,Schnitt isolierbarer Intensitäten“ aus-
drückt, innerhalb dessen Grenzen sich ein beharrliches Objekt konstituiert -
das qualifizierte Objekt, das seine Identität über die variablen Distanzen
hinweg behauptet’. Die Intensität, die die Entfernungen umhüllt, expliziert
sich in der Ausdehnung, und die Ausdehnung entfaltet , entäußert oder homo-
genisiert diese Entfernungen selbst. Gleichzeitig wird diese Ausdehnung dur&
eine Qualität besetzt, sei es als qUdlitd~, die das Medium eines Sinns definiert,
sei es als qde, das ein entsprechendes Objekt in Verhältnis zu diesem Sinn
kennzeichnet. Die Intensität ist zugleich das Unsinnliche wie das, was nur
empfunden werden kann. Wie könnte sie für sich selbst empfunden werden,
unabhängig von den Qualitäten, die sie verdecken, und unabhängig von der
Ausdehnung, in der sie sich verteilt? Wie aber könnte sie anderes als ,,empfun-
den” sein, da sie es doch ist, die empfinden macht und die spezifische Grenze
der Sinnlichkeit definiert? Die Tiefe ist zugleich das Nicht-Wahrnehmbare
und das, was nur wahrgenommen werden kann (in diesem Sinne nennt Paliard
sie bedingend und bedingt zugleich und belegt die Existenz eines umgekehrten
Ergänzungsverhältnisses zwischen der Entfernung als ideeller Existenz und
der Entfernung als visueller Existenz). Zwischen Intensität und Tiefe bahnt
sich bereits die Seltsamste Allianz an, die Allianz des Seins mit sich in der
Differenz, die jedes Vermögen an seine eigene Grenze heranführt und sie nur
auf dem Gipfel ihrer jeweiligen Einsamkeit miteinander kommunizieren läßt.
Im Sein sind Tiefe und Intensität das Selbe - das Selbe aber, das sich von der
Differenz aussagt. Die Tiefe ist die Intensität des Seins, oder umgekehrt. Und
aus dieser intensiven Tiefe, aus diesem spatium gehen zugleich die extensio und
das extensum, die qzditas und das qude hervor. Die Vektoren, die vektoriel-

9 A. Zur Umhüllung oder ,,Implikation der Tiefe in der Wahrnehmung der Ausdeh-
nung vgl. das allgemein so bedeutende und allzu verkannte Werk von Jacques
Paliard. (Paliard analysiert die ImpZirt?dtionsforrnen und zeigt die Wesensdifferenz
zwischen dem Denken, das er implizit nennt, und dem expliziten Denken. Insbeson-
dere Pensee imphcite et perception visuelle, Paris 1949, S. 6: ,,Es gibt nicht nur ein
umhülltes Implizites, sondern auch ein umhüllendes Implizites“; und S. 46: ,,Dieses
implizite Wissen [. . .] ist uns zugleich als ein umhüllendes erschienen, wie die Tiefe
oder die synthetische Affirmation eines sichtbaren Universums, und als ein umhüll-
tes, wie die mannigfaltigen Anst&, durch die sich die Einzelheiten miteinander
verschwören, die mannigfaltigen Entfernungsrelationen im Innern der Tiefe selbst
[. . .].“)
B. Zum intensiven Charakter der Wahrnehmung der Tiefe und zum Status der daraus
sich ableitenden Qualität vgl. Maurice Pradines: Trait@ & Psychologie g&&-ale, Paris
1943, Bd. 1, S. 405-431 und 554-569.
C. Und zum intensiven Raum und zu den räumlichen Operationen intensiven Cha-
rakters aus der Sicht der Aktivität vgl. Jean Piaget: Introduction 2 I’+i&nologie
ghzktique, Paris 1949, Bd. 1, S. 75 ff. und Hoff.
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 293

/en Gröflen, die die Ausdehnung durchmessen, aber auch die skalaren Großen
als besondere Fälle von Vektorenpotentialen, sind der ewige Zeuge des inten-
siven Ursprungs: so etwa die Höhen. Die Tatsache, daß sie sich nicht in
beliebiger Richtung addieren lassen oder daß sie sogar einen wesentlichen
Bezug ZU einer sukzessiven Ordnung aufweisen, bringt uns zur Synthese der
Zeit zurück, die sich in der Tiefe vollzieht.
Kant definiert alle Anschauungen als extensive Quantitäten, d. h. derart, daß
die Repräsentation” der Teile notwendig die Repräsentation des Ganzen
ermöglicht und ihr vorangeht. Raum und Zeit aber präsentieren sich nicht,
wie sie repräsentiert werden. Im Gegenteil, die Präsentation des Ganzen ist
es, die die Möglichkeit der Teile begründet, da diese nur virtuell sind und
sich nur in den bestimmten Werten der empirischen Anschauung aktualisie-
ren. Extensiv ist die empirische Anschauung. Gerade an dem Punkt, an dem
Kant dem Raum wie der Zeit eine logische Extension abspricht, liegt sein
Fehler darin, ihm eine geometrische Extension zu bewahren und die inten-
sive Qualität einer Materie vorzubehalten, die eine Ausdehnung bis zu die-
sem oder jenem Grad ausfüllt. In den enantiomorphen Körpern erkannte
Kant exakt eine innere Differenz; da sie aber nicht begrifflich ist, konnte sie
sich ihm zufolge nur auf eine äußere Relation zur Ausdehnung insgesamt als
einer extensiven Größe beziehen. In Wirklichkeit besitzt das Paradox
symmetrischer Objekte - wie all das, was die linke und die rechte Seite,
Oben und Unten, Form und Hintergrund betrifft - eine intensive Quelle.
Der Raum als reine Anschauung, spatium, ist intensive Quantität; und die
Intensität als transzendentales Prinzip ist nicht bloß Antizipation der Wahr-
nehmung, sondern die Quelle einer vierfachen Genese, der Genese der
extensiones als Schemata, der Ausdehnung als extensiver Größe, der qualitas
als Materie, die die Ausdehnung besetzt, des quale als Objektbezeichnung.
Daher hat Hermann Cohen recht, wenn er in seiner Neuinterpretation des
Kantianismus dem Prinzip der intensiven Quantitäten einen vollgültigen
Wert verleiht”. Wenn es stimmt, daß sich der Raum nicht auf den Begriff
reduzieren läßt, so kann man deswegen nicht seine Verwandtschaft mit der
Idee leugnen, d.h. seine Fähigkeit (als intensives spatium), die Aktualisierung
der idealen Bindungen (als in der Idee enthaltener Differentialverhältnisse) in
der Ausdehnung zu bestimmen. Und wenn es stimmt, daß sich die Bedin-

10 Frz. repre’sen tation, d. h. auch


,,Vorstellung”. Die folgende Gegenüberstellung von
reprhentation und prbentation verweist auch auf die kantische Gegenüberstellung
von ,,Vorstellung“ und ,,Darstellung“ [A.d.Ü.].
” Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1918 (3) (Nachdruck in:
Werke 1, Hildesheim, Zürich und New York 1987), S. 544ff. - Zur Rolle der
intensiven Qualitäten in Cohens Interpretation des Kantianismus vgl. die Kommen-
tare von Jules Vuillemin: L’hhitage kantien et la rkuolution copernicienne, Paris
1954, S. 183-202.
294 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

gungen möglicher Erfahrung auf die Extension beziehen, so bestehen nichts-


destoweniger Bedingungen realer Erfahrung, die unterschwellig mit der Inten-
sität als solcher verschmelzen.

Die Intensität hat drei Merkmale. Einem ersten Merkmal zufolge umfaßt die
intensive Quantität das Ungleiche an sich. Sie repräsentiert die Differenz in
der Quantität, sie repräsentiert, was es an Unaufhebbarem in der Quantitäts-
differenz, an Unausgleichbarem in der Quantität selbst gibt: Sie ist also die
eigentliche Qualität der Quantität. Sie erscheint weniger als eine Art der
Gattung Quantität denn als die Figur eines grundlegenden oder ursprüngli-
chen Moments, das in jeder Quantität gegenwärtig ist. Und das bedeutet, daß
die extensive Quantität auf der anderen Seite die Figur eines anderen Moments
ist, das eher die quantitative Bestimmungsrichtung oder Finalität (in einem
numerischen Teilsystem) markiert. In der Geschichte der Zahl sieht man
deutlich, d aß je
. der systematische Typus auf einer wesentlichen Ungleichheit
aufgebaut ist und diese Ungleichheit im Verhältnis zum untergeordneten
Typus aufrechterhält: So nimmt der Bruch die Unmöglichkeit in sich auf, das
Verhältnis zweier Größen einer ganzen Zahl anzugleichen, drückt die irratio-
nale Zahl ihrerseits die Unmöglichkeit aus, für zwei Größen einen gemeinsa-
men aliquoten Teil zu bestimmen und folglich ihr Verhältnis noch einer
Bruchzahl anzugleichen usw.
Freilich bleibt kein Zahlentyp in seinem Wesen auf eine Ungleichheit ver-
pflichtet, ohne sie in der neuen von ihm errichteten Ordnung zu bannen oder
zu tilgen: Die Bruchzahl kompensiert ihre charakteristische Ungleichheit
durch die Gleichheit d e s aliquoten Teils; die irrationale Zahl ordnet ihre
Ungleichheit einer Gleichheit rein geometrischer Verhältnisse unter, oder bes-
ser, in arithmetischer Hinsic ht: einem Grenzwert an Gleichheit, der durch ’
eine konvergierende Reihe rationaler Zahlen markiert wird. Hier aber stoßen
wir bloß wieder auf die Dualität der Explikation und des Impliziten, der
Ausdehnung und des Intensiven; wenn nämlich die Zahl ihre Differenz tilgt,
so nur durch deren Explizierung in der von ihr eingeführten Extension. Sie
bewahrt sie aber an sich in der implizierten Ordnung, durch die sie selbst
begründet wird. Jede Zahl ist ursprünglich intensiv, vektoriell, sofern sie eine
strenggenommen untilgbare Quantitätsdifferenz impliziert; sie ist aber exten-
siv und skalar, sofern sie diese Differenz auf einer anderen von ihr geschaffe-
nen Ebene, in der sie sich expliziert, tilgt. Noch der einfachste Zahlentyp
bestätigt diese Dualität: Die natürliche Zahl ist zunächst Ordnungszahl d.h.
ursprünglich intensiv. Daraus resultiert die Kardinalzahl und präsentiert sich
als Explikation der Ordnungszahl. Man erhebt oft den Einwand, daß das
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 295

Ordnen nicht am Ursprung der Zahl stehen könne, weil sie bereits kardinale
Operationen von Kolligation impliziere. Das aber deshalb, weil man die
Formel nicht richtig versteht: Die Kardinalzahl resultiert aus der Ordnungs-
zahl. Das Ordnen setzt keineswegs die Wiederholung ein und derselben Ein-
heit voraus, die sich immer dann ,,kardinalisieren“ müßte, wenn man zur
nächsten Ordnungszahl gelangt. Die ordinale Konstruktion impliziert nicht
eine als dieselbe vorausgesetzte Einheit, sondern nur, wie wir sehen werden,
einen irreduziblen Begriff von Entfernung - Entfernungen, die in der Tiefe
eines intensiven spatium impliziert werden (geordnete Differenzen). Die
identische Einheit wird nicht durch das Ordnen vorausgesetzt; im Gegenteil,
sie kommt der Kardinalzahl zu. und bedingt in der Kardinalzahl eine exten-
sive Gleichheit, eine relative Aquivalenz von exteriorisierten Termen. Man
muß sich also davor hüten zu glauben, die Kardinalzahl resultiere analytisch
aus der Ordnungszahl oder aus jedem letzten Term einer endlichen ordina-
len Reihe (der vorangehende Einwand wäre dann begründet). In Wirk-
lichkeit wird die Ordnungszahl Kardinalzahl nur durch Extension, insofern
sich die im spatium eingehüllten Entfernungen explizieren oder entfalten und
sich in einer Ausdehnung angleichen, die durch die natürliche Zahl einge-
führt wird. Und das heißt, daß der Begriff der Zahl von Anfang an synthe-
tisch ist.
Die Intensität ist das Untilgbare in der Quantitätsdifferenz, diese Quantitäts-
differenz aber tilgt sich in der Extension, wobei Extension eben der Prozeß ist,
durch den die intensive Differenz aus sich herausgetrieben und derart verteilt
wird, daß sie in der von ihr geschaffenen Ausdehnung gebannt, kompensiert,
ausgeglichen, aufgehoben ist. Wieviele Operationen aber sind notwendig und
müssen in diesen Prozeß eingreifen ! Eine wunderbare Passage aus dem
Timaios stellt das Teilbare und das Unteilbare einander gegenüber12. Wesent-
lich ist, daß das Teilbare als das definiert wird, was an sich das Ungleiche
enthält, während das Unteilbare (das Selbe oder das Eine) ihm eine Gleichheit
aufzuzwingen versucht, die es gefügig machen soll. Nun beginnt der Gott,
eine Mischung aus beiden Elementen herzustellen. Weil aber eben B, das
Teilbare, sich der Mischung entzieht und seine Ungleichheit, seine Ungerad-
heit geltend macht, erhält der Gott nur: A + B/2 = C. So daß er eine zweite
Mischung herstellen muß: A + B/2 + C, das heißt: A + B/2 + (A + B/2). Da
aber auch diese Mischung noch widerspenstig ist, muß er deren Aufruhr
bannen: Er teilt sie gemäß zweier arithmetischer Reihen auf, die eine mit der
Differenz 2, die auf das Element A verweist (1, 2, 4, S), die andere mit der
Differenz 3, die auf C verweist und die Ungeradheit von B respektiert (1, 3, 9,
27). Damit steht der Gott nun Intervallen gegenüber, Entfernungen, die über-
brückt werden müssen: Er tut dies mit zwei Mittelgliedern, von denen das

12 Platon: Timaios, 35-37.


296 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

eine arithmetisch (A entsprechend), das andere harmonisch (C entsprechend)


ist. Daraus ergeben sich Verhältnisse und Verhältnisse zwischen diesen Ver-
hältnissen, die über die gesamte Mischung hinweg die Aufgabe verfolgen,
das Ungleiche im Teilbaren einzukreisen. Allerdings muß der Gott das
Ganze in zwei Teile spalten, beide überkreuzen, dann zu zwei Kreisen
umbiegen, von denen der äußere das Gleiche als Bewegung des Selben
umfaßt und der andere, der innere, an einer Diagonalen ausgerichtet, dasje-
nige einbehält, was an Ungleichheit im Teilbaren fortbesteht, indem es auf
sekundäre Kreise verteilt wird. Zuletzt hat der Gott nicht das Ungleiche an
sich besiegt; er hat ihm nur das Teilbare entrissen, hat es nur mit einem
Kreis von Exteriorität umgeben, xtiizhoc E&&EY. Er hat das Teilbare in der
Extension ausgeglichen, unter dieser Extension aber, die die der Weltseele
ist, in der tiefsten Tiefe des Teilbaren, rumort noch das Ungleiche in der
Intensität. Dem Gott ist das egal; denn er füllt jede Extension der Seele mit
der Ausdehnung der Körper und ihren Qualitäten. Er überdeckt alles. Er
tanzt aber auf einem Vulkan. Nie hat man soviele Operationen, die verschie-
densten und wahnwitzigsten, aufgebracht, um aus den Tiefen eines intensi-
ven spatium eine heitere und gefügige Ausdehnung zu gewinnen und eine
Differenz zu bannen, die an sich fortbesteht, selbst wenn sie sich außerhalb
ihrer selbst tilgt. Immer wird das Werk des Gottes durch die dritte Hypo-
these des Parmenides, die Hypothese des differentiellen oder intensiven
Augenblicks, bedroht.
Ein zweites Merkmal ergibt sich aus dem ersten: Da sie das Ungleiche an
sich enthält und bereits Differenz an sich ist, bejaht die Intensität die Diffe-
renz. Sie macht aus der Differenz einen Gegenstand von Bejahung. Curie
bemerkte, daß es bequem aber fatal wäre, von der Asymmetrie in negativen
Begriffen - als Mangel an Symmetrie - zu sprechen, ohne positive Aus-
drücke zu erfinden, die die Unendlichkeit der Operationen von Nicht-Über-
deckung zu bezeichnen vermögen. Dasselbe gilt für die Ungleichheit: durch
Ungleichungen entdeckt man die affirmative Formel der irrationalen Zahl
(für die ganzen Zahlen p und 4 wird jede Zahl (p - &2 stets einen ge-
wissen Wert überschreiten). Durch Ungleichungen auch weist man positiv
die Konvergenz einer Reihe nach (die Majorantenfunktion). Das für eine
negationslose Mathematik so wichtige Unternehmen gründet sich offen-
kundig nicht auf die Identität, die im Gegenteil das Negative im ausgeschlos-
senen Dritten und in der Widerspruchslosigkeit bestimmt. Es beruht axio-
matisch auf einer affirmativen Definition der Ungleichheit (#) für zwei
natürliche Zahlen und, in den anderen Fällen, auf einer positiven Definition
der Entfernung (##), die drei Terme in einer unendlichen Folge von affir-
mativen Relationen ins Spiel bringt. Man braucht nur die formale Differenz
zwischen den beiden folgenden Sätzen zu betrachten: ,,wenn a # b unmög-
lich ist, erhält man a = b“ und ,,wenn a entfernt ist von jeder Zahl c, die
entfernt ist von b, erhält man a = b“ - um bereits die logische Macht einer
Bejahung von Entfernungen im reinen Element der positiven Differenz zu
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 297

erahnen3. Aber wir werden sehen, daß die auf diese Weise gefaßte Entfernung
keineswegs eine extensive Größe ist und auf ihren intensiven Ursprung bezo-
gen werden muß. Weil die Intensität bereits Differenz ist, verweist sie auf eine
Folge von anderen Differenzen, die sie bejaht, indem sie sich bejaht. Allge-
mein läßt sich feststellen, daß es keine Nullquotienten von Frequenzen, kein
wirkliches Nullpotential, keinen absoluten Nulldruck gibt; wie nach einer
Regel logarithmischer Graduierung steht die Null in Richtung des Unendli-
chen von immer kleineren Brüchen. Und man muß noch weiter gehen, auf die
Gefahr hin, einer ,,Ethik“ der intensiven Quantitäten zu verfallen. Errichtet
auf zumindest zwei Reihen, einer höheren und einer niedrigeren, wobei jede
Reihe ihrerseits auf andere implizierte Reihen verweist, affirmiert die Intensi-
tät noch das Unterste, sie macht das Unterste zum Gegenstand der Bejahung.
Es ist die Macht einer Kaskade oder eines tiefen Falls nötig, um bis dahin zu
gelangen, um aus der Degradation selbst eine Affirmation zu machen. Alles ist
Adlerflug, alles ist Überhang, Schwebe und Abstieg. Alles geschieht von oben
nach unten und bejaht durch diese Bewegung das Unterste - asymmetrische
Synthese. Oben und Unten sind im Übrigen nur Redeweisen. Es geht um die
Tiefe und die Untiefe, die ihr wesentlich zugehört. Keine Tiefe, die nicht eine
Untiefe ,,durchwühlen“ würde: An dieser Stelle entwickelt sich die Entfer-
nung, die Entfernung aber als Bejahung dessen, was durch sie voneinander
entfernt wird, die Differenz als Sublimierung des Unteren.
Wann taucht das Negative auf? Die Negation ist das umgekehrte Bild der
Differenz, d.h. das von unten gesehene Bild der Intensität. Denn alles ver-
kehrt sich. Was von oben Affirmation der Differenz ist, wird unten Negation
dessen, was differiert. Auch hier erscheint also das Negative nur zusammen
mit der Ausdehnung und der Qualität. Wir haben gesehen, daß die erste
Dimension der Ausdehnung Beschränkungsmacht, die zweite Dimension
Gegensatzmacht war. Und diese beiden Figuren des Negativen liegen im

13 G. F. C. Griss ist es, der im Rahmen des Brouwerschen Intuitionismus die Idee
einer negationslosen Mathematik begründete und entwickelte: Logique des mathb
matiques intuitionnistes sans negdtion, in: Comptes Rendus de 1’Academie des Scien-
ces, 8. Nov. 1948; Sur la nkgation, in: Synthese (Amsterdam), 1948/1949.
Zum Begriff des Abstands, der Entfernung und der positiven Differenz nach Griss
vgl. A. Heyting: Mathematische Grundlagenforschung, Intuitionismus, Beweistheo-
rie, Berlin 1934; Paulette Fevrier: Manifestations et Sens de la notion de complhen-
taritk, in: Dialectica 2, 1948, S. 383-412; und vor allem Nicole Dequoy: Axiomati-
que intuitionniste sans nbgation de la geometrie projective, Paris und Louvin 1955,
die zahlreiche Beweisbeispiele von Griss im Gegensatz zu den negationshaltigen
Beweisen anführt.
Die Grenzen dieser Mathematik, wie sie von Fevrier gekennzeichnet werden,
scheinen uns nicht vom Entfernungs- oder Differenzbegriff selbst herzurühren,
sondern ausschließlich von der Theorie der Probleme, die Griss daran anknüpft
(s. o. Kap. 3).
298 DIFFERENZ UNDWIEDERHOLUNG

konservativen“ Charakter der Extensionen begründet (man kann nicht eine


Extension in einem System anwachsen lassen, ohne die Extension gleicher
Natur des korrelierten Systems zu vermindern). Die Qualität ihrerseits scheint
untrennbar mit dem Gegensatz verbunden zu sein: als kontradiktorischer
Gegensatz, wie Platon es aufgezeigt hat, und zwar insofern, als jede Qualität
die Identität des ,,mehr“ und des ,,weniger“ in den von ihr isolierten Intensitä-
ten setzt; als konträrer Gegensatz in der paarweisen Verteilung der Qualitäten
selbst. Und wenn die Kontrarietät abgeht, wie im Falle der Gerüche, so tritt
an deren Stelle ein Spiel von Beschränkungen in einer Reihe von anwachsen-
den oder abnehmenden Ähnlichkeiten. Mit Sicherheit ist übrigens die Ähn-
lichkeit das Gesetz der Qualität, wie die Gleichheit das Gesetz der Ausdeh-
nung (oder die Invarianz das der Extension) ist: dadurch sind Ausdehnung
und Qualität die beiden Formen der Allgemeinheit. Gerade dies aber genügt,
um aus ihnen die Elemente der Repräsentation zu machen, ohne die die
Repräsentation selbst nicht ihre intimste Aufgabe erfüllen könnte, nämlich die
Differenz auf das Identische zu beziehen. Den beiden Gründen, die wir zuvor
bestimmt haben, um die Illusion des Negativen zu verdeutlichen, können wir
folglich einen dritten hinzufügen.
Die Differenz ist nicht die Negation, vielmehr ist das Negative umgekehrte
Differenz, von der kleinen Seite aus gesehen. Noch immer die Kerze im
Ochsenauge. Die Differenz wird zunächst durch die Erfordernisse der Reprä-
sentation verkehrt, die sie der Identität unterordnet. Sodann durch den Schat-
ten der ,,Probleme“, der die Ill usion des Negativen hervorruft. Schließlich
durch die Ausdehnung und die Qualität, die nun die Intensität verdecken oder
explizieren. Unter der Qualität und in der Ausdehnung erscheint die Intensität
auf den Kopf gestellt, und ihre charakteristische Differenz nimmt dabei die
Gestalt des Negativen (von Beschränkung oder Gegensatz) an. Die Differenz
macht ihr Schicksal nur in der Ausdehnung und unter der Qualität vom
Negativen abhängig, die es auf ihre Tilgung abgesehen haben. Immer wenn
wir uns vor qualifizierten Gegensätzen und in einer Ausdehnung befinden, in
der sie sich verteilen, dürfen wir zwecks ihrer Auflösung nicht auf eine
extensive Synthese zählen, durch die sie überwunden würden. Im Gegenteil, ’
gerade in der intensiven Tiefe leben die konstitutiven Disparitäten, die
umhüllten Entfernungen, die an der Quelle der Illusion des Negativen sind,
aber zugleich das Aufdeckungsprinzip dieser Illusion darstellen. Einzig die
Tiefe löst auf, weil einzig die Differenz Probleme macht. Nicht die Synthese
des jeweils Differenten führt uns zu dessen Versöhnung in der Ausdehnung
(Pseudo-Affirmation), es ist vielmehr die Differenzierung seiner Differenz, die
das jeweils Differente als Intensität bejaht. Die Gegensätze sind stets plan; sie
drücken die verfälschte Wirkung einer ursprünglichen Tiefe nur in einer
Ebene aus. Man hat dies oft an den stereoskopischen Bildern bemerkt; und
noch allgemeiner verweist jedes Kräftefeld auf eine potentielle Energie, ver-
weist jeder Gegensatz auf eine tieferliegende ,,Disparation “, sind die Gegen-
sätze in der Zeit und im Raum nur lösbar, wenn das Disparate zunächst seinen
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 299

Kommunikationszusammenhang in der Tiefe erfunden und jene Dimension


wiederentdeckt hat, in die es sich einhüllt, und dabei die intensiven Bahnen
vorzeichnet, die in der späteren Welt der qualifizierten Ausdehnung kaum
-Niedererkennbar sind14.
Welches ist das Sein des Sinnlichen? Den Bedingungen dieser Frage zufolge
muß die Antwort die Paradoxale Existenz eines ,,Etwas“ bezeichnen, das
zugleich nicht empfunden (vom Standpunkt des empirischen Gebrauchs) und
nur empfunden (vom Standpunkt des transzendenten Gebrauchs) werden
kann. Im Text des siebenten Buchs der Politeia zeigte Platon, wie ein derarti-
ges Sein die Kraftprobe auf die anderen Vermögen übertrug, sie aus ihrer
Starre riß, das Gedächtnis aufrüttelte und das Denken nötigte. Aber dieses
Sein bestimmte Platon folgendermaßen: als das gleichzeitig Konträr-Sinnliche.
Platon will sagen, wie es PMebos ausdrücklich zeigt, daß eine sinnliche Quali-
tät oder Beziehung an sich selbst nicht von einer Kontrarietät oder gar Kon-
tradiktion im Subjekt, dem man sie zuschreibt, zu trennen ist. Da jede Quali-
tät ein Werden ist, wird man nicht ,,härter” (oder größer), als man war, ohne
dadurch auch gleichzeitig ,,weicher“ zu werden, als man gerade wird (oder
kleiner, als man ist). Wir kommen damit nicht zu Rande, indem wir die
Zeitpunkte unterscheiden; denn die Unterscheidung der Zeitpunkte erfolgt
später als das Werden, das eins ins andere setzt oder gleichzeitig mit der
Bewegung, durch die sich die neue Gegenwart konstituiert, diejenige Bewe-
gung vorführt, durch die sich die frühere Gegenwart als Vergangenheit konsti-
tuiert. Es scheint, als könne man einem Verrücktwerden, einem unbegrenzten
Werden nicht entkommen, das die Identität der konträren Entgegensetzungen
als Koexistenz des mehr und des weniger in der Qualität impliziert. Aber die
platonische Antwort besitzt große Nachteile: In Wirklichkeit beruht sie
bereits auf den intensiven Quantitäten, aber sie erkennt diese nur in den sich
entfaltenden Qualitäten - und darum legt sie das Sein des Sinnlichen als
Kontrarietät in der Qualität fest. Aber das Konträr-Sinnliche oder die Kontra-
rietät in der Qualität vermögen das sinnliche Sein schlechthin zu konstituie-
ren, sie konstituieren in keiner Weise das Sein des Sinnlichen. Die Differenz in
der Intensität, und nicht die Kontrarietät in der Qualität, konstituiert das Sein
,,des“ Sinnlichen. Die qualitative Kontrarietät ist nur die Reflexion des Inten-
siven, eine Reflexion, die es entstellt, indem sie es in der Ausdehnung expli-
ziert. Die Intensität, die Differenz in der Intensität ist es, die die eigentliche
Grenze der Sinnlichkeit bildet. Daher besitzt sie den paradoxen Charakter
dieser Grenze: Sie ist das Unsinnliche, das, was nicht empfunden werden
kann, weil es stets von einer Qualität verdeckt wird, die sie entfremdet und ihr

14 Zur Tiefe, zu den stereoskopischen Bildern und der ,,Auflösung der Antinomien“
vgl. Raymond Ruyer: Le relief axiologique et le sentiment de la profondeur, in:
Revue de metaphysique et de morale, Juli 1956. Und zum Primat der ,,Disparation“
im Verhältnis zum Gegensatz vgl. Gilbert Simondons Kritik an Lewins ,,hodologi-
schem Raum”: L’individu et sa genese physico-biologique, Paris 1964, S. 232-234.
300 D IFFERENZ UND WIEDERHOLUNG

,,entgegenwirkt“ [contrarie], weil sie in einer Ausdehnung verteilt ist, die sie
verkehrt und tilgt. Auf andere Weise aber ist sie das, was nur empfunden
werden kann und den transzendenten Gebrauch der Sinnlichkeit definiert, da
sie empfinden macht und damit das Gedächtnis wachrüttelt und das Denken
erzwingt. Die Erfassung der Intensität unabhängig von der Ausdehnung oder
vor der Qualität, in denen sie sich entfaltet - dies ist der Gegenstand einer
Distorsion der Sinne. Eine Pädagogik der Sinne hat sich diesem Zweck zuge-
wandt und ist integrierender Bestandteil des ,,Tranzendentalismus“. Pharma-
kodynamische oder physische Erfahrungen wie die des Schwindelgefühls
nähern sich dem an: Sie offenbaren uns jene Differenz an sich, jene Tiefe an
sich, jene Intensität an sich im ursprünglichen Moment, an dem sie nicht mehr
qualifiziert ist oder Ausdehnung besitzt. Der erschütternde Charakter der
Intensität, so schwach ihr Grad auch sein mag, gibt ihr damit ihren wahren
Sinn zurück: nicht Antizipation der Wahrnehmung, sondern eigentliche
Grenze der Sinnlichkeit unter dem Gesichtspunkt eines transzendenten
Gebrauchs.
Einem dritten Merkmal zufolge, das die beiden anderen zusammenfaßt, ist die
Intensität eine implizierte, umhüllte, ,, embryonierte“ Quantität. Nicht in der
Qualität impliziert. Dies ist sie nur sekundär. Zunächst ist sie an sich selbst
impliziert: implizierend und impliziert. Wir müssen die Implikation als eine
vollständig bestimmte Seinsform begreifen. In der Intensität nennen wir Diffe-
renz, was real implizierend, umhüllend ist; Entfernung nennen wir, was real
impliziert oder umhüllt ist. Darum ist die Intensität weder teilbar wie die
extensive Quantität, noch unteilbar wie die Qualität. Die Teilbarkeit der
extensiven Quantitäten definiert sich: durch die auf eine Einheit bezogene
Bestimmung (wobei diese Einheit selbst niemals unteilbar ist, sondern nur die
Ebene markiert, an der man die Teilung anhält); durch die Äquivalenz der
durch die Einheit bestimmten Teile; durch die Kosubstanzialität dieser Teile
mit dem Ganzen, das geteilt wird. Die Teilung kann sich also vollziehen und
fortsetzen, ohne daß sich irgendetwas in der Natur des Geteilten ändert. Im
Gegenteil, wenn man feststellt, daß eine Temperatur nicht aus Temperaturen,
eine Geschwindigkeit nicht aus Geschwindigkeiten zusammengesetzt ist, SO j
meint man, daß jede Temperatur bereits Differenz ist und daß sich die Diffe-
renzen nicht aus Differenzen derselben Ordnung zusammensetzen, sondern
Reihen heterogener Terme implizieren. Wie Rosny zeigte, verflüchtigt sich die
Fiktion einer homogenen Quantität in der Intensität. Eine intensive Quantität
teilt sich, aber sie teilt sich-nicht, ohne sich in ihrer Natur zu verandern. In
gewissem Sinne ist sie also unteilbar, dies aber nur, weil kein Teil vor der
Teilung existiert und keiner dieselbe Natur bewahrt, während er sich teilt-
Man muß dagegen von ,,kl einer” und ,,größer“ sprechen: je nach dem eben, ob
die Natur eines derartigen Teils eine derartige Wesensveränderung bedingt
oder von ihr bedingt wird. Damit definieren Beschleunigung oder Verzöge-
rung einer Bewegung in ihr intensive Teile, die man größer oder kleiner
nennen muß, während sie sich zugleich ihrer Natur nach und gemäß der
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 301

Ordnung dieser Veränderungen (geordnete Differenzen) verändern. In diesem


Sinne setzt sich die Differenz in der Tiefe aus Entfernungen zusammen, wobei
die ,,Entfernung“ keineswegs eine extensive Quantität ist, sondern eine unteil-
bare asymmetrische Relation ordinalen und intensiven Charakters, die sich
zwischen Reihen heterogener Terme herstellt und jedesmal die Natur dessen
ausdrückt, was sich nicht teilt, ohne sich in seiner Natur zu verändern? Im
Gegensatz zu den extensiven Quantitäten definieren sich also die intensiven
Quantitäten durch die umhüllende Differenz - die umhüllten Entfernungen -
und das Ungleiche an sich, das einen natürlichen ,,Rest“ als Stoff der Wesens-
veränderung belegt. Wir müssen demzufolge zwei Typen von Mannigfaltigkei-
ten wie die Entfernungen und die Längen auseinanderhalten: die impliziten
und die expliziten Mannigfaltigkeiten, diejenigen, deren Metrik mit der Tei-
lung variiert, und diejenigen, die das invariable Prinzip ihrer Metrik tragen.
Differenz, Entfernung, Ungleichheit - das sind die positiven Merkmale der
Tiefe als intensives spatium. Und die Bewegung der Explikation ist diejenige,
durch die die Differenz danach strebt, sich zu tilgen, durch die aber auch die
Entfernungen danach streben, sich Ausdehnung zu verschaffen und sich in
Längen zu entfalten, durch die das Teilbare danach strebt, sich auszugleichen.
(Wiederum die Größe Platons, der gesehen hat, daß das Teilbare eine Natur an
sich nur durch Einbeziehung des Ungleichen bildet.)
Man könnte uns vorwerfen, daß wir alle Wesensdifferenzen in die Intensität
verfrachtet und diese so mit all dem geschwängert haben, was normalerweise
der Qualität zukommt. Aber dasselbe bei den Entfernungen: daß wir sie mit
dem befrachtet haben, was normalerweise den extensiven Quantitäten
zukommt. Diese Vorwürfe scheinen uns unbegründet zu sein. Es stimmt
zwar, daß die Differenz, indem sie sich in der Extension entfaltet, bloße
graduelle Differenz wird und ihren Grund nicht mehr in sich selbst hat. Es
stimmt zwar, daß die Qualität dann von diesem entfremdeten Grund profitiert
und die Wesensdifferenzen übernimmt. Die Unterscheidung zwischen beiden
aber - wie die Unterscheidung zwischen Mechanismus und ,,Qualitativismus“ -
beruht auf einem Taschenspielertrick: Das eine profitiert davon, was im ande-
ren verschwunden ist, die wahre Differenz aber kommt keinem von beiden zu.
Die Differenz wird qualitativ nur in dem Prozeß, in dem sie sich in

15 Alois Meinong (über die Bedeutung des Weberschen Gesetzes, in: Zeitschrift für
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11, 1896) und Bertrand Russe11 (The
principles of m a t h e m a t i c s , 1903, Kap. 3) haben die Unterscheidung zwischen Längen
oder Extensionen und Differenzen oder Entfernungen deutlich markiert. Die einen
sind extensive Quantitäten, in gleiche Teile teilbar; die anderen sind Quantitäten
intensiven Ursprungs, relativ unteilbar, d.h. sie teilen sich nicht, ohne sich in ihrer
Natur zu verändern. Als erster begründete Leibniz die Theorie der Entfernungen,
indem er diese an das spatium band und sie den Größen der extensio gegenüber-
stellte; vgl. Martial Gueroult: Espace, point et vide chez Leibniz, in: Revue de
metaphysique et de morale, 1946.
302 DIFFERENZ UNDWIEDERHOLUNG

der Extension tilgt. In ihrer Natur selbst ist sie sowenig qualitativ wie exten-
siv. Halten wir zunächst fest, daß die Qualitäten sehr viel mehr Stabilität,
Unbeweglichkeit und Allgemeinheit besitzen, als man zuweilen sagt. Sie sind
Ordnungen von Ähnlichkeit. Sicher differieren . sie, differieren wesentlich, stets
aber in einer angenommenen Ordnung von Ähnlichkeit. Und ihre Variationen
in der Ähnlichkeit verweisen eben auf Variationen ganz anderer Art. Sicher-
lich, eine qualitative Differenz reproduziert oder artikuliert nicht eine Intensi-
tätsdifferenz. Aber im Übergang von einer Qualität zu einer anderen gibt es,
selbst bei einem Maximum von Ähnlichkeit oder Kontinuität, Verschiebungs-
und Stufenphänomene, Differenzschocks, Entfernungen, ein ganzes Spiel von
Konjunktionen und Disjunktionen, eine regelrechte Tiefe, die eher eine Skala
denn eine spezifisch qualitative Dauer bildet. Und die Dauer, die man der
Qualität zuschreibt, was wäre sie anderes als ein Wettlauf ins Grab, welche
andere Zeit hätte sie als diejenige, die zur Vernichtung der Differenz in der
entsprechenden Ausdehnung, zur Vereinheitlichung der Qualitäten unterein-
ander nötig ist, wenn sie nicht durch die Intensität gespannt, gestärkt und
wiederaufgenommen würde? Kurz, es gäbe niemals qualitative oder Wesens-
differenzen und ebensowenig quantitative oder graduelle Differenzen, wenn
nicht die Intensität bestünde, die die einen in der Qualität, die anderen in der
Ausdehnung zu konstituieren vermag, auch wenn es den Anschein hat, daß sie
in den einen wie den anderen erlischt.
Darum scheint die Bergsonsche Kritik der Intensität wenig überzeugend zu
sein. Sie gibt sich fertige Qualitäten und bereits gebildete Ausdehnungen vor.
Sie teilt die Differenz in Wesensdifferenzen in der Qualität und graduelle
Differenzen in der Ausdehnung auf. Zwangsläufig erscheint die Differenz von
diesem Standpunkt aus nurmehr als unreines Gemisch; sie ist nicht mehr
sinnlich oder wahrnehmbar. Auf diese Weise aber hat Bergson bereits all das
in die Qualität verlegt, was den intensiven Quantitäten zukommt. Er wollte
die Qualität von der oberflächlichen Bewegung befreien, die sie an die Kontra-
rietät oder an den Widerspruch bindet (weswegen er die Dauer dem Werden
gegenüberstellte); aber er konnte dies nur tun, indem er der Qualität eine Tiefe
zuschrieb, die eben die der intensiven Quantität ist. Man kann nicht gleichzei- j
tig das Negative und die Intensität ablehnen. Es überrascht, daß Bergson die
qualitative Dauer ganz und gar nicht als Unteilbares, sondern als das definiert,
was sich in seiner Natur verändert, wenn es sich teilt, was sich fortwährend
teilt, indem es sich in seiner Natur verändert: eine virtuelle Mannigfaltigkeit,
sagt er, im Gegensatz zur aktuellen Mannigfaltigkeit der Zahl und der Aus-
dehnung, die nur graduelle Differenzen einbehalten. Nun kommt in dieser
Philosophie der Differenz, wie sie der Bergsonismus insgesamt vorstellt, der
Augenblick, an dem Bergson nach der doppelten Genese der Qualität und der
Ausdehnung fragt. Und diese grundlegende Differenzierung (Qualität/Aus-
dehnung) kann ihren Grund nur in einer großen Synthese des Gedächtnisses
finden, die alle Grade von Differenz als Grade von Entspannung und Kon-
traktion koexistieren läßt und im Innern der Dauer die implizierte Ordnung
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 303

jener Intensität wiederentdeckt, die nur von außen und vorläufig verworfen
worden war? Denn die graduellen Differenzen und die Ausdehnung, die sie
mechanisch repräsentiert, haben ihren Grund nicht in sich selbst; ebensowenig
aber die Wesensdifferenzen und die Dauer, die sie qualitativ repräsentiert. Die
Seele des Mechanismus sagt: Jede Differenz ist graduell. Die Seele der Qualität
antwortet: Überall gibt es Wesensdifferenzen. Dies aber sind falsche Seelen,
Komparsenseelen, Komplizenseelen. Nehmen wir die berühmte Frage ernst:
Besteht eine Wesens- oder eine Graddifferenz zwischen den graduellen Diffe-
renzen und den Wesensdifferenzen? Weder das eine noch das andere. Die
Differenz ist graduell nur in der Ausdehnung, in der sie sich expliziert; sie ist
wesentlich nur unter der Qualität, durch die sie in dieser Ausdehnung ver-
deckt wird. Zwischen den beiden gibt es alle Grade der Differenz, unter allen
beiden gibt es das ganze Wesen der Differenz: das Intensive. Die graduellen
Differenzen sind nur der niedrigste Grad der Differenz, und die Wesensdiffe-
renzen @;ff erences de nature] sind das höchste Wesen [nature] der Differenz.
Was die Wesens- und die Graddifferenzen sondern oder differenzieren, ist
genau das, woraus die Grade oder das Wesen der Differenz das Selbe machen,
das Selbe aber, das sich vom Differenten aussagt. Und Bergson ging, wie wir
gesehen haben, bis zu jener äußersten Schlußfolgerung: Die Identität des
Wesens und der Grade der Differenz, jenes ,,Selbe“ - vielleicht ist dies die
Wiederholung (ontologische Wiederholung) . . .
Es gibt eine Ill usion, die an die quantitativen Intensitäten geknüpft ist. Die
Illusion ist aber nicht die Intensität selbst; sie ist eher die Bewegung, mit der
sich die Intensitätsdifferenz tilgt. Nicht daß sie sich scheinbar tilgt. Sie tilgt
sich wirklich, allerdings außerhalb ihrer selbst, in der Ausdehnung und unter
der Qualität. Wir müssen also zwei Ordnungen von Implikation oder Degra-
dation unterscheiden: eine sekundäre Implikation, die den Zustand bezeich-
net, in dem die Intensitäten von den Qualitäten und der Ausdehnung umhüllt
sind, durch die sie expliziert werden; und eine primäre Implikation, die den
Zustand bezeichnet, in dem die Intensität an sich selbst, als umhüllende und

16 Von Anbeginn definiert Bergson die Dauer als eine ,,Mannigfaltigkeit”, Teilbarkeit,
die sich allerdings nicht teilt, ohne sich in ihrer Natur zu verändern: Essai sur les
donnees imm6diates de la conscience, a.a.O., S. 58 ff. (dt.: Zeit und Freiheit, a.a.O., S.
74ff.) und vor allem Matih-e et memoire, a.a.O., S. 341-342 (Mater-ie und Gedächt-
nis, a.a.O., S. 211-212). Es besteht also nicht nur eine Wesensdifferenz zwischen der
Dauer und der Ausdehnung, vielmehr unterscheidet sich die Dauer von der Ausdeh-
nung, wie sich die Wesensdiff erenzen selbst von den graduellen Differenzen unter-
scheiden (zwei Typen von ,,Vielheit“). Auf andere Weise jedoch verschmilzt die
Dauer mit dem Wesen der Differenz und umfaßt aus diesem Grund alle Grade von
Differenz: daher die Wiedereinführung von der Dauer immanenten Intensitäten und
der Gedanke einer Koexistenz aller Grade von Entspannung und Kontraktion in der
Dauer (die wesentliche These in Matz&-e et memoire und La pensee et le mouvant
[dt.: Denken und Schöpferisches Werden, Meisenheim 1948]).
304 DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG

umhüllte zugleich impliziert wird. Eine sekundäre Degradation, in der sich die
Intensitätsdifferenz tilgt, wobei das Oberste mit dem Untersten Zusammen-
trifft; und ein primäres Degradationsvermögen, in dem das Oberste das
Unterste bejaht. Die Illusion ist eben die Verschmelzung dieser beiden Instan-
zen, dieser beiden Zustände, des äußerlichen und des innerlichen. Und wie
könnte sie unter dem Gesichtspunkt des empirischen Gebrauchs der Sinn-
lichkeit vermieden werden, wo dieser doch die Intensität nur in der Ordnung
der Qualität und der Ausdehnung zu fassen vermag? Allein das transzenden-
tale Studium kann entdecken, daß die Intensität an sich selbst impliziert bleibt
und weiter die Differenz umhüllt, und zwar in dem Augenblick, in dem sie
sich in der Ausdehnung und der Qualität reflektiert, die sie erschafft und die
ihrerseits sie nur in sekundärer Hinsicht implizieren, soviel eben zu ihrer
,,Explikation” notwendig ist. Die Ausdehnung, die Qualität, die Beschrän-
kung, der Gegensatz bezeichnen zwar Realitäten; das Trügerische aber ist die
Gestalt, die die Differenz darin einnimmt. Die Differenz führt weiter ihr
unterirdisches Leben, wenn ihr durch die Oberfläche reflektiertes Bild ver-
schwimmt. Und dieses Bild, aber nur dieses Bild, muß verschwimmen, wie die
Oberfläche die Differenz notwendig tilgt, aber nur an der Oberfläche.
Wir fragten danach, wie sich aus Carnots oder Curies empirischem Prinzip ein
transzendentales Prinzip gewinnen ließ. Wenn wir die Energie allgemein zu
definieren versuchen, so tragen wir entweder den extensiven und qualifizierten
Faktoren der Ausdehnung Rechnung: wir haben uns dann darauf beschränkt
zu sagen: ,,es gibt etwas, das konstant bleibt”, und fomulieren somit die große,
aber platte Tautologie des Identischen. Oder wir betrachten im Gegenteil die
reine Intensität, wie sie in jener tiefen Region impliziert wird, in der sich keine
Qualität entwickelt, keine Ausdehnung entfaltet ist; wir definieren die Energie
durch die in dieser reinen Intensität vergrabene Differenz, und nun ist es die
Formel ,,Intensitätsdifferenz“, der die Tautologie anhaftet, diesmal aber die
schöne und tiefe Tautologie des Differenten. Man muß also vermeiden, die
Energie allgemein mit einer ruhenden einheitlichen Energie zu verwechseln,
die jede Umwandlung unmöglich machen würde. Ruhend kann nur eine
besondere, empirische, in der Ausdehnung qualifizierte Energieform sein, in
der die Intensitätsdifferenz bereits aufgehoben, da außerhalb ihrer selbst ver-
legt und auf die Elemente des Systems verteilt ist. Die Energie allgemein oder
die intensive Quantität aber ist das spatium, Theater jeder Metamorphose,
Differenz an sich, die alle ihre Grade in der Erzeugung eines jeden umhüllt. In
diesem Sinne ist die Energie, die intensive Quantität ein transzendentales
Prinzip und kein wissenschaftlicher Begriff. Der Aufteilung empirischer und
transzendentaler Prinzipien zufolge nennt man empirisches Prinzip die
Instanz, die ein Gebiet regiert. Jedes Gebiet ist ein qualifiziertes ausgedehntes
Teilsystem, das derart regiert wird, daß die Intensitätsdifferenz, durch die es
erschaffen wird, danach strebt, sich in ihm zu tilgen (Gesetz der Natur). Die
Gebiete aber sind distributiv und lassen sich nicht addieren; es gibt ebensowe-
nig eine Ausdehnung allgemein wie eine Energie allgemein in der Ausdeh-
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 305

nung. Dagegen gibt es einen intensiven Raum ohne weitere Qualifikation, und
in diesem Raum eine reine Energie. Das transzendentale Prinzip regiert kein
Gebiet, sondern unterstellt das zu regierende Gebiet dem empirischen Prinzip;
es bezeugt die Unterwerfung des Gebiets unter das Prinzip. Die Intensitätsdif-
ferenz ist es, die das Gebiet erschafft und es dem empirischen Prinzip unter-
stellt, demzufolge sie sich (in ihm) tilgt. Sie, das transzendentale Prinzip, ist es,
die sich an sich außerhalb der Reichweite des empirischen Prinzips bewahrt.
Und während die Gesetze der Natur die Oberfläche der Welt regeln, rumort
zugleich die ewige Wiederkunft auch weiterhin in jener anderen Dimension, in
der Dimension des Transzendentalen oder des vulkanischen spatium.
Wenn wir sagen, daß die ewige Wiederkunft nicht die Wiederkehr des Selben,
des Ähnlichen oder des Gleichen ist, so meinen wir damit, daß sie keinerlei
Identität voraussetzt. Im Gegenteil, sie sagt sich von einer Welt ohne Identität,
ohne Ähnlichkeit und ohne Gleichheit aus. Sie sagt sich von einer Welt aus,
deren Untergrund selbst die Differenz ist, wo alles auf Disparitäten, Differen-
zen von Differenzen beruht, die bis ins Unendliche widerhallen (die Welt der
Intensität). Die ewige Wiederkunft selber ist das Identische, das Ähnliche und
das Gleiche. In dem, wovon sie sich aussagt, setzt sie aber gerade nichts von
dem voraus, was sie ist. Sie sagt sich von dem aus, was keine Identität,
Ähnlichkeit oder Gleichheit besitzt. Sie ist das Identische, das sich vom Diffe-
renten aussagt, die Ähnlichkeit, die sich vom reinen Disparsen [dispars] aus-
sagt, das Gleiche, das sich nur vom Ungleichen, die Nähe, die sich von allen
Entfernungen aussagt. Die Dinge müssen in der Differenz zerrissen, ihre
Identität muß aufgelöst sein, damit sie zur Beute der ewigen Wiederkunft und
der Identität in der ewigen Wiederkunft werden. Man kann also den Abgrund
ermessen, der die ewige Wiederkunft als ,,modernen“ Glauben - und noch als
Glauben der Zukunft - von der ewigen Wiederkunft als antiken oder ver-
meintlich antiken Glauben trennt. Offen gesagt ist es eine lächerliche Errun-
genschaft unserer Geschichtsphilosophie, die historische Zeit, die die unsere
sein soll, der zyklischen Zeit gegenüberzustellen, die die der Alten gewesen
sein soll. Man möchte glauben, daß es bei den Alten im Kreis herum geht und
bei den Modernen geradeaus: Dieser Gegensatz einer zyklischen und einer
linearen Zeit ist ein armseliger Gedanke. Immer wenn ein derartiges Schema
erprobt wird, ist es am Ende ruiniert, und zwar aus mehreren Gründen.
Zunächst setzt die ewige Wiederkunft, wie sie der Antike zugeschrieben wird,
die Identität überhaupt dessen voraus, was sie wiederkehren lassen soll. Nun
unterliegt aber diese Wiederkehr des Identischen gewissen Bedingungen, die
ihr in Wirklichkeit widersprechen. Denn entweder gründet sie sich auf die
zyklische Verwandlung der qualitativen Elemente ineinander (ewige Wieder-
kunft in physikalischer Hinsicht), oder auf die Kreisbewegung der unvergäng-
lichen Himmelskörper (ewige Wiederkunft in astronomischer Hinsicht). In
beiden Fällen wird die Wiederkehr als ,,Gesetz der Natur” vorgeführt. In
einem Fall wird sie in Begriffen der Qualität, im anderen Fall in Begriffen
räumlicher Ausdehnung interpretiert. Ob astronomisch oder physikalisch,
306 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

extensiv oder qualitativ - diese Interpretation der ewigen Wiederkunft hat


jedoch die von ihr vorausgesetzte Identität bereits auf eine bloße, ganz allge-
meine Ähnlichkeit reduziert; denn der ,,selbe“ qualitative Prozeß oder die
,,selbe“ jeweilige Konstellation bestimmen nur grobe Ähnlichkeiten in den
Phänomenen, die durch sie regiert werden. Mehr noch, die ewige Wiederkunft
wird dabei so schlecht begriffen, daß sie dem entgegensteht, womit sie innig
verwachsen ist: Einerseits findet sie eine erste qualitative Grenze in den Meta-
morphosen und Transmigrationen, mit dem Ideal eines Heraustretens aus dem
,,Rad der Geburten“; andererseits findet sie eine zweite quantitative Grenze in
der irrationalen Zahl, in der irreduziblen Ungleichheit der Himmelsperioden.
Hier also wenden sich die beiden am tiefsten mit der ewigen Wiederkunft
verwachsenen Themen - das der qualitativen Metamorphose und das der
quantitativen Ungleichheit - gegen sie, haben sie doch jeden intelligiblen
Bezug zu ihr eingebüßt. Wir sagen nicht, die ewige Wiederkehr, ,,wie von den
Alten an sie geglaubt wurde“, sei irrig oder schlecht begründet. Wir sagen, daß
die Alten nur annäherungsweise und partiell an sie glaubten. Dies war keine
ewige Wiederkehr, sondern Teilzyklen und Zyklen von Ähnlichkeit. Dies war
eine Allgemeinheit, kurz, ein Gesetz der Natur. (Selbst das große Jahr Hera-
klits ist nur die Zeit, die der Anteil des Feuers, der ein Lebewesen bildet,
benötigt, um sich in Erde zu verwandeln und wieder Feuer zu werden)“. -
Oder es ist, wenn es in Griechenland oder anderswo ein wirkliches Wissen um
die ewige Wiederkunft gibt, ein grausames esoterisches Wissen, das in einer
anderen, geheimnisvolleren, merkwürdigeren Dimension als in der der astro-
nomischen und qualitativen Zyklen und ihrer Allgemeinheiten gesucht werden
muß.
Warum weiß Nietzsche als Kenner der Griechen, daß die ewige Wiederkunft
seine Erfindung ist, der unzeitgemäße oder künftige Glauben? Weil ,,seine“
ewige Wiederkunft in keiner Weise die Wiederkehr eines Selben, Ähnlichen
oder Gleichen ist. Nietzsche sagt zutreffend: Wenn es Identität gäbe, wenn es
für die Welt einen undifferenzierten qualitativen Zustand oder für die Sterne
eine Gleichgewichtsstellung gäbe, so wäre dies ein Grund, darin zu verharren,
und nicht ein Grund, in einen Zykus einzutreten. Auf diese Weise verknüpft
Nietzsche die ewige Wiederkunft mit dem, was sich ihr entgegenzusetzen oder
sie von außen zu beschränken schien: die vollständige Metamorphose, das
irreduzible Ungleiche. Die Tiefe, die Entfernung, die Untiefen, das Unwuch-
tige, die Höhlen, das Ungleiche an sich bilden allein die Landschaft der ewigen
Wiederkunft. Zarathustra ruft es dem Possenreißer, aber auch dem Adler und
der Schlange in Erinnerung: Sie ist weder ein astronomisches ,,Leier-Lied“
noch ein physikalischer Reigen . . . Sie ist kein Naturgesetz. Die ewige Wieder-
kehr entwickelt sich in einem Grund, in einem Ungrund, wo die ursprüngliche

17 Zur Reserve etwa der Griechen gegenüber der ewigen Wiederkehr vgl. Charles
Mugler: Deux thbnes d e la cosmologie greque, devenir cyclique et pluralitk des
mondes, Paris 1953.
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 307

Natur in ihrem Chaos residiert, über den Reichen und den Gesetzen, die nur
die zweite Natur bilden. Nietzsche stellt ,,seine“ Hypothese der zyklischen
Hypothese gegenüber, ,, seine“ Tiefe dem Fehlen von Tiefe in der Sphäre der
Fixsterne. Die ewige Wiederkunft ist weder qualitativ noch extensiv, sie ist
intensiv, rein intensiv. Das heißt: sie wird von der Differenz ausgesagt. Dies
ist das grundlegende Band zwischen ewiger Wiederkehr und Willen zur
Macht. Das eine kann sich nur vom anderen aussagen. Der Wille zur Macht ist
die flimmernde Welt der Metamorphosen, der kommunizierenden Intensitä-
ten, der Differenzen von Differenzen, der Hauche, Einflüsterungen und des
Aushauchens: eine Welt intensiver Intentionalitäten, Welt der Trugbilder oder
,,Mysterien“ * *. Die ewige Wiederkunft ist das Sein dieser Welt, das einzige
Selbe, das sich von dieser Welt aussagt und jede vorgängige Identität aus ihr
verstößt. Freilich interessierte sich Nietzsche für die Energetik seiner Zeit;
dies war aber nicht wissenschaftliche Nostalgie eines Philosophen, man muß
durchschauen, was er in der Wissenschaft der intensiven Quantitäten suchte -
das Mittel zur Realisierung dessen, was er Pascals Prophezeiung nannte: das
Chaos zum Objekt der Bejahung machen. Gegen die Gesetze der Natur
gefühlt, ist die Differenz im Willen zur Macht der höchste Gegenstand der
Sinnlichkeit, die ,,hohe Stimmung“ [i.O.dt.] (man wird sich daran erinnern,
daß der Wille zur Macht zunächst als Gefühl dargestellt wurde, als Gefühl der
Distanz). Gegen die Gesetze des Denkens gedacht, ist die Wiederholung in der
ewigen Wiederkehr der höchste Gedanke, der ,,große Gedanke“ [i.O.dt.]. Die
Differenz ist die erste Bejahung, die ewige Wiederkehr die zweite, ,,ewige
Bejahung des Seins“ oder die n-te Potenz, die sich von der ersten aussagt. Das
Denken bezeichnet sich stets von einem Signal aus, d.h. von einer ersten
Intensität. Über die aufgebrochene Kette oder den unwuchtigen Ring hinweg
werden wir gewaltsam von der Grenze der Sinne zur Grenze des Denkens
geführt, von dem, was nur empfunden, zu dem, was nur gedacht werden
kann.
Weil nichts gleich ist, weil alles in seine Differenz getaucht ist, in seine
Unähnlichkeit und seine Ungleichheit, sogar zu sich selbst - darum kehrt alles
wieder. Oder vielmehr: nicht alles kehrt wieder. Was nicht wiederkehrt, ver-
neint die ewige Wiederkehr, übersteht die Prüfung nicht. Was nicht wieder-
kehrt, ist die Qualität, die Ausdehnung - weil sich die Differenz als Bedingung
der ewigen Wiederkehr darin tilgt. Es ist das Negative - weil sich die Diffe-

18 Pierre K l o s s o w s k i hat die Verbindung der ewigen Wiederkehr mit reinen Intensitä-
ten, die als ,,Zeichen” fungieren, aufgezeigt; vgl.: Oubli et anamnese dans l’expe-
rience vecue de Peterne retour du M&ne, in: Nietzsche, Cahiers de Royaumont,
Paris 1967 (dt.: Vergessen und Anamnese in der lebendigen Erfahrung der ewigen
Wiederkunft, in: Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, München 1986). In
seinem Roman Le Baphomet (Paris 1965; dt.: Der Baphomet, Reinbek 1968) geht
Klossowski sehr weit in der Beschreibung dieser Welt von intensiven ,,Hauchen”,
die den spezifischen Stoff der ewigen Wiederkunft darstellt.
308 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

renz darin verkehrt, um sich zu tilgen. Es ist das Identische, das Ähnliche und
das Gleiche - weil sie die Formen der Indifferenz bilden. Es ist Gott, das Ich,
als Form und Garant der Identität. Es ist all das, was nicht unter dem Gesetz
des ,,Ein für allemal“ erscheint, einschließlich der Wiederholung, wenn sie der
Identitätsbedingung ein und derselben Qualität, ein und desselben Körpers im
Raum, ein und desselben Ichs unterliegt (so die ,,Wiederauferstehung”) . . .
Heißt das wirklich, daß die Qualität und die Ausdehnung nicht wiederkehren?
Oder waren wir nicht schon dahin gelangt, gleichsam zwei Zustände der
Qualität, zwei Zustände der Extension zu unterscheiden? Den einen, in dem
die Qualität als Zeichen aus der Entfernung oder dem Intervall einer Intensi-
tätsdifferenz aufblitzt; den anderen, in dem sie als Wirkung bereits auf ihre
Ursache reagiert und danach strebt, die Differenz zu tilgen. Den einen, in dem
die Extension noch in der umhüllenden Ordnung der Diffferenzen impliziert
wird, den anderen, in dem die Ausdehnung die Differenz expliziert und im
qualifizierten System tilgt. Diese Unterscheidung, die nicht in der Erfahrung
getroffen werden kann, wird möglich vom Standpunkt des Denkens der ewi-
gen Wiederkehr aus. Das harte Gesetz der Explikation lautet: Was sich expli-
ziert, expliziert sich ein für allemal. Die Ethik der intensiven Quantitäten
besitzt nur zwei Prinzipien: noch das Unterste bejahen, sich nicht (allzu sehr)
explizieren. Wir müssen dem Vater gleichen, der dem Kind vorwarf, alle
Schimpfworte, das es kannte, ausgesprochen zu haben, nicht weil dies böse
gewesen wäre, sondern weil es alles auf einmal gesagt hatte, weil es nichts
zurückgehalten hatte, keinerlei Rest für den subtilen implizierten Stoff der
ewigen Wiederkehr. Und wenn die ewige Wiederkehr selbst um den Preis
unserer Kohärenz und zugunsten einer höheren Kohärenz die Qualitäten auf
den Stand reiner Zeichen zurückführt und von den Ausdehnungen nur
zurückbehält, was mit der ursprünglichen Tiefe zusammenpaßt, dann werden
die Qualitäten herrlicher, die Farben leuchtender, die Steine kostbarer, die
Extensionen in stärkerer Schwingung erscheinen, da sie - reduziert auf ihre
keimhaften Gründe und im Bruch mit jeglichem Bezug zum Negativen - für
immer im intensiven Raum positiver Differenzen gefangen bleiben werden;
und dann wird ihrerseits die abschließende Weissagung aus dem Phaidon wahr
werden, als Platon der von ihrem empirischen Gebrauch befreiten Sinnlichkeit
Tempel prophezeit, Gestirne und Götter, wie sie nie zuvor gesehen wurden,
unerhörte Bejahungen. Freilich wird die Weissagung wahr nur in der Umkeh-
rung des Platonismus selbst.

Die Verwandtschaft der intensiven Quantitäten mit den Differentialen wurde


oft geleugnet. Aber die Kritik bezieht sich nur auf eine falsche Konzeption der
Verwandtschaft. Diese darf sich nicht auf die Betrachtung einer Reihe, von
Termen einer Reihe und Differenzen zwischen aufeinanderfolgenden Termen
gründen, sondern auf die Konfrontation zweier Verhältnistypen, von Diffe-
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 309

rentialverhältnissen in der reziproken Synthese der Idee und Intensitatsver-


hältnissen in der asymmetrischen Synthese des Sinnlichen. Die reziproke
Svnthese dy/dx setzt sich in der asymmetrischen Synthese fort, die y an x
bindet. Der intensive Faktor ist eine partielle Ableitung oder das Differential
einer zusammengesetzten Funktion. Zwischen der Intensität und der Idee
bahnt sich ein Strom wechselseitigen Austausches wie zwischen zwei korre-
spondierenden Figuren der Differenz. Die Ideen sind virtuelle, problematische
Mannigfaltigkeiten oder ,,Perplexe“, die sich aus Verhältnissen zwischen diffe-
rentiellen Elementen ergeben. Die Intensitäten sind implizierte Mannigfaltig-
keiten, ,,Implexe“, die sich aus Verhältnissen zwischen asymmetrischen Ele-
menten ergeben, die den Aktualisierungsverlauf der Ideen lenken und die
Lösungsfälle für die Probleme bestimmen. Daher entfaltet die Ästhetik der
Intensitäten jedes ihrer Momente in Korrespondenz mit der Dialektik der
Ideen: Die Macht der Intensität (Tiefe) gründet sich in der Potentialität der
Idee. Schon die auf ästhetischer Ebene angetroffene Illusion greift die der
Dialektik auf; und die Form des Negativen ist der von den Problemen und
ihren Elementen geworfene Schatten, bevor sie zum verkehrten Bild der inten-
siven Differenzen wird. Die intensiven Quantitäten scheinen sich ebenso sehr
zu tilgen, wie sich die problematischen Ideen zu verflüchtigen scheinen. Das
Unbewußte der kleinen Wahrnehmungen als intensiver Quantitäten verweist
auf das Unbewußte der Ideen. Und die Kunst der Ästhetik antwortet als Echo
auf die der Dialektik. Letztere ist die Ironie als Kunst der Probleme und
Fragen, die sich im Umgang mit den Differentialverhältnissen und in der
Verteilung des Gewöhnlichen und des Singulären ausdrückt. Die Kunst der
Ästhetik aber ist der Humor, die physikalische Kunst der Signale und Zeichen,
die die Teillösungen oder Lösungsfälle bestimmt, kurz, die implizierte Kunst
der intensiven Quantitäten.
Diese sehr allgemeinen Korrespondenzen geben jedoch keinen Hinweis dar-
auf, wie sich die Verwandtschaft genau herstellt und wie sich die Verkoppe-
lung der intensiven Quantitäten mit den Differentialen vollzieht. Kommen wir
auf die Bewegung der Idee zurück, die sich von einem Aktualisierungsprozeß
nicht trennen läßt. Eine Idee, eine Mannigfaltigkeit wie die der Farbe etwa
wird durch die virtuelle Koexistenz von Verhältnissen zwischen genetischen
oder differentiellen Elementen einer bestimmten Ordnung gebildet. Diese
Verhältnisse sind es, die sich in den qualitativ distinkten Farben aktualisieren,
während sich gleichzeitig ihre ausgezeichneten Punkte in deutlich geschiede-
nen Ausdehnungen verkörpern, die mit jenen Qualitäten korrespondieren. Die
Qualitäten sind also differenziert, ebenso die Ausdehnungen, insofern sie
divergente Linien repräsentieren, denen zufolge sich die nur in der Idee koexi-
stierenden Differentialverhältnisse aktualisieren. In diesem Sinne haben wir
gesehen, daß jeder Aktualisierungsprozeß eine doppelte, qualitative und exten-
sive Differenzierung war. Und sicher ändern sich die Differenzierungskatego-
rien je nach Ordnung des für die Idee konstitutiven Differentiellen: Die
Qualifizierung und die Partition sind die beiden Aspekte einer physikalischen
310 DIFFERENZ UNDWIEDERHOLUNG

Aktualisierung, die Spezifikation und die Organisation entsprechend die bei-


den Aspekte einer biologischen Aktualisierung. Immer aber stößt man auf die
Notwendigkeit von Qualitäten, die in Abhängigkeit von Verhältnissen diffe-
renziert sind, die sie jeweils aktualisieren, und entsprechend auf die Notwen-
digkeit von Ausdehnungen, die in Abhängigkeit von ausgezeichneten Punk-
ten, die sie verkörpern, differenziert sind. Dies führte uns dazu, den Begriff
der Differentiatiation/zierung zu prägen, um zugleich die Verfassung der
Differentialverhältnisse in der Idee oder die virtuelle Mannigfaltigkeit und die
Verfassung der - qualitativen und extensiven - Reihen anzuzeigen, in denen
sie sich durch ihre Differenzierung aktualisieren. Was aber völlig unbestimmt
blieb, war die Bedingung einer derartigen Aktualisierung. Auf welche Weise
ist die Idee bestimmt, sich in differenzierten Qualitäten, in differenzierten
Ausdehnungen zu verkörpern? Was bestimmt die in der Idee koexistierenden
Verhältnisse dazu, sich in Qualitäten und Ausdehnungen zu differenzieren?
Die Antwort wird eben durch die intensiven Quantitäten gegeben. Die Inten-
sität ist es, die die Determinante im Aktualisierungsprozeß darstellt. Die
Intensität ist es, die dramatisiert. Sie ist es, die sich unmittelbar in den raum-
zeitlichen Basisdynamiken ausdrückt und ein in der Idee ,,nicht-distinktes”
Differentialverhältnis bestimmt, sich in einer distinkten Qualität und einer
unterschiedenen Ausdehnung zu verkörpern. Dadurch verschmelzen die
Bewegung und die Kategorien der Differenzierung auf gewisse Weise (aber,
wie wir sehen werden, nur auf gewisse Weise) mit denen der Explikation. Wir
sprechen von Differenzierung hinsichtlich der Idee, die sich aktualisiert. Wir
sprechen von Explikation hinsichtlich der Intensität, die sich ,,entfaltet“ und
die eben die Aktualisierungsbewegung bestimmt. Wenn es buchstäblich wahr
bleibt, daß die Intensität die Qualitäten und Ausdehnungen erschafft, in denen
sie sich expliziert, so deshalb, weil die Qualitäten und Ausdehnungen nicht,
ganz und gar nicht den ideellen Verhältnissen ähneln, die sich in ihnen aktuali-
sieren: Die Differenzierung impliziert die Erschaffung von Linien, nach denen
sie sich vollzieht.
Wie erfüllt die Intensität diese bestimmende Rolle? Sie darf an sich selbst
ebenso wenig von der Differenzierung wie von der Explikation abhängen, die
aus ihr hervorgeht. Unabhängig von der Explikation ist sie durch die Implika-
tionsordnung, durch die sie definiert wird. Sie ist unabhängig von der Diffe-
renzierung durch den Prozeß, der ihr wesentlich zukommt. Der den intensi-
ven Quantitäten wesentliche Prozeß ist die Individuation. Die Intensität ist
individuierend, die intensiven Quantitäten sind individuierende Faktoren. Die
Individuen sind Signal-Zeichen-Systeme. Jede Individualität ist intensiv: also
kaskadenartig, schleusenartig, kommunizierend, und umfaßt und bejaht an
sich die Differenz in den Intensitäten, durch die sie gebildet wird. Gilbert
Simondon zeigte jüngst, daß die Individuation zunächst einen metastabilen
Zustand bedingt, d. h. die Existenz einer ,,Disparation“, etwa mindestens zwei
heterogene Größenordnungen oder Realitätsmaßstäbe, zwischen denen sich
die Potentiale aufteilen. Es mangelt diesem präindividuellen Zustand jedoch
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 311

nicht an Singularitäten: Die ausgezeichneten oder singulären Punkte werden


durch die Existenz und die Aufteilung der Potentiale definiert. So erscheint ein
objektives ,,problematisches“ Feld, das durch die Entfernung zwischen hetero-
genen Ordnungen bestimmt wird. Die Individuation tritt als Lösungsakt eines
derartigen Problems zutage, oder - was aufs Gleiche hinausläuft - als die
Aktualisierung des Potentials und die Herstellung einer Kommunikation zwi-
schen den Disparata. Der Individuationsakt besteht nicht in der Aufhebung
des Problems sondern darin, die Elemente der Disparation in einen Zustand
von Kopplung zu integrieren, die deren innere Resonanz gewährleistet. Das
Individuum ist also an eine präindividuelle Hälfte geheftet, die nicht das
Unpersönliche in ihm, sondern eher der Speicher seiner Singularitäten ist”.
Unter all diesen Gesichtspunkten sind wir der Meinung, daß die Individuation
wesentlich intensiv ist, und daß das präindividuelle Feld ideell-virtuell ist oder
aus Differentialverhältnissen besteht. Die Individuation: sie ist es, die auf die
Frage Welches? antwortet, wie schon die Idee auf die Fragen Wieviel? und
Wie? . antwortete. Welches? ist stets eine Intensität . . . Die Individuation ist der
Akt der Intensität, der die Differentialverhältnisse dazu bestimmt, sich gemäß
den Differenzierungslinien in den von ihr geschaffenen Qualitäten und Aus-
dehnungen zu aktualisieren. Daher lautet die vollständige Begriffsbildung:
Indi-Differentiation/zierung (Indi-Drama-Differentiation/zierung)20. Die Iro-
nie selbst, als Kunst der differentiellen Ideen, verkennt keineswegs die Singu-
larität; im Gegenteil, sie spielt mit der gesamten Verteilung von gewöhnlichen
und ausgezeichneten Punkten. Es handelt sich aber stets um präindividuelle
Singularitäten, die in der Idee verteilt sind. Sie kennt das Individuum noch
nicht. Es ist der Humor als Kunst der intensiven Quantitäten, der mit dem
Individuum und seinen individuierenden Faktoren spielt. Der Humor zeugt
von den Spielen des Individuums als Lösungfällen hinsichtlich der Differen-
zierungen, die er bestimmt, während die Ironie ihrerseits die nötigen Differen-
tiationen im Kalkül der Probleme oder in der Bestimmung ihrer Bedingungen
betreibt.
Das Individuum ist weder eine Qualität noch eine Extension. Die Individua-
tion ist weder eine Qualifizierung noch eine Partition, weder eine Spezifika-
tion noch eine Organisation. Das Individuum ist keine species infima und
ebensowenig aus Teilen zusammengesetzt. Die qualitativen oder extensiven
Deutungen der Individuation können auch weiterhin keinen Grund dafür
angeben, warum etwa eine Qualität nicht länger allgemein sein oder warum
eine Synthese der Ausdehnung hier beginnen und dort enden würde. Die
Qualifizierung und die Spezifikation setzen bereits Individuen voraus, die
qualifiziert werden sollen; und die extensiven Teile sind relativ zu einem
Individuum, nicht umgekehrt. Aber es genügt eben nicht, eine Wesensdiffe-

” Vgl Gilbert Sirnondon: L’individu et sa genese physico-biologigue, Paris 1964.


‘OFr-z: indi-diff’erentlciation (indi-drama-diffkrentlciation) [A.d.U.].
312 D IFFERENZUND W IEDERHOLUNG

renz zwischen Individuation und Differenzierung allgemein zu markieren,


Diese Wesensdifferenz bleibt unverständlich, solange wir nicht deren not-
wendige Konsequenz akzeptieren: daß die Individuation de jure der Diffe-
renzierung vorausgeht, daß jede Differenzierung ein intensives Feld vorgän-
giger Individuation voraussetzt. Die Einwirkung des Individuationsfeldes ist
es, unter der sich solche Differentialverhältnisse und solche ausgezeichnete
Punkte (präindividuelles Feld) aktualisieren, d. h. sich in der Anschauung
nach Linien organisieren, die im Verhältnis zu anderen Linien differenziert
sind. Unter dieser Bedingung bilden sie dann die Qualität und die Zahl, die
Art und die Teile eines Individuums, kurz, seine Allgemeinheit. Da es Indi-
viduen verschiedener Art und Individuen gleicher Art gibt, neigt man zur
Ansicht, daß die Individuation die Spezifikation fortsetze, selbst wenn sie
anderer Natur ist und andere Mittel benutzt. In Wirklichkeit aber gefährdet
jede Verwechslung zwischen den beiden Prozessen, jede Reduktion der
Individuation auf eine Grenze oder auf eine Komplikation der Differenzie-
rung die Philosophie der Differenz insgesamt; man begeht - diesmal im
Aktuellen - einen Fehler, der demjenigen ähnelt, den man mit der Ver-
wechslung von Virtuellem und Möglichem machte. Die Individuation setzt
keine Differenzierung voraus, ruft sie vielmehr hervor. Die Qualitäten und
Ausdehnungen, die Formen und die Materien, die Arten und Teile sind
nicht ursprünglich; sie sind in den Individuen wie in Kristallen gefangen.
Und die ganze Welt ist es, die sich wie in einer Kristallkugel in der wogen-
den Tiefe von individuierenden Differenzen oder Intensitätsdifferenzen lesen
1äßt .
Alle Differenzen werden vom Individuum aufgenommen, aber sie sind darum
nicht individuell. Unter welchen Bedingungen wird eine Differenz als indivi-
duelle gedacht? Wir sehen zwar, daß das Problem der Klassifikation stets darin
bestand, die Differenzen zu ordnen. Aber die Pflanzen- oder Tierklassifikatio-
nen zeigen, daß man die Differenzen nur dann ordnet, wenn man sich ein
mannigfaltiges Netz kontinuierlicher Ähnlichkeit vorgibt. Die Idee einer Kon-
tinuität von Lebewesen war niemals von der der Klassifikation geschieden,
noch weniger entgegengesetzt; sie war nicht einmal eine Idee, die die Anforde-
rungen der Klassifikation beschränken oder nuancieren sollte. Sie ist im
Gegenteil das Requisitum jeder möglichen Klassifikation. Man fragt sich etwa,
welche von mehreren Differenzen diejenige ist, die ein regelrechtes ,,Merk-
mal” ausbildet, d. h. es ermöglicht, in einer reflektierten Identität Lebewesen
zusammenzufassen, die sich in einem Maximum an Punkten ähneln. In diesem
Sinne kann die Gattung ein Reflexionsbegriff und doch zugleich ein natürli-
cher Begriff sein (in dem Maße, wie die Identität, die durch sie ,,zugeschnit-
ten“ wird, benachbarten Arten entnommen ist). Wenn man drei Pflanzen A, B
und C betrachtet, von denen A und B Holzgewächse sind, C nicht, B und C
blau sind, A dagegen rot, so wird das entsprechende Merkmal durch ,,hohzar-
tig“ gebildet, weil es die umfassendste Subordination der Differenzen unter
die Ordnung der anwachsenden und abnehmenden Ähnlichkeiten gewährlei-
AS Y M M E T R I S C H E S YNTHESE DES S INNLICHEN 313

stet. Und sicher kann man der Ordnung der Ähnlichkeiten nachweisen, daß
sie der groben Wahrnehmung zugehört. Dies aber unter der Voraussetzung,
daß man die Reflexionseinheiten durch große konstitutive Einheiten ersetzt
(seien es die großen funktionellen Einheiten Cuviers, sei es die große Kompo-
sitionseinheit bei Geoffroy), bezüglich welcher die Differenz noch in Analo-
gieurteilen oder als Variable in einem Universalbegriff gedacht wird. Die
Differenz wird jedenfalls nicht als individuelle Differenz gedacht, solange man
sie den Kriterien der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung, der Identität in der
Reflexion, der Analogie im Urteil oder des Gegensatzes im Begriff unterord-
net. Sie bleibt bloß allgemeine Differenz, obwohl sie dem Individuum an-
haftet.
Die große Neuerung Darwins lag vielleicht darin, daß er das Denken der
individuellen Differenz begründet hat. Das Leitmotiv in über die Entste-
hung der Arten lautet: Man weiß nicht, was die individuelle Differenz zu
leisten vermag! Man weiß nicht, wie weit sie reichen kann, vorausgesetzt,
daß die natürliche Auslese hinzutritt. Darwins Problem stellt sich in ganz
ähnlichen Begriffen, deren sich Freud bei anderer Gelegenheit bedienen
wird: Es geht um die Frage, unter welchen Bedingungen freie, gleitende oder
ungebundene kleine Differenzen zu abschätzbaren, gebundenen und festen
Differenzen werden. Die natürliche Auslese nun, die tatsächlich die Rolle
eines Realitäts- oder gar Erfolgsprinzips übernimmt, zeigt, wie sich die Dif-
ferenzen in eine Richtung verbinden und ansammeln, aber ebenso, wie sie
mehr und mehr danach streben, in verschiedene oder gar entgegengesetzte
Richtungen zu divergieren. Die natürliche Auslese besitzt eine entscheidende
Rolle: die Differenz zu differenzieren (Überleben des jeweils Divergente-
sten). Dort, wo die Selektion nicht oder nicht mehr wirkt, bleiben die Diffe-
renzen gleitend oder werden es von neuem; dort, wo sie wirkt, geschieht es
auf die Weise, daß sie die Differenzen fixiert und divergieren läßt. Die gro-
ßen taxinomischen Einheiten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Klassen,
dienen nicht mehr dazu, die Differenz zu denken, indem sie auf Ähnlichkei-
ten, Identitäten, Analogien, Gegensätze bezogen wird, die als ebenso viele
Bedingungen bestimmt sind. Im Gegenteil, diese taxinomischen Einheiten
werden vielmehr von der Differenz aus und ausgehend von der Differenzie-
rung der Differenz als dem grundlegenden Mechanismus der natürlichen
Auslese gedacht. Sicher besitzt die’ individuelle Differenz, als für sich selbst
gedachte, als Urstoff der Selektion oder der Differenzierung, bei Darwin
noch keinen genau umrissenen Status: als freie, gleitende und ungebundene
verschmilzt sie mit einer unbestimmten Variabilität. Darum leistet Weismann
einen wesentlichen Beitrag zum Darwinismus, wenn er zeigt, wie die indivi-
duelle Differenz eine natürliche Ursache in der geschlechtlichen Fortpflan-
zung findet: die geschlechtliche Fortpflanzung als Prinzip der fortwährenden
Erzeugung verschiedenartiger ,,individueller Unterschiede“. In dem Maße,
wie die Geschlechtsdifferenzierung selbst aus der geschlechtlichen Fortpflan-
zung resultiert, bemerken wir, daß die drei großen biologischen Differenzie-
314 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

rungen - der Arten, der organischen Teile, der Geschlechter - um die indivi-
duelle Differenz kreisen und nicht umgekehrt. Dies sind die drei Figuren der
kopernikanischen Revolution des Darwinismus. Die erste betrifft die Diffe-
renzierung der individuellen Differenzen als Divergenz der Merkmale und
Bestimmung der Gruppen; die zweite betrifft die Bindung der Differenzen als
Merkmalszuordnung in derselben Gruppe; die dritte betrifft die Erzeugung
der Differenzen als kontinuierlichen Stoff der Differenzierung und der Bin-
dung.
Dem Anschein nach - und zwar einem wohlbegründeten Anschein nach -
ist die geschlechtliche Fortpflanzung den Kriterien der Art und den Erfor-
dernissen der organischen Teile untergeordnet. Es ist richtig, daß das Ei alle
Teile des Organismus, zu dem es gehört, wird reproduzieren müssen. Es ist
ebenfalls - annäherungsweise - richtig, daß sich die geschlechtliche Fort-
pflanzung innerhalb der Artgrenzen abspielt. Man hat aber häufig festge-
stellt, daß alle Fortpflanzungsweisen Phänomene von organischer ,,Entdiffe-
renzierung“ implizieren. Das Ei leistet eine Wiederherstellung der Teile nur
dann, wenn es sich in einem davon unabhängigen Feld entwickelt. Und es
entwickelt sich innerhalb der Artgrenzen nur dann, wenn es zugleich Phäno-
mene spezifischer Entdifferenzierung vorführt. Einzig Lebewesen derselben
Art können wirklich die Art überschreiten und ihrerseits Lebewesen erzeu-
gen, die als Rohformen fungieren und vorübergehend auf supraspezifische
Merkmale reduziert sind. Genau dies ist es, was von Baer entdeckte, als er
zeigte, daß der Embryo nicht überlieferte adulte Formen anderer Arten
reproduziert, sondern Zustände erfährt und erleidet, Bewegungen ausführt,
die artspezifisch nicht zu ertragen sind, die Grenzen der Art, der Gattung,
der Ordnung oder der Klasse überschreiten und allein von ihm durchlebt
werden können, unter den Bedingungen embryonalen Lebens. Baer schloß
daraus, daß die Epigenese vom Allgemeineren zum weniger Allgemeinen
verläuft, d. h. von den allgemeinsten Typen zu den gattungs- und artspezifi-
schen Bestimmungen. Aber diese hohe Allgemeinheit hat nichts mit einem
abstrakten taxinomischen Begriff zu tun; denn sie wird als solche vom
Embryo erlebt. Sie verweist einerseits auf die Differentialverhältnisse, die die
Virtualität bilden, die der Aktualisierung der Arten vorausgeht; sie verweist
andererseits auf die ersten Bewegungen dieser Aktualisierung und vor allem
auf die Bedingung dieser Aktualisierung, d. h. auf die Individuation, wie sie
im Ei ihr Konstitutionsfeld findet. Auf diese Weise überschreiten die *
höchsten Allgemeinheiten des Lebens die Arten und die Gattungen, über-
schreiten sie allerdings in Richtung auf das Individuum und die präindivi-
duellen Singularitäten, nicht in Richtung auf ein abstraktes Unpersönliches=
Wenn man mit Baer feststellt, daß nicht nur der Typ des Embryos, sondern
sogar seine artspezifische Form sehr früh erscheint, so sollte man daraus
nicht notwendig auf die Unreduzierbarkeit der Typen oder Stämme, sondern
auf die relative Geschwindigkeit und Beschleunigung der Wirkung schließen,
die durch die Individuation auf die Aktualisierung oder die Spezifikation
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 315

ausgeübt wird21. Nicht das Individuum ist eine Illusion bezüglich des Genius
der Art, vielmehr ist die Art eine - freilich unvermeidbare und wohlbegrün-
dete - Illusion bezüglich der Spiele des Individuums und der Individuation.
Die Frage- lautet nicht, ob das Individuum, de facto, von seiner Art und seinen
Teilen abgetrennt werden kann. Es kann dies nicht. Aber diese ,,Untrennbar-
keit“ selbst und die Erscheinungsgeschwindigkeit der Art und der Teile -
hezeugen sie nicht das Primat de jure der Individuation über die Differenzie-
rung? Was über der Art steht und ihr von Rechts wegen vorangeht, ist das
Individuum. Und der Embrvo ist das Individuum als solches, unmittelbar im
Feld seiner Individuation erfaßt. Die geschlechtliche Fortpflanzung definiert
eben dieses Feld; wenn sie im Produkt von einer umso frühzeitigeren Erschei-
nung der artspezifischen Form begleitet ist, so deswegen, weil der Artbegriff
selbst zunächst von der geschlechtlichen Fortpflanzung abhängt, wobei diese
die Auslösungsbewegung der Aktualisierung durch die Inidividuation
beschleunigt (das Ei selbst ist bereits der Sitz der ersten Bewegungen). Der
Embryo ist eine Art Phantasie seiner Eltern; jeder Embryo ist eine Schimäre,
geeignet, als Rohform zu dienen und das für jedes adulte Artexemplar Uner-
trägliche zu erleben. Er vollführt erzwungene Bewegungen, bildet innere
Resonanzen, er dramatisiert die Urverhältnisse des Lebens. Im Vergleich zwi-
schen tierischer und menschlicher Sexualität besteht das Problem in der Frage,
wie die Sexualität nicht länger Funktion sein und ihre Bindung an die Fort-
pflanzung zerreißen kann. Der Grund liegt darin, daß die menschliche Sexua-
lität die Produktionsbedingungen der Phantasie verinnerlicht. Die Träume
sind unsere Eier, unsere Larven oder unsere spezifisch psychischen Indivi-
duen. Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, daß das vitale Ei bereits Individua-
tionsfeld ist; der Embryo selbst reines Individuum ist; und daß das eine im
anderen den Vorrang der Individuation gegenüber der Aktualisierung, d.h.
gegenüber der Spezifikation und der Organisation zugleich bezeugt.
Die individuierende Differenz muß zunächst in ihrem Individuationsfeld
gedacht werden - nicht als spät eintretend, sondern gewissermaßen in ovo. Seit
den Arbeiten von Child und Weiss erkennt man Symmetrieachsen oder -ebe-
nen in einem Ei; aber auch hier liegt das Positive weniger in den gegebenen
Symmetrieelementen, als in denjenigen, die fehlen, die nicht vorhanden sind.

21 Zur Erscheinungsgeschwindigkeit des Typs der artspezifischen Form vgl. Edmond


Perrier: Les colonies animales et La formation des organismes, Paris 1881, S. 701 ff. -
Perrier unterstreicht die Abhängigkeit des Artbegriffs hinsichtlich der geschlechtli-
chen Fortpflanzung: ,,Bei jeder neuen Generation nehmen die gemeinsamen Merk-
male eine immer größere Festigkeit an [. . .] Alle jüngeren Forschungen treffen sich
im Nachweis dessen, daß die Art nicht in den Gruppen des Tierreichs existiert, in
denen die Fortpflanzung ohne vorherige Befruchtung geschieht. Damit ist die
Erscheinung der Art eng mit der der geschlechtlichen Fortpflanzung verbunden“
(S. 707).
316 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Die Achsen entlang und vom einen Pol zum anderen verteilt eine Intensität
ihre Differenz und bildet dabei eine Variationswelle, die sich durch das Proto-
plasma hindurch ausbreitet. Die Region mit höchster Aktivität wird als erste
wirksam und übt einen beherrschenden Einfluß auf die Entwicklung der Teile
aus, die einer niedrigeren Quote entsprechen: Das Individuum im Ei ist ein
regelrechter Sturz, es führt vom Obersten zum Untersten und bejaht die
Intensitätsdifferenzen, in denen es enthalten ist, in denen es stürzt. In der
jungen Gastrula des Amphibs scheint die maximale Intensität in einem ,,sus-
blastoporalem“ Mittelfokus zu liegen und nimmt in allen Richtungen ab,
weniger schnell aber zum animalen Pol hin; im Mittelblatt einer jungen Neu-
rula beim Wirbeltier nimmt die Intensität in jedem transversalen Abschnitt
von der mediodorsalen zur medioventralen Linie ab. Man muß die Richtungen
und Entfernungen, die Dynamiken oder Dramen, die Potentiale und die
Potentialitäten vervielfältigen, um das spatium des Eis, d. h. seine intensiven
Tiefen auszuloten. Die Welt ist ein Ei. Und das Ei verschafft uns tatsächlich
das Modell für die Reihenfolge der Gründe: Differentiation/Individua-
tion/Dramatisierung/(organische und artbildende)Differenzierung. Wir neh-
men an, daß die Intensitätsdifferenz, wie sie im Ei impliziert ist, zunächst
Differentialverhältnisse ausdrückt, und zwar als einen virtuellen Stoff, der
aktualisiert werden soll. Dieses intensive Individuationsfeld bestimmt die in
ihm ausgedrückten Verhältnisse dazu, sich in raum-zeitlichen Dynamiken
(Dramatisierung) zu verkörpern, in Arten, die diesen Verhältnissen entspre-
chen (artbildende Differenzierung), in organischen Teilen, die den ausgezeich-
neten Punkten dieser Verhältnisse entsprechen (organische Differenzierung).
Stets steuert die Individuation die Aktualisierung: Die organischen Teile wer-
den nur von den Gradienten ihrer intensiven Umgebung aus induziert; die
Typen spezifizieren sich nur in Abhängigkeit von der individuierenden Inten-
sität. Die Intensität ist überall primär im Verhältnis zu den Artqualitäten und
organischen Extensionen. Begriffe wie die von Dalcq geprägten, ,,morpho-
genetisches Potential“, ,, Feld/Gradient/Schwelle“, die sich wesentlich auf die
Intensitätsverhältnisse als solche beziehen, werden diesem komplexen Zusam-
menhang gerecht. Darum läßt sich die Frage nach einem Vergleich zwischen
der Rolle des Zellk e r n s und des Zytoplasmas im Ei wie in der Welt nicht leicht
beantworten. Der Kern und die Gene bezeichnen nur den aus der Differentia-
tion hervorgegangenen Stoff, d. h. die Differentialverhältnisse, die das präindi-
viduelle, zu aktualisierende Feld bilden; ihre Aktualisierung aber wird nur
durch das Zytoplasma mit seinen Gradienten und Individuationsfeldern
bestimmt.
Die Art ähnelt nicht den Differentialverhältnissen, die sich in ihr aktualisieren;
die organischen Teile ähneln nicht den ausgezeichneten Punkten, die diesen
Verhältnissen entsprechen. Die Art und die Teile ähneln nicht den Intensitä-
ten, die sie bestimmen. Wie Dalcq sagt: Wenn ein kaudaler Anhang von seiner
intensiven Umgebung induziert wird, so hängt dieser Anhang von einem
System ab, in dem ,,nichts a priori kaudal ist“, und entspricht einer gewissen
A SYMMETRISCHE SYNTHESE DES SI N N L I C H E N 317

Ebene des morphogenetischen Potentials22. Das Ei ist es, wodurch das Modell
der Gleichartigkeit zerstört wird. Und zwei Streitfälle scheinen viel an ihrer
Bedeutung einzubüßen, je mehr die Forderungen nach Ähnlichkeit verschwin-
den. Einerseits bilden Präformationslehre und Epigenese nicht länger einen
Gegensatz, sobald man zugesteht, daß die umhüllten Präformationen intensiv,
die entfalteten Formationen qualitativ und extensiv sind und die einen nicht
den anderen ähneln. Andererseits tendieren die Lehre von der Konstanz der
Arten und die Evolutionstheorie zu einer Aussöhnung, sofern die Bewegung
nicht von einem aktuellen Term zu einem anderen und ebensowenig vom
Allgemeinen zum Besonderen verläuft, sondern vom Virtuellen zu seiner
Aktualisierung - über die Vermittlung einer bestimmenden Individuation.
Dennoch sind wir hinsichtlich der Hauptschwierigkeit nicht vorangekommen.
Wir berufen uns auf ein Individuationsfeld, auf eine individuierende Differenz
als Bedingung der Spezifikation und der Organisation. Das Individuationsfeld
aber ist nur allgemein und formal gesetzt; es scheint für eine gegebene Art das
,,selbe“ zu sein und von einer Art zur anderen an Intensität zu variieren. Es
scheint also von der Art und der Spezifikation abzuhängen und uns wiederum
an die mit dem Individuum verwachsenen Differenzen zu verweisen, nicht an
individuelle Differenzen. Zur Beseitigung dieser Schwierigkeit müßte die indi-
viduierende Differenz nicht nur in einem Individuationsfeld allgemein, son-
dern selbst als individuelle Differenz gedacht werden. Die Form des Felds
müßte an sich selbst und notwendig durch individuelle Differenzen ausgefüllt
werden. Diese Füllung müßte unmittelbar, zum frühesten Zeitpunkt, und
nicht später, im Ei eintreten - und zwar so, daß das Prinzip des Nichtzuunter-
scheidenden genau die Formulierung besäße, die Lukrez ihm gab: keine zwei
identischen Eier oder Getreidekörner. Nun glauben wir, daß diesen Bedingun-
gen in der Implikationsordnung der Intensitäten völlig genügt wird. Die
Intensitäten artikulieren und bedingen nichts anderes als Differentialverhält-
nisse; die Individuen bedingen nichts anderes als Ideen. Nun sind die Diffe-
rentialverhältnisse in der Idee keineswegs schon wieder Arten (oder Gattun-
gen, Familien usw.), sowenig ihre ausgezeichneten Punkte schon wieder Teile
sind. Sie konstituierten keineswegs schon wieder Qualitäten und Extensionen.
Im Gegenteil, alle Ideen koextistieren miteinander, alle Verhältnisse, ihre
Variationen und ihre Punkte, obwohl sich ein Ordnungswechsel je nach
betrachteten Elementen einstellt: Sie unterliegen durchgängiger Bestimmung
oder Differentiation, obwohl sie gänzlich undifferenziert sind. Eine solcher
Modus deutlicher ,,Unterscheidung“ [distinction] schien uns mit der Perplika-
tion der Idee zu korrespondieren, d. h. mit ihrem problematischen Charakter
und der virtuellen Realität, die sie repräsentiert. Darum war die Idee in
logischer Hinsicht dadurch gekennzeichnet, deutlich-dunkel [distincte-obs-
cure] in einem zu sein. Gerade als deutlich unterschiedene [distincte] (omni

22 Albert Dalcq: L’a?uf et son dynamisme organisateur, Paris 1941, S. 194 ff.
318 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

modo determinata) ist sie dunkel (undifferenziert, koexistent mit anderen


Ideen, mit ihnen ,,perpliziert“). Es geht um die Frage, was geschieht, wenn die
Ideen durch die Intensitäten oder Individuen in dieser neuen Dimension
ausgedrückt werden, in der Dimension der Implikation.
Hier drückt nun die Intensität, Differenz an sich selbst, Differentialverhält-
nisse und entsprechende ausgezeichnete Punkte aus. Sie führt in diese Verhält-
nisse und zwischen die Ideen einen neuen Typ von Unterscheidung [distinc-
tion] ein. Die Ideen, die Verhältnisse, die Variationen dieser Verhältnisse, die
ausgezeichneten Punkte sind jetzt in gewisser Weise geschieden; anstatt weiter
nebeinander zu koexistieren, treten sie in simultane oder sukzessive Zustände
ein. Dennoch werden alle Intensitäten jeweils voneinander impliziert, wobei
jede einzelne ihrerseits umhüllend und umhüllt ist. So daß jede davon fort-
fährt, die wechselnde Totalität der Ideen, die variable Gesamtheit der Diffe-
rentialverhältnisse auszudrücken. Sie drückt aber nur manche davon, und
manche Variationsgrade, klar aus. Die sie klar ausdrückt, sind eben jene, die
sie direkt intendiert, wenn sie die Funktion der umhüllenden annimmt. In
ihrer Funktion als umhüllte drückt sie nichtsdestoweniger alle Verhältnisse,
alle Grade, alle Punkte aus, allerdings verworren. Da sich beide Funktionen
wechselseitig bedingen, da die Intensität zunächst durch sich selbst umhüllt
wird, muß man sagen, daß das Klare und das Verworrene ebensowenig trenn-
bar sind - als logisches Merkmal in der Intensität, die die Idee ausdrückt, d.h.
im Individuum, das sie denkt -, wie sich das Deutliche [distinct] und das
Dunkle in der Idee selbst trennen lassen. Dem Deutlich-Dunklen als ideeller
Einheit entspricht das Klar-Verworrene als individuierende intensive Einheit.
Das Klar-Verworrene qualifiziert nicht die Idee, sondern den Denkenden, der
es denkt oder ausdrückt. Denn der Denkende ist das Individuum selbst. Das
Deutliche war nichts anderes als das Dunkle, es war dunkel als Deutliches;
nun aber ist das Klare nichts anderes als das Verworrene, und es ist verworren
als Klares. Wir haben gesehen, daß der Mangel der Theorie der Repräsentation
vom Standpunkt der Logik der Erkenntnis aus darin gelegen hatte, eine
direkte Proportion zwischen dem Klaren und dem Deutlichen herzustellen,
ungeachtet des umgekehrten Verhältnisses, das diese beiden logischen Werte
verknüpft; jedes Bild des Denkens wurde dadurch entstellt. Allein Leibniz
kam den Bedingungen einer Logik des Denkens nahe, angeregt eben durch
seine Theorie der Individuation und des Ausdrucks. Denn trotz der Ambigui-
tät und der Komplexität der Texte scheint es mitunter, daß das Ausgedrückte
(der Inhalt der D’ffi erentialverhältnisse oder die unbewußte virtuelle Idee) an
sich selbst deutlich und dunkel sei: so etwa alle Wassertropfen des Meeres,
verstanden als genetische Elemente mit ihren Differentialverhaltnissen, den
Variationen dieser Verhältnisse und den ausgezeichneten Punkten, die sie
enthalten. Und daß das Ausdrückende (das wahrnehmende, imaginierende
oder d enkende Individuum) von Natur aus klar und verworren sei: so etwa
u n s e r e Wahrnehmung des Meeresrauschens, die auf verworrene Weise das
Ganze umfaßt, aber nur manche Verhaltnisse und manche Punkte klar aus-
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 319

drückt, und zwar in Abhängigkeit von unserem Körper und einer Bewußt-
seinsschwelle, die dieser bestimmt.
Die Ordnung der Implikation umfaßt das Umhüllende ebenso wie das
Umhüllte, die Tiefe wie die Entfernung. Wenn eine umhüllende Intensität
diese oder jene Differentialverhältnisse und ausgezeichneten Punkte klar
ausdrückt, so drückt sie alle anderen Verhältnisse, alle ihre Variationen und
Punkte nichtsdestoweniger verworren aus. Sie drückt sie dann in den Inten-
sitäten aus, die sie umhüllt, in den umhüllten Intensitäten. Diese aber sind
jener immanent. Die umhüllenden Intensitäten (die Tiefe) bilden das Indivi-
duationsfeld, die individuierenden Differenzen. Die umhüllten Intensitäten
(die Entfernungen) bilden die individuellen Differenzen. Diese füllen also
notwendig jene. Warum ist die umhüllende Intensität bereits Individuations-
feld? Weil das D’ffi erentialverhältnis, das sie intendiert, noch keine Art ist
und seine ausgezeichneten Punkte noch keine Teile sind. Sie sollen es wer-
den, aber nur dadurch, daß sie sich aktualisieren, unter Einwirkung des
Felds, das sie bildet. Muß man wenigstens sagen, daß alle Individuen ein
und derselben Art das gleiche Individuationsfeld besitzen, da sie ursprüng-
lich dasselbe Verhältnis intendieren? Sicher nicht, denn zwei individuierende
Intensitäten können in abstrakter Hinsicht, durch ihren klaren Ausdruck,
dieselben sein; sie sind niemals dieselben aufgrund der Ordnung der Intensi-
täten, die sie umhüllen, oder der Verhältnisse, die sie verworren ausdrücken.
Es gibt eine variable 0 rd nung, der zufolge die Gesamtheit der Verhältnisse
auf verschiedene Weise in diesen sekundären Intensitäten impliziert wird.
Man sollte sich jedoch hüten zu sagen, das Individuum besitze individuelle
Differenz nur aufgrund seiner verworrenen Sphäre. Dies hieße wiederum,
die Unauflösbarkeit von Klarem und Verworrenem zu vernachlässigen; dies
hieße zu vergessen, daß das Klare durch sich selbst, als Klares, verworren
ist. Denn die sekundären Intensitäten repräsentieren die grundlegende
Eigenschaft der primären Intensitäten, d.h. das Vermögen, sich zu teilen,
indem sie sich in ihrer Natur verändern. Zwei Intensitäten sind identisch
nur in abstrakter Hinsicht, differieren aber wesentlich, und sei es nur auf
die Weise, wie sie sich in die Intensitäten teilen, die sie enthalten. Man sollte
sich schließlich hüten zu sagen, daß sich die Individuen derselben Art durch
ihre Teilhabe an anderen Arten unterscheiden: als ob es etwa in jedem Men-
schen Züge des Esels ‘und des Löwen, des Wolfs oder des Schafs gäbe.
Natürlich gibt es all das, und die Seelenwanderung bewahrt all ihre symbo-
lische Wahrheit; aber Esel und Wolf können als Arten nur hinsichtlich der
Individu ationsfelder betrachtet werden, durch die sie klar ausgedrückt wer-
den. Im Verworrenen u n d Umhüllten haben sie nur die Rolle von Varia-
blen, Teilseelen oder individuellen Differenzen. Darum hatte Leibniz
zurecht den Begriff der Meternpsychose durch den des ,,Metaschematismus“
ersetzt; er verstand darunter, daß eine Seele nicht den Körper wechselt, son-
dern daß sich ihr Körper von neuem umhüllt, sich re-impliziert, um bei
Bedarf in andere Individuationsfelder zu gelangen, wobei er auf diese Weise
320 DIFFERENZ UND WIEDERHOL U N G

zu einem ,,subtileren Theater“ zurückkehrt23. Jeder Körper, jedes Ding denkt


und ist ein Gedanke, vorausgesetzt es drückt - auf seine intensiven Ursachen
reduziert - eine Idee aus, deren Aktualisierung es bestimmt. Aber der Den-
kende selbst macht alle Dinge zu seinen individuellen Differenzen; und gerade
in diesem Sinne ist er mit Steinen und Diamanten, Pflanzen und ,,Tieren
sogar“ behangen. Der Denkende, der Denker der ewigen Wiederkunft zwei-
fellos, ist das Individuum, das universale Individuum. Dieses Individuum ist
es, das sich der ganzen Macht des Klaren und Verworrenen, des Klar-Verwor-
renen bedient, um die Idee in all ihrer Macht als deutlich-dunkle zu denken.
Daher muß man beständig den mannigfaltigen, beweglichen und kommunizie-
renden Charakter der Individualität in Erinnerung rufen: ihren implizierten
Charakter. Die Unteilbarkeit des Individuums hängt nur mit der Eigenschaft
der intensiven Quantitäten zusammen, sich nämlich nicht zu teilen, ohne sich
wesentlich zu verändern. Wir sind aus all diesen Tiefen und Entfernungen, aus
diesen intensiven Seelen gemacht, die sich entfalten und wieder umhüllen.
Individuierende Faktoren nennen wir die Gesamtheit dieser umhüllenden und
umhüllten Intensitäten, dieser individuierenden und individuellen Differen-
zen, die einander fortwährend über die Individuationsfelder hinweg durch- -
dringen. Die Individualität ist nicht das Merkmal des Ichs, sie bildet und nährt
im Gegenteil das System des aufgelösten Ichs.

Wir müssen die Beziehungen zwischen Explikation und Differenzierung prä-


zisieren. Die Intensität erschafft die Ausdehnungen und Qualitäten, in denen
sie sich expliziert; diese Ausdehnungen wie diese Qualitäten sind differenziert.
Eine Ausdehnung ist formal deutlich von einer anderen unterschieden
[distincte] und enthält an sich selbst Unterscheidungen [distintions] von Tei-
len, die mit ausgezeichneten Punkten übereinstimmen; eine Qualität ist in
materieller Hinsicht deutlich geschieden und enthält Unterscheidungen, die
mit Verhältnisvariationen übereinstimmen. Erschaffen heißt stets Differenzie-
rungslinien und -figuren erzeugen. Tatsachlich aber expliziert sich die Intensi-
tät nicht, ohne sich in diesem von ihr erschaffenen differenzierten System zu
tilgen. Ebenso stellt man fest, daß sich die Differenzierung eines Systems
durch Kopplung mit einem allgemeineren System ergibt, das sich ,,entdifferen-
ziert“. In diesem Sinne widersprechen selbst die Lebewesen nicht dem empiri-
schen Degradationsprinzip, kompensiert eine Vereinheitlichung des Ganzen
die lokalen Differenzierungen, genau wie eine endgültige Tilgung die
ursprünglichen Schöpfungen kompensiert. Man sieht jedoch, wie je nach
Gebiet ganz entscheidende Variationen zutage treten. Ein physikalisches

23 Leibniz: Principes de La Natur-e et de la Grke (1 WI), § 6; dt.: Die Vernunftprinzi-


pien der Natur und der Gnade, in: Philosophische Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 427
[Übersetzung verändert; d.Ü.].
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 321

System und ein biologisches System unterscheiden sich zunächst durch die
Ordnung der Ideen, die sie verkörpern oder aktualisieren: Differentiale dieser
oder jener Ordnung. Sie unterscheiden sich sodann im Individuationsprozeß,
der diese Aktualisierung bestimmt: mit einem Mal und nur an den Rändern im
physikalischem System, während das biologische System sukzessive Einspei-
sungen von Singularitäten erhält und sein ganzes inneres Milieu an den Opera-
tionen teilhaben läßt, die sich an den äußeren Grenzen vollziehen. Sie unter-
scheiden sich schließlich durch die Differenzierungsfiguren, die die Aktualisie-
rung selbst repräsentieren: die biologische Spezifikation und Organisation im
Unterschied zu der bloßen physikalischen Qualifizierung und Partition. Aber
die Tilgung der produktiven Differenz und die Auslöschung der produzierten
Differenzierung bleiben, welches Gebiet auch betrachtet wird, das Gesetz der
Explikation, das sich ebenso in der physikalischen Nivellierung wie im biolo-
gischen Tod niederschlägt. Wiederum hat das Degradationsprinzip an keiner
Stelle Widerlegung oder Widerspruch erfahren. Und wenn es alles ,,expli-
ziert“, so wird es dennoch keiner Sache gerecht. Wenn alles - wie sich sagen
ließ - hineingerät, kommt nichts heraus. Wenn ihm nichts widerspricht, wenn
es weder Gegenordnung noch Ausnahme kennt, so gibt es doch etliche Dinge
anderer Ordnung. Wenn das lokale Anwachsen von Entropie durch eine
allgemeinere Degradation kompensiert wird, so ist es doch in keiner Weise in
dieser enthalten oder durch sie erzeugt. Es ist das Los empirischer Prinzipien,
daß sie die Elemente ihrer eigenen Begründung nicht in sich tragen. Offen-
sichtlich wird das Degradationsprinzip weder der Erschaffung des einfachsten
Systems noch der Evolution der Systeme gerecht (der dreifache Unterschied
des biologischen Systems zum physikalischen). Daher zeugt das Lebendige
von einer anderen Ordnung, von einer heterogenen Ordnung und einer ande-
ren Dimension - als ob die individuierenden Faktoren oder die Atome, die in
ihrem Vermögen wechselseitiger Kommunikation und fließender Instabilität
individuell erfaßt werden, darin über einen höheren Ausdrucksgrad verfüg-
tenz4.
Welche Formel hat diese ,,Evolution“ ? Je komplexer ein System ist, desto
mehr spezifische Implikationswerte erscheinen darin. Die Anwesenheit dieser
Werte ermöglicht es, die Komplexität oder die Kompliziertheit eines System
zu beurteilen, sie bestimmen die oben angeführten Merkmale des biologischen
Systems. Die Implikationswerte sind Umhüllungszentren. Diese Zentren sind
nicht die individuierenden intensiven Faktoren selbst; sie sind vielmehr deren
Repräsentanten in einem komplexen Zusammenhang, der gerade dabei ist, sich
zu explizieren. Sie sind es, die die kleinen Inseln, den lokalen Wiederanstieg

24 Francois Meyer: Probhnatique de l’kvolution, Paris 1954, S. 193: ,,Die Funktions-


weise des biologischen Systems widerspricht also nicht der Thermodynamik, es liegt
nur außerhalb von deren Anwendungsfeld [. . .].“ - In diesem Sinne ruft Meyer die
Frage Jordans in Erinnerung: ,,Ist ein Säugetier ein mikroskopisches Wesen?“ (S.
228).
322 DI F F E R E N Z UND WIEDERHOLUNG

von Entropie im Innern eines Systems bilden, dessen Gesamtheit jedoch mit
der Degradation übereinstimmt: so etwa die individuell herausgegriffenen
Atome, die gleichwohl das Gesetz ansteigender Entropie bestätigen, sobald
man sie massenhaft in der Explikationsordnung des Systems betrachtet, in
dem sie impliziert werden. Indem er individuelle Wirkungen zwischen orien-
tierten Molekülen aufweist, kann ein Organismus, ein Säugetier etwa, einem
mikroskopischen Wesen gleichgesetzt werden. Die Funktion dieser Zentren
definiert sich auf mehrfache Weise. Sofern die individuierenden Faktoren eine
Art Noumenon des Phänomens bilden, sagen wir zunächst, daß das Noume-
non danach strebt, als solches in den komplexen Systemen zu erscheinen, daß
es sein spezifisches Phänomen in den Umhüllungszentren findet. Sodann
sagen wir - insofern der Sinn an die sich verkörpernden Ideen und an die
Individuationen geknüpft ist, die diese Verkörperung bestimmen -, daß diese
Zentren expressiv sind oder den Sinn offenbaren. Und sofern jedes Phänomen
seine Ursache in einer Intensitätsdifferenz findet, die es gleichsam mit Rand-
begrenzungen umsäumt, zwischen denen es aufblitzt, sagen wir schließlich,
daß die komplexen Systeme mehr und mehr danach streben, ihre konstitutiven
Differenzen zu verinnerlichen: Die Umhüllungszentren gehen aus dieser Ver-
innerlichung der individuierenden Faktoren hervor. Und je mehr die Diffe-
renz, von der das System abhängt, im Phänomen verinnerlicht wird, umso
mehr tritt die Wiederholung selbst nach Innen, umso weniger hängt sie von
äußeren Bedingungen ab, die die Reproduktion der ,,selben” Differenzen
garantieren sollten.
Wie die Bewegung des Lebens bezeugt, streben Differenz und Wiederholung
gleichzeitig danach, sich im System Signal/Zeichen zu verinnerlichen. Zurecht
begnügen sich die Biologen, wenn sie das Problem der Erblichkeit stellen,
nicht damit, dieser zwei verschiedene Funktionen zuzuweisen, welche der
Variation und der Reproduktion entsprechen würden, sondern wollen die
tiefgreifende Einheit dieser Funktionen oder ihre wechselseitige Bedingtheit
aufzeigen. An diesem Punkt münden die Vererbungslehren notwendig in eine
Philosophie der Natur. Und das heißt, daß die Wiederholung niemals Wieder-
holung des ,,Selben“, sondern stets des Differenten als solchen ist, und daß die
Differenz an sich selbst die Wiederholung zum Gegenstand hat. In dem
Augenblick, in dem sie sich in einem System explizieren (ein für allemal),
bezeugen die differentiellen, intensiven oder individuierenden Faktoren ihre
Beständigkeit in der Implikation, bezeugen sie die ewige Wiederkehr als
Wahrheit dieser Implikation. Stumme Zeugen der Degradation und des Todes,
sind die Umhüllungszentren die dunklen Vorboten der ewigen Wiederkehr
Aber auch hier sind es die stummen Zeugen, die dunklen Vorboten, die alles
vollbringen oder in denen zumindest alles geschieht.
Wenn man immer wieder von Evolution redet, muß man wohl auch auf die
psychischen Systeme zu sprechen kommen. Bei jedem Systemtyp müssen wir
danach fragen, was den Ideen zukommt, was jeweils der Individuation/Impli-
kation und der Differenzierung/Explikation zukommt. Wenn das Problem mit
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 323

den psychischen Systemen eine besondere Dringlichkeit annimmt, so deshalb,


weil es keineswegs gewiß ist, daß das Ego [Je] und das Ich [Moi] zum Gebiet
der Individuation gehören. Sie sind eher die Figuren der Differenzierung. Das
Ego bildet die eigentlich psychische Spezifikation und das Ich die psychische
Organisation. Das Ego ist die Qualität des Menschen als Art. Die psychische
Spezifikation ist nicht vom gleichen Typus wie die biologische Spezifikation,
weil die Bestimmung dabei gleich dem Bestimmbaren oder von derselb e n
Potenz wie dieses sein muß. Darum verwarf Descartes jede Definition d e s
Menschen, die wie bei einer Tierart mit Gattung und ‘Differenz operiert:
vernünftiges Tier etwa. Nun führt er aber gerade das 1ch denke als ein anderes
Definitionsverfahren vor, das die Spezifität des Menschen oder die Qualität
seiner Substanz zu belegen vermag. In Korrelation zum Ego muß das Ich als
Extension begriffen werden: Das Ich [Moi] bezeichnet den spezifisch psychi-
schen Organismus mit seinen ausgezeichneten Punkten, die durch die ver-
schiedenen Vermögen repräsentiert werden, die in die Komprehension des
Ego [Je/ eingehen. So daß sich die psychische Grundkorrelation in der Formu-
lierung ICH denke MICH [JE ME pense] ausdrückt, wie sich entsprechend
die biologische Korrelation in der Komplementarität der Art und der Teile,
der Qualität und der Extension ausdrückt. Darum beginnen Ego und Ich,
jedes von seiner Seite aus, mit Differenzen, diese Differenzen aber sind von
Anfang an so verteilt, daß sie sich tilgen, entsprechend den Forderungen des
gesunden Menschenverstands und des Gemeinsinns. Das Ego erscheint also
am Ende ebensogut als universale Form des differenzlosen psychischen
Lebens, das Ich als der universale Stoff dieser Form. Ego und Ich explizieren
sich, explizieren sich fortwährend über die gesamte Geschichte des Cogito
hinweg.
Die individuierenden Faktoren, die implizierten Individuationsfaktoren haben
also weder die Form des Ego noch den Stoff des Ichs. Und zwar deswegen,
weil das Ego nicht von einer Identitätsform trennbar ist, und das Ich nicht von
einem Stoff, der durch eine Kontinuität von Ähnlichkeiten gebildet wird. Die
im Ego und im Ich enthaltenen Differenzen sind sicher mit dem Individuum
verwachsen; dennoch sind sie nicht individuell oder individuierend, sofern sie
in Bezug auf jene Identität im Ego und jene Ähnlichkeit im Ich gedacht
werden. Demgegenüber ist jeder individuierende Faktor bereits Differenz und
Differenz von-Differenz. Er ist auf einer grundlegenden Disparität aufgebaut,
er funktioniert an den Rändern dieser Disparität als solcher. Darum kommu-
nizieren diese Faktoren fortwährend untereinander über die Individuationsfel-
der hinweg, umhüllen sich gegenseitig, mit einer Unbeständigkeit, die den
Stoff des Ego wie die Form des Ichs erschüttert. Die Individuation ist beweg-
lich, seltsam geschmeidig, flüchtig, hat Fransen und Ränder, weil die Intensitä-
ten, durch die sie hervorgetrieben wird, andere Intensitäten umhüllen, von
anderen umhüllt werden und mit allen kommunizieren. Das Individuum ist
keineswegs das Unteilbare, es teilt sich fortwährend, indem es sich in seiner
Natur verändert. Es ist in dem, was es ausdrückt, kein Ich; denn es drückt
324 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Ideen als innere Mannigfaltigkeiten aus, die aus Differentialverhältnissen und


ausgezeichneten Punkten, aus präindividuellen Singularitäten bestehen. Und
es ist ebenso wenig ein Ego als Ausdruck; denn auch hier bildet es eine
Mannigfaligkeit von Aktualisierung, als eine Verdichtung von ausgezeichneten
Punkten, eine offene Sammlung von Intensitäten. Oft hat man auf den Unbe-
stimmtheitsrand des Individuums und den relativen, gleitenden und fließenden
Charakter der Individualität selbst aufmerksam gemacht (etwa im Fall zweier
physikalischer Partikel, deren Individualität man nicht mehr verfolgen kann,
wenn ihre Anwesenheitsbereiche oder Individuationsfelder ineinander über-
greifen; oder in der biologischen Unterscheidung von Organ und Organismus,
die von der Lage der entsprechenden Intensitäten abhängt, je nachdem, ob sie
in einem größeren Individuationsfeld umhüllt oder nicht umhüllt sind). Der
Irrtum aber liegt darin zu glauben, daß diese Relativität oder diese Unbe-
stimmtheit eine Unfertigkeit in der Individualität, eine Unterbrechung in der
Individuation bedeute. Im Gegenteil, sie drücken die ganze positive Macht des
Individuums als solchen aus, sie drücken die Art und Weise aus, wie sich
dieses wesentlich von einem Ego wie einem Ich unterscheidet. Das Indivi-
duum unterscheidet sich vom Ego und vom Ich, wie sich die intensive Ord- i
nung der Implikationen von der extensiven und qualitativen Ordnung der
Explikation unterscheidet. Unbestimmt, gleitend, fließend, kommunizierend,
umhüllend-umhüllt - das sind die positiven Merkmale, die durch das Indivi-
duum bejaht werden. Daher genügt es nicht, die Ichs zu vervielfältigen oder
das Ego ,,abzuschwächen“, um den wahren Status der Individuation zu ent-
decken. Wir haben dennoch gesehen, wie sehr das Ich als Bedingung der
passiven organischen Synthesen angenommen werden mußte, die bereits die
Rolle von stummen Zeugen spielen. Gerade die Synthese der Zeit aber, die
sich in ihnen vollzieht, verweist auf andere Synthesen wie auf andere Zeugen
und führt uns in Gebiete anderer Natur, in denen es weder Ego noch Ich gibt
und im Gegenteil das chaotische Reich der Individuation beginnt. Denn jedes
Ich bewahrt noch eine Ähnlichkeit in seinem Stoff und jedes Ego eine Identi-
tät, sei sie auch abgeschwächt. Dasjenige aber, was eine Unähnlichkeit als
Grund und eine Differenz von Differenz als Ungrund besitzt, paßt nicht in die
Kategorien von Ego und Ich.
Die große Entdeckung der Philosophie Nietzsches, die sich unter dem Namen
Wille zur Macht oder dionysische Welt verbirgt, eine Entdeckung, die seinen
Bruch mit Schopenhauer markiert, ist die folgende: Sicher müssen Ego und
Ich in einem undifferenzierten Abgrund überschritten werden; dieser
Abgrund aber ist weder ein Unpersönliches noch ein abstraktes Universales
jenseits der Individuation. Im Gegenteil, gerade das Ego, das Ich sind das
abstrakte Universale. Sie müssen überschritten werden, allerdings mittels und
in der Individuation und in Richtung auf die individuierenden Faktoren,
durch die sie aufgezehrt werden und die die fließende Welt des Dionysos
bilden. Das Unüberschreitbare ist die Individuation selbst. Jenseits von Ich
und Ego gibt es nicht das Unpersönliche, sondern das Individuum und seine
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 325

Faktoren, die Individuation und ihre Felder, die Individualität und ihre präin-
dividuellen Singularitäten. Denn das Präindividuelle ist noch singulär, wie das
Ante-Ego und das Vor-Ich noch individuell sind. Nicht nur ,,noch“, man
müßte sagen: ,,zuletzt”. Darum. findet das Individuum als Intensität sein
psychisches Bild weder in der Organisation des Ichs noch in der Spezifikation
des Ego, sondern im Gegenteil im gespaltenen Ego und im aufgelösten Ich
und in der Korrelation beider. Diese Korrelation tritt uns unmißverständlich
vor Augen: als Korrelation des Denkenden und des Denkens, des klar-ver-
worrenen Denkers hinsichtlich der deutlich-dunklen Ideen (dionysischer Den-
ker). Die Ideen sind es, die uns vom gespaltenen Ego zum aufgelösten Ich
führen. Was an den Rändern des Sprungs wimmelt, sind, wie wir gesehen
haben, die Ideen als entsprechend viele Probleme, d. h. als Mannigfaltigkeiten,
die aus Differentialverhältnissen und Verhältnisvariationen, ausgezeichneten
Punkten und Punkttransformationen bestehen. Diese Ideen aber drücken sich
in den individuierenden Faktoren aus, in der implizierten Welt intensiver
Quantitäten, die die konkrete universale Individualität des Denkenden oder
das System des aufgelösten Ichs bilden.
Der Tod wird ins Ego und ins Ich eingeschrieben als die Tilgung der Differenz
in einem Explikationssystem oder als die Degradation, die nun die Differen-
zierungsprozesse kompensiert. Aus dieser Perspektive mag der Tod noch so
unvermeidlich sein, jeder Tod ist gleichwohl zufällig und gewaltsam und
kommt stets von außen. Gleichzeitig hat aber der Tod eine ganz andere
Gestalt, diesmal in den individuierenden Faktoren, die das Ich auflösen: Er
entspricht nun einem ,,Todestrieb“, einer inneren Macht, die die individuie-
renden Elemente von der Form des Ego und dem Stoff des Ichs befreien, in
denen sie eingeschlossen sind. Man hätte Unrecht, würde man die beiden
Seiten des Todes verwechseln, als ob sich der Todestrieb auf eine Tendenz zu
anwachsender Entropie oder eine Rückkehr zur unbelebten Materie reduzie-
ren ließe. Jeder Tod geschieht zweifach, durch die Tilgung der großen Diffe-
renz, die er in der Ausdehnung repräsentiert, und durch das Gewimmel und
die Befreiung kleiner Differenzen, die er in der Intensität impliziert. Freud
legte folgende Hypothese nahe: Der Organismus will sterben, will aber auf
seine Weise sterben, so daß der wirklich eintretende Tod stets Abkürzungen,
ein äußeres, zufälliges und gewaltsames Gepräge darstellt, die dem inneren
Sterbenwollen widerstreben. Es besteht eine notwendige Unangemessenheit
zwischen dem Tod als empirischem Ereignis und dem Tod als ,,Trieb“, als
transzendentaler Instanz. Freud und Spinoza haben gleichermaßen recht: der
eine hinsichtlich des Triebs, der andere hinsichtlich des Ereignisses. Als von
innen heraus gewollter geschieht der Tod stets von außen, in einer anderen,
passiven, zufälligen Gestalt. Der Selbstmord ist ein Versuch, diese beiden
Seiten, die einander fliehen, zu vereinbaren und in Übereinstimmung zu brin-
gen. Aber die beiden Ränder fügen sich nicht zusammen, jeder Tod bleibt
zweifach. Einerseits ist er ,,Entdifferenzierung“, die die Differenzierungen des
Ego, des Ichs in einem Gesamtsystem kompensiert, das sie vereinheitlicht;
326 DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG

andererseits ist er Individuation, Einspruch des Individuums, das sich niemals


in den Grenzen von Ego und Ich - seien sie auch universal - wiedererkannt
h at .
Freilich muß es in den psychischen Systemen, die im Begriff sind, sich zu
explizieren, Implikationswerte geben, d. h. Umhüllungszentren, die für die
individuierenden Faktoren Zeugnis ablegen. Diese Zentren werden natürlich
weder vom Ego noch vom Ich gebildet, sondern durch eine ganz andere, dem
System Ego/Ich zugehörige Struktur. Diese Struktur muß mit dem Namen des
,,Anderen“ bezeichnet werden. Sie bezeichnet niemanden, sondern nur mich
für das andere Ego und das andere Ego für mich. Der Fehler der Theorien
liegt genau darin, unaufhörlich zwischen einem Pol, an dem der Andere auf
den Status eines Objekts reduziert ist, und einem Pol, wo er zum Status des
Subjekts erhoben wird, zu schwanken. Selbst Sartre begnügte sich damit,
dieses Schwanken in den Anderen als solchen einzuschreiben, indem er zeigte,
daß der Andere Objekt wird, wenn ich Subjekt bin, und selbst nicht Subjekt
wird, ohne daß ich meinerseits Objekt bin. Dadurch blieb die Struktur des
Anderen ebenso verkannt wie seine Funktionsweise in den psychischen Syste-
men. Als Anderer, der niemand ist, sondern Ich für den Anderen und der
Andere für mich, definiert sich der Andere a priori in jedem System durch
seinen expressiven, d. h. impliziten und umhüllenden Wert. Man betrachte ein
entsetztes Gesicht (unter Erfahrungsbedingungen, bei denen ich die Gründe
dieses Entsetzens nicht sehe, nicht empfinde). Dieses Gesicht drückt eine
mögliche Welt aus - die grauenerregende Welt. Unter Ausdruck verstehen wir
wie immer jene Relation, die wesentlich eine Verzerrung enthält, eine Relation
zwischen einem Ausdrückenden und einem Ausgedrückten, so daß das Ausge-
drückte nicht außerhalb des Ausdrückenden existiert, obwohl sich das Aus-
drückende darauf wie auf etwas ganz anderes bezieht. Unter möglich verste-
hen wir folglich keinerlei Ähnlichkeit, sondern den Zustand des Implizierten,
des Umhüllten, und zwar gerade in seiner Heterogenität zu dem, wodurch es
umhüllt wird: Das entsetzte Gesicht ähnelt nicht dem, wodurch es entsetzt
wird, umhüllt es vielmehr im Zustand der grauenerregenden Welt. In jedem
psychischen System ist die Wirklichkeit mit einem Gewimmel von Mög-
lichkeiten umgeben; aber unsere Möglichkeiten sind stets die Anderen. Der
Andere kann nicht von der Expressivität getrennt werden, die ihn konstituiert.
Selbst wenn wir den Körper des Anderen als Objekt betrachten, seine Augen
und Ohren als anatomische Belegstücke, berauben wir sie nicht jeglicher
Expressivität, obwohl wir die Welt, die sie ausdrücken, bis ins Äußerste
vereinfachen: Das Auge ist ein impliziertes Licht, das Auge ist der Ausdruck
eines möglichen Lichts, das Ohr der Ausdruck eines möglichen Lauts25. Ganz

25 Zum Anderen als Ausdruck, Implikation und Umhüllung einer ,,möglichen 6’ Welt
vgl. Michel Tournier: Vendredi ou les limbes du Pacifique, Paris 1967; dt.: Freitag
oder im Schoß des Pazifik, Reinbek 1971.
ASYMMETRISCHE SYNTHESE DES SINNLICHEN 327

konkret aber sind es die sogenannten tertiären Qualitäten, mit denen die
existierende Welt zunächst durch den Anderen umhüllt wird. Das Ego und
das Ich dagegen zeichnen sich unmittelbar durch Entwicklungs- oder
Explikationsfunktionen aus: Sie erfahren nicht nur die Qualitäten über-
haupt als bereits in der Ausdehnung ihres Systems entfaltete, sondern sie
streben auch danach, die durch den Anderen ausgedrückte Welt zu expli-
zieren, zu entwickeln, sei es, um daran teilzuhaben, sei es, um sie zu
widerlegen (ich lasse das geängstigte Gesicht des Anderen an mir vorüber-
ziehen, ich entfalte es in einer furchterregenden Welt, deren Wirklichkeit
mich ergreift oder deren Unwirklichkeit ich entlarve). Aber diese Entwick-
lungsrelationen, die ebenso unsere Gemeinsamkeiten wie unsere Auseinan-
dersetzungen mit dem Anderen ausmachen, lösen dessen Struktur auf und
reduzieren ihn im einen Fall auf den Status eines Objekts, erheben ihn im
anderen Fall in den Status eines Subjekts. Um den Anderen als solchen zu
erfassen, durften wir uns also zurecht auf spezielle Erfahrungsbedingungen
berufen, so künstlich sie gewesen sein mögen: der Augenblick, an dem das
Ausgedrückte (für uns) noch keine Existenz außerhalb dessen besitzt,
wodurch es ausgedrückt wird. - Der Andere als Ausdruck einer möglichen
Welt.
In einem psychischen System Ego/Ich fungiert also der Andere als ein
Umwicklungs-, Umhüllungs- und Implikationszentrum. Er ist der Repräsen-
tant der individuierenden Faktoren. Und wenn es stimmt, daß ein Organismus
als ein mikroskopisches Lebewesen gilt, um wievieles mehr trifft dies dann auf
den Anderen in den psychischen Systemen zu. Er bildet darin die lokalen
Anstiege von Entropie, während die Explikation des Anderen durch das Ich
eine gesetzmäßige Degradation repräsentiert. Die oben geltend gemachte
Regel: sich nicht allzu sehr explizieren - diese Regel meinte vor allem, sich
nicht allzu sehr mit dem Anderen zu explizieren, nicht allzu sehr den Anderen
ZU explizieren, seine impliziten Werte Zu erhalten, unsere Welt zu vervielfa-
chen, indem sie mit all dem Ausgedrückten bevölkert wird, das nicht außer-
halb seines jeweiligen Ausdrucks existiert. Denn der Andere ist kein anderes
Ego, sondern das Ego ein anderes, ein gespaltenes Ego. Es gibt keine Liebe,
die nicht mit der Offenbarung einer möglichen Welt als solcher beginnt, einer
Welt, die im Anderen, der sie ausdrückt, eingewickelt liegt. Das Gesicht
Albertines drückte das Amalgam aus Strand und Meereswogen aus: ,,Von
welcher unbekannten Welt schied sie mich?“ Die ganze Geschichte dieser
exemplarischen Liebe ist die langwierige Explikation möglicher Welten, die
durch Albertine ausgedrückt werden, eine Explikation, durch die sie sich bald
in ein betörendes Subjekt, bald in ein enttäuschendes Objekt verwandelt.
Freilich verfügt der Andere über ein Mittel, den von ihm ausgedrückten
Möglichkeiten Realität zu verschaffen, unabhängig von der Entfaltung, der wir
sie unterziehen würden. Dieses Mittel ist die Sprache. Aus dem Mund des
Anderen verleihen die Wörter dem Möglichen als solchem die Stellung einer
Realität; daher die Begründung der Lüge, die der Sprache selbst einbeschrie-
328 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ben ist. Es ist die Rolle der Sprache in Abhängigkeit von Implikationswerten
oder Umhüllungszentren, die ihr ihre Macht in den Systemen mit interner
Resonanz verleiht. Die Struktur des Anderen und die entsprechende Funktion
der Sprache repräsentieren tatsächlich die Manifestation des Noumenon, das
Ansteigen expressiver Werte, jenes Bestreben endlich zur Verinnerlichung der
Differenz.
SCHLUSS

DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG

Solange die Differenz den Anforderungen der Repräsentation unterliegt, wird


sie nicht an sich selbst gedacht und kann es nicht werden. Die Frage: War sie
,,stets“ diesen Anforderungen unterworfen, und aus welchen Gründen? -
diese Frage muß näher untersucht werden. Es zeigt sich allerdings, daß die
reinen Disparata entweder das himmlische Jenseits eines für unser vorstellen-
des Denken unzugänglichen göttlichen Verstands bilden, oder aber das höllen-
gleiche, für uns unauslotbare Diesseits eines Ozeans an Unähnlichkeit. Jeden-
falls scheint die Differenz an sich selbst jeden Bezug des Differenten zum
Differenten auszuschließen, einen Bezug, der es ermöglichte, sie zu denken.
Denkmöglich scheint sie nur als gezähmte zu werden, d. h. in ihrer Unterwer-
fung unter die vierfache Fessel der Repräsentation: der Identität im Begriff,
des Gegensatzes im Prädikat, der Analogie im Urteil, der Ähnlichkeit in der
Wahrnehmung. Wenn es, wie Foucault es so klar gezeigt hat, eine klassische
Welt der Repräsentation gibt, so definiert sie sich durch diese vier Dimensio-
nen, die sie vermessen und koordinieren. Dies sind die vier Wurzeln des
Vernunftprinzips: die Identität des Begriffs, die sich in einer ratio cognoscendi
reflektiert; der Gegensatz des Prädikats, der in einer ratio fiendi entfaltet wird;
die Analogie des Urteils, die in einer ratio essendi verteilt wird; die Ähn-
lichkeit der Wahrnehmung, die eine ratio agendi bestimmt. Jede andere Diffe-
renz, jede Differenz, die nicht auf diese Weise verwurzelt ist, muß maßlos,
unkoordiniert, anorganisch sein: zu groß oder zu klein, und zwar nicht nur
hinsichtlich ihres Gedachtseins, sondern auch ihres Seins. Als nicht länger
gedachte verläuft sich die Differenz im Nicht-Sein. Man schließt daraus, daß
die Differenz an sich verflucht bleibt und büßen muß, oder daß sie in den
Formen der Vernunft gesühnt werden muß, durch die sie erträglich und
denkbar und zum Gegenstand einer organischen Repräsentation gemacht
wird.
Die größte Anstrengung der Vernunft bestand vielleicht darin, die Repräsenta-
tion ins Unendliche (Orgische) zu wenden. Es geht darum, die Repräsentation
330 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

bis hin zum Größten und Kleinsten der Differenz auszudehnen; der Reprä-
sentation eine ungeahnte Perspektive zu verleihen, d. h. theologische, wissen-
schaftliche, ästhetische Techniken zu erfinden, die es ihr ermöglichen, die
Tiefe der Differenz an sich zu integrieren; zu bewerkstelligen, daß die Reprä-
sentation das Dunkle erobert; daß sie den Schwund der allzu kleinen und das
Auseinanderreißen der allzu großen Differenz erfaßt; daß sie die Macht des
Taumels, der Trunkenheit, der Grausamkeit und gar des Todes einfängt.
Kurz, es geht darum, ein klein wenig Blut des Dionysos in den organischen
Adern Apollons fließen zu lassen. Dieses Bemühen hat die Welt der Repräsen-
tation zu jeder Zeit durchdrungen. Orgisch zu werden und das Ansich zu
erobern ist der höchste Wunsch des Organischen. Dieses Bemühen aber hatte
mit Leibniz und Hegel zwei Höhepunkte. In dem einen Fall erringt die
Repräsentation das Unendliche, weil eine Technik des unendlich Kleinen die
kleinste Differenz und ihr Schwinden auffängt; im anderen Fall, weil eine
Technik des unendlich Großen die größte Differenz und ihr Zerreißen auf-
fängt. Und beide stimmen überein, weil das Hegelsche Problem auch das
Problem des Schwindens, das Leibnizsche Problem auch das des Zerreißens
ist. Hegels Technik liegt in der Bewegung der Kontradiktion (die Differenz
muß bis dahin reichen, sie muß sich bis dahin ausdehnen). Sie besteht darin,
das Unwesentliche in das Wesen einzuschreiben und das Unendliche mit den
Waffen einer endlichen synthetischen Identität zu erobern. Leibniz’ Technik
liegt in einer Bewegung, die man Vize-Diktion nennen muß; sie besteht darin,
das Wesen vom Unwesentlichen aus aufzubauen und das Endliche durch die
unendliche analytische Identität zu erobern (die Differenz muß sich bis dahin
vertiefen). Wozu aber dient es, die Repräsentation unendlich zu machen? Sie
bewahrt alle ihre Ansprüche. Entdeckt wird einzig ein Grund, der das Über-
maß und den Mangel der Differenz auf das Identische, auf das Ähnliche, auf
das Analoge, auf das Entgegengesetzte bezieht: Die Vernunft ist Grund gewor-
den, d.h. zureichender Grund, der nichts mehr entkommen läßt. Es hat sich
aber nichts geändert, die Differenz bleibt fluchbeladen, man hat bloß spitzfin-
digere und erhabenere Mittel gefunden, um sie büßen zu lassen oder sie den
Kategorien der Repräsentation zu unterwerfen und darin zu erlösen.
Auf diese Weise scheint der Hegelsche Widerspruch die Differenz bis ans
Ende zu treiben; dieser Weg aber ist der ausweglose Weg, der sie zur Identität
zurückführt und die Identität ihrem Sein und ihrem Gedachtsein genügen läßt.
Nur mit Bezug auf das Identische, in Abhängigkeit vom Identischen ist der
Widerspruch die größte Differenz. Trunkenheit und Taumel sind vorge-
täuscht; das Dunkle ist schon von Anfang an geklärt. Nichts zeigt dies besser,
als die fade Monozentrierung der Kreise in der Hegelschen Dialektik. Und auf
andere Weise muß man vielleicht dasselbe von der Konvergenzbedingung in
der Leibnizschen Welt sagen. Nehmen wir einen Begriff wie den der Inkom-
possibilität bei Leibniz. Übereinstimmend wird anerkannt, daß sich das
Inkompossible nicht auf das Widersprüchliche und das Kompossible nicht auf
das Identische reduzieren läßt. Gerade in diesem Sinne bezeugen Kompossi-
SCHLUSS 331

bles und Inkompossibles einen spezifischen zureichenden Grund und eine


Gegenwart des Unendlichen, und zwar nicht nur in der Gesamtheit der mögli-
chen Welten, sondern auch in jeder zur Wahl stehenden Welt. Schwieriger ist
es anzugeben, woraus diese neuen Begriffe bestehen. Die Kompossibilität nun
scheint uns einzig durch folgendes konstituiert zu werden: durch die Bedin-
gung eines Maximums an Kontinuität für ein Maximum an Differenz, d.h.
durch eine Konvergenzbedingung von Reihen, die sich in der Umgebung der
Singularitäten des Kontinuums erstellen. Umgekehrt entscheidet sich die
Imkompossibilität der Welten in der Umgebung von Singularitäten, die jeweils
untereinander divergente Reihen hervorriefen. Kurz, die Repräsentation mag
noch so sehr unendlich werden, sie erlangt nicht die Macht zur Bejahung von
Divergenz und Dezentrierung. Sie bedarf einer konvergenten, monozentri-
schen Welt: einer Welt, in der man nur dem Anschein nach trunken ist, in der
die Vernunft den Trunkenbold spielt und ein dionysisch Lied singt, aber
immer noch die ,,reine” Vernunft ist. Denn die ratio sufficiens oder der Grund
ist nichts anderes als das Mittel, mit dem man das. Identische über das Unend-
liche selbst regieren und die Kontinuität von Ähnlichkeit, das Analogiever-
hältnis und den Gegensatz der Prädikate ins Unendliche eindringen läßt.
Darauf reduziert sich die Ursprünglichkeit des zureichenden Grunds: die
Knechtung der Differenz durch das vierfache Joch besser zu gewährleisten.
Fatal ist also nicht nur der Anspruch der endlichen Repräsentation, nämlich
die Differenz auf einen glücklichen Moment - nicht zu groß und nicht zu
klein - zwischen Übermaß und Mangel zu verpflichten; sondern auch der
offenbar entgegengesetzte Anspruch der unendlichen Repräsentation, der die
Integration des unendlich Großen und unendlich Kleinen, des Übermaßes und
des Mangels selbst behauptet. Die ganze Alternative von Endlichem und
Unendlichem läßt sich nur sehr schlecht auf die Differenz anwenden, da sie
bloß die Antinomie der Repräsentation prägt. Hinsichtlich der Differential-
rechnung haben wir es übrigens gesehen: Die modernen finitistischen Deutun-
gen entstellen die Natur des Differentiellen ebenso wie die alten infinitisti-
schen Deutungen, weil alle beide die extrapropositionale und subrepräsenta-
tive Quelle, d. h. das ,,Problem“ entwischen lassen, aus dem die
Differentialrechnung ihre Macht gewinnt. Mehr noch, es ist die Alternative
zwischen Kleinem und Groißem, sei es in der endlichen Repräsentation, die
beide aussschließt, sei es in der unendlichen Repräsentation, die beide, eines
durch das andere, einbegreifen will - es ist diese Alternative allgemein, die in
keiner Weise mit der Differenz vereinbar ist, weil sie nur das Schwanken der
Repräsentation in Bezug auf eine stets dominierende Identität, oder besser:
das Schwanken des Identischen in Bezug auf eine stets widerspenstige Materie
ausdrückt, deren Übermaß und Mangel sie bald abweist, bald integriert. Kom-
men wir endlich auf Leibniz und Hegel zurück, was ihre gemeinsame An-
strengung betrifft, die Repräsentation ins Unendliche zu treiben. Wir sind uns
nicht sicher, ob nicht Leibniz ,,weiter“ geht (und der weniger theologische von
beiden ist): Seine Konzeption der Idee als Gesamtheit von Differentialverhält-
332 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

nissen und singulären Punkten, seine Verfahrensweise, mit dem Unwesentli-


chen zu beginnen und die Wesenheiten als Umhüllungszentren um die Singu-
laritäten herum aufzubauen, sein Gefühl für Divergenzen, seine Methode der
Vize-Diktion, seine Annäherung an eine umgekehrte Proportion zwischen
dem Deutlichen und dem Klaren - all das belegt, warum bei Leibniz der
Untergrund mit höherer Macht rumort, warum Trunkenheit und Taumel bei
ihm weniger vorgetäuscht, die Dunkelheit besser erfaßt ist, und warum hier
die Küsten des Dionysos mit größerer Wirklichkeit nahe sind.
Mit welchem Beweggrund wurde die Differenz den Erfordernissen der -
e n dlichen oder unendlichen - Repräsentation untergeordnet? Es ist korrekt,
die Metaphysik durch den Platonismus zu definieren, es ist aber unzurei-
chend, den Platonismus über die Unterscheidung zwischen Wesen und Schein
zu definieren. Platons erste strenge Unterscheidung ist die zwischen Urbild
und Abbild; nun ist das Abbild keineswegs bloßer Schein, da es mit der Idee
als Urbild einen noologischen und ontologischen inneren geistigen Bezug
darstellt. Die zweite, noch tiefere Unterscheidung betrifft das Abbild selbst
und das Phantasiegebilde [phantasme]. Es ist klar, daß Platon Urbild und
Abbild nur deshalb unterscheidet oder gar entgegensetzt, damit er ein selekti-
ves Kriterium bezüglich der Abbilder und Trugbilder [simulacres] erhält,
wobei die einen in ihrem Bezug zum Urbild begründet, die anderen aber
insofern disqualifiziert sind, als sie weder der Prüfung des Abbilds noch dem
Anspruch des Urbilds standhalten. Wenn also von Schein überhaupt die Rede
sein kann, so geht es um die Unterscheidung zwischen den wohlbegründeten,
prachtvollen apollinischen Erscheinungen und anderen, bösartigen und
unheilvollen, sich einschmeichelnden Erscheinungen, die den Grund ebenso
wenig wie das Begründete achten. Dieser platonische Wille zur Austreibung
des Trugbilds ist es, der die Unterwerfung der Differenz mit sich bringt. Denn
das Urbild kann nur durch eine Setzung von Identität als Wesen des Selben
(crV,O xc&‘afi@ definiert werden; und das Abbild durch ein inneres Ähn-
lichkeitsstreben als Qualität des Ähnlichen. Und weil die Ähnlichkeit imma-
nent ist, muß das Abbild selbst einen inneren Bezug zum Sein und zum
Wahren besitzen, der seinerseits dem des Urbilds analog ist. Schließlich muß
sich das Abbild im Fortgang einer Methode herstellen, die ihm von zwei
entgegengesetzten Prädikaten dasjenige zuschreibt, das mit dem Urbild über-
einstimmt. In all diesen Fällen kann das Abbild nur dadurch vom Trugbild
unterschieden werden, daß man die Differenz den Instanzen des Selben, des
Ähnlichen, des Analogen und des Entgegengesetzten unterordnet. Und sicher
verteilen sich diese Instanzen bei Platon noch nicht auf die Weise, wie es in der
entfalteten Welt der Repräsentation (von Aristoteles an) geschen wird. Pla-
ton begründet, initiiert, weil er sich in einer Theorie der Idee bewegt, die die
Entfaltung der Repräsentation ermöglichen wird. Es ist aber gerade eine mora-
lische Motivation, die sich bei ihm in all ihrer Reinheit Ausdruck verschafft:
Der Wille zur Aussonderung der Trugbilder oder Phantasiegebilde ist einzig
moralisch motiviert. Was im Trugbild verworfen wird, ist der Zustand ozeani-
SCHLUSS 333

scher freier Differenzen, nomadischer Verteilungen, gekrönter Anarchien, all


jene Bösartigkeit, die die Begriffe von Urbild wie Abbild anficht. Später wird
die Welt der Repräsentation ihren moralischen Ursprung, ihre moralischen
Voraussetzungen mehr oder weniger vergessen können. Gleichwohl werden
diese in der Unterscheidung von Ursprünglichem und Abgeleitetem, Anfang
und Folge, Grund und Begründetem fortwirken, in einer Unterscheidung, die
durch eine Fortsetzung der Komplementarität von Urbild und Abbild die
Hierarchien einer repräsentativen Theologie ins Leben ruft.
Die Repräsentation ist der Ort der transzendentalen Illusion. Diese Illusion
besitzt mehrere Formen, vier miteinander verflochtene Formen, die insbeson-
dere dem Denken, dem Sinnlichen, der Idee und dem Sein entsprechen. Denn
das Denken zieht sich hinter ein ,,Bild“ zurück, bestehend aus Postulaten, die
dessen Gebrauch und Genese verfälschen. Diese Postulate gipfeln in der Set-
zung eines identischen denkenden Subjekts als Identitäsprinzip für den Begriff
allgemein. Es hat sich ein gleitender Übergang von der platonischen Welt zur
Welt der Repräsentation vollzogen (weswegen wir auch hier Platon an den
Ursprung, an den Scheidepunkt stellen konnten). Das ,,Selbe“ der platoni-
schen Idee als Urbild, das durch das Gute gewährleistet wird, ist der Identität
des ursprünglichen Begriffs gewichen, der im denkenden Subjekt gründet. Das
denkende Subjekt überträgt dem Begriff seine subjektiven Begleitmomente,
Gedächtnis, Rekognition, Selbstbewußtsein. Die moralische Weltsicht aber ist
es, die sich auf diese Weise fortsetzt und sich in dieser subjektiven, als
Gemeinsinn (cogitatio natura universalis) affirmierten Identität repräsentiert.
Wenn die Differenz durch das denkende Subjekt der Identität des Begriffs
untergeordnet wird (und sei diese Identität auch synthetisch), so verschwindet
gerade die Differenz im Denken, jene Differenz des Denkens mit dem Den-
ken, jene Genitalität des Denkens, jener tiefe Riß im Ego, der es veranlaßt,
nur dadurch zu denken, daß es seine eigene Passion und noch seinen eigenen
Tod in der reinen und leeren Form der Zeit denkt. Die Differenz im Denken
wiederherstellen heißt: jenen ersten Knoten auflösen, der darin besteht, die
Differenz unter der Identität des Begriffs und des denkenden Subjekts zu
repräsentieren.
Die zweite Illusion betrifft eher die Unterordnung der Differenz unter die
Ähnlichkeit. Mit der Art ihrer Verteilung in der Repräsentation braucht sich
die Ähnlichkeit nicht mehr exakt auf das Verhältnis zwischen Abbild und
Urbild zu beziehen, sie läßt sich vielmehr als Ähnlichkeit des Sinnlichen
(Verschiedenen) mit sich selbst bestimmen, und zwar so, daß die Identität des
Begriffs auf es anwendbar ist und ihrerseits von ihm eine Spezifikationsmög-
lichkeit erhält. Die Illusion nimmt folgende Form an: daß die Differenz
notwendig danach strebt, sich in der sie verdeckenden Qualität zu tilgen,
während zugleich das Ungleiche danach strebt, sich in der Extension, in der es
sich verteilt, auszugleichen. Das Thema der quantitativen Gleichheit oder
Angleichung verdoppelt hier das Thema von qualitativer Ähnlichkeit und
Assimilation. Wir haben gesehen, wie diese Illusion dem ,,gesunden Men-
334 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

schenverstand“ entsprach, komplementär zur vorangehenden und ihrem


,,Gemeinsinn“. Diese Illusion ist transzendental, weil es ganz und gar zutrifft,
daß sich die Differenz qualitativ und in der Extension tilgt. Sie ist jedoch eine
Illusion, denn die Natur der Differenz liegt weder in der Qualität, die sie
verdeckt, noch in der Ausdehnung, die sie expliziert. Die Differenz ist inten-
siv, sie verschmilzt mit der Tiefe als inextensivem und nicht qualifiziertem
spatium, Matrix des Ungleichen und Differenten. Aber die Intensität ist nicht
sinnlich, sie ist das Sein des Sinnlichen, in dem sich das Differente aufs
Differente bezieht. Die Differenz in der Intensität als Sein des Sinnlichen
wiederherstellen bedeutet: den zweiten Knoten auflösen, der die Differenz
dem Ähnlichen in der Wahrnehmung unterordnete und sie nur unter der
Bedingung einer Assimilation des Verschiedenen, verstanden als Materie des
identischen Begriffs, fühlbar werden ließ.
Die dritte Illusion betrifft das Negative und die Art, wie es sich die Differenz
in Form der Beschränkung wie des Gegensatzes unterwirft. Die zweite Illu-
sion bereitete uns bereits auf diese Entdeckung einer Mystifikation des Nega-
tiven vor: In der Qualität und in der Ausdehnung verkehrt sich die Intensität,
erscheint sie auf den Kopf gestellt, wird ihre Macht zur Bejahung der Diffe-
renz durch die Figuren der qualitativen und quantitativen Beschränkung, des
qualitativen und quantitativen Gegensatzes entstellt. Die Beschränkungen, die
Gegensätze sind Spiele auf der Oberfläche, in der ersten und zweiten Dimen-
sion, während die lebendige Tiefe, die Diagonale von negationslosen Differen-
zen bevölkert ist. Unter der Flachheit des Negativen liegt die Welt der ,,Dispa-
ration“. Der Ursprung der Illusion, die die Differenz der falschen Macht des
Negativen unterwirft, darf gerade nicht in der sinnlichen Welt selbst, muß
vielmehr darin gesucht werden, was in der Tiefe wirkt und sich in der sinnli-
chen Welt verkörpert. Wir haben gesehen, daß die Ideen wahre Objektivitäten
waren, die aus differentiellen Elementen und Differentialquotienten bestehen
und mit einem spezifischen Modus ausgestattet sind - dem ,,Problemati-
schen?. Das so definierte Problem bezeichnet keinerlei Unwissenheit im den-
kenden Subjekt, drückt ebensowenig einen Konflikt aus, sondern kennzeich-
net objektiv die ideelle Natur als solche. Es gibt also ein @-l Ov, das man aber
nicht mit dem OCX verwechseln darf und das das Sein des Problematischen und
in keiner Weise das Sein des Negativen meint: ein expletives NE anstatt eines
,,non“ der Negation. Dieses @l 6, heißt so, weil es jeder Bejahung vorausgeht;
dafür ist es völlig positiv. Die Problem-Ideen sind positive Mannigfaltigkeiten,
volle und der Differentiation unterliegende Positivitäten, die durch den Pro-
zeß der reziproken und durchgängigen Bestimmung beschrieben werden, die
das Problem auf seine Bedingungen bezieht. Es ist der Sachverhalt des
,,Gestellt”-Seins [he ,,pos?~ (und damit des Bezogenseins auf seine Bedin-
gungen, des völligen Bestimmtseins), der die Positivität des Problems konsti-
tuiert. Freilich erzeugt das Problem unter diesem Gesichtspunkt die Sätze, die
es als Antworten oder Lösungsfälle verwirklichen. Diese Sätze repräsentieren
ihrerseits Bejahungen, deren Gegenstände Differenzen sind, die den Verhält-
SCHLUSS 335

nissen und Singularitäten des differentiellen Feldes entsprechen. In diesem


Sinne können wir eine Unterscheidung zwischen dem Positiven und dem
Affirmativen treffen, d.h. zwischen der Positivität der Idee als differentieller
Position und den Affirmationen, den Bejahungen, die sie erzeugt, durch die
sie verkörpert und gelöst wird. Von letzteren muß nicht nur gesagt werden, sie
seien differente Affirmationen, sondern auch: Bejahungen von Differenzen in
Abhängigkeit von der Mannigfaltigkeit, die jeder Idee eignet. Als Bejahung
von Differenz wird die Affirmation durch die Positivität des Problems als
differentielle Position hervorgebracht; die mannigfaltige Bejahung wird durch
die problematiche Mannigfaltigkeit erzeugt. Es gehört zum Wesen der Beja-
hung, daß sie an sich selbst mannigfaltig ist und die Differenz bejaht. Was das
Negative betrifft, so ist es nur der Schatten des Problems auf den erzeugten
Affirmationen; neben der Affirmation hält sich die Negation wie ein ohn-
mächtiger Doppelgänger, legt aber für eine andere Macht Zeugnis ab, für die
Macht des wirkkräftigen und fortbestehenden Problems.
Nun verkehrt sich alles, wenn man von den Sätzen ausgeht, die diese Bejahun-
gen im Bewußtsein repräsentieren. Denn die Problem-Idee ist von Natur aus
unbewußt: Sie ist extrapropositional, subrepräsentativ, sie ähnelt nicht den
Sätzen, die die von ihr erzeugten Affirmationen repräsentieren. Wenn man das
Problem nach dem Bild und der Ähnlichkeit der Sätze des Bewußtseins
wiederherzustellen versucht, so nimmt die Illusion Gestalt an, belebt sich der
Schatten und scheint autonomes Leben zu gewinnen: Man könnte sagen, daß
jede Affirmation auf ihr Negatives verweist und ,,Sinn“ nur durch ihre Nega-
tion erhält, während gleichzeitig eine verallgemeinerte Negation, ein 6vx den
Platz des Problems und seines FQ 6, einnimmt. So beginnt die langewährende
Geschichte einer Verfälschung der Dialektik, die sich mit Hegel vollendet und
darin besteht, das Spiel der Differenz und des Differentiellen durch die Arbeit
des Negativen zu ersetzen. Anstatt sich durch ein (Nicht)-Sein als Sein der
Probleme und Fragen zu definieren, wird die dialektische Instanz nun durch
ein Nicht-Sein als Sein des Negativen definiert. Die Komplementarität von
Positivem und Affirmativem, von differentieller Position und Affirmation von
Differenz wird durch die falsche Genese der Bejahung ersetzt, die durch das
Negative und als Negation der Negation entsteht. Und eigentlich wäre all dies
gegenstandslos ohne die praktischen Implikationen und moralischen Voraus-
setzungen einer derartigen Verfälschung. Wir haben all das gesehen, was diese
Aufwertung des Negativen bedeutete, den konservativen Geist eines derarti-
gen Geschäfts, die Flachheit der Bejahungen, die man damit erzeugen will, die
Art und Weise, wie wir dann von der höchsten Aufgabe abgekommen sind -
jener Aufgabe, die darin besteht, die Probleme zu bestimmen, unsere Ent-
scheidungs- und Schöpfungsmacht in sie hineinzutragen. Darum sind uns die
Konflikte, die Gegensätze, die Widersprüche als Oberflächeneffekte erschie-

’ Frz. Position, d.h. auch das ,,Stellen“ (eines Problems) [A.d.Ü.].


336 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

nen, als Epiphänomene des Bewußtseins, während das Unbewußte von den
Problemen und Differenzen lebt. Die Geschichte verläuft nicht über die Nega-
tion und die Negation der Negation, sondern über die Entscheidung der
Probleme und die Bejahung der Differenzen. Sie ist darum nicht weniger
blutig und grausam. Einzig die Schatten der Geschichte leben von Negation;
die Gerechten aber gehen sie mit all der Macht eines gestellten [po&] Differen-
tiellen, einer bejahten Differenz an; sie verweisen den Schatten an den Schatten
und verneinen nur als Folge einer ursprünglichen Positivität und Affirmation.
Bei ihnen ist, wie Nietzsche sagt, die Bejahung ursprünglich, sie bejaht die
Differenz, und das Negative ist nur eine Folge, ein Reflex, in dem sich die
Bejahung verdoppelt2. Darum haben die wahren Revolutionen auch Festcha-
rakter. Der Widerspruch ist nicht die Waffe des Proletariats, sondern eher die .
Art, wie sich die Bourgeoisie verteidigt und bewahrt, der Schatten, hinter dem
sie ihren Anspruch auf Entscheidung der Probleme aufrecht erhält. Man ,,löst”
die Widersprüche nicht, man zerstreut sie, indem man sich des Problems
bemächtigt, das bloß seine Schatten auf sie warf. Überall ist das Negative die
Reaktion des Bewußtseins, die Verfälschung des wahrhaften Handelnden, des
wahrhaften Akteurs. Daher verfällt die Philosophie auch, solange sie innerhalb
der Grenzen der Repräsentation verbleibt, theoretischen Antinomien, die die
Antinomien des Bewußtseins sind. Die Alternative: muß die Differenz als
quantitative Beschränkung oder qualitativer Gegensatz begriffen werden? ist
nicht weniger sinnlos als die Alternative des Großen und Kleinen. Denn als
Beschränkung oder Gegensatz wird die Differenz zu Unrecht einem negativen
Nicht-Sein angeglichen. Daher eine weitere trügerische Alternative: Entweder
ist das Sein volle Positivität, reine Bejahung, dann aber gibt es keine Differenz,
und das Sein ist undifferenziert; oder das Sein enthält Differenzen, ist Diffe-
renz, und es gibt Nicht-Sein, ein Sein des Negativen. Alle diese Antinomien
sind miteinander verknüpft und hängen von derselben Illusion ab. Wir müssen
zweierlei zugleich sagen: daß das Sein volle Positivität und reine Bejahung ist,
daß es aber (Nicht)-Sein gibt, das das Sein des Problematischen, das Sein der
Probleme und Fragen ist, und keineswegs das Sein des Negativen. In Wirk-
lichkeit liegt der Ursprung der Antinomien in folgendem: Sowie man die
Natur des Problematischen und die Mannigfaltigkeit verkennt, die eine Idee
definiert, sowie man die Idee auf das Selbe oder die Identität eines Begriffs
reduziert, nimmt das Negative seinen Aufschwung. Anstatt des positiven
Prozesses der Bestimmung in der Idee fördert man einen Prozeß des Gegen-
satzes von konträren Prädikaten oder der Beschränkung von ursprünglichen
Prädikaten zutage. Die Wiederherstellung des Differentiellen in der Idee und
der Differenz in der Bejahung, die sich daraus herleitet, bedeutet den Abbruch
jener ungerechtfertigten Bindung, die die Differenz dem Negativen unterord-
net.

2 Vgl. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, § 10.


SCHLUSS 337

Die vierte Illusion schließlich betrifft die Unterordnung der Differenz unter
die Analogie des Urteils. Die Identität des Begriffs nämlich verschafft uns
noch keine Regel konkreter Bestimmung; sie präsentiert sich nur als Identität
des unbestimmten Begriffs, als Sein oder Ich bin (jenes Ich bin, von dem Kant
sagte, es wäre die Wahrnehmung oder das Gefühl einer von jeder Bestimmung
unabhängigen Existenz). Letzte Begriffe oder erste, ursprüngliche Prädikate
müssen denn auch als bestimmbar gesetzt werden. Man erkennt sie daran, daß
jeder oder jedes davon einen inneren Bezug zum Sein unterhält: Gerade in
dieser Hinsicht sind die Begriffe analog oder ist das Sein analog im Verhältnis
zu ihnen und gewinnt gleichermaßen die Identität eines distributiven Gemein-
sinns und eines ordinalen gesunden Menschenverstands (wir haben gesehen,
wie die Analogie zwei Formen annahm, die nicht auf der Gleichheit, sondern
auf der Inwendigkeit der Urteilsbeziehung beruhte). Es genügt also nicht, daß
sich die Repräsentation auf die Identität eines unbestimmten Begriffs gründet,
vielmehr muß die Identität selbst immer in einer gewissen Anzahl bestimmba-
rer Begriffe repräsentiert werden. Diese ursprünglichen Begriffe, bezüglich
derer das Sein distributiv und ordinal ist, werden Seinsgattungen oder Katego-
rien genannt. Nun können unter ihrer Voraussetzung spezifische abgeleitete
Begriffe ihrerseits durch eine Teilungsmethode bestimmt werden, d. h. durch
das Spiel von gegensätzlichen Prädikaten in jeder Gattung. Auf diese Weise
erfährt die Differenz zwei Eingrenzungen in zwei irreduziblen aber komple-
mentären Gestalten, die sehr genau ihre Zugehörigkeit zur Repräsentation
kennzeichnen (das Große und das Kleine): die Kategorien als Begriffe a priori
und die empirischen Begriffe; die ursprünglichen bestimmbaren Begriffe und
die bestimmten abgeleiteten Begriffe; die analogen und die entgegengesetzten;
die großen Gattungen und die Arten. Diese Verteilung der Differenz, die ganz
den Anforderungen der Repräsentation entspricht, gehört wesentlich zur
analogischen Sicht. Aber diese durch die Kategorien gesteuerte Verteilungs-
form schien uns sowohl die Natur des Seins (als eines kollektiven und kardina-
len Begriffs), als auch die Natur der Verteilungen selbst (als nomadischen,
nicht aber seßhaften oder festen Verteilungen) zu entstellen, und schließlich
auch die Natur der Differenz (als individuierender Differenz). Denn das Indi-
viduum wird nurmehr als dasjenige gedacht, was Differenzen allgemein trägt,
während gleichzeitig das Sein selbst sich in den festen Formen dieser Differen-
zen aufteilt und auf analoge Weise von dem aussagt, was ist.
Man muß allerdings feststellen, daß die vier Illusionen der Repräsentation
ebenso die Wiederholung deformieren, wie sie die Differenz verfälschen; und
dies aus in mancherlei Hinsicht vergleichbaren Gründen. Zunächst verfügt die
Repräsentation über keinerlei direktes und positives Kriterium zur Unter-
scheidung zwischen der Wiederholung und der Ordnung der Allgemeinheit,
Ähnlichkeit oder Äquivalenz. Darum wird die Wiederholung als eine voll-
kommene Ähnlichkeit oder äußerste Gleichheit repräsentiert. Tatsächlich -
und das ist der zweite Punkt - beruft sich die Repräsentation auf die Identität
des Begriffs ebenso, um die Wiederholung zu explizieren, wie um die Diffe-
338 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

renz zu begreifen. Die Differenz ist im identischen Begriff repräsentiert und


dadurch auf eine bloß begriffliche Differenz reduziert. Demgegenüber wird
die Wiederholung außerhalb des Begriffs, als begrifflose Differenz repräsen-
tiert, stets aber unter Voraussetzung eines identischen Begriffs: Somit gibt es
Wiederholung, wenn sich Dinge in numero, im Raum und in der Zeit unter-
scheiden, wobei ihr Begriff derselbe bleibt. Ein und dieselbe Bewegung ist
es also, mit der die Identität des Begriffs in der Repräsentation die Differenz
begreift und sich auf die Wiederholung erstreckt. Daher rührt ein dritter
Aspekt: Offensichtlich kann die Wiederholung nurmehr negativ expliziert
werden. Denn es handelt sich um die Explikation der Möglichkeit von
begrifflosen Differenzen. Entweder wird man sich auf eine logische
Beschränkung des Begriffs in jedem seiner Momente berufen, d.h. auf eine
relative ,,Blockierung“, so daß es - wie weit man den Begriffsinhalt auch
ausdehnen mag - stets eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die ihm entspre-
chen können, da man ja, de facto, niemals das Unendliche dieses Inhalts
erreichen wird, die aus jeder Differenz eine begriffliche Differenz machen
würde. Hier aber wird die Wiederholung nur in Abhängigkeit von einer
relativen Beschränkung unserer Repräsentation des Begriffs expliziert; und
gerade aus dieser Perspektive begeben wir uns jeglichen Mittels, um die
Wiederholung von der bloßen Ähnlichkeit zu unterscheiden. Oder aber man
wird sich, im Gegenteil, auf einen realen Gegensatz berufen, der dem
Begriff eine absolute natürliche Blockierung aufzuerlegen vermag, sei es
dadurch, daß man ihm einen notwendig endlichen Inhalt de jure zuschreibt,
sei es dadurch, daß man eine Ordnung definiert, die außerhalb des Inhalts
des selbst unbestimmten Begriffs liegt oder sei es dadurch, daß man Kräfte
ansetzt, die sich den subjektiven Begleitmomenten des unendlichen Begriffs
(Gedächtnis, Rekognition, Selbstbewußtsein) entgegenstellen. Wir haben
gesehen, wie diese drei Fälle ihre Illustration in den Nominalbegriffen, den
Begriffen der Natur und den Begriffen der Freiheit zu finden schienen - in
den Wörtern, der Natur und im Unbewußten. Und dank der Unterschei-
dung zwischen absoluter natürlicher Blockierung und künstlicher oder logi-
scher Blockierung verfügt man in all diesen Fällen sicherlich über das Mittel J
zur Unterscheidung zwischen Wiederholung und bloßer Ähnlichkeit, da
sich ja die Dinge dann wiederholen sollen, wenn sie unter einem absolut
identischen Begriff differieren. Dennoch wird hier nicht nur diese Unter-
scheidung, sondern auch die Wiederholung auf gänzlich negative Weise
expliziert. Man (die Sprache) wiederholt, weil man (die Wörter) nicht real
ist, weil man nur über eine nominale Definition verfügt. Man (die Natur)
wiederholt, weil man (die Materie) keine Interiorität besitzt, weil man partes
extra partes ist. Man (das Unbewußte) wiederholt, weil man (das Ich) ver-
drängt, weil man (das Es) kein Erinnern, keine Rekognition und kein
Selbstbewußtsein besitzt - im äußersten Fall, weil man keinen Trieb besitzt,
wobei der Trieb das subjektive Begleitmoment der Art als Begriff darstellt.
Kurz, man wiederholt stets mit Bezug auf das, was man nicht ist und nicht
SCHLUSS 339

hat. Man wiederholt, weil man nicht versteht. Es ist, wie Kierkegaard sagte,
die Wiederholung des Tauben, oder eher für die Tauben, Taubheit der Wör-
ter, Taubheit der Natur, Taubheit des Unbewußten. Die Kräfte, die die
Wiederholung garantieren, d.h. die Mannigfaltigkeit der Dinge für einen
absolut identischen Begriff, können in der Repräsentation nur negativ
bestimmt werden.
Das rührt, viertens, daher, daß sich die Wiederholung nicht nur im Verhält-
nis zur absoluten Identität eines Begriffs definiert, sie muß gewissermaßen
selbst diesen identischen Begriff repräsentieren. Es ergibt sich hier ein Phä-
nomen, das der Analogie des Urteils entspricht. Die Wiederholung begnügt
sich nicht mit der Vervielfältigung der Exemplare unter demselben Begriff,
sie treibt den Beriff aus sich heraus und läßt ihn als ebenso viele Exemplare,
hic et nunc, existieren. Sie fragmentiert die Identität selbst, wie Demokrit
das Eins-Sein des Parmenides in Atome fragmentiert und vervielfältigt hat.
Oder eher: die Vervielfältigung der Dinge unter einem absolut identischen
Begriff zieht die Teilung des Begriffs in absolut identische Dinge nach sich.
Diese Verfassung des aus sich herausgetretenen Begriffs oder des unendlich
wiederholten Elements wird durch die Materie verwirklicht. Darum ver-
schmilzt das Modell der Wiederholung mit der reinen Materie, und zwar als
Fragmentierung des Identischen oder Wiederholung eines Minimums. Die
Wiederholung besitzt also einen ursprünglichen Sinn aus der Perspektive der
Repräsentation, den Sinn einer materiellen und nackten Wiederholung, einer
Wiederholung des Selben (und nicht mehr nur unter demselben Begriff).
Jeder weitere Sinn wird von diesem äußerlichen Modell abgeleitet sein. Das
heißt: Immer wenn wir auf eine Variante, eine Differenz, eine Verkleidung,
eine Verschiebung stoßen, werden wir sagen, es handle sich um Wiederho-
lung, allerdings nur auf abgeleitete und ,,analoge” Weise. (Selbst bei Freud
wird die bemerkenswerte Konzeption der Wiederholung im psychischen
Leben nicht nur durch ein Schema des Gegensatzes in der Theorie der Ver-
drängung, sondern auch durch ein materielles Modell in der Theorie des
Todestriebs beherrscht.) Dieses äußerliche materielle Modell jedoch gibt sich
die Wiederholung als fertige vor, präsentiert sie einem Beobachter, der sie
von außen betrachtet; es beseitigt die Dichte, in der sich selbst in der Mate-
rie und im Tod die Wiederholung entwickelt und herstellt. Daher, im
Gegenteil, der Versuch, die Verkleidung und Verschiebung als konstitutive
Elemente der Wiederholung zu repräsentieren. Dies geschieht dann aber
unter der Bedingung, daß die Wiederholung mit der Analogie selbst ver-
wechselt wird. Die Identität ist nicht mehr die des Elements, sondern, in
Übereinstimmung mit der traditionellen Bedeutung, die Identität eines Ver-
hältnisses zwischen distinkten Elementen oder eines Verhältnisses zwischen
Verhältnissen. Die physische Materie hat vorhin den ursprünglichen Sinn der
Wiederholung ausgemacht, jeder andere (biologische, psychische, metaphysi-
sche . . .) Sinn kam durch Analogie zur Geltung. Jetzt ist die Analogie durch
sich selbst die logische Materie der Wiederholung und verleiht ihr einen
340 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

distributiven Sinn3. Stets aber geschieht dies in Bezug auf eine gedachte Identi-
tät, auf eine repräsentierte Gleichheit, so daß die Wiederholung ein Begriff der
Reflexion bleibt, der die Verteilung und Verschiebung der Terme, den Trans-
port des Elements garantiert, allerdings nur in der Repräsentation für einen
noch äußerlichen Beobachter.

Begründen heißt bestimmen. Aber woraus besteht die Bestimmung, worauf


richtet sie sich? Der Grund ist das Geschäft des Logos oder der ratio suffi-
ciens. Als solcher besitzt er einen dreifachen Sinn. In seinem ursprünglichen
Sinn ist der Grund das Selbe oder Identische. Er verfügt über die höchste l

Identität, über eine Identität, die man der Idee, dem aC~6 xaO’aCz6
zuschreibt. Was er ist, was er hat, ist er und hat er als erster. Und wer wäre
mutig, wenn nicht der Mut, tugendhaft, wenn nicht die Tugend? Was der
Grund begründen soll, ist also nur der Anspruch derer, die nachträglich
ankommen, der Anspruch all derer, die bestenfalls als zweite besitzen werden.
Was einen Grund verlangt, was an einen Grund appelliert, ist stets ein
Anspruch, d. h. ein ,,Bild“: etwa der Anspruch der Menschen, mutig, tugend-
haft zu sein - kurz, zu partizipieren, teilzuhaben (~&&x~lv, das heißt: nach-
träglich haben). Man unterscheidet somit den Grund als ideelle Wesenheit, das
Begründete als Bewerber [prktendant] oder Anspruch [prktention] und dasje-
nige, worauf sich der Anspruch bezieht, d. h. die Qualität, die der Grund als
erster besitzt und der Bewerber, sofern wohlbegründet, als zweiter besitzen
wird. Diese Qualität, der Gegenstand des Anspruchs, ist die Differenz - die
Braut, Ariadne. Das Wesen als Grund ist das Identische, sofern es ursprüng-
lich die Differenz seines Gegenstands enthält. Das Verfahren der Begründung
macht den Bewerber dem Grund ähnlich, verleiht ihm von Innen die Ähn-
lichkeit und läßt ihn dadurch, unter dieser Bedingung, an der Qualität, am
Gegenstand seines Anspruchs teilhaben. Dem Selben ähnlich, heißt es vom
Bewerber, er ähnle; aber diese Ähnlichkeit ist keine äußere Ähnlichkeit mit
dem Gegenstand, sondern eine innere Ähnlichkeit mit dem Grund selbst. Man
muß dem Vater ähneln, um die Tochter zu bekommen. Die Differenz wird
hier unter dem Prinzip des Selben und der Bedingung der Ähnlichkeit
gedacht. Und es wird soviele Bewerber an dritter, vierter, fünfter Stelle geben,
wie es Bilder gibt, die in der Hierarchie dieser inneren Ähnlichkeit begründet
sind. Darum selektiert der Grund und differenziert zwischen den Bewerbern
selbst. Jedes Bild oder jeder wohlbegründete Anspruch wird Re-präsen-

3 Der fortgeschrittenste Versuch in diese Richtung wurde von S.-J?.Faye unternom-


men, und zwar in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel: Analogues (Paris 1964).
Zur Verschiebung und Verkleidung in beliebigen Reihen, die aber gleichzeitig die
Wiederholung als Analogie für ein trotz allem äußeres Auge ansetzen, vgl. S. 14-15.
Und zur Rolle eines analogisch gedeuteten Todestriebs vgl. passim.
SCHLUSS 341

tation (Ebenbild) genannt, da das erste in seiner Rangordnung noch das zweite
an sich, bezüglich des Grunds ist. In diesem Sinne eröffnet oder begründet die
Idee die Welt der Repräsentation. Was die widerspenstigen und unähnlichen
Bilder (Trugbilder) betrifft, so werden sie als unbegründet, als falsche Bewer-
ber ausgesondert, zurückgewiesen und verworfen.
In einem zweiten Sinn wird der Grund - ist die Welt der Repräsentation
einmal errichtet - nicht mehr über das Identische definiert. Das Identische ist
zum inneren Merkmal der Repräsentation selbst geworden, wie die Ähn-
lichkeit zu ihrem äußeren Bezug auf das Ding. Das Identische drückt nun
einen Anspruch aus, der seinerseits begründet werden muß. Denn der Gegen-
stand des Anspruchs ist nich t mehr die Diffe renz als Quali tät, sondern das,
was an der Differenz zu groß oder zu klein ist, das Übermaß oder der Mangel,
d.h. das Unendliche. Was b egründet werden muß, ist der Anspruch der
Repräsentation auf die Eroberung des Unendlichen, damit man die Tochter
sich selbst allein zu verdanken hat und sich des Innersten der Differenz
bemächtigen kann. Nicht mehr das Bild ist es, das sich bemüht, die Differenz
zu erobern, wie sie ursprünglich im Identischen enthalten schien, es ist viel-
mehr die Identität, die im Gegenteil das zu erobern versucht, was sie von der
Differenz nicht erfaßte. Begründen bedeutet nicht mehr die Eröffnung und
Ermöglichung der Repräsentation, Begründen bedeutet vielmehr, die Reprä-
sentation ins Unendliche zu wenden. Der Grund muß nun im Innern der
Repräsentation wirken, um deren Grenzen bis zum unendlich Kleinen wie
unendlich Großen hin auszudehnen. Diese Operation wird von einer Methode
vollzogen, die eine Monozentrierung aller möglichen endlichen Repräsenta-
tionszentren, eine Konvergenz aller endlichen Perspektiven der Repräsenta-
tion garantiert. Diese Operation drückt den zureichenden Grund aus. Dieser
ist nicht die Identität, sondern das Mittel, dem Identischen und den anderen
Forderungen der Repräsentation dasjenige unterzuordnen, was ihnen an der
Differenz im ersten Sinn entging.
Die beiden Bedeutungen des Grunds vereinigen sich jedoch in einer dritten.
Begründen heißt nämlich stets krümmen, biegen, umbiegen - die Abfolge der
Jahreszeiten, Jahre und Tage organisieren. Der Gegenstand des Anspruchs (die
Qualität, die Differenz) wird in einen Kreis umgesetzt; Kreisbögen unter-
scheiden einander, sofern der Grund im qualitativen Werden Stockungen,
Augenblicke, Pausen herbeiführt, die zwischen den beiden Extremen des
Mehr und des Weniger enthalten sind. Die Bewerber werden um den bewegli-
chen Kreis verteilt, und jeder von ihnen erhält den Anteil, das Los, das dem
Verdienst seines Lebens entspricht: Ein Leben wird hier einer strikten Gegen-
wart gleichgesetzt, die ihren Anspruch auf einen Abschnitt des Kreises geltend
macht, diesen Abschnitt ,,kontrahiert“, ihm einen Verlust oder einen Gewinn
entnimmt, und zwar in der Ordnung des Mehr oder Weniger gemäß ihrer
eigenen Progression oder Regression in der Hierarchie der Bilder (eine andere
Gegenwart, ein anderes Leben kontrahiert einen anderen Abschnitt). Am
Platonismus läßt sich deutlich sehen, wie der Kreisumlauf und die Losver-
342 DIFFERENZ UND WIEDERHOL U N G

teilung, der Zyklus und die Meternpsychose die Prüfung oder die Lotterie des
Grunds bilden. Aber noch bei Hegel verteilen sich alle möglichen Anfänge,
alle Gegenwarten in dem einzigen, stetig sich drehenden Kreis eines Prinzips,
das begründet und sie in seinem Zentrum erfaßt und auf seiner Umfangslinie
verteilt. Und bei Leibniz ist die Kompossibilität selbst ein Konvergenzkreis,
auf dem sich alle Gesichtspunkte, alle Gegenwarten verteilen, aus denen die
Welt zusammengesetzt ist. Begründen in diesem dritten Sinn meint die Reprä-
sentation des Präsenten, das heißt: die Gegenwart in der (endlichen oder
unendlichen) Repräsentation geschehen und vergehen lassen. Der Grund
erscheint dann als unvordenkliches Gedächtnis oder reine Vergangenheit, als
Vergangenheit, die selbst nie gegenwärtig war, die also die Gegenwart vor-
übergehen läßt und bezüglich welcher alle Gegenwarten im Kreis koexistie-
ren.
Begründen meint stets die Begründung der Repräsentation. Wie aber läßt sich
eine für den Grund wesentliche Ambiguität erklären? Man könnte sagen, er
werde von der Repräsentation, die er (in diesem dreifachen Sinn) begründet,
angezogen, gerate zugleich aber in den Sog eines Jenseits. Als ob er zwischen
seinem Sturz in das Begründete und seinem Untergang in einem Ungrund hin
und her taumeln würde. Wir haben dies am Gedächtnis-Grund gesehen:
Dieser strebt selbst danach, sich als frühere Gegenwart repräsentieren zu
lassen und als Element in den Kreis einzutreten, den er als Prinzip gestaltet.
Und ist es nicht das allgemeinste Merkmal des Grunds, daß der von ihm
gestaltete Kreis auch der Teufelskreis des ,,Beweises“ in philosophischer Hin-
sicht ist, in dem die Repräsentation beweisen muß, wodurch sie bewiesen
wird, wie noch bei Kant die Möglichkeit der Erfahrung zum Beweis ihres
eigenen Beweises dient? Wenn demgegenüber das transzendentale Gedächtnis
sein Schwindelgefühl meistert und die Unreduzierbarkeit der reinen Vergan-
genheit auf jede in der Repräsentation vorübergehende Gegenwart bewahrt, SO
um zu sehen, wie diese reine Vergangenheit auf andere Weise schwindet, wie
sich der Kreis auflöst, in dem sie Differenz und Wiederholung allzu einfach
verteilte. Auf diese Weise überschreitet oder verkehrt sich die zweite Synthese
der Zeit, jene Synthese, die Eros und Mnemosyne vereinte (Eros als Sucher
nach Erinnerungen, Mnemosyne als Hort der reinen Vergangenheit) - über-
schreitet und verkehrt sie sich in einer dritten Synthese, die in Form der leeren
Zeit einen desexualisierten Todestrieb und ein wesentlich amnetisches narziß-
tisches Ich vergegenwärtigt. Und wie läßt sich vermeiden, daß der Grund -
mit seinen anderen Bedeutungen - nicht durch die Mächte der Divergenz und
der Dezentrierung, des Trugbilds selbst angefochten wird, die die falschen
Verteilungen, die falschen Zuteilungen wie den falschen Kreis und die ge-
fälschte Lotterie zu Fall bringen ? Die Welt des Grunds wird durch dasjenige
unterminiert, was sie auszuschließen versucht, durch das Trugbild, in dessen
Sog sie gerät und durch das sie zersplittert wird. Und wenn sich der Grund in
seinem ersten Sinn auf die Idee beruft, so unter der Bedingung, daß er ihr eine
Identität verleiht, die sie nicht durch sich selbst besitzt und die ihr nur über
SCHLUSS 343

die Forderungen dessen zukommt, was sie zu beweisen beansprucht. Die Idee
impliziert so wenig eine Identität wie ihr Aktualisierungsprozeß sich durch die
Ähnlichkeit expliziert. Unter dem ,,Selben“ der Idee rumort eine regelrechte
Mannigfaltigkeit. Und sicher hat uns die Beschreibung der Idee als eine sub-
stantivische Mannigfaltigkeit, die sich nicht auf das Selbe oder das Eine redu-
zieren läßt, gezeigt, wie sich die ratio sufficiens selbst unabhängig von den
Forderungen der Repräsentation im Durchlaufen des Vielen als solchen zu
erzeugen vermochte, indem sie die der Idee entsprechenden Elemente, Ver-
hältnisse und Singularitäten in der dreifachen Gestalt eines Prinzips von
Bestimmbarkeit, Wechselbestimmung und durchgängiger Bestimmung deter-
minierte. Auf welchem Untergrund aber entsteht nun diese mannigfaltige ratio
und treibt sie ihr Spiel, in welche Unvernunft taucht sie ein, aus welchem
Spiel, aus welcher Lotterie neuen Typs erhält sie ihre Singularitäten und ihre
Verteilungen, die auf all das, was wir gerade gesehen haben, nicht reduzierbar
sind? Kurz, die ratio sufficiens, der Grund [f 072 dement], ist auf seltsame Weise
gekrümmt. Auf der einen Seite neigt er sich dem von ihm Begründeten zu, den
Formen der Repräsentation. Auf der anderen Seite aber biegt und taucht er in
einen Ungrund [sans fond] ein, in ein Jenseits des Grunds, das allen Formen
widersteht und sich nicht repräsentieren läßt. Wenn die Differenz die Braut,
Ariadne, ist, so gerät sie von Theseus an Dionysos, vom begründenden Prin-
zip zum universalen ,,Zu-Grunde-Gehen“ [effondementl.
Denn Begründen heißt das Unbestimmte bestimmen. Diese Operation ist
allerdings nicht einfach. Wenn ,,die“ Bestimmung durchgeführt wird, so
begnügt sie sich nicht mit Formgebung, mit der Gestaltung der Materien unter
Voraussetzung der Kategorien. Aus dem Untergrund steigt etwas zur Oberflä-
che auf, steigt auf, ohne Form zu gewinnen, schleicht sich eher zwischen die
Formen ein, als autonome Existenz ohne Gesicht, formlose Base. Sofern er
nun an der Oberfläche ist, heißt jener Untergrund Tiefe, Ungrund. Umge-
kehrt zersetzen sich die Formen, wenn sie sich in ihm reflektieren, jedes
Urbild zerfällt, alle Gesichter sterben ab, und bestehen bleibt allein die
abstrakte Linie als Bestimmung, die dem Unbestimmten absolut entspricht, als
Blitz gleich der Nacht, als Säure gleich der Base, als deutliche Unterscheidung
[distinction], die der Dunkelheit insgesamt entspricht: das Ungeheuer. (Eine
Bestimmung, die sich dem Unbestimmten nicht entgegensetzt, es nicht
beschränkt.) Darum läßt sich der Mechanismus der Bestimmung mit dem Paar
Materie/Form nur ganz unzulänglich beschreiben; die Materie ist bereits
gestaltet, die Form ist nicht trennbar vom Urbild der species oder der morphe,
das Ganze steht unter dem Schutz der Kategorien. In Wirklichkeit ist dieses
Paar der Repräsentation ganz und gar inhärent und definiert ihre ursprüng-
liche Verfassung, die Aristoteles festgelegt hat. Es ist bereits ein Fortschritt,
sich auf die Komplementarität von Kraft und Untergrund als zureichenden
Grund der Form, der Materie und ihrer Vereinigung zu berufen. Noch tiefer
und bedrohlicher aber das Paar von abstrakter Linie und Ungrund, das die
Materien auflöst und die Urbilder zerfallen läßt. Als reine Bestimmung, als
344 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

abstrakte Linie muß sich das Denken diesem Ungrund, dem Unbestimmten,
stellen. Dieses Unbestimmte, dieser Ungrund ist auch die dem Denken eigene
Animalität, die Genitalität des Denkens: nicht diese oder jene Tierform, son-
dern die Dummheit4. Wenn nämlich das Denken nur unter Zwang und Nöti-
gung denkt, wenn es stumpfsinnig bleibt, solange es durch nichts zu denken
genötigt wird - ist dann nicht das, wodurch es zu denken genötigt wird, nicht
auch die Existenz der Dummheit, weil es nämlich ohne irgendeinen Zwang
nicht denkt? Greifen wir hier noch einmal das Wort Heideggers auf: ,,Das
Bedenklichste ist, daß wir noch nicht denken.” Das Denken ist die höchste
Bestimmung und steht der Dummheit als dem ihm entsprechenden Unbe-
stimmten gegenüber. Die Dummheit (nicht der Irrtum) bildet die größte
Ohnmacht des Denkens, aber auch die Quelle seiner höchsten Macht darin,
wodurch es zu denken genötigt wird. Dies ist das großartige Abenteuer von
Bouvard und Pecuchet oder das Spiel von Unsinn und Sinn’. So daß das
Unbestimmte und die Bestimmung gleich bleiben, ohne voranzukommen, das
eine stets der anderen entsprechend. Eine seltsame Wiederholung, die sie ans
Spinnrad oder eher ans selbe Doppelpult zurückbringt. Schestow sah in
Dostojewski den Abschluß, d.h. die Vollendung und den Ausgang aus der
Kritik der reinen Vernunft. Es sei uns für einen Augenblick gestattet, in
Bouvard und Pecuchet den Abschluß des Discours de la methode zu sehen. Ist
das Cogito eine Dummheit? Es ist notwendig Unsinn in dem Maße, wie dieser
Satz sich selbst und seinen Sinn ausagen will. Es ist aber auch Widersinn (wie
Kant zeigte) in dem Maße, wie die Bestimmung Ich denke beansprucht, sich
unmittelbar auf die unbestimmte Existenz Ich bin zu beziehen, ohne die Form
festzusetzen, in der das Unbestimmte bestimmbar ist. Das Subjekt des kartesi-
anischen Cogito denkt nicht, es besitzt nur die Möglichkeit zu denken, es
verharrt stumpfsinnig im Innern dieser Möglichkeit. Es mangelt ihm an der
Form des Bestimmbaren: keine Spezifität, keine spezifische Form, die eine
Materie gestaltet, kein Gedächtnis, das eine Gegenwart gestaltet, sondern die
reine und leere Form der Zeit. Die leere Form der Zeit ist es, die die Differenz
im Denken einführt und konstituiert, von der aus es denkt, als Differenz von
Unbestimmtem und Bestimmung. Sie ist es, die auf beiden Seiten ihrer selbst
ein durch die abstrakte Linie gespaltenes Ego und ein passives Ich aufteilt, das

4 Fr-z. betise; vgl. Fuflnote 18, S. 1% [P;.d.Ü.].


5 Es besteht kein Grund zur Frage, ob Bouvard und Pecuchet selbst dumm sind oder
nicht. Dies ist keineswegs die Frage. Flauberts Projekt ist enzyklopädisch und
,,kritisch”, nicht psychologisch. Das Problem der Dummheit ist auf philosophische
Weise gestellt, als transzendentales Problem der Beziehungen zwischen Dummheit
und Denken. Im selben denkenden Wesen, das gespalten oder eher wiederholt
wird, handelt es sich zugleich um die Dummheit als Vermögen und um das Vermö-
gen, die Dummheit nicht zu ertragen. Flaubert erkennt hier in Schopenhauer seinen
Lehrer.
SCHLUSS 345

aus einem von ihm betrachteten Ungrund hervorgegangen ist. Sie ist es, die
Denken im Denken erzeugt, denn das Denken denkt nur mittels der Diffe-
renz, im Umkreis jenes Punkts des Zu-Grunde-Gehens. Die Differenz oder
die Form des Bestimmbaren ist es, die das Denken in Gang bringt, d.h. die
ganze Maschine des Unbestimmten und der Bestimmung. Die Theorie des
Denkens ist wie die Malerei, sie bedarf jener Revolution, die die Wendung von
der Repräsentation zur abstrakten Kunst bewerkstelligt - was den Gegenstand
einer Theorie des bildlosen Denkens ausmacht.
Die Repräsentation ist, vor allem wenn sie sich zum Unendlichen aufschwingt,
von einer Vorahnung des Ungrunds durchdrungen. Weil sie sich aber ins
Unendliche gewendet hat, um für die Differenz einzustehen, repräsentiert sie
den Ungrund als gänzlich undifferenzierten Abgrund, als differenzloses Uni-
versales, als indifferentes schwarzes Nichts. Denn die Repräsentation hat mit
der Bindung der Individuation an die Form des Ego und an die Materie des
Ichs ihren Ausgang genommen. Für sie ist nämlich das Ego nicht nur höhere
Individuationsform, sondern das Rekognitions- und Identifikationsprinzip für
jedes Individualitätsurteil, das sich auf die Dinge bezieht: ,,Dasselbe Wachs ist
es .. “ Für die Repräsentation muß jede Individualität personal (Ego [Je]) und
j e d e Singularität individuell (Ich [Moi] sein. Wo man nicht mehr ,,Ich“ [Je/
sagt, hört also auch die Individuation auf, und wo die Individuation aufhört,
gibt es auch keine mögliche Singularität mehr. Gezwungenermaßen wird der
Ungrund folglich ohne jede Differenz, weil ohne Individualität und Singulari-
tät, repräsentiert. Man sieht dies noch bei Schelling, bei Schopenhauer oder
sogar am ersten Dionysos, am Dionysos der Geburt der Tragödie: Ihr
Ungrund erträgt die Differenz nicht. Das Ich als passives Ich jedoch ist nur ein
Ereignis, das sich in vorgängigen Individuationsfeldern vollzieht: Es kontra-
hiert und betrachtet die individuierenden Faktoren eines solchen Felds und
bildet sich am Resonanzpunkt ihrer Reihen. Ebenso läßt das Ego als gespalte-
nes Ego alle Ideen passieren, die durch ihre Singularitäten definiert sind, die
selbst wiederum den Individuationsfeldern vorausgehen.
Als individuierende Differenz ist die Individuation ebenso Ante-Ego, Vor-Ich,
wie die Singularität als differentielle Bestimmung präindividuell ist. Eine Welt
unpersönlicher Individuationen und präindividueller Singularitäten - dies ist
die Welt des MAN oder des ,,sie“$ die nicht auf die alltägliche Banalität
hinausläuft, eine Welt vielmehr, in der die Begegnungen und Resonanzen
entstehen, letztes Gesicht des Dionysos, wahre Natur des Tiefen und des
Ungrunds, der die Repräsentation übersteigt und die Trugbilder geschehen
läßt. (Schelling wurde von Hegel vorgeworfen, sich mit einer indifferenten
Nacht
. zu umgeben, in der alle Kühe schwarz seien. Wenn wir aber im
Überdruß und in der Beklommenheit unseres bildlosen Denkens murmeln:
,,ah, die Kühe“, ,, sie übertreiben“ usw. - welche Vorahnung von Differen-

6 Frz. ils, d. h.: 3. Pers. Pl. [A.d.Ü.].


346 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

zen, die in unserem Rücken wimmeln, wie sehr ist dieses Schwarz differen-
ziert und differenzierend, obgleich nicht identifiziert, nicht oder kaum indi-
viduiert, wie viele Differenzen und Singularitäten verteilen sich jeweils als
Angriffe, wie viele Trugbilder steigen in-dieser nun weiß gewordenen Nacht
auf, um zusammen die Welt des ,,man“ und des ,,sie“ zu bilden)‘. Daß der
Ungrund ohne Differenz sei, während er doch davon wimmelt, ist die
äußerste Illusion, die Illusion, die außerhalb der Repräsentation liegt und aus
allen inneren Illusionen resultiert. Und was sind die Ideen mit ihrer konsti-
tutiven Mannigfaltigkeit anderes als jenes Ameisengewimmel, das am Riß des
Ego ein- und auszieht?

Das Trugbild ist jenes System, in dem sich das Differente mittels der Differenz
selbst auf das Differente bezieht. Derartige Systeme sind intensiv; sie beruhen
in der Tiefe auf der Natur der intensiven Quantitäten, die eben über ihre
Differenzen zu kommunizieren beginnen. Daß es Bedingungen für diese
Kommunikation gibt (kleine Differenz, Nähe usw.), darf uns nicht an eine
Bedingung vorgängiger Ähnlichkeit glauben lassen, sondern bloß an die
besonderen Eigenschaften der intensiven Quantitäten, insofern sie sich teilen,
sich aber nicht teilen, ohne sich gemäß der ihnen eigenen Ordnung in ihrer
Natur zu verändern. Was die Ähnlichkeit betrifft, so schien sie uns aus der
Funktionsweise des Systems zu resultieren, und zwar als ein ,,Effekt“, den
man zu Unrecht für eine Ursache oder Bedingung halten würde. Kurz, das
System des Trugbilds muß mit Begriffen beschrieben werden, die sich von
Anfang an von den Kategorien der Repräsentation stark zu unterscheiden
scheinen: 1. die Tiefe, das spatium, wo sich die Intensitäten organisieren; 2. die
disparaten Reihen, die sie bilden, die Individuationsfelder, die sie umreißen
(individuierende Faktoren); 3. der ,,dunkle Vorbote”, der sie miteinander
kommunizieren läßt; 4. die Kopplungen, die internen Resonanzen, die
erzwungenen Bewegungen, die daraus hervorgehen; 5. die Konstitution passi-
ver Ichs und larvenhafter Subjekte in diesem System und die Bildung reiner
raum-zeitlicher Dynamiken; 6. die Qualitäten und Extensionen, die Arten und
Teile, die die doppelte Differenzierung des Systems ausmachen und die voran-
gehenden Faktoren verdecken; 7. die Umhüllungszentren, die gleichwohl die
Beständigkeit dieser Faktoren in der entfalteten Welt der Qualitäten und
Ausdehnungen bezeugen. Das System des Trugbilds bejaht die Divergenz und
die Dezentrierung; die einzige Einheit, die einzige Konvergenz aller Reihen ist

7 Arthur Adamov schrieb zu diesem Thema ein sehr gelungenes Stück: La grande et la
petite mancmvre, in: Th6tre 1, Paris 1953.
SCHLUSS 347

ein formloses Chaos, das sie alle umfaßt. Keine Reihe ist privilegiert gegen-
über einer anderen, keine besitzt die Identität eines Urbilds, keine die Ähn-
lichkeit eines Abbilds. Keine steht im Gegensatz zu einer anderen oder ist
ihr analog. Jede besteht aus Differenzen und kommuniziert mit den anderen
über Differenzen von Differenzen. Die gekrönten Anarchien ersetzen die
Hierarchien der Repräsentation; die nomadischen Verteilungen die seßhaf-
ten Verteilungen der Repräsentation.
Wir haben gesehen, wie diese Systeme der Aktualisierungsort von Ideen
waren. Eine Idee ist in diesem Sinne weder eine noch viele: Sie ist eine
Mannigfaltigkeit, besteht aus differentiellen Elementen, aus Differentialver-
hältnissen zwischen diesen Elementen und aus Singularitäten, die diesen
Verhältnissen entsprechen. Diese drei Dimensionen, Elemente, Verhältnisse,
Singularitäten, bilden die drei Aspekte der mannigfaltigen ratio: die
Bestimmbarkeit oder das Quantitabilitätssprinzip, die reziproke Bestim-
mung oder das Qualitabilitätsprinzip, die durchgängige Bestimmung oder
das Potentialitätsprinzip. Sie projizieren sich alle drei auf eine ideale zeit-
liche Dimension, die die der progressiven Bestimmung ist. Es gibt also
einen Empirismus der Idee. In den verschiedensten Fällen müssen wir
danach fragen, ob wir tatsächlich mit idealen Elementen konfrontiert sind,
d . h . mit gestaltlosen und funktionslosen Elementen, die aber in einem
Netz von - Differentialverhältnissen wechselseitig bestimmbar sind (nicht
lokalisierbare ideale Verbindungen). Etwa: entsprechen die physikalischen
Partikel diesem Fall, und welche? Entsprechen die biologischen Gene die-
sem Fall? Und die Phoneme? Wir müssen gleichermaßen danach fragen,
welche Verteilung von Singularitäten, welche Aufteilung von singulären
und regulären, ausgezeichneten und gewöhnlichen Punkten den Werten der
Verhältnisse entsprechen. Eine Singularität ist der Ausgangspunkt einer
Reihe, die sich über alle gewöhnlichen Punkte des Systems hinweg fort-
setzt, bis in die Umgebung einer anderen Singularität; diese erzeugt eine
andere Reihe, die mit der ersten bald konvergiert, bald divergiert. Die Idee
hat die Macht zur Bejahung der Divergenz; sie errichtet eine Art Reso-
nanz zwischen den divergierenden Reihen. Wahrscheinlich haben die
Begriffe singulär und regulär, ausgezeichnet und gewöhnlich für die Philo-
sophie selbst eine wesentlich größere ontologische und epistemologische
Bedeutung als die Begriffe von wahr und falsch, die Repräsentation betref-
fend; denn was man Sinn nennt, hängt von der Unterscheidung und Ver-
teilung dieser leuchtenden Punkte in der Struktur der Idee ab. Es ist also
das Spiel der Wechselbestimmung aus der Perspektive der Verhältnisse und
das Spiel der durchgängien Bestimmung aus der Perspektive der Singula-
ritäten, das die Idee an sich selbst progressiv bestimmbar macht. Dieses
Spiel in der Idee ist das des Differentiellen; es durchläuft die Idee als
Mannigfaltigkeit und bildet die Methode der Vize-Diktion (die Leibniz so
genial handhabte, obwohl er sie illegitimen Konvergenzbedingungen unter-
ordnete, die noch den Forderungsdruck der Repräsentation bekundeten).
348 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Die so definierte Idee verfugt über keinerlei Aktualität. Sie ist reine Virtualität.
Alle Differenzialverhältnisse - vermöge der reziproken Bestimmung - und
alle Verteilungen von Singularitäten - vermöge der durchgängigen Bestim-
mung - koexistieren in den virtuellen Mannigfaltigkeiten der Ideen gemäß
einer Ordnung, die ihnen eignet. Erstens aber verkörpern sich die Ideen in
den Individuationsfeldern: Die intensiven Reihen individuierender Faktoren
umhüllen ideelle, an sich selbst präindividuelle Singularitäten; die inter-
seriellen Resonanzen bringen die idealen Verhältnisse ins Spiel. Wie grund-
legend hat Leibniz auch hier gezeigt, daß sich die individuellen Wesenhei-
ten auf dem Grund dieser Verhältnisse und dieser Singularitäten bilden.
Zweitens aktualisieren sich die Ideen in den Arten und Teilen, den Qualitä-
ten und Ausdehnungen, die diese Individuationsfelder überdecken und ent-
falten. Eine Art besteht aus Differentialverhältnissen zwischen Genen, die
organischen Teile und die Ausdehnung eines Körpers bestehen entspre-
chend aus aktualisierten präindividuellen Singularitäten. Man muß jedoch
die absolute Unähnlichkeitsbedingung hervorheben: Die Art oder die Qua-
lität ähneln nicht den Differentialverhältnissen, die sie aktualisieren, so
wenig die organischen Teile den Singularitäten ähneln. Ähnlich sind einan-
der das Mögliche und das Wirkliche, keineswegs aber das Virtuelle und das
Aktuelle. So wenig die Idee auf das Identische zurückgeht oder über eine
Identität überhaupt verfügt, so wenig vollziehen sich Verkörperung und
Aktualisierung der Idee mittels Ähnlichkeit oder können auf eine Gleich-
artigkeit zählen.
Wenn es stimmt, daß die Arten und Teile, die Qualitäten und Ausdehnungen,
oder eher die Spezifikation und die Partition, die Qualifizierung und die
Extension die beiden Aspekte der Diff erenzierung bilden, so wird man sagen,
daß sich die Idee durch D’ffi erenzierung aktualisiert. Aktualisierung bedeutet
für sie Differenzierung. An sich selbst und in ihrer Virtualität belegt sie also
völlige Nichtdifferenzierung. Dennoch ist sie keineswegs unbestimmt: Sie
unterliegt, im Gegenteil, vollständig der Differentiation. (In diesem Sinn ist
das Virtuelle nicht im geringsten ein vager Begriff; es besitzt volle objektive
Realität; es läßt sich keineswegs mit dem Möglichen verwechseln, dem es an
Realität mangelt; daher ist das Mögliche der Modus der Identität des Begriffs
in der Repräsentation, während das Virtuelle die Modalität des Differentiellen
im Innern der Idee ist.) Man muß dem ,,distinktiven Merkmal“ t/z als Symbol
der Differenz allergrößte Bedeutung beimessen: Differentiation und Differen-
zierung. Die Gesamtheit des Systems, das die Idee, ihre Verkörperung und
ihre Aktualisierung ins Spiel bringt, muß sich im komplexen Begriff ,,(Indi)-
Differentidtion/zierung” artikulieren. Jedes Ding hat gleichsam zwei unpaa-
rige, asymmetrische und unähnliche ,,Hälften“, die beiden Hälften des
Symbols, von denen sich jede selbst wiederum in zwei Hälften teilt: eine
ideelle Hälfte, die ins Virtuelle eingebettet ist und einerseits aus den Differen-
tialverhältnissen, andererseits aus den entsprechenden Singularitäten besteht;
eine aktuelle Hälfte, die einerseits aus den Qualitäten, die diese Verhältnisse
SCHLUSS 349

aktualisieren, andererseits aus den Teilen, die diese Singularitäten aktualisie-


ren, besteht. Die Individuation ist es, die die Schachtelung der beiden großen
unähnlichen Hälften gewährleistet. Die Frage nach dem ens omni modo deter-
minatum muß folgendermaßen gestellt werden: In der Idee kann ein Ding
vollständig bestimmt sein (Differentiation), und dennoch kann es ihm an
Bestimmungen mangeln, die die aktuelle Existenz ausmachen (es ist undiffe-
renziert und noch nicht einmal individuiert). Wenn wir ,,deutlich” [distinct]
die Verfassung der Idee mit vollständiger Differentiation nennen, ,,klar“ [clair]
aber die Formen der quantitativen und qualitativen Differenzierung, müssen
wir mit der Proportionalitätsregel hinsichtlich des Klaren und des Deutlichen
brechen: Die Idee an sich selbst ist deutlich-dunkel. Und gerade auf diese
Weise ist sie dionysisch, im Gegensatz zum Klar-und-Deutlich der apollini-
schen Repräsentation, und zwar in jener dunklen Zone, die sie in sich wahrt
und hütet, in jener Nichtdifferenzierung, die dennoch völlig der Differentia-
tion unterliegt, in jenem Präindividuellen, das nichtsdestoweniger singulär ist:
ihre Trunkenheit, die niemals gelindert sein wird - das Deutlich-Dunkel’ als
zweifache Farbe, in der die Philosophie die Welt malt, mit allen Kräften eines
differentiellen Unbewußten.
Es ist ein Irrtum, in den Problemen einen vorläufigen und subjektiven Zustand
zu sehen, durch den unsere Erkenntnis auf Grund ihrer tatsächlichen Begren-
zungen hindurchgehen müßte. Dieser Irrtum setzt die Negation frei und
verfälscht die Dialektik, indem er das (Nicht)-Sein des Problems durch das
Nicht-Sein des Negativen ersetzt. Das ,,Problematische“ ist ein Weltzustand,
eine Dimension des Systems und sogar sein Horizont, sein Brennpunkt: Es
bezeichnet exakt die Objektivität der Idee, die Realität des Virtuellen. Als
Problem ist das Problem vollständig bestimmt, ihm bleibt die Differentiation
vorbehalten, und zwar in dem Maße, wie man es auf seine völlig positiven
Bedingungen bezieht - obwohl es noch nicht ,,gelöst“ ist und darum in der
Nichtdifferenzierung verharrt. Oder besser: es ist gelöst, sobald es gestellt und
bestimmt ist, aber es besteht dennoch in den von ihm erzeugten Lösungen
objektiv fort und unterscheidet sich wesentlich von ihnen. Darum findet die
Metaphysik der Differentialrechnung ihre wahre Bedeutung, wenn sie der
Antinomie des Endlichen und Unendlichen in der Repräsentation entkommt,
um in der Idee als das erste Prinzip der Theorie der Probleme zu erscheinen.
Perplikation haben wir jenen Zustand der Problem-Ideen genannt, mit ihren
koexistierenden Mannigfaltigkeiten und Varietäten, ihren Elementbestimmun-
gen, ihren Verteilungen beweglicher Singularitäten und ihrer Bildung ideeller
Reihen um diese Singularitäten. Und das Wort ,,Perplikation“ bezeichnet hier
alles andere als einen Bewußtseinszustand. Komplikation nennen wir den

8 Frz. distinct-obscur, hier auch als Anspielung an das Clair-obscur, das Helldunkel der
Malerei gedacht.
350 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

Zustand des Chaos, das alle aktuellen intensiven Reihen festhält und umfaßt,
die jenen ideellen Reihen entsprechen, sie verkörpern und deren Divergenz
bejahen. Daher versammelt dieses Chaos in sich das Sein der Probleme und
verleiht allen Systemen und Feldern, die sich in ihm bilden, den dauerhaften
Wert des Problematischen. Implikation nennen wir den Zustand intensiver
Reihen, sofern sie über ihre Differenzen kommunizieren und durch die Bil-
dung von Individuationsfeldern in Resonanz geraten. Jede wird von den
anderen ,,impliziert“, die sie selbst wiederum impliziert; sie konstituieren die
,,umhüllenden“ und ,,umhüllten“, die ,,lösenden“ und ,,gelösten“ des
Systems. Explikation nennen wir schließlich den Zustand der Qualitäten und
Ausdehnungen, die nun das System zwischen den Basisreihen verdecken und
entfalten: Hier zeichnen sich die Differenzierungen, die Integrationen ab, die
die Gesamtheit der endgültigen Lösung definieren. Die Umhüllungszentren
aber zeugen noch von der Beständigkeit der Probleme oder der Beständig-
keit der Implikationswerte in der Bewegung, die sie expliziert und löst
(Replikation).
Wir haben dies hinsichtlich des Anderen in den psychischen Systemen gese-
hen. Der Andere verschmilzt nicht mit den im System implizierten indivi-
duierenden Faktoren, sondern ,,repräsentiert“ sie in gewisser Weise, steht für
sie. Denn unter den entfalteten Qualitäten und Ausdehnungen der Wahrneh-
mungswelt umhüllt er, drückt er mögliche Welten aus, die außerhalb ihres
Ausdrucks nicht existieren. Damit bezeugt er beständige Implikationswerte,
die ihm eine wesentliche Funktion in der repräsentierten Welt der Wahrneh-
mung verleihen. Wenn nämlich der Andere bereits die Organisation von
Individuationsfeldern voraussetzt, so ist er umgekehrt die Bedingung dafür,
daß wir in diesen Feldern distinkte Objekte und Subjekte wahrnehmen und
sie als solche wahrnehmen, die auf verschiedene Weise wiedererkennbare,
identifizierbare Individuen bilden. Daß der Andere eigentlich niemand ist,
weder Sie noch ich, bedeutet, daß er eine Struktur ist, die durch variable
Terme in den verschiedenen Wahrnehmungswelten bloß verwirklicht wird -
ich für Sie in der Ihrigen, Sie für mich in der meinigen. Es genügt nicht
einmal, im Anderen eine besondere oder spezifische Struktur der Wahrneh-
mungswelt allgemein zu sehen; in Wirklichkeit ist es eine Struktur, die die
ganze Funktionsweise dieser Welt insgesamt begründet und garantiert. Das
kommt daher, daß die zur Beschreibung dieser Welt notwendigen Begriffe -
Form/Untergrund, Umrisse/Objekteinheit, Tiefe/Länge, Horizont/Brenn-
punkt usw. - leer und unanwendbar blieben, wenn der Andere nicht da wäre
und mögliche Welten ausdrückte, in denen dasjenige, was (für uns) im Unter-
grund liegt, vorweg oder unterschwellig zugleich auch als eine mögliche
Form wahrgenommen wird, die Tiefe als mögliche Länge usw. Der Zuschnitt
von Objekten, die Übergänge wie die Brüche, der Wechsel von einem Objekt
zum anderen und sogar die Tatsache, daß eine Welt zu Gunsten einer ande-
ren vergeht, die Tatsache, daß es stets etwas Impliziertes gibt, das noch
expliziert, entfaltet werden muß - all das wird nur durch die Struktur des
SCHLUSS 351

Anderen und seine Ausdrucksmacht in der Wahrnehmung ermöglicht.


Kurz, die Individuation der Wahrnehmungswelt wird durch die Struktur
des Anderen gewährleistet. Sie ist keineswegs das Ego oder Ich; diese
bedürfen vielmehr jener Struktur, damit sie als Individualitäten wahrgenom-
men werden können. Es sieht ganz so aus, als ob der Andere die indivi-
duierenden Faktoren und präindividuellen Singuluritäten in die Grenzen
von Objekten und Subjekten integrierte, die sich der Repräsentation nun als
wahrgenommen oder wahrnehmend darbieten. So daß man - um die indivi-
duierenden Faktoren, wie sie in den intensiven Reihen gegeben sind, und
die präindividuellen Singularitäten, wie sie in der Idee gegeben sind, wieder-
zufinden - diesem Weg in Gegenrichtung folgen und ausgehend von den
Subjekten, die die Struktur des Anderen verwirklichen, wieder zu jener
Struktur an sich selbst aufsteigen und also den Anderen als Niemand auf-
fassen muß; daß man dann, der Krümmung der ratio sufficiens entlang,
noch weiter gehen und in jene Regionen gelangen muß, in der die Struktur
des Anderen nicht mehr wirksam ist, fern der Objekte und Subjekte, die sie
bedingt - damit sich die Singularitäten ausbreiten, sich in der reinen Idee
verteilen und die individuierenden Faktoren sich in der reinen Intensität
aufteilen können. In diesem Sinne stimmt es, daß der Denkende notwendig
einsam und solipsistisch ist.
Denn woher stammen die Ideen, ihre Verhältnisvariationen und ihre Vertei-
lungen von Singularitäten ? Auch hier folgen wir dem Weg, der eine Bie-
gung macht, an der die ,,ratio“ in ein Jenseits eintaucht. Der radikale Ur-
sprung wurde stets einem einsamen und göttlichen Spiel gleichgesetzt. Es
gibt freilich mehrere Spielweisen, und die menschlichen und kollektiven
Spiele ähneln nicht jenem einsamen göttlichen Spiel. Wir können die beiden
Arten von Spiel, das menschliche und das ideale, einander in mehreren
Merkmalen gegenüberstellen. Zunächst setzt das menschliche Spiel vorgän-
gige kategorische Regeln voraus. Sodann bewirken diese Regeln die Bestim-
mung von Wahrscheinlichkeiten, d. h. Verlust- und Gewinn-,,Hypothesen“.
Drittens bejahen diese Spiele niemals den ganzen Zufall, im Gegenteil, sie
fragmentieren ihn, und in jedem einzelnen Fall entziehen sie dem Zufall,
schließen sie vom Zufall die Konsequenz des Spielzugs aus, da sie ja diesen
Gewinn und jenen Verlust als notwendig mit der Hypothese verbunden
festsetzen. Darum schließlich operiert das menschliche Spiel mit seßhaften
Verteilungen: Denn die vorgängige kategorische Regel übernimmt darin die
invariante Rolle des Selben und verfügt über eine metaphysische oder mora-
lische Notwendigkeit; sie subsumiert als solche gegensätzliche Hypothesen,
denen sie eine Reihe von numerisch geschiedenen Spielzügen, Streichen und
Würfen korrespondieren läßt, die eine Verteilung dieser Hypothesen durch-
führen sollen; und die Ergebnisse der Spielzüge, der Niederschlag, verteilen
sich gemäß ihrer Konsequenz im Sinne einer hypothetischen Notwendig-
keit, d.h. gemäß der verwirklichten Hypothese. Dies ist die seßhafte Vertei-
lung, in der eine starre Aufteilung des Verteilten besteht, einer Verhältnis-
352 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

mäßigkeit zufolge, die durch die Regel festgelegt wird. Diese menschliche
Verfahrensweise, diese falsche Spielweise verbirgt ihre Voraussetzungen
nicht: Es sind dies moralische Voraussetzungen, die Hypothese ist hier die
Hypothese von Gut und Böse und das Spiel ein moralischer Lernprozeß.
Das Modell dieses schlechten Spiels liegt in der Wette Pascals, hinsichtlich
der Art, wie sie den Zufall fragmentiert, dessen Stücke verteilt, um
menschliche Existenzweisen zuzuteilen, und zwar unter der konstanten
Regel der Existenz eines niemals infragegestellten Gottes. Von der platoni-
schen Lotterie bis hin zum leibnizschen Schachspiel in De rerum origina-
tione radicali aber stößt man auf diese gleiche Konzeption des Spiels, die
insgesamt ins Netz des Notwendigen, des Hypothetischen und der hypo-
thetischen Notwendigkeit eingeschrieben ist (kategorisches oder apodikti-
sches Prinzip, Hypothese, Konsequenz). Dieses Spiel verschmilzt bereits
mit dem Vollzug der Repräsentation, es weist all deren Elemente auf, die
höhere Identität des Prinzips, den Gegensatz der Hypothesen, die Ähn-
lichkeit der numerisch geschiedenen Würfe, die Verhältnismäßigkeit im
Bezug zwischen Hypothese und Konsequenz.
Ganz anders das göttliche Spiel, jenes Spiel, von dem vielleicht Heraklit
spricht, das Spiel, das Mallarme mit soviel religiöser Scheu und Reue, das
Nietzsche mit so großer Entschiedenheit anruft - ein Spiel, das unserem
Verständnis den größten Widerstand entgegensetzt und sich in der Welt
der Repräsentation nicht beherrschen läßt9. Zunächst gibt es hier keine
vorgängige Regel, das Spiel bezieht sich auf seine eigene Regel. So daß mit
jedem Mal der gesamte Zufall in einem notwendig siegreichen Spielzug
bejaht wird. Nichts bleibt vom Spiel ausgenommen: Die Konsequenz wird
vom Zufall keineswegs durch die Bindung an eine hypothetische Notwen-
digkeit abgezogen, die ihn mit einem bestimmten Bruchstück vereinigen
würde, sie entspricht vielmehr, im Gegenteil, dem Zufall insgesamt, der
alle möglichen Konsequenzen einbehält und verästelt. Man kann folglich
nicht mehr sagen, die verschiedenen Spielzüge seien numerisch geschieden:
Jeder notwendig siegreiche zieht die Reproduktion des Wurfs nach einer
anderen Regel nach sich, der wiederum alle seine Konsequenzen aus den
Konsequenzen des vorangehenden herausschneidet. Die verschiedenen Spiel-
züge unterscheiden sich jedesmal nicht numerisch, sondern formal, wobei
die verschiedenen Regeln die Formen ein und desselben Wurfs sind, der in
ontologischer Hinsicht über alle Male hinweg der eine bleibt. Und die ver-
schiedenen Niederschläge teilen sich nicht mehr gemäß der Verteilung der

9 Vgl. Eugen Fink: Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960; und Kostas Axelos: Vers l a
pensee @anitaire,
Paris 1964 - zwei Autoren, die aus einer ganz anderen als der hier
vorgeschlagenen Perspektive den Versuch unternehmen, göttliches und menschliches
Spiel ZU unterscheiden, um daraus eine Formel dafür zu gewinnen, was sie mit
Heidegger ,,ontologische Differenz“ nennen.
SCHLUSS 353

von ihnen verwirklichten Hypothesen auf, sie verteilen sich vielmehr selbst
im offenen Raum des einzigen und ungeteilten Wurfs: eine nomadische
Verteilung an Stelle der seßhaften. Eine reine Idee des Spiels, d. h. eines
Spiels, das ausschließlich Spiel wäre und nicht durch die Geschäfte der
Menschen fragmentiert, begrenzt, unterbrochen. (Welches menschliche Spiel
kommt jenem einsamen göttlichen Spiel am nächsten? Wie Rimbaud sagt: X
suchen, das Kunstwerk.) Nun haben die Verhältnisvariationen und die Ver-
teilungen von Singularitäten, wie sie in der Idee gegeben sind, keinen ande-
ren Ursprung als jene formal geschiedenen Regeln für jenen ontologisch
einen Wurf. Dies ist der Punkt, an dem sich der radikale Ursprung in die
Abwesenheit von Ursprung verkehrt (im stets verschobenen Kreis der ewi-
gen Wiederkunft). Ein aleatorischer Punkt verschiebt sich über alle Punkte
auf den Würfeln hinweg, als ein einziges Mal, das für alle gilt. Diese ver-
schiedenen Würfe, die ihre eigenen Regeln erfinden und aus denen der ein-
zige Spielzug mit seinen mannigfaltigen Formen und seiner ewigen Wieder-
kunft besteht, sind entsprechend viele imperative Fragen, stillschweigend
vorausgesetzt durch ein und dieselbe Antwort, die jene Fragen offen läßt
und niemals zuschüttet. Sie rufen die idealen Probleme ins Leben, deren
Verhältnisse und Singularitäten sie bestimmen. Und über diese Probleme
bewirken sie die Niederschläge, d. h. die differenzierten Lösungen, die diese
Verhältnisse und Singularitäten verkörpern. Welt des ,,Willens“: zwischen
den Bejahungen des Zufalls (imperative und Entscheidungsfragen) und den
erzeugten resultierenden Bejahungen (entschiedene Lösungsfälle [cas de
solution] oder Entschließungen [rholutionsj) entfaltet sich die ganze Positi-
vität der Ideen. Das Spiel des Problematischen und des Imperativs hat das
Spiel des Hypothetischen und Kategorischen ersetzt; das Spiel der Differenz
und der Wiederholung hat das des Selben und der Repräsentation ersetzt.
Die Würfel werden gegen den Himmel geworfen, mit der ganzen Kraft der
Verschiebung des aleatorischen Punkts, mit all ihren imperativen Punkten
gleich Blitzen, und treten am Himmel zu idealen Problemkonstellationen
zusammen. Sie prallen auf die Erde zurück, mit der ganzen Kraft siegrei-
cher Lösungen, die den Wurf wieder zurückbringen. Ein Spiel auf zwei
Tischen. Wie sollte es an der Grenze, an der Nahtsstelle zwischen den bei-
den Tischen keinen Riß geben.? Und wie ließe sich auf dem ersten ein mit
sich identisches, substanzielles Ego, auf dem zweiten ein mit sich ähnliches,
kontinuierliches Ich erkennen? Die Identität des Spielers ist ebenso ver-
schwunden wie die Ähnlichkeit dessen, der für die Konsequenzen auf-
kommt oder von ihnen profitiert. Der Riß, die Nahtstelle ist die Form der
leeren Zeit, das Aion, das von den Würfelwürfen durchlaufen wird. Einer-
seits nichts als ein durch diese leere Form gespaltenes Ego. Andererseits
nichts als ein passives und stets in dieser leeren Form aufgelöstes Ich.
Einem zerrissenen Himmel entspricht eine aufgebrochene Erde. ,,O Himmel
über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit [. . .]/ - daß du
mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, daß du mir ein Göttertisch
354 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

bist für göttliche Würfel und Würfelspieler!““. Worauf es von dem anderen
Tisch her antwortet: ,,Wenn ich je am Göttertisch der Erde mit Göttern
Würfel spielte, daß die Erde bebte und brach und Feuerflüsse heraufschob: -/
denn ein Göttertisch ist die Erde, und zitternd von schöpferischen neuen
Worten und Götter-Würfen [. . .]“. Und dennoch ist allen beiden, dem zerris-
senen Himmel und der aufgebrochenen Erde, das Negative unerträglich, sie
speien es aus mittels dessen, was sie zerreißt oder zerbricht, sie stoßen alle
Formen von Negation und gerade jene, die das falsche Spiel repräsentieren,
von sich - ,,[e]in Wurf mißriet euch./ Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran!
Ihr lerntet nicht spielen und spotten, wie man spielen und spotten muß!“
Wir haben fortwährend deskriptive Begriffe vorgeschlagen: Begriffe, die die
aktuellen Reihen beschreiben, oder die virtuellen Ideen, oder den Ungrund,
aus dem alles hervorgeht. Aber: Intensität-Kopplung-Resonanz-erzwungene
Bewegung; Differentielles und Singularität; Komplikation-Implikation-Expli-
kation; Differentiation-Individuation-Differenzierung; Frage-Problem-Lö-
sung usw. - all das bildet mitnichten eine Liste von Kategorien. Vergeblich
behauptet man, eine Liste von Kategorien könne prinzipiell offen sein; sie
kann de facto offen sein, nicht aber prinzipiell. Denn die Kategorien gehören
zur Welt der Repräsentation, in der sie die Verteilungsformen ausprägen, nach
denen sich das Sein gemäß Regeln seßhafter Proportionalität unter den Seien-
den aufteilt. Die Philosophie war darum oft versucht, den Kategorien Begriffe
ganz anderer Natur gegenüberzustellen, wirklich offene Begriffe, die einen
empirischen und pluralistischen Sinn der Idee bezeugen: ,,Existenzialien“
gegen ,,Essenzialien“ , percepts’l gegen concepts’2 - oder die Liste empirio-
ideeller Begriffe, die man bei Whitehead findet und Process and Reality zu
einem der größten Bücher der modernen Philosophie macht. Derartige
Begriffe, die man insofern ,,phantastisch“ nennen muß, als sie sich auf die
Phantasiegebilde oder Trugbilder beziehen, unterscheiden sich von den Kate-
gorien der Repräsentation unter mehreren Gesichtspunkten. Zunächst sind sie
Bedingungen der realen und nicht nur der möglichen Erfahrung. Gerade in
dieser Hinsicht - da sie nicht weiter gefaßt sind als das Bedingte - vereinen sie
die beiden so unglücklich auseinandergerissenen Teile der Ästhetik, die Theo-
rie der Formen der Erfahrung und die Theorie des Kunstwerks als Experi-
ment. Dieser Aspekt aber erlaubt uns noch nicht zu bestimmen, worin der
Wesensunterschied zwischen den beiden Begriffstypen besteht. Das kommt
daher, daß zweitens diese Typen gänzlich voneinander geschiedene, irreduzi-
ble und unvereinbare Verteilungen steuern: den seßhaften Verteilungen der
Kategorien stehen die in den phantastischen Begriffen vollzogenen nomadi-

10 Dieser Text und die beiden folgenden stammen aus Also sprach Zayathtistra: Dritter
Teil, Vor Sonnenaufgang (a.a.O., Bd. 2, S. 416), D’ ie sieben Siegel (S. 474); Vierter
Teil, Vom höheren Menschen (S. 528) [ Hervorhebungen von G. Deleuze; d.Ü.1.
” D h empirische Anschauungen“ (bei Bergson) [A.d.Ü.].
l l Y>

l2 D. h. ,,Begriffe“ , ,,begriffliche Vorstellungen“ [A.d.Ü.].


SCHLUSS 355

sehen Verteilungen gegenüber. Denn diese sind weder Universalien wie die
Kategorien, noch Fälle des hic et nunc, des now here wie das Verschiedene,
auf das sich die Kategorien in der Repräsentation beziehen. Sie sind Raum-
und Zeitkomplexe, die sicher überallhin transportierbar sind, vorausgesetzt
aber, daß sie ihre eigene Landschaft aufzwingen, daß sie ihr Zelt dort auf-
schlagen, wo sie sich für einen Augenblick niederlassen: Sie sind daher
Gegenstand einer wesentlichen Begegnung und nicht einer Rekognition. Das
beste Wort zu ihrer Bezeichnung ist zweifellos das von Samuel Butler
geprägte: Erewhod3. Sie sind Erewhons. Kant hatte das lebhafteste Gespür
für derartige Begriffe, die an einer Phantastik der Einbildungskraft beteiligt
sind und sich auf das Universale des Begriffs so wenig wie auf die Besonder-
heit des Hier-und-Jetzt reduzieren lassen. Wenn sich nämlich die Synthese
auf das Verschiedene hier und jetzt erstreckt, wenn die synthetischen Einhei-
ten oder Kategorien stetige Universalien sind, die jede mögliche Erfahrung
bedingen, so sind die Schemata Bestimmungen a priori von Raum und Zeit,
die überall und jederzeit - auf diskontinuierliche Weise allerdings - reale
Komplexe von Orten und Augenblicken transportieren. Das kantische
Schema würde seinen Aufschwung nehmen und sich in Richtung auf eine
Konzeption der differentiellen Idee überschreiten, wenn es nicht unbegründe-
terweise den Kategorien untergeordnet bliebe, die es auf den Stand einer
bloßen Vermittlung in der Welt der Repräsentation reduzieren. Und weiter
noch, jenseits der Repräsentation vermuten wir ein regelrechtes Problem des
Seins, das von diesen Differenzen zwischen den Kategorien und den phanta-
stischen oder nomadischen Begriffen ins Spiel gebracht wird, die Art und
Weise nämlich, wie sich das Sein auf das Seiende verteilt - in letzter Instanz
die Analogie oder die Univozität?

Wenn wir die Wiederholung als Gegenstand der Repräsentation betrachten, so


begreifen wir sie über die Identität, erklären sie aber auch auf negative Weise.
Denn die Identität eines Begriffs qualifiziert keine Wiederholung, wenn nicht
gleichzeitig eine negative Kraft (von Beschränkung oder Gegensatz) den
Begriff daran hindert, sich in Abhängigkeit der Mannigfaltigkeit, die er subsu-
miert, zu spezifizieren, zu differenzieren. Die Materie vereint, wie wir gesehen
haben, diese beiden Merkmale: einen absolut identischen Begriff in ebenso
vielen Exemplaren existieren zu lassen, wie es ,,Male“ oder ,,Fälle“ gibt; diesen
Begriff daran zu hindern, sich weiter zu spezifizieren, und zwar wegen seiner
natürlichen Dürftigkeit oder seines unbewußten, entfremdeten Naturzustands.
Die Materie ist also die Identität des Geistes, d. h. der Begriff, aber als ent-

l3 Butlers Evewhon scheint uns nicht nur eine Verballhornung des no-where ,zu sein,
sondern auch eine Verkehrung des now-here.
356 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

fremdeter Begriff, ohne Selbstbewußtsein, außer sich gebracht. Es kommt


wesentlich der Repräsentation zu, eine materielle und nackte Wiederholung
zum Modell zu nehmen, eine Wiederholung, die sie über das Selbe begreift
und über das Negative expliziert. Aber liegt nicht auch hierin eine Antino-
mie der Repräsentation, daß sie sich nämlich die Wiederholung nur in die-
ser Gestalt vorstellen [se reprhenter] kann, und daß sie sie doch nicht -
ohne Widerspruch - auf diese Weise repräsentieren kann? Denn das mate-
rielle und nackte Modell ist im eigentlichen Sinne undenkbar. (Wie könnte
sich das Bewßtsein das Unbewußte vorstellen [se reprbsenter/, jenes Unbe-
wußte, das nur eine Gegenwart [pr&ence/ besitzt?) Identische Elemente
wiederholen sich nur unter der Bedingung einer Unabhängigkeit von ,,Fäl-
len“, einer Diskontinuität von ,,Malen”, die bewirkt, daß das eine nicht
erscheint, ohne daß das andere verschwunden ist: In der Repräsentation ist
die Wiederholung wohl gezwungen, sich zugleich mit ihrer Bildung aufzu-
lösen. Oder eher: sie bildet sich überhaupt nicht. Sie kann sich unter diesen
Bedingungen nicht an sich selbst bilden. Darum muß man, um die Wieder-
holung zu repräsentieren, hier und da betrachtende Seelen installieren, pas-
sive Ichs, subrepräsentative Synthesen, Gewohnheiten, die die Fälle oder
Elemente ineinander zu kontrahieren vermögen, um sie daraufhin in einem
Aufbewahrungsraum und in einer Aufbewahrungszeit wiederherzustellen,
die der Repräsentation zugehören. Nun ergeben sich daraus entscheidende
Konsequenzen: Da diese Kontraktion eine Differenz ist, d.h. eine Modifi-
kation der betrachtenden Seele und gar die Modifikation dieser Seele, ihre
einzige Modifikation, nach der sie stirbt, wird deutlich, daß sich die mate-
riellste Wiederholung nur durch und in einer Differenz bildet, die ihr durch
Kontraktion entlockt wird, durch und in einer Seele, die der Wiederholung
eine Differenz entlockt. Die Wiederholung wird also repräsentiert, aller-
dings unter der Bedingung einer Seele ganz anderer Natur, einer betrach-
tenden und kontrahierenden, nicht aber repräsentierenden und repräsentier-
ten Seele. Die Materie wird in der Tat von derartigen Seelen bevölkert und
überzogen, die ihr eine Dichte verleihen, ohne die sie auf der Oberfläche
keinerlei nackte Wiederholung aufweisen würde. Und glauben wir nicht,
daß die Kontraktion dem äußerlich wäre, was sie kontrahiert, oder daß
diese Differenz der Wiederholung äußerlich wäre: Sie ist deren integrieren-
der Bestandteil, sie ist deren konstitutiver Bestandteil, sie ist die Tiefe, ohne
die sich an der Oberfläche nichts wiederholen wurde.
Damit verändert sich alles. Wenn eine Differenz notwendig Bestandteil (in
der Tiefe) der oberflächlichen Wiederholung ist, der sie sich entlockt, so geht
es um die Frage, worin diese Differenz besteht. Diese Differenz ist Kontrak-
tion, worin aber besteht diese Kontraktion? Sollte diese Kontraktion nicht
selbst der höchste Kontraktionsgrad sein, die höchste Spannungsstufe einer
Vergangenheit, die mit sich selbst auf allen Ebenen von Entspannung und in
allen Graden koexistiert? In jedem Augenblick die ganze Vergangenheit, aber
in verschiedenen Graden und Ebenen, von denen die Gegenwart nur die am
SCHLUSS 357

stärksten kontrahierte, am stärksten gespannte darstellt. So lautete die glan-


zende Hypothese Bergsons. Die gegenwärtige Differenz ist dann nicht mehr,
wie noch eben, eine Differenz, die einer oberflächlichen Wiederholung von
Augenblicken abgewonnen wird, um eine Tiefe zu entwerfen, ohne welche
diese nicht existierte. Jetzt entfaltet sich vielmehr diese Tiefe selber für sich
selbst. Die Wiederholung ist nicht mehr eine Wiederholung von sukzessiven
äußeren Elementen oder Teilen, sondern von Totalitäten, die auf verschiede-
nen Ebenen oder in verschiedenen Graden koexistieren. Die Differenz wird
nicht mehr a u s einer elementaren Wiederholung gewonnen, sie liegt vielmehr
zwischen den Graden oder Ebenen einer stets totalen und totalisierenden
Wiederholung; sie verschiebt und verkleidet sich von einer Ebene zur anderen,
wobei jede Ebene ihre Singularitäten als die ihr zugehörigen privilegierten
Punkte umfaßt. Und was läßt sich von der elementaren Wiederholung, die sich
in Augenblicken abwickelt, anderes sagen, als daß sie selbst die entspannteste
Ebene dieser totalen Wiederholung darstellt? Und was läßt sich von der aus
der elementaren Wiederholung gewonnenen Differenz anderes sagen, als daß
sie im Gegenteil den höchsten Kontraktionsgrad dieser totalen Wiederholung
darstellt? Somit liegt die Differenz selbst zwischen zwei Wiederholungen:
zwischen der oberflächlichen Wiederholung von identischen und augenblickli-
chen äußeren Elementen, die sie kontrahiert, und der tiefen Wiederholung von
inneren Totalitäten einer stets variablen Vergangenheit, deren höchste Kon-
traktionsstufe sie darstellt. Auf diese Weise besitzt die Differenz zwei Gesich-
ter, oder die Synthese der Zeit bereits zwei Aspekte: den einen, Habitus, der
auf die erste Wiederholung gerichtet ist, die er ermöglicht; den anderen,
Mnemosyne, die sich der zweiten Wiederholung darbietet, aus der sie resul-
tiert .
Es macht also keinen Unterschied zu sagen, die materielle Wiederholung
besitze ein passives und verborgenes Subjekt, das nichts tut, in dem aber alles
geschieht, und es gebe zwei Wiederholungen, von denen die materielle die
oberflächlichere ist. Vielleicht ist es ungenau, alle Merkmale der anderen dem
Gedächtnis zuzuschreiben, selbst wenn man unter Gedächtnis das transzen-
dentale Vermögen einer reinen Vergangenheit versteht, das ebenso erfinderisch
wie erinnernd ist. Immerhin ist das Gedächtnis die erste Gestalt, in der die
gegensätzlichen Merkmale der beiden Wiederholungen erscheinen. Die eine
dieser Wiederholungen betrifft das Selbe und verfügt über Differenz nur,
insofern ihr diese entwendet und entlockt wird; die andere betrifft das Diffe-
rente und umfaßt die Differenz. Die eine besitzt feste Terme und Stellen, die
andere umfaßt wesentlich die Verschiebung und die Verkleidung. Die eine ist
negativ und defizient, die andere positiv und exzessiv. Die eine betrifft Ele-
mente, Fälle und Male, äußerliche Bestandteile; die andere innere variable
Totalitäten, Grade und Ebenen. Die eine ist sukzessiv in tatsächlicher Bezie-
hung, die andere koexistent in rechtlicher Beziehung. Die eine ist statisch, die
andere dynamisch. Die eine extensiv, die andere intensiv. Die eine gewöhnlich,
die andere ausgezeichnet und auf Singularitäten bezogen. Die eine ist horizon-
358 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

tal, die andere vertikal. Die eine ist entfaltet und muß expliziert werden; die
andere ist umhüllt und muß interpretiert werden. Die eine ist eine Wieder-
holung von Gleichheit und Symmetrie in der Wirkung, die andere Wieder-
holung von Ungleichheit und Asymmetrie in der Ursache. Die eine beruht
auf Exaktheit und Mechanismus, die andere auf Selektion und Freiheit. Die
eine ist eine nackte Wiederholung, die nur als Zugabe und nachträglich
maskiert werden kann; die andere ist eine bekleidete Wiederholung, deren
Masken, Verschiebungen, und Verkleidungen die ersten, letzten und einzi-
gen Elemente darstellen.
Aus diesem Merkmalsgegensatz müssen wir zwei Folgerungen ziehen. Wenn
man die Wiederholung über das Selbe begreifen und auf negative Weise
erklären will, so geschieht dies zunächst aus ein und derselben Perspektive
und gleichzeitig. Für die Philosophie der Wiederholung liegt hierin ein
Widersinn, der genau demjenigen entspricht, der die Philosophie der Diffe-
renz beeinträchtigte. Man definierte nämlich den Begriff der Differenz durch
das Moment oder die Weise, wie sich diese in den Begriff überhaupt ein-
schrieb; man verwechselte also den Begriff der Differenz mit einer bloß
begrifflichen Differenz; man erfaßte damit die Differenz in der Identität,
wobei der Begriff überhaupt nur das Prinzip von Identität ist, wie sie sich in
der Repräsentation entfaltet. Entsprechend konnte die Wiederholung ihrer-
seits nurmehr als eine Differenz ohne Begriff definiert werden; offensichtlich
setzte diese Definition auch weiterhin die Identität des Begriffs hinsichtlich
dessen voraus, was sich wiederholte, anstatt aber die Differenz in den Begriff
einzuschreiben, verlegte sie sie als numerische Differenz außerhalb des
Begriffs und trieb den Begriff selbst aus sich heraus, so daß er in ebenso
vielen Exemplaren existiert, wie numerisch geschiedene Male oder Fälle vor-
handen waren. Sie berief sich somit auf eine äußere Kraft, auf eine Form von
Äußerlichkeit, die die Differenz aus dem identischen Begriff und den identi-
schen Begriff aus sich selbst herauszutreiben vermochte, indem sie seine Spe-
zifikation blockierte - wie vorhin eine innere Kraft oder eine Form von
Innerlichkeit geltend gemacht wurde, die die Differenz in den Begriff und
den Begriff in sich selbst zu verlegen vermochte, im Durchgang durch eine
stetige Spezifikation. Zur gleichen Zeit und aus ein und derselben Perspek-
tive also geschah es, daß die vorausgesetzte Identität des Begriffs die Diffe-
renz als begriffliche Differenz integrierte, verinnerlichte und im Gegenteil
die Wiederho1ung ausstieß, und zwar als korrelative aber begriffslose Diffe-
renz, die negativ oder defizient expliziert wird. Wenn nun in dieser wider-
sinnigen Verknüpfung alles miteinander verbunden ist, so muß es auch in
der Wiederherstellung von Differenz und Wiederholung miteinander verbun-
den sein. Die Idee ist nicht der Begriff; sie unterscheidet sich von der Identi-
tät des Begriffs als die ewig positive differentielle Mannigfaltigkeit; anstatt
die Differenz durch ihre Unterordnung unter den identischen Begriff und
damit unter die Ähnlichkeit der Wahrnehmung, den Gegensatz von Prädika-
ten, der Analogie im Urteil zu repräsentieren, befreit sie sie, befördert sie
SCHLUSS 359

deren Entfaltung in positiven Systemen, in denen sich das Differente auf das
Differente bezieht, wobei sie aus Dezentrierung, Disparität und Divergenz
jeweils Gegenstände von Bejahung macht, die den Rahmen der begrifflichen
Repräsentation aufbrechen. Nun sind Verschiebung und Verkleidung
Mächte der Wiederholung, wie Divergenz und Dezentrierung Mächte der
Differenz sind. Die eine gehört nicht weniger zur Idee als die andere, denn
die Idee hat nicht mehr Innen als Außen (sie ist ein Erewhon). Aus Diffe-
renz und Wiederholung macht die Idee ein und dasselbe Problem. Die Idee
zeichnet sich durch ein Übermaß, durch eine Übersteigerung aus, die aus
Differenz und Wiederholung das vereinte Objekt, das ,,Simultane“ der Idee
machen. Gerade von diesem Übermaß der Idee profitiert der Begriff auf
ungerechtfertigte Weise, aber er profitiert von ihm, indem er es entstellt und
verfälscht: Denn der Begriff teilt den ideellen Exzeß in zwei Portionen auf,
in die der begrifflichen Differenz und die der begrifflosen Differenz, die des
Gleich- oder Ähnlichwerdens mit seiner eigenen Identität als Begriff und die
der defizienten Bedingung, die weiterhin ebendiese Identität, allerdings
blockiert, voraussetzt. Wenn wir uns jedoch fragen, wodurch der Begriff
blockiert wird, so sehen wir freilich, daß dies niemals ein Mangel, ein
Defekt, ein Entgegengesetztes ist. Keine nominale Beschränkung des
Begriffs; keine natürliche Indifferenz des Raums und der Zeit; ebensowenig
eine geistige Entgegensetzung des Unbewußten. Immer ist es das Übermaß
der Idee, das die höhere Positivität bildet, durch die der Begriff angehalten
oder der Anspruch der Repräsentation zu Fall gebracht wird. Und zur glei-
chen Zeit und aus ein und derselben Perspektive wird die Differenz nicht
länger auf eine bloß begriffliche Differenz reduziert, knüpft die Wiederho-
lung ihre tiefste Bindung an die Differenz und findet ein positives Prinzip
sowohl für sich selbst wie für diese Bindung. (Jenseits des Gedächtnisses lag
das offensichtliche Paradox des Todestriebs darin, daß er uns trotz seines
Namens von Anfang an mit einer zweifachen Funktion ausgestattet schien:
nämlich in der Wiederholung die ganze Kraft des Differenten zu erfassen
und gleichzeitig der Wiederholung auf positivste, exzessivste Weise Rech-
nung zu tragen.)
Die zweite Konsequenz besteht darin, daß es nicht genügt, zwei Wiederho-
lungen einander gegenüberzustellen, die eine materiell und nackt entsprechend
der Identität und des Mangels des Begriffs, die andere psychisch, metaphy-
sisch und bekleidet entsprechend der Differenz und dem Übermaß der stets
positiven Idee. Man mußte in dieser zweiten Wiederholung die ,,ratio“ der
ersten suchen. Die lebendige und bekleidete, vertikale Wiederholung, die die
Differenz umfaßt, mußte die Ursache darstellen, aus der nur die horizontale,
materielle und nackte Wiederholung resultiert (bei der man sich begnügt, die
Differenz hervorzulocken). Hinsichtlich der drei Fälle der Freiheits-, Natur-
und Nominalbegriffe haben wir dies immer wieder gesehen: Stets resultiert die
materielle Wiederholung aus der tieferen Wiederholung, die in der Dichte
entsteht und jene als Resultat erzeugt, als äußere Umhüllung gleich einer
360 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ablösbaren Schale, die aber jeden Sinn und jede Fähigkeit zur eigenen
Reproduktion verliert, sobald sie nicht mehr von ihrer Ursache oder der
anderen Wiederholung belebt wird. Auf diese Weise ist es das Bekleidete,
das unter dem Nackten liegt und es erzeugt, es ausscheidet [excrete] als
Wirkung seiner Sekretion [sk&tion]. Die verborgene [secrkte] Wiederho-
lung ist es, die sich mit einer mechanischen und nackten Wiederholung als
einer letzten Barriere umgibt, die hier oder dort den äußersten Rand der
Differenzen markiert, die sie in einem beweglichen System miteinander
kommunizieren läßt. Und immer ist es ein und dieselbe Bewegung, in der
die Wiederholung die Differenz umfaßt (nicht als eine zufällige und äußer-
liche Variante, sondern als ihr Herzstück, als die wesentliche Variante, aus .
der sie zusammengesetzt ist, als die Verschiebung und die Verkleidung,
durch die sie für eine selbst divergierende und verschobene Differenz gebil-
det wird) und in der sie ein positives Prinzip erhalten muß, aus dem die
indifferente materielle Wiederholung resultiert (eine leere Schlangenhaut,
entkernte Hülle, die das, was sie impliziert, nicht mehr enthält, Epidermis,
die nur mit ihrer verborgenen Seele oder ihrem verborgenen Inhalt lebt
und stirbt). Dies trifft bereits auf die Naturbegriffe zu. Niemals würde die
Natur wiederholen, stets wären ihre Wiederholungen hypothetisch und
dem guten Willen des Experimentators und Wissenschaftlers ausgeliefert,
wenn sie sich auf die Oberfläche der Materie reduzierte, wenn diese Mate-
rie nicht selbst über eine Tiefe als den Schoß der Natur verfügte, in dem
die lebendige und tödliche Wiederholung entsteht, imperativ und positiv
wird, vorausgesetzt, sie verschiebt und verkleidet eine stets gegenwärtige
Differenz, die die Wiederholung zu einer Evolution als solcher macht. Ein
Wissenschaftler, mehrere Wissenschaftler machen noch keinen Frühling,
auch nicht die Wiederkehr der Jahreszeiten. Niemals würde das Selbe aus
sich heraustreten, um sich auf mehrere ,,Gleiche“ in zyklischen Wechselfol-
gen zu verteilen, wenn es nicht die Differenz gäbe, die sich in diesen
Zyklen verschiebt und in diesem Selben verkleidet, die Wiederholung impe-
rativ macht, aber den Augen des externen Beobachters nur das Nackte dar-
bietet, eines Beobachters, der nun glaubt, die Varianten seien nicht das
Wesentliche und modifizieren kaum,-was sie doch von innen heraus konsti-
tuieren.
Dies gilt noch mehr für die Freiheits- und Nominalbegriffe. Die Worte
und Handlungen der Menschen erzeugen materielle oder nackte Wieder-
holungen, allerdings als Effekt von tieferliegenden Wiederholungen,
Wiederholungen ganz anderer Natur (,,Effekt“ im dreifachen Sinne von
Kausalität, Optik und Bekleidung verstanden). Die Wiederholung ist Pa-
thos, die Philosophie der Wiederholung Pathologie. Es gibt aber so viele
Pathologien, so viele Wiederholungen, die einander überschneiden. Wenn
ein Zwangsneurotiker ein Zeremoniell einmal, zweimal wiederholt; wenn
er eine Aufzählung wiederholt, 1, 2, 3 - so betreibt er eine extensive
Wiederholung von Elementen, die aber eine andere, vertikale und intensive
SCHLUSS 361

Wiederholung bannt und übersetzt, die Wiederholung einer Vergangenheit,


die sich mit jedem Mal oder bei jeder Zahl verschiebt und sich in der
Gesamtheit der Zahlen und Male verkleidet. Dies ist das Äquivalent zu
einem kosmologischen Beweis in pathologischer Hinsicht: Die horizontale
Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen in der Welt verlangt eine erste
totalisierende, außerweltliche Ursache als vertikale Ursache der Wirkungen
und Ursachen. Man wiederholt zweimal gleichzeitig, aber nicht mit dersel-
ben Wiederholung: einmal mechanisch und materiell in der Breite, das
andere Mal symbolisch, mit Trugbildern in der Tiefe; einmal wiederholt
man Teile, ein anderes Mal das Ganze, von dem die Teile abhängen. Diese
beiden Wiederholungen ergeben sich nicht in derselben Dimension, sie
koexistieren; die eine ist die Wiederholung von Augenblicken, die andere
die der Vergangenheit; die eine ist elementar, die andere totalisierend; und
die tiefste, die ,,produktive“ ist offenbar nicht die sichtbarste oder die mit
dem größten ,,Effekt“. Die beiden Wiederholungen allgemein treten in so viele
verschiedene Bezüge, daß eine streng systematische klinische Untersuchung
erforderlich wäre - die, wie wir meinen, noch nicht geleistet wurde -,
um die Fälle zu unterscheiden, die ihren möglichen Kombinationen ent-
sprechen. Betrachten wir gestische oder sprachliche Wiederholungen, Itera-
tionen und Stereotypien vom Typ Demenz oder Schizophrenie. Sie scheinen
keinen Willen mehr aufzuweisen, der fähig wäre, im Rahmen des Zeremo-
niells ein Objekt zu besetzen; sie fungieren eher als Reflexe, die ein allge-
meines Scheitern der Besetzung kennzeichnen (daher die Unfähigkeit des
Kranken, in den Tests, denen man ihn unterzieht, willentlich zu wiederho-
len). Die ,,unwillkürliche“ Wiederholung jedenfalls hängt nicht von aphati-
schen oder amnetischen Störungen ab, wie es eine negative Erklärung nahe-
legen würde, sondern von subkortikalen Verletzungen oder Störungen der
,,Thymie”. Ist dies eine weitere negative Erklärungsweise der Wiederholung,
als ob der Kranke durch Degeneration
- in nicht-integrierte
- primitive
- Schalt-
kreise zurückfallen würde? In Wirklichkeit muß man in den Iterationen
und sogar in den Stereotypien die stete Präsenz von Kontraktionen erken-
nen, die sich zumindest in parasitären Vokalen oder Konsonanten manife-
stieren. Nun besitzt die Kontraktion auch weiterhin zwei Aspekte, den
einen, durch den sie sich auf ein physisches Wiederholungelement bezieht,
das sie modifiziert, den anderen, mit dem sie eine psychische Totalität
betrifft, die in verschiedenen Graden wiederholbar ist. In diesem Sinne läßt
sich in jeder Stereotypie eine anhaltende Intentionalität erkennen, selbst
noch in einem hebephrenen Knirschen mit den Kiefern, eine Intentionalität,
die aus Mangel an Objekten darin liegt, mit dem ganzen psychischen Leben
ein Bruchstück, eine Geste, ein Wort zu besetzen, das selbst zum Element
für eine andere Wiederholung wird: so jener Kranke, der sich immer
schneller auf einem Fuß dreht, das andere Bein ausgestreckt, um eine
womöglich in seinem Rücken auftauchende Person zuruckzustoßen, wobei
er auf diese Weise seinen Abscheu vor Frauen und seine Furcht mimt,
362 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

sie könnten ihn überraschen’“. Im eigentlichen Sinne pathologisch ist, daß


einerseits die Kontraktion keine Resonanz mehr zwischen zwei oder mehreren
Ebenen garantiert, die gleichzeitig auf differenzierte Weise ,,spielbar“ wären,
sondern sie allesamt aufreibt und im stereotypen Bruchstück komprimiert.
Und andererseits entlockt die Kontraktion dem Element keine Differenz oder
Modifikation mehr, die dessen Wiederholung innerhalb eines Raums und einer
Zeit ermöglichte, die durch den Willen gestaltet sind; im Gegenteil, sie macht
die Modifikation selbst zum Wiederholungselement, sie nimmt sich zum
Objekt in einer Beschleunigung, die gerade eine nackte Elementwiederholung
vereitelt. In den Iterationen und Stereotypien wird man also nicht eine Unab-
hängigkeit der rein mechanischen Wiederholung sehen, sondern eher eine
spezifische Störung des Bezugs zwischen den beiden Wiederholungen und des
Prozesses, durch den die eine die Ursache der anderen ist und bleibt.
Die Wiederholung ist die Macht der Sprache; und weit davon entfernt, sich
auf negative Weise, durch einen Mangel der Nominalbegriffe, zu explizieren,
impliziert sie eine Idee der stets exzessiven Dichtung. Die koexistenten Ebe-
nen einer psychischen Totalität können den Singularitäten zufolge, durch die

l4 Alle möglichen Beispiele dieser Art -kann man bei Xavier Abely: Les st&-eotypies
(Paris 1916) finden. Eine der besten klinischen Untersuchungen von Stereotypie und
Iteration bleiben weiterhin die Studien von Paul Guiraud: Psychiatrie clinique, Paris
1956, S. 106ff.; und: Analyse du symptbne Stereotypie, in: L’Encephale, November
1936. Paul Guiraud unterscheidet deutlich zwischen Perseveration und Wiederho-
lung (schnell aufeinanderfolgende Iterationen oder Stereotypien mit Intervallen).
Wenn sich nämlich die Perseverationsphänomene negativ durch einen Defekt oder
eine Leere in mentaler Hinsicht erklären lassen, so haben die Wiederholungsphäno-
mene die doppelte Eigenschaft, daß sie Verdichtungen und Kontraktionen aufwei-
sen, und dai3 sie ein primäres und positives Erklärungsprinzip verlangen. In dieser
Hinsicht wird man bemerken, daf3 der Jacksonismus, wenn er die Wiederholung auf
die Kategorie ,,positiver“ Symptome bezieht, trotzdem das Prinzip einer gänzlich
negativen Erklärung aufrechterhält; denn die von ihm geltend gemachte Positivität
ist die einer mechanischen und nackten Wiederholung, die eine der Annahme nach
niedrigere oder archaische Gleichgewichtsstufe ausdrückt. In Wirklichkeit drückt
die mechanische Wiederholung, die den manifesten Aspekt einer Iteration oder
Stereotypie ausmacht, nicht eine Stufe des Ganzen aus, sondern betrifft im Wesentli-
chen Bruchstücke, ,,Bausteine“, wie Monakow und Mourgue sagten. Daher die
Bedeutung der bruchstückhaften Kontraktionen und Verdichtungen. In diesem
Sinne aber ist die wirkliche Positivität diejenige, die das Bruchstück mit der Totalität
des psychischen Lebens besetzt, d.h. die mechanische Wiederholung mit einer
Wiederholung ganz anderer Natur besetzt, die der Sphäre des stets verschiebbaren
und verkleideten ,,Triebs” zugehört (Thymie). Man konnte sagen, dai3 in der Ste-
reotypie einzig der Signifikant archaisch ist, nicht aber das Signifikat: ,,Unter der
Fragmentierung des Symptoms liegt stets ein kontinuierliches Signifikat, das mehr
oder weniger Sinn enthält“ (A. Beley und J.-J. LefranCois: Apercu s&v&ologique
drdmatique de quelques st&-kotypies motrices c-bez l’enfant, in: Annales medico-
psychologiques, April 1 9 6 2 ) .
SCHLUSS 363

sie charakterisiert werden, als solche betrachtet werden, die sich in differen-
zierten Reihen aktualisieren. Diese Reihen können unter Einwirkung eines
,,dunklen Vorboten“ in Resonanz geraten, durch ein Bruchstück, das diese
Totalität vertritt, in der alle Ebenen koexistieren: Jede Reihe wird also inder
anderen wiederholt, während sich zugleich der Vorbote von einer Ebene zur
anderen verschiebt und sich in allen Reihen verkleidet. Daher gehört er selbst
keiner Ebene, keinem Grad an. Im Fall der Verbalreihen nennen wir ,,Wort
höheren Grads“ dasjenige, für das der Sinn des vorangehenden zum Bezeich-
neten wird. Aber der spachliche Vorbote, das esoterische oder dichterische
Wort schlechthin (Objekt = x) transzendiert alle Grade in dem Maße, wie es
sich selbst und seinen Sinn aussagen will und als stets verschobener und
verkleideter Unsinn erscheint (das sinnlose Geheimwort, Snark oder Blittu-
ri...). Alle Verb a 1rei h enbld
i end ah er im Verhältnis zu ihm jeweils ,,Synony-
me“, und es selbst übernimt die Rolle eines ,,Homonyms” im Verhältnis zu
allen Reihen. In Abhängigkeit von ihrer positivsten und ideellsten Macht
organisiert also die Sprache ihr ganzes System als bekleidete Wiederholung. Es
versteht sich nun von selbst, daß die wirklichen Gedichte dieser Idee von
Dichtung nicht entprechen müssen. Damit das wirkliche Gedicht entstehen
kann, genügt es, daß wir den dunklen Vorboten ,,identifizieren“, daß wir ihm
eine zumindest nominale Identität verleihen, kurz, daß wir der Resonanz
einen Körper verschaffen; dann organisieren sich die differenzierten Reihen
wie in einem Lied in Strophen oder Versen, während sich der Vorbote in einer
Antiphone oder einem Refrain verkörpert. Die Strophen kreisen um den
Refrain. Und was vereint die Nominalbegriffe und die Freiheitsbegriffe besser
als ein Lied? Unter diesen Bedingungen entsteht eine nackte Wiederholung: in
der Wiederkehr des Refrains als Vertreter des Objekts = x, und zugleich in
manchen Aspekten der differenzierten Strophen (Versmaß, Reim oder gar ein
Vers, der sich selbst auf den Refrain reimt), die ihrerseits die wechselseitige
Durchdringung der Reihen repräsentieren. Es passiert sogar, daß nahezu
nackte Wiederholungen den Platz der Synonymie und der Homonymie ein-
nehmen, wie bei Peguy und bei Raymond Roussel. Und daß der Genius der
Dichtung selbst in diesen rohen Wiederholungen aufgeht. Aber dieser Genius
kommt zunächst der Idee und der Art und Weise zu, wie sie die rohen
Wiederholungen von einer verborgeneren Wiederholung aus erzeugt.
Dennoch ist die Unterscheidung zwischen den beiden Wiederholungen noch
unzulänglich. Denn die zweite Wiederholung hat an allen Ambiguitäten des
Gedächtnisses und des Grunds teil. Sie umfaßt die Differenz, aber sie umfaßt
sie bloß zwischen den Ebenen oder Graden. Sie erscheint zunächst, wie wir
gesehen haben, in Form der Kreise der an sich koexistenten Vergangenheit;
sodann in Form eines Kreises der Koexistenz von Vergangenheit und Gegen-
wart; und schließlich in Form eines Kreises aller Gegenwarten, die vorüberge-
hen und im Verhältnis zum Objekt = x koexistieren. Kurz, die Metaphysik
bringt die Physis, die Physik in Kreisform. Wie läßt sich aber vermeiden, daß
diese tiefe Wiederholung von den nackten Wiederholungen, die sie hervorruft,
364 DIFFERENZUNDWIEDERHOLUNG

überdeckt wird und selbst der Illusion eines Primats der rohen Wiederholung
verfällt? Gleichzeitig damit, daß der Grund in die Repräsentation dessen, was
er begründet, zurückfällt, beginnen die Kreise sich in der Gangart des Selben
zu drehen. Darum schienen uns die Kreise stets in einer dritten Synthese
aufgelöst, in der der Grund in einem Ungrund verschwand, die Ideen sich von
den Formen des Gedächtnisses befreiten, die Verschiebung und Verkleidung
der Wiederholung sich mit der Divergenz und der Dezentrierung als Mächten
der Differenz vereinten. Jenseits der Zyklen die zunächst gerade Linie der
leeren Form der Zeit; jenseits des Gedächtnisses der Todestrieb; jenseits der
Resonanz die erzwungene Bewegung. Jenseits der nackten und der bekleideten
Wiederholung, jenseits der Wiederholung, der man die Differenz entlockt,
und derjenigen, die sie umfaßt, eine Wiederholung, die den Unterschied
,,macht“. Jenseits der begründeten und der begründenden Wiederholung eine
Wiederholung im Zu-Grunde-Gehen, von der jeweils gleichermaßen dasjenige
abhängt, was in der Wiederholung fesselt und befreit, stirbt und lebt. Jenseits
der physischen und der psychischen oder metaphysischen Wiederholung eine
ontologiscbe Wiederholung? Diese hätte nicht die Funktion, die beiden anderen
aufzuheben; sondern die Funktion, einerseits die Differenz an sie zu verteilen
(als entlockte oder umfaßte Differenz), andererseits selbst die Illusion zu
erzeugen, die sie affiziert, indem sie sie jedoch an der Entfaltung des angrenzen-
den Irrtums hindert, dem sie verfallen. Ebenso versammelt die letzte Wiederho-
lung, das letzte Theater in gewisser Weise alles; und zerstört auf andere Weise
alles; und trifft auf noch andere Weise seine Auslese in allem.
Es ist vielleicht der höchste Gegenstand der Kunst, all diese Wiederholungen
mit ihrer wesentlichen und rhythmischen Differenz, ihrer wechselseitigen Ver-
schiebung und Verkleidung, ihrer Divergenz und ihrer Dezentrierung gleich-
zeitig in Bewegung zu setzen, sie ineinander zu verschränken und sie, von der
einen zur anderen, in Illusionen zu hüllen, deren ,,Effekt“ sich von Fall zu Fall
ändert. Die Kunst ahmt nicht nach, ahmt aber vor allem deswegen nicht nach,
weil sie wiederholt und aufgrund einer inneren Macht alle Wiederholungen
wiederholt (die Nachahmung ist ein Abbild, die Kunst aber Trugbild, sie
verkehrt die Abbilder in Trugbilder). Noch die mechanischste, alltäglichste,
gewöhnlichste und völlig stereotype- Wiederholung findet ihren Platz im
Kunstwerk und wird dabei stets im Verhältnis zu anderen Wiederholungen
verschoben, und zwar unter der Bedingung, daß man ihr eine Differenz für
diese anderen Wiederholungen abzulocken vermag. Denn das einzige ästheti-
sche Problem besteht darin, die Kunst ins tägliche Leben eindringen zu lassen.
Je mehr unser tägliches Leben standardisiert, stereotyp und einer immer
schnelleren Reproduktion von Konsumgegenständen unterworfen erscheint,
desto mehr muß die Kunst ihm sich verpflichten und jene kleine Differenz
entreißen, die überdies und zur gleichen Zeit zwischen anderen Ebenen der
Wiederholung wirksam ist, sie muß noch die beiden Extreme der gewöhnli-
chen Konsumreihen in den Triebreihen der Zerstörung und des Todes wider-
hallen lassen und damit das Bildnis der Dummheit um das der Grausamkeit
SCHLUSS 365

ergänzen; sie muß im Konsum ein hebephrenes Klappern der Kiefer und in
den abscheulichsten Zerstörungen des Krieges noch Prozesse der Konsumtion
entdecken, sie muß die Illusionen und Mystifikationen, die das wahre Wesen
dieser Zivilisation ausmachen, ästhetisch reproduzieren, damit die Differenz
schließlich zum Ausdruck gelangt, mit einer im Zorn selbst repetitiven Kraft,
die die fremdartigste Selektion herbeizuführen vermag, und wäre es nur eine
Kontraktion hier und da, d. h. eine Freiheit zum Ende einer Welt. Jede Kunst
hat ihre eigenen Techniken von verzahnten Wiederholungen, deren kritische
und revolutionäre Gewalt den höchsten Punkt erreichen kann, um uns von
den öden Wiederholungen der Gewohnheit zu den tiefen Wiederholungen des
Gedächtnisses und dann zu den letzten Wiederholungen des Todes zu führen,
in denen unsere Freiheit auf dem Spiel steht. Wir wollen hier nur drei Bei-
spiele nennen, so verschiedenartig, so disparat sie auch sein mögen: die Art
und Weise, wie in der modernen Musik alle Wiederholungen koexistieren (so
bereits die Vertiefung des Leitmotivs in Bergs Wozzek); wie die Malerei der
Pop-art das Abbild, das Abbild des Abbilds usw. voranzutreiben vermochte,
bis hin zu jenem äußersten Punkt, an dem es sich verkehrt und zum Trugbild
wird (so Warhols wunderbare ,,serigenetische“ Reihen, in denen alle Wieder-
holungen, die Wiederholungen der-Gewohnheit, des Gedächtnisses und des
Todes-vereint sind); und wie sich den rohen und mechanischen Wiederho-
lungen der Gewohnheit im Roman kleine Modifikationen entreißen lassen, die
ihrerseits Wiederholungen des Gedächtnisses erregen, zugunsten einer aller-
letzten Wiederholung, in der Leben und Tod auf dem Spiel stehen - auf die
Gefahr hin, durch die Einführung einer neuen Selektion auf das Ganze
zurückzuwirken, wobei alle diese Wiederholungen koexistieren und doch ge-
geneinander verschoben sind (Lu modificatio~15 von Butor; oder L’unnee
der-n&-e d Marienbud16 (als Beleg für die besonderen Wiederholungstechni-
ken, die das Kino zur Verfügung hat oder erfindet).

All die Wiederholungen - ist es nicht dies, was sich in der reinen Form der
Zeit anordnet? Diese reine Form, die gerade Linie, definiert sich nämlich
durch eine Ordnung, die ein Vorher, ein Während und Nachher verteilt, durch
eine Gesamtheit, die sie alle drei in der Simultaneität ihrer Synthese a priori
versammelt, und durch eine Reihe, die jedes davon mit einem Wiederho-
lungstyp verbindet. Aus dieser Perspektive müssen wir die reine Form und die
empirischen Inhalte wesentlich unterscheiden. Denn die empirischen Inhalte
sind beweglich und folgen aufeinander; die Bestimmungen d priori der Zeit
dagegen sind unbeweglich, stillgestellt wie auf einem Photo oder einer erstarr-

l5 Dt * Paris-Rom oder Die Modifikation, München 19% [A.d.Ü.].


l6 Dt’: Letztes Jahr in Marienbad, Film von A. Resnais, nach dem Drehbuch von A.
Robbe-Grillet, Frankreich 1961 [A.d.Ü.].
366 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ten Aufnahme, koexistieren in der statischen Synthese, die an ihnen die Unter-
scheidung im Verhältnis zum Bild einer gewaltigen Tat vollzieht. In empiri-
scher Hinsicht kann diese Tat jede beliebige sein, zumindest kann sie ihren
Anlaß in beliebigen empirischen Umständen finden (Tat = x); es genügt, daß
sie durch diese Umstände ,,isoliert“ werden kann und daß sie sich hinlänglich
in den Augenblick eingräbt, damit sich ihr Bild über die gesamte Zeit hin
erstreckt und gleichsam zum Symbol a priori der Form wird. Hinsichtlich der
empirischen Inhalte unterscheiden wir überdies das Erste, das Zweite, das
Dritte . . . in ihrer indefiniten Abfolge: Es kann sein, daß sich nichts wieder-
holt und daß die Wiederholung unmöglich ist; es kann auch sein, daß sich die
Abfolge als Zyklus definieren läßt und die Wiederholung entsteht, dann aber l

entweder in einer intrazyklischen Form, in der 1 durch 2, 2 durch 3 wieder-


holt wird; oder in einer interzyklischen Form, in der 1 durch 12,2 durch ;P2,3
durch 32 wiederholt wird. (Selbst wenn man eine indefinite Abfolge von
Zyklen entwirft, wird der erste Takt als das Selbe oder Undifferenzierte
definiert sein, am Ursprung der Zyklen oder zwischen zwei Zyklen.) Die
Wiederholung bleibt jedenfalls äußerlich gegenüber einem Wiederholten, das
als Erstes gesetzt werden muß; die Grenzlinie zieht sich zwischen einem
ersten Mal und der Wiederholung selbst. Die Frage, ob sich das erste Mal der
Wiederholung entzieht (man sagt dann, es gelte ,,ein für allemal“), oder ob es
sich, im Gegenteil, in einem Zyklus oder von einem Zyklus zum anderen
wiederholen läßt - dies hängt einzig von der Reflexion eines Beobachters ab.
Wird das erste Mal als das Selbe gesetzt, so fragt man, ob das zweite Mal
genügend Ähnlichkeit mit dem ersten aufweist, um mit dem Selben gleichge-
setzt werden zu können: eine Frage, die nur durch die Errichtung von Analo-
giebeziehungen im Urteil unter Berücksichtigung der variablen empirischen
Umstände entschieden werden kann (ist Luther das Analogon zu Paulus, die
französische Revolution das Analogon zur römischen Republik?). Aus der
Perspektive der reinen Form oder der geraden Linie der Zeit aber liegt die
Sache ganz anders. Denn nun ist jede Bestimmung (das Erste, das Zweite und
das Dritte; das Vorher, das Während und das Nachher) bereits Wiederholung
an sich selbst, und zwar in der reinen Form der Zeit und im Verhältnis zum
Bild der Tat. Das Vorher, das erste Mal ist nicht weniger Wiederholung als das
zweite oder dritte Mal. Insofern jedes Mal an sich selbst Wiederholung ist, läßt
sich das Problem nicht mehr über Analogien der Reflexion im Verhältnis ZU
einem angenommenen Beobachter entscheiden, sondern muß als das Problem
der inneren Bedingungen der Tat im Verhältnis zum gewaltigen Bild gelebt
werden. Die Wiederholung bezieht sich nicht mehr (hypothetisch) auf ein
erstes Mal, das sich ihr entziehen kann und ihr in jeder Hinsicht äußerlich
bleibt; die Wiederholung bezieht sich zwingend auf Wiederholungen, auf
Modi oder Typen von Wiederholung. Die Grenzlinie, die ,,Differenz“ hat sich
also auf einzigartige Weise verschoben: Sie liegt nicht mehr zwischen dem
ersten Mal und den anderen Malen, zwischen dem Wiederholten und der
Wiederholung, sondern zwischen diesen Wiederholungstypen. Was sich
SCHLUSS 367

wiederholt, ist die Wiederholung selbst. Mehr noch, ,,ein für allemal“ qualifi-
ziert nicht mehr ein Erstes, das sich der Wiederholung entziehen wurde,
sondern im Gegenteil einen Wiederholungstyp, der einem anderen Typ gegen-
übertritt, der eine unendliche Anzahl von Malen abwickelt (auf diese Weise
stehen einander die christliche und die atheistische Wiederholung, die Wieder-
holungen bei Kierkegaard und Nietzsche gegenüber, denn bei Kierkegaard ist
es die Wiederholung selbst, die ein für allemal wirksam wird, während sie bei
Nietzsche für alle Male wirkt; und es besteht hier nicht ein numerischer,
sondern ein grundlegender Unterschied zwischen diesen beiden Wiederho-
lungstypen).
Wie läßt sich erklären, daß die Wiederholung, wenn sie sich auf die Wiederho-
lungen bezieht, wenn sie sie alle zusammenfaßt und die Differenz zwischen sie
einführt, bei dieser Gelegenheit eine furchterregende Selektionsmacht erlangt?
Alles hängt von der Verteilung der Wiederholungen in der Form, in der
Ordnung, in der Gesamtheit und in der Reihe der Zeit ab. Diese Verteilung ist
äußerst komplex. Auf einer ersten Ebene definiert sich die Wiederholung des
Vorher auf negative und defiziente Weise: Man wiederholt, weil man nicht
weiß, weil man sich nicht erinnert usw., weil man zur Tat nicht fähig ist (sei
diese Tat nun empirisch bereits vollzogen oder noch ausstehend). Das ,,man“
meint hier also das Unbewußte des Es als erster Potenz der Wiederholung.
Die Wiederholung des Während definiert sich durch ein Ähnlich- oder
Gleichwerden: Man wird zur Tat fähig, man gleicht sich dem Bild der Tat an,
wobei das ,,man“ nun das Unbewußte des Ichs meint, seine Metamorphose,
seine Projektion in ein Ego oder Idealich als zweiter Potenz der Wiederho-
lung. Da aber Ähnlich- oder Gleichwerden stets Ähnlich- oder Gleichwerden
mit etwas meint, das man als an sich identisch annimmt, von dem man
annimmt, es genieße das Privileg ursprünglicher Identität, wird deutlich, daß
das Bild der Tat, dem man sich anähnelt oder angleicht, auch hier nur die
Identität des Begriffs überhaupt oder des Ego vertritt. Die beiden ersten
Wiederholungen versammeln und teilen untereinander auf dieser Ebene also
die Merkmale des Negativen und des Identischen, wie wir sie die Grenzen der
Repräsentation bilden sahen. Auf. einer anderen Ebene wiederholt der Held
die erste Wiederholung, die Wiederholung des Vorher, wie in einem Traum
und in einem gewissen nackten, mechanischen, stereotypen Modus, der das
Komische ausmacht; und dennoch wäre diese Wiederholung nichtig, wenn sie
nicht bereits als solche auf etwas Verborgenes, Verkleidetes in ihrer eigenen
Reihe verwiese und dort Kontraktionen einführen könnte, als einen unschlüs-
sigen Habitus, in dem die andere Wiederholung heranreift. Diese zweite
Wiederholung des Während ist diejenige, in der sich der Held der Verkleidung
selbst bemächtigt, in die Metamorphose schlüpft, die ihm in einem tragischen
Modus und zusammen mit seiner eigenen Identität den tiefsten Grund seines
Gedächtnisses und all des Gedächtnisses der Welt zurückgibt, ein Gedächtnis,
das er, nun zum Handeln bereit, der Zeit insgesamt gleichsetzen will. Hier
also, auf dieser zweiten Ebene, werden nun durch die beiden Wiederholungen
368 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

die zwei Synthesen der Zeit, die zwei Formen, die nackte und die bekleidete,
die sie kennzeichnen, auf deren eigene Weise aufgegriffen und verteilt.
Sicherlich könnte man sich vorstellen, daß die beiden Wiederholungen in
einen Zyklus einmünden, in dem sie zwei analoge Teile bilden; und ebenso,
daß sie am Ende des Zyklus von neuem beginnen und einen neuen Umlauf
einleiten, der selber zum ersten analog ist; und schließlich, daß diese bei-
den Hypothesen, die intrazyklische und die interzyklische, einander nicht
ausschließen, sondern einander verstärken und die Wiederholungen auf ver-
schiedenen Ebenen wiederholen. Bei alledem aber hängt alles von der Natur
der dritten Zeit ab: Die Analogie verlangt, daß eine dritte Zeit gegeben sei, wie
der Kreis des Phaidon verlangt, daß seine beiden Bögen um einen dritten
ergänzt werden, an dem alle Entscheidung über ihre eigene Wiederkehr fällt.
So hat man etwa das Alte Testament als Wiederholung durch Mangel und das
Neue Testament als Wiederholung durch Metamorphose unterschieden (Joa-
chim von Floris); oder man hat auf andere Weise das Zeitalter der Götter,
durch Mangel, im Unbewußten der Menschen vom heroischen Zeitalter unter-
schieden, das sich durch Metamorphose im Ich der Menschen vollzieht (Vico).
Die zweifache Frage: 1. Wiederholen einander die beiden Zeiten in einem
analogen Taktmaß, und zwar im Innern desselben Zyklus? 2. Werden diese
beiden Zeiten selbst in einem neuen analogen Zyklus wiederholt? - die Ant-
wort auf diese zweifache Frage hängt ganz besonders und ausschließlich von
der Natur der dritten Zeit ab (dem kommenden Testament bei Joachim, dem
Zeitalter der Menschen bei Vico, dem Namenlosen bei Ballanche). Wenn
nämlich die dritte Zeit, die Zukunft, der eigentliche Ort der Entscheidung ist,
so kann es sehr gut geschehen, daß sie aufgrund ihrer Natur die zweifache -
intrazyklische und interzyklische - Hypothese aussondert, daß sie alle beide
auflöst, daß sie die Zeit geradlinig anlegt, daß sie sie geradebiegt und deren
reine Form freisetzt, das heißt: daß sie sie aus ihren ,,Angeln“ hebt und als
ihrerseits dritte Wiederholung die Wiederholung der beiden anderen unmög-
lich macht. Die dritte Wiederholung garantiert keineswegs den Zyklus und die
Analogie, hebt sie vielmehr auf. Damit wird die Differenz zwischen den
Wiederholungen gemäß der neuen Grenzziehung - zu folgender: Das Vorher
und das Während sind und bleiben Wiederholungen, aber sie wirken nur ein
für allemal. Die dritte Wiederholung ist es, die sie gemäß der geraden Linie der
Zeit verteilt, aber auch aussondert und dazu bestimmt, nur ein für allemal ZU
wirken, wobei sie das ,,allemal” allein für die dritte Zeit bewahrt. In dieser
Hinsicht hatte Joachim von Floris das Wesentliche gesehen: Es gibt zwei
Bedeutungen für ein einziges Signifikat. Das Wesentliche ist das dritte Testa-
ment. Es gibt zwei Wiederholungen für ein einziges Wiederholtes, aber nur
das Signifikat, das Wiederholte wiederholt sich an sich selbst und schafft dabei
seine Bedeutungen wie seine Bedingungen ab. Die Grenzlinie verläuft nicht
mehr zwischen einem ersten Mal und der Wiederholung, die sie hypothetisch
ermöglicht, sondern zwischen den bedingenden Wiederholungen und der drit-
ten Wiederholung, der Wiederholung in der ewigen Wiederkunft, die die
SCHLUSS 369

Wiederkehr der beiden anderen unmöglich macht. Einzig das dritte Testament
kreist in sich selbst. Es gibt ewige Wiederkunft nur in der dritten Zeit: Hier
wird die erstarrte Aufnahme von Neuem zum Leben erweckt, hier bildet sich
die gerade Linie der Zeit - gleichsam im Sog ihrer eigenen Länge - zu einer
seltsamen Schleife um, die in keiner Weise mehr dem vorangehenden Zyklus
ähnelt, sondern ins Formlose mündet und nur für die dritte Zeit und für das,
was ihr zugehört, gilt. Wir haben es gesehen: Die Bedingung der Tat - aus
Mangel - kehrt nicht wieder, die Bedingung des Handelnden - in Metamor-
phose - kehrt nicht wieder; es kehrt wieder einzig das Unbedingte im Hervor-
gebrachten als ewige Wiederkehr. Die expulsive und selektive Kraft der ewi-
gen Wiederkunft, ihre zentrifugale Kraft besteht in der Verteilung der Wieder-
holung auf die drei Zeiten des Pseudozyklus, sie besteht aber auch darin, die
beiden ersten Wiederholungen nicht wiederkehren und nur ein für allemal
geschehen zu lassen und zu bewirken, daß einzig die dritte Wiederholung, die
in sich selbst kreist, für alle Male, in Ewigkeit wiederkehrt. Das Negative, das
Ähnliche, das Analoge sind Wiederholungen, aber sie kehren nicht wieder und
werden vom Rad der ewigen Wiederkunft für immer fortgeschleudert.
Daß Nietzsche nicht die Darstellung der ewigen Wiederkunft geleistet hat,
wissen wir aufgrund der simpelsten ,,objektiven Kritik” der Texte und ebenso
aufgrund ihres bescheidensten dichterischen oder dramatischen Verständnis-
ses. Die Beschaffenheit der Texte aus dem Zarathustra macht uns deutlich, daß
es zweimal um die ewige Wiederkunft geht, die aber stets wie eine noch nicht
erlangte und nicht ausdrücklich formulierte Wahrheit verhandelt wird: das
eine Mal in der Rede des Zwergs, des Possenreißers (Dritter Teil, ,,Vom
Gesicht und Rätsel”); ein zweites Mal in der Rede der Tiere (Dritter Teil,
,,Der Genesende“). Das erste Mal reicht hin, um Zarathustra krank zu
machen, versetzt ihn in einen gräßlichen Alptraum und veranlaßt ihn zu einer
Seereise. Das zweite Mal, nach einer neuerlichen Krise, lächelt der genesende
Zarathustra über seine Tiere voller Nachsicht, weiß aber, daß sich sein Schick-
sal erst in einem ungenannten dritten Mal erfüllen wird (welch es durch d a s
Ende angekündigt wird, ,,das Zeichen kommt“). Wir können u n s nicht auf die
Posturnen Aufzeichnungen stützen, außer wir verwenden sie in einer durch
die von Nietzsche publizierten Werke vorgegebenen Richtung, da diese Auf-
Zeichnungen ja gleichsam ein zurückbehaltenes Material darstellen und einer
künftigen Ausarbeitung vorbehalten waren. Wir wissen nur, daß der Zarathu-
stra unvollendet ist und eine Fortsetzung erfahren sollte, die den Tod Zarathu-
stras einschließt: als eine dritte Zeit, ein drittes Mal. Aber schon der dramati-
sche Fortgang des vorliegenden Zarathustra erlaubt es, eine Reihe von Fragen
und Antworten aufzuwerfen.
1. Warum gerät Zarathustra beim ersten Mal in Zorn und wird in einen so
schrecklichen Alptraum gestürzt, als der Zwerg sagt: ,,Alle Wahrheit ist
krumm, die Zeit selber ist ein Kreis“ ? Er wird es später erklären, als er seinen
Alptraum interpretiert: Er hat Angst, die ewige Wiederkunft meine die
Wiederkehr des G anzen, des Selben, des Ähnlichen, den Zwerg, den kleinsten
370 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

aller Menschen inbegriffen (vgl. Dritter Teil, ,,Der Genesende“). Er fürchtet


insbesondere, daß die Wiederholung negativ und defizient sei, daß man nur
durch völlige Taubheit, als Zwerg und Krüppel, auf den Schultern der anderen
hockend, wiederhole. Durch die Unfähigkeit zur Tat (zum Tod Gottes), selbst
wenn die Tat bereits geschehen ist. Und er weiß, daß eine zirkuläre Wiederho-
lung zwangsläufig dieses Typs wäre. Deshalb leugnet Zarathustra bereits, daß
die Zeit ein Kreis sei, und antwortet dem Zwerg: ,,Du Geist der Schwere, [. . .]
mache dir es nicht zu leicht!“ Er will im Gegenteil, daß die Zeit eine gerade
Linie sei, mit zwei entgegengesetzten Richtungen. Und wenn sich ein Kreis,
ein seltsam dezentrierter Kreis bildet, so wird dies erst ,,am Ende“ der geraden
Linie geschehen . . . 2. Warum durchlebt Zarathustra eine neuerliche Krise und l

warum genest er.? Zarathustra ist wie Hamlet, die Meerfahrt hat ihn fähig
gemacht, er hat das Ähnlichwerden, das Gleichwerden der heroischen Meta-
morphose erfahren; und dennoch fühlt er, daß die Stunde noch nicht gekom-
men ist (vgl. Dritter Teil, ,,Von der Seligkeit wider Willen“). Denn er hat den
Schatten des Negativen bereits gebannt: Er weiß, daß die Wiederholung nicht
die des Zwergs ist. Aber das Gleichwerden, das Fähigwerden der Metamor-
phose hat ihn nur einer vorausgesetzten ursprünglichen Identität nahege-
bracht: Er hat noch nicht die scheinbare Positivität des Identischen gebannt.
Es bedarf der neuerlichen Krise und der Genesung. Daraufhin können die
Tiere sagen, daß das Selbe und das Ähnliche wiederkehren, sie können die
ewige Wiederkunft als eine positive natürliche Gewißheit darstellen; Zarathu-
stra hört ihnen nicht mehr zu, stellt sich schlafend, er weiß, daß die ewige
Wiederku nft noch etwas anderes ist und nicht das Selbe oder Ähnliche wieder-
kehren läßt. 3. Warum jedoch sagt Zarathustra noch nichts, warum ist er noch
nicht ,,reif“, warum wird er es erst in einem ungenannten dritten Mal werden?
Die Erkenntnis, daß weder alles noch das Selbe wiederkehrt, wird ebenso von
Angst begleitet wie der Glaube an die Wiederkehr des Selben, obwohl dies
eine andere Angst ist. Die höchste Prüfung liegt darin, die ewige Wiederkunft
als das selektive Denken, die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr als das
selektive Sein zu begreifen. Man muß die aus den Angeln gehobene Zeit
erleben und erfassen, die geradlinig verlaufende Zeit, die erbarmungslos all die
aussondert, die sich darauf einlassen, die auf diese Weise die Bühne betreten,
aber nur ein für allemal wiederholen. Die Selektion geschieht zwischen
Wiederholungen: Diejenigen, die negativ wiederholen, und diejenigen, die
identisch wiederholen, werden ausgesondert. Sie wiederholen bloß einmal. Die
ewige Wiederkunft gilt nur für das dritte Mal: die Zeit des Dramas nach dem
Komischen, nach dem Tragischen (das Drama ist definiert, wenn das Tragi-
sche fröhlich und das Komische zur Komik des Übermenschen wird). Die
ewige Wiederkunft gilt nur für die dritte Wiederholung, in der dritten Wieder-
holung. Der Kreis steht am Ende der Linie. Weder der Zwerg noch der Held,
weder der kranke Zarathustra noch der genesende Zarathustra werden wieder-
kehren. Nicht nur läßt die ewige Wiederkunft nicht alles wiederkehren, sie
weiht auch all die, welche der Prüfung nicht standhalten, dem Untergang.
SCHLUSS 371

(Und Nietzsche kennzeichnet mit Bedacht zwei verschiedene Typen, die die
Prüfung nicht überleben: der kleine passive Mensch oder der letzte der Men-
schen, der heroische, aktive große Mensch, der zum Menschen wurde, der
,,zugrunde gehen [will] “> “. Das Negative kehrt nicht wieder. Das Identische
kehrt nicht wieder. Das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das Entge-
gengesetzte kehren nicht wieder. Einzig die Bejahung kehrt wieder, d.h. das
Differente, das Ungleichartige. Wie groß die Angst, bevor man aus einer
derartigen selektiven Bejahung Freude gewinnt: Nichts davon, wodurch die
ewige Wiederkunft verneint wird, kehrt wieder, nicht der Mangel, nicht das
Gleiche, einzig das Exzessive kehrt wieder. Einzig die dritte Wiederholung
kehrt wieder. Um den Preis der Ähnlichkeit und der Identität Zarathustras
selbst: Zarathustra muß sie verlieren, die Ähnlichkeit des Ichs und die Identi-
tät des Ego müssen untergehen, Zarathustra muß sterben. Der Held Zarathu-
stra hatte sich angeglichen, aber er glich sich dem Ungleichen an, auf die
Gefahr hin, nun die vorgetäusche Identität des Helden zu verlieren. Denn
,,man“ wiederholt in alle Ewigkeit, aber ,,man“ bezeichnet nun die Welt der
unpersönlichen Individualitäten und der präindividuellen Singularitäten. Die
ewige Wiederkunft ist nicht der Effekt des Identischen auf einer ähnlich
gewordenen Welt, sie ist dem Chaos der Welt nicht als äußere Ordnung
übergestülpt, die ewige Wiederkunft ist im Gegenteil die innere Identität von
Welt und Chaos, Chaosmos. Und wie könnte der Leser glauben, daß Nietz-
sche in der ewigen Wiederkunft das Ganze, das Selbe, das Identische, das
Ähnliche und das Gleiche, das Ego und das Ich implizierte - er, als der größte
Kritiker dieser Kategorien ? Wie könnte man glauben, daß er die ewige
Wiederkunft als einen Zyklus begriff, er, der ,,seine“ Hypothese jeder zykli-
schen Hypothese entgegenstellt ‘* . 7 Wie könnte man glauben, daß er auf die
fade und falsche Idee eines Gegensatzes zwischen einer zirkulären und einer
linearen Zeit, einer antiken und einer modernen Zeit verfiel?
Welches ist aber der Inhalt dieser dritten Zeit, dieses Formlosen am Ende der
Form der Zeit, dieses dezentrierten Kreises, der sich am Ende der geraden
Linie verschiebt? Welches ist der durch die ewige Wiederkunft affizierte,
,,modifizerte“ Inhalt? Wir haben zu zeigen versucht, daß es sich um das
Trugbild, ausschließlich um Trugbilder handelte. Die Trugbilder implizieren
wesentlich, bei gleicher Potenz, das Objekt = x im Unbewußten, das Wort = x
in der Sprache, die Tat = x in der Geschichte. Die Trugbilder sind jene
Systeme, in denen sich das Differente durch die Differenz selbst auf das
Differente bezieht. Das Wesentliche liegt darin, daß wir in diesen Systemen
keinerlei vorgängige Identität, keinerlei innere Ähnlichkeit finden. Alles ist
Differenz in den Reihen, und Differenz von Differenz in der Kommunikation
der Reihen. Was sich in den Reihen verschiebt und verkleidet, kann und darf

17 Vgl .Nietzsche: Also spr-ach Zarathustra, a.a.O., ,,Zarathustras Vorrede“ 4 und 5;


und zur Kritik des Helden: Dritter Teil, ,,Von den Erhabenen“.
18 Nietzsche*. Werke > Leipzig 1901 ff., Bd. 12, $, 106.
372 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

nicht identifiziert werden, sondern existiert, agiert als das Differenzierende der
Differenz. Nun entstammt aber die Wiederholung hier notwendig auf zwei
Arten dem Spiel der Differenz. Einerseits, weil sich jede Reihe nur insofern
expliziert und entwickelt, als sie die anderen impliziert; sie wiederholt also die
anderen und wiederholt sich in den anderen, von denen sie ihrerseits impliziert
wird; aber sie wird von den anderen nicht impliziert, ohne dabei als diejenige
impliziert zu werden, die diese anderen impliziert, so daf3 sie an sich selbst
ebenso oft wie in einer anderen wiederkehrt. Das Wiederkehren an sich ist der
Untergrund der nackten Wiederholungen, wie das Wiederkehren im anderen
der Untergrund der bekleideten Wiederholungen ist. Andererseits garantiert
das Spiel, das die Verteilung der Trugbilder steuert, die Wiederholung jeder
numerisch geschiedenen Kombination, da die verschiedenen ,,Spielzüge” nicht
ihrerseits numerisch geschieden, sondern bloß ,,formal“ U nterschieden sind.) so
daß alle Resultate in der Zahl eines jeden enthalten sind und zwar gemäß der
Verhältnisse zwischen Impliziertem und Implizierendem, die wir gerade in
Erinnerung gerufen haben, wobei in Übereinstimmung mit der formalen
Unterscheidung der Spielzüge jeder davon im anderen wiederkehrt, zugleich
aber auch an sich wiederkehrt, in Übereinstimmung mit der Einheit des Spiels
der Differenz. Die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr erscheint unter all
diesen Aspekten als spezifische Macht der Differenz; und die Verschiebung
und die Verkleidung dessen, was sich wiederholt, reproduzieren bloß die
Divergenz und die Dezentrierung des Differenten in einer einzigen Bewegung,
in der Diaphora als Transport. Die ewige Wiederkunft bejaht die Differenz,
sie bejaht die Unähnlichkeit und das Disparse, den Zufall, das Viele und das
Werden. Zarathustra ist der dunkle Vorbote der ewigen Wiederkunft. Was die
ewige Wiederkunft aussondert, sind eben all die Instanzen, die die Differenz
gängeln, die deren Transport durch Unterwerfung unter das vierfache Joch der
Repräsentation anhalten. Erst am Ende ihrer Macht gewinnt sich die Differenz
zurück, befreit sie sich, d. h. durch die Wiederholung in der ewigen Wieder-
kehr. Die ewige Wiederkehr sondert aus, was, indem es den Transport der
Differenz unmöglich macht, die Wiederkunft selbst unmöglich macht. Was sie
aussondert, ist das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das Negative als
Voraussetzungen der Repräsentation. Denn die Re-präsentation und ihre Vor-
aussetzungen kehren wieder, allerdings ein Mal, nur ein einziges Mal, ein für
allemal, ausgesondert für alle Male.
Trotzdem sprechen wir von der Einmaligkeit des Spiels der Differenz. Und wir
sagen wohl ,,dieselbe Reihe“, wenn sie an sich selbst wiederkehrt, und ,,ähn-
liche Reihen“, wenn eine in der anderen wiederkehrt. Winzige Verschiebungen
in der Sprache aber drücken Umwälzungen und Verkehrungen im Begriff
aus. Wir haben gesehen, daß die beiden Formeln: ,,das Ähnliche differiert“ und
,,das Differente ähnelt sich“ zu Welten gehörten, die einander gänzlich fremd
sind. Dassselbe gilt hier: Die ewige Wiederkunft ist zwar das Ähnliche, die
Wiederholung in der ewigen Wiederkunft ist zwar das Identische -
gerade Ähnlichkeit und Identität aber existieren nicht vor der Wiederkunft
SCHLUSS 373

dessen, was wiederkehrt. Sie qualifizieren zunächst nicht das Wiederkehrende,


sondern verschmelzen völlig mit seiner Wiederkunft. Nicht das Selbe kehrt
wieder, nicht das Ähnliche kehrt wieder, vielmehr ist das Selbe die Wiederkehr
des Wiederkehrenden, d. h. des Differenten, ist das Ähnliche die Wiederkehr
des Wiederkehrenden, d. h. des Ungleichartigen. Die Wiederholung in der
ewigen Wiederkunft ist das Selbe, allerdings nur insofern, als es sich einzig
von der Differenz und dem Differenten aussagt. Es geschieht hier eine voll-
ständige Verkehrung der Welt der Repräsentation und des Sinns, den ,,iden-
tisch“ und ,,ähnlich” in dieser Welt besaßen. Diese Verkehrung ist nicht nur
spekulativ, sie ist eminent praktisch, da sie die Bedingungen der Legitimität
des Gebrauchs der Wörter identisch und ähnlich festlegt, indem sie sie aus-
schließlich an die Trugbilder bindet, und da sie die gewöhnliche Verwendung,
die sie in der Repräsentation erfahren, als illegitim denunziert. Darum scheint
uns die Philosophie der Differenz schlecht eingerichtet, solange man sich mit
einer terminologischen Gegenüberstellung begnügt, die der Flachheit des
Identischen als des sich selbst Gleichen die Tiefe des Selben entgegensetzt, in
dem man das Differente versammelt siehti’. Denn das Selbe, das die Differenz
umfaßt, und das Identische, dem sie äußerlich bleibt, lassen einander auf viele
Weisen gegenüberstellen, sie bleiben doch stets Prinzipien der Repräsentation;
sie bringen bestenfalls den Streit zwischen unendlicher und endlicher Reprä-
sentation in Gang. Die wahre Unterscheidung besteht nicht zwischen dem
Identischen und dem Selben, sondern zwischen dem Identischen, dem Selben
oder dem Ähnlichen - ganz gleich, sobald sie nur in verschiedener Hinsicht als
ursprünglich gesetzt werden -, und dem Identischen, dem Selben oder Ähnli-
chen, wenn sie als zweite Macht dargestellt werden, deshalb um so mächtiger
sind, damit um die Differenz kreisen und sich von der Differenz an sich selbst
aussagen. Dann verändert sich tatsächlich alles. Das für immer dezentrierte
Selbe kreist nur dann wirklich um die Differenz, wenn es selbst, das für das
ganze Sein einsteht, nur für die Trugbilder gilt, die wiederum für das ganze
,,Seiende“ einstehen.
Die Geschichte der Repräsentation, die Geschichte der Ebenbilder ist die
Geschichte des langewährenden Irrtums. Denn das Selbe, das Identische
besitzt einen ontologichen Sinn: die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft
dessen, was differiert (die Wiederholung jeder implizierenden Reihe). Das
Ähnliche besitzt einen ontologischen Sinn: die ewige Wiederkunft dessen, was
verunähnlicht2* (die Wiederholung der implizierten Reihen). Hier aber ruft
die ewige Wiederkehr mit ihrem Kreisen nun selbst eine gewisse Illusion
hervor, in der sie sich bespiegelt und an der sie sich freut, deren sie sich
bedient, um ihre Bejahung des Differierenden zu verdoppeln: Sie erzeugt nun

l9 Vgl . Heidegger: Dichterisch wohnet der Mensch . . ., in: Vortäge und Aufsätze 2,
Pfullingen 1954, S. 67.
2o Frz . dbpareiller: eigentlich ,,(Zusammengehöriges) trennen, u n v o l l s t ä n d i g m a c h e n “ .
Stammverwandt mit pareil: ,,gleich”, ,,entsprechend“, ,,ähnlich“ [A.d.Ü.].
374 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

ein Bild von Identität, als ob dies der Zweck des Differenten wäre. Sie erzeugt
ein Bild von Ähnlichkeit als äußeren Effekt des ,,Disparsen“. Sie erzeugt ein
Bild des Negativen als Konsequenz dessen, was sie bejaht, als Konsequenz
ihrer eigenen Bejahung. Mit dieser Identität, dieser Ähnlichkeit und diesem
Negativen umgibt sie sich selbst und umgibt sie das Trugbild [simulacre]. Aber
gerade diese Identität, diese Ähnlichkeit und dieses Negative sind jeweils
simuliert. Sie spielt damit wie mit einem stets verfehlten Zweck, stets verzerr-
ten Effekt, einer stets abgelenkten Konsequenz: Produkte, die sich aus der
Funktionsweise des Trugbilds ergeben. Sie bedient sich ihrer stets, um die
Identität zu dezentrieren, die Ähnlichkeit zu entstellen, die Konsequenz auf
Abwege zu führen. Denn tatsächlich gibt es Konsequenzen nu r als ab wegige,
Ähnlichkeiten nur als entstellte, Identität nur als dezentrierte, Zweck nur als
verfehlten. In der Freude über das von ihr Hervorgebrachte denunziert die
ewige Wiederkunft jede andere Verwendung von Zwecken, Identitäten, Ähn-
lichkeiten und Negationen. Sogar und gerade der Negation bedient sie sich auf
radikalste Weise, bedient sich ihrer im Dienste des Trugbilds, um all das zu
verneinen, wodurch die differente und mannigfaltige Bejahung verneint wird,
um darin ihre eigene Bejahung zu spiegeln, um darin das von ihr Bejahte zu
verdoppeln. Die Funktionsweise des Trugbilds bestimmt sich wesentlich da-
durch, daß sie das Identische, das Ähnliche und das Negative simuliert.
Der simulierte Sinn verknüpft sich notwendig mit dem o n tologischen Sinn.
Der simulierte Sinn i st Derivat [se dbrive] des ontologisch
- en, d. h. driftet dahin
[reste 2 /LZ db-ive], ohne Autonomie und Spontaneität, bloßer Effekt der
ontologischen Ursache, die wie der Sturmwind mit ihm spielt. Wie aber sollte
die Repräsentation nicht davon profitieren ? Wie sollte die Repräsentation
nicht einst daraus entstehen, in einem Wellental, im Schutz der Illusion? Wie
sollte sie nicht aus der Illusion einen ,,Irrtum“ machen? Flugs wird die Identi-
tät des Trugbilds, die simulierte Identität auf die innere Differenz projiziert
oder zurückgeworfen. Die simulierte äußere Ähnlichkeit wird im System
interiorisiert. Das Negative wird zum Prinzip und Handelnden. Jedes Produkt
der Funktionsweise gewinnt Autonomie. Es wird dann angenommen, daß die
Differenz nur in einem vorgängigen Selben gilt, ist und denkbar ist, in einem
Selben, durch das sie als begriffliche Differenz erfaßt und über den Gegensatz
der Prädikate bestimmt wird. Es wird angenommen, daß die Wiederholung
nur unter einem Identischen gilt, ist und denkbar ist, das sie seinerseits als
begrifflose Differenz setzt und auf negative Weise expliziert. Anstatt die
nackte Wiederholung als Produkt der bekleideten und diese als Macht der
Differenz zu begreifen, macht man aus der Differenz ein Nebenprodukt des
Selben im Begriff, aus der bekleideten Wiederholung ein Derivat der nackten
und aus der nackten ein Nebenprodukt des Identischen außerhalb des
Begriffs. In ein und demselben Medium, im Medium der Repräsentation, wird
einerseits die Differenz als begriffliche Differenz und andererseits die Wieder-
holung als begrifflose Differenz gesetzt. Und da es auch keine begriffliche
Differenz zwischen den bestimmbaren letzten Begriffen gibt, in denen sich das
SCHLUSS 375

Selbe verteilt, wird die Welt der Repräsentation in ein Netz von Analogien
gezwängt, das aus Differenz und Wiederholung Begriffe der bloßen Reflexion
macht. Das Selbe und das Identische können auf viele Arten interpretiert werden:
im Sinne einer Perseveration (A ist A), im Sinne einer Gleichheit (A = A)
oder Ähnlichkeit (A # B), im Sinne eines Gegensatzes (A # non-A), im Sinne
einer Analogie (wie es schließlich das ausgeschlossene Dritte nahelegt, das die
Bedingungen bestimmt, unter denen der dritte Term nur in einem Verhältnis
bestimmbar ist, das mit dem Verhältnis der beiden anderen identisch ist:
A C
non-A (B) = non-C (D) >

Aber all diese Interpretationsweisen gehören zur Repräsentation, der die Ana-
logie einen Schlußstrich, einen spezifischen Abschluß als letztes Element hin-
zufügt. Sie sind die Entfaltung des irrtümlichen Sinns, der die Natur der Dif-
ferenz und der Wiederholung gleichermaßen entstellt. Damit beginnt hier der
langewährende Irrtum, der um so länger währt, als er sich einmal ereignet.
Wir haben gesehen, wie die Analogie wesentlich zur Welt der Repräsentation
gehörte. Legt man die Grenzen der Einschreibung der Differenz in den Begriff
allgemein fest, so wird die obere Grenze durch bestimmbare letzte Begriffe
(die Seinsgattungen oder Kategorien) repräsentiert, die untere Grenze dagegen
durch die bestimmten kleinsten Begriffe (Arten). In der endlichen Repräsenta-
tion unterscheiden sich gattungsmäßige und artspezifische Differenz in ihrer
Natur und in ihrem Verhalten, sind aber strikt komplementär: Die Äquivozi-
tät der einen korreliert mit der Univozität der anderen. Denn univok ist die
Gattung im Verhältnis zu ihren Arten, äquivok aber ist das Sein im Verhältnis
zu den Gattungen selbst oder Kategorien. Die Analogie des Seins impliziert
diese beiden Aspekte zugleich: denjenigen, durch den sich das Sein auf
bestimmbare Formen verteilt, die notwendig dessen Sinn auszeichnen und
variieren, aber auch denjenigen, durch den das so verteilte Sein notwendig in
genau bestimmtes Seiendes aufgeteilt wird, das jeweils einen einzigen Sinn
besitzt. An den beiden Extremen wird allerdings der Gattungssinn des Seins
und das Spiel der individuierenden Differenz im Seienden verfehlt. Alles
geschieht zwischen der gattungsmäßigen und der artbildenden Differenz. Das
wahrhafte Universale wird ebenso verfehlt wie das wahre Singuläre: Das Sein
besitzt gemeinen Sinn nur als distributiven, das Individuum Differenz nur als
allgemeine. Man mag die Liste der Kategorien noch so weit ,,öffnen” oder gar
die Repräsentation ins Unendliche wenden, das Sein sagt sich auch weiterhin
in mehreren Bedeutungen [Sens] gemäß den Kategorien aus, und dasjenige,
wovon es sich aussagt, wird immer nur durch Differenzen ,,allgemein“
bestimmt. Denn die Welt der Repräsentation bedingt einen bestimmten Typ
seßhafter Verteilung, der das Verteilte teilt oder aufteilt, um ,,jedem“ seinen
festen Anteil zu verschaffen (so definieren etwa im schlechten Spiel, in der
schlechten Spielweise,
- die vorgängigen Regeln distributive Hypothesen, nach
denen das Resultat der Spielzüge
- zugeteilt wird). Man versteht nun besser, wie
sich die Wiederholung der Repräsentation entgegenstellt. Die Repräsentation
376 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG

impliziert wesentlich die Analogie des Seins. Die Wiederholung aber ist die
einzige verwirklichte Ontologie, das he@: die Univozität des Seins. Von
Duns Scotus bis Spinoza beruhte die Stellung der Univozität immer auf zwei
grundlegenden Thesen. Der einen zufolge gibt es zwar Formen des Seins, im
Gegensatz zu den Kategorien aber ziehen diese Formen keinerlei Teilung im
Sein als Pluralität ontologischen Sinns [Sens] nach sich. Der anderen zufolge
wird das, wovon sich das Sein aussagt, nach wesentlich beweglichen indivi-
duierenden Differenzen aufgeteilt, die notwendig ,,jedem“ eine Pluralität
modaler Bedeutungen [significations] zuweist. Gleich zu Beginn der Ethik
wird dieses Programm genial entworfen und bewiesen: Man erfährt, daß sich
die Attribute nicht auf Gattungen oder Kategorien reduzieren lassen, weil sie
zwar formal geschieden, alle aber gleich und ontologisch eins sind und kei-
nerlei Teilung in die Substanz einführen, die sich durch sie in ein und demsel-
ben Sinn ausdrückt oder aussagt (mit anderen Worten, die reale Unterschei-
dung zwischen Attributen ist eine formale Unterscheidung und keine numeri-
sche). Außerdem erfährt man, dai3 sich die Modi nicht auf Arten reduzieren
lassen, weil sie sich in den Attributen nach individuierenden Differenzen
aufteilen, die in der Intensität wie Machtabstufungen wirken und durch die sie
unmittelbar auf das univoke Sein bezogen werden (mit anderen Worten, die
numerische Unterscheidung zwischen verschiedenen ,,Seienden” ist eine
modale Unterscheidung, keine reale). Verhält es sich mit dem wahren Würfel-
wurf nicht ebenso? Die Würfe unterscheiden sich formal, aber hinsichtlich
eines ontologisch einen Spielzugs, wobei der Niederschlag deren Kombinatio-
nen wechselseitig impliziert, verschiebt und zurückholt, und zwar über den
einzigen und offenen Raum des Univoken hinweg? Damit das Univoke zum
Gegenstand reiner Bejahung werden konnte, fehlte dem Spinozismus nur, daß
er die Substanz um die Modi kreisen ließ, d. h. dap er die Univozität als
Wiederholung in der ewigen Wiederkunft verwirklichte. Wenn nämlich die
Analogie tatsächlich zwei Aspekte besitzt - denjenigen, durch den sich das
Sein in mehreren Bedeutungen [Sens/ aussagt, aber auch denjenigen, durch den
es sich von etwas Festem und genau Bestimmten aussagt -, so besitzt die
Univozität ihrerseits zwei gänzlich entgegengesetzte Aspekte, denen zufolge
sich das Sein ,,auf jede Weise“ in ein und demselben Sinn [Sens] aussagt, sich so
jedoch vom Differierenden aussagt, von der Differenz, die selbst immer im
Sein beweglich ist und verschoben wird. Außerhalb der Repräsentation sind
die Univozität des Seins und die individuierende Differenz ebenso eng mitein-
ander verbunden, wie die gattungsmäßige und die artbildende Differenz in der
Repräsentation unter dem Gesichtspunkt der Analogie. Die Univozität meint:
Univok ist das Sein selbst, und äquivok ist das, wovon es sich aussagt. Genau
das Gegenteil der Analogie. Das Sein wird Formen zufolge ausgesagt, die die
Einheit seines Sinns nicht brechen, es sagt sich in ein und demselben Sinn
durch alle seine Formen hindurch aus - weswegen wir den Kategorien Begriffe
anderer Art gegenübergestellt haben. Dasjenige aber, wovon es sich aussagt,
differiert, ist die Differenz selbst. Es ist nicht das analoge Sein, das sich in den
SCHLUSS 377

Kategorien verteilt und den Seienden einen festen Anteil zuteilt, vielmehr
verteilen sich die Seienden im Raum des univoken Seins, der durch alle For-
men geöffnet wurde. Die Öffnung gehört wesentlich zur Univozität. Den
seßhaften Verteilungen der Analogie treten die nomadischen Verteilungen
oder gekrönten Anarchien im Univoken gegenüber. Nur hier tönt es: ,,Alles
ist gleich!“ und: ,,Alles kehrt wieder!“ Aber Alles ist gleich und Alles kehrt
wieder kann nur dort gesagt werden, wo die äuf3erste Spitze der Differenz
erreicht ist. Ein und dieselbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege
kennt, ein und derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins
für alle Seienden. Wenn man nur für jedes Seiende, für jeden Tropfen und
jeden Weg den Zustand des Exzesses erlangt hat, d. h. die Differenz, die sie
verschiebt und verkleidet und wiederkehren Mt, auf ihrer schwankenden
Spitze kreisend.

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