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Liliane Susewind. Ein Meerschwein ist


nicht gern allein - Teil 1
Eine Geschichte von Tanya Stewner mit Illustrationen von Florentine
Prechtel, erschienen im Fischer Kinder- und Jugendbuchverlag GmbH.
Hier kommt der erste Teil der Geschichte.
Schulweg
„Ich beschwere mich!“, miaute die orange getigerte Katze. Sie starrte

missmutig auf den Gehsteig. „Der Boden ist gammelig!“, rief sie, hob ihre

Pfote und schüttelte sie angewidert.

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Liliane Susewind, genannt Lilli, antwortete der Katze. „Der Boden ist nass, weil

es geregnet hat", erklärte sie und wich einer Pfütze aus.

„Ein bisschen Regenwasser schadet Ihren Pfoten bestimmt nicht."

Lilli hatte die Gabe, mit Tieren zu reden, und das Miauen klang für sie wie

ganz normales Sprechen. Bei der Katze, die den Namen Frau von Schmidt

trug, handelte es sich allerdings meistens um Nörgeln, und das war

manchmal ganz schön anstrengend.

„Normalerweise gehe ich bei Verhältnissen wie diesen gar nicht erst vor die

Tür", motzte die Katze. „Der Boden ist feucht und gammelt vor sich hin – und

ich soll meine zarten Füße daraufsetzen? Das kann wirklich niemand von

einer Schnurrdame von Welt verlangen!“

Lilli seufzte. Sie hatte schon geahnt, dass Frau von Schmidt sich wegen der

nassen Straßen beschweren würde. Aber die Katze hatte sie unbedingt zur

Schule begleiten wollen, und deswegen musste sie nun auch mit ihnen über

den regennassen Gehweg laufen. Neben Lilli spazierte ihr bester Freund

Jesahja, und ein Stück vor ihnen tippelte Lillis winziger weißer Hund Bonsai.

„Ich gehe keinen Schritt weiter!“, verkündete die Katze nun, blieb stehen und

schüttelte abermals ihre Pfote.

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„Wenn ich noch länger über diesen Boden laufe, werde ich bestimmt selbst

anfangen zu gammeln! Ich kann schon fühlen, wie die Gammeligkeit meine

Beine hinaufzieht!"

Lilli seufzte wieder. „Soll ich Sie tragen?“

„Wenn das Ihre bevorzugte Lösung für das Problem ist, Madame von

Susewind, dann bitte schön", miezte Frau von Schmidt.

Lilli beugte sich hinab und hob die Katze hoch.

„Bitte trocknen Sie meine Füße, bevor wir den Weg fortsetzen", ordnete Frau

von Schmidt an.

Lilli tupfte mit einem Taschentuch ihre Pfoten ab. „Wir können nun abreisen“,

ließ die Katze sie dann wissen.

Jesahja betrachtete sie kopfschüttelnd. „Wenn sie dir zu schwer wird, sag

Bescheid, dann trage ich sie ein Stück."

„Lilli!", bellte ihr kleiner Hund Bonsai und kam herangelaufen. „Was hat

Schmidti denn?“

Hundisch und Katzisch waren ganz unterschiedliche Sprachen, und deshalb

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konnten Bonsai und Frau von Schmidt nicht direkt miteinander reden.

„Ihre Pfoten gammeln“, gab Lilli dem Hund zur Antwort, was ein entsetztes

Stöhnen der Katze zur Folge hatte.

Bonsai legte verwirrt den Kopf schief. „Gammeln ist doch supi! Wenn

Kauknochen gammeln, sind sie am leckersten!"

Bevor sie weiter darüber reden konnten, entdeckte Bonsai plötzlich etwas.

„Da! Da drüben!", kläffte er und stemmte energisch die Vorderpfoten auf. „Das

ist der Typ mit dem Puschelkopf!“

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Der Hund wollte losstürzen, aber Lilli hielt ihn zurück. „Bleib hier, Bonsai!“

„Aber das ist der Puschel-Heini!", bellte der Hund. „Der sitzt da! Ich will den

aufscheuchen!“ Er stellte sich auf die Hinterbeine. „Angriff! Aufruhr! Alarm!"

Lilli kniete sich neben Bonsai und sprach leise auf ihn ein. „Ich weiß, dass du

ihn aufscheuchen möchtest, aber – "

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„Passen Sie doch auf!", rief Frau von Schmidt. „Mein Schwanz schleift ja über

den Boden! Himmel, jetzt ist er ebenfalls angegammelt!“

Lilli richtete sich wieder auf und trocknete mit dem Taschentuch den

Schwanz der Katzendame.

„Och menno!", ärgerte sich Bonsai. „Ich durfte den Puschel-Heini noch nie

erschrecken!“

Jesahja, der den Hund natürlich nicht verstand, fragte: „Geht es um die

Sibirische Katze da drüben?"

Lilli nickte. „Das ist ein Kater." Sie wusste nicht, woher sie das wusste, aber so

etwas sah Lilli sofort. „Wir haben ihn schon öfter hier in der Gegend gesehen.

Er hat aber noch nie mit mir geredet.“

„Echt nicht?“, fragte Jesahja überrascht.

Normalerweise waren Tiere immer ganz fasziniert von Lilli. Doch dieser Kater

beachtete sie gar nicht. Er saß auf einer Mauer und blickte würdevoll in die

Ferne.

Lilli zuckte die Achseln, und sie stapften weiter.

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Als sie schließlich die Schule erreichten, rannte ihnen Lillis Freundin Sonay

entgegen. Offensichtlich hatte sie Lilli schon erwartet.

„Lilli, ich habe gestern ein Haustier bekommen!", platzte sie aufgeregt heraus.

„Es ist ein Meerschweinchen!“

„Super!“, sagte Lilli. „Eins allein oder zwei?“

„Nein, nur eins …“, antwortete Sonay.

Lilli wusste, dass Meerschweinchen nicht gern allein waren und man am

besten zwei zusammen hielt, aber sie wollte Sonay die Freude nicht

verderben.

Jesahja fragte: „Woher habt ihr es?“

„Mein Papa und ich haben Mambo am Wochenende aus dem Tierheim

geholt", antwortete Sonay. „Ich habe mich gleich in ihn verliebt. Er hat

superschöne schwarze Knopfaugen und so witziges, abstehendes Fell. Total

süß!“ Sonay seufzte. „Aber irgendetwas stimmt nicht.“

Lilli horchte auf. „Was stimmt denn nicht?“

„Mambo verhält sich komisch", erklärte Sonay. „Er hockt nur in einer Ecke des

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Käfigs und starrt ins Leere. Fressen will er auch nichts.“

Das klang nicht gut. „Soll ich mal vorbeikommen und mit ihm reden?", fragte

Lilli.

Auf Sonays Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. „Ja, das wäre

toll!“

Lilli versprach, Sonay am Nachmittag zusammen mit Jesahja zu besuchen.

Vielleicht konnte sie ja herausfinden, was dem kleinen Meerschweinchen

fehlte.

Mambo
Sobald Lilli und Jesahja an diesem Nachmittag zu Hause ankamen,

schnappten sie sich ihre Fahrräder. Sie ließen Frau von Schmidt und Bonsai in

ihre Rucksäcke springen. Nur die Köpfe der Tiere schauten noch oben heraus,

als sie auf den Rädern lospreschten.

Wenig später erreichten sie das Haus, in dem Sonay und ihr Papa lebten. Als

sie die Wohnung im zweiten Stock betraten, flitzte Bonsai zwischen Lillis

Beinen hindurch und schnupperte aufgeregt herum.

„Lilli", wuffte er und beschnüffelte den Teppich. „Hier war einer! Ein Hase!“ Er

schnupperte weiter. „Nee, ein Eichhörnchen! Nee, eine Maus!“ Er drehte sich

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schnüffelnd um die eigene Achse. „Ein Hasenmaushörnchen!“

Lilli streichelte ihn beruhigend. „Hier wohnt ein Meerschweinchen, und das

darfst du auf keinen Fall jagen!"

„Menno! Ich will den aber –", bellte Bonsai und hielt plötzlich inne. „Hier wohnt

ein Schwein? In der Wohnung drin?“

Frau von Schmidt spazierte an Bonsai vorbei. „Wie interessant! Es riecht hier

gar nicht nach Schweineherrschaften. Es grunzt auch niemand, oder?“

Lauschend spitzte sie die Ohren. „Ich werde mich mal umsehen“, verkündete

die Katze und verschwand in der Küche.

Lilli wollte ihr gerade hinterherrufen, dass das Meerschwein bestimmt nicht in

der Küche zu finden war, da erklärte Sonay: „Wir haben Mambo freigelassen,

weil wir dachten, dass er sich in seinem Käfig vielleicht nicht wohl fühlt. Er ist

hier drüben."

Lilli, Jesahja und Bonsai folgten ihr ins Wohnzimmer. „Ich glaube, er hat sich

unter der Kommode verkrochen", sagte Sonay.

Lilli ging auf die Knie und spähte unter die Kommode. Dort hatte sich ein

kleiner Fellhaufen ganz dicht an die Wand gequetscht.

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„Oh, der Typ ist ja gar kein Schwein!“, wuffte Bonsai verwirrt.

Lilli zog den Hund vorsichtig zur Seite, legte sich auf den Bauch und sagte mit

sanfter Stimme: „Hallo, ich bin Lilli.“

Die Augen des Meerschweinchens wurden groß. „Du kannst sprechen!", fiepte

es. „Bist du ein Riesenmeerschwein?“

Lilli lächelte. Wenn Tiere sie zum ersten Mal sahen, hielten sie sie oft für eine

von ihnen. „Nein, ich bin ein Mensch. Aber ich kann mit Tieren sprechen."

„So was!“, rief Mambo und mümmelte überrascht. Seine kleine Nase hüpfte

auf und ab. „Aber … warum nicht?“

Er tapste ein paar vorsichtige Schritte auf Lilli zu und schnupperte an ihrem

Kinn und ihrer Nase. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und schnupperte

an ihren Ohren. „Du riechst gut.“

„Danke“, sagte Lilli. „Du auch.“

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Noch während sie sprach, schnappte sich Mambo eine ihrer Locken und

begann, genüsslich darauf herumzukauen.

Lilli zog ihm die Haarsträhne behutsam aus dem Mäulchen. „Das ist nicht

zum Anknabbern."

„Oh, ach so", sagte Mambo enttäuscht. „Okay!“

„Geht es dir gut?“, fragte Lilli.

„Nein.“ Mambo mümmelte. „Ich bin traurig.“

„Traurig? Weswegen denn?“

Da tippelte Bonsai heran. „Der Typ ist traurig?", kläffte er. „Warum knabbern

wir dann nicht alle zusammen ein paar Hausschuhe an? Das würde richtig

Spaß machen!“

„Was sagen die Tiere denn?“, erkundigte sich Sonay.

„Mambo hat gesagt, dass er traurig ist“, erwiderte Lilli.

„Traurig ist ganz schön doof“, schnuffte Bonsai und schaute sich um, als

suche er nach etwas.

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„Der Kreischkasten da drüben!" Er lief zu einem Staubsauger, der in der Ecke

stand. „Darauf kann man doch bestimmt supi rumkurven!“, bellte der Hund,

der liebend gern auf dem Staubsauger mitfuhr, wenn Lillis Vater zu Hause

saugte.

Lilli musste lachen – was zur Folge hatte, dass an den Topfpflanzen auf der

Fensterbank viele kleine Blüten hervorsprossen. Lilli hatte nämlich noch eine

zweite Gabe: Wenn sie lachte, blühten innerhalb von Sekunden alle Blumen in

ihrer Nähe auf.

Bonsai war nun ganz aufgeregt. „Ja? Sollen wir auf dem Staubsauger

surfen?", hechelte er. „Das wird eine Mordsgaudi!“

„Was sagt er denn?“, fragte Jesahja, der Bonsai mit gerunzelten Augenbrauen

beobachtete.

Lilli übersetzte, fügte aber gleich hinzu, dass Staubsaugersurfen für Mambo

bestimmt nicht so geeignet wäre.

Mambo fiepte jedoch: „Wir können es ja mal ausprobieren."

„Im Ernst? Du willst auf dem Staubsauger sitzen?", fragte Lilli verwundert.

„Ja, vielleicht ist es wie mit Boogie“, murmelte das Meerschweinchen.

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„Wer ist –“, begann Lilli, doch Sonay unterbrach sie: „In Ordnung, dann saugen

wir!“

Sie ging zum Staubsauger in der Ecke. Lilli folgte ihr und setzte Mambo

vorsichtig darauf ab. Dann fing Sonay an zu saugen und zog den Staubsauger

hierhin und dorthin. Mambo hockte missmutig da und fand das Ganze nicht

sehr spaßig.

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Schließlich bat Lilli Sonay, den Sauger abzustellen. Als wieder Ruhe herrschte,

fiepte Mambo: „Auf Boogie zu reiten ist viel schöner.“

Lilli nahm Mambo auf die Hand. „Wer ist denn dieser Boogie?“

Mambo mümmelte. Dann seufzte er ein tiefes Meerschweinchen-Seufzen und

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sagte: „Ohne Boogie fühle ich mich, als wäre ich nur halb da."

Lilli strich dem Meerschwein behutsam über das abstehende Fell und

übersetzte für die anderen, was Mambo gesagt hatte.

„Frag ihn doch mal, wo er gelebt hat, bevor er ins Tierheim kam", schlug

Jesahja vor.

Lilli tat es, und Mambos Augen leuchteten sofort auf. „Ich habe vorher mit

Boogie zusammengewohnt! Mir fehlt Boogie so sehr."

Lilli wurde es schwer ums Herz. Da sagte Mambo: „Hoffentlich geht es

Boogie gut. Er ist jetzt ganz allein mit dem Miezmonster …"

„Mit dem Miezmonster?“, wiederholte Lilli.

Mambo fiepte schon weiter. „Der arme Boogie! Er hatte immer genauso viel

Angst vor dem Monster wie ich."

Lilli schüttelte den Kopf. Sie musste nun unbedingt wissen, wer dieser Boogie

war. „Was für ein Tier ist Boogie denn? Beschreib ihn doch mal", bat sie das

Meerschweinchen.

„Er ist wunderschön!", rief Mambo mit leuchtenden Augen. „Boogie hat tolle,

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starke Füße und einen starken Rücken und –“

Da betrat Frau von Schmidt das Wohnzimmer. Mambos Augen weiteten sich,

und er erstarrte.

„Oh, das ist ja ein Mini-Schwein!“, miaute die Katze. „Mit Frisur! Entzückend.“

Interessiert kam sie näher. Das Meerschweinchen hockte wie zur Salzsäule

erstarrt da.

„Mambo geht es nicht so gut", erklärte Lilli. „Er ist traurig. Seien Sie bitte

freundlich zu ihm.“

„Oh, aber das bin ich doch immer!", bemerkte die Katze in schnurrigem

Tonfall.

„Der Schweineherr hat Kummer, sagten Sie?"

Lilli nickte und betrachtete Mambo nachdenklich. Er schien plötzlich wie

eingefroren und starrte erschrocken ins Leere.

„Gegen Kummer kann man etwas unternehmen!", flötete Frau von Schmidt

und hob Mambo am Nacken hoch, als sei er ein Katzenbaby. Eifrig begann

sie, ihn im Raum herumzutragen, und gab dabei beruhigende Laute von sich.

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Mambo hing wie ein kleiner nasser Sack im Maul der Katze. Doch in seinen

Augen spiegelte sich nun blanke Angst.

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„Würden Sie Mambo bitte wieder absetzen?", bat Lilli Frau von Schmidt in

dringendem Ton. „Ich glaube, ihm gefällt es nicht, von Ihnen herumgetragen

zu werden.“

„Wie bitte?", nuschelte die Katze mit vollem Maul. „Ein Schunkel-Bummel ist

die beste Medizin gegen jede Form von Trübsal!“

„Ja, aber Mambo findet es trotzdem nicht gut", wandte Lilli entschieden ein.

„Bitte lassen Sie ihn sofort los!“

Mit verdrossener Miene setzte Frau von Schmidt das Meerschweinchen auf

dem Boden ab, hüpfte auf die Fensterbank und zog sich schmollend hinter

einen Blumentopf zurück.

Da kam Leben in Mambos Glieder. Auf einmal rannte er los, so schnell, als sei

der Teufel hinter ihm her. Er quetschte sich abermals ganz nah an die Wand.

„Miezmonster!“, wimmerte er aufgelöst. „Miezmonster!“

„Hast du Angst vor Katzen?“, fragte Lilli ihn.

„Gab es bei euch zu Hause eine Katze, die dir und Boogie Probleme bereitet

hat?"

„Katzen verursachen niemals Probleme!“, kam es schnippisch hinter dem

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Blumentopf hervor. „Wir lösen Probleme.“

Besorgt musterte Lilli das Häuflein Elend an der Wand. „Er zittert ja richtig vor

Angst! Was hat er bloß in seinem alten Zuhause erlebt?"

Jesahja kratzte sich am Hinterkopf. Das tat er oft, wenn er angestrengt

nachdachte. „Vielleicht könnte man im Tierheim nachfragen, ob die etwas

über Mambos altes Zuhause wissen."

„Das ist eine super Idee!“, rief Sonay.

„Ich rufe mal im Tierheim an und frage nach“, sagte Jesahja, griff nach

seinem Handy und suchte im Internet nach der Nummer.

Lilli lächelte. Jesahja hatte immer die besten Ideen. Er wusste genau, wie

man schnell an Informationen kam. Und er hatte keine Angst, mit

Erwachsenen zu sprechen. Oft klang er dabei sogar selbst wie ein

Erwachsener.

Jesahja fragte am Telefon nach Mambo. Offenbar redete er mit einem

Mitarbeiter des Tierheims.

Als er wieder aufgelegt hatte, erklärte er: „Ich habe die Adresse von den

Leuten, bei denen Mambo vorher gelebt hat."

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„Das ist ja gleich bei uns um die Ecke!“, rief Lilli.

Jesahja grinste. „Machen wir uns auf den Weg."

Das gelbe Haus


Lilli und Jesahja waren fest entschlossen herauszubekommen, wer dieser

Boogie war. Er und Mambo schienen gute Freunde gewesen zu sein. Mambos

Worte hatten Lilli allerdings alarmiert. Womöglich ging es Boogie in seinem

Zuhause nicht gut? Aber falls doch, konnte er Mambo vielleicht einmal

besuchen kommen. Das Meerschweinchen vermisste ihn offensichtlich wie

verrückt.

Lilli und Jesahja radelten zu der Adresse von Mambos Vorbesitzern.

Schließlich standen sie vor einem hübschen gelben Haus mit Garten. Sie

stellten ihre Räder am Zaun ab und ließen die Tiere aus den Rucksäcken

springen. Der Boden war immer noch regennass, und Frau von Schmidt sah

Lilli vorwurfsvoll an. Seufzend nahm sie die Katze wieder auf den Arm. Dann

traten sie durch ein Tor, gingen einen gepflasterten Weg entlang und

klingelten an der Haustür.

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Ein kleines Mädchen mit Zöpfen öffnete ihnen. „Was wollt ihr hier?“, fragte es

frech und musterte Lilli und Jesahja, Bonsai und Frau von Schmidt. „Ich will,

dass ihr weggeht.“

Lilli öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder.

Jesahja trat vor. „Hallo“, sagte er und schenkte dem Mädchen ein

verschmitztes Lächeln. Immer wenn Jesahja dieses spezielle Lächeln

aufsetzte, schmolzen in der Schule sämtliche Mädchen dahin. Auf das kleine

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Mädchen schien es ebenfalls Eindruck zu machen.

„Du kannst dableiben“, sagte es zu Jesahja.

„Danke!" Jesahja lachte lässig, und das Mädchen grinste ihn fasziniert an.

„Wir würden dich gern was fragen. Kennst du ein Meerschweinchen namens

Mambo?“

„Klar!", antwortete das Mädchen. „Mambo war meiner!“

„Aber du hast ihn ins Tierheim gebracht?“, fragte Jesahja.

Das Mädchen nickte. „Ja, ich hab immer vergessen, ihn zu füttern. Und ich

fand es total blöd, wenn ich seinen Käfig saubermachen musste. Dazu hatte

ich nie Lust. Da haben wir ihn weggebracht."

Lilli klappte der Unterkiefer herunter. Sie konnte kaum glauben, was sie da

hörte. Tiere waren doch nichts, was man sich anschaffte und wieder weggab,

wie es einem gerade passte! Tiere hatten eine eigene Persönlichkeit und

Gefühle, und man konnte froh sein, wenn man eines bei sich zu Hause haben

durfte!

Jesahja fragte nun weiter. „Gibt es hier noch mehr Tiere?"

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„Ja, Prinz Mortimer", antwortete das Mädchen stolz. „Wir haben ihn erst seit

zwei Wochen. Er ist ein super Tier!“

„Niemanden, der Boogie heißt?“, wollte Jesahja wissen.

„Doch, klar!", rief das Mädchen, als würde ihm gerade erst wieder einfallen,

dass bei ihnen noch ein weiteres Tier lebte. „Boogie hatte ich auch noch. Aber

der ist weg.“

Jesahja runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

„Wir haben ihn seit drei Tagen nicht gesehen. Eigentlich wollten wir Mambo

und Boogie zusammen ins Tierheim bringen, weil ich auch keine Lust mehr

auf Boogie hatte. Aber als wir losfahren wollten, war Boogie plötzlich

verschwunden. Ich nehme an, er ist in den Garten abgehauen oder so."

Lilli ballte hilflos die Fäuste. Dieses Mädchen hatte die beiden Tiere

schändlich vernachlässigt!

Jesahja schien sich ebenfalls beherrschen zu müssen. Sein Mund war eine

schmale, wütende Linie. „Was ist Boogie denn für ein Tier?“, presste er hervor.

„Ein langweiliges", sagte das Mädchen achselzuckend. „Prinz Mortimer ist viel

cooler.“ Sie griff nach Jesahjas Hand. „Komm, ich zeig dir mein Zimmer!", rief

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sie und zog ihn ins Haus.

Lilli nahm an, dass sie nicht eingeladen war, aber sie folgte den beiden

dennoch durch einen Korridor in ein chaotisches Kinderzimmer.

„Hier wohne ich", sagte das Mädchen und sah Jesahja bewundernd an. „Du

kannst auch hier wohnen.“

Bevor Jesahja darauf etwas erwidern konnte, hörten sie plötzlich eine

ärgerliche Stimme: „Esmeralda, wieso steht die Haustür offen?"

Gleich darauf erschien eine Frau im Türrahmen, die dem Mädchen sehr

ähnlich sah und bestimmt seine Mutter war. „Was macht ihr hier?", fragte sie

Lilli und Jesahja erstaunt.

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Da begann Bonsai zu bellen. „Das ist der Puschel-Heini! Die hat den Puschel-

Heini auf dem Arm!"

Lilli hatte es auch gesehen und starrte den Sibirischen Kater mit großen

Augen an. Er sah majestätisch an ihnen vorbei und würdigte sie keines

Blickes. Keine Frage, das war … der Puschel-Heini.

Von Frau von Schmidt war nur ein „Der schon wieder!" zu hören, bevor sie

eingeschnappt den Kopf abwandte. Sie war zutiefst beleidigt, weil er sie so

wenig beachtete.

Die Mutter des Mädchens betrachtete Frau von Schmidt und schien es

interessant zu finden, dass Lilli ebenfalls eine Katze auf dem Arm trug. Als sie

jedoch sah, dass es sich um eine ganz normale Hauskatze handelte, verzog

sie den Mund.

„Meiner ist reinrassig“, sagte sie und hätschelte den plüschigen Kater wie ein

Baby. Dann schaute sie Lilli und Jesahja streng an.

„Ihr könnt hier nicht einfach so reinkommen", sagte sie und warf auch

Esmeralda einen strafenden Blick zu.

„Prinz Mortimer kann Besuch nicht leiden. Also geht jetzt bitte." Die Frau

begann, Lilli in Richtung Haustür zu schieben.

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„Sie haben nach Mambo und Boogie gefragt", erklärte Esmeralda. „Ich hab

ihnen gesagt, dass wir die nicht mehr brauchen, weil wir jetzt Prinz Mortimer

haben.“

Während Esmeraldas Mutter sie zur Tür beförderte, fragte sie: „Woher wisst

ihr von Mambo und Boogie?"

Lilli antwortete: „Eine Freundin von mir hat Mambo aus dem Tierheim geholt

und – "

„Ach, ich bin froh, dass die Viecher weg sind", unterbrach Esmeraldas Mutter

sie. „Dieses Meerschwein hat Prinz Mortimer ständig absichtlich beim

Schlafen gestört.“

„Das glaube ich nicht!“, sagte Lilli laut, denn sie war richtig sauer. Der arme

Mambo war hier offenbar furchtbar schlecht behandelt worden!

Plötzlich erklang eine hohe Stimme. „Wer ist da? Hilfe!"

Doch Esmeraldas Mutter hatte sie schon hinausgeschoben, sagte „Tschüs!“

und knallte die Tür zu.

Lilli drehte sich aufgeregt zu Jesahja um. „Hast du diesen Schrei gehört? Da

hat jemand um Hilfe gerufen!"

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„Ja, ich hab ein hohes Quieken gehört. Das war ein Hilfeschrei?" Jesahja

schien nun ebenfalls beunruhigt. „Mist!“

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„Das muss Boogie gewesen sein! Er ist noch im Haus! Er braucht unsere

Hilfe!", rief Lilli aufgebracht.

Da öffnete die Frau die Haustür wieder. „Verlasst jetzt sofort mein

Grundstück!“, verlangte sie in scharfem Ton.

Lilli hörte jedoch nicht darauf. „Boogie!", schrie sie ins Haus hinein. „Boogie,

komm schnell raus!“

„Jetzt reicht es mir aber!", rief Esmeraldas Mutter. „Wenn ihr nicht sofort geht,

hole ich die Polizei!“

„Komm“, sagte Jesahja und zog Lilli am Ärmel.

Lilli wollte jedoch nicht gehen. Boogie würde vielleicht jeden Moment

angelaufen kommen, und dann würde sie ihn einfach mitnehmen. Das hier

war kein gutes Zuhause für ein … was auch immer Boogie für ein Tier war.

„Sofort!“, donnerte Esmeraldas Mutter.

Lilli starrte verzweifelt in den Korridor. Warum kam Boogie nicht?

„Los, Lilli!“ Jesahja zog sie stärker am Ärmel.

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Da gab Lilli nach und ließ sich von Jesahja den Weg entlang und durch das

Gartentor ziehen. Bonsai lief neben ihnen her, und Frau von Schmidt hing

ganz still auf Lillis Arm. Wortlos verstauten sie die Tiere wieder in ihren

Rucksäcken und radelten los.

Während sie durch die Straßen fuhren, traten Lilli Tränen in die Augen. Wie

konnte jemand nur so mit Tieren umgehen? Der Kater wurde wie ein Prinz

behandelt, während Mambo und Boogie anscheinend völlig vernachlässigt

worden waren!

Heiße Tränen liefen Lilli über die Wangen, während sie wütend in die Pedale

trat und sich schwor, dass sie Boogie nicht einfach seinem Schicksal

überlassen würde.

Wird es Lilli gelingen, Boogie zu retten? Das erfahrt ihr im zweiten Teil der
Geschichte.

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Illustration: Florentine Prechtel
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuchverlag GmbH
Alterseinstufung: ab 7 Jahren
ISBN: 978-3-7373-5202-4

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