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Editorial
Laut der jüngsten Shell-Jugendstudie hat das Interesse
von Jugendlichen an Politik zugenommen. Der Jugendfor-
scher Klaus Hurrelmann spricht gar von einer „veritablen
Trendwende“. Und wie nicht zuletzt die Reaktionen auf die
Zuwanderung von Flüchtlingen in den vergangenen Mo-
naten zeigten, ist bei vielen Menschen die Bereitschaft zu
ehrenamtlichem, gesellschaftlichem Engagement groß.
Allerdings sind sie eher bereit, sich in Initiativen oder zeit-
lich befristete Projekte einzubringen, als sich längerfristig,
etwa in Parteiorganisationen, zu binden. Auch viele Ju-
gendliche stehen einer Mitarbeit in Parteien eher distan-
ziert gegenüber.
Diese Distanz betrifft nicht nur die Parteien: Auch andere
69 etablierte Institutionen und Organisationen, beispielsweise
Gewerkschaften und Kirchen, haben in den vergangenen
Jahren in erheblichem Ausmaß an Anziehungskraft und
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Mitgliederzahl verloren.
Doch politischen Parteien kommt nach wie vor eine zen-
trale Rolle im gesellschaftlichen Gefüge der Bundesrepublik
Deutschland zu: Sie sind unverzichtbar für das Funktionie-
ren des politischen Systems und seine Legitimation sowie
für die Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft, die
für eine Demokratie westlicher Prägung konstitutiv ist.
Ihren hohen verfassungsrechtlichen Rang belegt Artikel 21
Grundgesetz.
Diese Diskrepanz zwischen ihrer staatstheoretischen Rolle
und der tatsächlichen Wertschätzung für die Parteien ist An-
lass, in diesem Heft ihre Bedeutung und ihre aktuelle Situa-
tion zu analysieren sowie Chancen und Herausforderungen
zu beleuchten, denen sie sich gegenüber sehen.
In acht Kapiteln wird ein Einblick in Funktion und Wir-
kungsweise der deutschen Parteiendemokratie vermittelt.
Aktuelle Herausforderungen 63 Der Autor, der Parteienforscher Uwe Jun, Sprecher des Ar-
beitskreises „Parteienforschung“ der Deutschen Vereinigung
Vielfalt gesellschaftlicher Werte, Interessen und
für Politische Wissenschaft (DVPW), stellt neben den Partei-
Problemlagen 63
en auch deren Wechselbeziehungen vor, da beide Ebenen –
Krise oder Wandel? 67 Parteien und Parteiensystem – eng miteinander verflochten
sind und sich gegenseitig beeinflussen. Detailliert werden
die Aufgaben und die Organisation von Parteien, die Rol-
Literaturhinweise und Internetadressen 74 le von Mitgliedern und Programmen sowie das Wirken der
Parteien auf staatlicher wie gesellschaftlicher Ebene ebenso
beschrieben, wie die Entwicklung des Parteiensystems seit
Der Autor 75 1945 und der Parteienwettbewerb um politische Lösungen,
Ämter, Wählerstimmen und Macht.
Thematisiert werden die Herausforderungen, denen sich
Impressum 75 die Parteien und ihre Mandatsträger gegenüber sehen. Dazu
gehören sich stetig und grundlegend wandelnde gesell-
schaftliche Werte und Einstellungen, die von vielen konsta-
tierte Krise der repräsentativen Demokratie, eine veränderte
Medienlandschaft und komplexe globale Probleme, die sich
einfachen Lösungen versagen. Vor diesem Hintergrund wird
skizziert, welche Antworten Parteien darauf finden, um für
ihre Mitglieder attraktiv zu bleiben und Wählerinnen und
Wähler für ihre Programme und Ziele zu gewinnen.
Jutta Klaeren
UWE JUN
Grundlagen
picture-alliance / dpa / Carsten Rehder
Parteien bewerben sich um Ämter und Mandate, um so die Interessen und den Willen ihrer Wählerschaft zu artikulieren und zu repräsentieren. Sie binden damit Gruppen
und Individuen in das politische System ein. Plakate verschiedener Parteien zur Europawahl 2014 in Nortorf, Schleswig Holstein
Im politischen System Deutschlands sind Parteien zentrale verstehen sind. Wie Interessenverbände, Massenmedien, Bür-
Akteure. Ihre rechtliche Stellung ist im Grundgesetz und gerinitiativen, Kirchen oder soziale Bewegungen agieren sie
einem eigenen Parteiengesetz verankert. Sie vertreten die als Vermittlungsagenturen zwischen den Bürgerinnen und
Interessen gesellschaftlicher Gruppen, vermitteln zwischen Bürgern und dem staatlichen Bereich. Im Unterschied zu Inte-
Gesellschaft und Staat und agieren in repräsentativen ressenverbänden oder sozialen Bewegungen verfügen politische
Demokratien als politische Handlungsbevollmächtigte. Parteien allerdings über das Privileg, auf die Handlungsmöglich-
keiten eigener und anderer nach politischer Macht strebender
Gruppen oder Organisationen einwirken zu können. Sie sind die
Begriff, Entstehung und „Lebenszyklus“ einzigen, die direkt politische Macht ausüben und somit auch
von Parteien ihren eigenen Handlungsspielraum wesentlich mitbestimmen.
Die oben genannte Begriffsdefinition soll für den Parteitypus
der westlichen Demokratien etwas erweitert und in den Zu-
Den Begriff der politischen Partei eindeutig zu bestimmen sammenhang der ihnen zugedachten Aufgaben gestellt wer-
ist kein einfaches Unterfangen. Denn bei Parteien handelt es den: Als politische Parteien werden politische Organisationen
sich um sehr komplexe Organisationen, die aus unterschied- verstanden, die
lichen Blickwinkeln betrachtet werden können. Sie entwi- ¬ das politische Personal auswählen und rekrutieren,
ckeln programmatische Entwürfe für die künftige Gestaltung ¬ Ziele und Programme zur Durchsetzung im politischen Wil-
der Gesellschaft, sie stellen sich mit diesen Programmen zur lensbildungsprozess formulieren,
Wahl und bilden spezifische Organisationsstrukturen heraus. ¬ für Verständigung zwischen den politischen Akteuren auf
Mit Blick auf ihre zentrale Position und ihre Aufgaben in po- der staatlichen Ebene und den Wählerinnen und Wählern
litischen Systemen charakterisierte der deutsche Politikwis- sorgen,
senschaftler Ulrich von Alemann Parteien als „auf Dauer an- ¬ an der staatlichen und gesellschaftlichen Meinungsbildung
gelegte gesellschaftliche Organisationen, die Interessen ihrer mitwirken und
Anhänger mobilisieren, artikulieren und bündeln und diese in ¬ Entscheidungen im staatlichen Bereich zu steuern und zu
politische Macht umzusetzen suchen – durch Übernahme von koordinieren, zumindest aber zu beeinflussen suchen.
Ämtern in Parlamenten und Regierungen“.
Der Hinweis auf die Verankerung in der Gesellschaft soll zum Bei den Wählerinnen und Wählern werben sie um Unter-
Ausdruck bringen, dass politische Parteien nicht primär als stützung, bündeln, artikulieren und repräsentieren deren In-
staatliche, sondern zuvorderst als gesellschaftliche Akteure zu teressen und integrieren so Gruppen und Individuen in das
politische System. Ziel von politischen Parteien ist es, im poli- Rechtliche Stellung, Rolle, Aufgaben
tischen Wettbewerb ein Machtfaktor zu sein, um auf politische
Entscheidungen Einfluss ausüben zu können. Darüber hinaus Rechtliche Stellung
kommt ihnen die Aufgabe zu, für das politische System Legiti- In modernen Demokratien sind politische Parteien zentrale
mität herzustellen und zu sichern. Das jeweilige politische Sys- Akteure. Ihre besondere Rolle wird schon allein dadurch deut-
tem bestimmt ihre Handlungsmöglichkeiten, gleichzeitig kön- lich, dass sie ausdrücklich im Grundgesetz (GG) genannt wer-
nen politische Parteien dessen Strukturen jedoch mitgestalten. den, sie haben also Verfassungsrang. In Artikel 21 GG heißt es:
Demokratische Systeme geben dem Parteienwettbewerb einen
Rahmen, der die Macht politischer Parteien begrenzt und den
Machtwechsel zu anderen politischen Parteien ermöglicht. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung
des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung
Karrierestufen von Parteien muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.“ […]
Der deutsche Parteienforscher Oskar Niedermayer unterschei-
det sechs Karrierestufen, die eine Partei in ihrer Entwicklung
durchlaufen kann. Sie sind hier in leicht abgewandelter Form Die freie Gründung, verbunden mit dem im Grundgesetz
dargestellt. verbürgten Prinzip der Chancengleichheit, lässt politischen
¬ Teilnahme an Wahlen: Die rechtlichen Voraussetzungen Parteien als gesellschaftlichen Vereinigungen einen weiten
sind erfüllt, und es stehen Kandidierende in den Wahlkrei- Handlungsspielraum.
sen und/oder auf Listen bereit, um bei einer Parlaments- Im internationalen Vergleich ist der oben genannte, den
wahl gewählt zu werden. politischen Parteien zugestandene Verfassungsrang schon
¬ Wettbewerbsbeeinflussung: Die Aktivitäten der Partei be- recht selten anzutreffen; weitaus ungewöhnlicher ist jedoch
einflussen das Verhalten anderer Parteien im Wettbewerb, die konstitutionelle Verankerung der innerparteilichen De-
sichtbar an offenkundigen Reaktionen bzw. strategischem mokratie, die der Gesetzgeber damit den Parteien verpflich-
Verhalten (zumindest) einzelner Wettbewerber. tend auferlegt. Die herausgehobene Stellung in der Verfas-
¬ Parlamentarische Repräsentation: Die Partei ist in einem sung sowie ein eigens für politische Parteien geschaffenes
Landtag oder im Bundestag vertreten, in Deutschland bis- Gesetz verleihen den Parteien im Gegensatz zu anderen –
lang zunächst immer auf Länderebene. Sie gewinnt damit ausschließlich privatrechtlich organisierten gesellschaftli-
deutlich an Relevanz für die Wählerinnen und Wähler. chen Organisationen – eine privilegierte Position, sodass so-
¬ Einbeziehung in Koalitionsüberlegungen: Mindestens ein gar das Bundesverfassungsgericht von einem „Parteienprivi-
Mitbewerber erachtet die Partei für koalitionsfähig und be- leg“ spricht. Dies äußert sich zum einen darin, dass Parteien
kundet den Willen zu einer Regierungszusammenarbeit. staatlich finanziert werden können, und zum anderen darin,
¬ Regierungsbeteiligung: Die Partei übernimmt als kleinere dass nur das Bundesverfassungsgericht berechtigt ist, eine
Partei Regierungsgeschäfte und ist im Kabinett vertreten. Partei zu verbieten.
¬ Regierungsleitung: Die Partei stellt den Regierungschef. Das Verbotsverfahren kann ausschließlich auf Antrag des
Bundestages, des Bundesrates oder der Bundesregierung er-
Welche dieser Stufen eine Partei beschreiten kann, ist abhän- folgen. Antragsgegenstand ist die Verfassungswidrigkeit einer
gig von vielerlei Faktoren, die den Parteienwettbewerb prägen Partei. Eine Partei kann laut Artikel 21 (2) GG verboten werden,
(siehe auch S. 36 ff.). wenn sie darauf ausgeht, „die freiheitliche demokratische
Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder Wegen fehlender Ernsthaftigkeit ließ der Bundeswahlleiter
den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“. 2009 die von Martin Sonneborn, dem früheren Chefredak-
Dazu muss sie eine aktiv kämpferische Haltung gegenüber teur des Satiremagazins „Titanic“ geführte Partei für Arbeit,
der bestehenden Ordnung des Grundgesetzes einnehmen, das Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokrati-
heißt, die Gegnerschaft zum Grundgesetz muss durch konkre- sche Initiative – „Die Partei“ – nicht zur Bundestagswahl zu.
te Handlungen belegt werden. Andere Organisationen, die ge- 2013 jedoch durfte sie teilnehmen. Das Bundesverfassungs-
gen Verfassungsgrundsätze verstoßen, können dagegen von gericht hat 2013 auch eine Entscheidung des Bundeswahllei-
der Bundesregierung (Innenminister) oder den Landesregie- ters aufgehoben, mit der er der Partei „Vereinigung Deutsche
rungen verboten werden. Nationalversammlung (DNV)“ wegen fehlender Ernsthaftig-
Laut Artikel 21 (3) GG sollen Bundesgesetze „[d]as Nähe- keit die Teilnahme an der Bundestagswahl verweigert hat-
re regeln“. Diese Regelungen finden sich im Parteiengesetz te. Obwohl die Partei zum Zeitpunkt der Anmeldung nur 42
(PartG) von 1967 wieder. Es definiert in Paragraf 2, Absatz 1 Mitglieder hatte, kam das Verfassungsgericht zu dem Urteil,
eine Partei als „Vereinigung von Bürgern, die dauernd oder dass der Partei die Ernsthaftigkeit ihres Willens, politisch in
für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes die Öffentlichkeit hineinzuwirken, nicht abzusprechen sei.
auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an Diese Ernsthaftigkeit sollte objektiv gegeben sein, was be-
der Vertretung des Volkes im deutschen Bundestag oder ei- deutet, dass die Partei in der Lage sein sollte, in einem Parla-
nem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamt- ment mitzuwirken.
bild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Um- Gemäß dem Parteiengesetz müssen Parteien eine schrift-
fang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer liche Satzung und ein schriftliches Programm haben, sich in
Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit Gebietsverbände gliedern (außer im Falle eines Stadtstaates),
eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Ziel- regelmäßig Mitglieder- und Vertreterversammlungen abhal-
setzung bieten“. ten und mit dem Parteitag oder einer Hauptversammlung
Spezifiziert wurde diese Mitwirkung durch die Vorgabe, das oberste Organ des jeweiligen Gebietsverbandes bilden.
dass eine Partei in einem Zeitraum von sechs Jahren an min- Parteitage beschließen über die Programme, die Satzung,
destens einer Bundestags- oder Landtagswahl teilnehmen die Beitragsordnung, die Schiedsgerichte und die Fusion mit
muss, um ihren Status zu erhalten. Durch die Beschränkung anderen Parteien. Auch wählen Parteien einen Vorstand, der
auf die Bundes- oder Landesebene werden Parteien, die nur die Geschäfte des Gebietsverbandes führen soll und aus min-
auf der kommunalen Ebene antreten (Kommunalparteien, destens drei Mitgliedern bestehen muss. Diese Vorstände
sogenannte Rathausparteien), vom Parteienbegriff nicht mit können die tatsächlich anfallende Parteiarbeit jedoch nicht
eingeschlossen. Dies gilt auch für Parteien, die ausschließlich ohne weitere Unterstützung leisten. Daher steht ihnen ein
an Wahlen zum EU-Parlament teilnehmen, was möglicher- Parteiapparat zur Verfügung, der die Tagesgeschäfte führt,
weise dem Umstand geschuldet ist, dass das Parteiengesetz also beispielsweise den Großteil der Kommunikation mit
zwölf Jahre vor den ersten Direktwahlen zum Europäischen den Medien übernimmt, die Wahlkämpfe organisiert oder
Parlament verabschiedet wurde. Parteitage vorbereitet. (siehe auch S. 12 ff.)
Institutionelle Rahmenbedingungen
Politische Parteien handeln innerhalb eines jeweiligen poli-
tischen Systems mit seinen je eigenen Strukturen, Normen,
Regeln und Prozessen. Diese nehmen mittelbar Einfluss auf
Parteien, indem sie den Rahmen bestimmen, in dem politi-
sche Parteien sich bewegen. Diese Rahmenbedingungen von
Parteien begrenzen ihr Handeln wie etwa die Wahl ihrer Stra-
tegie, ihre programmatischen Alternativen oder organisati-
onsstrukturellen Möglichkeiten.
Das Regierungssystem Deutschlands ist eine demokratische,
parlamentarische Republik. Als solche muss sie Charakteristi-
ka aufweisen, die für eine Demokratie kennzeichnend sind:
¬ formale Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender Gewalt
(Legislative), gesetzesausführender Gewalt (Exekutive) und
der Rechtsprechung (Judikative);
¬ Pluralismus von Werten, Meinungen und Anschauungen,
picture-alliance / dpa / Rainer Jensen
Denn dadurch, dass sie in beiden Ebenen verortet sind und ihre tion und Repräsentation gesellschaftlicher Gruppen auch von
Repräsentanten sowohl staatliche wie gesellschaftliche Aufga- einzelnen Parteien geleistet werden können.
ben wahrnehmen, sind politische Parteien die bedeutendsten In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, Parteien als
Akteure im politischen Willensbildungs- wie Entscheidungs- multifunktionale Organisationen zu betrachten, die ein breites
prozess. Von der Erfüllung ihrer Aufgaben hängt es wesentlich Funktionsspektrum ausfüllen bzw. versuchen zu erfüllen. Von
ab, ob und in welchem Ausmaß die auf Basis von Parteien aus- Verbänden oder Bewegungen unterscheiden sich Parteien, in-
geübte politische Herrschaft sowohl effizient wie auch reprä- dem sie Kandidierende für öffentliche Ämter und Mandate zur
sentativ gegenüber Wählerwünschen und Bevölkerungsanlie- Wahl stellen. Die daraus gegebenenfalls resultierende Rekrutie-
gen ausgeführt wird. Damit gewährleisten politische Parteien rung für öffentliche Ämter und Mandate kommt auf regionaler
die Legitimität des demokratischen Systems, das heißt Vertrau- oder nationaler sowie europäischer Ebene nahezu einem Rekru-
en in und allgemeine Zustimmung für das politische System. tierungsmonopol gleich. Parteien stellen somit das Personal für
Zwar ergibt sich die Legitimität eines politischen Systems politische Beratungs- und Entscheidungsgremien bereit.
letztlich aus der Erfüllung der verschiedenen, in Folge zu nen- Eine unerlässliche Parteienfunktion ist auch die Artikula-
nenden Funktionen durch das gesamte Parteiensystem, doch tion bzw. Repräsentation von Interessen. Eine Partei vertritt
kann jede einzelne Partei durch ihr Handeln und ihr Wirken gesellschaftliche und politische Interessen ihr nahestehender
Unterstützung für demokratische Werte und Prozesse hervor- Gruppen. Parteien greifen Werte, Anliegen und Meinungen
bringen und damit zur Legitimation des politischen Systems der Bürgerinnen und Bürger auf und bündeln diese.
beitragen. Parteien sind somit ein unmittelbares und wir- Responsivität liegt dann vor, wenn eine Partei sich aufge-
kungsvolles Symbol der Demokratie. schlossen gegenüber den Interessen, Werten und Meinungen
ihrer Mitglieder oder Wählerschaft zeigt und sie zentral berück-
Aufgaben von Parteien sichtigt. Tatsächlich zeigen empirische Untersuchungen, dass
Neben den beiden zentralen Ebenen Staat und Gesellschaft zwischen den Präferenzen der Wählerschaft, die eine Partei für
gibt es weitere Möglichkeiten, um die Vielfalt der Handlungs- sich gewinnen kann, und der Partei selbst enge Verbindungsli-
räume und Einflussnahme politischer Parteien gedanklich nien existieren und politische Parteien nach wie vor die Positi-
zu strukturieren. So teilt der deutsche Politikwissenschaftler onen und Wünsche ihrer Wählerschaft bei der Ausgestaltung
Winfried Steffani ihre Tätigkeiten vier Sektoren zu. Danach ihrer Programme und auch in der Regierungspolitik im Auge
fungieren politische Parteien: haben. Die gelegentlich beschworene Formel „Die da oben ma-
¬ als Ausdruck sozialer Gruppen sowie ideologisch-program- chen doch, was sie wollen“ trifft demnach nicht die empirisch
matischer Vorstellungen und Ziele; nachweisbare Realität. Einen hohen Grad an Responsivität be-
¬ als Instrument der Machtausübung; weist eine Partei, wenn sie auch kaum durchsetzungsfähige
¬ als Vermittler demokratischer Legitimation; oder nur schwer vermittelbare Interessen und Meinungen der
¬ als Interessenvertreter in eigener Sache und als Rekrutie- unmittelbaren Parteisympathisanten aufgreift.
rungsfeld politischer Führung (Elitenrekrutierung). Es gibt Parteien, die möglichst viele soziale Gruppen hinter
sich vereinen möchten. Sie müssen entsprechend vielfältige
Die Funktionen werden dabei nicht nur von einzelnen Partei- Interessen bündeln und zusammenfassen, was auch wider-
en wahrgenommen, sondern vom Parteiensystem insgesamt. streitende Positionen einschließt und den Kompromisscha-
Dies gilt besonders für die Legitimationsfunktion, die – wie rakter von Großparteien (siehe S. 38) wie der CDU oder der SPD
bereits gesagt – vornehmlich vom Parteiensystem in seiner erklärt. Diese Bündelung (Aggregation) unterschiedlicher
Gesamtheit erfüllt wird, während Elitenrekrutierung, Integra- Interessen und Meinungen zeigt sich oftmals im Inneren
durch die Bildung verschiedener Flügel, Vereinigungen oder ¬ Bestimmung von politischen Inhalten (Policy-Funktion),
Strömungen, nach außen durch den Versuch, programmatisch ¬ Mobilisierung und Integration der Wähler- und Mitglied-
und pragmatisch möglichst umfassend soziale Gruppen anzu- schaft,
sprechen und zu integrieren. ¬ Rekrutierung des politischen Personals,
Das Formulieren von Programmen und die Interpretations- ¬ Regierungsbildung und Oppositionsarbeit.
angebote der Parteien zur Lösung politischer, sozialer oder
ökonomischer Probleme werden unter der Funktion der Ziel- Parteien im Föderalismus
findung zusammengefasst. Dabei kann die Formulierung ent- Das Wirken von Parteien hat auch eine territoriale Dimension.
sprechender Programme als nach innen gerichtete Aktivität In Deutschland verteilen sich politische Macht und Kompeten-
gelten, während die Vermittlung der Programme eine nach zen vertikal auf Bund, Länder und Kommunen. Diese bundes-
außen gerichtete Leistung der Parteien darstellt. Mit ihren Pro- staatliche, föderale Ordnung sichert den Ländern ein Mindest-
grammen präsentieren Parteien der Gesellschaft Deutungs- maß an Autonomie und beteiligt sie – vor allem durch ihre
muster bzw. Orientierungsrahmen und bringen damit im Par- Mitwirkung an der Gesetzgebung im Bundesrat, der instituti-
teienwettbewerb ideologische oder sachpolitische Differenzen onellen Vertretung der Länder – an der Entscheidungsfindung
bzw. Kontroversen zum Ausdruck. auf Bundesebene. Zu diesem nationalstaatlichen vertikalen
Gleichzeitig wirken Parteien integrativ, indem sie die In- Mehrebenensystem kommt eine supranationale Ebene in Ge-
teressen sozialer Gruppen vertreten. Denn auf diesem Weg stalt der Europäischen Union (EU).
binden sie diese Gruppen in das politische System ein, ma- Dies hat Rückwirkungen auf Parteien, die dementsprechend
chen sie mit dessen Werten und Normen vertraut und bieten nicht nur auf gesamtstaatlicher Ebene, sondern auch auf der
ihnen Mitwirkungsmöglichkeiten an. Die Integration erfolgt Ebene der Kommunen, der Bundesländer und der EU agieren.
durch Teilnahme an Wahlen, durch Engagement innerhalb Während der unmittelbare Einfluss der europäischen Ebene auf
der Parteiorganisation und durch Beteiligung an weiteren Parteien von der Forschung als relativ gering eingestuft wird,
Willensbildungsprozessen. Freiwilliges Engagement in Par- lässt sich von größerem Einfluss der regionalen Ebene, im deut-
teien stellt in dieser Lesart eine Art Bewegung von unten schen Fall: der Bundesländer, sprechen. Die Einflüsse wirken
dar, indem die Gesellschaft parteiliche Basisorganisationen aber nicht nur in eine Richtung, sondern sind wechselseitig. Sie
bildet, um das politische Geschehen mitbestimmen zu kön- zeigen sich zum Beispiel in
nen. Ähnlich wie ein Volksbegehren die Initiative gesell- Konsensorientierung: Die Parteien, bislang vor allem die
schaftlicher Gruppen verlangt, ist die Mitwirkung in politi- Großparteien CDU/CSU und SPD, stellen die Exekutiven des
schen Parteien der aktive Ausdruck von Teilnahmeabsichten. Bundes und der Länder, die jeweils über wesentliche Entschei-
Die Beteiligung an Wahlen verlangt demgegenüber weniger dungskompetenzen verfügen und auf enge wechselseitige Ko-
Engagement, hier wirkt die Partei immerhin als Mobilisator operation angewiesen sind, um ihrer Regierungsarbeit zum Er-
und Einflusskanal. folg zu verhelfen. Dies entspricht den Vorgaben des politischen
Um den Vorstellungen ihrer Anhängerschaft oder auch da- Systems, das, als kooperativer Föderalismus angelegt, Konsens-
von unabhängigen Positionen und Inhalten Wirkungsmacht zu und Kompromissbildung in den Vordergrund stellt.
verleihen, bedarf es in Parteiendemokratien öffentlicher Ämter. Diese Strukturen des föderalen Systems verstärken auch die
Daher sind Regierungsbeteiligung bzw. Oppositionsarbeit Konsensorientierung der Großparteien CDU/CSU und SPD, die
unmittelbare Funktionen von Parteien. Die Besetzung von Re- in der Parteienforschung weitgehend konstatiert wird. Denn
gierungsämtern mit Parteirepräsentanten und die Ausrichtung durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen im Re-
der Regierungspolitik gelten als wichtige Charakteristika von gierungssystem, die zumeist durch die Suche nach gemeinsa-
Parteiendemokratien. Auch die Organisation parlamentari- men Lösungen für Probleme bestimmt wird, entstehen ähnli-
scher Prozesse wird durch Vertreter der Parteien vollzogen. Das che Denkmuster und Problemlösungsansätze, welche eher zu
Parlament bildet sich in modernen parlamentarischen Demo- einer Annäherung der Parteien beitragen und Konsens zu einer
kratien aus Parteifraktionen, die als eigenständige, aber mit gemeinsamen Aufgabe machen.
ihren jeweiligen außerparlamentarischen Parteiorganisatio- Insbesondere beiden Großparteien gelang es immer wieder,
nen eng zusammenwirkende Einheiten zu betrachten sind. Als mittels informeller Gespräche oder Verhandlungen Problemlö-
Regierungs- oder Oppositionspartei treffen sie Entscheidungen sungen und Kompromisse zu entwickeln. Daher hat der Politik-
über Politikinhalte und üben somit unmittelbaren Einfluss im wissenschaftler Manfred G. Schmidt nicht zu Unrecht von einer
politischen Entscheidungsprozess aus; sie fungieren als Kon- „informellen Großen Koalition“ gesprochen und einer seiner
fliktlöser und -schlichter. Staatliche Regelsetzung obliegt wei- akademischen Lehrer, Gerhard Lehmbruch, von einer Tendenz
testgehend ihnen. Entscheidungen über die Inhalte von Politik zur Allparteienregierung, wobei es hauptsächlich die beiden
fallen aber vermehrt in Netzwerken, in denen außer staatlichen Großparteien waren, die diesen Konsens herstellten.
auch gesellschaftliche Akteure (Nichtregierungsorganisatio- Wettbewerbs- und Signalwirkung: Dass die Parteienkonkur-
nen, Verbände, Bürgerinitiativen und Experten) mitwirken. renz vor dem Hintergrund der verflochtenen politischen Struk-
Um öffentliche Ämter und Mandate besetzen zu können, turen von Bund und Ländern betrachtet werden sollte, zeigt
muss eine Partei Erfolge bei Wahlen erzielen. Dies versuchen sich mit Blick auf die Bedeutung von Landtagswahlen für den
Parteien durch die Mobilisierung ihrer Anhänger oder Wech- gesamtdeutschen Parteienwettbewerb.
selwähler zu erreichen. Die Mobilisierungsleistung der Partei- So wird bei Landtagswahlen immer auch über die Zusam-
en ist nach wie vor vergleichsweise hoch. mensetzung des Bundesrates entschieden. Gewinnt in ihm die
Zusammenfassend lassen sich fünf zentrale Funktionen für politische Konstellation die Mehrheit, die auch im Bund die Re-
politische Parteien in westlichen Demokratien benennen, die gierung führt, kann die Regierungsmehrheit des Bundestages
wiederum weiter ausdifferenziert werden können: ihre Gesetzesvorhaben in der Regel reibungsloser durch den par-
¬ Responsivität durch Interessenartikulation, -repräsentation lamentarischen Gesetzgebungsprozess führen. Sind die Bundes-
und -aggregation, regierung und die Mehrheit des Bundestages jedoch parteipoli-
Parteien agieren auf allen staatlichen Ebenen: in der Kommune, hier Ratssitzung
in Flensburg, …
tisch unterschiedlich ausgerichtet, nutzt der Bundesrat häufiger
die Möglichkeit, umstrittene Gesetzesvorhaben wirkungsvoll zu
picture-alliance / BeckerBredel
UWE JUN
angebend. Entscheidungen auf Bundesparteitagen werden innerhalb der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD
gelegentlich von Landesverbänden vorbereitet, und auch Landesgruppen mit eigenen Statuten. Besonders Landesver-
Absprachen finden nicht selten bereits im Vorfeld statt. Wei- bände mit hohen Mitgliederzahlen haben innerhalb der Par-
terhin relevant sind die Landesverbände bei der Besetzung teien erheblichen Einfluss. Der Bundesverband einer Partei
von Ämtern und Mandaten auf der Bundesebene sowohl in umfasst alle bestehenden Landesverbände, bestimmt die
der Partei wie bei der Besetzung von Positionen in Parlamen- Parteiführung (Bundesvorstand, Präsidium) und unterhält
ten und in der Bundesregierung. So gibt es beispielsweise eine Bundesgeschäftsstelle in Berlin.
Parteien gliedern sich in Bundes-, Landes-, Regional- und Kommunalverbände. Oberstes Organ und formal Entscheidungsgremium einer Partei
ist der Parteitag, der auf allen Ebenen stattfindet. Abstimmung auf dem Bundesparteitag der Piraten 2013 in Neumarkt in der Oberpfalz
Höchstes Organ und damit formal zentrales Entscheidungs- in der Regel nicht in den Parteiensatzungen verankert und ha-
gremium einer Partei ist der Parteitag. Parteitage finden auf ben somit auch keine Entscheidungskompetenzen. Sie dienen
allen Ebenen (Kreis, Land, Bund) statt, wobei die Delegierten den Delegierten vielmehr dazu, Präsenz vor den Parteimitglie-
der jeweiligen Parteitage immer auf den Parteitagen der je- dern zu zeigen und geben den Mitgliedern an der Parteibasis
weils darunter liegenden Ebene gewählt werden. Parteitage die Möglichkeit, mit Parteiprominenten zu diskutieren. Auf
müssen nicht auf Vertreter, also Delegierte, beschränkt sein, diese Weise gelingt es den Vorsitzenden der Parteien vor allem
sondern können auch als für alle Mitglieder offen zugängliche in Wahlkampfzeiten, Mitglieder für sich zu begeistern und zu
Mitgliederversammlungen abgehalten werden. Aus Gründen mobilisieren sowie kontroverse Themen im direkten Kontakt
der Organisation und Logistik (alleine bei der CDU könnten zu besprechen.
potenziell auf Bundesparteitagen 476 000 Mitglieder erschei- Doch nicht nur Vorsitzende können die Regionalkonferen-
nen) überwiegt auf Landes- und Bundesebene jedoch die De- zen für sich nutzen: So veranstaltete Angela Merkel als dama-
legiertenversammlung, während die unteren Ebenen häufiger lige Generalsekretärin der CDU im Jahr 2000 sieben Regional-
Mitgliederversammlungen veranstalten. Die etablierten Par- konferenzen der CDU-Landesverbände und machte sich damit
teien sind – bis auf die FDP – dazu übergegangen, zwischen breiten Parteikreisen bekannt, bevor der amtierende Fraktions-
den jährlich oder alle zwei Jahre stattfindenden ordentlichen und Parteivorsitzende Wolfgang Schäuble zurücktrat. Mit der
Parteitagen „Kleine Parteitage“ einzuberufen, da die themati- gewonnenen Unterstützung der Basis konnte Angela Merkel
sche Breite, der sich Parteien stellen müssen, nicht mehr im im April 2000 dann zur Parteivorsitzenden gewählt werden.
Rahmen der ordentlichen Parteitage bewältigt werden kann. Wenngleich die Strukturen und Funktionen einer Parteior-
Ein weiteres wesentliches Organ bilden die Vorstände, die ganisation recht eindeutig beschreibbar scheinen, war doch
vor allem auf Bundesebene den schon erwähnten Parteiap- lange unklar, wie Parteizentralen konkret arbeiten. So ist es
parat benötigen (siehe S. 6), um die ihnen zugewiesenen Auf- gerade Aufgabe der hauptamtlichen Parteimitarbeiter in
gaben der „Geschäftsführung“ erfüllen zu können. Zur effekti- den Geschäftsstellen der Parteien (party in central office), die
veren Organisation bilden diese Vorstände Präsidien aus, die Zahnräder der Parteiarbeit ineinander greifen zu lassen und
als enger Zirkel entscheidungs- und leistungsfähig sein sollen das „Getriebe instand zu halten“. Sie erledigen die bürokra-
und den organisatorischen Kern der Vorstände bilden. tischen Arbeiten, welche die innerparteiliche Infrastruktur
Zusammenfassend kann man die Parteitage als eine Art gewährleisten und organisieren nicht nur Parteikampagnen,
„Legislativorgan“ begreifen, also als diejenige Instanz, die über sondern verwalten auch die Parteimitglieder, drucken und
grundsätzliche Fragen beschließt und diese Beschlüsse ver- versenden Informationsmaterial und sind meist eng verzahnt
bindlich für die Partei verabschiedet, während die Vorstände mit der Partei „vor Ort“. Zum größten Teil sind die bezahlten
und vor allem die Präsidien als „Exekutive“ die Beschlüsse der Geschäftsstellenmitarbeiter Mitglieder der jeweiligen Partei
Parteitage ausführen. Vorstand und Präsidium leiten die Par- und engagieren sich zusätzlich bei der örtlichen Parteiarbeit;
tei im Alltagsgeschäft der Politik. wer morgens noch in der Geschäftsstelle vor dem Rechner sitzt
und die Mitgliederkarteien verwaltet, der sitzt oft abends im
Informelle und formelle Parteigremien örtlichen Gemeinde-, Bezirks- oder Stadtrat.
Im Vorfeld zur Bundestagswahl 2013 war häufig die Rede von Ein weiteres Element der Organisationsstruktur von Partei-
sogenannten Regionalkonferenzen, auf denen sich die Vorsit- en sind die Parteischiedsgerichte. Diese können bei Satzungs-
zenden der Parteien zeigten. Diese Regionalkonferenzen sind streitigkeiten angerufen werden, Entscheidungen bei Wahlan-
es ihn kosten kann. […] Im Dienen liegt aber vor allem eine
Chance, Angela Merkel war CDU-Generalsekretärin und hat
im Anschluss Karriere gemacht. Das hat auch Markus Söder,
von dem der Satz stammt, Beliebtheit gehöre nicht zur Stel-
lenbeschreibung. […]
Lautsprecher zu sein ist im Internet-Zeitalter leichter ge-
worden, weil jeder Wortfetzen irgendwo registriert wird.
Aber auch schwerer, weil es nun so viele Wortfetzen sind. […]
Ja, viele Wähler dürften reflexhaften Streit wirklich sattha-
ben. Aber es gibt auch weiterhin eine Sehnsucht nach leb-
hafter Auseinandersetzung. Wahrscheinlich ist es so: Wer es
leise mag, dem sind die Generalsekretäre zu laut; wer es laut
mag, dem sind sie zu leise.
Robert Haas / Süddeutsche Zeitung Photo
erhoben und wie diese gestaffelt werden, obliegt den Partei- mitgliedschaften in den 1970er-Jahren auf ein Niveau an, das
en und ist in ihren Statuten bzw. Finanz-/Beitragsordnun- heute nicht mehr erreichbar scheint (alleine die SPD hatte 1976
gen geregelt. Parteien müssen übrigens nicht jedes beitritts- und 1977 mehr als eine Million Mitglieder). Die Vereinigung
willige Mitglied aufnehmen, sie können Aufnahmeanträge Deutschlands im Jahr 1990 konnte zwar einigen Parteien ein
ablehnen. Beispielsweise gilt in fast allen Parteien das Un- Kurzzeithoch der Mitgliederzahlen bescheren, doch zeigte sich
vereinbarkeitsgebot, das heißt, dass eine Mitgliedschaft in im Laufe der Jahre, dass die Parteien weiterhin mehr Austritte
der einen unvereinbar mit einer Mitgliedschaft in einer an- als Eintritte verzeichnen mussten. Woran liegt es, dass Mitglie-
deren Partei ist. der aus Parteien ausscheiden? Als Erklärungsansätze gibt es
¬ die demografische Begründung: Parteimitglieder sind im
Entwicklung der Parteimitgliedschaften Durchschnitt relativ alt. So lag 2012 das Durchschnittsalter
Die Parteimitgliedschaften sind im Rückgang begriffen. Dass der Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen bei 48 Jahren,
das nicht immer so war, zeigt der Blick auf die Entwicklung seit womit diese noch die „jüngste“ aller Parteien ist. Bei der FDP
der Gründung der Bundesrepublik 1949. So stiegen die Partei- betrug das Durchschnittsalter 53 Jahre, bei CDU, CSU und
versammlungen, aber auch in der Teilnahme an Festen und außerhalb der Partei, auf den Wunsch nach Mitwirkung bei po-
geselligen Runden. Diese Seite der Parteiorganisation hat ei- litischen Entscheidungen, generell nach Gestaltung von Politik.
nen Vereinscharakter und kann daher als die Vereinsseite des Immer wieder wird beim Thema Parteimitgliedschaften
Parteilebens bezeichnet werden. auf die Politik- und hier spezieller auf die Parteienverdrossen-
Instrumentelle Bindungsmotive liegen vor, wenn die Mit- heit der Bevölkerung hingewiesen. In der Tat: Parteien genie-
gliedschaft als Instrument zur Erreichung bestimmter indivi- ßen keinen allzu guten Ruf in der Bevölkerung. So ergab bei-
dueller Zwecke und Ziele dient, wobei diese in politisch-instru- spielsweise eine Befragung der Bertelsmann Stiftung im Jahr
mentelle und materielle zu unterscheiden sind. Von materiellen 2014, dass Parteien auf einer Skala von +5 (absolutes Lob) bis
kann dann gesprochen werden, wenn der/die Einzelne mit der -5 (absoluter Tadel) lediglich einen Wert von -0,8 erhalten. Die
Parteibindung eigene materielle Vorteile verbindet. Politisch-in- Parteienforschung steht der Behauptung, dass dies auf eine
strumentelle Bindungsmotive sind auf Ziele und Prozesse des grundsätzliche Parteienverdrossenheit schließen lasse, skep-
politischen Systems bezogen. Zielbezogen ist eine Parteibin- tisch gegenüber: Der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die
dung, wenn sie genutzt wird, um allgemein politische Anliegen den Parteien wohlwollend oder gar begeistert gegenüberste-
gesellschaftlicher Interessen zu unterstützen bzw. durchzu- hen, hat sich in den letzten Jahren eher erhöht, der Anteil der
setzen. Die entsprechende Person will mit ihrem Engagement Verdrossenen, also derer, die alle Parteien im Parteienspektrum
deutlich machen, welche gesellschaftlichen Zielverwirklichun- ablehnen, bleibt dagegen auf einem relativ niedrigen Niveau.
gen sie als zentral ansieht und versucht, ihren Beitrag zur Lö- Schöpfen können die Parteien aus einem Pool von Personen,
sung der Probleme einzubringen. Wer aus zielbezogenen poli- die prinzipiell bereit sind, einer Partei beizutreten, dies jedoch
tisch-instrumentellen Bindungsmotiven einer Partei beitritt, aufgrund gewisser Hemmnisse (noch) nicht tun. Diese Perso-
der hat konkret Mitwirkung an der Politikgestaltung im Sinn. nen, die zum Parteibeitritt bereit sind, machen circa 15 Prozent
Wer eher prozessbezogene Bindungsmotive hat, der will Poli- der Wahlberechtigten in Deutschland aus.
tik verarbeiten und sucht nach Information, Einsicht und blo- Parteimitglieder, sowohl langjährige als auch Neuzugän-
ßer Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess. Die poli- ge, zeichnen sich dadurch aus, dass sie zumeist männlich
tisch-instrumentellen Bindungsmotive zielen insgesamt auf und im Alter zwischen 50 und 64 Jahren sind, einen höheren
Teilhabe ab, auf die Übernahme politischer Ämter inner- und Bildungsabschluss als der Bevölkerungsdurchschnitt haben
(„Akademisierung“) und häufiger als Beamte oder Angestellte der haben in der „Mutterpartei“ dann jedoch weder aktives
im Öffentlichen Dienst arbeiten – in einem Berufsumfeld, das noch passives Wahlrecht).
ihnen nach landläufiger Meinung den notwendigen Freiraum ¬ die Mitgliedschaft in Unterorganisationen: Hier treten Mit-
gewährt und ein natürliches Interesse nahelegt, sich in der ei- glieder einer Unterorganisation der Partei bei, die relativ
genen Freizeit Parteiaktivitäten zu widmen. autonom ist, der Partei aber dennoch nahesteht. Die Unter-
Zusätzlich ist die schon oben angesprochene Wirksamkeit ein scheidung zur direkten Mitgliedschaft fällt schwer, weil die
ausschlaggebender Faktor zum Eintritt in eine Partei: Wenn be- Mitgliedschaft in Unterorganisationen meist untrennbar
stehenden Mitgliedern dieses Gefühl der eigenen Wirksamkeit mit der Mitgliedschaft in der „Mutterpartei“ verbunden ist.
verloren geht, treten sie aus einer Partei aus; wenn Menschen ¬ die direkte Mitgliedschaft: Dies ist der Parteibeitritt in „Rein-
jedoch das Gefühl eigener politischer Wirksamkeit gar nicht form“. Mitglieder treten der Partei direkt bei, indem sie den
erst entwickeln, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, Aufnahmeantrag ausfüllen und abschicken. Heutzutage ist
dass sie einer Partei überhaupt erst beitreten. Umgekehrt ist die dies auch online möglich, was das bürokratische Hemmnis,
Wahrscheinlichkeit des Beitritts hoch, wenn Bürgerinnen und einer Partei beizutreten, vermindern soll.
Bürger das Gefühl haben, sie könnten politisch wirksam sein.
Entscheidend für den Beitritt sind politisches Interesse und Zudem kann man das Aktivitätsniveau der Parteimitglieder
der formale Bildungsabschluss; je höher beides ausfällt, umso unterscheiden, wie es in der Deutschen Parteimitgliederstudie
wahrscheinlicher wird die Beitrittswilligkeit. von 2009 erfolgte: So ist der Teil der Mitglieder, die sich selbst
als sehr aktiv beschreiben, bei allen Parteien recht gering, wo-
Parteimitgliedertypen bei der Gesamtwert bei sechs Prozent liegt (berücksichtigt
Die Parteiforschung unterscheidet vier Formen der Parteimit- wurden CDU, CSU, SPD, FDP, Linke, Bündnis 90/Die Grünen).
gliedschaft Mitglieder der CSU sind dabei seltener sehr aktiv (4 Prozent),
¬ die korporative Mitgliedschaft: Hier treten Parteimitglieder Mitglieder der FDP sind häufiger sehr aktiv (10 Prozent). Die
gar nicht aktiv ein, sondern treten einer Partei über eine Mit- Spanne der ziemlich aktiven Mitglieder reicht von 20 Prozent
gliedschaft in anderen Organisationen bei, wie z. B. einer Ge- bei der CDU sowie der CSU bis hin zu 28 Prozent bei der Linken
werkschaft. Korporative Mitglieder haben häufig jedoch an- und beträgt im Mittel 21 Prozent.
dere Rechte und Pflichten als „ordentliche Parteimitglieder“. Wenig aktiv ist der Großteil der Mitglieder: Hierunter fallen
¬ die affiliierte (lat.: an-, eingliedern) Mitgliedschaft: Affi- „nur“ 35 Prozent der Grünen, aber 48 Prozent der Linken. Be-
liierte Mitglieder treten Organisationen bei, die formale trachtet man alle untersuchten Parteien, so kann ein Mittel-
Bindungen zu einer Partei haben (z. B. den Jusos, der JU). wert von 42 Prozent ausgemacht werden. Auch recht hoch ist
Diese nehmen auch an der Parteiarbeit teil, zum Beispiel damit der Anteil der überhaupt nicht aktiven Parteimitglieder,
dadurch, dass sie Vertreter in Gremien entsenden. Affiliier- die bei der Linken nur 16 Prozent, bei den Grünen hingegen 34
te Mitglieder müssen sich im Gegensatz zu korporativen Prozent ausmachen und einen Mittelwert von 31 Prozent aller
Mitgliedern aktiv für den Beitritt zu einer der Partei nahe- untersuchten Parteien bilden.
stehenden Organisation entschlossen haben, sie müssen Interessant ist der Zusammenhang von Aktivität der Parteimit-
dabei aber nicht notwendigerweise Mitglied der Partei glieder und den bereits oben beschriebenen Beitrittsanreizen: So
selbst sein (so z. B. bei den Jusos, bei denen eine Mitglied- sind die meisten aktiven Parteimitglieder dabei, weil ihnen die
schaft ohne SPD-Mitgliedschaft möglich ist; diese Mitglie- Parteiarbeit selbst Spaß macht. Dahinter folgen das Gefühl, die
Zuletzt bleibt anzufügen, dass Mitglieder als Politikinnovato- ¬ Die Parteiführung ist den Mitgliedern für ihr Handeln re-
ren gelten können, neue Ideen entwickeln und Vorschläge zur chenschaftspflichtig.
politischen Praxis, aber auch zur Mitgliederwerbung einbrin-
gen können. Diese Funktion ist jedoch heute eher in den Hin- Die andere Spielart ist die elektorale Mitgliederpartei: Für die-
tergrund getreten und nur der Vollständigkeit halber genannt, se steht vor allem der Stimmengewinn im Vordergrund, der
denn in dieser Rolle herrschen heute meist externe Politikbera- Wählermarkt ist also das primäre Ziel dieser Parteien, während
ter und strategische Zentren vor, an denen das „einfache“ Mit- die innerparteiliche Demokratie sowie die Mitgliederpartizipa-
glied nicht teilnimmt. tion eher sekundär sind. Dennoch müssen auch diese Parteien
Es lässt sich also festhalten: Parteimitglieder generieren weit die rechtlichen Vorgaben des demokratischen Aufbaus einhal-
überwiegend einen Nutzen für ihre Partei, können jedoch auch ten und ein Mindestmaß an Teilhabe gewährleisten.
Nachteile mit sich bringen. Die Ambitionen der Mitglieder, inner- Fraglich bleibt, ob die Mitgliederparteien nach der Unter-
halb von Parteien auch substanziell mitwirken zu können, stellen schreitung eines gewissen kritischen Schwellenwertes in der
die Parteispitzen vor neue organisatorische Herausforderungen, Lage sind, den Geboten des Grundgesetzes sowie des Partei-
die in den nächsten Abschnitten diskutiert werden sollen. engesetzes Folge zu leisten. Während die Parteien gegenwär-
tig zwar Mitglieder verlieren, so scheinen sie doch noch lange
nicht an diesem kritischen Punkt angelangt zu sein.
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Gesellschaftliche
Verankerung
und Wähler ein konturiertes Bild über die Politik der Partei Milieubildung und Konfliktlinien
haben;
¬ Ein Mindestmaß an Responsivität der Partei in Form von Selbstständig außerhalb des Parlaments organisierte Parteien
Übereinstimmung zwischen Wählerwillen und Parteihan- wurden in Deutschland nach der Gründung des Deutschen
deln ist erkennbar. Kaiserreichs 1870/71 zu nahezu dauerhaften Instrumenten der
politischen Meinungs- und Willensbildung. Kollektiv geteilte
Mit der Verbreitung des allgemeinen Wahlrechts zu Beginn Werte- und Deutungssysteme mit spezifischen Leitbildern und
des 20. Jahrhunderts und der daraus hervorgehenden Mas- -ideen wie soziale Gleichheit, Gerechtigkeit oder Betonung von
sendemokratie wurde es für politische Parteien unerlässlich, Freiheitswerten bildeten integrative Klammern und sollten
komplexere organisatorische Strukturen zu entwickeln, um die die Identifikation und Motivation der jeweiligen Anhänger-
politische sowie die soziale Integration ihrer Anhängerschaft schaft garantieren. Weltanschauungen wie Liberalismus,
in der Demokratie sicherzustellen. Auch für das demokratische Konservatismus, Sozialismus oder die katholische Soziallehre,
Prinzip, dass Entscheidungen auf das Volk zurückgehen, wurde Parteiprogramme und einzelne Symbole, gemeinsam geteilte
der Parteienwettbewerb unerlässlich. Moderne Massendemo- Werte, aber auch Erfahrungen und Erlebnisse sind Ausdruck
kratien sind ohne Parteien nicht möglich. Nur durch den Partei- einer kollektiven Identität. Die daraus hervorgegangenen ge-
enwettbewerb haben die Bürgerinnen und Bürger die Chance, sellschaftlichen Milieus haben sich zwar im Laufe des 20. und
zwischen konkurrierenden Angeboten der Parteien zu wählen zu Beginn des 21. Jahrhunderts weitgehend aufgelöst, aber in
und so den Kurs der Politik zu bestimmen. Bieten Parteien diese abgeschwächter Form prägen sie die Identität und die Images
Alternativen nicht an, dann haben die Stimmberechtigten nicht von Parteien heute nach wie vor. Hervorzuheben sind:
ernsthaft eine Möglichkeit, der politischen Mehrheit im Bun- ¬ die gewerkschaftlich gebundene Arbeiterschaft und Hand-
destag ein inhaltlich bestimmtes Mandat zu erteilen. werker als traditioneller Kern sozialdemokratischer und so-
Um eine stabile gesellschaftliche Verankerung zu garantie- zialistischer Parteien;
ren, bilden politische Parteien Organisationsstrukturen aus, ¬ das katholische Milieu, das als Gesinnungsgemeinschaft
das heißt, sie etablieren Strukturen, um einerseits in die Ge- auftrat und nach 1945 den überkonfessionellen Parteien
sellschaft hinein zu wirken und andererseits in staatlichen In- CDU und CSU nahe stand;
stitutionen wirksam agieren zu können. Sichtbarstes Zeichen ¬ das zahlenmäßig deutlich kleinere protestantisch-bürger-
einer solchen Organisationsstruktur sind die Mitglieder in liche Milieu aus freiberuflich Tätigen, Mittelständlern und
den Ortsvereinen oder die Geschäftsstellen in Städten und Ge- Bildungseliten, das mit liberalen Parteien sympathisierte.
meinden. Die Mitgliederbasis stellt ein wichtiges Bindeglied
einer Partei zur Gesellschaft her, denn die Mitglieder kommen Diese Milieus manifestierten bis in die 1970er-Jahre hinein
aus der Gesellschaft und wirken in diese hinein. prägende Konfliktlinien im deutschen Parteiensystem. Eine
picture-alliance / Magnussen-Foto
Traditionelle Milieuverbundenheit: Das katholische Milieu stand eher der CDU/CSU nahe: Bundeskanzler Konrad Adenauer 1961 beim Gottesdienstbesuch in Rhöndorf bei
Bonn. Die Arbeiterschaft wählte dagegen eher die Sozialdemokraten: Willy Brandt 1965 auf einer Wahlkampfveranstaltung in Frankfurt/M.
Inhaltliche Nähe und gemeinsame Interessen sind auch für die Kooperation zwischen Verbänden und Parteien bestimmend. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit
(v. li. n. re.) dem Präsidenten des DIHT, dem BDI-Vorsitzenden und dem Arbeitgeberpräsidenten im November 2015 auf dem Deutschen Arbeitgebertag in Berlin, …
… Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit den Vorsitzenden der IG-Metall und des DGB im November 2015 beim DGB-Digitalisierungskongress in Berlin
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Medien nehmen als zentrale Informationsvermittler und Insbesondere, wenn es um die Politikvermittlung geht, neh-
Interpreten politischer Entscheidungen in modernen Demo- men Medien als Anbieter von Informationen und Interpreten
kratien eine herausragende Stellung ein. Die Parteien suchen politischer Entscheidungen eine herausragende Stellung ein.
der vielfältigen Medienlandschaft und ihren steigenden Dabei sind sie keineswegs nur Vermittler politischer Informa-
Anforderungen durch Professionalisierung und Ausdifferen- tionen, sondern handeln autonom und sind neben den politi-
zierung der politischen Kommunikation zu entsprechen. schen Akteuren sowie den Bürgerinnen und Bürgern als eine
der drei Hauptakteursgruppen zu verstehen.
Anhand eigener Kriterien, sogenannter Nachrichtenfaktoren,
Akteure der politischen entscheiden Medien selbstständig, welche der täglich zahlreich
Kommunikation zur Verfügung stehenden Informationen von ihnen aufgenom-
men und verbreitet, somit einer politischen Öffentlichkeit zu-
gänglich gemacht werden. Sie erschaffen auf diesem Weg eine
Ohne Medien und die durch sie hergestellte Öffentlichkeit mediale Realität des politischen Geschehens, welche nur aus-
wäre es ungemein schwierig, Kenntnis von politischen Ereig- schnitthaft, medialen Logiken folgend, die viel umfassendere
nissen und Vorgängen zu bekommen. Schließlich haben nur politische Gesamtrealität abbildet.
wenige Bürgerinnen und Bürger unmittelbaren Kontakt zu Auf diese Weise regeln Medien den Zugang von politischen
politischen Akteuren und Organisationen wie Parteien. Was Akteuren zur Öffentlichkeit, definieren Spielregeln und len-
wir über Politik wissen, haben wir weit überwiegend aus den ken die Aufmerksamkeit ihrer Nutzerinnen und Nutzer (Rezi-
Medien erfahren, seien es die Fernsehnachrichten, die Ta- pienten) auf einzelne Themen und Personen, auf andere dafür
geszeitung, das Rundfunkinterview oder Internet-Angebote, nicht. Sie bilden Rangfolgen von Nachrichten (was kommt auf
Blogs und Tweets. Für sehr viele Bürgerinnen und Bürger ist die Titelseite bzw. welche Nachricht steht am Anfang einer
Politik mittlerweile ein reines Medienereignis. Nachrichtensendung), sie stellen eine Information in einen
Medien sind also in modernen westlichen Demokratien bestimmten Kontext, und sie entscheiden über die Relevanz
zentrale Akteure im Bereich der politischen Kommunikation. von politischen Themen oder über die Wahrnehmung von
Ohne sie lässt sich keine breite politische Öffentlichkeit her- einzelnen Persönlichkeiten des politischen Lebens wesentlich
stellen, um die Akzeptanz und Legitimität von demokratischer mit. Sie nehmen Einfluss auf die Politik wie auf die Wählerin-
Politik sicherzustellen. Politische Legitimität und Akzeptanz nen und Wähler, ohne dass methodisch erfassbar wäre, wie
stützen sich auf mediale Kommunikation. hoch der jeweilige Einfluss ist.
Medien entscheiden, ob und wie Personen des öffentlichen Lebens wahrgenommen wer- Medien brauchen Stoff für ihre Berichterstattung, Parteien wollen öffentliche Auf-
den. Eine besondere Rolle spielten dabei die Titelseiten der Boulevardpresse. Schlagzeile merksamkeit für ihre politischen Positionen. Pressetermin des NSU-Untersuchungs-
zum Rücktritt Christan Wulffs vom Bundespräsidentenamt am 18. Februar 2012 ausschusses im Deutschen Bundestag am 11. September 2012
Veränderte gesellschaftliche Bedingungen wie der bereits dar- von Medialisierung die Rede ist, bedeutet dies das Ineinander-
gelegte Zerfall der traditionellen sozial-moralischen Milieus, greifen unterschiedlicher Entwicklungen:
die Individualisierung bzw. Pluralisierung von Lebensstilen ¬ Medien sind der wichtigste Informationskanal. Die Men-
und Wertegemeinschaften, denen die Politik Rechnung tra- schen wenden sich vermehrt dem ebenfalls spürbar größer
gen muss, haben im Verhältnis von Politik und Medien eine gewordenen Medienangebot zu und verbringen mehr Zeit
eindeutige Gewichtsverschiebung zugunsten der Medien be- mit Medien.
wirkt. Medien können einzelnen Politikern hohe Popularität ¬ Mediale Gesetzmäßigkeiten wirken verstärkt auf politi-
verschaffen oder ihnen wenig Beachtung schenken bzw. sie sches Handeln ein. Die Auswahlkriterien und die Visualisie-
sehr kritisch beäugen, sie können Themen große Aufmerk- rungszwänge (Zwang zur Verbildlichung von Information)
samkeit verleihen und durch ihre Nachrichtenauswahl die öf- insbesondere des Fernsehens lassen die Politik abhängiger
fentliche Agenda wesentlich mitbestimmen. von der Vermittlungsleistung der Medien werden.
¬ Medien werden zur politischen Bühne. Ob in Nachrichten-
sendungen, in Zeitungsartikeln, in sozialen Netzwerken wie
Facebook, in Talkshows oder sogar in Unterhaltungssen-
Medialisierung dungen – überall dort präsentiert die Politik sich, ihre politi-
schen Positionen und ihre Kandidaten, um Gehör und Auf-
Gesprochen werden kann von einer „Medialisierung“ von Po- merksamkeit zu erreichen.
litik und Gesellschaft. Medien durchdringen zunehmend sozi- ¬ Medienrealität wirkt erheblich auf die soziale und politische
ale Lebenswelten und haben steigende Bedeutung im Prozess Realität ein. Diese Realitätsebenen sind in der Alltagswelt der
der politischen und gesellschaftlichen Kommunikation. Wenn Medienrezipienten teilweise nicht mehr eindeutig zu trennen.
Zwar ist die heutige Medienlandschaft im Vergleich zu den ¬ Zurückdrängung von Themen, die im politischen Wettbe-
1980er-Jahren, als es beispielsweise für die meisten TV-Zu- werb keine Vorteile versprechen; sollte sich also eine Partei
schauer nur drei Fernsehstationen gab, stark fragmentiert Nachteile von der öffentlichen Beschäftigung mit einem
und die politische Öffentlichkeit diffus. Auf Anbieter- und Thema ausmalen, kann sie strategische Schritte unterneh-
Nutzerseite herrschen höhere Dynamik, Unstetigkeit und men, um dieses Thema von der politischen Agenda zu ver-
Unübersichtlichkeit; die Fähigkeit der Medien, größere Rezi- drängen.
pientenkreise dauerhaft an sich zu binden, hat spürbar nach- ¬ erfolgreiche Platzierung von Kandidierenden; Personen
gelassen. Dennoch gilt nach wie vor das Fernsehen aufgrund werden in der politischen Kommunikation und vor allem im
seiner hohen Reichweite, seiner starken Nutzung, seiner re- Wahlkampf immer wichtiger, weil sie durch ihr Auftreten
lativ hohen Glaubwürdigkeit und der Attraktivität visualisie- Politik für die Wählerinnen und Wähler greifbar machen, ih-
render Vermittlung als das Hauptmedium politischer Kom- nen helfen, komplexe politische Sachverhalte einzuordnen
munikation. und ihnen damit eine Orientierung geben. Zentrales Ziel
Die politischen Parteien haben auf die wachsende Bedeutung ist es, die eigenen Spitzenpolitiker im Parteienwettbewerb
der Massenmedien aktiv reagiert. Sie haben entsprechende um die Gunst der Wählerschaft vorteilhaft zu positionieren,
Kommunikationsstrategien und Formen der Selbstpräsentati- um damit möglichst gute Voraussetzungen zur Erreichung
on entwickelt, Themen- und Ereignismanagement betrieben der Parteiziele zu schaffen. Personalisierung ist durch die
und stärker für die Visualisierung ihres politischen Wirkens Attraktivität visualisierender Vermittlung politischer Infor-
gesorgt – selbstverständlich immer abhängig von ihren jewei- mation bedeutsamer geworden.
ligen finanziellen, personellen und organisatorischen Möglich- ¬ Dominanzposition bei der Deutung oder Interpretation von
keiten und den Bedingungen, die die direkten politischen Wett- politischen Problemen;
bewerber, die Struktur des Mediensystems oder institutionelle ¬ erfolgreiche Negativdarstellung politischer Mitbewerber,
Grundlagen wie das Wahlsystem ihnen stellten. die damit Kompetenz- und Sympathieverluste erleiden oder
sogar ein schlechtes Image bekommen.
Medien werden zur politischen Bühne, wobei das Fernsehen bislang als Leitmedi-
um fungiert. Aber auch das Internet gewinnt an Bedeutung. Der Fernsehauftritt der
Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl 2013 wird live auch im Internet übertragen.
Medien beobachten einander wechselseitig und übernehmen und um mögliche Handlungsspielräume von Politik geht,
ggf. Themen anderer Medien, die dann zum Schwerpunkt der wird von einer Atmosphäre des Dauerwahlkampfs gespro-
öffentlichen Diskussion werden. chen. Der Unterschied zwischen dem eigentlichen Wahl-
Darüber hinaus ist mit der Verbreitung onlinebasierter kampf und einem in der Forschung als permanent cam-
Kommunikations- und Partizipationsangebote für die Partei- paigning bezeichneten „Alltag“ zeigt sich allenfalls darin,
enkommunikation ein neues Feld entstanden. Es ermöglicht dass die Kommunikationsexperten in Wahlkampfphasen
den Parteien die Nutzung der Plattformen des Web 2.0 für besonders bemüht sind, die öffentliche Agenda durch The-
ihre Außen- und Wahlkampfkommunikation, wirft aber auch men- und Ereignismanagement (News-Management) zu be-
wichtige Fragen zur künftigen Organisation innerparteilicher stimmen.
Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse auf. Längst sind Sie suchen die Techniken zur Thematisierung von Inhal-
alle Parteien in den verschiedenen sozialen Medien wie Face- ten zu verfeinern (Themenmanagement) sowie Kandidaten-
book oder Twitter präsent und haben dort eigene Auftritte. und Themenimages aufzubauen und strategisch zu steuern.
Vor allem in Wahlkämpfen, aber auch im politischen Alltag
Themen- und Ereignismanagement wird verstärkt auf „Pseudoereignisse“ gesetzt. Diese werden
Nicht nur bezogen auf die politische Kommunikation, son- inszeniert und instrumentalisiert, um dem Trend zur Erzeu-
dern auch, wenn es um Fragen der politischen Steuerung gung von Bildern und der Forderung nach charismatischen
Leben im Aquarium
[…] Die elementare Wirkung [eines neuen Typus von Macht] […] Die Flucht in die Floskel, eine möglichst blasse Rhetorik, das ste-
besteht darin, dass die Schonräume der Intransparenz, die Sphä- te Bemühen, öffentliche Erregung durch glatte Inszenierungen
ren der Unschärfe und der Unbefangenheit verschwinden, weil zu vermeiden und die permanente Selbstzensur in Richtung
alle permanent beobachtet, gefilmt oder fotografiert werden, des ohnehin gerade Konsensfähigen erscheinen vor diesem
weil alle senden und posten und die Archive der Gegenwart mit Hintergrund als konsequente Reaktion, als Strategie der smar-
frischem Material versorgen. Im Verbund mit den klassischen ten Vermeidung von Provokationen. Bloß nicht auffallen! Bloß
Medien und einem aktiv gewordenen Publikum entsteht auf nicht die Kontrolle verlieren […]. […]
diese Weise eine grell überbelichtete Welt, ein monströses, von Was sollte man auch sonst tun? Es gab einmal eine erfolg-
allen Seiten aus einsehbares Aquarium, in dem kaum noch et- reiche Partei, die ein paar Sommer lang versucht hat, alles
was verborgen bleibt. Die Medienmacht […] zeigt sich in Form anders zu machen, authentische Berührbarkeit in Zeiten der
eines hochnervös reagierenden Wirkungsnetzes, das man nur totalen Transparenz zu erproben. Das waren die Piraten, die
leicht reizen muss, um kaum noch eingrenzbare Erregungs- experimentell nachgewiesen haben, dass man unter solchen
schübe zu erzeugen, Impulsgewitter, die vielleicht in den Sozia- Bedingungen äußerer und innerer Überbelichtung sehr rasch
len Netzwerken beginnen, sich online in Livetickern fortsetzen, verglüht – und wenig mehr übrig bleibt als Erschöpfung, Hass
um schließlich in Zeitungen, Radio und Fernsehsendern zu ei- und verzweifelte Desillusionierung. Das heißt, die totale Offen-
nem Höhepunkt zu gelangen. […] [E]s reicht mitunter ein erster, heit kann man niemandem wirklich empfehlen. Sie befördert
minimaler Impuls, der zündet und plötzlich zum großen Drama den eigenen Untergang. Natürlich ist auch der Rückzug aus der
explodiert. Medienwelt keine irgendwie plausible Idee, die man Politikern
[…] Die unmittelbare, für jeden erkennbare Folge dieser me- anraten könnte. […]
dialen Überbelichtung der Politik besteht darin, dass banale Es sind die Medienmacher und das Publikum selbst, die in
Normverletzungen und echte, gesellschaftlich relevante Ent- dieser Situation ihre Maßstäbe zur Beurteilung des politischen
hüllungen permanent bekannt werden. […] Das ist im Konkre- Personals überdenken müssen. Sie müssen lernen, mit Nor-
ten nicht einfach nur schlecht, denn natürlich werden im Tre- malsterblichen zu leben, die Schwächen haben, eitel sind und
molo der Dauer-Entlarvung auch echte Skandale und wirkliche manchmal erschöpft, übellaunig und unbeherrscht und deren
Sauereien offenbar, von denen die Öffentlichkeit wissen muss. Frisur, Vorleben oder Gesamtpersönlichkeit einem nicht not-
Aber in der Summe verschärft die totale Sichtbarkeit eine ohne- wendig gefällt. […] Wer seine Maßstäbe ins Übermenschliche
hin grassierende Politikverachtung […]. […] dehnt, kann in der gegenwärtigen Situation zwar permanent
Für den Politiker […] entsteht eine Art Big Brother-Gefühl, weitere Kandidaten auf die öffentliche Streckbank legen, rui-
das von der permanent drohenden Eventualität handelt, dass niert aber nebenbei den Berufsstand, weil eine politische Karri-
man gerade jetzt beobachtet und kurz darauf attackiert wer- ere zum endgültig unwägbaren Risikospiel wird, von dem man
den könnte. Was macht der Parteifreund mit seinem Smart- jedem, der irgendwie bei Verstand ist, dringend abraten muss.
phone, sticht er soeben womöglich die Ergebnisse interner Be- Was also tun? Die neue Medienmacht verlangt eine neue Tole-
ratungen aus einer laufenden Sitzung an Journalisten durch? ranz und die Einsicht, dass Stilfehler alltäglich, unvermeidlich
[…] Was heißt es, wenn man weiß, dass jede klare Positionie- und damit normal werden, wenn die Kontexte verschwimmen.
rung und moralische Festlegung, jede aus dem Moment ent- Den Typus des Angstpolitikers, der nur vorsichtig abtastet, was
standene Rede und jede große Reformerzählung allgemein gerade Mode ist, um dann auf der momentan aktuellen Mei-
zugänglich in den Archiven des Netzes schlummert, um eines nungswelle zu surfen, kann niemand wollen.
Tages zu neuem Leben erweckt zu werden? Ganz nach dem
Motto des gängigen Entlarvungsspiels: Seht her, das sind doch
Widersprüche, Indizien der Inkonsequenz, Beweise, dass hier Bernhard Pörksen, 46, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.
mal wieder einer oder eine an den selbst gestellten Ansprü- Bernhard Pörksen, „Es entsteht eine grell ausgeleuchtete Welt, ein monströses Aquarium,
chen scheitert! […] in dem kaum noch etwas verborgen bleibt", in: DIE ZEIT Nr. 8 vom 19. Februar 2015
Der Volksvertreter kann per Definition nicht authentisch sein. Christopher Lauer, „Es ist einfacher, irgendeine Indiskretion über Parteifreunde in den
Er muss im Idealfall ständig die Interessen des Volkes auf der Medien zu platzieren als ein politisches Konzept“, in: DIE ZEIT Nr. 9 vom 26. Februar 2015
oder zumindest medial überzeugend wirkenden Personen eines Ereignis- und Themenmanagements erhöht, ist der
zu entsprechen, dem das Fernsehen und zunehmend auch Übergang zu einer kampagnenorientierten Politik und da-
das Internet unterliegen. mit der Dauerkampagne fließend.
Mit diesen gesteigerten Aktivitäten verwischen mehr und Dass sich die Medien von den politischen Akteuren nicht
mehr die Grenzen zwischen den „politischen Jahreszeiten“ – ohne Weiteres vereinnahmen lassen, zeigt ihre Reaktion in
also zwischen kommunikativem Alltag und Wahlkampf. Gestalt zuletzt spürbar gestiegener öffentlicher Skandalbe-
Denn das Credo lautet: Der nächste Wahlkampf kommt be- richterstattung. Diese ist zwar auch einer zunehmenden Öko-
stimmt. Die Intensität von Wahlkämpfen ist hierzulande nomisierung des Mediensektors geschuldet, denn der mediale
aus Ressourcengründen sowie aufgrund verfassungsrechtli- Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Exklusivität und Auflage
cher Beschränkungen für die Kommunikation von Parteien hat sich verschärft.
weniger stark ausgeprägt als etwa in den USA. Keineswegs aber stellen politische Skandale heute einzig von
Doch die Anforderungen an moderne Kommunikation den Medien initiierte oder konstruierte Ereignisse dar. Die Ge-
sind deutlich gestiegen: Sie muss beschleunigten Vermitt- schehnisse beispielsweise um den früheren Wirtschafts- und
lungsgeschwindigkeiten entsprechen und Umbrüchen in- Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg haben ge-
nerhalb des Mediensystems wie Fragmentierung, Konkur- zeigt, dass es sich bei politischen Skandalen meist um genuine
renzdruck und Medienkonzentration gerecht werden, wobei Ereignisse handelt, mit denen die Politik moralisch-ethisch ba-
bereits die Dualisierung des Rundfunks (Nebeneinander von sierte Angriffsflächen bietet, die dann von den Medien thema-
öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern) seit Beginn tisiert und inszeniert werden.
der 1980er-Jahre eine deutliche Zäsur darstellte. Darüber hinaus gibt die mediale Skandalberichterstattung
Zur modernen Kommunikation gehört weiterhin, dass Par- der jüngsten Zeit auch zu erkennen, dass sich die Massenme-
teien zur Agenda und allgemeinen „öffentlichen Stimmung“ dien ungeachtet des vorherrschenden wechselseitigen Abhän-
passende Inhalte transportieren, die geeignete Sprache ver- gigkeitsverhältnisses wieder verstärkt als Kontrolleure der Po-
wenden, angemessene Methoden einsetzen und eine klare litik verstehen und diese Rolle im Sinne einer „vierten Gewalt“
Einteilung der (institutionellen) Kommunikation in stra- neben Legislative, Exekutive und Judikative in emotionalisier-
tegische, taktische und operative Ebenen vornehmen. Die ter und dramatisierter Darstellungsform wahrnehmen.
Selbstmedialisierung der Parteien wird dann zu einer zen-
tralen Handlungsstrategie. Werden hierbei wahlkampfge-
prägte Motive, Kalkulationen und Vermarktungen bemüht
und so der Einfluss professioneller Politikberater innerhalb
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Parteiensystem und
Parteienwettbewerb
Das Parteiensystem spiegelt die soziale Vielfalt der des Wettbewerbs sind unterschiedliche Lösungsangebote für
Gesellschaft wider. Unterschiedliche Parteitypen, die in politische Fragen oder Probleme. Mit diesen Lösungsange-
Konkurrenz zueinanderstehen, werben mit ihren pro- boten treten die Parteien an die Öffentlichkeit und konkur-
grammatisch-ideologischen Positionen um die Gunst der rieren mit anderen Parteien um Wählerstimmen, politische
Wählerinnen und Wähler und streben Parlaments- und Überzeugungen, Parlamentsmandate und Regierungsämter,
Regierungsämter an. letztlich um Machtpositionen in einem politischen System.
Die Wissenschaft unterscheidet zwischen der Konkurrenz um
Wählerstimmen (elektorale Ebene des Parteienwettbewerbs)
Der Begriff Parteiensystem bezeichnet die Gesamtheit der in und der Konkurrenz um Parlamentsmandate und Regierungs-
einem politischen System handelnden Parteien und deren ämter (parlamentarisch-gouvernementale Ebene).
regelmäßige Wechselbeziehungen. Diese Wechselbeziehun- Die programmatisch-ideologische Positionierung ist die in-
gen werden bestimmt durch die Anzahl der Parteien, deren haltliche Seite des Parteienwettbewerbs. Sie lässt sich in eine
jeweilige Größenordnung (hauptsächlich Wähler- bzw. Man- sozioökonomische und eine kulturelle Dimension unterschei-
datsanteil im Parlament, aber auch Mitgliederzahl), ihre Bin- den. In der sozioökonomischen Wettbewerbs- oder Konflikt-
nenstruktur sowie durch die ideologisch-programmatischen dimension positionieren sich die Parteien zwischen Markt-
Unterschiede zwischen den Parteien. Parteiensysteme spie- liberalismus und Staatsinterventionismus, hauptsächlich in
geln die soziale Vielfalt der Gesellschaft wider, indem sie den der Wirtschafts- und Sozialpolitik, zunehmend aber auch bei
gegebenen sozialen Interessenlagen und Weltanschauungen Fragen der Umwelt- oder Familienpolitik. Es geht darum, ob
Ausdruck verleihen. vornehmlich der Markt als Steuerungsinstrument fungieren
Das Parteiensystem ist Teil oder Subsystem des politischen soll oder primär der Staat. In der kulturellen Wettbewerbs-
Systems insgesamt. Wie es sich ausprägt, ist abhängig von ge- oder Konfliktdimension stehen libertäre Werte wie Toleranz,
sellschaftlichen Konflikten, Interessen und Werten, aber auch Selbstentfaltung, kollektive Freiheitsrechte, Emanzipation,
vom Wahlsystem und der institutionellen Struktur des jewei- Pazifismus, kulturelle und politische Inklusion autoritären
ligen politischen Systems. Der Konflikt gesellschaftlicher Inte- Wertstellungen gegenüber, die den Vorrang innerer und äu-
ressen findet in Demokratien seinen in die Politik übersetzten ßerer Sicherheit, kultureller Mehrheitsidentitäten oder res-
Ausdruck im Parteienwettbewerb. Ausdruck und Gegenstand triktiver Kriminalitätsbekämpfung betonen (siehe Abbildung).
Groß- bzw. Volksparteien teiligung. Prinzipiell haben taktische Überlegungen zur Stim-
Ein prägender Typus in der Geschichte der Parteiendemokra- menmaximierung Vorrang vor ideologischer Grundsatztreue.
tie der Bundesrepublik Deutschland war die Volkspartei. Sie Die Funktion der Interessenaggregation steht daher neben
ist eine typische Mitgliederpartei, das heißt, freiwillige Mitar- der Mobilisierung der Wähler und der Rekrutierung des poli-
beit der Mitglieder wie auch deren finanzieller Beitrag werden tischen Personals bei einer Volkspartei im Zentrum des Han-
nach wie vor als wichtige Ressource im Parteienwettbewerb delns. Ihre idealtypische Wählerschaft entspricht der sozio-
geschätzt. Eine große Mitgliederzahl sichert Legitimität und hat strukturellen Zusammensetzung der gesamten Bevölkerung.
weitere Vorteile: Die Volkspartei ist damit auf allen politischen Als Groß- bzw. Volksparteien gelten in Deutschland die
Ebenen eines staatlichen Gemeinwesens präsent und aktiv, ver- „Christlich-Demokratische Union“ (CDU), ihre bayerische
fügt über vielfältige innerparteiliche Gruppierungen (Arbeits- Schwesterpartei, die „Christlich-Soziale Union“ (CSU) und die
gemeinschaften, Faktionen) und unterhält enge Beziehungen „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD). Als „Pro-
zu maßgeblichen Interessenorganisationen und Verbänden. totyp einer Volkspartei“ gilt laut dem Trierer Politikwissen-
Zentraler Orientierungspunkt des Parteihandelns ist der schaftler Peter Haungs die CDU. Keine andere Partei hat die
Stimmengewinn, das heißt, die Werte, Haltungen und Mei- politische Geschichte Deutschlands so geprägt wie die CDU,
nungen der Wählerschaft werden in starkem Maße berück- die in Kooperation mit der CSU in 51 von 66 Jahren der bisheri-
sichtigt, und die Partei öffnet sich aus wahlstrategischen gen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die führende
Erwägungen heraus für nahezu alle Wählersegmente einer Regierungspartei war.
Gesellschaft. Um als Volkspartei mehrheitsfähig zu werden Dem Modell der Volkspartei entsprechend sind Wahlerfolge
oder zu bleiben, kommt es in dieser Sichtweise weniger auf und Regierungstätigkeit zentrale Aspekte im Handeln von CDU
die soziale Verankerung einer Partei als vielmehr auf mehr- und CSU. Als Heimat des politischen Konservatismus, der katho-
heitsfähige politische Inhalte und auf vermittelbare, populäre lischen Soziallehre und eines sozial verstandenen wirtschaftli-
Spitzenkandidaten an. chen Liberalismus haben die Unionsparteien sich in Abgren-
Folge der Öffnung für nahezu alle Wählersegmente ist eine zung zu jeglichem Extremismus als „Volkspartei der rechten
inhaltliche Annäherung der Programme und Konzeptionen an Mitte“ verstanden, worunter sie programmatisch den Rückbe-
die politische Mitte („Entideologisierung“), ohne dass es damit zug auf christliche Werte, auf Tradition, auf Nation, Sicherheit
jedoch zu einer völligen programmatischen Angleichung der und Marktwirtschaft verstehen. Als überkonfessionelle Samm-
einzelnen Parteien kommt. Unterschiedliche Schwerpunkt- lungsparteien gelang es der 1945 in Würzburg gegründeten
und Themensetzungen aufgrund eines vorgeprägten Images CSU bzw. 1950 als Bundespartei in Goslar gegründeten CDU mit
und ihrer Pfadabhängigkeit bleiben bestehen oder werden einer pragmatischen Politik nahezu alle Gruppen des Wähler-
neu fundiert, um die nach wie vor nicht zu vernachlässigende spektrums für sich zu mobilisieren und zu integrieren.
Gruppe der Stammwähler an sich zu binden. Die traditionelle Die SPD, die auf die Gründung des Allgemeinen Deutschen
Stammwählerschaft soll erhalten bleiben, und Wählerinnen Arbeitervereins (ADAV) im Jahre 1863 zurückgeht, entwickelte
und Wähler aus angrenzenden politischen und sozialen Mili- sich im Lauf ihrer Geschichte zur „Volkspartei der linken Mitte“.
eus sollen an die Partei gebunden werden. Eine Zäsur in dieser Hinsicht war das Godesberger Programm
Um möglichst viele Wählerinnen und Wähler aus unter- von 1959, welches nach dem Göttinger Politikwissenschaftler
schiedlichen Milieus zu gewinnen, ist die Volkspartei auf In- Peter Lösche „den Wandel von der proletarischen Klassenpar-
teressenausgleich inner- und außerhalb der Partei hin orien- tei zur Volkspartei symbolisiert“. Entsprechend ihrer Herkunft
tiert. Kompromisslösungen und konsensfähige Inhalte sollen als Interessenvertreterin der Arbeiterschaft setzte die SPD seit-
integrierend wirken und bestimmen die sachlichen Auseinan- dem als pragmatische Reformpartei auf einen ausgebauten
dersetzungen, stets mit Blick auf die Chance zur Regierungsbe- Wohlfahrtsstaat, der möglichst umfassende Sozialleistungen
und einen hohen Beschäftigungsgrad garantieren sollte.
Die Schaffung und den Erhalt von Erwerbsarbeit rückte die
Partei stets in den Mittelpunkt ihrer Sozialpolitik. Um dieser
Ziele willen schreckte sie auch vor unkonventionellen und in
Teilen der Anhängerschaft unpopulären Maßnahmen nicht
zurück, als in den Regierungsjahren unter Bundeskanzler
Schröder aufgrund eines wirtschaftlichen Strukturwandels
Massenarbeitslosigkeit herrschte. Ganz im Sinne des Typs der
Volkspartei hat die SPD eine pragmatische Reformpolitik in
nahezu allen Politikfeldern in den Vordergrund gestellt.
Kleinparteien
Trotz ihrer geringeren Erfolge an den Wahlurnen können
Kleinparteien eine wichtige Rolle im politischen System spie-
len. Als Anwälte spezifischer Interessen oder Themenfelder
können sie die großen Parteien zwingen, sich mit diesen aus-
einanderzusetzen. Zugleich können sie als demokratisches
Ventil dienen, indem sie Bürgerinnen und Bürgern, die sich
von den etablierten Parteien abwenden, die Möglichkeit ge-
ben, innerhalb des politischen Systems ihren Protest zu be-
kunden. Schließlich bieten sie wie andere Parteien und die
zivilgesellschaftlichen Organisationen die Möglichkeit zur ak-
tiven Gestaltung öffentlichen Lebens.
Die Vielzahl von Kleinparteien lässt sich kaum unter einen darüber entschied, welche Großpartei den Bundeskanzler
gemeinsamen definitorischen Nenner bringen. Zu betrach- stellen durfte.
ten sind quantitative Bestimmungselemente (wie Wähler- Mit der im Jahr 1980 in Karlsruhe gegründeten Partei „Die
anteil, Mitgliederstärke, organisationsstrukturelle Verbrei- Grünen“ entstand eine neue Kraft im Parteiensystem, die
tung, finanzielle Ressourcen) und qualitative Faktoren (wie ökologische, aber auch partizipatorische und postmateria-
die Befähigung zur Regierungs- bzw. Koalitionsbildung, Ein- listische Themen in den Vordergrund stellt und vornehm-
flussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen sowie die lich aus den neuen sozialen Bewegungen wie der Frauen-,
gesellschaftliche und politische Akzeptanz). Ausgehend von Anti-Atomkraft-, Umwelt- oder Friedensbewegung und der
diesen Maßstäben unterscheidet die Parteienforschung eta- Studentengeneration der 1968er-Bewegung hervorging. Sie
blierte und nichtetablierte Kleinparteien. tritt für die Anerkennung von Minderheiten, kulturelle To-
Etabliert ist eine Kleinpartei, wenn es ihr gelingt, bei drei leranz, rechtliche und soziale Gleichstellung unterschiedli-
aufeinanderfolgenden Wahlen mehr als 0,5 Prozent der cher Lebensformen, mehr direkte Demokratie, Pazifismus,
Stimmen auf der jeweiligen Ebene zu erreichen. Damit er- Abrüstung und eine nachhaltige Berücksichtigung von
hält sie eine günstigere Ressourcenausstattung und größere ökologischen Aspekten in allen Bereichen der Politik ein.
öffentliche mediale Aufmerksamkeit. Sie kann dann die für Die Grünen verbinden diese libertären Werte mit der Forde-
weitere Erfolge notwendige Infrastruktur aufbauen: eine flä- rung oder dem Wunsch nach Bewahrung wohlfahrtsstaat-
chendeckende Organisation, einen festen Stamm hauptamt- licher Politik. Im Jahr 1993 vereinigten sich die Grünen mit
licher Mitarbeiter, ein daraus hervorgehendes Mindestmaß der ostdeutschen Bürgerbewegung „Bündnis 90“ zur Partei
an Strategiefähigkeit und professioneller Wahlkampffüh- „Bündnis 90/Die Grünen“. Mittlerweile können die Bünd-
rung, einen gesicherten Zugang zu Medien und den Aufbau nisgrünen eindeutig als etablierte Partei gelten, die in den
eines Netzwerks einer ausreichend großen Zahl an Sympa- Jahren 1998 bis 2005 in einer Koalition mit der SPD an der
thisanten. Als relevant haben etablierte (Klein-)Parteien Regierung beteiligt war.
dem italienischen Politikwissenschaftler Giovanni Sartori Mit der „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS)
zufolge zu gelten, wenn sie das Potenzial besitzen, an Koa- (heute „Die Linke“) trat nach der Vollendung der politischen
litionen beteiligt zu werden oder zumindest ein Faktor sind, Einheit Deutschlands im Jahr 1990 eine weitere etablierte
der den Parteienwettbewerb mitbestimmt. Kleinpartei in das deutsche Parteiensystem ein. Die Partei
Als etablierte Kleinparteien in Deutschland sind die FDP, ging aus der Staatspartei der DDR, der „Sozialistischen Ein-
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke zu betrachten. Die im heitspartei Deutschlands“ (SED) (siehe auch S. 46 f.), hervor.
Jahr 1948 gegründete „Freie Demokratische Partei“ (FDP) Ihr Hauptaugenmerk legt die Linke auf einen erheblichen
vereinigte national-, links- und wirtschaftsliberale Strö- Ausbau sozialstaatlicher Leistungen in allen Bereichen; sie
mungen zu einer Partei. Sie versteht sich als Vertreterin des versteht sich als antikapitalistisch sowie pazifistisch und
politischen Liberalismus, die für individuelle Bürgerrechte, favorisiert gleichzeitig libertäre Werte wie Toleranz und
den Vorrang des Marktes vor staatlichen Eingriffen in der Emanzipation. Ihre Hochburgen in der Wählerschaft liegen
Wirtschafts- und Sozialpolitik und für vermehrte Beteili- in den ostdeutschen Bundesländern.
gungsmöglichkeiten der einzelnen Bürgerinnen und Bürger Auch die „Alternative für Deutschland (AfD)“ hat ihre
eintritt. Der Wert der Freiheit nimmt in der FDP eine heraus- Hochburgen in den ostdeutschen Ländern. Bei den Wahlen
gehobene Stellung ein wie es im Bekenntnis zu individueller zum EU-Parlament 2014 kam sie bundesweit auf 7,1 Prozent,
Selbstbestimmung und zu einer liberalen Marktwirtschaft bei Landtagswahlen im gleichen Jahr erreichte sie in Sach-
zum Ausdruck kommt. Als langjährige Regierungspartei sen einen Stimmenanteil von 9,7 Prozent, in Thüringen 10,4
(1949–1966; 1969–1998; 2009–2013) gestaltete sie wesent- und in Brandenburg 12,2 Prozent. Die im Februar 2013 ge-
liche Entscheidungen der Bundesregierungen mit. Bis weit gründete Partei wandte sich zunächst gegen die sogenann-
in die 1980er-Jahre war sie das „Zünglein an der Waage“, da te Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung, mit der diese
ihre Koalitionspräferenz zugunsten von CDU/CSU oder SPD durch Kredite und Hilfszahlungen in eine akute Finanzkrise
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Die FDP konnte bis 2013 bei Bundestagswahlen immer wieder die Fünfprozenthürde Die 2013 gegründete nationalkonservative AfD ist im EU-Parlament und einigen
überspringen und sich sogar häufig an der Regierung beteiligen. Bundesparteitag Landesparlamenten vertreten. Mit der Nationalhymne endet ihr Bundesparteitag
im Mai 2015 unter Vorsitz von Christian Lindner in Hannover im November 2015. Im Bild der Parteivorstand
UWE JUN
Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich in den beiden ne (SBZ)/DDR siehe S. 46 ff.) die Funktionsfähigkeit der sich neu
deutschen Staaten unter Aufsicht der Alliierten rasch entwickelnden demokratischen Strukturen sichergestellt sehen.
Parteien. In Westdeutschland entwickelte sich ein Dreipar- Daher erfolgte die Lizenzvergabe relativ restriktiv: an die Christ-
teiensystem, das in den 1980er-Jahren zu einem Vier- lich-Demokratische Union (CDU) bzw. in Bayern die Christ-
parteiensystem wurde. In der DDR herrschte die SED. Seit lich-Soziale Union (CSU) als interkonfessionelle Sammlungspar-
der Einheit Deutschlands hat sich das Parteiensystem teien, die Katholiken und Protestanten vereinten; an die bereits
zunehmend fragmentiert. 1863 erstmals gegründete Sozialdemokratische Partei Deutsch-
lands (SPD), an die links- und rechts- bzw. nationalliberale Strö-
mungen vereinende Freie Demokratische Partei (FDP) und an
Gründungsphase und Ausprägung die 1919 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD).
zum Dreiparteiensystem Diese Parteien genossen damit zunächst einen Startvorteil
im Parteienwettbewerb und erreichten bei den ersten Wahlen
zum Deutschen Bundestag im September 1949 auch 77,8 Pro-
In Deutschland wurde die Gründung der Parteien nach dem zent der abgegebenen Stimmen. Dabei schnitt die Union aus
Zweiten Weltkrieg durch Lizenzen der alliierten Siegermächte CDU und der bayerischen Schwesterpartei CSU mit 31 Prozent
ermöglicht. Diese knüpften dabei zum einen an traditionelle Stimmenanteil am besten ab und konnte durch die Koalitions-
Strukturen aus der Weimarer Republik beziehungsweise dem bildung mit der FDP und der in Norddeutschland angetretenen
Kaiserreich an, andererseits wollten sie in den drei westlichen bürgerlichen Deutschen Partei (DP) mit Konrad Adenauer den
Besatzungszonen (zur Situation der Sowjetischen Besatzungszo- ersten Bundeskanzler stellen.
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Demokratischer Neubeginn: Im Nachkriegsdeutschland konnten sich Parteien nur dann bilden, wenn sie eine Lizenz der alliierten Siegermächte erhalten hatten. Verlaut-
barungen von KPD, SPD und CDU vor den Gemeindewahlen in Groß-Hessen im Januar 1946
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Im August 1949 finden in der neugegründeten Bundesrepublik erstmals Bundestagswahlen statt. Es sind zugleich die ersten freien landesweiten Wahlen seit der Reichs-
tagswahl vom 6. November 1932. Entsprechend hoch waren das Engagement – hier Parteianhänger der CDU in Hamburg und der SPD in Frankfurt/M. – und die schließliche
Wahlbeteiligung (78,5 Prozent). Am Wahlabend warten Menschen in Hamburg auf die Ergebnisse ihres Wahlkreises.
1949 galt die Fünfprozenthürde, nach der nur Parteien ins und integrierten sehr unterschiedliche soziale Gruppen
Parlament einziehen, die mindestens fünf Prozent der ab- durch ein breites und umfassendes Politikangebot. Entspre-
gegebenen (Zweit-)Stimmen auf sich vereinen, noch nicht chend waren und sind sie einer pragmatischen Politik des
bundesweit, sondern nur für die einzelnen Bundesländer. Interessenausgleichs verpflichtet, für Regierungsbeteiligun-
Deshalb erreichten mehr als zehn Parteien Sitze im Bun- gen offen und streben die Führung der Regierungsgeschäfte
destag. Nach der Aufhebung des Lizenzzwangs durch die an. Als Pioniere der Volksparteien in Deutschland können
Alliierten im Januar 1950 entstanden sogar etwa 30 neue CDU und CSU gelten. Mittlerweile hat das Selbstbild, Volks-
Parteien, die bei mindestens einer Landtagswahl kandi- partei zu sein, eine prägende Wirkung für deren Identität.
dierten. Dass dennoch keine „Weimarer Verhältnisse“ mit Die Union trat das Erbe der katholischen „Zentrumspar-
einer Zersplitterung des Parteiensystems und instabilen tei“ an, konnte also auf das gewachsene katholische Milieu
Regierungsmehrheiten entstanden, lässt sich aus Sicht der als Basis bauen, erweiterte aber ihre Wählerschaft im Sinne
Parteienforschung unter anderem mit dem Aufstieg des Ty- einer interkonfessionellen Sammlungspartei um das eher
pus der Volkspartei erklären und mit der Fünfprozenthürde, der protestantischen Kirche verpflichtete Bürgertum. Wenn-
die ab 1953 bei Bundestagswahlen eingeführt wurde. Nur gleich das katholische Milieu die tragende Säule der CDU/
vorübergehend, bis Mitte der 1950er-Jahre, ist von höherer CSU war und ist, so ist es ihr im Stile der Volkspartei seit den
Bedeutung kleiner Interessenparteien zu sprechen. Außer 1950er-Jahren gelungen, Wählerinnen und Wähler aus sehr
den Großparteien CDU/CSU und SPD gelang es lediglich der unterschiedlichen sozialen Schichten für sich einzunehmen.
FDP als liberal-bürgerlicher Partei und kirchenferner Wett- Als bürgerliche „antisozialistische Sammlungspartei“ konnte
bewerberin zur Union, dauerhaft die Fünfprozenthürde zu sie gerade im geteilten Deutschland alle bürgerlichen Grup-
überspringen. Die anderen Kleinparteien des bürgerlichen pen für sich gewinnen, die im Zeichen des Ost-West-Konflikts
Lagers konnte die CDU im Laufe der 1950er-Jahre mehr und der Idee einer sozialistischen Politik und eines sozialisti-
mehr verdrängen bzw. absorbieren. schen Staates auf deutschem Boden skeptisch bis ablehnend
Volksparteien wurden ab den 1950er-Jahren zu dominan- gegenüberstanden. Ihren Erfolg verdankten CDU und CSU
ten Akteuren im Parteienwettbewerb und konnten diese Po- nicht zuletzt der erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung
sition bis in die frühen 1970er-Jahre zunächst ausbauen. Sie in Westdeutschland („Wirtschaftswunder“) und den daraus
versuchten, möglichst alle Wählergruppen anzusprechen, resultierenden sozialpolitischen Spielräumen (Steigerung
der Sozialleistungen, Aufbau des Wohlfahrtsstaates mit er- zwischen religiös-kirchlich-konfessioneller Bindung (vertre-
höhten Leistungen etwa für Rentner und Familien). Seitdem ten durch CDU/CSU) und Säkularisierung (vertreten durch SPD
gilt die sogenannte Wirtschaftskompetenz, das heißt, die und FDP). Diskreditiert wurde die SPD anfänglich außerdem
Fähigkeit, wirtschaftliche Probleme lösen zu können, als ein durch die Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone/
Markenkern der Union. DDR. Dort erfolgte, gesteuert durch die sowjetische Besat-
Als Parteien der sozialen Marktwirtschaft, des Wirtschafts- zungsmacht, die Vereinigung der dortigen SPD mit der KPD
wunders und auch des außenpolitisch anerkannten Kurses zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), was die
der Westintegration wurden CDU und CSU zu erfolgreichen SPD unter den Generalverdacht rückte, für sozialistische Be-
bürgerlichen Sammlungs- und Integrationsparteien, die zu- strebungen anfällig zu sein.
dem dem hohen Bedürfnis nach Sicherheit in Zeiten des Kal- Die Wahlniederlagen 1953 und 1957 veranlassten die
ten Krieges entgegenkamen. Verstärkt durch die große Popu- SPD-Führung zu einer Veränderung ihres Kurses. Da es der SPD
larität Adenauers und des damaligen Wirtschaftsministers nicht gelungen war, über ihre Kernwählerschaft hinaus wei-
Ludwig Erhard gelangen der CDU/CSU in den 1950er-Jahren tere zentrale gesellschaftliche Gruppen für sich zu gewinnen,
große Wahlerfolge. Erst- und einmalig erreichte die Union bei kam es zu einer volksparteilichen Öffnung: zunächst durch
der Bundestagswahl 1957 mit 50,2 Prozent sogar die absolute eine Reform der Parteiorganisation auf dem Stuttgarter Partei-
Mehrheit der Stimmen. tag 1958, mit der bestimmt wurde, dass nicht mehr hauptamt-
Die SPD verharrte dagegen bis 1966 in der Opposition. Un- liche, von der Partei bezahlte Sekretäre, sondern gewählte
mittelbar nach 1949 war sie noch keine Volkspartei und ver- Repräsentanten innerparteiliche Spitzenpositionen übernah-
stand sich traditionsgemäß mehr als Interessenpartei der men. Anschließend erfolgte mit dem Godesberger Programm
Arbeiterschaft. Entlang der sozioökonomischen Konfliktlinie von 1959 die Anerkennung der Marktwirtschaft und schließ-
der bundesdeutschen Gesellschaft und ihres Parteiensystems lich 1960 die der Westintegration Deutschlands. Nach und
verfolgten CDU/CSU und FDP eher eine marktwirtschaftliche nach legte die SPD ihr Profil als traditionelle Arbeiterpartei
Orientierung und vertraten mittelständisch-freiberufliche In- ab, um im Sinne einer Volkspartei bei Wahlen mehrheitsfähig
teressen, während sich die SPD eher für Arbeitnehmer- bzw. zu werden. Ihr Programm, ihr Image und ihre gesellschaftli-
Gewerkschaftsinteressen einsetzte und Staatsinterventionis- che Verankerung veränderten sich im Laufe der 1960er- und
mus befürwortete. Dazu kam die soziokulturelle Konfliktlinie 1970er-Jahre. Zwar blieb das gewerkschaftlich gebundene Ar-
Davon ausgenommen blieb lediglich die FDP, die sich als kir-
ullstein bild – AP
niert werden sollten, und protestierten gegen die Nutzung von Bis dahin bildeten beide Parteien die parlamentarische Op-
Atomkraft und gegen eine zunehmende Umweltzerstörung. position. Von 1982 bis 1998 regierte eine Koalition von CDU/
Die etablierten Parteien unterstützten dagegen weiterhin öko- CSU und FDP; diese Koalition schaffte auch nach dem Fall
nomisches Wachstum, ohne ökologische Aspekte in den Vorder- der Berliner Mauer 1989 die Mehrheitsbildung. Dazu trug der
grund zu rücken, traten für den Bau von Atomkraftwerken ein Umstand bei, dass es Bundeskanzler Helmut Kohl gelang, den
und favorisierten die atomare Nachrüstung. Daraufhin bildete anschließenden Einigungsprozess nach mehrheitlicher Auf-
sich ein Protestlager heraus. Mobilisiert durch die Umwelt- und fassung der Bevölkerung effektiv und erfolgreich zu gestalten,
Anti-AKW-Bewegung, die Frauenbewegung und schließlich die was seiner Partei, der CDU, Auftrieb gab. Die FDP wurde da-
Friedensbewegung, stellte es die bisherige Politik in Frage und gegen immer stärker rein machtpolitisch und immer weniger
unterstützte die neu gegründete Partei der Grünen, die sich an- durch inhaltliche Positionsbestimmung wahrgenommen, was
fangs als „Anti-Partei-Partei“ verstand. Grundlage der Wahler- dazu führte, dass sie zunehmend als bloßes Anhängsel der
folge der Grünen seit den 1980er-Jahren ist eine soziostrukturell Union und nicht als eigenständige Kraft mit inhaltlichem Pro-
abgrenzbare Wählergruppe, die sich einer gemeinsamen Werte- fil angesehen wurde.
orientierung verbunden fühlt. Dazu gehörten vorzugsweise zu- Die Grünen sollten nicht der einzige Neuzugang im Kreis der
nächst die jüngeren Generationen mit höherer formaler Bildung, etablierten Parteien bleiben. Mit der Vollendung der politischen
die meist in Universitätsstädten lebten und libertäre Werte wie Einheit Deutschlands nach 1990 kam die Nachfolgeorganisati-
Umweltschutz, Pazifismus, Toleranz und Selbstentfaltung ver- on der DDR-Staatspartei SED (siehe S. 46 ff.), die „Partei des De-
traten. Durch verschiedene soziale Bewegungen verdichteten mokratischen Sozialismus“ (PDS) hinzu. Sie verfolgte zu ihrer
sie sich zu spezifischen Milieus und begründeten auf diese Wei- Existenzsicherung eine doppelte Strategie: Als sozialistische
se eine neue Konfliktlinie im deutschen Parteienwettbewerb. Alternative, welche soziale Gerechtigkeit mit einer Präferenz
Prägend für das Binnenleben der Partei wurde die Ausei- für ein ausgebautes Sozialstaatsmodell propagierte, forderte sie
nandersetzung zwischen zwei Flügeln, den sogenannten Fun-
damentalisten und den „Realos“. Nachdem der harte Kern des
radikalen Flügels ausgeschieden war, begann der innerpartei-
ullstein bild – Ulrich Baumgarten
Dieser wiederum kann als Bundeskanzler von 1982 bis 1998 die CDU/CSU in Koalition mit der FDP an der Regierung halten und mit Erfolg den Prozess der deutschen
Einheit gestalten. Bad in der Menge in Leipzig vor den ersten freien DDR-Volkskammerwahlen im März 1990
vermehrte sozialstaatliche Leistungen, um soziale Ungleichhei- zweiter Ordnung (dazu zählen auch Wahlen zum Europäischen
ten zu verringern. Parlament) Wählerinnen und Wähler eher zu einer insgesamt
Daneben trat sie als ostdeutsche Regionalpartei auf, denn geringeren Mobilisierung und zu Protestverhalten oder Wech-
in den neuen Ländern konnte die PDS sehr viel ungehemmter selwahl animieren als gesamtstaatliche Wahlen. Landtagswah-
den Ost-West-Gegensatz im Wettbewerb mit anderen Partei- len werden nicht selten als Test- oder Stimmungswahl über die
en zu ihrem Thema machen. Als einzige „geborene“ Ostpartei Politik der Bundesregierung genutzt.
wurde die PDS zur Stimme einer Abwehrhaltung gegenüber Enttäuschte Erwartungen der Wählerschaft, Unsicherheits-
dem Westen, die sich mit „Teilnostalgie“ gegenüber der DDR gefühle und Abstiegsängste können für diese Entwicklung
verband. Die PDS sah sich als Sprachrohr einzelner ostdeut- mitverantwortlich gemacht werden. Sie speisten sich in den
scher Interessen und Mentalitäten. Damit konnte sie Protest- 1990er-Jahren auch aus den Folgen des tiefgreifenden wirt-
wähler einbinden, welche aus subjektiver Haltung das politi- schaftlichen Strukturwandels in Ostdeutschland und den Fol-
sche System Deutschlands skeptisch beurteilten, wozu auch gen der Globalisierung für den innerstaatlichen Arbeitsmarkt.
größere Teile der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aus Sicht eines nicht unerheblichen Teils der Wählerschaft
Eliten der ehemaligen DDR zählten. Reale ökonomische Pro- haben speziell die Großparteien seit jeher für subjektiv wahr-
bleme und soziale Verwerfungen im Zuge des Einigungspro- genommene soziale Schieflagen und Statusbedrohungen die
zesses förderten bei einem Teil der ostdeutschen Bürgerinnen Verantwortung zu übernehmen. Staatliche Verantwortung für
und Bürger ein Einstellungsmuster aus enttäuschten Erwar- soziale und wirtschaftliche Fragen wird von weiten Teilen der
tungen, Benachteiligungs- und Kolonialisierungsgefühlen, Wählerschaft gefordert, der Wunsch nach umfassender Absi-
nostalgischer Verklärung der Geschichte der DDR, Misstrauen cherung durch den Staat ist relativ weit verbreitet. Von den
gegenüber etablierter westlicher Politik und Bejahung einzel- zentralen politischen Akteuren wird erwartet, Probleme zu
ner sozialistischer Grundtendenzen. lösen und vor Risiken zu schützen.
Die Erfolge der kleineren Parteien gingen zu Lasten der Weiterhin problematisch für die Großparteien ist die gerin-
Großparteien CDU/CSU und SPD, die bei Bundestagswahlen gere Parteibindung der Wählerinnen und Wähler im Osten
bis 2013 durchgängig Stimmenanteile und Mitglieder verloren. Deutschlands, was den Wettbewerb um Wechselwähler in-
Offensichtlich zu erkennen waren Probleme wie Integrations- tensiviert und spezifische Mobilisierungs-, Identitäts- und Or-
und Mobilisierungsschwächen, schwindende Organisations- ganisationsprobleme beider Volksparteien in Ostdeutschland
kraft und Vitalitätsverluste infolge des Altersanstiegs ihrer nach sich zog. Während die SPD sich in den neuen Bundeslän-
Mitglieder. Das Durchschnittsalter der Mitglieder von CDU dern neu gründete, konnte die CDU zwar auf die Organisati-
und SPD beträgt 59 Jahre. on und Mitglieder der ehemaligen Blockpartei der Ost-CDU
Zu diesen Problemen, die vor allem die Großparteien betra- zurückgreifen, musste aber aufgrund der unterschiedlichen
fen, trugen langfristige Entwicklungen bei, die bis in die Ge- Sozialisation Integrationsschwierigkeiten bewältigen; zudem
genwart andauern (siehe auch S. 63 ff.). Zu ihnen zählen ein war die CDU im Osten Deutschlands geringer verankert. Der
sozioökonomischer und soziokultureller Wandel, ein Werte- Antikommunismus, der bis 1990 bürgerliche Wählerinnen
wandel sowie Trends zu Säkularisierung und Individualisie- und Wähler mobilisiert hatte, konnte nach dem Ende der DDR
rung. Die traditionellen Milieus, die mentalitäts- und bewusst- nicht mehr in gleichem Ausmaß als integrative Klammer für
seinsprägend waren, sind geschrumpft, so beispielsweise das Unionswähler wirken.
der SPD nahe stehende gewerkschaftlich geprägte (Fach-)Ar-
beitermilieu oder das der CDU nahe stehende katholische Mi-
lieu. Die Zahl derer, die sich zur Arbeiterschicht zählen, ist von
mehr als 50 Prozent in den 1950er-Jahren auf unter 30 Prozent Das Parteiensystem der DDR
zurückgegangen. Bei den Katholiken verringerte sich der An-
teil der regelmäßigen Kirchgänger im gleichen Zeitraum von Bereits im Juni 1945 erlaubte die sowjetische Militäradminis-
über 70 auf weniger als 25 Prozent. tration in Deutschland (SMAD) die Gründung von Parteien.
Parallel dazu verliefen Prozesse der Individualisierung und In der sowjetisch besetzten Zone entstanden daraufhin die
Pluralisierung der Lebensstile: Konsumgewohnheiten, Part- „Kommunistische Partei Deutschlands“ (KPD), die „Christlich
nerschaftsverhalten, Erwerbsformen oder Freizeitaktivitäten Demokratische Union“ (CDU), die „Liberal-Demokratische Par-
haben sich ausdifferenziert und prägen das Identitätsgefühl tei Deutschlands“ (LDPD) und die „Sozialdemokratische Par-
häufig mehr als die formale Schichtzugehörigkeit. Hinzu tei“ (SPD). Im Jahr 1948 kamen zwei weitere bürgerliche Par-
kommt, dass sich die sozialen Schichten hinsichtlich ihrer Inte- teien hinzu, die „Demokratische Bauernpartei Deutschlands“
ressen, Alltagskulturen, ihres politischen Informationsverhal- (DBD) und die „National-Demokratische Partei Deutschlands“
tens und ihrer Lebensstile auseinanderbewegen. Die Fülle der (NDPD).
Optionen zur Freizeitgestaltung vergrößert die Unterschiede. Schon früh versuchte die sowjetische Besatzungsmacht
Entstanden sind vielerlei kleinteilige Milieus, die wiederum alle Parteien in einer „antifaschistischen Einheitsfront“ zu-
zu erhöhter Volatilität, das heißt zu einer Zunahme der Wech- sammenzuführen. Im April 1946 kam es auf ihren Druck zur
selwahlbereitschaft geführt haben. Das bedeutet, die jeweili- Verschmelzung von KPD und SPD zur SED, die fortan die domi-
gen sozialen Gruppen wählen weit weniger geschlossen ihre nierende Staatspartei in der DDR werden sollte. Nicht wie in
einstigen Stammparteien. Bei Jugendlichen ist zumeist kaum demokratischen Verfassungsstaaten üblich wurden die Regie-
noch von einer Parteibindung auszugehen. Seit den 1970er-Jah- rung und das Parlament durch freie, gleiche, geheime Wahlen
ren lässt sich eine abnehmende Loyalität gegenüber den eta- legitimiert, sondern die SED beanspruchte ihre führende Rolle
blierten Parteien, insbesondere gegenüber den Großparteien im Staat aufgrund der Ideologie des Marxismus-Leninismus,
CDU und SPD, verzeichnen. Diese abnehmende Loyalität findet wie es in Art. 1 der Verfassung von 1974 zum Ausdruck kommt:
bei Landtagswahlen noch stärkeren Ausdruck als bei Bundes- „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer
tagswahlen. Das hat seinen Grund wohl darin, dass Wahlen Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisa-
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ullstein bild – Rieth
Bereits 1945 erlaubt die sowjetische Militäradministration die Gründung von Parteien, die sie in einer „antifaschistischen Einheitsfront“ zusammenfassen will. Ein wichti-
ger Schritt dazu ist 1946 die Verschmelzung von KPD und SPD zur führenden Staatspartei SED, besiegelt durch Wilhelm Pieck (KPD, li.) und Otto Grotewohl (SPD, re.) auf dem
Vereinigungsparteitag in Berlin. Mit dem Ende der DDR wird die SED zur PDS, Partei des Demokratischen Sozialismus, unter ihrem Vorsitzenden Gregor Gysi.
tion der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Ar- rem in der neu gegründeten ostdeutschen SPD, im Bündnis 90,
beiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ bei den Grünen oder – in erheblich geringerer Zahl – im bür-
Alle anderen Parteien und sonstige Massenorganisatio- gerlichen „Demokratischen Aufbruch“ (DA).
nen wie Gewerkschaften, Genossenschaften oder Vereine Die Volkskammerwahl im Jahr 1990 entschied die „Allianz
mussten den Führungsanspruch der SED anerkennen. Wett- für Deutschland“ – bestehend aus der CDU, der „Deutschen So-
bewerb und realer Pluralismus waren somit ausgeschlossen. zialen Union“ (DSU), die der CSU nahe stand, und dem DA – mit
Die SED sah es als ihre Aufgabe an, die staatlichen Institu- knapp 48 Prozent der abgegebenen Stimmen für sich und bil-
tionen anzuleiten, diese wiederum hatten die Aufgabe, die dete anschließend eine Koalition mit der SPD und den Libera-
Politik der SED umzusetzen. Die anderen Parteien, CDU, LDPD, len („Bund Freier Demokraten“) mit Ministerpräsident Lothar
NDPD und DBD, galten als sogenannte Blockparteien, die je- de Maizière an der Spitze. Diese Regierungskoalition bereitete
nen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Heimat bieten dann im Folgenden mit der westdeutschen Bundesregierung
sollten, welche der SED skeptischer gegenüberstanden. Real unter Helmut Kohl die politische Einheit Deutschlands vor, die
besaßen die Blockparteien jedoch so gut wie keinen politi- am 3. Oktober 1990 vollendet wurde.
schen Einfluss, da sie sich dem Machtanspruch der SED zu
unterwerfen hatten.
Der revolutionäre Umbruch 1989/90 in der DDR erreich-
te das Ziel seiner Unterstützer: Das Machtmonopol der SED Jüngste Tendenzen (1998 bis heute)
wurde aufgebrochen. Das Ende der sozialistischen Staatsherr-
schaft einer Partei konnte herbeigeführt werden. Am 18. März Für die derzeitige Struktur des Parteiensystems lassen sich
1990 kam es erstmals seit 1946 wieder zu freien Wahlen auf mit Blick auf die drei Eigenschaften Fragmentierung, Pola-
dem Gebiet der DDR. risierung und Segmentierung (siehe S. 37) im historischen
Die SED hatte sich zu diesem Zeitpunkt in „Partei des De- Vergleich drei Tendenzen beobachten:
mokratischen Sozialismus“ (PDS) umbenannt. An der Parla- ¬ Zunahme der Fragmentierung bis zur Bundestagswahl
ments-(Volkskammer-)wahl nahmen viele Gruppierungen 2013
teil, bestimmt wurde sie jedoch – neben der PDS – hauptsäch- ¬ Zunahme der Polarisierung des Wettbewerbs durch das
lich von den etablierten Parteien der Bundesrepublik wie Hinzukommen von Grünen und Linkspartei, später auch
CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne. Die Grünen Westdeutschlands der Piratenpartei und der „Alternative für Deutschland“
vereinten sich erst im Jahr 1990 nach der Bundestagswahl (AfD) sowie durch Positionsverschiebungen der FDP bei
mit den ostdeutschen Grünen, und erst im Jahr 1993 mit dem gleichzeitiger „Mitte-Orientierung" und Konsensfähigkeit
„Bündnis 90“, der Organisation, in der sich viele DDR-Bürger- der beiden Großparteien;
rechtler zusammengeschlossen hatten. Alle anderen etablier- ¬ Zunahme der Segmentierung mit größerer Unübersicht-
ten westdeutschen Parteien vollzogen die Einigung mit ihren lichkeit unterschiedlicher Koalitionsformen.
Schwesterparteien recht schnell in den ersten Monaten nach
dem Fall der Berliner Mauer. Teile der DDR-Bürgerrechtsbe- Entstanden ist dem deutschen Politikwissenschaftler Oskar
wegung waren zunächst gegenüber den Parteien abwartend Niedermayer zufolge eine „fluide Wettbewerbssituation“, die
bis skeptisch, später in einigen Parteien aktiv, so unter ande- durch eine relative Unbestimmtheit der Konkurrenzlage ge-
kennzeichnet ist, verbunden mit großen Unsicherheiten für
die Parteien hinsichtlich ihrer Stimmenanteile und der Regie-
rungsbildung. Die Gunst der Wählerinnen und Wähler verteilt
ullstein bild – Sven Simon
relle Anerkennung aller gesellschaftlichen Gruppen. Die erst In beiden Wettbewerbsdimensionen liegen beide Parteien
im Jahr 2012 neu entstandene Alternative für Deutschland aber nicht so weit auseinander, dass nicht Kompromisse erzielt
(AfD) propagiert autoritäre Werte der inneren und äußeren und ein Konsens hergestellt werden könnte. Dieser Wille zum
Sicherheit, des Nationalismus und des Traditionalismus. Konsens wird zum einen verstärkt durch die prinzipielle Be-
Diese programmatisch-ideologischen Positionierungen fin- reitschaft beider Großparteien zur Regierungsbeteiligung, wie
den auch in der Selbstbeschreibung ihren Ausdruck: Die FDP sie in der derzeitigen Großen Koalition zum Ausdruck kommt:
sieht sich als einzige „Marktpartei“ im Wettbewerb, die Lin- Auf der Arbeitsebene der Regierungspolitik kann nach über-
ke als einzige Sozialstaatspartei, Bündnis 90/Die Grünen als einstimmender Auffassung von Beobachtern ein ausreichen-
Partei kultureller Vielfalt und Toleranz, die AfD als „nationa- der Konsens zur Problembewältigung des Regierungsalltags
le Alternative“. hergestellt werden, was aufgrund der inhaltlichen Nähe im
Die Großparteien CDU/CSU und SPD sind dagegen als „Volks- Parteienwettbewerb nicht verwundert. Diese ohnehin schon
parteien“ Parteien der politischen Mitte, welche die unter- vorhandene Nähe im Parteienwettbewerb wurde zum andern
schiedlichen Meinungen, Werthaltungen und Anschauungen durch externe Einflüsse weiter verstärkt.
auszubalancieren versuchen, um mehrheitsfähig zu sein und
(nahezu) alle gesellschaftlichen Gruppen bei Wahlen für sich Trends seit 1998
zu gewinnen. Beide Parteien tragen somit schon einen aus- Mit der Bundestagswahl 1998 gelang erstmals und bisher ein-
geprägten Konsensgedanken in ihren Programmen und ihrer malig in der Geschichte ein vollständiger Regierungswechsel:
Organisation mit sich, wie es für den Typus der „Volkspartei“ SPD und Bündnis 90/Die Grünen lösten CDU/CSU und FDP als
kennzeichnend ist, dem beide nach eigenen Vorstellungen ent- Regierungsparteien ab und regierten unter Bundeskanzler
sprechen wollen. Thematische Vielfalt und Flexibilität sowie Gerhard Schröder bis zur vorgezogenen Neuwahl im Herbst
eine gewisse programmatische Unbestimmtheit kennzeichnen 2005. In dessen Amtszeit vollzog sich eine bedeutsame Positi-
diesen Parteientypus – eine notwendige Voraussetzung für er- onsverschiebung der SPD im Parteiensystem, vornehmlich in
folgreiche Stimmenmaximierung, das zentrale Ziel der Volks- der ökonomischen Konfliktdimension. Mit der sogenannten
parteien im Parteienwettbewerb. Agenda 2010 gelang eine im Ausland viel beachtete, im Inland
Um keinen falschen Eindruck zu erzeugen, soll hier klarge- kontrovers diskutierte Reform des Wohlfahrtsstaates und des
stellt werden, dass zwischen SPD und CDU/CSU durchaus Un- Arbeitsmarktes, welche mehr Eigenverantwortung einforder-
terschiede zu erkennen sind. Unterschiedliche Schwerpunkt- te und eine partielle Verringerung der staatlichen Fürsorge
und Themensetzungen bleiben bestehen oder werden neu mit sich brachte. Die Regierungskoalition aus SPD und Bünd-
fundiert, um die nach wie vor vorhandene unterschiedli- nisgrünen reagierte damit auf ökonomische Schwierigkeiten
che Interpretation von Werten beizubehalten und die nicht Deutschlands im Zuge der Anpassung an die Herausforderun-
zu vernachlässigende Gruppe der Stammwähler an sich zu gen der Globalisierung.
binden. Man könnte von politischen Tendenzbetrieben spre- Damit vertrat die SPD zu weiten Teilen pragmatisch zentris-
chen, die ihre traditionelle Milieuverhaftung nicht gänzlich tische Positionen, ohne sich vollständig von sozialdemokrati-
abstreifen können, bieten sie doch Wählerinnen und Wäh- schen Traditionsbeständen zu lösen. Dennoch stellte ihr Vor-
lern sowie Mitgliedern Identität und Identifikation im Par- gehen sie vor eine Zerreißprobe. Die Partei hatte in Folge bei
teienwettbewerb. der Wählerschaft erheblich um ihre Anerkennung zu kämpfen
und verlor innerhalb eines Jahrzehnts von der Wahl 1998 bis habe die SPD zum Schaden der CDU mit ihrer Wahlkampfstra-
zur Wahl im September 2009 rund zehn Millionen Wähler- tegie erfolgreich zum Image der CDU/CSU als „Partei der sozi-
stimmen. Aus Protest gegen die Arbeitsmarkt- und Sozialrefor- alen Kälte“ umgemünzt. Der Kurs der CDU/CSU in der Regie-
men gründete sich die Partei „Arbeit und soziale Gerechtigkeit – rungspolitik ist, unabhängig von der Notwendigkeit, mit der
Die Wahlalternative (WASG)“, die 2007 in der Partei „Die Linke“ SPD in Großen Koalitionen Kompromisse anstreben zu müs-
aufging. sen, seitdem von Vorsicht gegenüber wirtschafts- und sozial-
Von diesen Verlusten konnten die Unionsparteien bis zur politischen Reformen geprägt. Das marktliberale Programm
Bundestagswahl 2013 jedoch nicht vollständig profitieren. La- von 2005 wurde den Parteiarchiven überantwortet, und die
gen sie in Meinungsumfragen vor der Bundestagswahl 2005 Union bewegt sich wieder in Richtung Sozialstaatspartei.
zum Teil sehr deutlich vorn, so büßten sie diesen Vorsprung Die CDU/CSU setzte diesen sozialstaatlich orientierten Kurs
bis zum Wahltag fast vollständig ein und landeten nur knapp auch in der Koalition mit der FDP von 2009 und in der dritten
vor der SPD, mit der sie in Folge die zweite Große Koalition in Großen Koalition seit 2013 fort. Angela Merkels Politik ist von
der Geschichte der Bundesrepublik unter Angela Merkel als dem Ziel bestimmt, den Modernitätsrückstand der CDU in Fra-
Bundeskanzlerin bildeten. gen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und moderner
Als Hauptursache des aus Sicht der Union enttäuschenden Lebensstile abzubauen und sie in ihrem kulturellen Ausstrah-
Wahlergebnisses von 2005 wurde von vielen Christdemokra- lungsprofil auf die Höhe der Zeit zu hieven. Beispiele dafür sind
ten die Vernachlässigung sozialer Themen im Wahlkampf das Leitbild der berufstätigen Frau, die Anerkennung gleichge-
betrachtet, das marktliberale Programm der Union von 2005 schlechtlicher Partnerschaften und die Akzeptanz von Einwan-
derung und kultureller Vielfalt. Mit teilweise atemberaubender
Geschwindigkeit löste sich die CDU von programmatischen
Traditionsbeständen wie beispielsweise der Nutzung der Atom-
energie oder der allgemeinen Wehrpflicht. Dieser Parforceritt
droht jedoch ihr Stammwählerfundament zu überfordern, wie
selbst parteiintern kritische Stimmen anmerken.
Tatsächlich ist der Union eine wettbewerbsstarke Konkur-
renz in der soziokulturellen Konfliktdimension erwachsen: Die
2013 bei der Bundestagswahl nur knapp an der Fünfprozent-
hürde gescheiterte AfD verbindet eine europaskeptische Hal-
tung (insbesondere im Hinblick auf die Gemeinschaftswäh-
rung Euro) mit Themen der Migration, der inneren Sicherheit
und dem traditionellen Familienbild. Nach Auffassung des
Bonner Politikwissenschaftlers Frank Decker schickt sich mit
der AfD eine neue Gruppierung an, die Geschichte der Erfolg-
losigkeit des Rechtspopulismus in der Bundesrepublik zu be-
enden. Die AfD vertritt in ihrem Programm eher national-kon-
servative Positionen und zieht unzufriedene Wählerinnen und
Wähler aus unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten an.
Zuletzt jedoch machte die AfD mit erheblichen innerpar-
teilichen Streitigkeiten auf sich aufmerksam. Sie gipfelten in
der Spaltung zwischen dem nationalkonservativen Flügel und
der liberaleren europaskeptischen Strömung, die sich 2015 als
neue „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ (ALFA) formierte.
Da die AfD und ALFA in der Wirtschaftspolitik eher klassi-
sche liberale Positionen vertreten, bleibt auch die Zukunft der
FDP ungewiss: Erstmals in ihrer Geschichte schieden die Libe-
Klaus Stuttmann
ralen 2013 aus dem Bundestag aus. Dies war das einschneiden- Markenkern in der Umwelt- und Energiepolitik in den Vorder-
de Ergebnis der Bundestagswahl 2013, bei der mit der FDP und grund rücken. Mit Interesse wird zu beobachten sein, ob die
der AfD gleich zwei Parteien nur knapp die Fünfprozenthürde Partei künftig offen in Koalitionsentscheidungen zugunsten
verpassten. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition von 2009 von CDU/CSU oder SPD (/Linke) gehen wird.
bis 2013 endete für die FDP mit einem Desaster. Die Wählerin- Die Bundestagswahl 2013 beendete die „Durststrecke“ der
nen und Wähler stellten der Regierungstätigkeit der FDP ein Großparteien CDU/CSU und SPD; der gegen sie laufende Trend
denkbar schlechtes Zeugnis aus. Weder ihr Personalangebot, der zunehmenden Fragmentierung hat sich umgekehrt, sodass
noch ihre thematische Ausrichtung konnte ihre Wählerschaft mit Blick auf das deutsche Parteiensystem wieder eine Zwei-
ausreichend mobilisieren. Die programmatische Ausrichtung parteiendominanz erkennbar ist.
auf den Marktliberalismus stieß nach der Finanz- und Wirt- Ob sich diese Entwicklung fortsetzt, lässt sich abschließend
schaftskrise von 2008 auf verbreitete Skepsis. nicht endgültig sagen, denn vieles im Parteienwettbewerb ist
Die Unionsparteien profitierten von der hohen Popularität situativer und unkalkulierbarer geworden.
der Bundeskanzlerin und wurden mit Abstand zur stärksten
Partei; insgesamt konnten sie um 7,7 Prozentpunkte zulegen.
Der SPD, die mit Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
Burkhard Mohr / Baaske Cartoons
UWE JUN
Parteiübergreifende Gesetzesinitiativen
[…] [K]aum ein Minister muss bei null anfangen, wenn er […] Matthias Engelsberger starb 2005. Inzwischen ist längst nicht
ein Gesetz umschreibt. Oder: umschreiben lässt. Die Vorarbeit mehr von Millionen, sondern von Milliarden die Rede. Die Re-
hat […] meist ein anderer gemacht. Einer, der die Idee für das form der Ökostrom-Förderung, die das Kabinett schon gebilligt
ursprüngliche Gesetz hatte oder sie umsetzen sollte, einer, der hat, sollte vor allem Kosten senken – allerdings kassierten die
gerechnet, gefeilscht, gekämpft hat, […]. […] Länderchefs einen Teil der Pläne. Beim Fördermodell von Dani-
els und Engelsberger wird es indes vorerst bleiben. […]
Heimliche Koalition für Ökostrom ...
Er rede ja eigentlich nicht mit den Grünen, soll Matthias En- … Zusammenarbeit für die Rentenreform
gelsberger gesagt haben, als man einmal zwei Stunden lang Andreas Storm […] saß 2005 in den Verhandlungen zur vorigen
gemeinsam auf dem Flughafen wartete, „aber Sie sind ja großen Koalition für die CDU als Rentenexperte am Verhand-
Physiker“. So erinnert sich Wolfgang Daniels an sein erstes lungstisch, zusammen mit seinem Gegenpart Franz Thönnes
Gespräch mit Matthias Engelsberger, Ingenieur von der CSU; von der SPD, der sich später auf Außenpolitik verlegte. Die bei-
1990 war das. Von ferne war man sich längst aufgefallen: Der den waren isoliert: Bis 2005 war die Rente im Gesundheitsmi-
CSU-Hinterbänkler, der stets die kritischen Fragen zur Wasser- nisterium angesiedelt. Erst in den Koalitionsverhandlungen
kraft an die schwarz-gelbe Regierung stellte; und der Grüne, wurde sie im Arbeitsressort einsortiert. Zuständig fühlte sich
der nachhakte, wenn die Antwort unbefriedigend ausfiel. niemand.
Ein Anliegen verband die beiden: Strom aus erneuerbaren Im Wahlkampf des Jahres [2004] waren alle Parteien bei ih-
Energien sollte ein Geschäftsmodell werden, mit garantierten ren Rentenplänen eher vage geblieben. Aber als das Wahler-
Preisen pro Kilowattstunde. Bis dahin mussten die Betreiber gebnis auf Schwarz-Rot stand, war schnell klar, wohin die Reise
etwa von Wasserkraftanlagen, unter ihnen Engelsberger, mit ging. „Der Arbeitsauftrag in den Koalitionsverhandlungen an
den Energieversorgern den Preis selbst aushandeln. Wegen Franz Thönnes und mich war: ‚Macht die Rente mit 67‘“, erzählt
deren Machtposition war dieser oft ein Schnäppchen für die Andreas Storm […]. Nur, wie eigentlich? „Ich dachte, da gibt es
einen, kaum kostendeckend für die anderen. „Matthias Engels- eine Blaupause, aber die Anhebung der Altersgrenze war unter
berger und ich haben dann auf einer Seite einen Entwurf für Rot-Grün ein Tabuthema, das Ministerium hatte nichts vor-
ein Gesetz geschrieben“, sagt Daniels. Seine Parteikollegen im bereitet“, sagt Storm. Er habe dann das Modell einer Enquête-
damals einzigen grün geführten Ministerium, dem hessischen Kommission mitgebracht, die sich schon im Jahr 2002 für die
Umweltministerium, hätten noch mal drüber geschaut, einige Rente mit 67 ausgesprochen hatte. Darüber wurde man sich
Korrekturen, fertig. schnell einig. So kam die Anhebung des Rentenalters in Tippel-
Damit Einzelne ein Gesetz einbringen können, müssen schritten, Monat für Monat, ins Gesetz.
mindestens fünf Prozent der Bundestagsabgeordneten es un- Aber was war mit denen, die lange hart gearbeitet haben?
terstützen, damals waren das 25. Also ließ das schwarz-grüne „Ich habe den Vorschlag eingebracht, dass man für Menschen,
Team das Papier […] herumgehen, unter anderem in der CDU/ die mit 65 schon 45 Jahre gearbeitet haben, auf die Anhebung
CSU-Fraktion, wo viele es für einen Fraktionsantrag hielten verzichtet“, sagt Storm. Die Beamten im Ministerium seien da-
und ungelesen unterschrieben. „Als das bekannt wurde, gab rüber nicht begeistert gewesen, so etwas passte schlecht ins
es einen ziemlichen Aufruhr", erzählt Wolfgang Daniels. Un- Rentenrecht. Aber in einer Sitzung der großen Runde griff Franz
terschriften wurden zurückgezogen, Engelsberger wurde zum Müntefering den Vorschlag auf […]; die Anhebung des Rentenal-
parlamentarischen Geschäftsführer seiner Fraktion zitiert. […] ters wäre der SPD-Basis sonst kaum zu verkaufen gewesen. Da-
Irgendwann war die Unionsfraktion […] einverstanden – mit war das auch geregelt; zur großen Überraschung von Storm
aber es sollte ein CDU/CSU-Antrag sein […]. Im Bundestag wur- und Thönnes, die sich erstaunt ansahen. „Der erste 45-Jah-
de das Stromeinspeisegesetz 1990 schließlich an einem Frei- re-Vorschlag, das war wirklich selbst gestrickt“, sagt Storm. Er
tagabend von müden Abgeordneten durchgewinkt, mit der wirkt noch heute ziemlich verblüfft darüber. Im Rentenpaket,
deutschen Einheit hatte man anderes im Kopf. Es ging ja auch über das derzeit der Bundestag berät*, findet sich das Konzept
um lächerliche Beträge, hieß es, ein paar Millionen nur, und ausgebaut wieder, schon mit 63 Jahren sollen langjährig Versi-
das bisschen Ökostrom werde das Energiesystem schon nicht cherte aufhören dürfen, und auch Arbeitslosenzeiten sollen zu
groß erschüttern. Was für ein Irrtum. Aus dem Stromeinspeise- den 45 Jahren zählen. Kritiker sehen das als fatalen Schritt weg
gesetz wurde im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz von der Rente mit 67. Vielleicht kommt also Storms eigene Idee
(EEG), und schließlich kam die Energiewende. seinem Werk noch in die Quere. […] [*Im Mai 2014 wurde das
Wolfgang Daniels war nur eine Legislaturperiode Bundes- Rentenpaket vom Bundestag verabschiedet – Anm. d. Red.]
tagsabgeordneter. […] Er glaubt noch ans EEG, trotz allem, Wolfgang Daniels, 62, ist promovierter Physiker. Von 1987 bis 1990 war er Bundestags-
weil es kleine Einzelanlagen ermöglicht – das Genossen- abgeordneter. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter der Sachsenkraft GmbH und saß
von 2011 bis 2014 für die Grünen im Dresdner Stadtrat.
schafts-Windrad, die Solaranlage auf dem Dach. „Letztendlich
Andreas Storm (CDU), 49, saß von 1994 bis 2009 im Bundestag und war von 2005 bis 2011
geht es darum, ob die Bürger auch ein Stück vom Kuchen abbe- Staatssekretär. Von 2011 bis 2014 gehörte er der Regierung des Saarlands an.
kommen, nicht nur die großen Konzerne“, sagt er. Marlene Weiss / Johann Osel, „Die Gesetz-Geber“, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2014
Gesetzgebungsperiode (im Deutschen Bundestag 46–48 Mona- eigenen Partei bestellt ist. In diesem Kontext haben die Parteien
te) – kann jederzeit von den beteiligten Parteien aufgekündigt auch die Koalitionspräferenzen ihrer Wählerschaft zu beach-
werden. Dann muss innerhalb von 60 Tagen neu gewählt wer- ten, wollen sie diese nicht verprellen. Dies gilt insbesondere für
den. Das Erfordernis der parlamentarischen Mehrheitsbildung kleinere Parteien, die auf Zweitstimmen oder Koalitionsstim-
ist in Deutschland ein zentrales Motiv der Koalitionsbildung, da men in Folge des sogenannten Stimmensplittings setzen, nach
gemäß Grundgesetz der Bundeskanzler bzw. die Bundeskanz- dem Wähler mit ihrer Zweitstimme Koalitionspräferenzen zum
lerin vom Bundestag in den ersten beiden Wahlgängen mit Ausdruck bringen. Denn eine fehlende Koalitionsaussage ist für
absoluter Mehrheit gewählt werden muss. Es gehört zu den kleine Parteien, die nicht primär die Oppositionsrolle anstreben,
Funktionslogiken parlamentarischer Regierungssysteme, dass nach empirischen Erkenntnissen nicht von Vorteil und wird
die Parlamentsmehrheit und die Regierung eine politische Ak- von der Wählerschaft nicht belohnt.
tionseinheit bilden. Die Regierung ist abhängig von der Mehr- Um eine Regierung zu bilden und ihren Bestand zu sichern,
heit im Parlament, welche wiederum die Regierung nicht nur muss in Regierungskoalitionen der zwischenparteiliche Wett-
stützt, sondern aktiv unterstützt. bewerb reduziert werden. Kooperative Verhaltensmuster ergän-
Auch die Koalitionsbildung erfolgt im Rahmen des Parteien- zen somit in Regierungskoalitionen das Wettbewerbsverhalten.
wettbewerbs. In einer strategischen Situation wie der Koaliti- Dabei erweist es sich als vorteilhaft, wenn die Koalitionspart-
onsbildung, die in erheblichem Maße durch Unsicherheiten ner sich in zentralen Politikbereichen programmatisch-inhalt-
gekennzeichnet ist, müssen die unmittelbaren Konsequenzen lich nahe stehen. Noch günstiger ist es, wenn eine Partei in
und mittel- bis langfristigen Folgen einer zwischenparteilichen die Regierungskoalition integriert wird, die in den für die Re-
Kooperation im Hinblick auf die eigene Wettbewerbssituation gierungspolitik zentralen bzw. entscheidenden Politikfeldern
kalkuliert werden (siehe Grafik S. 54). Erfahrungen aus frühe- eine gegenüber allen im Wettbewerb stehenden Parteien ver-
ren Koalitionen fließen in die Entscheidung ebenso mit ein wie mittelnde Position einnehmen kann. Denn so wird die Kompro-
das erwartete Verhalten potenzieller Koalitionspartner und missfindung nach innen und außen stabilisiert. Das heißt also,
mögliche Auswirkungen einer Koalitionsbildung auf die Wäh- dass in Parlamenten diejenige Partei einen erheblichen Vorteil
lerschaft. Es wird geprüft, inwieweit die anderen Parteien koa- hat, die in einzelnen Politikfeldern inhaltlich in der Nähe einer
litionsfähig sind und wie es um die Koalitionsbereitschaft der mittleren Position steht (Medianansatz).
Koalitionsausschuss
Im politischen Alltagsgeschäft kommen die Regierungspartei-
picture-alliance / dpa / Kay Nietfeld
der Erststimme in den Wahlkreisen mindestens drei Direkt- schen Union (EU) und auch nicht bei Kommunalwahlen. Für
mandate gewinnt, proportional entsprechend des Zweitstim- EU-Wahlen hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Ver-
menanteils in den Bundestag ein. weis auf Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit der Bürgerinnen
Dies verweist auf eine Besonderheit des deutschen Wahl- und Bürger und der Chancengleichheit der Parteien im Februar
rechts: Bei Bundestagswahlen hat jeder Wähler bzw. jede Wäh- 2014 selbst eine Dreiprozenthürde für verfassungswidrig er-
lerin zwei Stimmen. Mit der Erststimme wird ein Wahlkreiskan- klärt. Damit wurde die Wahl zum EU-Parlament 2014 erstmals
didat gewählt, mit der Zweitstimme die Landesliste einer Partei. in Deutschland ohne jegliche Sperrklausel durchgeführt.
Entscheidend für die Zusammensetzung des Bundestages ist –
abgesehen von der Direktmandatsklausel – aber mittlerweile
ausschließlich die Zweitstimme, da nach der Wahlrechtsreform
von 2013 sämtliche Überhangmandate vollständig ausgegli- Parteien in der Opposition
chen werden. Überhangmandate können entstehen, wenn eine
Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als Oppositionsfraktionen üben hauptsächlich Kontrolle und
ihr nach dem Zweitstimmenanteil in diesem Bundesland zu- Kritik gegenüber der Regierung aus und stellen im Parteien-
stehen. Diese werden dann für alle Parteien in Zusatzmandate wettbewerb eine Alternative zu den Regierungsparteien dar.
umgewandelt. Die Fünfprozenthürde gilt ebenso bei Landtags- Grundlegend zu unterscheiden ist eine fundamentale Oppo-
wahlen, nicht jedoch bei Wahlen zum Parlament der Europäi- sition, welche Grundprinzipien der Verfassung in Frage stellt,
Parteiengesetz
§ 18 Grundsätze und Umfang der staatlichen Finanzierung 3. 0,45 Euro für jeden Euro, den sie als Zuwendung (eingezahl-
(1) Die Parteien erhalten Mittel als Teilfinanzierung der all- ter Mitglieds- oder Mandatsträgerbeitrag oder rechtmäßig
gemein ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden Tätigkeit. erlangte Spende) erhalten haben; dabei werden nur Zuwen-
Maßstäbe für die Verteilung der staatlichen Mittel bilden der dungen bis zu 3300 Euro je natürliche Person berücksichtigt.
Erfolg, den eine Partei bei den Wählern bei Europa-, Bundestags-
und Landtagswahlen erzielt, die Summe ihrer Mitglieds- und Die Parteien erhalten abweichend von den Nummern 1 und 2
Mandatsträgerbeiträge sowie der Umfang der von ihr einge- für die von ihnen jeweils erzielten bis zu vier Millionen gültigen
worbenen Spenden. Stimmen 1 Euro je Stimme. Die Beiträge erhöhen sich ab dem
(2) Das jährliche Gesamtvolumen staatlicher Mittel, das allen Jahr 2017 entsprechend Absatz 2 Satz 2 bis 5.
Parteien höchstens ausgezahlt werden darf, beträgt für das Jahr (4) Anspruch auf staatliche Mittel gemäß Absatz 3 Nr. 1 und 3
2011 141,9 Millionen Euro und für das Jahr 2012 150,8 Millionen haben Parteien, die nach dem endgültigen Wahlergebnis der
Euro (absolute Obergrenze). Die absolute Obergrenze erhöht jeweils letzten Europa- oder Bundestagswahl mindestens 0,5
sich jährlich, jedoch erstmals für das Jahr 2013, um den Pro- vom Hundert oder einer Landtagswahl 1,0 vom Hundert der
zentsatz, abgerundet auf ein Zehntel Prozent, um den sich der für die Listen abgegebenen gültigen Stimmen erreicht haben;
Preisindex der für eine Partei typischen Ausgaben im dem An- für Zahlungen nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 muss die
spruchsjahr vorangegangenen Jahr erhöht hat. Grundlage des Partei diese Voraussetzungen bei der jeweiligen Wahl erfüllen.
Preisindexes ist zu einem Wägungsanteil von 70 Prozent der Anspruch auf die staatlichen Mittel gemäß Absatz 3 Nr. 2 haben
allgemeine Verbraucherpreisindex und von 30 Prozent der In- Parteien, die nach dem endgültigen Wahlergebnis 10 vom Hun-
dex der tariflichen Monatsgehälter der Arbeiter und Angestell- dert der in einem Wahl- oder Stimmkreis abgegebenen gülti-
ten bei Gebietskörperschaften. Der Präsident des Statistischen gen Stimmen erreicht haben. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht für
Bundesamtes legt dem Deutschen Bundestag hierzu bis spätes- Parteien nationaler Minderheiten.
tens 30. April jedes Jahres einen Bericht über die Entwicklung (5) Die Höhe der staatlichen Teilfinanzierung darf bei einer Par-
des Preisindexes bezogen auf das vorangegangene Jahr vor. Der tei die Summe der Einnahmen nach § 24 Abs. 4 Nr. 1 bis 7 nicht
Bundestagspräsident veröffentlicht bis spätestens 31. Mai jedes überschreiten (relative Obergrenze). Die Summe der Finanzie-
Jahres die sich aus der Steigerung ergebende Summe der abso- rung aller Parteien darf die absolute Obergrenze nicht über-
luten Obergrenze, abgerundet auf volle Eurobeträge, als Bun- schreiten.
destagsdrucksache. (6) Der Bundespräsident kann eine Kommission unabhängiger
(3) Die Parteien erhalten jährlich im Rahmen der staatlichen Sachverständiger zu Fragen der Parteienfinanzierung berufen.
Teilfinanzierung (7) Löst sich eine Partei auf oder wird sie verboten, scheidet sie
1. 0,83 Euro für jede für ihre jeweilige Liste abgegebene gültige ab dem Zeitpunkt der Auflösung aus der staatlichen Teilfinan-
Stimme oder zierung aus.
2. 0,83 Euro für jede für sie in einem Wahl- oder Stimmkreis ab-
gegebene gültige Stimme, wenn in einem Land eine Liste für www.gesetze-im-internet.de/partg/_18.html sowie http://dipbt.bundestag.de/dip21/
diese Partei nicht zugelassen war, und btd/18/068/1806879.pdf
¬ Das Prinzip innerparteilicher Demokratie muss auch bei Re- angehoben. Das jährliche Gesamtvolumen staatlicher Mittel
gelungen zur Parteienfinanzierung beachtet werden. wurde für 2011 auf 141,9 Millionen Euro und für 2012 auf 150,8
Millionen Euro festgelegt. Ab 2013 erhöht sich die absolute
Daraus haben sich drei wesentliche Quellen der Finanzierung Obergrenze im Rahmen der in Paragraf 18 Abs. 2 PartG vorge-
von Parteien entwickelt: gebenen Dynamisierung.
¬ selbst erwirtschaftete Finanzmittel (aus Mitgliedsbeiträgen Einen wesentlichen Beitrag zu den Parteifinanzen leisten
oder unternehmerischer Tätigkeit; wobei Mitgliedsbeiträge weiterhin Parteimitglieder. So finanzieren sich die Parteien
real den Löwenanteil stellen), nach eigener Auskunft durch die Rechenschaftsberichte zu ei-
¬ Spenden, nem großen Teil aus Mitgliedsbeiträgen, bei der CDU zu 25,6
¬ staatliche Unterstützung. Prozent (2013), bei der SPD zu 30,1 Prozent und bei der Linken
gar zu 33,2 Prozent.
Für die staatliche Parteienfinanzierung hat das Bundes- Wesentlich ist hierbei auch die relative Obergrenze, nach der
verfassungsgericht sowohl eine relative wie eine absolute die staatliche Parteienfinanzierung die Summe der jährlich
Obergrenze festgelegt. Die relative Obergrenze besagt, dass selbst erwirtschafteten Einnahmen einer Partei nicht über-
wenigstens die Hälfte der Einnahmen einer Partei nicht- schreiten darf (§ 18 (5) PartG). Die Mitgliedsbeiträge und die
staatlich, also von dieser selbst erwirtschaftet sein muss. Da- Spenden an die Parteien sind also auch bei der Vergabe staat-
mit soll der vom Grundgesetz vorausgesetzten Staatsfreiheit licher Mittel ein gewichtiger Berechnungsfaktor. In der Partei-
der Parteien Rechnung getragen werden, indem nicht nur enforschung ist die Rolle der Mitgliedsbeiträge aber umstritten:
ihre Unabhängigkeit vom Staat sichergestellt wird, sondern So verweisen nicht wenige Forscher auf die Möglichkeiten der
auch, dass die Parteien sich ihren Charakter als frei gebildete, Parteien, andere, vor allem staatliche Finanzierungsquellen zu
im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen erschließen und Fraktionsgelder zur „Querfinanzierung“ zu
bewahren. Die absolute Obergrenze war ab dem Jahr 2002 nutzen. Auch stellt sich die Frage, wie hoch die tatsächlichen,
auf 133 Millionen Euro festgesetzt worden. Mit dem 10. Än- durch ein Parteimitglied verursachten Verwaltungskosten sind.
derungsgesetz zum Parteiengesetz wurde diese Obergrenze Zu diesen Verwaltungskosten gehört zum Beispiel, dass Partei-
kostenlos Mineralwasser für das Sommerfest einer Partei zur nete und jeden Abgeordneten einer Fraktion. Derzeit liegt die
Verfügung stellt, so muss dies als Spende im Rechenschaftsbe- monatliche Grundpauschale pro Fraktion im Bundestag bei
richt der Partei festgehalten werden. 371 258 Euro, die monatliche Pauschale pro Abgeordnetem einer
Nach Artikel 21 GG müssen politische Parteien über die Fraktion bei 7751 Euro. Die Zuwendungen an die Bundestags-
Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft ablegen. Ihre und Landtagsfraktionen übersteigen insgesamt deutlich die
jährlichen Rechenschaftsberichte werden dem Bundestags- der direkten Parteienfinanzierung und liegen in der Summe
präsidenten zugeleitet, welcher diese prüft und bei falschen jährlich bei mehr als 180 Millionen Euro. Mit dem Geld werden
oder fehlerhaften Angaben Sanktionen verhängen kann. Der überwiegend die Mitarbeiter in den Fraktionsverwaltungen
Rechenschaftsbericht ist in der Regel von einer unabhängigen bezahlt, aber auch beispielsweise Öffentlichkeitsarbeit, wis-
Stelle zu prüfen (Wirtschaftsprüfer, Wirtschaftsprüfungsgesell- senschaftliche Studien oder Veranstaltungen. Diese Fraktions-
schaft, ausnahmsweise auch Buchprüfer bzw. Buchprüfungs- gelder dürfen nicht für die außerparlamentarische Parteiorga-
gesellschaft) und mit dem entsprechenden Prüfungsvermerk nisation verwendet werden.
beim Präsidenten des Deutschen Bundestages einzureichen, Zur indirekten Parteienfinanzierung zählen manche auch die
der ihn als Bundestagsdrucksache veröffentlicht. Anspruch Gelder an die sogenannten parteinahen Stiftungen wie die
auf staatliche Teilfinanzierung haben gemäß § 18 Abs. 4 PartG Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU), die Friedrich-Ebert-Stiftung
grundsätzlich diejenigen Parteien, die nach dem endgültigen
Ergebnis der jeweils letzten Wahl zum Europäischen Parlament
oder zum Deutschen Bundestag mindestens 0,5 Prozent oder
bei einer der jeweils letzten Landtagswahlen 1 Prozent der ab-
gegebenen gültigen Stimmen für ihre Listen erreicht haben.
Spenden sind grundsätzlich erlaubt und bis zu einer Höhe von
3300 Euro je natürlicher Person steuerlich absetzbar, unterlie-
gen jedoch, wie oben gesagt, oberhalb von 50 000 Euro der An-
zeigepflicht und sind öffentlich einsehbar.
Neben der direkten Parteienfinanzierung existieren noch
Formen der Finanzierung, die gern als „indirekte Parteienfi-
Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons
(SPD), die Hanns-Seidel-Stiftung (CSU), die Heinrich-Böll-Stif- treibt, von der Politik lebt, das heißt ein Einkommen bezieht,
tung (Bündnis 90/Die Grünen), die Friedrich-Naumann-Stiftung gesellschaftliche Reputation erwirbt und im Gegenzug nicht
(FDP) oder die Rosa-Luxemburg-Stiftung (Die Linke). Die partei- geringe Anforderungen im Hinblick auf Zeit für den Beruf
nahen Stiftungen engagieren sich in der politischen Bildungsar- und politisches Engagement erfüllen muss. Eine moderne De-
beit, in der Begabtenförderung und in der sozialwissenschaftli- mokratie mit ihren gestiegenen Anforderungen an die Politik
chen Forschung. Sie stellen (Partei-)Archive bereit, unterhalten und der Ausdifferenzierung sehr unterschiedlicher Politik-
Büros weltweit und leisten wirtschaftliche und humanitäre felder kommt ohne Berufspolitiker und -politikerinnen nicht
Unterstützung in anderen Staaten sowie Politikberatung. Die mehr aus. Generalisten, die aufgrund ihrer Expertise und po-
einzelnen Stiftungen arbeiten zwar in vielen Bereichen mit ihrer litischen Erfahrung unterschiedliche Politikbereiche kennen,
„Mutterpartei“ eng zusammen, sind jedoch formal unabhängig und Spezialisten, die sich in ein Politikfeld intensiv eingear-
und nicht jedes Handeln der Stiftung ist mit der „Mutterpartei“ beitet haben, ergänzen sich bei der Aufgabenbewältigung.
abgestimmt oder im Einklang. Die den Stiftungen gewährten Die in vielen Bereichen zu beobachtenden gesellschaftlichen
Zuschüsse aus Bundesmitteln sind beträchtlich. Im Jahr 2014 lag Tendenzen zur Ausdifferenzierung sind auch in der Politik stär-
die Gesamtsumme mit 491 Millionen Euro deutlich über der ab- ker geworden, sodass in zunehmendem Maße hauptamtliche
soluten Obergrenze der direkten Parteienfinanzierung. Die Stif- Politik direkt nach einem Studium als eigener Berufsweg einge-
tungen beziehen ihr Geld aus den vier Ministerien Wirtschaftli- schlagen wird. Diese Tendenzen erfordern gleichzeitig klare in-
che Zusammenarbeit und Entwicklung, Inneres, Bildung sowie stitutionelle Regelungen für die Berufspolitik, wie etwa finanzi-
Auswärtiges Amt. Am meisten bekommen die Stiftungen aus elle Entschädigungen bei Amtsverlust oder Bestimmungen für
dem Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam- den Wechsel in einen anderen beruflichen Bereich.
menarbeit und Entwicklung (BMZ) (2014: 266,06 Millionen Euro). Da die Parteien insgesamt einen deutlichen Mitglieder-
rückgang zu verzeichnen haben, kommt den Personen, die
hauptamtlich Politik betreiben, auch auf der kommunalen
Ebene eine wachsende Bedeutung zu; viele von ihnen beklei-
Politik als Beruf den entsprechend kommunale Partei- oder Wahlämter, nicht
selten auch mehrere nebeneinander. Daneben übernehmen
Egal, ob es sich um Abgeordnete der Fraktionen in den Landta- sie für die Funktionsfähigkeit der Organisation tragende Rol-
gen, im EU-Parlament und im Bundestag handelt, um Mitglie- len und halten die alltäglichen Geschäfte zusammen mit den
der der Regierungen in Bund und Ländern, um Bürgermeister Angestellten in den Geschäftsstellen auf dem Laufenden.
in Großstädten oder um Landräte – sie alle sind fast ausschließ-
lich Berufspolitiker. Nur in den Stadtstaaten Berlin, Bremen
und Hamburg sind in den jeweiligen Landesparlamenten noch
vereinzelt Nicht-Berufspolitiker anzutreffen. In den allermeis-
ten Fällen sind diese Personen zunächst innerhalb der Partei
in wichtige Ämter auf kommunaler und regionaler Ebene ge-
langt, bevor sie außerparteiliche Ämter und Mandate erreich-
ten. Noch immer ist das kommunalpolitische Engagement die
Grundlage für den Aufstieg in öffentliche Ämter und Mandate.
Die wachsende Komplexität der Probleme, die stärkere Aus-
differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme und die gestie-
genen Kompetenzanforderungen haben eine fortwährende
Professionalisierung der Politik notwendig gemacht. Sie hat
in den zurückliegenden Jahrzehnten eine Führungsgruppe
in den Parteien und Fraktionen (einschließlich ihrer Mitar-
beiterstäbe) hervorgebracht, die hauptamtlich Politik be-
UWE JUN
Aktuelle Herausforderungen
In den postindustriellen Gesellschaften hat sich in den durchdringen, ist ebenso wie ihre gesellschaftliche Relevanz
vergangenen Jahren ein Wertewandel vollzogen, der auch in repräsentativen Demokratien gesunken.
die Bindung an die Parteien gelockert hat. Diese sehen Zur gesellschaftlichen Erosion der etablierten Parteien hat
sich komplexen gesellschaftlichen und politischen Heraus- ein sogenannter Wertewandel in postindustriellen Gesell-
forderungen gegenüber. Obwohl das Vertrauen den Parteien schaften ebenso beigetragen wie die kontinuierliche Höher-
gegenüber gesunken ist, konnten sie ihre zentrale Stellung qualifizierung der Gesellschaft. Parallel zum Prozess der In-
institutionell aufrechterhalten. dividualisierung ist der Anteil der Absolventen mit höherem
formalem Bildungsabschluss erheblich gestiegen („kognitive
Mobilisierung“). Verbunden damit hat auch die Wählerschaft
Vielfalt gesellschaftlicher Werte, Inte- insgesamt ihre Ansprüche gegenüber den politischen Partei-
ressen und Problemlagen en gesteigert, ist weniger auf Kommunikationsleistungen und
Deutungsangebote der Parteien angewiesen oder hat sich von
diesen emanzipiert.
Die traditionellen Konfliktlinien haben in den letzten 50 Jah- In den postindustriellen Gesellschaften Westeuropas hat
ren an Bedeutung verloren und sind nicht vollständig durch sich eine bunte Vielfalt von Wertegemeinschaften herausge-
neue ersetzt worden. Die gesellschaftliche Anbindung von po- bildet, die unterschiedliche Mentalitäten, Einstellungen, Le-
litischen Parteien hat sich infolgedessen erheblich gelockert bensformen und Orientierungen aufweisen. Die Herstellung
und das Ausmaß, in dem politische Parteien die Gesellschaft eines allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Wertekonsenses
ist damit schwieriger geworden. Postmaterialistische Werte Zeitraum von 55 auf 32 Prozent. Das Verhältnis von Stamm- und
wie Selbstentfaltung oder die Bevorzugung nachhaltiger öko- Wechselwählern hat sich also zugunsten der Wechselwähler ge-
logischer Lebensformen haben an Bedeutung gewonnen. Ma- ändert. Einer Umfrage der Konrad Adenauer-Stiftung aus dem
terialistische Werte, aber auch traditionell-autoritäre Werte Jahr 2013 zufolge haben 30 Prozent der Wahlberechtigten eine
wie hierarchische Ordnungsvorstellungen, Paternalismus, die Bindung zu den Unionsparteien und 20 Prozent zur SPD. Mit den
Akzeptanz konservativ-religiöser Moralvorstellungen und die Bündnisgrünen identifizieren sich 7, mit der Linken 4 und mit der
Bevorzugung konformistischer Lebensstile haben dagegen an FDP 2 Prozent. Jüngere Wähler haben der Umfrage zufolge selte-
Bedeutung verloren. An ihre Stelle tritt bei einzelnen sozialen ner eine langfristige Bindung an eine Partei: In der Altersgruppe
Gruppen eine bewusste Hinwendung zu libertären Werten der 18- bis 29-Jährigen sind es 40 Prozent, in der Altersgruppe
wie Emanzipation, höhere Lebensqualität durch Freizeitakti- der über 60-Jährigen 17 Prozent, die keinerlei Parteibindung
vitäten, Toleranz gegenüber Minderheiten oder Bevorzugung angeben. Eine Parteiidentifikation wirkt übrigens tendenziell
nonkonformistischer Lebensstile. wie eine gefärbte Brille: Die Parteiidentifikation beeinflusst die
Wahrnehmung der einzelnen Parteien maßgeblich zugunsten
Rückgang der Parteibindung der präferierten und zuungunsten der anderen Parteien.
Folge dieser Wandlungsprozesse ist eine deutlich spürbare Ab- Da die Präferenzen der Wählerschaft vielfältiger geworden
nahme der Zahl parteigebundener Wählerinnen und Wähler. sind und weniger aus sozialen Verankerungen hervorgehen
Nicht nur die einstmals vorhandene relative Geschlossenheit und gleichzeitig die Komplexität und Vielfältigkeit gesell-
soziostruktureller und -kultureller Gruppen ist einer Diffusion schaftlicher und politischer Probleme spürbar angewachsen
gewichen. Auch die Loyalität der weiterhin vorhandenen Kern- sind, fällt es Parteien, die aus sich heraus möglichst viele Wäh-
milieus gegenüber ihnen nahestehenden politischen Parteien lerinnen und Wähler erreichen wollen, immer schwerer, zu-
ist eingeschränkter vorhanden. Zwar neigen aktive Gewerk- sammenhängende Programmangebote zu erstellen.
schafter nach wie vor zur Wahl von sozialistischen oder sozial-
demokratischen Parteien, praktizierende Katholiken zur Wahl Erschwernis ideologischer Positionsbestimmung
von konservativen beziehungsweise christdemokratischen Damit ist bei den politischen Parteien ein Verlust der klaren
Parteien. Diese traditionelle Unterstützung ist jedoch nicht nur ideologischen Positionsbestimmung einhergegangen, zumin-
quantitativ, sondern auch qualitativ in erheblichem Maße rück- dest bei den traditionellen Großparteien wie Sozialdemokratie
läufig. Freizeitverhalten, Konsumgewohnheiten oder konkrete oder Christdemokratie. Innerhalb der Europäischen Union lässt
Wertvorstellungen prägen das Identitätsgefühl der Menschen sich beispielsweise ein programmatischer Annäherungsprozess
ebenso wie soziale Gruppenzugehörigkeiten. sowohl innerhalb der sozial- und christdemokratischen Partei-
Gaben nach Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen im Jahr enfamilien als auch zwischen diesen beiden finden, wenngleich
1972 noch 20 Prozent der Wählerschaft in Deutschland an, sich programmatische Unterschiede fraglos weiter bestehen.
mit keiner Partei zu identifizieren, so stieg dieser Anteil auf 38 Im Besonderen sozialdemokratische Parteien sahen sich zu-
Prozent im Jahr 2009. Die Zahl der Wählerinnen und Wähler, nächst gezwungen, auf den ökonomischen Wettbewerb der
die sich mit einer Partei stark identifizierten, sank im gleichen nationalen Volkswirtschaften zu reagieren, der in Folge der
Angstpolitik
Auf die Freiheit gibt es kein Patent. Jede und jeder kann sich auf Drittens: Die Sicherheit und Geborgenheit, die die Rechtspopulisten
sie berufen, und sei es, um sie zu zerstören. Auch das gehört zur versprechen, findet „das Volk“ gemäß ihrer Ideologie nur im Schoß
Freiheit. Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen führt im einer pathetisch überhöhten, nach außen abgeschotteten und eth-
Europaparlament eine Fraktion namens „Europa der Nationen und nisch möglichst homogenen Nation unter straffer bis autoritärer
der Freiheit“. Ko-Vorsitzender ist ein Niederländer aus der ebenso Führung. Freiheit wird vom Weltbürgerrecht zum Privileg des eige-
rechtspopulistischen „Partei für die Freiheit“, Vize-Fraktionschef ein nen Volkes, das „den anderen“ im Zweifel vorenthalten werden darf
Gesinnungsgenosse aus der „Freiheitlichen Partei Österreichs“. und muss.
Der Name ist bloße Tarnung, denn Europas Rechtspopulisten – Nicht zufällig stehen viele dieser Parteien an der Seite von Wladi-
von Le Pens Front National über die „freiheitlichen“ Österreicher mir Putin, der in Russland zeigt, wie man „Sicherheit und Ordnung“
und die polnische PiS bis zur ungarischen Fidesz – stehen an vor- auf Kosten der Freiheit wahrt. Aber ideologische Spurenelemente fin-
derster Front einer Entwicklung, die die Freiheit bedroht: Sie geben den sich zum Teil auch in linken Bewegungen und Parteien. Bei den-
ein Sicherheitsversprechen, das unter Wahrung der in Jahrhunder- jenigen zum Beispiel (zum Glück wenigen), die in ehrendem Anden-
ten erkämpften Freiheitsrechte nicht einzuhalten sein wird. Das ken an die DDR lieber einen diktatorischen Sozialstaat hätten, als um
Gleiche gilt für die deutsche AfD. die Koexistenz von sozialer Sicherheit und Freiheit zu kämpfen. […]
All diesen Gruppen ist ein ideologischer Kern gemein, der sich in Die Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit hat in konflikt-
drei Bestandteile aufgliedern lässt. reichen Zeiten noch zugenommen. Wo Gewissheiten schwinden –
Erstens: Vor der unordentlichen Welt „da draußen“ soll ein starker einst gewohnte Arbeits- und Familienverhältnisse, soziale Siche-
Staat seine Bürgerinnen und Bürger schützen. Das bedeutet gna- rungen, kulturelle Homogenität, internationale Ordnungen –, da
denlose Härte im Umgang mit Kriminellen, auch wenn mehr Stra- wächst die Unsicherheit des auf sich selbst gestellten Individuums.
fen an den Verbrechenszahlen nichts ändern. Es bedeutet so viel Sie wächst teils objektiv, etwa durch den Abbau der Sozialsyste-
Überwachung wie möglich unter dem Motto der Terrorbekämp- me oder die zumindest latent stets vorhandene Terrorgefahr. Teils
fung. Es bedeutet die Ächtung, wenn nicht Verfolgung „abweichen- wächst sie auch „nur“ subjektiv. Aber so oder so gibt sie den Nähr-
den“ Verhaltens, von Schwulenparaden bis zu aufmüpfigen Tönen boden, in dem die „Sicherheitsparteien“ ihre falschen Versprechun-
in Kultur und Medien. Und es bedeutet die Stilisierung von Zuwan- gen pflanzen. Und das macht es ihnen leicht, dazu beizutragen, dass
derern zu einer Bedrohung, die mit Stacheldraht gebannt werden Angst und Abwehr sich gegen Menschen aus fremden Kulturen
muss. Verschont bleibt – zunächst – der „rechtschaffene Bürger“, der richten. […]
der Illusion anhängt, ihn werde die harte Hand schon nicht treffen. Wer der Angstpolitik wirklich Paroli bieten will, muss seiner-
Zweitens: Vor dem „internationalen Finanzkapital“ (die Stigma- seits die ersehnte Sicherheit bieten. Aber er muss sie in der Sprache
tisierung als „jüdisches Finanzkapital“ schwingt mit) soll „das Volk“ der Freiheit definieren. Wichtigster Bestandteil dieser Definition:
durch sozialstaatliche Sicherung und wirtschaftlichen Protektio- Sicherheit – auch soziale – ist nicht Selbstzweck, sondern immer zu-
nismus geschützt werden. Die polnische PiS hat den Protest gegen erst ein Mittel zur Ermöglichung von Freiheit. Vor allem für jene, die
die neoliberale Politik der bisherigen Regierung abgeschöpft, und wegen Herkunft oder Lebenslage diese Freiheit nicht ohne Unter-
in Frankreich lehnt Marine Le Pen Freihandelsabkommen wie TTIP stützung leben könnten. […]
ebenso heftig ab wie viele Linke – allerdings anders als diese mit Stephan Hebel, „Freiheit? Aber sicher!“, in: Frankfurter Rundschau vom 31. Oktober 2015
knallhart nationalistischen Begründungen. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt.
Wählerinnen und Wähler an, die von den ökonomischen Fol- Hinzu kommt eine stärkere Hinwendung zur Familie und zu
gen der Globalisierung benachteiligt werden oder sich sub- vielfältigen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung außerhalb
jektiv auf der Verliererseite wähnen. des Politischen, kurz, zu einer individualisierten und privati-
Auf diese Wählergruppen setzen auch linkspopulistische sierenden Lebensgestaltung. Doch nicht nur Jüngere sind in
Parteien. In Abgrenzung zu weiten Teilen der etablierten Sozi- den Parteien unterrepräsentiert; auch andere soziale Grup-
aldemokratie verschließen sie sich den ökonomischen Folgen pen wie Zugewanderte, Frauen und insbesondere bildungs-
der Globalisierung oder stellen sich ihnen entgegen, indem sie ferne Schichten sind als Mitglieder entweder geringer reprä-
vehement den Wert der sozialen Gerechtigkeit betonen. sentiert als im Bevölkerungsdurchschnitt oder sogar kaum
Die etablierten Parteien reagieren darauf wiederum, in- noch präsent. Auch unter den Wählerinnen und Wählern
dem sie Positionen und Themen populistischer Parteien lässt sich eine ähnliche Tendenz ausmachen: Bildungsferne
teilweise übernehmen. Aus diesen Veränderungsprozessen und einkommensschwache Haushalte sowie Bürgerinnen
hat die Parteienforschung eine neue zentrale Konfliktlinie und Bürger mit Migrationshintergrund geben seltener ihre
entwickelt: Sie verläuft zwischen autoritärer und libertärer Stimme ab. Hinzu tritt ein bestehendes, demografisch be-
Staats- und Politikauffassung und ist neben die andere do- dingtes Ungleichgewicht: Die Bürgerinnen und Bürger ab 60
minante Konfliktlinie Marktfreiheit gegen staatliche Steue- Jahren stellen schon heute mehr als ein Drittel aller 61,9 Mil-
rung/soziale Gerechtigkeit getreten. Das Aufkommen neuer lionen Wahlberechtigten. Im Gegensatz dazu sind die unter
Parteien hat zu einer Erhöhung der Fragmentierung der Par- 30-Jährigen mit 9,8 Millionen Wahlberechtigten eine weni-
teiensysteme beigetragen. ger als halb so große Gruppe.
seiner Aufforderung von 1967 zum „Marsch durch die Institu- Ihre einst hohen basisdemokratischen Ansprüche sind bei
tionen“, um das bestehende politische System in ihrem Sinne Bündnis 90/Die Grünen nur noch zum Teil vorhanden. Den-
zu verändern. noch hat die Partei die Potenziale der aktiven Beteiligung der
Mitglieder nie ganz aus den Augen verloren. So befragte sie
Gegenstrategien beispielsweise im Bundestagswahlkampf 2013 ihre Mitglieder,
Einsatz direktdemokratischer Verfahren: Im Zuge der neue- wer bei der Bundestagswahl ihre Spitzenkandidaten werden
ren Tendenzen zur Milieuauflösung und der Individualisie- sollten.
rung innerhalb der Gesellschaft sind die Möglichkeiten der Mit einer stärkeren Einbeziehung der Basis folgen nicht
Parteien, Interesse an politischer Beteiligung zu wecken und nur die Bündnisgrünen und die Piraten, sondern inzwischen
dem Mitgliederschwund entgegenzuwirken, eher gesunken. alle im Bundestag vertretenen Parteien dem Wunsch der
Sie können allerdings Impulse setzen, indem sie bei perso- Mitglieder nach vermehrter Partizipation und gewachsenen
nellen Fragen den Mitgliedern mehr Rechte geben und mehr Ansprüchen auf Mitentscheidung. Darüber hinaus bieten
direktdemokratische Elemente einführen wie Urwahlen sie Möglichkeiten des Mitmachens und Mitdiskutierens an:
von Kandidierenden für Parlamente oder innerparteiliche Bürgerdialoge und Mitmach-Tools, Diskussionsforen, Bürger-
Spitzenpositionen (Parteivorsitz oder Spitzenkandidatur im konvente und Regionalkonferenzen – alles sowohl online als
Landes- oder Bundestagswahlkampf). Oder sie können Mit- auch außerhalb des Internets. Nahezu jede Partei reklamiert
gliederentscheide bei inhaltlichen Fragen durchführen, also für sich, den Bürgerinnen und Bürgern bei der Wahlpro-
insgesamt die Mitgliederbasis direkt in Entscheidungspro- grammgestaltung nicht nur ihr Ohr geschenkt, sondern de-
zesse einbinden. ren Vorstellungen direkt ins Wahlprogramm aufgenommen
Diese Ideen wurden bei den Grünen seit ihrer Gründung zu haben. Es stellt sich jedoch die entscheidende Frage nach
konsequenter eingesetzt als bei den bis dato etablierten Par- der politischen Verbindlichkeit und Transparenz der einzel-
teien. Ähnliches versuchte die Piratenpartei nach ihrer Grün- nen Instrumente und der Ergebnisse. Die bei Programment-
dung, die ebenfalls das Prinzip der Basisdemokratie in den scheidungen nicht gerade überwältigende Beteiligung weist
Vordergrund rückte. Auch sie wollte sich damit nicht nur von gleichzeitig auf Grenzen der Basispartizipation hin. Gibt es
den etablierten Parteien CDU, CSU, SPD und FDP (und auch (noch) Skepsis gegenüber genau dieser Wirksamkeit, oder
den Grünen und Linken) abgrenzen, sondern gleichzeitig ein herrscht das Gefühl einer möglichen Instrumentalisierung
neues Demokratiebewusstsein und eine neue demokratische im Wahlkampf vor?
Kultur erzeugen. Die Piraten setzten dabei hauptsächlich auf Fraglos jedenfalls bemühen sich die jeweiligen Parteispit-
internetbasierte Willensbildungs- und Entscheidungsprozes- zen um vermehrte Rückbindung an die Parteibasis und damit
se, mussten aber die Erfahrung machen, dass sie der Komple- um Legitimationsgewinne. Mit einer Mitgliederbefragung zu
xität und der Langwierigkeit der Prozesse kaum Herr wurden. ihren Spitzenkandidaten erreichten die Bündnisgrünen eine
Ihrer traditionell hohen basisdemokratischen Ausrichtung entsprachen die Bündnisgrünen, indem sie im November 2012 ihre Mitglieder in einer Urwahl das Spitzenduo
für die Bundestagswahl 2013 bestimmen ließen. Wahlhelfer bei der Auszählung der Stimmzettel, die rund 62 Prozent der Befragten abgegeben hatten.
Bürgerdialoge bieten Möglichkeiten zur Mitdiskussion über den Parteirahmen hinaus. Zum Thema „Gut leben in Deutschland“ stellt sich Bundeswirtschaftsminister
Sigmar Gabriel (SPD) im August 2015 den Fragen Jenaer Bürgerinnen und Bürger.
des Hauptbahnhofs in Stuttgart („Stuttgart 21“) auftraten, kön- etwa die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler sich noch mehr
nen Entscheidungen gewählter Parlamente mangels breiterer oder weniger stark (wenn auch mit abnehmender Tendenz)
gesellschaftlicher Repräsentation oder geringer Verantwort- einer Partei verbunden fühlt. Besteht eine Bindung zu einer
lichkeit ihres Handelns nicht ersetzen. Die Parteiendemokra- politischen Partei, so ist tendenziell auch das Vertrauen grö-
tie braucht zu ihrer Funktionserfüllung dauerhaftes ehren- ßer. Das Verhältnis zu den Parteien ist für viele Wählerinnen
amtliches Engagement in Form der Hinwendung zu einzelnen und Wähler flüchtiger, brüchiger und auch instrumenteller
Parteien. geworden. Es kann zwar nicht von völliger Bindungslosigkeit
Die spürbar gesunkenen Vertrauenswerte gegenüber Partei- im Verhältnis von Wählerschaft und Parteien gesprochen wer-
en lassen Legitimationsverluste offenkundig werden. Laut Be- den, aber die Bereitschaft zum Parteiwechsel bei Wahlen steigt
völkerungsumfragen vertrauten 2010 nur noch 29 Prozent der unverkennbar.
Bürgerinnen und Bürger den Parteien, während der Wert zu Die Parteien haben längst erkannt, dass Glaubwürdigkeit
Beginn der 1980er-Jahre noch bei mehr als 50 Prozent lag. Da- und Vertrauen in sie bedeutsame Faktoren sind, um die Le-
mit belegen Parteien 2010 hinter allen anderen Institutionen gitimität des Parteiensystems zu erhöhen. Jedoch kann ver-
den letzten Platz. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland loren gegangene Glaubwürdigkeit nur mittel- bis langfristig
damit im Mittelfeld. wieder zurückgewonnen werden. Dies gelingt nur mit Ste-
Diesem generellen Trend steht aber entgegen, dass die tigkeit, einem Handeln, das als authentisch wahrgenommen
Mehrheit der Bevölkerung nicht alle im Bundestag vertrete- wird, und mit Entscheidungen, die von den Bürgerinnen und
nen Parteien grundsätzlich negativ beurteilt, sondern dass Bürgern als erfolgreiche Politik wahrgenommen werden.
Temporäre Initiativen genießen bei der Bevölkerung tendenziell mehr Zuspruch als das langfristige Engagement in Parteien. Bürgerprotest gegen den Umbau des Stutt-
garter Hauptbahnhofs 2010
imago / Christian Mang
imago /Christian Mang
Start einer Unterschriftensammlung für einen Volksentscheid über soziales Woh- Freiwillige und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer bestücken im Sommer 2015
nen in Berlin 2015 eine Flüchtlingsnotunterkunft in Berlin Wilmersdorf mit Möbeln.
Ismayr, Wolfgang: Der Deutsche Bundestag, 3., völlig überarb. und www.cdu.de
aktual. Auflage, Wiesbaden 2012, 503 S.
www.fdp.de
Wie arbeitet der Bundestag? Welche Funktionen haben die Frakti-
onen? Wer übt wie, wann und wo Kontrolle aus? Das Standardwerk www.spd.de
informiert über alles Wissenswerte rund um das Hohe Haus und be- www.csu.de
leuchtet aktuelle Fragen zu dessen Stellung im politischen System.
www.die-linke.de/partei/partei/
Marschall, Stefan: Das politische System Deutschlands, 3. Auflage,
Konstanz und München 2014, 291 S. www.gruene.de
Das Buch behandelt systematisch und allgemein verständlich alles, www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/
was man über die deutsche Demokratie wissen sollte und möchte: auf news/Parteimitgliederstudie-2015-online.html
welchen Grundlagen, Strukturen und Institutionen unser politisches
System beruht, welche Aufgaben und Funktionen Parteien, Regierung,
Bundestag, die Verbände, die Verwaltung, die Gerichte und die Medien
haben, welchen Regeln die Akteure unterliegen und wer die Einhal-
tung von Recht und Gesetz kontrolliert.
Der Autor
Uwe Jun ist Professor für „Regierungslehre – Regierungssystem der
Bundesrepublik Deutschland“ an der Universität Trier, Sprecher des
Arbeitskreises „Parteienforschung“ der Deutschen Vereinigung für
Politische Wissenschaft (DVPW) sowie Mitglied der DVPW, der Deut-
schen Vereinigung für Parlamentsfragen (DVParl) und des European
Consortium for Political Research. Seine Forschungsschwerpunkte
sind: Parteienforschung, Vergleichende Parlamentarismusforschung,
Föderalismus, Politische Kommunikation und Koalitionsforschung.
Bei der Konzeption und der Materialrecherche wurde er unterstützt
von Isabel Bähr, Sebastian Exner und Simon Jakobs.
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Januar 2016 und 15.00 Uhr zur Verfügung.