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Hauptseminar MA CompLit-AVL-2

WS 2015/16
„Sprachen des Kriegs“

Dozentin
Dr. Juliane Prade-Weiss

Titelblatt der russischen Ausgabe von 1928

Hausarbeit
Die Reiterarmee von Isaac Babel

eingereicht von David Paenson


Matrikelnr.: 6231876
1. Fachsemester
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.........................................................................................................................................................2
Biografische Eckpunkte.................................................................................................................................2
Die Reiterarmee – das Werk..........................................................................................................................4
Das größere Bild...........................................................................................................................................14
Schlussbetrachtung.......................................................................................................................................18
Literatur..........................................................................................................................................................20
Bilderanhang..................................................................................................................................................21

1
Einleitung
In dieser Arbeit versuche ich, die Darstellungen des polnisch-sowjetischen Kriegs von 1920 in
Babels Erzählband Die Reiterarmee anhand historischer Quellen zu verifizieren. Die insgesamt
vierzig Erzählungen, die in der deutschen Ausgabe 1 knapp 200 Seiten füllen, beschreiben sehr
vielfältige Aspekte dieses gerade einmal fünf Monate dauernden Kriegs. Ich beschränke mich auf
die militärischen Aspekte der Kriegführung im Zusammenspiel mit der allgemeinen politischen
Lage ein. Das Verhältnis der Truppen der Roten Armee zur Bevölkerung der eroberten Gebiete
ist dabei zentral. Der Krieg, wie Babel schreibt, fand im Kontext europaweiter Umwälzungen
nach dem Ersten Weltkrieg statt. Dieser Zusammenhang soll hier auch thematisiert werden. Und
schließlich, wie Babels Werk rezipiert wurde und wie es – wie sein Autor auch – zunehmend
Opfer der stalinistischen Zensur und Diktatur wurde, soll ebenfalls dargestellt werden. Daher zu
Beginn ein kurzer Abriss seines Lebens.

Biografische Eckpunkte
Isaak Babel, jüdisch-russischer Journalist und Schriftsteller aus Odessa, begleitete als 25-jähriger
General Budjonnyjs, aus Kosaken bestehende Reiterarmee als Kriegskorrespondent von Juni bis
September während des polnisch-sowjetischen Kriegs des Frühjahrs und Sommers 1920. 2
Wie viele seiner Berichte in der Armeezeitung Roter Kavellerist, für die er schrieb, tatsächlich
erschienen, ist allerdings nicht überliefert. Nach Avins 3 waren es lediglich vier. Diese, mit ihrer für
Militärzeitschriften typischen „propagandistischen Hyperbel“, sollen im Stil erheblich von seinen
später in der Reiterarmee veröffentlichten Geschichten divergiert haben. In einem Brief an den
Herausgeber soll er sich darüber hinaus beschwert haben, dass er nicht wüsste, ob seine Kriegs-
berichte überhaupt die Redaktion erreichten. Als Korrespondent verwendete er außerdem nicht
seinen richtigen, jüdischen Namen, sondern schrieb unter dem russisch klingenden Pseudonym
Kirill Valijevič Ljutov (der Grimmige), um sich so den antisemitischen Anfeindungen durch die
Kosaken zu entziehen. Während der Kriegsmonate führte er auch ein Tagebuch, das der
Beschlagnahmung bei seiner Verhaftung durch Stalins Geheimdienst im Mai 1939 der Entde-
ckung entging (er selbst hielt es für verschollen, es überlebte aber in der Kiewer Wohnung einer
Freundin4). Aufbauend auf diesem Tagebuch und ihm in vielen Einzelheiten eng verwandt, ent-
stand 1921–22 die Sammlung Die Reiterarmee. Teile davon wurden gleich im darauf folgenden Jahr
vom russischen Dichter, Agitprop-Künstler und Futuristen Majakovskij in dessen Zeitschrift für
Kunst LEF veröffentlicht.
Ab 1924, nach Lenins Tod und dem Beginn von Stalins Aufstieg zum Alleinherrscher über das
Sowjetimperium, wird Babel immer öfter zur Zielscheibe des Regimes. Vor allem Budjonnyj,
enger Vertrauter Stalins, rächte sich für Babels schonungslose Darstellung der von der Reiterar-
mee begangenen Verbrechen und der nicht besonders schmeichelhaften Beschreibung ihres
1
„Mein Taubenschlag – Sämtliche Erzählungen“, übersetzt und Bettina Kaibach und Peter Urban, Ulm 2014 (fortan Erzählun-
gen).
2
Biografische Angaben, wenn nicht anders vermerkt, aus der Zeittafel in Erzählungen, S. 842–852.
3
Avins, Appendix S. 101.
4
Urban, Vorwort zu Babels Tagebuch 1920, S. 8 (fortan: Tagebuch).

2
Kommandeurs „in roten Hosen mit Silberlampassen“. 5 So bezichtigte er ihn in der Zeitschrift
Oktober der Weibischkeit, des „babizm“, und versuchte mehrfach, seine Veröffentlichungen unter-
binden zu lassen.
1924 emigrierte Babels Schwester nach Belgien, 1925 seine Frau nach Paris und 1926 seine Mut-
ter, ebenfalls nach Belgien. Babel schrieb weiter, unter anderem an einem Drehbuch für den Film
Benja Krik, basierend auf seinen Geschichten aus Odessa.6 Thema ist Aufstieg und Niedergang einer
jüdischen Mafia-Bande in seiner Geburtsstadt. Ursprünglich sollte das Drehbuch von Sergej
Eisenstein verfilmt werden, wurde dann aber dem weniger namhaften Regisseur Vladimir Vilner
übergeben. Nach seiner Premiere 1927 wurde der Film wegen „Romantisierung des Banditen-
tums“ abgesetzt.
Es war ein Wettlauf mit der Zensur, den Babel dank des wachsenden Erfolges seines Werks im
In- und Ausland und der schützenden Hand seines langjährigen Mentors, des russischen Schrift-
stellers Maxim Gorki – bis zu dessen Tod im Jahr 1936 – zunächst relativ unbeschadet überstand.
Die Reiterarmee erlebte bis 1933 acht Ausgaben in der Sowjetunion. Ein im Jahr 1926 im Berliner
Malik-Verlag erschienener Doppelband seiner Geschichten aus Odessa und seiner Reiterarmee wurde
von Autoren wie Kurt Tucholsky und Thomas Mann begeistert rezipiert.
Aber die Zeiten wurden zunehmend schwieriger. Trotzki, Gründer der Roten Armee, von der
Budjonnyjs Reiterarmee nur ein Teil bildete, wurde 1928 in den Osten verbannt und im Jahr dar-
auf ganz des Landes verwiesen. Von einer ersten Prozesswelle gegen „Schädlinge“ blieb auch die
Kunstwelt nicht verschont. Die „Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller“ startete eine
Kampagne der literarischen Gleichschaltung und im Jahr 1930 wurden Babels angebliche „Zwei-
fel an der proletarischen Revolution und Skeptizismus“ in der „Kleinen Sowjetenzyklopädie“ kri-
tisiert.
1932 kam Babel während eines Aufenthalts in Paris mit dem französischen Schriftsteller André
Malraux zusammen. Er führte auch lange Gespräche mit Boris Souvarine, einem der Gründer der
französischen Kommunistischen Partei, der 1924 aus der Partei wegen seiner Unterstützung für
Trotzki ausgeschlossen worden war und an einer Stalin-Biografie arbeitete. In Italien kam Babel
1933 wieder mit Gorki zusammen, der dort in zeitweiligem freiwilligem Exil verweilte.
Der Wettlauf mit dem Geheimdienst und der Zensur wurden immer rasanter. 1934 wurde eine
Akte über Babel angelegt. Im Jahr 1935 erschien sein Theaterstück Marija, das ihm den Rat ein-
brachte, sich „von politischen Fehlern zu befreien“. Nur dank der Intervention von André Mal -
raux und André Gide, Organisatoren des „Ersten Internationalen Schriftstellerkongresses zur
Verteidigung der Kultur“ in Paris 7 erhielt er in letzter Sekunde eine Ausreisegenehmigung nach
Frankreich. Babel versuchte während seines Aufenthalts dort vergeblich, seine Mutter, Schwester,
Frau und Tochter zu einer Rückkehr nach Russland zu bewegen.

5
Babel, Erzählungen, S. 253.
6
Ebenfalls enthalten im von Bettina Kaibach übersetzten und herausgegeben Sammelband „Mein Taubenschlag“.
7
An diesem Kongress nahmen weitere namhafte antifaschistische Schriftsteller wie Aldous Huxley, Bertolt Brecht, Heinrich
Mann, Ernst Toller, Anna Seghers und viele andere teil.

3
Nach Gorkis Tod meinte Babel: „Jetzt werden sie mich nicht mehr leben lassen.“ 8 Dennoch
arbeitete er weiter, unter anderem mit Eisenstein an dem gemeinsamen Film Die Beži-Wiese. Wäh-
rend der Dreharbeiten verglich Babel in einem privaten, vom Geheimdienst belauschten
Gespräch mit dem Filmemacher, Stalin mit Hitler. Der Film wurde verboten.
Der mittlerweile selbst verhaftete, ehemalige Geheimdienstchef Ježov, bei dem Babel öfter zu
Gast gewesen war, bezichtigte Babel einer „Spionageverbindung“ mit seiner Frau. Babel wurde
am 15. Mai 1939 verhaftet und seine gesamten Arbeiten, 25 Ordner mit Manuskripten, wurden
beschlagnahmt und gelten seitdem als verschollen. In den Jahren zuvor deutete der Autor mehr-
fach an, an einem größeren Werk zu arbeiten.
Seine unter Folter erpressten Anschuldigungen gegen Künstlerkollegen widerrief er zwei Tage
vor seiner Erschießung im Ljubjanke-Gefängnis am 27. Januar 1940. Antonina Pirožkova, seine
Lebensgefährtin seit 1932 und Mutter der gemeinsamen Tochter Lidiya, wurde erst 1954 von sei-
nem Tod offiziell in Kenntnis gesetzt. 1996 erschien ihr in den USA verfasste Biografie At His
Side: The Last Years of Isaac Babel.9

Die Reiterarmee – das Werk


Die Sammlung Die Reiterarmee beschreibt den Feldzug der jungen Sowjetrepublik gegen die noch
jüngere Republik Polen und ihre Verbündeten, allen voran Frankreich – genauer gesagt die
Monate Juni bis September 1920. Jede Geschichte steht im Wesentlichen für sich, obwohl es in
dem einen oder anderen Fall auch „Fortsetzungen“ gibt. Zusammen bilden sie ein Mosaik, das
den Leser, die Leserin fast zum Augenzeugen des Geschehens macht.
Die Sammlung umfasst Darstellungen der Kriegsführung, 10 Beschreibungen der örtlichen Bevöl-
kerung und ihres Leids unter der Besatzung – auch der jüdischen und ihrer Leidensgeschichte
über die Jahrhunderte,11 und schließlich solche, die die Soldaten und ihr Leben einschließlich sei-
nem eigenen als Kriegsberichterstatter darstellen. 12
Allerdings widmet sich kaum eine Erzählung ausschließlich nur einem Aspekt. In jeder ist ein
bisschen von jedem, so dass ich auf den nachfolgenden Seiten – entgegen meinem ursprüngli -
chen Vorhaben – auf eine strenge thematische Gliederung bewusst verzichte und dem Fluss der
Erzählungen folge. Auch habe ich mir erlaubt, ausgiebig zu zitieren. Denn Babels Stil derart kom-
pakt, dass ein Paraphrasieren fast genauso viel Platz einnehmen würde als direktes Zitieren, nur
mit dem Nachteil, dass seine Erzählkunst dann gar nicht mehr zur Geltung käme. Denn dazu
schreibt Babel selbst:
Wenn ein Satz geboren wird, ist er schön und hässlich zugleich. Das Geheimnis beruht in der kaum
spürbaren Umstellung. Der Hebel muss gut in der Hand liegen und warm werden. Die Umstellung
muss in einem Zug erfolgen, nicht in mehreren.13

8
Babel, Erzählungen S. 850.
9
https://en.wikipedia.org/wiki/Antonina_Pirozhkova (gesehen 15.4.2016)
10
So beispielsweise der Beginn von Überschreitung des Zbruč, Die Lehre vom MG-Wagen, Kombrig 2 oder Cześniki.
11
Kirche in Novograd, Der Chef der Kavallerie-Reserve, Pan Apolek, Gedali, Der Rabbi, Weg nach Brody, Saška Christus, Friedhof in Kozin.
12
Ein Brief, Die Sonne Italiens, Meine erste Gans, Dolgušovs Tod, Pavličenko Matvej Rodionyč, Lebenslauf, Priščepa, Geschichte eines Pferdes.
13
Babel, Sotschinenja, Band II (zitiert in Krumm, S. 79). Krumm vermerkt, dass Babel seine Erzählung Korol im Laufe der Jahre
mehr als zweihundert Mal geändert habe, und von seiner Kurzgeschichte Ljubka Kosak habe es 22 Fassungen gegeben

4
Die Auflistung weiter oben verdeutlicht, dass wir es hier jedenfalls nicht mit der klassischen
Kriegsberichterstattung eines „eingebetteten Journalisten“ zu tun haben. Ganz im Gegenteil,
bereits in frühen Jahren, noch auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Erfolgs im Jahr
1926, sagte Babel, seine Geschichte Cześniki enthalte viele „gefährliche Sätze“ und gar Passagen,
von denen einige in den Ausgaben ab 1934 tatsächlich der Zensur anheim fielen. 14 Auf gleiche
Weise wurde der Name des Kriegskommissars Trotzki aus den Erzählungen getilgt, während der
Divisionskommandeur Apanasenko in Der Brief in späteren Veröffentlichungen auf einmal Pav-
ličenko genannt wird, um den Ruf des Originals zu bewahren. Diese und andere „Anpassungen“
musste das Werk im Laufe der Jahre über sich ergehen lassen – sogar noch nach 1990, als ein
„freierer“ Geist wehte.15
Bereits auf der scheinbar sachlichen und trockenen Ebene der Kriegsberichterstattung schlägt
Babel durchaus kritische Töne an. Es sind keine exakten Darstellungen davon, wie sich der
Frontverlauf, säuberlich nach Datum sortiert, entwickelte, und es wäre vergebliche Mühe, das
Geschehen anhand der in den verschiedenen Erzählungen zitierten Ortsnamen auf einer Land-
karte verfolgen zu wollen. Vielmehr erfährt der Leser, die Leserin von ständig wechselnden Erfol-
gen und Misserfolgen. „Es begannen und endeten die Kämpfe um Brody. Niederlagen wechsel-
ten mit zeitweiligen Siegen“, schreibt Babel in Afonjka Bida.16 In „Ivan und Ivan“:
An diesem Tag, dem 22. Juli, hatten die Polen in einem Überraschungsmanöver das Hinterland unserer
Armee überrannt, sie waren im Sturm ins Schtetl von Kozin eingedrungen und hatten viele Kämpfer aus
den Reihen der elften Division gefangengenommen. […] die Wagen des Revolutionstribunals irrten zwei
Tage und zwei Nächte durch das wallende Aufbranden der Kämpfe hin und her, und erst in der dritten
Nacht schlugen sie sich zur Straße durch, auf der die Stäbe der Etappe abzogen. 17
Im Tagebucheintrag vom 26.7.20, Leszniów, hält Babel fest:
Heute morgen ist Brody eingenommen worden, wieder ist der eingekreiste Gegner entkommen, schrof-
fer Befehl von Budënnyj, 4 Mal haben wir ihn entwischen lassen, wir können ihn aufscheuchen, haben
aber nicht die Kraft ihn festzunageln.18
In Der Sohn des Rabbi erzählt Babel:
Unsere Truppen wankten und gerieten in Unordnung. Der Zug der Politabteilung kroch über den toten
Rücken der Felder davon. Und das ungeheuerliche Russland, unwahrscheinlich wie eine Herde bekleide-
ter Läuse, stapfte in Bastschuhen zu beiden Seiten der Waggons.19
Oder noch knapper die unerwarteten Wendungen im Kriegsgeschehen beschreibend: „‚Vorwärts!‘
sagte Afonjka. Und wir ergriffen die Flucht.“20
Anstatt einer sequenziell geordneten Narration sind es vielmehr einzelne Innenansichten des
Kriegs aus der unmittelbaren Perspektive eines Journalisten vor Ort, dem es nicht gelingt, sich
selbst oder seinen Lesern einen Gesamtüberblick zu verschaffen. Aber wahrscheinlich wollte er
(ebenda). Dieser Umstand war für die Übersetzerin und Herausgeberin von Sämtliche Erzählungen eine zusätzliche Herausfor-
derung. Babel verfüge über die „poetische Palette eines Chagall“, meinte sein Dichterkollege Majakowski (ebenda, S. 80).
14
Babel, Erzählungen S. 754.
15
Siehe beispielsweise die Anmerkung der Herausgeberin zur Erzählung „Saška Christus“ auf S. 744.
16
Babel, Erzählungen S. 301.
17
Babel, Erzählungen S. 321f.
18
Babel, Tagebuch S. 68f.
19
Babel, Erzählungen S. 361f.
20
Babel, Erzählungen S. 243.

5
es auch nicht, denn mit einem solchen Anspruch von Überschaubarkeit und Objektivität wäre
Babels Text womöglich sogar früher Opfer der Zensur geworden, und dazu einer noch viel radi -
kaleren als ohnehin schon. Vor allem hätte seine schriftstellerische Virtuosität dadurch nur Scha-
den nehmen können.
Einige von Babels Beobachtungen thematisieren die mangelhafte Kompetenz mancher Heeres-
führer. So tut sich in Cześniki der oben bereits erwähnte Kommandeur der sechsten Division,
Pavličenko (Apanasenko), vor allem durch Entschlussschwäche hervor. Auf den Vorwurf Voroši-
lovs, Mitglied des Revolutionskriegsrates, er würde „trödeln“, fällt dessen Verteidigung äußerst
zaghaft aus: „‚Im Namen des Gewissens‘, rief er und rang die feuchten Finger, ‚im Namen des
Gewissens, drängen Sie mich nicht, Genosse Vorošilov …‘“ Sein Vorgesetzter, Armeekomman-
dant Budjonnyj, macht ebenfalls keine gute Figur, denn auch er muss durch Kriegskommissar
Vorošilov förmlich an seiner Ehre gepackt werden, bevor er sich endlich zum Angriff entschlie-
ßen kann: „‚Armeekommandant‘, rief er, an Budjonnyj gewandt, ‚gib der Truppe ein Wort auf
dem Weg. Da steht er auf dem Hügel, der Pole, steht wie gemalt, und lacht dich aus …‘“
Bedrängt von seinen Offizieren, die zur Attacke rufen, kann Budjonnyj sich lediglich zu einem
„Jungs, […] unsere Lagen mies, müsst mehr rangehn, Jungs…“ aufraffen. 21
Allerdings finden wir auch Beschreibungen, die erklären können, warum der Feldzug zeitweise so
schnelle und so schlagende Erfolge erzielen konnte. Eine davon betrifft die Rolle von Beweglich-
keit, dargestellt in Die Lehre vom MG-Wagen:
Eine Armee aus MG-Wagen verfügt über eine unerhörte Manövrierfähigkeit. […] Eine solche Armee nie-
derzumetzeln, ist schwer, sie zu stellen – undenkbar. Ein Maschinengewehr, unter einem Heuschober einge -
graben, ein MG-Wagen, in einer Bauerntenne abgestellt – sie sind plötzlich keine Gefechtseinheiten mehr. 22
Ein weiterer Schlüssel für den Erfolg liegt in der Rolle des „Zugs“, kurz dargestellt am Ende der
Erzählung Der Rabbi:
Dort, auf dem Bahnhof, im Agitzug der 1. Reiterarmee, erwartete mich das Strahlen von Hunderten von
Lichtern, der Zauberglanz der Radiostationen, der unermüdliche Lauf der Maschinen in der Druckerei und
der nicht zu Ende geschriebene Artikel für die Zeitung „Roter Kavallerist“. 23
Es gab mehrere solcher Züge, in einem davon verbrachte Trotzki fast die gesamten Jahre der
Interventionskriege gegen Russland von 1918 bis 1920 und brachte beim Befahren der verschie-
denen Frontabschnitte eine Strecke von 200.000 km hinter sich. In seiner Autobiografie schreibt
er:
Hier empfing ich unterwegs die Berichterstatter, beratschlagte mich mit den örtlichen militärischen und zivi-
len Behörden, arbeitete die telegraphischen Eingänge durch, diktierte Befehle und Artikel. Von hier aus
unternahm ich mit meinen Mitarbeitern in Automobilen größere Reisen die Front entlang. 24
Überhaupt spielt die Propaganda eine wichtige Rolle – allein der Rote Kavallerist, die Zeitung der
Ersten Reiterarmee, für die Babel schrieb, hatte mit seinen vier Seiten eine Auflage von 5000 bis
15.000.25
21
Babel, Erzählungen S. 347 und 253.
22
Babel, Erzählungen S. 245.
23
Babel, Erzählungen S. 240; weitere Einzelheiten zum Leben im Zug in der Erzählung „Abend“ S. 291ff.
24
Trotzki, Mein Leben S. 369.
25
Avins S. XXIV.

6
Zumindest streckenweise gelang es der Reiterarmee, nach Babels Darstellung, – trotz der erdrü-
ckenden Last von Requirierungen und der erniedrigenden Behandlung der Bevölkerung in den
eroberten Gebieten –, die Bauern auf ihre Seite zu ziehen. In seiner Erzählung Afonjika Bida
beschreibt Babel die ernüchternde Szene einer Infanterie-Reserve, bestehend aus am Tag zuvor
vom Acker rekrutierten Bauern. Aber die Reiterarmee besaß nicht genug Gewehre für sie: „Wir
gaben den Bauern zu dritt ein Gewehr und Patronen, die nicht in die Flinten passten. So mussten
wir den Plan aufgeben und diese echte, wahrhafte Volkswehr wieder nach Hause schicken.“ Aber
es kam noch schlimmer: Die berittenen Kosaken machen sich „[N]ur so zum Spaß“ daran, die
einberufenen Bauern in ihren Schützengräben in einer Überraschungsattacke auszupeitschen. Die
Bauern fliehen zunächst, um anschließend doch wieder von ihrem gewählten Anführer – übri-
gens einem Juden26 – zu ihren Stellungen zurückgepfiffen wurde: „Und das Fußvolk, diese unwie-
derbringliche, verprügelte Infanterie, kehrte an die Plätze zurück.“ 27
Die Bauern ergriffen an dieser Stelle die Seite der „Roten“ gegen die polnischen Landbesitzer.
Die Frage einer Alternative fasst der Historiker Andreas Kappeler wie folgt zusammen:
Weshalb gelang es den Bolschewiki, den größten Teil der Ukraine unter ihre Herrschaft zu brin -
gen? Daran schließt sich die Frage an, welcher der anderen beteiligten Kräfte dies hätte gelingen
können. Aufgrund der vorherigen Überlegungen schließen wir die ukrainischen Nationalregierun-
gen, die Mittel- und die Ententemächte aus. Es bleiben die weißen Russen und die Polen. Ihnen
gegenüber besaßen die Bolschewiki die stärkere und diszipliniertere Armee, die geschlossenere
und besser organisierte politische Führung und das für die Masse der Ukrainer attraktivere Pro-
gramm. Zwar desavouierten die Bolschewiki durch ihre rücksichtslose Agrar- und Nationalitäten-
politik in den Jahren 1918 und 1919 ihre theoretischen Zielsetzungen weitgehend und verloren
die Sympathie, die ihnen Teile der ukrainischen Bauernschaft entgegengebracht hatten. Die Wei-
ßen und Polen waren jedoch für die Masse der Ukrainer noch weniger akzeptabel. Als die Bol -
schewiki dann im Jahre 1920 zu einer flexibleren Politik übergingen, betrachteten die meisten
Russen und Juden sie als Retter, zahlreiche ukrainische Intellektuelle und die vom langen Krieg
und den gewaltigen Zerstörungen erschöpften ukrainischen Bauern als das im Vergleich zu den
reaktionären Weißen und den Polen kleinere Übel.28
Eine entscheidende, nicht rein militärische, sondern letztlich politische und soziale Frage, betraf
die Widersprüche innerhalb der Revolution insgesamt, die dann ihren entsprechenden Nieder-
schlag in der Kriegführung fand. Auf den Punkt gebracht geht es darum, wie rückständige
Schichten und Individuen für ein fortschrittliches sozial-gesellschaftliches Projekt – und das dazu
noch unter extremer Zeitnot – zu gewinnen oder zumindest ihre Dienste einzuspannen.
Um diese Frage wurde auch in der Führung der Bolschewiken heftig gestritten. Es gab die so
genannte „Militärische Opposition“, die für die vollständige Demokratisierung der Armee und
die Anwendung von Guerillataktiken eintrat. Dagegen setzte sich – mit beträchtlichen Reibungs-
verlusten – das Konzept Trotzkis einer professionellen Armee begleitet von „Politkommissaren“
durch. Der Aufbau einer solchen professionellen Armee war ohne den Einsatz von ehemaligen

26
„Das Fußvolk hatte sich drei Werst vor dem Schtetl eingegraben. Vor seiner Front ging ein gebeugter Jüngling mit Brille auf
und ab. An seiner Seite baumelte ein Säbel. Er bewegte sich hüpfend, mit unzufriedener Miene, so als drückten ihn die Stiefel.
Dieser Bauernataman, von ihnen gewählt und beliebt, war Jude, ein halbblinder jüdischer Jüngling, mit dem schwindsüchtigen
und konzentrierten Gesicht eines Talmudschülers. Im Gefecht bewies er umsichtige Tapferkeit und eine Kaltblütigkeit, die an
die Zerstreutheit eines Träumers erinnerte.“ (S. 295f.) Dass Bauern einen Juden zu ihrem Anführer wählen, ist keineswegs
selbstverständlich, noch dazu eine so junge und gesundheitlich angeschlagene Person. Juden waren oft als Verwalter für die
Landgüter polnischer Besitzer eingesetzt und als solche angefeindet.
27
Babel, Erzählungen S. 295 und 298.
28
Kappeler, Andreas, Kleine Geschichte der Ukraine S. 185.

7
zaristischen Generälen und Offizieren undenkbar. Wie viel Überzeugungsarbeit dazu erforderlich
war, veranschaulicht folgenden Dialog zwischen Trotzki und Lenin: „‚Sie fragten, ob wir nicht alle
ehemaligen Offiziere davonjagen sollten. Wissen Sie auch, wie viele davon wir jetzt in der Armee
haben?‘ ‚Ich weiß es nicht.‘ ‚Nicht weniger als dreißigtausend. […] Durch wen sollen wir sie alle
ersetzen?‘“29
Diese Kontroverse stellte sich auf dem militärischen Gebiet in besonders zugespitzter Form.
Grundsätzlich betrifft sie aber den Charakter einer sozialistischen Revolution überhaupt. Dazu
Lenin:
Denn zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den
Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen sei-
nen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen
das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung –
das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer auf-
stellen und erklären: „Wir sind für den Sozialismus“, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstel-
len und erklären: „Wir sind für den Imperialismus“, und das wird dann die soziale Revolution sein!
Nur unter einem solchen lächerlich-pedantischen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Auf-
stand einen „Putsch“ zu schimpfen.
Wer eine „reine“ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein
Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.30
Das schrieb Lenin im Streit mit eigenen führenden Genossen wie Radek und Trotzki über den
Irischen Aufstand von 1916.
Diese Zwickmühle betraf auch die in ihren rückständigen Traditionen verhaftete Kosakenarmee
im Dienst einer sich am Internationalismus ausrichtenden Arbeiterrevolution. In seiner Erzäh-
lung Abend geht Babel ausdrücklich darauf ein:
„Die Reiterarmee“, sagt Galin da zu mir, „die Reiterarmee ist ein soziales Kunststück, vorgeführt vom
ZK unserer Partei. Die Kurve der Revolution hat die Kosakenhorden in die erste Reihe geworfen, sie
sind durchdrungen von vielen Vorurteilen, aber das ZK, mit seinen Manövern, wird sie auskehren mit
eisernem Besen …“ Dann sprach Galin über die politische Erziehung der Ersten Reiterarmee. 31
Eine solche Erziehung wurde auch tatsächlich verschiedentlich in Angriff genommen, auch unter
Androhung von Disziplinarstrafen. So schließt die Erzählung Beim heiligen Valentin über die – u.a.
durch eine versuchte Vergewaltigung innerhalb der kirchlichen Räumlichkeiten – erfolgte Ver-
schandlung des wichtigsten Gotteshauses der Stadt mit dem Hinweis, dass diese Untat recht -
mäßig, unter Bezugnahme auf Babels schriftliche Zeugenaussage, verfolgt wurde:
In den Stab zurückgekehrt, schrieb ich einen Bericht an den Divisionschef über die Verletzung des reli -
giösen Gefühls der ortsansässigen Bevölkerung. Es erging der Befehl, die Kirche zu schließen und die
Schuldigen, nach einer Disziplinarstrafe, dem Gericht des Militärtribunals zu überantworten. 32
Babel selbst beteiligt sich an der Disziplinierung und Politisierung der Kosaken. Die Erzählung
Meine erste Gans endet mit einer Szene, in der Babel ihnen aus der Zeitung Pravda eine Rede Lenins
vorliest:

29
Trotzki, Mein Leben, S. 399, aber auch das ganze Kapitel Militärisch Opposition, S. 389–401 und das darauf folgende Kapitel
Meinungsverschiedenheiten über Kriegsstrategie, S. 402–410.
30
Lenin, Werke Band 22, S. 363f.
31
Babel, Erzählungen S. 294.
32
Babel, Erzählungen S. 308.

8
„In der Zeitung schreibt Lenin“, sagte ich, die „Pravda“ hervorholend, „Lenin schreibt, bei uns herr-
sche Mangel an allem ...“. […] „Die Wahrheit sticht jedem in die Nase“, sagte Surovkov, als ich geendet
hatte, „aber wie ziehst du sie raus aus dem Haufen, und er trifft sie im Nu, wie die Henne das Korn
…“33
Dieses Hin- und Hergerissen sein zwischen Moderne und Brauchtum betrifft auch die jüdische
Bevölkerung der von der Roten Armee eroberten Gebiete. Sie betrifft aber auch Babel selbst, der
sehr viel Mitgefühl für die Lage der dort lebenden Juden zeigt und Parallelen zur eigenen Fami-
liengeschichte zieht. Die Erzählung Gedali veranschaulicht den Konflikt in einem Gespräch zwi-
schen Babel und dem einzig übriggebliebenen jüdischen Basarhändler in der Stadt, eben Gedali:
„Die Revolution, sagen wir zu ihr ja, aber sagen wir darum zum Sabbat nein?“ so beginnt Gedali und
umschlingt mich mit den seidenweichen Riemen seiner rauchgrauen Augen. „Ja, rufe ich der Revolution
zu, ja, rufe ich ihr zu, doch sie versteckt sich vor Gedali und sendet voraus nur immer Schießen […]
Die Revolution ist eine gute Tat von guten Menschen. Aber gute Menschen töten nicht. Also machen
die Revolution böse Menschen. Wer also sagt Gedali, wo ist die Revolution und wo die Konterrevolu-
tion?“
[…] Der Sabbat beginnt. Gedali – Begründer einer unerfüllbaren Internationale – geht in die Syn-
agoge beten.34
In der Erzählung Berestečko macht Babel keinen Hehl aus seinem Wunsch, die Vergangenheit hin-
ter sich zu lassen und eine bessere Zukunft für das jüdische Schtetl zu erstreiten:
Die Juden leben hier in geräumigen Häusern, gestrichen mit weißer oder wässrig-blauer Farbe. Die tra-
ditionelle Armseligkeit dieser Architektur zählt nach Jahrhunderten. Hinter dem Haus erstreckt sich
immer ein Schuppen, mit zwei, manchmal drei Stockwerken. In ihn fällt nie ein Sonnenstrahl. Diese
Schuppen, unbeschreiblich düster, ersetzen unsere Höfe. Geheimgänge führen in die Keller und Ställe.
Während des Krieges rettet man sich in diesen Katakomben vor Kugeln und Plünderungen. Hier sam-
meln sich über viele Tage menschliche Abfälle und der Mist des Viehs. Trübsinn und Entsetzen erfüllen
diese Katakomben mit ätzendem Gestank und der fauligen Säure von Exkrementen. Berestečko stinkt
unverbrüchlich bis auf den heutigen Tag, und alle seine Menschen verströmen den Geruch von verfaul-
tem Hering.
Inmitten dieser Armseligkeit dann der Versuch, die Revolution zu verpflanzen:
Unten auf dem Platz sammelte man sich zum Meeting. Es kamen Bauern, Juden und die Gerber aus
der Vorstadt. Über ihnen entbrannte die begeisterte Stimme Vinogradovs und der zärtliche Klang sei-
ner Sporen. Er sprach über den zweiten Kongress der Komintern […] Leidenschaftlich überzeugt er
die ratlosen Kleinbürger und die ausgeplünderten Juden: „Ihr seid die Macht. Alles, was hier ist – es
gehört euch. Es gibt keine Pans. Ich schreite zur Wahl des Revolutionskomitees …“35
Die „Pans“, die ausbeuterischen polnischen Gutsbesitzer, sind zwar vertrieben, aber was kommt
an deren Stelle? Trotz aller Ungewissheit in dieser Frage – die alte polnische Herrschaft, neu
geboren als Republik, hatte jede Hoffnung auf ein Leben ohne Verfolgung für die Juden zerstört:
Nachdem es zu teilweise pogromähnlichen antisemitischen Ausschreitungen in mehreren Städten
Polens gekommen war, musste Polen auf Druck amerikanisch-jüdischer Vertreter am 28. Juni 1919
einen Minderheitenschutzvertrag unterzeichnen. Dies führte auf polnischer Seite zu Protesten, da

33
Babel, Erzählungen S. 236.
34
Babel, Erzählungen S. 229–231.
35
Babel, Erzählungen S. 284.

9
weder die Triple Entente noch Deutschland (mit Ausnahme Oberschlesiens) eine solche Vereinbarung
unterzeichnen mussten. Im Sejm stimmten aber 286 zu 41 Abgeordnete für den Vertrag. 36
Dass der Antisemitismus in diesem Krieg auf polnischer Seite einen offiziellen Charakter ein-
nahm, zeigt die kleine Auswahl an Plakaten der polnischen Kriegspropaganda im Bilderanhang.
Die Bilder, aber auch die Plakatsprüche, verhöhnen den Gegner als minderwertige Menschen,
wobei die auch für die Propaganda des Hitler-Faschismus typische Darstellung von Juden als
quasi-Affen nicht fehlt. Das aufgeführte Plakat der Roten Armee hingegen, bei aller Primitivität
in der Darstellung, greift den Gegner als dumpfbackenen Klassenfeind an, aber ohne rassistische
Untertöne. Babels Schilderungen bestätigen, dass Übergriffe der Reiterarmee auf die örtliche
Bevölkerung, hier vor allem auf Juden, von der Armeeführung disziplinarisch verfolgt wurden
und keineswegs Teil der offiziellen Politik der bolschewistischen Führung waren. Trotzki selbst
war Jude.
Aber die Welt ganz von vorne gestalten, alles hinter sich lassen und die alten Traditionen schlicht
vergessen, dagegen sträubt sich Babel in Gedali aber dann doch:
Am Abend vor dem Sabbat peinigt mich immer die dichte Trauer der Erinnerungen. Früher streichelte
an diesen Abenden mein Großvater mit seinem gelben Bart die Bände Ibn Esras. Meine Großmutter im
Spitzenhäubchen beschwor mit knorrigen Fingern über der Sabbatkerze die Zukunft und schluchzte
süß. Das Kinderherz schaukelte an diesen Abenden, wie ein Schiffchen auf verzauberten Wogen. O
vermoderte Talmudbücher meiner Kindheit! O dichte Trauer der Erinnerungen. 37
Mit welcher Überheblichkeit die Kosaken die örtliche Bevölkerung behandeln, bildet den Stoff
für mehrere Erzählungen. Ein eindringliches Bild in der Erzählung Der Chef der Kavallerie-Reserve
ist das des betrügerischen Tauschs von vollkommen abgenutzten Pferden gegen gesunde Arbeits-
tiere – die die Bauern aber brauchen, um ihre Böden zu beackern. Der Kontrast zwischen den
beiden Kontrahenten könnte kaum greller ausfallen:
Auf seinem feurigen englischen Araber sprengte Djakov auf die Treppe zu, ehemals Zirkus-Athlet,
heute Chef der Kavallerie-Reserve – rote Fresse, grauer Schnurrbart, schwarzer Umhang und Silber-
lampassen an den roten Pluderhosen.
Und auf der anderen Seite die betrogenen Bauern:
An Stricken zerren sie die widerstrebenden, vor Schwäche strauchelnden Klepper hinter sich her. Ihrer
Ernährer beraubt, ohne jede Hoffnung beeilen sich die Bauern – in einem Aufwallen bitteren Muts und
wissend, dass der Mut nicht lange reichen wird – Frechheiten loszulassen gegen Obrigkeit, Gott und ihr
eigenes bitteres Los.
Als eines dieser Pferde direkt vor den Augen Djakovs zusammenbricht, teilt dieser seinem neuen
und noch-Besitzer mit:
„Aber dass das Pferd gestürzt ist, hat nichts zu sagen. Wenn ein Pferd gestürzt ist und wieder aufsteht,
dann ist es ein Pferd, andersrum gesagt, wenn es nicht wieder aufsteht, dann ist es kein Pferd. […]“
„Oh Gott, du meine barmherzige Mutter“, winkte der Bauer ab, „wie soll das arme Vieh denn aufstehn
… Es krepiert doch gleich, das Arme …“ „Du beleidigst das Pferd, Gevatter“, antwortete mit tiefster
36
https://de.wikipedia.org/wiki/Zweite_Polnische_Republik unter Verweis: Pease N: This Troublesome Question: The United
States and the „Polish Pogroms“ of 1918–1919. In: Biskupski MBB (Hrsg.): Ideology, Politics, and Diplomacy in East Central
Europe. University of Rochester Press, 2004, S. 58ff ISBN 1-58046-137-9 Google Digitalisat, sowie: Włodzimierz Borodziej,
Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 107–108.
37
Babel, Erzählungen S. 228; siehe auch die Erzählung „Kindheit. Bei der Großmutter“ S. 402–410.

10
Überzeugung Djakov, „du lästerst geradezu Gott, Gevatter“, und gewandt hob er seinen stattlichen
Athletenkörper aus dem Sattel. In den schönen Beinen federnd, die um die Knie mit Riemchen
geschnürt waren, hochaufgeschossen und gewandt, wie auf der Bühne, bewegte er sich auf das veren-
dende Tier zu. Dieses richtete kläglich sein strenges tiefes Auge auf Djakov, leckte von dessen himbeer -
roter Handfläche etwas wie einen unsichtbaren Befehl und sofort spürte das entkräftete Pferd die kun-
dige Kraft, die von diesem ergrauten blühenden und strotzenden Romeo ausging. Schnuppernd und mit
den Beinen, die immer wieder einknickten, ausgleitend, das Kitzeln der ungeduldigen und gebieteri -
schen Peitsche unter dem Bauch, hob sich die Mähre langsam-aufmerksam auf die Beine. […] Am gan -
zen Körper zitternd, stand die Mähre auf allen Vieren und ließ von Djakov keinen Blick ihrer ängstli-
chen, verliebten Hundeaugen. „Na bitte, es ist ein Pferd“, sagte Djakov zu dem Bauern und setzte
milde hinzu, ‚und du hast dich beschwert, guter Freund …“38
Das Verhältnis Mensch und Pferd nimmt in mehreren Erzählungen Babels auch außerhalb der
Sammlung Die Reiterarmee eine Schlüssstellung ein. So beispielsweise in Über Pferde, in der er das
Massenschlachten von Pferden in Petrograd beschreibt, die wegen fehlenden Futters nicht mehr
am Leben gehalten werden können.39
Die Erschießung von wehrlosen Gefangenen ist Thema der Erzählung Es waren ihrer neun.
Neun Gefangene sind nicht mehr am Leben. Ich weiß das im Herzen. Als Golov, ein Zugführer von
den Sormov-Arbeitern, den langen Polen erschossen hatte, sagte ich zum Stabschef: „Das Beispiel des
Zugführers demoralisiert die Kämpfer. Wir müssen eine Liste der Gefangenen aufstellen und sie in den
Stab zum Verhör mitschicken.“ Der Stabschef gab die Genehmigung. Ich zog Papier und Stift aus der
Tasche und ließ Golov rufen. „Du siehst die Welt durch die Brille“, sagte er und blickte mich hasserfüllt
an. „Durch die Brille“, antwortete ich, „und wie siehst du die Welt, Golov?“ „Ich sehe sie durch unser
unglückliches Arbeiterleben“, sagte er […] Ich begann mit meinen Aufzeichnungen über den Zugführer
und die neun Toten, doch Lärm, ein bekannter Lärm unterbrach mich sofort. Čerkašin, der Arschkrie-
cher aus dem Stab, war auf Kriegszug gegen die Bienenstöcke gegangen. Mitjy, ein rotwangiger Junge
aus Orjol, folgte ihm, eine rußende Fackel in der Hand. Ihre Köpfe waren in Militärmäntel eingehüllt.
Die Schlitze ihrer Augen brannten. Myriaden von Bienen schlugen die Sieger zurück und starben bei
ihren Stöcken. Und ich legte die Feder nieder. Ich war entsetzt über die Unzahl der Seelenmessen, die
mir bevorstanden.40
In seiner Erbarmungslosigkeit wütet der Krieg gleichermaßen gegen die Natur wie gegen die
Menschen, das scheint die Botschaft zu sein.41
Aber die Soldaten selbst führen ein armseliges, wenn auch von Hoffnungen begleitetes Leben. In
der Erzählung Ein Brief wird Babel von dem jungen Analphabeten Kurdjokov ein Schreiben an
dessen Mutter in der Heimat diktiert.
Liebe Frau Mama Jevdokija Fjodorovna Kurdijukova. Ich beeile mich, Ihnen zu schreiben, ich befinde
mich in der roten Reiterarmee des Genossen Budjonnyj, auch hier befindet sich Euer Gevatter Nikon
Vasiljevič, der in der jetzigen Zeit ein roter Held ist. Er hat mich zu sich genommen, in die Expedition
der Politabteilung, wo wir Literatur in die Stellungen bringen und Zeitungen – die Moskauer Izvestija
des ZEK, die Moskauer Pravda und unsere liebe schonungslose Zeitung Roter Kavallerist, die jeder
Kämpfer in vorderster Linie begierig ist zu lesen, weil er danach mit Heldengeist die heimtückische
Schlachta niedermetzelt …
38
Babel, Erzählungen S. 210–212.
39
Babel, Erzählungen S. 516ff.
40
Babel, Erzählungen S. 382–386; zu den Bienenstöcken siehe auch Tagebuch „31.8.20 Cześniki“ S. 143f.
41
Es gab wiederholte und ergebnislose Versuche, die polnische Seite für den Tod von nicht weniger als 60.000 russischen
Kriegsgefangen (von insgesamt 150.000 Kriegsgefangen) in polnischen Lagern zur Rechenschaft zu ziehen. Siehe http://sput -
niknews.com/politics/20151020/1028815513/thousands-soviet-prisoners-died-poland-katyn.html

11
Bevor wir im Text fortfahren, lohnt es sich, zwei Sachen hervorzuheben. Erstens nennt der Junge
den Roten Kavalleristen, für den Babel schreibt, „unsere liebe schonungslose Zeitung“. „Schonungs-
losigkeit“ ist nicht unbedingt ein Schmeichelwort für ein Soldatenblatt, denn im Krieg stirbt
bekanntlich die Wahrheit zuerst.42 Auch bemerkenswert die Hervorhebung von der Bedeutung
der verschiedenen Zeitungen und dass sie auch gelesen werden. Aber gleich im nächsten Absatz
und ganz unvermittelt – die soeben geäußerte Überschwänglichkeit des Vorangehenden keines-
wegs trübend, sondern sie lediglich kontrastierend – diktiert der Junge weiter:
Liebe Frau Mama Jevdokija Fjodorovna. Schicken Sie mir was Sie können was in Euren Kräften mög-
lich ist. Ich bitte Euch, schlachtet den scheckigen Keiler und macht mir ein Paket an die Politabteilung
des Genossen Budjonnyj, Empfänger Kurdjukov Vasilij. Jeden Tag gehe ich ungegessen schlafen und
ohne alle Kleider, so ist es böse kalt.
Wie sehr der Mensch dazu fähig ist, mehrere Gedanken, Wünsche und Träume gleichzeitig zu
verfolgen, zeigt die gleich anschließend und ebenso unvermittelt geäußerte Sorge um sein daheim
gebliebenes Pferd:
Schreibt mir einen Brief wegen meinem Stjopa, ob er lebt oder nicht, bitte seht nach ihm und schreibt
mir wegen ihm – schlägt er sich noch die Beine blutig oder hat er damit aufgehört, und auch wegen der
Krätze an den Vorderbeinen, habt ihr ihn beschlagen lassen oder nicht? Ich bitt euch, liebe Mama Jev-
dokija Fjodorovna, wascht ihm unbedingt die Vorderbeine mit Seife, wo hinter der Ikone steckt, und
wenn Papa sie aufgebraucht hat, kauft welche in Krasnodar und Gott wird mit euch sein.
Auch hier lohnt es sich, einen Augenblick zu verweilen. Mit diesen wenigen Worten gelingt es
Babel, eine ganze Welt fernab vom Kampfgeschehen herbeizuzaubern – nicht nur die offensicht-
liche Armut, dargestellt in der Existenz einer einzigen Seife, sondern den Kontrast zwischen
modernem Krieg und der Selbstverständlichkeit einer schützenden Ikone zu Hause. Aber Kurd-
jukov hat auch für seine Umgebung und unabhängig von seinen persönlichen Sorgen die Augen
offen, denn im nächsten Satz beschreibt er die Armut der Gegend, in der sie stationiert sind:
Auch kann ich Ihnen beschreiben, das Land hier ist bitterarm, die Bauern verstecken sich mit ihren
Pferden vor unsern roten Adlern in den Wäldern, Weizen sieht man selten und er ist furchtbar mickrig,
wir lachen uns aus über ihn.
Wenige Absätze weiter schreibt er wiederum, wie es ihnen in einer anderen Stadt, Voronež, ganz
gut ergangen ist:
Über Voronež kann ich schreiben, liebe Frau Mama Jevdokija Fjodorovna, dieses Städtchen ist ganz
großartig, es dürfte größer sein als Krasnodar, die Leute dort sind sehr schön, der Fluss ist fähig zum
Baden. Sie gaben uns Prowiljant Brot zwei Pfund pro Tag, Fleisch ein halbes Pfund und Zucker so viel,
dass wir nach dem Wecken süßen Tee zu trinken hatten und abends genauso und wir vergaßen auf den
Hunger, zu Mittag ging ich immer zu Bruder Semjon Timofeič zu Bliny und Gänsebraten, dann legte
ich mich schlafen.
Zwischen beiden letzteren Beschreibungen und im weiteren Verlauf des Briefs erfährt man aber
weitaus Tragischeres, nämlich die bereits vor einem Jahr erfolgte Tötung seines Bruders Fedja

42
Als Kontrast dazu aus heutiger Zeit könnte man sich in das Radioprogramm der amerikanischen Streitkräfte AFN reinhören
– statt Schonungslosigkeit, pure Seichtheit und Belanglosigkeit gekoppelt mit einer einigermaßen guten Musikauswahl:
http://afn360.radio.de/

12
durch den gemeinsamen Vater, der es seinem Sohn nicht verzeihen konnte, auf Seiten der Roten
Armee zu kämpfen.
Da ging Papa mit dem Säbel auf Fedja los und sprach „Drecksack, roter Hund, Hurensohn“ und lauter
so Zeug und schlug auf ihn ein bis zur Dunkelheit, bis Bruder Fedja fertig war. Damals habe ich euch
einen Brief geschrieben, wie Euer Fedja dalag, ohne Kreuz und alles.
Auch hier die nach wie vor starke Bedeutung von Religiosität in Gestalt des fehlenden Kreuzes.
Wir erfahren im weiteren Verlauf, wie es Kurdjukov und einem weiteren Bruder, Senjka, gelang,
den sich versteckenden und verkleideten Vater – er hatte sich sogar den Bart rot gefärbt – in der
Stadt Majkop aufzuspüren und sich für seine Schandtat zu rächen. Allerdings werden sie zunächst
vom Gesetz an ihrer Rache gehindert.
Und was sahen wir in der Stadt Majkop? Wir sahen, dass dem Hinterland die Front schurzpiepe ist und
überall Verrat und alles voller Jidden, wie unterm alten Regime. Und Semjon [Senjka] Timofeič hat bös
gestritten mit den Jidden der Stadt Majkop, weil die wollten Papa nicht rausgeben und hatten ihn ins
Gefängnis gesetzt hinter Schloss und Riegel, und sprachen: „es ist Befehl ergangen vom Genossen
Trotzkij, keine Gefangenen niederzumetzeln, wir stellen ihn selber vor Gericht, seid nicht böse, er wird
das Seine bekommen.“ Aber da sagte Semjon Timofeič das Seine und bewies, dass er Regimentskom-
mandeur ist und vom Genossen Budjonnyj alle Orden der Roten Fahne bekommen hat, und drohte, er
wollte jeden fertigmachen, wer Ärger macht wegen Papašas Persönlichkeit und ihn nicht rausrückt …
Und dann haben sie „Papa fertiggemacht“.43
An dieser Stelle muss der Umstand von konkurrierenden Befehlsstrukturen hervorgehoben wer-
den, der Wettstreit zwischen der zentralen und eigentlich absolut unmissverständlichen Order
Trotzkis und dem Eigensinn einzelner Befehlshaber. Auch der tief sitzende Antisemitismus der
Kosaken manifestiert sich hier sehr deutlich.
Die Reiterarmee enthält unzählige weitere Schilderungen, die es ebenso verdient hätten, hier behan-
delt zu werden. Einige sind extrem düster, als Babel beispielsweise seine Suche nach einem Platz
zum Schlafen in Ivan und Ivan beschreibt:
… ich dagegen nahm eine Decke von seinem Wagen und suchte mir einen Platz im Schatten. Doch das
Feld war zu beiden Seiten der Straße mit Exkrementen übersät. Ein bärtiger Bauer mit Kupferbrille und
Tirolerhut, der abseits Zeitung las, fing meinen Blick auf und sagte: „Menszen nennen wir uns, und
machen mehr Dreck wie die Szakale. Vor der Erde mechte man sich szemen …“ 44
Man dürfte als Leser fast dankbar sein, dass Gestank und Klebrigkeit sich durch Worte doch
nicht so unmittelbar transportieren lassen.
Es gibt aber auch schöne, sogar romantische und sehr persönliche Momente, und damit möchte
ich diesen Teil abschließen, nämlich mit der Erzählung Der Kuss. Hier geht es um Tomilina, Toch-
ter eines gelähmten Schullehrers und Witwe eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. Babel
ist bei der Familie einquartiert. Nach wenigen Tagen sind er und sie Freunde, sie schmieden
gemeinsame Zukunftspläne. So soll der Vater von einem bekannten Professor wieder zur
Gesundheit therapiert werden, und Tomilina soll in Moskau studieren. Durch die Kriegswirren
werden sie aber getrennt, und später wieder zusammengeführt. Sie verbringen eine einzige Nacht

43
Erzählungen S. 204–208.
44
Erzählungen S. 325f.

13
zusammen. Als sie in aller Früh voneinander Abschied nehmen, fragt Tomilina: „Wann bringen
Sie uns von hier fort?“ Erst auf dem Weg zurück zu seiner Einheit erfährt Babel, dass der kranke
Vater, gerade als er noch was Wichtiges mitteilen wollte, in Erregung verstarb.

Das größere Bild


Der Polnisch-Russischer Krieg bildet quasi den Schlusspunkt der Interventionskriege gegen die
junge Sowjetrepublik45 aber noch nicht den absoluten Schlusspunkt der revolutionären Welle, die
Europa nach dem Ersten Weltkrieg erfasst hatte. Erst mit der endgültigen Abtretung der Deut-
schen Revolution im Herbst 192346 lenkte Stalin mit seiner Theorie vom „Sozialismus in einem
Land“ die Partei von einem internationalistischen auf einen nationalistischen Kurs um. Im
Grunde bedeutete dies, dass die ausländischen kommunistischen Parteien nicht mehr nach den
objektiven Möglichkeiten in ihren jeweiligen Ländern unterstützt, sondern vielmehr in willfährige
Instrumente der russischen Außenpolitik verwandelt wurden.
Aber 1920 schien alles noch offen und die raschen Siege der Roten Armee gegen Polen bis zum
Sommer beflügelten den Optimismus der Delegierten auf dem zeitgleich in Moskau stattfinden-
den zweiten Weltkongress der Kommunistischen Internationale, der auch in der Erzählung Beres-
tečko erwähnt wird.47 In dem gleichnamigen Tagebucheintrag vom 8.8.20 schreibt Babel:
Moskauer Zeitungen vom 29. VII. Eröffnung des II. Kongresses der III. Internationale, endlich voll-
zieht sich die Einigung der Völker, alles ist klar: zwei Welten, und der Krieg ist erklärt. Wir werden ewig
Krieg führen. Russland hat den Fehdehandschuh hingeworfen. Wir werden nach Europa ziehen, um die
Welt zu unterwerfen. Die Rote Armee ist zu einem Faktor der Weltpolitik geworden. 48
Wegen der durch die Blockade der Alliierten beinahe hermetisch abgeriegelten Grenzen konnten
die immerhin 218 Delegierten aus insgesamt 40 Ländern Moskau nur unter den schwierigsten
Bedingungen erreichen.49 Das tat der euphorischen Stimmung aber keinen Abbruch. So eröffnete
Kalinin die Schlusssitzung am 7. August mit einem sehr optimistischen Überblick über die Welt-
lage, speziell über die Situation in Polen:
Zweifelsohne stellt das Hervortreten des polnischen Proletariats in dieser Zeit des Kampfes des Weißen
Polens gegen die russische Sowjetrepublik ein neues Stadium, eine neue Phase im revolutionären
Kampf dar. Abgesehen vom russischen ist es bisher keinem Proletariat in Zeiten des erbittertsten
Kriegs gelungen, die Macht zu ergreifen. Aber jetzt sehen wir eine Fortsetzung der Taktiken des russi-
schen Proletariats in der Art, die das polnische Proletariat den Kampf gegen die polnische Bourgeoisie
aufnimmt. Es ist ein Ereignis von enormer Tragweite. Nicht nur Historiker, sondern auch politische
Führer werden daraus lernen.50
Die Kongressteilnehmer waren vom bevorstehenden Einmarsch der Roten Armee in Warschau
begeistert – auch Lenin, der damit die Hoffnung verband, auf diesem Weg die Revolution nach
Westen zu exportieren und so endlich die Isolation zu überwinden, in der sich die Sowjetrepublik

45
General Wrangels Truppen wurden erst im November aus der Krim vertrieben.
46
Siehe Harman, Deutschland S. 329–378.
47
Babel, Erzählungen S. 284.
48
Babel, Tagebuch S. 101f.
49
Die Kommunistische Internationale, Band 1, S. 279.
50
Kongressprotokoll 15. Sitzung: https://www.marxists.org/history/international/comintern/2nd-congress/ch15.htm (eigene
Übersetzung)

14
effektiv befand (trotz verschiedentlicher Solidaritätsstreiks beispielsweise von Transportarbeitern,
um Waffenlieferungen an die Weißen zu unterbinden).
Aber dazu ist es nicht gekommen. Die Ursache ist zunächst militärisch-strategischer Natur.
Zuallererst muss festgehalten werden, dass der polnische Generalstabschef Pilsudski, der die Ver-
teidigung Warschaus organisierte, rückblickend meinte:
Unsere Lage schien völlig hoffnungslos. Den einzigen hellen Streifen am dunklen Horizont sah ich in
dem Fehlschlag, den Budënnyj beim Angriff auf meine rückwärtige Flanke erlitten hatte, und in der
Schwäche, die die 12. Armee zeigte.51
Budjonnyj hatte nämlich den Befehl erhalten, vom Süden her sich den Einheiten des russischen
Oberkommandierenden Tuchatschewski anzuschließen, um so ein koordiniertes Vorrücken auf
Warschau zu gewährleisten. Budjonnyj, mit Unterstützung Stalins, hatte diesen Befehl tagelang
einfach missachtet. Dazu Tuchatschewski:
Wenn Stalin und der Analphabet Budjonny in Galizien nicht ihren eigenen Krieg geführt hätten, hätte
die Rote Armee nicht die Niederlage erlitten, die uns zwang, den Frieden von Riga zu unterzeichnen. 52
Mit „eigenem Krieg“ ist gemeint, Budjonnyjs (aber vor allem Stalins) Ehrgeiz, sich unbedingt
durch eigene Erfolge hervorzutun. Dazu Trotzki in seiner Autobiografie:
Man kann nicht unerwähnt lassen, dass eine der Ursachen, weshalb die Katastrophe bei Warschau einen
so ungeheuren Umfang annehmen konnte, das Verhalten des Kommandos der Südgruppe der Sowje-
tarmee war, die die Richtung auf Lemberg [400km südöstlich von Warschau] hatte. Die politische
Hauptfigur im Revolutionären Kriegssowjet dieser Gruppe war Stalin. Er wollte um jeden Preis in Lem-
berg zur gleichen Zeit einziehen wie Smilga mit Tuchatschewski in Warschau. Es gibt Menschen, die
auch solche Ambitionen haben! Als die Gefahr für die Armeen Tuchatschewskis sichtbar wurde und
das Oberkommando der Südfront den Befehl gab, die Richtung zu ändern, um die Flanke der polni-
schen Truppen bei Warschau anzugreifen, fuhr das Kommando der Südwestfront fort, sich nach dem
Westen zu bewegen. […] Erst nach wiederholten Befehlen und Drohungen änderte das Südwestkom-
mando die Richtung. Aber einige Tage Verspätung haben eine verhängnisvolle Rolle gespielt. 53
Auf den beiden Karten zur Schlacht um Warschau im Anhang sieht man, wie Pilsudskis Einhei-
ten – dargestellt durch grüne Pfeile – der Durchbruch und anschließend die Umzingelung der
Truppen Tuchatschewskis gelingt.
Aber auf der Gegenseite gab es ebenfalls tiefgehende Meinungsverschiedenheiten, die zu einer
Niederlage der polnischen Kräfte bei der Verteidigung Warschaus hätten führen können. In
einem interessanten Dokument des „Jósef Piłsudski Institute of America“ aus dem Jahr 1960
kann man die Erinnerungen des damaligen polnischen Kriegsministers Sosnkowski, zugleich ver-
antwortlicher General für den Nachschub, nachlesen, vor allem aber seine Kritik an dem franzö-
sischen General Weygand, Militärberater der Alliierten bei der polnischen Regierung:
[…] die Alliierten verlangten von Polen unbedingten Gehorsam und Unterwerfung unter die vom
Obersten Rat verfügten Richtlinien […] Im Zusammenhang mit dieser Politik betrachtete es General
Weygand als seine Hauptaufgabe die Entfernung von Marschall Pilsudski von seinem Posten als Ober-

51
Zitiert in: Tagebuch, Kurze Chronologie des Herausgebers Peter Urban S. 200f.
52
https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Warschau_(1920).
53
Trotzki Autobiografie S. 408.

15
kommandierenden und die Ernennung eines polnischen Generals zu diesem Posten, der bereit wäre, die
Befehle der Alliierten Oberkommandeurs auszuführen und seine Ratschläge zu befolgen […]
In seinen weiteren Ausführungen unterstreicht Sosnkowski, dass Pilsudski die von Weygand erar-
beiteten Verteidigungspläne einfach beiseite schob und eine andere, auf der Kombination von
Verteidigung und schnellem Gegenangriff und vor allem breiter Mobilisierung der Bevölkerung
basierende Strategie verfolgte. Interessant ist aber vor allem Sosnkowskis Kritik an Weygands
Vorstellung, „man muss zwischen dem allgemeinen Schlachtplan und seiner Ausführung unter-
scheiden“. Dagegen argumentiert Sosnkowski:
Schon ihrem Wesen nach bleibt die „Vorstellung eines Manövers“ rein theoretisch, solange ihr Wert
nicht durch ihre praktische Anwendung auf dem Schlachtfeld getestet wird. Ein solcher Test findet
unter sich verändernden Bedingungen und Umständen statt, die man nicht vorhersehen kann. Es gibt
viele Unwägbarkeiten, die ins Gewicht fallen, vor allem den unbekannten Willen und die Reaktion des
Feindes. Daher ist der Begriff „Schlachtplan“ nicht ganz mit der Wirklichkeit kompatibel. Man kann
lediglich den Anfang der Schlacht planen, den „Eröffnungszug“. Aber das Drama bewegt sich auf sei-
nen Höhepunkt zu, wobei viele unvorhersehbare Ereignisse dazwischen kommen […] 54
Von grundlegenderer Bedeutung als die rein militärstrategische Betrachtung – so wichtig und
entscheidend diese auch sein mag – ist die Einschätzung der politischen Gesamtlage. Was wäre,
wenn Stalin den Befehl Tuchatschewskis befolgt hätte, Budjonnyj mit seinen Truppen eiligst nach
Warschau marschiert wäre und die Eroberung Warschaus tatsächlich stattgefunden hätte? Man
kann nur spekulieren. Aber die Tatsache, dass die polnische Arbeiterklasse in den entscheidenden
Tagen, als die Rote Armee direkt vor der Hauptstadt aufmarschiert war, eben nicht ihre Geschi-
cke selbst in die Hand genommen, die eigene herrschende Klasse gestürzt, Arbeiterräte gegrün-
det und der sowjetischen Armee die brüderliche Hand gereicht hat, ist ein Beleg dafür, dass eine
erfolgte Besatzung nur noch mehr Unheil gebracht hätte. Dazu Trotzki:
Im Vergleich mit der Zeit von Brest hatten sich die Rollen stark verändert. Damals [1917] forderte ich,
selbst auf die Gefahr hin, Territorium zu verlieren, mit dem Friedensschluss nicht zu eilen, damit das
deutsche Proletariat Zeit finden konnte, die Situation zu begreifen und sein Wort mitzusprechen. Jetzt
forderte Lenin, dass unsere Armeen den Angriff fortsetzen sollten, um dadurch es dem polnischen
Proletariat zu ermöglichen, die Situation zu erkennen und sich zu erheben.
Der polnische Krieg hat in anderem Sinne bestätigt, was der Brester Krieg gezeigt hatte: Ereignisse
des Krieges und Ereignisse der revolutionären Massenbewegungen müssen mit verschiedenen Maßstä-
ben gemessen werden. Wo operierende Armeen nach Tagen und Wochen rechnen, zählt die Bewegung
der Volksmassen nach Monaten und Jahren. Berechnet man den Unterschied zwischen diesen beiden
Tempos falsch, dann können die Zahnräder des Krieges die Zahnräder der Revolution zerbrechen,
anstatt sie in Bewegung zu bringen. Jedenfalls geschah es so im kurzen Brester Krieg und im großen
polnischen Krieg. Wir gingen an unserem Sieg vorbei – zu der schweren Niederlage. 55
In einem Interview mit Clara Zetkin im Frühherbst 1920 meinte Lenin:
Ja, es ist in Polen gekommen, wie es gekommen ist, wie es vielleicht kommen musste. Sie kennen doch
alle die Umstände, die bewirkt haben, dass unsere tollkühne, siegessichere Vorhut keinen Nachschub
von Truppenmassen und Munition und nicht einmal von genug trockenem Brot erhalten konnte. Sie
musste Brot und anderes Unentbehrliche bei den polnischen Bauern und Kleinbürgern requirieren.
Und diese erblickten in den Rotarmisten Feinde, nicht Brüder und Befreier. Sie fühlten, dachten und

54
http://www.pilsudski.org/data/biuletyn/Biuletyn-17-22.pdf S. 4f.
55
Trotzki Autobiografie S. 408.

16
handelten keineswegs sozial, revolutionär, sondern national, imperialistisch. Die Revolution in Polen,
mit der wir gerechnet hatten, blieb aus. Die Bauern und Arbeiter, von den Pisudski- und Daszyn-
ski-Leuten beschwindelt, verteidigten ihre Klassenfeinde, sie ließen unsere tapferen Rotarmisten ver-
hungern, lockten sie in Hinterhalte und schlugen sie tot. 56
Zu bedenken ist aber auch der psychologische Zustand der Roten Armee. Von kriegsmüden Sol-
daten – mit einer kurzen Unterbrechung Anfang 1918 befand sich Russland seit 1914 im Krieg –
kann man keine Offensive mehr erwarten. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Ver-
teidigung der eigenen Heimat und Besetzung fremden Territoriums.
Nach der kolossalen Anstrengung, die es ihr ermöglicht hatte, in fünf Wochen 650 Kilometer zurück-
zulegen, konnte die 4. Armee sich nur noch aus reinem Beharrungsvermögen weiterbewegen. Alles
hing an den Nerven, und dies sind zu dünne Fäden. Ein fester Stoß genügte, um unsere Front zu
erschüttern und den unerhörten, beispiellosen – selbst Foch [Marschall der französischen Armee]
musste das zugeben – Angriffsdrang in einen katastrophalen Rückzug zu verwandeln. Ich verlangte den
sofortigen, schnellstmöglichen Friedensabschluss, solange die Armee nicht völlig erschöpft sei. Mich
unterstützte, soweit ich mich erinnere, nur Rykow. Die anderen hatten Lenin noch in meiner Abwesen-
heit für sich gewonnen.57
Hinter diesen Auseinandersetzungen sogar innerhalb der Spitze der Bolschewiki steht die Frage
nach dem Verhältnis zwischen Arbeiterrevolution und nationaler Selbstbefreiung. Weiter oben
haben wir bereits Lenin zum Dubliner Aufstand zitiert. Marx hatte zu Irland und zu Polen eine
ähnliche Haltung wie Lenin. Zu Irland meinte er 1870:
Ich bin nach jahrelanger Beschäftigung mit der irischen Frage zu dem Resultat gekommen, dass der ent-
scheidende Schlag gegen die herrschenden Klassen in England (und er ist entscheidend für die Arbei-
terbewegung all over the world [der ganzen Welt]) nicht in England, sondern nur in Irland geführt wer -
den kann. […] Der Sturz der englischen Aristokratie in Irland bedingt aber und hat notwendig zur
Folge ihren Sturz in England. […] Und das Wichtigste! Alle industriellen und kommerziellen Zentren
Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians
und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter als einen Kon-
kurrenten, welcher den standard of life [Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als
Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und
Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und
nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor white [armen Weißen] zu
den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer pays him back
with interest in his own money [zahlt ihm mit gleicher Münze zurück]. Er sieht zugleich in dem eng -
lischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.58
Die Polen – die nach der Teilung ihrer Heimat im ausgehenden 18. Jahrhundert unter Russland,
Preußen und Österreich ganz besonders unter der russischen Knute zu leiden hatten – „zahlten
mit gleicher Münze zurück“, denn die heranrückende Rote Armee musste ihnen als bloße Wie-
derholung des alten russischen Imperialismus unter den Zaren erscheinen.

56
Zetkin Erinnerungen S. 24; in diesem Interview decken sich Lenins und Trotzkis politische Ansichten weitgehendst, dennoch
fehlt in Lenins Antworten jeder direkter Hinweis auf Differenzen innerhalb der politischen Führung der Bolschewiki: „Die
Revolution in Polen, mit der wir gerechnet hatten, blieb aus.“ Soll dieses „wir“ alle einschließen, auch Trotzki? An dieser Stelle
ist Trotzkis Darstellung viel präziser: Es gab Differenzen, und zwar heftige, noch vor der Schlacht um Warschau, aber Trotzki
und Rykow blieben allein mit ihrer Meinung. Es wäre interessant zu wissen, ob Zetkins „Erinnerungen“ nicht auch Opfer von
Zensur oder Selbstzensur wurden.
57
Trotzki Autobiografie S. 407f.
58
Marx an an Sigfrid Meyer und August Vogt, MEW Band 32 S. 667–69.

17
Schlussbetrachtung
Ein Vergleich zwischen Babels Reiterarmee und viele Quellen aus der damaligen Zeit bestätigen
(traurigerweise) die schonungslose Genauigkeit, mit der er die Umstände um sich herum beob-
achtete und für seine Leserschaft festhielt. Gorki hatte ihm wiederholt den Rat gegeben, „unter
die Menschen“ zu gehen.59 „Die journalistische Arbeit gab mir ungewöhnliches Material und eine
ungeheure Menge wertvoller Fakten für mein Werk“, schrieb Babel in der Literaturnaja gaseta
1932.60 Mit seinem unverwechselbaren Stil und dank der Kürze der einzelnen Erzählungen
konnte er allerdings ein viel breiteres Publikum im In- und Ausland erreichen, als es einfache
Berichterstattungen vermögen hätten.
Zum Zeitpunkt des Russisch-Polnischen Kriegs war Russland wirtschaftlich vollkommen
erschöpft, und mit der Wirtschaft die russische Arbeiterklasse:
Vor allem die Produktion in Industrie und Landwirtschaft war von den Folgen des Bürgerkrieges
betroffen: 1920 betrug die Produktion von Roheisen nur 3% des Vorkriegsausstoßes; die Produktion
von Hanf 10%, die von Flachs 25%, Baumwolle 11%, Rüben 15%. Das bedeutete Armut, Hunger und
Not. Aber noch mehr: Auflösung der industriellen Produktion hieß zugleich Auflösung der Arbeiter-
klasse. Sie war auf 43% ihrer früheren Stärke dezimiert worden. Der übrige Teil war entweder in die
Dörfer zurückgekehrt oder tot auf den Schlachtfeldern geblieben. Rein quantitativ bedeutete das, dass
die Klasse, die die Revolution geführt hatte, die Klasse, deren demokratische Willensbildungsprozesse
den lebendigen Kern der Sowjetmacht dargestellt hatte, in ihrer Bedeutung um über die Hälfte
geschrumpft war. Tatsächlich war die Situation noch schlimmer. Die Industrieproduktion betrug nur
noch 18% des Vorkriegsstandes; die Arbeitsproduktivität war um zwei Drittel gesunken. Allein von
dem, was das gemeinschaftlich Produzierte einbrachte, konnten sich die Arbeiter nicht am Leben erhal-
ten. Viele von ihnen gingen dazu über, auf eigene Faust Produkte und sogar Maschinenteile bei den
Bauern gegen die notwendigen Lebensmittel einzutauschen. Nicht nur, dass die führende Klasse der
Revolution dezimiert worden war, auch die Beziehungen, die die einzelnen Arbeiter miteinander ver -
banden, waren nicht mehr die, die den Kern der revolutionären Bewegung von 1917 gebildet hatten.
Die kämpferischsten Arbeiter hatten naturgemäß während des Bürgerkriegs in vorderster Front
gekämpft und waren entsprechend als Erste gefallen. Die Überlebenden wurden nicht nur in den Fabri-
ken gebraucht, sondern auch als Kader in der Armee und als Kommissare zur Kontrolle derjenigen, die
staatliche Verwaltungsaufgaben wahrnahmen. Bauern aus dem rückständigen Hinterland ohne sozialis-
tische Traditionen oder sozialistisches Bewusstsein nahmen ihren Platz ein.“61
Auf dem neunten Gesamtrussischen Sowjetkongress im Dezember 1921 hielt Lenin eine lange,
mit unzähligen Statistiken bespickte Rede über den beklagenswerten Zustand der Großindustrie
und damit einhergehend der Arbeiterklasse. Ziemlich gegen Ende wirft er ein paar ironische Fra-
gen in Form eines Dialogs in den Saal:
– Wir sind die Vertreter der Kommunistischen Partei, der Gewerkschaft, des Proletariats. – Entschuldi-
gen Sie bitte. Was ist das Proletariat? – Das ist die Klasse, die in der Großindustrie arbeitet. – Wo aber
ist die Großindustrie? Was ist das für ein Proletariat? Wo ist Ihre Industrie? Warum steht sie still? 62
Die weitere, angesichts des Ausbleibens einer erfolgreichen deutschen Revolution zwangsläufige
Entwicklung, weg von jeglicher Arbeitermacht hin zum Staatskapitalismus und zu Stalins Ein-
Mann-Diktatur mit ihrer Hinrichtung von einer Dreiviertelmillion Parteimitgliedern, darunter vie-
59
Krumm, Biografie, S. 41.
60
Krumm, Biografie, S. 42.
61
Harman, Russland S. 8.
62
Lenin Werke Band 33 S. 158.

18
ler kritisch denkender Generäle des polnisch-russischen Kriegs, beschreibt sehr ausführlich mit
vielen Statistiken Tony Cliff.63
Aber überlassen wir das letzte Wort Babel über die Erste-Hilfe-Stationen Petrograds im Frühjahr
1918:
Im Büro der Station herrscht großes Schweigen. Es gibt lange Räume, blitzende Schreibmaschinen,
Papierstapel, sauber gefegt Fußböden. Dann gibt es noch ein verschrecktes Fräulein, das vor drei Jahren
angefangen hat, Papierchen und Kladden vollzuschreiben, und aus reiner Gewohnheit nicht mehr damit
aufhören kann. Dabei würde es nicht schaden, damit aufzuhören, denn die Papierchen und Kladden
braucht schon lange keiner mehr. Außer dem Fräulein gibt es niemanden. Das Fräulein ist die Beleg-
schaft. Man kann sogar sagen – die Belegschaft in Überzahl. Wenn es keine Pferde gibt, kein Benzin,
keine Arbeit, keine Ärzte, keine Betreuer und Betreuten – wozu dann komplette Belegschaften? 64

63
Cliff, vor allem Kapitel 5 S. 141–152.
64
Babel, Erzählungen S. 513.

19
Literatur
Babel, Isaak, Mein Taubenschlag – Sämtliche Erzählungen, München 2014
Babel, Isaak, Tagebuch 1920, Berlin 1990
Cliff, Tony, Staatskapitalismus in Russland, Frankfurt 1975
Die Kommunistische Internationale – Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, 1. und 2.
Weltkongress 1919/1920, Köln 1984
Harman, Chris, Russland, wie die Revolution scheiterte, Hannover 1981
Harman, Chris, Die verlorene Revolution – Deutschland 1918–1923, 1998 Frankfurt a.M.
Kappeler, Andreas, Kleine Geschichte der Ukraine, 4. aktualisierte Auflage, München 2014
Krumm, Reinhard, Isaak Babel – eine Biografie, Norderstadt 2006
Lenin, Wladimir Iljitsch, Werke Bände 22 u. 33
Marx, Karl MEW Band 32
Trotzki, Leo, Mein Leben – Versuch einer Autobiografie, Berlin 1990 (Fischer Verlag 1929)
Zetkin, Clara, Erinnerungen an Lenin, Köln 2000 (Berlin 1957)

Onlinequellen:
American Forces Network: http://afn360.radio.de/
Avins, Carol J., Isaac Babel – 1920 Diary; Google-Books online: https://books.google.de/books?
id=ZFKtD0ahKW0C&pg=PA101&dq=%22the+red+cavalryman%22&hl=de&sa=X&ved=
0ahUKEwjNjrPIx5PNAhUJJMAKHc5zBkgQ6AEIIDAA#v=onepage&q=%22the%20red
%20cavalryman%22&f=false
Kongressprotokoll 15. Sitzung: https://www.marxists.org/history/international/comintern/2nd-
congress/ch15.htm
http://www.pilsudski.org/data/biuletyn/Biuletyn-17-22.pdf S. 4f.
http://sputniknews.com/politics/20151020/1028815513/thousands-soviet-prisoners-died-
poland-katyn.html
https://en.wikipedia.org/wiki/Antonina_Pirozhkova
Trotzki, Leo, Military Writings Volume 3 – The Year 1920 (online: https://www.marxists.org/
archive/trotsky/military-pdf/Military-Writings-Trotsky-v3.pdf)

Bilderquellen:
Titelseite: Krumm a.a.O. Bildersammlung (ohne Paginierung)
Drei obige Bilder auf nächster Seite: https://en.wikipedia.org/wiki/Polish%E2%80%93
Soviet_War
„Rechtzeitig ernten“ – anti-polnisches Plakat: http://imgur.com/tKTPGIv
„Am Vorabend des Polenkriegs“: https://www.marxists.org/archive/trotsky/1920/military/
maps.htm
Schlacht um Warschau: http://www.greatmilitarybattles.com/html/the_battle_of_warsaw.html

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Bilderanhang

"Richtet den Bolschewik nieder" "Die bolschewistische Freiheit"

Abbildung 1: "Nochmals
jüdische Pfoten? Niemals!"

Polnische Aufklärungs-, Bomben und Jagdflugzeuge


französischer Produktion
"Zur rechten Zeit mähen" -- anti-polnisches Plakatx

Abbildung 2: Schlacht um Warschau (oben 14.8., unten


18.8.20)

Am Vorabend des Polenkriegs

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