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Philippe Ariös

Geschichte des Todes

In zwanzigjrihrigcr Forschungsrrrbcit h:rt Ariös cine Füllc archäolo-


gischer, literarischer r.rnd liturgischcr Qucllcn gcsichtct, Sterberiten
und Bestattungsbräuche untcrsucht, clic (]cschicl'rtc der großcn
städtischen Fricdhöfe studicrt und z:rhlrcichc'l'cstrlncr.rte durch-
forscht. Entstanden ist eine Gcschichtc dcr Irinstcllr.rrrgcn clcs Men-
schen zum Tod und zum Sterben.
Fast zwei Jahrtausende lang - "von Homer bis'iblstoi" - lrlieb im
-Iird
Abendland die Grundeinstellung der Menschefl zum nahezu
unverändert. Der Tod war ein vertrauter Begleiter, ein Ilestandtcil
des Lebens, er wurde akzeptiert und häufig als eine letztc l-ebens-
phase der Erfüllung empfunden. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich
ein entscheidender Wandel volizogen. Der Tod ist für den heutigen
Menscher.r angsteinflößend und unfalSbar, und cr ist außerdem in
der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant.
Der Mensch stirbt nicht mehr urngeben von Familie und Freunden,
sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogcn, um den ,eigenen
Tod« betrogen.

Pbilippe Ariäs (1914-1986) gehört zvr französischen Historiker-


schule der "Annale5o, die Methoden der Soziologie und dcr
Geschichte zu verbinden trachtet und sich um die Erforschung der
\ü7erke:
"civilisations« und der "mentalit6s" bemüht. \X/ichtigstc
,Les traditions sociales dans les pays dc Francc. (1943); '[.es temps
de I'histoire, (1954); in deutschcr Üb".r.t,.t'ns crschienen u.a.
,Geschichte der Kindheit. (1975;dw 1013s), ,Sttrrlicn zur Geschich-
te des Todes im Abendlan d, (1976) sowic ,IJilclcr zr-rr Gcschichte des
Todes. (1984). Deutscher Taschenbuch Verlag

I
I

Aus dcrn Französischen von Hans-Horst Hcnschcn und Una Pfau


Titel der Originalausgabe: L hommc dcv;rnt l:r mort.

Von Philippe Ariös bei cltv:


Geschichte der Kindheit (3013S)

FUR PRIMEROSE

in ntroque tempore semPer und


1

,j

Oktober 1982
9. Auflage Oktober 1999
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
O 1978 Edirions du Seuil, Paris
O 1980 Carl Hanser Verlag, München
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagbild: ,Le fils puni. (1778) vonJean-Baptiste Greiz.c
(O AKG, Berlin)
Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerci,
Nördlingen
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germanv . ISBN 3-423-30169-4

I
-

Vorbemerkung
Das Folgende ist nicht als Einleitung aufzufassen. Die eigentliche Einlei-
tung dieses Buches ist bereits 1975 erschienen, zu Anf ang der Essais sur I'hi-
stoire de la mort en occident fdt. Studien zur Gescbichte des Todes irn
Abendland,1976l, eines Textes, in dem ich mich zu erklären bemüht habe,
warum meine Vahl gerade auf dieses Thema fiel, welches mein Ausgangs-
punkt war, wie ich dann später über diesen Ausgangspunkt diesseits und
j.nr.its - von Jahrhundert zu Jahrhundert - hinausgetrieben wurde und
welche methodischen Schwierigkeiten mir eine derart angewachsene Auf-
gabe aufbürdete. Ich brauche nicht darauf zurückzukommen: es mag genü-
gen, den interessierten Leser darau{ zu verweisen.
Dieser vor der Zeit veröffentlichten Einleitung hatte ich 6"n Jilgl "Ge-
schichte eines Buches, das kein Ende findet" gegeben, und um die ietzt hier
vorliegende Arbeit handelte es sich. Ich vermochte ihr Ende damals so we-
nig abzusehen, daß ich mich entschloß, die ersten Aufsätze, Annäherungs-
versuche an den Gesamtkomplex, ohne weiteres Zögernzu publizieren. Ich
zweifelte nicht daran, daß ein glücklicher Umstand mir bald die Möglich-
keit eröffnen würde, die Gangart zu beschleunigen und das Proiekt schnel-
ler abzuschließen, als ich dachte. Im Januar 1976 wurde ich, dank der Ver-
mittlung meines Freundes O. Ranum, für sechs Monate im Woodrow
Wilson International Center t'or Scholars au{genommen, und während die-
ses Au{enthalts konnte ich meine ganze Zeit und alle Energie rneinem
Thema widmen und endlich ein Buch beenden, das mich seit etwa fünfzehn
Jahren in Anspruch nahm.
Bekanntlich gibt es in den Vereinigten Staaten einige hervorragende Ab-
teien von Thelema, in denen die \Wissenschaftler, ihrer Alltagsverpflichtun-
gen ledig, wie Mönche im Kloster ganz und gar in ihrem Arbeitsproiekt
au{gehen können.
Das Woodrou'Wilson International Center ist eine dieser weltlichen Ab-
teien. Es ist in einem phantastischen, aus rotem Sandstein errichteten
Schloß untergebracht, dessen Neo-Tudor-Stil zur weltabgewandten Kon-
zentration einlädt und, als ganz einzigartige Besonderheit, ein wirkliches
Grabmal birgt, das des Gründers des Smithsonian Institute. Das Fenster
meiner geräumigen Zelle, halb von wildem \flein umwuchert, öffnete sich
auf den gigantischen grünen Rasenteppich - Tbe Mall -, der das Zentrum
rJflashingtons deckt.
Dort wachen J. Billington, der Direktor, Fran Hunter,
der gute Hausgeist, und die Verwaltungsangestellten, Sekretäre und Bi- Erstes Buch
bliothekare über die Ruhe und das \ü/ohlbefinden der t'ellous.
Die Strenge dieser Abgeschiedenheit wurde durch die menschliche DIE ZETT DER RUHENDEN
'V/ärme gemildert,
über deren Geheimnis allein Amerika zu verfügen
scheint - eine menschliche lVärme, wie sie nicht nur ernsrhafte Freund-
schaften, sondern sogar kurzlebigere Zufallsbekanntschaften aufkommen
lassen. Man muß ein wenig auf Reisen herumgekommen sein, um den Sel-
tenheitswert dieser Art von Empfang richtig einzuschätzen.
Als ich rVashington verließ, hatte ich nur noch den Schluß, für den ich
ein wenig rückblickenden Abstand gewinnen wollte, die Anmerkungen
und Fußnoten und die Danksagung zu schreiben.

Dieses Buch verdankt viel den Freunden und Kollegen, die sich für meine
Untersuchungen interessiert haben und mir Material, Hinweise auf ört-
lichkeiten, Denkmäler, Inschriften und Texte, Literatur und Zeitungsaus-
schnitte zukommen ließen - insbesondere den Damen N. de La Blanchar-
diöre, M. Bowker, N. Castan, L. Collodi, M. Czapska, A. Fleury, H.
Haberman, C. Hannaway, J.-B. Holt, D. Schnaper, S. Straszewska, M.
\üolff-Terroine; und den Herren J. Adh6mar, G. Adelman, S. Bonnet,
P.-H. Butler, Y. Castan, B. Cazes, A. Chastel, P. Chaunu, M. Collart,
M. Cordonnier, J. Szapski, P.Dhers,J.-L. Ferrier,P. Flamand,J. Gl6nisson,
J. Godechot, A. Gruys, M. Guillemain, P. Guiral, G.-H. Guy, O. Hanna-
way, C. Jelinski, Ph. Joutard, M. Lanoire, P. Laslett, I. Lavin, F. Lebrun,
G. Liebert, O. Michel, R. Mandrou, M. Mollat, L. Posfay, O. Ranum,
D.-E. Stannard, B. Vogler und M. Vovelle.
Das Manuskript ist mit großer Sorgfalt von Annie FranEois durchgese-
hen worden.
Dieser Liste muß ich die Namen einiger Autoren hinzu{ügen, die mich
besonders beeinflußt haben oder denen ich spezielle Kennrnisse verdanke:
F. Cumont, f. Ual., E. Morin, E. Panofsky und A. Tenenti.
\ü'ie man sieht, war der '§fleg lang; zahlreich aber waren auch die hilfrei-
chen Hände. Nach einer ermüdenden Reise erreicht das Buch jetzt seinen
Hafen. Mögen dem Leser die Unsicherheiten der \Wegstrecke nicht mehr
zu Bewußtsein kommen.

8
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1. Der gezähmte Tod
Das Bild des Todes, das wir als Ausgangspunkt unserer Analysen wählen,
ist das des frühen Mittelalters - grob vereinfacht: der Tod Rolands. Es ist
jedoch noch älter: es ist der zeitlose Tod der langen Spannen der ältesten
Geschichte, vielleicht sogar der Vorgeschichte. Dieses Bild hat das Mittel-
alter andererseits aber auch überlebt, und wir begegnen ihm wieder beim
Holzf äller La Fontaines, bei den Bauern Tolstois, sogar noch bei einer alten
englischen Dame mitten im 20. Jahrhundert. Die Originalität des frühen
Mittelalters beruht jedoch darauf, daß das aristokratische Ritterum damals
die Bilderwelt der volkstümlichen, mündlich überlieierten Kulturen einer
Gesellschaft von gebildeten Klerikern aufdrängte, die sich als Erben und
Neubegründer des gelehrten Altertums verstanden. Der Tod Rolands ist
zum Tod des Heiligen geworden - nicht aber zum außergewöhnlichen
Tode des Mystikers wie bei Galaad oder König Mdhaigne. Der mittelalter-
liche Heilige ist von den gebildeten Geistlichen bei der profanen, ritterli-
chen Kultur entlehnt worden, die ihrerseits wiederum volkstümlichen Ur-
sprungs ist. (1)
Die Bedeutung dieser Literatur und dieser Epoche liegt also darin, daß
sie mit aller Deudichkeit, in leicht zugänglichen Texten, eine charakteristi-
sche Einstellung zum Tode zu erkennen gibt, die Einstellung einer sehr al-
ten und sehr dauerhaften Zivilisation, die bis in die Vorzeit zurückreicht
und sich in ihren letzten Ausläufern bis heute erstreckt. Auf ebendiese tra-
ditionelle Einstellung werden wir uns in diesem Buch fortgesetzt zu bezie-
hen haben, um jede der Veränderungen zu verstehen, deren Geschichte wir
hier zu entwerfen versuchen.

Sein Ende nahe fühlend...

Fragen wir zunächst ganz naiv, wie denn die Ritter in der Cbanson de Ro-
land,ind,enRomans de laTable ronde,in den Tristan-Epen eigentlich ster-
ben. ..

13
Sie sterben durchaus nicht beliebig: Der Tod wird von einem durch Von einer vergifteten Vaf{e verwun deg t'ühlte Tristan, ,daß sein Leben
Brauch und Herkommen gdregelten, verbindlich beschriebenen Ritual be- dahinschwand, er verstand, daß er werde sterben müssen". (4)
stimmt. Der gewöhnliche, normale Tod fällt den Einzelnen nicht aus dem Die frommen Mönche gebärdeten sich nicht anders als die heldenmüti-
Hinterhalt an, selbst wenn er - ers,.a im Falle einer Verwundung - als tödli- gen Ritter. In Saint-Martin in Tours fühlte, einem Bericht Raoul Glabers
cher Unfall auftritt, nicht einmal, wenn er Folge allzu großer emotionaler zu[olge, der sehr ehrwürdige Mönch Herv6 nach vier Jahren Klausnerda-
Verstörung ist, wie das zuweilen vorkommt. sein, daß er bald die Velt werde verlassen müssen, und zahlreiche Pilger
Der entscheidende Zug ist der, daß er Zeit zur Vorahnung läßt. ,,Lieber, kamen in der Hoffnung au{ ein rüTunder zuhauf . Ein anderer Mönch, medi-
guter Herr, gedenkt Ihr denn so bald zu sterben?. -,Ja, antwortet Gauvain zinisch erfahren, mußte die Brüder, die er umsorgte, zur Eile antreiben: , Er
(Gäwän), so erfahrt denn, daß ich nurmehr zwei Tage leben werde... (2) wußte, daß sein Ende nahe war." (5) Eine im Mus6e des Augustins in Tou-
Weder der ,Arzto, der ,Helfer", noch die Gefährten (noch die Priester, die louse aufbewahrte Inschrift aus dem Jahre 1 151 (6) berichtet, daß auch der
in diesen Texten abwesend und noch unbekannt sind) wissen das so ge- Großsakristan von Saint-Paul in Narbonne wußte, daß es ans Sterben ging:
nau wie er. Der Todgeweihte allein ermißt die Frist, die ihm noch ver- ,Mortem sibi instare cernerat tdmqudm obitus sui prescit4s« (Er erkannte,
bleibt. (3) daß derTod ihm bevorstand, und sah das nahe Ende gleichsam voraus). Im
König Ban hat einen schlimmen Sturz vom Pferd getan. Zugrundege- Kreise seiner Mönche machte er sein Testament, beichtete, ging zur Kirche,
richtet, von seinen Ländereien und seinem Schloß vertrieben, flieht er mit um das corpus Dominl zu empfangen, und starb dort.
seiner Frau und seinem Sohn. Er hält inne, um aus der Ferne sein brennen- Manche Vorahnungen hatten den Charakter des Vunderbaren; insbe-
sondere eine trog nie - die Erscheinung eines Verstorbenen, und sei es im
"das sein ganzer Trost warn. Er gibt sich seinem
des Schloß zu betrachten,
Kummerhin: "KönigBan war so in tiefes Nachdenken versunken. Er legte Traum. Die Witwe König Bans (7) ist nach dem Tode ihres Gatten und nach
seine Hände auf die Augen, und ein derart starker Kummer schüttelte und dem rätselhaften Verschwinden ihres Sohnes ins Kloster eingetreten. Jahre
bedrängte ihn, daß er, ohne Tränen vergießen zu können, vom Uber- vergehen. Eines Nachts sieht sie im Traum ihren Sohn und ihre Neffen, die
schwang seines Herzens überwältigt wurde und in Ohnmacht fiel. So hart man in einem schönen Garten verschollen glaubt: "Da verstand sie, daß
stürzte er von seinem Zelter,daß...«; man verlor damals häufig das Be- Gott, Unser Herr, sie erhört hatte, und daß sie würde sterben müs-
wußtsein, und die rauhen Krieger, so unerschrocken und tapfer sie auch Sen, <(

waren, sanken bei jeder Gelegenheit besinnungslos hin. Diese männliche Raoul Glaber (8) erzählt, daß ein Mönch namens Gaufier eine Vison
Empfindsamkeit erhält sich bis ins Barock. Erst nach dem 17. Jahrhundert hatte, während er in der Kirche betete. Er sah einen Zug gemessen schrei-
kam es zu dem bedeutsamen Umschwung, daß sich der Mensch, d. h. der render, weißgekleideter mit Purpurstolen geschmückter Männer, an dessen
Mann, gehalten fühlte, seine Emotionen zu bemeistern. Im Zeitaker der Spitze ein Bischof ging, das Kreuz in den Händen. Der näherte sich dem
Romantik war die Ohnmacht dann den Frauen vorbehalten, die ver- Altar und zelebrierte die Messe. Er gab dem Bruder Gaufier zu verstehen,
schwenderisch damit umgingen. Heute hat sie keine andere Bedeutung als daß sie in Kämpfen gegen die Sarazenen gefallene Kreuzritter seien und ins
die eines klinischen Signals. Land der Seligen zögen. Der Propst des Klosters, dem der Mönch von sei-
Als König Ban zu sich kommt, bemerkt er, daß das rote Blut ihm aus ner Vision berichtete, ,ein Mann von tiefer Gelehrsamkeito, bedeutete ihm :
Mund, Nase und Ohren quillt. "Er richtete seinen Blick zum Himmel und "Mein Bruder, suchet Trost im Herrn, aber da Ihr gesehen habt, was Men-
sprach, wie er's verstand: ,Hergott, stel-rt mir bei, denn ich sehe und ich schen selten zu sehen gewährt wird, müßt Ihr den Tribut allen Fleisches
weiß, daß mein Ende nahe ist.." Ich sehe und ich ueill. zahlen, damit Ihr das Schicksal derer teilen könnt, die Euch erschienen
Olivier und Turpin fühlen beide, daß der f'od sie bedroht, und bringen, sind." Immer sind die Toten inmitten der Lebenden gegenwärtig, an be-
unabhängig voneinander, ihre Angst in nahezu identischen Formulierun- stimmten Orten und zu bestimmten Zeiten. Aber ihre Gegenwart ist sinn-
gen zum Ausdruck:
"Roland fühlt, daß der Tod ihn ganz übermannt. Vom lich wahrnehmbar nur für die, die dem Tode nahe sind. So wußte der
Kopfe steigt er nieder nach dem Herzen.o Er t'üblt, "daß seine Zeit gekom- Mönch, daß sein Ende gekommen war: "Die anderen Brüder, eilig zusam-
men ist". mengerufen, statteten ihm den in solchen Fällen herkömmlichen Besuch ab.

14 15
Gegen Ende des dritten Tages, als die Nacht herniedersank, verließ seine In lVirklichkeit hat dieses wundersame Vermächtnis aus Zeiten, in denen
Seele seinen Leib." die Grenze zwischen Natürlichem und Übernatürlichem fließend war, den
Allerdings ist es wahrscheinlich, daß die hier von uns getroffene Unter- romantischen Beobachtern den durchaus positiven, tief im Alltagsleben
scheidung zwischen natürlichen Zeichen und übernatürlichen Fingerzeigen verwurzelten Charakter der Todesahnung verdeckt. Daß der Tod sich an-
anachronistisch ist: die Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Über- kündigte, war ein uollkommen natürliches Phänomen' selbst wenn es von
natürlichen war damals {ließend. Nicht weniger bemerkenswert ist, daß ciie 'Wundern begleitet war.
Zeichen eines nahen Todes, auf die man sich am häufigsten berief, im Mit- Ein italienischer Bericht aus dem Jahre 1490 macht deutlich, wie sPontan
telalter Zeichen waren, die wir heute natürliche nennen würden: banale, diese deutliche Erkenntnis des nahen Todes war, wie natürlich und in ihren
unmittelbar einleuchtende'§V'ahrnehmungen geläufiger und vertrauter Ursprüngen dem Wunderbaren - übrigens auch der christlichen Frömmig-
Züge des Alltagslebens. Erst später, in modernen, aufgeklärten Epochen, keit - durchaus {remd. Das Folgende ereignet sich in einem moralischen
haben Beobachter, die durchaus nicht mehr daran glaubten, auf denwunder- Klima, das dem der cbansons de geste sehr fernsteht, in einer Handelsstadt
samen Charakter der Vorahnungen hingewiesen, die hinfort für volkstüm- der Renaissance. In Spoleto lebt ein hübsches Mädchen, jung, lebensfroh,
lichen Aberglauben gehalten wurden. den ihrem Alter gemäßen Zerstreuungen sehr zugetan. Da befällt sie eine
Dieser Vorbehalt tritt seit Anfang des 17. Jahrhunderts in Erscheinung, Krankheit. rVird sie sich ans Leben klammern, ohne sich des Schicksals be-
so etwa in einem Text von Gilbert Grimaud (9), der die Realität der Er- wußt zu werden, das ihrer harrt? Ein anderes Verhalten schiene uns heute
scheinung Verstorbener durchaus nicht bestreitet, sondern erklärt, warum grausam, widernatürlich, und die Familie und der Arzt würden zweifellos
sie Angst einflößen: "Was diese Furcht noch verstärkt, ist der Glaube des zusammenarbeiten, um ihr diese Illusion aufrechtzuerhalten. Die juven'
Pöbels, wie man ihn sogar noch in den Schriften des Abtes Pierre von Cluny cula des 15. Jahrhunderts aber hat sofort begrifien, daß es ans Sterben geht
antrifft, daß nämlich solche Erscheinungen Vorboten des nahen Todes de- (cum cerneret, infelix iuaencula, de proxima sibi imminere mortem). Siehar
rer sind, denen sie zuteil werden.« Es ist also nicht die verbreitete und allge- den nahen Tod gesehen. Sie bäumt sich auf , aber dieses ihr Aufbäumen hat
meine Auffassung, auch nicht die der gebildeten Minderheit: es handelt sich durchaus nicht die Bedeutung einer Verweigerung des Todes (davon hat sie
um den Glauben des Pöbels. nicht einmal eine Vorstellung), sondern die einer Herausforderung Gottes.
Im Zuge der Dichotomie, die die litterati von der traditionellen Gesell- sie Iäßt sich in ihre prächtigsten Gewänder kleiden wie zur Hochzeit und
schaft isolierte, wurden die Todesvorzeichen einem volkstümlichen Aber- weiht sich dem Teufel. (10)
glauben gleichgestellt, sogar von Autoren, die sie für poetisch und ehrwür- 1ü/ie der Sakristan von Narbonne hat das funge Mädchen in Spoleto den
dig hielten. Nichts ist in dieser Hinsicht bezeichnender als die Art und -lod gesehen.
'Weise, wie
Chateaubriand sich - in Le Gdnie du cbristianisme - dazu äu- Es kam sogar vor, daß die Ankündigung weiter ging als die Vorahnung
ßert, nämlich wie zu einem artigen volkstümlichen Brauch: "Der Tod, so und daß das ganze Geschehen, bis zum Ende, nach einem vom Sterbenden
poetisch, weil er an Dinge der Unsterblichkeit rührt, so rätselhaft aufgrund selbst entworfenen Zeitplan ablief. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts kol-
seines Schweigens, konnte über hundert Arten, sich anzukündigen, gebie- portierte man Berichte wie diesen: "lhr Tod [Madame de Rhert] ist nicht
ren«, aber - wie er ausdrücklich hinzuf ügt - " t' ür das V olk " ; oaiver ließ sich weniger erstaunlich als ihr Leben. Sic selbst hat ihr Leichenbegräbnis vor-
nicht eingestehen, daß die gebildeten Klassen die Vorzeichen des nahen To- bereiten, ihr Haus in Schwarz hüllen und im voraus Messen für die Ruhe
des eben nicht mehr wahrzunehmen imstande waren. Zt Beginn des 19. ihrer Seele lesen lassen fwir werden im vierten Kapitel sehen, daß diese Art
Jahrhunderts glaubten sie nämlich nicht mehr wirklich an Dinge, die sie für von Frömmigkeit sehr verbreitet war] und ihre Angelegenheiten geordnet
bloß pittoresk, ja für faszinierend zu halten begannen. Für Chateaubriand - und dies alles, ohne daß ihr das Geringste fehlte. Als sie schließlich alle
sind die "hundert Arten, sich anzukündigen«, allesamt wundersam: "Bald norwendigen Anordnungen getroffen hatte, um ihrem Gatten alle Besorg-
ließ sich ein nahe bevorstehender Tod aus dem Läuten einer Glocke er- nisse zu ersparen, mit denen er ohne diese ihre Voraussicht belastet gewesen
schließen, die von selbst anschlug, bald hörte der vom Tode Gezeichnete ware, starb sie am Tag und zur Stunde, die sie bezeicbrss ba16s." (17)
drei dumpfe Schläge an die Wand seines Zimmers." Natürlich verfügten nicht alle über eine derartige Voraussicht, aber je-

16 l7
dermann wußte wenigstens, wann es ans Sterben ging, und ohne Zweifel mit dem Tod und den Mythen des volkes. Auf seinem Sterbelager, in einem
hat dieses spontane Erkennen sprichwörtliche Formen angenommen, die Provinzbahnhof, seufzte er: »[Jpd die Muschiks? 1ü[ie sterben denn die
sich von Jahrhundert zu Jahrhundert weitervererbten. "§gln Ende nahe Muschiks?" (13) Nun, die Muschiks starben wie Roland, die junge Beses_
fühlend", heißt es noch vom Landmann La Fontaines. sene von Spoleto oder der Sakristan von Narbonne: sie wullten es.
Sicher wollten manche diese Zeichen, diese Fingerzeige nicht wahrha- ln DreiTode (! ringt ein alter Postkutscher, in der Küche einer Her_
ben: berge, neben dem großen Kachelofen, mit dem Tode. In einem Zimmer ne_
benan ergeht es der Frau eines reichen Geschä{tsmannes nicht anders.
Que oous Arcs pressante, O diesse cruelle!
Vährend der nahe Tod der reiche' Kranken aber, aus Angst, sie zu er_
Moralisten und Satiriker bemühten sich, die Phantasten lächerlich zu schrecken, zunächst verheimlicht, dann jedoch nach romanrischer Manier
machen, die glaubten, die Gewißheit des nahen Todes in den lVind schlagen als großes Schauspiel inszeniert wird, hat der postkutscher in der Küche
und die natürliche Ordnung hintergehen zu können. Sie wurden im 17. und sofort verstanden, worum es geht. Einer gutherzigen Frau, die ihn freund-
18. Jahrhundert allerdings immer häufiger, und wenn man La Fontaine lich fragt, wie es um ihn stehe, antwortet er: ,Der Tod ist da, das isr es«,
Glauben schenken darf, rekrutierten sich diese Scharlatane vor allem aus und niemand versucht, ihn zu täuschen.
den Kreisen der Alten. Nicht anders bei einer alten französischen Bäuerin, der Mutter von pou-
get, dessen Biographie Jean Guitton aufgezeichnet hat: ,Im Alter von vier_
Le plus semblable aux morts meurt le plus ä regret. undsiebzig Jahren bekam sie eine colerine [Halsgeschwulst]. Nach vier Ta-
gen: ,Geht und holt mir den Herrn pfarrer.. Der pfarrer kam und wollte
Die Gesellschaft des 17. Jahrhunderts ging mit diesen Greisen (von fünf-
ihr die Letzte olung geben. ,Noch nicht, Herr pfarrer, ich werde sie be-
zig Jahrenl) nicht zimperlich um und verspottete schonungslos eine An-
nachrichtigen' wenn es soweit ist.. und zwei rage später: ,Geht und sagt
klammerung ans Leben, die uns heute nur allzu verständlich erscheint:
dem Herrn Pfarrer, er soll mir die Letzte ölung bringen!."
La mort dpdit rdison. l...) Ein Onkel desselben Pouget ist sechsundneunzig Jahre alt. ,[,1 war raub
Allons, 'uieillard, et sans rePlique. und blind, fortwährend betete er. Eines Vormittags sagre er: ,Ich weiß
nicht, was mir fehlt, ich fühle mich hinfällig wie nie zuvor, hoh mir doch
Sich den Vorankündigungen des Todes verweigern, heißt sich der Lä- den Pfarrer.. Der Pfarrer kam und versorgte ihn mit den sterbesakramen-
cherlichkeit aussetzen: Sogar der verstiegene Don Quichote, in Wirklich- ten. Eine stunde später war er tot.« (r5) Und Jean Guitton kommenriert:
keit weniger närrisch als die Greise La Fontaines, versuchte in den Träu- "Man sieht, wie die Pougets in diesen alten Zeiten [1g24!] aus dieser in die
men, in denen er sein Leben verzehrte, durchaus nicht, dem Tode zu andere §ü'elt hinübergingen, als praktische und ein{ache Leute, als Beob-
entfliehen. Im Gegenteil, die Vorzeichen des Todes bringen ihn zur Ver- achter der Zeichen [Hervorhebung ph. A.], und zwar zunächst an sich
nunft: "Liebe Nichte", sagt er sehr einsichtig, "ich fühle mich dem Tode selbst' Sie hatten es mit dem sterben nicht eilig, aber wenn sie ihre Stunde
nahe." (12) nahen fühlten, starben sie, nicht zu früh und nicht zu spät, ganz wie es sich
Daß der Tod sich ankündigt, dieser die Jahrhunderte überdauernde gehörte, als Christen.o Aber auch andere, Nicht-Christen, starben ebenso
Glaube hat sich in den volkstümlichen Mentalitäten lange erhalten. Tolstoi einfach.
gebührt das Verdienst, ihn wiederentdeckt zu haben, vertraut wie er war

Mors repentina
Que oous äres . .. \(/ie aufdringlich Ihr seid, grausame Göttin! (La Fontaine, Fables cboisies,
mises en oers,Ylll, I . Hier und im folgenden wird die Übersetzung von Ernst Dohm, München Damit der Tod sich auf diese veise ankündigen konnte, durfte er nicht
1978, zitiert.)
Le plus semblable... Am wenigsten gern stirbt, wer schon dem Tode angehört. (Ebenda.) plötzlich eintreten, als mors repentina. rwenn er sich nämrich nicht im vor-
La mort dpait raison . .. Der Tod hatt' recht. [. . .] Drum fort jetzt, Alter, ohne '§0immern! aus bemerkbar machte, hörte er auf, zwar furchtbare, aber doch wohl oder
(Ebenda.) übel erwartete und willig hingenommene Notwendigkeit zu sein. Er
setzte

18
19
dann die Ordnung der \I(/elt, an die jedermann glaubte, außer Kraft, absur- zen, gerade wegen des Zweifels, in dem man sich über seine Todesursache
des Instrument eines zuweilen als Zorn Gottes sich verkleidenden ZuIalls. befindet." (16) In der Tat: ,Der Gerechte ist erlöst, wann immer er auch
Ebendeshalb wurde die mors repentina als schimpflich und beschämend das Leben lassen muß.. Und doch ist Durandus versucht, dieser grundsätz-
aufgefaßt. lichen Aussage zum Trotz, sich der herrschenden Meinung zu beugen.
Als Gaheris, vergiftet von einer Frucht, die Königin Gueniövre (Ginevra) ,§flenn jemand plötzlich stirbt, der eines der üblichen Spiele wie Ball oder
ihm in aller Unschuld anbietet, hinscheidet, wird er "mit allen Ehren be- Kugel gespielt hat, so kann er auf dem Friedhoi bestattet werden, weil er
stattet, wie es einem solchen Edelmann gebührtu. Sein Angedenken aber niemandem übeltun wollte." Er kann: also nur ein Ermessensspielraum,
wird mit einem Bann belegt. "König Artus und alle Angehörigen seines und manche Kirchenrechtler machten denn auch Einschränkungen: "Veil
Ho{staates hatten so viel Kummer von einem so hrifilicben und gemeinen er mit den Zerstreuungen dieser Velt befaßt war, sagen einige, daß er ohne
Tod, daß sie untereinander kaum darüber sprachen." Wenn man sich die Gesang von Psalmen und ohne die anderen Bestattungszeremonien beige-
stürmische Heftigkeit der Trauerbekundungen der Zeir bewußt hält, er- setzt werden soll.o
tiüenn man andererseits angesichts des Todes eines ehrbaren Spielers auch
mißt man die Bedeutung dieses Schweigens, das von heute sein könnte. In
dieser mit dem Tode so vertrauten §üelt war der plötzliche Tod häßlich und Bedenken äußern kann, so ist kein Zweifel mehr am Platze beim Tode eines
gemein; er flößte Angst ein - ein fremdartiges und schreckliches Phänomen, Menschen durch Hexerei. Das Opfer kann nicht von Schuld freigesprochen
über das man nicht zu sprechen wagte. werden, es ist zwangsläufig entweiht durch die "Niedrigkeit" seines Todes.
Heute, da wir den Tod aus dem Alltagsleben verbannt haben, wären wir Gulielmus Durandus stellt ihn einem Menschen gleich, der bei einem Ehe-
umgekehrt angesichts eines unerwarteten und absurden tödlichen Unfalls bruch, bei einem Diebstahl oder einem heidnischen Spiel vom Tode ereilt
wohl eher bewegt und würden die sonst gültigen Verbote aus diesem unge- wird, d. h. bei allen Spielen mit Ausnahme des ritterlichen Turniers (nicht
wöhnlichen Anlaß vielleicht aufheben. Der häßliche und gemeine Tod ist alle kanonischen Texte behandeln das Ritterturnier allerdings mit derselben
im Mittelalter nicht nur der plötzliche und absurde Tod wie der von Ga- Nachsicht [17]). \trflenn die volkstümliche Verdammung, die die Opler eines
heris, sondern auch der heimliche Tod ohne Zeugen oder Zeremonien, der Mordes traf , ihnen auch nicht mehr die christliche Bestattung verweigerte,
Tod des Reisenden unterwegs, des im Fluß Ertrunkenen, des Unbekannten, erlegte sie ihnen zuweilen doch die Zahlung einer Art Buße auf : Die Er-
dessen Leichnam am Feldrain aufgefunden wird, oder sogar der des zufällig mordeten waren Gezüchtigte. Ein Kanoniker, L. Thomassin, schreibt in ei-
vom Blitz getroffenen Nachbarn. Es verschlägt wenig, daß er schuldlos nem Bericht aus dem Jahre 1710, daß bei den Erzpriestern von Ungarn im
war: sein plötzlicher Tod belastet ihn mit einem Fluch. Das ist eine sehr 13. Jahrhundert der Brauch gegolten habe, ,einen Geldbetrag auf alle die
alte Vorstellung. Vergil läßt im erbärmlichsten Vinkel der Unterwelt die zu erheben, die unglücklicherweise ermordet oder getötet worden waren,
Unschuldigen hausen, ,die man auf falsche Anklag'dem Tod in die Hände durch Schwert, Gift oder ähnliche Mittel, bevor man ihnen die Erdbestat-
gelieferr" und die wir, als Moderne, rehabilitieren würden. Sie teilen das tung freigab*. Und er fügte hinzu, daß es im Jahre 1279 eines Konzils in
Schicksal der "Schatten weinender Kinder: Die, an der Schwelle des süßen Buda bedurft habe, um der ungarischen Geistlichkeit verständiich zu ma-
Lebens, verstorben sind, die der Tod der säugenden Brust der Mutter ent- chen, ,daß dieser Brauch sich nicht auch auf die erstrecken durfte, die zu-
riß". Freilich bemühte sich das Christentum, den alten Glauben zu be- f ällig bei Unfällen, Feuersbrünsten, Einsturz von Gebäuden oder ähnlichen

kämpfen, der den plötzlichen Tod mit Ehrlosigkeit brandmarkte, aber mit Mißgeschicken zu Tode gekommen waren, sondern daß man ihnen eine
Zurückhaltung und Kleinmut. Im 13. Jahrhundert bringt der Liturgist Gu- kirchliche Bestattung zuteilwerden lassen sollte, vorausgesetzt daß sie vor
lielmus Durandus, Bischof von Mende, diese Verlegenheit zum Ausdruck. ihrem Tode Zeichen von Bußfertigkeit zu erkennen gegeben hatten". Und
Er meint, daß der plötzliche Tod nicht bedeutet, "aus irgendeiner offen- Thomassin kommentiert, als Mensch des 18. Jahrhunderts, Bräuche, die in
kundigen Ursache gestorben zu sein, sondern einzig nach dem unergründ- seinen Augen fraglos verblüffend waren, folgendermaßen: ,Man muß an-
lichen Ratschlusse Gottes.. Der Tote darf also nicht als Verdammter gelten. nehmen, daß dieses Konzil sich damit zufriedengab, sich der fortschreiten-
Er muß christlich bestattet werden, aus Mangel an Beweisen: ,Wo man ei- den Ausbreitung dieser Erpressung zu widersetzen, weil es sie doch nicht
nen toten Menschen findet, soll man ihn ins Leichentuch hüllen und beiset- mehr vollständig ausrotten zu können glaubte.. Das volkstümliche Vorur-

20 21
teil bestand zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch immer fort: In den Toten- Blut die Fliesen des Tempels Gottes beschmutzt." Die Messen und das Li-
gebeten für Heinrich IV. fühlten sich die Prediger verpflichtet, den König bera wurdenalso in Abwesenheit der sterblichen Hülle des Verschiedenen
angesichts der schimpflichen Umstände seines Todes unter dem Messer sei- gesprochen.
nes Mörders Frangois Ravaillac zu rechtfertigen.
A fortiori schambesetzt war der Tod der Verurteilten: Bis zum 14. Jahr-
hundert verweigerte man ihnen sogar die li(iederaufnahme in den Schoß der Der außergewöhnliche Tod des Heiligen
Kirche; sie mußten Verfluchte in der anderen §(elt ebenso bleiben wie in
dieser. Den Bettelmönchen gelang es schließlich - mit Unterstützung des Der derart angekündigte Tod wird nicht als Seelenheil aufgefaßt, wie es
Jahrhunderte einer christlichen Literatur glaubhaft zu machen suchten,
von
Papsttums -, von den weltlichen Mächten das Recht zugesprochen zu be-
kommen, den zum Tode Verurteilten bei der Hinrichtung beizustehen: den Kirchenvätern bis zu den gottesfürchtigen Humanisten: Der gewöhn-
Immer begleitete einer von ihnen die Opfer zum Schafott. liche und ideale Tod des Mittelalters ist kein im spezifischen Sinne christli-
Dagegen erstreckte sich in einer auf ritterliche und militärische Leitbilder cher Tod. Seit nämlich der auferstandene Christus über den Tod trium-
gegründeten Gesellschaft der Argwohn, der den plötzlichen Tod begleitete, phiert hat, ist der Tod in dieser liüelt der wirkliche Tod, und der physische
nicht auch auf die heldenmütigen Opfer kriegerischer Auseinandersetzun- Tod bedeutet Zrgangzum ewigen Leben. Deshalb ist der Christ verpflich-
gen. Zunächst ließ die Agonie des inmitten seiner Gefährten im Einzel- tet, sich freudig den Tod zu wünschen, als eine Art lViedergeburt.
kampf gefallenen Ritters ihm noch Zeit, die üblichen, wenn auch verkürz- M edia oita in morte sumus (Mitten wir im Leben sind von dem Tod um-

ten Zeremonien abzuhalten. Schließlich wurde der Tod Rolands, der Tod fangen), schreibt Notker im 9. Jahrhundert. Und wenn er hrnzufögr: Ama'
des Ritters überhaupt, von den Geistlichen ebenso wie von den Laien als rae morti ne tradas n os (dem bittern Tode überlaß' uns nicht), so ist der
der Tod des Heiligen aufgefaßt. Dennoch wird bei den Liturgisten des 13. bittere Tod der Tod in Sünde und nicht der physische Tod des Sünders.
Jahrhunderts eine andersartige Einstellung sichtbar, die einem neuen, rit-
Diese frommen Gefühle sind der weltlichen Literatur des Mittelalters
terlichen Leitbildern durchaus fernstehenden Ideal von Frieden und Ord- zweifellos nicht völlig fremd, und wir begegnen ihnen auch in den Romans
nung entspricht. Sie haben bestimmte Todesfälle von Rittern ienen bearg- de la Table ronde,bei König M6haign6, dem die Ölung mit dem Blut des
wöhnten Todesarten des alten Volksglaubens gleichgestellt. Für sie ist der Grals ,Seh- und Körperkraft. und das Heil der Seele zugleich wiedergibt'
Tod des kriegerischen Helden nicht mehr Vorbild des heilsamen Todes - ,Der alte König richtete sich im Bette au{, Schultern und Brust nackt bis
oder doch nur unter ganz bestimmten Bedingungen. "Der Friedhof und die zum Nabel, und streckte die Arme gen Himmel: 'Lieber' guter Herr Jesus
Totenmesseo, schreibt Gulielmus Durandus, ,werden ohne Vorbehalt dem Christus., sagte er, , jetzt [da ich Vergebung der Sünden und das Abendmahl
Verteidiger des Rechts und dem Krieger zugebilligt, der in einem Krieg erhalten habe] flehe ich Dich an, mich heimsuchen zu kommen, denn ich
[älk, dessen Grilnde gerecht u)aren. " Diese Einschränkung ist sehr schwer- könnte nicht in größerer Glückseligkeit hinscheiden als gerade ietzt; ich bin
wiegend und hätte weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen können, nur noch Rosen und Lilien [gemäß der alten Vorstellung, daß der Körper
wenn in den zur selben Zeit entstehenden Staaten die Soldaten der weltli- des Heiligen den Verunstaltungen der Verwesung nicht anheimiällt].' Er
chen Kriege nicht sogleich an dem von Durandus den Kreuzzügen vorbe- nahm Galaad in seine Arme, umschlang ihn, drückte ihn an seine Brust, und
haltenen Privileg partizipiert hätten - und zwar dank der beständigen Bei- im selben Augenblick tat Unser Herr kund, daß er sein Gebet erhört habe,
hilfe der Kirche -, bis hin zum Ersten Veltkrieg. denn seine Seele verließ den Leib."
tifleiter: Am selben Tage, da Galaad (18) die Vision des Grals hatte,
Aufgrund ebendieser Abneigung der Kleriker gegen den plötzlichen Tod "be-
beschwor Gulielmus Durandus - trotz der fortschreitenden Entwicklung gann er zu zittern, und die Arme gen Himmel streckend, sprach er: ,Herr,
einer eher moralischen und vernünftigeren Mentalität - gleichwohl noch inständig danke ich Dir, daß Du mir meinen §(iunsch erfüllt hast! Ich sehe
immer die alten Glaubensvorstellungen der Verunreinigung heiliger Stätten hier Anfang und Ursache der Dinge. Und jetzt flehe ich Dich an, mir zu
durch die Säfte des menschlichen Körpers, durch Blut oder Samen: "Man erlauben, aus diesem irdischen Leben ins himmlische hinüberzugehen..
trägt die, die getötet worden sind, nicht in die Kirche, aus Angst, daß ihr Demütig emp{ing er das corpus Domini. [...] Dann küßte er Perceval und

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sprach zu Bohan: ,Bohan, grüßt mir Ritter Lancelot, meinen Vater, wenn tot hinstürzt, als sie von seinem grausamen Ende erfährt, noch an seine leib-
Ihr ihn seht.. §(/onach er wieder an der Silbertafel niederkniete, und bald lichen Eltern. Man vergleiche diese letzten Eindrücke des mittelalterlichen
darauf verließ seine Seele den Leib." Ritters mit denen von Soldaten der großen Kriege unserer Zeit, die ge-
Das ist der singuläre und außergewöhnliche Tod eines Mystikers, den das wöhnlich nach der Mutter riefen, bevor sie den Geist aufgaben. Roland da-
nahende Ende mit "himmlischer" Freude erfüllt. Es ist nicht der weltliche gegen hält noch an der Schwelle des Todes das Andenken an Güter, die er
Tod der geste oder des roman, nicht der gewöhnliche Tod. besessen, Länder, die er erobert hat und wie lebende lVesen betrauert, an
die Gefährten, die Männer seiner Familie und den Herrn fest, der ihn erzo-
gen und dem er gedient hat. "Er kann sich der Tränen und Seufzer nicht
Auf dem Sterbebett: Die vertrauten Todesrituale erwehren." Nach diesem seinem Herrn sehnt sich auch Turpin:
"Mein ei-
gener Tod bedrängt mich hart. Ich werde den gewaitigen Kaiser nie mehr
Der Sterbende, der sein Ende nahen fühlte, traf seine Verfügungen. In einer sehen." Die Romans de la Table ronde gönnen Frau und Kindern mehr
so vom Wunderbaren geprägten lVelt wie der der Romans de la Table ronde Raum; die Eltern jedoch werden immer ausgespart. König Bans Herz
war der Tod selbst eine ganz ein{ache Sache. Als Lancelot, verwundet und "pochte so stark beim Gedanken an seine Frau und seinen Sohn, daß die
im wüsten Wald verirrt, gewahr wird, "daß alle Kraft seinen Körper verlas- Augen ihm feucht wurden, die Pulse schlugen und das Herz in der Brust
sgn hxs", 5ieht er ein, daß es ans Sterben geht; er legt seine \ü/affen ab, streckt ihm brach".
sich ruhig auf dem Boden aus, die Arme auf der Brust gekreuzt, und schickt Schon diese fltichtige Schilderung erlaubt es, in der mittelalterlichen Ab-
sich an zu beten. König Artus liegt wie tot da, die Arme auf der Brust ver- schiedsklage die Vieldeutigkeit eines volkstümlichen und traditionellen
schränkt. Dennoch hat er noch so viel Kraft, seinen Mundschenken "so Todesgefühls zu erfassen, das alsbald in der gebildeten Schriftkultur Aus-
stark an seine Brust zu drücken, daß er ihm arg zusetzte, ohne es zu merken, druck gefunde n hat: contemptus m undi der mittelalterlichen Spiritualität,
und ihm brach das Herz". Der Tod entgeht dieser sentimentalen Hyperbel: sokratische \(eltabwendung oder stoische Verhärtung der Renaissance.
Immer wird er mit Ausdrücken beschrieben, deren Einfachheit einen Ge- Zweifellos läßt sich der Sterbende vom Rückblick auf das Leben, die be-
gensatz zur empfindsamen Gefühlsintensität des Kontextes bildet. Als sessenen Güter und die geliebten Wesen rühren. Aber seine schmerzliche
Isolde bei Tristan anlangt und ihn tot vorfindet, streckt sie sich in seiner Abschiedsklage überschreitet nie eine bestimmte Intensitär, die im Ver-
Nähe aus und wendet sich gen Osten. Der Erzbischof Turpin erwartet sei- gleich zur üblichen Pathetik der Epoche sehr gering ist. So wird es noch
nen Tod: ,Mitten auf der Brust hat er seine schönen weißen Hände ge- in anderen Zeiten sein, die sich - wie das Barock - ebenfalls überschweng-
kreuzt." (19) Das ist die gewöhnliche Stellung der Ruhenden: Der Ster- Iich auszudrücken liebten.
bende soll, gemdß Gulielmus Durandus, auf dem Rücken liegen, damit sein Der bedauernde Rückblick auf das Leben geht also ohne Viderspruch
Gesicht dem Himmel zugekehrt ist. Auch für den ins Grab Gebetteten ist mit der schlichten Hinnahme des nahen Todes einher. Er steht mit der To-
für lange Zeit diese Orientierung nach Osten, nach Jerusalem, verbindlich desvertrautheit in engem Zusammenhang, in einem Verhältnis, das über die
gewesen. "Man soll den Toten derart betten, daß sein Kopf nach \Westen Zeiten hin konstant bleibt.
und seine Füße gen Osten weisen." (20) Auch Achilles verweigert sich dem Tode nicht, aber sein Schatten murrr
noch in der Unterwelt: jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller
So hergerichtet, kann der Sterbende den letzten Akten des vorgeschrie- "Preise mir
benen Zeremoniells Genüge tun. Es beginnt mit dem traurigen, aber zu- Odysseus./ Lieber möcht' ich {ürwahr dem unbegüterten Meier,/ Der nur
rückhaltenden Gedenken an geliebte Dinge und W'esen, mit dem auf wenige kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun,/ Als die ganze Schar ver-
entscheidende Bilder reduzierten kurzen Abriß des Lebens. Roland "be- moderter Toter beherrschen.o
gann sich an mancherlei Dinge zu erinnern". Zunächst »an manche Länder, Auch die Anklammerung an ein erbärmliches Leben steht der Vertraut-
die der Held erobert hatte, an das holde Frankreich, an die Männer seiner heit mit einem immer nahen Tod nicht im Vege: "Der du in Mühe und
Familie, an Karl den Großen, seinen Herrn, der ihn erzog, seinen Meister Plage all deine Zeit zu Ende lebrest, sterben mußt du, das ist gewiß", sagt
und seine Gefährten.. Kein Gedanke an Aude, seine Braut, die gleichwohl der Tod zum Tagelöhner des Totentanzes im 15. Jahrhundert.

24 25
La mort est souhaitöe souaent, Mes chers ent'ants, dx-il, je vais oi sont nos pöres,
Mais aolontiers je La t'uisse: Adieu, promettez-moi de viztre comme frires. [...)
fut pluie ou vent,
J'aimasse rnieux, Il prend ä tous les mains. Il meurt.
Ere e, oigne oi je fouisse.
Er stirbt wie der Ritter der cbanson, wie noch jene Bauern im tiefsten
Aber dieses Bedauern gibt ihm keine Geste des Aufruhrs ein. So der Rußland starben, von denen Solschenizyn spricht:
"Aber jetzt [...] erin_
Holzfäller bei La Fontaine: nerte er sich daran, wie diese Alten, ob Russen, Tartaren oder votjaken,
daheim an der Kama gestorben waren. Sie hatten sich nicht aufgebäumt, ge_
Il appelle la mort, elle vient sans tarder... wehrt, geprahlt, daß sie niemals srerben würden - sie alle hatten dem Tode
ruhig lHervorhebung von solschenizyn] entgegengesehen. Aber nicht nur,
Aber doch nur, um ihm beim Aufladen seiner Holzfuhre zu helfen. Der daß sie sich nicht wehrten, sie bereiteten sich in aller stille und beizeiten
Unglückliche, der auf den Tod vor, bestimmten, wer die Stute, wer das Fohlen bekommen
sollte' und gingen dann, solcherart erleichtert, unbeschwert hinüber, so als
AppeLait tous les jours würden sie nur in eine andere Hütte übersiedeln." (21)
La mort ä son secours, Der Tod des mittelalterlichen Ritters isr kaum weniger einfach. Der
Edelmann ist tapfer, kämpft als Held, mir herkulischer §tärke, und voll-
weist ihn zurück, als er dann tatsächlich kommt: bringt unglaubliche §(a{fentaten; seinem Tod selbst aber haftet nichts
Heroisches oder Außergewöhnliches an: er hat die Banalität des Todes von
N'approche pas, O mort! O mort! retire-toi. jedermann.
Deshalb fährt, nach dem klagenden Rückblick auf das Leben, der ster-
Entweder "Der Tod heilt alle Erdennor" oder ,Besser Not als Tod" - bende des Mittelalters mit der Erfüllung der gebräuchlichen Rituale fort:
zwei Formeln, die in Virklichkeit eher komplementär als gegensätzlich er bittet seine Gefährten um verzeihung, nimmt Abschied von ihnen und
sind, zwei Aspekte ein und desselben Gefühls: eins nicht ohne das andere. empfiehlt sie Gott. Olivier bittet Roland um Vergebung f ür den Hieb, den
Die Abschiedsklage nimmt der willigen Hinnahme des Todes das, was sie er ihm versehentlich zugefügt hat: ,,[nd ich verzeihe es Euch hier und vor
in der Gelehrtenmoral an Erkünsteltem und rhetorischem Schwulst hat. Gott.. Bei diesen \(orten verneigten sie sich voreinander.o
Der Bauer La Fontaines möchte sich dem Zrgri{f des Todes wohl entzie- Yvain (Iwein) r'erzeiht seinem Mörder Gauvain, der ihn verletzr hat,
hen, und weil er ein alter Narr ist, versucht er sogar, mit ihm zu feilschen; ohne ihn zu erkennen:
sobald er aber begreift, daß sein Ende wirklich nahe und keine Täuschung "Lieber Herr, es ist der ville Gottes und der Lohn
für meine sünden, daß Ihr mich hingestreckt habt, und ich vergebe Euch
mehr möglich ist, wechselt er die Rolle, hört er auf, den Lebenshungrigen von ganzem Herzen.o
zu spielen, wie man es um des Lebens willen zu tun harre, und stellt sich Gauvain, der seinerseits von Lancelot in ehrlichem Kampf getöret wird,
kurzerhand auf die Seite des Todes. Umstandslos schlüpft er in die klassi- verlangt vor seinem Tod von König Artus: ,Lieber Onkel, ich scheide da_
sche Rolle des Sterbenden: Er versammelt seine Kinder um sein Bett, um hin, vermeldet ihm [nämlich Lancelot], daß ich ihn grüße und ihn bitte,
ihnen letzte Anweisungen zu geben und letzte Grüße auszuteilen, wie es mein Grab aufzusuchen, wenn ich verschieden bin." (22)
alle Alten getan haben, die er hat sterben sehen: Dann empfiehlt der Sterbende Gott seine Angehörigen und die, die ihm
teuer sind.
La mort est souhaitie souvent. .. Der Tod wird oft herbeigewünscht,/ Ich aber fliehe ihn "Gott segne Karl und das holde Frankreich", 11.5, olivier, ,und
gern:/ Lieber wäre ich, 6ei Regen oder Vind,/ Im \§(einberg, den ich umgraben würde.
vor allen anderen meinen Gefährten Roland.. König Ban vertraut Gotr
Il appeLle... Er ruft den Tod herbei; der ist auch gleich zur Stell'. I, 16.
Appellan. . . Not ein arme r Mann/ Den Tod als Retter an. l,
Stets rief in seiner 15. Mescherenfants... Kinder,sagter,ichgeh,zumeinenVäterneben;/Fahrtwohl!Versprecht
N'approche pas... Komm näher nicht, o Todl O Tod, entferne dich. Ebenda. mir nur, als Brüder sters zu leben./ [. . .] Er faßt sie bei der Hand und srirbt. IV, I 8.

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seine Gattin Helene an: "Gebt Rat der Ratlosen.o V ar nicht das schlimmste laßt in mir nicht die Seele verloren gehen, die Ihr mir gegeben habt, steht
Unglück, ohne Rat dazustehen, das traurigste Los, allein zu sein? "riüolltet mir bei.o
Ihr Euch doch, o Herr, meines schwachen Sohnes erinnern, der so jung ln den Romans de la Table ronde sind die die Hinterbliebenen und die
\Waise wird, denn Ihr allein vermögt die zu erhalten, die ohne Vater Grabwahl betreffenden Verfügungen entschieden genauer gefaßt als in der
sind." Cbanson de Roland. Umgekehrt werden die Gebete seltener im vollen
'§üortlaut
Im Sagenkreis um König Artus tritt sogar schon in Erscheinung, was wiedergegeben. Man begnügt sich mit Hinweisen wie: Er beich-
später zu einem der Hauptmotive des Testamentes werden sollte: die Vahl tete seine Sünden einem Mönch, er empfing das corpus Cbristi. Zwei Leer-
des Grabes. Sie war für Roland und seine Gefährten noch fast ohne Bedeu- stellen fallen zwangsläufig auf : Es ist nie die Rede von der Letzten Olung,
tung. Gauvain aber wendet sich an den König: "Herr, ich ersuche Euch, die den Geistlichen vorbehalten bleibr, und es wird keine besondere Anru-
mich in der Kirche Saint-Etienne zu Camaalot beisetzen zu lassen, nahe fung an die Jungfrau Maria gerichtet. Das vollständ ige Aae M aria existierte
meinen Brüdern [...] und auf die Grahplatte schreiben zu lassen [...]." noch nicht (einem Mönch von Saint-Germain-l'Auxerrois aber, den Raoul
"Lieber, guter Herr«, fleht vor ihrem Tode die Jungfrau, die nie gelogen Glaber kannte, erschien die Jungfrau als Beschützerin vor den Gefahren der
hat, "ich bitte Euch, meinen Leib nicht in diesem Lande beisetzen zu lassen. " Reise).
Deshalb bestattet man sie in einem Nachen ohne Segel noch Ä.uder. Die Handlungen, die vom Sterbenden vollzogen werden, nachdem sein
nahes Ende sich ihm angekündigt hat
- er ruht mit dem Gesicht zum Him-
Nach seinem Abschied von der tVelt empfiehlt der Sterbende Gott seine mel, gen Osten gewendet, die Hände auf der Brust verschränkt -, haben
Seele. In der Chanson de Rohnd setzt sich das ausführlich kommentierte einen zeremoniellen, rituellen Charakrer. Es lassen sich darin noch mündli-
Schlußgebet aus zwei Teilen zusammen. Der erste Teil ist das Schuldbe- che Elemente dessen ausmachen, was später zum mittelalterlichen, von der
kenntnis : "Gott, erbarme Dich ! Vor Dir habe ich gesündigt mit großen und Kirche als Sakrament eingef ührten Tesramenr werden sollte: das Glaubens-
kleine Sünden, die ich begangen habe seit der Stunde meiner Geburt bis zu bekenntnis, die Beichte der Sünden, die Bitte um Verzeihung für die Hin-
diesem Tage, wo mich mein Ende erreicht.. (Roland) ,Er bekennt seine terbliebenen, die frommen Verfügungen zu ihren Gunsten, die Empfehlung
Sünden, blickt in die Höhe, streckt seine gefalteten Hände zum Himmel der eigenen Seele an Gott, die §(ahl des Grabes. Man hat den Eindruck,
empor und bittet Gott, daß er ihm das Paradies verleihe. Turpin ist tot, der als ob das Testament die Verfügungen und Gebete schriftlich aufzeichnen
Krieger Karls." "Beide Hände ge{altet zum Himmel erhoben, bekennt Oli- und verbindlich machen sollte, die die Dichter der Heldenepen der Sponta-
vier laut seine Sünden und bittet Gott, daß er ihm das Paradies schenke." neität der Sterbenden anheimstellten.
Das ist die Gebärde der Bußfertigen, der Edelleute, denen Turpin die kol-
lektive Absolution erteilt: "Bekennet Eure Sünden." Nach dem letzten Gebet bleibt nurmehr das Harren auf den Tod, und der
Den zweiten Teil des Schlußgebetes bildet die commendacio animae hat denn auch jetzt keinen Grund mehr, lange zu zögern. Man nahm jedoch
(Empfehlung der Seele), ein sehr altes Gebet des Urchristentums, das die an, daß menschliche Villenskraft manchmal imstande sei, ihm noch einige
Jahrhunderte überdauert und seinen Namen dem Gesamtkomplex von Ge- Augenblicke abzugewinnen.
beten gegeben hat, die seit dem 18. Jahrhundert unter dem Oberbegriff re- So hat Tristan ausgeharrt, um Isolde Zett fir ihre rechtzeitige Ankunft
commendaces, der Fürbitten, zusammengefaßt werden. In verkürzter zu verschaffen. Als er endlich einsehen muß, daß die Hoffnung vergeblich
Form wird es bereits von Roland gebraucht: " Wahrer Gott, der Du niemals ist, läßt er sich gehen:
"Ich kann mein Leben nicht länger festhalten.«
plsi-
gelogen hast, Du hast Lazarus vom Tode erweckt und Daniel von den Lö- mal spricht er: Geliebte Isolde. Beim vierten Mal gibt er den Geist auf.
wen gerettet. Rette auch meine Seele wegen der Sünden, die ich in meinem Kaum hat Olivier sein Gebet beendet, da setzt sein Herz aus, ,ds1 Hsl,
Leben beging." Als König Ban sich an Gott wendet, ist sein Gebet wie eine sinkt ihm vornüber, und sein ganzer Körper streckt sich auf dem Boden
liturgische Fürbitte aufgebaut: "Ich danke Euch, lieber Vater, daß es Euch aus. Der Graf ist tot, er weilt nicht mehr unter uns. « (23).Wenn es aber vor-
gefällt, mich dürftig und notleidend sterben zu lassen, denn auch Ihr habt kommt, daß der Tod auf sich warten läßt, so sieht ihm der Sterbende
unter Armut gelitten. Ihr, FIerr, der Ihr mit Eurem Blut mich erlöst habt, schweigend entgegen, er kommuniziert nicht mehr mit der \W'elt. ,Er

28 29
spricht [seine letzten Gebete, seine letzten Fürbitten] und gibt fürderhin
Historische Uberbleibsel:
kein Vort mehr von sich."
England im 20. Jahrhundert

Diese einfache und öffentliche Art und lVeise des Hinscheidens, nachdem
Die Offendichkeit man Abschied von seinen Lieben genommen hatte, ist in unserer Epoche
zwar aullergewöhnlich geworden, aber doch nicht völlig verschwunden. Zu
Die vertraute Einfachheit ist einer der beiden unabdingbaren Wesenszüge
des rituellen Todes. Der andere ist seine offentlichkeit, die sich bis
zum meiner Überraschung habe ich sie in der Literatur der Mitte des 20. Jahr-
Ende des 19. Jahrhunderts erhalten wird. Der Sterbende muß den Mittel- hunderts wiedergefunden, und zwar nicht im fernen und noch frommen
punkt einer Versammlung bilden. Mme' de Montespan hat weniger Angst Rußland, sondern in England. In ihrem Buch über die Psychologie der
iu ,trrbrn, als allein zu sterben. ,Sie schlief., nach dem Bericht Saint-Si- Trauerarbeit berichtet Lily Pincus zunächst über den Tod ihres Gatten und
mons, ,bei geöffneten Vorhängen und bei zahlreichen Kerzen in ihrem ihrer Schwiegermutter. Fritz hatte Krebs in einem bereits fortgeschrittenen
Zimmer, mit ihren wärterinnen um sich, die sie, wann immer sie erwachte, Stadium. Er war sich nach der Untersuchung sofort darüber im klaren. Er
plaudernd, scherzend oder essend vor{inden wollte, um sie gegen das Ein- verweigerte die Operation und die großen heroischen Heilungsveranstal-
schlafen zu versichern." Als sie aber, am 27'Mai des Jahres 1707, fühlte' tungen. Deshalb durfte er auch zu Hause bleiben. ,,Ich machte damals",
daß es ans Sterben ging (die Todesahnung)' hatte sie keine Angst mehr'
tat schreibt seine Frau, ,die wunderbare Erfahrung, daß ein Leben durch die
sie,was sie zu tun hatte: ihre Dienerschaft hinunter zum Geringsten" willige Annahme des Todes verlängert werden kann."
"bis
zusammenzurufen, sie um Verzeihung zu bitten, ihre Sünden zu bekennen Er stand im Alter zwischen sechzig und siebzig Jahren. "Als die letzte
und - wie es der Brauch war - die Zeremonie ihres Todes zu lenken. Nacht anbrach [die Ahnung], vergewisserte er sich, daß ich mir dessen
Die Arzte und Hygieniker vom Ende des 18. Jahrhunderts, die an den ebenso bewußt war wie er, und als ich ihm diese Sicherheit geben konnte,
sagte er mit einem Lächeln: ,Nun, dann ist alles gut.. Er starb einige Stunden
Erhebungen von vicq d'Azyr und der Acad'mie de m6decine teilnahmen,
später in tiefstem Frieden. Die Nachtschwester, die ihn zusammen mit mir
b.g"n.,.n üb.r die sich in den Sterbezimmern drängenden Menschenmen-
g.i X.l.g. zu führen. Allerdings ohne großen Erfolg, denn noch zu Beginn betreute, hatte glücklicherweise gerade das Zimmer verlassen [...], so daß
ich mit Fritz während dieser seiner letzten Stunde allein sein konnte, etwas,
äes tg.lahrhu.,derts konnte ieder, sogar ein der Familie Unbekannter,
wenn das Viatikum zu einem Kranken Eetragen wurde, sich dem Priester wofür ich immer dankbar sein werde.o
auf der Straße anschließen und das Haus und das zimmer des sterbenden Freilich läßt dieser "vollkommene Tod" ein romantisches Gefühl, eine
romantische Sensibilität erkennen, die zum Ausdruck zu bringen ,tor dem
betreten. So geht die fromme Mme. de La Ferronays in den Jahren um 1830
der 19. Jahrhundert durchaus unüblich war.
in Bad Ischl Jpari...n, als sie Glockengeläut hört und erfährt, daß nach
Priester zu bringen' den sie Umgekehrt steht der Tod der Mutter von Fritz dem alten und traditio-
Monstranz g".,rfen wird' um sie einem iungen
nicht gewagt, ihn zu besuchen, weil sie seine Be- nellen Leitbild näher. Eine alte Dame aus viktorianischem Milieu, aber-
krank weiß. Sie hat bisher
gläubisch und konformistisch, ein wenig frivol, unfähig, irgend etwas al-
kanntschaft noch nicht gemacht hat, aber das viatikum "läßt mich auf ganz
natürliche Werie [Hervorhebung Ph. A.] be i ihm Zutritt finden' Ich knie'
leine zustande zu bringen - und dann plötzlich ein Magenkrebs, eine
wie alle anderen, u.rt., d.- Torbogen nieder, als die Priester vorbeigehen, Krankheit, die ihr Situationen aufnötigte, die für ieden anderen peinlich-
demütigend gewesen wären - sie verlor ;egliche Kontrolle über ihren Kör-
dann gehe auch ich hinauf und werde Zeuge, wie er das Viatikum und
die
per -, ohne daß sie jedoch aufgehört hätte, etne perfect lady zu sein. Sie
Letzte Olung entgegennimmt." (24)
schien sich nicht darüber klarwerden zu können, was mit ihr geschah. Ihr
Man starb imm., off.ntli.h. Daher die Vucht der Prophezeiung Pascals'
To- Sohn machte sich Sorgen und fragte sich. wie sie, die sich der geringsten
daß man atlein sterben werde; denn man war dam als im Augenblick des
Satz Pascals zur Banalität Schwierigkeit des Alltagslebens nicht gewachsen zeigte, sich wohl ange-
des im physischen Sine nie allein. Heute ist dieser
sichts des Todes verhalten würde. Er täuschte sich. Die unfähige alte Dame
,..bl"lit,i.n., man hat in der Tat die denkbar größten Aussichten, in der
wußte ihren eigenen Tod sehr wohl in die Hand zu nehmen.
Einsamkeit eines Krankenhauszimmers zu sterben'

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sie einen schwächeanfall und Mentalität seiner Zeit bewußt war. Umgekehrt sehen Bellessort und sein
,An ihrem siebzigsten Geburtstag erlitt
Schüler, ihrer Bildung und ihrem guten Villen zum Trotz, darin nichts als
war einige Stunden lang bewußtlos. Nach dem Erwachen bat sie, man möge
pompöse Banalität. An dieser Verständnislosigkeit, die ihrerseits bereits
sie im Bett aufrichten, und dann verlangte sie, mit dem liebenswürdigsten
wieder älteren Datums ist, läßt sich die Differenz zwischen zwei Einstel-
Lächeln, mit glänzenden Augen, nach allen Bewohnern des Hauses. Sie
'weise, als ob sie auf eine lungen zum Tode ermessen. Als im Tristan-Epos Rohalt die Königin Blan-
nahm Abschied von iedem, auf ganz individuelle
Dankbarkeit für die Freunde, die chefleur über den Verlust ihres Herrn tröstet, sagt er: "Müssen nicht alle,
lange Reise ginge, und gab Zeichen der
Besonders ge- die geboren werden, auch sterben? Gott möge die Toten zu sich nehmen
Angehörige., und alle, die sich mit ihr beschäftigt hatten.
und die Lebenden schützen!" (27)
drÄt. ,i" der Kinder, die sich um sie gekümmert hatten' Nach diesem
Im spanischen Rornancero des Grafen Alarcos - historisch also bereits
Empfang, der länger als eine Stunde dauerte, blieben Fritz und ich an ihrer
später - spricht die von ihrem Gatten zu Unrecht zur Todesstrafe verur-
s.it", si, sie sich a,r.h ,on uns mir großer Bewegung verabschiedete und teilte Gräfin die §ü'orte und Gebete, die auf den Tod vorbereiten. Aber nach
sagte:,Jetzt laßt mich schlafen!. "
",qb.. der Abschiedsklage - "Ich traure um meine Kinder, die meiner Obhut ver-
.i,,.., im 20. Jahrhundert kann ein Sterbender nicht mehr sicher lustig gehen" - wiederholt sie die Formel: "Ich beklage meinen Tod nicht,
sein, daß man ihn auch wirklich schlafen läßt. Eine halbe Stunde später
da ich ja docb sterben mullte." (28)
kommt der Arzt, läßt sich Bericht ersrarten, beklagt sich über die Passivität
Im selben Romancero ruft der zu Tode verwundete Durandal: "Ich
der umgebung und schenkt den Erklärungen von Fritz und seiner Frau
sterbe in diesem Kampfe. Ich bedaure es nicht, den Tod vor mir zu sehen
drrchaui kein Gehör, daß nämlich die alte Dame bereits Lebewohl gesagt
sie in Ruhe lasse.
'§(ütend stürzt er ins Zimmer, fwohlgemerkt: da wir ja doch sterben müssen], wenn er mich auch zu früh
und verlangt habe, daß man
holt. Ich bedaure aber..." (es folgt die Abschiedsklage).
eine spritze in der Hand, beugt sich über die Kranke, um ihr eine Injektion
LJnserer Zeit näherstehend, zieht Tolstoi, in seiner 1 887 veröffentlichten
,u g.L.n, als sie, nur scheinbar bewußtlos, 'die Augen öffnete und, mit Erzählung DerTod des lvan Iljitsch, die alte Formel der russischen Bauern
de-selbe., freundlichen Lächeln, mit dem sie uns Lebewohl gesagt hatte'
erneut ans Licht, um sie den moderneren Einstellungen, wie sie dann von
ihm die Arme um den Hals legte und ihm zuflüsterte: 'Danke, Herr Dok-
den gehobeneren Schichten übernommen wurden, entgegenzusetzen.
tor!, Der Arzt brach in Tränen aus - keine Rede mehr von einer spritze. Ivan Iljitsch ist schwer erkrankt. Plötzlich wird ihm bewußt, daß ihm
Er ging als Freund und verbündeter, und seine Patientin schlief weiter ei-
wahrscheinlich der Tod bevorsteht; aber seine Frau, sein Arzt und seine
nen Schla{, aus dem sie nicht mehr erwachts'" (25)
Familie verschwören sich heimlich, ihn über die Schwere seines Zustandes
im unklaren zu lassen, und behandeln ihn wie ein Kind. "Einzig Gerassim
log niemals." Gerassim ist ein junger Bedienter der, vom Lande stammend,
Rußland im 19. und 20. Jahrhundert
den volkstümlichen und bäuerlichen Ursprüngen noch nahesteht. "Er al-
lein - das war aus allem ersichtlich - hatte begriffen, um was es sich han-
Die ö{fentliche vertrautheit mit dem Tode kommt in einer sprichwortähn-
delte, und er hielt es auch nicht für nötig, es zu verbergen, sondern er hatte
lichen Formel zum Ausdruck, auf die wir bereits gestoßen sind, und zwar
ganz einfach Mitleid mit seinem abgezehrten schwachen Herrn." Er scheut
in der Heiligen Schrift. In seinen Jugenderinnerungen kolportiert P.-H. Si-
sich nicht, dieses Mitleid zu zeigen, indem er ihm umstandslos die widrig-
mon (26) ein Sprichwort von Bellessort - oder was Bellessort für ein peinlichen Dienste erweist, deren Schwerkranke nun einmal bedürfen. Ei-
Sprichwort hieli: ,Ich sehe uns noch heute, in der hypohhägne ld,,s erste nes Tages beharrt Ivan, gerührt von seiner Ergebenheit, darauf, daß er ein
der beiden vorbereitungsjahre für dre Ecole Normale Supirieuref des wenig ausruht, und schickt ihn fort, damit er auf andere Gedanken kommt.
Gymnasiums Louis-le-Grand, unseren Bossuet lesen: ,§ü'ir sterben alle,
Da antwortet ihm Gerassim, wie Rohalt der Königin Blanchefleur geant-
,rgt. j..,. Frau, deren Weisheit Salomo im Buch der Könige lobt'' Schwei- wortet har: "Alle werden wir sterben. 'Warum sich nicht ein bißchen Mühe
g*a ti.ft er seine schwere Hand aufs Pult sinken und kommentierte: ,sie geben?" Und Tolstoi fährt fort: "Das sagte er und drückte damit wohl aus,
f,atte kluge Einfälle, diese Frau..o Der Text macht deutlich, daß Bossuet
daß die Mühe ihm darum nicht lästig fiele, weil er dies alles da für einen
sich noch des Gewichtes und der Bedeutung ds5 "\Xrir sterben alle" für die

33
32
I
Sterbenden täte und hofftc, daß einst, wenn ihm sein Stündlein schlüge, je- 1
Die Toten schlafen
mand ihm ein gleiches erweisen würde.. (29)
Rußland muß gleichsam eir.r Hort unverbrüchlicher historischer Treue Deshalb wurde der übergang vom Leben zum Tod, nach einer Formulie-
sein, denn die sprichwörtliche Formel kel.rrt in einer schönen Erzählung rung von Jank6l6vitch, nicht als
"radikaler Umschlag" empfunden. Er war
von Isaak Babel aus dem Jahre 1931 wieder. In einem jüdischen Dorf in auch nicht die gewaltsame überschreitung, als die ihn Georges Bataille je-
der Nähe von Cdessa feiert man, während der ,Butterwoche", sechs ner anderen überschreitung, dem Geschlechtsakt annäherte. Die Vorstel-
Hochzeiten zur gleichen Zeit, ein einziges großes Fest mit Gastmahl, Ge- lung einer absoluten Negativität, eines Bruches angesichts eines Abgrundes
.§(itwe,
sang und Tanz. Eine Dirne, tanzt,t^nzr. hingegeben und
Gapa, halb ohne Erinnerung gab es nicht. Ebensowenig empfand man Schwindel und
selbstvergessen, die Haare entflochten, und skandiert den Rhythmus mit existentielle Angst; genauer: nichts davon ging in die geläufigen Stereoty-
Stockschlägen an die Scheunenwand: ",Wir alle sind sterblich,, flüsterte pien des Todes ein. Umgekehrt glaubte man nicht an ein Nachleben, das
Gapa und schwang den Knüppel." Später dann tritt sie bei Iwaschko ein, einfach die Fortsetzung des Lebens auf Erden gewesen wäre. Bemerkens-
dem Kreisbevollmächtigten für die Zwangskollektivierung der bäuerlichen wert ist, daß der lerzte, so schwere Abschied von Roland und Olivier nicht
Betriebe: einem schwerfälligen, gewissenhaften Menschen. Vielleicht die geringste Anspielung auf ein §(iedersehen im Himmel enthält; war der
würde er sich ver{ühren lassen; aber sie merkt sofort, daß das vergebliche Trauerüberschwang einmal vorbei, war der andere schnell vergessen. Der
Mühe wäre. Bevor sie geht, fragt sie ihn, au{ ihre landläufig-sprichwortar- Tod war ein über-Gan g, inter-itus. Besser als jeder Historiker hat der phi-
tige li(eise, warum er denn immer so ernst sei: "\(arum fürchtest du dich losoph Jank6l6vitch diesen lVesenszug erfaßt, der seinen eigenen Intentio-
vorm Tode ? Wann hat es das je gegeben, dafi ein Bauer sicb gegen den Tod nen so entgegengesetzr ist: Der Hinscheidende gleitet in eine §flelt hinüber,
sträubte?" (30) die, wie er sagt, "sich von der hiesigen nur durch ihren sehr kleinen Expo-
Im ungezügelten Kode der Jüdin Gapa ist das "§(ir alle sind sterblich" nenten unterscheidet".
entweder Ausdruck und Ausruf der Lebensireude im Taumel des Tanzes Virklich verlassen Olivier und Roland einander, wie wenn sie jeder einen
und der großen Gelage oder Zeichen von Indifferenz gegenüber dem Mor- langen, endlosen Schlaf vor sich hätten. Man glaubte tatsächlich, daß die
gen, eines Lebens-in-den-Tag-hinein. Umgekehrt bezeichnet im selben Toten schliefen. Dieser Glaube ist alt und beständig. Schon in der Unter-
Kode die Angst vor dem Tode den Geist der planenden Voraussicht, der welt Homers, im Hades, ruhen die Verschiedenen, oein erloschenes Heeru,
Organisation, eine vernunft- und willensbestimmte Auffassung der '§(elt: ,fühllose Geister verblichener Menschenwesen., und ,schlafen im Tode".
die Moderne. Die Unterwelt Vergils ist noch ein "ftgigh der Schatten., ,Stätte der
Dank seiner Vertrautheit wird das Bild des Todes in einer volkstümlichen schlummernden Nacht und des Schlafes" - ein Ort, wo, wie im christlichen
Sprache zum Symbol des elementaren und naiven Lebens.. I)aradies, die Seligsten der Schatten wohnen und das Licht purpurfarben ist,
"DerTodn, schreibt Pascal, "ist, wenn man nicht an ihn denkt, leichter d. h. Dämmerung herrscht. (31)
zu ertragen, als der Gedanke an den Tod, wenn man gar nicht in Gefahr Am Tage der feralia, dem Toten-Gedenktag, opferten die Römer nach
ist.o Es gibt zwei Arten, nicht an den Tod zu denken: die unsere, die unserer Ovid der Tacita, der srummen Göttin, einen Fisch mit vernähtem Maul -
technizistischen Zivilisation, die den Tod verbannt und mit einem Verbot eine Anspielung auf das Schweigen, das bei den Manen herrscht, locus ille
belegt; und die der traditionellen Gesellschaften, die nicht Verweigerung silentiis aptus (iener dem Schweigen geweihte Ort [32]). Er war auch der
ist, sondern die Unmöglicbkeit, ihn mit Nachdruck zu bedenleen, weil er Tag der Grabopfer, denn die Toten erwachten zu besrimmten Zeiten und
ganz nahe und vertrauter Bestandteil des Alltagslebens ist. an bestimmten Orten aus ihrem Schlaf wie die schwankenden Bilder eines
Traumes und konnten die Lebenden aufstören-
Allerdings hat es den Anschein, daß die bleichen Scharten des paganis-
mus doch nachgerade lebhaft-reger agieren als die christlichen Schlafenden
der ersten Jahrhunderte. Gewiß, auch sie können unsichtbar unrer den Le-
benden umherirren und bekanntlich sogar denen, die ihrem baldigen Tode

34 35
entgegensehen im Traum erscheinen. Aber das Urchristentum hat die hyp- grüßten einander wie Roland und Olivier, bevor sie in den Tod hinüber-
notische Fühllosigkeit der Toten eher übertrieben, bis zur Bewußtlosigkeit, schliefen.) Tatsächlich hatten sie aber mehrere Jahrhunderte lang geschla-
zweifellos deshalb, weil der Schlaf nur die Erwartung eines glückseligen fen, ohne sich dessen bewußt zu sein, und einer unter ihnen, der in die Stadt
Erwachens am Tage der Au{erstehung des Fleisches war. (33) hinausging, erkannte nichts vom Ephesus seiner Zeit wieder. Der Kaiser,
Der Heilige Paulus lehrt die Gläubigen in Korinth, daß der tote Christus die Bischöfe und die von diesem \Wunder in Kenntnis gesetzre Geistlichkeit
auferstanden ist; ,darnach ist er gesehen worden von mehr denn fünfhun- versammelten sich mit der Menge im Umkreis der Grabgrotte, um die sie-
dert Brüdern auf einmal, deren noch viele leben, etliche aber sind entschla- ben Schläfer zu sehen und zu hören. Einer unter ihnen, der erleuchtete Ma-
fgn" (quidam autem dormierunt). ximianus, setzte dem Kaiser den Grund ihrer Auferstehung auseinander:
Der Heilige Stephanus, der erste Mirtyrer, stirbt gesteinigt. Die Apo- "Du sollst wissen, daß der Herr uns um deinetwillen auferweckt hat vor
stelgeschichte sagt: »obdormioit in Dornino" (er entschlief im Herrn), In dem Tage der großen Auferstehung, [...] denn siehe, wir sind wahrlich auf-
den Inschriften liest man neben dem bic jacet, dem man sehr viel später in erstanden und leben, und uie das Kind im M utterleib keinen Scbaden spürt
der französischen Form des ci-git wiederbegegnet, sehr häufig auch: hier und lebt, so lagen auch uir und lebten und schliefen, und spürten nichts."
schläft, hier ruht, hic pausat, hic requiescit, hic dormit, requiescit in isro Nachdem er diese W'orte gesprochen hatte, neigten die sieben Männer die
tumulo. Die Heilige Radegundis verlangt, daß ihr Körper bestattet werde Häupter zur Erde, entschliefen und gaben ihren Geist au{ nach Gottes Vil-
"in basilica ubi etiam multae sorores nostrde cond.itae sunt, in requie siae len. (35)
perfecta siae impert'ecta" (in der Basilika, wo schcn viele unserer Schwe- Läßt sich der Zustand der Schlafähnlichkeit, in den die Toten verfielen,
stern beigesetzt sind, in vollkommener oder unvollkommener Ruhe [34]). besser beschreiben?
Die Ruhe konnte also bereits im voraus gestört sein: requies sive pert'ecta \Wir werden (im fünften Kapitel) sehen, daß dieses Bild sich über
Jahr-
sive imperfecta. hunderte der Verdrängung seitens der litterati erhalten hat: es taucht erneut
Die mittelalterlichen gallikanischen Liturgien, die in karolingischer Zeit in der Liturgie und in der Grabkunst auf. Auch in den Testamenten fehlt
durch die römische ersetzt werden, zitieren die nomina pdusantit4m (Na- es nicht. Ein Pfarrer in Paris stellt noch im Jahre 1559 der umbrae mortis
men der Ruhenden), fordern zum Gebet aü pro spiritibus pausantium (fir die placidam ac quietam mansionem (den sanften und ruhigen Aufenthalt
die Seelen der Ruhenden). Die im Mittelalter den Kierikern vorbehaltene dem Schatten des Todes [36]) gegenüber. Und bis heute werden die Gebete
Letzte Olung heißr dormentium exercitiun (Sterbesakrament der Schla- für die Toten fiJrr die Ruhe ihrer Seelen gesprochen. Die Ruhe ist das zu-
fenden). gleich älteste, volkstümlichste und dauerhafteste Bild des Jenseits. Es ist so-
Kein Dokument erhellt diesen Glauben an den Schlaf der Toten besser gar heute noch nicht verschwunden, trotz der Konkurrenz anderer Typen
als die Legende von den sieben schlafenden Ephesern. Sie war derart ver- von bildlichen Repräsentanzen.
breitet, daß man ihr bei Gregor von Tours, bei Paulus Diaconus und noch
im 13. Jahrhundert bei Jacobus de Voragine wiederbegegnet: Die Leich-
name der sieben Märtyrer, Opfer der Christenverfolgung des Decius, sind Im Blumengarten
in einer zugemauerten Grotte verwahrt. Der volkstümlichen Version zu-
folge ruhten sie dort 377 Jahre; Jacobus de Voragine aber, der seine Chro- \Uenn die Toten schliefen, so in einem schönen Blumengarten. "Gott der
nologie kennt, macht darauf aufmerksam, daß sie bei genauer Überprüfung Glorreiche möge eure Seelen zu sich nehmen und im Paradies auf heilige
nicht mehr als 196 Jahre geschlafen haben können! Wie dem auch sei: Im Blumen betten", fleht Turpin angesichts der im Kampf gefallenen Edel-
Zeitaker des Theodosius verbreitete sich eine häretische Irrlehre, die die leute. Ebenso bittet Roland, daß "Gott euren Seelen [...] das Paradies
Auferstehung der Toten verneinte. Um die Häretiker in Verwirrung zu (schenke), und zwischen heiligen Blumen lasse er sie ruhen.. Diese beiden
stürzen, habe Gott beschlossen, die sieben Märtyrer auferstehen zu lassen, Verse enthalten die doppelte Repräsentanz des auf den Tod folgenden Zu-
d. h. er habe sie erweckt: "Die Heiligen erwachten, grüßten einander und standes: Ruhe oder fühlloser Schlaf, auf heiligen Blumen oder im Blumen-
meinten nicht anders, denn daß sie nur über Nacht geschlafen hätten." (Sie garten. Das Paradies von Turpin und Roland (oder wenigstens dieses ihr

36 37
'Winterstarreu
Bild vom Paradies, denn es gab noch andere) unterscheidet sich auf den er- dieser \Welt den " Lichtglanz", den "strahlenden Sommern im
sten Blick nicht sehr von "der Auen und Haine ewig leuchtendem Grün", Paradiese gegenüber. Die Verbindung von Frische und \7ärme - ebenso die
den "lachenden Fluren" des Vergilschen Elysiums, auch nicht vom Lust- von Schatten und Licht - beschwor für den mittelalterlichen Nordfranzo-
garten, wie ihn der Koran seinen Gläubigen verheißt. sen ebenso wie für den Orientalen das Glück des Sommers und des Paradie-
Demgegenüber gab es im homerischen Hades weder Garten noch Blu- ses.

men. Der Hades (wenigstens der des el{ten Gesanges der Odyssee) kennt Das Paradies hat aufgehört, frischer Blumengarten zu sein, als ein
"ge-
auch die schrecklichen Martern nicht, die später, in der Aeneis, die Flölle läutertes" Christentum diese materiellen Bildvorstellungen geächtet und sie
der Christen vorausnehmen. Die Distanz zwischen den unterirdischen als abergläubisch hingestellt hat. Sie haben dann Zuflucht gefunden bei den
rVelten von Homer und Vergil ist größer als die zwischen Vergil und den amerikanischen Farbigen: Die davon beeinflußten Filme zeigen den Him-
ältesten Darstellungen des christlichen Jenseits. Dante und das Mittelalter mel als grüne Veide oder als weißes Schneefeld.
haben sich in dieser Hinsicht nicht getäuscht. Das Wort refrigerium hat noch eine andere Bedeutung. Es bezeichnete
lm Credo oder im alten römischen Kanon bezeichnet die Hölle die tradi- das Gedächtnismahl, das die ersten Christen an den Gräbern ihrer Märtyrer

tionelle Bleibe der Toten, Raum des Harrens eher als der Marter. Die Ge- einnahmen, und die Opfergaben, die sie ihnen weihten. So brachte die
rechten oder Erlösten des Alten Testaments warten dort darauf , daß Chri- Heilige Monika »gemäß afrikanischem Brauch zu den Gräbern der Märty-
stus sie nach seinem Tode zu befreien oder zu erwecken kommt. Später erst, rer Hirsebrei, Brot und Vein" mit. Diese von heidnischen Bräuchen beein-
als die Vorstellung des Gerichts sich durchsetzt, wird die Hölle für einen {lußten Opferhandlungen wurden vom Heiligen Ambrosius untersagt und
ganzen Kulturkreis, was sie vordem nur in vereinzelten Fällen war, Reich durch eucharistische Gottesdienste erserzr. Sie haben sich im Christentum
Satans und ewige Bleibe der Verdammten. (37) byzantinischen Ursprungs erhalten, und Spuren davon lassen sich noch
Das Euchologium des Serapion, ein griechisch-ägyptischer Text aus der heute in unserer Folklore finden. Merkwürdig ist, daß ein und dasselbe
Mitte des 4. Jahrhunderts, enthält die folgende Totenfürbitte: "Gib Ruhe Vort die Wohnstatt der Seligen und die ihren Gräbern dargebrachte rituelle
seinem Geist an einem grünenden und stillen Orte." Mahlzeit bezeichnete.
ln den Acta Pauli et Tbeclae wird der Himmel, "wo die Gerechten woh- Die Haltung des liegend bei Tische tafelnden conaiaus ist auch die, die
die Vulgata dem Seligen beilegt:
nen", beschrieben als "Ort der Erfrischung, der Sättigung und der Freude". "Dico autem aobis quod mubi ab oriente
(38) Es ist das ret'rigerium. Ret'rigerium oder ret'rigere werden anstelle des tt occidentc aenient et recumbent cum Abraham et Isaac et Jacob in regno
requies oder des requiescere benutzt. ,Refrigeres nos qui omnia potes!o toelorwm [Aber ich sage euch: Viele werden kommen vom Morgen und
(Erfrische uns, der Du alles vermagst), sagt eine Inschrift in Marseille, die vonr Abend und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen;
vom Ende des 2. Jahrhunderts stammt. Matth. VIII, 111."
In der Vulgata nennt das Buch Dle \kisheit Salomos das Paradies re/ri- Die Bezeichnungen für das Paradies haben also drei Bedeutungsdimen-
gerium 1 oJustus, si morte preoccupatus t'uerit, in ret'rigerio erir " (Aber der sionen: die des blühenden Gartens, die des Totenopfers und die des escha-
Gerechte, ob er gleich zu zeitlich stirbt, ist er doch in der Ruhe; [IV,7]). Das tologischen Festmahls.
rVort erhält sich in seiner ursprünglichen Bedeutung im alten Kanon unse- Aber die mittelalterliche Ikonographie hat für diese Symbole wenig Nei-
rer römischen Messe, im Metnento der Toten: in locum refrigerii, lucis et gung gezeigt. Seit dem 12. Jahrhundert zieht sie ihnen den Thron oder den
pacis (zur Stätte des Paradieses, des Lichtes und des Friedens). Die franzö- Schoß Abrahams vor. Der Thron sramnlr zweifellos aus der orientalischen
sischen Versionen haben das Bild getilgt, weil, den Ubersetzern zufolge, llilderwelt, ist jedoch an einen feudalen Königshof transponiert. Inr Para-
wir Nordländer von der Frische nicht das gleiche sinnliche Behagen erwar- dies von Roland sind die Toten "Sirzende". Der Schoß Abrahams ist häufi-
teten wie die Orientalen oder mediterranen Südländer! Ich räume ein, daß ger. Zuweilen schmückte er clie Außenfassaden von Kirchen, die auf den
in den heutigen urbanen Gesellschaften dem Sonnenschein der Vorzug vor Irriedhof hinausführten. Die dort bestatteten Toten werden eines Tages ge-
der Schattenkühle gegeben wird. Aber bereits zu Zeiten des Heiligen Lud- rviegt wie die Kinder auf den Knien Abrahams. Mehr noch, Autoren wie
wig stellte ein frommer Klausner in der Picardie dem "dunklen Tal, der Honorius von Autun sehen im Friedhof ad sanctos den Schoß der Kirche,

38 39
dem die Leiber der Menschen anvertraut werden bis zum Letzten Tage und macht hatte. Bourget kommt ins Gefängnis und findet den Gefangenen da-
der sie wie Abraham trägt. bei, seine Henkersmahlzeit einzunehmen. "Jch war ganz Auge für diesen
Das Biid des Blumengartens ist, wenn es auch selten vorkommt, doch Banditen, der den Tod vor Augen sah, den ich sein Leben mit verbissener
nicht ganz unbekannt; es taucht gelegent.lich auf einem Gemälde der Re- Hartnäckigkeit verteidigen sehen hatte und der jetzt den gebratenen Fisch
naissancezeit auf, wo die Seligen paarweise spazierengehen, im kühlen seiner Henkersmahlzeit mit derart offensichtlichem Genuß verspeisre.«
Schatten eines wunderbaren Obstgartens. Gleichwohl bleibt richtig, daß Man verabfolgt dem Verurteilten schließlich die
"Hinrichtungstracht", ein
das verbreitetste und beständigste Bild des Paradieses das den Ruhenden neues Hemd. Er "erzitterte mit leichtem Schauder bei der Berührung des
der Grabkunst ist, des requiescens. (38) frischen Gewebes. Dieses Zeichen nervöser Reizbarkeit verlieh dem Mut,
den dieser sechsundzwanzigjährige Bursche angesichts der Vorbereitungen
entwickelte, noch größere Bedeutung.o Sein früherer Herr, Mr" Scotr, bitter
Die Fügung ins Unvermeidliche darum, einige Augenblicke mit ihm allein bleiben zu dürfen, und zwar um
ihn aufden Tod vorzubereiten und die Rolle des Beichtvaters zu überneh-
Die Praxis juristischer Verfahren und Dokumente vom Ende des 17. Jahr- men wie der Bettelmönch des 17. Jahrhunderts. Sie knien nieder und beten
hunderts macht die Mischung von Fühllosigkeit, Resignation, Vertrautheit gemeinsam das Vaterunser, und Paul Bourget beschreibt die Szene folgen-
und Offendichkeit in den volkstümlichen Mentalitäten deutlich, die wir dermaßen:
"Der bloß physische und gleichsam tierische Mut [er verstehr
bisher anhand anderer Quellen analysiert haben. §(as Nicole Castan an- die unvordenklich alte Resignation angesichrs des Todes durchaus nicht],
hand von Strafprozeßakten des Stadtparlamentes von Toulouse über den den er an den Tag gelegt harre, als er mit derart genußvollem Appetit aß,
Tod geschrieben hat, läßt sich ebenso auf das Mittelalter wie auf das bäuer- veredelte sich plötzlich und umgab ihn mit einer geradezu idealischen
liche Rußland des 20. Jahrhunderts beziehen: "Der Mensch des 17. Jahr- Aura." Bourget erfaßt nicht, daß es keinen Unterschied zwischen den bei-
hunderts., sagte sie, nzeigt eine schwächere Sensibilität Ials die unsrige] und den von ihm als gegensätzlich empfundenen Verhaltensweisen gibt: er er-
stellt im Leiden Ider Tortur] und im Tode eine erstaunliche Resignation und §/artet die Broße sentimentale Szene oder Revolte, und was er konstatieren
Hartnäckigkeit unter Beweis. Es mag am Formalismus der Gerichtsproto- muß, ist Indifferenz: ,Ich dachte an die erstaunliche Gleichgültigkeit, mit
kolle liegen, aber nie gibt ein Verurteilter Zeichen einer besonderen An- der dieser Mulatte das Leben ließ, an dem er doch mit sinnlicher Energie
klammerung ans Leben zu erkennen, nie schreit einer eine §ü'eigerung zu hing. Ich sagte mir noch: Velche Ironie, daß einem Menschen dieser Rasse
sterben heraus." Dabei ist durchaus kein Mangei an Ausdrucksmitteln im [...] auf Anhieb gelingt, was die Philosophie als kostbarste Frucht ihres
Spiel: "Bemerkenswert ist, daß man die Fasz-ination von Geld und Reichtü- Nachdenkens auffaßt, die Fügung ins Unvermeidliche."
mern sehr wohl zum Ausdruck zu bringen verstand.o Aber trotz dieser un- Angesichts des Galgens läßt Seymour, der Verurteilte, die Zigarre fallen,
gestümen Liebe zu den Dingen des Lebens bezeugt der Verbrecher "im all- die er bisher im Mund gehalten hatte. ,Dieses plötzliche Erschrecken war
gemeinen eher Angst vorm Jenseits als Vertrauen in diese \Y/elt". das einzige Zeichen dafür, daß auch dieser Mensch eine Gemütsbewegung

"Der Sterbende vermittelt den Eindruck der Fügung ins Unvermeidli- beherrschen mußte. Er hatte sich aber bald wieder in der Gewalt
[ist das
che." (39) aber wirklich eine Form stoischer Selbstbeherrschung, wie der rVesteuro-
Es lohnt sich, die Beobachtungen von Nicole Castan über Foltern im päer der Jahrhundertwende sie sich ausmalt?], denn er erklomm die Holz-
Languedoc des 17. Jahrhunderts der Darstellung einer Exekution im ame- stufen, ohne daß seine nackten Füße zitterten. Sein Verhalten war so gefaßt,
rikanischen Süden des ausgehenden 19. Jahrhunderts gegenüberzustellen : so einfach, so vollkommen würdevoll, selbst in der Schande der Hinrich-
Paul Bourget berichtet in Outre-M er,wie er auf einer Reise in die Vereinig- tung, daß sich unter den rauhen Zuschauern tiefes Schweigen ausbreitete..
ten Staaten im Jahre 1890 zufätlig Zeuge einer solchen Hinrichtung wurde. Unmittelbar vor der Urteilsvollstreckung, als er das Gesicht bereits mit ei-
Ein junger Farbiger war zum Tode durch den Strang verurteilt worden. Er nem schwarzen Tuch verhüllt hat, läßt ihn Colonel Scott, immer noch in
war Diener eines alten Colonel aus dem Norden gewesenr Mr. Scott, der der Rolle des mönchischen Beichtvaters, einige fromme Beschwörungen
sich in Georgia niedergelassen hatte und dessen Bekanntschaft Bourget ge- nachsprechen: ,,,flgr1, gedenket meiner in Eurem Reich., wiederholte die

40 41
lispelnde Stimme des Mulatten; dann, nach einer Pau se ,l am allrigbt nou,, I
und, mit viel Gefaßtheit: ,Good bye, captain , . . good bye eoerybody. . - das
letzte Lebewohl. (40)
Bietet nicht den besten Kommentar zu dieser Szene die bereits zitierte
Formulierung von Nicole Castan: "Der Sterbende fVerurteilte] vermittelt
den Eindruck der Fügung ins Unvermeidliche"?

2. Ad sanctos; apud ecclesiam


Der gezähmte Tod
Im vorhergehenden Kapitel haben wir das jahrtausendelange überdauern
Von Homer bis Tolstoi der gleichen globalen Einstellung zum Tode wie- einer nahezu unveränderlichen Einstellung zum Tode konstatiert, die eine
derzubegegnen, bedeutet nicht, ihr eine strukturale Permanenz zuzu- naive und spontane Fügung ins Schicksal und in den \Villen der Natur zum
schreiben, die den im eigentlichen Sinne historischen Veränderungen fremd Ausdruck brachte. Dieser Einstellung zum Tode, diesem de morte, ent-
wäre. Viele andere Elemente haben diesen elementaren und unvordenklich spricht eine symmetrische Einstellung zu den Toten, ein de mortuis, das
alten Fundus überlagert. Er hat jedoch während nahezu zweier Jahrtau- dieselbe indifferente Vertrautheit in Hinsicht auf die Modalitäten der Grab-
sende allen Entwicklungsschüben widerstanden. In einer von Veränderung legung und die Grabstätten verrät. Diese Einstellung zu den Toten ist für
geprägten Velt wie der unseren bietet die traditionelle Einstellung zum eine historisch sehr genau eingrenzbare Periode bezeichnend: sie tritt, von
Tode den Eindruck eines §(alles von Trägheit und Kontinuität. der ihr vorausgehenden deutlich unterschieden, im 5. Iahrhundert n. Chr.
Unsere Alltagswirklichkeit hat diesen Vall inzwischen derart abgetra- in Erscheinung und vergeht mit dem Ende des 1 8. Jahrhunderts, ohne Spu-
gen, daß wir sogar Mühe haben, ihn uns auch nur vorzustellen und begreif- ren in unserer Alltagswirklichkeit zu hinterlassen. Der lange, aber genau
lich zu machen. Die alte Einstellung, für die der Tod nah und vertraut und umschriebene Zeitratm ihrer Geltung fällt also mit den Grenzdaten der
zugleich abgeschwächt und kaum fühlbar war, steht.in schroffem Gegen- weitläufigen Kontinuität des gezähmten Todes zusammen.
setzzrr unsrigen, für die er so angsteinflößend ist, daß wir ihn kaum beim Die Entwicklung dieser Einstellung setzt mit der wechselseitigen Annä-
Namen zu nennen wagen. herung von Lebenden und Toten ein, mit dem Eindringen der Friedhöfe
Aus diesem Grunde meinen wir, wenn wir diesen vertrauten Tod den ge- in die Städte und Dörfer, in die unmittelbare Nähe der liflohnstätten der
zähmten nennen, damit nicht, daß er früher wild war und inzwischen do- Menschen. Sie erlischt, als diese Promiskuität nicht mehr länger ertragen
mestiziert worden ist. §(ir wollen im Gegenteil sagen, daß er heute wild wird.
geworden ist, während er es vordem nicht war. Der älteste Tod war der ge-
zähmte. (41)
Der Schutz des Heiligen

Trotz,ihrer Vertrautheit mit dem Tode scheuten die Alten die Nachbar-
schaft der Toten und hielten sie abseits. Sie verehrten die Grabstätten, teil-
weise wohl deshalb, weil sie die \ü/iederkehr der Toten fürchteten, und der
Kult, den sie den Gräbern und den Manen stifteten, verfolgte das Ziel, die
Verstorbenen daran zu hindern, wiederzukehren und die Lebenden zu be-
lästigen. Die bestatteten oder eingeäscherten Toten waren unrein: in allzu
enger Nachbarschaft drohten sie die Lebenden zu besudeln. Die Bleibe der
einen mußte vom Lebensbereich der anderen geschieden sein, um jede Be-

42 43
rührung zu vermeiden, ausgenommen die Tage der Sühneopfer. Das war Christen jedoch bald versiegt, zunächst in Afrika, dann in Rom. Der lil(an-
eine absolut verbindliche Regel. Das Zwölftafelgesetz schrieb sie ausdrück- del ist bemerkenswerr: er bringt eine beträchtliche Differenz zwischen der
lich vor: "Kein Toter darf innerhalb der Stadt bestattet oder eingeäschert heidnischen und der neuen christlichen Einstellung zu den Toten zum Aus-
werden." Sie wird im theodosianischen Codex wiederaufgenommen, der drr.rck, der gemeinsamen Anerkennung des gezähmten Todes zum Trotz.
besagte, daß alle Grablegungen außerhalb von Konstantinopel stattzufin- Künftig - und für langeZeir, bis ins 18. Jahrhundert hinein - flößen die
den hätten: "Alle in Urnen oder Sarkophagen verwahrten Körper sollen Toten den Lebenden keine Angst mehr ein, und beide sollten fortan an den-
weggeschafft und außerhalb der Stadt beigesetzt werden." selben Orten, hinter gemeinsamen Mauern, zusammenwohnen.
Nach dem Kommentar des Rechtsgelehrten Paulus: "Kein Leichnam \üas ermöglichte diesen schnellen übergang vom
alten sfliderstreben zur
darf in der Stadt behalten werden, damit die sacra der Stadt nicht entweiht neuen Vertrautheit? Der Glaube an die Auferstehung des Fleisches, in Ver-
werden." Ne t'unestentur: vom Tode verunreinigt - das Vort bringt die bindung mit dem Kult der alten Märtyrer und ihrer Gräber.
Unduldsamkeit der Lebenden deutlich zum Ausdruck. Funestus, das durch Diese Entwicklung hätte jedoch auch anders verlaufen können: Manche
Bedeutungsabschwächung zum {ranzösis chen t'uneste Iunheilvoll] gewor- alten Christen legten dem Ort ihrer Bestattung nicht die geringste Bedeu-
den ist, meint ursprünglich durchaus keine beliebige Profanation, sondern tung bei, um den Bruch mit dem heidnischen Aberglauben und ihre Freude
die, die von einem Leichnam ausgeht. Es kommt von funus, das zugleich über die Heimkehr zu Gott um so deutlicher hervorzuheben. Sie verrraten
den toten Körper, das Leichenbegängnis und den Mord bezeichnet. (1) die Auffassung, daß der heidnische Grabkult in Viderspruch zum funda-
Deshalb lagen die Friedhö{e des Altertums auch außerhalb der Städte, an rnentalen Dogma der Auferstehung des Fleisches stehe. Der Heilige Igna-
den Rändern der Ausf allstraßen wie der Via Appia: auf Privatgrundstücken tius legte \üert darauf , daß die wilden Tiere von seinem Körper nichts übrig-
errichtete Familiengräber oder Gemeinschaftsgräber im Besitz und in der ließen. (5) Anachoreten aus der ägyptischen lWüste forderten, daß man ihre
Verwaltung von Funeralkollegien, die dem Urchristentum möglicherweise Leichname unbestartet lassen und sie der Gefräßigkeit von Hunden und
das gesetzliche Vorbild für seine Gemeinden geliefert haben. (2) §(ölfen preisgeben sollre - oder der Barmherzigkeit von Menschen, die
Die Christen haben sich anfangs den Bräuchen ihrer Zeit angepaßt und durch Zufall auf sie stießen. ,Ich fand., so einer dieser Mönche, ,eine
die geläufige Einstellung zu den Toten geteilt. Sie wurden zunächst auch Höhle, und bevor ich eindrang, klopfte ich dem Brauch der Brüder gemäß
in denselben Nekropolen bestattet wie die Heiden, dann jedoch abseits von an.« fi15 er ohne Antwort blieb, trat er ein und sah einen Bruder schweigend
ihnen in getrennten, immer aber außerhalb gelegenen Friedhöfen. clasitzen. "Ich reichte ihm die Hand, nahm seinen Arm, er zerfiel bei meiner
Noch der Heilige Johannes Chrysostomus empfand die Abneigung der Berührung zu Staub. Ich betastete seinen Körper und begriff, daß er tot
Alten vor der Nähe der Toten. Er ruft in einer Homilie den alten Brauch war. . . Also erhob ich mich, betete, bedeckte den Körper wieder mit seinem
in Erinnerung: ,Trage dafür Sorge, nie ein Grab in der Stadt anzulegen. Mantel, hob die Erde aus, bestarrete ihn und ging von dannen." (6)
'Wenn
man einen Leichnam da bettete, wo du schläfst und ißt, was würdest Jahrhunderte später machten Jean de Joinville und der Heilige Ludwig
du tun? Und gleichwohl bettest du die Toten lanimam mortuam) zwar lrei der Rückkehr vom Kreuzzug eine ähnliche Entdeckung auf der Insej
nicht da, wo du schläfst und ißt, aber in den Gliedern Christi [den Kir- l.ampedusa. Sie kamen durch eine verlassene Einsiedelei: ,Der König und
chen] . .. \üie kann man die Gotteshäuser besuchen, die heiligen Tempel, ich gingen bis ans Ende des Gartens und sahen unter dem ersten Gewölbe
wenn ein derart abstoßender Geruch darin herrscht!o (3) cin mit Kalk geweißtes Bethaus und ein Kreuz aus rotem Ton. rW'ir traten
Noch im Jahre 563 {inden sich Spuren dieser Geisteshaltung in einem tr.ter das zweite Gewölbe und {anden dort zwei menschliche Körper, deren
Kanon des Konzils von Braga, der jede Bestattung in den Basiliken der lrleisch ganz vermodert war, die Rippenbögen hielten noch zusammen, und
Heiligen Märtyrer untersagt: ,Man kann den Basiliken der Heiligen Mär- die Knochen der Hände waren über der Brust zusammengelegr; sie lagen
tyrer nicht dieses Privileg verweigern, das die Städte hartnäckig für sich al- nach Osten gewendet, in eben der'Veise, wie man Leichname in die Erde
lein in Anspruch nehmen, nämlich niemanden in ihrem Bannkreis bestatten bcttet." (7)
zu lassen." (4) Mit dieser Anspruchslosigkeit hätte man sich bescheiden k<innen, und
Dieses Viderstreben angesichts der Nähe der Toten ist bei den alten wirklich haben die östlichen Mönche, Erben jener Wüsteneremiten, ihren

44 45
sterblichen Resten gegenüber immer Gleichgültigkeit an den Tag gelegt. die Volksmeinung für sich zu gewinnen: dic hattc ein sehr lebhaftes Gef ühl
Die asketische Verachtung des lebenden wie des toten Körpers, wie sie von für die Einheit und Kontinuität des Seins und unterschied die Seele nicht
den Klostermönchen zur Schau getragen wurde, verbreitete sich jedoch vom Körper noch den glorreichen und unverweslichen vom fleischlichen
nicht in der gesamten christlichen Bevölkerung des Abendlandes. Dieses t.eib. Es ist mithin durchaus möglich, daß die Angst vor Grabschändung,
Abendland neigte dazu, den neuen Glauben an die Auferstehung des Flei- wie es Dom Leclercq im Artikel Ad sanctos des Dictionnaire d'archöologie
sches mit dem traditionellen Grabkult zu versöhnen. Diese Versöhnung chrötienne glaubhaft zu machen versucht, dem sich später allgemein ver-
trug iedoch nicht dazu bei, die aus der Antike ererbte Furcht vor den Toten breitenden Brauch zugrundegelegen hat, die Toten in der Nähe der Märty-
aufrechtzuerhalten, im Gegenteil: sie führte zu einer Verrraurheit, die eines rer-Gräber zu bestatten: die Märtyrer, die einzigen Heiligen (d. h. Gläubi-
Tages dann, im 18. Jahrhundert, an Gleichgültigkeit zu grenzen begann. gen), die sofort ihres Platzes im Himmel sicher waren, wachten über die
Die volkstümliche christliche Eschatologie hat eingesetzt mit der Anpas- l-eiber und bannten die Grabschänder.
sung an die alten tellurischen Glaubensvorstellungen. So waren viele Chri- Der Bestattun g ad sanctos, in größtmöglicher Nähe der Märtvrer, lag al-
sten überzeugt, daß am Jüngsten Tage nur die auferstehen würden, die ein ierdings noch ein anderes Motiv zugrunde. Sicher ist, daß sich die in den
angemessenes und unversehrtes Grab erhalten hatten: "Auferstehen wird crsten Jahrhunderten so lebhafte Angst vor Grabschändung sehr bald, und
nicht, wer unbestattet geblieben ist.n Die Angst davor, nicht auferstehen zwar seit dem Hochmittelalter, abschwächte. Sie hatte in Vahrheit auch
zu dürfen, brachte im christlichen Idiom die altüberkommene Angst, ohne kein ökonomisches Motiv mehr: Nichts zog die Grabräuber noch an Sar-
Grab zu sterben, zum Ausdruck. (8) kophagen an, die nichts Kostbares mehr bargen. Ebensowenig hatte sie
Tertullian zufolge verfügten allein die Märtyrer, vermöge ihres Blutop- noch ein spirituelles Motiv. Vorausgesetzr, daß die Toten im Schutz des
fers, über den ,einzigen Schlüssel zum Paradieso. verehrten Heiligen und im geweihten Bannkreis der Kirche verblieben,
"Niemand, dessen Seele
seinen Leib verläßt, erhält sofort die Vergünstigung, nahe dem Herrn zu hatterr die Veränderungen, die sie betreffen mochten, keine Bedeutung
wohnen..." (9) Die Toten erwarreten den Tag des Gerichm wie die schla- rnehr.'üie oft werden sie nicht von den Priestern selbst - und häufig ohne
fenden Epheser. Vie des Körpers und des Geistes, so auch des Gedächtnis- .rllzuviel Federlesens - ihres ursprünglichen Ruheplatzes, wenn man so sa-
ses beraubt, waren sie weder Freude noch Leid zu empfinden imstande. gen darf, beraubt, d. h. umgebetrer, wenn auch nicht profaniert worden
Erst am Jüngsten Tage gingen die "Heiligen., denen die ewigen Freuden sein, weil sie ja des Schutzes der Kirche nicht verlustig gingen!
verheißen waren, aus den "niederen Gefilden" (Tertullian) hervor, um ihre Das Hauptmotiv der Bestattung ad sanctos ist die Vergewisserung des
himmlischen \(ohnungen zu beziehen. Die anderen blieben ins Nichts ih- Schutzes des Märtyrers * nicht mehr nur für den srerblichen Leib des Da-
res ewigen Schlafes gebannt: den Unglückseligen blieb die Auferstehung Iringeschiedenen, sondern für sein ganzes Sein - für den Tag der Auferste-
versagt. Die Anathema-Formeln bedrohten den Verdammren mit der un- l,ung und des Gerichtes.
geheuerlichsten Bestraf ung - sie enthielten ihm die Auferstehung vor: »Am
Tage des Gerichtes wird er nicht auferstehen." 110;
Die volkstümlichen Glaubensinhalte waren durchdrungen von der Vor- Der Friedhofsvorort. Die Toten intra muros
stellung, daß eine Schändung oder Beraubung des Grabes die Erweckung
eines Verstorbenen am Jüngsten Tag und damit auch sein ewiges Leben aufs l)ie geistlichen Autoren waren von den glückverheißenden Auswirkungen
Spiel setze. "Niemals möge, zu keiner Zeit, dieses Grab versehrt werden, ,ler physischen Nachbarschaft dei- Lcibei der Seligen und der Märtyrer
damit ich sine impedimerzro [ohne Hindernis] ins Leben zurückkehren riberzeugt. "Die Märtyrer«, so Maximus Turinus,
"schützen uns, die wir
kann, wenn der Herr kommt zu richten die Lebendigen und die To- in unserem Körper leben, und nehmen uns in ihre Obhut, wenn wir ihn
ten.« (11) verlassen haben. Hier bewahren sie uns davor, in Sünde zu verfallen, da be-
Die gebildeteren geistlichen Autoren mochten ruhig beteuern, daß die schirmen sie uns vor dem Schrecken der lHöllelint'erni borrorl. Deshalb ha-
Macht Gottes ebenso weit reiche, die verv/esren Leiber wiederzubeleben, lrcn unsere Ahnen dafür Sorge getragen, unsere Körper den Gebeinen der
wie sie zu erschaffen; es gelang ihnen in den ersten Jahrhunderten nicht, Märtyrer zuzugesellen: es fürchtet sie der Tartarus, und wir entgehen der

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Züchtigung; Christus erleuchtet sie, und seine Klarheit nimmt von uns die Ruinen geradezu in die Augen, namentlich da, wo die alte Nekropole voll-
pinr1g1nis5s." (12) ständig freigelegt worden ist und die modernen Städte sie nicht völlig ver-
Die Grabinschriften benuzten häufig dasselbe Vokabular. Hier die eines deckt haben.
Subdiakons: ,Dessen Gebeine in diesem Grabe ruhn, hat das Verdienst er- Martyria oder memoriae sind zunächst direkt am Lageplatz der verehr-
worben, den Gräbern der Heiligen nahe zu sein: die Qualen des Tartarus ten Gräber errichtet worden, auf den Friedhöfen extra muros, Dann wurde
und die Grausamkeit seiner Martern mögen ihm erspart bleiben." Ebenso eine Basilika neben oder anstelle der Kapelle gebaut. Man findet in den f rü-
die in Vienne gefundene Grabinschrift eines reichen Christen, die aus dem hesten Bauabschnitten der Sanktuare der Vorstädte häufig eine danebenge-
Jahre 515 stammt: ,IJnter dem Schutz der Märtyrer muß man die ewige stellte kleine Kapelle mit rechteckigem, rundem oder polygonalem Grund-
Ruhe suchen; der sehr Heilige Vincent und die Heiligen, seine Ge{ährten riß und eine ein- oder mehrschiffige Basilika. Die mehrschiffigen Basiliken
und ihm Ebenbürtigen, wachen über diesen Platz und verbannen die Fin- mit einem vorgeschalteten weitläufigen atrium waren in der Tat notwendig
sternisse, indem sie den Schimmer des wahren Lichtes llumen de lumine geworden, um der zahlreichen Pilgermassen Herr werden zu können - ge-
vero) verbreiten... (1 3) schäftige, von der Berühmtheit des Heiligen angezogene Pilger. In einer al-
Der Heilige Paulus ließ den Leichnam seines Sohnes Celsus in die Nähe ten Nekropole wurde also die Lage der Basilika von der cont'essio des Heili-
der Märtyrer von Aecola in Spanien überführen: "'§(i'ir haben ihn in die gen fixiert. Später zog die Gegenwart der heiligen Reliquien nicht nur
Stadt Complutum fdas heutige Alcala bei Madrid] gebracht, um ihn den vorbeiziehende Pilger, sondern auch Tote auf der Suche nach einer endgül-
Märtyrern durch das Bündnis des Grabes zuzugesellen, damit er in der tigen Bleibe an. Die Basilika wird zum Kern eines neuen Friedhofs ad sanc-
Nachbarschaft des Blutes der Heiligen von ihnen iene Tugend entlehne, die ros, über oder neben der alten "gemischten" Nekropole.
unsere Seelen reinigt wie das Feuer.. §(ie man sieht, handelt es sich also Die Ausgrabungen römischer Städte in Afrika führen diesen Prozeß
nicht nur um Schutz gegen die Kreaturen des Tartarus, den die Heiligen deutlich vor Augen: §(irre Bruchstücke von Steinsarkophagen umgeben
gewähren; sie übertragen dem Verstorbenen, der ihnen zugesellr (sociatus) die Mauern der Basilika und besonders ihre Apsis-Seiten in nächster Nähe
ist, auch einen Teil ihrer Tugend und sühnen, Post mortem, seine Sünden. der confessio. Die Gräber dringen ins Innere vor, sammeln sich in den
Ungezählte Inschriften vom 6. bis hin zum 8. Jahrhundert wiederholen Schiffen, wenigstens in den Seitenschiffen - so in Tipasa, Hippo und Kar-
diese Formeln: ,Der das Verdienst erworben hat, den Gräbern der Heiligen thago. Ebenso eindrucksvoll ist dieses Schauspiel in Ampurias in Katalo-
nahe zu sein, ruhend im Frieden und in der Gemeinschaft der Märtyrer nien, wo die christliche Nekropole und ihre Basiliken die Ruinen einer
lmartyribus sociatus)", ist beigesetzt ad sanctos, inter sanctos, und manche Iange vorher verlassenen griechischen Stadt überformen: Die Archäologen
präzisieren darüber hinaus: "zu Füßen des Heiligen Martin". Andere sind haben den christlichen Friedhof abtragen müssen, um Spuren des alten
derart formelhaft-banal geworden, daß sich ihre ursprüngliche Bedeutung Neapolis aufzufinden, das heute unter umgestürzten christlichen Sarko-
nicht mehr erraten läß;.: in loco sancto, huic sancto loco sepubus. (14) phagen wiederauftaucht.
Die gleiche Situation liegt, wenn auch für das bloße Auge nicht unmittel-
So haben die Gräber der Märtyrer andere Grabstätten förmlich angezogen, bar einsichtig, in unseren gallo-romanischen Städten vor, wie sie nach Ab-
und da die Märtyrer im allgemeinen in den Gemeinschaftsnekropolen tragung der historischen Ablagerungen rekonstruiert wurden, deren
außerhalb der Städte beigesetzt wurden, verdankt das Christentum den 1üngste - die Vorstädte des 19. und 20. Jahrhunderts - die letzten Spuren
heidnischen Gräberfeldern seine ältesten und am meisten verehrten V'eihe- verwischt haben, die noch auf den gemalten oder gravierten "Ansichteno
stätten. vom Ende des 18. Jahrhunderts auszumachen sind. So erkennt man noch
Diesem Brauch schreibt man gewöhnlich einen afrikanischen Ursprung den Friedhof und die Basilika Saint-Victor bei Marseille, Saint-Marcel bei
zu: in der Tat sind die Archäologen auf seine ersten Manifestationen in l'aris, Saint-Sernin bei Toulouse, Saint-Seurin bei Toulouse, Saint-Hilaire
Afrika gestoßen (von wo aus er sich nach Spanien und Rom ausbreitete). in Poitiers, Saint-R6mis in Reims usw.
Der Zusammenfall von Friedhöfen und an der Peripherie gelegenen Kir- Die den Pilgern vorbehaltene Friedhofsbasilika, von Toten umgeben und
chen springt selbst dem wenig geübten Besucher bei iüngst ausgegrabenen iibervölkert, wurde von einer weltlichen Gemeinschait oder von Ordens-

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geistlichen verwaltet und in der Mehrzahl aller Fälle zum Sitz einer bedeu- Beginn des Mittelalters also zwei Zenrren christlichen Lebens, die Kathe-
tenden Mönchs- oder Nonnenabtei. In den römischen Städten in Afrika drale und das Friedhofssanktuar'; hier der Sitz der bischö{lichen Verwal-
und im katalanischen Ampurias haben sich die Wohnviertel der arrnen tung und einer zahlreichen Geistlichkeit, da die Gräber der Heiligen und
Christen offenbar um die außerstädtischen Basiliken gruppiert, obwohl der die Scharen der Pilger. Diese Dualität ging nicht ohne Rivalitäten ab.
Bischofssitz, das episcopium, innerhalb der Mauern lag. In Gallien bildeten
die Abteien auch den Kern neuer Vorstädte wie Saint-Sernin bei Toulouse, Es trat ein Zeitpunkt ein, zu dem die Trennung zwischen der Vorstadt, wo
Saint-Martin bei Tours, die bald mit dem Stadtkern zusammenwuchsen seit unvordenklichen Zeiten Bestattungen vorgenommen wurden, und dem
und in einem späteren Weichbild aufgingen. Die \Wohnstätten der Toten für Grablegungen noch immer unzugänglichen Stadtkern hinfällig wurde.
stießen die der Lebenden nicht mehr ab. Bereits die Entwicklung neuer Stadtviertel im Umkreis der Friedhofsbasi-
Die Friedhofsbasilika unterschied sich für lange Zeit deutlich von der Bi- lika bezeugte eine große Veränderung: Die Toten hatten, als erste Bewoh-
schofskirche, der Kathedrale, die, innerhalb der Mauern und zuweilen auf ner, die Lebenden nicht mehr daran gehindert, sich neben ihnen einzurich-
ihnen errichtet, kein Grab barg. Die Basiliken waren umgekehrt von Toten ten. Man beobachtet in den Anfängen also, wie sich die Abstoßung, die in
geradezu überschwemmt, von Toten, die nicht mehr immer nur von den der Antike von den Toten ausgegangen war, langsam abschwächt" Ihr Ein-
dort als erste verehrten Heiligen angezogen wurden, sondern auch von de- dringen in den eigentlichen Stadtbezirk, ins Herz der Städte, bedeutet die
nen, die neben und nach ihnen beigesetzt worden waren. So haben sich vollkommene Aufgabe des alten Verbotes und seine Ersetzung durch eine
Heilige jüngeren Datums in der Gläubigkeit der Frommen an ihre Stelle ge- neue Einstellung der Indifferenz oder Vertrautheit. Die Toten haben nun-
setzt und bei der Grabwahl die Würde der ältesten Reliquien übernommen. mehr - und für lange Zeir - aufgehört, Angst einzuflößen.
Überführte und an einen anderen Ort verpfianzte Reliquien haben Vie dieses Verbot außer Kraft gesetzt wurde, läßt sich an einem Beispiel
manchmal die Rolle des martyrium für eine neue Umgebung gespielt. So aus Arras verdeutlichen. (15) Der Heilige Vaast, Bischof von Arras, starb
hatte König Childebert eine Abtei errichten lassen, um die Schläfe des im Jahre 540. Er hatte sich ausbedungen, in einem am Flußufer des Crin-
Heiligen Vincent von Saragossa zu beschirmen, die er selbst, zusammen mir chon errichteten hölzernen Bethaus bestattet zu werden, gemäß der Regel,
einem Kreuz aus Toledo, aus Spanien mitgebracht hatte; aus der Abtei des die besagte, "daß kein Verstorbener innerhalb der Mauern einer Stadt seine
Heiligen Vincent wollte er die Nekropole seiner Dynastie machen, wie es Ruhe findeno sollte. Im Augenblick der Überführung aber gelang es den
Saint-Denis für die Capetinger war. Der Heilige Germain, Bischof von Pa- Trägern nicht, den plötzlich zu schwer gewordenen Körper von der Stelle
ris, der sie geweiht hatte, wurde darin bestattet: sowohl der König als auch zu rücken, wie wenn der Leichnam sich weigerte, sich forttragen zu lassen.
der Heilige Bischof suchten die Nähe der Reliquien des Heiligen Vincent. Der Erzpriester beeilte sich, eine übernatürliche Einwirkung festzustellen,
Saint Germain wurde nicht in der Kirche beigesetzt, sondern in porticu, rn und bat den Heiligen, Anweisung zu geben, "daß Du an den Ort geschafft
einer an die Kirche angrenzenden Kapelle. werdest, den wir [d. h. der Klerus der Kathedrale] für Dich ausgewählt ha-
Das Grab des Heiligen Germain wurde seinerseits zum Gegenstand gro- ben". Und alsbald wurde der Körper leichter, und die Träger vermochten
ßer Verehrung. Im Jahre 755 wurde der Leichnam ins Sanktuarium unter ihn ohne Mühe {ortzuschaffen "in das Grab, wie es einem Diener Gottes
dem Hauptaltar überführt, und die Kirche bekam den Namen Saint Ger- zukam, in der Kirche, zur Rechten des Altars, an dem er selbst den Gottes-
main, unser heutiges Saint-Germain-des-Prös, wobei der Heilige Germain dienst hielt, seines Bischofssitzes." Man ermißt, was sich hinter diesem
'§flunder
die Stelle des Heiligen Vincent einnahm. Dieselbe Art von Stellvertretung verbirgt: Der Klerus der Kathedrale weigerte sich, sich zugunsten
begab sich in Paris, wo der Bischof Marcel den Heiligen Cl6ment, einen der einer fremden Gemeinde zum Verzicht auf einen verehrungswürdigen
ersten Päpste, verdrängt hat, oder in Bordeaux, wo der Name der Kirche Leichnam, auf das Prestige und die seiner Kirche zufließenden Vorteile be-
vom Protomärtyrer Etienne auf den Bischof Seurin übergegangen ist. wegen zu lassen. Um aber das traditionelle Verbot außer Kraft setzen zu
Als die Kanonikergemeinschaften in den Kathedralkirchen gegründet können, mußte es bereits merklich abgeschwächt sein.
wurden, hatten die Kanoniker, wie die Bischöfe, ihre Gräber in den Vor- Dasselbe hat sich wahrscheinlich in Paris ereignet. Der Pariser Klerus
stadtabteien. Die chrisdichen gallo-romanischen Städte beherbergren zu hatte die Vergünstigung erhalten, daß ihm eine Kirche im Stadtkern geweiht

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wurde. Dort verehrte man bereits eine Reliquie des Heiligen Bischofs, für sie weiter nach dem gleichen Modell hergestellt, sie von jetzt an aber für
die Saint Eloi einen prachtvollen Reliquienschrein vorgesehen hatte. Man kirchliches Gebiet bestimmt.
rechnete jedoch damit, daß es damit nicht sein Bewenden haben würde, und Dieser'§(/echsel der Ordichkeiten läßt sich an den Ausgrabungen von Ci-
hoffte, eines Tages den Banzen Körper des Heiligen an diesen Ort überfüh- vaux sehr deutlich ablesen: Im Umkreis der Kirche hat man einen bedeu-
ren zu können, den Bischofssankruaren so nahe wie möglich. Dieser 'Iag tenden Friedhof freigelegt, der mehrere hundert Meter von der merowingi-
aber kam nie, und Saint Germain verblieb in der Abtei am linken Seine- schen Nekropole entfernt ist, die ihrerseits mitten auf freiem Felde liegt.
Ufer, wo er nach seinem Tode auch bestattet worden war. Dem Klerus von Dieselbe Beziehung zwischen Friedhof und Kirche tritt in Chätenay-
Paris schlug also fehl, was dem von Arras so erfolgreich gelungen war, sous-Bagneux in Erscheinung, wenn auch nur in Dokumenten des 18. Jahr-
zweifellos aufgrund hinreichender weltlicher lJnterstützung. Die neue ka- hunderts, weil sie au{grund der zeitgenössischen Besiedlung mit bloßem
rolingische Dynastie brachte Paris, seinem Stadtkern und seinen Kulten Auge nicht mehr erkennbar ist. (16) Die gallo-romanische und merowingi-
weniger Anhänglichkeit enrgegen als die Merowinger. sche Nekropole ist erst gegen Ende des Mittelalters auf gelassen worden. Im
Der Körper des Heiligen, der in ambitu murorum eingedrungen war, zog
lehre 1729 war sie beinahe völlig verschwunden; "das ganze um{riedete
seinerseits andere Gräber von Toten und Kreuzwegstarionen von Pilgern Gehege wurde dann vollständig urbar gemacht, und es existiert nur noch
nach sich. Die Unterschiede zwischen Kathedrale und Friedhofskirche, wie der Name des besagten Ortes, der Hauptf riedhof IGrand-Cimetiärel". Das
sie sich gerade in der Bestattungsfunktion äußerten, mußten also dahin- Uberdauern des Namens und der Örtlichkeit - während die Funktion er-
schwinden. Die Toten, die sich bereits mit den Lebenden der armen Vor- losch und Beisetzungen dort selten wurden (vielleicht nur noch in Pestzei-
stadtviertel vermischt harten, führten sich so ins historische Herz der Städte ten) - erklärt sich auch daraus, daß der Friedhof, wie wir später sehen v/er-
ein: Künftig gab es nirgendwo mehr Kirchen, die nicht auch als Gräber den, nicht nur Bestattungszwecken diente. Der entfernte Friedhof ist später
dienten und die nicht mit einem Friedhof verbunden waren. Die osmotische von der Kirche und ihrer Einfriedung ersetzt worden: Man hat im ältesten
Verbindung zwischen Kirche und Friedhof war endgültig besiegelt. Bauabschnitt der Kirche, im Chor, fünfzehn Sarkophage aus gegossenem
Gips gefunden, »unbestreitbar merowingischen Ursprungs". R. Dauvergne
Dieses Phänomen läßt sich nicht nur an den neuen P{arrkirchen der Bi- ist der Ansicht, daß sie vom Hauptfriedhof stammen, glaubt aber annehmen
schofsstädte, sondern auch an den Landkirchen beobachten. zu können, daß ihre Wiederverwendung in der Kirche ins 12./13. Jahrhun-
Die barbarischen oder merowingischen Friedhöfe sind, wie zu erwarren dertdatiert: in der Tat hat man in diesen Gräbern Grabbeigaben aus eben
war, abseits der Dörfer und bewohnten Ortschaften, immer mitren auf dem dieser Zeit gefunden. Also lassen sich wohl sogar noch frühere
'§(iederver-
Lande freigelegt worden. Man sieht beispielsweise noch heute in Civaux bei wendungen annehmen.
Vienne ungeheure Fluchten von monolithischen Sarkophagen für ein oder Ebenso hat man in Chätenay, zu einem unbestimmten Zeitpunkt zwi-
zwei Personen. schen dem 8. und dem 12. Jahrhundert, der Bestattung in der Kirche oder
Vom 7. Jahrhundert an läßt sich nun eine bezeichnende Veränderung in ihrer unmittelbaren Nähe den Vorzug vor dem abgelegenen Friedhof
dingfest machen, analog zu der, die den Toten Eingang in die Städte ver- mitten auf dem Lande gegeben.
schafft hat. Die Friedhöfe auf dem Lande werden aufgegeben, dem Wild- In Guiry-en-Vexin hat man, au{ freiem Felde, im Umkreis der Schloßal-
wuchs überlassen und vergessen oder doch nur gelegentlich benutzt (etwa lee unge{ähr dreihundert Sarkophage und Grabstellen entdeckt: Die Grab-
in Zeiten von Pestepidemien). In diesem Falle wird eine spätere, zuweilen beigaben erlauben es, diese Nekropole ins 5. bis 6. Jahrhundert zu datieren.
dem Heiligen Michael geweihte Kapelle dem Bestattungsort angegliedert. In derselben Gemeinde hat man kürzlich, diesmal aber mitten auf dem
Andererseits tritt zu ebendieser Zeit der Friedhof im Umkreis der Kirche Lande, einen Friedhof aus dem 7. Jahrhundert freigelegt: 47 Ernzelgrab-
in Erscheinung. Es kommt häufig vor, daß heute neben Kirchen, unter oder stellen und 10 Gemeinschaftsgräber mit den Gebeinen von 250 Personen.
in ihren Mauern Sarkophage ausgegraben werden, die mit den auf dem Vie in Chätenay hat es den Anschein, daß der Friedhof der Kirche in
freien Lande gefundenen identisch sind: entweder sind sie aus der mero- Guiry die Freilandfriedhöfe abgelöst hat. Man hat mehrere Särge aus Ein-
wingischen Nekropole überführt und erneur benutzt worden, oder man hat z.elsteinen gefunden, die merowingische SchriftzüBe tragen. (17) Ein ande-

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res Beispiel bietet Minot-en-Chätillonais, das von F. Zonabend untersucht im Falle der unterirdischen Kapelle von Saint-Maximin in der Provence:
wurde und gegen Ende des elften Kapitels des vorliegenden Buches analy- Die Bestattungen, die die legendenhafte Tradition später Marie-Madeleine
siert wird ("Der Besuch auf dem Friedhof"). zuschrieb, waren die Beisetzungen einer Familie. Ebenso verhält es sich,
Das Datum der Verlegung ist häufig schwierig zu bestimmen und kann nur wenige Kilometer von Saint-Maximin entfernt, mit der memoria der
von Region zu Region variieren; es ist jedoch eine allgemeine Regel, daß la Gayolle: ebenfalls eine Familienkapelle.
man in ländlichen Gegenden Beisetzungen zunächst abseits der §flohnstät- Solche Familiengräber müssen zu Zeiten des Ursprungs der Landpfar-
ten und danach, im 8. Jahrhundert und später, in der Kirche oder in ihrem reien häu{ig gewesen sein. Der Grundherr unterhielt in seiner pilla e\nen
Umkreis vorgenommen hat. Kaplan, und das Bethaus, in dem dieser Geistliche zelebrierte, konnte
Die bestimmende Rolle bei dieser Entwicklung fällt allerdings weniger ebensogut auch die memoria des Herrn sein.
den Märtyrern und heiligen Bischöfen der Städte und Vorstädte zu als viel- In Guiry-en-Vexin weist ein Dokument aus dem 16. Jahrhundert, das
mehr den Stiftungsherren. In heidnischen Regionen, die von den alten sich jedoch seinerseits auf noch ältere Zeugnisse beruft, darau{ hin, daß die
Christen für sich gewonnen und deren Einwohner - wie die des karolingi- Herren von Guiry, "die, dem Beispiel Clovis I. folgend, zurn Christentum
schen Germanien - massenhaft bekehrt wurden, sind die Auflassung der übergetreten waren. .., eine kleine Kirche oder Kapelie zu errichten began-
heidnischen Friedhöfe und die Bestattung in oder im Umkreis der Kirchen nen, die sie dem Apostel Andreas weihten; bekannt ist, daß darin im Jahre
mit Gewalt erzwunBen worden: ,Wir verfügen, daß die Leichname der 818 ein Seigneur Gabriel de Guiry bestattet worden ist." Diese Kirche
christlichen Sachsen ad cimeteria et non ad tumulos paganornm [auf die diente mithin ihren Stiftern und deren Nachfolgern als Bestattungsort. Der
Friedhöfe und nicht in die Grabhügel der Heidenl überführt werden." (18) Fall war häufig; deshalb räumen, wie wir später sehen werden, die kanoni-
Z't Zeiren des byzantinischen Kaisertums ließen sich gallo-romanische schen Texte den weltlichen Stiitern für die kirchliche Beisetzung dieselben
Großgrundbesitzer zuweilen auf ihren eigenen Domänen beisetzen. Einer Privilegien ein wie den Priestern und Mönchen. Diese Grabkapellen wur-
davon, aus der Gegend von Vienne, ließ sich die folgende, aus dem Jahre den nicht immer zu Pfarrkirchen, waren aber ausnahmslos Gegenstand ei-
515 stammende Grabinschrift einmeißeln: "Pentagothus, aus diesem ver- nes Ku.ltes: Man zelebrierte die Messe über den heiligen Reliquien, die dort
gänglichen Leben scheidend, hat nicht um einen Begräbnisplatz [auf einem verwahrt wurden. So im Falle der unterirdis chen memoria des Abtes Mel-
öffentlichen Friedhof] nachsuchen wollen; er hat seinen Leib dieser Erde lebaude. Sie lag nicht in agris, sondern gehörte zu einem alten Friedhof er-
anvertraut, die sein eigen ist." Der Brauch der Bestattung ad sanctos hatte trd muros, vor den Toren von Poitiers. Ihr Entdecker, Pater Camille de La
sich jedoch derart verbreitet, daß, wenn der Tote nicht zum Heiligen ging, Croix, S. J., der sie 1878 ausgegraben hat, glaubte darin ein Grabmal zum
der Heilige zum Toten kommen mußte. Deshalb hatte Pentagothus in sei- Gedenken an einen Märtyrer zu erkennen. Freilich täuschte er sich, weil
nem Grabe Reliquien von Märtyrern als Grabbeilagen um sich, gemäß ei- es in lVirklichkeit das Grab eines Abtes vom Ende des 7. Jahrhunderts war.
nem Brauch, wie er auch von anderen merowingischen und karolingischen Aber sein Irrtum ist durchaus verständlich, weil nichts der memoria eines
memoriae bezeugt wird; "im Schutze der Heiligenn, läßt er sich verneh- Märtyrers weniger ähnelt als dieses Grab. Der Verstorbene hat sein hypogöe
men, »mlr{l man die ewige Ruhe suchen; der sehr Heilige Vincent und die (Totengruft) ais Nachbildung der spelunca entworfen, der Grotte des
Heiligen, seine Gefährten und ihm Ebenbürtigen [je zahlreicher die Heili- Heiligen Grabes, und aus seinem Grab schließlich ein dem Kreuz Christi
Bent um so wirksamer war ihr Schutz], wachen über diesen domus.n Do- geweihtes Bethaus gemacht, mit einem Altar zur Lesung der Messe.
mus:Das Grab ist auch eine Art Tempel, ein geheiligter Ort, an dem man Die memoria des Abtes wird also zu einer Art martyrium, dient aber,
die Messe zelebrieren kann. Später wird man sagen: eine Kapelle. (19) wie alle Kirchen, überdies als Ort der Bestattung ad sanctos. "Gläubige
Noch im 9. Jahrhundert rügt Jonas, Bischof von Orl€ans, diejenigen, die höhlten in ihrem Boden Gräber aus, die sie mit Deckplatten verschlossen,
eine Bezahlung annehmen, um eine Bestattung der Toten in agris suis zu die ihrerseits aus Steinen bestanden, wie sie auch zum Bau des Monuments
ermöglichen. (20) Der Grab-ager des Großgrundbesitzers wird damals selbst verwendet worden waren. Dahinein ste.llten sie gewaltige Sarko-
zum locus publicus et ecclesidsticus und das Familien-Grabmal zur Land- phage, die noch heute an Ort und Stelle zu besichtigen sind, und um für
oder Pfarrkirche, manchmal sogar zur Stiftskirche oder zur Abtei. So erwa die Ihren oder sich selbst einen Platz in dieser Krypta zu sichern, zögerten

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sienicht [um das 9. bzw. 10. Jahrhundert], eine Mauer abzureißen oder die Humbert von Burgund stellt den an beliebiger Stätte begrabenen Heiden
Stufe eines Sanktuars zu schleifen." (21) die Christen gegenüber, die ausschließlich "an ehrwürdigen und öffentli-
Bestattung ad sanctos, Besiedlung der Vorstädte im Umkreis der Fried- chen, für diesen Brauch bestimmten und zu diesem Zweck geweihten Ört-
hofsbasiliken, Eindringen der Gräber in die Städte und Dörfer, in die un- lichkeiten. bestattet würden. (24) Man warf den Häretikern vor, dem
mittelbare Nähe der Wohnstätten - all das sind Phasen einer Entwicklung, F-riedhof den Charaktereines locwspublicus et ecclesiasticus zts verweiSern;
die die Lebenden und die vordem abseits gehaltenen Toten einander annä- die Waldenser und die Hussiten waren der Meinung, "daß es in keiner Hin-
hert. sicht von Bedeutung ist, in welcher Erde man die Toten beisetzt, ob geweiht
oder profano. (25) Die Ansammlung der Leichname von Christen im Um-
kreis der Reliquien der Heiligen und die über diesen Reliquien errichteten
Der Friedhof : "Schoß der Kirche" Basiliken waren zu einem spezifischen Wesenszug der christlichen Zivilisa-
tion geworden. Ein Autor des 16. Jahrhunderts merkt an, daß ,die Fried-
Als Entwicklung der Praxis, aber auch der kirchlichen Lehre und Recht- höfe nicht nur einfach Begräbnisplätze und Sammelstellen für Leichname
sprechung hat sich eine neue, ausdrückliche Vorstellung von der Heiligkeit sind, sondern mehr noch heilige oder geweihte, den Gebeten für die Seelen
der Toten entwickek, die die der Antike ersetzr. Die mittelalterlichen Au- der hier ruhenden Verstorbenen vorbehaltene Orte.: heilige und geweihte
toren haben sehr rasch gespürt, daß ihre Bestattungsbräuche von denen der Orte, ö{fentliche und häufig besuchte Stätten - und durchaus keine einsa-
Alten abwichen. Lange hatte man geglaubt, daß die Heiden für ihre Grable- men und unreinen.
gungen keinen besonderen Raum auswählten. lVenn Humbert von Bur- Der antike Gegensatz von Toten und Heiligen wurde also weniger abge-
gund (22) auch überzeugt ist, daß, im Unterschied zu den Tieren, die Men- schwächt als vielmehr umgestülpt: Der Leichnam eines Christen schuf
schen sich immer gehalten gefühlt haben, ihre Toten zu besratten, so glaubt schon von sich aus einen wenn auch nicht geweihten, so doch - nach der
er doch, daß die Heiden sie an beliebiger Stelle beisetzten, ,im Hause oder Unterscheidung des Durandus von Mende aus dem 13. Jahrhundert - reli-
im Garten, auf freiem Felde oder anderen ähnlichen Orteno. Ein Kanoniker giösen Raum um sich. Ein geistlicher Autor des 18. Jahrhunderts ist von
aus Le Mans spricht zu Beginn des 12. Jahrhunderts von einsamen Orten dem Unterschied zwischen christlichen Gefühlen und dem Glauben an die
- quaedam solitaria loca. Die alten Autoren - und noch Sauval im 18. Jahr- Unreinheit der'foten, wie er Juden und Römern gemeinsam war' nicht un-
hundert - neigten dazu, die heidnischen Friedhöfe (wo ihre Gräber noch beeindruckt geblieben. Er war es sich schuldig, ihn aus Glaubensgründen
längs der großen Ausfallsraßen, jenseits der Stadttore existierten) mit den zu erklären: ,Diese Vorstellung [der Römer] war um so eher verzeihlich,
solitaria loca zu verwechseln. So sagt Sauval: osolange Paris unter römi- rrls das mosaische Gesetz den Menschen einen derart starken Abscheu vor
scher Herrschaft stand [...], wurden die gerade Verstorbenen längs der gro- der Berührung von Leichnamen einflößte." "Seit Gottes Sohn den Tod
ßen Straßen bestatret.u Dabei ist zu beachten, daß die Straßen zu jener Zeir selbst nicht nur geheiligt, sondern auch aufgehoben hat, sowohl in seiner
unsichere Gegenden waren, von srreunendem Gesindel bevölkert und von I)erson als auch in seinen Gliedern, sowohl um seiner Auferstehung willen
Vagabunden und Soldaten verunsichert.
"Vor diesem Friedho{ [dem Cime- els auch durch die Hoff nung, die er einflößt, inden er in unsere sterblichen
tiöre des Innocents, d. h. vor sehr langer Zett]war es Familienvätern und [-eiber seinen beiebenden Geist einsenkt, der die Quelle der Unsterblich-
-müttern erlaubt, sich und die Ihren in ihren eigenen Grüften, Gärten, §7e- keit ist, sind die Gräber derer, die für ihn gestorben sind, als Schoß des Le-
gen und Alleen bestatten zu lassen., wahrscheinlich um sich nicht den bens und der Heiligkeit aufgefaßt worden. So hat man sie auch in die Kir-
»großen Straßen" ausserzen zu müssen. (23) chen überführt oder Basiliken errichtet, um ihre Leiber zu bergen." (26)
Diese Vorstellung, daß die Alten ihre Toten auf ihrem eigenen Grund Der Heilige Augustinus stand diesen Verehrungskundgebungen, in denen
und Boden bestatteren, bestand bis ins 18. Jahrhundert fort, und imZltge cr, wohl zu Recht, eine gewisse Verwandtschaft mit afrikanischen Grabma-
der Nachahmung dessen, was man für antikes Brauchtum hielt, bean- [i.n .,, entdecken glaubte, mit kühler Distanz gegenüber: er bestand dar-
spruchte man damals private Bestattungsplätze. Im Mirtelalter galt diese auf, daß die den Toten entgegengebrachten Ehrungen vor allem der Trö-
Form der Grablegung jedoch als verdammenswert. stung der Lebenden zu dienen hätten. Allein den Gebeten sei wirklich eine

56 57
sühnende Kraft eigen. Diese Vorbehalte gerieten im Mittelalter jedoch der im Fleische Toten wiedererweckt, um sie dem ewigen Leben zuzufüh-
schnell in Vergessenheit: Man glaubte, wie der Heilige Julian, daß die Ge- ren, so wie sie durch die Taufe die Ungeborenen erst eigentlich zur'\ü(i elt
bete der Lebenden um so wirksamer seien, je näher dem Grabe der Märty- kommen läßt.
rer sie gesprochen würden: "Die Nähe der memoria der Heiligen ist für
den Verstorbenen derart segensreich, daß, wenn man den in ihrer Nachbar-
schaft Ruhenden ihrem Schutz empfiehlt, die Virksamkeit des Gebetes ge- Die Bestattung der Verdammten
steigert wird." (27)
Das differenziertere Elucidarium greift, nicht ohne Vorbehalte und Ein- Im Verhältnis zur Antike - oder wenigstens zur Vorstellung, die man davon
schränkungen, auf die Prinzipien des Heiligen Augustinus zurück. Ein hatte - ist die Situation auch hier ins Gegenteil umgeschlagen. Gerade die
1ü(erk des Honorius von Autun, vorr Ende des 11. oder Anfang des 12. abgesonderte Grabstelle {lößt Angst ein. Es ist durchaus nicht unmöglich,
Jahrhunderts stammend, ist es bis zum Ende des Mittelalters viel gelesen daß sich noch alte Bräuche der Bestattung in agris szi erhalten haben: Vir
und praktiziert worden. "Es fügt den Gerechten nicht den geringsten Scha- haben gesehen, daß Jonas von Orl6ans sie im 9. Jahrhundert öffentlich be-
den zu, wenn sie nicht auf dem Friedhof der Kirche bestattet werden, denn klagte. Im Jahre 1 I 28 verteidigt der Bischof von Saint-Brieuc noch die Be-
die ganze Velt ist Tempel Gottes, geweiht von Christi Blut. Velches stattung zu Füßen der Kreuze an Veggabelungen. Aber solche Fälle sind
Schicksal ihre Körper auch erleiden mögen: Die Gerechten ruhen immer selten und verdächtig geworden. Allein die Verdammten werden auf freiem
im Schoß der Kirche." lWenn diese Präliminarien auch mit Rücksicht auf Felde oder - wie man später sagte - auf dem Schindanger beigesetzt.
die Kirchenväter vorgetragen werden, so bringt der Autor doch auch ge-
meinschaftliche Glaubensvorstellungen und die verbreitete Praxis zur Gel- Siie muir, ie vons t'ais savoir
tung und bemüht sich, sie zu rechtfertigen: "Gleichwohl ist es ratsam, an Plus ne aueil en ätre gesir
Orten bestattet zu sein, die durch die Grabstätten bestimmter Heiliger ge- Faites moi au chans ent'ouir.
weiht sind. Die noch um ihr Heil bangen müssen, ziehen Nutzen aus den
Fürbitten der neben ihnen bestatteten Gerechten und aus den Gebeten, die Die Exkommunizierten modern, wie die Verurteilten, deren Leichname
ihre Angehörigen für sie sprechen, wenn sie diese Orte aufsuchen und die von ihren Angehörigen nicht zurückerbeten worden sind oder die der
Gräber ihnen die Verscorbenen in Erinnerung rufen.o (28) Man bemerkt, Richter nicht hat aushändigen wollen, ohne Bestattung, einfach mit Stein-
daß die Fürbitten der Toten dieselbe Geltung haben wie die Gebete der Le- blöcken bedeckt, um die Nachbarschaft nicht zu belästigen: imblocati- (29)
benden, weil sich in beiden die physische Nähe der Grabstellen auswirkt Manfred, der natürliche Sohn Kaiser Friedrichs II., des Papstfeindes, fin-
und durchsetzt. det im Jahre 1266, exkommuniziert, den Tod in der Schlacht von Benevent.
Honorius von Autun zufolge ist von der wohltätigen \ü/irkung der Dante berichtet,daß er an der Stelle bestattet worden ist, wo er umkamr
Nachbarschaft der Heiligen eine Kategorie ausBenommen - die der Bösen. ,Bei Benevento dort am Brückenende,/ Im festen Schutze jener schweren
Im Gegenteil: "Die Bösen ziehen keinerlei Nutzen daraus. Es ist sogar Steine" - denn leder Soldat hatte einen Stein auf seinen Leichnam gelegt.
schädlich für sie, durch das Grab denen zugesellt zu sein, die ihnen durch (30) Aber Papst Clemens IV. wollte nicht dulden, daß dieser verdammte
Verdienst so fernstehen. Es steht zu lesen, daß die Zahl derer groß ist, die Leichnam innerhalb des Königreiches Sizilien, das kirchliches Leben und
der Teufel von den heiligen Stätten verwiesen und ausgestoßen hat." Diese damit geweihtem Boden gleichgestellt war, verblieb. Deshalb wurden, nach
Formulierung spielt auf wunderähnliche Begebenheiten an, wie sie von einem von Dante geschilderten Brauch, seine Gebeine exhumiert: "Nun
Gregor dem Großen erzählt und fortan ständig wiederholt werden. Die aber treibt der Vind sie und der Regen/ Zum Land hinaus, entlang dem
Leichname der Bösen entweihen den Friedhof, wie früher bereits die Verdeflusse,/ Vohin er [der Papst] sie gebracht hat ohne Lichter."
Leichname als solche den Boden der Städte verunreinigten. So ist der Fried-
hof zur heiligen Ruhestätte der Toten und - laut Honorius von Autun - Si je muir.. . Wenn ich sterbe - so tue ich Euch kund -,/ Möchte ich nicht im ätre rthen,/
zum Schoß der Kirche (ecclesiae gremium) geworden, in dem sie die Seelen LaJlt mich auf freiem Feide verscharren.

58 59
Alain Chartier nennt ,t'aulx ätre., d. h. unrechten Friedhof, ehrloses Lumpen, die die Verwesung davon übriggelassen hatte." Darüber, noch am
Grab, die örtlichkeit, wo man sich der Leichname der Verdammten enrle- Galgen befestigt, baumelten "die schrecklichen Kadaver, vom Vinde be-
digt. wegt, in grotesken Schwüngen hin und her, während schaurige Geier an ih-
nen zerrten, um ihnen Stücke Fleisches zu entreißen." Ohne Frage - diese
C'est ä la maniöre de t'aulx äte
Gehängten erinnern an die von Villon!
Et y gect-on les corps maudits.
Der Raum um die Galgen war von einem Vall eingegrenzt. Der innere
J'en y recongneus plus de quatre Bereich der Hinrichtungsstätte diente auch als Schindanger: die Überreste
Lä sont espars, noirs et pourris,
der Hingerichteten wurden so mit Kehricht bedeckt. Das t'aulx ätre von
Sur terre, sans estre ent'ouys.
Alain Chartier konnte also durchaus im Umkreis eines Galgens liegen. Je-
denfalls ist die sinistre Verquickung von Galgen, Kehrichthaufen des
Diese schreckliche Deponie fiel haufig nrit dem Galgenplatz zusammen.
Schindangers und den entsprechenden ekelhaften und unsauberen Gewer-
Die Leichen der Hingerichteten blieben oft monate-, ja sogar jahrelang auf -
ben von Louis Chevalier am Beispiel von Montfaucon untersucht wor-
gehängt und zur Schau gestellt.
den. (33)
So wurde am 12. November 1411 Colinet aus puiseux enthauptet, zer- Im Prinzip konnten die Leichen von kriminellen Straftätern durchaus in
stückelt und seine vier Gliedmaßen an je einem der Stadttore von paris auf-
geweihter Erde bestattet werden; die Kirche erlaubte es, weil Gott sein
gehängt, und sein Körper - oder das, was davon übrigblieb ,wurde in ei-
- Verdammungsurteil nicht zweimal aussprach: der Verurteilte hatte bereits
nem Sack zum Galgen geschafft". (31) Aber ersr am 16. September 1413,
bezahlt. Aber diese Empfehlung blieb bis hin zur Epoche der Bettelmönche
d. h. beinahe zwei Jahre später, -wurde der Körper jenes Verräters colinet
und der Bruderschaften rein theoretisch. Die Menschen des Mittelalters
aus Puiseux vom Galgen und seine Glieder von den Stadttoren herunterge-
und der beginnenden Neuzeit ließen nicht zu, daß der Lauf der Gerechtig-
holt. Gleichwohl hätte er es auch jetzt noch eher verdient, verbrannt und
keit und ihre Ausübung vor dem Tode haltmachten. Sie verfolgten den To-
den Hunden vorgeworfen zu werden, als seine Ruhe in geweihter Erde zu
ten bis vor den Richterstuhl Gottes; wenn es sich um einen Selbstmörder
finden; aber die Armagnacs handelten nach eigenem Gutdünken." Man
handelte, wurde seinem Leichnam der Friedhof verweigert: noch zu Beginn
hätte ihn also, dem Journal d'un bourgeois de paris zufolge, eigentrich ver-
dieses Jahrhunderts existierten in der Bretagne, wie G. Le Bras (34) berich-
brennen oder zu Füßen des Galgens vermodern lassen müssen, eine Beute
tet, Friedhöfe für Selbstmörder, wo der Sarg einfach über eine öffnungs-
der Vögel und Hunde.
und türlose Mauer gehoben wurde.
Ein sehr schöner Text aus dem Jahre 1 804 führt einen Galgen vor Augen. 'War
der Betreffende Opfer einer Hinrichtung, so bemühte man sich, ihn
Obwohl er jüngeren Datums ist, wird man einräumen müssen, daß die
vermodern zu lassen, ihn zu verbrennen oder seine Asche zu zerstreuen,
darin beschriebenen Einrichtungen sich seit dem Mittelalter eigentlich
c'ler manchmal die Prozeßakten oder die Liste seiner strafbaren Handlungen
kaum verändert haben. Es handelt sich um Die Handschrift aon saragossa
beigefügt u/aren. »Ihre Asche, die man dem \üind anheimgibt oder in die
von Jan Potocki. (32) Der Held des Romans wacht, nach phantastischen
Luft oder ins rVasser streut«, sagt Agrippa d'Aubign6 von den zum Tod
nächtlichen Abenteuern, unrer einem Galgen auf . ,Die Leichname der bei-
auf dem Scheiterhaufen verurteilten Reformierten. Als die Aussätzigen er-
den Brüder Zoto [verurteilte und hingerichtete Banditen] hingen nicht
fahren, daß Isolde von König Marke wegen Ehebruchs zum Tod auf dem
mehr da. Sie waren mir zur Seite niedergelegt worden
[nran band die Ge- Scheiterhaufen verurceilt worden ist, fordern sie, daß man ihnen die Un-
hängten los, oder sie fielen einfach von selbst herab und vermoderten zu
glückselige ausliefere - sie wüßten das besser zu besorgen als das Feuer:
Füßen des Galgens]. Ich ruhte auf Seilenden, Teilen von Rädern
[Folterin- "Herr, wenn Ihr Eure Frau der Feuersglut anheimgeben wollt, so ist das
strumente?1, Resten von menschlichen Skeletten und den widerwärrigen
zwar recht und billig, aber eine zu geschwinde Strafe. Dieses große Feuer
C'estiLamaniöre... undzwarnachArtdesfalschenirre,,/undhrerbettermandieLeich- wird sie rasch dahingerafft und der Sturm u.,ird ihre Asche bald zerstreut
name cler verdammten./ lch kannte deren mehr als Die dort, sch*,arz und verwest,/ Auf haben."
'ier./
der bloßen Erde verstrcut licgen, ohne verscharrt worden zu scin. Der Tod läßt den Rachedurst ebensowenig erlöschen wie die Justiz. Go-

60
6l
I
neval tötet Ganelon, den wortbrüchigen Feind seines Herrn Tristan. Er Das Kirchenrecht: Das Verbot der Bestattung in Kirchen -
"zerstückelt ihn ganz und gar [wie ein gejagtes Tier] und geht seines
lVeges, Die Praxis: Die Kirche als Friedhof
den abgeschnittenen Kopf mit sich tragend." Der Rest des verstümmelten
Leichnams wird den wilden Tieren überlassen. Er hängt das Haupt an den Die geistlichen Autoren und das Kirchenrecht bestätigten, als sie mit der
Haaren am Eingang der "Blätterlaube" auf, wo Tristan und Isolde schlafen, antiken Tradition brachen und die Bestattung der Toten im umkreis der
damit der Anblick sie beim Aufwachen erfreut. von den Lebenden besuchten Heiligtümer verordneten, den heiligen Cha-
In diesen Fällen verweigerte der Mensch des Hochmittelalters seinem rakter einer von den Alten als unheilig erachteren Nachbarschaft. Das an-
Feind - oder dem der Gese.llschaft - die Bestattung a/ sanctos, die die Theo- dächrige Gefühl, das die Toten einflößten, hatte sich bedeutungsmäßig ver-
logen toleriert oder gar vorgeschrieben hatten. Umgekehrt kam es vor, daß ändert. In welchem Maße aber hat das Heilige sich gegen die Vertrautheit
er sie für die Seinen forderte und die Kirche sie verweigerte, weil der Ver- des Alltäglichen behauptet?
storbene in keinem guten Einvernehmen mit ihr gestanden hatte: er war .Wenn J, zwischen Kirchenrecht und Alltagspraxis auch übereinstim-
ohne Testament oder exkommuniziert gestorben usw. (13./14. Jahrhun- mung in Hinsicht au{ den Nutzen der Bestattrsngad sanctos gab, so entwik-
dert). Dann übernahm, wenn das möglich war, die Familie des auf diese kelten sich doch gegensätzliche Standpunkte, wo es sich um den Friedhof
\(/eise Ausgeschlossenen an seiner Stelle die Verpflichtung, die von ihm an- neben der Kirche oder um die Bestattung in der Kirche handelte'
gerichtete Unbill zu vergelten und für ihn zu büßen. Dieser Vorgang be- Die Konzilien haben iahrhundertelang nicht auigehört, zwischen der
durfte manchmal geraumer Zeit, und man zitiert den Fall eines exkommu- Kirche und dem geweihten Raum im umkreis der Kirche genau zu unter-
nizierten Prälaten, der achtzig Jahre lang in einem Schloß, aufgebahrt in scheiden. \i(ährend sie den Gläubigen die verpflichtung auferlegten, ihre
einem Bleisarg, darauf zu warten hatte, daß er ein für allemal das Recht zu- Beisetzungen neben der Kirche vorzunehmen, ließen sie gleichzeitig nicht
gesprochen erhielt, in geweihter Erde zu ruhen. Wenn es unmöglich war, daron ab, das verbot der Grablegung im Kircheninneren zu wiederholen,
die kanonische Verdammung auf zuheben, versuchte die Familie wohl auch, vorbehaltlich einiger Ausnahmen zugunsren von Priestern, Bischöfen,
sich den Zugangzum locus publicus et ecclesiasticus zu erzwingen. lVeil sie Mönchen und manchen privilegierten Laien - Ausnahmen, die alsbald zur
nicht bestattet werden durften, wurden die Särge manchmal in den Astga- Regel werden sollten.
belungen der Friedhofsbäume aufbewahrt - ein bizarrer Anblick! Sie wur- I- 1"h.. 563 verbietet das Konzil von Braga die Bestattung in den Kir-
den heimlich verscharrt, aber die Teufel (oder Engel) ließen sie nicht immer chen und erlaubt lediglich, Grabstätten dicht bei den Kirchenmauern anzu-
des Platzes froh werden, den sie sich an dem von ihnen entweihten heiligen legen, aber außerhalb. (35) Das isr eine Regel, die die kirchenrechtlichen
Ort widerrechtlich erschlichen hatten: sie gruben sie nachts aus und ver- Texte bis zum 18. Jahrhundert nicht ablassen zu bekrä{tigen, selbst wenn
trieben sie entweder selbst oder riefen befremdliche Erscheinungen zu sie sich, unter dem Druck der Alltagswirklichkeit, mit Abrn'eichungen ab-
Hilfe, die den Klerus über den Betrug ins Bild setzten. Es gab Blanko-Peti- zufinden hatten.
tionsanträge, um bei der Obrigkeit um das Recht nachzusuchen, einen In den Konzilsprotokollen des Mittelalters begegnet man aiso der mono-
Leichnam zu exhumieren und ihn aus der Kirche oder vom Friedhof zu tonen wiederholung dieser Vorschrift, "daß kein Toter in der Kirche be-
verweisen. statter werden soll. (Mainz 813). "Gemäß den Lehren der väter und den
In allen diesen Fällen wollte man - im Namen einer privaten Rache, im Mahnungen der lwunder [zweifellos handelt es sich hier um die Leichname
Namen der Gerichtsbarkeit oder der Kirche - die Opfer oder Schuldigen uon nichi-entsühnten Missetätern, die auf wunderbare veise aus der Kir-
der Vorteile verlustig gehen sehen, die die Bestattung apud rnetnoriam mar- che, die sie entweiht hatten, vertrieben worden waren - jeden{alls gemäß
tyrt4m zwangsläufig verschaff te. Die Kirche andererseits bem ühte sich nach den Berichten Gregors des Großen] untersagen wir und ordnen an, daß
Kräften, die heiligen Stätten einzig für die Gläubigen zu reservieren, die in hinfort ldeincepsfkein Laie in der Kirche beigesetzt werden 5ell." (Tribur
Einklang mit ihren Geboten starben. 895) ,\Wir untersagen[. ..], daß irgendjemand in der Kirche bestattet wird.o
(Pseudo-Konzil von Nantes im Jahre 90Q)
Der Liturgist Durandus von Mende lebte im 13. Jahrhundert, zu einer

62 63
Zeit also, da die Kirchen ausgesprochene Nekropolen waren: er versuchte
I 2. ,die, denen Ehren und Würden zuteil geworden sind in der Kirche [die
wenigstens den Chor freiz-uhalten, der die am meisten begehrte Ruhestätte ordinierten Geistlichen] und im wehiichen Leben [die Großen], weil sie die
geblieben war, zunächst deshalb, weil er die cont'essio des Heiligen barg, Diener Gottes und die lnstrumente des Heiligen Geistes sind";
dann aber auch aus den eigentlichen Gründen der Fruchtlosigkeit des Ver- 3. ,überdies [die beiden ersten Kategorien sind rechtlicher Natur, wäh-
botes selbst: "Kein Leichnam darf in der Nähe des Altars bestattet werden, rend diese dritte dem freien Ermessen überlassen bleibt] die, die sich durch
wo der Leib und das Blut des Herrn bereitet oder dargeboten werden, es '§ü'erke im
ihre adelige Großmut, ihre Handlungen und ihre milcitätigen
sei denn die Leiber der Heiligen Väter." (36) Durandus von Mende wieder- Dienste Gottes und des Gemeinwesens ausgezeichnet haben''
holt also lediglich das Verbot des Pseudo-Konzils von Nantes, "neben dem Alle anderen haben mit dem Friedhof vorliebzunehmen'
Altar (zu bescatten), wo der Leib und das Blut des Herrn bereitet werden Das Konzil von Reims (1683) unterscheidet zwar zwischen denselben
fconficiuntur)". Diese Verbote der Konzilien vertrugen sich durchaus mit Kategorien, definiert sie jedoch nach traditionelleren Merkmalen:
Ausnahmen: mit Ausnahme der Bischöf e und Abte, der Priester, der t'ideles l.zwei Kategorien rechtlicher Natur, die der Priester und der Patronats-
hici,mit Erlaubnis des Bischofs, des Priesters oder des rector (Mainz 813). herren, wie sie bereits im Mittelalter anerkannt waren.
\(er sind diese Seligen? \(ir sind ihnen vor kurzem im Zusammenhang mit 2. "Die durch ihren Adel, ihr Beispiel und ihre mildtätigen
lWerke Gott
den ländlichen Pfarreien begegnet, in denen sie ihre Gräber hatten: die und der Religion einen Dienst erwiesen haben", werden, nach altem
,Herren der aillae und die Patronatsherren der Kirchen und ihre Gattin- Brauch, lediglich mit Erlaubnis des Bischofs zugelassen' (37)
nen, durch deren \(irken das Ansehen dieser Kirchen gemehrt worden ist". Die anderen werden auf dem Friedhof bestattet, den "ehedem auch die
Die Stif ter der Kirchen waren, angef angenmit den Königen, den Priestern als I..rlauchtesten nicht verschmäht haben".
den Gesalbten des Herrn gleichgestellt, die ihrerseits auf die gleiche Geltung Die lange Reihe dieser Texte könnte, nähme man sie wörtlich, durchaus
wie die Märtyrer und Heiligen Anspruch hatten: die geweihten Leiber ent- glauben machen, daß die Bestattung in der Kirche nur eine mehr oder weni-
heiligten ihre Nachbarschaft nicht; im Gegenteil: sie durften die Nähe des g.r r.lt.n. Ausnahme gewesen sei, aber eben eine Ausnahme' Ihre mit der-
Leibes und des Blutes des Menschensohnes auf dem Altar teilen. art geringen Varianten vorgetraBene Wiederholung vom 6. bis zum 17'
Nach der langen Phase des Mittelalters haben die Konzilien der Gegen- für mehr als ein Jahrtausend also - legt jedoch eher die Ver-
.f ahrhundert -
reformation ihrerseits versucht, auf den zur Gewohnheit gewordenen mutung nahe, wie wenig diese Verbote resPektiert wurden. Im Jahre 1581
Brauch einzuwirken und zum Geist und Buchstaben des alten Rechtes zu- cmpfahlen die Väter: in ecclesiis nulli deinceps sepeliantur. Deinceps -hin-
rückzufinden: in ecclesia Dero nulli deinceps sepelia.ntur (hinfort aber soll tori. Aber bereits die Kirchenväter des Jahres 895 hatten geforde rv ut dein-
niemand mehr in der Kirche bestattet werden). Sie führen Klage darüber, ceps nullus in ecclesia sepeliatur, denn seit dieser Zeit war ihre vorschrift
wie skandalös es sei, daß die Abweichungen von diesem Prinzip eher nicht mehr beachtet worden, und gegen Ende des 8. Jahrhunderts verur-
Privilegien von Geburt, Reichtum und Macht als von Frömmigkeit und teilte der Bischof Theodul{ von orl6ans den Brauch als ein bereits altes un-
Verdienst geworden sind: "Diese Ehre soll nicht um Geldes willen erwiesen *.5gn; ,Es ist eine alte Gewohnheit in diesem Lande, die Toten in den Kir-
werden, sondern vom Heiligen Geist.o Die Bischöfe räumten gleichwohl chen beizusetzen."
ein, daß die Bestattung in einer Kirche eine Ehre sei, und durften sich in lVirklichkeit ie
Man fragt sich mithin, ob die kanonische Verfügung in
einer Zeir, da die Menschen nach Ansehen ebenso gierten wie nach Reich- eingehaltcn worden ist. seit Beginn der Praxis der Beisetzun Ben 4d sdnctos
tum, also auch nicht wundern, §r'enn man mit derartiger Hartnäckigkeit hatten die Gräber, mit den Friedhofsbasiliken beginnend, die Innenräume
nach dieser Ehre strebte. der Kirchen mit Beschlag belegt. Die Kirchen des rijmischen Afrika waren
Das Konzil von Rouen ( I 581) teilt die Gläubigen, die auf eine Bestattung im 4. und 5. Jahrhundert, wenigstens teilweise, in den Seitenschiffen mit
in der Kirche Anspruch erheben dürfen, in drei Kategorien ein: mosaikartig angeordneten, mit einem Epitaph und dem Bildnis des Ver-
1. "Die sich Gott geweiht haben, und vor allem die Männer [die streng- srorbenen geschmückten Grabplatten ausgelegt. (38) In Damous el Karita
gläubigen Ordensgeisdichen], weil ihr Körper in ganz besonderem Maße und in Karthago bilden die Sargdeckel den Steinboden der Basilika. Die
Tempel Christi und des Heiligen Geistes ist"; Kirche saint-Honorar in den Alyscamps von Arles ist auf einer Schicht von

64 65
r
Sarkophagen errichtet, auf der ihre Mauern, ohne Fundament, unmittelbar alten Kirchen mit ihren Böden aus Grabplatten bis auf unsere TaSe erhalten.
aufruhen. Es hat den Anschein, daß die Beisetzungen in den Kirchen zeit- Dieser Brauch der Bestattung in der Kirche sollte den Reformatoren iedoch
gleich mit den Texten auftreten, die sie verbieten: Die kanonischen Verbote zwangsläufig mißfallen und ihnen als papistischer Aberglaube verdächtig
haben ihre dauerhafte Verbreitung im gesamten abendländischen Christen- ..schiinen. Er mußte also tief in der Alltagswirklichkeit verwurzelt sein,
tum nicht verhindert. um überdauern zu können.
\ü/eise ge-
Denn man hat - und zwar wenigstens bis zum Ende des I 8. Jahrhunderts Die niederländische Malerei hat Beerdigungsszenen in einer
- nie au{gehört, in den Kirchen Beisetzungen vorzunehmen. Im 17. Jahr- schildert, als wären sie ein ganz alltägliches schauspiel. So stellt E. de \(itte
hundert waren sie mit Gräbern im wörtlichen Sinne geradezu gepflastert, eine Beisetzung im Jahre 1655 (39) dar: Der Trauerzug ist in der Kirche an-
ihr Boden bestand aus Grabplatten wie der der Basiliken des römischen gekommen und nimmt seinen §VeB in Richtung des Chores' §(ährenddes-
Afrika. In den französischen Kirchen läßt sich im allgemeinen unter den sen bereiten der Totengräber und sein Gehilfe das Grab vor. sie haben den
im 18. und 19. Jahrhundert vollständig erneuerten Bodenfliesen das aus skulpturengeschmückten Stein gehoben, der das Grab verschlossen hat. Er
Grabplacten gebildete Schachbrettmuster nicht mehr deutlich erkennen, gibt kein,Gewölbe" frei, wie man im Frankreich des 17. Jahrhunderts
wenn es sich auch dort noch erhalten hat, wo der Eifer laizistischer oder sagte, d. h. keine Semauerte Gruft, sondern die nackte Erde' Die Totengrä-
kirchlicher Restauratoren sich nicht allzu drastisch ausgewirkt hat (in Chä- ber haben das Grab bereits vor geraumer Zeit ausgehoben, ohne es wieder
lons-sur-Marne zum Beispiel oder in kleinen, armen und abgelegenen zu schließen; manche Gräber blieben, wie wir wissen, so f ür nrehrere Tage
Marktflecken). Dort also, wo - wie in Frankreich und Österreich - die im geöffnet, nur notdürftig mit ein wenig Erde und Holzplanken bedeckt' Die
17. und 18. Jahrhundert aufeinanderfolgenden Säuberungen der Geistlich- ausgeworfene und seitwärts aufgeschüttete Erde enthält in krauser Mi-
keit nicht gewütet haben -und das heißt im katholischen Italien und im ,.h.,ng Gebeine und Schädel - die Überreste früherer Grablegungen' Und
kalvinistischen Holland. das war die vertraute Erscheinung einer protestantischen Kirche im l7'
In Sint Bavo in Haarlem ist der vollständig aus Grabplatten gebildete Jahrhundertl
Fliesenboden des 17. Jahrhunderts unversehrt erhalten. Der Anblick ist er- Die vom christlichen Altertum bis ins 18. Jahrhundert konstante Praxis
greifend, führt er doch vor Augen, was andernorts verschwunden oder un- war also die der Bestattung in den Kirchen-ausgesprochenen Nekropolen-,
kenntlich geworden ist: Die gesamte Bodenfläche der Kirche ist ein schach- und wenn die Konzilsväter auch in ihren Statuten kollektiv eine unbeug-
brettartig aufgefächerter Friedhof - die Gläubigen bewegen sich same juristische Position vertraten' so waren dieselben frommen Hohen-
unausgesetzt auf Gräbern. Diese großen Platten sind nicht zementiert. Eine priester, wenn es um ihr persönliches Schicksal ging, doch die ersten, die
jede ist in der Mitte mit einer Aushöhlung versehen, die einen Ansatzpunkt sie in ihren seelsorgerischen Amtshandlungen außer acht ließen'
für den Hebebaum des Totengräbers bot. Sie sind im allgemeinen numeriert Im 9. Jahrhundert schreiben die Bulgaren an Papst Nikolaus II', um an-
(arabische Zilfern aus dem 17. Jahrhundert, nach der Reformation ange- z-ufragen, ob es erlaubt sei, die Christen in einer Kirche beizusetzen' Der
bracht) wie heute der Aufriß eines Friedhofs: Eine derartige Sorgfalt der Papst antwortet, mit Bezug auf Gregor den Großen, daß man die Verstor-
räumlichen Lokalisierung dürfte übrigens sehr jungen Datums sein und benen, die keine Todsün den (grat'ia peccata) begangen hätten, durchaus
stellt eine rationelle Organisation des Erdreiches unter Beweis, die in frü- dort bestatten könne. Die Rechtfertigung, die er gibt, ist die des Elucida'
heren Epochen nicht denkbar Bewesen wäre. Sie macht aber auch deutlich, rium des Honorius von Autun (und damit nicht mehr das Argument der
in welchem Ausmaß die Gewohnheit um sich gegriffen hatte, den gesdmten Heilsgewißheir der Nachbarschaft der Märtyrer): Der Anblick des Grabes
Boden der Kirche für Grablegungen zu nutzen. Manche dieser Platten sind lädt dle Angehörigen des Verstorbenen ein, seiner zu gedenken und ihn
überdies mit einem Monogramm, einem Datum oder lVaffen geschmückt Gott zu empfehlen, wann immer sie den heitigen Ort aufsuchen' 'Gemäß
(manche davon sprechend wie die §Terkzeuge eines Seilers) oder mit ma- den Schriften dieser beiden Päpste [Gregor und Nikolaus]", kommentiert
kabren Symbolen - Totenköp{en, Skeletten oder Sanduhren. Reicher ver- ein Autor des 18. Jahrhunderts, L. Thomassin, ))war es {ür die Laien in Ita-
zierte sind selten, und wenn, dann immer mit heraldischen Motiven. lien völlig ausreichend, ein christliches Leben geführt zu haben und auf dem
Im kalvinistischen Holland hat sich das äußere Erscheinungsbild dieser Vege des Heils gestorben zu sein' um die Grabstellen, die sie sich in den

67
66
Kirchen gewählt hatten, zu segensreichen und heilbringenden zu machenn, T
I
ginn der Neuzeit verbreitete Mentalität kaum zwischen einer Bestattung in
den kanonischen Verboten zum Trotz.
der Kirche und in ihrem Umkreis. Es gab lediglich eine Hierarchie der Eh-
Gegen Ende des Mittelalters räumt Gerson umstandslos das Recht ein,
renplätze und der Andacht, von der cont'essio des Heiligen oder dem
sich durch temporalia ,sichere und ehrwürdige Orre für die Grablegung
Hauptaltar bis zum äußersten Rand des Friedhofs, und diese Kontinuität
in den Kirchen zu kaufen". Der Verstorbene stelle damit eine,fromme wurde durch die Scheidewand des Mauerwerks der Kirche durchaus nicht
Voraussicht [...] und ein gutes Herz" (40) unter Beweis.
aufgehoben. Man verhielt sich so, als ob dieses Mauerwerk nicht bestünde
Die einzige Auswirkung dieser kanonischen Verbote, wenn sie auch ein und als ob einzig die Distanz zum spirituellen Zentrum des ekklesiastischen
Prinzip aufrechterhielren, war also die, daß sie die übliche Bestattung in der
Gesamtkomplexes zählte, tumulatio in ecclesia oder sepelitio apud marty-
Kirche von der Entrichtung einer Gebühr abhängig machten. rum memorias (Bestattung in der Kirche oder in der Nähe der memoriae
Die Beisetzung konnte, wie die Sakramente oder die Einserzungsworte,
der Märtyrer), wobei beide Formulierungen bedeutungsgleich benutzt
nicht vom Klerus verkauft werden. Aber die Abweichung von dieser alge-
wurden.
meinen Regel konnte erkauft werden: das ist in etwa der Ursprung der Be-
Deshalb überrascht auch weniger die geringe Aufmerksamkeit, die man
stattungspfründen, wie sie von den Geistlichen erhoben und z.unächst einer
den kanonischen Empfehlungen schenkte (das war' üblich), als vielmehr die
Spende gleichgestellt, später dann als P{lichtleistung ge{ordert und mit dem
Beständigkeit und Hartnäckigkeit, mit der die geistlichen Autoritäten über
doppeldeutigen und ein wenig schamhaften Titel laudabiles consuetudines
ein Jahrtausend hinweg eine Regel aufrechterhielten, die doch nie beachtet
(löbliche Gewohnheiten) belegt wurden. rwenigstens erklärten die Kanoni-
wurde. Die Konzilsdekrete haben eine theoretische Vorstellung vom ge-
ker des 17. und 18. Jahrhunderts sie so. ln seinem Buch über L,Ancienne
heiligten Raum im \ü/iderspruch zur Praxis fortbestehen lassen; in einer
et la Nourelle Dßcipline de l'Eglise (1725) gibt der
Jurist Thomassin seinem Velt, die es nicht mehr verstand, perpetuierten sie das traditionelle Vider-
Kapitel über das Bestatrungsrecht den Titel
"Die Spenden für die Beiset- streben, den geweihten Raum des Tempels mit dem der Verwesung der To-
zungen seit dem Jahre 1000 und die Simonie, die damit begangen werden
ten zusammenfallen zu lassen. Ihre Annäherung zog keine Pro{anation
kann" und führt darin aus: ,Man hätte die Kirche nie genötigt, die Verbote,
oder Entweihung mehr nach sich.
die die Geschäftemacherei mit Grabstätten betreffen, derart oft zu wieder-
Den Laien und sogar den Klerikern war in ihrem persönlichen Verhalten
holen, wenn die Gläubigen sich allesamt damit zufriedengegeben hätten,
clie im Kirchenrecht noch immer festgehaltene Vorstellung eines geweihten
auf den öffentlichen Friedhöfen bestattet zu werden, um da die allen ge-
Raumes fremd geworden. Sie waren, ganz naiv, überzeugt, daß es, den ka-
wisse Auferstehung zu erwarren, die vielleicht sogar um so glorreicher ist
nonischen Verboten zum Trotz, keine Unverträglichkeit zwischen der
für die, die weniger auf diesen leeren und lächerlichen Ruhm hingearbeitet
heiligen Stätte und der Nachbarschaft der Toten gab, wie sie sonst im Hin-
haben, der sich noch durch den Ort der Bestattung auszeichnen möchte..
blick auf die alltägliche Präsenz der Lebenden bestand. Die geistige Grenze
Soweit die Auffassung eines gebildeten Priesters zur zeit der Aufklärung,
zwischen dem Sakralen und dem Profanen bleibt eher iließend, und zwar
die der mittelalterlichen und volkstümlichen Mentalität durchaus fer,st.hi.
bis hin zu den Reformen des 16. und 17. Jahrhunderts: das Profane wurde
"offensichtlich., fährt er fort, ,hat man für einen ansehnlicheren platz als vom Ubernatürlichen durchsetzt, das Heilige vom Naturalismus infiltriert.
den auf dem öffentlichen Friedhof [d. h. für einen platz in der Kirche] eine
bestimmte summe gefordert. Beisetzungen auf diesen Friedhöfen waren
kostenlos, die Reichen wollten sich aber hervortun, indem sie sich in den
Aitre und charnier
Kirchen bestatten ließen; man gewährte ihnen das aufgrund ihrer Gebete
und großzügigen Geschenke, und schließlich forderte man diese Ge- I)ie enge Beziehung zwischen Kirche und Friedhof läßt sich noch an den
schenke wie geschuldete Verbindlichkeiten." (40) \Worten zu ihrer Bezeichnung und an der Mehrdeutigkeit ihres Gebrauchs
Die Gebühren-"Erhöhung" im Verhältnis von Friedhof zu Kirche macht
ablesen.
sehr gut deutlich, daß zwischen beiden lediglich eine Differenz der Acht-
Um einen Friedhof anzulegen, erbaute man eine Kirche. In einer Ur-
barkeit bestand. In lvirklichkeit unterschied die im Mittelalter und zu Be-
kunde aus dem Jahre 870 erinnert Ludwig der Deutsche daran, daß seine

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69
V
Eltern eine Kirche haben errichten lassen, ,damit in deren Umkreis ein zunächst der halbkreisförmige Bereich, der die Apsis umgab: in exhedris
Friedhof für die Toren zur Verfügung srando. (a1) Die Basilika Notre- ecclesiae (in der Rotunde der Kirche). Anfangs barg er die verehrten Grab-
Dame in Tours ist zur Bestattung der Armen aufgeführt worden. Der Ci- stätten, die man noch nicht im Chor unterzubringen wagte, in cancello. Die
metiöre des champeaux in Paris ist der sehr große Friedhof der sehr kreinen Leichname des Heiligen Martin in Tours und des Heiligen Germain in Paris
Pfarrkirche saints-lnnocents, wobei in diesem Falle der Bereich der pfarrei ruhten dort in Kapellen, bevor sie ins Allerheiligste unter dem Hauptaltar
über den der Friedhofsmauern nicht hinausgeht. Die vorre ecclesia .-d, überführt wurden.
cirneterium sind nahezu synonym. Ducange nennt cimeterium ,eine Kir- Die andere privilegierte Zone war der paradisus oder Vorplatz. Eben da
che, in der die Gebeine der Verstorbenen bestatret sind". (+2) fand der erste Laie seine Ruhe, der beinahe in der Kirche bestattet worden
'Wenn
man aber auch eine Kirche erbaute, um einen Friedhof zur Verfü- wäre, der Eroberer Konstanttn.Der paradiszs war das irnpluaiurn sub stilli-
gung zu haben, so zögerte man doch, einen Friedhof zur Kirche werden cidio,wter den Wassertraufen, die ebenfalls zum geweihten Kirchenraum
zu lassen, und zwar, wie wir gesehen haben, aus rechtlichen Gründen. geworden waren, weil sie.längs des Daches und der Mauern verliefen: quod
"§(/enn vor der Veihe der Kirche Tote beigesetzt worden sind, so soll sie et impluvium dicebatur area ante ecclesiam quae dicebatur paradisus (der
nicht mehr geweiht werden." (43) Das Konzil von Tribur (g95) {ordert so- auch impluaium gena'nnte Bezirk vor der Kirche, der paradisus hieß). Im
gar, daß man für den Fall, daß zu viele Gräber vorhanden sind, den Altar Französischen sagte man sous les goufiieres.
i
wieder verrückt, wenn man ihn bereits aufgestellt hat. Eben deshalb sind
die merowingischen Nekropolen, wenn eine Kirche an Ort und Stelle Un sarkeu t'ist appareiller
fehlte, zugunsten der nächstgelegenen aufge.lassen worden. A metre empris sa ftiort sun cors
Die Friedhofsfunktion der Kirche trat zunächst im Kircheninnenraum { Suz La gutiere de det'ors. (47)
in Kraft und setzte sich, jenseits ihrer Mauern, in den Raum hinein fort, ,

der die passus ecclesiastici in circuitu ecclesiae (ekklesiastischen Gefilde Im südwestlichen Frankreich, wo Konstantin häufig zu Pferde an der
rings um die Kirche) bildete. Das lü(/ort Kirche bezeichnet also nicht nur lW
est{assade abgebildet wurde, über der Vorhalle, sagte man auch: ',sous le
das Bauwerk, sondern den ganzen sie umgebenden Raum. So umfaßten Constantin de Rome [unter dem römischen Konstantin], der sich im rech-
dem sprachgebrauch im Hennegau zufolge die öglises parocbiales (paroissa- ten Teil der Kirche befindet".
/es [Pfarrkirchen]) Schiff, den Glockenturm und den Friedhof". Sieht man von diesen bevorzugten Stellen ab, so bestattete man im Um-
"das 1++;
Der Friedhof im eigentlichen und restriktiven sinne war also einfach der kreis der Kirche, in atrio, im Ho{, der später zum Friedhof im eigentlichen
Hof der Kirche: atium id est cimeterium (Kommentar zum grazianischen Sinne werden sollte. Man darf also sagen, daß einer der ältesten Namen zur
Dekret). Attre und cbarnier sind die ältesten .Worte zur Bezeichnung des Bezeichnung des Friedhofes weder die religiöse Bedeutung der Ruhe oder
Friedhofs in der französischen Umgangssprache. Das wort cimetiire isr des Schlafes noch die realistische der Bestattung hat: er meint ganz einfach
lange vom gelehrten rJ(ortschatz der Geistlichen bevorzugt worden, ein la- den Hof der Kirche.
tinisiertes griechisches Fremdwort. Erzbischof rurpin drängt Roland, ins Ein zweites'Wort ist als Synonym zu aitre benutzt worden: cltarnier.
Horn zu stoßen, damit der Kaiser und sein Troß herbeieilen, um sie zu rä- Beide werden in der Chanson de Roland bedeutungsgleich benutzt. Als
chen, zu betrauern und in den ,Höfen" der Klöster (en aitres de moustiers Karl der Große und sein Heer in den Gefilden anlangen, wo die Leichname
[a5]) zu bestatten. Ein Chronist berichtet: ,Si prist en force et l,attre et Rolands und seiner Geiährten liegen, läßt er Rast machen: "All ihre
l'öglise de la oille.. Man sagte attre Saint-Maclou ebenso, wie man auch Freunde, die sie dort tot fanden, trugen sie alsbald zu einer gemeinsamen
öglise Saint-Maclou sagte. Im Französischen ist das rVort erst vom 17. Grabstätte" lAd un carner sernPres les unt Portet). "LJnter frommen Gesän-
Jahrhundert an durch cimetiöre ersetzt worden; es hat sich jedoch im Eng- gen lassen sie die Beinhäuser öffnen" fcbarnersf. "Nachdem die Getöteten
lischen, im Deutschen und im Holländischen erhalten (cburchyard,Kirci-
ho|, berkbof laQ). U n sarheu... Einen Sarg ließ er sich zurichten,/ Um darin nach seinem Tode seinen Leich-
Der Teil des atrium, wo man mit Vorliebe Beisetzungen vornahm, war nam/ Unter der Dachtraufe draußen beizusetzen.

70 71,
T
Iin der Schlacht von Formigny, la50] in großen Beinhäusern len de grands Im'W'ort cltarnier hat sich die allgemeine Bedeutung von Friedhof erhal-
cbarniers) beigesetzt worden v/aren...". (48) ten: gegen Ende des Mittelalters bezeichnet es überdies auch einen Teil des
Gegen Ende des Mittelalters scheint charnier sehr verbreiter gewesen zu Friedhofes, einen so spezifischen Teil, daß er später pro toto eintreten
sein und dasIV ort aitre erserzr zu haben. Aitre ist nur noch erhalten geblie- konnte: das Beinhaus, aber auch die Galerien, in denen die Gebeine zu-
ben vor dem Eigennamen eines Heiligen, der dann zum Ortsnamen gewor- gleich auf - und ausgestellt wurden. Diese Entwicklung hängt von der Form
den ist: aitre Notre-Dame, attre Saint-Maclou" ab, die der kirchliche Gesamtkomplex angenommen hat, das von Mauern
Nach Furetiöre leitet es sich von carnarium her,
"dx5 bei Plautus in der- umschlossene atrium.
selben Bedeutung vorkommto. Caro ist aus dem klassischen Latein mit Vie man Bestattungen sub stillicidio vornahm, so auch in porticu (im
mehreren Bedeutungen ins Kirchenlatein des Mittelalters übergegangen: Französischen pröau fKlosterhof]): unter den Vordächern oder an die Kir-
das §flort ist Fleisch (chair) geworden, die fleischliche Sünde, das Fleisch che angebauten Galerien, unter Nischen od.er enfeux, die wie ausgehöhlte
ist schwach usw. In der Umgangssprache ist dasselbe cdlo zü Ausdrücken Arkaden im Mauerwerk aufeinanderfolgten. Die Säulengänge setzten sich
weitergebildet, die Fleisch bezeichnen (das italienisch e carne), aber auch - an den Mauern fort, die ,Jas atrium umschlossen und ihm das äußere Er-
im Mittellatein - carona, das Aas. scheinungsbild eines Klosters verliehen (das seinerseits den Mönchen oder
Carnier meint bei Rabelais die Lokalität, wo man geräucherten Schinken Kanonikern als Friedhof diente). Die alten Friedhöfe ähnelten ganz und gar
und Speck aufbewahrt, wie bei Plautus. R.-J. Bernard weist solche Räu- Klöstern: eine - längs der Kirche - oder mehrere überwölbte Galerien, die
cherkammern noch im 19. Jahrhundert im Gdvaudan nach, ,wo sie häufig einen geschlossenen Hof säumen.
in nächster Nähe des Zimmers des F{ausherrn lagen.. (49) Heute bezeich- Um das 14. Jahrhundert entwickelte sich die Gewohnheit, die mehr oder
net das Vort die Umhängetasche des Jägers, den \(/aidsack. Im Alt{ranzö- weniger ausgebleichten Gebeine der alten Grabstellen zu exhumieren, um
sischen benennt carnier aber auch den geweihten Ort, an dem die Toten Platz für neue zu schaffen, und sie in den Dachstühlen der Galerien oder
ruhen: carnarium oder carnetilm im Kirchenlatein. Vir haben es gerade in den Gewölbezwickeln (wenn es welche gab) aufzuschichten. Sie waren
im Chanson de Roland zitiert, wo es ohne jede pejorative Nebenbedeutung dort manchmal dem Blick entzogen (so entdeckte man im Jahre 1812 in Pa-
gebraucht wird. Zv'ei{ellos hat der allgemeine Sprachgebrauch anfangs ein ris über den Gewölben einer nicht mehr benutzten Kirche bei deren Abriß,
grobes, volkstümliches \i(ort wie unser heutiges oieille carne (altes Aas) in der Gegend des heutigen Collöge de France, eine große Menge von Ge-
benutzt, um zu bezeichnen, was in den Schriftsprachen <J.er litterati keinen beinen), häufiger aber offen zugänglich. (50)
Namen hatte, mit Ausnahme der griechischen, noch zu gebildeten Vokabel Man nannte diese Beinhäuser und die sie überformenden Ossuarien
cimetiöre - eine Parallelentwicklung zu der, die zu tdre (aus mittellateinisch charniers,den "Ort in der Umfriedung der Kirche, der die Gebeine der To-
testa, Schale,1 geführt hat. ten enthält«. (51)"Dort auf dem Cimetiöre des Innocents", so Guillaume
Hier handelt es sich .jedoch nicht um die Ersetzung eines \flortes durch [.e Breton in seinem Paris sous Cbarles Vl
"ist ein sehr großer Friedhof,
ein anderes, sondern um eine Neuschöpfung, die auf ein neues Phänomen eingeschlossen von Häusern, die cbarniers heiße n, wo die Gebeine der To-
reagiert, das des Friedhofes. Und eben dieses Auftauchen ist interessanr. Bei ten aufgeschichtet sind." (52)
den Römern hatten das sepulcrum, der tumulus, das monumentum und Der Trösor von Ranconner-Nicot aus denr Jahre 1606 de{iniert charnier
später die tumba größere Bedeutung als der Raum, der diese Grabmäler wie folgt: "Der Ort, an den man die Gebeine der Verschiedenen schafft,
umgab. Man könnte sogar sagen, daß es keinen Friedhof gab, sondern nur ossuaria." Oder nach Richelet: ossium conditorium,,Ort auf einem Fried-
mehr oder weniger dicht nebeneinanderliegende Gräber. hof [hier also nicht der ganze Friedhof], wo man die Gebeine der Toten auf-
Für die mittelalterliche Mentalität hat, umgekehrt, der Friedhof mehr stapelt und ordnet" (so sprach man auch von den cltarniers Saints-lnno-
Gewicht. Zu Beginn des Mittelalters hat das anonym gewordene Grab i cents).
kaum mehr Bedeutung. \Was z-ählt, ist der öffentliche und geschlossene Diesen Dokumenten zufolge bez.eichnet charnier das ossuaire über der
R.-aum, der die Grabstellen in sich birgt. Daher das Bedürfnis, ihn zu benen- Galerie, aber auch die Galerie selbst. Auf dem Cimetidre des Innocenrs enr-
sprachjeder Arkade einer Galerie ein geschlossener Raum, den man char-

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nier nannte. Jedes cbarnier war wie eine Kapelle eingerichtet und trug den existieren) und der Rue aux Fers lag. Das nämlich waren die alten Grenzen
Namen ihres Stifters an der Mauer eingraviert. "Dieses Beinhaus wurde er- der Eglise des Saints-Innocents und ihres Friedhofs - und hier ist einmal der
baut und der Kirche übergeben um der Liebe Gottes willen im Jahre 1395. Friedhof beträchtlich größer als die Kirche.
Betet zu Gott für die Verschiedenen.. ,Armand Estable ließ von seinen Cbarnier: der Hof (oder aitre) ist von Beinhäusern umgeben, die zu-
hinterlassenen Gütern dieses Beinhaus errichten, zur Herberge für die Ge- gleich geschlossene Galerien, Grabkapellen und Ossuarien sind. Der
beine der armen Verschiedenen.. Ebenso äußert sich im 18. Jahrhundert Friedho{ der Sainrs-Innocents enthält, Corrozet zu{olge, "LXXX Bogenar-
Sauval: "Vas auf diesem Friedhof Ides Innocents] noch bemerkenswert ist, kaden und Beinhäuser ohne die Mauern der Kirche", d. h. im gesamten
ist das Grab des Nicolas Flamel und seiner Frau Pernelle, das ganz in der Umkreis der Kirche. (56) Der Cimetiöre des Innocents ist heute ver-
Nähe der Pforte an der Seite der Rue Saint-Denis liegt, unter den Beinhäu- schwunden; Beinhäuser aber gibt es noch in der Bretagne, so in Rouen, in
sern.n Testatare des 16. und 17. Jahrhunderts wünschten sich, "unter den Blois, in Montfort-l'Amaury usw. Die von den Galerien umschlossenen
Beinhäusern" (53) bestattet zu werden. Räume waren Grabkapellen, die für Bestattungszwecke ebenso begehrt
Schließlich schwand, als letzte Phase dieser semantischen Entwicklung, waren wie der Kircheninnenraum. Auf dem Cimetiöre des Innocents betrug
im 17. Jahrhundert der Ausdruck ossuaire aus dem Sprachgebrauch, wenn der Bestattungspreis in den Kapellen der Orgemont und Villeroy, zwei
auch nicht aus den Wörterbüchern, und das \X/ ort cbarnier bezeichnet nur- weitläufigen Beinhäusern neben dem Hof, im 18. Jahrhundert 28 Livres.
mehr die Galerie um die Kirche und ihren Hof. Es veraltet bald, wird ar- Unter dem kleinen charnier (an der Schmalseite) lag der Preis noch höher,
chaisch, und damals erobert sich dann das aus dem Kirchenlatein hervorge- und zwar aufgrund der Begehrtheit dieses Orres, wo die Gebeine nicht allzu
gangene und bereits seit dem 16. Jahrhundert benutzte cimetidre seinen schnell verwesen konnren: für jedes Grab mit beweglicher Grabplatte 25
festen Platz in der gesprochenen Sprache. Livres, ohne bewegliche Grabplatte 20 Livres. Unter den großen charniers
Soweit wenigstens die semantische Entwicklung im Französischen. Im (an den beiden Längsseiten) für ein Grab mit beweglicher Grabplatte 18,
Englischen scheint der Gebrauch des lüortes cemeter! in der Umgangs- ohne bewegliche Grabplatte 15 Livres. überall sonst im Umkreis des aitre
sprache sogar noch später üblich zu werden. Churcbyard oder graaeyard - wenn auch nicht in den großen Gemeinschaftsgräbern - 5 und 3 Livres
sind wohl erst im 19. Jahrhundert in der Umgangssprache durch cemetery. (darin einbegriffen die Lieferung des Leichentuches). lVir kennen die Be-
ersetzt worden, und dann auch nur, um, in direktem Gegensatz, den rural stattungspreise der Kirche Saint-Louis-en-l'Ile aus dem Jahre '1697; die
cemeteö) zu bezeichnen. (54) Rechnung des Totengräbers belie{ sich auf 12 Livres, dazu kamen 6 Livres
Pfarreigebühren für Rechnung des Priesters, insgesamr also 12 bis 18 Liv-
Die §0orte bringen die Dinge nicht unmittelbar zum Ausdruck: der mittel- res, eine Summe, die der der großen charniers der Saints-Innocents ver-
alterliche Friedhof ist aitre und charnier in eins. gleichbar ist.
Aitre: ein kleiner rechteckiger Hof, dessen eine Seite mit der Außen-
mauer der Kirche zusammenfällt. Durch seine beschränkten Ausmaße un-
terscheidet er sich ebenso vom modernen Friedhof wie vom weitläufigen Die großen Gemeinschaftsgräber
und nur undeutlich abgegrenzten Gräber{eld des Altertums. Wenn ein mit-
telalterlicher Friedhof an die Stelle eines galloromanischen oder merowin- Die offenen Kammern über den Galerien waren mit Schädeln und ausge-
gischen tritt, so nimmt er nur einen kleinen Teilbereich davon ein: der bleichten Gebeinen gefüllt, die der frischen Luft ausgesetzt und vom Fried-
Friedhof schrumpft, indem er sich hinter die kirchliche Einfriedung zu- hof aus deutlich sichtbar waren.
rückzieht. (55) \(ir können uns heute nicht mehr vorstellen - und auch zu Im freien Raum zwischen den Beinhäusern - der nur selten mit Bäumen
ienerZeir war das erstaunlich -, daß sich mehr als ein halbes Jahrtausend bestanden, häufiger jedoch mit Gras und Strauchwerk bewachsen war, und
Pariser Tote auf dem kleinen viereckigen Platz zusammenpferchen ließ, z-war so, daß sich der Geistliche und die Gemeinde das \Veiderecht und
der, kaum größer als der heutige Square des Innocents, zwischen der Rue manchmal sogar die Erträge streitig machten - fanden sich einige wenige
Saint-Denis, der Rue de la Ferronnerie, der Rue de la Lingerie (die alle noch deutlich als solche gekennzeichnete Gräber, einige Ehrenmäler zu liturgi-

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schen Zwecken, Kreuz, Altar, Predigtkanzel, Totenleuchte, die aber doch die Obrigkeit des Chätelet,
"einige separare und abseits liegende Friedhöfe"
den größten Teil des Innenhofes frei ließen. Ebenda setzte man die Armen zu finden, weiter abseits als die Rue Saint-Denis, ,um darauf die Leichname
bei, die die erhöhten Gebühren der Bestattung in der Kirche oder unter den derer, die künftig an der Pest sterben, und derer, die aus Armut eingewilligt
Beinhäusern nicht bezahlen konnten. Man schichtete sie in die großen Ge- haben, öffentlich und ohne Grab beigesetzt zu werden, zu betten und zu
meinschaftsgräber, regelrechte Senkgruben von 30 Fuß Tiefe und 5 mal 6 bestatten". 'Auf dem Friedhof des H öpital de la Trini16 sollen hinfort nicht
Metern Flächeninhalt, die 1200 bis 1500 Leichname fassen konnten, die mehr die Leiber derer bestattet werden, die im Krankenhaus der besagten
kleinsten noch immer 600 bis 700. Eines davon war immer geöffnet, stadt verstorben sind, damit wäre der besagte Friedhof der Trinit6
manchmal sogar zwei. Nach einigen Monaten oder Jahren, wenn sie gefüllt wachs eingerichtet und bestimmt, Bleibe und si/ohnstatt der armen ^ü2u- Kinder
waren, schloß man sie und hob daneben andere aus, und zwar in dem Teil zu sein, die im genannten Höpital ernährt und unterhalten werden. An
des Friedhofs, der am längsten nicht benutzt worden war. Die Gräber wur- Stelle des besagten Friedhofes wird ein geeigneter und hinreichender platz
den nur notdürftig mit Erde bedeckt, wenn sie geschlossen wurden, und auf der Isle Macquerelle gefunden werden, der vom Seineufer begrenzt
die Völfe, sagte man, hatten in kalten 1ü/intern keine Mühe, Leichname wird." "Abermit Rücksicht auf das, was die Stadt ein Jahr später [1555]
herauszuscharren (weder die Vö[fe noch die Diebe, die im 18. Jahrhundert befürchtete' daß nämlich vorherzusehen sei, daß jene, die mit der uberf tih-
die Sektionsamateure mit Material versorgten). Die Anlage derartiger Grä- rung der Leiber beauftragt seien, sie in den Fluß werfen würden, um
ber reicht wohl nicht weiter zurück als ins I 5. J ahrhundert, u nd sie is t sicher schneller mit der Arbeit fertig zu sein, ging man
Imit dem Friedhof] nicht
üblich geworden (das ist jedoch nur eine Hypothese !) zu Zeiten der großen weiter vor die Stadt hinaus... (59)
Pestepidemien, die die im Zuge des demographischen Aufschwungs des 13. Schließlich blieben die großen Gemeinschaftsgräber, von denen die Do-
Jahrhunderts bereits übermäßig aufgeblähten Städte entvölkerten. Seit den kumente vor allem im Zusammenhang mit Epidemien sprechen, nicht mehr
Zeiten Glabers hob man sie etwa bei Hungersnöten aus: "Da man wegen nur auf Phasen großer Seuchensterblichkeit beschränkt. Sie wurden we-
-
der großen Zahl der Opfer nicht jeden Leichnam einzeln bestatten konnte, nigstens seit dem 16. und bis zum Ende des I 8. Jahrhunderts zum allge-
-
erbauten die guten, gottesfürchtigen Seelen mancherorts Beinhäuser, in de- meinen Bestattungsort der Armen und der verstorbenen aus bescheidenen
nen sich mehr als 500 Leichname bestatten ließen." Das Journal d'wn bour- Verhältnissen. Im Jahre 1z6i schilderte ein mit der Beschreibu.g der pari-
geois de Parrs berichtet im Oktober 1418: ser Friedhöfe betrauter Untersuchungskommissar des Chätelet in seinem
"Es starben in so kurzer Frist
derart viele Menschen, daß man auf den Pariser Friedhöfen große Gräber Bericht den Cimetiire des Innocenrs wie folgt: ,\(ir bemerkten auch, daß
ausheben mußte, in die man 30 bis 40 Personen pferchte, wie Specksrrei{en es gegenwärtig ungefähr zwanzig Fuß von dem Notre-Dame-de-Blois ge_
zusammengeschichtet, und nur mit einer dünnen Erdkrume darauf." \(e- nannten Turm an der Nordseite ein Gemeinschaftsgrab gibt, das der To-
nig später spricht es dann von großen Gräbern, deren jedes ungefähr 600 tengräber, wie er uns sagte, im Januar dieses Jahres eröffnet hat, ungefähr
Leichname enthielt: ,Man mußte erneut große Gemeinscha{tsgräber aus- t5 auf 18 Fuß im Geviert und 20 Fuß tief [d. h. etwa 6 Meter], mit verschie-
heben, fünf auf dem Cimetiöre des Innocents, vier auf dem Cimetiöre de denen Brettern nur notdürftrg bedeckt; gen. Grab konnte 600 bis 700
la Trinit6 und an anderen Stellen." (57; l.eichname aufnehmen, deren es zur Zeit 500 enthielt. Er fügte hinzu, daß
Auch Sauval glaubt, daß der Cimetiöre de la Trinit6 aus der Zeit der gro- im Mai des laufenden Jahres ein anderes angelegt worden sei, ohne uns den
ßenschwarzenPestvon 1348 stammt: "Im Jahre 1348 gab es in Paris derart betreffenden orr nennen zu können, ueil er über die Reibent'olge dieser
viele Pestopfer, daß die Friedhöfe die toten Leiber geradezu wiederaus- Ausbebungen heine genaue vorstellung mebr babe. was gelegenrlich zur
spieen. Und das verpflichtete Philippe de Valois, dem Gildenmeister der Folge hat, dall man bei neuen Aushebungen auf nicht vollständig verwesre
Kaufleute zu befehlen, außerhalb der Stadt nach örtlichkeiten Ausschau Leichname stößt und innehält, sei es, um sie durch neue Besrattungen auf-
zu halten, wo man neue anlegen konnte, dergestalt, daß er einen großen, zufüllen, sei es, um sie zu schließen und sich anderswohin zu wenden..
an die Trinit6 grenzenden Garten an der Rue Saint-Denis wählte, den er Diese großen Gemeinschaftsgräber wurden nicht nur auf den alten
mit den Mönchen herrichtete." (58) Friedhöfen ausgehoben, die aus dem Mittelalter srammten. Auf einem ganz
Nach den Epidemien der Jahre 1.544,1545,1548 und 1553 bemühte sich rreuen Friedhof, den der Kirchenvorstand der Kirche Saint-Sulpice 1746 in

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f,

der Rue de Bagneux angelegt hatte, fand ein Kommissar imZuge derselben nommen. Umgekehrt hängt die Verwendung von Ossuarien im nicht-me-
Untersuchung ein Grab von 15 auf 15 Fuß im Geviert und 18 Fuß Tiefe, diterranen Frankreich mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen zusam-
obedeckt mit einem Eisengitter, das 500 Leichname fassen konnte". Alles men. Es handelt sich um ein Massenphänomen, das sich im Hochmirtelalter
verläuft so, als ob die Maßnahmen und Gewohnheiten, die sich eingebür- gegen Ende des stürmischen Wachstumsprozesses der Städte verbreitet,
gert hatten, um in den Städten in aller Eile die Pestopfer des 13. und 14. etwa im 14. und 15. Jahrhundert, als die engen Räume der Kirchhöfe die
Jahrhunderts zu beseitigen, bei der Bestattung aller derer beibehalten wor- sterblichen überreste einer wachsenden Bevölkerung, die in periodischen
den wären, die die Beerdigungsgebühren für eine Beisetzung in der Kirche Abständen immer stärkeren, epidemiebedingten Sterblichkeitsschüben
oder unter den Beinhäusern nicht aufbringen konnten. (60) ausgesetzt war, nicht mehr fassen konnten. Man räumte also auf, indem
Die großen Gemeinschaftsgräber rechtfertigen den Namen "Fleischfres- man die Gebeine exhumierte und sie dahin schaffte, wo noch Platz war,
ser", den man dem Cimetiöre des Innocents gegeben hatte, den aber auch d. h. in die Söller über den Gewölbezwickeln.
andere Friedhö{e verdienten. "Auf diesem Friedhof gibt es so viele Gebeine Diese Praxis wurde noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf bretoni-
von Verstorbenen, daß es schier unglaublich ist«, sagt Corrozet; aber das schen Friedhöfen befolgt, wo man, wie Anatole Le braz berichtet, nach
liegt an einer besonderen Eigentümlichkeit: "Die Erde dess.'Iben [Friedho- fünf Jahren die Gebeine des letzten Grabinhabers ins Beinhaus schaffte, um
fes] ist derart faulig, daß ein menschlicher Leichnam in neun Tagen verwest wieder freien Platz zu haben. Der Totengräber von Penvenan hatte ,sechs
ist." Den Alyscamps von Arles schrieb man dieselbe Eigentümlichkeit zu, Mal die ganze Breite des Friedhofes durchgearbeitet", d. h. ,er hatte nach-
die man als übernatürlich auffaßte. §flenn die Testatare, zuweilen Bischöfe, einander in ein und dieselbe Grube bis zu sechs Tote gebettet". Er übte sein
die sich nicht au{ dem Cimetiöre des Innocents bestatten lassen konnten, Amt genau wie alle seine Vorgänger aus - die Totengräber des 16. und 17.
verlangten, daß man ihnen eine Handvoll dieser Erde als Grabbeigabe im Jahrhunderts, deren Verträge mit den Kirchenvorständen sich in den No-
Sarg mitgeben solle, so zweiiellos wegen dieser wunderbaren Eigenschaft. tariatsarchiven erhalren haben: der von Saint-Maclou in Rouen erhielt am
Die in den Beinhäusern zur Schau gestellten Gebeine stammten aus diesen 27. Oktober 1527 drei Livres,
"weil er den Friedhof hergerichtet und die
Gräbern. Es gab zwei sukzessive Behandlungsverfahren: das eine betraf den Gebeine der Verschiedenen in der Galerie aufgeschichtet hat". (61)
ganzen Leichnam, das andere - nach der Verwesung des Fleisches - nur die
"Ein erfahrener Totengräber läßt sich schwerlich finden", fährt Anatole
Gebeine. Bekanntlich ist die Praxis der doppelten Bestattung auch in ande- Le Braz fort. "Er behielt die übersicht über die Gräber, die er im tiefen
ren Kulturen verbreitet, so etwa in Madagaskar; sie hat dort jedoch nicht Erdreich ausgehoben hatte, wie bei hellem Tageslicht. Die feuchte Erde des
dieselbe religiöse Bedeutung. Friedhofes war für seine Augen durchsichtig wie \Wasser. Der Rektor ver-
Hier muß ein auch für den Süden Frankreichs bezeichnender Sonderfall langte eines Tages von ihm, eines seiner Pfarrkinder zu bestatten oder bes-
zitiert werden, der vom allgemeinen Brauch der Beinhaus-Bestattung ab- ser: ,ihm seine Grube da auszuheben, wo vor fünf Jahren der große Ropertz
weicht. In den kleinen romanischen Kirchen Kataloniens findet man im bestattet worden war,. Aber der Totengräber kannte seinen Friedhof und
Mauerwerk ausgesparte Höhlen, die nach draußen führen. Sie waren dazu dessen Insassen nur zu gut. ,In jenem'§(inkel da, seht lhr, halten sich die
bestimmt, die Gebeine aufzunehmen, und wurden mit einem Epitaph ver- Leichname lange. Ich kenne meinen Ropertz. In der Verfassung, in der er
schlossen. Noch heute stößt man au{ derartige Höhlen. Of{ensichtlich wa- jetzt ist, hat das Gewürm nur gerade erst ange{angen, ihm die Eingeweide
ren diese Gräber so etq/as wie ,zweite" Grabstellen oder doch Gräber für z-u zerfressen,, "
die Gebeine, denn der ganze Leichnam hatte darin nicht Platz. Das Skelett
war also zerlegt worden. §ü'aren diese Grabstellen bedeutenden Persönlich-
keiten vorbehalten, die, nach der Verwesung ihres Fleisches oder seiner Die Ossuarien
Ablösung (2. B. durch Verbrühen), hier ihre Ruhe fanden? Diese Praxis hat
sich da entwickelt, wo die kanonischen Verbote der Bestattung in Kirchen Der auffälligste Zug der Beinhäuser ist die Zurschaustellung der Gebeine.
genauer respektiert worden sind: man hat die Beisetzung dann eben so nahe Für lange Zeit - sicher bis etwa ins 17. Jahrhundert - lagen c'lie Ge-
wie möglich der Kirchenmauer - oder besser noch: iz der Mauer - vorge- beine unbeachtet zu ebener Erde, in wahlloser Mischung mit Steinen und

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T

Kieseln. Ein heute verschwundenes Glasfenster der Sakrisrei von Saint-De- Haare, lange, seidige Haare, die bewiesen, daß es sich um den Kopf eines
nis (1338)stellte die barmherzigen lVerke des Heiligen Ludwig dar, darun- jungen Mädchens handelte." Dem iungen Mann blieb, wie der befragte
ter seine Bestattung von Toten. Gleichwohl wird keine Bestattung vor Au- Rektor entschied, nichts anderes übrig, "als lhn ins charnier de Pommerie
gen geführt, sondern das Zusammenscharren von Gebeinen: der Heilige zurückzutragen, woher .. ,1x6616". (62)
Ludwig {üllt einen Sack mit Schädeln und Hüftknochen; seine Gefährten, Die bretonischen Bestattungsbräuche geben uns einen Schlüssel zum
die ihm helfen, den Sack zu tragen, halten sich Mund und Nase zu. Auf Bil- Verständnis der Zurschaustellung der Gebeine an die Hand, wie sie seit dem
dern von Carpaccio ist der Friedhof mit Skelettresten und sogar halbver- Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert und später noch in der Bretagne,
scharrten Mumienteilen übersät. in Neapel und in Rom üblich war. Im 19. Jahrhundert wurden der makabre
'Wirrwarr und die Uberführung
Zu Zeiten von Pantagruel liegen die Schädel und Gebeine überall zuhauf der Gebein ein die prösentoirs der Beinhäu-
und dienen "den Meerkatzen auf dem Cimetiöre des Innocents, sich den ser durch Gesetz verboten. Im bretonischen'Westen wurden diese Bräuche
Hintern zu wärmen". Sie regen die Meditation eines Hamlet an. Maler und von den Behörden jedoch geduldet, und so blieben sie bis zum Ersten lWelt-
Radierer stellen sie dar, im Innern oder neben der Kirche, vermischt mit krieg erhalten. Aber - ein neues Lebensgefühl - die bretonische Familie,
aufgeworfener Erde. auch sie von jetzt an von der modernen Sorge um die Individualisierung
Allerdings hat man in den Städten vom 15. Jahrhundert an - und viel- des Grabes erfaßt,zogder traditionellen Anonymirdt des charnier eine Art
leicht sogar früher - begonnen, diese ungeheure, sich ständig aus der Erde kleines, individuelles Beinhaus vor, die boite ä cräne (Schädelkapsel). Diese
erneuernde Masse von Gebeinen aufzureihen und zu ordnen. Auf geradezu Kapseln waren mit einer zumeist herzförmigen Offnung versehen, die den
artistische Veise sind sie dann in den prösentoirs iüber den Galerien der Schädel zu betrachten erlaubte, wie man in den Reliquienkäsrchen eine Au-
Beinhäuser, in den Vorhallen der Kirchen oder in kleinen, eigens für diesen genöffnung anbrachte, um den Heiligen anschauen zu können. (63) Diese
Zweck bestimmten Kapellen neben den Kirchen zur Schau gestellt worden. Schädelkapseln waren nicht nur im lWesten gebräuchlich; sie kommen auch,
Von ihnen haben sich einige erhalten: eine an der französisch-belgischen zur selben Zeit, etwa im Beinhaus von Marville (Meuse) vor.
Grenze und die bretonischen Ossuarien. Sie haben keinen spezifisch breto- Eine bretonische Hymne ruft die Gläubigen auf, die in den Beinhäusern
nischen Namen. Man nennt sie garnal. Garnal - das ist das carnier der aufgeschichteten Gebeine zu betrachten (A. Le Braz):
Chanson de Roland, das charnier: diese garnals bilden in der Tat die
fremdartige und späte Hinterlassenschaft der Beinhäuser vom Ende des Venons au charnier, chrtltiens, voyons les ossements

Mittelalters und der beginnenden Neuzeit: "Hinter den Gitterstangen der De nos t'röres (. ..)
Gartenmaueröffnung, in bunter Mischung mit den Uberresten der Sarg- Voyons l'6tat pitoyable oü il sont rdduits (...)
bretter, sind die Gebeine zuhauf geschichtet; es kommt vor, daß sie gera- Vous les voyez, cassris, ömiettös (...)
dezu überquellen, und man kann, an der Außenlehne des Fensters, Reihen Ecoutez donc leur enseignement, öcoutez-le bien (...).
von moosigen Schädeln streifen, die aus leeren Augenhöhlen das Hin und
Her der Passanten beobachten." (Antoine Le Braz) Sehen mtß man. Die Beinhäuser waren prdsentoirs, dazu bestimmt, an-
So geschieht es, daß, ungefähr im Jahre 1800, eines Nachts geschaut zu werden.
"ein betrun-
kener junger Bursche einen Totenschädel mit nach Hause nimmt, den er Anfangs waren sie sicher nur zufälliges Behelfsdepot, wo man sich der
von einem Beinhaus aufgeklaubt hat; wieder nüchtern, packt ihn das nackte exhumierten Gebeine entledigte, einfach um Platz zu schaffen, und man
Entsetzen". So weit die allen Beiwerks entkleidete Geschichte. Sie hat der war durchaus nicht unbedingt darauf aus, sie zur Schau zu stellen. Dann
folgenden Legende zur Entstehung verholfen. Der Betrunkene glaubte, er aber hat man, unter dem Einfluß einer neuen, eben aufs Makabre gerichte-
könne einer Toten, die er auf dem Friedhof tanzen sah und die er einzufan-
Venonsaucbarnie,... LaßtunszumBeinhausgehen,ihrChristen,laßtunsdieGebeineunse-
gen versucht hatte, die Haube aus feinem Stoff abziehen. Er verbarg sie, rer Brider betracbren [. . .] Führen wir uns den erbarmungswürdigen Zustand, aor Augen, in d,en
heimgekehrt, in seinem Wandschrank, und am folgenden Tag "s156hisn, sie zurückgefallen sind. [...] Ihr seär sie, zerfallen, zerbröckelt [...] Hört also ihre Lehre, hört
anstelle der weißen Haube, ein Totenkopf, und auf dem Kopf §/aren noch sie gut.

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ten Sensibilität, etwa vom 14. Jahrhundert an, sich ihre sinistre Pracht zu- Gemeinschaftsgräber. Die Kreuze sind der einzige Schmuck dieser kahlen
nutze gemacht: man hat die Gebeine und Schädel derart angeordnet, daß Flächen. Manchmal findet sich sogar nur ein einziges, monumentales, auf
sie, rings um den Hof der Kirche, ein Dekor für das Alltagsleben dieser einem Postament errichtetes: ein Hosianna-Kreuz. Anderswo gibt es deren
sinnlich-prunkenden Zeiten bildeten. gleich fün{. Auf dem Cimetiöre des Innocents standen insgesamt fün{zehn.
Solche Kreuze fand man auf allen Friedhöfen, aber weniger zahlreich, iso-
liert und weit voneinander entfernt stehend: nichts, was an die dichtge-
Der große Freilandfriedhof drängten Kreuzreihen unserer heutigen Friedhö{e erinnerte. Im Erzkloster
oder pröau (Klosterho{) der Kanoniker von Vauvert sieht man "auf dem
Das aitre-charnier erhält sich bis ins 18. Jahrhundert. Es gab.iedoch noch Friedhof, der sich linker Hand befindet, wenn man ins prdau eintritt, meh-
einen anderen Typus von Friedhof. Ein Historiker der mittelalterlichen rere Kreuze, sowohl aus Stein als auch aus Holz."
Grablegungsbräuche, A. Bernard, hat darauf aufmerksam gemacht, daß Die Kreuze waren Stiftungen. Die einen zu liturgischen Zwecken wie die
vom 12. Jahrhundert an weitläufigere Friedhöfe in Erscheinung treten. Zur großen Hosianna-Kreuze, die Kreuze der bretonischen Kalvarien. Die an-
selben Zeit läßt man davon ab, die Sarkophage eng zusammenzudrängen, deren, kleiner, weniger zahlreich, bezeichnen die Grabstelle oder dienen
ja, man beginnt sogar, Steinsarkophage überhaupt aufzugeben. Dieses 12. eher als Bezugspunkt: sie sind von den Familien errichtet worden, die rings-
Jahrhundert ist auch die Epoche der Totenleuchten. um bestattet liegen.
So existieren neben den Kirchhöfen mit kleinen, von Beinhäusern um-
schlossenen Höfen damals auch größere Friedhöfe, so daß Gabriel Le Bras
schreiben konnte: "Die alten Friedhöfe haben mitunter immense Ausmaße" Asyl und bewohnte Stätte.
(Hervorhebung Ph. A. [6+]). Hauptplatz und öffentlicher Ort
Diese großen Friedhöfe waren immer den Kirchen und dem Zentrum der
kirchlichen Einfriedung benachbart. 'Wir erkennen sie im 17. Jahrhundert Der mittelalterliche Friedhof war nicht nur der Ort, an dem man Bestattun-
auf Stadtplänen von Gaigniöres (Notre-Dame in Evreux, Saint-Etienne in gen vornahm. Das Wort selbst, cimeterium,bezeichnete auch, wie Gabriel
Beauvais, die Abtei Saint-Amand in Rouen [65]). Le Bras hervorgehoben hat, einen Ort, wo man es aufgegeben hatte, Grab-
Bei Saint-Savin-sur-Gartempe, in dem kleinen Dorf Antigny, findet sich legungen vorzunehmen (66), wo man manchmal sogar nie beigesetzt hatte,
neben der Kirche ein weiter Platz, der heute die Stelle des alten Friedhofes der jedoch eine allen Friedhöfen - unter Einschluß derer, die auch weiterhin
einnimmt, auf dem Steinsarkophage des 12. und 13. Jahrhunderts ausgegra- für Beisetzungen benutzt wurden - gemeinsame Funktion erfüllte: der
ben und zur Schau gestellt worden sind; in der Mitte ein Altar-Kreuz: ein Friedhof war, im Verein mit der Kirche, Brennpunkt des sozialen Lebens.
Beispiel für diesen anderen Typus des mittelalterlichen Friedhofes. Er vertrat das antike Forum. Im Mittelalter und bis ins 17. Jahrhundert hin-
Der Grundriß dieser Plätze ist nicht mehr geometrisch und rechteckig ein entsprach er ebenso der Vorstellung eines öffentlichen Platzes wie der
wie der der Beinhäuser, sondern leicht oval, von lockerer und unregelmäßi- (heute ausschließlich gültigen) eines den Toten vorbehaltenen Raumes. Das
ger Form. Keine leicht erkennbaren Galerien und Beinhäuser mehr. Der \(ort hatte also zwei Bedeutungen, von denen sich vom 17. Jahrhundert
Friedhof ist zuweilen geschlossen, dann aber durch eine niedrige Mauer, bis heute nur eine erhalten hat.
von Bäumen gesäumt wie eine Hecke, von großen Pforten oder Breschen Diese doppelte Funktion erklärt sich aus dem Privileg des Asylrechtes,
durchbrochen, die von Karren passiert werden können. Diese Mauer be- das aus etwa denselben Motiven wie die Bestattung ad sanctos zustandege-
grenzt einen weitläufigen freien Raum: §(enn Boudain, der Zeichner von kommen ist. Der Schutzheilige gewährte den Lebenden, die ihn verehrten,
Gaigniöres, nicht die genaue Bezeichnung hinzugefügt hätte, wäre nicht weltlichen Schutz, wie er den Toten, die ihm ihren Leib anvertrauten, geist-
ohne weiteres zu erraten, daß es sich hier um Friedhöfe handelt. Wenn man liche Sicherheit bot. Die Reichweite weltlicher Macht endete an der Kirche
näher hinschaut, erkennt man gleichwohl einige Kreuze und kleine Recht- und ihrem atrium.Innerhalb ihrer Mauern standen Lebende wie Tote im
ecke. Die Rechtecke markieren die Lage der großen, oben beschriebenen Frieden Gottes: omnino sunt lcimeteria) in pace Domini.

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Unabhängig von seiner Bestattungsfunktion bezeichnet,Friedhof. also \(ohnsitz, immer aber in einen Ort der öffentlichen Begegnung verwan-
einen Asylraum rings um die Kirche. Deshalb wird er von Ducange defi- delt, gleich ob man dort weiterhin Bestattungen vornahm oder nicht.
niert als "Asyl im Umkreis der Kirche". Diese Bedeutung ist auch aus dem Flüchtlinge, die auf dem Friedhof um Asyl nachgesucht hatten, richteten
Kirchenlatein ins Französische übergegangen. '§(enn das 1Wörterbuch von sich dort dauerhaft ein und weigerten sich, ihn zu verlassen. Manche be-
Richelet auch keine derart explizite Definition des Friedhofs als eines Asyl- gnügten sich mit Kammern über den Beinhäusern. Andere erbauten sich
raums gibt wie das Glossar von Ducange, so verbürgt es diese Funktion in dort regelrechte feste \üohnstätten und verlängerten so den Akt einer Inbe-
seinem Kommentar doch ganz unzweideutig: "Die Friedhöfe sind immer sitznahme, den die kirchlichen Autoritäten eigentlich nur als zeitlich be-
und allgemein als Orte des Asyls anerkannt gewesen.« Ein zeitgenössischer grenzr hatren gelten lassen woilen. Nicht etwa, weil die Geistlichen es als
Historiker stellt fest, daß in der Bretagne "der Friedho{ sehr schnell die Be- anstößig empfunden hätten, daß man auf dem Friedhof wohnte, sondern
deutung von Zufluchtsort, von Freistatt angenommen hat". (67) weil sie die Kontrolle über seine Nutzung in Händen behalten wollten.
Eine diesmal von den Bollandisten verbreitete Anekdote mag diese Asyl- Ein normannisches Konzil aus dem Jahre 1080 fordert, daß die Flücht-
funktion veranschaulichen: "In England drang, bei einer privaten Fehde, linge nach dem Ende des Krieges zum Aufbruch genötigt werden sollen (de
eine feindliche Partei in ein Dorf ein und bemühte sich, die Wertgegen- atrio exire cogantt4r [70]), setzt aber auch fest, daß die ältesten dort Ansäs-
stände als Beute an sich zu bringen, die die Einwohner, zu ihrer eigenen sigen wohnen bleiben können. So werden die Friedhöfe von über den Bein-
Rettung, in Kirche und Friedhof verwahrt hatten. Auf diesem letzteren häusern errichteten \üohnstätten überschwemmt, die zum Teil von Prie-
hingen die Kleider, Beutel und sogar die Truhen in den Zweigen der stern bewohnt, zurn Teil an Laien vermietet wurden. Deshalb hat das Wort
Bäume. Die Banditen kletterten hinauf ; aufgrund der Fürbitte des Schutz- cimeteriam die Bedeutung eines Ortes angenommen, der bewohnt wird,
heiligen der Kirche aber brachen die Aste, sie fielen herab, und ihr Sturz und zwar dicht neben der Kirche: locus seu vicus lOrt oder Stadtviertel,
- und der der aufgehängten Gegenstände - riß ihre zu Füßen der Bäume Vohnsiedlung)forte Prope ecclesiam constitutus (Ducange). Es kommt vor,
wartenden Gefährten zu Boden." (68) \(ir haben bereits gesehen, daß man daß diese bewohnten Inseln den Friedhof in einem Ausmaß überwuchern,
in den Asten der Bäume auch die Särge der Exkommunizierten verwahrte. daß für Grablegungen kein Platz mehr vorhanden ist: dennoch bleibt die
Man »verzweigte" in derselben Weise auch die Gehängten:Bäume als die bewohnte Insel noch immer Friedhof, ihre Bewohner beanspruchen das
"Mädchen für alles" der Vergangenheit! andernorts umstrittene Privileg des Asylrechts, und schließlich erhält sich
Es wird also verständlich, daß die Asylfunktion unter diesen Umständen sogar das lüort: die place du Vieux-Cimetiire-Saint-Jean.
manchmal das Übergewicht über die Bestattungsfunktion erlangte. Nichts Zu Beginn des 11. Jahrhunderts prüft ein Tribunal der geistlichen Ge-
hinderte im Mittelalter daran - wie absurd uns das auch erscheinen mag -, richtsbarkeit, ob der landesübliche Brauch die Lehnsherren, domini vil-
Friedhöfe anzulegen, auf denen keine Beisetzungen vorgenommen wurden, larum, autorisiert,census,customae et alia seroita (Pachtzins, Gewohnheits-
ja Bestattungen soBar verboten sein konnten. In diesem Falle wurde ein von rechte und andere Dienstleistungen) auch den Bewohnern der Friedhöfe
Mauern umschlossener Raum, der im allgemeinen in der Nähe einer Ka- abzufordern. In S6lestat wird im 13. Jahrhundert beschlossen, daß die
pelle oder eines Bethauses la'g, sub priori immunitatis (unter dem Vorrang I"riedhofsbewohner durchaus Immunität genießen. (71)
der Unverletzlichkeit) geweiht. Ducange gibt für einen solchen den Toten Man wohnte also auf dem Friedhof , ohne sich im geringsten vom Schau-
untersagten und ausschließlich der Sicherheit der Lebenden anempfohlenen spiel der Bestattungen und von der i.iachbarschaft der großen Gemein-
Friedhof ein Beispiel: ad refugium tantum oivorum, non ad sepuhuram schaftsgräber beeindrucken zu lassen, die so lange o{fenstanden, bis sie
mortuorum (zum Schutz für die Lebenden, nicht für die Beisetzung der rchließlich gefüllt waren und geschlossen werden konnten.
Toten). Durch eine solche Gründung wollte der Bischof von Redon die Die dort Ansässigen waren nicht die einzigen, die auf dem Friedhof Um-
Mönche, von denen die Pfarre abhängig war, durchaus nicht um ihre Be- gang hatten, ohne sich etvras aus dem Anblick oder den Gerüchen der Grä-
stattungspfründen bringen, ohne doch andererseits die Lebenden des Lan- be r und Ossuarien zu machen. Der Friedhof diente als Irorum, als Haupt-
des eines Zufluchtsortes zu berauben. (69) rund Spielplatz, auf dem alle Einwohner der Gemeinde sich treffen, sich ver-
Die Asyl{unktion hat den Friedhof zuweilen in eine Art ständigen ,ammeln und spazierengehen konnten, um ihre geistlichen und weltlichen

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Geschä{te zu erledigen und ihre Liebschaften und Belustigungen zu betrei- und das Steinpult, das ihm zuweilen angeiügt war, rrug während des Ge-
ben. Die mittelalterlichen Autoren waren sich des öffentlichen Charakters sanges der Prozession das Evangelium. Zu Füßen eines dieser Kreuze war
der Friedhöfe durchaus bewußt: sie stellten den locus publicus ihrer Zeir der Einzug Christi in Jerusalem dargestellt.
den loci solitarii der heidnischen Gräberfelder gegenüber. Noch heute ist in unseren Breiten der Palmsonntag auf dem Lande ein
Nach der Formulierung eines Historikers der mittelalterlichen Fried- Totengedenktag: Die Gräber werden mit geweihten Zweigen geschmückt.
hofsrechtsprechung, A. Bernard, war der Friedhof dis "gsräuschvollste, Es erhebt sich natürlich die Frage, ob dieser Brauch nicht ganz einfach da-
belebteste, rurbulenteste und geschäftigste Gegend des ländlichen oder her rührt, daß die Palmsonntagsprozession im Hof der Kirche stattfand und
städtischen Gemeinwesens". Die Kirche war das »gemeinsame Hauso (72), daß dieser Ho{ auch für Bestattungen benutzr wurde. Im Mittelalter wur-
der Friedhof war der ebenfalls gemeinschaftliche offene Platz, und das zu den die Toten damit von den Lebenden in die österliche Liturgie einbezo-
Zeiten, da es keine anderen öffentlichen Stätten, keine anderen Foren der gen, weil der 1ifleg der Prozessionsteilnehmer an ihren Gräbern vorbei oder
Begegnung gab als die Straße - so klein und übervölkert waren die Häuser darüber hinweg führte und sie zugleich ihrer frommen Andacht teilhaftig
im allgemeinen. wurden. Der häufige Besuch auf dem Friedhof machte die Lebenden im all-
lm aitre,imHof der Kirche, versammelte man sich zu allen regelmäßigen gemeinen gleichgültig und stumpfte sie ab, mit Ausnahme der großen ri-
Glaubenskundgebungen, denen die Kirche selbst nicht genug Raum bot: tuellen Höhepunkte und Feste einer Heilsreligion, die im Gedächtnis der
Predigt, Prozession, Austeilung der Sakramente usw. Gemeinde das Bild der Toten an der Stelle der Grablegung selbst wieder-
Im Jahre 7429 "pred,igte der Bruder Richard eine ganze Voche lang auf belebte. (74)
dem Cimetiöre des Innocents, jeden Tag von 5 Uhr morgens bis 10 oder An Vallfahrtstagen war der Friedhof auch eine Station der Prozession.
1 1 Uhr, vor einer Zuhörerschaft von 5-6000 Personen.
" Fünf- bis sechstau- "Zwölftausendfünfhundert Kinder vereinten sich auf dem Cimetiöre des
send Personen auf dem winzigen Friedhofsplatz zusammengepfercht! "Er Innocents, um in langer Prozession, mit Kerzen in den Händen, zur No-
predigte von einem Podium von etwa eineinhalb Klafter Höhe herab, den tre-Dame zu ziehen und Gott für den Sieg in der Schlacht von Formigny
Rücken den Beinhäusern, das Gesicht der Charronnerie [der Abschnitt der zu danken." (75)
Rue de la Ferronnerie zwischen Rue Saint-Denis und Rue de la Lingerie; Es versammelten sich dort auch, zur Zeit der gegen die Hugenotten ge-
A. d. U.] zugewandt, in der Nähe des Totentanzes.. (73) bildeten Liga, alle Arten von zivilen und militärischen Aufzügen: Im Jahre
An manchen Kirchen wie der von Gu6rande oder der Kathedrale von 1588 "fanden sich, um neun Uhr abends, auf dem Cimetiöre des Innocents
Vienne hat sich eine Steinkanzel erhalten, die in die Fassade des Bauwerks zahlreiche Obersten und Hauptleure aus mehreren Kasernen ein, anZahl
eingehauen ist und nach draußen weist, in Richtung des alten, heute ver- e.lf Kompanien starko.
schwundenen Friedhofs. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ma- Zu seinen lebenden Bewohnern zählte der Friedhof mitunter sehr unge-
chen die Urkunden darauf aufmerksam, daß der Totengräber des Cimetiöre wöhnliche; weibliche Einsiedler ließen sich häufig dort einschließen: ,Am
des Innocents ein kleines Häuschen mitten auf dem Friedhof bewohnte, das Donnerstag, dem 1 1 . Oktob er 11442), wurde die Klausnerin der Innocents,
man noch prächoir (Predigtraum) nannte. Den Grundrissen zufolge hat es Jeanne la Vairiöre mit Namen, vom Bischof f)enis Desmoulins in einem
den Anschein, daß die maison de gardien (Haus des Kustos) sich ursprüng- ganz neuen Häuschen untergebracht, und vor ihr und der eigens zu dieser
lich an die \(/indung eines Vandelgangs anschmiegte, der die Eglise des In- Zeremonie zusammengeströmten Menge wurde eine schöne Predigt gehal-
nocents umlief und sie vom Friedhof im eigentlichen Sinne trennte. Dieses ten.« Von einer anderen, im Jahre 1418
"eingeschlosseneno Klausnerin hat
Häuschen wurde schließlich zum Amtsraum und dann vergrößert: bnreau sich das Epitaph erhalten:
de Saint-Germain fder t'ossoyeur war gleichzeitig Mandatar des Stifts
Saint-Germain; A. d. ü.]. Man hat also den Kustos schließlich im pr|choir En ce lieu gist seur Aliz la Bourgotte
des Friedhofes §üohnung nehmen lassen müssen. A son aiaant recluse tris d4oote,
Die Palmsonntagsprozession fand auf dem Friedhof stett: das große Ho- Rendue ä Dieu t'emme de bonne aie.
sianna-Kreuz gab ihr den Namen; es diente an diesem Tage als Ruhealtar, En cet bostel aoulust itre asseruie

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Oi a rtlgni humblement et longtemps sprochen, auf einer eigens zu diesem Zweck erbauten Steinestrade in einer
Et demeuri bien quarante-six ans. der Ecken wo nicht des Friedhofes, so doch des Platzes, der seine Verlänge-
rung bildete und von ihm nur durch eine Einfriedung getrennt war. Selbst
Das reclusoir, die Einsiedlerklause, in der sie eingeschlossen waren, privatrechtliche Verhandlungen waren nicht nur vor dem Notar - oder dem
führte sowohl zur Kirche als auf den Friedhof hinaus. In Saint-Savin (Bas- Geistlichen - abzuwickeln, in Gegenwart einiger Zeugen oder Signatare,
ses-Py16n6es), dessen Friedhof einem ganzen Pyrenäental als Bestattungs- sondern mußten allen Gemeindemitgliedern zur Kenntnis gebracht wer-
ort diente, öffnete sich ein Fenster auch zur Kirche hin: die Legende den. Im Mittelalter, in einer Kultur des Sichtbaren und des Auges, war die
schreibt es frömmlerischen Neigungen zu. Handelt es sich aber nicht eher Gerichtsverhandlung Spe ktake l, das hinter geistlichen Mauern aufgeführt
um die Verbindung eines reclusoir mit der Kirche? wurde: In karolingischerZeit fanden die Freilassungen von Sklaven in der
Der Zufall fügte es zuweilen, daß die frommen Einsiedlerinnen Nach- Kirche statt, nahe dem Altar, und der Tauschhandel, die Stiitungen und
barn von Eingeschlossenen wider'§flillen wurden: von Prostituierten oder Verkäufe im atrium,dort, wo sich in der Regel die Gemeinde versammelte.
Straftäterinnen, die gerichtlich zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt Die Mehrzahl dieser Verrichtungen der Bestattungsfunktion der Kirche
worden waren. So lebte im Jahre 1485 auf dem Cimetiöre des Innocents, war äußerlich; eine gab es jedoch, deren dramatische Symboiik die Toten
"in einem kleinen Haus, das eigens {ür sie errichtet werden mußte", eine unmittelbar einbezog: Brauch und Herkommen (so erwa im Hennegau)
Frau, die ihren Mann getötet hatte und deren Todesstrafe in eine lebens- gestatteten es, daß eine'§(itwe sich den Verpflichtungen gegenüber ihrem
lange Haftstrafe umgewandelt worden war. Man verbannre dergleichen Familienverband durch eine Zeremonie entziehen konnte, im Zuge derer
Fälle ins reclusoir, wie man sie um anderer Delikte willen, aus Mangel an sie ihren Gürtel, ihre Schlüssel und ihre Geldbörse am Grabe ihres Gatten
Gefängnissen, ins Kloster oder ins Spital steckte. niederlegte. Ebenialls auf dem Friedhof fand im 12. und 13. Jahrhundert
Die Justiz nahm damals eine Mittelstellung zwischen den im eigentlichen eine Zeremonie statt, die, von den Trauerfeierlichkeiten beeinflußt, den
Sinne religiösen und den pro{anen Aktivitäten ein. Als entscheidende Aus- bürgerlichen Tod und den Verlust der Bürgerrechte für Leprakranke besie-
drucksform der Macht - weitaus mehr als in unseren modernen Staaten - gelte.
und zugleich volkstümliches Mittel der Teilnahme am öffentlichen Leben In modernere n Zeiten haben sich die privatrechtlichen Auseinanderset-
- eine heute verblaßte Funktion * hatte die Justiz sowohl am Bereich des zungen vom Friedhof ins Arbeitszimmer des Notars verlagert, so wie sich
Sakralen als auch an dem des Profanen Anteil. Obwohl irdische Gerichts- auch die juristische lJntersuchung und Beweisaufnahme in die Säle der Ge-
barkeit, stand sie doch mit der Kirche - oder eher mit dem Friedhof - in richtsgebäude zurückgezogen hat. Aber alle Prozeßergebnisse mußtenauch
Verbindung, denn ihr Virken vollzog sich öffentlich, unter freiem Him- weiterhin öf{entlich auf dem Friedhof verlesen werden, vor der gesamren
mel. Einwohnerschaft, die sich in der Regel nach der Hauptmesse dort versam-
In karolingischer Zeit hielten der Lehnsherr, der Bürgerhauptmann und melte. Dort hielt sie auch Rat, wählte sie ihre Treuhänder, ihren Schatzmei-
der Vikar dort ihre Gerichtstage (placita). Der Platz des Tribunals war zu ster und ihre Kirchenbeamren. Im 19. Jahrhundert gingen die meisten ihrer
Füßen des großen Hosianna-Kreuzes. Noch im 15. Jahrhundert ist die Befugnisse ans Bürgermeisteramt über, in dem der Magistrat seinen Sitz
Jung{rau Johanna von O116ans (von einem geistlichen Gerichtshof) auf dem hatte. In der Bretagne, wo sich viele alte Bräuche erhalten haben, hatte auch
Friedhol Saint-Ouen in Rouen verurteilt worden. die Informationsfunktion des Friedho{es länger Bestand, vor allem die Pro-
Als das inquisitorische Verfahren die Gottesurteile und gerichtlichen klamation privatrechtlicher Ubereinkünfte, wie es der folgende Auszug aus
Zweikamp{e ablöste, fanden die hochnotpeinlichen Verhöre und Folterun- einer von Antoine LeBraz gesammelten Erzählung deutlich macht:
"Nach
gen in den Gerichtssälen statt.
Gleichwohl wurde das Urteil öffentlich ge- Beendigung der Messe sprach der Sekretär des Bürgermeisteramtes sein
Gebet, von den Stuien des Friedhofes herab [d. h. von den Stufen des Kal-
En ce lieu grt. . . An diesem Orte ruht Schwester Alice la Bourgott e,/ Zu rhren Lebzeiten
varienberges oder des Kreuzes herab], und verlas den auf dem Platz ver-
eine sehr {romme Einsiedlerin,/ Gottergeben und von rechtschaffenem Lebenswandel./ In die-
sem Hause wollte sie beigesetzt sein,/ Vo sie lange und demütig gelebt/ Und sechsundvierzig sammelten Leuten die neuen Gesetze;man machte, im Namen des Notars,
Jahre verweilt hat. die Verkäufe bekannt, die in der lolgenden §ü'oche zusrandekommen wür-

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den." Die Redner »stiegen aufs Kreuz". Tatsächlich dient das "Piedestal des Markt oder zum Messegelände werden zu lassen und dort Brot, Geflügel,
Kreuzes, das, in manchen Gegenden, übrigens die Form einer Kanzel (für Fisch und andere Genußmittel zu verkaufen oder gar nur feilzubieten. Mit
die Predigten) hat, nahezu immer als eine Art öf{entlicher Tribüne' Von da der einzigen Ausnahme von Wachs, jenem erlesenen Rohstoff der Geist-
oben wenden sich die weltlichen Redner [und irüher auch die Prediger] an lichkeit, jenem kostbaren'§üerk der Mutter Biene - apis rnater eduxit -,wie
ihr Publikum.. Deshalb isr,,monter sur la croix (aufs Kreuz steigen) gleich- es die Osteriiturgie im Laus cerei feierte. Sie verwehrten es den Landarbei-

bedeutend mit barangueT" (eine Ansprache halten [76]). tern, den Tagelöhnern und Schnittern, sich dort zur Erntezeit zu versam-
Es überrascht durchaus nicht, daß an diesem volkstümlichen und von den meln und sich "dingen" zu lassen.
Gemeindemitgliedern häufig besuchten Ort kollektiv genutzte Einrichtun- Diese Einschränkungen der Konzilien reagieren auf dieselben Phäno-
gen zu finden waren. Ein Dokument vom Ende des 12. Jahrhundert befaßt mene wie die Verbote der Beisetzungen in Kirchen: sie wurden in der Ab-
sich mit der Errichtung eines Backofens auf dem Friedhoi' (77) Sieben sicht ausgesprochen, die geweihten Orte vor den Händlern in Schutz zu
Jahrhunderte später sprechen bretonische Legenden noch immer vom Vor- nehmen - wie sie das Allerheiligste vor den Leichnamen der Gläubigen in
handensein eines Backofens auf dem Friedhof. Auf dem von Lanrivoir6 Schutz nahmen. In manchen Fällen waren sie von Erfolg begleitet, und im
wies man Brote in Form von Stein-Laiben vor: Brote, die auf wunderbare 16. Jahrhundert gelang es ihnen zuweilen, kirchliches Gebiet und Gerichts-
\(eise in Stein verwandelt worden waren, weil der Lehnsherr, der den sitz oder Marktplatz säuberlich zu scheiden. Aber beide erhielten eine enge
Backvorgang auf dem Friedhof überwachte, sich geweigert hatte, einem Beziehung zum Friedhof au{recht, so als hätten sie sich der Personalunion
Armen ein Stück davon abzugeben. (78) mit ihm nur widerwillig begeben. Die Hallen der Foire Saint-Germain
Die unmittelbare Nachbarschaft von Backöfen, Gräbern, in denen die lehnten sich an den Cimetiöre Saint-Sulpice an, und der March6 des Cham-
Toten oberflächlich verscharrt und aus denen sie periodisch wieder exhu- peaux (die Hallen von Paris) war dem Cimetiöre des Innocents unmittelbar
miert wurden, und Ossuarien, in denen ihre Gebeine auf immerdar zur benachbart.
Schau standen, hat für uns Heutige etwas Überraschendes und Abstoßendes : Insgesamt gesehen sind die Verbote der Konzilien wirkungslos geblie-
sie hat die Anwohner vom Mittelalter bis an die Grenze der Neuzeit iedoch ben. In lVirklichkeit hat keine theologische Erwägung, keine juristische
kalt gelassen. oder moralische Autorität verhindern können, daß Kirche und Friedhof der
Das Asylrecht hat den Friedhof - in derselben §üeise wie zum öffentli- Gemeinde als Ort der Zusammenkunft dienten, solange sie, als lebendiges
chen und Versammlungsort - auch zum Markt- und Ausstellungsort ge- Ganzes, das Bedürfnis verspürt hat, sich in regelmäßigen Abständen zu
macht. Die Händler kamen in den Genuß der Immunitätsprivilegien, sie versammeln, um sich direkt selbst zu verwalten und ein Gefühl der Zusam-
profitierten vom Andrang der Kunden, die aus Anlaß von religiösen, rich- mengehörigkeit unter Beweis zu stellen.
terlichen oder die Gemeindebetreffendenkommunalen Kundgebungenund Als sich eine neue Form von Gemeinschaftshaus, das Bürgermeisteramt,
Veranstaltungen zusammenströmten. Die Vallfahrtstage waren immer auch cntwickelte, in dem die Beratungen auch weiterhin öffentlich blieben, das
Markttage. jedoch durch das von ihm repräsentierte Gesetz von der Masse der \ü/ähler
Manche Dokumente erkennen den Bewohnern des Friedhofs das Recht in stärkerem Maße isoliert war, ging der volkstümliche Charakter von Kir-
zu, dort Läden zu unterhalten, und Ducange zitiert einen solchen Fall, um che und Friedhof verloren. Das aber ist nicht die Folge einer Laisierung.
die Definition zu stützen, die er für den Begriff cimeterittm gibt: "Die Be- Der Positivismus phantasierte nicht, als er das Bürgermeisteramt zum welt-
wohner des Friedhofs von Jay verkauften §(ein oder Bier direkt auf dem lichen Gotteshaus machte: Die Kirche hatte diese Rolle jahrhundertelang
Friedhof." Längs den Beinhäusern richteten sich Ladeninhaber und Kauf- gespielt, in größter Vollkommenheit. Der Grund ist eher im fortschreiten-
leute ein. Die Synoden des 15. Jahrhunderts (ema die von Nantes, 1405, den Umsichgreifen bürokratischer Formen im öffentlichen Leben und in
oder die von A ngers,142) [79]) wollten die profanen und richterlichen Ak- der Verwaltung zu suchen, im Verblassen des umfassenden Gefühls geleb-
tivitäten verbieten: sie untersagten den weltlichen Richtern (im Gegensatz ter Gemeinschaft. Ehedem stellte die Gemeinschaft, die Gemeinde ihr kol-
zu den geistlichen), ihre Gerichtstage auf dem Friedhof zu halten und dort lektives Bewußtsein durch Feste unter Beweis, gab sie dem Überschwang
ihre Urteile zu verlesen. Sie verurteilten den Brauch, den Friedhof zum ihrer jugendlichen Kräfte in Spielen Ausdruck, an eben der Stelle, wo sie

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auch ihre religiösen, richterlichen, politischen und kommerziellen Zusam- tische Geruchsschwaden ausströmen ließ." Dieser Text aus dem Jahre 1657
menkünfte abhielt: au{ dem Friedhof. zeigt, daß diese Promiskuität von Lebenden und Toten nicht mehr immer
Der Friedho{ war das Zentrum der Begegnung, der Entspannung und des hingenommen wird. Die Spaziergänger und Besucher amüsierten sich je-
gesellschaftlichen Umgangs. Er diente als Korso, als Promenade. In der doch am pittoresken Gewimmel der Kleingewerbetreibenden: "Jch habe
Bretagne,wie Anatole LeBraz sie beschrieben hat, ist er es geblieben: ,Als ihn zu den charniers des Innocents geführt, wo ich ihm die berühmten
junger Mann wird er, unter den Ulmen und Eiben des Friedhofs, nach der Schreiber des Landes gezeigt habe; ich habe ihn der Vorlesung eines im vor-
Vesper dem jungen Mädchen entgegenfiebern, nach dem sein ,Sinn. steht nehmen Stil gehaltenen Briefes seitens einer dieser Herren beiwohnen las-
- demselben Ort, wo sie, am Vallfahrtstage, darauf wartet, daß er sie zum sen. Ich habe ihn einer Dienstmagd zusehen lassen, die sich dort eine Rech-
Spaziergang oder zum Tanz einlädt.. (80) nungsliste verbessern ließ, um Schwenzelpfennige zu machen [d. h. bei
Die iahrhundertelang ohne jede \üirkung wiederholten Bannflüche der Einkäufen für ihre Herrschaft mehr Geld berechnete, als sie tatsächlich
Synoden machen also nur deutlich, daß die Friedhöfe immer Stätten des ausgegeben hatte]." (Berthod)
Vergnügens, des Spiels waren, die ihrerseits mit der Atmosphäre von Markt ,ln den cbarniers und längs der Säulen findet man manche Schreiber, die
und Messe verquickt blieben. bei den des Lesens und Schreibens Unkundigen sehr bekannt sind."
Im Jahre 1231 untersagte das Konzil von Rouen, "auf dem Friedhof oder Diese Promenaden waren häuiig übel beleumundet und unsicher. Bereits
in der Kirche zu t^nzen (choreas), bei Strafe der Exkommunikation.. Ein im Jahre 1186 war der Cimetiöre des Innocents, Guillaume le Breton zu-
Verbot, dem man in nahezu unveränderter Form inr Jahre 1405 wiederbe- folge, als Ort der Prostitution berüchtigt (meritricabatur in illo [es wurde
gegnet: es ist iedermann untersagt, auf dem Friedhof zu tanzen und Spiele dort Hurerei getriebenl). Deshalb ließ Philipp der Schöne seine {ast einge-
aller Art zu spielen; es ist Pantomimen, Jongleuren, Maskenträgern, Spiel- ebnete Einfriedung wieder mit hohen Mauern beiestigen. Zu Zeiren von
leuten und Gauklern verwehrt, dort ihr verdächtiges Gewerbe auszuüben. Rabelais hatte der Friedhof durchaus keinen besseren Ruf: "Es war eine
(81) Der Cimetiöre des Innocents war im 17. und 18. Jahrhundert eine Art schöne Stadt [Paris], um dort zu leben, aber nicht, um dort zu sterben«,
Ladenstraße: die schau- und kauflustige Menge drängte sich dort wie in den wegen der ,liederlichen Frauenzimmer, Bettler und Strolche", die dort Tag
Galerien des Palais de la Cit6, wo es ebenfalls Buchhändler, Krämer und und Nacht den Friedhof unsicher machten.
Veißnäherinnen gab. Ö{fentliche Orte, die sie waren, zogen Kirche und Demselben Gesindel begegnet man im 18. Jahrhundert wieder: "Das
Gerichtsgebäude in gleicher Weise Händler und Kunden an. Zwei der vier armselige Pack lungerte dort herum, brachte Unflat, Krankheiten und Seu-
Beinhäuser verdankten ihren Namen den Gewerben, die dort betrieben chen hervor und gab sich allen möglichen Arten von Ausschweifungen
wurden: das cbarnier des lingöres (Beinhaus der lü/eißnäherinnen) und das hin." "Die Spitzbuben waren dort ebenso sicher, nachts ein Asyl zu finden,
charnier des icrioains (Beinhaus der Schreiber). "U.,ter den eineinhaib wie bei Tage die Genasführten, die Einfältigen finnocents], um ein altes
Klafter hohen Bogengewölben [...] findet sich eine Doppelreihe von Lä- \Wortspiel zu gebrauchen." (83)
den, von Schreibern, Veißnäherinnen, Buchhändlern und Purzwaren- In diesen Zeiten, da die Vachmannschaften bz-w. die Polizei die krimi-
händlerinnen." So zitierte Berthod: nelle Unterwelt nur gelegentlich und unzulänglich kontrollierten, suchte
das Gelichter Schutz und Profit an jenen öffentlichen Orten, in Kirchen
Les cinq cents badineries und auf Friedhöfen, wo sich Schenken und Läden eingenistet hatten.
Que I'on voit sous les galeries. (82) Markt, Plartform für geschäftliche Angebote, Versteigerungen, Prokla-
mationen und Urteilsverkündungen, für Versammlungen der Gemeinde
"lnmitten dieses Gewühls mußte man eine Bestattung vornehmen, ein bestimmter Raum, Ort der Begegnung, des Spiels, der heimlichen Zusam-
Grab öff nen und Leichname ausheben, die noch nicht gänzlich verwest v/a- menkünfte und anstößigen Gewerbe, war der Friedhof nicht mehr und
ren, während, selbst bei großer Kälte, der Erdboden des Friedhofes mephi- nicht weniger als der Hauptplatz. Er hatte sowohl die Funktion eines Plat-
Les cinq cents badineries ... Die fünfhundert Nichtigkeiten, deren man unter den Galerien zes - er war öf {entlich er Ort par exceLlence , Zentrum des gesellscha{tlichen
ansichtig wird. Lebens - als auch dessen Form, genauer: die beiden Formen, wie sie cier

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Stadtarchitektur des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit geläuiig Die Kirche als Ersatz des Heiligen. \Welche Kirche?
waren - Forum und rechteckiger Hof.
Zweifellos hat gerade die Nutzung mancher Friedhöfe als Märkte seit Vieles von dem, was im vorhergehenden Abschnitt über den Friedho{ und
dem 12. und 13. Jahrhundert auf ihre Flächenausdehnung hingewirkt, wie seinen öffentlichkeitscharakter gesagt worden ist, läßt sich auch auf die
im Anschluß an A. Bernard und G. Le Bras bereits oben dargestellt worden Kirche anwenden. Beide waren \Wohnstatt der Toten und der Lebenden zu-
ist: sie ähnelten damals den großen Straßenkreuzungen der mittelalterli- gleich, und zwar anfangs dank der Verehrung für die Reliquien der Heili-
chen Städte, deren Zentrum von einem gewaltigen Kreuz beherrscht wurde, gen, für ihre memoriae. Später dann - und zwar seit dem 12. Jahrhundert
einem Hosianna-Kreuz oder einem Scheideweg-Kreuz. - blieben sie einander zwar nahe, die Andachtsformen aber haben sich ih-
Charnier oder Klosterhof - was hat dem quadratischen oder rechtecki- rem \flesen nach verändert. Dasselbe Gefühl, das die Sarkophage der ersten,
gen, von Händlergalerien gesäumten Platz als Vorbild gedient, was der frühchristlichen Jahrhunderte sich in der Nähe der martyria zusammen-
plaza major Spaniens, was der Place des Vosges oder den Galerien des Pa- drängen ließ, trieb die Menschen des Hochmittelalters, sich ihre Grabstelle
lais-Royal in Paris? Die Einwohner der - kleinen wie der großen - Städte in der Kirche oder doch dicht daneben zu wählen. Gleichwohl ist es nichr
des 16. bis 18. Jahrhunderts liebten cs, ihr öffentliches Leben in diesen ge- mehr die rnemoria gerade dieses Heiligen, die damals gesucht wurde, son-
schlossenen Räumen zusammenzudrängen, deren einige, wie die Innocents, dern die Kirche selbst, weil darin die Messe zelebriert wurde, und die be-
Friedhöfe waren. Nach seiner Auflassung ist der Cimetiöre des Innocents gehrteste Stelle war der Altar, nicht die cont'essio eines Heiligen, sondern
durch einen anderen rechteckigen Platz als Ort der müßiggängerischen Be- der Tisch des eucharistischen Opfermahles.
lustigung ersetzt worden, durch den Hof des Palais-Royal. Die Galerien Die Be:isetzun g apud ecclesiam ist an die Stelle der Bestattung ad sanctos
des Palais-Royal wurden im 19. Jahrhundert ihrerseits durch die großen getreten. Dieser lVandel ist um so bemerkenswerter, als die Verehrung der
Boulevards ersetzt - Zeichen einer Veränderung des Lebensgefühls des Heiligen zu der Zeir, als er deutlich erkennbar wird, ein neues und be-
großstädtischen Menschen und seiner Soziabilität. Ein Rest jener alten Ein- trächtliches Ansehen genießt. J. Le Goff hat zwei Schübe in der Geschichte
stellung mag sich in den gedeckten Passagen der Stadtarchitektur des 19. der Heiligenverehrung unterschieden (84): einen ersten im Hochmitteial-
Jahrhunderts erhalten haben. ter, den die frühesten hagiographischen Legenden belegen; einen zweiren
In den kleinen Ortscha{ten, den halb ländlichen, halb städtischen Vohn- seit dem 13. Jahrhundert, mit der Legenda aurea wd den wundersamen
siedlungen, bildeten im 17. Jahrhundert die place de la Baillie (Gerichts- Anekdoten einer auf pittoreske Folklore versessenen Kunst als Haupt-
platz) oder die balles (Markthallen) eine Fortsetzung des benachbarten zeugnissen. Die erste Phase fällt mit der Verbreitung der Bestattung a/
Friedhofes. Sie lösten sich schließlich davon, als eine ungleichmäßige Ent- sdnctos zusammen; die z.weite hat für die Grablegungsbräuche keine un-
wicklung, die manchenorts gegen Ende des 16. Jahrhunderts einsetzte, mittelbaren Folgen, und sie hat auch die Einstellung den Toten gegenüber
ohne allgemeine Verbreitung zu finden, den Friedhof von der Kirche nicht beeinflußt. Hält man sich an die Lektüre der Testamente, so wird ei-
trennte, wie im sechsten Kapitel des vorliegenden Buches deutlich werden nem durchaus nicht deutlich, welche volkstümliche Verbreitung die Heili-
wird. Sie hat dann auch eine Abschwächung der weltlichen Rolle des Fried- genlegenden gegen Ende des Mittelalters gefunden hatten. Nur ein einziger
hofs zur Folge, und zwar überall da, wo diese Rolle nicht - wie beim Cime- Zug dieser spezifischen Frömmigkeit tritt hier in Erscheinung: die Pilger-
tiöre des Innocents in Paris - durch eine tiefverwurzelte Tradition gestützt fahrt nach dem Tode.
wird. Die Funktion der ö{fentlichen Stätte ist dann an den nächstgelegenen In einem solcl.ren Fall verlangt der Testatar, daß an seiner Stelle ein ge-
Platz übergegangen. Für einen sehr langen Zeitraum aber ist der Friedhof, dungener Stellvertreter die Pilgerfahrt für die Ruhe seiner Seele unter-
bevor er dann isoliert wurde, der bestimmende öffentliche Platz gewesen. nimmt, die er selbst zu seinen Lebze iten nicht hat ableisten können und de-
renZiel und Preis er festsetzt: der Brauch wollte es, daß der Betrag dem
Pilger bei seiner Rückkehr ausgehändigt wurde, im Vertrauen auf ein vom
Klerus der besuchten Vallfahrtskirche ausgefertigtes Zertifikat. Ein aus
dem Jahre 1411 stammendes Testament eines Prokurators beim Stadtparla-

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ment von Paris {aßte "eine Reise und Pilger{ahrt" ins Auge, "die von Mme. und seinen Außerungen kaum: Dr'e Kirche hat sich lediglich an die Stelle
meiner Lebensgefährtin und Gattin und mir zu Schiff nach Notre-Dame des Heiligen gesetzt. Man wählt die Kirche, wie man ehedem den Heiligen
in Boulogne unternommen werden soll, weiter dann nach Notre-Dame in wählte. Der Unterschied wiegt schwer für eine Geschichte des religiösen
Montfort und nach Saint-Cöme und Saint-Damien in Lusarches. In Hin- Grundgefühls; er fällt kaum ins Gewicht für eine Geschichte der Beziehung
sicht auf das, was man mir zu verstehen gegeben hat, daß nämlich Mme. zum Tode.
meine Lebensgefährtin gewillt und ergeben sei, eine Reise nach Saint-Jac- Das Problem liegt also darin, auszumachen, welches Nlotiv die \{ahl der
ques in Galicien zu machen, obgleich sie mir nichts davon gesagt noch sich Kirche oder einer bestimmten Stelle in der Kirche oder auf dem Friedhof
erklärt hat und obgleich ich durchaus nicht eingewilligt habe, wünsche ich, beeinflußt. Die Testamente geben eine Antwort auf diese Frage: die lVahl
daß man allerwegen einen vertrauenswürdigen Botschafter mitschickt, der der Grabstätte ist eines ihrer erklärten Ziele. Ebensowenig aber haben die
ein Beglaubigungsschreiben heimbringen wird." A. Le Braz hat posthume Testatare bestimmte §Teisungen des Kirchenrechtes außer acht gelassen.
Pilgerfahrten dieser Art in der Bretagne des 19. Jahrhunderts belegt. (85) Anfangs war die Friedhofskirche die Kirche einer wegen ihrer Reliquien
Man findet sich also weiterhin zum Gebet am Grabe eines Heiligen ein, und Gräber verehrten Abtei. Die Anziehungskraft des Heiligen schwand
man sucht die Nähe der verehrten Reliquien, aber man trägt weniger Sorge dann vor der der Abtei dahin: Brauch und Herkommen verlangten, daß
dafür, sich ihm zur Seite bestatten zu lassen. Diese zweite Phase der folklo- man in einem Kloster beigesetzt wurde. Das wenigstens ist die einzige ge-
ristischen Heiligenverehrung hinterläßt in der religiösen Sensibilität nicht nauere Bestimmung, die Roland gibt, als er den Wunsch äußert, Karl der
derart tiefe Spuren wie die erste. Sie ist zweifellos bereits von einer klerika- Große möge seinen Leichnam und die seiner Gefährten finden.
len Mißtrauensreaktion begleitet und beginnt verdächtig zu erscheinen. Ein Durchaus nicht unwichtige materielle Interessen schalteten sich ebenfalls
Sekretär der Königin Isabella, Kanoniker in verschiedenen Kirchen, macht ein, denn der Verstorbene wurde sehr bald in die Pflicht genommen, in sei-
in seinenr aus dem Jahre 1403 stammenden Testament bindende Vorschrif- nem Testament bestimmte Legate zugunsten der von ihm gewählten Abtei
ten darüber, wie im Falle, daß er weit von seiner Heimat entfernt stürbe, festzusetzen. Deshalb machten die Bischöfe auch den Versuch, den Abteien
mit seinem Leichnam zu verfahren sei. Seine Vorlieben wechseln, entspre- das Bestattungsmonopol zu nehmen und es dem Friedhof ihrer Kathedral-
chend der Geltung der Kirche seines Sterbeortes. Er wünscht sich vorrangig kirche zu sichern, die zunächst außerhalb der Mauern gelegen war und dann
den Chor oder - wenn das unmöglich ist - das Schiff vor dem Bildnis Unse- einer Pfarre oder Episkopalkirche angegliedert wurde. "Die Bestattung der
rer Lieben Frau. lWenn aber die Kirche seines Sterbeortes einem anderen Toten muß da zelebriert werden, wo sich der Sitz des Bischo{s befindet."
Heiligen geweiht ist als der Jungfrau Maria, verzichtet der Testatar darauf, Venn der bischöfliche Friedhof zu v/eit vom Sterbeoru entfernr liegt, muß
sich die Nähe des Hochaltares, des Chores oder der Kapelle des Heiligen die Beisetzung in einer Gemeinde von Kanonikern, Mönchen oder Nonnen
auszubedingen; dieser Vorläufer der Reformation möchte dann im Schiff vorgenommen werden, um dem Leichnam die Fürsprache der Gebete der
vor dem Kruzifix beigesetzt sein. Es ergibt sich also die folgende Stufen- Ordensgeistlichen zu sichern. Nur wenn diese beiden Möglichkeiten sich
folge von Prioritäten: der Chor, die Bildsäule der Heiligen Jungfrau und nicht bieten, eriauben die Kirchenväter des Konzils von Tribur im Jahre
das Kruzifix, die allesanrt vor dem Heiligen rangieren. (86) Auch weniger 895 die Beisetzung an Ort und Stelle, im alten Bethaus, das dann zur P{arr-
Spitzfindige haben aufgehört, sich für ihren Leichnam anderen Schutz zu kirche geworden ist, da, wo der Verstorbene seinen Zehnten entrichtet hat.
erwirken als den von Notre-Danre oder vom Schutzheiligen ihrer Bruder- Der Beisetzung in der Landgemeinde wird erst stattgegeben, als man darauf
schaft. Die Kirche gewinnt künftig über andere Erwägungen die Oberhand. verzichtet, den bischöflichen Friedhof zwingend vorzuschreiben. In den
Sie verkörpert das Bild, das der Erblasser auf gtnz natürliche §(eise mit sei- Pyrenäen hat sich die Erinnerung an eine Zeit erhalten, da die Einwohner-
nem Leichnam in Verbindung bringt. So im Falle eines Ratsherrn des Stadt- scha{t eines Banzen Tales die Bestattung ihrer Toten auf einem einzigen
parlamentes von Toulouse, der im Jahre 1648 schreibt: "Meine Seele ver- Friedhof wie dem von Saint-Savin (in der Nähe von Pau) vornahm.
mache ich Gott, meinen Körper überlasse ich der Kirche der Augustiner Und doch gestattete das Kirchenrecht jedermann die Freiheit der Grab-
Iund nicht bloß der Erde] und der Grabstelle der Meinen." wahl. Eine gewisse Rechtsunsicherheit besteht lediglich im Falle der ver-
Dieser Frömmigkeitswandel verändert jedoch die Einstellung zum Tode heirateten Frau. Dem grazianischen Dekret zu{olge "muß die Frau ihrem

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Gatten sowohl im Leben als auch im Tode Gefolgschaft leisten". Das Ge- den, wo bereits ihre Familienangehörigen beigesetzt sind - prös da mari,
genteil behauptet ein Dekret von Urban IL: Der Tod emanzipiert die Frau pris de k fernrne,pris des enfants, die ihnen im Tode vorausgegangen sind -,
von ihrem Gatten. sei es in der Kirche: "in der Kirche Saint-Eustache, an der Stelle, an der
Es erhebt sich jedoch die Frage, was geschehen soll, wenn der Verstor- meine sehr liebe Ge{ährtin und Gattin und meine Kinder liegen, deren See-
bene keinen Letzten \(illen zum Ausdruck gebracht hat. Das Kirchenrecht len bereits bei Gott 5ini" (1411); zwei Eheleute {ordern in ihrem Testa-
sieht dann vor, daß er bei seinen Angehörigen bestattet werden soll (in ma- ment, daß sie, einander so nahe wie mög.lich, in der Kirche Saint-M6d6ric,
jorum suorum sepulcris jacet). Im wiederum bezeichnenden Falle der ver- ihrer P{arrkirche, beigesetzt werden (1663); - sei es auf dem Friedhof: die
'§(itwe eines Kaufmannes
heirateten Frau: Sie soll entweder mit ihrem Gatten zusammen oder an ei- "auf dem Friedhof der Kirche Saint-Gervais, ih-
ner von ihm ausgewählten Stelle oder bei ihren eigencn Angehörigen rer Pfarrkirche, an eben der Stelle, wo ihr verstorbener Gatte ins Grab ge-
beigesetzt werden. bettet ist" (160a); ein Gemeindemitglied von Saint-Jean-en-Gröve "auf
Es stand zu fürchten, daß die Familien sich aul bestimmte Präzed,enzfälle dem Friedhof der Saints-Innocents, an der Stelle, wo seine bereits verstor-
beriefen, um über ihre Grabstelle wie über einen durch l,rbiolge übertrag- bene Frau und seine Kinder beigesetzt und gebettet sind. (1609); ein
baren Besitz verfügen zu können. Deshalb war die \y/ahl der Pfarrkirche an- Schuhmachermeister der P{arre Saint-Martial möchte, "daß sein Leichnam
empfohlen. Folgendermaßen äußert sich etwa Hinkmar von Reims: auf dem Cimetiöre des Saints-Innocents gebettet und bestattet wird, nahe
der Stelle, wo seine verstorbene Frau und seine Kinder ruhen" (1654 [38]).
"Kein Christ darf über seine Grabstelle verfügen, als ob sie ihm in Erb-
pacht gehörte lbereditario jure]; er muß sich vielmehr mit einer Beisetzung In der Nähe seiner Angebörigen und seiner Gattin, auf dem Friedhof wie
in der P{arrkirche zufriedengeben, an der von den Priestern Iden Bischöfen] in der Kirche: "in der Abtei Saint-Sernin [Toulouse], in der zu Grabe getra-
bezeichneten Stelle." (87) Diese Unsicherheit des Brauchtums kommt in gen worden sind mein Großvater, Großmutter, Vater, Mutter, Schwester
der Sorge zum Ausdruck, die Pfarre nicht um ihre Bestatrungspfründen zu und Bruder und meine beiden Frauen" (1600);,in der Kirche Saint-
bringen. Die Pfarre mußte vielmehr immer einen durch Herkommen fi- Etienne-du-Mont, an der Stelle, wo ihre Angehörigen und ihr Gatte ruhen,
xierten "gerechten Anteil" erhalten, der zuweilen nach langen Prozessen im Kreise ihrer Kinder" (1644). In der Nähe seiner Angehörigez (d. h. ohne
erstritten wurde, wenn sich ein Gemeindemitglied sein Grab in einer ande- Nennung der Gattin bzw. des Gatten): Ein Hofrat des Herzogs von O116-
ren Kirche erwählt hatte. Uberdies konnten die Leichname, und zwar we- ans, Gemeindemitglied der Pfarre Saint-Nicolas-des-Champs, "auf dem
nigstens seit dem 17. Jahrhundert, in der Pfarrkirche aufgebahrt werden, Cimetiöre des Saints-lnnocents, an der Stelle, wo seine Väter, Mütter und
bevor sie in die erwählte Grabkirche überführt wurden. Schließlich wurde Brüder beigesetzt sind"; "im Ho{ der Kirche Saint-Germain-le-Vieil, wo
der Totengräber der betreffenden P{arre sogar dann im Sterberegister ein- meine beiden Schwestern ruhen" (1,787): "in der Kirche [Saint-S6verin], in
getragen, wenn die Beisetzung anderswo stattgefunden hatre (17./18. Jahr- der Grabstätte seiner Ahnen" (1690 [89]). Sind die zuletzt zirierten Testa-
hundert). Die kirchliche Rechtsprechung hat also gezögert, wem sie Priori- tare möglicherweise Junggesellen gewesen? Die liflitwen ziehen dagegen in
tät einräumen sollte - der Familie oder der Pfarrgemeinde. aller Offenheit die Grabstelle ihrer Angehörigen der ihres Gatterr vor: »in
der Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie, ihrer Pfarrgemeinde, an der
In der Praxis spiegelt sich dasselbe Zögern wider wie im Kirchenrecht. Die Stelle, wo ihre verstorbene Mutter ruht" (1661); ,erwählte [sich seine
Ritter der Cbanson de Roland - und noch die der Romans de la Table ronde Grabstelle] auf dem Friedhof der Kirche der Saints-lnnocents in Paris, nahe
- kümmerten sich anf angs durchaus nicht um eine Familiengrabstätte: W'e- dem Ort, wo ihr Vater und ihre Mutter beigesetzt sind., 1t+02;.
der Roland noch Olivier äußern den geringsten Vunsch, bei ihren Angehö- Ein handgeschriebenes Testament aus dem Jahre 1657 zeigt dasselbe
rigen bestattet zu werden, an die sie vor ihrem Tode überdies auch keinen Schwanken zwischen der Grabstelle der Ehegattin und der der eigenen An-
Gedanken gewendet haben. Die Ritter der Tafelrunde wünschten sich, in gehörigen: "Ich verlange, daß mein Grab an der Stelle ausgehoben wird,
der Abtei von Camaalot, neben ihren Vaffengefährten zu ruhen. wo meine Frau bestattet zu sein wünscht." Der Verstorbene wird in solchen
Vom 15. Jahrhundert an bringt die Mehrheit der Testatare den \(unsch Fällen also an einer vom jeweiligen Hinterbliebenen zu bestimmenden
zum Ausdruck, in der Kirche oder auf dem Friedhof ihre Grabstätte zu {in- Stelle beigesetzt, wenn nicht besondere Umstände dessen'!üünschen entge-

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I

t
Benstehen; in diesem Falle dann ,auf dem Friedhof, und zwar da, wo mein wählt sich sein Grab in einer Kapelle, in der auch ,sein verstorbener Vater
Vater, meine Mutter und meine Großeltern beigesetzt sind". (90) und seine anderen Freunde ruhenn. Vom 15. bis zum 17' Jahrhundert
Die Kirche wird also nahezu immer aus familiären Gründen gewählt, um kommt es sehr häufig vor, daß fromme Stiftungen zum Heil der eigenen
in der Nachbarschaft sei es der Angehörigen, sei es der Ehegattin und der Seele oder - "inehelicher Verbundenheit" - zu dem "der Gattin und dem
Kinderdie ewige Ruhe zu finden. Dieser Brauch findet seit dem 15. Jahr- aller Freunde" ausgesetzt werden. (92)
hundert allgemeine Verbreitung und bringt die wachsende Festigung eines Im Jahre 1574 wählt ein Notar seine Ruhestelle "nahe dem Grabe des
Gefühls zum Ausdruck,-das den Tod überlebte, das sich möglicherweise verstorbenen maitre Frangois Bastoneau [Notar wie er selbst], seines Vet-
sogar gerade im Augenblick des Todes dem klaren Bewußtsein aufgedrängt ters und guten Freundeso. Die Freundschaft war nicht nur - wie unter Er-
hat: 'W'enn die Familie damals im gewöhnlichen Ablauf des Alltagslebens wachsenen unserer Zeit - eine Ubereinkunft des geselligen Gemeinscha{ts-
auch nur eine geringe Rolle spielte, so übernahm sie in Krisenzeiten, wenn lebens; sie war, was sie noch heute f ür das Kind und den Heranwachsenden
außergewöhnliche Gefahr für Ehre oder Leben drohte, doch sofort die ist, nicht aber mehr f ür den Volliährigen: eine dauerhaf te, der Liebe gleich-
Herrschaft und ließ bis über den Tod hinaus äußerste Solidarität walten. wertige Beziehung, die zuweilen so stark war, daß sie den Tod überdauerte.
Die Familie triumphierte so über die kriegerischen Bruderschaften, die die Sie war in allen Gesellschaftsschichten heimisch, sogar in den untersten. Die
Ritter der Tafelrunde in ihren Grabstätten vereinten, weil deren einzige Fa- Stuhlvermieterin der Kirche Saint-Jean-en-Gröve wurde im Jahre 1642
milie die der '§flaffenbrüder war. Sie hat sich umgekehrt mit den Bruder- lWitwe, Witwe eines Soldaten im Regiment des Herzogs von Pidmont; sie
schaften des Standes und Gewerbes bald arrangiert, weil Gatte und Kinder wünscht sich, daß ihr Leichnam seine Ruhe f inden möge "auf dem Friedhof
häufig einträchtig in der Kapelle der Genossenschaft ruhten. in der Nähe der Kirche Saint-Jean [ein begehrter und guter Platz], in der
Es kam gelegentlich vor, daß der Testatar der Grabstelle seiner Familie Nachbarschaft des Grabes der Frau des Jacques Labb6, ihrer guten Freun-
eine andere vorzog, insbesondere dann, wenn er Junggeselle war; die An- din.,. (93)
ziehungskraft der Angehörigen und Eltern scheint weniger stark gewesen Es ist im 17. Jalrrhundert durchaus statthaft, der Familie und den leibli-
zu sein als die der Ehegattin und der Kinder im Falle eines verheirateten chen Freunden den geistlichen Freund, den Beichtvater vorzuziehen. Man
Mannes. Er wählte dann eine andere Stelle, die Nähe einer anderen Person, gibt sich nicht damit zufrieden, ihm einige Legate zukommen zu lassen, wie
etwa die eines Onkels, der sein Wohltäter gewesen war, eine Art Adoptiv- es der Brauch will;man wünscht sich überdies, in seinem Schatten zu ruhen,

vater - wie dieser Teppichhändler des Jahres 1659, der bestattet sein möchte wie dieser Pariser Arzt in einem handgeschriebenen Testament aus dem
"im Grabe des verstorbenen Herrn de la Vigne, seines Onkels". Man wählte Jahre 1651: sein Leichnam soll in der Kirche Saint-M6dard beigesetzt wer-
wohl auch das Grab eines Freundes; so erträumt es sich etwa Jean R€gnier: den, ,nahe dem Beichtstuhl von Hochwürden Cardos". Hier hat der
Beichtvater des 17. Jahrhunderts die Rolle des Heiligen des Hochmittelal-
Aux Jacobins eslu la terre ters übernommen: er wurde zu seinen Lebzeiten verehrt wie ein Heiliger.
En laquelle z.,euil estre m*, Es kommt schließlich vor, daß die Bediensteten nach ihrem Tode bei ih-
Pour ce qu'aux Jacobins d'Aucerre rer Herrscha{t ruhen wollen: ,So nahe wie möglich dem Grabe des verstor-
Gisent plusieurs de mes amts. (9L) benen Herrn Pierre de Moussey und seiner Gattin, zu ihren Lebzeiten Bür-
ger von Paris, die ihm Herr und Herrin waren und die Gott erlösen mögeu
Freilich konnte der leibliche Freund wohl auch ein Vetter oder ein ent- (16. Jahrhundert). "In der Kirche Sainte-Croix-de-la-Bretonnerie, nahe
fernter Verwandter sein. Er ähnelte ein wenig dem "Bruder" der archa- dem Grabe der Tochter seines Herrno (16aa)' In den meisten Fällen sind
ischen Gesellschaften. Das wird in Testamenten wie dem folgenden eines die Herren die Testamentsvollstrecker ihrer Bediensteten, die ihnen ge-
Präsidenten des Pariser Stadtparlaments aus dem Jahre 1413 deutlich: er wöhnlich auch die lVahl der Grabstelle überlassen. (94)
Den irdischen, familiären oder traditionellen Verbindlichkeiten zieht
AuxJacobins... BeidenJakobinernerwähleichmirdieErde,/lnderichbeigesetztseinwill,/ man in bestimmten Fällen im 17. und 1 8. Jahrhundert die geistliche Familie,
Und zwar deshalb, weil bei den Jakobinern von Auxerre/ Mehrere meiner Freunde ruhen. die Pfarrgemeinde vor: Ergebnis des Konzils von Trient, das der Pfarre die

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Funktion zurückerstatten wollte, die sie im Mittelalter (und vor allem im 18. Jahrhunderts allgemein verbreitet; die Gewohnheit, die Leichname zu-
14. und 15. Jahrhundert) verloren oder vermeintlich verloren hatte: "Ich sammenzupferchen, übereinanderzuschichten und umzubetten, erlaubte
fordere und verlange, daß mein Leichnam beigesetzt wird in der Kirche übrigens nicht, diese Praxis, die bestimmten Gräbern vorbehalten blieb,
Saint-Jehan-en-Gröve, meiner P{arre." überall anzuwenden. Es gab kein funeralistisches Grundbuch für das Erd-
Erfinderische Testatare kombinierten die heimische Piarrgemeinde und reich des Friedhofes. So machten die Seelenmessenregister, in denen die
eine andere Kirche ihrer lVahl: "Vill und verlangt, daß ihr Leichnam beige- Mönche des Mittelalters die Jahrestage der verstorbenen Vohltäter des
setzt und gebettet wird in der Kollegienkirche Saint-M6d6ric in Paris, im Konvents verzeichneten, den Ort der Grablegung nur vage kenntlich: Jah-
Herzen ihrer Pfarre, im Grabe, wo der verstorbene ehrwürdige Thibault, restag von C. A., Kanoniker von Limoges, "der in unserem Kloster an einer
ihr Herr und Gemahl, bestattet worden ist". Es handelt sich um eine \Witwe, Mauer oder einem P{eiler beigesetzt ist". (96) Der Testatar mußte also die
die nach dem Tode ihres Gatten ,eine der guten Frauen der Kapelle Saint- Koordinaten eines Ortes angeben, den häufig er als einziger kannte: im Ja-
Etienne-et-And16« geworden ist. Sie muß gleichwohl der Kirche Saint-Jean kobinerkloster, in der Kapelle, in der seine Frau, seine Schwester und die
eine besondere Art von Verehrung entgegenbringen, wie sie erläutert: "lch Frau seines Bruders beigesetzt sind, "welche Kapelle sich rechter Hand be-
fordere und verlange, daß mein Leichnam vor der Beisetzung in die Kirche findet, wenn man vom Schiff in den Chor eintritt" (1407). In der Kirche
Saint-Jehan-en-Gröve überführt wird, wo ein vollständiger Gottesdienst der Minimenbrüder zu Blois, Saint-Frangois, an der Stelle, die sie ihrer
gehalten werden soll, und der Beisetzung und dem Geleit sollen beiwohnen Cousine, der Frau des Gerichtsschreibers, gezeigr zu haben versichert" (16.
die Pfarrer, Vikare, Priester und Geistlichen von Saint-Jehan und die Her- Jahrhundert); "zwischen dem P{eiler am Au{erstehungsaltar und dem dar-
ren Kanoniker und ordinierten Kapläne der besagten Kirche Saint-M6- unter, an dem sich der Stuhl des Kirchenvorstehers Pierre Feuillet befindet"
dar,l", d. h. die Geistlichen beider Kirchen (1606 [95]). (1608); "im Schiff ihrer großen Kirche zu Paris, rechter Hand..., an der
Die Pfarrgebietsre{orm der Gegenreformation hat jedoch - und zwar Stelle, die ich meinem Bruder gezeigt habe"; "in Saint-Denis, vor dem Bilde
wenigstens bis zur zweiten Häl{te des 18. Jahrhunderts - die traditionelle derJungfrau"; "nahe dem Orte, den sonntags früh der Doyen von Paris
Verbundenheit mit den Gemeinden und Ordensbruderschaf ten (Jakobiner, einzunehmen pflegt, zur Stunde der Meßgebs16" (10. August 1612); "in dg1
Karmeliter) nicht auf gehoben, wie wir später am Beispiel von Dokumenten Kirche Saint-Nicolas-des-Champs ... am fünften Pfeiler" (1669); "in der
aus Toulouse sehen werden. Kirche der Karmeliterbrüder an der Place Maubert im Grabe seiner Ahnen,
das sich in der Kapelle des Heiligen Joseph unter einer großen Grabplatte
befindet [das Vorhandensein einer ,großen Grabplatte., die zweifellos mit
Der Ort der Beisetzung in der Kirche einer Inschrift geschmückt war, genügte also nicht, die genaue Lage des
Grabes zu verbürgen], die zu der Stufe ftihrt, die das Geländer des rechter
Var die Kirche als Ort der Beisetzung einmal gewählt - aus familiären oder Hand befindlichen Altars 5gijs21" (1661 [97]).
Gründen der Frömmigkeit -, so stellte sich das Problem, den genauen Platz Man konnte durchaus nicht immer sicher sein, auch wirklich an der der-
zu fixieren, an dem man bestattet zu sein wünschte: in der Kirche selbst art beschriebenen Stelle beigesetzt zu werden, selbst §/enn der Geistliche
oder auf dem Friedhof - und vor allem: an welcher Stelle. und die Kirchenvorsteher ihre Zustimmung erteilt (oder verweigert) hat-
'§[enn manche Erblasser diese \flahl auch ihrem Testamentsvollstrecker ten: Möglicherweise belegten frühere Grabstellen und noch nicht gänzlich
überlassen, so gibt die Mehrheit sich doch große Mühe, leicht auszuma- versreste andere Leichname den gewählten Platz mit Beschlag. Es war des-
chende Anhaltspunkte anzugeben und damit die gewünschte Örtlichkeit halb eher eine Umgebung als eine genau markierte Stelle, die man bezeich-
genau€r zu kennzeichnen. Es handehe sich im allgemeinen darum, den Ort nete: ,in der Eglise du Val-des-Ecoliers, an dem Platz oder in seiner Nähe,
zu markieren, an dem sich das Familiengrab befand, dem zu Seiten der Erb- wo seine verstorbene Frau bestattet liegt" (1401); "au{ dem Cimetiöre des
lasserzur Ruhe gebettet werden wollte. In den meisten Fällen war dieser Innocents, nahe dem Orte, da sein Vater und seine Mutter beigesetzt sind,
Ort nicht eindeutig bezeichnet. Der Brauch, den genauen Lageplan der oder an einer anderen nahegelegenen Stelle" (1407); "so nahe wie möglich
Grabstelle durch eine Inschrift zu markieren, hat sich ersr gegen Ende des dem Grabe von.... (16. Jahrhundert); "das besagte Grab seines Vaters und

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seiner Mutter, das nahe der Kirchenmauer liegt, gleich linker Hand, wenn Die nach dem Chor gesuchteste Stelle war die Kapelle der Heiligen Jung-
man eintritt. (1404 [98]). Man findet in den formelhaften Außerungen der frau oder ihr "Bildnis". Die Familie der'§(itwe des in Nicopolis getöteten
Testatare oder der Geistlichen, die die Testamente abfaßten, sehr häufig Kammerherrn Guillaume des Bordes hatte ihre Grabstelle "in der Kirche
'§(endungen wie derPropstei vonSaint-Didier, in der Kapelle Unserer Lieben Frau" (1416).
"nabe dem Orte, da bestattet liegt...., "nahe der Ka-
pelle. . ."- im Englisch en beneath. Diese Bezeichnung der Nähe ist die ge- Man konnte oor,aber nicht ln der Kapelle beigesetzt werden: so diese in
bräuchlichste; sie läßt jedoch auch Ausnahmen zu: einige Testatare setzen erster Ehe mit einem Pariser Bürger verheiratete \f itwe, zur Zeit Gattin ei-
das Tüpfelchen aufs i: "an der Stelle und in der Gegend, wo...« (1657); "an nes W'undarztes des Königs, die verlangt, daß ,ihr Leichnam beigesetzt
derselben Stelle, wo auch meine Frau Mutter bestattet liegt" (1652). wird in der Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie, ihrer Pfarrkirche, vor
EinTestatar des 15. Jahrhunderts hat sich große Mühe gegeben, den Ort der Kapelle der Heiligen Jungfrau, an der Stelle, wo ihre verstorbene Mut-
seiner Grabstelle gleichsam geometrisch {estzulegen: "an dem Schnitt- ter bestattet liegt" (1601; ein Fall, wo die eigenen Angehörigen denen des
punkt, der sich ergibt, wenn man durch zwei Linien einerseits das Kruzifix Gatten vorgezogen werden). Ein anderer Testatar: 'in der Abteikirche von
und das Bildnis Unserer Lieben Frau, andererseits die Altäre der Heiligen Saint-Sernin, nahe der Kapelle IJnserer Lieben Frau' (1600).
Sebastian und Dominikus verbindet" (1416 [99]). Die begehrteste und Man wählte auch die Beisetzung vor dem Bildnis der Jungfrau, wie dieser
kostspieligste Stelle ist der Chor, in der Nähe des Altars, an dem die Messe \Winzer:,in der Kirche des besagten Montreuii, an derselben Stelle, wo
gelesen wird, da, wo der Priester das Cont'iteor spricht. Eben das ist der seine liebe Frau bestattet liegt, die sich vor dem Bildnis der Jungfrau befin-
Grund der Beisetzung ad sanctos: das Meßopfer, mehr noch als der Schutz det" (1628); oder in einem anderen Fall: "gegenüber dem Bildnis LJnserer
des Heiligen. ,seinen Leichnam möchte er die Ruhe finden lassen in der Lieben Frau, das sich in besagter Kirche be{indet". Ein königlicher Sekre-
Eglise de [a Terne, die dem Zölestinerkloster der Diözcse von Limoges zu tär: olch verlange und ordne an, daß mein Leichnam in der Kirche Saint-
eigen ist, und zwar im Chor der besagten Kirche, ziemlich nahe [d. h. sebr Jehan-en-Gröve bestattetwird, meiner Pfarre, in der ich zweiter
Kirchen-
nahe] dem Hochaltar zu seiten der Mauero (1a00). Ein Arz.t Karls Yl.: ,in vorstand gewesen bin, während Herr Graf d'Estr6es der erste war [eine
choro dictae ecclesiae ante magnum altare" (im Chor der besagten Kirche schöne Art von Verbung!1, und zwar vor dem Bildnis der Jungfrau, an der
vor dem Hochaltar). "Im Chor der Kirche der Minimenbrüder zu Blois, Stelle der Kapelle [...], *o die verstorbene Mme. Damond, meine Gemah-
Saint-Frangois, nahe dem Hauptaltar" (16. Jahrhundert). "Im Chor des lin, bestattet liegt" (1661).
Hötel-Dieu dieser besagten Stadt Paris.. (1662). Ein maitre des requ€tes Ein Bildnis der Heiligen Jungfrau gab es auch auf den Friedhöfen, so auf
(Bittschriften-Berichterstatter) möchte über{ührt werden "in die Kirche zu dem Cimetiäre des Innocents: ,Auf diesem Friedhof steht ein Türmchen
Boulay und beigesetzt sein im Chor dieser besagten Kirche" (1669). anstelle eines Grabes, mit einem in Stein gemeißelten Bildnis unserer Lieben
Es kam vor, daß die Hauptmesse der P{arre nicht immer am Hochaltar Frau, sehr schön gestaltet, welches Türmchen ein Mann für seine Bestat-
gelesen wurde; deshalb will der folgende Testatar beigesetzt sein "in der tung hat anfertigen lassen, weil er zu seinen Lebzeiten damit prahlte, daß
Kirche Saint-Merry, in der Kapelle, in der die Messe der Pfarre gelesen die Hunde nicht auf seinen Grabstein pissen sollten.. Im 16' Jahrhundert
wird" (1a13). Im 17. Jahrhundert war dieser Altar der Abendmahlsaltar; wählte man sich eine Grabstelle ,vor dem Bildnis der Schönen Dame", "zu
,unter dieser Grabplatte ruht der Leichnahm des Herrn Claude d'Aubray, seiten des Bildnisses LJnserer Lieben plxu«, auf dem Cimetiöre des Inno-
zu seinen Lebzeiten Ritter", gestorben am 31. Mai 1609 im Alter von 83 cents. Im Jahre 1621: ,auf dem Cimetiöre des Innocents, gegenüber dem
Jahren, ,der auf Erden eine tiefe und ganz besondere Verehrung für den Altar der Jungfrau Maria an besagtem Q11s"; ,auf dem Cimetiöre des Inno-
ehrwürdigen Leichnam LJnseres Herrn Christus hegte;er hat verlangt, Caß cents, vor der Kapelle der Jungfrau Maria, die sich mitten auf dem Friedhoi
er am Tage seines Hinscheidens beigesetzt und gebettet wird neben diesem befindet.. (101)
Abendmahlsaltar, um für sich Barmherzigkeit durch die Gebete der Gläu- Die anderen Heiligen wurden sehr viel seltener in Anspruch genommen:
bigen zu erlangen, die hier niederknien und sich diesem sehr heiligen und man verehrte sie ia überdies zuweilen als Schutzheilige der Bruderschaften,
verehrungswürdigen Sakrament nähern, und mit ihnen in der Glorie aufzu- denen die Kapelle geweiht war. Die Frau eines Gärtners möchte beigesetzt
s1516hsn." (100) sein ,in der Kirche Saint-Gervais, gegenüber der Kapelle des Heiligen Eu-

104 105
tropius« (1604);ein Staatsanwalt beim Chätelet in der Kapelle des Heiligen Ediktes von Nantes dieselbe Art von Verehrung für die Stelle aufbrachten,
Joseph, und zwar im Jahre 1661, d. h. in einer Phase, in der die Verehrung wo sie zu ihren Lebzeiten dem Gottesdienst gefolgt waren: Anne Gaignot,
des Heiligen Joseph als Schutzpatron eines erbaulichen Todes sich gerade die Frau Nicolas t. von Rambouillet, gestorben im Jahre 1684, verlangt, ne-
erst entwickelte. Die Auferstehungskapelle wurde in einem Fall aus dem ben dem Gotteshaus von Charenton bestattet zu werden, auf dem alten
Jahre 1647 aus denselben Gründen gewählt. Friedhof, nahe ihren Angehörigen, "gegenüber der Stelie, die sie gewöhn-
Nach dem Chor, nach der Kapelle und nach dem Bildnis der Heiligen lich im Tempel auisuchte". (104;
Jungfrau beginnt vom 15. Jahrhundert an - und noch im 17. - das Kruzifix In den Testamenten finden sich freilich auch andere Ortsangaben, die ie-
als Ort der Grabwahl in Erscheinung zu treten. Ein Pfarrer trifft im Jahre doch außergewöhnlich und wenig charakteristisch sind: "unter dem Veih-
wasserbecken.. (1404), »prope Piscinan " (1660 [105]).
1402 die genaue Anordnung, man möge ihn
"ante cruzifixum et ymaginem
beate Marie " zugleich beisetzen. Es konnte einem auch das Glück zuteil Die Vahl der vom Erblasser auf diese \(eise bezeichneten Grabstelle
werden, daß das Kruzifix im Chor aufgehängt war: »unter dem Kruzifix blieb von der Billigung des Klerus und des Kirchenvorstandes abhängig. Sie
des Chores" (1690). Im allgemeinen war das Kruzifix zwischen Schiff und war {ast immer eine Sache des Geldes; gewitztere Testatare aber gaben häu-
Chor aufgerichtet oder aufgehängt. Ein Pariser Bürger wünscht im Jahre fig gleich Ersatzmöglichkeiten an, die überdies von Interesse sind, wenn
1660 ,seinen Leichnam in der Kirche Saint-Germain-del'Auxerrois be- man sich die psychologische Beziehung zwischen Beisetzung in der Kirche
stattet zu sehen, seiner Pf arrkirche, zu Füßen des Kruzi{ixes". Das Kruzif ix und auf dem Friedhof verständlich machen will: ,in der Kirche Saint-Eu-
konnte sich auch an der Stelle der Kirchenvorstandssitze befinden. Manche stache; wenn die Kirchenvorsteher damit nicht einverstanden sind, dann im
Gläubige - sicher frühere Kirchenvorsteher - wählten es sich zur letzten Armengrab auf dem Cimetiöre des Innocents" (16a1); nin der Kirche der
Ruhestätte. Ein Bäcker und seine Frau etwa "in der Eglise de la Madeleine Minimenbrüder [...], unter inständigen Bitten an den Pfarrer der Kirche
vor dem Kirchenvorstandssitz der besagten Kirche" (1650); "in Saint-M6- Saint-M6d6ric, seinen hochverehrten geistlichen Hirten, dieser Verf ügung
d6ric, meiner Pfarrkirche, vor der Kanzel der Stifter, wo auch meine Ange- zuzustimmen« (16a8); "in der Pfarrkirche, in der besagter Erblasser ver-
hörigen bestattet liegen. (1649 [102]). scheiden wird, wenn sich das ohne große Umstände machen läßt; wo nicht,
.§(/ir auf dem Friedhof. (1590);,in der Kirche des Hötel-Dieu [...], wenn das
haben oben gesehen, daß Kreuze auf den Friedhöfen als eine Art
Markierungszeichen dienten. Die Testatare wiesen häufig auf sie als topo- möglich ist, oder anderswo in der Kirche oder auf dem Friedhof, an einer
graphischen Bezugspunkt hin, um den genauen Ort ihrer Grablegung zu Stelle, die Dame Marg. Picard, meine Nichte, auswählen wird" (1662); ,in
bezeichnen: »zwischen dem Kreuz und der Ulme des Friedhofs der Kirche der Kirche der Kapuzinerbrüder [...], die er anfleht, ihm diese Stelle zu ge-
Saint-Gervaiso - so ein Pariser Kaufmann und seine Frau (1602). währeno (1669); "in der Kapelle Notre-Dame-des-Su{frages zu Taur [bei
Eine der am häufigsten gewählten Ortlichkeiten war im 17. Jahrhundert Toulouse], wenn der Herr Rektor besagter Kirche zustimmt, wo nicht, auf
schließlich die Bank, die die Familie in der Kirche innehatte. Man verlangte, dem Friedhof der genannten Pfarre" (1678).
daß der Leichnam nahe der Stelle ruhen sollte, wo man zu seinen Lebzeiten Für den Friedhof entscheidet man sich hier also nur, wenn die Kirche
der Messe beigewohnt hatte, "im Schiff, nahe seiner Bank im unteren Teil keinen Platz mehr bietet. Gleichwohl wählen manche Testatare den Fried-
der Kirche, an einem der Pfeiler des Turms neben dem Taufbecken" (1622); hof aus freien Stücken, und zwar aus Gründen christlicher Demut. Claude
ein Büttel des Chätelet und seine Frau "in der Kirche Saint-Nicolas-des- de l'Estoile, Ritter, Herr von Soussy, ',der sich als großer Sünder bekennt,
Champs, ihrer Pfarrkirche, gegenüber ihrer Bank in besagter Kirche" will nicht in der Kirche bestattet sein, deren er sich nicht für würdig hält,
(1669). Eine Familie schließt im Jahre 1607 mit dem Kirchenvorstand ihrer sondern auf dem Friedhof seiner Pfarre. (1652). Auf dem Friedhof * das
Pfarre einen \./ertrag, »um eine Grabplatte gegenüber besagter Bank anlegen wollte zuweilen besagen: auf dessen begehrtestem Teil, in den Beinhäusern:
zu können und dort ihre Angehörigen, den Familienvorstand selbst, seine ,Laure de Mahault verlangt, daß ihr Leichnam auf dem Friedhof bestattet
Frau und seine Kinder, beizusetzen"; ein anderer "in der Kirche Saint- wird, der an die Kirche Saint-Jehan, ihre Piarrkirche, grenzt« (1660); "un-
Jehan -en-G röve, seiner Pfarrkirche, neben seiner Bank " ( 1 52 8-1 6 70 [ 1 03]).
ter den Beinhäusern der Pfarre Saint-Cosme" (1667). Das konnte auch be-
Auffallend ist, daß die Pariser Protestanten z'tr Zert der Gültigkeit des deuten: im Armengrab. Ein Rechtsanwalt am Chätelet fordert im Jahre

106 107
1406: "im großen Gemeinschaftsgrab für die Armen"; Geneviöve de Qua- Tabelle l.
trelivres im Jahre 1519:"im Armengrab auf dem Cimetiöre des Innocents, Beisetzungen in Kircben a{lerhalb der eigenen Pfarrgemeinde.
wie ihr Vater". (106) Man wird später - im dritten Teil des vorliegenden Prozentualer Anteil an der Gesamtzahl der Beisetzungen in Kirchen
Buches - sehen, daß die noch immer außergewöhnliche Beisetzung auf dem
Friedhof in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufiger wird - Zei- in 1o Daurade Dalbade St.-Etienne
chen eines Einstellungswandels, der die Aufgabe der Grablegurrg in den
1699 17A5 ß92
Kirchen ankündigt. (107) Franziskaner l3,5 17 l1
Jakobiner l3,5 t2
Karmeliter 4 1l 15,5
Pfarrkirche 11,5 62 )7 7
Bestattung in der Kirche? Auf dem Friedhof ?
A u gus ti ner- B arfüße r tt
Ein Beispiel aus Toulouse

Die obige Darstellung mag den Anschein erwecken, daß vom 15. bis zum
Tabelle 2.
17. Jahrhundert der begehrteste Ort
der Beisetzung die Kirche war. Eben
Soziale Verteilung der Beisetzungen in d.en Kirchen
das merkt auch Furetiöres Vörterbuch in seiner Fußnote zum Stichwort
und. auf den Friedhöfen (in Prozenten).
cirnetiöre an: "Früher wurde niemand in den Kirchen bestattet, sondern auf Zum Vergleich mit den Angaben von A. Fleury nach ihrer schematischen Darstel-
den Friedhöfen. Heute sind die Friedhöie fast nur noch für das gemeine lung VIII zu Paris im 16. Jahrhundert:607o in den Kirchen,407o auf den Friedhöfen.
Volk bestimmt."
1iüer aber gehörte zum gemeinen Volk? Untersuchen wir zunächst, in o/o-Anteil an der Gesamtz.ahl Adel und Handwerks- Gesellen
welchem Verhältnis sich die Beisetzungen aufteilen. \W'ir sind dazu dank der der Beisetzungen in der Richterstand" und
meister und
Kirchenbücher der P{arrgemeinden in der Lage, die den Ort jeder Grable- Pfarrgemeinde Kaufleute" Unbekannte"
gung verzeichnen, selbst wenn sie nicht im Kirchspiel stattgefunden hat. St.-Etienne Kirche 64 38 51 10
Ich habe die Kirchenbücher dreier Pfarrkirchen von Toulouse als Bei- 1692 Cimetidre
spiel ausgewählt,und zwar aus den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts, di- Saint-Sauveur 36 3J 46 + 20(Kin-
rekt an der \Wende zum 18. Das erste ist das von Saint-Etienne, der Kathe- der) : 56
drale im Herzen der mittelalterlichen Stadt, in dem \Wohnbezirk, wo noch Daurade Kirche 48 2A 60 6

die Adeligen, die hohen Beamten, die Obersten und reichen Kaufleute in 1 698 Cimetiöre des

größerer Zahl als anderswo wohnten;dann die Piarre Dalbade, mitten im Comtes 21 60 l0
Cimetiöre de
Viertel der Handwerker und Gewerbetreibenden, aber auch der städtischen
Bearrrten; schließlich nimmt, weniger volkstümlich als Dalbade, aber auch
Toussaint 31034 50
Daurade Kirche 37 20 68 t2
weniger rristokratisch als Saint-Etienne, die Abtei von Daurade eine Son- 1699 Cimetiöre des 26 (Kinder)
12 60 17
derstellung ein. (108) Comtes
Die Kirchenbücher erlauben eine genaue Unterscheidung der Beisetzun- Cimetiöre de 37026 54 + 18(Kin-
gen in den Kirchen und auf den Friedhöfen. \ü'ir wollen zunächst den Fall Toussaint der) : 72
der Beisetzung von Gemeindemitgliedern außerhalb ihrer eigentlichen Dalbade Kirche 49 9 59+9 ll
P{arre ins Auge fassen. Die Frage ist nur für die Beisetzungen in der Kirche t705 :68:r:l
von Bedeutung: denn die auf dem Friedhof zur Ruhe Gebetteten stammen Cimetiöre 51 6 (Kinder) 48 46

alle aus der Pfarrgemeinde. Prozentanteil der Beisetzungen sei es in der Kirche, sei es auf dem Friedho{.
97, : Kaulleute; 687o = Handwerksmeister * Kauileute.

108 109
Tabelle 3. Vergleichen wir in jeder Pfarrgemeinde jetzt die Zahl der Beisetzungen
Anteil der Kinder an der Gesamtzahl in der Kirche (welcher auch immer) und auf dem Friedhof .
de r B e is e tz unge n (pro z e nt ua le V er te il un g). Der Friedhof gehört immer zur Pfarre. Es gibt in manchen Pfarrgemein-
den jedoch verschiedene Kategorien von Friedhöfen.
P{arre Dalbade Daurade St.-Etienne In Dalbade zeigt sich die einfache Verbindung von Kirche und Friedhof ,
t7a5 1699 1692
wie sie bereits auf den vorhergehenden Seiten analysiert worden ist. Umge-
von 10 Jahren kehrt ist in der Kathedrale und in Daurade die Situation komplexer, einmal,
Kirchen 36 57 12 weil die beiden Kirchen Sitz von Kanoniker- und Mönchsgemeinden sind,
Friedhöfe 67 62,5 48 aber auch aufgrund ihres ehrwürdigen Alters, der Neugestaltung ihrer Ne-
von I Jahr bengebäude und ihrer Nachbarschait.
Kirchen 10 18 4
In Saint-Etienne ist der älteste Friedho{ das Kloster. Man nennt ihn noch
Friedhöfe 2(( 19 )9
im 17. Jahrhundert den "Friedhof des Klosters", im allgemeinen jedoch
einfach "das Kloster" oder den "kleinen Klosterhof ". In der Tat ist die Bei-
Tabelle I zeigr die hohe Zahl von Bestattungen außerhalb der Pfarre. Ich setzung hier ebenso begehrt und teuer wie im Kircheninnern. Es gibt also
wäre nach einer keineswegs umfassenden Lektüre von Pariser Testamen-
- nicht den geringsten Unterschied zwischen den beiden Toten-Populatio-
ten desselben Zeitraums - durchaus nicht überrascht, wenn sie in Toulouse nen. Deshalb habe ich sie auch in ein und derselben Kategorie von Kir-
höher läge als in Paris. In Paris wurde die Beisetzung außerhalb der eigenen chen-BestattunBen zusammengefaßt. Von 23 Grabstellen dieser Kategorie
Pfarre nicht befürwortet, es sei denn, es handelte sich um ein Familiengrab. liegen nur 9 im Schiff, die anderen im Kloster. Der Fall ist interessant, weil
Beim Vergleich der Pfarrkirchen fallen bedeutende Unterschiede ins er zeigt, daß das aitre oder Kloster unter besonderen Umständen - so in
Auge:627o der Bestattungen von Dalbade f inden in der Pfarrgemeinde statt Orl6ans und sicher auch in England - seine Funktion als vornehmer und
(Kirche und Klöster), gegen 777o von Daurade. In der volkstümlichsten ehrwürdiger Friedhol unter freiem Himmel beibehalten hat. In diesem
wurden also mehr als die Hälfte der Beisetzungen in der Pfarrkirche vollzo- Falle mußten die Klöster jedoch alt und die Armen von der Beisetzung auf
gen. In den weniger volkstümlichen Pfarren gab man dem Prestige anderer jeden Fall ausgeschlossen sein.
Sanktuare nach. In der ersten Entwicklungsphase der Beisetzung in der Die Situation ist annähernd die gleiche in der uralten Benediktinerabtei
Kirche, die Zeichen eines sozialen Aufstiegs war, fand die Bestattung also von Daurade. In übereinstimmung mit sehr alten Bräuchen, die sich hier
in der eigenen P{arre statt. erhalten haben, sonst aber im allgemeinen in Vergessenheit geraten sind
Velche Kirchen haben die Testatare nun ihrer eigenen Pfarrkirche vor- (mit Ausnahme des Südens ?), nahm man hier weder im Schiff noch im Chor
gezogen? Tabelle 7 weist das deutlich aus. Vor allem die Klöster der Bettel- Beisetzungen vor: die 117o der Grabstellen, die ich Grabstellen in der Kir-
orden (Jakobiner, Karmeliter, Augustiner und Franziskaner): Die Hälfte che gleichgestellt habe, lagen in'Sflirklichkeit sub stillicidio (unter den §flas-
aller Beisetzungen von Saint-Etienne, 80% der von Daurade. In Daurade sertraufen) oder in porticu (in der Vorhalle), um die alten Bezeichnungen
fiel ein Drittel aller Grablegungen auf die Jakobiner, ein weiteres Drittel wiederaufzunehmen, die hier gegen Ende des 17. Jahrhunderts noch ihre
auf die Barfüßer. Die Bettelorden sind die großen Spezialisren des Todes volle Bedeutung haben: "in der Vorhalle dieser Kirche", "vor dem Portal
- sie q/ohnen der Beisetzung bei - und der postmortalen Zeremonien: sie dieser Kirche", "im Konvent unserer Kirche" (das Kloster?), "auf dem Hof
halten die Totenwache, versuchen, die Nachfrage nach Grabstellen selbst dieser Kirche", "im Klosterhof", "in der Eingangshalle zur Kirche". Be-
zu befriedigen, und beten für die Seelen der Verstorbenen. Seit dem Ende merkenswert ist, daß die Priester, die die Kirchenbücher führen, nie das
des Mittelalters ist der Gürtelstrick des Heiligen Franziskus an die Stelle lVort cimetiire zur Bezeichnung des Ortes dieser Grablegungen unter
der Ablaßpfennige des Heiligen Bernhard getreten, wie sie sich in den {reiem Himmel benutzen.
Grabstätten des 12. Jahrhunderts finden. Das ist ein bis in die zweite Hälfte 'Wenden wir uns nun den Friedhöfen im eigentlichen Sinne zu, denen von
des 18. Jahrhunderts ganz allgemein verbreitetes Phänomen. Saint-Etienne und Dalbade. Der Friedhof , auf dem man im I 7. Jahrhundert

t10 111
die Gemeindemitglieder von Saint-Etienne beisetzte, grenzt nicht unmit- sowohl für die Aushebung besagter Gräber und ihre Zurichtung als auch
telbar an die Kirche; er ist von ihr sogar durch die ganze Breite der Schutz- für die Bestattung und Beisetzung der Leichname". (109) Ziehen wir zum
wehr bzw. des später an ihre Stelle tretenden Boulevards getrennt. Er heißt Vergleich die im selben Dokument festgelegten Bedingungen für "die Grä-
Cimetiöre Saint-Sauveur, trägt also den Namen der kleinen Kirche oder ber. heran, "die in der Kirche ausgehoben werden: für Gräber ohne be-
Kapelle, die innerhalb seiner Ein{riedung erbaut worden ist und ohne die wegliche Grabplatte 40 Sous, für solche mit beweglicher Grabplatte 50
er keine Existenzberechtigung hätte. Kein Friedhof ohne Kirche, kein Sous.. Also 12 Sous auf dem am geringsten eingeschätzten Friedhof,20 auf
Friedhof , der von der Kirche räumlich getrennt wäre. So war der Cimetiöre dem anderen, 40 in der Kirche, und zwar ohne Grabplatte, und 60 mit be-
des Champeaux ein Annex der kleinen Eglise des Saints-Innocents. Der weglicher Grabplatte, d. h. mit einem Gedenkstein.
Unterschied ist der, daß Saint-Sauveur keine Pfarre ist wie Saints-lnno- Es gab also, in Daurade wie in Saint-Jean-en-Gröve, eine Zwischenkate-
cents. Sie ist ein Annex der Kathedrale. Der Cimetiöre Saint-Sauveur stammt gorie zwischen der Kirche und dem gewöhnlichen Friedhof . Diese Katego-
aus einer Zei,da der Friedhof sich von der Kirche zu lösen begann. \Wir rie läßt sich weder in Saint-Etienne noch in Dalbade nachweisen.
werden andere Beispie.le dafür im sechsten Kapitel - oDer Rückfluß. - des Untersuchen wir jetzt die Befunde von Tabelle 2, und zwar zunächst die
vorliegenden Buches beibringen. Er ist angelegt worden, um der Pfarre der ersten Spalte: das Verhältnis zwisphen Beisetzungen in den Kirchen (al-
Saint-Etienne als Bestattungsplatz zu dienen. ler Arten, bei Einschluß der Klöster) und auf den Friedhöfen für alle drei
Die Pfarre Daurade hat ihrerseits zwei Friedhöfe (zusätzlich zum Kloster Pfarrgemeinden.
und zur Vorkirche der Abtei): der eine sehr alt und ehrwürdig - man nennt Ganz allgemein ist man verblüfft angesichts der Bedeutung der Bestat-
ihn den Cimetiöre des Comtes -, der andere sehr viel jünger und für die tungen in den Kirchen, ein Ergebnis, das unsere vorhergehenden Analysen
Armen bestimmt, der Cimetiöre de Toussaint. I)ieser letztere könr-rte aus besrätigt. Der prozentuale Anteil der Kirchen liegt sehr häufig um oder
derselben Zeit stammen wie der Cimetiöre Saint-Sauveur. Die beiden knapp über der Hälfte, er sinkt nicht unter ein Drittel (der Gesamtsumme
Friedhöfe lagen innerhalb der Grenzen der Abtei, der Cimetiöre des Com- der Beisetzungen). Dieser hohe Anteil stellt unter Beweis, daß gegen Ende
tes am Eingang zur Kirche und daneben. Er verlängerte, §/enn auch nicht des 17. Jahrhunderts ungef ähr die Hälfte der Bevölkerung der Städte - we-
dauerhaft, den Friedhofsbereich der Vorkirche: die Graien von Toulouse nigstens aber mehr als ein Drittel - in den Kirchen beigesetzt wird. Und
hatten dort ihre Grabstellen. Ein der Königin P6dauque zugeschriebener das besagt, daß das Privileg der Bestattung apud ecclesiam nicht mehr nur
Sarkophagvom Anfang des 5. Jahrhunderts, der heute im Musde des Augu- dem Adel und der Geistlichkeit vorbehalten war, sondern, schlicht und
stins aufbewahrt wird und zweifellos die Grabstätte von Ragnachilde dar- einfach, auch einem beträchtlichen Teil der Mittelschichten.
stellt, hatte seinen Platz - gemäß einer alten Beschreibung - "im außerhalb Die aristokratische Pf arrgemeinde Saint-Etienne weist mehr Grablegun-
der Ringmauer der Kirche von Daurade gelegenen Teil, nahe dem Cime- gcn in der Kirche (64%)als auf dem Friedhof (36To) au|. Recht bemerkens-
tiöre des Comtes" (möglicherweise in einer Nische). wert ist, daß der hier zutage tretende prozentuale Anteil dem sehr nahe
Der andere Friedhof lag im Umkreis der Apsis von Daurade. Sein Name kommt, den A. Fleury für das Paris des 16. Jahrhunderts ausgewiesen hat:
gibt zu verstehen, daß er später entstanden ist als die Feier des Totenfestes 607o in den Kirchen, 4OTo auf den Friedhöfen. Dieses Ergebnis läßt sich
(der Tag nach Allerheiligen), zu eben der Zeit, in der sie volkstümliche Ver- ,tls beständiges Kennzeichen reicher und adeliger Pfarrgemeinden festhal-
breitung fand. ten.
Der Fall, daß mehrere Friedhöfe für eine einzige P{arrgemeinde vorhan- In Dalbade verteilen sich die Beisetzungen je zur Hälfte auf Kirche und
den waren, ist im 16. und I 7. Jahrhundert nicht außergewöhnlich. ln Paris lrriedhof .

hatte Saint-Jean-en-Gröve einen »neuen« und einen »grünen« Friedhof. In Daurade ist die Situation, bezogen auf zwei aufeinanderfolgende
Der neue Friedhof war der begehrtere. Gemäß einem Vertrag, der im Jahre .lahre,verschieden. Im Jahre 1698 ist das Verhältnis das gleiche wie das von
1624 mir dem Kirchenvorstand geschlossen wurde, durfte "der Totengrä- I)albade im Jahre 1705. Im Jahre 1699 bildet es das genaue Gegenteil zu
ber für besagte Gräber des genannten neuen Friedhofes nicht mehr als 20 .lem von Saint-Etienne von 1692 - 637o aü den Friedhö{en und 377o in
Sous nehmen, und für die des genannten grünen nicht mehr als 12 Sous, ,len Kirchen.

tt2 113
Gehen wir jetzt zu den drei anderen Spalten von Tabelle 2 über, die eine bade bei den Franziskanern. Erinnert sei an das, was weiter oben über die
Vorstellung von der prozentualen Verteilung nach der Zugehörigkeit zu Treue zu den Bettelorden gesagt wurde. Ihre Kirchen bargen die Grabka-
bestimmten Gesellschaftsklassen vermitteln. pellen von Bruderschaften. §flahrscheinlich haben diese kleinen Leute und
Ich habe - durchaus grob - drei Kategorien unterschieden: zunächsr den ihre Frauen und Kinder gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten
Schwert- und den Amtsadel, die Hauptleute, die höher- und die niedriger- Bruderschaften Grabstellen in den Kirchen erhalten.
gestellten Beamten (und zwar in bunter Folge Ratsherren im Stadtparla- Vohlgemerkt: 'Wenn sie auch eine Grabstelle erhielten, so mußten das
ment, Advokaten, Kammerpräsidenten, Unterabgeordnete, Beamte des doch nicht zwangsläufig sichtbare Gräber oder regelrechte Epitaphien sein.
die Geistlichkeit, die Arzte: die vorneh-
Seneschall, Steuererheber usw.), Aber die Mehrzahl der Grabstellen in den Kirchen fiel Angehörigen der
men Leute. Dann die Kaufmannschaft und die Gewerbetreibenden. zweiren Kategorie zu: zwischen 5O und 70%. 51 % in Saint-Etienne,60 oder
Schließlich die Gesellen, Handwerksgehilfen, Bediensteten, kleinen Leute 687o in Daurade, 68 7o in Dalbade: Kaufleute, Handwerksmeister mit ihren
und das Heer der Namenlosen. Frauen und Kindern; Schneidermeister, Maler, Glaser, Strumpfwirker,
Die mittlere Kategorie entbehrt nicht der Mehrdeutigkeir. Manche Schuster, Bäcker, Bürstenbinder, Apotheker, Perückenmacher, Backstu-
Kaufleute führen einen Lebenswandel wie höhere Justizbeamte. Manche benbesitzer,,Gastwirte. ; Maurer, Färber, Stiefelputzer, Messerschmiede,
Handwerksmeister unterscheiden sich nur wenig von den Gewerbetrei- Zimmerleute, Kerzenmacher, Tuchscherer, Sporenmacher, Sergeweber...
benden der unteren Kategorie. Auch sie müssen häu{ig Bruderschaften angehört haben: Man bemerkt, daß
Ein erstes Merkmal springt geradezu ins Auge. Es gibt auf dem Friedhof die Schuster sich ihre letzte Ruhestätte häufig bei den Karmelitern, die
keine vornehmen Leute der ersten Kategorie, mit Ausnahme einiger ihrer Schneider eher in Saint-Etienne und die Kaufleute bei den Franziskanern
Kinder: die l2Vo des Cimetiöre des Comtes, die 69o des Cimetiöre de la suchen.
Dalbade sind Kinder. Wir kommen darauf zurück. So scheinen die Grabstellen in den Kirchen das gesamte Reservoir der
Der prozentuale Anteil der vornehmen Leute in den Kirchen liegt höher Adeligen, des Richterstandes und der hohen und niedrigen Beamtenschaft
in Saint-Etien ne (387o der Gesamtzahl der Beisetzungen), er ist immer noch zu umfassen und zu mehr als der Hälfte von einem Großteil des gewerbe-
bemerkenswert in Daurade (20%) und ist niedrig in Dalbade (9%). \(enn treibenden Bürgertums benutzt zu werden.
lVenden wir uns nunmehr der sozialen Zusammensetzung der Friedho{s-
man die Kaufleute unter die erste Kategorie subsumierte, so ergäben sich
497o inSaint-Etienne, 18Vo inDalbade. Die allgemeine Bedeutung des Ver- population zu.
gleichs veränderte sich jedoch nichc. Die Adeligen, die Leute von Stand, die Der Cimetiöre Saint-Sauveur der Kathedral-Pfarre enthält zu 669o
Reichen in den Kirchen - soviel steht iest. Die Vertreter dieser Schicht, die Grabstellen von kleinen und armen Leuten und zu 337o von Angehörigen
in ihrem Testament aus Schlichtheit und Frömmigkeit den Friedho{ und das der mittleren Kategorie. Diese kleinen Leute sind namenlose Reisende,
Armengrab gewählt haben mögen, treten in den Gesamtstatistiken der hier rrhne Güter oder Namen an unbekannter Stätte Verstorbene, Findelkinder,
aufgelisteten Toulouser Jahre nicht in Erscheinung. Vir dürfen jedoch §fl'achsoldaten,,Gesellen" aller Handwerksberufe, Lakaien, Last- und Ge-
nicht außer acht lassen, daß es solche Testatare vom 15. bis zum 18. Jahr- päckträger.
hundert immer gegeben hat. Die auf dem Friedhof gebetteten Handwerksmeister unterscheiden sich
Das interessanteste Ergebnis dieser Erhebungen betrifft den prozentua- nur undeutlich von den anderen Gewerbetreibenden der zweiten Katego-
len Anteil der Beisetzungen von armen Leuten in den Kirchen. Er liegt im rie, die in den Kirchen beigesetzt sind.
Mittel um 10% und darf also durchaus nicht vernachlässigt werden. \W'ir Auf dem Friedhof Dalbade zählt man ebenso viele Handwerksmeister
{inden darunter die Hauer und Zubringer von Grabsteinen, Bäckergesellen, der zweiten Kategorie wie kleine Leute, während in Saint-Sauveur in der
Frauen von Arbeitern, Wachsoldaten, Droschkenkutscher und manche an- Kathedral-Pfarre zweimal mehr kleine Leute als Handwerksmeister bestat-
dere, deren Beruf der betreffende Priester nicht angegeben hat. Die Tochter tet liegen.
eines zur Pfarrgemeinde in Saint-Etienne gehörenden Kochs wird bei den Darf man daraus den Schluß ziehen, daß, je aristokratischer die Pfarrge-
rneinde, der Friedhof um so offensichtlicher Reservat der unteren Schichten
Jakobinern beigesetzt. Kinder von Bürstenmachern und Soldaten von Dal-

114 115
ist und daß, je volkstümlicher die Pfarre, der Gegensatz zwischen Kirche Ausnahme der 48Vo von Saint-Saveur). Man bemerkt, daß der prozentuale
und Friedhof um so weniger ausschlaggebend ist, wobei beide vom hand- Anteil von Kindern unter 1O Jahren, wenn er auf dem Friedhof auch höher
'W'eise frequentiert werden? ist, in den Kirchen doch ebenfalls beachdich bleibt.
werktreibenden Bürgertum in gleicher
Der Fall der beiden Friedhöfe von Daurade ist in dieser Hinsicht von be- Umgekehrt - und dieses Phänomen ist bemerkenswert - lieBen die weni-
sonderem Interesse, weil er die Einstellung dieses gewerbetreibenden Bür- ger als ein Jahr alten Kleinkinder nahezu alle auf dem Friedhof bestattet.
gertums verdeutlicht. Der Cimetiöre des Comtes, der älteste und prunk- \Y/ir haben bereits gesehen, daß die einzigen Beisetzungen von Adeligen
vollste, birgt mehr als die Hälfte (607o) der Verstorbenen der zweiten oder Leuten von Stand au{ dem Friedhof Beisetzungen von deren Kindern
Kategorie. Umgekehrt wird der Cimetiöre de Toussaint vor allen von An- sind,:727o auf dem Cimetiöre des Comtes, 67o auf dem Friedhof von Dal-
gehörigen der dritten Kategorie benutzt: 5O7oim Jahre 1698, 727o im lahre bade. Dasselbe dürfte der Fall beim gewerbetreibenden Bürgertum sein,
1699. Der Cimetiöre des Comtes muß ein Annex der Kirche sein, im Verein und ein großer Teil der Friedhofsbestattungen von Angehörigen dieser Ka-
mit dem, was man im 18. Jahrhundert dann später "private Grabstellen" tegorie betraf die Beerdigung von deren Kleinkindern. So endeten auch die
nennt, während der Cimetiäre de Toussaint sich vor allen Dingen aus den Kleinkinder der "besseren" Familien noch auf dem Friedhof. Ein Viertel
großen Gemeinschaftsgräbern für die Armen zusammensetzt' bis ein Drittel der Friedhofsbestattungen machten die Beisetzungen von
Die Schlußfolg€rung, die sich aufdrängt, ist die soziale Bedeutung des weniger als ein Jahr alten Kleinkindern aus. Der Friedhof war ihr Bestim-
gewerbetreibenden Bürgertums. Dessen gehobenere Schichten ftillen die mungsort, selbst dann, wenn ihre adeligen, bürgerlichen oder kleinbürger-
Kirchen, an der Seite des Adels, der Geistlichkeit, des Richter- und des lichen Elrern für sich selbst und ihre Angehörigen die Kirche als Grab ge-
Kaufmannsstandes; die bescheidensten Handwerksmeister heben sich an- wählt hatten. Der Friedho{ war die Ruhestätte der Armen und der kleinen
dererseits nur undeutlich von ihren Gesellen und dem gemeinen Volk der Kinder.
Friedhöfe ab. Die Grenze von Klassenzugehörigkeit und gesellschaftlichem Aber nicht aller - wenigstens nicht gegen Ende des 17. Jahrhunderts, in
Ansehen, die Kirche und Friedhof voneinander trennt, verläuft also nicht dem sich, wie wir wissen, die Mentalität wandelt: 10Vo der Verstorbenen
zwischen Adel und handwerktreibendem Bürgertum noch zwischen die- von Dalbade und 18 % von Daurade sind Kinder, die gleichwohl in der Kir-
sem Bürgertum und dem gemeinen Volk, sondern quer durch die gewerbe- che bestattet werden, zweifellos neben ihren Eltern oder Geschwistern. Es
treibende Bourgeoisie selbst. wird der Tag kommen - etwa hundertfünfzig Jahre später -, da gerade das
Es gab jedoch noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen verstorbene Kleinkind in der Grabplastik der großen städtischen Friedhöfe
Friedhof und Kirche, über das der Klassenzugehörigkeit hinaus: das des Italiens, Frankreichs und Amerikas mit größter Hingabe dargestellt wird.
Alters, und zwar besonders des Kindheitsalters. Der Friedhof war nicht nur Welcher Umschwung!
den Armsten vorbehalten, sondern auch den Jüngsten: eben das ergibt sich
aus einer genaueren Betrachtung v onTabelle 3, die den prozentualen Anteil
von Kindern am Gesamtau{kommen von Beisetzungen - in den Kirchen Ein Beispiel aus England
und auf den Friedhöfen - verzeichnet.
In einem allgemeinen Sinne ist dieser prozentuale Anteil enorm, was die In einem allgemeinen Sinne läßt sich sagen, daß im Frankreich des Ancien
Demographen sicher nicht überraschen wird. Die Säuglings- und Kinder- R6gime - vom 16. bis zum 18. Jahrhundert- die Mehrzahl der in den Testa-
sterblichkeit war damals sehr hoch. Sie kommt nicht nur in der Gesamtzahl menten geäußerten Bestattungswünsche sich eher auf die Kirchen als auf
der Bestattungen zum Ausdruck, sondern sogar in der Zahl der Kirchen- die Friedhöfe bezog. Noch in den Kleinstädten des 18. Jahrhunderts schie-
Beisetzungen der vornehmen Leute, bei denen man eine geringere Kinder- nen die kirchlichen Beisetzungen des Bürgertums sich zu mehren, wenn
sterblichkeit erwarten würde: 36Vo der Verstorbenen von Dalbade, 32% man der zunehmenden Zahl der Grabplatten und Epitaphien Glauben
von Saint-Etienne und 579o von Daurade q/aren zur Zeit ihres Todes weni- schenken darf.
ger als 1O Jahre alt. Sie machten ein Drittel der iährlichen Beisetzungen in Umgekehrt hat es den Anschein, daß die Beisetzung in der Kirche im Be-
den Kirchen, aber mehr als die Häl{te aller Friedhofsbestattungen aus (mit reich der Landpfarreien immer nur einer kleinen Zahl von Privilegierten

116 't17
vorbehalten geblieben ist: der Familie des Lehnsherrn, einigen Bauern und gen Frau, die andere für die Hohe Messe, die immerwährend an jedem
Alteingesessenenvon bürgerlichem Lebenswandel und auch den Priestern, Festtag angezündet werden sollen". (l 12)
wenn sie nicht zu Füßen der Hosianna-Kreuze bestattet sein wollten, die In anderen Testamenten (Yorkshire) begegnet man überdies den vier
gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. zu ihrem angestammten Platz Bettelorden unserer französischen Testamente wieder.
wurden. Die li(ünsche zur Grabwahl betreffen sowohl die Kirche wie den Fried-
Es steht zu vermuten, daß die Situation in den anderen Ländern des west- hof. Wenn sie die Kirche bezeichnen, so tun sie das sehr häufig ohne jede
lichen Europas nicht sehr viel anders war, wobei die kleinen Unterschiede, genauere Präzisierung: ,My body to be berged in the parish church of the
wenn sie überhaupt hervortreten, denn auch sehr bezeichnend sind. aPPostilles petur fPerer) and pall [Paul] o/ \7.o \flenn aber genauere Be-
Eine aus genealogischen Inreressen im Jahre 1914 unternommene Veröf- zeichnungen vorkommen, so sind die Lokalisierungsformeln dieselben wie
fentlichung englischer, vom Beginn des 16. Jahrhunderts stammender Te- in Frankreich, mit denselben Prioritäten, namentlich dem Chor, dem
stamente erlaubt, Ahnlichkeiten und Differenzen in aller Kürze abzuwä- Kreuz, dem Abendmahlsaltar: im Chor oder im Hochchor, vor dem
gen. (110) Vierunddreißig d,er 224 Testamente enthalten keine religiösen Abendmahlsaltar, in der Kapelle Unserer Lieben Frau, vor dem Bildnis der
Formeln: sie sind zweifellos nur Abänderungen und Ergänzungen älterer Jungfrau Maria, vor dem Kruzifix, mitten im Schiff vor dem Kruzifix usw.
Testamente und beziehen sich ausschließlich auf die Verteilung der Hinter- Schließlich begegnet man in diesen Testamenten - wenn auch ebenso sel-
lassenschaft. Es verbleiben 190 Dokumente, die allesamt bestimmte Vün- ten wie in den französischen - den von Entsagung und Demut geprägten
sche zur Grabwahl äußern. Absichtserklärungen: gewünscht wird eine Beisetzung, wo es odem all-
Der Paragraph, der den Legaten ad pias cdusds entspricht, ist zuweilen mächtigen Gott. gefällt, ,in der Kirche oder auf dem churcbyard, nach
in lateinischer Sprache abgefaßt. '§(/enn auch manche besonderen Bräuche Gutdünken meines Testamentsvollstreckers".
vorkommen wie die Stiftung eines Haus- oder Herdentieres für das mortu- Große Ahnlichkeiten also. Der Aspekt, für den der Vergleich stärker ins
ar!, so sind doch Geist und Buchstabe dieser Testamente dieselben wie Gewicht fallende Differenzen hervorteten läßt, ist der des prozentualen
in Frankreich. Hier einige Stichproben: "Ich [...] möchte bestattet sein Anteils von Kirche und Friedhof : 46Yo der Testatare haben den Friedhof
au{ dem cburchyard von Allerheiligen zu Multon. Für mein mortaary gewählt, ohne daß ihr Testament sie in eine andere sozio-ökonomische Ka-
stifte ich, was Brauch und Recht vorsehen. Für den Hochaltar dieser Kir- tegorie verwiese als jene, die die Kirche gewählt haben.
che XX d. Für unsere Kathedralkirchefrnotberfzu Lincolr'. iV d. Für die Es gibt keine Bezeichnung eines besonderen Platzes, außer etwa "in der
Kirche zu Multonfür die neuen Chorstühle III s.IV d. Für diedreiLeuchter Vorhalle der Kircheo, dem parvis (Vorhof).
besagter Kirche IX d. Für die Bestückung der Totenleuchte, die beim Be- In Frankreich liegt der vergleichbare prozentuale Anteil von Friedhofs-
such der Todkranken vor dem Sterbesakrament hergetragen wird, II d" bestattungswünschen bei den Testataren sehr viel niedriger. Es kann als ge-
(15r3 [111]). sichert gelten, daß der eng.lis che cburcbyard in moderneren Zeiten von den
Leuten von Stand nicht derart vorbehaltlos aufgegeben worden ist wie das
"Ich [...] möchte bestattet sein auf dem churcbyard von Allerheiligen
von Fosdyke, wobei mein mortuary nach Brauch und Herkommen festge- franz-ösische aitre oder cbarnier, das seinerseits zur Armengrabstätte
setzt wird. Für den Hochaltar besagter Kirche, für vergessene Zehnte und wurde. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe dafür, warum das poe-
Spenden XII d. Für den Altar lJnserer Lieben Frau besagter Kirche III d. tische Bild des romantischen Friedhofs in England entsteht, zur Zeit von
Für den Altar des HeiligenNikolaus IV d. Für die Bruderschaft [grlde)Un- Thomas Gray.
serer Lieben Frau von Fosdyke III s. IV d. Für die Bruderschaft vom Heili- Es ist jedoch kein Hindernis dafür, daß in der Grafschaft Lincolnshire
gen Kreuz frode)zu Boston III s. IV d., damit die Träger bei meiner Beiset- 54Vo der Bestattungen in den Kirchen vollzogen werden - wie auf dem
zung ihre Pflicht tun. lJnserer Mutter Kirche zu Lincoln IV d. Für Kontinent.
St Catherine zu Lincoln 1! d." Eine im voraus auf ein grene (Ernte) enr-
nommene Stiftung für die Unterhaltung zweier zwei Mal im Jahr zu erneu- Vir haben in diesem Kapitel gesehen, daß sich bestimmte Bestattungsbräu-
ernder Kerzen, ,eine von einem P{und Wachs vor vor Unserer Barmhcrzi- che in der gesamten lateinischen Christenheit ausbreiten und für gut ein

118 119
Jahrtausend mit nur geringen regionalen Abweichungen fortbestehen. Sie
sind charakterisiert durch die Zusammenpferchung der Leichname in rela-
tiv kleinen Räumen, insbesondere in den Kirchen, die die Funktion von
Friedhö{en übernehmen, neben den eigentlichen Friedhöfen unter freiem
Himmel, durch die beständige Umschichtung der Gebeine und ihre Aushe-
bung und überführung in die Beinhäuser und schließlich durch die alltägli- Zweiter Teil
che Präsenz der Lebenden inmitten der Toten.
Der eigene Tod
3. Die Todesstunde:
Vergegenwärtigung des Lebens

Die Eschatologie als Indikator der kollektiven Mentalität

Bis ins Zeitaiter des wissenschaftlichen Fortschritts haben die Menschen


bereitwillig an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tode geglaubt. Die-
ser Glaube läßt sich bereits bei den frühesten Grabopfern des Moustdrien
konstatieren, und noch heute, da der szienti{ische Skeptizismus in vol-
ler Blüte steht, erhalten sich abgeschwächte Formen von Kontinuitätsver-
trauen oder starrsinniger Ablehnung der Vorstellung einer unverzüglichen
Vernichtung im Tode. Der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach
dem Tode bildet einen allen alten Religionen und dem Christentum ge-
meinsamen Fundus.
Das Christentum hat die traditionellen Gedankengänge des gesunden
Menschenverstandes und der stoischen Philosophen zur "Abtötung" des
Menschen von Geburt an auf eigene Rechnung und auf seine W'eise wieder-
rufgenommen. "Mit der Geburt beginnen wir zu sterben, und das Ende
setzt mit dem Anfang ein" (Manlius) - ein Gemeinplatz, dem man beim
Heiligen Bernhard und bei Pierre de B6rulle ebenso begegnet wie bei Mon-
taigne. Ebenso hat es die sehr alte Vorstellung des \(eiterlebens in einer
traurigen und grauen Unterwelt und die jüngere, weniger volkstümliche
und strengere eines moralischen Gerichtes wiederaufgenommen. (1)
Es hat schließlich die Hoffnungen der Heilsreligionen wiederangefacht,
indem es das Heil des Menschen der Fleischwerdung und der Auferstehung
Christi überantwortete. Deshalb ist im paulinischen Christentum der Tod
clurch die Sünde in die \üelt gekommen, und der physische Tod ist Zugang
zum ewigen Leben.
Man geht wohl nicht fehl, wenn man die christliche Eschatologie als Er-
bin älterer Glaubensinhalte auf diese wenigen einfachen Grundzüge ver-

123
kürzt. Gleichwohl bleibt im Rahmen dieser sehr weit gefaßten Definition und der Hölle. Die sehr alte Paulusapokalypse beschrieb ein Paradies und
noch Raum für manche Veränderungen: Die Vorstellungen, die sich die eine an Höllenqualen reiche Unterwelt. (2) Der Heilige Augustinus und die
Christen von Tod und Unsterblichkeit gemacht haben, waren im Laufe der Kirchenväter haben eine nahezu endgültige Konzeption des Seelenheils
Zeiten großen Veränderungen unterworfen. Velche Bedeutung haben entwickelt. Deshalb ve rmitteln die Bücher von Kulturhistorikern dem viel-
diese Veränderungen? Einem Religionsphilosophen oder einem schlichten leicht allzusehr auf Veränderungen versessenen Leser den Eindruck von
und {rommen Gläubigen, die, einer wie der andere, ihren Glauben zu läu- Monotonie und Unveränderlichkeit.
tern und auf seine Ursprünge zurückzuführen bestrebt sind, mögen sie ge- Die Textsammlungen der gelehrten Autoren sind sehr bald vollständig
ringfügig erscheinen. Sehr bedeutsam sind sie dagegen für den Historiker, und abgeschlossen. In Virklichkeit wird fedoch nur ein kleiner Teil davon
denn hier werden für ihn die sichtbaren Zeichen von ebenso tiefgreifenden benutzt und von der kollektiven Praxis ausgewählt, die wir zu bestimmen
wie unbemerkt bleibenden Veränderungen der Vorstellung erkennbar, die versuchen müssen, den Irrtumsrisiken und Fallen dieser Art von Untersu-
der Mensch - und nicht nur ausschließlich der Christ - sich von seinem Ge- chungen zum Trotz. Es sieht demnach so aus, als ob der derart ausgewähhe
schick gemacht hat. Teil der Vorstellungen der einzig bekannte, der einzig lebendige und also
Der Historiker muß die "Geheim.-Sprache der Religionen während die- der einzig bedeutungsvolle wäre.
ser langen Phasen von Unsterblichkeitsgewißheit zu enträtseln verstehen. Vir wollen diese Methode zunächst auf die bildlichen Vorstellungen des
Unter den ekklesiastischen Formeln der Gelehrten, unter den frommen Le- Jüngsten Gerichtes anwenden.
genden des Volksglaubens muß er die zivilisatorischen Archetypen zu ent-
decken versuchen, die sie in den einzigen intelligiblen Kode zurücküber-
setzen. Ein solches Unterfangen verlangt, daß wir uns bestimmter Die letz.te Ankunft
Denkgewohnheiten entäußern.
Wir stellen uns die mittelalterliche Gesellschaft gewöhnlich als von der In unserem christlichen Abendland ist die erste bildliche Vorstellung vom
Kirche beherrscht oder - was aufs gleiche hinausläuft - gegen sie mit Häre- Ende der Zeiten keine Vorstellung des Gerichtes.
sien oder einem ursprünglichen Naturalismus au{begehrend vor. Sicher Es sei zunächst an das erinnert, was im ersten Kapitel aus Anlaß der
lebte diese Velt damals im Schatten der Kirche; das bedeutete jedoch keine Christen des ersten Jahrtausends gesagt worden ist: Nach ihrem Tode ruh-
totale und rückhaltlose Hinnahme aller christlichen Dogmen. Es besagte tcn sie, wie die sieben schlafenden Epheser, in Erwartung des Tages der
eher Anerkennung einer gemeinsamen Sprache, eines allgemeinverbindli- \fliederkehr Christi. Deshalb war ihre Vorstellung vom Ende der Zeiten die
chen Kommunikations- und Erkenntnissystems. Die aus den tiefsten des verklärten Christus, wie er am Tage der Auferstehung aufgefahren ist
Schichten der Seele aufsteigenden §üünsche und Phantasien wurden in ei- z.um Himmel oder wie ihn der Seher der Offenbarung Johannis beschreibr:
nem Zeichensystem zum Ausdruck gebracht, und diese Zeichen fanden . Und siehe, ein Stuhl war geserzr im Himmel, und auf dem Stuhl saß einer";

Rückhalt an einem christlichen Wortschatz.. Aber das Zeitalter - und eben .und ein Regenbogen war um den Stuhl, gleich anzusehen wie ein Sma-
das ist hier für uns von Bedeutung - wählte manche Zeichen ganz spontan ragd"; "uni mitten am Stuhl und um den Stuhl vier Tiere, voll Augen vorn
aus, weil sie die untergründig wirksamen Tendenzen des Kollektivverhal- rrnd hinten" (die vier Evangelisten), "und um den Stuhl waren vierund-
tens besser wiedergaben, und gab ihnen den Vorzug vor anderen, die im twanzig Stühle, und auf den Stühlen saßen vierundzwanzig Alteste mit
Entwurf steckenblieben oder in Reserve gehalten wurden. weißen Kleidern angetan.«
'§üenn
wir uns in dieser Hinsicht an die christlichen \Wortfelder und Diese außergewöhnliche Bildwelt tritt in romanischer Zeit sehr häufig in
Textsammlungen halten, stoßen wir sehr bald auf nahezu alle Themen der [:rscheinung, etwa in Moissac oder in Chartres (Königsportal). Sie führte
traditionellen Eschatolo gie : unsere Historiker-Neugier auf Veränderungen ,lie himmlische §flelt und die sie bevölkernden göttlichen oder überirdi-
wird rasch enttäuscht. Das Matthäus-Evangelium (2) enthielt, in Verbin- 'chen §flesen leibhaft vor Augen. Die Menschen des frühen Mittelalters er-
dung mit heidnischen, insbesondere ägyptischen Traditionen, bereits die *'arteten die \üiederkehr Christi ohne Angst vor dem Gericht. Deshalb war
gesamte mittelalterliche Konzeption des Jenseits, des Jüngsten Gerichtes ihre Auffassung vom Ende der Zeiten von der Apokalypse beein{lußt und

124 125
überging die dramatische. Szene der Auferstehung und des Gerichtes, wie Auferstandenen entsteigen nackt ihrem Sarkophag, und zwar paarweise,
sie im Matthäus-Evangelium niedergelegt ist, mit Stillschweigen. jeweils Mann und Frau in enger Umarmung. Der Engel stößt in ein pracht-
Venn es ausnahmsweise einmal vorkam, daß die Grabplastik das Jüngste volles Elfenbeinhorn. Zwar handelt es sich um das Ende der Zeiten, aber
Gericht darstellte, so läßt sich an diesen Darstellungen ablesen, wie wenig wie in Jouarre findet kein Gericht statt. Die Annäherung von Taufe und
es gefürchtet und wie sehr es immer und ausschließlich aus der Perspektive Auferstehung ohne Gericht ist unmißverständlich: I)ie Getau{ten sind der
der Viederkehr Christi und der Erweckung der Gerechten wahrgenommen Auferstehung und des ewigen Heils, das sie einschließt, gewiß.
wurde, die aus ihrem Schlaf erwachen, um ins himmlische Licht einzutre- Ein anderes Zeugnis bestätigt diesen Befund der Ikonographie. In christ-
ten. Bischof Agilbert ist im Jahre 680 in einem Sarkophag in der Krypta lichen Epitaphien des ersten Jahrhunderts lassen sich Bruchstücke eines al-
der Grabkapelle von Jouarre bestattet worden. (3) Auf einer der Schmalsei- ten Gebetes wiedererkennen, das die Kirche wahrscheinlich von der Syn-
ten des Sarkophages ist der verklärte Christus dargestellt, umgeben von den agoge ererbt hat, das also vor das dritte Jahrhundert zurückreicht und sich
vier Evangelisten: das traditionelle Bild, das die romanische Kunst wieder- in der religiösen Praxis bis heute erhalten hat. (7) lVir haben es bereits den
holen wird. Auf einer der Längsseiten sieht man die Erwählten mit erhobe- todwunden Roland aussprechen hören. (8) Es war Bestandteil der Gebete
nen Armen dem aufersundenen Christus entgegenjauchzen. Allerdings nur zur Empfehlung der Seele eines Verstorbenen an Gott, die das f ranzösische
die Erwählten, nicht die Verdammten. Es gibt nicht den geringsten Hinweis Idiom des 16. und 17. Jahrhunderts in den Testamenten häufig unter dem
auf das von Matthäus angekündigte drohende Gericht und seine Bannflü- Sammelnamen recommendaces zusammenfaßte. Noch in jüngster Vergan-
che. Und zwar sicherlich deshalb nicht, weil diese Bannflüche die "Heili- genheit begegnete man ihnen in Meßbüchern, die vor den Reformen
genu nicht betra{en und weil zu den "Heiligen« alle im Frieden der Kirche Pauls VI. in Gebrauch waren. (9)
entschlafenen Gläubigen zählten, die ihren Leib kirchlichem Boden anver- Das jüdische Gebet {ür die Fastenzeit wäre somit also zum ältesten
traut hatten. Und so nennt denn auch die Vulgata sancti diejenigen, die mo- christlichen Totengebet geworden. Es lautet folgendermaßen:
derne Übersetzer als Gläubige oder Selige bezeichnen. "Errette, Herr, die Seele Deines Dieners, wie Du Henoch und Elias vom
Die Heiligen hatten von der Strenge des Gerichtes nichts zu fürchten. Die allen gemeinsamen Tod errettet hast, wie Du Noah aus der Sintflut, Abra-
Apokalyse sagt in einem Textabschnitt, der die Lehre vom tausendiährigen ham bei seinem Auszug aus Ur errettet hast, Hiob aus seinem Leiden, Isaak
Reich Christi auf Erden begründet, ausdrücklich von denen, die der »ersten aus den Händen seines Vaters Abraham, Lot aus den Flammen von Sodonr,
Auferstehung" teilhaftig geworden sind: "Uber solche hat der andere Tod Moses aus der Hand des ägyptischen Pharao, Daniel aus der Löwengrube,
keine Macht." (4) die drei Jünglinge aus dem Feuero{en, Susanna vor falscher Anklage, David
Aber vielleicht waren die Verdammten auch weniger sichtbar als die Er- rus den Händen von Saui und Goliath, die heiligen Apostel Petrus und
wählten, weil sie ihres Seins entäußert waren, sei es dadurch, daß sie nicht Paulus aus dem Gefängnis und die heilige Jungfrau Thekla aus ihren drei
auferstanden, sei es, daß ihnen der verklärte Leib der Erwählten vorenthal- schrecklichen Prüfungen. "
ten blieb. In diesem Sinne muß wohl auch eine heute verworfene Version Dieses Gebet war so vertraut, daß die ersten christlichen Steinmetzen von
der Vulgata gedeutet werd enl. , Ecce mysterium oobis dico: Omnes qnidem Arles sich bei der Ausschmückung ihrer Sarkophage davon beein{lussen
resurgemr4r, sed non omnes immutabimuro (Siehe, ich sage euch ein Ge- ließen.
heimnis: wir werden zwar alle auferstehen, aber nicht alle verwandelt wer- Die angerufenen Gestalten aber, die Gottes Barmherzigkeit dem Beten-
den [5]). den geneigt machen sollten, sind - und darauf hat bereits J. Lestocquoy
Das Thema des Jüngsten Gerichtes taucht im 1 1. Jahrhundert wieder auf , aufmerksam gemacht - samt und sonders keine Sünder, sondern in Prüfun-
diesmal nicht im Zusammenhang mit Sarkophagen, sondern mit Taufbek- gen bewährte Gerechte: Abraham, Hiob, Daniel, schließlich die Heiligen
ken. Das älteste derart geschmückte Taufbecken findet sich in Neer Hespin Apostel und eine selige Märtyrerin der gebenedeiten Jungfrau, Thekla.
in der Nähe von Landen in Belgien. Ein anderes, das wie das vorhergehende Venn der Christ des {rühen Mittelalters also in der Stunde seines Todes
der Schule von Tournai zugeschrieben wird, ist in Chälons-sur-Marne frei- wie Roland dre commendacio animae sprach, hatte er den triumphierenden
gelegt worden. (6) Es kann nicht später als um 1150 entstanden sein. Die t.-ingriff Gottes vor Augen, der den Prüfungen der Heiligen ein Ende setzte.

126 t27
rechten und der Verfluchten. Diese Aspekte bringen im wesentlichen drei
Auch Roland hatte ,seine Schuid bekannt., und das war wahrscheinlich der
Elemente zum Ausdruck: die Auferstehung der Leiber, den Akt der Recht-
Beginn einer neuen Art von Sensibilität' Aber die commendacio tnimde
sprechung und die Scheidung der Gerechten, die zum Himmel auffahren,
schürte keine Gewissensbisse angesichts begangener Sünden, sie flehte
von den Verdammten, die ins ewige Höllenfeuer hinabgestürzt werden.
nicht einmal um Vergebung für den Sünder, so als ob der bereits Yerzei-
Die vorbereitende Entwicklung dieser Elemente des großen Dramas hat
hung erhalten hätte. Sie stellte ihn den Heiligen und die Qualen seines To-
sich langsam vollzogen, so als hätten der im 12. und 11. Jahrhundert dann
deskampfes den Prüfungen der Heiligen gleich.
klassisch werdenden Vorstellung des Jüngsten Gerichts bestimmte \iüider-
stände entgegengearbeitet. In Beaulieu fahren die Toten zwar aus dem
Grabe auf - auf dieser Stufe wahrscheinlich zum ersten Mal -, aber geradezu
Das Gericht am Ende der Zeiten.
unaufiällig und verschwiegen. Nichts legt den Eindruck einer Gerichtsver-
Das Buch des Lebens
handlung nahe; wie auf dem Sarkophag von Jouarre und dem Taufbecken
von Chälons-sur-Marne gehören die alsbald auferstandenen Toten dem
Vom 12. Jahrhundert an führt die Ikonographie für ungefähr vier Jahrhun-
I.Iimmel, ohne eine Prüf ung über sich ergehen lassen zu m üssen. Noch im-
derte auf der Bühne der mit historischen Szenen geschmückten Domportale
mer ist ihnen das Heil vorausbestimmt wie den Heiligen der Vulgata. Rich-
das Schauspiel vom Ende der Zeiten vor, Varianren des großen eschatologi-
tig ist aber auch, daß die Verdammten nicht mehr völlig fehlen. Bei genaue-
schen Dramas, die, unter der Oberfläche ihrer religiösen Sprache, die neuen
rer Betrachtung entdeckt man sie in einer der beiden Scharen von Monstern,,
Besorgnisse des Menschen angesichrs der Enthüllung seines schicksals
die den Bogensturz säumen. Unter diesen Monstern hat E. Mäle (10) das
durchscheinen lassen.
siebenköpf ige Tier der Apokalypse ausf indig gemacht. Einige verschlingen
In den ersten Darstellungen des Jüngsten Gerichts aus dem 12. Jahrhun-
Menschen, die keine anderen als die Verdammten sein können. Es ist
dert überlagern sich zwei Szenen, eine sehr alte und eine gänzlich neue'
schwer, sich der geradezu umsichtig-heimlichen Art und Weise der Ein-
Die ältere ist keine andere als die soeben beschriebene: der christus der
führungvon Hölle und Marter zu entziehen. Die höllischen Kreaturen un-
Apokalypse in seiner Glorie. Die Darstellung symbolisiert das Ende der
terscheiden sich nur wenig von der sagenhaften Tierwelt, die die romani-
vom Sündenfall Adams bewirkten Zerrissenheit der Schöpfung, die Aufhe-
sche Kunst aus dem Orient übernahm und mit ebenso dekorativen wie
bung der Besonderheiten einer interimistischen Geschichte in den unvor-
symbolischen Intentionen weiterentwickelt hat.
stellbaren Dimensionen der Transzendenz: der Glanz dieses Lichtes läßt
In Autun, dessen Kathedralportal später e ntstanden ist als das von Con-
keinen Raum mehr für die Geschichte der Menschheit, ebensowenig für die
t1ues, ist zwar ein Jüngstes Gericht dargestellt; aber der richterliche Eingrif{
eigene Biographie des Einzelmenschen.
in das Schicksal der Toten vollzieht sich dort erst nach der Auferstehung:
Im 12. Jahrhundert hat die apokalyptische Szene zunächst noch Bestand;
,lie einen iahren direkt zum Paradies auf, die anderen zur Hölle hinab. Man
sie nimmt iedoch nur noch einen Teil des Kathedralportals, und zwar den
lragt sich also nach der Daseinsberechtigung von Gerichtsverhandlungen,
oberen, in Anspruch. Auf dem zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstande-
,lie sich o{fenbai ganz nebenbei abspielen. Man hat den Eindruck, daß zwei
nen Portal von Beaulieu füllen die trompeteblasenden Engel, die überirdi-
gänzlich verschiedene Konzeptionen hier einfach nebeneinandergestellt
schen rVesen und ein gigantischer Christus, der ungeheure Arme ausbreitet'
noch den größten Teil der verfügbaren Fläche aus und lassen anderen Ele- 'ind.
In Sainte-Foy in Conques kann es keinerlei Zwei[el über die Bedeutung
menten und Symbolen nur wenig Raum''§Venig später, in Sainte-Foy in
tler Szene geben: sie wird von Inschriften präzisiert. Dem Nimbus des ge-
Conques (1130-1150), ist der Christus im bestirnten Strahlenkranz, der
kreuzigten Christus ist das ri(ort/zdex einbeschrieben. Dasselbe Judex har
über den Wolken des endlosen Raumes schwebt, noch immer der der Apo-
Suger dem Christus von Saint-Denis beigelegt. An einer anderen Stelle hat
kalypse. Aber in Beaulieu - und mehr noch in Conques - tritt, unter der
,ler Bildhauer die betreffenden Textabschnitte aus dem Matthäus-Evange-
traditionellen Darstellung der zweiten Thronbesteigung' eine neue, vom
lrum eingemeißelt: " Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters; ererbt das
25. Kapitet des Matthäus-Evangeliums beeinflußte Ikonographie in Er-
lleich, das euch bereitet ist von Anbeginn der'§(elt ! (. . .) Gehet hin von mir,
scheinung: das Gericht des Jüngsten Tages und die "Scheidung' der Ge-

129
128
an. Fürsprecher greifen ein und spielen eine Rolle, die der Text des Mat-
ihr verfluchten, in das ewige Feuer. . .. (11). Hölle und Paradies haben ihre
der iuristischen thäus-Evangeliums nicht vorgesehen hatte, die Doppelrolle des Advokaten
ie eigene epigraphische Bildlegende. Man sieht die szene
treten, die der urteilsfindung vorausgeht und (patronus) und des Bittstellers (adoocare Deum), die an die Barmherzigkeit
Ermittlung in Erscheinung
vorbereitet: die berühmte lWägung der Seelen durch den Erzengel Mi- appellieren, d. h. an die Gnade des souveränen Richters. \trflie aber der Rich-
sie
ter der ist, der den Schuldigen begnadigt, so ist er doch auch der, der ihn
chael. Das aus der Apokalypse übernommene Paradies nimmt nurmehr den
verdammt, und einigen seiner Vertrauten obliegt es, ihn zur Milde zu stim-
gleichen Raum ein wie die Hölle. Schließlich - und das ist bemerkenswert
verschlingt die Hölle sogar Männer der Kirche, Mönche, die durch eine men. Hier fällt diese Rolle seiner Mutter und seinem Jünger zu, die ihm
-
zu Füßen seines Kreuzes Beistand geleistet haben - der Heiligen Jungfrau
corona gekennzeichnet sind, d. h. eine auffallende Tonsur. Die alte Gleich-
und dem Evangelisten Johannes. Am Portal von Autun sieht man sie zu-
stellung von Gläubigen und Heiligen ist damit zunichte geworden. Keiner
nächst noch ganz unauffällig in Erscheinung treten, ganz oben am Tym-
aus dem Volke Gottes ist seines Heiles mehr sicher, nicht einmal die, die
panon, zu seiten der großen Aureole, die Christus umgibt. Im 13. Jahrhun-
der profanen lVelt die Einsamkeit der Klöster vorgezogen haben'
So hat sich im 12. Jahrhundert eine Ikonographie verfestigt, in der das
dert sind sie dann zu Hauptfiguren der Handlung geworden, und ihre
Bedeutung kommt der des seelenwägenden Erzengels gleich. Sie liegen auf
Matchäus-Evangelium die o{fenbarung Johannis überlagert, die beide ver-
den Knien und flehen mit ge{alteten Händen den richtenden Christus an.
klammert und damit die zweite Thronbesteigung Christi mit dem Jüngsten
Gericht verbindet. Der König hält also Ho{, und da er sitzend dargestellt wird, ist seine
Hauptaufgabe die der Rechtsprechung.
Im 13. Jahrhundert hat sich der Einfluß der Apokalypse abgeschwächt,
Das apokalyptische "Herabfahreno des Himmels zur Erde ist also zur
und es bleiben nur in die Archivolten verwiesene Reste davon übrig' Die
Gerichtsverhandlung geworden, was ihr in den Augen der Zeitgenossen
Vorstellung des Gerichts hat sich durchgesetzt. Gewöhnlich wird dabei ein
nichts von ihrer Majestät raubte, denn der Gerichtshof war geradezu das
Gerichtshof dargestellt: Christus sitzt, umgeben von bannertragenden En-
geln, auf dem Stuhle des Richters; der ihn sonst aus seiner Umgebung her-
Vorbild höchster Feierlichkeit, Bild und Symbol der Größe, wie die Justiz
die reinste Außerungsform der Macht war.
aushebende ovale Heiligenschein ist verschwunden. sein Hofstaat umringt
Diese Verwandlung der Eschatologie in einen Apparat der Jurisdiktion,
ihn: die zwölf Apostel, die seltener ihm zur Seite dargestellt sind (wie in
wie prunkvoll er auch sei, hat für uns Moderne, die wir der Justiz und der
Laon), häufiger jedoch links und rechts in zwei Reihen in die Innenaus-
Ilürokratie gegenüber derart gleichgültig und skeptisch geworden sind, et-
schrägung des Portals eingebettet werden.
was Erstaunliches. Der heutige Gerichtssasse meidet sie, in schroffem Ge-
Zwei Handlungselementen kommt ietzt besondere Bedeutung zu: ein-
mal der Seelenwägung, die ins Zentrum der Komposition rückt, eine Szene, Bensatz zu seinen unheilbar prozeßsüchtigen Ahnen! Die Bedeutung, die
tler Justiz im Alltagsleben und im Rahmen der urwüchsigen Moral einge-
die Besorgnis und unruhe weckt. In den Archivolten des Portals sind, auf
räumt wurde, ist einer der psychologischen Faktoren, die jene alte und die
die himmlischen Altane gestützt, die Engel aufmerksame Zuschauer' Jedes
'§(/aage rnoderne Mentalität entzweien und einander entgegensetzen.
Leben wird auf die \üaagschalen der gelegt. Jeder Wiegevorgang
Diese Sensibilität für den Begriff und die Außerungsformen der Justiz
lenkt das Augenmerk der himmlischen und der höllischen Heerscharen auf
stammt in Vahrheit aus dem Hochmittelalter; sie sollte sich bis ins Ancien
sich.
It6gime erhalten. Das menschliche Leben erschien als langedauerndes Ver-
Keine Rede kann mehr davon sein, sich einer Prüfung zu entziehen, de-
lahren, in dem jede Teilhandlung durch einen Justizakt - oder wenigstens
ren Ergebnis nicht mehr im voraus bekannt ist. Ihre Bedeutung wird noch
tlurch einen wägenden Akt von Gerichtspersonen - gebilligt wurde. Sogar
verstärkt, in dem Maße, daß man sie manchmal sogar zu verdoppeln für nö-
rlie öff entlichen Einrichtungen wurden nach dem Vorbild von Gerichtshö-
tig befunden hat. Die Erwählten und die verdammten werden zwar von
der §(aage des Heiligen Michael deutlich geschieden; aber wie wenn diese
lcn organisiert, und jede Vereinigung von Polizeibeamten oder Bankiers
ist wie ein Tribunal aufgebaut, mit einem Präsidenten, Räten, einem Staats-
Operation nicht hinreichte, müssen sie ein zweites Mal in zwei Gruppen
geieilt werden, und zwar durch das Schwert des Erzengels Gabriel' .rnwalt und einem Protokollführer.
Gleichwohl schließt sich das Gericht nicht immer dem urteil der'§flaage Ein Text aus dem 14. Jahrhundert macht deutlich, in welchem Maße die

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Anrufung eines Richters in den Rechtsformen des A.lltags vertraut war wie machen. Denn es wird eine solche trübselige Zeit sein, als sie nicht gewesen
ein Reflex: Die Gattin des kastilischen Ritters Alarcos hat erfahren, daß ihr ist, seit daß Leute gewesen sind bis auf dieselbige Zetr. Zur selbigen Zeit
Mann sie zu töten beabsichtigt, um die Infantin von Kastilien heiraten zu aber wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buche geschrieben stehen.«
können. Sie spricht ihr Gebet, sagt ihren Angehörigen Lebewohl. Ihre Seele (XII,1) Und noch im fünften Kapitel der Offenbarung Johannis liest man:
ist im Frieden, sie schreit nicht nach Rache; aber sie ruft ihre Mörder vor "Und ich sah in der rechten Hand des, der auf dem Stuhl saß, ein Buch,
den himmlischen Richter. Die Gerechtigkeit muß in der Tat wiederherge- beschrieben inwendig und auswendig, versiegelt mit sieben Siegeln.. (V,1)
stellt werden, und sie wird merkwürdigerweise nicht vom spontanen Ein- Dieses Buch ist die Rolle, die der Christus von Jouarre im Angesicht der
griff des allwissenden Richters in Gang gesetzt: es kommt vielmehr dem ihm entgegenjauchzenden Erwählten in Händen hält. Es enthielt ihre Na-
unschuldigen Opfer zu, sein Anliegen vor Gericht zu bringen und sein men und wurde am Ende der Zeiten geöffnet. Zu Zeiren des Tympanons
Recht einzuklagen (12): von Jouarre aber diente es einem anderen liber aitae als Vorbild, diesmal
einem wirklichen Buch, in dem die Namen der Vohltäter der Kirche ver-
Je ,tous pardonne, bon comte, pour l'amour que j'ai pour vous, zeichnet standen, die man im Ztge der gallikanischen Opfergebete verlas:
Mais ne pardonne le roi ni ne pardonne l'infante, der Aufzählung der Heiligen. Eben dieses Buch Daniels oder der Apoka-
Et les aiourne tous d.eux ä paraitre en justice au haut tribunal de lypse hält am Portal von Conques ein Engel geöffnet vor sich, und es wird
Dieu dans trente jours de ddlai. durch eine Inschrift bezeichnet: signatur liber vitae. Es enthält die Namen
der Bewohner der terra viventium, wie die Lauda Sion am Fronleichnams-
Man kann nicht umhin, dieser Frau Bewunderung zu zollen, die, am
tage sagt, die so das Paradies bezeichnet.
Rande eines christlichen Todes, sich dennoch genug Besonnenheit bewahrt
Das ist die erste Bedeutung des liber aitae, die sich jedoch im 13. Jahr-
hat, um eine gerichtliche Forderung in derart korrekter und bündiger Form
hundert verändert. Das Buch ist nicht mehr der census der Einen Kirche;
vorzubringen.
es ist zum Register geworden, in dem die Angelegenheiten der Menschen
Zwischen dieser juristischen Konzeption der'§(elt und der neuen Vor-
aufgezeichnet sind. Das §flort Register taucht übrigens im Französischen
stellung des Lebens als persönlicher Biographie besteht eine enge Bezie-
des 13. Jahrhunderts als Zeichen einer neuen Mentalität auf. Die Handlun-
hung. Jeder Augenblick des Lebens wird eines {ernen Tages in feierlicher
gen eines jeden Menschen verlieren sich nicht mehr im grenzenlosen Raum
Sitzung gewogen werden, im Beisein aller Mächte Himmels und der Hölle.
der Transzendenz oder - wenn man so will - im kollektiven Geschick der
Das mit dieser Aufgabe betraute Vesen, der als signifer fungierende Erzen-
Gattung. Sie werden jetzt individualisiert. Das Leben wird jetzt nicht mehr
gel, ist zum volkstümlichen Schutzheiligen der Toten geworden: Man darf
,rur als Hauch (anima, spiritus), als Vermögen (airtus) aufgefaßt. Es setzt
nicht säumen, seine Gunst zu gewinnen. I!{an betet zu ihm, wie man später sich aus einer Summe von Gedanken, Handlungen und W'orten zusammen,
den Richtern "Sporteln" anträgt: "damit er sie dem Heiligen Lichte dar- oder, wie es in einem akenConfiteor aus dem 8.Jahrhundertheißt: Peccaai
bringe". (13) in cogitatione et in locutione et in opere (Ich habe gesündigt in Gedanken,
Vie aber kann dieser englische Untersuchungsrichter die Handlungen Worten und'§flerken [1a] )- die Summe der Fakten, die sich in einem Buche
kennengelernt haben, über die er zu richten hat? \ü(eil sie in einem Buch spezi{izieren und zusammenfassen lassen.
verzeichnet worden sind, von einem anderen Engel, der halb Kanzlist, halb
Das Buch ist also zugleich Geschichte eines Menschen - seine Biographie
Rechnungsführer ist. und Buch der Rechnungslegung oder Haushaitsbuch, mit zwei Spalten,
Das Symbol des Buches ist aus der Heiligen Schrift seit langem vertraut. ,leren eine die guten, deren andere die bösen Taten verzeichnet. Der neue
Man begegnet ihm bereits beim Propheten Daniel: "Zur selbigen Zeit wird rcchenhafte Geist der Geschäftsleute, die damals ihre eigene Welt zu ent-
der große Fürst Michael, der für die Kinder deines Volkes stehet, sich auf - ,lecken beginnen - die dann zu der unsrigen geworden ist -, läßt sich auf
,len Inhalt eines Lebens ebenso anwenden wie auf eine W'are oder auf Geld-
Je aous pdrdonne... Ich verzeihe Euch, lieber Graf, um der Liebe willen, dre ich {ür Euch
[)cträge.
hege,/ Nicht aber verzeihe ich dem König noch der In{antin,/ Und alle beide lade ich zu Gericht
vor den hohen Richterstuhl/ Gottes, nach einer Frist von dreißig Tagen. Deshalb hat das Buch seinen Platz unter den Symbolen des sittlichen Le-

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bens bis ins 18. Jahrhundert hinein behalten, während die \üIaage immer Die provenzalische Barockkunst des 17. und 18. Jahrhunderts hat am
weniger dargestellt wird und der Heilige Joseph oder der Schutzengel den Symbol des Buches festgehalten: In Antibes hebt die Zeir, in Gestalt eines
Platz des Erzengels signit'er oder psychoponpos (Seelengeleiter) eingenom- greisenhaften Alten, das Leichentuch hoch, das den Körper eines jungen
men hat. Mannes bedeckt, und weist zugleich ein Buch vor; in Salon enthält ein Re-
Ein Jahrhundert nach dem Portal von Conques, wo seine Bedeutung tabel des 18. Jahrhunderts in der Kirche des Heiligen Michael, des Schutz-
noch die der Apokalypse ist, lassen die franziskanischen Autoren des Dles heiligen der Toten, neben klassischen makabren Instrumenten auch ein ge-
irae es im dröhnenden Tumult des \Veltendes vor den Richter tragen, und öffnetesBuch,indemzulesensteht: liberscriptusprofect(...).Bestehteine
ietzt ist es ein Rechnungsbuch. Beziehung zwischen diesem Buch und dem der oanitis, der Vanitas-Still-
leben? (17)
Liber scriptus prot'eretur
Gegen [,nde des Mittelalters, im 14. und 15. Jahrhundert, werden die
In quo totum continetilr Konten dann von denen geführt, die daraus für sich Nutzen ziehen, also
Unde mundus judicetur.
von den Teu{eln, die sicher sind, daß das Böse den Sieg davonträgt - düstere
Merkwürdig und bezeichnend ist, daß das Buch, das anfangs das der Er- Konzeption einer übervölkerten Hölle, die sich nur dem unverdienten Ein-
wählten war, später zu dem der Verdammten wird. griff der göttlichen Barmherzigkeit beugen muß.
'§fliederum
ein Jahrhundert nach dem Dies irae zeigt ein Gemälde von Nach der tridentinischen Reform wird das Gleichgewicht - als Zuge-
ständnis an das makabre Zeitaher - wiederhergestellt. Die gegen Ende des
Jacopo Alberegno aus der Mitte des 14. Jahrhunderts den richtenden Chri-
stus, der auf dem Thron sitzt und das aufgeschlagene Buch auf den Knien Mittelalters dem Teufel überlassene Rechnungsführung stellt den Gläubi-
halt, in dem geschrieben steht: Chiunque scrixi so questo libro seri danadi gen oder den Moralisten der klassischen Epoche nicht mehr zufrieden. Die
(Ver in diesem Buche verzeichnet steht, wird verdammt sein). \flenn auch Traktate zur Vorbereitung auf einen heilsamen Tod erscheinen auch wei-
eigentlich den Verdammten vorbehalten, so ist es doch ein zusammenfas- terhin. In einem davon - einem Miroir de l'äme du pöcheur et dil j,,rste pen-
sendes "Richt"-Buch der ganzen Menschheit. Bemerkenswerter noch sind dant la vie et ä l'beure de la mort (Seelenspiegel des Sünders und des Ge-
die Seelen, die, unterhalb des richtenden Christus, in Form von Skeletten rechten während des Lebens und in der Todesstunde) aus dem lahre 1736
dargestellt sind. Jede dieser Seelen hält ihr eiBenes Buch in Händen und - verfügt jeder Mensch über zwei Bücher, eines für die guten §üerke, das
bringt in ihren Gesten die Bestürzung zum Ausdruck, die seine Lektüre von seinem Schutzengel (der eine der Rollen des Heiligen Michael über-
vermittelt hat. nommen hat), das andere für die bösen, das von einem Teufel geführt wird.
In Albi - gegen Ende des 15. oder zu Beginn des 16. Jahrhunderts - be- Das Bild des erbärmlichen Todes wird wie folgt kommentiert: ,Sein be-
gegnet man auf dem großen Fresko des Jüngsten Gerichts, im Hintergrund trübter Schutzengel sagt sich von ihm [dem Sterbenden] los, läßt das Buch
des Chores, denselben individuellen Büchlein wieder, die die Auferstande- fallen, in dem alle guten §V'erke, die da verzeichnet standen, ausgelöscht
nen, nackt, um den Hals gehängt tragen, als einziges Kleidungsstück - wie werden, weil alies Gute, das er getan hat, für den Himmel nicht zählt. Zu
einen Identitätsnachweis. (1 5) seiner Linken sieht man den Teufel, der ihm ein Buch darbietet, das die
'Wirwerden später sehen, daß das Drama sich in den drtes noriendi des ganze Gescbicüte seines unglückseligen Lebens zusammenfaßt Iich habe
t 5. Jahrhunderts in das Zimmer des Sterbenden verlagert hat. Gott oder der das W'ort Geschichte als bezeichnenden Beleg für eine biographische Kon-
Teu{el ziehen das Buch zu Häupten des mit dem Tode Ringenden zu Rate. z-eption des Lebens kursiviert]." (18)
Man möchte jedoch meinen, daß gewöhnlich der Teufel das Buch oder den Das Bild des heilsamen Todes verkehrt das ins Gegenteil: "Sein Schutz-
Zettelim Besitz hat, den er mit Vehemenz schwenkt, um seinen Teil einzu- engel hält ihm mit jauchzender Miene ein Buch vor, in dem seine Tugen-
klagen. (16) den, seine guten W'erke, Fasttage, Gebete, Kasteiungen us'q/. enthalten sind.
Der verwirrte Teufel zieht sich zurück und f ährt mit seinem Buch zur Hölle
Liber scriptus. .. "Und ein Buch wird aufgesch)agen,/ Treu darin ist eingerragen/ Jede Schuld nieder, in dem nichts geschrieben steht, weil seine Sünden durch aufrichtige
aus Erdentagen" (Missale Romanum). Ilußfertigkeit getilgt worden sind." (19)

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Das große Gemeinschaftsbuch vom Portal von Conques ist im 18. Jahr- sche - haben nicht aufgehört, sie sich zum Gegenstand zu nehmen. Sie ist
hundert also zum individuellen Buch geworden, zu einer Art Passierschein jedoch aus dem großen kosmischen Zusammenhang herausgelöst und ins
oder Vorstrafenregister, das man an den Pforten der Ewigkeit vorzuweisen persönliche Geschick des Einzeimenschen verlagert worden. Der Christ
hat. bekräftigte auf seinem Grabstein zwar gelegentlich noch die Hoffnung, daß
In der Tat enthält das Buch die ganze Geschichte eines Lebens; sie ist je- er eines Tages auferstehen werde; daß dieser Tag aber der der Viederkunft
doch nur auf gezeichet worden, um ein einziges Mal Verwendung zu f inden: oder des §(eltendes sein wiirde, bekümmerte ihn nicht mehr. Entscheidend
zu dem Zeitpunkt, da die Konten geschlossen, da Soll und Haben gegenein- war also die Gewißheit der eigenen Auferstehung, letzter Akt seines Lebens
ander aufgerechnet werden und eine Schlußbilanz gezogen wird. Das lVort - eines Lebens, von dem er in einem Maße besessen war, daß es ihn für die
Bilanz kommt, in der Sprache des 16. Jahrhunderrs, aus dem Italienischen, fernere Zukunft der Schöpfung unempfänglich machte. Diese Bekräftigung
von balancia. Die Etymologie unterstreicht die Beziehung zwischen der der Individualität ließ die Einstellung des 14. und 15. Jahrhunderts - mehr
Symbolik des Buches und der der '§üaage. Man wird also gewahr, daß es, noch als die des 12. und 13. Jahrhunderts - in Gegensatz zur traditionellen
wenigstens seit deni 13. Jahrhundert, einen kritischen, einen entscheiden- Mentalität treten. Die Zukunft im Jenseits, gemildert und der dramatischen
den Augenblick gibt. In der alten, traditionellen Mentalität vermischte und Aura des Jüngsten Gerichts entkleidet, an dessen Stelle sich künftig die
verquickte ein statisch-unveränderliches Alltagsleben alle individuellen Auferstehung vollzog, könnte als Rückkehr zur vertrauensvollen Auffas-
Lebenslinien. ZuZeien der lkonographie des Jüngsren Gerichts scheint je- sung des Frühchristentums interpretiert werden; der Vergleich ist jedoch
der einzelne Lebenslauf nicht mehr in eine lange, gleich{örmige Dauer ein- künstlich und trügerisch, denn die Angst vor dem Jüngsten Gericht hat, al-
gebettet zu sein, sondern auf den einen Augenblick hinzueilen, der ihn re- len Versicherungen der Grab-Epigraphie zum Trotz, nicht a'ufgehört, das
kapituliert und vereinzek: dies illa. Yor dem Hintergrund dieser Auferstehungsvertrauen in den Schatten zu stellen.
Verkürzung muß er bewertet und nachvollzogen werden. I)ie Trennung von Auferstehung und Gericht hat eine andere, weit of-
Das Bewußtsein eines langen Lebens zieht sich also im Brennpunkt eines fenkundigere Konsequenz. Das deutlich empfundene Intervall zwischen
kurzen Augenblicks zusammen. Bemerkenswert ist, daß dieser Augenblick Gericht (als endgültigem Lebensabschluß) und physischem Tod ist ver-
nicht der des Todes ist, sondern daß er über die Todesstunde hinausgreift schwunden, und das eben ist ein bedeutsames Ereignis. Solange an dieser
und - in der ersten christlichen Version - einem §fleltende zugeordnet wird, Zwischenphase festgehalten wurde, war der Tote nicht vollständig tot, war
das ein chiliastischer Glaube noch nahe wähnre. die Lebensbilanz noch nicht gezogen; er überlebte zur Hälfte in seinem
Man begegnet hier der hartnäckigen Weigerung wieder, das Ende des Schatten. Halb tot, halb lebendig, verfügte er immer noch über die Mög-
Seins und die physische Auflösung in eins zu serzen. Man stellte sich eine lichkeit, "wiederzukehren«, um den irdischen Menschen Beistand oder ihm
verzögernde Phase vor, die zwar nicht bis zur Unsterblichkeit dei Seligen vorenthaltene Opfer oder Gebete abzufordern. Es wurde also ein Aufschub
reichte, wohl aber einen zwischen Tod und endgültigem Lebensabschluß unterstellt, den die als Fürsprecher auftretenden Seligen oder die frommen
vermittelnden Grenzbereich bildete. (iläubigen sich zunutze machen konnten. Die Fernwirkungen der im Laufe
I.
tle s Lebens vollbrachten wohltätigen \Werke hatten noch Zeit, sich bemerk-
lrar zu machen.
Das Gericht am Ende des Lebens Von jetzt an wird über das Schicksal der unsterblichen Seele im Augen-
trlick des physischen Todes selbst entschieden. Es bleibt zunehmend weni-
Nach dem Ende des 14. Jahrhunderts ist das Thema des Jüngsten Gerichts ger Raum für "\fliederkehrenden und ihre bedrohlichen Außerungen. Um-
durchaus nicht völlig auf gegeben worden: es taucht in der Malerei eines Van gekehrt wird der lange auf die Gebildeten, auf Theologen oder Poeten
Eyck oder Hieronymus Bosch und gelegentlich auch noch im 17. Jahrhun- beschränkte Glaube an ein Purgatorium als Ort des Harrens jetzt wirklich
dert wieder auf, so in Assisi oder Dijon. volkstümlich, wenn auch nicht vor der Mitte des 17. Jahrhunderts, und
Die Auferstehung des Fleisches ist nicht in Vergessenheit geraten; tctzt sich an die Stelle der alten Bilder der Ruhe und des Schlafes.
Grab-Epigraphie und -Ikonographie - die protestantische wie die kathöli- Das Drama hat sich aus den Räumen des Jenseits zurückgezogen. Es ist

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in greifbare Nähe gerückt und spielt sich jetzt im Zimmer des Sterbenden mer eingetreten sind und sich ihm zu Häupten drängen. Auf der einen Seite
selbst ab, an seinem Sterbebett. die Heilige Dreifaltigkeit, die Jung{rau Maria, sein Schutzengel und der
Auch die Ikonographie des Jüngsten Gerichts wird im 15. Jahrhundert himmlische Hofstaat. Auf der anderen Satan und seine gräßlichen Heer-
durch eine neue ersetzt, wie sie auf durch den Buchdruck verbreiteten scharen. Die große Versammlung am Ende der Zeiten findet also im Sterbe-
Holzschnitten in Erscheinung tritt: einzelne bildliche Darstellungen, in die zimmer des Kranken statt. Der himmlische Hofstaat ist zwar anwesend, hat
sich .jedermann zu Hause versenken konnte. Diese Bücher sind nichts an- aber nicht mehr alle äußeren Attribute eines Gerichtshofes. Der Heilige
deres als Abhandlungen über die rechte Art und 'Weise eines heilsamen Michael wägt nicht mehr Gut und Böse auf seiner \i(aage. An seine Stelle
Sterbens: artes moriendi. Jede Textseite wird durch eine Abbildung illu- ist der Schutzengel getreten, der eher geistlicher Vächter und Beichtvater
striert, damit die laici, d. h. die des Lesens Unkundigen, die Bedeutung des als Advokat oder Büttel der Justiz ist.
Textes ebenso erfassen können wie die litterati. (20) Gleichwohl halten die ältesten Darstellungen des Todes im Bett an der
Diese Ikonographie führt, wenn sie auch neu ist, doch zum archaischen jetzt klassischen Gerichtsszene fest, die im Stil der Mysterienspiele behan-
Urbild des krank auf dem Sterbebette Ruhenden zurück, das die Szenen des delt wird. So etwa im Falle der Illustrationen zu Totenfürbitten aus einem
Jüngsten Gerichts überlagert hatten: Das Bett war, wie wir gesehen haben, Psalter von 1340. (22) Der Angeklagte sucht Zuflucht bei seinem Fürspre-
der unvordenklich alte Ort des Todes. Es ist es geblieben, bis es aufhört, cher: "Je aien oos mise m'esperancbe,/ Vierge Marie de Dieu mire:/ Deslo-
Bett zu sein, Symbol der Liebe und der Ruhe, um heute dann zum techno- iit m'äme de pesanche,/ et d'enfer oü est mort amöre." Satan, hinter dem
logischen Krankenhausgerät zu werden, wie es den Schwerkranken vorbe- Bett, verlangt ebenfalls seinen Anteil: "Je requiers aooi ä me part/ Par iu-
halten bleibt. stice selon droiture/ L'äme qui de ce corps se pdrt/ Qui est pleine de grand
Man starb in der Tat immer im Bett, sei es eines "natürlichen" Todes ordure.n Die Heilige Jungfrau schlägt sich an die Brust, Christus weist
(d. h. eines Todes ohne Krankheit und Leiden), sei es, häufiger, eines unna- seine lVundmale vor und gibt Marias Gebet an Gottvater weiter. Und Gott
türlichen, >,an Putd, Fieber, an apostema, Eiter{luß, oder anderen langen und teilt seine Gnade aus: "Six raisons est que ta requeste/ Soit exaucöe plaine-
schmerzhaften schweren Krankheiten". (21) Der plötzliche Tod, die rnors ment,/ Amour m'ömeut qui est bonneste,/ Nier ne le puis bonement.o
improaisa,war außergewöhnlich und gefürchtet; selbst schwere Verletzun- ln den artes rnoriend.i sind die Heilige Jungfrau und der gekreuzigte Chri-
gen, selbst gewaltsame Unfälle ließen im allgemeinen Zeit für den ritue]len stus stets gegenwärtig; und wenn der Sterbende in einem letzten Seufzer
Todeskampf auf dem Sterbebett. seine Seele aushaucht, erhebt Gottvater weder das Schwert noch die Hand
Das Sterbezimmer mußte in der makabren Ikonographie also eine neue tles Richters, sondern den barmherzigen Stachel des Todes, der die physi-
Bedeutungsdimension erhalten. Es war nicht mehr der Ort eines nahezu schen Leiden und die geistlichen Prüfungen abkürzt. Schließlich kommt es
banalen Ereignisses, das lediglich feierlicher war als andere; es wurde zur so weit, daß Gott weniger Richter vor dem Tribunal als Schiedsrichter eines
Bühne eines Dramas, auf der zum letzten Mal das Geschick des Sterbenden :, .rn,p{es zwischc.r den Mächten von Gut und Böse ist, dessen Einsatz die
gespielt und sein I-eben, seine Leidenschaften und seine Neigungen in Frage S- ;e des Sterbenden bildet.
gestellt wurden. Der Kranke sieht den Tod vor Augen. Venigstens erfahren Alberto Tenenti hat in seiner Analyse der Ikonographie der artes mo-
wir das aus den Texten, in denen zum Ausdruck kommt, daß sein Leiden ru:ndi die Auffassung vertreten, daß der Sterbende selbst seinem eiBenen
ihm hart zusetzt, während das aus den Bildern, auf denen sein Körper nicht I)rama eher als zuschauender Zetge denn als Akteur beiwohne: "Ein
ausgezehrt und noch kräftig wirkt, durchaus nicht ersichtlich wird. Dem Kampf zwischen zwei übernatürlichen Mächten, in dem der Gläubige nur
Herkommen gemäß ist das Zimmer von Besuchern überfüllt, denn man
starb immer öffentlich. Aber die Umstehenden nehmen nichts von dem Jeaienaos..-,lnEuch,MariaMuttergottes,habeichmeineHolfnunggesetzt:Rettetmeine
wahr, was vor sich geht, und der Sterbende seinerseits nimmt keinerlei \rcle aus der Bedrängnis und aus der Hölle, in der der bittere Tod harrt."
lerequiers...,IchverlantealsmeinTeilnachRechtundGesetzdieSeele,diediesenKörper
Kenntnis von ihnen. Nicht daß er das Bewußtsein verloren hätte: sein Blick
crläßt, der voll Unrates ist.*
'
haftet mit gebannter Aufmerksamkeit an .ienem außergewöhnlichen Schau- \ix raisons est . . . 'Sofern dein Verlangen begründet ist, soll es volles Gehör finden, die Liebe
spiel, das allein er wahrnimmt, an ienen überirdischen Wesen, die ins Zim- l,cwegt mich, dic aufrichtig ist, nicht wohl abschlagen kann ich es."

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eine begrenzteMöglichkeit der Vahl hat, aber kein Mittel, sich ihm zu ent- Ein derart hohes Risiko hat etwas Erschreckendes, und man versteht
ziehen- ein gnadenloser Kampf zu Häupten seines Bettes, die teuflische denn auch, daß die Angst vor dem Jenseits damals ganze Bevölkerungs-
Heerschar auf der einen, die himmlische auf der andern Seite." schichten erfaßte, die noch keine Furcht ,or denr Tode kannten. Diese
Diese Auffassung kommt tatsächlich in manchen Bildern zur Geltung: bange Angstvor dem Jenseits brachte sich durch die Darstellung der zu er-
in diesem Sinne deuten, die ein
so lassen sich sicher die Federzeichnungen wartenden Höllenqualen zum Ausdruck. Die Annäherung von Todes-
Manuskript mit dem Titel Miroir de la Mort von etwa 1460 schmücken. stunde und höchstrichterlicher Entscheidung drohte die von der Aussicht
(23)Eine davon stellt den Kampf zwischen dem Sterbenden und dem Teufel auf eine trostlose Ewigkeit ausgelöste Angst auf den Tod selbst auszudeh-
dar; andere den Eingrif{ des guten Engels oder die Kreuzigung als Heilsin- nen. Muß das Phänomen des Makabren nicht gerade in diesem Sinne inter-
strument; eine letzte schließlich den Kampf zwischen Engel und Teu{el zu pretiert werden?
Häupten des Sterbenden.
Es gab also die Vorstellung einer Auseinandersetzung zwischen den
Mächten des Bösen und des Guten. Sie scheint sich jedoch in der von Al- Die makabren Themen
berto Tenenti publizierten ars moriendi nicht durchgesetzt zu haben. Mir
drängt sich, im Gegenteil, der Eindruck auf, daß die Freiheit des Menschen Die makabren Themen treten in der Literatur wie in der Ikonographie un-
in diesem Dokument durchaus respektiert wird und daß Gott die Attribute gefähr zur gleichen Zeit in Erscheinung wie die artes moriendi.
der Rechtsprechung nur abgelegt hat, weil der Mensch selbst sein eigener Man nennt "makaber" (und zwar, ausgehend von den Totentänzen, in
Richter geworden ist. Himmel und Hölle liefern sich keinen Kampf wie im erweiterter Bedeutung) gewöhnlich die realistischen Darstellungen des
Miroir de la Mort von Avignon; sie wohnen nur der letzten Prüfung bei, menschlichen Körpers im Zuge der Verwesung. Das mittelalterliche Phä-
die dem Sterbenden auferlegt wird und deren Ausgang über den Sinn seines nomen des Makabren, das die Historiker seit Michelet in derart starkem
ganzen Lebens entscheidet. Sie sind Zuschauer und Zeugen. Beim Sterben- Maße in Atem gehalten hat, setzt mit dem Tode ein und findet beim ausge-
den selbst liegt die Macht, in diesem Augenblick alles zu gewinnen oder al- bleichten Gebein seinen Abschluß. Das im 17. und noch im 18. Jahrhundert
so häufige ausgetrocknete Skelett, la morte secca, gehört eigenclich nicht
les zu verspielen:
"Über das Heil des Menschen wird in seiner Todesstunde
entschieden.o Es ist also nicht mehr angemessen, den Lebenslauf des Ster- zur lkonographie, wie sie für den Zeitraum vom 14. bis zum 16. Jahrhun-
benden zu durchmustern wie beim Gericht über die Seelen am li(eltende. tlert bezeichnend ist. Der wird vielmehr von den abstoßenden Bildern
Es ist noch zu früh für diese endgültige Bilanz,denn die Biographie ist noch der Verwesung beherrscht: "O Aas, das du nichts als Abschaum bist!"
nicht abgeschlossen und muß sich noch rückwirkende Veränderungen ge- (25)
'§ü'ir
fallen lassen. Sie kann also zusammenfassend erst nach ihrem Abschluß be- können uns beim Durchblättern der Autoren und beim Anblick der
urteilt werden. Und das hängt vom Ausgang der letzten Prüfung ab, die der Kunstwerke des Eindrucks nicht erwehren, daß sich ein neues Gefühl be-
Sterbende in bora mortis ablegen muß, im Zimmer, in dem er die Seele aus- merkbar macht. Die makabre Ikonographie tritt etwa zeitgleich mit den ar-
hauchen wird. Seine Sache ist es, mit Hilfe seines Schutzengels und seiner tes moriendi auf: sie bringt jedoch eine gänzlich verschiedene Vorstellungs-

Fürsprecher zu siegen - und er wird den Frieden haben - oder den Einflü- welt zum Ausdruck - wenn auch vielleicht weniger verschieden, als es den
sterungen der Teufel nachzugeben - und er wird verloren sein. von der Originalität der Themen beeindruckten Historikern lieb wäre.
Die letzte Prüfung ist also an die Stelle des Jüngsten Gerichtes getreten Es ist sicher nicht schwierig, frühere Beispiele ausfindig zu machen. Die

- ein entsetzliches Spiel; und in Begriffen von Spiel und Spieleinsatz spricht lredrohliche Nähe des Todes und die Hinfälligkeit des menschlichen I-e-
auch Savonarola davon: "Mensch, der Teufel spielt Schach mit dir und trcns hatten bereits die romanischen Künstler inspiriert, die eine bronzene
'l-rinkschale
müht sich, dich zu schlagen und dir auf diesem Felde [dem Tode] Schach mit einem Skelett verzierten oder es im Mosaik eines Hauses
und Matt zu bieten. Halte dich also bereit und sei bedacht, weil du, wenn rrachbildeten: carpe diem. Harten sich die Christen diesem Gefühl ver-
du hier gewinnst, alles übrige gewonnen hast; wenn du aber verlierst, wird, schließen können, wo ihre Religion sich doch auf das Versprechen des ewi-
was du auch immer getan hast, nichts gelten." (24) gcn Heils gründete? Deshalb begegnet man dem Bild des Todes hier und

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da in Gestalt eines apokalyptischen Reiters. Auf einem Kapitell in Notre- Vir dürfen diese wenigen und wenig expressiven Vorgänger der großen
Dame in Paris und am Portal des Jüngsten Gerichrs in Amiens stürzt eine makabren Strömungen des 14. und 15. Jahrhunderrs Betrost außer acht las-
Frau mit verbundenen Augen einen Leichnam, den sie auf der Kruppe ihres sen. Das Bild, das der mittelalterliche Zeitraum vor dem 14. Jahrhundert
Pferdes mit sich führt. Andernorts hält der Reiter die §(aage des Gerichts von der universellen Zerstörung entwirft, ist tatsächlich von ganz anderer
oder den Todesbogen in Händen. Aber diese Darstellungen sind wenig Art: Staub und Asche - und nicht die Verwesung mit in den Eingeweiden
zahlreich, unauffällig und gleichsam marginal; ohne allzu direkten Hinweis sich ringelnden Würmern.
illustrieren sie eher die Gemeinplätze der humana mortalitas. In der Sprache der Vulgata und der alten Fastenliturgie vermischen sich
Ist die alte Literatur des Christentums in dieser Hinsicht beredter? Die die Begriff e Staub und Asche. Das'§fl ort cinis ist mehrdeutig. Es bezeichnet
Reflexion über die Vergänglichkeit des irdischen Lebens, der contemptus zum einen den Staub der Straßen, mit dem die Büßer als Zeichen von Trauer
mtndi, geht durch dieZeiten. Er ruft eine Vorstellungswelt wach, die von und Demut bedeckt sind, wie sie sich auch in Sackleinen oder härene Ge-
den großen makabren Dichtern wiederaufgenommen wird. wänder kleideten (in cinere et in cilicio, sacum et cinerem sternere). Es be-
Deshalb stellt im 11. Jahrhundert Odilon von Cluny die menschliche zeichnet aber auch die Asche der Verwesung und des Zerfalls: "Gedenke,
Physiologie in Begriffen dar, die denen von P. de Nesson nahekommen: Mensch, daß du Sraub fttuloisl bist und wieder zu Staub fin puberem)
o §(Ienn
iemand überdenkt, was in den Nasenlöchern, was in der Kehle und wirstu, sagt der Ministrant, wenn er am Aschermittwoch die Stirnen mit
was im Bauch alles verborgen ist, dann wird er stets Unrar finden..." Frei- Asche schwärzt. Asche versteht sich aber noch als Produkt der Auflösung
lich handelt es sich weniger darum, den Menschen auf den Tod vorzuberei- durch Feuer, was damals Reinigung bedeutet.
ten, als ihn vom Umgang und Verkehr mit Frauen abzulenken, denn - so Diese Bewegung von Staub und Asche, deren unaufhörliche Umschich-
fährt unser Moralist fort: "V'enn wir nicht einmal mit den Fingerspitzen tung und VerlaBerung Natur und Materie konstituieren, beschwört ein Bild
Schleim oder Dreck anrühren mögen, wie können wir dann begehren, den des Zerf alls, das dem des traditionellen Todes, dg5 , §( ir sterben alle
", sehr
Dreckbeutel selbst zu umarmen?" (26) nahe kommt.
Desgleichen feierten bereits die lateinischen Dichter des 12. Jahrhunderts Dem neuen, von den drtes moriendi geprägten Bild des pathetischen und
die Melancholie der großen vergangenen Herrlichkeiten: ,Est ubi gloria individuellen Todes des je einzelnen Gerichts sollte eine neue Gestalt des
nunc Babyloniae? nunc ubi diru/ Nabugodonosor, et D4rii aigor, illeque verwesenden Leichnams entsprechen.
Cyras?/ Qualiter orbita siribus incita praeterierunt,/ Fama reliquitur, illa- Die ältesten Darsteilungen makabrer Themen sind deshalb von Interesse,
que figitur, hi putruerunt." Und später Giacopone da Todi:
"Dic ubi Salo- weil bei manchen von ihnen der Zusammenhang mit dem Jüngsten oder
mon, olim tam nobilis/ Vel Sampson ubi est, dux inoincibilis.... (27) dem individuellen Gericht noch spürbar ist. So stellt beispielsweise auf dem
Man ließ in den Klöstern nicht ab, die von den Zeitläuften in Versuchung großen Fresko des Campo santo von Pisa, das sich etwa in die Zeit um 1350
geführten Mönche an die Vergänglichkeit von Machr, Reichtum und clatieren läßt, die gesamte obere - himmlische - Hälfte den Kampf der Engel
Schönheit zu mahnen. Bald - und zwar nur wenig vor der großen Blütezeit und Teufel dar, die sich die Seelen der Verstorbenen streitig machen. Die
des Makabren - sollten andere Mönche, die Mitglieder der Bettelorden, aus Engel tragen die Erwählten zum Himmel auf, die Teufel fahren mit den
den Klöstern ausziehen und, mit großem Aufwand an Bildern, Themen Verdammten zur Hölle nieder. An die Ikonographie des Gerichts gewöhnt,
verbreiten, die dann die städtischen Massen bis ins Mark trafen. Die The- fühlen wir uns da auf durchaus vertrautem Gebiet. Umgekehrt sucht man
men dieser Predigtsammlungen aber sind bereits dieselben wie die der ma- in der unteren Hälfte vergeblich nach den traditionellen Bildern der Aufer-
kabren Poeten und gehören dieser offensichtlich neuen Kultur an. stehung. An ihrer Stelle überfliegt eine Frau mit aufgelösten Haaren und
langen Schleiergewändern die rVelt, schlägt. mit ihrer Sense auf die Jugend
Est ubi gloria . . . Vo ist nun der Glanz Babylons ? Vo ist nun,/ Der furchtbare Nebukadne-
cines cozrs d'amour ein, die sich dessen durchaus nicht versieht, und läßt
zar, und des Darius Kraft, und jener Cyrus?/ \flie ein Rad, das mit Kraft gedreht wird, so
schwanden sie dahin;/ Ihr Ruhnr bleibt übrig, er festigt sich - sre aber vermodern. cioen cours des miracles (tüflunderhof) links liegen, der sie anfleht - eine
Dic abi Salomon . .. Sag, wo ist Salomo, der einst so herrliche,/ Und wo ist Simson, der unbe - lremdartige Gestalt, die einem Engel gleicht, weil sie fliegt und ihr Körper
siegliche Heerf ührer... :rnthropomorph ist, aber auch einem Teu{el oder Tierwesen, weil ihre Flü-

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gel Fledermausflügel sind. Man ist in der Tat häufig versucht, den Tod sei- deutet mahnend auf ihn hin. Er spielt die Hauptrolle in der makabren
ner Neutralität zu entkleiden und ihn in der lVelt des Teufels zu beheima- Ikonographie des 14. bis 16. Jahrhunderts. \Vir wollen ihn hier deshalb aus-
ten. führlicher würdigen.
Er tritt natürlich in der Hauptsache in der Grabplastik in Erscheinung,
Vieille ombre de la terre, aingois ombre d'ent'er. und sogar heute noch wäre den vorzüglichen Kommentaren von Emile
Mäle und Erwin Panolsky eigentlich nichts hinzuzufügen. (30) Gleichwohl
Aber auch als fügsamen Erfüllungsgehilfen des göttlichen \üTillens be- sind die Denkmäler, die sie untersucht haben, die Grabstätten bedeutender
trachtete man ihn, als brauchbaren Verbündetsn. "Folge diesem Gehilien Persönlichkeiten und gehören durchweg in den Bereich der großen Kunst,
Gottes" (P. Michault). So tritt er noch auf dem Jüngsten Gericht von Van in der der Erstarrte eines der Geschosse eines Monuments in Anspruch
Eyck in Erscheinung, wo er die Velt mit seinem Körper deckt, wie die nahm, das häufig über deren zwei verfügte: das untere für den Ruhenden
Heilige Jungfrau aus Barmherzigkeit die Menschheit mit ihrem Mantel ein- oder Erstarrten, der an seine Stelle tritt, das obere für den Erwählten im
hüllt; die höllischen Schlünde klaffen unter seinen gespreizten Beinen. Die Paradies (wir werden au{ diese lkonographie im fünften Kapitel zurück-
Gestalt einer lebendigen Frau aber, die er in Pisa hatte, hat der Tod hier kommen). So etwa im Falle des Grabes des Kardinals Lagrange im Museum
eingebüßt. (28) von Avignon oder in dem des Kanonikers Yver in Notre-Dame in Paris
In Pisa sinken unter den Hieben seiner Sense die Leiber der getroffenen (man vergleiche auch bei Gaigniöres das Grab von Pierre d'Ailly, Bischof
Menschen zu Boden, mit geschlossenen Augen, und Engel und Teufel eilen, von Cambrai [31]). Es mag genügen, hier kurz an diese eindrucksvollen
die Seelen einzusammeln, die sie aushauchen. Die Szene des letzten Atem- 'Werke zu erinnern, die so eindrucksvoll sind, daß sie über den geringen
zuges ist an die Stelle der Auferstehungsszene Betreten, in der die wiederer- Grad ihrer Verbreitung hinwegtäuschen. Sie sind in Virklichkeit nämlich
weckten Leiber aus der Erde auffahren. Der Ubergang vom Jüngsten Ge- wenig zahlreich und bringen, {ür sich genommen, keinen entscheidenden
richt zum entscheidenden Augenblick des individuellen Todes, den wir '§(esenszug
der Sensibilität der Epoche zum Ausdruck.
bereits in den drtes moriendi beobachtet haben, ist hier noch deutlich wahr- Es gibt aber einfachere Grabmäler, bei denen die Kadaver-Symbolik
nehmbar. zwar auch in Erscheinung tritt, aber ohne die abstoßenden Formen der
Es gibt, neben der Vorstellung des universellen Todes, jedoch noch eine Verwesungsbeschwörung. Der Ruhende ist ins Leichentuch eingehüllt, das
andere charakteristische Szene. Eine Schar von Reitern verhält angesichts den Kopf und einen Fuß freiläßt. Dieser Typus taucht häufig auf , so in Di-
des schrecklichen Schauspiels dreier offener Särge. Die darin ruhenden To- jon (Grab des Joseph Germain im Museum von Dijon, 7424; Gräber der
ten sind in einem jeweils verschiedenen Verfallsstadium dargestellt, im beiden Stifter einer Kapelle in Saint-Jean in Dijon). Daß es sich um einen
Sinne der Phasen, wie sie den Chinesen seit langem bekannt sind. Das Ge- Leichnam handelt, erkennt man an der vorspringenden entfleischten Kinn-
sicht des ersten ist unversehrt, und er hat Ahnlichkeit mit den gisants, die lade. Die Haare der Frauen hängen gewöhnlich unordentlich herab. Die
der Tod zwar gefällt, aber noch nicht völlig entstellt hat, wenn sein Bauch nackten Fül3e ragen unter dem Leichentuch hervor. Es ist der Leichnam in
auch von Gasen aufgetrieben ist. Der zweite ist merklich verunstaltet, ver- der Form, wie er in die Erde gebettet werden wird, nachdem man einige
modert und bis auf wenige Fleischreste verblichen. Der dritte schließlich Zeit hat verstreichen lassen. Noch heute ist der Anblick für unsere abge-
ist bis aufs Skelett reduzierr. (29) stumpften Augen beeindruckend, so in einer Kirche in Dijon.
Der halbverfallene Leichnam wird zum häufigsten Typus der Todesdar- Merkwürdig ist, daß diese Erstarrten nicht immer in der realistischen
stellung: der ,Erstarrte" Qransi). Man begegnet diesem Typus bereits um Stellung von Ruhenden verbleiben. Auf einer anderen Grabplatte in Dijon
7320 an den Mauern der unteren Basilika von Assisi, einem \iflerk eines (Saint-Michel, 1521)knien die beiden Erstarrten, anstatt nebeneinander zu
Giotto-Schülers: Er trägt eine lächerliche Krone, und der Heilige Franz liegen, zu seiten eines maiestätisch thronenden Christus. Sie haben die Stelle
der zum Himmel Flehenden eingenommen, nicht mehr die der Ruhenden.
-
Vieille ombre . . Alter Schatten der Erde, alter Schatten der Hölle. P. de Ronsard, Derriers Auf einem lothringischen Grabmal des 16. Jahrhunderts, das von einem
Vers,1586,1119. Irreilandfriedhof stammt (es handelt sich um eine von einem Kreuz über-

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ragte Stelle) ist ein Skelett in sitzender Haltung dargestellt, den Kopf in die er in dem Augenblick dargestellt, wo er über die Schwelle des Zimmers her-
Hand gestützt (Nancy, Mus6e Lorrain); gleichwohl haben der Bildhauer eintritt. (32)
und sein Kunde, was die drastischen Zeichen der Verwesung angeht, sich Der Tote als transi ist in den artes moriendi noch weniger häufig als in
eher Zurückhaltung au{erlegt, und ihr Erstarrter bleibt durchaus diskret. der Grabkunst. Sein eigentlicher Bereich ist eher der der Illustrationen von
Vir sind heute beeindruckt, wenn diese Zurückhaltung au{gegeben und Stundenbüchern für fromme Laien, insbesondere der Illustrationen von
durch einen makabren Expressionismus ersetzt wird. Aber wir dürfen uns Totenfürbitten - und das ist ein Hinweis auf die Beziehungen zwischen
durch die Seltenheit dieser Fälle nicht täuschen lassen. Wenn man eine Sta- makabrer Ikonographie und Predigt, namentlich der Predigt der Bettel-
tistik der Grabmäler des 14. bis 16. Jahrhunderts anfertigte, so würde deut- mönche.
lich, daß die Erstarrten - im Gesamtkomplex der makabren Ikonographie Der Übergang zu den Stundenbüchern läßt uns das Zimmer des Sterben-
- erst spät auftauchen, daß sie wenig zahlreich sind und in großen Provin- den nicht aus dem Blick verlieren. In einer Miniatur der Henres de Roban
zen des Christentums sogar völlig fehlen, so in Italien (vor der Invasion der tritt der Tod mit einem Sarg auf der Schulter herein - zum Entsetzen des
Skelette im 17. Jahrhundert), in Spanien, im mediterranen Frankreich. Sie angesichts dieser unzweideutigen Ankündigung fassungslosen Kranken.
treten gehäuft au{ im Norden und rüesten Frankreichs, in Flandern, in Bur- Bevorzugt wird der Tod in den Stundenbüchern jedoch aui dem Friedhof
gund, in Lothringen, in England und Deutschland. Diese geographische dargestellt; die Friedhofsszene wird sehr häufig und sehr verschiedenartig
Verteilung fällt nahezu genau mit der der Verhüllung des Toten zusammen gestaltet. Manche, darunter die schönsten, stellen einen Kompromiß zwi-
(vgl. Kapitei 4): Die makabre Ikonographie kommt besonders da zur Gel- schen dem Tod im Bett (der artes moriendr) und der Beisetzung des Toten
tung, wo das Gesicht des Toten bedeckt wird. Sie fehlt, wo es unverhüllt dar. So etwa die berühmte Miniatur der Heures de Rohan (um 1420), die
bleibt. den Titel Mort du chr€tien (Der Tod des Christen) trägt. Der Sterbende
Die Erstarrten sind kein charakteristischer Bestandteil der gegen Ende liegt nicht mehr auf dem Totenbett. Er ist - in einer Art surrealistischer An-
des Mittelalters verbreiteten Grabplastik; sie bilden lediglich eine ihrer tizipation - auf den Friedhof überführt worden und liegt da auf der Erde,
marginalen und kurzlebigen Episoden. Diese einschränkende Beobachtung auf einer Erde, wo, wie auf allen Friedhöfen, Gebeine und Schädel mit Gras
setzt iedoch nicht die Tatsache außer Kraft, daß sich das Thema des mehr und Strauchwerk in krauser Mischung durcheinandergewürfelt liegen. Er
oder weniger verv/esten transi im 15. und 16. Jahrhundert schließlich bei ruht auf einem schönen blauen, golddurchwirkten Leichentuch ausge-
den Grab-Steinmetzen, ungeachtet ihres Traditionalismus, auf breiter streckt, in das er später eingehüllt werden wird: Es war, wie wir gesehen
Frontdurchgesetzthat, nicht nur in den beredten W'erken der Hochkultur, haben, Brauch, manche Verstorbene in kostbare Gewebe zu kleiden. Der
sondern auch auf einfachen Grabplatten wie in Dijon oder in holländischen zweite unterschied zu d,en artes rnoriendi ist der, daß der Körper vollstän-
Kirchen. dig nackt ist - ein durchsichtiger Schleier verbirgt den Blicken nichts -, statt
Die Grabplastik ist gleichwohl die am wenigsten makabre Kunst dieser unter seinen Hüllen zu verschwinden, und dieser nackte Körper ist bereits
makabren Epoche. I)ie makabren Themen kommen offener und häufiger ein Leichnam, allerdings ein Leichnam vor der Verwesung, wie bei den
in anderen Ausdrucksformen zur Geltung, insbesondere in nichtrealisti- Grabmälern von Dijon.
schen Szenen, in Allegorien, die nicht wahrnehmbare Aspekte und Dinge Von diesen Vorbehalten abgesehen, werden hier die klassischen Themen
zeigen. So findet der Erstarrte, Personifizierung des Tndes wie auf dem von der artes moriendi und des Jüngsten Gcrichts deutlich: Der Sterbende
1320 stammenden Fresko in Assisi, ohne Vissen der Beteiligten Eingang haucht seine Seele aus, die der Heilige Michael und Satan sich streitig ma-
ins Sterbezimmer. Er war in den von uns kommentierten drtes moriendi chen. Die dem Erzengel zufallende Rolle des kosmischen Kämp{ers wird
so gut wie immer abwesend, wo - wie wir gesehen haben - alles Geschehen mit der des ps7 cltopompos verknüpf t. Gottvater, diesmal allein, ohne seinen
sich, ohne W'issen der Umstehenden, zwischen den Mächten von Himmel Hof , betrachtet den Sterbenden und vergibt ihm. Man spürt in dieser Kom-
und Hölle und dem freien §(illen des Sterbenden abspielte. Aber in der Arte position den Vunsch, die traditionelle Ikonographie und die eindrucksvol-
del bene morire (tm 1497) des Savonarola ist er, zu Füßen des Bettes sit- Ieren Aspekte des Todes einander näherzubringen: Leichnam und Fried-
zend, plötzlich zur Stelle. In einer anderen italienischen drte von 1511 ist hof.

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Dieser Tod auf dem Friedho{ - während man doch im Bett starb - ist als Begründer der Totenfürbitten in hohem Ansehen standen. Zwar ist ihr
wohl nicht sehr häufig. Man begegnet ihm sehr viel später in einer merk- Namenstag durch das Toten-Gedenkfest am 2' November ersetzt worden;
würdigen, bei Gaigniöres auf geiührten Reproduktion des Grabes des 1542 es hat jedoch lange gedauert, bis sie in Vergessenheit gerieten, und ihr An-
verstorbenen Priors von Saint-Vandrille im Cölestinerkloster von Mar- denken hat sich in der volkstümlichen Frömmigkeit noch geraume Zeit
coussis wieder. (33) Das Original war ein Gemälde, auf dem der Ruhende, erhalten. so stellt ein Gemälde von Rubens für den Allerseelen-Altar von
im Priestergewand, den Kopf auf ein Polster gestützt, direkt auf dem Fried- Nantes Judas Makkabäus im Gebet für die Toten dar; und in der Scuola
hofsboden ausgestreckt liegt; der Tod, eine Mumie, ihm zu seiten, mit ei- Grande dei carmini in Venedig beschreiben zwei Altartafeln aus der Mitte
nem Schlegel bewaffnet, mit dem er ihn hingestreckt hat oder gleich hin- des 18. Jahrhunderts die Martern der Makkabäer.
strecken wird. So ist der Friedhof denn zum Königreich des Todes Der Totentanz ist ein tendenziell endloser Rundtanz, in dem sich ieweils
geworden: er herrscht dort in Gestalt eines mit einer Sense oder einem Sta- ein Toter und ein Lebender abwechseln. Die Toten {ühren den Reigen an
chel bewaifneten Skeletts. Hier sitzt er auf einem Grab wie auf einem Thron und sind die einzigen, die tanzen. Jedes Paar setzt sich aus einem nackten,
und hält mit der einen Hand seinen Stachel wie ein Zepter, mit der anderen entfleischten, geschlechtslosen und wilden Gerippe und einem je nach sei
einen Schädel wie den Erdball. Dort richtet er sich mit inbrünstigem Ei{er nem gesellschaftlichen Stand gekleideren und gänzlich verblüfften Mann
über einem offenen Grabe auf: der ausgestreckte Stachel weist auf die Ge- (später auch einer Frau) zusammen. Der Tod reicht seine Hand dem Le-
stalt eines transi.lsr dies aber der Tod als Herrscher über den Friedhof oder benden, den er sich ausersehen hat, der ihm aber noch nicht Folge leistet.
der aus seinem Grab aufgefahrene Tote, diese Mumie mit - abgesehen vom Die Kunstwirkung besteht im Kontrast zwischen der rhythmischen \(ild-
in Höhe der Eingeweide offenklaffenden Bauch - guterhaltener Haut und heit der Toten und der Gelähmtheit der Lebenden. Der moralisch-erziehe-
grimassierendem Schädel ? rische Zweck ist der, die ungewißheit der Todesstunde und die Gleichheit
Hier schwingt er überdies, aufrecht und herrisch, seinen "Stachel" und der Menschen angesichts des Todes vor Augen zu führen. Alle Alterstufen
bedroht den Leichnam, der at seinen Füßen auf dem Deckel eines Sarko- und Stände defilieren in einer Ordnung vorbei, die der sozialen Hierarchie
phages liegt, in Erwartung des baldigen Verfalls. Eine erstaunliche Szene: entspricht, wie man sie damals auffaßte. Diese Symbolik der Hierarchie
Die beiden Leichname sind identisch, der eine liegend und leblos, der an- wird heute zur Informationsquelle für den Sozialhistoriker: (35)
dere aufrecht und agil. In den Fällen, wo die beiden Mumien nicht neben- In den vor dem 16. Jahrhundert entstandenen Totentänzen, auf die wir
einanderliegen, weiß man nicht, ob es sich um einen " !V iedergekehrten" als uns in diesem Kapitel ausschließlich beziehen wollen, ist die Begegnung
Doppelgänger eines ieden Menschen, als Gestalt seines sich unterirdisch von Mensch und Tod durchaus noch nicht gewaltsam. Die berührende Ge-
vollziehenden Geschicks, oder um eine Personifizierung der Macht han- ste des Todes ist nahezu sank: ,ll t'aut qtte sur ttous la rnain mette'. (Die
delt, die alle lebenden §(esen vernichtet. (34) Hand muß ich auf euch legen.) Er bezeichnet den Lebenden eher, als daß
Die Totentänze sind an sich keine Miniaturen aus Stundenbüchern; sie er blind zuschlägt:
erhalten den Zusammenhang mit dem Friedhof, den die Totenfürbitten
hergestellt haben, aber schon deshalb aufrecht, weil sie nichts anderes als Approchez-ttous, je vous actens. '.
Friedhofsdekorationen sind: Fresken an den Mauern der Beinhäuser oder Il oous t'aut ennuYt trösPasser. ' .
Kapitelle von Säulen der Galerien. A demain ttous aient adiourner...
Man hat die Bedeutung des '§üorres ,makabero häufig diskutiert. Sie
scheint mir die gleiche zu sein wie die des macchabie (Leiche) unserer heu- Er lädt sein künftiges Opfer ein, ihn zu betrachten, und sein Anblick dient
tigen Umgangssprache, in der sich alte Formen erhalten haben. Es ist übri- als Mahnung:
gens nicht überraschend, daß man ungefähr im 14. Jahrhundert dem Leich-
nam, dem »toten Körper" (das §ü'ort Kadaver war noch nicht gebräuchlich)
den Namen der Heiligen Makkabäer beilegte: sie waren seit langem als Approcbez-oous. .. Kommt nahe herbei, ich erwarte euch. . ./ Noch heute nacht müßt ihr da-
Schutzheilige der Toten verehrt worden, weil sie, zu Recht oder Unrecht, vongehen. . ./ Auf morgen seid ihr vorgeladen. . .

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Marchand, regardez par-de1ä. . .
Bnation gedämpftes Bedauern - mehr Bedeuern bei den Reichen, mehr Re-
Usurier de sens diröglez, signation bei den Armen: eine Frage der Dosierung.
Venez tost et me regardez.
Pour Dieu qu'on me oas quörir
Er begleitet seine Vorladung - "Vor den großen Richter müßt ihr treten« M 6de cin et apothicaire,

- mit einer Mischung aus Ironie und Gottesfurcht.


{ordert das verhätschelte Veibchen, das einen mary de si bonne affaire (so
Car ce Dieu qui est merueilleux begüterten Geschäftsmann) hat. Umgekehrt nimmt die bäuerliche Land-
N'a pitiö de oous, tout perdez, frau den Tod willig hin:

sagt er zum lVucherer. Und zum Arzt: Je prens k rnort vaille que vaille
Bien grö et en patience ...
Bon rnire est qui se scet guirir.
Merkwürdig ist, daß sich hier, bei Figuren, die vom Anhauch des Todes
entstellt sein sollten, wieder das alte Gefühl der bereitwilligen Fügung ins
Emile Mäle war der Auf{assung, daß der Tod in der Kirche von La
Schicksal bemerkbar macht.
Chaise-Dieu sein Antlitz verhülle, um dem kleinen Kind, das er heimzuho-
Andere bildliche Darstellungen scheinen Weiterentwicklungen einfacher
len kommt, nicht Angst einzuflößen.
Konstellationen des Todestanzes zv sein, weil sie ebenfalls die Gleichheit
Dem armseligen Tagelöhner gegenüber wendet er jedenfalls eine Sprache
angesichts des Todes und das memento mori vergegenständlichen. So tritt
an, in der zugleich Mitleid und unabdingbares Verhängnis zum Ausdruck
zum Beispiel die Mumie oder das Skelett in einen Saal ein, in dem Prinzen
kommen.
und geistliche'§7ürdenträger versammelt sind, oder nähert sich einem fest-
Laboureur qui en soing et painne lichen Bankett - dem Bankett des Lebens -, um einen der Tafelnden von
Avez vescu tout Losffe temPs, hinten zu berühren, wie auf einem Stich des Stradanus. Der Akzent liegt
Morir t'auh, c'est cbose certainne, hier - mehr als in den drtes moriendi und den Totentänzen - auf der Plötz-
Reculler n'y aault ne contens. lichkeit seines Zugriffs. Der Tod gewährt keinen Aufschub mehr, er kün-
De mort devez estre contens tlrgt sich nicht mehr an, er schlägt hinterrücks zvt mors improaisa, der am
Car de grant soussy ttous delivre... rneisten gefürchtete Tod, außer bei den protestantischen und katholischen
Reformatoren und den neuen erasmischen Humanisten. Dieser plötzliche
Die Lebenden versehen sich der unerwarteten Begegnung nicht. Sie deu- Tod wird nur selten dargestellt: In der letztlich doch tröstlichen Ordnung
ten mit der Hand oder dem Kopf eine Geste der Veigerung, der Abwehr der sehr volkstümlichen Totentänz-e, die zunächst als Fresken an den Um-
an, aber sie verraten nicht mehr als diesen Re{lex der Überraschung und las- fassungsmauern der Beinhäuser, dann in Serien von Holzschnitten Ver-
sen weder tiefe Angst noch Auflehnung erkennen. Nur eben ein von Resi- breitung finden, gewährt der schreckliche Anführer des Reigens gewöhn-
lich noch eine kurze Frist.
Marcband . . . Kaufmann, schaut her . . ./ Wucherer mit lasterhaftem Sinn,/ Kommt näher und
Der "Triumph des Todes" ist ein anderes Thema, das, ebenfalls sehr ver-
betrachtet mich.
Car ce Diea. . . Dem dieser Gott, der so wunderbar ist,/ Hat kein Mitleid mit Euch, ihr da-
breitet, zur gleichen Zeit (wenn nicht {rüher) wie die artes lnd die Toten-
gegen verliert a[es. tänze auftritt. Das Motiv ist jedoch sehr verschieden: Es handelt sich nicht
Bon mire ... Ein guter Arzt ist, wer sich selbst zu heilen versteht.
Labourevr... Tagelöhner,derduinMüheundPlagel AllderneZeitzuEndelebtest,/Sterben Porr Dieu..- Um Gottes willen, man möge mir/ Arzt und Apotheker holen
mußt du, das ist gewiß,/ Kein Zurückbeben hilft und kein Widerstreben./ Dcs Todes mußt du Je prens .. . Ich ne hme de n Tod, es gehe wie es wili,/ Aus freie n Stücken auf mich und mit
froh sein,/ Denn von großer Sorge befreit er dich. . . (l cduld.

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mehr um die persönliche Auseinandersetzung zwischen Mensch und Tod, Er ist also eine Gestalt des blind zuschlagenden Schicksals, in offensicht-
sondern um die Vergegenständlichung der kollektiven Macht des Todes - lichem Gegensatz zum Individualismui der artes und Totentänze. Täu-
der Tod, Mumie oder Skelett, sein Waffenemblem, den Stachel, in der schen wir uns jedoch nicht: Die Vorstellungswelt dieser Allegorie ist vom
Hand,lenkt aufrechtstehend einen gewaltigen, langsamen, von Ochsen ge- ursprünglichen und traditionellen "!V'ir sterben alle" weiter entfernt als die
zogenen Karren. Man erkennt darin den schwerfälligen, von der Mytholo- Totentänze. Im "\(ir sterben alleu war der Mensch mit dem ihm bevorste-
gie beein{lußten Festwagen wieder, wie er für die großen Einzüge von Für- henden Tod vertraut und hatte Zeit, sich darein zu fügen. Der Tod der
sten in ihre Prunkstädte bestimmt war - eines Fürsten, dessen Embleme
"Triumphe" läßt keine Vorahnung zu:
hier Schädel und Gebeine sind. Der Karren konnte auch aus einem fürstli-
chen Trauergeleit stammen und die in Vachs oder Holz ausge{ührte reprö- Je picque et poinct quand je connais mon point
sentation (Bildnis) eines für die Trauerfeierlichkeiten geschmückten Kör- Sans aoiser qui a assez oescu. .. (36)
pers sein, die den realen nachbildete, oder den noch mit dem Bahrtuch
verhüllten Sarg aufnehmen. Im phantastischen Universum von Breughel Tatsächlich haben die Opfer, die er mit seinem schwerfälligen Fahrzeug
wird er zum ungeschlacht-lächerlichen Karren, in den die Totengräber die hingestreckt hat, durchaus nichts geahnt; sie sind in den Schlaf der Bewußt-
Gebeine schichten, um sie - in Kirchen oder Beinhäusern - von einer Stelle losigkeit entrückt worden.
zur anderen schaffen zu können. Ebensowenig findet man in der Vorstellungswelt der Triumphe die ftir
'§(ie immer aber
seine äußere Zurüstung auch beschaffen ist - der Vagen die Totentänze bezeichnende Mischung von Ironie und Gefügigkeit. Sie
des Todes ist ein Kriegswagen, eine Zerstörungsmaschine, die unter ihren geben Zeugnis von einem unbestreitbar anderen Gefühl, das bereits im
Rädern und sogar unter ihrem bloßen unheilbringenden Schatten eine un- Campo santo von Pisa aufscheint, sich dann aber weiterentwickelt und in
geheuerliche Menschenmenge aller Altersstufen und gesellschaftlichen der Folge deutlich hervortritt - dem bestimmten lVillen, nicht die Gleich-
Stände zermalmt. In den Versen von Pierre Michault spiegelt sich das fol- heit aller Stände und die Unabdingbarkeit des Todes, sondern seine Absur-
gendermaßen: dität und \Widernatürlichkeit zum Ausdruck zu bringen: Der Tod des Tri-
umphes schreitet starr geradeaus, wie ein Blinder. Aus seinen Hekatomben
Je suis la Mort de nature ennemye, von Opfern bleiben deshalb die Armseligsten ausgespart und verschont,
Qui tout finallement consomme, Bettler, Krüppel, die ihn anflehen, ihren Gebresten ein Ende zu setzen, und
Annihilant en tous humains la vie, :ruch die verzweifelten jungen Leute, die sich ihm freiwillig darbieten, aber
Rdduis en terre et en cendre tout bomrne. zu spät kommen. Er läßt die einen lebend am Straßenrand zurück und ver-
Je suis la Mort qui dure me surnomme, langsamt seine Gangart durchaus nicht, um auf die anderen zu warten. Man
Pour ce qu'il faut que maine tout ä fin.. . vergleiche diese Anspielung au{ die Verzweiflung mit der offenen Verdam-
Sur ce bnuf cy qui s'en aa pas a pds mung des Selbstmordes rn den artes, und die Unterschiede werden augen-
Assise suis et ne le baste point, fällig.
Mais sans courir je mets ä grief trespas
Les plus bruians quand mon dur dart les poinct.
\(ir haben ikonographische Quellen als Ausgangspunkt gewählt. Ebenso-
gut hätten wir jedoch von literatischen Dokumenten ausgehen können, von
denen einige, die wir bereits zitiert haben, dieselbe Sprache wie die Bilder
sprechen und ihnen als direkter Kommentar dienen können, wie Pierre Mi-
le suis la Mort. .. Ich bin der Tod, Feind der Natur,/ Der letzdich alles verzehrt,,/ In allen
Menschenwesen das Leben auslöschend,/ Verwandle ich jeden Menschen in Erde und Asche zu-
.:hault {ür den Triumph des Todes oder der anonyme Dichter für denToten-
rück./ Ich bin der Tod, hart nenne ich mich,/ Weil ich alles seinem tnde entgegenführen mu(l. . . txnz.
Auf diesem Ochsen. der Schritt für Schrit! voranrrottet,/ Sitze ich und treibe ihn nicht an,/ Ohne
Hast aber überliefere ich einem schwcren Hingang/ Die größten Prahlhänse, wenn mein harter le picqve et poinct... Ich spieße und stechc, wenn ich weiß, woran ich bin,/ Ohne Vomar-
Stachel sie rrifft. ,,ung alle, die lange genug gelebt haben.

152 153
Hier sei überdies Pierre de Nesson zitiert: Sie ist eine Eigenschaft des menschlichen Körpers selbst:

Et lors qae tu trespasseras Car les oers d'elle-m€me fde la charogne] risaezr [sortent]
Dis le jour que nort tu seras Qui la decirent et la döaorent.
Ton orde cltar cornmencera
Sie wohnt ihm von Anfang an inne. Der Mensch wird geboren, wie er
A prendre pugnaise pueur. ..
stirbt - in der infection (Durchseuchung).
'Was
mag aus diesem Menschen-"Aas«, aus diesem sac i t'iens (Kotnck) O trös orde conception
werden, wenn
O oil, nourri d'infection
I-'on t'ent'oyra dans la terre Dans le nentre a"ant ta naissance.
Et counrira d'une grant pierre
At'in que jamais oeu ne soyes? Die Stoife und Säfte der Fäulnis wirken unter der Oberfläche, unrer der
Haut:
Niemand wird ihm mehr Gesellschaft leisten wollen:
Job compäre cbair ä oest,.ffe
Qui te tenra lors compaignöe? (37) Caruestement est mis dessure
Le corps aft'in qu'on ne le ooie.
Ahnliche Beispiele ließen sich in den Predigtsammlungen finden, die un-
geduldig zur Bekehrung aufforderten, indem sie den Menschen Angst ein- 1ü(/enn man ihn aber zu Gesicht bekäme! Und den Dichtern und Predi-

flößten, ihnen die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen führten und sie gern, den Moralisten, fällt die Aufgabe zu, ihn sichtbar zu machen:
das Grauen des Todes ahnen ließen. Aber weder die Literatur noch die Pre-
digtsammlungen fügen dem Kanon der Ikonographie bedeutsame Aspekte N'est que tor,tte ordr,,re
hinzu. Mor, crachats et pourritures
Manche Autoren, Dichter vor allem wie Pierre de Nesson, haben aller- Fiente puant et cofrompt4e.
dings nicht gezögert, einen neuen Zusammenhang zwischen körperlichem Prens garde ös eurtres naturelles...
Verfall nach dem Tod und alltäglichen Lebensäußerungen zu sehen. Die Tu oerras que chascun conduit [du corps]
Fäulnis, der die Leichname zum Opfer {allen, steigt nicht aus der Erde auf : Puante mdtiire produit
Hors du corps continuellement.
Les oers qui en terre demeurent
N'y atouc heraient, iaq u'ilz puissent.
Car les aers . - . Denn die \(ürmer kommen aus ihm selbst [dem Aas],/ Die es zer{ressen und
verschIingen.
O tris orde concePtion.. . O sehr schmutzige Empfängnis,/ O Elend, von Durchseuchung
Et lors... Und wenn du hinscheidest,/ So wird, vom Tage deines Todes an,,/ Dein ekles genährt/ Im Bauche yor deiner Geburt.
Job compäre ... Hiob vergleicht das Fleisch mit der Mönchsgewandung,/ Denn die[se] Klei-
Fleisch/ Einen abscheulichen Gestank zu verbreiten beginnen.
L'on t'enfoyra... [Venn] man dich in die Erde bettet/ Und mit e inem großen Grabstein zu- dung wird über dem Körper getragen,/ Damit man ihn nicht sieht.
deckt,/ Damit du niemals mehr gesehen werden mögest. N'est que togte ordure -. - Ganz und gar nur Unrat ist er,,/ Tod, Auswurf und Moder,/ Stin-
Qui te tenra . -. rffer wird dir Gesellscha{t leisten? kender und verfaulter Mist./ Hüte dich vor den Verken der Narur... Du wirst sehen, daß jeder
Les vers.. . Die Vürmer, die im Erdreich hausen,,/ liüürden sie nicht anrühren, obwohl sie es lleibhaftig, in Gestalt seines Körpers] stinkende Mate rie mit sich {ührt,/ Vie sie fortgesetzt aus
könnten. rlem Körper heraus erzeugt wird.

154 155
Hier erkennt man bereits den "intravitalen Tod" von V. Jankdl6vitch. Maintenant la santö je logeais en mon sein,
Man suchte damals "den Tod in den Tiefen des Lebens selbst". Tantost la maladie, exüAme t'liau de l'äme.
Demnach sind Krankheit, Alter und Tod nichts anderes als Eruptionen
der inneren Fäulnis, die die Körperhülle durchstoßen. Es ist also unnötig, Diese Krankheit - er kennt sie - ist die Gicht.
zur Erklärung der Krankheit auf körperfremde Elemente oder auf Tiergei-
La goutte jä aieillard rne bourrela les oeines
ster zurückzugreifen: sie ist stets präsent. Empfängnis, Tod, Alter und
Krankheit vermischen sich in Bildern, die eher ergreifen und anziehen, als
Er stirbt als Einundsechzigjähriger, im selben Alter wie der Greis von
daß sie abschrecken.
Eustache Deschamps; aber seit seinem dreißigsten Lebensiahr hat er die
Folgendermaßen läßt sich etwa der abstoßende Sechzigjährige von Eu-
Zeichen des Alters und der Krankheit verspürt und verweilt selbstquälerisch
stache Deschamps vernehmen:
dabei:

Je deaiens courbe et bossus, J'ay bs yeux tout battus, la t'ace toute päle,
J'oy trd dur, ma aie ddcline .. . Le cbef grison et cbauue, G je n'ay que trente dns.

Er muß es dulden, daß die Gerüche der Fäulnis seinen Körper auf blähen: So beschreibt er etwa seine Phasen von Schlaflosigkeit:
Alter und Tod stellen sich ein, wenn die fleischliche Hülle nicht mehr stark Mais ne Poupais dormir, c'est bien de mes malheurs
genug ist, sie in sich zu schließen: Le plus grand, qui rna oie G cbagrine G despite.
Seize lteures pour le moins, je meurs, les yet4x ou.oerts,
Mes dents sont longs, faibles, agus,
Me tournant, me r.tirant de droict & de traaers
flairant comme santine...
Jaunes, Sur l'un, sur l'autre t'lanc, je temp€te, je crie ...
Mis|ricorde! Ö Dieu! 6 Dieu, ne me consume
Das sind die Zeichen des Todes. Und der Sterbende Villons, der ,in
A t'aute de dormir.. .

Schmerzen dahinsiecht" :
Vieille ombre de la terre, aingoß ombre d'ent'er,
Son t'iel se cröpe sur son cuer Tu m'as ouvert les yeux d'une chaine de t'er,
Puis sue, Dieu scet quel sueur! Me consumant au lict, nderd de mille pointes...
Mecbantes nuits d'biver, nuits, filles de Cocyte , ..
Ebenso hat Ronsard gespürt und ausgesprochen, wie die Krankheit ins N'approchez de mon lit, ou bien tournez plus aite.
Leben eingebettet ist, wie Krankheit und Tod im Selbst nisten:
mir zwischen krank und gesund spann,/ Bald beherbergte ich die Gesundheit in meiner Brust,/
Bald wieder die Krankheit, schlimmste Geißel der Seele.
J'ay aarii rna pie en deaidant k trame
La goutte... Die Gicht hat mir, der ich schon ein Greis bin, die Venen äemartert.
Que Clothon me t'ilait entre malade et sain, l'ay les yeux... Die Augen liegen tief in ihren Höhlen, das Gesicht ist leichenblaß,/ Das
Haupt grau und kahl, und ich bin doch erst dreißig Jahre alt.
M4is ne Poiladis. .. Aber ich konnte nicht schla{en, von meinen vielen Leiden/ Ist das das
größte, das mein Leben bekümmert und verdrießlich macht./ Sechzehn Stunden wenigstens
le d,eaiens . . . Ich werde krumm und bucklig,/ Ich höre sehr schlecht, mein Leben neigt sich sterbe ich,/ Mich drehend und von rechts nach links,/ Auf die eine, die andere Seite wälzend,
seinem Ende zu. rase ich, schreie ich... Barmherzigkeit, o Gottl O Gott, verzehre mich nicht/ Durch Mangel an
Mes dents... Meine Zähne sind lang, kraftlos, spitz,/ Gelb und riechen nach Faulgrube. Schlaf . . . Alter Schatten der Erde, alter Schatten der Hölle,/ Du hältst mir die Augen mit einer
Son fiel. .. "Die Galle platzt ihm überm Herzen./ Dann bricht der Angstschweiß aus. Mein Eisenkette geöffnet/ Und vernichtest mich im Bett, von tausend Schmerzensstichen gebrochen '. .
Gott, wie schwer er schwitzt!" ('W. Vidmer) Elende V'internächte, Nächte, Töchter des Cocytus,/ Nähert euch meinem Bett nicht oder kehrt
J'ay oari6 .. . Ich habe mein Leben damit hingebracht, den Faden abzuhaspeln,/ Den Clotho euch ganz schnell um.

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Er nimmt zwar Opium; aber das Opium stumpft ihn ab, ohne ihm Schlaf Aber der Tod gibt keine Antwort: auf seinem Karren oben sieht er nicht
zu schenken: noch hört er die, die ihn anflehen:
Heureux, cent fois heureux, animaux qui dormez...
Mais elle t'ait la sourde' G ne aeut pas oenir' (38)
Sans manger du paoot qui tous les sens assomme!
J'en ay mang6, j'ay br de son ius oublieux, Bereits Michault hatte in seinem Ze Pdssetemps gesagt:
En salade, cuit, cru, & toutefois le somme
Ne vient par sa froideur s'asseoir dessus mes yeux. Mort requiert, mais molrt le ret'use.

Das ist die versuchung des Selbstmordes, eine der letzten Prüfungen der
Seine Gebrechen zwingen ihm einen Zustand von Magerkeit auf , der das
nahe Ende ankündigt: artes moriendi: Intert'icias re (Entleibe dich selbst), schlägt da der Teufel
einem Kranken vor, der bereits seinen Dolch zückt, um sich selbst den Tod
Je n'ay plus que les os, un Scbelette je semble, zu geben. (39)
Decbarnö, deneraö, demuscl|, depoulpö.. . Die Altersschwäche und die lWehklagen über die verlorene Jugend ma-
Que le trait de la mort sans pardon a frappö!... chen die schöne Helmschmiedin Villons einem ähnlichen Vorhaben ge-
neigt:
Dann ruft der tiefgebeugte Kranke nach dem Tod, und sein Ruf hat dies-
Ha! aieillesse t'ölonne et t'iöre,
mal nicht die sprichwortähnliche Form wie bei dem armen Holz{äller:
Pourquoy m'as si tost abattue!

J'appelle en aain le jour G la mort je supplie.. . Qui me tient que je ne me fiire


Et qu'ä ce couP je ne me tue? (40)
Donne moy 16 mort) tes presens en ces jours que la Brume
Fait les plus courts de I'an, ou de ton rameau teint
Dans le ruissear d'Oubly, dessus mon front estreint Die Verzweiflung {ührt iedoch nicht immer bis zum Selbstmord' Sie
Endor mes pdttares yeux, mes gouttes O mon rhume... kommt in weniger dramatischen Fällen in einer Art Betäubung zum Aus-
\trflillen hemmt:
Pour chasser mes douleurs ameine moy la Mort, druck, die das Gedächtnis lähmt und den
Ha! Mort, le port comrnun, des hommes le confort,
Viens enterrer mes mdux, ie t'en prie ä main jointes! Tant est sy fort qu'ik Perdent sot4oenance
Par quoi mömoire est bors de sa oigueur
Et Dieu est mis souvent en oubliance. (41)
Heureux, cent t'ois heure*x.. . Glücklich, hundert Mal glücklich ihr Tiere, die ihr Schlaf fin-
det. . . Ohne vom Mohn zu essen, der alle Sinne betäubt!/ Ich habe davon gegessen, ich habe sei- DerTod bringt keine Erleichterung mehr. Selbst dem leidenden Schwer-
nen vergessenschenkenden Saft/ Als Salat, gekocht und roh getrunken, und gleichwohl kommt kranken {lößt er Angst eirr:
der Schlaf/ In seinem Starsinn nicht, sich auf meine Lider zu senken.
Je n'ay plus. .. Nichts als Gebeine bin ich mehr, ein Skelett scheine ich zu sein,/ Entblößt
von Fleisch, Nerven, Muskeln und Mark, [.. .] Das der Pfeil des Todes ohne Erbarmen getroffen
hat. Mais eLle fai... Er aber stellt sich uub und will durchaus nicht kommen'
J'appelle en vain. .. Vergeblich rufe ich den Tag, und den Tod flehe ich an. . . Reiche mir [o Mort reqliert. . . Den Tod fordert er, aber der weist ihn zurück'
Tod] deine Geschenke in diesen Tagen, die der Nebel/ Zu den kürzesten des Jahres macht, oder Ha! eieillesse... ,§(lie jäh und rückisch hat das Alter mich befallen,/ mich, ehemals die
deinen/ Im Wasser des Vergessens gefärbten Stab, auf meiner beklommenen Stirn/ Schläfere Schönste von den Mädchen allen!/ Ver kann mich zwingen, daß ich noch am Leben bleibe?/
meine armen Augen ein, die Gichr und das Rheuma. . . Um meine Schmerzen zu verjagen, bring rver hält mich ab, daß ich mich selbst entleibe?. (Übertr. von Valter rVidmer)
mir den Tod herbei,/ O Tod, du allen bestimmter Hafen, der Menschen Tröster,/ Komm und Tant est sy fort . . . So stark nämlich ist sie , daß sie das Gedächtnis verlieren'/ Und aufgrund
setze meinen Leiden ein Ende, mit gefalteten Händen bitte ich dich! davon büßt die Erinnerung ihre Kraft ein,/ Und Gott gerät häufig in Vergessenheit'

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-]
Car quand ils sont serrez entre mes mains die Bettelmönche, die die vorstellungskraf r durch starke Bilder wie das des
fder Sprecher ist hier der triumphierende Tod selbst] Todes in Bann zu schlagen suchten.
Le pas mortel par sa dure rigueur Freilich mußte diese Sprache verstanden werden, mußten die Zuhörer auf
Leur donne angoisse et extrCme langueur. ihre Reizmittel reagieren. Heute würde man sie mit Abscheu von sich wei-
sen. Vor dem 14. Jahrhundert aber hat es, wie nach dem 16., den Anschein,
Aber selbst wenn sie nicht zum Selbstmord führt, so kann diese Angst daß sie mit der Indif{erenz von Menschen aufgenommen wurden, die mit
doch tiefe Verzweiflung und Auflehnung gegen Gott wachrufen. Und die den Bildern des Todes zu vertraur waren, als daß sie sich davon hätten er-
Verzweiflung nimmt gelegentlich die Form des Teuielspaktes an. schütrern lassen. Die Männer der Kirche haben immer versucht, Angst ein-
zuflößen - Höllenangst eher denn Todesangst. Sie haben damit nur zur
Hälfte Erfolg gehabt. Im 14.-16. Jahrhundert sieht es so aus, als ob man
Die Todesangst - Einfluß missionarischer sie ernster genommen hätte, wenn auch nicht buchstäblich ernst: Die Predi-
Seelsorge oder hoher Mortalität? ger sprachen vom Tode, um den Gedanken an die Hölle wachzurufen. Die
Gläubigen dachten vielleicht nicht notwendig an die Höllc, waren dann aber
Erstaunlich ist, daß die literarischen Quellen ebensoviel Nachdruck auf den um so mehr von den Bildern des Todes beeindruckt.
Verfall zu Lebzeiten wie nach dem Tode legen: auf die schlüpfrigen Säfte, Vom 14. bis zum 16. Iahrhundert ist der Tod, wenn auch die alte Ver-
au{ die abstoßenden Zeichen der Krankheit, auf die Verzweiflung. traurheir mit ihm in den gemeinschafrlichen Formen des Alltagslebens nicht
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die langsame Ent- geschwunden ist, teilweise verdrängt worden, und zwar dort, wo die To-
'Woher kommt
wicklung des traditionellen Vorbildes des Todes im Bett, wie es in den artes desdarstellungen an §(i'ucht und an Neuartigkeit gewannen.
moriend.i weiterbesteht, plötzlich gewaltsam unterbrochen wird. Ein diese Neuartigkeit?
Klima von Besorgnis und Angst scheint sich verbreitet zu haben, in einem Es ist verführerisch, den Erfolg der makabren Themen zur gewaltigen
Maße, daß man schließlich sogar dem wenn auch noch so gefürchreten Zahl der Pestopfer und zu den großen demographischen Krisen des 14' und
plötzlichenTod denVorzugvor dem rituellen, sich im voraus ankündigen- 15. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen' die manche Regionen voilständig
den gibt. entvölkerten und einen regelrechten kulturellen Rückschritt, eine allge-
Vie sind diese Dokumente zu interpretieren, wie lassen sie sich in die meine ökonomische Krise auslösren. Die Mehrheit der Historiker hat dem
langen Entwicklungsreihen einordnen, die mit der Auferstehung des Flei- Ende des Mittelalters denn auch Katastrophencharakter zuerkannt - und
sches und dem Jüngsten Gericht einsetzen? tut es noch heute. ,Keine Zeit., schreibt Huizinga' "hat mit solcher Ein-
Eine erste Vermutung wäre die, daß die Beschwörung der Schrecknisse clringlichkeit fort und fort den Todesgedanken eingePrägt wie das fünf-
der Verwesung für die Bertelmönche ein willkommenes Mittel war, die lai- zehnte Jahrhundert.. Die großen Epidemien mußten im kollektiven Ge-
zistischen Bevölkerungsschichten aufzurütteln und zu bekehren, nament- dächtnis zwangsläufig starke ErinnerungssPuren hinterlassen. Pierre
lich die Massen in den Städten. Michault läßt den Tod seine "Helfershelfer" aufzählen: Alter, Krieg,
Vie bekannt, war das 15. Jahrhundert eine Zeit, in der die Kirche sich Krankheit - ,meine willige Dienelin" -, Hungersnot und Seuchenwut -
mit dem Vollkommenheitsideal der Klöster durchaus nicht zufriedengab ,mein sehr aufmerksames Zimmermädchen".
und sich bemühte, Menschen für sich zu gewinnen, die man früher mehr Der Triumph des Todes in Pisa und der von Lorenzetti sind etwa zeit-
oder weniger gleichgültig einer Art heidnisch-christlicher Folklore über- gleich mit dem Auftreten der großen Pestepidemien der Jahrhundertmitte.
lassen hatte, unter der Bedingung, daß sie allzu auffällige doktrinäre und Das Skelett von Assisi könnte möglicherweise früher enrstanden sein. Aber
moralische Häresien mieden. Tragende Kraft dieser Bestrebungen waren nicht immer tritt der Umsturz, wie er durch den Schock der Epidemien
ausgelöst wurde, zunächst in der realistischen Form des Kadavers oder der
Car quand ils . . . Denn wenn ich sie erst einmal in Händen habe,/ So jagt der tödliche Schritt, Ileschreibung des Todes in Erscheinung. Millard Meiss hat gezeigt, daß die
durch seine starre Unerbittlichkeit,/ Ihnen Angst und äußerste Mutlosigkeit ein. Florentiner Bettelmönche im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts versucht

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waren, die traditionellen religiösen Darstellungen eher zu idealisieren als und Nöte zu übertreiben und ein deformiertes und romanha{tes Bild zu
sie mit realistischen Details zu überfrachten, und die Rolle der Kirche und entwerfen und die Prüfungen einer Menschheit zu beklagen, die sie vom
der Orden des Heiligen Franz und des Heiligen Dominikus stärker hervor- Zorn Gottes heimgesucht sahen - dazu beigetragen, eine Art schwarzer Le-
treten zu lassen, indem sie durch einen archaisierenden und abstrakten Stil gende ihrer Zeit zu beglaubigen'.
die hieratischen Aspekte des Heiligen und der Transzendenz hervorhoben: vrir haben ietzt eine andere Informationsquelle ins Auge zu fassen, die
eine Form der Rückkehr zu byzantinischen Vorbildern und zum rornani- uns auf eine weniger düstere version als die der historischen Tradition ver-
schen Geist, über die zwischenzeitlich wirksamen anekdotischen Tenden- pflichtet - die Testamente'
zen des 13. Jahrhunderts hinweg. Deshalb beschwört man die Pest künftig Antoinette Fleury hat ihre (unveröffentlichte) Dissertation an der Ecole
auch durch Symbole, um sie zu bannen: das des Heiligen Sebastian, der von des cbartes der Untersuchung von Pariser Testamenten des 16' Jahrhun-
Pfeilen durchbohrt wird wie die Menschheit von der Epidemie. Später, im derts gewidmet. Sie hat für die Zeit der Fertigstellung ihrer Arbeit vertrau-
16. und 17. Jahrhundert, zögert man umgekehrt nicht, die in den Straßen ten umgang mit diesen Texten gepflogen. Deshalb haben ihre eher naiven
sterbenden Menschen, die in den Leichenkarren zusammengeschichteten Eindrücke die Beweiskraft der Zeugenschaft. Über die die Beisetzung be-
Leiber und die Aushebung der großen Gemeinschaftsgräber darzustellen. treifenden Testamentsklauseln schreibt sie beispielsweise folgendes: "'wir
(a2) Aber die makabre Epoche im eigentlichen Sinne war vorbei, wenn die haben uns am Beispiel des Trauergefolges, der langen Lichterprozession
Pestepidemien ihrerseits auch weiterhin auftraten. und der Feierlichkeiten der Kirche, der die Kleinkinder anvertraut wurden,
\iüie verlockend auch immer die Beziehung zwischen der Dimension
- mit der nachgerade tröstlicben Vorstellung vertraut gemacht, die man zu
des Makabren und den Pestepidemien ist nicht völlig schlüssig und über- jener Zeit oom Tode batte [Hervorhebung von Ph. Ariös]' Damit dieZere-
zeugend. Sie ist es um so weniger, als die große Krise des Spätmittelalters monie den Anschein eines Festes hat, ist es Brauch geworden, den Teilneh-
von heutigen Historikern gelegentlich in Zweifel gezogen wird. Hier die mern eine Mahlzeit oder eine Art Imbi{l zu reichen."
Position von J. Heers (43): "Es hat den Anschein, daß die Historiker durch Heute freilich, einige Jahre später, würde die Autorin, jetzt Konservato-
einen übertriebenen und ungerechtfertigten Pessimismus gesündigt ha- rin am Minutier central fdem Depot der Archives narionales] und mit den
ben... Es handelte sich darum, die Hypothese einer Katastrophe oder we- Tendenzen und Moden der Historiographie vertrauter, als es die iunge Ar-
nigstens einer beträchtlichen ökonomischen Schrumpfung gegen Ende des chivarin war, ihre unmitrelbaren untersuchungseindrücke wohl nicht mehr
Mittelalters zu verifizieren, eine verbreitete Vorstellung, die wenigstens seit so direkt zum Ausdruck zu bringen gewagt haben. Sie hätte sicherlich vor-
Henri Pirenne [.. .] alle Historiker der mittelalterlichen Virtschaftsge- behalte und Einschränkungen gelrend gemacht und gezögert, die vorstel-
schichte beeinflußt hat. Diese Konzeption drängte sich mit solcher Eindeu- lung des Todes in der Hochblüte der makabren Epoche mit der des Festes
tigkeit auf und wurde als derart selbstverständlich hingenommen, daß es z-u vereinen.
nachgerade unmöglich war, auch nur irgend etwas über diese Epoche zu Man wird hier einwerfen, daß es sich um das 16. Jahrhundert handelt,
schreiben, ohne ihr seine Reverenz zu zollen; jede Untersuchung der Wirt- daß der makabre Höhepunkt bereits überschritten ist und daß ein neuer de-
schaftsgeschichte hatte davon auszugehen." Und nicht nur der \(/irt- mographischer und ökonomischer Aufschwung die makabren Phantasien
schaftsgeschichte! "Aber bereits vor zwtnzig Jahren haben klarsichtigere sogar verdrängt hat. In §(irklichkeit setzen sich die makabren Darstellun-
und besser unterrichtete Autoren [...] gezeigt, daß dieser Niedergang, be- gen im 1 6. Jahrhundert noch lange fort, vor allen Dingen in der Grabkunst'
zogen auf die gesamte abendländische Velt, durchaus unterschiedlich ver- ,Der Tod ist einer der Begleiter der Renaissance 8ev/esen«, merkt einleuch-
lief ; sie sprachen denn auch eher von Mutationen als von Katastrophen.u tend J. Delumeau an. (44) Man wäre durchaus überrascht, wenn die trau-
matisierte sensibilitär des 15. Jahrhunderts im 16. so rasch einen festlichen
"Ursprünglich war die Vorsteilung einer katastrophenbedingten Schrump-
fung von bestimmten Grundannahmen beeinflußt, die heute abgelehnt Charakter angenommen haben sollte.
werden müssen. So hat ein exzessives Vertrauen in manche Zeugnisse und Andererseits besteht im Tonfall kein großer Unterschied zwischen Te-
Zeugen der Zeit - Kirchenmänner, die, häu{ig wenig geübt, die Zeichen zu sramenten des 15. und des 16. Jahrhunderts. Die wahrscheinlichkeit, auf
entzif{ern, vielmehr au| ganz natürliche \(eise geneigt waren, die Verluste lworte wie charogne oder cadaoer anstelle von Leichnam zu stoßen, ist im

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15. Jahrhunderr nurmehr gering. Umgekehrt sind die Anspielungen auf den Höhepunkt der makabren Epoche des Todes nur, um die Illusion des Le-
Leichenschmaus im 1 5. Jahrhundert zahlreicher, wenn sie auch häufig nur bens - im Verein mit der der Ahnlichkeit - zu erwecken. So als gäbe es zwei
auftauchen, um ihn * bereits im Geiste der Reformation - zu unrersagen. säuberlich getrennte Bereiche, einerseits den der makabren Effekte, mittels
Man muß also einräumen, daß das makabre Arsenal der Künstler, Dich- derer der Tod Angst einflößte, andererseits den der Porträts, in denen er
ter und Prediger nicht von irgendwe.lchen belanglosen Menschen verwen- seinen täuschenden Zauber entfaltete.
det wurde, wenn sie ihren eigenen Tod bedachten. Es fehlt durchaus nicht Es gibt also nicht nur keine Beziehung, sondern sogar einen drastischen
an Literatur: die handgeschriebenen Testamenre sind geschwätzig, .sie bor- Gegensatz zwischen makabrer Inspiration und direkter, kraß-materialisti-
den über von weitschweifigen Ausführungen riber die lVechsellälle des scher Auffassung des Todes.
menschlichen Geschicks, über die der Seele drohenden Gefahren, über die '§(ir werden im folgenden Kapitel eine einschneidende Veränderung der
VergängJichkeit des dem Sraub vorherb€srimmren Leibes. Doch das sind Bestattungsbräuche untersuchen, die etwa im 1.2. bzw. 13. Jahrhundert
wenig mehr als alte Metaphern, hinter denen nicht das geringste Bedürfnis stattgefunden haben muß. Vor dieser zeitlichen §V'asserscheide wurde der
nach expressiveren Bildern steht. ,Eine tröstliche Vorstellung", sagr Anroi- Tote zur Schau gestellt und mit entblößtem Gesicht von seinem Sterbebett
nette Fleury. Ich würde eher sagen - und das widerspricht ihr durchaus z.ur Grabstelle überführt. Später wird es verhüllt - außer in den medi-
nicht: eine natürliche, vertraure Vorstellung. terranen Landstrichen - und bleibt künftig für immer unzugänglich, selbst
Allerdings ist der Tod der makabren Autoren keine realistische Beschrei- wenn sein Anblick gerade die Gefühlsregungen wachrufen könnte, auf die
bung des Todes. Huizinga, Opfer seiner schwarzen Vision, täuscht sich, die makabre Kunst abzielte. Vom 13. Jahrhundert an hat man sich also -
wenn er schreibt: In der bis ins letzte ausgestalteten Darstellung des Toten- und zwar ohne jede Reue, nicht einmal in der makabren Epoche - den An-
"
tanzes und des grausigen Gerippes versreinert die lebendige Empfin- blick des Leichnams versagt. Er wird den Blicken entzogen, nicht nur da-
dung." l(sin Realismus, natürlich nicht! Aber gleichwohl war die Epoche durch, daß man ihn von Kopf bis Fuß in ein Leichentuch hüllt, das dann
auf Ahnlichkeit versessen. rüü'ir werden in den beiden folgenden Kapiteln zugenäht wird, sondern auch dergestalt, daß man nicht einmal mehr zuläßt,
Gelegenheit haben, das seit dem 13. Jahrhundert in Erscheinung rrerende daß die menschliche Gestalt überhaupt noch erkennbar bleibt, indem man
Bedürf nis zu beschreiben, die Züge des Modells genau abzubilden. \Virwer- sie in einem Holzschrein birgt und diesen Schrein wiederum unter einem
den dann auch eingehender sehen, wie dieses Streben nach Genauigkeit mit Tüchern ausgeschlagenen Katafalk verschwinden läßt. (a6)
ganz zwanglos dazu geführt hat, Totenmasken abzunehmen. So etwa im 'W'enn
man diesen Hinweisen aufmerksam nachgeht, stellt man in der Tat
Fall der vom Anfang des 16. Jahrhunderrs stammenden Terrakotta-Statuen, fest, daß die makabre Kunst praktisch nie den im Todeskampf liegenden,
die früher im Chorumgang von Saint-Sernin in Toulouse aufgestellt waren aber schon entstellten Lebenden noch den unversehrten oder doch beinahe
und heute im Mus6e des Augustins aufbewahrt werden. Die Historiker ha- unversehrten Leichnam vor Augen führt: Einige wenige oben zitierte bur-
ben sie lange für Sibyllen gehalten; ehedem hießen sie im Volksmund je- gundische Grabmäler, manche Opfer von ,Triumphen des Todes" und
doch die "Mumien der Grafen", und man hat sich heute darauf geeinigt, cinige schöne Tote sind Ausnahmen, die der Allgemeingültigkeit dieser Be-
daß sie die gräfliche Familie Saint-Gilles, die Stifter der Abtei, darsrel- ,>bachtung durchaus nicht widersprechen.
len. (45) Die Gesichtszüge der Sterbenden der artes moriendi sind nicht entstellt.
In allen diesen Fällen wurden die an den Kadaver gemahnenden Zige der Weder Maler noch Bildhauer haben die Krankheit und den bereits im Leben
äußeren Erscheinung nicht reproduziert, um Angst einzuflößen, als me- olfenkundigen Tod abgebildet, wie er umgekehrt die Dichter faszinierte.
mento mori; man bediente sich ihrer vielmehr als einer Arr von Moment- Man erlaubte sich, ihn in der Symbolik der Sprache zu beschtpören. Man
aufnahme, als eines photographisch genauen Abbildes der Person. Die wcigerte sich, ihn im Realismus der faktischen Gegebenheiten zu zeigen.
Grimassen, die, aus unserer modernisrischen Sicht, das Gesichr des Ver- t'Jilas
die makabre Kunst vor Augen führte, war eben das, zaas nicht u,ahr-
storbenen entstellen und aus denen wir eben den Tod herauslesen, beein- ,,chmbarwar,was sich unterirdisch, im Verborgenen abspielte - die schlei-
druckten die Zeitgenossen durchaus nicht, die ihrerseits darin nichts ande- , hende Verwesung: also kein Resultat der Beobachtung, sondern Produkt
res als lebenswahre Realität sahen. So bediente man sich auf dem .lrr Imagination.
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'§flir sahen uns also veranlaßt, in sukzessiven Ansätzen eine Diskontinui- berufen, die Liebe zum Leben zu feiern und den vorrangigen §flert des irdi-
tät zwischen makabrer Kunst und dem Elend des Lebens oder der Angst schen Daseins zu proklamieren." (49)
vor dem Tode herauszuarbeiten und festzustellen. Bei manchen Autoren äußerte sich fortan "der unbedingte §üille, das Le-
ben als autonomen §f ert aufzufassen", ein herrischer Ville, der sich bis zur
Leugnung der Seele und ihres \i?'eiterlebens nach dem Tode versteigen
Die leidenschaftliche Liebe zum Leben konnte.
Jedenfalls ,behauptete der Mensch, in seiner eigenen Lebensführung
Alberto Tenenti macht eine weniger einfache Beziehung geltend, die der über eine hinreichende Grundlage für sein Seelenheil zu verfügen [. . .]. A"-
von uns angenommenen Komplexität Rechnung trägt. statt als schnell verrinnender Übergang galt das Leben jetzt als eine Zeit-
Er geht von der Beobachtung aus, daß der Tod gegen Ende des Mittelal- spanne, die zur Gewinnung des eigenen Heils vollaui genügte." Es entwik-
ters nicht mehr Hinscheiden oder Übergang, sondern Ende und Verfall ist. kelt sich also das Ideai eines erfüllten oder vollen Lebens, das sich von der
Das physische Faktum des Todes ist an die Stelle der Bilder des Jüngsten Angst ums Jenseits nicht mehr bedrohen ließ. In der ars moriendi trar "im
Gerichts getreten. ,Jahrhundertelang hat das Christentum kein Bedür{nis Grunde eine neue Bedeutung der Zeit und des tü/esens des Körpers als eines
verspürt, das Elend des verfallenden Körpers darzustellen'" Warum tritt lebenden Organismus in Erscheinung. Sie bezieht sich damit auf das Ideal
dieses Bedür{nis dann aber jetzt in Erscheinung? eines aktiven Lebens, dessen Schwerpunkt nicht mehr außerhalb des irdi-
''ihen Daseins lag.. (50)
Es konnte nur »aus dem Schrecken und aus dem Schmerz entstehen, d' "Sie bringt nicht mehr nur, wie früher, die Sehn-
der Glaube ausschloß". (a7) Wie Jank€l6vitch sagt: Der Glaube an ein ew ircht nach einer überirdischen Existenz zum Ausdruck, sondern eine im-
ges Leben verliert sich, der Tod aber nimmt kein Ende. 'rer ausschließlichere Anklammerung an ein rein menschliches Dasein.o
So ist die makabre Bildwelt ein Zeichen dafür, daß der Mensch neuc regen Ende dieser Entwicklung schwinden die makabren Zeichen dahin.
Anforderungen standzuhalten hat, deren er sich ietzt bewußt wird: "D 'Die bizarren Aspekte der ersten Kontakte sind bald verschwunden, das
weltlichen Lockungen und die Anklammerung an irdische Güter [die gr :-"nschliche Antlitz und die menschlichen Gefühle angesichts des Todes
ßere Bedeutung bekommen als früher] hätten den Menschen nie den Glat .nd geblieben." (51) Die Humanisten des 15. Jahrhunderts haben die ma-
ben an sich selbst vermittelt, wenn eine tiefinnere Erfahrung sie nicht be .abren Zeichen durch eine Art innerer Präsenz des Todes ersetzt: sie fühl-
reits aus der religiösen Bindung gelöst hätte." (48) en sich immer im Begriff zu sterben und dem Tode nahe. (52)
Diese tie{innere Erfahrung ist die des intravitalen Todes, von dem Janki^ Fassen wir zusammen: Für Alberto Tenenti brachte das scharfe Bewußt-
l6vitch spricht. Das Geftihl der Präsenz des Todes im Leben hat zwei Reak- sein der menschlichen Sterblichkeit im 14. und 15. Jahrhundert einen
"Um-
tionen ausgelöst: einerseits den christlichen Asketismus, andererseits einen sturz des christlichen Schemas" und den Beginn der Säkularisierungsbewe-
Humanismus, der sich noch als christlich verstand, aber schon den \iVeg der gung zum Ausdruck, die die Ivloderne charakterisiert.
"Die früher Christen
Laisierung einschlug. Zu Beginn der Renaissance war das kollektive Be- waren, haben sich jetzt als sterblich erkannt: sie haben sich des Himmels
wußtsein ,durch die halluzinatorische Realität des Todes zutiefst gespalten. entschlagen, weil sie nicht mehr die Kraft verspüren, auf verbindliche Veise
Die einen [Mystiker wie Suso, Prediger wie der Heilige Vincent Ferrier], daran zu glauben." (53)
gleichsam zwanghaft getrieben, sich in der Kontemplation der Verwesung Die Analysen Alberto Tenentis sind sehr verführerisch, und dennoch
und der physischen Vernichtung zu verlieren, zogen daraus ganz unirdi- stellen sie mich nicht völlig zuf rieden: Der Gegensatz zwischen einem aufs
sche, d. h. asketische Konsequenzen. Sie versetzten sich so in die spirituelle Jenseits gerichteten mittelalterlichen Christentum, für das das irdische Le-
Verfassung, die ihnen am geeignetsten erschien, sich für die Lockungen der ben nur Vorzimmer zur Ewigkeit war, und einer dem "Jetzt" verhafteten
modernen Kultur [die damals im Entstehen begriffen war] und der laizisti- Renaissance, für die der Tod durchaus nicht mehr den Beginn eines neuen
schen Sensibilität taub zu stellen. Die anderen [Petrarca, Salviati] fühlten Lebens bedeutete, scheint mir nicht einleuchtend. \i(enn es denn einen ein-
sich, indem sie der Spekulation über ihr leiblich-organisches Schicksal und schneidenden Bruch gibt, so liegt er eher zwischen dem Früh- und dem
über ihre physische Verwandlung im Schmerz die Stirn boten, im Gegenteil Iiochmittelalter; wenn es denn ein Christentum gibt, so kommt es in einer

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Bemeinsamen Sprache, einem gemeinsamen Bezugssystem zum Ausdruck; Vertrauen in die göttliche Barnrherzigkeit, fur die er Beispiele zitiert: den
aber die Gesellschaf t war im Mittelalter nicht christlicher als in der Renais- guten Schächer, Maria Magdalena und die Verieugnung des Petrus. \Wird
sance und sicher weniger als im 17. Jahrhundert. Wenn die Renaissance die bona inspiracio des Engels dem Sterbenden helfen, sein krankhaftes
auch eine Veränderung der Sensibiiität markiert, so läßt diese Veränderung Grübeln über sein Leben und seine Vergehen hintanzustellen? Oder wird
sich doch nicht als Beginn einer Laisierung interpretieren - oder wenigstens er Banz der Verzweiflung anheimfallen, der ihn bereits seine physischen
nicht mehr als andere intellektuelle Strömungen des Mittelalters. In dieser Leiden entgegentreiben? Vird er sich jenen "aufdringlichen Bußhandlun-
Richtung, die der ganzen hier vertretenen Auffassung des Geschichtsver- gen« verschreiben, die bis zum Selbstmord führen können? Zu Häupten
laufes zuwiderläuft, vermag ich Alberto Tenenti nicht zu folgen. seines Bettes zeigt ein Teufel ihm sein eigenes Bild, wie er gerade mit einem
Umgekehrt führt uns, was er über das volle Leben, über die Bedeutung Dolch Hand an sich legt, und spricht: "Entleibe dich selbstl.
des irdischen Daseins aussagt, auf eine meines Erachtens richtige Spur, un- Der Sterbende kann dieses selbe Leben auc,h in Sicherheit an sich vor-
ter dem Vorbehalt allerdings, da{l die Liebe zum Leben nicht als bezeich- überziehen lassen, aber der "eitle Ruhm" dessen, der in diesem Falle zuviel
nende Eigenart der Renaissance aufgefaßt wird, weil sie ebenso einer der Vertrauen in die Menschen gesetzt hat, wird nicht mehr wiegen als seine
spezifischsten Züge des Hochmittelalters ist. Verzweiflung: der Teufel zeigt ihm alle Kronen der eitlen Selbstbefriedi-
gung (gLoriare, coronam meruisti, exaha te ipsum. , .).
Fassen wir zusammen, bevor wir weiterzugehen versuchen. Das Makabre In dieser ersten Folge von Versuchungen wird das Leben dem Sterbenden
ist nicht Ausdruck einer besonders starken Todeserfahrung in einer Epoche nicht mehr als Gegenstand eines Gerichts, sondern als ietzte Möglichkeit
großer Seuchensterblichkeit und großer ökonomischer Krisen. Es ist nicht vorgeführt, seinen Glauben unter Beweis zu stellen.
nur Mittel für die Prediger, die Angst vor ewiger Verdammnis zu schüren In der zweiten Folge führt der Teufel dem Srerbenden alles vor Augen,
und zur'§Veltverachtung und Einkehr einzuladen. Die Bilder des Todes und was der bevorstehende Tod ihm zu rauben droht, was er inr Laufe seines
der Verwesung meinen weder die Angst vor dem Tode noch die vorm Jen- Lebens besessen und geliebt hat, was er behalten will, was fahrenzulassen
seits - selbst wenn sie zu diesem Zweck benutzt worden sind. Sie sind Zei- er sich nicht entschließen kann: omnia temporalia, die unter so viel Mühen, I

chen einer leidenschaftlichen Liebe zur hiesigen \(elt und eines schmerzli- Sorgen und zärtlicher Liebe zusammengetragen (congregata) worden sind,
chen Bewußtseins des Scheiterns, zu dem jedes Menschenleben verurteilt die menschliche'Wesen - Frauen, Kinder, sehr liebe Freunde - und Dinge
ist - und eben dieses Scheitern muß jetzt ins Auge gefaßt werden. zugleich umfassen können, "alle anderen Dinge dieser \üelt, die begehrens-
Zum besseren Verständnis der leidenschaftlichen Liebe zu Wesen und wert sind", Gegenstände der [.ust, Quellen von Reichtümern. Die Liebe
Dingen des irdischen Lebens sei die letzte Prüfung der artes moriendi in zu Dingen wird nicht anders bewertet als die zu Menschen. Beide fallen in
Erinnerung gerufen, von der das ewige Leben des Sterbenden abhängt. Vas die Kategorie d er avaritia, die nicht das Bedürfnis, Reichtümer anzuhäufen,
bedeutet die maßlose Anklammerung, die drrin zum Ausdruck kommt? oder das Widerstreben, sie auszuteilen, meint wie unser \X/ort aparice
(54) Die Prüfung besteht aus zwei Arten von Versuchungen, allerdings ganz (Knauserigkeit), sondern leidenschaftliche, gierige Liebe zum Leben, zu
unterschiedlichen Versuchungen. In der ersten wird der Sterbende aufge- menschlichen §Vesen wie zu Dingen - und sogar z-u Dingen, die wir heute
fordert, sein Leben unter dem Gesichtspunkt von Verzweiflung und Be- unbegrenzten Einsatzes für wert halten, Frau und Kind, die aber damals
friedigung zu durchmustern. Der Teufel führt ihm alle seine Missetaten vor als Abwendung von Gott galten. Avaritla ist "exzessive Anklammerung an
Augen. "Hier deine Sünden, du hast getötet, du hast Unzucht getrieben!" die temporalia und an die äußeren Dinge, in Hinsicht auf Frauen und leibli-
Er hat auch die Armen übervorteilt, hat ihnen Almosen verweigert und un- che Freunde oder materielle Reichtümer und andere Güter, die die Men-
redlich erworbene Reichtümer zusammengerafft. Alle diese seine Ver{eh- schen im Laufe ihres Lebens nur zu sehr geliebt haben."
lungen werden jedoch nicht namhaft gemacht und dargestellt, damit die Der Heilige Bernhard stellte bereits zwei Jahrhunderte zuvor zwei Kate-
'§(aagschalen
des Gerichts sich auf die Seite der Hölle neigen. Der Schutz- gorien von Menschen einander gegenüber: die oani oder aaari und die sim-
engel stellt der Nachtseite dieses Lebenslaufes nicht die guten Taten entge- plices oder deut-tti. Die zazi suchten, im Gegensatz zu den Demütigen, den
gen, wie er es durchaus könnte; er ermahnt den Sterbenden lediglich zum eitlen eigenen Ruhmesglanz . Die aoari liebten das Leben und die §(elt -

168 169

1
im Gegensatz zu cle nen, die sich Gott weihten. Die Kirche verdammte mit ihn dem Sterbenden aufs Bett, damit der ihn im Augenb.lick seines Hin-
der aaaritia clic L.iebe zu Dingen und Menschen zugleich, denn beide ent- scheidens in Reichweite hat. Er wagte nicht, das zu vergessen ! \ü'er von uns
fernten gleichermaßen von Gott. verspürte heute die Anwandlung, ein Paket mit Vertpapieren, das so sehr
Zweifellos entzog sich die Mehrheit der gewöhnlichen Christen solchen geliebte Auto oder ein prächtiges Schmuckstück mit in den Tod hinüber
Verzichtforderungen, aber der derr tentporalia verfallene Genußsüchtige zu nehmen? Der Mensch des Mittelalters mochte sich nicht darein fügen,
hatte teil an der Psychologie des Asketen oder Moralisten und machte kei- seine Reichtümer au{zugeben, nicht einmal im Tode: er erhob weiter An-
nen Unterschied zwischen Gütern und Menschen. Menschen wurden be- spruch darauf, wollte sie um sich haben, sie betasten, sie behalten.
sessen wie Güter, die man sich unbedingt erhalten mußte: "Begünstige Die Vahrheit ist ganz einfach die, daß der Mensch nie wieder eine solche
deine Freunde"; Dinge wurden geliebt wie Freunde: "Trage Sorge um dein Liebe zum Leben an den Tag gelegt hat wie gegen Ende dieses Mittelalters.
Vermögen." Der Sterbende läßt seinen Blick auf seinem großen und schö- Die Kunstgeschichte bringt dafür einen indirekten Beweis bei. Die Liebe
nen Haus ruhen, dessen Bild das Blendwerk des Teufels zu Füßen seines zum Leben hat sich durch eine leidenschaftliche Anklammerung an die
Bettes aufsteigen läßt, auf seinem mit Veinfässern wohlbestellten Keller, Dinge dieser'W'elt zum Ausdruck gebracht - eine Anklammerung' die der
seiner mit edlen Pferden bestückten Stallung. Er könnte sich auch von den Vernichtung im Tode widerstand und die Auffassung der \Velt und der Na-
Mitgliedern seiner Familie erweichen lassen, die ihn zu seinen Häupten tur verändert hat. Sie hat den Menschen veranlaßt, der bildlichen Darstel-
umringen und die er bald lassen muß; man hat jedoch den Eindruck, daß lung dieser Dinge eine neue Bedeutung beizulegen, sie hat ihnen eine Art
er ihnen weniger Vertrauen entgegenbringt als jenen verlockenden Dingen. Leben eingehaucht. Eine neue Kunst ist entstanden, die in den romanischen
Es kommt wohl auch vor, daß er vor ihren heuchlerischen Tränen auf der Ländern nature morte,in denen des Nordens still-life oder still-leten heißt.
Hut ist; er beargwöhnt sie, daß sie sich lediglich seiner Erbscha{t versichern Charles Sterling s/arnt uns vor der "gefälligen Poesie, die die moderne Ro-
wollen, und schließlich verjagt er sie, in einem Anfall von Vut und Ver- mantik heute [in diese Vorte] hineinlegt, indem sie sie als eine Art stummes,
zweiflung, gar mit Fußtritten, verschwiegenes Leben interpretiert." Sie bezeichnen, viel vordergründiger,
das Modell, das sich nicht regt. Aber derselbe Autor berichtet, daß die Zeitge-
"Den Veinberg mußt du lassen, Haus und Garten" - im Augenblick des
Todes, und eben das war die Versuchun g der ataritia: Der Mensch Iühlte nossen einem Künstler im Jahre 1649 den Ehrentitel eines "in Porträt wie
in sich die närrische Liebe zum Leben aufwallen und klammerte sich weni- Stilleben laie coyel sehr starken Malers" beilegten: Der Ville oder Trieb,
ger ans Leben selbst, ans Leben im biologischen Sinne, als an die im Laufe sich ein Bild zu machen - wie kann man sich ihm entziehen und wie läßt
dieses Lebens zusammengetragenen Güter. Der Ritter des Hochmittelal- er sich anders wiedergeben als durch »stummes Leben"?
ters starb naiv wie L.azarus. Der Mensch des Spätmittelalters und der begin-
nenden Neuzeit war von der Versuchung; bedroht, wie der böse Reiche zu
enden. Die avaritia und das Stilleben.
Er mochte sich nicht von seinen Gütern trennen und wünschte sie mit Der Sammler
sich hinüber zu nehmen. Freilich warnte ihn die Kirche, daß er, wenn er
nicht darauf verzichtete, den §(eg ins Fegefeuer zu nehmen hätte; aber letz- Es gibt meines Erachtens zwischen aaaritia und Stilleben eine Beziehung,
ten Endes lag in dieser bedrohlichen Aussicht sogar etwes Tröstliches, weil die einer näheren Untersuchung wert ist. Auch der weniger geübte Beob-
ihn die Verdammung, wenn sie ihn auch Höllenqualen aussetzte, doch achter ist nachgerade verblüfit angesichts des Unterschieds der bildlichen
nicht seines Schatzes beraubte: der böse Reiche des Gleichnisses behält am Darstellung von Gegenständen in der Phase, die dem 13. Jahrhundert vor-
Portal von Moissac (12. Jahrhundert) seine Börse um den Hals gehängt, und ausgeht, und der, die ihm folgt, vor allem dem 14. und 15. Jahrhundert.
alle Geizigen, die ihm in die Hölle des Jüngsten Gerichtes folgen, tun es Bis zum 13. Jahrhundert wird das Ob;ekt, der Gegenstand nahezu nie
ihm darin nach. Auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch (55), das als als Quelle von Leben aufgefaßt, sondern als Zeichen, als Aufriß einer Be-
direkte Illustration zu einer ars moriendi aufgefaßt werden könnte, hebt der §/egung. Das gilt auch für'§ü'erke, die dieser These auf den ersten Blick zu
Teufel mit Mühe - so schwer ist er - einen grol3en Sack mit Talern und legt widersprechen scheinen, etwa für ein großes Fresko der Hochzeit zu Ka-

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naan, auf dem die Gegenstände auf dem Tisch im Vordergrund stehen und gleich mit den Illusionskünsten ihrer Nach{olger zu scheuen, den Malern
Bedeutung und Gewicht haben. Vom Thema her wäre das bereits ein Still- der Leintücher und Linnen der Verkündigungen und Geburten Christi des
Ieben, aber eher eines von C6zanne oder Picasso als voneinem Miniaturisten 15. Jahrhunderts. Aber die ganze Kunst der Anordnung und Drapierung
des 14. Jahrhunderts, einem Maler des 17. oder gar noch von Chardin. des Faltenwur{s eines Vorhangs ist ausschließlich dazu bestimmt, die ei-
Es handelt sich um ein großes, aus dem 12. Jahrhundert stammendes gentliche Bestimmung des Gegenstandes vergessen zu machen und ihn mit
Fresko in der Kirche von Brinay (56); auf dem Tisch des Hochzeitsbanketts einer anderen Funktion auszustatten. Er wird a)gezogen und geschlossen
sind in horizontaler Linie sieben Tonschüsseln - eine neben der anderen - wie in einem karolingischen Meßbuch, wo er den vom Heiligen Geist er-
- aufgereiht, Schalen, die nach einem einfachen und schönen Modell gear- griffenen Heiligen Gregor von der übrigen Welt trennt. Ein Mönch des
beitet sind. Einige enthalten große, schöngeschwungene Fische, die über scriptorium lüftet ihn gerade so weit, um das Diktat des Heiligen verneh-
die Ränder hinausragen. Sie werfen keine Schatten und r.'erden gleichzeitig men zu können. Häufig wird der Vorhang gefältelt und an einem Portikus
von der Seite und rücklings gezeigt, d. h. von schrägoben. Deshalbwird auch angebracht, an dessen Pfeiler er sich schmiegt, wobei er die heiligen Perso-
der Boden der Schalen sichtbar, der normalerweise auf dem Tisch au{ruhen nen von den über ihnen schwebenden göttlichen Emblemen scheidet - etwa
müßte; wir sehen ihn jedoch zu drei Vierteln, so als ob cii: Schalen ein wenig der Hand Gottes. Er wird von großen Knoten gestrafft; zwei Personen, die
gegen den Hintergrund des Freskos angehoben worden wären. Bekanntlich offenbar zur Architektur des Portikus gehören, strecken ihre Arme aus, um
Iegten die karolingischen und romanischen Künstler ihre Gemälde in einer dieZipfel einzufangen. Die Stoffbahnen hängen nicht reglos-starr herab;
anderen Perspektive als der des Betrachters aus und zeigten ihm, was er sie werden vom Hauch eines Windes gebauscht, der nicht von dieser 'Welt
nicht sehen konnte, wie wenn er es sehen so/ire, Der Effekt der horizontalen ist und sich stark genug regt, um den Vorhang um eine Säule im Sanktuar
Disposition der sieben nebeneinanderstehenden Schalen wird durch die zu schlingen, in dem die Heilige Radegundis betet. (57)
sieben großen Parallelfalten akzentuiert, die das herniederhängende Tisch- Vom 14. Jahrhundert an werden die unbelebten Gegenstände auf andere
tuch wirft. Diese Gegenstände - Schalen und Fische - verweisen auf jenen \ü'eise dargestelh. Nicht etwa, daß sie aufgehört hätten, als Zeichen zu fun-
anderen Tisch, den des Abendmahles. Sie haben weder Gewicht noch gieren: Leintuch und Buch sind damals nicht weniger symbolisch als in ro-
Dichre, und ohne daß die Schönheit ihrer gleichmäßigen Abfolge darunter manischer Zeit; aber die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem
litte, zieht keiner dieser Gegenstände die Aufmerksamkeit besonders auf hat sich verändert: die Reinheit ist ebenso eine Eigenschaft der Lilie, wie
sich und lenkt sie auch nicht von der Gesamtkomposition ab. die Lilie ein Symbol der Reinheit ist. Die Gegenstände haben die abstrakte
Im allgemeinen werden die Gegenstände häuf ig in einer Ordnung darge- Velt der Symbole erobert. Jedes Ding hat ein neues Gewicht bekommen
boten, die nicht auf ihre eigene Gesetzmäßigkeit bezogen, sondern von me- und sich Autonomie erwirkt. Die Gegenstände werden ktinftig um ihrer
taphysischen Hierarchien oder anderen symbolischen oder mystischen selbst willen dargestellt, nicht aus Gründen eines wie auch immer beschaf-
Leitvorstellungen beeinfiußt ist. Fassen wir etwa die in der karolingischen fenen Realismus, sondern aus Liebe und kontemplativer Versenkung. Der
und romanischen Miniaturmalerei sehr häufigen Vorhänge ins Auge, häuf ig Realismus, die Trompe-l'cil-Technik und der Illusionismus sind mögli-
deshalb, weil sie eine Rolle in der Liturgie spielten. Sie gehörten, wenigstens cherweise Auswirkungen dieser direkten Beziehung, die sich zwischen Ge-
in karolingischer Zetr, zur Ausstattung des Allerheiligsten. Sie verbargen genstand und Betrachter hergestellt hat.
die geweihten Gegenstände vor profanen Augen, und man öffnete oder Alles vollzieht sich so, als ob der Maler künftig in jedes mit Personen und
schloß sie wie die Portale der Ikonostase in den Kirchen des oströmischen Figuren bevölkerte Gemälde eine oder mehrere Stilleben einarbeitete.
Ritus. Auf einer Miniatur des 11. Jahrhunderts sieht man die Vorhänge ge- Zwei charakteristische Merkmale des Stillebens treten seit dem Ende des
öffnet, um der Heiligen Radegundis Gelegenheit zu geben, sich dem Altar 14. Jahrhunderts in Erscheinung und setzen sich dann im 15. und 16. end-
zu nähern. Der Vorhang ist eine unlösbare Verbindung mit dem geweihten gültig durch: die dem Objekt eigene Dichte und die Ordnung, in der die
Raum eingegangen, der verhüllt oder enthüllt sein muß. Er ist aus einem Gegenstände - zumeist innerhalb eines geschlossenen Raumes - gruppiert
duftigen und reichgefältelten Stoff gewoben, der sich beim leichtesten werden. Ein gutes Beispiel dafür liefert eine der Verkündigungen des Mei-
Lufthauch regt. Die Virtuosität der Miniaturmaler braucht keinen Ver- \ters von Fldmalle aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die Dinge

172 t73

§ I
haben da eine F'estigkeit erreicht, die sie in der von Arabesken umspielten nen Tisch, der einem Hocker ähnelt; darauf ein Napf, ein Löffel, eine um-
luftigen Velt des Frühmittelalters (58) nicht hatten. Betrachten wir das flochtene Flasche (wie man sie lange auf volksrümlichen Fayencen antrif{t)
lange Fransentuch: Velcher Unterschied zwischen diesem reglosen Stoff , und eine Tasse, das alles aus Terrakotta. (59)
'§(i
der mit seinem ganzen Gewicht herniederhängt, und den leichten, vom ir- elches Museum des Alltagslebens ließe sich nichr mit Hilfe solcher Ge-
realen \üind der romanischen Maler gebauschten Gewebe. Zeichen der mälde zusammentragen, denen alle Anlässe willkommen sind, die Dinge in
Reinheit, ist es zunächst ein schönes, handgewobenes Linnen, das teuer ge- liebender Versenkung abzubilden! Kostbare Gegenstände: Im 15. Jdhr-
wesen sein muß; vielleicht aber ist ein ordentlich gehaltenes Linnen auch hundert goldgetriebene Schalen, mit Goldmünzen gefüllt, die die Heiligen
mit einer bestimmten Vorstellung von {raulicher Ehrbarkeit, von Zuhause Drei Könige einem Jesuskind ohne alles Hab und Gut darbringen, oder mit
und Familie verknüpft. Dasselbe möchte man von den anderen Gegenstän- denen der Teufel, jetzt aber vergebens, Chrisrus in der '§üüste versucht (wo-
den sagen: von dem Kupferkessel, von der Blumenvase, von der polygona- bei die letzte Szene seltener wird, so als ob die zeitgenössische Ikonographie
len Tischiläche; ein leichter Schatten modelliert sie und stellt sie in einen die Entfaltung der Eschatologie und die üppige Pracht Maria Magdalenas
dichten Raum, in dem sie - schlimm genug für die Ausdrucks-uRomantik" vorzöge, bei Gleichgültigkeit oder ohne Rücksicht auf den versuchten
- wie lebende Wesen atmen. Christus); stattliche Stücke, die die Tafel großer Herren schmücken und
Im Mittelteil des Bildes sind die Gegenstände als Untereinheiten organi- unter denen man eines der berühmten Kleinodien der Sammlung des Her-
siert, die man als von der Gesamtkomposition abgespaltene Teilstücke zu zogs von Berry wiedererkennt (die 7r?s Ri cbes Heures);schmuckstücke auf
betrachten versucht hat. Deshalb kann diese Verkündigung sich in drei flämischen Frauen- oder sogar Männerporträts, Halsketten von Hans
Stilleben aufgliedern: die erste wird von einer Nische gebildet, in der ein Memling oder Petrus Christus, die aufgrund ihrer Präzision eines Pan-
Kessel mit Tülle und Henkel aufgehängt ist, der als §fasserbehälter für theons der Goldschmiedekunst würdig wären; Orientteppiche, Spiegel,
'§flaschungen Lüster; einfachere, aber manchmal verzierte Gegenstände, Tafelgerät, das
dient, und schließlich vom Handtuch und dem geschnitzten
und drehbaren Handtuchständer. Die zweite besteht aus dem Tisch, auf das Abendmahl von Dierick Bouts schmückr, Breinäpfe der Jungfrauen für
dem ein Stundenbuch und sein Stoffüberzug liegen, ferner ein kupferner das Kind, Becken und Bottiche, in denen das Neugeborene der Geburten
Leuchter, dessen Kerze man gerade geschneuzt hat - denn sie raucht noch Christi gebadet wird; in den Nischen der Propheten oder in der Klause des
- und eine orientalische Fayencevase, auf der die übliche emblematische Li- Heiligen Hieronymus aufgeschichtete Bücher; Papierkonvolute und Rech-
lie im Licht badet. Die dritte schließlich um{aßt die große Holzbank, den nungsbücher (Gossaert, Philadelphia), rusrikale und Gebrauchsgegen-
Rauchfang, das Fenster und seine hölzernen Fensterläden. Hier ist das Still- stände, Fliegenwedel und einfache Tongefäße. Die bescheidensten Objekte
leben im Begriff, sich vom Thema abzulösen und zu verselbständigen wie sind von der gleichen Aufmerksamkeit veredelt, mit der künftig die prunk-
die mit Büchern gefüllten Nischen der Verkündigung von Aix. vollsten bedacht werden. Sie haben die Anonymität ihrer Zweckbestim-
Diese Elemente des Stillebens, die im 15. Jahrhundert so selbstverständ- mung hinter sich gelassen, um zu liebenswerten und schönen Gebilden zu
lich sind, werden in der französischen Miniatur und in der Malerei seit dem werden, aus welchem Material und wie einfach sie auch sein mögen.
Ende des 14. Jahrhunderts zwar noch verhalten, aber doch vorsätzlich und Diese Kunst - !is "gotische" und flämische ebenso wie die italienische _
bewußt in Szene gesetzt. In einem aus dem Jahre 1336 stammenden minia- feierte in den einfachen Dingen das Zeichen einer häuslichen Behaglichkeit,
turengeschmückten Protokoll des Urkundenfälschungsprozesses gegen deren sich die evangelische Armut ohne Ungebührlichkeit nicht einf ach ent-
Robert d'Artois bereitet die lange Holzbank, die im Vordergrund der ledigen konnte. Wie die Mönche in ihrerZelle, so harte auch die Heilige Fa-
Zeichnung den für den Gerichtshof bestimmten Raum abgrenzt, die Bänke milie bei aller Armlichkeit das Recht auf einige wenige Gegenstände. Diese
der flämischen Verkündigungen vor. In einer Geburt Christi der Petites Gegenstände mehren sich im Umkreis der Personen und füllen die Räume
Heures von Jean de Berry ist der ausgestreckt daliegenden Jungfrau Maria der Säle, in denen der Künstler sich mit ihnen eingeschlossen hat, wie um sie
ein Topf mit §(i'asser beigegeben worden, und Joseph hat auf einem aus besser zu gruppieren: die Intarsien-Nischen der fürstlichen studioli, die für
Strohmatten gebildeten Sitz Platz genommen. Auf einer anderen Geburt die Personen und Gegenstände, die sie enthalten, zu klein sind, die Stallungen
Christi aus derselben Zeit sieht man im Vordergrund einen niedrigen klei- der Geburten Christi.

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In der zweitcn Hälfte des 16. Jahrhunderts hat man den Eindruck, daß Um Gegenstand des Begehrens des Todgeweihten zu werden, mußten
die Gegenstände die personenbezogenen Szenen geradezu überwuchern; die materiellen Reichtümer zugleich selten und gesucht sein, damit sie mit
sie mußten sich also davon loslösen und entwickelten sich damals zu The- einem Gebrauchs- und Tauschwert ausBestattet werden konnten.
men einer ganz eigenen Malerei. So entsteht das Stilleben im eigentlichen Im weiteren Verlauf der kapitalistischen Entwicklung hat die Neigung
Sinne. zur Spekulation sich erhalten; der Hang zur Kontemplation aber verflüch-
Das erste Stilleben, das "unabhängig und ohne jeden symbolischen reli- tigt sich, und es gibt keine sinnliche Beziehung mehr zvzischen dem Men-
giösen Charaklsl i51" (60), das "zeitlich erste [...] in der abendländischen schen und seinen Reichtümern. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet das
Malerei seit der Antike, das der modernen Auffassung dieses malerischen Auto. Trotz seiner enormen Bedeutung für Phantasie und Tagtraum bietet
Genres entsprichtu, wäre demnach die Tür eines Arzneischrankes. Sie stellt, es, einmal erworben, der Kontemplation keinen Bez.ugspunkt mehr. Ge-
in Trompe-l'ceil-Technik, einen anderen Schrank dar, und darunter treten genscand des aktuellen Gefühls ist nicht mehr dieser-Wagen-da, sondern
Bücher und Flaschen in Erscheinung; auf einer weißen Porzellan-Büchse das neueste Modell, das ihn in der Vorstellung bereits ersetzt hat. Oder man
hat Panofsky die folgende deutsche Inschrift entziffert: Für Zanue (Zahn- liebt diesen lWagen sogar weniger als die Marke, die Serie, zu der er gehört
schmerzen). und deren Leistungsklasse er verkörpert. IJnsere Industriezivilisation bil-
Von nun an - und für mehr als zwei Jahrhunderte - gehören nicht nur ligtden Dingen keine Seele mehr zu, die ,an unserer Seele hängt", keine
geworden, zu Ob-
die Dinge selbst, sondern auch ihre pikturale Verdopplung zum vertrauten "Liebesfülle". Die Dinge sind zu Produktionsmitteln
Zrerrat des Alltagslebens. Die Liebe, mit der man an ihnen hängt, hat einer jekten des Konsums oder Verzehrs. Sie lassen sich nicht mehr zum "Schatz"
Kunst zur Entstehung verholfen, die sich bei ihnen Themen und Inspiration zusammentragen.
entlehnte. Die Liebe Harpagons [der Hauptfigur in Moliöres L'Attare (Der Gei-
Vir haben heute Mühe, uns die Intensität des früheren Verhältnisses zige); d. Übers.] zu seiner Schatulle wäre heutzutage ein Zeichen von Un-
zwischen Menschen und Dingen verständlich zu machen. Sie bleibt etwa terentwicklung, von ökonomischer Verspätung. Die materiellen Güter las-
noch beim Sammler erkennbar, der den Objekten seiner Sammlung eine sen sich nicht mehr durch gewichtige lateinische Wörter wre substantia
wirkliche Passion entgegenbringt und nicht müde wird, sie zu betrachten. oder fac u ltas bezeichnen.
Diese Passion ist überdies nie interesselos; selbst wenn die Gegenstände für Läßt sich von einer Zivilisation, die den Besitz von Gütern und sie selbst
sich genommen wertlos sein können, so verleiht ihnen die Tatsache, daß derart entleert hat, sagen, daß sie materialistisch sei? Es war - im Gegenteil
er sie in einer seltenen Häufung zusammengetragen hat, doch einen beson- - das Hochmittelalter bis zur beginnenden Neuzeit, das materialistisch
deren Wert. Ein Sammler ist also zwangsläufig ein Spekulant. Nun sind warl Der Niedergang der religiösen Glaubensinhalte, der idealistischen und
aber Kontemplation und Spekulation, die die Psychologie des Sammlers normativen Moralvorstellungen des Alltagslebens führt nicht zur Entdek-
charakterisieren, auch spezifische Wesenszüge des Frühkapitalisten, wie er kung einer'§üelt von größerer Stofflichkeit. Die Gelehrten und Philosophen
in der zweiten Hälfte des Mittelalters und in der Renaissance in Erschei- können ihren Anspruch auf die Erkenntnis der Materie ruhig für sich rekla-
nung tritt. Später, im Bannkreis des eigentlichen Hochkapitalismus, ver- mieren; der Durchschnittsmensch glaubt in seinem Alltag an die Materie
dienten es die Dinge durchaus nicht mehr, betrachtet, gesammelt oder gar nicht mehr als an Gott. Der Mensch des Mittelalters glaubte an die Materie
begehrt zu werden. Deshalb ist das frühe Mittelalter in dieser Hinsicht eher und an Gott zugleich, wie er ans Leben und an den Tod zugleich glaubte,
indifferent gewesen. §flenn Handel und Wandel im Abendland auch immer an den Genuß der Dinge und an die Entsagung. Es ist die Schuld der Histo-
heimisch $r'aren, wenn man auch nie davon abgelassen hat, Messen und riker, den Versuch einer Entgegensetzung dieser Begriffe unternommen zu
Märkte abzuhalten, so trat der Reichtum doch nie als bloßer Besitz an Din- haben, die sie auf verschiedene Epochen bezogen, während sie tatsächlich
gen in Erscheinung; er war verquickt mit der Macht über Menschen - wie doch zeitgleich auftraten und überdies ebenso komplementär wie gegen-
die Armut mit der Einsamkeit. Deshalb denkt der Todgeweihte der chanson sätzlich waren.
de geste nicht wie der der ars moriendi an seinen Schatz, sondern an seinen
Herrn, seine Gefährten, seine Krieger.
't77
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Scheitern und Tod Versager. Er sieht sich aber nie als Toten. Er stellt seine Bitterkeit nie dem
Tode gleich, bringt sie nie damit in Verbindung - wie der Mensch des
Huizinga hattc dic tse z.iehung zwischen leidenschaftlichem Lebensverlan- Hochmittelalters.
gen und den Bildcrn .les 'fodes völlig richtig erfaßt: "lst es ein wirklich Ist dieses Gefühl des Scheiterns ein durchgehender menschiicher We-
frommer Gedanke, der sich so in den Abscheu vor der irdischen Seite des senszuBl Möglicherweise dann, wenn es in Gestalt einer sich auf das ganze
Todes verstrickt ? Oder ist es die Reaktion einer allzu hef tigen Sinnlichkeit, Leben erstreckenden metaphysischen Unzulänglichkeit auftritr, nicht aber
die nur auf diese V'eise aus ihrem Rausch von Lebensdrang aufwachen in der der punktuellen und unvermittelten lVahrnehmung eines brutalen
kann?" Es gibt jedoch ein anderes Motiv, das Huizinga ebenfalls erschlos- Schocks.
sen hat: die "Stimnrung von Enttäuschung und Entmutigung", und hier Diesen Schock haben die langsamen und kalten Zeitläufte des gezähmten
kommen wir den Drngen möglicherweise auf den Grund. Todes nicht gekannt. Jedermann war einem Schicksal vorherbestimmt, das
Zum besseren Verständnis der Bedeutung, die das Spätmittelalter diesem zu ändern er weder wünschte noch imstande war. Das sollte für lange Zeit
Begriff von Enttäuschung und Scheitern beigelegt hat, müssen wir ein we- so bleiben, \'or allem da, wo Reichtum selten war. Das Leben eines jeden
nig Abstand nehmen und die Zeugnisse der Vergangenheit und die Pro- Armen unterlag immer von außen verhängtem Zwang, der nicht beeinfluß-
bleme der Historiker für einen Augenblick beiseitelassen, um uns selbst zu bar war.
befragen, uns selbst als Menschen des 20. Jahrhunderts. Umgekehrt sieht man seit dem 12. Jahrhundert bei den Reichen, den Ge-
Alle heutigen Menschen haben zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Le- bildeten und den Mächtigen die Vorstellung auftauchen, daß jedermann
bens das mehr oder weniger starke, mehr oder weniger deutlich eingestan- eine persönliche Biographie hat. Diese Biographie bestand zunächst einfach
dene oder verdrängte Gefühl des Scheiterns kennengelernt; familiäres nur aus - Buten oder bösen - Taten, die vor einem §(eltgericht zu verant-
Scheitern, berufliches Scheitern. Das gesellschaftliche Aufstiegsbedürfnis worten waren: aus dem Sein. Später trugen dann auch Dinge dazu bei, lei-
zwingt jedermann dazu, nicht auf halbem \Vege stehenzubleiben, sich neue denschaltlich geliebte Tiere und Menschen, ebenso das gesellschaftliche
und schwierigereZiele zu stecken und weiterzuverfolgen. Das Scheitern ist Ansehen: das Haben. Gegen Ende des Mittelalters geht das Bewußtsein des
um so häufiger und wird um so drastischer empfunden, je ungestümer der eigenen Selbst und der eigenen Biographie eine Verbindung mit der Liebe
Erfolg ersehnt wurde, der aber doch nie genügt, der immer weiter hinaus- zum Leben ein. Der Tod ist nicht mehr einfach nur Abschluß des Seins,
geschoben wird. Und dann kommt eines Tages der Zeitpunkt, da der sondern auch Trennung von Hab und Gut: ,Den W'einberg mußt du lassen,
Mensch dem RhYthmus seiner imnrer weiter ausgrei{enden ehrgeizigen Haus und Garten!"
Strebungen nicht mehr gewachsen ist; er bleibt hinter seinem Begehren zu- Der Genuß der weltlichen Dinge ist - selbst bei voller Gesundheit, selbst
rück, weiter und r.eiter zurück, und wird schließlich gewahr, daß das Ziel, in frischer Jugendblüte - durch die Aussicht auf den Tod getrübt. Damals
das er sich gesteckt hat, für ihn unerreichbar wird. Dann stellt sich das Ge- hat der Tod aufgehört, lWaage, Kontoauflösung, Gericht oder gar noch
frihl ein, das Leber-r versäumt zu haben. Schlaf zu sein, um Aas und Fäulnis zu werden; nicht mehr Lebensende und
Es ist das eine Prüfung, die bislang den Männern vorbehalten bleibt; die letzter Hauch ist er, sondern physischer Tod, Leiden und Verfall.
Frauen kennen sie vielleicht einfach deshalb weniger, weil das Fehlen von Die Prediger der Bettelorden waren tief in der urwüchsigen Sensibilität
Ehrgeiz und der niedrigere soziale Status sie vorerst noch schützen. ihrer Zeitgenossen befangen, selbstwenn sie sie zu religiösen Zwecken aus-
Der Zeitpunkt dieser Prüfung ist im allgemeinen etwa das vierzigste Le- beuteten. Eben deshalb hat sich ihr religiöses Bild des Todes zur gleichen
bensjahr, und sie zeigt die wachsende Tendenz, sich den Schwierigkeiten Zeit auch gewandelt. Er war nicht mehr Frucht der Erbsünde, Tod Christi
anzugleichen, die der Heranwachsende beim Eintritt in die Erwachsenen- am Kreuz, geistlich-theologische Entsprechung zur iaizistischen Fügung
welt zu meistern hat - Schwie rigkeiten, die zum Alkoholismus, zur Drogen- ins unentrinnbare Geschick. Er wird zum blutigen, am Kreuze hängenden
abhängigkeit uird zunr Selbstmord führen können. Jedenfalls liegt der Leichnam, zur Pietä- neue und aufwühlende Bilder, theologische Entspre-
Zeitpunkt dieser Prüfung imrner uor den großen Unzulänglichkeitskrisen chung des physischen Todes, der schmerzlichen Trennung, der universalen
des Alters und des Todes. Der Mensch von heute sieht sich eines Tages als Verwesung der makabren Vorstellungswelt.

178 179
So hat sich - sowohl im Bereich der religiösen Darstellungen als auch in
dem der natürwüchsigen Verhaltensweisen - der Übergang von einem 7ol
ak Bewu$tsein und Verdicbtung des Lebens zu einem Tod als Bewutltsein
und verzweifelter Liebe zu diesem Leben vollzogen. Die wirkliche Bedeu-
tung des makabren Todes wird deutlich, q/enn man ihn mit der letzten
Phase der Beziehung zwischen Tod und Individualität zusammensieht, ei-
ner langsamen Entwicklung, die im 12. Jahrhundert einsetzt und im 1 5. auf
einen später nie wieder erreichten Höhepunkt zusteuert. 4. Garantien fürs Jenseits

Die archaischen Rituale: Absolution,


Trauerüberschwang und Geleit des Leichnams

Im ersten, dem gezäl.rmten Tod vorbehaltenen Kapitel sind wir vom Tode
Rolands und seinerIi/affengefährten ausgegangen. Vor dem Aufbruch zum
Kreuzzug, den sie ohne Hoffnung auf Heimkehr antreten, haben sie die
Absolution erhalten, die ihnen in Form eines Segens erteilt wurde:

Ben sunt asols e, quites de lur pecbez


E l'arcet,eque de Dieu les ad seignez. (l)
ii
Asols und seignez - zu ihren Lebzeiten werden sie das nur noch einmal
sein, nach ihrem Tode jedoch noch mehrfach. Als Karl der Große und sein
Heer in Roncevaux anlangen, "wo die Schlacht stattgefunden hat., "steigen
die Franken vom Pferd", und es vzird die Bettung ins Grab oder charnier
(c'arner) vorgenommen. ihre Freunde, die sie dort tot fanden, trugen
il "All
sie alsbald zu einer gemeinsamen Grabstätte."
Diese Grablegung (enterrez) vollzieht sich "mit großen Ehren", und das
i
entscheidende Merkmal dieser Ehrerbietung ist eine zweite, feierlichere
'I Absolution und ein von lWeihrauchopfern begleiteter Segen:

Sis surtt asols er seignez de part Dieu.

Die'§üorte asols und seignez sind genau die gleichen vrie die, die Erzbi-
schof Turpin von Reims benutzt, §venn er seinen todgeweihten Vaffenge-
fährten durch seinen Segen die Absolution erteilt. Für den Dichter handelt

llensuntasols... Siehabendie,4üsolutionerhaltenundsindihrerSündenledig.DerErzbi-
,rhof segrete sie im Namen Gottes.
Sts silnt... [Die ihnen] im Namen Gottes die AbsoLution erteilren und sie segneten.

181

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es sich um die gleiche Zeremonie, die sowohl für den Lebenden wie {ür den Hause zu, die den Friedenskuß des Sterbenden erhielt und während der
Toten Gültigkeit hat. Ein späterer Brauch behält den sakramentalen Titel Agonie, um ein tragbares Kreuz versammelt, {ür ihn betete.
der Absolwion dem Segen des Lebenden, den der Gelehrtenkultur ent- Die Grablegung der Heiligen tritt sehr viel früher in Erscheinung als der
stammenden Ausdruck absoute dagegen dem des Toten vor - um den Un- Tod der Jungfrau, so et§/a in Saint-Hilaire zu Poitiers. Für diese Reihe ste-
terschied deutlich herauszuheben. Im Vorbeigehen sei festgehalten, daß das hen ungezählte Beispiele ein. Ihre Geschlossenheit erhält sich so lange, wie
]i//ort absoute kein Bestandteil der Umgangssprache war; es wird in den das Grab ein Sarkophag ist, der auf den Boden gestellt oder zur Hälfte ein-
Testamenten des 15. bis 18. Jahrhunderts nie benutzt. Ich bin der Meinung, gegraben wird. Der in ein Laken, das Leichentuch, gehüllte Leichnam wird,
daß es erst im 19. Jahrhundert Eingang in den Grundwortschatz {indet: "Es stets mit unverhülltem Antlitz, auf den noch geöffneten Sarkophag gebet-
gibt im Heere IRolands]zahlreiche Bischöfe und Abte, Mönche, Kanoniker tet; wieder taucht derselbe Klerus auf (der Zelebrant, die Träger des Buches,
und Priester mit Tonsur lproaeirs coronez;) sie erteilen ihnen im Namen des lWeihwasserbeckens und -sprengels, des Weihrauchfasses, gelegentlich
Gottes die Absolution und den Segen, entzünden Myrrhen und \Weih- auch der Kreuz- und die Kerzenträger); nach Beendigung der Zeremonie
rauch und opfern ihnen andächtig; dann bestatten sie sie mit großen Eh- wird der Leichnam in den Sarkophag gesenkt, der dann endgültig geschlos-
ren.<< sen wird.
Zwei Elemente der absoute werden also genau beschrieben: der Segen, Die Besprengung mit Veihwasser gilt nicht nur dem Leichnam, sondern
die Geste der Absolution im Namen Gottes, und das '§(eihrauchopfer - mit auch dem Grabe. In den westgotischen Liturgien gibt es besondere, eigens
denselben Stoffen, die auch zur späteren Einbalsamierung der Leichname für diesen Zweck bestimmte Gebete, die Beschwörungsformein sind, Ex-
dienten. (2) orzismen zum Schutz des Grabes vor Angriffen der Dämonen. (3)
Es fehlt in diesem Bericht der Vortrag oder liturgische Gesang bestimm- Deshalb hat, wenn unsere Hypothese richtig ist, die Absolution als Ver-
ter Texte, die damals noch nicht wesentlicher Bestandteil der Liturgie wa- gebung der Sünden der Zeremonie am Grabe als Vorbild gedient. Weih-
ren. wasser und Veihrauch sind mit der Aura des Todes verbunden geblieben.
Diese sehr alte Szene taucht, ohne große Veränderungen, in zwei späte- Bis heute werden die Besucher von aufgebahrten Toten dazu angehalten,
ren ikonographischen Reihen wieder au{: dem Tod der Jungfrau und der ihnen durch Besprengen mit §üeihwasser die letzte Ehre zu erweisen. tüenn
Grablegung der Heiligen. Die erste bezieht sich auf die Zeremonie für den das Christentum auch den aus der Antike stammenden Brauch der Grab-
Lebenden, die zweite auf die für den Toten. Der Tod der Jungfrau wird beigaben zur Versöhnung der Verschiedenen außer Kraft gesetzt hat, so
seit dem Ende des Mittelalters dargestellt. Die Jungfrau ruht, sterbensmatt, iinden sich in mittelalterlichen Grabstellen doch zuweilen - und zwar bis
hält sie eine Kerze - ein späterer Brauch, zum 1 3. Jahrhundert - Schutzamulette und §(/ eihrauchgefäße aus Keramik,
"au{ dem Totenbetto. In der Hand
für den es in den alten Texten keinen Anhaltspunkt gibt. Um das Bett der rnit \Weihrauchkugeln gefüllt, wie es der Liturgist Durandus von Mende
Sterbenden drängt sich die übliche Menge von Anteilnehmenden, darunter vorschreibt: "Man bettet die Leichname ins Einzel- oder ins Gemein-
die Apostel, die hier die Rolle des Klerus übernehmen; einer von ihnen (der schaftsgrab, wo man ihnen, in manchen Gegenden, §(eihwasser und Veih-
manchmal sogar eine Brille tragen kann) singt oder liest die Texte eines Bu- rauchkugeln mitgibt.. (4)
ches vor, das gelegendich von einem Meßdiener gehalten wird. Ein anderer Diese sehr einfache Zeremonie (die Absolution und die Gebete, die sie
trägt Veihwasserbecken und -sprengel, ein dritter schließlich das Veih- begleiteten, ihr folgten oder vorausgingen) war damals die einzige, in die
rauchfaß. Man hat die Psalmen gelesen, die Fürbitten, man hat der Sterben- der Klerus mit einer religiösen Handlung eingriff, die das Ziel hatte, die
den die Absolution erteilt, man hat sie mit Weihwasser besprengt. Die Be- Sünden des Verstorbenen abzuwaschen; sie wurde mehrfach wiederholt, so
sprengung mit Veihwasser wird mit dem Kreuzzeichen verbunden. Hat als ob die rViederholung die Hoffnung auf größere Virksamkeit steigerte.
man dem Leib noch zu Lebzeiten lWeihrauch geopfert, oder ist das \Weih- Diese Beobachtung scheint den liturgischen Dokumenten des 5. bis 7. Jahr-
rauchfaß zur Stelle, um die Zeremonie nach dem letzten Seu{zer der Ster- hunderts zu widersprechen, die eine besondere Messe vorsehen. Schenkt
benden zu beginnen? \Weit vor dieser späten Ikonographie ließ bereits die rnan aber der ritterlichen Heldendichtung Glauben, so scheint sie eine sel-
westgotische Liturgie den Schluß auf eine große Menschenansammlung im tene Ausnahme Bewesen zu sein; jedenfalls wurde sie nicht in Gegenwart

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des I-eichnanrs urrtl'ruch nicht beim Überführungsgeleitvom Ortdes Todes betäubt zu Boden stürzte und länger in seiner Ohnmacht verharrte, als man
zu dem dcr Greblcgung zelebriert. braucht, um eine halbe Meile zu Fuß 7-urückzulegen." Und während er
Ein anderes bctie utsames Element war das der Trauerbekundung. "den blutigen Leichnam umhalste und küßte", "so
erfahrt denn, daß nie-
Der Sterbendc warf, wie wir bereits gesehen haben, einen schmerzlichen mand sich über seine Trauer verwunderte.. Als Gauvain seinen toten Bru-
Rückblick auf das Leben, kurz zwar, wie es Brauch und Herkommen vor- der erkannte, ,zitterten ihm die Knie, das Herz stockte ihm, er sank wie
schrieben. Aber er wahrte bis zum Ende seine Gefaßtheit und Schlichtheit. tot zu Boden [...]. Lange verharrte er so, schließlich erhob er sich, eilte zu
\Wenn der Tod aber auch gezähmt war, so äußerte sich die Trauer der Gaheris, umarmte ihn, und der Kuß, den er ihm gab, floßte ihm so großen
Hinterbliebenen doch wild oder erweckte jedenfalls den Anschein. Kaum Schmerz ein, daß er, ohnmächtig, auf den Toten niedersank."
ist der Tod mit Sicherheit festgestellt, spielen sich auch schon die herzzer- Es war Brauch, daß man diese großen Trauerbekundungen für kurze Zeit
reißendsten Verzweiflungsszenen ab. Als "Roland sieht, daß sein Gefährte unterbrach, um sein Bedauern über das Hinscheiden des Verstorbenen zum
[Olivier] tot ist und er mit zur Erde gewendetem Gesicht daliegt., schwin- Ausdruck zu bringen; dann aber konnten die \Weheklagen unverzüglich
den ihm die Sinne, "er drückt ihn an seine Brust, hält ihn engumschlungen". wiedereinsetzen. So etwa im Falle Gauvains, der, nachdem er die Toten-
Er kann sich gar nicht von ihm lösen. Als Karl der Große in Roncevaux klage angestimmt hatte, "zu ihnen eilte ['..] und, sie umarmend, mehrfach
das Schlachtfeld zu Gesicht bekommt, "kann er sich der Tränen nicht er- in Ohnmacht fiel, dergestalt, daß die Tafelritter schließlich fürchteten, ihn
vrehren. [...] Auf dem grünen Gras sieht er seinen toten Neffen ruhen. 'Wer vor ihren Augen verscheiden zu sehen.. Man starb vor Traurigkeit.
mag sich wundern, wenn er vor Schmerz bebt? Er steigt vom Pierd, er be- Es war Aufgabe der Umgebung, den leidenschaftlichen Regungen des
gibt sich eilends zu ihm.o Er umarmt den Leichnam, hält ihn mit beiden Hauptleidtragenden Einhalt zu gebieten. ,Herr Kaisero, spricht Gottfried
Armen, "er sinkt ohnmächtig über ihm zusammen, so sehr schnürt ihm die von Anjou zu Karl dem Großen, "überlaßt Euch diesem Schmerz nicht
Angst das Herz ab." Einige Augenblicke später wird er ein zweites Mal ganz und gar.« »Herr«, sagen die Ritter zum König Artus, "wir sind der
ohnmächtig. Aus der Besinnungslosigkeit erwachend, überläßt er sich lei- Meinung, daß man ihn von hier wegbringen und in irgendeiner Kammer
denschaftlichen Gebärden des Schmerzes. Vor dem gesamten Heer, vor den zur Ruhe betten soll, fern von allen Leuten, bis seine Brüder bestattet sind,
hunderttausend Franken, "unter denen nicht einer ist, der nicht laut weint", denn er wird sicher vor Schmerz sterben, wenn er ihnen nahe bieibt." Sicher

"der nicht betäubt zur Erde sinkt", rauft sich der Herrscher mit beiden kam es selten vor, daß man sich zu diesen Absonderungsmaßnahmen ge-
Händen seinen weißen Bart und zerwühlt sich das Haar. '§(elche hysteri- zwungen sah. Die Totenklage über dem Leichnam und eine uns heute hy-
sche Szene, wenn alle diese verwegenen Kämpen schluchzen, sich auf der sterisch anmutende Gebärdensprache genügten im allgemeinen, die Trauer
Erde wälzen, ohnmächtig hinsinken, sich Haar und Bart raufen und ihre zu vertreiben und die Trennung erträglich zu gestalten'
.Wie
Kleidung zerreißen! (5) lange dauerte dis5s "große. Trauer? Einige Stunden, zuweilen die
Als König Artus die Leichname seiner Tafelritter findet, gebärdet er sich ganze Zeitspanne der Totenwache, sogar der Beisetzung. Bei den Großen
wie Karl der Große in Roncevaux, "er sinkt vom Pferd, ganz betäubt". "Er höchstens einen Monat; als Gauvain König Artus den Tod Iweins und sei-
schlägt die Hände zusammen [das ist die rituelle Geste der Leidtragenden] ner Gef ährten mitteilt, ,begann der König bitterlich zu weinen, und er hatte
und ruft aus, daß er nun genug gelebt habe, da er die besten seiner Sippe einen Monat lang einen derart tiefen Kummer, daß er bald wahnsinnig ge-
erschlagen daliegen sieht fNicht länger mag ich leben, rief Karl der Große worden wäre",
aus]." "Er nahm dem Toten seinen Helm ab, und nachdem er ihn lange be- Die gebärdenreichen Trauerbekundungen wurden von der Lobrede auf
trachtet hatte, küßte er ihm die Augen und den erkalteten Mund Izweifellos den Verstorbenen unterbrochen, dem zweiten Akt der Trauerszene' Es war
küßte man sich damals schon auf den Mund]." Dann ging er zu einem ande- Aufgabe des Hauptleidtragenden, das Lebewohl anzustimmen' "Kaiser
ren Leichnam, der "kalt und starr dalag", "nahm ihn in seine Arme und Karl ist aus seiner Ohnmacht erwacht [...]. Er richtet seinen Blick zur Erde,
preßte ihn so heftig an sich, daß er ihn getötet hätte, wenn noch Leben in sieht seinen tot daliegenden Neffen. So schmerzlich ist es ihm' ihn zu be-
ihm gewesen wäre Ies sind Fälle bekannt, bei denen eine allzu heftige Um- trauern.« Das ist die lWeheklage, die auch Klageruf ffrz. plainte)heißt - der
armung einen der Beteiligten wie tot hinsinken läßt]". "So daß er erneut pLanctus:,Karl beklagt ihn um des Glaubens und der Liebe willen." Der

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Beginn der Lobrede ist nrühsam - sie wird immer wieder von Ohnmachts- triarchen von Alexandria belegen diese Absicht; "Die, denen Trruer be-
anfällen unterbrocher.r '-, schließlich faßt der Leichenredner sich ein Herz schieden ist, sollen sich in der Kirche, im Kloster, zu Hause aufhalten, still,
und findet Gelegenhcit zu elvr'a fünfzig Versen: "Freund Roland, Gott ruhig und würdig, wie es denen ansteht, die an die \üahrheit der Auferste-
möge dir Dank wissen [. . ], wer wird nun meine Heerscharen f ühren ?" Das
. hung glauben." Noch im Sizilien Friedrichs II. (9) waren diese Praktiken,
Klagelied schließt, wie es begonnen hat, rnit einem Gebet: "Deine Seele unter dem Namen rePutationes,öffentlich geächtet, die später von Ducange
möge den Veg ins Paradies finden.. (6) kurz und trocken folgendermaßen definiert werden: cantus et soni qui
'Weiter: Als König Artus Zeuge propter deft'tnctos celebrantur (Gesänge und Lieder, die für die Verstorbe-
des letzten Seufzers des Herrn Gauvain
wird, sinkt er mehrere Male über den Leichnam hin, rauft sich den Bart, nen angestimmt werden). Im Spanien des 14. Jahrhunderts scheinen sie ge-
zerkratzt sich das Gesicht und beginnt dann die große Totenklage: "Oh du billigt worden zu sein, wenn man einer Grabplatte Glauben schenken darf ,
armseliger und unglücklicher König, oh Artus, du magst wohl sagen, daß auf der Gruppen von Klageweibern in starrer Trance dargestellt sind.
du jetzt aller leiblichen Freunde ebenso beraubt bist, wie der Baum seiner Zu An|ang und für langeZeit verdammte die Kirche also die planctus-
Blätter beraubt ist, wenn der Frost darüber hingezogen ist.. Die Totenklage Rituale in dem Maße, wie sie dem \Wunsch der Hinterbliebenen entspra-
richtet sich in der Tat an den Hinterbliebenen, den der Verstorbene ratlos chen, den Toten zu beschwichtigen. In der mittelalterlichen Ritter-
und wehrlos seinem Schicksal überlassen hat. (7) dichtung sieht man deutlich, daß ihre Bedeutung sich verändert hat. Ziel
Vie ersichtlich, ähneln sich die Trauerszenen, die Gebärden und Klage- der Trauerbekundung ist es jetzt - und andeutungsweise wohl auch schon
rufe. Sie folgen einander wie herkömmliche und vom Brauchtum festge- im heidnischen Altertum -, das Leid der Hinterbliebenen zu lindern. Vie
legte Verpflichtungen - zweifellos -, bieten sich aber nicht als Rituale dar. hätte man, eines derart geliebten, derart unersetzlichen Wesens beraubt,
Sie geben vor, ganz persönliche Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Der einfach weiterleben können wie bisher? Das viele Fragen aber verdeckte nur
Nachdruck liegt auf der Spontaneität des Verhaltens. Das macht einen die Tatsache, daß man sich bereits daran gewöhnt hatte!
deutlichen Unterschied zum Rückgrif{ auf die käuflichen Klageweiber der Nach der ersten Absolution im Augenblick des Todes und nach den gro-
Antike aus (ein Brauch, der sich übrigens inr Mittelalter und darüber hinaus ßen Klageszenen wurde der Leichnam weggeschafft und zur eigentlichen
in den N{itrelmeerkulturen erhalten hat). Die Freunde, Herren und Vasal- Grabstelle überführt.
len, übernehmen seibst die Rolle der Klagenden. Er wurde zunächst in ein kostbares Gewebe gehüllt, wenn es sich bei dem
'Wenn Verstorbenen um einen großen Herrn oder einen verehrungswürdigen
auch die Trauerbekundung und das letzte Lebewohl nicht direkt
religiöser Bestandteil des Leichenbegängnisses sind, so läßt die Kirche sie Geistlichen gehandelt hatte. So läßt König Artus "Herrn Gauvain in sei-
doch gelten. Das war anfangs durchaus nicht so: Die Kirchenväter wider- dene, mit Gold und Edelsteinen durchwirkte Gewebe kleiden.. Einmal
setzten sich den traditionellen Totenklagen; der Heilige Johannes Chryso- verhüllt, wurde der Leichnam auf eine Bahre oder in einen Schrein gebettet,
stomos (8) z-eigte sich ungehalten angesichts der Christen, ,die Frauen, tier zu diesem Zweck eilends hergcrichtet worden war, und an einen der
e ndgültigen Grabstelle nahegelegenen Ort überführt.
heidnische frrauen, als Klageweiber mieteten, um die Trauer nachdrückli- ',Zwei'Wochen vor
cher zu bekunden und das Feuer tles Schmerzes zu schüren, ohne des Heili- dem Monat Mai iühlte Lancelot sein Ende nahen. Er bat seine Geiährten,
gen Paulus z-u gedenken.. ." Er geht sogar so weit, diejenigen, die sich pro- den Bischof und den Eremiten [mit denen er seit vier Jahren in der Einsam-
Iessioneller Klageweibcr bedienen, mit der Exkommunikation zr keit lebte, betend, fastend und wachend], seinen Leichnam in die Obhut
bedrohen. des Herrn zu überführen... Dann verschied er. Die beiden ehrbaren Män-
Man verurteilte an dieser Praxis weniger den kommerziellen Zug als viel- ner {ertigten also eine Bahre an, auf die sie den Toten betteten, und trugen
mehr den überschwang, der darin zum Ausdruck kam, weil man anderen ihn unter großen Mühen ins Schloß.n Ein kleines, ganz einfaches Totenge-
die Last eines Schmerzes aufbürdete, den man persönlich zwar nicht inten- leit von zwei Männern, die die Bahre tragen.
siv genug auf sich einwirken ließ, der jedoch um jeden Preis, und zwar Manchmal aber wurde der Leichnam mit größeren Ehrenbezeigungen
glanzvoll uncl heftig, nach außen dargetan werden mußte: Die Trauer hatte geleitet: König Artus ließ Herrn Gauvain "sehr rasch in einen Sarg betten;
grundsätzlich maßlos zu sein. Auch die kanonischen Richtlinien des Pa- dann trug er zehn seiner Ritter au{, den Leichnam nach Saint-Etienne zu

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Camaalot zu gcle itcn und ihn irrs (irab von (l,tlrt'rrs ztr lcgen. Untl so ging gen und Standesgenossen des Verschiedenen vorbel-ralten, die so Gelegen-
dertapfere Ritter von hinnen, geleitet vom Künig untl cincr Mengc Herren heit fanden, ihn zu beklagen, ihn zu lobpreisen und ihm ihre Ehrerbietung
und geringen Volkes, die alle weinten und schluchz.ten" (10) - ihre Toten- zu erweisen.
klage.
"So gingen sre drei M eilen @eit vor die Stadt; dann zogen der König und Die Totengebete
sein Gefolge sich mit dem Volk zurück, während die zehn Ritter ihren Veg
fortsetzten." Zehn Ritter, aber weder Priester noch Mönch: Das Gefolge §7enn der Anteil der Kirche an den Bestattungsriten beschränkt war - wel-
besteht ausschließlich aus Laien, den Gefährten des Verstorbenen. che Rolle spielten die Toten dann in der kirchlichenLiturgie vor der karo-
Manchmal wurde der Leichnam, §/enn er über weitere Strecken trans- lingischen Einigung? lVir rühren hier an einen entscheidenden und sehr
portiert werden mußte, einbalsamiert und in einem Lederbündel ver- schwer zu erhellenden Aspekt unserer Untersuchung: das Gebet für die
schnürt. Karl der Große "läßt alle drei Leichname [Roland, Olivier und Toten.
Turpin] vor seinen Augen eröff nen. " Er bettet die Herzen in ein poile Qto € le Die Schwierigkeit ergibt sich aus der Selbständigkeit und Unabhängig-
[Bahrtuch] ). Dann werden die sterblichen Reste der drei Edelleute mit aro- keit der Liturgie in Hinsicht auf das eschatologische Denken. Uberdies
matischen Essenzen und Vein gesäubert und gewaschen und in "Säcken aus dürfen die liturgischen Texte selbst nicht im buchstäblichen Sinne interpre-
Hirschleder" geborgen! tiert werden, denn die abgeschwächte und verharmloste Bedeutung, die die
Ebenso der Riese Morholt, der, von Tristan in ehrlichem Kampfe besiegt, Gläubigen der Zeit ihnen stillschweigend beilegten, tritt erst beim Vergleich
nach der Einbalsamierung "tot daliegt, in ein Bündel aus Hirschleder einge- mit anderen - etwa literarischen oder ikonographischen - Quellen zutage.
näht". Die makabre Last wird an seine Schwester, die blonde Isolde, abge- Hinzugefügt sei, daß sich die Historiker der Liturgie und der kirchenge-
sandt, die sie öffnet und aus dem Schädel das Stück des tödlichen Schwertes schichtlichen Überlieferung, gegen ihren Willen, von der späteren Ent-
herauszieht, das noch darin steckt. (1 1) wicklung von Vorstellungenidie in ihren Texten erst keimhaft auftauchten,
In Roncevaux läßt Karl der Große drei Ritter rufen und vertraut ihnen gefangennehmen lassen und dazu neigen, ihnen eine zu große Bedeutung
die drei Leichname in ihren Lederbündeln an. "Bringt sie auf drei Karren beizumessen: flüchtige perspektivische Irrtümer drohen gerade den Histo-
fortl", trägt er ihnen auf. Also reisen sie mit ihnen, wieder ohne Priester riker irrezuführen, der die religiösen Formeln nicht um ihrer selbst willen,
und Mönche, bis nach Blaye an der Gironde, wo Karl sie in "weiße Sarko- sondern als Zeichen kollektiver Mentalitäten auffaßtl
phage" betten läßt. In der heidnischen Tradition brachte man den Toten Opfergaben dar, um
Ebenso die schöne Aude: Als sie "ihr Ende gefunden hato, zu Tode be- sie zu besänftigen und sie daran zu hindern, die Lebenden heimzusuchen.
stürzt über den Hingang ihres Verlobten Roland, "bescheidet Karl, der ih- Dieser Eingriff der Lebenden hatte aber nicht zum Ziel, ihnen den Aufent-
ren Tod bemerkt hat, vier Gräfinnen zu ihr und läßt sie in ein Nonnenklo- halt in jener dämmrigen Unterwelt zu versüßen.
ster überführen. Die ganze Nacht über, bis zum Morgengrauen, wird die Die jüdische Tradition kannte nicht einmal diese kargen Praktiken. Der
Totenwache gehalten; zu Füßen eines Altars wird sie schließlich feierlich erste hebräische Text, den die christliche Kirche als Ursprung und Quelle
beigesetzt." (12) der Totengebete aufgefaßt hat, ist der Bericht über die Grablegung der
So beschränkte sich die im eigentlichen Sinne religiöse Seite der Zeremo- Makkabäer, der nicht weiter zurückreicht als ins erste vorchristliche Jahr-
nie in jenen fernen Zeiten auf die Absolution, die einmal dem noch Leben- hundert. Dic rnoderne Bibelkritik ui,terscheidet darin zwei Schichten - eine
den, einmal dem Verstorbenen erteilt wurde, und zwar im Augenblick des ältere, in der die Zeremonie dazu bestimmt war, die von den Toten be-
Todes und dann noch einmal über dem Grabe. Keine Messen - und wenn gangene Sünde der Abgötterei zu sühnen: an ihren Leichnamen waren
es überhaupt welche gab, blieben sie unbemerkt. heidnische Amulette gefunden worden. Die andere, die aber wohl spätere
Die anderen Elemente des Brauchtums - Trauerbekundung und Toten- Hinzufügung ist, läßt die Vorstellung der Wiederauferstehung durchschei-
geleit - waren ganz einfach weltlich, ohne jede kirchliche Beteiligung daran nen: Auferstehen werden nur die, die von ihren Sünden erlöst sind. Um
(es sei denn, daß der Verstorbene Kleriker war); sie blieben den Angehöri- dieser Vergebung willen flehen die Hinterbliebenen den Herrn an.

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Die Sorge ums ewige Leben des Verstorbenen und das Bedürfnis, die dern das ret'rigerium des römischen Kanons, das interim ret'rigerium. Dort
Heilsgewißheit durch religiöse Rituale zu stärken, waren umgekehrt gerade harrten die Gerechten ihrer Auferstehung am Ende der Zeiten, der consum-
in den Heilsreligionen heimisch, so in den dionysischen Mysterien, im Py- matio rerum,
thagoräismus und in den hellenistischen Mithras- und Isis-Kulten. Freilich wurde diese Auffassung von den gelehrten Autoren seit dem
Sicher ist, daß die christliche Urkirche die von heidnischen Vorstellungen Ende des 5. Jahrhunderts nicht mehr geteilt; sie glaubten vielmehr an einen
durchsetzten Bestattungsbräuche anfangs untersaBt hat, sowohl die großen direkten Eingang ins Paradies (oder Sturz in die Hölle). Vir wollen gleich-
\tr(eheklagen der Hauptleidtragenden, wie wir oben gesehen haben, als auch wohl die Vermutung äußern, daß die ursprüngliche Vorstellung eines Zwi-
die Grabspenden, wie sie noch die Heilige Monika als Op{er darbrachte, schenreiches der Erwartung der des Purgatoriums zur Entstehung verhol-
bevor sie Kenntnis vom Verbot des Heiligen Ambrosius hatte: das ret'rige- fen haben könnte, einer 'Wartezeit in einem Feuer, das nicht peinigendes
rium. Die Kirche ersetzte die rituellen Totenmähler durch die an Fried- Höllenfeuer, sondern Feuer der Läuterung ist. So hat sich im einfachen
hofsaltären zelebrierte Eucharistiefeier: solche Altäre sind etwa noch auf Volksglauben eine Verquickung der alten Vorstellu ng des ret'rigerium, der
dem christlichen Friedhof von Tebessa zu sehen; sie stehen inmitten der requies,des Schoßes Abrahams mit der neuen des Purgatoriums entwickelt.
Gräber, von denen wirangemerkt haben, daß sie ad sanctor angelegt waren. Denn die Mehrheit der Gläubigen ist - dem Verdammungsurteil der ge-
Handelte es sich da bereits um Fürsprache für die Toten? Diese Messen lehrten Autoren zumTrotz - der traditionellen Vorstellung des Harrens
qraren - im Sinne der integristischen Bischöfe - eher gottgefällige Handlun- treu geblieben, die, vor den Reformen Pauls VI., noch immer den ältesten
Ben aus Anlaß des Todes der Gerechten, der heiligen Märtyrer, der Chri- Fundus der Beisetzungsliturgie bildete. Die Seele (oder das Sein) des Ver-
sten, die in der Gemeinschaft der Kirche gestorben und zu Seiten der Mär- storbenen war, wenigstens in der Liturgie, noch nicht vom Teulel bedroht,
tyrer bestattet waren. Tatsächlich wurden diese Friedhofsmessen im für den Tag seines Todes und das darauffolgenden Jahresgedächtnis sah die
Volksglauben, der die heidnisch-antike Tradition bruchlos fortsetzte, so- Liturgie eine religiöse Zeremonie vor, die in Form einer Messe vollzogen
wohl mit dem Kult der Märtyrer als auch mit dem Gedenkkult für weniger wurde, eine Zeremonie, in der der sündige Mensch seine Ohnmacht be-
ehrwürdigeTote in Verbindung gebracht, dergestalt, daß [ange kein deutli- kannte, aber seinen Glauben bekräftigte, Gott dankte und den Eingang des
cher Unterschied zwischen dem Gebet zu Ehren der Heiligen und der Für- Verstorbenen in die Ruhe oder den Schlaf des glückseligen Harrens feierte.
bitte für das Seelenheil weniger erlauchter Toter gemacht wurde - eine
Mehrdeutigkeit, die wir dank der Mühe kennen, die der Heilige Augustinus
auf sich genommen hat, um sie zu beseitigen. Die alte Liturgie: Die Lesung der Namen
So gibt es weder im Alten noch im Neuen Testament irgendeinen Hin-
weis (abgesehen von jenem umstrittenen Makkabäer-Text), der als Beleg Diese durchaus volkstümlich zu nennende Auffassung der Kontinuität
für die Fürsprache der Lebenden für die Toten herangezogen werden zwischen Heidentum und Christentum, des undramatischen und bruchlo-
könnte. sen Übergangs und Zusammenhangs von Diesseits und Jenseits läßt sich
§(ie J. Ntekida geltend macht, hat diese christliche Praxis sich ihrem Ur- nicht nur in den Totengebeten, sondern auch in der Sonntagsliturgie erfas-
sprung nach aus der heidnischen Tradition entwickelt. Ihre erste Form ist sen.
eher die der commemoratio tls die der Fürbitte. Varum hätte es auch der Vor der Zeit Karls des Großen, d. h. vor der Einführung der römischen
Fürbitte bedurft, da die Hinterbliebenen doch keinen Grund hatten, sich Liturgie, gehörte zur Messe in Gallien, nach den Textlesungen, eine ausge-
um das Heil ihrerVerstorbenen zu sorgen? (13) Sie waren ja gerettet, wie dehnte Zeremonie, die heute nicht mehr gebräuchlich ist oder von der sich
wir im ersten Kapitel gesehen haben. Zwar gingen sie nicht sofort ins Para- nurmehr unverständliche Spuren erhalten haben. Sie hatte die Stelle inne,
dies ein; man räumte ein, daß lediglich den heiligen Märtyrern und Beken- die bis zu den Reformen Pauls VL das persönliche Gebet des Priesters, das
nern das Privileg gebührte, die beseligende Vision unverzüglich zu genie- sogenannte Offertorium, ausfüllte.
ßen, unmittelbar nach ihrem Tode. Tertullian lehrt, daß der Schoß Nach der Lesung des Evangeliums, auf die damals noch nicht das Credo
Abrahams weder Himmel noch Hölle ist (subliorem tamen int'eris), son- folgte, begann eine Reihe von Riten: die Rezitation der Gebetslitaneien, die

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der neue ordo Pauls VI. unter dem Namen Gebete der Gläubigen wieder- und alle Geistlichen und Laien lplebibus), clie der Kirche anvertraut sind,
hergestellt hat; dann, nach der Verabschiedung der Katechumenen oder - und für die allumfasser.rde Bruderschaft Itniaersa t'raternitas)." Die Be-
zu jener Zert - eher der Bußfertigen, der Gesang von Psalmen, sonus, und deutsam keit der Vorstellung einer uniaersa t'raternitas drängt sich geradezu
ein drei{aches Hallelujah, das die Prozession der Opfernden begleitete. Die auf ! "Das Opfer wird auch dargebracht von allen Priestern, Diakonen und
offerentes trugen, in feierlichem Zuge, nicht nur die Oblaten zu einem der Geistlichen, vom Volk der hier Anwesenden lcircumstantes ], zu Ehren der
Altäre, nicht nur lW'ein und Brot für die Eucharistiefeier, sondern alle Arten Heiligen Idie Tradition der Märtyrer- und Heiligenverehrung, Erinnerung
von Naturalien, die in der Kirche verblieben. Diese Zeremonie, die Na- an die triumphierende Kirche], für sie und die ihren." Folgt die Liste der
turaloblation, an der das einfache Volk sehr gehangen haben muß, kann in Laien, die Opfergaben gespendet haben: Sie sind die \Wohltäter der Kirche,
der römischen Liturgie keinen derart großen Anteil beansprucht haben. Sie undjedermann läßt es sich angelegen sein, seinen Namen in die immerwäh-
endete mit erner Praet'atio und einer Kollekte. rende Liste eintragen zu lassen, die dem Lebensbuch gleichgestellt wird, in
Daran schloß sich eine andereZeremonie, die einen direkteren Bezug zu dem Gott oder sein Erzengel die Namen der Erwählten verzeichnet. Nach
unserem Thema hat: die Lesung der Namen, auch Diptycha (Totenregister) dem Priester wiederholt der Chor: "Sie bringen das Opfer dar für sich und
genannt. (1a) Die Diptycha waren ursprünglich mit Schnitzwerk ge- die allumfassende Bruderschaft."
schmückte und gravierte Elfenbeintäfelchen, die von den Konsuln am Tage Diese erste Liste ist die de r uniaersa t'raternitas der Lebenden, vom Papst
ihres Amtsantrittes wie Familienanzeigen vorgewiesen wurden. Die Chri- in Rom, von den Bischöfen, den Königen und den großen Herren bis hin
sten schriebcn auf ähnliche Tafeln - oder sogar auf alte konsularische Di- zu den Opfernden und zum anonymen Volk.
ptvcha - die Liste der Namen, die nach derProzession der Opfernden vorge- Die zweite Liste, die ehrwürdigere der Heiligen, wird vom Bischof selbst
lesen wurden, "von der Höhe der Empore herab". Diese Liste enthielt verlesen und nicht vom Priester. Der Bischof sa'gr (dicat sacerdos): "Zur
"die
Namen der Opfernden, der ranghöchsten Amtspersonen, der höchsten Feier des Gedächtnisses der glückseligen Apostel und Heiligen.. ." (es kam
geistlichen \ü ürdenträger der Gemeinschaf t, die der heiligen Märtyrer oder vor, daß das ganz-e Alte Testament bis auf Adam zurückverfolgt wurde);
Bekenner, schließlich die der im Schoße der Kirche verstorbenen Gläubi- folgt die Aufzählung der Heiligen, wie bei den Commwnicantes des römi-
gen, um durch diese versammelten Personen das enge Band von Gemein- schen Kanons.
schaft und Liebe darzutun, das alle Glieder der triumphierenden, leidenden Und der Chor wiederholt: "Und aller Heiligen."
und kämp{enden Kirche eint." Die dritte, ebenfalls vom Bischof verlesene Liste ist die der Toten: Die
Ein jüngerer, fälschlich Alkuin zugeschriebener Traktat beschreibt c{ie Toten werden nicht nach den Lebcnden der ersten, sondern nach den Heili-
Diptycha [olgendermaßen: ,Es war ein alter Brauch, der sich noch heute gen der zweiten Liste zitiert: sie sind ihre Begleiter. Der Bischof sagt: »Das
in der römischen Kirche erhalten hat, alsbald die Namen der Verstorbenen gleiche gelte f ür die Seelen derer, die im ewigen Frieden rvhen lspiritibus
zu verlesen [nicht nur die der Verstorbenen!], die auf den Diptycha ver- pausantium), Hilarius, Athanasius..."
zeichnet standen, d. h. auf den Tafeln." Die Totenregister wurden auf dem Und der Chor wiederholt: "Und für alle, die im ewigen Frieden ruhen."
Altar verwahrt; die Listen waren manchmal in den Altar selbst eingraviert Diese drei Register der Lebenden, der Heiligen und der Toten werden
oder an den Rändern der Meßbücher niedergeschrieben. also nacheinander, in einem Zuge verlesen, unterbrochen nur durch drei
Man las die nomina m ir Iauter Stim me vor (distincte tocata). \iflir können kurze Einwürfe des Chores. Nach dieser Rezitation, die, wie die ihr vor-
uns eine Vorstellung von dieser langen Rezitation anhand eines Auszuges ausgehenden Gebete für die Kirche, den Charakter einer litaneiartigen
\Wiederholung hat, singt der Bischof ein feierliches Gebet, die oratio post
aus einer mozarabischen Liturgie (15) machen. Der Bischof ist von Prie-
stern, Diakonen und Klerikern umgeben, und das Volk, das seine Opferga- nomina, in der Gott angefleht wird, die Namen der Lebenden und Toten
ben dargebracht hat, drängt sich um den Altar oder im Chorraum. unter denen der Erwählten einzutragen (ascribe). "Von Stund an ver-
Nach den Gebeten für die Kirche sagt ein Priester (presbyter): "Das Op- schreibe, o Herr, uns deinem ewigen Beistand, damit wir nicht verloren
fer loblatio)wird Gott dargebracht clurch unseren Bischof lsacerdosf, den seien am Tage, da du kommen wirst die Velt zu richten. Amen.o
Papa Romensis, und die anderen... [folgt die klerikale Hierarchie], für sie Die Gerechten stehen auf einer'Warteliste verzeichnet und können damit

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sicher sein, am Tage des Jüngsten Gerichts nicht zu Schanden zu werden: Seite des Himmels." "Auf daß sie für würdig erachtet werden, in die himm-
Freilich mußte dieser Tag abgewartet werden. lischen Urkun denllitte ris c o e listib usf einzugehen. " ( 1 6) Man begegnet hier
Der Priester schließt mit den lWorten: "Da du das Leben der Lebenden der Schri{trolle wieder, die die Erwählten auf dem Sarkophag von Jouarre
bist, die Gesundheit der Kranken IBezug auf die Lebenden], die Ruhe aller tragen (eine Beziehung z:um volt4men [Bücherrolle], das die Toten der rö-
verstorbenen Gläubigen IBezug auf die Toten], von Ewigkeit zu Ewigkeit.. mischen Sarkophage in Händen hielten?). Es ist übrigens tatsächlich gerade
ln den orationes post nomina heben die gallikanische wie die mozarabi- diese Ikonographie von Jouarre, an die die gallikanische und die mozarabi-
sche Liturgie bis zum Uberdruß die Solidarität der Lebenden und der Toten sche Liturgie erinnern. Es handelt sich noch nicht um das Gebet der Leben-
hervor, die uniaersa fraternitas. Sie bitten in einem Atemzug um Gesund- den zur Rettung der Seele bestimmter Toter. Die Prozession des Volkes
heit des Leibes und der Seele für die Lebenden und um die ewige Ruhe für Gottes, der uniaersa t'raternitas, zieht zur Lesung der nomina in der Sonn-
die Toten: "Da du durch das Mysterium dieses Tages den Lebenden das tagsliturgie vorbei, wie zwischen Himmel und Erde in die iudicii auf den
Heil des Körpers und der Seele, den Verstorbenen aber die Glückseligkeit ältesten bildlichen Darstellungen. Die vor derZeir Karls des Großen ent-
der ewigen lViederkehr gewährst [Tribaens per hoc et aiais anime corporis- standenen Liturgien führen also zum Urbild unseres ersten Teiles zurück,
que salutem, et det'unctis eterne reparationts t'elicitaten ]..."."Damit Ver- zum ,\üir sterben alle": Bekräftigung eines kollektiven Geschicks, wie sie
gebung der Srinden erteilt werde dank der Fürsprache dieses Märtyrers, {ür durch die lange Abfolge der nomina symbolisiert wird (wie die genealogi-
die Lebenden wie für die Toten f{Jt preces bujus martyrii tam ohtentibus schen Kataloge der Bibel), und Unempfänglichkeit für die Vorstellung eines
quam defunctis donetur indulgentia criminum)..." besonderen Schicksals.
"Das Heil möge den Lebenden und die ewige Ruhe den Toten gewährr
sein." Das Heil wird den Lebenden in Aussicht gestellt, und zwar die Ge-
wißheit des ewigen Lebens, "die Ruhe den Toten, in der Erwartung des En- Die Angst vor ewiger Verdammnis.
des der Zeiren". Purgatorium und Reich des Harrens
In einigen Formeln werden die salus oder die vita für die ot't'erentes und
die requies für die Verstorbenen erbeten und damit der Glaube an ein Reich Es zeichnen sich bedeutsame Veränderungen ab, die die liturgischen Ver-
des Harrens unter Beweis gestel.lt. Andere Formeln verquicken dagegen re- sionen dieses Urbildes betrefien und in der Sprache der Kirche eine neue
quies und Paradies: ,Führe zur Ruhe der Erwählten die Seelen derer, die Auf{assung des Schicksals zum Ausdruck bringen.
schlafen und deren Namen eben ins Gedächtnis gerufen wurden.. Bereits die westgotischen Texte ließen mitunter die Vorstellung der Ge-
Es kommt schließlich, wenn auch noch selten, vor, daß das Jenseits in fährdung des ewigen Lebens durchscheinen, die, wenn auch nicht völlig
einem weniger mild-besänftigenden Licht erscheinr: "Auf daß wir nie den neu, so doch wenigstens im Begriff ist, sich weiter auszubreiten und Fuß
ewigen IViartern überantwortet werden..." "Auf daß sie nicht unter den zu {assen. Man spürt, daß das Grundvertrauen sich wandelt: das Volk Got-
sengenden Höllenflammen leiden." (16) Man beachte, daß diese ot't'erentes tes ist der göttlichen Barmherzigkeit weniger gewiß, und die Angst, der
zunächst an sich selbst und ihr eigenes Heil denken, wenn die Angst vor Macht Satans für immer ausgeliefert zu sein, wächst.
der Hölle sie befällt. Sicher schloß das alte Gefühl des Vertrauens die Angst vor dem Teufel
Im allgemeinen werden die Toten nicht als von den Lebenden strenB ge- nicht aus. Das Leben des Heiligen war ein einziger Kampf mit dem Versu-
s elbe n p h y I um inin t erro m p um, und. die
schiede n auf gef aß t ; sie gehören z.um cher, aber eben ein siegreicher. Von jetzt an - und möglicherweise unter
Anrufung der götrlichen Barmherzigkeit gilt dem vollständigen Verzeich- dem Einfluß des augustinischen Denkens - ist auch der Heilige selbst, die
nis derer, deren Namen verlesen worden sind. Dieses Namensregister ist Heilige Monika etwa, mehr und mehr in Gefahr, verdammt zu werden; in-
das Jahrbuch der einen und allumfassenden Kirche, irdischer Stellvertreter folgedessen fürchten auch die Lebenden zunehmend um ihr Heil. Bereils
des von Gott im Paradies gefiihrten Originals, Liber aitae, Pagina coeli bei Gregor dem Großen, zu Beginn des 7. Jahrhunderts also, erhebt der
oder Litterae coelestiae: "N{it der Eintragung der Namen fvocabula)der Teufel Anspruch auf die Seele des im Todeskampf liegenden Mönches
Opfernden ins Lebensbuch..." "Verzeichnet sind diese Namen auf der 'fheodor, und es gelingt ihrn, den Leichnam eines anderen Mönches aus der

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Kirche zu cntf iihrcrr. in de r dieser Mönch trotz seiner letztlichen Unbußfer- Zugleich mit der Verdammnis, die zur immer bedrohlicheren Gefahr
tigkeit bestattct worclen war. wurde, eröffnete sich in der Hoffnung,'die göttliche Barmherzigkeit auch
Deshalb umgibt den Tag des Jüngsten Gerichts in manchen westgoti- nach dem Tode noch erweichen zu können, ein vorbeugendes Mittel, dem
schen Texten eine sehr viel schrecklichere Aura (17): "Entreiße die Seelen man zunehmend Vertrauen schenkte. Eben das ist die wenn auch nicht völ-
der Ruhenden der ewigen Marterlu "Mögen sie aller Arten von Leid und lig neue, so doch früher außer acht gelassene Vorstellung einer Fürbitte der
Qualen der Hölle ledig sein!" "Befreit möge er werden aus den Zuchthäu- Lebenden für die Toten. Um sich aber einbilden zu können, es sei möglich,
sernlergastulis.] der Hölle!" "Es möge ihnen vergönnt sein, der Züchtigung die Situation der Toten durch Gebete zum Besseren zu wenden, bedurfte
'wahrscheinlichkeit der
des Jüngsten Gerichts und den Feuerbränden zu entkommen!" Hier tau- es der Alternarive von Ungewißheit des Heils und
chen also die schrecklichen Bilder au{, die die Liturgie des Leichenbegäng- Verdammnis als Ausgangspunkt. Und das ging nicht reibungslos und nicht
nisses bis in unsere Zeit bestimmen werden. Die römische Totenmesse ge- ohne tiefgreifenden Mentalitätswandel ab. Man hat lange zwischen der
hört, mit dem Requiem (Requiem aeterndm dona eß, Domine), noch zur Einsicht in die Unmöglichkeit einer Revision des göttlichen Gerichts und
ältesten Schicht von Vertrauen und Danksagung. Aus demselben Kern dem Bedürfnis, das Geschick der Verurteilten zu mildern, hin und her ge-
stammen auch die Vorgesänge wie das In Paradisum oder das Subaenite. schwankt. Manche Autoren malten sich die mitigatio, die Linderung der
Umgekehrt schöpfen die Absolutionsgebete, die - wie wir gesehen haben Schrecknisse und Marrern der Hölle aus. Sie sollten beispielsweise sonntags
- die einzige alte religiöse Zeremonie bilden, die in Gegenwart des Leich- ausgesetzt werden können, ohne daß iedoch ihre Ewigkeit ie in Frage ge-
nams und über dem Leichnam zelebriert wurde - drs Libera -, aus dieser stellt wurde. Die Theologen ließen bald von diesen Spekulationen ab, die
zweiten Schicht, die sich in den westgotischen Texten bereits unmerklich sich im Volksglauben aber dennoch lange erhielten.
andeutet: Man konnte die Fürbitte der Lebenden für die Toten nur gutheißen und
"Bringe keine Klage vor gegen deinen Diener [. ..], ". möge die Gnade ihr vertrauen, wenn die Verstorbenen nicht unverzüglich den Höllenqualen
finden, der Züchtigung des Gerichts zu entgehen [...]. Erlöse mich, o Herr, ausgesetzt wurden. Also räumt man ein - und Gregor der Große scheint
vom ewigen Tod [...]. Ich zittere und bebe vor der Rechnungslegungfdis- bei der Entwicklung dieses Gedankens maßgeblich beteiligt gewesen zu
cussio), wenn dein Zorn zu mir spricht. Ein Tag des Zornes wird jener Tag sein -, daß die non aalde mali, die nicht ganz Bösen, und die non valde boni,
sein." Das ist der Geist des ersten Abschnitts des Dies lrae , das das Jüngste die nicht vollkommen Guten, nach dem Tode einem Feuer überantwortet
Gericht beschwört, ohne daß Ho{fnung und Vertrauen bestünden - Hoff- würden, das nicht das der ewigen Marter, sonde rndas der purgatio war da-
nung und Vertrauen, die der Franziskanermönch des 1 3. Jahrhunderts dann her die Vorstellung und das \!'ort purgatorium. Man muß sich iedoch hü-
im zweiten Abschnitt zum Ausdruck gebracht hat: "Gedenke doch, lieber ten, dieser vorstellung zrtrzeitGregors des Großen und Isidors von sevilla
Herr Jesus, daß ich der Grund deines Kommens bin.o Es scheint so, als ob dieselbe genaue Bedeutung zu unterlegen wie zur Zeit der Theologen des
die römische absoute sich aus den westgotischen Gebeten nur die düster- 13. und 14. Jahrhunderts und Dantes. Noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts
sten, die verzweifeltsten Formeln herausgeklaubt hätte. werden in den Präambeln der Testamente nur das Himmelreich und die
Deshalb wird die absoute, als sie vom ursprünglichen Vorbild der Abso- Hölle auigeführt, und erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts wird im Fran-
lution abweicht, dem sie in der Chanson de Roland noch treu geblieben zösischen der Ausdruck purgdtoire, Fegefeuer, gebräuchlich. Bis zur
war, zum Exorzismus. Diese Entwickung scheint, vrenn man sich an die nach-tridentinischen Katechisierung - und mehreren Jahrhunderten theo-
Texte hält, fedoch beträchtlich früher stattgefunden zu haben als die Nie- logischen Denkens zum Trotz - blieb man also der alten Alternative von
derschrift der Chanson de Roland; aber die von den Klerikern beeinflußte Himmel und Hölle verha{tet. Und gleichwohl ließen die Christen seit lan-
Liturgie hatte vor dem Brauchtum der Laien einen deutlichen Vorsprung, gem und notgedrungen die Existenz eines interimisrischen Zwischenreiches
wie sie im Hinblick auf das Denken der Theologen im Verzug war. Es ver- der Prüfung gelten, weder Himmel noch Hölle, in dem ihre Gebete, ihre
breitete sich also die Vorstellung, daß die Verdammnis durchaus wahr- '§V'erke und verdienstlichen Handlungen sich zugunsten derer auswirken

scheinlich war. Eine Kleriker-ldee, eine Mönchs-Idee. Sie führte zu einer konnten, die dort dahindämmerten. In der Vorstellung dieses Raumes fan-
derart unerträglichen Situation, daß man ihr abzuhelfen gezwungen war. den sich alte heidnische Glaubensinhalte ebenso wie Visionen klösterlich-

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mittelalterlicher Sensibilität zusarnmen: Ort der ruhelos irrenden Scharten Die römische Messe - eine Totenmesse
(Vorhimmel) und Stätte der Geborgenheit, wo der sündige Mensch, dank
seiner Buße, dem ewigen Tod entrinnen konnte. Die Toten wurden nicht Es ist durchaus möglich, daß dieses immer häuf iger zutage tretende Bedürf -
ausnahmslos in jener wohlverwahrten und von Dante ersonnenen Einfrie- nis, Frirbitte für die Toten einzulegen, der Hauptgrund f ür die großen Ver-
dung versammelt noch den reinigenden und genau lokalisierten Flammen änderungen ist, die im 9. Jahrhundert in die Struktur der Messe eingreifen'
der Altartafeln des 1 8. und 1 9. Jahrhunderts ausgeliefert. Sie harrten damals In groben Zügen läßt sich folgendes sagen: Bis ztr Zeit Karls des Großen
häufig am Ort ihrer Missetat oder ihres Hinscheidens aus und erschienen war die westgotische, die gallikanische Messe Op{erhandlung der gesamten
den Lebenden, wenigstens in deren Träumen, um ihnen Messen und Gebete Menschheit seit Beginn der Schöpfung und der Fleischwerdung, ohne daß
abzuverlangen. zwischen Lebenden und Toten, kanonisierten Heiligen und anderen, ge-
Nicht weniger wahr ist, daß die Vorstellung eines Zwischenreiches zwi- ringeren Verstorbenen andere als formale und klassifikatorische Unter-
schen Himmel und Hölle sich in der Praxis der lateinischen Chrisrenheit schiede bestanden hätten. Nach Karl dem Großen wird die Messe, werden
durchgesetzt hat - ohne daß es ihr doch vor dem 17. Jahrhundert gelungen alle Messen zu Totenmessen für bestimmte Tote, wie sie auch zu Votivmes-
wäre, das alte Bild des Jenseits umzusrürzen. sen für bestimmte Lebende werden, wobei die einen feweils die anderen
Dieser lVandel muß von einem ursprünglichen Glauben an eine glückse- ausschließen. Und das gilt es ietzt näher ins Auge zu fassen.
ligeZeir des Harrens vor dem Eingang ins Paradies am Tage des Jüngsten Das entscheidende Ereignis ist der Ersatz der gallikanischen durch die
Gerichts begünstigt worden sein: refrigerium, requies, dormitio, sinus römische Liturgie, wie sie von Karl dem Großen eingeführt und vom Kle-
Abrabam. Ein alter Glaube, der von den Gelehrten zwar bald aufgegeben rus trotz mancher lokaler Viderstände gebilligt wird.
worden ist, der sich aber im allgemeinen Vorstellungsfundus mehr oder Die römische Liturgie, die in dieser Form bis zum ordo Pauls VI. besran-
weniger lange erhalten hat. In diesem Raum hat sich das künftige Purgato- den hat, war gänzlich verschieden von der, an deren Stelle sie trat. Sie hielt
rium der Theologen eingerichtet, auf ihn bezieht sich die Zei der Fürbitte an einem Vokabular fest, das das Überdauern der sehr alten Vorstellungen
um Vergebung. Diese Entwicklung hat sich beschleunigt vollzogen, weil des refrigerium , der requies bezeugt, und die düsteren und bänglichen Fär-
sich der Vorstellung der möglichen Erlösung die naheliegende, aber gänz- bungen der mozarabischen Formeln hatten darin keinen Platz (abgesehen
lich verschiedene Idee des Ablaß-Tarifs zugesellt hat. rom Libera, aber in welcher Epoche?). Die feierliche Opferprozession war
lü(enn das postmortale Geschick sich der Alternative des Alles oder
keineswegs eindeutig belegt, und die Lesung der nomina vollzog sich nicht
Nichts, der Dichotomie von Himmel und Hölle enrziehen konnte, so des- auf dieselbe \Weise. §(as an deren Stelle trat, war aus den Riten des Obla-
halb, weil jedes Menschenleben nicht mehr als anonymes Kettenglied des ten-Opfers entnommen und in den Mittelteil des Kanons aufgenommen
Schicksals, sondern als Summe von abgestuften E,lementen - von guren, worden, d. h. eines Gebetes, das eine geschlossene Einheit darstellte, von
weniger guten, schlechren, weniger schlechten - aufgefaßt wurde, die diffe- ,J,er Präfatio bis zum Pater noster. W'as wir heute den römischen Ka-
renzierter Bewertung zugänglich und rilgbar, weil taxierbar, waren. Es ist non nennen, besteht aus Konsekrations§ebeten, die die Einsetzung des
sicher kein Zuiall, daß die Fürbitten für Verstorbene zur gleichen Zeit in Abendmahles ins Gedächtnis ru{en, auslegen und erneuern, denen sich Ge-
Erscheinung traten wie die Bußrituale, in denen jede Sünde bewertet und bete zugesellen, die in der mozarabischen und gallikanischen Liturgie (und
die Strafe folgerichtig danach bemessen wird. Die Ablässe für verdienstliche vielleicht auch in der ältesten römischen) nach Beendigung der Op{erpro-
Handlungen, die Messen und Fürbitten wurden für die Toten des 9. Jahr- zession gesprochen wurden. Die oratio super oblatam, das stille Gebet der
hunderts, was die Bußübungen nach Tarif für die Lebenden waren: Es hatte römischen Messe, könnte das Überbleibsel eines ähnlichen Ritus sein, der
sich der übergang vom kollektiven zum je eigenen Schicksal vollzogen. verlorengegangen ist. Im weiteren Ablauf des Kanons haben die Gebete,
die die Lesung der nomina begleiten, sich in bezeichnender 'Weise verän-
dert. Sie sind nicht nur umgestellt, sondern auch zerstückelt worden, und
jedes dieser Teilstücke hat eine Behandlung erfahren, die es dem unbefan-
genen I-eseroderHörererschwert, die Einheit zu erraten, die sie in den an-

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deren Liturgien bildeten. Man hat das Verzeichnis der Heiligen, das der o/- persönlichen Charakter der Auswahl besser zur Geltung bringen als die al-
ferentes und das der Toten, die in Gallien und Spanien in einem Zuge ten nomina - eine endlose Namenliste.
verlesen wurden, auseinandergerissen. Die Liste der Heiligen ist ihrerseits Schließlich ist dieses besondere Gebet zu einem Privatgebet geworden'
noch einmal geteilt worden; der eine Teil wird vor der Konsekra:ion (Com- Die Namen de r illi undi//ae, Nutznießer des Gebetes des Priesters, werden
municantes), der andere danach verlesen (Nobis quoque peccatoribus) - nicht mehr in einer Art Litanei verlesen. Es kommt schließlich dahin, daß
Zeichen der wachsenden Bedeutung, die man der Fürsprache der Heiligen sie nicht einmal mehr mit leiser Stimme gesprochen werden wie der übrige
zubilligt. Kanon: bei jenem l//i angekommen, hält der Priester inne und legt eine
Die Liste der oft'erentes ist ebenfalls durch Teilung verdoppelt worden; während der er der Verstorbenen gedenkt, die ihm anempfohlen
Pause ein,
man macht jetzt einen deutlicheren Unterschied zwischen Klerikern und worden sind. Es handelt sich im Grenzfall also nicht nur um ein privates,
Laien. sondern um ein stilles Gebet in Gedanken.
Die Hauptveränderung betrifft jedoch die nomina der Toten. Sie sind
von denen der Lebenden getrennt worden. Sie scheinen nicht mehr in ein
und derselben Genealogie miteinander verknüpft zu sein. Der Tod hat die Die Verkündigungs gebete
Seelen der Verstorbenen in eine ganz besondere Sphäre entrückt, die diese
ihre Sonderstellung ins rechte Licht setzt. Wenn die römische Liturgie auch Hier haben wir uns von den gallikanischen Lesungen weit entfernt, die sich
der alten Vorstellung der reqwies treu geblieben ist, so bringt die Absonde- mit der Übernahme der römischen Liturgie iedoch nicht völlig verflüchti-
rung des Memento der Toten doch eine andere und neuartige Einstellung gen.
zum Ausdruck, die in den gallikanischen und mozarabischen Liturgien Die verdrängten Zeremonien haben sich außerhalb der Messe oder bei
nicht anzutreffen ist, es sei denn andeutungsweise. Die spontane Solidarität bestimmten anderen Gelegenheiten erhalten, so etwa das Opfer bei den To-
von Lebenden und Toten ist durch die Sorge um die bedrohten Seelen ersetzt tenmessen (bis heute im Südwesten Frankreichs) oder die Verteilung ge-
worden. Dasfrühere Vokabular hat sich erhalten;es wird iedoch in ande- weihten Brotes (die Opferprozession). Die nomina werden noch immer
rem Geiste und zu anderen Zwecken vervrendet: das Memento der Toten gelesen, nicht mehr am Altar, sondern von der Kanzel, und zwar im Rah-
ist zu einem Fürbittgebet geworden. men dessen, was man die Verkündigungen nannte. Nach der Predigt und
Es ist überdies zu einem besonderen Gebet geworden. In den Totenregi- den Verlautbarungen und Mitteilungen, die für das Gemeindeleben von
stern repräsentierten die zahllosen Namen die gesamte Gemeinde. Im an Belang waren, las der Priester auf französisch oder in einer anderen Landes-
ihre Stelle tretenden Memento - und das gilt für die Lebenden ebenso wie sprache - aber nicht auf lateinisch - die Namen der Vohltäter der Kirche
für die Toten - sind die Namen nicht die aller Gläubigen, deren Gedächtnis vor, der lebenden wie der toten. Zur Stunde, da ich dieses Kapitel schreibe,
die Kirche bewahrt, sondern lediglich die eines oder zweier Verstorbener, habe ich noch die Stimme des Priesters im Ohr, der von der Höhe der Kan-
die für diese Gelegenheit ausgewählt, dem Zelebranten besonders anemp- zel herab in der Hauptmesse rezitiert: ,Lasset uns beten, meine Brüder, für
fohlen und von ihm gebilligt worden sind. die Familien sourrdso..." Man sprach ein Pater noster. Dann setzte erneut
Ein Memento des 10. Jahrhunderts, aus dem berühmten Codex Pa- der Priester ein: "Und jetzt, da wir für die Lebenden gebetet haben, wollen
duanus, legt dem Priester das folgende sehr persönliche Gebet in den wir auch für die Toten beten.o Für den verstorbenen Soundso usw.; dann
Mund: ,[Im Namen] aller Christen, aller, die, aus Furcht vor Dir llnop- folgte ein De prot'undis. Die Listen waren lang; der Priester verlas sie des-
ter tuo timore], sich mir Sünder anvertraut und mir ihre Spenden.. . dar- halb in aller Eile, indem er die Hälfte der'Worte verschluckte. Im Ancien
gebracht haben, aller meiner Angehörigen und aller, die sich meinen R6gime machten es die Stifter dem Priester zur P{licht, ihre Namen im Rah-
Gebeten anverrraur haben, sowohl für die Lebenden als auch für die men der Verkündigungen zu rezitieren,und zwar an bestimmten Sonn- und
1o1"n." (18) Feiertagen.
-§/orte
In den Texten wird die Stelle der nomina durch die illi und illae Diese zuvreilen endlosen Rezitationen vermitteln eine Vorstellung da-
bezeichnet, die den Auswahlmodus der Aufzählung hervorheben und den von, wie diese - zweifellos psalmodierende - Lesung der Totenregister vor

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l
sich gegangen sein muß, und lassen den Unterschied zur besonderen Be- Die klösterliche Sensibilität :

stimmung des Memento hervortreten. Eine Messe fiir jemanden lesen las- Der Schatz der Kirche
sen, war eine Sache; seinen Namen bei den Verkündigungen lesen lassen
eine andere, sozial achtbarere. Es mag durchaus der Fall Bewesen sein, daß die Laien des Hochmittelalters
Die neue Bedeutung, die dem Memento der Toten durch die römische - in dem Maße, wie sie selbst betroffen waren - der Konzeption der Dipty-
Liturgie zugeschrieben wurde, machte alle Messen zu Totenmessen, was zu cha enger verbunden blieben als dem stillen, wo nicht sogar stummen Gebet
Zeiten der Diptycha nicht der Fall gewesen war. Deshalb war dieses ,Me- des Priesters beim Memento. Deshalb haben die Verkündigungen die Li-
mento in Rom auch anfangs durchaus nicht verbreitet: Man las es nicht bei quidierung der gallikanischen Liturgie überdauert, und zwar am Rande der
der Messe an Sonn- und Feiertagen. lateinischen Messe der Priester; ersr im 20. Jahrhundert ist ihre volkstümli-
Das Memento fehlte in jenem Meßbuch, das Papst Hadrian Karl dem che Verbreitung zurückgegangen.
Großen als Vorbild iür die römische Messe sandte. Ein anderes, florentini- Umgekehrt stammt der \Willensimpuls, der das Memento der Toten ab-
sches Meßbuch des 11. Jahrhunderts setzt hinsichtlich des Memento iest: gesondert hat, um es zum Fürbittgebet zu machen, aus einer spezi{isch kle-
,Man betet es nicht sonntags und nicht an Feiertagen." rikalen und mönchischen Sensibilität, und zwar zu einer Zeit, da sich diese
In diesem Falle wurden die Toten ganz einfach aus der geistlichen Ge- Kleriker vollständig von den Laien isoliert und eine streng abgesonderte ei-
nealogie ausgeklammert, wie sie in den Diptycha oder später in den Ver- gene Gesellschaft gebildet hatten.
kündigungen verlautbart wurde - eine Genealogie, die im Memento des Die Umwandlung der öffentlichen Opfergebete in private Fürbittgebete
Kanons nicht mehr erkennbar war. Sie wurden nicht aus Gleichgültigkeit muß mit der Bedeutung der persönlichen Messe im Klosterleben und im
ausgeklammert, sondern, umgekehrt, einfach deshalb, weil den ihnen zu- religiösen Kultus verglichen werden.
gedachten besonderen Gebeten eine neue, stärkere Bedeutung zugewach- Bekanntlich gab es in der alten Kirche nur eine einzige Messe, die Messe
sen war. Die zahlreichen Messen, die während des Hochmittelalters im des Bischofs und der Gemeinde. In den später entstandenen ländlichen
Laufe der'§(oche gelesen wurden (und die es in der älteren Kirche gar nicht Pfarrgemeinden sangen der Priester und seine Ministranten ohne den Bi-
gab), waren zu Totenmessen geworden. Das Festhalten am M emento hätte scho{ die missa solemnis des Bischofs; bis au{ einige geringfügige Abwei-
also dem festlichen Charakter der Sonntagszeremonie Abbruch tun kön- chungen hat sich daran denn auch nichts verändert' und dieser Zustand hat
nen. sich bis heute in den östlichen Kirchen erhalten. Im lateinischen Abendland
Man hörte im Frankreich des 9. Jahrhunderts auf, bei den Totenmessen bildete sich dann, unter Umständen, deren ganz im Dunklen liegende hi-
das Hallelujah zu singen. Begannen die Toten etwa schon Schauder einzu- storische Entwicklung den thematischen Bereich unserer Untersuchung
f
agen, Angst einzuflößen? Es steht jeden{alls außer Zweifel, daß sie von nun sprengt, die Gewohnheit heraus, wochentags und ohne assistierende Levi-
an abgesondert werden und keine bruchlose Einheit mehr mit dem Volke ten und Sänger (aber wenigstens mit der prinzipiellen Assistenz eines
Gottes bilden. Gleichwohl wird man für die Bedürfnisse ihrer bedrohten Geistlichen) eine stille Messe ohne Gesang zu lesen, die einerseits verein-
Seelen so hellhörig, daß man schließlich darauf verzichtet, sie von der facht, andererseits mit persönlichen, zuweilen improvisierten Gebeten
Sonntagsmesse, bei der die Fürbitten soviel mehr Gewicht haben, fernzu- überladen wurde. Diese Messen galten als von der missa solemnis durchaus
halten, und der Brauch, ihnen zu Ehren die Messe zu lesen, hat sich im 10. verschieden; man nannte sie missae pril)dtae, speciales, peculiares (Jtng'
Jahrhundert in einem Maße durchgesetzt, daß man sich keine religiöse mann).
Amtshandlung mehr vorstellen konnte, aus der sie ausgeschlossen Bewesen Man las nicht nur jeden Tag die Messe; sondern ieder Priester §/ar ver-
wären. sucht, mehrere Messen täglich zu zelebrieren, um seine zusätzlichen Ver-
dienste zu mehren und die soziale Geltung und die \W'irksamkeit seiner
Fürbitte wachsen zu sehen. Papst Leo III. (795-816) ging sogar so weit, an
ein und demselben Tage neun Messen zu zelebrieren. Alkuin beschränkte
sichauf drei(dieZahlder Heiligen Dreieinigkeit?). Im 12. Jahrhundert legt

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Honorius von Aurun überdies fest, daß die Lesung einer täglichen Messe Heiligen Makkabäer. In der Kathedrale von Rouen war noch im 17. Jahr'
die Regel ist, daß jedoch drei oder vier durchaus erlaubt sind. Dieser Zu- hundert eine Kapelle, deren Altar mit einem Gemälde von Rubens ge-
wachs an Messen ermöglichte es, den Schatz der Kirche zu mehren und schmückt war, den Heiligen Makkabäern geweiht. Schließlich gab man dem
seine wohltätige Virkung einem größeren Kreis von Seelen zukommen zu von Odilon von Cluny im Jahre 1048 festgesetzten 2. November den Vor-
lassen. Diese Phase, die sich vom 9. bis zum 11. Jahrhundert erstreckt, ist zug, der sich schließlich, wenn auch kaum vor dem 13. Jahrhundert, in der
eine Phase der rechenhaften Ausbeutung verdienstvoller Handlungen - wie gesamten lateinischen Christenheit durchsetzte - Zeichen des klösterlichen
die vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Zwischen beiden liegt eine Periode Ursprungs dieser frommen Andacht und zugleich Chiffre der langen Indif -
geistlicher Erneuerung und Läuterung: Vom 13. Jahrhundert an haben die ferenz der Massen angesichts dieser individualistischen Einstellung zu den
Konzilien die täglichen Messelesungen auf eine beschränkt, mit Ausnahme Toten.
des \Teihnachtstages. In dem Maße, wie die Messelesunge n anZahl zunahmen, mußte sich auch
Diese Messen waren Toten- oder Seelenmessen. Es ist sicher kein Zu{all, dieZa,hl der Altäre vermehren (19) - eine Tendenz, die sich vom 8. Jahr-
daß der Name Gregors des Großen einerseits mir dem leil des römischen hundert an überall beobachten läßt. Im Kircheninnern von Sankt Peter
Kanons verbunden bleibt, dem er seine endgültige Gestalt gegeben hat nahmen im 8. und in der ersten Häl{te des 9. Jahrhunderts "die Beträume
(oder dem er wenigstens den endgültigen und noch heute feststehenden anZahl zu; eine kleine Kapelle mit einer im Mauer- oder Pfeilerwerk der
Platz des Memento der Toten zugewiesen hat), andererseits mit den beson- Basilika ausgehobenen Apsis, ein durch einen Vorraum und eine pergula
deren Frömmigkeitskundgebungen zur Fürbitte für die Toten (ein grögo- abgegrenzter Altar., trug die Kapelle den Namen des Heiligen, der darin
rien : 30 bzw. 3l Messen, der sogenannte Meßtricenar). Derselbe Papst verehrt wurde. Der Papst, der sie hatte erbauen lassen, "um sich einen ange-
Gregor macht in den Geschichten von besessenen oder verdammten Mön- messenen Platz im Himmel zu sichern.,ließ sich zu Füßen des Altars be-
chen, die er verbreitet, auch beispielhaft deutlich, welchen Schrecken und statten (Jean Charles-Picard [20]). Benoit d'Aniane stattete in ähnlicher
welche Macht der Teufel über eine Ordensgemeinschaft wie die ausübte, lVeise die Kirche Saint-Saveur, die er im
Jahre 782 erbauen ließ, mit vier
deren Abt er war, und wie vieler anthumer und posthumer Gebete jeder Altären aus. I)ie im Jahre 798 vollendete Abteikirche von Centula verfügte
Mönch bedurfte, um sich dem Tode gewachsen zu fühlen. über deren eli. Der im Jahre 820 entworfene Rekonstruktionsplan der Ab-
Da die Mönche hinfort auch sehr häufig die Priesterweihe erhielten, folg- reikirche von Sankt Gallen sah deren siebzehn vor.
ten seit dem 9. Jahrhundert in vielen Bethäusern oder Klosterkirchen die Diese Altäre, die die verehrten Reliquien bargen, waren rn der Außen-
Messen mit trlemento der Toten, d. h. die Seelenmessen, unmittelbar auf- mauer der Kirche, sehr häufig auch an einem ihrer Pfeiler, aufgestellt, und
einander, ohne jede Pause. In Cluny sogar Tag und Nacht. Zu Beginn des zwar obne den Grundrifi des Bauwerhs zu beeinträchtigen" lVir können
11. Jahrhunderts erzählt Raoul Glaber, daß ein Mönch aus Cluny bei der uns diese Disposition, die die Architekturentwicklung seit dem 14. Jahr-
Heimreise von einer Kreuzfahrt ins Heilige Land wunderbarerweise von hundert überall sonst aufgegeben hat (Seitenkapellen), in den Kirchen des
einem siziiianischen Eremiten wiedererkannr wurde: der verrraure ihm an, deutschen Rheinlandes vor Augen führen, wo sie sich bis ins 17. Jahrhun-
daß er, in einer göttlichen Offenbarung, Kenntnis davon erhalten habe, wie dert erhalten hat. So sieht man in Trier Altäre mit Retabel, die einfach an
wohlgefällig Gott die permanenten Seelenmessen von Cluny und wie heil- einen Stützpfeiler gelehnt sind.
bringend sie für die dadurch erlösten Seelen seien. Cluny ist auch der Ur- In Cluny, in Sankt Gallen und in allen anderen Klöstern wurden diese
sprungsort eines besonderen, der Erlösung der Toten gewidnreten Feierta- Altäre zu gleicher Zeit oder nacheinander von den Zelebranten benutzt, die
ges. E,s hat den Anschein, daß lokale Initiativen einen besonderen ihre Messe summten (denn sie konnten sie nur mit Mühe, wie es die Bräuche
Jahrestag
für alle Toten bestimmten, d. h. für die Verstorbenen, die nicht - wie Kleri- von Cluny vorschrieben, in secretun lesen, d. h. mit halblauter Stimme);
ker und Mönche - des Beistandes ihrer Brüder sicher sein konnten, die Ver- die zweite Messe begann, bevor noch die erste beendet war, und so fort
Bessenen, die Mehrzahl der Laien. Diese Totengedenktage f anden zu regio- (Schachtelämter).
nal verschiedenen Zeiten stam: am 26. lanuar, am 17. I)ezember (der In eben diesen klösterlichen Ordens- und Kanonikergemeinschaften hat
Heilige Ignatius), am Pfingstmontag und sehr häufig auch am Tage der sich also seit dem 8. bzw. 9. Jahrhundert das der Menge der Laien noch un-

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bekannte Gefühl von Unsicherheit und Angst angesichts des Todes - oder ebendiesem Zweck zusammengeschlossen hatten, untereinander ein Do-
besser: des Jenseits- entwickelt. Um dieser Angst vor ewiger Verdammnis kument zirkulieren, das Totenregister hieß und in dem jede Ordensge-
zu entrinnen, trat man ins Kloster ein, zelebrierte man dort - obwohl das meinschaft die Namen ihrer eigenen Verstorbenen verzeichnete' gefolgt
durchaus nicht die ursprüngliche Funktion von Mönchen und Eremiten von einer biographischen Notiz, die sie den immerwährenden Gebeten der
war - die Messe, so viele Messen wie nur möglich, deren eine die andere anderen Gemeinschaften anempfahl' Es mußte folglich über alle Gebete
nach sich zog und deren jede zum Heil der Seelen beitrug. Der Heilige Bo- Buch geführt werden, nicht nur über die, die den Bruderschaften versPro-
nifatius schrieb an den Abt Optatus von Mileve: "Damit die Einheit brü- chen, sondern auch über die, die den wohltätigen Laien zugesagt waren, die
derlicher Liebe sich regelmäßig zwischen uns einstellt, soll ein gemeinsames ihrerseits Anspruch aui dieselbe Gunst erhoben. Man mußte also immer
Gebet für die Lebenden gesprochen, sollen Gebete und missarum solemnia wissen, für vren die Tagesmesse gelesen wurde, und eben das war die Rolle
für die Verstorbenen dieses Jahrhunderts gelesen werden, s/enn wir uns ge- der Seelenmessenre gister.
genseitig die Namen unserer Verstorbenen mitteilen.. (21 ) Es gab also Ver- Zwischen dem 8. und dem 10. Jahrhundert tritt also ein originärer To-
bindungen zwischen den Ordensgemeinschaften, die dem Austausch der tenkult in Erscheinung, der auf die Abteien, die Kathedralen, die Stiftskir-
Namen ihrer Verstorbenen dienten, um einen gemeinsamefl Fundus von chen und die Gebetsverbrüderungen beschränkt war' die sich zwischen ih-
Messen und Gebeten zu stiften, aus dem jede zu ihrer Zeit schöpfen konnte nen gebildet hatten - eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft, mit einer
und der Quelle ihres geistlichen Heils war. Eine Situation, wie sie Guil- ganz eigenen Sensibilität.
laume Le Bras sehr treffend beschrieben hat: Im 8. Jahrhundert löschte die
"Theologie des transzendentalen Tausches alle administrativen Iund biolo-
gischen] Grenzen aus. Romanen wie Kelten beschrieben die Königreiche Die neuen Rituale des Hochmittelalters:
des Jenseits und wogen das Gewicht der Sünden ab [wie wir gesehen haben, Die Rolle des Klerus
war diese Epoche auch die der Abfassung der Bußrituale], Romanen wie
Kelten billigten die Kooperation zur Erlösung der Verstorbenen durch Um das 11. Jahrhundert zeichnen sich also, nach einer langen, frühmittelal-
wechselseitige Gebete und private Messen. Das Dogma der Gemeinschaft terlichen Phase, zwei deutlich voneinander geschiedene Einstellungen zum
der Heiligen konkretisierte sich in der besonderen Bestimmung des Meß- Leben nach dem Tode ab. Die eine, traditionalistisch, der großen Menge
opfers, der stellvertretenden Buße, in dieser ganzen Ausbeutung der zu- der Laien eigen, bleibt dem Bild eines kontinuieriichen pbylum von Leben-
sätzlichen Verdienste, die zum Ablaßwesen und zur Theorie des Schatzes clen und Toten treu, die, im Himmel wie auf Erden geeint, in den Verkündi-
der Kirche führen sollte [...]. Das ganze Abendland füllte sich mit diesen gungen jedes Sonntagsgottesdienstes beschworen werden. Die andere' in
klösterlichen Kolonien von Bittstellern.o Und nach Jungmann: "Auf der einer geschlossenen Gesellschaft von Priestern und Mönchen beheimatet,
Synode von Attigny (762) verpflichteten sich die anwesenden Bischöfe und legt dagegen Zeugnis von einer neuen, eher individualistischen Psychologie
Abte, für jeden, der aus ihrem Kreise sterben würde, u. a. zu hundert Mes- ab.
sen. Eine im Jahre 800 eingegangene Verbrüderung zwischen St. Gallen Vom 13. Jahrliundert an verläuft alles so, als ob die bis dahin entwickel-
und Reichenau bestimmte u. a.: für jeden verstorbenen Mönch sollte nach ten, und zwar in den Klöstern entwickelten W'esenszüge sich die offene
Eingang der Todesnachricht jeder Priester am betreffenden Tage drei Mes- Velt der Laien eroberten. Der Tod wird von ietzt an und für lange Zeit
sen und am dreißigsten Tage eine weitere Messe lesen, am Anfang jeden ,klerikalisiert. - eine bedeutsame Veränderung, die bedeutsamste vor den
Monats sollte nach dem Totenamt des Konvents wieder jeder Priester eine Säkularisationsschüben des 20. Jahrhunderts.
'W'ie
Messe lesen;endlich sollte alljährlich am 14. November Ieinerdieserlokalen bereits angemerkt, waren die Todesrituale des frühen Mittelalters
Totengedenktage, von denen oben die Rede war] ein allgemeines Totenge- vom Trauerüberschwang der Hinterbliebenen und von den Ehrenbezei-
dächtnis gehalten werden, wieder mit je drei Messen eines jeden Priesters." gungen beherrscht, die sie den Verstorbenen erwiesen (Lobeserhebung und
(2r) Trauergeleit). Die Rituale waren weltlich, und die Kirche schaltete sich nur
Noch weit bis ins Hochmittelalter hinein ließen Abteien, die sich zu z-ur Vergebung der Sünden ein: anthume Absolution und posthume aä-

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sorre wurden anfangs nur ungenau unterschieden. Vom 1 3. Jahrhundert an auch {ür die Laien so bcstimmt. Nur der Schauder vor Strafe und Enteh-
greifen VeränderunBen urir sich, die es jetzt zu analysieren und zu deuten rung [damals bereits!] hat diese heilige Praxis zum Versiegen gebracht."
gilt. 'W'ir wissen, daß auch die Laien sich derart zur Schau stellen ließen, wo
Zunächst die Totenwache und die Trauerbekundung. Beobachter des 1 8. nicht auf Asche, so doch au{ Stroh. Dokumente aus dem Jahre 1742 spre'
Jahrhunderts haben ihr Erstaunen über Gepflogenheiten geäußert, d ie zwar chen von in extremis wiederbelebten Toten, deren einer zu neuem Leben
seit jeher üblich waren, im Bestattungsritual der Mönche aber zu feierli- erwachte, nachdem er bereits ,mehrere Stunden auf dem Stroh geruht
chem Brauchtum geworden sind: die laoatio corporis (wie sie der Reisende hatteo. ,Vor zwölf oder dreizehn Jahren wurde eine Frau aus dem niederen
Mol6on beschreibt [22] ). ,Inmitten einer sehr weitläufigen und langge- Volke [...] für tot erachtet und mit einer Kerze zu Füßen aufs Stroh gebet-
streckten Kapelle, die man betritt, wenn man vom Klosrer in den Kapitel- ret, wie es der Brauch ist.. (24)
.§flir
saal kommt, liegt der'Waschraum, eine sechs oder sieben Fuß lange, etwa haben andererseits gesehen, daß in der Chanson de Roland oder in
sieben bis acht Zoll tiefe Vanne mit einer Kopistütze aus Stein, einem eben- den Romans de la Table ronde dem gezähmten Tod die wilde Trauer ent-
solchen Trog und einem Loch am Ende der Fußseite, durch das das Wasser sprach. Im Hochmittelalter scheint es durchaus nicht mehr so legitim oder
ablaufen kann, wenn man den Toten gewaschen hat [.. .]. In den Kathedra- gar üblich, die Selbstkontrolle bei der Beweinung der Toten zu verlieren'
len von Rouen und Lyon kann man noch heute solche Tröge oder '§(asch- \Wo wie im Spanien des 14. und 15.
- Jahrhunderts - die traditionellen Au-
steine sehen, in denen man die Kanoniker nach ihrem Tode wusch.n ßerungen ungezähmter Trauer {ortbestanden, haben sich der äußere An-
Moldon merkt übrigens an, daß dieses Ritual auch bei Laien verbreitet schein von Spontaneität und ihr Dolorismus doch abgeschwächt. Der Cid
war, wenn auch nicht überall mit derselben brauchtumsgeprägten Verbind- des Romancero sieht in seinem Testament eine Abweichung von den her-
lichkeit: "Noch heute wäscht man die Toten nicht nur in den alten Kloster- kömmlichen Regeln bei BeisetzunBen vor:
orden, sondern durchgängig auch bei den Laien, so im Baskenland, in der
Diözese Bayonne und an verschiedenen anderen Orten, etwa in Avranches J'ordonne pour me pleurer,
in der südlichen Normandie. Vielleicht rührt gerade von diesem alten Qu'on ne loue point de pleureuses;
Brauch die abergläubische Zeremonie in manchen Landpfarreien her, aus Ceux de Cbimdne suft'isent,
einem Haus, in dem gerade ein Sterbender verschieden ist, alles '§ü'asser, das Sans autres pleurs acbetös. (25)
darin auf bewahrt wird, auszugießen; es mußte früher nämlich weggescha{ft
Der Romancero räumt irnmerhin ein, daß die Spontaneität nicht die Re-
werden, weil es zur'Waschung des Leichnams des Verstorbenen gedient
gel ist; üblich ist vielmehr der rituelle planctus mit beruflichen Klagewei-
hatte. Im ganzen Vivarais machen es sich die nächsten Angehörigen und die
bern. Man sucht nicht mehr den Schein des Natürlichen wie in der Chanson
verheirateten Kinder zur Pflicht, die nur mit einem Hemd bekleideten
de Roland oder im Artus-Zyklus - es ist übrigens sehr wohl möglich, daß
Leichname ihrer Eltern oder Verwandten zum nächsten Fluß zu tragen, um
auch diese großen Lamentationen zu einem Ritual gehörten und zuweilen
sie zu baden und z.u waschen, bevor man sie ins Leichentuch hüllt.. 123)
sogar, in der Realität, gedungenen Akteuren überlassen wurden; im Kunst-
Es ist durchaus nicht unmöglich, daß die Zeremonie der '§ü'aschung des
werk aber trug man Spontaneität zur Schau.
Leichnams und der Ausgießung des Schmutzwassers, aus alter,. heidni-
Der Cid macht lediglich eine Ausnahme zugunsten von Chimena, seiner
schen Brauchtum ererbt, durch Nachahmung dessen erneuert wurde, wozu
unvergleichlichen Geliebten und Gattin. 'Was zur Zeit Karls des Großen
sie im Ritual der Mönche geworden war. Der klösterliche Einfluß ist zwei-
verbreitet war, wurde gegen Ende des Mittelalters zur Ausnahme. Chimena
felsfrei belegt im Brauch, die Toten auf Asche oder Stroh zu betten. "Mitten
stimmt also die Lobeserhebung - übrigens ziemlich kühl - ohne sonderliche
in diesem großen Siechenhaus [von Cluny]", berichtet wiederum Mol6on,
leidenschaftliche Regung an: sie begnügt sich damit, gegen Ende ihrer lan-
"gibt es noch eine kleine Vertiefung von etwa sechs Fuß Länge und zwei- gen Tiraden in Ohnmacht zu sinken:
einhalb bis drei ZollTiefe. Dahinein bettete man auf Asche die Mönche,
die in den letzten Zügen lagen. Man bettet sie noch heute Ium 1718] so, aber
J'ordonne ... Desgleichen verlange ich,/ Daß, mich zu beweinen, keine Klageweiber bestcllt
erst, nachdem sie verschieden sind [...]. Das ist in manchen alten Ritualen werden./ Die Tränen meiner Chimena genügen mir,/ Ohne zusätzlich erkaufte.

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Ce modöle de noblesse und der Leib wiederau{ersteht, ,diese harmonische Mischung, die Pietro
Ne put parler plus longtemps. zu seinem sohn macht, {ür immer zerstört ist". Ihm bleibt nur, sich Gott
Elle tomba sur le corps als der Quelle allen Trostes zuzuwenden: ,conperti me igitur ad t'ontem
En pämoison, comme morte. corrolatioris.* Er bestreitet jedoch nicht die Legitimität der Selbstbeherr-
schung im Augenblick des Todes und beim Leichenbegängnis' (26)
Vir haben ein anderes Zeugnis der neuen Einstellung zum Tode vor Au- Die sozialenkonventionen gaben dem offenen Ausdruck der Gewalt des
\Würde und
gen, das ungefähr zeitgleich mit dem des Cid ist, aber aus der humanisti- Schmerzes nicht mehr statt' sie drängten künftig eher auf
schen Gelehrtenwelt von Florenz stammt. Alberto Tenenti hat es beige- Selbstkontrolle.
steuert. (26) Der Florentiner Kanzler, Salutati, bedenkt seinen Tod. Unter rvas man mit worten und Gebärden nicht mehr ausdrücken wollte,
dem Einfluß der stoischen Philosophie der Antike und der patristischen srellte man - im Sinne einer Symbolik, die jenem Herbst des Mittelalters
Tradition sieht er im Tode das Ende aller Leiden und den Z'tgang zu einer lieb war - durch die Kleidung und deren Farbe zur schau. Hat sich das
besseren Welt. Er macht es sich zum Vorwurf , daß er den Tod eines Freun- schwarz als Trauerfarbe damals endgültig durchgesetzt? Das Gewebe, das
des beweint, weil er damit die Gesetze der Natur und die Prinzipien der den Leichnam einhüllte, konnte ledenfalls durchaus auch golden 8länzen.
Philosophie außer acht läßt, die uns davon abhalten, Personen wie mate- Ein Testatar verlangt im Jahre 14lo (27), daß sein Leib in ein golddurch-
rielle Güter zu betrauern, da beide in gleicher 'W'eise vergänglich sind. In wirktes Tuch gehüllt wird, aus dem später ein Meßgewand gemacht werden
diesen Erwägungen der Zeit macht sich eine gelehrte Rhetorik, aber auch soll. Im 14. Jahrhundert brachten die Freunde des verstorbenen zum Lei-
das gemeinschaftliche Gefühl bemerkbar, das Menschen den in ähnlicher chenbegängnis goldbestickte Stoffe und Kerzen mit wie wir heute Blumen.
Veise geliebten Dingen gleichstellte - omnia temporalia. Eingeräumt sei, M"n *a. in jenen Zeiten in Rot, Grün oder Blau, in die Farben seiner
daß darin viel bloße [.iteratur lag. Eines Tages aber, im Mai des Jahres 1400, prächtigsten Gewänder gekleidet, die man zu Ehren des Toten anlegte. Im
handelt es sich nicht mehr nur um Literatur: Salutati verliert seinen eigenen tz. 1rhÄ.,nd.rt faßte Baudry, Abt von Bourgueil, es als seltsamen Zug auf '
Sohn. Er wird sich der Vergeblichkeit der Argumente bewußt, die er vor- drß dl. Spanier sich beim Tode ihrer Angehörigen schwarz kleideten. Und
dem in seinen Trostbriefen vorgebracht hatte, als einer seiner Briefpartner, nach Quicherat wird eine feierlich-schwarze Trauerkleidung zum ersten
Ugolino Caccini, ihn auf dieselbe \(eise behandelt wie er seine betroffenen Mal am englischen Hof beim Tode Johanns des Guten erwähnt. Lud-
Freunde: Caccini wirft ihm vor, sich willenlos dem Schmerz zu überlassen, wig XII. kleidet sich beim Tode Annes von England schwarz und ver-
er ermahnt ihn, sich in den göttlichen Villen zu fügen. Salutati rechtfertigt pflichtete seinen Hofstaat, es ihm nachzutun'
sich mit Formeln, Cie uns die neue Sprache der Trauer vor Augen führen. Ein Gerichrsbütrel entschuldigt sich im Paris des Jahres 1400, daß er
Er antwortet, daß er seine Herzensnot jetzt ruhig eingestehen kann, weil nicht seine gestreifte Amtstracht trägt, sondern "ein einfacbes Gewand, das
er im Augenblick des Todes seines Sohnes sich vom Schmerz nicht hat er angelegt hat, weil der Vater seiner Frau verschieden war und man ihm
übermannen lassen: er hat ihm seinen letzten Segen erteilt, ohne eine Träne die letzte Ehre erweisen mußte". (28) Ein einfaches Gewand, d' h' sicher
zu vergießen, er hat ihn immotis at't'ectibus verscheiden sehen und ihn dann ein schwarzes.
'wenn das Schwarz als Trauerfarbe im 16. Jahrhundert auch verbreitet
schließlich klaglos ins Grab geleitet.
Man ginge, wie ich meine, fehl, wenn man diese Einstellung dem Stoizis- war, so war es damals doch noch nicht für die Könige selbst und ebensowe-
mus zuschriebe, welchen Einfluß er auch auf das humanistische Denken nig für die riüürdenträger der Kirche verbindlich. Es hat zwei Bedeutungen:
gehabt haben mag. Salutati hat eine Haltung an den Tag gelegt, wie sie bei es bezeichnet das düsrere Wesen des Todes, wie es sich mit der makabren
Leuten seiner Gesellschaftsschicht üblich war. Er ficht lediglich die Rheto- Ikonographie enrwickelt, und vor allem die ältere Ritualisierung der
rik der Trostbriefe an und sagt, daß, selbst wenn die Seele unsterblich ist Trauer. Die schwarze Trauerkleidung bringt aber auch die Trauer zum
Ausdruck und entbindet von einer persönlicheren und dramatischeren Ge-
Ce mod.ile de noblese . . . Dieses Vorbild aller edlen Tugenden/ Konnte nicht länger spre- bärdensprache.
chen./ Sie sank über dem Leichnam hin/ In tiefer Ohnmacht, wie rot.

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Das neue Geleit: der Kapuziner und der Franziskaner), dercn Gegen§/art bei allen städti-
Eine Prozession von Klerikern und Armen schen ieichenbegängnissen gleichsam oblig:rtorisch ist. sie werden von ei-
ner je nach Reichtum und Großzügigkeit dcs Verstorbenen variierenden
Im Umkreis des Toten bleibt also kein Raum mehr für die großen und Zahl von Armen und Kindern aus den Spitälern und von Findelkindern be-
langewährenden Vehklagen von ehedem; niemand trägt mehr mit lauter gleitet. Die werden in ein Trauergewand gekleidet, das der cagoule , der ir-
Stimme Lobeserhebungen und Schmerzesäußerungen vor wie früher. Die nrellosen Mönchskutte der stidländischen Büßer ähnelt, deren Kapuze das
Freunde und die Familie, die schweigsam geworden und verstummt sind, Gesicht verhüllt. sie tragen Kerzen und Fackeln und erhalten, außer dem
fungieren nicht mehr als die Hauptakteure eines jetzt entdramatisierten Trauergewand, als Lohn für ihre Anwesenheit ein Almosen. Es ist ihnen
Geschehens. Die Hauptrollen fallen krinftig den Priestern zu, namentlich gelungen, sowohl an die stelle der Gefährten des verstorbenen als auch der
den Bettelmönchen oder mönchsähnlichen Laien mit religiösen Funktio- gedungenen Klageweiber zu rreten. Manchmal nehmen vertreter der Bru-
nen wie den Dritten Orden oder den Bruderschaften - d. h. den neuen To- ä..r.h^ft, deren Mitglied der Verstorbene war' ihre Stelle ein, oder auch
des spezial isten. die einer Bruderschaft, die für die Beisetzungen der Armen sorgt'
Von seinem letzten Seufzer an gehört der Tote weder seinen Standesge- Die feierliche Prozession des Toterrgeleits ist vom 13. Jahrhundert an
nossen oder Gefährten noch seiner Familie, sondern der Kirche. zum Symbol desTodes und des Leichenbegängnisses überhaupt geworden'
Die Lesung der Totenmesse ist an die Stelle der alten Wehklagen ßetreten. Vordem war es die Grablegung, die diese Rolle spielte, wenn der Leichnam
Die Totenwache ist zur kirchlichen Zeremonie geworden, die im Hause des in den Sarkophag gebettet wurde und die Priester die Absolution sprachen
Verstorbenen beginnt und sich zuweilen in der Kirche fortsetzt, mit den - eine Vorstellung, die in Italien und in spanien bis zur Renaissance ver-
Stundengebeten für die Toten und den Gebeten zur Empfehlung der Seele, breiret geblieben ist. In Frankreich und Burgund ist die Darstellung der
den recommendaces. Absolution in der Ikonographie durch die des Trauergeleits ersetzt worden,
Nach der Totenwache beginnt eine Zeremonie, der in der Symbolik des das seither als das bezeichnendste Element der ganzen Zeremonie aulgefaßt
Leichenbegängnisses beträchtliche Bedeutung zuwächst: das Geleit. In der wird. Ein solches.Geleit ist auf der Grabplatte eines sohnes des Heiligen
alten mittelalterlichen Ritterdichtung wurde der Leichnam, wie wir gese- Ludwig dargestellt - ein Beweis daf ür, daß es als Brauchtum vom l3' Jahr-
hen haben, von den Freunden und Angehörigen zur Stelle cler Grablegung hundert an verbürgt ist. Diese traditionelle Aufstellung des Gefolges ist in
geleitet: letzte Außerung einer schließlich gestillten Trauer, bei der die Eh- der Grabkunst bis zur Renaissance ungezählte Male zum Thema gemacht
renbezeigung die Oberhand über die Klage gewinnt, die ein zurückhalten- worden. Hier möge es genügen, an die berühmten Gräber von Philippe Pot
der Akt von Laien ist. irl Louvre und an die der Herzöge von Burgund in Dijon zu erinnern'
Im Hochmittelalter - und mehr noch nach der Gründung der Bettelor- Die Ordnung und Gliederung des Geleits wurde nicht einfach dem Her-
den - hat sich diese Zeren:onie ihrem \Wesen nach verändert. Aus der §(eg- konrmen oder dem Klerus überlassen. Sie wurde vom Toten selbst in sei-
gemeinschaft ist eine feierliche geistliche Prozession geworden. Die Ange- nem Testament festgelegt, und der rechnete es sich häuiig zur Ehre an, die
hörigen, die Freunde sind zwar nicht aus dem Geleit verbannt worden; wir größtmögiiche Arrzahl von Priestern und Armen um seinen l-eichnam zu
wissen, daß sie zu einem der Gottesdienste geladen wurden, und sind si- u..r"--.lrr. Ein Testament aus dem lahre 12a2 verlangt hundert Presbyteri
cher, daß sie etwa am königlichen Trauergeleit teilnahmerr, dessen Proto- p.xuperes,d;e^rmen,Pfarrgehilfen" des 16. und 17. Jahrhunderts, das Prie-
koll urkundlich belegt und bei dem der Platz eines jeden getrau festgelegt sterproletariat ohne Pfründe, das sich durch die Teilnahme an Leichenbe-
ist. Bei gewöhnlichen Trauerkonvois ist ihre Anwesenheit jedoch derart gängnissen, durch Messen und Stiftungen seinen Unterhalt verdiente'
unau{fällig, daß man sie schließlich sogar bezweifelt. Sie haben sich ange- Die Testamente des 16. und 17. Jahrhunderts bestätigen die Bedeutung,
sichts jener neuen Off izianten ve rflüchtigt, die das Geschehen ganz für sich die die Zeitgenossen der Aufstellung ihrer Trauerkonvois auch weiterhin
in Anspruch nehmen. ln erster Linie die Priester und die Mönche, die häu- zubilligten. Sie widmeten sich ihr n.rit großer unbeirrbarkeit, bis ins klein-
iig den Leichnam tragen. Priester der Pfarrgemcinde, arme "Hilfspriester", ste Detail. Hier einige Beispiele. Ein §flinzer aus Montreuil verlangt im
Bettelmönche aus den "vier Bettelorden" (der Karmeliter, der Augustiner, Jahre 1628, daß sein Leichnam »am Tage seiner Beisetzung
von sechs Or-

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densbrüdern des Ave-Maria-Klosters getragen wird.. (29) Ein anderer, de- Ein Jahrhundert später hat sich die Zahl der Armen nicht vermindert,
mütiger noch, wünscht im Jahre 1647 , "daß das Geleit unter Glockengeläut und sie ist noch immer für den gesellschaftlichen stand des Testatars be-
vor sich gehen soll, bei gleichartigem Schmuck [die Trauerfarben in der zeichnend. Im Jahre 1 71 2 sollen dem Trauerkondukt vorausgehen »30 arme
li(ohnung und in der Kirche], daß eineinhalb Dutzend Fackeln zu je einem
Männer und 30 arme Frauen, denen vier Ellen stoff verabfolgt werden sol-
Pfund und ein Dutzend Kerzen vorhanden sein sollen [getragen von den len, um sie zu kleiden [anstelle des Trauergewandes besteht das Almosen
Armen] und daß die Brüder der vier Bettelorden teilnehmen, wie es der hier aus einem einfachen Kleidungsstück]. Sie sollen jeder einen Rosen-
Brauch ist" (30); im Jahre 1590: "Außer den Hilfspriestern der genannren kranz Ieine neue Art von Frömmigkeitskundgebung] und eine Kerze an ei-
Pfarre sollen auch zehn Brüder der vier Bettelorden bestellt werden, die be- .,., S.ite des Sarges tragen und in derselben Ordnung andächtig zur Stelle
sagten Leichnam tragen, und an fedes Mitglied dieses Ordens sollen nach meines Grabes gehen." (32)
beendetem Gottesdienst zwanzig Sous verteilt werden.; ein anderer uber die Armen und die armen Hilfspriester der Pfarre hinaus waren im
möchte, "daß die Hilfspriester bei seiner Beisetzung und beim Gottesdienst Kondukt die kleinen Insassen der \Waisenhäuser zugegen, verlassene oder
[...] dabei sind, und daß sein Leichnam von vier der besagten Priester der Findelkinder. In Paris sind das die Kinder von Saint-Esprit, aus der Trinit6
Pfarre getragen wird". und die Enfants rouges.lm verein mit den Bettelmönchen sind sie zu regel-
Die Priester haben sich das - gutbezahlte - Monopol als Leichenträger rechten Todesspezialisten geworden. Kein schickliches Leichenbegängnis
gesichert. DieZahlder Armen war nicht immer im voraus festgelegt: Man ohne eine Abordnung von ihnen. Ihre Anwesenheit bei Beerdigungen si-
verpflichtete für das Geleit alle, die sich gerade an Ort und Stelle fanden cherte den Findelhäusern bestimmte Einnahmequellen, wie etwa das fol-
und auI eine Gelegenheit dieser Art warteten:
"Ein kleiner Silberling [ein gende Legat eines Testatars bezeugt: "Dem Findelhaus des Faubourg
Geldstück] möge am Tage seines Hinscheidens jedermann ausgehändigt §aint-Victor soll eine einmalige Summe von 300 Livres zufallen mit der
werden, die ihn im Namen Gottes beklagen will." (30)
"Zur Stunde, da man Auflage, daß 1 5 Knaben und ebensoviele Mädchen an seiner Beisetzung teil-
seinen Leichnam in die Erde bettet, seien den Armen zur Ehre und um der zunehmen haben." (33)
Liebe Gottes und der VII Verke der Barmherzigkeit willen VII Franken Die auf diese'§(eise zusammengerufenen Kinder konnten auch aus den
als Almosen ausgehändigt.« Armenstiften kommen und in Begleitung eines Lehrers auftreten. Ein Legat
Rund hundertfünf zig Jahre später hat sich die Formulierung noch immer ,von 30 Livres für die armen Kinder, mit der Auflage, daß sie an seinem
kaum verändert: »Ich wünsche, daß am Tage meiner Beisetzung allen Ar- Geleit teilnehmen. - Empfänger: ein Armenstift. In einer Kostenabrech-
men, die unmittelbar nach dem Ende meiner Grablegung zugegen sind, ein nung über ,Gottesdienst, Geleit und BeisetzunS' aus dem Jahre 1697 liest
Sou ausgehändigt wird." (1650 [30]) ,Ich wünsche, daß am Tage meines man, als beiläufige Ausgabe: die Kinder der Armenschule, 4 L'" (33)
"Für
Hinscheidens die Armen der P{arre [also keine beliebigen Armen!] gerufen Deshalb ist das Geleit seit dem 13. Jahrhundert - und bis zum 18' - zu
werden, denen ich die Summe von hundert Livres auszuhändigen bitte." einer Prozession von Priestern, Mönchen, Kerzenträgern und Bedürftigen
Man gab allen Armen der Pfarre ein Almosen; einige wurden überdies geworden, die sich steif und feierlich in Bewegung setzt; die religiöse
auch eigens eingekleidet.
"Man kleide ein Durzend Arme, die am besagren Itrti.d. oder der Gesang von Psalmen sind an die stelle der wehklagen und
Geleit teilnehmen sollen, in ein Gewand mit Kappe aus Stoff nach her- der verzweifelten Gebärden des alten Trauerüberschwangs getreten. Über-
kömmlicher Art" (1611 [30]; also noch die gewöhnliche Trauerkleidung). dies bezeugen die Bedeutsamkeit dieser Prozession und die Fülle der Al-
Die Bruderschaft vom Heiligen Abendmahl wollte sich diese Versamm- mosen und Stiftungen, die dafür aufgewendet werden, die Großzügigkeit
lung von Armen zunutze machen, um sie den Katechismus zu lehren:
"Man und den Reichtum des verstorbenen, während sie zugleich beim himmli-
faßte den Entschluß, die Herren Geistlichen zu bitten, es nicht mehr zu schen Hofstaat Fürbitte für ihn einlegen'
dulden, daß Almosen verteilt werden, wenn Beisetzungen statt{inden, es sei Die Einbeziehung der Armen in sein Leichenbegängnis ist das letzte
denn nach einem Katechismusunterricht, den man den Armen erteilt, die barmherzige Werk des Verstorbenen.
sich gewöhnlich da einfinden, um milde Gaben in Empfang zu nehmen.«
(1633 [31])

214 215

t
Sarg und Katafalk als neue Mittel der polo in Rom bietet, in der Kapelle der Familie Mellini, ein Grabmal vom
Verhüllung des Leichnams Ende des 15. Jahrhunderts, das Grabmal von Pietro Mellini (gestorben im
Jahre 1483), ein Beispiel in Form eines offenen Sarkophages, auf dem der
Ungefähr im 13. Jahrhundert - z-ur gleichen Zeit also wie die Totenwachc Leichnam ruht: \Vie mag er sich über der Leere der Sarkophagwanne im
- werden Trauer und Totengeleit zu kirchlichen Zeremonien, die von M it- Gleichgewicht halten? Bei genauerem Hinschaun bemerkt man, daß er auf
gliedern des Klerus organisiert und geleitet werden; etwas scheinbar einer Holzbahre liegt: Der Realismus des Bildhauers hat ihn nicht ruhen
Nichtssagendes hat sich ereignet, das gleichwohl einen tief greifenden Van- lassen, bis er nrit täuschender Genauigkeit die Köpfe dreier Nägel nachge-
del der Einstellung des Menschen zum Tode ankündigt: der Leichnam, bildet hatte, die in jeder Ecke die beiden jeweils aufeinanderstoßenden Sei-
ehedem vertrauter und bildlicher Ausdruck des Schlafes, verfügt fortan tenwände des Bettes z-usammenhalten. Es handelt sich also um ein hölzer-
über eine solche bannende Macht, daß sein Anblick unerträglich wird. Er nes Gerät, das vom Sarkophag unabhängig ist und hineingestellt wird, eine
wird - und zwar für Jahrhunderte - den Blicken entzogen und in einem Bahre, deren Tragegestell entfernt worden ist. Ein glticklicher Zufall macht
Schrein oder unter einem Denkmal geborgen, das ihn unsichtbar macht. dieses Detail am Grabe von Pietro Mellini in aller Deutlichkeit kenntlich.
Das Phänomen der Verbergung des Toten ist ein wichtiges kulturelles Er- Sehr häufig ist es nämlich vom Polster der Bahre und vom Faitenwurf des
eignis, das wir jetzt zu analysieren haben;es kommt darin - wie im Gesamt- sie verhüllenden Tuches verborgen, das, nach der Absolution, geglättet und
komplex der Einstellungen zum Tode - eine anfangs geistliche Symbolik an jeder der beiden Seiten von den assistierenden Geistlichen gehalten wird,
zum Ausdruck. die mit der Aufgabe betraut sind, den Leichnam auf den Boden des Sarko-
lVährend des Hochmittelalters, so sagten wir oben, wurde der Leichnam phags zu betten.
nach dem Eintritt des Todes, nach den Trauerbekundungen und den lWeh- Ein anderes Grab in derselben Kirche, das des Kardinals Bernardo Lonati
klagen der Angehörigen entweder in ein kostbares Linnen, in Goldstoff, vom Anfang des 16. Jahrhunderts, zeigt eine etwas andere Anordnung, die
in starkfarbige - rote, blaue, grüne - Gewebe oder einfrch in ein Leichen- in Italien sehr häufig ist. Die Holzbahre ruht nicht in der offenen Sarko-
tuch gehüllt, d. h. ein Leinentuch, die Leinwand des Totenhemdes. Dann phagwanne, sondern auf dem umgestülpten Deckel, dessen Verzierungen
wurden der Leichnam und das ihn verhüllende Tuch auf eine Trage oder die gewölbte Seite in horizontaler Position über der '§ü'anne halten. \üenn
Bahre gebettet, einige Zeir vor der Haustür auf gebahrt und schließlich zur auch reich geschmückt, so sind diese Holzgestelle doch nicht sehr schön,
eigentlichen Grabstelle überführt, und zwar mit einigen Unterbrechungen, und der Künstler hatte keinen zwingenden Grund, eine derart bizarre
die im allgemeinen durch Brauch und Herkommen geregelt waren. Die Schichtung aus freien Stücken zu erfinden. Der Aufbau macht vielmehr die
Bahre wurde schließlich in den noch offenen Sarkophag gesenkt. Die Prie- seltsame Realität der Beisetzungen deutlich, mit ihrer dreifachen Uberein-
ster stimmten ein erneutes Libera mit Weihrauchopfer und Aussprengung anderstapelungvon Sargwanne, umgedrehtem Deckel und daraufstehender
von Weihwasser an, d. h. eine letzte Absolution oder absoute. So blieben Bahre für den Leichnam. Die traditionelle Zeremonie der Grablegung
der Leichnam und das Antlitz bis zur endgültigen Schliellung des Sarko- führte dazu, den Leichnam aufzurichten und ihn, immer frei sichtbar, auf
phags sicbtbar, und sie waren im Grabe und au{ der Bahre der stillen Be- einem Gerüst aufzubahren, das aus denselben Materialien wie das Grab be-
trachtung noch zugänglich, wie auf dem Totenbett zur Zeir des Hinschei- stand - eine Neigung zur dramatischen Inszenierung, die sich mit dem
dens. , Katafalk" entwickelt, aber immer noch die freie Zugänglichkeit des Leich-
Das war der Brauch, wie wir ihn aus alten Heldenliedern und späteren nams respektiert.
Bildern des i5^ und 16. Jahrhunderts haben rekonstruieren können, vor al- Vom 13. Jahrhundert an aber wird in der lateinischen Christenheit, mit
lem in ltalien und Spanien, wo sich die Tradition erhalten hat, das Gesicht Ausnahme der mediterranen Länder, wo der alte Brauch bis in unsere Zeit
des Verstorbenen unverhüllt zu lassen und - was dazu gehört * die Toten weiterbesteht, der Anblick des unverhüllten Totenantlitzes unerträglich.
in Sarkophage zu betten. Kurz nach dem Tode und sogar noch unmittelbar am Ort des Todeseintrit-
Ungezählte Gernälde des 15. Jahrhunderts rnachen den auf der Bahre tes wird der Leichnam von Kopf bis Fuß ins Leichentuch vernähr, so daß
hingestreckten Leichnam beim Geleit zunr Thcma. In Santa Maria del Po- nichts mehr von dem erkennbar ist, was er einmal war; dann wird er in ei-

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nem Holzschrein o,.ler Sarg ffrz. hier sarceu) geborgen - ein lWort, das sich prösentation suchten die Bildhauer genaueste Ahnlichkeit zu erzielen, die
von Sarkophag herlcitet. sie (wenigstens im 15. Jahrhundert) dank der Masken erhielten, die sie dem
Die Bettung in den Sarg fand im 14. Jahrhundert im eigenen Heim statt: Verstorbenen unmittelbar nach Eintritt des Todes abnahmen. Die Gesich-
Eine Miniatur zu einer Totenfürbitte in einem Stundenbuch zeigt den Tod, rcr der röpresentations wurden also zu Totenmasken.
wie er, den Sarg geschultert, ins Zimmer des Kranken hereintritt. Und die- Auf dem Sarg, zu Hause, während des Trauergeleits, in der Kirche zur
ser Kranke wird das Zimmer nur noch im festverschlossenen Sarg verlassen, Schau gestellt, waren sie Ebenbilder des mit gefalteten Händen Ruhenden.
den Blicken der Zuschauer entzogen. Sie blieben zuweilen auch nach dem Leichenbegängnis in der Kirche zu-
Die Armsten, die den Zimmermann nicht bezahlen konnten, wurden in gänglich und bildeten einen Ubergangsstatus zwischen dem liegenden To-
einem lediglich zum Transport bestimmten Gemeinschaftssarg zum Fried- ten, den sie mit größter Genauigkeit abbildeten, und der endgültigen Grab-
hof überführt. Die Totengräber hoben die Leichname heraus, verscharrten plastik des Ruhenden. In §ü'estminster Abbey haben sich einige dieser
sie und richteten den Sarg zur erneuten Benutzung her. Manche Testatare Darstellungen erhalten, die noch heute zu sehen sind, vom Kopf d.es 1377
forderten, beunruhigt angesichts der Gieichgültigkeit ihrer Erben, eine verstorbenen Eduard III. bis zur Figur Elisabeths I. Diese royal effigies
Beisetzung in ihrem eigenen Sarg. Aber Reiche wie Arme blieben in ihren wurden hoch genug geschätzt, um der Nachbildung für wert befunden zu
Leichentüchern dem Blick unzugänglich. Ein Holzschnitt stellt die Mön- werden. Die Figur der Königin Elisabeth ist im Jahre 1760 kopiert und er-
che des Hötel-Dieu dar, wie sie damit beschäftigt sind, ihre Toten in Lei- neuertworden. Diese Grabstatuen aus Holz und später aus \tr(achs (17. und
chentücher einzunähen. 18. Jahrhundert) blieben sogar in Gebrauch, als man aufgehört hatte, sie
Dieses verstohlene Beiseiteschaffen ging nicht widerstandslos vor sich. bei Trauerkondukten und Leichenbegängnissen zu benutzen. Das letzte
Die mediterranen Länder übernahmen wohl den Brauch der Einbettung des Bildnis, das für eine Trauerfeier angefertigt wurde, war das des Herzogs
Leichnams irr einen Holzschrein, ließen es aber nicht zu, daß er das Antlitz und der Herzogin von Buckingham, die in den Jahren 1735 und 1,793 star-
vollständig verhüllte, sei es dadurch, daß er bis zum Augenblick der Gra- ben (das der Herzogin wurde zu ihren Lebzeiten abgenommen). Die
blegung offengelassen wurde wie in Italien und - noch zu Beginn des 20' Vachsbildnisse von \üilhelm III. und Königin Maria II. (Vilhelm starb im
irrt'§ü'estminster aufgestellt und gleich
Jahrhunderts - in der Provence, sei es dadurch, daß er, wenn auch seltener, Jahre 1702, M aria1694) wurden 1725
nur mit einer Häifte des Deckels verschlossen wurde, damit der Oberkör- sehr bewundert und häufig besichtigt. Es handelte sich dabei nicht mehr
per und das Gesicht erkennbar biieben. So zeigt ein aus dem 15' Jahrhun- um gisants, sondern - wie bei Königin Anne - um auf dem Thron sitzende
dert stammendes Fresko der Kirche San Petrone in Bologna den Oberkör- Maiestäten. (34)
per des Heiligen auf dem Boden eines nur zur Hälfte verschlossenen Den reprösentations war in der Folge noch eine andere Entwicklung be-
Holzsarges, der sich ausnimmt wie ein kalifornisches cas,6el von heute, schieden, die ihren Ursprüngen genauer entspricht. Die Heiligen wurden
denn in Amerika haben sich Spuren des mediterranen Ursprungs der ar- in der römischen Kirche bis auf unsere Tage der Verehrung der Gläubigen
chaischen'§V'eigerung erhalten, das Antlitz des Toten zu verhüllen. in Form von Holz- oder \trüachsbildnissen dargeboten, die denen ähnelten,
Die Verhüllung des Leichnams vor den Blicken der Hinterbliebenen be- die vom 14. bis zum 17. Jahrhundert bei fürstlichen Leichenbegängnissen
ruhte nicht auf einem bloßen Entschluß. Sie brachte kein Bedürfnis nach mitgeführt wurden und den Verstorbenen in der idealen Haltung des aus-
Anonymität zum Ausdruck. Bei den Leichenbegängnissen der großen gestreckt Ruhenden mit gefalteten Händen abbildeten. lhr Ziel ist die Ver-
Herren - der weltlichen wie der geistlichen - ist der im Sarg verborgene ewigung des flüchtigen Bildes des Heiligen im Augenblick des Todes oder
Leichnam denn auch bald durch eine Holz- oder \Wachsfigur ersetzt wor- der letzten Ehrenbezeigungen oder Abschiedsklagen seiner Umgebung.
den, die zuweilen auf einem Prunkbett (so im Falle der Könige von Frank- Ein anonymes Bild aus der vatikanischen Pinakothek vom Ende des 15.
reich) zur Schau gestellt, immer aber au{ dem Sarg mitgeführt wurde (wie oder Anfang des 16. Jahrhunderts stellt das Grab der Heiligen Barbara dar.
bei den italienischen Gräbern des 15. Jahrhunderts, wo die Ruhenden auf Dieses kubische Grabmal wäre banal, wenn es nicht von einer reprösenta-
dem Sarkophag ausgestreckt liegen). Diese Statue des Toten wird mit einem tion au arai gekrönt wäre, wie man im Frankreich der Zeit sagte, einer Figur
sehr bezeichnenden Namen belegt: sie heißt reprösentation. Fir diese re- der Heiligen, die durch Kostüm, Farbe und Ahnlichkeit die Illusion von

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Realität zu vermitteln sucht. Ein Gepränge von Öllampen bildet das dritte den. lVährend des Geleits wurde er * wic f rüher der Leichnam selbst - mit
und letzte Stockwerk dieses Denkmals. Die Anordnung des Grabes ist vom einem Tuch verhüllt, dent pallium oder poAle (Bahrtuch [37]). Es war
Zeremoniell fürstlicher Leichenbegängnisse beeinflußt. (35) manchmal aus kostbarem, golddurchwirktem Stoff gefertigt, den der
'§üenigstens Testatar zur späteren Verwendung als Meßgcwand ftir die Priester seiner
vom 16. Jahrhundert an richtet sich die Verehrung der Pilger
nicht mehr auf die Grabmäler und Reliquienschreine, in denen die sterbli- Kapelle bestimmte; in der Folge wurde es dann zur schwarzen, mit ma-
chen Reste der Heiligen verwahrt und aufgebahrt sind, sondern eher auf kabren Motiven bestickten Hülle, die die Vappen des Verstorbenen oder
Bildnisse, die sie auf dem Totenbett darstellen, als ob sie gerade den letzten seiner Bruderschaft oder gar die Initialen des Toten trug.
Seufzer getan hätten, und die Illusion der [Jnverweslichkeit erwecken. Die \ü/ährend des Hochmittelalters verbreitet sich der zwar von alters her be-
Kirchen Roms sind voll von solchen Darstellungen, von beinahe noch Le- kannte, aber doch selten geübte Brauch, den Leichnam für einen Gottes-
benden (sie sind übrigens nicht die einzigen; man betrachte etwa nur die dienst in der Kirche aufzubahren, wie wir später sehen werden. In diesem
Heilige Theresa vom Kinde Jesu in Lisieux). Falle genügt dann das Bahrtuch allein nicht mehr, den Sarg zu verhüllen;
Die Holz- oder lW'achsstatuen bleiben den Beisetzungen der weltlichen der verschwindet unter einem Gerüst, einer Nachahmung ienes Gerüstes,
und geistlichen Fürsten vorbehalten. Die weniger großen Herren haben sie das vordem bei fürstlichen Leichenbegängnissen das Bildnis oder die re-
immer missen müssen. Aber manche noch in Spuren erhaltenen Bräuche prdsentation getragen hatte. Dieses Gerüst nannten die Testatare des 15. bis
lassen das Bedürfnis durchscheinen, ein Porträt des Verstorbenen auf dem 17. Jahrhunderts eben{alls reprösentation oder chapelle, weil es, wie die
Sarg zur Schau zu stellen. In Spanien, §/o man an der'§Veigerung festhielt, Kapelle eines Heiligen, mit zahlreichen Kerzen und Fackeln ausgestattet
die Toten in der Erde zu bestatten, lassen am Mauerwerk der Kirchen in war. unser lVort Katafalk, das diese Bedeutung übernommen hat, stammt
der Schwebe hängende Holzsärge auf ihrer Schauseite ein Bildnis des ru- viel späteren Zeit.
aus einer sehr
henden Verstorbenen erkennen, so als wäre es seine reprösentation - wahr- Der immer monumentale Aspekt des Kata{alks hat sich erhalten' Vom
scheinlich dieselbe Art von Gedenken, die polnische Herren des 17. und 14. Jahrhundert an lassen seine wenn auch vorerst noch bescheidenen Di-
18. Jahrhunderts bewogen haben mag, ihre Gesichtszüge auf dem Sarg ab- mensionen die des Sarges hinter sich, den er krönt. Von Kerzen und Fackeln
bilden zu lassen, als nur während des Leichenbegängnisses sichtbare und erleuchtet, mit bestickten Stoffen drapiert, regt er bereits die Phantasie an.
dann in die Erde gebettete Porträts. im 17. Jahrhundert machen die Jesuiten, die großen Regisseure des Ba-
In Virklichkeit aber sind diese Fälle des Überdauerns einer reprösenta- rockzeitalters, daraus dann eine ungeheure Opernmaschinerie, dre einem
,ioz selten. Bildnisse auf den Särgen kamen im allgemeinen nicht vor, und Thema wd einem Geschehen zuliebe konstruiert und mit bestürzten Per-
wenn, so waren sie Bestandteil eines ephemeren Gelegenheitsdekors, das sonen als Kommentatoren des zeitlichen Endes bestückt ist - castrum dolo-
doch bald vergraben wurde. (36) rrs, das wie ein richtiges Kastell wirkt. Aber die immer beeindruckenderen
Die Veigerung, den Leichnam zu betrachten, war nicht Ablehnung der Ausmaße und die begründetsten Absichten veränderten die Bedeutung des
physischen Individualität, sondern Ausdruck des \üüiderstrebens angesichts Zeremoniells nicht. Festgehalten werden muß: die bemerkenswerteste
des fleischlichen Todes des Leibes - ein sonderlicher Abscheu in der Hoch- Phase dieser historischen Entwicklung ist nicht die, die den Kata{alk mit
blüte einer makabren Epoche, die sich an Bildern körperlicher Verwesung Ornamenten 'tndZierat überladen hat, das 17. Jahrhundert, sondern die,
nicht genug tun konntel Ein Beweis dafür, daß die Kunst zuweilen zeigen die darauf hingearbeitet hat, das Antlitz des Verstorbenen unter dem Lei-
darf, was der Mensch in der Realität nicht wahrzunehmen bereit ist. chentuch, das Leichentuch im Sarg und den Sarg unter einem Katafalk zu
Merkwürdigerweise hat das'§(ort reprtisentation die Zurschaustellung verbergen, also das 13. und 14. Jahrhundert. In dieser Phase hat sich ein
der Statuen oder Bildnisse auf den Särgen überlebt: es hat sich bis ins 17. bemerkenswerter tWandel der Bestattungsbräuche vollzogen. Mochten die
Jahrhundert zur Bezeichnung dessen erhalten, was wir heute Katafalk nen- makabren Prediger, die Kanzelredner der Gegenreformation in ihren
nen. kirchlichen Ermahnungen ruhig die scheußliche Realität des Todes be-
Schließlich wurde der Sarg zum Gegenstand desselben Abscheus wie der schwören - weder die einen noch die andern sind je in der Lage gewesen,
nackte Körper; er mußte seinerseits verhüllt und unkenntlich gemacht wer- das theatralische Dekor zu verbannen, das ihren Zuhörern seit wenigen

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Jahrhunderten die früher so vertraute Nacktheit des Leichnams verbarg. Es den, für die sie häufig die einzige Einkommensquelle waren, und die iortan
ist unschicklich geworden, das Antlitz der Toten allzu lange den Blicken häufige Präsenz des illuminierten Katafalks bei den Morgen- und Abend-
preiszugeben, und doch ist ihre Präsenz noch immer vonnöten, weil sie es gottesdiensten.
sich in ihren Testamenten so ausbedungen haben, weil sie zur Bekehrung Sehr häufig begannen die Fürbitte-Messen bereits vor dem Tode, mit
der Lebenden unverzichtbar sind. Deshalb werden sie hin{ort durch den dem Einsetzen des Todeskampfes: "Möge es ihnen [den Testamentsvoll-
symbolischen Apparat dieses Kataf alks "dargestelltu, der sich schließlich an streckern] genehm sein, wenn er in agonia mortis liegt und es überhaupt
die Stelle des gleichsam eingezogenen Körpers setzt. Er vertritt den Leich- möglich ist, ins Augustinerkloster besagter Stadt Paris schicken und fünf
nam, wenn der nicht gegenwärtig ist, so vor allem bei den Zeremonien des Quinque plagie-Messen [der fünf Vunden Christi], fünf Beata Maria-Mes-
Jahresgedächtnisses des Todes. Ein Testament aus dem Jahre 1559 sieht sen und fünf Messen vom Kreuz lesen und überdies um Gottes willen von
vor, daß ,nach Ablauf des Jahres" die entsprechende Feier wie der Gottes- den Mönchen jenes Klosters für besagte arme Seele beten zu lassen. (1532
dienst am Tage der Beisetzung stattfinden soll, "ohne jede Veränderung, [39]). "Sie bittet ihre Töchter und Schwiegertöchter, wenn sie im Todes-
außer daß nur sechs Fackeln von eineinhalb P{und das Stück und die vier kampf liegt, in die Kirche Notre-Dame-de-la-Mercy zu schicken, um am
Kerzen der reprösentation brennen sollen". (38) Hauptaltar besagter Kirche eine Messe lesen zu lasseno (16a8 [39]). "Be-
Die Große Revolution und die Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts ha- sagte Erblasserin [. ..] will, daß während ihres Todeskampfes sieben Messen
ben den Katafalk säkularisiert, aber dennoch an ihm {estgehalten; die Kir- zu Ehren des Todes und des Leidens Unseres Retters gelesen werden" (1655
che ist aus den öffentlichen, zivilen oder militärischen Zeremonien und [39]). Eine andere Testatarin wünscht, "daß während ihres Todeskampfes
Kundgebungen verdrängt worden, das castrum doloris hat sich darin be- für sie 30 Messen bei den Karmeliterbrüdern, 30 bei den Augustinern vom
haupten können. Der geschmückte und beleuchtete Katafalk hat fortan die Pont-Neuf,30 bei den Franziskanern und 30 bei den Jakobinern gelesen
alleinige Vertretung der ältesten Todesbilder und -rituale übernommen: der werden., d. h. bei allen vier Bettelorden. Vahrscheinlich versuchte man so,
Absolution am Bett des Sterbenden, des Kondukts und des Ge{olges der den höchsten Richter in aller Eile für sich zu gewinnen, bevor es zu spät
Trauernden, der Grablegung und der letzten absoute. war ("Zur gleichen Zeit, da Gott über meine Seele verfügt haben wird. [39]
- 1650). Aber diese Messen während des Todeskampfes waren nur der An-
fang einer ganzen Serie: "Tausend Messen, sobald das möglich ist und mit
Di: Begräbnismessen denen begonnen werden soll, wenn er im Todeskampf liegt." (1660 [39])
In anderen Fällen begann die Lesung dieser Serie von Messen mit dem
Der Vorrang des Katafalks vor den anderen Todessymbolen verdankt sich endgi.iltigen Todeseintritt und nicht früher: "Besagter Testatar bittet seine
der ungewöhnlichen Bedeutung, die künftig den tönend-feierlichen oder liebe Frau [.. .], i* Augenblick der Trennung der Seele vom Körper drei
stillen Zeremonien zuwächst, deren Schauplatz die Kirche ist. Die alten Messen zu Ehren der Heiligen Dreieinigkeit [die \flahl der Zahl drei!] an
Grablegungsriten, die sich damit begnügten, dem Leichnam vom Totenbett den Hauptaltären der Kirchen Saint-Mdd6ric, Sainte-Croix-de-la-Breton-
bis zur Grabstelle das Geleit zu geben, ohne anderes zeremonielles Element nerie und Blanc-Manteaux lesen und zelebrieren zu lassen, deren erste eine
als das der beiden Absolutionen am Totenbett und am Grabe, gingen vom Heiliggeist-Messe, die zweite eine Beata-Messe und die dritte eine Re-
12. bzw . 1 3. Jahrhundert an in einer geradezu phantastischen Menge von quiem-Messe sein soll, zur Vergebung seiner Sünden und zum Heil seiner
Messen und Gottesdiensten unter, wie sie von den Verstorbenen in ihren armen Seele. ( 1646 [39] ). In diesem Fall war die Anzahl der Messen auf drei
Testamenten vorgeschrieben wurden. Der Tod wurde für ein halbes Jahr- in jeder Kirche begrenzt, und zwar deshalb, weil sie am Hauptaltar gelesen
tausend - vom 12. bis zum 18. Jahrhundert - im wesentlichen zum Anlaß werden sollten. Gewöhnlich suchten die Testatare eher den Effekt der
für Messen. 'Was also den damaligen Besucher einer Kirche verblüffen Häufung zu erzielen. Es kam vor, daß dieZahl nicht im voraus festgelegt
mußte, war weniger das von den Totengräbern ständig umgegrabene und wurde: also tat man sein möglichstes und möglichst viel: "Am Tage seiner
aufgeworfene Erdreich des Kirchenbodens als die ununterbrochene Ab- Ileisetzung mögen ihm zu Ehren in der Kirche Saint-M6d6ric soviel Re-
folge von Messen, die morgens an allen Altären von Priestern gelesen wur- rluiem-Messen gelesen werden, wie sich Priester in der Sakristei der Kirche

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finden und sich z-ur Verfügung stellen." (1652139) ) Vom Tage seines Hin- des Testatars vermittelt: einerseits sorgte er sich um Kontinuität, was ihn
scheidens an sollen "alle Messen und Gebete besagten Konvents [der Mini- veranlaßte, die Messen zu strecken und zeitlich zu verteilen; zum anderen
menbrüder, bei denen sein Bruder Mönch warl, über die sie frei verfügen lag ihm an einer geballten Häufung, um eine möglichst große Zahl in einer
können, zur Ehre und zur Ruhe der Seele genannten Testatars bestimmt möglichst kleinen Zeitspanne zusammenzudrängen. Manche dieser ganz-
sein.. (1641 [39]) jährigen Meßreihen bezogen sich tatsächlich auf ein Jahr, andere auf
Sehr häufig ordnete man 30, 100 oder 1000 Messen an - 30 Messen oder kleinere Einheiten - so im Falle einer Jahresmesse, "die in den ersten drei
den [rire] grögorien: Zum Gedenken an den Stifter in grauer Vorzeit, den Monaten nach seinem Hingang er{üllt werden möge". (39) Der Testatar
Papst des Todes, Gregor den Großen, sagte man auch un trentin de saint präzisierte, daß diese Jahresmesse von ,vier Priestern für jeden Tag" gele-
Grdgoire . "Sobald mein Leichnam in die Erde gebettet worden ist, sollen sen werden sollte (4 x 90: 360).
33 [das Alter Christi] stille Messen gelesen werden", und zwar üglich drei; Diese dreimonatige Dauer scheint ein gebräuchlicher Zyklus gewesen zu
drei an \Veihnachten, drei am Fest der Beschneidung Christi Iam 1. Januar], sein. Ein anderer Testatar verlangt im Jahre 1661 drei Jahresmessen "wäh-
drei am Karfreitag, drei am Himmel{ahrtstage, drei zu Pfingsten, drei am rend der ersten drei Monate, d. h. zwölf Messen täglich in den beiden Klö-
Sonntag Trinitatis usw. "So bald wie möglich" (39) - eine Vorsichtsmaßre- srern, in denen seine Töchter als Nonnen leben". (39) Vieder ein anderer
gel, die sowohl Gott als alleinigen Richter als auch den Klerus der Pfarre bedingt sich aus, daß seine Jahresmesse,an dem meiner Grabstelle am
einbezieht, der der Nichtachtung verdächtig ist (1606). nächsten gelegenen fi11x1" gelesen werden soll (1a18 [39]).
Hundert Messen: "Am Tage meines Hingangs oder am darauffolgenden Die Meßtricenare werden in derselben 'ü/eise aufgeteilt: 33 in der Voche
Tage in zwei Kirchen", d. h. fünfzig Messen pro Tag und Kirche (1667). (1628), drei pro Tag (1606) oder - gemäß einer noch komplizierteren Buch-
f ührung: f ünf Messen an jeweils vier Tagen (
: 20) und dreizehn am fünften
"Am Tage des Todes oder am darauffolgenden Tage fwegen der überla-
stung des Klerus] ein Meßtricenar von 33 Messen, und darüber hinaus hun- Tag, wobei sich wiederum die Gesamtzahl 33 ergibt. Man kann sagen, daß
dert Requiem-Messen, sobald das möglich ist. (1650 [39]). der gewöhnliche Mittelwert einen Tricenar oder auch hundert Messen be-
Derselbe Testatar war in der Lage, mehrere Serien zu je hundert Messen trug - und sehr häufig außerdem eine Jahresmesse.
im voraus festzulegen, eine bei den Augusrinern, eine bei den Kapuzinern
usw. Ein Erblasser des Jahres 1780 (39)mochte noch 310 Messen verlangen,
auf den Tag der Beisetzung und den darauf folgenden konzentrier- Der Gottesdienst am Tage der Beisetzung
lj::"t
Tausend Messen war eine durchaus übliche Zahl: "Am Tage meines Lei- So setzte jedes Mal, wenn ein Leben an sein Ende kam, eine regelmäßige
chenbegängnisses und am Tage darauf [die Formulierung stammt aus dem Irolge von stilldn Messen ein, sei es mit dem Beginn des Todeskampfes, sei
Jahre 1 394 - derselben Sorge um gehörige Häufung begegnet man im Jahre cs unmittelbar nach dem Ableben - eine Folge, die Tage, Wochen, Monate,
1780 wiederl soll man tausend Messen von armen Hilfskaplänen [Priestcr, sogar ein ganzes Jahr dauern konnte' Diese Messen standen in keinem Ver-
dic von den Einkünften der Kapellen leben, d. h. von frommen, im allge- hältnis zu den eigentlichen Bestattungsriten. Die haben sich ihrerseits dann
meinen speziell auf die Bcstattung bezogenen Stiftungen] lesen und zele- unter dem Namen seroice (seelenmesse) weiterentwickelt. Die alten Litur-
brieren lassen, die von den Kirchen von Paris [500 Messen pro Tag!] über- gien sahen wohl eine feierliche Messe vor (die Requiem-Messe der römi-
nommen werden sollen, und fedem Kaplan sollen für seine Messe II Sous schen Liturgie), die der Grablegung vorausging; aber diese Praxis blieb si-
ausbezahlt werden." (39) In manchen selrenen Fällen kommt man auf die cherlich auf Kleriker und bestimmte hervorragende Laien beschränkt. Der
Zahl von l0 000 Messen, so im Falle von Simon Colbert, einem Geistlichen allgemeine Brauch beteiligte die Kirche mit keiner speziellen Zeremonie,
Rat im Parlament, dem Gerichtshof von Paris. (39) es sei denn de r Absolution der Grablegung. Vom 13. Jahrhundert an macht
'§flandel bemerkbar. Der Tag der Beisetzung, nahezu immer
Es gab schließlich die ein Jahr lang taglich gclesene Seelenmesse, den an- sich hier ein
nuel , also eine Messe von 360 Eirrz-clmessen, deren A ufteilung eine ziem lich der auf den eigentlichen Todestag folgcnde Tag, wird gewöhnlich zum An-
genaue Vorstellung von den beiden einander widersprechenden Strebungen laß genommen, einen Gottcsdienst zu zelebrieren, der mit einer letzten Ab-

zza 22s
solution am Grabc scin l,nde findet. Bis zum 16. Jahrhundert wird dieser Reliquien und vor dem Hauptaltar zurückkehren' um für den Rest des
Gottesdienst nicht mit der Präsenz des Leichnams verbunden, der erst zur Gottesdienstes Licht zu spenden, d. h. für die Laudes, den Vorgesang Saloa
eigentlichen Beisetzung eintrifft. Gleichwohl verbreitet sich bei den Testa- nos, die Fürbitten, die [Opfer-]Prozession und die Requiem-Mes§e. Des-
taren zunehmend die Gewohnheit, zu verlangen, daß der Leichnam am gleichen wünscht besagter Testatar und ordnet an, daß während ienes Vor-
Tage der Beisetzung in die Kirche überfrihrt wird. Im 17. Jahrhundert ist gesanges Sal'ua nos und während der Requiem -Messe in der Höhe vor den
diese Präsenz dann zur Regel geworden. Die Bedeutung, die dem Gottes- Heiligen Reliquien sechs §flachskerzen angezündet werden, und ebenso-
dienst mit oder ohne Leichnam zuwächst, macht die Rolle der reprisenta- viele auf dem Altar, zu beiden Seiten des Hauptes des Heiligen Ludwig, und
tion im Zeremoniell des Leichenbegängnisses vom Ende des Mittelalters bis eine, die beim Opfer getragen werden soll, zusammen mit einem Stück Sil-
geziemenden Brot und einem Gefäß mit
riflein, wie es der
heute verständlich. bergeld, einem
Derfeierliche Gottesdienst am Hochaltar unterbrach keineswegs die an- Brauch ist beim Gottesdienst für einen Verschiedenen." Hier fand die Bei-
deren Messen, die einander an den übrigen Altären der Kirche, eilends und setzung im Rahmen der Stundengebete statt, zwischen Vigilien und Laudes,
mit derselben Bestimmung, folgten. Ein Testatar wie der {olgende verlangt aui die eine Requiem-Messe folgte.
hundert Messen ,gleich nach meinem Hinscheiden, und zwar in allen Ka- In diesem Falle gab es nur eine einzige Messe' Ebenso im folgenden aus
pellen der Kirche Saint-Pierre-aux-Beufs, taährend des Gottesdienstes, dem Jahre 1520: ,'§(errn die Umstände es erlauben, so §oll der Leichnam
mit dem man meinen Leichnam zur Ruhe bettet, und der Rest ohne Pause zur Kirche getragen werden, während man dort die Totenmesse zelebriert,
an den darauffolgenden Tagen. (1658 [40] ). nach deren Ende er an dem Ort beigesetzt werden soll, der mit den in der
Eine dauerhaf te Praxis, der man noch im Jahre 1812 - in einem zweifellos katholischen Kirche gebräuchlichen Förmlichkeiten und Empfehlungen
historisch verspäteten und ungewöhnlichen Testament - wiederbegegnet: vorbereitet worden ist." (40) Es gab in der Tat keine feste Regelung. Bald
"lch bedinge mir aus, daß am Morgen meines Beisetzungstag,es sechs Mes- wurde nur eine Messe gelesen - bald mehrere - das war lange der häufigste
sen gelesen werden sollen, und zwar stündlich eine.. (40) Fall -, im allgemeinen aber waren es drei.
Der Einzug des Leichnams in die Kirche geht häu{ig zu den Klängen des Im Jahre 1559 verläuft der Gottesdienst für einen Priester, Geistlichen
Salve Regina oder des Vexilla Regis vor sich: "Sobald sein Leichnam in be- der Kirche Saint-Pierre-des-Arcis, nach einem etwas anderen Grund-
sagter Kirche der Madeleine angelangt ist, sei es morgens, bevor die letzte schema: ,Meine Trauerfeier soll vollständig sein und laut gelesen [gesun-
Messe beginnt, sei es nachmittags, bevor die Totenvesper beginnt, so soll gen] werden, und es sollen aufeinanderlolgen 1) die Vigilien mit neun Psal-
andächtig das Sal,ue Regina mit den herkömmlichen Versen und Strophen men und neun Kapiteln gemäß der Bestimmung der Totenmesse, 2) Laudes
gesungen werden." (40) Venn die Beisetzung nachmittags stattfindet, gibt und Fürbitten fwie im vorhergehenden Falle; die Bestattung hat je-
es keine Messe, und der Gottesdienst beschränkt sich auf die Toten-Vigi- doch noch nicht stattgefunden], 3) vier Hohe Messen fim vorhergehenden
lien. nur einel im 16. Jahrhundert waren, wie gesagt, drei üblich]. Deren eine
Der folgende Testatar verlangt im Jahre 1545, daß sein Leichnam in einer soll eine Heiliggeist-Messe sein, die zweite eine missa de Sancta M aria , die
Prozession in der Sainte-Chapelle anlangen soll, um dort bestattet zu wer- dritte eine missa de Angelis fsie ist ungewöhnlich; der Testatar hat sie aus
den: an der Spitze der Kreuzträger, neben ihm zwei Kerzenträger, dann der eigenem Antrieb hinzugefügt], die vierte eine Seelenmesse mit dem Toten-
Sarg mit vier Kerzenträgern, dem eine Prozession von zwölf weiteren Ker- gesang. 4)Zum Beschluß besagten Gottesdienstesein Libera me, Domine,
zenträgern folgt. Nach der Ankunft in der Kirche werden die zwölf Ker- ern De profundls, dann nach dem Saloe Regina [das also zweimal Sesungen
zenträger geteilt, und je sechs stellen sich am Altar und an den Reliquien- wird, einmal zu Beginn, beim Einzug des Leichnams, das zweite Mal zum
schreinen au{. So q'ar es in der Sainte-Chapelle Brauch. "Und sollen besagte Schlußl die gewöhnlichen Verse und Strophen [d. h. die Absolution mit an-
zwölf Träger mit brennenden Kerzen an ihren bez-eichneten Plätzen aus- schließender Beisetzung]."
harren während der Vigilien, nach deren Ende sie besagte Plätze verlassen, Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte sich das zeremonielle Brauchtum
um den Leicbnam bß zu der Stelle zu geleiten, uo er ins Grab gebettet uird , verfestigt; ein Pariser Kanoniker legt in seinem Testament aus dem Jahre
und danach sollen besagte Träger wieder an ihre Plätze vor den Heiligen 1612 den Gesang seiner Obsequien auf die foigende Weise fest:

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1 ." Am Tagc ncite s H inscbeidens soll ein Gottesdienst gehalten werd en, erste Absolutisn. ,\(enn mein Leichnam in die Erde gebettet ist, sollen 33

d. h. Vesper, Vigilien mit neun Kapiteln; nach Abschluß der Lesungen das Messen gelesen werden, und am Ende ieder Messe sollen die Priester, die
gesamte Libera,dann die L:rudes der Verstorbenen." Das ist die in der Kir- sie zelebriert haben, veihwasser auf das Grab besagter Erblasserin spren-
che rezitierte Totenmcsse. Zu beachtcn ist cler Ortswechsel vom eigenen g,en und ein Salae Regina,ein De prot'urtdis und die herkömmlichen Gebete
Heim in die Kirche (oder die diesmal feierlichere'§üiederholung in de r Kir- sprechen." Danach weitere Absolutionen.
che mit reicherem Lichterschmuck). Die Kirchenordnung des Jahres 1614 hat sich zum Ziel gesetzt, die Be-
2. "Am darauffolgenden Tage sollen [immer noch in Abwesenheit des gräbnisliturgie zu verein{achen. (al) Die Totenmesse hat an Bedeutung
Leichnams] zwei Hohe Messen gelesen werden, die Beata-Messe und die verloren, und der Gottesdienst wird auf eine einzige, die Requiem-Messe
Messe des Heiligen Geistes." beschränkt, während die beiden anderen, die Heiliggeist-Messe und die
3. Die Fürbitten. Messe lJnserer Lieben Frau fallengelassen wurden. Das war zuv/eilen be-
4. Die Ankunft des Trauergeleits in Notre-Dame. Der Kondukt hält in reits im 16. Jahrhundert der Fall; aber noch während der ganzen ersten
der Kirche vor dem Kruzifix inne, und es ertönt 'die vollständige Stro- Hälite des 17. blieben viele Testatare der traditionellen Dreizahl ebenso
phenfolge des Cre ator omnium rer um <<. I n diesem besonderen Fall tritt hier treu wie den Vigilien, den Fürbitten und den Laudes'
eine Pause ein, weil der Kanoniker in einer anderen, der benachbarten Kir- Gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzt sich endgültig der Brauch durch,
che Saint-Denys-du-Pas beigesetzt werden möchte. ,daß eine Hohe Messe in Gegenwart des Leichnams Selesen werden soll"'
5. "\Während der Reziration d.es Libera [die hier wie eine Absolution Vie zahlreich aber auch die Messen, die Fürbitten, die Psalmen - die ein-
wirkt] soll mein Leichnam in die Kirche Saint-Denys-du-Pas überführt deutige Priorität hat der Gottesdiens t,der seruice, d. h. die Messe unterallen
werden, um während der letzten Messe zugegen zu sein", der Messe pro anderen, die in Anwesenheit des Leichnams gelesen wird und der Grab-
defunctis. Die folgte auf die beiden anderen, im Paragraphen 2 vorgesehe- legung unmittelbar vorausgeht. Bei der Lektüre der Testamente setzt in
nen Messen, und der Leichnam mußte also zwischen der zweiten (der Erstaunen, daß die Absolution und die eigentliche Beisetzungszeremonie
Beata-Messe) und der dritten, der Requiem-Messe in der Kirche anlangen. in den Hintergrund treten. Der Hauptakt des Leichenbegängnisses spielt
6. AbsoLution und Grablegung: "Nach dem Ende besagter Messe, nach sich fortan in der Kirche ab, wenn, angesichts der hellerleuchreten reprö-
der Strophenfolge des Domine, non secwildum peccata ilostra, nach dem sentdtion, die Hohen Messen des Gottesdiensres und die stillen F'ürbitte-
Psalm lliserere mei, Deus und dem De prot'undis mit Gesang und den her- Messen einander foIgen.
kömrllichen Gebeten und Fürbitten soll mein Leichnanr zum Ort nreiner
Grablegung getragen werden.. Ebenso isr Vorsorge getroffen ftir den Fall,
daß der Gottesdienst nicht morgens stattfinden kann: ,'Wenn mein Geleit Die Gottesdienste an den Tagen
und meine Beisetzung nicht morgens stattfinden können und es r-rötig sein nach der Beisetzung
sollte, sie nach den Kompleten zu vollziehen, so werden meine Mitbrüder
von Saint-Denis eine Stunde nach Mittag Vigilien und I-audes lesen und Der Gottesdienst am Tage der Beisetzung wurde nrehrf ach wiederl'rolt, und
dann, nach den Kompleten, Geleit und Bcisetzur-rg wie oben beschricben zw^r,d^der Leichnam ia zu Grabe getragen worden war, vor der reprö-
besorgen." (40) sentation;er um{aßte immer auch eine Absolutionam Grabe. EinTestament
\ü/ie viele andere Testamente richten den gefordertcn Cottesdienst nicht aus dem Jahre 1628 (42), das bereits mehrfach zitierte eines'winzers aus
am Vorbild der drei Messen aus! (40) Im allgemeinen langte der Leichnan.r Montreuil, sieht den Gottesdienst des Bcerdigungstages mit Fürbitten, drei
sicher zwischen der zvr'eiten und der dritten Messe, zwischen der Beata- Hohen Messen und Libera vor.
und der Requiem-Messe, in der Kirche an: ,Bei der letzten wird das Opler Der gleiche Gottesdienst beginnt am darauffolgenden Tage, ebenfalls
von Brot, lVein und Geld dargebracht" (dieses Opfer hat sich übrigens im ,mi Libera und De profundis am Grabe".
Brauchtum des meridionalen Frankreich bis heute erhalten). Dann wird der Ein Tesratar des Jahres 1644 (42) bedingt sich aus: "An den drei folgen-
Leichnarn zu den Gesängen von Libera und Salpe Regina beigesetzt. E,ine den Tagen Inach der Beisetzung] drei Gottesdienste, und bei iedem vigilien,

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drei Messen.. . Ein weiterer Gottesdienst nach Ablauf von acht Tagen.. pariser Livres, abgekürzt Liares par. oder Lp)Rente ausgestattet wird [...],
Dieser Gottesdienst nach Ablauf von acht Tagen war ebenso üblich wie der von welchen Lx tp L/p dem Kaplan zufallen sollen, der mit der verwaltung
nach einem Jahr. Er umfaßte die Totenmesse, die Hohen Messen, die Ab- besagter Kapelle terrft.rgt wird [viele Priester ohne Pfründe iebten von
solution mit Aussprengung von §üeihwasser am Grabe, das De profundis, Einkänften äieser Art; im 1 7. Jahrhundert nannte n'tan sie pr|tres habituis ,
das Libera, die
"herkömmlichen" Gebete und das Salve Regina. Zum Jah- Pfarrgehilfen oder Hilf spredigerl. Velcher Kaplan gehalten sein soll' ieden
restag der Beisetzung erhielten die Armen wie am Tage der Grablegung Tag in besagter Kapelle die Messe zu lesen und f ür die seelen meines vaters,
Freunde
selbst eine Almosenzuteilung. Ungeduldig wie sie waren, verkürzten man- -.1r.. Muit.r, meiner Brüder und Schwestern, meiner anderen /p sollen
che Testatare sogar diesen Jahreszyklus: " Bout de l'an lnach Jahresfrist], und Vohltäter und meine eigene zu beten. Und die anderen 10
die ich drei Monate nach meinem Hinscheiden gefeiert sehen möchte.u für die Unterhaltung der Kapelle bestimmt sein [zweifellos für Kerzenbe-
(1600 [42]) leuchtung, für Meßgewänder und deren Pflege]' Item, ich wünsche und
Nach Ablauf eines Jahres und mit den ganzjährigen Meßreihen schloß o.dn" ,n, daß besagte Kapelle mir, meinen Erben, Nachkommen und
sich der Zyklus von Messen, die im voraus festgelegt und unverzüglich be- Rechtsnachfolgern vorbehalten bleibt.. In einem anderen Testament aus
zahlt wurden, >>tnesses au dötail" (Messen im Kleinen), nach einer Formu- dem Jahre 1416 ist die allein übriggebliebene Bedeutung die der immer-
lierung von Michel Vovelle. (43) währenden Stif tung von Messen: ,lch wünsche und ordne an, daß in besag-
Dann begann ein neuer Zyklus, diesmal ein immerwährender - die Stif- ter pfarr- und Klosierkirche von S. Didier [. . .] eine Kapelle von 100 lp iähr-
tunBsmessen. Der Testatar vermachte in diesem Fall dem Kirchenvorstand, licher und immerwährender Rente gestiftet wird [" '], mit der Bedingung'
daß zwei Mönche der Abtei s. Florent [...] verpflichtet werden, ieden
Tag,.
dem Konvent, dem Spital oder der Bruderschaft entweder l.iegenschaften
(Haus, Acker, §fleinberg) oder Bargeld bzw. das Zinsaufkommen aus in und zwar immerwährend, die Messe zu lesen oder lesen zu lassen, nämlich
Renten oder Geschäften angelegten Kapitalien (ein Kramladen im Palais), sonntags die Frühmesse, dienstags und donnerstags die Heiliggeistmesse'
die Him-
mit der Aullage für die Kirche, das Konvent oder die Spitalgemeinschaft, -orr"g., mittwochs und freitags die Totenmesse und samstags
die mit größter Genauigkeit vorgeschriebenen Gottesdienste und Messen melfahrtsmesse, welche Messen gelesen werden sollen in besagter Kapelle
immerwährend lesen zu lassen. für die Ruhe und zum Heil der Seele meines sehr ehr{urchtgebietenden
Die Kapelle (im englischen Sprachraum chantry) ist eine der ältesten Herrn und Gemahls und meines teuren und vielgeliebten Sohnes, und da-
Stiftungsarten, überdies eine der bezeichnendsten und an historischen mir zusammen iedes Jahr ein feierliches Jahresgedächtnis [...], an welchem
13. Tag besagter mein sehr ehrfurchtgebietender Herr aus dem Leben
Deutungen reichsten. Das folgende Testament aus dem Jahre 1399 (44) er- ge-

möglicht eine genauere Analyse des Phänomens: "Ich wünsche und ordne schieden ist."
an, daß die Kapelle, die ich in der Kirche S. Ypolite zu Beauvais zu erbauen Vährend des ganzen 16. und der ersten Häl{te des 17. Jahrhunderts stif-
begonnen habe, weitergeführt und vollendet wird [der Testatar spricht ren Tesrarare Kapellen oder unterhalten die von ihren Angehörigen gestif-
wirklich vom Bau einer Kapelle: zweifellos einer Seitenkapelle, die zwi- teten Kapellen. Im Jahre 1612 (44) segt Jean Sablez, ständiger vorsitzender
schen die Strebpfeiler des Schiffs eingelassen ist - ein Kapellentyp, der im de. ober.echnungskammer, in seinem Testantent, daß er über eine Kapelle
14. Jahrhundert häufig war, früher jedoch kaum vorkam, es sei denn, im (,en *a chapelle") in der Kirche z-u Noyers verfügt, dessen Lehnsherr er
13., im Triforium oder im Kreuzarm des Querschiffes; der \i(andel ist irt;..in. F.au ist bereits darin beigesetzt, und er äußert den wunsch, es
durchaus bedeutsam], geräumig und gut ausgestattet mit Büchern, Kelchen ebenfalls zu werden. Diese Kapelle ist also nicht nur der zur Lesung der
und Kirchenschmuck, wie es für den Gottesdienst und die anderen für be- Stifungsmessen geweihte Ort, sondern auch der der Grablegung' Der
sagte Kapelle erforderlichen Dinge nötig ist Itestamentarisch vererbte Bü- T.rtrtr. möchte die Kapelle seiner Mutter, d. h. die Stiftungsmessen seiner
cher mancher Erblasser wurden in der Kapelle oft angekettet]." Aber das Mutter, in seine eigene Kapelle der Lehnsherrschaft Noyers übergehen las-
lü7ort Kapelle hatte zwei Bedeutungen, einmal die soeben verdeutlichte von sen: ,Item, ich wünsche und ordne an, daß die Stiftungsmesse, die,
wie ich
Bauwerk im materiellen Sinne, zum andern aber auch die der Sti{tung von meine verstorbene Frau Mutter in ihrem Testament bestimmt hat, in der
Messen: "Item, daß besagte Kapelle mit LX Liores par.ld.h. Livresparisis, Kirche S. Gervais et Protais zu Gisors gelesen werden soll, in det Kapelle,

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die sie dort äat, daselbst dreißig Jahre lang von ihrenr Todestag an gelesen Die mildtätigen Stiftungen und
wird, und danach soll sie an besagtem Orte oder in der Kirche N. D. zu ihre Öffentlichkcit
Noyers in meintr Kapelle immerwährend zelebriert werden, nach Vahl
und Ermessen meincr Erben und zu ihrem Heil, und von ihnen iährlich be- Diesen sehr zahlreichen stiftungen von Messcr.r tretcn die rnildtätigen stif-
zahlt werden, wenn ich nicht zu meinen Lebzeiten dafür Vorsorge getrof - tungen zur Seite: Schenkungen an ein Spital für cin Bett, für den Unterhalt
fen habe." Viele Tesratare und Erben zögerten möglicherweise, den einge- und die Mitgift eines armen Mädchens, die mit der Aufiage der Lesung eines
gangenen Verpflichtungen auch nachzukommen! obit, einer Seelenmesse verbunden werden' (a7) Die Schenkungen an Ab-
Den gewöhnlichen Frühmessen fügt der Herr von Noyers noch ein teien, Klöster und Kollegien waren im 12. und 13' Jahrhundert häufig und
Abendgebet hinzu: "ltem, ich stifte zunr Heil meiner Seele und zu dem hochdotiert. Es ist durchaus möglich, daß sie, nach längerem Stillstand, so-
meiner Frau ein Salt,e Regina und Gebet zu Ehren Gottes und der Jungfrau gar leichtem Niedergang, im 17. Jahrhundert wieder ansriegen, was immer-
Maria, das gelesen, zelebriert und gesungen werden soll in meiner unter der hi., ,r, Erklärung der wachsenden Zahl von mildtätigen Einrichtungen und
Kirche N. D. zu Noyers gelegenen Kapelle [?-Ph. A.], eine Stunde vor Krankenhäusern in dieser Epoche beitrüge. Aus ungezählten anderen seien
Sonnenuntergang, arn selben Tage, da sie aus dem Leben scheiden." hier zwei Beispiele herausgegriffen: das erste ist einc Stiftung, mit der im
Im 15. Jahrhundert bedeutet 'eine Kapelle stiften. soviel wie ,sie im mate- Jahre 1667 eine Mädchenschule in der Gegend
von Paris bedacht wird: "lch
riellen Sinne erbauen, und darin von einem bestallten Priester eine tägliche stifte und vermache zu immerwährendem Nießbrauch eine Rente von 100
Messe lescn zu lassen. Livres jährlich an die Schule des Hl. Martin, die einer Frau oder einem
Im 17. Jahrhundert bezeiclrnet der Ausdruck zwar immer noch die tägli- Mädchen ausgehändigt werdetr sollen, die in der Lage sind, die Mädchen
chen Messen, ohne z-wangsläufig auch die Ernennung eines Kaplans mit- <ies Dorfes Puteaux im Lesen und im Katechismus zu unterrichten. velche
einzuschließen. Mehr und mehr aber meint er den Ort der Grablegung. (45) Person von meinem Testamentsvollstrecker benannt werden soll, solange
Wohlgemerkt: Die Kapelle, die einer stillen Messe pro Tag und daz.u ei- der lebt, und nach seinem Hingang von den vikaren, Kirchenvorstehern
ner Hohen Messe anr Tage des Ablebens gleichwertig war, war nicht die und Altesten des Dorfes.o (48)Inr zweiten Beispiel aus dem Jahre 1678 geht
verbreitctste Form von Stiftung. Das zulässige Minimum war der Gottes- es um die Stifung einer Art Beginenhofes in Toulouse: "lch wünsche, daß
dienst am Jahrestage , dcr obit. Häufig ware n Stiftungen (46) von mittlerem nach dem Tode meines Erben der Pfarrer von Taur Nutzen und Nieß-
Aufwan.l rvie dic folgende dcs W'inzers von Montreuil aus dem Jahre 1628: brauch an meinem Haus erhält, solange er lebt, und daß dieses Haus nach
6 Requiem-Messcn pro Jahr, an Allerheiligen, am §Ueihnachtstage, an Ma- ihm von fünf arnren Mädchen oder'Witwen bewohnt wc'rden soll, zu Ehren
riae Lichtmeß, Ostern, Pfingsten und am Tage lJnserer Barmherzigen Frau. der f'jnf tWunden Unseres Herrn Jesu Christi [. ..], die inrmerwährend von
Ferner "soll in dieser Kirche, und zwar immerwährend, an allen Tagen den au{cinanderfolgenderr Rektoren zu Taur ausgewählt werden sollen, bei
[?-Ph. A.] unmittelbrr nach der Vesper die Passion LJnseres Herrn vor Mitsprache der ersren Richter oder der Vorsitzenden der Bruderschaften
dem Biidnis Unse-rer Lieben Frau gelesen werden, welche Passion durch vom Heiligen Abendmahl, von Notre-I)ame du Suffragc und Sainte-Anne
Glockengeläut verkündigt werden soll, wenn sie gelesen wird. Und zu die- und vom Kirchenvorstand." Man griff weit aus in seiner Vorsorge, denn
sem Zweck hat genannter Tcstatar besagter Kirche von Montreuil die der Stiltung des Beginenhofes hatte zunächst der Tod des Erben, dann der
\W'imper zv zuk-
Summe von 400 Livres ausgehändigt und vermacht, die von genanntem des Pfarres von Taur v61xu52ugchcn. Aber ohne mit der
Kirchenvorsteher in Form von Rcnten zu Nutz und Frommen von Schatz ken, wurde eineZeireinbezogcn, die man sich als ur-rveränderlich vorstellte,
und Vern'rögen besagter Kirchc verwendet wcrden sollen. . .o als ins Unendliche verlängerte Gegenwart.
Vom 13. b2w.1,4. Jahrhundert an - und bis ins 18. - waren die Testatare
von der Angst bescssen, daß der Klerus, die Kirchenvorsteher und die
Empfänger ihrer Schenkungcn sich ihrer Verpflichtungen nicht peinlich
genau entledigen würden. Deshalb machten sie die Vertragsbedingungen,
die Stiftungen, die sie ausgesetzt hatten, und die genaue Aufstellung der ih-

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nen dafür zukomnrcnden Messen, Gottesdienste und Gebete durch An- denkenden Spenders verzeichnet steht. Die Priester hatten ihn in der Sakri-
schlag in der Kirche ölfentlich bekannt.
"Item, ich wünsche und ordne an, stei täglich zu Rate zu ziehen, bevor sie ihre Messe lasen.
daß eine Kupfertafel angeferrigt wird. auf der der Name, der Beiname und In diesen Stiftungen vergegenständlichte sich, wie wir bereits angemerkt
derTitel besagten E.rblassers aufgezeichnet werden, dazu'Tagund Jahr sei- haben, ein beträchtliches Kapital, das aus dem ökonomischen Kreislau{ ab-
nes Hingangs und die Messe, die immerwährend für die Seelen seiner ver-
Bezogen und für das Heil der Seelen aufgewendet wurde, zur Verewigung
storbenen Eltern, Freunde, Angehörigen und li(ohlcäter in besagter Kirche des Andenkens ebenso wie für Mildtätigkeit und Beistand. Sie sicherten,
gelesen werden soll." (1400 [a8]) ,Ich wünsche, daß eine erzene Tafel auf- mehr schlecht als recht, eine Art Sozialhilfe, die heute vollständig an den
gestellt wird, die die Stiftung meines ersten Garten, des verstorbenen St. Staat übergegangen ist.
Jehan, und die rneine verzeichnet, und zwar möglichst nahe dem Orte, wo Diese Praxis bleibt vom 12. bis zum 18. Jahrhundert nahezu konstant,
er bestattet liegr, q/enn es den Damen der Töchter-Gottes gefällig ist, gemäß abgesehen davon, daß die verschwenderische Freigebigkeit der Stifter des
obigem Verzeichnis die Summe von III' Ll. in Emp{ang zu nehmen, die ich 12. Jahrhunderts bei den Testataren des 17. Jahrhunderts nicht mehr anzu-
ihnen für einen immerwährend zu lesenden Gottesdienst am Jahrestage tref{en ist, die gelassener, vernünftiger und vor allem mehr auf die Rechte
meines Hingangs ausgehändigt habe." (1560 [48]) ihrer Erben bedacht sind. Der eigentliche Kern der \(illensäußerung und
Diese Stiftungstafeln sind bis ins 17. Jahrhundert sehr häufig. Sie stehen der Absichtserklärung bleibt jedoch derselbe.
stellvertretend für das Grab, und deshalb werden sie m it größerer Ausführ- Um gekehrt läßt sich in den J ahren von 1740 bis I 760 ein Vandel dingiest
lichkeit erst im folgenden Kapitel unrersuchr werden, und zwar irn Zusam- machen, den Michel Vovelle mit wünschenswerter Deutlichkeit analysiert
menhang mit den "Seelen-Gräbern". hat. (49) "Schluß mit den Stiftungsmessen, die immer seltener werden und
Es gab, außer der Stiftungstafel am Mauerwerk, noch zwei weitere Mittel, an deren Stelle die 'Messen im Kleinen. treten«: ,Die Testatare, selbst die
die Erinnerung an die Absichten des Stifters wachzuhalten. Das eine war reichsten, zoBen es vor, die potentielle, aber trügerische Ewigkeit der im-
das der Aufnahme in den Kanon der Verkündigungsgebete merwährenden Gottesdienste, die ihre Vorfahren gestiftet hatten, in Hun-
- deren gefühls-
mäßige Bedeutung wir zu Beginn dieses Kapirels herausgehoben haben: derte, ja Tausende von sicheren Messen [die Ordensgemeinscha{ten, mit
,\ü'enn besagte 6 Messen gelesen werden, sollen die Kirchenvorsteher ver- Verpflichtungen überhäuft, erhielten von der geistlichen Obrigkeit eine
pflichtet sein, sie bei den Verkündigungen besagter Kirche zu erwähnen."
"Herabsetzung" der Messenzahl zugebilligt, eine Art "geistlicher Bank-
(1628 [48] ) rott«] umzumünzen."
Das andere war die Eintragung in ein nach dem Vorbild der Seelenmes- Lassen wir die tieferliegenden Motivacionen dieses sehr bedeutsamen
senregister geführtes verzeichnis, das der Pfarrer verwaltete und das ihn in Phänomens hier außer acht. Es bringt eine lange historische Entwicklung
die Pflicht nahm. Es trug derr suggesriven Namen marteloyge (d. h. rnarty- z-um Abschluß, die im 12. und 13. Jahrhundert einsetzt und von der Beiset-
rologe, lvlärtyrerverzeichnis), und,sie soll [diese Stiftung] im marteloyge zung des noch sichtbaren Leichnams zur Häufung von Messen und Gebe-
besagter Kirche oder Klosters zum Gedächtnis verzeichnet werden«, sagr ten und zur Verhüllung der sterblichen Reste im Sarg oder unter dem Kata-
ein Testatar im Jahre 1416. (48) falk iührt.
Im Museunr von Cavaillon wird eine ganze Reihe solcher donatifs
(Schenkungsregister) aufbewahrt, d. h.
"Tafeln" aus bemaltem Holz (und
nicht aus stein oder Metail), die zeitlich von7622 bis in die Mitte des 19. Die Bruderschaften
Jahrhunderts reichen. Sie stammen aus denr alten Spital, in dessen Kapelle
das Museum eingerichret worden ist. Jedes Schenkungsregister trägt den Alle diese Veränderungen haben dazu geführt, die weltlichen Vertrauten
Namen des stifters und die Höhe seiner Zuwendung. Mit dieser Reihe ist des Verstorbenen in den Hintergrund zu verweisen und die geistlichen -
etwas verbunden, das durchaus einem Märtyrerverzeichnis ähnelt, ein Ka- Priester, Mönche oder Arme als Repräsentanten Gottes - stärker hervor-
lender im stil des 1 8. Jahrhunderts, auf zwei rafeln verteilt, ,Jeren jede sechs treten zu lassen. Die Abschiedsklage der Hinterbliebenen am Grabe wird
Monate umfaßt und auf denen für jeden Tag der Name des jeweils zu be- von einer Vielzahl von Messen und Gebeten am Altar übertönt, wenn nicht

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ersetzt - einc re gcl.cchrc Klarikalßierurtg tlcs'l <tdt,s. Zur gleichen Zeit aber gramm ist in aller Ausführlichkeit auf den Altarretabeln der Kapellen dar-
- und zwar scit tlenr 14. Jahrhundcrt - bildcn sich Vercinigungen von Laic. gelegt, über die sie in Pfarrkirchen oder andernorts verfügen und von denen
mit dem Ziel der Untcrstützung von Mönchen und Priestern beim t.ci sich viele erhalten haben. Ihre Analyse ist sehr aufschlußreich, sowohl auf-
chenbegängn is. grund der der schriftlichen Bibeltradition entlehnten Elemente als auch der
\Wir haben gesehen, daß sich Verbindungen von wohltätigen
Laien :rn neuen, die sie ihr hinzugefügt haben und die sich eben auf den Tod bezie-
Klöster rnschließen, um in den Genuß der heilsamen Virkung der langc hen.
den Mönchen vorbehaltenen Gebete zu kommen - die Gebetsbruderschaf - .§(erke
Die Ikonographie der der Barmherzigkeit stammt aus der Gleich-
ten. Diese Bestrebungen haben nicht aufgehört, wie das folgende Tesramenr nisrede vom Jüngsten Gericht im 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums,
aus dem Jahre 1667 (50) zeigt:
"lch wünsche, daß nach meinem Hingang das, wie im dritten Kapitel erwähnt, auch die Hauptquelle der Eschatologie
den ehrwürdigen Kartäuserbrüdern zu Paris davon Mittei.lung gemacht und des Hochmittelalters ist. ,Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird
ihnen die Aufnahme- und Mitgliedsurkunden zugeschickt werden, die ich in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen
[zweifellos aufgrund von Geldzuwendungen] für meine Familie vom ehr- auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werdetr vor ihm alle Völker versam -
würdigen Abt des Klosters La Grande Chartreuse erhalten habe, damit sie, melt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die
\venn es ihne, genehm ist, in ihrem Ordenshaus die herkömmlichen Gebete Schafe von den Böcken scheidet." Und zu den Schafen zu seiner Rechten
sprechen und, zum Heil meiner See.le, auch ihre Mitbrüder an anderen Or- spricht er: "Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich,
ten davon in Kenntnis setzen fwie zuzeien der ,schriftrollen" der Toten], das euch bereitet ist von Anbeginn der 1Welt. Denn ich bin hungrig gewesen,
da ich großes vertrauen in das Gebet so heiliger persönlichkeiren setze, an und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich ge-
denen ich im Laufe meines ganzen Lebens mit herzlicher Liebe gehangen tränkt. Ich bin ein Gast lbospesl gewesen, und ihr habt mich beherbergt.
h abe. u Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen,
Aber die Bruderschaften des I 4. bis 1 8. Jahrhunderrs unterschieden sich und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen fin carcere) gewesen, und ihr
von den Dritten orden ocler den Klostervereinigungen ebenso sehr wie von seid zu mir gekommen.« (Matthäus 25,31-36)Die ersten Darstellungen des
den Zunft-Bruderschaften und den Verwaltungsbürokratien, die Michel Jüngsten Gerichts hatten diese bewegenden Szenen mit Stillschweigen
Agulhon Bruderschaftsinstitutionen genannr hat. Richtig ist gleichwohl, übergangen, so sehr war die Ikonographie noch vom großen Hauch des
claß alle funktionalen Verbände der letzten Jahrhunderte des Ancien R6- Endes der Zeiten bestimmt. Die Bruderschaften lösen sie aus dem weitläu-
ginre eine Art religiösen Doppelgänger haben - eben eine Bruderschaft. figen eschrtologischen Fresko heraus und stellen sie, abseits, zu einer Folge
Die Bruderschaften, die allen neuen Formen der Frömmigkeit (etwa der vertrauter Szenen zusammen, in denen die Bettelmönche Brot, '§üein und
Abendmahls-verehrung) als vorbild gedient haben, sind Gesellschaften, Kleidung erhalten und die umherschvrei{enden Pilger in den Klosterhospi-
die auf dem freiwilligen Zusammenschluß von Laien beruhen - nach der zen beherbergt, versorgt und besucht werden. Unter den so betreutcn Be-
Formulierung von M. Agulhon (51) "Gesellschaften, in denen niemand dürftigen erkennt man auch Christus. Der Künstler hat es jedoch nicht ge-
aufgrund sei.er Funktion. seines Alters oder Berufsstandes, sondern aus- wagt, Christus auch hinter Gefätrgnisgitterstäben und in Folterkammerr.r
schließlich eufgrund seines freien \ü/illens Mitglied ist". \ron Laien geleitet mitabzubilden. V/enn ihm aber die Gesellschaft der Verurteilten auch er-
und verwaltet (selbst wenn zuweilen einige Geistliche sich aus eigenem An- spart bleibt, so ist er doch immer an der Seite des Redlichen zu f inden, der
trieb eingefunden haben), treten sie in Gegensatz- zur'Welt der Kleriker, dcm Henker ein Geldstück reicht, um die Folter zu mäßigen, oder den Ver-
und ihrc wachsende Bedeutung für alle Aspekte des Umgangs mit dem urteilten am Pranp;er zu essen und zu trinken bringt. Diese lebendigen und
Tode scheint dem zu widersprechen, n,as oben über de. klerikalen Kolo- pittoresken Darstellungen schmückten die Altarau{sätze und die Glas{en-
nialismus ausgeführt wurcle. vergeltung der Laien? oder eher klerikare ster der Kapellen. Keine Ikonographie war volkstümlicher. (52)
Mimikry der Laien unrer der cagoule der Bußfertigen ? Die Bruderschaf ten Der \üIerke der Barmherzigkeit waren, nach dem \Wortlaut des Mat-
widmen sich den Verken der Barmherzigkeit - daher der Ntme charitö, thäus-Evangeliurrs, sechs an der Zahl. Sie werden nun aber in den bildli-
der im Norden und lweste, Frankreicl.rs fiir sie gebräuchlich ist. Ihr pro- chen Darstellungen der Bruderschaften vom Ende des Mittelalters um ein

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siebentes erweitert, das den Menschen sehr am Herzen liegen mußte, wenn Nachbarn bei ihrem Totengeleit, sehr altern Brauch und Herkommen ge-
es denn schon Eingang in den Heiligen Text f and: mortuus sepellitur . Die mäß, völlig sicher sein. In den Städten aber, deren Aufschwung im Hoch-
Toten zu bestatten - das hat den gleichen geachteten Grad von Mildtätigkeit mittelaIter derart ungestüm verlief , verf ügte der Arme oder Alleinstehende
erreicht wie die Hungrigen zu speisen, die Durstigen zu erquicken, die (und das ging Hand in Hand) in den Todesliturgien nicht mehr über die
Frierenden zu kleiden, die Pilger zu beherbergen und die Kranken und Ge- Solidarität seiner Gruppe, die auf dem Lande intakt blieb, noch gar über
{angenen zu besuchen. Das Evangelium ist jedoch hinsichtlich der Grable- den neuen Teilnehmerkreis der beruflichen Spender von Ablaß und Aner-
gungsriten sehr zurückhaltend. Als Jesus auf Scharen von Klageweibern kennung verdienstlicher\Werke - Priester, Mönche und Arme der Pfarrge-
trifft, die die Toten zum Klang von Flöten aus der Stadt geleiten, sagt er meinde (ein "Orden" von Armen, die ein weiter Abstand vom unglückseli-
nichts. Er äußert vielmehr sogar jene rätselhaften Worte, die man durchaus gen Alleinstehenden trennte). Er wurde dort verscharrt, wo er starb, nicht
auch als Verdammung jedes Leichengepränges auffassen könnte: "Laß die einmal immer in kirchlicher Erde, wenigstens nicht vor dem 16. Jahrhun-
Toten ihre Toten begraben!" Es sieht so aus, als hätte das Hochmittelalter dert. Deshalb belasteten sich die Bruderschaften mit der Aufgabe, ihn mit
die Totenfeier wieder in ein Evangelium eingesetzt, dessen Schweigen in ihren Gebeten zu Grabe zu geleiten. In Rom wurde die Compagnia della
dieser Hinsicht ihm geradezu unerträglich schien. Orazione e della Morte im Jahre 1560 mit dem ausdrücklichen Ziel gegrün-
Das mortuus sepellitur fehlt noch in der Liste der '§(erke der Barmherzig- det, auf dem Friedhof ihrer Kapelle die auf freiem Feld entdeckten oder aus
keit, wie sie das Speculum Ecclesiae des Honorius von Autun aufstellt. (52) dem Tiber geborgenen Leichname zu bestatren. Die Bruderschaften erset-
Es wird dagegen im Rationale d.iainorum ot'ficiorum des Theologen und zen dem Verstorbenen aiso das nichtvorhandene Vermögen.
Liturgisten Jean Beleth verzeichnet. In der Ikonographie tritt es etwa zeit- In Frankreich setzte sich die Compagnie du Saint-Sacrement (Bruder-
gleich mit den Bruderschaften auf : man begegnet ihm im 14. Jahrhundert schaft vom Heiligen Abendmahl) nicht nur für die Bestattung der Armen
auf Giottos Basreliefs am Campanile von Florenz. Vom 15. Jahrhundert ein, sondern leistete ihnen auch Hilfe und Beistand im Augenblick des To-
wird es als Motiv dann alltäglich, und zwar deshalb, weil die Fürsorge für des: ,Sie wünschte ihnen besseren Beistand zukommen zu lassen, als sie es
die Toten von allen Werken der Barmherzigkeit das vorrangige für die Bru- herkömmlicherweise hoffen durften.. Das war, wohlgemerkt, nur der Fall
derscha{ten ist. Ihre Namenspatrone rekrutieren sich häufig aus der Schar in den großen Städten. Sicher erhielten die Armen auch vordem die Sterbe-
der Schutzheiligen, der Beschirmer vor Pest und Seuchen: der Heilige Se- sakramente; die Bruderschaft war jedoch der Ansicht, das reiche nicht aus:
bastian, der Heilige Rochus, der Heilige Gondebertus. ,Sie wußte, daß, seitdem alle Bettelmönche die Letzte Ölung erhalten hat-
Die Bruderschaft steht für drei Bedürfnisse ein. Zum ersten für das nach ten, niemand sich mehr die Mühe machte, ihnen im Todeskampf Beistand
Garantien {ürs Jenseits: Die Verstorbenen dürfen der Gebete ihrer Mitbrü- zu leisten, und man sie sterben ließ, ohne ihnen auch nur das geringste \iüort
der sicher sein, sie werden häufig im Grabgewölbe der Bruderschaft beige- des Trostes zu gönnen. Diese Behandlung bewog sie, diesen so verlassenen
setzt, unter dem Fliesenboden der Kapelle, in der die Gottesdienste für ihr Armen in einer Zeit beizustehen und nach ihnen zu sehen, da sie ein derart
Seelenheil stattfinden. Das Bahrtuch (palliurn) der Bruderschaft verhüllt die großes Bedür{nis nach geistlicher Hilfe hatten." Sie wurden zweifellos nicht
Bahre, und die Mitbrüder nehmen an der Seite (oder an der Stelle) des Kle- der Einsamkeit preisgegeben; sie hatten wohl noch leibliche, aber keine
rus und der Vertreter der vier Bettelorden am Geleit teil. Die Bruderschaft geistlichen freunde. ,Deshalb schickte sie einige Mitbrüder, um sich mit
sorgt sich ktinftig um die Gottesdienste und Gebete, die Kirchenvorsteher den Pfarrern der Gemeinden zu beraten, in die die größte Zahl der Bettel-
und Klöster zu vernachlässigen oder.zu vergessen beargwöhnt werden. mönche sich zurückzogen. Man sieht ledoch nicht, daß dieser gute Ville
Das zweite Bedürfnis ist das des Beistands für die Armen, die ihre Mittel- großen Erfolg gehabt hätte.. (53;
losigkeit aller Möglichkeiten beraubt, sich geistliche Fürsprecher gewogen Das dritte Bedürfnis schließlich, dem die Bruderschaft ihre Daseinsbe-
zu machen. Die Sensibilitär der Zeir empört sich kaum angesichts der unge- rechtigungverdankte, war das Bedürfnis nach Ausrichtung der Leichenbe-
heuren Zahl von Seuchenopfern; aber sie läßt es nicht zu, daß die Toten gängnisse der Pfarre. In vielen Gegenden haben die Kirchenvorstände ihnen
ohne Fürbittegebet ihrem Los überlassen werden. In den ländlichen Ge- die Organisation der Obsequien und vor allem die des Geleits übertragen:
meinden durften selbst die Armen der Anwesenheit ihrer Freunde und ,Die Bruderschaften der Bußfertigen waren aiso im Ancien R6gime fak-

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tisch, wenn auch rricht rechtmäßig, mit der Ausübung einer regelrechten wenig in Verzug geraten sind? Oder setzt sich hier die Treue zu alten, auf
öf{entlichen Funktion betraut... Danach Inach ihrenr Verschwinden] ste- dem Lande noch immer praktizierten Bestattungsformen durch? In diesem
hen der Abwicklirng der Leichenbegängnisse zuweilerr Hindernisse inr Falle müßte - in einem Atemzug mit der »entwurzelnden" Rolle der kirch-
\Wc.ge. Diese Hindernisse geben sogar eines der Hauptargumente ab, die, lichen Re{ormen - das hartnäckige uberdauern einer vergangenheitstreuen,
unterm Konsulat, von den Anhängern der \ü/iedereinführung der Bruder- den Priestern gegenüber ebenso zurückhaltenden wie von ihnen beeinfluß-
schalt ins Feld geführt werden" (M. Agulhon [5a]). In der Normandie las- ten Religion selbst bei den {rommen Laien konstantiert werden - leden{alls
sen sich, nach M. Bee, die charitds auch heute noch in der Erfüllung ihrcr vor dem Tridentiner Konzil. Gleichwohl so[[te man dieser Remanenz des
traditionellen Aufgaben nicht beirren, und die Gemeinderäte haben ihnen Grabes in einem Beisetzungsbrauchtum, das es im allgemeinen eher ver-
bis auf unsere Tage das Monopol an den Trauerfeierlichkeiten überlassen. deckt, nicht allzu große Bedeutung beimessen.
So sind die Bruderschaften sehr rasch zu lnstitutionen des Todes ge§/or- Die Bruderscha{ten nehmen auch am feierlichen vollzug der großen Lei-
den- und es auch sehr lange geblieben. Ihre Entwicklung steht im 14. Jahr- chenbegängnisse reil. sie gesellen sich dann - so im Midi von Michel Vovelle
hundert mit den Veränderungen in Zusammenhang, die den Leichenbe- - den vertretern der vier Betelorden zu. und manchmal treren sie - so in
gängnissen und Seelenmessen damals den Charakter religiöser Feierlich- der Normandie, die von M. Bee untersucht worden ist- sogar an deren
keircn und kirclrlicher Ereignisse verleihen. Und doch ist das Bild des stelle. Die Tracht der Mitbrüder, die im süden :Zvr cagoule der Büßer wird,
Todes, an dem die Tafelbilder der Bruderschaften festhalten, nicht das des ist die Trauerkleidung, die die Teilnehmer am Geleit anlegten, wie man sie
Gottesdienstes in der Kirche, der in Anwesenheit des Leichnams, aber vor auf den Grabmälern von Philippe Pot im Louvre und der Herzöge von
seiner reprösentation abgehalten wird. Es ist im Gegenteil die sehr alte Burgund in Difon sieht: eine Art geistliches Gewand, das sie - ihrem offen
Szene der Grablegung: Die Mitbrüder tragen den Toten, manchmal in ei- bekräftigten und unabhängigen Laientum zurnTrotz - zu einer Art von
nem Sarg, manchmal einfach nur im Leichentuch (ir.r einer serpillidra Mönchen macht, ähnlich den Mitgliedern eines Dritten Ordens. Deshalb
[Sackleinwand]), und Beleiten ihn mit vorangetraBenem Kreuz und unter ist ihnen, in und außerhalb der Kirche, eine offizielle Funktion zugebilligt
Aussprengung von Weihwasser ins Grab eines Beinhauses. worden.
Es liegt sicherlich daran, daß diese Bilder eine Beisetzung als Verk der unter dem Druck dieser neuen Andachtsformen - neu wenigstens für die
Barmherzigkeit, die eines Armen darstellen, dessen Leichnam nicht in der Mehrheit der Laien - hat sich die Topographie der Kirchen im 14' Jahrhun-
Kirche aufgebahrt wird: Die Grablegung wird in seinem Falle nicht mehr dert verändert, jenem entscheidenden'Wendepunkt, der in unseren Analy-
von all den kirchlichen Zeremonien verdeckt, die sie sonst umranken und sen srändiB wiederkehrt: Den Messen und Fürbittgottesdiensten ist da-
nahezu unkenntlich machen. Das Geleit- in der Form, wie es von den Mit- mals ein besonderer Raum zugewiesen worden. In den alten karolingischen
brüdern geleistet wird - {ällt mit der Beisetzung zusammen. Abteien v/aren zusärzliche Altäre an den Pfeilern aufgestellt (wie es auch
Irn Veltbild der Bruderschaften hat sich das Bild des Todes und der Bet- in Notre-Dame in Paris vor der großen Säuberung der Kanoniker des 18.
Praxis aber, ohne
tung ins Erdreich eine Bedeutung bewahrt, die es bei Klerikern und Mön- Jahrhunderts der Fall war). Möglicherweise hat sich diese
chen verloren hat - selbst wenn es sich nicht um eine Armenbeisetzung aus allgemein verbreitet zu sein, auf die Abteien, die Kathedralen und die Stifts-
Barrnherzigkeit handelte. Ein Bruderschaftsretabel vom Anfang des 16. kirchen Leschränkt.
Jahrhunderts, das inr Rijksmuseum von Amsterdam aufbewahrt wird, Vom 14. Jahrhundert an mußte allen Kaplänen und Hilfspriestern' die
zeigt, im Hof eines Friedhofs, ein gemauertes Grabgewölbe, wie es für jene ihren Gläubigern hohe ,Summen.. an Messen, Laudes, Vigilien, Fürbitten
Zeit eine Ausnahme ist, und den Totengräber, der mit einer Vinde die wd Liberas schuldeten, Platz eingeräumt werden. Zu diesem Zweck wur-
Grabplatte anhebt. Dieses archaische Bild des Todes, an dem die Bruder- den eigene Kapellen erbaut, und zwar entweder von Familien, wie bereits
scha{ten festhalten, macht deutlich, wie sehr sie der Tradition der Ver- angemerkt, oder von Bruderschaften, die die Seitenwände des Schiffs mit
sarnmlung des Geleits um das Grab verhaftet bleiben. Beschlag belegten. Es gab fortan kaum noch Kirchen ohne Seitenkapellen,
Liegt das daran, daß sich die Bruderschalten aus Laien z-usammensetzen, die sehr häufig auch zu Beisetzungszwecken benutzt wurden - als Grab-
die hinsichtlich der allgemeinen Tendenz zur Klerikalisierung des Todes ein stellen von Familien oder Gemeinscha{tsgrdbern von Bruderschaften.

240 24t
Garantien fürs Diesseirs und fürs Jenseits. AIs das Testament im Alltagsbrauchtum de s 12. Jahrhunderts wieder auf-
Die Funktion des Testaments. taucht, ist es nicht mehr das, was es in der römischen Antike war und was
Die Umverteilung der Vermögen es gegen Ende des 18. Jahrhunderts wieder werden sollte: ein Akt des Pri-
vatrechts, ausschließlich dazu bestimmt, den Erbgang der hinterlassenen
Der Leser, der unserer Geschichte der Bestattungsbräuche vom 12. bz*'. Güter zu regeln. In erster Linie war es nämlich ein religiöser Akt, den die
13. Jahrhundert an gefolgt ist, hat sich schwerlich des Eindrucks des ddjä Kirche selbst den völlig Mittellosen abforderte. \Wie das Weihwasser als Sa-
uz, der \üiederholung von etwas längst Gehörtem entziehen können. Alles krament aufgefaßt, wurde es von der Kirche als verbindlicher Brauch
verläuft in derTat so, als ob die srädtischen Menschenmassen des 13. und durchgesetzt und bei Strafe der Exkommunikation obligatorisch gemacht:
'Wer
14. Jahrhunderts in einem Abstand von mehreren Jahrhunderten die Prak- ohne Hinterlassung eines Testamentes starb, konnte im Prinzip weder
tiken und Vorstellungen der karolineischen Mönche einfach wiederhoIten in der Kirche noch auf dem Friedhof beigesetzt werden. Die Niederschrift
- Fürbittgebete, die sich zu immerwährenden Stiftungen weiterentwickeln, und Aufbewahrung des Testamentes oblag ebenso dem Pfarrer wie dem
Serien von ,Messen im Kleinen" (M. Vovelle), vielleicht sogar prozessions- Notar. Venn der Notar schließlich auch im 16. Jahrhundert alle Testa-
artige Trauerkondukte, Gebetsverbrüderungen mit Pries;ern, Totenrollen mentsangelegenheiten für sich allein reklamieren kann, so fallen sie für
und Seelenmessenregister, die wie Vorbilder oder Vorwegnahmen der lange Zeit doch in den Zuständigkeitsbereich der Kirche.
späteren Bruderschaf ten wirken. Der Gläubige bekennt gegen Ende seines Lebens also seinen Glauben,
Eine bestimmte Auffassung des Todes, die sich von der der alten Kirche gesteht seine Sünden ein und sühnt sie durch einen öffentlichen, ad pias
unterschied, reifte und entwickelte sich bei den Mönchen der karolingi- causas schri[tlich niedergelegten Akt. Die Kirche ihrerseits kontrolliert,
schen Epoche. Sie brachte ein gelehrtes religiöses Denken zum Ausdruck, durch das Testament verpflichtet, das Versöhnungswerk des Sünders und
das des Heiligen Augustinus, das des Heiligen Gregor des Großen. Sie griff erhebt auf seine Hinterlassenschaft einen Zehnten, der zugleich ihr mate-
allerdings nicht unverzüglich auf die \(elt der Laien über, die der Ritter und rielles Vermögen und ihren geistlichen Schatz mehrt.
Bauern. Die blieben ihrer unvordenklich alten, traditionellen heidnisch- Deshalb besteht das Testament, wenigstens bis zur Mitte des 18. Jahr-
christlichen Einstellung treu. Vom 12.b2w.13. Jahrhundert an aber - und hunderts, aus zwei gleichermaßen wichtigen Abschnitten, den causae piae
zweifellos unter dem Einfluß der Bettelmönche, namentlich in den neuen einerseits, den Verlautbarungen zur Aufteilung der Erbschaft andererseits.
Städten - ließ sich die Menge der [.aien ihrerseits von den aus den alten Ab- Die causae piae folgen einander in unveränderlicher Reihenfolge, und diese
teien stammenden Impulsen gefangennehmen, von Vorstellungen wie den ihre Reihenfoige ist noch die gleiche wie die der Gebärden und Formeln
Fürbittgebeten, dem Schatz der Kirche, der Gemeinschaft der Heiligen und Rolands in seiner Todesstunde, so als ob das Testamenc - oder sein f rommer
der Macht geistlicher F'ürsprecher. Teil -, bevor es schriftlich niedergelegt wurde, mündlich weitergegeben
\(enn sich die Menge der Laien aber damals diesen Vorstellungen öff- worden wäre: ,Bei sich bedenkend [die beiden Testatare: ein Pariser Bäcker
nete, so nur deshalb, weil sie jetzt dafür aufnahmebereit war: Früher waren und seine Frau im Jahre 1560], daß die Tage aller menschlichen Geschöpfe
die Mentalitätsunterschiede zwischen ihr und den Klostergemeinschaften gezählt sind, und sie davon müssen, ohne zu wissen, wann und wie, ohne
als Inseln der Schriftkultur und Vorläufern der Moderne allzu groß gewe- aus diesem Leben in das andere hinübergehen zu wollen ohne Testament,
sen. Umgekehrt hatten die beiden Mentalitäten sich im städtischen Milieu aber bei klarem '\üissen und Verstand [die Notare hatten im allgemeinen
des 13. und 14. Jahrhunderts einander angenähert. Eines der Bindeglieder eine banalere Formulierung zur Hand: "Bedenkend, daß nichts gewisser ist
dieser Annäherung haben wir gerade untersucht: die Bruderscha{ten. Ein als der Tod, nichts ungewisser aber als die Stunde des Todes, und deshalb
anderes ist das Testament. Das Testament ermöglichte es jedem Gläubigen, in Erwägung des nahen Endes seines Lebens, ohne das Zeitliche ohne Te-
sogar jedenr Gläubigen ohne Familie und Bruderschaft im strengen Sinne, stament segnen zu wollen" - so ein Stadtparlamentspräsident im Jahre
in den Genuß der Vorteile zu kommen, die die auf wechselseitigem Aus- 1413], haben sie, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Gei-
tausch beruhenden Gebetsvereinigungen des Hochmittelalters ihren Mit- stes, ihr Testament auf die folgende Art und \üeise abgefaßt." (55)
gliedern boten. Es folgt dann zunächst das Glaubensbekenntnis, das das Confiteor pa-

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raphrasiert und den himmlischen Hofstaat beschwört, wie er sich im Zim- An dieser Stelle wurden die {rommen Legate eingefügt, die dem Testa-
mer zu Häupten des Sterbenden oder am Tage des Endes der Zeiten im ment vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert seine tiefe Bedeutung verlei-
lVeltenhimmel versammelt. hen.
"Zunächst empfehle ich meine Seele Gott, meinem Schöpfer, der sehr Erinnert sei an das, was im vorhergehenden Kapitel über die leiden-
holden und glorreichen Jungfrau Maria Muttergottes, dem Erzengel Mi- schaftliche Liebe zum Leben und zu den irdischen Dingen, wie sie der
chael, den Heiligen Peter und Paul und dem ganzen gebenedeiten Hofstaat Mensch des Hochmittelalters und der Renaissance empfand, und über den
des Paradieses.. (1394).
"Zunächst, als gute und au{richtige Katholiken [im Ein{luß dieser Liebe auf den Sterbenden gesagt wurde'
Jahre 1560, nach der Reformation also], haben sie empfohlen und empfeh- Der Sterbende sah sich Bedrängnissen ausgesetzt, die für uns Heutige nur
len sie ihre Seelen, wenn sie den fleischlichen Leib verlassen, Gotr unserm schwer nachvollziehbar sind und die ihm das Testament hinter sich zu las-
Herrn und dem Erlöser Jesus Christus, der gebenedeiten Jungfrau Maria, sen ermöglichte. Diese Bedrängnisse rühren von der gleich he{tigen An-
dem Engel und Erzengel Michael, den Heiligen Peter und Paul, dem Evan- klammerung ans Diesseits wie ans Jenseits her. Die modernen Kommenta-
gelisten Johannes [der Heilige Johannes als Fürsprecher beim Jüngsten Ge- toren, die in dieser Hinsicht der traditionellen christlichen Predigt folgen,
richt war der Eoangelisr - es bahnt sich ein übergang zum Täufer im end- neigen dazu, diese beiden für sie unversöhnlichen Gefühle einander entge-
gültigen und heute au{gegebenen Text des Cont'iteor an], dem Heiligen genzusetzen. In der bloßen Alltagswirklichkeit koexistierten sie iedoch und
Nikolaus, der Heiligen Maria Magdalena und dem ganzen himmlischen schienen sich sogar gegenseitig zu bestätigen. In unseren Tagen müssen wir
Hofstaat des Paradieses." feststellen, daß sie sich gegenseitig abschwächen.
Es folgen die Viedergutmachung der unrechtmäßigen Handlungen und Der Sterbende des Mittelalters hatte die folgende Alternative vor AuBen:
die Vergebung anderer Schuldiger: "Item, er will und verlangt, daß von sei- entweder nicht auf den Genuß der temporalia - Menschen und Dinge - zu
nem Testamentsvollstrecker seine Schulden bezahlt und seine unrechtmä- verzichten und Schaden an seiner Seele zu nehmen, wie die Männer der Kir-
ßigen Handlungen, wenn es welche gibt, vergolten und wettgemacht wer- che und die gesamte christliche Tradition ihm einredeten, oder sich ihrer
den." Der \üinzer aus Montreuil benutzt im Jahre 1628 das zu entäußern und das ewige Heil zu retten: temporalia aut aeterna?
zusammengeschriebene \lort tortsfaits (begangenes Unrecht), wie es auch Das Testament §/ar also das religiöse und gleichsam sakramentale Mittel,
Jean R6gnier zur Mitte des 15. Jahrhunderts tut: sich die aeterna zu erwirken, ohne gänzlich auI die temporalia verzichten
zu müssen, die Reichtümer mit dem persönlichen Heilswerk zu verbinden.
Je aeuil que mes debtes se palent Das Testament ist gewissermaßen ein zwischen dem sterblichen Indivi-
Premiirement et mes tortst'aiz. duum und Gott durch Vermittlung der Kirche geschlossener Versiche-
rungsvertrag: ein Vertrag mit doppelter Zweckbestimmung; einerseits
"Ich vergebe von ganzem Herzen allen, die mir irgendeine Unbill oder ,Passierschein {ür den Himmel" - nach einer Formulierung von J' Le Goff
ein Argernis zugefügt haben, und bitte Gott, ihnen diese Fehler zu verzei-
(56); in dieser Hinsicht garantierte es den Bund mit der Ewigkeit, wenn
hen, wie ich auch die bitte, die von mir irgendwelche Verstöße, Übergriffe
auch die Prämien dafür mit zeitlich-weltlichem Geld bezahlt wurden, den
oder Schäden zu erdulden hatten, mir um der Liebe Gottes willen zu verge-
frommen Legaten.
ben." (55) Das Testament ist aber auch ,Passierschein auf Erden", und in dieser
Daran schließt sich die lVahl der Grabstelle, für die wir bereits mehrere
Hinsicht legitimiert und ermächtigt es zum - sonst verdächtigen - Genuß
Beispiele zitiert haben. Endlich dann die Anordnungen und Wünsche zum
der im Laufe des Lebens erworbenen Güter, der temporalia. Die Prämien
Geleit, zur Fackel- und Kerzenbeleuchtung und zur Gottesdienstordnung,
für diese Garantie werden diesmal in geistlicher lVährung entrichtet, in
mildtätige Stiftungen, Almosenverteilungen und die Verfügungen hin-
Messen und mildtätigen Stiftungen als spirituellem Gegenstück zu den
sichtlich der Grabschrift oder des Bildnisses.
frommen Legaten.
Je aeuil... Ich will, daß zunächst meine Schulden beglichen werden und meine unrechtmä-
So gewährte das Testament einerseits eine Option au[ die aeterna ; ande-
ßigen Handlungen. rerseits rehabilitierte es dre temporalia.

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Die erste Bedeutung ist die bekanntere. Die Historiker haben auf den dert. Der Adelige ,läßt seine Erben durch seine frommen und mildtätigen
Umfang der Güterübertragung während des Mittelalters und lange nachher Stiftungen verarmen: Legate zugunsten cler Armen, der Hospitäler, der
hingewiesen. Kirche und der religiösen orden, Messen fur die Ruhe seiner Seele, die nach
In den ältesten Fällen wurden die Erbgänge vor dem Tode abgewickelt, Hunderten und Tausenden zählen." J. Heers sieht in solchen Verhaltens-
so, wenn Grafen und re iche Kaufleute sich aller ihrer Reichtümer entäußer- weisen weniger einen globalen Vesenszug der Mentalität als ein klassen-
ten, um sich ins Kloster zurückzuziehen und dort zu sterben - das Kloster spezifisches Merkmal: ,Die \ü(eigerung, sparsam zu wirtschaften und die
war im allgemeinen der Hauptnutznießer dieser Einkehr. Für lange Zeit er- Zukun{t des eigenen Hab und Guts ins Auge zu fassen, ist ein Zeichen der
hält sich der Brauch, vor dem Tode die Kutte des Mönchs zu nehmen, wie Mentalität einer Klasse, die sich in dieser Geschäftswelt verspätet aus-
auch die Mitgliedschaft in einem Dritten Orden dazu berechtigte, die den nimmt.. Aber fanden sich die gleichen Gewohnheiten nicht auch au{ seiten
neu Hinzukommenden die Gebete der Mönche und eine Grabstelle in der der reichen Kaufleute ? Ein häuf ig zitierter Text von sapori über die Bardi,
Kirche des Konvents sicherte. eine Florentiner Kaufmannsf amilie, unterstreicht ,den Kontrast zwischen
Vollständige Entsagung und vorzeitiger Rückzug ins Kloster, im 12. und dem Alltagsleben dieser draufgängerischen und beharrlichen Menschen, die
I 3. Jahrhundert noch ziemlich häufig, werden vom 1 5. an seltener: In einer .,ng.heu.. vermögen zusammenrafften, und der Angst vor ewiger strafe,
bereits urbanisierteren und seßhafteren §üelt war der Greis (von 50 Jahren !) in Jer sie lebten, weil sie eben diese Reichtümer mit zweifelhaften Mitteln
der Versuchung ausgesetzt, sich seine ökonomische Aktivität zu bewahren an sich gebracht hatren.. Im Jahre 13OO vermacht ein Kaufmann in Metz
und die Verwaltung seiner Reichtümer nicht aus der Hand zu geben. Aber .ien Kirchen mehr als die Hälfte seines Kapitals. J. Lestoquoy ist im 13. und
die Erbgänge po st mortem , dnrch Testament abgewickelt, blieben zahlreich 14. Jahrhundert bei Handelsherren und Bankiers aus Arras und Flandern
und durchaus bemerkenswert. Auf jeden Fall geht lediglich ein Teil des auf dieselbe Freigebigkeit gestoßen. (5s) Muß in einer solchen umvertei-
Nachlasses auf die Erben über; der andere wurde von der Kirche und von lung der Einkünfte aber nicht ein in entwickelten vorindustriellen Gesell-
frommen Stiftungen erhoben. "'Wenn man sich", schreibt J. Le Goff, "nicht ,chrft.n sehr verbreiteter Brauch gesehen werden - Gesellschaften, in de-
ständig die zwanghafte Besessenheit von der Sorge ums Seelenheil und der nen Reichtum rhesauriert wird ? Dieses Problem ist in aller Deutlichkeit von
Angst vor ewiger Verdammnis vor Augen hält, von der die Menschen des p. veyne (5g) gesehen worden: ,Die vorindustriellen Gesellschaften sind
Mittelalters umgetrieben wurden, wird sich auch kein Verständnis für ihre durctL für uns unvorsrellbare Sprünge und Brüche in der Stufenleiter der
Mentalität einstellen, und man bleibt ratlos angesichts dieses Verzichts auf individuellen Einkün{te und durch das Fehlen von Investitionsmöglichkei-
die geballte Anstrengung eines habsüchtigen Lebens, Verzicht auf Macht, ten charakterisiert, wenn man von einigen beruflichen spezialisten und zu
Verzicht auf Reichtum, der auf eine außergewöhnliche Mobilität der Ver- fedem Risiko Entschlossenen absieht. Bis ins
vorige Jahrhundert bestand
mögen hinausläuft und, sei es auch in extremis, unter Beweis stellt, daß die das veltkapital im wesentlichen aus bewirtschafteten Ländereien und
\webstühle - spielten
am entschiedensten nach irdischen Gütern gierenden Persönlichkeiten Häusern;die Produkrionsmittel - Pflüge, schiffe oder
letztlich immer der ri(elt entsagen [aber, möchte ich hier einf lechten, m ußte in diesem Invenrar nur eine begrenzte Rolle. Erst seit der industriellen
man, um ihr entsagen zu können, sie nicht zuvor bis zum ttrü ahnsinn geliebt Revolution kann der jährliche Mehrwert wieder ins produktive Kapital
haben - so wie heute der Rückzug aus der Konsumgesellschaft zunächst investiert werden, in Maschinen, Eisenbahnen usw.. ' Früher ging dieser
in den Kreisen derer vorkommt, die sie bevorzugt behandelt hat, und um- Mehrwert, selbst in ziemlich primitiven Gesellschaften, gewöhnlich in öf-
gekehrt zum Argernis nur für die wird, die sich von ihr noch Vorteile er- fentliche oder religiöse Bauvorhaben sin', und - wie ich hinzufügen
hoffen?], und dieser'§(/esenszug, der der Akkumulation der Vermögen ent- möchte - in gehortete schätze und in sammlungen von Goldschmuck und
gegenarbeitet, trägt dazu bei, den Menschen des Mittelalters vorerst Kunstwerken, Sammlungen von schönen Objekten {ür die weniger Rei-
Aufschub vor den materiellen und psycho.logischen Bedingungen des Ka- chen, Schätze von \iv'issenschaft und schöner Literatur schließlich für die
pitalismus zu gewähren.n (56) Männer der Kirche und des Richterstandes. "was die Reichen ehemals von
J. Heers (57) seinerseits sieht im ungeheuerlichen Ausmaß der Stiftungen ihren Einkünlten nicht verzehrten, horteten sie. Aber ieder gehortete
einen der Gründe für den ökonomischen Ruin des Adels im 14. Jahrhun- Schatz mußte eines Tages ,dethesauriert' werden; war dieser Tag gekom-

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men, zögerte man v/eniBer als wir heute, ihn zum Bau eines Tempels, einer Max'§ü'eber hat dem Kapitalisten, der keinen unmittelbaren Genuß aus
Kirche oder für fromme oder mildtätige Stiftungen zu verwenden, denn das seinem Reichtum zieht, aber Profit und Kapitalakkumulation als Zweck an
waren keine verpaßten Gewinnchancen. Wohltäter und fromme oder mild- sich auffaßt, den präkapitalistischen Menschen gegenübergestellt, dem be-
tätige Stifter haben vor der industriellen Revolution einen sehr verbreiteren reits der bloße Umstan d, d.al| er Besitz hat, Ilef riedigung verschafft' Aber
Typus des homo oeconomiczs dargestellt, von dem sich nur noch wenige er mißversteht die Beziehung, die in beiden Fällen zwischen Reichtum und
Vertreter erhalten haben, die Brößten ihrer Art, Emire von Kuweit oder Tod besteht, wenn er schreibt: 'Daß jemand zum Zweck seiner Lebensar-
amerikanische Milliardäre, die Krankenhäuser oder Museen für moderne beit ausschließlich den Gedanken machen könne, dereinst mit hohem ma-
Kunst stiften." teriellen Gewicht an Geld und Gut belastet ins Grab zu sinken, scheint ihm
perverser Triebe: der
Paul Veyne räumt ein, daß "die antike Stadt sich [auf der Grundlage die- Idem präkapitalistischen Menschen] nur als Produkt
ses §(ohltätertums] fünf Jahrhunderte lang erhalten hat". Eine ebenso ,auri sacra fames., erklärlich." 1e t1
grundlegende Funktion muß im Mittelalter der Umverteilung eines Teiles Tatsächlich ist das genaue Gegenteil richtig: Gerade der präkapitalisti-
der akkumulierten Vermögen durch testamentarische Schenkungen zuer- sche Mensch will ,mit Geld und Gut belastet ins Grab sinken" und seinen
kannt werden, die, wenn auch bescheidener und in angemessenerem Ver- schatz in aeternum behalten, weil er danach giert und sich ohne gewaltsame
hältnis zum betreffenden Gesamtnachlaß, auch im 16. und I 7. Jahrhundert Bekehrung nicht davon lösen kann. Zwar nahm er den Tod hin; aber er
noch fließen. J. Lestoquoy hat im 16. Jahrhundert in Arras einen Nieder- konnte sich nicht entschließen, 'den §V'einberg, Haus und Garten' zu las-
gang der Großzügigkeit und, umgekehrt, im 17. eine Rückkehr zur Gene- sen.
rosität des Mittelalters dingfest gemacht. Erst seit der Mitte des 18. Jahr- Umgekehrt gibt dem Pöre Grandet, der noch die traditionelle atta-
es seit
hunderts läßt sich, Michel Vovelle zufolge, ein rapides Sinken der Legate ritia bizeugt,wenig Beispiele dafür, daß ein Geschäftsmann des 19' oder
ad pias causas beobachten. Im 17. und noch im 18. Jahrhundert beruhte in 20. Iahrhunderts im Augenblick des Todes eine derart zähe Anhänglichkeit
den katholischen und protestantischen Ländern jede Art von öffentlicher seinen Unternehmungen, seinem'§üertpapiervermögen, seinem Rennstall,
Sozialfürsorge auf {rommen Stiftungen: Die Regenten und Regentinnen der seinen villen oder Yachten gegenüber an den Tag gelegt hätte! Die zeitge-
'§flert, nicht
holländischen Hospitäler haben es vollauf verdient, daß ihre Porträts der nössische vorsrellung von Reichtum räumt dem Tod nicht den
Nachwelt erhalten geblieben s.ind. (60) die Bedeutung ein, die ihm im Mittelalter und bis zum 18. Jahrhundert vor-
behalten war; zweifellos deshalb, weil sie weniger hedonistisch und {leisch-
lich, sondern eher metaphysisch und moralisch ist.
Reichtum und Tod: Die Nutznießung Für den Menschen des Mittelalters war die a,udritia eine zerstörerische
Leidenschaft, weil sie ihn als christen der ewigen Verdammnis auslieferte,
Es gibt dennoch einen sehr bedeutsamen Unterschied zwischen der antiken aber auch deshalb, weil die Vorstellung, im Augenblick des Todes seine
und der mittelalterlichen und modernen \üohltätigkeit mittels Stiftun- Reichtümer einzubüßen, ihm geradezu Qualen bereitete. Deshalb hat er
gen. lVenn auch jeder gehortete Schatz eines Tages den Rettungsring ergriffen, den die Kirche ihm hinhielt; die Gelegenheit
"dethesaurierto werden
muß, so ist der Zeitpunkt dieser ,DethesaurierunS« d6sh nicht gleichgültig. des Todes wurde also genutz-r, um mittels des Testamentes die ökono-
In der Antike bestimmten ihn Zufälle des Lebenslaufes des Spenders. Seit mische Funktion zu erfüllen, die in anderen Gesellschaften von Stiftungen
dem Hochmittelalter und in der gesamten Neuzeit fällt er mit dem Zeit- oder kirchlichen Pfründen ausgeübr wurde. Im Austausch für seine Legate
punkt des Todes oder mit dem Gefühl zusammen, daß dieser Zeitpunkt erhielt er die Sicherheit der aeterna, und zugleich wurden - das ist der
nahe ist. Es hat sich eine in der Antike wie in den Industriegesellschaften zweite wichtige Aspekt des Testamentes - die temporalia rehabilitiert und
unbekannte Beziehung zwischen der Einstellung zum Reichtum und der die aaaritia rückwirkend gerechtfertigt. (62)
zum Tode entwickelt. Diese Beziehung ist ohne Zweifel eine der Hauptei- A. Vauchez ist, unabhängig von mir, zn Banz ähnlichen Ergebnissen ge-
gentümlichkeiten dieser Gesellschaft, die sich vom Hochmittelalter bis zum langt: ,Der Reiche, d. h. der Mächtige, ist besonders gut imstande' sich sein
ersten Drittel des lZ. Jahrhunderts kaum verändert. Seeienheil zu sichern.. Er kann andere Menschen an seiner Stelle für sich

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fasten oder \(allfahrten unternehmen lassen. Er profitiert von einer "Straf- von Messen und Gebeten verwandelten? Sic verurteilten sie, es sei denn im
Falle von lviedergurmachung und umverteilung. ubrigens waren auch
milderung", die dem Armen unzugänglich bleibt. Er kann "durch Schen- sie,

kungen, fromme Stiltungen und Almosen unaufhörlich neue Verdienste im innersten Kern des contemPtus mundi,der t-iebe zu den Dingen verfal-
vor dem Angesicht Gottes erwerben. Der Reichtum scheint, ohne im ent- len, und die religiöse Kunst des Hochmittelalters - die der verkündigun-
ferntesten Fluch zu sein, sogar eher einen privilegierten Zugang zur Heilig- gen, der Heims.r.hrrnge.r, d.r Geburten der Jungf rau, der Pietäs und Kreu-
keit zu eröffnen [...]. Das in den Klöstern vorherrschende asketische Ideal Iigrrng.r, - hat sich an dieser Liebe, im Verein mit der zu Gott, ger^dezt)
steigert die Fähigkeit zur Entsagung - dem sichtbaren Zeichen der Einkehr. berauscht.
Aber wer kann entsagen, der nicht zuvor besessen hätte ? Der Arme verf ügt Man hüte sich jedoch vor der Annahme, daß die letztendliche Bestim-
nur über eine einzige Heilsquelle: das Gebet für seinen §(ohltäter." ,Diese mung dieser Reichtümer - Kirchen, Hospitäler - die einzige Rechtfertigung
Spiritualität sieht für den freizügigen Reichen nicht nur eine Belohnung in der irdischen Güter war, wie es voltairianische Böswilligkeit annehmen
der anderen Welt vor. Sie garantiert sie ibm scbon hieniedez fHervorhe- würde. In der Literatur der Testamente rauchr eine Formel auf, die unter
bung v. Ph. A.]. Viele toskanische VerfügunBen zugunsren von Klöstern bestimmtcn Bedingungen Skrupel milderte und eine bestimmte Verwen-
beginnen mit den folgenden Formeln: 'Ver den Heiligen Stätten spendet dung des Reichtums legitimierte.
[...], wird in diesem Leben hundertfachen Lohn erhalten., Deshalb ist den Si-e ist bereits in den Testamenten des 14. Jahrhunderts greifbar: "Die
Kreuzfahrern Sieg und Beute sicher, Zetchen dafür, daß sie auserwähltes Güter, die Gott, mein Schöpfer, mir zugezaendet und aerliehen hat' will
\üfleise
Rüstzeug Gottes sind. ,Kommt also herbei, beeilt euch, den doryelten Lohn ich in Form eines Testamentes oder letzten w'illens auf die folgende
\i(illen, das Mei-
IHervorh. v. Ph. A.] zu empfangen, der euch zusteht, die Erde der Leben- übereignen und verteilen. (1314). "In dem §(unsch und
den und die, wo Milch und Honig fließen [gemeinsamer Brief der abend- nig. ,rid meine Güter auszuteilen' die Herr Jesus Christus m* gescbenht
ländischen Bischöfe über die Kreuzzüge]." hr"t, ,r.r- Nutzen und Heil meiner Seeleo ( 1399). ' Mit der Absicht, zur Ehre
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts bringt einer der reichsten Bürger von und Huldigung Gottes die Güter und Dinge auszuteilen, die ihm in dieser
'§(elt von ,.inä Initag.sinnten Retter Jesus Christus oerliehen wurden"
Arras, Baude Crespin, seine letzten Tage in der Abtei Saint-Vaast zu, deren
Vohltäter er ist. Sein im Nekrolog wiedergegebenes Epitaph sagt, daß er, (1401). ,Um Vorsorge]ür das Heil und die Ruhe seiner Seele zu treffen und
wenn auch Mönch, doch kein Mönch wie andere war: ,Nie wird man Ahn- ,rn1 dff Seinige und seine Güter zur verfügung zu stellen und zu
verteilen,
liches sehen." Seine Demut war in der Tat um so verdienstvofler und be- mit denen Gott ihn versehen und ausgestattet hat" (1413 [65])'
wunderungswürdiger, als er früher reich und mächtig gevr'esen s/ar: »Von Die Formel taucht, unverändert, in den Testamenten des 17. Jahrhun-
ihm wurden mit großen Ehren mehr Menschen unterhahen als von hundert derts wieder auf, jetzt aber mit der neuen und bedeutsamen vorstellung
anderen." (63) verknüpft, daß diese freiwillige Erbver{ügung für das Sute Einvernehmen
In der Abtei von Longpont stand auf einer bei Gaigniöres reproduzierten ,nt., d"r, Hinterbliebenen zwingend erforderlich ist: ,Da ich nicht gehen
Grabplatte aus dem 1 3. Jahrhundert folgende Inschrift zu lesen: "Auf wun- und aus dieser §flelt scheiden will, ohne meine Angelegenheiten geordnet
dersame Weise verließ er Kinder und Freunde, gab seine Giter fdie amnia und meine Güter zur Verf ügung gestellt zu haben, die es dem Großen Gott
temporalia der artes moriendi) auf, um Gott zu dienen, harrte an dieser gefallen hat, mir zu verleihen" (1612). "Um Vorsorge [" '] für die Verfü-
es Gott gefallen, hat' ihm in
Stätte als Mönch in der Frömmigkeit des Ordens aus und vertraute ehrer- [u.,g tber alle zeitlichen Güter zu treffen, die
bietig und freudig Gott seine §ssls xn.. (64) äi.rlr r.rgänglichen und sterblichen §ü'elt zu verleihen" (1648)' "In dem
'§(/'unsch, zugunsten seiner Kinder die Güter zu verteilen, die es Gott gefal-
Felix aoaritia ! Glücklich, weil die Größe der Verfehlung das Ausmaß der
\üiedergutmachung bestimmte, weil sie die Quelle derart beispielhafter Be- len hat, ihm zu verleihen, und um durch dieses Mittel Frieden, Freundschaft
kehrungen und wohltätiger Übereignungen war. §üie konnten die Männer und Eintracht unter seinen Kindern zu erhalteno (1652 [65]): Frieden,
der Kirche da die Ideen, die sie sich in den Kopi gesetzt hatten, radikal ver- Freundscha{t und Eintracht, die offenbar wenig Aussicht hatten, anders als
treten und in letzter Instanz Dinge verurteilen, die schließlich doch ihren auf diese Veise gewahrt zu bleiben!
Scheuern und Kellern zugute kamen und sich in einen geistlichen Schatz

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rI ich'r che Autor gibt sich damit zufrieden, dem Sterbenden zu empfehlen, sein
'"' "::I;::,*,[;l';'*sp persönliches Heil nicht dadurch zu gefährden, daß er seine Angehörigen
zu sehr bedenkt: ,Hütet euch schließlich davor, daß ihr, wenn ihr zu sehr
So ist also die Verfügung über seine Güter - und nicht nur die Verfügung für andere sorgt [d. h. wenn ihr euch bemüht, eure Güter gleichmäßig unter
-
ad pias cdusas, sondern die Aufteilung unter den Erben zur Gewissens- euren Erben zu verteilen], euch selbst in eurem Testament nicht vergeßt i

pflicht geworden. Im 18. Jahrhundert gewinnt diese moralische Verpflich- [d. h. euerSeelenheil, dadurch, daß ihr eure Sünden sühnt, und zwar durch
liüerke"
tung sogar die Oberhand über die Almosenverteilung und die frommen Almosen], indem ihr der Armen gedenkt und anderer frommer -
Stiftungen, die im Begriff sind, ungewöhnlich zu werden, oder doch wenig- und das alles ohne Überschwang, vernünftig, d. h. "im Einklang mit euren iI

stens nicht mehr das Hauptziel des Testaments ausmachen. Diese Verschie- Möglichkeiten". Uberdies müssen versteckte Prestige- und Reputationsab-
bung ist bedeutsam und muß festgehalten werden. sichten im Testament gemieden werden, weil sie der christlichen Demut
Ein frommer Autor schreibt im Jahre 1736 (66) im ersten Kapitel eines fremd und geeignet sind, die leqitimen Rechte der Familie zu schmälern.
Buches mit dem Untertitel M ötbode cbrötienne pour f inir saintement sa aie Und nicht jedem beliebigen irgend etwas vermaclr.n; "Es müssen immer
(Christliche'§V'eise, sein Leben gottgefällig zu beschließer,), also einer Art die Gebote der Gerechtigkeit gewahrt werden, ohne auf die Stimme von
arsmoriendi des 18. Jahrhunderts: ,!(as tut ein Kranker, der den Tod her- Fleisch und Blut [keine Bevorzugung eines Günstlings!] zu hören noch es
annahen fühlt? Er läßt einen Beichtvater und einen Notar holen." Beide an menschlicher Achtung fehlen zu lassen [keine Stiftung aus Ehrgeiz und
sind gleich wichtig - und eben das ist ganz außergewöhnlich für ein Hand- Ruhmsucht!]."
buch des heilsamen Sterbens, das Entsagung und Verachtung der \(ielt Das Hauptziel des Testamentes als eines religiösen Aktes hat sich von der
lehrt. Der Autor fährtfort: "Einen Beichtvater, um seine Gewissensangele- früheren selbstlosen Opferbereitschaft in Richtung einer straffen Herr-
genheiten zu ordnen, einen Notar, um sein Testament zu machen.o Mit schaft über die Familie verschoben, und zugleich damit ist es zum Akt der
Hilfe dieser beiden Personen hat der Sterbende drei Dinge zu tun: erstens Vorsorge und der Umsicht geworden, den man in Voraussicht des Todes
seinen Glauben zu bekennen, zweitens das Abendmahl zu nehmen. auf sich nimmt, des möglichen Todes, nicht des wirklichen (non in articulo
"Das
dritte, was ein Sterbender tun muß, um sich auf sein Erscheinen bei Gottes mortis [67)).
Jüngstem Gericht vorzubereiten, ist, seine weltlichen Belange so genau wie Diese Verpflichtung beschränkt sich nicht auf die Reichen. Auch ein-
möglich zu ordnen, zu prüfen, ob alles in gutem Zustand ist, und über seine fache Leute, ja sogar die Armen haben die P{licht, den wenigen Besitz, über
Güter zu verfügen.n Es sei darauf hingewiesen, daß es sich hier nicht um den sie verfügen, ordentlich zu übereignen, so etwa im Jahre 1'649 etne
eine menschliche Vorsichtsmaßnahme, um einen Akt der Umsicht und der ,Hausmagd, die nicht überrascht werden will [vom Tode], ohne ihre klei-
weltlichen Klugheit handelt wie heute beim Abschluß einer l-ebensversi- nen Angelegenheiten [ihr Bett, ihre Kleider] gebührend geordnet zu ha-
cherung, sondern um einen religiösez , wenn auch nicht sakramentalen Akt, ben." (68)
von dessen Vollzug auch das Seelenheil abhängt. Es ist sogar eine Vorberei- Man verfällt durchaus nicht darauf, die Dinge und Güter für nichts zu
tungsübung auf den Tod, in einer Epoche, in der die neue Seelsorge der Ge- achten, sich nicht um sie zu kümmern. In den Testamenten lassen sich Spu-
genreformation darauf hinarbeitet, daß der Mensch nicht seine Todes- ren derselben ambivalenten Liebe zum Leben wiederfinden, die bei den
stunde abwartet, um sich zur Einkehr bereit zu finden, sondern sich Kranken der artes moriendi oder den makabren Themen dingfest zu ma-
lebenslang auf den Tod vorbereitet. "\Wer sich dem Tode gewachsen fühlen chen war. Liebe zum Leben, Eigenliebe.
will, muß sich beizeiten und bei bester Gesundheit bereithalten. Obwohl Religiöser, nahezu sakramentaler Akt - konnte das Testament gleich-
das einer der wichtigsten Gesichtspunkte der Vorbereitung auf den Tod ist, zeitig auch persönlicher Akt sein? Mußte es sich nicht der fixierten starrheit
wird er im allgemeinen doch meist vernachlässigt." der Liturgie angleichen und sich der Konvention des Genres beugen? Mi-
Zur Mitte dieses 18. Jahrhunderts hören Almosen und Stiftungen von chel Vovelle stellt, in Hinsicht auf das 12. und 13. Jahrhundert, die Frage,
Messen auf, Hauptzweck des Testaments zu sein. Man hält zwar noch an ob ,die notarielle Formel zum massiven Stereotyp geronnen« oder "sensi-
ihnen fest, aber nicht mehr mit der früheren Ausschließlichkeit. Der geistli- bles Anzeichen der geistigen Veränderungen sowohl des Notars als auch

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seiner Klienten" geblieben sei. (69) Nach einer Stichprobenuntersuchung des Menschen im Angesicht seines Todes und des Bildes seines Lebens, das
vertritt er die Auffassung, daß persönliche Herzensergießungen sicher sehr ihm im Spiegel des Todes erschien: ein beunruhigendes Bild, zusammenge-
selten vorkommen, auch in den handgeschriebenen Testamenten, daß man s.trt und Sehnsüchten, alten Gef ühlen, Klagen und Hoff-
".]r^'W'ünschen
deshalb iedoch nicht von bloßen Stereotypien sprechen kann; er legt im nunBen.
Gegenteil eine ganze Flut von variierenden Textfassungen frei: "Es gibt na- v"ir begegnen in diesen Gedichten allen den Gliederungselementen, die
hezu ebenso viele stehende Formeln, wie es Notare gibt." Wenn das Testa- wir bereits am Beispiel der Testamente analysiert haben'
ment des 17. und 18. Jahrhunderts auch keine so intimen Konfessionen bie-
tet, wie unser gegenwärtiges Bedürfnis nach unzensierter, vertraulicher On dit que tout bon cbritien
Mitteilung sich wünschen mag, so schließt die Mannigfaltigkeit der formel- Quand a son tresPassement
haften \flendungen doch auch eine gewisse Freiheit ein. Diese beschränkte Si doit on disPoser du sien
Freiheit reichte immerhin weit genug, spontane Regungen der Sensibilität Et faire aucun testament'
zutage treten zu lassen, dem Panzer gesellschaftlicher Konventionen zum
Trotz. So auch im Falle der Hausbücher. Ohne authentisches Zeugnis zu So unrschreibt es Jean R6gnie r ('.1392-1468) in seiner Ge{ängniszelle. (70)
sein, das ihre Individualität bestätigte wie die ,Tagebücher" des 18. Jahr- Ebenso Villon, der in einer kaum weniger ersprießlichen Situation zur
hunderts, liefern sie doch eine Vielzahl kleiner Modelle, und jedes dieser traditionellen PräambeI greift:
kleinen Modelle stellt eine bezeichnende statistische Stichprobe dar.
Et Puis que ddPartir tne t'ault
Et du retour ne suis certain,

Das Testament als literarische Gattung $e ne suis bomme sans dest'ault i


Ne qu'autre d'assier ne d'estain
Viare aux hutnains est incertain
Dieser Modellcharakter erlaubt uns Historikern, die Testamente als auf-
Et aPrös mort n'Y a relaz
schlußreiche Dokumente der Mentalitäten und ihrer \üandlungen zur
Je rn'en vais en Pais loingtain)
Kenntnis zu nehmen. §ü'ir können sogar noch weiter gehen und das Vie-
Si establis ces Presens laiz'
derauftauchen des Testamentes und seine Entwicklung im Mittelalter als
kulturelles Phänomen ins Auge fassen. Das mittelalterliche Testament ist
Bei Jean R6gnier findet sich das Glaubensbekenntnis, die Anrufung der
nicht nur der zugleich freiwillige und von der Kirche auferlegte religiöse
Fürsprecher beim himmlischen Hofstaat und die Emp{ehlung der seele:
Akt gewesen, als den wir es bis jetzt analysiert haben. Im 14. und 15. Jahr-
hundert hat es seine bereits traditionellen Formen der poetischen Literatur En la foy de Dieu aueil mourir
geborgt und ist zur literarischen Gattung geworden, und die Dichter haben
Qui pour moi so{t'rit Passion...
es, trotz seines konventionellen Charakters, gewählt, um ihre Gefühle an- Sainctz et sdin.ctes t,ueil requörir
gesichts der Kürze des Lebens und der Gewißheit des Todes zum Ausdruck Tous et toutes ensemblement
zu bringen - wie die Romanciers des 18. Jahrhunderts den Brief : sie haben
sich für das spontanste aller Kommunikationsmittel ihrer Zeit entschieden,
Über das
das der persönlichen Herzensäußerung am nächsten stand. Die Autoren des On dit... Man sagt, daß ieder gute Christ,/ Zum Zeitpunkt seines Hinscheidens/
Mittelalters haben kein falsches Spiel getrieben, sie haben an der konventio- Seinige verfügen/ Und ein Testament machen muß'
ich ganz sicher
Et-puis qni döpartir'-. 'Da ich denn gehn muß, ohne daß/ Der Rückkehr
nellen Form des Testamentes festgehalten und den notariell-förmlichen Stil
binl - Ich bin ein Mensch nur (glaubt mir das)r Gleich andren' nicht von Erz noch Zinn'l
Unsi-
respektiert; aber die Zwänge der Gewohnheit haben sie nicht gehindert, fernen Ländern
cher geht das Leben hin,u Nichts nach dem Tod sich wechseln läilt -'l Strebr
diese Testamente zu den persönlichsten und direktesten Gedichten ihrer ,, -Jin Sinn;/ Drum setz ich diese Gaben f e st'" Le Petit Testamezl ' übertragen v V' Küchler'
Zehzrtmachen, zum ersten halb spontanen, halb erzwungenen Bekenntnis Heidelberg 1956, S. ll.

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Qa'il leur plaue de acqudrir
Je oeuil que mes debtes sc paynt
A mon äme son sauaement.
Premiirement et mes tortst'aiz. (R6gnier)
Themen, wie sie Villon auf seine Veise aufnimmt:
Jeder der beiden Autoren bezeichnet den Ort seiner Grabwahl:
Et cecy le commencement;
Au nom de Dieu, pire dternel, Aux Jacobins eslis la terre
Et du t'ils que Vierge parit, En laquelle oeuil estre mri. (R6gnier)
Dieu au Pire coöternel
Item mon corps j'ordonne et ldisse
Ensemble le sdint Esperit
A nostre grdnt mire la terre . (Villon)
Qui sauoa ce qu,Adam pdrit
Et du pery pare les cieux 1...)
Meine Seele Gott, meinen Leichnam der Erde - das ist eine klassische
Formel. Dem Brauch entsprechend fügt er hinzu:
Premier je donne ma ptuore äme
A la benoite Trinitö Item j'ordonne ä Sainte Avoye
Et la commande ä Notre Dame Et non ailleurs ma s€pillture.
Chambre de la diainit1
Priant toute la cbaritd Und schließlich regelt man das Geleit und trifft seine Verfügungen für
Des dignes neuf Ordres des cieux, die Totenmesse:
Que par eulx soit ce don porti
Deaant le Tröne pricieux. [Die Himmelfahrt der Seele] Item au noustier je aeuil estre
Portö par quatre laboureurs [...).
Es folgt der Ubergang zum Geständnis der eigenen Fehler, zur'§(ieder- Et quant est de mon luminaire
gutmachung begangenen Unrechts und zur Vergebung der Schmähungen le n'en vueil en rien deaiser
anderer: L'exöcuteur le pourra t'aire
Tel qu'il luy plaira adaiser
A tout le monde mercy crie ... Il me suffira d'une messe
Pour Dieu qu'il me soit pardonnö De Requiem baute chantöe;
Au ccpur me t'erait grande lyesse
Si estre pouoait deschantöe 1...1
Enlafo1... ImFriedenGottesq'illichsrerben,/Derummeinerwillenseinepassionerlirren
Et encore trop bien je aould.raTe
hat.../ Alle Heiligen und Seligen Nonnen will ich binen,/ Sie alle gemeinsam,/ Es möge ihnen
gefallen,z Meiner Seele die Rettung zu erwirken.
Et cecl le comnencemeilt . . .
"Nun heb ich an. [. . .] In des dreicinigen Gottes, unsres Vaters, A tout le monde . .. Alle Velt bitte ich um Verzeihung [. . .]/ Um Gones willen, damit mir ver-
Namen,/ im Namen Christi, seines Sohns, den Frau Marie gebar,/ die
Jungirau, daß er ewig wie geben werde,/ Vill ich, daß zunächst meine Schulden beglichen werden und meine unrechtmäßi-
Gott vater war',/ in seinem und des HeiJigen Geistes Namen. Amen./ Er rertete, was Adam einsr
,erkommen ließ,r e rhöhte Erdenstaub zur Zier ins hehre Himmelszelt." ,Zuvörderst geb ich gen Handlungen.
- ArxJacobins... BeidenJakobinernerwähleichmirdieErde,/lnderichbeigesetztseinwill.
Sünder meine arme seele/ der benedeiten göttlichen Drei{altigkeir./ Maria, Gones Mutrer, ich
(Rdgnier)
sie anbelehle,/ der gnadenreichen Lilie aller HeiJigkeir.r Dann bet ich zu den neungestufren En-
gelschören,/ daß sie des schächers herßes Flehn erhören,/ und seine Gabe tragen vor den Men- Itemmoncorps...,DesgleichenseimeinLeibimGrabebeigesetzt./IhnsolldieErde,unsere
große Mutter, haben.. (Villon, übertr. von \lfl. Vidmer)
schensohn/ und dann empor zu Gortes höchsrem Richterthron." Le Grant Testament. ilrertra-
I tem j'ordonne...
gen von V. lVidmer, München 1964, S. 56 und 58. "Zu Sankt Avoye, im Oberstock, will ich begraben sein,/ An keinem an-
dern Orte soll mein Grabmal 51shp." (De rs.)

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t
i
E
Qu'ä tous chdntres qui chanteront menr hält die mündlich rradierten Todesrituale von ehedem schriftlich fest.
'W'elt des schriftlichen Dokuments und des
Qu'on leur donnast or ou monnaye Indem es ihnen Zugang zur
De quoy bonne chiire feront. Rechts verschafft, beschneider es ihren liturgischen, kollektiven, brauch-
tumsgeprägten - ich würde sogar sagen: folkloristischen Charakter' Es
Ein später Nachfahr dieser Art Literatur ist im 16., 17. und 18. Jahrhun- p..rorr.li.i.r, sie - aber doch nicht restlos. Der alte Geist der mündlich tra-
dert wahrscheinlich das, was Michel Vovelle etwas ironisch als das ,schöne di..t.n Ritu"le schwindet nicht ganz. Deshalb steht das Testament der ma-
Testament" bezeichnet hat, das am Lebensabend geschriebene Bravour- kabren Gefühlswelt und den überschwenglichen Formen von Lebensan-
stück zur eigenen und zur Erbauung seiner Angehörigen. klammerung und Todesklage fremd gegenüber.
Allen Konventionen zum Trotz, denen der Testatar sich unterwirft, Bemerkenswert ist, daß Anspielungen aufs Fegefeuer im Testament erst
bringt er seit dem Hochmittelalter ein Gefühl zum Ausdruck, das dem der spät auftauchen (kaum vor der Mitte des 17. Jahrhunderts). Aber wenn der
artes moriendi sehr nahesteht und in dem sich mehrere Komponenten zu- Tod im Bannkreis der Testamente auch vereinzelt und personalisiert wird,
sammenfinden: das Bewußtsein des eigenen Selbst, die Verantwortlichkeit wenn er auch der ie eigene Tod ist, so bleibt er doch zugleich immer auch
für das eigene Geschick, das Recht und die Pflicht, über sich selbst, seine der unvordenklich alte, der öffentliche Tod des auf dem Sterbebett Ruhen-
Seele, seinen Leib und seine Güter zu verfügen, und die Bedeutung, die die- den.
sen letzten Villensäußerungen zukommt.

Der gezähmte Tod - noch einmal

Hier handelt es sich also um den eigenen Tod, den Tod des alleinigen Selbst,
rllein vor Gott, vor den es mit seiner je einzelnen Biographie, mit seinem
ganz persönlichen Kapital von Werken und Gebeten hintritt, d. h. mit den
Taten und leidenschaftlichen Verstrickungen seines Lebens, mit seiner ver-
schämten Liebe zu den Dingen hienieden und seinen erworbenen Garan-
tien fürs Jenseits - ein komplcxes System, in das der Mensch sich einge-
sponnen hat, um das Leben und das Leben nach dem Tode leichter zu
ertragen.
Dieser Individualismus des Diesseits und des Jenseits scheint zwischen
dem Menschen des Hochmittelalters und der vertrauensvollen oder müden
Resignation .iener uralt-fernen Zeiten eine unüberbrückbare Kluft aufzu-
tun. Sicher geht seine Entwicklung in diese Richtung; aber die Praxis des
Testamentes weist uns doch darauf hin, daß er mit den altüberkommenen
Gewohnheiten nicht gänzlich und nicht übergangslos bricht. Das Testa-

Item au moustier .. . Item, zum Kloster möchte ich/ Getragen werden von vier Tagelöhnern
[...]./ Undwas Kerzen und Fackeln angeht,/ §(/ill ich nichts veranschlagen,/ Das soll der Testa-
mentsvollstrecker tun,/ So wie es ihm geraten scheinen mag./ Mir genügt eine Requiem-Messe,/
Laut gesungen;/ Es würde mir eine große Freude bereiten,/ §flenn sie zweistimmig g(sungen
werden könnte [...] Und sehr gern sähe ich auch,/ Daß allen Sängern, die sie ausführen,/ Gold
oder Münzgeld ausgehändigt werden möge,/ Für das sie gute Arbeit leisten werden.

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'wenn das Grab die zwangsläufig genaue Srätte des Grabkultes bezeich-
nete, so deshalb, weil sein Zweck auch der war, das Andenken des Verstor-
benen kommenden Generationen zu überliefern. Daher der Name monu-
mentrrm oder memoria: Das Grab ist eine Gedenkstätte. Das Nachleben
des Toten konnte - im eschatologischen Bereich - nicht einfach nur durch
Spenden und Opfergaben erkauft werden; es hing ebenso vom Ansehen ab,
ori. ., ,uf Erden wachgehalten vrurde - durch Gräber mit ihren signa und
5. Ruhende, Betende und Inschriften ebenso wie durch Lobreden der Schri{tsteller'
Sicher gab es zahllose armselige Grabstätten ohne Inschrift oder Porträt,
wandernde Seelen die der Nachwelt nichts zu überliefern hatten; so sind etwa die in der Erde
vergrabenen urnen des Friedhofs der Isola sacra an der Tibermündung
Die Anonymisierung des Grabes ,rony-. Aber man errät ohne Mühe, daß sich durch die Sesamte Geschich-
te der Beisetzungsbruderschaften und Mysterienkulte der-wunsch der ar-
Archäologische und epigraphische Fragmente römischer Grabstätten aus men Leute, ja sogar der Sklaven zieht, dieser Anonymität zu entrinnen, die
den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung sind in den Museen, den der wirkliche, vollständige und endgültige Tod ist. Die schlichten /oczä
Ausgrabungsstätten und an Mauern und Vandflächen von altchristlichen oder Alveolen in den Katakomben, zur Au{nahme der Leichen bestimmt,
Kirchen im Überfluß vorhanden: Sie wiederholen in monotoner Einför- wurden mit Platten verschlossen, die häufig mit kurzen Inschriften und
migkeit dieselben Formeln, die in ihrer landläufigen Verbreitung für uns bestimmten Unsterblichkeitssymbolen geschmückt waren'':'
Heutige aufschlußreich werden. Beim Durchstreifen der Ruinen dieser Friefhöfe hat selbst der oberfläch-
\Wir bemerken zunächst, daß das Grab auf einem antiken heidnischen lichste zeitgenössische Beobachter doch das Geiühl, daß ein und dieselbe
-
oder christlichen - Friedhof dazu dient, den genauen Ort zu bestimmen, an geistige Einstellung die drei Phänomene eint und verbindet, die hier ins
dem der Leichnam geborgen ist: sei es steinerne Hülle des Leibes oder der Ärg. frll.n die strikte Koinzidenz von sichtbarem Grab und Aufbewah-
'
Asche (Sarkophag), sei es ein Bauwerk, das einen Raum umschließt, in dem rungsorr des Leichnams, der'wunsch, die Persönlichkeit des verstorbenen
die Körper verwahrt werden. Kein Grab ohne Leichnam; kein Leichnam durch Inschrift und Bildnis aurhenrisch zu definieren, und schließlich die
ohne Grab. Notwendigkeit, das Andenken an diese Persönlichkeit zu verewigen, in-
Eine deutlich sichtbare, mehr oder weniger lange, mehr oder weniger dem man die eschatologische unsterblichkeit mit der irdischen Erinnerung
abgekürzte Inschrift auf dem Grab nennt den Namen des Verstorbenen, verbindet. (1)
seinen Familienstand, manchmal auch sein Gewerbe oder seinen Beruf, sein Ungeiähr vom 5. Jahrhundert an zerbricht jedoch diese kulturelle Ein-
Alter, sein Todesdatum und seine verwandtschaftliche Beziehung zu dem heit: Inschriften und Porträts verschwinden; die Gräber werden anonym'
mit der Grablegung beauftragten Angehörigen. Inschriften dieser Art sind Ein bloßes verschwinden der Schrift, möchte man meinen; man schreibt
zahllos. Ihr Korpus bildet eine der Hauptquellen zur römischen Geschich- nicht mehr, weil es niemanden mehr gibt, der noch Inschriften meißelte
te. Ihre textlichen Hinweise werden zuweilen durch Porträts ergänzt: und läse, wobei diese Indifierenz der Schrift gegenüber widerspruchslos
Mann und Frau, oft durch das Zeichen der Ehe verbunden, die toten Kin- hingenommen und an allen Gräbern geduldet wird, selbst an Gräbern von
der, der Mann bei der Arbeit in seiner 'W'erkstatt, seinem Geschäft, oder e.lruchten Persönlichkeiten, ausgenommen die mancher Heiliger. Zweinel-
einfach Büste oder Kopf des Verstorbenen in einer Muschelschale oder ei-
,! ,Die Leichname der Sklaven und Armen, die nicht einmal die wenigen Sous für ihren Schei-
nem Medaillon (imago clipeata). Das sichtbare Grab muß also zu erkennen gewor-
terhau{en und ihre Grabstelle zusammenscharren konnten, wurden auf den schindanger
geben, wo der Leichnam gebettet ist, zu dem es gehört, und zugleich das fen; ihren Hingang begleitete keine religiöse Zeremonie, und die bloßen Anstalten des Leichen-
physische Bild des Verstorbenen wachrufen, als Zeichen seincr Persönlich- begängnisses *r... di. einzig mögliche Feier.' P. Veyne, le Pain et le Cir4ze, Paris, Le Seuil'
keit. 1976, s. 291 .

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los läßr eine mündliche zivilisation der Anonymirät immer größeren
ben, so etwa gelochten Vasen, die Kohlc" enthielren, \i(eihwasserkesseln
Raum' Gleichwohl ist es bemerkenswert, daß diese Anonymität der Gräber
aus Terrakotta, die gegen Ende des 12. und vor allem im 13. Jahrhundert
sich bis um die Jahrtausendwende erhält, ein Zeitpunkt, zu dem sich die
verbreitet waren, oder Kleidungsstücken (Gürteltaschen etc.). Auf diese
Schriftkultur bereits wieder einen unübersehbaren platz zurückerobert \Weise haben die Archäologen den Friedhof von Souillac in die Zeit vom 13.
hatte. Dieses Phänomen setzte bereits die gelehrten Archäologen des rg.
bis zum 15. Jahrhundert datieren können. Aber diese Anhäu{ung von mo-
Jahrhunderts in Erstaunen, erwa den Abb6 Lebeuf, der im Jahre 1746, an_ nolithischen Sarkophagen ähnelt denen der Phase vom 6. bis zum 8. Jahr-
läßlich des \üTiederaufbaus des Klosters der Abtei Sainte-Geneviöve in paris
hundertl Die Archäologen sind sich der überwiegenden Benutzung im 13.
bemerkte: "Man durchwühlte damals das gesamte Erdreich des Klosterho-
Jahrhundert sicher, räumen aber gleichwohl ein, "daß es möglich ist [. . .],
fes und fand eine sehr große Anzahl von steinsarkophagen mit Skeretten
daß die letzten Beisetzungen dort nicht weiter zurückreichen als bis ins 15.
darin_, aber heine einzige Inscbrit't
fHervorhebung uon ph. A.]." (2) Alles, Jahrhundert".
was früher die Persönlichkeit des Verstorbenen kenntlich machte wie
die Diese Unsicherheit hängt damit zusammen, daß, abgesehen von einigen
Insignien seines Berufsstandes, die auf Grabstelen des römischen Gallien so seltenen Objekten und morphologischen Eigenheiten, diese Gräber durch-
häufig auftauchen, ist verschwunden: manchmal ist noch der zinnoberrot aus kein persönlichkeits- oder zeitgebundenes Merkmal aufweisen. Voll-
eingefärbte Name erkennbar, der später zuweilen in eine Kupferplatte ein- kommen anonym, weiß man von ihnen eigentlich nur, daß sie nicht die
graviert ist, aber im Innern des sarkophages. Sichtbar bleiben im g. und 9. Gräber von unbekannten Armen waren. Die bescheidene Herkunft man-
Jahrhundert nur ein floraler oder abstrakter zierat und religiöse szenen cher Grabinsassen kann eigentiich nur bei zusammengestückelten Sarko-
oder Zeichen. Um eine Formulierung panofskys wiederaufzunehmen: Die phagen erschlossen werden, d. h. bei allen, die aus aneinandergefügten
eschatologische Tendenz hat die oberhand über das Bedürfnis nach irdi-
Steinplatten gefertigt sind und die man neben den monolithischen Sarko-
schem Andenken behalten - wenigstens im großen Maßstab gesehen, denn
phagen gefunden hat. Die Gräber sub porticu oder sub stillicidio waren
die alte Beziehung zwischen der irdischen und der himmrisÄen unsterb- ebenso begehrt und ebenso prunkvoll und kostspielig wie die im Kirchen-
lichkeit, auf die wir zurückkommen werden, har sich in außergewöhnli- innern, und dennoch weist nichts, absolut nichts auf den Ursprung, den
chen Fällen behauptet, so bei Königen und Heiligen, die Gegeistand öf- Namen, den Stand, das Alter oder die Epoche hin, aus der der Verstorbene
fentlicher Verehrung waren.
stammte. Man hat also wohl am Brauch des monolithischen Sarges als fer-
Als Beispiel sei eine der zahlreichen sarkophagschichten gewählt, die ner Erbschaft aus der römischen Antike festgehalten; aber man hat ihn
man jüngst bei städrebaulichen Erdarbeiten zufällig entdeckt hat: die Sar- jedes Unterscheidungsmerkmals beraubt, indem man ihn auf eine alterslose
kophage unter der vorhalle der Abteikirche von souillac. (3) Die Gräber Steinwanne reduzierte. Der Autor, selbst Archäologe, kommt zu dem
sind sarceus aus stein, die an manchen stellen bis zu drei Schichten überein-
Schluß: "Sich in der Vorhalle der Abteikirche bestatten lassen zu dürfen,
andergestapelt worden sind. Manche, wahrscheinlich die ältesten, waren war sicherlich ein gesuchtes Privileg, und diejenigen, die in seinen Genuß
unter dem heutigen Eingang zur vorhalle des Turms eingelassen und ragten kamen, mußten über Ansehen und Reichtum ver{ügen; aber sie haben die-
ein wenig ins Innere des schiffs hinein. Man findet auf Ausg.abungsphätos
sen Reichtum bei ihrer Grablegung nicht genutzt. « Aber wer weiß, ob nicht
ähnliche Bilder von übereinandergeschichteren sarkophalen, wie sie die manche Verstorbene sich in der Abteikirche selbst, weit entfernt von ihrer
aus römischer Zeit srammenden Ruinen Afrikas, spaniens oder Galliens
eigentlichen Grabstätte, ein Denkmal haben errichten lassen - Grabplatte,
bergen. Aber dieser Friedhof ist mehr als siebenhunJert
Jahre später ange- liegende Statue oder lüandtafel -, das heute verschwunden ist? Es bleibt
legt worden I Die untersten schichten sind zweifellos sehr art, ,i.h.. ali..
nur der Schluß, daß die Menschen des Hochmittelalters, vom 13. bis zum
als die gegenwärtig sichtbare Bauanlage; andere aber, die ihnen völlig gleich-
1 5. Jahrhundert, der Hülle ihres Leibes gegenüber hier durchaus gleichgül-
artig sind und sie dachziegelartig überlagern, sind sehr viel jünger. Sie tig gewesen sind und sich nicht darum gekümmert haben, sie urkundlich zu
lassen sich datieren, enrweder aufgrund der Formen
- trapezfö.mige. bezeichnen. Das Beispiel von Moissac beweist, daß der monolithische Sarg,
Grundriß oder vorhandensein einer Alveole zur Aufnahme des KopfeJ-,
die eine spätere Epoche charakterisieren; oder aufgrund von Grabteiga- '!üeihrauchgefäße
" Eine Art Räucherpfannen oder aus Ton.

262
261
I
l,tj', :''lr 5'I.,ti.frh orh.as,
rrrs rns u ndert
während des ganzen Mi
ttelar ters _ wah rscheinlich
Später bezeichneten Sarg und Bahre dann - rvie in dcr heutigcn Um-
Jah - benutzc worä.rr;;. ünd dieser Far, in Frankreich
selten, in Italien häufiger,
ir, ,i.1,,;;ä.;;' gangssprache - den Schrein, in dem der Leichnarn später cndgültig zur
Ruhe gebettet wurde.
In der Chronik des Enguerrand de Monstrelet werden "das Herz- und der
Der übergang-llT,li.k.p Leichnam des guten Herzogs, beide für sich, in flache Sirge [.serczs) gelegt,
hagzumsarg oder zur
Die,a Bahre.
bedeckt nrit einer Bahre fbiire) aus irischem Holz-".
Ein anderes orr.",,.,]oLo,i.i:1"f.."*,;:.Tf Im 17. Jahrhundert definiert P.-C. Richelet in seinem §üörterbuch Bahre
Zusammenhang gebracht.werden :;_**.,rr,",, Art Schrein aus Holz oder Blei". (4)
als "eine
_rß: ,r;;,. räumliche Trennung von
Grabmonumenr wenn jrJ, Aus der Analyse der Begriffe Sarkophag, Sarg und Bahre ergeben sich
- d*n .ib".h.upt _.und Hülle
des Körpers, des
eena.u;n Orte-s ""rf,."Oen ist
der a.Ui.rr"*. mithin zwei Beobachtungen:
wicklung ist der verzicht. Ein Zeichen dieser Enr_
1. Die Bedeutung, die dem Sarg und der Bahre zuwächst, macht sich etwa
auf den ,r.;.,..n.i*ir.g. In den sertenen
großer und nach dem vorbild Fären zur gleichen Zeit bemerkbar wie die des Transports des Leichnams, d. h. in
a". persönlichkeiten
an die Stelle des Steinsarkopi,rg.,
""lii*"r'r..1h.,.. an der tritt der Phase, in der das Geleit zum entscheidenden Bestandteil des Beiset-
das ebenso unveränderricr-,, "o,n'älri.ir"r.* Sarg aus Blei,
;r,'*;"i,.;;. ä,":" Breisärge weisen zun!aszeremoniells wird.
spröde Schmuckrosigkeit dieserbe 2. Die Einschließung des Leichnams in den Sarg (vgl. das vierte Kapitel)
auf die
re.at zurückzuführen ist, denn ' *r.,.r*"rri'r,.ht auf das verwendete Ma-
ist eine psychologische Konsequenz des Verschwindens des Sarkophages,
srammenden Bleisärse der "r'd..",
;;;j. aus dem 18.
Jahrhundert
Habsburg".;;;.; und dieses Verschwinden hat seinerseits den genauen Begriff des Grabes
durchaus mit Ve.zieiungen ü,.n., Kapuzinergrufc, sind
und Inschrifren geschmückt. unschärfer gemacht. In der Antike gab es in der Tat nur zwei Typen von
In der Mehrheir der Fälle ;., Gräbern: den Sarkophag oder seine armselige Nachahmung und die Alveo-
a". ..r"'ir.!
Holz - eine bedeutsame..Veränderu.*,
;;;;; ""_ ,r. Jahrhundert an aus le eines Gemeinschaftsfriedhofs. Solange der Leichnam in einen steinernen
samkeit gewidmet noch nicht die Aufmerk_
hat' die si" Sarkophag oder Schrein gebettet wurde, blieb er einfach verhüllt, d. h. in
nung dieses Sarkophags "..a;.rL.)o,;;*r.,. wcrden zur Bezeich-
aus.Holz od., _ *;. .nrn ein Laken oder Grabtuch gewickelt. AIs der herkömmliche Steinsarkophag
tern,, benutzr : Sarg (cercueil) auch sagte _ -aus Brer_
und Bahre f tirlr",' aufgegeben wurde, hätte der ins Leichentuch eingenähte Körper eigentlich
Cercueitteiet sich sprachlich direkt in die Erde gebettet werden können, ohne zusätzliche Schutzhülle
.;;;;;i;;'ilu.r.l her wie Sarkophag: * das ist übrigens ein alter Brauch, der sich in den Ländern des Islam bis
ffi:i. :[T'no;:'"T "" i n s ein em §0.. J ""i,
ce r c u e i t ats
" s.1.. ;1, l,]. heute erhalten hatl es hat jedoch den Anschein, als ob das mittelalterliche
Abendland sich dieser dürftigen Behandlung verweigerte. Aus diesem
;j:t*#I$:il*;:T:?ü:,"*,ffi ::::,*H::ilf :s;:J:'Jir*; Grunde wird die zum Transport verwendete Bahre in einen z-ur Beisetzung
Die Bahre aber ist nichts.and.eres bestimmten geschlossenen Holzschrein verwandelt, den Sarg. Dieses Ver-
als die cirftre die Trage.
bezeichnen also unterschl.a.to. Sarg und
überführung der Toten zu ihrer
Jr. ;#,;;lr" Traggestell, dasBahre zur
fahren entspricht gleichzeitig dem neuen Bedürfnis, den Leichnam und das
G.rbr;i;;;",.'r,.r" ursprüngliche Be_ Antlitz des Verstorbenen den Blicken der Hinterbliebenen zu entziehen.
deutung bleibt noch bei den Der Sarg wird also zum Ersatz des Grabes, zu einem Grab, das ebenso
erhalten, die,6lns Schrein""Ur._i""-;*..] "Oi. ,^._"n._Bestatrungen anonym ist wie das aus Stein und überdies verweslich: es ist einem raschen
rottrog.rr?u.jä',,rnr. Schrein.
besagen, daß der t.eichnam,cinfach wollte und erwünschten Verfall im Erdreich vorherbestimmt. Die Bestattungen
Allerwettsbahre zum Friedhof "r.;, ai *rp,i,iör, auf einer
gestell, von dem er dann
,..r;;;;l;i ill;.. d. ";nger;l_rt,
h. auf einem Trap_
ohne Sarg kommen einer Verweigerung des Grabes gleich; die f rüher vom
herunr..r"-,r"U., lrä ,"r. Sarkophag übernommene Rolle wird hinfort dem Sarg übertragen. Im Un-
Die "!3h1s.. wurrie ansch,i.ß.rd ,.*O geworfen *r.dI. terschied zu den Ländern des Islam ist eine Beisetzung ohne Sarg eine uneh-
dergleichen noch heute häufig
i;;l";i*,r" rr.u.urerra[Jen. Man sieht
in U.;".ir"it1Ln",,. renhafte Beisetzung - oder wenigstens eine Armenbestattung.
England.
Der Übergang vom Sarkophag zum Sarg hat also die Anonymität der
264
265

l
Grabstelle und die Gleichgriltigkeic hinsichtiich ihres genauen Lagepiatzes Luxus; zweifellos verbreitete sich dieser Brauch der Personalisierung in
noch stärker akzentuiert. Dieser eigentümliche kulturelleZug,der, wie u,ir immer weiteren Kreisen, vor allem unter den Handwerksmeistern der
gesehen haben, die Periode vom Ende der christlichen Antike bis zum 1 1. Städte; es wurde aber noch nicht als unerträgliche Versagung empfunden,
und 12. Jahrhundert charakterisiert, scheint in die möglicherweise mehrere wenn das Grab anonym blieb,
Jahrtausende währende Kontinuität des Totenkultes einen Hiatus, einen Überdies äußerte sich das Bedürfnis, sich in einem sichtbaren Denkmal
scharfen Bruch einzuiühren. zu verewigen, bei den Reichen und Mächtigen lange sehr zurückhaltend.
Noch im 16. und 17. Jahrhundert brachten z.ahlreiche Verstorbene, wenn
sie auch ausgesprochene Honoratioren ge§/esen sein mochten, in ihrem
Erinnerung ans Dasein, Ruhestätte des Leichnams Testament durchaus nicht den \Wunsch nach einem sichtbaren Grabe zum
Ausdruck, und die, die sich wirklich auf solche Forderungen versteiften,
'W'ir
werden jetzt sehen, daß diese Einstellung in der lateinischen Christen- bestanden nicht darauf, daß es mit dem Ort der Bettung ihres Leichnams
heit vom 12. Jahrhundert an fortschreitend rückläufig wird, zunächst bei dann auch wirklich genau zusammenfiel : die ungefähre Nähe genügte ih-
den Reichen und Mächtigen. Sie erhält sich jedoch - und zwar mindestens nen. Für sie war das Grab nicht die Hülle des Leibes.
bis ins 18. Jahrhundert - bei den Armen, denen aufgrund ihrer Bedür{tig- Man ließ gelten, daß diese erste §V'ohnstatt des Leichnams keine bleiben-
keit die Gedenkstätte vorenthalten wird, wie ihnen früher der Sarg vorenr- de war, und niemand nahm Anstoß daran, daß seine Gebeine, einmal ausge-
halten wurde. Einer der großen Unterschiede zwischen den Reichen und trocknet, früher oder später in die Beinhäuser geschafft werden würden,
den nicht ganz Armen einerseits und den wirklich Armen andererseits be- ,auf einem Haufen kunterbunt in wirrem Durcheinander", wie Villon sagt.
steht darin, daß die einen immer häu{iger sichtbare, individuelle Gräber Es bedurfte scharf er Brillengläser,
erhalten, die das Gedenken an ihre Leiblichkeit wachhalten, die anderen
dagegen nicht, Die Leiber der Armen - ebenso wie die der Kleinkinder der Pour mettre ä part aux Innocents
Reichen, die wie die Armen behandelt werden - haben, ins Leichentuch Les gens de bien des desbonn|tes,
eingenäht, den §fleg in die großen Gemeinschaftsgräber zu nehmen. Die
barmherzigen Menschen des 14. und 17. Jahrhunderts haben, bestürzt an- und nicht nur Schuft und Ehrenmann, sondern auch Arm und Reich,
gesichts dieser Vernachlässigung der toten Armen in einer doch bereits rela- Mächtige und Elende:
tiv urbanisierten Gese[schaft, zu lindern versucht, was ihnen als grausam-
Quand je consid|re ces testes
ste Auswirkung dieser Verlassenheit galt, nämlich das Fehlen geistlichen Entassöes en ces cbarniers
Beistandes: Sie haben es nicht ertragen, daß die Ertrunkenen und die durch Tous t'urent maistres des requestes
Unglücksfälle zu Tode Gekommenen auf den Schindanger geworfen wur- Au moins de la cbambre aux deniers
den wie Tiere, Hingerichtete oder Exkommunizierte. Also schlossen sie Ou tous furent porte pannierlportefaix]
sich zu Bruderschaften zusammen, um für eine Bestattung in geweihter Autant puis I'un que l'autre dire
Erde, mit den Gebeten der Kirche, zu sorgen) ohne deswegen allerdings an
Car d'örtesques ou knterniers
der Anonymität der Gräber Anstoß zu nehmen, die dann, im Gegenzug,
Je n'y cognais rien ä redire. (5)
zwei Jahrhundert später ihrerseits unerträglich zu werden beginnt.
Das liegt im Grunde daran, daß das Bedürfnis, der eigenen Grabstelle Pour mettre... "Um nach getaner Arbeit fauf den lnnocents] zu sondern sodann,rDen
und der der Angehörigen öffentliche Reputation zu verschaffen, zu Beginn [-umpenkerl und Schuft vom biederen Ehrenmann" (übertr. von V. Vidmer).
der Neuzeit nicht als dringlich empfunden wurde. Die Beisetzung in kirch- Quand je consid,ire . . . "Wenn ich die Totenschädel alle so berrachrere,/Die hier im Beinhaus
ruhn, zu Haufen aufgeschichtet,/ Und überiege, *'as ein jeder trieb und machte,/ Ais er noch
licher Erde war eine Pflicht der Barmherzigkeit den Armen gegenüber, lcbend wrr und nicht so zugerichter,/ So dünkr es mich, sie waren Männer allesamt/ Von hohem
denen die Umstände sie versagt ha*en (miserere);dre Personalisierung und Stande, wohlversehn mit Ehren, Vürde, Amt./ Ob Bischof einer war, Landsrörzer oder
der Öffentlichkeitscharakter des Grabes waren noch eine Art geistlicher Schmied,/ Hier gibr es zwischen hoch und niedrig keinen Unterschied!. (Ders,)

266 267
Die moderne Vorstellung einer "immerwährenden Begräbnisstätte" war Die Ausnahme der Heiligen
der Mentalität dieser mehrere Jahrhunderte umfassenden Epochc völlig und der großen Persönlichkeiten
fremd.
'W'enn
das Andenken des Verstorbenen und der Lageplatz seines Leich- Allerdings war die Identifikation von Grablegungs- und Gedenkstätte der
nams ihrer Funktion nach auch nicht zwangsläufig an ein und demselben Verstorbenen im Frühmittelalter nicht derart vollständig geschwunden,
Ort vereint sein mußten wie beim antiken Grab oder auf unseren heutigen wie wir behauptet haben. Es gab einige illustre Ausnahmen: die der Heili-
Friedhöfen, so waren beide Komponenten doch auch nicht streng geschie- gen und der großen, verehrungswürdigen Männer.
den, sondern innerhalb des Kirchenbereichs einander nachbarschaftlich Die Heiligen waren allesamt Wundertäter und Fürsprecher, und das
verbunden. Überdies war es immer möglich, daß ein einziger Leichnam Volk mußte mit ihren Reliquien direkt kommunizieren und sie berühren
mehrere Grabstellen erhielt, sei es, daß er zerstückeIt §/urde (Grab des Flei- können, um des von ihnen ausgehenden magischen Heilsstroms teilhaftig
sches, Grab der Eingeweide, Grab des Herzens, Grab der Gebeine), sei es, zu werden. Deshalb fielen Gedenk- und Grabstätte bei ihnen zwangsläuiig
daß sich die Funktion des Andenkens verselbständigte, sich von der Grab- zusammen; tatsächlich gab es ebensoviele Gräber und Reliquienschreine
stätte löste und daß der Verstorbene so an mehreren Stellen zugleich verehrt wie Fragmente ihrer Leiber. §üenn also das Grab des Bischofs und Märty-
wurde, ohne sonderliches Privileg des authentischen Grabes. rers von Toulouse, Saint Sernin, auch in der confesslo der ihm außerhalb der
Vom Sirius - oder von heute - aus gesehen, mag diese Entwicklung als Stadt geweihten Abtei lag, so wurde ein Teil seines Leibes doch in einem der
Anfang einer Ablösung des von alten, heidnisch-abergläubischen Bräuchen Antike nachgeahmten Sarkophag aus dem 12. Jahrhundert in der Abtei von
befreiten Menschen von seiner sterblichen Hülle erscheinen, die, hatte das Saint-Hilaire-de-l'Aude aufbewahrt und zur Schau gestellt worden, wo er
Leben sie einmal verlassen, für nichts mehr galt. Jedenfalls war diese Ein- noch heute bewundert werden kann. Die Leiber der Bekenner, Märtyrer
stellung durchaus nicht dieselbe wie die des wissenschaftlichen Agnostikers und Missionare des Christentums in Gallien sind so zum Gegenstand eines
oder des christlichen Reformers unserer zeitgenössischen Kultur. Überdies Berührungskultes geworden, der nie ausgesetzt hat : Ich habe im Jahre 1944
werden wir vom 11. Jahrhundert an Zeugen eines \üü'iederauftauchens der mit eigenen Augen in der Kirche Saint-Etienne-du-Mont in Paris Gläubige
individuellen Grabstätte und - in ihrem Gefolge - einer erne uten positiven das Reliquienkästchen der Heiligen Genoveva küssen sehen.
Einschätzung des Leichnams. Das ist eine lange und keineswegs geradlinige Diese Gräber waren in der Mehrzahl der Fälle Steinsarkophage mit oder
Entwicklung, die in mancher Hinsicht wie ein Rückgriff auf den römischen ohne Gedenk-Inschrift, wobei der Grad der öffentlichen Bekanntheit des
Paganismus wirkt und, auf lange Sicht, schließlich doch in den Kult der Heiligen oder die Ikonographie die Rolle der Identifizierung übernahm.
Toten und Gräber, wie er das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Die angebliche Krypta r.on Jouarre erlaubt uns, dieser Mischung von
bestimmt, einmündet und darin gipfelt. erwünschtem Gedenken und Schweigen auf die Spur zu kommen. Sie ist
Das alles sei hier nur angemerkt, um die Tendenz der historischen Bewe- dem Heiligen Adon geweiht, dem Stifter der Abtei (im Jahre 630), und den
gung anzudeuten und auf ihre noch kaum wahrnehmbare Bedeutung hin- Heiligen, Abtissinnen und Bischöfen seiner Familie. Sie ist die einzige ver-
z-uweisen. Es bedarf j edoch noch mehrerer Jah rhu nderte u nd versch iedcnc r bliebene Spur einer Friedhofskirche, in der sich die Beisetzung en ad sanctos
kultureller Revolutionen, um bei ienem terminus ad quemdes 19. Jahrhun- im Umkreis der Gräber der verehrten Stifter häuften, die auf einer Art er-
derts anzulangcn. In der Epoche, bei der wir augenblicklich innehalten höhter, heute verschwundener Tribüne in einem der Seitenschiffe des Bau-
-dem Hochmittelalter -, ist, was uns in Erstaunen setzt, im Gcgcnte ilgcra- werks lagen. Im ältesten Bauabschnitt haben sich noch die alten Sarkophage
de die Schwerfälligkeit und Langsamkeit, mit der die Anonymität des erhalten, die aus merowingischer Zeit stammen. Der des Heiligen Adon,
Frühmittelaltcrs aufgegeben wird. eines Bruders des Heiligen Omer und Schülers des großen irischen Missio-
nars Columbanus, ist vollkommen schmucklos, ohne irgendeine Inschrift
oder Verzierung. Der seiner Kusine, der Heiligen Th6odechilde, der ersten
Abtissin dieser Gemeinschaft von Nonnen, ist dagegen mit einer prächti-
gen Inschrift in sehr schöner Schrift geschmückt: "Hoc Membra Post Ubi-

268 269
ma Teguntur Fata Sepulchro Beatae* (Dieses Grab birgt die sterblichen quem der Papst beigesetzt sein wollte, und cinem Sarkophag gebildet, von
Reste der glückseligen Th6odechilde). "Eine makellose Jungfrau, von edler dem Jean Charles-Picard vermutet, daß er in manchen Fällen zu drei Vier-
Herkunft, von Verdiensten leuchtend..." Ein biographischer Hinweis: teln in die Erde eingelassen wurde, so daß nur noch der Deckel zu sehen
,Mutter dieses Klosters, lehrte sie ihre Töchter, die dem Herrn geweihten war. Hier treten also zwei Möglichkeiten in Erscheinung: Entweder ist der
Jungfrauen, Christus entgegenzueilen. . ." Und die Inschrift schließt mit Papst ein kanonisierter Heiliger oder er wird zum Zeitpunkt seines Todes
der Verkündigung der himmlischen Glückseligkeit: "
H aec Demu[mJ Exul- nicht als Heiliger betrachtet, verspürt aber trotzdem das Bedürinis, sich zu
tat Paradisi Tiimpbo* (Sie frohlockt letztlich, als Tote, in der Glorie des seinen Lebzeiten ein sichtbares und öffentliches Grab zu errichten (manche
Paradieses [5]). dieser Gräber sind später versetzt worden, weil sie an der ursprünglichen
lVahl
Die beiden anderen, die seiner Kusine, der Heiligen Agilberte, und seines Stelle nicht sichtbar genug waren). Jean Charles-Picard sieht in dieser
Bruders, des Heiiigen Agilbert, der zunächst Bischof von Dorchester, dann des Ortes und der Form der Grablegung eine Bekräftigung der Pontifikalen
von Paris war, sind mit Skulpturen bedeckt, weisen aber keine Inschrift Autorität. Die memoria von Mellebau de im bypogöe des Dunes zu Poitiers
auf : der des Heiligen Agilbert ist mit der Szene der Parousie, der Vieder- unterscheidet sich nur geringfügig von diesem päpstlich-römischen
kehr Christi geschmückt, wie sie im dritten Kapitel des vorliegenden Bu- Vorbild.
ches kommentiert worden ist. Man ist namentlich im Falle der Päpste - angesichts dieses W'unsches
-
Von den obersten, sichtbaren Sarkophagen der heiligen Stifter enthält nach Verewigung des Andenken geradezu verblüfft. In dieser Hinsicht ist
also nur einer eine Inschrift, zwei sind ohne Inschrift, aber skulpturenver- die Grabinschrift des Heiligen Gregor aufschlußreich, die häufig nachge-
ziert, und einer ist vollkommen schmucklos. Man kann offensichtlich aber ahmt worden ist und etwa auch in der folgenden Notiz der Legenda aurea
nicht behaupten, daß ursprünglich keine Inschriften im Mauerwerk hätten zum Tode des großen Papstes zitiert wird:
vorhanden gewesen sein können, und zwar über den anonymen Sarkopha-
gen. Jedenfalls sind sie verschwunden, und niemand hat es sich einfallen Suspice,Terra, tuo Corpus de Corpore Sumptum(A)
lassen, sie zu konservieren oder zu restaurieren. Die graphische Qualität Reddere Quod Valeas, Viaificante Deo. (B)
der Inschrift der Heiligen Th6odechilde und die formale Schönheit der Spiritus Astra Petit, Leti Nil Supra Nocebunt,(C)
Skulpturen sind derart augenfällig, daß es angesichts dieser Meisterwerke CuiVitae Alterius Mors Magis lpsaVita Est.(D)
schwer ist, die Hypothese der Unfähigkeit der Schreiber und Künstler als Pontificis Summi Hoc Clauduntur Membra Sepulcbro(E)
Ursache für den Übergang zur Anonymität und Schmucklosigkeit der Sar- Qui Innumeris SernperViait Ubique Bonis.(F)
kophage aufrechtzuerhalten."'
Ein anderes Beispiel liefern die Grabstätten der Päpste vom 3. bis zum Jede Zeile dieses Textes (A, B . . . F) bringt ein interessantes
und bezeich-
10. Jahrhundert, die von Jean Charles-Picard minuziös untersucht worden nendes Thema zum Ausdruck:
sind. (S) Diese ad sdnctos-Gräber bestehen entweder aus einfachen Stand- 1 . Das Thema des {J bi sunt : die Viederkehr des Leibes zur Erde (A). Es

Sarkophagen (sursum) mit einer erhaltenen Inschrift darüber oder aus Bet- wird jedoch nur gestreift und nicht weiterentwickelt. Die eigentliche Ent-
räumen in einer Kirche (Sankt Peter). Der Betraum dieser Art wird von faltung der Vorstellung geht eher in die entgegengesetzte Richtung.
einer Chorkapelle, einem Altar, der die Reliquien des Heiligen birgt, ad 2. Das Thema der \Wiederkehr zur Erde wird unverzüglich durch das der
verheißenen Auferstehung abgelöst: Vhtit'icante Deo (B).
" Die Sarkophage sind im Jahre 1627 im Beisein der Königin Maria von Medici geöffnet wor- 3. Das Thema der \(anderung der Seele gen Himmel (C) wird der einst-
den: "Als man die Särge öff nete, fand man die Leichname der beiden Heiligen Abtissinnen noch
unversehrt und in Nonnentracht vor, in eine Art Mantel aus golddurchwirkten Stoff gekleidet,
von dem nurmehr die Goldfäden und eine ebenfalls goldene Agraffe übriggeblieben waren, die Suspice, Tena .. . ,Nimm den Leib auf , Erde, der von deinem Leib ist genommen,/Gib da-
Mme. Jeanne de Lorraine [die amtierende Abtissin] Königin Maria von Medici zum Geschenk von wieder, was du vermagst, so Gott ihn auferweckr./ I)er Geisr .chwebt zu den Sternen. der
machte. [. . .] Man barg die drei heiligen Leiber in Schreinen und ihre Häupter in eilends angefer- Tod hat keine Macht über den,/ Dem er nur ein Weg ist zu dem ewigen Leben.,' Des Papstes Reste
rigten goldroten Reliquienkästchen." (7) ruhen in diesem Grab./ Der immer und allenthalben in guten Verken lebte "

270 271
weiligen Viederkehr des Leibes zur Erde entgegengesetzt - eine aite Vor- 3. Doppelter Lohn seiner Tugend untl soiner rastlosen Tüchtigkeit ist
stellung, die in christlichen Inschriften wie der folgenden ( 1 I . Jahrhundert) sein Ansehen hienieden (per secula) untl das e wige Leben im Himmel (iz
häufig wiederkehrt: "Clauditur boc tumulo Bernardi corpus in atro ipsiuso aeternum): .Hic est laudandus per seculd. Vir aenerandus aioat in aeter-
(In diesem schwarzen Grabe ist der Leib Bernhards geborgen) - dies in num Regem laudando supernum [Zu loben ist e r immerdar. Der ehrwürdi-
Hinsicht auf den Körper - "et anima deerrat superna per astra« (und seine ge Mann möge in Ewigkeit in der Lobpreisung des himmlischen Königs
Seele schwebt zu den höchsten Gestirnen [9]) - dies mit Rücksicht auf die lebenl."
unsterbliche Seele. Hier ist die Inschrift Bestandteil des Grabes und ebenso kostbar wie es
4. Das paulinische Thema des besiegten Todes als eines wahreren Lebens selbst. Es handelt sich um eine §ü'andtafel, um ein Flachrelief, das die In-
als des irdischen - ein Topos der traditionellen Eschatologie (D); aber wie schrift birgt, in einer Nische außerhalb der Kirche, an der Südwand des
die §(iederkehr zur Erde wird auch dieses Thema durch den glorreichen Transepts (die bereits seit den Tagen der ersten Päpste in der ersten Peters-
Schluß der Inschrift wenn auch nicht abgeschwächt, so doch erweitert. kirche begehrteste Seite). Der Ursprung dieses sehr alten Grabtypus ist der
Dieser Schluß (F) folgt auf die Beglaubigung des Grabes - um wen handelt Sarkophag unter einem arcosolium. Es gibt hier iedoch keinen Sarkophag
es sich ?
mehr - was nicht besagen will, daß es nie einen gegeben hätte. Man hat
5. Qui innumeris semper vivit ubique bonis(F). Ein frommer Ubersetzer heute jedoch das Gefühl, daß das, was hier ins Gewicht fällt, weniger der im
des 19. Jahrhunderts hat angesichts des oivit gesturzt und die folgende Um- Sarkophag ruhende Leichnam selbst ist als die Gedenktafel, d. h. das Flach-
schreibung benutzt: "dessen universale Wohltaten immer und überall ver- relief, unter dem der Leichnam gebettet gewesen sein mochte, ohne daß
kündet werden". (10) Sie werden aber nicht nur einfach verkündet. Sie er- diese Ruhestätte deswegen eine Bedeutung ohnegleichen gehabt hätte.
halten den Toten auf Erden lebendig, in derselben Veise, wie seine Seele im Dieses Flachrelief, das zweifellos von Begon selbst in Auftrag gegeben
Himmel frohlockt, ad astra.'t' worden ist, stellt die Himmelfahrt des Abtes und seine Zwiesprache im
Ein anderes Beispiel sei hier zitiert - ein späteres Grab vom Anfang des Himmel dar. Christus steht in der Mitte, zwischen Begon und einer Heili-
12. Jahrhunderts, ebenfalls das einer bedeutenden kirchlichen Persönlich- gen, die wohl Foy, die Schutzheilige des Klosters, sein muß. Auch zwei
keit, Begon, der von 1087 bis 1107 Abt von Conques war. Es rrägt eine Engel sind dargestellt: der eine krönt den Heiligen, der andere streckt seine
Inschrift, in der zum Ausdruck kommt Hände zum tonsurierten Haupt Begons empor. Man bemerkt, daß die In-
1. die Beglaubigung des Grabes: Hic est abbas situsl. . .f de nomine Bego schrift hier von einem Porträt begleitet wird, das übrigens nicht das des
pocatus (Hier liegt ein Abt bestattet [...] mit Namen Begon). Keinerlei irdischen Menschen ist, sondern das Bildnis eines beatus, eines Heiligen,
Datum, und dieses Fehlen einer Zeitangabe ist bezeichnend: wir befinden der hinfort, eine glückselige Ewigkeit lang, in der Lobpreisung des Herrn
uns noch nicht in "historischer" Zeit. (Regem laudando) am Himmlischen Hofstaat lebt. Begon ist kein kanoni-
2. Die Lobpreisung: Ein gelehrter Theologe (divina lege peritus), ein sierter t{eiliger; aber wie die nicht kanonisierten Päpste ist er gleichwohl
heiliger Mann (air Domino gratus), ein Wohltäter der Abtei: er hat das ein wahrer beatus, ein Auserwählter, zugleich des ewigen Heils und des
Kloster erbauen lassen. irdischen Ansehens sicher. Da er kein Thaumaturg ist, kein wundertätiger
Heiliger, braucht sein Leichnam nicht mehr zwangsläufig zum Zwecke der
't Mens oidet astrL sa1t eine möglicherweise aus derselben Zeit wie dic Gregors stammende Berührung seitens der Giäubigen z"ur Schau gestellt zu werden. Deshalb
Inschrift, die in Toulouse aufbewahrt wird, die Inschrift eines gewissen Nymphius, eines Förde-
bemühte man sich in Fällen wie dem seinigen auch nicht um eine genaue
rers und \Wohltäters seiner Sradt. Aber diese himmlische Unsterblichkeir aufgrund der sancta
Lokalisierung der Ruhestätte und stand ihr gar gleichgültig gegenüber. Da-
fides, die die Finsrernisse vertreibt, wird von der irdischen Unsterblichkeir begleitet, die sich dem
erworbenen Ansehen verdankr (t'ama): "Der für deine tugendhaften Verdienste dir im hohen gegen ist die Persönlichkeit bedeutend und der öffentlichen Ehrerbietung
Himmel qeschuldete Ruhm trug und leirere dich zu den Sternenlad astraf. Unsterblich wirst du würdig - deshalb die Notwendigkeit einer sichtbaren Gedenkstätte, die
sein limmortahs erls1", oln. 6"6 -"n wüßte, um welche der beiden Unsterblichkeiten es sich hier
man pflegt und, wenn das Alter sie versehrt hat, zu gegebenerZeit erneuert :
handelt, "denn die Lobpreisung wird deinen Ruhm bei den kommenden ()enerationen [perzez-
turos populos) lebendig erhalten." Das ist das gloriam quaerere des klassischen Altertums, das
die Beispiele für sehr alte und hochverehrte Gräber, die im 12. und 13.
Sallust zu Beginn seincs Catilinahervorho5. (11) Jahrhundert restauriert worden sind, sind zahllos.

273
272

1
Die beiden Arten des Nachlebens: kung mit dem ritterlichen Kult des Ruhmes durchaus nicht. Der Autor des
im Himmel wie auf Erden Ubi sunt,der Villon als Vorbild gedient haben mag, räumt ein, daß von den
ehedem berühmten Männern hier auf Erden nichts mehr bleibt. Aber alles
Mit oder ohne Inschrift, mit oder ohne Bildnis - die Gräber, die sich bis ins hängt vom Ursprung dieser Berühmtheit ab ! Die großen christlichen Auto-
Frühmittelalter erhalten haben, reagieren a]so auf das Bedürfnis, das An- ren sind von dieser Erosion derZeir nicht betroffen, eben weil sie "den
denken zu betoahren. Sie bringen die Uberzeugung zum Ausdruck, daß beständigen Ruhmo für sich in Anspruch nehmen dürfen!So der Heilige
zwischen himmlischer Ewigkeit und irdischem Ansehen eine genaue Ent- Gregor der Große, der "immer und überall lebt., wie es bereits sein Grab-
sprechung besteht - eine überzeugung, die sich damals auf einige wenige epitaph ankündigt, und zwar - wie noch Bernhard von Cluny fortsetzt:
Übermenschen beschränkt haben mag, sich dann aber verbreitet und zu - "{ern den weltlichen Erfolgen" in der Einsamkeit der Klöster, des Velt-
einem der bezeichnendsten Züge des Hochmittelaiters wird . . . um dann im verzichts. "Sein [irdischer] Ruhm wird nimmerdar enden, die Velt wird
ebenso positivistischen wie romantischen 19. bzw.20. Jahrhundert erneut sein Lob anstimmen, und seine Glorie dauert und wird weiterdauern. Die
aufzutauchen. La aie de Saint Alexis (Das Leben des Heiligen Alexius, das Schrift von Gold und Feuer wird nicht erlöschen, und die Schätze, die diese
Alexislied) erkennt an, daß die Ewigkeit des Himmels zwar ,den beständig- Seiten enthalten, werden von der Nachwelt geborgen werden." (16)
sten Ruhm" bietet, den ein wohlverstandenes Interesse dem nur weltlichen Diese Beziehung zwischen den beiden Arten des Nachlebens, der der
Ansehen vorzuziehen einlädt; er ist aber keineswegs von ganz anderer Art. Eschatologie und der des Andenkens, bleibt sehr lange bestehen: durch die
ln der Chanson de Roland sind die Glückseligen im Himmel die Glorrei- ganze Renaissance und die beginnende Neuzeit hindurch wirksam, ist sie
cben. (12) sogar im positivistischen Kult erlauchter Toter des 19. Jahrhunderts noch
Der Heilige ist nicht immer klerikalen Ursprungs (13): \Vir haben ge- erkennbar. In unseren Industriegesellschaften werden die beiden Arten von
zeigt, wie Roland zum Vorbild des weltlichen Heiligen geworden ist, das Nachleben über den Tod hinaus gleichzeitig fahrengelassen, so als ob sie
dann die \(elt der Kleriker und der christlichen Spiritualität geprägt hat. zusammengehörten und verschwistert wären. Und doch würden wir sie
Der feudalistische Heilige beherrscht den gesamten Artus-Zyklus. Kom- heute eher für einander entgegengesetzt und widersprüchlich halten; die
plexe \Wechselwirkungen zwischen profaner und geistlicher Kultur führen laizistischen und rationalistischen Ei{erer des 19. Jahrhunderts wollten die
im 11. Jahrhundert zu neuen Auffassungen von Frömmigkeit und Heilig- eine durch die andere ersetzen, und diese ihre Bestrebungen beeinflussen
keit, in denen sich \Werte, die wir heute für schlechthin religiös halten, und uns heute noch immer. Die Menschen des Mittelalters und der Renaissance
andere, die uns eher der materiellen und irdisch-hiesigen rVelt verhaftet hielten sie umgekehrt - wie die der klassischen Antike - für einander kom-
scheinen, auf bez.eichnende \Weise mischen. Bis etwa zum 16. Jahrhundert plementär.
ist eine genaue Unterscheidung sogar schwierig. §ü'ir begegnen hier, in an- Autoren der Renaissance haben diese deutlich bewußte Mehrdeutigkeit
derer Gestalt, der Mehrdeutigkeit der deterna und der temporalia wieder, auch theoretisch erhellt. 1ü/ir kennen deren einige, und zwar dank Alberto
die wir bereits in den Testamenten, in den artes moriendi und bei den ma- Tenenti. (17) Gilbertus Porretanus läßt den Dominikaner Giambattista sich
kabren Themen nachgeu,iesen hatten. Der Kreuzzugsmythos hat die ritter- über das Paraclies äußern. Das Glück im Paradiese, meint der, hat zwei
liche Ineinssetzun€i von Unsterbiichkeit und Ruhm wiederbelebt und Ursachen. Die erste versteht sich von selbst: die beseligende Vision, die
schwärmerisch gesteigert: "Man wird jetzt sehen, wer [die künftigen unmittelbare Nähe Gottes; die zweite aber ist für uns überraschender: die
Kreuzfahrer] sind, die sich das Lob der Welt und das Gottes erwerben wol- Erinnerung an das §fl'ohlverhalten auf Erden, d. h. das erworbene Ansehen,
len, denn sie können auf ehrliche \ü7eise beide gewinnen.u (14) "Ehre und denn man hätte sich schwerlich ein Gut vorstellen können, das völlig ver-
Preis, die Gott erwiesen werden", sind verquickt mit "Ehre und Ruhm, die borgen geblieben wäre. Dieses erworbene Ansehen ist zwar nur eine Ne-
iür die Ewigkeit erworben werden". Die toten Kreuzf ahrer »gewannen das benursache (praemium accidentale), fällt aber doch ins Gewicht. Für das
Paradies [. . .] und erwarben sich ewiges Ansehen, wie es Roland und die weltliche Auditorium des Dominikaners liegen die Dinge noch einfacher:
zwölf Pairs getan hatten, die in Roncevaux im Dienste Gottes fielen". (15) "Der Mensch muß in dieser Welt alles versuchen, um die Ehre, den Ruhm
Die asketischen Schüler des contemptus mundi entgingen der Anstek- und das Ansehen zu erlangen, die ihn des Himmels würdig machen und

274 275
ihm so den Genuß des ewigen Friedens verschaffen." Das größte Glück sche Funktion zugunsten der Beisetzun g ad sanctos eingebüßt. Veder für
besteht also, wie ein anderer Humanist, G. Conversano, schreibr, darin, in das Heil des Toten noch für den Frieden der Hinterbliebenen ist es noch
dieser Welt gefeiert und geehrt zu sein und in der anderen dann die ewige erforderlich, die Hülle seines Leichnams öffentlich zugänglich zu machen
Seligkeit zu genießen. oder auf den genauen Ort der Ruhestätte hinzuweisen. Die einzige aus-
Die Devise des Herzogs Federico de Montefeltre, die man noch heute auf schlaggebende Bedingung ist die Beisetzung ad sdnctas. Die öffentlichen
den Intarsien seines Studiolo in Urbino lesen kann, bringt in knappster und durch Inschriften beglaubigten Gräber sind also verschwunden, außer
Verkürzung denselben Glauben an die zwangsiäufige Fortsetzung des irdi- im Falle der Heiligengräber (ihre Grabmäler mußten also mit der Ruhestät-
schen Ruhmes in die himmlische Unsterblichkeit hinein zum Ausdruck: te ihres Leichnams zusammenfallen) und der Gräber von Heiligen mehr
"Virtutibus itur ad astra [Tugenden werden ihm den Himmei öffnen]." Die oder weniger gleichgestellten Persönlichkeiten (die auf den Mosaiken des 6.
Formel erinnert natürlich an das Epitaph Gregors des Großen;sogar die und 7. Jahrhunderts eine viereckige - und nicht etwa runde - Aureole tru-
Päpste mußten sich durch ihre Tugenden und ihr Verdienst Ansehen ver- gen und deren Grabmonument nicht zwangsläufig auch ihren Leichnam
schaffen, wenn sie wünschten, daß ihre Gräber für kommende Generatio- bergen mußte). Das sind jedoch Ausnahmefälle.
nen davon Zeugnis ablegen sollten. Es gab also zwei Kategorien von Personen: die eine umfaßte nahezu die
Die Schwierigkeit einer solchen reinlichen Scheidung zwischen himmli- Gesamtheit der Bevölkerung, für die der absolute Glaube an ein Leben
scher Unsterblichkeit und während des Lebens auf Erden erworbenem An- nach dem Tode wichtiger war als das Andenken an den (den Heiligen anver-
sehen rührt vom Fehlen einer scharfen Trennlinie zwischen der 'Welt des trauten) Leib und an das irdische Leben, die der Nachwelt jedoch nichts zu
Diesseits und der des Jenseits her. Der Tod bedeutete weder vollständige überliefern und auch nichts Bemerkenswertes geleistet hatte. Die andere
Trennung noch unverzügliche Vernichtung. Das rationale und wissen- enthielt die sehr seltenen Individuen, die eine Botschaft oder Losung zu
schaftliche Denken wird - wie die religiösen Reformationen, die prorestan- übermitteln hatten - eben die, die mit einer runden (oder rechteckigen)
tische ebenso wie die katholische - versuchen, diese beiden Arren von Aureole dargestellt wurden. Die Angehörigen der ersten Kategorie bedur{-
Nachleben über den Tod hinaus zu dissoziieren. Das gelingt nicht sofort: ten keines Grabes, weil sie ihren Glauben und ihre Heilsgewißheit dadurch
Das mediterrane Barock hat sich, noch auf dem Höhepunkt der Gegenre- unter Beweis gestellt hatten, daß sie eine Grabstelle ad sanctos forderten.
formation, einen Rest der alten Verbindungen diesseits und jenseits der Die anderen hatten Anrecht auf ein Grab - jene anderen, die zwar auch
Schwelle des Todes bewahrt. Ebenso blieb im Puritanismus der irdische dieselbe eschatologische Zuversicht zum Ausdruck brachten, sich darüber
Erfolg mit der Vorstellung der Prädestination verknüpft. In den Festen und hinaus aber das Andenken an ihre außergewöhnlichen und überlieferns-
Feierlichkeiten der Großen Französischen Revolution und in den Auseinan- werten Verdienste sichern durften. Im zweiten Falle entsprach das sichtbare
dersetzungen um Gräber und Grablegungsrituale zur Zeit des Direkto- Grab einem eschatologischen Akt und zugleich dem Wunsch nach immer-
riums und des Konsulats erhält sich noch etwas von dieser Verbindung, die währendem Andenken.
sich erst heute, mitten im 20. Jahrhundert, gänzlich auflöst. In der Praxis, Dieser hier in aller Kürze zusammengefaßte Zustand hätte wenigstens
wie sie dem 16., dem 17. und sogar noch dem 18. Jahrhundertgemeinsam ebenso lange fortbestehen können wie die Beisetzungen a d sanctos oder die
war, ist das Andenken des Lebenden vom Heil seiner Seele nicht geschie- Bestattungen in den Kirchen. Das fortschreitende Umsichgreifen des Mate-
den, und dies ist in \ü/ahrheit die eigentliche Bedeutung des Grabes. rialismus, der Laisierung oder des Agnostizismus (welchen Namen man
diesem Phänomen der Moderne auch beilegen mag) hätte im 19. und 20.
Jahrhundert den alten Glauben an ein Leben nach dem Tode ablösen und,
Die Situation gegen Ende des 10. Jahrhunderts wenn auch aus anderen Gründen, auf die §üahrung der Anonymität der
Gemeinschaftsgräber hinarbeiten können. In diesem Falle hätten wir im 19.
Die Situation, wie wir sie uns nach den vorhergehenden Analysen ausmalen Jahrhundert keinen Gräber- und Friedhofskult gehabt und heute keine ad-
können, ist also gegen Ende des Frühmittelalters - um das 10. bzw. 11. ministrativen Probleme mit der Verwesung der Leichname.
Jahrhundert - etwa die folgende: Das sichtbare Grab hat seine eschatologi- Aber die Dinge haben sich so nicht abgespielt! Im Gegenteil :Vom 11.

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Jahrhundert an setzt nämlich die neue, langsam und kontinuierlich verlau- schweifig und sogar überschwenglich, und von der kurzen Notiz zum Per-
fende Phase ein, in der der Gebrauch des sichtbaren, vom Leichnam häufig sonenstand bis zur Lebensgeschichte, vom zurückhaltenden Identitäts-
räumlich gerennten Grabes wieder häufiger wird. Der Vunsch nach Wah- nachweis bis zum Ausdruck familiärer Solidarität reicht.
rung des Andenkens geht dann von den erlauchten Persönlichkeiten auf die
Mehrheit der Sterblichen über, die, sehr zurückhaltend und ganz allmäh-
lich, ihre Anonymität hinter sich zu lassen versuchen, sich aber nichts- Das Epitaph - zunächst Identitätsnachweis und Gebet
destoweniger weigern, eine bestimmte Schwelle der Zurschaustellung und
der realistischen Präsenz zu überschreiten, deren Grenze je nach denZeit- Die ältesten Epitaphien (die aligemein verbreiteten - ich spreche nicht von
umständen variiert. denen der Päpste oder Heiligen, die am Stil der römischen Grabepigraphie
länger festgehalten haben) beschränken sich auf eine kurze Identitätsanga-
be und auf ein gelegentliches §7ort der Lobpreisung. Sie gelten wohlge-
Die \(iederkehr der Grabinschrift merkt bedeutenden Persönlichkeiten - so im Faile der Bischöfe von Chä-
lons, die vom 10. bis zum 12. Jahrhundert in ihrer Kathedrale beigesetzt
Deshalb ist das erste bemerkenswerte und bedeutungsvolle Phänomen das werden, im Jahre 998 - Hic jacet Gibuinus bonus epis.'oder noch im Jahre
der \(iederkehr der Grabinschrift, die fast genau mit dem Verschwinden 1247 - Fridus I Epis. (20); so auch im Falle des Abtes von Citeaux, der im
des anonymen Sarkophages zusammenfällt, der seinerseits durch den Blei- Jahre 1083 stirbt (LIic jacet Bartbolomeus quond.am abbas loci istiusl2l)).
sarg oder durch die bloße Einhüllung ins Leichentuch ersetzt wird, d. h. Dem Namen fügte man bald auch das Todesdatum hinzu (das Jahr und
durch die Beisetzung des lediglich in sein Grabtuch gehüilten Leichnams. manchmal auch Monat und Tag), wie auf einer im Museum von Colmar
Auf dem Pariser Friedhof Saint-Marcel (1 8) bemerkt man, um das 12. Jahr- aufbewahrten Grabplatte (Anno Domini MCXX, XI Kalendas Martii
hundert herum, das erneute Auftauchen dieser seit der altchristlichen Epo- Obät bone memorie Burcard miles de Gebbiswill f. . .) Fundator loci istius
che verschwundenen Inschriften. Es wird "der Renaissance der antiken [22]), oder wie auf einem kleinen Stein, der in die Außenmauer der Kirche
Vorliebe für die Epitaphien" zugeschrieben. Vir werden jedoch sehen, daß von Auvillar im D6partement Tarn-et-Garonne eingelassen ist (N. Marcii
der epigraphische Stil den der Antike kaum vor dem 15., jedenfalls aber incarnationis MCCXXXW obiit Reverend.us Pater Delesmus Capellanus
nicht vor dem 16. Jahrhundert bewußt nachahmt. Die ersten mittelalterli- bujus ecclesiae). Das ist alles.
chen Epitaphien stellen das neue Bedürfnis, die eigene Identität im Tode zu Die ersten Versuche haben dann zu einem epigraphischen Stil geführt,
bekräftigen, eher ganz sponran unter Beweis - eine Entwicklung, die unge- den man noch im 14. Jahrhundert und darüber hinaus antrifft, trotz der
fähr zeitgleich mit der der Ikonographie des Jüngsten Gerichts und der Konkurrenz überschwenglicherer und aus anderen Motiven gespeister
religiösen Erblassungsverpflichtung auftritt. Das Epitaph hat sich als Formeln. Im 12. und 13. Jahrhundert ist das Epitaph nahezu immer in latei-
Brauch nicht mit einem Schlage verbreitet, sondern ist auf starke \Wider- nischerSpracheabgefaßt: HiciacetN.,gefolgtvonseinergesellschaftlichen
stände gestoßen. Das aus dem 12. Jahrhundert stammende Grab eines gro- Stellung (rniles, rector, capellanus, cantor, prior claustralis usw.), dem obüt
ßen Kirchenherrn, des Abb6 de La Bussiöre in Burgund, das bei Gaigniöres und einer abschließenden Formel, die verschiedene Varianten haben kann:
(19) aufgeführt wird, ist einfach noch mit dem Zeichen der vier Krummstä- Hic requiescit, Hic situs est, Hic est sepuhura, Ista sepuhura est, Hic sunt
be geschmückt, die zwei Drachen zu Boden strecken, deren Symbolik übri- in fossa corporis ossa, In boc tumulo, Clauditur corpus (sekener und ge-
gens gebieterischer ist als die Schrift. Und lange nachher, als das Epitaph die suchter).
Regel geworden ist und redselig zu werden beginnt, wird diese archaisch- Im 14. Jahrhundert ist diese Formulierung immer noch gebräuchlich,
bündige Kürze noch auf manchen Gräbern aufrechterhalten, besonders auf wenn sie auch häufiger in französischer Sprache vorgebracht wird (das La-
Gräbern von Mönchen und Abten. Nicht weniger wahr ist, diesem Vorbe- tein kommt erst wieder gegen Ende des 15. und im 16. Jahrhundert zur
halt zum Trotz, daß sich, nach Jahrhunderten des Schweigens, eine biogra- Geltung), und liefert zahllose Variationsmöglichkeiten für das schlichte
phische Rhetorik abzeichnet, die genau ist, wenn auch manchmal weit- Cy-gist (ct-git lHier ruht]): "Hierruht der ehrbare und bescheidene N.,

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verstorben im Jahre des Heils. . ."; "hier ruht der edle und weise Rit- rnevtento mori, die wir allzusehr xuf dis 'makabre" Phase des ausgehenden
ter. . .«; "hier ruht der Schuster und Bürger von Paris. . ."; "hier ruht der Mittelalters zu beziehen geneigt sind.
Schenkwirt X., Bürger von Paris". Mit einer frommen Hinzu{ügung als Deshalb wendet sich der verstorbene Schreiber direkt an den Hinterblie-
Schluß, die lateinisch oder französisch abgefaßt sein kann: ,Qui migrat;it benen. Ein Kanoniker aus Saint-Etienne zu Toulouse, gestorben im Jahre
ad Dominumo (1352) oder "Anima gaudeat in Cbristo tempore pet?etilo« 1177 (23), redet den Leser an und spricht: '§üenn du wissen willst, was ich
(1639) oder ,Anima ejus requiescat in pace" (sehr verbreitet); ,der Herr früher gewesen bin, und nicht, was heute, so täuscht du dich, o Leser, der
nehme seine Seele zu sich. Amen" ; "der Herr vergebe ihm seine Sünden um du es mißachtest, Christi Lehre gemäß zu leben. Der Tod ist für dich ein
seiner Gnade willen. Amen"; "Gott der Herr hole seine Seele heim. Gewinn, denn sterbend trittst du ins Glück des ewigen Lebens ein."
Amen" ; "Bitten wir Gott, seiner zu gedenken" usw. Es existierte ehedem im Kloster Saint-Victor in Paris eine aus etwa der
gleichen Zeit stammende Inschrift eines Arztes von König Ludwig VI., der
zwischen l130 und 1138 den Tod fand und das gleiche Gefühl zum Aus-
Die Anrufung des Vorübergehenden druck bringt; auf ganz ähnliche \fleise beklagt er, sich direkt an den Vor-
übergehenden wendend (qui transi), die Hinfalligkeit der Medizin vor
Bis zum 14. Jahrhundert setzt sich das allgemein verbreitete Epitaph also dem Auge Gottes, von der er sich aber doch wünscht, sie möge Balsam für
aus zwei Abschnitten zusammen: der eine, ältere, ist eine Identitätsangabe, seine Seele sein, und er fügt hinzu: 'W'as wir einst waren, bist du jetzt, und
die den Namen, die Stellung, das Todesdatum und zuweilen ein kurzes was wir sind, wirst du sein." Das ist alles * und es ist banal genug. (24)
Lobeswort mitteilt. In der Mehrzahl der Fälle wird hier innegehalten und Diesen beiden Texten des 12. Jahrhunderts läßt sich entnehmen, daß der
weder das Alter noch das Geburtsdatum erwähnt. Der zweite, im 14. Jahr- Verstorbene oder der in seinem Auftrag Schreibende durchaus nicht um die
hundert verbreitete Abschnitt ist ein an Gott gerichtetes Gebet für die Seele Gebete des Vorübergehenden werben. Er wird lediglich eingeladen, den
des Verstorbenen: Das Seelenheil des ad sanctos bestatteten Christen ist Tod zu bedenken und Einkehr zu halten.
nicht mehr so sicher wie in den vorausgegangenen Epochen und im Früh- Das Thema hält die Gemüter weiter in Atem. Vir begegnen ihm - ein
mittelalter. Das Gebet ist von der damaligen Besorgnis angesichts des Jüng- Beispiel unter zahllosen anderen - auf dem Friedhof von Saint-Sdverin auf
sten Gerichts und von der Bemühung um testamentarische Stiftungen be' einer bei Sauval (25) zitierten Grabplatte aus dem Jahre 1545 wieder - es
einflußt. handelt sich um einen friesischen Schüler, der im Alter von dreiundzwanzig
Dieses Gebet tritt zunächst als anonymes Gebet der Kirche in Erschei- Jahren, fern seiner Heimat, in Paris stirbt. "'\)ü'as ich gewesen bin, zeigt dir
nung. Mit großer Beharrlichkeit in Stein oder Kupfer geschnitten, in den mein liegendes Bildnis. '§(as ich bin - soweit ich es weiß -, lehrt dich mein
Fliesenboden oder die Mauern von Kirchen oder Kapellen geritzt, ist es verstreuter Staub." Nach einem Glaubensbekenntnis, das die Lehre zusam-
jedoch dazu bestimmt, von irgend jemandem gesprochen zu werden; es menfaßt (Erbsünde, Fleischwerdung Christi, Auferstehung der Toten),
stiftet einen Dialog zwischen dem verstorbenen Schreiber und dem gegen- drängt er den Vorübergehenden zur Einkehr : "Damit du dich abtötest und
wärtigen Leser. In \ü/irklichkeit hat sich eine zweiseitige Kommunikation Gott dich zum I-eben erwecke."
hergestellt, eine Kommunikation in Richtung des Toten - mit dem Gebet In wenn auch weniger entwickelter Gestalt begegnet man diesem Au{ruf
iür die Ruhe seiner Seele - und eine andere, dte oon ibm aus geht, zvr Erbav. zur Einkehr bei Inschri{ten des 17. Jahrhunderts wieder.
ung der Lebenden. Die Inschrift wird also zur Lektion und zum Aufruf. Im 14. Jahrhundert macht sich ein anderes Thema bemerkbar" Der Tote
Vom 12. Jahrhundert an kommt es, wenn auch zunächst noch selten, gele- wendet sich nicht einfach an den Lebenden, um ihn zur Einkehr aufzufor-
gentlich vor, daß die Epitaphien kirchlicher Grabstätten, die also von Kleri- dern, sondern eher, um ihm ein Fürbittegebet abzuverlangen, mit dessen
kern, manchmal sogar vom Verstorbenen selber abgefaßt worden sind, als F{ilfe er der ewigen Verdammnis oder den Martern des Fegefeuers zu ent-
fromme Einladung an die Hinterbliebenen formuliert werden, sich durch rinnen hofft. So das folgende Vandepitaph eines Mitglied der berühmten
Augenschein ein tieferes Verständnis der großen paulinischen Lehre vom Familie der Montmorency, das im Jahre 1387 verstorben und in der Kirche
Tode zu eröffnen. Das ist die alte Tradition des contemptus rnundi und des von Teverny beigesetzt ist:

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Bonnes gens qui parcy passös, um für sich Barmherzigkeit durch die Gebete der Gläubigen zu erlangen,
De Dieu prier ne oous lassös die hier niederknien und sich diesem sehr heiligen und verehrungswürdigen
Pour l'äme du corps quirepose cy dessous. Sakrament nähern, und mit ihnen in der Glorie aufzuerstehen". (26)
,Vor dem Kruzifix", so berichtet Sauval, "habe ich [in der Kirche Saint-
Auffällig ist die Bemühung, zwischen Seele und Körper zu unterschei- Jean-en-Gröve] ein Epitaph gefunden, das wie folgt schließt:
Halt ein' Vor-
den - ein neuer Zug in dieser Art Literatur des 11. und 14. Jahrhunderts. Es übergehender, hier ruht ein ehrbarer Mann Igestorben im Jahre 1 575]. Bete
folgt dann der Hinweis auf den bürgerlichen Stand, begleitet von der tradi- fürihn, derdu deines §ü'eges gehst." (27)
tionellen kurzen Lobpreisung : Hier ist der Vorübergehende ein Andächtiger. Er kann aber auch einfach
ein Spaziergänger oder Neugieriger sein:
Homme fut de grant dövocion.
Boucbard du Ru si fut son nom O toy passant, quimarcbe sur leurs cendres
Lä trespassa cofiime l'on scet Net'öbabis...
MCCCI fx Voys, passant, je te prie, la noble söpuhure.
II et sept, 25" iour d'otobre.
Prions Dieu que de lui se remembre. Amen !
Man schuldet diesem gleichgültigen Passanten einige Erklärungen zu be-
Diese Identitätsangabe vom Ende des 14. Jahrhunderts verzeichnet noch stimmten Besonderheiten des Grabes oder des Lebens des Verstorbenen,
immer nicht das Alter des Verstorbenen. und man wendet sich ihm nicht nur zu, um um seine Gebete zu werben,
\Wer aber ist jener Vorübergehende ? Als Menschen des 20.
Jahrhunderts sondern um ihm eine Geschichte zu erzählen, eine Biographie, wobei man
haben wir uns hier vor einem schwerwiegenden Mißverständnis zu hüten. voraussetzt, daß er sich dafür interessiert und in der Lage ist, sie im Ge-
Der Vorübergehende ist nicht - wie wir, unserer eigenen Praxis verhaftet, dächtnis zu behalten und weiterzutragen: So setzt sich der Kreislauf von
uns vorzustellen versucht sind - Angehöriger, Freund oder Vertrauter des Ansehen und Andenken in Bewegung.
Verstorbenen, der ihn gekannt hat, der ihn beklagt und beweint und sein Im 13. und 14. Jahrhundert hat das Epitaph nicht mehr immer die äußer-
Grab besuchen kornmt. Dieses Gefühl war bis zum Ende des 18. Jahrhun- ste Knappheit des Hochmittelalters; es wird länger und ausführlicher,
derts vollkommen unbekannt. Der Gesprächspartner des Toten ist wirklich wenn es sich auch von Ubertreibungen frei hält; so etwa das folgende eines
)eder Vorübergehende (qui parry passös - qui transis), jeder Fremde, der den Bischofs von Amiens, Evrard de Fouilloy, gestorben im Jahre 1222, dessen
Friedho{ durchstreift oder die Kirche betritt, um seine Andacht zu verrich- Grabplatte in der Kathedrale von Amiens eines der Meisterwerke der mit-
ten oder weil ihn sein §ü'eg gerade vorbeiführt, denn Kirche und Friedhof telalterlichen Grabplastik ist :
sind öffentliche Stätten und Orte der Begegnung. Deshalb suchen sich die ,Er hat sein Volk genährt. Er hat die Fundamente dieses Gebäudes ge-
Testatare für ihre Grabstätten die heiligsten Gegenden aus, die zugleich den legt." ,Die Stadt war seiner Fürsorge anvertraut.. ,Hier ruht Edouard,
größten Zulauf haben. So das folgende Epitaph in der Kirche Saint-Andr6- dessen Ansehen den Geruch von Narde atmet.« ,Er hat Mitleid gehabt mit
des Arts zu Paris, das Epitaph eines im Jahre 1609, im Alter von 83 Jahren bekümmerten '§ü'itwen. Es ist der Hüter der Veriassenen Sewesen. Es war
verstorbenen Greises, der sich gewünscht hat, ,x6 Tage seines Hinschei- Lamm unter den Sanften, Löwe unter den Großen, Einhorn unter den
dens beigesetzt und gebettet zu werden neben diesem Abendmahlsaltar, Hochmütigen."

Bonnes gens.. . Ihr guten Leute, die ihrhiervorüberkommt,/ Verder um Gotres willen nicht
müde, zu beten/ Für die Seele des Leichnams, der hier unten ruht.
Homme t'ut .. . Er war ein Mann von großer Frömmigkeit./ Bouchard du Ru war sein Name/
Er verstarb hier, wie man weiß,/ Im Jahre 1387, am 25. Oktober. / Bitten wir Gott, er möge seiner O toy passant... O du, Vorübergehender, der du über ihre Asche hinschreitest,/Erstaune
gedenken. Amen ! nicht [...]/ Ich bine dich, Vorübergehender, betrachte die edle Grabstäme'

282 283
Das Epitaph als ausführlicher biographischer Bericht schen Auffassung des menschlichen f.ebcns, drs hinfort eher durch seine
über moralische und heldenhafte Großtaten Dauer als durch seine'§flirksamkeit de{iniert wird - eine Auffassung, die die
unserer technisierten und bürokratisierten Industriegesellschaft ist.
In diesem Text, der ausführlicher ist als sonsr üblich, trifft man die verrraute Schließlich vervollständigt vom 15. Jahrhundert an ein letzter auffallen-
altchristliche Grabepigraphie ebenso an wie neuere Lobesformeln, die spä- der Zug die alte Identitätsangabe des 13. und 1.1. Jahrhunderts: sie be-
ter gebräuchlich werden. Eben diese Tendenz zur Beredsamkeit und zur schränkt sich künftig nicht mehr nur auf einzelne Individuen, sondern wird
langatmigen Ausschweifung charakterisiert die für die phase des Ancien
- im 15. und vor allem im 16. und 17. Jahrhundert - auf die ganze Familie
R6gime, für das 15. bis 18. Jahrhundert bezeichnendste Form der Epigra- bezogen und fügt dem zuerst Verstorbenen die Namen seiner Ehegattin
phie. (\üir werden im dritten Teil des vorliegenden Buches und in einem und Kinder oder, wenn er jung war, seiner Eltern hinzu - ein neues und
anderen Zusammenhang die gleichzeitig auftretende Neigung zur Schlicht- bemerkenswertes Phänomen, das darauf hinausläuft, öffentlich und auf ei-
heit untersuchen, die an beiden Enden der sozialen Stufenleiter zum Aus- ner sichtbaren Grabplatte eine familiäre Beziehung kundzugeben, die bis-
druck kommt, bei den auf Demut bedachten Mächtigen wie bei den kleinen her in diesem äußersten Augenblick der Vahrheit außer acht gelassen
Handwerkern und Bauern, die gerade ersr schüchtern in die Sphäre des wurde. Die Inschriften werden immer häufiger zu Kollektivinschriften;
"geschriebenen" Todes eingerreten sind.) Im 14. Jahrhundert nimmt diese hier das Beispiel einer in die Außenmauer von Notre-Dame zu Diion einge-
Beredsamkeit die Form der frommen Ermahnung an, eine Art paraphrase lassenen Steintafel, in die - zweifellos auf Verlangen der Mutter als letzter
der Totenfürbitten. Das Latein als schriftsprache ist verbreiteter und redse- Hinterbliebener einer durch mehrere Pestepidemien dezimierten Familie
liger, das Französische selrener und vor allem bündiger. Ich zitiere die for-
- die folgende Inschrift eingraviert ist: "Hier ruhen N., verstorben am 27.
gende Inschrifr eines Mitgliedes der Familie der Montmorency in der Kir- Oktober 1428", seine Frau, die am 28. Juni 1439 verschied, und -zwischen
che von Taverny: diesen beiden Grenzdaten - zwei Kinder, die im September und Oktober
"Hier liegt bestattet ltegitur et sepelitur) der Ritter philippe'r, der, wie 1428 demselben Leiden zurn Opfer fielen wie ihr Vater, schließlich eine im
bekannt fpro ut asseritur), wegen seiner Ehrbarkeit lltrobitatus)in hohem
lahre 1,437 verstorbene weitere Tochter, ohne "mehrere ihrer Kinder" zu
Ansehen stand. öffne ihm den Himmel, der Du richtest und über die Er- zählen, die nicht im einzelnen verzeichnet sind. Und die Liste schließt
haltung aller Dinge entscheidest ldiceris),und geruhe, diesem erbärmlichen
'Wesen Deine Barmherzigkeit
- ohne biographische Hinweise - mit der geläufigen Anrufung: "Der Herr
zu gewähren, o König, der Du Vater bist. . .. nehme ihre Seelen zu sich. Amen."
Es handelt sich hier weder um einen Kleriker noch um eine berühmte per- Damit haben sich alle formalen Elemente der epigraphischen Literatur
sönlichkeit, sondern um einen Ritte r (miles), der als Beispiel für d ie probitas zusammengefunden: die Identitätsangabe, die Anrede des Vorübergehen-
zitiert wird. Die Verlängerung der Inschrift hängt also zunächst von den den, die {romme Formel, dann die rhetorische Veitschweifigkeit und die
bemerkenswertesten Tugenden ab, die damals die Attribute der Heiligkeit Einbeziehung der Familie. Diese Elemente werden sich im 16. und '17 . Jahr'
oder der edlen Gesinnung sind. hundert dann weitläu{ig entwickeln.
Vom 14. Jahrhundert an tritr gelegentlich - und im 15. nahezu immer Die früher auf einige wenige tüorte oder Zeilen beschränkte fromme
- ein anderer originärer Zug d,er Grabepigraphie in Erscheinung : Dem To- Ermahnung wird im 16. Jahrhundert zum erbaulichen Lebensbericht des
desdatum, das von altersher üblich ist, wird das Alter des Verstorbenen Verstorbenen. Im Konvent der Augustiner zu Paris gibt Anne de Marle ein
hinzugefügt. Vom 1 6. Jahrhundert an hat sich diese praxis allgemein durch- Beispiel für einen heilsamen Tod in noch jugendlichem Alter. (28) "Der
gesetzr - mit der Ausnahme mancher Gräber von Handwerkern, für die der widrige'I"d [. . .] kündigte ihr das Ende ihres Lebens an [ein Anfang wie in
soziale Aufstieg in den Kreis der ,sichtbareno und ,sprechenden. Toten einem Totentanz],/ Als sie noch kaum ihr achtundzwanzigstes Jahr vollen-
noch ganz überraschend ist. Dieser Zusatz entspricht einer mehr statisti- det hatte [das Alter wird in einem Bericht, der sich zur Biographie entwik-
kelt, zum bedeutsamen Element],/Ohne Rücksicht auf den Ort, aus dem
" Der griechische Name Philippe wurde in Frankreich von Anne de Russie (oder Anne de sie kam,/ Und unter Geringschätzung des Ruhmes, den man/ In dieser
Kiev) einge{ührt. armseligen §V'elt erwerben kann [der legitime Ruhm, der dem Leichenge-

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pränge seine Daseinsberechtigung verleiht], gebot jene Anne,/ Daß ihr Er fand jedoch nur Undank:
Leichnam bei den Armen gebettet werden sollte [ein bemerkenswerter Akt
Et pour tout son labeur n'a conquis en tous biens
der Demut, der auf unvergänglichem Material festgehalten werden muß]/
In diesem Gemeinschaftsgrab [sie war also nicht an der Stelle des Epitaphs Qu'un öternel oubly pour luy et Pour les siens,
beigesetzt, das in der Apsis angebracht ist, sondern im Armengrab auf dem Qu'un öternel oubly, une oaine espörance
Et qu'une mort enfin pour toute röcompense.
Friedhof ; hier schließt der fromme Bericht über ein mustergültiges Leben,
und es beginnt die Anrufung des Vorübergehenden, die die Tonart einer
Aber die Ungerechtigkeit der Großen dieser lVelt hat nicht den Glanz
Beradezu vertraulichen Ermahnung anschlägt]./ Beten wir nun aber, liebe
Freunde,/ Daß ihre Seele unter den Armen zu finden sei,/ Die in der Kirche eines Ansehens auslöschen können, das sich auf diese Tugenden berufen
als die Seligen besungen werden.o Anne de Marle starb am 9. Juni 1529. darf, selbst wenn sie von seinen Herren nicht - wie billig - anerkannt wor-
lVie aus diesem Beispiel ersichtlich, das eines unter zahllosen anderen ist, den sind. Er bewahrt sich den "Ruf eines guten Menschen". Er bleibt auf
wird das Epitaph im 16. und 17. Jahrhundert zur Lebensgeschichte, die irnmerdar
kurz sein kann, wenn der Verstorbene jung war, oder lang, wenn er alt und
Ricbe de cette gloire
berühmt verstorben ist.
Qui grave dans le ciel ä jamais sa mömoire,
Im 16., 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts kommt es sehr häufig
Ricbe de ce beau nom qui surmonte l'effort
vor, daß das Epigraph zur biographischen Erzählung zum höheren Ruhm
Dösormais duTombeau, duTemps et de la Mort.
des Verstorbenen gerät, zu einer Art Auszug aus einem Lexikon berühmter
Persönlichkeiten, vorzugsweise mit einer Aufstellung aller militärischen
Der Verstorbene erhebt Anspruch auf einen Ruhm, den die Menschen
Auszeichnungen, denn diese Auszüge beschränken sich nicht mehr nur auf
ihm zu seinen Lebzeiten verweigert haben, den seine Tugend und die sitt-
Männer der Kirche (die werden vielmehr in dieser Phase der Gegenrefor-
liche Geltung dieser Tugend ihm iedoch zusprechen und von dem sein Epi-
mation immer spärlicher); sehr häufig sind sie den Großtaten und Verdien-
taph in aller öffentlichkeit Zeugnis ablegt.
sten von Heerführern gewidmet. Die einzigen Kleriker, die sich dieser
Diese Art von vorwurfsvoll-bitterer Grabinschrift ist selten. Umgekehrt
weltlichen Mode der Grabepigraphie anschließen, sind ebenfalls Soldaten
ist das heroische Epitaph sehr verbreitet, namentlich im 17. Jahrhundert,
- die Malteserritter. Man muß sich also die Inschri{ten, die die Fliesenbö- vor allem aufgrund der zahlreichen Kriegsgefallenen aus derZeir Ludwigs
den und Mauern der Kirchen und Beinhäuser bedecken, als Seiten eines
Lexikons erlauchter Persönlichkeiten vorstellen, als eine Art Who's zabo,
XIIL und Ludwigs XIV. und der Türkenkriege. Der Boden der Kirche
Saint-Jean-de-La-Valette ist mit zahllosen Auszeichnungen aus Anlaß der
der den Passanten zur Lektüre anheimgestellt wird. Die gedruckten Führer
Kreuzzüge bedeckt ! Trotz der Revolutionswirren und der archäologischen
kündigen sie überdies als Sehenswürdigkeiten an.
und kirchlichen Restaurierungen haben sich einige dieser Epitaphien an
Manche Verfasser, vom Leben gebeutelt, fanden hier Gelegenheit, in ei-
den §?'änden unserer französischen Kirchen erhalten. Unsere Epitaphien-
ner Art feierlichen Protests die Ungerechtigkeiten des Geschicks anzukla-
sammlungen sind voll davon - der Ruhm des Adels und der franz-ösischen
gen. So Pierre Le Maistre (1562) in der Kirche Saint-Andr6-des-Arrs in
Nation schlug sich in ihnen nieder, erste individuelle Andeutung und Anti-
Paris (29):
zipation der späteren Kriegsgefallenendenkmä1er.
Dessoubs I'ombre saoö de cette pierre dure,
Vois,passant, je prye, hnoble söpilture
te
Et Pour tout son labeur. . . Und für alle seine Mühen hat er als einzige Gegenleistung erhal-
D'un sentiteur Dieu, de lustice et de Foy,
de
für sich und die Seinigen,/ Als ewige Vergessenheit und
ten./ Nichts als ewige Vergessenheit
Notaire et seoötaire et greffier d'un grand Roi ,ergebliche Hoffnung,/ Und schließlich nichts weiter als den Tod als einzigen Lohn.
Dessoubs l'ombre saoi... Im heiligen Schatten dieses harten Steines,/ Erblicke, lVanderer, Ricbe de cette gloire...Mit diesem Ruhm behaftet,/ Der sein Andenken für immer in den
ich bitte dich, die edle Grabstätte/ Eines Dieners Gottes, der Gerechtigkeit und des Glaubens,/ Ilimmel einschreibt,/ Mit diesem guten Namen behaftet, der kün{tig die Bürde/ Des Grabes, der
Notars, Kanzlisten und Sekretärs eines großen Königs. Zeit und des Todes hinter sich läßt.

286 287
In der Kirche des cölestinerklosters wurde im
Jahre 1601 Marguerite Leben so hart geprüft worden ist, daß sein Tod unmöglich anders denn
Hurault (aus der Familie der Schloßherren von Cheverny) die Kapäre
des rühmlich sein konnte. " Es folgt die Geschichte seiner Waffentaten, der Ge-
Heiligen Martin eingeräumt, um darin ihre Angehörigen bestatten
,nd {echte, an denen er teilnahm, ,um der Streitigkeiten des beleidigten Him-
"alle Epitaphien und verschönerungen ausführen lassen iu kö.,nen, die be-
mels [die Hugenotten] und um der Rache des verachteten Königtums wil-
sagre Dame wünschro. (30) Bei ihrem Tode bemerkt ihr
Gatte, ,daß in be_ Ien fdie Auf stände] . . . Dieser tapf ere Mann starb mit der lVaffe in der Hand
sagter Kapelle des Heiligen Martin kein Epitaph, keine Bildnisse
oder'§ilap-
pen noch irgendein anderes Ma.l oder Ehrenzeichen. seiner Familie [. . .], mit dem Lobe des Vaterlandes auf den Lippen und bedeckt mit der
,ror- Erde von Feindesland [weil er in den Ruinen eines Bollwerks in Thionville
handen sind, und oda er ein sichtbares Zeugnis anzubringen und
zu hinter_ beigesetzt wurde]. Vorübergehender, könnte ein Kriegsmann eine ehrbare-
lassen gedenkt", läßt er eine kschrift eingiavieren, die die
Geschichte wie re Grabstätte haben ! §(i enn Du Franzose bist [dieser Appell an den lranzö-
folgt zusammenfaßt: ,Zu Ehren und zum Gedächtnis der Familie der
Her- sischen Patriotismus hat einen ganz und gar zeitgenössischen Beige-
ren von Rostang, von Alleyre und Guyenne und ihrer
Verwandtschaft, de_
ren Angehörige im Betraum dieser Kapelle namhaft gemacht schmack - man möchte meinen: einen Beigeschmack des 19. oder20. Jahr-
sind, derih- hunderts], so vergieße Deine Tränen für einen Edelmann, der sein Blut für
nen von.'." Folgt eine lange Aufzählung der Vorfahren seit
den Zeiten die Größe dieses Staates hingeop{ert hat und im Alter von 32 Jahren gestor-
Franz' 1., eine Art ausführlicher und kommentierter Genealogie,
die den_ ben ist, von 32 Vund en zerletzt fwelch wundersame übereinstimmung l].
noch unvollständig ist:
"Obwohl es noch viele andere person.riuo, g.oß., Das einzige, wonach er verlangt, ist Frömmigkeit und Mitgefühl, weil er
Bedeutung in diesem Königreich gibt, die nahe Angehörige besagte.,"He..n
ansonsten mit seinem Geschick zufrieden ist. [. . .] Du wirst für seine Seele
und besagter f)ame von Rostang, Robertet und Hurault sind..
beten, wenn die Deinige für große Taten empfänglich ist." Er ist im Jahre
Das im selben Kloster in der Kapelle von Gesvres (31) angebrachte
Epi_ I 643 gestorben ; sein Epitaph aber muß zu einem späteren Zeitpunkt - und
taph von L6on Potier, eines Herzogs von Gesvres ,nd pai.s uon
F.r.rk_ zwar in der zweiten Jahrhunderthälf te - von seinem Sohn, dem Sti{ter der
reich, der am 9. Dezemb er 1,704 versrorben ist, besteht aus drei
reilen. Den Kapelle und des Familienmausoleums, in Auftrag gegeben worden sein.
ersten bildet die Identitätsangabe des verstorbenen, die sehr aus{ührlich
ist, Der ließ die Epitaphien seiner beiden Söhne hinzufügen: der eine, Franqois,
weil er die Namen seiner verwandten in aufsteigender Linie verzeichnet:
Malteserritter, "begab sich im Alter von XVII Jahren nach Malta, um seine
dritter Sohn von Ren6, Herzog von Tresnes, u.rJM.. Marguerite von
Lu- Kreuzfahrt zu unternehmen [. . .]. Er war einer der ersten, die zum Angriff
xemburg' Der zweite Teil umfaßt den Bericht über sein"e kriegerischen
Großtaren : er teilt mit, daß ihm im
überqingen, als die Christen die Stadt Caron eroberten, und in einer Bre-
Jahre 1665 in der schlacht ron Nö.dli.,- sche der Festungsmauer dieser bedeutsamen Stätte empfing er einen für sein
gen zwei Pferde unterm Leib getötet wurden, daß er in
Kriegsgefangen_ Andenken glorreichen Tod [. . .]. Sein Leichnam fand sich unter den Toten,
schaft geriet und
"dal3 er schließlich Mitter und wege fand, ,u *lko-ä., in der Hand hielt er noch das Schwert, das im Leib eines neben ihm zu
f . . .1, wieder Anschluß an seine Kompagnie ge*rnn rr.,d den Angriff erneu_
Boden gesunkenen türkischen Offiziers steckte. Er erhielt den Lohn, den er
erte". Seine Regimenter werden zitiert, seine Dienstgrade _ H.rp,^"r,
sich immer gewünscht hatte, für den Glauben Jesu Christi das Leben zu
der Leibgarde, Generalleutnant: »Er hat seither in allen Gefechten
seinen lassen, und das war im Jahre 1685, im Alter von XXI Jahren." Der andere
Mann gestanden. " Ein regelrechter nekrorogischer Auszug aus dem
staars- Sohn war Ludwig, "der, nach dem Vorbild seiner ruhmreichen Vorfahren,
anzeiger. Der dritte Teil ist der Stiftung der Familienkrp"il.
b.; den Cöle- die kurze Zeit, die ihm zum Leben blieb, in Vaffen verbrachte und sich
stinern vorbeha.lten - w.ir kommen darauf zurück.
schließlich im Dienste seines Königs sieghaft opferte." Das Epitaph zählt
Die jungen söhne aus der Familie Gesvres, die in der Schracht gefallen
seine Schlachten auf, seine Taten, "mit denen er Zeichen von heldenhafter
sind, haben Anrecht auf eine Grabplatte ohne ci-gir (sie sind ,n
O.t u.,d Bedeutung und großmütiger Tapferkeit« setzt€; und konstatiert sch[ießlich
Stelle beigesetzt worden, wenn man ihre Leichname denn überhaupt
gefun- seinen Tod beim Angriff von Oberkirch:
den hat), mir einer Inschrift zu ihrem Ruhrne: ,Zum Lobe des "Er wurde von zwei Musketen-
Herrn der schüssen getroffen, an denen er am 18. April 1689 starb, im Alter von 28
Heerscharen fbereits zu dieser Zeit!] und zum Gedenken an den
Marquis
de Ges,res. Vorübergehender, du hasr einen Ehrenmann vor Jahren. Da er sich immer mit viel Einsicht und Frömmigkeit geführt hatte,
Augen, der im gab er die Seele im Stande eines wahren Christen und in vollkommener
288
289
.§ü,illen
Fügung in den seines Schöpfers auf, wenn auch weit und breit von So verdienen die Treue eines bescheidenen Justizbeamten und die gewis-
aller \Welt bedauert." senhafte Arbeit und das Talent eines guten Handwerkers beinahe ebenso
Diese großen \üaffentaten wurden im kriegslüsternen Frankreich des 16. wie die kriegerische Tapferkeit oder die geistliche Heiligkeit eine Inschrift
und 17. Jahrhunderts von der Grabepigraphie zweifellos mit der meisten auf jener Ehrentafel, wie sie die Epitaphien auf den Fliesen und an den
Aufmerksamkeit bedacht. Aber die Gedenkinschriften verewigten, v/enn Mauern der Kirchen darstellen.
auch zurückhaltender, auch schlichtere und weniger spektakuläre Lebens- Und ietzt äußert sich auch - mitten im 16. Jahrhundert - die eheliche
läufe: diplomatische Karrieren, Erfolge in den bonae artes, gelehrte Kennt- Verbundenheit, die, obwohl sie den Frauen immer als Forderung auferlegt
nisse lz utroque jure; die römisch-katholischen Kirchen sind voller solcher wurde, ihnen bisher doch kaum posthumen Ruhm eingetragen hatte. Das
Beispiele, die zeitlich vom 15. bis zum 18. Jahrhundert reichen. Manche eheliche Glück prägt die folgende Inschrift, die ein zufriedenes EhePaar im
sind ebenfalls sehr weitschweifig, wie die der französischen Edelleute. Viele Jahre 1559 anbringen Iäßt (Saint-Andr6-des-Arts):
sind knapper. Der Zulall ermöglicht es gelegentlich, in einer von den Bil-
derstürmern verschont gebliebenen Kirche eine Inschrift freizulegen, die Celuy quifut d'un ceur net et entier
zu ihrer Zeit geläufig gewesen sein muß, etwa die eines karrierestolzen Ju- Repose ici, rnaistre Mathieu Chartierl. . .)
stizbeamten, wie sie in der Kirche Saint-Nicolas in Marville (Meuse) an J eh ane Brunon Pour f emme il öPo uza
einem Pfeiler des Chores angebracht ist: "Hier ruht der ehrwürdige Herr Qui chastement Prös de luY rePosa,
[. . .] von Goray, Oberkammerherr bei Ihren Durchlauchten zu Marville, Et cinqudnte ans [eine außergewöhnlich langeZeit!)
der, nachdem er den verstorbenen Herrschern Charles V. und seinem Sohn I'un a I'autre fidelles,
Philippe, König von Spanien, über dreißig Jahre hin in guter und ehrbarer Eurent un lict sans noises ny querelles.
Stellung gedient hat, auf Reisen nach Afrika und im niederländischen Krieg
wie auch überall sonst, diese Stadt fMarviile] sich erwählte zur Ruhe für Dasselbe Gefühl gibt einem Ehemann das folgende Epitaph zu Ehren
seine alten Tage fder Begriff der Ruhe wird hier schon in einem Sinne ge- seiner zur gleichen Zeitim Ave Maria-Kloster bestatteten Frau ein:
braucht, der unserem modernen sehr nahe kommtl, wo er am 1 1. Nov. 1609
starb, nachdem er der Bruderschaft vom heiligen Rosenkranz die Summe I ci Pour derniire maison
von 1000 Francs hinterlassen hatte. Betet für ihn zu Gott." En rePos le corPs mort babite
Und hier die posthume Lobeserhebung eines Bildhauers zu Provins, De Mary deTison
dem seine Familie und sein Geselle das folgende an der Mauer der Kirche Att e n dant q u' il re ss us cite.
Saint-Ayoul angebrachte Epitaph widmen: "Hier ruht der ehrenwerte
Pierre Blosset, aus Amiens gebürtig, zu seinen Lebzeiten Bildhauermeister Und schließlich der biographische Abriß unci die Lobpreisung der haus-
in Holz, Stein und Marmor, der kurz vor seinem Hingang alle die schönen fraulichen Tugend:
'§(erke
angefertigt hat, die Ihr in dieser Kirche und an anderen Orten seht
[immer wieder die \(endung an den Vorübergehenden, an den neugierigen D'Augournois, du lieu de Faiolle
Besucher ebenso wie an den frommen Andächtigen]. Schließlich bedarf Vint en Bo urbonnais mary prendre lgeographische
Unser Herr, der ihn am 25. Januar 1663, im Alter von 51 Jahren abberief, Genauigkeitll
um ihn mit dem Heil der Glückseligen [und dem Purgatorium ?] zu beloh-
nen, selbst seiner Dienste, die er im Laufe seines Lebens dem Schmuck sei-
ner Gotteshäuser gewidmet hat. Er fleht Euch an, Vorübergehende [jetzt Celry qui fut... Hier ruht, der reinen und unversehrten Herzens war,/Meister Mathieu
( )hartier [. . .l/ Jeanne Brunon nahm er zur Frau,/ Die züchtig bei ihm ruhte,/ und {ünfzig Jahre
wird der neugierige Besucher zur Fürbitte für die Toten angehalten], ,:inander treu,/ Teilten sie das Bett ohne Zank und Streit.
wenn Ihr diese schönen Gebäude betrachtet, seiner in Euren Gebeten zu lcipourderniiremaison... Hierruhtundfindetseineletzte§0ohnstatt/DerLeichnam/Von
gedenken und ihm wenigstens ein Requiescat in pace zu widmen." Mary de Tison,/ Und harrt seiner Auferstehung.

294 291
Qui jamais en faict ne parolLe Er war ein guter Schüler und gewann ellc Prcise (proemia). "Ebenso
Rien cognut en elle ä reprendre. zahlreich wie die Preise, die Du unlängst im Kreise der jungen Schüler der
En ce lit
soiait descendre
de Pallas Athene erhieltest, ebenso zahlreich wie die Blumenkränze, die Dei-
Un t'iklin Inschriften des 16. Jahrhunderts begegnet man
seul nem gelehrten Haupt gewunden wurden, sind die ewigen Preise Deiner
noch ziemlich häufig dem beharrlichen Hinweis auf den unbesiegten Seele, über die Du verfügst, da Du nun durch einen heiligen
einzigen Sohnl Tod triumphierend zu den Himmlischen eingehst lsupetos inter sdnctd nunc
beau, sain et prospdre morte triumphazs]. lVeshalb, Kinder lpueri,auch junge Leute im heutigen
Qu'elle kissa en Age tendre Sinne], Eure Au{merksamkeit auf menschliche Ehrungen beschränken [die
A Pierre de Cbambrod son pAre. nichtsdestoweniger doch legitim und notwendig sind] ? Faßt Eure Preise als
Vorspiel zur Vision 6o11s5 auf." (32)
Inschriften gibt es nur auf Grabplatten aus Stein und Kupfer; oder ge- Das ewige Heil ist mit weltlichem Ruhm durchaus nicht unvereinbar' Es
nauer: es gibt Gräber auch außerhalb der Kirchen und Friedhöfe, Gräber ist häufig - oder eher normalerweise - damit verknüpft, tritt aber nicht
aus anderen, nicht spröd-stofflichen, sondern spirituelleren Materialien, mehr zwangsläufig mit ihm gepaart auf . In der epigraphischen Literatur des
und sie werden nicht mehr eingraviert, sondern gedruckt oder einfach ins- 16. und 17. Jahrhunderts zeigt sich mit aller Deutlichkeit sowohl die be-
geheim geschrieben - auch sie heißen "Grabmäler". Sich sein Epitaph aus- harrliche Fortdauer der alten Korrelation als auch die beginnende Entfrem-
zuarbeiten, war im 16. Iahrhundert eine Art Meditation über den Tod: "Ich dung der beiden Bereiche - eine Trennung, die möglicherweise der zeitge-
habe es [das kleine "Grabmal", das ich mir gemacht hatte] in einer der nössischen Säkularisation die Tür öffnet oder doch wenigstens einen Spalt
Schubladen des großen Schreibpultes in meinem Arbeitszimmer verschlos- weit öffnet. Die Berühmtheit ist nicht mehr der unfehlbare Weg zur Un-
sen", berichtet Pierre de l'Estoile in seinem Tagebuch, "in dem das Papier sterblichkeit auf Erden wie im Himmel : Man weiß nur zu genau' daß die
meines verstorbenen Vaters und mein eigenes [das Papier? Handelt es sich Trompete des weltlichen Ansehens, wenn sie auch auf den Prunkgräbern
um das Testament?] und die Umlaufbahnen seines Planeten verwahrt sind der Zeit mit Macht angestimmt wird (im 16' und zu Beginn des 17. Jahr-
[man glaubte damals im vollen Ernst an Astrologie]." hunderts), gelegentlich doch zur Unzeit ertönt oder schweigt.
Das Epitaph dieses Pierre de I'Estoile ist eine religiöse Andachtsübung, Gleichwohl ist das Vertrauen in die Authentizität des irdischen Ruhms
die er mit einem l0üortspiel über die Begrif fe stelk und Esrolle ausschmückt doch noch so stark, daß die Irrtümer der menschlichen Statthalter, denen
(Anima ad coelum, stellarum domum);möglicherweise war sie dazu be- die Aufgabe zufällt, Preis und Ehre zu verkünden, dieienigen, deren Los ein
stimmt, später in Kupfer oder Stahl gestochen zu werden. ungerechtes Schweigen ist, durchaus nicht zu völliger Vergessenheit verur-
Andere Epitaphien blieben auf die Form der Buchveröffentlichung be- r eilen.
schränkt - eines der klassischen Genres der posthumen Lobpreisung; man Die Reputation des guten Menschen, des Ehrenmannes setzt sich letzt-
nannte sie deshalb auch "literarische Grabmäler". Im Jahre 1619 gaben die lich trotzdem durch, und man beginnt sogar im voraus das Urteil iener in
'Zweifel zu ziehen, die bisher als seine unbestrittenen
Jesuiten von Pont-ä-Mousson ein solches aus lateinischen und einigen fran- "siegelbewahrer" gal-
zösischen Stücken bestehendes "Grabmal" zu Ehren eines jungen Ordens- rcn. »Le bruit et le renom* (Ruf und Ansehen) behalten von selbst die
bruders heraus, der als Schüler in ihrem Kreis den Tod gefunden hatte. Das ()berhand, auch ohne die Hilie menschlicher Beredsamkeit - mit Ausnah-
Buch trägt den Titel Lacbrymae conoictildesTischgenossen] M ussipontani rne der Rhetorik der Grabepigraphie. In diesem Falle aber handelt es sich
in obitu nobilissimi adolescentis F. Claudü Hureau. um etwas, v/as man ein Anti-EpitapD nennen möchte.
Hier als Beispiel eine Tafel aus dem Jahre 1559, in Saint-Andr6-des-Arts ;
sie bringt diesen Stolz in der Erniedrigung oder Demut deutlich zum Aus-
D'Augoumois.. . Aus Fayolle im Angoumois/ Kam ins Bourbonnais, um zu heiraten,/[die
Verstorbene,l die nie in Taten und §üorten/ Sich etwas vorzuwerfen hatte./ [n diesem ihrem Bett tlruck:
kam sie mit einem einzigen Sohn nieder,/ Schön, gesund und blühend,/ Den sie im zarten Alter/
Seinem Vater Pierre de Chambrod hinterließ.

292 293
.T

O toy, passant, qui marches sur leurs cendres jenem äußersten Grad von Demut Folge zu leisten, von der er naiverweise
Ides Ehepaares Chartier] nicht wußte, wie sinnlos sie war, da er schon ohne sein Wissen berühmt
Ne t'öbahis ne ooyant icy pendre war: »Er hat nicht gewußt lnescius), daß, um t'ama et gloria zu erlangen,
Des grands piliers de marbre parien sein bloßer Name genügte, oder es hätte denn gar nichts sonst geholfen
E lab o ure z d' o ua rdge ph rygien, lnihil satisl."
Si tu ne ooys igt grand rang de colonnes. Es besteht also kein Zweifel: Vom 1 5. bis zum 1 7. Jahrhundert sieht man
Tels vains honneilrs sont bon pour les personnes den Villen des Verstorbenen oder seiner Erben am \üerk, das Grab zu dem
De qui la mort eff ace le renom Zweck at nutzen, der Nachwelt das Andenken an das eigene Leben, an die
Et faict pörir la gloire at'ec le nom. eigenen ruhmreichen oder auch nur bescheidenen Taten weiterzugeben. So
Mais non de cezx donr les vertus supr6mes tritt er jedenfalls in den von uns analysierten langen Inschriften in Erschei-
Aprös la mort les font vivre d'eulx-mesmes. nung, aber auch in den kurzen und schlichten Epitaphien, und zwar zahl-
Voire et je oeulx encore t'adeertir reicher als in den vorhergehenden (sie sind nahezu alle verloren gegangen,
Qu'on ne debarait un tombeau leur bastir weil sie weder das Interesse von Genealogen noch von Historikern oder
Faict d'art humain, puisque k renommöe Künstlern weckten). Die sind - vom 16. bis zum 18. Jahrhundert - der
Leur sert iqt d'une tombe animöe rnittelalterlichen trockenen Knappheit treu geblieben. Gleichwohl kehrt
[d. h. mit Bildnissen]. (33) darin ein Vort häufig wieder, das ganz unauffällig wirkt, das \Wort Ge-
däcbtnis: Zum immerwährenden Gedächtnis an . . .Zum ewigen Gedächt-
Zu eben der Zert, da au{ den \(andflächen der Grabstätten die Verdiensre nis an . . . Zweifellos ist der Ausdruck nicht neu. rVie monumentum gehört
und Feieranlässe sich prunkvoll ent{alten wie auf den seiren eines Goldenen er zur Sprache der römischen Grabepigraphie. Aber das Christentum, das
Buches, setzt sich langsam die Vorstellung durch, daß der wirkliche Ruhm ihn sich entlehnte, hat seiner Bedeutung eine eschatologische \(endung ge-
das genaue Gegenteil dieser Zurschaustellung ist. Im 17. geben: die memoria bezeichnete das Märtyrergrab oder beschwor die be-
Jahrhundert wird
diese überzeugung so stark, daß man sich aller geschwätzigen oder vorwir- klagenswerte Seele. Die Epigraphie des 17. Jahrhunderts hat die mystische
zigen Kommentare enrhäh: man zieht ihnen die srumme Rätselhaftigkeit Bedeutung nicht außer Kraft gesetzt, aber die römische zu neuem Leben
des bloßen Namens vor. Das ist zwar noch nicht die wirkliche Demui des crweckt, und der Ausdruck "zum Gedenken an. . ." lädt nicht nur zum
Armengrabes, wenigstens wird sie von den Hinterbliebenen nicht so ver- Gebet und zur Meditation ein, sondern auch zur Erinnerung an ein ganzes
standen. Ein Florentiner des 17. Jahrhunderts hatte in seinem Testamenr [-eben mit allen seinen Eigenarten und festumrissenen Handlungen, an eine
(s*prema voluntas) verlangt, daß auf seiner Grabplatte (auf dem Boden) Biographie.
einzig und allein sein Name stehen sollte. sein Erbe aber brachte aus pietät Dieses Gedenken ist nicht nur Resulrat eines Wunsches des Verstorbe-
(pius) nicht den Mut auf und ließ ihm gleichwohl eine schöne Büste anferti- nen; es vzird auch von den Hinterbliebenen mit Eifer wachgehalten.
gen, die noch heute in San Salvatore del Monte zu sehen ist, zusammen mit
der Inschrifr, in der er seine Unfähigkeit eingesteht, dem Testatar bis zu
Das Familiengefühl
O toy, pdssant... O du, Vorübergehender, der du über ihre Asche hinschreitest,/Erstaune
nichr, wenn du hier nicht/ Große Pfeiler aus parischem Marmor aufragen siehst,,/ Verarbeitet Im 15., 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Aufzeichnung
nach phrygischem vorbild,/ !flenn du hier keine weirläufigen säulenreihen erblickst./ solche
.ler Handlungen des eigenen Lebens, die man für verewigenswert hielt,
nichtigen Ehren taugen nur für Menschen,/ Deren Ruf der Tod auslöscht,/und deren Ruhm er
zugleich mit ihrem Namen schwinden läßt./ Nicht aber f ir die, deren höcbste Tugenden/ Sie nacb
vom Testatar selbst betrieben. Er hatte sie lange und gründlich bedacht und
dem Tode oon selbst ueiterleben hssen.N./ahrlich, ich will dich sogar warnen,/ Daß man ihnen sein Epitaph, in der Verschwiegenheit seines Arbeitszimmers, zuweilen
kein Grabmal errichten soll/ Nach menschlicher Kunstfertigkeit, da ihnen das Ansehen hier/ selbst ausgearbeitet. Im 17. Jahrhundert fällt diese Aufgabe zunehmend
Doch nur [als Voruand und Anlaß für eine] belebte Grabplatte dient. häufiger der Pietät der Familie anheim. Das ist insbesondere der oben be-

294 295
reits gestreifte Fall der jungen Edelleute, die in den Kriegen Ludwigs XIII. '§V'enn
keine leiblichen Nachkommen vorhanden sind, obliegt es dem
und Ludwigs XIV. zugrundegingen. Diener (im weitesten Sinne), das Andenken zu bewahren. Ich habe oben
Andererseits waren, wie wir ebenfalls gesehen haben, die frommen, krie- das Epitaph eines Bildhauers und Schreiners aus Amiens zitiert, der in Pro-
gerischen oder ganz einfach im bürgerlichen Leben bewiesenen Tugenden vins bestattet liegt. Er hatte seine Kinder überlebt und muß, als er starb,
nicht die einzigen, die das von den Epitaphien verheißene Recht auf Un- bereits \Witwer gewesen sein. 'Wem fiel also die Aufgabe zu, sein Epitaph
sterblichkeit garanrierren. Es war nicht mehr erforderlich, heroische Taten und sein Grab in Auftrag zu geben? Die Inschrift läßt keinen Zweifel
vollbracht zu haben, um in der Erinnerung der Menschen fortzuleben. Ein
daran: ,Faict Par Pierre Godot, son apprenti« (Errichtet von Pierre Godot,
bemerkenswertes Phänomen - die Zuneigung der Familie, die eheliche, el-
seinem Lehrling).
terliche oder kindliche Liebe begann in dieser von den Auroren der Grabin-
Schließlich erhalten die Kinder selbst, sogar ganz i\nge Leute, das Recht
schriften entwickelten §flelt die of{iziösen Verdienste abzulösen.
auf die Lobeserhebung und die Klage um ihre Eltern, in edlem und dauer-
Die Treue des Andenkens, die im Mittelalter aus der religiösen pflicht haftem Stein - ein bemerkenswertes Phänomen, das die kolonisatorische
erwuchs, die heiligen, der irdischen und himmlischen Unsterblichkeit ge-
Inbesitznahme des Grabes durch dieses familiäre Zusammengehörigkeits-
weihten Verdienste zu bewahren, und später auf die heroischen Großtaten
gefühl bezeugt. Väter und Mütter bekunden ihrerseits ihr Bedürfnis, ihre
des öffentlichen Lebens ausgedehnt wurde, unterwirft sich künftig das All-
Trauer und ihre Sorge um die unverzügliche Verewigung des Andenkens
tagsleben - Ausdruck einer neuen Empfindung, des Familiengef ühls. Es hat
ihres verstorbenen Lieblings in unvergänglichem Material zu äußern' Da-
sich eine Beziehung zwischen diesem Familiengefühl und dem Bedürfnis,
für ein Beispiel aus einer Epitaphiensammlung: 'Für Anna Gastelleria, die
sein Gedächtnis zu verewigen, hergestellt.
der Tod ihnen in früher Kindheit aus den Augen, aber nicht aus dem Ge-
Häufig widmen sich die Inschriften der Verherrlichung berühmter Fami-
dächtnis lnon ex memoria) entführt hat, haben die in Tränen aufgelösten
iien. In einem allgemeineren und bezeichnenderen Sinne aber hat die Fami- Eltern, ihrer traurigen Pflicht getreu, dieses Monument errichtet. Vixit an-
lie sich im Epitaph einen Platz nach altem, im 16. Jahrhundert wiederent-
nos VI menses IV dies XIV. Obiit Kalendas Junii MDXCI' Friede den
decktem Brauch gesichert. Die Inschriften dieser Art setzen sich aus zwei Hinterbliebenen. Ruhe den Verstorbenen."
Teilen zusammen, die, namenrlich im 16. und 17. Jahrhundert, auf zwei
In Rom kann man in situ noch zahlreiche Epitaphien derselben Art aus
verschiedene Stellen der Grabplatte verteilt werden, der eine für die Lobes-
derselben Epoche finden, namentlich in der Kirche Santa Maria in Aracoeli.
erhebung, den Bericht und den biographischen Lebensabriß des Verstorbe- junger Mensch, der zu
"Michel Corniactus, ein poinischer Edelmann, ein
nen, der andere für den Hinterbliebenen, der das Epitaph entworfen und
großen Hoifnungen berechtigte, gestorben im Jahre 1594, im Alter von l9
das Monument "aufgestellt" (posuit)hat. So folgt au{ die langen Schlachtbe- daß seine beiden leibli-
Jahren.. Die tnschrift schließt mit dem Hinweis,
schreibungen der jungen Rostangs, die wir oben zitiert haben, die folgende errichten Eben{alls aus Ara-
chen Brüder ihm das Denkmal haben lassen.
Nachschrift: "Sein Vater hat diesen Marmor aufstellen lassen, der der coeli stammt die folgende sehr schöne Inschrift, die ein prächtiges Porträt
Nachwelt als immerwährendes Denkmal der Tugend eines so würdigen ziert und die Einstellung der Zeit zum Alter verdeutlicht, weil sie einem
Sohnes und des Schmerzes eines so hochherzigen Vaters dienen soll." Das jungen, unverheirateten Mann von neunundzwanzig Jahren gilt: "Für Fla-
"Grabmal" von Mathieu Chartier und Jehane Brunon, errichtet zum Lobe minius Capell etus, juaenis, der sehr gebildet llectissirnusf auf den Gebieten
der ehelichen Tugend und des Glücks des Ehestandes, ist von ihren Kindern \Wissenschaften
I dis c ip linae) der Künste und lb o nae art e s) w ar, bewundert
verfaßt und aufgestelh worden:
und verehrt von jedermann wegen der Schönheit seines Antlitzes [die leib-
Leurs filles et petits-fils pleins de douleur amöre liche Schönheit ist zu einem der s'esentlichen Elemente des posthumen
En larmoyant ont basti ce tombeau Angedenkens geworden], seiner Redlichkeit ljudicü praestantia)' der
Et bonorö de ce prösent tableau. (34) Ernsthaitigkeit und Eleganz seiner Rede, der in der Blüte seiner Jugend und
seines Ansehens der Liebe seiner Eltern [im buchstäblichen Sinne, der
Leurs filles., . Ihre Kinder und Enkelkinder haben, von bitrerern Kummer beschwen./Un- Umarmung: complexuf sehr schmerzlich entrissen wvde lereptuJ.' vom
ter Tränen dieses Grabmal errichtet/ Und es mit der hier sichtbaren Tafel geschmückt.
Tode entrissen, eine gebräuchliche, aus dem makabren Vokabular des 14.

296 297
und 15. Jahrhunderts ererbte Formel] im Alter von XXIX Jahren lein juae- Ie un digne ä ton amour
faiaz veu d'en bastir
nisvon neunundzwanzig Jahren führte schon sehr lange ein Erwachsenen- Affin qu'apris ld mortnottsy f acions seiour
leben; er war jedoch nicht verheiratet, und deshalb stammt sein steinerner Aaecques toy mon ceur qui nous a tant aimez. (35)
nekrologischer Lebensabriß auch nicht von seiner Gattin, sondern von sei-
nen Eltern], im Jahre des Heils 1604." Soweit das erste, dem Verstorbenen Normalerweise stellten die Verfasser von Epitaphien nicht so große Ori-
gewidmete Epitaph. Unmittelbar darauf folgt hier ein zweites, in dem von ginalität unrer Beweis, wie das in den persönlicheren und eher literarischen
den Hinterbliebenen, ilrrem Gemütszustand und ihrer Trauer die Rede ist: Texten der Fall ist, die wir hier vorzugsweise ausgewählt haben' Mit den
Inschriften verhält es sich nicht anders als mit den Testamenten: sie sind
"Sein Vater M. C., Senator der Stadt, widmete dieses Grabmal seinem ehe-
dem sehr geliebten, hinfort sehr betrauerten Sohn ldesideratissirno: hier eine komplexe Mischung aus Konvention und persönlicher Prägung' Sehr
taucht ein Begriff au{, der genau zeitgleich mit dem der Klage vorkommt häufig benutzen sie geläufige Formeln. Ich habe in einer kleinen Kirche in
- "ewige Klagen"] und P. P., seiner sehr frommen Gattin, die ihrem Sohn York auf einem kürzlich restaurierten Grab (restauriert - wie die ganze
liüeltkrieges) die folgende
vier Jahre später'l folgte, des Anblicks dieser seiner LieLen beraubrlluce Kirche - nach den Zerstörungen des Zweiten
carissimorum caPiturn orbatus), in tiefer Trauer." lateinische Inschrift aufgespürt; sie ist ganz und gar banal, hat aber den
Im selben Jahre 1604 fand auch, im Alter von 19 Jahren, Charlotte de Vorteil, daß sie in wenigen Zeilen die sukzessive Entwicklung der ge{ühls-
Baudoin den Tod. Ihr Vater, Forstmeister von Beruf, wollte an derselben mäßigen Einstellungen vom 13. bis zum 17. Jahrhundert zusammen{aßt'
Stelle beigesetzt sein wie sie, in der Kirche Saint-Sulpice-de-Faviöre in der ,Dominus ILord - vermute ich) Gulielmus Sheffield, Ritter I er hat sich
Ile-de-France. Er ließ in die Grabplatte ein Sonett nach Art der Gedichte an den Anfang des Epitaphs plaziert, ist aber nicht der Verstorbene, son-
eingravieren, wie sie in Frankreich unter dem Namen tombeau,in England dern nur der Zueignende, der letzten Endes nahezu ebenso wichtig wird
unter dem der elegy anläßlich des Todes hochgestellter Persönlichkeiten wie der Verstorbene], hat dafür gesorgt, daß dieses Grabmal auf seine Ko-
verfaßt wurden: sten errichtet wurde fszis sumptibust auch das muß derart {eierlich festge-
halten werden !], nicht aus nichtiger Ruhmsucht [Bekräftigung der christli-
Regoy, regoy, mon Ceur, ce don de moy ton Pöre chen Demut und der stolzen Schlichtheit, derzufolge das Monument dem
Ie te l'ay desdiö, Ö mes chastes Amours, allein mit dem Namen verbundenen Ruhm nichts hinzufügt; trotzdem
Depuys que ce grand Dieu aretranchi le cours hielt er es nicht {ür überflüssig, sein Grabmal und seine Gedenkstarue zu
De ton ioly printemps par une mort amdre. haben], sondern zur Mahnung an unsere eigene Sterblichkeit fdas wenig-
stens seit dem 12. Jahrhundert traditionelle rnernento morrund auch zum
Regoy ma doulce amour les regrets qt4e ta Möre
Gedenken an [hier endlich die vorstellung der verstorbenen mit dem neuen
Souspire incessament et iette nuycts et iours
Vermerk: in mernoriam, anstelle des ci-git, zum Andenken des Verstorbe-
Pour toy nostre soulas röcont'ort et secours
nen im Gedächtnis der ihm Nahestehenden und seiner Famiiie, das sich an
Par le doux entretien de ta prösance cböre.
die Stelle des eitlen, d. h. des offiziösen, historischen Ruhmes setzt], meine
Ton äme est deaant Dieu, pry le por nous, mon c(pur,
Qu'il ayt pitiö de nous et de nosüe ldngileur
Regoy, re9oy, mon Ceur... Empfange, mein Herz, empfange von mir, Deinem Vater, diese
Tant qu'un mesme tombeau nous tienne rent'ermez. Gabe,/ Ich habe sie Dir zugeeignet, o Du meine keusche Liebe,/Seit dieser Große Gott dem Lau{/
Deines schönen Frühlings durch einen bitteren Tod Einhalt geboten hat. -Nimm, meine sanfte
Liebe, nimm die Klagen au{, die Deine Mutter/Unaufhörlich seuizt und Tag und Nacht aus-
rvohltat Deiner
'r Der Verfasser der Inschrift schlug mit diesem in Zeiten niedriger mittlerer Lebenserwartung stößt,/ um Dich, der Du unser Balsam, Trost und Hilfe warst/ Durch die sanfte
durchaus üblichen Verfahren zwei Fliegen mit einer Klappe: Seine Frau starb kurz nach seinem teuren Gegenwart. - Deine Seele ist bei Gott, bitte ihn {ür uns, mein Herz,/ Er möge sich unserer
Sohn, aber eben doch vier Jahre danach, und man war noch immer nicht mit der Errichtung des und unr"r". schmerzlichen Mattigkeit erbarmen,/ sobald ein einziges Grab uns wieder vereint.
wir nach
Grabmals und der Eingravierung der lnschrift Ierrig geworden, was beweist, daß man, auch - lch habe das Gelöbnis abgelegt, ein Deiner Liebe würdiges erbauen zu lassen,/ Damit
wenn man gelegenrlich viel Zeit verstreichen ließ, seine Pilicht darüber doch nicht völlig vergalS. dem Tode dort unseren Aufenrhalt nehmen/ Mit Dir, mein Herz, die Du uns so geliebt hast.

298 299
sehr geliebte Gattin Lady Elizabeth, Tochter und Erbin von
Jean Darnley typus ist sehr alt; wir haben ihn bereits an dcr Außenmauer der Kirche von
aus Kikhurst, in agro Tbor. sie srarb am 31.
Juli 1633 im Alter uon 5i Auvillar beobachten können, deren Gräbcr aus dem 12. Jahrhundert
Jahren. Requiescat in pace.* stammen. Er ist häu{ig und noch heute an den Innen- und Außenwänden
Dieses Epitaph aus Nordengland mag hier den vorläufigen Schluß
bil- der katalanischen Kirchen (im französischen Katalonien) anzutreffen.
den. Es illustriert den übergang von der Beschreibung eines individuellen
ManchmaI verschließen diese Epitaphien-Gräber - wie die Tür eines Geld-
Personenstandes, den der Eintritt des Todes besiegelt und abschließt,
zur schranks - kleine, in der Außenwand der Kirche ausgesparte Höhlen (sie
Geschichte eines Lebens - eines anfangs heiligen oder heroischen, spärer
müssen dann auch von außen betrachtet und gelesen werden), eine Art lo-
zunehmend beliebigen Lebens - und zur gedächtnisstiftenden Klage der
culi,in denen die ausgebleichten Gebeine der Verstorbenen nach der Über-
Hinterbliebenen, vor allem der Familie. Der Tod der Epitaphien ;st fÄilier
führung von ihrer ersten, vorläuiigen Grabstätte ihre endgültige Ruhe fan-
geworden, nachdem er aufgehört hat, anonym zu sein, um persönlich und
den. Diese sehr alten kleinen cl-girswerden erst gegen Ende des 18. Jahr-
biographisch zu werden. Aber keine dieser einzern.., Et"pp.., hat sehr
hunderts aufgegeben; sie sind in Stein oder Kupfer graviert und gewöhnlich
lange gedauert, und keine hat die früheren Bräuche ,ölrig aufgehoben.
ins Mauer- oder Pfeilerwerk der Kirchen, Kapellen oder der Galerien der
Beinhäuser eingelassen, ohne sich anders als durch Sprache, Stil und Länge
des Epitaphs und den Charakter des Schriftbildes zu unterscheiden. Die
Eine Typologie der Grabformen.
Geschichte der Epitaphien-Gräber fällt also mit der der Inschrift selbst zu-
Das Epitaphien-Grab sammen, deren Entwicklung in Richtung der Profilierung der Einzelper-
sönlichkeit und später der Identifikation mit der Familie wir soeben darzu-
vir haben, aus Gründen der größeren Schlüssigkeit der Darstellung, das
steilen und zu erfassen versucht haben.
Epitaph bisher von seinem ,Trägey", dem Grab, getrennt oder vonr Fehlen
Die beiden anderen morphologischen Typen von Gräbern werden uns
eines solchen Trägers abgesehen, wenn das Epitaph allein das ganze Grab
länger in Anspruch nehmen, denn sie bringen das Porträt des Verstorbenen
ausmachte. was in diesem Falle noch möglich war und sei es, eingestan-
- wieder zur Geltung. Der eine Typus ist vertikal und raumorientiert, der
dermaßen, um den Preis einer gewissen Künstlichkeit
-, ist es nicht mehr im andere horizontal und bodenbezogen.
Falle des Bildnisses, der sogenannt en reprösentation oder <ies porträts des
verstorbenen. Mehr noch als das Epitaph ist das Bildnis (oder sein Fehlen)
Bestandteil des ganzen Grabes - was im übrigen bei den Grabskulpturen
I)as vertikale \Wandgrab.
der Museen, wo sie aus dem Zusammenhang der Gesamtarchitektur unrl
Das große Monument
aus ihrer Umgebung herausgelöst sind, zu Täuschungen Anlal3 gibt.
Die \üTiederkehr des Porträts in der Grabkunst ist ein ebensoLedeutsa-
f)ie vertikalen \(andgräber sind die direkten Nachfolger der aitchristlichen
mes kulturelles Ereignis wie die des Epitaphs. sie muß in den Rahmen
der Gräber, wie sie hochzuverehrenden Persönlichkeiten vorbehalten waren,
Gesamtentwicklung des Grabes eingebettet werden.
den Päpsten ets/a; es handelt sich in der Regel um einen Sarkophag (manch-
Die Formen des mittelalterlichen und modernen Grabes vom 1 1. bis zum
mal auch um einen wiederverwendeten älteren Sarkophag) ohne Inschrift
18. Jahrhunderr (das Grab in oderdicht bei der Kirche) unterwerfen
sich oder Porträt (die Sarkophage des 3. 62w.4. Jahrhunderts waren gewöhn-
sehr konstanten und sehr einfachen räumlichen zwängen,deren Kenntnis
lich mit beidem geschmückt), der dicht ans Mauerwerk gerückt steht (nur
zum besseren verständnis der sich dann in diesem Bereich entwickelnden
drei der vier Seiten sind verziert), mit einer Inschrift darüber (die nicht
Ikonographie unerläßlich ist. Diese Formen lassen sich auf drei große
immer erhalten ist). 'Wenn der aus Sarkophag und Inschrift gebildete Ge-
Haupttypen zurückführen. Den ersten Typus repräsentiert das, *r,
das Epiraphien-Grab nennen könnre: eine kleine piatte von 2aßox4a/5a
-rn samtkomplex sich unter einem Pieilerbogen befand, sprach man von drco-
solium. Die Sarkophage standen manchmai in der Nähe eines Altares - die
cm im Geviert, deren Fläche vollständig von der Inschrift in Anspruch
ge- Grabkapelle, die zweifellos noch als Vorbild für den hypogöe des Dunesyon
nommen wird, ohne daß weiterer zierat darauf platz hätre. pieser
G.ab- Mellebaude in Poitiers (8. Jahrhundert) und für die Märtyrersanktuare ge-

300
301
dient hat, in denen der Sarkophag des Heiligen g nz eng mit dem Altar te. In dieser ganzen Entwicklung scheint überdies eine kontinuierliche Ten-
verbunden war; diese letztere Anordnung wurde nicht lange beibehalten: denz zur Einsenkung in die Erde am lWerk z-u sein. Zunächst lagerte man
die Sarkophage der Märtyrer wurden im Gegenteil eher in größerer Entfer- die ersten Stand-Sarkophtge (sursum) einfach auf dem Boden; dann wur-
nung von den Altären gehalten und in der Kry pta,ind.er confesslo versenkt, den sie zur Hälfte in die Erde eingelassen, so daß der Deckel teilweise noch
oder die Reliquien wurden in Schreinen verwahrt, die in der Apsis oder im sichtbar war, während wieder andere noch weiter versenkt wurden, um
Triforium ihren Platz fanden. weitere Sarkophage übereinanderschichten zu können - denn sie waren
Das arcosoliurn trat also am häufigsten in Erscheinung. Im Falle der Ab- häufig auf kleinstem Raum, im unmittelbaren Umkreis der heiligen Stätten
tissin von Jouarre oder der Herzöge des ersten, 1361 erloschenen Hauses zusammengedrängt; und schließlich überließ der Steinsarkophag seinen
von Burgund in Citeaux unterschied die in den Sarkophag eingravierte In- Platz dem Holzsarg oder dem g nz üeI in die Erde gesenkten Leichnam im
schrift (die im allgemeinen den Deckel umlief wie ein langes Band) das Grab Grabtuch." Es verbreitete sich fortan die Gewohnheit, die Beisetzungen im
einer denkwürdigen und hochehrwürdigen Persönlichkeit vom Allerwelts- tiefen Erdreich vorzunehmen, ohne an der Oberfläche überhaupt noch ein
grab eines beliebigen Menschen, dessen Los der ganz oder halb in die Erde sichtbares Zeichen zu hinterlassen. Dann begann man gelegentlich ein
versenkte oder der Standsarkophag war, der jedoch immer schmucklos, sichtbares Zeichen anzubringen, wenn auch nicht notwendigerweise auf
anonym und ohne Zeitangabe zu sein harte. dem eigentlichen Grabe; das Grab war nicht mehr immer anonym wie das
lVandel
Dieser Brauch der "§x1ft6pl-ragisierung" - um einen bequemen, von E. der antiken Sakophage: es gab eine Identität zu erkennen. Dieser
Panofsky eingeführten Neologismus zu benutzen - ist im Abendland im macht sich zur gleichenZeit bemerkbar wie der demographische Schub und
Laufe des Mittelalters aufgegeben worden; er har sich merkwürdigerweise die stürmische Stadtentwicklung des Hochmittelalters, als die Benutzung
jedoch in manchen Regionen - etwa in Spanien, in Italien und vor allem in von Sarkophagen kaum mehr möglich war, weil sie allzuviel Raum in An-
Venedig - erhalten; manchmal wird der Sarkophag auch in beträchtlicher spruch nahmen.
Höhe am Mauerwerk befestigt. Als er durch den in die Erde gebetteten Sarg Aber zurück zum Problem der Grabformen. Der altchristliche Sarko-
ersetzt wurde, hat das Grab entweder an der Form des Sarkophages festge- phag unter dem arcosoliumwird im Mittelalte r zum Niscbengrab.DieStelle
halten, oder der Sarkophag erscheint auf einer Basrelief-Szene des Grabes. des Sarkophages nimmt ein massiver rechteckiger Steinsockel ein, und der
In Spanien kommt es vor, daß der Holzsarg bemalt wird (wie der Sarko- Raum darüber bleibt leer bis zum vollbogigen oder durchbrochenen Stütz-
phag skulpturengeschmückt war) und am Mauerwerk hochgewunden und bogen, der die Höhe der Nische begrenzt. Viele dieser Gräber haben unter
den Blicken aller Besucher dargeboten wird (wie man auch mit dem Srein- den Zeitläuften gelitten; es hat sich aber meist noch der schmucklose Sockel
sarkophag verfahren war): es steht zu vermuren, daß die Gebeine, die er und der Entlastungsbogen am inneren oder äußeren Mauerwerk der Kirche
barg, von einer ersten vorläufigen Grabstärte srammten. In einem beträcht- erhalten. In Bologna und in Venedig säumen sie die Mauer, die auf die
lichen Teil der mittelalterlichen \7elt ist der Sarkophag also weiterhin das Straße hinausführt, auf der die heutigen Passanten achtlos entlangeilen. In
konventionelle Symbol des Grabes und des Todes geblieben, selbst nach- vielen Kirchen auf dem Lande sieht man noch die klaffende Bresche einer
dem er als reales Mittel der Grablegung außer Gebrauch gekommen war. leeren Nische in der Nähe der Apsis - dort, wo früher der Friedhof lag.
In einer Epoche, in der die Leichname auf diese \fleise in unverweslichen Bei diesem Grabtypus verlangen drei leere Flächen nach Ausfüllung:die
steinernen Hüllen geborgen wurden, genügte es der öffentlichen Meinung drei Seitenwände des Sockels, die Oberseite des Sockels (die Stelle des frü-
der Zeit zu wissen, daß sie der Kirche anvertraut waren : Die Individualität heren Sakophagdeckels) und die Rückwand der Nische. Die Geschichte des
des Leibes löste sich dann im irdischen Schoß der Kirche auf, die der Seele mittelalterlichen Grabes dieses vertikalen Typus wird von den verschiede-
im Schoße Abrahams. Man möchte meinen, daß sich das Bedürfnis be- nen Weisen der Ausschmückung dieser Flächen bestimmt: Basrelief oder
merkbar gemacht hat, den Verstorbenen in zunehmend häufigeren, wenn Malerei an der Nischenwand, Basrelie{s an den drei Seitenwänden des Sok-
auch noch außergewöhnlichen Fällen mit einer getrennren und greifbaren
Persönlichkeit auszustatten, als der Steinsarg aufgegeben wurde und man 'r Mit Ausnahme bestimmter Fälle (übereinandergeschichtete und bemalte Särge im Spanien
ihn durch den Holzsarg oder die schlichte Bettung ins Leichentuch ersetz- des 15., zur Schau gestellte Mumien im Italien des 17. und 18. Jahrhunderts)'

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kels und hocherhabene Statue des Verstorbenen auf denr Sockel. Das sind Mauer oder Pfeiler bezogen - hat dieser Typus im 16',17 ' und dem begin-
die wesentlichen Elemente. nenden 1 8. Jahrhundert ungezählten kleincn F-delleuten' Großbürgern, Ju-
Dieser raumorientierte Tpyus entfaltet sich, indern er sich weniger in die stizbeamten, Männern des Richterstandes, der Kommunalverwaltung und
Breite als vielmehr in die Höhe entwickelt, um schließlich stattliche Aus- pfründeninhabern - kurzum: den Angehörigen einer oberen Mittelklasse
maße zu erreichen und beträchtliche Flächen in Anspruch zu nehmen, (upper middle class) - als Grabstätte gedient. Man muß sich die Kirchen des
manchmal die ganze Rückwand einer Seitenkapelle - wie vom 14. Jahrhun- 1 Z. und des beginnenden 1 8. Jahrhunderts an Mauern
und Pfeilern mit die-
dert an die Gräber der Könige von Anjou in Santa Chiara in Neapel. Dieser sen Denkmälern von einigen fünfzig Zentimetern Seitenlänge bedeckt vor-
Grabtypus erhält sich in seinem bombastischen Pathos r,rnd seinem Gigan- stellen. Die geläuterten Kleriker des 18. Jahrhunderts (wohlgemerkt Ka-
tismus bis ins 15. und 16., ja sogar bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. tholiken, denn die holländischen Kalvinisten waren nach den ersten bilder-
Im 16. Jahrhundert zwingt ihn seine "W'achstumskrise", sich vom Mau- stürmerischen Attacken eher konservativ), die Revolutionäre von 1793 und
erwerk, das seiner Ausdehnung Grenzen setzt, zu lösen, wenn er auch der tlie Immobilienspekulanten des beginnenden 19. Jahrhunderts haben sie in
Vertikalität treu bleibt. Das Grab wird zum grandiosen und kompliziert Frankreich nur allzu häufig zerstört. Man findet sie in situ )edoch noch
gegliederten Baukörper, zum freistehenden und auf allen Seiten von I-uft unversehrr, so in England, Holland, Deutschland, in Italien und vor allem
umgebenen Monument. Es bleibt jedoch einer höhenorientierten Kompo- in Rom, wo man mehr Rücksicht auf sie genommen hat.
sition verhaftet, die es in übereinanderliegende Stockwerke aufteilt wie die
zweigeschossigen Königsgräber des 16. Iahrhunderts in Saint-Denis. Vom
17. Jahrhundert an kehrt sich diese Tendenz- zur deklamatorischen Monu- Das horizontale ebenerdige Grab
mentalität um, und die Dimensionen schrumpfen. Nach einer von den Hi-
storikern gewöhnlich als Phase barocker Deklamation gewerteten Blüte- Der andere Typus des mittelalterlichen und modernen Grabes ist horizon-
zeit, in der sich die Trauerfeierlichkeiten in der Kirche tatsächlich wie tal, ilach und ebenerdig ausgerichtet. Das Grab besteht aus einer schlichten
Operndekorationen entfalten, mäßigen sich die Grabmäler der Anjou, der rechteckigen steinplatte, deren Dimensionen variabel sind, im allgemeinen
Valois und der Medici wieder, um schließlich zu bescheideneren Dimensio- aber den Größenverhältnissen des menschlichen Körpers entsprechen und
nen zurückzufinden - Zeichen einer entschiedenen "Distanzierung" vom selten ausladender, sondern im Gegenteil eher kleiner sind. Man bezeichnet
Tode, einer tiefgreifenden Bewegung, deren Entwicklung Thema des drit- ihn auch mit neuen Ausdrücken. Tumulus, monumentum, memoriL oder
ten Teiles des vorliegenden Buches sein wird. auch sarceu im Sinne von Sarg verschwinden und werden im allgemeinen
Trotzdem eignete sich das vertikale Grab in besonderem Maße zur Mo- Sprachgebrauch durch ,Platteo (lame), "Grtbs" (fosse; »qt-git sous cette
numentalität. Natürlich lag die Versuchung n,rhe, sich an den \x/andflächen fixe.), Grab und Grabplatte ersetzt. Tumba war' im Sinne von tumulus,
und im Inneren der Räume auszudehnen, um deren Leere zu füllen. Des- .rus dem Griechischen entlehnt. In der lateinischen Form dürfte es im 5.
haib war dieser Typus von Grab gerade für große und denkwürdige Per- worden sein; es
Jahrhundert zum ersren Mal von Prudentius (37) benutzt
sönlichkeiten der Kirche und der neuen Staaten angebracht, wie er auch den hatte im Mittelalter jedoch eine große Zukunft vor sich, denn man begegnet
artistischen Wagemut großer Künstler, Bildhauer und Architekten beflü- ihm in allen abendländischen Kernsprachen wieder, im {ranzösischen
gelte. Gleichwohl ist er ebenfalls und sogar bald zu bescheidenerenZwek- tombe, im englischen tumb oder im italienischen rcmbd'
ken miniaturisiert worden. (Die schlichtercn Dimensionen waren übrigens Lamebezeichnet den Stein, der den Grabhügel oder das Grab bedeckt, in
älter als die Neigung zur Monumentalität, wie bereits eine aus dem 13. dem der Leichnam beigesetzt worden ist. Dieser Grabtypus läßt also zu-
Jahrhundert stammende Grabplatte eines Kanonikers aus der Kathedrale nächst an die Einsenkung des Leichnams in die Erde denken, im Unter-
von Toulouse zeigt, die nur wenige Zentimeter Seitenlänge aufweist [36].) schied zur ,Sarkophagisierung«. sicher kommt es selren vor, daß die Grab-
In verknappter Form - auf das Basrelie{ an der Rückwand und die Inschrift platte mit der genauen Stelie der Grablegung zusammenfällt, an der der
oder auf die Inschrift und eine Büste (oder eine Kombination aus beiden Leichnam denn auch wirklich zur Ruhe gebettet liegt. Aber das verschlägt
Tvpen) redr.rziert, immer aber im vertikalen Sinne ausgerichtet und auf wenig. Sie ist das sichtbare zeichen dieser unsichtbaren Heimstatt, und

304 305
dieses Symbol genügt vollauf. Sie ist Bestandteil des Steinbodens, sie wird mehr, die Identifikation mit ihnen und sogtrr ihre Feier mit der mahnenden
eins mit den Fliesenplatten und ein Stück von ihnen. Sie ist dann die harte Erinnerung an ihre Auflösung zu verbindcn - pulzis es.
und dauerhafte Grenze, die die überirdische von der unterirdischen \Welt Vie wir gesehen haben, waren die horiz-ontalen Steinplatten nicht die
trennt. älteste Grabform. Die ältesten Gräber standen, seit es die traditionellen
Der Nachdruck, der so auf die Grabplace über dem unterirdischen Erd- Sarkophage nichr mehr gab, eher dem vertikalen Wandgrab-Typus nahe
reich gelegt wird - in einer christlichen Eschatologie, die ihm so gut wie - so die nachgerade erstaunlichen Gräber von Arles-sur-Tech in den Pyre-
keinen Raum gönnt (die mittelalterliche Hölle ist nicht unterirdisch) -, näen; aber sie waren sicher die ersten, die zugleich sichtbar und bescheiden
scheint mir originär. Ich bin der Meinung, daß dieser Typus des ebenerdi- sein sollten. Vordem waren sie entweder nicht sichtbar (anonyme, tief in die
gen Flachgrabes keinen direkten Vorfahren in der heidnischen oder christli- Erde gesenkte Sarkophage) oder deutlich sichtbar, dann aber raumgreifend,
chen Antike hat, im Unterschieci zum verrikalen Nischengrab. Man mag monumental und pomphaft.
mir die Grabmosaiken mit Inschriften und Porträts entgegenhalten, die be- Das nahezu schmucklose, aber doch durch eine Gravur oder Skulptur
reits die Böden der christlichen Basiliken Afrikas zierten. Aber [äßt sich identifizierte Flachgrab ist also zweifellos eine originäre Schöpfung des
eine reale Verwandtschaft zwischen den Mosaikgräbern des 5. Jahrhunderts mittelalterlichen Geistes und seiner mehrdeutigen Sensibilität - Zetchen
und den ersten, mit einer kurzen Inschri{t oder einem Zeichen geschmück- eines Kompromisses zwischen der traditionellen Bettung in geweihter Erde
ten Steinplatten des 1 I . und 1 2. Jahrhunderts denken, rrotz der von Panof- und dem neuen Bedürfnis nach verhaltener Bekräftigung der eigenen Iden-
sky erwogenen Möglichkeit spanischer (Tarragona), rheinischer und flämi- tität.
'W'enn
schen Zwischenstationen? Die Flachgräber scheinen mir eher in direkter also das Vertikalgrab aufgrund seiner Morphologie zum Monu-
Beziehung zur sysremarischen Erdbestattung der Leichname zu stehen, die ment für die Großen dieser §ilelt bestimmt zu sein schien, obwohl es auch
künftig des Schutzes des Steinsarkophages entbehren müssen, in direkter als Vorbild für bescheidenere Gräber gedient hat, so verkörperte das Flach-
Beziehung auch zu einem deutlicheren Bewußtsein der \Wiederkehr zur grab eher die Aufforderung zur Demut. Es war Bestandteil des Erdbodens,
Erde. In dem Maße, wie das heidnische und das christliche Altertum ein es bot sich aus freien Stücken än, »sli1 Füßen getreten" zu werden. In den
sichtbares Bauwerk für den Toten errichtete, neigte es auch dazu, ein mehr Perioden großer Monumentalität der Gräber - im 14., 15. und 16. Jahrhun-
oder weniger hoch über dem Boden aufragendes Monument zu erbauen: dert also - wurde es vorzugsweise von den Testataren gewählt, die ihre
einfache Stele, kolossales Mausoleum, Grabmal mit großen Säulen usw. Si- Demut unter Beweis stellen wollten. Es war überdies die einzige Grabform,
cherlich setzte das Mitteialter diese Tendenz mir dem Vertikalgrab fort. Es die auch von den Gegenre{ormatoren gebilligt wurde - so vom Heiligen
brachte jedoch einen neuen Typus hervor, der seinem eigenen Traum mehr Karl Borromä:usi non excedens paoirnentum (den Estrich nicht überra-
entsprach und, wenn auch immer noch sichtbar und schwach erhaben, die gend). Deshalb fällt ihm der Hauptanteil an den Grabausstattungen in Kir-
Aufmerksamkeit doch eher dem Erdreich zuwendet, aus dem wir kommen chen wie Il Gesü in Rom zu.lm 17. und 18. Jahrhundert wurde es - wie die
und in das wir wieder eingehen - ein Gefühl, das durchaus nicht christlich Grabepitaphien - aufgrund seiner Schlichtheit auch von den neuen Befür-
zu sein braucht und von einem für Jenseitshoffnungen wenig anfälligen woftern der sichtbaren Gräber in Anspruch genommen, den Handwerkern
Naturalismus beeinfiußt sein kann. Sehen wir uns hier nicht einem der und Bauern.
mehrdeutigen Elemente der christlichen Kultur gegenüber, das in den anti- Ebenso eignete es sich für den Wunsch nach künstlerischer Ausschmük-
ken Religionsgemeinschaften kaum wirksam war? Charakteristisch dafür kung und ehigeiziger Selbstdarsteliung. Ohne die Ebenerdigkeit anzuta-
ist sowohl ein gewisser Nihilismus, der nie bis zum Außersten geht, als sren, ermöglichte das Marmormosaik ihm im 1.6., 17 . und 18. Jahrhundert,
auch ein starker Glaube ans Jenseits. sich in prunkvollen und vielfarbigen heraidischen Dekorationen im Verein
Es besteht kein Zweifel, daß das Auftreten des Flachgrabes ein bedeutsa- mit prächtigen Inschriften zum Ausdruck zu bringen. Die schönsten Bei-
mes kulturelles Ereignis ist; es bezeugt eine neue Einstellung der gelassene- spiele dafür finden sich wohl in Il Gesü in Rom und in der Kirche der
ren Hinnahme und des freundlicheren Beisammenlebens mit den unterirdi- Malteserritter in La Valetta. Andererseits begann vom 13. Jahrhundert an
schen Gästen, die aufgehört haben Angst einzuflößen. Nichts hindert die hocherhabene Arbeit der Gravur und das flacherhabene Relief der vor-

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hergehenden Perioden zu verdrängen und ließ einen Skulpturenschmuck nicht immer zusammen, sie folgen einancler euch nicht exakt: sie greifen
entstehen, der dem des Sockelüberbaus des raumorientierten Vertikalgra- ineinander.
bes ähnelte. Die Platte wurde, bei strenger'§flahrung ihrer Form und ihrer Diese beiden Figurentypen, an denen dic Grabkunst für nahezu ein hal-
Symbolik, vom Boden abgehoben und auf Säulen oder Pleurant-statuen bes Jahrtausend festhält, geben eine heimliche und hartnäckige Anhäng-
gesetzt, die sie trugen wie die Bahre des Geleits. lichkeit an eine tief empfundene und nie z-um Ausdruck gebrachte volks-
So eigneten sich, trotz einer gewissen Bevorzugung aufgrund der Mor- tümliche Auffassung des Todes zu erkennen.
phologie, die horizontalen und die vertikalen Gräber in gleicher 1üeise für
die verschiedenen Ausdrucksf ormen der mittelalterlichen Grabplastik und [rassen wir zunächst die Gruppe der Ruhenden und die Interpretation ins
ihrer Gefühlswelt. Sie boten ihr einen anziehenden und bereits für sich Auge, die sie nahelegt.
genommen bezeichnenden Rahmen, in dem das Porträt und das Epitaph Der unbefangene und eilige Besucher unseres imaginären Museums wird
ihren Platz erhalten, nach einer längeren Phase der Vergessenheit wieder- keinen Augenblick zögern: Diese Ruhenden erscheinen ihm als Tote, die
auftauchen, sich gemeinsam enrfahen und schließlich, jedes für sich, wieder soeben verschieden und vor dem eigentlichen Leichenbegängnis für die
zurücktreten sollten. Fassen wir dieses komplizierte \ü/echselspielvon Por- Hinterbliebenen aufgebahrt worden sind. Er wird allerdings nicht umhin
trät und Epitaph, das dem Grab Bedeutung verleiht, jetzt näher ins Auge. können, die frappierende Ahnlichkeit zwischen den Ruhenden des Mittel-
alters und der beginnenden Neuzeit und der traditionellen Haltung der
-lbten
zu konstatieren, in der sie bis heute, wenigstens bis zum Tod im
Im imaginären Grabmuseum : Krankenhaus oder t'uneral bome, aufgebahrt werden.
Der Liegend-Ruhende Und in dieser Hinsicht täuschte er sich wohl nur halb, denn wenn der
mittelalterliche Ruhende auch keine Kopie des aufgebahrten Toten ist, so
Stellen wir uns ein imaginäres Museum vor, das alle bekannten und katalo- kann der Tote doch durchaus nach dem Vorbild des Ruhenden der Grab-
gisierten Grabmonumente vereinigte, nach Alter und geographischem Vor- kunst aufgebahrt werden.
kommen geordnet, so versetzte dieses ungeheure Korpus uns in die Lage, f)ie ältesten Statuen von Ruhenden stellen keine Toten dar (und werden
die ganze historische Entwicklung dieser Sammlung mit einem einzigen das übrigens, namentlich in den "gotischeno Ländern, auch lange nicht
und raschen Blick zu überfliegen. Manche regionalen Besonderheiren trä- tun) : sie haben die Augenweitgeöff net, dieFalten ihrer Kleidungfallen, alsob
ten dann zweifellos deutlich in Erscheinung - so das überleben des Sarko- sie aufrecht stünden und nicht lägen. Sie tragen Gegenstände in den Händen
phages in den Mittelmeer-Ländern oder die Beständigkeit der ,wachen" - das kleine Modell der Kirche bei Childebert in Saint-Denis (um 1 160), der
Ruhenden in den
"gorischen" l;nds1n. Diese Unterschiede würden jedoch Krummstab bei Abt Isarn in Saint-Victor in Marseille (Ende des 11. Jahr-
vor dem panoramaartigen Uberblick verblassen. Ins Auge fiele umgekehrt hunderts) -, nach Art der Stifter der Bittgänge auf den Mosaiken von Rom
die genetische Einheit der Formen vom 11. bis ins 18. Jahrhundert, allen Lrnd Ravenna. Darüber herrscht allgemeine Übereinstimmung, bei den älte-
Ausdrucks- und Stilwandlungen zum Trotz. Vor dem 1 1. Jahrhundert gibt rcn Historikern wie E,mile Mäle und Erwin Panoisky wie bei den neueren
es, bis auf geringfügige Spuren, gleichsam keinen Anhaltspunkt für das Archäologen, die das, als Positivisten und Demystifikatoren, noch nicht
'§(eiterwirken
eines altchristlichen Erbes. Nach dem 18. Jahrhundert tritt bestritten haben. Ein jüngerer Autor schreibt über die königlichen Ruhen-
etwas gänzlich Neues in Erscheinung - unsere zeitgenössischen Friedhöfe. Jcn der ersten Dynastie in Saint-Denis, die im 13. Jahrhundert auf Betrei-
Umgekehrt ist etwa zwischen dem 1 1. und dem 18. Jahrhundert die geneti- be n des Heiligen Ludwig serienweise hergestellt wurden, daß die Füße
"sie
sche Kontinuität ungebrochen; der Formwandel vollzieht sich in nahezu .ruf einen Sockel gestellt halten, so als ob man einen Augenblick lang daran
unmerklichen Übergängen, die häufig eher modischen Details als entschei- gcdacht hätte, sie aufzurichten; die Gebärden sind ruhig, die Gesichter
denden Strukturmerkmalen zuzuschreiben sind. Gleichwohl macht das zeitlos.., (38)
','heinen
Auge rasch zwei unterschiedliche formale Reihen aus: die Reihe der Ru- Drese gisants, diese Ruhenden sind weder Tote noch Lebende, deren le-
henden (gisants) und die der Betenden (priant); beide Formtypen fallen l,enswahre Ahnlichkeit man erhalten möchte; zweifellos sind sie identifi-

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zierbar, aber nicht mehr als irdische, als Menschen von Fleisch und Blut: sie wahrscheinlichkeiten der stehend-liegcnden Statue, die der Schwerkraft
sind, beati, Glückselige, verklärte Leiber, die, nach Emile Mäle ewig jung, spottete, nicht mehr ertrugen. Und darin sieht er den Grund dafür, daß der
im Alter des leidenden Christus stehen, "irdische Glieder des Himmelrei- gisant entweder aufgerichtet wird (so im Iralle des segnenden Bischofs in
ches Gottes" nach Panofsky oder Archetypen der herrscherlichen Funk- der Basilika Saint-Nazaire in Carcassonnc) oder, krank oder tot, auf ein
tion, wie man heute mit Vorliebe sagen würde. Bett gelegt oder schließlich gar - aber das in einem anderen Zusammen-
Diese Deutung dürfte Leser, die mir bis hierher gefolgt sind, wohl nicht hang, der uns später interessen wird - belebt und sitzend oder kniend dar-
überraschen. Sie werden in diesen Lebenden-Nichtlebenden, in diesen se- gestellt wird.
henden Toten die Gestalten der ersten und ältesten Grablegungsliturgie Man muß durchaus einräumen, daß sich * gemäß Mäle und Panofsky
wiedererkennen, die eine Liturgie der Schlafenden, der Ruhenden ist wie - im 14. und 15. Jahrhundert ein Vandel in der Einstellung zum Bildnis
die der sieben schlafenden Epheser. Es sind in Vahrheit weder sorglose vollzieht. Dieser '§Vandel aber - darauf sei ausdrücklich hingewiesen - tritt
Lebende noch schmerzverzerrte Sterbende noch verwesliche Tote noch gar vor allem bei den Monumenten der großen Kunst in Erscheinung, die von
glorreiche 1üTiederauferstandene, sondern Erwählte, die im Frieden und in bedeutenden Künstlern für erlauchte Persönlichkeiten entwor{en werden.
der Ruhe (requies) die Verwandlung des Jüngsten Tages, die Auferstehung, Nun beginnen die Gräber mit Bildnis aber vom 15. bis zum 17. Jahrhundert
erwarten. zunehmend häufiger zu werden. Und wenn wir die große Grabplastik aus-
Freilich hatte die Liturgie in der Phase, in der diese glückseligen gisants klammern und unsere Aufmerksamkeit auf die bescheideneren und manch-
dargestellt und in Stein oder Holz gehauen oder geschnitten wurden, diese mal bereits von Handwerkern benutzten Grabformen richten, drängen sich
Vorstellungen von Ruhe und Frieden bereirs unter den kün{tig beherr- folgende Schlüsse auf : Das Grab, das wir verbreitet-geläufig nennen - um
schenden Themen der Seelenwanderung und des Gerichts begraben (Libe- nicht volkstümlich zu sagen, was f alsch wäre -, übernimmt die beiden Leit-
ra). Es hat dann jedoch den Anschein, als ob das ahe, aus der Lirurgie und figuren der fürstlichen Grabplastik, gisant und priant, den Ruhenden und
aus dem eschatologischen Denken verdrängte Leitbild der Ruhe in der Vor- den Betenden; im Falle des gisant bleibt sie .ledoch bis ins erste Drittel des
stellung des gisant überlebte. Ein bedeutungsvolles überleben, verrät es 17. Jahrhunderts (d.h. dieZeit, in der der Ruhende dann verschwindet)
doch eine tiefe und stille Anhänglichkeit an einen von den Eliten längst dem archaischen Typus des glückseligen gisant treu. Die Frau mit Kappe,
aufgegebenen Glaubensinhalt. der Mann mit Halskrause der Jahre um 1600 werden auf einer Platte des
Emile Mäle verrrat die Auffassung, daß diese Einstellung nur für die er- Steinbodens dargestellt, und zwar häufiger eingraviert als erhaben skulp-
sten Ruhenden des 12. und 13. Jahrhunderts bezeichnend ist. Er machte die tiert; die Platte wird serienmäßig von einem Grabsteinmetzen hergestellt,
Beobachtung - wie sicher auch der weniger geübte Besucher des imaginä- der nur die Stelle des Kopfes frei läßt. Die Ruhenden werden präsentiert, als
ren Museums -, daß vom 14. Jahrhundert an die Augen der gisants sich zu ob sie aufrecht stünden, mit ge{alteten oder über der Brust gekreuzten
schließen beginnen (in Frankreich und Deutschland weniger als in Italien Händen und weitgeöffneten Augen. Ein Priester hält gewöhnlich einen
und in Spanien) und daß die liegende Stellung durch den Faltenwurf der Kelch in Händen. Die gewöhnlichen Verstorbenen des 16. und 17. Jahr-
Kleidung und die Lage der Glieder plausibler und wahrscheinlicher ge- hunderts werden in der ,aufrechten und stehendeno Position dargeboten
macht wird. Der Kopf ruht auf einem Kissen. Kurzum: Nach Emile Mäle, - wie die großen Persönlichkeiten vom 11. bis zum 13. Jahrhundert.
der diese Metamorphose bedauert, ist der Glückselige zu einem schlichten Möglicherweise hat man dann den Zusammenhang dieser Stellung mit
Toten geworden, und bald wird er sogar zu einem clem Thema der Ruhe aus dem Blick verloren. Man hält iedoch daran fest,
"ähnlichen" Toten. Da-
mit ist ein \Weg gebahnt, der zum verfallenen Leichnam, zum transi und den Verstorbenen auf dem Boden ausgestreckt darzustellen, als ob er noch
zum Skelett führt. Iebte, wenn auch in einer für den Lebenden sogar im Gebet ungewöhnli-
Panofsky kommr zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Er ist weniger als E. chen Haltung, einer Haltung frommer Erwartung, willfähriger Reglosig-
Mäle für die öffnung oder Schließung der Augen empfänglich. Umgekehrt keit, ungebrochener Ruhe, in einer Haltung des Friedens.
räumt er dem ästhetischen Formalismus beträchtliche Bedeutung ein. Er Das traditionelle Bild also als Träger alter Vorstellungen und alter Sehn-
vermutet, daß die Künstler vom 14. Jahrhundert an die körperlichen Un- süchte, die, wenn sie auch nicht mehr bewußt sind, doch nicht weniger

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schwer auf den tiefliegenden Ge{ühlen, auf den verschütteten Erinnerun- liegen ausgestreckt, die Füsse auf dem Kiesboden, v,/o sie gefallen sind,
gen lasten. übereinandergelegt; in der einen Hand halten sie die Scheide des Schwertes,
Das Überdauern des archaischen Tvpus des giant, der sich auf den ge- das sie mit der anderen zücken; die Augen sind noch immer weit geöffnet.
läufigen Flach-Gräbern bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts erhält, Ein deutscher gisant, die Statue eines inr Jrhre l4ll verstorbenen Apothe-
schmälert die Bedeutung der von M:ile und Panofskl'be'obachteten ästheti- kers und Bürgermeisters von Straubing, LJlrich Kastenmayer, wird von Pa-
schen \Wandlungen in der großen Grabplastik beträchtlich. Diese Grabpla- nofsky wie folgt kommentiert (39) : "Hier ruft der Einfluß des Eyck'schen
stik ist nämlich in ihren formalen Details wenige r bezeichnend als die hand- Naturalismus, vielleicht verbunden mit dem des nicht zu fernen Italien, ein
werkliche Produktion der Steinmetzen, die den alten prägenden Vorbildern Bild hervor, das mit dem sibyllinischen Satz 'vivit et non aiait, bezeichnet
treuer geblieben ist. \Was verschlägt es bei gcnauerem Nachdenken, ob die werden mag. Der verstorbene Bürgermeister ist im Augenblick des Über-
Augen offen oder geschlossen sind, ob der Faltenwurf der Kleidung die gangs vom Leben zum Tode dargestellt; sein auf einem Kissen ruhendes
aufrechte oder liegende Haltung zum Ausdruck bringt, n,enn doch deutlich Haupt neigt sich zur Seite, seine Augen sind nicht ganz geschlossen, aber
wird, daß der Verstorbene gleichwohl irn Frieden rul.rt. \?as zählt, ist dieses todesmatt." Diese Beschreibung könnte auch für ein'§flerk gelten, das nahe-
Gefühl des Friedens. zu ein Jahrhundert früher entstanden ist, für das Grabmonument von Con-
Zwei entscheidende Themen werden hier verknüpft. Einmal das Thema rad Werner von Hattstadt, Rechtsanwalt aus dem Elsaß. Der f rüher in einer
des Flachgrabes - die Annäherung und Versöhnung mit cler Erde, der Zu- Nische der Jakobinerkirche zu Colmar geborgene gisant wird heute im
sammenhang mit dem Boden. Andererseits das Thema des gisant, das der Museum, das an die Stelle des Klosters gelreten ist, aufbewahrt. Er hält die
Ruhe im Jenseits, einer Ruhe, die weder Ende noch Nichts ist noch gar Hände gefaltet, der Kopf ist nach hinten gesunken und ruht auf dem Helm.
volles Bewulltsein, Erinnerung oder Antizipation. Sein Schq,ert und seine Handschuhe liegen ihm zur Seite. Die Neigung des
Die Flachgräber mit gisant-Statuen vom Anfang cles 17. Jahrhunderts Kopfes hebt die konventionelle Feierlichkeit des glückseligen Ruhenden
sind in den gcbildeten Schichten - immer noch die einzigen, die Grabmäler auf . Dieser Mensch hier ist ein soeben Verstorbener.
haben - die letzten und unveränderten Spuren der sehr alten Einstellung, Pathetischer noch der gisant Guidarello Guidarellis, der im Jahre I 501 in
die im Tod den gezäbmten Tod sah: sie stellen einen Kompromiß zwischen Diensten Cesare Borgias getötet wurde. Der Bildhauer des Jahres 1520,
dem neuen Bedürfnis nach Identifikation, das etwa im I 1. und i2. Iahrhun- Tullo Lombardo, hat die große schmerzliche Verstörung eines jungen Men-
dert in Erscheinung tritt, und dem jahrtausendealten Leitbild der Ruhe dar. schen zum Ausdruck gebracht, den soeben der Tod heimgesucht hat (Ra-
Dahingehen, aber nicht für immer, sondern nur, 'rn1 einen langen Schlaf zu venna, Accadernia di Belle Arti).
tun, einen Schlaf, der einem die Augen nicht schlie{lt, der clem Leben äh- Im Kloster von Santa Maria della Pace in Rom stellt ein Grabrelief einen
nelt, ohne doch Leben zu sein noch gar Leben nach dem Todc. unfreiwillig zu Tode gekommenen jungen Menschen dar, der allerdings
nicht Selbstmord begangen hat, wenn er auch Opfer eines gewaltsamen
Todes geworden ist. Im Profil dargcstellt, hält der gisant den Eindruck des
Der nach dem Vorbild des gisant at fgebahrte Tote noch geschmeidigen, aber plötzlich des Lebens beraubten Körpers fest.
Im I 6. Jahrhundert bezeugt ein neues, kunstvolles Leitbild, das ebenfalls
Als Überbleibsel eines aufgegebencn eschatologischen Modells bewahrt auf die gro(le Grabplastik beschränkt und ohne v"'eitreichenderen Nachhall
sich der gisant in seinen geläufigen, wenn auch nicht volkstümlichen Aus- bleibt, die Neigung, sich mit denr Ruhenden nicht zufriedenzugeben und
prägungen eine erstaunliche iormale Stabilität, während ihn die große ari- ihn durch einen dramatischeren Vorwurf abzulösen: den Halb-Ruhenden
stokratische Grabplastik mit ungezählten Varianten ausschmückt und ihn crder den sich Aufstützenden der sogenannten statwes accouddes. Der Ver-
bald als ganze Figur - etwa die eines Ritters mit seiner Lanze in Händen -, storbene liegt halb hingestreckt - der Oberkörper ist aufgerichtet - und
bald (und z-war lieber) als eher realistische Darstellung des'Iodes präsen- stützt sich auf einen Ellenbogen, »'ährend der anderc Arm ein Buch halten
ticrt: im l4. Jahrhundert figuriert der Ruhende in Engl:rnd und Deutsch- kann. Von der etruskisch-römi.schen Grabplastik eben-so wie von einer
land häufig als im Kampf Betöteter Krieger in \Waffen; die englischen Ritter symbolischen Geste beeinflullt (und zwar von der cle s in die Hand gestütz-

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ten Hauptes, das auf den Fresken Giottos bereits das melancholische Grü- rer Sorgfalt zuwenden, werden wir gewahr, daß sich eine Entwick[ung fort-
beln bezeichnet), gefiel diese Haltung den Künstlern des 16. und lT.lahr- setzt, die den gisant von seinem ursprünglichen Leitbild zwar nicht sehr
hunderts so ausnehmend, weil sie sich für Phantasien ihrer eigenen Einbil- weit abrückt, ihn aber einem Mitteltypus annähert, der nicht der d es beatus
dungskraft eignete: Der Sterbende wird, halb aufgerichret, in ihren Dar- ist und mehr einem Toten ähnelt, dennoch aber weder ein wirklich im To-
stellungen von der Frömmigkeit gestützr oder im Sarkophag vom Genius deskampf Liegender noch ein transiisr. Das Bild, das sich gegen Ende die-
des Ruhms oder vom Engel der Auferstehung geweckt. Aber diese Art der ser Entwicklung durchsetzt, ist wohl das eines wirklichen Toten; aber die-
Präsentation gehört zum adeligen Genre; sie hat den Bereich der großen ser Tote wird noch immer als beatus dargestellt, als liegender gisant.
Kunst nicht ,erlassen, und die volkstümlich-verbreitete Ikonographie hat Seit der zweiten Hälfte des 1 3. Jahrhunderts stellen die Basrelief s an den
von ihr keine Kenntnis genommen. Seitenwänden des den Ruhenden tragenden Sockels im ganzen Abendland
Eine andere Abweichung von der Leitvorstellung der Ruhe brachte im - und nicht nur in den südlichen Regionen - häufig die Abfolge des Geleits
15. und 16. Jahrhundert den Ersarz des gisant durch den transi,durchdie dar, dessen Bedeutung für die Grablegungszeremonien des Hochmittelal-
Mumie, ins Spiel. Die traditionelle Ikonographie ist hier in einer anderen ters wir bereits kennengelernt haben. Zunächst überirdischer Kondukt von
Richtung ausgebeutet worden, um nämlich das bitter-schmerzliche Gefühl einander abwechselnden Engeln und Klerikern, wird es zum realen Geleit,
zum Ausdruck z-u bringen, das unausweichlich war, wenn man die köstli- wie es in den Testamenten beschrieben wird, zum Gefolge von Mönchen,
chen Dinge des Lebens lassen mußte. Bekanntlich war die Verbreitung die- Geistlichen und gedungenen Leidtragenden in der cagoule, die die Bahre
ses Motivs sowohl zeitlich (15./16. Jahrhundert) als auch räumlich be- tragen und begleiten. Auf denselben Reliefs der Seitenwände folgt auf die
schränkt (man vergleiche das vierte Kapitel). Szene der absoute gewöhnlich die des Geleits, namentlich in Italien und
Festgehalten werden sollte, daß, auch wenn der Liegend-Ruhende bis ins Spanien vom 14. bis zum 16. Jahrhunderts.
17. Jahrhundert in den mittleren Schichten das bevorzugte Bild des Todes Der Leichnam des Verstorbenen - oder seine reprösentation - ist also auf
geblieben ist, die Eliten doch versucht haben, sich seiner zu entledigcn, ein und demselben Grab mehrfach abgebildet: gewöhnlich zweimal in
ohne daß eines der verschiedenen aus diesen Emanzipationsversuchen her- verkleinertem Maßstab und als Relief - während der absoute und beim Ge-
vorgegangenen neuen Leitbilder sich auf dauerha{te \Weise hätte durchset- leit -, und noch einmal in hocherhabener Arbeit und in natürlicher Größe,
zen können. als Liegend-Ruhender.
Nun ist jedoch bemerkenswert, daß der beim Geleit auf der Bahre trans-
Die vorstehenden Analysen haben aus einem Anschauungsmaterial ge- portierte oder während der Absolution auf dem offenen Grab dargebotene
schöpft, das vor allem im sogenannten gotischen Europa zusammengetra- Leichnam - oder seine reprösentation- auf eben die Art und §fleise präsen-
gen worden ist, im nördlichen Frankreich, in den Ländern des Hauses Bur- tiert wird wie früher gewöhnlich der gisant, nämlich in voller Kleidung'r
gund, in Deutschland und in England. Sie haben den mediterranen Quellen und mit ge{alteten oder auf der Brust übereinandergelegten Händen. Es
(ausgenommen einige hervorstechende Beispiele der großen Kunst) und kommt also zu einer körperlichen Annäherung, einer Art Identität von
den in diesem geographischen Raum gängigen Praktiken wenig Beach- fleischlichem Leib, den man überführt und zur Schau stellt, und steinernem
tung geschenkt. Nun fügt es sich aber, daß die im Hochmittelalter in diesen oder metallenem gisant, der das Andenken des Verstorbenen auf dem
meridionalen Landstrichen verbreiteten Grabtypen bestimmende Auswir- Grabe verewigt.
kungen auf die reale Aufbahrung und Zurschaustellung des Toten im ge-
" Es hat sich die Ge*ohnheit verbreitcr, den Verstorbenen nach seinem Tode anzukleiden.
samten Abendland haben, und zwar bis in die Gegenwart - eine recht ver- [)urandus von Mende, der Lirurgist des 1J. Jahrhunderts, beklagre sich noch darüber, daß man
wickelte Geschichte der wechselseitigen Beeinflussung von Toten und Le- die Toten für ihre Grablegung bekleidete, anstatt sie - wie es alter Brauch war - einfach ins
benden, von Statue oder Stich des gisantund Gewandung und Darbietung Leichentuch zu hüllen, so wie er meinte, daß es schicklich sei. Er ließ iedoch eine Ausnahme zu,
des Verstorbenen. und zwar die der Geistlichen, die in ihren Priestergewändern bestattet werden durften. Und
zwei{ellos hat erst die Nachahmung der Kleriker die Adeligen zu dem §üunsch veranlaßt, ihren
Zum besseren Verständnis dieses Phänomens sei erneut auf das imaginäre
Leichnam in die enrsprechende Prunk- oder Amtstracht gehüllr zu sehen - den Krönungsmantel
Museum verq,'iesen. Venn wir uns den Details der Grabplastik mit größe- bci den Königen, den Harnisch bei den Rittern.

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Diese Herrichtung des Toten nach dem Ebenbild des Liegend-Ruhenden ben,egtheit der ewigen Ruhe dar, in der frjcdlichcn Erwartung des Jüngsten
muß zeitlich in c.lie Phase fallt,n, da der Steinsarkophag aufgegeben und der Tages.
im Holzschrein geborpiene Leichnam durch die reprösentation ersetzt wird
(Kapitel 4), d. h. zunächst durch das Holz- oder Vachsbildnis, dann - ba- Zurück zum imaginären Museum. Nebcn dcn gisants - und schließlich an
naler und dauerhafter - durch den Katafalk. ihrer Stelle - macht auch das weniger geschulte Auge einen anderen Typus
Dann hat sich für den kurz-en Zeitraum zwischen Tod und Bettung auf t'on Grabpiastiken aus; der Verstorbene ist in diesem Falle gewöhnlich
der Bahre der Brauch verbreitet, den Leichnam nach dem Bilde des glsanr kniend (manchmal auch stehendl vor einem Mitglied der Heiligen Dreifal-
.§ü'ir
der Grabplatte oder der reprösentationzur Schau zu srellen, wenn diese das tigkeit oder in tiefer Versenkung in eine heilige Sz.ene dargestellt. nen-
Bildnis reproduzierte. Es ent*'ickelte sich die Gewohnheit, den Verstorbe- nen diese Figuren priants, Betende. Anfangs treten sie gelegentlich zusam-
nen nrch neuem Brauch anzukleiden, ihn aufden Rücken zu legen und ihm men mit Ruhenden auf , dann eher a,llein: der prian r ist in den Konventionen
die Hände zu falten. Diese horizontale Stellung, die, lv'ie wir bereits im .les Todesverständnisses an die Stelle des gisant getreten.
ersten Kapitel gesehen haben, von Durandus von Mende vorgeschrieben Unsere erste Regung ist die, diesen künstlerischen Ausdruckswandel mit
wurde, scheint für den liesamten christlichen Raum verbindlich. Die Juden einem Mentalitätswandel gleichzusetzen. Das ist wahr und falsch zugleich.
des Alten Testaments kauerten sich z-usammen und kehrten sich der'§flancl Vohl gibt es einen tWandel der Mentalität, der Aufiassung des Seins und der
zu, und die Spanier der Renaissance glaubten an dieser Haltung die nur zum Vorstellung des übergangs in-s Jenseits;aber der alte Glaube hat sich nicht
Schein bekehrren marrafios zu erkennen. In den Ländern cles Islam beq,eist gänzlich verflüchtigt und lebt in anderer Gestalt weiter: der gisantüber-
die Enge der Grabmonumente, daß die Leichname auf der Seite liegend dauerr im priant,bevor sich die jahrtausendealte Vorstellung der Ruhe, der
bestattet wurden. Dieser horizontalen Haltung der Christen wuchs mit der requies vollends auflöst.
Zeit eine prophvlaktische Bedeutung zu, weil sie den Toten - Leil:' und
Seele - vor Angriffen dcs Tcufcls schürzte. In der Tat, so schreibt J.-C[.
Schmitt (40), erlaubt "einzig die vertikal-auf rechte Haltung den Eingang in Die \ü/anderung der Seele
die Hölle". Die Bettung in dieser Stellung hat dann größere Bedeutung
erlangt als die alten Maßnahmen, die darauf abzielten, den Leichnam zu Der archaische gisantist ein bomo tof zs wie die sieben schlaf enden Epheser.
waschen, mit wohlriechenden Essenzen zu salben und ihn von allen Besu- Als Einheit von Leib und Seele ist er zunächst der Ruhe, später dann der
delungen zu reinigen. Eines cler wichtigsten Elemente dieser neuen Einstel- Verwandlung am Ende der Zeiten geweiht. Eine Form der bildlichen Dar-
lung ist die Faltung oder Kreuzung der Hände, die wie beim Ehegelöbnis stellung, die sich sowohl von den Leitbildern der Ruhe als auch des Jüng-
vereinigt werden, die dextrarum junctio (die Verbindung der rechten sten Gerichts fernhält, tritt seit dem 12. Jahrhundert in Erscheinung, ge-
IHände]). Sind die Hände nicht zusammengefügt, so ist das ein Verstoß nauer: tritt erneut rn Erscheinung, denn die Sarkophage der heidnischen
gegen das Schenra, das dann seine Bedeurung verliert. So ist der Liegend- ,\ntike waren bereits mit der imago clipeata geschmückt, dem Medaillon
Ruhende des 12. und 13. Jahrhunderts zum Vorbild für die realen Toten rnit dem Porträt des Verstorbenen, den zwei Genien in einer Art Apotheose
geworden. Der gisant sucht keine Ahnlichkeit mit dem Toten zu erzielen. ,td astra geleiter. Dieser Form der Grabausstattung sind wir bereits auf der
Es ist der Tote, der zum Ebenbild des gisant gemacht wird. (irabplatte des Abtes Begon in Conques wiederbegegnet. Der erlauchte
Im 1 5. Jahrhundert beeinflußt der zur Schau gestellte ruhende Tote dann Lrnd ehrwürdige Verstorbene ist im Himmel angelangt und weilt dort- stat
seinerseits den gisant, sein Vorbild. Der italienische gisant des 15. und 16. s.rgt die lateinische Tradition - im Kreise der Heiligen, in der Haltung from-
Jahrhunderts ist ohne Frage ein Toter und kein glückseliger Lebender, kein rncr Zwiesprache. Der Erwählte wartet nicht mehr, er hat seinen ewigen
beatus: er ruht auf einer Bahre oder einem Prunkbett und hat soeben seinen Lohn bereits erhalten, er steht aufrecht in danksagender Stellung. Im Falle
letzten Seufzer setan. Gleichwohl ist er kein realistisches Abbild: sein llcgons ist es noch immer der homo totus, der mit Leib und Seele zum
Leichnam, den das irdische Leben verlassen hat, gibt kein Zcichen von Auf- liimmel auffährt. Im 13. Jahrhundert ist man darauf verfallen, den Erwähl-
lösung zu erkennen, im Gegenteil ; er bietet sich in der schweigenden Un- tcn nicht nur bei seiner Ankunft im Himmel, sondern noch bei seinem

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Aufbruch darzustellen, indem man die neue Vorstellung der lJberfahrt in Ikonographie im allgemeinen - und die (lrabikonographie im besonderen
den Himmel mit der alten der Ruhe verknüp{te. Engel schweben zu Häup- - deutlich, daß man den Tod als Trennung von Seele und Körper zu empfin-
ten des gisant, bereit, ihn in ihren Armen zu bergen und ins himmlische den begann. Die Seele wird in Gestalt eincs nackten Kindes dargestellt (das
Jerusalem zu tragen (so in Elne in den östlichen Pyrenäen). Uberdies wird gelegentlich in \üindeln gewickelt ist), wie auf den Szenen des Jüngsten
dieser Einzug einer überirdischen Absolution gleichgestellt, bei der die En- Gerichts. Sie wird vom gisant ausgehaucht - daher der bis heute gebräuch-
gel die Rolle des Klerus der Trauer{eierlichkeiten übernommen haben und lich gebliebene Ausdruck rendre l'äme (den Geist aufgeben). Sie wird beim
'Weise
selbst Kerzen und §ü'eihrauchfässer tragen, wobei sie der in dieser Ausfahren aus dem Mund von Engeln in einem Linnen geborgen, dessen
erhobenen Verschiedenen die Krone der Erwählten darbieten. Zipfel sie in Händen halten, und in dieser Zurüstung dann ins himmlische
Ein alter Vorgesang der römischen Grablegungsliturgie beschreibt die Jerusalem Betragen. So wird die Seele des armen Lazarus von Engeln gelei-
Szene, wie wir sie auf zahllosen Grabplatten des imaginären Museums vor tet, während dem bösen Reichen ein schrecklicher und gieriger Teufel das
Augen geführt bekommen. symbolische Kleinkind entreißt, bevor es noch den Mund ganz verlassen
In paradisum: "Die Engel mögen Dich ins Paradies geleiten, die Heiligen hat - wie man einen schlechten Zahn ausreißt.
und Märtyrer mögen Dir entgegengehen, Dich empfangen und Dich in die Auf den Kreuzigungen des 1 5. und 16. Jahrhunderts schwebt nicht selten
Heilige Stadt führen, ins himmlische Jerusalem, wie den armen Lazaruso; ein Engel herab, der die Seele des guten Schächers in Empf ang nimmt - wie
der Tod des armen Lazarus, Prototyp des Todes des Gerechten, wurde häu- die des Lazarus.
fig dargestellt . Aeternam habeas requien.' die Vorstellung der Ruhe ist mit Die bezeichnendste und berühmteste bildliche Darstellung dieser Art ist
der des Paradieses und der beseligenden Vision verknüpft, als ein und der- die der H eures oon Roban aus dem 1 5. Jahrhundert : Der Sterbende ist da in
selbe Zustand. Der zum I{immel aufgefahrene gisant der Gräber ist denn dem Augenblick abgebiidet, da er "den Geist auf gibt". Sein Leib ist nahezu
auch sowohl der schlafend harrende Tote (wie die sieben schlafenden Ephe- nackt, weder entspannt ausgestreckt wie der der gisants noch verwest wie
ser) als auch der in tiefer Kontemplation versunkene Tote (wie der Abt der der transis, dennoch aber abgemagert und erbarmungswürdig und - ein
Begon). Überdies ist sein Haupt von baldachinartigen Formen umgeben, bemerkenswertes Detail - bereits von der Leichenstarre befallen. Er liegt
ganz wie bei den Statuen der Vorhallen oder den Propheten-, Apostel- und auf einem prächtigen Gewebe, das ihm - nach sehr altem und sicher bereits
Heiligenfiguren der Glasfenster des 14. und 15. Jahrhunderts. Sie symboli- außer Gewohnheit gekommenem Brauch - als Grabtuch dient. Nein - das
sieren das himmlische Jerusalem, in dem der Glückselige angelangt ist. Das ist nicht der Körper eines friedlich ruhenden gisant, das ist ein lebloser
Bild der Ruhe wird vom Eintritt ins Paradies kaum verändert. Körper. Er ist der Erde zugedacht, die ihn in Empfang nehmen und verzeh-
Dagegen tritt ein neues, revolutionäreres Thema in Erscheinung, das ren wird. Aber dieser Leichnam ist nur ein Element des Kompositums
Thema der wandernden Seeie (quimigraoit, sagen die Grabinschriften des Mensch: es gibt überdies noch die Kind-Seele. Die hat ihren Flug ad astra
14. Jahrhunderts) und nicht mehr des bomo totus.E;n anderer Vorgesang unter dem Schutz des Erzengels Michael angetreten, der sie dem Dämon
der römischen Liturgie, das Subaenite, bringt es ins Spiel : "Eilt herbei, ihr entrissen hat (Kapitel 3). Der starke Gegensatz zwischen Körper und Seele
Heiligen Gottes fdas ist die Einberufung zum himmlischen Hof wie beim wird auch auf den Nischengräbern deutlich herausgearbeitet, wo die direk-
In Paradisurn, allerdings nicht zum Zwecke der Fürbitte wie beim Confite- te Aushauchung der Seele mit der Szene der Absolution am Sterbebett ver-
or oder in den Präambeln der Testamente, sondern zum Zwecke der Dank- knüpft wird -so im Falle der deutschen Gräber aus dem Jahre 1194 im
sagung, im Überschwang einer verklärten Vision]. Eilt herbei, ihr Engel des Dom von Hildesheim, des Grabes von Bernard Mege in Saint-Guilhem-
Herrn, empfanget seine Seele lsuscipientes animam ejus) und geleitet sie du-D6sert, des Heiligen Sernin in Saint-Hilaire in der Nähe von Limoux
zum Höchsten, damit die Engel sie in Abrahams Schoß führen [der in der und von Bischo{ Randulph in Saint-Nazaire zu Carcassonne.
mittelalterlichen Ikonographie als sitzender Greis dargestellt wird, der eine Der gisant erleidet mit dem Verlust seiner Seele keine strukturelle Verän-
Schar von Kindern auf den Knien hält, die Seelen symbolisieren]." derung. Man begnügt sich damit, die beiden Vorstellungsebenen säuberlich
Heute kann man sagen, daß das Vort animadas ganze \Vesen bezeichne- zu trennen: unten der unversehrte gisant, oben die Seele.
te und den Leib nicht ausschloß. Seit dem 13. Jahrhundert abermachtdie In Saint-Denis hat der Bildhauer des im 13. Jahrhunderts ausgebesserten

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Grabes von Dagobert die ganze Rückseite der Nische darauf verwendet, ten, daß die Klageweiber auf spanischen Gräbern häufig, andernorts dage-
die gefahrvolle Reise der Seele des Königs in ein keltisches Jenseits darzu- gen sehr selten oder gar nicht dargestellt werden; an ihre Stelle tritt da das
stellen - als umlaufenden Fries mit vielen dramatischen Einzelheiten. Un- Geleit mit Klerus, den vier Bettelorden, den Bruderschaften und den Ar-
ten aber, auf dem Sockel, ruht der Leichnam des Königs im Frieden, wie der menin cagoule).ZweiJahrhunderte später sreht die Auffahrt der Seele dann
homo totus der traditionellen gisants, ohne vom Verlust seiner Seele betrof- auf dem archaisierenden Sarkophag eines Malteser Großpriors sogar allein
fen zu sein. da (Augustinermuseum in Toulouse, aus Saint-Jean, 14. Jahrhundert)' Die
Ein im lahre 1273 verstorbener Kanoniker aus Provins ist auf seiner Mandorla der seele ist hier nicht mehr von Absolutionsszenen, sondern
Grabplatte als Stehend-Liegender dargestellt, der, mit weitgeö{fneten Au- von zvlei Vappen eingerahmt - ein deutliches Beispiel für die Bedeutung,
gen, den Kelch in Händen hält (diese Haltung ist für die Grablegung von die der Heraldik sowohl für den priesterlichen Ornat wie für den Prozeß
Priestern verbindlich geworden). Darüber wird die Seele des Verstorbenen der Individualisierung zugewachsen ist'
von zwei Engeln in ein Tuch gehüllt, die mit ihr zu den Zinnen des himmli- Aber diese Fälle sind selten. Im allgemeinen hat die seele sich verflüch-
tigt, und der gisant (oder priant) bleibt in seiner traditionellen Haltung
schen Jerusalem auffahren.
Es kommt überdies vor, dal3 die lüanderung der Seele nicht mehr mit allein.
dem gisant, sondern mit einem neuen Typus des verklärten Toten ver- Die Aus-»Hauchungo der Seele wird in der Ikonographie dann im allge-
knüpft wird, den wir in Kürze analysieren wollen, dem auf den Knien lie- meinen nicht mehr dargestellt, mit Ausnahme eines einzigen Falles: des
'Ibdes der Heiligen Jungfrau, deren Seele Christus selbst in Empfang
genden Betenden: Eine aus dem Jahre 1379 stammendebemalte Grabplatte
an einem P{eiler des Schiffes der Kathedrale von Metz besteht aus zwei nimmt. Die Szene der Absolution am Sterbebett, die aus dem Brauchtum
Stufen (wenn man die Inschrift berücksichtigt, sogar aus dreien): auf der verschwunden war, seitdem recolnmendaces und Totenfürbitten an ihre
oberen ist die Reise der Seele dargestellt wie aui dem Grabe von Dagobert Steile getreten waren, hat sich nichtsdestoweniger bis ins 17. Jahrhundert in
den Genreszenen des ,schlafes" der Jungfrau Maria erhalten. Diese Be-
- einer Seele, die der Heilige Michael gerade dem Drachen entrissen hat -,
unten kniet der Verstorbene andächtig vor der Szene der Verkündigung zeichnung ffrz. dormition] führt zur Vorstellung der Ruhe zurück, obwohl
Mariae. der Leichnam der Jungfrau in Darstellungen des 16. und 1 7. Jahrhunderts,
Gleichwohl gilt für das Motiv der Seelenwanderung das gleiche wie für vor seiner endgültigen Himmelfahrt, alle Farben und Zeichen der Agonie,
die transis: beide sind in der Grabikonographie des 14. bis 16. Jahrhunderts des Leidens und der Auflösung zu erkennen gibt.
zwar nicht ungewöhnlich und haben darin ihre Bedeutung; sie verschwin-
den jedoch schnell wieder und gehören nicht zu den strukturellen und dau-
erhaften Elementen der Grabplatte. Die Verbindung von gisantund priant:
Das Hochmittelalter zögert dann, den gisant und seine Seele auf dersel- Die "Doppeldecker.-Gräber
ben Ebene darzustellen: es äulSert sich da eine Art tiefes §?iderstreben, das
den Einflüsterungen der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele - der Die Wanderung der Seeleund die ungefähr zur gleichen Zeit in Erschei-
glückseligen wie der ungiückseligen -'Widerstand leistet. nung tretenden makabren Zeichen der Verwesung markieren, wie kurzle-
Es kommt durchaus vor - v/enn auch nur in den Ländern des Südens -, big sie auch immer gewesen sein mögen, doch eine Krisenphase der tradi-
daß der Ruhende dem Motiv der Seelenwanderung weichen muß. Auf ei- tionellen Auffassung des Seins im Stande der Ruhe.
nem von Pano{sky (41) beschriebenen spanischen Sarkophag im Kloster Es bricht sich dann eine Tendenz Bahn, die im 16. Jahrhundert den gro-

Santa Cruz zu Jaca, dem Sarkophag von Dona Sancha, der allerdings aus ßen Hauptwerken der Grabkunst zur Entstehung verhilft, ohne doch einen

der Zeit um 1100 stammt, füllt das Thema der Seelenwanderung das gesam- dauerhaften Grabtypus zu begründen: eine Tendenz, das Sein zu untertei-
te Zentrum der Längsseite; es wird von z$r'ei Absolutionsszenen einge- len. sie führt zur Entwicklung eines Modelis, bei dem das Bildnis der ver-
rahmt, die eine mit dem Bischof und dem ministrierenden Klerus, die ande- storbenen in verschiedenen Haltungen auf verschiedenen geschoßartigen
re mit einer Gruppe von sitzenden Klageweibern (nebenbei sei festgehal- Stufen ein und desselben Grabmonuments wiederholt wird" Die Kunsthi-

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storiker haben angenommen, daß dieses Modell den königlichen Nekropo- gehaltenen ovalen Gloriole, wie der Christus der Apokalypse auf den
len vorbehalten war, bei denen neue kirchliche Glaubensvorstellungen und Tympana des 12. Jahrhunderts. Mit der rechten Hand teilt er seinen Segen
künstlerischer '§(agemut zuerst zum Zuge kamen. In rüirklichkeit tritt es aus (die sakramentale Gebärde der Segnung hatte damals noch eine sehr
aber bereits seit dem 13. Jahrhundert bei gewöhnlichen Gräbern in Erschei- tiefe Bedeutung; der Bischof wiederholte sie auf Erden, und in dieser seg-
nung. Ich führe als Beweis eine kleine, vom Ende des l3.Jahrhunderts stam- nenden Haltung werden Bischöfe gewöhnlich auf ihren Gräbern darge-
mende §üandtafel eines Kanonikers der Kathedrale von Toulouse an, die stellt). In der linken Hand hält der ewige Vater - als Herrscher - die Veltku-
eine Seitenlängevon37x45 cm aufvzeist. Das ist eine Miniatur-Grabtafel, gel. Der Kanoniker Aymeric kniet vor ihm mit gefalteten Händen, in der
wie es sie bereits in früheren Zeiten gegeben hatte und die später massenhaft Stellung, die die Historiker die Stellung des "Stifters" nennen. Und hier
auftauchen, so massenhaft, daß man sie gewöhnlich geringschätzt und be- erkennen wir den zweiten großen FigurentyPus der Grabkuns t, den priant,
denkenlos der Zerstörung durch die Zeitläufte überläßt. Sie erhebt nicht den Betenden.
den geringsten künstlerischen Anspruch und gibt nicht das geringste Stre- Diese Ikone bietet in gedrängter Form eine Vergegenständlichung der
ben nach öffentlichem Aufsehen zu erkennen. Sie spiegelt die Anschauun- Themen, an denen der Kanoniker Aymeric - und viele seiner Zeitgenossen
gen von Tod und Jenseits wider, wie sie ein achtbarer, wenn auch uneitler - mit Inbrunst hing. Es gab sie seit langem in der geistlichen Literatur; aber
Pfründeninhaber ohne ästhetische Ambitionen zusammenzutragen für erst ietzt treten sie in der Grabikonographie und in den tiefliegenden Ge-
wert hielt. Die kleine Fläche der Tafel ist bis an die Ränder gefüllt: rü/o fühlsschichten zvr^ge, die diese Ikonographie zum Ausdruck bringt. Es
Brauch und Herkommen sonst nur eine überdies kurze Inschrift vorsahen, sind die Themen der Teilung des Seins: des vom Leben verlassenen Kör-
mußte hier eine ganze Eschatologie Platz finden. Die Inschrift ist also an pers, der Seele auf ihrer'§(i anderung und des Glückseligen im Paradies. Und
den Rand verwiesen und umläuft in zwet Zeilen die vier Seiten wie ein man verspürt beim Auftraggeber dieser Grabplatte das Bedür{nis, diese
Band: "Anno Dornini MCCLXXXII XVI Kalendas Augusti, illustrissimo verschiedenen Seinszustände gieichzeitig darstellen zu lassen' Die Plurali-
Pbilippo Rege Francorun [Philipp der Kühne], Reterendissimo etoalentis- tät der Seinszustände und die Simultaneität ihrer Darstellung sind die bei-
simo Bertrando Episcopo Tolosano, obüt magister Aymericus canonicus, den neuen W'esenszüge, die die Ikonographie in jener kurzen Krisenphase
cancellarius et operarius Ecclesiae Tolosanaeleine kurze Personenstandsno- beherrschen, in der sich einZögertzwischen der traditionellen Auffassung
tiz mit dem Todesdatum und der gesellschaftlichen Stellung des Verstorbe- des Seins im Stande der Ruhe und der der Pluralität der Seinszustände
nen, allerdings ohne sein Akerl, ejus anima requiescat in pdce.« Die bereits bemerkbar macht, die sich letztlich dann durchsetzt. Dieses Zögern läßr
in der Inschrift kenntlich gemachte Identität des Kanonikers wird überdies sich lediglich an den Grabmonumenten einer Elite der Macht, der Kunst
durch sein zweimal wiederholtes Wappen bekräftigt. und des Denkens ablesen - der, wie ich vermute, der Kanoniker Aymeric
Der von dieser Inschrift umsäumte Raum wird völlig von Reliefszenen angehörte. Andere, im Schoß dieser Elite oder weniger entwickelt und
ausgefüllt. Dieser skulptierte Teil ist in zwei Teile gegliedert. Unten finden knapp darunter stehend, blieben dem alten, im Sisantsymbolisierten Vor-
wir wieder den gisant: Der Kanoniker liegt, mit der Kappe seines Domher- bild treu.
renpelzes bedeckt, in der traditionellen Haltung auf dem Rücken, die Die Tafel des Kanonikers Aymeric muß also als eine Art Programm gele-
Hände auf der Brust gekreuzt, die Füße auf einem unbestimmbaren Tier, sen werden, das eine ganze Entwicklung ankündigt. Ein Teil dieses Pro-
gemäß den W'orten der Schrift: ,Conculcabis leonem et draconem(AüLö. gramms, die §(anderung der Seele, ist im Jahre 1282 bereits aufgegeben.
wen und Ottern wirst du gehen, und treten auf junge Löwen und Dracheno Der Rest aber, d. h. die Übereinanderschichtung von gisant tnd priant,
[Psalm 91,13]). Er hat das Böse besiegt. Er ruht im Frieden, wie es die sollte noch länger Bestand haben.'r
Inschrift bereits vorausnimmt. Sie setzt sich gleichwohl nicht ohne Zögern durch. Andere kurzlebige
Der obere Teil ist seinerseits der ganzen Breite nach in zwei horizontal Formen von Übereinanderschichtung gehen ihr voraus, die man nicht au-
nebeneinandergestellte Szenen aufgeteilt: zur linken die Vanderung der
Seele, dervon einem Engel geleiteten Kind-Seele. Zur rechtendiebeseligende ,, Diese zweigeschossigen Grabmäler sind bei Kunsthistorikern deshalb besonders geschätzt,

Vision, in Paradisum. Der ewige Vater im Zentrum einer von zwei Engeln weil sie in ihre Kategorie von Meisterwerken fallen.

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ßer acht lassen kann, einerseits wegen ihrer fraglosen Qualität, andererseits schen Lebens einer Person zusammen (das Grab von Jean de Montmirail in
deshalb, weil sie große Bildhauer beeinflußt haben. der Abtei von Longpont [45]: unten der Ritter mit gefalteten und auf der
Es hat den Anschein, als ob man Versuche mit verschiedenen Typen von Brust zusammengelegten Händen, in der klassischen Haltung des gisant;
Ubereinanderschichtung angestellt hätte, bevor man bei der Koppelung oben, in derselben 'W'eise ausgestreckt, derselbe Mann irn Mönchsgewand,
von gisant u,nd, priant anlangte. Da ist einmal der Fall der ubereinander- das er doch erst im hohen Alter überstreifte, mit in den Armeln verborge-
schichtung zweier gisants derselben Persönlichkeit - eine Anordnung, wie nen Händen).
sie zweifellos von den Zeremonien großer Leichenbegängnisse beeinflußt Vir haben den Eindruck eines Konflikts zwischen der alten und verbrei-
worden ist. Das Grab eines im Jahre 1260 verstorbenen Sohnes des Heili- teten Glaubensgewißheit, wie sie im noch immer häufigen einzigen gisant
gen Ludwig (42) stellt auf einer der Längsseiten des Sockels den Leichnam zum Ausdruck kommt, und der neuen Pluralitätsvorstellung, die sich im
dar, wie er beim Geleit auf einer Bahre getragen wird, und bietet darüber, strukturalen Zeichen der Dualität der Darstellungsformen verdichtet. Die-
auf dem Sockel, die Statue des Verstorbenen dar, der auf dem Rücken liegt ser Konflikt wird allmähtich gelöst, und zwar einerseits durch die Dualität
wie ein traditioneller gisant. von gisantund priant, andererseits durch das Verschwinden des gisant,der
Später findet man eine andere Art der Übereinanderschichtung zweier dem priant weichen muß.
gisants derselben Person, wobei der eine vom Tode gezeichnet, der andere
dagegen mit allen Attributen des Lebens ausgestattet ist. J.-B. Babelon (43) Das Modell, das für eine bestimmte Zeit die Oberhand behalten und die
erkennt in dieser Anordnung die während des Leichenbegängnisses vorge- Entwicklung der Grabikonographie des späten Mittelalters und der begin-
'§?achs-
nommene reale Ü5ereinanderschichtung von Sarg und Holz- oder nenden Neuzeit beherrsche n sollte, besteht in der Übereinanderschichtung
reprisentation auf dem Grabe wieder. Das tiefe Bedürfnis, zwei Seinszu- von gisanttnd priant,wie sie vom Kanoniker Aymeric auf seiner'§ü'andta-
stände gleichzeitig zu vergegenständlichen, gab also der Grabikonographie f el antizipiert worden war. Ein aus derselben Zeit - also vom Ende des 1 3.

ebenso wie der Beisetzungszeremonie die gleiche expressive Form ein. Die Jahrhunderts - stammendes monumentales Grabmal in Neuvillette-en-
Logik dieses Modells mußte dazu führen, daß einer der beiden glsazrs - und Charnie (Sarthe, Abguß im Mus6e du Trocad6ro) zeigt unten den gisant,
zwar der, der den Leichnam darstellte - mit sichtbarer Hinfälligkeit ausge- das Schwert zur Seite, mit gefalteten Händen und geöffneten Augen, dem
stattet wurde. zwei Engel \Weihrauch streuen;die Rückwand der Nische nimmt ein Ge-
Diese Hinfälligkeit ist das Zeichen des verwesenden Leibes - des transi. mälde des Verstorbenen ein, der als vor der Jungfrau mit dem Kinde knien-
Das ist etwa der Fall beim Grabmal des Kanonikers Yver in Notre-Dame in der priant dargestellt ist.
Paris (14./15. Jahrhundert), in dem ein transiund ein gisant übereinander- Auf dem Grabmal von Enguerrand de Marignv in Ecouis (46) ruht der
liegen. Im Faile des Grabes von Ludwig XII. in Saint-Denis ist der transi gisant, im Harnisch des Ritters und mit gefalteten Händen, auf einem
durch einen Sterbenden ersetzt worden: "Es ist nicht mehr der von Vür- Prunkbett, und auf der Nischenrückwand knien Enguerrand und seine
mern zer{ressene Leichnam, sondern eher der Übergang vom Leben zum Gattin, begleitet von den beiden großen Fürsprechern, der Jungfrau und
Tode, der hier dargestellt wird. Ludwig XII. bäumt sich in einer Art dem Heiligen Johannes, Iinks und rechts neben Christus nieder.
Krampf auf [. . .], die Augen schließen sich, den Lippen entringt sich ein Die ältesten Formen dieses Darstellungstyps scheinen also bei den verti-
letztes Röcheln." (44) k.rlcn Nischengräbern auf einer Verbindung von Skulptur für den gtsant
Man hat diese Übereinanderschichtung zweier gisanrs derselben Person und lWandmalerei für die Anbetungsszene zu beruhen. Die lWandmalereiist
rasch aufgegeben, ohne doch vom Prinzip der Übereinanderschichtung bei später dann durch ein Flachrelief ersetzt worden'
diesem Grabtypus abzulassen, dem man so stark verhaftet war. Also ver- Es wird häufig behauptet, daß die Kombination von gisanr und priant,
suchte man, andere Figuren in den beiden "Stockwerken" unterzubringen: tl ie für nahezu ein Jahrhundert zur relativ verbreiteten und stabilen Darbie-

so lagerte man die gisants zweier verschiedener Personen übereinander, r ungsform wird, eigens für die großen Königsgräber der Valois in Saint-De-

etwa den eines Mannes und den seiner Frau (Straßburg, 14. Jahrhundert, nis erfunden worden 5si - "Doppeldecker"-Gräber mt gisant im unteren
Ulrich und Philippe de Verd). Oder man stellte zwei Altersstufen des irdi- und priant im oberen Stockwerk, die als Hauptwerke der Grabkunst und

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der Kunst überhaupt berühmt geworden sind. Philipp II. ließ sie im Esco, benen kann sich dann in der Haltung des tletenden am Portal darstellen
rial nachbilden, mit dem einzigen Unterschied, daß nur die priantsim ei- lassen, wie der Herzog von Burgund in dcr Kartause zu Champmol. Es
gentlichen Kircheninneren zu sehen sind; die gisants des [Jntergeschosses sieht so aus, als hätte er zwei ineinander vcrschachtelte Gräber - das eine
sind durch die Leichname selbst ersetzt worden, die in Nischen der Krypta stofflich-kondensiert, das andere diffus.
geborgen wurden. Diese großen \üZerke bringen eine Tendenz zur Monu- Tatsächlich treten die Priants im Innenraum der Kirche in dem Augen-
mentalität, zur Riesenhafrigkeit zum Ausdruck, wie sie die Gräber des blick in Erscheinung, da der stifter seine Zukunft im Jenseits darstellen
Hochmittelalters und der beginnenden Neuzeit charakterisiert. Sie sind be- will. Denn der Betende ist ein überirdisches Wesen' Vährend der ersten
eindruckend. Deshalb haben die Kunsthistoriker ihnen eine Bedeutung zu- Jahrhunderte seiner langen Existenz - vom 14. bis zum Anfang des 17.
gestanden, die uns möglicherweise irreführt. Man muß sich nämlich fragen, Jahrhunderts - wird der priant nie allein dargestellt, weder auf einem
Grab
ob sie wirklich repräsentativ sind oder ob sie nicht im Gegenteil, im hellen noch anderswo. Er gehört zum Himmlischen Hofstaat, wie er im Cont'iteor
Licht der Kunst zunächst, dann der Geschichte, eine außergewöhnliche oder in den Präambeln der Testamente beschworen wird' Er wird den Hei-
und etwas skandalöse Verbindung der Toten mit den Lebenden aufrechter- ligen zugesellt und ist in einer heiligen Zwiesprache begri{fen, ohne deshalb
halten haben, der es nie gelungen ist, sich gänzlich durchzusetzen. doch mit den himmlischen Gestalten verv/echselt zu werden; man trennte
die kanonisierten Glückseligen durchaus von den namenlosen, den anderen
Himmels- oder gar Erdbewohnern, die des Himmels auigrund ihrer Ver-
Der Betende dienste bereits sicher sein durften. In der byzantinischen Tradition - in
Ravenna, in Rom - werden die Päpste oder die Herrscher auf den Mosaiken
Die diesen Gräbern zugestandene Bedeutung hat zur Folge gehabt, daß unter die Apostel und Heiligen versetzt, von denen sie sich lediglich durch
man ihnen die Vaterschaf I an priantzuerkannte : da er immer am "Scheitel" cine viereckige und nicht mehr runde Aureole unterscheiden.
des Grabes steht, sei er eben eine Umgestaltung des oberen gisant,denman Dte priants des Spätmittelalters treten die Nachfolge der Gestalten mit
von unten sonst nicht mehr hätte sehen können. Aber priants gab es auch rechteckiger Aureole in den Vorräumen des Himmels an. Sie liegen auf den
schon früher, nicht nur auf Gräbern mit Vandmalereien aus dem 13. und Knien und haben die Hände gefaltet, während die "ordentlichen" Mitglie-
14. Jahrhundert (Durandus von Mende in Santa Maria sopra Minerva in der des Himmlischen Hofstaates aufrecht stehen, stant'Das früher einigen
Rom), sondern auch auf Skulpturen, Flachreliefs, Gemälden und Glasfen- wenigen Päpsten und Herrschern vorbehaltene Privileg, im Paradies darge-
stern: die berühmten "Stifter", die man seit dem Ende des 13. Jahrhunderts stellt zu werden, ist virtuell auf alle Notabeln des 1 5. und 1 7. Jahrhunderts
überall eingeführt sieht. ausgedehnt worden, denen nach Auffassung ihrer Gemeinde eingeräumt
Ihre Ubiquität hat die Kunsthistoriker giauben lassen, daß sie nicht wurde, das Recht auf ein sichtbares Grab geltend zu machen.
zwangsläufig eine funeralistische Rolle spielten. Ich bin dagegen der Mei- So ist - und das muß mit allem Nachdruck hervorgehoben werden - der
nung, daß ihre Präsenz eng mit dem Grab zusammenhängt - wenn auch Betende, selbst wenn er noch lebt, doch kein Mensch dieser Erde. Er ist eine
nicht mit dem Grab stricto sensu,so doch mit einer erweiterten Konzeption Gestab der Ewigheit, kniend vor der Maiestät des ewigen Vaters (wie der
des Grabes, die damals nicht auf die Grabstelle und noch weniger auf den Kanoniker Aymeric), vor der Jung{rau mit dem Kinde (wie der Kanzler
genauen Lageplatz des Grabes beschränkt ist. Seine doppelte Mission als Rollin) oder vor den auseinanderfliehenden Reihen einiger gro{3er Heiliger.
Gedenkstätte und als Glaubensbekenntnis erstreckt sich über das Grab und Er wird nicht nur ins Paradies geleitet, sondern in den Mittelpunkt der
das symbolische Monument hinaus, auf dem die identifizierende Inschrift göttlichen Handlungen gerückt, die die Heiligen Schriften darstellen und
eingraviert ist, auf die Umgebung, auf die Kapelle, in der es liegt, auf deren cleren in den Liturgien der Erde und des Himmels gedacht wird. Man findet
Glasfenster und das Retabel ihres Altares, an dem die Messen für den Ver- ihn zu Füßen des Kreuzes, am Ölberg und vor dem leeren Grab nach der
storbenen gelesen und gesungen werden, und im Falle großer Persönlich- Auferstehung.
keiten auf dre ganze Kirche, die dann zur Grabkapelle wird, zum Familien- Seine Haltung bringt die Antizipation des Heils zum Ausdruck, wie die
grab. Der Stifter, d. h. der künftige Verstorbene, oder der Erbe des Verstor- tles gisant den Genuß der ewigen Ruhe. Hier wie da die gleiche Ewigkeit:

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aber hier liegt der Nachdruck auf der Dynamik des Heils, dort auf der Der priant kam dank seiner besonticre n Eignung für die Intentionen
-
Passivität der Ruhe. Vie die Heiligen, aber mit seinen eigenen Attributen, des Bildhauers, die der gisant mcht hatte , was auf lange Sicht seinen Erfolg
die ihn gesondert kenntlich machen, ist er in die überirdische Velt eingetre- verständlich macht - den neuen Bedürf nissen dcr religiösen und f amiliären
ten, und er stellt diese Zugehörigkeit solange sichtbar unter Beweis, bis die Sensibilität entgegen. Im 16. und 17. Jahrhundert ist er dann nicht mehr
protestantischen und katholischen Reformationen diese anmaßende Si- immer allein: er wird von seiner ganzen Familie begleitet, die mit ihm in die
cherheit aufgeben und den Lebenden mehr Demut und Furcht des Herrn überirdische lVelt eingeht, in einer bald ganz verbreitet und geläufig
auferlegen. gewordenen Anordnung: links die himmlischen Gestalten und die Gattin
Solange die Gestalt des auf Knien Betenden mit gefalteten Händen Be- mit allen Töchtern, rechts, d. h. auf dem Ehrenplatz, der Gatte mit allen
stand hat, ist Cie Grenze zwischen Diesseits und Jenseits verwischt. Söhnen, immer einer hinter dem anderen.
Jetzt läßt sich auch die Genese der Formen rekonstruieren .Der priantist Das war das erste sichtbare Bild der Familie, Vorfahr der Familienpor-
zunächst in der \Weise dargestellt worden, wie wir ihn soeben beschrieben träts, die lange Versammlungen vonpriantsvor einer religiösen Szene blie-
haben - im Himmel, im Angesichte Gottes oder vor Christus, der Jungfrau, ben, d. h. Bestandteile der Grabikonographie, die sich von ihrer ursprüngli-
dem Kruzifix oder angesichts der Auferstehung, immer im oberen Geschoß chen Funktion gelöst hatten. Auch die individuelle Porträtplastik hat lange
des Grabes. Er entspricht einem der Zustände des Seins, dessen anderen der an dieser Anordnung festgehalten (der Kanzler Rollin vor der Jungfrau),
gisant verkörpert. die zugleich memento mori, memento der lebenden oder toten Angehöri-
Dann verschwindet der gisant, so als ob, den höheren Theologien und gen und Freunde, und frommes Bildnis ist.
mystischen Strömungen zum Trotz, mit der Zeit ein starrsinniger Glaube Die priants werden nicht nur von ihrer Familie begleitet, sondern auch
an die Unteilbarkeit des Seins triumphiert hätte; so als ob es auf ein und von ihrem Schutzheiligen, der, namentlich im 15. und 16. Jahrhundert, Ad-
demselben Grab nicht zwei unterschiedliche Darstellungen ein und des- vokat und Fürsprecher in eins ist und sie am Himmlischen Hofstaat ein-
selben rWesens hätte geben dürfen. Entweder gisant oder priant.Die§/ahl führt. Der Schutzheilige hält sich hinter dem Betenden, legt ihm mitunter
des priantist dann bezeichnend: Man ergreift langsam die Partei der Seele. die Hand auf die Schulter und stellt ihn vor. Die Beispiele dafür sind zahl-
lm Ztge dieser Entwicklung hat das Grab - fast immer ein Wandgrab los. Hier ein Grab mit Fresken aus dem 16. Iahrhundert an einem Pfeiler
- also lediglich an der Konstellation des prlantimHimmel festgehalten, die der Kathedrale von Metz, gegenüber der Kanzel. Es mißt ungefähr 1,50 x 2
mit einer religiösen Szene verknüpft wird. Manchmal wird diese Figuren- m. LJnten die Inschrift in cy-gist-Form,darüber eine Pietä. Vor der Pietä der
gruppe vom Grab im eigentlichen Sinne gelöst und auf einem Altarretabel Tote, ein Ritter in Vaffen, auf den Knien vor einem Beichtstuhl, auf dem ein
oder an einer anderen sichtbaren Stelle der Kirche gesondert wiederholt. Stundenbuch liegt. Hinter dem Betenden sein Schutzheiliger, ein Franzis-
Schließlich verschwindet die religiöse Szene, und der priant bleibt allein kanermönch, der mit der Hand eine Banderole schwingt, auf der die Be-
übrig, so als ob er aus der Gruppe, der er früher angehört hatte, herausge- schwörung O Mater Dei, Memento meiz-ulesen steht: Der Schutz-heilige
treten wäre. In allen Fällen wird er zur zentralen Gestalt des Grabes. Sym- spricht für den Toten und läßt ihn in der ersten Person reden wie ein Advo-
bolische Figur des Toten, ist seine Haltung mit dem Tod selbst verknüpft, kat in seinem Plädoyer. Festgehalten sei, daß üremento mei eine fromme
gleichgültig, ob er schon eingetreten ist oder noch erwartet oder vorausge- Anrufung der Heiligen ist, bevor es im 19. Jahrhundert zur Formel der
sehen wird. Bitte um Gedenken bei den Lebenden wird, zum Memento.
Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert hat das skulptierte Grab künftig nahe- Die Rolle des Fürsprechers korrespondiert mit der neuen Bedeutung, die
zu immer einen priantvorzuweisen. Es kann zwei Formen annehmen: eine, dann der Familie zuwächst. Jede Familie hatte einen Taufnamen, der geflis-
die sich miniaturisieren Iäßt - das \Wandgrab oder die "Tafei", die im unte- sentlich vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter übertragen
ren Teil die Inschrift, im oberen den priant oder die priants vor einer religiö- wurde. Der Schutzheilige hörte damit auf, nur der Patron des Verstorbenen
sen Szene bietet (Flachrelief oder Gravur) -, oder eine monumentaleForm, - oder eines einzelnen Individuums - zu sein, und wurde zu dem der ge-
und das ist das große Sockel-Grab mit hocherhabener Statue des Betenden samten männlichen oder weiblichen Nachkommenschaft (je nach Ge-
(der im allgemeinen allein ist), die häufig über einem Sarkophag aufragt. schlecht).

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Die fürbittende Intervention des Heiligen au{ dem Grabmal entwickelte nen Gräber im 17. Jahrhundert auf die Darstellung der heiligen Szene ver-
sich zwei oder drei Jahrhunderte nach der der Heiligen Jungfrau oder des zichtet haben - ein Prunk, der auf denen der kleineren Honoratioren fort-
Heiligen Johannes bei den Jüngsten Gerichten der großen Tympana: das besteht -, so nicht aus Unglauben, sondern aus Asketismus und Demut.
ist die Zeitspanne, deren es bedurfte, damit die Ungewißheit des Heils ganz Damals tritt der Sarkophag wieder in Erscheinung - oder eher seine Nach-
faßlich und spontan erfühlt und eine Beihilfe post mortem unerläßlich bildung, der Katafalk, oder das Symbol, das ihn ersetzt und bei den §[and-
wurde. In derselben §fleise wandeln sich die Darstellungen der himmli- gräbern mit priant und religiöser Szene völlig verschwunden war - und
schen Gefilde. Anfangs beschwören sie unmittelbar die beseligende Vision: wird zu einem der Hauptelemente der Struktur. Das andere, ebenso be-
Gottvater oder seine aus den §üolken sich herabsenkende Hand, die Dreiei- deutsame, ist der priant,der sich vom miniaturisierten Stifter zu menschli-
nigkeit, Christus, die Jungfrau und das Kind. So als ob er dem Ergebnis des chem Normalmaß - und manchmal auch darüber hinaus - entwickelt hat:
Jüngsten Gerichts zu weit vorgriffe, dem die kollektiven Mentalitäten mehr diese priants haben geradezu Riesenstatur! Sie können, wie der ahe gisant,
Raum geben, wird dieser Darstellungstyp dann seltener; er wird durch eine über dem Sarkophag aufgestellt sein, aber auch überall sonst' etwa in einer
der Leidensgeschichte oder der Au{erstehung Christi entnommene Bresche der Chorschranke (Saint-Etienne, Toulouse), in einem'§(inkel der
fromme Szene ersetzt, die entweder eine eschatologische Bedeutung hat Familienkapelle oder nahe dem Chor, von wo aus sie der Messe {olgen
(Auferstehung des Lazarus) oder die göttliche Barmherzigkeit unter Be- können. Diese priants sind in der Kirche verstreut' als ob sie am Gottes-
weis stellt (die barmherz-ige Jungfrau, die mit ihrem Mantel die säuberlich dienst teilnähmen: große Herren, Beamte höchster Gerichtshö{e, Präla-
nach Geschlechtern getrennte Menschheit schützt, rechts die Männer, links ten . . . Im Frankreich des 1 7. und des beginnenden I 8. Jahrhunderts tragen
die Frauen; die Verkündigung, erster Akt der Erlösung der Sünder). Die sie gefaßte und ernste Mienen nach Art der Andächtigen der gallikanischen
Szenen aus dem Leben Christi werden überdies nicht außerhalb des Para- Reform zur Schau, die sich allen überschwenglichen spirituellen Kundge-
dieses angesiedelt: Die Aufsätze von Altären des 15. Jahrhunderts stellen bungen verweigern.
häufig kanonisierte Heilige - einen Heiligen Augustinus, einen I{eiligen Umgekehrt geraten sie im Rom Berninis und Borrominis in heftige Be-
Antonius, einen Apostel - im Himmel dar, die gleichwohl eine Szene des wegung; sie regen sich, agieren und lassen den Gebärden freien Lauf, die
Evangeliums betrachten. ihre mystische Verzückung rückhaltlos zum Ausdruck bringen. In natürli-
Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wird das mit einer religiösen Szene ver- cher Größe füllen sie in den Kirchen, deren generöse Vorsteher sie ehedem
bundene Modell des priant konventionell. Es hat sich also mehr als drei waren, die hohen Galerien, von denen aus sie der Messe zu folgen pflegten.
Jahrhunderte lang ohne grö{lere Veränderungen gehalten, von Dekor und Sie neigen sich über die Brüstung, um besser sehen zu können - wie in einer
Stil abgesehen: eine Zeitspanne, die der des Liegend-Ruhenden vergleich- Theaterloge. Sie teilen sich mit großem mimischen und gestischen Auf-
bar ist und beweist, in welchem Maße das Modell - in beiden Fällen - einer wand ihre Gefühle mit. Ihre Exaltiertheit ist nämlich irdisch und himmlisch
tiefen und beständigen psychologischen Notwendigkeit entsprach. zugleich. Der prianthathier seine traditionelle Feierlichkeit eingebüßt' sich
Vie das Flachgrab eignet sich auch das Grab mit prian r zu bescheidene- in seiner neuen barocken Bewegtheit aber doch sein überirdisches 'W'esen
ren und kommerziellen Zwecken, zur handwerklichen Serienherstellung. erhalten. Er folgt mit seinen steinernen Augen der Messe der Pfarre, die die
Man kauft vorbereitete W'andtafeln von etwa 1 m x 0,50 m Seitenlänge, die posttridentinische Andacht mit feierlichen Elementen durchsetzt hatl
beispielsweise eine Pietä darstellen, mit einem bewaffneten Ritter und dem Diese Messe ist aber auch die ewige Messe, die am himmlischen Altar, im
Heiligen Nikolaus oder Petrus au{ der einen, einer Matrone mit Kappe auf Paradies zelebriert wird, in das er bereits geleitet worden ist. So hat sich eine
der anderen Seite, die von der Heiligen Katharina oder Maria Magdalena alte Dame von siebzig Jahren in der römischen Kirche San Pantaleone ne-
begleitet wird, wobei der Kopf dieser Gestalten und der Raum für die In- ben dem Eingangsportal beisetzen lassen - ein würdiger, sehr begehrter
schrift jeweils leer gelassen werden. Dieser Grabtypus ist das verbreitetste Ruheplatz, wenn man den Testamenten Glauben schenken darf -, vor dem
Modell des sichtbaren Grabes im 17. und 18. Jahrhundert gewesen. Viele Hochaltar und dem wundertätigen Heiligenbild der Jungfrau, das den Al-
dieser Gräber sind verschwunden. tar überragt und vor dem sie zu ihren Lebzeiten betete; sie hat die Hände
Venn die prunkvollsten und aus diesem Grunde auch am besten erhalte- um den Hals gelegt, in einer Gebärde, die nicht mehr die des Opfers oder

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des traditionellen Gebetes ist, sondern die der Ekstase: der mystischen Ek- Krummstab und die Priestergewänder dcs lJischofs. Auch der Gesichtsaus-
stase und zugleich der beseligenden Vision. druck gehörte zum selben Arsenal ; der Kopf hatte zum Amt z.u passen, und
Vo diese Antizipation des Paradieses nicht Fuß fassen konnte wie in den wenn das nicht von Natur aus der Fallwar, so verlangte man von der Kunst,
protestantischen Ländern, blieb man ganz einfach den alten Vorbildern der Nachwelt eine bessere Form der Übcreinstimmung zu hinterlassen.
treu, entweder dem mittelalterlichen Modell des Flachgrabes mit gisant Aufgabe des Bildnisses war es, die Erfüllung der Funktion und des Amtes
oder priant oder dem frühneuzeitlichen des lVandgrabes mit Stifter und z-um Ausdruck zu bringen, während die Inschrift die Auskünfte über den
religiöser Szene oder schließlich dem ernsten priant des gallikanischen bürgerlichen Stand beizusteuern hatte.
Typus. Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an wird unser imaginäres Museum
Außer Zweifel steht, daß der priant im Zuge dieser Entwicklung mit iedoch zum Porträt-Museum. Diese Entwicklung setzt mit der Grabkunst
vielfältig variierenden Details, aber einfachem Gesamtverlauf sich seinen im Auftrag von Königen und Bischöfen ein und breitet sich immer weiter
festen Platz in einer Gefühlswelt erobert hat, die so verbreitet ist, daß man aus, bis in die Kategorien der mächtigen Lehnsherren und gebildeten Ho-
sie letztlich sogar volkstümlich nennen kann. noratioren hinein, mit Ausnahme der \Welt der kleinen Beamten und Hand-
Nach dem gisant ist d,er priant zum konvenrionellen Leitbild des Todes werker, die davon nicht erfaßt werden und sich noch lange mit den bloßen
geworden. Kleidungs- und Berufsattributen ihres gesellschaftlichen Standes zu begnü-
gen haben.
Dieses Bedürfnis nach Ahnlichkeit ist nicht zwangsläufig und unaus-
Die \X/iederkehr des Porträts. weichlich aufgetaucht. Manche entwickelten Kulturen haben es nie ver-
Totenmaske und Gedenkstatue spürt. Die Tendenz zum Porträtrealismus, wie sie das Spätmittelalter (und
die romanische Kunst) charakterisiert, ist ein originärer und bemerkens-
Das Hauptverdienst d,er priantsliegt für uns Heutige darin, daß sie hervor- werter kultureller Wesenszug, der mit dem in Zusammenhang gebracht
ragende Porträtplastiken sind. Ihr Realismus lenkt unsere Aufmerksamkeit werden muß, was wir aus Anlaß der Testamente, der makabren Bildwelt,
auf sich. \ü7ir neigen allerdings dazu, Individualisierung und Ahnlichkeit zu der leidenschaftlichen Liebe zum Leben und des Lebenswillens angemerkt
verwechseln, die doch zwei deutlich gerrennre Aspekte sind. Die Indivi- haben, denn es besteht eine direkte Beziehung zwischen Porträt und Tod,
dualisierung des Grabes tritt, wie wir gesehen haben, gegen Ende des 11. wie auch eine Beziehung zwischen makabrer Verwesungsfaszination und
Jahrhunderts bei den Großen dieser \Welt und der Kirche in Erscheinung. gesteigertem Lebenswillen besteht.
Umgekehrt sollte es ungefähr bis zum Ende des 13. Jahrhunderts - und Ich glaube ein Indiz - wenn nicht sogar einen Beweis - für diese Bezie-
definitiv bis zur Mitte des 14. - dauern, bis die Grabbildnisse zu wirklichen l.rung zwischen Porträt und Tod im Grabmonument der Königin Isabella
Porträts werden. A. Erlande-Brandenburg schreibt über die Grabplastik von Aragon zu sehen, dem Grabmal für ihren fleischlichen Leib in Cosen-
des im Jahre 1380 verstorbenen Karls V. in Saint-Denis: ,Zum ersten Mal za. Sie war seit dem Tode des Heiligen Ludwigs IX. in Tunis Königin von
- oder wenigstens eines der ersten Male - schuf ein Bildhauer einen gisant Irrankreich und kehrte mit ihrem ganzen Hofstaat und dem Kreuzfahrer-
nach einer lebenden Person. Er zögerte nicht, daraus ein wirkliches Porträt heer auf dem 'W'ege über Italien nach Frankreich zurück: ein außergewöhn-
zu machen. Bis dahin hatte es nur idealisierte Bilder gegeben." (47) liches Trauergeleit", denn man überführte den Leichnam des verstorbenen
Ein Intervall von ungefähr sechs Jahrhunderten hatte zwischen dem Ver- Königs und die anderer Fürsten. Isabella fand im Jahre 1271 in Kalabrien
schwinden des Grabes mit Bildnis und Inschrift und seinem §fliederauftau- nach einem Sturz vom Pferde, der eine Frühgeburt auslöste, den Tod. Ihr
chen im 1 1. Jahrhundert gelegen; es bedurfte weiterer drei Jahrhunderte, Gatte, Philipp der Kühne, ließ ihr am Ort ihres Todes ein \Wandgrab mit
damit das Bildnis ähnlich wurde. Früher begnügte man sich damit, die Per- priant errichten (zweifellos eines der ersten). Sie liegt - als Skulptur und
son dadurch zu identifizieren, daß man ihr die Attribute ihres Ranges in der nicht als'§V'andmalerei - auf den Knien vor der Jungfrau mit dem Kind.
idealen Ordnung der Velt mitgab; diese Attribute waren nicht nur das
Szepter und die richtende Hand des Königs oder die segnende Geste, der " Es dürfte sich hier übrigens um die erste größere Überführung dicser Art gehandelt haben.

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Ein Abguß dieses Grabmonuments findet sich im Mus€e du Trocad6ro. tWenn man im Hochmittelalter eincn l.cichnam zu transportieren hatte,
Der Besucher kann sich der §Tirkung dieses verschwollenen, durch eine nähte man ihn nicht mehr in einer, Ledersack ein. Man ließ ihn vielmehr
Vundnaht entstellten Gesichtes mit geschlossenen Augen schwerlich ent- kochen, um Fleisch und Gebeine voneinander zu trennen. Das Fleisch
ziehen. Es überrascht durchaus nicht, daß dieser Gesichtsausdruck einer wurde an Ort und Stelle beigesetzt - Gelegenheit für ein erstes Grab. Die
unmittelbar nach Eintreten des Todes abgenommenen Totenmaske zuge- Gebeine waren für die begehrteste Grabstcllc und das feierlichste Monu-
schrieben worden ist, die der Bildhauer dann kopiert hätte. lVir wissen, daß ment bestimmt, denn die ausgebleichten Knochen girlten als der edelste,
die Praxis der Abnahme von Totenmasken im 1 5. und 16. Jahrhundert ver- weil fraglos beständigste Teil des Leichnams. Ein merkwürdiger Parallelis-
breitet war. Man möchte meinen, daß sie bereits im lahre 1271 bekannt mus von Teilung des Leichnams in Fleisch, Gebeine, Herz und Eingeweide
gev/esen ist. Diese Hypothese hat mich anfangs verführt: Das Gesicht der und Teilung des Seins in Körper und Seele!
knienden jungen Frau ist das einer Toten; es wird nicht reproduziert, um Im 14. Jahrhundert war dieser Brauch so verbreitet, daß Papst Bonifatius
Angst einzuflößen wie bei den makabren Bildern, sondern um Ahnlichkeit VIII. daran Anstoß nahm und ihn untersagte; im Verlauf des Hundertjähri-
zu erzielen. gen Krieges aber wurde sein Verbot in verschiedenster \Weise Lrmgangen.
Heute wird diese Hypothese verworfen: "Es gibt aus dieser Epoche kei- Derartige Manipulationen mit Leichen und die Viederholung der Grable-
nerlei Zeugnis für eine Totenmaske. Sie tritt in der Tat erst im 1 5. Jahrhun- gung für jeden Körperteil bezeugen eine neue besorgte Anteilnahme an
dert in Erscheinung. Die Erklärung für das Rätsel dieses Antlitzes liefert diesem Körper als Sitz der Persönlichkeit. Die Abnahme von Totenmasken
das Material : Eine Ton-Ader im kalkhaltigen Tuffstein läßt auf eine Unge- scheint mir, in welche historische Ursprungsphase man sie auch verlegt, zu
schicklichkeit des Bildhauers schließen." (+8) eben dieser Reihe von Maßnahmen zu gehören und aus denselben Motiven
So weit, so gut. Aber die geschlossenen Augen? Die priants halten die gespeist zu sein: man versucht etwas aus dem Schiffbruch zu retten, was
Augen nie geschlossen. 'i(enn man also auch einräumt, daß kein direkter eine unverwesliche Individualität zum Ausdruck bringt, namentlich das
§/achs- oder Gipsabdruck vom Antlitz der Toten genommen worden ist: Gesicht als Geheimnis der eigenen Person.
ließe sich denn nicht annehmen, daß das Antlirz des Grabmals trotzdem Der Brauch der Abnahme von Grabmasken hat sich bis ins 19. Iahrhun-
eine Nachahmung ist? dert erhalten; Zeugnis davon legt Beethovens Totenmaske in den bürgerli-
\üenn die Praxis der Abnahme von Totenmasken auch noch nicht ge- chen Salons ab. \Wir haben gesehen, daß die Mumien der Grafen von Tou-
bräuchlich war' so verstand man sich doch seit langem auf den Umgang mit louse (Augustinermuseum), Terrakotta-Statuen des 16. Jahrhunderts, nach
Leichnamen, vor allem auf deren Transport über q/eite Strecken. Der älteste Totenmasken gearbeitet waren. Im 17. Jahrhundert wartete lnan dann nicht
Brauch war der, sie in Ledersäcke einzunähen wie im Tristan-Roman. Vor- mehr erst den Augenblick des Todes ab, um einer fraglosen Ahnlichkeit
her aber entfernte man Herz und Eingeweide, salbte sie mit aromatischen sicher sein zu können. Samuel Pepys berichtet vom Verdruß, den ihm ein
Essenzen und balsamierte sie ein. Es gab eine uneingestandene Beziehung Abguß seines Gesichtes bereitete, als er noch bei bester Gesundheit war und
zwischen der Erhaltung des Körpers und der des Seins: Die Leichname der an den Tod nicht einmal dachte. Die Reproduktion des Totenantlitzes war
Heiligen waren auf wunderbare W'eise unverweslich. Diese Auffassung er- zunächst das geeignetste Mittei der lebenswahren Darstellung.
laubte es, die Grabstätten und die sie kenntlich machenden sichtbaren Grä- Bei genauerer Überlegung verschlägt es für meine Beweisführung wenig,
ber um ein Vielfaches zu vermehren. Die Eingeweide Vilhelms des Erobe- ob das Antlitz Isabellas von Aragon in Cosenza die Kopie einerTotenmas-
rers ruhten in Chälus, sein Leib in der Abbaye aux Dames in Caen und sein ke ist. Man kann zugestehen, daß der Bildhauer sich vom Gesicht der Toten
Herz in der Kathedrale von Rouen. Sehr viel später hatte König Karl V. hat beeinflussen lassen. Wir haben im Zuge der vorhergehenden Anall'sen
noch drei Gräber - eines für das Herz, ein zweites für die Eingeweide, ein das \Widerstreben der mittelalterlichen Grabsteinmetzen beobachten kön-
drittes für den Leib - und sein Kronfeldherr, Bertrand du Guesclin, deren nen, den gisant alseinen Sterbenden oder gerade Gestorbenen darzustellen.
gar vier - eines für das Fleisch, eines für das Herz, eines für die Eingeweide, Umgekehrt haben die Schnitzer und Bildner von Holz- ctder\/achs-reprö-
eines für die Gebeine: das Grab mit den Gebeinen wurde der Ehren von sentations sich von der Ahnlichkeit des Toten beeinflussen lassen, um einen
Saint-Denis teilhafti g. völlig authentischen Lebenden abzubilden.

334 335

L
'Was
den Ausschlag gibt, ist die Gleichz-eitigkeit dieser unterschiedlichen 1665 in der Schlacht gefallenen Nationalheros, einer Art holländischen
Phänomene: der Beziehung zwischen dem Antlitz des Toten und dem Por- Nelsons, in der Groten Kerk in Den Haag. Das Grab von \Wilhelm dem
trät des Lebenden (Totenmasken), der großen Trauerkondukte und Lei- Schweiger ist noch dem alten fürstlichen, z.weigeschossigen Modell des
chenbegängnisse und der ersten monumentalen Gräber, die nach Art der spätmittelalterlichen "Doppeldecker"-Grabes verhaftet, mit dem einzigen
Katafalke und ihrer reprösentations erbaut werden. Unterschied, daß das obere Geschoß auf dieselbe Höhe gesenkt worden ist
Es hat sich also eine enge Beziehung zwischen Tod und Ahnlichkeit her- wie das untere, von ihm aber deutlich geschieden bleibt. Der stathouderisr
gestellt, eine Beziehung wie zwischen gisant oder priant des Grabes und zor dem Monument abgebildet (nicht darüber), nicht mehr auf den Knien
realistischem Porträt. liegend, sondern als Triumphator auf einem Thron sitzend. Diese Haltung
war bei den königlichen Souveränen zur Tradition geworden, von den Grä-
Das wachsende Bemühen um Ahnlichkeit gesellt sich dem'Wunsch nach bern Heinrichs VII. in Pisa und den Monumenten der Anjous in Neapel
Überlieferung der Biographie eines Menschen hinzu, wie sie im Epitaph über die der Medici von Michelangelo bis zu den päpstlichen Prunkgräbern
zum Ausdruck kommt. Die gedächtnisstiftende Funktion des Grabes hat von Bernini: Ihre Majestäten $r''aren von Gottes Gnaden und Gott gleich-
sich dann zum Nachteil des eschatologischen oder, wie Pano{sky sagt, »an- gestellt. Hier wird, nach einer Formulierung Panofskys, der pater patriae
tizipatorischen" Zieles durchgesetzt. Und doch waren bis ins 18. Jahrhun- gefeiert.
dert, manchen Außerlichkeiten zum totz, die heute irreführen, die beiden Die Feierlichkeit der Präsentation wird jedoch gleichsam abgeschwächt
Unsterblichkeiten - die irdische und die himmlische - zu sehr verknüpft durch die Vertrautheit des gisant. Kann man ienen alten Titel aber noch
und miteinander verflochten, a1s daß die eine die Oberhand über die andere diesem liegenden Mann verleihen? Er trägt häusliche Kleidung, ist, eher
hätte gewinnen oder sie ersetzen können. Man verlegt den Beginn der Ab- nachlässig, mit einer Mütze bekleidet, der Koller ist nur halb zugeknöpft,

spaltung dieser beiden Unsterblichkeiten häufig in die Renaissance und die Augen sind geschlossen, der Gesichtsausdruck friedlich. Man meint, er
sieht in den Gräbern der Valois zum ersten Mal ein Erinnerungsbedürfnis schliefe. Seine Hände sind weder gefaltet noch in der traditionellen Haltung
des Betenden über der Brust gekreuzt; die Arme sind seitlich ausgestreckt,
ohne religiösen Hintergedanken verkörpert. Dasselbe müßte dann für die
biographischen Basreliefs und die geschilderten \Wa{fen- und Glanztaten die Handflächen nach außen gekehrt, wie es häufig vorkommt, wenn man
gelten, die die Gräber der Päpste der Gegenreformation schmücken! In auf dem Rücken schlä{t. Einzig die Strohmatte, auf der er liegt, weist darau{
'§(irklichkeit bekräftigen diese weitschweifigen Epitaphien des 16. und 17. hin, daß er soeben gestorben ist und, nach Brauch und Herkommen, "xuf
clem Strohu ruht. Hier steht außer ZwetIel, daß der gisant mrt der Aufgabe
Jahrhunderts, die, ähnlich den steinernen Chroniken der Päpste und Köni-
ge, von den Verdiensten des Verstorbenen künden, die Gewißheit oder die
cler Gebetshaltung seine traditionelle Bedeutung eingebüßt hat. Er ist zu
Anmaßung des jenseitigen Heils eher, als daß sie sie widerlegen. cinem Toten mit freundlichem Gesicht geworden. Und das ist etwas gänz-
Erst im 18. Jahrhundert beginnt sich die Situation in dieser Hinsicht zu lich anderes.
ändcrn, und zwar zunächst bei dcnen, die man, im modernen Sinne des Das Grabmal von Admiral J. Van Wassenaer ist etwa fünfzig Jahre später
'W'ortes, die großen Dank-
Staatsdiener nennen kann, die ein Recht auf die cntstanden. Sein Autor kannte ohne Zweifel das damals berühmte Monu-
rnent \üilhelms des Schweigers. Die Gründe, aus denen er sich davon ab-
barkeit der Völker und das Gedenken der Geschichte haben. Nicht mehr
nur die Könige, sondern auch die großen Heerführer und Staatslenker. In hebt, sind also bezeichnend. Er hat iestgehalten am geflügelten Genius des
der Abtei von lüestminster läßt sich der bruchlose Ubergang vom ganz- Ruhmes, der in eine tompete bläst und in dem man den säkularisierten
heitlichen, eschatologischen und kommemorativen Grab zum nur komme- l'.ngel des Jüngsten Gerichts wiedererkennt, und ihm einen besonderen
morativen, offiziösen und bürgerlichen nachverfolgen, zum öffentlichen I'latz in der Gesamtkomposition': eingeräumt, in der kein gisantmehrvor'
Denkmal von heute. kommt: es ist also weder die Sterblichkeit des großen Mannes noch seine
\Wir wollen die Analyse dieser Entwicklung mit dem Vergleich zweier
holländischer Gräber eröffnen, dem von Vilhelm dem Schweiger ''AufanderenGrabmonumenten desl6.,lT.undl8.JahrhundcnswirddieseRollesehrviel
,,rrückhaltender vom Motiv der ägyptischen Pyramide übernommen.
(1614-1622) in der Nieuwen Kerk in Delft und dem Grab eines im Jahre

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echatologische Unsterblichkeit, die der Autor feierlich bekanntgeben will, und über dem Eingangsportal aufgestellt. In Santa Maria del Giglio ist die
sondern seine Berühmtheit. Deshalb nimmt die Statue des Admirals den Fassade sogar ganz mit Statuen der Familic Barbaro gefüllt, oben der im
gesamten Raum des Grabmals ein. lahre 1679 verstorbene hervorragende cdpitan da mar mir allen Attributen
Dieselbe Entwicklung des mittelalterlichen gisant zur großen Gedenk- seiner Macht, darunter, ebenfalls au{rechtstehend, die bürgerlichen Mit-
statue findet sich auf katholischem Boden, in Venedig, zu einer früheren glieder der Familie in Perücke und Robe.
Zert.Die ältesten Dogen-Gräber aus dem 14. und 15. Jahrhundert sind sehr Im Frankreich des 17. Jahrhunderts trennt sich die Statue vom Grabe
häufig Vandgräber im monumentalen Genre, wie sie später die Anjous in und wird zu einem Teil des Stadtbildes zum Ruhm des jeweiligen Fürsten
Neapel und die Valois in Frankreich beflügelten. Wie beim Grab des Dogen - die Statue Heinrichs IV. auf dem Pont-Neuf, die Ludwigs XIII. auf der
Marosini in Santi Giovanni e Paolo tritt der First als priant nur in Erschei- Place Royale, heute der Place des Vosges, die Ludwigs XIV' auf der Place
nung, wenn er Bestandteil einer religiösen Szene ist, die ihn mitum{aßt, des Victoires - oder in Versailles. Die Statue ist jetzt weniger für das kirch-
etwa zv Füßen eines Kalvarienberges oder als Schützling eines Heiligen. liche Grabmal als für die öffentlichen Plätze oder die Giebelseiten der staat-
Andererseits beugt er - vom 15. bis zum 18. Jahrhundert und zum [Jn- lichen Paläste und Regierungsgebäude bestimmt. Merkwürdig bleibt es,
terschied von den Valois in Saint-Denis oder den Habsburgern im Escorial daß der amerikanische Bürgersinn in \Washington der traditionellen Verbin-
- niemals das Knie, wenn er allein ist. Er ist immer - wie andere Fürsten dung von memorial (leerem Grabmal) und bürgerlichem Monument in
- entweder in majestätischer Sitzhaltung oder (und das sehr häufig) auf- stärkerem Maße treu geblieben ist.
recht stehend dargestellt.
Es setzte sich dann - vielleicht gerade in dieser italienischen Provinz - die Einer der hervorstechendsten Züge des gedächtnisstiftenden Monuments'
Idee durch, die großen Staatsmänner aufrechtstehend und die großen Heer- des Denkmals, ist das möglichst ähnliche Porträt des großen Mannes. Das
führer vorzugsweise zu Pferde abzubilden: aufrechtstehend etwa Lorenzo Monument ist zur Statue geworden. Zur selbenZeit - d. h. vom 16. bis zum
Bregno im Jahre 1500, zu Pferde Paolo Savelli im Jahre 1405, beide in ein 18. Jahrhundert - wird das Porträt, im Verein mit der Inschrift, auch zum
und derselben venezianischen Kirche I Frari. In den ältesten Fällen läßt Hauptelement des gewöhnlichen Grabes. Nicht die lebensgroße Bildsäule
man - in Venedig wie in den Niederlanden - das Grab mit dem einem natio- - ein Privileg der Elite -, sondern die Büste oder gar nur der Kopf. Die
nalen Anlaß gewidmeten Denkmal zusammenfallen: Diese Verbindung be- entscheidenden W'esenszüge der Person werden mehr und mehr im Antlitz
steht noch lange fort, etwa in 'W'estminster oder in St. Paul's Cathedral zu verdichtet, und zwar in einem Maße, daß die anderen Elemente des Körpers
London, sogär noch beim Marschall von Sachsen, der aufrechtstehend auf immer wenig-er interessieren und vernachlässigt werden: es ist nicht mehr
seinem Grabmal in Straßburg dargestellt ist. Aber die Statue ist mit dem erforderlich, sie darzustellen. Deshalb ist der priant auf den bloßen Kopf
Grabmal nur noch durch ein schwaches Band verbunden und im Begriff, reduziert.
sich ganz davon zu lösen; die kommemorative Funktion obsiegt über die Das Grab ist also eine §Uandtafel von etwa I m X 0,40 m. Es wird gebildet
eschatologische und individualisierende. Diese Entwicklung setzt in Vene- aus dem Kopf in einer Nischenhöhlung und einer Inschrift darunter, das
dig vom 14. Jahrhundert an ein, mit der Statue des Colleoni von Verrochio, alles eingeschlossen in einen mit architektonischem Zierat geschmückten
die unter freiem Himmel, auf einem öffentlichen Platz aufgestellt wird; Rahmen. Dieser so gut wie überall anzutreffende Grabtypus ist namentlich
aber dieser Fall des Colleoni bleibt selten. Es den condottierigleichzutun, in Rom verbreitet und dort besonders gut erhalten. Er verleiht den Kirchen
ging vorerst noch ein wenig zu weit. Auch die hartnäckige Tradition der der Heiligen Stadt den Reiz und die Anziehungskraft eines Porträt-Mu-
Bestattung ad sanctos und das Widerstreben, beide Funktionen zu trennen, seums, eines Museums von wunderbaren Porträts.
die kommemorative und die eschatologische, führten in Venedig zu nach- \Wenn die Kirchen im Halbschatten zu versinken beginnen' scheinen alle
gerade erstaunlichen Kompromissen, die andernorts nicht Schule machten. diese Häupter, die ohne eine bestimmte Ordnung längs der Mauern und
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts werden die Statuen oder Büsten des Pfeiler aneinandergereiht sind, sich aus ihren Nischen herauszulehnen
sichtbaren Grabes zwar draußen, im Freien aufgestellt, aber noch nicht von - wie aus einem Fenster. Das unruhige Flackerlicht der Kerzen läßt auf
der Kirche getrennt, sondern an der großen Außenfassade emporgewunden ihren Gesichtern Streifen gelblichen Lichts aufscheinen, und die {lüchtigen

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Hell-Dunkel-Kontraste heben die Gesichtszüge hervor und verleihen ih- Zurschaustellung, sei es den unterirdischcn Ttrd der Verwesung. Gleich-
nen ein regloses und verdichtetes Leben. wohl sind die äußeren Zeichen des Lcbcns 6eim priant trügerisch' Dieser
Zur selben Zeit w.ld das Antlitz anderswo durch eine eher abstrakte Beinahe-Lebende ist in \Wirklichkeit in einer feierlichen und reglosen Hal-
Identitätsangabe ersetzt, etwa durch das W'appen im katholischen Spanien tung erstarrt. Er ist zwar in die überirdischc Vclt eingetreten, steht aber den
oder im kalvinistischen Holland. Das - vertikale oder horizontale - Grab himmlischen Erscheinungen gleichgültig gegenüber, die ihn ergreifen soll-
setzt sich dann aus'§(appen und Epitaph zusammen. ten - wie sie die Gestalten Berninis und Borrominis ergriffen haben. Man
sagte vom gisant: Er lebt und lebt doch nicht. Er ist im Himmel, ohne doch
im Himmel zu sein, möchte man vom priant sagen.
Die eschatologische Bedeutung von
In \ü7i rklichkeit stehen der gi s ant wie der pr iant einem neutralen Zustand
Ruhendem und Betendem
nahe, von dem sie sich manchmal entfernen - sei es in Richtung des Todes,
Bevor wir unseren Besuch des imaginären Museums fortsetzen, halten wir des Lebens oder der Glückseligkeit. Diese Schwankungen sind interessant
einen Augenblick inne - für einen Vergleich des gisant und des priant. und hängen von Zwängen des Denkens oder der gebildeten Spiritualität,
Der priantschien uns der unsterblichen Seele näherzustehen.Der gisant jedenfalls der Schriftkultur ab und sind deshalb besser bekannt. Interessan-
war letztlich dem unverweslichen Leib wesensgleich. Gegensatz von Kör- ter aber noch und beeindruckender ist diese zentrale Zone von Neutralität,
per und Seele ? Hier liegt zweifellos der entscheidende Grund für die Duali- in der sich priantsund gisants zusammenfinden.
tät der beiden Modelle. Vir haben gleichwohl gesehen, daß der plastische In dieser ursprünglichen Neutralität muß man einen späten Aspekt der
Ausdruck dieser Dualität, v/enn auch in Übereinstimmung mit der kirchli- unvordenklich alten Einstellung zum Tode - "des gezähmten Todes" - se-
chen Lehre, gegen einen schweigenden, aber hartnäckigen Widerstand an- hen, die sich am besten im Begriff der reqties ausdrückt.
zukämpfen hatte. Mit der Zeit - und nach dem Verschwinden des glsazr Diese Ineinssetzung ist nicht evident und droht die Mißbilligung der
-hat der prianr seinen Rang als homo totus,als Einheit von Geist und Mate- Eingeweihten zu wecken. Sie muß der stummen Sprache der Bilder und
rie, übernommen, indem er seinen eigenen ausschließlich spirituellen Ur- ihrer nie explizit ausgedrückten Logik am Rande der Schriftkultur entnom-
sprung vergessen machte. Hat der priant dem gisant gegenüber immer den men werden.
Schein größerer Individualisierung gehabt ? Die Haltung des priantbrächte Der Glaube an einen neutralen Zustand, der in manchen Kulturen als
dann den Wunsch zum Ausdruck, seine biographische Originalität zu be- eher traurig (die graue Velt des Hades), in anderen als eher glücklich vorge-
kunden, während der gisant eher einer anonymeren und fatalistischeren stellt wird (die sieben schlafenden Epheser), hat also überlebt, den Vider-
Konzeption treu bliebe. Zweifellos hat sich der Typus des priant zur selben ständen oder der feindseligen Abwehr der Kleriker zum Trotz. Er hat sich
Zeit durchgesetzt wie das realistische Porträt und die Aufmerksamkeit, die in elementaren und schwer {aßbaren, nie ganz bewußten Formen erhalten
man dem Antlitz entgegenbrachte - und deshalb steht er am Ursprung des und tiefliegende und hartnäckige Verhaltensweisen motiviert, die sich
individuellen wie des Familienporträts. Auch der gisantha.r nach Ahnlich- durch Ablehnungen zum Ausdruck bringen: Ablehnung eines Dualismus
keit getrebt und sie schließlich erreicht, aber erst gegen Ende einer langen des Seins, Ablehnung des Gegensatzes von Toten und Lebenden, Ableh-
Entwicklung. Bei den gewöhnlichen Gräbern der beginnenden Neuzeit nung der völligen Gleichstellung des menschlichen Nachlebens im Jenseits
(16. Jahrhundert) wird im übrigen in beiden Fällen wenig Vert auf Ahn- und des unaussprechlichen Ruhmes der himmlischen Gestalten. Dieser
lichkeit gelegt, und sie geben sich damit zufrieden, die gesellschaftliche Glaube schien im 1 1. Jahrhundert geschwächt und durch eine orthodoxere
Stellung des Verstorbenen anzudeuten. Ilschatologie ersetzt. Er war jedoch nur verdrängt und tauchte mit den er-
lst d,er priant also aktiver, lebendiger als der gisant? Seine kniende Hal- sten sichtbaren Gräbern und mit der Figur des gisant erneur auf , der ihn mit
tung deutet das offenbar an; er scheint für einen oberflächlichen Beobach- erstaunlicher Genauigkeit in die '§V'elt der Formen übersetzte.
ter dem Leben, der augenblickshaften Lebendigkeit eines guten Porträts Dieser Glaube erhält sich bis ins Spätmittelalter, und er ist es denn auch,
näherzustehen. Umgekehrt ist der gisant mehr dem Tode verbunden, den er der die originäre Vorstellung des priant umbiegt und an der Tradition der
schließlich sogar repräsentiert - sei es den feierlichen Tod der liturgischen Ruhe und Unbewegtheit orientiert.

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So hat ein mächtiger Tiefenstrom während eines halben Jahrtausends der Aber selbst auf der ständig von den Totcngräbern umgescharrten Ober-
Grabikonographie - und der kollektiven Sensibilität- massive und erstaun- fläche im Zentrum des aitre, zwischen den großen Armengräbern, die die
lich konstante Zwdnge auf erlegt, die die Schrif tkultur nichr zum Ausdruck anonyme Hauptmasse der Toten verschlangen, fanden sich einige wenige
bringt und die sie außer acht gelassen hat - eine Vorstellung des Jenseits, die verstreute Monumente. Sicher nichts, was an die Dichte und Regelmäßig-
mit der der kirchlichen Lehre durchaus nicht genau zusammenfällt. keit der Ausstattung unserer heutigen Friedhöfe erinnerte. Es genügt ein
Diese unterirdische und doch schwer lastende Tradition verliert sich seit Blick auf das kostbare Gemälde des Mus6e Carnavalet, das den Cimetiöre
dem 17. und 18. Jahrhundert: Der dritte Teil des vorliegenden Buches wird des Innocents gegen Ende des 16. Jahrhunderts darstellt, um sich davon zu
die Wandlungen der kollektiven Sensibilität untersuchen, die einer jahrtau- überzeugen: Zwischen den verstreut liegenden Grabmonumenten stehen
sendelangen Kontinuität ein Ende setzen. Der gisant war z-u Beginn des 1 7. einige, die zur kollektiven und öffentlichen Benutzung bestimmt sind - ein
Jahrhunderts verschwunden. Der priant verschwindet seinerseits gegen Predigtstuhi, ein an die Totenleuchten von West- oder Zenrral{rankreich
Ende des 18. In den neuen Auffassungen, die einer Gelehrtensphäre ent- erinnerndes Bethaus, ein Hosianna-Kreuz als Kreuzwegstation bei der
stammen und sich dann den mündlichen Kulturen und der gemeinschaftli- Palmsonntagsprozession. \Wie die Innenwände der Kirche konnten auch
chen Sensibilität mitteilten, hat sich die sehr alte und sehr widerstandsfähi- diese kleinen Bauwerke mit Grabschmuck versehen werden: an ihren Sok-
ge Vorstellung eines neutralen Zwischenzustands .jenseits des Todes - zwi- keln waren Tafeln mit Epitaphien angebracht. Im Raum zwischen diesen
schen Leben und Himmel - verloren und ist verblaßt. Sie ist durch Glau- Bauten und dengroßen Gemeinschaftsgräbern erkennt man einige Einzel-
bensinhalte ersetzt worden, in denen man auf die von einer spontanen Sen- gräber - Platten, die auf kurzen Stützpfeilern aufruhen oder einen massiven
sibilität assimilierte Idee einer Trennung von Seele und Körper stößt: das Sockel bedecken, wie man dergleichen auch in Klöstern sieht -, und über-
Nichts für den Leib, und für die Seele ein - je nach Auffassung - unter- dies Kreuze auf direkt in den Boden gepflanzten Stelen, deren Seitenflächen
schiedliches Geschick, das Überleben in einem wohlorganisierten Jenseits, skulptiert oder graviert sind.
das irdische Überleben im Andenken oder ebenfalls das Nichts. Das ist die Diese Darstellung entspricht der Beschreibung des Cimetiöre des Inno-
gänzlich neue Vorstellungswelt vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. cents von Berthod : "Auf den Ruhestätten [. . .] bezeichnete man einf ach die
Stelle des Grabes [nicht immer: daher die freien Räume ohne Zeichen oder
Monumente] durch [1] ein Holz- oder Steinkreuz [das zuweilen unter ei-
Auf dem Friedhof : Die Grabkreuze nern kleinen Dach mit zwei Schrängen stand, wie man dergleichen noch
heute auf den Friedhöfen Mitteleuropas sieht], das ein gemaltes oder gra-
Die bisher untersuchten Gräber stammen alle oder nahezu alle aus Kir- viertes Epitaph fam Sockel] trug;[2] durch einfache Platten [d.h. manch-
chen: Man muß das Kircheninnere als Bezugspunkt wählen, um die Konti- mal aufgestockte Flach-Gräber] und durch Inschriften an den Mauern der
nuität und die Bedeutung der ikonographischen Reihen zu erfassen. Was Beinhäuser [Epitaph-\Wandtafeln]." Anderswo, und zwar in Vauvert,
vollzog sich denn nun aber auf der anderen Seite der Kirchenmauern, auf "sieht man auf dem Friefhof [. . .] mehrere Kreuze, sowohl aus Stein als
dem Friedhof ? Gab es auch da sichtbare Gräber ? '§0eniger zweifellos als in :ruch aus Holz". (a9)
der Kirche und äußerlich auch anders gestaltete; aber sie fehlten doch nicht Die neue Form, die uns auf dem Gemäide des Mus6e Carnavalet ebenso
völlig. euffällt wie in der Beschreibung von Berthod oder der von Rauni6 zitierten
Ein Teil des Friedhofs, seine innere Peripherie, war gleichsam die Fort- iiber den Friedhof von Vauvert, ist die des Kreuzes. Diese Kreuze bezeich-
setzung der Kirche, und die Grabausstattung v/ar dort die gleiche und ncten die genauen Lageplätze von Einzel- oder Gruppengräbern.
ebenso üppig. Die Außenmauern der Kirchen waren von Nischengräbern "Manche Testatareo, so A. Fleury mit Blick auf das 16. Jahrhundert,
besetzt. Die unteren Galerien der Beinhäuser waren in Kapellen aufgeteilt, "ließen auf dem Cimetiöre des Saints-lnnocents ein Kreuz errichten, und
analog den seit dem 14. Jahrhundert in den Kirchen auftauchenden Seiten- die Grabstellen ihrer Familienangehörigen sammelten sich dann in dessen
kapellen, und dienten ebenfalls zu Bestattungszwecken. Sie waren mit Epi- Umkreis." So möchte im Jahre 1557 Marie Valet beigesetzt sein ,an der
taphien und \Wandgräbern ausgekleidet, Stelle, wo ihr verstorbener Gatte gebettet und bestattet liegt, welche Stelle

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in der Nähe eincs Kreuzes liegt, das ihnen gehört und von ihnen aufbesag-
clie kleinsten beiseitelassen." Also ein Krcuz mit Säulenfuß, und an dem
tem Friedhof erbauen und au{richten Iassen q,orden ist". Henriette Gabelin
Säulenfuß ist eine Grabplatte nach Art des vertikalen §(andtypus ange-
möchte im Jahre 1558 auf dem Cimetöre des Innocenrs ihre Ruhe finden,
bracht: ,Und auf einer der Seiten fder Stele] soll die Kreuzigung, auf der
und zwar "in der Nähe eines Kreuzes, das sie dort errichten und befestigen
anderen die Jungfrau Maria mit dem Kind dargestellt sein' Und unter der
lassen hat". (50) 'Wort au{!] oder reprösentations
Kreuzigung zwei priants fhier taucht das
Es gibt haufig - und ohne offenkundige Verwandtschaft der Bestatteten zweier Bürger [man macht sich um die Ahnlichkeit dieser reprösentations
- mehrere Grabstellen im Umkreis eines Kreuzes; es kann dort auch ein nicht allzu große Sorgen; die Insignien des gesellschaftlichen Ranges ge-
ganzer Komplex von (Familien-)Kreuzen liegen. Ein Testatar des Jahres
nügten], und unter LJnserer Lieben Frau ein Mann, eine Frau und die Kin-
141 1 (51 ), eine angesehene Persönlichkeit - Generalprokurator beim Stadt-
der fwieviele Kinder ?], und sie soll mit guten EisenkramPen ganz oben am
parlament von Paris -, beschreibt auf die folgende lVeise das Grab, das er
höchsten der fünf Gräber befestigt und gut befesrigt und verankert werden,
auf dem Friedhof für seine Kinder (die zu klein \{/aren, um kirchlicher Irh-
damit sie so lange wie möglich häIt."
ren teilhaftig zu werden) und für seine Eltern errichten will, die für ihre
Aus welchen vergessenen oder verdrängten Motiven diese Kreuze auch
Beisetzung den Friedhof von Coulommiers vorgezogen hatten (er selbst
hervorgegangen sein mögen - sie dienten als topographische Bezugspunk-
möchte mit seiner Frau im Innern der Kirche bestattet werden):
te : Ein Testatar des Jahres l48O (52) erwählt sich seine Grabstelle "auf dem
"In Hinsicht darauf, daß mein Vater in seinem Testament angeordner Friedhof der Kartäuser zu Paris, zwischen den beiden Steinkreuzen, die
hatte, daß man {ür sein Grab und das seines Vaters au{ dem Friedhof von
dort stehen". Auf dem Friedhof von Vauvert waren sie im 1 7. Jahrhundert
Coulommiers zwei hohe Gräber aus Gips errichten sollte Idie Tradition der
numeriert wie die Fliesenplatten mancher Kirchen. (53) Sie waren mit Epi-
Gips-Sarkophage, wie sie im Hochmittelalter in der Ile-de-France verbrei-
taphien geschmückt: die Vorderseite der zehnten Säule zierte das Epitaph
tet war], mit schönen Kreuzen aus Gips. Nach welcher Anordnung ich drei
des im Jahre 1612 verstorbenen Advokaten Jacques Bourgeois, die Rück-
oder vier meiner Kinder [drei oder vier: er erinnert sich nicht mehr genau !]
seite eine weitläu{ige lnschrift mit der Familiengeschichte der de Fenes, und
dort habe beisetzen lassen." Vahrscheinlich hatte er es versäumt, die von z-war seit 300 Jahren. Jean de Fenes, ,ehedem Ratssekretär des Königs, des
seinem Vater geforderten Kreuze aufstellen zu lassen, denn er fährt fort:
Hauses und der Krone und seiner Finanzen, der seinen Vater und seine
"Meine Testamentsvollstrecker oder Erben [. . .] mögen dort 5 Stelen [eine Mutter überlebt hat, hat diese Inschrift zu Füßen dieses Kreuzes anbringen
große zwischen zwei kleineren Zweiergruppenl eine neben der anderen
lassen, als ewiges Zeichen seiner Liebe und seiner Achtung ihres Anden-
aufstellen lassen, alle von gleicher Länge, nrit schönen Gipskreuzen, und kens. Beter zu Gott für ihre Seelen."
das in der Mitte soll das höchste sein, und die beiden zu Seiten des mittleren
Zunächst kollektiver Bezu gspunkt, später dann zunehmend individuali-
ein wenig niedriger, und die beiden äußeren Kreuze wiederum niedriger. siert, wird das Grabkreuz zrrm entscheidenden Element des neuen Proto-
[Es scheint gar nicht sein Ziel zu sein, jedem sein Grab zuzuweisen, son- typs des im 17. und 18. Jahrhundert entworfenen Grabes. Versuchen wir
dern eine symmetrische und exakt gestufte Architektur von Kreuzen auf-
.lie Entstehung dieses Modells nachzuvollziehen.
zuführen.] Und überhaupt will ich, daß sie von ordentlicher Höhe sind, lm Mus6e Lorrain von Nancy wird ein Grabmal des 16. Jahrhunderts
etwa zweieinhalb bis drei Fuß, und daß man sie so aufstellt, daß das tW'asser
aufbewahrt, das mit Sicherheit von einem Friefhof stammt und die erste
gut ablaufen kann, wenn es regnet, so daß sie dauerhafter sind." Aber dieser phase des individuellen Grabkreuzes verkörpert. Es leitet sich vom Modell
Komplex von fünf Kreuzen reicht noch nicht aus. Sie müssen überdies ron
.les menschengroßen öffentlichen Kreuzes mit GrabsockeI her, dessen Mi-
einem großen Kreuz beherrscht werden, einem öffentlichen Kreuz., *'ie
niaturisierung es ist: das Kreuz ist ganz klein geworden und nur noch aus
man es auf den Friedhöien der Zeit häufig findet. Man muß es übrigens
dem oberen Ende der Stele herausgemeißelt, die sich ihrerseits im vertika-
eigens aus Paris herbeischafien lassen; es soll aus Holz und nicht aus Gips
len Sinne verlängert und den vom Kreuz des FriedhofstyPus eingebüßten
sein: "Ich wünsche, daß man in Paris ein schönes Kreuz aus bemaltem Holz
Rang erobert hat. Mit anderen'§f'orten: Die Stele besteht aus drei aufeinan-
machen läßt, das wie die Kreuze auf dem Cimetiöre des Saints-lnnocents
clerruhenden Teilstücken - der Spitze mit dem skulptierten Kreuz, dem
bescha{fen sein soli, und man soll ein nrittleres wählen und die größten und
Mittelstück nrit einem Flachrelief mit makabren Motiven (hier dem eines

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den Kopf in die Hand stützenden, sitzenden trans) und dem breiteren Sok- setzt werden als in unserer Haupt- und Klosterkirche oder in der Krypta
kel, auf dem der Name des Verstorbenen und eine Anrufung verzeichnet ihrer Grabkap elle lin ejus sepulchrali capella subtenane)." (54)
stehen: "Ave Maria Muttergottes". Ein Friefhofsgrab also und kein Kir- Im 17. Jahrhundert sind die Friedhöfe auf diese \W'eise von den sozialen
chengrab, aber ein schönes Steingrab, kein Armengrab. In diesem Falle Eliten aufgegeben worden - mit Ausnahme der Galerien - und den Armen
sieht das Grab wie eine Säule aus, allerdings wie eine Säule ohne horizontale zugefallen, den sans-tombeaux. Gleichwohl ist diese erkaltende Anhäng-
Bodenplatte. lichkeit durch eine Strömung in der Gegenrichtung, von der Kirche zum
Es gab einen anderen Typus, der die Eigenschaften von Flachgrab und Friedhof, kompensiert worden. Manche Honoratioren wollten auf dem
Kreuz vereinte. Ein Testament des 17. Jahrhunderts beschreibt ihn folgen- Friedhof bestattet sein, und zwar nicht aus einem gewissen taditionsbe-
dermaßen: Ein Pariser Kanoniker verzichtet darauf, in der Cit6 beigesetzt dürfnis, wie das früher der Fall gewesen sein mochte, sondern aus trotziger
zu werden, und wählt sich seine Grabstelle auf dem Friedhof von Saint- Demut. '§(i'ir kennen den Grabtypus nicht, den sie gewählt haben, denn sie
Cloud, einem Freilandfriedhof, "auf dem seine verstorbenen Eltern be- gaben vor, sich um ihre Grablegung nicht zu bekümmern, und vertrauten
stattet liegen, und auf dem ein Grab auf vier niedrigen Podesten lein Flach- sich der Umsicht ihrer Erben oder Testamentsvollstrecker an. Es läßt sich
grab] mit einem Kreuz an der Kopfseite aufgerichtet werden soll, alles so aber doch annehmen, daß ihr Grab unter freiem Himmel, wenn sie denn
bescheiden wie möglich". §(iederum also kein Armengrab, sondern das überhaupt eines hatten, bald eine von der Antike beeinflußte, noch immer
eines Reichen, der erklärten Demut zum Trotz. preziös-gesuchte Form übernahm, die eines Obelisken, einer Säule, einer
Der Typus des Grabes mit Kreuz ist also für Honoratioren entwickelt Pyramide, bald auch die einfachere eines Kreuzes aus Stein oder bemaltem
worden. Später wird es zum Grab der kleinen Leute, zum Grab des Armen, Hoiz.
wenn er denn überhaupt eines hat - eine Entwicklung, die mit der der zu- Uberdies schickte sich im 18. Jahrhundert eine neue Bevölkerungs-
nehmenden Nutzung der Freilandfriedhöfe Hand in Hand geht. schicht an, auf den Friedhöfen sichtbare Gräber zu errichten. Leute einfa-
Bis zum 16. Jahrhundert war der Friedhof, trotz einer gewissen Priorität cher Herkunft - kleine Beamte, Handwerker, Bauern - gaben sich nicht
der Kirchen, von den f,euten von Stand noch immer nicht vollständig auf- mehr damit zufrieden, nur in geweihter Erde zu ruhen' ohne Sorge um das
gegeben worden. In England wird er es sogar nie werden (Kapitel 2 und I 1). irdische Andenken, das sie der Nachwelt hinterließen. Sie erhoben ihrer-
Zunächst waren die Außenmauern der Kirche und die Galerien der Bein- seits Anspruch auf ein Grab. Die hierarchische Konzeption der Gesell-
häuser kaum weniger begehrt und teuer ais das Kircheninnere. Jeder Fried- schaft erlaubte ihnen zwar keines der Modelle der Oberschicht. Manche
hof war also an seiner inneren Peripherie mit einer Einfriedung vornehmer aber - Schuster, Schneider, Pariser Bürger - zögerten nicht im geringsten,
'Wandmonumente
gesäumt. Diese Notabeln-Gräber rückten manchmal so- die mit Inschriften verzierten li(andtafeln der Kirchen nachzuahmen.':-
gar vom Innenraum her aufs Zentrtm zu. Diese Handwerksmeister bildeten allerdings eine wirkiiche Mittelklasse,
Als im Jahre 1569 das Generalkapitel der Malteserritter sich entschloß, ein Kleinbürgertum, dessen Lebensbedingungen in den meisten Fällen an
die Klosterkirche von La Valetta auf Malta wiederaufzubauen, bestand es Wohlstand grenzten. Sie verspürten - wie die bäuerliche Elite - Lust, auf
darauf, "daß ein Raum [/oczs seu spdtium) freigehalten werden soll, der ihrem Grabe das Zeichen ihrer gesellschaftlichen Stellung darzubieten, auf
groß genug ist, um als geschlossener Friedho{ zu dienen lpro cimeterio dem ihr Selbstwert beruhte: ihr Arbeitsinstrument. So wird im Mus6e des
clauso)." Man nannte ihn dann il cimeterio del cortile. Die Ordensritter Augustins zu Toulouse ein kleines steinernes Friedho{skreuz aus dem 16.
wurden dort bis zum Jahre 1603 bestattet. Erst dann wurde er zugunsren oder 77. Jahrhundert aufbewahrt, auf dessen einer Seite ein Veberschiff-
der Kirche als Bestattungsort aufgegeben. chen dargestellt ist (auf der anderen die Jakobsmuschel der Pilger).
Man errichtete an seiner Stelle ein besonderes, den geistlichen Ubungen Im Musde Lorrain in Nancy figurieren ein Pflug und eine Egge auf der
der Ordensritter vorbehaltenes Bethaus, und in dieser Betkapelle und ihrer Grabstele eines Bauern, der seinen wirklichen Reichtum zeigen wollte. Im
Krypta wurden die Malteserritter fortan beigesetzt. Der Text des Jahres
1631 spricht nicht mehr vom cimeterium clausumvon 1569:,Keinerunse- ,f Im Mus6e de Cluny in Paris werden berrächtlich viele Beispiele derartigen Zierats aufbe-

rer Brüder soll in einer anderen Kirche ins Leichentuch gehüllt und beige- wahrt, die bis ins Spätmittelalter zurückreichen.

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18. Jahrhundert legte man im Jakobinerkloster zu Toulouse Grabplatten beklagten und eine Ringmauer forderten. Iis sind dort einfache und schöne
frei, auf denen der Name des Verstorbenen zusammen mit seiner Berufsbe- Grabstelen erhalten, die aus zwei Abschnitten bestehen, oben ein Relief-
zeichnung auftaucht: Grab von X., Kerzendreher- (oder Küfer-)Meisters, kreuz, darunter ein sehr kurzes Epitaph.
und seiner Angehörigen. Als einziger Zierat sind Kerzen und \üTerkzeuge Diese kreuzförmigen oder - häufiger - mit einem skulptierten Kreuz
abgebildet. geschmückten Stelen finden sich auf aufden alten Friedhöfen Englands und
Gleichwohl ist diese Darstellung von Berufssymbolen sehr seken, sogar des Großherzogtums Luxemburg. In Luxemburg sind auf einem alten, in
dann, wenn man sich die sehr wahrscheinliche zeitbedingte Zerstörung die- der Nähe der Kirche gelegenen Friedhof des 18. Jahrhunderts die bereits
ser schlichten Dokumente vor Augen hält. Sie ist nicht voll zum Durch- sauber gereihten Stelen erhalten die einander allesamt ähneln und an denen
bruch gekommen, und wir haben fast nichts in Händen, was den zahlrei- das Moos noch nicht alle Daten getilgt hat. Die Stele ist vertikal und massig;
chen Handwerkergestalten der gallo-romanischen Gräber ähnelte. das skulptierte Reliefkreuz an einer der Seiten wird von Palmen einge-
Die neue Kategorie der einfachen Leute, die namentlich seit dem Ende rahmt, die auf das Paradies verweisen: Nachklang des refrigerium auf dem
des 17. Jahrhunderts die Friedhöfe zu bevölkern begannen, übernahm na- Höhepunkt des Zeitalters der Aufklärung.
türlich die bereits existierenden einfacheren Typen der Grabausstattung: Im Süden Frankreichs, im Languedoc, hat man in der kleinen Kirche des
die schlichte, auf den Namen und eine fromme Anrufung reduzierte In- Dorfes Montferrand (Aube) unter dem Portikus Grabstelen des 18. Jahr-
schrift in der jeweiligen Muttersprache,in oiloder oc(Nord- oder Südfran- hunderts deponiert, die auf dem Friedhof gestanden haben müssen, und
zösisch). Sie legte von Anfang an jedoch eine Vorliebe für das Kreuz an den z-war vor seiner Neugestaltung um 1850. Diese Stelen - schmal, schlank und
Tag (das aufgestellte, in eine Stele eingravierte oder herausgemeißelte vertikal - münden in ein skulptiertes und einem Kreis einbeschriebenes
Kreuz). Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts werden diese sehr einfachen Kreuz.
Gräber immer zahlreicher: zunächst nur schmucklose Platten mit dem blo- Es mag durchaus der Fall sein, daß die berühmten baskischen Stelen ein-
ßen Namen, einer Inschrift und sehr häufig einem kleinen Kreuz. Manche fach nur eine Variante dieses Typus sind, die sich ohne Veränderung bis
davon haben sich durch Zufall erhalten, so in Poissy das linkisch gestaltete heute dort erhalten hat.
Kreuz eines "Verwalters des Herrn Königlichen Hausvorsteher5" (Mitte Ein originäres Modell des Grabes unter freiem Himmel hat sich also
des 1 7. Jahrhunderts), oder ein aus dem Jahre 1734 stammendes in Santa zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert entwickelt; es ähnelt in keiner
Maria dei Miracoli in Venedig, das oberflächlich, wie ein graffito, tn eine \fleise mehr der Grabausstattung der Kirchen und verbindet an einer verti-
kleine Steinplatte des Keramikestrichs geritzt ist. Andere haben sich in den kalen Stele ein Kreuz und eine kurze Inschrift miteinander. Dieses Modell
Klosterkirchen erhalten. \ü/ieviele aber, die die Friedhöfe geschmückt ha- war nicht das einzige, das auf den Friedhöfen des 1 7. und 1 8. Jahrhunderts
ben mögen, müssen verschwunden sein! Bei diesem ersten Grabtypus ist gebräuchlich war. Es gab andere, die aber nicht in gleicher Weise originell
das Kreuz nur ein Zeichen, das einzige Ornament der Grabplatte. waren : einfache Nachahmungen der Flachgräber oder der'§Tandtafel-Epi-
Der andere Typus ist die Stele in Kreuzform - ein kleines Kreuz, das aus r,rphien in den Kirchen.
Stein sein kann, sehr häufig aber aus Holz gewesen sein muß. Beispiele aus
Stein finden sich im Mus6e des Augustins in Toulouse. Nicht das hohe,
schlanke Kreuz auf einem Säulenfuß, sondern ein kurzes, niedriges Kreuz Der Friedhof von Marville
mit gleichlangen und dicken Armen. Die Inschrift ist sehr kurz und in die
Mitte gerückt. §flir finden diese Grabformen noch an Ort und Stelle auf einem sanft-poeti-
In Avioth (Meuse) existieren noch Teile eines alten Friedhofs neben der Friedhof , der sich seit dem Spätmittelalter wohl kaum verändert hat:
'thcn
Kirche. Er enthält eine Totenleuchte, die La Recevresse (Eintreiberin) ge- , inc ganz außergewöhnliche historische Kontinuität. Marville ist eine
nannt wird, und eine niedrige Einfriedung vom Ende des 1 8. Jahrhunderts, l.lcine Stadt im D6partement de la Meuse, die sich im Umkreis eines Schlos-
die zweifellos nur errichtet wurde, um den rWeisungen der Bischöfe Gehor- .., t cntwickelt hat, das im Spätmittelalter dem Grafen von Bar gehörte: eine

sam zu leisten, die sich über die schlechte Instandhaltung der Friedhöfe ,rcue Stadt, die neben einer sehr viel älteren Siedlung errichtet wurde, von

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der sich noch eine dem Heiligen Hilarius geweihre Kapelle erhalten hat. gewöhnlich befestigt waren, abgelöst worde n wären, um dann im Boden
Diese Siedlung ist aufgegeben worden, aber Saint-Hilaire ist weiterhin die eingelassen zu werden. Dieser Brauch war noch zu Beginn des 1 9. Jahrhun-
Pfarrkirche von Marville geblieben, und zwar bis zum Bau der Kirche derts sehr verbreitet: man begegnet ihm überall da, wo die Beisetzung auf
Saint-Nicolas im 14. Jahrhundert, und ihr Friedhof war immer der der gan- dem Friedhof die Regel war, d. h. seltener in Frankreich, sehr häufig dage-
zen Stadt. lVeil er bereits von der Stadt getrennt war- ein außergewöhnli- gen in England, im kolonialen Amerika und sogar in Mitteleuropa (wie der
cher Umstand in der alten Gesellschaft, die ihre Toten inmitten der Leben- berühmte iüdische Friedhof von Prag bezeugt).
den beisetzte -, entsprach dieser alte Gottesacker des Mittelalters durchaus Neben diesen vertikalen Stelen stößt man in Saint-Hilaire von Marville
auch den Erfordernissen zeitgenössischer Friedhofsgesetzgebung, und Mar- auf kreuzartige, mit einem ovalenZierrahmen für die Inschrift versehene
ville brauchte seinen Friedhof nicht aus dem Stadtbild zu verbairnen - eben Stelen, die an die der Ein{riedung des übrigens benachbarten Avioth erin-
deshalb ist er so gut erhalten. Darüber hinaus ist merkwürdig, daß sich auf nern, und darüber hinaus auf einen weiteren Typus, der Au{merksamkeit
halbem rWege zwischen dem Friedhof Saint-Hilaire und der eigentlichen, verdient. Er besteht aus einer vertikalen, aus der Vandtafel abgeleiteten
stark befestigten Stadt ein gotisches Bauwerk befindet, das die Kreuzigung Stele und einer horizontalen, aus dem Flachgrab abgeleiteten Platte, so als
darstellt und an dre mont-joies (Steinhaufen) erinnerr, die den Trauerkon- ob man eine §(andtafel am Kopfende eines Flachgrabes aufgestellt hätte.
dukten auf dem \i(ege von Paris nach Saint-Denis als Zwischenstationen Die Inschrift ist auf der vertikalen Stele angebracht. Die horizontale Platte
dienten. ist lediglich mit einem zwischen zwei Kerzen eingravierten Kreuz ge-
Die sehr kleine Kirche Saint-Hilaire konnte nicht allzu viele Gräber fas- schmückt (Symbolik des Lichts: die Kerze, die man dem mit dem Tode
sen; deshalb wurde die Mehrzahl der Grabstellen außerhalb der Kirche, auf Ringenden in die Hand gab oder zu Häupten des Toten brennen ließ). Diese
dem Friedhof selbst angelegt: manche Inschri{ten wurden direkt in die Au- Kombination eines vertikalen mit einem horizontalen Element kündigt das
ßenmauer eingraviert. Viele Stelen waren unrer freiem Himmel aufgestellt. im Frankreich und Italien des 19. und 20. Jahrhunderts verbreitete ge-
Manche davon stehen noch in der alten Stellung, von der lWitterung aller- wöhnliche Grab an. Es genügt, die Stele durch das freistehende Kreuz zu
dings zu sehr angegriffen, als daß sich eine überführung noch lohnte. Im ersetzen, das bisher einfach auf die Platte graviert oder skulptiert war, und
Jahre 1870 sind denn auch bereits die schönsten und besterhaltenen, die - umgekehrt - die Inschri{t von der Stele auf die Platte zu übertragen: damit
nahezu alle aus dem 17. Jahrhundert srammen, geborgen und im Schiff der erhält man das auf dem Kontinent verbreitetste Grabmodell unserer
kleinen Kirche in Sicherheit gebracht worden, das zu einem regelrechten Epoche.
'Wenn wir allerdings den Friedhof des 17., 18. und beginnenden 19. Jahr-
Museum des im Ancien R6gime verbreiteten und landläufigen Grabes ge-
worden ist, zu einem Museum, wie es mit Sicherheit nirgendwo sonst exi- hunderts aus den Resten rekonstruieren wollen, die heute noch davon er-
'W'ir wissen nämlich,
sti ert. halten sind, so fehlt uns ein Element: das Holzkreuz.
In diesen Gräbern treffen wir aber auf die genaue Nachahmung der daß, wenigstens seit dem 15. Jahrhundert, die Friedhofskreuze, selbst bei
Vandtafel-Epitaphien der Kirchen oder der Galerien der Beinhäuser: oben Gräbern hochachtbarer Leute, aus Holz waren.
die religiöse Szene (Kreuzigung - mit der Jungfrau und dem Heiligen Jo- Ein späteres Gemälde, das aus dem Jahre 1859 stammt, bietet ein realisti-
hannes, Pietä, Grablegung, Auferstehung, der den Dämon zu Boden strek- sches Bild eines Friedhof s aus der Mitte des 1 9. Jahrhunderts':' ; es gibt man-
kende Engel, die Unbefleckte Empfängnis, Darstellungen von Heiligen, che Hinweise darauf, daß es sich dabei um einen alten Friedhoi handelt
des Heiligen Johannes des Täufers und vor allem des Heiligen Nikolaus, (noch immer liegt er im Umkreis der Kirche), dessen Zustand gegen Ende
des Schutzheiligen der neuen Kirche von Marville); in derselben Höhe vor des 18. und z.u Beginn des 19. Jahrhunderts nicht sehr viel anders gewesen
der religiösen Szene kniend die priants (der Verstorbene mit seiner Gattin sein dürfte. Die Außenmauern der Kirche und die Mauern der Einfriedung
und der ganzen Familie) ; darunter die Inschrift. Wenn der Stil auch linkisch sind mit Platten eines Typs bedeckt, der heute nicht mehr erhalten ist, seit
und naiv ist, so sind die Verstorbenen doch nicht unachtbaren Standes, zu- dem 17. Jahrhundert in Holland und Deutschland aber verbreitet war: sie
mal sich manche Gerichtsbeamre darunter befinden.
Der Effekt ist seltsam: so als ob die Tafeln von der'W'and, an der sie Jules Breron: Plantation d'un calaaire (Die Errichtung
einer Schädelstätte)'

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haben die Form einer Raute, die die Inschrift einrahmt, uncl werden von Die Stiftungsgräber: Die "Tafeln"
einem kleinen Kreuz gekrönt. Diese Honoratiorengrabmäler blieben cler
alten Art der Lokalisierung treu und suclrten nicht die Nähe des genauen Auf den vorgehenden Seiten haben wir - im Zusammenhang mit den
Lageplatzes cler Grabstelle. Deshalb sind sie aufgegeben worden. Der Vandtafeln mit priants in den Kirchen wie auf den Friedhöfen - häufig das
Hauptteil des Friedhofes wird nicht mehr von den seit langem verbotenen Vort ,Tafel- (tableau) benutzt. 'W'ir müssen darauf zurückkommen, denn
Gemeinschaftsgräbern, sondern von einfachen Holz-kreuz-er-r unter kleinen und auch bezeichnendste
es bezeichnet die verbreitetste, gebräuchlichste
Dächern mit je zwei Schrägen eingenommen, wie man sie auf dem Cimeti- Grabform der gegen des Ende des Mittelalters triumphierenden neuen
öre des Innocents des i6. Jahrhunderts und heute noch in Deutschland und
Mentalität.
Mitteleuropa findet. In Frankreich sind sie im 19. Jahrhundert verschwur.r- Die Grabinschriften und -monumente, die wir bisher untersucht haben,
den und haben ihren Platz entweder auf*endigeren Monumenten oder der
gaben einem doppelten Bedürf nis Ausdruck: einmal dem \Vunsch, aufs
einfachsten Form des Holzkreuzes überhaupt abgetreten: dem Soldaten-
fenseits vorzugreifen und sich in der Haltung der Reglosigkeit und der
und Armenkreuz. Aber die Form des Kreuzes gibt hier nicht den Aus- transzendenten Ruhe dargestellt zu sehen; andererseits der Sehnsucht, im
schlag; das Modell des einfachen Armengrabes ist fortan {ixiert: das Holz-
Gedenken der Menschen weiterzuleben; im Grunde also nichts Neues in
kreuz am Kopfende eines Erdhügels. (55) cler religiösen Geschichte der abendländischen Kultur. Ich habe meinerseits
Vom 15. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich so, abseits der kirch-
lediglich die beiden Formen von Transzendenz hervorgehoben und einan-
lichen Vorbilder, ein Modell des Friedhofs entwickelt, aui dem clas Kreuz
cler entgegengesetzt, die eine gebildeten lJrsprungs, bei der Seele und Kör-
allen Raum einnahm, der für Dekor und Ikonographie vorgesehen »,ar.
per im Jenseits voneinander geschieden werden, die andere mündlich tra-
Gegen Ende des 1 8. und zu Beginn des 1 9. Jahrhunderts endgültig verbind-
<Iiert und volkstümlich verbreitet, bei der der homo totusim Frieden der
lich geworden - zu einer Zeit also, da die Friedhöfe sich mit den sichtbaren
Auferstehung harrt.
Gräbern derer füllten, die darauf bisher nie Anspruch erhoben hatten -,
Die ,Tafel" des Spätmittelalters macht deutlich, daß das dualistische
verbreitet sich das Kreuz dann und wird Allgemeingut, das bis ins 20. Jahr-
Konzept der gebildeten Kleriker sich der Mentalität der breiten Volks-
hundert sogar in sogenannten entchristianisierten Gegenden peinlich genau
schichten bemächtigt hat. §rir stoßen da erneut auf die individualistische
respektiert §/orden ist. Kein Kreuz auf seinem Grab oder dem seiner Ange-
Vorstellungswelt der Testamente, auf ihre Neigung, die Angelegenheiten
hörigen au{zustellen, ist noch heute Zeichen einer außergewöhnlichen
cles Heils und des Jenseits mit iuristischer und rechenhafter Genauigkeit zu
Heraus{orderung der Gemeinschaft der Gläubigen. Die äu{lerlich am we-
handhaben, und auf die argwöhnische vorsicht, wie sie die irdischen Dinge
nigsten religiöse Gesellschaft hält also noch an der Präsenz des Kreuzes
crfordern.
{est. Zunächst deshalb, weil es, aufgrund einer ein bis zu'ei Jahrhunderte
Man benutzte die §ü'orte Tafel und Epitaph zuweilen unterschiedslos im
währenden Assoziation, z-um Zeichen des Todes geworden ist; cin Kreuz
§inne von Grab, weil das Epitaph den größten Teil des Raumes der Tafel in
vor einem Namen bedeutet, daß die betreffende Person verschieden ist. Anspruch nahm, wenn auch das Wesen der Inschrift, wie wir sehen werden'
Dann aber auch deshalb, weii das Kreuz, das selbst bei gläubigen Christcn
in beiden Fällen durchaus nicht immer das gleiche war.
von seiner historischen christlichen Bedeutung mehr oder weniger abgelöst
Aber die Sprache der Zeir (des Spätmittelalters und der beginnenden
worden ist, dunkel als Zeichen der Hof{r.rung, als schützcndes Symbol
Neuzeit) unterschied zwischen Tafel und Grab. Die Tafel konnte eine der
empfunden wird. Man hält daran fest, ohne zu wissen warum, abcr man tut
uielfältigen Grab{ormen ein und derselben Persönlichkeit darstellen. Sie
es. Es beschw<jrt nicht die jenseitige §(e lt, s<.,ntlern et§'as anderes, Geheim-
konnte auch {ür sich allein Grab sein. Man prüfe das am Beispiel des aus
nisvolles, Tiefes, Unaussprechliches jenseits der F{elligkcit des rationalen
,lcm Jahre 14OO stammenden Testamentes von Guillaume de Chamborand,
Bewußtseins.
crnes königlichen Kämmerers. An erster Stelle steht die Grabwahl: "Er
rrrijchte seinen Leichnam beigesetzt wissen in der Eglise de la Terne, der
Kirche des Cölestinerordens der Diözese Limoges, und zwar vor dem
( .l'ror besagter Kirche, ziemlich nahe dem Hauptaltar, an der an die Außen-

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mauer grenzenden Seite"" (56) Dann spricht der Testatar von seinem Grab Ein anderes Testament aus dem Jahre 1409 bedingt sich Grab und Tafel
im eigentlichen Sinne: "Über seinem Leichnam soll ein Grab [eine Platte] wie folgt aus : ,§(i ünscht und ver{ügt, daß eine Messingtafel angefertigt und
bereitet werden [...], eineinhalb Fuß über der Erde aufgestockt und aus an einem Pfeiler oder der Kirchenmauer befestigt wird, ziemlich nahe ihrer
Stein gefertigt, auf dem seine mit seinem \Tappen geschmückte reprösenta- vorgesehenen Grabstelle [die gieiche suche nach Nachbarschafr von Grab
tion ruht [d. h. ein gisant). Und auf und um besagtes Grab soll geschrieben und Tafel wie eben], und besagte Tafel soll ihren Hingang und den ihres
stehen sein Name, sein Titel und Tag und Jahr seines Hingangs." Schwiegersohnes und ihrer Tochrer vermelden.« Yierzig Pariser Sous sind
Der so auf einem Sockel liegende gisantbilder das untere Stockwerk ei- für die Ausführung vorgesehen. Dann wird das Grab folgendermaßen be-
nes in der Nähe der Mauer befindlichen Nischengrabes : schrieben: ,Für die Grabstelle soll angefertigt und bereitet werden ein
"Und über diesem
Grabe soll ein Bildnis LJnserer Lieben Frau an die Vand gemalt sein, wel- steingrab [d. h. steinplatte], auf dem drei reprösentations eingraviert und
ches Bildnis schön und mit Sorgfalt gearbeitet sein soll, wie sie Unseren drei personen dargestellt sind, die ihre, die ihres besagten schwiegersohnes
Herrn als Kind in den Armen hält. Und vor diesem Bildnis, an der rVand und die ihrer genannten Tochter.. (58) Ein Grab mit priants ebenfalls
^lso,
über dem Grabe, soll als Gemälde eine reprösentation seiner Person ange- ein §flandgrab, aber von der Stiftungstafel deutlich unterschieden.
bracht werden, bei der er, mit seinem Vappen geschmückt, mit gefalteten Zwei Jahrhunderte später, zu Beginn des 17. Jahrhunder* (1622159)),
Händen auf den Knien liegt. Und vor ihm sollen stehen der Heilige Johan- begegnen wir denselben unverändert vorgebrachten'§ü'ünschen und Bräu-
nes der Täufer und der Heilige Wilhelm." (57) Man erkennt den oben un- chen, wie die folgende ,Erlaubnis der Kirchenvorsreher der Kirche Saint-
tersuchten Typus des zweigeschossigen Grabes wieder - unten ein gisant, Jean-en-Gröve" {ür die W'itwe eines "königlichen Haus- und
Vundarztes"
oben ein priant mit einer religiösen Szene und seinen Schutzheiligen als illustriert - die Erlaubnis, ,5ish ein Epitaph an dem Pfeiler befestigen zu
'§flitwe steht der aus sie der
Fürsprechern. lassen, an dessen Fuß die Bank besagter fvon
Zweifellos ein schönes und durchaus vollständiges Grab. Es hat dem Messe beiwohnte), oder vor dem Grab, wo besagter Verstorbener beige-
Erblasser jedoch noch immer nicht genügt. Er bedingt sich ein zweites setzt worden ist, und darauf gravieren oder verzeichnen zu lassen, was ihr
Grabmonument aus, das er aber nicht mehr Grab nennt, sondern Tafel : zum Gedenken des Verstorbenen angemessen scheinto, unl;i[s7d'ies "iber
besagtem Grab eine Platte anbringen zu lassen. In diese Platte kann sie die
"Item, ich wünsche und verfüge, daß eine Kupfertafel angefertigt wird, auf
der der Name, der Zuname, der Titel besagten Testatars, Jahr und Tag sei- Gestalt eines Mannes und einer Frau eingravieren lassen, und darüber eben-
nes Hingangs [aber weder Alter noch Geburtsdatum] und die Messe ver- {alls eine Inschri{t." Nach der Beschreibung handelt es sich also noch um
zeichnet sein sollen, die immerwährend für seine Seele und die seiner ver- ein Flachgrab mit eingravierten gisants. Der Verstorbene hat also ein An-
storbenen Eltern, Freunde, Angehörigen [die Freunde werden den Ange- recht auf eine wandtafel und ein Flachgrab in ein und derselben Kirche.
hörigen gleichgestellt!] und lVohltäter in besagter Kirche geiesen werden Manche Testatare hingen mehr an ihren Tafeln als an ihren Gräbern:
soll. " Dieser immerwährende Gottesdienst soll aus den Erträgen eines dem ,Und bedingt sich aus, daß nach dieser Stiftung und Ver{ügung eine Tafel
Kirchenvorstand gestifteten Kapitals bezahlt werden: "Und soll diese Tafel ange{ertigt wird, die in besagter Kapelle mit einer Eisenkette befestigt wer-
an der Kirchenmauer über besagtem Grab angebracht werden, zu Füßen den soll." (60) Denn die Aufzeichnung der Testamentsauszüge in Stein oder
genannten Bildnisses LJnserer Lieben Frau und seiner rep rösentationlseines Metall garantierte die Öffentlichkeit der Stiftungen, deren Erträge die re-
Porträts als priantl, die als §(andmalerei über besagtem Grabe ausgeführi gelmäßige Abhaltung der Gottesdienste für die Ruhe der Seele sicherstell-
sein sollen, wie oben verfügt.. ten. Die Geistlichen und Kirchenvorsrände hätten sie ja vernachlässigen
Die Tafel wird also vom Grabe unterschieden; sie ist im allgemeinen von können! Diese in dauerhaftem Material verewigten Texte, die manchmal
ihm getrennt und auch räumlich ent{ernt, obwohl der Testatar hier beide sogar noch Namen und Adresse des an der Verordnung beteiligten Notars
Elemente an ein und derselben Stelle vereint hat.'t verzeichneten, führten allen Betroffenen ihre Verpflichtungen vor Augen'

" Ein Tesratar aus derselben Epoche, Priester, Kanoniker zu Reims und königlicher Sekretär, fertafel, auf der verzeichnet steht, was seine Testamentsvollstrecker verfügen", d. h. die Einzel-
verlangt "ein schönes und ansehnliches Grab [. . .] und eine an der Kirchenmauer be{estigte Kup- heiten seiner Stiftung.

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Ziel des Grabde nkmals §/ar es also nicht, das Gedenken der Nachwelt im Brot und die anderen zur Feier besagter Hohcn Mcsse erforderlichen I)inge
allgemeinen wachzurufen - wie es die oben analysierten biographischen bereitgestellt werden.,. (61 )
Inschriften tun sollten. Es richtete sich vielmehr an die kleine, tendenziell Als Gegenleistung erlegt er dem Direktor dieses Hauses die Verpflich-
ewige Gruppe derer, die mir der Abhaltung der Gottesdiensre betraut und tung auf, "zum ewigen Andenken an besagte Stiftung auf Kosten genannter
der Pflichtversäumnis verdächtig waren. Manche Testatare waren der Arg- Erben ein Marmorepitaph [anfertigen zu lassen], und zwar am dafür geeig-
list fähig, ihre eigenen Erben für die uberwachung der Seelsorger, Kirchei- netsten Orte". Ferner wünscht er, daß in Neuf-Moustier-en-Brie, einem
vorsteher und Geistlichen der mildtätigen Institurionen und Kirchen ein- anderen Ort, dem ebenfalls ein Legat zufließt, "zum Andenken an besagte
zuspannen, die sie bedacht harten, indem sie ihnen die Erlaubnis erreilten, Stiftung von besagten IKirchenvorstehern] in besagter Kirche ein Marmor-
die Legate wiedereinzutreiben, wenn die damit verbundenen Auflagen epitaph auf gestellt wird". Das "Andenken", das es zu verewigen gilt, ist das
nicht erfüllt werden sollten. der "Stiftung" und nicht das eines Menschen oder seines Lebens."
Die stiftungstafel ist also eine verlängerung des Testamenrs, ein öffent- Die meisten Stiftungen fließen Hospitälern zu; aber auch Aufwendun-
lich genutztes Mirtel zur sicheren Gewährleistung seiner Forderungen. gen für Schulen sind nicht atrßergewöhnlich: Katechismusschulen (vgt. die
Deshalb begnügten sich die Tesratare nicht immer - wie in den ,orheige- Fußnote), Grundschulen und Gymnasiastenstipendien, wie die folgende
henden Fälien - mit einer einzigen Tafel in der Nähe ihrer Grabsteil., .or- Taf el aus dem Jahre 1556 ausweist, die in Saint-Maclou zu Pontoise noch an
dern zogen es vor, sie anzahl zu vermehren und an jeder Stelle eine anzu- Ort und Stelle erhalten ist: "Der ehrwürdige Herr und Meister Renault
bringen, der eine ansehnliche stiftung zugedacht war. Dieser Brauch war Barbier, zu seinen Lebzeiten Priester und Prior zu Anvers und apostoli-
im 16. und 17. Jahrhundert sehr verbreitet. scher Nuntius zu Pontoise, hat dem hiesigen Gymnasium 32 Livres, 10
Ein Testament des 17. Jahrhunderts macht deutlich, in welchem Maße Sous und 5 Deniers [Heller] jährlicher Rente vermacht, mit der Auflage,
die öffentlichkeit der Stiftungen in der ökonomie der Tafeln über die daß die Leiter besagten Gymnasiums verpflichtet sind, in besagtes Gymna-
transzendentalen und kommermorativen 'werte des Grabes mit gisant, sium 4 Zöglinge der Pfarrgemeinde Anvers aufzunehmen und für sie den
priant oder lobpreisendem Epitaph die Oberhand behielt. Klassenlehrern das Monatsgeld zu zahlen, und jedes Jahr in besagtem
Im Jahre 1611 sieht Claude Evrard, Lehnsherr von Moustier-en-Brie, Gymnasium eine Hohe Requiem-Messe zu seinem Heil am 16. April le-
davon ab, seinem Tesramenrsvollstrecker irgendeine bindende Regelung sen und am Vorabend des Festes der Jungfrau Maria von den Zöglingen
für seine Grablegung zu hinterlassen, ausgenommen die, daß ,ie besagten Gymnasiums unter Leitung eines Klassenlehrers um 11 Uhr mor-
"in de.
Kirche Saint-Michel stattfinden soll, in der sein Vater, der verstorbene gens ein Schlußgebet mir De prot'undis in Jer Kapelle der Bruderschaft der
Lehnsherr, beigesetzt und bestattet worden ist". g1 bedingt sich keine be- Geistlichen singen zu lassen, ebenfalls zu seinem Heil, wie es im Testament
sondere Stelle, keinen speziellen Grabtypus aus. »Er verrraut sie an und besagten Barbiers festgelegt und notariell beglaubigt ist [.. .], zu Pontoise,
stellt sie in das Belieben und Ermessen seines Testamentsvollstreckers" .rm 18. März 1596. Requiescat in pace.-
- eine Formel, die zu dieser Zeit Gleichgültigkeit bezeugt. Umgekehrt äu- Manche Testatare ersparen sich - aus ökonomischen Gründen oder aus
ßert er sich detailliert zu den frommen Legaten und den dafür zu erwarten- christlicher Demut - die Kosten für eine Stiftungstafel aus Erz oder Mar-
den Gegenleistungen. Das ersre bedeutsame Legat gilt dem Spital Saint-
Louis : "Sie sollen [nämlich der Leiter und der Direktor des Spitalsl immer- 'Hier ein anderes Beispiel für die zahlcnmäßige Vermehrung cler Stiftungstafcln aus dem
'1667.
während dafür Sorge zu rragen haben, daß in der Kapelle besagten Ortes .lahre Die Erblasserin ist in der Kirche Saint-Mdd6ric beigesetzt. Sie bcdingt sich die Stif-
rung eincr kleinen, in erstcr Linie fiir den Krtechismusunterricht bestimmten Schule in Puteaux
wöchentlich und an geeignetem orte eine stille Requiem-Messe gelesen aus: .lch r'ünsche, daß besagte Sti{tung auf einer Marmortafel verzeichner wird, die in der Kir-
und zelebriert wird, an deren Ende ein De profundis und die herkömmli- .he besagten Ortes auf Kosten meiner Uni'crsalerbin aufgestellt s'erdcn und derähneln soil, die
chen Gebete gesprochen werden sollen [. . .]. Und jährlich soll am Todesta- sich in der Kapelle der meinem Haus in Puteaux zugehörigen Kirche befindet." Andererseirs
ge besagten Testatars eine Hohe Requiem-Messe mit lautem Gesang zele- *trmacht sie dem Hospital eine Stifrung, "und soll besagte Stiftung [...] rn e'inc'm Ort, der von
,len Herren Vcrwaltern gutgeheißen und bestimmt werden mägc, auf ciner Kupfer' oder Mar-
briert werden, mit Laudes, Vigilien und Fürbitten, und es sollen ,o., ge-
t ., verzeichnet werdcn.. (62) Das macht, alles in allem, bei dieser F-rblasserin drei Tafeln
nanntem Leiter und Direktor schmuck, Kerzen- und Fackelbeleuchtung, l:::

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mor. Sie ersetzen sie dann durch eine andere, wenn auch gefährdetere Form Die Seelengräber
der öffentlichen Darbietung. So vermacht ein lü(/'inzer aus Montreuil im
Jahre 1628 seiner Pfarrkirche die Summe von 4OO Livres, "mit der Ver- Die Bedeutung, die der Stiftungstafel vom 16. und bis zum 18. Jahrhundert
pflichtung, daß besagter Testatar in die Gebete eingeschlossen wird, die in zugemessen wurde, s/ar so groß, daß sie häufig die Stelle des Grabes ein-
besagter Kirche gesprochen werden Idie Verkündigungen bei der sonntägli- nrü- und mit ihm zusammenfiel. Es entstand so ein sehr verbreiteter Tv-
chen Hauptmesse], und auch unter der Bedingung, daß, wenn besagte sechs pus von \Wandgrab, das die charakteristischen Merkmale von Epitaph mit
Messen gelesen werden fan Allerheiligen, lVeihnachten, Maria Lichtmeß, priant und religiöser szene und stiftungstafel in einem einzigen kleinen
Ostern, Pfingsten und am Tage Unserer Barmherzigen Frau], besagte Kir- Denkmal zusammenfaßte. Es wird oben von einer schmalen eingravierten
chenvorsteher gehalten sein sollen, sie in die Verkündigungen besagter Kir- Bandleiste gesäumt, auf der die priants vor einer religiösen Szene knien
che aufzunehmen". (63) - übrigens in sehr schematischer Darstellung, denn diese Komposition ist
Die Kirche wurde zur Buchführung über die Gottesdienste genötigc, zu nicht das wesenrliche. Die Inschrift darunter nimmt dann nahezu den gan-
deren immerwährender Abhaltung sie sich verpflichtet hatte. Ein Testatar zen resrlichen Raum ein. Sie besteht aus zwei Abschnitten. Der eine, sehr
des Jahres 1416 ging so weit zu verlangen,
"daß das immarteloyge besagter
kurz, ist das ci-git,die trockene Identitätsangabe der Person ohne biogra-
Klosterkirche pour souaendnce lzur Erinnerung] verzeichnet wird." (64) phische oder hagiographische Details; der andere, sehr lang, beschreibt die
^Stiftung,
Die Aufstellung einer Tafel war - wie die Aushebung des Grabes - Ge- den Betrag, die dafür beanspruchten Gottesdienste und verzeich-
genstand eines notariell beglaubigten Vertrages zwischen dem Testatar oder net häuiig auch den Namen des Notars.
seinem Testamentsvollstrecker und den Kirchenvorstehern. Ein Beispiel Diese kleinen Denkmäler müssen in Frankreich vonr 16. bis zur Mitte
dafür aus dem Jahre 1616: "Pierre Vieillard, Königlicher Rat, Präsident und des ig, Jahrhunderts zahlenmäßig sehr verbreitet gewesen sein. Trotz der
Generalschatzmeister von Frankreich im Finanzamt zu Soissons, Univer- wechselvollen Schicksale unserer Kirchen vom 18. Jahrhundert bis heute
salerbe seines Onkels Nicolas Vieillard, zu seinen Lebzeiten ebenfalls Prä- und trotz des geringen Inreresses, das ihnen Priester, Architekten, Archäo-
sident und Generalschatzmeister von Frankreich zu Soissons, erhält von logen und sogar Historiker enrgegengebracht haben, haben sich doch ge-
den Kirchenvorstehern der Kirche Saint-Jean-en-Gröve die Erlaubnis, zum nug e.halte.r, um eine vorstellung davon zu vermitteln, wie die mit diesen
immerwährenden Andenken des Verstorbenen Iund nicht nur der Stiftung: Tafeln ge.adezu verkleideten P{eiler und Mauern ausgesehen haben mögen
die beiden Motive der Kommemoration und der erlösenden Sündentilgung - verkleidet fast so, wie heute die li(allfahrtssanktuare mit votivbildern,
fallen hier zusammen] an einem Platz in der Kapelle Saint-Claude besagter mit Exvotos. (66)
Kirche, an der Südseite [immer die begehrteste Seite], vor und gegenüber Bald liegt das Hauptgewicht auf dem ci-git,bald auf dem stiftungsnach-
dem Altar besagter Kapelle [eine Platte] aufstellen zu lassen, auf der die weis. Hier isr die Reihe derpriantssehr deutlich herausgearbeitet, dort wird
Inschrift über besagte Stiftung des Verstorbenen zugunsten der Katechis- sie vernachlässigt. Das allgemeine Darstellungsver{ahren bleibt iedoch das-
\üunsch zum Ausdruck, die für das eigene
musschule besagter Kirche Saint-Jean verzeichnet steht [wie die oben zi- selbe und bringt den beständigen
tierte Gymnasiumsstiftung eine Stiftung der Gegenreformation mit seel- Seelenheil getrof{enen Verfügungen zu perpetuieren.
sorgerischem Zweck), und dies alles gemäß und in Ubereinstimmung mit .Wi. *er.den auf diesen Tafeln einer Mentalität gewahr, die sich sowohl
dem Vertrag, der zwischen den Amtsvorgängern besagter Kirchenvorste- von der archaischen der gisants und priants als auch von unserer heutigen
her einerseits und besagtem Herrn Vieillard andererseits um besagter Stif- deutlich unterscheidet: es ist dieselbe, die sich auch in den Testamenten
tung willen geschlossen worden ist vor M' . . .lMaitre ; der Name des No- niederschlägt. Sie bilden einen neuen Grabtypus, den ich tombeau d'äm'e
tars ist offengelassen]." (65) (Seelengrab) nennen möchte; dafür hier einige Beispiele'
Das erste stammt aus dem Jahre 1392 und ist dem Repertorium von
Gaigniöres entnommen. (67) "Unter dieser Marmorplatte ruht der verstor-
bene Meister Nicholas de Plancv, zu seinen Lebzeiten Herr von [' ' ], ver-
storben im Jahre 1392 [ein sehr knappes ci-git), der zusammen mit seiner

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Frau diese Kapelle von CIIX l. Rente gestiitet hat, die umgesetzt und für in Saint-Maclou zu Pontoise noch an ()rt und Stelle z-u besichtigen und
den Unterhalt der Kanoniker und Kapläne aufgewendet werden soll, damit bietet im oberen Abschnitt eine zwischcn den beiden Verstorbenen eingra-
jeden Tag eine Messe gelesen wird, und zwar unmittelbar nach der \Wegnah- vierte Pietä; die beiden Knienden, Mann und frrau, werden jeweils von
me des Leibes Unseres Herrn Jesu Christi bei der Hauptmesse dieser Kir- ihrem hinter ihnen stehenden Schutzheiligen vorgestellt, der ihnen die
che [Zeichen der gleichsam magischen Andacht beim Anblick des Corpus Hand auf die Schulter legt.
Christi im Augenblick der Erhebung der Hostiel und damit besagte feier- "Hier ruhen der verstorbene Pierre de Moulins, zu seinen Lebzeiten kö-
liche Messen jedes Jahr gelesen werden: an Mariae Verkündigung, an den niglicher Abgeordneter von Pontoise, und seine Frau Martine Lataille, wel-
beiden Tagen des Heiligen Nikolaus und der Heiligen Katharina und an che die Stiftung gemacht haben, daß in dieser Kirche Saint-Maclou z-u Pon-
Mariae Empfängnis." toise jede lü7oche zwei stille Messen am Altar lJnserer Lieben Frau gelesen
In der Kirche von Cergy-sur-Oise findet sich eine \Wandtafel aus dem und zelebriert werden sollen, zur Stunde [. . .] oder wenigstens ungefähr,
Jahre 1404. Oben der Abschnitt des priant: der Heilige Christoph, der zum Heil ihrer Seelen, die eine dienstags, die andere donnerstags, mit Vigi-
Schutzpatron der Kirche, und vor ihm auf den Knien der Verstorbene in lien, IX Psalmen und Lektionen. Einmal im Jahr soll jede dieser Vigilien am
\(affen. Der ganze Rest bleibt der Inschrift vorbehalten: "Hier ruht der ersten Sonntag der XII Monate gelesen werden. Alle diese Vigilien und
Edle Pierre Gossart, zu seinen Lebzeiten Junker und Herr von f)ammartin, Messen ist der Vorstand dieser Kirche verpflichtet, zu . . ." In derselben Kir-
der dem Kirchenvorstand dieser Kirche die Summe von 60 Pariser Sous che von Pontoise hat sich ein anderes cl-gir aus dem Jahre 1 550 erhalten : das
jährlicher Rente auf ein in Pontoise gelegenes Haus hinterlassen hat, das von Nicolas Lefebre und seiner Frau. Dem Kirchenvorstand wird eine
Roger de Quos verwaltet und [hier die vollständige Adresse!] das an der Viese gestiftet, mit der ,\uflage, "in dieser Kirche an jedem Freitag der
Ecke der Rue de Martre liegt und au{ der einen Seite an das des Drechslers Quatemberfasten immerwährend {ür die Seelen besagter Verstorbenen und
Robin grenzt, des Nachbarn der Erben von Richard de Quos, auf der ande- die ihrer Freunde [d. h. nahe oder entfernte Verwandte, Freunde, die immer
ren an königliches Eigentum [diese Adresse des 1 5. Jahrhunderts hat bereits mehr oder weniger verschwägert sind] Vigilien und Requiem-Messen lesen
die Genauigkeit und Eindeutigkeit einer englischen oder Londoner An- zu lassen.. Dann die Mahnung an die Pflicht, die erforderlichen Gegen-
schrift von heute], den Geistlichen und Altesten des Kirchenvorstandes stände bereitzustellen und "für das Bahrtuch [man sagt spärer atch reprö-
von Saint-Christoph zu Cergy. Vorausgesetzt, daß der hiesige Geistliche sentdtion; es handelt sich jedenfalls um den Katafaik anstelle des Leich-
jedes Jahr an dem Tage, da besagter Verstorbener aus dem Leben geschieden nams] auf den Gräbern" während des Gottesdienstes zu sorgen. Folgt die
ist, verpflichtet wird, eine Hohe Messe und Vigilien mit IX Psalmen und IX Verteilung von Spenden an den Klerus, die Verfügung hinsichtlich des Ge-
Lesungen fvon Bußpsalmen] zu halten und zu zelebrieren, mit Diakon und läuts und das Verbot, die Stiftung zu anderen Zwecken zu entfremden.
Subdiakon, und zugleich soll der Geistliche gehalten sein, an jedem Mitt- Die Handwerker blieben an Freizügigkeit und öffentlicher Bekanntgabe
woch der Quatember-Fasten eine Hohe Messen mit Diakon und Subdia- nichts schuldig. Die Epitaphiensammlungen zu Paris äußern sich mit der
kon, mit Totenvigilien mit IX Psalmen und IX Lektionen zu lesen und zu folgenden Tafel aus dem Jahre 1564 (68) so: "Hier ruht der ehrenwerte
zelebrieren, und zu diesem Zweck und zur Aufrechterhaltung besagten Jacques de la Barre, zu seinen Lebzeiten Schneidermeister und Bürger von
Gottesdienstes soll der Geistliche von jenen LX s. p. lsous parisis) die Paris, der am XXII. Oktober des lahres MDLXIV verschied und der Bru-
Summe von XL s. p. erhalten, ausgezahlt von besagten Kirchenvorstehern, derschaft vom Heiligen Abendmahl am Altar der Kirche S. Benoit le Bien
und die von den LX s. p. verbleibenden XX s. p. hat der besagte Verstorbe- 'Iourn6 zu Paris 5 Livres jährlicher Rente auf ein in der Citd von Paris
ne dem Vorstand für Bücher, Schmuck und Kerzenbeleuchtung hinterlas- gelegenes Haus hinterlassen hat, an dem als Erkennungszeichen die golde-
sen, um jenen Gottesdienst abzuhalten und die besagten LX s. p. Rente ne Rattenfalle hängt, mit der Verpflichtung, daß die Vorsteher dieser Bru-
einzuziehen [die Beitreibungskosten]. Velcher Herr verschieden ist am 9. derschaft gehalten sind, an dem Tage, da der Testatar verscheidet, oder an
April 1404, zwei Tage nach Ostern." Die juristische Präzision des Textes anderen passenden Tagen eine Hohe Requiem-Messe mit Diakonen, Sub-
verdient Bewunderung. diakonen und Chorrockträgern, mit Vigilien und Fürbitten am Schluß und
Die folgende Tafel aus dem Jahre 1 458 ähnelt der vorhergehenden. Sie ist crnem Libera und einem De prot'undis lesen und zelebrieren zu lassen..

360 361
Nichts verändert sich in dieser Hinsicht im 17. Jahrhundert; eine wie- der Sti{ter nun auch wirklich hier bestattct Iiegt oder nicht. Oben das §7ap-
derum in Saint-Maclou zu Pontoise angebrachte Zierleiste aus dem Jahre pen und eine fromme Anrufung: "Zum Angedenken der fünf \üunden
1674 trägt die folgende Inschrift: "Der ehrenwerte Antoine, Bürger von NSJC fUnseres Herrn Jesu Christi]." \XIeder priantnoch Bildnis. Dann der
Pontoise, dessen Leichnam in dieser Kapelle ruht, und zwar aufgrund der biographische Abriß: "Claude Le Page, Truchseß, Herr und Eigentümer
Verehrung, die er immer dem Sehr Heiligen Abendmahl entgegengebracht der Kapelle, früherer Vorsteher des königlichen Reitstalles, Mundschenk
hat, hat der Kirche von Saint-Maclou zu Pontoise XII Schlußgebete vom des Königs, früherer Kammerherr des verstorbenen Monsieur, des einzi-
Heiligen Abendmahl gestiftet, die immerwährend am ersten Donnerstag gen Bruders seiner Majestät Ludwigs XIV., dem er zweiunddreißig Jahre
eines jeden Monats mit Ausstellung des Heiligen Abendmahls [eine Fröm- gedient hat bis zu seinem Ableben, um dann den gleichen Dienst bei seinem
migkeitsgeste der Gegenreformation] und 10 Kerzen von weißem Wachs Sohn, dem Herzog von Orl6ans, aufzunehmen [hier taucht der Lebens-
auf dem Altar gelesen werden sollen. Es sollen ein O Salutaris, die Vespern abriß wieder auf, der auf den Stiftungstafeln sonst eher fehlt], hat eine im-
des Heiligen Abendmahls, das Gebet E xaudiat, der Yers Fiat mdnus tua, die merwährende Messe [hier endlich die Stiftung] für die Ruhe seiner Seele
Gebete für den König, Ecce Panis, Bone Pastor, Qui cuncta\nd Aae oerum und die seiner Verwandten und Freunde gestiftet, die an jedem sechsten Tag
corpus lkein Tantum ergo i] gelesen und der Segen erteilt werden, dann das jeden Monats in der Kapelle Saint-Jean gelesen werden soll - eine davon
Libera und das De profandis am Grabe, über dem die reprösentation der soll eine Hohe Messe sein, am Tag des Heiligen Klaudius fseines Schutzhei-
Toten stehen soll [ein mit dem Bahrtuch bedeckter Katafalk], beleuchtet ligenl -, bei der fünf Arme und ein Kind zugegensein sollen, um bei besag-
von vier Kerzen aus weißem rWachs. Jedes Schlußgebet soll bei den Verkün- ten Messen zu respondieren [wir haben bereits im Zusammenhang mit den
digungen des vorhergehenden Sonntags angekündigt werden, es sollen die '§(/illenserklärungen der Testamente gesehen,
daß die Präsenz von Armen
großen Glocken und das Glockenspiel geläutet werden, und das alles im beim Geleit häufig gefordert wurde; bemerkenswert ist, daß diese Forde-
schönsten roten Schmuck, mittels der Summe von 2000 Livres gemäß dem rung sogar da noch weiterbesteht, wo sich andere traditionelle Details ver-
Vertrag vor den Notaren J. F. und H. D. in besagtem Pontoise am 13. März flüchtigen], denen die Kirchenvorstände jedem fünf Heller auszuhändigen
1674.,, haben, von denen sie einen als Opfergabe darbringen müssen. Das alles ist
Eine andere, ebenfalls in Pontoise befindliche Tafel beginnt mit den Na- gebilligt worden von den Herren Geistlichen, amtierenden Kirchenvor-
men der Notare, so als ob sie die letztlich wichtigsten Personen wären. ständen und Altesten der Pfarre St. Germain in Andresy und wird ausführ-
"Durch einen weiteren Vertrag, der vor den Notaren C. L. und B. F. am 4. licher erläutert in dem am 27 . Januar vor den Herren Bailly und Desfforges,
Januar 1681 geschlossen worden ist, ist in besagter Kirche für die Ruhe der Notaren am Chätelet von Paris, geschiossenen Vertrag. Dieses Epitaph ist
Seele des besagten Verstorbenen vom gnädigen Herrn Ritter Pierre du auf Betreiben des Stifters errichtet worden, der am 24. Januar 1704 neun-
Monthiers, Herrn von S. Martin, Präsident des Amtsgerichts von Pontoise, undsiebzig Jahre alt ist", wenige Monate später fügte man hinzu:,und
zusammen mit Marie Seigneur, seiner Gattin, und Martin Seigneur, Rat verstorben am 24. Dezember des gleichen Jahres" ! Der Stifter hatte sein
und königlicher Sekretär, Sohn der besagten Verstorbenen, ein vollständi- Epitaph also zu seinen Lebzeiten errichten lassen.
ger Gottesdienst von drei Hohen Messen gestiftet worden usw. . . . Alles Eine andere, aus dem Jahre 1722 stammende Tafel in der Kathedrale zu
Erforderliche soll von den Herren Geistlichen und Kirchenvorstehern be- Toulouse macht ebenso nicht die geringste Andeutung auf den Ort der
reitgestellt werden, mittels der Summe von 360 Livres, gemäß obenerwähn- Grablegung, und es ist schwer, in diesem immer häufigeren und verbreite-
tem Kontrakt. Betet zu Gott {ür seine Seele." teren Schweigen anderes als Gleichgültigkeit zu erkennen. Die philanthro-
Die Tafeln vom Anfang des 18. Jahrhunderts orientieren sich noch im- pische Absicht hat die Tendenz, sich über die Sündentilgung hinwegzuset-
mer am selben Modell. Gleichwohl läßt sich eine gewisse Trockenheit und zen. »Der gnädige Herr Jean de Cabrerolle de Villespan, Parlamentsrat und
Indifferenz hinsichtiich der Grabstelle selbst feststelien; man weiß nicht Propst der Kirche von Toulouse, hat eine immerwährende Totenmesse ge-
einmal mehr, wo sie gelegen ist, und die Absolutionen werden vollständig stiftet [früher sagte man: eine Requiem-Messe, denn es gab nur ein eToten-
fallengelassen. Aus der folgenden Tafel des Jahres I 704, die in der Kirche messe], die von den Herren Geistlichen des Domkapitels am 37. März,
von Andresy noch an Ort und Stelle erhalten hat, wird nicht ersichtlich, ob seinem Todestage, gelesen werden soll, mit einem Honorar von 20 Sous für

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jeden der Domherren und von 10 Sous für jeden der Chorknaben, die allein dem Klerus und den Heiligen - zu einer tlt'r Hauptpersonen. I)er Aspekt,
den Ministranten und gerade Anwesenden von seinem Erben ausbezahlt dem es e*'ige Dauer zu sichern gilt, ist wccler der des gesellschaftlichen
werden sollen, dem Krankenhaus S. Jacques. Ferner hat er in besagtem Ranges noch der der Verdienste und Ehrcn dcs Verstorbenen, nicht einmal
Krankenhaus 24 Plätze [Bettplätze] für arme und unheilbar Kranke gestif- der der Aufwendigkeit seiner Legate; sondern der geistliche Gegenwert
tet, mit einem Kaplan, der verpflichtet ist, wöchentlich zwei Messen am seiner Schenkungen, die kirchlichen Gottesdienste.
Altar dieser S. Etienne geweihten Kapelle zu lesen, für die Ruhe seiner Seele Sicherlich ist der hier bekundete Glaube an die Gemeinschaft der Heili-
und der seiner Angehörigen." Es folgen die Anweisungen zur Auswahl der gen und den Schatz der Kirche früheren Ursprungs. Vir haben ihn die
Kapläne. Ich werde im Zusammenhang mit den Kapellenstiftungen auf die- Betbruderschaften der karolingischen Abteien und die pseudo-sakramen-
ses Dokument zurückkommen. talen Testamente des Hochmittelalters (Kapitel 4) ins Leben rufen sehen.
Aber erst gegen Ende des 15. und vor allem im 16. und 17. Jahrhundert setzt
Fassen wir zusammen: Im 15. Jahrhundert taucht die Tafel häufig in der er sich über die Hindernisse hinweg, die ihm ältere, aus dem vertrauren
unmittelbaren Nachbarschaft des Grabes auf, ohne doch zu seinem festen Fundus der mündlichen Kulturen geschöpite Glaubensinhalte insgeheim in
Bestandteil zu werden; es kommt sogar vor, daß sie räumlich von ihm ab- den \W,eg legten. Diese archaischen Glaubensinhalte verweigerten sich der
rückt. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert bildet sie die geläufigste Form des Trennung von Seele und Körper und einer allzu aktiven Jenseitsvorstel-
Grabmonuments; dann trennt sie sich entweder vollständig vom Grab und lung. Die Stiftungstafel schreibt den Triumph einer anderen Konzeption
bezeichnet den Ort der jeweiligen Stiftung, oder sie verleibt sich das fest, wie sie zweifellos seit langem von den gelehrten Orthodoxien der Kir-
Grab ein und wird zu dessen wesentlichstem Element. Im 18. Jahrhundert che gepredigt wurde, die jedoch erfolglos geblieben wären, wenn sich die
gibt man ihr nicht mehr den Namen Tafel ; man nennt sie vielmehr einfach traditionellen Abwehrmechanismen nicht abgesrumpft hätten und die kol-
Epitaph - ein Ausdruck, der dann die Bedeutung von Grab annimmt. lektive Sensibilität für ihre (Jbernahme nicht in stärkerem Maße bereit ge-
In der Tat: Diese Dokumente haben uns veranlaßt, einen vierten Grabty- wesen wäre.
pus nach gisant, priant und den kreuzgekrönten Friedhofsstelen zu unter- Die sicher verbreitetste Form des Grabmals, die Stiftungsrafel, ist nicht
scheiden, und über dessen Bedeutung werden wir uns jetzt zu verständigen mehr Grabmal des Leibes, sondern der Seele : der bomo ,orzs und der
haben. Leichnam sind in graue Indifferenz zurückgefallen, während die Seele sich
Priants, gisants und Kreuze bezeugten den Glauben an ein Zwischen- alle Dimensionen des Seins verfügbar gemacht hat; sie ist zum ganzen Men-
reich zwischen Himmel und Erde. Die Epitaphien vermeldeten die Ver- schen geworden; sie ist bedroht und doch - durch genaue Buchführung
dienste des Verstorbenen in dieser wie in jener rVeit. Mit der Stiftungstafel riber die ausgesetzten Gebete - errettbar. Lange nach dem Einfluß der be-
verändern sich die Perspektiven mit einem Schlage: Vir haben bemerkt, drohlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts der Kathedralen und den
daß der in anderen Inschriften so breit entfaltete Lebensabriß hier sehr häu- je einzelnen Gerichten der artes moriendihat sich die Seele, dank der indi-
{ig au{ eine kurze Personenstandsnotiz zusammenschrumpft. Die religiö- viduellen Praxis der Tesramenre, diese stark verteidigte Tiefenschicht der
sen Szenen und Anrufungen werden ebenfalls auf sehr elliptische lWeise kollektiven Sensibilität einverleibt, wie die Morphologie der Gräber be-
behandelt und auf einige wenige Zeichen reduziert. Das alles ist nicht die zeugt. Sie ist zum unverweslichen und luftigen Element geworden, das der
Hauptsache - und doch steht das Barockzeitalter in voller Blüte ! Es kommt Tod aus den drückenden Bedrängnissen der Erde erlöst hat und das jetzt bei
vor allem darauf an, die Priester zu verpflichten, die iür "die Rettung der vollem Bewußtsein eine Existenz führen kann, die vordem nur schemen-
eigenen Seele" ausbedunBenen und im voraus bezahlten kirchlichen Ge- haft blieb. In einer fortan rransparenten \Welt steht es für sie mit Sicherheit
genleistungen auch wirklich zu erbringen. Das Grab hört also auf, "xn1l2i- zum Besten oder zum Schlimmsten. Die großen Gnadenakte des Mittelal-
patorisch" und gedächtnisstiftend zu sein, und wird, zusammen mit dem te rs sind wirkungslos geworden und haben auigehört, die Gesetze der Vor-

Testament, zum Element des Garantiesystems für das Seelenheil im Jen- schung umzustoßen. Umgekehrt erlaubt die Freiheit des Menschen ihm,
seits. Es eignet sich den Stil des Testaments an, aus dem es bestimmte Ab- sleich hier auf Erden, wo er doch z.ur Hälfte blind ist, seiner unsterblichen
schnitte übernimmt, und der Notar wird - mit dem Verstorbenen selbst, Scele die Wege zu ebnen. Die Zukunft seiner Seele hängt von seinen heuti-

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gen §V'erken ab, von seiner Einsicht, seiner Selbstbeherrschung, seiner Vor- Es kam sogar vor, daß das Exvoto sich dem Grabe so sehr näherte, daß es
sorge und von den Verfügungen, die er bic et nunc zu treffen weiß. Die Seele an seine Stelle trat - ein Phänomen, das ein deutscher Kunsthistorik er,Lenz
ist zu einem Teil seiner selbst geworden. Kriss-Rettenbeck, die "Totentafelu nennt. (69) Eine Abbildung seines Bu-
ches zeigt eine solche Totentafel aus dem Jahre 17l6,die zwei Wiegen mit je
zwei Kindern darstellt; ein einziges lebt, die anderen drei halten kleine rote
Die Exvotos Kreuze in den Händen -Zeichen dafür, daß sie tot sind. Vater und Mutter,
auch sie bettlägerig, haben überlebt und werden in einer Ecke der Tafel
Das Ende des 16. und der Beginn des 17. Jahrhunderts sehen ein neues, aus noch einmal als priants dargestellt.
der volkstümlichen Frömmigkeit hervorgegangenes Genre entstehen, des- Läßt sich nicht annehmen, daß diese Familie das Opfer einer Epidemie
sen Beziehungen zur Grabikonographie, wie wir sie soeben untersucht ha- geworden ist, der allein die Eltern und ein einziges Kind entronnen sind?
ben, von Interesse sind: das Exvoto. Dabei handelt es sich nicht um das Und aus diesem Anlaß das Exvoto, das dankbare Stiftung der Lebenden
nachgebildete und der Gottheit als Zeichen der Dankbarkeit zugeeignete und Totenfürbitte in eins ist.
Objekt: ein geheiltes Glied (Auge, Bein, Brust, Bauch usw.), das Schiff, das Eine andere Tafel aus dem Jahre 1799 stellt eine ganze Familie dar, die
einen Schiffbrüchigen birgt, die Ketten des Gefangenen oder des befreiten sich wiederum vor einer religiösen Szene versammelt hat: drei Männer, drei
Galeerensträflings. Dieser Brauch ist sehr alt, reicht weit hinter die christ- Frauen und vier Kinder in Vindeln. Die Kinder sind sämtlich tot; ebenso
liche Ara zurück und wird überdies noch immer praktiziert. §7as ietzt auf- zwei Männer und zwei Frauen. Am Leben sind nur noch ein Mann und eine
taucht, ist vielmehr das gemalte Bild, das im Sanktuar des Heiligen aufge- Frau - eben die Stifter. Ein böswilliger Beobachter möchte meinen, daß der
hängt wird, den man im Augenblick der Gefahr anruft - oder als Danksa- Anblick der Toten das Glück der Überlebenden noch steigerte! Aber
gung für seinen Schutz, den man genossen hat. durchaus nicht; sie bringen ebensosehr Mitgefühl und Bedauern wie Er-
Die ältesten dieser Bilder sind zweigeteilt: links der auf den Knien lie- leichterung zum Ausdruck.
gende Stifter; rechts eine himmlische Szene, die die Erscheinung des Heili- Die Toten werden zusammen mit den Lebenden, ihrer Stellung gemäß, in
gen Fürsprechers in den lVolken darstellt. Später fügt man einen dritten die Schar der priants eingereiht - und das hat nichts Erstaunliches, denn im
Bildteil hinzu: die Szene der wunderbaren Errettung, die Schilderung der Vorraum der überirdischen Velt als dem angestammten Ort der priants
Gefahr, der der Stifter entronnen ist. Im 18. Jahrhundert gewinnt dieser z-ählen die Gegensätze von Leben und Tod nicht mehr. Gleichwohl gibt es
letzte Aspekt zunehmend an Bedeutung; zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Unterscheidungsmerkmal, das vom flüchtigen Beobachter kaum be-
reduziert er die Heiligen und Stifter schließlich sogar zu bloßen Nebenfigu- merkt wird: ein kleines rotes Kreuz, das die Toten in den Händen tragen
ren. Das Wunder hat sich seinen überirdischen Charakter bewahrt, und es oder das über ihren Häuptern schwebt.
wäre abwegig, sich diese ganze Entwicklung aus einem Zuwachs von Ratio- Nun ist dieses Zeichen aber nicht auf die Exvotos oder die Volkskunst
nalismus zu erklären. Vielmehr ist das Überirdische zur Erde herniederge- beschränkt. Man begegnet ihm etwa auch au{ flämischen Altarretabeln des
fahren, und seine Hauptäußerungsform ist eher das \W'under als die Erschei- 16. Jahrhunderts im Museum von Brüssel über den Häuptern mancher Stif -
nung des Heiligen. ter oder bei einigen Mitgliedern einer Familie, die zu Füßen einer schönen
Man erkennt in dieser Art der Gestaltung sogleich das so volkstümliche Kopie der Kreuzigung von Van Dyck auf den Knien liegt, in der Sakristei
Genre der kleinen li(andtafel mir priants wieder, die Seelengräber. Die spi- des Frankfurter Doms, wahrscheiniich einer Grabtafel, die mit einem
rituelle Distanz zwischen Tafel und Exvoto ist nämlich nicht groß. Die eine Grab, einer Kapelle oder einer Stiftung verknüpft war.
stellt die Auffahrt eines Verstorbenen zum Himmel dar, das andere den In der Tat: Dies Exvoto ist das Grab der Grablosen - der ertrunkenen
Abstieg des Himmels zu einem in Ge{ahr schwebenden Lebenden, bei Ge- Holzfäller, die von den Hölzern ums Leben gebracht wurden, die sie ge-
'legenheit eines Vunders. Der Opfernde des Exvoto ist wenigstens zeitwei-
treidelt hatten; der im Krieg gefallenen Soldaten (drei im Verlauf des Ruß-
se in die überirdische lVelt einbegriifen. in der der Verstorbene bereits für landfeldzugs von Napoleon getötete Soldaten liegen vor dem Heiligen
immer weilt. Martin, ihrem Schutzpatron, auf den Knien).

366 367
Im 18. Jahrhundert bringt ein bewegendes Dokument die Verbindung davon, daß man eine Steinplatte auf das Greb gelegt haben will. Wir wissen
aber andererseits, daß diese Koinzidenz clurch:rus nicht erforderlich war
zwischen drei eng benachbarten Ikonographien zustande (das Grab mit
priant oder die Stiftungstafel, das Danksagungs-Exvoto und das Retabel und im Falle der lVandtafeln auch gar nicht gewahrt werden konnte - weni-
ger noch bei den bloß kommemorativen "Gräbern" ohne reale Grabstätte.
mit Seelen im Purgatorium): eine Tafel, die einen Soldaten darstellt, der
(7 1)
ebenfalls auf den Knien liegt, auf den Knien vor der Unbefleckten Emp-
Neben vielen Formeln, die die Koinzidenz nahelegen, finden sich in der
fängnis; ihm zu Füßen tritt ein neues Bild in Erscheinung - das Purgato-
Tat zahlreiche andere, die nur die Nähe suggerieren: "nahe dem Grabe",
rium. Die Präsenz des Purgatoriums legt dem Exvoto den Charakter der
»so nahe wie möglich" usw.
inständigen Bitte und nicht mehr der Danksagung bei - einer Bitte jedoch,
Es kommt, wenn auch selten vor, daß die Inschrift anderswohin, auf die
die die Hoffnung als erfüllt voraussetzen läßt. (70)
reale Grabstätte verweist. Ein ci-git vom Ende des 16. Jahrhunderts in der
Im 18. und 19. Jahrhundert ertrug man es nicht mehr - wenigstens nicht
römischen Kirche Santa Maria in Aracoeli zeigt an, daß der Leichnam von
mehr in jenem Mitteleuropa, das von der Geschichtswissenschaft themati-
Bruder Matthias, der eigentlich zu Sant' Eustachio gehört, in größerer Ent-
siert worden ist -, den im Krieg oder durch Unfall zu Tode gekommenen
fernung zur Ruhe gebettet liegt, ,zwischen dem Denkmal der Heiligen He-
Menschen ohne Grabstätte zu lassen. Das Grab, das man ihm dann besorg-
lena und der Pforte zur alten Sakristei"; es handelte sich ledoch um einen
te, wurde von den ex-votos susceptos nachgebildet, die ihrerseits an der An-
hohen \Würdenträger der Franziskanerfamilie.
ordnung der aken priant-Gräber festhielten, und zwar so, daß das Grab des
Gegen Ende des Ancien Rdgime sieht man dagegen das Bedürfnis sich
grablosen Toten des 19. Jahrhunderts immer noch ein priant-Grabist, zu
Bahn brechen, die Toten einer Familie in ein und derselben Kapelle zu
einer Zeir. also, da der priant bereits seit einem ganzen Jahrhundert außer
versammeln: ein modernes Bedürfnis, aus dem sich dann das zeitgenössi-
Gebrauch gekommen war. In diesem Sinne publiziert Kriss-Rettenbeck
che Brauchtum entwickelt hat, das im Prinzip die genaue Koinzidenz von
zwei aus den Jahren 1843 und 1 845 stammende Holztaf eln von 1 70 X 38 cm
Grabstätte und Leichnam zur Geitung bringt - die letzte Episode dieser
Seitenlänge, die nicht nur den Stifter unter dem Schutzheiligen darstellen,
sehr langen Geschichte. \Wir sind im Zusammenhang mit den Testamenten
sondern darüber hinaus auch eine Inschrift und einen Totenkopf aufwei-
bereits auf zwei verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks Kapelle gesto-
sen: ein Zeichen für das außerordentlich hartnäckige Überdauern einer
ßen: der Altar, an dem die Messen gelesen wurden, und die Stiftung zum
spezifischen Art von Grabgestaltung, die sich vom Spätmittelalter - auf
Unterhalt des Priesters, der sie zelebrierte. Später taucht dann eine dritte
dem §7ege über das Exvoto - bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhält.
Bedeutung auf : die der Grabstätte.
Ursprünglich lag die Vorstellung fern, die kultische Bestimmung der Ka-
pelle auch auf die Grablegung zu beziehen;die Stifter nahmen jedoch die
Kapellen und Familiengrüf te Gewohnheit an, sich zugleich mit der Einhandlung von Gottesdiensten,
der Verfügung über den Ort der Grablegung und der Erlaubnis, dort Grab-
platten und Epitaphien errichten zu lassen, auch das Recht der Bestattung
Bei den angeführten Beispielen aus dem Spätmittelalter und der beginnen-
in der Kapelle auszubedingen, also nicht mehr unter freiem Himmel, son-
den Neuzeit hat der Leser sicher nicht umhin können, eine beständige
dern in einer gewölbten Gruft. Die großen Adels- und Fürstenhäuser wa-
Mehrdeutigkeit bei der Einschätzung der Distanz zwischen dem Ort der
ren zweifellos die ersten, die den traditionellen Ort der Grablegung a/
Grabstätte und der wirklichen Grablegungsstelle des Leichnams zu konsta-
sdnctos aufgaben : den achtbareren Teilen der Kirche - etwa dem Chor - zo-
tieren (man vergleiche Kapitel 2). Diese Mehrdeutigkeit tritt erst mit dem
gen sie den für sie reservierten Raum einer Seitenkapelle vor. Im 16. Jahr-
Verzicht auf den Sarkophag in Erscheinung.
hundert waren die Souveräne bestrebt, diesen Kapellen ein abgehobeneres,
Gleichwohl werden die \Wünsche zur Grabwahl häufig so geäußert, als
grandioseres Außeres zu verleihen - so die Borghese in Santa Maria Mag-
ob in dieser Hinsicht eine fraglose Koinzidenz bestünde: "Mein Leichnam
möge überführt und geleitet werden in die E,glise de la Terne, um unter
giore in Rom. Sie haben sogar versucht, ihre Kapelle von der Kirche zu
lösen, wobei sie an der für den freien Austausch der Gnadenmittel unab-
besagter Grabplatte zu ruhen" (1400 [71]). Im 17. Jahrhundertsprichtman

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dingbaren Verbindung doch festhielten: die Valois in Saint-Denis, die Me- eine Gruft desselben Ausmaßes anlegen, wenn es ihm angemessen er-
dici in Florenz und später das Haus Lothringen in Nancy. scheint, um dort die Leichname seiner I:rrlilicnmitglieder beiserzen zu las-
Diese "Privatisierung" hat zweifellos auch die Entstehung der Schloßka- sen" : die Grablegung ist somit also das zweite Motiv der Stiftung einer
pellen beeinflußt - etwa die der La Tremoille in Niort. Gleichwohl be- Kapelle, die nichtsdestoweniger Kultstättc bleibt. Diese beiden Funktionen
schränken sich diese Fälle auf die ganz großen Familien mit souveränen galten als gleichermaßen bedeutsam.
Herrschaftsansprüchen. Ihr Beispiel hat nicht Schule gemacht: Die herr- Manche Verträge behandeln lediglich die Verfügungen, die getroffen
im 1 4. Jahrhundert verbreitete geblieben - die
schende Praxis ist die bereits werden, um den Gottesdienst "hören" fouir) zu können, zweifellos des-
Verwendung einer Seitenkapelle der Kloster- oder Pfarrkirche zu Grable- halb, weil die Familie ihr Grab andersq/o hatte. So erlaubten im Jahre 1617
gungszwecken. Diese Praxis ist im 1 7. und zu Beginn des I 8. Jahrhunderts die Kirchenvorsteher von Saint-Gervais "dem edlen Herrn Jehan de Dours,
bei den gehobeneren Familien verbindlich geworden. Königlichem Rat und Generalaufseher über Seine Bauwerke, in besagter
Ein Beispiel dafür, wie das in diesen Kreisen vor sich ging: "Vertrag [ge- Kirche einzurichten und durch ein Holzgeländer abzuschließen einei Banh
schlossen am 8. Mai 1603] mit den Kirchenvorstehern von S. Gervais, um in Form einer Bethapelle, :und zwar neben dem Altar der Kapelle des Heili-
auf dem Friedhof besagter Kirche [d. h. auf einem Teil des Friedhofs, der gen Nikolaus, die einerseits an besagten Altar, andererseits an die große
dicht an der Kirche lag; ein Beispiel für allmähliche Einverleibung der alten Mauer besagter Kirche und mit dem einen Ende an die Kapelle von Rech-
Friedhöfe des 1 6. und 1 7. Jahrhunderts durch Kapellen und Bethäuser] eine nungsrat Texier stößt. Besagtes Bethaus soll 5 Fuß breit und etwa sechsein-
Kapelle und Bethaus dicht an der großen Mauer erbauen zu lassen, 12 Fuß halb Fuß lang sein." (73't)
lang und 12 Fuß breit, 8 Fuß hoch, unter und neben der Kapelle, die von M. Es kommt jedoch selten vor, daß der kultische Zweck der Kapelle nicht
Etienne Puget, Königlichem Rat und Schatzmeister Seiner Kasse, errichtet rnit ihrem anderen, dem der Grablegung, zusammenfällt. Das bemerkens-
worden ist." (72) Diese Erlaubnis wurde zu "Zwecken der Grablegung" werte und neue Phänomen ist die Vereinigung von bereits familiär genutz-
erteilt, d. h, um da "eine Gruft ausheben zu lassen [eine Gru{t und kein ter Grabstätte und privatem Betraum an ein und demselben Ort - ein pri-
Grab in bloßer Erdel vom selben Umfang [wie die Kapelle], wenn es ihm vater Betraum, in dem die Familie ihre Andacht verrichtet und von dem aus
angemessen erscheint, um dort die Leichname seiner Frau, seiner Kinder sie der Messe der Pfarre beiwohnt.
und seinen eigenen beisetzen zu lassen". Selbst wenn man keine wirkliche von Mauern und einem Holzgeländer
Die Kapelle muß zur Kirche hinaus führen, damit man den Gottesdienst cingeschlossene Kapelle hat, so möchte man doch wenigstens seine Bank
hören kann; eingeschiossen wird diese Kapelle neben der Kirche durch ein über dem Grab eines Angehörigen haben (1622): ». . . um eine Tafel aus
"Holzgeländer von Tischlerarbeit mit Tür und Eingang besagter Kapelle, Kalkstein [eine Grab-Platte also] über dem Grab anbringen zu lassen, in
die sich nach innen öffnen. Und sie soll durch ein Schloß gesichert sein, dem der Verstorbene beigesetzt ist, im Schiff, nahe seiner im unteren Teil
dessen Schlüssel verwahren sollenu der Stifter und seine Erben, "um darin der Kirche, dicht an einem der Pfeiler des Turms neben den Taufbecken
den Gottesdienst zu [röreno. gelegenen Bank". Der Betreffende bedingt sich ferner aus, daß über der
Ein anderes Dokument desselben Vorstandes'r aus dem Jahre 1603 erteilt Ilank am selben Pfeiler "ein Epitaph aus Stein [...] angebracht und darauf
ebenfalls die Erlaubnis, "besagte Kapelle und Bethaus auf ihre Kosten fder etn ci-git zum Angedenken des Verstorbenen eingraviert wirdo ; also eine
Stifterin] erbauen zu lassen, eine Bresche in die große Mauer der Kirche zu Art Miniaturkapelle aus einer Bank, einer Grabplatte und einem Epitaph in
legen [und anzulegen] ein getischlertes Holzgeländer [...] für besagte cinem kleinen Raum an einem ffeiler. (74)
Dame Niceron und ihre Kinder und Rechtsnachfolger auf immerdar [. . .], Dieser Brauch besteht im 18. Jahrhundert fort, wenn er vielleicht auch
um in besagter Kapelle und Bethaus [. . .]den Gottesdienst zu hören [das ist seltener wird. Im Jahre 1745 äußert sich der Junker Pierre Bucherie (74),
die vorrangige Bestimmung der Kapelle; im Gegenzug verzichtet die Dame
Niceron auf die Bank, die sie vordem in der Kirche innehatte] und darin
" In derselben Kapelle erhält der Stifter das Recht, zwei weitere Bänke errichten zu lassen,
,lcren Beschreibung ebenso exakt ist: "welche drei Bänke er herzurichten wünscht, um sich in
'' Der Rat dcr Verwalter dcr Pfarre. ircsagte Kirche zurückzuziehen und dorr den Gottesdienst hören zu können".

374 371
Gendarm der Leibgarde des Königs und Gefreiter seiner Kompagnie, wie ooüte), in dem der Sarg vor direkter Bodcnberührung geschützt isr. Voite
folgt: "Ich wünsche, daß mein Leichnam nach meinem Tode in der Kirche wird überdies gelegentlich synonym mit cazc be nutzt: ,um unter besagter,
der Pfarre Muzac beigesetzt wird, welcher Kirche ich die einmalige Zah- Saint Gervais geweihter Kapelle ein Gcwiilbc ausheben zu lassen, um darin
lung von 1000 Livres stifte und vermache, die dazu benutzt werden soll, besagte Leichname des Stifters, seiner Frau und seiner Kinder beisetzen zu
eine Kapelle zu Ehren der Heiligen Jungfrau erbauen zu lassen, und zwar können", (1600 [75]) Man sagte, man habe seine Gruft an der und der Stelle,
- der begehrtesten Seite.
an der Südseiten wie man auch Kapelle hätte sagen können: "\Wünscht seinen Leichnam bei-
Es kam vor, daß mehrere Familien sich in dieselbe Kapelle teilten - na- gesetzt zu wissen in der Kirche von Dodonville in der Gruft, die er dort hat
türlich unter Aufsicht der Kirchenvorsteher, denn der Kirchenvorstand ausheben lassen.o (1650 [75])
blieb, trotz der üblichen Nutzungsveräußerung, doch Grundeigentümer, Die ersten Grüfte sind also von den Stiftern der Kapellen angelegt wor-
und die Verträge beharren hartnäckig auf der fortdauernden Gültigkeit die- den, und zwar jeweils im räumlichen Ausma(l der betreffenden Kapelle
ses Rechtes. In einer der oben beschriebenen Kapellenstiftungen hatten die - eine Praxis, die mittelalterlichem Brauchtum sehr fern und dem unsrigen
Kirchenvorsteher im Jahre 1617 den Stifter autorisiert, eine seiner drei nähersteht.
Bänke über dem Grab einer Familie anzubringen, die bereits daneben eine Im Laufe des 1 8. Jahrhunderts scheint der Begriff der Gruft, ohne daß sie
Bank hatte: "unter der Bedingung, daß besagte kleine Bank" von den Neu- die der Kapelle verdrängte, deren Symbolik lebendig bleibt, mehr und mehr
ankömmlingen »geräumt und f reigegeben wird, wann immer besagte Dame an Bedeutung zu gewinnen, in dem Maße, wie die physische Bewahrung
de L., ihre Tochter, ihre Angehörigen oder ihre Erben des Grabes bedürfen, des Leichnams zur realen Hauptsorge der Hinterbliebenen wird. Die
auf dem die kleine Bank angebracht ist". Geistlichen machen sich dieses Bestreben zunutze, um das unterirdische
Der Ausdruck "bedürfen", wie er in diesem Text benutzt wird, ist be- Erdreich ihrer Kirche aufzuteilen und in Form sauber gemauerter und nu-
zeichnend: die Nachfahren bedürfen fortan des Grabes ihrer Angehörigen merierter Steingrüfte zu bewirtschaften: Ein Mitglied der Pfarre Saint-
und Vorfahren, für eine neue Grablegung oder fir die absoutes der Jahres- Jean-en-Gröve erhält die Erlaubnis, den Leichnam seines Vaters, eines auf
tage. Aber man sieht in diesen Texten auch, ganz zurückhaltend noch, eine dem Lande verstorbenen Königlichen Rates, "in eines der Gewölbe unter
neue Einstellung zutagetreten: langsam zeichnet sich der Brauch ab, die der Abendmahlskapelle zu überführen, die die vierte und letzte vor dem zu
Lebenden und die Toten ein und derselben Familie aus den gehobeneren den Beinhäusern führenden Portal ist, um ihn da seine immeruäbrende
Schichten in einem zur Kirche hin offenen Raum der Kirche zu versam- Rube |ind,en zu lassen", mit dem Recht, ein Epitaph in der Kapelle anbrin-
meln, der nichtsdestoweniger aber doch geschlossen ist, für den sie den gcn zu lassen.
Schlüssel verwahren und den sie als einzige betreten können, so als ob sie So haben auch die Toten ihren gesonderten Raum zugesprochen bekom-
die Eigentümer u'ären. Diese Kapelle also verfügt über ein farbiges GIas- men, eine gewölbte Gruft, die, nach bündigem Versprechen, ihre immer-
fenster, das sie gestiftet haben und auf dem ein Mitglied als priant darge' währende Ruhestätte sein soll und fortan von den traditionellen Umbet-
stellt ist;der Boden ist mit Steinfliesen gedeckt, die Vände mit Tafeln, tungen in den Beinhäusern ausgenommen ist. Schließlich ist dieser den To-
Skulpturen und Epitaphien verkleidet, die die Familiengeschichte in'Wort ten vorbehaltene Raum der unterirdische Bereich des Raumes der Leben-
und Porträt beschreiben und vor Augen führen. Sie sind immer noch in .len, der Kapelle, in der sie sich zur Teilnahme am Gottesdienst versam-
kirchlichem Raum, und in ebendiesem Raum versammeln sie sich, um der rneln.
Messe beizuwohnen; zugleich aber sind sie bei sich selbst zu Hause und mit Ein neuer Typus von Grabstätte und eine neue Einstellung z.u den Toten
ihren Toten vereint. sctzen sich damit durch, die im 19. Jahrhundert auf die Gesamtgesellschaft
Diese Toten - das sei hier wiederholt - sind nicht im eigentlichen Erd- ü bergreifen.

reich beigesetzt, nicht in einem frisch ausgehobenen Grab oder einem zur
lViederbenutzung hergerichteten Altgrab, sondern in einer Gruft: caae,etn
älteres W'ort fir caaeau, dem das heutige Umgangsfranzösisch vor allem
eine funeralistische Bedeutung beilegt. Die Gruft ist ein Ger"'ölbe [frz. hier

372
Die Botschaft des imaginären Museums erkennen hier das sehr alte Leitbild des gezährnten Todes und des friedvoi-
len und milden Jenseits wieder.
Hat es nicht den Anschein, als sagte ein aufmerksamer Besuch im imaginä- Die dritte Linie hat sich erst spät ausgeprägr, und zwar im Zusammen-
ren Museum mehr über die kollektiven Einstellungen zu Tod und Jenseits hang mit den Kapellen, in denen in ein und demselben Raum die lebenden
aus als gelehrte geistliche und theologische Bibliotheken ? Freilich, die vor- und die toten Mitglieder einer Familie versammelt werden: sie bringt das
herrschenden Ideen dieser Literatur, namentlich der Dualismus des "der ehedem unbekannte Bedürfnis nach physischer Annäherung der beiden
Auferstehung harrenden" Leibes und der den tü[onnen des Himmels oder Kategorien zum Ausdruck.
den Martern der Hölle geweihten Seele, haben die Grabausstattung und die
Modalitäten der Grablegung tief geprägt. '§ü'ir sehen in dieser Grabausstat-
tung aber auch etwas an die Oberfläche treten, was sonst kaum je zum
Ausdruck kommt und was wir anders gar nicht erfassen könnten: Glau-
bensinhalte, die man für längst untergegangen hielt und die nur unter-
schwel[ig wirksam waren.
Schließlich machen sich Zeichen gänzlich neuer Einstellungen bemerk-
bar, die die Romantik des 18. und 19. Jahrhunderts ankündigen.
Drei Hauptentwicklungslinien lassen sich aus diesem umfangreichen
Korpus herauslösen.
Die erste ist, wie zu erwarten war, bereits durch unsere früheren lJnter-
suchungen zur Ikonographie des Jüngsten und des individuellen Gerichts,
zur Ökonomie der Testamente und zur Grablegungsliturgie vorbereitet
worden: die Entwicklung des Individuums, die im Denken oder in der
Stunde des Todes gemachte Entdeckung der eigenen Identität, der eigenen
Geschichte - in dieser Velt wie in jener. Das Bedürf nis, man selbst zu sein,
reizt zum Verzicht auf die Anonymität der Gräber, die zu großen gedächt-
nisstiftenden Monumenten werden. Zugleich macht es die Seele zum we-
sentlichsten E,lement der Persönlichkeit: aus der drückenden Bedingtheit
des Raumes entlassen, wird die Seele zur Verdichtung des Seins, zur Indivi-
dualität selbst, deren entscheidende - gute oder schlechte - Züge keiner
Veränderung mehr unterliegen. Das Seelengrab ist direkter Ausdruck die-
ses Gefühls, das zunächst das einer geistlichen Elite gewesen ist, sich dann
aber - seit dem Spätmittelalter und der beginnenden Neuzeit - auf die an-
sehnliche soziale Schicht des Adels und des gehobenen Bürgertums ausge-
dehnt hat.
Die zweite Hauptentwicklungslinie, die sich aus dem imaginären Mu-
seum ableiten läßt, ist die des dauerhaften Glaubens an einen neutralen
Zustand der Ruhe als Zwischenstadium zwischen irdischer Rastlosigkeit
und himmlischer Kontemplation. Sie beeinflußt die feierliche Haltung der
gisants und priants in den Kirchen und - noch heute - die Kreuze der Fried-
höfe, Zeichen einer unbestimmten und verschwommenen Hoffnung. §üir

374
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6. Der Rückfluß

Ein unauffälli ger §(andel

Durch das ganze Mittelalter haben wir die {ortschreitende Entwicklung


einer Sensibilität verfolgt, die dem realen Tod immer mehr Bedeutung, im-
mer mehr Gewicht einräumte. Diese Bewegung, die sich bis zu den klöster-
lichen Unruhen der karolingischen Epoche zurückverfolgen läßt, hat bei
den litterati eingesetzt und sich zugleich mit ihrem wachsenden Einfluß
verbreitet. Ihr Fortgang verläuft mehrere Jahrhunderte lang sehr stetig, und
gegen Ende des Mittelalters hat sie eine Intensität erreicht, die in den er-
schreckenden Bildern der makabren Künste zum Ausdruck kommt. Sie
führt zu einer gedanklichen und sinnlichen Konzentration auf den unmit-
telbaren Augenblick des physischen Todes. In diesem Stadium angelangt,
kommt sie zum Stillstand und beginnt gleichsam zurückzufluten.
Diesen Rückfluß werden wir jetzt ins Auge zu fassen haben. Er macht
sich ungefähr seit der Renaissance bemerkbar und setzt sich bis ins 17. Jahr-
hundert {ort. Im dichten Geflecht der Fakten schwer auszumachen, muß er
gerade unterm äußeren Schein von Stabilität erschlossen, müssen gerade
seine Unauffälligkeit und seine Mehrdeutigkeit respektiert werden. Die
Dinge verlaufen nämlich zunächst weiter so wie in der mittelalterlichen
Vergangenheit: das gleiche literarische Genre wie das der artes moriendi,
die gleichen Totentänze't, sogar mehr Totenköpfe und Schienbeine in den
Kirchen, dieselbe Erblassungsverpf lichtung, derselbe Weihecharakter beim
Testament. Keine ins Auge iallenden Veränderungen - man könnte sich
täuschen und glauben, daß die jahrhundertelange Kontinuität bruchlos
fortbesteht. Und dennoch scheint unter dieser gleichbleibenden Stetigkeit

't Fünf von elf Torentänzen in Frankreich sram men aus dem I 6. u nd 1 7. Jahrhundert. 1 8 von 26
deutschenTotentänzenstammenausdeml6.,lT.undt8.Jahrhundert,undeinersogarnochaus
dem Jahre 18J8. (l)

381
eine neue Einstellung auf - oder wenn nicht eine neue Einstellung, so doch zu allem Uberfluß auch noch einzurichten verstand, daß er vom Pferd
eine kaum eingestandene Abwertung alter Einstellungen. stürzte und sich so zu seinem alten Nierenleiden die neuen Sturzverletzun-
Denn die jetzt gewahrte Distanz zum Tode fällt nicht mit dem großen gen gesellten. Seine Krankheit mahnt ihn zur Einkehr: "Ich bewege in mei-
Bruch zusammen, der Generationen von Historikern geblendet hat und nem Herzen, wie ich das, was mir vom Leben noch bleibt (ich weiß nicht
theologischer und geistlicher, also mehr oder weniger "elitärero Art ist, wie lange [er ist im Jahre 1506 noch nicht vierzig Jahre alt]), ganz der Fröm-
dem Bruch zwischen den beiden christlichen Reformationen und - wenn migkeit und Christus widmen kann." (3) Dieser'Wunsch nach Veltabkehr
man manchen Autoren Glauben schenken will -möglicherweise auch zwi- - Moliöres Misanthrop zieht sich in die Einöde zurück - scheint Überein-
schen Religion der Vergangenheit und Freigeisterei der Zukunft. §[ir wer- stimmung mit der Tradition zu verraten und ist es wohl auch wirklich. Es
den katholische und protestantische Quellen und Dokumente bedenkenlos handelt sich für Erasmus jedoch nicht um die Askese des Klosters: er wili
mischen. Denn ihre Unterschiede, wenn es sie denn gibt, liegen nicht auf durchaus in der \Welt bleiben, aber um zu meditieren, und jede Meditation
der Ebene der Kollektivpsychologie, die in beiden Lagern nahezu die glei- bringt unweigerlich den Tod ins Spiel. \flenn wir Plato Glauben schenken
che ist. wollen, so ist Philosophie immer meditatio mortis. Es bedarf aber der
Der unmittelbare Augenblick des Todes soll uns als Bezugspunkt dienen, Schicksalsschläge, um sich diese Philosophie zu eigen zu machen ! Eben das
an dem sich der Vandel ermessen läßt. Sicher flößt der Tod in der gelebten ist Erasmus selbst zugestoßen, der an seinem Nierenstein so heftig gelitten
Alltagsrealität des Hochmittelalters nicht mehr und nicht weniger Angst hat, daß er sich den Tod wünschte . Monitor calculus - der Stein ist der
ein als vordem ; die litterati fügen sich, wie das Volk, in die Tradition ein. Mahner, er ist unsere Philosophie, vere mortis meditatio.
Aber wenn er auch - und das ist das Ausschlaggebende - noch nicht Angst Bellarmin seinerseits konstatiert mit einer gewissen Brutalität, daß sogar
einflößt, so sät er doch Zweifel und Unruhe. Und Moralisten, Geistliche das Alter den Menschen nicht gefügig macht, Buße zu tun und sein Seelen-
und Bettelmönche haben sich diesen Riß in der herkömrnlichen Vertraut- heil zu bedenken. Es wird nicht als Mahnung aufgefaßt, denn tauben Ohren
heit zunutzegemacht, um sich selbst zur Geltung zu bringen und diese neue ist schlecht predigen, und die Greise wollen nun einmal nichts davon wis-
Unruhe ztZwecken der Bekehrung auszubeuten. Eine ganze Erbauungsli- sen: osie sind nur aufs Leben bedacht, und wenn der Tod auch nahe ist, so
teratur, wie sie durch den sich gerade entwickelnden Buchdruck verbreitet ist er es doch, woran sie am wenigsten denken" - so ein Autor eines im 18.
wurde, hat dann das Thema der Leiden und Delirien des Todeskampfes Jahrhundert neu aufgelegten Miroir de l'äme pöcberesse. (4)
zum Kampf der geistlichen Mächte weiterentwickelt, in dem jedermann Fern liegt dieZeit der Greise mit wallendem Bart, die ihre Feinde in zwei
alles gewinnen oder verspielen konnte. Hälften hieben, große Schlachten lenkten und ihren Hof mit \Weisheit führ-
Seit dem 16. Jahrhundert beginnt der unmittelbare Augenblick des Todes ten. '§flir sind in der Phase der "Lebensallspo, wie sie auf Kupferstichen
zu Hause und auf dem Sterbebett seine relative Bedeutung einzubüßen. verbreitet werden - und die letzten Stufen dieser " Lebensalter" werden von
Venn die Frömmigkeit - wenigstens die gebildete Frömmigkeit - diesen wenig einnehmenden, dahindämmernden und altersschwachen Siechen re-
Zeitpunkt verdrängt, so deshalb, weil sie im voraus eine noch verborgene präsentiert.
Tendenz der kollektiven Sensibilität zum Ausdruck bringt. (2) Der Kranke liegt auf dem Sterbebett. Er wird bald verscheiden, und den-
noch geht nichts Außerordentliches vor sich, nichts, was den großen Dra-
men ähnelte, die das Sterbezimmer der artes moriendi des 1 5. Iahrhunderts
Die Abwertu ng der h ora mortis erschütterten.
Sogar die Leiden des Todeskampfes selbst werden beargwöhnt. Im Jahre
Der entscheidende Aspekt der Vorankündigung des Todes büßt an Bedeu- 1561 vertritt der englische Puritaner Thomas Becon, der Autor von Tbe
tung ein und geht sogar vollends verloren: Der Tod gibt keine Fingerzeige Mannes Salae, die Au{fassung, daß sie von der mittelalterlichen Rhetorik
mehr. mit allzuviel entgegenkommender \Will{ährigkeit beschrieben worden
Bei Erasmus von Rotterdam spielt gelegentlich noch die Krankheit die seien. "Die Bitterkeit des Todeskampfes" ist seines Erachtens nur ,eine
alte Rolle. Er hat sie an sich selbst verspürt, dieser große Kränkelnde, der es kurze und leichte Pein" im Vergleich zu den Martern der Propheten und

382 383
Märtyrer. Die Agonie ist eine ganz natürliche sache, die zu dramatisieren dem Sterbebett Ruhende ist, der Schwitzende, Leidende und Betende? Er
unzulässig ist :,1, is naturally to dye, why tben kbour we to degenerate und wird zu etwas.Metaphysischem, das in einer Metapher zum Ausdruck
groue oilt of hind?. (Es ist natürlich zu sterben; warum also bemühen wir kommt: der Metapher der Trennung von Seele und Leib, die wie die Tren-
uns denn, zu entarten und der Natur ein Schnippchen zu schlagen? nung zweier Ehegatten oder gar zweier lieber und alter Freunde empfun-
[5])
Man greift auf die stoische Vorstellung der Reise zurück, wenn die denn den wird. Der Gedanke des Todes wird mit der Vorstellung der Teilung des
überhaupt je aus dem allgemeinen Bewußtsein geschwunden war, wie es menschlichen Kompositums verknüpft, und zwar zu einer Zeit, die die des
das f ranzösische rJüort trö p as fHeimgang] bezeu gt. Seelengrabes ist, zu einer Zeit, in der jener Dualismus in die kollektive Sen-
Ein Jahrhundert später hielt im selben England Taylor, der Autor von sibilität einzudringen begann. Der Schmerz des Todes wird nicht zu den
Tbe Rale and Exercises of Holy Dying (165r),der durchaus kein Sektierer realen Leiden der Agonie, sondern zur Trauer über eine zerbrochene
war und sich, ohne zu zögern, von der katholischen Literatur im Banne des Freundschaft in Beziehung gesetzt.
Ignatius von Loyola beeinflussen ließ, die Visionen auf dem Totenbett
frank und frei für oPhantasien", die vom Teufel eingegeben seien, für ab-
used fancies deprimierter und neurasthenischer Kranker. Die neuen artes moriendi: Mit dem Tode leben
Bellarmin wunderr sich, daß die Menschen so viel Zeit für ihren prozeß,
für ihr Eigentum und ihre Geschäfte und so wenig für ihr Seerenheil auf- Es darf seiner also nicht erst im Augenblick des Sterbens oder in drohender
wenden oder daß sie - genauer - die sorge um ihre Zukunft im Todesnähe gedacht werden. Vielmehr während des ganzen Lebens. Für
Jenseits auf
den Augenblick verragen, da sie nicht mehr Herr ihrer selbst, siech und Jean de Vauzelles aus Lyon, der im Jahre 1538 den Text eines Totentanzes
nahezu bewußtlos sind: zzx sui compos (ihrer selbst kaum mächtig). §(enn von Holbein dem Jüngeren veröffentlichte, den Nathalie Z. Davis unter-
er denn überhaupt die Schrecken des Todes ins Auge faßt, so sieht er nur sucht hat, ist das irdische Leben Vorbereitung aufs himmlische, so wie
seine negativen Seiten, die Austilgung von Villen und Bewußtsein, und er die neun Monate einer Schwangerschaft Vorbereitung aufs spätere Dasein
bringt keine Mildherzigkeit, keine natürliche Frömmigkeit für die sterbli- sind. (7) Die ars moriendiwird ersetzt durch eine Kunst des Lebens. Nichts
chen Reste auf, die das Leben bereits verlassen hat. Die mitrelalterliche entscheidet sich mehr im Zimmer des Sterbenden, im Gegenteil. Alles wird
Bildwelt bewahrte im Leib, der zum Leichnam wird, länger die Freiheit des auf die Gesamtspanne des Lebens und auf jeden einzelnen Tag dieses Le-
seins und seine Fähigkeit des Gebens und Nehmens. Genauso lieblos wie bens verwiesen.
mit dem Sterbenden geht Bellarmin auch mit dem Greis um. §(elchen Lebens aber? Jedes beliebigen. Ein Leben, das vom Gedanken
Die geistlichen Auroren stimmen in der Einsicht überein, daß der Tod an den Tod beherrscht wird, und ein Tod, der nicht der physische oder
nicht jene scheußliche Karikatur ist, die ihnen aus dem spätmittelalter moralische Schrecken der Agonie, sondern Anti-Leben ist, Vakuum des
überliefert wurde. §(enn die Katholiken in dieser Hinsicht mehr vorsicht Lebens, das die Vernunft aufruft, sich nicht ans Dasein zu klammern; des-
an den Tag legen, so äußern sich die Protestanten - und namentlich Cal- halb besteht eine enge Beziehung zwischen heilsamem Leben und heilsa-
vin (6) - ohne deren Verschämtheit: ,\üir erleben ihn [den Tod] in Schrek- mem Sterben.
ken, weil wir ihn nicht erfassen, wie er an sich ist, sondern als verzehrend,
hager und elend, so wie er den Malern erschienen ist [d. h. den Malern der Pour mourir bienheureux, ä oiare il faut apprendre.
Totentänze], die ihn an den Mauern abgebildet haben. Vir fliehen ihn, aber Pour oiore bienheureux, ä mourir t'aut apprendre.
nur deshalb, weil wir, befangen in solchen nichtigen Einbildungen, uns
nicht die Muße einräumen, ihn anzuschauen. Halten wir inne Diese Verse im Geiste des Ignatius von Loyola haben den Calvinisten
[die Zeit der
Meditation], bleiben wir fest, fassen wir ihn enrschlossen ins Auge, und wir Duplessis-Morn y zrm Autor. (8) Wer sein ganzes Leben im Vertrauen auf
werden ihn ganz anders finden, als man ihn uns ausmalt, und in ganz ande-
rem Lichte als dem unseres elenden Lebens.. Pour mouir.. . Um glückselig zu sterben, muß man zu leben lernen.,/ Um glückselig zu
'§üozu ist er aber dann geworden,
der Tod, wenn er nicht mehr der auf leben, muß man zu sterben lernen.

384 385
Gott verbracht hat, wie es Erasmus wünsclt, ist jederzeit zum Sterben be- gangenen Leben seinen gerechten Preis vcrlciht oder über das Geschick des
reit und bedarf keiner besonderen Vorbereitung: Betroffenen in der anderen 'Welt entscheidet. Dafür ist es dann schon zu
spät - oder wenigstens darf dieses Risiko nicht mehr eingegangen werden'
Celuy qui s'est toujours en Dieu fiö Die Eingebung des letzten Augenblicks kann ein gänzlich dem Bösen ge-
Il ait en Foy si uny en la,uie weihtes Leben nicht mehr der Verdammnis entreißen: "Es ist weder ver-
Que rnort le rend sans mort döifiö. nünftig noch billig, daß wir, die wir im Laufe unseres ganzen Lebens so
viele Sünden begangen haben, nur einen Tag oder eine Stunde haben möch-
Andererseits ist es unmöglich, in der \)flelt zu leben, d. h. ohne den Schutz ten, um sie zu bedauern und Buße dafür zu tun." (9) Jeder Augenblick des
von Klostermauern, wenn man sich nicht die Überzeugung von der Ver- Lebens muß in der Verfassung verbracht werden, in die die artes moriendi
gänglichkeit der irdischen Dinge zu eigen macht, inmitten derer man lebt, des Mittelalters den Sterbenden versetzen wollen: in bora mortis nostrae,
die man rastlos in Bewegung setzt und sich zunutze macht. Deshalb steht wie der zweite Teil des Ave Maria sagr, das gerade im 16. Jahrhundert
die Meditation über den Tod im Mittelpunkt der Lebensgestaltung. "Die volkstümliche Verbreitung gefunden hat.
Bilder des Todes", schreibt Jean de Vauzelles, "sind der wirkliche und ei- Diese Anschauung läßt sich durch zwei Beispiele verdeutlichen. Das eine
gentliche Spiegel, aus dem man die Ungestalten der Sünde ersehen und die gehört in die Zeit der Gegenreformation. Es wird von der kirchlichen Tra-
Seele schmücken muß.. In den geistlichen Traktaten des 16. und 17.Jahr- dition dem Heiligen Ludwig von Gonzaga zugeschrieben. Eines Tages, als
hunderts handelt es sich also nicht mehr darum - oder ist es wenigstens der jugendliche Heilige sich mit dem Ballspiel vergnügte, fragte man ihn,
nicht mehr vorranBig -, die Sterbenden auf den Tod vorzubereiten, sondern was er wohl tun würde, wenn er wüßte, daß es ans Sterben ginge. Man stelle
die Lebenden darin zu üben, den Tod beizeiten zu bedenken. sich vor, was ein Mönch des 10. bis 15. Jahrhunderts darau{ geantwortet
Dafür gibt es regelrechte Techniken; eine Art Einübung des Denkens hätte: daß er alle seine weltlichen Angelegenheiten fahrenlassen und sich
und der Vorstellungskraft, deren Meister der Heilige Ignatius von Loyola ganz dem Gebet und der Buße weihen, daß er sich in einer Einsiedelei ein-
mit seinen Geistlicben Abungen ist. Sie sind zur Genüge bekannt. '§0'ir wol- schließen würde, in der ihn nichts mehr von der Sorge um sein Seelenheil
len sie hier nur soweit in Betracht ziehen, wie der Tod in dieser neuen öko- abziehen könnte. Oder ein Laie dieser Zeitz d,aß er sich ins Kloster zurück-
nomie zum Vorwand für eine metaphysische Meditation über die Hinfällig- ziehen würde. Doch was antwortet dieser iunge Heilige der Gegenreforma-
keit des Lebens wird, um nicht gar dessen Gaukelbildern zu erliegen, Der tion: ganz einfach, daß er sein Ballspiel fortsetzen würde.
Tod ist nicht mehr als ein Mittel zum besseren Leben. Er könnte fa auch Die andere Anekdote stammt von einem englischen, den Ideen der Re-
Einladung zur Lust der Epikuräer sein; im Gegenteil : er ist Verweigerung formation verpflichteten Humanisten des Jahres 1534. (10) Vom Stoizis-
jener Lust. Gleichwohl ist das Skelett auf den Trinkbechern der epikuräi- mus beeinflußt, greift er auf Senecas Bericht über den Tod des Canius zu-
schen Genießer das gleiche wie auf den Stichen der Geistlicben übungen. rück, um ihn als Exempel hinzustellen.
Der französische Reformierte und der gallikanische Theologe sprechen Der Philosoph Canius war von Caligula zum Tode verurteilt worden.
genau wie der römische Kardinal. In diesem Punkt herrscht in der christli- Als der Henke: ihn holen kam, um ihn zur Folter zu geleiten, fand er ihn
chen Elite Übereinstimmung. Man ist fortan davon überzeugt, selbst bei beim Schachspiel, so wie der Heilige Ludwig sich mit seinem Ballspiel ab-
traditionalistischen und konservativen Katholiken, für die das Zeugnis der gab. Und er §/ar sogar auf dem besten Wege zu gewinnen!
mittelalterlichen Mönche seine Gültigkeit behält, daß - abgesehen vom Für einen Menschen, der sich wirklich auf den Tod vorbereitet hat,
Einwirken einer außergewöhnlichen Gnadenmacht, der überdies nicht gleicht jeder Augenblick des Lebens dem des eigentlichen Hingangs.
vorgegriffen werden darf - nicht der Augenblick des Todes selbst dem ver-
"Möchten wir doch", sagt Calvin (11), "bei bester Gesundheit immer den
Tod vor Augen haben, [so daß] wir nicht immer nur unsere irdische Rech-
Celuy qui s'est toujoars. . . liüer sein Vertrauen immer auf Gott gesetzt hat,/Lebt [bereits] im nungsführung bedenken, sondern, wie man sagt, stebenden Fulles bereit
Leben in einem so einträchtigen Glauben,/ Daß der Tod ihn auch ohne Tod vergöttlicht. (Duples- sind."
sis-Mornay) In einer seiner Familiarum colloquiorurn formulde beschreibt Erasmus

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die konkreten Auswirkungen dieser Geistesver{assung im Alltagsleben: bigen anhalten, ihr Vertrauen in diese Zeremonien [des Todes] zu setzen
Bei einem Schiffbruch geraten Seeleute und Passagiere in Panik. lVährend und eben das außer acht zu lassen, was uns zu wahren Christen macht."
die Mehrzahl die Heiligen anfleht und das Salae Regina anstimmt, sich ins Erasmus hält das Vertrauen in die wirksamen Eigenschaften der letzten
Gebet flüchtet oder auf einen Eingriff des Himmels wartet, wie es die Bräu- Zeremonien aus denselben Gründen für Aberglauben wie der oben zitierte
che der Zeit anraten, bewahrt eine tapfere und vernünftige junge Frau, an- Jean de Vauzelles und manche andere Autoren des 1 7' Jahrhunderts' weil es
statt den Kopf zu verlieren, die Fassung und handelt weder aus Angst noch ihnen letztlich darauf hinauszulaufen scheint, einem liederlichen Leben die
aus Trotz, sondern einfach so, wie es ihr der gesunde Menschenverstand Rettung in extremis zu verheißen. ,§flenn dann schließlich ihre letzte
eingibt. all den Leuten blieb niemand so ruhig wie eine junge Mut- Stunde schlägt, stehen auch für diese Gelegenheit Zeremonien bereit. Der
"Ijnter
ter, der ein Kind an der Brust lag, das sie stillte [. ..]. Sie allein schrie nicht Sterbende legt seine Generalbeichte ab. Man reicht ihm die Letzte Ölung
und weinte nicht und machte keine Gelöbnisse. Sie schloß das Kind in ihre und das Viatikum. Kerzen brennen, und'W'eihwasser wird versprengt' Man
Arme und betete still vor sich hin." Ein Gebet, das sich wie die Fortsetzung hat nicht versäumt, den Sündenablaß zu erteilen. Man hält dem Sterbenden
ihres Alltagsgebetes ausnimmt und keinerlei außergewöhnlichen Bezug auf eine päpstliche Bulle vor, und allenfalls verkauft man sie ihm sogar. Dann
das jetzige Ereignis erfordert. Ihre Gelassenheit und Schlichtheit retten sie, regelt man den pomphaften Vollzug des Leichenbegängnisses. Man entreißt
die als erste am Strand anlangt: "Wir hatten sie auf eine gebogene Planke dem Sterbenden seine letzten feierlichen Verpilichtungen. Jemand brüllt
gesetzt und so festgebunden, daß sie nicht leicht herunterrutschen konnte; ihm ins Ohr und beschleunigt damit sein Ende, wie es häufig vorkommt, sei
dann gaben wir ihr ein Brett in die Hand, das sie als Ruder benutzen es durch he{tige Schreie, sei es durch seinen nach \{ein stinkenden Atem."

konnte; unter allen guten '§ü'ünschen setzten wir sie in die Flut und stießen Das ist die Karikatur der traditionellen Szene der Absolution am Sterbe-
sie mit einem Bootshaken vom Schiff ab, das ihr hätte gefährlich werden bett, wie sie auf dramatischere und eher klerikale Weise von den drtes mo-
können. In der Linken hielt sie ihr Kind und ruderte mit der Rechten." Sie riendi geschildert (und deshalb für Erasmus so unerträglich) wird. Die Kir-
ruderte, wie der Heilige Ludwig von Gonzaga Ball spielte und der Stoiker che der Gegenreformation bewahrt davon nur die wesentlichsten Elemen-
Canius Schach. "Was tut Christus anderes., kommentiert Erasmus, "als te, schränkt die parasitären Frömmigkeitsbekundungen ein und legt allen
uns zu einem Leben in steter'\tr(i'achsamkeit einzuladen, wie wenn wir au- Nachdruck auf die Letzte Ölung und das Viatikum. Die volkstümliche
genblicklich sterben müßten, was anderes als uns auf die Ausübung der Frömmigkeit aber bleibt den Bußpsalmen, den Fürbittgebeten' treu.
Tugend zu verpflichten, wie wenn uns ewig zu leben bestimmt wäre." (12) Überdies iäßt Erasmus gelten, daß an diesen Bräuchen nicht alles in
Aber diese beispielhafte Einstellung der f ungen schiffbrüchigen Frau hält Bausch und Bogen zu verurteilen sei. "Ich räume ein, daß diese Dinge heil-
Erasmus in seiner Zeit fijr außergewöhnlich - oder möchte es wenigstens. sam sind, namentlich die, die uns aus der Tradition der Kirche überkommen
Die Angst vor dem Tode und die gleichsam magischen Rezepte, um über sind [vor allem die Sakramente]. Ich halte iedoch dafür, daß es andere, un-
ihn zu triumphieren, haben sich nämlich, dank der skandalösen Propagan- aufdringlichere gibt Ipersönlichere iedenfalls, von der individuellen Bezie-
da der Bettelmönche, berächtlich gemehrt. "§(ieviele Christen habe ich hung zwischen Gott und dem Menschen geprägte], dank derer wir diese
nicht ein elendes Ende nehmen sehen ! Die einen setzen ihre Hoffnung auf lVelt leichten Herzens und mit christlichem Vertrauen verlassen'"
Dinge, die es gar nicht verdienen [eben das ix. die aparitia!], die anderen Die reformatorische Eiite der protestantischen wie der katholischen Kir-
ihrer Ruchlosigkeit sich bewußt und von Zweifeln gepeinigt, werden in che hat - auf den Spuren der Humanisten - nicht aufgehört, den späten
ihrer letzten Stunde dermaßen von den Unwissenden bedrängt [den "geist- Reuetränen, wie sie die Angst vor dem Tode entlockt, mit Argwohn zu
lichen Freunden" Gersons], daß sie nahezu verzweifelt den Geist aufgeben begegnen. Zweifellos tritt dann, unter dem Einfluß fortbestehender volks-
fund gleichwohl war die Verzweiflung eine der klassischen Versuchungen tümlicher Bräuche, im 19. Jahrhundert in der katholischen Kirche eine
des Todeskampfes, deren Gefahr die "geistlichen Freunde" sehr wohl Kehrtwendung in Erscheinung, ein Rückgriff hinter die Gegenreforma-
kannten und die sie zu bannen versuchten, wenn man den artes moriendi tion. Deshalb bildeten die vom subtilen §0andel der artesmoriendiausgelö-
glauben darf]." "Ich tadle die Verbrecher und Abergläubischen oder, um sten Reflexionen seit dem 16. Jahrhundert ein neues Genre aus, neu' wenn
meine Sprache zu mäßigen, die Einfältigen und Unwissenden, die die Gläu- es auch die alten Etiketten beibehielt; es handelte sich nicht mehr um Ster-

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behandbücher, sondern um eine neue Kategorie von Erbauungsbüchern Sterbesakramente erhalten, das Kruzifix geküßt und den Beistand eines
zur täglichen Andacht: eine fortan geiäufige Frömmigkeitsform. Priesters bekommen und ihm die religiösen Formeln nachgesprochen zu
Sicherlich bringen sie auch weiterhin einen Abschnitt, der den Besuch haben, die man die Kranken gewöhnlich sprechen läßt. Venn das ausreich-
am Krankenbett, die dem Sterbenden zu widmende Pflege und die Sterbe- te, wäre eure Sorglosigkeit sicher weniger strafbar; aber es ist bei weitem
sakramente und letzten Zeremonien behandelt. Die römische Kirche kennt noch nicht genug. Auf diese Veise sterben heißt einen Tod sterben, der
ihre Macht. Umgekehrt läßt ein anglikanischer Autor, wenn auch ebenso zwar für die Heiden tröstlich, für den Sterbenden gewöhnlich aber unheil-
wenig radikal wie Taylor, sie als bloße Bräuche gelten. W'enn er auch einige voll ist, wenn er keine anderen Vorbereitungen getroffen hat. [. . .] Die Sün-
Ratschläge für die letzten Stunden gibt, so gesteht er doch frei, daß die der rufen im Tode Herr, Herr, d. h. daß sie, wenn man so will [eine merk-
Sterbeszene für ihn nichts mehr von der Intensität hat, die sich bei den würdige Einschränkungsfigurl, zwar die Sakramente empfangen, deshalb
katholischen Autoren wie Bellarmin zum größten Teil erhält. Die traditio- aber doch nicht in den Himmel kommen. Denn wenn es nur einiger christ-
nelle Zeremonie ist zum weltlichen Ritual ohne religiöse oder moralische licher Handlungen vor dem Tode bedürfte, um sich das Himmelreich zu
Bedeutung geworden. "Bußtränen auf unseren Sterbebetten sind wie die verdienen, so folgte daraus doch, daß Jesus Christus die Unwahrheit ge-
'Waschung
des Leichnam s, it is cleanly and ciztil, aber unter der Haut verän- sprochen hätte. Man muß sich lange vorher darauf einstellen, d. h. es ist
dert das nichts." (13) nicht weniger als das ganze Leben erforderlich, um sich auf den Zustand
'Was
mitten im 18. Jahrhundert in Frankreich dem verbreitetsten Fröm- vorzubereiten, der einem guten Tode dienlich ist und den die Vermessenen
migkeitsgefühl geboten wurde, unterschied sich kaum von dem, was wir mit einem Schlage zu erreichen ho{fen, in dem Augenblick, da er sich an-
bei den Humanisten gefunden haben, bei Taylor und Bellarmin. Le Miroir kündigt." (14)
du pöcheur et du juste pendant la vie et ä l'beure de la mort (14) macht schon
im Titel deutlich, daß es sich ebenso sehr und mehr noch um die Kunst zu
leben als um die Kunst zu sterben handelt. Er stellt das Geschick des Sün- Die volkstümlichen Andachtsformen
ders und das des Gerechten in einem dramatischen Konflikt einander ge- des guten Todes
genüber. Ein im übrigen mittelmäßiges und flaches Erbauungsbuch, läßt es
doch den Einfluß des Ignatius und die Hervorhebung der Vorstellungskraft Deshalb haben dieselben reformatorischen Moralisten nicht aufgehört, die
durchscheinen. Es empfiehlt, sich den eigenen Tod möglichst deutlich aus- abergläubischen Praktiken zu beklagen, die die wunderbare Erkenntnis der
zumalen: "Es ist also sicher, daß ich binnen zwei Stunden sterben werde. verborgenen Dinge verhießen, um daraus Nutzen zu ziehen und seine Seele
[. ..] Mein Leib wird nur noch ein scheußlicher Kadaver sein, der jeder- im letzten Augenblick zu retten wie mit einem rWür{elwurf, dessen man
mann Grauen einflößt fBellarmin enthielt sich solcher Beschwörungen, sich sicher glaubt. "In manchen Stundenbüchern", so Pater Do16, ein Jesu-
möglicherweise deshalb, weil sie zum klassischen Methodenkanon der Me- it, im Jahre 1554, "stehen Gebete zu Unserer Lieben Frau und den Heiligen
ditation gehörten]. Man wird mich ins Grab werien, das man dann mit Erde gedruckt, in deren Titelköpfen merkwürdig apokryphe Dinge auftauchen,
füllt. Mein Leichnam wird von'§flürmern zerfressen werden und verwe- etwa:'Wer dieses Gebet spricht, wird die Stunde seines Todes im voraus
sen." (14) Noch einmal werden diese zur Meditation anempfohlenen Bilder wissen [eine alte rVißbegier, auf die gelegentlich die Divinationsgabe der
als bewährte Mittel hingestellt, sich auf lange Sicht einen guten Tod durch mittelalterlichen Magier reagierte], denn lJnsere Liebe Frau wird ihm
die heilsamen Entschlüsse zu sichern, die sie eingeben; sie sind nicht dazu vierzehn Tage zuvor erscheinen [. . .]. Die Gebete sind nützlich, aber man
bestimmt, unmittelbar auf einen natürlichen Tod vorzubereiten. muß sich vor solchen unglaubwürdigen Überschriften hüten." (15)
Andererseits stellt sich der Autor mit Nachdruck dem Irrtum entgegen, Die römische Kirche hat in ihrer Alltagspraxis nicht ausdrücklich alle die
wie er bereits von Jean de Vauzelles im 16. Jahrhundert beklagt wurde und Frömmigkeitsformen des guten Todes geächtet, die von ihrer Elite ver-
zu seiner Zeit sehr verbreitet war, daß man nämlich nur auf einen guten Tod dammt wurden. In Virklichkeit füllten die Zeugnisse dieser Frömmigkeit
zu hoffen brauche, um ein elendes Leben zu sühnen: "Ihr seid ohne Zweifel ihre Gotteshäuser und zogen das Volk an, das ihnen hartnäckig treu blieb
überzeugt, daß es für ein christliches Sterben genügt, vor dem Tode die und eine besondere Anhänglichkeit an Skapulier und Rosenkranz zeigte:

390 391
I
Das Skapulier gab dem, der es trug, schon zu Lebzeiten die Gewißheit eines Offenbar hat sich ein Kompromiß zwischen den offen als Aberglauben
guten Todes ein - oder wenigstens die Gewißheit der Linderung seiner Zeit verworfenen, aber dennoch dauerhaften Glaubensinhalten und dem Rigo-
im Purgatorium. G. und M. Vovelle haben die Verknüpfung des Skapuliers rismus der Reformatoren gebildet. Er läßt sich an den Retabeln der Seelen
des Heiligen Simon Stock und des damals dem Heiligen Dominikus zuge- im Fegefeuer ablesen; sie verbinden volkstümliche Vorstellungen mit einer
schriebenen Rosenkranzes mit der vom Ende des 18. bis ins 19. Jahrhun- Lehre, die lange auf eine kleine Elite von Theologen (den Heiligen Thomas
dert sehr verbreiteten Verehrung der Seelen im Fegefeuer deutlich heraus- von Aquin) oder philosophischen Schriftstellern beschränkt blieb (etwa
gearbeitet. Beide waren Attribute, die auf den Retabeln zum Schmuck der Dante): die Lehre vom Purgatorium. Das Purgatorium taucht in der "Öf-
Kapellen für die Seelen im Purgatorium häufig dargestellt wurden. (16) Auf fentlichkeit" nicht vor der Mitte des 17. Jahrhunderts auf (in Pariser Testa-
einer Altartafel der Kirche von Perthuis führt ein Engel eine Seele aus den menten findet man es vor 1640 nur selten). Dann aber wird es volkstümlich
Flammen zum Himmel, die das Skapulier in Händen trägt. In der Kirche - zur gleichen Zeit übrigens wie das Seelengrab und die Stiftungstafel. In
von Pelissane trägt die gerettete Seele einen ums Handgelenk geschlunge- der Vorstellung des Purgatoriums tre{fen die willige Aufnahme der radika-
nen Rosenkranz. len Ideen der Reformatoren und ihre Abschwächung durch die Beibehal-
Damals, als sich das post-tridentinische Frömmigkeitsattribut des Ro- tung alter Praktiken zusammen. Derselbe Kompromiß läßt sich bei den
senkranzes verbreitete, entwickelte sich sicher auch die Sitte, die Hände der Testamenten verfolgen. Es gelang den herrschenden Lehren nicht, die Un-
Verstorbenen, die bereits in der traditionellen Haltung des mittelalterlichen ruhe angesichts der letzten Stunde und den tiefverwurzeiten Glauben an all
gisant gelaltet waren, wie die der Seelen im Purgatorium mit einem Rosen- die außergewöhnlichen Möglichkeiten dieses unvergleichlichen Augen-
kranz zu umschlingen, und das ist bis auf unsere Tage so geblieben. blicks zu tilgen. Im Jahre 1652 entschließt sich "ein Mädchen im vollen
Noch im 19. Jahrhundert v/aren zählebige Vorstellungen über die Virk- Besitz ihrer Rechte" und "bei bester Gesundheit", ihr Testament zu ma-
samkeit des Skapuliers verbreitet. Ein unerwartetes, aber pathetisches chen. Die Zeit zwischen dem Augenblick, da sie es abfaßt, und ihrer letzten
Zeugnis dafür findet sich, wo man es sicher nie gesucht hätte - in einem Stunde kann aber noch lange währen. Diese Distanz, die von den reforma-
Jugendwerk von Charles Maurras, das er später verleugnet hat. Die Erzäh- torischen Moralisten befürwortet wurde, ängstigt sie, wie man deutlich
lung mit dem Titel La Bonne Mort war in der ersten Auflage von Le Che- spürt. Sie wünscht sich also, "daß Gott mir die Gnade zuteil werden lasse,
min de Paradb enthalten, eines im Jahre 1891 verö{fentlichten, ein wenig daß ich am Ende meiner Tage eine umfassende Beichte ablegen und Buße
skandalösen Buches, und wurde in der Neuausgabe von 1,924 (17) getilgr. für alle meine Sünden tun kann, und daß er mir vergönne, als gute und
Sie erzählt die Geschichte des Selbstmordes eines Schülers eines geistlichen wahre Christin zu sterben und von letzt an [notariell beglaubigt] allen Ver-
Stifts, der, kaum erwachsen, Maurras wie ein Bruder ähnelt. Er hat sich suchungen abschwöre, die mir zustoßen könnteno. (18) Man ahnt, daß sie
erhängt, weil er sich von der Sünde des Fleisches versuchen ließ und fürch- nicht vollkommen ruhig ist, allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz.
tete, als Verdammter zu sterben, wenn er ihr nachgäbe. Ein Fall für Julien Ein Priester des Jahres 1690: "Bei vorgerücktem Alter und schweren
Green. Tatsächlich war er sicher, von derJungfrau gerettet zu werden, so- Krankheiten ausgesetzt, die mich sehr häufig befallen und mir anleündigen,
lange er das Skapulier trug - ungeachtet der Schwere seiner Verfehlungen. daß der Tod nahe ist [der traditionelle Fingerzeig] und ich zu leder Stunde
Später würde er vielleicht Gefahr laufen, das Tragen des Skapuliers zu ver- sterben kann [er hat den Fingerzeig abgewartet und sich nicht dem neuen
gessen, und, irgendeiner Verrücktheit folgend, in ewige Verdammnis ge- Brauch verschrieben, dem sich dasjunge Mädchen des Jahres 1652 beugtl,
stürzt. Deshaib war es besser, sich seine gegenwärtige Sicherheit zunutze- habe ich mich verpflichtet, um nicht überrascht zu werden Idenn die Abfas-
zumachen, sich zu töten, solange er das wundertätige Amulett am Leibe sung eines Testaments bleibt immer noch wesentliche Pflicht, sowohl in
trug, und sich so das ewige Leben zu erwirken. Eine befremdliche Erzäh- protestantischen als auch in katholischen Traktaten], so bald als möglich zu
lung, deren Kern sich jedoch zweifellos aus echten Erinnerungen eines von tun, was ich im letzten Augenblick meines Lebens getan haben möchte
Selbstmordabsichten gequälten Heranwachsenden entwickelt hat, dem [vielleicht ist es besser, es jetzt zu tun, denn man weiß nunmehr, daß das
seine geistlichen Lehrer oder seine Mutter von der übernatürlichen Heil- sehr riskant ist], wenn ich, aufgrund der Schwäche, die Körper und Geist
kraft des Skapuliers erzählt hatten. befallen, vielieicht nichts mehr ausrichten kann." (19)

392 393
Offenkundig bleibt der Tod im Alltagsleben ein dramatisches Ereignis. gen nicht mehr die schreckliche Personifizierung des Bösen, das von allen
Aber die Männer der Kirche zeigen sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert menschlichen und göttlichen Kräften erdrückt wird, gegen die es sich auf-
bestrebt, das nicht gelten zu lassen, und versuchen im Gegenteil sogar, seine gelehnt hat. Es bedeutet ihnen wenig, daß der Vollzug des Todesurteils in
Intensität abzuschwächen.'t Diese Einstellung der Humanisten und Refor- schweren Fällen wie eine Liturgie in aller Öffentlichkeit zelebriert wird.
matoren wirkt sich zunehmend mehr auf die Alltagswirklichkeit aus. Die Für lange Zeit neigte die öffentliche Meinung des Mittelaiters der Auffas-
heutigen Historiker setzen sie umstandslos mit dem Phänomen der Moder- sung zu, daß der Verurteilte eine bereits der Hölle verschworene Kreatur
ne gleich, und sie haben zweifellos recht. \ü(ir werden uns jetzt für die Fol- des Teufels sei. Jeder geistliche Trost schien ihr folglich sinnlos, unstatthaft,
gen dieser Einstellung und ihre tiefere Bedeutung zu interessieren haben. wenn nicht gar frevelhaft. Die Kirche, die diese Au{fassung nie geteilt hat,
machte die Anwesenheit eines Beichtvaters neben dem Henker verbindlich.
Darüber hinaus war der zum Tode Verurteilte für Bellarmin und die Au-
Die Folgen der Entwertung des guten Todes : toren in seiner Nachfolge durch sein Leiden und seine Buße tatsächlich
Der nicht-natürliche Tod. rehabilitiert. Seine Frömmigkeit hatte seine Hinrichtung in Sühne verwan-
Die Mäßigung. Der schöne und erbauliche Tod delt, und sein Tod wurde zum guten Tod, besser als mancher andere. "Venn
sie angefangen haben, im irdischen Leben zu sterben", schreibt Bellarmin,
Die erste Folge der Entthronung und Desakralisierung des Todes ist die, "beginnen sie in der glückseligen Unsterblichkeit zu leben."
daß er seine gleichsam magischen, jedenfalls irrationalen und von primiti- Die zweite Folge der Entwertung des »genauen« Todes, der Todesstunde
ver \Vildheit bestimmten Kräfte einbüßt. Das gilt auch für den plötzlichen - läßt sie sich, wie es Aiberto Tenenti letztlich vorschlägt, als Neubewer-
und den gewaltsamen Tod. Beide werden banalisiert. §?eder Salutati noch tung des Lebens auffassen? Tenenti sieht, wenn ich ihn richtig verstehe,
Erasmus oder Bellarmin sehen in der mors improvisa noch eine Gef ahr ; die darin die zweite Etappe einer älteren Strömung, deren erste Außerung
beiden ersten Autoren ziehen sie sogar den entwürdigenden und mit dann die makabre Reaktion gewesen wäre. Ich räume ein, daß die makabre
schweren Leiden verbundenen langen Krankheiten vor: Das Nierenstein- Bildsprache zwar eine entfesseite Liebe zu Dingen und menschlichen \iü,e-
leiden treibt Erasmus, sich den Tod zu wünschen, und er gedenk t der graaes sen zum Ausdruck gebracht hat; andererseits glaube ich jedoch, daß die
auctores der Antike, die "nicht ohne Grund sagen, daß der plötzliche Tod Abwendung vom Tode - Gegenstand unserer augenblicklichen Uberlegun-
das größte Glück des Lebens ist". "In der Tat ist die Seele, die sich ein für gen - keine zweite Phase dieser selben Gefühlsentwicklung ist, sondern
alle Male dem göttlichen \(illen überantvr'ortet hat, bereit, einen tausendfa- eine andere, asketischere, wenn nicht sogar nüchternere Konzeption des
chen Tod zu erleiden." Lebens zum Ausdruck bringt.
Die Einstellung der Reformatoren zur Hinrichtung der zunr Tode Verur- Die Einstellung des Hochmittelalters zur'W'elt und zu den Dingen dieser
teilten ist ebenso überraschend. Für sie hat die Hinrichtung - wenn auch 'Welt, zum Mammon, ist eine doppelte: einerseits verdammenswürdige
wohl nicht in der gelebten Alltagswirklichkeit - den Charakter eines feierli- Liebe, die die Autoren des l6.Jahrhunderts maßlos schelten und die aparitia
chen und ausgleichenden Opfers eingebüßt. Der Schuldige ist in ihren Au- heißt; andererseits endgültiger Bruch, totaler Verzicht, Verteilung der Gü-
ter an die Armen und tVeltabkehr in einem Kloster. Es gibt nur ein Ent-
weder-Oder, und der einzige Kompromiß besteht in einem komplexen Sy-
" Dennoch läßt sich in Frankreich in der zweiten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts eine Rückbesin-
nung der christlichen Apologeten und ihrer Gegner, der atheistischen oder gar deistischen Philo- stem von Versicherungsmaßnahmen, in dem die materiellen Reichtümer
sophcn, auf die hora mortis beobachten, wie R. F-ayre - La mort au siicle des lumiires, Lyon, von den geistlichen Schätzen verbürgt werden, zu denen sie ihrerseits bei-
Presses Universitaires de Lyon, S. I 86 ff. - deutlich gemacht hat. Diese Rückbesinnung kommt in tragen (Kapitei 3 und 4).
der neuen Bedeutung zum Ausdruck, mit der fortan der gute, d. h. der friedliche Tod ausgestattet
Seit der Renaissance - und zugleich mit der Abkehr von der hora mortis
wird, seit der - neue - Gegensatz von Gläubigen und Ungläubigen den rraditionellen von
Gerechten und Ungerechten abgelöst hat. Künftig erheben der Gläubige und der Ungläu-
zugunsten des gesamten Lebenslaufes - treten neue Verhaltensweisen in
bige, jeder für sich, Anspruch auf den guten und bedrohen den jeweiligen §üiderpart mit der Erscheinung, in denen eine unterschiedliche Bewertung der Tugenden und
Aussicht auf den wilden und aufrührerischen Tod. Verfehlungen zum Ausdruck kommt.

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g
Der Mensch - soviel steht fest - muß in der Velt leben, wenn er auch Car sans regret de päre, möre ou sceur,
nicht von dieser Welt ist. Die Zuflucht im Kloster wird nicht mehr als die N'ay mömoire aooir de rien ga bas.
vollkommene chriscliche Haltung dargestellt. Es gilt als ausgemacht und Mon äme print ä soy mon redempteur. (21)
wird dem Menschen anempfohlen, daß er von seinen Gütern Gebrauch
macht wie Abraham und Salomon, daß er jedoch beherzigt, daß er diesen Die aoaritiaist maßlose, überschwengliche Liebe zur'Velt. Mehr als eine
Reichtum nicht selbst besitzt, sondern nur sein Nutznießer ist. Diese mora- Sünde, deren man sich schämt oder die man bereut, ist sie odium Dei,lHaß
lische Betrachtungsweise ist keine merkwürdige Eigenheit frommen Den- auf Gott, der zur Verhärtung und zum Trotz drängt, zum Bündnis mit dem
kens, sondern findet sich, durchaus häufig, in den geläufigen Vorstellungen Teufel. Die ihr verfallen sind, sind Verstockte, Hochmütige.
und Testamenten beliebiger Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts. \Wir Das odium Dei, dem im Gesamtzusammenhang der Versuchungen,
sind ihr bereits begegnet. (20) Bellarmin hat diesbezüglich eine geradezu denen der Mensch des 16. und 17. Jahrhunderts sich ausgesetzt sieht, ein
unerschütterliche Meinung: In den Beziehungen zu anderen Menschen ist bedeutsames Kapitel gewidmet ist, hat im Traktat Bellarmins zwei Aspekte
jedermann Herr seines eigenen Hab und Guts. Es kann sich nicht darum und symbolisiert zwei Seiten ein und derselben Verfehlung. Die eine ist die
handeln, die Legitimirät des Eigentums in Zweifel zu ziehen. In der Bezie- der Hexerei: Bellarmin spricht nicht mehr von einem Pakt mit dem Teufel,
hung zu Gott aber, compdratus Deo,ist er nicht mehr als sein Verwalter. sondern analysiert die rationa[e Psychologie der Menschen, die - zu Recht
Dieser Begriff der Nutznießung hat eine neue Tugend zur Folge, deren oder Unrecht - davon überzeugt sind, daß sie in der anderen §flelt, und
Name alt, deren Bedeutung und Färbung jedoch gänzlich neu sind: die sicher auch schon hienieden, die ungeheuren Machtvollkommenheiten des
Enthaltsamkeft, die sobriötö (Mäßigkeir). ,Diese Tugend", schreibt Bellar- Teufels für sich genießen können. Deshalb stellen sie angesichts der Mar-
min, und zwar nicht in einem beiläuiigen moralischen Traktat, sondern in tern und Foltern eine solche Sicherheit unter Beweis; überdies - und das ist
seiner De arte bene moriendi,
"ist nicht nur einfach das Gegenteil von seit den Tagen der Inquisition bekannt - verleiht ihnen der Teufel eine phy-
Rausch oder Trunkenlgil'l«, sie ist synonym mit maßvoller Beschränkung sische Unempfindlichkeit, die sie gegen ede Reue {eit. Die andere Seite des
.f

und Entha]tsamkeit, währen d die aaaritia als amor immoderatus (maßlose odium Deiist die aztaritia.
Liebe) gescholten wird. \iflenn er nüchtern und genügsam ist, ,bewertet der Sehr bezeichne nd ist, daß avaritia und Hexerei im selben allgemeinen
Mensch die Dinge, die zur Pflege und Erhaltung seines Leibes unerläßlich Bezugsrahmen zusammengefaßt werden. Ihnen liegt die gemeinsame - be-
sind, mit seiner Vernunft, und nicht nach seiner Lusr.. Bellarmin fügt wußte oder verworrene, direkte oder indirekte - Vorstellung zugrunde, daß
hinzu, daß diese Tugend sehr selten vorkomme. der Teufel oder der Nicht-Gott auf Erden Macht hat. Um diese Macht sich
So ist die Mäßigkeit in einer Velt, in der der Christ leben und sich heili- aneignen und ausüben zu können - in dieser \Welt wie in jener -, bedarf der
gen muß, nicht nur einfach einsichtiges Verhalten. Sie wird zur Kardinaltu- Mensch Gottes nicht mehr. Gott würde sie ihm sogar im Namen seiner
gend, die die gesamte Lebensführung prägt. Damit wird ihre Bedeutung Vorsehung verweigern !
gerade für die Sexualmoral im allgemeinen und für die Ehe im besonderen Eine \üelt, in der Mäßigkeit herrschen soll, tritt damit langsam und un-
verständlich. Sie bringt Reflexion und Voraussicht ins Spiel, in einem Maße, merklich an die Stelle einer liü'elt des Exzesses, in der Liebe und Verzicht
wie es vordem nicht üblich war. einander, beide gleich überschwenglich, abwechseln. In dieser neuen W'elt
Fortan wird die aoaritia zur verabscheuungswürdigsten Sünde. Noch hat der Tod nicht mehr die frühere Macht, alles durch die dunkle Hoheit
einmal sei darauf hingewiesen, daß sie immer auch die Liebe zu menschli- seines sich ausbreitenden Schattens in Frage zu stellen. Auch der Tod ist
chen Wesen einschließt, die uns heute doch als die legitimste gilt. In dieser dem gemeinsamen Gesetz des Maßes unterwor{en.
Veise spricht Marguerite von Navarra vom Buten Tod und vom freudigen Die letzte Auswirkung des hier untersuchten Phänomens ist ein Modell
und glückseligen Hingang : des guten Todes - der schöne und erbauliche Tod -, das auf das der mittelal-

'r§7ieimI5 JahrhundertavaritiaauchnichteinfachAngstvorMangelundriüiderstrebenvor Car sans regret... Denn ohne Klage um Vater, MLtter oder Scbwester/Habe ich nichts,
Vergeudung und Verausgabung war, wozu sie heute geworden ist. dessen ich in der hiesigen Welt zu gedenken hätte./Meine Seele
nimmt zu sich mein Erlöser.

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terlichen drtes moriendi folgt, die das Sterbezimmer mit höllischen und Luchina - so heißt die junge Frau - war zu cliesem Zeitpunkt »so er-
himmlischen Mächten, mit Erinnerungen ans Leben und Vahngebilden des schöpft, daß sie, wenn auch noch atmend, doch bereits vom Tode gezeich-
Teufels besetzt hatten. Es ist der Tod des Gerechten, der seinen physischen net und unglaublich entstellt erschien, sie, die zu ihrer Zeit so schön, so
Tod nicht erst bedenkt, wenn er nahe ist, sondern ihn sein ganzes Leben majestätisch Sewesen war. Und nachdern sie dann im Herrn entschlafen
Iang bedacht hat: seinem Tod ist weder der bewegte Aufruhr noch die In- war, lösten sich die harte Klarheit und die Spannung in ihrem Antlitz. Ihre
tensität der artes rnoriend,i des Hochmittelalters anzumerken; er ist auch Gesichtszüge verloren ihre Fahlheit und Strenge, ihr abstoßendes Ausse-
nicht genau der Rolands, der des Tagelöhners von La Fontaine oder der hen schwand, und an seine Stelle trat eine edle Schönheit, eine majestäti-
Bauern Tolstois - und doch ähnelt er ihm. Er hat dessen friedliche Ruhe und sche Vürde. So schön und unentstellt, wie sie jetzt war, mochte man nicht
Öffentlichkeit (der Tod der artes moriendi war im Gegenteil dramatisch glauben, daß sie tot war, man hielt sie für schlafendlnon mortua sed dor-
und verinnerlicht: er vollzog sich, ohne daß die corona amicorum seiner miens creditur.l." In diesem Milieu gelehrter und vernünftiger, aber doch
gewahr wurde). sensibler und leicht mystischer Humanisten findet man sich auf das tradi-
Dieses Modell tritt gegen Ende des 14. Jahrhunderts in Erscheinung und tionelle Leitbild des in somno pacls ruhenden gisantzurickverwiesen. Eine
besteht bis ins 18. fort. Alberto Tenenti hat einige ältere Beispiele dafür neue nachdrückliche Betonung aber gilt der Schönheit, der unaussprechli-
namhaft gemacht. chen Schönheit, die nach den letz-ten Schrecknissen des Todeskampfes in
Das erste stammt von Salutati aus dem lahre 1379. (22) Es handelt sich Erscheinung trittl Diese Schönheit wird hier unter andere gleichsam überir-
um den Tod des Hermes Trismegistos, der - wie Sokrates - öffentlich stirbt, dische Erscheinungen einbegriffen, die an den Leibern der Heiligen beob-
im Kreise seiner Freunde. "Bis jetzt verbannter Pilger, kehre ich nun ins achtet wurden und bei Untersuchungen zur Seligsprechung als Beweise
Heimatland zurück lmigro reaocatus in patiaml. Beweint mich nicht, als ihrer Heiligkeit dienten: die Unverweslichkeit des Leichnams und die
ob ich ein Toter wäre. Ich werde beim allmächtigen Schöpf er der Velr eurer Lieblichkeit seines Geruches. Der Leichnam widersteht der universalen
harren." Verwesung und ihren physischen Schrecknissen.
jede Beihilfe der Medizin, augenblicklich alle
Bewegender noch und der kollektiven Sensibilität der beginnenden Neu-
"Dann heilten, ohne
zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts näher ist der folgende Bericht über \üundmale, mit denen ihr Körper bedeckt war, und schlossen sich, ein
einen guten Tod - ein Auszug aus einem Brief von Francesco Barbara an köstlicher Geruch verdrängte den Gestank ihrer Eiterschwären, und jeder-
seine Tochter. (23) Die Sterbende ist eine fromme Frau ,in der Blüte ihrer mann im Zimmer und draußen ldotni et foris)war starr vor Bewunderung..
Jahre", d. h. noch sehr jung. Eine abstoßende Krankheit hat sie befallen, sie Der Briefsteller, der an seine Tochter schreibt, erklärt sich dieses Gesche-
mit Schwären bedeckt und sie gemarterr. Sie bringt ihre Leiden Gott dar, hen durch den Triumph einer reirren Seele über den abgehärmten Leib. Lu-
"der uns heimsucht, um uns zu retten, und der uns den Tod gibt, damit wir china hatte in fide, vix in carne gelebt. Deshalb erschien ihr gleichwohl
nicht sterben." Im Augenblick, da sie fühlt, daß - gemäß der traditionellen wunder, schwärenbedeckter und übelriechender Körper nach ihrem Tode
Ankündigung - der Tod nahe ist, erhebt sie sich, nachdem sie die Sakramen- heil, leuchtend und wohlriechend - aufgrund der Schönheit ihrer Seele. "So
te empfangen hat, und kniet auf dem nackten Boden nieder.',' als ob ihre nobilitas ihn in ein Gewand aus Schönheit gekleidet hätte."
\flelch wundersame Verwandlung des Leibes nach dem Tode ! Sie erscheint
jedoch zunehmend weniger wundersam, in dem Maße, wie die Ze:tvoran-
'r Diese Haltung des Sterbenden ist meines Erachtens im Mittelalter unbekannt: zu jener Zeit
lag der Sterbende ausgestreckt auf der Bahre, in der Srellung des glsazr. In diesem Falle nimmt der
schreitet. \Was hier noch ein außergewöhnlicher Aspekt des Todes des Ge-
Betrelfende die des piant ein, der, wie wir gesehen haben, den giazt abgelöst hat: eine erstaun- rechten ist, wird im 19. Jahrhundert zum banalen, aber tröstlichen Grund-
liche Mimikry des Lebenden, der um Ahnlichkeit mir dem Toten bemüht ist, aber um Ahnlich- zug des Todes des geliebten Wesens. W'ie oft murmeln nicht - selbst heute
keit mit dem glückseligen Toren. Es muß für einen Sterbenden im Todeskampf nicht leicht sein,
sich auf diese Veise zu erheben, um seine schwachen, zitternden G\eder (quassi) zu beugen !
Bellarmin empfiehlt, obwohl er mit Details dieser Art sparsam umgeht, ebenfalls eine solche und der willigen Hingabe zu vollziehen. Es kommt tatsächlich sogar vor, daß die im Spätmittelal-
Stellung, hält sich aber {ür verpflichtet, eine Art Rechtfertigung dafür zu geben: Gott, sagt er, ter und in der gesamten Neuzeit so häu{igen Darstellungen des Todes der Jungfrau sie auf den
verleiht den Todgeweihten häufig die außergewöhnliche Kraft, diese letzre Geste des Glaubens Knien Iiegend abbilden.

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noch - angesichts des zur Schau gestellten und aufgebahrten Toten die Be- versiblen Entwicklung zum Atheismus oder zur wissenschaftlichen Ableh-
sucher, wenn es deren denn noch überhaupt gibt: "Man glaubt, er schliefe." nung von Unsterblichkeit und Jenseits gesehen werden müßte !
Sed dormiens cteditur. Als Erasmus erkrankte, erkannte er im Nierenstein oder im Sturz vom
'§7'ie man sieht, kündigt der schöne und erbauliche Tod der frommen
Pferde das Zeichender Vorsehung, die ihn au{forderte, Tod und Seelenheil
Todesbilder des 16. und 17. Jahrhunderts von fernher bereits den romanti- zu bedenken. J. B. Gelli, dessen Denken Alberto Tenenti untersucht und
schen Tod an; aber täuschen wir uns hier nicht. Er steht noch immer dem dessen Schriften er zitiert hat, reagierte in ähnlichen Umständen anders' Er
traditionellen, dem gezähmten Tode näher. glaubte nicht an Fingerzeige des Todes und überhob sich prahlerisch: "lch
In denselben einfachen und vertrauten Rahmen möchte man den realen erinnere mich, daß ich eine Krankheit gehabt habe, die mich bis an die
Tod des englischen Jesuiten Parson einordnen, wie er von seinen Mitbrü- Schwelle der anderen Welt führte, und doch habe ich mit keinem Gedanken
dern beschrieben wird. Autor einer ars moriendi,die, ziemlich kompliziert, gedacht, daß ich sterben würde. Ich habe mir nichts daraus gemacht, als
einen beträchtlichen Teil von weitschweifigen Erwägungen und Beispielen man mich zur Beichte bewegen wollte [wir sind gar nicht weit vom odium
enthält, ist er seibst, wie sein Biograph (24) vermerkt, in typically Jesuit I)ei Bellarmins]. Väre ich damals wirklich gestorben, so ohne jeden Ge-
fasbion gestorben: "sanft, ohne viel Aufhebens lundramaticdl/7] und mit- danken daran und und ohne fede Qual." (25)
ten in der Arbeit." Dennoch hatte er den uns ungewöhnlich anmutenden Hingehen, ohne davon zu wissen; vergessen, daß es den Tod überhaupt
Einfall, zu verlangen, daß ihm während der Lesung derFürbitten, d. h. wäh- gibt - was kann einem besseres zustoßen ! Das ist es überdies, was dem Tier
rend der Agonie, der Strick um den Hals gelegt werden sollte, der bei der seine überlegenheit über den Menschen ,rerschafft. Auf der Insels Circes
Hinrichtung des Jesuiten-Märtyrers Campion verwendet worden warl fragt, nach Gelli, Odysseus einen seiner in ein Schwein verwandelten Ge-
Der Tod Parsons bestätigt den Eindruck, den der Bericht über das Ende fährten, warum er nicht wieder zu dem Menschen werden will, der er war.
Luchinas hinterlassen hat. Der schöne und erbauliche Tod - Ende eines Das Tier, in das er verwandelt ist, antwortet, das große Verhängnis des
'Welt
gerechten und heiligen Lebens in dieser - ähnelt dem traditionellen Menschen seien sein Bewußtsein des eigenen Todes, die daraus foigende
vertrauten und tröstlichen (oder resignativen) Tod, mit einem kleinen Mehr Angst und das Gefühl des Verfließens der Zeit. Die Tiere haben weder die-
an Dramatik und Inszenierung, an dem Kenner das Zeichen des Barock- ses Bewußtsein noch dieses Gefühl. Deshalb sind die besten Augenblicke
zeitalters ablesen werden. Dieses bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eher des Lebens die, in denen - wie im Schlaf - das Bewußtsein der Dauer aufge-
unauffällige dramatische Element entfaltet sich dann voll in der großen hoben ist.
Rhetorik der neo-barocken Romantik. Anderswo berichtet Gelli von der Auseinandersetzung zweier Freunde,
die sich fragen, was nach dem Tode aus ihnen werden mag. Der eine sagt:
"lch empfehle mich dem, der im Jenseits am meisten vermag, Gott oder
Der Tod des Freigeists dem Teufel." Der andere, im Glauben, daß auch die Seele durchaus sterb-
lich ist, ruft vor dem Tode aus: ,Presto saro f uori d'un gran f osse."Bei Gellt
Dieses auf die abgeklärte Erwägung der eigenen Sterblichkeit gegründete macht sich a1so, wie Tenenti herausgearbeitet hat' große Skepsis hinsicht-
Leitbild des Todes tritt in Gegensatz zu dem des Mittelalters - dem eines lich des Seelenheils und des Jenseits bemerkbar. Der einzige li(ert, der für
von der Einkehr im letzten Augenblick besessenen Lebens. Aber der Ab- ihn zählt, ist "die Nächstenliebe, auf die allein sich die ganze christliche
bau dieser Besessenheit konnte auch andere, für die Frömmigkeit weniger Religion gründet". Also bereits ein Mann der Aufklärung? (25)
vorteilhafte Folgen haben; wenn man schon die Angst vor dem physischen Solche Ideen mögen außergewöhnlich, anachronistisch oder gar wenig
Tode abstreifte, lief man auch Ge{ahr, dabei nur zu erfolgreich zu sein und repräsentativ erscheinen, wenn sie nicht durch das Zeugnis Bellarmins be-
die metaphysische Bedeutung der Sterblichkeit außer acht zu lassen; man kräitigt und bestätigt würden, jenes Bellarmin, der durchaus nicht in den
öffnete sich der Indifferenz und sogar dem Unglauben. Wind redete und Fälle, die zu selten waren, als daß sie zu Besorgnis Anlaß
Und eben das ist tatsächlich eingetreten. Die Fälle sind weder außerge- geben konnten, sicher nicht zitiert und ihnen damit eine gefährliche Ven-
wöhnlich noch abweichend, ohne daß darin immer der Ursprung einer irre- dung gegeben hätte.

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7l

So erzählt er, in Anlehnung an Petrus Baroccius, die Geschichte der bei- Im Hochmittelalter hatten sie die bora mortisinsZentrtm ihrer seelsor-
den sehr gelehrten und frommen Lehrer an derselben Schule, deren einer gerischen Bemühungen gerückt, weil sie fragwürdig geworden war und das
bereits kurz nach seinem Tode totus ardens dem Hinterbliebenen in dessen leidenschaftliche Interesse ihrer Zeitgenossen weckte. umgekehrt lassen
Studierzimmer erschien, um ihm von einem Streitgespräch mit dem äosrls sie seit der Renaissance von eben diesem Thema ab, weil es weniger'frag-
antiquus zu berichten, bei dem er verführt und verdammt worden sei, und würdig ist, wofern es nicht im Gegenteil sogar ernstlich Unruhe zu stiften
ihn zu strenger Rechtgläubigkeit zu mahnen - was denn auch den Erfolg beginnt, aber eine so fleischliche und mysteriöse IJnruhe, daß die Männer
hatte, daß der zweite im §Tortkampf mit dem Teufel obsiegte und das Him- der Kirche sie fürchten und es vorziehen, sie zugunsten einer bitter-süßen
melreich gewann. Meditation über die Hinfälligkeit des Lebens und sein schnelles Verstrei-
Den interessantesten Fall steuert jedoch ein persönliches Zeugnis Bellar- chen zu übergehen.
mins bei. Er selbst wurde ans Krankenbett eines Sterbenden gerufen, der li(endung des mittelalterlichen Todes-
So bringen sie auf ihre'§ü'eise eine
ihm ganz kaltblütig sagte, constanti animo et sine ullo metu: -Hochwirdi- und Lebensgefühls zum Ausdruck, die es zu einem besseren Verständnis
ger Herr, ich habe Euch sprechen wollen, aber nicht um meinetwillen, son- ietzr zu entschlüsseln gilt.
'Was
dern wegen meiner Frau und meiner Kinder, denn ich selbst werde gerade- zunächst ins Auge fällt, ist folgendes: Der Mensch der Neuzeit hat
v/egs zur Hölle fahren, und es gibt nichts, was Ihr für mich tun könntet. begonnen, dem Zeitpunkt seines eigenen Todes mit Zurückhaltung entge-
Und das sagte er mit ruhiger Miene, so als ob er davon spräche, in sein genzusehen. Eine nie zum Ausdruck gebrachte, eine wahrscheinlich sogar
Landhaus oder Schloß zu reisen." Bellarmin bezeugt sein Erstaunen ange- nie deutlich er{aßte Zurückhaltung. Sie hat eine Tendenz zur Abschwä-
sichts dieser kaltblütigen Sicherheit. Er gesellt diesen geizigen und unge- chung jenes vordem - dank der Kirchen - privilegierten Augenblicks frei-
rechten Advokaten den Hexern zu - ar.rfgrund des beiden gemeinsamen gesetzt, privilegiert durch Vermittlung der Andachtsbücher einer Zett,in
Zuges hartnäckiger Verstocktheit. der sie durch den Buchdruck massenhafte Verbreitung fanden' Es war le-
diglich eine kleine, eine unauffällige Distanzierung, die nicht bis zum Be-
Der Tod in vorsichtiger Distanz dürfnis nach Ablehnung, Verdrängung oder Indiiferenz ging-oder gehen
konnte: so mächtig blieb die vertraute Praxis des Todes und der von ihr
Alle vorhergehenden Beobachtungen sind von einem unscheinbaren Um- mitgeführte Schwemmsand von Traditionen und Erfahrungen.
stand religiöser, namentlich seelsorgerischer Art beeinflußt: Die Männer Der Tod wurde dann durch die Sterblichkeit im allgemeinen ersetzt, d. h.
der Kirche haben aufgehört, für die Einkehr in articulo mortisztt werben, das früher in der historischen Realität der bora rnortis verdtchtete Gefüh1
um dafür die rechtzeitige Beherzigung des Todes der Alltagsfrömmigkeit des Todes wurde nun im Gesamtstrom des Lebens verdünnt und aufgelöst
aufzuerlegen. und büßte damit seine ganze Intensität ein.
Muß dieser Nebenumstand als Faktum der Religionsgeschichte gedeutet Das Leben wurde damit einer subtilen Veränderung unterworfen: ehe-
werden, das sich der Initiative einer reformatorischen Elite von Humani- dem von den Pseudo-Toden in kurze Abschnitte geteilt - der wirkliche Tod
sten und Klerikern verdankt? In diesem Falle bezeichnete es vor allem ei- setzte dem letzten Abschnitt ein Ende (26) -, wird es nunmehr voll, dicht
nen §(andel der religiösen Leitvorstellungen, den bewußten Übergang von und zusammenhängend, und der immer gegenwärtige Tod hat darin nur an
einer mittelalterlichen Religion mit dem Übergewicht des Übernatürlichen einem entfernten und leicht zu verdrängenden äußersten Grenzpunkt
zu einer modernen, in der die Moral dominiert. Oder gehört dieser Neben- Raum, dem Realismus der Geistlichen Abungen zum Trotz. Ein Leben
umstand umgekehrt in die Geschichte der globalen Kultur, ist er die Über- ohne Bruch. Man will die Tunika nahtlos; es handelt sich nicht so sehr um
setzung einer elementaren Reaktion der kollektiven Sensibilität auf Leben das Kleid des Glückes und der Lust, sondern um das Arbeitsgewand, aus
und Tod in die Sprache der Kirchenmänner ? Ich gebe dieser zweiten Deu- rauhem Stoff gewoben, übergestreift {ür langwierige und erschöpfende
tung den Vorzug, in der Überzeugung, daß die geistlichen Autoren in der Aufgaben. Dieses Leben, aus dem der Tod in vorsichtige Distanz abge-
Mehrzahl der Fälle eher die Tendenzen ihrer Zeit ausbeuten als daß sie sie drängt worden ist, scheint uns weniger von überschwenglicher Liebe zu
initiieren. Dingen und Menschen erfüllt als das, dessen Mittelpunkt der Tod war.

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Die Auseinandersetzung über die öffentlichen Friedhöfe auf Argumente aus der Praxis zu berufen. \üüenn man Katholiken und Pro-
zwischen Protestanten und Katholiken testanten auf diese §üeise miteinander vermischte, »so setzte man sich der
Gefahr von lJnruhen und Wirren aus". Sie müssen voneinander getrennt
Die vorsichtige Distanz, die wir soeben in den neuen artes rnoriendi ent- gehalten werden, im Leben wie im Tode. Beide Parteien sollen ihre geson-
deckt haben, findet sich wohl auch bei den Friedhöfen. Auch da vollzieht derten Friedhöfe haben. Die Katholiken könnten durchaus die Initiative
sich im 16. und 17. Jahrhundert etwas Neues, etwas sehr Subtiles, über das ergreifen und aus eigenem Antrieb tun, was Henri de Sponde ietztlich von
wir uns klarwerden müssen: es hat den Anschein, daß die Friedhö{e in den den Protestanten verlangt: daß "wir [Katholiken] nämlich bei jeder Gele-
Städten ietzt verlegt werden. genheit einen neuen Friedhof anlegen, den wir weihen und auf den wir die
In einem vom Ende des 16. Jahrhunderts stammenden Büchlein mit dem Leichname der LJnseren überführen lassen, die auf den Friedhöfen liegen,
Titel Plaintes des Eglises reformöes(Beschwerden der reformierten Kirchen die Ihr Euch angeeignet habto. Vir sehen nämlich - wenn ich einmal in der
[27]) {ührten die französischen Protestanten, die damals bereits öffentlich Sprache dieser Katholiken des 16. Jahrhunderts fortfahren darf - darin
anerkannt waren, Klage über die Hindernisse, die ihnen die Katholiken bei nichts prinzipiell Unzulässiges. '§üir hängen nicht so sehr an diesen Örtlich-
der Durchsetzung ihres Anspruches auf freie Grabwahl in den \(eg legten. keiten, die ihr für traditionsgeprägt haltet, und wir werden sehen, daß sie es
Sie behinderten sie "an der Nutzung [der Friedhöfe], die ihnen vormals von gar nicht einmal sind. Was uns angeht - wir geben sie ohne Skrupel her.
der Gerichtsbarkeit zugesprochen wurden oder die sie für ihren eigenen Nur : , Was gewinnen wir dabei ? Denn Ihr wolltet sicherlich alsbald Euren
und gesonderten Gebrauch erworben haben". Diese angeführten Aspekte Anteil daran haben, und wenn man ihn Euch nicht gäbe, so würdet ihr
waren aber in Virklichkeit nicht das Ausschlaggebende. Sie protestierten Barbarei, Unmenschlichkeit rufen und nach Rache schreien."
'§(arum bestehen aber die Protestanten so hartnäckig darauf, auf den öf-
vor allem gegen die "ihnen verweigerte Mitbenutzung der geweihten Fried-
höfe der Katholiken". Eben das lag ihnen wirklich am Herzen. {entlichen Friedhöfen beigesetzt zu werden? ,Warum gebt Ihr Euch nicht
So gaben sich die Reformierten nicht mit den Friedhöfen zufrieden, die mit Euren Friedhöfen zufrieden? 'Was für Klagegründe könnt Ihr denn
ihnen vom Edikt von Nantes zugebilligt wurden: vielleicht glaubten sie noch namhaft machen, wenn Ihr nicht auf den katholischen Friedhöfen
sich da "in profaner f1i6" beigesetzt. "In der Mehrzahl der Städte, in der beigesetzt werdet?" "Veshalb bereitet Euch diese widrige Nachbarschaft
Ihr herrscht, begnügt Ihr Euch nicht einfach mit den öt't'entlichen Friedbö- keinen Abscheu?" "lv[ösh1.t Ihr etwa am Tage der Auferstehung das Ge-
fen, sondern wollt obendrein noch in den Kirchen bestattet werden, in löbnis tun, mit den Katholiken vereint und zusammen von ein und dem-
denen Ihr nichts dagegen ausrichten könnt, daß die Katholiken dort ihre selben Friedhof, aus ein und demselben Grab aufzufahren?"
Andacht verrichten". Gegen ebendiesen Anspruch schrieb Bischof Henri "Es widerstrebt Euch, zu Euren Lebzeiten sowohl die Kirchen als auch
de Sponde eine im Jahre 1598 in Bordeaux erschienene kleine Streitschrift die Friedhöfe zu betreten, und doch fürchtet Ihr Euch nicht, Euch als Tote
mit dem Titel Les Cirnetiires sacrez. in den Kirchen und auf den Friedhöfen beisetzten zu lassen.o Es bedarf
Trotz seiner Neigung zur Polemik gelingt es dem Bischof nicht, eine wohl eines scharfen Verstandes, um daraus solche \flidersprüche abzu-
bestimmte Mißlichkeit vergessen zu machen. Er wagt nicht, das Recht der leiten !

Protestanten auf eine Beisetzung auf einem öft'entlichen Friedhof scho- Diesen Grund haben die Protestanten geliefert, und Henri de Sponde
nungslos anzugreifen. Der hier benutzte neuartige Ausdruck macht deut- teilt ihn uns mit: ,Es sind die Grabstätten und Friedböt'e unserer Väter",
lich, daß dem Friedhof fortan der Charakter der öffentlichkeit beigelegt von denen wir nicht getrennt sein wollen. Eine gewichtige und beeindruk-
wurde, und zwar nicht nur durch die Praxis des Alltagslebens, sondern kende Antwort, bei der man sich fragen mag, ob sie, ebenso präzise, ein
durch eine bewußte Villensentscheidung. Manche Orte wie der Friedhof Jahrhundert zuvor formuliert worden wäre. Kommt darin nicht ein neue
symbolisierten die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, eine Zugehörigkeit, Art von Anhänglichkeit zum Ausdruck, die dann die Bewilligung und Ab-
auf der die Reformierten bestanden und die stärker war als ihre Abneigung tretung von Familienkapellen in den Kirchen und unter den Beinhäusern
gegen eine papistische Promiskuität. begünstigte (vgl. Kapitel 5) ?
Henri de Sponde bewegt sich auf unsicherem Boden. Er zieht es vor, sich Es war ein zu jener Zeit bereits verbreitetes Gefühl, das Henri de Sponde

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zu bestreiten sich hütete. Er läßt es gelten. Er gibt sich damit zufrieden zu ganz eindeutig. Wenigstens in den Städten - und zwar da, wo es Auseinan-
sagen, daß man sich täusche, was das Zielangehr, und ebendas interessiert dersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten gegeben hat - sind die
uns lebhaft. Ihr Protestanten, meint er, macht Euch zum Spielball einer Friedhöfe verlegt worden. H. de Sponde ist sich dessen sicher, und wir
Illusion. Ihr haltet diese öffentlichen Friedhöfe von heute für die Eurer haben keinen Grund, sein Zeugnis in Zweiiel zu ziehen. Er schreibt die
Väter. Sie sind es nicht mehr, und das ist überdies Eure Schuld: "Ihr habt Ursachen dafür den Verheerungen der Religionskriege zu. Seine Beobach-
die Erde, in der Eure Väter ruhten, durchwühlt und mit Euren unreinen tung ist sicher richtig, seine Deutung durchaus an{echtbar.
Rüsseln die Gräber umgepflügt, um Euch an ihrem Fleisch und ihren Ge-
beinen zu sättigen und zu mästen oder mit dem ganzen Spott und der gan-
zen Liederlichkeit der'§ü'elt Euer Spiel damit zu treiben.u Ihr habt die her- Die Verlegung der Pariser Friedhöfe.
kömmlichen Friedhöfe profaniert. Die Vergrößerung der posttridentinischen Kirche
Deshalb sind sie in den Religionskriegen verlegt worden. "Diese Grab-
stätten und Friedhöfe, die heute vorhanden sind und die Ihr Euch aneignen \Wir haben im Gegenteil gute Gründe zu glauben, daß die Religionskriege
wollt, sind nicht mehr die alten, die Ihr Euch vorstellt. Ihr babt jene ahen damit nichts zu schaffen haben. Halten wir uns Paris vor Augen' so läßt sich
gescbleift, und u:ir baben diese neuen angelegt [.. .]. Ihr habt hier nichts sagen, daß die Verlegung der Friedhöfe sicher schon gegen Ende des 16.
großen Stil
mehr zu schaffen." Jahrhunderts einsetzte, weil sie damals H. de Sponde auffiel, im
'Warum hängen sie das nur im Vorbeigehen so daran, »gemeinsam im um sich im 18. dann fortzusetzen. Sie
- - aber erst 17. Jahrhundert begann,
bestattet zu werden., zumal ja der Friedhof ihrer Väter für immer zerstört rührt von der Vergrößerung der Kirchen her, die die neuen Formen von
ist? "\üo ist der Evangelientext (da Ihr ja nur ans Evangelium glaubt), der Frömmigkeit und Seelsorge im Gefolge des Konzils von Trient erforderlich
sagte, daß niemand in seinem Gehölz, auf seinem Feld, in seinem Haus machten. Diese Umwandlung des Raumes - und vor allem die räumliche
gesondert bestattet werden dürfe, wie es doch mit Abraham geschah [. . .] Trennung, die geringe Sorge um die Toten, die ihn bevölkerten - hat eine
und bei den Alten ganz allgemein üblich war, bei den Juden wie den ande- psychologische Bedeutung.
ren?* ,'§üenn Ihr also Friedhöfe haben wollt, so sucht Euch andere als Im Rahmen einer allgemeinen Politik der öffentlichen Hygiene wurden
diese, auf die Ihr kein Recht mehr habt, weder das Recht der Natur [es sind die Sonderkommissionsmitglieder am Chätelet zur Vorbereitung der Verle-
nicht mehr die Eurer Väter] noch das der Menschheit [Bestattungen kön- gung der Friedhöfe außerhalb der Stadt im Jahre 1 763 damit beauftragt, für
nen an beliebigem Orte vorgenommen werdenl noch das der R'eligion." den Generalprokurator des Stadtparlaments eine Untersuchung über den
'§(ir verfügen über die amtli-
Diesem Text lassen sich zwei Folgerungen entnehmen. Die erste ist zwei- Zustand der Pariser Friedhöfe zu erarbeiten.
deutig: Die Mitglieder ein und derselben Familie, ein und derselben pa- chen Protokolle ihrer Besichtigungen und über die Berichte, die ihnen die
trie, d.h. ein und derselben kleinen Gemeinschaft, werden von einem be- Geistlichen und die Kirchenvorsteher übergaben. (28) In jedem einzelnen
stimmten Gefühl angetrieben, ihre Toten an einem gemeinsamen Ort zu Fall hat sich das betreffende Sonderkommissionsmitglied darum bemüht,
versammeln, dessen öffentlicher Charakter, der früher eine Einheit mit das genaue Gründungsdatum des Friedhofes zu ermitteln.
dem religiösen und kirchlichen bildete, jetzt bewußter geworden ist. Sicher Diese Dokurnente haben mich zu den folgenden Bemerkungen angeregt.
ein weiterer Grund dafür, daß dieser Ort geweiht bleibt, wie er es immer Anfangs hatten viele Kirchen, wie zu erwarten war, keinen eigenen Fried-
gewesen ist. Es sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß, was H' de hof und überführten ihre Toten zum Cimetiöre des Innocents. Umgekehrt
Sponde als geweiht gilt, weniger die Gemeinschaft der Gräber ist, auf die er unterhielten Cie Kirchenvorsteher gegen Ende des 18. Jahrhunderts unter
'W'ert den Kirchen regelrechte unterirdische Friedhö{e, Grabgewölbe, die zu-
genug legt, um die Protestanten davon auszuschließen, als die einzel-
ne, die ,besondere" Grabstelle, wie er sie seinen Gegnern anempfiehlt. Man nächst zusammen mit den Familienkapellen der Seitenschiffe als Begräbnis-
hat das Gefühl eines Schwankens zwischen zwei noch undeutlichen Strö- stätte übereignet, dann aber zu einer verbreiteten Form der Grablegung bei
mungen der öffentlichen Meinung. den Reichen geworden waren.
Die zweite Folgerung, die sich aus dem Text erschließen läßt, ist dagegen Es hat den Anschein, daß die Kirchen - soBar die, die ihre Toten zum

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Cimetiöre des Innocents überführen ließen - allesamt über ein attre oder weist. In der Mehrzahl der Fälle hat der Friedhof iedoch den Erweiterungs-
über charniers verfügt haben. Einige davon haben sich erhalten und waren bauten der Kirchen weichen müssen, die meisten davon Seitenkapellen, die
auch im Jahre 1763 noch in Gebrauch: die von Saint-S6verin, von Saint- in diesem Fall dann bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen können wie in
Andr6-des-Arts, von Saint-Gervais und von Saint-Nicolas-des-Champs. Saint-Germain-le-Vieii: ,Vor etwa 300 Jahren hatten sie einen [Friedhof],

Diese letztere war im Jahre 1223 geweiht worden, weil es die Mönche nicht der an die Kirche grenzte; er wurde iedoch aufgelassen, um sie vergrößern
mehr duldeten, daß die Pfarrmitglieder in ihrem Hof bestattet wurden, wie zu können, und sein Terrain ist heute Bestandteil dieser Kirche."
es bis dahin Brauch war. »Man nimmt hier seit unvordenklichen Zeiten In Saint-Gervais wurde der Friedhof nicht zerstört' sondern lediglich
Beisetzungen vor«, erklären nicht ohne Stolz Geistliche und Kirchenvor- verkleinert und damit unzulänglich für die Bedürfnisse der Pfarre: "Die
steher. acht Seitenkapellen, die Beinhäuser und die Kommunionskapelle haben
Es ist aber nun ein bemerkenswertes Phänomen, daß eine große Zahl viel Platz davon eingenommen.<< Auffällig ist die Kommunionskapelle. In
dieser ersten Friedhöfe verschwunden oder zerstört und zu Zeiten, die un- der Mehrzahl der Fälle sind die parasitären Baulichkeiten der Friedhöfe in
bekannt sind, aber nicht sehr weit zurückliegen können, durch andere er- der Tat Kapellen oder Bethäuser, die neuen Andachtsformen entsPrechen
setzt worden sind, die nicht mehr in unmittelbarer Nachbarschaft lagen. - so die Abendmahlskapellen - oder mit der regelmäßigeren Praxis der
Abgesehen vom Cimetiöre des Innocents stammt die Mehrzahl der großen Beichte und der Kommunion oder der Gottesdienstordnung in Zusam-
Friedhöfe im Paris des 18. erst aus dem 17. Jahrhundert. Im Jahre 1763 menhang stehen - so die Kanzlei des Kirchenvorstandes, die (früher unbe-
waren sie also kaum mehr als ein Jahrhundert alt: Saint-Eustache 1643 (der kannte) Sakristei, das Pfarrhaus, das Haus der in weltlicher Gemeinschaft
Cimetiöre Saint-Joseph), Saint-Sulpice 1664 (der Vieux-Cimetiöre), Saint- lebenden Priester, die Säle für den Katechismusunterricht, die Kleinkinder,
Benoit 1615, Saint-Jacques-du-Haut-Pas 1629, Saint-Hiiaire 1587, die \Veltflüchtigen usw.':-
Saint-Etienne-du-Mont 1637, Saint-Martin 1645, Saint-Cöme und Saint- Man muß sich bewußt halten, wie beschränkt die seelsorgerischen Funk-
Damien 1555, Saint-Latrent 1.622, Saint-Jean-en-Gröve um 1500, Sainte- tionen des Klerus vor dem Konzil von Trient waren' wenn man von der den
Marguerite 1634, Saint-Roch 1708 und La-Ville-l'Evöque 1690. Das ist, Mönchen vorbehaltenen Predigt absieht. Die Gegenreformation hat seinen
wenn ich so sagen darf, die erste, vom mittelalterlichen deutlich unterschie- Spielraum erweitert; für seine neuen Aufgaben bedurfte er aber des Rau-
dene Generation des modernen Friedhofs. Die zweite ist die des 18. Jahr- mes, den er sich ohne Skrupel auf dem Friedhof verschaffte. Das erklärt
hunderts. Venn die Friedhöfe der ersten Generation ihren zugehörigen auch die Neuanlage der Friedhöfe des 17. Jahrhunderts.
Kirchen auch nicht "benachbart" sind, so liegen sie doch auch nicht sehr Die Friedhofsgründungen des 18. Jahrhunderts reagieren auf demogra-
weit entfernt, während die der zweiten Generation schlechterdings abgele- phische Zwänge : Angesichts der raschen Bevölkerungsentwicklung ver-
gen sind: Man sucht nach preiswertem Gelände. Saint-Eustache geselh sei- fügten die Pfarrgemeinden über zwei Friedhöfe - oder wollten darüber
nem alten Friedhof aus dem Jahre 1643 dann 1760 einen neuen hinzu, der verfügen können: einen angrenzenden oder wenigstens sehr nahen für die
aber in der Rue Cadet liegt [Saint-Eustache liegt im 1. (Louvre), die Rue Reichen, deren Leichname den \üeg durch die Kirchen nahmen, in denen
Cadet im 9. Arrondissement (Opdra) auf dem rechten Seine-Üfer; d. man einen Gottesdienst zelebrierte, bei dem der Leib zugegen war, und
Übers.]. Der zweite Friedhof von Saint-Sulpice, im Jahre 1746 geweiht, einen entfernteren für die Armen, die ohne kirchliche Veihehandlungen
liegt in der Gegend von Vaugirard 16.b2w.15. Arrondissemenrl. Die Geisr-
lichen beklagten sich übrigens über die Unzuträglichkeit dieser weiten Ent- 't In Saint-Jean-en-Gräve gab es »neben der Kirche und in nächster Nähe des H6tel de Ville
fernung. I einen kleinen Friedhof], der, mit Rücksicht auf die Kleinheit der Kirche, seit etwa vierzig Jahren
[z-u Beginn des 18. Jahrhunderts] aulgelassen worden ist, um don die Kommunionskapelle zu
Man fragt sich natürlich, was aus den früheren Friedhöfen geworden ist.
crrichten".
\(rir wissen, daß einige durch Märkte ersetzr worden sind - so Saint-Jean Die Pfarre Saint-Roch eröffnete im Jahre 1708 einen neuen Friedhof; an der stelle des alten
und La-Ville-l'Evöque -, eine übrigens mit dem rraditionellen Leitbild hatte der Kirchenvorstand eine Kalvarienkapelle errichten lassen (eine neue Andachts{orm fran-
durchaus konforme Umwandlung, die nicht immer das Verschwinden des ziskanischen Ursprungs: der Kreuzweg) die religiöse Unterweisung, den Katechismusun-
"für
\ü(ortes Friedhof nach sich gezogen hat, wie der Friedhof Saint-Jean be- terricht, die Weltflüchtigen und den größten Teil der Beichtstühle".

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vom Sterbeort direkt ins Gemeinschaftsgrab überführt wurden. Die topo- - so etwa der des Kanzlers S6guier in Saint-Eustache, "sein Friedhoi, der
graphische Scheidung des Todes der Reichen und der Armen wurde damit ihm zusagte".
nachdrücklich hervorgehoben: die Kirchen und die angrenzenden oder na- Es besteht kein Zweifel, daß sich die Nabelschnur zwischen Kirche und
hen Friedhöfe für die einen, die entfernten Vorstadtfriedhöfe Iür die ande- Friedhof im Laufe des 17. Jahrhunderts gelockert hat, ohne doch schon zu
ren - eine Trennung, die unsere zeitgenössische Epoche ankündigt. (29) zerreißen. Eine Geschichte ohne 'Worte, die ganz und gar unbemerkt blei-
ben und im Sinne einer fortschreitenden Laisierung gedeutet werden
könnte, während sie doch das riüerk einer gottesfürchtigen Elite ist, aus
deren Mitte sich die Pariser Geistlichen und die Kirchenvorsteher des 17.
Die Lockerur,g der Verbindung
und I 8. Jahrhunderts rekrutierten.
von Kirche und Friedhof
Und doch ist die langsame' übrigens durchaus noch nicht abgeschlossene
Trennung von Kirche und Friedhof nicht der einzige Aspekt dieses Phäno-
\(ährend der letzten beiden Jahrhunderte des Ancien R6gime hat sich also mens. Man führe sich all die Exhumierungen, die Umschichtungen und
die Zerstörung alter Friedhöfe aus kirchenpolitischen Gründen und die Verknäuelungen menschlicher Überreste vor Augen, die man sich bei den
Anlage neuer, zunehmend weiter entfernter vollzogen. Friedhofsauflassungen vorzustellen hat: Man machte sich nicht die Mühe,
Die erste Feststellung, die sich aufdrängt, ist die des Bruches der Einheit die Gebeine sorgsam einzusammeln und sie gesondert und beiseite aufzu-
von Kirche und Friedhof , der für H. de Sponde bereits abgeschlossen ist. Es schichten. Man stampfte vielmehr einen aus Erdreich und Gebeinen ge-
gab offenbar keinen Vorbehalt mehr, einen von der Kirche räumlich ge- mischten Boden zusammen, um darau{ die Baulichkeiten zu errichten, die
trennten Friedhof anzulegen, und in den Städten wurde dieser Fall sogar eine neue Frömmigkeitsform für nötig hielt. So haben die Malteserritter im
zur Regel. Die einzigen Nachteile, die die Entfernung mit sich brachte, 16. Jahrhundert ihr privates Bethaus in La Valetta auf dem Friedhof ihrer
waren praktischer Art: Ermüdung und Zeitverlust für den Klerus, der die Vorfahren errichtet. Geistliche und Laien blieben indifferent angesichts der
Trauer{eierlichkeiten betreute. Das sollte sich gegen Ende des Jahrhunderts Behandlung, die sie den sterblichen Resten ihrer Vorväter angedeihen lie-
ändern, als Bestrebungen aufkamen, alle Einzelfriedhöfe der Pfarrgemein- ßen. Diese Gleichgültigkeit hatte keine Ahnlichkeit mehr mit dem früheren
den zugunsten eines großen Zentralfriedhofes aufzulassen. Die Form der vertrauten Verhältnis von Lebenden und Toten, wie es im Schmuck der
kollektiven Sensibilität, die wir hier untersuchen, ist die der Epoche der Beinhäuser, in den alle Lücken einebnenden Gebeinen zum Ausdruck kam'
Verlegungen des 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts. Die des späten Man war nicht mehr versucht, im Vorbeigehen einen Schädel in diesem
18. ist eine andere (vgl. Kapitel 1 1). makabren Garten au{zuheben - wie Hamlet. Der Schädel wäre {ortgewor-
Die Veriegungen wurden in der Tat von den Kirchenvorständen selbst {en oder als Material verwendet worden . . . wofern er nicht einem geheimen
organisiert. Sie führten dann dazu, daß aus dem Friedho{ ein auf Beisetzun- und esoterischen Zweck diente (Kapitel 8).
gen spezialisierter Raum wurde - der er ein Jahrtausend lang nicht gewesen
war! Ohne jeden Kommentar, sogar ohne sich dessen bewußt zu werden,
ließ man von den Beisetzungen ad sanctos ab, mit Ausnahme der Reichen,
allerdings nicht einmal aller Reichen: denn wahrscheinlich hat sich dieZahl
der gesonderten "Einzel.-Bestattungen auf den Friedhöfen unter freiem
Himmel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhöht (ohne daß die
der Beisetzungen in den Kirchen sich deshalb verringert hätte). Die Grable-
gungswünsche in dieser Hinsicht wurden häufiger, und die Geistlichen zi-
tieren sie in ihren Berichten aus dem Jahre 1763 als keineswegs außerge-
wöhnliche Fälle. Vom 17. Jahrhundert an wurden die kleinen Freiland-
friedhöfe gleichsam als Verlängerungen der Familienkapellen gehandhabt

410 4ll

:-:
5

L
gentlich von Verfügungen begleitet, die ihr widersprechen; später dann (im
1 7. und 1 8. Jahrhundert) wird sie sehr häuf ig beschworen und (im 18. Jahr-

hundert) schließlich zur bloßen stilistischen Floskel.


Die Großen machen da keine Ausnahme, wenn sie nicht sogar die Vor-
läufer sind: Elisabeth von Orl6ans, eine Tochter Gastons von Orl6ans, be-
stimmte in ihrem 1684 abgefaßten Testament (sie starb im Jahre 1696), daß
ihre Totenwache nur von den beiden mit der Lesung des Psalters beauftrag-
7. Vanitas ten Priestern gehalten werden sollte, und zwar ein{ach deshalb, weil diese
Lesung Bestandteil der Grablegungsliturgie war. ,Man lagere mich auf ei-
nen Strohsack auf dem Bett, auf dem ich sterbe, mit einem Tuch darüber
Das Bedürfnis nach Schlichtheir fanstatt zur Schau gestellt zu werden wie eine reprösentation), man schliel]e
der Leichenbegängnisse und des Testaments die Vorhängelsie will den Blicken entzogen sein], auf einem Tisch zu Füßen
meines Bettes sollen ein Kruzifix und zwei Kerzenhalter mit zwei gelben
Dieses Kapitei setzt das vorhergehende fort und beleuchtet das gleiche Phä- Kerzen stehen fdas ist wenig für eine so große Dame, eine Prinzessin von
nomen lediglich von einer anderen Seite: das Sich-vom-Leibe-Halten eines Geblüt], kein schwarzer \üandbehang fwir werden später auf die Abschwä-
Todes, der nichtsdestoweniger immer nahe bleibt. Bemühen wir uns, die im chung der Trauerbekleidung zu sprechen kommen], zwei Priester [nur
späten 17., im 18. und namentlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- zwei !] meiner Pfarre [ohne einen Vertreter der vier Bettelorden], die den
derts stetig fortschreitende Entwicklung eines Bedürfnisses nach Schlicht- Psalter lesen, und es sollen mir keine Hofdamen die Totenwacbe halten, da
heit in allen Aspekten des Todes nachzuvollziehen. Dieses Bedürfnis bringt ich es nicht verdiene, anders behandelt zu werden. Ich bitte meine Schwe-
zunächst, und zwar mit größerer Überzeugtheit als ehemals, den traditio- stern, sich all dem nicht zu widersetzen, ich bedinge mir dies als Beweis
nellen Glauben an die Hinfälligkeit des menschlichen Lebens und an die ihrer Freundschaft aus, zumal ich, da ich bei meiner Taufe der Velt und
Verweslichkeit des Leibes zum Ausdruck. Es gibt weiterhin ein verkrampf- ihrem Pomp entsagt habe [also nicht späte Konversion, sondern stoische
tes Nichtigkeitsgefühl zu erkennen, dem Entlastung zu verschaffen auch Hinnahme einer Lebensgegebenheit], bestattet werden will, wie ich hätte
der Jenseitshoffnung nicht gelingt, die gleichwohl aufrechterhalten und be- gelebt haben sollen. Deshalb verfüge ich, daß ich in meiner Pfarre Saint-
kräftigt wird. Es mündet schließlich in eine Art Indifferenz gegenüber dem Sulpice beigesetzt werde, in der Gruft unter meiner Kapelle, obne jede Ze-
Tode und den Toten ein, die bei den gebildeten Eliten als Zutrauen zur remonie." (l)
wohltätigen Natur, bei den städtischen Volksmassen als vergeßliche Sorg- Im Jahre 1690 verlangte auch Franqoise Amat, Marquise von Solliers, die
losigkeit in Erscheinung tritt. Im Lau{e des gesamten 1 7. und 18. Jahrhun- sich zweitausend Messen ausbedungen hatte - davon tausend am Tage ihres
derts treibt die Gesellschaft an steil abschüssigem Hang den Schlünden des Hingangs -, wie das Fräulein von Alengon, daß ihre Totenwache von nur
Nichts entgegen. einem Priester gehalten werden sollte. "Ich bitte die barmherzigen Schwe-
Dieses Bedürfnis nach Schlichtheit bekräftigt sich in den Testamenren. stern [denen die Armenbestattung oblag] der Pfarre, in der ich sterbe, einen
Es hat übrigens nie völlig gefehlt: Vir haben bereits gesehen, daß es immer Priester zu beauftragen, besagte Zeit an meinem Leichnam zu wachen" und
eine Kategorie von Testataren gegeben hat, die, aus manchmal mit einem ihn beizusetzen "auf dem Friedhof der barmherzigen Schwestern, auf die
Schuß Exhibitionismus einhergehender ostentativer Demut, auf den her- bei ibnen berkömmliche tfleise", d. h. ohne frühmorgens oder spätabends
kömmlichen Prunk des Leichenbegängnisses verzichteten. Sei dem Ende den'§(eg durch die Kirche zu nehmen. (2)
des 17. Jahrhunderts aber wird diese Art von Testamenten häufiger, und Ein Pariser Kanoniker im Jahre 1708 : "Ich lege ganz ausdrücklich Vert
mehr noch als die'bloße Zahl der Erwähnungen der Schlichtheit ist es vor darauf, daß alle diese Zeremonien meines Leichenbegängnisses sehr ein-
allem ihre allgemeine Verbreitung, die bezeichnend ist. Anf angs (im 16. und fach, sogar ärmlich vollzogen werden. [. . .] Daß bei besagter Zeremonie
im 1 7. Jahrhundert) wird die Einfachheit eher zur Schau getragen und gele- und Gottesdienst mehr Kerzen auf dem Hochaltar als um meinen elenden

41.2 413

L-_
Leichnam brennen [der Nachdruck liegt auf dem Elend des verweslichen Ein anderer, ,Edelmann und Pariser Bürgcr" (6), verlangt im Jahre 1 657,
Leibes]. Daß bei dieser Zeremonie auf das Glockengeläut und all den ande- auf dem Cimetiöre des Innocents beigesctzt zu werden (Beweis der De-
ren Aufwand verzichtet wird, der nicht absolut erforderlich ist und wofür mut), wo bereits seine Eltern ruhen; er fügt hinzu: "Ich bedinge mir aus,
es bereits Beispiele des Verzichts bei der Beisetzung irgendwelcher Vür- daß die Trauerfeierlichkeiten so vollzogen werden, wie es die Vollstrecker
denträger oder Kanoniker der Pariser Kirche gibt." Die Demut des Kano- meines vorliegenden Testamentes für das Beste halten [. . .], denen ich alles
nikers darf der §fürde des Stiftes und der Pfründe keinen Abbruch tun ! (3) anheimstelle."
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird der Hinweis auf die Einfachheit Der Verzicht auf eigene \üünsche und die Bevollmächtigung des Testa-
zur geläufigen, nur wenig variierten Formel. Vährend man gegen Ende des mentslrollstreckers verändern sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts bedeu-
17. Jahrhunderts noch forderte, »mit so wenig zeremoniellem Aufwand tungsmäßig - ohne daß man dessen bei der bioßen Lektüre der Texte ge-
wie möglich" beigesetzt zu werden, sagt man im 18. Jahrhundert: "Ich wahr würde. Der Verzicht wandelt sich vom Bedürfnis nach Entsagung
möchte um 7 Uhr morgens mit größter Schlichtheit beigesetzt werden.. zum Zeugnis gefühlvollen Vertrauens - wobei dieses Bedürf nis nach Entsa-
"Ich möchte so einfach wie möglich beigesetzt werden." Also d)e decent gung im übrigen nicht zwangsläufig ausgeschlossen wird.
f unerals der englischen Testamente.
Die handgeschriebenen Testamente - die "schönen Testamenteo Michel
Vovelles - sind nicht sehr viel redseliger: "Ich wünsche und will", schreibt Die Unpersönlichkeit der Trauer
im Jahre 1723 Jean Mol6, Rat im Stadtparlament von Paris, "daß nach mei-
nem Tode Geleit, Über{ührung und Beisetzung meines Leichnams ohne Schließlich muß eine gewisse Nüchternheit in den Außerungen der Trauer
Pomp und mit sehr geringem Aufwand vollzogen werden": das alles ist mit dieser Tendenz zur Schlichtheit in Zusammenhang gebracht werden.
nicht der Mühe wert! Sogar der Herzog von Saint-Simon, der doch über Die Nüchternheit der Trauer ! Läßt sich in dieser'§feise von einer Zeit spre-
nichts auf schlichte \(eise sprechen kann, gibt in seinem Testament aus dem chen, die doch die Phase der großen barocken Prunkobsequien war? Sie
lahre 1754, einem feierlichen Zeugnis ehelicher Verbundenheit und Liebe, waren jedoch eigentlich Theater - ein Theater, das die Effekte eines sehr viel
Anweisung, daß seine Grabtafel, die später in der Nähe seiner Gruft aufge- älteren Zeremoniells, des Zeremoniells der reprösentation und des Kata-
stellt wird, "ohne jeden Prunk und Unbescheidenheit" ausgeführt werden falks, weiterentwickelte, sich zu geistlichen Ubungen eignete und der Vor-
soll. §(enn er sich dazu herbeiläßt, eine ausführlichere Grabschrift zu dik- liebe fürs augenergötzende Spektakel schmeichelte. Wenn man sich aber
tieren, so deshalb, weil sie für den Sarg bestimmt ist und sie unter der Erde auch nur wenig vom Vorbild des Hofes oder der großen Gottesdienste des
ohnehin nieman<i mehr lesen wird. (4) Reiches entfernt, so kommt es doch durchaus nicht selten vor, daß sich die
Gegen Ende des 17. und vor allem im 18. Jahrhundert verzichten die Erblasser aus Demut den Verzicht auf pomphafte Trauerbekundungen zu
Testatare auch darauf, Verfügungen für ihr Leichenbegängnis zu treffen, Hause oder in der Kirche ausbedingen; das hängt mit ihrer Bitte um
und überlassen das lieber ihren Testamentsvollstreckern. Dieses Vertrauen Schlichtheit zusammen. "Hinsichtlich ihres Geleits und ihrer Beisetzung
ist übrigens mehrdeutig. Es hat mit Sicherheit zwei Aspekte. Der erste ist wünscht sie, daß so wenig Aufwand wie möglich getrieben wird, und will
Gleichgültigkeit: Der Kontext bringt deutlich zum Ausdruck, daß keine überhaupt keine Wappen und all das, was nicht unbedingt erforderlich ist"
anderen Anweisungen gegeben worden sind und daß man sich weigert, (16a8). "Ich untersage jeglichen Vorhangschmuck bei meinem Geleit, dem
dem Schicksal seiner irdischen Hülle weitere Aufmerksamkeit zukommen Gottesdienst und der Beisetzung. (1708). Man dispensiert seine Erben,
zu lassen. So wählt sich ein Pariser Bürger im Jahre 1660 (5) seine Grabstelle wenn sie arm sind, sogar davon, kostspielige Trauerkleidung zu tragen, wie
in seiner Pfarre Saint-Germain-l'Auxerrois zu Füßen des Kruzifixes - denn diese Pariser'§üitwe des Jahres 1652 : "Schenkt und vermacht ihrer Dienerin
in dieser Hinsicht darf nicht dem Ermessen Dritter überlassen bleiben; um- und ihrem Diener iedem 5OO Livres, wobei sie nicht wünscht, daß sie Trau-
gekehrt "stellt er seine Trauerfeierlichkeiten und das Leichenbegängnis sei- erkleidung anlegen." (6)
nen Testamentsvollstreckern anheim [...], die er inständig bittet, sie Es sei jedoch eingeräumt, daß die Bedeutung solcher Fälle nicht übertrie-
schlicht und mit alier christlichen Bescheidenheit zu vollziehen". ben werden dari. Sie stellten die allgemeine Praxis der Trauerbekundung

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nicht in Frage, weder zum Zeitpunkt des Todes noch für die Dauer der chen, aus denen iede Spur von Spontaneität gänzlich schwindet. In dieser
Zeremonie noch für die auf den Todesfall folgende Phase. Die Trauerbe- Weise führt sie der Mediziner des 18. Jahrhunderts vor Augen, und in die-
kundung als Brauch wurde peinlich genau respektiert, vor allem dann, ser'Weise werden sie von Caroly de Gaix noch in den ländlichen Gegenden
wenn sie sich auf den sozialen Status der Person bezog, weil sie ihn bekräf- des 19. Jahrhunderts erlebt. Die Ritualisierung hatte übrigens gegen Ende
tigte oder ihn durch Nichtachtung in Zweilel gezogen hätte. So etwa im des Mittelalters ihren Höhepunkt erreicht. Das 17. Jahrhundert hat aber die
Falle des Königshauses: bei Hofe bezeichnete jedes Detail der Gewandung, Unpersönlichkeit und den Ritualismus der vorhergehenden Periode, die
ob man seine Trauer nun zur Schau stellte oder nicht, einen bestimmten sich im 16. Jahrhundert vielleicht geringfügig abgeschwächt hatten, noch
Rang in der Hierarchie. einmal gesteigert.
lVas uns heute in Erstaunen setzt, ist eben dieser soziale oder rituelle, In welchem Maße die Aufwendungen für die Trauer als soziale Erforder-
dieser obligatorische Charakter der Traueräußerungen, die ursprünglich nisse und nicht als Ausdruck persönlichen Schmerzes aufgefaßt wurden,
doch den Schmerz des Abschieds , dasherzzerreißende Leid der Trennung stellt das folgende gerichtliche Verfahren unter Beweis, das im Jahre 1757 in
ausdrücken sollten. Freilich ist diese Tendenz zur Ritualisierung alt, sie Toulouse von der Marquise de Noö nach dem Tode ihres Gatten gegen ihre
reicht weit hinter das 17. Jahrhundert zurück. Sie beginnt sich im Hochmit- Schwägerin geführt wird. (9) Sie verlangt 8O0O Livres aus der Erbmasse als
telalter bemerkbar zu machen, als die Priester, die Bettelmönche und später Kostenerstattung für ihren Traueraufwand. Im Falle ihrer Schwägerin ist
die Bruderschaften und Armen zu Hause, beim Geleit und in der Kirche ,das Angebot von 3000 Livres, das ich ihr zur Deckung der Unkosten ihrer
den Platz der tränenüberströmten Familie und der trostlosen Freunde ein- Trauergewänder gemacht habe, vollauf ausreichend für alles, was sie in die-
nahmen. Vir haben gesehen, daß dieser Wandel den mediterranen Süden, ser Hinsicht zu beanspruchen berechtigt ist"' Die Witwe entwickelt ihre
Spanien, einen Teil des südlichen Frankreich und Süditalien ausgespart hat. Argumente in einer Denkschrift : "Da der öt'f entliche Anstand es erforderte,
'!üü'ir
wissen, daß - dem Romancero zufolge - an der Beisetzung Chimenas daß die Frauen Trauer um ihre Gatten trugen, war es also nur billig, ihnen
durchaus noch Klageweiber teilgenommen haben können. Flachreliefs auf für die wiederholte Beschaffung von Trauergewändern das gleiche Privileg
spanischen Gräbern des 15. Jahrhunderts, die Absolutionsszenen darstel- einzuräumen wie für die Kosten des Leichenbegängnisses. [. . .] Die Trauer-
len, bezeugen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit die dramatischen gewänder, die man der \üü'itwe zur Verfügung stellt, sind für sie weder Vor-
Gebärden der Umgebung, namentlich der Frauen, die Spontaneität vortäu- teil noch ehelicher Zugewinn des überlebenden Gatten. Da sie oon Gesetz
schen. Die Trauerbekundung durch gedungene Klageweiber hatte noch bis Teegen zu Trauerauftoand genötigt und nicht zur Übernahme der Kosten
ins 18. Jahrhundert Bestand. Ein Arzt schrieb im Jahre 1742: "lchhabe verpflichtet ist, kommt es vielmehr dem Erben des Verstorbenen zu, sie ihr
beobachtet, daß der Brauch der gro{§en Lamentationen in Frankreich noch zur Verfügung zu steilen."
durchaus lebendig ist. Er wird, wenn auch nicht vom g nz-enVolk, so doch Das will nicht besagen, daß es keinen echten Kummer gegeben hätte,
wenigstens noch in der Picardie befolgt, nicht in den Städten, wohl aber auf wenn auch in diesem 17. Jahrhundert, wo man nur allzu leicht in Ohn-
dem Lande, wo, wenn man sich anschickt, den Sarg in die Erde zu betten, macht fällt, Sterbefälle und Todesanzeigen sehr kühl au{genommen wer-
alle Frauen sich darüber werfen, schreckliche Schreie ausstoßen und den den. '§üer seine Frau oder seinen Mann verliert, sucht auf dem schnellsten
'Wege Ersatz arrsgenommen den Fall der unbeugsamen Frauen oder den,
Toten beim Namen rufen, ohne aber eine Träne zu vergießen und ohne gar -
die Neigung dazu erkennen zu lassen; ebenso machen sie es mit ihnen ganz daß der Hinterbliebene der Velt entsagt und in aller Stille seinem eigenen
Fernstehenden, wenn der Zufall es fügt, daß sie im Sterbehaus zugegen Ende entgegensieht. Diese Fühllosigkeit, die an Kälte grenzt, wird fraglos
sind, wenn man den Leichnam aufbahrt. [. . .] Ein Hausmädchen, über diese toleriert, wenn sie als Phänomen auch nicht allzu verbreitet ist und manche
Schreie befragt, gab zur Antwort, daß sie sie immer schon bei solchen An- Ausnahmen leiden muß. Die Fälle derer, die zu Tode betrübt sind und das
lässen von allen weiblichen Anwesenden gehört habe." (7) auch zu erkennen geben möchten, sind durchaus zahlreich, aber selbst da
Diese namentlich im mediterranen Süden lebendigen Traditionen haben wird ihre Bekümmernis noch in einem Ritual kanalisiert, dessen Rahmen
sich bis heute in Sizilien, auf Sardinien (8) und in Griechenland erhalten. sie nicht sprengen darf . Der Ausdruck des Schmerzes am Totenbett ist nicht

Jedenfalls werden sie im Laufe der Zeit zu immer mehr ritualisierten Bräu- gestattet ; er wird, jedenf alls in den nördlichen Regionen, in der vornehmen

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Gesellschaft und unter wirklichen Christen mit Stillschweigen übergangen. Die oanitös des 16. und 17. Jahrhundcrts, die im 18. dann seltener wer-
Umgekehrt gilt es seit dem 16. Jahrhundert als ratsam, sich ihm rückhaltlos den, sind eine Kombination zweier Elemente; eines anekdotischen, das das
zu überlassen, und das soll bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts so bleiben, in Sujet, das Thema liefert (Porträt, Stilleben . . .), und eines symbolischen,
den Grabinschriften, den poetischen Abschiedsklagen um einen Gatten, eines Bildes d,er Zeit und des Todes.
eine Gemahlin oder ein Kind, den "Grabmälern" und "Elegien". Nach der Die makabren Bilder, ehedem in die Grenzen eines religiösen Bereiches
vorgeschriebenen Trauerzeit dulden Brauch und Herkommen keine per- eingeschlossen - die Mauern der Kirchen und Beinhäuser, die Grabmäler,
sönlichen Trauerbekundungen mehr: Wer zu verstört ist, um sich nach der die Stundenbücher -, haben diesen Rahmen bald gesprengt und sich im
kurzen von der Tradition eingeräumten Frist sofort wieder ins normale Inneren der Häuser und rüüohnstätten eingenistet. Einmai säkularisiert,
Leben zu schicken, hat keine andere Mögiichkeit, als sich ins Kloster, aufs werden sie fortan zum festen Bestandteil des häuslichen Dekors, wenn auch
Land zurückzuziehen, abseits von der \Welt, in der er bekannt ist. Rituali- nur da, wo hinreichender lWohlstand einen privaten Lebensbereich und
siert und sozialisiert, spielt die Trauer, wenigstens in den oberen Schichten seine Ausschmückung gewährleistet. Manche Gravuren aber dringen auch
und in den Städten, nicht mehr immer - und nicht mehr ausschließlich - die in die Gemeinscha{tsräume vor, in denen die Promiskuität des Gemein-
Rolle der Affektentlastung, die ihr früher eigen war. Unpersönlich und schaftslebens noch besteht.
kalt, erlaubt sie dem Menschen nicht mehr auszudrücken, was er angesichts Auf seinem W'ege von Kirche und Friedhof ins private Hauswesen hat
des Todes empfindet, hindert ihn vielmehr daran und lähmt ihn. Die Trauer sich das makabre Repertoire nach Form und Bedeutung gewandelt. Zweck
spielt die Rolle einer Trennwand zwischen dem Tod und dem Menschen. des makabren Bildes ist es nicht mehr, das unterirdische \flerk der Verwe-
Das Bedürinis, die Rituale des Todes zu vereinfachen und die affektive \ü7ürmern zerfressenen,
sung bloßzulegen. Deshalb ist an die Stelle des von
Bedeutung der Bestattung und der Trauer zu schmälern, ist wohl aus reli- von Schlangen und Kröten heimgesuchte n Üansi das saubere und glänzen-
giösen Motiven, aus christlicher Demut gespeist, die sich jedoch sehr bald de Skelett getreten, la morte secca, mit dem noch heute - in Italien an Aller-
mit einem eher mehrdeutigen Gefühl verquickt hat, das Gomberville, in seelen, in Mexiko jederzeit - die Kinder spielen dürfen. Es flößt keine so
Übereinstimmung mit den Frömmlern, eine "gebührende Verachtung des große Angst ein, es ist nicht so gräßlich-bösartig. Es erweckt nicht mehr
Lebens" genannt hat. Diese Einstellung ist zwar noch christlich, aber in den Anschein eines Gehilfen und Verbündeten der Dämonen - wie der
gleicher'Weise "natürlich". Die Leere, die derTod im Herzen des Lebens Sendbote der Hölle. Das Skelett ist im 16. und 17. Jahrhundertfinisoitae,
und der Liebe zum Leben, zu Dingen und Menschenwesen ausgehöhlt hat, einfacher Vertreter dessen, was damals Vorsehung und künftig Natur heißt;
geht ebenso auf ein Gefühl für die Natur und ihre Gesetze zurück wie auf in seinen allegorischen Aspekten wird es denn auch bald von der Zeit abge-
den direkten Einfluß des Christentums. löst, die von einem guten, ohne verdächtige Hintergedanken verehrungs-
würdigen Greis verkörpert wird; auf den Altarretabeln der Kirchen nimmt
er, hinter dem Stifter, den Platz des Schutzheiligen ein, in derselben be-
Einladung zur Melancholie : Die Vanitasdarstellungen schirmenden Haltung (Brüssel, 16. Jahrhundert). Auf Grabmälern des 18.
Jahrhunderts fährt er mit dem Bildnis des Verstorbenen zum Himmel auf
Dieses Gefühl beschränkt sich nicht auf die Stunde der Abfassung des Te- - anstelle der Engel, denen diese Mission der Apotheose im allgemeinen
staments, auf die kritischen Augenblicke, in denen der Lebende seinen Tod anvertraut wird. In der Kirche Gesü e Maria del Corso in Rom umrahmen
bedenkt; es ist diffus und strahlt ins ganze Alltagsleben aus. Die Menschen die symmetrischen Grabplatten zweier Brüder das Eingangsportal : Der
des 15. Jahrhunderts liebten es, sich zu Hause, in ihren Gemächern und Hauptunterschied zwischen beiden ist der, daß die Zerr auf der einen den
Arbeitszimmern, mit Bildern und Gegenständen zu umgeben, die den Ge- Raum einnimmt, der auf der anderen dem Skelett zukommt. Die Rolle des
danken an das Verfliegen der Zeit, an die Trugbilder der \Welt eingaben - bis angsteinflößenden Mahners fällt künftig, seit dem 17. Jahrhundert, dem
zum taedium vitae. Man nannte sie - mit einem zugleich moralistischen grauen und düsteren, körperlosen Schatten oder dem schwarzgekieideten
und andächtigen \Wort, das ihr Vergänglichkeitspathos gut zum Ausdruck Gespenst zu und nicht mehr dem Skelett.
bringr - oanitös, Nichtigkeiten. Das braucht im übrigen nicht mehr unversehrt zu sein, um seine Auf-

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wird zerlegt, zerfällt in Einzelteile, und jedem
gabe erfüllen zu können. Es sind. Der Totenschädel hat einen besonderen, ausgewählten Platzim stu-
einzelnen Knochen für sich kommt dieselbe symbolische Bedeutung zu. diolo, rmArbeitszimmer inne, denn die sitzenden Tätigkeiten der Lektüre,
Diese kleinen Knöchelchen sind leichter auf der Fläche eines Gemäldes der Meditation und des Gebetes bleiben dem reiferen Alter vorbehalten,
oder Schmuckgegenstandes unterzubringen. Ihre Ausmaße und ihre während die körperlichen Aktivitäten der Jagd, des Krieges, des Geschäfts-
stumme Reglosigkeit machen sie zu Gegenständen unter anderen Gegen- lebens und der Bodenbearbeitung der Blüte der Mannesiahre entsPrechen
ständen, die die kleine, ausgev/ogene \J7elt des Privatraums oder Studier- und die Liebe ein vorrecht der Jugend ist. In den sehr verbreiteten Stichen
zimmers nicht in dem Maße aulstören, wie es die Extravaganz des Skeletts der Lebensalter bezeichnet das Skelett die letzte Stufe des menschlichen
in lebhafter Bewegung tun würde. Schädel und Schienbeine werden also Entwicklungsganges, oder es wird unter der Pyramide der Lebensalter wie
abgelöst, nach einer Art Algebra oder Heraldik aneinandergereiht und im Hintergrund einer Grotte, im Herzen der Velt, versteckt'
überdies mit anderen Zeichen kombiniert: mit der Sanduhr, der Uhr im Die prä.senz des Schädels macht aus dem vanitasporträt ein Mittelding
allgemeinen, der Hippe und dem Spaten des Totengräbers . . . Diese Zeichen zwischen Allegorie und Genreszene'
haben sich dann nicht nur in der Grabkunst verbreitet, sondern auch an Diese Genreszene ist ebenfa[ls vom Gegensatz zwischen Jugend und A[-
jenen vertrauten Schnruck- und GebrauchsBeBenständen, eben den ,tanitös. ter als dem zwischen Leben und Tod bestimmt.
Auch ein Porträt kann eine Vanitasdarstellung sein. Da das Modell jetzt Ein Gemälde von Gregor Erhart im Kunsthistorischen Museum in
nicht mehr in der feierlichen Haltung des kniend Betenden dargestellt wird, Vien, das vom Anfang des 15. Jahrhunderts stammt, stellt ein schönes und
kommt es häufig vor, daß es sich zusammen mit einem Schädel oder einen nacktes junges Paar dar, neben dem nicht mehr ein ausgebleichres skelett,
Schädel in Händen haltend malen, in Stein meißeln oder gravieren läßt: Der sondern, in einer mittelalterlichen Tradition, der man noch drei Jahrhun-
Schädel ist an die Stelle der religiösen Szene getreten, die ehedem mit dem derte später bei Goya wiederbegegnet, eine häßliche, zahnlose, dürre alte
knienden Sti{ter verknüpft war. \üird diese Darstellungsweise vielleicht Vettel steht.
von den W'üstenszenen mit Maria Magdalena oder dem Heiligen Hierony- Im flämischen und niederländischen Genre gibt Glrard Dou auf einem
mus imitiert? Dieses Porträtgenre ist sehr verbreitet. Täusche ich mich? Bild, das eine Operation darstellt, einen Innenraum, das Zimmer eines
lVandregal, zwischen Zinnge-
Aber ich habe den Eindruck, daß der Schädel häufiger von Männern als von Chirurgen oder eines Patienten; auf einem
Frauen gehalten wird ! Derselben Darstellungsv/eise begegnet man auf den schirr und -töpfen: ein Totenschädel. (1 1)
Grabtafeln des 16. Jahrhunderts, die räumlich ganz so wie Gemälde gestal- In der italienischen Malerei hängt das Motiv der Entdeckung eines einsa-
tet sind, namentlich die Gräber von Humanisten. Auf der Grabtaf el von J. men Grabes auf dem Lande mit demselben Einfluß zusammen' In ihrer
Zene in Berlin ist der Verstorbene als Brustbild dargestellt;er hält in der ältesten Form, wie man sie im Traum des Polyphilus findet, wird sie als eine
linken Hand einen Totenkopf und in der rechten eine Uhr, wie die Sanduhr Art Memento moribehandelt - das Thema des schäfers in Arkadien. So hat
ein Zeichen der verrinnendenZeit. es auch Guercino aufgefaßt: Frische und arglose Jünglinge umstehen einen
Die dargestellten Figuren tragen den Schädel nicht nur, wenn sie allein Sarkophag. Et in Arcadia ego - aber diese §ü'orte werden, wie Panofsky
sind. Sie halten sie auch auf Gruppenbildern in Händen. Ein Porträt von J. gezeigt hat, vom Tod seibst vorgebracht, dessen sprechender Schädel auf
Molenaer (1635 [10]) stellt eine Familie dar, die sich aus drei Paaren und vier der Grabplatte steht. In Poussins version derselben Szene hat sich das Ge-
Generationen zusammensetzt: Beim Paar der Urgroßeltern hält die Frau fühl vom traditionellen Memento mori in Richtung auf das vanitasmotiv
ein Buch und der Mann einen Totenschädel in den Händen, beim Paar im verschoben. In einer ersten Fassung hatte Poussin noch am schädel festge-
mittleren Alter (dem der heutigen Vierziger, denen die damaligen Dreißiger halten. In einer zweiten, der im Louvre, hat er ihn weggelassen. Jetzt entzif-
entsprechen) spielt die Frau Laute, der Mann Cembalo; beim Paar der Jun- fern die Schäfer das Epitaph des Sarkophages, und es handelt sich nicht
gen, das im Alter der Liebe steht, reicht der Jüngling dem Mädchen Blumen mehr um den symbolischen und unpersönlichen Tod, sondern um den Tod,
dar, und schließlich umgeben mit Früchten und Tieren spielende Kleinkin- der ihnen seine Botscha{t verkündet und spricht: Auch ich war, wie ihr, in
der die Gruppen. Das Porträt ist also auch wie eine Allegorie der Lebensal- Arkadien - 'Der Gedanke an den Tod schürt das Gefühl der'!üiderruflich-
ter behandelt, in der der Schädel und das Skelett Attribute des Greisenalters keit und das des Wertes des Lebens zugleich'" (A. Chastel [12])

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Die Vanitasdarstellung kann schließlich - und das ist ihre gebräuchliche- Es war üblich, auf den Kamingesimsen Sentenzen eingravieren zu lassen,
re Bedeutung - ein Stilleben sein, in dem die Gegenstände, sei es durch ihre die an die Kürze und Unbeständigkeit des Lebens gemahnten. Emile Mäle
Funktion, sei es durch ihren Grad der Abnutzung, auf das Verrinnen der hat mehrere davon zitiert. (15) Im Mus6e Calvet in Avignon hat sich ein
Zeit und das unausweichliche Ende anspielen. Die Beispiele dafür sind Gesims mit der folgenden Inschrift erhalten: Sortes meae in manu Dei sunt
zahlreich und bekannt. Ich möchte nur eines, ein besonders bezeichnendes (Mein Geschick liegt in Gottes Hand). Ich habe bei einem Pariser Antiquar
zitieren, ein aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammendes Gemälde von einen vom Ende des 18. Jahrhunderts stammenden Sekretär im nordischen
L. Bramer im Kunsthistorischen Museum von Wien. Auf einem Tisch lie- bzw. germanischen Stil gesehen, ein Hochzeitsgeschenk. Darauf waren in
gen alte rostzerfressene Harnische, zerfetzte und verschlissene Bücher und eingelegter Mosaikarbeit die Initialen und ein Skeiett eingelassen. Noch
zerbrochenes Geschirr; neben dem Tisch ein alter Mann in Rembrandt- im 19. Jahrhundert gehörte das Skelett zum Verzierungsrepertoire von
scher Manier; schließlich, in der Tiefe eines Gewölbes, zwei Skelette. Bes- Fayence-Tellern.
ser läßt sich die Gleichstellung von menschlichem Tod und Verschleiß der So hatte man zü Hause und an sich selbst die gleichen Formeln vor Au-
Dinge wohl kaum darstellen. gen, die sich auch in der Öffentlichkeit, an den Kirchenmauern und Son-
Die Zeichen des Endes der Dinge und des Lebens sind nicht nur einfach nenuhren den Blicken aufdrängten: Respice finem. Dubia omnibuslbora)
die manchmal beiläufigen Themen von Gemälden und Stichen. Sie lassen ultirna multis.
die Mauern, an denen sie aufgehängt sind, hinter sich und verbreiten sich Alle diese Gegenstände luden zur Einkehr ein, beschworen aber auch die
auf Möbel- und Kleidungsstücken. Savonarola empfiehlt, einen kleinen Melancholie des unbeständigen Lebens. Sie verbanden beide Aspekte mit-
beinernen Totenschädel bei sich zu tragen, den man häufig betrachten kann. einander, wie ia auch die Landschaftsbilder anfangs die Natur mit einer
Jean de Dinteville trägt ihn auf einem Porträt von Holbein (London, Na- Genreszene kombinierten, die ihnen als Alibi diente.
tional Gallery) an seiner Hutkappe. Im England des 16. und des beginnen- Schließlich büßten die Vanitasdarstellungen, wie die Landschaften, ihre
den 17. Jahrhunderts werden Ringe auf diese §?'eise mit makabren Motiven Unabhängigkeit ein. Sie iießen den äußeren Schein religiöser Zwiesprache
geschmückt. fahren; die Melancholie, ihr entscheidendes Thema, wurde um ihrer selbst
Eine Engländerin vermacht im Jahre 1554 ihrer Tochter ihren Ring "mit willen geschätzt; bitter-süße, überreife Frucht des Spätherbstes, brachte sie
dem weinenden Auge" (witb the u)eeping eye) wd ihrem Sohn einen ande- das permanente Gefühl dieser beständigen und diffusen Präsenz des Todes
ren, den "mit dem Totenkopf" (u.,itb the dead rnanes bead). "Yerkaufe ei- im Herzen der Dinge zum Ausdruck, das alles Leben in einen emotionalen
nige deiner Gewänder, um dir dafür einen Totenkopf einzuhandeln und am Schleier hüllte. Es handelt sich nie mehr um jenes plötzliche Aufsteigen von
Mittelfinger zu tragen«, sagt der elisabethanische Autor Massinger. (13) Monstren, Kadavern und \üü'ürmern aus einer unterirdischen Welt. Deshalb
In den Sammlungen der Museen stößt man auf Schmuckstücke dieser ist der Tod dieser zweiten makabren Ara präsent und entfernt zugleich:
Art - so im Mus6e de Cluny, in Yale oder in Baltimore (The Valter's Art man führt ihn nicht mehr in Gestalt des verwesten Menschen vor Augen,
Gallery) -, auf Ringe aus dem 17. Jahrhundert, deren Fassung mit einem sondern in einer Form, die nichts Menschliches mehr hat - sei es die eines
Totenkopf und zwei gekreuzten Knochen geschmückt ist; dieseTrauerrin- ebenso phantastischen Wesens wie des mit Verstand begabten und belebten
ge wurden in Neu-England zusammen mit Handschuhen an die Teilneh- Skeletts, sei es, und zwar häufiger, die eines abstrakten Symbols. Und sogar
mer von Leichenbegängnissen verteilt (14); im Museum von Amiens ist in den auch tröstlichen Zigen, mit denen man ihn ausstattet, entzieht er
eine aus derselben Epoche stammende und mit einem Totenkopf verzierte sich; er kommt und geht, er steigt an die Ober{läche und sinkt in seine
Uhr zu sehen; im Victoria and Albert Museum in London Broschen in Abgründe zurück, ohne mehr zu hinterlassen als einen Abglanz, wie auf
Sargform. Sogar Gebrauchsgegenstände und Möbel im privaten §ü'ohnhaus ienem Gemälde des deutschen Malers Furtenagel, das zwei Ehegatten dar-
wurden dazu ausersehen, zu ähnlichen Reflexionen anzuregen. Man stellt, wie sie sich in einem Spiegel betrachten, in dessen Tie{e, wie in den
konnte ein kleines Skelett in die Sammlung seines Arbeitszimmers aufneh- Tiefen der Gewässer, zwei Totenschädel aufschimmern (Kunsthistorisches
men, wie das aus dem 16. Jahrhundert stammende in The Valter's Art Gal- Museum, §0ien).
lery in Baltimore. Nie ist diese seine Präsenz evident, nie offen erkennbar - dank des äuße-

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ren Scheins, der sich über ihr schließt, ohne sie doch ganz zu verdecken. meinvorstellulr8 nennen möchte, in dcnr Sinr-rc, wie es Gemeinplätze gibt.
Fortan wird die Präsenz des Todes sichtbar nur im gebrochenen \Wider- Jede Kultur, vor allem jede Schriftkultur wie die moderne oder zeitgenössi-
schein eines magischen Spiegels. Holbein der Jüngere hat ihn in den Rebus sche, umfaßt einige dieser Gemeinvorstellungen, die der Gesamtgesell-
seiner Anamorphosen verrätselt: Man erkennt ihn nur, wenn man das be- schaft als eine Art Basis-Repertoire vorgelegt, wenn nicht gar au{gedrängt
treffende Bild aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet. Sobald man werden. Sie sind starke Elemente der Konditionierung, die einer Gesell-
den Standpunkt wechselt, entzieht er sich wieder. schaft ihren Zusammenhalt verleiht. Sie brauchen, um wirksam zu werden,
Der Tod ist also ins hiniällige und nichtige Vesen der Dinge selbst einge- nicht anerkannt und gebilligt, ia nicht einmal einmütig akzeptiert zu v/er-
lassen, während er im Mittelalter von außen zrgrif{. den. Es genügt, daß sie im Strom der Zeir als Selbsn'erständlichkeiten, als
Gemeinplätze existieren.
Um mich verständlich zu machen, möchte ich ein zeitgenössisches Bei-
Der Tod im Herzen der Dinge. spiel anführen. §(ir kennen seit dem Zweiren lVeltkrieg einige dieser Ge-
Das Ende der aaaritia meinvorstellungen, wie sie von der Presse, den Massenmedien und der
öffentlichen Diskussion kolportiert werden. Etwa die Vorstellung des
Damit wird die grundlegende Differenz verständlich, die die gefühlsmäßige Mangels an zwischenmenschlicher Kommunikation, der Einsamkeit des
Einstellung zu Leben und Tod im 16. und 17. Jahrhundert von der des Menschen in der Masse. Diese Vorstellung ist vornehmen und durchaus
Hochmittelalters trennt, ohne daß sich etwas - oder doch nur sehr wenig identifizierbaren IJrsprungs: ihre philosophischen Väter sind Sartre, Ca-
- im Rahmen der Bräuche und Rituale der Todesbegegnung verändert mus und manche andere. Sie hat sich jedoch rasch emanzipiert, und die
hätte. Intellektuellen, die sie aufgebracht oder weiterentwickelt haben, erkennen
Bemerkenswert ist, daß die Vanitasdarstellung des 17. Jahrhunderts das sie in der summarischen und anonymen Form, zu der die Vulgarisierung
Negativ des Stillebens mittelalterlichen Ursprungs ist, wie es zur gleichen und der daraus folgende Verschleiß sie haben verkommen lassen, gar nicht
Zeit noch weiter vorkommt, der Gegenströmung zum Trotz, die wir hier mehr wieder. Der Erfolg dieser Gemeinvorstellungen rührt eben daher,
analysieren. Das Stilleben brachte, wie wir im dritten Kapitel gezeigt zu daß sie in gefälliger Glätte einfache und tiefe Gefühle zum Ausdruck brin-
haben glauben, eine leidenschaftliche Liebe zum Leben und zu den Dingen gen, die heute ganze Menschenmassen aufrütteln und ehedem große, ein-
zum Ausdruck - eine maßlose Liebe im Sinne der gottesfürchtigen Morali- flußreichc Gruppen aktivierten.
sten, die aoaritia. Das Leben war,ganznaiv,zu begehrenswert, als daß man Die Vorstellung der Vergänglichkeit des Lebens fällt in diesen Bereich.
sich hätte entschließen können, es zu lassen, als daß man nicht den \flunsch Sie ist aus kirchlichem Sprachgebrauch hervorgegangen, dann ins kollekti-
verspürt hätte, es auch nach dem Tode im Reiche des Teufels, der Fürsten ve Unbewußte eingedrungen und hat ein neues Verhalten, eine neue Bezie-
dieser \üelt, weiter zu genießen. hung zu Reichtum und Lust initiiert. Sie muß in dem Sinne verstanden
In den Vanitasdarstellungen verkehrt sich, wie in den letzten Generatio- werden, wie wir sie uns aus den versteckten Vinkeln der moralischen Lite-
nen der artes moriendi, die Situation ins Gegenteil. Diese so liebenswerte, ratur und der Kunst erschlossen haben, ganz einfach und schmucklos. Ihre
so schöne Velt ist moderig und hiniällig. Der Tod, der sich in ihren Falten Ursprünge sind zweifellos religiöser Art, aber nicht ihre eigentlichen
und Finsternissen verbirgt, ist im Gegenteil der glückverheißende Hafen 'Wurzeln.
abseits der sturmgepeitschten \Wasser und bebenden Kontinente. Das Le- Unter dem Schleier von Melancholie, der sie einhüllt, sind die Reichtü-
ben und die \Welt haben die Funktion des abstoßenden Pols übernommen, mer nicht mehr um ihrer selbst willen begehrenswert, nicht mehr um der
die das Spätmittelalter und die beginnende Renaissance einmütig dem Tode Lust willen, die sie verschaffen. Der Genuß erweckt Unruhe, sei er nun
anvertraut hatten. Tod und Leben haben die Rollen getauscht. mystisch oder sinnlich. Die mit Todeslauge getränkte '§flelt ist durch und
Die Vanitasdarstellungen haben uns eine neue Vorstellung zu erfassen durch fragwürdig geworden.
erlaubt, nicht mehr eine Vorstellung des Todes, sondern des sterblichen Zweifellos ist diese Gemeinvorstellung nicht das einzige Element einer
Lebens; eine Vorstellung, die zu dem geworden ist, was ich hier eine Ge- Zivilisation auf der Suche nach ihrer Komplexität gewesen, wie sie da,s

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Abendland im 17. Jahrhundert war; aber sie hat nachhaltigen Einfluß auf die Rede davon gewesen, für ihre Gräbcr eine Kapelle zu errichten. Bernini
die Alltagswirklichkeit gehabt: der Kapitalismus hätte sich nicht durchset- wurde zu Rate gezogen, ebenso manch andere Autorität. Unbestreitbar ist
zen können, wenn die Suche nach Lust und der unmittelbare Genuß der jedoch, daß alle diese Projekte fehlschlugen. Ein so großer Baumeister wie
Güter, d.h. eben die avaritia oder die maßlose Liebe zum Leben, weiter Ludwig XIV. hat sich nicht dafür interessiert. Man mag ruhig behaupten,
ihre mittelalterliche Macht und Gültigkeit behalten hätten. Der kapitalisti- daß das Schloß von Versailles oder die Place Royal im Umkreis der Statue
sche Unternehmer hat sich damit abfinden müssen, den Genuß auf dieZu- des Souveräns im 17. Jahrhundert die Rolle des großen Grabdenkmals ge-
kunft zu verschieben und seine Profite zu akkumulieren. Der erworbene spielt haben; nicht weniger wahr ist, daß die Aufnahme der königlichen
Reichtum wurde bald zur Quelle neuer Investitionen, die ihrerseits neuen Särge in die Kellergrüfte von Saint-Denis, ohne irgendein sichtbares Zei-
Reichtum hervorbrachten. chen über dem Erdboden, etwas Bestürzendes und Beunruhigendes hat.
Ein solches System der Akkumulation auf Zeit setzte die E,rfüllung vieler 'W'o es solche dynastische Grabkapellen gibt wie in Nancy, im Escorial
sozio-ökonomischer und kultureller Bedingungen voraus. Aber wenig- oder in §ü'ien, haben sie einen durchaus originären Charakter, der ein besse-
stens eine dieser Bedingungen war psychologischer Art und für die Vorbe- res Verständnis der radikalen Einstellung der Bourbonen ermöglicht. Na-
reitung und Entstehung des Kapitalismus unabdingbar erforderlich: das mentlich der Escorial ist interessant: er scheint eine Ubergangsform zwi-
Ende der avaritia und ihr Ersatz durch eine asketischere Beziehung zum schen der früheren Kapelle der Valois und dem späteren Grabgewölbe der
Leben und zu den irdischen Dingen. Ein merkwürdiges und vielleicht sogar Bourbonen in Saint-Denis zu bilden. Freilich ein in großer Architektur
paradoxes Phänornen: Das Leben har zur gleichen Zeit aufgehört, so be- ausgeführtes unterirdisches Grabgewölbe, wie es in Saint-Denis nicht zu
gehrenswert zu sein, als der Tod au{hörte, sich derart punktuell, derart be- gestalten versucht worden ist. In der Kirche ragt der ständig sichtbare Bau-
eindruckend in Szene zu setzen. abschnitt der Grabkapelle auf. Zu beiden Seiten des Hochaltars sind die
Familien von Karl V. und Philipp II. versammelt. Ihre ganz der Tradition
entsprechende Haltung ist die von Betenden wie beim oberen Stockwerk
Die Einfachheit der Gräber: von "Doppeldecker"-Gräbern. Sie folgen der Messe. Aber sie bleiben al-
Könige und Privatpersonen lein, wie die erlauchten und unnachahmlichen Helden. Keiner ihrer späte-
ren Nachfolger kniet an ihrer Seite nieder. Sie finden hier wohl ihre Ruhe,
Der bittersüßen Melancholie der Vanitas, die das ganze 17. Jahrhundert aber unter der Kirche, im Grabgewölbe, in dem, gemäß einem ausgeklügel-
durchzieht, entspricht ein subtiler Wandel bei den Gräbern und Friedhö- ten Protokoll, bis ins 20. Jahrhundert die königlichen Toten gebettet wer-
fen, so subtiI und langsam, daß er von den Zeitgenossen oder von den Hi- den. Dieses Gewölbe, Pantheon genannt, faszinierte den Besucher des 17.
storikern kaum bemerkt worden ist. Der Tod der Gräber und Friedhöfe Jahrhunderts. Noch Saint-Simon hat es besichtigen wollen, als er im Jahre
wird - wie der der artes moriendl und der Vanitasdarstellungen - seinerseits 1721 Spanien besuchte. Er äußert sich wie folgt: "Beim Abstieg ins Panthe-
verschwiegen, zurückhaltend und ruft nach "Ausstoßung", wie Michel Vo- on sah ich eine Tür zur Linken, auf halber Höhe der Treppenstufen. Der
velle zu bedenken gibt. (16) grobschlächtige Mönch, der uns begleitete, erläutert uns, daß es sich dabei
Ein erstes Phänomen muß zwangsläufig jeden Franzosen in Erstaunen um das Pourrissoir [die Verwesungskammer] handle." Man barg da die
setzen: Die Könige des größten Kronreichs in Europa, die, auf dem Gipfel Särge im Mauerwerk. Hier bettete man möglicherweise die Leichname der
ihrer Macht, den größten Stolz auf ihren Rang und ihre Berühmtheir an den weniger angesehenen Fürsten, wie die scharfe Zunge Saint-Simons vermu-
Tag legten, haben keine Grabmäler gehabt und auch nie wirklich danach ten läßt. Die Könige und Königinnen, "die Kinder gehabt haben", wurden
verlangt. Die Valois hatten eine Kapelle, die Bourbonen hatten keine - und in die ,Laden des Pantheons" überführt. Die Infanten und die kinderlos
sie haben überdies die ihrer Vorgänger zerstören lassen, deren ganze Aus- verstorbenen Königinnen wurden in einem dem Pantheon benachbarten
stattung dann sogar in die Kirche Saint-Denis überführt worden ist. Sicher Grabgewölbe zur Ruhe gebettet. das einer Bibliothek ähnelte. ,Das dem
ist die Entscheidung, daß die Bourbonen keine großen Grabdenkmäler ha- Eingang entgegengesetzte Ende und die beiden Seiten dieses [fensterlosen]
ben wollten, nicht plötzlich getroffen worden, im Gegenteil. Viederholt ist Raumes, der keinen anderen Ausgang hat als die Tür, durch die man ihn

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betritt, sind genau wie eine Bibliothek ausgesrarrer, aber anstatt, wie die Rokoko-Schmuck; darüber und im unmittelbaren Umkreis ihre Porträts,
Regale einer Bibliothek, auf die Maße der dafür bestimmten Bücher ausge- ihre Insignien, die Engel in lebhafter Bewegung, weinende Frauen, die Ge-
richtet zu sein, dienen diese hier als Abstellplatz für die Särge, die dort einer nien, die die Trompete des Nachruhms blasen, und alle Arten von makab-
neben dem anderen gelagert werden, das Kopfende am Mauerwerk, das ren Symbolen. Ein einziger, der Maria Theresias und ihres Gatten, stellt die
Fußende am Rand der Regalleisten, die eine Inschrift mit dem Namen der beiden Verstorbenen auf dem Deckel als gisants dar, auf die Ellbogen ge-
darin gebetteten Person tragen. Diese Särge sind zum Teil mit Samt, zum stützt wie auf einer etruskischen Grabplatte.'§(/ie verziert aber auch immer,
Teil mit Brokat ausgeschlagen. [. . .] Dann stiegen wir weiter die Treppe ins diese Gräber bleiben Särge, Bleisärge, wie sie häufig vorkamen, und die sie
Pantheon hinab." an allen Seiten umlaufenden Skulpturen sind aus demselben Material gefer-
Das Pantheon ist ein Oktogon; eine seiner Seiten nimmt die Eingangstür tigt wie die Versailler Becken - des Versailles aus Blei.
in Anspruch, vier andere werden von vier übereinanderliegenden Nischen- In allen drei Fällen verlagert sich der Hauptakzent nahezu ganz in den
reihen gebildet Zu jedem Sarkophag gehört eine zur Aufnahme der Ge- unterirdischen Bereich, und in Saint-Denis ist sogar kaum mehr etwas
beine aus dem Pourrissoir bestimmte Halbsäuie. Zur Linken die Könige, wahrzunehmen, außer dem, was auch in einem beliebigen Gewölbe einer
zur Rechten die Königinnen, die eine eigene Nachkommenschaft hinterlas- beliebigen Familienkapelle zu sehen ist. Die Könige haben wie Bossuet ge-
sen haben. "Man erwies mir die einzigartige Gunsr., fährt Sainr-Simon dacht, der am Samstag vor Ostern von der Kanzel des Collöge de Navarre
fort, "etwa zwei Drittel der Kerzen des ungeheuren und bewunderungs- herab predigte: ,§V'enn wir uns die prunkvollen Gräber vor Augen führen,
würdigen Leuchters anzuzünden, der in der Mitte des Gewölbes hängt und in denen die Großen dieser \Welt die Scham über ihre Verwesung verbergen
dessen Licht uns blendete und uns half, nicht nur die undeutlichsten zu wollen scheinen, kann ich mich kaum des Staunens über die äußerste
Schriftzüge auch der kleinsten Inschrift in jedem Teil des Pantheons zu Narrheit der Menschen enthalten, die derart großartige Siegesmäler für ein
entziffern, sondern auch, was sonst noch an allen Ecken und Enden Bemer- wenig Asche und einige ausgebleichte Gebeine errichten." (18)
kenswertes zu sehen war." (17) Die Könige haben ein Beispiel gegeben, sie haben eine neue Mode einge-
Dieses gigantische Kolumbarium kommt einem angesichts der überein- leitet.Zwar gibtes weiterhin prunkvolle und komplizierte Grabmonumen-
anderliegenden Nischenreihen der Friedhöfe in mediterranen Ländern te - ange{angen mit denen der Päpste *, Grabkapellen, in denen Engel in
oder in Südamerika in den Sinn, die hier aber nicht unterirdisch verlaufen, lebhafter Bewegung mit den Bildnissen der Verstorbenen zum Himmel auf-
sondern hochgeschossig unter freiem Himmel aufragen. fahren, in denen lebensgroße allegorische Figuren eine Pyramide, einen
In der Kapuzinerkirche in \Wien, die sich die österreichischen Habsbur- Obelisken umringen und gebärdenreich eine Geschichte darstellen wie in
ger als Grabstätte gewählt haben, ist der sichtbare Teil der Anlage des Esco- der Kapelle der Sangro in Neapel, wie auf dem Grab des Grafen d'Harcourt
rial verschwunden. Alle Monulnente sind im Grabgewölbe versammelt, in Paris oder dem des Marschalls von Sachsen in Straßburg; St Paul's Ca-
der Kaisergruft, einer einfachen unterirdischen Gruft, die nichts von der thedral in London birgt ebenfalls eine Vielzahl solcher Grabmäler. Sie ru-
großen Architektur des Pantheon hat; aber die Särge sind auch nicht gänz- Ien möglicherweise die monumentalen Projekte des Spätmittelaiters in Er-
lich den Blicken entzogen wie die der Bourbonen in Saint-Denis, die dort innerung und kündigen die theatralischen Szenen der Romantik an, aber sie
fast wie in die Erde gebettet ruhen. Ein Grabgewölbe, das besichtigt wer- sind den kollektiven Mentalitäten des 17. und des 18. Jahrhunderts fremd
den kann und den Besuch lohnt. Die Grabmäler sind Särge oder sind es geworden. \Was sich an großartigen und ehrgeizigen Strebungen in der
jeden{alls dem äußeren Anschein nach. Der heutige Besucher hat nicht den Grabkunst erhält, ist eher vereinzeltes Werk, {olgenlose Schöpfung eines
mindesten Zweifel daran. Er befindet sich nicht in einer Kapelle oder auf um Originalität bemühten Künstlers. Aus der späteren Nachfolge dieser
einem Friedhof, über dem der sichtbare und sterilisierte Teil des Todes auf- Meisterwerke lassen sich nicht genügend gemeinsame Züge herleiten, aus
ragt, sondern auf der Sohle eines Grabes, unmittelbar inmitten der Leichna- denen sich eine Entwicklungsreihe und ein Modell bilden ließe n'ie bei
me: die Särge sind, einer neben dem anderen, in langer Reihe aufgestellt. denen des Mittelalters (vgl. das fünfte Kapitel).
Die ältesten und die jüngsten sind völlig schmucklos. Im Gegensatz dazu Anstelle der mittelalterlichen Modelle gibt es nur zwei Reihen von ge-
verschwinden die Särge Maria Theresias und ihrer Eltern nahezu ganz unter wöhnlichen Gräbern: Bleisärge in Grabgewölben und sehr bescheidene

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Bodenplatten als vereinfachte Erbschaft der früheren Grabplatten, Teilele- Buches gekennzeichnet. Von diesem nahczu schmucklosen Fliesenboden
mente des Fliesenbodens. geht ein starker Eindruck von Sprödigkeit und Entsagung aus.
Die Bischöfe der Gegenreformation hatten wohl versucht, wieder auf
den alten Brauch der Friedhofsbestattung zurückzugreifen, aber sie muß-
ten sich mit der Forderung zufriedengeben, daß die Grabstelle in der Kir- Die Rehabilitation des Friedhofes
che des Niveau des Fliesenbodens nicht überragen sollte. Diese Verfügung unter freiem Himmel
reagierte überdies auf die der Epoche eigene Tendenz zur Einfachheit des
Begräbnisses. Und diefenigen, die der Tradition der Prachtentfaltung treu Gleichwohl ist die erstaunlichste Neuerung im Rahmen des Beisetzungs-
blieben, wurden davon durchaus nicht unvorbereitet betroffen. Wenn auch brauchtums dieser Epoche die Rückkehr zum Friedhof. Eine größere An-
niedrig, so waren ihre Gräber doch nicht bescheiden, und zweifellos hat die zahl von Leuten von Stand, die sich im 1 6. und zu Beginn des 1 7. Jahrhun-
Verpflichtung zum ebenerdigen Grab das Glück der lr'Iosaikhandwerker derts in der Kirche hätten beisetzen lassen, ziehen gegen Ende des 17. und
gemacht, die mit ihren Marmorspielen die Fußböden der Kirchen verklei- zu Beginn des 18. den Friedhof unter freiem Himmel als letzte Ruhestätte
deten, so in Il Gesü in Rom oder in der Kirche der Malteserritter in La vor.
Valetta ; diese wunderbaren vielfarbigen Kombinationen, lerzter glänzen- In Frankreich wählt man den Friedhof aus denseiben Gründen, wie an-
der Höhepunkt der Mosaikkunst vor unseren heutigen Badezimmern, be- dere das ebenerdige Grab in der Kirche vorziehen: aus Demut. Wenigstens
nutzten Wappenbilder als ornamentales Motiv. legitimiert man so eine Art der Grabwahl, die nie vollständig aufgegeben
Aber diese großen ebenerdigen Entwürfe aus vielfarbigem Marmor, worden war.
Kardinals- und Fürstengräber, waren doch eher seiten. Der Mosaikboden Die im lahre 1763 unternommene Friedhofsenquöte des Generalproku-
der Kirche San Giovanni dei Fiorentini in Rom ist in seiner Komposition rators des Stadtparlaments von Paris, deren wir uns als Quelle bereits im
von einem \(echselspiel monochromer Kreise und Rechtecke bestimmt. vorhergehenden Kapitel bedient haben, gibt einige genaue Hinweise. Die
Die Rechtecke sind sämtlich Einzelgräber mit ganz einfachen Inschriften. Grablegungen auf dem Friedhof sind damals so zahlreich, daß die Geisdi-
Vor dem Hauptaltar ein großer Kreis: Er schließt das Grabgewölbe der chen sie bei ihren Erörterungen über die Verlegung der Friedhöfe jenseits
Bruderschaft der Florentiner. Diese schlichten Platten setzten sich auch der Pariser Stadtgrenzen als Argument benutzen. So im Falle von Sainte-
außerhalb der Kirchen durch, in den Klöstern und au{ den Friedhöfen (so Marie-Madeleine im Stadtkern: "Ihre Pfarre hat keinen anderen Friedhof,
etwa im Kloster Santa Annunziata in Florenz). Die äußerst schlichte Grab- um Inicht die Armen, sondern] diejenigen Gemeindemitglieder beizuset-
platte ist in Italien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich, einer zen, die, im Geiste christlicher Demut, durchaus nicht im Grabgewölbe
Epoche, die doch die der schwülstigen Grabmäler mit Statuen, Porträts und ihrer Kirche zur Ruhe gebettet sein wollten, sondern in dem des Cimetiöre
theatralischen Szenen des Campo Santo in Genua ist. 6",1rrns6sn15." (19)
Andernorts war es ähnlich; aber die schlichten Platten ohne künstleri- Der Geistliche und die Kirchenvorsteher von Saint-Sulpice weisen, be-
schen Anspruch sind im Zuge der unbarmherzigen Renovierung der Böden unruhigt über die geplante Verlegung der Friedhöfe, mit Nachdruck auf die
im 19. und 20. Jahrhundert verschwunden. In ärmeren und entlegenen Ge- Notwendigkeit hin, ihren Friedho{ in der Rue de Bagneux zu erhalten: "Er
genden haben sich einige erhalten * so in Frankreich in der kleinen romani- wird schwerlich irgendwelche Nachbarn belästigen [. . .], aber es sind ande-
schen Kirche von Bozouls im D6partement de l'Aveyron, deren Boden re, für die Pfarre Saint-Sulpice dringliche Gründe, die ihn fden Friedhof]
noch heute beinahe vollständig mit Grabplatten des 18. Jahrhunderts be- für sie unverzichtbar machen. Erstens birgt er auf seinem weitläufigen Ge-
deckt ist ; ihre äußerste Schlichtheit rührt wahrscheinlich von der Nähe der lände eine Vielzabl von hochangesehenen Bürgern, die, aus Frömmigkeit
Protestanten her: es stehen darauf nur der Name oder der Name und das und aus Demut, auf Friedhöfen beigesetzt zu sein wünschen."
Datum oder, seltener, der Name, das Datum und der Beru{ (Notar usw.); Aus denselben Gründen fürchtet schließlich der Vorstand der Kirche
gelegentlich die Zeichnung eines Kreuzes auf einem Kalvarienberg; die Saint-Louis-en-l'Ile die Verlegung und die "Entfernung des Friedhofes".
Gräber von Priestern (PRT) werden mit dem Bild eines aufgeschlagenen Sie veranlasse "die Familien der Verstorbenen nämlich häufiger, ihre Beiset-

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zung in den Grüften der Kirche [anstatt auf dem Friefhof] zu wünschen, Jahrhundert auf dem Kontinent begegnet sind (Kapitel 5). Umgekehrt sind
ohne daß es in diesem Falle möglich war, sich dem Letzten Willen mehrerer die Kirchengräber, skulptierte oder gravierte gisants, hier besser erhalten
Personen von Stand zu fügen, deren Frömmigkeit und Demut ihnen den und zahlreicher als in Frankreich, ein Hinweis darauf, daß die Gep{logen-
'§?'unsch eingaben, inmitten der Armen auf dem Friedhof bestattet zu wer-
heiten fast dieselben waren und die Adeligen, Kaufleute und Honoratioren
den, wofür es in der P{arre Saint-Louis zahlreiche Beispiele gibt". Ein sich ebenfalls in der Kirche beisetzen ließen. Dennoch gibt es Beweise da-
Mensch dieser Art war der Polizeidirektor La Reynie. In dem Porträt, das für, daß der Friedhof seit dem Spätmittelalter in England nicht so um-
O. Ranum ihm gewidmet hat, beschreibt er ihn folgendermaßen: ,La Rey- standslos preisgegeben worden ist (Kapitel 2).
nie wurde durch seine aufrichtige religiöse Ergebenheit soliar zu einem au- Aber erst nach der "Restauration" in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
ßergewöhnlichen Akt der Demut veranlaßt: er verlangte in seinem Testa- derts werden die Zeugnisse zahlreicher. Im Jahre 1 682 notiert John Evelyn
ment, ganz anonym, ohne Grabmonument, auf einem kleinen Friedhof bei in seinem Tagebuch, daß sein Schwiegervater auf d em churchyard und nicht
Saint-Eustache beigesetzt zu werden." (20) in der Kirche beigesetzt sein will, "da er sehr entrüstet über den neuen
Manche dieser Gemeindemitglieder der Region Paris wählten den Fried- Brauch ist fneu im Verhältnis zu dem der christiichen Kirche der ersten
hof auch aus Gründen bürgerlicher Tugend, aus sozialem Verant§/ortungs- Jahrhunderte und zum kanonischen Recht], jeden Hergelaufenen im In-
gefühl und nicht aus Demut - wenigstens sind das die Gründe, die sie anga- nern der Kirche beizusetzen«. (22)
ben, so etwa der Kanzler d'Aguesseau: der Obelisk vor der Kirche Notre- Aus dieser Epoche haben sich viele Vertikalstelen erhalten, wenn auch
Dame d'Auteuil in Paris ist ein Überbleibsel seines Grabmals unter freiem nicht immer an ihrem ursprünglichen Platz, so doch wenigstens dicht an
Himmel. der Kirchenmauer oder der Einfriedung.lhreZahl vermittelt eine Vorstel-
Es ist nicht ausgeschlossen, daß im 18. Jahrhundert auf dem Lande ein lung davon, wie ein charchyard gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18.
langsamer Prozeß der Bewußtwerdung und der Parteinahme der Gemeinde Jahrhunderts ausgesehen haben mag: eine Art Anger - auf dem die Tiere
für ihren Friedhof einsetzt, für den Friedhof und gegen den Geistlichen, der des Geistlichen weideten -, übersät mit häufig reich verzierten lteadstones.
den in der Kirche bestatteten Toten zu viele Privilegien einräumte. Y. Ca- Es ist durchaus möglich, daß einige der ältesten davon sich von hölzernen
stan hat über ein Gerichtsverfahren berichtet, das im September 1735 der Vorbildern herleiteten. Die Mehrzahl aber stammt eher vom sehr verbreite-
Geistliche von Viviers bei Mirepoix gegen eines seiner weiblichen Gemein- ten Typ der \ü(/andtafei mit Inschrift ab, die von ihrem traditionellen Träger,
demitglieder und ihren Gatten führte. "Am Tage nach dem Fest des Ortes dem Mauerwerk der Kirche, gelöst und in die Erde verpflanzt wurde. Sie
[9. September], berichtet der Gemeindeschreiber, ruft sie laut, daß es kei- haben an der Inschrift, am verzierten Rahmen und in manchen Fällen sogar
neswegs der Brauch sei, das Liberain der Kirche zu singen. Sie entreißt dem an der religiösen Szene festgehalten (die Schöpfung und der Sündenfall, die
Kantor das Buch, drängt die Menge nach draußen und ruft ihr zu: 'Auf, Auferstehung des Fleisches, die Himmelfahrt der Seele in Gestalt eines En-
kommt zum Friedhof.," Ihr Mann sagt, daß sie "im Namen der Fraueno gels). Es ist also nicht die Form des Grabes, die dem englischen Freiland-
gesprochen und dem "Brauch der Friedhofsgebete wieder Geltung" ver- friedhof seine Originalität verleiht, sondern seine Häufigkeit und sein Al-
schaffen wollen hat. (21) ter. Es ist überraschend, Stelen vom Typ der headstones auf jüdischen
Man muß jedoch einräumen, daß die erneute "Blüte. des Friedhofs in Friedhöfen Mitteleuropas wie dem von Prag wiederzubegegnen.
Frankreich, wenn auch beglaubigt, doch spät eintritt und schwer zu erken- §flas veranlaßte also die Engländer von Stand, sich auf dem Friedhof bei-
nen und vorzustellen ist: es hat sich kaum ein sichtbares Grab bis heute setzen zu lassen ? Etwas, das sich von der radikalen und, nach Art der Janse-
erhalten. nisten, ostentativen Demut, wie man sie in Frankreich an den Tag legte,
In England ist das gänzlich anders. Sicherlich haben sich wie in Frank- geringfügig unterschied, etwas, das die Mitte zwischen der absoluten Indif-
reich nur wenige Freilandgräber des späten Mittelalters und der beginnen- ferenz der Puritaner und dem traditionellen Bedürfnis nach posthumer Be-
den Neuzeit erhalten. Die wenigen Beispiele haben die Form der aufrecht- wahrung des Standes und Gedächtnisstiftung hielt. Das läßt etwa die fol-
stehenden, schmalen Stele, die in eine scheibenartige Fläche ausläuft, in die gende Inschrift aus dem Jahre 1684 erkennen: ,(Jnter der Vorhalle dieser
ein Kreuz eingemeißelt ist - ein ähniicher Typus wie der, dem wir im 16. Kirche ruht der Leib von \flilliam Tosker, der lieber Türhüter Ido or heeper)

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des Hauses seines Gottes sein wollte, als im Tabernakel der Unsterblichkeit Derselben massenhaften Verbreitung von beadstonesbegegnet man in Neu-
Vohnung zu nehmen." (23) England, das sie sogar ins Virginia des 18. Jahrhunderts exportiert hat.
Diese psychologische Neigung war so verbreitet, daß die englischen Einzig die Ikonographie ermöglicht die Unterscheidung zwischen den
Auswanderer sie als entscheidenden 'W'esenszug ihrer Heimatkultur nach anglikanischen Gräbern Virginias und den puritanischen Neu-Englands. In
Amerika exportierten. In den englischen Kolonien in Amerika ist der ge- Virginia beherrschen, wie in England, zwei Hauptmotive die Spitze der
wöhnliche Ort der Grablegung der Friedhof, und die amerikanischen Hi- Stele, d. h. den Raum, der der religiösen Szene und dem Bildnis des Verstor-
storiker legen sich von der Originalität, der Neuheit und der frühzeitigen benen vorbehalten war. Das erste ist das des Engels oder des Kopfes eines
Entwicklung dieses Faktums vielleicht nicht hinreichend Rechenschaft ab. geflügelten Engels, Symbol der unsterblichen Seele und ihrer Himmelfahrt.
Im puritanischen Neu-England ist keine Rede vom Grab in der Kirche, und Das zweite ist das des Totenkopfes und der gekreuzten Beinknochen, Zei-
die feierlichen und gedächtnisstiftenden Beisetzungsakte vollziehen sich chen des körperlichen Verfalls. Dieses makabre Motiv hat in Neu-England
immer auf dem Friedhof. (24) die Oberhand behalten.
In Virginia ließen sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die Honoratio- Natürlich ist die Präsenz der Cherubim bedeutungsvoller als die maka-
ren der Kolonie unter freiem Himmel, in der Natur beisetzen, sei es auf bre Algebra, die in jener Epoche im ganzen Abendland so geläufig geworden
ihren Pflanzungen, sei es auf dem cburchyard." Es hat sich eine reichhaltige ist. Der geflügelte Cherub kommt in Frankreich kaum vor. In Italien taucht
Sammlung dieser Grabmonumente erhalten, die von P. H. Butler inventari- er in der Vielzahl anderer dekorativer Elemente unter. In Amerika dagegen
siert und untersucht worden ist. Ohne auf alle Details einzugehen, lassen hat er sich eine originäre Intensität und Ausdruckskraft bewahrt: Es war
sich doch drei Kategorien von Gräbern erkennen, denn die Morphologie ist nicht in Vergessenheit geraten, daß er die unsterbliche Seele darstellte. Des-
hier bezeichnend: halb hat sich im 18. Jahrhundert in Neu-England, wo die Bedeutung des
1. Die box-turnbs oder Gräber mit Schrein oder Sockel in der Nachfolge Todes sich veränderte und die Puritaner erst spät aufhörten, seine Schreck-
der mittelalterlichen gisant-Gräber, hier aber ohne gisant, von denen sich nisse als Mittel der Beschwörung einzusetzen, der Kopf des geflügelten
nurmehr der Sockel erhalten hat. Im 16. Jahrhundert gab es diesenTypus Toten zum Kopf des geflügelten Engels gewandelt, durch eine gleichsam
auf dem Cimetiöre des Innocents, wie das bereits zitierte Gemälde des Mu- kinematographische Verwandlung des Antlitzes, das allmählich und fort-
s6e Carnavalet bezeugt. Vohlgemerkt: auch in England gab es ihn - so auf schreitend voller und milder wird. (25)
dem kleinen Invaliden-Friedhof von Chelsea in London. In Virginia waren So hat sich im 17. und 1 8. Jahrhundert in England und seinen transatlan-
diese Gräber bedeutenden Persönlichkeiten vorbehalten; ihre Sockeiflä- tischen Kolonien im Umkreis der Kirche ein Raum gebildet, der nicht mehr
chen waren anfangs im barocken, später im klassischen Stil verziert. Rusti- der Friedhof der anonymen Gräber, der Friedhof ohne sichtbare Gräber,
kalere Modelle wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Zie- der Friedhof der Armen und Demütigen ist. Er ist mit einfachen, häufig
gelsteinen gefertigt. P. H. Butler hat Beispiele dafür photographiert, und aber auch reichverzierten Grabmonumenten durchsetzt, an denen sich mü-
zwar aus den Jahren 1675,1692,1699 und 1700. helos der Einfluß der großen Kunstströmungen der Zeit ablesen läßt, bei
2. Zahlreicher und verbreiteter, wenn auch ebenfalls verziert, und denen au{ das Barock der neo-palladianische Klassizismus folgt, der seiner-
manchmal aus England eingeführt, sind die Grabplatten oder slabs und seits der Romantik vorausgeht und möglicherweise das allgemeine Streben
3. die Stelen oder headstones, die auf jener anderen Seite des Atlantik den nach weniger Pomp und mehr Entsagung zum Ausdruck bringt.
churchyardvom Ende des 17. Jahrhunderts nachbilden. Der älteste in der Dieses Bild des Friedhofs fehlt außerhalb Englands nicht völlig. Noch
Arbeit von P. H. Butler aufgeführte headstone srammt aus dem Jahre 1622. heute hat der Zufall es da erhalten, wo man es am wenigsten erwartete, etwa
auf dem kleinen Friedhof eines katalanischen Dorfes in unmittelbarer Nähe
der spanischen Grenze; ich war überrascht, hier auf alte Gräber zu stoßen,
" In Virginia hat rnan manchmal auch Beisetzungen in den Kirchen vorgenommen, aber nicht die lediglich durch eine gravierte Stele zu Häupten und einen schmucklosen
ausschließlich und zunehmend weniger; die Grabplatten oder \Vandtafeln lassen sich seit 1627
nachweisen und kommen zur Mitte des I 8. Jahrhunderts außer Gebrauch - ein bemerkenswertes Stein zu Füßen gekennzeichnet waren. Tatsächlich wurde in England und
Phänomen (P. H. Butler). Amerika die Grabstätte durch den beadstone und den footstone markiert:

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Dieser Brauch legt Zeugnis ab von der neuen Sorge um die genaue Lokali- zu sprechen, die im Jahre 1655 im AIter von 82 Jahren starb. "Seit langem
sierung des Grabes an der Bodenoberfläche, scheint aber nicht weiter als bis hatte sie bereits zu existieren aufgehört, es sei denn, sie zählte die bedrük-
ins 1 8. Jahrhundert zurückzureichen. In den ersten Jahren des I 9. Jahrhun- kenden Tage. Sie hatte ihre Grabschrift entworfen:
derts war diese Art der Grablegung allgemein verbreitet, sogar bei den
Reichen. Et si tu veux, passant, comPter tous ses malbeurs.
Emily Brontö beschreibt in Wutbering Heigbts einen kleinen Friedhof Tu n'auras qu'ä compter les moments de sa oie. o
auf dem Land,e. Zwei bedeutende Familien leben auf ein und derselben
Scholle in zwei Häusern von gleich vornehmem Außeren. Die eine hat ihre In diesem Alter schickte es sich, der Welt zu entsagen, um den Tod zu
Grabstätte in der Kirche - die des squire; die andere auf dem cburchyard. bedenken, denn einem alten Menschen blieb keine andere Möglichkeit.
Die Gemahlin des squire hat auf dem Totenbett verlangt, nichr in der Kir- Aber diese Veltabkehr war nicht mehr so absolut verbindlich wie die des
che, sondern auf dem Friedhof beigesetzt zu werden. Ihr Gatte verzichtet mittelalterlichen Klosters. Eine der häufig praktizierten "Übungen« §/ar
also auch auf die Grabstätte seiner Ahnen, um in der Nähe seiner Gemahlin die der Abfassung der eigenen Memoiren. M. Fumaroli sieht "in den Me-
ruhen zu können, in einem §üinkel des Friedhofes nahe der Einfriedungs- moiren des 17. Jahrhunderts fdie derart häufig sind . . . und im allgemeinen
mauer. Beide werden nur einen einzigen beadstonehaben »dnd a pldin grey z.u dem Zeitpunkt geschrieben werden, da der Autor das aktive und profane
bloch at their feet, to marh tbeir graoeo (und einen schmucklosen grauen Leben hinter sich läßtl geistliche Übungen (im Sinne des Heiligen Igna-
Steinblock zu ihren Füßen, um die Stelle ihres Grabes zu bezeichnen). tius)." Diese Memoirenschreiber "sind auf der Suche nach der verlorenen
Der cburcbyard aul. dem Lande bezeugt mit seinen unter freiem Himmel Zeit, einer Suche, für die die Zeit sich ausschließlich als Schwerpunkt der
aufgerichteten oder liegenden Grabsteinen eine abgeklärte, etwas distan- Vergänglichkeit, als Leere, als Nichts darstellt." (26)
zierte Einstellung, für die Hoffnungen und Angste sich in gleicher lWeise Dieser Hang zum Nichts muß rnit der bereits konstatierten fortschrei-
abgeschwächt haben. Eben diesen Friedhof hatte zu Beginn des 18. Jahr- tenden Entwicklung des Glaubens an die Zweiteilung des Seins zusammen-
hunderts Thomas Gray vor Augen, und er beeinflußte noch die Romanti- gesehen werden. Sicher glaubte man an die Auferstehung des Fleisches, sie
ker, als sie eine andere Art des Sich-Verhaltens und Fühlens angesichts des wurde gelegentlich in den Epitaphien beschworen, und der Verstorbene
Todes entdeckten. harrte ihrer; aber sie stand nicht mehr im Zentrum der spirituellen Grund-
haltung und reagierte nicht mehr auf die ErschütterunBen der Sensibilität.
Der Gegensatz von Körper und Seele führt zur Vernichtung des Leibes.
Die Verlockung des Nichts in der Literatur "solange wir in unserem Körper zu Hause lat home) sind", schreibt im
Jahre lT2l Increase Mather, Sproß einer Familie großer Prediger aus Neu-
Man möchte meinen, daß zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine gewisse ruhi- England, "sind wir des Herren beraubt. [. . .] \[ir möchten lieber unseres
ge Ausgewogenheit dieses melancholischen Schlichtheitsstrebens erreicht Leibes beraubt und in dem Herrn zu Hause sein."
ist, wofür der englische und amerikanische Friedhof das Symbol wäre. Der nach dem Tode verbleibende Leib gilt dem englischen Puritaner
Aber bereits das bitter-süße Grundgefühl, in das diese Kultur getaucht war, nichts mehr. ,,Dein Leib wird, wenn die Seele ihn verlassen hat, zum Ab-
hatte unter einer seiner eigenen Konsequenzen zu leiden. Es vollzieht sich scheu für alle, die ihn betrachten, zur abstoßenden und entsetzlichen Er-
nämlich der Ubergang von der Vergänglichkeit zum Nichts. Nicht immer, scheinung. Die ihn am meisten geliebt haben, finden in ihrem Herzen jetzt
nicht zwangsläufig, aber doch so häufig, daß er den Stil der Epoche charak- nicht mehr die Kraft, ihn zu betrachten, wegen der schrecklichen Entstel-
terisiert. Es liegt darin so etwas wie eine Art dramarische Rückkehr eines lungen, die der Tod über ihn verhängt hat. Ihm ist bestimmt, in einem Ab-
melancholischen Lebens in sein entleertes Zenrrum. Der Zeitpunkt dieser grund von Fäulnis und Verfall zu versinken. Von Würmern wimmelnd,
Rückkehr ist zweifellos die Phase des Sich-zur-Ruhe-Setzens, der Einsam- nicht imstande, auch nur den kleinsten Finger zu rühren, um das Ge-
keit in der "rVüste.. Et si tu oeux .. . Und wenn du, Vorübergehender, alle ihre Nöte zählen willst,/ So brauchst
In seiner Vie de Rancökommt Chateaubriand auf Mme. de Rambouiilet Ju nur alle Augenblicke ihres Lebens zusammenzunehmen.

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schmeiß zu verscheuchen, das ihn zerfrißt und sich von seinem Fleische Sphara, non aitrea quidem, . . .
ernährt." \flährend die Seele, »wenn sie dieses Leben hinter sich gelassen Sedoitro nitida magis,
hat, [. . .] nichts mit sich führt als die Schönheit, die Gnade Gottes und ein Sed aitro t'ragilis magis.
gutes Gewissen". (27)
Bossuet äußert sich kaum anders als der englische Nonkonformist, wenn Zerbrechlich, hinfällig wie das Leben, aber auch zauberhaft wie die Gau-
er in seinem Sermon sur la mort schreibt : "rVird es mir heute erlaubt sein, kelbilder des Lebens:
angesichts des Hofes ein Grab zu öifnen, und werden nicht so empfindliche
Augen von einem so düsteren Anblick beleidigt?" Sum bkndurn, petulans, aagutn, . . .

Diese Meditation über den Tod hatte Bossuet gleichwohl im Alter von D istincturn nht ib u s, ro sis,
zwanzig Jahren begonnen (Möditation iur la briöpetö de la aie) : "Mein Vndis, ignibus, aäre,
Leben währt höchstens achtzig Jahre [. . .]. Ich nehme wenig Raum ein in Pictum, gemmeum, €t aureurn.
diesem großen Schlund der Jahre." Er nimmt diese Formulierung im Ser-
mon sur la mortVlort für Vort wieder auf : "W'enn ich den Blick über mich Aber dieses ganze wie ein barockes Deckengemälde strahlende'Wunder-
hinaus richte, welch unendlicher Raum, in dem ich nicht mehr bin ! Venn werk ist nichts- so statuiert es die nahezu unübersetzbare Schlußkadenz
ich ihn rückwärts richte, welch schreckliche Zeienfolge, in der ich nicht des Gedichtes:
gev/esen bin, und ich nehme wenig Raum ein in diesem ungeheuren
O sum, scilicet, o nibil.
Schlund der Zeir."
Hier stoßen wir erneut auf das Gefühl der Vergänglichkeit, der Kürze des
Lebens, der Flucht der Zeit und der §flinzigkeit des Menschen in der Rhetorische Figuren, wird man sagen, Metaphern eines Dichters. Diesel-
unendlichen §Veite der Zeiten und Räume - ein Pascalsches Ge{ühl. Schon ben Worte und Bilder rrird Bossuet benutzen, nicht von der Kanzel herab,
1648, in der Möditation sur la briör.tetö de h aie, geht Bossuet von diesem sondern in einem schlichten Brief an den Abb6 de Ranc6, in dem er ihm die
Sendung zweier Leichenreden für die Königin von England und für Mada-
"wenig Raum. zum "Nichts" iber. "Ich bin nicbts.Diese kleine Zwischen-
zeit ist nicht imstande, mich vom Nichts abzuheben, in das ich eingehen me (die älteste Tochter des Königs) ankündigt: "Ich habe Auftrag gegeben,

muß. Ich bin nur zur liüelt gekommen, um zahlenmäßig zu Buche zu schla- Euch zwei Leichenreden zukommen zu lassen, die, weil sie das Nichts der
gen; zu mehr war ich nicht nutze.« Ein Text, der eben{alls im Sermon sur k Welt kenntlich machen, wohl einen Platz unter den Büchern eines Einsied-
mort w örrlich wiederaufgenommen wird. lers verdienen und die er iedenfalls als zwei hinlänglich rührende Totenköp-

Ich bin nichts. Zu mehr war das Ich nicht nutze ? Ein doch so wichtiges fe betrachten mag." (29)

Ich, daß die Schätze der Kirche für sein persönliches Heil zusammengetra-
gen wurden, daß sein Erfolg oder Scheitern die ganze Gemeinschaft auf die
Probe stellte, daß die großen Einschnitte und Wendepunkte seines Lebens
mit Festen begangen wurden. Dieses Leben wird von Bossuet nur noch als
,Kerze, die ihr Vachs verzehrt hat", aufgefaßt, vom Deutschen Gryphius
(1640) nur noch als Rauch im §(indhauch, als "ein Tautröpfchen, das auf Spbara... Eine Kugel, freilich nicht aus Glas,/ ...Sondern glänzender als Glas,/ Zer-
eine Lilie herniedersinkt<( - so Binet in seinem Essay des Meraeilles; "ein brechlicher als Glas. - "spbire non pas de aene,/ . . . M ais plus que vene brillante,/ Mais plus que
Tautropfen" oder "eine \Vasser- und Seifenblase<< - so der Engländer Cra- vene t'ragile.. (Jean Rousset)
Sum bhndum... Ich bin lockend, mutwillig, unster.../ Ich bin eine buntschillernde Mi-
shaw -, bomo bulla.
schung/ Von Schnee, Rosen,/ rVellen, Feuer, Luft,/Bemalt, edelsteingeschmückt und goldglän-
Jean Rousset hat ein außerordentliches lateinisches Gedicht von Cra- zeod . . . ,Je suis une bigarrtre/ De neiges et de roses,/ D'earx, d'air et de t'eux,/ Peinte, gemnäe
shaw zitiert und übersetzt, eine Meditation über diese Seifenblase des et dorie .. . " (Jeln Rousset)
Lebens: O sum.., lch bin, leider!, nichts weiterals ein Nichts.

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Die Verlockung des Nichts in der Grabkunst des Nichts ist; andererseits, aber in einer davon völlig getrennten Welt, die
Glückseligkeit des Jenseits. Der Gegensatz ist scharf und schneidend.
Diese Variationen über das nibil - ob nun vertraut oder hochtrabend- Er kommt auch auf dem Grab von G. B. Gisleni in Santa Maria del Popo-
schwülstig - sind heute in wenig gelesenen Büchern vergraben. Dieses lo in Rom zum Ausdruck, wenn auch hier durch traditionellere Gestaltung
Nichts ist ein wenig erkaltet. §(ir streifen nahezu achtlos darüber hinweg und redseligere Rhetorik gebrochen. Die Idee des Nichts wird in der kirch-
und stellen uns vergeßlich. Dennoch kann uns das Nichts noch heute mit lichen Lehre festgehalten, ist aber in der Velt der Bilder in Auflösung be-
der gleichen Intensität anrühren wie im 17. und 18. Jahrhundert. Es zieht griffen. (30) Das hochaufragende Grabmal stammt aus dem Jahre 1672.lm
sich in die Kirchen zurück; die Gräher und Epitaphien aber schleudern es oberen Abschnitt ist das gemaite Bildnis des Verstorbenen in einem runden
uns ins Gesicht wie ein Donnerwort, und wer es einmal gehört hat, wird es Rahmen angebracht, mit der Bildlegende Neqae bic viazs. Unten - und das
nicht mehr aus dem Gedächtnis verlieren - so stark ist die außerordentliche ist der beeindruckendere Teil des Grabmals - schaut ein Skelett hinter Git-
Ausdruckskraft der Grabplastik. terstäben den Betrachter an: Neque illic mortuus. ltrüarum diese Gitterstä-
Das beste Beispiel für das, was ich sagen möchte, ist das Grabmal des be? Zwischen Bildnis und Skelett dann Epitaphien, Inschriften und Un-
Ehepaares Altieri in einer Seitenkapelle von Santa Maria in Campitelli in sterblichkeitssymbole wie der Phönix und der aus seiner Puppe schlüpfen-
Rom, ein einzigartig schönes und bewegendes Monument. Die Gräber - es de Schmetterling.Zwar wiederholen diese sehr orthodoxen Inschriften das
sind in der Tat zwei getrennte Gräber - stammen aus dem Jahre 1709. Sie paulinische Motiv des Todes als des wahren Lebens, des Lebens als des
sind einander ähnlich und symmetrisch zu beiden Seiten des Altars der wahren Todes. Aber der Vorübergehende, an den das Grabmal sich wendet,
Kapelle angeordnet. überfliegt die Details dieser kleinen symbolischen Szene und ihrer tröstli-
Den unteren Abschnitt jedes Grabes bildet ein enormer Sarkophag aus chen Kommentare. Er sieht und hört dagegen nichts anderes als das Skelett
rotem Marmor. Auf dem Sarkophagdeckel halten zwei betrübte Engel eine hinter seinem Gitter.
gesenkte Fackel und weisen eine Inschrift vor, die aus nur einem §fl'ort be- Einfacher und banaler, also weniger ausdrucksstark, wenn vielleicht
steht, in großen Goldlettern geschrieben, die sich vom lJntergrund abhe- auch repräsentativer für das Durchschnittsgefühl, ist eine Grabplatte mit
ben wie die riesigen Schriftzeichen eines Reklameplakates. Auf dem Grab schlichtem Epitaph vom Ende des l6.JahrhundertsinSant'OnofrioinRom,
des Mannes ist dieses \Xlort nibil, auf dem der Frau umbra. wiederum in Rom (dieses barocke Rom ist geradezu eine Prunkstadt des
Nibil und umbra,letztes Bekenntnis von Menschen, die an nichts mehr Nichts !). Auf dieser Platte ist, ebenso mehrdeutig vrie bei den beiden vor-
glauben, möchte man meinen, wenn man nur das Untergeschoß des Grabes hergehenden Gräbern, die Vorstellung des Nichts mit der der glückseligen
ins Auge faßt, wie wenn man Bossuet, ohne Rücksicht auf den Kontext, Unsterblichkeit verquickt. Sie beginnt mit der umstandslosen Bekräfti-
wörtlich nähme. Sobald man aber den Blick in die Höhe richtet und über gung, daß das Leben nichts isr: Niloixisse iuoat (esfrommt nichts, gelebt zu
die schrecklichen Motti hinaus schaut, ändert sich alles, und wir stoßen auf haben); dann wird die Brutalität dieser Behauptung wieder korrigiert. Es
vertraute und beruhigende Formen. Die beiden Toten sind als Kniende in ist stabile rnd bonum, im Himmel zu wohnen. Aller sprachlicher Nach-
der traditionellen Haltung des priant im Himmel dargestellt. Der Mann druck aber liegt, dank der spezifischen §üortfügung des Lateinischen, auf
hält die Hände auf der Brust ge{altet, und sein Gesichtsausdruck beim Ge- dem Nil des Satzanfangs, und der Rest des Satzes büßt an Gewicht ein.
bet kommt dem einer verzückten Ekstase nahe. Er hält den Blick auf den Überdies wird das Epitaph von einem anderen §ü'ort überragt wie von ei-
Altar gerichtet, der zugleich der seiner irdischen Pfarre und seiner himmli- nem Kolumnentitel auf einer Druckseite: Nemo. Nichts und Niemand.
schen 'W'ohnstatt ist. Seine Gattin dagegen neigt den Kopf und blickt zur Viele andere Inschriften derselben Zeit lassen sich nicht auf theologische
anderen Seite, in Richtung des Kapelleneingangs. Sie hält ihr halbgeschlos- Spitzfindigkeiten ein und versteifen sich nicht darauf, widersprüchliche
senes Gebetbuch, den Finger als eine Art Merkzeichen eingelegt. Ihr Ge- Vahrheiten zu versöhnen. Sie bekräftigen in einem kurzen Satz, daß die
sicht ist von Melancholie verschattet, so als warte sie. Zwei beherrschende Welt nichts gilt, ohne jede weitere Anspielung auf das Seelenheil, auf Chri-
Gefühlslagen treten in diesem großartigen \Werk in Erscheinung. Einerseits stus oder einen himmlischen Tröster, die ein Gegengewicht bildete. So die-
die Melancholie des Schattens, der weder dunkle Nacht noch Schroffheit ses neapolitanische Epitaph (San Lorenzo Maggiore) :

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Quidornnia Maskierung zurückzuweisen. "Der einsichtige Menscho lehnt diese Bilder
Quid omnia nibil ab. Dagegen verleiht er dem Tod ,in seinem Denken die eigentliche Gestalt,
Si nibil cur omnia über die er verfügen sollte, betrachtet er ihn auf die gleiche \trfleise, wie er
Nihil ut omnia. seinen U rsprung auffaßt. "
Der Begriff des Ursprungs ist in der Tat ausschlaggebend: "Vir gehen
Oder dieses andere, ebenfalls aus Neapel (San Domenico) stammende alle wieder in den Zustand ein, in dem wir vor unserem Dasein waren«, sagt
Epitaph: Terra tegit tenam (Erde bedeckt die Erde). Man wird den im mehr als ein Jahrhundert nach Gomberville der Geistliche Meslier in sei-
Jahre 1631, also auf dem Höhepunkt der Gegenre{ormation verstorbenen nem Testa.men. Bemerkenswert ist, daß die lVelt des Ursprungs unsern
Kardinal Antonio Barberini nicht des Atheismus verdächtigen; gleichwohl Zeitgenossen heute Mißgestalten eingibt, die wahrscheinlicher und absto-
hielt er in seinem Epitaph in Rom an derselben Vorstellung fest, die uns ßender sind als das alte höllische Bestiarium. \üflenn die Maler der Jahre um
heute verzweiflungsvoll anmutet: "Hier ruhen Staub und Asche [traditio- 1950 die Schrecknisse des Krieges, der kollektiven Massaker und der Miß-
nelle Zeichen der Bußfertigkeit, aber das letzte Wort schneidet wie ein Fall- handlungen und Foltern darstellen wolien, ersetzen sie das Skelett und die
beill er nibil." (31) Mumie durch den Fötus, das Bild des unfertigen und monströsen Ur-
Bei diesen Christen des 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts, si- sPrungs.
cherlich glaubensstarken Christen, war die Verlockung des Nichts dennoch Sicher ist für Gomberville der Ursprung nicht der abstoßende Fötus,
stark. Zwar gelang es ihnen, sie zu zügeln; aber das Gleichgewicht wurde sondern ein metaphysischer, gelöster und tröstlicher Ursprung, er ist die
anfällig und gestört, als die beiden Bereiche, der des Nichts und der der Natur: "'§flir müssen der Natur zurückerstatten, was sie uns geliehen hat.
'§üir müssen
Unsterblichkeit, sich immer weiter voneinander entfernten und alle Ver- dahin zurückkehren, woher wir gekommen sind.. (32)
bindungen zueinander abbrachen. Eine Schwächung des Glaubens (die Diese Natur, in der alles endet, hat zwei Aspekte. Einer ist, wie wir be-
Entchristianisierung?) oder, wie ich meine, eher eine Schwächung der reits gesehen haben, der Friedhof, d,er churcbyard, der ländliche Gotresak-
eschatologischen Unruhe im inneren Glaubenskern genügte, das Gleichge- ker von Thomas Gray und der englischen Elegiker des 18. Jahrhunderts.
wicht zunichte zu machen und dem Nichts zum Siege zu verhelfen. Die Das ist der verklärte Aspekt. Der andere ist der des Schattens der Nacht und
Schleusen sind geöffnet, durch die sich dann all die faszinierenden Ströme der Erde, es ist die Gruft,konkretes Bild des Nichts.
des Nichts, der Natur und der Materie ergießen können. Der zweite Band der Doctrine des meurs von Gomberville schließt mit
einem Stich, der einen Friedhof darstellt, einer Ailegorie der Finis oitae. Es
handelt sich nicht um einen realen Friedhof aus der Zeit Gombervilles. Er
Die besänftigende und die schaurige Natur. weist vielmehr bereits im Jahre 1646 aü die Vorstellungswelten Piranesis,
Die Nacht der Erde: Die Gruft Boull6es und die kaiten Visionen des späten 18. Jahrhunderts voraus, in
denen die Friedhöfe dieser Stadtplaner von der Velt des Lichtes abge-
Eben dies ist im 18. Jahrhundert eingetreten; das Nichts ist damals jedoch schnittene Nekropolen sein werden. Der Friedhof von Gomberville ist eine
nicht in seiner absoluten Nacktheit wahrgenommen worden, einem Privi- verlängerte Gruft, ein geheimer Säulengang, wie er in Rom freigelegt und in
leg der Mitte des 20. Jahrhunderts; es ist vielmehr sofort mit der Natur den italienisch en oillae nachgeahmt worden ist, wenn auch ohne Fenster.
verquickt und von ihr abgewandelt und gebrochen worden. Das gilt mit Die Mauern sind mit Graburnen ausgekleidet. Auf dem Boden stehen ge-
Sicherheit für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, wenn es auch schon öffnete Sarkophage, die Skelette schleifen zu ebener Erde, und als einzige
bei Gomberville im Jahre 1646 spürbar ist. In seiner Doctrine des meurs reBsame Elemente streifen Schatten vorbei.
führt er den Tod vor Augen, um seine seit dem Mittelalter übliche makabre Das 17 . und das 18. Jahrhundert haben damit ein anderes Bild des Todes
beigesteuert, die unterirdische Gruft: ein großer geschlossener Raum, der
Quid omnia .. . Vas ist die Velt ?/ Vas ist die \g'clt ? Nichts./ W'enn sie aber nichts ist, warum nicht, wie die Hölle, eine andere 'üüelt ist; er gehört zur Erde, ist aber des
dann die Velt?/ Das Nichts ist wie die \i(elt. Lichtes beraubt: huis clos - hinter verschlossenen Türen.

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l
Unter solchen Umständen wird besser verständlich, warum die Königs- Das Seelen-Porträt mag auf zahlreichen traditionelleren Gräbern weiter
gräber des 1 7. und 1 8. Jahrhunderts, anstatt gewaltig aufzuragen wie die des gen Himmel getragen werden: die neue schöpferische Tendenz der Einbil-
14. und 15. Jahrhunderts, in den Boden einsinken und sich der Erde gleich- dungskra{t wird nicht mehr vom Oben, sondern vom Unten angeregt. Der
machen; man erfaßt, warum die Gruft, zusammen mit dem Friedhof auf Tote steigt hinab. Ein Engel (nicht mehr der Cherub der barocken Apo-
dem Lande, zum repräsentativen Bild des Todes geworden ist, vor allem im theosen, sondern ein nackter Ephebe als Symbol der Jugend und der Liebe)
18. und im beginnenden 19. Jahrhundert und namentlich im vorromanti- hütet den Eingang der schwarzen Pforte. Gleichwohl hat das Nichts, wie
schen England. bei Gomberville, an der Natur teil, die kalte Nacht der Gruft wird durch die
In den Jahren um I 740 erscheinen zwei epische Gedichte unter zahllosen geradezu ländlich-gemächliche Gangart des Trauerkondukts gemäßigt, der
anderen, das eine über den Friedhof in der freien Natur, von Thomas Gray, die Tote geleitet, die mit Blumen geschmückt ist wie eine ferne Erinnerung
das andere über die Grabgruft, von Robert Blair, Tbe Graoe (1743). an dionysische Mysterien. Das Grab öffnet sich ins Nichts, ist aber in der
,The Grave, dread thing. . . [das Grab, eine schaurige Gruft), wbere Natur gelegen, wenn es sich auch noch im Innern einer Kirche befindet:
nought but Silence reigns, and Nigbt, dark Nr6ät fwo nichts als Schweigen Deshalb hat der Künstler vor der Pforte zur Gruft die Fluren ländlicher
herrscht und Nacht, schwarze Nacht]." In ihren moosbewachsenen Ge- Gefilde dargestellt. Es ist der Tag gekommen, da diese Natur nicht mehr im
wölben läßt das Licht einer schwachflackernden Kerze die Nacht nur noch Umkreis des Grabes vorgetäuscht, sondern da das Grab selbst in die wirk-
schauriger erscheinen und liche Natur verlegt wird.

Lets fall a st4pernumerary borror. Die der Natur überlassenen Gräber


Das Motiv der Gruft ist im Schauerroman der Ann Radcliffe und M. G. Welche Beziehung besteht zwischen all dem, was hier soeben über Ver-
Lewis benutzt worden, um mehr oder weniger erotische und sadistische gänglichkeit und Nichts ausgeführt worden ist, und ienem Phänomen der
Situationen pikant auszuschmücken. wachsenden Empfindlichkeit gegenüber dem elenden Zustand der Fried-
Auch die Grabplastik hat sich des Bildes der Gruft bemächtigt und sie höfe und ihrer Gefahr für die Volksgesundheit, die in der zweiten Hälfte
mit den bereits seit altersher bekannten Unsterblichkeitssymbolen wie der des 18. Jahrhunderts im ganzen Abendland in Erscheinung tritt?
Apotheose des Verstorbenen, dessen Bildnis von Engeln zum Himmel hin- Diese neue Geistesverf assung - wir werden im vierten Teil des vorliegen-
auf getragen wird, oder anderen neueren verknüpft, die - wie Pyramide und clen Buches (Kapitel 1 1) darauf zurückkommen - will ich hier nur beiläufig
Obelisk - aus einem phantasierten Agypten entlehnt sind. ins Spiel bringen, und zwar wegen der'W'eiterungen, die unsere Kenntnis
Manche Länder, besonders England und Amerika, in denen das andere cler Einstellungen zu Vergänglichkeit, Nichts und Natur dadurch erfährt.
Bild des Todes, das des Friedhofs in freier Natur, die Oberhand behalten Sie bietet zwei allgemeine, wenn auch nicht miteinander verbundene
hat, haben das Leitbild der unterirdischen Gruft aus der Alltagsrealität Aspekte. Der eine ist der der polizeilichen Sicherheit und der öffentlichen
schließlich völlig verbannt (Kapitel 10). Hygiene (die Gefahr von Epidemien). Der andere ist moralischer und reli-
Die Symbolik der Gruft hat keine allgemeine Verbreitung gefunden. \(o giöser Art (es ist schmählich, Menschen wie Tiere zu bestatten).
sie vorkommt, ist sie jedoch ergreifend. lVir begegnen ihr etwa beim Grab Im England der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts werden die ersten
der im Jahre 1805 verstorbenen Erzherzogin Maria Christina in der Wiener umfassenden und von den unerträglichen Verhältnissen motivierten Klagen
Kapuzinergruft, einem Werk von Canova. Der Tod. ist hier ein feierlicher vorgetragen: "§flir haben mehrere offene Gräber und darüber aufgeschich-
Abstieg in die Erde. Die Pforte, ein aus der römischen Grabikonographie tete Gebeine gesehen.. (1685 [33]) Ein ganz normaler Tatbestand, der auf
übernommenes Symbol, öffnet sich nicht auf den Himmel, sondern auf die .rllen Friedhöfen die Regel war, ohne daß man bisher daran Anstoß genom-
Finsternisse. rnen hätte. Neu und bezeichnend ist vielmehr der ietzt von englischen und
lrrotestantischen Autoren konstatierte Zusammenhang zwischen Verwahr-
Le* t'all... verbreitet einen zusätzlichen Schrecken. losung der Friedhöfe und Lässigkeit der Leichenbegängnisse.

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Pierre Muret empört sich in einem ursprünglich französisch geschriebe- La Grande et Nöcessaire Policevon 1619. Ilckanntlich waren die "Pestepi-
nen - Cörömonies funibres de toutes les nations (Paris 1579) - und schon ciemien" damals häu{ig und qualvoll, namentlich in Frankreich.
1683 ins Englische übersetzten Buch (l?lres of funerak) über die englische Es kommt schließlich dahin, daß man sich über die Ungebührlichkeit der
Art und \fleise der Beisetzung von Toren. Er erinnert sich, daß früher das Umwandlung von Kirchen in Friedhöfe, und in unzureichend gepflegte
Jahresgedächtnis des Hingangs feierlich in Erinnerung gerufen wurde. t:riedhöfe, empört. (35) Die Vürde des Allerheiligsten wird verletzt, und
Heute spricht man nicht mehr davon, so als schmeckte das zu sehr nach rnanche Autoren beginnen sich darüber zu erregen. Dennoch ist es das Al-
Papismus. Begegnet man erwa noch einem Trauergeleit? Diejenigen, die lcrheiligste, das Schonung und Fürsorge erheischt, und nicht die Toten. Der
dem Leichnam das Geleit geben, führen sich mit einer solchen Anstößigkeit rnoralische und soziale Aspekt wird außer acht gelassen, sei es, weil die
auf und treiben im Laufe des ganzen Zuges derart zwanglose Scherze, daß katholischen Zeremonien schicklicher waren als die Leichenbegängnisse
man glauben möchte, daß sie auf dem §7ege ins Theater sind ansrarr zu einer der Dissidenten, sei es, weil die Franzosen diesem Aspekt gleichgültiger
Beisetzung. Früher waren die Gräber mir Blumen', geschmückr, heute ist gegenüberstanden, was dann immerhin die Verspätung erklärte, mit der der
davon keine Rede mehr. "Es gibt nichts Trostloseres als einen Friedhof, und Irriedhof unter freiem Himmel Eingang in ihre Kultur fand.
beim Anblick dieser Gräber möchte man eher meinen, daß sie zur Beiset- \Vir haben heute im allgemeinen den Eindruck, daß die Bewußtwe rdung
zung des Gerippes eines Schweines oder Esels gedient haben.. cines alten und dauerhaften Phänomens, des schlechten Zustandes der
Die Zeitgenossen haben die Verfassung der F-riedhöfe dem Einfluß der lrriedhöfe, mit dessen gleichzeitiger Verschlimmerung zusammenfiel.
Dissidenten und der Zerstörungswut der bilderstürmerischen Puritaner In den arnerikanischen Kolonien, die interessante soziologische Labora-
zugeschrieben. Vie gewöhnlich neigte man dazu, ein diffuses Phänomen, roricn sind, wurden die Vernachlässigung der Leichenbegängnisse und die
dessen allgemeine Verbreitung nicht wahrgenommen wurde, aus einer spe- Vcrwahrlosung der Friedhö{e als zusammengehörig beklagt, und zwar mit
ziellen Ursache herzuleiten. Auf die vorgebrachten Gründe kommt es we- Lrm so mehr Empörung, als der amerikanische Friedhof auf dem Lande
nig an. Bemerkenswert ist, daß sie als erste den Zustand der Friedhöfe als cinerseits gleichsam neu und von dem Unrat f rei vzar, der in Europa von der
unerträgliche Belästigung der Alltagswirklichkeit beklagt haben, die die sehr langen Benutzung herrührte : andererseits weil er auch von den Hono-
§fürde des Menschen antasre. ratioren gewählt wurde, und weil er schließlich, vor allem in Neu-England,
Auch in Frankreich stammen die ersten Beobachtungen dieser Art vom ,lrr Ort vr'ar, an dem die Gemeinde ihren Zusammenhalt bekräftigte. Als
Anfang des 17. Jahrhunderts (Untersuchungen und Klagen mehren sich l{caktion auf diese Proteste ist die Bestattung der Leichname in einer Min-
vor allem um die Mitte des 18. Jahrhunderts); sie beziehen sich jedoch nur ,lcsttiefe und die gebührende Schicklichkeit der Leichenbegängnisse durch
auf die öffentliche Hygiene und stellen die zwanghafte Angst vor Epide- ( )csetz geregelt und kontrolliert worden, während andere Gesetze den Lu-

mien unter Beweis: "Die schrecklichen Nöte [Ansreckung, Pestilenz], die rus und den Prunk der Beisetzungszeremonien einschränken sollten. In
abgewehrt werden müssen und denen es mit Sorgfalt und genauen Verfü- New York wurden gegen Ende des 17. Jahrhunderts Maßnahmen ergrif{en,
gungen zuvorzukommen gilt, lassen sich dadurch bannen, daß man die rrrn die Nachbarn eines Verstorbenen zur Teilnahme an seinem Geleit zu
wirklich toten Leiber [ !] rasch in sehr tie{en Gruben beisetzr, selbsr wenn es zwingen und sicherzustellen, daß die Totengräber sich des Sarges auf dem
zahlreiche Todesfälle gibt, wie das ja in Kriegszeiten und bei anderen mas- Wege nicht einfach entledigten, sondern ihn auch wirklich zum Friedhof
senhaften Seuchenopfern die Regel ist oder wenn sie der Ansteckung mit riberführten.
Lepra oder eines Gifttodes verdächtig sind." Dieses Zitat ist ein Auszug aus In England und Frankreich wurden andere, weniger skandalöse Phäno-
,nene beobarhtet, die sowohl die Leichtfertigkeit bei Leichenbegängnissen
" Diese Beobachtung von Muret erinnert an eine Notiz von Erasmus in seinen Familiarxm .rls auch eine gewisse Erbitterung über diese Zwanglosigkeit unter Beweis
colloquiorum fomuhe: "lch habe das Grab des Heiligen Thomas (von Canterbury) mit kostba- stcllen. Man empört sich etwa über die Geistlichen, die den Friedhof als
ren Steinen überladen gesehen. Ich meine, daß dieser große Heilige sein Grab lieber mit Laub-
.'ine Art Anger nutzen, für den sie das \üeiderecht zu haben glauben.
werk und Blumen geschmückr gesehen hätre." (34) Ein Fresko in Bologna zeigt die Leiber der
Heiligen im Schmuck von Blumen, ein sehener Hinweis auf den Brauch des Blumenschmucks So trafen in Frankreich in Montapalach in der Nähe von Saint-Antonin
von Gräbern, wie er vielleicht ersc spät, als Nachahmung der Antike, eingeführt worden ist. irn Languedoc der Pfarrer und die Syndizi seiner Pfarre im Jahre 1758 in

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-]
einem Prozeß aufeinander. Gegen ihn wurde der Vorwurf erhoben, "unter vorzogen, auf den Offentlichkeitscharakter des Begräbnisses zu verzich-
Mißachtung der Religion und der der Asche der Gläubigen geschuldeten ten, auf den sie ztZeiten H. de Spondes noch W'ert gelegt hatten.
Ehrerbietung eine Scheune au{ dem Friedhof besagter Pfarre" errichtet zu Der Abb6 von Saint-Maximin, Großvikar von Alais, schreibt im Jahre
haben. (36) In \Virklichkeit war an dieser Stelle nur eine einzige Grabstätte 't737 eine Denkschrift gegen die ,t'aux convertis" (die falschen Bekehrten),
bezeugt, und zwar die der Schwester eines Landarbeiters, der, dem Ge- die die Kirche nur aufsuchen, wenn sie nicht anders können, und auch dann
richtsschreiber zufolge, sich weigerte, an Ort und Stelle die Fakten zu be- noch ihren Spott äußern: "sobald sie das Joch der Bußstrafen abschütteln
stätigen, "um nicht Gelegenheit zu haben, seinen Schmerz zu erneuern«. z-u können glauben [Sanktionen für Abwesenheit vom Gottesdienst], tun
Das ist wirklich Greuze oder Marmontel auf dem Dorfe ! sie sich keinen Zwang mehr an, und wir sehen sie erst wieder in der Kirche,
Man bemerkt in dieser Anekdote vom Ende des 18. Jahrhunderts eine wenn von Hochzeit die Rede ist." Sie lassen ihre Kinder taufen, damit deren
Mischung von Indifferenz oder Positivismus auf Seiten des Geistlichen und bürgerlicher Personenstand gesichert ist; "sie haben eine derart große Ab-
von Sentimentalität auf Seiten der Dorfbevölkerung. (37) neigung, hierher [in die Kirche] zu kommen, daß manche Patres sie nicht
In England wurde im Jahre 1550 ein parson (Pfarrer) verfolgt, weil er cinmal mehr hierher begleiten mögen.. Sie könnten natürlich auch ein letz-
seine Schafe in der Kirche (oder unter dem Portikus) eingepfercht hatte. tes Mal wiederkommen, aus Anlaß ihres Todes, wie die Saison-Katholiken
Umgekehrt erbaute im Jahre 1603 ein Pfarrer in aller Ruhe eine große von G. Le Bras. Aber nein. ,Der Kranke stirbt immer vertrauensvoll [ohne
Scheune auf seinem Friedhof - wie der Geistliche von Montapalach im 18. Ileistand eines Geistlichen] und wird eilends beigesetzt fohne Geleit oder
Jahrhundert. Zeremonie und, wohlgemerkt, auch ohne sichtbares Grab], ohne daß sein
Die {ranzösischen Bischö{e des 18. Jahrhunderts verschärften die Ein- Tod von einem sichtbaren Grabmal angezeigr würde, was nicht verhindert,
friedungsverordnungen und die Verbote, auf dem Friedhof Herden von daß sein Erbe verteilt, sein Testament vollstreckt wird und seine §(itwe sich
Haustieren zu halten. Es ist das auch die Epoche, in der die Einzelgräber wiederverheiratet." (38)
häufig eigenmächtig mit einem Eisengitter umgeben wurden, um sie vor der Schließlich ein letzter Fall, der für das I 8. Jahrhundert noch utopisch, für
Plünderung durch Tiere zu schützen, deren Trift nicht zu vermeiden war. das Jahr 1 806 aber bereits anachronistisch ist - der des in vollem Ernst und
Entweder gehorchte man in Frankreich den Bischöfen - der Friedhof :rus tiefster Überzeugung geschriebenen Testaments des Göttlichen Mar-
wurde dann instandgehalten, durch Mauern gesichert und vor Tieren ge- quis. Er bezeugt die voilständige Verquickung der beiden einander bis da-
schützt wie später im 19. Jahrhundert -, oder er verharrte in dem Zustand, hin nahen, aber getrennten Vorstellungswelten, der Verachtung des Leibes
in dem er seit dem Mittelalter belassen worden war, Durchgangsort [ür und der radikalen Absage an die Unsterblichkeit. Bald nach seinem Tode,
Menschen und Tiere. uerlangt de Sade, "soll ein Bote zu dem Holzhändler Le Normand in Ver-
Umgekehrt wurde in England im 18. Jahrhunderr dem parsoz das Vei- sailles [. . .] geschickt werden, damit er selbst mit einem'Wagen komme und
derecht ausdrücklich zugestanden, und seine Schafe störten die Zeitgenos- rneine Leiche unter seiner Begleitung auf diesem §flagen in das Gehölz auf
sen nicht mehr, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil dieser Brauch ei- rneinem Landgute Malmaison, Gemeinde Mauc6 nahe bei Epernon, ge-
nem neuen ländlich-bukolischen Bild der Romantik entgegenkam. bracht werde, wo sie ohne jede Zeremonie in dem ersten Gebüsch bestattet
Ein anderer interessanter Fall ist der der französischen Protestanten im werden soll, das sich rechts in besagtem Gehölze findet, wenn man durch
18. Jahrhundert, nach der Aufhebung des Edikts von Nantes. Nachdem sie die große Allee von der Seite des alten Schlosses hereintritt fdie gleiche
des ihnen in diesem Edikt zuerkannten Rechts auf einen eigenen Friedhof Genauigkeit wie bei der Lokalisierung einer Grabstelle in einer Kirche].
(wie den in Charenton) verlustig gegangen waren, verfügten sie über keine l)ie Grube soll durch den Pächter von Malmaison geschaufelt werden, un-
anderen legalen Mittel mehr - da sie ja keine legale Existenz mehr hatten -, ter der Aufsicht des Herrn Le Normand, der nicht vor vollendeter Bestat-
als sich auf den öffentlichen Friedhöfen beisetzen zu lassen, die in den Hän- tung fortgehen soll. Bei dieser Zeremonie können dieienigen meiner
den von Katholiken waren (wir haben gesehen, daß sie seit dem Ende des Irreunde oder Verwandten zugegen sein, die mir dieses letzte Zeichen ihrer
16. Jahrhunderts dieses Recht zurückforderten). Viele haben sich unter- l,iebe geben wollen. '§ü'enn die Grube bedeckt ist, soll der Boden mit Ei-
worfen, aber im 18. Jahrhundert weigerten sich manche andere, die es dann theln besät werden, damit, wenn das Erdreich besagten Grabes wieder be-

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grünt ist und das Unterholz sich wieder wie früher geschlossen hat, die
Spuren meines Grabes von der Erdoberfläche verschwinden, wie ich hoffe,
daß mein Andenken in der Erinnerung der Menschen ausgelöscht werden
wird [sinnlos, es durch ein Grabmonument verewigen zu wollen], ausge-
nommen gleichwohl die kleine Zahl derer, die mir bis zum letzten Augen-
blick ihre Liebe bezeigt haben und an die ich eine sehr sanfte Erinnerung
mit ins Grab nehme." (39)
In einem Roman aus derselben Epoche ( I 804/5) läßt sich eine der Haupt- 8. Der tote Körper
personen auf dem Totenbett folgendermaßen vernehmen: "Nichts wird
von mir bleiben. Ich schwinde gänzlich dahin fwie bei de Sade: weder Leib Im Verlauf der beiden vorhergehenden Kapitel sahen wir, wie der Tod - und
noch Seele noch Ansehen], ebenso namenlos, wie wenn ich nie geboren die Stunde des Todes - sich auf die ganze Dauer des Lebens verteilt und in
worden wäre. Nicbts, empfange also deine Üguss." (40) ein melancholisches Gefühl der Kürze dieses Lebens aufgelöst hatte. Der
Rückkehr zur Natur und zur ewigen Materie. Nur wenige Menschen, Tod scheint nun weiter weggerückt zu sein und die kraftvolle Gegenwärtig-
wenn denn überhaupt einige, haben sich aus freien Stücken so bestatten keit, die er bei den litterati am Ende des Mittelalters hatte, zu verlieren. \trü'ir
iassen, wie de Sade es {ür sich verlangt hat. Sicher aber sind viele andere, werden im vorliegenden Kapitel sehen, daß der Tod im siebzehnten und
aufgrund der allgemeinen Indifferenz, in den dichtbesiedelten Städten des achtzehnten Jahrhundert, also im gleichen Zeitraum, in anderer Gestalt
späten 18. Jahrhunderts unfreiwillig einfach so verscharrt worden, und in wiederkehrt, nämlich der des toten Körpers, der makabren Erotik, der Ge-
diesen Fällen nahm ihnen der Umstand, daß die in aller Eile abgewickelten walt der Natur.
Beisetzungen auf viel zu kleinen und schlecht instandgehaltenen Stadtfried-
höfen vorgenommen wurden, die elegische oder wilde Poesie der Rückkehr
zur Ursprungs-Natur. Zwei Arzte:Zacchia und Garmann.
Das utopische Testament des Marquis de Sade weist auf einen schwin- Das Leben des Leichnams
delnden Absturz der Epoche hin, der nie bis in die äußerste Tie{e ausge-
schritten werden sollte, aber sogar Christen anzog und einen Teil der Ge- \J(ir gehen von zwei medizinischen §ü'erken aus, die zeigen, wie weit die
sellschaft in den Taumel des Nichts versetzte. Irrage am Ende des siebzehnten Jahrhunderts gediehen war. Dabei müssen
wir beiläufig darauf hinweisen, daß die Arzte von nun an für uns die besten
Medien der allgemeinen Glaubensvorstellungen sein werden. Sie ersetzen
,lie Geistlichen, die beinahe die einzigen waren, die diese Rolle im Mittelal-
tcr und in der Renaissance gespielt haben. Es handelt sich hierbei nicht
irnmer um echte Gelehrte, wenn dieses Wort einen Sinn hat: sie sind leicht-
gläubig, weil die Grenzen auf medizinischem Gebiet und in der'§(issen-
schaft vom Leben unsicher und weil die Fakten hier durch mündliche Be-
richte überliefert sind, und es ist nicht einfach, Erdichtetes von Beobach-
rung zu trennen. Auch haben sie wie die Geistlichen ein Empfinden dafür,
welche Gedanken in ihrer Zeitin der Luft liegen.
Das erste dieser §flerke, das von Paul Zacchia stammt, trägt den Titel
[otius Ecclesiastici protornedici generalis (so der Titel) qnaestionum medico-
lcgalium libri tes (Drei Bücher über gerichtsmedizinische Fragen der ge-
\lmten grundlegenden kirchlichen Medizin). Ich habe eine Lyonnaiser

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Ausgabe von 1674 benützt. Es handelt sich um eine Abhandlung über Ge- Diese beiden Bücher werden uns also vom Tod, wie ihn die Arzte des
richtsmedizin, das §?'ort findet sich schon dort. Diese Gattung ist alt: sie siebzehnten Jahrhunderts sahen, berichten. Garmann ist vor allem über die
beginnt 1596 mit der Abhandlung von Fidelis. Sie leitet sich in der Tat aus Ahnlichkeit zwischen Tod und Schlaf erstaunt, die wahrzunehmen ihn ein
dem Eingreifen des Arztes als Experten in bestimmten Fragen der Justiz der Frömmigkeit und der Literatur gemeinsames Klischee einlud. Der
her (Kontrolle der Tortur, strafrechtliche Angelegenheiten, Ermittlung des Schlaf gibt dem Menschen ein §üissen von und eine Verbindung zu Gott,
Mörders), die sie zur Untersuchung von Leichnamen veranlaßten. Straf- über die er im'§üachzustand nicht verfügt. Im Schlaf und im Tod konzen-
rechtliche und zivile Angelegenheiten, bei denen die Vorgänge der Fort- triert sich die Seele außerhalb des Körpers, anstatt über den ganzen Körper
pflanzung eine Rolle spielen: Geburten und Fehlgeburten, Fälle von LJn- verteilt zu sein. Eine solche Ahnlichkeit führt dazu, daß man sich zugleich
fruchtbarkeit, Ermittlung der Vaterschaft oder der Herkunft, die zum Stu- über die Krä{te des Todes und den Grad der Trennung zwischen Seele und
dium der Ahnlichkeiten führten, de similitudine et dissimilitudine,sex,,telle Körper befragt. Diese Frage, die im Zentrum des medizinischen Nachden-
Gutachten, Unterscheidung zwischen den Fällen von natürlicher Heilung kens über den Tod steht, ist auch eine der Hauptsorgen der Epoche.
und Wundern, Kontrolle der inquisitorischen Tortur, Aufdeckung der Si- Der Tod wird als vielschichtiges und wenig bekanntes Phänomen wahr-
mulation von Krankheiten, die erlaubte, ihr zu entgehen, Kontrolle der genommen. Garmann stellt zwei Thesen einander gegenüber, die die Natur
Dauer ihrer Anwendung, Überwachung der öffentlichen Gesundheit, des Lebens betreffen. Leben wird noch in der murnmiakonserviert, von der
Diagnose der Epidemien und der prophylaktischen Maßnahmen (Hygiene die Salben die Elemente des Verfalls ferngehalten haben;es endet, wenn die
des §(i'assers, der Luft, der Aborte usf.). Kraft der Balsame erlischt, wenn die zersetzende Natur wieder die Herr-
Diese Abhandlung räumt dem Leichnam einen besonderen Platz ein. schaft übernommen hat. Leben ist also eine Ausnahrne oon der Natur: etne
Dies geschieht nicht nur für eine bessere Unterweisung durch die Gerichte sehr wichtige Idee, die heimlich eine neue Vorstellung vom Tod herbeifüh-
in den Fällen eines gewaltsam herbeigeführten Todes, sondern auch, weil ren wird.
der Leichnam die Geheimnisse des Lebens und der Gesundheit birgt. Die zweite These, die der Schulphilosophie entspricht, ist, daß das Leben
Die zweite Abhandlung über Medizin, die man benutzt hat, ist dem weder Materie noch Substanz ist, es ist Form: ipsissirna rei forma. Es ist
Leichnam und dem Tod gewidmet. Sie stammt von einem lutherischen Licht und Ursprung (initium forrnale), ein Ursprung, der iedes Mal vom
deutschen Arzt aus Dresden, der von 1640 bis 1700 lebte, L. Christ. Frid. Schöpfer ausgeht, wie das Feuer vom Feuerstein.
Garmann. Nach seinem Tod wurde sie von seinem Sohn, der ebenfalls Arzt Die Gegenüberstellung der beiden Thesen findet sich in der Untersu-
v/ar, unter dem für uns seltsamen Titel De miraculis mortuorum (Von den chung des Leichnams wieder (quid cadaaer?). Die erste These, die der von
'W'undern
der Toten) veröffentlicht. Die Leichen taten also \üunder? Auf Paracelsus nahe ist, wird der jüdischen Medizin, den Rabbinern, und Arz-
alle Fälle vollbrachten sie nur unzulänglich bekannte und erklärte Wunder- ten wie Karman, Malhter, Cardan zugeschrieben. Der Kadaver ist noch der
taten, und es oblag den Arzten, die natürlichen Phänomene von den ande- Körper und schon der Tote. Auf Grund des Todes ist er iedoch nicht eines
ren zu unterscheiden. (l) Empfindungsvermögens beraubt. Er bewahrt eine ois vegetdns, eine Le-
Der Tod und der tote Körper sind selbst Gegenstand wissenschaftlicher benskraft, ein oestigium vitae, einenRückstand von Leben. Diese Meinung
Untersuchungen, unabhängig von den Ursachen des Todes: das heißt, daß stützt sich auf zahlreiche Beobachtungen, die von Plinius bis in unsere Tage
man den Tod studiert, bevor man seine Ursachen kennt, und nicht nur, um berichtet werden, auf die Zeugnisse der Grabepigraphie, wenn etwa die
diese zu entdecken. Man sieht sich den Toten an, wie man später den Kran- lateinischen Grabinschriften veriangen, daß die Erde für die Toten leicht
ken auf seinem Bett ansah. Dies ist eine Haltung, die der gegenwärtigen sein soll. Im selben Sinn wird, merkwürdigerweise wider besseres'§7issen,
Medizin fremd ist; der Tod ist dort nämlich nicht mehr von der Krankheit eine andere Autorität angerufen, nämlich Tertullian. Die Argumente von
zu trennen, sondern ist eine der beiden Formen ihres Endes, während die Tertullian zugunsten der Unsterblichkeit der Seeie, des Überlebens nach
andere die Heilung ist. Man beschäftigt sich also heutzutage mit der Krank- dem Tod werden interpretiert, als ob sie nicht die Seele, sondern den Kör-
heit und nicht mehr mit dem Tod, außer in dem ganz besonderen Fall der per betreffen, und werden gebraucht, um die Existenz eines Empfindungs-
Gerichtsmedizin, die allerdings eine geringere Rolle als früher spielt. (2) vermögens im Leichnam zu zeigen.

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Unter den Beobachtungen, von denen man berichtet, gibt es die ouenta- gung zum Aberglauben (oulgus superstitione maxime implicatu). Dennoch
tio des Leichnams, das heißt das wunderbare Bluten des Leichnams eines stellt Garmann fest, daß es viele glaubwürdige Beobachtungen zugunsten
Ermordeten, wenn er in die Nähe seines Mörders gebracht wird, sowie dieser Meinung gibt; er begnügt sich damit, einige Vorsichtsmaßnahmen zu
Phänomene von Sympathie und Antipathie. Man berichtet auch von dem ergreifen: wenn er eine außergewöhnliche Geschichte erzählt, fügt er so-
Fall eines Herrn aus derselben Zeit, dessen Frau eben gestorben ist, und der fort einen skeptischen und vernünftigen Kommentar hinzu, aber seine Ein-
den Totengräbern empfiehlt, sie sanft zu tragen, aus Angst, ihr weh zu tun ! schränkungen hindern ihn nicht daran, alle Details zu liefern. Diese Vor-
Der populäre Aberglaube ist davon überzeugt, daß der Körper nach dem sicht war damals ein üblicher Kniff, um strittige Ideen vorzubringen und
Tod hört und sich erinnert, deswegen wird empfohlen, in seiner Gegenwart dabei ein möglichst geringes Risiko auf sich zu nehmen.
nur das notwendigste zu sprechen, "ad eias necessitatemn [um sich zu ver- In der Tat schließt sich Garmann der Vorstellung vom Empfindungsver-
gewissern, daß er tot ist, ruft man ihn mehrere Male] er honoretn". mögen des Leichnams an. Diese erlaubt ihm, tatsächlich beobachtete Phä-
Die zweite These leugnet das Überleben des Leichnams. Sie beruft sich nomene zu erklären. Abgesehen vom Bluten des Leichnams in Gegenwart
auf Scaliger, auf Gassendi und auch auf Seneca. "Die Seele des Menschen des Mörders, der verdächtig ist, gibt es bestimmte, klar bewiesene Fälle von
kann nicht außerhalb des menschlichen Körpers wirken. " Der Körper ohne Bewegungen beim Leichnam. Es sind übrigens diese Bewegungen, die das
Seele ist nichts mehr. Erkennen des Todes so schwierig machen, da der Tote sich bewegt, anders
Also zwei entgegengesetzte Meinungen. Einerseits diejenigen, die an die als der Lebende, aber er bewegt sich: seine Haare, Nägel, Zähne wachsen
Fortsetzung einer bestimmten Form von Leben und Empfindungsvermö- nach dem Tod weiter (ein noch heutzutage verbreiteter Glaube), der
gen im Leichnam glauben, wenigstens solange das Fleisch erhalten und der Schweiß fährt fort zu fließen. Der Tod verhindert nicht die Erektion des
Leichnam nicht auf den Zustand eines ausgetrockneten Skeletts reduziert Penis, die bei den Gehängten häu{ig ist, daher die Vorstellung von der sexu-
ist. Diese erkennen implizit eine Zusammensetzung des Lebewesens an, die ellen Erregung des Gehängten. Man berichtete im achtzehnten Jahrhun-
sich nicht auf die Vereinigung von Körper und Seele beschränkt. Das Volk dert, daß es einige Amateure gab, die auf die wollüstige Reaktion, die zu
hat sich übrigens lange geweigert zuzugeben, daß der Verlust der Seele den Beginn des Erhängens eintritt, erpicht waren, auch auf die Geiahr hin, erst
Körper allen Lebens beraube. in extremisihr Gleichgewicht wiederzufinden, manchmal zu spät. Als man
Andererseits gibt es vor allem die orthodoxe christliche Elite, die Erbin die Soldaten, die au{ dem Schlachtfeld gefallen waren, entkleidete, fand man
der mittelalterlichen Vissenschaft, nämlich der Scholastik, für die die Ver- sie, wie Garmann sagte, in dem Zustand, in dem sie gewesen wären, wenn
einigung und die Trennung von Leib und Seele von Schöpfung und Tod sie einen Kampf mit Venus ausgefochten hätten. Ubrigens kann bei Toten
zeugen, und dann die Geister, die uns heute rationaler erscheinen, da ihr die Erektion nach §ü'unsch erzielt werden. Man muß lediglich eine be-
kritischer Sinn in der zeitgenössischen §flissenschaft den Triumph davonge- stimmte Flüssigkeit in die Arterien spritzen.
tragen hat. Die Spekulationen über den Leichnam hängen übrigens mit denen über
Diese Gegenüberstellung ist nicht nur die von zwei Gemeinschaften von clie Unteilbarkeit des Körpers zusammen. Gehört das Leben zum ganzen
Gelehrten, sie ist auch die von zwei Lebensauffassungen, die selbst an zwei Körper oder nur zu seinen Elementen, die man dann abtrennen könnte ? Es
existentielle Haltungen geknüpft sind. Man muß sich fragen, ob unsere z.eigt sich deutlich, daß die Doktrin der Empfindsamkeit des Leichnams die
Arzte gewählt haben, und wenn ja, welche der beiden Thesen. Das ist nicht tler Unteilbarkeit des Körpers voraussetzt. Garmann berichtet von Fällen
klar, und aus diesem Grund wird Garmann von den Verfassern der medizi- von Organverpflanzungen, die zu seiner Zeit wohlbekannt waren und die
nischen Biographien vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts - beinahe cr belegt: ein Edelmann hatte im Krieg seine Nase verloren, man setzte ihm
Männern von heute - als leichtgläubiger lVissenschaftler verurteilt, der den ,:ine andere Nase an; die Operation glückte, und die Nase blieb an ihrem
absurdesten Geschichten Glauben schenkt: in der Tat, er zögert und wagt Platz bis zu dem Augenblick, ais sie, später, zu faulen begann. Nachdem
nicht, für etwas einzutreten; der Glauben an das Empfindungsvermögen man Erkundigungen eingezogen hatte, stellte man fest, daß dies im Augen-
des Leichnams hat das Volk auf seiner Seite (und das, was wir die Volks- blick des Todes des Spenders geschehen war: der hatte seine abgetrennte
weisheit nennen), aber die Gelehrten mißtrauen der volkstümlichen Nei- und ferne Nase bei seinem eigenen Ende mitgenommen.

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Diese Phänomene sind natürlich. Andere dagegen sind wunderbar, etwa Steigerung der Liebeskra{t), ein Zeichen übrigens für eine Beziehung zwi-
Tote, die gehen und \üflohlgerüche ausströmen, sichere Anzeichen von Hei- schen der Hysterie und erotischen Delirien.
ligkeit. Andere Fälle sind zweifelhaft; man weiß nicht, ob sie der Natur, der Diese Heilmittel sind durch die Anwendung eines allgemeinen Prinzips
Leichtgläubigkeit des Volkes, einer falschen Interpretation oder auch einem von Sympathie und Antipathie auf den Leichnam bestimmt, das einen Rest-
Mirakel oder diabolischen Wunder zuzurechnen sind . . . zum Beispiel be- bestand von Leben in den toten Körpern voraussetzt. Dieses Prinzip bringt
stimmte Bewegungen der Gliedmaßen nach dem Tod: wenn eine Kloster- es mit sich, daß bei einer Trommel, die unglücklicherweise mit der Haut
frau die Hand einer anderen toten Klosterfrau küßt, anrwortet die Hand eines'§ü'olfes und der eines Schafs bespannt ist, die des Schafs beim ersten
der Toten und drückt dreimal die der Lebenden. Schlag aus Angst vor dem Volf zerreißt.
Zweitelhaft auch, aber schwerwiegend und eines genaueren Studiums Plinius berichtet, daß ein Verwundeter genas, indem er das Fleisch des
wert sind die Fälle von Leichnamen, die vom Grund ihres Grabes Geräu- Tieres zu sich nahm, das mit dem Pfeil, der ihn verletzt hatte, getötet wor-
sche - wie die von Schweinen - von sich geben; wenn man das Grab öffnet, den war. Ebenso wird eine Pfeilwunde mit einem Verband aus der Asche
sieht man, daß die Toten ihr Leichentuch oder ihre Kleider verzehrt haben; von Pfeilen behandelt. Das Eisen, das einen Mann getötet hat, besitzt thera-
das ist ein schreckiiches Vorzeichen der Pest. Garmann widmet diesen lär- peutische Kräfte.
menden und ausgehungerten Leichnamen ein langes Kapitel seines Buches. Auch die Knochen haben eine vorbeugende Kraft. Es wird empfohlen,
Es handelte sich um halb natürliche, halb dämonische Phänomene. Man sie um den Hals gehängt oder in die Kleider eingenäht zu tragen' nicht als
streitet sich darüber (3). . . \(lir müssen hier nicht nur auf die Leichtigkeit ein memento rnori, sondern wegen der ihnen innewohnenden Kräfte: das
des Übergangs vom Natürlichen zum Ubernatüriichen hinweisen, auf die ist der Übergang vom memento mori, vom aus §(irbelknochen hergestell-
Schwierigkeit, das Natürliche, das nicht mehr Natürliche, das oft diabo- ten Rosenkranz zum vorbeugenden Amulett. Soldaten bekommt es gut,
lisch ist, und das Ii(underbare oder authentisch übernarürliche voneinan- den Finger eines toten Soldaten bei sich zu tragen'
der zu unterscheiden, sondern vor allem auf die Vahrscheinlichkeit der Die Erde von Gräbern, vor allem der Gehängten (immer dieselbe zwang-
Phänomene selbst, so unerhört sie sein mögen, die die Exisrenz einer wie hafte Vorstellung!), ist ebenfalls reich an therapeutischen Kräften (für den
auch immer gearteten Sensibilität beim Leichnam beweisen: man kommen- Menschen ebenso wie für Tiere). Die Nähe eines Leichnams beschleunigt
tiert sie nicht ohne Vorbehalte und Bedauern, aber schließlich erkennt man auch das Vachstum einer Pflanze, da mit Knochen angereicherte Böden am
sie an. fruchtbarsten sind: die Verwendung von Leichen als Düngemittel, die von
Dieses Empfindungsvermögen des Leichnams hat praktische Konse- der modernen §V'issenschaft gerechtfertigt worden ist, ist nicht von anderen
quenzen, die im täglichen Leben nicht zu vernachlässigen sind, und vor medizinischen Verfahrensweisen zu trennen. Die Verwesung ist fruchtbar,
allem geht davon eine ganze Arzneikunde aus: die Leichname liefern den die Erde aus Toten ist wie der Tbd selbst Quelle des Lebens'. exquisitum
Grundsto{f zu sehr wirksamen Heilmitteln (aber ohne magischen Charak- alirnentum esr (sie ist eine ausgezeichnete Nahrung), eine Vorstellung, die
ter). So ist der Schweiß von Toten gut für Hämorrhoiden und "Gewächse" ; im achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bis zu den
die Berührung der Hand eines Toten, die Reibung des kranken Körperteils revolutionären Entdeckungen Pasteurs allgemein wird.
mit dieser Hand können heilen, wie es einer wassersüchtigen Frau ergangen Die Liste der u'ohltätigen Eigenschaften des Leichnams erstreckt sich bis
ist, die ihren Bauch mit der Hand eines noch warmen Leichnams reiben ließ zum Aphrodisiakum, das auf der Grundlage von ausgeglühten Knochen
(deshalb sind die Hände der Anatomen immer in gutem Zustand). Eine glücklicher Ehepaare und toter Liebespaare zusanlmengestellt wird' Die
Reihe von Heilmitteln sind dazu bestimmt, das lebende Glied mir demsel- Kleider von T<rten, sogar ein Fetzen, heilen Kopfweh und Hämorrhoiden
ben toten Giied zu heilen, den Arm durch den Arm, das Bein durch das (ani procidentra), zumindest glaubten die Belgier daran.
Bein. Der ausgedörrte Schädel bringt dem Epileptiker Erleichterung (die Garmann gibt ebenfalls ein Rezept von göttlicbem Wasser (so genannt
Knochen werden in Form eines aus ihrem Pulver gebrauten Suds einge- auch auf Grund seiner wunderbaren Eigenschaften) nach Th. Bartholin
nommen). Der priapus des Hirsches wird mit gutem Erfolg bei Hysterikern und Hieronymus Hirnhaim: man nimmt den ganzen Leichnam (totum ca-
angewendet, aber er hat auch eine Kraft ad Venerem promooendam (ztr daver) eires Mannes, der zuvor bei guter Gesundheit war, aber eines ge-

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waltsamen Todes gestorben ist, man schneidet ihn in sehr kleine Stücke, chen). Aber entsprechend der üblichen Zweideutigkeit dieser Medizin gibt
Fleisch, Knochen und Eingeweide, man mischt das Ganze gut und lösr es es eine natürliche Unverweslichkeit und eine andere, die wunderbarer Na-
anschließend in der Retorte zu Flüssigkeit auf . Neben vielen anderen medi- tur ist. So gibt es eine ganze Abhandlung über die Verweslichkeit der Lei-
zinischen Virkungen ermöglicht dieses W'asser, die Lebenserwartung eines chen, in der wir sehen, wieviel Bedeutung das Thema für den Autor hat:
Schwerkranken mit Sicherheit abzuschätzen: in eine bestimmte Menge die- eine praktische Bedeutung in den Strafprozessen und für die ö{fentliche
ses 'Wassers gießt man drei bis neun Blutstropfen des Kranken, man rührt Hygiene ; eine wissenschaftliche Bedeutung, denn der §fiderstand des Kör-
das Ganze vorsichtig überm Feuer um; wenn §üasser und Blut sich gut pers gegen die Zersetzung setzt einen Rest von Leben und Empfindungs-
mischen, ist das ein Zeichen für Leben; wenn sie gerrennr bleiben, ist das vermögen voraus; eine gefühlsmäßige und beinahe sinnliche Bedeutung
ein Zeichen für Tod (mangels Blutes kann man auch Urin, Schweiß oder schließlich, denn der Leichnam selbst weckt Interesse und Anteilnahme,
ander Sekretebenützen). man hört nicht auf, von ihm zu sprechen.
Diese aus Leichnamen gewonnenen Heilmittel wurden vor allem von Unter den Fällen von normaler Unverweslichkeit gibt es die, die künst-
erlauchten Patienten gesucht und benützt, da sie kostspielig und schwierig lich erzeugt sind: die Entfernung der Eingeweide mit oder ohne Einbalsa-
herzustellen sein mußten. Karl IL von England hat während seiner letzten mierung, das heißt die Ein{ührung von Spezereien; sie ist wirksam. Es gibt
Krankheit eine Mixtur von 42 Tropfen aus Extrakten des menschlichen auch wunderbare Fälle wie den, von dem Karman berichtet, der, wie man
Schädels getrunken! weiß, für die "sensibilität" des Leichnams eintritt: der Fall eines Gehäng-
Es gibt aber Fälle, wo im Gegensatz zu dem eben Gesagten die Berüh- ten, der zwei Jahre am Galgen blieb, ohne zu {aulen. Und dann gibt es eine
rung mit dem Toten schädlich ist. Die Beimischung von Knochen im Bier Reihe von Fällen, in denen die Konservierung natürlich war, ohne daß man
macht die, die es trinken, grausam. Die Berührung eines Leichnams kann mit künstlichen Maßnahmen eingegriffen hätte, was durch mehrere Fakto-
die Regelblutung einer Frau zum Stillstand bringen. Ein Sargnagel, der in ren erklärt wird: die Art der Krankheit, die Jahreszeit, das Alter des Ver-
eine Pflanze geschlagen wird, macht sie unfruchtbar. Pflanzen sind durch storbenen. Die Unverweslichkeit kann übrigens von den weiter oben bei
die Ausdünstungen von Friedhöfen zerstörr worden. Man erkennt darin den Bewegungen des Leichnams genannten Phänomenen begleitet werden :

eine Beobachtung, die später in einer Kampagne für die Verlegung der es kommt vor, daß sie bluten, daß sie schwitzen.
Friedhöfe als Argument dient, aber die Gefahren werden hier als Sp eziallall Der Umstand, der die Aufmerksamkeit am meisten auf sich zieht, ist der
eines viel allgemeineren Phänomens benützt: die \trflirkung des Leichnams Ort der Bestattung. Es gibt Böden, die verzehren, und andere, die konser-
auf den Menschen und die Lebewesen. vieren. Ebenso Mineralien: Bleisärge konservieren, deshalb haben die Gro-
Die nützlichen §(irkungen der Leichname tragen zweifellos über die ßen der Erde sie anderem Material vorgezogen.
schädlichen den Sieg davon. Sowohl die einen wie die anderen werden als Auch die Tiefe des Vergrabens spielt eine Rolle. Sind die Leichen tief
natürlich betrachtet, die Magie spielt dabei nur eine geringe Rolle, und die vergraben, werden sie arida et sicca (dürr und trocken) und werden wie
Fälle eines Gebrauchs ad oenet'icia m.agica (zu magischem Liebeszauber)
"Rauchfleisch. konserviert. Es heißt auch, daß die Leichen, die den Mond-
sind selten. Dennoch benützt man die rechte Hand von zu früh oder tot strahlen ausgesetzt sind, sich schnell zzersetzen, zumindesten behauptet das
geborenen und ungetauften Kindern oder ein aus ihrer Haur gemachtes Galen, und Zacchia berichtet, ohne daran zu glauben.
Pergament (denken wir an die Rolle der toten Kinder in den Hexenszenen Manche Friedhöfe waren für die Schnelligkeit der Verwesung bekannt,
von Goya). Außerdem wird noch berichtet, daß eine Kerze aus menschli- wie der "Fieisch-Fresser" Les lnnocents, auf dem angeblich binnen vie-
chem Talg hilft, Schätze wiederzufinden. rundzwanzig Stunden von einer Leiche nichts als die Knochen übrig war.
Zacchia widmet ein wichtiges Kapitel den §V'undern, das heißt den über- Umgekehrt erhielten manche Friedhöfe die Leichen und wandelten sie in
natürlichen Phänomenen, die der Arzt beglaubigen muß (wunderbare Hei- Mumien um. Zacchia zitiert den Fall einer Kirche in Toulouse - Les Corde-
lungen, Epidemien, die von Gott befohlen sind, Geißeln Gottes). Unter liers -, den eines campum sanctum in Rom - die Kapuzinerkirche Santa
den als wunderbar bekannten Tatsachen gibr es unverwesliche Leichname Maria della Concezione nahe bei cier Piazza Barberini. Zu Beginn des neun-
(De cadaverum incorruptibilitate - über die Unverweslichkeit von Lei- zehnten Jahrhunderts war nach der Darstellung Emiiy Brontös auf dem

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kleinen Friedhof von Vuthering Heigbts "die Feuchtigkeit des Torfs dafür wo von dem Gesichtsausdruck von Soldaten, die auf dem Schlachtfeld ge-
bekannt, daß sie auf die wenigen dort bestatteten Leichen dieselbe \Wirkung tötet worden sind, gehandelt wird: eine sehr ernsthafte physiognomische
ausübte wie die Einbalsamierung." (4) Eine derartige Erde hat auch die Untersuchung der Leichname.
Konservierung einer Mummia Danica, wie sie von Thomas Bartholin be-
obachtet wird, ermöglicht: nach fünfzig Jahren war das Fleisch immer
noch fest, die Haut trocken, der Bart rot, die spärlichen Haare waren noch Offnung und Einbalsamierung
vorhanden. Das Volk, das von diesen Fällen der Konservierung fasziniert
war, erklärte diese Unverweslichkeit entweder dadurch, <iaß die Mumrnia So lösten die Arzte die Geistlichen ab oder rivalisierten mit ihnen in der
Danica zu ihren Lebzeiten auf königlichen Befehl hingerichtet worden übersetzung des Unausgesprochenen, in der Aufdeckung der geheimen
war, oder dadurch, daß sie in schlechtem Einverständnis mit ihrem Ehegat- Bewegungen der Sensibilität. Ihre Ideen liegen in dieser Zeit in der Luft,
ten gelebt hatte; auf alle Fälle war die Mumie verflucht. Die Erhaltung weit über ihre gelehrten Kreise hinaus. Die Kenntnis des Körpers erstreckt
erscheint hier als Strafe. Im allgemeinen wurde die Verwesung eher als sich auf ein großes Publikum von litterati.
\ü/ohltat begehrt: die Testatare des fünfzehnten Um diese Kenntnis zu erlangen, nahm man die Sektion zu Hilfe, die an
Jahrhunderts, die nicht auf
dem Cimetiöre des Innocents beerdigt werden konnten, verlangten, daß ein den medizinischen Fakultäten schon lange in Gebrauch war, und nicht nur
wenig Erde von diesem Friedhof in ihr Grab gelegt werde. Man war sicher, dem Ziel der wissenschaftlichen Beobachtung diente, sondern auch prakti-
auf dem Cimetiöre des Innocents schnell zu vergehen. All dies war ein Er- schen Zwecken wie der Erhaltung der Leichen durch Manipulanten' die
folg der Idee des Nichts, der Verachtung des Körpers, die wir im Zusam- keine Arzte waren. Vom vierzehnten Jahrhundert an wurden die Leichen
menhang mit der Vorstellung von der Nichtigkeit in den beiden vorherge- bestimmter großer Persönlichkeiten präpariert, um ihren Transport zu ei-
henden Kapiteln analysiert haben. nem entfernten Bestattungsort zu ermöglichen, oder sogar zerteilt und be-
Zacchia zitiert den Fall einer Hand, die unversehrt in einem Grab gefun- srimmungsgemäß auf mehrere Gräber verstreut' Man begann damit, daß
den wurde, wo der restliche Leichnam verschwunden war. Es ging das Ge- man sie wie ein großes \Wild zerlegte, dann kochte man die Reste aus, um
rücht, daß die Hand einen Vater oder eine Mutter erschlagen habe. Deshalb das Fleisch abzulösen und den edlen Teil, die Knochen, herauszuschälen.
blieb sie als Schandmal erhalten. Aber ,diese Gründe sind übernatürlich", Diese Techniken entsprachen nicht einem Bedürfnis nach völliger Kon-
meint Zacchia, wie die Geschichte von Beda, derzufolge die Kinder, die an servierung, sondern nach Reduktion. Sie zeigten ein seltsames Gemisch
bestimmten Tagen gegen Ende des Monats Januar geboren werden, der von Respekt vor dem in dieser'Weise konzentrierten Leichnam und von
Zersetztng entgehen. Gleichgültigkeit gegenüber seiner Vollständigkeit.
Dies sind, kurz umrissen, denn die Literatur ist umfangreich und ge- Vom fünfzehnten Jahrhundert an wurden sie durch die Einbalsamierung
schwätzig, die Vorstellungen der Arzte vom Ende des siebzehnten Jahr- rnit dem Ziel der Konservierung ersetzt. Diese hat sich zur selben Zeit ver-
hunderts über die Erscheinungen an Leichen, wie sie bei Zacchia und Gar- breitet wie der Prunk der königlichen Bestattungen, der großen Zeremo-
mann zu verfolgen sind. Sie gestanden dem Toten eine Art von Persönlich- nien zur Verherrlichung des monarchischen Gefühls und der dynastischen
keit zu, sie suggerierten, daß er noch Sein in sich habe und es bei Gelegen- Treue. Der König stirbt nicht. Kaum hatte er den letzten Seufzer getan,
heit mani{estiere. wurde er wie ein Lebender ausgestellt, mit allen Attributen der Macht, die
Im neunzehnten Jahrhundert wird die Medizin diesen Glauben aufgeben er zu Lebzeiten hatte, und zwar in einem Raum, in dem ein Bankett vorbe-
und sich der These anschließen, daß der Tod an sich nicht existiert, Tren- reitet war. Die Aufrechterhaltung des Anscheins von Leben war notwen-
nung von Seele und Körper, Deformation und Nicht-Leben ist. Der Tod ist clig, um diese Fiktion glaubwürdig zu machen, wie die Verzögerung der
reine Negativität geworden. Er wird keinen Sinn mehr außerhalb der cha- 'lersetzrng wegen der Länge der Zeremonien geboten war. Der derartig
rakterisierten, benannten und katalogisierten Krankheit haben, deren letzte crhaltene Leichnam hat die Rolle gespielt, die anschließend durch die Dar-
Etappe er darstellt. Dennoch sind Reste der alten Medizin noch in einem stellung aus \W'achs und aus Hoiz, die reprösentation, wieder aufgenommen
Artikel der Revue frangaise de mödecine rnilitaire von 1860 auszumachen, wurde. (5)

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Die Einbalsamierung der Könige wurde durch die Prinzen von Geblüt tauchen, lebendig begraben zu werden, eine Furcht, die zwanghaft werden
und den hohen Adel nachgeahmt. L. Stone hat festgestellt, wie allgemein wird und von nun an immer bei den Entscheidungen über die Öffnung des
verbreitet sie in der englischen Aristokratie am Ende des sechzehnten und Leichnams eine Rolle spielt. \Wenn man im achtzehnten Jahrhundert fest-
dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts war. Er erklärt das mit der Feier- legt, daß der Leichnam geö{fnet werden soll, erscheint diese Entscheidung,
lichkeit und Kompliziertheit der Begräbnisse, mit den zahlreichen Maß- wenn nicht ein anderer Grund ange{ührt wird, von der Angst eingegeben,
nahmen, die auszuführen sr'aren, und der langen Zeit, die zwischen dem lebend begraben zu werden, da die Öffnung eines der Mittel zur Verifizie-
Augenblick des Todes und dem des Begräbnisses lag. rung des Todes wird: ist nicht der Abb6 Pr6vost, den man für tot gehalten
Nun, L. Stone beobachtet in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr- hatte, unter dem Seziermesser des Anatomen zum Leben zurückgekehrt?
hunderts eine Abnahme der "Öffnungen« in Verbindung mit schnelleren Die Comtesse de Sauvigny schreibt in ihrem Testament von 1771 : "Ich
und einfacheren Beerdigungen. Diese Feststellung wird uns nicht mehr möchte geöffnet werden [erste Vorsichtsrnaßnahme], und zwar 48 Stunden
überraschen. Sie entspricht einer allgemeinen Entwicklung hin zur Ein- nach meinem Tod [zweite Vorsichtsmaßnahme] und man lasse mich wäh-
fachheit, wenn nicht Dürftigkeit, wie wir sie im vorhergehenden Kapitel rend dieser Zeit in meinem Bett [dritte Vorsichtsmaßnahme]." (8)
analysiert haben. Das Beispiel, das L. Stone gibt, unterstreicht die Bezie- Chaptal berichtet, wie ihm die Medizin verleidet wurde: "Eines Tages
hung zwischen der Verweigerung der öffnung und der Schnelligkeit: eine kam Fressine, um mir [in Montpellier] anzukündigen, daß er eine Leiche in
Frau bittet in ihrem Testament, daß man ihren Körper nicht öffnen solle sein privates Amphitheater hatte bringen lassen. §ü'ir gingen anschließend
und daß man sie nach ihrem Tod "auf Stroh und in Blei lege, bevor sie hah dorthin; ich fand den Leichnam eines Mannes [...], der seit vier bis fünf
sei". (6) Stunden tot war. Ich schickte mich an, ihn zu sezieren, aber beim ersten
Es ist sicher, daß in der französischen Aristokratie des siebzehnten Jahr- Schnitt des Seziermessers in die Knorpel, durch die die Rippen mit dem
hunderts die Einbalsamierung eine feste Tradition war. Wenn man in den Brustbein verwachsen sind, führte der Leichnam seine rechte Hand aufs
Pariser Testamenten wenig Anspielungen darauf macht, heißt das lediglich, Herz und bewegte schwach den Kopf ; das Seziermesser fiel mir aus der
daß die Testatare sie als Routinesache, die sich von selbst erledigte, ansahen. Hand, und ich floh vor Entsetzen." (9)
Sie war jedesmal mit einbegri{fen, wenn es sich um ein "Herzgrab" und Dennoch sind die meisten Bemerkungen zur Offnung negativ: es war
folglich um Entfernung der Eingeweide handelte. Sie wurde manchmal aus- kein Vergnügen, unter dem Messer des Anatomen zu sich zu kommen, und
drücklich erwähnt in Fällen, wo der Erblasser einen Transport und eine es gab andere Möglichkeiten, den Tod festzustellen. In diesen Fällen spricht
längere Aufbewahrung vor der Beerdigung verlangte. So in diesem eigen- man von der Leichenöffnung, um sie zu untersagen: man fürchtet, lebend
händig geschriebenen Testament von 1652: "Ich möchte und befehle, daß seziert zu werden. So stellt ein Testatar 1669 fest: "Ich erkläre, daß es meine
mein Leichnam 24 Stunden nach meinem Tod geöffnet, einbalsamiert und Absicht ist, daß mein Körper so lange wie möglich aufbewahrt werde, aber
in einen bleiernen Sarg gelegt wird, um für den Fall, daß ich in dieser Stadt ohne daß man ihn zum Einbalsamieren öffnet." Elisabeth d'Orl6ans, die
sterbe, in das Kloster der Jahobinertransportiert zu v/erden [. . .] und daß er Tochter von Gaston, eine Prinzessin von Geblüt, die sicher ihrem Rang
da niedergelegt wird, wo schon das Herz meiner teuren und heiß geliebten nach dazu bestimmt ist, einbalsamiert zu werden, fordert eine sehr einfache
verstorbenen Gemahlin ruht [die einbaliamiert worden war], damit wir Beerdigung: ,Ich verbiete, daß man mich öffnet, und ich will, daß
dort der eine wie der andere fünfzehn Tage oder drei'W'ochen oder weniger, man mich nach 24 Stunden begräbt . . .o, ein Verbot, das mit einem Sicher-
wenn es möglich ist, konserviert und von dort zusammen in meine Kirche heitsaufschub und Nachprüfungen verbunden ist, um sich des Todes zu
von Courson getragen werden. Sie werden dort auch der eine wie der ande- vergewissern. (10)
re in die Gruft meiner Kapelle gebracht werden." (7) Frangoise Amat, Marquise de S. (1690) : "Ich will und empfehle, daß man
Man wird hier auch einen Llnterschied zu dem von L. Stone zitierten mich nicht ö{fnet und daß man mich zwei Mal24 Stunden im selben Bett
englischen Testament feststellen. Der französische Testatar verlangt nicht, läßt." (10)
daß man ihn in Blei legt, bevor er kalt ist, sondern vielmehr erst nach 24 Aber abgesehen von diesen Gründen mischt sich eine Sorge um die Un-
Stunden, und der Unterschied ist sinnvoll : wir sehen hier die Furcht auf- versehrtheit des Körpers ein, die ich für neu halte. In dem Testament, das

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der Herzog von Terranova 1597, zwei Jahre vor seinem Tod, in Madrid ,l
wolle darauf hinwirken, daß die Erhaltung des toten Körpers von neuem
aufsetzt, trifft er die Anordnung, daß er auf Sizilien, das er indes vo r zwan- Interesse finde, obwohl noch andere Mitte I als die Einbalsamierung gebe,
es
zig Jahren verlassen hatte, begraben werde,
"in der Kirche von San Dome- um dies zu erreichen: die §flahl eines Begräbnisplatzes, wo die Erde die
nico von Castelaetrano [einem Kloster, das 1440 von seinen Vorfahren ge- Eigenschaft der Mumifizierung hat. W'ir werden gleich darauf kommen.
gründet worden war und eine Grabkapelle für die Familie enthielt], in dem Bleiben wir im Augenblick auf dem Gebiet der "anatomischen Präparie-
Grab vor dem Altar, wo die Herzogin, meine sehr geliebte Gemahlin, be- rung« und der wissenschaftlichen Neugier.
stattet ist«. (11) Trotz des langen Transports befiehlt er ausdrücklich, daß Manche Testatare weigern sich, sich öffnen zu lassen, trotz der wissen-
sein Leichnam "nicht geöffnet werde, um Spezereien oder irgend etwas schaftlichen Argumente, die in ihrer Umgebung vorgebracht werden. Hier
anderes hineinzutun, sondern daß man ihn so lasse und so bestatte". \Wel- ein Testament von 1712: ,Erstens [unmittelbar nach dem Glaubensbe-
che Manipulationen und Zurüstungen hätte ein oder zwei Jahrhunderte kenntnis und der Empfehlung der Seele, als eines der wichtigsten Gelübde],
vorher ein adliger Leichnam über sich ergehen lassen müssen, bevor seine aus welchem Grunde auch immer, verbiete ich, daß mein Leichnam geöff-
Knochen zum sizilianischen Sanktuarium gelangtenl lüir erraten hier die net wird, da ich davon überzeugt bin, daß man keinerlei Hinweis zu Nut-
uns schon von den Arzten bekannte Vorstellung vom vollständigen Leich- zen und Erhaltung meiner lieben Kinder daraus ziehen kann, die ich genü-
nam, der eine Einheit und ein einziges'Wesen ist. gend liebe, daß ich für sie meinen lüiderwillen opferte, wenn ich glaubte,
Ein dritter Grund wird schon am Ende des siebzehnten Jahrhunderts daß ihnen das in irgend einer'W'eise nützlich t.;n Lön11s." (14)
vorgeschützt, um die Offnung oder die Verweigerung der öffnung zu Man {indet dieseiben Argumente im Testament von Jean Mol6, dem
rechtfertigen. Das Ziel der Öffnung ist dann weniger die Konservierung als Ratsherrn am Parlament von Paris, im Jahre 1723 wieder "Ich wünsche
die wissenschaftliche Erkenntnis und außerdem auch eine existentielle Un- und ich will, daß mein Leichnam nicht geöffnet werde, aus welchem
ruhe und Neugier. Grund, welcher Ursache und bei welcher Gelegenheit das auch sein mag,
In seinem Testament von 1754 erklärt sich der Herzog von Saint-Simon selbst wenn es geschehen sollte, um andere irdische Unglücksfälle zu ver-
ohne Umschwei{e. Nachdem er die üblichen Vorkehrungen getro{fen hat, meiden." (14)
um einen Scheintod zu vermeiden: "Ich will, daß meine Leiche [. . .] nach
dieser Zeit [dreißig Stunden, ohne daß man daran rührt] an zwei Stellen
geöffnet werde [partielle Leichenöffnung], und zwar oben an der Nase und Die Anatomie für alle
an der Kehle, am oberen Ende der Brust, damit man zum öffentlichen §(ohl
die Ursachen des Stockschnupfens, der eine wirkliche Krankheit für mich Es war wohl möglich, daß der Chirurg der Familie, wenn keine gegensätz-
war, und diese Atembeschwerden, die ich immer gespürt habe, erkenne." liche Anordnung bestand, in einem privaten Anatomieraum eine heimliche
Seine Leiche mußte anschließend in seine Dorfkirche getragen werden: es Leichenöffnung vornahm. In der Tat war die Anatomie nicht nur den Arz-
besteht sehr wohl die Möglichkeit, daß er ausgenommen und einbalsamiert tcn und Chirurgen nützlich. Sie war auch für den Philosophen wichtig, wie
wurde, aber es wird nichts darüber gesagt. (12) uns der Autor des Artikels ,Anatomieo der Enryclopödie mitteilt: "Die
Es wäre wohl möglich, daß die Offnung aus pseudowissenschaftlichen Kenntnis seiner selbst setzt die Kenntnis seines Körpers voraus, und die
Gründen zu Beginn des 1 8. Jahrhunderts den Sieg davongetragen hat. Tho- Kenntnis des Körpers setzt die einer so wunderbaren Verkettung von Ursa-
mas Green bedauert in The Art of ernbalrning(13), 1705 erschienen, daß die chen und Virkungen voraus, daß man sagen kann, daß keine direkter zum
"anatomischen Präparierungen der hauptsächliche Gebrauch dieser Kunst Begriff eines allweisen und allmächtigen Verständnisses führt; sie ist sozu-
[der Anatomie] seien. Dennnoch werde ich einen anderen Gebrauch be- sagen die Grundlage der natürlichen Theologie." Vichtig auch für die hö-
schreiben, der älter und allgemeiner ist, die gänzliche Bewahrung des heren Beamten, die besonder5 "verpflichtet sind, sich blind an die Berichte
menschlichen Leichnams [. . .], ein Gebrauch, der [zu Unrecht] außer Ge- der Arzte und Chirurgeno, der Experten, zu halten. Notwendig auch für
wohnheit gekommen ist und nur noch als Ursache von unnützen Kosten die Maler und Bildhauer, das versteht sich von selbst, aber schließlich ge-
und Argernissen angesehen wird." Die Veröffentlichung dieses Buches hört die Anatomie, dte jedem Menschen nützlich ist, zum unerläßlichen

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Gepäck eines kultivierten Mannes. "Jeder hat ein Interesse daran, seinen Oder noch Chassignet:
Körper zu kennen." Es gibt niemanden, den die Struktur, die Gestalt [der
Teile des Körpers] nicht im Glauben an ein allmächtiges Wesen bestärken Je me prösente iq comme une anatomie
könnten. Zu diesem so wichtigen Motiv kommt ein Interesse hinzu, das Le coeur sans battetnent, la bouche sans souris,
nicht z-u vernachlässigen ist, nämlich das, über die Mittel unterrichtet zu La teste sans cbeoeux, les os allangouris. (17)
sein, wie man sich wohlfühlt, sein Leben verlängert, die Stellen, die Sym-
ptome seiner Krankheit crklärt ["dcn Stockschnupfen" des Herzogs von Ein etwas dümmlicher Freier namens Thomas Diafoirus, der sich diesen
Saint-Simonl, s/enn es einem schlecht geht, die Scharlatane auszusondern, Gebräuchen anschloß, die Moliöre und einige andere anfingen lächerlich zu
wenigstens im aligemeinen die verordneten Heilmittel beurteilen zu kön- finden, schenkt seiner Verlobten Ang6lique eine Anatomiezeichnung und
nen . . . Die Kenntnis der Anatomie ist für iedermdnn zoicbtig" (Hervorhe- lädt sie zu einer Seziervorführung ein. Der Anatomieunterricht, der so oft
bung von Ph. A.). in der Graphik und der Malerei des siebzehnten Jahrhunderts dargestellt
lm Jaurnal d'un bourgeois de Paris pendant la Röaolution beobachtet worden ist, war wie die Doktordisputationen und die Auf{ührungen der
C6lestin Cluittard de Floriban jeden Tag das Funktionieren seines Körpers Schulbühnen eine große öffentliche Zeremonie, bei der sich die ganze Stadt
und notiert es sorgfältig. (15) mit Masken, bei Erfrischungen und Zerstreuungen versammelte.
So hat man auch Interesse daran, gut über Anatomie unterrichtet zu sein. Andererseits waren die Sammlungen von anatomischen Stichen alles an-
Es wäre dann allerdings nötig, dalS sie auf sehr zugängliche Veise gelehrt dere als technische \i(erke, die lediglich den Spezialisten vorbehalten waren,
wird, "daß es in den verschiedenen Krankenhäusern Sezierer gibt, die ge- sondern gehörten zu den schönen Büchern, die von Bibliophilen begehrt
nug davon verstehen, um an verschiedenen l,eichen alle Tcile zusammen wurden. Vie A. Chastel bemerkt hat, "in5pi1i6.en diese Stiche sich in ihrer
und getrennt zu präparieren, und daß es all denen, die durch ihren Stand Aufteilung oft an Bildern oder berühmten Skulpturen: die Skelette und die
dazu verpflichtet sind oder die dic Neugier dazu veranlassen würde, sich zu Disposition nehmen die Posen von Figuren Raphaels oder Michelangelos
unterrichten, erlaubt wäre, an diese Crte zu gehen [. . .] Es gäbe sogar genug oder von antiken Statuen an." (18) Sie sind auch Vanitasdarstellungen des-
für die, die keineswegs danach streben, ihre K.enntnisse zu vertiefen, und selben Typs wie die, die wir im vorhergehenden Kapitel behandelt haben,
ich glautie, dafl sie darauf verzichten könnten, selber an diesen Leichenöff- Predigten über den Tod, Meditationen über das Nichts, die Flucht der Zeit:
nungen .u r.6.11sn." (16) "Sie präsentieren sich in einer moralisierenden Atmosphäre mit deutlichen
Der Gebrauch der Sache hat dem Wort erlaubt, sehr bald in die Um- Inschriften [. . .], zum Beispiel das Skelett, das vor dem Schädel eines Zunft-
gangssprache einzudringen. Nach dem §ü'örterbuch von Furetiöre "sagt genossen in Meditation versunken ist [. . .], das Skelett als Totengräber, das
man sprichrrörtlir:h, daß eine Pcrson eine wahre Anatomie geworden ist, auf seine Schau{el gelehnt ist." Schließlich dient die Anatomiestunde auch
wenn sie durch erne lange Krankheit so mager geworden ist, daß man sie für rls Vorwand für ein Gruppenbild an Stelle der religiösen Szene, auf der die
ein Skelett halten könnte." Sti{terfiguren erscheinen, ein weiteres Zeichen dafür, daß die Dinge des
Die Barockdichtung verwandte diesen Ausdruck, z. B. Agrippa d'Au- Körpers an die Stelle der Seele treten. »Das Gruppenporträt ist völlig ver-
bign6: einheitlicht durch die Umgebung und, wie wir hinzufügen können, durch
die Stärke des Gefiihls, das die Assistierenden in eine Meditation überdie
Je mire en adorant dans une anatbomye Fremdheit des Organismus und das Geheimnis des Lebens zu versenken
Le portrait de Diane entre les os. scheinr." (A. Chastel)
Im achtzehnten jahrhundert beklagte man sich, daß es den jungen Chir-
urgen auf Grund der Konkurrenz der priaaten, das heißt außerhalb des

Je mire . l,:h L,es undere anbetcnd in e iner Anatomie/ Das Abbild von Diana zwischen den Je me . . . Ich stelle mich hier als eine Anaromie vor,/Das Herz ohne Schläge, den Mund ohne
Knochen. l-ächeln,/Den Kopf ohne Haare, die Knochen morsch.

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medizinischen Unterrichts vorgenommenen Sektionen nicht gelang, genü- ! tomia)betreiben und den Rest der Knochen zusammenbinden [ein schönes
gend Leichen aufzutreiben, und daß dieser Unterricht in den öffentlichen Skelett], um ihre Wohnung zu schmücken, einzutreten, mich mit diesen
Hörsälen der Universitäten oder in den privaten Amphitheatern, die da- Knochen zu behängen, sie mitten in der Nacht aufzuwecken und ihnen
mals zahlreich waren, erteilt wurde. cinen Schrecken einzuiagen, damit sie ein für alle Mal die Gewohnheit able-
gen, die sterblichen Hüllen, diese Trophäen meiner Siege, von den Friedhö-
fen in ihr Haus zu trägen.« In diesem Text gehen wir vom Triumph des
Die privaten Sektionen. Todes zum anatomischen Kabinett über. §ü'ir können uns eines dieser Kabi-
Die Entführungen von Leichen nette auf Grund dessen vorstellen, was davon aus dem Neapel des acht-
z-ehnten Jahrhunderts im Palast des Prinzen Raimondo di Sangro
Die Sektion war Mode geworden; ein reicher Mann, der auf die Gegenstän- (1710-1771) erhalten ist. \Wie aus dem Grabspruch des Prinzen hervorgeht,
de der Natur neugierig war, konnte in seinem Haus ein privates Anatomie- hatte er sich in allen seinen lJnternehmungen ausgezeichnet, vor allem in
kabinett ebenso wie sein Chemielabor besitzen. Aber dieses Kabinetr der Kriegswissenschaft, der Zucht der Infanterie, der Mathematik' der Me-
mußte beliefert werden! Das erklärt folgender Satz aus der Enqtclopödie, dizin und dem, was wir die Biologie nennen könnten, aber eine geheimnis-
im Artikel "Leichnam": "Jede Familie will, daß ein Toter zu seinem Lei- volle und aufregende Biologie: in perscrutandis reconditis ndturde arcanis
chenbegängnis kommt, und duldet nicht oder sehr selten, daß er der öffent- (immer dieser Begriff des Geheimnisses, das man besiegen muß, als ob die
lichen Belehrung geopfert werde; höchstens erkubt sie in bestimmten Fäl- Natur sich verteidigte und sich verteidigen könnte). Das Kabinett war mit
len, dafl es zu ihrer pioaten Belehrungoder oielmehr ihrer Neugier gescbe- der Kapelle verbunden, und in der Sakristei, wo sich die Familiengräber
he," Das ist der Sinn von manchen testamentarischen Klauseln. und einige Kunstwerke befinden, die übrigens seltsam und "morbide" sind,
§üir haben eine Vorstellung von diesen privaten Sektionen dank einem sind heute noch einige Männer mit bloßliegenden Arterien und Muskeln,
sehr keuschen Roman des Marquis de Sade, La Marquise de Gange (1813). auch Muskeifiguren genannt, konserviert, Reste des berühmten Kabinetts'
Das Thema war einer berühmten Zeitungsnachricht enrnommen. Die Mar- Kein Zweifel, daß man dort ,öffnete" und daß die "zer{etzten" Leichname
quise de Gange ist von Freunden ihres Gatten geraubt worden und wird in dort herumlagen wie in dem Schloß, in dem Mme. de Gange eingeschlossen
'uralten Schlosses" gefangen gehalten. \(ir befinden uns
einem Saal eines war.
hier im Schauerroman mit Bergfried, Verliesen, Grüften und Gräbern. Diese Laboratorien des Todes machten einen großen Eindruck auf die
Phantasie. lVenn sie geheimnisvoll und verwirrend zu sein schienen, so
"Entsetzlich erregt eilte sie quer durch diesen großen Saal [. . .], als sie eine
kleine Tür, die halb offenstand, zu sehen glaubte. Es war noch Nacht fgera- nicht wegen der Seltenheit dieser Erfahrungen, denn man sezierte viel (ein
de ,einige schwache Strahlen eines blassen Mondes"]. Sie eilt zu dieserTür Arzt in Aix-en-Provence, der später Arzt Ludwigs XIV. wurde, rühmte
[.. .]. Beim Licht einer Lampe, die am Verlöschen ist, kann sie gerade das sich, 1 2OO Leichen geöffnet zu haben), sondern eher auf Grund des Schwin-
Kabinett erkennen, das von der Tür geschlossen wird, die sie eben entdeckt dels, der die Menschen angesichts der Quellen des Lebens erfaßte.
hat;sie tritt ein... Aber welch schrecklicher Anblick bietet sich ihr! Sie Der Marquis de Sade hat sich für die phantastische Galerie des Großher-
sieht auf einem Tisch einen halbgeöffneten Leichnam, der fast gänzlich zer- zogs von Toscana die Einrichtung eines anatomischen Kabinetts ausgemalt:
fetzt ist und an dem eben noch der Chirurg des Schlosses gearbeitet hat, "Ein bizarrer Einfall wird in diesem Saal ausgeführt. Man sieht dort ein mit
dessen Werhstatt dieser Raum istn, und den er verlassen hat, um schlafen zu Leichen gefülltes Grab, an denen sich alle verschiedenen Grade derZerset-
gehen, die Fortsetzung der Sektion auf den nächsten Tag verschiebend. (19) 7-ung vom Augenblick des Todes bis zur völligen Zerstörung des Individu-
'Wachs, das so na-
Das ist ein anatomisches Kabinett, wie ein aufgeklärter und reicher Ama- ums verfolgen lassen. Diese düstere Ausführung ist aus
teur es besitzen konnte. Der Brauch ging auf das sechzehnte Jahrhundert türlich geiärbt ist, daß die Natur nicht ausdrucksvoller, noch echter sein
zurück, zumindesten in Italien, wie es dieser Text von 1550 (20) zu verste- könnte." (21) Es gibt derartige Vachsmodelle, die Pestkranke darstellen.
hen gibt, der den Tod sagen läßt: Die Muskelfiguren ersetzen im achtzehnten Jahrhundert die Erstarrten
"Ich bin mehrere Male versucht Bewesen
[. . .], i, das Zimmer dieser Leute, die die Anatomie des toten Körpers Izo- (transis) des fün{zehnten und sechzehnten Jahrhunderts, die im siebzehn-

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ten Jahrhundert verschwunden sind. Jedenfalls haben sie einen anderen der Mauer, wirft den Leichnam hinunter, der vierte hebt ihn auf und legt
Sinn bekommen. Sie dienen immer weniger als memento mori, sondern ihn in den §?'agen.. Der Leichnam wird in einen Speicher gebracht. "Dort
sind mehr und mehr als verworrene und unruhige Fragen an die Natur des wird er von Lehrlingshänden seziert. Und um die Reste vor den Augen der
Lebens anzusehen (zum Beispiel die Muskelfigur, die sich an der Fassade Nachbarn zu verbergen, verbrennen die jungen Anatomen die Knochen.
des Doms von Mailand erhebt). Im rüinter heizen sie mit dem Fett der 1o1snl" (23)
Es waren sehr viele Leichname nötig, um der Nachfrage, die durch eine Das geschah auch in London. 1793 lebte ein iunger französischer Emi-
solche "Passion fiir die Anaromie" - das liflort stammt von S6bastien Mer- grant, Ren6 de Chateaubriand, in etnem garret, dessen Dachluke sich auf
cier - hervorgerufen wurde, zu entsprechen. Man stritt sich darum. So ist einen Friedhof öffnete. "Jede Nacht verkündete mir die Klapper des uatch-
auch die Literatur angefüllt mit Geschichten von Leichendiebsrählen au{ man, daß soeben Leichen gestohlen worden waren." (24)
den Friedhöfen. Man erzählte diese Geschichten gern aus Gründen, die Die öf{entliche Meinung erregte sich manchmal über Entdeckungen, die
nicht nur aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Marktes erklärt wer- ihr finster erschienen. 1734 schreibt Barbier (25): "Man hrt dieserTage 15
den können. Sie gingen um. bis 16 tote Kinder in das Leichenschauhaus von Chätelet gebracht [...].
Aber nicht alles an diesen Berichten war Erfindung. Die Untersuchun- dieses neuartige Schauspiel hat einen großen Zulauf von Leuten verursacht
gen von Joly de Fleury Ende des achtzehnten Jahrhunderts sprechen sehr und hat das ganze Volk erschreckt [. . .]. \flie sollte man alle diese Kinder
ernsthaft von wirklichen Fällen von Leichenraub: man muß die Friedhöfe zusammen und im selben Augenblick gefunden haben? [...] Man hat ge-
überwachen, "um dem Mißbrauch des Verkaufs der Leichname vorzubeu- munkelt, daß es der Arzt, der den Jardin Royal unter sich hat, sei, der alle
gen". (22) Die heiligen Prinzipien ,fordern auch die Protektion durch die diese toten Kinder beim Chirurgen gesammelt hatte [einem Arzt, der nicht
Autorität eures Ministers, um einen ebenso empörenden wie für die emp- selber seziert], um sie zu Anatomien zu verwenden. Die Nachbarn, die das
findsamen Seelen schmerzlichen Raub zu verhindern. Im Veriauf dieses erfahren haben, haben sich beschwert. Der Kommissar hat die Kinder weg-
'Winters
[1785-86] sind auf diesem Friedhof [Saint-Jean], dessen Auflösung bringen und ins Leichenschauhaus legen lassen, ,.rnd die Angelegenheit
die Bittsteller mit Nachdruck verlangen, verschiedene Entführungen von wurde vom Arzt dargelegt."
mehreren Leichen auf einmal vorgekommen, die zur Sektion durch die Sru-
denten der Chirurgie dieser Hauptstadt bestimmt waren. Das ganze Stadt-
viertel hat sich über diesen Frevel, der die Menschheit empört und die Reli- Die Annäherung von Eros und Thanatos
gion verletzt, laut beschwert. Man hat die Klage vor den Kirchenvorstand im Barockzeitalter
von S. Eustache gebracht, der geantwortet hat, das gehe nicht ihn an [eine
sehr kühle Antwort], sondern das Ministerium für öffentliche Angelegen- Den gleichsam mondänen Erfoig der Anatomie kann man nicht nur aus
heiten. Die Gärtner, die diesem Friedhof fder offen ist, weil die Mauern wissenschaftlicher Neugier erklären. Wir erraten es wohl, er entspricht ei-
z. T. eingestürzt sind] benachbarte Grundstücke bepflanzen, haben sich ner Anziehung durch die schwer defininierbaren Erscheinungen auf der
zum Kommissar begeben, um ihm diese Diebstähle und den Schaden, den Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Sexualität und Leiien, die den
sie dadurch in ihren Pflanzungen hatten, anzuzeigen. Diese Diebstähle ha- klaren Sittenlehren des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts immer
ben aber nicht aufgehört. In der Nacht vom Donnerstag, dem 12., auf Frei- verdächtig s/aren, wo sie in eine neue Kategorie eingeordnet wurden, die
tag, den 13. Januar 1786, hat es Diebstähle von sieben großen Leichen und des Verworrenen und des Morbiden. Diese Kategorie, die im neunzehnten
drei Kindern gegeben, die an zwei Stellen von sechs Männern über dieses Jahrhundert aus einer Annäherung von Eros und Thanatos entstanden ist,
Sumpfgelände §/eggezogen und getragen worden sind." hatte am Ende des fünfzehnten oder zu Beginn des sechzehnten Jahrhun-
S6bastien Mercier beschreibt diese Entf ührungen: "Sie ldie iungen Chir- derts begonnen und sich während der ersten Hälfte des siebzehnten Jahr-
urgen] tun sich zu viert zusammen, nehmen eine Mietkutsche, erklimmen I'runderts erweitert. \üir verlassen damit die rVeit der wirklichen Vorgänge,
einen Friedhof . Der eine kämpft gegen den Hund, der die Toten bewacht, wie es die Sektionen in den Anatomiekabinetts *aren, um in die dunkle und
der andere steigt mit einer Leiter in die Grube, der dritte sirzt rirtlings auf geheime Velt des Imaginären einzudringen.

il
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die makabren Tänze im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert lebenden Körper. Die Henker sind große unbekleidete Burschen mit mäch-
keusch waren, sind die im sechzehnten Jahrhundert entstandenen gewalt- tigen Muskeln und von der Anstrengung gekrümmtem Kreuz. Es sind die-
sam und erotisch zugleich: der Reiter der Apokalypse von Dürer sitzt auf selben Personen, es ist dieselbe Szene, aber eine andere Sensibilität, bei der
einem ausgemergelten Tier, das nur noch die Haut hat, aber diese Mager- die dargesrellte und aufgestachelte Erregung nicht immer religiöser Natur
keit läßt die mächtigen Genitalien in einem sicher gewollten Kontrast her- ist und nicht nur zur Andacht einlädt.
vortreten. Bei Nicklaus Manuel begnügt sich der Tod nicht damit, eine Ein anderer Vergleich, in diesem Fall ein literarischer, wird uns von J.
Frau, sein Opfer, zu bezeichnen, indem er sich ihr nähert und sie durch Rousset vorgeschlagen. Es handelt sich um zwei Beschreibungen derselben
seinen Villen allein mit sich zieht, er vergewaltigt sie und stöl3t seine Hand Szene, der Marter der Makkabäer - die eine noch vorbarock, die andere
in ihr Geschlecht. Der Tod ist nicht mehr \ü/erkzeug der Notwendigkeit, er barock.
ist von Begierde nach Genuß belebt, er ist zugleich Tod und Begierde. J. Rousset kommentiert sie folgendermaßen. Die erste ist ein Mord in der
Eine andere Reihe von Bildern ist die des Gartens der Qualen. Die Erotik Tragödie Les Juioes von Garnier. (27) "Bei Garnier wird der Mord in eini-
erscheint dort nicht in einer so offenkundigen Form. Die Idee ist unschul- gen schlichten und verhaltenen Versen berichtet:
dig und geistvoll, aber die Verwirklichung, der Stil, die Gesten verraten
Cette parole äpeine il aaait acbevöe
uneingestandene Emotionen, die von der Mischung von Liebe und Tod
hervorgeru{en sind, vom Leiden und vom Vergnügen daran, von dem, was Que la teste lui est de son col enlet,öe
Le sang tiöde jaillit qui la place tacba
man den Sadismus nennen wird. Vom sechzehnten bis zum neunzehnten
Et le tronc immobile ä tene tröbucha.
Jahrhundert ist ein Viederanstieg des Sadismus zu beobachten, der im
sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert unbewußt war, im achtzehnten
Das ist ruhig und linear wie ein Martyrium des Fra Angelico." Von densel-
und neunzehnten Jahrhundert dann jedoch eingestanden und problemati-
siert wurde.
ben Gegebenheiten ausgehend, wird Virey de Gravier ein ganzes Marter-
stück schreiben. ..
Es ist interessant zu sehen, wie die Themen im sechzehnten Jahrhundert
sich verändern und mit einer zuvor unbekannten Sinnlichkeit befrachtet Il faut que sur la roue i cette beure on l'estende
werden. Vergleichen wir dasselbe Thema, das Martyrium des Heiligen Eras-
l. . .) et qu'ä ses pieds on pende
mus, im fünfzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Deux fers qui soient fort gros [. . .]
Auf dem flämischen Gemälde, das die Ruhe einer Miniatur ausstrahlt En lui tirant ainsi les entrailles par t'orce l. . .)
(Dierik Bouts), rollt ein gewissenhafter Henker vor dem Kaiser und seinem
Qu'on lui coupe h langue aoecque un couteau
Hof die Eingeweide des Heiligen Erasmus um eine Haspel. Alles ist fried- Et qu'onl'lcorche apris, tout ainsi comme un aeau.
lich; jeder verrichtet seine Arbeit ohne Hast noch Heftigkeit, ohne Leiden-
schaft, mit einer Art von Gleichgültigkeit. Der Heilige selbst wohnt seiner Ein Gemälde von Menescardi (1751-1776) stellt auf den Mauern einer
Todespein wie ein Fremder bei, wie der Sterbende der ersten ars moriendi Kapelle der Ordensbruderschaft der Scuola Grande dei Carmini in Venedig
seinem eigenen Tod beiwohnte. Nichts trübt die Ruhe der Szene. (26) dasselbe Martyrium der Makkabäer dar. Folterszenen: der eine Makkabäer
Auf dem Gemälde von Orazio Fidani (Palazzo Pitti, Florenz), der das- wird skalpiert, sein Haar wird durch den Zug einer '§flinde ausgerissen,
selbe Thema im siebzehnten Jahrhundert behandelt, ist der Heilige senk-
recht zur Bildfläche ausgestreckt. Er wird also perspektivisch gesehen, wie Cette parole .. . Kaum hatte er dieses Vort beendet/ Als ihm das Haupt vom Hals abgeschla-
oft der Leichnam einer Anatomiestunde oder der Leib Christi, der vom gen wurde/ Das warme Blut sprang hervor und befleckte den Ortl Und der unbewegliche Rumpf
strauchelte zur Erde.
Kreuz abgenommen ist. Es gibt eine Beziehung zwischen der Tiefe der ll faut . . . In dieser Stunde soll er auf dem Rad ausgestreckt * erden [. . .] und an seine Füße
Perspektive und der Heftigkeit der Szene. Ein Knecht öffnet den Unterleib sollen zaei Eisen gehängt werden, die sehr groß sein sollen [. . . ] In dem man ihm so mit Gewalt
des Märtyrers und nimmt ihm die Eingeweide heraus; das ist nicht mehr das ,lie Eingeweide herauszieht [. . .] Daß man ihm die Zunge mit einem Messer abschneide und ihm

einfache Aufwickeln wie bei Bouts, das ist der Anfang einer Sektion am nachher genau wie einem Kal6 die Haut abziehe.

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während ein Henker sich anschickt, einen Eingriff mit dem Skalpell zu
sie verfault waren] kein anderes Begräbnis als das der Esel." Eine dieser
beenden. Ein a,derer beobachtet mit der präzisen Aufmerksamkeit eines
Erzählungen trägt den Titel: "Die aufgeschichteten Toten". R. Gadenne
Technikers den Körprer, dem er die Haut abziehen wird.
hat die Toten bei Camus gezählt: 38 durch Mord, 33 durch Marter, g durch
Das Abziehen der Haur, eine Technik des Anatomen, ist die populäre
Selbstmord, 24 durch Unfall, 19 aus unterschiedlichen Ursachen (8 aus
Foltermethodc des sechzehrrren Jahrhunderts, nichr nur beirn Heiligen Bar-
Angst, 6 aus Schmerz, 1 aus Hunger, 4 von Tieren getötet). Nur drei sind
tholomäus - dem Schurzheiligen der Schuster, wegen der Haut, die ihm
eines natürlichen Todes gestorben. (29)
abgezogen worden ist -, sondern auch die Strafe seines heidnischen Lei-
Bei Camus findet man Geschichten, die des von Garmann berichteten
densgefährten Marsyas, dem von Apollo das Fell abgezogen wurde, oder
Klatsches und der Miracles des morts würdig sind, etwa die von den drei
auch die des pflichtvergesscnen Richters, ein Thema, das Herodot entliehen
Kalbsköpfen, die von einem Metzger an einen Mörder verkauft wurden
und von Gerard f)avid gemalt worden ist.
und sich dann in Menschenköpfe verwandelten, um den Mörder anzukla-
Von einer Folterqual zur anderen ist es die ganzeMärtyrerliste, die zu
gen, und die ihre ursprüngliche Gestalt erst wiederfanden, als Gerechtig-
iiberf liegen ma^ eingeladen wird, so wie sie rnit Schreien und Gebärden auf
keit geübt und der Verbrecher gehängt war.
den barocken Mauern dargestellt oder in den Heiligenleben beschrieben
Diese Verkettung von Katastrophen und Dramen hat R. Gadenne dazu
wird. F{ier ist zum Bcispiel der Heilige Laurentius auf dem Rost zu nennen,
veranlaßt, s5 fü1 "gerechtfertigt zu halten, ihn ICamus] als Vorläufer eines
dessen Erzählu,g J. Rousset nach einer Flos sanctorum, die 1603 in Spanien
Pr6vost oder eines Sade anzusehen".
veröffentlicht wurde, kommentiert: ,Die Henker machen sich an der Vor-
Der Tod ist kein friedliches Ereignis mehr: wir haben es gesehen, nur drei
bereitung des Rc,sres zu schaffen, zünden das Feuer an, reißen dem Heili- von allen Todesfällen bei Camus sind natürliche. Der Tod ist auch nicht ein
gen die Kleider ab, entbiößen einen Körper, dem bereits die Haut abgezo-
Augenblick der moralischen und psychologischen Konzentration wie in
gen ist Iauch hier!] unC werfen ihn auf das glühende Eisen. Der Tyrann
der ars moriendi. Er ist nicht von Gewalt und Leid zu trennen. Er ist auch
hcult vor sadisrischer Freude, die Augen blutunterlaufen, das Gesichr ver-
nicht mehr fz is oitae, sondern "ein Herausgerissenwerden aus dem Leben,
z-errt, Schaum au{ den Lippen. I)ie Knechte fachen unermüdlich die
ein langer keuchender Schrei, eine Agonie, die in zahlreiche Fragmente zer-
Flamme an." (28)
teilt ist". (J. Rousset [30])
Die Fleilige Agatira, zurn Beispiel von Cavallino (1622-1654),ist in eine
Diese Gewaltsamkeiten erregen die Zuschauer und wühlen elementare
z-ugle ich erotische u,d rnvstische Ekstase entrückt. sie ist vor \wollust halb
Kräfte auf, deren sexuelle Natur heutzutage offensichtlich ist.
.hnrnächrig und bedeckt mit Lreiden Händen einen blutigen oberkörper,
Lange Zeit haben die Historiker, außer Mario Praz und Andr6 Chastel,
von dem beide Brüsr.e abgerissen worden sind: runde und volle Brüste, die
sich geweigert zu sehen, was doch Paulina, der Heldin von P.-J. Jouve,
auf einer Platte dargereicht werden. oder noch einmal der Heilige Seba-
1880 in die Augen stach, und sie ist es, die den besten Kommentarzuden
stian, der Schutzheilige gegen die Pest und das Muster männlicher Schön-
barocken Folterqualen geben wird: "Paulinaliebte als junges Mädchen in
heit: r.or, srebzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert, bis zu Delacroix,
den Kirchen vor allem die Qual der Heiligen. Sie ging zur Kirche, um sie
errcBten seine schönheir und seine Leiden die tlmotion der heiligen Frauen,
leiden zu sehen. Sie erblickte Märtyrer [. ..]. In manch anderer kleinen ita-
deren zarte tlinde die Pfeile aus dem anmutigen Körper ziehen, mit Ge-
lienischen Kirche, die in volkstümlichen Stadtvierteln verborgen ist, hörte
sten, die Zärtlichkeiten gieichkornmen.
man nur das Geräusch von Schluchzen, das Tropfen von Blut, Agonie und
R. Gadenne har unsere Aufrnerksamkeit auf das Verk des guten Bischofs
schließlich Glückseligkeit auf dem Gesicht des Heiligen. Paulina wußte
Camr.rs geienkt. Einer der'I'itel ist suggestiv: ,I)ie Greuelschauspiele" (29).
nicht, was Malerei war, und sie las niemals Gedichte, aber sie vergötterte ein
1630 ist das einc Sanrmlung von schwarzen Geschichten, die die vom Ende
Bild, das sie besaß: die Ekstase der Heiligen Katharinavon Siena, gemaltvon
des achtzehnten Jahrhunderts ankündigen, bis auf die perversität. Die
Sodoma mit einer verworrenen, unendlichen und ganz in ihr eingeschlosse-
Qualen tlarin sind zahlreich: ,Diese beiden Verzwei{elten, die auf Anord- nen Liebe. Die kniende Heilige Katharina bricht z.usammen. Ihre Hand ist
nung der Justiz an den Füßen aufgehängt wurden, dienten lange Zeit denen,
vom Stigma verletzt. Ihre Hand hängt herab, sie ruht keusch in der Schen-
die sie beirachteten. als atrschreckendes Beispiel und fanden am [,nde
[als kelmulde. li(ie sehr sie Frau ist, das reine Bild, die Nonne, diese breiten

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Hüften, diese sanfte Brust unter dem Schleier und diese Schultern. . . Die lebenden Körpers, die man zu lieben fortfährt. Es ist eine neue Schönheit,
Schenkelmulde bedeutet Liebe. . . Das ist ein Gedanke von Satan." die mit anderen Reizen geschmückt ist, es ist die Schönheit des Todes.
Die Heilige Katharina von Sodoma erinnert an die heiligen ohnmächtigen Die große makabre Epoche des fünfzehnten Jahrhunderts hatte vom Tod
Frauen von Bernini in Rom, die berühmte Heilige Theresia in der Kirche nur die Zersetzung festgehalten, die Zerstörung der Gewebe und das unter-
Santa Maria della Vittoria oder die Heilige Ludovica Albertoni von San irdische Gewimmel der '§Uürmer, Schlangen, Kröten. Vom sechzehnten
Francesco a Ripa. Andere wollten ihnen gleichen und in derselben Haltung Jahrhundert an haben die Aufmerksamkeit und alle Emotionen, die ihre
auf ihren Gräbern erscheinen (Aurora Bertiperusino in San Pantaleone in Voraussetzung sind, sich auf die ersten Anzeichen des Todes gerichtet. Die
Rom), der Haltung des Schwindens der Sinne, wenn der Höhepunkt der Maler haben mit 'W'onne nach den Farben gesucht, die den vom Tode be-
Vollust vorbei ist, der einen wie der Pfeil des Engels trifft. Diese mysti- rührten Körper von dem des Lebenden unterscheiden, und stellen die noch
schen Ekstasen sind Ekstasen von Liebe und Tod. Diese heiligen Jungf rauen unauffälligen Zeichen der Au{lösung dar: Grüntöne, die die Malerei des
sterben vor Liebe, und der kleine Liebestod wird mit dem großen körperli- fünfzehnten Jahrhunderts nicht kannte. Ein Lesueur aus dem Museum von
chen Tod verwechselt: Rennes zeigt Hagar in der'§7'üste vor ihrem Sohn, den der Engel wiederer-
wecken wird. Kein Zweifel, daß die Wiederauferstehung alle Merkmale
Douce est la n ort quivient en bien aimant. von Echtheit, die Zacchia forderte, zeigt, denn der Körper des Kindes ist
schon grün.
Die Verwechslung von Tod und Vollust geht soweit, daß jener das Um dieselben leichenblassen und schwammigen Farben bemüht sich
Hochgefühl nicht unterbricht, sondern im Gegenteil noch steigert. Der Rubens, wenn er eine Medusa oder eine Kreuzabnahme malt (Kunsthisto-
tote Körper wird seinerseits zum Gegenstand der Begierde. risches Museum in '§flien), ohne Schaudern ausdrücken zu wollen, man
Eine andere Betrachtung, der Vergleich zwischen den beiden Gestaltun- könnte beinahe sagen, um des Vergnügens an der Farbe und um ihrer Üp-
gen eines selben Themas, wie wir es für den Heiligen Erasmus oder die pigkeit willen. Ein Bild von Donato Creti (1671-1749) aus Bologna zeigt
Makkabäer versucht haben, wird uns ermöglichen, die Epoche zu bestim- Achill, nackt, hinter seinem §(agen den Leichnam Hektors herschleifend'
men, in der diese makabre Erotik entsteht. Der Zustand an te wird durch ein (32) Der Kontrast zwischen dem Lebenden und dem Toten ist ergreifend.
lateinisches Gedicht von Poliziano belegt, das vom Tod der schönen Simo-
netta, der Freundin von Guiliano de Medici, inspiriert ist. (31) Sie ist jung
gestorben. Amor sieht sie ausgestreckt auf der Bahre, das Gesicht nach dem Die Nekrophilie des 18, Jahrhunderts
italienischen Bestattungsbrauch entblößt. Ihr unbelebtes Gesicht erscheint
immer noch als begehrenswert und schön: Blandus et exdnimi spirat in ore Von nun an werden die ersten Anzeichen des Todes nicht mehr Grauen und
lepos (verfihrerisch atmet die Anmut auch auf dem unbeseelten Gesicht). Flucht, sondern Liebe und Begehren einflößen, wie man schon beim 14lo-
So schön, daß Amor wohl geglaubt hat, der Tod könne ihr nichts anha- nis von Poussin sehr gut erkennen kann. Ein Repertoire von Formen, Hal-
ben. Sie wird noch die Seine sein, glaubt er, wenn auch leblos. Doch er läßt tungen und eine ganze Palette von Farben entstehen, die bis zum Anfang
sich nicht täuschen, er weiß im selben Augenblick, daß er nichts zu erwar- des neunzehnten fahrhunderts verfeinert werden.
ten hat. Kaum hat er das ausgesprochen, weint er schon. Dixit et ingemuit Auch dort wird uns der beste Kommentar für diese schon "morbide"
(sprach's und weinte). Amor hat begriffen, daß der Augenblick des Todes Malerei nicht von schüchternen Geschichtsschreibern, sondern von dem
nicht der des Triumphes sein konnte, sondern nur der Tränen. Autor eines Schauerromans gegeben. Dieses Mal handelt es sich um einen
Im siebzehnten Jahrhundert dagegen wird man diese Illusion pflegen. Autor vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Charles Robert Matu-
Die Liebe besteht fort, aber es ist nicht eigenrlich mehr die Schönheit des rin (33), der in seinem Melmoth tbe Wanderer (1820) die Geschichte eines
schönen jungen Mannes erzählt, der sein Blut verkauft hat, um seineFamilie
vor dem Elend zu retten; leider ist die Ader schlecht abgebunden worden,
Douce est... Der Tod ist süß, der bei der Liebe kommt. und er stirbt beinahe am Blutverlust. Der Autor beschreibt den Anblick

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des schönen leichenblassen Jünglings, der ihn an alle schönen Leichen der Mittelalters, aber man muß sehen wie: im vicrzehnten Jahrhundert Boccac-
neueren Malerei erinnert: "[.. .] i, einer totenha{ten Schönheit lcorpslike cios entledigt sich ein geiler Mönch, ein halber Zauberer, für die Zeit, die
beauty), welcher das Mondlicht einen Effekt verlieh, würdig des Pinsels ihm paßt, eines zu ei{ersüchtigen Gatten, indern er ihm ein Gebräu zu trin-
eines Murillo, Salvator Rosa oder irgendeines jener Meister, die, vom Ge- ken gibt, das ihm den Anschein des Todes verleiht, Deshalb beerdigt man
nius des Leidens inspiriert, darin zu schwelgen lieben, die schönsten ihn ,mit den üblichen Zeremonieno. Als die Frau schwanger wird und man
menschlichen Körper in den entsetzlichsten Martern wiederzugeben. Ein mit der Komödie Schluß machen muß, erwacht der falsche Tote und steigt
geschundener Sankt Bartholomäus, welchem die in Streifen abgezogene aus seinem Grab (3. Tag, Novelle VIII). Ein anderes Ma1, immer noch im
Haut in den anmutigsten Ornamenten um den Leib drapiert ist, ein Sankt Decarnerone, will eines dieser Mädchen mit unglaublich erfinderischen
Laurentius, geröstet auf eisernem Brätrost, und dabei seinen herrlichen Einfällen ihre beiden Liebhaber auf die Probe stellen. Sie befiehlt dem ei-
Körper den Blicken der mit dem Anblasen der Kohlenglut beschäftigten, nen, sich am Grund eines Grabes an Stelle eines 1bten, den man dort depo-
nackten Folterknechte darbietend." Jedes dieser Werke wurde "bei weitem niert hat, niederzulegen, und dem anderen, begünstigt von der Nacht den
übertroffen durch jene halb im Schatten, halb im Mondlicht hingestreckte falschen Toten zu entführen (9.Tag, Novelle I).
Jünglingsgestalt". Derselbe Autor begeistert sich erwas später für die In diesem Falle ist das Grab nicht imstande, Emotionen zu wecken. es ist
Schönheit eines gemarterten Mönches: "Keine menschliche Form war so vielmehr das banale Instrument einer List.
schön. . .o Und dennoch bricht bei einer Gelegenheit eine starke Begierde durch,
Maler des ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten die fähig ist, einen Lebenden einem Leichnam anzunähern. Ein Mädchen
Jahrhunderts werden nicht zögern, die Doppeldeutigkeit zu unterstrei- tötet sich und preßt dabei das ganz frische Herz ihres Geliebten' das ihr
chen, die ihre Vorgänger im achtzehnten Jahrhundert mit mehr Diskretion Vater ihr in einer goldenen Schale hat bringen lassen, an ihr eigenes Herz
oder einfach ahnungsloser ausdrückten. Auf einem Gemälde von \ü. Etty (4. Tag, Novelle I).
im Museum von New York wirft sich Hero mit Leidenschaft über den Ein anderes Mädchen erfährt in einem Traum über ihren Geliebten, daß
Leichnam des ertrunkenen Leander, den das Meer ans Ufer zurückspült er getötet wurde und wo er begraben ist. Sie geht zur Stätte des Begräbnis-
und der sich durch einen Elfenbeinton von der rosigen Frische der lebenden ses, schneidet dem Leichnam das Haupt ab (man fiirchtete diese rohenZet-
Haut abhebt. Eine Brunhilde von Füssli, in ein durchsichdges Gewand ge- stückelungen damals nicht), legt es auf den Boden eines großen Gefä{3es im
hüllt, das ihre Nacktheit hervorhebt, liegt auf einem Bett ausgestreckt und Garten, und pflanzt dort ein Basilikumkraut, das sie mit ihren'fränen be-
betrachtet den Mann, den sie Folterqualen ausgeliefert hat; Gunther ist gießt und das wunderbar gedeiht (a. Tag, Novelie V)'
nackt, Füße und Hände mit demselben Seil zusammengebunden, die Mus- Diese Leichenstücke sind dennoch eher von derselben Art wie die heili-
keln gespannt. (3a) Die'W'erke von Füssli und von Etty sind Beispiele unter gen Reliquien, die eine fleischliche Erinnerung verewigen, als daß sie die
vielen anderen für die Gefühle, die der tote Körper und der schöne Gefol- Begierden weckten und ausdehnten.
terte erwecken. In der §flelt des Imaginären sind Tod und Gewalt auf die Auf den ersten Blick seltsamer und der modernen Erotik näher erscheint
Begierde getro{fen. ein anderes Märchen von Liebe und Tod: in der Folge eines Schwanp;er-
schaftsun{alls wird eine Frau für tot gehalten. Sie wird begraben, wie es sich
'§flie gehört. Ein Ritter, der sie in ihrer Jugend geliebt und den sie abgewiesen
die Malerei offenbart auch das englische oder französische Theater des
siebzehnten Jahrhunderts eine Neigung für die Grabszenen und für das hatte, glaubte, daß die Gelegenheit günstig sei, um ihr einige Küsse zu rau-
Thema des erwachenden Scheintoten. (35) ben. Er öffnet das Grab, küßt ihr Gesicht, indem er es mit Tränen benetzt.
Bringt es nicht eine vollständige Neuerung? Die Orte des Begräbnisses ,Es kam ihm der Gedanke, es damit nicht genug sein zu lassen.'Warum,
waren seit dem Mittelalter zu vertraut und zu sehr mit dem täglichen Leben sagte er sich, soll ich, da ich schon hier bin, nicht ein wenig die Brust berüh-
verbunden, als daß beispielsweise die Erzähler sie nicht in naiver'§0'eise und ren. Es wird ein erstes und letztes Mal sein." Aber er merkt, daß sie lebt. Da
ohne verwirrende Hintergedanken je nach Laune ihrer Phantasie benutz- unterbricht er seine Zärtlichkeiten, als ob die Begierde ihn verlassen hätte.
ten. Gräber und Leichen verstopfren schon die schlüpfrige Literatur des Mit Respekt hebt er die Frau aus dem Grab, trägt sie zu seiner Mutter, wo

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sie niederkommt, dann übergibt er sie mit dem Kind dem Gatten und wird tun, indem sie Martern auf Folterqualen häuften, und die Nacktheit der
der Freund der Familie (10. Tag, Novelle IV). Man stößt hier auf den kaum Henker schien ihnen ledig[ich eine tolerir:rbare Konzession an den Zeitge-
merklichen (Jbergang von der Vertrautheit mit den Toten zur makabren schmack.
Erotik, aber man sieht auch, wie diese Erotik schon an ihrer Quelle ver- Außerdem gab es auch im barocken Theater die Neigung, die Liebe zu
siegt. steigern, indem man sie möglichst nah am Tod ansiedelte, aber die Annähe-
Im Theater des siebzehnten Jahrhunderts dagegen wagt sie sich weiter rung ging nie bis ans Ende, bis zur Überschreitung des Verbotenen; ein
und offener vor: die Liebenden umarmen sich im Grabe, auf dem Friedhof, sittliches Empfinden der letzten Stunde überführte die Handlung entwe-
an Orten, die von nun an dem Begehren günstig sind. Auf alle Fälle gehen der ins Phantastische oder in Vanitas oder ein memento mori.
rüillen und
sie noch nicht so weit, daß sie sich mit einem Toten paaren. Nicht, daß sie Das verhindert nicht, daß Leser und Zuschauer gegen ihren
sich selbst dem widersetzten, aber im Augenblick, wo es es wirklich dazu ohne es zu wissen bis ins Mark verwirrt sein mußten; man merkt dies an
kommen könnte, erwacht der Tote: es war ein falscher Toter, ein Scheinto- einer Art Schwindel, den man heute in der Kunst und der barocken Litera-
ter oder, wie Scud6ry sagt, »6i6 Toter, der sich bewegt". Oder auch, daß tur spürt.
eine noch rechtzeitig eingetretene Metamorphose im letzten Augenblick Im achtzehnten Jahrhundert ändert sich alles. Der Präsident des Brosses
die Szene zum Phantastischen hin verändert. So glaubt Cardenio in einem hat sich vor der Theresia von Bernini nicht täuschen ]assen, er hat wohl
Stück von Gryphius (in dem man eine Leiche ausgräbt), seine Geliebte, die gesehen, was der Künstler dort ohne sein Vissen hineingelegt hatte, und
ihn verlassen hat, wiederzuerkennen. Er verfolgt sie, erreicht sie .. . und begriffen, was Berninis Zeitgenossen in den Tiefen des Unbewußten ge-
entdeckt ein Skelett. ,Ijnter der Hülle der lebenden und geliebten Frau", fühlt hatten, ohne es zu ahnen. Diese Scharfsicht war nicht als Verdienst
bemerkt J. Rousset, "ist es der Tod selbst, den der Liebende umarmt. Das anzusehen, denn die Maske war überall abgefallen. Eine mächtige Strö-
Leben ist nur eine Verkleidung des Todes." In dieser Velt der Vermum- mung von Empfindsamkeit hatte sich der Kunst und vor allem der Literatur
mung sind auch die Dinge immer maskiert. Die Inbesitznahme des toten bemächtigt, einer Literatur, die im neunzehnten Jahrhundert schnell popu-
Körpers wird nur durch die Gegenwart des Grabmals als Liebeslager ange- lär werden wird: Die Texte des achtzehnten Jahrhunderts sind schon voll
zeigt. (36) von Liebesgeschichten mit Toten. Einige sind »wahre« Geschichten.
Die Realität der Annäherung von Eros und Thanatos ist noch verdeckt. Eine der schönsten dieser Geschichten wird vom Chirurgen Louis in
Darin liegt der große Unterschied zwischen der ersten Hälfte des siebzehn- einem Buch über überstürzte Beerdigungen erzd,hk. §flie man sehen wird,
ten und dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Sicherlich sind während handelt es sich nicht nur um Scheintod, sondern um Liebe; die ernsten
dieser beiden Epochen die zugrundeliegenden Antriebe, die Themen kaum Verke über den Tod sind niemals ganz ohneZweideutigkeit (37): der iüng-
verschieden : dieselben köstlichen Qualen, dieselbe Grabszenerie, dasselbe ste Sohn eines Edelmannes wurde gezwungen, ohne innere Berufung in
grünliche Fleisch, dieselbe Schönheit der toten Körper, dieselbe Versu- einen Orden einzutreten':'. Auf der Reise hält er in einem Gasthaus, dessen
'§(irtsleute um ihre soeben verstorbene Tochter trauern'
chung, die Liebe im Herzen des Todes anzusiedeln, aber im siebzehnten "Da das Mädchen
Jahrhundert spielt sich all das noch im Unbewußten und Uneingestande- erst am nächsten Tag beerdigt werden soilte, bat man den Mönch, während
nen ab - eher als im Eingestehbaren. Noch kennt niemand den Namen der der Nacht bei ihr zu wachen. Veil die Gerüchte über ihre Schönheit seine
Dämonen, die die Träume beunruhigen. Zweifellos finden die Henker, die Neugier geweckt hatten, entblößte er das Gesicht der vermeintlichen Toten
Zuschauer, die Opfer selbst an diesen todbringenden Gewalttätigkeiten ein und, weit davon entfernt, sie durch die Schrecken des Todes entstellt zu
Vergnügen, das wir heute leicht erkennen und als sadistisch bezeichnen sehen, fand er dort lebendige Reize, die ihn die Heiligkeit seiner Gelübde
können. Aber die Zeitgenossen ahnten nichts von dieser Perversität, noch
von der sexuellen Grundlage ihrer Neigung zum Entsetzen. lüIeder der
fromme Bernini, noch seine gottesfürchtigen Geldgeber und Prälaten, noch , Das isr das Thema der Nonn e von Dideror, das ofr mit der makabren Erotik vom achtzehn-
der ausgezeichnete Bischof Camus ahnten, was in ihnen gärte und ihre rcn bis zum neunzehnten Jahrhundert assoziiert wird ; der Mönch wider Willen und der ehebre-
Phantasie anstachelte. Sie glaubten, ein frommes und erbauliches §(erk zu eherische Liebhaber sind die üblichen Personen des Schauerromans.

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vergessen ließen und, die düsteren Vorstellungen, die der Tod im allgemei-
bevor ich mich für immer von ihr trenne." "Der Sarg erscheint, die Leiche
nen weckt, erstickend, ihn dazu veranlaßten, sich mit der Toten dieselben
wird vom Totengräber daraus hervor gezogen, dann auf die Stufen des Al-
Freiheiten zu erlauben, welche das Sakrament im Leben autorisieren
tars gelegt. . ." Bis jetzt ist alles im Klima des Schauerromans einigermaßen
konnte." So vereinigre dieser Mönch sich mit einer Toten.
normal. Sade führt hier den Inzest ein, der übrigens nicht außergewöhnlich
In lvirklichkeit war die -Ibte nicht ror. Im barocken Theater bernerkt
ist. Der Vater bleibt allein, um seine Tochter zu entkleiden und wie eine
man es vorher; am Ende des achtzehnten Jahrhunderts merkt man es ersr
Lebende zu lieben. Juliette und ihre Begleiterin schließen sich ihm an, und
nachher. "Die Tote erwachre. nach der Abreise des Mönchs, und »neun
die Orgie geht au{ dem Boden des Grabes, wohin die Leiche und der Sarg
Monate später brachte sie zum großen Erstaunen ihrer Eltern und ihrer
wieder gestellt worden sind, weiter. Juliette wird sich sogar zum Vergnügen
selbst ein Kind zur \ü/elt. I)er Mönch kam zu dieser Zeit am selben Ort
des Vaters einen Augenblick in der Gruft einschließen lassen. Die Ge-
vorbei [ein glucklicher Zufail, *'ie es sich für einen Roman gehörtl, und
schichte entgleist in sadistische Phantastik. (39)
indem er so tat, als sei er überr.ascht, sie, die er angeblich für tot gehalten
Aber hier noch eine andere Geschichte derselben Provenienz, die banaler
hatte, lebend zu finden, gestand er, der Vater des Kindes zu sein, nachdem
und zwei{ellos bezeichnender ist. Sie stammt aus Jan Potockis Hand.scbrift
cr sich von seinen Gelübden hatte entbinden lassen.o
oon Saragossa (1804-1805). Trivulzio hatte in der Kirche die Frau, die er
In der z-weiten t{älfte des neunzehnten Jahrhunderts finden die Arzte,
liebte, sowie ihren Bräutigam in dem Augenblick getötet, als der Priester sie
die noch auf diese (]cschichte Bezug nehmen, daß dieser außergewöhnliche
trauen wollte. Man beerdigte sie zusammen an derselben Stelle. Später
vorfall "[. . .] nicht ganz den Grad von'wahrscheinlichkeit besitze, den man
kommt der Mörder, von Reue gepeinigt, in die Kirche seines Verbrechens.
ihm wünschen wiirde." Louis hatte ihn den Causes cölibres enrnommen.
Im achtzehnten Jahrhundert hatte er noch Vahrscheinlichkeit gehabt, und "Zitternd begab sich Trivulzio dorthin, und als er zum Grab gelangte,
küßte er es und vergoß einen Strom von Tränen [wir kommen hier zu den
man zitierte ihn als ganz und gar glaubwürciig. Dennoch warf schon damals
ersten Besuchen am Grab]. [. . .] Aus diesem Grund gab er dem Sakristan
ein Punkt Irragen auf : u,d z-war die, wie eine unbelebte Frau hatte empfan-
seine Börse und erhielt dessen Einwilligung, so oft er wolite, die Kirche zu
gen können. Man glaubte in der Tat, daß das Vergnügen oder zumindest die
betreten. So kam er schließlich jeden Abend." Eines Abends wurde er dort
Bewegung für die Fruchtbarkeit des Koitus notwendig waren. Der Bürger
eingeschlossen; "Freudig faßte er den Entschluß, die Nacht dort zu ver-
Louis dachte, daß dieses Mädchen wirklich durch die Bewegungen, die dem
bringen, denn er liebte es, seine Trauer zu pflegen und seine Melancholie zu
Akt vorausgegangen sein mußten und dann durch d.en Akt selbst erregt
nähren. [. . .] Schließlich schlug es Mitternacht. [. . .] Da öffneten sich die
worden war. (38)
\Wohlgcmerkt, die Paarung mit Toten Gräber, die Toten erhoben sich eingehüllt in ihre Leichentücher und
ist im Verk von Sade häufig. Die stimmten in einem ungemein melancholischen Tonfall eintönige Litaneien
erschlagene Justine wird von dem verfluchten Abb6 und seinen Kumpanen
an... (40)
mißbraucht. venn manche Fälle von Nekrophilie auch außergewöhnrich
Nach demselben Muster erzählt man in Toulouse eine Geschichte, die
sind, gehören andere, bis auf einige Pikanterien, zu einer damals üblichen
wie bei de Sade und Potocki anfängt, aber auf realistische §(eise endet. M.
Forr,r von Anekdoten. Das Thema ist ungef ähr folgendes: Personen lassen
de Grille "verliebte sich in ein schönes Fräulein und liebte es so sehr, daß er
sich i. einer Kirche einschließen mit dem Ziel, ein Grab zu öffnen, sei es aus
sich niemals über seinen Verlust trösten konnte. Es starb an den Blattern.
Liebeskummer, sei es ar,s sexueller Perversität, oder ganz einfach, um den
Und M. de Grille versteckte sich voller Verzwei{lung in der Kirche der
Leichnam seines Schrnuckes zu berauben.
Jakobiner, wo es begraben wurde. Am Abend war ein Ordensbruder, der
La Durand und Juliette, die Heldinnen Sades, bleiben in der Kirche,
die Aufgabe hatte, Ol in die Lampen zu gießen, außerordentlich über-
I

nachdem sie gescl.rlossen ist:


"\W'ie sehr ich diese finstere Stille liebe . . . sie rascht, M. de Grille vor sich zu sehen, der ihm mit einer Hand eine Börse
ist das Abbild der Grabesruhe und . . . ich f . .'. für den Tod." Man hatte eben
mit 400 Pfund anbot unter der Bedingung, daß er das Grab von Mlle. Dau-
ein junges Mädchen begraben. Der Vater hat dieselbe überlegung angestellt
melas ö{fne - dies war der Name seiner Geliebten - und in der anderen
wie die beiden Frauen. Er kommt mit dem Totengräber:
"Hole sie wieder einen Dolch, mit dem er ihn zu töten drohte, wenn er sich weigern sollte,
herauf, mc.in Schmerz isr so groß, daß ich sie noch einmal küssen möchte,
das Grab zu öffnen." Dem Bruder gelang es, die Polizei zu alarmieren. Der

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Kommissar bemächtigte sich des verzweifelten Liebhabers und führte ihn trotzen, aber der Untergrund von Sinnlichkeit bleibt wohl derselbe: "Ich
nach Hause, wo er sich tötete. (41) beugte mich nieder, um einen letzten Kuß auf ihre Stirn zu drücken, wobei
Eine Variante dieser Geschichte vom wiedergeöffneten Grab ist die List, ich mein Gesicht dem ihren näherte, und es schien mir, daß ich einen letzten
die einem Lebenden erlaubt, sich für tot auszugeben, seine Identität zu Seufzer spürte oder hörte. . . sie lebte." Inspirierten sich diese Phantasien
wechseln und sein Leben neu zu beginnen. Eine Nonne aus Toulouse, die in an wirklichen Geschichten? Sade sagt uns freilich: "Ich habe oft einen
einen Kavalier verliebt v/ar, »gn15glleß sich, die Mauern eines Klosters zu Mann in Paris gesehen, der alle Leichen iunger Mädchen und iunger Kna-
verlassen, um ihm nachzulaufen. [. . .] Man hatte an diesem Tag eine ihrer ben, die eines gewaltsamen Todes gestorben und frisch in die Erde gesenkt
Gefährtinnen begraben, und da das Grab noch nicht geschlossen war, stieg worden waren, mit Gold bezahlte; er ließ sie zu sich bringen und beging an
sie, während alles im Kloster schlief, hinein und trug diese Tote in ihre diesen frischen Leichen eine unendliche Zahl von Greueln." Der Marquis
Zelle,\egre sie auf ihr Bett und legte danach Feuer [Man transportierre ohne ist kein glaubwürdiger Zeuge. Seine Außerung wird dennoch auf merkwür-
ersichtliche Mühe schwere Leichen !]. [. . .] Man glaubte, daß sie es sei, die dige §[eise durch einen Bericht über die Unschicklichkeit der Begräbnisse
verbrannt war.., (42) bestätigt, der 1 781 beim Oberstaatsanwalt von Paris vorgelegt wurde. "Die
Toulouse scheint eine spezielle Anziehung für diese Fälle besessen zu Leichen, die in diese allgemeine Grube niedergelassen werden, werden alle
haben, denn hier ist ein anderer von 1 706 : M. de Saint-Alban, Rat am Parla- Tage der unwürdigsten Schändung ausgesetzt: die Leute begnügen sich un-
ment von Toulouse, hatte seine junge Frau verloren. Diese war vor ihrer ter dem Vorwand, Studien zu treiben, nicht nur mit den Leichen, die sie in
Heirat mit einem Ritter de S6zanne verlobt gewesen, der, wie man annahm, den Krankenhäusern erhalten, sondern entführen auch noch die Leichen
in Amerika getötet worden war. Es war nichts damit: M. de S6zanne kam von den Friedhöfen und begehen an ihnen alles, was Ruchlosigheit und
verheiratet nach Toulouse zurück. Da war M. de Saint-Alban über die Ahn- Ausscbweifung ihnen eingeben konnten.. (44) Var das wahr? §V'ar das
lichkeit [man erinnert sich an das Problem de similitudine bei Zacchia] von f alsch ? Man glaubte es, und die "speziellen" Liebhaber der Anatomie wur-
Mme. de S6zanne mit seiner Frau erstaunt. Um sich zu vergewissern, er- den der ,Libertinage" mit Leichnamen verdächtigt. In Neapel hatte Rai-
reichte er, daß sie ausgegraben wurde: der Sarg war leer. Die Nonne der mondo di Sangro wegen seiner Experimente am menschlichen Körper ei-
vorhergehenden Anekdote war geschickter gewesen. (43) M. de Sdzanne nen schlechten Ruf. \üir können annehmen, daß diese Anschuldigungen
erklärte sich: bei seiner Rückkehr nach Frankreich erfuhr er zugleich die der Grundlage entbehren; es ist deshalb nicht weniger wahr, daß man in der
Heirat und den Tod seiner Verlobten. Er beschloß, sich zu töten. oDennoch Kapelle seines Palastes noch heute einen seltsamen Eindruck hat. Sie ist mit
wollte ich, bevor ich Selbstmord verübte, ein letztes Mal die, die ich so sehr dem Palast verbunden, und in der Sakristei bewahrt man die Uberbleibsel
geliebt hatte, wiedersehen [. . .]. Umsonst machte ich mir klar, daß ich, des ehemaligen anatomischen Kabinetts aui. Abgesehen von den Grab-
wenn ich dieses Grab schändete, mich eines Aktes der Entweihung schuldig denkmälern der Familie ist die prächtige Kapelle mit Statuen geschmückt,
machen würde [. . .] und eines Verbrechens [. . .]. Mir schien, daß ich durch die auf jeden Fall überraschend sind, aber noch mehr, wenn man weiß, daß
ein Verhängnis mitgerissen wurde. . .. sie neben einem Anatomiekabinett stehen. Sie sehen wie frische Leichname
Diese Stimme war die der Vorsehung,
"die mich erwählt harte, um einen aus, die mit feinen, angefeuchteten Schweißtüchern, die Falten schlagen,
schrecklichen Irrtum der Menschen wieder gutzumachen.. Er erreichte bedeckt sind. Nach der moralischsten aller möglichen Hypothesen schei-
vom Totengräber, daß er den Sarg freilegte: diese heimlichen Exhumierun- nen sie auf das Seziermesser des Anatomen zu warten. Sie könnten sich
gen können durchaus eine Geldquelle der '§ü'ärter jener Zeit gewesen sein ! ebenso gut der makabren Perversität eines reichen Amateurs darbieten.
"Einen Augenblick danach gaben mir die auseinanderklaffenden Bretter
den Blick auf ein weißes Leintuch frei, unrer dem sich undeutlich eine
Der Friedhof der Mumien
menschliche Gestalt abzeichnete; da kniete ich nieder, schob sanft die Fal-
ten des Leintuchs auseinander; ein Haupt mit einer dichten Haarkrone er- Vir wollen nicht zu sehr nach der Realität suchen, die hinter diesen roman-
schien vor meinem von Tränen verschleierten Augen.. \(ir sind nicht mehr haften Berichten liegt. Selbst wenn etwas '§ü'ahres daran sein sollte, und es
beim Marquis de Sade; man weint, man betet, ansratt zu lästern und zu mußte etwas daran sein, ist dieses Wahre nur ein flüchtiger Reflex des Ima-

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ginären. Das Vesentliche spielt sich hier im Imaginären ab, und die wich- graben und in den Galerien der Beinhäuser angehäuft wurden, inden ,ban-
tigsten Tatsachen, die am folgenreichsten sind, gehören nicht zur gelebten garso oder in den Kapellen. Es gab keine Friedhöfe ohne diese Abstellräu-
Realität, sondern zur \Welt der Phantasmen. Diese Phantasmen entsprechen me. Jeden{alls hatte in diesem Fall die Überführung ins Beinhaus keinen
dem Diskurs der Arzte. Sie gestehen der Leiche eine Arr Eigenleben zu, das symbolischen Sinn: ihr einziges ZieI war, einen Raum für andere Gräber
die Begierde hervorruft, die Sinne erregt. freizumachen. Die Knochen blieben nahe bei der Kirche und den Heiligen,
Vorstellungen von Gelehrten, die von Beobachtungen über die zurück- denen sie anvertraut worden waren. Die Beinhäuser waren nicht anonymer
bleibende Sensibilität der Leiche beeindruckt sind? Vorstellungen von ab- als die Gräber des Hochmittelalters. \iüir haben gesehen, wieviel Zeit und
artigen Menschen, blasierten Müßiggängern, die auf der Suche nach starken wie viele psychologische Veränderungen es gebraucht hat, um auf diese
Emotionen, nach unbekannter'§ü'ollust sind? Zweifellos, aber diese Vor- Anonymität zu verzichten.
stellungen gehörten zu d,en in der Luft liegenden Gedanhen, die ein bis in Nur zwei Vorgänge erscheinen noch als Ausnahme gegenüber diesem
volkstümliche Milieus sehr verbreitetes Publikum hatten. Der gemeinsame allgemeinen tausendjährigen Brauch: die Uberführung der Reliquien von
Nenner dieser in der Luft liegenden Ideen ist die überzeugung, daß der Heiligen, und dann eine sehr lokale und eigenartige Sitte, die wir schon
Leichnam nicht verschwindet, daß in ihm etwas bleibt, daß man ihn kon- kommentiert haben (in Kapitel 2): in den Mauern der rornanischen Kirchen
servieren muß, und daß es gut ist, ihn auszustellen und zu sehen. Einer von Katalonien waren im Mittelalter durch Platten mit Grabinschriften
solchen überzeugung ist es - nicht überall, aber an bestimmten Stellen, vor verschlossene Nischen eingerichtet, die die auseinandergenommenen Kno-
allem in den Mittelmeergegenden, dann im spanischen Amerika im sieb- chen eines Verstorbenen aufnehmen sollten. Dennoch ändern diese Fälle
zehnten Jahrhundert - gelungen, das physische Aussehen mancher Fried- nichts am allgemeinen Brauch.
höfe zu modifizieren, Hier liegt der Ursprung dessen, was wir in Ermange- Im siebzehnten Jahrhundert nun ist das Begräbnis in zwei Etappen nicht
lung eines besseren Ausdrucks die Mumien{riedhöIe nennen, die am Ende mehr unbekannt, wenn es auch selten bleibt. Es gibt sogar berühmte Bei-
des neunzehnten Jahrhunderts in Europa verschwunden sind, in Latein- spiele, wo derselbe Leichnam zwei Begräbnisse nacheinander erhält, die
amerika aber länger überlebt haben. durch die Frist der Verwesung getrennt sind: das endgültige Grab ist das
Man erinnert sich, daß die Arzte des siebzehnten Jahrhunderts, und auch der Knochen oder des ausgetrockneten Leichnams.
noch Zacchia, sich mit der Erhaltung oder Nichterhaltung von beerdigten Diese Methode scheint zuerst berühmten Personen vorbehalten gewesen
Leichnamen beschäf tigten. zu sein, ohne daß sie in den königlichen Familien allgemein wird. In Malta
Dieser Begriff von Konservierung war, wie wir gesehen haben, den Ana- vzar sie für die großen Ordensritter vorgesehen. Vährend die einfachen
tomen, den Malern von Leichen und denen, die sich daran zu schaffen Ritter in einern Sarg, der mit ungelöschtem Kalk bedeckt war, im lnnern
machten, seien es Gelehrte oder Libertins, nicht fremd. Er berührte in einer einer kleinen Gruft, der ein sichtbares, in den Fliesenbelag eingefügtes Mo-
viel geläufigeren und allgemeineren \üeise die Vorstellung vom Schicksal saikgrab an der Oberfläche des Kirchenbodens entsprach, bestattet waren,
des Leichnams nach dem Begräbnis. Jetzt erscheint eine neue Idee: den waren die großen Meister des Ordens in der Krypta beerdigt, und zwar in
Leichnam nicht mehr unwiderruflich zu verlassen und einen physischen einem provisorischen Grabmal, wo sie ein Jahr oder länger blieben. An-
Kontakt mit ihm zu bewahren. Man will ihn in seinen verschiedenen Zu- schließend wurden sie in ein großes Grab in einer Kapelle der Kirche über-
ständen verfolgen, in seine Umwandlungen eingreifen, ihn aus der Erde führt. Das Zeremonieil des Ordens legte die Umstände des feierlichen Ritus
zurückholen und ihn in seiner endgültigen Gestalt als Mumie oder Skelett fest, in dessen Verlarif der Sarg geöffnet wurde, die Reste durch einen Arzt
zeigen. (einen Experten für Leichen) identitiziert wurden, der Sarg wieder ge-
Es gibt dabei etwas Neues. Die Vorstellung von der rituellen überfüh- schlossen und nach der Absolution in sein endgültiges Grab gestellt wurde.
rung des Leichnams, die in bestimmten Kulturen existiert, war im heidni- (45)
schen und christlichen Okzident unbekannt. Der Leichnam wurde ein für Eine Uberführung derselben Art in den Escorial war für die konigliche
alle Mal beerdigt, selbst wenn im christlichen Mirtelalter, und es war schon Familie von Spanien vorgesehen. Die Leichen wurden zuerst in derrt, was
ein ungewohnter Brauch, die Knochen lange nach der Beerdigung ausge- Saint Simon ,Verwesungsraum« nannte, abgelegt: ,Ein schmaler und lan-

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ger Raum. Man sieht dort nichts als die weißen Mauern, ein großes Fenster reiht, aufrecht oder liegend]. Während der Mönch mit mir sprach, sah ich
am einen Ende, neben dem man eintritt, eine ziemlich kleine Tür gegenüber andere kommen, die mit toten Körpern auf ihren Schultern vom Glocken-
[die in eine Gruft führt], an Möbeln lediglich einen langen Holztisch, der turm herabstiegen; diesen hatte die Luft alles, was sie an schlechten Gerü-
die ganze Mitte des Zimmers einnimmt und der dazu dient, die Leichen chen hätten an sich haben können, genommen, und ich schloß daraus, daß
niederzulegen und vorzubereiten. Für jeden, den man dort niederlegt, der gute Franziskaner mir die Vahrheit gesaBt harte.« Die Toten wurden
gräbt man eine Nische in die Mauer, in die man den Leichnam schiebt, also nacheinander an drei Stellen niedergelegt, von denen sich nur die erste
damit er dort verfault. Die Nische wird wieder geschlossen, ohne daß zu unter der Erde befand. Sie wurden ein wenig so behandelt, wie in Amerika
merken ist, daß man an die Mauer gerührt har, die überall glatt ist und vor die Leichen von den morticianshergerichtet werden, mit dem Unterschied,
§7eiße glänzt; der Ort ist sehr hell [was Saint-Simon überrascht, da er daß es sich damals um Mönche handelte, und daß die Behandlung mehr Zeit
daran gewöhnt ist, den Tod mit der Nacht des unterirdischen Gewölbes in erforderte, da die aufeinanderfolgenden Stationen jeweils mindestens ein
Verbindung zu bringen]." Die Leichen ,werden nach einer bestimmten
Jahr dauerten. (47) Danach kamen die Leichen in ein Beinhaus, das den
Zeit hervorgezogen und ohne Zeremonie., sei es
"in die Schubkästen des Besuchern - man ging dorthin wie zu einem Schauspiel - eine Mischung aus
Panthdon", sei es in eine andere Gruft, die an den ,Verwesungsraumo Knochen und Mumien darbot.
grenzt, getragen. Dort bleiben
"sie für immer". (46) Einige Friedhöfe dieser Art gibt es heute noch. Der eine ist in Rom, in
Der Grund der provisorischen Aufbewahrung scheint die Absicht zu einer Kapuzinerkirche nahe beim Palast der Barberini, die dort beerdigt
sein, das endgültige Grab {ür Leichen zu reservieren, die sich nicht mehr waren. Man findet dort aufrechtstehende Mumien, die denen ähneln, die
verändern, sei es, weil sie zu trockenen Knochen geworden sind oder weil die Beinhäuser der Franziskaner in Toulouse füllten. Es sind, heißt es,
sie mit ihrem Fleisch konservierr, d. h. mumifiziert wurden. In beiden Fäl- Mönche, die im Ruf der Heiligkeit gestorben sind. Es könnte sich auch um
len übersprang man die Etappen der Verwesung, um den Leichnam in ei- Laien handeln, Terziare des Franziskanerordens, die das Privileg hatten,
nem Tiockenzustand zu erhalten, in dem er ausgestellt werden konnte. mit Kutte und Strick beerdigt zu werden. In Palermo existiert, ebenfalls mit
In der Tat war diese Technik nicht nur auf fürstliche personen be- einer Kapuzinerkirche zusammenhängend, ein anderer berühmter Mu-
schränkt. Man findet sie hier und dort im Süden und am Mittelmeer (zu- mienfriedhof. Hier handelt es sich um Laien in Stadtkleidung, die von ihren
gleich mit der offenen Ausstellung des Gesichtes des Toten), ohne daß ich Familien besucht wurden. Diese Art der Zurschaustellung hat bis 1881 ge-
die Ursachen dieser Lokalisierung ganz begreife. ,Ich war in der Kirche der dauert: sie wird nicht viel weiter als bis zum Ende des fünfzehnten Jahr-
Franziskaner [in Toulouse]", erzähk ein Briefschreiber zu Beginn des achr- hunderts zurückreichen.
zehnten Jahrhunderts.
"Ich habe das Beinhaus, das charni,ier gesehen, von In Rom kann man in der Kapuzinerkirche oder auf dem Friedhof der
dem ich soviel habe sprechen hören.. Achtung ! das '§(ort charnierbezeich- Ordensbruderschaft della Orazione e della Morte, der leider nach der Er-
net hier etwas anderes als das mittelalterliche charnier,wie es noch auf dem richtung der Tiberquais restauriert wurde, außer den Mumien ein Ossua-
Cimetiöre des Innocents existierte, so wie wir oft im Verlauf unserer LJnrer- rium sehen, in ein Muschelornament umgewandelt, wo die Knochen Kiesel
suchung gesehen haben. Es ist ein charnierfür Mumien, ,wo die Leichen oder Muscheln ersetzen. Einige bemerkenswerte Skelette sind wiederher-
sich durch Jahrhunderte als ganzes erhalten. Der Leichnam der schönen gestellt worden, wie die der drei kleinen Kinder Barberini. Im übrigen wird
Paula bewahrr noch die Merkmale der Schönheir. Ich fragte diese guten jeder Knochen seiner Form gemäß verwendet: die Beckenknochen sind in
Väter, durch welches Mittel sie diese Leichen vor der Verwesung bewahren Rosetten angeordnet, Schädel bilden Säulen, Schienbeine oder Gliedmaßen
konnten. [Die Technik der Franziskaner war berühmr, was ihnen eine zahl- unterstützen das Gewölbe einer Nische, Wirbel sind zu Girlanden aufge-
reiche "Kundschaft" brachte.] Sie sagten mir, daß sie sie zuersr in einer reiht oder bilden Lüster. Das \Werk wird einem Mönch des achtzehnten
bestimmten Erde begruben, die ihr Fleisch aufzehrre; und daß sie sie dann
Jahrhunderts zugeschrieben. Das Beinhaus ist dann nicht mehr nur ein La-
der Luft aussetzten [zweifelsohne in einem Saal des Kirchturms, wie man ger, es ist ein Theaterdekor, in dem der menschliche Knochen sich allen
gleich sehen wird]. Daß man sie, wenn sie genügend ausgetrockner waren, Konvulsionen der barocken oder Rokokokunst fügt; das Skelett wird wie
in den charniers lagerte fmit Inschriften an den Mauern: sie waren aufge- eine Bühnenmaschinerie gezeigt und wird selbst zum Schauspiel. Gewiß, es

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gibt kein vegetatives Leben des Leichnams, das in der Mumie fortzudauern liche Mumien, die wie Lebendige angezogen und wie reprösentations ausge-
scheint. Er hat sogar seine Individualität verloren. Es ist ein kollektives stellt werden. Man unterschiebt ihnen Abbilder aus 'W'achs oder Holz,
Leben, das den Zierat belebt, mit dem Lachen von Hunderten von Schä- wenn es nicht anders geht. Die Kirchen von Rom bewahren einige von
deln, den Gesten von Tausenden von Gliedmaßen. Im selben Augenblick, diesen heiligen Mumien unter einem durchsichtigen Reliquiar mit Glas-
da die Könige unter die Erde herabstiegen und auf die sichtbaren Denkmä- wänden: die Heilige Francesca Romana in der Forumkirche, deren Schutz-
ler verzichteten, da das nächtliche Königreich des Todes in gewölbten herrin sie ist; in San Francesco a Ripa wird eine andere Mumie gezeigr,
Grüften, wie die Kirchenvorsteher sie erbauten, wie die Autoren der immer noch liegend, doch etwas eingeknickt, da sie sich mit dem Ellenbo-
Schauerromane oder die phantastischen Holzschnittkünstler sie ersonnen, gen aufstützt, mit einem langen Gewand bekleidet, das durch einen Spalt
organisiert wurde, brachte eine andere Strömung der Sensibilität die Lei- unter einem Schleier den Körper sehen läßt. Der ganze sichtbare Teil des
chen an die Oberfläche, trieb dazu, sie zu konservieren und sie von oben Skeletts ist von einem Haarnetz eingehüllt, das die Knochen an der richti-
dem Volk zu zeigen wie bei einer Parade. Man ging sie besuchen, man gen Stelle hält. Die Doria hatten, ebenfalls in Rom, das Privileg, in der
konnte mit ihnen sprechen. kleinen Privatkapelle ihres Palastes über eine eigene Mumie zu verfügen.
Es ist interessant, die älteren Biider Carpaccios (ca. 1455-1526) mit die- Ich bin nicht sicher, ob viele unserer Zeitgenossen einwilligen würden, mit
sen realen Friedhöfen zu vergleichen. Auf einem Bild in Berlin (Dahlem) einer Mumie unter demselben Dach oder im Zimmer daneben zu schlafen.
liegt der Leichnam Christi ausgestreckt da, bereit zur Bestattung. Der übrigens, warum hätte man diesen Geschmack an der Mumie nicht auch
Friedhof, wenn es überhaupt einer ist und nicht vielmehr ein Schindanger auf seine nächste Umgebung ausdehnen sollen? Später (Kap. 10) werden
(denn es gibt sogar Tiere), ist mit Knochen übersät, wie auf einem Friedhof wir sehen, wie die Entwicklung der Affektivität den Überlebenden den Tod
dieser Zeit üblich. Dennoch sind die Knochen nicht mehr wie Kiesel ver- derer, die sie geliebt haben, grausamer gemacht und ihnen einen manchmal
streut: Mumien, Menschen- und Tierskelette ragen als ganze aus dem Bo- manischen Erinnerungskult eingegeben hat. rVir wollen hier nur belegen,
den heraus, mit etwas, was einem Gesichtsausdruck ähnelt. Dieser Friedhof daß die Vorliebe für die Mumie, von der wir viele Spuren im achtzehnten
ist einer von denen, deren Erde konserviert ; er bringt gute Mumien hervor.
Jahrhundert aufgezeigt haben, von diesem Gefühl in andere Bahnen ge-
Auf einem anderen Bild in der Sammlung Frick in New York stellt Car- ienkt worden ist.
paccio die Begegnung der Eremiten in der'W'üste dar: über dem Heiligen Die Versuchung war alt: man fand sie schon zu Beginn des achtzehnten
Antonius hängt, an der Mauer be{estigt, sein Rosenkranz, der aus kleinen Jahrhunderts, nicht im wirklichen Leben, sondern im Theater: in einer Tra-
\ü/irbeln gemacht ist wie die Lüster des Friedhofs della Orazione e della gödie des elisabethanischen Dichters Christopher Marlowe bewahrt der
Morte in Rom! Protagonist Tamburlaine die einbalsamierte Leiche seiner teuren Zenokrate
Die geistlichen Schriftsteller, Bossuet selbst, hätten gerne, zumindest be- bei sich auf. (+a) Die römische Ordensbruderschaft della Orazione e della
haupteten sie es, die Gräber geöffnet, um die Lebenden zu beeindrucken Morte (eine Bruderschaft von Totengräbern, von der wir berichtet haben,
und sie daran zu erinnern, daß sie sterblich sind. Aber sie wagten es nicht daß sie unter ihrer Kirche ein Beinhaus mit einem Dekor aus Knochen
wirklich, so unerträglich wäre das Grauen gewesen. Und dennoch werden unterhielt) organisierte für ein jährliches Fest lebende Bilder, die anschlie-
gar nicht weit entfernt von ihnen die Leichen herausgeholt und gezeigt, ßend in Form von Stichen abgebildet wurden. Eines dieser lebenden Bilder
allerdings in einer annehmbaren Form, die einen Anschein von Leben be- stellte das Fegefeuer dar. Bei den Inszenierungen hatte man sich wirklicher
wahrt hat. Leichen bedient.
Im achtzehnten Jahrhundert ist dieser Brauch vom Theater auf die Stadt
DieMumieimHaus übergegangen. Es war selten, aber nicht unbedingt außergewöhnlich, daß
man bei sich den Leichnam des \Vesens aufbewahrte, von dem man sich
Übrigens findet sich die Mumie nicht nur auf den Friedhöfen, sondern auch nicht durch ein Begräbnis trennen wollte. So bewahrte Martin van Butchell
auf den Altären. Die Leichen der Heiligen bestehen nicht mehr aus Kno- 1775 seine Frau zu Hause au{, bis seine zweite Gattin von diesem Schau-
chen, die in einem Reliquienschrein angehäuft sind, sondern es sind wirk- spiel genug hatte. Die Mumie wurde dann d em Royal College of Surgeonsin

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London anvertraut, wo sie bis zu den Bombenangriffen des Zweiten Velt- Telegraphenstationn. In der Tat hat man seinen Sarg-und nicht seine sicht-
kriegs blieb. bare Mumie - in einem Zimmer seines Schlosses, das in eine Art von er-
Ein anderer Fall ist der von Jacques Necker, dem Minister Ludwigs leuchtetem Katafalk umgestaltet war, aufgestellt.
XVL und seiner Frau Suzanne Curchod, den Eltern von Mme. de StaöI. Jeremy Bentham, der 1832 starb, hatte auch verlangt, daß sein einbalsa-
Mme. Necker hatte Angst, lebendig begraben zu werden, und schrieb eine mierter Leichnam an der Universität von London, die er gegründet hatte,
Abhandlung über voreilige Beerdigungen (unser Kapitel 9 ist diesem Ge- aufbewahrt wurde, wo man ihn geiegentlich sehen und befragen konnte.
genstand gewidmet). Sie hoffte, nach dem Tod die Verbindung zu ihrem 1 848 entdeckte die österreichische Polizei in der Vi[[a der Prinzessin Bel-

Gatten aufrechtzuerhalten (unser Kapitel 11 wird diesen am Ende des acht- giojoso, der berühmten Mätresse des Historikers Mignet und vieler ande-
zehnten Jahrhunderts und vor allem im neunzehnten Jahrhundert allge- rer, den einbalsamierten Leichnam ihres jungen Sekretärs, von dem sie sich
meinen riüunsch analysieren). "Tu genau das, was ich gesagt habe", schrieb nicht hatte trennen wollen: im Sarg hatte man den Leichnam durch einen
sie ihm. "Vielleicht wird meine Seele um Dich irren . . . Vielleicht kann ich Holzklotz ersetzt.
mich auf köstliche \ü/eise der Zuverlässigkeit erfreuen, mit der Du die li(ün- 'W'ir werden die Gelegenheit haben, auf dieses Phänomen zurückzukom-
sche der Frau erfüllst, die Dich so liebt." Sie gab {olgende Anweisungen: in men, und der Brauch der Konservierung zu Hause wird uns weniger er-
ihrem Besitz von Coppet am U{er des Genfer Sees sollte für sie und ihren staunen, da wir nun den Platz der Mumie in der volkstümlichen Vorstel-
Gatten ein Mausoleum gebaut werden. Sie sollten beide in einem mit §(ein- lungwelt der Epoche kennen.
geist gefüllten Becken konserviert werden. Jacques Necker behielt sie zu- Man begrei{t, daß die Freimaurer keinen größeren Widerwillen mehr
erst drei Monate bei sich. Der französische Spion, der die Familie über- hatten, bei ihren Initiationsriten einbalsamierte Leichen zu benutzen.'Wir
wachte, berichtete, daß Mme. Necker befohlen habe, daß ihr Körper wie wissen auf Grund der Untersuchung von M. Vovelle über Joseph Sec (50),
ein Embryo in Veingeist konserviert werde. Und Germaine de Staöl daß die Leiche von Anicet Martel, dem Mörder von d'Albertes, 1791 durch
schrieb ihrerseits: "Vielleicht wissen Sie nicht, daß meine Mutter so seltsa- reitende Jäger den blauen Büßermönchen'r, die ihn beerdigen sollten, ent-
me, so außergewöhnliche Anordnungen über die verschiedenen Arten, sie rissen und präpariert wurde, um den Versuchen einer Freimaurerloge in
einzubalsamieren, sie zu konservieren, sie unter eine Glasscheibe in \ü/ein- Aix-en-Provence zu dienen. Man kann auch im Museum Arbaud in Aix
geist zu legen, gegeben hatte, daß, wenn ihre Gesichtszüge in so vollkom- eine Gipsfigur des provenzalischen Bildhauers J.-P. Chastel sehen, die mit
mener W'eise bewahrt geblieben wären, wie sie wohl annahm, mein un- dem Realismus eines Abgusses ,eine Momentaufnahme des Todes" (M.
glücklicher Vater sein Leben damit verbracht hätte, sie zu berrachten." Vovelle) eines Zimmermanns darstellt, der nach einer Rauferei von Hand-
Das Mausoleum wurde am 28. Juli 1804 wieder geöffnet, um den Sarg werksburschen auf den Baustellen desselben Joseph Sec ums Leben gekom-
von Mme. de Staöl dort aufzustellen: "In einem Becken aus schwarzem men war. Es gab sogar noch 1873 in einem ehemaligen Pavillon von Joseph
Marmor, das noch zur Hälfte mit Alkohol angefüllt war, lagen unter einem Sec, einem Grundstücksmakler und Freimaurer, dessen seltsame Silhouette
weiten roten Mantel Necker und seine Frau. Das Gesicht von Necker war M. Vovelle gezeichnet hat, einen Nußbaumsitz, "eine Art von seltsamem
völlig unversehrt; der Kopf von Mme. Necker war eingesunken und wurde Kompromiß zwischen Sofa und Sarkophag". \iflenn man den Deckel hob
durch den Mantel verdeckt." (49) und eines der langen Seitenteile des Unterbaus entfernte, entdeckte man die
Man kann im Paris-Soirvom Oktober 1947 folgende Geschichte lesen: Statue von Chastel, realistisch gemalt, zweifellos eine farbige Kopie des in
Am 21. Mai 1927 starb der Marquis Maurice d'Urre d'Aubais in Paris. 70 Weiß gehaltenen Originals im Museum Arbaud. Für Vovelle handelt es sich
Jahre alt, kinderlos, hinterließ er dem französischen Staat sein unermeßli- um "ein Zubehör des Betrachtungskabinetts einer Freimaurerloge, einen
ches Vermögen unter seltsamen Bedingungen: "Nach meinep J6d«, so Bestandteil der Prüfungen bei der Initiation". Insgesamt ein Aquivalent zur
verfügte er in seinem Testament, "wünsche ich, in einem Sessel unter einem Mumie, eine reprösentation wre die der Heiligen in barocken Kirchen.
gläsernen Reliquienschrein zu sitzen. Dieser Reliquienschrein muß mit
'' Ordensbrüder in Italien und Südfrankreich, die Verbrechern bei der Hinrichtung beistanden
Blick auf das Meer aufgestellt werden, an einem öffentlichen, ständig er-
und sie beerdigten. Es gab blaue, weiße, schwarze Büßermönche, je nach der Farbe ihrer Klei-
hellten Platz in der Nachbarschaft eines Leuchtturms und einer Funk- und dung (Anm. d. Übers.).

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'Wenn hoben hatte] gebunden." Das ist nicht mehr das Herzgrab in einer Kirche.
man nicht den ganzen Leichnam konservieren konnte, begnügte
man sich mit einem seiner Elemente. Das seit langem begehrteste, das edel- Vielmehr ist das Herz hier ein Erinnerungsstück, das man mit sich herum-
sre, war das Herz, Sitz des Lebens und des Gefühls. Es gibt einen Symbolis- trägt und seinen Erben übermittelt. So werden die Herzen von La Tour
mus des Herzens, dessen erste Manifestationen in unserer Kultur die Herz- d'Auvergne und von Turenne bis auf unsere Tage in ihren Familien aufbe-
gräber sind, von denen wir schon gesprochen haben. \{enn der Leichnam wahrt.
ausgenommen wurde, wurde das Herz von den Eingeweiden getrennt, die Im neunzehnten Jahrhundert (und schon im achtzehnten) wurde das
ebenso wie das Herz ihr eigenes Begräbnis fanden. Diese Gräber haben sich Herz im allgemeinen durch die Haare ersetzt, also durch einen anderen Teil
durch Jahrhunderte erhalten; das letzte, das ich kenne, ist das von Charles des Körpers, der aber trocken und unvergänglich wie die Knochen ist. Man
Maurras, der wünschte, daß sein Herz in den Nähkasten seiner Mutter findet im Victoria and Albert Museum eine ganze Reihe von Schmuckstük-
eingeschlossen wurde ! Ein bizarrer Vunsch, würdig eines - vielleicht frei- ken, die dazu bestimmt sind, Haare aufzunehmen und zum Teil selbst aus
maurerischen - Erblassers des ausgehenden achtzehnten oder beginnenden Haaren gemacht sind: Medaillonbroschen in Form von Kameen auf einem
neunzehnten Jahrhunderts. Untergrund von Haaren, die ältesten aus den Jahren 1697,1700, 1703.
Das Herz wurde seit langem in idealisierter Form dargestellt: das Herz, Zahlreiche Armreifen aus Haaren im neunzehnten Jahrhundert. Im Mu-
das von Liebe entbrannt ist, oder das Heilige Herz Jesu. Im siebzehnten seum der Archäologischen Gesellschaft von Provins, kann man ein Anden-
und achtzehnten Jahrhundert, zu eben derZett, als der tote Körper in Eu- ken von H6g6sippe Moreau sehen, das sein Grab inmitten von Trauerwei-
ropa eine seltsame Ver{ührungskraft hat, wird in Mexiko das Herz der heili- den darstellt, die aus den Haaren des Verstorbenen gemacht sind.
gen Liebe nicht mehr in stilisierter Form dargestellt, sondern blutend, mit Die Manipulationen am Körper erweckten ebensowohl Spott wie Pietät.
aufgeschnittenen Venen und Arterien, wie auf einer farbigen Anatomieta- 1723 berichtete man nicht ohne Eindringlichkeit von einem Vorf all, der die
fel. Die Besessenheit vom Herzen tritt in Mexiko immer bei der Darstel- Präparierer der königlichen Leichen im fünfzehnten und sechzehnten Jahr-
lung des Fegefeuers in Erscheinung. §flährend bei uns im südlichen Europa hundert nicht gestört hätte: Als der Herzog von Orleans eben gestorben
die Seelen brennen und die Engel sie holen kommen, wird in Mexiko das- war, »hat man den Körper wie gewrihnlich geöffnet, bevor man ihn einbal-
selbe Bild von einer zweiten Szene verdoppelt, die sich im Himmel ab- samierte, und sein Herz in eine Schachtel legte, um es wie üblich zum Val-
spielt: das Jesuskind nimmt ein Herz, das die befreite Seele darstellt, aus de-Gräce zv rra1en.lVährend dieser öffnung befand sich im Zimmer ein
einem lVeidenkorb. dänischer Hund des Prinzen. Dieser stürzte sich, ohne daß jemand dieZeit
Die revolutionären Kulte haben ihrerseits das Thema des Herzens wie- gehabt hätte, ihn daran zu hindern, auf dasHerz des Herzogs und verzehrte
deraufgenommen. Nach dem Tod von Marat wurde sein Herz im Verlauf drei Viertel davon". (51)
eines Festes, das am 28. Juli 1793 zu seiner Ehre gegeben wurde, auf einem
Ruhealtar in ,einer wertvollen Deckelkapsel des Abstellraums« präsen-
tiert. Es ist nicht überraschend, daß das Herz ebensowenig wie die Mumie Vom Leichnam zum Leben:
im Grab geblieben und ein häuslicher und tragbarer Gegenstand geworden Der moderne Prometheus
ist. Der Marquis de Tauras, Gemahl von Mlle. de Bernis, der in Flandern
(beim Feldzug des Mar6chal de Luxembourg) tödlich verletzt wurde, "ord- Vir wollen die Erforschung der verschwommenen Velt, in der sich die
nete nun an, daß man, sobald er tot wäre, sein Herz nehme und zu seiner unterirdischen Wasser des Imaginären und die Strömungen der 'W'issen-
Frau bringe". schaft mischen, hier beenden. Aus dieser Unruhe, diesen fixen Ideen, Beob-
1792 figte man bei der Beerdigung von Mirabeau-Tonneau, dem Bruder achtungen und Betrachtungen entwickelte sich eine Vulgata, die fast überall
des großen Mirabeau, die in der Emigration stattfand, den traditionellen zu finden ist und einen trivialen Hintergrund der Kenntnisse und Glau-
Riten eine ungewöhnliche Zeremonie hinzu: "Das einbalsamierte Herz des lrensvorsteliungen bildet. Man begegnet ihr durchaus bei den Arzten des
Grafen, das in eine bleierne Schachtel gelegt wird, wird an den Schaft der echtzehnten Jahrhunderts, in den gelehrten Vorstellungen von der Natur;
Flagge des Bataillons der Freiwilligen [der Legion Mirabeau, die er ausge- eber ebenso wie man heutzutage den Einfluß der Psychoanalyse auf die

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Sitten besser ermessen kann, *'enn man Frauenzeitschriften studiert, ist es menschlichen Körpers und allgemeiner die der lebenden lWesen. Voher
für unser Vorhaben vorzuziehen, die Phänomene des Todes in den Misch- kam das Prinzip des Lebens selbst? fragte ich mich häufig." Frankenstein
formen ihrer Vulgarisierung zu erfassen. entdeckt die Beziehung wieder, die die alten Arzte zwischen dem Körper,
So waren an einem Abend des Jahres 1 816 Shelley, Byron, der Arzt Poli- dem Leben und dem Leichnam gesehen hatten. "Um die Ursachen des Le-
dori und Lewis, der Autor des Mönchs, bei einem lJnwetter am GenferSee bens zu erforschen., schreibt er, »mufl man zuerst die des Todes studie-
versammelt und dachten sich zur Verkürzung des Abends Schauerge- ren." Und der Tod, das war der Leichnam, der Leichnam, aus dem das
schichten aus. Das war der Ursprung yon Frankenstein oder der moderne Leben nicht völlig gewichen war. ,Ich lernte die Anatomie, aber das genüg-
Prornetlteusvon Mary Shelley, der 1818 veröffentlicht wurde. Die Verfasse- te nicht, ich mußte auch die Zerstörung und Zersetzung des menschlichen
rin gesteht, wie sehr man damals mit der Frage nach den Ursprüngen des Körpers beobachten. [. . .] Ich mußte Tage und Nächte zwischen den Grä-
Lebens beschäftigt war. ,Man versichert, daß er fDarwin] unter einem Glas bern und den Beinhäusern verbringen. Ich sah, wie die Fäulnis des Todes
ein Stück Fadennudel aufbewahrte, das sich nach einer bestimmten Zeit auf die Farben des Lebens folgte, ich sah, wie das Ungeziefer das Erbe
durch ein außergewöhnliches Mittel zu bewegen anfing Idie Fadenwürmer, dessen, was die §flunder der Augen und des Hirns waren, antrat." Eine
das Ungeziefer, alles was in der dunklen Tiefe der Kellerräume und der Entwicklung, die man in umgekehrter Richtung durchlaufen könnte ?
Gräber wimmelt, ist Quelle des Lebens. Es gibt einen sicheren Zusammen- Aus den Wundern der Leichen wird Frankenstein das Geheimnis des
hang zwischen Verwesung und Leben]. Vielleicht würde es gelingen, einen Lebens ziehen. Dem Leichnam ist die Erkenntnis einbeschrieben, und au-
Leichnam wieder zu beleben [ein uneingestandener Traum der alten Medi- ßerdem besteht dort noch ein Lebenselement fort. "Nach Tagen und Näch-
zin, die sich voll Unruhe {ragte, welchen Rest von Leben der Leichnam ten voller Arbeit und unglaublicher Ermüdung gelang es mir, das Geheim-
noch enthalte]. Der Galvanismus zeigte diese Möglichkeit schon an." (52) nis der Erzeugung und des Lebens zu finden; ja mehr noch, es wurde mir
Elektrizität und Verwesung haben mit dem Ursprung des Lebens zu run. möglich, die Materie zu beleben."
Jan Potocki bringt die beiden Phänomene in der Handscbrift oon Sara- Da entschloß er sich, den menschlichen Körper wiederherzustellen und
gossd zvr Sprache. "Was den Menschen und die Tiere betrifft [. . .], so ver- zu beleben.
dankten sie ihre Existenz einer Zeugungssäure, die die Materie zum Gären
"Ich nahm Knochen aus den Beinhäusern und berührte mit meinen pro-
brachte und ihr dauerhafte Formen verlieh [. . .]. Er hielt die schwammigen fanen Händen die wunderbaren Geheimnisse des menschlichen Körpers.
fsic!] Substanzen, die das feuchte Holz hervorbringt, für das Kettenglied, Die Verkstatt, wo ich diese ekelhafte Sache erschuf [ekelhaft aus zwei
das die Kristallisation der Fossilien mit der Reproduktion der Pflanzen und Gründen, wegen ihres Ursprungs aus zersetztem Fleisch, aber auch weil,
Tiere verbindet." "Man erkennt hier", fügt der Autor in einer Fußnote wie wir sehen werden, die vitale Kraft in natürlichem und rohem Zustand
hinzu, "die Ursprungssäure von Paracelsus." Soweit zur Verwesung. Und Ekel erregt], befand sich in einem abseits gelegenen Raum [. ..]. Der Saal
dies zur Elektrizität: ,Hervas wußte, daß man beobachtet hatte, wie der der Zerlegung der Leichen und die Schlachthöfe fCarpaccios Friedhof der
Blitz \üeine sauer machte und zum Gären brachte." Aus den Experimenten Mumien war ja schon menschlicher Leichenacker und Schindanger von
von Sanchuniathon schloß er, "daß die Materie des Blitzes der Zeugungs- Tieren] lieferten mir viel Material, das ich brauchte, und mich würgte oft
säure den ersten Anstoß zur Entwicklung gegeben hatte.o Hervas hatte der Ekel über das, was ich tun mußte..
dieselben Ideen wie Frankenstein. (53) Eines Tages wird das auf diese Weise wiederhergestellte leblose Ding
Frankenstein wird dann versucht sein, diese Ideen auf ein außergewöhn- durch den elektrischen Funken belebt. Ein lebendes §flesen wird aus den
liches Projekt der 'W'iedererschaffung des Seins anzuwenden. "Vielleicht zusammengefügten anatomischen Teileir geboren. Mensch oder Teufel?
würde es einem gelingen, die Elemente eines Wesens wiederherzusteilen, Ein bösartiges \(esen jedenfalls, aber das ist eine andere Geschichte. Vir
sie wieder zusammenzufügen und ihnen eine vitale lü(ärme mitzuteilen", wollen hier nur das Wunder des Sektionstischs festhalten : ein miraculurn
dank der Gärung und der Elektrizität. cadaoeris. Man ist von der unbelebten Materie zum Leben übergegangen,
Diese Untersuchung erforderte eine vertiefte Kenntnis des Körpers: weil es eine Kontinuität der Natur oder der Materie gibt, die beiden'§üörter
"Eines der Phänomene, die mich besonders anzogen, war die Struktur des sind beinahe synonym. Der atheistische Gelehrte von Potocki, Hervas,

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drückt sich wie der moderne Prometheus von Mary Shelley aus: "Er klam- gibt mehrere Möglichkeiten, um an dieser universalen Zerstörung zu parti-
mert sich an die Kräfte der Natur, wobei er der Materie eine Energie zu- zipieren. Die, zu der Sade rät, ist das Verbrechen. "Der abscheulichste Mör-
schreibt, die ihm geeignet erschien, ailes zu erklären ohne Zuflucht zur der . . . ist nur das Organ ihrer Gesetze.. Der Mord ist die zügellose und
Schöpfung zu nehmen." leidenschaftliche Durchbrechung der Verbote, er ist reine Gewalt: ,Alles,
was in der Natur heftig ist, hat immer etwas Interessantes und Sublimes."
Deshalb zeigt das Kind, das dem Naturzustand am nächsten ist, spontan
Die Sadesche Begegnung eine Grausamkeit, die die Gesellschaft noch nicht besiegt hat: "Bietet das
des Menschen und der Natur Kind uns nicht das Beispiel dieser \(ildheit, die uns umgibt? Es beweist
uns, daß sie in der Natur ist. Vir sehen es auf grausame §ü'eise seinen Vogel
In allgemeiner und banaler \{eise wird die Natur als das Gegenteil oder die erwürgen und an den Zuckungen des armen Tieres seinen Spaß haben."
Negation der sozialen, regulierenden, ordnungs- und arbeitsschaf{enden Die zerstörerische Gewalt ist eine der Charaktere der Natur und sichert
Macht des Menschen angesehen. Sie erscheint immer als zerstörerisch und ihre Kontinuität. '§üenn auch der Überschuß an Heftigkeit des Marquis de
heftig und kann bösartig sein, wobei das Maß ihrer Bösartigkeit vom Vor- Sade keine einmütige Zustimmung findet, akzeptiert doch fast jeder mehr
urteil des Menschen ihr gegenüber abhängt. oder weniger die Vorstellung dieser Kontinuität, die theoretisch den Tod
Die radikalste Haltung, die die Schädlichkeit der Natur am deutlichsten ausschließt. Der Tod, ein Begriff, der vom Menschen gehegt wird, ver-
hervorgehoben hat, ist oifensichtlich die des göttlichen Marquis. Gerade schwindet im Plan der Natur. "Der Tod ist nur eingebildet." Er sagt auch,
seine Exzesse lassen einen besser begreifen, was damais als allgemeine An- daß "es keinen Tod gibto : "Er existiert nur symbolisch und ohne ;'ede Reali-
sicht über die Natur in Geitung stand, die man für bösartig und gütig zu- tät. Die Materie, die dieses anderen sublimen Teils der Materie beraubt ist,
gleich hielt. der ihr die Bewegung mitteilte, zerstört sich deswegen nicht, sie ändert nur
Sade wirft Montesquieu vor (54), er habe die Gerechtigkeit als ewiges die Form, sie zersetzt sich." Die Bewegung hört also beim Leichnam dank
und unveränderliches Prinzip aller Zeiten und Orte aufgerichtet. "Sie hängt der Zersetzung niemals völlig auf . Sade hat nie versucht, den umgekehrten
nur von den menschlichen Lebensbedingungen, den Charakteren, den 'Weg
von der Zerstörung zur Menschheit zurückzugehen und Prometheus
Temperamenten, den moralischen Gesetzen eines Landes ab", die \(elt des zu spielen, er hat nicht genügend Interesse am Menschlichen und zieht, wie
Menschen ist der der Natur zumindest fremd, und für Sade sind sie zwei sein Testament bezeugt, die Verwandlung in andere Formen des Lebens
feindliche Welten. Die Gerechtigkeit ist einer der Versuche des Menschen, vor: "Er [der Tod] liefert der Erde die Säfte, macht sie fruchtbar und dient
sich der Natur zu widersetzen. "Ich betrachte die ungerechten Dinge als der \fliederherstellung der anderen Reiche Ider Tier- und Pflanzenwelt]."
unerläßlich zur Aufrechterhaltung des Universums, das durch eine gerech- 'l Im achtzehnten Jahrhundert werden viele sich weigern, weiter zu gehen
te Ordnung der Dinge gestört wird." "Alle Gesetze, die wir gemacht ha- und mit Sade "die seltsamen Verbindungen, die sich zwischen den physi-
ben, sei es, um die Bevölkerung zu ermutigen, sei es, um die Zerstörung zu schen Emotionen und den moralischen Verirrungen finden", anzuerken-
strafen, widersprechen notwendiger §feise all ihren eigenen [" . .]; aber im nen. Im Gegenteil, sie werden Aspekte der Kontinuität der Natur und des
Gegenteil, jedes Mal, wenn wir uns hartnäckig dieser Vermehrung, die sie l
unendlichen'Werkes der Zerstörung und der'§(iedererschaffung darlegen,
verabscheut [durch sterile Erotik], widersetzen oder wenn wir zusammen die in ihren Augen beruhigend sind. Sie werden für den Menschen eine
an den Morden, die sie erfreuen und ihr dienen, wirken [Erotik und Folter Möglichkeit erkennen, diese Kraft der Zerstörung zu beherrschen und sie
oder der gewaltsame Tod sind die beiden Mittel, die der lVelt des Menschen wohltätig zu machen, indem sie ihie Gesetze studieren und sich daran an-
und der Natur erlauben, miteinander zu kommunizieren], werden wir si- passen. Das ist die
"Natur" der Philanthropen, die der der Sade-Anhänger
cher sein, ihr zu gefallen, sicher, nach ihrer Sichtweise zu handeln." Die entgegengesetzt ist. Die eine wie die andere haben dennoch dieselbe
Natur wünscht "die völlige Vernichtung der in die §ü'elt gesetzten Vesen, Grundlage, und es gibt zahlreiche Ubergänge zwischen beiden.
um die Fähigkeit, die sie hat, neue in Umlauf zu bringen, zu genießen." Die Die Sadesche Tendenz war sicherlich verbreiteter, ais man lange geglaubt
Natur zerstört, um zu erschaffen: das ist ein Gemeinplatz geworden. Es hat, aber in schicklicheren und weniger provozierenden Formen; man fin-

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det sie in neuen Ausprägungen des Satanismus, wobei der neue Satan der von Emotionen und Einbildungen sich zu rcgen begonnen. Aber die derart
Mensch ist, der sich mit der Natur verbündet hat: so auch das monströse hervorgerufenen §(irbel haben kaum die Oberfläche der Dinge erreicht,
Geschöpf Frankensteins. Die moderne Versuchung ist eher die des über- und die Zeitgenossen haben sie nicht bemerkt. Dennoch hatte der Abstand
menschen, des Nachfolgers Satans. Für die starken Männer, die das Sade- zwischen Liebe und Tod sich schon verkleinert und die Kiinstler waren,
sche System der Natur begriffen haben, gibt es keine "legale Ordnung" ohne es zu wollen, versucht, einst unbekannte Ahnlichkeiten zwischen
mehr; alles ist ihnen erlaubt: "Ihr natürliches Ziel muß die Erfüllung ihrer i dem einen und dem andern Bereich zu evozieren.
eigenen §V'ünsche sein." (Potocki) Sie wissen, daß die Tugenden der Philan- Von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an wird ein gefährlicher
thropen nur Heuchelei sind: "Die sanfte Frömmigkeit, die kindliche Zu- wilder Kontinent ahnbar, der tatsächlich au{getaucht ist und auf diese
neigung, die brennende und zarte Liebe, die Milde der Könige sind eben- '§fleise
ins allgemeine Bewußtsein aufsteigen ließ, was bis dahin sorgfältig
falls Verfeinerungen des Egoismus." (Potocki) Die Begegnung des Men- verdrängt worden war und was sich in der Vorstellung der heftigen und
schen mit der Natur vollzieht sich hier nämlich nicht auf Cer Ebene der zerstörerischen Natur ausgedrückt hat. Das Ausmaß dieser Bewegung ist
Tugenden, sondern auf der der blinden und unsittlichen Allmacht. von G. Bataille in einem surrealistischen Klima, das ihrem Verständnis gün-
stig war, richtig erkannt und analysiert worden. Zum Schluß wollen wir
dieses große Phänomen des Imaginären interpretieren.
D e r s ch u tzw, t, *. *o:: sc h w ac h e Pu nk t e : Jahrtausende lang hatte der bomo sapiens seine Fortschritte dem §flider-
i[ il ilä iX,fffi stand, den er der Natur entgegensetzte, zu verdanken. Die Natur ist nicht
'§(elt der Ver-
eine wohlgeordnete und wohltätige Vorsehung, sondern eihe
In zwei Bereichen wirkt die Allmacht der Natur auf den Menschen:Sexua- nichtung und der Gewalt, die, auch wenn sie je nach Neigung der Philoso-
lität und Tod. Bis zum Ende des Mittelalters waren diese in unseren westli- phen als mehr oderweniger gut oder böse eingeschätzt werden kann, den-
chen Kulturen einander {remd. Diese Unvereinbarkeit ist kein christliches noch dem Menschen immer {remd, wenn nicht feindlich bleibt. Der
Phänomen: sexuelle Anspielungen sind in der griechisch-lateinischen Mensch hat also die Gesellschaft, die er errichtet hat, der Natur, die er
Grabkunst, wenn man die Etrusker ausnimmt, sehr selten. Seit dem sech- unterdrückt hat, entgegengesetzt. Die Gewalt der Natur mußte außerhalb
zehnten Jahrhundert aber haben sie sich einander genähert, bis sie Ende des des vom Menschen für die Gesellschaft vorgesehenen Gebietes gehalten
achtzehnten Jahrhunderts ein wirkliches Korpus makabrer Erotik bilde- werden. Dieses Verteidigungssystem ist durch die Schaffung von Moral
ten. Fast alles übrige, was mit dem Tod zusammenhängt, hat sich nicht und Religion, die Errichtung der Stadt und des Rechts und durch die Ein-
geändert: die Festlichkeit des Grabprunks oder die gekünstelte Einfachheit führung der Okonomie zustandegekommen und erhalten worden, dank
der Beerdigungen setzen sich fort und erweitern die Traditionen, die im der Organisation der Arbeit, der kollektiven Disziplin, und selbst der Tech-
Mittelalter entstanden sind. Die Veränderung der Kunst des guten, rechten nologie.
Sterbens durch die Meditation über die Melancholie des Lebens, die real, Dieser gegen die Natur errichtete Vall hatte zwei schwache Punkte,
aber unauffällig verläuft, springt nicht in die Augen. Die Verlegung der Liebe und Tod, wo immer ein wenig wilde Gewalt durchsickerte.
Friedhöfe, auf denen nun die Exkommunizierten und die öffentlichen Sün- Diese beiden schwachen Punkte zu schützen hat sich die Gesellschaft
der ihren Platz haben, hat sich in der Stille, ohne Skandal oder überra- sehr bemüht. Sie hat alles, was sie konnte, getan, um die Heftigkeit der
schung, vollzogen. Liebe und die Aggressivität des Todes abzuschwächen. Sie hat die Sexualität
Aber tief im Unbewußten hat sich im siebzehnten und achtzehnten Jahr- in Verbote eingeschlossen, die von einer Gesellschaft zur anderen variier-
hundert etwas Verwirrendes abgespielt: dort haben sich, ganz im Imaginä- ten, aber immer versucht haben, ihren Gebrauch einzuschränken, ihre
ren, Liebe und Tod einander genähert, bis sich ihre äußere Erscheinung Macht zu vermindern, ihre Abweichungen zu unterbinden. Sie hat außer-
verwischte. Das hat sich, wie wir gesehen haben, in zwei Etappen vollzo- dem den Tod seiner Brutalität, seiner Unschicklichkeit, seiner anstecken-
gen. Am Ende des sechzehnten Jahrhunderts und während der ersten den Virkungen beraubt, indem sie seinen individuellen Charakter zu-
Hälfte des siebzehnten, zur Zeit des Barock, hat eine noch unbekannte Welt gunsten des Fortbestandes der Gesellschaft abschwächte; indem sie ihn

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ritualisierte und aus ihm einen Übergang unter anderen Übergängen ge- vor dem siebzehnten Jahrhundert nicht wirklich gestört. Das Verteidi-
macht hat, die es in jedem Leben gibt, nur daß er ein wenig dramatischer gungssystem hielt immer noch.
war. Erst im Augenblick der großen katholischen und protestantischen Re-
Der Tod ist gezähmt worden; in dieser ursprünglichen Form sind wir formation, der großen Läuterungen des Gefühls, der Vernunft und der Mo-
ihm am Anfang dieses Buches begegnet (Kapitel 1). Es bestand also eine ral hat es begonnen, Sprünge zu bekommen.
gewisse Symmetrie zwischen den beiden §ilelten, der Gesellschaft der Men- Die Ordnung der Vernunft, der Arbeit, der Disziplin hat sich den Instan-
schen und der Natur. Sie bildeten jede ein zusammenhängendes Ganzes, z-en des Todes und der Liebe, der Agonie und des Orgasmus, der Verwe-
wobei die Fortdauer der Gesellschaft durch die Institutionen und den sung und der Fruchtbarkeit gebeugt, aber diese ersten Einbrüche geschahen
Kodex der traditionellen Morai gesichert wurde. Sie bewegten sich im glei- zunächst im Imaginären, das seinerseits den Ubergang zum Realen herbei-
chen Tempo, und es fand ein Austausch zwischen ihnen statt, der aber geführt hat.
durch den Brauch so eingeschränkt war, daß er sich nicht in einen Einbruch Durch diese beiden Pforten ist die natürliche Vildheit in die geordnete
verwandeln konnte. Velt der Menschen eingebrochen, im Augenblick, als diese im neunzehn-
Es war die Aufgabe der Feste, in periodischen Abständen die Schleusen- ten Jahrhundert sich rüstete, die Natur zu besiedeln, und die Grenzen einer
tore zu öf{nen und manchmal auch die Gewalt eindringen zu lassen. Auch technischen Besitzergreifung und einer rationalen Organisation immer
die Sexualität war ein Bereich, wo dem Instinkt, der Hingabe an Begierde weiter trieb.
und §(ollust mit großer Vorsicht ein Platz gelassen war. In manchen Zivili- Man möchte meinen, daß die Gesellschaft der Menschen in ihrer An-
sationen, wie bei den Malgachen, war der Tod der Anlaß für eine vorüber- strengung, die Natur und die Umwelt zu erobern, ihre alten Verteidigungs-
gehende Aufhebung der Verbote; in unseren westlichen und christlichen werke um Sexualität und Tod aufgegeben hat, und die Natur, die man für
Zivilisationen war die Kontrolle strenger, die Ritualisierung zwingender, besiegt halten konnte, ist iz den Menschen zurückgeströmt, durch die ver-
der Tod wurde besser überwacht. lassenen Tore eingedrungen und hat ihn wieder zum Vilden gemacht.
Auf diesem Hintergrund von Zeremoniell trat gegen Ende des Mittelal- All das ist in der Lage der Dinge zu Beginn des neunzehnten Jahrhun-
ters eine erste Veränderung im christlichen Abendland ein, zumindest bei derts noch lange nicht zur Reife gelangt, aber die Notsignale sind angezün-
seinen EIiten. Ein neues Modell erschien, das des eigenen Todes. Die Konti- det. Die Phantasmen des Marquis de Sade erscheinen als Vorzeichen der
nuität der Tradition war gebrochen. Die Tradition hatte den Tod stumpf Apokalypse. Sehr unauffällig, aber sehr wirksam hat etwas Unwiderrufli-
gemacht, damit es keinen Bruch gab. Aber im Mittelalter ist der Tod in ches in die tausendjährigen Beziehungen zwischen Mensch und Tod einge-
wachsendem Maße als Ende und Abbruch eines individuellen Lebens auf- griffen.
gefaßt worden. Die alte Kontinuität wurde durch eine Summe von Diskon-
tinuitäten ersetzt. Damals hat die Dualität von Körper und Seele begonnen,
sich an die Stelle des horno totus ztr setzen. Das überleben der Seele, das
bereits im Augenblick des Todes wirksam war, verdrängte das Zwischen-
stadium des Schlafs, dem die allgemeine Meinung langeZeit verhaftet ge-
blieben war. Seiner Seele beraubt, war der Körper nur noch Staub, der der
Natur zurückerstattet wurde. Diese Vorstellung hat jedenfalls solange
keine großen Folgen gehabt, als man der Natur nicht eine demiurgische
Persönlichkeit zuerkannte, als die sie eine Rivalin Gottes wurde.
Übrigens galt die Ersetzung der ursprünglichen Kontinuität durch eine
Reihe von biographischen Abschnitten noch nicht universell, und das alte
Modell des gezähmten Todes bestand weiter. Deshalb war das Verhältnis
zwischen der Ordnung des Menschlichen und der Unordnung der Natur

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Et au bout d.e tois jours
La belle ressuscite,
Ouarez, ouorez, mon pire,
Ouvrez sans plus tarder.
Trois jours i'ai t'ait la morte
Pour mon bonneur garder.

9.Der Scheintote Niemand drückt irgendeine Angst über diese drei Tage unter dem wei-
ßen Rosenstrauch aus. Die Angst ist aber gerade das wesentliche Merkmal
des vom Scheintod hervorgerufenen Gefühls. Die Unruhe kommt zum er-
Der Scheintod sten Mal gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in den Testamenten
zum Ausdruck. Eine Anekdote erlaubt, ihre Erscheinung ungefähr zu da-
Im Verlauf des vorhergehenden Kapitels haben wir gezeigt, welches Zwie- tieren: in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts war ein friesischer Stu-
licht Kunst, Literatur, Medizin im siebzehnten und achtzehnten Jahrhun- dent auf dem Friedhof von Saint-Sulpice beerdigt worden. Sein Bildnis als
dert um das Leben, den Tod und deren Grenzen aufrechterhalten haben. gisant, zwei{ellos auf den Ellenbogen gestützt, hatte einen Arm verloren.
Der Lebend-Tote ist vom barocken Theater bis zum schwarzen Roman ein Im siebzehnten Jahrhundert vergaß man, daß dieser Arm zerbrochen war,
siändiges Thema geworden. und glaubte, daß die Verstümmelung auf dem herausragenden Teil des Gra-
Dieses seltsame Thema ist nun nicht auf die irreale Velt der Einbildung bes ein unterirdisches Drama widerspiegelte. Sauval berichtet, daß der Er-
beschränkt geblieben. Es ist ins tägliche Leben eingedrungen, und wir fin- zieher des jungen Mannes, der im Augenblick seines Todes abwesend war,
den es in Gestalt des Scheintodes wieder. 1876 schrieb ein Arzt, daß sich bei ihn bei seiner Rückkehr ausgraben ließ und man dabei feststellte, daß der
der Vorstellung, lebend beerdigt zu werden und tief unren im Grab wieder Leichnam seinen eigenen Arm verschlungen hatte. Der Fall ist in der medi-
zu erwachen, eine "allggrngine Panik" der Gemüter bemächtigt habe. Er zinischen Literatur klassisch, aber zur Zeit Sauvals wurde er darauf zurück-
übertrieb nicht. (1) geführt, daß man einen Lebenden begraben hatte. (2)
Man darf jedenfalls den Scheintod nicht mit dem Todesschlaf der Jung- Aber erst in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, gegen I 740,
frau Maria vor ihrer Himmelfahrt, dem Schlaf von Barbarossa oder Dorn- nahmen sich die Arzte dieser Frage an, urn auf eine der ernsten Gefahren
röschen verwechseln. Das Mädchen im Lied, das drei Räuberhauptleute der Epoche hinzuweisen.
entführt haben, um es zu vergewaltigen, ist tot umgefallen.

La belle tomba rnorte


Die Arzte um 1740. Das Anwachsen der Furcht
Pour ne plus revenir.

Eine reiche Spezialliteratur griff damals die alten Tatsachen wieder auf - die
Aber die Räuberhauptleute srürzen sich nicht auf ihren unbeseelten Vunder der Leichen, die in den Gräbern gehörten Schreie, die fressenden
.W'eh
Leib: und ach, meine Liebste ist tot, was werden wir mit ihr tun ? Es Leichname -, um sie im Licht dessen, was man über den Scheintod wußte,
gibt keinen anderen'§(/eg, als sie zum Schloß ihres Vaters unrer den weißen neu zu interpretieren. Schon lange, so dachte man nun, fürchtete man den
Rosenstrauch zurückzutragen :
Scheintod, und die antike Veisheit mahnte zur Vorsicht. Die Totenvereh-
rung, die Grabriten waren in Virklichkeit nur Vorsichtsmaßnahmen, um

Et au boat... Und nach d,reiTagen/ Vacht die Schöne wieder auf,/ Öffner, ö{fnet, lieber
La belle... Die Schöne fiel tot nieder/ Und kehrte nicht mehr zurück
tot/ Zu retten meine Ehr.
Vater mein,/ Öffnet und zaudert nicht./ Drei Tag lag ich wie

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505
vorzeitige Beerdigungen zu verhindern: nicht nur die conclamatio - die Gelegentlich kam auch der Humor zu seinem Recht, und sogar in so
dreimal mit lauter Stimme wiederholte Anrufung des Namens des mut- schweren Fällen wie dem folgenden: "Ledran hat Louis, einem Arzt, der
maßlich Verstorbenen -, sondern auch die Sitte, den Leichnam auszu- sich für dasselbe Problem interessierte, berichtet, daß der selige M. Cheva-
schmücken, auszustellen, die Trauerbekundung, deren Geräusch auch den lier, Chirurg in Paris, von einer Art Schlafkrankheit befallen wurde, bei der
Scheintoten wieder erwecken konnte, der Brauch, das Gesicht entblößt zu er kein Zeichen von Empfindung gab; man hatte ihn auf al.le Arten heftig
lassen, die Frist von mehreren Tagen, die man vor der Einäscherung ver- bewegt und geschüttelt, doch ohne Erfolg. Man hatte ihn utnsonst mit sehr
streichen ließ usf. lauter Stimme beim Namen gerufenldie conchmatio]; jemand, der ihn als
Manche von diesen Gebräuchen bestanden noch in der Epoche, in der großen Piquetspieler kannte, kam auf den Gedanken, ziemlich lebhaft die
Bruhier und \üislaw schrieben. Sie bemerkten, daß die Bestattungen von 'Worte: finf (quinte), vierzehn (quatorze) und Punkt (le point) auszuspre-
Demonstrationen von Klageweibern begleitet wurden, und nicht nur im chen. Der Kranke war davon so beeindruckt, daß er im selben Augenblick
mediterranen Süden, sie hatten sie auch in der Picardie gesehen. §7irkönn- aus seiner Lethargie aufwachte." (5) Tatsächlich ist dieser Bericht vielleicht
ten hinzufügen, daß die conchmatio noch zur Zeit Tolstois gebräuchlich weniger humorvoll, als man annehmen möchte, denn alles, was das Spiel
war: dreimal rief ihn der Arzt in dem Bahnhof an, wo er in der Agonie lag. betrifft, ist ernsr für die Spieler !
Noch heute verlangt das Protokoll der Kirche, daß der Papst auf seinem Vieviel Male hat man nichts gemerkt und in \Tirklichkeit einen Leben-
Totenbett dreimal bei seinem Taufnamen gerufen wird. den beerdigt ? Zuiälle haben manchmal erlaubt, zur rechten Zeit zu kom-
Unter dem Druck der Kirche sei man aiso von diesen Vorkehrungen der men und den Unglücklichen, der in seinem Sarg eingeschlossen war, zu
antiken W'eisheit abgekommen, und dies ist vielleicht das erste Mal, daß die retten.
Kirche gezwungen v/ar, der zu Ende des Jahrhunderts häufigen Anklage Das, was nun folgt, ist nicht die Beobachtung eines Arztes, sondern eine
einer zu {reien Haltung gegenüber dem toten Körper entgegenzutreten. Anekdote, die von einer Art Schmierenjournalist, der den Skandal, das
"Durch welches Verhängnis sind so weise Vorsichtsmaßnahmen wie die der Leichte und Makabre liebte, erzählt wurde. In Toulouse starb ein Pilger von
Römer im Christentum gänzlich vernachlässigt worden ?" (3) Vislaw, der Saint-Sernin "in dem '§üirtshaus, in dem er abgestieBen war". Man führt ihn
Verfasser dieser Zeilen, hatte gute Gründe, sich zu beklagen und wußte, zur Kirche von Dalbade: "Der Tote wurde in dieser Kirche aufbewahrt bis
wovon er sprach, war er doch selbst zweimal in seiner Kindheit und Jugend nt der Zeir, die für die Beerdigung vorgesehen war. Am nächsten Tag
allzu eiligen Arzten und Totengräbern entkommen. glaubte eine fromme Betschwester, die in derselben Kapelle ihre Gebete
Die mangelnde Vorsicht, die Nachlässigkeit der Autoritäten, die die Be- hersagte [einer Kapelle der Ordensbruderschaft, die mit den Beerdigungen
stattungen verwalteten, das heißt des Klerus, führten zu wohlbekannten, beau{tragt war], in dem Sarg eine Bewegung zu hören und lief ganz ent-
manchmal zeitgenössischen Dramen, von denen die Autoren so berichten, setzt, um die Priester zu rufen. Zuerst hielt man sie für eine Phantastin, aber
wie einst Garmann von den Wundern der Toten. da sie darauf bestand, daß sie etwas gehört habe, öffnete man den Sarg und
Es gibt verschiedene Fälle. Die weniger schweren Fäile sind die, in denen fand den angeblich Toten noch lebend. Er machte ein Zeichen und man
das "'Wiederaufwachen" während des Transports der Leiche stattfindet: die begriff, daß er wollte, daß man sich seiner annahm. Es geschah. Aber alle
Tochter eines Handwerkers, "die zum Hötel-Dieu gebracht und für tot Hilfeleistungen, die man ihm angedeihen ließ, waren vergebens, und er ver-
erklärt worden war [. . .], grb glücklicherweise in der Zeit, während sie auf schied kurze Zeit danach. Das habe ich vor noch nicht zwei'§V'ochen gese-
der Bahre lag, mit der man sie zu ihrem Grab trug, ein Lebenszeicheno; hen, und mich schaudert, wenn ich daran denke. Denn ich stellte mir vor,
"ein Lastträger, der in der Rue des Lavendiers wohnt, wird krank und zum daß man o{t noch lebende Personen begräbt, und ich gestehe, daß ich gern
Hötel-Dieu gebracht. Da man ihn für tot hält, transportiert man ihn mit auf ein derartiges Schicksal verzichte." (6)
anderen Toten desselben Krankenhauses nach Clamart und wirft ihn zu- Kommen wir auf die Geschichten der Arzte zurück:
"P. Le Cler, vor-
sammen mit diesen in die Grube. Um 1l Uhr nachts kommt er wieder zu mals Oberstudiendirektor des Collöge Louis-le-Grand, [. . .] erzählt denen,
sich, zerreißt sein Leichentuch, klopft an die Loge des Pförtners, der ihm die ihm zuhören wollen, mit Vorliebe, daß nach dem Begräbnis der Schwe-
die Tür öffnet und geht nach Hause." (4) ster der ersten Frau seines Vaters, die mit einem Ring am Finger auf dem

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öffentlichen Friedhof von 0116ans beerdigt worden war, ein Bedienter, an- 1743 :
"Daß man sie, sobald der Tod eintritt, zwölf Stunden in den Klei-
gelockt von der Hoffnung auf BereicherunB, den Sarg freilegte, ihn öffnete dern, die sie anhaben wird, im Bett und vierundzwanzig Stunden danach
und, da es ihm nicht gelang, den Ring vom Finger abzuziehen, den Ent- auf dem Stroh lasse.o
schluß faßte, den Finger abzuschneiden. Durch die heftige Erschütterung, 1777 | "lch möchte 48 Stunden nach meinem Verscheiden beerdigt wer-
die die Verwundung in ihren Nerven hervorrief, kam die Frau wieder zu den, und man lasse mich während dieser Zeit in meinem Bett."
sich, und ein lauter Schrei, den ihr der Schmerz entriß, entsetzte den Dieb Die letzte Vorsichtsmaßnahme ist die Schröpiung. Sie ist seltener, wird
derart, daß er floh. Die Frau aber befreite sich, so gut sie konnte, aus dem aber am Ende des achtzehnten Jahrhunderts häufiger : E lisabeth d'Orl6ans
Leichentuch . . . sie kehrte nach Hause zurück und überlebte ihren Gatten", schreibt 7696 vor : "Daß man mir vorher zwei Hiebe mit der Rasierklinge
nachdem sie ihm einen Erben geschenkt hatte. (7) auf die Fußsohlen gebe." 1790 bedingt sich eine Bürgerin von Saint-Ger-
Diese Geschichten gehen in der Stadt und am Hof um. "Man darf also", main-en-Laye aus: "Ich will, daß meine Leiche 48 Stunden in demselben
wie unsere Arz-te von 1743 bemerken, ,nicht erstaunt sein über die Vorkeh- Zustand, in dem sie sich im Augenblick meines Todes befindet, in meinem
rungen, die einige Leute getroffen haben, um in ihrem Testament zu verbie- Bett bleibt, und daß man mir nach dieser Zeit mit der Lanzette auf die
ten, daß man sie, ehe 48 Stunden um sind, in den Sarg legt, wenigstens nicht, Fersen schlage." (8)
ohne daß man mit Eisen und Feuer verschiedene Proben an ihnen vorge-
nommen hat, um eine größere Gewißheit über ihren Tod zu erlangen."
Ausläufer im 19. Jahrhundert
Die Vorsichtsmaßnahmen der Erblasser
Die Außerungen von unruhe hörten während der ganzen ersten Hälfte des
In der Tat werden, wie wir schon gesehen haben, von ungefähr 1660 an neunzehnten Jahrhunderts nicht auf, auch wenn in Testamenten, die zu-
derartige Vorsichtsmaßnahmen in den Testamenten häufig und zeugen rückhaltender geworden sind, die Anspielungen seltener werden. So in dem
mehr noch als die Beobachtungen der Arzte von einer zumindest in der Testament von Mathieu Mol6, das 1855 in altmodischer Veise, nämlich als
gelehrten Elite sehr verbreiteten Unruhe. Das älteste Testament aus meiner ein "schönes Testament. verfaßt wurde: "Ich will, daß man sich durch
Sammlung, das diese Sorge ausdrückt, stammt aus dem Jahre 1662: "Daß Schröpfen und alle Mittel, die man in einem derartigen Fall verwendet,
meine Leiche 36 Stunden nach meinem Tode bestattet werde, aber nicht meines Todes versichert, bevor man mich beerdigt." (8)
früher." (8) Dann 1669: "Daß die Leichen bis zum Tage nach ihrem Ver- Man kann sich vorstellen, wie drohend die zweihundert Jahre alte
scheiden aufbewahrt werden." Zwangsvorstellung noch war, wenn man die Rede liest, die am 28. Februar
Das ist die erste Vorsichtsmaßnahme, die am weitesten verbreitet ist: sich 1866 von Kardinal Donnet, dem Erzbischof von Bordeaux, vor dem Senat
einen bestimmten Aufschub vor der Beerdigung sichern. des französischen Reichs gehalten wurde (von demselben Prälaten, der
Im allgemeinen beträgt er ein- oder zweimal 24 Stunden. Es kommt vor, seine Diözese mit neugotischen Kirchtürmen übersät hat, bis man über ihn
daß er länger ist. Eine Erblasserin von 1768, eine adlige Frau, will, "daß spottete, er verwandle sie in einen Igel):
nach meinem Hinscheiden mein Leichnam drei Täge langaufbewahrt wird, "Ich habe selbst in einem Dorf, in dem ich zu Beginn meiner Laufbahn
bevor er bestattet wird." Drei Tage ohne Mittel der Konservierung, das als Seelenhirte den Gottesdienst versehen habe, zwei Bestattungen von le-
konnte lang sein! (8) benden Personen verhindert: Die eine von ihnen lebte noch zwölf Stunden,
Die zweite Vorsichtsmaßnahme ist, daß man während einer bestimmten die andere kehrte ganz ins Leben zurück. [. . .] Später in Bordeaux galt eine
Zeit oder sogar für immer so gelassen wird, ohne berührt noch an- oder junge Frau als tot; als ich bei ihr ankam, schickte sich der Krankenwärter
ausgezogen noch gewaschen, vor allem natürlich nicht geöffnet zu werden; an, ihr Gesicht zu bedecken [die von allen Gegnern der überstürzten Beer-
1690: "Daß man mich zweimal 24 Stunden im selben Bett, wo ich sterben digung angeklagte Geste]. [. . .] Sie hat dann noch geheiratet und ist Mutter
werde, lasse, daß man mich in denselben Bettüchern ohne mich oder irgend geworden."
etwas sonst zu berühren, bestatte." (8) Hier aber noch ein Bericht, der persönlicher und erstaunlicher ist. Man

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kann sich den Schauder vorstellen, der die Versammlung durchfuhr, und terbuches der medizinischen §üissenschaften in 60 Bänden, das dem Tod
dieses denkwürdige Ereignis blieb in Bordeaux noch lange in Erinnerung. noch einen großen Platz einräumt: "selten werden die Arzte gerufen, um
Meine Mutter, die in dieser Stadt aufgewachsen war, hat es mir einst er- den Tod festzusteilen, diese wichtige Sorge wird gedungenen Helfern oder
zähk: "1826 bricht ein junger Priester mitten in der überfüllten Kathedrale Individuen, die völlig frei von der Kenntnis der menschlichen Physis sind,
plötzlich auf der Kanzel zusammen. [. . .] Ein Arzt bestätigt den Eintritt des überlassen. Ein Arzt, der einen Kranken nicht retten kann, vermeidet, sich
Todes und gibt die Genehmigung zur Beerdigung für den nächsten Tag. Der bei ihm einzufinden, nachdem er den letzten Seufzer ausgestoßen hat, und
Bischof der Kathedrale, in der das Ereignis sich abgespielt hatte, rezitierte alle praktischen Arzte scheinen von diesem Axiom eines großen Philoso-
schon das De prof undk am Fuß des Totenbettes, und man hatte die Größe phen durchdrungen: es gehört sich nicht, daß ein Arzt einen Toten besu-
des Sarges ausgemessen. Die Nacht rückte heran, und man begreift die che.., (10)
Angste des jungen Priesters, der das Geräusch all dieser Vorbereitungen Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte man auch die Institution
wahrnahm. Endlich hört er die Stimme eines seiner J,rgendfreunde [wie die der "Abstellräume" (lieux de döp6t),wo die Leichen unter Aufsicht bis zum
Ausdrücke aus dem Spiel bei dem Arzt aus dem achtzehnten Jahrhundert in Beginn der Verwesung blieben, damit man des Todes auch ganz sicher sein
der Anekdote von Louis], und diese Stimme, die bei ihm eine übermensch- konnte. Das Projekt wurde in Frankreich nicht verwirklicht, aber in
liche Anstrengung hervorrief, führte ein wunderbares Ergebnis herbei." Deutschland. Die ersten funeral bomeswtrden vitae dubiae azilia, Asyle
Die Rückkehr ins Leben war schnell und vollständig, da "er am nächsten des zweifelhaften Lebens genannt, oder, was weniger freundlich ist, obitu-
Tag wieder auf seiner Kanzel erscheinen konnte. Er ist heute unter ihnen." aires,Leichenhäuser. 1791 gab es welche in §fleimar, 1797 inBerlin, 1803 in
Es war der Kardinal selbst, dem dieses Abenteuer begegnet war, als er ein Mainz, 1818 in München. Eines von ihnen bildet den Rahmen einer Novel-
junger Priester war. Meine Mutter fügte hinzu, daß damals seine Haare le von Mark Twain, der die makabren Berichte liebte. Die Arme der dort
weiß geworden seien. Ausgestellten waren mit Klingeln verbunden, die auf jede ungewöhnliche
Diese mächtige Zwangsvorstellung war der Ursprung der Maßnahmen, Bewegung reagierten !

die bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts zur Kontrolle der Beerdi-
gungen getroffen wurden. §ü'ir wären heute in Versuchung, sie der Vorsorge Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts:
einer tüchtigen Polizei anzuvertrauen, dem Bedürfnis, die Morde aufzu- Beruhigung und Ungläubigkeit der Arzte
decken und ihre Vertuschung zu verhindern. Doch ist es vor allem die
Furcht vor vorzeitiger Beerdigung, die diese Maßnahmen hervorgerufen Gesetzliche Anordnungen wurden getroffen, um der allgemeinen Unruhe
hat. Schon die Bischöfe hatten im achtzehnten Jahrhundert einen Aufschub entgegenzutreten, und zwar in dem Augenblick, als diese sich zu beruhigen
von 24 Stunden gefordert, der dem von den Testataren im allgemeinen vor- begann. Der Kardinal Donnet kam schon verspätet: deswegen hatte man
geschriebenen entsprach: man lief nicht mehr Gefahr, einige Stunden nach ihn nicht abgehorchtl Die Arzte seiner Zeit bestritten die Realität des
dem Verscheiden abtransportiert zu werden, wie das früher geschehen war. Scheintodes, die Gefahr der vorzeitigen Beerdigung mit einer Autorität
Bruhier schlug 1743 die Institutionalisierung von Aufsehern für die Toten und Sicherheit, die denen ihrer Vorgänger glichen, als diese ein Jahrhundert
vor.1792 verlangte man, daß das Verscheiden von zwei Zeugen beglaubigt zuvor im Gegenteil Alarm gegeben und Entsetzen verbreitet hatten. Die
wurde. Ein Erlaß vom 21. Vend6miaire (12. Oktober) des Jahres IX gibt Umkehrung hat sich in beiden Fällen im Namen der positiven Wissenschaft
folgende Ratschläge: "Die Personen, die sich im Augenblick seines mut- gegen überalterten Aberglauben vollzogen.
maßlichen Verscheidens bei einem Kranken befinden, werden in Zukunft Im Artikel "Tod" bringt ein Dictionnaire encyclopödique des Sciences
vermeiden, ihm das Gesicht zu bedecken und zu verhüllen, ihn aus seinem mödicales, das 1876 erschien, einen historischen Uberblick über die Frage.
Bett bringen zu lassen, um ihn auf eine Matratze aus Stroh und Roßhaar zu Die wunderbaren Geschichten aus De miraculis cadaverum wurden noch
legen und ihn einer zu kaiten Luft auszusetzen." (9) von der Generation der Arzte um 1740 ernst genommen, mit der Ein-
Es schien, daß man einen Widerwillen der Arzte besiegen mußte, um sie schränkung, daß man sie als Fälle von Scheintod behandelte. (1 1) 1876 wer-
zu zwingen, den Tod festzustellen. 1 8 1 8 schreibt der Verfasser eines '§(ör- den sie als völlig unwichtiger Klatsch abgetan. Obwohl es immer noch Fälle

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von rViederbelebung gab, "verdankt die Frage des Scheintodes ihre ganze Und es ist eine Tatsache, daß die Geschichten über den Scheintod immer
Popularität hauptsächlich den 1,740 von Wislaw, 1742 von Bruhier gegebe- seltener werden, und selbst, wenn es heutzutage geschieht, daß ein Toter im
nen Impulsen". Diese medizingeschichtlich interessierten Arzte unter- Leichenschauhaus eines Krankenhauses erwacht, ruft dieser Vor{all keine
schieden zwei große Schübe dieser Zwangsvorstellung, der eine um 1740, Emotionen mehr hervor. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts hat der
der andere um 1770-80, wobei dieser letztere mit der Kampagne für die Scheintod seine zwanghafte Macht, seine Faszination verlore n. Man glaubt
Verlegung der Friedhöfe außerhalb der Städte zusammenfiel, da dieselben nicht mehr an diese Form von Lebend-Toten.
Persönlichkeiten an beiden Vorgängen teilnahmen (Kap. 11). Aber all dies
ist in den Augen der Arzte vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht
ernst zu nehmen. "Kein Teil der medizinischen Literatur ist reicher als der, Die Arzte und derTod
der den Scheintod betrifft. Dieser Reichtum ist häufig steril." Es ist Sache
der Arzte des achtzehnten Jahrhunderts, gegenüber dem Gerede und der So wird also die unbewegliche Oberfläche der tatsächlichez Haltungen ge-
Leichtgläubigkeit mißtrauisch zu sein: "Denn die §Tissenschaft ist über- genüber dem Tod im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert von einer
füllt mit Fakten, die kritiklos angehäuft worden, mit Berichten, die von Art Aufstand bewegt. Eine fürchterliche Drohung taucht auf ; dann
Phantasie oder Angst eingegeben worden sind. " Off ensichtlich ist das auch schwächt sie sich nach zwei Jahrhunderten ab und verschwindet. Diese
der Fall bei den Geschichten von Bruhier und seinen Zeitgenossen. "Zum monströse Anomalie ist zweifeflos die erste Außerung der großen Angst
rVunderglauben kommt oft das eitle Bedürinis, die Offentlichkeit in Auf- vor dem Tod. Sie ist damals nicht so sehr durch die Künste der Evasion und
ruhr zu versetzen. Die Irreführung nimmt in der Geschichte des Scheinto- der Illusion ausgewertet worden, wie es gewöhnlich der Fall ist, wenn eine
des einen großen Raum ein.. Das heißt soviel wie, daß der Scheintod ein umfassende Unruhe sich des allgemeinen Bewußtseins bemächtigt: jenseits
Scheinproblem ist. eines bestimmten Ernstes schweigt man immer. Die Gesellschaft hat den
Bauchot, ein anderer Arzt, kritisiert seinerseits in einem Buch von 1883 Scheintod aus dem Spiegel, in dem sie ihre Phantasmen hätschelte, ver-
(12) Bruhier, Vicq d'Azyr und die Arzte des achtzehnten Jahrhunderts, da trieben.
sie behauptet hatten, daß die Grablegungssitten der alten Völker von der Erfassen wir diese Zwangsvorstellung lieber aus der Sicht der Arzte. Sie
"Furcht, lebend begraben zu werdeno inspiriert seien: Abergläubische, die sind die neuen Medien, die die psychologischen Kodes ihr er Zeit entziffern.
andere vom Aberglauben Besessene denunzieren I 1 883 wissen aufgeklärte \üie wir gesehen haben, gab es drei Generationen von Arzten, die sich für
Arzte genau, daß diese Sitten "vom'§ü'under- und Abergiauben hervorge- den Scheintod interessierten, die Arzte im sechzehnten und siebzehnten,
bracht und vom Hochmut am Leben erhalten werden.. Sie zeugen "viel die im achtzehnten und die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.
eher von der Form der religiösen Glaubensvorstellungen und vom [sehr Die Arzte am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, die unsere heutige
niedrigen l] Zivilisationsgrad der Völker als von ihrer Furcht, lebend begra- Sprache sprachen, wiesen den Gedanken, daß der Scheintod eine wirkliche
ben zu werden." Sicherlich hat "diese Furcht in der Öffentlichkeit und in Geiahr dargestellt habe, als Aberglauben ohne experimentelle Grundlage,
der \(issenschaf.tlangeZeitgeherrscht", in einer\Iissenschaft, die von Phi- ohne wissenschaftlichen \flert zurück. Sie legten eine Leidenschaft, die uns
losophien überschwemmt war: "denn die Doktrin von der Unsicherheit überrascht, hinein; die Debatte über den Scheintod stellte nämlich die Exi-
der Anzeichen des Todes und der Glaube an die Bestattungsgeschichten stenz der Todeszeit als eines echten Mischzustandes in Frage; sie wollten
haben fast immer in einigen Gemütern, sogar wissenschaftlichen, vorge- nicht einräumen, daß es eine derartige Mischung von Leben und Tod geben
herrscht. Es ist eine ziemlich allgemeine Furcht, die man berücksichtigen sollte. Es handelte sich entweder ganz um das eine oder um das andere. Der
mu[3", aber um sie besser zu entdämon;sieren. "Ich versichere, daß die ge- Tod hatte nicht mehr Dauer als der geometrische Punkt Dichte oder Stärke.
ringste Au{merksamkeit dem Arzt immer genügen wird, um den Tod im Er war nur ein doppeldeutiges \ffort der natürlichen Sprache, das man aus
selben Augenblick, wo er eingetreten ist, zu erkennen." Ich führe in diesem der eindeutigen Sprache der tü(/issenschaft verbannen mußte, um den Still-
Buch die Früchte von 35 Studienjahren an: "ein gültiges Unterp{and für das stand der Maschine, der einfache Negativität bedeutete, zu bezeichnen. Die
sichere Vissen über die Bestattungen." Auffassung des Todes als Zustand brachte die Arzte auf.

512 513
Für die Arzte der beiden anderen Generationen, die des sechzehnten und tät und denselben leidenschaftlichen \Villen zur Entmythologisierung. Das
siebzehnten Jahrhunderts und [ür die des achtzehnten Jahrhunderts, war heißt, daß es sich nicht um irgendeine Krankheit, und sei sie so ernst wie die
der Tod dagegen ein Zustand, dem gleichzeitig etwas vom Leben und etwas Pest, handelt, über die man von nun an mit der Kälte, der Distanz des
vom Tode innewohnte. Der Tod wurde erst später real und absolut, nämlich Vissenschaftlers sprechen kann, es handelt sich um etwas Zusätzliches, das
im Augenblick der Verwesung. Indem man die Verwesung verzögerte, zö- Angst einflößt und das es zu entdämonisieren gilt.
gerte man deshalb den absoluten Tod hinaus. Die Einbalsamierung, die
Konservierung erlaubten es, diese Zeit des Todeszustandes, wo noch ein
wenig Leben blieb, zu verlängern. Die Ursprünge der Großen Angst
Der Unterschied zwischen diesen beiden Generationen besteht darin, ob vor dem Tod
sie im Todeszustand das Leben oder den Tod vorherrschen sehen: für den
Arzt des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts begann die Zeit des In der Nähe der Schleusentore, durch die die Unordnung der Natur in den
Todeslebens im Augenblick des Scheintodes und setzte sich im Leichnam vernünftigen Bezirk der Menschen einzudringen droht, verlieren die Arzte
oder der Mumie fort. Es gab kaum (außer bei Zufall, Verstellung, Einnahme ihre Kaltblütigkeit. Unter den ungewohnten und wilden Formen, die sie
eines Schlaftrunks oder im Zauberschlaf) ein Ubergreifen des Todes auf das mit der Uberzeugung und der Autorität des Spähers denunzieren, entdek-
Leben, sondern im Gegenteil ein Übergreifen des Lebens auf den Tod. Da- ken sie Sexualität und Tod: das einsame Laster und den "Schla{"-Zustand.
her die Leichen, die bluten, beißen, schwitzen, und bei denen Bart, Haare, In beiden Fällen fühlt man bei diesen Männern der'§(i'issenschaft und Auf-
Nägel und Zähne weiterwachsen. klärung die Angst vor der Sexualität aufsteigen - doch diese wollen wir bei
Für die Arzte des achtzehnten Jahrhunderts sind die so beobachteten unserer Analyse auslassen - und die Angst vor dem Tod, die wahre Angst.
Phänomene nicht immer absurd, es ist ihre überkommene Interpretation, Denn bis dahin, wage ich zu sagen, haben die Menschen, wie wir sie in der
die als dumm erscheint. Das Übergreifen spielt sich ihrer Meinung nach in Geschichte ausmachen, niemals wirklich Angst vor dem Tod gehabt. Si-
umgekehrter Richtung ab, vom Tod auf das Leben. Der Anschein des Todes cherlich fürchteten sie ihn, empfanden sie etwas Angst vor ihm und sagten
nistet sich schon während des Lebens ein. So ersetzen in der Literatur die es auch ruhig. Aber gerade diese Angst überschritt niemals die Schwelle des
Anzeichen des Scheintodes die \Wunder der Toten. Unsagbaren, des Unausdrückbaren. Sie wurde in befriedende'§ü'orte über-
Der wurde mit der gleichen existenziellen Bestürzung besetzt, welche setzt und in vertrauten Riten kanalisiert.
die '§funder der Leichen hervorriefen. Diese beiden Formen der Unruhe, Der Mensch von einst machte Aufhebens vom Tod; der war eine ernste
die alte und die neue, vereinen sich in der makabren Erotik: den Grabsze- Angelegenheit, die man nicht leichtfertig behandeln durfte, ein starker, ge-
nen, den Küssen der Mumien im französischen oder elisabethanischen Ba- wichtiger und fürchterlicher Augenblick des Lebens, aber nicht so furcht-
rocktheater und andererseits der Nekrophilie der medizinisch-sadeschen bar, daß man ihn hätte beiseiteschieben, ihn fliehen, so hätte tun, als ob er
Erzählungen. Das Thema des Scheintodes hat auch einen sexuellen Aspekt. nicht existierte, oder gar seine Erscheinungsform verfälschen müssen.
rü/as die Mäßigung der Gefühle von einst angesichts des Todes noch bes-
Abgesehen von dem, was hier und im vorhergehenden Kapitel gesagt wor-
den ist, kann man nicht umhin, von der Symmetrie der beiden ärztlichen ser zeigt, aber auch, wie wenig sie Gefahr liefen, in Panik auszuarten, ist das
Diskurse im achtzehnten Jahrhundert betroffen zu sein, nämlich des Dis- Fehlen von Skrupeln bei den Geistlichen, den Keim derdamit verbundenen
kurses über den Scheintod und des Diskurses über die Masturbation. Man Angst auszunützen, um den Tod aufzublähen und in einen Gegenstand des
kennt den Raum, den die Masturbation in einer medizinischen Literatur Entsetzens zu verwandeln. Sie haben alles getan, um Angst zu machen:
einnimmt, die darin die Ursache aller Arten von physischen, moralischen, alles, außer dem, was die Geiahr mit sich brachte, ntrYerzwetflung, der
sozialen Übeln sah. Ebenso war der Scheintod bei anderen zeitgenössi- schwersten aller Versuchungen, zu führen. Gestehen wir es ein: keine Ge-
schen Arzten die Grundlage und die Rechtfertigung der Religionen sowie sellschaft hätte diesem pathetischen Aufruf zum Entsetzen, dieser apoka-
die Ursache zahlreicher Dramen geworden. Im einen wie im andern Falle lyptischen Drohung widerstanden, wenn sie sie wirklich zugelassen und
erkennen wir die gleiche Hervorkehrung von wissenschaftlicher Obiektivi- integriert hätte. Aber die abendländische Gesellschaft hat sich etwas davon

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angeeignet und etwas anderes beiseite gelassen, und die strengsten Morali- Es ist seltsam, daß diese Angst in der Epoche entstanden ist, in der sich
sten wußten und berücksichtigten das, wenn sie die Dosis übertrieben. etq/as an der alten Vertrautheit des Menschen mit dem Tod geändert zu
Die Gesellschaft hat das übernommen, was durch die schrecklichen Bil- haben scheint. Der Ernst des Gefühls für den Tod, der Hand in Hand mit
der hindurch ihrer kollektiven und geheimen Vorstellung vom Tod ent- der Vertrautheit bestanden hatte, ist seinerseits betrof{en: man spielt per-
sprach, die auch die Geistlichen spontan fühlten und in ihrer'W'eise zum verse Spiele mit dem Tod bis zu der Steigerung, mit ihm zu schlafen. Zwi-
Ausdruck brachten. Sie liebte in dieser in Virklichkeit populären und nicht schen ihm und der Sexualität hat sich eine Beziehung ergeben, deshalb fas-
nur mit Gewalt aufoktroyierten Literatur über die letzten Dinge die von ziniert und verfolgt er einen wie die Sexualität: Zeichen einer {undamenta-
der Kirche gewährte Linderung, aber auch das Gefühl, daß dort jeder seine len Angst, die keinen Namen findet. So wird sie in die mehr oder weniger
Identität, seine Geschichte und deren melancholische Kürze widergespie- verbotene \ü7elt der Träume, der Phantasmen abgedrängt, und es gelingt ihr
gelt fand. nicht, die alte und gesicherte Welt der Riten und wirklichen Bräuche zu
Dafür hat die Schreckensherrschaft sie aufgegeben oder sie entwaf{net. erschüttern. Als die Angst vor dem Tod auftauchte, blieb sie zunächst dort
Deshalb blieb diese eher ein didaktisches Spektakel, das einige Konversio- eingeschlossen, wo die Liebe so lange geschützt und abgeschieden gehalten
nen hervorgerufen, und unter der Elite der Streitbaren Proselyten und Be- worden war und woher einzig die Dichter, Romanschriftsteller und Künst-
rufene gefunden hat. Diese Schreckensherrschaft hat auch manche hinters ler sie hervorzuholen wagten: im Imaginären.
Licht geführt und zwar die, die sie wörtlich genommen haben, zuletzt die Aber der Druck war zweifellos zu stark, und im Lau{e des siebzehnten
Vertreter der Aufklärung und des Fortschrittsdenkens im achtzehnten und und achtzehnten Jahrhunderts ist die närrische Angst über die Ufer des
neunzehnten Jahrhundert ... und die Historiker von heute. Imaginären getreten und in die gelebte V'irklichkeit eingedrungen, in die
Als man begann, ernstlich Angst vor dem Tod zu haben, hat man ge- bewußten und ausgedrückten Gefühle, unter einer dennoch begrenzten,
schwiegen, zuerst die Geistlichen und auch die Arzte: es wurde zu ernst. beschwörbaren Form, die sich nicht auf den ganzen Komplex des Mythos
Diese wortlose Angst haben wir aber schon in der Rhetorik der Arzte erstreckt, in Gestalt des Scheintodes, der Gefahren, die man läuft, wenn
ermittelt, die auf die Apokalypsen der Geistlichen folgte, und in den gehei- man ein Lebend-Totep geworden ist.
men Geständnissen, die sie den Erblassern entlockt.
rVenn ein Mann oder eine Frau aus der Zeit Ludwigs XIV. befahlen,
daß man sie nicht berühren solle, daß man sie während der Zeit, die sie
festgelegt hatten, liegen lasse, ohne sie zu bewegen, daß man das Leintuch
über ihrer Leiche erst, nachdem man sich mit Messerschnitten vergewissert
hatte, schließe, kann man nicht umhin, hinter diesen Vorsichtsmaßnahmen
die Angst zu wittern, die sich an einem geheimen inneren Bereich zusam-
menzog. Man war seit Jahrtausenden so sehr gewohnt, die Leichen zu be-
handeln ! Nur die Armen wurden einigermaßen unversehrt weggebracht.
Um sich diesen traditionellen Zurüstungen zu widersetzen, waren schwer-
wiegende Gründe nötig. '§V'er weiß, ob die Beliebtheit der Mumienfriedhö-
fe, wo Mumien dem Blick der Besucher ausgesetzt waren, nicht demselben
rWunsch entsprach, der erstickenden Erde zu entgehen und nicht eines Ta-
ges unter ihrem Gewicht zu erwachen?
Eine verrückte Angst, welche die Arzte des neunzehnten Jahrhunderts
für unvernünftig erklärten, weil sie sich legte, und die im Gegensatz dazu
die Arzte des achtzehnten Jahrhunderts im Herzen ihrer zu jungen §/issen-
schaft eingenistet hatten, weil sie unter ihr litten.

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10. Die Zeitder schönenTode

Die betäubende Süße

"\X/ir befinden uns in der Epoche der schönen Tode", schrieb 1825 Caroly
de Gaix in ihr Tagebuch; "der von Madame de Villeneuve war erhaben." (1)
Das \üü'ort ,erhaben. findet sich natürlich auch bei Chateaubriand : ,Die Züge
des Vaters hatten im Sarg etwas Erhabenes angenommen." (2) In gleicher
rüeise gab die Mythologie der Zeit vor, im Tod einen ersehnten und lange
erwarteten Hafen zu sehen, "in dem man essen und schlafen und sich nie-
derlassen könnte".
Die antike Ruhe vermischte sich mit anderen, neueren Vorstellungen von
Ewigkeit und brüderlicher Vereinigung.
,Freut euch, mein Kind, ihr werdet bald sterben." So sprach der Pfarrer
eines kleinen Dorfes nahe bei Castres zu einem armen Kranken, der "au{
seinem elenden Lager hingestreckt war". und Caroly de Gaix, die ihn be-
gleitete, fügt hinzu : "Dieses 'Wort, das einen Glücklichen des Jahrhunderts
hätte erschauern lassen, entlockte ihm beinahe ein Lächeln." (3)
Vorübergehender Triumph einer katholischen Reaktion, einer abwegi-
gen und morbiden Frömmigkeit? Im Gegenteil, die Encyclopödiehatteden
Geistlichen und den Kirchen vorgeworfen, daß sie unter einem unge-
bräuchlichen und erschreckenden Prunk "die betäubende Süße" des Todes
verbargen und seine Natur veränderten, eine Natur, die die Romantik frei-
legen und glorifizieren sollte. "Ich würde gern die rechtschaffenen Leute
gegen die Hirngespinste von Schmerz und Angst, die dieser letzten Periode
[slc] des Lebens eigen sind, waffnen, ein allgemeines Vorurteil, das so ein-
leuchtend vom beredten und tiefgründigen Verfasser der Histoire naturelle
fBuffon] bekämpft worden ist . . . Man frage die Arzte in den Städten und
die Geistlichen, die daran gewöhnt sind, die Handlungen der Sterbenden zu
beobachten und sich ihre letzten Gefühle anvertrauen zu lassen. Sie werden
darin übereinstimmen, daß man mit Ausnahme einer kleinen Zahl sich

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schnell entwickelnder Krankheiten, bei denen die durch konvulsivische achtzehnten Jahrhundert mit den Vorbereitungen auf den Tod die Auf-
Zuckungen verursachte Erregr.rng die Leiden des Kranken anzuzeigen merksamkeit eher vom letzten Ende auf das ganze Leben hin abzulenken,
scheint, bei allen anderen Krankheiten sanft und schmerzlos stirbt, und Der Aufklärer achtet nicht auf diese verspätete und zu unauffällige Verän-
sogar die schrecklichen Agonien erschrecken den Zuschauer mehr als daß derung. Er legt keinen 'Wert darauf . Er sieht beim Tod in der Stadt eher den
sie den Kranken quälen [der Verfasser hat die Tendenz, einerseits die Reali- Einfluß der Priester und den Triumph ihres Aberglaubens. Ja, im Gegen-
tät der großen Leiden der Agonie entgegen der mittelalterlichen und sogar teil, er äußert die Absicht, die Vertrautheit der Landbewohner mit dem Tod
modernen Tradition zu bagatellisieren, da beide Gefahr mit sich brachten, wieder zu erlangen: "Die Menschen fürchten den Tod, wie die Kinder den
seine Vorstellung von der Süße des Todes. abzuschwächenl. .. Es scheint, Schatten fürchten, und nur, weil man ihre Phantasie mit ebenso nichtigen
daß es zumindest in den Feldlagern entsetzliche Todesqualen geben müßte ; wie schrecklichen Hirngespinsten erschreckt hat. Der ganze Aufwand der
dennoch hört man von denen, die Tausende von Soldaten in Armeekran- letzten Abschiedsworte, das §/ehklagen unserer Seelen, die Trauer und die
kenhäusern haben sterben sehen, daß ihr Leben so ruhig zu Ende geht, Beerdigungszeremonien, die Zuckungen dieser Maschine, die sich auflöst,
daß man glauben könnte, der Tod lege eine Schlinge um ihren Hals, die all dies ist geeignet, uns zu erschrecken.n
kein \Würgegriff ist, sondern mit betäubender Süße handelt. Die schmerz- Sicherlich werden die Dinge sich nicht so abspielen, wie der Verfasser der
haften Tode sind also sehr selten und fast alle nicht zu spüren.. Enqclopödie es zu wünschen scheint. Der wäre erschreckt gewesen, wenn
Nicht zu spüren, aber noch nicht glücklich. Zuerst muß man den Tod er die tiefe Trauer, die dramatischen Inszenierungen des neunzehnten Jahr-
von den Vorurteilen, die ihn entstellen, befreien: "'Wenn man nicht durch hunderts hätte vorhersehen können. Er wäre vielleicht den ganz und gar
diese traurigen Vorbereitungen und diesen finsteren Prunk, die in der Ge- zeitgenössischen Untersuchungen des Todes gegenüber weniger wider-
sellschaft [aber nicht in der Natur, und mehr in der Stadt als auf dem Land] spenstig gewesen. Man kann in seinem Denken zwei Tendenzen erkennen:
dem Tod vorangehen, diese Todesängste weckte, würde man ihn kaum na- eine Sehnsucht nach dem einfachen und vertrauten Tod von einst und ein
hen sehen [hier findet noch keine rornantische Dramatisierung sratt. Es isr Bedür{nis, die "betäubende Süße" und den wunderbaren Frieden zu genie-
iediglich die Ankündigung] . . ." "Man fürchtet also denTod so sehrnur aus ßen. Dieses letzte Gefühl, das im Imaginären des siebzehnten und acht-
Gewohnheit, Erziehung, Vorurteil. Aber diese großen'§ü'arnrufe herrschen zehnten Jahrhunderts verbreitet ist, wird in der romantischen Epoche eine
vor allem bei den im Schoß der Stadt verweichlichten Personen, die durch Art von barocker Apotheose provozieren, wie sie sich kein barocker Autor
ihre Erziehung sensibler als andere geworden sind, denn der Durchschnitt auszudenken gev/agt hätte. Zu Beginn und dann noch geraume Zeit wird
der Leute im allgemeinen, vor allem auf dem Land, sieht den Tod ohne sich das romantische Neo-Barock nicht als Manifestation der christlichen
Entsetzen; er ist das Ende der Kümmernisse und des Unglücks der Un- Eschatologie darstellen, sondern im Gegenteil, als Sieg gegen die christliche
glücklichen." Pastorale und ihre Propaganda der letzten Ziele. So hat der Lamartine von
Eine wichtige Bemerkung. Dank des Rousseauschen Mythos von der 1820, der Dichter des Todes von Elvire, zur gleichen Zeir, da er mit Emo-
verderbten Stadt, dem Gegensatz zum naturnahen Land, spricht der Auf- tion die frommen Totenwachen und das Kruzi{ix der letzten Stunde be-
klärer auf seine Art eine Tatsache aus, die man wirklich beobachten kann, schrieb, die Unsterblichkeitsvorstellung des Deismus der Aufklärung der
den auffallenden Unterschied zwischen einer Tradition der Vertrautheit mit des klerikalen Aberglaubens entgegenstellt.
dem Tod, wie sie auf dem Land und bei armen Leuten noch erhalten ist, und
einer neuen Haltung, die häufiger in der Stadt und bei reichen und gebilde- Je te salue, ö rnort ! libörateur cöleste,
Tu ne m'apparais point sous cet aspect funeste
ten Leuten anzutreffen ist, die im Gegenteil dazu tendiert, die Bedeutung
und die dem Tod innewohnende Kraft zu vergrößern. §(i'ir erkennen darin Que t'a pr|tö longtemps l'öpouoante ou I'erreur . . .:
die beiden Haltungen wieder, die wir den "gezähmten Tod" und den "eige-
nen Tod" genannt haben. Aber der Aufklärer widerstrebt oder gibt sich den salue... Ich grüße dich, o Tod! himmlischer Erlöser,/ Du erscheinst mir nie unter
Je te
Anschein, einer Haltung zu widerstreben, die zumindest ursprünglich die diesem finsteren Aspekt,/ Den dir lange Schrecken oder Irrtum zugeschrieben haben -;/ Deine
der litterati gewesen war. Dennoch versuchte man im siebzehnten und Stirn ist keineswegs grausam, dein Auge keineswegs falsch/ Ein milder Gott lenkt Dich zur

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il
Ton front point cruel, ton eil n'est point perfide
n'est Freund" nannte. Er war also 1792 zwanz.ig Jahre alt. Er emigrierte mit
Au secours douleurs un Dieu clöment te guide;
des seinem Vater, Generalstatthalter ron Beruf , diente in der Armee von Cond6
Tu n'anöantis pas, tu döliares ! ta main, und in Klagenfurt in Kärnten, wo die Armee im Quartier lag; 1802 heirate-
Cöleste messager, porte un flambeau divin . . . (4) te er die Tochter eines Offiziers des Grafen de Montsoreau. (Eine Schwester
der neuen Gräfin de La Ferronays hatte den Herzog von Blacas geheiratet.)
Diese beiden letzten Verse wirken wie der Kommentar zu einem Grab Schließlich war er mit dem Herzog von Berry verschwägert. Er gehörte also
von Houdon, von Canova, wo der Genius der Hoffnung und die Allegorie einem sehr royalistischen, der Revolution feindlichen Milieu an. Nach der
der taurigkeit den Verstorbenen bis zu einer Türe begleiten, von der man Restauration trat der Graf de La Ferronays in den diplomatischen Dienst
nicht weiß, ob sie sich auf ein friedliches Diesseits oder ein leuchtendes ein. I 815 zum Pair de France ernannt, wurde er 1 81 7 Minister in Kopenha-
Jenseits öffnet. gen, 1819 Botschafter in Petersburg: er ge§/ann das Vertrauen und die
Freundschaft von Alexander I., der ihm eine Pension zusicherte (die er
Et l'espoir prös de toi, rAvant sur un tombeau anschließend seiner 'Witwe auszahlen ließ), danach wurde er Minister für
Appuyö sn la Foi, m'ouare un monde plus beau ! auswärtige Angelegenheiten im Kabinett Martignac. Die Revolution von
1830 überraschte ihn als Botschafter in Rom. Er kehrte nicht sofort in das
So geht man unmerklich von der Zurückweisung der abergläubischen Frankreich Louis-Philippes zurück, sondern blieb ehrenhalber im Exil,
Vorstellungen und mittelalterlichen Riten der Vorbereitung auf den Tod zu ohne übrigens politisch aktiv zu sein: er hatte lediglich eine Mission bei
den großen l,iturgien des romantischen Todes über: dem im Exil lebenden Karl X., um ihn nach dem unglücklichen Abenteuer
der Vend6e mit der Herzogin von Berry auszusöhnen.
Quelle foule pieuse en pleurant m'enoironne ? Auf alle Fälle ist in dieser den Bourbonen so treuen Familie kein royali-
stischer Enthusiasmus zu beobachten. Unter sich sprechen sie fast nie von
Politik, außer 1848; damit endet der Röcit d'une seur. Der Graf bedauert
In Frankreich: sogar, daß sein ältester Sohn Charles es {ür notwendig gehalten hatte, nach
Die Familie de La Ferronays der Revolution von 1830 die Armee zu verlassen, und beklagt die Anderung
des Regimes, das sie mit sich brachte. Sein anderer Sohn, Albert, einer der
Die Zeugnisse über die romanrische Haltung angesichts des Todes sind Helden des Röcit, ist dagegen eng mit den katholischen Liberalen, mit
zahlreich, die einen dank der Literatur sehr bekannt, die andern weniger. Montalembert, Lacordaire, den Abb6s Dupanloup, Gerbet und dem Italie-
Ich habe eines der letzteren als Beispiel ausgewählt: den Briefwechsel und ner Gioberti liiert, was uns keine gute Gesellschaft für den Sohn des Adju-
d.ie persönlichen Tagebücher der Familie de La Ferronays, so wie sie unge- tanten des Herzogs von Berry, für den Bruder des künftigen Vertrauens-
Iähr zwanzrg Jahre nach der Abfassung der neuesten Dokumente 1g67 mannes des Grafen von Chambord zu sein scheint.
durch Pauline de La Ferronays, Mme. Auguste Craven, unter dem Titel \tr(ährend ihres russischen und italienischen Exils werden sich die La Fer-
Röcit d'une sezr (Bericht einer Schwester) veröffentlicht wurden. (5) ronays zu einer exaltierten barocken Form des Katholizismus bekehren,
Zuerst zwei §fl'orte über die Familie. Der Gra{ de La Ferronays wurde des ultramontanen Katholizismus oder, wie die Gräfin Fernand, die Frau
1,772 tn Saint-Malo geboren wie Chateaubriand, der ihn
"mein edler eines der Söhne sagte,
"der italienischen Art«. Diese letztere veröffentlichte
1899 Memoiren, die reich an pikanten Details über die Familie ihres Gatten
waren, eine Familie, die sie verabscheute. (6) Sie litt nicht nur unter der
Linderung der Schmerzen/ Du vernichrest nicht, du erlöst I deine Hand/ Himmlischer Bote, trägt
Verachtung dieser Adligen für eine alte Advokatenfamilie, die seit langem
eine göttliche Fackel. ..
Et I'espoir.. , Und nahe bei Dir die Hoffnung, die au{ einem Grabe rräumt/ Eröffner mir, durch die sdoonette ä vilain aufgewertet war, vor allem aber gab es zwi-
gestützt auf den Glauben, eine schönre Velt. schen ihnen einen weitreichenden Unterschied des religiösen Gefühls. Ei-
Quelle foule,.. Velche fromme Menge umgibt mich weinend? nes Tages fragte sie in einer Unterhaltung, in der man zweifellos von außer-

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gewöhnlichen Fällen sprach, was man unter einer Stigmatisierten vers!ün- wollte, mit denen sie in Verbindung blieb. "Die Erinnerung an die glückli-
d6; "Eine eisige Stille folgte auf diese unvorsichtige Frage, und man rat so, chen Tage, die wir zusammen verbracht haben, ist für mich eine Freude und
als habe man sie nicht verstanden." nicht ein Schmerz geblieben, und weit entfernt davon, Vergessen zu begeh-
Die Gräfin Fernand war nicht gottlos, sondern hatte die gute französi- ren, bitte ich den Himmel darum, mir immer die lebendige und treue Erin-
sche Frömmigkeit des achtzehnten Jahrhunderts. Sie nannte Mary Tudor nerung an die verflossenen Tage zu bewahren. [.. .] An sie zu denken und
The Bloody Queen, bewunderte Elisabeth I., betrachtete
"Gregor VI[. und von ihnen zu sprechen, war für mich immer süß, seitdem sie nicht mehr
Innozenz IV. als Geißeln des Menschengeschlechts. So lernte man es im sind." Der Recit d'une seur rst also die mit Hilfe von Originaldokumenten
Geschichtsunterricht, und obwohl ich umlernte, war ich noch nicht ganz rekonstruierte Geschichte einer Familie vom Anfang des 19. Jahrhunderts,
von dieser Denkweise abgekommen" (um 1890). ,Ich war zwischen einem die einer ebenso internationalen wie französischen Aristokratie angehört.
Vater, dessen Gefühle noch unter diesem Einfluß des Jahrhunderrs von Nun, diese Geschichte ist eine Abfoige von Krankheiten und Todesfällen,
Voltaire standen und der sie zeigte, ohne sich überhaupt Rechenschaft dar- da die Familie durch die Tuberkulose dezimiert wurde.
über abzulegen, und einer Mutter erzo1en worden, deren aufrichtige In dem Augenblick, wo sich der Vorhang im Rom von 1830 hebt, ist der
Frömmigkeit gallikanischer Strenge nahestand und ihr nicht erlaubte, sich Gra[ La Ferronays 48 Jahre alt ; er ist seit achtundzwanzig Jahren verheira-
den Sakramenten zu nähern, ohne sich ernsthafr darauf vorbereiret zu ha- tet und hat elf Kinder gehabt. Vier sind schon in frühen Jahren gestorben,
ben. In der Familie meines Gatten [bei den La Ferronays] war das ganz ihre Mutter bewahrt andächtig die Erinnerung an sie, die sie nochlangeZeit
anders, und indem man die religiösen Sitten Italiens annahm [das war in der danach bei Gelegenheit wachruft. Es bleiben also sieben Kinder übrig, von
Tat der romantische Katholizismus], hatte man das vorweggenommen, was denen die beiden letzten Mädchen sind, geboren zu der Zeit, als ihr Vater
jetzt in Frankreich Brauch geworden ist. Alles hat sich in unserem Land Botschafter in Petersburg war.
geändert, sogar die Art, die Religion zu praktizieren." Der erste Teil von Röcit d'une sezr besteht aus Briefen und dem Tage-
Man begreift, daß die Gräfin Fernand sich in der exaltierten Umgebung buch eines der Söhne, Albert, und seiner Verlobten Alexandrine, die bald
der Familie ihres Mannes nicht wohl fühlte. Aber nicht nur die Religion seine Frau sein wird: es ist die Geschichte ihrer Liebe, ihrer Ehe, der
war im Spiel, wie sie glaubte: man hat immer den Impuls, die grundlegen- Krankheit Alberts und seines Todes. Albert ist ein sehr intelligenter und
den Anderungen durch den Einfluß der großen ideologischen und umbil- empfindsamer Junge. Bei ihm ist keine Spur von diesem Adelsdünkel zu
denden (neugestaltenden) politischen oder religiösen Systeme zu erklären. spüren, der von seiner Schwägerin, der Gräfin Fernand denunziert wird. Er
In der Tat war diese Verschiebung auf Unterschiede in der Sensibilität zu- übernimmt nicht die politischen Händel seiner geistigen Familie. Er emp-
rückzuführen. So konnte es geschehen, daß, als Pauline, eine der Töchter iindet keine der legitimistischen Leidenschaften seines Milieus, trotz seiner
des Grafen La Ferronays, die lange mit ihren Brüdern und Schwester korre- Treue dem älteren Zweig gegenüber: "Ich kann tun, was ich will, es gelingt
spondiert und die Tagebücher und Briefe von zahlre;chen Verstorbenen mir nicht, mir das Blut wegen dieser kleinen Parteistreitigkeiten zu erhit-
geerbt hatte, das Bedürfnis empfand, sie zu sammeln, zu präsentieren und zen. So müßten auch einige von meinen Angehörigen mich eigentlich ver-
zu veröffentlichen, diese Verö{fentlichung der gallikanischen Gräfin Fer- leugnen, wenn sie mich mit solchen Leuten umgehen sehen fden belgischen
nand als der Höhepunkt der Indiskretion, wenn nicht der Anstößigkeit Liberalenl, ich fühle, daß ich mich auf diesem Gebiet darauf beschränken
erschien. "Das ist ein Buch, das mir immer ganz besonders auf die Nerven werde, ihnen zu mißfallen." Von einem brüderlichen Romantizismus und
ging. Indem sie der öffentlichkeit die geheimsten persönlichen Gefühle einer saint-simonistischen Ader durchdrungen, glaubt er, daß die Eisen-
derer, deren Namen ich trage, enthüllte, hat Madame Craven, wie mir bahnen die "Vorurteile und die nationalen Gehässigkeiten« zerstören,
schien, im moralischen Bereich gehandelt, wie es im physischen eine Person "neue Vorstellungen des Verschmelzens" verbreiten werden. "Der Geist
täte, die andere zwingen würde, sich oben auf der Säule der Place Vendöme der Nationalität, des Patriotismus, der in sich schön ist, aber in dem man
im Hemd zu zeigen." (7) vom höchsten Standpunkt aus noch Egoismus findet, wird alie Tage mehr
Aber Pauline empfand diese Scham nicht. Sie errichtete ein "Grabmal" dem Geist der Vereinigung Platz machen, der, wie ich überz.eugt bin, eines
zum Gedächtnis derer, die sie liebte und deren Andenken sie verewigen Tages über die christliche §üelt regieren wird." Dieser sanfte Utopist träumt

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-.1
von einer "Assoziation der christlichen Nationenn. Er empfindet geradezu derer, die euch vermissen, beginnt., und AIbcrt fügt in seinem Tagebuch
ein Bedauern über diese Nationalitäten, die dazu verdammt sind, zu ver- folgenden Kommentar hinzu: "Seltsame und rnelancholische Worte in ei-
schwinden "in der Gesellschaft, die nun beginnt und in deren Schoß alles nem Album voller Narrheiten." Als man sp()ttct, reißt Albert die Karte aus

sich vereinen, vereinfachen und einebnen wird". (8) Die Triebkraft dieser dem Album und ersetzt sie durch ein weißes Blatt.
Eines Tages, als Alexandrine ein Heft mit Notizen und Gedanken an
Umwandlung wird die Religion sein: "Die Religion ist, wie ich glaube, die
Seele unserer Zukunft, die letzte Umwandlung der Gesellschaft. Unsere
Albert öffnet, stößt sie auf folgenden Vers von Victor Hugo:
Vervollkommnungsfähigkeit, die das Ende ihres Aufschwungs erreicht hat, irai bientöt au miliew de la f ete,
Je m'en
wird uns unser erstes Schicksal, den Glanz des Lichts, die Klarheit des
Himmels wiedergeben." Seine Verlobte ist die Tochter des Grafen von Alo- Dann der folgende Gedanke von Massillon: "Man f ürchtet weniger den
poeus, eines gebürtigen Schweden, der Außenminister Rußlands in Berlin Tod, wenn man bezüglich seiner Folgen ruhig ist." Und zum Schluß: "lch
war, und einer Deutschen : Alexandrine, 1808 geboren. Mit zweiundzwan- sterbe jung und habe es mir immer gewünscht. Ich sterbe jung und habe viel
zig Jahren ist sie eine Freundin der jungen Damen La Ferronays, vor allem gelebt." (9)
von Pauline, der Erzählerin .LangeZeir danach, nämlich l8ti7, wird Pauline Im Juni 1832 schreibt Albert an Alexandrine: "Ich schwöre Euch, daß
darüber schreiben: "L]nsere Freundschaft gehörte zu denen, die nichts im das, was ich empfinde, wenn ich nahe bei Euch bin, das Vorzeichen eines
Leben stören konnte und die der Tod nicht zu brechen vermag.« Man anderen Lebens zu sein scheint. Vie sollen Gefühle dieser Art das Grab
glaube ihr: diese \üorte waren nicht in die Luft geschrieben. nicht überschreiten können ?"
1831 ist die ganze Familie in Neapel im Palais Acton versammelt. "§ü'ir \Vas hier überraschend ist, ist nicht der religiöse und mystische Ton, son-
sprechen oft von Gott und vom anderen Leben", ein Thema, das nicht dern die Konzentration des religiösen Gefühls auf den Tod und das Jenseits
aufgehört hat, im Lauf der Jahre ständig in ihren Unterhaltungen wieder- und ihre Mischung mit der Liebe. Alexandrine vertraut ihrem Tagebuch an:
zukehren. ,Oh! der Tod ist immer mit Poesie und Liebe gemischt, weil er zur Ver-
1831 stirbt der Gra{ Alopoeus, der erste Todesfall einer langen Serie. wirklichung der einen wie der anderen führt."
Alexandrine wird \{aise. Sie ist sehr beeindruckt: als Lutheranerin muß sie Der Tod enthüllt also einen Aspekt seiner selbst, den wir noch nie in
einige Zweifel bezüglich des Seelenheils ihres Vaters haben, der vielleicht einer Unterhaltung angetro{fen hatten, selbst wenn sie exaltiert war: die
kein tadelloses Leben geführt hat. Deshalb bittet sie Gott, "nun nicht mehr Unendlichkeit. Die beiden Freunde gehen bei Sonnenuntergang in Castel-
einen Augenblick des Glücks auf der Erde zu haben, doch daß er in Ewig- lamare spazieren: "Ql, wenn wir dahin gehen könnten, wohin sie geht!
keit glücklich sei"; bei jeder Freude, die dieses zwanzigjährige Mädchen Man hätte Lust, ihr zu folgen, ein neues Land zu sehen.o "Ich bin sicher",
empf indet, ruft sie: "Mein Gott, laß mich an Stelle meines Vaters leiden." schreibt Alexandrine, "daß er in diesem Augenblick gerne gestorben §/äre."
Man wird sehen, daß sie erhört wurde ! Einige Jahre später, 1834, hat er dieselbe Eingebung und notiert seiner-
Am 9. Februar 7832 notiert Albert: "Ich habe etvzas Blut gespuckt. seits: "Ausflug zu Pferde im Galopp, Glücksgefühle am Meeresufer. Ich
Meine Kehle war noch infolge einer Krankheit, die ich kürzlich in Berlin würde gern ins Meer tauchen, um mitten in etwas Unermeßlichem z-u sein."
durchgemacht hatte, empfindlich." Der Name der Krankheit wird nicht Das Bedürfnis sich im Unendlichen zu verlieren, in der Unendlichkeit des
genannt. Sie war aber durchaus schon sehr gut bekannt! Einige Tage zuvor Todes.
hatte Albert Aiexandrine, die Freundin seiner Schwester, kennengelernt. Ihre Eltern sind ein wenig über ihre Freundschaft beunruhigt und wollen
Es ist Liebe auf den ersten Blick. Sie gehen eine Stunde in den Gärten der sie trennen, um sie auf die Probe zu stellen. Sie verbringen einen letzten
Villa Doria-Pamphili in Rom spazieren. "\üir sprachen, glaube ich, eine Abend im Theater San Carlo. Alexandrine ist traurig: "Der Saal, das Licht,
Stunde lang von Religion, von Unsterblichkeit und vom Tod, der, wie wir die Szene [. . .], mir schien auf einmal, daß ich mich in einem erleuchteten
feststellten, in diesen schönen Gärten sanft sein müßte." Grab befände." (10)
Alexandrine sammelt Visitenkarten. Albert gibt ihr seine mit der In-
Je m'en. .. lch werde bald inmitten des Festes fortgehen.
schrift: "Veich sanfte Unsterblichkeit ist die, die hier auf Erden im Herzen
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il
Um sie herum hört man nicht auf zu sterbeD, ,von einer schnellen allem über sein mangelndes Vermögen und die ausbleibende Karriere auf-
Krankheit dahingerafft", deren Namen man verschweigt, und Alexandrine hält sowie über seinen katholischen Bekehrungseifer. Niemand stellt sich
erkennt: "Bis in die letzten Monate seines Lebens war ich in einer seltsamen vor, daß Albert nur noch eine kurze Frist gewährt ist. Man sorgt sich nur
Verblendung über seine Gesundheit." Keinerlei medizinische Neugier. um seine schwache Gesundheit.
Kein Vertrauen in den medizinischen Eingriff. Der Arzt pflegt, er heilt In der Tat hatte die schreckliche Krise zur Folge, daß die Eltern von
nicht, er ändert nichts. Albert und Alexandrine, die begriffen, wie sehr die Verlobten sich liebten,
Albert hat einen neuen Fieberanfall, von dem man annehmen kann, daß darauf verzichteten, ihre Verbindung noch zu verzögern. Die Hochzeit f in-
er von der Traurigkeit über die Trennung herrührt. In der Tat trägt er den det am 77. April 1834 statt.
Keim einer großen Krise in sich, die ihn in Civitavecchia niederstreckt;von Zehn Tage später erleidet Albert einen Blutsturz. Alexandrine achtet
dort sollte er seine Mutter nach Frankreich begleiten. Er läßt sie allein auf- nicht darauf, dennoch beschleicht sie Unruhe: sie hat Angst, wenn sie einen
brechen, um Zeit zu gewinnen, sich zur Ader zu lassen: Trauerzug vorbeiziehen sieht, vor allem, wenn er einen iungen Mann be-
"Diese Gewohn-
heit, sich Blut abnehmen zu lasseno, schreibt Alexandrine viel später, gleitet.
"die
in Italien so verbreitet und unheilvoll war, hatte Albert nur zu sehr über- Am 28. August 1834 heiratet Pauline, die Erzählerin, einen Engländer,
nommen, der oft fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf oder in die Brust stieg Auguste Craven.
und der dann, ohne daß es irgend jemand wußte und ohne daß der Arzt es Albert hat Augenblicke von Müdigkeit: er fühlt sich nervös, erregbar,
verordnet hätte, auf dieses Mittel zurückgriff." Pauline kommentiert: ,aber wer wäre das nicht nach zwei Jahren Pflege, schlaflosen Nächten,
"Eine schnelle und heftige Entzündung hatte sich kundgetan, und der Arzt Torturen, Aderlässen und Arztbesuchen".
sah sein Leben in Gefahr, einer beinahe verzweifelten Gefahr." Sein Vater Die Arzte glauben ihrerseits, daß Reisen ihm guttun würden: sie schik-
und seine beiden kleinen Schwestern harren bei diesem Bazillenträger in ken ihn von Pisa nach Odessa ! Er hustet ununterbrochen. Er wird ein gro-
voller Krise aus und pflegen ihn. "Das Fieber war heftig, die Zunge trocken, ßer Leidender, ohne daß er, sonst so vertraut mit dem Gedanken des Todes,
der Husten quälend [. . .] Sauvan [der Arzt] hatte eine große Blutentnahme daran denkt, daß er verurteilt ist : er fürchtet nur, nie wieder ganz gesund zu
vornehmen lassen (10 Unzen Blut)." Senfpflaster an den Füßen. "Teure werden, zu einem Krankendasein verdammt zu sein, ohne in der Lage zu
Freundin les handelt sich um den Grafen de La Ferronays, der an seine Frau sein, seine Tätigkeiten wieder aufzunehmen' Alexandrine ist ihrerseits
in Frankreich schreibt], ich werde dir nicht sagen, was ich emp{unden habe, überzeugt, daß man die Geduld haben muß, noch fünf Jahre Prüfungen auf
als ich sah, wie unser teures Kind derart gequält wurde.o sich zu nehmen, denn wenn Albert "das glückliche Alter von 30 Jahren
8 Uhr morgens, neuer Aderlaß. "\Während ich dir schreibe, betrachte ich erreicht haben wird. . ., ich denke, daß er dann schön, stark sein wird. ' .
diesen armen Jungen, der so furchtbar verändert ist; seine Magerkeit ist und daß ich alt sein werde, älter noch durch die Angste als durch die Jahre,
erschreckend. Seine Augen sind groß und weit geö{fnet, sie scheinen im und meine Gesundheit zerstört durch die Sorgen, die ich mir um ihn ge-
Kopf eingesunken zu sein." Neuer Fieberanfall, neuer Aderlaß, schließlich macht haben werde.o (12)Zumersten Mal begreift sie die Schwere des Falls
kündigt ein Schweil3ausbruch die Milderung an: ,Dieser glückbringende und dennoch unternimmt sie nichts, das Übel zu identifizieren, zu benen-
Schweißausbruch [. . .] wirkte '§flunder [. . .]. Ich glaube wahrhaftig, ich nen, um besser Bescheid zu wissen. Nichts, was unserem \(unsch entsprä-
hätte diesen wohltuenden Schweiß, der unser Kind rettete, getrunken.« Er che, die Diagnose zu kennen oder zu ignorieren: Sie zeigt eine Gleichgül-
schöpft wieder Hoffnung: "Die Arzte sagen, daß diese schreckliche Krise, tigkeit dagegen, als ob die \(issenscha(t der Arzte von keinerlei Nutzen {ür
mit 21 Jahren, seine Gesundheit wiederherstellen und daß es ihm, wenn er sie wäre; sie sollen ihre Aufgabe erfüllen, gute Betreuer zu sein. Doch häu-
auf sich achtgibt, für lange Zeir prächtig gehen wird." (11) fen sich in Venedig die Krisen. "Er spricht nur unter.Anstrengung mit mir
Da hat Alexandrine einen warnenden Traum: Albert lädt sie ein, mit und sagt nur, daß man einen Beichtvater kommen lassen solle. Sind wir
ihrer Mutter zu einem Friedhof am Grund eines verlassenen Tales herabzu- schon soweit ? Sind wir wirklich schon so weit ? schreie ich." Jetzt erst will
steigen. Man spricht über all das bei der Gräfin Alopoeus, die übrigens die sie wissen: ,Ich fragte ziemlich ungeduldig nach dem Namen dieser
Gesundheit von Albert "wenig beruhigend" findet, aber sich dennoch vor schrecklichen Krankheit, Lungenschwindsucht, antwortete mir endlich

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n
Fernand. Da fühlte ich, wie mich alle Hoffnung verlies." Ihr Schwager Fer- tödliche Gefahr darstelle, im selben Zirnr»cr u'ie Albert rr r.hlxfsn". Es
nand wußte es, die Arzte wußten es, aber ihr hatte man nichts gesagt. Sie war höchste Zeitt.Man glaubte, daß er sterbcn würde. Er lebt noch einige
kehrt in das Zimmer des Kranken zurück. "Ich fühle eine Art Bestürzung, '§üochen.
die aber nicht nach außen sichtbar wurde, denn ich hatte mich seit mehreren ,Eines Tages rief Albert aus, indem er mir plötzlich die Arme um den
Tagen darum bemüht, meine Befürchtungen zu verbergen." Hals warf : 'Ich sterbe, und wir wären so glücklich gewesen.(« Im Zimmer
Albert seinerseits sehnt sich, von seinen Leiden erschöpft, nach ewiger des Sterbenden wird die Messe gelesen und die Hostie zwischen den beiden
Ruhe: "Wenn man im Grab noch fühlen kann, daß man schläft, daß man Ehegatten geteilt.
Gottes Gericht erwartet [merkwürdige Rückkehr zum Glauben an eine Am 27. Juni wird ihm von Abb6 Dupanloup die letzte Olung erteilt. Das
\iü'artezeit im Grabe, zwischen Tod und Gerichtl, daß selbst große Verbre-
Zimmer ist voll. Nach dem Sakrament macht er ein Kreuzeszeichen auf der
chen nicht vermögen, einem Furcht vor dieser mit unbestimmten Vorstel- Stirn des Priesters, seiner Irrau, seiner Brüder, seiner Eltern, Montalem-
lungen r.termiscbten Ruhe einzujagen; aber mehr als diesen rerwirrenden berts, seines großen Freundes: ,Als er sich ihm zuwandte, brach Albert
Vorstellungen von der Erde, vielleicht allem, was die Erde bietet, vorzuzie- einen Augenblick in Tränen aus, was mir das Herz zerriß. Aber er erholte
hen ist dieses Gefühl, sein Schicksal vollendet zu haben [. . .]. Die Lösung sich auf der Stelle [. . .], .r machte der Krankensch*'ester ein Zeichen, sich
des Rätsels ist, daß ich nach Ruhe dürste, und wenn das Alter oder selbst zu nähern, da er sie in diesem zarten, allgemeinen Lebewohl nicht vergessen
der Tod sie mir geben, werde ich sie segnen." (13) wollte." Am 28. Juni letzte Absolution. Man kann sich die Länge dieser
Er fürchtet, weit weg von Frankreich zu sterben, wo er doch schon lange Agonie vorstellen. Alexandrine verliert die Fassung - "da ich es nicht mehr
nicht mehr lebt: "Oh, Frankreich, Frankreich, daß ich nur dorthin gelange, aushielt, daß unsere Seelen sich nicht ineinander ergießen konnten, und da
dann werde ich das Haupt senken." ich von den letzten Minuten, die mir noch blieben, etwas haben wollte'
Alexandrine gibt jede Hoffnung auf. Sie wünscht nur, "dx[J dieser gelieb- sagte ich ihm: Montal hat mir deine Briefe gebracht; sie sind so bezaubernd
te Engel nicht mehr leide, wie er es schon so sehr getan hat, und daß alle für mich. Er unterbrach mich. Genug, genug, rege mich nicht auf , sagte er
himmlischen Freuden ihn einhüllen und ihm ein ewiges Glück schenken." t. . .]. Oh, Albert, ich bete dich an. Dieser Schrei kam aus meinem Herzen,
(1a) Sie fürchtet aber, allein zu sein, wenn sie ihm die Augen schließt. das zerbrach, weil ich nicht mit ihm sprechen konnte. Aus Furcht, ihn zu
Sie findet an ihm manchmal "einen Ausdruck, der so traurig ist, daß er beunruhigen, mußte ich schweigen, aber mein Mund schloß sich über dem
mir das Herz zerreißt. Und ich muß mich zwingen, ihm fröhlich zu erschei- letzten Wort der Liebe, das er ausgesprochen hat, und er hörte es, wie eres
nen . . . Ach ! ich ersticke an diesem Geheimnis zwisclten uns-ich glaube, oft früher gewünscht hatte, sterbend."
würde ich lieber mit ihm offen von seinem Tod sprechen und versuchen, In der Nacht vom 28. zum29. bettet man ihn um, mit dem Kopf zur
uns gegenseitig durch den Glauben, die Liebe und die Hoffnung darüber zu aufgehenden Sonne gewandt fdie Ausrichtung nach Osten]. "Um sechs
trösten.. Ihr \Wunsch wird erfüllt: am selben Tag, dem 12. März, ruft er sie, Uhr fer war zu dem Zeitpunkt in einem Sessel nahe beim offenen Fenster
um sie darum zu bitten, sich nach seinem Tod wieder zu verheiraten. Dann gebettet] sah und hörte ich, daß der Augenblick gekommen war.« Die
{ügt er hinzu: ,'W'enn ich sterbe, bleibe Französin fsie war als Russin gebo- Schwester rezitiert die Gebete der Sterbenden - "Seine schon srarren Augen
ren], verlasse nicht die Meinen, kehre nicht zu deiner Mutter zurück." waren auf mich gerichtet [. . .] und ich, seine Frau I ich fühhe, was ich mir
Nachdem er erreicht hatte, daß sie sich zum Katholizismus bekehrte, niemals vorgestellt hätte, icb fübhe, dafi der Tod das Glücb lt)ar. . .<<
fürchtet er nun, daß nach seinem Tod der Einfluß ihrer Mutter sie zum Eug6nie, die jüngere Schwester Alberts, schreibt in einem Brief an Pauli-
Protestantismus zurückführen könnte. Für die Bekehrung Alexandrines ne: »Am 29., vorgestern, hat man ihn auf sein Bett gelegt. Sein ruhiges
hatte er Gott sogar sein Leben hingeben wollen! Gesicht schien zu schlafen und sich endlich von all seinen Erschöpfungen
Er will in Frankreich sterben. Nun beginnt eine lange Reise, auf der man auszuruhen." Die Schönheit des Toten. "Gestern hat man ihn in seinen
den Sterbenden von Ort zu Ort schleppt:10. April 1836, Abschied von Sarg gelegt und mitten im Zimmer aufgebahrt. Vir haben ihn mit Blumen
Venedig; am 13. Ankunlt in Verona; am22.in Genua, am 13. Mai in Paris. bedeckt. Das Zimmer du{tete." Diese Sitte, Blumen auf den Sarg - oder in
Dort warnt zum ersten Mal ein Arzt Alexandrine, "daß es für mich eine den Sarg ? - zu legen ist hier und da im sechzehnten und siebzehnten Jahr-

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hundert bezeugt. Man warf auch manchmal Blumen ins Grab. Aber diese Sie schüttet ihr Herz endlich in einem langen Brief an ihre beste Freundin
Geste wird vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu seken erwähnt, und Schwägerin Pauline Craven aus, die in der Ferne festgehaltenist. (15)
als daß man ihr einen rituellen Sinn zuschreiben könnte. Seit dem Beginn oEs war mir vergönnt, den Blick von Albert verlöschen zu sehen, zu fühlen,
des 19. Jahrhunderts dagegen wird die Blumengabe mit Nachdruck wieder- wie seine Hand au{ ewig erkaltete [. . .]. Er ist auf meinen Arm gestützt
holt erwähnt. Sie wird wieder zum wichdgen Element des Rituals. gestorben, meine Hand die seine haltend, und ich war nicht einen Augen-
"Am Mor8en [des l. Juli] hat man ihn hinausgetragen. Alex und ich blick verwirrt, als ich seine letzten Seu{zer vernahm, und a1s ich sah, daß er
[Eug6nie], wir haben noch nahe beim Sarg gebetet, während er unrer der in der Agonie lag, habe ich die Schwester gefragt, ob er noch leide, und sie
Tür aufgestellt war, dann haben wir beide in einer Ecke der Kirche Saint- hat mir gesagt: Nicht mehr! Da habe ich ihn, wie mir selbst schien, ohne
Sulpice verborgen der Andacht beigewohnt," Sie waren versteckt, denn die Bedauern gehen lassen. [\W'ir wollen das nicht wörtlich nehmen. Hier ist
Frauen der Familie, zumindest im Adel, hatten weder die Erlaubnis, dem nichts von der ruhigen Resignation der alten Mentalität zu spüren. W'eder
Trauerzug zu folgen, noch der Andacht oder dem Schlußgebet beizuwoh- Veigerung noch Resignation. Eine große, völlig assimilierte Trauer, die zur
nen; die hergebrachten Konventionen verlangten, daß sie zu Hause einge- zweiten Natur geworden ist.] Ich küßte nur sehr ruhig seine teuren Augen,
schlossen blieben. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war dieser die schon nichts mehr erkannten und vielleicht fühllos waren, und ich rief
Brauch nur noch auf die Aristokratie beschränkt. Ebenso war die Vitwe auch ganz nahe, ganz nahe, seinen so geliebten Namen Albert in sein Ohr
auch bei den Beileidsbezeugungen abwesend, eine einst viel allgemeinere [...], u. zu versuchen, ihn in diesen letzten §flolken, auf diesem letzten
Sitte, die im Adel fortbestand. In Sizilien nehmen noch heute die Frauen des düsteren'§(eg, der zum Licht {ührt, meine Stimme hören zu lassen, meine
Hauses nicht an den Beerdigungen teil. Stimme, die sich mehr und mehr entfernte, meine Stimme, so wie mich
Dieses Mal, im Paris des Jahres 1836, haben die Frauen der Familie La selbst, der nichts übrig blieb, als an den äußersten Grenzen zurückzublei-
Ferronays diese Sitte nicht mehr geduldet, die ihnen zu grausam schien. Da ben [. . .]. Vielleicht hat er mich gehört, wie einen Klang, der langsam
Alexandrine auch keinen Skandal verursachen noch so erscheinen wollte, schwächer wird, vielleicht hat er mich gesehen wie ein Ding, das nach und
als ob sie einen ehrwürdigen Brauch zurückweise, schloß sie eine Arr Kom- nach in der Dunkelheit verschwindet."
promiß mit den Schicklichkeitsvorsrellungen, indem sie dem Gottesdienst Bei der Messe, fährt sie im Verlauf ihrer langen Beichte an Pauline fort,
für ihren Mann beiwohnte, aber verborgen. Zu Hause vertraut sie ihrem hat sie während der Erhebung der Hostie eine Art Vision gehabt: "Ich habe
Tagebuch an : »In der Kirche versteckt, habe ich allem beigewefin1., und sie die Augen geschlossen, und meine Seele füllte sich mit einer Süße, die den
schrieb für sich selbst dieses letzte Lebewohl oder dieses erste Einführungs- süßen Klängen, die ich vernahm, glich [der Orgelmusik; sie war eine sehr
wort auf : "Mein süßer Freund! meine beiden Arme haben dich gestützt, gute Musikerin, und Musik begleitete ihre großen religiösen und Gefühis-
einer in Deinem letzten Schlummer, au{ der Erde [gerade vor seinem Tod aufwallungen], und ich habe mir vorgestellt (ausdrücklich, du verstehst es
im Morgengrauen], der andere in diesem Schlummer, dessen Dauer wir wohl, es gab in all dem nichts Außergewöhnliches), ich habe mir meinen
nicht kennen. [Man ist ersraunr über diese Rückkehr zum alten Bild des Tod vorgestellt: einen Augenblick von völliger Nacht, und in dieser Nacht
Schlafes, bei diesen exaltierten Christen, die ungeduldig darauf warten, sich die Gegenwart eines Engels fühlend, auch unbestimmt etwas Helles sehend
im Jenseits wiederzufinden. §flir sind dem schon bei Albert begegnet, als er und diesen Engel, der mich zu Albert führte [. . .]. Und unsere Körper wa-
an seinen eigenen Tod des großen Kranken dachte. Hier scheint der Schiaf ren durchsichtig und golden." Sie waren oergeistigt.
eine Art von friedlichem Fegefeuer zu bezeichnen, eine \flartezeit vor der Vieder bei ihrem Tagebuch, versucht Alexandrine sich Klarheit über
großen Viederbegegnung.] Gott möge mir gewähren, daß diese beiden sich selbst zu verschaffen und schreibt am 4. Juli: "Ich würde gerne wissen,
Arme sich nach meinem Tod vor dir öffnen [Statuen auf ganz gewöhnlichen was in mir vorgehr. Es scheint mir deutlich, da/l rcb Sehnsucbt nacb dem
Grabmälern des neunzehnren Jahrhunderts werden die Verstorbenen in Tod babe.. Sie, die so sehr das Leben liebte, Unterhaltung, Musik, Theater,
dieser empfangenden Haltung, mit ausgestreckten Armen zeigen] zu unse- Kunst, Natur, sie fühlt "Gleichgültigkeit gegenüber allen Dingen der Erde:
rem unsterblichen Viedersehen im Schoß Gottes, im Schoß der Seligkeit es gibt dort nichts als die Reinlichkeit, das'Wasser, f ür die ich meine Leiden-
der ewigen Vereinigung !. scha{t bewahrt habe." Die Reinlichkeit! Dieser große \ü7ert des viktoriani-

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in der allgemeinen Entsa-
schen Zeitalters, der so tief verankert isr, daß er gen, der den Leichnam befördert, kommt an einem Oktobertag mit Alex-
gung zusammen mit Gott und der Liebe fortbesteht. Das Wasser der kör- andrine und zweifellos auch mit Herrn de La Ferronays an: "Bei dem
perlichen Intimität, die grenzenlose Liebe der'Wesen, die uns teuer sind, die Kreuz, das sich am Eingang des Dor{es befindet, wurden wir von meiner
von ihnen alles verlangt und alles geben will, der Tod, der entreißt, aber Mutter und meinen Schwestern er§/artet, die sich, sobald der §(agen in
auch zurückerstattet. . . Sicht kam, auf die Knie warfen.o Der Abb6 Gerbet, der große Freund Al-
Und dennoch, welch großen Schmerz hinterläßt die Abwesenheit! berts, ist auch da "mit der Prozession, gefolgt vom ganzen Dorf . Der \Wa-
"Ich empfinde manchmal", schreibt Alexandrine an Pauline, "ein gen war offen, er segnete den Sarg. Maman und Alexandrine [Brief von
schmerzhaftes Verlangen, mich zu zerbrechen, etwas zu versuchen, um eine Eug6nie an Pauline] hüfiten ihn": das Küssen des Sarges, das führt uns
Minute von dem Glück, das ich verloren habe, wiederzufinden, eine einzige wieder zurück zu den Phantasmen vom Ende des achtzehnten Jahrhun-
Minute, seine Stimme, sein Lächeln, seinen Blick." Sie zieht sich in das derts, zu der Bilderwelt der makabren Erotik. Aber diese Küsse einer Mut-
Zimmer von Albert zurück: "Dort fühle ich mich wohl. Oh I wie sehr ich ter, einer Gattin sind frei von of{ener Sinnlichkeit. Dennoch ist ihre Bedeu-
wünschte, dort sterben zu dürfen !" Und die kleine Eug6nie ist beunruhigt, tung physischer Nähe und tiefer Vereinigung von Körper und Seele - des
was man von dieser großen leidenschaftlichen Trauer denken soll: "Ich ganzen §ü'esens - bei der Frau offenkundig. Gottesdienst in der Kirche.
hoffe, daß Gott nicht an dieser maßlosen Trauer Ansto{3 nimmt., vorausge- Begräbnis auf dem Friedhof. Alexandrine "betrachtete mit einer Art
setzt natürlich, daß sie christlich bleibt ! "Sie zu nähren ist ein Trost." Freude diese leere Grube", die ihr bestimmt war: eine einzige Platte wird
'Wenn
auch die anderen sich nicht damit abfinden, "sie für den Rest ihres die beiden Gräber bedecken, "denn im Innern werden die beiden Särge
Lebens traurig zu sehen., denkt Eugdnie doch, daß das von nun an die sich berühren, so wie es unsere arme kleine Schwester gewollt hat."
Beruf ung dieser jungen lWitwe ist : "Man kann ihr eine Trauer erlauben, die Einige Tage später spielt sich eine Szene ab, die außergewöhnlich und
ihr mehr und mehr zur Natur werden wird." unverständlich ist, wenn man sich nicht an all die Geschichten, all die An-
Dennoch ist man mit den armen Resten von Albert noch nicht am Ende. ekdoten des schwarzen Romans, der Berichte vom Scheintod, der Liebe im
Sie warten auf dem Friedhof Montparnasse auf ihren Transport nach Boury Innern der Gräber erinnert. Es ist makabre E,rotik des achtzehnten Jahr-
in der Normandie zum Schloß der Familie. Der Graf de La Ferronays hunderts, aber real und sublimiert, verfeinert, wobei die Sexualität entwe-
nimmt sich ihrer an: "\üir beschäftigen uns [in Boury] in diesem Augen- der abwesend oder verdrängt ist: "Vom Tag der Uberführung an war die
blick damit, den Friedhof herrichten zu lassen, wo wir, so Gott will, in Grube provisorisch mit Brettern bedeckt worden; gestern hat man sie fort-
einiger Zeit ausruhen werden." Alexandrine wird dort auch ihren Platz genommen, und Alexandrine hat einen Plan, den sie sich zurechtgelegt
haben. "Das ist heute der Gedanke, der uns beschäftigt; das, wovon wir hatte, aber fürchtete, nicht ausführen zu können, in die Tat umgesetzr. Ich
sprechen, die Zukunft, auf die wir hoffen. [Offensichtlich wird die klassi- vertraue ihn Dir als Geheimnis [von Olga an Pauline] an, denn sie hat ihn
sche Ausgewogenheit kaum gepilegt bei den La Ferronays !l Für viele Leute niemandem verraten aus Angst, daß das als extravagant erscheinen könnte.
wäre das traurig. Für uns ist es nicht so [. . .]. Liebes treues Kind IPauline], Gestern also [am 23. Oktober 1837] ist sie, nur in Anwesenheit von Julien,
wenn Deine Mutter und ich neben Deinem heiligen Bruder ruhen werden, mit Hilfe einer kleinen Leiter in die Grube herabgestiegen, die nicht sehr
wirst Du uns besuchen kommen und uns Deine guten Gebete schenken tief ist [das könnte noch eine ignatianische geistliche Übung sein, wie eine
fder Besuch am Grab]. Und dann eines Tages, oh ia, mein Kind, eines Tages, Meditation über einen Sarg, über einem offenen Grab, aber die Folge be-
hoffen wir es wohl, eines Tages wird dein köstlicher Traum in seiner ganzen weist wohl, daß die Geste zu einer anderen Empfindsamkeit gehört und zu
Fülle Virklichkeit werden." \Welcher köstliche Traum ? Pauline erklärt es in einer anderen Religion], um ein letztes Mal den Sarg zu berilbren und zu
einer Fußnote: es handelt sich um ihren eigenen Tod: "Ich hatte eines Tages hilssen, wo all das, was sie geliebt hat, eingeschlossen ist. Als sie das tat, lag
eine Art von Träumerei niedergeschrieben [Man schreibt enorm viel bei den sie in ihrem eigenen Grab auf den Knien."
L. F., Briefe, intime Tagebücher usw.], über das andere Leben, in dem ich Das Grab Alberts wird, wie es der Graf de La Ferronays ausdrückt, "das
das unendliche Glück beschrieb, die, die man auf Erden geliebt batte, wie- Ziel eines täglichen Pilgerzugs, wo wir zugleich für ihn beten und er für
derzufinden." (16) Schließlich ist der Friedhof von Boury bereit. Der'W'a- Lrns«. Er ist sechzig Jahre und die Gräfin 54. Sie sind alt.

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Am dritten Todestag Alberts, dem 29. Juni 1839, notiert Olga, das vor- Ein Tod, der wie viele andere zu dieser Zeithä:re sein können, wenn
letzte der Kinder der La Ferronays, in ihrem Tagebuch: "Albert! bete nicht etwas Außerordentiiches geschehen wäre, das die Mitglieder der Fa-
darum, daß ich gut sterbe. Dieses mit Rosen bedeckte Grab hat mich an den milie zu ,,Zergen eines wahrhaften Blitzschlags der Gnade" machte, wie
Himmel denken lassen.o einer von ihnen mit der in der Familie üblichen Einfachheit sagte.
Der Bericht vom Tod Alberts ist beendet. Er ist nicht der einzige, der Der Jude Ratisbonne, um dessen Bekehrung der Graf de La Ferronays
stirbt: sein großer liturgischer Tod wird von einer Konstellation von ande- Gott in seinem letzten Gebet angefleht hatte, hat sein Pauluserlebnis in der
ren Toden von Freunden umgeben, die mit einigen Details berichtet wer- Kirche Sant' Andrea delle Fratte vor dem Altar, neben dem man das Grab
den, die man vernachlässigen kann. Das erlaubt aber Olga, mit einer Art seines Fürsprechers vorbereitet. Nach seiner übernatürlichen Vision ist das
von BefriedigunB zu schreiben: "Jedermann stirbt gegenwärtig jung." erste 'tJüort des Neubekehrten: »Dieser Herr muß viel für mich gebetet ha-
Das Leben beginnt wieder: 1840 gehen Frau de La Ferronays und Olga ben." "\W'elches '\)ü'ort, teures Kind, über euren guten Vater, dessen Leich-
nach Goritz zu "dem König" (dem Grafen von Chambord). Dann kehrt die nam man kurz darau{ in diese Kirche trug !" Der tote Graf de La Ferronays
Familie nach Rom zurück (ohne Alexandrine, die in Paris geblieben ist bei ist also der Urheber der Bekehrung von Ratisbonne. Man kann sich die
Eug6nie, die sehr krank ist, und ihrem Gatten Adrien de Mun). Aber nun Aufregung, den Enthusiasmus, die die Familie ergriffen, vorstellen. Diese
stirbt Herr de La Ferronays. Ein Tod, der ofiensichtlich keiner wie die an- unermüdlichen Briefschreiber finden keine Worte mehr, um ihre Gefühle
dern ist, sondern von Vundern begleitet wird. auszudrücken; Eug6nie schreibt an Pauline: "das bedeutet, daß Gott uns
Am Sonntag, den 16. Januar 1842, diniert Herr de La Ferronays mit dem besucht hat. Ich bin außerstande, dir etwas zu erzählen, aber du wirst alles
Abb6 Dupanloup bei den Borghese. Herr de Bussiäre spricht dort von der wissen, die Einzelheiten dessen, was sich abgespielt hat, und die wunderba-
Anwesenheit des Juden Ratisbonne in Rom, dem Testamentvollstrecker ren Dinge, die uns umgeben haben. Oh ! Pauline, warum bist Du nicht hier,
von Sainte-Beuve, dem Autor von Fabeln für Kinder, dessen Bekehrung um auch getröstet zu werden."
zum Katholizismus er wünschte. Der Fall Ratisbonne ist dem Grafen Fer- Die Familie hat aber nicht die Zeit, sich lange über dieses außergewöhn-
ronays aufgefallen. Am folgenden Morgen, Montag, "wunderbares Wet- liche Ereignis zu freuen. Ein anderes Drama bereitet sich vor: der Tod Eu-
ter", Pilgerzug nach Santa Maria Maggiore; tägliche Vorbereitung auf den 96nies.
Tod (zwanzig "Gedenket. . .«, etc.) in der Kapelle Borghese. Am Abend, Im Februar 1838 hat Eug6nie Adrien de Mun geheiratet. Sie wird die
beklagt er sich "daß er seinen Schmerz fühlte"-", der zweifellos vom Herzen Mutter von Albert de Mun sein: der große Katholiken- und Royalistenfüh-
herrührt. Zuerst läßt man den Chirurgen zu einem Aderlaß kommen. Dann rer wurde zum Gedächtnis an seinen Onkel Alberr de La Ferronays Albert
kommen der Arzt und der Beichtvater, der Abbö Gerbet erteilt ihm die genannt.
Absolution. Der Arzt kündigt an, daß es keine Hoffnung mehr gibt, und es Sie führte auch ein Tagebuch in ihrer Jugend und während der Krankheit
geht in der Tat sehr schnell, allerdings bleibt Zeit zum Abschied: "Lebt Alberts, in dem die Besessenheit vom Tod, das religiöse Gefühl, die leiden-
wohl meine Kinder, lebwohl meine Frau", dann "riß er lebhaft das Kreuz schaftiiche Liebe zu ihrer Familie deutlich werden. "Ich habe Lust zu srer-
ab, das über seinem Bett hing und küßte es mit Inbrunst [. . .]. Bald kam ben", schrieb sie damals, "weil ich Lust habe, Dich zu sehen, mein Gott L . .
Entkräftung hinzu, ich sprach mit ihm, er hörte mich nicht mehr, ich bat Sterben ist eine Belohnung, weil es der Himmel ist . . . Vorausgesetzt, daß
ihn, mir die Hand zu drücken und diese teure Hand blieb ohne Bewegung ich nicht in diesem letzten Augenblick Angst habe. Mein Gott ! schicke mir
[. . .]. Adrien de Mun [sein Schwiegersohn] iand mich einige Stunden später Prüfungen, aber nicht diese. Die Lieblingsidee meines ganzen Lebens, der
auf den Knien, diese teure Hand fest umklammernd; er näherte sich mir Tod, der mir immer ein Lächeln entlockr hat. Oh nein, Du wirst es nicht
und mußte mich für toll halten, als ich ihm sagte: es geht mir gut, ich fühle zulassen, daß mich diese beständige Vorstellung, zu Dir zu kommen, in
mich so nahe bei ihm, mir scheint, daß wir niemals so vereint Bewesen diesem letzten Augenblick verläßt. . . Nichts hat mir jemals das \trüort Tod
sind." Sie verbrachte so den ganzen Tag "und hielt immer seine Hand, die verdüstern können. Ich sehe ihn immer vor mir, klar, leuchtend. Nicbts
ich in der meinen wärmte, um ihr den Anschein von Leben zu geben". hann f ür mich dieses Wort oon den beiden lieblicben'Worten trennen: Liebe
'i Der Bericht ist einem Brief von Frau de La Ferronays an Pauline entnommen. und Hoffnung [. . .] Shakespeare hat gesagt: Es ist ein Glück, nicht geboren

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zu sein I Nein, das nicht, denn man muß geboren werden, um Gott zu ken- nichts mehr übrig, als sie im Himmel mit ihrcm guten Vater, mit Albert, zzlt
nen und zu lieben. Aber das Glück besteht darin, zu sterben." (17) Dies den vier kleinen Engeln, die uns dort seit so langer Zeit erzaarten lihren
sind die geistlichen Übungen eines jungen Mädchens von weniger als zwan- Kindern, die nicht gelebt hatten], in ihrer Herrlichkeit zu betrachten." (18)
zig Jahren. Und dennoch fürchtet sie die \Welt nicht und sieht voraus, daß Kein Jahr ging vorüber ohne einen neuen Tuberkulosefall. Albert und
sie ihre Rolle darin mit Leidenschaft spielen könnte: Eu96nie waren ihre ersten Opfer gewesen, jetzt war die Reihe an Olga, dem
"Als Nonne würde ich
die \üelt nicht kennen, und es wäre mir nicht leid darum. Und doch, wer vorletzten der Kinder der La Ferronays. Nach dem Tod Eug6nies zieht
weiß, wenn ich in diese lVelt geworfen würde, hätte sie für mich vielleicht Olga zu Pauline nach Belgien. Die beiden Schwestern verbringen einige
eine Anziehungskraft, die meinem gegenwärtigen Haß gleichkäme." Tage am Meer bei Ostende: ,Dort an diesem traurigen Strand, an einem
Vor dem Tod ihres Vaters ist sie mit einem zweiten Sohn niedergekom- Tag, den ich nie vergessen werde, als ich Olga im Schein eines gewittrigen
men. Tuberkulosekrank, wie sie bereits war, erholte sie sich nicht mehr. Himmels betrachtete, war ich plötzlich über ihre Veränderung erschrocken
Pauline beginnt sich in ihrem fernen Brüssel zu beunruhigen: "Der Schat- und hatte den Eindruck, das '§ü'ort ist nicht stark genug, war überzeugt,daß
ten eines.bestimmten Schreckens folgte auf die unbestimmte Unruhe fin auch sie sterben würde.. An die Blässe des Gesichts und die Röte der Lip-
bezug auf Eug6niel, die ich bis dahin gehegt hatte." pen ist Pauline bereits gewöhnt; verglichen mit unserem medizinisch ge-
Nach der üblichen Behandlungsmethode schickt man sie mit ihrem Sohn schulten Blick von heute hat sie aber lange gebraucht, um die Diagnose zu
und ihrem Gatten nach Italien. Auf diese §(eise wohnt sie dem "wunderba- stellen oder zu vermuten. In der Nacht, die auf ihre Beobachtungen folgt,
ren- Tod ihres Vaters bei. tritt eine erste Krise ein, heftige Seitenstiche. Man kehrt schnell nach Brüs-
Rückfälle werfen sie nieder, sie begehrt dagegen auf in einer'§fleise, die sel ins Haus der Craven zurück: Olga legt sich zu Bett und wird sich nicht
die sehr wachsame Pauline auf ihrem belgischen Beobachtungsposten be- mehr erheben. Sie wird fünf Monate kämp{en, fünf Monate, "in denen wir
unruhigt, aber schnell kommt der Friede zurück, "den weder die Mutlosig- alle Schwankungen dieses schrecklichen Übels, das mehr als irgend ein an-
keit ihrer Seele noch die Leiden ihres Körpers störten«. deres das Herz mit Befürchtungen und Hoff nungen quält, durchmachten".
Am 2. April 1842 fährt sie von Rom nach Sizilien: die Arzte fordern eine Man beobachtet bei Pauline 1843 eine größere Präzision als bei Alexandrine
im Jahre i835.
"Luftveränderung". Die Familie begleitet sie bis nach Albano. "Man legte
ihr kleines Kind in ihren '§f'agen, damit sie es nach allen andern küssen Olga hat, wie Albert, wie Eug6nie, ihre Augenblicke der Entmutigung
könne, und Frau de Bussiöre [die Frau des Freundes Ratisbonnes] [...] und der Verzweiflung: 'Nur zu Beginn ihrer Krankheit weinte sie manch-
hörte sie murmeln, als sie ihr den letzten Kuß gab: Du wirst Deine Mutter mal, aber seit Anfang Januar [1843], d. h. seit dem Augenblick, als ihr Zu-
nicht mehr wiedersehen.. stand verzweifelt wurde, hatte sie keinen Augenblick mehr Nervenschmer-
Am 5. April Aufbruch in Neapel nach Palermo, eine Reise, die ihr Ende zen und Zustände der Rührung." (19)
beschleunigen mußte. Sie versucht Pauline zu schreiben, aber gelangtnicht Am 2. Januar 1843 schreibt sie an Alexandrine, die in Paris geblieben
über erste \Worte hinaus: "Liebste Schwester meines Lebens . . ." Der Tod 'q/ar, um ihr ein gutes Neues
Jahr zu wünschen: "Ich bin schwach, ich
ist schnell und sanft: sie war zu schwach, um sich bei der üblichen Inszenie- huste; ich habe meine Seitenstiche, ich bin müde, ich habe Nervenschmer-
rung aufzuhalten. Einer der Zuschauer, denn es gab immer welche, selbst zen. . . Meine kleine geliebte Schwester, bitte darum, daß ich geduldig sei,
wenn das Schauspiel kurz und schlecht vorbereitet war, schreibt: ,Heute solange Gott wil1. Ich habe den Entschluß gefaßt, so zu handeln, als ob ich
morgen zwischen 7 Uhr und 8 Uhr habe ich dem Tod oder eher der Glorifi- wüßte, daß ich an dieser Krankheit sterben soli." Man hat ihr nicht gesagt,
zierung eines Engels beigewohnt [. ..]. Sie $/ar aus dem Leben geschieden daß keine Hoffnung mehr besteht, und sogar "der Arzt sagt, daß ich im
ohne Erschütterung, ohne Anstrengung, mit einem 'Wort: so san{t, wie sie Frühjahr geheilt sein werde".
rWährend sie in ihrem Tagebuch immer vom Tod sprach, dem der andern
gelebt hat" (Brief des Marquis de Raigecourt an den Abbd Gerbet).
Und Frau de La Ferronays, die in einigen Monaten ihren Gatten und ihre und dem eigenen, vergißt sie einige Zeit, ihn zu sehen, als der Augenblick
Tochter verloren hat, schloß diese neue Familienepisode in einem Brief an für sie gekommen ist (sie ist kaum zwanzigJahre alt). "Eines Tages, als sie
Pauline: "Ich weine mit Dir über uns alle, denn was sie betrifft, so bleibt im Salon war, in den sie noch hinuntergehen konnte [. . .], war sie lange Zeit

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gedankenvoll gewesen, und ich saß schweigend nahe bei ihr und hörte frau Adrien fihrem Schwager, dem \ilitwer von Eug6nie], indem sie die
ängstlich ihre beschleunigte Atmung und betrachtete ihr immer mehr ver- Augen auf die Jungirau von Sasso Ferrato richtete, die über ihrem Bett
ändertes Gesicht. Plötzlich sagte sie mir mit ruhiger Stimme: '\Veißt Du, hing. Dann, als sie meine Brüder sah [sie sind beide anwesend], rief sie
daß ich in einer sehr guten Lage bin I Ja ' . . lVenn ich gesund werde, werde zuerst Charles [den älteren] und küßte ihn, wobei sie ihm sagte:,Liebe
ich das Frühjahr genießen, das Glück, meine Kräfte zurückkehren zu se- Gott, sei gut, ich bitte dich darum.. Ungefähr dieselben Worte zu Fernand,
hen, .. . meine teuren Narishkin [ihre liebsten Freundinnen] wiederzuse- mit noch mehr Nachdruck [sie hatte zweifellos ihre Gründe], wobei sie
hen, und wenn ich statt dessen sterbe, siehst Du, nach diesem ganzen Jahr, Abschiedsworte für die Narishkin Iihre besten Freundinnen] hinzufügte."
das wir hinter uns haben fder Tod ihres Vaters, ihrer Schwester Eug6nie], Nun kommen nach der Familie die Bediensteten an die Reihe: "Sie
und dann bei dieser Krankheit, die ich nicht los werde, und dann der voll- umarmte Maria und Emma, der sie mit leiser Stimme einige \üorte zuflü-
kommene Ablaß, den ich bei meinem Tod zu gewinnen hoffe [sehr wichtig : sterte [ein Geheimnis, dessen Vertraute sie war], dann sagte sie: 'Danke,
der Graf de La Ferronays hat sich, sobald er begriff, daß er sterben müsse, meine arme Justine. [zu der Kammerfrau, die sie pflegte und die die Mühe
auf sein Kruzifix gestürzt, hat es von der §fland ,gerissen., um Zeit zu ha- der Pflege hatte ertragen müssen]. Endlich [nun waren ihre nächsten An-
ben, diesen Ablaß zu gewinnen], all dies läßt mich glauben, daß ich recht verwandten an der Reihe] umarmte sie mich fPauline], dann wandte sie sich
schnell in den Himmel kommen werde.. Nach einem Augenblick des schließlich meiner Mutter zu, fir die sie ihren letzten Kuß aufsparen zu
Nachdenkens, fuhr sie mit derselben Ruhe fort: 'schließlich müßte ich, wollen schien. Sie wiederholte noch einmal: ,Ich glaube, ich liebe, ich hoffe,
wenn ich genese, dennoch eines Tages wieder anfangen zu leiden, um zu ich bereue. Ich befehle meine Seele in Deine Hände.. Und dann schließlich
sterben, so daß ich, da ich schon soviel gelitten habe und da ich an diesem einige undeutliche Worte, dessen letztes und das einzige, das ich gehört
Punkt angelangt bin . . .. Sie unterbrach sich, dann sagte sie zu mir: 'Auf alle habe, der Name Eug6nie war. Vater Pilat war in aller Eile angekommen und
Fälle hoffe ich,daß Du nicht, wenn man Dir mitteilte oder wenn Du merkst, sprach in diesem letzten Augenblick über ihr die großen Ablaßsprüche, die
daß es mir schlechter geht, so dumm bist, es mir nicht sofort zu sag€n.<« mit dem Skapulier verbunden sind. Olga hob die Augen zum Himmel, und
Sie verfaßt fromme Verse. Sie erinnert mich an das iunge Mädchen aus das war ihr letzter Blick. Ihre letzte Bewegung war, ihr kleines Kruzifix zu
Hachleberry Finn. Am 3. Februar gibt man ihr die Letzte Ölung. Anschlie- küssen, das sie niemais aus der Hand ließ und das sie während dieses kurzen
ßend wird ieden Tag danach die Messe im Nebenzimmer gelesen, und man Todeskampfes mindestens zehn Mal geküßt hatte..." Sie war bereits
erteilt ihr die Kommunion. schön: "Ein strahlender Ausdruck triumphierte über den schrecklichen
Am 10. Februar, um 10 Uhr, beginnt die Agonie mit ihrer ganzen tradi- Verfall ihrer Züge. Sie keuchte, doch so, wie es in dem Augenblick gesche-
tionellen Liturgie. Pauline beschreibt sie in ihrem Tagebuch: "Seit den er- hen mag, da man den Preis eines Vettlaufs gewinnt. . ." Einige Stunden
sten Augenblicken der Ohnmacht und der Atemnot verlangte sie nach ei- nach ihrem Tod, war sie noch viel schöner geworden: "Die tröstlichste
nem Priester, dann schaute sie ängstlich zur Tür, um zu sehen, ob meine Verwandlung hatte stattgefunden, alle Spuren der Krankheit waren ver-
Brüder kämen. [Man hatte diese zur großen Schlußzeremonie zusammen- schwunden, das Zimmer war in eine Kapelle verwandelt, in der unser Engel
gerufen.] Herr Slevin (ein guter irischer Priester, der zu dieser Zeit zufällig eingeschlafen war, umgeben von Blumen, weiß gekleidet und wieder so
bei uns wohnte) begann nach wenigen Augenblicken mit dem Sterbegebet. schön geworden, wie ich sie niemals während ihres Lebens gesehen hatte."
Olga hatte die Arme über der Brust gekreuzt [die Haltung der mittelalterli- Man begräbt sie in Boury.
chen ,Ruhend61., dann der aufgebahrten Toten] und sagte mit leiser und Einige Jahre gehen schnell vorbei, in denen sich nicht genug Todesfälle
inbrünstiger Stimme: ,Ich glaube, ich liebe, ich hoffe, ich bereue.' Dann: ereignen, denn Pauline interessiert sich nur für den Tod. Die Geburten, die
,Ich verzeihe allen, Gott segne euch alle... Es ist die Szene der Abschieds- Heiraten vrerden kaum erwähnt, lediglich als Orientierungspunkte.
worte und der Segnungen. Die Sterbende ist ein junges Mädchen, beinahe Gegen 1847 tritt die Vorahnung wieder in Erscheinung, man fühlt, daß
ein Kind, und dennoch ist sie es, die sie mit der Autorität und der Sicher- neue Liturgien sich vorbereiten, die letzten, eine von ihnen pathetisch und
heit, die ihr eine große Gewöhnung an derartige Zeremonien verliehen hat- romantisch, die von Alexandrine, die andere unauffälliger und klassischer,
ten, leitet. Einen Augenblick danach sagte sie: "Ich hinterlasse meine Jung- die von Frau de La Ferronays, die diese lange Serie von zehn großen Todes-

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iällen beendet, ohne die zweitrangigen Tod e zu zählen, die über etwas mehr sehnt, doch was nützt es ? Vir sind niemals gctrennt, und bald werde ich da
als zehn Jahre verteilt sind. sein, wo man die wunderbare Einheit, dic uns alle an Gott bindet, begreift,
Seit dem Tod ihres Gatten wird Alexandrine von frommen §Verken und und ich hoffe, daß es mir möglich sein wird, Dich zu betracbten. Aber bete
Andachten beansprucht. Sie bewohnt ein Zimmer in dem Kloster, wo sie viel f ür mich, wenn ich im Fegefeuer sein werde [dort wird sie in der Tat der
lebt. Bald, im Jahre 1847, magert sie ab, hustet, hat Atembeschwerden und Verbindung mit den ihren beraubt sein, und sie wird nicht die Macht haben,
Fieberanfälle. Es ist nicht erstaunlich, daß sie ebenfalls Tuberkulose be- I- Himmel Iwohin sie, wie sie glaubt, ziemlich
Pauline zu betrachten] . . .
kommen hat. Im Februar 1848 legt sie sich zu Bett. Frau de La Ferronays schnell kommen wird, dank so vieler guter rVerke, so großer Ablässe. . .]
kommt, um zu ihr zu ziehen und sie zu pflegen; sie schreibt an Pauline: "Sie werde ich Dicb sprecben, die andern teuren und ich. Aber mein Gott!Ich
[Alexandrine] spricht ganz schlichi von ihrem Tod, und gestern sagte sie spreche nicht von dem, was es bedeuten wird, Gott und die Heilige Jung-
mir: ,Meine Mutter, sprechen wir doch offen davon.." (20) In der Nacht frau zu sehen. : Es war Zei, daran zu denken, in der Tat, und diese etwas
vom 8. oder 9. Februar wird Frau de La Ferronays geweckt: "Der Augen- späte Erinnerung an ihre beseligende Vision zeigt sehr gut, wie sehr diese,
blick ist ganz nah.o "Als sie uns sah, sagte Alexandrine zu uns: ,Glaubt Ihr trotz aller Anstrengungen der Frömmigkeit, als sekundär empfunden
denn, daß es mir schlechter geht ?. Die Schwester sagt ja. Einen Augenblick wurde: das wirkliche Glück des Paradieses ist die Vereinigung der »teuren<<
danach wiederholt Alexandrine: 'Aber was läßt Euch denn glauben, daß ich Geliebten.
sterben werde? Ich fühle mich nicht schlechter als gewöhnlich.. [Doppel- Der andere Briei, den sie wohl diktiert hat, ist für ihre Mutter bestimmt.
deutiger Satz, in dem ich eine letzte hartnäckige Illusion wiederzuerkennen Man muß daran erinnern, daß Albert auf seinem Totenbett ihr ausdrücklich
glaube.] Die Schwester antwortete, daß sie schwächer werde. Ich drückte befohlen hatte, nicht zu ihrer lutheranischen Mutter zurückzukehren. Man
ihre Hand, ohne sprechen zu können. Sie war ruhig, sie sprach mit Mühe, erkennt hier das aggressive und fanatische Gesicht des Katholizismus des
aber sie artikulierte sehr gut, was sie sagen wollte." §?enn Sterbende Durst neunzehnten Jahrhunderts. Die einen und die andern sind davon über-
haben, stillt man ihn heute durch intravenöses Spritzen von Serum, wäh- zeugt, daß ein Glaubenswechsel vom Katholizismus zum Protestantismus
rend man sich damals damit begnügen mußte, den Mund des Sterbenden zu die einen der Gesellschaft der anderen im Paradies berauben würde. Man
befeuchten. Alexandrine glaubt, daß das ein Mittel ist, ihre Leiden zvver- §/agt die Mutter von Alexandrine nicht offen zur Hölle zu verdammen,
längern, und macht sich Sorgen deswegen. Man beruhigt sie: "Das war eine aber Alexandrine, das ist sicher, hat wenig Aussicht, sie im Himmel wieder-
kleine Erleichterung, die man ihr anbot." zusehen. Als ob es, im besten, aber durchaus nicht gewissen Falle, für jede
Der Augenblick der öffentlichen Zeremonie des Todes ist gekommen. Konfession getrennte Paradiese gäbe. In diesem letzten bewegenden und
jüngere Schwester], Adrien [der verwitwete Schwager], grausamen Brief von Alexandrine an ihre Mutter dringt die Unruhe über
"Albertine [die
Charles, Fernand waren angekommen, einer nach dem andern. Man sprach die Verschiedenheit der Religionen und ihrer Auswirkungen im Jenseits
die Sterbegebete. Sie antwortete darauf mit sehr klarer und sehr fester 6rs6!. "Ich hoffe, daß nichts Dein Vertrauen zu Gott erschüttert . . . wir
Stimme. . . Als man sie bewußtlos glaubte, schob sie noch die Lippen vor, werden uns wiedersehen, wir werden niemals getrennt sein. [Das ist die
um das Kruzifix zu küssen. Schließiich hört sie um halb neun auf zu atmen. große Frage, es besteht Zwei{el, und dieser Zwei|e\ hat seit der Heirat mit
Lieber Engel! Sie war für immer mit ihrem Albert vereint, mit all unseren Albert in den dennoch vertrauensvollen Beziehungen zwischen Mutter und
lieben Heiligen [die Toten der Familie, Albert, Olga, Eugdnie, werden Hei- Tochter immer eine Rolle gespielt.] Aber deswegen ist es nötig, daß Du
ligen gleichgestellt. Sie sind das Paradies], und wir weinten nur noch für Deinen ganzen teuren '§Villen auf Gott richtest [heutzutage würde man
sn5«, urlsy meinte sie, die wir nicht mehr ohne ihre Gegenwart leben hierin eine Erpressung sehen]. Ich flehe dich an [. . .], alle Tage zur Heiligen
konnten. Jungfrau zu beten. . ." "Auf 'Wiedersehen, ich fühle die süße Gewißheit,
Noch am Vorabend ihres Todes hatte Alexandrine für die, die nicht hat- und dies nun ohne jeden Schmerz und vor allem mit dem unendlichen
ten kommen können und die ihrem Herzen am nächsten standen, zwei Glück, Gott nicht mehr zu kränken." Es ist klar, daß die tiefere Ursache
Briefe vorbereitet. Der eine, den sie noch die Kraft hatte zu schreiben, war ihres Verhaltens die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ist, sich jenseits des
für Pauline bestimmt: "Ich habe Dich so lebhaft wie nur möglich herbeige- Grabes wiederzufinden. Da der Brief auf Französisch diktiert worden war,

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il
I

hatte Alexandrine mit ihrer sterbenden Hand die drei folgenden lVorte auf dachte, auf uelcbe Weise icb ibr sagen könnte, uas der Arzt dacbte":,Aber
Deutsch hinzufügen wollen: "Liebe süße Mama". ich sehe überhaupt nichts mehr, ich glaube, daß das der Tod ist..« Das ge-
Sie wird in Boury beerdigt, und Frau de La Ferronays macht folgende schieht ganz natürlich, auf die alte \üIeise. Sie beginnt einfach zu beten:
Bemerkung; "Die Ordensbruderschaft [es handelt sich um eine barmherzi- "Mein Gott, ich gebe Euch mein Herz, meine Seele, meinen \(illen, mein
ge Bruderschaft in der Normandie], wollte nicht dulden, daß man ihr helfe, Leben." Pauline ist erleichtert. Sie reagiert nicht panisch wie ihre Brüder
den Sarg zu tragen, und sie verließen sie erst, nachdem man sie nahe bei und Schwestern, die dies in den Briefen und Tagebüchern zugleich mit Un-
ihrem Albert niedergelegt hatte." ruhe und Verhaltenheit gezeigt hatten. Die Dinge werden so wie früher
Einige Monate später bricht die Revolution aus. Man fürchtet die Rück- erledigt, wobei die Bräuche geachtet werden.
kehr von 1789, und die ehemaligen Emigranten gehen wieder ins Exil. Al- "Ich habe mich hingekniet und ich habe sie gebeten, mir mit ihrem klei-
bertine, die letzte der Töchter der Familie La Ferronays, wird nach Baden nen Kreuz die Stirn zu berühren (das war ihre Art, uns zu segnen). Sie hat
geschickt, "in den Teil Deutschlands (...), den der revolutionäre Strom mich ebenso gesegnet wie Albertine [die aus Baden zurückgekehrt war]
noch nicht erfaßt hatte". Frau de La Ferronays flüchtet zu ihrerTochter und hat uns gesagt: ,Und für alle andern auch. [die Abwesenden, die Kna-
Pauline nach Brüssel. Dort wird sie am 15. November sterben. ben]. Dann hat sie dasselbeZeichen auf die Stirn von Auguste [dem Gatten
Ihr Fall ist deshalb interessant, weil sie, wenn sie die Gefühle ihres Gat- Paulines] gemacht. Ich habe sie gebeten, mir zu verzeihen. . . Nach einem
ten und ihrer Kinder auch geteilt hat, sie sich dennoch niemals ganz und gar Moment hat sie hinzugefügt: 'Ich versichere Dir, daß ich mit großer Freude
angeeignet hat. Die Gräfin Fernand, die die Familie ihres Mannes verab- ans Sterben denke fsogar siel], aber warum meine Kinder, habt Ihr nicht
scheut, hat wohl gesehen, daß ihre Schwiegermutter von anderer Art ist. schon einen Priester kommen lassen?. \Vir hatten schon ihren Beichtvater
holen lassen, aber das war ein sehr kranker Greis, der nicht vor dem näch-
"Aufrichtig fromm ihr ganzes Leben lang, war sie weit von der Unversöhn-
lichkeit der Neubekehrten entfernt, die man bei meinem Schwiegervater sten Morgen kommen konnte ! ,Morgen wird es vielleicht zu spät sein.,
bemerkte." Sie hatte sogar etwas Sinn für Humor, der ihrem Gatten und sagte meine Mutter [man wird die Deutlichkeit und Einfachheit des Tons
ihren Kindern völlig fremd war und den sie sich trotzdem bewahrt hatte. In bemerken: als ob es sich um eine Verabredung handelte, die man treffen
dem Brief, in dem sie Pauline die Umstände des Todes von Alexandrine muß]." Man entschließt sich, sich an den Vikar des Kirchspiels zu wenden.
erzählt, berichtet sie, daß letztere ihr eines Tages erkiärt hat: ",Man soll "Vährend man zur Kirche ging, erklärte meine Mutter mir einige kleine
Pauline sagen, daß es süß ist zu sterben.. Dann ein andermal, indem sie sich Details, die sich auf ihre letzten Verfügungen beziehen [die man früher in
an mich wandte: ,Und Sie, meine Mutter, haben Sie es nicht auch eilig, Gott das Testament setzte, aber man begnügt jetzt sich damit, sie der Umgebung
zu sehen ?." Obwohl sie eine gute Christin ist, hat Frau de La Ferronays es anzuvertrauen !], dann bemerkte sie, daß der P{arrer nur deutsch sprach,
nicht so eilig: "Und ich, feige, wie ich bin, wurde von Angst gepackt und eine Sprache, die sie kaum konnte. ,Aber schließlich habe ich vor wenigen
dachte, daß sie mich vieileicht nach sich ziehen würde, wie sie mich auch Tagen gebeichtet l.* '§üenn wir diese Ruhe, diese positive Art, mit der Uber-
mit in den Katechumenenunterricht, dann mit ihr in die Zurückgezogen- schwenglichkeit ihres Gatten und ihrer Kinder vergleichen, begreifen wir
heit und schließlich hierher ins Kloster! nehmen wollte... Ich antwortete die Bedeutung der Umwälzung, die in ein oder zwei Generationen erfolgt
ihr, daß ich zu wenig Mut besäße, um so den Tod herbeizurufen, und daß ist.
ich mich darau{ beschränkte, mich in Gottes Hand zu geben für alles, was Der Priester trif{t ein. Er erteilt die Letzte Olung. Man setzt die Kranke
ihm von mir zu verlangen gefiel." einen Augenblick in ihrem Bett auf : "Ich erblickte auf ihrem Gesicht eize
Schöne Antwort im erasmischen Tonfall, ein Stück siebzehntes Jahrhun- grolle und feierlicbe Veränderung, eine dieser Veränderungen, die dem Tod
dert in diesem romantischen Gießbach. Krank legt sich Frau de La Ferro- vorangehen. Aber diese Veränderung auf ihrem Gesicht war sehr scbön. . .
nays nieder, aber man hält ihren Zustand nicht für ernst . . . Plötzlich erklärt Kaum lag sie wieder auf ihrem Kopfkissen, sagte sie mir mit der deutlich-
der Arzt nach vier Tagen Krankheit, daß ihr Zustand gefährlich, und "eine sten und ruhigsten Stimme: ,Gib mir das Kruzifix deines Vaters.. Es war das
Stunde später, daß er hof{nungslos" sei. Pauline weiß nicht, was sie tun soll. Kruzifix, das mein Vater bei seinem Tod zwischen seinen Händen gehalten
"Als sie aus dem Bad kam [. . .], sagte sie mir plötzli ch, uäbrend ich daran hatte." Das Kruzifix der Toten!

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I
rl

Toi que j'ai recueilli sur sa boucbe exPirante \{ährend der Litaneien der Heiligen Jungfrau hörte sie auf zu sprechen,
Aaec son dernier souffle et son dernier adieu aber ihre Hand drückte noch die von Auguste bei jeder Antwort, und so
Symbole deux t'ois saint, don d'une main mourdnte ging es, bis ihr teures Leben ohne Anstrengung in meinen Armen erlosch."
Image d.e mon Dieu . . . Der Recit d'une seur endet mit dem Tod der Mutter. (22)
(Jn de ses braspendait de lat'unibre couche, In diesen Dokumenten, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt v/aren,
L'auÜe languissamtnent rePliö sur son ceur die für sich selbst oder für die Brüder und Schwestern, die Eltern und Kin-
Sembkit cbercher encore et Presser sur sa bouche der aufgeschrieben wurden, wird man zweifellos nicht nur über die Tatsa-
L'image du Sanneur . , . chen selbst erstaunt sein, sondern über die Sorgfalt, die daran gewendet
Ses löares s'entrouvaient pour l'embrasser encore, wird, sie zu berichten, über die Präzision der Details. Für die Frau, die sie
Mais son äme aoait fui dans ce divin baiser, zusammengetragen hat, stellen sie einen Schatz von Erinnerungen dar - hat
Comme un löger parfum que la t'lamme döpore Alexandrine nicht gesagt: "Ich wohne immer im Zimmer der Erinne-
Aaant de l'embraser. (21) rungen. «

"Meine Mutter nahm [das Kruzifix], und erst in diesem Augenblick


ließ
Alexandrine de Gaix
sie aus ihrer Hand ein kleines Etui fallen, das das Porträt meines Vaters
enthielt, das sie nie aus der Hand gab lromantic lorte der Geschichtsschrei- So einmalig wie die Familie der La Ferronays sein mag, so hat ihre Haltung
ber der Famiiie]. Sie legte es nachts unter ihr Kopfkissen und hatte es bis zu
angesichts des Todes doch nichts Außergewöhnliches. Hier ein anderes bei-
diesem letzten Augenblick in ihren Händen gehalten. Nun nahm sie das
nahe gleichzeitiges Zeugnis, das aber nicht mehr aus dem kosmopolitischen
Kruzifix, küßte es zärtlich [es ist nicht mehr die Zeit der temporalia, so und ultramontanen Milieu des großen Adels kommt. \üir befinden uns
legitim sie seien, sondern die Gottes, das ist die alte Tradition der artes nahe bei Castres, 1824, in der Familie de Gaix. (23) In ihrer Korrespondenz
moriendi, die von den romantischen Katholiken vernachlässigt wurde]." spricht die vierundzwanzigjährige Caroly von ihrer kleinen kranken
Sie sprach dann einige Gebete, die sie bei Olga bewundert hatte: "Ich Schwester, die wahrscheinlich tuberkulosekrank ist. §7ir finden hier diesel-
würde gern, wenn ich sterbe, wie sie sprechen." Aber da der Tod nicht be Gleichgültigkeit bezüglich der Arzte, aber deutlicher ausgedrückt: "§ü'ir
kommen wollte, begann man zum zweiten Mal mit der Abschiedsszene: haben keinen großen Glauben an die Arzte." Man spricht übrigens nicht
,Sie machte uns noch dreimal das Zeichen über der Stirn, legte ihre Hand
von der Krankheit selbst, von ihren Symptomen, ihrer Natur, höchstens
auf unsere Köpfe und sagte: 'lsh 5str. puch alle, abwesende, gegenwärtige, davon, daß die kleine Alexandrine (auch sie nennt sich Alexandrine !) leidet.
große und kleine.. Dann nahm sie wieder das Kreuz und sagte, indem sie sie Man wendet sich ebenso an Gott wie an die Arzte. Man hält neuntägige
betrachtete: ,8ald.." Sie nahmen die Stoßgebete, Gebete, Pater, Aaewieder Andachten und Messen in den Heiligtümern des Landes. "Vir haben für sie
auf. Aber sie war immer noch nicht erschöpft. "Sie saBte sie mit mir auf, an den Prinzen von Hohenlohe in Deutschland geschrieben Ieinen wunder-
dann begann sie allein ihr Credo und sagte es bis zum Ende . . . Danach tätigen Jesuiten] ; die Zeitungen sind voll von wunderbaren Heilungen, die
schlummerte sie, dann wachte sie wieder auf, ein bißchen aufgeregt und durch seine Gebete bewirkt wurden. Ich habe auch ein großes Vertrauen in
.Wir
sagte ,mein Gott, mein Gott., so wie wenn man leidet. fingen wieder
die Heilige Jungfrau. . . Aber andererseits fürchte ich wohl, daß meine
an, mit ihr zu beten; sie beruhigte sich bald und folgte dem, was wir sagten.
arme Schwester nur durch ein §ü'under genesen kann, und wir werden nicht
Toi qwe j'ai.. . Dich, die ich auf rhrem sterbenden Nlund gepflückt habe,/ Mit ihrem letzten gut genug sein, um es zu erhalten iOkt. l82a]."
Atem und ihrem letzten Lebewohl,l Zweifach heiliges Symbol, Gabe einer sterbenden Hand, Die kleine Alexandrine weiß, daß sie sehr krank ist. Sie ist nicht beein-
Abbild meines Gottes.. . Einer ihrer Arme hing von dem tauerlager herab,/ Der andere war druckt, spricht sogar über ihren Zustand. "Als sie in ihrem Bad lag, berühr-
verschmachtend auf ihr Herz gelegt/ Und schien noch zu suchen und au{ ihren Mund das Bild des
te ihr Körper nichts, da sie sich mit den Armen aufstützte. ,§gh1., 5xgte sie
Retters zu pressen . . . Ihre Lippen öflneten sich halb, um sie noch zu küssen.,/ Aber ihre Seele war
diesem gött)ichen Kuß entwichen,/ Vie ein leichtcs Parlunr, das die Ilamme ucrzehrt,/ Bevor sie
lachend zu mir, ,ich bin nur noch mit einem Faden mit der Erde ver-
sie in Brand steckt. bunden.."

548 549
Sie empf ängt in der Nacht vom 16. zum 77 . November 1 824 die Letzte (und antifranzösisch), eine Pastorenfamilie, die in einer Landpfarre in der
Ölung. ',Mein Kind, das ist ein Sakrament, das den Kranken die Gesund- Heide von Yorkshire isoliert lebte, ohne irgend jemanden zu sehen, außer
heit wiedergibt. Sage zum lieben Gott, er solle dich heilen., Bei diesen W'or- den Vikaren und Dienern. Vie die La Ferronays lasen und schrieben auch
ten wandte sie sich mit einem heiteren Anditz zu mir zurück. ,Ich fürchte die Brontös viel, aber die unzähligen Tagebücher und Briefe der La Ferro-
den Tod nicht., anrworrete sie mir. ,§(/'enn nicht für dich, dann bitte für nays haben in der Literaturgeschichte keine Spuren hinterlassen, während
deinen Vater, für deine Murter, für uns. . .." Wuthering Heights (Sturmböben) ein Meisterwerk ist und Jane Eyre ein
Nach der Zeremonie: ,,Nun, sagte ich ihr, hast du dich meines Auftrags packendes Dokument. Die Parallele zwischen den Brontös und den La Fer-
bei Gott entledigt?. ,Ja, sagte sie, ich habe ihn ein bifichen darum gebeten, ronays drängt sich auf.
mich zu heilen.. Anschließend, nach einem Augenblick der Stille: 'Mein Es wäre einfach Bewesen, mit den Briefen der Brontös ein symmetrisches
Gott, laß diesen Kelch vorübergehen, ohne daß ich ihn trinke, aber Dein Bild zu dem, das ich oben mit den Dokumenten der La Ferronays skizziert
Ville geschehe und nicht der meine.." habe, zu zeichnen. Ubrigens ist das schon gemacht worden, unglücklicher-
Caroly spricht nicht sofort vom Grab, auch nicht von der Beerdigung. weise in einer vergänglichen Form, in einer bemerkenswerten Serie von
Sie kommt aber zehn Jahre danach darauf zurück (zur selben Zeit wie beim Rundfunksendungen von Raymond und H6löne Bellour in France-Cultu-
Tod von Albert de La Ferronays), in den Notizen über das Kruzifix, das re, im Mai 7974, nach dem Jugendtagebuch und den Briefen der Brontös:
Kruzifix der heimlichen Messen während der Schreckensherrschaft, das Variationen über den Tod. Dem Hörer, der ich war, fielen dann die Ahn-
Kruzifix der Toten der Fx6ilis. "Einige Zeilen von charmanter Einfachheit, lichkeiten mit den La Ferronays auf, selbst wenn die Brontös, wenigstens
die am Tag ihrer ersten Kommunion geschrieben sind [wie Eug6nie, Olga], Emily, außerdem noch Genie hatten. Diese Übereinstimmung läßt die Exi-
haben uns ihr Geheimnis enrhülh: ,Ich liebe die Heiligen, die jung gestor- stenz einer der Epoche eigenen Grundhaltung vermuten, die hier tief und
ben sind, sagte sie. Mein Gott, laß mich iung sterben wie sie..o spontan gelebt wird und übrigens nahe daran ist, zum Gemeinplatz zu
"Sie war fünfzehn Jahre alt, als eine lange und schmerzhafte Krankheit, werden.
litt, ohne daß sie etwas sagte [und ohne, daß jemand es
an der sie seit langem Das Verk der Schwestern Bront€ selbst, ihr \üZerk der Phantasie, erlaubt
merkte], sie unserer Liebe entriß. . . Ja, sie war glücklich, immer lag ein uns, über ihre familiären Beziehungen hinauszusehen und zum unter der
Lächeln auf ihren Lippen, und als man ihr sagte, daß es ans Sterben ging, Oberfläche verborgenen Teil des Eisbergs vorzudringen. §7'ir wollen uns
begann ihr Gesicht zu strahlen . . . Am nächsten Morgen wurden die Reste damit begnügen, daran zu erinnern, daß das Leben der Brontös wie das der
unserer Alexandrine von allen jungen Mädchen des Kirchspiels nach Saint- La Ferronays eir.re Folge von Toden und von tödlichen Tuberkulosefällen
Junien getragen. Sie wurde am Fuß des Steinkreuzes beerdigt. Man stellte ist. Die Mutter stirbt und läßt sechs lebende Kinder zurück. Die Alteste,
einen Stein ohne Namen auf das Grab. Aber dieser Name, der sich nicht auf Maria, muß ihnen trotz ihrer Jugend die Mutter ersetzen: sie ist beim Tod
der Erde findet, ist in den Himmel eingeschrieben." (24) der Mutter acht Jahre ah. 1824 geht sie mit ihrer Schwester Elizabeth zur
Schule. Da sie von Tuberkulose befallen ist, muß man sie nach Hause zu-
rückschicken, wo sie sofort stirbt. Die kleine Elizabeth folgt ihr im selben
In England: Die Familie Brontö Jahr ins Grab. Diese erste schwarze Serie hindert den Vater Brontö nicht
daran, seine beiden anderen Töchter Emily und Charlotte 1825 zur Schule,
Ultramontane Träumereien, wird man sagen. Morbide Hirngespinste von in ein Pensionat, zu schicken. Man muß sie im folgenden'§(inter aus Ge-
Frauen, die von Priestern beherrscht wurden, in dem überreizten Klima der sundheitsrücksichten heimschicken. Emily stirbt 1848, ihr folgt fünf Mo-
Heiligen Allianz. Und dennoch werden wir nun trotz der Unterschiede des nate später ihre Schwester Anne. Man findet also dieselbe dramatische
Ausdrucks dieselben ebenso exaltierten Gefühle wieder{inden, zur glei- Folge von Tuberkulosefällen bei den Brontös wie bei den La Ferronays.
chen Zeit, in sozialen, ökonomischen, kulturellen Verhältnissen, die dies- Alle Kinder Brontö bewahrten eine außergewöhnliche Erinnerung an
mal völlig anders sind. Eine zahlreiche Familie, wie die La Ferronays, aber ihre ältere Schwester Maria. Zweifellos ist sie es, die sie in lVinternächten an
arm, protestantisch, sogar in methodistischer Tradition, sehr antipäpstlich das Fenster von Emily klopfen hören wie Catherine in lhtbering Heigbts,

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r
I
ein weißes Phantom, das der fremde Besucher voll Entsetzen an der Hand wir bei den La Ferronays sahen. "Ich wollte Dich sehen, Helen. Ich hörte,
faßt und zum Bluten bringt. Zwanzig Jahre nach dem Tod Marias, drei I

Du seiest sehr krank, sehr krank, und da konnte ich nicht schlafen, ohne mit
Jahre vor ihrem eigenen Tod, evoziert Emily noch ihre Erinnerung: Dir gesprochen zu haben. - Du kommst also, um Abschied zu nehmen I Du
kommst wohl gerade zur rechrcnZeit.
Cold in tbe eartb, and the deep snou piled abooe tbee !
- Gehst Du irgendwohin, Helen? Gehst Du nach Hause?
Far,far remooed, cold in the dreary graoe !
All my lif e's bliss frorn thy dear life was given
- la, zu meinem fernen, meinem letzten Haus ?
- - Nein, nein Helen!"
Allmy life's blissisin the grave witb tltee. Ein schwerer Hustenanfall unterbricht die Unterhaltung. Sie fängt einige
Augenblicke später wieder an. »f{glgn merkte, daß mir kalt war.
Charlotte Brontö ihrerseits denkt an ihre Schwester Maria, wenn sie sich
in Jane Eyre den Tod von Helen Burns vorstellt: Helen Burns hat Tuberku-
- Jane, Deine kleinen Füße sind bloß. Leg Dich nieder, wärme Dich
unter meiner Decke.
lose (consumption). Die Direktorin der boarding scbool, in der sie in Pen- Dies tat ich auch: Sie legte ihre Arme um mich, und ich kuschelte mich an
sion ist, beobachtet unruhig, aber hilflos den langsamen Verlauf der Krank- sie. Nach einem langen Schweigen, fing sie wieder flüsternd an.
heit. Man kommt nicht auf den Gedanken, sie von einem Arzt betreuen zu
- lch bin glücklich, Jane, wenn Du hörst, daß ich tot bin, mußt Du ruhig
lassen; dieser greift nur im Krisenfall ein. Eines Tages wird die boarding
sein und nicht trauern. Es gibt nichts zum trauern. §ü'ir werden alle eines
school von einer Typhusepidemie heimgesucht: der Gegensatz zwischen Tages sterben, und die Krankheit, die mich wegnimmt, ist nicht schmerz-
brutaler Epidemie und langsamer Aufzehrung. Helens Zustand verschlim- ha{t, sie ist sanft und schreitet unmerklich vor. Meine Seele ist ruhig. Ich
mert sich. Man isoliert sie zugleich von den Typhuskranken und den Ge- hinterlasse niemanden, der mich beweint [das ist ein wirklicher Trost, denn
sunden im Zimmer der Direktorin. Jane Eyre, Mitschülerin und Freundin wenn der Tod hier schmerzlich ist, ist er das nicht, weil er einen der Freuden
von Helen (sie ist vierzehn Jahre alt), ist nicht unruhig: "I-Jnter consump- und der Güter des Lebens beraubt, wie man im Mittelalter annahm, son-
tion verstand ich in meiner Unwissenheit etwas Sanftes, das die Zeit und die dern weil er uns von teuren W'esen trennt.] Ich habe nur einen Vater, der
Pflege sicherlich besiegen würden." wieder verheiratet ist und mich nicht vermissen wird. Dadurch, daß ich
Eines Tages fragt Jane Eyre unmittelbar nach dem Besuch des Arztes die jung sterbe, entgehe ich vielen Leiden. Ich habe keine der Vorzüge oder
Krankenschwester aus, die Helen pflegt; diese antwortet ohne die Rück- Talente, die man braucht, um Erfolg in der Welt zu haben: Ich würde stän-
sichtnahme, die wir heute erwarten würden, die aber auch schon von den dig alles verkehrt machen.
La Ferronays geübt wurde: "Er hat gesagt, daß sie hier nicht lange bleiben
- Aber wohin gehst Du, Helen? Kannst Du es sehen, es wissen?
ori1i." Ich übersetze wörtiich; sinngemäß übersetzt, würde das brutaler
- Ich glaube; ich habe den Glauben, ich gehe zu Gott.
klingen: Sie macht es nicht mehr lang. Da versteht Jane Eyre, daß ihre
- Wo ist Gott? §üas ist Gott?
Freundin sterben wird. Sie will ihr vor ihrer Abreise auf \ü/iedersehen * Mein Schöpfer und der Deine, der niemals das zerstören wird, was er
sagen: geschaffen hat [wie die La Ferronays hat sie Vertrauen in das Heil, und
"Ich wollte sie noch einmal umarmen, ehe sie starb." DieZeit drängt, dieser Glaube, der der Hölle keinen Platz läßt, ist weit von dem der Purita-
und der Zutritt zum Zimmer der Kranken ist verboten. Sie wartet die Nacht ner entferntl. Ich hänge nur noch von seiner Macht ab und verlasse mich
ab, bis alle Schülerinnen schlafen, steht auf, kleidet sich an, verläßt den gänzlich auf seine Güte, auf sein Mitleid. Ich zähle die Stunden, die mich
Schlafsaal und schleicht sich in das Zimmer, wo die kleine Sterbende liegt. vom wichtigsten Augenblick trennen, wo ich ihm wiedergegeben sein
Die Schwester ist eingeschlafen. Die Szene gleicht vollkommen dem, was werde und der ihn mir offenbaren wird.
- Du bist also sicher, Helen, daß ein Platz- wie der Himmel existiert und
Cold tn tbe earth... Kak in der Erde und tiefer Schnee auf dich gehäu[tl/ !fleic, weit ent- daß unsere Seelen dort hingehen können, wenn wir tot sein werden?
rückt, kalt in dem öden Gratli All meines Lebens Wonne kam mir von deinem teuren Leben -/ - Ich bin sicher, daß es ein künftiges Leben gibt. Ich glaube an die Güte
All meines Lebens Segen ruht mit Dir im Grab. Gottes. Ich kann ihm den unsterblichen Teil meiner selbst geben ohne

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Furcht, mich zu täuschen [die unsterbliche Seele, die dem verderblichen gene festgehalten wird, um endlich seinen letzten Augenblicken beizuwoh-
Körper entgegengesetzt ist]. Gott ist mein Vater, mein Freund. Ich liebe nen. Diese Gegenwart ist eine große Freude für Edgar. "Er sah seine Toch-
ihn; ich glaube, daß er mich liebt. ter mit Leidenscha{t an, er richtete Augen auf ihr Gesicht, die die Ekstase zu
- Und werde ich Dich noch wiedersehen, Helen, wenn ich tot bin Idas ist erweitern schien. Er starb @ie ein Glilchseliger. Ja. Indem er sie küßte,
die wichtigste Frage dieser Zeir, denn der Tod ist zur unerträglichen Tren- murmelte er: ,Ich gehe zu ihr [seiner Frau, Catherine I, die beim Tod seiner
nung geworden]. Tochter, der zweiten Catherine gestorben ist], und Du, teures Kind, wirst
- Du wirst in das selbe Land des Glücks kommen. Du wirst vom all- bald bei uns sein.,,, Ein außergewöhnlicher Satz, in dem der sterbende Vater
mächtigen Vater empfangen werden, dem Meister dieser Velt, das ist si- den Tod seiner Tochter vorwegnimmt, um sich schon im voraus an ihrer
cher, liebe Jane. [Eine Antwort von banaler Frömmigkeit, die meiner An- vollkommenen Vereinigung im Jenseits zu erfreuen. Man findet also in die-
sicht nach ein bißchen an Janes Frage vorbeigeht. Aber Helen will sich ser kurzen Beschreibung eines Todes die beiden grundlegenden Aspekte
nicht zu sehr von den orthodoxen Formulierungen entfernen. Naiver gear- des romantischen Todes zusammengedrängt: das Glück und die Vereini-
tet, antworteten die La Ferronays o{fener! Dennoch ist, bei all ihrer Zu- gung der Familie. Der eine ist die Evasion, die Befreiung, die Flucht in die
rückhaltung, Helens Gedanke im Grunde wohl der, daß der Himmel der Unendlichkeit des Jenseits, der andere ist der unerträgliche Bruch, den man
Ort ist, wo man sich wiedertrifft.] mit einer Viederherstellung dessen im Jenseits, was einen Augenblick lang
Ich nahm Helen in meine Arme. Sie erschien mir teurer als jemals. Ich zerrissen war, kompensieren muß.
fühlte, daß ich sie nicht gehen lassen konnte; ich vergrub mein Gesicht an Die Gedichte Emilys, die im Rahmen einer Art {amiliärer Pantomime
ihrem Hals. Dann sagte sie im leisesten Ton: geschrieben worden sind, nehmen diese beiden Gesichtspunkte wieder auf.
- Mir ist so wohll Der letzte Hustenanfall hat mich ein bißchen ermüdet. (26) Sie ist noch nicht zwanzig Jahre alt, als sie beginnt, diese traurigen
Ich glaube, ich kann schla{en, aber verlasse mich nicht, Jane. Ich möchte Verse zu schreiben, die heute eher mit Bitterkeit gesprochen scheinen:
Dich nahe bei mir haben. - Ich werde bei Dir bleiben, liebe Helen. Nie-
C ome, walh uith me - come, u; alk with me ;
mand wird mich von Dir trennen.
We were not once so t'eza;
- Ist Dir warm, Liebes ?
But Deatlt bas stolen our company
- la.
As sunsbine steals tbe dew:
- Gute Nacht, Jane. . . Gute Nacht, Helen.
He took them one by one, ad ue
Sie küßte mich, und wir schliefen beide bald ein.o Einige Stunden später
Are left, the only tuto. (1844)
fand die Schuldirektorin sie im Bett von Helen, "mein Gesicht an Helen
Burns Schulter, meine Arme um ihren Hals, ich war eingeschlafen - und Dieses junge Mädchen ist schon von den Gräbern ihrer Freunde und
Helen war 161". (25) Eltern umgeben.
Das ist nicht die große öffentliche Liturgie der La Ferronays. Sie ist sel-
For, lone, arnong tbe monntains cold,
ten bei den Brontös, diesen lVeltfernen. Es ist ein beinahe heimlicher Tod,
Lie those tbat I haoe looed of old,
aber kein einsamer: eine große Freundschaft hat die Freunde, Eltern, Prie-
And my heart aches, in speecbless pain,
ster ersetzt, die letzten W'orte kommen aus tiefstem Herzensgrund.
Exbausted zaitb repinings vain,
Der Tod Edgar Lintons (Wutbeing Heigbt) entspricht eher dem ro-
That I sball see them neor again! (1844)
mantischen französischen Typus, obwohl auch er unauffälliger ist. Die
Brontös füllen nicht das Zimmer mit ihren Sterbenden, sie ziehen die Ver- Come,walh... Kommgehmitmir-kommgehmitmir;/Einstwarenwirvielmehr;,/Aber
Tod hat unsere Freunde gestohlen,/ \üie der Sonnenschein den Tau stiehlt:/ Er nahm sie nach und
trautheit der großen Liebe, die andere ausschließt, vor. Edgar Linton weiß
nach, und wir/ Bleiben zurück, nur zwei allein.
seit langem, daß er sterben wird, jedermann im Haus weiß es und ist des- For, lone... Da einsam eingebettet zwischen diesen kalten Bergen/ Die ruhen, die ich einst
halb nicht beunruhigt. Seine Tochter Catherine (Catherine II) kann endlich geliebt,/ Und mein Herz quält sich in stummer Pein,/ Erschöplt in nichtigem Gram,/ Daß ich sie
aus dem benachbarten Gutshof flüchten, wo sie von ihrem Mann als Gefan- niemals wieder sehen werde.

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So hindert die Erinnerung an die Toten sie im Schlaf : But the glad eyes around me
Mustweep as mine hate done,
"Sleep brings no
jol to me, And I must see tlte same gloom
Remembrance nez,er die s ; Eclipse tbeir morning sun. (1839)
My soul is giaen to misery
And liaes in sigbes . , . Aber was geschieht mit den Toten ? \Werden sie in ihren Gräbern verlas-
The sbadou.,s of tbe dead in einer besseren rWelt wieder aufwachen ?
sen sein ? §(erden sie zusammen
My uahingeyes may never see Der Glaube der La Ferronays läßt keinen Zweifel zu. Emily Brontö teilt
Sunound my bed. . . (1837) nicht ihre beunruhigende Sicherheit, sie strauchelt über dem Abgrund:
'W'enn sie am Grab ihrer ältesten Schwester träumt, der mütterlichen
Zu schmerzliche Erinnerungen, als daß jemand sich darin gefallen kann: Schwester,
sievergiften das Leben jeden Tages mit Trauer und machen es unerträglich.
Der \ü(unsch zu sterben, der von dieser verurteilten jungen Kranken ausge- Cold intbe eartb, and fifteenwild Decembers
sprochen wird, ist keine literarische Haltung, sondern eine tiefe lVunde; From tbose broutn hills haoe mehed into spring . . . (8a5)
nicht eine individuelle rüunde, sondern ein Unglück der Epoche und der
vergißt nicht. Sie
Kultur. Ich glaube diesen Zeugen, die ganz jung sterben werden und es "Die Gezeiten der'§V'elt" drängen sie zu vergessen. Sie
wissen. muß im Gegenteil gegen Selbstmordgedanken ankämpfen:

Sleep brings no uish to knit Sternly denied its burning wish to hdsten
My barassed beart beneatb, Down to that tomb already m'ore tban mine !
My only zarsh is to forget And eoen yet, I dare not let it languish
In sleep of death. ('1839) Dare notindulge in Memorys rapturoils Pdin:
Once drinhing deep of tbat diainest anguisb,
Der Tod ist also eine Freude: Hout could I seeh tbe empty world again ? (1845)

Dead, dead is my ioy


Hier wird die 'stechende Ekstase der Erinnerung" mit der Nacht des
I long to be at rest;
Grabes assoziiert. Anderswo kündigt sie im Gegenteil das Überleben
I vtisb tbe damp eartb copered
fern dem unterirdischen Schweigen an:
Tbis desolate breast. (1839)

Und dennoch wird diese Vorfreude auf den Tod von der Strafe, die sie
denen, die bleiben, auferlegt, verändert:

Buttbeglad... AberdieentzücktenAugen,diemichumgeben,/Müssenweinen,wiediemei-
nen weinen,/ lch werde das selbe Gewitter sehen,/ Das ihre strahlenden Morgende verdunkelt.
Sleep brings.. . Schlaf bringt mir keine Freude,,/ Erinnerung nimmer stirbr,/ Meine Seele ist Cold in the eartb .. . ln der Erde erstarrt und fünfzehn unerbittliche'v/inter sind vergangen,/
dem Elend überlassen/ Und lebt in Seulzern . . ./ Die Schatten der Toten aber,/ Die meine wachen l)i"v6n 61..., wilden Hügeln in den Frühling verschmolzen sind...
Augen niemals sehen,/ Umringen mein Bett ,. . Sternly denied.. . Mit Strenge habe ich den glühenden §(unsch zurückgewiesen,/In dieses

Sleep brings .. . Schlaf schenkt mir keinen Vunsch,,/ Der mein gequältes Herz mit dem Hier Grab, das bereits mehr als meines ist, zu eilen !/ Und sogar jetzt noch wage ich nicht, mich diesem
verknüpfte,/ Mein einziger \üunsch ist zu vergessen/ Im Schlaf des Todes. Schmachten zu überlassen,/ Vage ich nicht, der leidenschaftlichen Pein der Erinnerung zu frö-
Dead,dead... Tod,TodistmeineFreude/MichuerlangtnachRuh:1lchnünschte,die nen./ Da ich einst tie{ von dieser göttlichen Angst trank,/ Vie könnre ich die leere §üelt wieder
feuchte Erde/ Bedeckte dicse verzweifehe Brust. suchen I

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O not t'or tbem sbould we despair [die Toten] Das war die Hauptsorge dieser katholischen oder protestantischen Chri-
Tbe graoe is drear, but they are not there: sten, die in der traditionellen Eschatologie ihrer Religion wenig Erleuch-
Their dust is mingled z»ith the sod; tung fanden. Diese stammte aus der Epoche, in der man nicht das Bedürfnis
Their bappy souls are gone to God!Q8aa) empfand, die Gefühle des Lebens, die zu menschlich schienen, über den
Tod hinaus zu verlängern . Ztr Zeit der Brontös fürchtete man eher, daß sie
Das ist das klassische Bild der christlichen Eschatologie. liflerden sie nicht auf diese
sich in der unendlichen Größe Gottes auflösten.
Rufe antworten?
But I'll not fear - I will not weep
For those, wbose bodies lie asleep : Oh non, mon Dieu ! Si la cöleste gloire
I hnow tbere is a blessed shore Le ur e ilt raai tout souoenir b umain
Opening its ports for me and mine ; Tu nous aurais enlevö la mömoire ;
And, gazingTime's uide wdters o'et Nos pleurs sur eux couleraient-ils en aain
I weary for tbat land divine.(1844) Ob ! dans ton sein que leur äme se noie.

Denn dieses Gestade wird nicht nur göttlich sein, sondern auch ein Ort (Vir überlassen das der Theologie, aber es ist für uns nicht das Entschei-
der ewigen Vereinigung : dende.)

Mais garde-nous nos Pldces dans leur ceur.


Where ue zoere bom -r.ubere yoa and I
Eux qui iadis ont goütö notre ioie ,
Shall meet our dearest, when ute die ;
Pouoons-nous €tre beureux sans leur bonheur ?
From sut'fering and conuption t'ree,
Re store d into D eity. $8aa)
Sehr banale Gefühle, die derselbe Lamartine in diesem Racineschen Vers
Alexandrine de La Ferronays hatte ihrerseits im Jahr nach ihrer Heirat in zusammengefaßt hatte:
Schreibheften und Auszügen Verse der Harmonies von Lamartine abge- ui t' aimait, n' e st-il p lu s rie n q ui t' aim
D e to ut c e q e?
schrieben:
Lamartine, die La Ferronays, ungezählte andere' die nichts Schriftliches
Prions pour eux, nous qu'ils ont tant aimös . . .
hinterließen, anonyme Romantiker, fanden die Befriedigung in der Sicher-
Ont-ils perdu ces doux noms d'ici bas?
heit eines Paradieses der wiedergefundenen Freundschaften. Emily Brontö
empfindet eine Unruhe: wenn sie ins Jenseits eingegangen ist, und sei es
noch so homelihe,werden da die Freundschaften die dunklen und dennoch
Onotfortbem... Owirdürfenkeinesfallsfürsieverzweifeln,/VenndasGrabfinsterist,
unersetzlichen Farben der Erde verlieren?
sind sie an einem andern Ort:/ Ihr Staub ist mit dem Boden vermischr,/ Ihre sehsamen Seelen
sind zu Gott aufgebrochen ! Ein sehr schönes Gedicht spricht von diesem Zögern und dieser viszera-
But I'll not fear... Aber ich will nicht fürchten - Ich will nicht weinen/ Für die, deren len Anklammerung an die Bindungen zur Erde bei dieser guten Christin,
Körper schlafend liegen :/ Ich weiß, dort ist ein gesegnetes Gestade,/ Das seine Tore für mich und
die meinen öffnet;/ Und über die weiten rJü'asser der Zeit hinüberstarrend/ Erschöpfe ich mich Ob non, mon Dieu... Oh nein! mein Gott! Venn der himmlische Ruhm/ Ihnen jede
für dieses göttliche Land. menschliche Erinnerung geraubt hätte,/ Hättest du uns das Gedächtnis genommen;/ Unsere
Where ue were bon. .. \flo wir geboren wurden - wo du und ich/ Unsere Liebsten treffen, Tränen über sie würden umsonst fließen,/ Oh! daß ihre Seele in Deinem Schoß ertrinke.
wenn wir sterben;/ Frei von Leiden und Zerserzung,/ Der Gottheit zurückgegeben. Mais garde-nous .. . Aber bewahre uns unseren Platz in ihrem Herzen./ Sie, die einst unsere
Prions pow etx.. . Beten wir für sie, wir die sie so geiiebt haben. . ./ Haben sie diese süßen Freude genossen haben,/ Können wir glück)ich sein ohne ihr Glück ?
Namen, die sie hier unten trugen, verlolen ? De tott... lbn allem, was dich liebce, ist denn nichts mehr das dich liebt?

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die an das ewige Leben glaubt. Das erste Bild ist eine Meditation über \Ye would not leaae our native bome
einen Friedhof : For any w orld b ey ond t b e'fomb.
I
I
No - ratber on thy hindly breast
I around me tombstones grey
see
I Let us be laid in lastingrest;
Stretching tbeir sbadows far atoay. I Or zaaken but to sbare u.tith thee
Beneath tbe turf my footsteps tread
A mu t u a I immort ality. (1. 84 1)
Lie low and lone tbe silent dead;
Beneatb tbe turf, beneath tbe mould - Die archaische Vorstellung des Schlafes, der requies, der Ruhe während
Forever darh, forever cold. (1841) .
einer dazwischenliegenden Wartezeit kehrt hier vielleicht so wieder, wie
die Spekulationen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts über die
Das andere Bild gilt dem Aufenthalt der Seligen, wo sich die Empfindun- lebenden Leichname sie wiederentdeckt hatten. Aber bei Emily wettei{ert
gen dieser Velt aufzulösen scheinen: sie mit einer anderen Vorstellung, die eher eingestanden wird und zu ihrer
I

Zeit schon vorbereitet war: der Tod als unendlicher Abgrund. Eine Vorstel-
Sweet land of ligbt ! tby children t'air lung, die zweifellos an die des Todes als Glück gebunden ist: das Glück,
Knoto nougbt akin to our despair;
sich im unendlichen Abgrund zu verlieren? Gottes? der Natur? Das ist
Nor haae tbey felt, nor can tbey tell
nicht wichtig. '§(as hier zählt, ist die gleichsam physische Vorstellung der
What tenants baunt eaclt mortal cell,
Unendlichkeit.
Wbat gloomy guestsue holdzoitbin-
Sie war ztr Zett der romantischen Epoche dabei, banal zu werden. Sie
Torments and madness, tears and sin I (7841)
existierte in der Mentalität der La Ferronays, und wir haben weiter oben
festgestellt, wie Albert de La Ferronays von der Unendlichkeit des Meeres
Daß aber jeder für sich bleibe:
angezogen war, das zugleich ein Symbol des Todes, Gottes und des Glücks
war. Bei Emily findet man das Bild des Meeres in demselben Sinn wieder.
Well, may tbey live in extasy
Tbeir long eternity ot' joy ;
Die Vergangenheit ist "ein Herbstabgnd«, an dem die romantischen
At least zae zoould not bring tbern doun Dichter auch die Gestalt des Todes sahen. Die Gegenwart ist "ein grüner,
'Witb
us to weep, taith us to groan, (1841)
mit Blumen bedeckter Zweig". Die Zukunft, wird sie der Sommer sein?
Nein, der Vergleich mit den Jahreszeiten gerät hier ins Wanken:
Vir, die Lebenden und die Toten, wir sind noch sehr lange Zeit mit unse- And ubat is the future, h appy one ?
rer Mutter, der Erde, verbunden, noch lange nach unserem Tod. \ü(/.ie lange ?
A sea beneath a cloudless sun;
Vielleicht bis zu einem Ereignis, das nicht genannt wird, das aber das Ende
A mighty, glorious, dazzlingsea
der \tr(elt bedeuten könnte, die Parusie in der traditionellen Eschatologie.
Stretcbing into int'inity. (1836)

I see arotnd .. . Um mich seh ich graue Grabsteine,/ Die ihre Schatten weit weg erstrecken./ Andere Bilder lösten die des Meeres ab, der Vind, die aufgewühlte
Dort unter dem Rasen, den meine Fußstapfen treten,/ Liegen tief und einsam die schweigsamen Heide, das Meer des Heidekrauts, rlie Nacht:
Toten;,/ I)ort unrer dem Rasen, unter dem Lehm -/ Für immer dunkel, für immer kalt.
Sweet land .. . Süßes Land des Lichts ! Deine schönen Kinder/ Kennen nichts, was unserer
'Wir
Verzweiflung gliche;/ Noch haben sie gefühlt, noch können sie erzäh\en,/ WelchePächterjede We uould not.. . würden nicht unser Vaterland verlassen/ Für irgendeine Velt jenseits
sterbliche Zelle bewohnen,/ VTelche düsteren Gäste wir darin beherbergen -/ Qualen und Krank- des Grabes./ Nein laß uns eher auf deiner milden Brust/ In dauerhafter Ruhe bleiben ;/ Und laß
-
heit, Tränen und Sünde! uns eryachen mit dir,/ Eine wechselseitige Unsterblichkeit zu teilen.
Well . . . la mögen sie in Ekstase leben,/ In ihrer langen Ewigkeit der Freude;/ Schließlich And what rs . . . Und die Zukunft, glückliches Kind ?/ Ein Meer unter einer wolkenlosen
würden wir sie nicht hinunterbringen,/ Mit uns zu weinen, mit uns zu stöhnen. Sonne;/ Ein mächtiges, herrliches, blendendes Meer,/ Das sich in die Unendlichkeit erstreckt.

560 561
I'm happiest, zahen most away Todes (der Zeremonie im Bett, dem Abschied, der Beerdigung) schenken,
I soulfrom its bome of clay
can bear m1t bei Emily ein besonderer Nachdruck auf den Zeichen und Bildern des

On a windy nigbt zaben the moon ß brigbt Unendlichen.


And tbe eye can uander through utorlds of ligbt.
Wben I am not andnon beside - Die Unterschiede der Details sind nicht so wichtig. Es ist ziemlich offen-
Nor eartb nor seanor cloudless shy - sichtlich, daß wir hier an einen Punkt gelangen, wo sich die Einstellungen
B ut only spirit w andering zo ide zum Tode in bedeutsamer'\Xi'eise wandeln. Jahrhundertelang waren sie un-
Tbro u gb int'inity immenslry. ( 1 83 8) gefähr gleich geblieben, kaum durch kleine Bewegungen erschüttert, die die
allgemeine Stabilität nicht mehr veränderten. Und plötzlich taucht zu Be-
Es ist nicht mehr die Rede von den teuien Verschwundenen. Die indivi- ginn des neunzehnten Jahrhunderts eine neue Empfindsamkeit auf , die sich
duellen Toten verlieren ihre Bedeutung und werden Glieder des universalen von all dem, was ihr vorhergegangen war, unterscheidet. Das hat sich in ein
Lebens, eine Vorstellung, die aus dem naturalistischen, biologistischen oder zwei Generationen abgespielt. Es ist das erste Mal im Verlauf dieser
achtzehnten Jahrhundert überkommen ist, aber bei dieser einsamen jungen Untersuchung, daß wir die Meinungen und die Geiühle sich so schnell än-
Frau in ihrer Einsiedelei von Ödland, Heide, Krankheit und Tod authen- dern sehen. Eine so schnelle Entwicklung, auf einem so dauerhaften psy-
tisch'Wurzel geschlagen hat. chologischen Feld, in einer so langsamen Geschichte ist eine bemerkens-
werte Tatsache, die eine Erklärung verlangt. Wuthering Heigbts, der Ro-
[Die Zeit] man von Emily Brontö, bringt uns den Ubergang, der bisher fehlte' Dieses
Stihe it doun, that other bougbs rnay f louisb außergewöhnliche Buch gehört zwei §flelten zugleich an. Es ist ein schwar-
Wbere tbat perished sapling used to be ; zer, diabolischer Roman, der denen ähnelt, die von Mario Prazin seinem
Thus at least, its rnouldering corps utill nourisb B,tch The Romantic Agony (27) unrersucht worden sind' aber darüberhin-
Tbat from ubich it sprung - Eternity. (1845) aus ist er auch ein Roman des neunzehnten, viktorianischen, romantischen
Jahrhunderts, wo die Leidenscha{ten und die heftigsten Gefühle sich nicht
\flir wollen unsere Analyse hier unterbrechen. Sie genügt für einen kur- der konventionellen Moral zu widersetzen scheinen, sondern im Gegenteil
zen Vergleich zwischen den Brontös und den La Ferronays. Ihre beiden sich ihr anpassen oder zumindest so tun' als ob sie sich anpaßten. Der Un-
Serien von Toten sind sehr ähnlich. Man findet bei beiden dieselbe Unduld- terschied zwischen der Immoralität des achtzehnten Jahrhunderts und der
samkeit beim Tod geliebter'Wesen, dieselbe Traurigkeit eines Lebens, das Moralität des neunzehnten Jahrhunderts ist nicht groß, und vielleicht be-
seiner Zuneigung beraubt ist, dasselbe Bedürfnis und dieselbe Sicherheit, dürfte es einer geringen Mühe, um Wutbering Heightsinder Art von Dide-
die Verschwundenen nach dem Tod wiederzufinden, und andererseits die- rot oder Lewis umzuschreiben. Aber dieses wenige ist die schwankende
selbe Bewunderung des Phänomens des Todes und der ihm innewohnen- Grenze zwischen zwei Empfindsamkeiten. \tr(ir wollen versuchen zu sehen,
den Schönheit. Andererseits haben wir einige Unterschiede bemerkt: die wie man von der einen zur anderen übergegangen ist.
weniger große Beachtung, die die Brontös den öffentlichen Aspekten des Der Held von Wuthering Heigbtsisr ein Mensch des ausgehenden acht-
zehnten Jahrhunderts, der diabolischen Romantik, ein Rebell. Er erinnert
mich an den freigeistigen Advokaten, von dem Bellarmin am Ende seiner
I'ambappiest... Ichbinamglücklichsten,wennichweitweg/MeineSeeleausihremLehm-
haus tragen kann,/ In einer windigen Nacht, wenn der Mond hell scheint/ Und wenn das Auge De arte bene moriendl (Kunst des rechten Sterbens) spricht, der so stirbt,
durch rü/elten von Licht wandem kann./ Venn ich nicht und nichts anderes mehr ist -/
Veder als ob er zu seinem Landhaus aufbräche. Heathcliff, in den Straßen von
Erde noch Meer noch wolkenloser Himmel -/ Sondern nur ein Geist auf Reisenl In der unendli- Liverpool aufgelesen, kommt von nirgendwo her, er hat keinen Namen' Er
chen Unemeßlichkeit.
bricht eines Tages auf, man weiß nicht wohin, kommt reich und mächtig
The time . . . (Die Zeit)/ Schlägt ihn nieder, daß andere Aste blühen können/ Dort, wo dieser
ermattete Sprößling sproß;/ So daß sein modernder Leichnam das nähren wird,/ Dem er ent- zurück, ohne daß man wüßte wie. Er ist dunkelhäutig, wie die verwünsch-
sprang - die Ewigkeit. ten Kinder aus Agypten oder Böhmen. Er lebt inmitten großer Feuer wie

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die Leute der Hölle, umgeben von grimmigen Hunden. Er ist grausam zu Geräteschuppen und begann aus allen Kräften zu graben - er stieß an den
den Menschen wie zu den Tieren, ohne deshalb weniger als Edelmann zu Sarg; ich arbeitete mit den Händen weiter;und das Holz begann an der
wirken: "Ein Element der Gezeiten, ein Kind des Felsens und der Erde und Stelle, wo die Schrauben saßen, zu krachen." Man erkennt die Szene wie-
des Unwetters." (28) Der Hauptgegenstand des Buchs ist die Leidenschaft, der: sie ist der schwarzen und sadeschen Literatur entnommen. Man würde
die Heathcliff, eine von der satanischen Literatur geprägte Gestalt, für Ca- nicht erwarten, sie mit all ihrer Zweideutigkeit bei dieser keuschen Pasto-
therine empfindet, auch sie eine Kreatur von Erde und §find, mit der er wie rentochter wiederzufinden, die eigentlich niemals ihr ländliches Pfarrhaus
Bruder und Schwester aufgewachsen ist. veriassen hatte. Aber die Ahnlichkeit endet mit diesem Beginn der Ausgra-
Alles, was mit Sexualität zu tun hat, wird verschwiegen, ohne daß es bung. Heathcliff wird nicht weiter gehen, zum mindesten dieses Mal: "Ich
abwesend wäre. So wird das 'W'ort Inzest nicht ausgesprochen, und übri- war dabei, mein Ziel zu erreichen, als es mir schien, als hörte ich einen
gens gibt es keinen wirklichen Inzest, sondern etwas, was den menschli- Seufzer, der von oben, aus der Richtung des Sarges, zu vernehmen war. . .
chen Regeln fremd und dem Tierischen nahe ist. So kor:mt es eines Tages Da war noch ein anderer Seufzer, nahe an meinem Ohr. Mir schien, daß ich
zu einer schrecklichen Szene, die von Heathcliff provoziert wird und in den warmen Atem anstelle des eisigen Nachtwinds spürte. Ich wußte, daß
deren Veriauf Catherine zusammenbricht. Es hat keineriei Hinweis darauf kein Vesen aus Fleisch und Blut in der Nähe war, aber so sicher, wie man
gegeben, daß sie guter Hoffnung war; niemand hat erwähnt, daß sie am das Herannahen eines lebendigen'W'esens im Dunkeln fühlt, obwohl es
Ende ihrer Schwangerschaft war, die dennoch sichtbar sein mußte: Aber nicht zu erkennen ist, so sicher fühlte ich, daß Cathy da war: nicht unter
diese Dinge werden weder ausgesprochen noch gesehen. So wird sie am mir, sondern auf der Erde." Das war die Kommunikation mit einem Geist:
nächsten Tag sterben, kurz nachdem sie Catherine II zur \üü'elt gebracht hat, ein neues Phänomen, das sich von der Erscheinung eines Gespenstes unter-
die Tochter aus ihrer Ehe mit Edgar Linton, dem squire des Dorfes, einem schied. Früher war die Viederkehr einer Seele Zeichen für Unglück und
Vertreter der Zivilisation, der im Gegensatz steht zu diesen Kreaturen der Verzweiflung, die man verhindern mußte, indem man ihre Forderungen
Erde, wie Heathcliff und Catherine. Als Heathcliff schließlich Isabelle hei- mit schwarzer oder weißer Magie be{riedigte. Nun ist es der Geist des Ver-
ratet, wird immer noch nicht Genaues über ihre Beziehung gesagt, aber schwundenen, der zu dem zurückkehrt, den er geliebt hat und der ihn ruft.
alles läuft so ab, daß wir es wissen können, wenn wir uns die Mühe machen ,Da erfüllte mich ein plötzliches Gefühl der Erleichterung, das von mei-
wollen. Sie haben Betrennte Schlaf zimmer, aber sofort nach der Heirat wird nem Herzen aus alle Glieder durchströmte. Ich beendete meine verzweifel-
ein Kind empfangen. Die Dinge der Liebe sind gegenwärtig, wenn auch te Arbeit, und ich fühlte mich getröstet von einer unsagbaren Tröstung. Sie
sehr versteckt und aus dem Diskurs ausgeschlossen. war bei mir, blieb bei mir, während ich das Grab wieder zuschaufelte, und
Alles, was in einem älteren Roman erotisch, makaber oder diabolisch begleitete mich nach Haus. . . Ich war, sicher, daß sie bei mir war und ich
gey/esen wäre, wird leidenschaftlich, moralisch und bezieht sich auf den konnte mich nicht enthalten, n.rit ihr zu sprechen. Ich sah ungeduldig um
Tod. mich - Ich {ühlte, sie war bei mir. Ich konnte sie beinahe sehen und doch
So vollzieht sich der übergang von der makabren Erotik des siebzehn- konnte ich es nichtl lI could almost- vom Autor unterstrichen - see ber,
ten und achtzehnten Jahrhunderts, die im vorhergehenden Kapitel unter- and yet I could not)."
suchtworden ist, zum schönenTod des 19. Jahrhunderts. Aberwie?Daser- Nun beginnt für Heathcliff eine qualvolle Periode. Er schläft in dem
öffnet uns eine Episode aus Wuthering Heigbx (29). Catherine I ist beerdigt Kinderzimmer von Catherine, dessen \üandbett sie mit Gekritzel bedeckt
worden, nicht in der Kirche, sondern auf dem Friedhof. Heathcliff ist ver- hatte. Er folgt ihren Spuren im Haus. Er glaubt, daß sie ihm erscheinen
zweifelt: "Am Tag ihrer Beerdigung schneite es. Abends ging ich zum wird, er fühlt ihre Gegenwart, und dennoch entgeht sie ihm in dem Augen-
Friedhof . . . Ringsumher war es einsam. Ich war allein, und zugleich war blick, wo er ho{ft, sie zu {assen. Er schließt die Augen und wartet darauf, sie
mir bewußt, daß gerade zwei Yards lockerer Erde uns trennten, ich sagte zu sehen, er öffnet sie wieder: Nichts. Niemand.
bei mir: Ich will sie wieder in meinen Armen haltenl'Wenn sie kalt ist, Heathcliff ist also sicher, daß die, die er liebt, eine Desinkarnierte, in
werde ich denken, daß es der Nordwind ist, der mich erschauern macht; Gestalt eines Geistes überlebt. Er fühlt ihre Gegenwart und es gelingt ihm
und wenn sie regungslos ist, daß sie schläft. Ich holte einen Spaten aus dem nicht, sie zu realisieren. Daher die leidvolle und leere Jagd nach diesem

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I Phantom, das zugleich nah und ungreifbar ist. Man hat das Gefühl, daß es zu denen kommt, die ihn betrauern, sondern das verfluchte Phantom, das
sich um eine selbst erlebte Geschichte handelt, eine vertrauliche Mitteilung man exorzisieren muß. Die Tatsache, die Leiche von Catherine wiedergese-
der Autorin, die sich dieser Prüfungen auf der Suche nach ihren Ver- hen und eine körperliche Begegnung mit ihr gehabt zu haben, hat ihm die
schwundenen erinnert. Ihre Gedichte stellen, wie wir gesehen haben, eine Ruhe wiedergegeben. "Jetzt habe ich sie gesehen und habe fortan Frieden. "
qualvolle Alternative zwischen dem Schweigen des Grabes und der Vereini- Nach Heathcli{fs Tod werden die beiden diabolischen Geliebten vereint
gung und der Rückkehr der Seelen dar. Ihr Zögern ist bedeutsam für das sein, nicht im Paradies Gottes und der Engel, wo sie keinen Platz haben und
Verständnis der Mentalität des neunzehnten Jahrhunderts. Der Tote weilt in das sie auch nicht zu kornmen wünschten, sondern unter der Erde , uo sie
zugleich im Grab, wo er seit dem Ende des Hochmittelalters nicht mehr sicb zusamrnen auflösen. Denn bei Catherine hat es ein miraculummort,'to-
existierte (er wurde der Kirche anvertraut, die mit ihm tat, was sie wollte), rum gegeben: nach siebzehn Jahren ist ihr Leichnam noch erhalten. Der
und auch in den Lüften, sei es in den Wohnstätten des Himmels, sei es in der Friedhof des Dorfes hat den Ruf - das wird auch an anderer Stelle erwähnt
Umgebung der Lebenden, eine ungreifbare Gegenwart. -, die Leichen ,einzubalsamieren«. Es handelt sich um einen Mumienfried-
Heathcliff verspürt dieselbe doppelte Anziehungskraft. Er hat eines Ta- hof ; dank der Eigenschaften dieser Erde war es Heathcliff möglich, die
ges, am Tag der Beerdigung, den Sarg wieder geschlossen, um dem Luftgeist unveränderten Züge seiner Liebsten wiederzu{inden.
zu folgen. Vergeblich. Er wird also zum Friedhof zurückkehren und das Die Dinge hätten sich anders abspielen können. Er konnte einer solchen
Grab wieder öffnen. Konservierung nicht sicher sein, als er den Sarg öffnete. So sagte ihm die
Eine Gelegenheit bietet sich an. Der Gatte von Catherine I stirbt. Er wird Haushälterin: ,§V'as wäre geschehen, was hättet Ihr Euch vorgestellt, wenn
nicht in der Kirche bei seinen Vorfahren beerdigt, sondern auf dem Fried- sie zu Erde oder Schlimmerem au{gelöst worden wäre ? - Mich mit ihr auf-
hof bei seiner Frau. "Ich habe den Totengräber gebeten", sagt Heathcli{f, zulösen und noch glücklicher zu sein [da es dann eine vollständige Vereini-
gung gewesen wäre, eine ewige Umarmung]... Ich erwartete wohl eine
"den Deckel ihres Sarges freizulegen, und ich öffnete ihn.o Diesmal haben
wir eine Situation wie in der erotisch-makabren Literatur. Küßt er sie ? Die Anderung dieser Art, als ich den Sargdeckel öffnete. Aber ich ziehe vor, daß
Autorin sagt, entsprechend ihrer Gewohnheit, nichts darüber, aber es ist sie noch nicht begonne nhat, bertor ich selbst daran teilnebmen kann." Ca-
sehr gut möglich ! Sie ist aber vor siebzehn Jabrenbeerdigt worden. Wun- therine hat für dieses letzte Rendezvous der gemeinsamen Auflösung auf
der, ja, '§flunder, sie ist unversehrt. Das wird mit einem halben §ü'ort gesagt. ihn gewartet.
In Erwartung dieses letzten Augenblicks verfällt Heathclifi in eine Ek-
"Ich habe damals geglaubt, ich würde dort bleiben, als ich ihr Gesicht wie-
dersah, ,tnd es war irnmer nocb ihresfHervorhebung von Ph. A.]; er hatte stase, die der von Heiligen ähnelt und sich über mehrere Tage hinzieht. Er
große Mühe, mich wegzubekommen, aber er sagte, daß es sich verändern hat die Reflexe des Lebens verloren: "Ich muß mich daran erinnern, daß
würde, v/enn es länger der Luft ausgesetzt wäre.. Da schließt Heathcliff man atmen muß, daß es nötig ist, daß mein Herz schlägt." Und endlich
den Sarg wieder, löst aber eine Seitenwand, und zwar nicht auf Lintons steht alles still.
Seite. Er bezahlt den Totengräber, damit er am Tag seiner eigenen Beerdi- Im Verk des in seinem Pfarrhaus und in seiner Heide eingeschlossenen
gung, die, wie er weiß, nicht lange auf sich warten lassen wird, die Sargbret- jungen Mädchens, das aber von der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts
ter zwischen ihnen wegnimmt, so daß Linton, »wenn er zurückkommen und auch den volkstümlichen Erzählungen und den ältesten Legenden er-
wird, nicht mehr weiß, wer nun wer ist.. Die Toten werden wiederkom- füllt ist, findet sich das traditionelle Bild der Ruhe und des Erwartens wie-
men, Heathcliff, der an nichts glaubt und vor allem nicht an Gott, zweifelt der, das zeitweilige \(/eiterleben des beerdigten Leichnams, die physische
nicht daran. "Sie scheuen sich nicht, die Toten zu stören?« sagt ihm seine Schönheit des Todes, der Schwindel, den die Todesneigung bei den Leben-
Haushälterin, seine Betreuerin aus der Kindheit, der er sich anvertraut. den hervorruft, die Anziehungskraft der Unendlichkeit - eine andere Form
dieses Schwindels -, die gemeinsame Auflösung in der ewigen Arbeit der
"Ich störe niemand, ich schaffe mir nur etwas Erleichterung. Ich werde
mich ietzt viel wohler fühlen; und Sie werden eine bessere Aussicht haben, Natur und schließlich durch all diese \(ünsche hindurch, die die Menschen
mich unter der Erde zu halten, wenn ich erst dort bin." In der Tat wird er, mitreißen, nicht mehr zu dem unverrückbaren Ort Gottes, sondern in ei-
wenn man seiner Forderung nicht nachgibt, nicht mehr der Geist sein, der nen fortwährenden Strom, der einzigen {esten Zone dieser versinkenden

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\Welt, die Vereinung in einem
Jenseits, das nicht notwendig das paradies ist, Die Kinder waren aufgebrochen, oder der Ehemann hatte die Frau und
wo alle vereinigt sind, die sich auf Erden geliebt haben, damit sie ewig ihren i
die Kinder zu Hause zurückgelassen, die Brüder und Schwestern waren nun
irdischen Neigungen folgen können. für das ganze Leben getrennt und wußten, daß sie sich niemals wiedersehen
würden. Die Korrespondenz hat Bande aufrechterhalten, die sich andern-
falls gelockert hätten. Die meisten Briefe und Tagebücher stammen von der
In Amerika: Die Briefe der Auswanderer Hand ihres Autors und sind keinem öffentlichen Schreiber mehr diktiert
worden. Aber bis auf diese Einschränkung hinsichtlich der Schriftlichkeit
Nach den Franzosen und Engländern nun die Amerikaner derselben und gibt es in den zum Ausdruck gebrachten fast nichts, das nicht alt und tradi-
einer späteren Zeir. Die Historiker Amerikas haben begonnen, die Einstel- tionell wäre, nichts, was von den erneuernden Einflüssen des neunzehnten
lungen zum Tode in ihren Ländern zu studieren, und ihr Unrernehmen ist Jahrhunderts abhinge.
von großem Inreresse, nicht nur f;J;r die American Studies: Sie haben ein L. O. Saum nennt die Anonymität der Kleinkinder als Beispiel für die
reiches dokumentarisches Material erschlossen, das in Europa entweder zwanghafre Beschäftigung mit dem Tod. Die Namenslisten der Familien
überhaupt nicht existiert hat oder verschwunden ist. Die Briefe, die an ei- enden nach der Altersordnung mit dem jüngsten. lVenn diese etwas weni-
nen Verwandten geschrieben wurden, um ihm Nachricht von der Familie ger als ein Jahr alt sind, werden sie summarischals anonymous, unnamed,
zu geben, ihm die Geburten, die Heiraten und die Todesfälle mitzuteilen. not namedbezeichnet. Sie haben keinen Namen. Aber die Namenlosigkeit
Sie stammen also von Auswanderern oder aus ihrer Heimat vertriebenen der kleinen Kinder oder die Gleichgültigkeit im Hinblick auf sie ist eine
armen Leuten, Menschen bescheidener Herkunft, die aber schreiben kön- Eigenheit, die allen traditionellen Gesellschaften gemeinsam ist, und diese
nen, soBar wenn der Stil ungeschickt bleibt, die Orthographie falsch und Dokumente zeigen uns, daß sie im volkstümlichen Amerika überlebte. Das
keine Zeichensetzung vorhanden ist. wird noch offensichtlicher durch den protestantischen Brauch, die Kinder
Velche Einstellungen zum Tode zeigen diese Korrespondenzen? Lewis nicht nach ihrer Geburt zu taufen. Aber die Taufe zu verzögern isr eine
O. Saum, der sie analysiert hat, war über die Häufigkeit der Todesberichte Sache, dem Kind keinen Namen zu geben eine andere.
erstaunt (so wie die Historiker des ausgehenden Mittelalters von den ma- Ebenso die rhetorischen Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich der Lebens-
kabren Themen beeindruckt waren [30]). Er hat daraus den Schluß gezo- dauer der Personen und besonders der Kinder. So mäßigen die Eltern, die
gen, daß der Tod während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts schon ein Kind verloren haben, wenn sie die Geburt eines Kindes ankündi-
das Gefühlsleben Amerikas beherrschte. Daß der Tod wahrscheinlich die gen, ihre Freude durch eine gebräuchliche Einschränkung, die das Schicksal
Bedeutung hatte, die ihm hier zugesprochen wird, wissen wir aus anderen beschwören soll. "lVieviel Zeit wird uns vergönnt sein, um es zu behalten,
Quellen, diese Briefe jedoch beweisen das nicht. Im Gegenteil, sie zeigen, wir wissen es nicht." l)er Verf asser eines intimen Tagebuchs beginnt folgen-
daß in der mobilen amerikanischen Bevölkerung der Epoche eine sehr alte, dermaßen: "Morgen werde ich 23 Jahre alt, wenn ich noch lebe." "'Wenn
tausendjährige Haltung der Vertrautheit mit dem Tod, die den Heiden und Gott mir Leben gibt", sagte man im alten Frankreich. Eine Art, die Gewiß-
den Christen, den Katholiken und den Proresranten im ganzen lateinischen heit des Todes anzuerkennen und die Ungewißheit seiner Stunde, die Ver-
Okzident gemeinsam ist, fortbesteht. Ich habe ihn hier den ,gezähmten trautheit mit dem Tod, diesem alten Gefährten, zu zeigen.
Tod« genannt und mit dem sprichwörtlichen Thema ,V/ir sterben alle" L. O. Saum bemerkt, daß in seinen Dokumenten die intensiven Augen-
erläutert (Kap. 1). blicke, an denen man am meisten anteilnimmt, eher die des Totenbettes als
rü7enn es also ein neues Element die des Grabes sind. Er neigt dazu, darin ein Zeichen der Thanatophilie zu
gibt, und zsrar neu genu6i, um über die
Natur des Phänomens hinwegzutäuschen, dann ist es dies, daß der Tod in sehen: Aber diese Totenbettszenen ähneln den "krank Darniederliegen-
Amerika beschrieben wurde und nicht mehr nur besprochen. Dieser über- den" unserer Testamente, den Bauernstuben voller Leute, die die hygiene-
gang vom Mündlichen zum Schriftlichen muß die Folge der Mobilität der besessenen Arzte des achtzehnten Iahrhunderts nicht zu leeren vermoch-
amerikanischen Bevölkerung während ihrer lWanderung nach'§üesten und ten, und dem Zimmer des Sterbenden der artes moriendi, dem Versamm-
der Kommunikation auf Distanz gewesen sein, die sie nötig machte. lungsort der leiblichen Freunde. Im neunzehnten Jahrhundert werden das

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Grab und der Friedhof im rituellen Schauspiel des Todes eine neue Rolle Benassis, der Landarzt Balzacs, wird zur selben Zeit eine ähnliche Beob-
spielen, die zu der traditionelleren des Bettes hinzutritt. riüird man unter achtung machen. Er führt seinen Besucher in das Haus eines Bauern, der
diesen BedingunBen erstaunr sein, daß der einsame Tod, die mors repentina, eben gestorben ist. Der Leichnam wird aufgebahrt. Es gibt wohl einige
immer noch so gefürchtet wird ? Das war eine der großen Angste der Pio- Tränen, einige Reue, einige Lobreden, aber nicht genug iir Balzac, der pa-
niere, die nach 'Westen aufbrachen. Von Menschen umgeben sterben war thetischere Demonstrationen erwartete. "Sie sehen., sagte der Arzt, "hier
eine Erleichterung. Aber auch bei dem Sterbenden sein, ihm im Tod beiste- wird der Tod wie ein erwartetes Ereignis aufge{aßt, das das Familienleben
hen war ein "Privileg". Das Wort wird ständig gebraucht. Es war die Auf- in seinem Lauf nicht aufhäIt." Der exaltierte Tod dagegen will, daß man aus
gabe eines dieser Privilegierten, den unentbehrlichen nuncius mortis zu Ge{ühl und nicht aus Schicklichkeit im Arbeits- und Familienleben inne-
spielen, und es kam vor, daß er den Unglücklichen allzu schonungslos be- hält.
nachrichtigte. Wenn der Srerbende seine Ankündigung akzeprierre, war er Man findet also den triumphierenden Tod bei den Einwanderern der
sensible; oder er benahm sich wie ein Dummkopf , r,tery stupid. Jahre 1830-1840 wie im Adel oder dem Bürgertum der Romantik : das ro-
Man erwartete vom Sterbenden, daß er gut starb (to expire mildeyed): mantische Modell beginnt sich zu verbreiten, vielleicht mit der Bildung und
der Tod blieb ein Schauspiel, bei dem der Sterbende Regie führte, und dieses der Kunst, Briefe zu schreiben.
Schauspiel konnte mehr oder weniger gelungen sein. Ein Mann aus Indiana verkündet seinem Bruder 1 83 8 den Tod ihrer Mut-
Ein Sohn schreibt in einem Englisch voller Fehler seiner Murrer, um ter. Es ist ein schöner Tod.,Ich habe das große Glück, Euch zu verkünden,
Einzelheiten über den Tod des dear old pappy zu erfahren. Da er nicht das daß sie diese Welt im Triumph des Glaubens verlassen hat. \üährend ihrer
Privileg hatte, dabei zu sein, möchte er gern wissen, wie sich das abgespielt letzten Augenblicke sangen Jesse und ich einige ihrer bevorzugten Kir-
hat, das heißt, was der alte Herr gesagr, ob er seine Rolle gut gespielt, d. h. chenlieder, sie schlug mit den Händen [sie gab den Rhythmus an] und ver-
ob er die Situation akzeptiert hat, welches seine letzren '§ü'orte gewesen kündete den Ruhm Gottes und bewahrte ihr Bewußtsein bis zu ihrem letz-
sind, für ihn selbst, für die Seinen. ten Seufzer. [Diesen letztenZug beginnt man nun als Privileg anzusehen.]
Dieser Tod ist traditionell. Dennoch tritt hier, am Totenbett, in dem Es hat uns allen eine große Befriedigung gegeben, sie glücklich zu sehen.o
volkstümlichen Milieu etwas von der romantischen Dramatisierung in Er- Das ist eine amerikanische und volkstümliche, aber sehr stimmige Version
scheinung, die bei den La Ferronays und den Brontös zu beobachten ist. Es des Todes in der Art der La Ferronays.
ist für uns interessanr, in diesen Zeugnissen den übergang vom traditionel- Und das Jenseits ? Was dachten diese demütigen Briefschreiber darüber?
len Tod des auf dem Krankenbett Ruhenden zum triumphierenden Tod Eine wichtige Frage, denn wir kennen den Realismus und den Druck der
festzustellen, z:um triumpb death, d,er zur romanrischen Epoche gehört. öf{entlichen Meinung hinsichtlich des überlebens in der romanrisqhen
Manchmal wird das Vlort triurnpbant dedtl) im selben Sinne gebraucht wie Empfindsamkeit.
der uelcome deatb der Vorbereirung auf den Tod im siebzehnten Jahrhun- L. O. Saum war erstaunt über "das fast vollständige Fehlen [in seinen
dert. Aber der reale, tiefe Sinn ist nicht mehr derselbe : es ist der, den wir im Dokumenten] von ausführlichen Hinweisen auf die Belohnungen der an-
Verlauf dieses Kapirels kennengelernt haben. deren Velt, oder selbst auf die Gewißheit daß jemand, was auch immer
Eine Briefschreiberin aus Ohio, die jemandem in Connecticut schreibt, geschehe, in ihien Genuß kommen würde." Die Leute starben
"glücklich",
berichtet vom Tod ihrer Großmutter: die alte Dame zeigte wohl Inreresse
"im Triumph des Glaubens", aber sie sprachen wenig von dem Ort, wohin
(interest) für Jesus Christus, aber es scheint doch möglich, daß es ihr an sie gingen, und erwähnten nicht einmal die Tatsache, daß sie irgendwohin
Enthusiasmus fehlte, die "Privilegierten" haben nicht die gewünschte Be- gingen. Das mag den Christen von heute oder den Beobachter, der das
friedigung gefunden. "Das ist alles, was wir erreichen konnten, und beinahe Christentum mit dem gleichsetzt, wozu es nach den proresranrischen und
das, was wir wünschten.o Nur beinahe:
"In der Tat wären wir überglück- katholischen Reformen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderrs ge-
lich gewesen, wenn ihr \fleggang more extatic and trinmphan, gewesen worden ist, verwirren. Uns aber sollte es nicht überraschen. In der traditio-
wäre." Hier tritt, naiv ausgedrückt, der Unterschied zwischen dem tradi- nellen Mentalität gibt es nichts Natürlicheres, Selbstverständlicheres als die
tionellen Tod und dem triumphierenden Tod zutage. Unbestimmtheit des Zustandes, der dem Tode folgt, und des Aufenthalts-

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ortes der Toten. "Armer John", schreibt seine Schwester 1844, »er konnte Der Trostbrief ist eine klassische Gattung, die ebenso im Altertum wie in
nicht mehr mit uns sprechen. '§?'enn er es gekonnt hätte, hätte er uns gesagt, der Renaissance und im siebzehnten Jahrhundert gepflegt wurde, in Anleh-
daß er zu dem Haus geht, wo die Christen ruhen (ubere Cbristians are at nung an die Elegien, die literarischen tombeaux, die Grabinschriften. Im
rest)" i l)s requies. Die bessere lVeh (a better world) ist die, wo die Ruhelo- Amerika des neunzehnten Jahrhunderts ist diese Gattung, die früher ver-
sigkeit der'§?'elt erstirbt, wo man im Frieden ruht. Eine alte, sehr alte Vor- traulich w^r, ztr Massenlektüre geworden; aber zur selben Zeit haben die
stellung in dem ganz jungen Amerika. Art der Argumente, der Ton und der Stil sich vollkommen gewandelt. §(ir
Die neue Tatsache wird gerade im achtzehnten und neunzehnten Jahr- wollen einige Titel zitieren, die suggestiv sind: Agnes and the Key of ber
hundert der Ersatz der alten Jenseitsvorstellungen (die der Ruhe, die so little Coffin (1837 - Agnes und der Schlüssel ihres kleinen Sarges), Stepping
allgemein und volkstümlich ist; die spätere des Zugangs der Seele zur Heaoenu,ard (1869 - Himmelwärts schreitend), Our Cbildren in Heaven
glückbringenden Vision, die viel Zeit braüchte, um sich durchzuserzen und (1870 - Unsere Kinder im Himmel), The Empty Crib (Die leere Krippe
niemals ganz und gar in die großen Volksmassen eindrang) durch eine neue
- 1873). Die Verfasser dieser Bücher sind hier zweifellos von den Gedanken
und anthropomorphe Darstellung, eine überrragung der affektiven Be- und den Bildern des Todes besessen. Ann Douglas zitiert Oliver Peabody,
dür{nisse des irdischen Lebens sein. den Autor einer Biographie oder eher einer Hagiographie seines Vaters,
Diese Vorstellung ist adligen und bürgerlichen Ursprungs. Der Tod der eines Pastors, der selber Schriftsteller und Dichter war und 1849 starb. Hier
Bauern im Frankreich von 1830 hätte, wenn wir ihn hätten registrieren eine Probe seiner Dichtung: "Seht das Abendlicht im lVesten niedersinken.
können, dieselbe Diskretion, dieselbe Zurückhaltung im Hinblick auf das Es taucht in die tiefen Schatten ein. So verschwinden die Christen friedlich,
Jenseits gezeigt wie der amerikanische Briefschreiber. Dagegen werden wir wenn sie in das Grab niedersteigen. " Der Tod des Pastors ist schön nach Art
im gebildeten amerikanischen Bürgertum, das, im übrigen ohne lirerari- der romantischen Berichte; er stand übrigens im Ruf der Heiligkeit: in den
schen Anspruch, schreibt und Bücher liest, die Gefühle wiederfinden kön- letzten Jahren seines Lebens schien er sich schon ,an den Grenzen der
nen, die die La Ferronays, die Brontös bewegten, und die Lamartine oder Ewigkeit zu befinden, ganz dazu bereit, in sie einzugehen. Es war ihm noch
Victor Hugo als gemeinsamen Nenner ihrer Epoche zum Ausdruck ge- eriaubt, bevor er eintrat, denen die er liebte, mit der schwachen Stimme des
bracht haben. '§üeg,
Sterbenden den der zur Glückseligkeit führt, zu zeigen." Die Heilig-
keit ist hier an die Haltung angesichts des Todes und an den Grad seiner
In Amerika: Die Trostbücher Exaltation geknüpft.
Mrs. Sigourney ist die Verfasserin von Margaret and Henrietta - Tzoo
Man mull also andere Quellen suchen. Eine andere amerikanische Histori- Lovely Sisters (1832). Sie beschreibt uns den Tod von Margaret, deren Ietzte
'§Vorte
kerin, Ann Douglas, hat in demselben Sammelband, in dem die Untersu- sind : ,l looe everybody." Seltsamerweise werden, wie Ann Douglas
chung von L. O. Saum erschienen ist, die Trostbücher analysiert, die in bemerkt, diese selben Worte einer gewöhnlichen Frömmigkeit, die diese
Amerika im neunzehnten Jahrhundert herausgegeben wurden. Sie hat ih- Romanfigur ausspricht, auch von Mrs. Sigourney selbst auf ihrem Sterbe-
ren Beitrag mir Heaven our home überschrieben. (31) bett ausgesprochen. Sie hatte sich übrigens mit ihrem eigenen Tod vertraut
Im allgemeinen handelt es sich um Bücher, die anläßlich des Todes eines gemacht und sprach ohne Unterlaß davon. Als Lehrerin, um zwanzig Jahre
nahen und geliebten liüesens, meistens eines Kindes verfaßt wurden. Die alt, lud sie ihre Schüler ein, in Zukunft eine gewisse Verbindung mit ihr
Autoren sind entweder Geistliche oder Frauen, und zwar Gattinnen und nicht abreißen zu lassen, selbst "wenn die Stimme, die jetztzu euch spricht,
Töchter von Geistlichen. §f ir wollen hier besonders die Rolle der Frauen verstumrnt ist, wenn die Lippen, die iür euer Glück gebetet haben, vom
festhalten. Das ist ein wichtiges Merkmal dieser Epoche: Alexandrine, Pau- Staub der Erde geschlossen sindo. Soviel zum Ton. Sie verband mit dem
line, Eug6nie, Olga de La Ferronays, Caroly de Gaix, Emily und Charlotte Todesgefühl Enthüllungen über das Jenseits: 1 823 vertraute sie ihren Hö-
Brontö. Das Gefühlsleben des neunzehnren Jahrhunderts könnte sehr gut rern an, daß sie im Verlauf einer Krankheit bis zu den Grenzen der'§flelt der
von Frauen gestaltet sein. . . in dem Augenblick, wo sie ihre rechtliche Geister vorgestoßen sei und §florte von feierlicher Veisheit von dort mitge-
Macht und ihren ökonomischen Einfluß verloren haben. bracht habe.

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Mrs. Sigourney und ihre Heldinnen erinnern uns an ein anderes junges der Tuberkuio se (whooping cough) noch der Pocken noch einer Magener-
Mädchen derselben Epoche, das nach demselben Muster gesraltet ist und krankung war. Nein, dies war nicht das Schicksal des jungen Stephan:
das Mark Twain in Huchleberry Fizn beschreibr. Mit fünfzehn Jahren ge-
storben (im Alter von Helen Burns in Jane Eyre), denkt auch Miss Gran- Die Seele floh der Erdenqual
gerford nur an den Tod. Sie war für die Künste und die Dichtung begabt. D urch einen Brunnenq uell.
Ihre Malereien stellen z.B. eine verschleierte Frau dar, ganzin Schwarz M an boh' ihn raus, entleerte ihn,
gekleidet, die sich im Schatten einer Trauerweide melancholisch über ein Doch ach, es utar zu spät.
Grab beugt. In der Hand hält sie ein Taschentuch, mit dem sie die Tränen
abwischt. Unter dem Bild eine Inschrift: Shall I neoer see tbee more, Alas In der Tat ,konnte sie über alles Mögliche schreiben, vorausgesetzt nur,
(Soll ich dich denn niemals mehr sehen, o weh). Es handelt sich um daß es traurig war. Jedes Mal, wenn ein Mann, eine Frau oder ein Kind
ein mourning p;cture (Trauerbild), wie es deren viele gil.t, gemalt, gesto- starb, kam sie mit ihren Gedichten, bevor der Tote erkaltet war."
chen, gestickt; sie sind weder Iür die Kirche noch für den Friedhof be- Nach dem Tod dieses Vunderkindes bleibt sein Zimmer in dem Zustand,
stimmt, sondern für das Haus, wo sie die Erinnerung an die Toten lebendig in dem es bei seinem Tod war. Seine Mutter richtet es selbst und kornmt
erhalten. dorthin zum Nähen und um die Bibel zu lesen (wie das rote Zimmer von
Llnsere junge Künstlerin malt auch Genrebilder, vorausgesetzt, daß das Mrs. Reed in Jane Eyre).
Thema immer der Tod ist: eine junge Frau am Fenster betrachtet den Obwohl es sich um ein Geschöpf der Fiktion handelt, ist die Tochter des
Mond; sie weint, wobei sie in einer Hand ein Medaillon hält, das sie gegen Colonel Grangerford wahrer als die Natur, trotz eines guten Schusses Spott
den Mund preßt, und in der anderen (bei den Personen von Miss Granger- oder gerade deswegen.
ford sind Hände und Arme immer sehr beladen) einen o{fenen Brief, der So einfach der Tod und so unauffällig sein Triumph im volkstümlichen
mit schwarzem \flachs versiegelt ist. Milieu der Auswanderer war, so pompös und rhetorisch, aber dennoch
Dieses künstlerische Talent bewirkte, daß man nach ihrem Tod von ihr aufrichtig empfunden war er in den bürgerlichen Milieus.
sagte: »Jeder war sehr traurig, daß sie tot war, weil sie noch viele von diesen Die Faszination des Todes war einer der Flügel des Diptychons. Der
Bildern hätte machen können, und man konnte an denen, die erhalten blie- andere war die \(ohnung im Himmel. In dieser seltsamen Logik wurde der
ben, sehen, was man an ihr verloren hatte. Aber ich, ich finde, daß es bei Tod kultiviert und gewünscht, weil er das '§(iedersehen in der Ewigkeit
derartigen Anlagen besser für sie war, im Grab zu liegen. Als sie starb, einführre. Man fand im Himmel alies, was auf Erden glücklich machte, also
arbeitete sie gerade an einem Olbild, dem größten, das sie gemalt hat, und die Liebe, die Zuneigung, die Familie - ohne das, was traurig machte, das
jeden Morgen und jeden Abend betete sie, daß ihr vergönnt sein möge, so heißt die Trennung.
lange zu leben, bis sie es vollender härre. Aber sie hat nicht dieses Glück Nach dem Tod seines Sohnes Georgie veröffentlichte Pastor Cuyler ein
gehabt. Es war das Porträt einer jungen Frau in einer langen weißen Tunika, Buch, das dem Gedächtnis des kleinen Hingeschiedenen gewidmet war: er
das Gesicht in Tränen gebadetu, sie hatte sechs Arme, zwei nach vorne empfing Tausende von Beileidsbriefen von dankbaren Überlebenden. Er
gestreckt, zwei gegen ihre Brust gepreßt, zwei zum Mund. veröffentlichte einige davon in einer Neuausgabe. Ann Douglas zitiert sie
"Der Gedanke
dabei war, zu sehen, welches der drei Armpaare am besren wirkte, und folgendermaßen: "Lieber Herr, wenn es sich je fügt, daß ihr den Friedhof
dann wollte sie die anderen auslöschen.. Leider hat sie nicht dieZeit ge- der Alleghanys besucht, werdet ihr dort eine Blume auf drei kleinen Grab-
habt, ihre \tr(ahl zu tref{en. Miss Grangeriord ist seit ihrem vierzehnren mälern sehen: Anna, 7 Jahre, Sacha, 5 Jahre, Lillie, 3 Jahre. Alle innerhalb
Lebensjahr auch Dichterin. von sechs Tagen an Scharlach gestorben (wie Georgie). Es kann uns manch-
"Sie führre eine Art Tagebuch [wie die La Fer-
ronays]. Sie verzeichnete in ihrem Heft die Sterbelisten, die Unfälle, die mal mit unserer eigenen Qual versöhnen, wenn wir von einer noch größe-
Krankheiten, die sie aus d,em Presbyterian Obseruerabschrieb, und sie ver- ren anderswo sprechen hören."
faßte Gedichte über diese Themen.. So mehren sich die tröstenden Berichte, wahre Geschichten und Roma-
Sie schreibt eines über den Tod eines kieinen Jungen, der weder Opfer ne, vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, wo die Verfasser, oft

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Frauen, versuchen, ihre Leser (und Leserinnen) davon zu überzeugen, daß Ort, wo die im Verlau{ des Bürgerkriegs getöteten Soldaten mit Lincoln
der Tod ihnen teure'Wesen nicht wirklich entrissen hat, daß sie sie wieder- sprechen, wo die armen jungen Mädchen ein Klavier haben, auf dem sie
finden werden, sei es nach ihrem eigenen Tod, sei es sogar hic et nunc.Die spielen können und wo ihre Haare nicht mehr grau werden.
Mutter des kleinen James hat ihrem toten Kind ein Grab gewidmet, ein All dies unterscheidet sich nicht sehr weitgehend von den gängigen Vor-
Memento: Memoir of James Artbur Cold, Ein §flunderkind an Frömmig- stellungen (die selten schriftlich niedergelegt sind) in den katholischen Län-
keit, \Weisheit, Kindesliebe und makabrer Vorstellungskraft, hoffte er, daß dern, Italien und Frankreich. Jedenfalls, vielleicht weil man sich freier aus-
seine Mutter und er zusammen sterben würden, einer in den Armen des drücken kann, ohne kirchliche Zensur, zeigt es sich in Amerika naiver und
andern. Dennoch starb er allein, und seine Mutter überlebte ihn, widmete gröber, ohne Zwischentöne und Schattierungen. Man treibt seine Phanta-
sich aber seinem Gedächtnis. Sie berichtet von den wunderbaren Umstän- sien bis ins Extrem und zögert nicht, sie so zu erzählen, wie man sie sieht,
den seines Todes : "Es zeigte sich damals, daß er f ortdauernden Umgang mit wie man sie glaubt.
der \W'elt der Geister hatte. Er sah die Engel, die in Erwartung seiner baldi-
gen Ankunft tanzten, er sah manche Verstorbenen seiner eigenen Familie
und übergab ihre Botschaften den Lebend en. Er war, buchstäblicb, ein Me- Anf änge des Spiritismus
dium, tnd nach seinem Tod fuhr er fort, seinen Eltern zu erscheinen."
ln diesem Text gibt es wie in vielen anderen ähnlichen zwei bemerkens- Eine zweite Vorstellung ist im Bericht vom Tod von Little James sehr klar
werte Vorstellungen: einerseits die 1üiederherstellung der irdischen herausgekommen. Little James ist ein Mediurn. Er dient als Mittler zwi-
Freundschaften im Himmel und andererseits die Kommunikation der Gei- schen den Lebenden und den Geistern derToten. Er selbst kehrt nach sei-
ster. Die erste ist uns §/ohlbekannt. Ein geistlicher Traktat von 1853 be- nem Tod wieder, um mit seinen Eltern zu sprechen. li(ir sind damit mitten
schreibt die beiden Aspekte des Himmels schon getrennt: einen traditionell im Spiritismus, und es ist kein Zufall, daß der Spiritismus in Amerika ent-
christlichen, die glückbringende Vision; dann einen ganz neuen, "das Haus standen ist. Zweifellos ist das Bedürfnis, über den Tod hinaus miteinander
unseres Vaters, wo sich Familienszenen wie in unseren Häusern abspielen". zu kommunizieren, dort früher und vor allem mit mehr Bestimmtheit ma-
In den Jahren 1 860-1880 will man weiter ausgreifen und zwingt sich, das nifest geworden.
himmlische Leben bis ins Detail auszumalen. "Die Autoren der Trostsprü- In der katholischen Mentalität der Epoche, bei den La Ferronays, bei
che emp{inden immer stärker das Bedürfnis nach einem großen geistigen Lamartine, begnügt man sich damit, das Andenken zu kultivieren, ohne sich
Teleskop [wir beiinden uns im Jahr 1870 mitten im technischenZeraker), bis zu einer realistischen Verkörperung zu versteigen. Dennoch geschieht
das uns ldie Toten] in ihrer ganzen glanzvollen Realität näher brächte, das es, daß die Intensität des Andenkens soweit geht, eine Illusion der Realität
Bedürfnis nach einer klaren, kohärenten, philosophisch gestützten Enthül- zu erschaffen. Das ist der Fall beim jungen Lamartine der Möditations: die
lung des Lebens nach dem Tod" (\üilliam Halcombe, zitiert bei Ann Dou- Erscheinung von Elivre ist sie \(irklichkeit oder lVachtraum ?
-
glas). Der Himmel wird damals zum bome beyond the shies, wie man ihn in quine sont Plus,
Je songe ä ceux
den Hymnen besingt (vergessen wir nicht, daß man zur selben Zeit in den Douce lumiire, es-tu leur äme ?
katholischen Kirchen von Frankreich sang "Im Himmel, im Himmel, im Peut-0tre ces mänes beureux
Himmei werden wir uns wiedersehen".) Glissent ainsi sur le bocage.
Eine berühmte und viel gelesene Schri{tstellerin, Elizabeth Stuart, die Enoeloppö de leurs aisages,
Verfasserin von Between tbe Gates, Gate Ajar, zeichnet in ihren Büchern d'eux.
Je crois me sentir prös
das tägliche Leben der Bewohner des Himmels nach: ihre Gewohnheiten,
Je songe... Ich denke an die, die nicht mehr sind,/ Süßes Licht, bist Du ihre Seele?/ Viel-
ihre Beschäftigungen, wie sie ihre Kinder erziehen, sich unterhalten und
leicht gleiten diese glücklichen Manen/ So in ihren Hain./ Von ihren Gesichtern eingehüllt,/
sich lieben. Sie weiß alles, was sich im Himmel abspielt, dank der Enthüi- Glatbe ich micb ibnen nahe zu t'ühlen./ Ah,wenn Ihr das seid, teure Schatten,/ Fern der Menge
lungen eines Arztes (oder des Geistes eines Arztes), der sie auf mysteriöse und fern des Lärms,/ Kommt so jede Nacht zurück,/ Um Euch in meine Träumereien zu
\Weise besucht. ln Gate Ajar sieht eine alte Dame den Himmel wie einen mischen.

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Alt si c'est oous, ombres chöries, Die bürgerlichen vorstellungen, die sie ausdrückten, erreichten, vielleicht
Loin de la foule et loin du bruit, zur Mitre des Jahrhunderts, die breiten volksschichten, deren vorbehalte
Revenez ainsi chaque nuit wir kennen.
Vous mAler ä mes räveries. O. Saum hat mitgeteilt, daß er nichts von dieser Art in seiner Briefsamm-
lung ge{unden hat. Trotzdem hier eine interessante Ausnahme' (32) \(ir
Der Zweifel bleibt. Aber es ist eine rViedererscheinung. Lamartine geht befinden uns im Jahr 1852. Ginnie stirbr bei der Geburt eines Kindes. sie
weiter als die La Ferronays, die aus katholischer Orthodoxie der Versu- hatte ein anderes Kind im Jahr zuvor verloren. sie fürchtet den Tod nicht;
chung Herr werden und es akzeptieren, den nahen Tod zu erwarten, um sie lächelt mild darüber. Kurz, der rnildeyed deatb (der mildäugige Tod)'
sich endlich mit den Dahingegangenen wieder zu vereinen. Aber als das Ende sehr nahe rückt, hört sie die Kinder singen' und sie er-
kennt die Stimme ihres kleinen'ü/illie, des dahingegangenen Kindes' Ihr
J'entends, oui, des pas sur la mousse ! Gatte, der Mrs. Sigourney nicht gelesen hat, glaubt, daß sie phantasiert; er
Un löger souffle amurmurö, versucht, ihr zu erklären, daß die Stimmen ganz einfach die der Kinder sind,
Oui, c'est toi, ce n'est pas un r|oe, die im Hof spielen. . . Bei Mann und Frau wird hier der ganze Unterschied
Anges du Ciel, ie la reoois . . . zweier Haltungen sichtbar.
Ton äme a francbilabarridre
Qui söpare deux Unhters.
les
Sa gräce a permis que je
ooie Die Desinkarnierten
Ce que mesyeux chercbaient toujours.
halbem Y/eg zwi-
JaneEyre, die Heldin von Charlotte Brontö, steht auf
Für Elizabeth Stuart Philips gibt es heine Scbranhe tnehr.
schen den La Ferronays und den amerikanischen Para- oder Präspiritisten.
Der Tod ist einZustand des Lebens sie ist zurückhaltender, diskreter als diese, aber sie verhehlt nicht, daß sie an
Und kein Stillstand mehr. die Kommunikation der Geister glaubt, tot oder lebendig, die von ihren
Icb neige micb uie zuaor zu Eucb, Körpern getrennt sind. Sie gebraucht das §üort desembodied souls, desin-
Treu, meine Arme um Euch gelegt (. . .) karnierte Seelen.
Jane Eyre entdeckt eines Tages, daß sie Mr' Rochester
Esgibt heinen leeren Stubl. nicht heiraten
Die, die sich liebten sind wieder oereint lschon jetzt) kann, weil er schon verheiratet und seine Frau verrückt geworden ist' Als
In eine Gruppe zusdmmengeschweillt, untrennbar, wer zaeill Mr. Rochester ihr vorschlägt, mit ihr zusammen im Süden von Frankreich
uie? zu leben, ist sie versucht einzuwilligen, seine Geliebte zu werden' Eines
Abends denkt sie darüber nach, was sie tun muß, während sie den Mond
Diese Verse kommen von jenseits des Grabes. Sie sind Elizabeth von den ansieht, dieses Gestirn der Toten und Geister, das auf allen Gemälden von
Geistern der Verstorbenen selbst diktiert worden. Sie hat sie gesammelt und Miss Grangerford, der kleinen makabren Künstlerin von Mark Twain, vor-
unter dem Titel Sozgs of tbe Silent World vor weniger als einem Jahrhun- kommt. An diesem Abend bietet der Mond ein außergewöhnliches Schau-
dert, im Jahre 1885, veröffentlicht. Diese Sammlung hatte vrie andere spiel: Volken ziehen an ihm vorbei, und plötzlich sieht Jane 'eine mensch-
'W'erke liche Form, weiß, im Azur glänzen, als ob sie zur Erde geneigt sei' Sie sah
von Elizabeth S. Philips in der Öffentlichkeit einen großen Erfoig.
mich mit Nachdruck an. Sie sprach zu meiner Seele. Und so nah trotz der
unermeßlichen Distanz, murmelte sie in mein Ohr: Meine Tochter, fliehe
J'entends... Icb höre, ja, Schritte auf dem Moos !/ Ein leichter Atem hat gemurmeh/ fder die Versuchung. - Mutter, ich werde es tun.« (33) Es kann sich eigentlich
Atem ist das Zeichen der Gegenwart eines Geistes] . . ./ Ja, du bist es, es ist kein Traum,/ Engel des
Himmels, ich sehe sie wieder.../Deine Seele hat die Schranke überschritten,/ Die die beiden nur um eine Erinnerung handeln: Jane hat ihre Mutter kaum gekannt, sie
Universen trennt./ Seine Gnade hat erlaubt, daß ich sehe,/ Vas meine Augen immer suchten. spricht niemals davon. Aber ihre Mutter schützt sie vor dem Jenseits und,

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im Augenblick, wo das junge viktorianische Mädchen Gefahr läuft, ihre angesehen wird, aber bei dem man nicht weiß, ob das Leben ihn wirklich
Tugend zu verlieren, schreitet ihre Mutter als deus exmacbinaeinundstelk ganz verlassen hat. Die Unschlüssigkeit von Heathcliff, der zwischen der
auf wunderbare Veise die Situation wieder her. Öffnung des Sarges und der Kommunikation mit dem Geist schwankt,
Es gibt im selben Roman von Charlotte Brontö einen anderen Fall von drückt wohl die Zweideutigkeit dieser Haltung aus. Ebenso werden wir im
Kommunikation zwischen den Geistern. Aber diesmal zwischen den Gei- folgenden Kapitel die Bedeutung kennenlernen, die der Friedhof und das
stern der beiden Lebenden, die sich lieben und getrennt sind. Grab damals erhielten. Alexandrine de La Ferronays öffnet nicht den Sarg
Jane erhält einen Heiratsantrag von einem Missionspfarrer, der sie nach ihres Gatten, sondern steigt nach der Beerdigung in die Grube hinab. Es ist
Indien mitnehmen will ; aus Müdigkeit gibt sie seinem Drängen nach, ob- der Friedhof, auf dem die Vorfahren der Spiritisten, die ersten amerikani-
wohl sie ihn nicht liebt, sondern einen andern. Es ist Mitternacht. Da wird schen Verfasser der Trostbücher, ihre Verschwundenen leichter beschwö-
sie wie von einem Schock, einem elektrischen Schock gerro{fen, durch den ren. Als ob sie auf dem Friedhof schliefen und wieder aufwachten, um den
sie sich wieder in die Gewalt bekommt:
"Ich sah nichts, aber ich hörte eine Rufen des Lebenden zu antworten. Der Platz des Leichnams wäre dann ein
Stimme, die schrie ,Jane, Jane, Jane. und dann nichts mehr. Das kam weder bevorzugter Aufenthaltsort des Geistes. Eine Auffassung, die der Spiritis-
vom Himmel noch von der Erde. Es war die Stimme eines menschlichen mus des zwanzigsten Jahrhunderts aufgeben wird. Die, die am ehesten vom
'§(iesens, eine vertraute, geliebte
Stimme, die von Edward Fairfax Roche- überleben der Geister und von der Möglichkeit, sich mit ihnen zu verstän-
ster." "Jch komme, wartet auf mich, ich komme", schreit sie. Sie läuft hin- digen, überzeugt waren, empfinden heute sehr häu{ig nur noch Ekei vor
aus, niemand ist dort. . . ,§(o seid Ihr?" (34) d,em pounissolr(Verwesungsgrube), wie sie den Friedhof nennen. Als Stätte
Zur selben Stunde aber lehnt sich, weit enrfernt, Rochester, beinahe der Meditation oder der Beschwörung ziehen sie das Zimmer des Verstor-
blind geworden, einsam, in einem Anfall von Verzweiflung aus dem Fenster benen vor, das im selben Zustand gelassen wird. Hiermit wird die große
und ruft: "Jane, Jane, Jane." Er hört die Antwort: 'Ich komme, wartet auf Klammer, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durch das par-
mich, ich komme., und einen Augenblick später: "Wo seid Ihr?" Das ist tielle Überleben des Leichnams den 'Wundern der Toten geöf{net worden
ein schöner Fall von Telepathie. Er wird später noch viele andere nach sich war, wieder geschlossen.
ziehen, und es gibt kaum eine Familie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhun- Das hindert nicht, daß trotz dieser wichtigen Episode der Viederkehr
derts, zu deren Folklore nicht eine ähnliche Geschichte gehört: ein des Leichnams der Glaube an die Autonomie des Geistes, den einzigen
schrecklicher Traum zu einer bestimmten Stunde nachts, und später erzählt unsterblichen Teil des Seins, nicht aufgehört hat, sich auszubreiten. Es ist
man, daß im selben Augenblick ein teures W'esen gestorben ist oder beinahe möglich, daß dieser Glaube in Frankreich auf dem Land durch die großen
gestorben wäre. . . katholischen Missionen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
Damit der Tod einen Augenblick lang als völliger Bruch erscheinen und verbreitet worden ist, die den Pfarrern halfen, den Bauern die Wahrheiten
der Glaube an die Kommunikation der Geister sich verbreiten konnte, war des Katechismus beizubringen, zu denen die Existenz der unsterblichen
es nötig, daß die geläuiigen Vorstellungen von der Natur des Seins sich dazu Seele gehörte. Die Seele des Katechismus hat den Veg der "Entkörperlich-
eigneten. ten" vorgezeichnet.
Es hat lange Zeit gebraucht, bis die volkstümliche Vorstellung des horno Die Desinkarnierten sind keine Körper aus Fleisch. Sie gehorchen nicht
totus, Leib und Seele, vor der Vorstellung der Seele, die vom Körper ge- dem Gesetz der Schwerkraft. Aber sie sind auch keineswegs reine Geister,
trennt und von ihm befreit ist, zurückwich. Die Seele wird dann das we- die man weder hört noch sieht. Es kam vor, daß sie Abdrücke auf den
sentliche Sein, sein unsterblicher Teil. Die Verbreitung des Seelengrabes im photographischen Platten hinterließen. Man stellt sie sich, selbst wenn man
siebzehnten Jahrhundert schien uns ein Zeichen der Entwicklung der See- sie nicht gesehen hat, wie Formen vor, die von einer leuchtenden Hülle
lenvorstellung auf Kosten des homo totus. (35) umgeben sind, und durch die Lüfte gleiten. Sie haben also ihre eigene, den
Eine schwerwiegende Episode hat im achtzehnten Jahrhundert diese Gelehrten noch unbekannte Physis. Ihre Züge sind erkennbar, ohne genau
Entwicklung unterbrochen. Der Leichnam ist wieder zum Gegenstand ge- die des der Erde überlassenen Körpers zu sein: sie waren während des irdi-
worden, mit dem man sich ernsthaft beschä{tigt, zum Körper, der als tot schen Lebens unter der Körperhülle verborgen und überleben ihn. Sie ge-

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ben jedem Wesen eine sichtbare Identität, die während des irdischen Le- Das Paradies von Helen Burns ähnelt dem der amerikanischen Trostbü-
bens vom Fleisch verhüllt und in der Ewigkeit unveränderlich ist. cher, ist aber weniger naiv und wahrscheinlicher. Es handelt sich "um eine
Diese Ideologie der Geister legt Charlotte Brontö Helen Burns in den unsichtbare Velt, das Königreich der Geister". "Diese lWelt ist um uns,
Mund, ihrem Sprachrohr in Jane Eyre.Sie hat sehr feste Vorstellungen über denn sie ist überall." Gott zählt dort weniger als die Geister selbst' "und
die Religion, über das künftige Leben, die nicht mit der protestantischen diese Geister schützen uns, denn sie haben den Auftrag, uns zu schützen".
Orthodoxie übereinzustimmen scheinen und sich nicht einmal auf Christus Diese französischen, englischen, amerikanischen Texte sind klar genug,
und auf die Evangelien beziehen. Helen ist von der r§flürdelosigkeit des um uns begreiflich zu machen, daß alle Voraussetzungen zur Entwicklung
Fleisches überzeugt. Die Sünde kommt vom Fleisch und wird mit ihm ver- des Spiritismus gegeben waren.
schwinden. Es wird nur the sparh of the spirit(der Funke der Seele; man Die römische Kirche hat, so lange sie konnte, dieser Invasion des Jenseits
sagt eher spirit als sozf bleiben. Die Seele selbst ist dem Körper mehr oder widerstanden. Sie hat nicht einmaI versucht, sie in Frömmigkeitsbewegun-
weniger entgegengesetzt, ein konstitutives Element des Seins, zusammen gen zu kanalisieren, deren Orthodoxie erprobt war. Sicherlich, viele Ka-
mit dem Körper und gleichzeitig mit ihm. Das Leben fordert die Vereini- tholiken starben wie die La Ferronays, in der Überzeugung, daß sie im
gung des Körpers und der Seele. Die Seele hängt noch ein wenig an der alten Himmel die wiederfinden würden, die sie auf Erden geliebt und verehrt
Auffassung des bomo totus. Der Geist ist im Gegensatz dazu seinerseits hatten. Die Heilige Theresa von Lisieux hoffte, im Paradies eine genaue
zum Banzen 'Wesen geworden. Er hat den Platz, den der Körper gelassen \ü/iederherstellung von Buissonnets mit seinen Einwohnern, seinen Erin-
hat, ausgefüllt. Er entspricht der Seele der christlichen Eschatologie, zu- nerungen und all den köstlichen Farben ihrer Kindheit wiederzufinden.
züglich einer Hülle des Körpers, die nicht vollständig immateriell ist. Aber die Geistlichen blieben im allgemeinen sehr zurückhaltend, sie taten
Für Helen ist der Geist "das unfaßbare Prinzip des Lebens und des Ge- nichts, um diese Gefühle zu ermutigen, und hielten sich an die Gebete für
dankens". Er ist rein wie im Augenblick seiner Erschaffung durch Gott, die Seelen im Fegefeuer, die damals zu einer sehr aligemeinen, sehr volks-
bevor der Sündenfall ihn mit einem Fleisch verbunden hat. Der Geist ist der tümlichen Andachtsform wurden, auf die wir zurückkommen werden.
edle Teil des Seins, der einzige, der überleben wird. Nach dem Tod wird er Veder diese Devotionen noch das Beispiel der Mystiker reichten aus, um
an seine Quellen zurückkehren. Bei Helen Burns und zweifellos auch bei überall die Unruhe der Trennung zu besänftigen. Viele wandten sich von
Charlotte Brontö besteht keinerlei Furcht mehr vor der Hölle, ebensowe- der klassischen Eschatologie ab und unternahmen es, manchmal in den Kir-
nig wie bei den La Ferronays, was deswegen überrascht, weil es gleichzeitig chen, am häufigsten aber außerhalb und manchmal gegen sie, ein umfassen-
im puritanischen England und in den durch die Gegenreformation gepräg- des System der Kunst des Überlebens und der Praxis der Kommunikation
ten Ländern wie Frankreich oder Italien der Fall ist. "Das macht aus der mit dem Jenseits zu konstruieren, kurz: den Spiritismus.
Ewigkeit eine Ruhe lrestf, ein ewiges und unveränderliches Haus lmighty Ich entnehme Maurice Lanoire die folgende klare Zusammenfassung der
home), und nicht einen Abgrund des Schreckens." Entwicklung der Ideen in diesem Bereich im Verlauf der zweiten Hälfte des
Helen offenbart ein absolutes Vertrauen in das Jenseits des Glücks, das neunzehnten Jahrhunderts: "1848 begannen auf dem Bauernhof Fox im
sie erwartet und das ihr erlaubt, friedlich die Ungerechtigkeit und die Ver- Staat New York sich die ersten Tische zu drehen, Manifestationen, in denen
folgung hienieden zu ertragen. Niemals, wenn ich das sagen darf, war die man gewöhnlich den Geburtsakt des modernen Spiritismus erkennt. Ein
Resignation aktiver, niemals hat das Christentum den Akzent mit einem früherer Minister Louis-Phiiippes, ein Protestant, der Graf Ag6nor de Gas-
solchen Nachdruck auf die Pflicht der Passivität gelegt: im Mittelalter, in parin, scheute nicht davor z.urück, ein gut dokumentiertes'§Verk zu veröf-
den modernen Zetren, suchte es die Resignation der Opfer durch die Insti- fentlichen, um die Realität dieser wunderbaren Phänomene zu bezeugen.
tution der barmherzigen Zufluchtstätten, die Schlupfwinkel sein konnten, Victor Hugo, der 1852 durch Mme. de Girardin in Jersey eingeweiht
zu kompensieren. Soweit Charlotte Brontö mit Helen Burns überein- wurde, wird zum glühenden Anhänger des Spiritismus, als L6opoldine ihre
stimmt, stellt sie sich keine irdische Linderung mehr vor. Diese Ideen sind Gegenwart manifestiert." (37)
nicht außergewöhnlich; sie waren genügend verbreitet, um ein vielfaches Ebenfalls in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts lebte in Frankreich
Aufbegehren dagegen hervorzurufen. (36) L6on Denizart-Rivai1, der den keltisch lautenden Namen Allan Kardec

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ru
übernahm, als er 1854 Spiritist wurde:
"Theoretiker der neuen Offenba- nach dem Tod einer Tante, die sie heiß licbte, ging sie zum Fenster und
rung, der er einen religiösen Charakter gab." Allan Kardec fand das Ver- blickte starr hinaus, wobei sie sagte: ,Marna, da ist meine Tante Lili, die
trauen von allen, die damals in der \Welt Rang und Namen hatten. Camille mich ruft., und das wiederholte sich mehrere Male. Drei Monate danach
Flammarion sprach 1868 bei seinem Leichenbegängnis. Noch heute isr sein erkrankte die Kleine und sagte zu ihrer Mutter: ,\ü(eine nicht, Mama, meine
Grab, das kürzlich restauriert worden ist, Gegensrand eines Kultes. Es ist Tante Lili ruft mich. Vie schön das ist I Engel sind bei ihr !. Das arme Kind
immer mit Blumen bedeckt. Pilger beten dort, eine Hand auf das Grabmal starb viereinhalb Monate nach seiner Tante." Und die Überlegung führt
gelegt, um das heilige Fluidum zu empfangen, wie auf dem Reliquien- den metapsychistischen Arzt zu den W'undern des Todes zurück: "Ich mag
schrein eines Heiligen. Eines Abends, als ich den Friedhof Pöre-Lachaise zu ruhig an meinen g nzen Rationalismus appellieren, es erscheint mir un-
der Zeit, wo er geschlossen wurde, besichtigte, kam eine junge Frau gelau- möglich, zu leugnen, daß es im Augenblick des Todes übernatürliche Ve-
fen und bat, daß man sie trorz der späten Srunde einlasse: sie wollte nur bis sen gibt, Phantome, die eine objektive Realität haben, und die gegenwärtig
zum Grab von Allan Kardec gehen; offensichrlich konnte ciieser Besuch sind. Es ist wahr, daß diese Phantome nur von einem Kind, nicht von ande-
nicht warten. ren Personen, die zugegen sind, gesehen werden. [In den amerikanischen
Der religiöse Aspekt, der am Anfang vorherrschte, ist nicht verschwun- Dokumenten, die von Ann Douglas gesammelt worden sind, handelt es
den - man erkennt ihn an dem Interesse, das ein Gabriel Marcel diesem sich auch fast immer um Kinder. In der Tat ist der Tod des Kindes in der
Phänomen entgegenbrachte -, aber er ist zu Gunsten einer Annäherungs- Vorstellung des Bürgertums des neunzehnten Jahrhunderts der am wenig-
weise zurückgetreten, die sich als wissenschaftlich versteht. Der Spiritis- sten erträgliche Tod geworden.l Aber es ist nichts Absurdes anzunehmen,
mus, der zuerst eine Religion des überlebens, Ableger einer Heilsreligion daß die Kinder in einer Art von Todesangst, spiritistisch, wenn man so will,
war, neigte damals dazu, sich zu säkularisieren. olm Jahre 1852", fährt Wesen wahrnehmen können, die die anderen Anwesenden nicht sehen." So
Maurice Lanoire fort, dem ich diese historische Notiz entnehme, ,gründete füllt der Illustrator des schönen Todes im neunzehnren und zwanzigsten
Edmund rühite Benson, der als anglikanischer Erzbischof von Vesrminster Jahrhundert das Zimmer des Sterbenden mit Verwandten und desinkar-
enden sollte, in Cambridge die Gbost Society mird,emZiel, die übernatürli- nierten Freunden, die aus der andern \Welt gekommen sind, um ihm zu
chen Phänomene in einer jeglichen religiösen oder spiritistischen postulats helfen und ihn bei seiner ersten Wanderung zu führen. Vir können diese
entkleideten Einstellung und nach rein wissenschaftlichen Methoden zu Illustration mit den Stichen der artes moriend.i des fünfzehnten Jahrhun-
untersuchen. Diese Gesellschaft der Geister wurde zur Dialectical Society, derts und sogar mit dem Miroir de l'äme pöcberesre (Spiegel der sündigen
dann, 1882, nahm sie ihren endgültigen Namen an, unrer dem sie heute in Seele) des achtzehnten Jahrhunderts vergleichen und daran die ganze Revo-
der ganzen \Welt bekannt isr, Society for Psychical Researcb oder allgemei- Gefühle und der Psychologie, die in der Zwischenzeit erfolgt ist,
ner SPR [. . .]. Damit war von nun an die Abgrenzung zwischen dem eigent- .::::r:::
lichen Spiritismus Ireligiösen Ursprungs] und der neuen'Wissenschaft mar-
kiert, die Charles Richet Iein berühmter französischer Arzt] rund z:wanzig
Die Schmuck-Andenken
Jahre später metaphysisch taufen sollte und die heute gerne als parapsycho-
logie bezeichnet wird." Eine agnostische \üissenschaft der als übernormal Nicht jedermann war spiritistisch, nicht jedermann ging in den Vorstellun-
bezeichneten Phänomene, die sich von einer eschatologischen Orientie- gen vom \üTeiterleben so weit wie die amerikanischen oder englischen Spiri-
rung löste, nahm sich nicht mehr die Erforschung des Paradieses vor. Trorz tisten oder Paraspiritisten, nicht jedermann teilte die Überschwenglichkeit
dieser Verweltlichung haben das Gefühl des überwundenen Todes und die der La Ferronays, aber zweifelsohne gibt es fast niemanden im neunzehn-
Erwartung der glücklichen Vereinigungen, die folgen werden, nicht aufge- ten Jahrhundert, der nicht, früher oder später, mehr oder weniger nachhal-
hört, diese Untersuchung anzuregen: Charles Richet selbsr zitiert in sei- tig, von dem neuen Gefüht der Unduldsamkeit gegenüber dem Tod des
nem lWerk über die Vorahnung einen Fall, der denen, die wir schon oben in andern berührt war und der es nicht offen gezeigt hätte.
der amerikanischen Trostliterarur antrafen, sehr nahekommt, nämlich den \(ir werden nun einige unau{fälligere und indirektere Zeugnisse für die
eines kleinen, drei Jahre und drei Monate alten Mädchens: ,Einen Monar Mentalität dieser Epoche kennenlernen. Im Victoria and Albert Museum in

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London gibt es eine bemerkenswerte Schmucksammlung. Ein Schaukasten Laub einer Trauerweide. Man erkennt ein mourning picture, das auf die
enthält Schmuckstücke, die mit Bestattung oder Beerdigung zu tun haben. Dimensionen einer Miniatur reduziert ist. Der Sockel und einige Züge der
Die Serie, die vom Ende des sechzehnten bis zum Ende des neunzehnten Landschaft sind aus Haaren gemacht.
Jahrhunderts reicht, erlaubt es, eine Entwicklung zu verfolgen, die vom Das Thema ist also noch das Grab, aber es hat sein Aussehen und seine
memento mori ausgeht und zum "Souvenir" führt. Das älteste Objekt aus Funktion geändert. Es ist ein Erinnerungsdenkmal, das man besuchen
der elisabethanischen Zeit ist ein kleiner goldener Sarg von der Größe einer kann, wie man einen Freund besucht, der auf dem Land lebt. Die Erinne-
Tabakdose, der ein silbernes Skelett enthält. Es handelt sich um ein tragba- rung an den Verstorbenen hat die Furcht vor dem Tod und die Einladung
res, aber ziemlich sperriges memento mori. Sein Anblick lud zur Medita- zur Bekehrung vollkommen ersetzt. Eines dieser Schmuckstücke, das aus
tion ein. Es entspricht ganz und gar der Tradition der Traktate zur Vorberei- dem Jahre 1780 stammt, trägt diese Aufschrift: ,May Saints embrace tbee
tung auf den Tod. with a looe lihe mine [Mögen die Heiligen Dich mit einer Liebe wie der
Anschließend ein nicht mehr schweres, tragbares Objekt, sondern ein meinen umarmen].o
wirkliches Schmuckstück wie alle andern Dokumente der Serie. Es handelt Im neunzehnten Jahrhundert verschwindet nun ihrerseits die Darstel-
sich um einen Anhänger aus dem Jahre 1703, der einen ganz kleinen golde- lung des Grabes, die mehr als ein Jahrhundert lang üblich war. Das
nen Sarg darstellt, der Haare enthält. Auf seinem Deckel ist eine winzige Schmuckstück wird zum einfachen Medaillon, das sehr oft ein Porträt ent-
Inschrift eingraviert: P. B. obiit ye 1703 Aged 54 ye. hält und immer ein oder zwei Haarlocken. Venn nur eine Locke darin ist,
Im Laufe eines Jahrhunderts ist derselbe Sarg für verschiedene Ge- ist es die eines geliebten 'W'esens, das noch lebt oder tot ist. §ü'enn zwei
brauchsfunktionen benutzt worden, ohne seine Form zu ändern, aber in- Locken darin sind, dann ist ihre Vereinigung das Symbol der Verbunden-
dem er sich verkleinerte. Im ersten Fall barg er ein Skelett und diente dazu, heit zweier'Wesen, die sich im Leben und über den Tod hinaus lieben. Die
an die Sterblichkeit zu erinnern, im zweiten Fall enthält er die Haare eines Haare dienen auch zur Herstellung von Armbändern und Ringen. Das
lieben und toten 'lW'esens und dient dazu, die Erinnerung wachzuhalten und Haar für sich allein ist zur Erinnerungsstütze geworden.
zugleich ein Fragment seines Körpers zu bewahren. Dieser erste Typ des Am Ende der Entwicklung steht nicht mehr das Thema des Todes (Sarg,
Andenkens ist also ein memento mori,bei dem man das Skelett durch eine Grab), das man illustrieren will, noch das des Todes eines geliebten Wesens;
Haarlocke ersetzt hat : das memento moriist zum memento illius geworden. der Tod selbst ist wie ausgelöscht, und er verblaßt zum Stellvertreter des
Eine andere Miniatur derselben Zeit, um 1700, hat noch, wie die vorher- Leibes, ein unverwesliches Fragment.
gehende, dieselbe Doppelfunktion. Sie stellt ein Grab dar: ein Grab mit
zwei Stockwerken. Unten, eine Steinplatte, auf der ein Skelett in der Art
ernes gisant ausgestreckt ist; darüber zwei Engel, die ein Medaillon zum Die Seelen im Fegefeuer
Himmel tragen, wo aus Platzmangel Initialen die Stelle des Porträts vertre-
ten. Der Boden besteht aus einem Gewebe von menschlichen Haaren. Das Die Anhänglichkeit an den Anderen über den Tod hinaus wird in einer
Skelett gehört noch zum memento mori, alles übrige zum memento illius. anderen Reihe von Dokumenten sichtbar, den Altarbildern, die die Seelen
Diese beiden Schmuckstücke, die vom Anfang des achtzehnten Jahrhun- des Fegefeuers darstellen, das heißt in den neuen Formen, die die Frömmig-
derts stammen, sind einzig in ihrer Art. Im Gegensatz dazu wiederholen im keit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts an für die Seelen im Fege{euer
Lauf des achtzehnten Jahrhunderts eine große Zahl von anderen Schmuck- findet. Es ist ein katholischer Ritus, da, wie man weiß, die Ablehnung die-
stücken, bis auf einige Varianten, das folgende Modell: es ist ebenfalls ein ser Lehre am Ursprung von Luthers Brucir mit Rom stand und die prote-
Miniaturgrab, aber nicht mehr, wie das vorhergehende, ein Kirchengrab, stantischen Orthodoxien den Lebenden das Recht absprechen, zugunsten
ein makabres Monument, Anreger der contemPtus mundi, sondern eine der Toten einzugreifen, deren Schicksal nur von der Allmacht Gottes ab-
Szene an einem Grab in der Natur: eine Stele oder eine Graburne in antiker hängt. Richtig ist, daß der Grund der menschlichen Fürbitte am Ende des
Form und daneben eine bitterlich weinende Frau, die manchmal von einem Mittelalters und im romantischen neunzehnten Jahrhundert nicht mehr
Kind begleitet wird, manchmal von einem kleinen Hund. Darüber das derselbe war. Am Ende des Mittelalters ging es um den eigenen Tod, darum,

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sich der Hand (lr>ttes für sich allein zu bemächtigen und sich sein Heil Kirchenvätern, bei den Theologen des Mittclalters wie dem Heiligen Tho-
durch die Kapitalisierung der Gebete und Gedanken, der Sündenablässe zu rnas oder bei den litterati wie Dante. Im Gegensatz dazu eignete sich die
sichern. Später geht die Fürbitte mehr und mehr den Anderen an. Im Laufe volkstümliche Religion ihn nicht ebenso einfach an. Man beobachtet in
des achtzehnten und vor allem des neunzehnten Jahrhunderts ist daraus ihrer Einstellung dazu zwei Aspekte, die beinahe gegensätzlich sind.
eine Gelegenheit geworden, die Fürsorge und die Zuneigung des irdischen Der erste ist die Seltenheit der Anspielungen oder Hinweise au{ das Fe-
Lebens über den Tod hinaus zu verlängern. gefeuer: bis zum siebzehnten Jahrhundert spricht man nicht davon; es ge-
Trotz des Verbots, für ihre Toten zu beten, das für die Anhänger der hört nicht zur landläufigen Frömmigkeit. Der Testatar ignoriert es voll-
protestantischen Kirchen vom achtzehnten Jahrhundert an gilt, ließ eine kommen bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts; er kennt nur den
neue Empfindsamkeit es nicht mehr zu, daß man sie einem un§ska4nten himmlischen Hof oder die Hölle. \i/enn er die W'orte des Suboenite oder
und zweifelhaften Schicksal überließ. Da nicht die Rede davon sein konnte, des In Paradisum wieder aufgreift, hofft er, daß der himmlische Hof ihn
die Meinung der Re{ormatoren in Frage zu stellen und zum Aberglauben nach seinem Tod empfangen wird. Das §ü'ort Fegefeuer fehlt im Credo,im
des Papismus zurückzukehren, verfiel man darauf, das theologische Hin- Confiteor, in der Liturgie der Verstorbenen. W'enn das '§ü'ort und die Vor-
dernis zu umgehen und so zu tun, als ob es weder Prädestination noch stellung vom Fegefeuer in den Testamenten erscheinen, bedeutete es ein-
Jüngstes Gericht noch Verdammung gäbe: man brauchte nicht zu beten, da fach nur einen Vorraum des Himmels. So bittet 1657 ein Testatar Gott, "mir
keine Gefahr bestand. Aber vielleicht dachte man auch, daß keine Risiken nach meinem Tod den Eintritt ins Feget'euer zu vergönnen, damit ich dort
bestanden, da man nicht eingreifen konnte. Der Tod von Helen Burns in im Feuer alle Flecken abwaschen kann, die ich in diesem sündigen Leben
Jane Eyre von Charlotte Brontö wurde zum einfachen Ubergang in eine durch meine Tränen und die heiligen Ablässe der Kirche noch nicht ausge-
bessere \Welt, das heißt in das ghickliche Haus, wohin wir, wenn der Tag löscht habe, und mich ins Paradies zu filbren". (38)
gekommen ist, gehen werden, um unsere Verstorbenen wiederzusehen, Der zweite Aspekt ist der offiziellen Lehre nicht mehr konform: im Au-
und von wo sie kommen, uns zu besuchen. genblick des Todes ist das Spiel noch nicht aus; es gibt eine Zwischenperio-
Das Fehlen des Fegefeuers und die Unmöglichkeit, zugunsten der Ver- de zwischen dem Tod und der endgültigen Entscheidung, in der alles geret-
storbenen Fürsprache einzulegen, haben die psychologische Entwicklung tet werden kann. Man hat, wie wir gesehen haben, lange geglaubt, daß diese
beschleunigt, die die Tendenz hatte, die Unwiderruflichkeit des Todes auf- Periode die des Harrens in der Ruhe war. Aber es kam vor, daß einigen die
zuheben und die Lebenden und die Toten einander anzunähern. Diese wur- Ruhe verweigert wurde. Diese kehrten wieder, um von den Lebenden in
den als Pseudo-Lebende, als Desinkarnierte bezeichnet. Das ist zweifellos der Form von Gebeten und Messen ihre Hilie zu fordern, die ihnen erlau-
einer der Gründe, die erklären, warum die protestantischen Länder ein ben würde, dem Feuer der Hölle zu entgehen. Insgesamt stellte man sich
günstigerer Boden für die Entwicklung des Spiritismus und die Kommuni- zwei Zustände vor: Ruhe und Verdammung. In manchen Fällen hob Gott
kation zwischen den Lebenden und den Toten gewesen sind als die katholi- die Verdammung auf, und es stand dann dem Verdammten eine Frist zu, um
schen. Gebete zu seinen Gunsten zu {ordern und, sei es durch sein Umherirren, sei
Im Gegensatz dazu war die katholische Kirche, da sie seit langem einen es durch bestimmte Qualen, Buße zu tun. Diese Auffassung verknüpft sich
Austausch der geistigen Güter zwischen Erde, Himmel und Fegefeuer or- zugleich mit den alten heidnischen Vorstellungen von den friedlosen Gei-
ganisiert hatte, versucht, die Beziehungen zwischen den beiden rWelten in stern und mit der offiziellen kirchlichen Bußlehre. Das Fegefeuer hat dann
den Grenzen dieses autorisierten Austauschs aufrechtzuerhalten, und sie einen Ausnahmecharakter und ist den zweifelhaften Fällen vorbehalten.
hat sich jeder anderen Form der Kommunikation widersetzt, außer dem Dagegen wird es nach der Gegenreformation zu einer normalen und not-
Kult der Erinnerung und des Grabes, den *,ir im folgenden Kapitel unter- wendigen Etappe der \Vanderung der Seele werden. Von da an gibt es die
suchen wollen. Die neuen Strömungen der Empfindsamkeit und der Für- Zwischenperiode der Ruhe nicht mehr, und man gelangt, außer im Fall
sorge für die Verstorbenen haben sich also im Rahmen der traditionellen' besonderer und unvorhersehbarer Frömmigkeit, von der Erde geradeswegs
Andachtsformen für die Seelen im Fegefeuer manifestiert. in den Himmel.
Der Glaube an einen Ort des Fegefeuers bestand schon sehr lange bei den Aber selbst, wenn diese kirchliche Auf{assung des Fegefeuers sich

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durchsetzte, blieben die Spuren der alten volkstümlichen Bilder lange er- Mit diesen Empfindungen gab ich den Geist auf und war alsbald den zwei
halten, wie Gilbert Grimaud erklärt: "Hiermit haben wir also die gewöhn- Dämonen, die an meiner Seite sind, ausgeliefert, wie den beiden Eisenblök-
lichen Situationen des Fegefeuers Iein Ort des Leidens neben der Hölle und ken, die Ihr seht, und werde von ihnen bis zum Tag des Jüngsten Gerichts
dem Paradies und wie diese beiden ein fortdauerndes und konstitutives gepeinigt ldie Zeir der Ruhe wird durch eine Zeir der Qual ersetztl; sie
Element "der Ordnung, die Gott errichtet hat, um die riflelt zu regie- treiben mich mit Keulenschlägen durch Abgründe und Gestrüpp. Das ein-
ren"]... Dennoch vollbringt Gott manchmal zum größeren HeilderMen- zig Tröstliche ist, daß diese Qualen schließlich enden." (39)
schen [. . .] außergewöhnliche Dinge, ebenso wie er sich für das Fegefeuer Aber nach und nach wird der feste und eigens dafür eingerichtete Ort die
der Seelen nicht so an diesen bestimmten Ort bindet, daß er nicht, wenn es außergewöhnlichen Qualen ersetzen, die an einigen ver{luchten Orten der
ihm angemessen erscheint, andere Stärten suchte, um dieselbe Wirkung zu Erde den Verdammten auferlegt werden. Zur gleichen Zeit werden die er-
erzielen." Diese außergewöhnlichen Fälle waren die alten Pseudo-Fegefeu- laubten Beziehungen zwischen den Lebenden und den Seelen unmerkliche
er des Mittelalters: »Es gibt einige, die Gott an verschiedene Orte der Erde Anderungen erfahren, die die romantische Epoche ankündigen. Zum "Je-
verweist, wie es ihm gut scheint." Und hier ein Beispiel, das, nach Grimaud, der für sich" des wiederauflebenden mittelalterlichen Testaments kommt
von Thomas de Champrd berichtet wird, "der es, wie er versicherr, von die Pflicht kollektiver Mildtätigkeit gegenüber der unbekannten Masse der
einem Bischof, der eine sehr große Persönlichkeit war, erfahren hat.. leidenden Seelen hinzu. In den Testamenten ist das unpersönliche und ge-
'Er
sagt, daß in der Nähe der Alpen ein Edelmann wohnre, der sich ailen Arten meinschaftliche Almosen für die Seelen wie für die »verschämten Armen«
von Lastern und sogar Diebereien hingab; eines Tages verfolgte dieser, als üblich geworden: "Ich will und befehle, daß alsbald nach meinemTod (. . .)
er in jenen Bergen mit anderen zusammen auf der Jagd war, einen Hirsch 100 stille Messen gelesen und zelebriert werden, hiervon sind achtzig für
und befand sich plötzlich an einem äußerst wilden Ort. Er läuft hin und her die Vergebung meiner Sünden gedacht.« Das Maß ist gut und die Formulie-
und lauscht einige Zeit. Endlich hört er das Bellen zweier seiner Hunde rung klassisch. "Und zw^nzi1 zur Befreiung der Seelen, die im Fegefeuer
oben auf dem Berg. Er klettert an der Stelle hinauf, so gur er kann; als er sein werden" (1657). (40)
oben angelangt ist, befindet er sich auf einer schönen Ebene und sieht vor Aber die bedeutsamste Veränderung wird anhand der Ikonographie
seinem Hund einen Mann von gutem Aussehen, der aber ganz mit Wunden deutlich, wie sie von M. und G. Vovelle untersucht worden ist. (41)
bedeckt am Boden liegt und zu beiden Seiten von zwei großen Eisenblök- Vom siebzehnten bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts werden
ken flankiert wird. Er war über diesen Anblick ersraunt, von Enrserzen die Gebete für die Seelen im Fegefeuer zur am weitesten verbreiteten und
gepackt. Aber er faßte sich wieder und fragte ihn, ob Gott ihn dort hinge- populärsten Form der Andacht in der katholischen Kirche. In allen Kir-
bracht habe, und beschwor ihn, zu verraten, wer er sei und was er dort tue. chen, die groß genug sind, um mehrere Altäre zu besitzen, ist dieser An-
Der hingestreckte Mann antwortete, er liege dort auf göttlichen Befehl, um dacht eine Kapelle reserviert, die oft durch eine spezialisierte Bruderschaft
seine Sünden zu büßen, und {ügte folgende §(i orte hinzu : ,Ich war zur Zeit unterhalten wird. Der Altar wird von einem Gemälde gekrönt, das beinahe
der Kriege zwischen König Philipp von Frankreich und König Richard von überall dieselbe Szene darstellt, und das man in Wien, Paris, Rom, in der
England Dragoner. Als die Engländer in den Poitou und in die Gascogne Provence und natürlich in Mexiko wiederfindet: unten brennen die Seelen
einbrachen, trug ich \üaffen und gab mich völlig zügellos allen Arten von inmitten der Flammen, die Augen zum Paradies erhoben, von dem die Be-
Gewalttätigkeit, Mord, Diebstahl, üblen Streichen hin. Zu dieser Zeit freiung kommen wird. Darüber öffnet sich der Himmel mit Christus oder
wurde ich plötzlich von einem heftigen Fieber befallen, und da die Kräfte der Jungfrau und dem Jesuskind einerseits und ein oder zwei Heiligen als
mich verließen, riet man mir, zu beichten und die Sakramente zu empfan- Fürsprecherrr andererseits, die unter den volkstümlichen ausgewählt wer-
gen, aber umsonst f . . .]. Als ich schließlich auf einmal nicht mehr sprechen den: die Heilige Agathe mit ihren abgeschnittenen Brüsten, aber vor allem
konnte, fühlte ich durch Gottes unendliche Güte, daß meine Seele völlig die Bettelordenheiligen, die angesehenen Begründer der großen Devotion
verwandelt war [man erkennt die Bekehrung in extremis der ältesten arres und der einträglichen Ablässe, der Heilige Dominikus und sein Rosen-
moriendi, die den Moralisten des siebzehnten Jahrhunderts suspekt gewor- kranz,der Heilige Simon Stock und sein Skapulier, der Heilige Franziskus,
den ist]. Nun wurde ich von Schmerzen und Leiden lder Reue] gepackt. dessen Strick erlaubt, einen vertrauensvollen Mönch hochzuziehen oder

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einen Laien, der die Vorsichtsmaßnahme getroffen hat, sich dem dritten gen Abständen, um die Kerzen auszutauschcn und Gebete zu sprechen.
Orden anzuschließen. Die letzte Gruppe schließlich ist die der Engel, die Man hofft wohl, daß der auf diese'§fleise begünstigte Unbekannte sofort aus
allen, deren Stunde noch nicht gekommen ist, eine Tröstung bringen, fri- dem Fegefeuer entlassen wird; dann kann er von seiner neuen himmiischen
sches Wasser aus einer Gießkanne, und diejenigen, deren Probezeit beendet Bleibe aus seinem Vohltäter eines Tages das gleiche wiedererstatten: do ut
ist, ins Paradies führen. des.Dre moderne fromme Andacht für Seelen des Fegefeuers verbindet sich
Man findet dieselbe Ikonographie noch auf vielen Kirchenfenstern des hier mit einem Individualismus des Mittelalters und der Renaissance, der
ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Die interessanteste Veränderung im allgemeinen im neunzehnten Jahrhundert durch die Liebe zu einem sehr
ist die, die die Gruppe der brennenden Seelen betrifft. Zu Beginn (2. B. in teuren Wesen in dieser und in der anderen Welt ersetzt worden ist.
\Wien) gleichen diese Seelen den Darstellungen der
Jüngsten Gerichte, Seit dem siebzehnten Jahrhundert war die Fürsorge für die Entschwun-
nackt, symbolisch und ohne Individualität: eine anonyme Menge. Aber sie denen mit einer anderen volkstümlichen Devotion verbunden, nämlich der
entwickeln sich sehr schnell zu Porträts oder streben zumindest Ahnlich- des guten Todes, in derselben oder einer benachbarten Kapelle. Der gute
keit an. Um 1643 hat der Maler Daret in Aix-en-Provence seinen Sohn Tod war der des Heiligen Joseph oder der Jungfrau oder der Heiligen Anna,
porträtiert und dadurch gezeigr, daß er aui sein Heil vertraute und ihn den manchmal sogar der beiden letzteren zugleich, was dem barocken Maler
Gebeten der Gläubigen empfahl. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erlaubte, zu Häupten der berühmten Heiligen mit dem exaltierten Gesicht
sind die ,Brennendeno großartige Bärtige mit langen Backenbärten, wie und dem bereits verwesenden Körper eine pathetische Menge zu versam-
man sie in den Trinkhallen der Barriöres antraf, die Frauen trugen Ringel- meln. Der Tod des Heiligen Joseph war ruhiger.
locken, wie man sie an der Oper sah. Jeder konnte einen Verwandten, einen Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts erlebt die Ikonographie der
Gatten, ein Kind wiedererkennen. Im achtzehnten und neunzehnten Jahr- Seelen im Fegefeuer plötzlich im Gegenzug die spiritistische Invasion. Au{
hundert illustriert die Gruppe von Seelen nicht eine Katechismuslektion den großen Gemälden der akademischen Kunst (wie in der Kathedrale von
und erinnert nicht an eine Drohung, sondern bezeichnet die Verstorbenen, Toulouse) ist die Seele zum Geist geworden, zum Desinkarnierten, dessen
die die Zuneigung der Uberlebenden noch nicht verloren haben, die sie mit Astralleib in den Lüften schwebt. Fälle, die vielleicht eher pikant als exem-
ihren Gebeten begleiten und im Himmel wiederzufinden hoffen. Die Für- plarisch sind. Dennoch hat im allgemeinen die Ikonographie, obwohl sie
sorge wird von der Kirche zugelassen und ermutigt. §(enn auch die spiriti- dieselbe blieb, ihren \ü/illen zur Individualisierung der Hingerichteten ver-
stische Vohltat einer künftigen Vereinigung nicht dieselbe offizielle kirch- loren. Auf den neugotischen Glasfenstern des neunzehnten Jahrhunderts
liche Billigung gefunden hat, so ist sie dennoch nicht abwesend; so nimmt findet man zur vereinfachten ursprüngiichen Symbolik, zur einfachen Ka-
schon die himmlische Heimat Fdnelons die der La Ferronays voraus und techismuslektion zurück.
ähne1t ihr: "Es gibt dort eine Heimat, der wir uns alle Tage nähern rnd die Das liegt daran, daß die Individualisierung des Verstorbenen dort andere,
uns alle ttereinen tairdfHervorhebung von Ph. A.] . . . die, die sterben, sind verfeinerte Mittel gefunden hatte, um sich auszudrücken. Im französischen
lediglich [. . .] für wenige Jahre und vielleicht Monate abwesend." "Ihr Ver- Bürgertum zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nahm man die Ge-
lust" ist nur "scheinbar". (42) wohnheit an, in der Familie und unter den Freunden bedruckte Blätter mit
Dennoch haben sich in einigen volkstümlichen mittelmeerischen Tradi- dem Porträt eines Verstorbenen (eine aufgeklebte Photographie), einer bio-
tionen die Seelen des Fegefeuers vom siebzehnten Jahrhundert bis in unsere graphischen Notiz und frommen Zitaten in der Art von Grabinschriften,
Tage die Anonymität der letzten mittelalterlichen Gerichte und die gewis- kurz, ein "Grabmal" zu verteiien. Ein Jahrhundert zuvor hatte dieses Blatt
senhafteste Gegenseitigkeit des Austauschs von Diensten zwischen dem einen Namen: etn memento. Memento bedeutet im neunzehnten Jahrhun-
Jenseits und dem Diesseits bewahrt, wie sie den alten Testamenten eigen ist. dert nicht mehr memento mori, sondern memento illius,ins Französische
In der Kirche Santa Maria del Purgatorio in Neapel, die aus der Mitte des übersetzt: "Souvenez-vous dans oos priäres ls . . ," (Ged,enkt in Euren Ge-
siebzehnten Jahrhunderts stammr, kann jeder irgendeinen Schädel wählen, beten des. . .)
der dem Beinhaus entnommen ist, und ihm in einer in eine Trauerkapelle
umgewandelten Krypta einen Kult weihen: man besucht ihn in regelmäßi-

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Die HexevonMichelet Freund, wir sind es . . . Du leidest nicht allzu sehr darunter, uns verloren z.u
haben, und Du weißt, wie Du ohne uns auskommst. [Der grausamste Vor-
Mit dem Thema der Seelen im Fegefer.rer wurde, wie wir gesehen h;rben, wurf von Seiten der Toten: "Die Toten, die armen Toten haben große
eine Form der Frömmigkeit, die am Anfang individualistisch war (für sich), Schmerzeno, wird Baudelaire sagen. Sie leiden unter dem Vergessen der
altruistisch (für dich). Das ist eine Konsequenz der Entw'icklung der Affek- Lebenden.] Aber wir, können dich nicht vergessen, niemals . . . Das Haus,
tivität. das unseres war, ist voll, und wir segnen es. Alles ist gut, alles ist besser als
In seiner Interpretation der mittelalterlichen Hexerei hat Michelet in- zu d,er Zeir, wo Dein Vater mit Dir sprach, zu der Zeit, wo Dein kleines
stinktiv eine Deutung im selben affektiven Sinn gegeben: er verwandelt ein Mädchen wiederum zu Dir sagte: Papa, nimm mich auf den Arm I Aber Du
Verfahren der Aneignung von Macht, Reichtum und §(issen in ein Mittel, weinst! Genug. Auf \üy'iedersehn." (44)
die allzu sehr vermißten Verstorbenen wiederkehren zu lassen.
"Ach, sie sind fort I Süße und sterbende Klage. Zu Recht ? Nein, daß ich
In den ältesten Zeiren, als die Hexer die Toten beschwörten, wollten sie mich tausendmal eher vergesse, als sie zu vergessen.« Aber das Vergessen
ihnen die Geheimnisse der Zukunft entreißen. 'Wenn sie Leichen enrwende- kommt zwangsläufig, wie die unvermeidliche Erosion der Zeit. Um dies zu
ten, geschah das, um sich ihre Eigenschaften anzueignen. Michelet gibt vermeiden oder die Erinnerung zurückzuholen, hat Heathcliff den Sarg
der Hexerei ein Ziel, das zur Zeit der wahren Hexenmeister nicl-rt existierte, seiner Liebsten geöffnet; andere nahmen im Neu-Mittelalter, wie Michelet
das der lVelt der traditionellen Hexerei frenrd, aber im Grund kein anderes es sich vorstellt, Zu{lucht zu den Hexen: ,Und dennoch kann man, was es
war als das der amerikanischen Spiritisten des neunzehnten Jahrhunderts. auch koste, nicht umhin, zu sagen, daß einige Spuren entgleiten, schon we-
Dieser den Leser heute verblüffende einfältige Anachronismus gibt uns we- niger fühlbar sind, einige Gesichtszüge sind zwar nicht ausgelöscht, doch
nig Aufschlüsse über die Hexer, aber glücklicherweise sagt er viel über Mi- verdunkelt, blaß geworden. Es ist hart, bitter, demütigend, sich so flüchtig
chelet und seine Zeit aus ! und schwach zu sehen. . . Gebt ihn mir, ich bitte Euch, es liegt mir zuviel
Michelet stellt sich vor, daß der Mensch im Mittelalter die Hexe bittet, daran, dieser reichen Quellen von Tränen zurück. Erneuert mir, ich bitte
ihm "für eine Stunde, einen Augenblick [. . .] diese geliebten Toten, die wir Euch, diese teuren Abbilder. . . '§(i'enn es Euch wenigstens gelänge, mich
dir geliehen haben [dir, der Natur]" wieder zurückzugeben. (43) nachts davon träumen zu lassen. . ."
Er schreibt ihr seinerseits seine eigene Unduldsamkeit gegenüber dem Da greift die Hexe ein. Sie hat mit dem Satan, "dem König der Toten",
Vergessen der Toten zu: »{-ln5syg Toten müssen in Fesseln geschlagen sein, einen Pakt geschlossen. Sie weiß, wie man sie wieder zum Leben erweckt.
daß sie mir kein Zetchen geben. Und ich, was kann ich run, um von ihnen Satan hat Mitleid, die Kirche nicht. "Die Wiedererweckung der Toten
gehört zu werden? lWie kommt es, daß mein Vater, für den ich einzigwar bleibt ausdrücklich verboten." "Die Jungfrau selbst, das Ideal der Gnade,
und der mich so heftig liebte, mich nicht aufsucht?" Angst vor der Hölle? antworrer nichts aui dieses Bedürfnis des Herzens.. Heute noch habe ich
Aber es genügte, um sie vor der Hölle zu bewahren, auf den Kirchenschatz dieselbe Klage gegen die Kirche gehört, die der abgrundtiefen Traurigkeit
zurückzugreifen, auf die Ablässe, auf die Fürbitten. Da ist wohl der Unter- der Leidtragenden gleichgültig gegenübersteht. Satan hat ein besseres
schied zwischen der katholischen Pietät gegenüber den Verstorbenen oder Herz. Das heißt, daß s1 "viel vom alten Pluto hat [. . .], der den Toten die
der frommen Andacht für Seelen des Fegefeuers und den Praktiken der Rückkehr gewährt, den Lebenden das Viedersehen mit den Toten". Er
Spiritisten im neunzehnten Jahrhundert; diese, wie die Männer des Neu-
"kehrt zu seinem Vater oder Großvater Osiris, dem Seelenhirten zurück".
Mittelalters von Michelet, wollen nicht warten; sie wollen sofort ihre Toten Im Neu-Mittelalter Michelets, das heißt, im romantischen 19. Jahrhundert,
wiedersehen. Für manche, die genügend Kräfte haben, bedarf es keiner Ma- obekennt man mit dem Munde die offizielle Hölle und die kochenden Kes-
gie: "pig Ruhigsten, die Beschäftigtsren, so zersrreur sie durch die Reibe- sel [und es stimmt, daß sie keinen Platz in der von den La Ferronays geleb-
reien des Lebens auch sein mögen, haben seltsame Begegnungen. An einem ten Religion haben]. Glaubt man wirklich daran ? So kehren, trotz der Ver-
dunklen nebligen Morgen, an einem Abend, der so schnell naht und uns in bote der Kirche, Gatten und Liebhaber ins Bett ihrer Frauen zurück. Die
seinen Schatten hüllt, zehn Jahre, zwanzig Jahre danach, ich weiß nicht, Witwe legt sonntags in der Nacht q'ieder ihr Brautkleid an, und der Geist
welche schwachen Stimmen euch zum Herzen steigen: ,Guten Tag, kommt zurück, um sie zu trösten."

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t_
Das Verschwinden der frommen Klauseln Einfachheit gelegt: Mein Testamentvollstrecker möge tun, was er will, es
in den Testamenten wird immer gut sein, die Sache interessiert mich nicht. Ich habe Besseres für
meine Seele zu tun. Im achtzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert ist
Eine letzte Tatsache verdient es noch, mit dem Vorhergehenden in Verbin- der Grund ein anderer. Die Einfachheit ist ohne Zwerlel häufiger, ja sie
dung gebracht zu werden: das Verschwinden der frommen Klauseln in den wird fast konventionell, aber der Akzent wird auf das zärtliche Vertrauen
Testamenten gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts - \Wahl des Grabes, auf die Uberlebenden verschoben. "Ich verlasse mich für meine Beerdigung
fromme Stiftungen, besondere Absichten. Das ist ein bemerkenswertes auf die Klugheit meiner Kindsl" (Familie eines Winzers und Weinhändlers,
Phänomen. In zwei Jahrzehnten, ungefähr in der Zeitspanne einer Genera- 1778 147)). Diese Kategorie ist in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr-
tion, hat sich das Modell des Testamentes, das sich während dreier Jahrun- hunderts am häufigsren.
derte kaum verändert hatte, vollständig gewandelt. Die oierte Kategorie umfaßt die Testamente, aus denen jede Anspielung
Meine Stichproben im Minutier Central veranlaßten mich, die Pariser religiöser Art verschwunden ist. Sie ist am Ende des achtzehnten Jahrhun-
Testamente aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und zu derts nicht selten, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wird sie immer
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in vier Kategorien zu ordnen. Die häu{iger, so daß sie zum typischen Testament des neunzehnten Jahrhun-
erste Kategorie, die zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts umfangreich derts wird. Man ist versucht, dies mit Vovelle als ein Schwinden religiöser
ist und die sich langsam vermindert, entspricht dem traditionellen Modell Glaubensinhalte zu interpretieren, als Fortschritt der Entchristianisierung.
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts: es überlebte sich. Es hat aber andere Ursachen, denn von etwa 1770 an findet man in dieser
Die zweite Kategorie ist eine Abkürzung, eine Vereinfachung der ersten. Kategorie nicht selten Testatare, zu deren Erben oder Legataren Ordensan-
Die religiöse Präambel wird aufrechterhaiten, aber gekürzt, manchmal auf gehörige gehören. (48)
wenige rüorte reduziert. Dennoch besteht sie weiter. \Wenn man die beiden letzten Kategorien des Testamentes (3 und 4) ver-
"Ich empfehle meine
Seele Gott und flehe seine göttliche Majestät an, mir meine Fehler zu ver- gleicht, bemerkt man, daß in der Kategorie 3 der Testatar sein Vertrauen in
zeihen" (1811). (45) seinen Erben ausgedrückt hat, in Kategorie 4 dagegen nicht. Das ist der
Manchmal läßt man eine Präambel aus, behält aber die Anweisung bei, einzige Unterschied. Er hat darauf verzichtet, dieses Vertrauen zu formu-
die den Gottesdienst betrifft: "[X.], die, die angesichts des Todes, nach- lieren, sei es, weil er es nicht mehr empfand, eine Hypothese, die im Gegen-
dem sie ihre Seele Gott empfohlen hat, ihr Tesramenr gemacht hat [. . .]. Ich satz z\ allem steht, was wir sonst wissen, sei es, weil es nicht mehr ausge-
verlasse mich bezüglich meines Begräbnisses, das mit der größten Einfach- sprochen werden mußte, weil es so selbstverständlich war. Um die Mitte
heit vollzogen werden soll, auf meinen Sohn, und es soll für mich eine des neunzehnten Jahrhunderts, einer Epoche der Inflation der Gefühle im
feierliche Messe in Anwesenheit meines Leichnams gelesen werden" (7774 Bereich der Familie, kam es vor, daß ein Mann oder eine Frau das Bedürfnis
[a6]). Die Abkürzung gibt einem Bedürfnis nach Einfachheit bei den Lei- empfanden, ihre Zuneigung feierlicher auszudrücken. Sie haben es manch-
chenbegängnissen Ausdruck. mal mit dem traditionellen und {ortan altertümlichen handgeschriebenen
ln d,er drittenKategorie wird keine besondere Anweisung mehr gegeben. Testament getan, das beim Notar hinterlegt wurde: das ist gelegentlich der
Der Testatar kräftigt seinen \ffillen zur Einfachheit, er geht auf kein Denil Fall bei aristokratischen Familien, wofür das Testament der Gräfin Com-
tesse Mol6 ein Beispiel gibt (18aa) :
ein, und vor allem verläßt er sich absolur auf den Erben, einen nahen Ver- "Ich bitte, daß meine Reste neben denen
wandten, der ihm als Testamentvollstrecker dient. Das vorherrschende Ge- meiner geliebten Tochter niedergelegt werden und daß man folgende'Worte
fühl ist das Vertrauen des Testamentvollstreckers in seine Erben, seine auf meinen Grabstein setzt: 'Nach ihrem'§üunsch neben ihrer Tochter be-
Familie. erdigt.. Ich hinterlasse meiner Tochter ein Porträt meiner Mutter, das von
Die Verbindung des \üillens zur Einfachheit der Leichenbegängnisse mit Madame Le Brun gemalt ist. Ich hinterlasse ihr, was ich an §?'ertvollem auf
der Entscheidung, sich auf den Testamentvollsrrecker zu verlassen, ist alt. der \Welt habe, ein kleines Kästchen aus dunklem Holz, das ich immer bei
.§(i,ir
haben sie in den Testamenten seit dem fünfzehnten Jahrhundert gefun- mir trug und das Elisabeth gehörte. Es enthält die Briefe, die sie mir ge-
den. Aber damals wurde der Nachdruck eher auf die Vortäuschung der schrieben hat, ihr Porträt, das sie gezeichnet hat und einige Papiere von

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ihrer Hand. Ich hoffe, daß man ihr auch einen großen Holzkasten ausZi- Alles, was Körper, Seele, Seelenheil, Freundschaft betraf - die Religion
tronenholz gibt, der all die Briefe meiner Freundinnen, die zu verschiede- eingeschlossen-, war dem juristischen Bereich entzogen, um häusliche An-
nen Zeiten meines Lebens geschrieben wurden, enthält. Sie wird die au{be- gelegertheit, Angelegenheit der Familie zu werden. So erscheint der'§üandel
wahren, die für sie von Interesse sein können, und die verbrennen, die auf- des Testamentes uns, neben vielem anderen, als Indiz für einen neuen Typ
zubewahren sie nicht mehr für nötig hält. M ein Vertrauen in sie ist oollhorn- von Beziehungen innerhalb der Familien, wo die Zuneigung den Sieg über
menfHervorhebung von Ph. A.]. Ich hinterlasse ihr mein N6cessaire, das jede andere Erwägung des Interesses, des Rechts, der Schicklichkeit davon-
mir mein Schwiegervater, der ihr Pate war, geschenkt hat." (49) trug. . . Diese Zuneigung, die kultiviert und sogar verherriicht wurde,
Im allgemeinen wurden im neunzehnten Jahrhundert solche Instruktio- machte die Trennung durch den Tod schmerzlicher uud lud dazu ein, sie
nen nicht in einem Testament gegeben. Wenn sie schriftlich niedergelegt durch die Erinnerung oder andere mehr oder weniger konkrete Formen des
wurden, was nicht der häufigste Fall war, wurden sie einem Brief oder einer \Weiterlebens zu kompensieren.
persönlichen Notiz neben dem Testament anvertraut. Ich habe ein Beispiel
für diesen Brauch in meinen eigenen Familienpapieren. Meine Urgroßmut-
ter ist 1907 gestorben. Ihr "Letzter §flille" war in einem Umschlag, der an Die Revolution des Geftihls
ihren einzigen Sohn adressiert war, verschlossen (sie hinterließ vier Töchter
und einen Sohn). Dieser Umschlag enthielt drei Dokumente: 1. das Testa- In der Tat erfinden diese gläubigen oder säkularisierten Christen und die
ment, das auf die Verteilung ihrer beweglichen und unbeweglichen Güter halb Ungläubigen gemeinsam ein neues Paradies, das Jank6l6vitch ein an-
zwischen ihren Kindern beschränkt ist (ein Testament der Kategorie 4, thropomorphes Paradies nennt, das nicht mehr so sehr das Haus des Vaters
ohne irgendeine religiöse oder gefühlsmäßige Anspielung, ein Rechrsmit- ist, sondern eher die Häuser der Erde, die den Drohungen der Zeit ausge-
tel); 2. eine Notiz, in der sie ihre Anweisungen gab, die ihre Grabstätte, ihr setzt sind, und wo die Vorgriffe auf die Eschatologie sich mit den §[irklich-
Leichenbegängnis, die Gottesdienste und die Almosen betrafen; 3. einen keiten der Erinnerung vermischen.
Brie{ an ihren Sohn, in dem sie einige ihrer Entscheidungen erklärte und in Die Dinge spielen sich im neunzehnten Jahrhundert so ab, als iedermann
einer allgemeinen Weise ihre Liebe ausdrückte, die Prinzipien der Religion an eine Fortsetzung der Freundschaften des Lebens nach dem Tod glaubte.
und Moral darlegte, an denen sie festhielt und die, wie sie wünschte, ihre Vor dem gemeinsamen Hintergrund des Glaubens variiert nur der Grad an
Kinder aufrechterhalten sollten. Realismus in den Darstellungen und vor allem die Beziehung zwischen
Im siebzehnten Jahrhundert wären diese drei Dokumente in einem ver- künftigem Leben und religiösem Glauben. Diese beiden Begriffe überdek-
eint gewesen. In den meisten Fällen werden die Anweisungen und persönli- ken sich noch bei den Christen des neunzehnten Jahrhunderts; dagegen
chen Empfehlungen, die keine werwollen Güter, sondern moralische und sind sie bei den Nichtchristen, den Positivisten, den Agnostikern getrennt.
gefühlsmäßige Botschaften betrafen, von nun an mündlich mitgeteilt. Kurz Diese haben wohl die Lehre der Of{enbarung und des Heils, die Aussagen
vor ihrem Tod übergibt Frau de La Ferronays sie ihrer Tochter Pauline. des Glaubensbekenntnisses aufgegeben; zum Ersatz kultivieren sie das An-
Vom Testament blieb nur das Rechtsmittel, das der Notar {ür die Regelung denken der Toten mit einer gefühlsmäßigen Intensität, die auf die Dauer
der Erbschaft brauchte; im übrigen wird das Testament selbst viel seltener denselben Eindruck von objektiver Realität macht wie der Glaube der
als im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Frommen.
D_eshalb nehme ich an, daß der §(andel des Testamentes in der zweiten Diese Dissoziation des künftigen Lebens und des Glaubens hat zur Mitte
Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der \Wandlung der Gefühle zwischen dem des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn man den Meinungsforschern glauben
Erblasser und seinen Erben zusammenhängt. Einst waren diese Gefühle darf , die Christen selbst erfaßt. Das heißt, daß das künftige Leben die große
eher mißtrauisch. Sie sind vertrauensvoll geworden. Beziehungen der ge- religiöse Tatsache unserer zeitgenössischen Epoche bleibt, selbst wenn sie
genseitigen Zuneigung haben Rechtsbeziehungen ersetzt. Es erschien uner- im zwanzigsten Jahrhundert durch den Respekt der Menschen vor dem
träglich, den Austausch zwischen §ü'esen, die durch gegenseitige Liebe im industriellen Rationalismus verdeckt wird.
einen wie im anderen Leben verbunden waren, vertraglich festzulegen. In unserer zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geht diese Vor-

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stellung zurück oder äußert sich verschämt, doch wie die Meinungsfor- Der Rückzug des Bösen. Das Ende der Hölle
schungen gezeigt haben, tritt sie beim Herannahen des Todes bei den Alten
und den Kranken, die nichts mehr zu verlieren oder zu verbergen haben, Da der Tod nicht das Ende des geliebten §(esens ist, so tief der Schmerz des
erneut in Erscheinung. (50) Überlebenden auch sein mag, ist er weder häßlich noch furchterregend. Er
Die verschiedenen Arten des Glaubens an ein künftiges Leben oder an ist schön, und der Tote ist auch schön. Die Anwesenheit am Sterbebett ist
das Leben in der Erinnerung sind in der Tat die Antworten auf die Unmög- im neunzehnten Jahrhundert mehr als die übliche Teilnahme an einer ritu-
lichkeit, den Tod des geliebten Menschen zu akzeptieren. ellen gesellschaftlichen Zeremonie, sie ist Anwesenheit bei einem tröstli-
Dies ist nur ein Zeichen unter anderen im Zusammenhang dieses großen chen und erhebenden Schauspiel; der Besuch im Haus des Toten hat etwas
gegenwärtigen Phänomens der Reoolution des Gefühls. Die Affektivität mit dem Beiuch im Museum zu tun: wie schön er ist ! In den gewöhnlich-
beherrscht das Verhalten, vor allem, wenn die gute Erziehung am Ende sten Zimmern des abendländischen Bürgertums ist der Tod schließlich mit
eines Jahrhunderts Gleichmut vorzutäuschen fordert. der Schönheit eins geworden, letzte Etappe einer Entwicklung, die ganz
Ich will damit nicht sagen, daß es die Affektivität vor dem achtzehnten sanft mit den schönen ,Ruhendeno der Renaissance begonnen und sich im
Jahrhundert nicht gegeben hätte. Das wäre absurd, aber es ist ein heute nur barocken Asthetizismus fortgesetzt hat. Aber diese Apotheose darf uns den
allzu häufiger Irrtum der historischen Mentalität, daß man ein mehr oder Viderspruch, den sie einschließt, nicht verdecken: dieser Tod ist nicht
weniger konstantes Gefühl und den spezifischen lW'err, den es in einem mehr der Tod, er ist eine Illusion der Kunst. Der Tod hat begonnen, sich zu
bestimmten Augenblick im Kollektivbewußtsein annimmt (oder verliert) terbergen, trotz der scheinbaren Publizicät, die ihn in der Trauer, auf dem
miteinander vermengt. Das Wesen, die Intensität und die Gegenstände des Friedhof, im Leben wie in der Kunst oder der Literatur um gibt er aerbirgt
Gefühls haben sich gewandelt. sicb unter der Schönbeit.
In unseren alten traditionellen Gesellschaften war die Affektivität auf Hier trifft die Geschichte des Todes auf die des Bösen. DerTod wurde in
eine größere Zahl von Personen verteilt, die nicht auf die Mitglieder der den christlichen Zeugnissen und im gewöhnlichen Leben ais Manifestation
Familie beschränkt blieb. Sie erstreckte sich auf immer weitere Kreise, wo des Bösen gesehen, des Bösen, das sich ins Leben eingeschlichen hat und
sie sich auflöste. Andererseits wurde sie nicht völlig investiert;die Men- untrennbar vom Leben war. Bei den Christen war er der Augenblick einer
schen bewahrten sich eine Menge frei verfügbarer Affektivität, die sich den tragischen Orientierungssuche zwischen Himmel und Hölle, die ihrerseits
Zufällen des Lebens entsprechend entlud, als Zuneigung oder ihr Gegen- der banalste Ausdruck des Bösen war.
teil, Aggressivität. Im neunzehnten Jahrhundert nun glaubt man kaum noch an die Hölle:
Vom achtzehnten Jahrhundert an ist dagegen die Zuneigung von Kind- nur noch als Lippenbekenntnis, nur für die Fremden und die Widersacher,
heit an auf ganz auf einige W'esen, die außergewöhnlich, unersetzlich und für die, die außerhalb des engen Zirkels der Affektivität standen.
unzcrtrennlich werden, konzentriert. Zweifellos wären die [-a Ferronays empört gewesen, wenn man ihnen
"Ein einziges \(esen fehlt Euch und alles ist entvölkert." Das Gefühl für gesagt hätte, daß sie nicht an die Hölle glaubtenlUnd es ist wahr, daß sie
den Anderen hat also einen neuen Vorrang gewonnen. Die Geschichte der glaubten, daß sie ein ferner und unwirklicher Ort sei, der den großen Ver-
Literatur hat seit langem diese Eigenschaft der Romantik erkannt und eine brechern, die nicht bereut hatten, den Unglücklichen und mehr noch den
Banalität daraus gemacht. Heute hat man eher die Tendenz, diese Romantik Häretikern vorbehalten ist: deshaib wollte Albert auf seinem Totenbett
als eine ästhetische und bürgerliche Mode zu betrachten, die ohne Tiefe ist. seine Frau von seiner protestantischen Schwiegermutter {ernhalten. Alles,
Wir wissen nun, daß sie eine wichtige Tatsache des wirklichen Lebens ist, was von der Hölle blieb, war ein Erbe der Inquisition.
des täglichen Lebens und eine große Umwandlung des Menschen in der Der Heilige des siebzehnten Jahrhunderts fürchtete immer die Hölle,
Gesellschaft bedeutet. wie auch immer seine Tugend, sein Glaube und seine §(erke beschaffen
waren: er stellte sie sich in seinen Meditationen vor. Für den frommen
Mann des neunzehnten Jahrhunderts ist die Hölle ein Dogma, das man im
Katechismus lernt, aber seiner Sensibilität ist sie fremd. Mit der Hölle ist

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schon ein Teil des Bösen verscbutunden. Es bleibt ein anderes, das Leiden,
die Ungerechtigkeit, das Unglück, aber gerade Helen Burns, die Heldin
von Charlotte Brontö, weiß, daß das verbleibende Ubel mit dem Fleisch
verbunden ist und mit dem Fleisch verschwinden wird. Im Jenseits, in der
Velt der Geister, gibt es kein Böses mehr, und deshalb ist der Tod so wün-
schenswert:
C'est la Mort qui console, hölas ! et quifair aivre ;
C'est le but de la oie et c'est le seul espoir 11. Der Besuch auf dem Friedhof
Qui, comme un ölixir, nous monte et nous eniore
Et nous donne le coeur de marcber jusqu'au soir . . .
IJnsere Kcnntnis der Antike ist zum größten Teil den Gräbern und den
C'est l'auberge fameuse inscrite sur le lhtre, darin angehäuften Grabbeigaben zu verdanken. Je entlegener der betref-
Oit l'on pouna mdnger, et dormir, et s'asseoir. (Baudelaire) fende Zeitraum der Antike, um so größer ist für gewöhniich auch dieZahl
der Beisetzungsdokumente. Das ist ohne Zweifel eine Konsequenz der lan-
Manche werden bald denken, daß es vielleicht nicht notwendig ist, bis zu gen selektiven Auswirkung der Zeir: Die Menschen, die einander an ein
dem Augenblick zu warten, wo man »essen und schlafen und niedersitzen und derselben Stätte förmlich überlagerten, haben die Spuren ihrer f eweili-
kann" ! Und man wird sich dann bemühen, auch das Böse aus der Velt des gen Vorgänger getilgt, aber die zur Hälfte bereits profanierten entlegeneren
Fleisches zu verjagen. Das werden wir im letzten Kapitel dieses Buches Grabstätten {ortbestehen lassen, die gleichsam ein Kondensat der Kultur
sehen (Kap. 12). Dennoch ist es nicht weniger wahr, daß das Ende der Hölle der Lebenden bargen. Die Friedhö{e oder das, was an ihre Stelle getreten
die erste große Etappe des Rückzugs des Bösen ist. ist, haben also in unserer Sicht der \flelt der Antike immer eine sehr große
Ende der Hölle will nicht heißen Tod Gottes. Die Romantikerwaren o{t Bedeutung gehabt.
glühende Gläubige. Aber da der Tod sich unter der Schönheit verbarg,
nahm der Gott der Bibel of t bei ihnen die Gestalt der Natur an. Der Tod ist
in der Tat nicht allein die Trennung vom Andern. Er ist in einer bestimmten Die Friedhöfe im topographischen Uberblick
Weise, die freilich weniger allgemein ist, auch eine wunderbare Annähe-
rung an das Unerforschliche, eine mystische Kommunikation mit den Diese Bedeutung wurde geringer und verschwand, wie wir bereits gesehen
Quellen des Seins, mit dem Unendlichen: die Bilder der sich weithin er- haben, im Mittelalter, als die Gräber sich an die Kirchen anschmiegten oder
streckenden Erde oder des Meeres drücken diese Anziehungskraft aus. sich im Kircheninneren zusammendrängten. In der städtischen Topogra-
Die Romantik ist fraglos eine Gegenreaktion auf die Philosophie des 18. phie ist der Friedhof nicht mehr erkennbar oder hat keine unverwechselba-
Jahrhunderts; dennoch hat ihr Gott etwas vom Deismus der Aufklärung re Identität mehr; er verschmilzt mit den Nebengebäuden der Kirche oder
geerbt. Er fließt hier und da mit der universalen Narur zusammen, in der den öffentlichen Plätzen. Jene langen Fluchtlinien von Monumenten, die
sich alles verliert und alles neugeschaffen wird. Eine Auffassung, die nicht von den römischen Städten ausgingen wie die Strahlen eines Sterns, sind
nur von Intellektuellen oder Astheten geteilt wird, zumal sie gerade in die verschwunden. Man kann späte1 wohl transisin dieBodenfliesen und Mau-
gelebten religiösen Vorstellungswelten eingedrungen ist ; junge Mädchen ern der Kirchen und in die Galerien der Klöster skulptieren oder als \fland-
und Knaben, die den Tod vor Augen hatten, empfanden auf diese lWeise malereien ar.rftragen: die Zeichen des Todes sind nicht mehr offenkundig
manchmal das Meer oder die Heide. und äußerer Art, trotz der Häufung von Seuchensterblichkeit und der Prä-
C'est la Mort .. . "Der Tod ist's, der uns tröstet, ach ! und der uns leben macht ;/ Er ist des senz der Toten. Sie treten nur noch im Staub oder Schlamm zutage. Sie
Lebens Ziel und ist die einzige Hoffnung,/ Die wie ein Zaubertrank uns stärkt und uns be-
haben sich verborgen. Sie kommen erst und noch dazu reichlich spät mit
rauscht/ Und uns beherzt macht, bis zum Abend fortzuwandern...i Er ist die vielgenannte
Herberge, die man ins Buch uns eintrug,/'Wo man essen und schlafen und niedersitzen kann." den seltenen sichtbaren Gräbern wieder. Der Beitrag der Beisetzungsdoku-
(Ubertr. v. F. Kemp) mente zu unseren historischen Kenntnissen und Interpretationen ist sehr

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spärlich geworden. Die Kultur der Zeir vom Mittelalter bis zur Moderne, Bevor sich noch die Arzte damit abgaben, wurden die Geräusche aus den
wenigstens aber bis zum 17. Jahrhundert, hat den Toten weder viel Raum Gräbern, die wir heute den explosiven Entladungen derVerwesungsgase zu-
noch viel Grabschmuck gegönnr. Sie ist keine Friedhofskultur. schreiben, Gegenstand lebhafter Neugier. Das Grab von Silvester II. (Ger-
Seit dem 19. Jahrhundert macht sich der Friedhoi in der städtischen To- bert) knirschte (ossa crepitasse) jedesmal, wenn der Tod eines Papstes be-
pographie wieder bemerkbar. Eine panoramaarrige übersicht über die vorstand. In Böhmen hob und senkte sich der Grabstein einer Heiligen,
Stadtbilder und sogar die ländlichen Gemeinden zeigt heute in den Maschen wenn eine Pestseuche drohte. Es gab eine Sprache der Gräber, wie es eine
der Stadtgewebe leere, mehr oder weniger grüne Flecken, ungeheure Ne- Sprache der Träume gab. (1)
kropolen in den Großstädten, kleine Friedhöfe in den Dörfern, die manch- Die Arzte des 16. und 17. Jahrhunderts begannen sich diesen Geräu-
mal in unmittelbarer Umgebung der Kirche, manchmal aber auch außer- schen (pulsatio, sonitus) zu widmen und sich für die Berichte von Totengrä-
halb der Menschen-Agglomeration liegen. Zweifellos ist der heutige Fried- bern zu interessieren, die von schrillen Tönen wie dem Kreischen einer
hof nicht mehr die unterirdische Nachbildung der Velt der Lebenden, die Gans zu berichten wußten oder gesehen hatten, daß sich um die Gebeine
er in der Antike war; dennoch glauben wir, daß er eine Bedeutung hat. Die Schaummassen aufblähten, die zerplatzten und die Luft verseuchten. Ein
mittelalterliche und die moderne Landschaft gliedert sich um Kirchtürme bei Bernhardus Valentinus (2) entlehnter Bericht mag als Vorbild für aile
herum. Die am weitestgehenden urbanisierte Landschaft des 19. und des Geschichten dieses Genres dienen, wie sie von den Arzten des 1 8. Jahrhun-
beginnenden 20. Jahrhunderrs har versucht, dem Friedhof oder den Grab- derts zusammengetragen wurden. Bemerkenswert ist, daß man dieser Art
monumenten die Rolle zu verleihen, die früher der Kirchturm hatte. Der von Phänomenen bereits ein Jahrhundert lang Aufmerksamkeit geschenkt
Friedhof ist das Zeichen einer ganzen Kultur gewesen. (Isr er es noch?) hatte, bevor man sie zur öffentlichen Angeiegenheit machte und die Allge-
\X/ie laßt sich diese Viederkehr des Friedhofs erklären und was will sie meinheit mobilisierte.
besagen ? Garmann berichtet von einer anderen Art von Außerungen, die die Me-
diziner des 18. Jahrhunderts diesmal der Leichtgläubigkeit des abergläubi-
t,
schen Beobachters zuschreiben: Zur Zeit des schlimmsten Wütens einer
Der Teufel auf dem Friedhof i Pestepidemie öffnet man, nachdem man merkwürdige Geräusche aus ei-
i nem Sarg gehört hat, den Deckel und entdeckt, daß der Leichnam sein Lei-
Vir haben gesehen, daß sich das Bestattungswesen nicht verändert hat, seit chentuch zur Hälfte verschlungen hat. Man konstatiert, daß dieses §ü'under
man die Toten in den Kirchen oder dicht daneben beerdigte, seit man die sich nur in Pestzeiten ereignet und daß die Pest einhält, sobald man den
Leichname anstarr in Steinsarkophagen in Särgen aus Holz oder ganz ohne leichentuchfressenden Kadaver enthauptet und den Kopf aus dem Grabe
Sarg (in ihrem entfernt und fortgeworfen hat. Man kann dieser Gefahr übrigens gleich im
"Leintuch") beisetzte. Daraus ergab sich eine beständige
Umschichtung der Körper, der fleischlichen überreste und der Gebeine, in Augenblick der Beisetzung begegnen, sei es, indem man, wie die Alten,
den Kirchen mit ihrem ungleichmäßigen und holprigen Estrich wie auf den dem Leichnam ein Geldstück in den Mund legt, das ihn am Kauen und
Friedhöfen. Der heutige Mensch macht sich natürlich sofort klar, welche Schlingen hindert, sei es, indem man, wie die Juden, das Leichentuch mit
Gerüche, welche Ausdünstungen und welche ungesunden Verhältnisse größter Sorgfalt vom Mund fernhält.
diese Manipulationen nach sich ziehen mußten. Aber eben nur der heutige Der bedeutsame Aspekt ist der, daß eine Beziehung zwischen den Ge-
Mensch. \W'ir müssen also zur Kenntnis nehmen, daß die Menschen von räuschen aus den Gräbern, den Ausdünstungen der Friedhöfe und derPest
früher sich damit widerstandslos abgefunden haben. besteht. Bartholin (1680), Ambroise Par6 (1590), Fortunius Licetus
Es kam gegen Ende des 16. und im 17. Jahrhundert eine Zeit, da sich (1577-1656) und andere haben darauf hingewiesen. So hat Ambroise Par6
manche Menschen, vorerst noch wenige anZahl, anläßlich der merkwürdi- darauf aufmerksam gemacht, daß eine Pest in der Gegend von Agen von
gen Phänomene, die an Gräbern beobachtet wurden, Fragen zu stellen be- einem Brunnenschacht herrührte, in dem eine ellendicke Schicht Leichna-
gannen; im 18. Jahrhundert wurde schließlich dieser mehrere Jahrhunderre me übereinandergestapelt worden war.
hindurch unbeanstandete Zustand mit einem Schlage unerträglich. Die Verwaltungs- und Polizeibeamten kannten diese Gefahr nur zu gut

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und empfahlen in Pestzeiten, die ansteckenden Leichname in größter Ent- die Toten hetlig: mortui sacai.lü/ie die Altärc und Tempel, loca saoa,dirlen
fernung zu halten, sie ganz rasch außerhalb der Städte beizusetzen und die sie nicht verlegt und umgebettet werden (non t'as est movere), man schuldet
Gräber mit ungelöschtem Kalk zu desinfizieren. 'Warum aber verbrannte ihnen reverentia und religio.
man sie nicht einfach, wie das die Alten aus hygienischen Gründen getan Niemals hatten die Kanoniker oder die Theologen meines Erachtens den
hatten ? Friedhof als solchen einem Altar gleichgestellt. Man hatte die Toten in der
Freilich begnügten sich die Arzte wie Garmann, von der Beziehung zwi- Kirche und ihrem Hof bestattet, die Toten hatten durch eine Art Abzwei-
schen Friedhöfen und Epidemien voll und ganz überzeugt, mit der bloßen gung von einem heiligen Raum mitprofitiert, der ihnen nicht vorherbe-
Beobachtung, ohne es noch zu q/agen, die öffentlichkeit zu alarmieren und stimmt und auf ihre Gegenwart nicht angewiesen war. Hier entsteht der
Reformpläne vorzulegen. Sie waren da in einiger Verlegenheit, weil sie sich heilige Raum im Gegenteil aus der Anwesenheit von Grabstätten. Ein
der wirklichen Ursachen von Phänomenen, die ebenso gut auch vom Teufel mehrdeutiger heiliger Raum. Es ist verblüffend, aus ein und derselben ci-
herrühren konnten, nicht sicher waren: zwischen dem Friedhof und der ceronischen und auf ihre Veise gelehrten Feder Beobachtungen über die
Epidemie besteht nämlich nicht nur eine natürliche Kausalitätsbeziehung, Ungesundheit der Friedhöfe oder ihre schädlichen Auswirkungen zugun-
es gibt auch den Teufel und seine Hexen. Die holen sich bei den Toten die sten von Epidemien und den Hinweis zu lesen, daß der Friedhof, Erdreich
Elemente, die sie für ihre Mixturen und Zaubertränke brauchen; die Leich- der Toten, zur heiligen Stätte gehört und man deshalb nicht an ihn rühren
name, die in Pestzeiten dabei ertappt werden, daß sie ihre Leichentücher darf. Ist das nicht dieselbe Mischung von Vorstellungen, denen man auch
verschlingen oder wie Schweine quieken, sind die von Hexen; deshalb wa- bei den Hexen.jägern begegnet ist ? Veist dies darauf hin, daß ein volkstüm-
ren es sich die Magistratsbeamten schuldig, ihnen jede Art von Grabstätte liches, archaisches und heidnisches Heiliges sich wieder Geltung verschaf{t,
zu verweigern. In Pestzeiten dehnt der Teufel seine Macht aus und wird von dem sich in der mittelalterlichen Folklore sehr wenig Spuren finden?
nach Luther, den Garmann zitiert, zum Dei carnit'ex (Henker Gottes). Im Oder kommt darin eher eine moderne Form von Sakralisierung zum Aus-
allgemeinen ist ihm die Amtsgewalt über die Toten übertragen: es entwik- druck, die auf neue wissenschaftliche Kategorien reagiert, wie sie ein neuer,
kelt sich zwischen ihnen und ihm eine Art Verwandtschaft. Der Friedhof ist rationalerer Geist entdeckt? Die Phänomene, die im 18. Jahrhundert zu
sein Reich, eine Art Vorhof der Hölle. In dem kosmischen Kampf, den die Problemen der Hygiene, der Chemie und der Biologie werden, wurden
Kirche gegen Satan führt, hat sie ihm den Friedhof durch einen feierlichen zum Zeitpunkt ihres Auftauchens alsbald der Sphäre des Heiligen zugeord-
\(eiheakt entreißen und die geweihten Grabstätten gegen ihn verteidigen net. Das ist eine Art Anerkennung. So gehören hier wie im Falle der Erfin-
müssen, aber er streicht immer noch in der Nähe umher; durch die Virk- dung und Unterdrückung der Hexerei die reoerentia und die religio, die
samkeit der Exorzismen und des heiligen Raumes bislang auf Distanz ge- weder im Hinblick auf die Toten noch auf die Zeremonie der Grablegung
halten, bedarf es nur einer kleinen Lücke in diesem heiligen Raum, und er noch auf die Fürbitten für die Seelen, sondern im Hinblick auf den Friedhof
kehrt zurück - so srark ist die Anziehungskraft zwischen ihm und den als Verwahrungsstätte der Leichname gefordert werden, mehr zu einer hei-
Leichnamen. Die Pest, der Teufel und der Friedhof bilden ein regelrechtes ligen Stätte der Elite als des Volkes, selbst wenn diese Elite alte Strömun-
Dreieck von Ein{lüssen. gen der Volksreligion reaktiviert und zu ihren Gunsten ausgebeutet hat.
Merkwürdig ist der in doppelter Veise heilige Charakter, den man dem Man findet bei Garmann keine Spur des Sippengefühls, das die Nostalgie
Friedhof zuerkennt. Von Hause aus angesrammter \Tohnsitz des Teufels, des "Friedhofs unserer Väter. bei den Protestanten von Henri de Sponde
hat ihn sich die Kirche eroberr, aber er kann jederzeit wieder an den Teufel wachrief (vgl. Kapitel 6). Interessant ist hier der Ausdruck des Respekts
zurückfallen; andererseits ist er für immer heilig, und insofern darf der und vor allem des Kultes, der religio: er wird im positivistischen 19. Jahr-
Mensch keine profane Hand an ihn legen. hundert wiederau{gegriffen. Er charakterisiert die wissenschaftlichen Na-
Deshalb zögert man, die Friedhöfe zu verlegen, sie aus den Städten zu turauffassungen, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert gültig waren. Man
entfernen und sie gar mit ungelöschtem Kalk zu desinfizieren. Ein Arzt und würde sich täuschen, wenn man darin volkstümliche Formen der Vereh-
Astrologe, de Misnie (1557-1636), hält einem solchen Brauch entgegen, rung des Friedhofs sehen wollte. Die sind nie so deutlich und explizit
daß er "eines Christen unwürdig" sei. Im allgemeinen, sagt Garmann, sind gewesen.

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Die Ungesundheit der Friedhöfe: (seine schmutzige Dürftigkeit hinderte ihn icdoch nicht, in Rom empfan-
Arzte und Parlamentarier des 18. Jahrhunderts gen zu werdenl). Für den Abb6 Porde müssen die Kirchen gesund sein; er
empfiehlt »saubere, gut gelüftete Gotteshäuser, wo man nur den Geruch
Der ungesunde Zustand der Friedhöfe war also bereits bekannt. Die poli- brennenden \Weihrauchs wahrnimmt", der ständig von den Totengräbern
zeiberichte, etwa die Grande et Nöcessaire Police aus dem Jahre 1609 (3), geschwenkt wird. Schließlich schlägt er vor, die Friedhöfe aus der Stadt
erteilten Ratschläge, um ihm zu begegnen. \üenn aber auch bestimmte au- herauszuverlegen, »d25 sicherste Mittel, um dort die Gesundheit der Luft,
ßergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen etwa für Pestzeiten empfohlen wur- die Sauberkeit der Tempel und die Gesundheit der Gläubigen zu pflegen
den, so war doch noch nicht die Rede davon, die alte Ordnung umzu- und zu erhalten, Güter von höchster \(ichtigkeit".
stoßen. Tatsächlich war an diesen Verlegungen nichts Umstürzlerisches: Man
Als man im 16. und 17. Jahrhundert in Paris die loca sactaverlegte,ge- machte den Kirchenvorständen, die bereits mit ähnlichen Gedanken spiel-
schah das nur, um der Kirche und ihren Nebengebäuden eine weitere Aus- ten, den Vorschlag, neue Friedhöfe zu schaffen und sie grundsätzlich außer-
dehnung zu ermöglichen, und nicht etwa aus hygienischen Gründen. halb der Stadt anzulegen. Gleichwohl war diese Verlegung für den Abb6
Gleichwohl beginnt seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts in der Por6e nicht nur ein Erfordernis der Volksgesundheit, sondern stellte dar-
Offendichkeit Unruhe laut zu werden, und die von den Arzten beobachte- über hinaus eine strikte Trennung von Lebenden und Toten wieder her, auf
ten Phänomene werden erneut zur Anzeige gebracht und fortan nicht mehr die die Alten streng geachtet hatten : die Toten "sollen in Ewigkeit vom Rest
als Außerungen des Teufels, sondern als natürlicher, wenn auch lästiger der Lebenden geschieden bleiben", "die Toten sollen, aus Furcht, daß sie
Zustand gebrandmarkt, bei dem Abhilfe geboten ist. den Lebenden Schaden antun könnten, nicht nur die Quarantäne einhalten,
Im Jahre 1737 schenkt das Pariser Stadtparlament den Arzten Gehör, die sondern auch ein Verbotlhier taucht das '§ü'ort auf ; Hervorhebung von Ph.
eine Friedhofsenqu6te unrernommen haben - zweifellos die erste offizielle A.] achten, das erst am Ende der Zeiten aufgehoben wird". Ein mehrdeuti-
Untersuchung dieser Art. Sie haben sie im Geiste unseres heutigen \üissen- ger Text, in dem man die lVurzei der ganz und gar zeitgenössischen Zurück-
schaftsbegriffs geführt, aber sie biieb folgenlos; sie schlugen einfach ,mehr weisung der Toten seitens der Lebenden unserer postindustriellen Gesell-
Sorgfalt bei der Grablegung und mehr Anstand bei der Instandhaltung der schaft zu erkennen versucht ist: so die Deutung von Madeleine Foisil. (6)
Friedhöfe" vor. (4) Die Tendenz ist bereits vorhanden, soviel ist richtig, und wir werden weiter
Zur gleichen Zeir (1745) beschreibt der Abb6 Por6e in se;nen Lettres sur unten sehen, daß sie nur zu bald die Parlamentarier, die Autoren des Aus-
la söpulture dans les öglises (5) eine Situation, die als widrig empfunden zu setzungserlasses für Beerdigungen aus dem Jahre 1763, beeinflußt. Aber
werden beginnt, namentlich von den Anrainern der Friedhöfe und Kir- während in den Jahren um 7770 der radikale Naturalismus der Autoren des
chen. Die Beisetzung in den Kirchen wird unter Anklage gestellt, und zwar Aussetzungserlasses schwindet und sich allmählich in eine neue Totenreli-
als sowohl der Volksgesundheit wie auch der Vürde des Kultes abträglich. gion verwandelt, glaubt der Abb6 Por6e noch nicht, daß die Trennung der
Der Autor greift die Verbote des kanonischen Rechts wieder auf und be- Lebenden von den Toten den Toten schadet und sie dem Vergessen anheim-
streitet das Prinzip der Bestattung ad sanctos, das für die katholischen Re- gibt. Eher trägt sie dazu bei, sowohl dem Ort des Kultes der Lebenden als
formatoren ebenso unversrändlich geworden ist wie für die protestanti- auch der Bleibe der Toten Achtung und Anstand zu erweisen. Gleichzeitig
schen. ,Man sprach bestimmten Geberen und Zeremonien eine Sphäre ak- wird auch der Besuch auf dem Friedhof ständig weiter empfohlen. "Es ist
tiver \Wirksamkeit zu, deren unmittelbare Auswirkung ganz und gar mora- für die Sterblichen von höchsrem Interesse, die Lehren zu vernehmen, die
lisch ist." Er verlangt das Verbot der Beisetzungen in den Kirchen, ,weil ihnen die Toten erteilen. Gerade auf ihren Gräbern muß man sich von der
wir durchaus das Recht haben, die Gesundheit und die Sauberkeit zu lie- Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge überzeugen: die Grabstätten sind
ben, die so weitgehend dazu beiträgt, sie zu erhalten". Die Sauberkeit wird Schulen der \Veisheit" - eine Empfehlung, die sich im Sinne des Memento
hier bereits zu dem \Wert, als der sie dann vor allem im 19. Jahrhundert in mori und der Vanitas-Mahnung des 1 7. Jahrhunderts versteht, ohne bereits
Erscheinung tritt: ein Heiliger, Benoit Labre, der noch an die wirksamen auf jenen Kult des Gedenkens anzuspielen, der sich erst später durchsetzt.
Eigenschaften des Schmutzes glaubte, verlor in Frankreich seinen Rang Die Jahre um 1760 waren von ausschlaggebender Bedeutung. Als die

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Gemeinde Saint-Sulpice einen neuen Friedhof in der Nähe des Petit Palais ren vor allem von Arzten, die die damals herrschenden Zustände beschrie-
du Luxembourg anlegen wollte, widersetzte sich der Eigentümer, der Prinz ben und geltend machten, was $/ünschenswert, was zu fürchten und was
von Cond6, diesem Plan. Trotz des späteren Verzichts der beiden Parteien künftig empfehlenswert sei. (8)
war der Generalprokurator der Meinung, daß die Angelegenheit deshalb Die \flortführer der öffentlichen Meinung sind die Arzte: sie bestreiten
nicht auch schon erledigt sei : " Wenn die besonderen Interessen der beiden einen Großteil der Veröffentlichungen. Ihre Beobachtungen unterscheiden
Parteien damit auch ins reine gebracht sind, bleibt denn da für das öffent- sich nicht sehr weitgehend von denen der Mediziner des 17. Jahrhunderts,
liche Interesse nichts mehr zu wünschen übrig? Das Beispiel eines Ver- wohl aber ihre Deutungen: sie schließen übernatürliches Einwirken aus
suchs, in einem der am dichtesten bevölkerten Viertel dieser Stadt einen und stützen sich auf eine wissenschaftliche Theorie der Luftzirkulation, die
neuen Friedhof anzulegen, die Bestürzung, die dieses Unterfangen hervor- von der Offentlichkeit so umstandslos übernommen wird, daß sie bald zu
gerufen hat - müssen sie nicht auch die Aufmerksamkeit der städtischen einem Gemeinplatz wird. (9)
Beamten auf diesen Bereich der öffentlichen Aufsicht lenken?" Die Dinge \(ir wählen unsere Beispiele aus drei nahezu gleichzeitig erschienenen
müssen sich ändern. "Es sind Millbräucbe, die nur aufgrund einer Art Ver- '§üerken, die die Leitvorstellungen der
Jahre um 1760-1770 sehr deutlich
geßlichkeit fortbestehen. [. . .] Muß man nicht in diesem Rahmen auch die widerspiegeln, und zwar aus M. Marets Mörnoires sur l'nsage oil' l'on est
vielleicht allzu große Leichtfertigkeit sehen, die man an den Tag legte, als d'enterrer les rnorts dans les öglises et dans les enceintes des villes,DiionlTT3
man die verpesteten Bleiben der Toten inmitten der Vohnstätten der Le- (Denkschri{t über den herrschenden Brauch der Bestattung der Toten in
benden duldete ? Der stinhende Odem, den die Leichname von sich geben, den Kirchen und innerhalb der Stadtmauern), aus P. T. Naviers Röflexions
ist ein Fingerzeig der Natur, die zur schleunigen Entfernung mahnt. Die sur les d.angers des exhurnations pröcipitöes et sur les abus des inbumations
Völker der Antike, die das größte Ansehen für die Regelung ihrer öffentli- dans les ögliseslzwei große Themen derZeit, die hier verknüpft werden],
chen Angelegenheiten genossen, verwiesen die Stätten der Grablegung in suivies d'obsentations sur les plantations d'arbres dans les cimetiöres,1775
entfernte Gegenden. o Und seither haben sich die Städte sogar noch vergrö- (Überlegungen zu den Gefahren übereilter Exhumierungen und zu den
ßert, die Häuser sind höher geworden: "Die unreinen Ausdünstungen ver- Mißbräuchen der Beisetzung in den Kirchen, gefolgt von Beobachtungen
loren sich ehedem im Strom der Luft; heute werden sie von den Gebäuden zur Frage des Baumbestandes auf den Friedhöfen) - es handelte sich bei
aufgefangen, die die Vinde hindern, sie zu zerstreuen. Sie schlagen sich an dieser letzteren Arbeit um einen Beitrag fiJ'r die Acadämie des belles-lettres,
den Mauern nieder, die sie mit einem fauligen Saft tränken. 'Wer weiß denn, sciences et drts zr Chälons-sur-Marne (aus dem sich nebenbei die wichtige
ob sie nicht, wenn sie mit der eingeatmeten Luft in die benachbarten §7ohn- Rolle der Akademien bei den ideologischen Tageskämpfen erschließen
stätten eindringen, sogar manche unbekannte Ursachen von Tod und An- läßt). Und schließlich die Übersetzung eines italienischen Verkes - Essai
steckung weitertragen." Die Arzte werden das noch unverblümter zum sur les lieux et les dangers des söpuhures, 1773 (Essay über die Orte und
Ausdruck bringen als der Verwaltungsbeamte. (7) Gefahren der Grabstätten) - vom berühmten Vicq d'Azyr, in dem die Ent-
Nach dieser Erklärung des Generalprokurators trifft der Gerichtshof die scheidungen des in Modena residierenden aufgeklärten Fürsten als Vorbil-
Entscheidung, daß die Kommissare des Chätelet und die Vorstände der der vor Augen geführt wurden.
Kirchen unabhängig voneinander eine Untersuchung der Friedhöfe von Maret berichtete, daß »am vergangenen 15. Januar, laut Aussage des Pa-
Paris in Angriff zu nehmen haben. Die Protokolle dieser Friedhofsenqu6te, ters Cotte, des Priesters der Kapelle, der Totengräber, als er auf dem Fried-
die mit großer Eilfertigkeit und großer Genauigkeit unternommen wurde, hof von Montmorency ein Grab aushcb, einen ein Jahr zuvor beigesetzten
bilden eine minuziöse Beschreibung der funeralistischen Situation im Paris Leichnam mit einem Spatenstich verletzte. Es entwich ein fauliger Dunst-
der Mitte des 18. Jahrhunderts. (7) hauch, der ihn erschauern ließ [. . .]. Ais er sich auf den Spaten stützte, um
Im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen zur öffentlichen Ordnung die Öffnung, die er gerade ausgehoben hatte, wieder zu schließen, sank er
entwickelte sich, vor und nach dem Aussetzungserlaß von 1763, ein regel- tot hin." (10)
rechter Presse- und Propagandafeldzug um die öffentliche Meinung, mit Gefährliche Beisetzungen dieser Art konnten sich auch während eines
Petitionen der Friedho{sanrainer, Denkschriften und gedruckten Broschü- Gottesdienstes oder einer Katechismusstunde ereignen: "Am 20. April Ides

610 6tt

n
Jahres 1773] hebt man im Schifi der Kirche Saint-Saturnin in Saulieu ein Leichenteile in die Beinhäuser und mindert damit .ieden Tag die Reinheit
Grab für eine am Faulfieber verstorbene Frau aus. [Im Leichnam eines und Gesundheit einer Luft, die doch dazu bcstimmt ist, Gesundheit und
Kranken erhält sich die Krankheit und die von ihr ausgehende Anstek- Leben zu bewahren."
kungsgefahr.] Die Totengräber öffneten den Sarg eines am 3. März des Vor- Das Feuer und der Luftstrom, den es erzeugt, "reinigt die schlechte Luft
jahres beigesetzten Leichnams. Als sie den Leichnam der Frau in die Grube und weht sie hinweg. : deshalb zündete man im Jahre 1709 große Feuer auf
hinabsenkten, öffnete sich der Sarg ebenso wie der besagte Leichnam, und den öffentlichen Plätzen an, um damit den Skorbut zu vertreiben - und
es verbreitete sich augenblicklich ein derart widerwärtiger Geruch, daß die zwar mit Erfolg. Deshalb unterhielt man während der Exhumierungen
Umstehenden gez§/ungen waren, die Stätte zu verlassen. Von 120 Jugendli- auch brennende Kohlenbecken, so etwa im Jahre 1785 auf dem Cimetiöre
chen beiderlei Geschlechts, die man auf die erste Kommunion vorbereitete, des Innocents. Dieselben Ergebnisse lassen sich durch das Abbrennen von
erkrankten 1 1 4 ernstlich, ebenso der Pfarrer und der Vikar, die Totengräber Geschützpulver erzielen. (14)
und mehr als siebzig andere Personen, von denen 18 dahingerafft wurden, Die durchseuchte Luft überträgt die Krankheit. Sie zersetzt auch die le-
darunter der Pfarrer und der Vikar, die als erste verschieden." Eine regel- benden Dinge. Man hat deutlich beobachtet, daß die Anrainer von Fried-
rechte Hekatombe ! Die am Katechismusunterricht teilnehmenden Kinder höfen in ihren Speisekammern nichts lange aufheben können. So auch im
gehörten zu den am meisten gefährdeten Opfern. In Saint-Eustache zu Pa- Umkreis des Cimetiöre des Innocents: "Stahl, Silbergeld und Tressen ver-
ris "fielen sie im Jahre 7749 nahezu alle zur gleichen Zeit in Ohnmacht. Am lieren dort schnell ihren Glanz." "M. Cadet versichert, daß die §ü'unden
darauffolgenden Sonntag stieß dasselbe einer Schar von zwanzig Kindern dort üppiger eitern als in den anderen Stadtvierteln von Paris."
und anderen Personen aller Altersstufen zu." (11) Die Arzte sind nicht die einzigen, die dieser Auffassung laut beipflichten.
Die bezeichnendste Geschichte dieser Art ist die einer Beisetzung in der Die Zeugnisse der Friedhofsanrainer sind in den Jahren um 1760 häufig,
Gruft der Veißen Büßer zu Montpellier, die drei Opfer forderte, darunter und die Verfasser der Enquöte von 7763, Chätelet-Kommissare und Kir-
den Totengräber und zwei von denen, die ihm zu Hilfe eilten. Ein weiterer chenvorstände, zitieren sie in ihren Protokollen. Hier eine Petition gegen
wurde mit knapper Not gerettet, so daß er später in der Stadt den Beinamen den Friedhof der Pfarre Saint-Merri: "Alles, was zum Leben dringend er-
"Der \(iederauferstandene" erhielt. (12) forderlich ist, zersetzt sich, dergestalt, daß es unmöglich ist, irgendetwas
Offensichtlich ist es die Luft, die von Krankheitskeimen gesättigt ist. Der für mehrere Tage frisch zu halten." Oder die Klage der Vitwe Leblanc,
Tod tritt nicht immer augenblicklich ein. Die Luft verbreitet das Ubel aus Gattin eines Goldschmiedes, gegen den Kirchenvorstand von Saint-Ger-
der Entfernung. Die Zersetzung der Leichname steht in Beziehung zu den vais: Sie muß ihre auf den Friedhof führenden Fenster geschlossen halten,
Epidemien und zu dem, was wir heute ansteckende Krankheiten nennen. weil "sie weder Fleisch noch Flüssigkeiten aufbewahren kann [. . .]. Die
"Solche Ausdünstungen Ider faulige Hauch sich zersetzender ileischlicher verderblichen Ausdünstungen haben sich bis in den Keller verbreitet und
Substanzen], die ansteck.end [Hervorhebung v. Ph. A.]geworden sind, ver- '§(ein und Bier verdorben, die sie dort gelagert hatte." (15) In diesem Falle
breiten sich weiter und weiter und werden, da sie sich sozusagen aus ihrer anerkannte sogar der Kirchenvorstand, daß die Klagen berechtigt waren.
eigenen Asche regenerieren, ganz allgemein ansteckend und können ganze Er suchte überdies nach einer Gegend an der Stadtgrenze, um seinen Fried-
Provinzen dahinra{fen." "Ramalzini macht geltend, daß die Mehrheit der hof dorthin verlegen zu können.
ansteckenden Krankheiten den fauligen Ausdünstungen von Leichnamen Es gibt also keinerlei Zwerfel, und jedermann - oder doch beinahe jeder
oder den Zersetzungsschwaden von versump{ten Gewässern zu verdanken - von der Ungesundheit der Friedhöfe überzeugt. Man fragt sich, wie
ist
ist." (1 3) Schon I 559, merkt Vicq d' Azy r an, "haben die berühmten Fernel man im Mittelalter und unter dem Einfluß abergläubischer Vorsteilungen
und Houllier ganz positiv versichert, daß in Zeiten der Gefahr die Häuser, nur von den vernünftigen Bräuchen der Alten hat iassen und jahrhundert-
die besagtem Friedhof am nächsten lagen, immer die ersten und am Iängsten lang wahre Pestherde und Schreckensorte im Herzen der Städte, im unmit-
von Ansteckung bedroht waren, länger als die anderen besagter Stadt." telbaren Umkreis der Wohnstätten hat dulden können.
Venn man die Leichname vom Ort ihrer ersten Beisetzung in die Bein-
häuser überführt, vergiftet man die Luft: "Man rransportiert noch frische

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I
Der Radikaiismus der Stadtparlamentarier : außerhalb und im Umkreis von Paris acht große Friedhöfe anzulegen (im
Der nicht verwirklichte Aussetzungsbeschluß ersten Entwurf vier), {ür jede der Pariser Gruppen von Pfarreien einen,
von1,763 wobei jede dieser Pfarreien auf dem großen Gemeinschaftsfriedhof über ihr
eigenes Gemeinschaftsgrab verfügt. In der Stadt selbst verblieben damit nur
Die ersten, die sich davon überzeugen lassen, sind auch die aufgekiärtesten, in der Nähe der Kirchen gelegene Depositorien, in denen die Toten nach
die Beamten der königlichen Gerichtshöfe, die adeligen Anwälte und Rich- dem Gottesdienst verwahrt würden. Diese Depositorien würden dann je-
ter, die vornehmen Handelsleute usw. den Tag von Leichenwagen geleert, die die "Schreine und Leichentücher"
Der Aussetzungsbeschluß des Stadtparlaments von Paris aus dem Jahre (die jeweils mit dem Unterscheidungsmerkmal der Pfarre gekennzeichnet
7763, der die Folge der Friedhofsenquöte der Kommissare des Chätelet und wären) einzusammeln und zum Gemeinschaftsfriedhof zu überführen hät-
der Kirchenvorstände war, ist der erste !'ersuch einer Revision der jahrtau- ten, wo sie dann in die Erde gebettet würden.
sendealten Ordnung der Grablegungen ad sanctos et apud ecclesiam Nach dieser Konzeption wäre der Gottesdienst in der Kirche, in Anwe-
gewesen. senheit des Leichnams, die einzige und letzte öffentlich-religiöse Zeremo-
Die Präambel dieses Aussetzungsbeschlusses greift die Argumente der nie gewesen. tü/enn die Parlamentarier eingeräumt hatten, daß der Priester
Arzte und Friedhofsanrainer wiederuuf. "In der Mehrzahl der großen den Trauerkondukt begleitete, so handelte es sich in ihren Augen dabei
Pfarreien und vor allem in den im Zentrum der Stadt gelegenen sind die doch eher um die Funktion der Überwachung der Totengräber und Beglei-
Klagen über die Verseuchung nur allzu vertraut, die die Friedhöfe dieser ter des Kondukts als um die Erfüllung einer religiösen Pflicht.
Pfarreien in der Nachbarschaft verbreiten, vor allem, wenn die Hitze der Wenn nun aber dieser Aussetzungsbeschluß auch nicht zur Anwerrdung
Sommermonate die Ausdünstungen mehrt. Die Fäulnis wirkt dann so kam, so sind diese Ver{ügungen in der Praxis doch übernommen worden;
stark, daß die lebensnotwendigsten Nahrungsmittel nur einige wenige zweifellos bestanden die Todesanzeigen (die seit dem Ende des 17. Jahr-
Stunden aufbewahrt werden können, bevor sie sich zersetzen, was entwe- hunderts die öffentliche Bekanntmachung ersetzten), der Gottesdienst in
der von der Natur des Bodens herrührt, der zu fett ist, um die Leichname der Kirche und die Trauerbekundung (die Kondoienzbesuche) weiter wie
verzehren zu können [die Arzte hatten das Erdreich der Friedhöfe auch als vordem auch; das Publikum zerstreute sich jedoch in diesem Augenblick,
Chemiker untersucht, vor allem deshalb, um die Böden aussondern zu und der Leichnam wurde, wie im Aussetzungseriaß vorgesehen, in ein De-
können, die, allzu fett, der Verwesung n;cht entgegenkamen, ohne doch positorium überführt. Die Beisetzung büßte damit ihren familiären und
andererseits zur Austrocknung oder zur Mumifizierung dienlich zu sein], öffentiichen Charakter ein, um zu einer schlichten Maßnahme der Gemein-
oder vom zu geringen Ausmaß des Terrains, das für die Zahl der jährlichen deverwaltung zu werden.
Beisetzungen nicht ausreicht. . .o Ebenso hält die Präambel, durchaus ge- Überdies hatte der Aussetzungserlaß keinerlei Vorsorge dafür getroffen,
schickt und zur Entwaffnung der Traditionalisten bestimmt, fest, daß man- daß der Friedhoi zum ö{fentlichen Ort wurde; es wurde Besuchern sogar
che Kirchenvorstände bereits Abmachungen getroffen hätten, um einen davon abgeraten, die Reise zu unternehrnen. Der Friedhof selbst war ein
großen Friedhof außerhalb der Stadt zu erwerben. von Mauern umschlossener Raum, groß genug für die Gemeinschaftsgrä-
Der Vorschlag, der sich aus dem Text des Aussetzungsbeschlusses ablei- ber, die umschichtig verwendet werden sollten, um eine Ubersättigung des
ten läßt, ist interessant und kühn. \üir befinden uns hier, im Jahre 1763, Erdreichs zuvorzukommen. Denn die Parlamentarier hielten am jahrhun-
bereits in nächster Nähe des weltlichen Friedhofes: die Eingriffsmöglich- dertealten Prinzip der Übereinanderbettung der Leichname in mehreren
keiten de: Kultusbeamten werden auf eine untergeordnete Aufsichts- und Schichten {est, den Einwänden mancher Arzte und Priester zum Trotz. Sie
Protokollfunktion beschränkt; mehr ais eine bloße Ruhestätte, zu der er versuchten sogar, dieses Prinzip auf eine ganze Bevölkerungsgruppe auszu-
vierzig Jahre später werden wird, ist der Friedhof ein Verwahrungsort, der dehnen, die sich ihm bisher entzog. Und das ist der merkwürdigste Zug
aber sauber, hygienisch, ordentlich ist und gut instandgehalten wird. Der dieses Projekts: Um die Grablegungen in den Kirchen einzuschränken,
Ton des Textes ist außergewöhnlich trocken und funktional. Die Absicht ohne sie doch gänzlich zu unterbinden, verknüpften sie sie mit der außerge-
des Dokuments geht dahin, die bestehenden Friedhöfe z.u schließen und wöhnlich hohen Gebühr von 2000 Livres (z-uzüglich des Preises für den

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!
Gottesdienst, das Grabmonumenr..., der die Gesamtkosten dann leicht läßt sich der Friedhof des 19. Jahrhunderts erkennen, für den der Pöre-La-
i

auf etwa 3000 Livres ansteigen ließ; manche Kirchenvorstände machen in chaise eines der bedeutsamsten Vorbilder ges/esen ist. Er entspricht einer
der Enqu€te von 7763 geltend, daß sie bei einem derartigen Preis wohl nur Vorsteilung, die noch kaum verbreitet ist und in der diesem Thema gewid-
einen einzigen "Kunden" pro Jahr zu verzeichnen hätten). \üer dieser Re- meten Literatur noch kaum in Erscheinung tritt.
gelun§ nicht nachkommen konnte oder wollte, hatte nur eine Alternative: Dieser Artikel ist .iedoch aus der endgültigen Fassung des Aussetzungs-
entweder konnte er wie jedermann den §ü'eg ins Massengrab nehmen (man erlasses getilgt - ein deutlicher Hinweis au{ die Entschlossenheit seiner Au-
erließ ihm dann lediglich, bei Verdopplung der Transportkosten, die Station toren. Die Summe, die für das Anrecht, nicht im Gemeinschaftsgrab zu
des Depositoriums), oder er erwarb sich, für die noch immer beträchtliche enden, entrichtet zu werden hatte, erhöhte sich von 50 auf 300 Livres, die
Gebühr von 300 Livres, das Anrecht auf ein Sondergrab längs der Fried- Erlaubnis, auf der eigenen Grabstätte ein Denkmal errichten zu lassen,
hofsmauern, einem für diesen Beisetzungsryp reservierren Bereich. In hei- wurde zurückgenommen. Die anderen Entwür{e hielten hartnäckig an der
nem Falle aber durfte das Grab mit einer Grabplatte verscblossen oder dar- Bestimmung fest, daß ,längs der Mauern und auf den Grabstätten kein
auf ein Grabmonument enichtet uerden. Die Betreffenden durften allein Epitaph" angebracht werden dürfe, eine Einschaltung, die im endgültigen
das Recht in Anspruch nehmen, ein Epitaph an der Mauer des Friedhofes Text wiederaufgenommen und erweitert wurde: "Ohne daß dort irgendein
anbringen zu lassen. Der Friedhof sollte also absolut schmucklos sein, ohne anderes Bauwerk aufgeführt werden darf Ials eine "Devotionskapelle" und
Denkmäler und sogar ohne Bäume, die ja im Rufe standen, die Zirkulation eine ,Pedellwohnung"] oder im Innenraum irgendein Epitaph angebracht
der Luft zu unterbinden, jener berühmten Luft ! \Wie noch viele Kirchen- wird, es sei denn an den Mauern oder Umfassungswällen, aber nicht auf
vorstände in der Enqu6t e von 7763 geltend machten, mochte es nur wenige einer Grabstätte.o
'§ü'enn dieser Aussetzungserlaß nicht angewendet wurde, so wahrschein-
Liebhaber geben, die für ein derart anonymes Stück Erde 300 Livres be-
zahk häften. lich wegen seines Radikalismus. Daß er aber überhaupt schriftlich nieder-
Vielleicht wiegten sich die Parlamentarier in dem Glauben, daß ihre eige- gelegt, angenommen und zu den Akten gelegt werden konnte, ist schon
nen Toten, die Toten ihrer gesellschaftlichen Schicht, die 2000 Livres bezah- interessant genug. Um diesen Radikalismus zu deuten, müssen wir uns ins
len oder sich, ungeachtet des Aussetzungserlasses, auch weiterhin in den Gedächtnis ru{en, was weiter oben, im dritten Teil, über das Sich-vom-Lei-
Kapellen ihrer Schlösser beisetzen lassen konnten (was durchaus nicht ver- be-Halten des Todes, das Bedürfnis nach Schlichtheit der Leichenbegäng-
hinderte, daß manche von ihnen auch die Schlichtheit der Grablegung be- nisse, die Verlockung des Nichts und die Gleichgültigkeit dem Leichnam
fürworteten). Weiterhin ist bemerkenswerr, daß der erste Entwurf des Er- gegenüber ausgeführt wurde. Der Text des Jahres 1763 scheint mir die Krö-
lasses wohl das allgemeine Verbot der Beisetzung in den Städten aussprach nung dieser Verlockung und ein Versuch zu sein, sie der Gesellschaft als
und die Entrichtung einer Gebühr von 2OO0 Livres {orderte, um in einer ganzer nahezubringen. Diese Gesellschaft aber hat sie sich nicht zu eigen
Kirche beerdigt werden zu können, aber als Ausgleich dafür einräumte, daß gemacht, und ihr lWiderstreben gibt uns Anlaß, die Reaktionen ins Auge zu
der neue Friedhof extra muros durchaus auch mit Grabmonumenren ge- fassen, die die Vorschläge der Parlamentarier und der Erlaß selbst auslösten.
schmückt sein durlte: "Es ist für die Geistlichen fdas \ü7ort tritt an die Stelle
von ,Priestern. (im frz. hier ecclösiastiqueslir prötres)], für die Adeligen, für
die wohlhabenden Bürger fman sagte auch die ,distinguierten,], die eine Die Reaktionen auf den
gesonderte Grabstelle wünschen, auf jedem der neuen Friedhöfe ein Ort Aussetzungserlaß des Parlamentes
bestimmt, wo sie sich, gegen Entrichtung der Summe von 5O Livres, separar
bestatten lassen können [. . .]. Sie bekommen die Freiheit eingeräumt, die- Im großen und ganzen besteht allgemeine Einigkeit, wenn es darum geht,
sen Ort ihrer Grablegung nach eigenem Belieben zu verschönern, die die Ungesundheit der Friedhöfe und der Beisetzungen in den Kirchen an-
Leicbname und Gebeine ibrer Ahnen exhumieren und sie zur ibnen zuge- zuerkennen und nach Abhilfe zu rufen. Es werden aber auch Vorbehalte
wiesenen Stätte ilbert'ühren zu lassen, :und ebenso alle Unterscheidungs- laut: wir kennen sie bereits von seiten der Geistlichkeit und der Kirchen-
merkmaie ihrer Herkunft dort anzubringen." An diesen Formulierungen vorstände. Die sind von der Entscheidung des Parlaments in ihren finanzi-

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n
ellen Interessen betroffen, weil die Beerdigungen einen bedeutenden Anteil lung auf das Totengebet bedarf der ausdrticklichen Hervorhebung, denn sie
ihrer Ressourcen ausmachen. Sicherlich hat sich hinsichtlich der Gottes- taucht in den Gesuchen der Enqu6te des Jahres 1763 nur sehr selten auf.
dienste in den Kirchen nichts verändert, manche Kirchenvorstände hatten Im allgemeinen fügen sich Geistlichkeit und Kirchenvorstände ins Un-
bereits neue Friedhöfe angelegt, andere, im Bewußtsein der Gefahr der Kir- vermeidliche und versuchen, sich soviel Beisetzungen wie möglich in den
chenbeisetzungen zu ebener Erde, hatten gemauerte Grabgewölbe erbauen Grüften ihrer Kirchen zu sichern und ihren neuen Friedhof in möglichst
lassen; manche fragen sich jedoch, ob die weite räumliche Entfernung der geringer Entfernung anzulegen. Die Leitung des Charit6-Krankenhauses
Grabstätten nicht einen allgemeinen Verlust der Anteilnahme zur Folge legt regelrechte Begeisterung an den Tag. Ihre Vertreter sind sogar der An-
haben wird. \Was sollte aus den "Hilfspriesrern" werden, die sich ihren Le- sicht, daß das neue Arrangement der christlichen Bestattungstradition
bensunterhalt mit der Teilnahme an Trauerkondukten verdienren, wenn durchaus treu bleibt: heute trägt man "den Leichnam nach den letzten Ge-
dieseKondukte eingeschränkt und gar ganz abgeschafft würden ? Eine et- beten in {eierlicher Prozession zur Stelle des Grabesn; ki.inftig wird der
was naive Reaktion bringt die Ratlosigkeit der Pfarreien deutlich zum Aus- Leichnam, "nach Abschluß der Gebete durch ein Requiescatinpace,nach
druck, die Reaktion des Kirchenvorstandes von Saint-Sulpice: "Man kann den Trauerbekundungen, nach fZerstreuung] des Volkes, wie es bei einem
natürlich nicht leugnen, daß das gelegentlich, inZeiren großer Hitze, bei Totenamt der Brauch ist, bei dem der Leichnam nicht zugegen ist, und nach
diesem Friedhof zu gewissen Beschwerlichkeiten führen wird. Aber diese der Entfernung aller Beteiligten, sogar der Geistlichkeft, ohne Get'olge
[Hervorhebung v. Ph. A.] in ein Depositorium überführt werden [. . .], *o
Beschwerlichkeiten sind nicht gravierend genug, um die extreme Nützlich-
keit zu mindern, die dieser Friedhof für die Pfarre Saint-sulpice verkör- er die folgende Nacht verweilt, um dann tags darauf zusammen mit den
pert." Die einzigen Opfer wären damit die Priester selbsr, und die beklag- anderen L.eichnamen in einem Karren abtransportiert zu werden". Freilich,
ten sich nicht. "In der Hauptsache wäre es wohl die Gemeinschaft der Prie-
"das Volk wird sich diesem Brauch anfangs
verschließen", aber gewaltsa-
ster dieser Pfarre (und einige Nachbarn), die darunter zu leiden hätten, aber mer'W'iderstand steht nicht zu befürchten, "es wird sich bald daran gewöh-
man darf vertrauensvoll versichern, daß diesen Nachteilen einigermaßen 1gn., weil es sich nicht ausgeschlossen fühlen muß und alle Welt sicb ähn-
leicht zu begegnen ist." Es genügt, im Augenblick der Beisetzung gewisse licb oerhält: ,einmal, roeil es ganz allgemein gültig sein wird, zum andern,
Vorsichtsmaßnahmen walten zu lassen und die Unachtsamkeit der Toten- uteil sicb aucb Personen oon Stand dem gleichen Gesetz zu beugen haben
gräber einzuschränken. werdeno . Der Friedhof wird ganz schmucklos sein, ohne alle Vermögens-
Der Vorstand der Pfarre Saint-Germain-l'Auxerrois hat "alle Achtung oder Herkunftsunterschiede, ohne irgendein Kennzeichen, das den sterbli-
für das öffentliche \)7ohl, das so weitgehend von den materiellen Qualitäten chen Resten Bedeutung verliehe. Die Geistlichkeit hat keinen Grund zur
der Luft abhängt. Die Luft, dieser Spürhund, der alles durchdringr«; er Beunruhigung: "Die neue Ordnung [. . .] würde die pomphaften Leichen-
akzeptiert das Prinzip der Depositorien und des Gemeinschaftsfriedhofes, begängnisse in keiner Veise schmälern. Es würde dieselbe üppige Freige-
weist aber auch vorausschauend darauf hin, daß man sich "die Empfind- bigkeit herrschen", aber die eigentliche Zeremonie {ände damit ihr Ende.
lichkeit und die Bräuche des Volkes und die Eitelkeit der reichen Leute" vor ,Es handelt sich nicht darum, die zeremonielle Einsenkung des Leichnams
Augen führen müsse. Es müssen
"Unterschiede" aufrechterhalten werden: in die Erde zu unterbinden." §(enn diese zögernden Einschränkungen in
'§fl'arum sich die Leure von Stand denn nicht weiterhin in den Kir-
"ließen der Enquöte von 1763 noch sehr zurückhaltend in Erscheinung treten, so
chen beisetzen, vorausgesetzt, das geschieht in den gemauerten Grabge- gibt es gleichwohl auch anonyme Denkschriften, die diese planerischen
wölben, wie man sie gerade hat erbauen lassenu ? Saint-Jean-en-Gröve hatte Maßnahmen des Parlaments in grober Form angreifen und deren Tonfall
ebenfalls bereits 1757 den Entschluß gefaßt, Beisetzungen nur noch in ge- durchaus nicht immer der der Aufklärung ist. So etwa das Mömoire des
mauerten Grabgewölben vorzunehmen. curös de Paris (Memorandum der Pfarrer von Paris [16]).
Der Vorstand von Saint-Merri hält dagegen trotz der Klagen der Nach- Die Pfarrer nehmen durchaus kein Blatt vor den Mund. Sie lassen sich
barn an seiner Vorliebe für einen Friedhof in unmittelbarer Nähe der Kir- vom wissenschaftlichen Aufwand der Parlamentarier und der Autoren des
che fest, "weil er für Beisetzungen sehr bequem erreichbar istund das Be- Aussetzungserlasses in keiner '§fleise beeindrucken : das sind Kindereien; in
dürfnis der Gläubigen n)acbruft, für ihre Toten zu betenn. Diese Anspie- striktem Gegensatz zur öffentlichen Meinung - und es bedurfte damals

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schon einer gewissen Kühnheit, um sich derart unverblümt zu äußern - las- keiten auszuschalten: sie kümmerten sich auch um die Hygiene, sie nah-
sen sie aber einfach nicht gelten, daß die Nachbarschaft der Friedhöfe ge- men die Beisetzung 24 Stunden nach dem Ableben vor, und "ieder Leich-
sundheitsschädlich sei. "Die Geistlichen verhehlen sich nicht, daß die Ge- nam, der mit der Drohung einer ansteckenden Krankheit beha{tet war,
meinschaftsgräber der Friedhöfe zuZeiren der großen Sommerhitze gele- wurde von diesem 24-Stunden-Gesetz ausgenommen [. . .]. Häufig wurde
gentlich unangenehme Dunstschwaden versrrömen: sie wagen jedoch in [der Leichnam] sogar bei der Überführung zur Kirche bestattet, noch vor
er:ster Linie einzuwenden, und die Auszüge aus ibren Kircbenbücbern legen dem Beginn des Gottesdienstes.. Natürlich wissen auch sie, daß, leider!,
dafür Zeugnis ab lauch sie nehmen Zuflucht zur Statistikll, daß in den ,trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen bereits der bloße Gedanke an einen
Häusern in unmittelbarer Nähe der Friedhöfe nicht mehr Krankheits- und Leichnam Iunsere Kirchen] veröden läßt". Auch die Parlamentarier glaub-
Todesfälle, häufig sogar weniger, vorkommeno, sowohl ten, daß das Publikum sich vom Schauspiel des Todes beeindrucken ließe,
"in der Nachbar-
schaft des Cimetiöre des Innocents als auch in den anderen Stadtvierteln, was durchaus nicht so sicher war; der Generalprokurator schrieb eine
und daß es sogar zahllose Personen gibt, die dort unbehelligt bis ins höchste handschriftliche Notiz an den Rand einer Denkschrift, die für jede Pfarre
Alter leben". Die Epidemien ziehen sie nicht mehr in Mitleidenschaft als das Recht auf einen eigenen Friedhof außerhalb der Stadt forderte: "Man
die anderen Stätten auch: "In den Zeiten der beiden Krankheiten, die durch hat dagegen eingewendet, daß man dann nur noch in Paris eine Bestattung
die Verheerungen, die sie in Paris angerichtet haben, nur allzu bekannt [slc] zu sehen bekäme."
geworden sind, ist dieses Viertei [um den Cimetiöre des Innocents] als ietz- Den Geistlichen zufolge führt die verbindliche Anwendung des Zwi-
tes und nur so leicht betrof{en gewesen, daß man es geradezu für besonders schenaufenthalts im Depositorium im.Gegenteil sogar zu einer Verlänge-
geschützt halten kann." Die Nachbarschaft der Friedhöfe ist nicht gesund- rung der Bestattungsfrist und zur Vermehrung der Infektionsherde! Eben
heitsschädlicher als die der lVeißgerbereien, der Stärkereien, der Lohgerbe- deshalb haben sie ja die Vorsichtsmaßnahme ergriffen, die Gemeinschafts-
reien und aller gräber zu verlegen und für die Einzelgrabstätten in den Kirchen die gemau-
"Handwerksbetriebe, die eine gewisse Verschmutzung mit
sich bringen"; "die Menschen dort sind durchaus widerstandsfähig, und erten Grabgewölbe vorzuziehen. Diese Arbeiten "haben mehrere Pfarreien
man sieht keine epidemischen Krankheiten in Erscheinung rrereno. Geht es in Schulden gestürzt, und sie werden sich jetzt als gänzlich nutzlos er-
etwa den Metzgern, die häufige Gäste bei den
"§6Hx.1r,bänken" sind, des- weisen."
halb gesundheitlich schlecht ? Die Geistlichen bedrohen die Pariser Verwaltungsbehörden überdies mit
Schließlich ist die Beisetzung in den Kirchen oder in ihrer unmirtelbaren einer Außerung des Volkszornes. "Die neue Regelung stiftet das Volk zum
Nähe sehr alt. Diese Geistlichen erwähnen mit keinem \i(ort die kanoni- Aufrubr an.o Aufruhr: das §ü'ort wiegt schwer. "\üie vorsichtig und wie
schen Vorschriften, die die Beisetzungen im Kircheninnern unrersagren maßvoll die öffentliche Vorlage des Erlasses auch vorgegangen sein mag, so
oder einschränkten. "Haben nicht Saint-S6verin, Saint-Gervais und Saint- hat sie doch eine allgemeine Erschütterung bei den beiden zahlenrnäßig
Paul, Pfarreien aus dem 6., 8. und 12. Jahrhundert, immer über Beinhäuser stärksten Bevölkerungsschichten hinterlassen, die am meisten der Scho-
verfügt, ein sicherer Beweis für den altüberkommenen Brauch, dort Beiset- nung bedürfen, beim Volk [den Armen, den Landarbeitern] und beim Bür-
zungen vorzunehmen, ein Brauch, den man also eigentlich mehr scheuen gertum [bei den Handwerkern, Gewerbetreibenden, Kleinkaufleuten, eben
müßte als die Friedhöfe fwegen der überführung], nichtsdesroweniger dem Kleinbürgertum, dessen Verstorbene im 18. Jahrhundert häufig mit
aber ein Brauch, der niemals verhängnisvolle Folgen gehabt har. Entweder kurzen Epitaphien im Innern .ler Kirchen beigesetzt wurden]. Eine Er-
müßte man also sagen, daß das übel jahrhundertelang im Verborgenen ge- schütterung, die zunehmend anwuchs, einen allgemeinen Aufrubr gegen
schwelt hat, ohne bemerkt zu werden, oder daß man es, wenn man sich den Magistrat entfessebe und erst abzuebben begonnen hat, als sich das
seiner schon bewußt war, aiele Jabrbunderte ertragen hat, obne aucb nur Gerücht verbreitete, daß der Aussetzungserlaß nicht verwirklicht werden
auf den Gedanhen zu verfallen, sich darüber zu behlagen oder Abbilt'e zu würde.o Warum diese Erregung? ,Die allgemeine Klage in der Öffentlich-
scbaffen." Das historische Problem wird hier mit aller Deutlichkeit gestellt. keit war: Das Parlament stellt uns den Hugenotten gleich, man schickt uns
Überdies haben die Geistlichen immer alles Erforderliche getan, um die auf den Schindanger."
mit Grablegungen nun einmal unabdingbar verbundenen (Jnannehmlich- Die Geistlichen haben versucht, die Öffentlichkeit zu beruhigen und sie

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wieder zum Respekt vor der Obrigkeit umzustimmen; aber sie sind letzt- "mitfühlende Interesse für die Totcn" als "Vrrurteil" oder "Schwachheit"
lich nicht überrascht gewesen: "Alle Völker der Velt, insbesondere die abtun. Das Übel beginnt ganz oben, in cbcn den Kreisen, aus denen sich die
Franzosen, haben immer die sterblichen Uberreste derer geachtet, die ih- Philosophen rekrutieren. "Es ist bedauerlicherweise eine W'ahrheit, die sich
nen lieb und teuer waren. Es ist für sie, wie traurig er auch sein mag, ein in manchen Schichten auf Erfahrung gründet [. . .]: wie viele von denen, die
wirklicher Trost, von ihnen erst in dem Augenblich getrennt zu werden, da sich die Zustimmung der Kirche angelegen sein lassen, tun das nicht aus
das Grab sie ihren Blicken entzieht." Die verschwiegene Heimlichkeit der bloßem Schicklichkeitsgefühl? Vieviele haben dabei nichts anderes im Sinn
Beisetzung ist das Hauptargument, das gegen den Aussetzungserlaß erho- als politische Taktik ?" Deshalb werden die religiösen Dienstleistungen fah-
ben wird. Sie entzieht, ,durch die räumliche Anordnung der Depositorien rengelassen. Liegt das etwa daran, daß man den Beisetzungen und Gottes-
und der allgemeinen Friedhöfe, dem Sohn das Recht auf die sterblichen diensten bereits weniger und zerstreuter beiwohnt? Man ist versucht, das
Reste seines Vaters, bevor er noch wirklich bestattet ist, und fügt seinem zu glauben, und die Bitterkeit der Geistlichen bestätigte dann sogar die
Leid den zusätzlichen Schmerz hinzu, sich ihrer entrissen zu sehen, ohne Hypothese eines Vandels von einer früher asketischen Meditation über das
ihm die letzte Ehre erweisen zu können." Nichts und die Vanitas-Vorstellung zur wirklichen Gleichgültigkeit. Die
Das ist ein verbreitetes Gefühl. Die Geistlichen sind sich der Anhäng- Geistlichen schienen einzuräumen, daß das Volk und das Kleinbürgertum
lichkeit der gehobeneren Schichten durchaus nicht ebenso sicher. Sie fürch- den alten Bräuchen gegenüber eine größere Anhänglichkeit an denTagleg-
ten im Gegenteil sogar, daß die Leute von Stand sich der Schlichtheit beflei- ten. Aber sie fürchteten die ansteckende \flirkung des Beispiels der "ersten
ßigen, und wir wissen, daß sich eine Tendenz in dieser Richtung abzeichne- Stände". ,W'enn nun aber der Glaube und die Barmherzigkeit bis zu diesem
te, sich wie arme Leute beisetzen zu lassen. 'Wenn eine hochgestellte Per- Grad von Verfail gesunken sind, und das bei einer Schicht von Bürgern,
sönlichkeit, wie das mit Sicherheit eintreten wird, damit anfängt, sich in die deren Stand und Vermögen auf die Gesellschaft einen so lebhaften Ein-
wird sie tonangebend werden, und
Klasse der gemeinen Leute einzureihen, druck machen müssen und in der Tat auch machen, was kündigen da erst die
ihr Beispiel wird bald - und der Kirchenvorscand wird
Schule machen" Folgen der neuen Regelung an?"
weder die 2000 Livres noch die Gebühr für einen feierlichen Gottesdienst Tatsächlich fürchten die Geistlichen weniger das eigentliche Faktum der
vereinnahmen können. Heimlichkeit der Beisetzungen als die Folgen der Friedhofsverlegung, und
Es handelt sich aber nicht nur um Außerungen des Volkszornes, auch zwar nicht für den Kult der Gräber und Friedhöfe, den sie außer acht las-
nicht nur um finanzielle Fehlbeträge. "Die neue Regelung beeinträchtigt sen, sondern für die traditionellen Andachtskundgebungen im Namen der
den religiösen Grabkult." Das schwerwiegendste Argument ist, daß sie die Seelen im Fegefeuer. Der Anblick des Grabes erfüllte in den Augen der
Zeremonie der Beisetzung in zwei Teile zerstückelt: einerseits der Gottes- Seelenhirten zwei Funktionen: die des Memento moriund die des Ora pro
dienst in der Kirche, in Anwesenheit des Leichnams, also ein ö{fentlicher nobis, der Einladung zur Einkehr und zum Gebet für die Toten. \{enn die
Akt; andererseits die nicht-öffentliche Grablegung: "Der Verlauf der wich- Geistlichen des Jahres 1763 ad das Memento moriauchkaum mehr anspie-
tigsten Zeremonien wird unterbrochen, um erst um J Uhr morgens wieder- len, das dem Abb6 Por6e im Jahre 1735 noch so deutlich vor Augen stand,
aufgenommen zu werden.o so nimmt sie umgekehrt die Einladung zum Gebet für die Toten nachhaltig
Kurzum: Entweder wird sich das Volk in wütendem Aufruhr erheben in Anspruch: "Die Verlegung und Entfernung Cer Friedhö{e wird, indem
oder sich darein fügen und vergessen; diese letztere Hypothese war die sie zur Gleichgültigkeit verleitet und sie vertieft, das vollständige Vergessen
wahrscheinlichste, und ich habe den Verdacht, daß die Geistlichen die emo- fördern und die Christen unfehlbar und in Kürze an den Gedanken gewöh-
tionale Verstörung des gemeinen Volkes übertrieben. In \(/irklichkeit nen, daß die Toten nichtslnibill mehr sind oder nicbts mehr braucben."
fürchteten sie wohl eher seine Gleichgültigkeit. "Angesichts des augen- Dann werden die Philosophen ihren Triumph feiern, mit den »neuen Syste-
blicklichen Verfalls von Gesetz und Sitten wird diese Veränderung bald men, die alles auf die Materie reduzieren und jeden reiigiösen Kult austilgen
großes Aufsehen erregen. In Kürze wird die Ehrfurcht vor den Toten da- und folglich auch den katholischen Kult des Gebetes t'ür die Toten."
hingeschwunden sein . . ." Und hier stellen die Geistlichen die Virksamkeit Die Originalität des Mömoire des curösliegt darin, daß seine Autoren den
und Propaganda der "Philosopheno (hier fällt das Wort) in Frage, die das Friedhof und das "Gebet für die Toten" miteinander verknüpft haben und

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den einen verteidigen, um das andere zu retten. Das Argument ist neu. sächlich hatten weder die Parlamentarier noch die Geistlichen oder Kir-
Sicherlich bringt es einen gewissen Argwohn gegenüber der Philosophie chenvorstände dem Gemeinschaftsgrab oder der Praxis der ubereinander-
der Aufklärung und den kultischen Formen zum Ausdruck, die sie vor- schichtung der Leichname den Prozel3 z-u machen ge§/agt,
schlug. Madeleine Foisil hat darin überdies eine Reaktion zugunsten der Die Vorstellung, die hier, wahrscheinlich zum ersten Mal, in Erschei-
traditionellen Treue zu den Familiengräbern gesehen. Ich bin jedoch der nung tritt, setzt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich und im
Meinung, daß diese Treue eine vom zeitgenössischen Historiker vorge- gesamten Abendland durch. ,\Wenn man iedem Toten sein Grab aushebt,
nommene Rückprojektion eines Gefühls in die Vergangenheit ist, das im wird es nahezu keine üblen Gerüche mehr geben" - dieses Argument der
Jahre 1763 noch gar nicht existierte. Die Geistlichen beschworen gegen die öffentlichen Hygiene wird in der Folge zu einem Motiv der Würde und der
Philosophen das volkstümliche Viderstreben gegen eine "Behandlung Frömmigkeit.
nach Art der Hugenotten«, Begen die Heimlichkeit der Beisetzung mehr
noch als gegen ihre Anonymität, die damals noch verbreitet war.
Gleichwohl brachte das Mömoire, wenn es dem Friedhof eine Bestim- Die Verlegung der Friedhöfe aus den Städten.
\Welcher Friedhöf e ( 1 763- 177 6) ?
mung zuerkannte und ihn gegen den Aussetzungserlaß verteidigte, der ihn
abwertete, indirekt und unbewußt ein neues und bisher sprachlos gebliebe-
'W'enn
nes Gefühl zum Ausdruck, das durchaus nicht volkstümlichen Ursprungs der Aussetzungserlaß des Pariser Parlamentes auch nicht in Krait
war und sich später zum ersten Mal offen in einem Milieu äußert, das der getreten ist, so ist die Kampagne zur Verlegung der Friedhöfe doch fraglos
Kirche feindlich gegenübersteht. Davon weiter unten. In \,)flirklichkeit wa- for,g"r.,r, worden. Ein Dutzend Jahre später treffen der Erzbischof und
ren die Autoren des Mömoire einem status quo durchaus günstig gesonnen, das Parlament von Toulouse Verfügungen, die dann auch wirklich ange-
der bereits "Maßnahmen zur Entfernung der Gemeinschaftsgräber" einbe- wendet werden und durch Erlaß von König Ludwig XVI. (10. Mai 1776,
zog. So trug man sich mit dem Gedanken, einen besonderen Friedhof für unmittelbar darauf in die Register eingetragen am 21. Mai) im ganzen Reich
Saint-Eustache und das Hötel-Dieu anzulegen, der dann den Cimetiöre des Geltung finden.
Innocents ebenso sehr entlastet hätte, "über den zu klagen man ja so viel Ein Brief von M. Mol6 (18) über die Möglichkeiten der Verlegung der
Aufhebens macht". "Das hätte Gegenstand der ersten Entwürfe zu sein, Friedhöfe aus den Stadtgrenzen heraus zeigt die zwischen 1763 vnd 1776
bevor man daran geht, diesen Friedhof insgesamt aufzulassen." Auf den eingetretenen Schwankungen mit aller Deutlichkeit: die Gründe {ür eine
anderen Friedhöfen hätte dann jeder Kirchenvorstand für "Erweiterungs- Neuordnung des Friedho{swesens sind noch immer dieselben, die Politik
bauten [. . .] zu sorgen, die, unmerklich und stufenweise, zur möglichen hat sich jedoch gewandelt und die Ziele sind andere geworden'
Verwirklichung des Erlasses beitragen würden". Mol6, der aus denselben radikalen, von der Philosophie durchdrungenen
Ein anderes Memorandum, das offenbar demselben konservativen Mi- Kreisen stammt, die den Erla{], von 1763 iormuliert hatten, wiederholt noch
lieu entstammt, bringt weitere Argumente vor. (17) Es wirft gehörig Ballast einmal die Geschichte der von Aberglauben gelenkten Mißstände' die die
ab, verzichtet auf den Cimetidre des Innocents, der nicht mehr zu verteidi- Beisetzung in den Städten und Kirchen erlaubten. Er zeigt, wie die Fried-
gen ist, stellt jedoch die Frage, »warum die anderen Friedhöfe unterschieds- höfe in ganz ungebührlichem Ausmaß "einer Art Konsekration unterzo€ien
was sie nun
los aufgelassen" werden sollen. Es gibt darunter auch sehr gesunde und [. . .] und gleichsam als kirchliche Filialen aufgefaßt wurdeno,
einmal nicht sind. Man spreche uns also nicht vom Friedhof als einem ge-
keineswegs überfüllte. Dasselbe gilt für die Kirchen. "'§ü'erden die Kirchen
eigentlich verseucht, wenn nlan die Gruft öffnet fdie Gemeinschaftsgruft weihten Ort.
für alle Grablegungen]? Es ist doch nur efu unangenehmer Augenblick zu Mol6s Originalität liegt in der Anfechtung des kirchlichen Charakters
überstehcn l" Und vor allem könnte man überall Beisetzungen vornehmen, nicht nur des Friedhofs, sondern des Bestattungs§/esens selbst, d. h. des
wenn ieder sein besonderes Grab zur Verfügung hätte: "Die Toten haben Geleits und der Beisetzung. Er bemüht sich zu beweisen, daß die Gegen-
wart von Priestern bei Leichenbegängnissen erst spät bezeugt ist. Die Juden
fin manchen Kirchen] jeder ihre eigene Grabstelle. 'ü/enn man jedem Toten
sein Grab aushöbe, röchen die Friedhöfe auch wohl weniger schlecht." Tat- untersagten sie sogar ganz. ,Die Priester traten erst bei den Leichenbegäng-

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nissen von Menschen in Erscheinung, die sich durch christliche Tugenden paris) und auf Bezirksleichenhallen bezogcn: drei "Leichenkarren" sollen
ausgezeichnet hatten [. . .]. Diese Kondukte ähnelten eher Triumph- als Ge- die Verbindung zum Friedhof sicherstellen.
leitzügen." So et*a die zweitausend Mönche bei der Beisetzung des Heili- Aber seine Ideen zur Architektur und z.ur Konzeption des Friedhofes
gen Martin. "Dieses Gefolge, das im Prinzip freiwillig war, wurde unmerk- sind nicht mehr die gleichen wie die der Parlamentarier von 1763. Der
lich zum herkömmlichen Zeremoniell, zur Ehrerbietung für den Stand, für Friedhof ist weltlicher, weniger kirchlich; gleichwohl ist die Nivellierung
die überlegene §flürde." "ln der Folge wurde dieser Brauch allen erwiesen, und die gänzliche Entwertung verschwunden. Das hohe Gehege der Ein-
die zu Vürden erhoben worden waren [. . .]. Allmählich sah sich der Klerus friedungsmauer wird durch eine innere Galerie mit vier pyramidenförmi-
dann im Besitz des Rechtes, an den Leichenbegängnissen aller Christen gen Grabmonumenten mit Namen Äepos (Ruheplatz) in den vier Ecken
teilzunehmen." Die Annexion dieses Rechtstitels geht auf die Ordensgeist- verdoppelt. Wie im Text von 1763 bleibt das Zentrum des Friedhofes den
lichen zurück. "Die Bettelorden waren die letzten, die an den Beisetzungs- Gemeinschaftsgräbern vorbehalten; die Galerien aber und der Raum längs
feierlichkeiten beteiligt wurden. Sie nahmen die Plätze ein, die gegenwärtig der Mauern sind nicht nur für Einzelgräber, sondern auch für individuelle
die Armen und die Kinder der Hospitäler fnoch immer dabei : zu Beginn Grabmonumenre besrimmr. Man wird unter diesen Galerien den Bildern,
des 19. Jahrhunderts wird man ihnen dann erneut bei den großen, wieder in Inschriften und Architekturelemenren wiederbegegnen, die sich die Kir-
ihre Rechte eingesetzten Leichenbegängnissen begegnen. Die vier 'Bettel- chen und KIöster erobert hatten. "Man wird für die Beisetzung in den Gale-
orden, hatten ihre jahrhundertealte Funktion damals aufgegeben]. . . Nach rien den Betrag fordern, den man gegenwärtig für die Bestattung in den
dem Rückzug der Ordensgeistlichen ist dann die Geistlichkeit der Pfarrei- Kirchen entrichret.o Mol6 schlägt also das vor, s/oran auch die vorläufige
en allein im Besitz des Rechtes geblieben, an den Obsequien teilzunehmen, Fassung des Erlasses von 1763 festgehalten, was die endgültige aber ver-
ohne daß es den Anschein hat, daß dieser Brauch oon der Kircbe je anemp- worfen hatte: ,Das Terrain der südlichen Galerie bleibt den Familien vor-
foblen oder gar gutgebeilSen worden utäre.,, behalten, die gegenwärtig Grüfte in den Bezirkspfarreien der \flelt- und
Die Kirche hat die Leichenbegängnisse also gerade wegen ihres Miß- ordensgeistlichen haben [. . .]. Jede Familie kann das ihr überlassene Ter-
brauches klerikalisiert. Es muß der Normalzustand wiedereingeführt wer- rain durch Inschriften, Epitaphien und andere Denkmäler kenntlich ma-
den, und zwar dadurch, daß man das Geleit und die Einsenkung des Leich- chen. Die vier Ruheplätze bleiben dem Hochadel und allgemein allen be-
nams in die Erde laisiert. Die Priester haben dabei nichts zu schaffen. rühmten Toten vorbehalten [. . .], die die Regierung mit dieser Auszeich-
Die Laisierung des Geleits hat die des Friedhofs selbst zur Folge. Nicht nung ehren will... Es gibt einen Platz für die Nicht-Katholiken, und zwar
nur sollen die Friedhöfe außerhalb der Städte gelegen sein; ihre Verwaltung ohinter der dem Eingang gegenüberliegenden Iund damit säuberlich davon
soll auch den Stadt- und Gemeinderäten übertragen werden. "Indem rnan getrennten] Galerie. Es wird ein weiterer Grablegungsort für die Fremden
den Geistlichen und den Kirchenvorständen die Mißhelligkeiten neuer und alle anderen vorbereitet, die nicht dem römischen Ritus angehören'"
Friedhöfe und alles dessen, was davon abhängt, erspart, läßt man diese Dieser proiektierte Friedhof ist also eine Galerie der großen und erlauch-
Verwaltungsfunktion in die Hände der städtischen Beamten übergehen, ten Menschen. ,Die Stellung und die Auszeichnungen werden beibehalten,
d.h. man stellt die herkömmliche Ordnung der Dinge wieder her." Ein die Hoffnung, in die Schar der illustren und nützlichen Menschen aufge-
städtischer Bediensteter mit dem volltönenden Titel eines Beisetzungsin- nommen zu werden, wird das Genie beflügeln, den Patriotismus aufrecht-
spektors wird die Funktion des Standesbeamten übernehmen: auch der erhalten und die Tugenden leuchtend zutagetreten lassen."
wird laisiert werden. Die Empfehlungen Mol6s entsprechen ziemlich genau der geläufigen öf-
"Es wird auf den Friedhöfen weder Kapelle noch Altar geben", und fentlichen Meinung, der wir auch in den großen Texten aus Toulouse und in
zwar, so unser treuherziger Anwalt, "um die Gläubigen nicht ihren ange- der königlichen Erklärung wiederbegegnen.
stammten Pfarrkirchen zu entfremden«. Der Erlaß des Parlaments von Toulouse (3 . September 1774) ist vor allem
Bis hierher geht Mol6 weiter als die Parlamentarier von 1763. Er greift wegen seiner Präambel interessant. Sie greift die fortan bereits klassischen
ihre Verfügungen auf, die sich auf das Verbot der Beisetzung in den Kir- Argumente der Arzte wieder auf : "Die Mediziner versichern uns, daß die
chen, auf die Anlage allgemeiner Friedhöfe außerhalb der Stadt (vier für fauligen Geruchsschwaden, die die Leichname verströmen, die Luft mit

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Salzen und Korpuskeln schwängern [der Schriftsatz ,erfährt genau, wis- Das königliche Dekret greift die Ideen der VerordnungvonToulousewie-
senschaftlichl, die in der Lage sind, die Gesundheit zu untergraben und der auf, teilweise sogar bis in wörtliche Forrnulierungen hinein. Man be-
tödliche Krankheiten auf den Plan zu rufen." \üZir aber, aufgeklärte Men- gegnet derselben Verlegung von Beisetzungen in die Klöster, die bis dahin
schen und dem öffentlichen rVohl verpflichtet, haben auch unsere Gegner: in den Kirchen vorgenommen wurden. Da aber viele Kirchen über kein
"lVir wissen, daß wir uns mit einer bestimmtenZahl von Personen ausein- Kloster verfügen, können die, die sich das Recht erworben haben, dort
anderzusetzen haben, von denen die einen sich auf einen widerrechtlichen bestattet zu werden, ,sich auf den Friedhöfen besagter Pfarreien einen ge-
Besitzanspruch berufen, nämlich auf Titel, die der Gefälligkeit abgepreßt sonderten Platz für ihre Grablegung wählen und besagtes Terrain nach ih-
worden sind, die anderen schließlich auf ein mittels der denkbar geringfü- ren eigenen '§ü'ünschen ausgestalten lassen und dort eine Gruft oder ein
gigsten Summe erworbenes Privileg und beide sich vorstellen, daß der An- Denkmal anbringen, vorausBesetzt wenigstens, daß besagtes Terrain nicht
spruch auf Beisetzung in den Kirchen ihnen rechtmäßig übereignet ist." So abgeschlossen und unzugänglich gemacht wird, und besagte Erlaubnis soll
hat es den Anschein, daß die Opposition gegen den Pariser Erlaß von 1763 in Zukunft nur denen erteilt werden, die ein verbrie{tes Recht, und nichts
eher von Familien ausging, die sich das Beisetzungsrecht in einer Kirche anderes, darauf haben, in besagten Kirchen beigesetzt zu werden, und zwar
erworben hatten oder es sich erwerben wollten, als von einer Opposition in dergestalt, daß au{ besagten Friedhöfen noch immer der Raum bleibt, der
breiten Kreisen der Bevölkerung. Der Erzbischof von Toulouse, Ms' Lo- für die Beisetzung der Gläubigen erforderlich ist."
m6nie de Brienne, weist in seinem Dekret vom 23. März 1775 (19) auf die- Der proiektierte Friedhof setzt sich also aus zwei Bezirken zusammen'
seiben Kategorien hin: "Nichts kann die Selbstgefälligkeit der Großen, die Einer für die Gemeinschaftsgräber oder nicht mit einem Denkmal ge-
sich immer unterscheiden wollen, und die der Kleinen aufhalten, die nicht schmückten Grabstätten, der andere für die Gräber mit Monument, wie sie
nachlassen im Bestreben, es den Großen gleichzutun" (das Kleinbür- für die Erben eines Anspruchs auf Beisetzung in den Kirchen bestimmt
gertum). sind, ohne daß diese Population sich noch vergrößern dar{. Sicher ist, daß
Der Erzbischof verbietet kategorisch, in den Kirchen "jegliche Person diese Einschränkung bei Inkrafttreten dieser Regelung bereits aufgehoben
aus dem geistlichen oder Laienstande beizusetzen [. . .], nicht einmal in den war. Man kommt also schließlich zu einem Modell, das dem des Friedhofs
öffentlichen oder privaten Kapellen, Bethäusern und ganz allgemein an al- des 19. Jahrhunderts sehr nahe steht, mit dem Unterschied, daß der größte
len geschlossenen und nicht-öffentlichen Örtlichkeiten, an denen die Gläu- und {olglich auch am meisten ins Auge fallende Raum den Gemeinschafts-
bigen sich versammeln." Alle, die gegenwärtig noch das Recht haben, sich gräbern, den Armen, vorbehalten ist.
'§(andel der Leitvorstellung ein.
in den Kirchen bestatten zu lassen, werden künftig in den Klöstern beige- Zwischen 1763 und 1776 tritt also ein
setzt, unter der Bedir:gung, daß sie "Grüfte erbauen lassen, bei denen so- Der Friedhof des Jahres 1.776 ist nicht mehr einfach nur ein gesunder Ort,
wohl die Sohle als auch die Seitenwände darüber aus großen Steinen ge- eine Leichenverwahrungsstätte. Er entspricht dringlichen Bedürfnissen,
wölbt und gemauert sind". Der Erzbischof verweigert, was das Parlament die, vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, die Familien veranlaßt haben,
von Toulouse im vorhergehenden Jahr noch toleriert hatte. die Kirchen mit Grabmonumenten auszuschmücken. Er hat den Grab-
Aber selbst das Recht der Beisetzung in den Klöstern wird künftig nie- schmuck der Kirchen geerbt, so als ob der einfach räumlich verschoben
mandem mehr zugebi[igt werden, ausgenommen die Inhaber irgendwel- worden wäre. Er ist zum Ort des Gedenkens geworden, der auch ein Ort
cher Funktionen oder kirchlicher Pfründen. "Alle Gläubigen werden ohne der frommen Andacht und der Sammlung sein kann. Der französische Ra-
jede Ausnahme auf dem Friedhof ihrer Pfarre beigesetzt." Man kann sich dikalismus der Jahre um 1760 ist einem Gefühl gewichen, das, wenn es auch
\Wesen nach doch ebenso reli-
die Gelegenheit zunutze machen, um den Fliesenboden der Kirchen zu der klerikalen Tradition widerspricht, seinem
erneuern (man liest solche Formulierungen nicht ohne Schaudern: wie viele giös sein mag.
Grabplatten und Epitaphien mögen nicht im Zuge dieser Restaurierungen
verschwunden sein !).
Die neuen Friedhöfe werden nach den nun schon geläufigen Normen
entworfen.

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Die Auflassung des Cimetiöre deren Licht die Schatten dieser Grabplatten und Grabkreuze verlängert, die
des Innocents hier und da verstreut stehen; diese Epitaphien, diese Denkmäler, von der
Zeit in Gewahrsam genommen, die dic Kindesliebe täuscht und meistens
Inzwischen drangen gegen Ende des Jahres 1779 sickernde Lachen von auch den dünkelhaften Hochmut, die sie aufgeführt haben; hier eine
Feuchtigkeit aus einem der großen Gemeinschaftsgräber des Cimetiöre '§(ohnstatt für einige l.ebende inmitten mehrerer Tausende von Toten, iri
des Innocents in die Ke[er dreier angrenzender Häuser in der Rue de la einiger Entfernung in einem Winkel dieser düsteren Stätte ein gepflegter
Lingerie ein. Diese Häuser hatten zwei Kellergeschosse. »fls Verpestung Garten, eine rosenumwobene Laube, wo eigentlich nur Zypressen wachsen
erreichte vorerst nur die unteren, die unterhalb des Beinhauses verlaufen." sollten.. Aber das Leben geht weiter, das Leben von früher, das unbesorgt
Man vermauert den Zugang des Kellers, der dem Friedhof am nächsten und ohne §(iderstreben die Lebenden und die Toten mischte, jetzt aller-
liegt. Das Domkapitel von Notre-Dame läßt eine Gegen-Mauer aufführen, dings zum Erstaunen des aufgeklärten und trotz alledem gerührten Be-
"eine Arbeit, die zu keinem anderen Ergebnis als dem führte, daß man die trachters: "Bald erwacht, {indet sich die Nachbarschaft zusammen; und
Arbeiter mehr oder weniger schweren Gefährdungen ausserzre« (Störun- hier handelt es sich nicht mehr um clas Rendezvous des Todes, sondern um
gen des Nervensystems). Die
"Verpestung« setzt sich durch die Mauerstei- das der jungen Mädchen... (20)
ne hindurch fort. Da hilft gar nichts. Die angezündeten Lichter lassen sich Die Polizei profitiert von diesen Umständen und von der Gefühlserre-
nicht brennend erhalten. Die Verpestung erreicht die oberen Kellerräume, gung, die sie auslösen, und setzt die endgültige Schließung der Pariser
dann das Erdgeschoß, »wessen man sich vor allen an Sonn- und Feiertagen Friedhöfe durch, beginnend mit dem Cimetiäre des Innocents (1780), dann
bewußt wurde, wenn die Geschäfte geschlossen waren und die Luft von au- der Friedhöfe an der Chaus6e d'Antin (Saint-Roch) und an der Rue Saint-
ßen weniger ungehindert eindringen konnte [. . .]. Das gleiche war der Fall Joseph (Sainr-Eustache), schließlich 1 78 1 Saint-Sulpice und 1 782 des Fried-
bei der öffnung der Türen. Manchmal wurde der Frau des Limonadenver- hofs auf der lle Saint-Louis.
käufers schlecht, wenn sie morgens ins Geschäft herunterkam.o Sie müssen durch andere, vor den Pariser Zollhäusern gelegene Friedhö-
Trotz der Schließung der Keller dehnt sich während der Junihitze des fe ersetzt werden, seien es nun vergrößerte alte oder neue : seit 1 783 nehmen
Jahres 1 780 die Pestilenz auch auf die angrenzenden Häuser aus: sie greift die Geleitzüge, die früher zum Cimetiöre des Innocents dirigiert wurden,
wie eine ansteckende, einer Epidemie ähnelnden Krankheit um sich. Die den \(eg zum Friedhof von Clamart, und zwar vor allem die Verstorbenen
Anwohner erregen sich, und das Domkapitel faßt den Entschluß, die ei- des Hötel-Dieu und des Hospice de la Trinit6. Im Jahre 1784 verlegt Saint-
gentliche Ursache der "Verpestung" zu bekämpfen: das fünfzig Fuß tiefe Sulpice seine beiden Stadtfriedhöfe auf den neuen Friedhof von Vaugirard
Gemeinschaftsgrab. Man öffnet es und versucht es zu desinfizieren, indem zwischen den Zollhäusern von Vaugirard und Sävres. Im Jahre 1787 gibt
man rund um die Grube tiefe Gräben aushebt, die man mit ungelöschtem Saint-Roch seinen Friedho{ an der Chauss6e d'Antin auf und nimmt den
Kalk füllt. Man bedeckt das ganze Grab mit einer Kalkschicht. Vergebliche neuen zu Füßen der Butte Montmartre (Sainte-Marguerite) in Betrieb.
Mühe: Die Verpestung frißt sich darunter doch weiter fort ! Saint-Eustache vergrößert seinen Friedhof im Faubourg Montmartre. So
Das Unternehmen ist jedoch von hygienischen Vorsichtsmaßregeln und entsteht nach längeren Ausweichmanövern plötzlich eine neue Topogra-
einer Inszenierung begleitet, die den Beobachter verblüffen. Es gleicht ei- phie der Pariser Friedhöie, eine Topographie des 19. Jahrhunderts: Cla-
ner Viederholung des großen romantischen Schauspiels im kleinen, das mart und Vaugirard für das linke, Montmartre und Sainte-Marguerite für
dann einige Jahre später auf den gesamten Friedho{sbezirk übergreift. "In das rechte Seine-Ufer. Auf geradezu überstürzte \(eise hat sich damit der
bestimmten Abständen voneinander entzündete helle Feuer entfachten im Übergang von der mittelalterlichen Friedhofsgeographie, die im 17. und 18.
Innern der Einfriedung lebhafte Luftströmungen und trugen dazu bei, die Jahrhundert in aller Stille durch ein gewisses Abrücken der Friedhöfe von
Atmosphäre zu reinigen." "Das Schweigen der Nacht, das in diesem trauri- den Kirchen in Richtung der Peripherie umgemodelt worden war, zur ge-
gen Asyl zum ersten Mal seit Jahrhunderten gestört wird, ein aus den Über- ballten außerstädtischen Friedhofsarchitektur vollzogen, wie sie von den
resten der menschlichen Gattung um mehrere Fuß erhöhtes Terrain, ganz.e Medizinern und Parlamentariern seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vorge-
Vandverkleidungen aus aufgeschichteten Gebeinen, angezündete Fackeln, sehen war: zu den großen Zentral{riedhöfen.

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Ein neuer Grablegungsstil den Jahren um 1760 auch bei den Armenbcstattungen durchgesetzt! Der
entscheidende Aspekt war lange die Einsenkung in die Erde gewesen, wäh-
Die Folge davon ist, daß die Pfarreien sich nach der Schließung der alten rend in der Epoche, von der wir hier sprechen, sich alle Aufmerksamkeit
Friedhöfe in einer Situation be{inden, die der Parlarnentserlaß des Jahres auf die Kirche konzentrierte. Nach dem Gottesdienst, im Namen Gottes
1763 bereits kommen sehen hatte : Die weite Entfernung der neuen Fried- und der Menschen, die guten \Willens sind!Aber welcher Menschen? Die
höfe ließ es nicht mehr zu, daß das Geleit die einzelnen Phasen der Aufhe- Überführung des Leichnams wurde in Paris früher von einer Körperschaft
bung des Leichnams; des Gottesdienstes in der Kirche und der Beisetzung übernommen, der Innung der crieurs de corps et de oin (Leichen- und und
auf dem Friedhof in einem Zug hinter sich brachte. Die Zeremonie mußte Vein-Ausrufer), die auch, clocbeteurso (Glockenträger) oder,semoneurso
also in zwei Abschnitte geteilt werden: zunächst die Phase vom Haus des (Leichenbitter) hießen, später dann von den Bruderschaften. Aber diese
Verstorbenen zur Kirche, dann die von der Kirche zum Friedhof. Deshalb Zünfte waren auf die Aufgaben, die ihnen die "neue Bestimmung« xufslleg-
waren die Depositiorien vorgesehen ge§/esen, die jetzt, unrerm Druck der te, weder vorbereitet noch dazu immer geeignet; daraus resultierte eine
Notwendigkeit, von den Pfarreien selbst organisiert werden mußten. Phase der Improvisation, die bis zur Neuordnung des Beisetzungswesens
Der erste Teil der Zeremonie bleibt öffentlich und dem alten Brauch und durch das Dekret vom 10. August 1811 dauerte. (22) Dieser Umstand wird
Herkommen treu; der zweite Teil, von der Leichenhalle zum Friedhof, bereits in einem zeitlich vor der Großen Revolution liegenden Memoran-
geht in aller Stille vor sich und wird ohne große Ehrerbietung absolviert. dum angekündigt, das sich in den Manuskripten von Joly de Fleury erhal-
S6bastien Mercier beschreibt ihn folgendermaßen :
"Die Todesanzeigen, die ten hat : ,Es war zur Zeit der Schließung des Cimetiöre des Innocents und
zur Teilnahme am Geleit einladen, besagen zwar noch, daß der Verstorbene aller Friedhöfe im Stadtkern, daß sie [die Geistlichen], gezwungen, die
in der Kirche beigesetzt wird, man bahrt ihn dort aber lediglich auf und Leichname einen weiten §ü'eg von ihrer Pfarre überführen zu lassen, sich
verwahrt ihn: alle Leichname werden nachts auf die Friedhöfe überführt. damit abfinden mußten, diese religiöse Zeremonie mit weniger Pomp zu
Man geleitet den Leichnam nur bis zur Kirche, und die Eltern und Freunde vollziehen. Es war nicht mehr möglich, den Leichnam vom Klerus der
sind heute von der Pflicht entbunden, den Fuß an den Rand des feuchten Pfarreien geleiten zu lassen. Es war unerläßlich, die Zahl d,erer, die ihm zur
Grabes setzen zu müssen; ein kleiner, schmuckloser Verbindungsgang Stelle seiner Grablegung folgten, auf einen oder zwei Priester [und viel-
nimmt sie unterschiedslos auf, und später siehr man diese Leichname dann leicht sogar auf gar keinen] zu beschränken. Die weite'§üegstrecke hat die
im Freien au{ dem Lande beigesetzt.« Also genau das Ver{ahren, das sich die Teilnahme für die Küster und die anderen an kirchlichen Aufgaben Mitwir-
Pariser Parlamentarier 7763 und,Molö 1776 gewünscht hatten. Der Autor kenden unmöglich gemacht, und man hat sie d.urch zufällig an der näcbsten
des Tableau de Parislegr hier überdies eine etwas sardonische Befriedigung Strafienecke aufgelesene Lastträger ersetzen müssen, was die Religion oon
an den Tag: "Diese verständige und neue Bestimmung hat den Respekt, den Tag zu Tag mehr durcb Ungebührlicbbeit ersetzt.,,
man den Toten schuldet, mit der Volksgesundheit ausgesöhnt. Der äußere Diese Situation ist von der Revolution sicherlich noch verschärft wor-
Schein ist gewahrt; es sieht so aus, als würde man in der Kirche, wenigstens den, und zwar in einem Maße, daß die Religionspolitik und die Unruhen
in seiner eigenen Pfarrei beigesetzt, und man findet die ewige Ruhe mitten den Gottesdienst in der Kirche, der das gesamte öffentliche Zeremoniell des
auf dem Lande." (21) Leichenbegängnisses an sich gerissen hatte, reduziert oder sogar gänzlich
Diese "verständige und neue Bestimmung« vs1änds.t die alten Bräuche abgeschafft haben.
nachhaltig und hat zur - unerwarteten - Folge, daß der kirchliche Charak- Man muß sich bewußt halten, daß für eine Spanne oon dreifiigJabrenein
ter der Zeremonie im Sinne einer bereits älteren Entwicklung hervorgeho- Beisetzungstypus existiert hat, der vom vorausgehenden und ihm nachfol-
ben wird. Tatsächlich ist das Totengeleit erst im Mittelalter zu einer religiö- genden gänziich verschieden war, ein Typus, der vom Modell der aufge-
sen Prozession geworden. Es hat einer langen Zeitspanne bedurft, damit klärten und radikalen Parlamentarier der Jahre um 1760 beeinf lußt war, die
der rVeg des Leichnams zwischen Sterbeort und Grab von der Kirche, ge- Beisetzung im eigentlichen Sinne ohne jede Aufsicht ließ und sie ins Belie-
nauer: vom in Gegenwart des Leichnams am Altar zelebrierten Gottes- ben der Sargträger stellte.
dienst, umgeleitet werden konnte, und dieser Brauch hat sich in Paris erst in

632 633

ffi
Die Gleichgültigkeit der Pariser für einen derart großen Friedhof) und etwa finlzig große Gemeinschafts-
ihren eigenen Toten gegenüber gräber, ,aus denen man mehr als 20000 Leichname mit ihren Leichentü-
chern barg". Arzte, darunter auch der Berichterstatter, wohnten den Maß-
Daß eine solche Situation überhaupt hat eintreten können, sagt viel über die nahmen bei, die ihnen Gelegenheit zu außergewöhnlichen Experimenten
Verfassung der kollektiven Sensibilität zur Mitte des 18' Jahrhunderts und bot. Sie machten sie sich z:unlutze,,um der Geschichte der Zersetzung von
ihre Gleichgültigkeit den Toten und ihrer Beisetzung gegenüber aus' we- Leichnamen in der Erde einen neuen §üissenschaftszweig hinzuzufügeno,
nigstens in Paris. Die Zerstörung des Cimetiöre des Innocents im Jahre eine seit den Tagen von Garmanns De rniraculis rnortuorum faszinierende
'§(i
1785 und seine Umwandlung liefern dafür den Beweis, eine Umwandlung issenschaft, die durch die Fortschritte der Chemie weiterhin gefördert
nach einer Reihe von Jahren, in denen der nicht mehr benutzte Friedho{ im wurde. In diesem gigantischen Labor entdeckten sie eine neue Form der
Herzen von Paris unmittelbar neben den großen Märkten einen Bereich der Mumifizierung, die sich sowohl von der totalen Verwesung als auch von der
Stille und der Leere bildete. Austrocknung unterschied, die Mumifizierutg en gras (im lehmig-fetten
Seit der Friedhof senquOte von 1,763 hatte man sich mit der Idee getragen' Erdreich).
die Friedhöfe in Märkte - was sie mehr oder weniger bereits waren - und Die Arzte und einige den Totengräbern assistierende Priester achteten
Plätze umzuwandeln. So trat an die Stelle des früheren Cimetiöre des Inno- darauf, daß ein Minimum von Anstand gewahrt wurde, was jedoch nicht
cents ein Platz. Und welchen Fortschritt stellte diese Veränderung doch verhinderte, daß der Friedhof unserer Väter, wie ihn zwei Jahrhundene
dar ! Der Mediziner Thouret zeigt sich in seinem Bericht über die Exhumie- zuvor noch die Protestanten, die den Spott Henri de Spondes herausgefor-
rungen auf dem Friedhof und in der Eglise des Saints-Innocents, den er am dert hatten, nannten, umgegraben, aufgewühlt und nachts beim Schein von
3. März 1789 bei einer Sitzung der Sociötä royale de mödecine vorträgt, Fackeln und Kohlebecken zur Belebung der Luftzirkulation umgepflügt
darüber geradezu beglückt: ,Seine trostlose Lage, sein trauriger und abge- wurde.
schiedener Raum, seine gedrückten und dunklen Säulengänge, seine alten Es waren 1000 \Wagen erforderlich, um die Gebeine in die Steinbrüche
Grüfte und, inmitten seines Prunks und seiner Grabmonumente, die zahl- von Paris zu schaffen.
reichen Ansteckungsherde, die er in seiner Mitte birgt. [Mit all dem] ver- Sicherlich sind diese Steinbrüche mit Sorgfalt und Geschick hergerichtet
gleiche man den gegenwärtigen Zustand der Örtlichkeit Iden neuen Platz], worden; man taufte sie Katakomben, in Anlehnung an die Katakomben des
der den Luftströmen allseits freien Zutritt bietet falso kein geschlossener antiken Rom. Seither wurde das W'ort im Sinne von Friedhof benutzt:
Platz mehr wie in der städtebaulichen Praxis des 17. Jahrhunderts], der "Eine Neuerung der Dinge, die der so unerträglichen Benutzung der Bein-
wieder fest auf seinen Fundamenten ruht, seiner ganzen Ausdehnung nach häuser der verschiedenen Pfarreien ein Ende setzen wird." (Thouret) Die
gereinigt, an der Oberfläche planiert, mit den Monumenten der Nachbar- Gebeine wurden hier nicht in der Unordnung der mittelalterlichen Bein-
schaft geschmückt und mit einem Springbrunnen ausgestattet ist, dem er- häuser aufbewahrt, sondern mehr nach Art des barocken Geschmacks der
sten, den die Kapitale in ihren Mauern sprudeln gesehen haben wird [Paris Mumienfriedhöfe von Rom undPalermo. Sie sind noch heute zugänglich
war eine Stadt ohne W'asserfontänen], ein Platz also, der alle Quellen des und ziehen mehr und mehr Besucher an.
Lebens vereint, wo früher noch alle Schlünde des Todes sich auftaten." Um Trotzdem: '§(i'enn der unterirdische Friedhof auch mit Respekt und An-
es dahin zu bringen, bedurfte es iedoch einer gewaltigen Exhumierungsar- stand behandelt wurde, so ist der "oberirdische", jedenfalls nach unserem
beit, wie man sie sich bisher noch nicht einmal vorgestellt hatte. Es genügte heutigen Gefühl, doch einer außergewöhnlichen Brutalität zum Opfer ge-
nicht, den Friedhof einzuebnen; er mußte auch desinfiziert, d. h. von einer fallen.
enormen Masse von Leichnamen, Erde und Gebeinen befreit werden. Thouret aber machte in seinem Bericht geltend, daß man Anlaß habe, die
Diese Exhumierungen haben zwei §(inter und einen Herbst in Anspruch Unzufriedenheit des Volkes zu fürchten - diese Unzufriedenheit, die die
Geistlichen von Paris im Jahre 1763 noch als Drohung ins Spiel gebracht
Benommen (Dezember 1785 bis Mai 1786, Dezember 1786 bis Juni 1787,
August bis Oktober'1787).Man hob das "mit Leichenteilen durchsetzte hatten -, wenn man an seine Friedhöfe rührte. Der Abschnitt ist bezeich-
Erdreich" bis zu einer Tiefe von 10 Fuß aus, ö[f nete 80 Grüfte (das ist wenig nend: ,Der Friedhof war für das Volk lange Gegenstand eines öffentlichen

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Kultes gewesen. Diese Achtung war noch nicht gänzlich erloschen, und Modelle künftigcr Friedhöfe
wenn auch seinen Blicken seit mehreren Jahren entzogen Iseit 1780], so war
die ihn umschließende Einfriedungsmauer doch immer noch Gegenstand Die Erlasse von 1763 und 1774, das erzbischöfliche Dekret von 1775 und
der Verehrung [man konnte diesen Friedhof nicht einfach insgeheim demo- die Entscheidung des Pariser Polizeidirektors, die alten Friedhöfe von 1 780
lieren]. Die geringste Unvorsichtigkeit konnte die Geister verstimmen.. an zu schließen, sahen die Schaffung neuer, von den alten gänzlich verschie-
Aber nichts dergleichen geschah; die Pariser Bevölkerung hat die Zerstö- dener Friedhöfe vor, die ja Kirchhöfe gewesen waren und auch immer noch
rung des Friedhofs ihrer Väter mit aller erdenklichen Gleichgültigkeit hin- Kirchhöfen ähnelten, selbst wenn sie sich räumlich von den Kirchen ent-
genommen und sich für die Katakomben kaum interessiert. Die Katakom- fernten. Vie sollten diese neuen Friedhöfe aussehen ? Wer würde sie erbau-
ben sind in Paris nie zu einem volkstümlichen und beliebten Ort geworden. en?'Wer sie unterhalten? Das bot Künstlern und Geldgebern Stoff zum
Mehr als ein halbes Jahrtausend Pariser Toter und ein Erdreich, das, wie die Nachdenken. Deshalb erhielt das Büro des Generalprokurators in den sieb-
Erde Palästinas, in einem Maße verehrt wurde, daß man, wenn man schon ziger und achtziger Jahren mehrere Denkschriften, die Projekte und
nicht dort beigesetzt werden konnte, doch andernorts eine Handvoll davon Dienstleistungsangebote für die "Katakomben" vortrugen, ein Name, der
mit in sein Grab nahm, sind ohne Mitgefühl und ohne jede Ehrenbezeigung den neuen Friedhöfen jetzt häufig beigelegt wurde. Sie zeigen, wie die da-
verschwunden und zerstreut worden. malige Idealvorstellung eines Friedhofs aussah. Vir haben drei davon als
\Wenn ich die Sorglosigkeit der Pariser Bevölkerung bei einem solchen Beispiele ausgewähit.
Anlaß mit der Ungeniertheit vergleiche, mit der sie die Sorge um die Ein- Das erste ist das Projekt einer kreisförmigen Katakombe, in dem sich
senkung ihrer Toten ins Erdreich beliebigen Hilfskräften überließen, muß etwas von der Kühnheit der großen visionären Architektur vom Ende des
ich auf einen gänzlichen Mangel an frommer Andacht wenn nicht für die 18. Jahrhunderts erhalten hat. Sie setzt sich aus einem zentralen Obelisken
Verstorbenen, so doch für ihre sterblichen Leiber schließen. Es handelt sich und fünf konzentrischen Galerien zusammen, die den Gesamtraum in
da um eine volkstümlich-verbreitete Einstellung. Der Parlamentserlaß von sechs Zonen aufteilen, deren jede einer bestimmten Kategorie von Grab-
1763 und Mol6s Erwägungen aus dem Jahre 1776 geben, wenn auch in stellen zugedacht ist: der Unterbau des Obelisken enthält acht Grüfre für
einer anderen gesellschaftlichen Schicht, eine ähnliche Gleichgültigkeit zu
"hochstehende Persönlichkeiten"; ein anderer Teil des Raumes ist für
erkennen. Im Falle der Parlamentarier wird das Ergebnis einer bald spiri- kirchliche rüürdenträger bestimmt, und der mittlere für die Gemein-
tualistischen und religiösen, bald materialistischen und freigeistigen Strö- schaftsgräber; die beiden äußeren Galerien
'werden kostenlos allen denen
mung der Sensibilität sichtbar, die wir seit dem 17. Jahrhundert haben be- zugänglich sein, die sich von ihren Pfarrgemeinden dieselben Rechte erwer-
obachten können: die Philosophie der Aufklärung hat sie fraglos gefördert, ben und dort heute schon bezahlen, einzeln und in der Kirche bestattet zu
ihre Rolle ist jedoch mehrdeutig geblieben, zumal sie ebenso auch ihr Ge- werden (Art. 5 des Dekrets vom 5.Mär21.776)". Sie sind also gleichsam eine
genteil vorbereitet hat, d. h. den Kult der Friedhöfe und Gräber, wie wir Verlängerung der Grabausstattung der Kirchen; die letzte umlaufende Ga-
noch sehen werden. '§(ie also läßt sich diese Sorglosigkeit der Pariser Bevöl- lerie wird eine Art "Kolonnade sein, die sich von innen an die Umfassungs-
kerung erklären? Als rasche Imitation der Vorbilder der laizistischen und mauer anlehnt und allen denen als Grabstätte dienen soll, deren Andenken
kirchlichen Eliten, die vorgaben, den Leib für nichts zu achten ? Als Reak- man durch Epitaphien oder andere auffallende Grabmonumenre verewigen
tion auf eine Klerikalisierung der Leichenbegängnisse, die die Bedeutung will.. (23)
der Grabstätte für die religiöse Sensibilität ehedem zugunsten der Seele und Der Autor fügt hinzu, daß die Friedhofsbehörde auch als Standesamt
der Gebete für die Seele eingeschränkt, die gesamte öffentliche Zeremonie dienen soll ; er hat tatsächlich eine allgemeine und zentralistische Organisa-
auf die Kirche konzentriert hatte und jetzt bereits verdächtig wurde? tion der Friedhöfe und des Personenstandswesens im gesamten Kronreich
im Auge, mit einem Annex für die Kolonien, Indien, die Truppen, für
"xlls,
die an Bord von Schiffen versterben., und "für alle Franzosen, die in frem-
den Ländern den Tod erleiden".
Das zweite Memorandum, das von Renou stammt, legt in noch stärke-

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ffi
rem Maße Nachdruck auf die bürgerliche Funktion des Friedhofes. Ziel der Gedächtnis der Toten wachzuhalten, sondern als Museum, als Museum der
ja schönen Künste und Ahnengalerie illustrer Persönlichkeiten.
"Katakomben« ist €s, den Toten alle Ehren zu erweisen, wie das auch in
der Antike der Fall war. Der Friedho{ wird von zwei Galerien gebildet, Die Armen werden sich nicht mehr zu beklagen haben, weil ihre Ge-
einer kreisförmigen und einer rechteckigen, der die erste, kreisförmige ein- meinschaftsgräber über "beträchtliche Räumeo verfügen können, die mit
beschrieben ist. Im Zentrum steht eine Kapelle (anstelle des Obelisken des Blumen und Bäumen bepflanzt werden sollen. "Eine große Anzahl anzu-
eben beschreibenen Modells, der eben{alls eine Kapelle barg). Zwischen der pflanzender Bäume, die dem Charakter des Ortes entsprechen [auf dem
kreisförmigen Galerie und der Kapelle liegen die Grabstätten der kirchli- Grundriß: Pappeln aus Italien, Sykomoren, Eiben, Lorbeerbäume usw.
chen §(ürdenträger. Die kreisförmige Galerie, ein Säulengang mit Mauso- Und die \(eide?], wird dazu dienen, dem Gesamtkomplex eine gewisse
leen, ist dem Adel und den oberen Schichtenvorbehalten. Die rechteckige Einheitlichkeit zu verleihen, und zugleich zur Reinhaltung der Luft beitra-
Galerie (unmittelbar an der Umfassungsmauer) ist für die Mittelklasse be- gen.., Z:wanzig Jahre zuvor hatten dieselben Bäume noch die Luftzirkula-
stimmt, für die "Bürger der geringeren Stände", die zwar auch, wie die tion behindert, und man hatte sie auf den neuen, der Gesundheitspolizei
Adeligen der kreisförmigen Galerie, Einzelgräber haben, deren Grabdenk- unterstehenden Friedhöfen unrersagt. Jetzt arbeiten sie an der Reinhaltung
mäler aber bescheidener sind." der Luft mit. Ein inzwischen eingerretener Fortschritt im Glauben an die
Zwischen der rechteckigen und der kreisförmigen Galerie erstreckt sich Freundlichkeit der Natur ?
ein weitläufiger, begrünter und baumbestandener Bezirk: da liegen die Ge- Kurz, dieser Friedhof bietet sich dem Blick als eine Reihe von mit Denk-
meinschaftsgräber, die hier schamhaft Armengrabstätten genannt werden. mälern geschmückten Galerien in einem großen Garten dar.
Außerhalb der Einfriedung des Gesamtkomplexes harren zwei Beinhäuser Das dritte Projekt, für die Ebene von Aubervilliers entwickelt, verfolgt
in Gestalt kleiner Klöster der Gebeine aus den Gemeinschaftsgräbern. dasseibe Ziel. Es setzt sich ebenfalls aus einer Reihe gesellschaftlich defi-
Die Räume zwischen den Galerien sind ebenfalls mit Bäumen, Sträu- nierter Teilbezirke in einem großen Garten zusammen. Ein origineller Zug
chern und Blumen bepflanzt. Die Harmonie des Friedhofs wird von der dieses Prof ekts ist zunächst einmal der, daß es die königliche Familie einbe-
Schönheit seiner Grabmonumente und Gärten verbürgt. Die Galerien ber- zieht. Die belegt einen großen Tempel im Zentrum mit Beschlag, der damit
gen "Mausoleen und andere Denkmäler, die um so länger Bestand haben, die Abteikirche von Saint-Denis zu ersetzen hätte. Im Umkreis dieses Tem-
als sie vor dem Zugriff d,er Zeit in Sicherheit sind. Man wagt sogar die pels ruhen die Großen von Geburt, die Adeligen, dann, in einem dritten
Behauptung vorzubringen, daß die Künste dieser Art, von der menschli- Bezirk, die Großen an Ruhm: "Die Großen Menschen der Nation, die
chen Eitelkeit auf den Plan gerufen [aber diese Eitelkeit ist nicht mehr kriti- diese glorreiche Auszeichnung verdient hätten, ähnlich wie das in England
sierbar, sie fällt wieder mit dem alten Gefühl des Ruhmes und des Ansehens in \Westminster gehandhabt wird. Statuen sollen ihre Gräber schmücken.u
zusammen], um prachtvolle Mausoleen aufzuführen, häufiger Gelegenheit Der vierte Bezirk umfaßt »zwei kleine Kirchen" für die
"Einzelbeisetzun-
haben, sich zu üben, und folglich in Frankreich mehr in Blüte stehen wer- gen, sechs Pyramiden und ungefähr 2000 kleine Kapellen für die Einzelgrä-
den denn je. Später werden diese Katakomben zum Gegenstand der Neu- ber, für alle Häuser oder Familien, die sie zur immertoährenden Benutzung
gier aller Fremden und von ihnen als Pflanzschule und Sammelplatz von erwerben möchreno. Hier taucht die Idee und der Ausdruck der immer-
Meisterwerken besucbt werden, mit denen alle Künstler sich um die 1iüette währenden Begräbnisstätte auf. Der fünfte Bezirk ist der der ,Gemein-
haben auszeichnen wollen". Hier tritt die Vorstellung des Besuchs auf dem schaftsgräber". Es sind davon dreizehn vorgesehen.
Friedhof zutage. Der Friedhof ist nicht mehr Verwahrungsort der polizeili- Erst der sechste Bezirk ist neuarrig und gibt eine andere Konzeption des
chen Obrigkeit, sondern Besuchsziel. Man besucht ihn noch nicht, um das Grabes zu erkennen: das in der freien Natur liegende Einzelgrab. Tatsäch-
lich ist dieser sechste Bezirk kein abgeschlossener Raum, sondern ein Park,
Man bemerkt, wie sehr diese beiden Projekte der Idee des §üandgrabes verhaftet bleiben. Es
" "ein Zwischenraum von weitläufiger Ausdehnung und, wenn man so will,
gilt noch immer als ausgemacht, daß das Grab unter freiem Himmel eher dicht an der Mauer,
der Form nach den Champs-Elys6es ähnelnd, wo alle, die sich ein pittores-
unter einem Portikus liegt. Man weiß, daß das beim englischen cburchyard oder bei den in die
Erde gepflanzten bead.ttones nichr der Fall war. Es bedarf jedoch geraumer Zeit, bis sich die
kes Grabmal errichten lassen wollen, das tun können, wenn sie sich das
Franzosen von der Vorstellung lösen, daß das vornehme Grab ein \(/andgrab ist. erforderliche trrain für eine nach Klaftern berechnete Summe kaufeno.

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"Dieses weitläufige Gebiet sollte von Pappeln, Zypressen und grünen- Vir haben uns weit vom ersten Projekt der Pariser Parlamentarier der
den Bäumen aller Arten umgeben sein, und zslar so, daß sie das Grabmal Jahre um 1 760 entfernt I Von 1 760 bis 1 780 hat sich der Übergang von einem

den Blicken entziehen, was dann eines der einzigartigsten Bilder ergäbe, die Anliegen der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit und der Volkshygiene
die Einbildungskraft sich auszumalen vermag; ein Bild, das mehr Fülle und zu einer bürgerlichen Bestimmung vollzogen: zur Totenstadt als dauerhaf-
Mannigfaltigkeit hätte als alle bisher beleannten Gräber zusammengenom- tem Zeichen der Gesellschaft der Lebenden. Festgehalten werden muß, daß
men [ein Museum von Gräbern; so überführt man später die Gräbervon diese gleichsam religiöse Entwicklung sich außerhalb der Kirche abgespielt
Abälard und Heloise und von Moliöre auf den Pöre-Lachaise. . .]. Er stellte hat. Freilich sind die Priester nicht gänzlich abwesend: sie haben in der
somit die Versammlung der großen Menschen und zugieich der Hauptwer- Hierarchie der Friedhofssektionen einen Ehrenplatz inne, sie sind an der
ke aller großen Künstler dar, die je existiert haben: Denkmäler, die, heute Friedhofsbetreuung auch als Kultusfunktionäre beteiligt; aber ihre Rolle
an verschiedenen Orten verstreut und aufgrund der Schwierigkeit, sie über- ist hier sehr zurückhaltend, vergleichbar der von staatlichen Inspektoren,
haupt zu Gesicht zu bekommen, nur wenigen b ekannt, jetzt zu Monumen- und vor allem ist die ideologische Konzeption des Friedhofs der Metaphy-
ten des gesamten IJniversums werden." sik des traditionellen theologischen Christentums und der aller Heilsreli-
Die Analyse dieser drei Projekte vermittelt uns ein Bild des Friedhofs im gionen durchaus fremd.
Frankreich der Jahre 1770-1780, also unmittelbar vor der Revoiution.
Zunächst gibt der Friedhof in seiner Topographie die Gesamtgesellschaft
wieder, so wie eine Karte ein Bodenprofil oder eine Landschaft. Alle Men- Die schäbige Virklichkeit der Friedhöfe:
schen sind in ein und demselben Bereich vereint, aber ein jeglicher an sei- Die Toten auf dem Schindanger
nem angesrammren Platz, die königliche Familie, die geistlichen \Vürden-
träger, dann zwei oder drei Kategorien von Menschen, die sich durch Ge- Der Sturm der Revolution hat alle diese schönen Projekte freilich vereitelt.
burt oder Ruhm auszeichnen, und das bedeutet praktisch durch Reichtum, Gleichwohl traten nach dem Thermidor auch die alten Probleme wieder
weil die Pldtze ja zum Verkauf stehen, und ganz zum Schluß die Armen. auf, und die National- und die Provinzialversammlungen des Konvents,
Der Hauptzweck des Friedho{s ist die symbolische Darstellung der Gesell- des Direktoriums und des Konsulats hörten nicht auf, sich mit dem Zu-
schaft in verkleinertem Maßstab. In zweiter Linie ist der Friedhof eine Ga- stand der Grabstätten zu befassen.
lerie von illustren Persönlichkeiten, auf dem die Nation das Gedenken an Man wurde sich nämlich ihrer Anstößigkeit bewußt und erklärte sie für
ihre Großen wachhält, wie im Falle der in einem der Projekte namentlich untragbar. Denn auf den seit der Schließung des Cimetiöre des Innocents
zitierten Abtei von '§üestminster oder des späteren Pantheons in Frank- und der alten Beinhäuser geschaffenenZentralfriedhöfen hatte man für die
reich. Einzelbestattungen nicht das Geringste getan, und alle in Paris Verstorbe-
Schließlich ist der Friedhof ein Museum der schönen Künste. Die schö- nen wurden in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt, das denen des Cime-
nen Künste bleiben nicht mehr der kontemplativen Versenkung einzelner tiöre des Innocents in nichts nachstand.
Liebhaber vorbehalten, sie spielen eine soziaie Rolle; sie müssen von allen
"Von Euch mit der Aufgabe betraut, die Friedhöfe von Paris zu besichti-
gemeinsam geschätzt werden. Es gibt keine Gesellschaft mehr ohne schöne gen", schrieb im Jahre 1799 der Bürger Cambry, Verwaltungsratsmitglied
Künste, und der Platz der schönen Künste ist im innersten Kern der Gesell- des Seine-D6partements,
"und mir ein Bild von ihrem Zustand zu machen,
schaft. habe ich sie sämtlich untersucht. Ich möchte Eurer Feinfühligkeit das Bild
Aber weder die Gesellscha{t noch die Kunst dür{en von der Natur und ersparen, das ich vor Euch ausbreiten könnte. Kein Volk, keine Epoche, die
ihrer unsterblichen Schönheit abgesondert werden. Deshalb ist der Fried- den Menschen nach seinem Tode in einem solchen Zustand grausamer Ver-
hof ein Park, ein baumbestandener englischer Garten. Umgekehrt werden lassenheit zeigte. [...] Vasl Dieses geheiligte Wesen, die Mutter unserer
die familiäre Andacht und die Beziehungen zwischen dem Verstorbenen Kinder, die sanfte Gefährtin meines Lebens [. . .], wird mir morgen entris-
und seiner Familie oder seinen Freunden außer acht gelassen: der Friedhof sen, um in einer stinkenden Kloake, neben oder über dem gemeinsten
ist ganz einfach das Bild der Gesellschaft und ihrer öffentlichkeit. Schurken, verwahrt zu werdenl" (24)

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Ein Autor des Jahres 1801 schreibt einen Dialog, in dem sich mehrere Die Mißstände erwuchsen in der Hauptsache daraus, daß die für das
Personen zum Thema äußern. Die Unterredung findet unter zwei Zypres- Geleit angestellten Arbeitskräfte ohne iede Kontrolle sich selbst überlassen
sen statt, die das Grab des Bruders des Eigentümers markieren: wir befin- blieben. Venn man also eine bescheidene Form von Anstand und lVürde
den uns auf dem Lande, in einem Tal fern von Paris, wo eine solche Art der wahren wollte, mußte deshalb ein Teilnehmerkreis mobilisiert werden' der
Grablegung noch möglich ge§/esen ist. Euphrasine hat dieses Glück nicht in der Lage war, die Träger auch wirklich dazu anzuhalten. Aber die ließen
gehabt: "Glücklich, wer ans Grab des von ihm geliebten \(esens eilen kann, sich kaum beeindrucken. So starb am 7. Fructidor des Jahres VII (24. Au-
um es zu beweinen [das neue Thema des Besuchs auf dem Friedhof, das in gust 18OO) der Bürger Cartier, Deputierter des ConseildesAnciens(Ratder
den Texten der Jahre 1760-80 noch nicht auftauchte]! Leider!'§(as mich 250 Altesten). "DieAbordnung seines D6partementsn,liest man im Messa'
angeht, so bin ich dieses schmerzlichen Genusses beraubt. Mein Gatte ist an ger, »gnd mehrere Repräsentanten des Volkes haben seiner Beisetzung bei-
der Stelle des Gemeinschaftsgrabes beigesetzt. Man hat ihn meinen Armen gewohnt, die auf dem Friedho{ der Montmartre-Katakomben mit eben der
entrissen. Man hat mich daran gehindert, seinem Leichnam zu folgen [es Ungebührlichkeit vorgenommen wurde, wie sie heute bei Leichenbegäng-
gab hier also keine Zeremonie in der Kirche mehr, und es war auch kein nissen üblich geworden ist. Diese Unehrbietigkeit der Asche der Toten ge-
Geleit zum fernen Friedhof vorgesehen. . .]. Einige Tage später wollte ich genüber ist eine Verleugnung von Moral und Religion, für die kein Volk ein
den Ort besuchen, an dem er ins Leichentuch gehüllt worden war [. . .]. Man ähnlich gottloses Beispiel in seiner Geschichte bietet." Im vorhergehenden
zeigt mir eine ungeheure Grube, Haufen von Leichnamen [. . .]. Ich schau- Jahr (1798) hatte das Institut den Entschluß gefaßt, seinen verstorbenen
dere noch jetzt. Ich habe es aufgeben müssen, entdecken zu wollen, wo Mitgliedern trotz des §üiderstrebens mancher Kollegen das Geleit bis zum
seine Asche ruh1s." (25) Friedhof at geben. (27)
Ebenso muß man sich vor Augen halten, wie sich die Überführung zum Seit der Zeit des therrnidorianischen Konvents trug man sich mit dem
Friedhof vollzog. Derselbe Autor beschreibt sie folgendermaßen: "Ich Gedanken, der Zügellosigkeit der Trauerkondukte dadurch zu begegnen,
kündige euch ein Schauspiel an, das euch regelrechtes Entsetzen einflößen daß man ihnen eine wichtige Persönlichkeit als Begleitperson beigesellte,
wird. Diese Männer, die die Toten der Stadt zum gemeinschaftlichen Fried- etwa einen Magistratsbeamten, wie es der Bürger Avril in einem Bericht
hof tragen, betrinken sich auf dem Vege nur zu häufig, geraten in Streit vorschlug, oder Zivilkommissare der einzelnen Sektionen: "Man sollte eine
oder, was noch empörender ist, singen freche Lieder, ohne daß der sie be- so ebrenoolle und so bedeutsame Funhtioz aber nur einem Bürger anver-
gleitende Inspektor Ider Nachfolger des Priesters, der aber wohl auch nicht trauen, der die größten Tugenden unter Beweis gestellt hat.. (28)
sehr viel einflußreicher gewesen sein dürfte] ihnen Schweigen gebieten Im ailgemeinen wurde die Revolution - die Schreckensherrschaft - für
könnte." diese Entwürdigung verantwortlich gemacht : "Seither wurde die den Toten
Zwei Jahre zuvor beschrieb Cambry in seinem Bericht über das Jahr VII geschuldete Achtung zunichte [...]. Seither ist die Praxis der Leichenbe-
einen solchen Trauerkondukt als Augenzeuge: »§trenn man einen Toten an gängnisse heruntergekommen, sind die alten Bräuche mit einer Schamlo-
den Ort seiner Grabstätte überführte, habe ich unsere Träger oft in eine sigkeit herabgewürdigt worden, die an die finstersten Zeiten gemahnt" (Be-
Schenke eintreten und, nachdem sie die sterblichen Reste derer, die ihnen richt vor dem Conseil gönöral am 15. Thermidor des Jahres VIII [2. August
anvertraut waren, kurzerhand vor der Tür abgestellt hatten, sich die Kehlen 1800]). "Einige dieser Bräuche haben sich noch erhalten. Man hat Euch die
mit reichiichen Libationen von Branntwein anfeuchten sehen"; er war Ungebührlichkeit dieser Friedhöfe zur Anzeige gebracht, oder besser: die-
Zeuge, wie "die verzweifelten Angehörigen des Verstorbenen", wenn sie ser Totenpfer.che, die nur eben mit elenden Brettern abgesteckt und allen
zur Stelle waren, §/as durchaus nicht immer sicher war, gezwungen v/ur- Entweihungen des Zufalls und der Elemente aufs Geratewohl preisgegeben
den, mit ihnen zu trinken und "die Kosten dieses gotteslästerlichen Gelages sind.., (29) Man stellte die nivellierenden Bestrebungen der Revolution in
zu bezahlen". Und dieser Bericht entsprach in der Tat der Folklore der Frage, die Bemühung um Gleichheit: "Diese verhängnisvolle Gleichheit
Epoche. Man erzählte sich, daß der Schauspieler Brunet vom Palais-Royal [. . .] hatte ihr Einflußgebiet bis ins Reich des Todes ausgedehnt. Sie hatte
beim Anblick eines Totengeleits ausgerufen habe: "Oh, mein Gott ! Um so der Kindesliebe und der ehelichen Zärtlichkeit den ganzen unschuldigen
beigesetzt zu werden, möchte ich lieber gar nicht erst sterben." (26) Prunk untersagt, mit dem die Hinterbliebenen sich ihren Schmerz zu ver-

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n
treiben suchen.« Bemerkenswert ist, daß diese Texte sowohl den vom Tod folgenden Erwägungen zugrunde. Es wird einrnütig gebilligt und prokla-
ausgelösten herzzerreißenden Schmerz als auch die Rolle der Trauer und mis11; »Jedes Individuum muß den Manen der ihm Nächststehenden die
des Friedhofsbesuchs als Trostmittel mit allem Nachdruck hervorheben. Zeichen seines Schmerzes und seiner Klagcn sichtbar zum Ausdruck brin-
\(ahrscheinlich aber hat Chateaubriand die Situation am scharfsinnig- gen können; das fühlende Menschenwesen, das eine zärtliche Mutrer, eine
sten erfaßt, q/enn er sagt: »Es ist bekannt, wie die Leichenbegängn;sse zu herzliebe Gattin, einen aufrichtigen Freund überlebt, muß Trost für seine
Zeiten der Revolution vor sich gingen und wie man für einige Heller Vater, Bekümmernis in der Achtung finden können, die man ihrer Asche zollt."
Mutter oder Gattin au{ den Schindanger werfen ließ." Als Grund führt er (30) Vesentlich ist die a{fektive Beziehung zwischen dem Verstorbenen
an: "Man kann diese Dinge aber nur au{ einen Ratschiuß Gottes zurück- und dem Hinterbliebenen, und nach Maßgabe eben dieserprivatenBezie-
führen: sie waren eine Folge der ersten Fntweihung unter der Monarchie." hung diskutiert man die Einrichtungen, die geschaffen werden sollen.
Die Revolution hatte in der Tat nur eine Situation verschärft, die bereits seit Des tombeaux et de l'influence des institutions t'unöbres sur les meurs
wenigstens zwanzigJahren andauerte. Nur wurde sie jetzt nicht mehr tole- (Die Gräber und der Einfluß der Grablegungsinstitutionen auf die Sitten)
riert, und das ist das bedeutsame Phänomen. Sie verletzte eine Sensibilität, von J. Girard, eine der nicht prämiierten Einsendungen, gibt eine klare
die sich gewandelt hatte. Analyse der in diesem Bereich vorherrschenden Auffassungen. Der Tod
wird von Anfang an nicht als Verlust des Lebens, sondern als Trennung von
mehreren einander liebenden lVesen aufgefaßt. Er ist ebenso Tod des Ande-
Der Vettbewerb des Institut de France ren wie eigener Tod, und er ist eigener Tod nur für den Anderen: "Eines
im Jahre 1801 Tages werde ich die beweinen, die mir lieb und teuer sind, oder von ihnen
beweint werden.. Deshalb lädt die Vorstellung des Todes auch nicht mehr,
Auf den Bericht von Cambry hin wurden verschiedene Maßnahmen ergrif- wie zu Zeiten von Horaz oder im Mittelalter der ars moriendi, zum Genuß
fen: man entschloß sich in Paris, die Depositorien abzuschaffen - die der Dinge dieser Velt ein: "Dieser Vorsteliung möchte sich die bedrängte
Leichname wurden fortan bereits zu Hause vorläufig beigesetzt -, und ver- Seele ganz öffnen, um die Gegenstände ihrer Zuneigung zu umschließen
suchte sich an einer Neuorganisation der Friedhöfe. Vergeblich. [...]. Vieviel Fürsorge, wieviel Liebesbeweise möchte man ihnen nicht
Im Jahre 1801 forderte der Innenminister Lucien Bonaparte das Institut darbringen ! Vie heftig wirft man sich die Kümmernisse vor, die man ihnen
de France auf, das folgende Thema als Preisaufgabe zu stellen: "§üelche bereitet, die Denkmäler, die man achtlos hinter sich gelassen hat. . ..
Zeremonien müssen beim Leichenbegängnis vollzogen und welche Rege- Das ist die Gefühlswelt eines Menschen derZeitum 1800. Es ist auch und
lung muß für den Ort der Grabstätten getroffen werden ?" Bei den Zeremo- eben die Gefühlswelt, die gewöhnlich von der Natur inspiriert wird. Aber
nien "darf kein Element eingeführt werden, das bereits irgendeinem belie- dieses Naturgefühl ist von der Religion
"in die Irre geführt" worden. "Die-
bigen anderen Kult angehört« ; man versucht also, einem laizistischen Mo- ser rührende Kult, den die ersten Menschen den Toten dargebracht haben,
dell Geltung zu verschaffen. wird zum falschen Prinzip, zur Quelle von Mißständen. Der Aberglaube
Das Institat erhielt vierzig Einsendungen, und der Preis wurde Amaury entsteht inmitten der Gräber." In zwei Formen: die erste ist die irrationale
Duval und dem Abb6 Mulot zuerkannt, einem ehemaligen Abgeordneten Furcht vor den Toten, vor den'§fliederkehrenden, vor den "Gespenstern
der Legislative. Ihre Memoranden erlauben es, den seit 1763 zurückgeleg- und scheußlichen Larven", der schrecklichen, von der Vorstellungskraft
ten §(eg zu beurteilen. ersonnenen Seite des Todes. Die zweite ist der Glaube an das Gebet für die
Das Prinzip, die Grablegung aus hygienischen Gründen außerhalb der Toten. "Der Mensch ließ das helle Licht der Vernunft fahren [. . .], nicht
Städte vorzunehmen, gilt jetzt unbestritten, und man kommt nicht mehr mehr mit erhabenen Anrufungen ehrte er die Götter fein sehr geläuterter,
darauf zurück, es sei denn, um einmal mehr den Zustand der alten Friedhö- von allem parasitärem Aberglauben gereinigter Kultl, sondern mit mühse-
fe der Pfarrgemeinden zu beklagen. ligen Gebetshaltungen, schmerzha{ten Kasteiungen oder grausamen Op-
Ein anderes, diesmal neues Prinzip, das bereits im Mömoire des curös de fern. Der Priester büßte seinen göttlichen Charakter ein [den der wahren
Parisvon 1 763 auftauchte, in der Folge aber fallengelassen wurde, liegt allen Philosophie und des künftigen Positivismusl. Der Kult war nicht mehr als

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eine Profanierung der heiligsten Gesetze, die Stimme des Himmels nichts mehr hervorbringen dürfen" (Amaury Duval). Deshalb dar{ es auf diesem
mehr als der Schrei des Schreckens und der Wollust. [Es ist die Phase der Idealfriedhof nicht einmal ein Kreuz geben.
Kirche nach dem Mittelalter, jener Schule des Aberglaubens, die dafür ver- Dennoch soll aber das, was da eingeführt werden muß, ein wirklicher
antwortlich gemacht wird, den Tod zum Gegenstand des Entsetzens ge- Kult sein: ,Ihr werdet keinen Totenkult einführen", wenn Ihr nicht be-
macht zu haben.] Nähme man alle die zahllosen Übel zusammen, wie sie stimmte Vorsichtsmaßnahmen ergrei{t. Er soll "heilsame Befürchtungen
die abergläubischen Angste vor dem Tod und der Existenz nach dem Tode eingeben, aber keine leeren Schrecken". Die Zeremonien sollen "einfach
erzeugen Ihier die Unsterblichkeit, die dem Aberglauben durchaus gleich- und bewegend zugleich 5sin", die Empfindungs{ähigkeit beleben und sie
gestellt scheint], so sähe man den sklavischen Menschen wahrscheinlich nur auf ein "moralisches und religiöses Ziel hinlenken". (31) Diese Zeremonien
blutbefleckte Beziehungen zu den Göttern unterhalten.o "Die Grable- sind also laizistisch, selbst wenn man zuläßt, daß sich kon{essionelle Got-
gungsinstitutionen« unserer christlichen Vergangenheit »cntstanden aus tesdienste daran anschließen können: sie werden ein{ach nur toleriert.
derselben Quelle wie die abergläubischen Ideen." Es kann keine Rede da- Nach dem Tode ist eine Aufbahrung vorgesehen ("Versuchen wir, an der
von sein, sie wiederzubeleben. Manche sind sogar der Ansicht, daß sie in Zurschaustellung der Toten festzuhalten"), bei der für Duval und Girard,
eben solchem Maße wie die Revolution für die Ungebührlichkeit der Lei- nach einem seit Jahrhunderten aufgegebenen Brauch (außer im Süden
chenbegängnisse verantwortlich sind. Die Kirche hat den alten Totenkult Frankreichs), das Antlitz des Verstorbenen unverhüllt bleibt, um den "Um-
zugunsten der unsterblichen Seele als Gegenstand der Fürbitten verfälscht gang mit den Toten" zu ermöglichen und zu verlängern. Die alten Zeremo-
und den Leib dem Schindanger überantwortet. nien hatten eben dies zum Ziel gehabt. Sie müssen durch etwas anderes
\ü/as sich aber au{ den Ruinen der Kirche der Alltagswirklichkeit be- ersetzt werden, das an ihre Stelle tritt, die öffentliche Darbietung zu Hause
mächtigt hat, ist keineswegs besser: es ist der Materialismus. "Eine noch und in einem Tempel, der offensichtlich nicht konfessionell gebunden ist.
größere Gefahr ist die des erniedrigenden und kalten Materialismus, der Auch die Einbalsamierung wird empfohlen, und zwar aus denselben
den Einfluß der Moral und die Handlungsvollmacht der Regierung zerstö- Gründen wie die Au{bahrung mit unverhülltem Antlitz. "Die Künste über-
ren und eines ihrer wichtigsten Machtmittel paralysieren würde [. . .]. Der liefern uns die Züge derer, die wir geliebt haben; sehr viel linder wäre es
Aberglaube kann dazu dienen, die Völker zu einigen, die Autorität in den überdies, könnte man sich ihre magische Macht zunutze machen, um die-
Händen eines Führers zusammenzuschweißen; der Materialismus aber sen vom Tod verhärteten Organen den Schein des Lebens mitzuteilen und
zerstört die gesamte Magie der gesellschaftlichen Ordnung l. . .1, er zer- den sehnlichen lüflunsch zu vertreiben, der uns drängt, diese stummen Lei-
bricht die heilige Kette, die den Himmel mit dem Glück der Erde verbindet ber wiederzubeleben und sie zu Zeugen unserer keuschen Erinnerungen zu
[diese heilige Kette: hier taucht die für die Vernunft annehmbare philoso- haben." Das Bedürfnis, den Anschein von Leben auf den Gesichtszügen
phische Religion auf]. Hegen wir also mehr Hoffnung auf die Tugend, legen soweit wie möglich zu verlängern und die Möglichkeit, sie anzuschauen, zu
wir dem Verbrechen stärkere Zügel an und erwarten wir uns größeren Trost verewigen, arbeitet dann auf die Entwicklung aller der Konservierungs-
für den Schmerz fder Trost hat genau den gleichen Stellenwert wie die Ge- techniken hin, bei denen man sich fragt, ob sie für die Zeitgenossen nicht
rechtigkeit]. . . Der Materialismus ist genau so zu fürchten wie der Aber- dazu bestimmt waren, der Erdbestattung zu entgehen, weii sie es erlaubten,
glaube." den Toten sichtbar zu verwahren, ihn zu konservieren, um mit ihm Zwie-
sprache halten zu können.
Eine der Personen in Amaury Duvals Dialogen, eine Frau, deren Mutter
Die Entwicklung des Totenkultes in jenen Schlünden versank, die man abschaffen wollte, führt vor Augen,
was sie der "modernen Chemie" nicht alles verdankt: "Einen Monat später
Manche Autoren von Denkschriften wollten keine Trennung zwischen den starb mein Sohn. Ach ! §ü'enigstens ihn besitze ich noch, wenn er auch nicht
mehr meine Küsse erwidert und nicht mehr auf meine Stimme reagiert.
"Sekten", d. h. den Religionen: "Die Menschen aller Sekten sollen Seite an
Seite in diesem Friedensasyl ruhen, wo man doch meinen sollte, daß unter- Dank der Errungenschaften der modernen Chemie war es möglich, seine
schiedliche Meinungen keine wirklichen Unterschiede zwischen ihnen Gesichtszüge und beinahe auch seine echte Hautfarbe zu erhalten." Das

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ffi
Verfahren ist nicht neu, zumal Necker und seine Frau in Coppet in zwei
I soll, denn man weiß nicht, ob es hier, "wo der Sohn die Grabplatte nicht
Alkohol-Bottichen konserviert worden waren, in denen ihre Tochter sie kennt, unter der sein Vater ruht", auch wirklich einen Totenkult geben
betrachten konnte. Man begegnet hier erneut dem Interesse für den Leich- wird. "Mögen die Gesetze verbieten, irgendeine Art von Steingrab aufzu-
nam und seine Konservierung, wie er für das 18. Jahrhundert charakteri- führen; kein Hindernis aber mag sich dem entgegenstellen, daß man es aus
stisch war, hier aber mit dem anderen Ziel der Verlängerung der physischen
Rasenstücken formt." Da haben wir den anglo-amerikanischen Rasen von
Präsenz eines geliebten W'esens auftritt. Forest Lawn, den latpn cemeteryt.Inmitten der Rasengräber "werden Pfade
Unter diesen Bedingungen gemahnt die Aufbewahrung des einbalsa- angelegt, auf denen die Melancholie ihre Träumereien schweifen läßt. Sie
mierten und beinahe noch lebendigen Leichnams im Tempel an bestimmte sollen von Zypressen, von Pappeln mit zitterndem Blattwerk und Trauer-
amerikanische t'uneral ltomes in Forest Lawn, dem Friedhof von Los Ange- weiden überschattet sein [die Trauerweiden kommen zugleich mit dem Ra-
les. Es gibt wahrscheinlich keinen direkten Zusammenhang zwischen die-
sen auf]. . . Bäche sollen murmel" [. . .]. Diese Orte sollen zum irdischen
sen Utopien vom Ende des I 8. und beginnenden I 9. Jahrhunderts und den
Elysium werden, in dem der erschöpft aus den Gärten des Lebens heimkeh-
amerikanischen Einbalsamierungen, die dem Vernehmeri nach während des rende Mensch sich von allen Unbilden erholen kann." Ein englischer Gar-
Sezessionskrieges gebräuchlich wurden, aber die Ahnlichkeit ist verblüf- ten: "In jedem Frühling wird man dort die Rose am Grab eines jungen
fend.
Mädchens verwelken sehen, das, auch sie Rose, nur einen Sommer lang
Der Tempel wird zum Ort einer von »Beisetzungsinspektoren" organi- geblüht hat." (33)
sierten Zeremonie, Magistratsbeamten, die an die Stelle der Priester getre-
"Der Gatte kann sich ohne Furcht dem ganzen verlockenden Reiz seines
ten und auch Standesbeamte und für eine Art nationaler Ehrentafel verant-
Schmerzes ausliefern und dem Schatten seiner verehrten Gemahlin seinen
wortlich sind. Man hat eben geglaubt, in einer einzigen Institution das Per- Besuch abstatten. [. . .] Diejenigen schließlich, denen teure Erinnerungen
sonenstandswesen, den Totenkult und die Vergabe nationaler Ehrenzei- das Gedenken an ihre Vohltäter zur Pflicht machen, finden hier einen zur
chen zusammenfassen zu können. Die Zeremonie beginnt mit der Prokla- Sammlung und Dankbarkeit bestimmten freundlichen Ort des Friedens
mation des Todes des Verstorbenen. Sein Name wird daraufhin auf einer und des Asyls." (34)
Ehrentafel angebracht, und zwar für eine bestimmte Zeit, etwa einen Der Zutritt ist im allgemeinen frei, aber "staatlicher Aufsicht" unterwor-
Monat. fen. Manche möchten den Friedhof vor dem Publikum verschließen, ausge-
Auf die Proklamation folgt eine feierliche Lobeserhebung und die an- nommen für eine bestimmte Phase, "die dem Gedenken und dem Kult der
dächtige Verlesung des Testaments, ein merkwürdiger Restaurierungsver- Toten" vorbehalten wäre. Aber selbst in diesem Falle sollen Sohn, Freund
such an einem Genre, dessen sentimentale und religiöse Rolle seit der Mitte
oder Vater und Mutter "mehrmals kommen und ihre Tränen auf dem ge-
des 18. Jahrhunderts dahingeschwunden war. liebten Grab vergießen dürfen". (35)
Schließlich wird der Sarg auf dem Lande von Männerarmen getragen, in Bei diesen Projekten ist verblüffend zu sehen, eine wie untergeordnere
der Stadt dagegen auf einem Leichenwagen aufgebahrt, dessen "düstere Rolle hier das nationale Pantheon, die Ahnengalerie der erlauchten Persön-
Form auf die Art von Gebrauch hinweist, für die er bestimmt ist", und von lichkeiten oder das öffentliche Museum spielen, wie sie die Pläne um 1780
einem zu Fuß gehenden Führer geleitet. (32) Von diesem Augenblick an beflügelten. Die private Funktion des Friedhofs hat die Oberhand über
besteht die Möglichkeit einer \Wahl : öffentlicher Friedhof oder Privatbe- seine öffentliche gewonnen. Die wird nur noch im Grenzfall, als unabding-
sitz ? bare Notwendigkeit in den großen Städten und wegen der Armen toleriert.
Der öffentliche Friedhof hat keine Ahnlichkeit mehr mit den architekto- Lebte man noch in den glücklichen Tagen des Goldenen Zeirakers,in fried-
nisch sehr ausgeprägten Projekten der Jahre 177 0 / 8A. Die Ruhestätten sind lich-ländlichen Gefilden, ließe sich wohl auch der Gemeinschaftsfriedhof
weite grüne Flächen ohne Bauwerke oder Denkmäler. Die Erbauer von einsparen.
Grabdenkmälern werden geradezu entmutigt: an der Stelle, wo der Leich- Denn jeder hat das Recht, über seinen eigenen Leichnam zu gebieten.
nam bestattet liegt, duldet man gerade noch und auch nur widerwillig eine
Inschrift von einigen Zentimetern Breite, die den genauen Platz markieren "'W'enn wir über unsere Güter verfügen können, wie sollten wir da nicht
auch über uns selbst ver{ügen dürfen !" Der geeignetste Platz für das
"letzte
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n
Asyl" ist der Familienbesitz. Die Gesellschaft "muß den gewöhnlichen Vaterlandsliebe zusammensetzt. '§ü'ir hängen an unseren Ländereien, weil
Menschen dazu auffordern, sich sein Grab auf den väterlichen Gefilden zu wir daraus die Subsistenzmittel für unsere Familien ziehen. Der'§(eiler ist
suchen., im Gegensatz zu den berühmten Mitbürgern, deren sie selbst sich uns teuer, weil er das Vaterhaus birgt, den Tempel, den wir zum Gebet
bemächtigt, um ihnen monumentale Grabmäler zu erbauen, die sie im Ge- aufsuchen, den Ort, da wir uns zum Gespräch mit unseren Freunden zu-
'§üeiler
dächtnis der Nachwelt fortleben lassen sollen. Aber sogar diese nationalen sammen{inden. Vir hängen an unserer Provinz, weil unser einer
Gräber müssen, wie private Grabstellen, isoliert bleiben: "Die Gesellschaft ihrer Bestandteile ist, und das große Vaterland interessiert uns nur, weil es
muß für die Grablegung der bedeutenden Menschen besondere Orrlichkei- den ganzen Kreis unserer Bindungen umfaßt und unser Schirmherr ist."
ten anweisen, die dem Schauplatz ihres '§flirkens [. . .] benachbart sind": ,Die Einzelgrabstätten verbinden uns überdies mit unserem Grund und
Jean-Jacques Rousseau in Ermenonville, La Fontaine inmitten eines Wal- Boden durch ein Gefühl der Dankbarkeit und der Ehrerbietung." Felder,
des, Boileau an einer Promenade. die solche Gräber bergen, verkauft man nicht mehr. Man verteidigt sie gegen
Jeder bei sich zu Hause: "'Warum soll sich der friedliche Landmann nicht Ubergriffe. "Die Einzelgrabstätten haben also den doppelten Vorteil, uns
Hoffnung machen dürfen, inmitten der Felder zu ruhen, die er selbst be- an unsere Familie, ans Eigentum und ans Vaterland ,,
6;n43n." (36)
baut hat? Ahl Laßt ihn die Stelle bezeichnen, an der er eines Tages beige- Diese Zitate sind dem Memorandum von J. Girard entnommen. Das von
setzt sein möchte, gleich ob er den Fuß der alten Eiche wählt [. . .] oder in Amaury Duval schlägt die gleiche Politik vor, wenn es auch weniger sozio-
der Nähe seiner Gattin ruhen *ill [. . .], seines Vaters [. . .], seines Sohnes." logisch argumentiert. "Ich brauche nicht zu sagen, daß ieder Familie nach
(36) Regelrechte religiöse Haine also. der öfientlichen Aufbahrung im Tempel das Recht zukommt, über den, den
Dies wäre außerdem die beste Art und Weise, die Menschen in ihrem sie verloren hat, frei verfügen zu können. Sie kann ihn auf die Güter, die er
Vaterland zu verwurzeln. Man möchte glauben, daß man an seinen Toten besessen hat, überführen lassen und ihm sogar prunkvolle Denkmäler er-
hängt, weil man an seinem Grund und Boden hängt. Die Interpretation richten.. A. Duval träumt für sich selbst ebenfalls von einer Einzelgrabstät-
aber ist nicht schlüssig; das Gegenteil ist richtig : man hängt an seinen Fel- te, aber ohne ein solches prunkvolles Denkmal, das er beargwöhnt und
dern, weil man an seinen Toten hängt, und auf lange Sicht entsteht eine dessen modische Beliebtheit er fürchtet, und deshalb verweist er es auch
gemeinsame und herzliche Liebe zur Erde und zu den Toten. 'Wir werden vom Gemeinschaftsfriedhof. Er will in der Natur ruhen: "'§ü'enn ich in
hier, mitten im thermidorianischen Konvent, mitten im Direktorium und meine Heimat zurückgekehrt bin, werde ich mir auf dem Stückchen Grund
Konsulat, in einer mit au{klärerischer Philosophie gesättigten Elite, die der und Boden, das mir mein Vater hinterlassen hat, selbst meine Grabstätte
Kirche argwöhnisch, wenn nicht sogar feindselig gegenübersteht, Zeuge ausheben. Ich werde eine Stelle unter den \Weiden wählen, die er selbst
der Entstehung der Idee des fleischlichen Vaterlandes im Sinne von Barrös, gepflanzt hat und die ich noch unmittelbar zu sehen glaube, am Rande des
Pdguy und Maurras, zunächst aber in dem der Positivisten. Die Verwandt- kleinen Bächleins, das ihre Wurzeln umspült. Ringsum blühen Lilien und
schaft ist augenf ällig. "Vieviel teurer werden ihm nicht die Felder werden", Veilchen. Dorthin führe ich dann mehrmals täglich meine Freunde und so-
wenn sie die Gräber seiner Väter bergen. "\Wollt ihr die Menschen an die gar die, die dann meine innig geliebte Ge{ährtin sein wird [. . .]. Venn dieser
reinsten Sitten, an die wirklichen Anhänglichkeiten erinnern, aus denen die Ort ihnen lieb ist [unseren Kindern], wenn sie unsere Neigungen, wenn sie
Liebe zum Vaterland erwächst, und zwar nicht die enthusiastische und ver- meine Seele haben, werden sie nach meinem Tode häufig die nahestehenden
zückte Liebe, die nur Abstraktionen nährt, nur dünkelhafte Chimären Bäume küssen: unter ihrer Rinde wird die Materie hindurchgesickert sein,
[etwa der Jakobinismus ?], sondern diese einfache und wahre Liebe, die das die einstens meinen Leib bildete." Die Auflösung in der Natur ist nicht
Vaterland als Schutzgöttin verehrt, die rings um uns Ordnung und Ruhe mehr Rückkehr ins Nichts, als die sie die Freigeister des 18. Jahrhunderts
aufrechterhält. Dann fesselt die Menschen an den Boden, aus dem sie her- auffaßten, sondern eine Art Metempsychose: das gleiche geliebte'§flesen
vorgegangen sind [besonders dadurch, daß sie ihre Verstorbenen darin bei- tritt nur in anderen, vegetabilischen Formen auf . Die Natur- aber durchaus
gesetzt haben]. §ü'er den väterlichen Grund und Boden liebt, hängt durch nicht jede beliebige Natur, sondern der vom Vater ererbte Landbesitz
dieses schlichte Band mehr am und mit dem Vaterland zusammen als der -setzt sich aus der Materie der Toten, Angehörigen und Freunde zusam-
hoffärtige Philosoph." "Soweit also die Elemente, aus denen sich wirkliche men und reproduziert sie immerfort weiter.

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Venn die öffentliche Zeremonie im Tempel und die Beisetzung auf dem G. Gorer, von denen im folgenden Kapitel die Rede sein wird, verbringt die
Gemeinschaftsfriedhof oder auf dem väterlichen Besitztum geregelt sind, Vitwe den Tag der Beisetzung ihres Gatten, indem sie mit ihren Kindern
bleibt die Trauerbekundung. Darunter wurden sowohl die Beileidsbesuche Gartenarbeiten verrichtet.] '§(ir dagegen verstecken unseren Schm erz lnter
als auch die Lebensweise verstanden, wie sie Brauch und Herkommen den Trauerflor und in \Wohnungen, die Ballspielsälen ähne1n [eine Anspielung
Hinterbliebenen auferlegten. Sie wurde von demselben Philosophenkreis auf die Kahlheit und Leere der'§V'ohnungen während derZeit der großen
angefochten, aus denen sich auch die Verfasser des Parlamentserlasses von Trauer, wie ich vermutel. Ist das aber nicht ein unvernünftiges Vorurteil?
1763 rekrutierten, dem das Mömoire des curös de Paris aus dem gleichen Daraus, daß ein Mensch tot ist, folgt doch nicht, daß die anderen mit ihm
Jahre seinerseits den Krieg erklärte. sterben müssen [. . .]. Der wahre Schmerz zieht sich im Herzen zusammen
Ebenfalls als Reaktion auf diesen Erlaß schrieb im Jahre 1768 der Abb6 [ein Argument, das ich heutzutage ebenfalls o{t gehört habe], ohne unbe-
Coyer seine Effrrnet aux morts et aux ,rtfu.tanti. Im Jahre 1707 geboren, dingt mit den Trauergewändern verbunden zu sein, deren Gebrauch bei uns
ehedem Jesuit (er hatte den Orden 1736 verlassen), Hofmeister eines Tu- verbindlich ist."
renne, Feldprobst der Reiterei, Autor eines Planes zur Education publique Es ist durchaus möglich, daß Coyer Schüler hatte, wenigstens in Paris,
und eines Traitö de la noblesse marcbande, repräsentiert er auf bezeichnen- und daß die Lockerung der Sitten, wie wir sie bei den Totengeleiten gegen
de \7eise das Ideenreservoir der aufgeklärten Intelligentsia. (37) Er steht der Ende des Jahrhunderts beobachtet haben, parallel dazu von der Preisgabe
Trauer und der Traueräußerung {eindlich gegenüber, weil sie in Brauch und der Trauer begleitet war. Man ist jedoch Zeuge eines plötzlichen Um-
Herkommen gin "grausames Bild des Todes" aufrechterhalten, während es schwungs: A. Duvai sagt, daß man die Wohnstätten der Toten »veröden«
doch im Gegenteil darauf ankommt,
"den Tod angenehm zu machen". Und läßt; Girard möchte ,,den alten, nabezu in Vergessenbeit geratenenTrauer-
ich verstehe, daß Madeleine Foisil (38) versucht gewesen ist, in den Philoso- brauch wiederein{ühren [. . .], demzufolge die Dankbarkeit ihre Frist ver-
phen vom Ende des 18. Jahrhunderts die Vorläufer y'ener Modernität der längerte. In Frankreich war die tauerzeit im allgemeinen auf ein Jahr fest-
Mitte des 20. zu sehen, in dem der Tod nicht mehr entsetzlich noch ange- gelegt. In manchen Provinzen verlängerte man sie um weitere sechs Mona-
nehm ist, sondern abwesend. Der Tod des Abb6 Coyer ist ,angenehm. wie te. Heute hat sich das alles geändert, die tauer ist wenig mehr als sentimen-
der der La Ferronays oder der Brontös; er kündigt sowohl den romanti- taleZiererei." (39)
schen Tod des 19. Jahrhunderts als auch den verborenen Tod von heure an Es war im Jahre 1800 nicht mehr erlaubt, in dem leichtfertigen und spöt-
und legt angesichts dieses gemeinsamen lJrsprungs die Vermutung einer tischen Ton von Trauer zu sprechen, wie es 1768 der Abb6 Coyer getan
geheimen Beziehung zwischen diesen beiden "Toden" nahe. Die Romanti- hatte. In der Zwischenzeit waren von der großen Flut der Geschichte näm-
ker liebten und wünschten sich den Tod, und wenn sie Christen und Katho- lich neue Strände der Affektivität freigespült worden. An die jahrhunderte-
liken waren, fürchteten sie ihn nicht. Sie hätten sich die folgende Bemer- alte Langsamkeit psychologischer Veränderung gewöhnt, sind wir vom au-
kung des Abb6 Coyer zu eigen machen können, eine Negation oder eher ßerordentlich jähen Auftauchen einer neuen Sensibilität förmlich über-
Umkehrung der alten ars moriendi: "Die Angst, die man zu erkennen gibt, rascht. Fraglos hatte sie sich bereits unterirdisch angebahnt, und die lVand-
steht in Beziehung zu der Art von Leben, das man geführt hat, und die iungen im Bereich der familiären Beziehungen kündigren sich schon gegen
bevorzugten Seelen haben mehr Grund, sich das Ende ihrer Pilgerschaft zu Ende des 17. Jahrhunderts an (vgl. J. L. Flandrin); aber gerade das letzte
wünschen, als es zu fürchten." Man rührt hier direkt an die Komplexität Drittel des 18. Jahrhunderts brachte einen sehr raschen lJmsturz.
jener Kultur, in der ein reformiertes Christentum, ein kirchenfeindlicher Vir haben im vorhergehenden Kapitel nicht nur die \trfiederkehr der gro-
Rationalismus, eine hedonistische Tendenz und die Fermente der Roman- ßen Trauerkundgebungen beobachten können, sondern auch die Zurschau-
tik zusammenfließen. stellung ihrer Spontaneität; man fügt sich nicht mehr alten Bräuchen, man
Bei seiner Beschreibung der Trauerbräuche fällt der spöttische Tonfall überläßt sich dem plötzlichen Ausbruch seines Schmerzes und geht darin
auf, den er anschlägt: "Gerade wenn man in großer Trübsal ist, muß man weiter oder anders weiter, als Brauch und Herkommen vorschreiben. So
versuchen, sich ihr durch den Anblick von Gegenständen zu entreißen, die hält sich nicht einmal in der Aristokratie die \i(itwe mehr an die Regel, daß
Augen und Einbildungskraft zu erheitern vermögen. [In den Analysen von sie während des Totenamtes zurückgezogen zu Hause zu bleiben hat; sie

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il
wohnt ihm bei, wenn auch zunächst insgeheim, in einem Vinkel der Kirche sich am besten zur Umwandlung in Glas eignet und "ein sehr schönes Glas
oder einer Galerienische. Aber morgen schon wird sie ihr Trauerjahr begin- ergibt; er hat das Verfahren aber nicht preisgegeben, weil er fürchtete, ein
nen, hinter Vorhängen und Trauerflor verborgen, ein Brauch, der sich be- Sakrileg zu begehen". Giraud gibt zum \Werk des Chemikers den folgenden
reits auch im Bürgertum zu verbreiten begonnen hat. Kommentar : "Für die Zeit, in der Becker schrieb, war seine Schwäche ent-
schuldbar." Die Umwandlung in Glas, die von der Natur in den großen
Gemeinschaftsgräbern besorgt wird, läßt sich auch durch menschliche Ge-
ZtGlas gewordene Tote . . . schicklichkeit erzielen. So könne man »[die heiligen Manen] für immer vor
den Verheerungen der Zeit und den Lawen der Menschen in Schutz
Die Denkschriften, die ich soeben analysiert habe, bringen die Geisteshal- nehmen".
tung achtbarer Leute zum Ausdruck, die, ausgewogen, vernünftig und ho- "Könnte doch die ganze Menschheit diese Tugend tief in sich eindringen
hen Ansehens wert, Repräsentanten der allgemeinen Sensibilität sind. lassen: daß jedes Individuum, das die Toten nicht achtet, im Begriff ist, die
Das Thema war im Schwange. Zugleich mit dieser ernst zu nehmenden Lebenden zu ermorden."
Literatur aber harten auch Streitschri{ten Konjunktur, die wir heute etwas Der von Giraud vorgesehene Friedhof steht dem Typus der Projekte der
'§ü'allmauer mit Portikus, die eine zentrale
närrisch finden und die bereits die Zeitgenossen ähnlich einschätzten. Aber Jahre um 1770-1780 nahe: eine
diese Art von Unsinn muß doch auch ihren Sinn gehabt haben. Pyramide umschließt; da endet die Ahnlichkeit aber bereits, weil das Un-
Pierre Giraud scheint in dieser Hinsicht nicht der erste gewesen zu sein. tergeschoß der Pyramide ein Leichenverbrennungsofen und die Säulen des
Er ist der Architekt des Justizpalastes, er hat sich unter Lebensge{ahr für Portikus aus Glas sind, einem Glas, "das aus menschlichen Gebeinen [ge-
die Op{er des Jahres II eingesetzt und bereits im Jahre IV ein Friedhofspro- wonnen worden ist], die aus den alten, aufgelassenen Friedhöfen geborgen
jekt entwickelt, das er im Jahre VII dem Seine-D6partement vorgelegt hat. wurden [. . .]. Venn sich irgendwelche Schwierigkeiten ergeben sollten,
Er kommt darauf in einer kleinen 1801 publizierten Arbeit aus Anlaß des diese kostbaren Überbleibsel der Menschheit einer so noblen Bestimmung
Institut-Ylettbewerbs zurück - Les tombeaux ou Essai sur les söpultures-, zuzuführen, müßte man sie durch die Knochen von Haustieren ersetzen.«
einer Arbeit, "in der der Verfasser die Bräuche der alten Völker in Erinne- Die Grabmonumente unter der Galerie sind ebenfalls aus Glas: Medaillons
rung ruft, in aller Kürze die von den Modernen beachteten streift [sie sind und Gedenktafeln.
wegen der Kirche nicht interessant] und Verfahren aufführt, die zur Auflö- Der Leichenverbrennungsofen besteht aus ,vier Kesseln, die 1, 2,3 oder
sung des Fleisches, zur Kalzimerung der menschlichen Gebeine und zu 4 in eine Atzlauge, sogenannte Seifenlauge getauchte Leichname aufzuneh-
ihrer Umwandlung in eine unzerstörbare Substanz geeignet sind, aus der men vermögen [. . .]. Die fleischlichen Verwesungsstoffe, die zunächst zu
sich dann Medaillons jedes Individuums formen lassen.. §(ir haben gerade Gallerte, dann zu Asche verarbeitet werden, sind geeignet, hinter dem das
von der Auflösung in der Natur gesprochen. Das hier vorgeschlagene Ver- betreffende Individuum darstellenden Medaillon verwahrt zu werden, und
fahren besteht darin, zur besseren Konservierung des Gedenkens der Toten können sogar dem in Gias zu verwandelnden Rohmaterial beigefügt wer-
die Natur durch die'§flissenschaft zu erserzen. isn." Als Appendix zu diesem Projekt findet man, von einem Autor na-
Die Technik ist nicht neu: sie schließt sich an die Literatur De miraculis rnens Dartigues stammend, ein "Verfahren zur Herstellung einer guten
mortuorum des 17. Jahrhunderts an. Der von Giraud zitierte Erfinder, Atzlauge nach Art der Seifensieder, zur Auflösung menschlicher Leichna-
Becker, war bereits Thouret bekannt, der in seinem Rdpport sur les exhu- me" und eine "Kunst der Umwandlung von Gebeinen in Glas" abgedruckt.
mdtions des Innocents auf ihn verweist. Der ,fette" Lehmboden der Ge- Das Glas, das man erhält, ist eine neue, unverweslich und unvergänglich
meinschaftsgräber wurde schließlich zu wirklichem Glas, und man konnte gemachte Form des menschlichen Leibes, ein Rohstoff. Vas {ängt man da-
also Lehm-Mumien in Glas-Mumien verwandeln ! Becker ist der Autor ei- mit an ? "Die erste Möglichkeit, die einer religiösen Einbildungskraft wohl
ner Pbysica Subterranea (Unterirdischen Physik), die 1669 in Frankfurt am meisten schmeichelte, [. . . bestünde darin,] dieses Glas zu einer kleinen
erschien und 1268 in Leipzig neuaufgelegt wurde. Er hat experimentell Büste zu gießen, und zwar in einer Hohlform, die der betreffenden Person
nachgewiesen, daß die Erde, in der menschliche Leichname verwest sind, zu Lebzeiten abgenommen worden und somit ihr Porträt wäre. Es bedarf

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nur eines fühlenden Herzens, um zu empfinden, welchen Trost für eine nach wenigen Jahren wäre es fdank der groflen Zahl nicht erbetener Ar-
zärtliche Seele eine solche Büste aus angenehmem Material bedeutete, die men-skelettel möglich, ein in seiner Art einz.igartiges Denkmal zu voll-
den unschätzbaren Vorteil böte, sowohl Porträt als auch identische Sub- enden."
stanz eines Vaters, einer Mutter, einer Gattin, eines Kindes, eines Freundes Trotz seines Enthusiasmus hatte P. Giraud gewisse Zweifel am Schicksal
oder jedes W'esens zu sein, das uns teuer war.« Bedauerlicherweise ist dieses seines Projektes; deshalb bot er sich persönlich zum Selbstversuch an. "Ich
Glas nicht sehr dünnilüssig. Die beste Technik wäre demnach die, odas bin vom unendlichen Nutzen, der sich aus der Verwirklichung dieses Pro-
Porträt, das man haben möchte, als Flachrelief anzufertigen, danach eine jektes ergeben würde, so hinlänglich überzeugt, daß ich, wenn das vor mei-
Gießform abzunehmen und diese Gießform schließlich mit Glas zu füllen". nem Tode nicht der Fall sein sollte, im voraus empfohlen habe [. . .], mich als
Diese Medaillons sollen dann zusammen mit den Epitaphie,r in den Ga- Beispiel dienen zu lassen, indem man mich einem Seifensieder oder einem
lerien zur Schau gestellt werden. Man stelle sich den Effekt bei den Besu- 'W'undarzt
zur Behandlung übergibt, die meine Gebeine vom Rest meiner
chern vor: "Wieviele Kinder würden nicht vom bloßen Anblick der Me- sterblichen Hülle zu trennen, Fleisch und Fett dem Feuer zu überantwor-
daillons ihrer tugendhaften Ahnen von zartester Jugend an voin §(ege des ten und die daraus hervorgehende Asche mit meinem Skelett in jenem Grab
Verbrechens und der leichtsinnigen Zerstreuung abgelenkt werden !" zu vereinen haben sollen, das icb eigens dafür in meinem Garten habe er'
Es muß genug Glas für zwei Medaillons zur Ver{ügung stehen, deren richten lassen,inderHoffnung, daß meine Nachkommen meine Gebeine in
eines für den Friedhof bestimmt ist, während das andere als eine Art Porta- Glas umwandeln können."
tiv fungiert, das die Familie bei ihren Umzügen begleitet wie ein mourning Es ergibt sich schließlich, daß eine geistreiche Karikatur mehr über die
picture. ,Schließlich möchte ich, daß das Kind, das sich am meisren um gewöhnlichen Fakten aussagt als viele hochtrabende Kommentare. Die Ka-
seine Eltern, seine Mitmenschen und das Vateriand verdient gemacht hat, rikatur ist hier unfreiwillig und gänzlich humorlos, das Bild aber nicht we-
auch der natürliche Erbe der Gebeine, Asche oder Medaillons seiner Ahnen niger signi{ikativ. Der Zweck dieses ganzen extravaganten Verfahrens ist
wird. Es soll sie überall hin mitnehmen können wie sein bewegliches Gut, der, die sterblichen Uberreste der geliebten Vesen vor dem "Schrecken des
unter der Bedingung, daß er dafür bürgt und sie dem Rest der Familie prä- Grabes. und der Verwesung zu retten und in ein- und demselben Objekt
sentiert, wann immer sie danach verlangt.o das Bild ihrer Gesichtszüge und die Materie ihrer Leiber zusammenfallen
Der einzige Nachteil ist der, daß diese Folge von Maßnahmen kostspielig zu lassen. Diese Idee wäre weder dem Prinzen von Sangro in seinem neapo-
ist. Und was soll dann für die Armen getan werden, die sie nicht bezahlen litanischen Kabinett des 18. Jahrhunderts noch etwa Frankenstein absurd
können? Diese Frage trifft unseren Autor nicht unvorbereitet, seine Inge- erschienen. Die aber versuchten, wie die Alchimisten der Renaissance, dem
niosität ist grenzenlos. "Iü7enig bemittelte Personen, die die Kosten der Vi- Prinzip des Lebens auf die Spur zu kommen. P. Giraud dagegen strebt nach
trifizierung nicht aufbringen können und sich doch wenigstens das Skelett der Präsenz des Anderen. Er hat, weil er selbst überzeugend sein wollte,
des Gegenstandes ihrer Zuneigung wünschen, können Anspruch darauf lediglich das Unglück gehabt, die Sprachen zweier Zeiten, die sich gerade
erheben, und man soll es ihnen ausliefern, wenn sie nur die Kosten der voneinander trennten, zu vermischen : der Zeit, da der Leichnam dem, der
Ablösung des Fleisches zahlen...o Wenn nun manche aber nicht einmal ihn eröffnete, die Geheimnisse des Lebens zu enthüllen verhieß, und der,
diesen Preis zahlen und auch kein Bedürfnis zu erkennen geben, die Skelet- die im Leichnam dem, der ihn betrachtete, die Illusion einer Präsenz vor-
te ihrer lieben Verschiedenen bei sich zu Hause aufzubewahren ? Diese Ge- spiegelte.
beine sind deshalb noch immer nicht verloren: "Die nicht erbetenen Skelet-
te würden dann in die Katakomben funter den Galerien] überführt und die
Das Dekret vom23. Prairial des Jahres XII
fleischlichen Überreste in einem der 8 Gräber auf dem Friedhof beigesetzt (11. Juni 180a)
werden. Nach Ablauf einer bestimmten Frist würden die Gebeine in Glas
umgewandelt, das zum Aufbau der Monumente unrer der Galerie ver- '§(ährend
der ganzen zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat man nicht
wendbar wäre. Auf diese Weise hätte man die Möglichkeit, einen interes- aufgehört, sich intensiv mit der Beisetzung der Toten zu befassen. Die nach
santen Gesamtkomplex aus ein und demselben Rohstoff zu formen, und außen hin vorgeschützten Gründe wechselten, nicht aber das Interesse

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n
selbst oder gar seine Ernsthaftigkeit. Die Grablegung, die ein religiöser und können.. Aufgrund dieser Verfügung dehnten die Friedhö{e sich aus und
kirchlicher Akt gewesen war, wurde zunächst zu einer Maßnahme, die in nahmen die weiten Landstriche ein, wie sie für die Stadtlandschaften des 19.
den Kompetenzbereich der ö{fentlichen Ordnung und der Volksgesund- Jahrhunderts so bezeichnend sind.
heit fiel, und später dann erneut zum religiösen Akt, wenn auch einer Reli- Der Friedhof dieses Typs ist ein Garten: "Man wird dort Rasen- und
gion ohne Konfession noch Kirche, einer Religion des Gedenkens und im Baumanpflanzungen vornehmen und alle Maßnahmen ergreifen, die ggeig-
Grenzfall sogar nicht-christlicher Formen des §fl'eiterlebens nach dem net sind, etwaigen Störungen der Luftzirkulation entgegenzuarbeiten."
Tode. Diese lange Auseinandersetzung hat in Frankreich einen offiziellen Auf diesem Gemeinschaftsfriedhof kann man sich den Ort seiner Grab-
Abschluß gefunden. Das Dekret vom 23. Prairial des Jahres XII (11. Juni stätte selbst kaufen und dort ein Denkmal errichten lassen. Interessant ist
1804) hatte eine Ordnung des Friedhofs- und Beisetzungswesens zu regeln, jedoch der Hinweis, daß es sich dabei um eine bestimmten Einschränkun-
die, mit einigen wenigen Abstrichen, bis auf unsere Tage Gültigkeit hat. Die gen ünterworfene Erlaubnis handelt, daher das 'Wort Konzession: "W'enn
Verwaltungsbürokratie aller Regierungen hat seither nicht aufgehört, das der Raum der {ür die Beisetzungen ausersehenen Örtlichkeiten es zuläßt,
moralische und religiöse Gewicht des Dekrets einzuschränken, um es auf können dort Bodenkonzessionen an Personen vergeben werden, die einen
eine schlichte Maßnahme der kollektiven Hygiene zurückführen zu kön- genau markierten und gesonderten Platz besitzen möchten, um darau{ ihr
nen, was zweifellos nicht in der Absicht seiner Anreger gelegen hatte. Mehr Grab oder das ihrer Angehörigen oder Nachfolger zu begründen und dort
als ein bloßer Verordnungstext, ist es eine Art Stiftungsurkunde eines neuen Grüfte, Denkmäler oder Grabplatten anbringen zu lassen. Diese Konzes-
Kuites, des Totenkultes. Das erfaßt man jedoch erst, s/enn man es als Ab- sionen werden nichtsdestoweniger nur denen erteilt, die Stiftungen oder
schluß einer ein halbes Jahrhundert währenden Phase von Unruhe und Schenkungen zugunsten von Hospitälern und Armen anbieten, und zwar
Zweifel sieht. unabhängig von der Summe, die die Gemeinde erhält. . ." Das ist das Prin-
Das Dekret bestätigt endgültig das Verbot der Beisetzung in den Kirchen zip der immerwährenden Begräbnisstätte. Zweifellos nahm man an, daß sie
und Städten und sieht einen Mindestabstand von 35 bis 40 m von den Stadt- die Ausnahme bleiben würden, so wie ja auch die Kirchen-Beisetzungen im
grenzen vor. Ancien R6gime noch die Ausnahme waren. Deshalb stellte man sie den
Schließlich geht es sogar weiter als die Projekte von 1 80 1 , dir am Prinzip frommen Stiftungen der traditionellen Testamente gleich. Und es ist richtig,
der alten Armengräber festhielten. Es stellt den Grundsatz auf, daß die daß ihre Benutzer, wenn ich so sagen darf, anfangs noch nicht sehr zahl-
Leichname nie mehr übereinandergeschichtet, sondern immer nebeneinan- reich auftraten, wenn es galt, etwas zu beanspruchen, was noch ein Privileg
dergelagert werden sollen. Und das bedeutet einen gründlichen W'andel zu sein schien. Aus finanziellen und Prestige-Gründen hatte man, als man
aller bisherigen Gewohnheiten. Die Einzelgrabstätten, bisher denen vorbe- den neuen Friedhof Pöre-Lachaise anlegte, einen Luxus{riedhof im Sinn,
halten, die dafür bezahlten, wurden ietzt zur allgemeinen Regel : selbst die der für immerwährende Begräbnisplätze ausersehen sein sollte. Lanzac de
Gräber der Armen mußten voneinander getrennt sein (man überprüfte die- Laborie gibt, wenn auch erst 1,9A6, zr bedenken: "Kaum glaublich, der
ses Prinzip später aus ökonomischen Gründen erneut; man schaffte bei den wohlhabende Teil der Pariser Bevölkerung legte alles andere als Eile an den
Armen den Trennabstand zwischen den Grabstellen ab, wenn man auch am Tag, als es darum ging, den neuen Friedhof in Besitz zu nehmen", eine
obligatorischen Sarg festhielt: das Ende der Allerwelts-Leintücher und Einstellung, "die sich aus der weiten Entfernung [. . .] und aus dem Um-
-Bahren). Die Armen wurden also - und werden es noch (?) - Seite an Seite stand erklärt, daß sich die Benutzung immerwährender Begräbnisstätten
bestattet (und nicht mehr einer über dem anderen), und zwar in einer konti- im Alltagsbrauchtum noch kaum durchgesetzt hatte«. (39) Erwurdeledig-
nuierlichen Reihe. Die Distanz zwischen den Gräbern und ihre Tiefe waren lich von einer Art von Propheten emp{ohlen, nämlich von den Initiatoren
durch genaue Regelungen bestimmt. Kein Grab durfte vor Ablauf einer des Totenkultes und den Autoren und Lesern der hier analysierten Projekte
Frist von fünf Jahren geöffnet oder wiederbenutzt werden. "Als Folge da- und Denkschriften.
von werden die Flächen, die zur Aufnahme der Grabstätten bestimmt sind, Aber die Giäubigen der ersten Stunde sammeln sich rasch. Die anfängli-
fünfmal so ueitläufig sein wie der zur Aufnahme der voraussichtlichen chen Vorbehalte werfen sogar ein ganz bezeichnendes Licht auf die dann
Zahl der Toten erforderliche Raum, die dort jährlich beigesetzt werden einsetzende schwärmerische Begeisterung.

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r-
ti
Die immerwährenden Begräbnisplätze mehrten sich so, daß sie in der Im Jahre 1889 schreibt ein Autor, der ehcdem Friedhofskonservator von
ersten Häl{te des 18. Jahrhunderts sehr schnell zu einem Kapazitätsausla- Beruf war: "Es steht zu vermuten, daß man 1804 falso ztZeiten des Prai-
stungsproblem auf den Friedhöfen wurden: "Die immerwährenden Kon- rial-Dekretes] noch nicht die Verbreitung vorausgesehen hat, die diese Bei-
zessionen, deren Zahl und proportionaler Anteil aufgrund des Zuwachses setzungsmode einmal finden würde [. . .]. Dieses außergewöhnliche \üZachs-
an öffentlichem Vermögen und des Geldwertschwundes stetig wuchsen, tum entzoB sich jeder vorausschauenden Berechnung." (41)
verminderten Tag iür Tag die verfügbaren Flächen." (40) Gegen Ende des Einerseits galt es in zunehmendem Maße als erniedrigend, über keine
19. Jahrhunderts okkupierten sie drei Viertel der Gesamtfläche der Pariser langfristige Konzession zu verfügen, wobei die immerwährende Begräb-
Friedhöf e. Die Konzessionen mit fünfjähriger Lauf zeit und die Gratis-Rei- nisstätte einer Art Besitz gleichgestellt wurde, wenn sie auch dem Handel
hen wurden zurückgedrängt und auf ein Minimum von Raum reduzierr, entzogen war und lediglich auf dem Erbwege weitergegeben werden
während sich die immerwährenden Begräbnisplätze, ansrart Ausnahmen konnte. Andererseits war jede erdenkliche Stelle mit Denkmälern gefüllt,
zu bleiben, auch in den mittleren Gesellschaftsschichten verbreiteten. die in manchen Ländern wie Frankreich und Italien häufig sehr voluminös
Es setzte sich eine weitere Gewohnheit durch, deren Umsichgreifen die ausfielen. Man weigerte sich, ein Grab im Zustand der Anonymität und
Anreger des Prairial-Dekrets eben{alls nicht vorausgesehen hatten. Dieses Unauffalligkeit zu belassen.
Dekret erkannte "jedem Inhaber einer Einzelgrabstätte ohne besondere Die Angewohnheiten, die sich im Gefolge des Prairial-Dekretes auf den
Genehmigung das Recht zu, auf dem Grab seiner Ehern oder seines Freun- Friedhöfen verfestigen, sind das genaue Gegenteil der Bräuche des Ancien
des [man wird in diesen Texten vom Ende des 18. und beginnenden 19. R6gime. Der persönliche Charakter des Ortes der Grablegung ist zur abso-
Jahrhunderts des Ranges gewahr, der, neben dem Elternteil, dem Freund luten Regel geworden, seit die Ubereinanderschichtung der Leichname
vorbehalten blieb, ein Rang, den er auch in den Testamenten des I 7. und 1 8. verbannt wurde.
Jahrhunderts hatte. Der Freund verschwindet in der Folge jedoch und Das erbliche Eigentum an der Grabstätte, das bisher nur in den seltenen
dankt zugunsten der Familie ab] einen Grabstein oder ein anderes Hinweis- Fällen von Kapelienkonzessionen existierte, verbreitet sich in der gesamten
zeichen auf die Grabstelle anzubringen, so wie das bis auf den heutigen Tag Mittelschicht und darüber hinaus. Das Grabdenkmal, das die Ausnahme
gehandhabt worden ist.. war, wird zur Regel.
Der Brauch der Errichtung eines Grabsteines oder, wie der Ver{asser Man begegnet in diesen Verfügungen den Ideen der Verfasser der Projek-
eines Handbuches des Bestattungswesens sagt, einer te und Denkschriften wieder, die sich in den Jahren um 1800 mit dem Pro-
"Einfassung" hat sich
rasch verbreitet: auf dem Pöre-Lachaise bringt man im Jahre 1804 113 blem des Gemeinschaftsfriedhofs auseinandersetzten. Auch sie empfahlen
Grabsteine an, die von den aufgelassenen Pariser Friedhöfen geborgen die Privatgrabstätte auf eigenem Grund und Boden. Das Prairial-Dekret
wurden. schließt sich ihnen in dieser Hinsicht 2n; "Jedermann soii auf seinem eige-
Im Jahre 1805 werden 14 neue Grabsteine aufgestellt, dann: nen Besitz beigesetzt werden können, vorausgesetzt, daß besagter Besitz
außerhalb und in der vorgeschriebenen Entfernung von den Grenzen der
1 806 19 Städte und Dörfer liegt." In diesem Falle ist keinerlei Genehmigung erfor-
I 807 .26 derlich; die willkürliche Autorität der Gemeinde- und Stadrräte wird sogar
I 808 51 durch gesetzliche Regelung eingeschränkt und der Kontrolle des Präfekten
1 810 76 unterstellt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte also jeder Mensch das
1811 96 Recht, sich entweder auf dem Gemeinschaftsfriedhof oder auf seinem eige-
1812 130 nen Besitztum bestatten zu lassen.
1 813 242 Es blieb also lediglich noch die Zeremonie selbst zu organisieren und zu
1814 509 bestimmen, wer damit betraut werden sollte. Die Projekte von 1800 hatten
1 815 635 einen laizistischen Kult vorgesehen, d. h. einen Kult, der den Magistratsbe-
1814-1830 30 000 (1 879 1ährlich) amten und nicht den Priestern anvertraut war i es wurden da kleine Gesten

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empfohlen, die sich bei den laizisrischen Beiserzungen bis heute erhalten I gefolgt wurde" ; die \üagen waren eine Ncue rung, die auf die *'eite Entfer-
haben, so etwa die Spende von ,Blumen und grünen Reislein", die ins Grab nung der außerstädtischen Friedhöfe zurückzuführen ist. Die Schwieger-
geworfen werden. mutter von Junot hatte Anspruch auf tlrcihundert Arme und überdies fünf-
Vor dem Prairial des Jahres XII hatte man versuchr, die Bedingungen, zig Dienstboten. (43)
unter denen die Totengeleite vor sich zu gehen hatten, dadurch zu verbes- Handelt es sich da also, wie man zu glauben versucht ist, um eine Rück-
sern, daß man sie privaten Bestattungsunternehmen anvertraute, deren kehr zu den religiösen Traditionen und zum kirchlichen Prunk des Ancien
Forderungen aber bald für übertrieben gehalten wurden. Das prairial-De- R6gime ? Die Zeitgenossen vom Anfang des 19. Jahrhunderts glaubten, daß
kret gab also den Kirchenvorständen das Grablegungsmonopol zurück. das genaue Gegenteil der Fall war. Für den Ver{asser eines 1836 veröffent-
Ein neues Dekret aus dem Jahre 1806 regelte die Gebühren und institutio- lichten Führers für den Päre-Lachaise war die Zeit der unumstrittenen
nalisierte eine Teilung nach Klassen, sehr zum Unwillen des Senators Gr6- Herrschaft der Kirche eher die der eilends abgewickelten Beisetzungen,
goire, der in sein Handexemplar schrieb: während der Kult der Toten eine Neuerung der revolutionären Epoche sei :
"skandal einer Klassenrrennung
bei Wesen, die vor Gott lediglich mit ihren guten und bösen Werken hintre-
"So wenig Ordnung, Respekt und Anstand sich früher beim Geleit eines
ten." (42) Armen finden ließen, so viel Eifer, Sammlung und Zurückhaltung verwen-
Die Kirchenvorsrände enrzogen sich in Paris dem Zugriff kommerzieller det man heute darauf . " (aa) Zu Zeiten des Monopols des Klerus plapperte
Unternehmen. Später erbten die srädtischen Behörden das Monopol der man rasch die Gebete herunter und stapelte die Toten ins Grab. "Diese
Kirchenvorstände und das Besitzrecht an den Friedhöfen. Im Gegensatz zu abstoßende Verfahrensweise hat glücklicherweise aufgehört, unsere Augen
den Vereinigten Staaten gab es also in Frankreich keine Privatfriedhöfe: alle zu betrüben. [. . .] Diese verwünschte Revolution, die unsere Tagesschrei-
sr'aren - und sind es noch - öffentlich. Diese Entwicklung hätte aber auch berlinge für alle Mißstände verantwortlich machen, die seit vierzig Jahren
anders verlaufen können. Die überführung der Friedhö{e in den Gewahr- aufgetreten sind, ist auch die Ursache für den in Paris erfolgten \flandel in
sam der Stadt- und Gemeinderäte beruht auf einem doppelten Mißtrauen diesem so interessanten Bereich der bürgerlichen Ordnung."
der Kirche und den kommerziellen Besrartungsunternehmen gegenüber.
Frankreich aber orientierte sich in Richtung einer Resraurierung des Ka-
tholizismus und seiner Anerkennung als Staatsreligion. Deshalb wurden Die private Grabstätte im 19. Jahrhundert
alle Entwürfe eines bürgerlichen, nationalen und munizipalen Kultes au-
ßerhalb der Kirche, die seit den Jahren um I 770 eingebrachr worden waren, Jacques Delille starb am 1. Mai 1813. Sein Leichnam blieb sechs Tage lang
zugunsten eines Rückgriffs auf die traditionellen Bräuche vor der Revolu- auf einem Prunkbett im Collige de France aufgebahrt, das Gesicht leicht
tion fallengelassen. Die Beisetzung wurde wieder zum religiösen Akt. Ein geschminkt, das Haupt mit Lorbeerzweigen umwunden.
speziell auf Paris zugeschnittenes Dekret vom 18. August 1811 bestimrnte, In seinem Gedichtband Des Jardins hatte er das Grab in der Natur ge-
daß die Uberführung zur Kirche außer in Fällen von schriftlichem \(ider- feiert:
ruf die Regel war. Seit 1802 waren bereits wieder die großen Leichenbe- Venez ici, aous tous dont I'dme recueillie
gängnisse au{getaucht, die an die Prachtentfaltung des Ancien R6gime erin- Vit des tristes plaisirs de la mölancolie.
nerten - zur großen Befriedigung der Pariser, die sie wie einen Theaterbe- Voyez ce mausolöe ou le bouleau pliant,
such genossen und glaubten, daß diese Prunkparaden Handel und Gewerbe Lugubre imitateur du saule d'Orient,
förderten. "Man hat heute [9. Februar 1802] den Erzherzogvon Bouillon Aoec ses longs rdrnedux et sa f euille qui tombe
mit einem Gepränge zu Grabe getragen, wie es seit langem nicht mehr zu Triste et les bras pendants oient pleurer sur la tombe.
sehen war. Fünfzig Arme, in schwarzes Tuch gekleidet und mir Fackeln in
den Händen [das ist der Trauerkondukt von ehedem, wenn auch ohne die tovs... Kommt her, Ihr alle, deren andächtige Seele/ Sich von den rraurigen
Venez ici, lous
,§(/'onnen
der Melancholie nährt./ Betrachtet dieses Mausoleum, wo die biegsame Birke,/ Düste-
Bettelorden und Hilfspriesterl, eskortierren den Leichenwagen, der von rer Nachahmer der \fleide des Orients,/ Mit ihren langen Zweigen und ihrem traurig fallenden
sechs Pferden gezogen und von zehn Trauer- und zwanzig privatwagen Blattwerk/ Und ihren hängenden Armen über dem Grabe weint.

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gewählte Ort ist
Und wenn Ihr in eurem Garten weder Freundc noch Angehörige beizu- Dieser \üunsch ist nicht der eines Antichristen:Der
setzen habt, das verschlägt nichts: so nehmt Euch des (jrabes eines armen I
ge§/eiht wie ein Friedho{'
Landmannes an:
Que lieune soitpa,s une profane.eflcemte'
ce

Rougirez-vous d'orner leur hnnble söpulture ? Que lareligiony


ftpande l'eau sainte'
Pour consoler leur ztie, bonorez donc leur mort,
zum Zeichen des Grabes gewor-
D'unre piene moins brute bonorez son tornbeau, Und es soll dort ein Kreuz stehen' das
Tracez-y ses aertus et les pleurs du bameau . . . den ist:

Ihr werdet da einen bezaubernden Spazierweg entdecken: Et que de notre foi le signe glorieux ' ' '

M'assure de mon rö'Leil glorieux !


... Souoent un cbdrme inaolontaire
Vers les enclos sarös appellera oos yeux. 'Wenn man die Literatur durchmustert' Bewinnt man die Überzeugung'
eigenen Grund und Boden beigesetzt
daß offenbar iedermann auf seinem
scheint il'o Grabstätte der Armen und
Das Grab ist der unerläßliche Schmuck eines Gartens, es ist Gegenstand werden wollte. Der ftieJhof "' Landbesitz noch
und Ziel der Meditation. In einem solchen Grab, und nicht auf einem öf- i* ,"*fu.f.r.lig"r, Stadt"; geworden zu sein' die weder
fentlichen Friedhof, hat Delille sich vorausschauend ruhen sehen. Seiner Gärten außerhalb der Städte hatten'
Frau vertraut er an: 'W'ir kennen noch heute in Frankreich einige Fälle solcher 'Haus"-Grä-
erhalten' das Grab
ber. Eines hat sich in at' Naht von Aix-en-Provence
Zimmermannes' der dann Immobilienmak-
Ecoute donc, arant de me fermer lesyeux, f*.OfrS.c, eines fttlhtttn
"""geworden Grab in der
Ma dernidre priire et mes derniers adieux. ler v/ar' ein Vt'rnOgt" verdient und sein z-ukünftiges
ein außergewöhnliches
J e te l'ai d.it: au bout de cette courte oie Nähe seines Wohnhauses h'"t erichttn lassen:
ikonographische Herkunft aus dem
Maplus cltire espörance etrltaplus douce enaie Grabdenkmal, ei,, Ma"'okttm, dessen
worden ist' (a5)
C'est de dormir au bord d'un clair ruisseau F..i-"rr.rru- von MicheI Vovelle nachgewiesenStück Land von zwanzig
A L'ombre d'un oieux cböne ou d'un jeune arbrisseau. Chateaubriand ,pitltt mit der Idee' sich 'ein
der Grand B6n zu kau-
rr[ iing. .r{ ,*ölf Fuß Breite an der'Westspitze
einge-
mit einer die Erde nicht überragenden'
Das wird auf dem Lande der Fall sein: f6n. ,Ich vrürde diesen Raum
senkten Mauer umfasstt', ait itaigtith
mit einem einfachen Eisengitter be-
einen aus den Felsen am Strand
Dans le repos des cbamps placez monbumble tombe. deckt wäre. [' . .l lrn t"nttn *ü'd"t ich nur
geschnittenenG.at'it'ockelaufstellen'DieserSockelsollteeinkleinesEi- lch
noch Name noch Datum' [' ' ']
senkreuz tragen. Sonst weder Inschrift
. Saint-Malo den Ort meiner
Rougirez-oous.. Errötet ihr etwa, ihre bescheidene Grabstelle zu schmücken ?/Um ihrem
wünsch:. daß Hochwürden der Pfarrer von
Leben Trost zuzusprechen, ehrt denn ihren Tod,/ Mit einem weniger rohen Stein ehrt sein Grab,/ vor allem in heiliger Erde
Scbreibt hier seine Tugenden ein und die Tränen des §y'eilers. künftigen Ruhestätte ;;;t,denn ich möchte
Souvent . .. Häufig wird ein zufälliger Reiz/ Eure Augen unwillküriich auf die heiligen Stät- beigesetzt sein." (46)
ten lenken.
tcoute donc.. , Höre also, bevor Du mir die Augen schließt,/ Mein lerztcs Gebet und mein mag dort ihr
. Es mbge dieser Orr kein profaner Bezirk sein'/ Die Religion
letztes Lebewohl. / Ich hab' es Dir gesagt: am Ende dieses kurzen Lebens/l st meine liebste Hoff- Que ce lieu..
nung und mein süßestes Verlangen,,/ Am Rande eines klaren Bächleins zu ruhen,/ Im Schatten t'tä);ffi"i;:;:::'1", mich mich
einer alten Eiche oder eines grünen Strauches. <Jas glorreiche Zeichen unseres Graubens.../Möge
Dans le repos... Im stillen Frieden der F-elder legt mir mein geringes Grab rn. meines rerklirten Erwrchens vergewissern

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Diese Praxis der Privatbestattung geht wohlgcmerkt nicht auf eine fran-
Unweit von Bordeaux trif{t man mitten in den \Weinbergen von Entre-
zösische Initiative zurück. Sie hat wahrscheinlich sehr viel früher in
Eng- deux-mers am Straßenrand auf ein mit einem Gitter verschlossenes Grab
land eingesetzt und war dort zweifellos auf die Aristokratie beschränkt. so
und eine geborstene Säule: Grab der Familie X, 1910. Unter den Opferga-
hßt sich etwa die Familie Howard im Jahre 1729 imGarten ihres Schlosses
ben eine Erinnerung an die Erstkommunion. Eine Familie von Protestan-
ein "Mausoleumo nach dem Vorbild des Tempelchens von Bramante in san
ten? Konvertiten? Eine katholische Familie, die sich dem Brauchtum der
Pietro in Montorio erbauen. sie verbreitet sich dagegen ganz allgemein in
Protestanten anschloß, weil es das der Honoratioren war?
den englischen Kolonien in Amerika, zunächst in virginia. (42)
Jede Fami- Ist denn aber dieser Brauch der protestantischen französischen Länder
lie wurde auf ihrer eigenen Pflanzung beigesetzt. Im
Jahre r77:lharJeffer- wirklich spezifisch protestantisch? Täuschen wir uns nicht einfach, wenn
son Pläne für sein Grab in seinem Garren in Monticello (virginia) hinierlas-
wir ihn als unmittelbare Folge der heimlichen Beisetzungen des 18. Jahr-
sen, das noch an Ort und Stelle ist. Das Grab von §Tashington in Mount
hunderts auffassen? Die Protestanten hatten zu Beginn des 19. Jahrhun-
vernon hat zahlreichen Liebhabern von Friedhofslandschaften auf freiem
derts die gleiche lVahl zwischen kommunalem und privatem Friedhof wie
Felde als vorbild gedient. von Virginia aus hat sich der Brauch nach Neu-
die Katholiken, und wenn sie, wie viele andere auch, die Privatgrabstätte
England verbreitet, wo anfangs der cburchyarddie Regel war.
gewählt haben, so auch aus denselben Gründen, außerdem vielleicht aus
Es existieren heute noch einige dieser kleinen Familienfriedh ö{e in situ.
der für sie bezeichnenden Sorge, nur ja nicht mit den Katholiken vermischt
Im allgemeinen sind sie von den wuchernden suburbs des 19. un,J 20.
Jahr- zu werden (die Friedhöfe sind erst 1881 "neutralisiert" worden). Für Korsi-
hunderts einverleibt worden. Einer davon hat sich in Hyattsville in den
ka bleibt das Problem das gleiche, das es war - Korsika und die protestanti-
suburbs von §ü'ashington erhalten : der Friedhof der Familie Deakins, des-
schen Länder sind also Überbleibsel.
sen ältestes Grab das eines soldaten (1746-rg24)des unabhängigkeitskrie-
Überall sonst, in England, in den Vereinigten Staaten, ist die Privatgrab-
ges ist. viele aber sind von späteren Besitznehmern zerstört worden,
oder stätte gleichfalls aufgegeben worden. Der Hauptgrund war fraglos die Un-
man hat ihre häufig schönen beadstones a$ die cburcbyarls überführt,
um sicherheit der Konservierung des Grabes im Falle des Besitzwechsels, ein
ihre Konservierung sicherzustellen.
Fall, der in einer Epoche zunehmende sozialer Mobilität wie dem 19. Jahr-
Man muß sich fragen, wie es dazu gekommen ist, daß dieser Brauch in
hundert in Frankreich und mehr noch in den Vereinigten Staaten immer
Frankreich im Laufe der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderrs verschwunden häufiger wurde.
ist. Es existieren gleichwohl wenigstens drei Regionen, in denen er sich
bis Die Verwaltungsbürokratie, die das vom Prairial-Dekret anerkannte
auf unsere Tage erhalten hat. zwei sind protestantisch (die Charente und
Recht auf eine Privatgrabstätte nie sonderlich geschätzt hatte, hat die Stadt-
die Cevennen), eine katholisch (Korsika).
und Gemeinderäte zugunsten einer restriktiven Anwendung unter Druck
.lichYrn erklärt die protestantischen Grabstätten auf freiem Felde gewöhn- gesetzt. Gleichwohl drückten die Bürgermeister ein Auge zu. Der Verfasser
mit der nach dem rifiderruf des Edikts von Nanres einr.tr.r,d.i yl.ig.- von Jacquou le Croquant erzdthlt, daß der Geistliche Bonal, ein Pfarrer, der
rung, die Protesranten auf dem katholischen Friedhof als dem einzig auto"ri-
nicht die Gunst des reaktionären Klerus des beginnenden 19. Jahrhunderts
sierten beizusetzen. Diese Erklärung hat jedoch keine Geltung für i.orsika,
genoß, ,21n Ende der Allee fdes Gartens seines Hauses], unter dem großen
von dem ein einheimischer Schri{tsteller, Angelo Rinaldi, noch im
Jahre Kastanienbaum, der am Tage seiner Geburt von seinem Vater gepflanzt
1971, sagte:
"Ich stamme aus einem Land, wo man die Gräber unter großen worden war«, beigesetzt sein wollte. Die Annäherung von Geburt und
Kosten längs den Straßen erbaut, so wie man sich ein Auto kauft, u- d.n
Tod, §(iege der Heimaterde und Grab ist eines der Hauptthemen der ro-
Glanz seines Ansehens unter Beweis zu stellen." (ag) Es handelt sich dabei
mantischen Epoche. Die private Grabstätte war zwar nicht gänzlich legal,
in Korsika .ledoch um keinen alten Brauch. vor der Revorution wurden
aber der Bürgermeister "war nicht der Mann, der sich über einen kleinen
Bestattungen dort, wie überall anders auch, in den Kirchen oder ihrer un-
Rechtsbruch aufgeregt hätte, von dem er vielleicht nicht einmal wußte".
mittelbaren Nähe vorgenommen. Ersr zu zeiten von
Joseph sec und Delille Erst im Jahre 1928 (Dekret vom 15. März) ist der Prä{ekt dem Bürger-
hat man sich andere Gewohnheiten zu eigen gemacht. Bemerkenswerr ist,
meister in Fragen der Genehmigung von Beisetzungen außerhalb des öf-
daß man daran dann festgehalten hat.
fentlichen Friedhofes übergeordnet worden. Er delegiert seine Macht von

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Amts wegen an die Gemeinderäte, und zwar überall da, wo der Brauch Ehren eines Verstorbenen. Es wurde als eine Art Flugblatt gedruckt, und es
verbreitet ist und seit langem Geltung hat. Sonst verweigert er sie gewöhn- hat sogar den Anschein, daß man es während der Obsequien an den Kata-
lich, abgesehen von ganz außergewöhnlichen Fällen. Aber die öffentliche falk heftete. Es verdankt seine Herkunft sowohl dem entwickelten Epitaph
Meinung war in dieser Hinsicht bereits umgeschlagen. In unseren Tagen ist als auch der Lobeserhebung am Grabe. Es entsPricht dem, was wir in
mir der Fall einer älteren \üitwe bekannt, deren Gatte in der Charente in Frankreich ,le tornbeau littöraire* nannten. (50)
einem Familiengrab unter f reiem Himmel beigesetzt worden war. Die arme The Elegy von Thomas Gray, geschrieben im Jahre 1749, gehört dem
Frau nahm jahrelang alle erdenklichen Mühen auf sich, um dorthin zu äußeren Anschein nach zu dieser Gattung. Gleichwohl bleibt der Verstor-
kommen, und kehrte an regnerischen Herbsttagen häufig schmutzverkru- bene anonym, das Gedicht ist nicht auf einen konkreten Anlaß bezogen,
stet und todmüde heim. Sie hatte auch unter den Pressionen der neuen und der Autor hat die Form des Genres ganz offensichtlich als Ausdrucks-
Besitzer des Feldes zu leiden, die das Grab als Enklave störte. Schließlich mittel gewählt.
hat sie die Überführung des Grabes auf den Friedhof einer Stadt beantragt, Er hat das traditionelle Thema des Grabes oder des Verstorbenen durch
um es bequemer besuchen zu können. das des ländlichen Friedhofs ersetzt, des country cburcbyard. DerFriedhof
Derselbe Grund wurde ein Jahrhundert zuvor in Neu-England bei der und seine Poesie halten ihren Einzug in die Literatur. Zweifellos hatten sie
Schaffung eines Privat{riedhofes mehrerer Familien in Newhaven geltend bereits im Barock-Theater ihren angestammten Platz, aber nur' um das
gemacht: man gab zu bedenken, daß die Privatgrabstätten auf eigenem Schauerliche zum Ausdruck zu bringen, die Faszination oder die Angst vor
Grund und Boden keine gute Voraussetzung für die Instandhaltung und dem Schauerlich-Entsetzenerregenden. Hier ist der Friedhof ein Ort der
Konservierung böten und vom Verfall bedroht seien. Der Kult der Toten Ruhe und der besänftigenden Stille. Er hat Teil am Frieden des Abends,
hat die private Grabstätte wieder mit dem öffentlichen Friedhof als
"siche-
wenn der Mensch von den Feldern heimkehrt und die Natur sich zum
rem und unverletzlichemu Ort zusammengeführt. (a9) Schlummer legt.
Die besondere Lage der örtlichkeiten erlaubte es gelegentlich, das Grab Läßt man den Schluß des Gedichts beiseite, d. h. die eigentliche Elegie,
sowohl im eigenen Garten als auch auf dem Friedhof anzulegen, wenn die die Lobeserhebung des Verstorbenen, eines einsamen Spaziergängers, die
beiden benachbart waren. So liegt das Grab von General Chanzy in Buzan- zu unserem augenblicklichen Thema nicht allzuviel beiträgt' lassen sich vier
zy zwar auf Familienbesitz, öffnet sich aber auf den Friedhof hin. Es ist in Motive unterscheiden. Das erste ist das der Natur. Der kleine Friedhof liegt
die Einfriedungsmauer einbezogen. Dasselbe ist der Fall bei der Familie inmitten der Natur, zur Stunde des Abendläutens.
von George Sand, deren Schloß in Nohan eine gemeinsame Grenze mit der
Kirche hatte. Der für die Grabmäler der Familie bestimmte Teil des Garrens . . , All the air a solernn stillnes bolds
nahm sich also wie ein Annex des öffentlichen Friedhofs aus.
Der Dichter bleibt allein in der Abenddämmerung zurück:

Der Besuch auf dem Friedhof . . . And leaves the world to darkness and to me.

Der öffentliche Friedhof konzentriert also alle fromme Andacht auf die Die Gräber versinken beinahe im Rasen, unter Ulmen und Steineichen.
Toten. Er wird im 19. Jahrhundert, laut einer Formulierung eines amerika- Das zweite Motiv ist das der Klage um das verlorene Leben: ein traditio-
nischen Historikers, S. French, zur "kuhulgllen Institution., sogar zur re- nelles Thema, das hier jedoch auf neue Weise behandelt wird. Das Leben,
ligiösen, wie ich sagen würde. dem die Klage gilt, ist das einer Banzen ländlichen Gemeinschaft. Sie läßt
In 'iüirklichkeit hat diese Entwicklung bereits viel früher in England ein-
gesetzt. §(ir wissen nämlich (Kapitel 6), daß es dort seit dem 18. Jahrhun-
AIltheair... "Undtie{eFeyerstillehältdieLuft."Übertr.vonJ.G.Seume,Ges.Werhe,Bd.
dert Friedhöfe unter freiem Himmel mit sichtbaren Gräbern und Grabmo- l, Leipzig 41807, S. 6ff.

numenten gab. In England pflegte man auch die Elegie, das Gedicht zu And leaves.. . "Und läßt die Velt der Dunkelheit und mir." (Ders.)

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sich zusammenfassen in der Formel Arbeit - Familie - Natur (aber noch Namen, Datum, einer Elegie und einem Text aus der Heiligen Schrift ge-
nicht Vaterlandl;. schmückt war, eingegeben von ,irgendeincr ungelehrten Muse" : die head-
Natur: Die Toten werden die Natur nicht mehr genießen, sie werden die StOnes.
Gerüche der Morgenfrühe nicht mehr armen, den Hahnenschrei nicht Diese Grabdenkmäler dienten einem doppelten Zweck. Der eine ist tra-
mehr hören usw. Arbeit: Sie werden nicht mehr die Freude haben, ihr Ge- ditioneli und didaktisch: den rustic moralist sterben zu lehren' Der andere
spann zu führen, die störrische Erde zu besiegen usw. Familie: Sie werden ist der der Einladung des Vorübergehenden, aber nicht der Einladung' für
nicht mehr ihren Platz am Feuer einnehmen, ihre Frauen werden sich nicht diese Toten da zu Gott zu beten, sondern sie zu beweinen, und das ist ein
mehr um sie sorgen, die Kinder sich nicht mehr auf sie srürzen, um sie bei gänzlich neuer Zug'. der Besuch auf dem Friedhof ,

der Heimkehr zu empfangen (tbeir sire's return),und ihnen nicht mehr auf Denn die Toten haben nicht alle Empfindungsfähigkeit eingebüßt, sie
die Knie klettern, um des beneideten Rechtes willen, sie zu umarmen. schlafen, und in ihrem Schlaf bedürfen sie unserer I ihre Seelen, 'the parting
Das dritte Motiv ist das der aurea medioctitas des mittleren Pfades, der sorzlso, ersehnen sich ein liebendes Herz, ebenso wie ihre von Erde bedeck-
Mäßigkeit, die durchaus dem Glück ähneln kann. §(ir stoßen hier auf ein ten Augen sich mitfühlende Tränen erhoffen' Das Grab ist nicht leer: "Aus
entferntes Echo des ubi sunt, des contemptus mundi, der Hinfalligkeit von der Tiefe der Gruft erhebt die Natur ihre klagende Stimme." Das Feuer des
Reichtum und Ehren, aber im umgekehrten Sinne, als Negativ. §(ohl er- Lebens lodert unter ihrer Asche:
kennt der Dichter an, daß "der P{ad der Ehre doch nur ins Grab führt",
aber nur, um die W'onnen eines ruhm- und namenlosen Geschicks zu prei- E'en t'rom tbe tomb the aoice of Nature cries,
sen, das von Großtaten wie Verbrechen gleich weit entfernt ist. Seine Bau- E'en in our asbes lioe tbeir uonted t'ires'
ern stehen außerhalb der Geschichte:
Gedenken und unsterbliche Seele einerseits, ungreifbares unterirdisches
Tbey hept the noiseless tenor of theirroay. Überleben andererseits: die beiden ersten Aspekte können des Grabes ent-
raten, der letzte macht es zum Ort einer physischen Präsenz. Beide Dimen-
Das letzte Motiv ist das des Grabes und seiner Poesie, des vertrauren sionen vereinen sich und fallen im Grab zusammen, zu dem man kommt,
Umgangs von Lebenden und Toten. In erster Linie ist der Friedhof die Erde um sich zu sammeln, zu gedenken, zu beten und zu weinen.
der Ahnen: eine Idee, die wir in Frankreich in den Dokumenten aus der Der Friedhof des 19. Jahrhunderts ist zum Besuchsziel geworden, zum
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vergeblich suchen würden und die Ort der Meditation. Delille sagt, an seine Frau ge*'endet:
dort erst um 1800 auftaucht. Hier wird sie in zwei wunderbaren Versen mit
einem Beiklang von Barrös verdichtet: Toi, piens me aoir dans mon asile sombre ,
Lä parmi les rameaux balancös mollement
Each in bis nanow cell t'orever laid, La douce illusion te rnontrera mon ombre
Tbe rude Forefatbers of tbe hamlet sleep. Assise sur mon monume nt.
Li quelquefois, plaintiae et dösolöe,
Arme und ein{ache Menschen also, die nicht einmal immer lesen und Pour me cbarmer encore dans mon triste sö jour,
schreiben konnten, aber durchaus ihre \(ürde hatten. Keine Siegeszeichen Tu aiendras visiter au döclin d'un beau jour Inach Th. Grav
auf den Gräbern; dennoch waren sie nicht völlig schmucklos, jedes hatte die angemesse neZert),
sein memorial, das mit einer linkischen Skulptur und mit einem Epitaph mit
E'en from the tomb ., . "Auch aus dem Grabe ruf t Natur ihr Lie d,,/Und in der Asche lebr die
ahe Glut."
They hept... "Geräuschlos wandeken sie ihren Gang." Toi, aiens me voir. .. Geliebte Du, statte meinem dunklen Asyl Deinen Besuch ab,/Dort,
Each in bis . . "[An dieser Ulme. . .] Ruhn rohe Ahnen in dem engen Raum,/Die in
nanou. unrer den sanft gewiegten Zweigen,/ vird Drr das süße Trugbild meinen Schatten zeigen,/§üie er
dem kleinen Dörfchen einst gelebr." auf meinem Grabmal sitzt. - Dort wirsr Du manchmal, klagend und trostlos,/ §y'enn ein schöner

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Mon poötique mausolöe. verbrachte aber doch seine Abende und zum Teil sogar seine Nächte auf
Et si jamais tu te reposes dem Friedhof, »am häufigsten abends oder sehr fri.ih morgens, bevor ande-
Dans ce söjour de paix, de tendresse et de deuil, re Leute kamen. [. . .] Et rief sie sich in Erinncrung, er beschwor ihr Anden-
Des pleurs versös sur mon cercueil ken mit brennender und zärtlicher Liebe, voller Hoffnung, er sehnte sich
Chaque goutte en tombant fera naitre des roses. nach der besseren Welt, in der sie, wie er nicht zvleifelte, Aufnahme gefun-
den hatte.u Am Jahrestage ihres Todes blieb er bis nach Mitternacht.
Nur wenig später wird Lamartine das Grab von Elvire in der Hoffnung In Frankreich verbringen in den letzten Jahren des Jahrhunderts die Ge-
aufsuchen, es möge ihm gelingen, sie wiederzusehen - Illusion oder Rea- stalten L6on Bloys einen beträchtlichen Teil ihres Lebens auf dem Friedhof.
lltat / Sicher können sie nicht als sehr ausgewogene Persönlichkeiten gelten' Aber
das Leben besteht eben nicht nur aus vernunftbestimmtem Verhalten, und
Viens guidermes pasvers latombe ich habe selbst einen alten Hagestolz gekannt, der sehr spät geheiratet hatte
Oü ton rayon s'est abalssi [es ist vom Mond die Rede] ; und jeden Tag ans Grab seiner Mutter eilte, seine Frau mitschlepPte und
Oir cbaque soir mon genou tombelder tägliche Besuchl sonntags dort das Baby spazierenfuhr.
Sur un saint nom presque effacö. La Femme pauvre (1897) von L6on Bloy : "Sie verbrachte BanzeTage in
der Kirche und am Grabe des unglücklichen Garcougnal, ihres Wohltäters,
Die Verstorbenen können überall wieder in Erscheinung treten, vor al- dessen Tod sie ins Elend gestürzt hatte."
lem in den Häusern, in denen sie gelebt und die sie geliebt haben, und in Ldopold und Clotilde gehen zum Friedho{ von Bagneux' wo ihr Kind
ihren alten Zimmern. Im 19. Jahrhundert aber haben sie eine deutliche Vor- bestattet liegt. "Es bedeutet für sie immer eine Erleichterung, dort spazie-
liebe für den Friedhof, an dessen Stelle im 20. Jahrhundert das Zimmer tritt. renzugehen. Sie sprechen mit den Toten, und die Toten sprechen auf ihre
Die Pfarrer der amerikanischen Erbauungsliteratur gehen noch im Jahre Weise mit ihnen. Ihr Sohn Lazare und ihr Freund Marchenais liegen da, und
1873 zum Friedhof, um Umgang mit ihren Toren zu pflegen. die beiden Gräber werden von ihnen liebevoll gept'legr. Manchmal gehen sie
"Nachdem
Reverend Cuyler einen Nachmittag auf dem New Yorker Friedhof Green- zu einem anderen Friedhof und knien dort nieder, wo Garcougnal und Isle
wood am Grabe seines Sohnes verbracht hatte, richtete er einen Abschieds- de France beigesetzt sind. Aber das ist ein langer \tr(eg, der ihnen ausZeit-
gruß an ,Little Georgig,, der aber nichts Endgültiges hatte: ,Die Luft war gründen häufig nicht möglich ist, und der große Ruheplatz von Bagneux,
ebenso still wie die zahllosen Ruhenden, die mich umgaben. Mich der heili- der nur zehn Minuten von ihrem Haus entfernt liegt, gefallt ihnen vor allem
gen Stätte zuwendend, wo mein kostbarer Toter lag, sagte ich ihm wie sonst deshalb, weii er der Friedhof der Armen ist. Die immerwährenden Ruhe-
auch immer good nigbt., Greenwood war für ihn lediglich ,ein großer und stätten sind dort selten, und die alle fünf Jahre aus ihren Bretterlagern her-
sehr schöner Schlafsaal.." (51) ausgerissenen Gäste werden in krausem Gemisch in ein anonymes Bein-
Es ist müßig anzunehmen, daß Edgar Linton, eine der Hauptpersonen haus gewor{en. Andere Neuankömmlinge bedrängen sie bereits und haben
von Wutbering Heights, die Absicht gehabt hätte, seine Frau zum \ü'ieder- Eile, sich ihrerseits der Zuflucht unter der Erde zu versichern. Die beiden
erscheinen zu veranlassen, im Gegensatz zu seinem Rivalen Heathcliff ; er Besucher hoffen sehr, daß es ihnen vor Beendigung dieser Frist, vor Ablauf
dieser anderen Mietzeit möglich sein wird, denen, die sie so sehr geliebt
haben, eine dauerhaftere Bleibe zu verschaffen." Und doch sind sie Katho-
Tag zur Neige geht,/ Um mich noch an meinem traurigen §(ohnsitz zu erheitern,/Mein poeti- iiken von einer absoluten und aggressiven Orthodoxie und glauben an die
sches Mausoleum in Augenschein nehmen. - Und wenn Du jemals Dich/ An diesem Ort des Auferstehung der Toten! "Sie selbst, das ist richtig, können bis dahin ster-
Friedens, der zärtlichen Liebe und der Trauer ausruhend niederläßr,/ So wird jede Träne, die Du
ben. Der rVille Gottes geschehe! Immer aber bleibt die Auferstehung der
au{ meinem Sarg vergießt,/ In ihrem Fall Rosen erblühen lassen.
Viens gwid,er .. .
Toten gewiß, die keine Verfügung voraussagen noch verhindern können
"O leite hin mich zu dem Grabe,/ Auf dem Dein Strahl sich niederließ,/ Da
jede Nachr gekniet ich habe/ Auf einem Namen, heilig, süß.. Ubertr. von G.Herwegl., A. de L.s wird." Ihr Glaube mindert gleichwohl nicht ihre Sorge um eine "dauerhafte
sämmtlicbe Schrit'tez, Bd. I, Stungart 1839, S.205. letzte Bleibe". Und L6opold, dieser "integristische" Katholik, wie man

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heute sagen würde, besucht die Friedhöfe mit der Andacht der Menschen Mais ton ombre tressaille au milieu des qtprös;
der Aufklärung beinahe ein Jahrhundert zuvor, mit der Andacht der Revo- Tes enfants t'ont rendu l'öpoux que tu pleurais. (1821)
lutionäre, die er doch verabscheut. Mehrmals u.töchentlich geht Leopold
von einer seiner bevorzugten Grabstätten zur anderen, jätet das Unkraut Die Präsenz dieses Schattens lädt die Lebenden ein, das Grab zu besu-
aus und schmückt die Gräber mit Blumen, »trunken vor Freude, wenn er chen und instandzuhalten.
eine neue Rose, eine neue Kapuzinerkresse findet [. . .], besprengt sie mit Ein langes Epitaph gilt einem im Jahre 1823 verstorbenen vierjährigen
zarter Hand und vergißt darüber die §flelt, verspätet sich ganze Stunden, Kind:
vor allem am kleinen weißen Grab seines Kindes, mit dem er liebevoll
Dans ce triste tornbeau, tu dors, ö mon enfant !
spricht [wie zwanzig Jahre zuvor der Vater von ,Little Georgie. auf dem
Ecoute, c'est ta rnöre ! Ö rna seule espörance !
Greenwood Cemetery], dem er mit halblauter Stimme das Magnificatod,er
Röoeille-toi, iamais tu ne dors si longtemps.
das Aoe Maris Stella vorsingt".
Die Epigraphie sprach dieselbe Sprache wie die Autoren von Büchern.
Ein anderes Kind im Alter von zwölf Jahren:
Seit dem 16. und 17. Jahrhundert, vor allem aber im 18., haben wir die
Tendenz beobachten können, der Lobeserhebung, der Biographie und der Va complöter la cöleste Phalange,
Genealogie (Kapitel 5) die Abschiedsklage hinzuzufügen. Vährend der er- Alphonse, Dieu t' appelle, il lui manquait un ange.
sten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die Epitaphien, wie im vorhergehen-
den, lang, wortreich und sehr persönlich gefärbt. Diese Pariser Epitaphien legen denselben Stil, dieselbe Art von Inspira-
Es haben sich auf den neuen, vom Jahre XII (1803/04) an geschaffenen tion und dieselbe Hoffnung auf ein himmlisches \{iedersehen an den Tag
Friedhöfen hinreichend viele Gräber der Zeit erhalten, so daß sich der Dis- wie die amerikanische Trost- und Erbauungsliteratur. In der Mehrzahl der
kurs der Hinterbliebenen dem Stein direkt ablesen läßt. Die Zeitgenossen Fälle spielt eine Formulierung auf die baldige §(iedervereinigung des Hin-
ihrerseits haben sich ebenfalls für diese epigraphische Literatur interessiert, terbliebenen und des Verstorbenen an:
wenn auch nicht, wie ihre Vorgänger im Ancien R6gime, aus genealogi-
schen Gründen, sondern weil sie ihrer Vorliebe für die sentimentale Über- Je ois pour la pleurer et k ioindre au tombeau.
steigerung im allgemeinen und für das Makabre im besonderen entgegen-
kam. Die Autoren von Friedhofsführern haben eine kleine Blütenlese dar- Er lielS dieses bescbeidene Grabmal zum Gedenhen seiner würdigen und
aus zusammengestellt. acbtbaren Gattin erichten, in der Hoffnung, hier in Ewigheit mit ihr oer-
Hier einige Auszüge aus dem Vöritable Conducteur aux cimetiires du eint zu sein (1820).
Pöre-Lacbaise, Montmartre, Montparnasse et Vdugirdrd von 1836. Die
darin gesammelten Epitaphien stammen folglich aus dem ersten Drittel des Es kam vor, daß der Verfasser einer Grabschrift einen alten Familienhaß im
Jahrhunderts. "Wir machen hier zum wiederholten Male die Anmerkung, Stein verewigte. So erklärt dieser unglückliche Vater im Jahre 7819 coram
daß ein Großteil der Epitaphien, denen wir begegnen, nahezu ausnahmlos publico, daß seine Tochter als ,oictime d'un hymen malheureux" (Opfer
den Gattinnen und Kindern gewidmet ist."
Vie in den oben zitierten Versen von Lamartine wird auch hier still- Pour la premiire fols . . . Zum ersten Male f liehst Du uns, o meine Mutter !/ Der unbarmher-
schweigend vorausgesetzt, daß der Schatten des Verstorbenen in dem klei- zige Trrd hat Deine Lider erstarren lassen,/ Aber Dein Schatten webt inmitten der Zypressen;/
nen Hain, dem Stück Natur im unmittelbaren Umkreis des Grabes Deine Kinder haben dir den Gatten zurückgegeben, den Du beweintest.
Dans ce iiste tombeaL .. . ln diesem traurigen Grab schläf st Du, mein Kind l/ Höre, es ist
umgeht:
Deine Mutter! O Du meine einzige Hoffnungl/ Erwache doch, nie schläfst Du sonst so lange.
Va completer.. . Geh und reihe Dich in die himmlischen Heerscharen ein,/ Alphonse, Gott
Pour k premiire fois tu nous t'uis, 6 ma mire ! ruft Dich, es fehlte ihm ein Engel.
L'impitoyable mort a glacö ta paupiire, Je ais... lch lebe, um sie zu beweinen und mich im Grab mit ihr wiederzuvereinen.

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einer unglückseligen Ehe) gestorben sei. Der über diese Publizität erboste Leben währte, möge nun auch in Ewigkeit das erhabene Reich des Him-
Schwiegersohn erzwang auf dem Rechtswege eine Korrektur der Inschrift. mels vereinen).
'Wenn lWährend eines ganzen langen
es sich nicht um eine Frau oder ein Kind handelte, sondern um Jahrtausends hatte man, aus einer Mi-
einen Mann, so wurden die beruflichen Verdienste mit den häuslichen Tu- schung von Scham und Gleichgültigkeit, angesichts dieser Zurschaustel-
genden und die Abschiedsklagen der Untergebenen mit denen der Familie lung gezögert, außer - im Frühmittelalter und später noch im Süden und in
verknüpft. ländlichen Gegenden * in der Stunde des Todes : der Stunde der Klagenden.
So wurde dieser'§?agenvermieter sowohl von seiner Familie als auch von Seit dem 13. Jahrhundert waren diese exzessiven Schmerzesäußerungen
seinen Lohnkutschern beweint : verdrängt und ritualisiert worden. Umgekehrt fühlte man, und zwar we-
nigstens seit dem 18. Jahrhundert, wieder das Bedürfnis aufsteigen, seinen
Oh le meilleur des fik, des öpoux le plt4s tendre, Schmerz herauszuschreien, ihn öffentlich über dem Grab kundzutun, das
Des pöres le phönix, puisses-tu nous entendre ! damals wurde, was es nie zuvor gewesen war, der bevorzugte Ort des Ge-
Tes parents,tes amis et tes subordonn6s denkens und der Klage.
Vioront et rnourront tous '§üährend
tes aft'ectionnös. des ganzen 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erhält sich
Ils pleurent avec nous, ils humectent ta cendre, dieses Gefühl, wenn sich der Stil auch allmählich wandelt: immer mehr
Mais nos krmes, hölas ! ne doiaent te surprendre, lange Versgedichte, immer mehr endlose Lobeserhebungen, immer weniger
Crois, notre cher Bagnard, ä nos oioes douleurs, persönliche Details. Aber immer die gleichen Anredeformen. Das Genre
Ab ! ton dernier soupir repose dans nos ceurs. wurde in dem Maße vulgarisiert, wie die Zahl derer, die sich verp{lichtet
fühlten, ihr Au reooir am Grabe ihrer Toten anbringen zu lassen, größer
Es handelte sich hier um einen Kleinunternehmer; das Epitaph eines wurde. Die Grabsteinhändler haben den Familien dann vorgefertigte For-
Großindustriellen, des am 22. April 1 806 verstorbenen M. Lenoir-Dufres- meln an die Hand gegeben, die auf gezwungenermaßen konventionelle und
ne, ist bündiger, aber auch "erhabener": "Mehr als fün{tausend Arbeiter, banale Veise Gefühle zum Ausdruck brachten, die doch ganz authentisch
die sein Genie ernährte, die sein Beispiel ermutigre, sind gekommen, um an und persönlich waren: »regrets eternels« ("in unaussprechlicher Trauer"),
seinem Grabe einen Vater und Freund zu beweinen.. auf Emaille-Täfelchen gemalt, die man ein{ach auf das Grab legte, manch-
In ihrer naiven und geschwätzigen Art und Weise, die wir heute für lä- mal zusammen mit dem Photo des Verstorbenen und einer Vidmung der
cherlich und scheinheilig zu halten versucht sind ("Ein einziges \(esen fehlt Kinder oder Angehörigen. Unsere heutigen Friedhöfe in Frankreich sind
6ugh", parodierte Giraudoux Lamartine, "und alles ist wieder wonnetrun- voll davon, und in Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland hat sich
ken" frepeuplö, im Gegensatz zuLamartines d,6peuplö;d. übers.l), bringen diese Angewohnheit in weiten Kreisen der Bevölkerung noch immer nicht
die Epitaphien des 19. Jahrhunderts ein reales und tieies Gefühl zum Aus- verloren-
druck, das der Historiker zu belächeln kein Recht hat. Eingeräumt sei, daß Sie legt Zeugnis ab von einem Gefühl, das um so stärker gewesen sein
das Latein, wie es noch in der folgenden römischen Grabschrift von 1815 muß, als es von den Kirchen nicht mehr gefördert wurde. Diese hatten
benutzt wurde (Sant' Eustachio in Rom), ihnen eine ganz andere Mäßigkeit nämlich im 19. Jahrhundert die Zuneigung der Lebenden für ihre Toten
auferlegte: "Quos amor et pietds junxit dum vita manebat, in aeternum und ihre Vorliebe für die Grabschriften und -Beigaben gebilligt und über-
coeli jungat et aha dornus" (Die Liebe und Frömmigkeit einte, solange das nommen. Die Gräber wurden wie kleine Kapellen geschmückt, die mit
Frömmigkeitsattributen, mit Kreuzen, Kerzen, mit "Andenken an Lour-
Oh le meillew des/jÄ . . . O Du bester aller Söhne, der Ganen zärtlichster,/ Phönix unter den des" und die "Erstkommunion« vollgestopft wurden. Der Kult der Toten
Vätern, könntest Du uns nur hören!,2 Deine Angehörigen, Deine Freunde und Angestelben/
schien den Priestern bei einem guten Christen nur natürlich, und die redun-
werden als Dir sämtlich treu Ergebene leben und sterben./ Sie weinen mit uns, ihre Tränen netzen
Deine Asche,/ Unsere Tränen aber dürfen Dich, leider!, nicht in Erstaunen setzen,,/ Glaube,
danten und pathetischen Epitapien wurden als ebenso bedeutsame Glau-
lieber Bagnard, an unseren tiefempfundenen Schmerz./ Ah ! Dein letzter Seufzer ruht in unseren benszeugnisse gewertet, die überdies im Stil der religiösen Literatur der
Herzen. Zeit abgefaßt waren. Manche Priester aber, und darunter die reaktionär-

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sten, waren damais im Namen der Rechrgläubigkeit beunruhigt. Sie arg- sich jedoch und mußten bald so augenfällig werden, daß sie zwei große
wöhnten, mit Recht, in diesen allzu laizistischen Außerungen den Deismus Kulturkreise bezeichneten.
der Au{klärung. Mr Gaume mißbilligte diese Epitaphien, in denen "die Der erste ist bekannt - der Pöre-Lachaise; das Terrain von Mont-Louis
Einfalt gegen den Naturalismus kämpft", bereits in den Jahren um 1880. war im Jahre 1803 erworben worden, um den Cimetiöre de Sainte-Margue-
(52) Aber diese Rhetorik stand bereits allzu sehr mit der frommen Andacht rite zu ersetzen. rVohlgemerkt: Er lag damals außerhalb von Paris und war
für die Toten im Bunde, ais daß man die eine gegen die andere hätte ausspie- nach dem Vorbild der Champs-Elys6es als englischer Garten, mit vielen
len können. Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts haben die Geistlichen Bodenwellen und Baumbeständen, entworfen worden, in denen die schö-
nicht mehr gezögert zu verbrennen, was sie ehedem gebilligt oder sogar nen Grabdenkmäler im Grün versanken. Dorthin überführte man einige
gefördert hatten. So wurde im Jahre 1962 erne fünfundsiebzigjährige Frau erlauchte sterbliche Überreste, so die angeblichen Reliquien von Abälard
von einem kirchenrechtlichen Komitee der anglikanischen Kirche gezwun- und Heloise; von Anfang an gehörte der Pöre-Lachaise mit den neuen
gen, auf dem Grabe ihres Gatten die folgenden, im Vergleich zur romanti- Friedhö{en von Montmartre und Montparnasse zu den Sehenswürdigkei-
schen Eloquenz nachgerade schwachen Formulierungen zu tilgen: "Auf ten der Hauptstadt. Noch heute hat er sich in seinem alten Teil seinen ro-
immer in meinen Gedanken." mantischen Reiz bewahrt. Seine Geschichte ist hinlänglich bekannt und
"Ich hielt die Inschrift für angemessen", gab sie zu bedenken. "Mein wird in allen bekannten Werken über Paris geschildert. Er ist das zu Beginn
Mann war für mich alles.o Aber Reverend D. S. Richardson, der als Proku- des 19. Jahrhunderts gleichsam voraussehbare Ergebnis von Erwägungen
rator fungierte, antwortete: "In dieser Zeft des Heidnischwerdens der Lei- und Projekten, die einander seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
chenbegängnisse ist es dringend erforderlich, daß die Kirche eine feste iagten und von uns oben analysiert worden sind.
christliche Haltung einnimmt. Wir sind. der Meinung, dall starke Ausbrücbe Das zweite Modell ist amerikanisch und liegt zeitlich etwas später, näm-
oon Zuneigung oder Herzeleid deplazicrt sind." (53) lich 1 811 . Es handelt sich um den Friedhof von Mount Auburn in Massa-
Zur gleichen Zert trugin Frankreich ein katholischer Priester eine ganze chusetts. Seine Geschichte ist weniger bekannt als die des Pöre-Lachaise.
Sammlung von Epithapien dieser Art mit demZielzusammen, ihre Lächer- Sie wird mit aller Ausführlichkeit in einem Beitrag zu einem Sammelband
lichkeit und darüber hinaus ihr Heidentum unter Beweis zu stellen. Die mit dem Tite| Deatlt in America (herausgegeben von D. E. Stannard) be-
Sentimentalität des 19. Jahrhunderts wurde so zum Gespött und gleichzei- richtet: "Der Friedhof als kulturelle Institution: Die Anlage von Mount
tig als Maske bürgerlicher Eitelkeit und bürgerlichen Klassengeistes denun- Auburn und die Landfriedhofsbewegung uor, 5. p.sn6h." (55)
ziert. In der'§ü'erbeanzeige scheute der ebenfalls katholische Verleger nicht Seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts be{aßten sich die Ame-
vor dem \flortspiel , La röalitö döpasse I'affliction" (die Wirklichkeit über- rikaner, wie die Franzosen des 18. Jahrhunderts, mit der Situation ihrer
trifft den Kummer: affliction (Kummer):/a fiction (Fiktion, Einbildung Friedhöfe, mit der Ungebührlichkeit der Beisetzungen und ihren Gefahren
[5a]). Das spontane Bündnis des 19. Jahrhunderts zwischen laizistischem für die Volksgesundheit. Privatleute schlossen sich zusammen, um Privat-
Kult der Toten und Klerus der Kirchen wird heute erneut in Frage gestellt. friedhöfe zu gründen, auf denen sowohl die Nachteile der Bestattung auf
eigenem Grund und Boden als auch die auf einem öffentlichen Friedhof
ausgeschaltet werden sollten, die beide allen möglichen §(echselfällen aus-
Der rural cemetery. gesetzt waren. Der Friedhof vrar nicht, wie in Frankreich, Gemeindebesitz.
Der ausgestaltete Friedhof Sie konnten also private Gesellschaften bilden, um den Friedhof als non
profit institution anzulegen und zu betreiben, der der Ruhe und des immer-
Die neuen Friedhöfe waren zu Besuchszielen geworden, wo Angehörige währenden Bestandes sicher sein durfte.
und Freunde sich am Grabe ihrer Toten zu versammeln pflegten. Sie muß- Sehr bald schon hatten die ursprünglichen Motive von Anstand und Hy-
ten dieser Funktion aiso angepaßt und folglich vorausschauend erweitert giene einem größeren Entwurf zu weichen, nämlich dem, die Bleibe der
werden. Zwei Modelle wurden damals erarbeitet, die einander aus der Per- Toten in eine "kulturelle Institution" für die Lebenden umzuwandeln, die
spektive ihrer Förderer ziemlich nahestanden; ihre Differenzen steigerten ihn zu besuchen und dort zu meditieren vorhatten.

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Damals hat das \lort cemetery sich anstelle von cburchyard oder gra- traurigen Mutter entschlafene Kinder, Engel, im Gebet versunkene
oeyard durchgesetzt. §fie bei der Eröffnungsansprache im Jahre I 83 1 geäu- Frauen. .. (56)
ßert wurde, ,kann er manchen der höchsten Ziele der Religion und der In Virklichkeit ähnelten die rural cemeteries anfangs sehr weitgehend
Menschheit dienen. Er kann Lehren erteilen, die niemand zurückweisen den europäischen Friedhöfen und dem Pöre-Lachaise: die Grabdenkmäler
darf, die jedes lebende '§ü'esen beherzigen muß. Er ist eine Schule der Reli- ragten aus einem dichten Pflanzenteppich auf . Im Lau{e der zweiten Hälfte
gion und der Philosophie.. des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts hat sich die Entwicklung in
Dieser Friedhof ist also zunächst einmal eine philosophische Anstalt. Er Amerika jedoch zugunsten der Natur und zum Nachteil der Grabkunst
lehrt, daß der Tod nicht nur einfach Zerstörung ist, sondern "daß er zu verschoben. Man verzichtete auf die eisernen Grabeinfassungen, mit denen
einem anderen Ziel beiträgt, nämlich der Reproduktion: der Kreislauf von der Friedhof gespickt war. Man zog die beadstones, die man für ange-
Schöpfung und Zerstörung ist ewig" (1831). stammtes Brauchtum hielt, den als prätentiös geltenden Grabdenkmälern
Deshalb ist der Friedhof als Naturlandschaft angelegt. Man nennt ihn vor. Das ging ganz allmählich vor sich. Im 20. Jahrhundert wurden dann
einen rural cemetery, und der Ausdruck dient künftig zur Bezeichnung schließlich sogar die bescheidenen beadstones und t'ootstones durch diskrete
aller nach dem Vorbild von Mount Auburn angelegten Friedhöfe. Steintafeln oder Metallplatten ersetzt, die einfach nur den Lageplatz des
In zweiter Linie ist der Friedhof eine patriotische und bürgerliche Insti- Grabes markierten.
tution, wobei diese Funktion in den Eröffnungsreden hartnäckig hervorge- Seither wurde der Blick über den Friedhof und die Kontinuität der Ra-
hoben wird; wie S. French sagt, muß er "ein Gefühl der historischen Kon- senfiäche von keinem erhabenen Körper mehr gebrochen. Auf diese Veise
tinuität, der gesellschaftlichen'§(urzeln" vermitteln oder, laut einer Formu- ging man vom rural cemetery des 19. zum kutn cemetery des 20. Jahrhun-
Iierung eines Redners des Jahres 1848, das Ge{ühl etnes immerwäbrenden derts über, d. h. zur weitläufigen Grasfläche, in der die kleinen Grabplatten
Zubauses. "Niemand wird je den Ort vergessen, da sein Vater, seine kaum mehr wahrnehmbar waren.
Freunde bestattet liegen, wenn dieser Ort den Zauber hat, der das Herz In Amerika machte der Friedhof also immer weniger den Eindruck eines
anrührt und den Geschmack zufriedenstellt, und hätte die Erde, die sie churchyard 'tnd wirkte immer mehr wie ein Garten. Ebendeshalb diente er
birgt, auch sonst keine Lockung, so wäre sie den Lebenden doch gerade aus auch den städtischen Parks als Vorbild, so etv/a dem Central Park in New
diesem Grunde immer teuer" (1855). York (1856 [57]).
Der rural cemetery ist schließlich eine moralische Anstalt: er macht je- Umgekehrt ist es auf dem Pöre-Lachaise die Natur, die sich der Kunst hat
dermann weiser und ernsthafter, vor allem die Jungen. beugen müssen. Anfangs waren seine Parkflächen weitläufig wie in Mount
Im Grunde waren die Pläne der Gründer des raral cemetery gar nicht so Auburn, wenn auch die Grabdenkmäler dort zweifellos bereits mehr ins
weit von denen der französischen Projekte- und Pläneschmiede vom Be- Auge fielen.
ginn des 19. Jahrhunderts entfernt, und Mount Auburn unterscheidet sich '§ü'enn
auch im ältesten und am höchsten gelegenen hügeligen Teil Anlage
nicht sehr vom Pöre-Lachaise in seinen ersten Planungsstadien. Beide Ty- und Idee des Parks gewahrt geblieben sind, so wurden doch gerade in den
pen sind Gärten mit Grabdenkmälern. Sie sollten sich jedoch voneinander tieferliegenden und flacheren Abschnitten die Gräber dicht aneinander ge-
trennen und zwei verschiedene Entwicklungslinien anbahnen. drängt, und mit einem Park besteht nicht mehr die geringste Ahnlichkeit.
Die Beziehung zwischen Natur und Grabdenkmälern verwandelt sich Die Inbesitznahme des Friedhofs durch den Stein der Grabmäler war
ins Gegenteil. Auf dem alten Mount Auburn wie auf den rural cemeteries bereits zur Mitte des Jahrhunderts weit vorangeschritten, so daß die Zeitge-
der Zeit waren die Gräber entweder neo-klassizistische Stelen, headstones, nossen sich des Gegensatzes zwischen den beiden Modellen durchaus be-
die zuweilen innerhalb einer eisernen Einfassung gruppiert wurden wie auf wußt wurden, wobei die Anhänger des rural cemetery dem Pöre-Lachaise
den country cburcbyards oder den Privatfriedhöfen, oder skulptierte, mit die Prätention seiner Grabdenkmäler vorwarfen.
realistischen Personen geschmückte Grabdenkmäler, ähnlich denen, wie Der Mount Auburn wurde in Amerika und England unverzüglich imi-
man sie seit der Mitte des Jahrhunderts auf den {ranzösischen und italieni- tiert (Abney Park in London, 1840), wobei derTyp desruralcemetery,in
schen Friedhöfen anlegte: Büsten von Männern, in der Umarmung einer dem sich das Grab in der Landschaft verliert, in dem Maße, daß es schließ-

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lich sogar mir dem Rasen verschmiizt, geographisch weite Verbreitung Friedhof ist also eine kleine Stadt aus Stein, mit dichtgedrängten Häusern
fand. Ziemlich bemerkenswert ist, daß dieses Modell den cburcbyardvon und zwei wie zufällig gewachsenen Zypressen: das ist sehr häufig, wenig-
Thomas Gray, der auf diese \Weise rehabilitiert wurde, fortsetzt - oder wie- stens nördlich der Loire, der äußere Zuschnitt der französischen Friedhöfe
dereinführt bzw. rekonstituiert. Ein schönes Gemälde im neuen Museum auf dem Lande, wenn sie, nach geltendem Recht, außerhalb der Stadt in eine
von Brest stellt einen Besuch am Grabe Shelleys dar, und zwar auf dem Art traurige Vorortgegend verlegt worden sind.
wunderbaren protestantischen Friedhof von Rom, an der Piazza Ostiense : Es ist {ür einen heutigen Franzosen oder "Kontinentaleuropäer" durch-
eine romantische Oase in der klassischen und barocken Sadt, ein rural aus nicht leicht, sich die Beziehung verständlich zu machen, die ein Mensch
cernetery in Miniatur. des ausgehenden 1 8. Jahrhundert zur Natur unterhielt. Er neigt dazu, diese
Der Besuch auf dem Friedhof ist auch in der amerikanischen Malerei Beziehung für literarisch, ästhetizistisch, kurz (denn das ist heute das
kein unbekanntes Thema. In der \iü'aiter's Art Gallery in Baltimore zeigt ein Schimpfwort par excellence) für romantisch zu halten.
naives Gemälde aus der Mitte des Jahrhunderts Spaziergänger auf einem Ein Abschnitt aus lacqaou le Croquant (1899) zeigr dieses Gefühl bei
laun cemetery mit hochaufgerichteten Grabstelen. (58) Erwähnt sei auch, einem 1836 geborenen Franzosen in statu nascendi. Eugöne Leroy macht
daß der Friedhof von Mount Auburn in Bild und Lithographie dargestellt sich in einem republikanischen, kirchenfeindlichen Milieu zum Zeugen der
worden ist, so auf einem schönen Gemälde von Thomas Chambers. Ideen seiner Zeft. ln seinem Buch nehmen Tod und Beisetzung einen be-
Das Modell des rural cemetery dominiert in England und Nordamerika. deutsamen Platz ein, seine Bauern halten sie für wichtige Begebenheiten,
Der Päre-Lachaise und die ihm ähnelnden Pariser Friedhöfe Montparnasse die beschrieben werden müssen, 'wenn man als treuer Beobachter gelten
und Montmartre dienten dagegen, mehr oder weniger deutlich, den neuen will. "Die Bertille härmte sich, daß ihre Mutter ohne Gebete beigesetzt
Stadtfriedhöfen des kontinentalen Europa als Vorbild, die allerdings auch worden war", weil sie sie nicht hatte bezahlen können. Die Mutter von
andere Einilüsse in sich aufnahmen, so den des italienischen carnpo santo,in Jacquou wurde vom Geistlichen am Portal der Kirche zurückgewiesen,
dem das Kloster überlebt. In diesem ganzen ausgedehnten geographischen unter dem Vorwand, daß sie eine Hugenottin war: ihre sterblichen überre-
Bereich mit katholischer und protestantischer Bevölkerung haben sich die ste wurden einfach in ein Erdloch geworfen(irnblocata,wie man im Mittel-
kleinen und großen Steindenkmäler allen vorhandenen Raum untertan alter gesagt hätte). Später macht sich Jacquou eine Beisetzung zunutze, an
gemacht. der er teilnimmt, »116 sich der Stelle zu nähern, an der meine Mutter be-
Diese neuen steinernen Friedhöfe inspirierten eher die Grabsteinmetzen, stattet war. \(as würde ich sagen ? Es bedeutet zwar nichts, nicht wahr, daß
die sie schmückten, als die Maler. Die zogen den Friedhof auf dem Lande, über den sechs Fuß Erde, die die Gebeine einer armen Kreatur decken [es
den rural cemetery vor. Deshalb ist in Frankreich in der Kunst des 19. Jahr- gab also kein steinernes Grabdenkmal], Blumen oder wilde Kräuter wach-
hunderts das beliebteste Bild dieses Genres die koilektive Wallfahrt an Al- sen, aber [uns bedeutet das aber durchaus etwas] wir lassen uns nur allzu
lerheiligen gewesen: Familien in Trauer, die unter einem herbstlichen Nie- leicht von den Augen gefangennehmen, ohne auf den Verstand zu hören.
seiregen dahineilen, oder, auf Stichen, das Gebet der'§üitwen am leeren Als ich also diesen mit Steinen überhäufren §(inkel [. . .], diesen von Brom-
Grabe der im Meer versunkenen Seeleute, nach der Sonntagsmesse in der beersträuchern überwucherten [. . .] Platz sah, verharrte ich dort einen Au-
Bretagne. genblick ganz traurig und betrachtete srarr diesen dem Zufall überlassenen
Der Unterschied zwischen den beiden Kulturkreisen könnte unter Um- Ort, an dem jede Spur des Grabes meiner armen Mutter verschwunden
ständen auf eine unterschiedliche Einstellung zur Natur zurückzuführen war. Und beim Weggehen kam ich :n einem unterm Zugriff der Zeit ver-
sein. In Amerika und England ist die Natur immer Anlaß zu Erschütterung witterten Grab vorbei [. . .] und sagte mir, wie vergeblich es doch sei, das
und Bewegung, und ihre Bindungen zum Tode sind real und tief. §üenn in Gedächtnis der Toten verewigen zu wollen [vergeblich, aber doch unaus-
Frankreich dagegen die Natur im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert rottbar]. Der Stein hat länger Bestand als ein Holzkreuz, aber die Zeit, die
auch eine bestimmte §(irkung auf die Zeit hat ausüben können, so doch nur es zerstört, zerstört schließlich auch ihn.n Vir stoßen hier erneut auf das
beiläufig; sie ist in der Folge wieder zur Belanglosigkeit geworden, und das alte Thema d.er oanitas, der Hinfälligkeit. Neuer aber und, wie ich meine,
Naturgefühl wurde ganz und gar vom Grabdenkmal aufgesogen. Der tiefer emp{unden ist das folgende: "Muß sich das Gedächtnis des Verstor-

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!
benen nicht schließlich in diesem unendlichen und uferlosen Meer derMil- werden. Die bildete in '§flirklichkeit das wahre und eigentliche, weil sicht-
lionen und Milliarden menschlicher \Wesen verlieren, die seit den frühesten bare Grab.
Tagen dahingegangen sind." Das Bild des "unaufhörlich wiederanbranden- Es gab (mit ganz wenigen Ausnahmen, etwa bestimmten Privatkapellen
den Meereso, wie wir es in den Gedichten von Emily Brontö, im Tagebuch in Schlössern - der der La Tremoilles in Niort - oder Kapelien von Bruder-
von Albert de La Ferronays gefunden haben. "Foigiich wiegt die Preisgabe schaften) keine Grabkapellen außerhalb der Kirchen.
an die Natur, die alles mit ihrem grünen Mantel deckt, schwerer als diese Als man in den Kirchen also keine Beisetzungen mehr vornehmen
Gräber, bei denen die Eitelkeit der Erben sich in den Vorwand kleidet, die konnte, verfiel man auf die ldee, die zu Beisetzungszwecken dienende Sei-
Verstorbenen zu ehren.o Das ist beinahe die Sprache der amerikanischen tenkapelle auf den Friedhof zu verlegen und sie zum Grabmal zu machen.
Befürworter des rural cemetery und ihrer feindseligen Außerungen gegen Eines der ersten Beispiele dafür ist um 1 8 1 5 auf dem Pöre-Lachaise angelegt
den Pöre-Lachaise. Der Mensch des 19. Jahrhunderts erträgt nur schwer worden: es ist die "Grabkapelle der Familie Greffulhe", die in den Fried-
eine Preisgabe der Toten, die mit ihnen verfährt, als ob sie Tiere seien; er hofsführern der Zeir beschrieben und abgebildet wird. Dieses bemerkens-
möchte an ihrem Grab meditieren können, das man also wiedererkennen werte Grabmal war wie eine kleine Kirche gestaltet. Es wurde zrtr Ge-
muß, wie zurückhaltend das Zeichen, das darauf hinweist, auch sein mag. wohnheit, daß man auf dem Friedhof seine Kapelle hatte, eine miniaturi-
§(enn man also auf die Kunst verzichtet, bleibt nur die Lösung des rural sierte Kapelle mit den normalen Ausmaßen einer immerwährenden Be-
oder hton cemetery, wo die Kunst der Natur ihren Platz abtritt. gräbnisstätte. Es gibt sie noch massenha{t, sie haben sich in der zweiten
Das sichtbare Grab büßt auf dem raral cernetery mehr und mehr an Be- Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet und sind überaus häufig geworden:
deutung ein, die ihm umgekehrt auf den Friedhöfen des kontinentalen Eu- eine kleine cellamit einem kreuzgekrönten Altar, der mit einem Tuch, mit
ropa in steigendem Maße zuwächst. §(ir haben bereits gesehen (Kapitel 5), Kerzen und Porzellanvasen geschmückt ist. Vor dem Altar ein oder zwei
daß das früher seltene Kreuz sich überall verbreitet hat, als Stein-, als Holz- Betpulte; die Namen der Verstorbenen und ihre Epitaphien sind an den
Kreuz, als symbolisches Bild des Todes, und zwar eines Todes, der vom Innenmauern der celk angebracht, die mit einem ursprünglich verglasten
biologischen Tod (je nach Grundeinstellung) mehr oder weniger deutlich Gitter abgesperrt wird. Die Kapelle ist im allgemeinen im neugotischen Stil
unterschieden und mit einer Aura von Hoffnung und Unsicherheit umge- gehalten; auf der Stirnseite der Hinweis : Familie X. Denn wie die Seitenka-
ben war. pellen der Kirchen waren diese Gräber keine Einzel-, sondern Familien-
Die ersten Grabmonumente, die das zum Ausdruck bringen woilten, grabstätten. Das Grab ist kaum mehr, nicht einmal dem äußeren Anschein
sind entweder von Kirchenprunkgräbern oder von Bauwerken nachgeahmt nach, jenes Erinnerungsmal, das ein Andenken verewigte; es ist zum Ort
worden, die auf Friedhöfen anzutreffen waren und beide von der Antike der Wallfahrt und des Besuchs geworden und, mit der Möglichkeit zum
und vom Neo-Klassizismus beeinflußt waren: Stelen mit Urnen, Pyrami- Sitzen oder Knien, für Meditation und Gebet hergerichtet worden.
den, Obelisken, vollständige oder geborstene Säulen und auch Pseudo-Sar- Es gibt in den Grabkapellen keinen bevorzugten Platz fürdas Porträt, es
kophage. Diese Typen hatten lange Bestand. Die Grabkunst des 19. Jahr- sei denn der Tote ist berühmt wie der General Chanzy, der damals nach
hunderts ist sehr variationsreich; sie widersetzt sich den massiven Konven- dem mittelalterlichen Vorbild des gisant und dem Altar seiner Kapelle zu-
tionen des Brauchtums, die das Mittelalter und die beginnende Neuzeit gewandt dargestellt wird.
noch hingenommen hatten.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist jedoch ein neuer Typus in Erschei-
nung getreten, der dann sehr populär wird, und zwar in einem Maße, daß er Porträts und Genreszenen
sich wenigstens bis zum Ende des Jahrhunderts erhält: die Grabkapelle.
Man erinnert sich, daß die Seitenkapellen im 17. und 18. Jahrhundert (Ka- In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen dagegen die Porträtsta-
pitel 5) den Lebenden als Betraum und den Toten als Grabstätte dienten; tuen zu, die manchmal zu regelrechten Genreszenen gruppiert werden. Die
der Sarg wurde genau darunter in einer gewölbten Gruft beigesetzt, es pathetischsten sind damals die von Kindern und Jugendlichen. Sie sind
konnte aber außerdem auch in der Kapelle ein Grabdenkmal aufgestellt zahlreich, weil die Sterblichkeitsrate von Kindern und Jugendlichen noch

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hoch lag; betrachtet man sie aber heute oder liest man die amerikanische dar. Es ist nicht mehr nur tot, es ist bereits ins Jenseits eingegangen, erhebt
Erbauungsliteratur der Zeit, spürt man, wie schmerzlich sie geworden wa- sich von seinem Bett und streckt die Arme der glückseligen Ewigkeit entge-
ren. Diese lange vernachlässigten kleinen'§ü'esen wurden wie berühmte Per- gen, die ihm verheißen ist. Es hat den Tod besiegt, dessen Skelett und Sense
sönlichkeiten dargestellt, mit einem Realismus und einer Lebendigkeit, die neben ihr lauern: transitum aici (lch habe den Tod besiegt).
dem in Tränen gebadeten Besucher die Illusion ihrer Präsenz vermittelte. Das ist der gute Tod. In San Clemente in Rom stellt ein Grab aus dem
Auf dem Friedhof von Nizza (einem wunderbaren Grabmuseum, dessen Jahre 1887 den auf seinem Totenbett ausgestreckten Grafen von Basterot
älteste - und am meisten bedrohte - Gräber von 1835 stammen) empfängt dar. Eine weinende Frau symbolisiert die menschliche Hinfälligkeit, wäh-
ein kleines Mädchen von acht Jahren ihren kleinen Bruder, der ihr ins Jen- rend ein Engel, ein lächelnder putto, die entgleitende Hand des Toten hält:
seits nachgefolgt ist. Die beiden Kinder, in Lebensgröße, umschlingen ein- er stellt die Unsterblichkeit dar.
ander mit den Armen, und der kleine Junge im Hemdchen umarmt seine Die Zeitschrif t Traoerses zeigt auf dem Titelblatt ihrer ersten Nummer
Schwester, die ihn bereits erwartet (Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhun- (1975) ein hervorragendes Photo von Gilles Ehrmann, das au{ irgendeinem
derts). Dieselbe Szene habe ich, und zwar aus derselben Zeit stammend, auf campo santo des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurde und jedenfalls bes-
dem Friedhof San Miniato über Florenz wiedergefunden, wobei zu |ragen ser oder sprechender ist als das Original. (59) Die Entstehungszeit muß
ist, ob sie nicht von demselben Künstler stammt oder ob das Thema nicht etwa das Ende des 19. Jahrhunderts sein. Der dargestellte Augenblick ist
vielleicht ganz geläufig war: Emma und Bianca treffen sich im Himmel. Sie der des letzten Seufzers; die Familie umringt das Bett, der Sterbende liegt
eilen einander entgegen, die Arme in ähnlicher Haltung ausgestreckt. Das ruhig, versöhnt da, seine Frau steht über ihn gebeugt und hat sich seinem
kleinere der beiden Kinder aber ist von Rosen umwoben und zur Hälfte Gesicht genähert, das sie mit intensiver Aufmerksamkeit fixiert. Ein Mäd-
bereits selbst in eine Rose verwandelt. Eine erste Inschri{t deutet an, daß die chen lehnt in einer zärtlichen Geste seinen Kopf ans Kopfkissen. Sie allein,
beiden kleinen Mädchen kurz nacheinander diese §flelt verlassen haben. zweifellos die Jüngste, betrachtet den Sterbenden nicht. Ein anderes Mäd-
Eine zweite Inschrift daneben läßt Emma und Bianca zu W'ort kommen, die chen streckt die beiden Hände aus, wie um ein letztes Mal den Vater zu
ihren Eltern einschärfen, sie nicht zu beweinen, weil sie jetzt unter den berühren, der von dannen geht. Im Hintergrund ein Schwiegersohn, mit
Engeln im Himmel weilen, wo sie ihre Stimmen zum Ruhm Gottes erschal- dem Ausdruck der Trauer, aber auch der Zurückhaltung des fast Fremden.
len lassen und für die Hinterbliebenen beten. \ü'ie verschieden Geschmack und Mode auch sein mögen, es ist doch eine
Diese kleinen Mädchen, wird man einwerfen, stammten aus reichen Fa- sehr schöne Grabplastik I Sie wird freilich nicht in jeder Hinsicht verbind-
milien, die gute und ihren Klassenrücksichten ergebene Bildhauer bezahlen lich. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die lokalen Künstler
konnten. Man begegnet aber Zeugnissen desselben Ge{ühls auch in eher die Verstorbenen nicht in ähnlich belebten und pathetischen Szenen, son-
volkstümlichen Kreisen. Auf dem Friedhof von Aureilhan in den Landes dern mit der Starrheit der Naiven dargestellt. In Loix-en-R6 (lle de R6) gibt
der Gascogne nimmt einen in der Nähe der kleinen Kirche, links vom Ein- es ein Familiengrab aus dieser Zeit, das in der Gegend das ,berühmte Grab"
gang, eine ganz winzige Kinderstatue gefangen, ungeschickt oder naiv aus- genannt wird, das Grab Fournier. Es hat seine Berühmtheit in der Tat ver-
geführt und ohne Grabstein: das Kind liegt auf den Knien und hält mit dient I Es besteht aus einem Zentralpfeiler, der von einer nackten Gestalt
beiden Händen eine Krone wie eine Opfergabe. Es findet sich keine Da- gekrönt wird, die mit ge{alteten Händen auf den Knien liegt und über der
tumsangabe, das \7erk stammt aber fraglos vom Ende des 19. oder vom sich wiederum ein kleines pseudo-gotisches Bauwerk erhebt. Um den
Beginn des 20. Jahrhunderts. Zentralpfeiler herum stehen vier Stelen, die, römischen Altären ähnelnd,
Eine andere Szene, die im 19. Jahrhundert von den Bildhauern häufig au{
.mit dem Ze*ralpfeiler durch lange skulptierte Arme verbunden sind. In
Gräbern dargestellt wird, ist die des Todes im Bett. Dieses vor dem Ende den Zentralpfeiler und die vier ihn umgebenden Stelen sind Epitaphien ein-
des 18. Jahrhunderts sehr seltene Bild muß mit der großen Exaltation der graviert und davor Büsten oder Statuen der Familienmitglieder aufgestellt.
letzten Augenblicke in Zusammenhang gebracht werden, wie wir sie bei Der Vater ist hervorragend gelungen: er hält die Hände gekreuzt und trägt
den Brontös, den La Ferronays angetroffen haben: in Santa Maria Novella in der einen ein Heft, in der anderen einen Bleistift. Daneben ein schlichter
in Florenz stellt ein Grabdenkmal aus dem Jahre 1807 ein junges Mädchen Stein und ein Kreuz für die treue Dienerin.

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Fournier ist noch ein angesehener Bürger, wenn auch nur eine lokale Ziemlich bald begannen sich die Hüter der öffentlichen Ordnung, wie
Größe. Im 20. Jahrhundert spielt die Grabstatue dann eine geringere Rolle, man damals sagte, mit der Situation zu befassen. Eine Denkschrift des Prä-
und das Porträt ist sogar in den großen Familien aus der Mode gekommen. fekten des Seine-D6partements aus dem Jahre 1844 (60) katalogisiert die
In der von Louis-Philippe gegründeten Kapelle der Familie der 0116ans in Schwierigkeiten, die sich im Gefolge des Friedhofsdekrets aus dem Jahre
Dreux sind die jüngeren Gräber ganz schmucklos. Umgekehrt hat das XII ergaben, das er gern modifizieren würde. Er legt sich insbesondere mit
Photo es möglich gemacht, daß das von den Oberklassen vernachlässigte dem "System" der immerwährenden Konzessionen an, odessen Auswir-
Porträt in breiteren VolksschichtenZugang fand: ein durch Emaillierung kungen anfangs nicht vorausgesehen werden konntenn, aber auch mit dem
unveränderlich gemachtes Photo. Ich frage mich, ob die ältesten Beispiele Druck, "den eine täglich wachsende und fieider l] täglich auch mehr an sol-
dieses Genres in Frankreich nicht die Bilder von Soldaten des Ersten W'elt- chen Beisetzungen interessierte Bevölkerung, selbst aus den besitzlosesten
krieges sind, die den Tod "auf dem Feld der Ehreo fanden. Ihr Heldentum Klassen [meine Hervorhebung, Ph. A.], ausübt". Dieses System führt
hatte sie in ganz besonderer Weise aus der Anonymität herausgehoben. Der schließlich zur Blockierung des ganzen Terrains, sowohl durch die Dauer
Brauch verbreitete sich später dann ganz allgemein, wenn er auch auf den der Konzessionen als auch durch die überfüllung mit Grabmälern und
Gräbern von Frauen und Jugendhchen häufiger war, denen besondere Einfriedungen. Der Cimetiöre des Innocents hatte dem Andrang mehrerer
Sorgfalt zuteil wurde, wie bereits der Pöre-Lachaise-Führer des Jahres 1 836 Jahrhunderte standgehalten; au{ den neuen Friedhöfen war schon nach ei-
angemerkt hatte. Er ist namentlich auf den mediterranen Friedhöfen häufig ner Spanne von dreißig Jahren kein Platz mehr. Der Grund dafür war die
anzutreffen, wo die Gräber oft wie die Schubladen einer Kommode über- besondere Vorliebe für sichtbare und dauerhafte Grabmäler.
einanderliegen und jede Schublade mit einem Bild versehen ist. Man geht Andererseits hatte sich die Stadt rasch ausgedehnt und sogar die Friedhö-
von einer zur anderen über, wie man die Seiten eines Photoalbums durch- fe eingeholt, die man mit so viel Mühe nach außerhalb verlegt hatte. Im
blättert. Jahre 1859 wurden die damaligen Vorstädte eingemeindet, so daß der Pöre-
Lachaise und die Friedhöfe vom Beginn des Jahrhunderts sich innerhalb
Paris ohne Friedhöfe ? der Grenzen des heutigen Paris mit seinen 20 Stadtbezirken wiederfanden.
Eine Katastrophe für die Stadtverwaltung: Die Situation des Ancien R6gi-
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte man eigentlich der Meinung sein, me wiederholte sich, die Toten waren unter die Lebenden zurückgekehrt.
daß das Beisetzungsproblem in Frankreich jetzt endgültig geregelt sei, und Eine unerträgliche Lage für den Präfekten und seine Verwaltung, die da-
zwar dank der drei Entscheidungen, neue Friedhöfe außerhalb der Stadt mit die Sorgen ihrer Vorgänger im 18. Jahrhundert, der Pariser Parlamenta-
anzulegen, die Gräber nebeneinanderzureihen anstatt sie übereinanderzu- rier, und deren Denkweise geerbt hatten.
schichten und den Toten ein längeres Recht der Belegung des Bodens einzu- Daher wollte der Präfekt Haussmann das Verfahren, mit dem man dem
räumen als früher. Cimetiöre des Innocents beigekommen war, erneut anwenden, die um 1800
Die anderen Länder folgten dieser Politik der Aufgabe älterer Praktiken angelegten Friedhö{e schließen und dafür sorgen, daß der neue Friedhof in
zugunsten neuer: die Anlage der Necropolis in Glasgow im Jahre 1833 einer Entfernung angelegt würde, die jedes Risiko ausschloß, daß er je von
(nach dem Modell des Pdre-Lachaise), von Abney Park in London im Jahre der Stadtentwicklung eingeholt werden könnte. Er schiug M6ry-sur-Oise
1840 (nach dem Vorbild von Mount Auburn), die Einsetzung der engli- vor, gute 30 km von Paris entfernt. Da die Entfernung für die Pferde der
schen ad äoc-Kommission, die 1851 ihren Bericht einbrachte, schließlich Leichenwagen zu groß war, sollte es durch eine Eisenbahnstrecke mit Paris
die Anlage einer ganzen Reihe von Friedhöfen außerhalb von London. .. verbunden werden, die man schon bald die "Totenbahn<< nannre.
In der Tat mußte sich auch in Paris das Problem gegen Ende des 19. Man wird sich an das erinnern, was zu Beginn dieses Kapitels ausgeführt
Jahrhunderts erneut stellen, wenn auch in einem Gefühlsklima, das sich wurde: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Cimetiöre des Inno-
von dem des 18. Jahrhunderts stark unterschied, und dieser Unterschied cents brutal zerstört und verlegt, ohne daß das irgendeine Reaktion hervor-
erlaubt es, den inzwischen eingetretenen Mentalitätswandel genauer zu be- rief . Der Kult der Toten war noch nicht entstanden. Im Jahre 1868 ruft der
urteilen. bloße Plan der Schließung (und nicht einmal der Verlegung) einen Sturm

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der Entrüstung hervor. Das gemeine Volk "hat eine Vorliebe für den Besuch Professor Colin von der Landwirtschaftsschule in Alfort unternahm
der Friedhöfe mit der gesamten Familie [. . .]. Das ist sein liebster Spazier- Versuche mit Tieren, denen er Erdproben und septische Flüssigkeiten inji-
weg an seinen Ruhetagen. Es ist sein Trost in den Tagen seiner Her- zierte und die er damit tötete. (63) Daraufhin vergrub er sie in geringer Tiefe
zensnOt.« (10-30 cm). "Dann hielt er andere Tiere für die Dauer von 4 bis 15 Tagen auf
Die gesamte öffentlichkeit erregt sich. Ein Leserbrief in der Zeitschrift dem Boden, wo die Versuchstiere vergraben worden waren. Diese Tiere
bringt die allgemeine Gefühlslage zum Ausdruck:
Siöcle (7. Januar 1868) wurden alle 24 Stunden gewogen. Die ausgewachsenen Exemplare blieben
"Der allgemeine Volkszorn erhebt sich bei dem Gedanken, daß die Toten in ihrem Gewicht konstant, und die jüngeren entwickelten sich innerhalb
dutzendweise in Eisenbahnwaggons transportiert werden sollen [. . .]. Sie der gewohnten Grenzen."
werden of{enbar wie einfaches Stückgut behandelt." (61) M. Miguel "hat verbindlich bestätigt, daß, in direktem Gegensatz zur
Die Pariser Stadtverwaltung kommt zu Beginn der III. Republik auf Auf{assung mehrerer anderer Autoren, der'§ü'asserdampf, der vom Boden,
diese Au{gabe zurück (1872-1881), trifft jedoch noch immer auf dieselbe von den Blumen und fauligen Erdmassen aufsteigt, immer mikrographisch
Opposition. Die Erinnerung an diese Auseinandersetzungen im Stadtrat rein ist. [. . .] Die Gase, die von der vergrabenen und in Verwesung begrif{e-
wird in der Presse und in kleinen Broschüren wachgehalten. "Paris ist keine nen Materie herrühren, sind immer frei von Bakterien. " " Was die Friedhöfe
skeptische Stadt", hieß es da im Jahre I 889; "der Totenkult [der Ausdruck von Paris betrifft, so kann von einer Sättigung des Bodens mit Leichnamen
ist ganz gelaufig geworden] hat sich hier von Geschlecht zu Geschlecht nicht die Rede sein, weder hinsichtlich der Gase noch hinsichtlich der Fest-
fortgesetzt. Der Beweis dafür: Zur Zeit des Empire wollte man eine unge- körper." (6+)
heure Nekropole in M6ry-sur-Oise anlegen. Alle Pariser waren entrüstet o§(enn das Erdreich von Paris also nicht stärker vergiftet ist als die At-
und protestierten dagegen, weil sie dann nicht mehr, nach altem [durchaus mosphäre. . ..., so dank der 'wunderbaren Kraft der Selbstreinigung der
nicht so alten] Brauch, ihre geliebten Toten auf die Gottesäcker geleiten Erde, die man als beständigen Filter auffassen kann..
konnten, wohin man sie mit der Eisenbahn überführt hätte." '§(ieit entfernt sind die Zeiren, da die Lebensmittelvorräte der Anrainer
Die Verwaltung gibt die Partie verloren, als sie sieht, daß sie von Seiten des Cimetiöre des Innocents augenblicklich von der Luft zersetzt wurden
der Gebildeten keine LJnterstützung mehr erhält. Im Jahre 1 879 beauftragt und die Totengräber wie die Fliegen starben. "Auch die Totengräber Igenau
der Conseil municipal, in der Nachfolge der Mediziner und Parlamentarier wie die Abtrittsräumer, die Loh- und Ledergerber] sind zu allen Zeiten
des 18. Jahrhunderts, eine Expertenkommission mit der Untersuchung der keineswegs anfälliger für bestimmte Krankheiten gewesen als andere Men-
Frage, in welchem Maße und für wie lange man die bestehenden Friedhöfe schen oder haben sich bei der Ausübung ihres Berufes besondere Be-
sanieren könne. Man erwartete offenbar durchaus neue Anzeichen von Pe- schwerden zugezogen, sondern sie standen zu Recht oder Unrecht in dem
stilenzherden ! Ruf, gegen epidemische Krankheiten geradezu immun zu sein." (65)
Die Antwort der Ingenieure macht mit einem Schlag ein ganzes Jahrhun- "Man darf sich also ohne Furcht den in die Erde gepflanzten schlichten
dert wissenschaftlicher Argumentation zunichte, indem sie versichert, daß Kreuzen nähern, um dort gelegentlich den naiven Ausdruck des Schmerzes
"die angeblichen Gefahren der Nachbarschaft der Friedhöfe illusorisch der Armen zu lesen, ohne gleich sein Taschentuch parfümieren oder den
sind, [. . .] und daß die Verwesung der Leichname in der gesetzlich vorgese- Atem anhalten zu müssen, wie sich das manche empfindliche Personen zur
henen Zeit von fünf Jahren vollständig abgeschlossen ist". Gewohnheit gemacht haben." (66)
Seit 1850 hatte man bereits Erfahrungen gemacht, die die überkomme- Die Friedhöfe sind, dem Urteil der "Ingenieure" zufolge, nicht mehr
nen Ideen auf den Kop{ stellten. (62) Gu6rard, der das Wasser eines Brun- ungesund. Zweifellos sind sie dabei mit wissenscha{tlicher Objektivität zu
nens im \üestteil des Friedhofs untersucht hatte, merkte an, daß es »gute Verke gegangen. Es stellte sich jedoch heraus, daß ihre Vissenschaft mit
'§(irkungen hervorbringenn könne. ,Anstatt hart zu sein, wie die kalkhalti- der öffentlichen Meinung der Zeit zusammenfiel, einer öffentlichen Mei-
ge Bodenbeschaffenheit vermuten lassen sollte, Iöste es [dank bestimmter nung, die nicht nur moralisch, sondern auch religiös geprägt war.
Verwesungsprodukte] sogar Seife auf und ließ sich zum Garkochen von
Gemüsen verwenden. Es war klar, geruchlos und von gutem Geschmack."

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Das Bündnis von Positivisten und Katholiken kaum zum Ausdruck bringen. Die Intensität des Gedenkens und seine
zur Bewahrung der Pariser Friedhöfe sündige Pflege hatten den Toten in der Seele der Lebenden eine zweite
Existenz verliehen, die weniger aktiv, aber ebenso real war wie die erste.
Die Polemik, die sich am Projekt von Mdry-sur-Oise entzündet harre,zeigr I-affitte hebt hervor: "Das Grab verlängert die versittlichende Wirksamkeit
uns, welche gewandelte Rolle der Totenkult im aligemeinen Bewußtsein der Familie äber die objehtiae Existenz der V/esen binaus, die ibr als Mit-
spielte. Diese Literatur bringt zwei unterschiedliche Grundeinstellungen glieder angehören,"
zum Ausdruck, die sich jedoch zu ein und demselben gemeinsamen Daher der Kult der Gräber: "Er ist im Grunde unabhängig von der Art
Kampf verbünden: die der "Positivisten" und die der Katholiken. \Wir wer- der Dogmen und der Form der Regierungen. Er ist aus tieferen Schichten
den sie nacheinander analysieren. unserer Natur als das Prinzip aufgetaucht, das uns am nachhaltigsten vom
lVen bezeichnete man damals als Positivisten ? Die Schüler von Auguste Tierwesen unterscheidet [. . .1, das Siegel des Menschseins." Hier entwik-
Comte, aber nicht die reinen Theoretiker, sondern die Initiatoren einer kelt Robinet eine Idee von Vico weiter.
Strömung der politischen Philosophie, die sich wenn auch nicht an die Mas- Laffitte, der A. Comte aufgreift und ihn gemeinverständlich verbreitet,
sen, so doch wenigstens an die Eliten des Volkes oder des Bürgertums stellt die historischen \Wandlungen dieses ursprünglichen Gefühls dar.
wandte und sie zu einer zugleich bürgerlichen und religiösen Handlung Die erste grundlegende Etappe war der Fetischismus. "Der Tod ist lediB-
auIforderten. lich der Übergang vom bewegten zum unbewegten Leben., zur Seßhaftig-
Schon 1869 antwortete einer von ihnen, Dr. Robinet (67), Haussmann keit, wie wir sagen würden. "Später setzt sich dann die Konservierung der
mit einem Buch, das den bezeichnenden Titel Paris sans cimetiöres trug. sterblichen Reste durch, [. . .] man sieht darin nicht den Tod, sondern bloß
Dann wäre nämlich "Paris keine Stadt mehr und Frankreich seines Hauptes den Kadaver, Gegenstand jener Art von Entsetzen«, wie es theologisch
beraubt". "Es gibt keine Stadt ohne Friedhof." Im Jahre 1874 veröffent- geprägten und christlichen Völkern eigen ist. Das Grab ist damals "das
lichtePierreLaffitte,,directeurdupositiaismeo,sdneConsid.örationsgönö- repräsentative und sprechende Zeichen derer, die wir verloren haben. Folg-
rales ä propos des cimetiöres de Paris, in denen er die Behauptung aufstellte, lich bleibt das Grab, insofern das Andenken an unsere Toten eine Bedin-
d3f! "der Friedho{ eine der grundlegenden Institutionen jeder Gesellschaft gung jeder gesellschaftlichen Existenz ist, die ja das Gefühlder Kontinuität
bildet". "Jede Gesellschaft setzt, weil sie aus der kontinuierlichen Entwick- entwickelt, eine notwendige Institution."
lung einer Abfolge von miteinander verbundenen Generationen resultiert, Ein spontaner Fetischismus existiert immer noch in uns. Auf ihn "läßt
eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft voraus.. Neben dem sich die Aufbewahrung von Gegenständen zurückführen, die uns an gelieb-
Gemeinschaftshaus "ist der Friedhof fund nicht das Grab] die Ausdrucks- te und geachtete Personen erinnerno, Andenken, Haarspangen und später
form der Vergangenheit" (Laffitte). Photographien. . . "Das materielle Zeichen ist für uns und für die gesamte
"Der Mensch", schreibt Dr. Robinet mit einer gewissen emotionalen menschliche Gattung [in ganz bestimmter lWeise für das christliche Abend-
Beteiligung, "läßt über den Tod hinaus die, die vor ihm dahingegangen sind, land des 19. Jahrhunderts, und gerade als Analytiker dieses weltlichen und
weiterbestehen, [. . .] er fährt {ort, sie zu lieben, ihnen Freundschaft entge- flüchtigen Gefühls interessieren uns die Positivisten der Jahre von
genzubringen und für sie zu sorgen [meine Hervorhebung, Ph. A.], nach- 1860-1880] zugleich Zeichen und beseeltes Leben des Zeichens selbst."
dem sie aus dem Leben geschieden sind, und er sti{tet zu ihrem Gedächtnis \I{/ie läßt das Grab oder die Erinnerung den Dahingegangenen, den Desin-
einen Kuh fmeine Hervorhebung, Ph. A.], mittels dessen Herz und Geist karnierten wiederaufleben? "Der sich entwickelnde wissenschaftliche
sich bemühen, ihnen die Ewigkeit zu sichern [. . .]. Diese Eigenschaft der Geist steht dem allem anfangs mißtrauisch gegenüber, aber der entwickelte
menschlichen Natur [. . .] macht uns liebevoll und verständig genug, W'esen und reale wissenschaftliche Geist, der alles umfaßt und versteht, legt sich
zu lieben, die nicht mehr sind, sie dern Nicbts zu entreiflen und ibnen in uns über diese Anlage unserer Natur Rechenschaft ab und macht sie sich zu-
selbst jene zweite Existenz zu perleihen, die fraglos die einzige wirkliche nutze. «

Unsterblichkeit ist." Besser läßt sich die gefühlsmäßige Einstellung im lai- Man muß den Fetischismus also dem Positivismus einverleiben. Der
zistischen Frankreich des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts wohl "sanktioniert die große Eingebung, die das Grab nicht nur zur persönlichen

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oder familiären, sondern auch zur sozialen Institution gemacht hat, und reich vor allem seit zwei Generationen gemacht hat, sind dem bewunderns-
zwar durch die Anlage des Friedhofs, der ihm einen kollektiven Charakter werten Einfluß von Paris zuzuschreiben. Denn, wie wir bereits festgestellt
verleiht. Damit wird derTotenkult zu etwas Öffentlichem, was seine Nütz- haben, der Theologismus, vor allem der monotheistische, fördert von sich
lichkeit unendlich steigert, denn das Grab entwickelt das Gefühl der Konri- aus weder den Totenkult noch eine besondere Friedhofsfürsorge; u)en
nuität in der Familie und der Friedhof im Gemeinwesen und in der Eanzen hürnmert denn im Grunde auch die Fürsorge t'ür die Gräber derer, deren
Menschheit." Geschick filr alle Eutigheit geregelt lst" (Hervorhebung von mir, Ph. A.).
Deshalb muß der Friedhof "in der Stadt selbst angelegt werden, und Hier taucht erneut ein Vorwurf auf, den man der Kirche seit dem Ende des
zwar so, daß er den Kult der Toten ermöglicht, der ein bürgerliches Ele- 18. Jahrhunderts hartnäckig gemacht hat. Nicht nur haben die großen Kon-
ment erster Ordnung ist" - das genaue Gegenteil der Vorstellung der Parla- fessionen den Kult der Toten nicht gefördert; er gewinnt sogar erst an Be-
mentarier des Jahres 1763, von Ms' Lom6nie de Brienne und des philoso- deutung, wenn deren Anhängerschaft sich verringert. §(i'enn Gott tot ist,
phischen Klerus des 18. Jahrhunderts. §üie abgeschmackt und fragwürdig kann der Kult der Toten zur einzigen authentischen Religion werden. Es
nimmt sich das Möntoire des curös de Paris von 1763 neben dieser positivi- wird "ständig darauf hingewiesen, daß die Friedhöfe vor zwei Generatio-
stischen Theorie der Friedhöfe und ihres angestammten Platzes in der Stadt nen in Frankreich sehr wenig Pflege genossen und daß im Süden, der doch
aus ! Nichtsdestoweniger ist mehr als ein halbes Jahrhundert Entwicklung angeblich so katholisch ist fdas sei der Aufmerksamkeit von M. Vovelle
und Nachdenken dieser Theorie vorausgegangen und hat sie vorbereitet, empfohlen], die Verwahrlosung beinahe absolut war [. . .]. Ein nachhaltiger
die die öffentliche Meinung in ihrer verbreitetsten und geläufigsten Form und tiefgreifender §(andei hat sich bei der Friedhofspflege und beim Kult
zum Ausdruck und auf den Begriff bringt. der Toten vollzogen (und er findet Tag für Tag weitere Verbreitung). Nun,
Die Anhänger des Positivismus waren sich darüber klar, daß der Kult der und diese Bewegung hat vor zwei Generationen eben in Paris eingesetzt.
Toten seit den goldenen Zeiten des Fetischismus von den Theismen und den Diese wachsende und wunderbare Entwicklung des Kults der Toten in der
Kirchen abgewertet wurde. Die theoiogische Eopoche markiert einZu- großen religiösen (aber nicht theologischen) Stadt des Abendlandes hat
rückweichen vor der,fetischistischen Spontaneität". "Die theologische schließlich alle Beobachter verblüfft.'§üas sie aber noch mehr in Erstaunen
Theorie besteht darin, das Grab und den Leichnam dem Schutz infernali- versetzt hat, ist der augen{ällige \(iderspruch zwischen der zunehmenden
scher Götter zu überantworten und ihre öffentliche Achtung durch die theologischen Emanzipation von Paris [seine Entchristianisierung?] und
Angst vor dem göttlichenZorn zu erzwingen" (Laffitte). dem zunehmenden Kult der Toten. In dem Maße, wie Gott mehr und mehr
IJnsere Autoren heben die Verantwortlichkeit des Katholizismus für die verstoßen wird und sogar in Vergessenheit gerät, nimmt der Totenkult un-
Außerkraftsetzung des Totenkultes hervor: "'§üas den Katholizismus be- au{hörlich zu und erreicht sogar die bescbeidensten Existenzen" (meine
trifft, so hat er lediglich den Polytheismus fortgesetzt, und sogar seine Hervorhebung, Ph. A.). Die Genauigkeit dieser historischen Analyse muß
Sorge um das ewige Seelenheil war, wie man betonen muß, auf ganz andere anerkannt werden : Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stimmt sie mit allem
'§üeise intensiv als die des Polytheismus . Er hat eher zur Vernachkssigung
überein, was wir andernorts konstatiert haben. In einem einzigen Jahrhun-
der Tbten gefübrt" (Laffitte). dert ist der Kult der Toten zur allen Franzosen gerneinsamen Religion, zur
Ein Autor des Jahres 1889, Bertoglio, ehemals Konservator des Fried- grofi e n Vo lk sre ligion ge ut orden.
hofs von Marseille, wundert sich eben{alls über die Gleichgültigkeit der Gleichwohl sind sich die Positivisten einer Gefahr bewußt; einer von
Kirche des Mittelalters: "§[ir haben begründeten Anlaß anzunehmen, daß ihnen, der Ingenieur J.-F.-E. Chardouillet, nennt diese Gefahr im Jahre
er [der Klerus] sich ihrer [der Ehrerbietung für die Friedhöfe] absichtlich 1881 den "glückseligen Industrialismus". Er zeigt sich beunruhigt über die
enthalten hat, weil er der UberzeuBung war, daß die Schrecken des Ge- allzu rasche Entwicklung der Städte, besonders von Paris: brutales Berei-
meinschaftsgrabes die Zahl derer vermehren würde, die in den Grüften der cherungsstreben, wie Laffitte meint, und Preisgabe vieler Traditionen des
ihrem Gott geweihten Bauwerke einen Platz fordern würden." Gemeinschaftslebens. \(ir sehen hier, in den rationalistischen und Neue-
Es ist das Volk von Paris, der Großstadt, das zuerst seine Toten rehabili- rungen gegenüber aufgeschlossenen Kreisen von Technikern, Ingenieuren
tiert hat: "Die ins Auge fallenden Fortschritte, die der Totenkult in Frank- und Handwerkern, eine besorgte Unruhe angesichts der neuen Formen des

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il
von der Industriegesellschaft geprägten Lebens entstehen: ,Daraus er- werden können, nämlich der Errichtung einer endgültigen Nekropole in
wächst", sa$ Laffitte, "eine ungeheuer große Stadt, deren Zenrrum vor M6ry-sur-Oise, außerhalb des Seine-Departements, sieben Meilen vom
allem von den Reichen gebildet wird, das die Armen dann im wesenrlichen Stadtzentrum entfernt. Zum zweiten Male auch beschwören die Unter-
umgrenzen [das Stadtmodell des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, zeichneten, die sich der positivistischen Bewegung zuzählen, die Interes-
das, nach dem Ersten rVeltkrieg, dann mit dem Aufkommen des Autos ins senvertreter der Stadt, ihr ihre Bestattungsplätze zr erhalten." Die Bitt-
Gegenteil verkehrt wird], eine Anordnung, die politisch und gesellschaft- schrift war unterzeichnet von P. Laffitte, "directeur du positivisme", F.
lich ebenso gefährlich wie im Grunde unmoralisch ist [. . .]. Ein großer Magnin, Maschinenschlosser, L Finance, Anstreicher, Laporte, Mechani-
Nachteil dieser Ausdehnung ist gegenwärtig der, daß sie das Friedhofspro- ker, Bernard, Buchhalter, und Gaz6, Präsident des ,Cercle d'ötudes sociales
blem wiederaufrührt und zum Vorwand nimmt.. et professionelles des cuisiniers de Paris. (Studiengruppe für soziale und
"Von diesen Umwälzungen wird natürlich das Kontinuitätsgefühl in berufliche Probleme der Köche von Paris [69]).
Mitleidenscha[r gezogen, und als Folge davon hat sich das menschliche Ni- Die Kathoiiken waren sich mit den Positivisten in diesem Kampf gegen
veau gesenkt." "Und eben deshalb ist das Problem der Pariser Friedhöfe die, wie wir heute sagen würden, technokratischen "Macher" der Stadtver-
aufs engste mit seiner Umgestaltung verbunden., mit seinem wüsten Gi- waltung einig.
gantismus. (58) Die guten Republikaner kritisierten dieses widernatürliche Bündnis. P.
Sehr viel weiter geht der Ingenieur Chardouillet in seinem B tch Les Cime- Laffitte setzte sich ohne große Mühe zur \Wehr. Er konstatiert, daß die
tiöres sont-ils des foyers d'infection? [offenkundig nicht!]. Er stellt eine Katholiken "gegenwärtig" - sie haben das durchaus nicht immer getan!
Korrelation zwischen der Vertreibung der FriedhöIe, der Industrialisierung - für Paris die Erhaltung der Grabstätten fordern. "tVir bekräftigen, daß die
und einer bestimmten Giücksvorstellung her: eine damais fraglos noch ver- Tatsache, sich mit ihnen in diesem entscheidenden Punkt einer Meinung zu
frühte Analyse, die aber für unsere Zeit Gültigkeit haben könnte.'§ü'ar der wissen, bei ernstha{ten Repbulikanern fdie Katholiken des Jahres 1 881 gal-
Ingenieur auch Prophet? "Man möge doch endlich mit der Behauprung ten durchaus nicht als Republikanerl keineswegs dazu führen dar{, ihre
aufhören, die Friedhöfe seien regelrechte Infektionsherde." Das ist aber Ansicht zu wechseln." Darüber hinaus "korrigiert die priesterliche Klug-
nicht der Grund, warum man sie aus dem Blickfeld verdrängen will. Hätte heit [. . .] durch empirische Kenntnis der menschlichen Natur" die theolo-
man doch nur den Mut, den wirklichen Grund offen einzugestehen: gischen Fragwürdigkeiten der katholischen Lehre - aber das ist bereits
o'Wenn man doch sagen würde, daß man nicht den Mut hat, sie zu ertragen, Maurras ! \üenn sich also der Erzbischof von Paris für die Verteidigung der
daß das Schauspiel des Todes betrüblich ist und daß man, in einem vom Friedhöfe einsetzt, dann sind seine Gründe "rein menschliche oder posi-
glückseligen Industrialismus geprägten Leben, keine Zeit mehr hat, sich mit tive".
den Toten abzugeben. " Aber die moralischen Auswirkungen dieses glück- Die Katholiken hatten tatsächlich den Totenkult übernommen und ver-
seligen Industrialismus sind noch vermeidbar: "'§flir wollen hoffen, daß in teidigten ihn, so als ob er immer bei ihnen heimisch gewesen und ein tradi-
einer derart wichtigen Frage, nachdem der hygienische Gesichtspunkt ein- tioneller Aspekt ihrer Religion wäre.
mal ausgeschaltet ist, die Rücksichten auf den pollhommenen materiellen Im Jahre 1864 gab es eine CEuvre des söpultures, die sich nicht nur zum
'Woh
lstand de s ge genu ärtigen I ndustrialismuslHervorhebung von mir, Ph. Ziel gesetzt hatte, Seelenmessen zu lesen, sondern auch den Familien bei
A.] endlich dem moralischen Fortschritt weichen werden [. . .], den der der Beisetzung ihrer Verstorbenen, bei der Bezahlung der Konzessionen
Kult unserer verehrten Toten uns allen bringt." und bei der Instandhaltung der Gräber behilflich zu sein. "Zu den ver-
Als Abschluß dieses Gedankenaustausches richtete P. Laffitte am 29. dienstlichsten tVerken zählt die Religion die Bestattung der Toten feine
Mai 1881 an den Rat der Stadt Paris eine Eingabe, die die positivistische Aufgabe, die bereits seit langem von den Bruderschaften wahrgenommen
Theorie einer {amiliären, bürgerlichen und volkstümlichen Totenreligion wurdel und die Pflege der Gräber [ein neues Anliegen]." (70)
bündig zusammenfaßte:. ,Zum zweiten Mal [nach der Initiative vom April Der Grabkult wird jetzt als angestammtes Element des Christentums
1879] ist der Rat der Stadt Paris aufgerufen, in einer der schwerwie- aufgefaßt. "Es ist für ihn [den Christen] ein Trost zu sehen, mit welch from-
gendsten Fragen zu entscheiden, die ihm zur Beschlußfassung vorgelegt mer Sorgfalt die zivilisierten Nationen die Asche der Toten betreuen, und in

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diesem Kult des Grabes sieht er einen Lohn für die Achtung, die die Reli- nung der Friedhöfe von den'§ü'ohnstätten der Lebenden. Die Priorität der
gion dem Leben der Menschen einflößt.. Volksgesundheit war die Maske, deren sie sich bedienten [. . .]. Die Verle-
Ich möchte bei diesen Argumenten nicht lange verweilen, weil sie unge- gung der Friedhöfe, wie sie von den Gottlosen des letzten Jahrhunderts
fähr dieselben sind wie die der Positivisten, allerdings etwas mehr auf die ,erlangt wurde, war damals wie heute lediglich ein nichtiger Vorwand [. . .].
christliche Tradition bezogen. Der Leser, der mir bis hierher gefolgt isr, unter dem Schleier der öffentlichen Gesundheit verbarg sich ein verweis
wird jedoch über die Leichtfertigkeit verblüfft sein, mit der sich die katholi- für die katholische Kirche", die sich einer Nachlässigkeit schuldig gemacht
schen Autoren dieser Epoche die jüngste Geschichte der Einstellungen zur habe. "Die Entfernung der Friedhö{e war ein treffliches Mittel, das Gefühl
Grablegung zurechtlegen. Diese LeichtfertiBkeit hat eine bestimmte Be- der Kindesliebe gegenüber den Toten [. ' .] rasch und wirksam zu dämpfen'
deutung: Die Kirche hat damals eine Form von Andacht christianisiert Friedhof und Kirche zu trennen hieß mit einer der schönsten und heilsam-
(oder katholisiert), die ihr eher fremd §/ar, so wie sie sich im Frühmittelalter sten Harmonien zu brechen, die die Religion geschaffen hat. Auf kleinstem
manche heidnischen Kulte assimiliert hatte. Sie hat das spontan getan und Raum fanden sich die drei Kirchen vereint, die Kirche des Himmels, die
damit unter Beweis gestellt, daß sie nichts von ihrer Fähigkeit eingebüßt Kirche der Erde und die Kirche des Purgatoriums - welch bewegende
hatte, Mythen zu schaffen und daran zu glauben. Lehre der Brüderlichkeit l"
In seinem um 1875 im bombastischen Stil der damaligen Geistlichkeit Mit dem Dekret vom Prairial des Jahres XII "schaffte der heidnische
geschriebenen Buch Ie Cimetidre au XIX" siicle möchre Ms'Gaume die Geist mit zwei Federstrichen den jahrhundertealten Brauch 1§". Es ist zu
Behauptung stützen, daß man im frühen Christenrum die Beisetzungen in vermuten, daß sich dieser alte Kult erneut Geltung verschafft hat, und zwar
den Kirchen vornahm. Es gab ja aber doch die Katakomben !Hochwürden in dem, was ein anderer katholischer Autor, nach der Laisierung, den ore-
wischt das ArBument beiseite : ,Der Brauch, die Beisetzungen an den Stadt- habilitierten Friedhof" nennen wird; rehabilitiert durch die andächtigen
toren vorzunehmen [d. h. außerhalb der Städte], war nicht von langer Besuche, die ihm gelten. Unser geistlicher Herr läßt das stillschweigend
Dauer, wenigstens nicht bei den Christen. Man kaufte geeignete Liegen- durchblicken. Aber mit dem Projekt in M6ry-sur-Oise taucht die Gefahr
schaften oder erhielt sie durch Schenkung, und die Leiber der Gläubigen erneut auf. Es ist die Bruderschaft der Freimaurer, die die "Verlegung des
wurden in der die heilige Stätte umgebenden Erde beigesetzt«, und zwar Friedhofes in eine Entfernung von zehn Meilen von der Stadt und gleich-
zunächst im Innern der Kirchen. Kein lüort über die Verbote des kanoni- zeitig den Bau einer Eisenbahn für die Toten" fordert. Ihre Gegner halten
schen Rechts. Im 9. Jahrhundert behielt man die Kirchen den Großen vor. dem die alten Bräuche entgegen. Dann erregt er sich über den Einfluß der
Später "trat allmählich wieder der ursprüngliche Brauch in Kraft, man be- Antike auf die Epitaphien. "Hartnäckig leugnet man den verheerenden
stattete in den Kirchen und Kapellen [. . .]. Aber wennlHervorhebung hier Einfluß des klassischen Altertums.. "Tatsächlich ist der Friedhof des 19.
und im folgenden von mir, Ph. A.] die Gotteshäuser und ihre Klöster und Jahrhunderts der letzte Schauplatz des erbitterten Kampfes
zwischen Sata-
Grüfte auch für die Grablegung zahlreicher Populationen nicht ausreich- nismus und Christentum.. Die Revolution - oder die Philosophie - tritt
ten, so hat die Kirche [. . .] doch immer darau{ geachtet, daß ihre Gräber den alles mit Füßen, was es noch an Heiligem, Ergreifendem und Moralischem
heiligen Stätten so weit wie möglich angenähert wurden." Die Bestattung gibt, nicht nur bei den Christen, sondern auch bei den Heiden selbst [ein
'§flink
ad sanctos wird hier als absolute Regel präsentiert, als unwandelbarer an die Ungläubigen, die reinen Herzens sind]. §(as wird aus dem Kult
Brauch, und der Ver{asser verwechselt sie mit der Grabverehrung des 19. der Ahnen, was aus der Kindesliebe zu den Toten, wenn man' um an ihren
Jahrhunderts. Zwischen beiden geftihlsmäßigen Einstellungen besteht für Gräbern beten zu können, eigens eine mehr oder weniger lange Reise un-
ihn völlige Gleichheit. Diese Partnerschaft des göttlichen Kultes und der ternehmen muß [. ..]. Jedes Volk aber, das seine Toten vergißt, ist ein un-
frommen Andacht für den Ort, an dem die Toten "ruhen", hat seines Er- dankbares Volk."
achtens während des ganzen Mittelalters und des Ancien R6gime bestan- Die geistlichen Zornesausbrüche werden sich beruhigen' Der Christ darf
den. "[,151 im letzten Jahrhundert hat der Krieg gegen die Friedhöfe einge- die Friedhöfe nicht mehr veröden lassen, selbst wenn sie laisiert sind: "Re-
setzt. Schüler ihrer heidnischen Erziehung, forderten die Sophisten dieser habilitieren wir unsere Friedhöfe. §(enn sie auch nicht mehr nach den Re-
schändlichen Epoche [die Philosophen] unter lautem Geschrei die Entfer- geln der Kirche geweiht sind, so wollen wir uns doch in diesem Monat

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November daran erinnern, daß jedes geweihte Grab wie eine geweihte Flie- schied zum Schindanger war eine kollektive und eilends abgewickelte Ab-
senplatte ist, die sich in einen heidnischen Tempel verirrt hat, und unserer solution. Eine Gouache aus dem 18. Jahrhundert im Museum von Grasse
Gebete um so mehr bedarf, als man uns davon rrennen will. Gehen wir mit stellt eine solche Szene nach der Schlacht dar.
größerem Eifer die Grabstätten schmücken, mebren wir unsere Besuche, Es hatte in der Geschichte bereits einige Versuche gegeben, die gefallenen
um gegen das Vergessen zu protestieren, das man uns auferlegen will." Der Soldaten an der Stätte ihres Todes zu ehren. Die frühesten davon sind noch
Kampf richtet sich nicht nur gegen den Atheismus und Laizismus, sondern mehrdeutig. Am 6. Januar 1477 ging Karl der Kühne mit seinem burgundi-
auch gegen die Vergeßlichkeit den Toten gegenüber, an deren Kult sich die schen Heer eiend in den Sümpfen bei Nancy zugrunde. Sein Gegner aber,
gesamte Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beteiligt. (71) der Herzog von Lothringen, ließ an der Stelle der Schlacht und am Ort der
Gebeine der Umgekommenen eine Kapelle erbauen, Notre-Dame-de-
Bon-Secours: die Heilige Jungfrau hatte Nancy von seinen Feinden befreit.
Die Denkmäler für die Toten Im Jahre 1505 erhielt die Kapelle noch eine Barmherzige Jungfrau; die
wurde bald zum Gegenstand großer Verehrung und die Kapelle zum
In den vorhergehenden Abschnitten habe ich den Akzent, wie übrigens lVallfahrtsort für die Lothringer. Stanislas Leszczynski ließ sie restaurieren
auch die Zeitgenossen, auf den privaten und familiären Aspekt des Toten- und dort die prunkvollen Grabmäler seiner Frau und seiner selbst errich-
kultes gelegt, der jedoch von Anfang an auch noch einen anderen, nationa- ten. Die Kapelle war also eher die Stätte eines von der Vorsehung gesandten
len und patriotischen Aspekt hatte. Bereits die ersten Friedhofsprojekte der Sieges als ein kollektives Grab. Und sehr bald schon ist der ursprüngliche
Jahre 1765-1780 erhoben Anspruch auf eine repräsentative Darstellung der Stiftungsanlaß für die Andacht der Besucher in Vergessenheit geraten und
gesamten Gesellschaft und ihrer berühmten Persönlichkeiten. Die franzö- vor dem volksdmlichen Kult der Barmherzigen Jungfrau verblaßt. Das
sischen Revolutionsregierungen haben an dieser Idee festgehalten und die Andenken der Getöteten schv'and rasch aus dem Gedächtnis der nur
Pariser Abtei Sainte-Geneviöve in ein Pantheon der nationalen Berühmt- schwach betroffenen Lebenden.
heiten umgewandelt: es existiert zwar noch immer, wird aber von den Noch während der Kriege Napoleons III. wurden die Leichname gefal-
Franzosen kaum mehr als Heiligtum aufgesucht. Es hat für mich den An- lener Soldaten mit derselben Gleichgültigkeit behandelt wie die der Opfer
schein, daß der private Aspekt, so wie wir ihn in einigen Details analysiert der Gemeinschaftsgräber des Ancien R6gime. Die Leichen, die nicht rasch
haben, im Verlauf der beiden ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Ober- von ihren Kameraden geborgen und eilends von ihren Angehörigen in Si-
hand gewonnen hat, ohne daß übrigens die kollektive Funktion gänzlich cherheit gebracht wurden, wurden immer sofort an Ort und Stelle beige-
außer acht gelassen worden wäre. setzt, und diese Massenbestattungen weckten dieselben Angste vor Verseu-
Diese kollektive Funktion tritt bei den Gräbern kriegsgefallener Solda- chung und Unsauberkeit wie die Beerdigungen auf dem Cimetiöre des In-
ten erneut und mir wirklicher emotionaler Beteiligung in Erscheinung, was nocents am Ende des 18. Jahrhunderts. So begannen nach der Schlachtvon
beim Pantheon nie der Fall gewesen ist, wenn man von dem Leichenbe- Sedan, die den Sturz Napoleons III. zur Folge hatte,
"die randvoll bis zur
gängnis für Marat absieht. Das Schicksal dieser Soldaten war {rüher kaum. Erdoberfläche gefüllten Gräber pestilenzartige Ausdünstungen zu verströ-
beneidenswert: Die Offiziere wurden in den Kirchen in nächster Nähe des men. Die belgische Regierung, deren in nächster Nähe wohnende Unterta-
Schlachtfeldes beigesetzt oder in die Familienkapelle überführt, wo dann in nen am meisten bedroht waren, schickte eine Kommission zum Ort des
einem langen Epitaph ihres Heldentums gedacht wurde. So hat sich in der Geschehens, die . .] nichts Eiligeres, Sichereres und lVirtschaftlicheres
[.
Kapelle des Hospitals von Lille eine Liste der Offiziere erhalten, die dort im vorzuschlagen wußte als den Gebrauch von Feuer.o Man ließ einen sehr
17. Jahrhundert ihren Verletzungen erlegen sind: bereits eine Art Ehrenta- selbstbewußten Chemiker, Creteur, kommen, der sicherlich kein "Positi-
fel, die dem Ehrgefühl einer Gesellschaft entsprach, die im Begriff war, sich vi51" gewesen sein dürfte. Er öffnete die Massengräber, goß Lachen von
als militärische zu konstituieren. Die Soldaten dagegen wurden an Ort und Teer darüber aus und setzte ihn mit Petroleum in Brand. Eine Stunde Arbeit
Stelle verscharrt, nachdem man ihnen die Uniformen ausgezogen und ih- genügte. Es war gleichwohl bedauerlich, daß man so lange gezögert hatte:
nen ihre persönlichen Gegenstände abgenommen hatte. Der einzige Unrer- Der Aufwand hätte sicherlich nicht mehr als ein paar Pfennige betragen,

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wenn man die Einäscherung unmittelbar nach der Schlacht vorgenommen Andenken der Kriegsgefallenen sorgfältiger gehütet und die Toten verehrt
hätte. Auch die Deutschen wollten die Schlachtfelder im annektierten wurden. Man wird sich des ungeheuren Traumas erinnern, das damals die
Lothringen säubern. ,Es hatte aber den Anschein, daß sie dieser Art und französische Gesellschaft erfaßte. Die kollektive Sensibiiität war lange, bis
'§fleise,
sich der Toten zu entledigen, doch zuviel Abneigung enrgegen- zur ,Revanche" von 1914/18, tief verletzt. Zwei{ellos hat das nicht verhin-
brachten, denn, da Sedan noch in ihren Händen war, als M. Creteur seine dert, daß die gefallenen Soldaten anfangs ohne viel Aufhebens beigesetzt
Arbeit verrichtete, widersetzten sie sich in aller Form der Verbrennung der wurden, wenn auch mit einem Beigeschmack von Scham. Man rühmte sich
Leichen ihrer Landsleute [. . .], und M. Creteur mußte trotz der Unterstüt- dessen nicht. Dagegen verfiel man, und das ist eine Neuerung, auf den Ein-
zung der Regierung und der Bevölkerung davon Abstand nehmen." (72) fall, aus Stein oder Metall ge(ertigte Ehrentafeln zu gestalten wie ehedem in
Dr. F. Martin, den ich hier zitiere, hätte selbst eine schicklichere und Quiberon und sie meist in der Kirche (etwa der Kirche von Noyon), gele-
ebenso effiziente Bestattungsweise vorgezogen. "Mit einer meterdicken gentlich aber auch auf dem Friedhof aufzustellen. Auf dem P6re-Lachaise
Erdschicht, der Aussaat von Luzerne und der Anpflanzung junger Aka- gibt es ein Totenmal für die Gefallenen von 1870: ein leeres Grab, das als
zienbäume kann man allen diesen Unannehmlichkeiten begegnen. §ü'enn Gedenktafel dient.
man zwei Schichten von Leichnamen übereinanderlegt, kann man, ohne Sehr bezeichnend ist, daß Kirche und Friedhof die beiden Stätten waren,
Gefahr und ernsthafte Schwierigkeiten, gut und gern 20 OO0 Menschen auf die diese ersten Kriegerdenkmäler aufnahmen. Die Kirche, weil die Katho-
einem Hektar bestatten." §üarum also daraufverzichten? Außerdem kann liken und die Geistlichen die Toten eines so gerechten Krieges sehr diskret
man zur Huldigung der wiederhergestellten Natur die der Kunst hinzu- den Märtyrern gleichstellten und weil sie es für ihre Berufung hielt, die
nehmen und ein Denkmal errichten. Toten zu ehren und ihren Kult aufrechtzuerhalten. Der Friedhof, weil er
Die ersten kriegsgefallenen Soldaten, die mit einem Mahnmal geehrt der Ort war, wo die Lebenden ihrer gedachten, und in §üirklichkeit eine
worden sind, waren zweifellos die Opfer der Bürgerkriege der französi- Art Konkurrenz zur Kirche bildete, jedenfails seit der Zeit, da er durch
schen Revolution: das Luzerner Denkmal für die am 10. August 1792hin- Gesetz von ihr getrennt worden war.
gemetzelten Schweizer, die Bußkapelle und der Friedhof von Picpus in Pa- Im Jahre 1902 zähke man an Allerheiligen auf den Friedhöfen von Paris
ris. Das bezeichnendste Monument dieser Art aber ist das von Quiberon. 35OOOO Besucher. Ein "Republikaner" hebt hier die Einmütigkeit des na-
Die Emigranten, die dort zu landen versuchr harren, wurden füsiliert und tionalen Gefühls der Achtung vor den Toten und besonders den Kriegsge-
an Ort und Stelle verscharrt, wie es Brauch war. In der Restaurationszeit fallenen hervor: "Grei{en wir [. . .] bei dieser Bewegung [der lVallfahrt zu
wurde das betreffende Gelände aufgekauft, von allem Pflanzen- und Baum- den Friedhöfen] einige der wichtigsten Außerungen heraus, um besser be-
bestand gereinigt und zu einer Stätte der Andacht umgestaltet. Inzwischen urteilen zu können, ob nicht der Aberglaube an dieser universalen Ge-
waren die Gebeine in ein benachbartes Kloster überführt und dort in einer dächtnisfeier einen gewissen Anteil hat. [. . .] D, sind zunächst die Betfahr-
Kapelle verwahrt worden, in der die Namen der Erschossenen auf einer ten zu allen Monumenten, die irgendeinen berühmten oder volkstümlichen
Ehrentafel eingraviert wurden. Die Beinkammer ist durch eine öffnung Namen aus Staat, Kunst oder Literatur tragen oder irgendeinen großen und
einzusehen: ein Zwischending zwischen den Beinhäusern der Mumien- hochherzigen Gedanken eingeben. Es sind die Überlebenden unserer
friedhöfe des 18. Jahrhunderts und den Ossuarien des Ersten Veltkrieges. denkwürdigen Schlachten [die Veteranen des Krieges von 1 870 und der Ko-
Das Grab am Ort des Märtyrertodes ist Gegenstand eines nicht familiären lonialkriegel und die unserer großen Bürgerkriege [Revolutionen, Pariser
und privaten, sondern kollektiven Kultes. Kommunel, die an diesem Tage ihre Meinungsverschiedenheiten außer acht
Die Gräber werden zu Monumenten, die Monumenre werden zwangs- lassen und die sterblichen Reste ihrer einstigen Gefährten grüßen kommen.
läufig auch zu Grabmälern. R6musat berichtet, daß im Juli 1837 die sterbli- Es sind die lokalen Obrigkeiten selbst, die alien Helden ihre Huldigung
chen Reste der Pariser Toten der Trois Glorieuses (Drei Glorreichen Auf- erweisen." (73)
stände) unter der zu diesem Ereignis gestifreren Gedenksäule geborgen Der Erste Veltkrieg hat dem bürgerlichen Kult der Gefallenen »unserer
wurden. denkwürdigen Schlachten" eine Verbreitung und ein Prestige verliehen, das
Dennoch nimmt es nicht wunder, daß in Frankreich erst nach 1870 das er nie zuvor gekannt hatte. Die Vorstellung, die Toten auf dem Felde der

702 703

t
Ehre zu verscharren, war unerträglich geworden. Besondere Friedhöfe,
Diese Grabstätten sind .iedes Jahr, vom l:rtihfahr bis zum Herbst, das
die überdies wie Landschaftsarchitekturen gestaltet waren, wurden ihnen
ZielganzerSrröme amerikanischerBürger, clie sie besuchen, wie die Katho-
geweiht, mit endlosen Fluchtlinien identischer Kreuze; denn das Kreuz
liken ihre Vallfahrt zur Peterskirche in Rom unternehmen.
wurde als gemeinsames zeichendes Todes und der Hoffnung selbst von de-
nen gewählt, die es, wie die Amerikaner, bisher nicht akzeptiert harten.
In jeder französischen Gemeinde, in jedem Arrondissement von paris
Ein Beispiel für einen Landfriedhof : Minot
erbaute man den kriegsgefallenen soldaten ein Mahnmal, ein reeres Grab:
das Monument dux morts, im allgeme inen genau gegenüber dem Bürger-
In den vorhergehenden Abschnitten haben wir die großen Städte eigentlich
meisteramr. Es hat der Kirche ihre Mitteipunktsfunktion streitig g.-r.h,.
kaum verlassen. Dort ist nämlich die neue Totenreligion entstanden und
Es ist, und zwar beinahe bis in unsere Zeit, wirklich das Zeichen .ine, .ir_
weiterentwickelt worden. Und auf dem Lande ? Manche Dörfer haben die
mütigen Nationalgefühls gewesen.
Städte nachgeahmt und ihren Friedhof aus dem'§flohnbezirk hinausverlegt,
Der Triumphbogen, den Napoleon I. auf der place de l'Etoile errichten
und der alte Friedhof wurde aufgeiassen und durch den Hauptplatz bei der
ließ, ist zum Grabmal geworden, seit man dort einen unbekannten soldaten
Kirche ersetzt. Viele andere haben ihren Friedhof dagegen an seinem alten
bestattete. Der Jahrestag des Sieges von 191g wird nicht als Täg des Sieges
Platz neben der Kirche belassen; in diesem Falle ist jedoch kein Grab früher
gefeiert, sondern ist zum Tag der Toten geworden. In jeder stadiund jedlm
als in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts angelegt, ein Beweis
Dorf versammeln sich die obrigkeit und die patriotischen verbände um das
dafür, daß ein neuer, nach den neuen Vorschriften angelegter Friedhof den
leere Grab, um das Totenmahnmal. Die Hörner stimmen, wie am selben
alten ersetzt hat, wenn auch an derselben Stelle.
Tage auch noch in der Kirche, den Trauergesang an:
"Dafür [für das Vater_ Was sich hier abgespielt hat, läßt sich dank einer ausgezeichneten Studie,
land] muß ein Franzose sterben.. Vo es kein solches Totenmahnmal gibt,
der Untersuchung von F. Zonabend über einen Friedhof im Chätillonais, in
gibt es auch keine Gedächtnisfeier und folglich auch kein Fest.
Minot, rekonstruieren (74): Diese Arbeit zeigt, wie sich in einer ländlichen
Diese im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vollzogene vereinigung
Siedlung die verschiedenen Modelle kombinieren, die ich im vorliegenden
von Torenkult und Nationalgefühl findet sich ebenso wie in Frankreich
Buch vom ganz frühen Mittelalter bis in unsere Tage hin unterschieden
auch in den Vereinigten Staaten. rvenn vashington früher entstanden wäre
habe.
als im 17. bzw. 1 8. Jahrhundert, so wäre diese Hauptstadt so wie paris
eine Zunächst gab es eine merowingische Nekropole, die zeitlich weiter zu-
stadt der Königsstatuen, der staruen der präsidenten der union geworden.
rückreichte als die Praxis der Bestattung ad sanctos und folglich außerhalb
sie hat sich aber erst im 19. und beginnenden 20.
Jahrhundert Ätwickelt, der ursprünglichen Siedlung lag. Dort wurde dann eine Kapelle erbaut.
und deshalb ist sie eine Stadt mit leeren Gräbern, mit Ehrenmälern ihrer
Daneben wurde ein castrum errichtet. Es war ein weitläufiger Raum wie im
staatsmänner wie dem Grabobelisk \fiashingtons, der die Stadt von weitem
Falle der Nekropole von Civaux im Poitou. Die in der Umgebung wohnen-
gesehen beherrscht. Es war dies der sflille der Nachkommen von §Tashing-
de Bevölkerung wurde dort beigesetzt, wie sie zweifellos auch in der Kapel-
ton, der an seinem Grab auf seiner Pflanzung in Virginia festgehalten hai:
le getauft wurde.'r Eine neue, dem Heiligen Petrus gewidmete Kirche
Die Amerikaner selbst hätten sich gewünscht, daß er ins Kapiiol überführt
wurde im Jahre 1450 in der benachbarten Siedlung Minot erbaut, und die
worden wäre. über die gigantischen grünen Teppiche, die dei Architekt der
alte Nekropole merowingischen Ursprungs wurde zugunsten der Kirche
Hauptstadt, Major L'Enfant, enrworfen hat, sind die Ehrenmäler Lincolns
und ihres Hofes preisgegeben. Dennoch hielt man lange an der Gewohn-
und Jeffersons verteilt (lerzteres jüngeren Datums, aus der Zeit Roose-
heit f est, die Opf er von Pestepidemien in einer der Ecken des alten Friedho-
velts): regelrechte Mausoleen, die nach Art der großen klassischen Monu-
fes beizusetzen, weil man sie von den Häusern entfernt halten mußte.
mente entworfen sind. von der Höhe von Arlington ziehen sich die Gräber
Seit dem 15. Jahrhundert setzte sich in Minot, ziemlich spät, wie man
den Hang hinunter bis in die stadt. Der Friedhof, auf dem die nationalen
Berühmtheiten und die großen Staatsdiener der union bestatret liegen, bil-
'f Der Vorgang erinnen an Saint-Hilaire mit seiner kleinen Kirche und seinem alten Friedhof in
det den Hintergrund dieser Stadtlandschaft.
der Gegend von Marville im D6partement de la Meuse (vgl. Kapitel 5).

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sieht, das klassische Modell der mittelalterlichen und modernen Verbin- wöhnt, direkt an die Kirchenmauern kleine Kammern für die Truhen und
dung von Kirche und Kirchhof-Friedhof durch. Im Umkreis der Kirche beweglichen Habe anzubauen, die man in Zeiten des Aufruhrs und der
und des Friedhofs lagen das Pfarrhaus, die Scheuer für den Zehnten, das Unruhe in Sicherheit bringen wollte. Der neue Geistliche ließ diese letzten
Backhaus, die Markthalle und das Auditorium für die lehnsherrschaftliche Uberreste des Asylrechts entfernen. Dagegen verfiel er auf die Idee, einen
Jurisprudenz und die Versammlung der Einwohnerschaft. Das Schloß be- besonderen Raum für die Beisetzung der Kleinkinder herzurichten, der
fand sich abseits, an der Stelle des castrumund der alren aufgegebenen Ne- kleinen Engel. Man erkennt hier deutlich die Reinigungsbestrebungen und
kropole. das Bedürfnis nach Läuterung, die das 17. und 18. Jahrhundert charakteri-
Die Burgherren wurden im Chor der Eglise Saint-Pierre beigesetzt, di- sieren und die ich zusammen mit anderen, weniger moralischen Zügen un-
rekt vor dem Altar. ter dem Oberbegriff des ,nahen und fernen Todes" (dritter Teil) zusam-
Die von F. Zonabend untersuchten Kirchenbücher verweisen im 17. mengefaßt habe.
Jahrhundert auf Honoratioren-Grabstätten (ein königlicher Notar, die Der Friedhof der volkskundlichen Untersuchung von F. Zonabend ist
lWitwe eines Mundschenks des Bischofs)
außerhalb der Kirche, aber dicht nicht mehr der des Ancien R6gime, aber auch nicht schon ganz der heutige.
an ihren Mauern: die bevorzugte, von Nischen oder Galerien ausgefüllte Teilweise entspricht er meinem vierten Modell: dem des Gefühlsüber-
Stelle. Die Priester hatten ihren angesrammren Platz zu Füßen des großen schwangs und des Totenkultes.
Hosianna-Kreuzes, des einzigen Kreuzes auf dem Friedhof. Die anderen Freilich ist der Friedhof neben der Kirche verblieben. Der Gemeinderat
Grabstätten waren ohne sichtbares Zeichen und lagen irgendwo auf dem hat sich geweigert, ihn nach außerhalb zu verlegen. "Es ist darüber disku-
Piatz verstreut. Auch der Friedhofsplatz war of{ensichtlich am Tage der tiert worden, ob man ihn nach Fontaine-Condrez verlegen sollte, aber dann
Dedikation der Kirche geweiht worden; er hatte keine Umfriedungsmauer wäre man wohl nicht mehr so oft hingegangen.« Das ist, im kleineren Maß-
und blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch so erhalten. ,Allen zu- stab, der \üiderstand gegen die ,Totenbahn" Haussmanns und das Proiekt
gänglich, Menschen und Tieren, weirläufig [wir haben im zweiten Kapitel in M6ry-sur-Oise.
zwischen zwei Friedhofsrypen unterschieden : dem aitre-charnier mit Ga- Gleichwohl wurde er, wenn auch nicht im materiellen Sinne verlegt, so
lerien und dem Friedhofsplatz oder -markt wie in Antigny], auf dem doch im moralischen Sinne ferngerückt und aus dem Alltagsleben ausge-
Hauptplatz des Dorfes gelegen [und damit zusammenfallend], in der un- klammert, und zwar durch den neuen Respekt, mit dem man ihm begegne-
mittelbaren Nähe der anderen öffentlichen Gebäude, dehnre sich der Fried- te. Man wagt nicht mehr bei den Markthallen zu tanzen wie ehedem, weil
hof im Zentrum des Lebens der Pfarrgemeinde aus." Ich finde hier, ohne sie in zu enger Nachbarschaft der Toten liegen: "Das schickt sich nicht,
den Verfasser, der meine Periodisierung nicht gekannt hat, zu iiber{ordern, man muß sie achten.o Die Alten wundern sich über diese Strenge, die sie
mein erstes Modell des gezähmten Todes und des
"\fl1 56s.6en alle. wieder. nicht gutheißen. \i(ie F. Zonabend sagt: "Anstelle eines ruhigen Nebenein-
Es ist dagegen nicht verwunderlich, daß in dieser ländlichen Gemeinde anders ergibt sich heute Konfliktsto{f [wenn der Festsaal dem Friedhof
mein zweites Modell, das des eigenen Todes, fehlt. allzu nahe b,egt), der pertrdt4te Umgang mit dem Heiligen ist zur respeht-
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts sieht man dann den tridentinischen vollen Absonderung, zur Distanzierung geworden fHervorhebung von
und nachreformatorischen Priester in Erscheinung treten. Er hat den Fried- mir, Ph. A.]. " In Paris und in den Großstädten folgte der Kult der Toten auf
hof auf seine gegenwärtigen Ausmaße reduziert und beschlossen, ihn ein- eine lange und verworrene Zwischenphase, in der die mittelalterliche Ver-
frieden zu lassen: verwirklicht wurde die Einfriedungsmauer aber ersr im trautheit sich unmerklich in eine brutale Gleichgültigkeit verwandelt hatte.
Jahre 1861. Man trug sich jedoch schon vorher mit dem \Wunsch, den Fried- Hier ist man aus demZeftaker der Vertrautheit unmittelbar in das des Re-
hof vom Gemeindeplatz zu rrennen und ihn zu einem gesonderten, für spekts übergangen, wenn man den Eingriff der reformierten Geistlichen
Tiere unzugänglichen und für alle profanen Versammlungen, die sonst dort des 17. und 18. Jahrhunderts einmal als allzu oberflächlich beiseiteläßt.
stattfanden, gesperrten Raum zu machen. Es handelte sich darum, der Kir- Dieser Respekt des 19. und 20. Jahrhunderts ist von einer bestimmten
che - ebenso und zur gleichen Zeit wie dem Friedhof - ihre kompromittier- Angst und einer bestimmten Distanz begleitet: ein altes, der Kirche be-
te Vürde zurückzugeben. Früher, im Mittelalter, hatte man sich ange- nachbartes Haus blieb lange ohne Käufer. "Es lag zu nahe am Friedhof",

706 707

il
sagte man. Zugleich mit dem Respekt ist die Angst entstanden. Der Respekt In diesem Dorf im Chätillonais erkennen wir unser Pariser Vorbild des
wird nachlassen, während die Angst sich steigert . . . Aber greifen wir nicht Totenkulres wieder. Er ist nämlich nicht auf die großen städte beschränkt
zu weit vor. "Diese Einschließung der Toten", beobachtet Zonabend mit geblieben, sondern hat auch aufs Land übergegri{fen, wo man Mühe hat,
der wünschenswerten Deutlichkeit, "dieses dumpfe Bedürinis, sie räum- seine Neuartigkeit überhaupt auszumachen, so traditionell wirkt er. Mit
lich entfernt zu halten [. . .], entspricht fnicht] einer wachsenden Abneigung seiner Theorie des Fetischismus und des Totenkultes hat der Positivismus
gegen den Friedhoi oder einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Andenken einem Bündel von landläufigen Gefühlen und gemeinschaftlichen An-
der Toten.. Im Gegenteil, würde ich sagen! Die alte Vertrautheit kannte schauungen begriffliche Kohärenz verliehen, die sich seit dem Ende des 18'
den Kult des Andenkens und den Besuch am Grabe durchaus nicht. "Jeden Jahrhunderts in unseren Gesellschaften verbreitet und sie tief durchdrun-
Izg [meine Hervorhebung, Ph. A.] kommen die Alten, um am Grabe eines gen hatten.
Ehepartners oder eines Kindes ihre Andacht zu verrichten. [. . .] Die Frauen Dennoch taucht in dieser Beschreibung der Grablegungsbräuche in Mi-
gehen an Sonntagen oder an manchen schönen Sommerabenden dort spa- not etwas au{, das unserem Pariser Modell ganz und gar nicht entspricht
zieren [. . .]. Von Grab zu Grab schlendernd, lesen die Alteren die Inschrif- und mir sogar im \fliderspruch zu ienem berühmten Prairial-Dekret zu
ten und rufen sich die Verstorbenen in Erinnerung : bei diesen Rundgängen stehen scheint: in Minot hat man nämlich nicht au{gehört, die Leichname
entwickelt und verdichtet sich das kollektive Gedächtnis der Gemeinde übereinanderzuschichten, freilich nicht so, wie man sie in den Gemein-
und wird die Geschichte der Familien des Dorfes allen vermittelt." schaftsgräbern zusammenstaPelte, die in den Dörfern nie existiert haben,
Denn der Raum, über den die Toten verfügen, ist, nach der Formulierung sondern so, daß man die Intimität der frühen Kindheit wiederherstellte.
eines Lehrers im Jahre 1912, die F. Zonabend festhält, in "Familienab- ,Die Mama hat man auf ihre Mama gelegt, Albert [den Sohn] hat man auf
schnitte" unterteilt. Jedes Grab ist die Kehrseite eines Hauses. Man sagt die Mama gelegt, und als das Mädchen [die Enkelin] von Germain gestor-
»oers chez nos tombes,, (zu unseren Gräbern), wie man a\ch "aers chez ben ist, hat man es auch darübergelegt." Eine schöne Ansammlung, die die
nss5n (zu uns) sagt oder ,chez h maison" (zu Hause). Man bezeichnet den Hygiene-Philosophen der Jahre um 1800 erschauern lassen würde.
Gesamtkomplex der Gräber einer Familie mit demselben allgemeinen Aus- Das liegt - ein anderer großer Unterschied zur Situation, wie sie das
d,ruck ,cbez*, der das Haus kennzeichnet. Ich selbst habe die gleiche Beob- Prairial-Dekret geschaflen hat - daran, daß der Raum der Grabstätten in
achtung gemacht. (75) Eine alte'\)fläscherin in einer kleinen Stadt im Groß- Minot nicht an Einzelpersonen vergeben wird. Er bleibt kommunales Ei-
raum Paris, die vielleicht nicht einmal ein eigenes Heim besaß, hatte für sich gentum, an dem jeder ein zeitweiliges Nutzungsrecht hat. Das ist also nicht
und ihre Famiiie ein schönes Grab vorbereitet. Am Tag, an dem sie sich mit anders als im Ancien R6gime, wo der Bürgermeister und die Gemeinde die
\Vie früher
ihrem Schwiegersohn entzweite, nahm sie ihm auch das Recht, sich in ih- Rolle des Geistlichen und des Kirchenvorstandes übernahmen.
rem Grab bestatten zu lassen, so als wäre es ihr Zuhause. ist die Grabstätte kein dauerhaftes Eigentum, sie ist nicht einmal Eigentum.
Man stößt auf diesem Friedhoi des 19. und 20. Jahrhunderts auf sehr alte
"Manchmal", schreibt F. Zonabend, "taucht beim Hausverkauf eine
Klausel au{, die den neuen Eigentümern die Verpflichtung auferlegt, die 7,ige, die ohne jede Unverträglichkeit mit den Neuerungen des 19. Jahr-
Gräber ihrer Vorgänger instandzuhalten." Diese Hausgräber waren Fami- hunderts koexistieren. Vie die alten Friedhöfe ist auch dieser in immer-
lien zugeordnet, in größerem Maßstab sogar Sippen. Eine derartige räum- währender Umgestaltung begriffen. Wenn man einen eben Verstorbenen
liche Organisation ist sehr bemerkenswert, weil sie absolut neu ist: der beisetzen wil1, ,ö{fnet man ein 61x[" (es gab zur Zeft det Untersuchung
Friedhof des Ancien R6gime ließ diese Verwandtschaftsbeziehungen völlig noch keine Grüfte), was nach den Gesetzen eigentlich nicht erlaubt ist. Der
außer acht, und die Toten wurden dort ohne jeden Unterschied der Kirche Totengräber erklärt das so: ,Für eine Neubestattung öff ne ich das Grab,
und den Heiligen überantwortet. und wenn ich einen Sarg unversehrt finde, rühre ich nichts an und stelle den
Diese ländliche Gemeinschaft hatte also die Kraft, ein Symbolsystem zu neuen darauf fnach dem '§?unsch des Verstorbenen]. In den meisten Fällen
schaffen, das den Kodizes der traditionellen Kulturen in einem Maße äh- aber finde ich Gebeine, Metallgeräte und Holz, und das alles sammle ich,
nelt, daß man versucht ist, es mit ihnen zu verwechseln und es ebenfalls für schichte es in kleinen Haufen in einer Ecke au{, und wenn der neue Sarg
alt zu halten, obgleich es erst aus dem 19. Jahrhundert stammt. heruntergelasen wird, stelle ich ihn genau darauf." Die Mama liegt also

708 709
nicht genau darüber, sondern darunter! Damit dieser'§V'irrwarr zustande- septischesGrab". Hier das melancholische Schlußwort von F. Zonabend:
kommen konnte, mußten die Leichen rasch verwesen; deshalb spricht man ,Die Verstorbenen werden also vollständig isoliert und vor der Erde ge-
in Minot noch die alte Sprache, die vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert schützt, die sie ehedem, Toter nach Toter, mit ihren Leibern bestellten und
Gültigkeit hatte: "Es ist gar nicht wünschenswert, unversehrt zu bleiben, befruchteten. "
das ist ein Zeichen dafür, daß das Beisetzungsritual nicht korrekt ausge-
führt worden ist, oder der \(ink eines außergewöhnlichen Schicksals: der
Verstorbene ist dann entweder ein Heiliger oder ein Verdammter." "Bei sich"
Die Folge ist ein Durcheinander von Gebeinen, das mit dem andererseits
unter Beweis gestellten Respekt unvereinbar ist. Der Vorgänger des gegen- Der Kult der Friedhöfe und Gräber ist die liturgische Außerung der neuen
wärtigen Totengräbers "hob die Gräber an beliebiger Stelle aus, und wenn Sensibilität, die seit dem Ende des 1 8. Jahrhunderts den Tod des Anderen so
er auf Gebeine stieß, legte er sie auf eine Grabplatte daneben; die Schädel unerträglich macht. Er besteht bis heute, wenigstens in Frankreich, in Ita-
stellte er auf die Grabmäler fwie in der ersten Fassung von Poussins Ego lz lien und besonders beim einfachen Volk. Zwei Begebenheiten illustrieren
Arcadia.l, und die Leute, die sich zu Beerdigungen einfanden, sahen das diese treue Anhänglichkeit für den französischen Raum.
alles." Sie lachten darüber. Und F. Zonabend kommt zu dem Schluß: "Es Die eine wird in L'Aurore vom 19. September 1963 berichtet. Sie hat sich
gibt in Minot eine Sprache des Todes; man spricht sie ohne Verlegenheit, in einem Dorf der Haute-Provence zugetragen, das evakuiert werden
ohne Heimlichtuerei; die unterirdische Bestimmung der Leichname be- sollte, um Platz für die Anlage eines Schießstandes der Armee zu machen:
schreibt man mit aller Schlichtheit. Das Schweigen hat hier noch nicht, wie oMein Vater ist gestorben, als er das erfuhr, und er hat sich hier nicht beer-
in der Stadt oder anderen gesellscha{tlichen Gruppen, dieses letzte Stadium digen lassen woilen, weil er nicht auf dem verlassenen Friedhof allein blei-
des Lebenszyklus verschüttet. Auf dem Dorfe bleibt der Tod vertraut und ben mochte. Beerdigt mich in X, hat er gesagt, ich will nicht hierbleiben."
immer gegenwärtig." Die andere Notiz stammt a;.rs Le Monde vom 30. April 1963: Aim6
Das liegt daran, daß sich hier so etwas wie die Aufpfropfung des roman- Druon, Unterofiizier der französischen Armee, ist am 18. Januar 1952 in
tischen auf das archaische Modell vollzogen hat. Dieses archaische Modell Indochina gefallen. Ein Gesetz aus dem Jahre '1946 hatte die kostenlose
ist nicht ganz und gar verschwunden, und das romantische ist nicht bis zur Überführung und die Übergabe der Leichname von Kriegsteilnehmern und
letzten Konsequenz gediehen. Der mittelalterliche Friedhof ist von der zu- -opfern an ihre Familien geregelt: Die öffentliche Meinung in Frankreich
gleich weltlichen und christlichen Religion des 19. Jahrhunderts rehabili- hat es nach dem Zweiten §üeltkrieg abgelehnt, die Toten auf den großen
tiert und nicht zerstört worden. Die naive und unbeschwerte Vertrautheit nationalen Nekropolen wie denen von 1914l18 beizusetzen; sie zieht es
zwischen Lebenden und Toten, die er voraussetzte, hat ihren Sinn verän- vor, sie ihren Familiengräbern zurückzuerstatten.
dert: sie ist bewußter und in stärkerem Maße rituell geworden, eine symbo- Im Fall, der uns hier interessiert, war der Leichnam des Unteroffiziers
lische und herkömmliche Sprache, die die neuen gefühlsmäßigen Beziehun- Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen zwei Familien, der seiner
gen zwischen den Angehörigen ein und derselben Familie und zwischen natürlichen Eltern und der, die ihn im Alter von 15 Jahren bei sich au{ge-
den Familien ein und derselben Gemeinschaft öffendich, aber zurückhal- nommen hatte, ohne ihn aber rechtmäßig zu adoptieren. Das Berufungsge-
tend, ohne Pathos und ohne improvisierte Gesten zum Ausdruck zu brin- richt von Douai verwarf im Jahre 1959 die Klage der Adoptiveltern, ob-
gen erlaubt. wohl sie den juristischen Beweis erbracht hatten, daß die Kriegskameraden
Vir haben im Präsens gesprochen, weil das die grammatische Zeitform des Verstorbenen sie "als die wirklichen fEltern] betrachteten und er auch
der Untersuchung war. Dieses Präsens aber wird unter den Augen des For- nur mit ihnen korrespondiert hatte". Im April des Jahres 1963 hob der
schers zum Imper{ekt: Der Friedhof - das ist unabdingbar - wird zerstük- Kassationshof dieses Urteil auf. Und so konnte der Leichnam endlich den
kelt und, wie jeder beliebige Stadtfriedhof des I 9. Jahrhunderts auch, nach Adoptiveltern übergeben werden.
Konzessionen verkauft. Man öffnet die Gräber nicht mehr. Und schließlich Mehr als zehn Jahre lang haben sich auf diese Veise zwei Familien einen
werden die Grabgewölbe sogar in einem Stück aus Dijon bezogen, "wie ein Verfahrenskampf geliefert - mit allem, was er an LJnkosten mit sich brachte

710 711

il
tl
-, um das Verfügungsrecht über einen Leichnam zugesprochen zu erhalten
und ihn "bei sich" beisetzen zu können.
Bemerkenswerterweise hat sich der Kult der Toten und die treue An- I

hänglichkeit, die er den sterbIichen Überresten entgegenbringt, vom alten


Abendland in andere gegenwärtige Kulturkreise verlagert. Das beweist eine
einem Artikel von Josu6 de Castro - "Sept pieds de terre et un cercueil" (76) FünfterTeil.
- entnommene Geschichte. "Im Jahre 1955 gründete Joäo Firmino, Pächter Der ins Gegenteil verkehrte Tod
der Galilei-Hazienda, den ersten Bauernverband im Nordwesten Brasi-
liens. Sein Hauptziel war nicht, wie viele glauben möchten, die Verbesse-
rung der bäuerlichen Lebensbedingungen [...] oder die Verteidigung der
Lebensinteressen dieser Menschen, die vom Rad des Schicksals zermahlen
wurden wie clas Zuckerrohr von den Rädern der Mühlen. Anfangs hatten
sich diese Verbände d;e Verteidigung der Interessen der Toten und nicht der
Lebenden zumZiel gesetzt, die Interessen der in Hunger und Elend gestor-
benen Bauern [. . .], den Kampf um das Recht, über sieben Fuß Erde verfü-
gen zu können, um seine Gebeine darin zu betten [. . .], und das Recht, ihre
Leiber in einem Holzsarg ins Grab senken zu dürfen, der ihnen gehörte und
in und mit dem sie langsam vergehen konnten." Der Sarg war anfangs ein
Gemeinschaftssarg wie die Särge der Armenbestattungen des Ancien R6gi-
me und diente lediglich dem Transport. ,'W'oher [xp", fragt J. de Castro,
"dieses verzweifelte Bedürfnis, einen Sarg sein Eigentum zu nennen, um
sich darin bestatten lassen zu kunnen, während diese vom Schicksal Ge-
schlagenen zu ihren Lebzeiten doch nicht den geringsten Besitz gehabt hat-
ten?o Und die Antwort von J. de Castro gilt vielleicht ebenso für die Ar-
mcn und die einfachen Leute des westeuropäischen 19. Jahrhunderts, die
ebenfalls einen eigenen Sarg und ein eigenes Grab besitzen wollten'r-: ,In
den Ländern des Nordwestens ist es der Tod, der zählt, und nicht das Le-
ben, weil ihr Leben ihnen praktisch nicht gehört." Die Verfügung über
ihren Tod gilt ihnen als "ihr Anrecht darauf, eines Tages der erdrückenden
Last des Elends und der Ungerechtigkeiten des Lebens zu entrinnen.. Der
Tod gibt ihnen ihre Y/ürde zurück.

" Und nichr minder für die Armen und Sklaven des antiken Rom: ,'Wenn es einem Mann aus
dem Volke gclungen war, dem dringlichsten Bedürfnis abzuhelfen, der Sorgc'ums tägliche Brot,
waren die beiden gebieterischsten Sorgen, die sich dann bemerkbar machten, die um die Gast'
mihler [der unerlililiche Überfluß] . . . uad um die Gräber." P. Veyne, Le Painet le Cirque,Paris
t976, S. 291 .

712
{

12.Der ins Gegenteil verkehrte Tod

Der Tod verbirgt sich

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa bis zum Ersten W'eltkrieg, ver-
änderte im gesamten Abendland lateinischer, katholischer oder protestan-
tischer Prägung der Tod eines einzelnen Menschen auf feierliche lVeise den
Raum und dieZeit einer sozialen Gruppe, die eine ganze Gemeinde um{as-
sen konnte, zum Beispiel ein ganzes Dorf. Man schloß die Vorhänge im
Zimmer des Sterbenden, zündete Kerzen an, sprengte 'Weihwasser aus ; das
Haus füllte sich mit Nachbarn, Angehörigen und Freunden, die im Flüster-
ton sprachen und sich ernst und gemessen benahmen. Die Totenglocke er-
klang in der Kirche, von wo aus sich dann die kleine Prozession mit dem
Corpus Christi in Bewegung setzte. . .
§(enn der Tod eingetreten war, wurde eine Traueranzeige an der Haustür
angeschlagen (ein Brauch, der die alte, bereits nicht mehr übliche Aufbah-
rung des Leichnams oder Sarges vor der Haustür ersetzte). Durch die halb-
offene Tür, den einzigen Zugang des Hauses, der nicht verhüllt und ver-
schlossen war, traten all jene ein, die durch Freundschaft oder Anstand zu
einem letzten Besuch verpflichtet waren. Der Gottesdienst in der Kirche
versammeite die ganze Gemeinde, einschließlich der Nachzügler, die das
Ende des Totenamtes abwarten mußten, bis sie vortreten durften, und nach
dem langen Defilee der Kondolierenden geleitete ein langsamer, von den
Straßenpassanten ehrerbietig gegrüßter Trauerzug den Sarg zum Friedhof.
Das war aber noch nicht alles. Die Trauerzeit war mit Besuchen ausgefüllt:
Besuche der Familie auf dem Friedhof, Besuche der Angehörigen und
Freunde bei der Familie . . . Danach, ganz allmählich, nahm das Leben wie-
der seinen gewohnten Gang, und es blieben nur noch die Besuche auf dem
Friedhof. Die soziale Gruppe war vom Tode angerührt worden und hatte
ko[lektiv reagiert, angefangen bei den nächsten Familienangehörigen und

715
weiter ausgreifend bis zum größeren Kreis der Freunde, Bekannten und gefallenen sohnes seit 1945, während der ganzen letzten zwanzig Jahre ih-
Kunden. Nicht nur starb jedermann öffentlich wie Ludwig XIV. ; der Tod res Lebens, TrauerkleidunB getragen' Heute dagegen " '
'§flandels hat ihn uns bewußt
eines jeden war auch ein öffentliches Ereignis, das die gesamte Gesellschaft Die Schnelligkeit und schroffheit dieses
im doppelten Sinne, wörtlich und übertragen, "!s§/sg16": nicht nur ein gemachr. was die Erinnerung an die Vergangenheit nicht zu erfassen ver-
einzelner war dahingegangen, sondern die Gemeinschaft als ganze §/ar ge- äo.ht., ist mit einem Schlage bekannt und Gegenstand der Diskussion
troffen und mußte nun ihre \iü'unde heilen. geworden, Thema für soziologische Untersuchungen, Fernsehsendungen'
Trotz aller Veränderungen, die im Laufe eines Jahrtausends die Einstel- medizinische und juristische Debatten. Aus der Gesellschaft vertrieben, ist
lungen zum Tode modifizierten, hat sich weder dieses grundlegende Bild der Tod durch die Hintertür wieder hereingekommen, ebenso plötzlich,
gewandelt noch das durchgängige Verhältnis von Tod und Gesellschaft: der wie er verschwunden war.
Tod ist stets etwas Soziales und Öffentliches gewesen. Er ist es in weiten Ein rascher und schroffer'Wandel, gewiß; aber ist er so iungen Datums'
Kreisen des lateinischen Abendlandes auch bis heute geblieben, und es ist wie es den Journalisten, den Soziologen' uns allen vorkommt, die wir von
durchaus nicht sicher, daß dieses traditionelle Modell sich definitiv auflöst. dieser Beschleunigung des Entwicklungstempos geblendet sind?
Doch es hat seine absolute Allgemeinverbindlichkeit eingebüßt, die ihm
früher, unter welcher Religion und in welcher Kultur auch immer, eigen
war. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist in einigen der am stärksten indu- Der Beginn der Lüge
strialisierten, am weitesten urbanisierten und technisierten Bereichen der
westlichen §7elt eine völlig neue Art und §fleise des Sterbens hervorgerreten seit der zweiren Hälite des 19. Jahrhunderrs hat sich im verhältnis zwi-
- und was wir sehen, sind fraglos erst deren Anfänge. schen dem Sterbenden und seiner Umgebung ein entscheidender'§(andel
Zwei Hauptmerkmale springen selbst dem achtlosesten Betrachter ins vollzogen.
Auge. Erstens die Neuartigkeit dieses Sterbens, das dem früheren Bild des Natürlich war für den Menschen die Entdeckung, daß sein Ende bevor-
Todes konträr entgegensteht und gieichsam dessen umgewendetes Abzieh- srand, stets ein unangenehmer Augenblick. Man Iernte jedoch, damit fertig
bild oder Negativ ist: die Gesellschaft hat den Tod ausgebürgert, ausge- zu werden. Es wachte ja auch die Kirche, die dem Arzt die verp{lichtung
nommen den Tod großer Staatsmänner. Nichts zeigt in unseren modernen auferlegte, den nuntius mortis z\ spielen; eine ungern erfüllte Mission, und
Städten mehr an, daß etwas passiert ist; der schwarz-silberne Leichenwa- so bedurfte es der Bemühung des "geistlichen Freundeso, um Erfolg zu
gen von einst ist zur unscheinbaren Brauen Limousine geworden, die im haben, wo der ,leibliche Freund" noch zögerte' Für den Fingerzeig, die
Straßenverkehr kaum noch auffällt. Vorwarnung des Sterbenden gab es, wenn sie nicht spontan erfolgte, feste
Die Gesellschaft legt keine Pause mehr ein. Das Verschwinden eines ein- Formen im überkommenen Brauchtum.
zelnen unterbricht nicht mehr ihren kontinuierlichen Gang. Das Leben der In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird sie iedoch immer pro-
Großstadt wirkt so, als ob niemand mehr stürbe. blematischer. Eine Episode aus Tolstois 1859 erschienener Erzählung Drei
Das zweite bezeichnende Merkmal ist nicht weniger augenfällig. Gewiß Tode (1) macht das deutlich'
hat sich der Tod im Laufe eines Jahrtausends verändert, aber wie langsam! Die Frau eines reichen Geschäftsmannes ist an Tuberkulose erkrankt,
Die kleinen Modifikationen, die sich über mehrere Generationen hinzo- wie es sich damals gehörte. Die Arzte haben sie aufgegeben. Also ist der
gen, gingen so unmerklich vor sich, daß die Zeitgenossen sie gar nicht Zeitpunkt gekommen, sie in Kenntnis zu setzen. Das läßt sich nun einmal
wahrnahmen. Heute dagegen hat sich in einer einzigen Generation eine .richi ,..*.iden, und sei es nur, weil man es ihr ermöglichen muß, ihre
vollständige Umwälzung der Alltagswirklichkeit vollzogen - zumindest ,letzten Verfügungen" zu treffen' Hier tritt nun etwas Neues in Erschei-
scheint es so. In meiner Jugend verschwanden trauernde Frauen noch nung: die Abneigung der Angehörigen gegen diese Pflicht hat sich vertieft.
förmlich unter ihren schwarzen Tüchern und Schleiern. Im französischen De.ihe*ann möchte es um jeden Preis vermeiden, seine Frau "über ihren
Bürgertum war es noch üblich, kleine Kinder, deren Großmutter gestorben Zusrand ins Bild zu setzen«, und er hat seine Gründe dafür: "Das würde sie
war, in Violett zu kleiden. Meine eigene Mutter hat wegen eines im Kriege umbringen.o ,Was auch immer geschehen mag, nicht ich werde es sein, der

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716
sie aufklärt." Auch die Mutter der Sterbenden weist von sich. Die Todge-
es einen Rechtsakt verbindlich zu machen, und ihn seinen Erben direkt über-
weihte spricht tatsächlich nur von neuen Heilverfahren; sie scheint am Le- mittelte, also Vertrauen zu ihnen entwickelte.
ben zu hängen, und man befürchtet Abwehrreaktionen ihrerseits. Dennoch Damit war eine neue Beziehung entstanden, die den Sterbenden und
muß man sich endlich entscheiden. Also mobilisiert man eine alte Kusine, seine Umgebung einander gefühlsmäßig näherbrachte; gleichwohl hatte
eine verarmte Familienangehörige, die sich dieser Aufgabe gezwungener- der Sterbende die Initiative behalten, wenn nicht sogar die Macht' Nun aber
maßen unrerzieht. "Neben der Kranken sitzend, bemühte sie sich durch hat sich diese Beziehung umgekehrt: der Sterbende hat sich in die Abhän-
eine geschickt geführte Unterhaltung, sie auf die Idee des Todes vorzube- gigkeit seiner Angehörigen begeben. Die Heldin Tolstois mag noch so sehr
reiten." An der Kranken war es jedoch, sie zu unterbrechen und ganz plötz- dagegen protestieren, daß man sie wie ein Kind behandelt: sie hat sich selbst
lich zu sagen: "Ah, meine Liebe ! . . . Versucht doch nicht, mich vorzuberei- in die Rolle des Kindes verstrickt. Eines Tages wird es soweit kommen, daß
ten. Behandeh mich docb nicht wie ein Kind. * Ich weiß alles. "Ich weiß, daß der Sterbende diese Bevormundung hinnimmt, sei es, weil er ihr erliegt, sei
ich jetzt nicht mehr allzu lange Zeit habe." Und damit kann das klassische es, weil er sie sich sogar wünscht' Dann wird man allgemein der Ansicht
Szenarium des guten Todes in der Öffentlichkeit beginnen, das einen kur- sein - und dies ist die heutige Situation -, daß die Angehörigen verpflichtet
lVie oft
zen Augenblick lang durch die neuen Hemmungen vor der Todesankündi- sind, den Sterbenden in Unkenntnis über seinen Zustand zu halten.
gung gestörr worden war. haben wir einen Gatten, Sohn oder Vater sagen hören: "§ü'enigstens
habe
Am Ursprung dieser neuen Hemmungen, mag Tolstoi sie auch verzerrt ich die Befriedigung, daß er (oder sie) den Tod nicht gespürt hat". Das
darstellen, steht die Liebe zum Anderen, die Angst, ihm wehzutun und ihn ,Den-Tod-nicht-spüren. ist an die Stelle des "Sein-Ende-nahe-fühlen' ge-
in Verzweiflung 2u stürzen, die Versuchung, ihn davor in Schutz zu neh- treten.
men, indem man ihn über sein nahes Ende im Unklaren läßt. \üenn man So hat man sich mit der Verheimlichung eingerichtet. Diese Großtaten
auch noch nicht bestreitet, daß er ein Recht hat, darüber Bescheid zu wis- der Einbildungskraft haben Mark Twain zu jener Erzählung angeregt, ;n
sen, so weigert man sich doch, diese traurige Pflicht selbst zu erfüllen; mag der er das Lügengewebe beschreibt, das von zwei hochherzigen älteren
sich ein anderer damit abgeben. Der Priester war in Frankreich dazu bereit, Fräulein erdichtet wird, um zwei von ihnen betreuten Schwerkranken, ei-
denn die Ankündigung des Todes fiel mit seiner geistlichen Vorbereitung ner Mutter und ihrem sechzehniährigen Kind, zu verheimlichen, daß ie-
auf die letzte Stunde zusammen. Deshalb galt die Ankun{t des Priesters im weils die andere dem Tode nahe ist' (2)
Sterbezimmer auch als das eigentliche Zeichen des Endes, ohne daß er noch Solche Verheimlichung hat den praktischen Vorteil, daß sie alle Zeichen
viel zu sagen brauchte. beseitigt oder zurückhält, die den Kranken alarmieren könnten, insbeson-
Der Kranke seinerseits, und das ist von Tolstoi eindringlich beschrieben dere die Inszenierung des öffentlichen Aktes, der der Tod früher war, ange-
worden, hat kein wirkliches Bedürfnis, auf den nahen Tod hingewiesen zu fangen mit dem Auftritt des Priesters. Selbst in den religiösesten Familien
werden. Er ist bereits im Bilde. Aber er spricht nur nicht offen darüber, um aufrichtig praktizierender Katholiken hat sich zu Beginn des 20. Jahrhun-
nicht die Illusion zu zerstören, die er noch einigeZeit lang aufrechterhalten derts die Angewohnheit verbreitet, den Priester erst zu rufen, wenn sein
möchte - und sei es um den Preis, daß er als Moribunder behandelt wird Erscheinen am Bett des Sterbenden ihn nicht mehr beeindrucken kann, weil
und verpflichtet ist, sich so zu benehmen. Deshalb verhält er sich still. er entweder das Bewußtsein verloren hat oder bereits tot ist. Damit war die
Jeder ist also Komplize in einem Lügengewebe, das sich in eben dieser Letzte Olung nicht mehr ein Sakrament für die Sterbenden, sondern für die
Zeit zu entwickeln beginnt und den Tod von nun an immer entschiedener in Toten. So sah die Situation in Frankreich bereits in den zwanziger und drei-
den Untergrund verdrängt. Der Kranke und seine Umgebung spielen mit- ßiger Jahren unseres Jahrhunderts aus. [n den fünfziger Jahren ist sie zur
einander die Komödie "Es ist alles beim alten" oder "Das Leben geht weiter Regel geworden.
wie zuvoro. Dies ist die zweite Etappe jenes Prozesses der allmählichen Vorbei die Zeit der feierlichen Prozession mit dem Corpus Christi, an
Überführung des Sterbenden in die Obhut seiner Familie, der in den Ober- deren Spitze ein Chorknabe sein Glöckchen läutete. Vorbei, lange vorbei
schichten schon viel früher eingesetzt hatte, nämlich am Ende des 18. Jahr- die Zeit seines pathetischen Empfangs durch den Sterbenden und seine An-
hunderts, als der Sterbende darauf verzichtete, seinen Letzten lVillen durch gehörigen. Kein §(under, daß der Klerus aui die Dauer genug davon hatte,

718 719
nur noch Tote zu verwalten, und sich schließlich weigerte, bei dieser Ko-
l übrigens sehr betroffen hätte. Er hat das banele und graue Leben eines fähi-
mödie mitzuspielen, selbst wenn sie von mitfühlender Liebe inszeniert gen und ehrgeizigen Funktionärs gcführt, dcr von Aufstiegssehnsüchten
worden war. Seine Auflehnung dagegen erkiärt wenigstens teilweise, besessen und ängstlich darum bemüht ist, sich comme il t'autzu benehmen.
warum die Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil den traditionel- Er trägt ständig ein Medaillon mit einer Inschri{t, wie man sie in Rußland
len Begriff der Letzten ölung durch den des ,sakraments der Kranken" nicht erwartet hätt e : R e sp ic e t'ine m, ein kleines M e me nt o m ori nach Art des
ersetzt hat, und zwar durchaus nicht immer nur der todgeweihten Schwer- christlichen Westens vom Ende des 15. bis zum 17. Jahrhundert. Seine reli-
kranken: zuweilen wird dieses Sakrament im Gottesdienst reihum an giöse Bindung erweist sich jedoch als oberflächlich und mindert keines-
Greise ausgeteilt, die noch völlig gesund sind. Damit ist die Kirche freilich wegs seinen Egoismus. Eine "umgängliche, angenehme, erfreuliche, immer
viel weiter gegangen, als lediglich daran zu erinnern, daß man bei vollem korrekte und von der Gesellschaft geschätzte Existenz", die jedoch von
Bewußtsein zu sein hat, wenn man die Letzte ölung empfängt: das Sakra- Geldsorgen und den daraus resultierenden Ehekrisen getrübt wird. Der
ment ist vom Tode abgetrennt worden und keineswegs mehr eine direkte Erfolg stellt sich dann aber doch mit einer Beförderung ein, die ihn zur
Vorbereitung auf ihn. Auf diese \(eise gesteht die Kirche stillschweigend '§(ahl einer neuen rWohnung verpflichtet, wo er endlich die
"bessere Gesell-
zu, daß sie im Augenblick des Todes abwesend ist und es keinen Sinn mehr schaft", die "wichtigen Leute" empfangen kann.
hat, noch "den Priester zu rufen.. \Wir werden allerdings sehen, daß der Und damit beginnt das Unglück: Atembeschwerden, Seitenstiche, Ner-
Tod unterdessen aufgehört hat, nur ein Augenblick zu sein. vosität. Das rechtfertigt eine ärztiiche Konsultation; die Anrufung des
Im 19. Jahrhundert hatte das Verschwinden der frommen Klauseln der Arztes ist in den achtziger Jahren zum notwendigen und gewichtigen
Testamente die Bedeutsamkeit der letzten Zwiesprache vertieft: der Stunde Schritt geworden, was sie fünfzig Jahre zuvor, zuZeiten der La Ferronays,
des letzten Lebewohls, der letzten Empfehlungen, vertraulich oder in der durchaus noch nicht v/ar. Erst im letzten Moment zeigt die Frau von Albert
Öffentlichkeic. Dieser intime und feierliche letzte Austausch ist der Ver- de La Ferronays Interesse für den Namen der Krankheit, an der ihr Mann
pflichtung gewichen, den Kranken über seinen Zustand im Unklaren zu leidet. Obwohl Gegenstand der Aufmerksamkeit, waren Krankheit und
lassen. Der Sterbende ging schließlich dahin, ohne noch ein §flort gesagr zu Gesundheit damals noch nicht zwangsläufig mit der Intervention und der
haben. So starben in Frankreich in den fünfziger und sechziger Jahren, Macht des Arztes verknüpft. Das Journal d'un bourgeois de PariszurZert
bevor sich der massive Einfluß amerikanischer und nordwesreuropäischer der französischen Revolution (4) zeigt, in welchem Ausmaß man sich da-
Leitbilder bemerkbar machte, die großen Alten {ast immer schweigend, mals bereits der Beobachtung des eigenen Körpers widmen konnte: Tag für
selbst wenn sie bei vollem Bewußtsein und fromm waren. ,Sie hat uns nicht Tag notierte der Autor die Wetterlage und seine physiologische Verfassung,
einmal mehr Lebewohl gesagt«, murmelte am Sterbebett ihrer Mutter eine schrieb er auf, wann er erkältet war, Blut spuckte oder Fieber hatte: die
Tochter, die an dieses störrische Schweigen und vielleicht auch an diese äußere und die innere Natur. Aber nie verfiel er au{ die Idee, einen Medizi-
neue Art von Scham noch nicht gewöhnt war. ner oder 'W'undarzt zu Rate zu ziehen - oder zu notieren, daß er einen
konsultiert hatte -, obwohl er mehrere zu seinen besten Freunden zählte.
Er versorgte sich selbst, d. h. er vertraute der Natur.
Der Beginn der Medikalisierung In den Romanen von Balzac spielt der Arzt eine große soziale und mora-
lische Rolle; er ist, im Verein mit dem Priester, der Nothelfer der Bedräng-
Setzen wir jedoch unsere Tolstoi-Lektüre fort und gehen wir übe r zum Tod ten und der Ratgeber von Reich und Arm. Er behandelt die Kranken ein
des laan Iljitscb, einer Erzählung, die fünfundzwanzig Jahre später ent- wenig, aber er heilt nicht, er hilft beim Sterben. Oder er sieht einen natürli-
stand als die eben erwähnre. (3) Vir rreten in eine neue \flelt ein, eine Velt chen Verlauf der Dinge voraus, in den einzugreifen ihm nicht zusteht:
zu Beginn der "Medikalisierung". Ivan Iljitsch ist ein Mann von fünfund- \Wenn Albert de La Ferronays erst einmal dreißig
Jahre alt geworden ist,
vierzig Jahren, der seit siebzehn Jahren mit einer unbedeutenden Frau ver- wird sich die Heilung, so glaubt man, schon von allein einstellen. Bis dahin
heiratet ist. Er hat vier Kinder gezeugr, von denen eines am Leben geblieben wird er eben krank sein . . . und vielleicht fügt der Arzt insgeheim hinzu:
ist, während die anderen drei im zarten Alter starben, ohne daß ihn das wenn er solange überlebt I Als die Krankheit sich dann aber verschlimmert

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und man seiner Ohnmacht gewahr wird, wendet man sich an einen, der .jitschs Hauptinteresse wandte sich menschlichen Krankheiten und dem
mehr als nur Spender von Pflege und freundlichen \üTorten isr: an einen menschlichen Gesundheitszustande 2.u." Er interessiert sich [ür andere
Mann der lVissenschaft, der aus Paris mit einem Expreßgespann eintrifft Kranke, deren Fall seinem eigenen ähnelt. Er liest medizinische Abhand-
wie ein deus ex machina. Vielleicht gelingt der lVissenschaft das Unmög- lungen und vermehrt seine Arztbesuche. Im Laufe dieser Konsultationen
liche ? Der Mediziner scheint damals eine Art letzte, den Reichen vorbehal- schleicht sich bei ihm mit der wachsenden Kenntnis auch die Unruhe oder
tene Zuflucht gewesen zu sein. Sehr selten nur und sehr spät kommt es vor, die Ungewißheit jeder sicheren Kenntnis ein. "Der Schmerz ließ nicht
daß er das W'esen und den Namen der Krankheit preisgibt. Man interessiert nach; allein Ivan Iljitsch machte die größten Anstrengungen, um sich selber
sich für die Symptome (Fieber, Blutauswurf), man behandelt sie (Aderlaß, zu überzeugen[Hervorhebung von mir, Ph. A.], daß ihm besser sei." Kaum
\Waschungen), aber man versucht nicht,
den Fall in einem Klassifikations- gibt es jedoch irgendeine Unannehmlichkeit zu Hause oder im Büro, da
schema unterzubringen. Überdies gibt es noch keine Fälle, sondern nur taucht die vage Unruhe schon wieder auf.
eine Serie von Phänomenen. Seine Unruhe oder Zufriedenheit hängen also von zwei Variablen ab:
Für Ivan Iljitsch indessen ist seine Krankheit sofort ein Fall mit einer von seiner Kenntnis des Leidens und von der Virksamkeit seiner Behand-
bestimmten Besonderheit, die einen Namen haben muß. Velchen? Es fallt lung. Er überwacht die Auswirkungen der Arzneimittel, und seine Stim-
dem Arzt zu, ihn auszusprechen, und dann wird man wissen, ob sie schwer mung richtet sich nach den Hochs und Tiefs, die er dabei verspürt. Genaues
ist oder nicht. Denn es gibt gefährliche Kategorien und harmlose. Das Bescheidwissen verleiht ihm Sicherheit. Außert der Arzt Bedenken, ob es
hängt von der Diagnose ab. der Blinddarm oder die W'anderniere sei, so ist Ivan Iljitsch augenblicklich
Seit dieser ersten Konsultation heftet sich Ivan Iljitsch an den Arzt wie verzwei{elt und rennt - er, der gebildete und vernünftige hohe Beamte - zu
ein Parasit. Sein Denken macht sich die Unschlüssigkeiten des Arztes zu einem Scharlatan, der mit Hilfe von Heiligenbildern kuriert. In seiner
eigen. "Die Frage nach dem Leben Ivan Iljitschs existierte nicht, es gab nur Krankheit sitzt Ivan Iliitsch gefangen wie ein Tier in der Falle.
einen Streit zwischen \W'anderniere und Blinddarm." Er versucht, die Vorte
des Mediziners zu deuten und zu enträtseln.
"Ivan Iljitsch aber konnte aus Das Umsichgreifen der Lüge
der Folgerung des Arztes nur den einen Schluß ziehen, daß es schlecht
stünde, daß dies jedoch dem Arzt und sogar allen gleichgültig sei; um Ivan Inzwischen wachsen die Schmerzen. ,Es war unmöglich, sich länger zu
Iljitsch aber sründe es .ledenfalls schlecht." Sein Schicksal hängt fortan von täuschen: in Ivan Iljitschs Körper vollzog sich etwas Sonderbares, Neues
der Diagnose ab, von einer schwierigen Diagnose, die noch nicht endgültig und so Bedeutungsvolles, wie er es bedeutungsvoller noch nie im Leben
gestellt ist. erlebt hatte. Und dabei wullte nur er allein darumlHervorhebung von mir,
Nach Hause zurückgekehrt, erzählt er das alles seiner Frau, die ihm je- Ph. A.].. Er läßt sich jedoch nicht gehen und hält sein Leiden geheim, aus
doch Gleichgültigkeit und Optimismus vorspielt. Sie ist einfältig und egoi- Angst, seine Umgebung zu beunruhigen und der Sache, die er da in sich
stisch; aber auch eine andere, warmherzigere Gattin würde nach außen wachsen spürt, noch mehr Dauerhaftigkeit zu verleihen, wenn er sie be-
dasselbe Verhalten an den Tag legen: entscheidend ist, den Kranken in Si- nennt. §trie die Diagnose Unruhe weckt, so droht die Gewißheit sie noch zu
cherheit zu wiegen. ,Er hielt den Atem an, solange sie noch im Zimmer vermehren. Die Macht der'§ü'orte in der moralischen Einsamkeit, in der der
war, indes als sie das Gemach verlassen hatte, schöpfte er tief Luit. ,Na Kranke sich einrichtet, ,...während seine Umgebung ihn nicht begriff
schön,, sagte er. ,Es kann ja sein, daß es in der Tat noch nichts ist... oder vielleicht auch nicht begreifen wollte und sich der Ansicht hingab, daß
Damit ist Ivan Iljitsch in die ärztlich-medizinische Sphäre eingetreten. alles auf der lVelt genauso ginge wie zuvor.<< In der Tat kommt es nun
jener Zeit, da Ivan Iljitsch den Arzt aufgesucht hatte, war die genaue darauf an, alle Anlässe für emotionale Anteilnahme zu vermeiden, alle pa-
"Seit
Befolgung der Vorschriften des Arztes über Hygiene und das Einnehmen thetischen Ergüsse hintanzustellen; ein Klima alltäglicher Banalität muß
der Medizin zu seiner Hauptbeschäftigung geworden, freilich auch die Be- aufrechterhalten werden, denn nur unter dieser Bedingung kann der
obachtung seiner eigenen Schmerzen und aller Verrichtungen seines Orga- Kranke sich den Mut bewahren. Er muß alle seine Kräfte zusammenneh-
nismus [d. h. der zur Diagnosestellung erforderlichen Symptome]. Ivan Il- men, um das zu erreichen. Entmutigen wir ihn also nicht dabei.

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[]
So richtet man sich in einem komödiantischen Rollenspiel ein: er sich. ,Nicht um den Blinddarm handelt e s sich, nicht um die Niere, son-
"Zuwei-
len dagegen zogen ihn seine Freunde burschikos mit seinem Pessimismus l
dern um Leben . . . und Tod.,o "Ja, das war das Leben, und nun geht es hin,
auf, als wäre das Entsetzliche, Furchterregende und Unerhörte, das sich in geht hin, und ich kann es nicht aufhalten. Ja. \Wozu sich betrügen? Ist es
seinem Innern eingenistet hatte, unaufhörlich an ihm saugte und ihn unauf- nicht allen mit Ausnahme von mir klar, daß ich am Sterben bin und daß es
haltsam irgendwohin zog, der allernatürlichste Gegenstand für Späßchen." nur noch eine Frage von \Yochen ist, von Tagen . . . ietzt gleich vielleicht."
Seine Frau tut so, als glaubte sie, er sei nur deshalb krank, weil er seine Er ist noch in diese Grübeleien verstrickt, als seine Frau eintritt . . . Sie weiß
Arzneien nicht regelmäßig nimmt und seine Diät nicht einhält. Sie behan- Bescheid, weiß aber nicht, daß auch er nun Bescheid weiß. Seit ihr Bruder
delt ihn wie ein Kind. ihr die Augen geöffnet hat, begegnet sie ihm ,mit einem besonders schwer-
Das hätte noch lange so weitergehen können, härte Ivan Iljitsch nicht mütigen und ungewohnt gütigen Ausdruck". Die beiden Menschen könn-
eines Tages zufällig eine Unterhaltung zwischen seiner Frau und seinem ten also in einer beiden bewußten \Y/ahrheit zusammenfinden. Ivan Iljitsch
Schwager mitangehört, die sich um seinen Zustand drehte; aber hat nicht mehr die Kraft, die Mauer zu übersteigen, die er selbst au{ge-
"Siehst du
nicht", sagte brutal der Schwager, odaß er so gut wie tot ist.« Das ist eine richtet hat, unter Mitwirkung seiner Familie und seiner Arzte. "Voller Ver-
Neuigkeit. Ivan Iljitsch wußte bisher nicht, und fraglos auch seine Frau zweiflung fiel er keuchend auf den Rücken zurück, denn er dachte, daß er
nicht, daß man ihn bereits als roren Mann ansah. Vird er sich nun dagegen jetzt sofort sterben müsse. - doch er begnügt sich damit, zu seiner Frau zu
auflehnen ? Nein, er reagiert zunächsr so, als härre er die Bedeutung dieses sagen, um seinen verwirrten Zustand zu erklären: ",Nichts Besonderes. Ich
Fingerzeiges nicht richtig erfaßt, habe unversehens etwas umgewor{en.,. ,,§üas soll ich ihr denn sagen? Sie
"er enrfernte sich von der Tür und ging
wieder in sein Zimmer zurück, dort legte er sich hin und grübelte". §üor- wird es ja doch nicht verstehen., dachte er." Die Lüge hat in ihrer Bezie-
über? Über den Tod, den er in sich trägt und den alle \Welt ihm ansehen hung feste'§flurzeln geschlagen.
kann ? Ganz und gar nicht : Auch der Arzt spielt bei der Komödie mit. Er tritt ins Zimmer mit einem
"Die Niere, eine §(anderniere., wiederholt er
für sich, wie um die Bedrohlichkeit des kleinen gehässigen Satzes zu be- Gesichtsausdruck, oder etwa folgendes sagte: ,Da habt ihr euch wieder mal
schwichtigen, der in ihn eingesickert ist. über etwas erschreckt, aber das werden wir gleich haben.." Noch nach einer
"Er erinnerte sich dabei an das,
was ihm die Arzte erzählten: wie es wäre, wenn eine Niere sich losreiße und letzten Konsultation eines berühmten Spezialisten und obwohl es dem
herumzuirren beginne. Unter großer Anstrengung der Phantasie gelang es Kranken immer schlechter geht, wird es "auf einmal allen angst und bange,
ihm endlich, die Niere zu fassen, sie anzuhalten und zu befestigen.o daß damit auch die gesellschaftliche Lüge zerstört werden könnte und allen
Er erhebt sich und geht spornstreichs zu einem neuen A,rzt.Er hält sich klarwerden müßte, wie es sich in Virklichkeit verhielte".
den Tod vom Leibe, indem er ihn mit der Krankheit maskiert. Schließlich beginnt eine lange Nacht, in der Ivan Iljitsch in aller Stille die
"Und alsbald fand in seiner Einbildungskraft die gewünschte Besserung Leiden und Unbilden der körperliihen Krankheit und die metaphysische
des Blinddarms statt. Ein Prozeß des Aufsaugens und des Ausscheidens Angst auf sich nehmen muß. Niemand hilft ihm bei dieser Durchquerung
- und die regelmäßige Tätigkeit war wiederhergestellt." Er spürt, daß es des Tunnels, nur ein junger Muschik, der ihn betreut. ,Das, was Ivan Il-
nun besser geht. jitsch am meisten quälte, war die Lüge - jene aus irgendeinem Grunde von
Die Vorwarnung, den Fingerzeig hat hier also der Zufall gegeben; doch allen verbreitete Lüge, daß er nur krank sei und keineswegs auf den Tod
eswird immer etwas derartiges passieren, die Isolierung des Kranken ist nie daniederläge und daß er sich nur ruhig verhalten und sich kurieren lassen
so hermetisch, daß er nicht irgendwelche Zeichen auffangen könnte. Die müsse, danrit etwas sehr Schönes ciabei herauskomme [die Fortdauer der
heutigen Arzte wissen das und rechnen auf den Zufall, der es ihnen ersparen Konvention, die den Kranken als Kind behandelt, Folge der \Weigerung,
soll, direkt einzugreifen. Die Vorwarnung ist in den \ü/ind geschlagen wor- ihm die Schwere seines Zustandes zu erkennen zu geben]. Denn er wufite
den, hat sich aber doch ihren V/eg ins abgekapselte Bewußtsein gebahnr, ja: was immer auch getan wurde, es konnte nichts dabei herauskommen,
und es bedarf nur einer Viederkehr des Schmerzes, damit die Illusion sich außer noch qualvolleren Leiden und dem Tode. Und ihn quälte diese Lüge,
endgültig zersrreut und die \tr(ahrheit ins Auge springt. Mit einem Schlag es quälte ihn, daß jene nicht eingestehen wollten, was alle wußten und was
begreift Ivan Iljitsch, daß es um den Tod geht:
",Blinddarm ! Niere !. sagte auch er selber wußte, sondern daß es ihr lVille war, ihn angesichts seiner

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entsetzlichen Lage zu belügen, und daß sie nicht nur wünschten, er solle
r hattel einen weißen Niederschlag, der sich am Porzellan ansetzte' [' ''] D"
selber an dieser Lüge teilnehmen, sondern daß sie ihn sogar dazu zwangen. ,t.ich ., ihr mit der Hand sacht und fast v,,ie liebkosend über den Magen.
Lüge - diese noch am Vorabend seines Verscheidens sich über ihm vollzie- Sie stieß einen schrillen schrei aus. [.. .] sie wurde bleicher als das
Bettuch,
hende Lüge, die die furchtbare und feierlicbe Tatsache seines Todes 1...f in das ihre Finger sich krampfhaft einkrallten. [. . .] Kalte Schweißtropfen
berabdrüchen muflte, [. . .] dies war für Ivan Iljitsch das allerqualvollste." rannen über ili Ul;ullct erstarrtes Gesicht [' . ']. Die Zähne schlugen ihr
Merkwürdig ! Mehr als einmal ist er versucht, sie anzuschreien, während sie gegeneinander, ihre erweiterten Augen irrten ausdruckslos umher' [' ' ]
sich um ihn herum noch ihre kleinen Geschichten ausdenken: "Hört auf zu ÄimEhlich wurde das Stöhnen heftiger. Ein dumpfer Aufschrei entrang
ihre
lügen ! Ihr wißt es, und ich weiß es ebensogut, daß ich sterben muß, so hört sich ihr. [. . .] Ihre Lippen preßten sich noch krampihafter zusammen'
doch wenigstens zu lügen auf ! Und dennoch hatte er sich niemals getraut, Gliedmaßen krümmien sich, ihr Körper war bedeckt mit braunen Flecken,
es zu tun.« Er ist der Gefangene der Rolle, die er sich hat aufzwingen lassen und ihr Puls {ühlte sich an wie ein straif gespannter Faden, wie eine Saite' die
und die er sich selbst aufgezwungen hat. Die Maske ist ihm durch Gewohn- am Zerreißen ist. Dann begann sie grälllich zu schreien' [Und die Agonie
heit festgewachsen, er kann sie nicht mehr herunterreißen. Also ist er zur wird ohne jede Beschönigung beschrieben.] Emmas Kinn war ihr auf die
Lüge verdammt. Vergleichen wir diese Formulierungen aus den Jahren um Brust gesunken, ihre Augen standen unnatürlich weit offen, und ihre armen
1880 -
"Die Lüge, die die furchtbare und feierliche Tatsache seines Todes Hände rasteren über das Bettuch hin, mit jener schauerlich san{ten Bewe-
[. . .] herabdrücken mußte" - mit den letzten Vorten des Paters F. de Dain- gung der sterbenden, die aussieht, als wollten sie sich selber schon mit dem
ville an seinen Mitbruder Pater Ribes, als er 1973 mit Schläuchen und Röh- i.iÄ.ntr.h bedecken. [. . .] Ihre Brust begann alsbald heftig zu keuchen.
ren gespickt auf einer Intensivstation lag :, I ch uerde am meinen Tod betro- Die Zunge trat ganz aus dem Munde, die Augen rollten in den Höhlen und
gen.. (5) §flie sehr sie einander doch über fast ein Jahrhundert hinweg erbleichten wie zwei erlöschende Lampenglocken ' ' '"
ähneln ! Emma Bovarys Todeskampf ist kurz. Die Krankheit Ivan Iljitschs dage-
gen ist lang, und die Gerüche und die Art der Pflege, die sie erfordert,
*".h"n sie abstoßend und - was sie bei den Ferronays, bei den Brontös
Der schmutzige Tod oder bei Balzac nie gewesen war - ungehörig, anstößig. "Die furchtbare, die
entsetzliche Tatsache seines langsamen sterbens wurde von seiner ganzen
Das andere neue Phänomen, das neben der Maskierung des Todes durch die Umgebung, das sah er nur zu deutlich, auf die Stufe einer zufälligen L]nan-
Krankheit und das Lügengewebe im Umkreis des Sterbenden in den Be- n.t-U.tt .it herabgedrückt, gewissermaßen einer Unschicklichheit (etwa
schreibungen Tolstois deutlich wird, ist der schmutzige und ungehörige derart, wie man mit einem Menschen umgeht, der einen Salon betritt und
Tod. dabei üblen Geruch um sich verbreitet), und zwar nach dem Prinzip iener
In den langen Todesschilderungen der La Ferronays oder der Brontös ist gleichen ,wohlanständigkeir., deren Anhänger er sein ganzes Leben hin-
an keiner Stelle von der Schmutzigkeit jener schweren Krankheiten, die durch gewesen war.«
zum Tode führen, die Rede. Da war noch viktorianische Scham am Verk, Eben deshalb ist die Reinlichkeit zu einem bürgerlichen'§fert geworden.
die sich weigerte, auf die Ausscheidungen des Körpers zu sprechen zu Der Kampf gegen den staub ist die erste Pflicht einer viktorianischen Haus-
kommen, auch wohl ein gut Teil Gewöhnung an die üblen Gerüche, an die hälterin. Die christlichen Missionare verpflichten ihre Katechumenen
abstoßende Seite des Schmerzes. ebenso sehr auf die Sauberkbit des Körpers wie auf die der Seele, deren
Bei Tolstoi hingegen ist der Tod schmutzig. Er war es bereits, und das ist zeichen sie ist. und noch heute beruft sich die Hetze gegen die langen
recht bemerkenswert, im Jahre 1857 bei Flaubert, der dem Leser keinen Haare der jungen Leute so*ohl auf die Hygiene als auf die moralische Sit-
Blutauswurf, keinen Brechreiz seiner entstellten Todgewe ihten, Mme. Bo- tenordnung. Ein sauberer hat auch die chance, saubere Ansichten zu
Junge
vary, erspart. Die Brechreize überkommen sie so plötzlich, "daß sie kaum entu,ickeln: er ist gesund,
noch Zeit hatte, ihr Taschentuch unter dem Kopfkissen hervorzuziehen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hört der Tod ganz allgemein
[. . .] Karl bemerkte auf dem Boden des Nap{es [in den sie sich erbrochen auf, immer nur als schön wahrgenommen zu werden; man hebt sogar seine

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I
abstoßenden Züge hervor. Sicher, die makabren Dichter des 15. und 16. busse, Sartre oder Genet öffnen bereits die bloße Vorstellung des Todes und
Jahrhunderts, Ronsard und andere, hatten ein Gefühl hefriger Abwehr an- die Angst, die er einflößt, die Schließmuskeln und rekonstituieren so bei
gesichts der Abgelebtheit des Alters, der Verunstaltungen der Krankheit, voller Gesundheit die schmutzige Realität der Krankheit. Die Zelle des
der Schlaflosigkeit, die die lVangen aushöhlt, der ausfallenden Zähne und zum Tode Verurteilten oder des Hingerichteten wird ebenso ekelhaft wie
des stinkenden Atems zu erkennen gegeben; aber sie übersteigerten nur das das Zimmer des Schwerkranken. Dieses Modell beruht auf der Unmöglich-
Thema des Verfalls in einer Zeit, daeine brutalere und realistischere Einbil- keit, die Konventionen des schönen und patriotischen Todes, des Todes des
dungskraft den verfallenden Leichnam und die häßiichen Innereien des jungen Tambours vom Pont d'Arcole, auf die Hekatomben des 20. Jahr-
menschlichen Körpers entdeckte. Diese Innereien erschienen damals bei hunderts anzuwenden, auf die Massaker der \{eltkriege, die Menschenjag-
weitem abstoßender als das Außere eines Greises oder Kranken. den und die langsamen Folterqualen. Die angeblichen Helden "scheißen
Dennoch hat im 1 8. und beginnenden 1 9. Jahrhundert der würdige Patri- sich in die Hosen., und die wahren Helden sind zunächst einmal damit
arch von Greuze den verhutzelten Greis des ausgehenden lr{ittelalters ver- beschäftigt, alles zu tun, damit es ihnen nicht ebenso ergeht (s. Sartres Er-
drängt: er steht dem romantischen Motiv des schönen Todes näher. Gegen zählung Die Mauer).
Ende des 19. Jahrhunderts sieht man dann aber, wie sich die scheußlichen In der dramatischen Literatur der sechziger Jahre stirbt der Offizier in
Bilder der makabren Epoche, die seit dem 17. Jahrhundert verdrängt wor- Jean Genets Les Parauents (Wände überall) unter den Fürzen seiner Solda-
den waren, erneut Geltung verschaffen, wenn auch mit dem Unterschied, ten und der Eremit des Engländers Saunders unter seinen eigenen. Dieses
daß alles, was im Mittelalter mit der Verwesung nach demTode in Verbin- Todesbild mündet in der Literatur schließlich in den Skandal und in den
dung gebracht worden war, nun auf den Vorboten desTodes bezogen wird : blanken Hohn. Es gehört freilich auch zu einer Folklore der alten Kämp{er,
auf die Agonie. von der sich die Schriftsteller möglicherweise haben beeinflussen lassen.
Der Tod flößt nicht mehr nur wegen seiner absoluten Negativität Angst
ein, sondern verursacht auch geradezu Übelkeit, genau wie irgendein ekel-
erregendes Schauspiel. Er wird unscbichlicb, wie die biologischen Vorgänge Die Einlieferung ins Krankenhaus
im Menschen, wie die Ausscheidungen seines Körpers. Es isr unanständig,
ihn vor der Offentlichkeit auszubreiten. Man erträgt es nicht mehr, daß Die zweite Entwicklungslinie, die bereits bei Tolstoi angelegt ist, führt zum
jeder beliebige in ein Zimmer eintreten kann, das nach Urin, Schweiß, heimlichen Tod im Krankenhaus, der in den dreißiger Jahren unseres Jahr-
\(undbrand oder schmutzigen Bettlaken riecht. Man muß den Zutritt un- hunderts einsetzte und seit den fünfziger Jahren zur Regel geworden ist.
terbinden, außer für einige Nahestehende, die in der Lage sind, ihren Ab- Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es nicht immer leicht, das Zimmer
scheu zu überwinden, oder für die unabdingbaren Krankenpfleger. Ein eines Sterbenden abzuschirmen gegen linkische Mitleidsbekundungen, in-
neues Bild des Todes ist im Entstehen begriffen: der gemeine und heimliche diskrete Neugier und was sonst noch lebendig geblieben war vom alten
Tod, heimlich eben deshalb, weil er gemein und schmutzig ist. Geist der öffentlichen Anteilnahme am Tod. Es war solange schwierig, wie
Aus den ersten, bereits recht klaren Ansätzen bei Flaubert und Tolstoi dieses Zimmer ein Ort in der kleinen Privatwelt des eigenen Hauses geblie-
entwickelt sich das Thema fortan in drei Richtungen, die so verschieden ben war, außerhalb des Herrschaftsbereichs der bürokratischen Diszipli-
sind, daß man ihnen ihren gemeinsamen Llrsprung kaum noch ansieht. Die nen, der einzigen wirklich effizienten. Indessen ertruBen die Mitbewohner
erste läu{t auf ein außergewöhnliches und skandalöses Modell hinaus, das des Hauses, Familie und Domestiken, diese Promiskuität der Krankheit
auf eine bloße Protestlireratur beschränkt geblieben wäre, hätten es die immer schlechter. Je weiter das 20. Jahrhundert vorrückte, desto lästiger
Kriege und Revolutionen von 1914 bis in unsere Tage den kämpfenden wurde die Anwesenheit des Kranken im Hause. Das rasche §V'achstum in
Parteien nicht einigermaßen wahrscheinlich gemacht. Es ist ein Todesmo- Sachen Komfort, Intimität und persönlicher Hygiene hat uns alle empfind-
dell von Schriftstellern und Soldaten. licher gemacht: ohne daß wir etwas dafür könnten, ertragen unsere Sinne
Bei Flaubert und Tolstoi war ein Tod schmutzig, der als Folge einer nicht mehr die Anblicke und Gerüche, die, im Verein mit dem Leiden und
Krankheit eintrat. Im Modell der Kriegsschriftsteller wie Remarque, Bar- der Krankheit, zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Bestandteil der All-

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tagswirklichkeit waren. Die physiologischen Begleiterscheinungen des Der Tod M6lisandes
menschlichen Lebens sind aus der Alltagswirklichkeit ausgebürgert und in
die aseptische Velt der Hygiene, der Medizin und der Sittlichkeit verwie- Nach dem schmutzigen Tod und dem einsamen Tod im Krankenhaus führt
sen worden. Und diese \(elt hat ein exemplarisches Modell : das Kranken- uns eine dritte Entwicklungsrichtung von Tolstoi zu Maeterlinck, Debussy
haus mit seiner Zellendisziplin. und ihrem heutigen Kommentator, Vladimir Jank6l6vitch. Ein verschämter
Außerdem war die Last der Fürsorge und des Viderwillens {rüher von und zurückhaltender, aber kein schamhafter Tod, der ebenso weit von dem
einer regelrechten kleinen Gesellschaft von Freunden und Nachbarn mit- des Sokrates oder vom Tod Elvires entfernt ist wie von dem des Helden der
getragen und geteilt worden, die in den unteren Schichten und auf dem Mauer : der Tod M6lisandes.
Lande zwar weitläufiger war, aber auch im städtischen Bürgertum noch Jank6ldvitch mag den schönen Tod der Romantiker nicht. "Bei den ro-
existierte. Diese teilnehmende Gruppe ist jedoch kontinuierlich ge- mantischen Musikern [denn die Musik ist eines seiner bevorzugtesten Mit-
schrump{t, um sich schließlich nur noch auf die nächsten Angehörigen, ia tel, den Dingen au{ den Grund zu gehen], die vor allem der Maiestät des
sogar auf das Ehepaar allein zu beschränken, bei Ausschluß der Kinder. In Todes Ehre erweisen, dehnen die Aut'blähungund die EmpbaselHervorhe'
den Städten des 20. Jahrhunderts hat der Au{enthalt eines Schwerkranken bung von mir, Ph. A.] den Augenblick so lange hin, bis er zur Ewigkeit
in einer kleinen §Tohnung die gleichzeitige Ausübung von Beruf und Kran- wird. [. . .] Das große Trauerfest mit seinen feierlichen Totengeleiten und
kenpflege zum reinen Heroismusirerden lassen. seiner Prunkent{altung ermöglicht es dem Augenblick, seine Momenthaf-
Uberdies haben die Fortschritte der Chirurgie, die langen und an- tigkeit zu überschreiten , zt strahlen rDie eine Sonne rm Umkreis ihres feuri-
spruchsvollen Behandlungsarten und die Einbeziehung schwerfälliger Ap- gen Kerns. An die Stelle des unmerklichen Augenblicks tritt der aerhlärte
paraturen immer häufiger dazu geführt, daß der Schwerkranke nur noch Augenblick." So ist es, und Jank6l6vitch hat ebenso deutlich auch die histo-
"stationär« gepflegt werden kann. Seither ist die Klinik, ohne daß man es rische Beziehung zwischen dieser Glorifizierung des Todes und einer an-
immer zugibt, für die Familien ein Asyl, wo sie ihren lästigen Kranken, den thropomorphen Eschatologie gesehen, die "das Nichts mit Schatten bevöl-
weder sie selbst noch die Umwelt länger ertragen mögen, einliefern und kert, das blinde Fenster des Todes ebenso transparent macht wie die klare
verstecken können, um derart die Last einer ohnehin unzulänglichen Pflege Nacht, das Jenseits zum fahlen duplicatum des Diesseits erhebt und sich
besten Gewissens anderen aufzuhalsen und selber wieder ihr normales Le- wer weiß welche absurden Tauschhandlungen zwischen Lebenden und
ben zu führen. \{iederkehrenden ausmalt. " (7)
Das Zimmer des Sterbenden hat den Ort gewechselt und ist aus dem Bei Jank6ldvitch stoßen wir auch wieder auf das Gefühl der Unschick-
eigenen Heim ins Krankenhaus verlagert worden. Aus technisch-medizini- lichkeit des Todes, das wir schon bei Tolstoi entdeckt hatten. Diese Un-
schen Erwägungen ist diese Verlagerung von den Familien gebilligt und schicklichkeit aber hat sich nun wesentlich verändert: sie ist nicht mehr
durch ihre Mittäterschaft erleichtert und verallgemeinert worden. Das Ekel angesichts der Zeichen des Todes, die Jank6l6vitch durchaus nicht au-
Krankenhaus ist heute der einzige Ort, wo der Tod noch mit Sicherheit ßer acht läßt; sie ist nicht etwas, was sich nicht gehört, was gegen die Regeln
einer inzwischen selbst als unschicklich geltenden öffentlichkeit (oder der Schicklichkeit verstößt und verborgen, verheimlicht werden muß; sie
dem, was davon geblieben ist) entrinnen kann. Deshalb wird das Kranken- hat sich in Scbam verwandelt. "Die Art von Scham, die der Tod einflößt,
haus auch zum Ort des einsamen Todes. Bei seiner lJntersuchung der Ein- hängt größtenteils mit diesem undenkbaren und unbeschreiblichen Cha-
stellungen zum Tode im heutigen England hat Geo{frey Gorer 1963 ent- rakter des letalen Zustandes zusammen. Denn es gibt eine Scham des met-
deckt, daß nur ein Viertel der von ihm befragten "Leidtragenden" (berea- empirischen Stillstands, so wie es eine Scham der biologischen Kontinua-
ved)beim Tod ihrer nächsten Angehörigen anwesend war. (6) tion gibt. rWenn schon die Viederholung periodisch auftauchender Bedürf-
nisse etwas Ungebührliches an sich hat, so ist der Umstand, daß ein Blut-
pfropf ganz plötzlich das Leben unterbricht, seinerseits ungebilbrlich
[Hervorhebung von mir, Ph. A.]." Diese zu Scham gesteigerte Ungebühr-
lichkeit scheint für Jank6l6vitch am Ursprung jenes zeitgenössischen Ver-

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botes zu stehen, das den Tod verbannt. Die Beziehung ist für den Histori- zubringen, weil sie sterben müssen." E,r rncinte offenbar, daß man diese
ker von Interesse. "Das tabuisierte \ü7ort Tod - ist es nicht vor allem der Entscheidung für das Nichtreden respektieren müsse, daß sie mutig sei und
unaussprechliche, unnennbare, uneingesrehbare Einsilbler, den der ans daß es Mittel und'§(ege gäbe, einander auch etwas in versteckten Anspie-
Zwischenreich angepaßte Durchschnittsmensch schamhaft in schickliche lungen mitzuteilen, ohne die Komplizenschaft des Schweigens zu brechen.
und anständige Umschreibungen zu kleiden sich schuldig ist?" Man muß Nach dem Tod der alten Dame fand man tatsächlich Aufzeichnungen, die
die Bedeutungen wohl nicht allzu sehr vergewaltigen, um eine Beziehung bewiesen, daß sie sich keine Illusionen gemacht hatte. An ihrem Bett klagte
zwischen dem zeitgenössischen Todesverbot und der romantischen Em- ihr Sohn: "Sie hat uns nicht einmal Lebewohl gesagt" - so wie der alte
phase annehmen zu können ("die Umschreibungen"), jenem ersten Ver- König nach dem letzten Seufzer Mdlisandes seinerseits seufzte: "Sie geht
such, die unnennbare Realität zu maskieren. Der erste Versuch hat sich der hin, ohne ein Wort zu sagen.«
Rhetorik bedient, der zweite - im 20. Jahrhundert - des Schweigens.
Die Ungehörigkeit eines Ivan Iljitsch ist also zu Scham geworden, und
das Biid des schamhaften Todes ist das des Todes von Mdlisande. Sie ist Die letzten Augenblicke und die Tradition
keine einsame Tote. In ihrer Kammer über dem Meer gibt es ein Publikum,
den alten, weisen und beredten König; er spricht viel; er ist nicht zum Zur Zeit, da Tolstoi schrieb, begann das Bürgertum unter der romantischen
Schweigen zu bringen, wie die wirklichen Lebenden. Und während seines Emphase die Unschicklichkeit des Todes zu entdecken. Es war noch zu
Redeflusses stirbt M6lisande, ohne daß er es bemerkt: "Ich habe nichts früh, als daß der §ü'iderwille die Oberhand über die herkömmliche Öffent-
gesehen . .. ist habe nichts gehört. .. So rasch, so rasch... mit einem lichkeit des Todes gewonnen hätte oder daß es ihm gelungen wäre, den
Schlage . . . Sie geht hin, ohne ein Wort zu sagen.« Sterbenden bis zum letzten Seufzer zu isolieren, wie es später Virklichkeit
M6lisande war fraglos eine der ersten, die sich, um mit Jank6l6vitch zu wurde, namentlich im Krankenhaus. Deshalb ist gegen Ende des 19. Jahr-
sprechen, "pianissimo und gleichsam auf Zehenspitzeno davonmachten. hunderts ein Kompromiß geschlossen worden zwischen dem öffentlichen
"Sterben macht keinen Lärm. Ein Herzstillstand macht keinen Lärm. Für Tod der Vergangenheit und dem, was später zum heimiichen Tod werden
Debussy, den Poeten des pianissimo und der äußersten Knappheit, war der sollte, ein Kompromiß, der bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts gültig
Augenblick wirklich die fltichtige Minute." (8) Für Debussy gestern, für blieb und der genau dem Tod des Ivan Iljitsch entspricht.
Jank6l6vitch und die agnostischen Intellektuellen heute, aber auch für man- In der Einsamkeit, in die ihn die Lüge einschloß wie in ein abgelegenes
che unserer Zeitgenossen, Durchschnittsmenschen, Gläubige oder nicht, Studierzimmer, begann Ivan Iljitsch nachzudenken. Er ließ den Film seines
die ihren Mut in ihr Schweigen legen. Lebens an sich vorbeiziehen, er bedachte seinen Tod, den sich einzugeste-
Es war zu Beginn der sechziger Jahre. Ein Sohn vertraure seine Sorge hen ihm nicht gelang und der sich ihm doch allmählich als Gewißheit ab-
einem Priester an, der seiner siebzigjährigen, schwer krebskranken Mutter zeichnete.
beistand. Er war sich der neueren Gefühlsentwicklung angesichts des Todes Fraglos folgen noch heute, da das Schweigen abgrundtief geworden ist,
sowie der wachsenden Geltung seines Verbotes noch nicht bewußt; er be- die Todgeweihten denselben Spuren wie Ivan Iljitsch.
wahrte sich das Andenken an den manifesten und noch öffentlichen Tod Jüngere soziologische Untersuchungen machen deutlich, daß der
seiner Großeltern, dem er dreißig Jahre zuvor beigewohnt hatte. Ihn befiel Glaube an ein Leben nach dem Tode bei Menschen von christlicher Her-
eine wachsende Unruhe über das Schweigen, zu dem seine Mutter offenbar kunft, vor allem bei den Jüngeren, sehr viel rascher verfällt als der Glaube
ihre Zuflucht nahm. Nichts ließ darauf schließen, daß sie von ihrem Zu- an Gott. Dennoch haben die zwischen 1965 und 1972 an360 Sterbenden
stand wußte. Er verstand dieses Schweigen nicht und hat es auch später nie gemachten Beobachtungen erwiesen, daß 84% von ihnen die Möglichkeit
verstanden. Er erinnerte den Beichtvater an die traditionelle Mission des eines Lebens nach dem Tode einräumten, gegenübe r nur 33"/o aller Be{rag-
nuntius mortis. Der Priester aber, der f rüher selbst Arzt gewesen war, erwi- ten. (9) Zweifellos macht sich gerade in dieser Phase stiller Rekapitulation
derte ihm: "Man sieht, daß Sie keine Erfahrung mit alten Frauen haben, wie des eigenen Lebens auch die Hoffnung auf ein Jenseits wieder geltend.
ich sie im Altersheim erlebt habe, die ihre Zeirmit Stöhnen und lVeinen Bei Ivan Iljitsch währt diese Phase lange. Er leidet, aber zeigt es nicht. Er

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schließt sich in seiner Einsamkeit und seinem Traum ein und kommuniziert Ebenso Ivan Iljitsch, der, als er endlich scin mehrere Tage oder'§ü'ochen
nicht mehr mit seiner Umwelt. Er kehrt sich, auf der Seite liegend, der langes aggressives Schweigen bricht, die Augen öffnet, sich wieder seiner
\fand zu, eine Hand unter die '§üange geschoben und damit instinktiv die Umwelt zuwendet, seinen Sohn wahrnimmt, der ihm die Hand küßt, und
alte Stellung der Todgeweihten einnehmend, die mit der lVelt und den Men- seine Frau, die ,mit offenem Munde (dastand), Tränen überströmten ihre
schen abgeschlossen haben. So lagen die Juden des Alten Testaments; an Nase und ihre \(angen". Die Situation hat sich also im Verhältnis zu dem,
diesem Zeichen erkannte man noch im Spanien des 16. Jahrhunderts die nur was sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts war, ins Gegenteil verkehrt. Der
oberflächlich christianisiert en marrafios ; so starb auch Tristan : "Er kehrte Sterbende hat nun Mitleid mit seinen Angehörigen. Er begreift, daß er von
sich der'§V'and zu." Heute sehen die Schwestern kalifornischer Kranken- dannen zu gehen hat. Er verlangt, daß sein Sohn aus dem Zimmer geführt
häuser, die von B. G. Glaser und A. L. Strauss befragt worden sind, in wird, denn der Anblick des Leidens und des Todes könnte die Kinder über-
dieser altüberkommenen Geste nur die unfreundliche §(eigerung, mit ih- mäßig in Mitleidenschaft ziehen, und so wird ihre Gegenwart bei diesem
nen zu kommunizieren. (10) gräßlichen und gleichsam obszönen Schauspiel künftig nicht mehr zugelas-
Allerdings geht Ivan Iljitschs Verhalten jetzt direkt in Aggressivität über. sen. (Als Emma Bovary nach ihrer kleinen Tochter verlangt, geschieht fol-
Sein Zustand verschlimmert sich, sein Leiden wird heftiger. Eines Mor- gendes: ",Ich hab Angst !. sagte die Kleine und wollte fort [als ihre Mutter
gens, als seine Frau hereintritt und ihm von neuen Arzneimitteln erzählt, ihre Hand küssen wollte] ... ,Genug! Bringt sie weg!. rief Karl schluch-
erwidert er ihr mit ha$ert'ülltem Blick: "Um Christi willen, laß mich doch zend aus dem Alkoven.")
wenigstens ruhig sterben." Die ärztlichen Psychologen, die, wie etwa Elisa- Ivan Iljitsch sagt zu seiner Frau: ",Sehr leid . .. auch du. . .,, er wollte
beth Kübler-Ross, das Verhalten von Sterbenden untersucht haben, bestäti- noch sagen ,leb wohl., allein er versprach sich dabei . . ." Sein Todeskampf
gen die Existenz dieser aggressiven Phase, die sie kanalisieren und sich zu- dauert zwei Stunden. Tolstoi versichert uns, daß er in der Gnade stirbt.
nutze machen möchten. Ivan Iljitsch weist also Frau, Kinder und Arzt ab Diese ganze letzte Phase des Todes steht, bis auf einige Details wie das
und überläßt sich seinem Schmerz, den er zuvor so angestrengt zu verheim- Herausführen der Kinder, in Übereinstimmung mit dem romantischen To-
lichen sich bemüht hatte. "Die ganzen letzten Stunden hindurch schrie er, desbild.
ohne aufzuhören. Drei geschlagene Tage hindurch schrie er so in einem Der psychologische Viderspruch zwischen den beiden Modellen des
fe11«, gesteht seine Frau einem Freund. Und dann stellt sich jene wind- heimiichen und des öffentlichen Todes, die hier vor und während der Ago-
stillenartige Ruhe ein, die auch von den Medizinern als allgemeines Phäno- nie nebeneinandergestellt worden sind, tritt sehr deutlich in der Einstellung
men bestätigt wird. "Unmittelbar vor dem Tode [mindert sich] das Bedürf- der Hinterbliebenen zutage. \7ährend der ersten Phase haben sie Theater
nis nach schmerzstillenden Mitteln", beobachten heutige Arzte bei Ster- gespielt und Ivan Iljitsch die §(ahrheit vorenthalten. Sie hätten ausharren
benden. "Viele Kranke zeigen dann eine kurze Phase der Remission, eine und bedauern müssen, daß Ivan Iljitsch schließlich doch noch genug Be-
gesteigerte Vitalität, verlangen wieder freudig nach Nahrung, und ihr All- wußtseinsklarheit hatte, seinen nahen Tod zu erkennen und die letzte Phase
gemeinbefinden scheint sich zu bessern. (G. Iü(litzel). Ivan Iljitsch auf sei- in aller Deutlichkeit mitzuverfolgen. Das ist übrigens genau das, was man
nem einsamen rVeg wird gewahr, wie der Sterbende der ars moriendi, "daß sich später, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, wünscht: "§/enigstens haben
er nämlich sein Leben nicht in der rechten Art geführt hi11s", 2ber er redet wir die Befriedigung, daß er seinen Tod nicht gespürt hat" - zu ergänzen:
sich ein, daß ,das vielleicht noch wiedergutgemacht werden. könnte. Die Todesangst ist ihm erspart geblieben.
Emma Bovary erlebt einen ähnlichen Aufschub. Als sie den Priester ein- Demgegenüber antwortet die Frau von Ivan Iljitsch am Tage der Kondo-
treten sieht, scheint sie "freudig bewegt" zu sein. "Ohne Zweifel empfand lenzbesuche ganz bereitwillig ernem Besucher, der sie fragt, ob er bis zu-
sie, inmitten einer tiefen Bescbuicbtigung, wieder etwas von jener einstigen letzt bei Besinnung gewesen sei: "Ja, bis zur letzten Minute. Eine Viertel-
'Wonne ihrer ersten mystischen Entzückungen und sah mit den Augen des stunde vor seinem Tod,e nabm ert)on uns Abscbied [Hervorhebung von
Geistes einen ersten Schimmer ewiger Glückseligkeit." Der Priester gibt ihr mir: wir sind hier noch nicht bei M6lisande] und bat dabei, rVolodja fortzu-
die Letzte Olung. "Ihr Gesicht hatte den Ausdruck stiller Heiterkeit ange- führen. "
nommen, als ob das Sakrament sie wieder gesund gemacht hätte."

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Sehr zurückhaltende Leichenbegängnisse in seinem Buch beschrieben. f)iesmal entschloß er sich, dem Phänomen
nicht mehr als Essayist, sondern als Soziologe und auf wissenschaftliche
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts war also die psychologische Disposition Art zu Leibezu rücken. So unternahm er 1963 eine soziologische Erhebung
maßgeblich, die den Tod aus der Gesellschaft ausklammerte, ihn seines öf- z.um Trauer-Problem, die das Material seines großen Buches Death, Grief
fentlich-zeremoniellen Charakters entkleidete und ihn zu einem in erster and Mourning (1 1) ergab.
Linie den Nahestehenden vorbehaltenen Privatakt machte, von dem mit Zunächst stellt er darin fest, daß der Tod in weite Ferne gerückt ist: nicht
der Zeit sogar die Familie ausgeschlossen wurde, als die Krankenhausein- nur ist man nicht mehr am Sterbebett zugegen' auch die Beisetzung ist für
weisung der Todkranken allgemein üblich wurde. die meisten kein vertrautes Schauspiel mehr; von den befragten Personen
Damit verblieben noch zwei Phasen der Kommunikation zwischen dem hatten 7O"k seit {ünf Jahren an keiner Beerdigung mehr teilgenommen.
Sterbenden - oder dem Toten - und der Gesellschaft: die letzten Augen- Nicht einmal dann, wenn es die ihrer eigenen Eltern war ! Von seinen Nef-
blicke, in denen der Sterbende vzieder die Initiative ergriff, die ihm aus der fen schreibt Gorer: ,Der Tod ihres Vaters hat sich auf ihr Leben so gut wie
Hand genommen worden war, und dieZeit der Trauer. Das zweite große gar nicht ausgewirkt, er ist wie ein Geheimnis behandelt worden, denn erst
Ereignis in der zeitgenössischen Geschichte des Todes ist die Verweigerung Monate später war Elizabeth [seine Schwägerin] in der Lage, darüber zu
und Abschaffung der Trauer. Sie ist umfassend zum ersten Male von Geo{- reden und Dritte darüber sprechen zu hören.o Als Gorer nach der Ein-
frey Gorer analysiert worden, der aufgrund einer Reihe persönlicher Er- äscherung seines Bruders zu seiner Schwägerin heimkehrte, erzählte sie
fahrungen auf dieses Thema gestoßen war. ihm ganz unbefangen, daß sie mit den Kindern einen schönen Tag verbracht
Er hatte nämlich beinahe zur gleichenZeit seinen Vater und seinen Groß- habe, daß sie alle zusammen gepicknickt und dann den Rasen gemäht
vater verloren. Sein Vater war beim Untergang der Lusitania im Jahre 1915 hätten.
ertrunken, er hatte ihn also nicht noch einmal sehen können, wie es ja da- Die Kinder bleiben somit abseits; sie werden nicht informiert' oder man
mals eigentlich Brauch war. Er sah seinenersten Leichnam übrigens erst im sagt ihnen einfach, der Vater sei verreist oder Jesus habe ihn zu sich genom-
Jahre 1931. Er hatte sich also den Trauerkonventionen zu unterwer{en, men. Jesus ist zu einer Art Nikolaus geworden, dessen man sich bedient,
mochten diese sich auch, wie er sagt, während des Krieges infolge der gro- um mit den Kindern über den Tod zu sprechen, ohne selber an ihn zu
ßen Verluste an der Front abgeschwächt haben, aber auch deshalb, weil die glauben.
Frauen die Arbeitsplätze der Männer übernommen hatten. Der Tod seiner Eine Umfrage der amerikanischen Zeitschrik Psycbology Todayim Jahre
Schwägerin und eines Freundes im Jahre 1948 erhellten ihm dann die neue 1977 provozierte folgenden Leserbrief einer fünfundzwanzigiährigen
Situation der Hinterbliebenen, ihr Verhalten und das der Gesellschaft ihnen Frau : ,Ich war zwölf Jahre alt, als meine Mutter an Leukämie starb. Sie war
gegenüber. Dabei wurde ihm bewußt, daß die soziale Funktion der Trauer noch da, als ich abends ins Bett ging. Am nächsten Mor2;en waren beide
sich seit 1915 verändert hatte und daß diese Veränderung einen tiefgreifen- Eltern weg. Dann kam mein Vater allein nach Hause, nahm uns, meinen
den §(randel der Einstellung zum Tode anzeigte. 1955 veröffentlichte Gorer Bruder und mich, auf die Knie und brach in Tränen aus. Er sagte : 'Jesus hat
dann im Encounter seinen berühmten Aufsatz mit dem Titel "The Porno- eure Mutter zu sich genommen.< Später haben wir nie mehr darüber ge-
graphy of Death", in dem er zeigte, daß der Tod schambesetzt und ähnlich sprochen. Es hätte uns zuviel Kummer gemacht." (12)
tabuisiert worden ist wie in der viktorianischen Epoche die Sexualität, de- Bei den meisten Umfragen ergibt sich als Anzahl derer, die an ein zu-
ren Nachfolge er übernommen hat: ein Tabu ist an die Stelle eines anderen künftiges Leben glauben, ein Prozentsatz zwischen 30 und 40' Das ist {rei-
getreten. lich nur eine ungefähre Angabe, da sich aus den zumeist sehr unscharfen
Im Jahre 1961 starb Geoffrey Gorers Bruder an Krebs. Er hatte zum Antworten auf Fragebögen nur schwer klare Vorstellungen herausschälen
zweiten Mal geheiratet und hinterließ eine Frau und Kinder. Gorer küm- lassen. Bei iüngeren Menschen nimmt der Glaube an ein Leben nach dem
merte sich um die Beerdigung, um seine Schwägerin und seine Neffen, und Tode ab, während er, wie wir gesehen haben, bei Schwerkranken Prozentu-
wieder stieß er betroffen auf die Ablehnung der traditionellen Verhaltens- al wieder ansteigt.
weisen und auf ihre schädlichen Auswirkungen. Er hat dieses ganze Drama Es ist einigermaßen verblüffend, in Gorers Erhebung aus dem Jahre 1963

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* und zwar nur bei den alten Leuten - erneut auf die anthropomorphe Aber es gibt kaum noch Besucher. . . Manche Familien gehen noch weiter
Eschatologie des 19. Jahrhunderts zu stoßen. Manche der Befragten p{le- und lassen die Asche sogar verstreuen.
gen lebhaften Umgang mit ihren Toten und sprechen mit ihnen. "Die Toten Der Friedhof dagegen bleibt ein Ort des Gedenkens und des Besuchs.
schauen uns an und geben uns Rat und Hilfe. Unmittelbarvor seinem Tode Von den 27 Gräbern in Gorers Erhebung haben nur 4 keinen Grabstein.
sah mein Vater unsere Mutter zu Füßen seines Bettes stehen." Eine Frau Die Hinterbliebenen kommen regelmäßig ans Grab, um es mit Blumen zu
erzählt: "Mein jüngster Sohn hat bei der Air Force den Tod gefunden. Aber schmücken und des Verstorbenen zu gedenken.
er kehrt häufig wieder und spricht mit mir." Eines Tages, als sie im Bett lag, Es wäre freilich falsch, wollte man das Verschwindenlassen des feuerbe-
an ihn dachte und sich Sorgen über ihn machte, antwortete ihr eine Stimme: statteten Leichnams als Ausdruck einer Gleichgültigkeit oder Verdrängung
",lt is all right, Mum,, und ich dachte gleich: ,Gott sei dank, er ist wohlauf, deuten. Die Angehörigen des Eingeäscherten lehnen zwar sowohl die Ma-
aber er ist weit weg.. Ich denke immer, daß ich ihn eines Tages wiedersehe. terialisierung der "letzten Ruhestätte", ihre Verbindung mit dem Leich-
Das gibt mir die Kraft, weiterzumachen.o Das Paradies ist "eine Gegend, nam, die ihnen Viderwillen einflößt, als auch den öffentlichen Charakter
wo man keine Sorgen mehr hat, wo wir unseren Angehörigen und Freun- des Friedhofes ab. Aber sie lassen durchaus den persönlichen und privaten
den wiederbegegnen werden". Charakter der Trauer gelten. Deshalb ist an die Stelle des Grabkulres ein
Ebenso auffällig ist das totale Verschwinden der Hölle; selbst diejenigen, Gedenkkult getreten, der zu Hause gepflegt wird: "Ich bin nicht 1'emand,
die an den Teufel glauben, beschränken seinen Aktionsradius auf die hiesige der dauernd zum Friedho{ rennt. Ich halte mehr von der Hilfe für die Le-
\Welt und glauben nicht an eine ewige Verdammnis. Das darf uns freilich benden feine in der neuen religiösen Mentalität häufige Gegenüberstellung
nicht wundern: wir haben es bereits für den Anfang des 19. Jahrhunderts von nützlicher Tat und Kontemplation oder Liturgie]. Am Jahrestag ihres
feststellen können. Todes stelle ich einen Blumenstrauß vor ihren Photos auf" - so eine vier-
Die Erhebung zeigt auch den Verzicht des Klerus auf seine alte Rolle: undvierzigjährige Frau. Nach der Einäscherung ,ist, glaube ich, alles zu
nicht, daß man ihn achtlos beiseiteließe; er selbst ist es, der sich gegen sie Ende. Ich will damit sagen, daß man ihr Andenken besser zu Hause pflegen
sPerrt. kann als da, wo sie beerdigt liegt. Ich will Ihnen etwas erzählen, was ich
Das wichtigste Phänomen aber, das in Gorers Erhebung zutage tritt, ist immer tue - vielleicht ist es ja absurd -, ich bringe ihr an §(eihnachten eine
der Verfall der traditionellen Trauerbräuche, angefangen mit den Begräb- Azalee dar; ich fühle, daß sie noch immer zu Hause gegenwärtig ist. -so
nisfeierlichkeiten. eine Frau von fünfunddreißig Jahren. Der Kult kann auch auf eine Art
Die Feuerbestattung wird heutzutage eindeutig vorgezogen: auf 67 To- Mumifizierung hinauslaufen: das Haus oder Zimmer des Verstorbenen
desfälle kommen 40 Einäscherungen und 27 Erdbestattungen. Am bemer- wird in genau dem Zustand belassen, in dem es sich zu seinen Lebzeiten
kenswertesten ist dabei der Sinn, der dieser \(ahl gegeben wird. Denn die befand. So kann auch große Verzweiflung und Trauer durchaus vereinbar
Einäscherung wählen bedeutet, daß man den Kult der Gräber und Friedhö- sein mit dem Verzicht auf das Grab, das dann bisweilen als die verabscheute
fe ablehnt, der sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. "Man Ruhestätte des Körpers gilt.
hat das Gefühl, daß der Tote vollständiger und endgültiger beseitigt wird als Es gibt also heutzutage zwei Arten, das Andenken eines Verstorbenen zu
bei der Erdbestattung." (Manche lehnen die Einäscherung freilich auch als pflegen: zum einen den seit dem Ende des 18. Jahrhunderts üblichen Kult
"zu endgültig" ab.) Nicht eine Vorliebe für den Akt der Verbrennung liegt am Grabe, der in England stärker rückläufig ist als auf dem Kontinent, zum
dieserli(ahl zugrunde (etwa wie in der Antike, wo man die Asche der Ver- anderen den Kult zu Hause. Der kanadische Soziologe Fernand Dumont
storbenen verehrte), sondern eine Abneigung gegen das Grab. Tatsächlich erzählt eine Anekdote von seinem Vater, die sich um die Jahrhundertwende
verzichten die Hinterbliebenen eines eingeäscherten Toten, trotz aller Be- ereignet haben muß : "In meiner Kindheit sprachen wir zu Hause ein langes
mühungen der Krematoriumsdirektoren, im allgemeinen auf die Errich- Gebet mit der ganzen Familie. [...] Danach blieb mein Vater einige Zeit
tung eines Grabmals. Bei den 40 Feuerbestattungen gab es nur einen einzi- [allein] auf den Knien liegen, den Kopf in die Hände vergraben. Das ließ
gen Fall, in dem die Angehörigen eine Gedenktafel aufstellen ließen, sowie mir keine Ruhe, denn er war nie ,fromm. im gewöhnlichen Sinne des §üor-
14 Eintragungen im boole of remembrance, das Besuchern vorgelegt wird. tes gewesen. Als ich ihn einmal nach dem Grund fragte [. . .], gestand mir

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il
mein Vater, daß er sich auf diese lVeise an seinen seit langem verstorbenen schluß am eigenen Leibe zu erfahren: "Mehrfach lehnte ich Einladungen zu
eigenen Vater zu wenden pflegte." (13) Cocktail-Parties ab, indent ich erklärte, ich sei in Trauer. Die Leute antwor-
teten mir dann immer geradezu verlegen, so als ob ich irgendeine obszöne
Ungehörigkeit gesagt hätte. Ich hatte tatsächlich den Eindruck, daß ich,
Die Unschicklichkeit der Trauer wenn ich irgendeine zweideutige Verabredung vorgeschützt hätte, um ihre
Einladung abzulehnen, besser verstanden worden wäre und vielleicht sogar
Auf das Leichenbegräbnis und die Beisetzung folgt die Zeit der Trauer. Die noch eine joviale Ermunterung bekommen hätte. Diese Leute aber, wenn
Hinterbliebenen können tiefen und anhaltenden Schmerz empfinden, doch auch hochgebildet und wohlerzogen, murmelten ein paar verlegene W'orte
nahezu im gesamten Abendland ist es heute zur Regel geworden, daß er nie und machten, daß sie davonkamen." Sie wußten nicht, wie sie sich in einer
öffentlich gezeigr werden darf. Also das genaue Gegenteil dessen, was frü- ungewohnt gewordenen Situation zu verhalten hatten. "Kein Ritual gab
her geboten war. In Frankreich ist seit etwa 1970 das traditionelle Defilee ihnen Verhaltenshinweise gegenüber Personen, die sagten, daß sie in Trauer
der Kondolierenden, die der Familie nach dem Ende des Trauergottesdien- seien. [. . .] Sie fürchteten, glaube ich, daß ich mich gehenlassen, gänzlichin
stes ihr Beileid aussprechen, abgeschafft. In der Provinz wird die Todes- meinem Schmerz versinken und sie damit in unangenehme Gefühlsaufwal-
anzeige, die es noch gibt, überdies häufig von der trockenen, fast unhöfli- lungen verstricken würde."
chen Formel begleitet: "Es wird gebeten, von Beileidsbesuchen Abstand zu
nehmen" - ein Mittel, um den traditionellen Besuchen der Nachbarn und
entfernten Freundö vor den Trauerfeierlichkeiten zuvorzukommen. Die Ausbürgerung des Todes
Im allgemeinen aber geht die Initiative zu dieser Besuchsverweigerung
nicht von der Familie des Verstorbenen aus. Die bekräftigt vielmehr, indem Der Ubergang und Rückzug aus der schwatz[aften und ruhigen Alltags-
sie sich auf sich selbst zurückzieht, die Authentizität ihres Schmerzes, der wirklichkeit in die pathetirrche Innenwelt vollzieht sich nicht spontan und
keinen Vergleich mit dem der anderen duldet, und macht sich zugleich das nicht ohne Hilfe. Die Distanz der Sprache ist allzu groß. Um eine Verbin-
diskrete Verhalten zu eigen, das die Gesellschaft von ihr verlangt. dung zustandezubringen, bedarf es der Vermittlung eines zuvor verinner-
Geoflrey Gorer unterscheidet drei Kategorien von Leidtragenden: die- lichten Kodes, eines Rituals, das man von Kindheit an durch Brauch und
jenigen, denen es geiingt, ihren Kummer vollständig zu verdrängen, dieje- Herkommen erlernt hat. So gab es früher Verhaltenskodes für alle Gelegen-
nigen, die ihn vor den anderen verbergen und still mit sich selbst abmachen, heiten, bei denen man Gefühle zu erkennen gab, die im allgemeinen unaus-
und diejenigen, die ihm freien Lauf lassen. Im ersten Fall zwingt sich der gedrückt blieben, etwa wenn man jemandem den Hof machte, wenn man
Leidtragende, so zu tun, als ob nichts geschehen wäre, und sein normales ein Kind gebar, wenn man starb oder wenn man Leidtragende trösten
Leben ohne jede Unterbrechung fortzuführen: Halten Sie sich auf Trab, mußte. Diese Kodes gibt es nicht mehr. Sie sind gegen Ende des 19. und im
heep busy, haben ihm seine wenigen und überlasteten Gesprächspartner 20. Jahrhundert verschwunden. Also finden die Gefühle, die die gewohn-
bedeutet, der Arzt, der Priester, einige Freunde. .. Im zweiten Fall dringt ten Grenzen überschreiten, entweder keinen angemessenen Ausdruck und
beinabe nichts von der tauer nach außen, sie bleibt auf die Privatsphäre werden verdrängt oder brechen gewaltsam hervor, ohne daß irgend etwas
beschränkt, "so wie man sich nur privat auszieht oder ausruht" (G. Gorer). sie aufhalten könnte. Im letzteren Falie kompromittieren sie die Ordnung
Die Trauer ist extension of modesty . Das ist fraglos die Einstellung, die vom und die für die Alltagstätigkeiten erforderliche Sicherheit. Es gilt also, sie
gesunden Menschenverstand am meisten gebilligt wird; jedem ist klar, daß zu unterdrücken. Als erstes wurde die Dimension der Liebe, dann die der
ein bestimmtes Maß von Affektabfuhr toleriert werden muß, vorausge- Sexualität mit einem Verbc't belegt. Dieses Verbot war nötig geworden, seir
setzt, sie bleibt geheim. die Dämme, die diese wilclen Kräfte seit Jahrtausenden kanalisiert hatren,
Im dritten Fail jedoch wird der manifest und beharrlich Trauernde un- nicht mehr standhielten. So entstand, namentlich in den englischen public
barmherzig aus der Gesellschaft ausgeschlossen wie ein Verrückter. Geof- schools, ein Leitbild der rnännlichen Selbstbeherrschung, der Diskretion
frey Gorer hatte nach dem Tod seines Bruders Gelegenheit, diesen Aus- und der \(ohlerzogenheit, das die öffentliche Anspielung au{ romantische

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Gefühle untersagte und sie nur im abgeschlossenen Bereich des Familien- nicht mehr, die Leute meiden einen. Der Leidtragende ist in einer Art Qua-
zwingers duldete. rantäne isoliert.
\wie Geoffrey Gorer sagt, Ȥ/erden Tod und Trauer heute mit derselben Doch diese Isolation geht noch weiter. Die Ablehnung des Todes hat
Prüderie behandelt wie ein Jahrhundert zuvor die Sexualtriebe". Man muß sich, über die Person des Leidtragenden und den Ausdruck der Trauer hin-
sie also beherrschen lernen: "I:leute gilt es offenbar ais gänzlich normal, aus, au{ alles ausgedehnt, was mit dem Tode zusammenhängt und von ihm
daß sensible und vernünftige Männer und Frauen sich durch ein gehöriges infiziert wird. Die Trauer oder das, was ihr ähnlich sieht, gilt heutzutage
Maß von Villen und Charakterstärke während der Trauerzeit völlig in der geradezu als ansteckende Krankheit, die man sich im Zimmer eines Ster-
Gewalt behalten. Sie haben also nicht mehr das Bedürfnis, ihre Trauer öf- benden oder Toten zuzuziehen droht, selbst wenn er einem nicht viel be-
ientlich kundzutun [wie in früheren Zeiten, als man noch nicht gewillt war, deutet, oder auch auf einem Friedhof, selbst wenn sich dort kein Grab be-
sie zu kontrollieren und zurückzuhalten], es wird gerade noch hingenom- findet, das einem teuer ist. Es gibt Orte, an denen man sich die Trauer holt
men, wenn man sich ihr privat und heimlich ergibt wie einer Art von Ma- wie anderswo die Grippe.
sturbation." (14) Sehr bemerkens§/ert ist, daß die Psychologen diese neue Einstellung im
Ganz offensichtlich verdankt sich die Abschaffung der Trauer nicht einer selben Augenblick, da sie aufgetaucht ist, sofort als gefährlich und abnorm
Frivolität der Hinterbliebenen, sondern einem unbarmherzigenZwang der eingestuft haben. Bis in unsere Zeit hinein haben sie nicht aufgehört, auf die
Gesellschaft. Die weigert sich, an der emotionalen Betroffenheit des Leid- Notwendigkeit der Trauer und auf die Gefahren ihrer Verdrängung hinzu-
tragenden zu partizipieren - womit sie, genau genommen, die Präsenz des weisen. Schon Sigmund Freud und Karl Abraham haben immer wieder
Todes negiert, selbst wenn sie seine Reaiität im Prinzip noch gelten läßt. auf den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie hingewiesen, und
Soweit ich sehe, tritt diese Negation hier erstmals offen zutage. Seit gerau- seither haben sich die einschlägigen Untersuchungen vervielfacht - man
mer Zeir schon ist sie aus den Tiefen, in denen sie verborgen gelegen hatte, vergleiche etwa die beiden neuen, mit zahlreichen Fallbeispielen belegten
an die Oberfiäche gestiegen, ohne sie jedoch ganz zu erreichen: seit man Arbeiten von Colin Murray Parkes und von Lily Pincus. (15)
den Scheintod zu fürchten begann, seit man dem Sterbenden aus Mitleid Ihre Einschätzung der Tiauer und ihrer Bedeutung ist nun aber der der
sein nahes Ende verhehlte und ihn aus Abscheu vor der Krankheit vor den Gesellschaft genau entgegengesetzt. Die Gesellschaft hält die Trauer für
anderen verbarg. Heute greift sie manifest um sich, als bezeichnen der Zug morbide, während für die Psychologen gerade umgekehrt die Verdrängung
unserer Kultur. Heutzutage werden die Tränen der Trauer den Ausschei- der Trauer morbide und Ursache der Morbidität ist.
dungen der Krankheit gleichgestellt. Beide sind gleichermaßen abstoßend. Dieser Gegensatz unterstreicht freilich nur die Stärke des Gefühls, das
Der Tod ist ausgebürgert. zur Verdrängung und Ausbürgerung des Todes treibt. Tatsächlich sind die
Somit ergibt sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts in den am meisten neuen Denkanstöße der Psychologen und Psychoanalytiker auf dem Ge-
individualisierten und verbürgerlichten Teilen der westlichen 'Welt eine biet der Sexualität und der Entwicklung des Kindes von der Gesellschaft
neue Situation. Die öffendiche Zurschaustellung der Trauer gilt als morbi- rasch assimiliert und vulgarisiert worden, während ihre Aussagen über die
de, desgleichen ihr allzu beharrlicher und allzu langer privater Ausdruck. Trauer vom allgemein gebilligten Vorstellungsfundus, wie ihn die Massen-
Die Tränenkrise wird zur Nervenkrise. Die Trauer ist eine Krankheit. Wer medien verbreiten, sorgsam ferngehalten wurden. Die Gesellschaft ist für
sie zeigt, legt eine Charakterschwäche an den Tag. Diese Geringschätzung die ersteren empfänglich geworden, hat aber die letzteren ausgeklammert.
beginnt sich in bereits im nachromantischen, aber noch mit romantischen Ihre Negation des Todes ist von der Kritik der Psychologen keine Sekunde
Uberzeugungen gemischten Sarkasmus abzuzeichnen, beispielsweise bei lang erschüttert worden.
Mark Twain, den die theatralischen Gefühlsausbrüche reizen, aber auch Ganz gegen ihren \(illen haben die Psychologen aus ihren Analysen zum
rühren und der sich mit dem Humor verjährter Gefühle verteidigt. Heute ?hänomen der Trauer ein Geschichtsdokument gemacht, einen Beweis [ür
ist sie ganz geläufig geworden. Die Trauerzeit ist nicht mehr die des Schwei- die historische Relativität. Ihre These lautet, daß der Tod eines geliebten
gens des Leidtragenden in einer gehetzten und indiskreten Gesellschaft, Menschen eine tiefe lVunde hinterläßt, die sich jedoch auf natürliche lVeise
sondern die des Schweigens der Gesellschaft selbst: das Telephon klingelt allmählich wieder schließt, wenn der Heilungsprozeß nicht gestört wird.

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Der Trauernde muß sich an die Abwesenheit des Anderen gewöhnen, muß revolution ankündigten; so war H. de Campion außerstande, es länger in
seine noch auf den Lebenden fixierte Libido "in sein Ich zurücknehmen. dem mit Erinnerungsstücken an seine 1 659 verstorbene Frau vollgestopften
und so den Verstorbenen "interiorisieren". Störungen dieser "Trauerar- Haus auszuhalten; er kehrte erst ein Jahr später zurück, noch immer un-
beit" treten auf, wenn der Leidtragende statt dessen seinen Toten "mumifi- tröstlich. (16)
ziert" oder wenn ihm umgekehrt das Gedenken an ihn verwehrt wird. Aber wenn man auch unglücklich q/ar, so verlor man doch im allgemei-
Doch nicht diese Mechanismen interessieren uns hier, sondern die Tatsa- nen nicht gänzlich den Kopf. Einerseits beschränkte sich das in jedem Indi-
che, daß unsere Psychologen sie als Bestandteile einer ewigen Natur des viduum verfügbare Leidens- und Mitleidensreservoir nicht nur auf eine
Menschen beschreiben: als Naturgegebenheit bewirke der Tod eines Men- sehr kleine Personengruppe (das Paar und die Kinder), sondern verteilte
schen bei dessen engsten Angehörigen stets ein Trauma, das nur langsam, sich auf den größeren Kreis der Angehörigen und Freunde. Der Tod eines
über viele Etappen hinweg, ausheilen könne. Es obliege der Gesellschaft, Einzelnen, selbst eines sehr Nahestehenden, zerstörte nicht gleich das
dem Leidtragenden dabei zu helfen, da er allein nicht die Kraft dazu habe. ganze Gefühlsleben; es gab immer auch noch Ersatzpartner. Schließlich
Dieses Modell aber, das die Psychologen für naturgegeben halten, reicht war der Tod damals nie jene brutale Überraschung, zu der er erst im 19.
historisch nicht weiter zurück als ins 18. Jahrhundert. Es ist das Modell des
Jahrhundert wurde, vor den spektakulären Fortschritten der Lebensver-
schönen romantischen Todes und der Friedhofsbesuche, das wir den "Tod längerungsmedizin. Er war Bestandteil der Unsicherheiten des Alltags. Von
des Anderen" genannt haben. Die Trauerbekundung des 19. Jahrhunderts Kindheit an erwartete man ihn mehr oder weniger ständig.
entspricht durchaus - freilich mit allzuviel Theater, aber das fällt nicht so Unter diesen Bedingungen wurde das Individuum nicht vom Tode über-
ins Gewicht - den.Anforderungen der Psychologen. So haben die La Ferro- wältigt wie im 19. Jahrhundert. Es erwartete nicht so viel vom Leben. Das
nays alle Möglichkeiten gehabt, ihrer Libido ledig zu werden und das An- Gebet Hiobs entsprach mindestens ebensosehr der Volksweisheit und der
denken ihrer Lieben zu interiorisieren, und sie bekamen dabei von ihrer geläufigen Resignation wie der asketischen Frömmigkeit. Der Tod nahm,
Umwelt alle erdenklichen Hilfeleistungen. was das Leben gegeben hatte: so ist das Leben ! Mit diesen Worten könnte
Ahnliche Traueraufwallungen hätten im 20. Jahrhundert nicht gefahrlos man die schöne Klage sehr banal zusammenfassen.
zum Stillstand gebracht werden können. Genau das haben die Psychologen Das Individuum wurde nicht vernichtet, und doch gab es die Trauer, eine
begriffen. Der Zustand aber, auf den sie sich beziehen, ist kein Naturzu- ritualisierte Trauer. Die mittelalterliche und moderne Trauer ist eher soziale
stand: er reicht nicht weiter zurück als ins späte 18. Jahrhundert. Vorher als individuelle Trauer. Entlastung der Hinterbliebenen war weder ihr er-
war das Todes- und Trauermodell einganz anderes, und gerade dieses vor- stes noch ihr einziges Ziel. Sie brachte die Angst der Gemeinschaft zum
romantische Todesmodell könnte, wenn man denn durchaus will, aufgrund Ausdruck, die vom Tode heimgesucht, von seinem Anhauch befleckt und
seiner iahrtausendelangen Geltung und seiner Unveränderlichkeit viel eher durch den Verlust eines ihrer Mitglieder geschwächt worden war. Sie
mit einem Naturzustand in Zusammenhang gebracht werden. machte sich lautstark Luft, um den Tod an der'§ü'iederkehr zu hindern, um
In diesem alten Modell nahm die Affektivität durchaus nicht den Rang ihn fernzuhalten, so wie die großen Gebetslitaneien die Katastrophen ab-
ein, der ihr im 19. Jahrhundert zuge{allen ist. Nicht etwa, daß der Tod eines wenden sollten. Das Leben hielt inne, verlangsamte sich. Man nahm sich
geliebten §flesens nicht als schmerzlich empfunden worden wäre. Doch der Zeit fiJ,r anscheinend nutzlose, unproduktive Dinge. Die Trauerbesuche
erste Schock wurde durch die traditionelle Geschäftigkeit der Gruppe ab- unterstrichen die Einheit der Gruppe und stellten die menschliche Wärme
gefangen, die beim Tode zugegen war, und häufig wurde er auch sehr rasch der Festtage wieder her; auch <iie Beisetzungszeremonien wurden zum
überwunden; nicht selten heiratete ein Iü/itwer nur wenige Monate später Fest, bei dem das Vergnügen nicht fehlte, bei dem es dem Lachen oft rasch
erneut, was aber nicht hieß, daß er die Verstorbene schnell vergessen hätte, gelang, die Tränen zu verdrängen.
sondern daß es ihm gelungen war, seinen Schmerz rasch zu lindern. Dieser Trauer ist im 19. Jahrhundert eine andere Funktion aufgebürdet
Gelegentlich schlug die rasche Schmerzlinderung fehl, und es gelang dem worden, ohne daß sie sofort in Erscheinung Betreten wäre. Sie hat noch
Leidtragenden nicht, seines Kummers Herr zu werden: das waren Ausnah- einige Zeit ihre alte soziale Rolle behalten, ist aber mehr und mehr zum
mefälle, die das Todesmodell des 19. Jahrhunderts und die große Gefühls- Ausdrucksmittel eines unendlichen Schmerzes geworden, zur von der Um-

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welt bereitwillig ergriffenen Möglichkeit, diesen Schmerz zu teilen und die Der Triumph der Medikalisierung
Hinterbliebenen zu trösten. Diese Wandlung der Trauer war so nachhaltig,
daß man sehr rasch vergaß, wie jungen Datums sie war: sie erschien als Es sieht so aus, als ob das romantische Todesmodell, wie es um die Mitte des
naturgegeben, und als solche hat sie den Psychologen des 20. Jahrhunderts 19. Jahrhunderts galt, eine Reihe von sukzessiven Einebnungen hat erdul-
als Bezugspunkt gedient. den müssen. Zuerst machten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Mo-
Damit wird verständlich, was sich vor unseren Augen abspielt. Vir sind, difizierungen geltend, die die erste Phase des Sterbens betrafen: die der
wohl oder übel, allesamt von der großen romantischen Gefühlsrevolution schweren Krankheit, während der man den Kranken in Unkenntnis über
mitgerissen worden. Sie hat zwischenmenschliche Bindungen entwickelt, seinen Zustand hielt und absonderte;siehe den Fall Ivan Iljitsch. Darauf
deren Bruch uns undenkbar und unerträglich erscheint. Es war daher diese folgt im 20. Jahrhundert, und zwar seit dem Ersten W'eltkrieg, das Verbot
frühromantische Generation, die als erste den Tod verneinte. Sie hat ihn der Trauer und all dessen, was in der Offentlichkeit an den Tod gemahnt,
verherrlicht, hypostasiert und zugleich zwar nicht jedes beiiebige, wohl zumindest an den für normal gehaltenen, d. h. nicht gewaltsamen Tod. Das
aber das geliebte Wesen zum unverlierbaren Unsterblichen gemacht. Bild des Todes zieht sich zusammen wie die Blende eines photographischen
Diese Bindung hat heute noch immer Bestand, trotz der scheinbaren Objektivs, die geschlossen wird. BIieb noch der eigentliche Augenblick des
Lockerung, die vor allem mit einer zurückhaltenderen Sprache, mit einer Todes, der sich, zur Zeitlvan Iljitschs und noch lange danach, seinen tradi-
größeren Scham zusammenhängt, mit der Scham M6lisandes. Und gleich- tionellen Charakter bewahrt hatte: Rückblick auf das Leben, Öffentlich-
zeitig, wenn auch aus anderen Gründen, erträgt die Gesellschaft den An- keit und Abschiedsszene.
blick alles dessen nicht mehr, was mit dem Tode verbunden ist, folglich Dieses letzte Überbleibsel verschwand um 1945 als Folge der totalen
auch nicht mehr den des Leichnams und der weinenden Angehörigen. So Medikalisierung des Todes. Das ist die dritte und letzte Etappe seiner Inver-
wird der Hinterbliebene zwischen dem Gewicht seines Schmerzes und dem sion.
des gesellschaftlichen Tabus zermalmt. Das Entscheidende ist hier der sattsam bekannte Fortschritt der chirurgi-
Das Resultat ist dramatisch, und die Soziologen haben hier besonders schen und ärztlichen Techniken, die eine komplexe Apparatur, ein kompe-
den Fall der §(itwen hervorgehoben. Die Gesellschaft geht ihnen aus dem tentes Personal und entsprechend zahlreiche medizinische Eingriffe ins
§flege, alten wie jungen, sogar mehr noch den alten (sie ziehen nun zwei Spiel bringen. Die Bedingungen der Möglichkeit ihrer vollsten Effizienz
Abwehrreaktionen auf sich). Sie haben niemanden mehr, mit dem sie über lassen sich nur im Krankenhaus vereinen - wenigstens hat man das bis heute
das einzige Thema reden können, das ihnen wichtig ist: über den Verstor- mit dem Brustton der Überzeugung behauptet. Das Krankenhaus ist nicht
benen. Es bleibt ihnen nur die Möglichkeit, selbst zu sterben, und das tun nur der Brennpunkt höchstwissenscha{tlicher medizinischer Forschung,
sie denn auch häufig, ohne zwangsläufig Selbstmord zu begehen. Eine in Beobachtung und Lehre, es ist auch der Ort, an dem alle medizinischen
'§üales Hilfsdienste (pharmazeutische Laboratorien) und raffinierten, kostspieli-
angestellte Erhebung aus dem Jahre 1967 hat gezeigt, daß die Sterb-
lichkeitsrate bei den jeweils nächsten Angehörigen eines Verstorbenen im gen und seltenen Apparate konzentriert sind, die der ärztlicl.ren Dienstlei-
ersten Jahr nach seinem Hingang 4,76"/o betrug, gegenüber 0,68% in der stung ein lokales Monopol sichern.
Gesamtkontrollgruppe, während sie im zweiten Jahr nur ganz wenig höher Sobald eine Krankheit sich als schwer erweist, neigt der niedergelassene
lag als bei der Gesamtkontrollgruppe (1,99 zu 1,25%). Die Sterblichkeits- Arzt dazu, seinen Patienten ins Krankenhaus einz-uweisen. Der Fortschritt
rate der'Witwen stieg ihrerseits im ersren Jahre auf 12,20/" gegeni5er 1,2"Ä der Chirurgie hat den der Viederbelebungsverfahren und der Methoden
der Gesamtkontrollgruppe, d. h. sie lag zehnmai so hoch. (17) zur Linderung oder Abschaffung des Leidens und der Schmerzempfind-
lichkeit nach sich gezogen. Diese Methoden werden nicht mehr nur vor,
während oder nach einer Operation angewandt, sondern auch auf die Ago-
nie ausgedehnt, um deren Leiden zu lindern. Beispielsweise wird der Mori-
bunde mit intravenösen Infusionen ernährt, die ihm die Qualen des Durstes
ersparen. Ein Schlauch verbindet seinen Mund mit einer Pumpe, die seine

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Schleimausscheidungen aufsaugt und ihn am Ersticken hindert. Die Arzte haben. In Frankreich gilt das nur nicht für die Privatkliniken, die ihre
und Krankenschwestern verabreichen Beruhigungsmittel, deren Auswir- Kundschaft und wohl auch ihr Personal nicht durch die Nähe des Todes
kungen sie kontrollieren und deren Dosierung sie variieren können. Das erschrecken wollen. Tritt der Tod dann trotz aller Bemühungen doch ein-
alles ist heute sattsam bekannt und erklärt das unbarmherzige, bereits klas- mal ein, so expediert man den Verstorbencn, wenn er kaum seinen letzten
sisch gewordene Bild des mit Schläuchen und Röhrchen gespickten Ster- Seufzer getan hat, in aller Eile nach Hause, damit es für die Behörden und
benden. die Offentlichkeit so aussieht, als sei er dort gestorben.
Unmerklich und immer schneller wurde der normale Ste;:bende einem Solche Tricks sind freilich in öffentlichen Krankenhäusern nicht mög-
Schwerkranken nach der Operation gleichgestellt. Aus diesem Grunde lich, und so droht ihnen ständig die Gefahr der überfüllung mit unheilba-
pflegt man auch, vor allem in den Großstädten, nicht mehr zu Hause zu ren Greisen und künstlich am Leben erhaltenen Moribunden. Aus diesem
sterben - wie man ja auch nicht mehr zu Hause geboren wird. In New York Grund trägt man sich in manchen Ländern mit dem Gedanken, spezielle
fanden 1967 bereits 75"/o aller Todesfälle im Krankenhaus oder ähnlichen Sterbekliniken einzurichten, die einzig den Zweck verfolgen, ihren Patien-
Institutionen statt, gegenüber 69ok im Jahre 1955 (60% im Gesamtbereich ten einen san{ten Tod zu ermöglichen, unbehelligt von den Nachteilen einer
der Vereinigten Staaten). Das Verhältnis hat sich seither noch weiter ver- Krankenhausorganisation, die konzeptionell darauf ausgerichtet ist, um je-
schärft. In Paris ist es üblich, daß jeder ältere Herz- oder Lungenkranke den Preis zu heilen. Eine neue Form von "Hospizn zeichnet sich hier ab,
hospitalisiert wird, um {riedlich sterben zu können. Man könnte zwar deren Vorbild das Saint Christopher Hospice am Rande von London ist.
manchmal die gleiche Art von Betreuung auch zu Hause leisten, wenn man Heute wäre Ivan Iljitsch im Krankenhaus gepflegt worden. Vielleicht
eine Krankenschwester dafür einstellen würde, aber solche Pflegeleistun- hätte man ihn dort sogar heilen können, und es gäbe dann nichts mehr zu
gen werden von der Krankenkasse - wenn überhaupt - nur zum Teil bezahlt erzählen. . .
und bedeuten für die Familie eine unerträgliche Belastung (Hygiene, stän- Diese Verlagerung des Sterbeortes hat enorme Konsequenzen gehabt. Sie
dige Anwesenheit, permanente Gänge zur Apotheke), besonders wenn hat eine Entwicklung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann, über-
auch die Frau arbeitet und kein Kind, keine Schwester, Kusine oder Nach- stürzt und ins Extrem getrieben.
barin verfügbar ist. Die Definition des Todes hat sich gewandelt. Er ist heute nicht mehr
jener letzte
Der Tod im Krankenhaus ist sowohi eine Konsequenz des Fortschritts "Augenblick", zu dem er etwa im 17. Jahrhundert geworden
der ärztlichen Techniken der Leidenslinderung als auch der materiellen Un- war, dessen Punktualität ihm aber vorher abging. In der traditionellen Ein-
möglichkeit, sie unter den heute üblichen Bedingungen zu Hause anzu- stellung wurde die Plötzlichkeit des Todes gemildert durch die Gewißheit
wenden. einer Kontinuität - nicht unbedingt die Unsterblichkeitsgewißheit der
Schließlich sei auch daran erinnert, was zu Beginn dieses Kapitels über Christen (der Christen von einst !), doch eine Art steter Verlängerung. Seit
die Unschicklichkeit der schweren Krankheit gesagt wurde, über den phy- dem 17. Iahrhundert hat der zunehmende Glaube an die Dualität von Seele
sischen Abscheu, den sie einflößt, und über das Bedürfnis, sie vor anderen und Leib und an deren Trennung nach dem Tode diese Vorstellung eines
und vor sich selbst zu verheimlichen. In ihrem moralischen Bewußtsein sich hinziehenden Todes abgeschafft. Der Tod wurde zum Augenblick.
verwechselt die Familie ihre eigene uneingestandene Intoleranz angesichts Der medizinische Tod von heute hat die zeitliche Ausdehnung wieder-
der schmutzigen Aspekte der Krankheit mit den Erfordernissen der Sau- hergestellt, wenn auch zugunsten des Diesseits und nicht mehr des Jenseits.
berkeit und der Hygiene. In der Mehrzahl der Fälle, vor allem in Großstäd- Die Zeit des Todes ist zugleich verlängert und unterteilt worden. Die
ten wie Paris, versucht sie gar nicht erst, ihre Sterbenden zu Hause zu be- Soziologen haben ihre typologischen und klassifikatorischen Methoden
halten oder auf eine Gesetzgebung zu dringen, die ihrer Abschiebung ins darauf anwenden können. Es gibt den zerebralen Tod, den bioiogischen
Krankenhaus weniger bereitwillig entgegenkommt. Tod und den Zelltod. Die alten Zeichen, so derStillstand von Herz- und
Das Krankenhaus ist also nicht mehr einfach der Ort, wo man geheilt Atemtätigkeit, genügen nicht mehr. An ihre Stelle ist die Messung der zere-
wird oder stirbt, wenn die Behandlung erfolglos war. Es ist der Ort des bralen Tätigkeit getreten, das Elektro-Enzephalogramm.
normalen Todes, den die Arzte und Schwestern voraussehen und akzeptiert Es kommt schließlich soweit, daß diese Verlängerung als erstrebenswer-

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ru

L]
tesZiel aufgefaßt wird und das Arzteteam im Krankenhaus sich weigert, Man hat die Beobachtung gemacht, daß der Arzr zu Hause weniger ver-
eine "Behandlung", die nur ein künstliches Leben weiter aufrechterhält, schwiegen und weniger eigenmächtig ist als im Krankenhaus. Denn im
einzustellen. Man denke nur an den shakespearischen Todeskampf Francos Krankenhaus gehört er einer Bürokratie an, die ihre Macht aus ihrer Diszi-
inmitten seiner zwanzig Arzte. Der spektakulärste Fall ist zweifellos der plin, ihrer Organisation und ihrer Anonymität bezieht. Unter diesen Be-
von Karen Ann Quinlan, einer jungen, zweiundzwanzigjährigen Amerika- dingungen ist ein neues Leitbild des medikalisierten Todes aufgekommen:
nerin, die zur Stunde, da ich dies schreibe, seit mehr als dreizehn Monaten der Tod im Krankenhaus als neuer style of dying.
von einem künstlichen Atemgerät am Leben erhalten und durch Infusionen Der Tod hat aufgehört, als natürliches und notwendiges Phänomen zu
ernährt wird. Es gilt als sicher, daß sie nie wieder das Bewußtsein erlangen gelten. Er ist ein Fehlschlag, ein business /osr (R. S. Morrison [19]). Das
wird. Die Arzte jedoch beharren darauf, trotz des Drucks der Familie und jedenfalls ist die Meinung des Arztes, der ihn, als seine Existenzberechti-
sogar trotz einer gerichtlichen Verfügung, ihr Leben aufrechtzuerhalten. gung, für sich in Anspruch nimmt. Er selbst ist dabei aber nur ein Vortfüh-
Der Grund dafür ist, daß sie das Stadium des zerebralen Todes noch nicht rer der Gesellschaft, wenn auch ein sensiblerer und radikalerer als der
erreicht hat: ihr Elektro-Enzephalogramm verläuft noch nicht ganz flach. Durchschnitt.'Wenn der Tod eintritt, wird er als Zwischenfall aufgefaßt, als
Es steht uns hier durchaus zu, das ethische Problem zu diskutieren, das ein Zeichen ärztlicher Unfähigkeit oder Ungeschicklichkeit, das es schleunigst
solcher Fall von "therapeutischer Verbissenheit" aufwirft. Das Interessante zu vergessen gilt. Er darf die Krankenhausroutine nicht stören, die so viel
daran ist, daß die Medizin es einem Fast-Toten auf diese \Weise ermöglichen anfälliger ist als die jeder anderen Arbeitswelt. Er muß also diskret sein,
kann, nahezu unbegrenzt weiterzuexistieren. Nicht nur die Medizin: die "auf Zehenspitzen« kommen. §?ie schade, daß M6lisande ihren Tod nicht
Medizin und das Krankenhaus, d. h. die gesamte Organisation, die aus der im Krankenhaus gefunden hat. Sie hätte eine gute Sterbende abgegeben, die
ärztlichen Produktion eine Form von Distribution und ein Unternehmen von Arzten und Krankenschwestern gehätscheit worden wäre und deren
macht, das strengen methodisch-disziplinarischen Regeln zu folgen hat. Andenken man hochgehalten hätte. Zweifellos ist es wünschenswerr, zu
Der Fall Karen Ann Quinlan ist zweifellos ein außergewöhnlicher sterben, ohne daß man selbst es merkt, aber es gilt auch als erwünscht, zu
Grenzfall, verursacht durch die Fortdauer der zerebralen Funktionsfähig- sterben, ohne daß es die Umgebung gewahr wird.
keit. Normalerweise werden solche "Behandlungen" eingestellt, wenn der Ein allzu auffälliger, spektakulärer und lauter Tod stürzt - auch und vor
zerebrale Tod (brain death) festgestellt worden ist. Die Arzte unterbinden allem, wenn er "würdig" bleibt - die Umgebung in eine emotionale Erre-
die Nahrungszufuhr oder den Infektionsschutz und erlauben damit dem gung, die nicht vereinbar ist mit der Arbeits- und Alltagsroutine des einzel-
vegetat;ven Leben, seinerseits zu erlöschen. Im Jahre 1967 entdeckte man nen, schon gar nicht mit der des Krankenhauspersonals. Daher ist der Tod
mit Empörung, daß in einem englischen Krankenhaus am Fußende der Bet- zurechtgestutzt worden, um ein lästiges, doch manchmal unvermeidliches
ten einiger Greise die Chiffre NTBR angebracht worden war: NotTo Be Phänomen mit der "Arbeitsmoral" des Krankenhauses zu versöhnen.
Reanimated, keine Viederbelebung mehr. (18) Das Krankenhauspersonal hat einen acceptable style of facing death
Die Dauer des Todes hängt somit von einem Zusammenspiel zwischen (Glaser und Strauss) de{iniert: einen Tod, bei dem der Sterbende bis zuletzt
Familie, Krankenhaus und Justiz oder von einer souveränen Entscheidung so tut, als müsse er gar nicht sterben. Er wird das um so besser können, je
des Arztes ab: der Sterbende, der bereits die Gewohnheit angenommen hat, weniger er selbst genau Bescheid weiß. Seine Unkenntnis des eigenen Zu-
sich auf seine nächsten Angehörigen zu verlassen (er hat ihnen\flünsche standes ist also heute noch notwendiger als zu Zeiten von Ivan Iljitsch. Sie
anvertraut, die er sonst in seinem Testament zum Ausdruck gebracht hätte), ist für ihn geradezu ein Heilungsfaktor und für seine Betreuer eine Voraus-
dankt langsam ab und überläßt seiner Familie auch die Entscheidung über setzung ihrer Tätigkeit.
'W'as
das Ende seines Lebens und Sterbens. Die Familie ihrerseits entzieht sich wir heute den guten Tod, den schönen Tod nennen, entspricht genau
dieser Verantwortung und überträgt sie dem gelehrten Thaumaturgen, der dem einstmals verabscheuten Tod, der mors repentina et impror.tisa, d,em
über die Geheimnisse von Gesundheit und Krankheit gebietet und besser unmerklichen Tod. "Er ist heute nacht im Schlaf gestorben: er ist nicht
als jeder andere weiß, was zu tun ist, dem es folglich auch zukommt, in aller wieder aufgewacht. Er hat den schönsten Tod gehabt, der sich denken läßt."
Souveränität zu entscheiden. Heute jedoch ist ein derart sanfter Tod aufgrund der medizinischen Fort-

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I
schritte selten geworden. Es müssen also, und zwar durch geschickte Mani- schließt man den Sterbenden bereits kurz vor dem wirklichen Tod die Au-
pulation, der langsame Tod im Krankenhaus und die mors repentina elnan- gen, das ist leichter. Oder man richtet es so cin, daß sie möglichst frühmor-
der nähergebracht werden. Das sicherste Mittel hierzu ist die Täuschung gens sterben, unmittelbar vor Dienstschluß der Nachtschicht: ungenierte
des Kranken. Doch diese Strategie scheitert häufig an dessen diabolischem und karikierende Praktiken in schlechtgcführten und wenig angesehenen
Geschick, das Verhalten der Arzte und Schwestern zu deuten - also zwin- Kliniken, in Siechenhäusern für hoffnungslose Fälle. Gleichwohl verdeutli-
gen sie instinktiv und unbewußt den Kranken, den sie beherrschen und der chen sie durch ihre grobe Übersteigerung bestimmte Aspekte der "Büro-
ihnen zu gefallen sucht, ihnen Unkenntnis vorzutäuschen. In manchen Fäl- kratisierung" des Todes und des management of death, die untrennbar mit
len verwandelt sich dann das Schweigen in eine Art stilles Einverständnis, der Krankenhausinstitution und mit der Medikalisierung des Todes zusam-
in anderen verbietet die Angst vor einem zu engen Vertrauensverhältnis menhängen und sich überall wiederfinden lassen. Der Tod gehört nicht
jede Kommunikation. mehr dem - zunächst unverantv/ortlichen, dann bewußtlosen -Sterbenden,
Die Passivität des Sterbenden wird durch Beruhigungsmittel aufrechter- auch nicht der Familie, die von ihrer Unfähigkeit überzeugt worclen ist. Er
halten, namentlich gegen das Ende hin, wenn die unerträglich gewordenen wird reguliert und organisiert von einer Bürokratie, die sich bei aller Kom-
Leiden ihm "schreckliche Schreie" abpressen wie bei Ivan Iljitsch und Ma- petenz und menschen{reundlichen Absicht nicht daran hindern läßt, den
dame Bovary. Das Morphium lindert die großen Krisen, dämpft aber auch Tod als ihre Angelegenheit zu betrachten, als eine Sache, die im Interesse
das Bewußtsein, das der Kranke nur noch gelegentlich wiedergewinnt. der Allgemeinheit so wenig wie möglich stören sollte. "Die Gesellschaft in
Dies ist der acceptable style of f acing deatb . Sein Gegenteil ist d as embar- ihrer Veisheit hat wirksame Mittel hervorgebracht, sich gegen die All-
rassingly graceless dying (20), der widrige Tod, der gemeine Tod ohne Ele- tagstragödien des lbdes zu schützen, um ihre Aufgaben ohne emotionale
ganz oder Feingefühl, der verstörende Tod. Er ist immer zugleich der Tod Anteilnahme und ohne Hindernis fortsetzen zu können." (S. Levine und
eines Kranken, der Bescheid weiß. Auch hier gibt es mehrere Möglichkei- N. A. Scotch [22])
ten. Erstens, daß der Kranke sich aufbäumt, schreit und aggressiv wird.
Zweitens, vom Betreuungspersonal nicht weniger gefürchtet, daß er seinen
Tod akzeptiert, sich auf ihn konzentriert, sich zur 'W'and kehrt, sich von Die Viederkehr der Todesankündigung.
seiner Umgebung abwendet und nicht mehr mit ihr kommuniziert. Arzte Die Mahnung zur \flürde. Der heutige Tod
und Krankenschwestern fürchten diese Abwendung, die sie überflüssig
macht und ihre Bemühungen lähmt. Sie erkennen darin das verabscheute Das war die Situation gegen Ende der fünfziger Jahre. Sie hat sich inzwi-
Bild des Todes wieder: das Naturphänomen, das sie gebändigt und zu ei- schen, besonders in der angelsächsischen \ü7elt, in einem entscheidenden
nem überwindlichen Zwischenfall der Krankheit gemacht zu haben Punkt geändert: in dem der Unkenntnis des Sterbenden. Im Jahre 1966
glaubten. veröffentlichte die Zeitschrift Mödecine de France eine Diskussion zwi-
Im glücklicherweise häufigeren Fall des "schönen" Todes kommt es schen dem Philosophen Jank6l6vitch und den Medizinern J.-R. Debray, P.
schließlich soweit, daß sich die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt. Denoix und P. Pichat. ,Der Lügner ist der, der die Vahrheit sagt", erklärte
Das ist übrigens das erstrebte Ziel. So erzählt D. Sudnow die Geschichte Jank6l6vitch, "ich bin gegen die Wahrheit, leidenschaftlich gegen die Vahr-
einer jungen Praktikantin in einem amerikanischen Krankenhaus, der es heit" (eine Position, die sich mit einem übertrieben genauen Respekt vor
nicht gelang, einem Schwerkranken das Trinken mit dem Strohhalm beizu- dem Leben verbindet: "Könnte man das Leben eines Kranken nur um vier-
bringen. Sie ruft ihre Oberschwester zu Hilfe. ,Well, boney ! Of course ! He undzwanzig Stunden verlängern, so wäre das schon der Mühe wert. Es
uon't respond, he's been dead t'or twenty minutes.« Das wäre für jedermann besteht kein Grund, ihm dieses Stück Leben vorzuenthalten. Für den Arzt
ein schöner Tod gewesen, wenn die junge Praktikantin nicht daraufhin ei- ist das Leben ein Wert an sich, wo auch immer es sich zeigt: auch bei einem
nen Nervenzusammenbruch bekommen hätte. (21) reduzierten W'esen, bei einem armen und hilflosen \(esen.").
In den Armenspitälern macht man sich diese Ungewißheit zunutze, um Robert Laplane umreißt die Komplexität des Problems: "P. Denoix
den für bestimmte Maßnahmen günstigsten Augenblick zu wählen: so hatte recht, als er darauf hinwies, daß es Fälle gibt, in denen die Wahrheit

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gesagt werden muß, schon um dem Kranken Erleichterung zu verschaf{en. Diese neue Strömung, die aus dem Mitgefühl mit dem sich selbst ent-
Ich habe gesagt, daß der Kranke im Grunde nichts anderes verlangt, als fremdeten Sterbenden hervorgegangen s/ar, hat sich für eine Verbesserung
nicht mit seiner 'Wahrbeit kont'rontiert zu uerden, Das gilt sogar filr die der Bedingungen des Sterbens ausgesprochen, die dem Sterbenden seine
Mehrheit der Fälle. Es passiert uns aber auch [uns Arzten], das sei einge- mit Füßen getretene ]üüürde zurückerstatten sollte.
standen, daß wir vor der Vahrheit f liehen, daß wir uns hinter unserer Auto- Aus der ärztlichen Kunst ausgeklammert (abgesehen von der Gerichts-
rität verschanzen, daß wir Versteck spielen. . . Es gibt Arzte, die nie etwas medizin) und als vorläufiger Mißerfolg der Wissenschaft au{gefaßt, war der
sagen. Diese Bequemlichkeitslüge kleidet sich häufig in die Form des Tod nicht um seiner selbst willen erforscht worden; man hatte ihn beiseite
Schweigens." geschoben als ein philosophisches Problem, das nicht in den Zuständig-
In den Vereinigten Staaten hat sich diese Einstellung jedoch in den letzten keitsbereich der Medizin fiel. Die neueren Untersuchungen bemühen sich,
Jahren grundlegend gewandelt. Dabei ist dieser'§(andel nicht etwa auf die ihm wieder Realität zu verleihen, ihn wieder in die medizinische Literatur
Initiative der Arzte zurückzuführen; er ist ihnen sogar eher aufgedrängt einzuführen, aus der er seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verschwunden
worden, und zwar von paramedizinischen Kreisen: von Psychologen, So- war.
ziologen und später auch Psychiatern, die sich der erbärmlichen Situation Der Arzt, der einst, zusammen mit dem Priester, lange Zeuge und Vor-
der Sterbenden bewußt geworden sind und daraufhin den Entschluß gefaßt bote des Todes gewesen war, lernt ihn heute nurmehr im Krankenhaus ken-
haben, dem Todestabu entgegenzutreten. Das ging nicht kampflos vonstat- nen. Die Praxis des niedergelassenen, krankenhausfernen Arztes vermittelt
ten. Als Feifel, noch vor 1959 und wahrscheinlich zum erstenmal, Sterben- keine Todeserfahrung mehr. Künftig soll also der besser informierte Medi-
de über sich selbst.befragen wollte, bekundeten die Krankenhausbehörden ziner, so glaubt man heute, seine Kranken auch besser auf den Tod vorbe-
heftigen Unwillen, das Projekt erschien ihnen cruel, sadistic, trdumatic. Als reiten können und weniger versucht sein, sich auf das bloße Schweigen
Elisabeth Kübler-Ross im Jahre 1965 ihrerseits Sterbende zu interviewen zurückzuziehen.
versuchte, protestierten die Stationschefs, an die sie sich wandte: Sterben- \ü/as in Frage steht, ist die Vürde des Todes. Diese Vürde erfordert zu-
de ? So etwas hatten sie ja gar nicht ! In einer gutorganisierten und zeitgemä- nächst einmal, daß er anerkannt wird, und zwar nicht nur als wirklicher
ßen Klinik konnte es doch keine Sterbenden geben! Zustand, sondern als entscheidendes Ereignis, das nicht in ailer Heimlich-
Es gelang diesem \üiderstand aus Krankenhauskreisen jedoch nicht, das keit beiseitegeschoben werden darf.
Interesse und die Sympathie einiger Pioniere zu bremsen, die schnell Schule Eine der Vorbedingungen für diese Anerkennung ist, daß der Sterbende
machten. Das erste Arbeitsergebnis war die im Jahre 1959 erschienene und über seinen Zustand ins Bild gesetzt wird. Sehr bald haben die englischen
von H. Feifel herausgegebene Aufsatzsammlung The Meaning of Deatb. und amerikanischen Arzte dieser Forderung nachgegeben, fraglos deshalb,
(23) Zehn Jahre später bot ein anderes Sammelwerk, Tbe Dying Patient, weil sie damit eine Verantwortung teilen und abwälzen konnten, die ihnen
bereits eine Bibliographie von dreihundertvierzig nach 1955 erschienenen unerträglich zu werden begann.
Titeln in englischer Sprache, ausschließlich zum Problem des "Sterbens", Stehen wir also am Vorabend eines neuen und tiefgreifenden Vandels der
ohne Seitenbiick auf Phänomene wie Beisetzungsbräuche, Friedhöfe oder Einstellung zum Tode? \tr(ird das gewohnte Schweigen gebrochen?
Trauerzeit. Der Sammelband vermittelt eine klare Vorstellung von der leb- Prm 29. April 1976 sendete eine amerikanische Fernsehgesellschaft einen
haften Strömung, die damals die kleine '§[elt der Humanwissenschaften in etwa einstündigen Film mit dem Titel Dying, der großen Viderhall fand,
Auiruhr versetzte und schließlich auch die Krankenhaus-Festung stürmte. namentlich in der Presse, wenn auch viele Amerikaner es ablehnten, sich
Eine Frau hat bei dieser Mobilisierungskampagne eine entscheidende Rolle ihn anzuschauen, oder so taten, als hätten sie kein Interesse daran.
gespielt, da sie selber Arztin war und sich trotz vieler Demütigungen und Der Regisseur und Autor, M. Roemer, hat den Tod im postindustriellen
Entmutigungen bei ihren Standesgenossen durchzusetzen wußte: Elisa- Amerika beobachtet wie ein Ethnoioge, der eine wilde Gesellschaft er-
beth Kübler-Ross, deren schönes Buch Oz Deatb and Dying, dx im Jahre forscht. Er hat sich mit seiner Kamera zu unheilbaren Krebskranken und
1969 erschien, Amerika und England aufrüttelte und es dort bald auf mehr ihren Familien begeben und lange Zeit unter ihnen verbracht. Das Filmdo-
als eine Million verkaufter Exemplare brachte. (24) kument, das daraus hervorging, ist außergewöhnlich und erschütternd.

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L
Besser a1sdie gesamte Literatur der letzten Jahre erhellt es den gegenwärti-
I bildern nichts gemein. Sie charakterisieren im Gegenteil den ganz neuen
gen Stand der öffentlichen Auseinandersetzung. heutigen Tod, den Tod junger Erwachsener im Vohlstandsmilieu der gol-
Ein spezifischer Zug ist allen vier Fällen, die Roemer vorstellt, gemein- den suburbs.
sam und entspricht ziemlich genau dem, was wir bereits andernorts beob- Zunächst der Fall einer jungen Frau von etwa dreißig Jahren, die bei ihrer
achtet haben: Der Kranke und seine Familie sind vom Arzt über die Diag- Mutter wohnt und an einem Gehirntumor leidet. Ihr Schädel ist rasiert und
nose und die wahrscheinliche Krankheitsentwicklun g aufgelelärt worden. entstellt von der Operation, die sie über sich hat ergehen lassen müssen, ihr
Der erste Fall beschränkt sich aui den Monolog einer jungen, etwa fünf- Körper zur Hälfte gelähmt, das Sprechen fällt ihr schwer. Dennoch redet
unddreißigjährigen Frau, die vor der leeren Leinwand von der Krankheit sie sehr irei, auf gleichsam sachlich-distanzierte Art, über ihr Leben und
und vom Tod ihres Mannes erzählt. Beide Ehepartner wußten, woran sie ihren Tod, den sie täglich erwartet: sie hat keine Angst davor, man muß ja
waren. Aber ihr klares Bewußtsein der Situation hat sie nicht etwa rrauma- doch sterben, es verschlägt wenig, wann, vorausgesetzt, es geschieht in der
tisiert, sondern es ihnen im Gegenteil ermöglicht, während dieser Periode Bewußtlosigkeit des Komas.
enger zusammenzufinden und ihre Beziehung zu intensivieren. Die aller- Sie beeindruckt uns durch ihren Mut, aber mehr noch durch das vollstän-
letzten Tage ihres Mannes, so erklärt sie, seien, so überraschend das klingen dige Fehlen jeder emotionalen Beteiligung, so als ob der Tod irgendeine
mag, die schönsten seines Lebens gewesen. Uber eine Entfernung von mehr bedeutungslose Angelegenheit sei. Dieses ntors ut nibil errnnert an das orn-
als einem Jahrhundert hinweg glaubt man hier Albert oder Alexandrine de nia ut nibil des 17. Jahrhunderts (Kapitel 7), wenn auch mit dem Unter-
La Ferronays zu hören: mitten im 20. Jahrhundert erhebt sich erneut das schied, daß hier das nihil seine tragische Bedeutung eingebüßt hat und ganz
romantische Leitbild des schönen Todes. beianglos geworden ist.
Der vierte und letzte Fail beschreibt den langen Leidensweg eines erwa Die Kranke wäre sehr allein ohne die stumme und beflissene Gegenwart
sechzigjährigen schwarzen Pfarrers. Diesmal begleitet uns die Kamera in ihrer Mutter: mit wachsender Verschlimmerung hat die Krankheit sie in
seine bescheidene Vohnung, in sein Leben inmitten einer zahlreichen und den Abhängigkeitszustand eines Kleinkindes oder eines Jungtieres zurück-
einträchtigen Familie: seine Frau, deren einfachste Gesten die natürliche versetzt, das mit der Flasche großgezogen werden muß und noch nicht
Vornehmheit einer großen Tragödin haben, seine verheirateten Kinder, einmal den Mund ö{fnen kann. Jenseits dieses Verhältnisses, das, über die
seine noch ganz kieinen Enkel. Er leidet an einem Leberkrebs. \(ir werden Tränen und Vertraulichkeiten hinaus, Mutter und Tochter eint, erstreckt
Zet:gen der medizinischen Konsultation, in deren Veriauf der Arzt ihm und sich die Einsamkeit schöner leerer Häuser und großer einsamer Gärten.
seiner Frau zu verstehen gibt, daß sein Schicksal besiegelt ist: wir erraren Niemand steht ihnen bei, absolut niemand.
die raschen Regungen ihrer Gedanken, die Mischung aus Bekümmernis Der andere Fall stammt aus einem ähnlichen Milieu: ein etwa gleichaltri-
und Resignation. aus Mitleid und Zärtlichkeit, aber auch Glaubensgewiß- ger Mann, der ebenfalls an einem Gehirntumor leidet, aber verheiratet und
heit. \wir erleben mit, wie der Reverend sonnrags in der Kirche seiner Ge- Vater zweier etwa zwölfjähriger Buben ist. Seine Frau, sehr traumatisiert
meinde, die seine Predigt nach afrikanischer Art mit kurzen rezitativarrigen (und vielleicht von der laufenden Kamera beeindruckt), bemüht sich, jede
Einwürfen unterbricht, Lebewohl sagr. \fir folgen ihm auf einer Pilger- emotionaie Regung zu vermeiden, und Iegt ein realistisches und praktisch-
fahrt ins Land seiner Kindheit, in den tiefen Süden Amerikas und ans Grab zweckdienliches Verhalten an den Tag. Eines Abends telephoniert sie in
seiner Eltern. Wir stehen an seinem Sterbebert, als der Tod sich nähert, in ihrer'§Vohnung mit ihrem Mann, der bereits im Krankenhaus liegt, um ihn
einem Zimmer voller Besucher, inmitten der ganzen versammelten Familie, davon in Kenntnis zu setzen, daß es ihr gelungen ist, eine Friedhofskonzes-
und sehen mit an, wie die Kinder ein letztes Mal sein abgezehrtes, aber sion zu erhalten: sie spricht in einem ganz sachlichen Ton, als handelte es
friedliches Antlitz küssen. \ü(ir nehmen schließlich am Leichenbegängnis sich um eine Hotelreservierung; sie hat nicht einmal daran gedacht, die
teil, in der Kirche, wo die Gemeinde unrer Tränen und Gesängen am offe- Kinder ent{ernt zu halten, die weiterspielen, als hätten sie nichts gehört. . .
nen Sarg vorbeizieht. Kein Zweifel: das ist der gezähmre Tod, privat und In §(irklichkeit steht die unglückliche Frau kurz vor dem Zusammen-
öffentlich zugleich. bruch. Eines Tages, als sie am Ende ist, geht sie zum Arzt - immer von der
Die beiden anderen Fälle haben mit den älteren oder bekannten Todes- Kamera begleitet -, um ihm ihre Verzweiflung ins Gesicht zu schreien: ihr

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Gatte, bereirs allzu entkräftet, ist gleichgültig geworden und kümmert sich zurückgewinnt, die Vürde M6lisandes, oder ihn durch eine Art von Vorbe-
nicht mehr um das Familienleben. Gleichwohl verbietet ihr diese nicht en- reitung bannt, die sich wie eine Kunst erlerne n läßt und vonE. Kübler Ross
den wollende Lebensverlängerung, sich wieder zu verheiraten, ihren Kin- an der University of Chicago gelehrt wird. Dort können die Studenten,
dern einen neuen Vater zu geben, und morgen wird es dazu vielleicht schon ohne selbst gesehen zu werden, durch eine Einwegscheibe die Sterbenden
zu spät sein ! Man errät ihren Iiüunsch, der Arzt jedoch isr nicht einmal - mit deren Einwilligung - beobachten und hören, wie sie sich mit Psycho-
bereit, ihn zur Kenntnis zu nehmen. [ogen und Medizinern, den neuen Herren des Sterbens, über ihren Zustand
Am Ende sehen wir den Kranken, der nach seiner letzten Krankenhaus- unterhalten.
behandlung in sein schönes Haus und seinen prachwollen Garten heimge- Auf diese rVeise wird es sicher gelingen, einige Konsequenzen der Ab-
kehrt ist, in ein Schweigen eingeschlossen, aus dem er nie mehr auftauchln wanderung des Todes in die §flelt der Techniker zu lindern; doch mag man
wird. Die stumme Kommunikation, die im vorigen Fall noch zwischen seine Härte auch lindern - aufheben kann man ihn nicht.
Mutter und Tochter besrand, existiert hier nicht mehr. Die Einsamkeit ist In der zeitgenössischen ideoiogischen Auseinandersetzung sehen sich
absolut. die Autoren, die sich mit solchen Linderungen nicht begnügen und sie im
Der neue Aspekt, den ein Film wie Dying enthillt, ist nicht so sehr die Grenzfall als fragwürdige Kompromisse ablehnen, daher veranlaßt, die
Einsamkeit als vielmehr das Bedürfnis, die Heimlichkeiten des Todes be- Medikalisierung der Gesellschaft anzufechten. Das ist etwa der Fall bei
kanntzumachen und offen und natürlich darüber zu reden, anstart sie zu Ivan Illich, der den Mut hat, seine eigene Logik zu Ende zu denken. Für ihn
verbergen. In \(irklichkeit ist der Unterschied aber weniger groß, ais es den ist die Medikalisierung des Todes ein spezieller, aber besonders bezeich-
Anschein hat, und.die Zurschaustellung erreicht das gleiche Ziel wie das nender und schwerwiegender Sonderfall der allgemeinen Medikalisierung.
Verschweigen: die emotionale Anteilnahme zu dämpfen und das Verhalten Ihm zufolge hat sich die Rehabilitierung des Todes daher zwangsläufig auf
zu desensibilisieren. Und damit scheint die Schamlosigkeft von Dying dem \üege über seine Entmedikalisierung und die der gesamten Gesell-
wirksamer zu sein als die verschämtheit des verbotes. Es gelingt ihr besser, schaft zu vollziehen. (25)
jede Kommunikationsmöglichkeit zu beseitigen, sie bekräftigt die voll- Aber Ivan Illich steht sehr allein da. Insgesamt gesehen bleibt die 1959
kommene Isolierung des sterbenden. Die beiden einander in'wirklichkeit von Feifel eröffnete Auseinandersetzung auf eine allerdings breite Intellek-
sehr nahestehenden Haltungen reagieren ganz ähnlich auf das Unbehagen, tuellenschicht beschränkt, mit zeitweiligen Schüben, die auf die allgemeine
das die hartnäckige Fortdauer des Todes in einer rJ(elt provoziert, die das Öffentlichkeit übergreifen, die dann ihrerseits einen Bodensatz von Unbe-
Böse eliminiert hat: das moralische Böse, die Hölle und die Sünde im 19. hagen und Unsicherheit zu erkennen gibt.
Jahrhundert, das physische Böse, das Leiden und die Krankheit im 20. Sehr bemerkensv/ert ist, daß die lü/iederaufnahme der Auseinanderset-
(oder 21 .) Jahrhundert. Der Tod sollte dem Bösen, mit dem er in allen Glau- zung mit dem Tod durchaus nicht die Entschlossenheit der Gesellschaft
benslehren immer verschwistert war, folgen und seinerseits verschwinden: erschüttert hat, sein reales Bild zu verdrängen. Ich kann Beispiele jüngsten
er besteht aber weiter und weicht keinen Schritt zurück. sein hartnäckiges Datums an{ühren, die die fortdauernde Geltung der Trauerverweigerung
Fortdauern erscheint daher als Shandal, angesichrs dessen man die'Wahl beweisen. Eine junge Frau europäischer Herkunft, die in den Vereinigten
zwischen zwei Haltungen hat: die eine ist die des Verschweigens, das darauf Staaten lebte und ganz plötzlich ihre Mutter verloren hatte, fuhr zur Beer-
hinausläuft, so zu run, als gäbe es ihn gar nicht, indem man ihn aus dem digung in ihr Heimatland, mußte aber, erschöpft und angegriffen, so
Alltagsleben verbannt. Die andere ist die von Dying: ihn als technische schnell wie möglich wieder heimkehren, um für ihre Kinder und ihren
Gegebenheit zu akzeptieren, ihn aber auf eine beliebige, ebenso bedeu- Mann zu sorgen; anfangs wünschte sie sich, jemand möge sich um sie küm-
tungslose wie unumgängliche Sache zu reduzieren. mern, aber das Telephon blieb stumm. §(ie die Schwägerin von Geoffrey
Gleichwohl glauben viele, selbst in diesem letzteren Fall, daß der von Gorer war sie in eine Art Quarantäne verbannt: die Kehrseite der Trauer
Dying beschriebene Zustand des Sterbenden aufgrund seiner Bedeutungs- - eine ganz ungewöhnliche Verhaltensweise in einer Gesellschaft, die sonst
losigkeit unerträglich geworden sei. Es sei also ah der Zei, ihn wieder er- immer zu mit{ühlender Hilfsbereitschaft entschlossen und aufgelegt ist.
träglicher zu machen, indem man ihm entweder seine natürliche Vürde Man möchte den Tod im Krankenhaus humanisieren und spricht bereit-

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willig darüber, aber nur unter der Bedingung, daß er dessen Mauern nicht und kosmopolitischen Geseilschaft des ausgchcnden 19. Jahrhunderts, zu
verläßt. Dennoch gibt es eine Bresche im dichrgeschlossenen medikalisier- der, trotz seiner starken ethnischen Prägung, auch der russische Adel ge-
ten Gehege, durch die Leben und Tod, so sorgsam getrennr, wie sie heute hörte. Deshalb haben wir ihn auch bei Tirlstoi entdeckt. Seine zeitgenössi-
sind, sich wieder in einer Flut polemisch-populärer Literatur zusammen- sche Konsistenz aber gewinnt er in den Vereinigten Staaten und in England.
finden können: ich meine das Problem der Euthanasie und der Macht, das Dort schlägt dieses Todesbild \Wurzeln, q,eil es da die günstigsten'§?'achs-
Leben zu verlängern oder abzukürzen. tumsbedingungen vorfindet.
Niemand fühlt sich heute noch von seinem eigenen Tod wirklich betrof- Das kontinentale Europa dagegen stellt sich zunächst als eine Vider-
fen. Aber das Schreckbild des mit Schläuchen und Röhrchen gespickten standszone dar, in der die alten Einstellungen fortdauern. Erst seit ein oder
und künstlich beatmeren Sterbenden Leginnt den Schutzpanzer der Verbo- zwei Jahrzehnten aber hat sich das Tabu des ins Gegenteil verkehrten Todes
te zu durchdringen und eine lange gelähmte Sensibilität aufzurütteln. Es auch, über seine Wiege hinaus, in den weitläufigen Provinzen des traditio-
könnte der Fall eintreren, daß die öf{entlichkeit in Aufruhr gerät und sich nellen und romantischen Todes ausgedehnt: es hat sich einen Großteil des
dieses Themas mit der gleichen Leidenschaftlichkeit annimmt, wie sie es bei nordwestlichen Europa einverleibt. Funeral bomes nach amerikanischem
zahlreichen anderen lebenswichtigen Fragen getan hat, etwa bei der Abtrei- Vorbild beginnen sogar schon an den Küsten des mediterranen Frankreich
bungsfrage. Vieles würde sich damit ändern. Genau das gibt Claude Herz- in Erscheinung zu treten.
lich zu bedenken: ,§üerden wir [. . .] Zeugen eines breiten lViederauflebens Umgekehrt konnten sich weite Teile seines Ursprungsbereiches, wenig-
der Problematik des Todes, die womöglich den Kreis der Experten über- stens zur Zei der Erhebung von Gorer, diesem Tabu noch entziehen; so
schreitet und am Ende zum Träger geselischaftlicher Bewegungen wird, die etwa das presbyterianische Schottland, wo die Leichname der im Kranken-
ebenso folgenreich sind wie der Kampf um die Abtreibung? haus verstorbenen Toten noch immer für eine sehr traditionelle Zeremonie
[. . .] \flir wis-
sen heute, daß in manchen Fällen [Franco, Karen Ann euinlan. . .] Men- nach Hause überführt werden, was beweist, wie falsch es wäre, das angel-
schen sterben [oder nicht sterben], weil man Iim Krankenhaus] entschieden sächsische Modell zu einem protestantischen, dem traditionell-katholi-
hat, daß thre Zeir abgelaufen sei. \tr(ird es dazu kommen, daß sie ihren Tod schen entgegengesetzten Leitbild zu stempeln.
fordern, wenn sie selbst ihn wirklich wollen?" (26) §(ir wissen noch nicht Der soziale Geltungsbereich ist ebenso genau umschrieben wie der geo-
genug darüber, aber es ist bezeichnend, daß die Frage heute auf diese \tr(eise graphische. Gorers Erhebung aus dem Jahre 1963 hat seinen bürgerlichen
gestellt werden kann. Das neuesre Todesbild ist mit der Medikalisierung der oder middle c/ass-Charakter unter Beweis gestellt. Die Trauer dagegen war
Geselischaft verknüpft, d. h. mit einem Sektor der Indusrriegesellschaft, in in der Arbeiterklasse rerbreiteter.
dem die Macht der Technik am freudigsten begrüßt worden und am wenig- Für die Vereinigten Staaten hat eine von J. W. Riley kommentierte Erhe-
sten umstritten ist. Zum ersten Mal stellen sich Zwejfelan der bedingungs- bung der University of Chicago (27), die sich vor allem auf die Bedeutung
losen §(ohltätigkeit dicser Macht ein. Und gerade in dieser Zone des kol- des Todes bezieht, ebenfalls Unterschiede im Sinne der sozialen Klassen
lektiven Gewissens könnte ein \/andel der zeitgenössischen Einstellungen verdeutlicht. Das traditionelle Bild der requies, der Ruhe, das man bereits-
durchaus einen Ansatzpunkt finden. für verschwunden hielt, wurde von 54oÄ d,er Befragten gewählt. Im Jahre
1971 erreichte es bei einer Umfrage der Zeitschrift Psycbology Today wter
ihren Lesern, die zur liberalen amerikanischen Akademikerschicht gehö-
Die Geographie des ins Gegenteil verkehrten Todes ren, nur noch knapp lgok.Der Unterschied zwischen den beiden Zahlen
bezeugt den Einfluß der Arbeiterklasse.
\üirhaben das Leitbild des ins Gegenteil verkehrten Todes und seine all- Ein anderes Thema derselben Chicagoer Erhebung war das der Aktivität
mähliche zeitliche Ausbreitung beschrieben. Er verfügt aber auch über ei- oder Passivität der Einstellung zum Tode. Es lassen sich sehr leicht zwei
nen geographischen Geltungsbereich und einen spezifischen sozialen Kategorien unterschieden: die Reichen und Gebildeten, die sowohl aktiv
Raum. sind (sie machen Testamente, sie schließen Lebensversicherungen ab) als
Zweifellos hat er eine Vorgeschichte in der bürgerlichen, europäischen auch nicht betroffen (sie ergreifen Vorsichtsmaßnahmen für ihre Familien,

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aber diese Vorsichtsmaßnahmen ermöglichen es ihnen, den Tod zu verges- Leben. Die Vorstellung griff um sich, daß der Macht der Technik praktisch
sen). Die unteren Klassen zögern dagegen, Verbindlichkeiten einzugehen, keine Grenzen gesetzt seien, weder im Bereich der Natur noch in dem des
die ihren Tod voraussetzen; sie sind passiv und resigniert, aber für sie ist der Menschen selbst. Die Technik verleibte sich die Domäne des Todes in einem
Tod etwas Gegenwärtiges und Schwerwiegendes geblieben, das nicht da- Maße ein, daß die Illusion entstand, er sei abgeschafft. Der Geltungsbereich
von abhängt, ob man es akzeptiert oder nicht: hier stoßen wir wieder au{ des ins Gegenteil verkehrten Todes ist zugleich der des tiefsten Vertrauens
die Zeichen des ,Todes von früher". in die \Virksamkeit der Technik und ihrer Fähigkeit zur Umwandlung von
Diese geographische und soziale Aufteilung erlaubt es, einige Korrela- Mensch und Natur.
tionen herauszuarbeiten. Es ist recht bemerkenswert, daß der ursprüng- Unser heutiges Todesbild ist also dort entstanden und weiterentwickelt
liche Geltungsbereich des Todestabus dem Verbreitungsgebiet des rural ce- worden, wo zwei Glaubensströmungen aufeinander folgten: zunächst der
rnetery entspricht und daß, umgekehrt, die Viderstandszone mit dem der Glaube an eine Natur, die den Tod zu eliminieren schien, dann der Glaube
städtischen Friedhöfe zusammenfällt, auf denen sich die (manchmal abends an eine Technik, die die Natur zu ersetzen und den Tod mit noch größerer
illuminierten) Monumentalgräber längs den Alleen hinziehen wie die Häu- Sicherheit aus der'§ü'elt zu schaffen versprach.
ser einer Straßenzeile. Im Laufe des vorigen Kapitels haben wir in diesem
Gegensatz einen existenziellen und gleichsam volkstümlichen Unterschied
der Einstellung zur Natur erfaßt. Die Friedhöfe auf dem Lande bezeugen Der Fall Amerika
eine faktische Naturreligion, die urbanisierten Friedhöfe eine faktische In-
differenz. Ein vager, aber mächtiger Glaube an die Kontinuität und Güte Aus der Perspektive der Einstellungen zum Tode ist der so konstituierte
der Natur hat, wie mir scheint, in den Ländern englischer Kultur die reli- Kulturkreis nicht homogen, nicht einmal in seinem angelsächsischen Ur-
giöse und moralische Praxis durchdrungen und die Vorstellung verbreitet, sprungsbereich. Schon zwischen England und den Vereinigten Staaten be-
daß man das Leiden, das Unglück und den Tod aus der \(elt schaffen könne steht ein großer Unterschied.
und müsse. In England war das Ziel die möglichst vollständige Verbannung des To-
Eine zweite Entsprechung tritt zwischen der Geographie des ins Gegen- des von der sichtbaren Oberfläche des Lebens: Abschaffung der Trauer,
teil verkehrten Todes und jener Einflußsphäre in Erscheinung, die man die Vereinfachung des Beisetzungszeremoniells, Einäscherung des Leichnams
der zweiten industriellen Revolution nennen kann, d. h. der Revolution der und Ausstreuung der Asche. Viderstände dagegen bestehen noch im pres-
weißen Kragen, der Großstädte und der raffinierten Techniken. byterianischen Schottland, bei den römischen Katholiken, bei den ortho-
Im vorigen Kapitel haben wir, aus dem Munde eines Positivisren um doxen Juden sowie bei einigen angeblich aus der Art schlagenden Individu-
1880, den Ausdruck
'glückseliger Industrialismuso zur Kennrnis genom- en (Beispiele dafür finden sich in den Berichten von Lily Pincus). Im allge-
men, der eine hedonistische Verbannung des Todes definiert und ankün- meinen jedoch ist das Ziel erreicht worden. Der Tod ist sauber und voll-
digt, die auf die Mitte des 20. Jahrhunderts verweist. Saint-simonisten und kommen evakuiert.
Positivisten ahnten eine Beziehung zwischen dem Fortschritt der Technik In den Vereinigten Staaten und in Kanada hat sich diese Eliminierung
und dem des Glücks sowie der weitestgehenden Eliminierung des Todes weniger radikal vollzogen; der Tod ist nicht völlig spurlos aus der Stadt-
aus dem Alltagsleben voraus. In den Jahren um 1880 war diese Beziehung landschaft verschwunden. Nicht daß man noch etwas zu Gesicht bekäme,
jedoch noch rein theoretisch oder trat nur in vereinzelten und extremen was an die alten Trauerkondukte erinnerte; aber große Reklametafeln zö-
Fällen hervor, und es bedurfte großen Veitblicks, sie überhaupt wahrzu- gern nicht, auf oflener Straße das §(ort feilzubieten, das man verboten
nehmen. glaubte: funeral bome, funeral parlour.
Sie gewann aber zunehmend an Konsistenz, während sich zugleich der Alles sieht in Amerika danach aus, als hätte ein großer Teilbereich seiner
Einfluß der Technik nicht nur auf die Industrie und die Produktion steiger- Kultur das Land dazu gedrängt, die Spuren des Todes zu verwischen, wäh-
te, sondern seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (und in den Verei- rend ein anderer diese Tendenz durchkreuzte und dem Tod weiterhin einen
nigten Staaten schon etwas früher) auch auf das öffentliche und private gut sichtbaren Platz reservierte. Die erste Strömung - wir kennen sie, wir

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haben sie hier soeben analysiert - ist die, die das Tabu oder die Bedeutungs- il ansprechendes Außeres, und ,Sie würden ein solches Stück sicher gern ha-
losigkeit des Todes in der zeitgenössischen Lebenswelt verbreitet. Die ben, um darin Haushaltsgegenstände zu verwahren." Das Ding wird mit
zweite kann, wie wir sehen werden, keine andere sein als die umgewandelte einem Steckschlüssel geöffnet und verschlossen und nicht mehr mit den
alte romantische: der Tod des Andern. sinistren Schrauben und Muttern. Es ist nicht aus Holz, sondern aus Metall,
Zwischen diesen beiden widersprüchlichen Tendenzen mußte ein Kom- kurzum: dieser Sarg heißt zwar immer noch cot't'in, isr aber bereits ein
promiß geschlossen werden. Die Zeit bis zum Todeseintritt haben die bei- skulpturenverzierter und geschmückter Kasten, ein cashet.
den sich geteilt. Das Tabu dominiert wie in England und gilt bis zum Tod im Die alten Särge von einst gehörten, sowohl bei den Puritanern wie bei
eigentlichen Sinne sowie erneut nach der Beisetzung, wobei auch die Trauer den Katholiken, zum makabren Arsenal, zusammen mit Skelett, Toten-
geächtet wird. Zwischen Tod und Beisetzung aber wird es ausgespart, und kopf, Sense, Sanduhr und Totengräberspaten. Sie hatten die Rolle eines rze-
das alte Ritual besteht weirer, wenn auch unrer den vielen Umbildungen mento mori.Ihre Symbolik wurde unerträglich in einer Welt, in der der Tod
kaum mehr erkennbar. So wenig erkennbar, daß es sogar den scharfsinnig- nicht mehr fürchterlich, sondern schön und faszinierend zu sein vorgab.
sten Beobachtern wie Roger Caillois (28) oder den tradirionalistischsten Andererseits kompensierte der Luxus des neuen Sarges, eben des cashet,
wie Evelyn lüIaugh (Tbe Looed One) entging: sie sahen Modernität, wo die Banalität des Grabes, das auf den Rasenfriedhöfen, die nun die rural
nichts anderes zu sehen war als neuer Firnis auf altem Untergrund. cerneteries zu ersetzen begannen, immer häufiger nur noch eine kleine
Die Analyse der amerikanischen Grablegungsriten ist leicht, weil die Steintafel oder eine noch kleinere Bronzeplatte war. \(ie bisher das Grab,
Beisetzung zur Domäne einer regelrechten Industrie geworden ist und die so mußte nun der Sarg zum Kunstwerk werden. Im Umkreis des Todes
Bosse dieser Industrie, die funeral directors, sich ganz ungezwungen dazu durfte es nichts Trauriges mehr geben. Es war dies eine Einstellung des
äußern. Ihre Außerungen werden von Jessica Mitford in ihrem Buch Tbe romantischen 1 9. Jahrhunderts, in der sich die des technischen 20. Jahrhun-
American Way of Deatb (29) angemessen, wenn auch mit kritischer Inten- derts ankündigte, mochte sie auch noch mir der Klage der Lebenden im
tion wiedergegeben. Liest man sie, wird man gewahr, daß sie sich in direk- Bunde stehen: die Trauer w'ar damals noch nicht unvereinbar mit der Ver-
ter Abstammung aus der Trost- und Erbauungsiiteratur der Mitte des 19. schönerung des glücklichen Todes. Glücklich die Toten, unglücklich die
-lahrhunderts
herleiten, die wir im 10. Kapitel (Die schönen Tode) analy- Lebenden, die ihrer Liebsten beraubt waren, v/enigstens bis zum (im Prin-
siert haben, als wir uns auf die von D. Stannard herausgegebene Aufsatz- zip) sehnlichst erwarteten Tage der ewigen §fliedervereinigung.
sammlung Deatb in America und den Beitrag von A. Douglas stützten. Die In derselben Epoche kommt auch die Einbalsamierung wieder auf. §ü'enn
funeral directors sind an die Stelle der Seelenhirten jener Zeit getreten. ich die Aussagen von J. Mitford (31) richtig verstehe, wurde die Einbalsa-
Nehmen wir etwa den Sarg. Der war früher kaum Gegenstand großer mierung während des Sezessionskrieges häufig benutzt, um die Rückfüh-
Aufmerksamkeit gewesen, mit Ausnahme einiger ganz besonderer Fälle: rung kriegsgefallener Soldaten zu ermöglichen, weil die wohlhabenden Fa-
die vage anthropomorphen Särge im England des ausgehenden 16. Jahr- milien das kollektive Verscharren der Gefallenen auf dem Schlachtfeld nicht
hunderts, die aus Blei gefertigten Sarkophag-Särge der Habsburger in mehr duldeten. Die Einbalsamierung gewährleistete, wie im Mittelalter,
\Wien, die manchmal mit Porträts der Verstorbenen geschmückten
polni- den Transport der Toten. Es wird berichtet, daß ein gewisser Thomas Hol-
schen Särge des 1 8. Jahrhunderts. Indessen waren die Mehrzahl der Bleisär- mes im Laufe von vier Jahren viertausendundfünfundzwanzig tote Solda-
ge einfache Truhen, die, ohne jede ästhetische Intention, lediglich dazu be- ten auf diese lü/eise behandelt hat, zum Preis von hundert Dollars pro
stimmt waren, eine bessere Konservierung und einen Transport über grö- Leichnam. Vermutlich galt die Einbalsamierung damals nicht nur als Mittel,
ßere Entfernungen zu gewährleisten. das die Uberführung, sondern auch die Ehrerbietung für die sterblichen
Eines der von Ann Douglas benutzten Bücher trägt nun aber den Titel Reste eines geliebten'§V'esens unter Beweis stellte, und diese Praxis hat sich
Agnes and the Key of the Little Cot'fin by Her Father (1857 [30]). Dieser nach dem Kriege erhalten - so sehr hing die amerikanische Gesellschaft an
little coffin ist kein
Sarg wie die anderen. Man gibt den Kindersärgen in ihren Verstorbenen, so heftig wünschte sie sich, weiterhin mit ihnen kom-
lener Zeh keine geläufigen geometrischen Formen mehr. "Sie ähneln", munizieren zu können.
schreibt unsere Autorin, "allem anderen eher als einem Sarg." Er hat ein Diese fromme Anhänglichkeit ist also durch den Sezessionskrieg ver-

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sich an die Stelle
stärkt worden, das erste der großen Massaker unserer modernen Zeft. Auf. Rückzug kam den t'uneral directors zugute; sie schoben
aus'
die Bedürfnisse, die sie wachrief, reagierte eine neue lndustrie. Die ganze der Prielter und beuteten die vernachlässigten Bedürfnisse
Dimension des Todes nahm in der Gefühlswelt des ausgehenden 19. Jahr- FernermachtensiesichmitbemerkenswerterBehendigkeitdieErmah-
die Notwendig-
hunderts einen derart hohen Stellenwert ein, daß Todesdevotionalien zu nung.n der Psycholog enztrnurze;die hatten seit Freud auf
Tröstung gepocht, die die bürgerliche
den beliebtesten und gewinnträchtigsten Konsumobjekten wurden. Das t.ir?.. T.au.. ,nd d1r kollektiven
den Hinterbliebenen verweigerte. Prompt ka-
Phänomen war nicht auf Amerika beschränkt, es trat in der ganzen westli- Gesellschaft der Großstädte
zu Hilfe. Sie
chen rJü'elt auf. In Frankreich zum Beispiel wurden etwa zur selben Zeit die men nun die /z neral directorsder altersschwachen Gesellschaft
*ollt.n doctlors of grief setn,miteinerBerufungzur grief tberapy..lhnenfiel
oieurs, die Bruderschaften und Leichenbestatter des Ancien Rdgime, durch
jetzt die Au{gabe Jr, i.n Schmerz der trauernden Familien zu lindern' So
die bürgerlichen "Beerdigungsinstitute" ersetzr. Ihre Tätigkeit war in Eu-
verbannt war' in die
ropa jedoch diskreter als jenseits des Atlantik (ohne daß diese Diskretion leiteren sie die Trauer aus dem Alltagsleben, aus dem sie
kurze Phase der Beisetzungsfeierlichkeiten um' wo sie noch
geduldet
ihrem wirtschaftlichen Gedeihen geschadet hätte): in den Vereinigten Staa-
ten übernahm dieses Gewerbe viel umstandsloser die grellen Methoden des wurde.
einzurichten' der
Geschäftslebens mit allem, was an '§üettbewerb und Publicity damit ver- Damit sahen sie sich veranlaßt, einen besonderen Raum
Tod' der nicht mehr
bunden war. So konnte man etwa im Jahre 1965 in den Autobussen von ausschließlich dem Tod vorbehalten blieb - einem
wie der des Krankenhauses' son-
New York rVerbeschilder lesen, die die Dienstleistungen eines dieser Un- schambesetzt und verstohlen sein sollte
ternehmen anpriesen und die Fahrgäste aufforderten, sie in Anspruch zu dern sichtbar und feierlich. Die Kirche war nie der ort des Todes gewesen'
genommen und dort
nehmen. Die Toten hatten ihren §(eg durch die Gotteshäuser
zu irri-
Das Metier hat sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts verändert. Die er- ku.rf.istig verweilt, .,i.ht Äne die läuterungsbesessenen Kleriker
die zweite die des
sten Unternehmer, undertahers im älteren Sinne von Leichenbestattern, tieren. Ihre erste Bestimmung war die des Gottesdienstes'
Momenten ihrer Vereinigung' an den gro-
waren zweilellos noch Handwerker oder \i(agenvermieter, die sich um die f -pfr.g, der Gemeinde in äen
Überführung kümmerten und für den Sarg sorgten. Sie wurden später zu ßerr.V/endepunkten des Lebens und des Todes'
home oder fune-
einflußreichen Geschäftsleuten, zu jenen funeral directors, von denen be- Der dem Tod zugedachte weltliche Raum heißt /z neral
reits die Rede war. Doch obwohl sie den Todesmarkt abgrasten wie jeden ralparlour.DieselnstitutionentlastetsowohldenKlerusalsauchdieFami-
ihnen denToten in der
anderen ökonomischen Markt auch und obwohl sie das kapitalistische Ge- lie und die Arzte und Krankenschwestern' indem sie
gewährt ein3.n
schäftsgebaren bruchlos übernahmen, verstanden sie sich von An{ang an als Kirche, zu Hause oder im Krankenhaus abnimmt' Sie
ihm
plro, *o .. *eiterhin die Auf merksamkeiten empfängt' die ihm die G-e.sell-
eine Art Priester oder Arzte mit einer moralischen Funktion. Die im Jahre
1884 gegründete National Funeral Directors Association gab sich bei ihrer ,.h.ft ,.r*.igert und die ihm die Kirchen nur ungern erweisen' Dieses
ersten Zusammenkunft eine Satzung, in der es hieß, es gebe "nach dem HeimderToterrkr,nmiteinemFriedhofinVerbindungstehenwieinLos
ja Privatbesitz und
heiligen Amt des Geistlichen zweifellos keinen anderen Beruf als den des Ang.l.,. Inden Vereinigten Staaten sind die Friedhöfe
Körperschaften wie den Kirchen oder
funeral director, in dem ein so hohes Maß an moralischem Bewußtsein so g.här.n entweder geme-innützigen
is gibt auch Friedhöfe in städtischer oder
unabdingbar notwendig ist. Hohe sittliche Grundsätze sind die einzig ver- kommerzielle, Unternehmen.
läßlichen." (32) Gemeindehand,diejedochbisheutezumeistdenArmenvorbehaltenblei-
'Wie man sieht, übernahmen die ben ("dsv Acker des TöPfers"l'
funeral directors ganz einfach die Rolle
der Pastoren und der Autoren der von A. Douglas analysierten Erbauungs- D'as funeral bome hai nichts zu verbergen' Sein Name sagt bereits alles'
literatur. Den Verkehr mit dem Jenseits überließen sie den Spiritisten und Ma,,ch-"lpreisenandenStadt-oderStadtviertelein[ahrtengroßePlakate
an'
befaßten sich stattdessen mit den materiellen Zeremonien, die dem Bedürf- seine Vorzüge mit einem 'Postero des funeral director
nis dienten, die Präsenz der Toten zu verewigen. Zur selben Zeit begannen In dieseni Rahmen haben sich die Rituale in den letzten Jahrzehnten
die Kirchen, auch die protestantischen, die Rolle der Totenverehrung im zwarunterdemEinf]ußderherrschendenGrundideen,aberohneschrof-
Man hat an den
religiösen Gefühlsleben als exzessiven Uberschwang anzupranSern. Dieser fen Bruch mit dem Geist des 19. Jahrhunderts entwickelt.

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ft
Bräuchen des 19. Jahrhunderts (casket, Einbalsamierung, Besuch des To-
ten) {estgehalten und ihnen einigc neue hinzugefügt, die in jüngerer Zeit
! Dagegen hat sich inzwischen scharfe Kritik erhoben, nicht nur in den Verei-
nigten Staaten. Man rügt die kommerzielle Ausbeutung des Todes und des
von Einwanderern mediterraner und orientalischer Herkunft b.ig.rt.r..t Schmerzes, aber auch die des Aberglaubens und der Eitelkeit.
wurden: etwa der Brauch, das Antlitz des Verstorbenen bis zur Einsenkung In den lebenden Bildern des /z neral parlour erkennt die kritische Öifent-
in die Erde unverhüllt zu lassen, was den verkauf sehr ingeniöse, ,ork.ri. lichkeit die Konsequenzen der systematischen Negation des Todes in einer
mit abnehmbarem oberteil fördert. Die Gesamtheit dieser Bräuche aber ist Gesellschaft, die sich dem Glück und der Technik verschworen hat. Doch
dem Geschmack einer zeit angepaßt worden, in der der Tod aufgehört hat, sie übersieht dabei häufig, daß diese so futuristisch wirkenden Rituale eine
schön und theatralisch zu sein, um unsichtbar und irreal ru rr..d.n. ganze Reihe von traditionellen Elementen enthalten, zum Beispiel den Be-
Das gesamte zeremonielle Geschehen konzentriert sich auf den Besuch such beim Verstorbenen und den Grabkult auf dem Friedhof. In dieser
des Toten : aiewing the remains. Häufig ist der Verstorbene einfach in einem
Gesellschaft, die den Tod ausgebürgert hat, hatten noch 1960 fünfzig Pro-
Raum des t'uneral bome aufgebthrt v,'ie zu Hause, und man sratter ihm zent der im Lau{e des Jahres Gestorbenen sich ihr Grab bereits zu Lebzei-
einen letzten Besuch gemäß dem alten Ritus ab, dessen ort sich lediglich ten ausgesucht (ebenso wie sie vorher bereits eine Lebensversicherung ab-
verlagerr hat. Gelegentlich wird jedoch der Tote regelrechr in szene gelerzt geschlossen hatten, um sie dann schleunigst wieder zu vergessen). Fraglos
wie ein noch Lebender: etwa an seinem Schreibtisch, in seinem sessel und fürchten die funeral direaors,daß sich die Feuerbestattung, wie in England,
- warum nicht ? - mit einerzigarreimMund. Ein karikierendes Bild, das im auch in Amerika ausbreiten könnte, was für sie viel weniger profitabel
Film und in der Literatur freilich häufiger vorkommt als in der Realität. wäre, doch sie haben in ihrer Abneigung dagegen die Öffentlichkeit auf
Doch auch abgesehen von diesen außergewöhnlichen und wenig repräsen- ihrer Seite.
tativen Fällen versucht man srers, die Zeichen des Todes durchdie Kunst Noch die lächerlichsten und irritierendsten Aspekte des amerikanischen
des mortician zu tilgen, der den Toten herausputzt und schminkt, um
ihn Todesrituals, wie das Herausputzen des Toten und die Vortäuschung von
möglichst lebendig aussehen zu lassen. Leben, bringen den '§(iderstand der romantischen Traditionen gegen die
Denn es ist sehr wichtig, die Illusion von Leben zu vermitteln: sie allein Zwänge des modernen Tabus zum Ausdruck. Die Beerdigungsunterneh-
ermöglicht es dem Besucher, seine Abneigung zu überwinden und sich ge_ mer haben sich diesen lViderstand nur zunutze gemacht und merkantile
genüber sich selbst und seinem innersren Gewissen so zu verhalten, als sei Lösungen angeboten, deren Extravaganz an bestimmte französische Pro-
der Tote gar nicht tot, als gebe es nicht den geringsten Grund, sich ihm nicht jekte der Jahre um I 800 erinnert.
zu nähern. Nur auf diese \ü/eise konnte das Todesverbot umgangen werden. Ihre Gegner, so etwa Jessica Mitford und andere amerikanische Intellek-
Die Einbalsamierung hat also weniger die Funktion, den Toten zu kon- tuelle, haben eine Re{orm der Beisetzungszeremonie vorgeschlagen, die sie
servieren und ihm Ehre zu erweisen, als für eine bestimmre Zeit den Schein vereinfachen und zugleich die traditionellen und pervertierten Überbleib-
des Lebens aufrechtzuerhalten, um die Lebenden zu schützen. sel und die Spekulation, die davonprofitiert, abschaffen soll. Leitbild dieser
Dieselbe Intention, die Traditionen des Todes und die verbote des Le- Reform ist nicht das alte religiöse Ritual, sondern das heutige englische
bens miteinander zu versöhnen, hat die Eigentümer von Friedhöfen wie Modell, die radikalste Version des ins Gegenteil verkehrten Todes : die Feu-
Forest Lawn (Los Angeles) beseelt. Ihr Friedhof ist einerseits geblieben, erbestattung soll weiter verbreitet und die Beisetzungszeremonie au{ einen
was er im 19. Jahrhundert war: ein friedlicher und poetischer Ort, wo die memorial seralce beschränkt werden. Beim memorial seruice {inden sich die
Toten ruhen und wo man sie besucht, ein schöner park, wo man spazieren- Freunde und Angehörigen des Verstorbenen an einem neutralen Ort zu-
gehen und Zwiesprache mit der Natur halten kann. Andere..eits ist e. abe. sammen, um seiner zu gedenken, seine Familie zu trösten, sich philosophi-
ein ort des Lebens, ein schauplatz der verschiedensten Aktivitären: Mu- schen Betrachtungen zu überlassen und gegebenenfalls einige Gebete zu
seum, Markt mit Kunstgewerbe- und Souvenirläden, Stätte ernster und sprechen.
fröhlicher Feste von Hochzeitsfeiern bis Kindstaufen. Auch die Kirchen versuchen neuerdings, den Kompromiß zu verwirkli-
Der Platz im t'uneral home, die präparierung des Toten und das Zubehör chen, den merkantile Extravaganzen bisher verhindert haben. Der Klerus
sind teuer, ihr Absatz sichert einer gutorganisierten Industrie hohe profite. teilt heute mit den agnostischen Intellektuellen der MemorialAssociations

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das Mißtrauen gegenüber abergläubischen Vorstellungen, ob diese nun den
Leichnam oder ein allzu realistisch gesehenes Leben nach dem Tode betref-
fen. Er widersetzt sich einer Sentimentalität, die er für unvernünftig und
unchristlich hält, die aber bisher stark genug war, die Beerdigungsindustrie
am Leben zu halten.
Heute findet das Modell des ins Gegenteil verkehrten Todes in seiner
amerikanischen Version bereits Eingang in Frankreich: in der Nähe der
Friedhöfe werden sogenannte "Athaneen" eingerichtet, die nichts anderes Konlelusion
sein wollen als andere Häuser auch, erkennbar an keinem besonderen Zei-
chen - darin unterschieden vom grellen amerikanischen Modell - außer am
ungewohnten Surren der Klimaanlage. Andernorts, im nordwestlichen Eu-
ropa, breitet sich die englische Version rasch aus: man übernimmt sie im
Gefolge der immer gebräuchlicher werdenden Feuerbestattung.
Im einen Fall gibt es in der ganzen Gesellschaft nur noch einen Ort für
den Tod: das Krankenhaus. Im anderen gibt es zwei: das Krankenhaus und
das Totenhaus.
il{

Fünf Variationen über vier Themen


Ich habe in der Einleitung meiner Studien zur Gescbicbte des Todes darge-
legt, wie ich allmählich darauf verfallen bin, bestimmte historische Quellen
- literarische, liturgische, lestamentarische, epigraphische, ikonographi-
sche usw. - auszuwählen und mir (ohne den Anspruch auf Vollständigkeit)
eine Materialsammlung anzulegen. Ich habe sie jedoch nicht einzeln und
sukzessive durchforstet, um danach eine generelle Bilanz zu ziehen, son-
dern sie simultan geprüft, und zwar mit Hilfe eines Katalogs von Fragen,
die mir die ersten Stichproben nahegelegt hatten. Ausgangspunkt war dabei
die bereits von Edgar Morin vorgetragene Hypothese, daß eine Beziehung
zwischen der Einstellung des Menschen zum Tode und seinem Selbstbe-
wußtsein, seiner Selbsterkenntnis oder einfach seiner Individualität beste-
hen muß. Das war der rote Faden, der mich durch die kompakte und da-
mals noch rätselhafte Masse des dokumentarischen Materials geleitet hat;
er hat mir den \fleg gewiesen, dem ich bis zum Schluß gefolgt bin. Dank der
so gestellten Fragen haben die diversen Befunde allmählich Form und Sinn,
Zusammenhang und innere Logik gewonnen. Mit Hilfe dieses Rasters ge-
lang es mir schließlich auch, Befunde, die sonst isoliert oder unverständlich
und zusammenhanglos geblieben wären, in das Gesamtbild einzufügen.
In meinen vorausgeBangenen Studien zur Gescbichte desTodeshabeich
mich ausschließlich an dieses Frage- und Erklärungssystem gehalten. Es ist
sogar noch in die allgemeine Form der Stoffdarbietung des vorliegenden
Buches eingegangen. Es hat die Titel von dreien seiner fünf Teile beeinflußt :
"Vir sterben allen, "Der Tod des Andern" und "Der eigene Tod" - Titel,
die Jank6l6vitch in seinem Buch über den Tod vorgeschlagen hat.
Doch nach diesem ersten Durchgang hatte ich eine größere Vertrautheit
mit dem Material gev/onnen, die meine Ausgangshypothese ein wenig dif-
ferenzierte und ihrerseits neue Probleme und neue Perspektiven eröffnete.
Das Bewußtsein des Menschen von sich selbst, von seinem Schicksal usw.,
war nicht mehr der einzige Begriffsraster. lVährend des zweiten Durch-
gangs ergaben sich andere Frage- und Erklärungsmuster, die ebenso wich-

773
tig waren wie das, das ich als Vegweiser gewählt hatte, und ebenso gut dazu ben kein individuelles Geschick, sondern Glied des fundamentalen und un-
hätten dienen können, das formlose Material zu ordnen. Im gleichen Maße, unterbrochenen pbylurn ist, jener biologischen Kontinuität einer Familie
wie ich tiefer in die Untersuchung und Reflexion eindrang und bei der Ana- oder Sippe, die sich, seit Adam und Eva, zur menschlichen Gattung als
lyse der Dokumente diese neuen Muster entdeckte, habe ich sie in die Dar- ganzer entfaltet hat.
stellung einbezogen. Ich hoffe, der Leser hat sie bei der Lektüre ausmachen Eine erste Solidarität verknüpfte {olglich den Sterbenden mit der Vergan-
können. genheit und mit der Zukun(t der Gattung. Eine zweite verband ihn mit der
Heute, am Ende dieser langen Wegstrecke, haben die Gewißheiten des öemeinschaft. Die stand um das Berr versammelt, in dem er den Tod erwar-
Beginns ihre Ausschließlichkeit eingebüßt. Im Augenblick des Abschlusses tete, und bekundete dann in den tauerszenen die Unruhe, die der An-
wende ich mich, ein Reisender, der auf die Auslieferung seiner Gepäck- hauch des Todes bei ihr auslöste. sie war durch den verlust eines ihrer Mit-
stücke wartet, ohne .jeden Hintergedanken um und durchmustere mit ei- glieder geschwächt worden. Sie bekannte sich feierlich zu der Ge{ahr, die
nem einzigen Blick die jahrtausendealte Landschaft wie ein Astronaut, der iie verspürte; sie mußte erneut ihre Kräfte sammeln und ihre Einheit durch
die Erde von seinem interplanetarischen Observatorium aus betrachtet. Zeremonien wiederherstellen, deren letzte immer auch den charakter eines
Und dieser ungeheure Raum scheint mir durch die einfachen Variationen Festes, ja sogar eines freudigen Festes hatte.
von vier psychologischen Grundelementen gegliedert zu sein. Das erste ist Der Tod war mithin kein persönliches Drama, sondern eine Prüfung der
eben jenes, das die Richtung unserer Untersuchung bestimmt hat: das Be- Gemeinschaft, die sich verpflichtet fühlte, die Kontinuität der Gattung auf-
wußtsein des Menschen von sich selbst (l). Die anderen sind die Verteidi- rechtzuerhalten.
gung der Gesellschaft gegen die wilde Natur (2), der Glaube an ein Leben
nach dem Tode (3) und der Glaube an die Existenz des Bösen (4). Parameter 2. Wenn die Gemeinschaft den Anhauch des Todes fürchtete
Versuchen wir abschließend zu zeigen, wie die Aufeinanderfolge der im und das Bedürfnis nach neuer Stärkung verspürte, so nicht nur deshalb,
Laufe dieses Buöhes herausgearbeiteten Modelle des Tode s (Wir sterben alle weil der Verlust eines ihrer Mitglieder sie geschwächt hatte, sondern auch,
oder Der gezäbmte Tod, Der Tod des Andern, Der eigene Tod, Der lange weii der Tod - der einzelne eines Individuums oder der wiederholte, etwa
und nabe Tod, Der ins Gegenteil verbebrte Tod) sich aus den Variationen im Falle einer Epidemie - eine Bresche in ihr Verteidigungssystem gegen die
dieser von 1 bis 4 numerierten Parameter erklären läßt. Natur und deren rW'ildheit geschlagen hatte.
Seit den ältesten Zeiten hat der Mensch Sexuaiität und Tod nicht als bloße
rauhe Naturgegebenheit aufge{aßt' Die Notwendigkeit, die Arbeit zu orga-
I nisieren und ordnung und Moral als Bedingungen eines friedlichen Ge-
meinscha{tslebens zu sichern, hat die Gesellscha{t dazu veranlaßt, sich vor
Die vier Parameter treten sämtlich im ersten Modell des gezäbmtenTbdes den heftigen und unvorhersehbaren Stößen und Schüben der Natur in Si-
in Erscheinung und tragen zu seiner Definition bei. cherheit zu bringen: der äußeren Natur der unbändigen Jahreszeiten und
unvorhersehbaren Karastrophen und der inneren velt der menschlichen
Parameter /. Genau wie das Leben ist auch der Tod kein bloß individueller Tiefenschichten, die ihrer Brutalität und Unberechenbarkeit wegen der
Akt. Deshalb wird er, wie jeder große Vendepunkt des Lebens, mit einer Natur gleichgestellt wurden, jener Velt der leidenschaftlichen'Lüste und
stets mehr oder minder feierlichen Zeremonie begangen, deren Ziel es ist, der herzzerreißenden schläge des Todes. Ein Gleichgewichtszustand ließ
die Solidarität des Individuums mit seiner Sippe und seiner Gemeinschaft sich nur dank einer durchdachten strategie erzielen und aufrechterhalten,
zu bekräftigen. die die unbekannten und schrecklichen Kräfte der Natur zurückstaute und
Drei Hauptelemente verleihen dieser Zeremonie ihren höheren Sinn:die kanalisierte. Tod und Sexualität waren die schwächsten Stellen des Schutz-
[Jbernahme einer aktiven Rolle seitens der Sterbenden, die Abschiedsszene walls, weil hier die Natur sich offenbar bruchlos in die Kultur hinein ver-
und die Trauerbekundung. Die Rituale des Sterbezimmers oder der ältesten längerte. Deshalb wurden sie mit besonderer Sorgfalt kontrolliert. Die Ri-
Liturgien bringen die Überzeugung zum Ausdruck, daß das Menschenle- tualisierung des Todes isr ein sonderfall der aus verboten und Zugeständ-

ti
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nissen bestehenden Globalstraregie des Menschen gegen die Natur. Das schen Zeiten wurden zu friedlich Ruhenden, deren Schlaf durch Störungen
erklärt, warum der Tod nicht sich selbst und seiner Maßlosigkeit überlassen kaum bedroht war - dank der Kirche und der Heiligen, später auch dank
blieb, sondern in Zeremonien eingefangen und in ein Spektakel verwandelt der ihnen zugedachten Messen und Fürbitten.
wurde. Und es erklärt auch, warum er, statr einsames Abenteuer zu blei- Diese Auffassung des Lebens nach dem Tode als Ruhe oder friedlicher
ben, zum öffentlichen Ereignis gemacht werden mußre, das die ganze Ge- Schlaf hatte länger Bestand, als man glaubt. Sie ist fraglos eine der hartnäk-
meinschaft miteinbezog. kigsten Irormen der alten Mentalität.

Parameter 3. Die Tatsache, daß das Leben ein Ende hat, wird nicht negiert ; Pararneter 4. Der Tod kann gezähmt, der blinden Gewalttätigkeit der Na-
aber dieses Ende fallt nie mit dem physischen Tod zusammen, sondern turkräfte entkleidet und ritualisiert werden, er wird jedoch nie als neutrales
hängt von kaum bekannten Bedingungen im Jenseits ab, von der Intensität Phänomen erlebt. Er bleibt stets ein mal-heur, ein Unglück zur Unzeit. Die
des Lebens nach dem Tode, vom Gedenken der Hinterbliebenen, vom irdi- alten romanischen Sprachen bezeugen es: der physische Schmerz, das mo-
schen Renommee des Verstorbenen, vom Eingriff überirdischer 'Wesen ralische Leid, die Not des Herzens, die Schuld und die Strafe sowie die
usw. Zwischen dem Augenblick des Todes und dem Ende des Lebens nach Schläge des Schicksals werden allesamt mit ein und demselben Grundwort
dem Tode liegt ein Zwischenreich, das das Christentum, wie alle Heilsreli- auf der Basis von malum (Übel) bezeichnet, sei es mit der Wurzel allein
gionen, zur Ewigkeit ausgedehnt hat. Doch in der gängigen Auffassung, im oder mit Komposita oder'§Teiterbildungen wie malbeur (Unglick), mala-
gewöhnlichen Verständnis spielt die Vorstellung einer grenzenlosen Un- dle (Krankheir), malcbance (Mißgeschick) oder le Malin (der Böse). Erst
sterblichkeit eine geringere Rolle als die der Verlängerung. In unserem Mo- später hat man sich bemüht, die verschiedenen Bedeutungen genauer zu
dell ist das Leben nach dem Tode eher ein Warten (et expecto), ein Warten unterscheiden. Ursprünglich gab es nur ein einziges mal,dessen Aspekte
im Frieden und in der Ruhe. Die Toten harren, gemäß dem Versprechen der variierten: das Leiden, die Sünde und der Tod. Das Christentum erklärte es
Kirche, auf das wirkliche Ende des Lebens, die Auferstehung in der Glorie umstands- und restlos durch die Erbsünde. Kaum ein Mythos hat in den
und das kün{tige ewige Leben. herrschenden Mentalitäten tie{ere'§(urzeln geschlagen: er war die Reaktion
Die Toten führen ein gedämpftes Leben, dessen erwünschrester Zustand auf ein allgemeines Gefühl der permanenten Präsenz des Bösen. Die Resi-
der Schlaf ist, der Schlaf der künftigen Glückseligen, die umsichtig genug gnation war also nicht - wie heute und wohl auch einst bei den Stoikern und
waren, sich in der Nähe von Heiligen beisetzen zu lassen. Epikuräern - Unterwerfung unter eine gute Natur oder eine biologische
Ihr Schlaf kann gestört werden, durch eigene Verfehlungen zu Lebzeiten Notwendigkeit, sondern Anerkennung eines untrennbar mit dem Men-
wie durch falsches oder böswilliges Verhalten der Hinterbliebenen oder schen verbundenen Bösen.
durch die dunklen Gesetze der Natur. Dann schlafen diese Toten nicht,
sondern irren umher und kehren wieder. Die Lebenden dulden zwar die
vertraute Nähe der Toten in den Kirchen, auf den Plätzen und Märkten, II
aber nur unter der Bedingung, daß sie ruhen. Gleichwohl ist es nicht mög-
lich, ihre Viederkehr zu unterbinden. Sie muß also geregelt, kanalisierr Soweit die Ausgangslage, wie sie durch eine bestimmte Beziehung zwi-
werden. Deshalb erlaubt die Gesellschaft ihnen die \Tiederkehr, wenn auch schen den vier von uns unterschiedenen psychologischen Grundelementen
nur an bestimmten, durch Brauch und Herkommen fesrgesetzren Tagen definiert wird. Sie hat sich in der Folge in eben dem Maße verändert, wie
wie dem Karneval, trägt aber gleichzeitig dafür Sorge, ihr Hin und Her zu sich ein oder mehrere ihrer Grundelemente gewandelt haben.
kontrollieren und dessen Auswirkungen zu bannen. Die Toten gehören Das zweite Modell, das des eigenen Todes, ergtbt sich ganz einfach aus
zum verdrängten und zugleich kanalisierten Strom der Natur; das lateini- einer Verschiebung der Dimension des Schicksals in Richtung auf das Indi-
sche Christentum des Frühmittelalters hat das alte Risiko ihrer \ffiederkehr viduum.
abgeschwächt, indem es ihnen einen Platz inmirten der Lebenden, im Mir- Man wird sich erinnern, daß dieses Todesbild zunächst auf eine Elite von
telpunkt des öffentlichen Lebens zuwies. Die grauen Larven aus heidni- litterati, von Reichen und Mächtigen beschränkt war und noch früher, vor

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dem 11. Jahrhundert, auf die abgeschlossene, organisierte und exemplari- meinen Empfindung fremd war. Statt dessen griff die Vorstellung einer un-
sche \üelt der Mönche und Kanoniker. In diesen Kreisen hat sich die tradi- sterblichen Seele als Sitz des Individuums, die bereits seit langem in der
tionelle Beziehung zwischen dem Selbst und den Anderen zum erstenmal Velt der Kieriker gepflegt worden war, vom 11. bis zum 17. Jahrhundert
umgekehrt: das Gefühl der eigenen Identität gewann die Oberhand über immer mehr um sich und besetzte schließlich fast alle Mentalitäten, mit
die Unterwer{ung unter das kollektive Schicksal. Ein jeder entiernte sich in Ausnahme einiger unterirdischer Nischen. Diese neue Eschatologie führte
dem Maße von der Gemeinschaft und von der Gattung, wie er ein Bewußt- zum Ersatz der Aussage "er ist tot" durch banale Umschreibungen wie ,er
sein von sich selbst entwickelte. Doch wie sehr er sich auch bemühte, die hat den Geist aufgegeben" oder "Gott hab ihn selig".
Moleküle seiner Biographie zusammenzufügen: allein der Tod erlaubte Diese rührige Seele begnügte sich nicht mehr damit, den Schlaf der Er-
ihm, sie zu einer Einheit zu schmieden. Ein derart in seiner Einzigkeit be- wartung zu schlafen wie einst der bomo totus - oder wie der Arme. Ihre
stätigtes Leben erwarb sich eine Autonomie, die es auszeichnete und her- Existenz oder vielmehr ihre unsterbliche Aktivität bezeugre den liü'illen des
aushob; seine Beziehungen zu den anderen und zur Gesellschaft wurden Individuums, seine schöpferische Identität in dieser wie in jener Velt zu
dadurch veränden. Die lebendigen Freunde wurden wie Gegenstände be- bekräftigen, und seine Weigerung, sie in einer biologischen oder sozialen
herrscht und besessen, und umgekehrt wurden die ieblosen Dinge wie le- Anonymität aufgehen zu lassen: eine Umwandlung der Natur des Men-
bende Wesen begehrt. Gewiß mußte die Bilanz des Lebens in der furchtba- schen, die womöglich am Ursprung der kulturellen Blüte des lateinischen
ren Stunde des Todes abgeschlossen werden, doch bald wurde sie unter dem Abendlands steht, die zur gleichen Zeit einsetzte.
Druck des vom Tod nicht berührten Villens, mebrzn sein, darüber hinaus Das Modell des eigenen Todes unterscheidet sich also vom älteren und
erweiten. So kolorlisierten jene entschlossenen Menschen das Jenseits wie vielfach weiterhin gültigen Modell des gezähmten Todes durch die Varia-
das Neue Indien mit Hilfe von Messen und frommen Stiftungen. Das wich- tion zweier Parameter, wobei der des Individuums (1) den des Lebens nach
tigste Instrument ihres Unternehmens, das ihnen die Kontinuität zwischen dem Tode (3) beeinflußt hat.
Diesseits und Jenseits zu sichern erlaubte, war das Testament. Es diente Die beiden anderen Parameter (2 und 4) sind dagegen nahezu unverän-
ihnen dazu, sich die Liebe der'§ü'elt zu erhalten und zugleich, dank ihres dert geblieben. Ihre relative Stabilität hat dieses Todesmodell gegen einen
Hingangs in einem guten Tod, Investitionen im Himmel zu tätigen. allzu einschneidenden \üandel geschützt. Sie hat ihm eine jahrhunderrelan-
Triumph des Individualismus in dieser Epoche der Bekehrungen, der ge Beständigkeit gesichert, die den Anschein erwecken mag, es sei alles
spektakulären Bußen, der gewaltigen mäzenatischen Stiftungen, aber auch beim alten geblieben.
der gewinnbringenden, überlegten und zugleich kühnen lJnternehmun- Die Bedeutung des Bösen (Parameter 4) ist tatsächlich im großen und
gen, kurzum: der Epoche beispielloser und unmittelbarer Genüsse und ei- g nzen geblieben, was sie seit jeher war. Das Böse war unabdingbar {ür die
ner närrischen Liebe zum Leben. Ökonomie des Tesraments und für die Aufrechterhaltung der Liebe zum
Soweit zum Parameter 1. Unausweichlich mußte eine solche Verherrli- Leben, die zum Teil auf dem Bewußtsein seiner Hinfälligkeit beruhte. Das
chung des Individuums, selbst wenn sie sich eher in der empirischen \(irk- hat natürlich ganz entscheidend zur Beständigkeit des Modelis beigetragen.
lichkeit als in der kirchlichen Lehre vollzog, den Parameter 3 verändern, die Die Verteidigung gegen die wilde Natur (Parameter 2) hätte ebenfalls von
Vorstellung vom Leben nach dem Tode. Der im irdischen Leben manife- den Variationen der Bedeutung des Individuums und des Lebens nachdem
stierte leidenschaftliche Viile zum Ich und zum Immer-noch-mehr mußte Tode beeinflußt werden können. Sie war durchaus bedroht, ihr Gleichge-
zwangsläufig auch auf das Leben im Jenseits übergreifen. Das starke Indivi- wicht ist andererseits aber auch wiederhergesrellt worden. Das hat sich fol-
duum des Hochmittelalters konnte sich nicht mit der friedlichen, aber inak- gendermaßen ab gespielt.
tiven Konzeption der requies begnügen. Es hörte auf, verlängerter und Der leidenschaftliche \üunsch, die eigene Identität zu bekräftigen und
schlummernd er homo totus zu sein, und verdoppelte sich, wurde einerseits die Freuden des Lebens auszukosten, hatte der bora mortis eine neue und
genießender oder leidender Leib, andererseits unsterbliche Seele, die der schreckliche Bedeutung gegeben, die im zweiten Teil des Aoe Maria zum
Tod befreite. Der Leib verschwand sodann, unter dem Vorbehalt einer Auf- Ausdruck kommt, jenes Gebetes {ür einen guten Tod, das am Ende dieser
erstehung, die zwar ais Dogma weiterhin Geltung behielt, aber der allge- Epoche entstand. Diese neue Bedeutung hätte die Beziehungen zwischen

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dem Sterbenden und den Hinterbleibenden oder der Gesellschaft erschüt- kann: ist der Leichnam erst einmal durch den Katafalk oder die reprösenta-
tern können, ja sogar müssen; sie hätte den Tod pathetisch wie den der tion verdrängt und verhüllt, so stellt sich die alte Vertrautheit mit dem Tod
romantischen Phase und einsam wie den des Eremiten gestalten und das bald wieder ein, und alles geht weiter wie zuvor.
besänftigende Ritual zunichtemachen können, das die Menschen gegen den Die bis heute übliche Verhüllung des [-eichnams und der lange gültig
natürlichen Tod aufgerichtet hatten. gebliebene Brauch des Testaments sind also die beiden bezeichnendsten
Der Tod hätte dann, aufgrund seiner Pathetik und der Angst vor der Elemente im Modell des eigenen Todes. Die Verhüllung kompensiert diesen
Hölle, wild und sogar verzweifelt werden können. Nichts davon ist gesche- Brauch und sichert die traditionelle Ordnung des Todes, die von der Pathe-
hen, weil ein neues und gegensätzliches Zeremoniell das alte, vom Indivi- tik und den Sehnsüchten des im Testament sich ausdrückenden Individua-
dualismus und seinen Angsten bedrohte wiederherzustellen vermocht hat. lismus bedroht wird.
Die Szene des Todes auf dem Sterbebett, einst das v/esentliche Element
der Zeremonie, überdauerte, mit gelegentlich etwas mehr Pathetik, bis ins
I 7. und 1 8. Jahrhundert, d. h. bis das pathetische Gebaren unter dem Ein- III
fluß einer neuen, aus Hinnahme und Indifferenz gemischten Haltung in
den Hintergrund zu treten begann. Doch zwischen denTod im Bett und die Dieses Modell des eigenen Todes gilt mit allem, q/as es an traditioneller
Grablegung schoben sich mehrere neue Zeremonien: das Trauergeleit, nun Abwehr und Sündenbewußtsein in sich trägt, bis ins 18. Jahrhundert hin-
zur kirchlichen Prozession geworden, und der kirchliche Gottesdienst in ein. Gleichwohl beginnen sich seit dem 16. jahrh,rnd..t ii.fg."ifende Ver-
Anwesenheit des Leichnams, ein'§(erk der städtischen Reformationsbewe- änderungen abzuzeichnen, nur andeutungsweise in der Offentlichkeit der
gung des ausgehenden Mittelalters und der Bettelmönche. Der Tod wurde lebendigen Gebräuche und der bewußten Ideen, sehr nachhaltig aber in der
nicht etwa der Natur zurückgegeben, der ihn die Alten entrissen hatten, um verborgenen \üelt des Imaginären - ein kaum wahrnehmbarer und doch
ihn zu zähmen, sondern im Gegenteil noch mehr kaschiert, denn die neuen sehr schwerwiegender Prozeß. Eine gewaltige Umwälzung der Gefühls-
Riten enthielten ein Element, das unwichtig scheinen mag, aber von be- welt beginnt sich Bahn zu brechen. Ein erster Ansatz zu dieser Umwälzung
trächtlicher Bedeutung ist: das Gesicht des Verstorbenen, das bisher unver- - ferne und unvollständige Ankündigung der großen Inversion unserer
hüllt den Blicken der Gemeinde dargeboten worden war und in den medi- Tage - zeichnet sich jetzt in den Darstellungen des Todes ab.
terranen Ländern auch noch geraume Zeit unverhüllt bleiben soilte (in den Der hatte sich in allem, was ihm einst an Nahem, Verrraurem und Ge-
byzantinischen Kulten sogar bis heute), wurde nun verborgen und unter zähmtem eigen war, mehr und mehr in Richtung auf f ene heftige und heim-
den sukzessiven Masken von Leichentuch, Sarg und Katafalk oder reprö- tückische vildheit enrfernt, die Angst einflößt. Bereits die alte vertrautheit
sentdtionverlarvt. Die Hülle des Toten wurde, spätestens seit dem 14. Jahr- war, wie wir soeben gesehen haben, nur dank später Eingriffe des Hoch-
hundert, zum theatralischen Monument, wie man es zur Ausstattung der mittelalters aufrechtzuerhalten gewesen : feierlichere Rituale und Tarnung
Mysterienspiele oder der Großen Einzüge zu errichten pflegte. des Leichnams unrer der reprösentation.
Das Phänomen der Verhüllung des Leichnams und seines Gesichts tritt In der Neuzeit hat sich der Tod mit allem, was er damals an Fernem in
zur gleichen Zei auf wie das Bemühen der makabren Künste, die Zerset- sich barg, wieder genähert, er hat fasziniert und die gleichen fremdartigen
zung des Leichnams unter der Erde, d. h. die Kehrseite des Lebens darzu- Neugierden, die gleichen Phantasien und die gleichen perversen Abwei-
stellen - eine um so bitterere Kehrseite, je mehr man das Leben liebte. Die- chungen provoziert wie die Sexualität und die Erorik. Deshalb nannten wir
ses Bemühen war jedoch nur von kurzer Dauer, die Verhüllung des Leich- dieses besondere Modell nach einer Formel von Mme. de La Fayette, die
nams dagegen hatte Bestand. Das Antlitz des Toten, das früher gelassen Michel Vovelle zitiert, den langen und nahenTod.
akzeptiert worden war, wird nun abgewehrt, weil es Gefühle zu wecken, \{as sich hier in der Tiefe des kollektiven Unbewußten gewandelt hatte,
also Angst zu machen droht. Die Verteidigung gegen die wilde Natur hat war genau jenes Element, das seit Jahrtausenden nahezu unverändert ge-
mithin eine neue Angst hervortreten lassen, die freilich dank des Verbotes, blieben war: der zweire Paramerer, die Abwehr der wilden Natur. Der einst
das sie im gleichen Moment provoziert, rasch wieder überwunden werden gezähmte Tod schickte sich an, in die Vildheit zurückzufallen: eine langsa-

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n
me und zugleich gewalttätige Bewegung, die sich abwechselnd, ganz dis- tert es in einem nie zuvor erreichten Maße. Die Kontrollämpchen blinken,
kontinuierlich, in heftigen Erschütterungen und langen, kaum wahrnehm- die Nadeln unserer Anzeigegeräte schlagen wild aus: unsere vier Parameter
baren Rückfallschüben ausdrückte. sind sämtlich in starker Bewegung.
Auf den ersten Blick nimmt es wunder, daß diese Verwilderungsphase Das beherrschende Element ist die Veränderung des ersren Paramerers,
zugleich die Periode wachsender Rationalität, wissenschaftlicher Erfin- der die Bedeutung des Individuums anzeigt. Bisher hatte er zwischen zwei
dungen und ihrer technischen Anwendung ist, eine Periode des Glaubens Grenzwerten geschwankt: zwischen dem der Gattung und des gemeinsa-
an den Fortschritt und seinen Triumph über die Natur. men Geschick s (toir sterben alle) und dem der persönlichen und besonde-
Und doch sind damals die standhaften Dämme, seit Jahrtausenden auf- ren Biographie (der eigene Tod). lm 19. Jahrhundert treren beide zurück
gerichtet, um die Natur auf andere §?eise in Schach zu halten, als es die hinter einer dritten, vorher mit den beiden ersten verquickten Dimension:
moderne §Tissenschaft tut, an zwei einander sehr nahen und bald sogar sich hinter der des Anderen, aber nicht jedes beliebigen Anderen. Die einst frei-
vereinigenden Stellen geborsten: an der Bresche der Liebe und an der des schwebende, diffuse Affektivität hat sich auf einige wenige Vesen konzen-
Todes. Jenseits einer bestimmten Schwelle haben sich Leid und Lust, Ago- triert, von denen getrennt zu werden man nicht mehr erträgt: die Trennung
nie und Orgasmus in einer einzigen Empfindung zusammengefunden, die löst eine dramatische Krise aus, die wir den Tod des Anderen genannr ha-
der Mythos der Erektion des Gehenkten illustriert. Diese Gefühle am ben. Das ist eine Revolution der Gefühle, die ebenso bedeutsam für die
Rande des Abgrunds flößen Begehren und Angst ein. Damals und nur da- allgemeine Geschichte ist wie die der Ideen oder der Politik, die der Indu-
mals tritt eine erste Form der großen Angst vor dem Tode auf : die Angst, strie oder der sozio-ökonomischen Bedingungen, die der Demographie
lebendig begraben zu werden, die den Glauben voraussetzt, es gebe einen usw. - lauter Revolutionen, die fraglos mehr miteinander verbindet als bloß
gemischten, aus Leben und Tod zusammengesetzten und wieder rückgän- eine chronologische Korrelation.
gig zu machenden Zustand. Ein originärer Typus gewinnt bald die Oberhand über sämtliche anderen
Diese Angst hätte sich entwickeln und verbreiten und, im Verein mit Formen der neuen Empfindsamkeit: der des Privatiebens im Sinne der eng-
anderen Auswirkungen der Zivilisation der Aufklärung, unsere moderne lischen prioaq,. Er hat seinen Platz in der
"Kernfamilie" gefunden, die sich
Kultur ein Jahrhundert früher hervorbringen können. Es ist nicht das erste aufgrund ihrer neuen Funktion der absoluten Affektivität zu konsolidieren
Mal, daß man im ausgehenden 18. Jahrhundert den Eindruck hat, bereits vermochte und nun sowohl die traditionelle Gemeinschaft als auch das In-
mit dem 20. in Berührung zu sein. Aber nein, irgendetwas ist dazwischen- dividuum des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit er-
getreten, das der Achronie entgegenwirkte und die realen Chronologie setzt. So steht die prioacy sowohl im Gegensatz zum Individualismus als
wiederherstellte. auch zum Gemeinschaftssinn und ist Ausdruck einer ganz eigenständigen
und originären Relation.
Unter diesen Bedingungen hatte der eigene Tod keine Bedeutung mehr.
IV Die Angst vor dem Tode, die in den Phantasien des 17. und 18. Jahrhun-
derts aufgekeimt war, wurde auf den Tod des Anderen verschoben, auf den
Selbst wenn das Gefälle vom 18. bis zum 20. Jahrhundert kontinuierlich Tod des geliebten Wesens.
verläuft, ist es für den unbefangenen Beobachter doch kaum wahrnehmbar. Der Tod des Anderen weckte eine früher verdrängte Pathetik; dieZere-
Die Kontinuität wirkt zwar in der Tiefe, tritt aber nur in Ausnahmefällen monien im Sterbezimmer oder während der Trauerzeit, die früher als
an die Oberfläche. Und im 19. Jahrhundert, wo die Techniken der Indu- Schranke gegen exzessive Gefühlsausbrüche dienten, wurden entrituali-
strie, der Landwirtschaft, der Natur und des Lebens, die aus dem wissen- siert und neuformuliert als spontaner Ausdruck des Schmerzes der Hinter-
schaftlichen Denken der vorangegangenen Epoche erwachsen sind, ihre bliebenen. Die beklagten nun aber die physische Trennung vom Verstorbe-
Triumphe feiern, treibt die Romantik (das §flort ist geläufig) eine Sensibili- nen und nicht mehr das Sterben als solches. Im Gegenteil, der Tod hat auf-
tät der grenzen- und vernunftlosen Leidenschaft hervor. Eine ganze Reihe gehört, traurig zu sein, und wird als geradezu ersehnter Moment verherr-
von psychologischen Reaktionen durchzuckt das Abendland und erschüt- licht. Er ist die Scbönbeit.Die wilde Natur hat den Schutzwall durchbro-

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I
chen, ist in die Kultur eingedrungen und dort der humanisierten Natur verfolgt. Im 19. Jahrhundert triumphiert eine andere Jenseitsvorstellung:
begegnet, mit der sie sich daraufhin im Kompromiß der Schönheit vereint das Jenseits wird vor allem zum Ort der \(iedervereinigung derer, die
hat. Der Tod ist nun nicht mehr vertraut und gezähmt wie in den traditio- durch den Tod getrennt worden sind und diese Trennung nie verwunden
nellen Gesellschaften, doch er ist auch nicht mehr absolut wild. Er ist pa- haben. Es ist die rViederherstellung der jetzt von ihren Schlacken gereinig-
thetisch und schön geworden, schön wie die Natur, wie die Unermeßlich- ten und der Ewigkeit gewissen irdischen Gefühle. In dieser Form ist es das
keit der Natur, wie das Meer oder die Heide. Der Kompromiß der Schön- Paradies der Christen und die Astralwelt der Spiritisten und Metapsycho-
heit ist das letzte Mittel, um die maßlose Pathetik einzudämmen, die die logen. Es ist aber auch die Traumwelt der Ungläubigen und Freidenker, die
alten Schutzwälle durchbrochen hat. Ein Abwehrmittel, das zugleich auch die Realität eines Lebens nach dem Tode negieren. In der Pietät ihrer An-
ein Zugeständnis ist: es verleiht dem Phänomen, das man damit schwächen hänglichkeit halten sie das Gedächtnis ihrer Verstorbenen mit einer Intensi-
wollte, einen außerordentlichen Glanz. tät wach, die dem realistisch gedachten Jenseitsleben der Christen und
Freiiich hätte der Tod nicht in de; Gestalt der höchsten Schönheit auftre- Metapsychologen durchaus gleichkommt. Die ideologischen Unterschiede
ten können, wenn man nicht bereits aufgehört hätte, ihn mit dem Bösen zu mögen groß sein, sie verblassen )edoch in der Praxis dessen, was man den
assoziieren. Doch die sehr alte Identitätsbeziehung zwischen Tod, physi- Kult der Toten nennen kann. Alle haben sich das gleiche Luftschloß nach
schem Schmerz, moralischem l-eid und Sünde hat sich gelockert: unser dem Vorbild ihrer irdischen 1üTohnstätten gebaut, in dem sie * ob im Traum
vierter Parameter. Das Böse, das seine Position so lange hat halten können, oder in §flirklichkeit, wer weiß? - den Wesen wiederzubegegnen hoffen,
schickt sich zum Rückzug an, und als erstes räumt es das Herz und das die leidenschaftlich zu lieben sie nie aufgehört haben.
Gewissen des Menschen, das man für seine ureigenste und uneinnehmbare
Festung gehalten hatte. Ein ungeheurer Bruch im psychischen Kontinuum !
Ein ebenso bedeutsames Phänomen wie das der Rückkehr der wilden Na- V
tur ins Zentrum der humanisierten, mit dem es übrigens eng verknüpft ist,
so als wären das Böse und die wilde Natur gegeneinander ausgetauscht So hat sich im 19. Jahrhundert die seelische Landschaft grundlegend ge-
worden. wandelt. Alle vier Elemente, aus denen sie sich zusammensetzte, haben sich
Die erste Bastion, die bereits im 18. Jahrhundert fiel (in England womög- verändert, in ihrem §(esen wie in ihrem Verhältnis zueinander. Die dadurch
lich noch früher), war der Glaube an die Hölle und an einen Zusammen- entstandene Situation sollte nicht mehr als anderthalb Jahrhunderte lang
hang zwischen Tod und Sünde oder spirituellem Leiden (das physische Lei- bestehen, was wenig ist. Aber das folgende Todesmodell, das unsrige, das
den wurde noch nicht in Frage gestellt). Philosophie und Theologie hatten wir den ins Gegenteil verhebrten Tod genannt haben, stellt die Grundten-
ihn spätestens seit dem 18. Jahrhundert problematisiert. Im 19. Jahrhun- denzen und die Struktur der Veränderungen des 19. Jahrhunderts nicht in
dert war er in den katholischen wie in den puritanischen Kulturen so gut Frage. Im Gegenteil, es setzt sie fort, mag es ihnen auch in seinen spektaku-
wie erledigt: die Angst vor der Hölle war verschwunden. Es war nicht mehr lärsten Auswirkungen scheinbar widersprechen. Alles sieht danach aus, als
denkbar, daß den dahingegangenen Lieben eine solche Gefahr drohte. Al- hätten die Tendenzen des 19. Jahrhunderts jenseits einer bestimmten
lenfalls glaubten die Katholiken noch an ein Läuterungsverfahren: an einen \Wachstumsschwelle jeweils die umgekehrten Phänomene hervorgerufen.
Durchgang durch das Purgatorium, der durch die fromme Fürbitte der Das heutige Todesmodell bleibt weiterhin vom Ideal der prioaqt be-
Hinterbliebenen abgekürzt werden konnte. stimmt, das jedoch strenger und anspruchsvoller geworden ist. Gleichwohl
Kein Schuldgefühl, keine Angst vor dem Jenseits hält mehr davon ab, heißt es oft, es werde schwächer.
sich der Faszination des in höchste Schönheit verwandelten Todes zu über- Das liegt daran, daß man ihm heutzutage die Perfektion des Absoluten
las sen. abverlangt und keinen jener Kompromisse mehr duldet, die in der romanri-
\flo es keine Hölle mehr gibt, hat sich auch der Himmel verändert : unser schen Gesellschaft mit ihrer Rhetorik - oder, wie man heute gern sagt, mit
dritter Parameter, das Leben nach dem Tode. Vir haben den langsamen ihrer "Scheinheiligkeit" - noch akzeptiert wurden. Das Vertrauen zwischen
Übergang vom Schlaf des homo totus zur Glorie der unsterblichen Seele den Menschen ist entweder total oder gleich null. Man läßt kein Mittelding

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zwischen Erfolg oder Scheitern mehr gelten. Möglich ist, daß die Einstel- Umständen war es besser, sich schweigend in der Komplizenschaft einer
lung zum Leben von der Gewißheit des Scheiterns bestimmt wird. Dafür wechselseitigen Lüge einzurichten.
wird dann aber die Einstellung zum Tode von der unmöglichen Hypothese Man begreift also, daß die Bedeutung des Individuums und seiner Identi-
des Erfolgs bestimmt. Deshalb ist sie sinnlos geworden. tät - das, was man meint, wenn man heute vom Recht auf den eigenen Tod
Sie setzt also in der Tat die Affektivität des 19. Jahrhunderts fort. Die spricht - von der familiären Fürsorglichkeit unterdrückt worden ist.
letzte Erfindung dieser ingeniösen Affektivität hatte darin bestanden, den \Vie aber ist die Abdankung der Gemeinschaft zu erklären ? Mehr noch:
Sterbenden oder Schwerkranken gegen seine eigene emotionale Anteilnah- 'Wie
kam sie dazu, ihre Rolle umzukehren und die Trauer, der Respekt zu
me in Schutz zu nehmen, indem man ihm bis zum Ende die Schwere seines verschaffen einst ihre Aufgabe war, im 20. Jahrhundert zu untersagen ? Der
Zustandes verhehlte. Der Sterbende reagierte, wenn er das fromme Spiel Grund dafür war, daß die Gemeinschaft sich am Tod eines ihrer Mitglieder
durchschaute, seinerseits mit Komplizenschaft, um die Fürsorglichkeit des immer weniger beteiligt fühlte. Zunächst deshalb, weil sie es nicht mehr für
Anderen nicht zu enttäuschen. Seither waren die Beziehungen des Sterben- nötig hielt, sich gegen eine inzwischen ..,erdrängte wilde Natur zu verteidi-
den zu seiner Umwelt durch seine Respektierung dieser aus Liebe gebore- gen, nachdem diese durch den technischen Fortschritt, namenrlich den der
nen Lüge bestimmt. Medizin, ein für allemal humanisiert worden war. Dann aber auch, weil sie
Damit der Sterbende, seine Umgebung und die sie überwachende Gesell- kein hinreichendes Solidaritätsgefühl mehr empfand: sie hatte längst auf
schaft dieser Situation zustimmen konnten, mußte die lVohlmt solcher Ab- ihre Verantwortung und ihre Initiative bei der Organisation des kollektiven
schirmung des Sterbenden zunächst die Freuden der letzten Kommunion Lebens verzichtet. Im alten Sinne des 'Wortes existierte sie gar nicht mehr
mit ihm in den Schatten stellen. Vergessen wir nicht, daß der Tod im 19. als "Gemeinschaft", sie war ersetzr worden durch eine ungeheure Agglo-
Jahrhundert dank seiner Schönheit zur Gelegenheit der vollkommensren meration von atomisierten Individuen.
Vereinigung zwischen dem Dahingehenden und den Zurückbleibenden ge- Noch einmal aber: rVenn dieses Verschwinden der traditionellen Ge-
worden war: die letzte Kommunion mit Gott oder mit den Anderen war meinschaft auch die Abdankung erklärt, so erklärt es doch nicht die sflie-
das große Privileg des Sterbenden. Die Abschirmung durch die Lüge dereinsetzung anderer Tabus. Die massive und formlose Agglomeration,
machte nun aber, wenn sie bis zuletzt aufrechterhalten wurde, diese Kom- die wir heute die Gesellschaft nennen, wird bekanntlich zusammen und am
munion und ihre Freuden hinfällig. Die Lüge, selbst wenn sie beiderseitig Leben gehalten durch ein neues System von Zwängen und Kontrollen, das
und komplizenha{t war, nahm dem innigen Austausch der letzten Stunde Michel Foucault in seinem Buch überutachen und Strafen beschrieben hat.
die Freiheit und die Pathetik. Außerdem wird sie von unwiderstehlichen Strömungen durchzogen, die
Doch in §flahrheit war die Intimität dieses letzten Austauschs bereits sie in einen permanenten Krisenzustand versetzen und zu sporadischen
durch die Häßlichkeit der Krankheit und später durch die Einlieferung ins Aggressivitätsausbrüchen oder kollektiven Phobien treiben. Eine dieser
Krankenhaus vergiftet worden. Der Tod wurde schmutzig und dann medi- Strömungen hat die Massengesellschaft gegen den Tod aufgebracht. Genau-
kalisiert. Der Abscheu und die Faszination des Todes waren zunächst eine er: sie hat sie dazu getrieben, vor dem Tod Scham zu empfinden, mehr
kurze Zeitlang auf den Scheintod fixiert worden; dann hatte man sie durch Scham als Abscheu, und so zu tun, als ob es ihn gar nicht gäbe. \(enn die
die Schönheit der letzten Kommunion sublimiert. Doch der Abscheu war, Bedeutung des Anderen, eine Form der bis in die letzte Konsequenz getrie-
ohne die Faszination, in der abstoßenden Form der schweren Krankheit benen Bedeutung des Individuums, der erste Grund für die heutige Einstel-
und der Pflege, die sie erforderlich machte, wiedergekehrt. lung zum Tode ist, so ist diese Scham - und das Tabu, das sie nach sich zieht
Als die letzten traditionellen Abwehrmechanismen gegen den Tod und - der zweite Grund.
die Sexualität unwirksam wurden, hätte die Medizin den Platz der Gemein- Diese Scham ist nun aber die unmirtelbare Folge der definitiven Abdan-
schaft einnehmen können. Sie tat es im Kampf gegen die Sexualität, wie die kung des .Bösez.
medizinische Literatur gegen die Masturbation bezeugt. Sie versuchte es Bereits im 18. Jahrhundert hatte man begonnen, die Macht des Teufels
auch im Kampf gegen den Tod, indem sie ihn in wissenschaftliche Labora- anzufechten und seine Realität in Frage zu stellen. Die Hölle wurde abge-
torien und Kliniken einschloß, wo für Ge{ühle kein Platz ist. Unter diesen schafft, zumindest für die Angehörigen und die vertrauten Freunde, die als

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einzige zählten. Zugleich mit der Hölle verschwanden die (Erb-)Sünde und Gleichwohl hat diese Einstellung weder den Tod noch die Todesangst
die verschiedenen Formen des spirituellen und moralischen malum: man ausgelöscht. Im Gegenteil, sie hat, unter der Maske der medizinischen
faßte sie nicht mehr als unausweichliches Erbe des alten Adam auf, sondern Technik, die alten Vildheits- und Grausamkeitsvorstellungen unmerklich
als Fehlleistungen der Gesellschaft, die sich durch ein wirksames System wieder Fuß fassen lassen. Der Tod im Krankenhaus, der bewußtlos an
der Überwachung (und Bestrafung) schon eliminieren lassen würden. Der Schläuchen und Drähten hängende Moribunde, wird heute immer mehr
allgemeine Fortschritt der'§ü'issenschaft, der Moral und der gesellschaftli- zum volkstümlichen Bild, das schreckenerregender ist als der transi oder
chen Organisation würde bruchlos zum allgemeinen Glück führen. Aller- das Skelett der makabren Rhetorik. Eine Korrelation zwischen der ,Aus-
dings gab es weiterhin, noch mitten im 19. Jahrhundert, das Hindernis des bürgerung" des Todes als dem letzten Schlupfwinkel des Bösen und der
physischen Leidens und des Todes. Niemand dachte daran, es zu eliminie- Rückkehr dieses wieder grausam gewordenen Todes beginnt sich abzu-
ren. Die Romantiker umgingen oder assimilierten es. Sie verschönten den zeichnen. Und sie überrascht uns auch nicht mehr: Der Glaube an das Böse
Tod, stilisierten ihn zum Eingangsportal eines anthropomorphen Jenseits war notwendig gewesen, um den Tod zu zähmen. Die Abschafiung des
um. Doch sie hielten nach wie vor an der uralten Koexistenz von Krank- Bösen hat den Tod in den Zustand der'§flildheit zurückversetzt.
heit, Leiden und Agonie fest: der Todeskampf eines Sterbenden weckte Dieser \Widerspruch hat eine kleine Elite von Anthropologen mobili-
Mitleid, nicht Ekel. Alles begann mit dem Ekel : bevor man noch darauf siert, eher Psychologen und Soziologen als Mediziner und Geistliche. Sie
sann, das physische Leiden abzuschaffen, begann man, seinen Anblick, schlagen vor, den Tod weniger zu ,evakuieren" als, wie sie es nennen, zu
seine Schreie und seine Gerüche für unerträglich zu halten.
"humanisieren". Sie möchten festhalten an einem notwendigen Tod, der
Später gelang es der Medizin, das Leiden zu lindern, ja schließlich fast jedoch akzeptiert und nicht mehr schambesetzt sein soll. Auch wenn sie
völlig abzuschaffen. Das Ziel, das man im 18. Jahrhundert ins Auge gefaßt dabei auf aite Volksweisheiten bezugnehmen, geht es ihnen keineswegs
hatte, war beinahe erreicht. Das malum hörte auf, dem Menschen unwei- darum, in die Vergangenheit zurückzugreifen und das ein für allemal begra-
gerlich anzuhaften, ja mit ihm zusammenzufallen, wie es die Religionen bene Böse wieder hervorzuholen. Man ist immer noch darau{ aus, den Tod
und namentlich das Christentum geglaubt hatten. Gewiß existierte es noch, mit dem Glück zu versöhnen. Er soll lediglich zum diskreten, aber würdi-
aber außerhalb des Menschen, in Randzonen, die von Moral und Politik gen Ende eines befriedigten Lebens werden, zum Abschied von einer hilf-
noch nicht kolonisiert worden waren, in Devianzen, die man noch nicht im reichen Gesellschaft, die nicht mehr zerrissen noch allzu tief erschüttert
Grif{ hatte: in Kriegen, Verbrechen und Abweichungen von der Normali- wird von der Vorstellung eines biologischen Übergangs ohne Bedeutung,
tät, die aber eines Tages von der Gesellschaft eliminiert werden würden, so ohne Schmerz noch Leid und schließlich auch ohne Angst.
wie die Krankheit und das Leiden von der Medizin eliminiert worden sind.
rVenn es nun aber kein malum mehr gibt, was macht man dann mit dem
Tod? Auf diese Frage gibt die Gesellschaft heute zwei Antworten, eine
banale und eine aristokratische.
Die erste ist ein massives Eingeständnis der Ohnmacht: nur ja nicht die
Existenz eines Skandals zugeben, den man nicht hat verhindern können,
lieber so tun, als gäbe es ihn gar nicht, und folglich die Umgebung der
Sterbenden und der Toten mitleidlos zum Verstummen bringen. So hat sich
ein dumpies Schweigen über den Tod gebreitet. Wenn es gebrochen wird,
wie heute gelegentlich in Nordamerika, so lediglich, um den Tod auf die
Bedeutungslosigkeit eines beliebigen Ereignisses zu reduzieren, von dem
man gleichgültig und unbeteiligt zu sprechen vorgibt. Das Resultat ist in
beiden Fällen das gleiche: weder das Individuum noch die Gemeinschaft
sind stark und stabil genug, den Tod anzuerkennen.

788 789
18 Les Rotnans de la Table ronde, a. a. O., S. ltiO.
l9 Ebenda, S. 350 und 455; Le Roman de Tristan et yseult, a. a. O.
20 Gulielmus Durandus de Mende, a. a. O., Bd. V, S. XXXVIII.
21 A. Solscheniz-yn, Krebsstation, Neuwied, Luchrerhand, 196g.
22 Les Romans de laTable ronde, a.a.O.,S.l5C und 4,17.
23 La Cbanson de Roland, a. a. O.
24 J.-P. Peter, "Malades et Maladies au XVIII" stdcle*, Annales EiC,1967,5.712;
P. Craven, Ricit d'une seur. Souaenirs de famille, paris, J. CIay, 1g66, Bd. II,
Anmerkungen s. 197.
25 L. Pincus, Death and tbe Family, New york, Vintage Books, 1975, S.4-g.
Kapitel 1 : Der gezähmte Tod (S. I 1) 26 P.-IJ. Simon, "Discours de r6ception ä l'Acad6mie franqaise", Le Monde,20.
November 1967.
1 J. Le Gof{, "Culture cl6ricale et Traditions folkloriques dans la civilisation m€ro- 27 Le Roman de Tiktan et Yseuh, a.a.O.
vingiennen, Annales. Economies, sociötis, cioilisations (Annales ESC), Juli/Au- 28 Le Romancero, Paris, Srdck,19+7 1k, übers. von M. de pomäs); vgl. Romancero
gust 1967, S. 780ff. general, ed. A. Duran, Madnd 1924, Bd. II, S. 365.
2 Les Romans de la Table ronde,bearbeiret von J. Boulenger, Paris, Plon, 1941, 29 L. Tolsroi, Der Tod des ltan lljitscb, 1886; dt. Leipzig 1 g87 u.ö.
s. 443 ff. 30 I. Babel, Ein Abend bei der Kaüerin. Erzählungen, Dramen, Selbstzeugnisse,
3 Ebenda, S. 124. Berlin, Volk und Velt, t 969, S. 99 ff . Vgl. M. Ribeyrol und D. Schnapper, »C6r6_
4 La Chanson d.e Roland, herausgegeben und übersetzt von J. B6dier, Paris, H. monies funiraires dans la Yougoslavie orrhodoxe", Arcbi,es europlennes de so-
Piazza,1922,CCVII, CLXXIV; vgl. die hier und im folgenden zitierte afrz./nhd. ctologie, XVII, 1926, 5.220-246.
Fassung von H. \(/. Klein, München 1963. Le Roman de Tristan et Yseuh,bear- 31 Homer, Odyssee, Xl,V. 474,494 ; Virgit, Aeneis,y. 268-679.
beitet von J. B6dier, Paris, H. Pra.zza, 1946,5.247. Les Tristan en vers,hg. von 32 Ovid, Fasti, Il,Y. 533.
J.-C. Payen, Paris, Garnier, 1974. 33 Vgl. auch unten, Kapitel 3 und 5.
5 R. Glaber, zitiert bei G. Duby, L'Anmil,Paris,Julliard, Reihe "Archives", 1967, 34 Apostelgeschichte,Yll,60; Ph. Labbe, Sacra sancta concilia, paris 1671, Bd. V,
S.78 und 89. col. 87 ; Dictonnaire d'arch\ologie cbrötienne et de liturgie,paris,Lerouzey, lgOT,
6 Mus6e des Augustins, Toulouse, Nr. 835. Bd. XII, col.28, ,Mort*; Bd. I, col. 479, ,Ad sanctos".
7 Les Romans de la Table ronde, a.a.O.., S. 154. 35 JacobusdeVoragine, Legendaaurea,übers.vonR.Benz,Berlin,Union,1963,S.
8 G. Dubv, a. a. O.,5.76. s43ft.
9 G. Grimaud, Liturgie sacrie, in Gulielmus Durandus de Mende, Rationale dioi- J6 1559. Archiaes nationales (im folgenden AN), Minutier central(MC),VIII, 369.
norum officiorun, Parii 1854, hgg. von C. Barth6lemy, Band V, S. 290 ; mhdt./dt. 37 Dictionnaire d'Archiologie cbrötienne et de liturgie, a. a. O., Bd. XII, col. 2g.
Teilausgabe von G. H. Buijssen, Assen 1966. 38 Vgl. unten Kapitel 5. Siehe auch M. Ribeyrol und D. Schnapp er, a. a. O. (Anm.
1O A. Tenenti, Il Senso della morte e l'arnore della oita nel Rinascimenro, Turin, 30).
Einaudi, Reihe "Francia e Italia", 1957, S. 170, Fußnote 18. 39 N. castan, Crirninalitöet Subsistances d,ans le ressort du parlernent de Toulouse
11 Mme. Dunoyer, Lettres et Histoires galantes, Amsterdam 1280, Bd. I, S. 300. (1690-1730), Diss. phil. Toulouse-Le Mirail 1966, maschinenschrifrl., S. 315.
I 2 M. de Cervantes, El ingenioso Hidalgo Don Quixote de la M ancba, 1605/ 1615, 2. 40 P. Bourget, Outre-nter, Paris. A. Lemerre, 1895, Bd. II, S. 250.
Teil, Kap. 74; dr. Leben und. Taten des scbart'sinnigen Edlen Don Quixote aon La 41 Das vorliegende Kapitel war bereits abgeschlossen, als das Buch von V. Thomas
Mancha, übers. von L. Tieck,4 Bde., Berlin 1799*1801. - L'Anthropologie de la mort,Paris,Payor,1975 - erschien.
13 H. Troyat, To ktoi', P arts, F 1 9 65, S. 827 .
^y ^rd,
l4 L. Tolstoi, Tri smerti,1859; dt. DreiTode, Leipzig 1860 u.ö. Kapitel 2 .. Ad sanctos; apud ecclesiam (5. 43)
15 J. Guitton, M. Pouget, Paris, Gallimard, 1941, S. 14.
t6 Gulielmus Durandus de Mende, a. a. O., Bd. V, S. XIV. Zitiert nach l-. Thomassin, Ancienne et Nourelle Ducipline de l,Eglie, Ausgabe
17 J. Huizinga, Herfstij der middeleeuuen, Amsterdam 1924 ; ü. H erbst des Mittel- von 1725, Bd. III, S. 543f|.; Dictionnaire d.'Archöologie cbrltienne et d.e liturgie,
akers,Srutgarr 'c1969, S. l03ff. a. a. O., Arr- ,Ad sanctos., Bd. I, col. 479-5A9.

790
791
!
2 Ch. Saumagne, "Corpus christianorum", Revue internationale des droits de 24 Humbertus Burgundus, a. a. O.
L'Antiquitö, Reihe l, Bd. LVII, 1960, S. 438-478; Bd. LVIII, 1961,5.258-279. 25 Aeneas Sylvius, De Origine Boemiae, Kap. 35, zitiert nach H. de Sponde, les
3 Johannes Chrysostomus, Opera. .., ed. Mont{eucon, Paris 1718-1738, Bd. cimetiires sacrez,Bordeaux 1598, S. 144.
VIII, S. 71, Homilie 74. 26 L. Thomassrn, a. a. O.
4 L. Thomassin, a. a. O. 27 Zrrierr von Dr. Gannal, Les Cimetiires de Paris, Paris 1884, Bd. I.
5 Dictionnaire d'Archäologie chritienne et de liturgie, a. a. O., Arr. "Ad sanctos". 28 L'Elucid.arium et les Lucidaires. Mölange d'archöologie et d'histoire des Ecoles
6 M. Meslin und J.-R. Palanque, Le Cbristianisnte antique, Paris i962, S.23C. frangaises d'Atbines et de Rome, hgg. von Y. Lefevre, Fasc. 180, Paris, de
7 J. Le Goff , La Cioiliation de L'Ocadent mödiiaal, Paris, Arthaud, Reihe "Les Boccard,1954.
grandes civilisations", 1964, S. 239. 29 E. Lesne, Histoire de la propriötö eccl|siastique, a.a.O.; Dom H. Morice,
8 Insepultus jaceat, non resurgat. Si quis bunc sepulchrum t'iolaoerit partem 1t4ömoires pour seroir de preuoes ä I'histoire cioile et ecclisiastique de Bretagne,
babeat cum Juda traditore et in die judicie non resurgatusw. (Unbestartet möge Paris 1742, Bd. I, S.559; Fauveyn, zitierr nach Godefroy, Dictionnaire de
er bleiben, nicht auferstehen möge er. Ver dieses Grab schändet, ergreift die l'Ancien t'rangai, Arr. ,Aitre.; vgl. das Ylorr imblocatus rn C. Ducange,
Partei des Verräters Judas und wird am Tage des Jüngsten Gerichts nicht Glossarium mediae et infimae latinitaris, Paris, Didot, 1840-1850.
auferstehen.) DictionnairedArcbiologiecbritienneetdeliturgie,a.a.O.,Bd.I, 30 Dante, ll Purgatorio, I11,Y. 127 fI.
col. 486. 31 Jownal d'un bourgeois de Paris de 14A5 ä 1449,hgg. von A. Tuetey, Paris, H.
9 Tertullian, De resurrectione carnis,43,PL 2, col. 856. Champion, 1881, S. 17 (12. November l4t1) und S.44 (15. September 1413);
la Diaionnaire d'Archöologie cbrötienne et de litargie, a. a. O., Arr. "Ad sanctos.. Alain Chartier, zitiert nach J.-B. de Lacurne de Saint-Palaye, Dictionnaire de
11 Kosmo, Ende des 6. Jahrhunderts. Ygl. Dictionnaire d'Arcbäologie chritienne et I'ancien frangais, 1877, Art. ,Aite..
de liturgie, Art. ,Ad sanctos.. 32 J. Potocki, Le Manuscrit trouoö iSaragosse, Paris, Gallimard, 1958 (hgg. von R.
12 Maximus Turinus, PL 57, col. 427-428. Caillois), S. 51 ; dt. Die Handscbrift eon Saragossa, Frankfurt, Insel, 1961 u. ö.
13 Gallische Inschrift, vgl. Dictionnaire d'Archöologie cbrötienne et de liturgie, (übers. v. L. Eisler), S.34.
Arr. 'Ad sanctos«. 33 L. Chevalier, Classes Laborieuses et Cldsses dangereuses d Paris,Paris 1958.
14 Ebenda. 34 Mündliche Mirteilung von G. Le Bras.
l5 f,. Salin, La cioilisation miroaingienne, Paris, Picard, 1949, Bd. II, S. 35. 35 L. Thomassin, a. a. O.
16 R. Dauvergne, "Fouilles arch6ologiques ä Chätenay-sous-Bagneux", Mömoires 36 Gulielmus Durandus de Mende, Rationale dipinorum officiorum, a. a. O., Bd.
des soci|tös d'hitoire de Paris et d'lle-d.e-France, Paris 1965-1966,5.241-270. V, Kap. 5, S. XII.
l7 J. Sirat, Guide hitorique de Guiry-en-Wxin,hgg.vom Musie arch|ologiquein JZ L. Thomassin, a- a. O.
Guiry, Guiry 1964. 38 G. Charles-Picard, La Cartbage de saint Augustin, Paris, Favard, 1965,
78 Monurnenta germaniae historica, Hannover 1875-1889, LegesY, Capxula de s. 204*05, 210.
partibus Saxoniae,S.43 (22), lahr 777. 39 Boymans-oan Beuningen Museum, Rotterdam.
19 Dictionnaire d'Archöologie cbrötienne et de liturgie, a. a. O., Arr. ,Ad sanctos.. 40 L. Thomassin, a.a.O.: J. Gerson, Opera, Anvers 1706, Bd. II, S. 440.
20 6,. Lesne, Hßtoire de la propriötö eccl6siastiqne en France, Lille, Descl6e de 47 Ecclesia ut ibi cimeterium esse mortuorum, zitren nach f . Lesne, a. d. O.
Brouwer, 1936, Bd. lll,S.122-129. 42 C. Ducange, Ecclesia in qua bumantur corpora defunctorum, rn Glossarium . . .,
21 Fr. Eygun und L. Levillain, L'Hypogöe des Dunes ä Poitiers, hgg. von der Stadt a. a- O.
Poitiers und der Sociöti des antiquaires de I'ouest,1,964. 43 Nullotumulorumoestigioapparente,ecclesiareoerentiaconserueretur.Ubivero
22 Humbertus Burgundus, Maxima bibliotbeca veterzm patrum, 1677, Bd. XXV, boc pro muhitudine cadaoertm difficile est facere, locus ille cemeterium et
s.527. polyandrium babeatur, ablato inde akare, et constituto sactificium Deo oaleat
23 A. Chedevrlle, Liber controoersarium Sancti Vincentii Cenomannensis ou offeri. A. Bernard, La sipuhure en droit canonique, Diss. jur., Paris 1913,
Second Cartulaire de labbaye Saint-Vincent du Llans, Paris, Klincksieck, 1968; S.20-21, Fußnote 7.
Antiquos patres ad pitandam urbium t'requentiam quaedam solitaria loca 44 Im Jahre 1059 beschränkte ein römisches Konzil die cont'inia cemeteriors.mauf
elegisse, ubi ad honorem Dei t'idelium corpora boneste potuissent sepeliri,Nr. 37, 60 Schntte per clrcuitum für die Hauptkirchen und 30 Schritte für die Kapellen.
S. 45 und 1095-1 136 ; H. Sauval, Histoire et Recbercbes des antiquitäs de Paris, Vgl. E. Lesne, a. a. O. ;ebenso G. Le Bras, Dictionnaire d'hitoire et göograpbie
Paris 1724, Bd. I, S. 359. ecclösiastiques, Paris 1930, Bd. IV, col. 1035-1,A47, Arr. ,Asile".

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l
45 La Cbanson de RoLand, a. a. O,, CXXXII. pion, 1902, Bd. I, S.313; M. Prllet, L'Aitre Saint-Maclou, Paris, Champion,
46 Dictionnaire de l'ancienfrangais, a. a. O., Art. ,Aitre"; C. Enlart, Manueld'ar' 1924.
chöologie midiöoale, S. 909{f ., Art. ,Cimetiire"; P. Duparc, "Le Cimetiäre s6 62 A. Le Braz, ebenda, Bd. I, S. 286.
par6 des vivants*, Bulletin pbilologique et bitorique du Comitö des trattaux 63 Th. Ducrocq, "De la vari6t6 des usages fun6raires dans l'Ouest de la France*,
historiques et scientifiques, 1964, S. 481-509. Vortrag, gehalten am 18. April 1884 beim 22" Congris des Sociötös saoantes
47 C. Ducange, Glossarium . . ., a. d. O., Art. 'Stillicidium" und ,Paradisus. ; Le - Seaion des Sciences öconomiques et sociales, Paris, E. Thorin, 1884.
Roman de Rou,Y .5879, zitiert nach E. Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonnö de 64 A. Bernard, a.a.O.; G. Le Bras im Dictionnaire d'histoire et de göographie
I'arcbitectttre frangaise,Paris 1 868, Bd. IX, S. 23. ecclösiastiques, a. a. O., Art. , Asile " ; P. Duparc, a. a. O., S. 483-509.
48 La Cbanson de Roland, a. a. O., CCXII; zu Roncival (Formigny) vgl. Mathieu 65 R. de Gaigniöres, Röpertoir Bucbot, Nr.5186 (Kathedrale von Evreux),
de Coucy, Histoire de Cbarles VII, ziriert nach J.-B. de Lacurne de Saint-Pa- Nr. 5650 (Saint-Etienne in Beauvais), Nr. 5879 (Saint-Amand in Rouen).
laye, Dictionnaire de l'ancien t'rangais, a. a. O., Art. ,Cbarnier". 66 G. Le Bras, a.a.O.;P,Duparc, a.a.O,
+9 Annales E|C,1969, S. 1454, Fußnote 1. 67 f,. Lesne, a. a. O., Bd. III. Azylus circum ecclesiam: C. Ducange, a. a. O., Arr.
50 Die Kirche Saint-Benoit. "Coerneterium".
51 Chronrk von Marigny : In carnario qui locus intra septa ecclesiae illius ossa conti' 68 G.-A. Prevost, L'Eglise et les Campagnes au Moyen Age,Paris 1892, S. 5O-51 ; in
net rnortuotum, zitiert nach J.-B. de Lacurne de Saint-Palaye, a. a' O. Minot-en-Chätillonais gab es auf dem Friedhof und in unmittelbarer Nähe der
52 G.LeBreton, Description de Paris sous CbarlesVI,inL. Leroux de Liney und Kirche Zufluchtsorte, in denen die Einwohner in Notfällen ihre Habseligkeiten
L. Tisserand, Histoire gönöraLe de Paris, Paris 1867, S 193' verbergen und aufbewahren konnten. Sie wurden im 17. Jahrhundert beseitigt.
53 H. Sauval, a.a.O., Bd. I, S. 359; V. Dufour, Le Cimetiire des Innocents,tnF. Vgl. unten Kapitel 1 1 und F. Zonabend, "Les morts et les vivantso, Etudesrura-
Hoffbauer, Paris ä traaers les äges, Paris 1 875-1 882, Bd. II, Erster Teil, S. l-28 /es, Nr. 52, 1973.
(ZitatevonRolanddeVirlays, Dictionnaired'architecture,lTT0,undvonAbb6 69 C. Ducange, a. a. O., Art. 'Coemeteriurno.
Villain). 7a f,. Lesne, a. a. O.
54 Vgl. unten Kap. 1O: ,Der Besuch auf dem Friedhof". 71 Cartulaire Saint-Vincent, hgg. von A. Chedeville, a.a.O., Nr. 153.
55 "Die Gegend in der Umgebung der Kirche Saint-Gervais (in Paris) könnte also 72 "Diese profane Akrivität schien den Menschen dieser Zeit natürlich, weil das
in der Antike und in merowingischer Zeit ein weitläufiger Friedhof Eewesen Allerheiligste das Gemeinschaftshaus war." A. Dumas, "L'Eglise au pouvoir
sein, der sich trotz Einschrumplung bis ins Mittelalter erhalten hat. Seit der des laiques., in Fliche und Martin, Hßtoire de l'tglise, Paris, P.U.F., Bd. VII,
Gründung der P{arre Saint-Jean-en-Gröve nicht mehr benutzt, besteht er als s. 268.
Name in der Place du Vieux-Cimetiäre Saint-Jean oder plateaaeteris cirneterii 73 Journal d'un bourgeois de Paris . . ., a. a. O.,5.234.
fort." M. Vieillard-Troiökoufo{f u. a., "l.es Anciennes Eglises suburbaines de 74 A. Vallance, Old Crosses, London 1930, S. 11.
Paris (IV-X'siöcles)", Märnoires de le Födiration des sociötös d'bistoire de Paris 75 P. Corrozet, zitiert nach Y. Du|our, a. a. O.
et I'lle-de-France,196A, S. 198.
d.e 76 A.LeBraz, a.a. O., Bd. I, S. 123, Fußnote 1.
56 V. Dufour, La Danse macabre des Saints-lnnocents de Paris,Paris 1874l,Y. 77 Cartulaire Saint-Vincent, a. a. O., Nr. 285.
Dufour, in F. Hoffbauer, Paris ä travers les äges, a.a. O., Bd. II, Erster Tei[, 78 A. Le Braz, a. a. O., Bd. I, S. 259, Fußnote 1.
s. 29. 79 A. Bernard, a.a.O.;Dom E. Martäne, Veterttm scriptorium (...) colLectio,
57 F.deLasteyrie,,LJnenterrementäParisen16gT",BulletindeLasoci|täd'bitoi- 1724-1733, Bd. IV, col.987-993.
re de Paris et de I'lle-de-France,Pans 1877,8d. IV, S. 146-150' 80 A. Le Braz, a. a. O., Bd. I, S. XXXV.
58 Journald'unbourgeoisdeParis...,a.a.O.,S. 116(Oktober-Novemberl418); 81 A. Bernard, a. a. O.
H. Sauval, a.a.O., Bd. II, S.557. 82 V. Dufour, in F. Ho{fbauer, a. a. O.;Berrhod, La Ville de Paris en oers burles-
59 L.-M. Tisserand, "Les iles du fief de Saint-Germain-des-Präs et la question des ques, 1661, zitiert nach E. Rauni6, Epitaphier du aieux Paris. Histoire ginirale
cimetiäres", Bulletin de la sociöti d'histoire de Paris et de I'lle-de-France,Paris d.e Paris, Paris, Imprimerie nationale, 1890 (Einführung).

1877,Bd. IV, S. 112-131. 83 Berthod, Vorwort z.u La Ville de Paris en oers burlesques, a. a. O.; Journal d'un
6a BibliothiqueNationale(imfolgendenBN),Manuscritst'rangais(M.Ir.),Papiers ooyage d Paris en 1657-1658, hg. von A. P. Fougöre, Paris 1862, S. 45; A. Ber-
Joly de Fleury,12a7. nard, a. a. O. ; V. Dufour und F. Hoffbau er, a. a. O.
61 A. Le Braz, La Ligende de la Mort cl:ez les Bretons armoricains, Paris, Cham- 84 J. Le Goff, "Culture cl6ricale et Traditions folkloriques", a. a. O.

794 795
85 JeanduBerry,24.Augustl4ll,inA.Tuetey,TestamentsenregiströsarParle- Untersuchung von P. Chaunu und seinen Schülern. Vgl. P. Chaunu, "Mourir
ment de Paris, sous le rigne de Charles VI, Paris, Imprimerie nationale, 1880, ä Paris", Annales EiC,1976, S.29-50; ebenso die im selben Aufsatz, S.48,
Nr. 282 (im folgenden mit der Abkürzung .Tugtey.). Fußnote 4, zitierte Denkschrif t von B. de Cessole.
86 Tuetey, Nr. 105 (1a03). 108 Archive der Stadt Toulouse, Kirchenbücher der P{arrgemeinden.
87 E. Lesne a.a.O., Bd. III. S. 122-129. 10e MC IIl,522 (1624).
88 Tuetey, Nr. 282 (1411); Archioes nationales (im folgenden mit der Abkürzung 1 10 C. \f . Fosrer, Lincoln Wills, Ltncoln 1914.

AN), Minutier centrdl (;m folgenden mit der Abkürzung MC)' XXVI, 24 111 Ebenda, S.54.
(160a); LI, 112 (1609); LXXV, 8z (1654). 1 12 Ebenda, S. 558.
89 Archhtes döpdrtementales (im folgenden mit der Abkürzung AD) der Haute-
Garonne, Testdments siPdrös 11 208, Nr. 19; MC LXXV,54 (1644);372(1694); Kapitel 3: Die Todesstunde (S. 123)
cxlx ls5 (1787).
90 MC LXXVIII (1661); Ttetey 277 (1a07); MC LXXV,94 (1657). 1 M. de Montaigne, Essais, l, l9; V. Jank6l6vitch, La Mort,Paris, Flammarion,
9l MC LXXV, 97 (1659);Jean R6gnier, in Anthologie poötique frangaise - Moyen 1966,5.174, Fußnote 2.
Age,Paris, Garnier-Flammarion, 1967, Bd. II, S. 201. 2 J.Ntekida, L'toocationdel'au-delädanslespriirespourlesmorts,Löwen,Nau-
92 Tuetey, 323 (1413). welaerts, 1971, S. 55ff. Eine unveröffenrlichte spanische Dissertarion (Madrid)
93 MC VIII, 328 (1574), ziriert nach A. Fleury, Le hstament dans la coutume de von Salvador Vicastillo (1977)bezreht sich auf den Tod bei Tertullian.
Paris au XVI" siicle, Diss. der Ecole nationale des chartes, Nogent-le-Rotrou, 3 J. Hubert, Les Cryptes de Jouane (4' Congräs de I'Art du baut Moyen Age),
Daupeley, 1943, S. 81-88. Mlle. Fleury hat mir freundlicherweise das Manus- Melun, Imprimerie de la pr6fecture de Seine-et-Marne, 1952.
kript ihrer Dissertation überlassen (im folgenden mit der Abkürzung A. 4 Offenbarung Johannis, 20,5-6.
Fleury). MC LXXV, 48 (1642). 5 Jerusalemer Bibel, t. Korintherbrief, Kap. 15,51-52. Die heute gültige (Lu-
94 MC LXXV, 76 (1651);16. Jahrhundert: A. Fleury, LXXV, 62 (1644). ther-)Übersetzung lautet: "Siehe, ich sage euch ein Geheimnis : Vir werden nicht
95 NIC XXVI, 25 (1606). M6d6ric:Merri. alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden."
96 Anniztersarium G. A. canonici lernolicensis qui est sepuhus in claustro nostro in 6 J. Dupont, ,La Salle du Tr6sor de la cath6drale de Chälons-sur-Marneo, Bslletin
pariete SIYE in pik claustri. Obituaire (Totenregister) von Soulignac, Limoges, des monuments bistoriques de la France,1957, S. 183 und 192-193.
AD, H. 9180b (mitgeteilt von J.-L. Lemaitre). 7 f.. Mäle, La Fin du paganisme en Gaule, Paris, Flammarion, 1950, S. 24511.
97 Trerey,211 Qa07); A. Fleury, MC III, 507 (1608)l XVI, 30 (1612); LXXV, 146 8 Vgl. oben, Kapitel 1.
(1 669); LXXVI,112 (1661). 9 R. P. Feder, Missel romain, Mame, Tours, S. 1623-1621.
98 Tuetey,6l (1a01); 217 la07);112 (1404). 1O E. Mäle, L'Art religieux du XII" siicle,Paris, A. Colin, 1940.
99 MC LXXV, 9a Q657); LXXV, 80 (1652); Tuetey, 337 (1416). 11 Matthäus-Evangelium, Kap. 25, 34-41.
100 Tuetey,26a $a10);55 (1a00); MC LXXV, 117 (1662); LXXV,1a2 (1669); 12 Le Romancero, a. a. O., s. 1 1 I ; vgl. Romancero general, ed. A. Duran, Madrid
Tuetey, 323 (aß); Epitaphier de Paris, a. a. O. 1924,B,d. I, S.573.
101 Tuetey, 337 QalQ; MC LXXVIII (1661). AD Haute-Garonne, 11 808, Nr. 19 13 Der Heilige Michael wird häufig in den höheren Bauabschnitten der Kirchen
(1600); MC III, s3l (1628); s32 (1621). abgebildet. In einer Chapelle Sainr-Michel in Saint-Aignan-sur-Cher stellen zwei
102 MC XXVI, 24 (1604); Tuetey, 80 (1402); MC LXXV, 372 (1690);109 (1660); Reste eines Freskos seinen Kampf mir dem Drachen und die Seelenwägung dar.
AD Seine-et-Oise, Pfarre Saint-Julien, in A. Fleury, a. a. O. Qa. Mai 1560); MC 14 Confiteorvon Chrodegang von Metz (gest. 766).
LXXV, 78 (1649). 15 A. Tenenti, ll Senso . . ., a. a. O., Abb. 40 und S. 443.
103 MC lil,s16 (1622); LXXV, 146 (1669); XXVI, 26 (1607); lll, s33 (1628). 16 A. Tenenti, La Vie et la Mort ä traaers I'art du XV siicle, Paris, A. Colin, 1952,
104 E. Magne, La Fin troublö de Tallemant des Röaux, Paris, Emile-Paul Fräres, Abb. 17 und S. l0l.
1922, s. J42. 17 G. und M. Vovelle, ,La mort et I'au-delä en Provence d'apräs les aurels des ämes
105 Tuetey, 122 (aAa); MC LXXV, t42 (1660). du Purgatoire", Cahiers des Annales, Nr. 29, Paris, A. Colin, 1920.
106 MC LXXV, 46 (1641);66 (16a8); XLIX, 179 (1s90); LXXV, 117 (1660), 137 18 Miroir de l'äme du pöcheur et du juste pendant la ,Lie et a l'heure de la Mort.
(1562); Tuetey, 185 (1a06): AN, Y 86, F'68n V" (1539), zitiert nach A. Fleury. Möthode chrötienne pour t'inir saintement sa zie. Neuauflage Lyon, F. Viret,
107 Die Pariser Testamente sind Gegenstand einer umfassenden und systematischen 1752,5. 15. Die Druckerlaubnis stammt aus dem Jahre 1736.

796 797
19 Ebenda, S. 35. 45 P. Mespl6e, La Sculpture baroque de Saint-Sernin, Ausstellungskatalog,Toulou-
20 A. Tenenti, La Vie et la Mort.. ., a. a. O.,5.98{f . se, Musöe des Augustins,1952.
21 Ebenda, S. 108. 46 Es kommt gegen Ende des 1 6. Jahrhunderts in England vor, daß man den Bleisarg

22 ManuscritsäpeintureduXIII"auXVI"siöcle.AusstellungskatalogderBN, 1955, auch die allgemeine Form des Leicbnamsbetbehalten läßt - eine bizarre Ausnah-
Nr. 115. me von der allgemeinen Regel, die als eine Art Abwehr gedeutet werden kann.
23 Ebenda, Nr. 303; A. Tenenti, La Vie et la Mort. . ., a. a. O., S. 55. Vgl. L. Stone, Tbe Crisis of Aristooacy, Oxford, Clarendon Press, 1965 (vgl.
24 P. de Nesson, Vigilles des Morts - Parapbrase sur Job, rn Anthologie poötique Kapitel 8).
frangaie - Moyen,4ge, Paris, Garnier-Flamm alon, 1967 , Bd. II, S. 1 84. 47 A. Tenenti, Il Senso. . ., a. a. O., S. 430.
26 J. Huizinga, Herbst des Mittelahers, a.a.O.,S. 194. 48 A. Tenenti, La Vie et la Mort . . ., a. a. O., S. 38.
27 I.Huizinga, ebenda, S. 192. 49 A. Tenenti, Il Senso . . ., a. a. O., S. 165.
28 New York, Metropolitain Museum. 50 A. Tenenti, ebenda, S^ 48-79 und S. 81.
29 J. Baltrusartrs, Le Moyen Age fantastiqr.e, Paris, A. Colin, 1955. 51 A. Tenenti, La Vie et la Mort . . ., a. a. O., \. 38.
30 E. Male, L'Art religietx en France, Paris, A. Colin, 1931-1950; E. Panofsky, 52 A. 1'enenti, Il Senso . . ., a. a. O., S. 48-79.
Grabplastih. Vier Vorlesungen über ihren Bedeutungswandel oon Al*Ägpten 53 A. Tenenti, La Vie et la Mort . . ., a. a. O., S. 38; 1/ Senso . . ., a. a. O., S. 52.
bis Bernini, London/Köln 1964. 54 A. Tenenti, La Vie et la Mort..., a.a. O.,Appendix, S. 98-120.
31 J. Adh6mar, "Les tombeaux de la collection Gaigniäres", Gazette des Beaux- 55 H. Bosch, Boston, Museum of Fine Arts.
Arts,Parrs 1974,B,d. I, S. 143-344. 56 P.-A. Michel, Fresques romanes des öglises de France,Paris, E.d. du Chene, 1949,
32 Domenico Capranica, 1513, in A. Tenenti, Il Senso..., a.a.O., Abb. 19, s. 69.
s. 192-193. 57 Manusctits ä peinture duVII' au XII" siicle, Ausstellungskaralog der BN, 1954,
33 R. de Gaigniäres, a. a. O. Nr. 222 und Tafel XXlll.
l4 li7erkstatt von Hans Memling, Museum von Straßburg; A. Tenenti, La Vie et la 58 Meister von Fl€malle, Mariä Verkündlgzng, Brüssel, Musöe des Beaux-Arts.
Mort. .., a. a. O., S. 8, 9 und 10. 59 Manuscrits ä peinture du XIII" au XVI" siöcle, a.a.O., Nr. 110, Tafel XXI,
35 J.Saugnieux,LesDansesmacabresdeFranceetd'Espdgne,Paris,LesBellesLet- Nr. 182, Tafel XXL
tres, 7972: , La Danse macabre des {emmes", in der Anthologie podtique frangaise 60 Ch.Sterling,LaNaturenorfe,AusstellungskatalogderOrangeriedesTuileries,
- Moyen Age, a. a. O., Bd. II, S. 353-355 ; E. Dubruck, The Tbeme of Death in 1 952, S. 8.
French Poetry, London/Paris, Mouton, 1964.
36 P. Michault, Raisons de Dame Atropos, rn Antbologie poötiqte . . ., a. a. O.,Bd. Kapirel 4: Garantien fürs Jenseits (S. 181)
11,5.323-329.
37 P.deNesson,ParaphrasesurJob,ebenda,S. l83-186;E.Deschamps, Balladedes 1, La Chanson de Roland., a. a. O., V. 1140.
signes d.e la mort, ebenda, S. 151. 2 Ebenda, Y.2951-296A.
38 P. de Ronsard, Derniers aers. G.uvres complötes, hgg. von P. Laumonier (rev. 3 J. Ntekida, L'tvocation de l'au-delä, a. a. O", S. 68ff .

Ausgabe von J. Silver und R. Lebögue), Paris 1967, Bd. XUII, Teil 1, S. 176ff. 4 Gulielmus Durandus de Mende, Rationale, a. a. O., Bd. V, Kap. 5, XXXVIII.
39 A. Tenenti, La Vie et la Mort . . ., a. a. O., S. 99. 5 La Chanson de Roland, a. a. O.,Y.28751f .

40 F. Villon, Les Regrets de la Belle Heaulmiire,rn Le GrantTestament;dt. Ballade, 6 Ebenda; Les Romans de la Table ronde, a. a.O., S. 418ff.
in welcber die scböne Helmschmiedsgdttin den Freudenmädchen (Jnteraoeisung 7 Les Romans de la Table ronde, a. a. O., 5. 444.
gibt, in Das Grofie Testament, ibertragen von §ü'. \flidmer, München t 964,5. 41. 8 Parrologia grae«, LYll. 374.
41 P. Michault, in AntboLogie poötique frangaise . . ., d. a. O., Bd. II. S. 128. 9 E. de Martino, Morte e Pianto rituale nel mondo antico,Turin, Einaudi, 1958,
42 Josse Lieferinxz, Die Pest, The Waher's Art Gallery, Baltimore, reproduziert in s.32.
Ph. Ariäs, Western Attitudes toward Deatb : From tbe M id.dle Ages to the Present, 10 Les Romans de la Table ronde, a. a.O.,5.447,461.
Baltimore/London, The Johns Hopkins University Press, 1974, S. 35; Frangois 11 J. B6dier (ed.), Le Roman de Tristan et Yseult, a.a. O.; J.-C. Payen (ed.), Les
Perrier dit Le Bourguignon, Die Pest in Athen, Musäe des Beaux-Arts,Dijon. Tristan en vers, a. a. O.
43 J. Heers, Annales de dimograpbie historique,1968, S.44; A.Fletry, a.a.O. 12 La Cbanson de Roland,V. 297C,3725.
44 J. Delumeau, La Ciailisation de la Renaissance, Paris, Arthaud, 1967,5.386. 13 J. Ntekida, a. a. O.

798 799

_l
14 Dictionnaire d'Arcb1ologie cbritienne et de liturgie, a. a. O.,Bd.lV, col. 1046ff.,
39 MC VIII, 343 (1s32); LXXV, 66 (1648), 82 (16s5),74 (16s0), 109 (1660), 62
Arr , Diptyques" .
(1646),78 (1652),46 (1641),8e (1606),137 (1667),72(16sa); CXIX,3s5 (1780);
15 Migne, Patrologiae cursus completts. Series latina(abgek. PL), LXXXV, 114ff.
Tuetey, 131 (139a); MC LXXV,72 (1650);Tuetey,356 (1418); MC LXXV, 137
16 PL LXXXV, 175, 195, 209, 221, 224-225 ; PL LXXXV, 224.
(1667),lu (1661), III, s13 (1628), xxvr, 2s (1606), vrrr, 343 (1582).
17 J. Ntekida, a.a.O., S. 133 und Fußnoten.
40 MC LXXV, 101 (16s8), 989 und 603 (1812), VIII, 183 und292 (1s4s); AN s3s
18 J. A. Jungmann S. J., Missarum Sollernnia. Eine genetiscbe Erblärungderrömi-
Nr. 683 (1s20), VIII, )6e (155e), xVI, 30 (1612), XXVI, 25 (1606).
scben Messe,\Wien/Freiburg, Herder 1948, 51962,B,d. I, S. 2S6ff.
41 P.-M. Gy, "Les fun6railles d'aprös le rituel de 1614", La Maison-Dieu,Y.44,
19 Ebenda, Band I, S.289.
1 955.
20 J. Charles-Picard, "Etude sur l'emplacement des tombes des papes du III" au X'
42 MC III,5l3 (1628), LXXV,54 (16aa); AD der Haute-Garonne,3 E, 11 808
siecle", Mölanges d'arcböologie et d'bistoire, E.cole franqaise de Rome, Bd.8l, (1 600).
t969.
43 M. Vovelle, Piötö baroque et däcbristianisation en Provence au XVIIf siicle. Les
27 Monumenta Germaniae historica. Epistolae selectae, I, 232*23J; Jungmann,
dttitudes det,ant la mort d'aprös les testdments, Paris, Plon, 1973,5.119.
a.a.O., Bd. I, S. 287;G.LeBras, Etudes de sociologie religieuse, Paris, P.U.F.,
44 Tuetey, 45 (1399),337 (aß); MC XXVI, 44 (1612).
1955, Bd. II, S. 418.
45 Vgl. unten, Kapitel 5.
22 M. de Mol6on, Voyages liturgiques en France, Paris 1718, S. 151ff.
46 MC IIr, 533 (1628).
2J A. van Gennep, Manuel du t'olklore t'rangais contemporain,Parrs, Picard, 1946,
47 In England etwa riü. K. Jordan, Philantropy in England, 1480-1660, London
Bd. II, S. 674-75.
1959.
24 Ebenda,S.715-16.ZahlreicheenglischeundholländischeGräberdesi5.und17.
48 MC LXXV,137 (1667); AD der Haute-Garonne, a.a.O., (1678); Tuetey,55
Jahrhunderts zeigen den au{ einer Strohmatte zur Schau gestellten Leichnam, (1a00); MC LIV,48 (1s60), III, s33 (1628); Tuetey, 337 (1416).
deren eines, mehrfach gerolltes Ende den Kopf stützr.
49 M. Vovelle, Piötä baroque .. ., d. d. O., S. 114ff.
25 Le Romancero, 4. a.O., S. 102; vgl. Romancero general,ed. A. Duran, Madrid
so MC LXXV, 137 (1667).
1924,Bd. I, S. 567f.
51 M. Agulhon, Pönitents et Fruncs-Mdsons dans l'ancienne Proaence, Parts,
26 A. Tenenti, Il Senso.. ., op. ci., S. 55-58.
Fayard,1967. S. 86.
27 Tuetey,2l3 (1410).
52 Matthäus-Evangelium, Kap. 25, 34-37; L. R6zu, Art cbrötien, Paris, P.U.F.,
28 F.Autrand,,OfficeetOfficiersroyauxsousCharlesVl",Reoued'bistoire,Dez.
1955-1959. Bd. II, Teil 2,5.759-760.
1969, S. 336.
51 Annales de La compagnie du Saint-Sacrement, d. a. O., S. 43.
2e MC III, s33 (1628).
54 M. Agulhon, Pönitents. . ., a. a. O.,5. ll0.
30 MC LXXV,61 (6a7); XLIX, 179 (1590) ;Tuetey, 105 (1a03); MC LXXV, 74
5s MC VIII, as1 (1s60); Tuetey, 523 (1413), 131 (139a); MC III, 533 (1628).
(16s0); III, 490 (161 1).
56 J. Le Goff, La Ciailiation de I'Occident, a. a. O.,5.240.
3 l Comte de Voyer d'Argenson, lz nales de la <ompagnie du Saint-sacrement,Mar -
57 J. Heers, L'Occident au XIV" - XV siicles, Paris, P.U.F., 1966,5.96.
seille, Dom Beauchet-Filleau, 1900.
58 J. Schneider, La Ville de Metz ailx XIII" et XIV siöcles, Nancy 1950; J. Lesto-
32 MC CXrX, 35s (1769).
qr;oy, Les Villes de Flandre et d'ltalie, Paris, P.U.F., 1952.
33 MC LXXV,78(1652);XVII,30 (1612); LXXV,80 (1652); F. de Lasteyrie, "Un
59 P. Veyne, Annales E9C,1969, S. 805. P. Veyne hat den ganzen Problemkreis in
enterrement ä Paris en 1697,., a. a. O., S. 146-150.
einem sehr schönen, nach der Niederschrilt dieses Kapitels erschienenen Buche
14 R. E. Gtesey, The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France,Genl,Droz,
wiederaufgenommen - Le Pain et le Cirque,Paris, Ed. du Seuil, 1976.
1960.
60 Im Krankenhaus von Cavaillon (heute zu einem Museum umgestaltet) macht
35 Pinacoteca oaticana, Nr. 288.
eine Sammlung von Stiftungsta{eln (sog. donatifs) deutlich, daß die Schenkungen
36 Der Fall der polnischen Särge dem I 8. Jahrhundert, bei denen das Porträt des
aus
vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konstant sind, lediglich mit einer
Verstorbenen auf eine der Außenseiten gemalt war.
kurzen Unterbrechung während der Großen Revolution.
37 New York, Metropolitain Museum, Abr. The Cloisters. Auf einem spanischen
61 M.§üeber, DieprotestantiscbeEthihundderGeistdesKapitaLismus,lg05;ern.
Grab aus dem 14. Jahrhundert stellt ein Basrelief einen das pallium entfaltenden
Hamburg 01975, S. 60.
Priester dar.
62 A. Vauchez, "Richesse spirituelle et mat6rielle du Moyen Age", Annales ESC,
38 MC VIII, 36e (1559).
1970, s. 1566-1573.

800
801
Il

63 Ziriert nach J. Lestoquoy, a. a. O., S. 200. 19 R. de Gaigniäres, Tombeaux. Ripertoir Buchot,B' 6950;J Adh6mar, a.a O.,
64 R. de Gaigni6res, Tombeaux,BN Estampes, B. 2518, Gregor,stiftsamtmannvon S.35 und 37 (Grab des ersten Abtes von Ardenne). Die Zuschreibung dieser
Plaisance;J. Adh6mar, a.a.O., Nr. 122. Gräber ohne Inschrift muß im Kloster durch mündliche Überlieferung bekannt
65 Tuetey,6l (1401),323 (1a13);AN, MC XVI,30 (1612), LXXV, 66(1648),78 gewesen sein.
(1652). 20 R. de Gaigniäres, Tombeaux. Röpertoire Bucbot,B. 6696' 6698.
66 Miroir de l'äme du pöcbeur et d,.t j,4ste pendant la pie et ä I'heure de la Mort. 21 Ebenda,8.2273; J. Adh6mar, a.a.O., S. 11, Nr.2.
Mätbode cbrötienne pour t'inir saintement sa",tie.l,yon, Erstes Buch 174l,Zwei- 22 Colma.r, Museum Unterlinden, Grabstein des Ritters Burchard von Guiber-
tes Buch 1752. schwihr, des Gründers der Abtei von Marbach, Katalog 1964, S. 24, N'. 7'
67 Vgl. unten, Kapitel 7. 2J Toulouse. Musöe des Augustins.
68 MC LXXV, 69 (1649). 24 E. Rauni6, Epitaphier de Paris, a.a.O.
59 M. Vovelle, Piötö baroque...,a.a.O.,S.56. 25 H. Sauval, Histoire et Recbercbes des Antiquitös..., a. a. O.,Bd. I, S. 415.
70 J. Rdgnier, tn Anthologie poitique t'ranEaise..., a..d. O., Bd. II, S. 201. 26 E. Rauni6, a. a. O., Bd.l.
27 Sainr-Jean-en-Grive; H. Sauval, a. a. O.
Kapitel 5: Ruhende, Betende und wandernde Seelen (S. 260) 28 L.Rauni€, a. a. O.
29 Ebenda.
1 E. Panofsky hat diese beiden Intentionen der Grabplastik - die eschatologische 30 Ebenda, Bd. II, S.364-65.
und die kommemorative - mit wünschenswerter Deutlichkeit untersucht. 31 Ebenda.
2 Ch. Lebeuf, Histoire de la aille et de tout le diocäse de Paris, Paris 1954, Bd. I, 32 J. Marmier, ,Sur quelques vers de Lazare de Selve", Rettue dt XVII" siicle,
s.241. Nr. 92, 1971, 5.144-45.
3 M. Labrousse, "Les fouilles de la Tour Porche carolingienne de Souillac", Bzl/e- ll E. Rauni6, a. a. O.
tin monumental CLIX, 1951. 34 Ebenda.
4 Enguerrand de Monstrelet, Chroniques, Buch I, 96; H. Sauval, a.a.O.,Bd.I, 35 Mitgeteilt von Paul Flamand.
s. 376. 16 Grab des Kanonikers Aymeric. Toulouse, Musöe des Augustins, Kloster. Man
5 F. Villon, Le Grant Testament; dr. a. a. O., übers. von §fl. \7idmer, S. 112/113. vergleiche weiter unten im selben Kapitel die Beschreibung dieses Grabes.
4 6 Y. Christ, Les Cryptes mörovingiennes de Jouarre, Paris, Plon, 1961 ;J. Hubert, 37 E. Panofsky, a. a. O., S. 51.
a
I
i a. a. O. 18 E. Erlande-Brandenburg, ,Le roi, la sculpture et la mort' Gisants et tombeaux de
7 Y. Christ, ebenda, S.20-21. Saint-Denis", Archiaes diPdrtementa.les de la Seine-Saint-Denis, BulletinN.3,
! 8 J. Charles-Picard, "Etude sur l'emplacement des tombes des papes du ]II'au X' Juni 1975, S. 12.
?
i: sticle", a. a. O. 39 E. Panofsky, a. a. O., Abb. 227, 5. 64.
9 Toulouse, Musöe des Augustins, Nr. i97. 40 J.-Cl. Schmitt, "Le suicide au Moyen Age", Annales ESC,1973, S. 13 ; C. Roth,
l0 Es handelt sich um den Abb6 Roze, den Übersetzer der Legenda aurea. Vgl. die A History of tbe Mananol Philadelphia, Jewish Publication Society ol America,
deutsche Ubersetzung von Richard Benz, a. a, O.,5.251. 1941.
l1 M. R. Lida de Malkiel, L'ldöe de la gloire dans la tradition occid.entale,Paris, 4l E. Panofsky, a. a. O., Abb. Nr. 235 und 236.

Klincksieck, 1969, S. 98; La Cbanson de Roland, a. a. O.,Y. 2899. 42 Ursprünglich aus Royaumont stammend, ist dieses Grab heute in Saint-Denis
ausgestellt. Ein Abguß findet sich im Musöe du Trocadöro.
1l J. Le Goff, "Culture cl6ricale et Traditions folkloriques ...", a. a. O.
14 Chant de croisades (provenzalisch) von Aimeric de Perguilhar, zitiert nach M. R. 43 J.-P. Babelon, in "Le roi, la sculpture et la mort" von E' Erlande-Brandenburg,
Lida de Malkiel , a. a. O.,5. llJ. a. a. O., S. 31-35.
15 Ricits de ctoisades (provenzafisch), bekannt unter dem Namen Labran conquista 44 Ebenda, S. 36.
d'Ubra Mar; vgl. M. R. Lida de Malkiel , a.a.O., S. 114, Fußnote 2i. 45 R. de Gaigniäres, Tornbeaux. Röpertoire Bucbot,B.2513.
lb Bernhard von Clunl', zitiert nach M. R. Lida de Malkiel, a. a. O.,5. 142. 46 Ebenda, 8.2258.
17 A. Tenenti, Il Senso..., a. a. O., 5. 21-47. 47 A. Erlande-Brandenburg, a. a. O.,5.26.
l8 48 Ebenda.
"Les anciennes 6glises suburbaines de Paris du IV" au X'siöcle", Mimoires de la
Föd.öration des sociötäs d'histoire de Paris,1960, S. 151. 49 Zitiert nach E. Rauni6, Eprtaphier. . ., a. a. O., Bd. I, S. 87, Nr. 3

803
802
50 MC VIII, 299 (1s57). 4 Bellarmin, De arte bene rnoriendi.In Opera amnia,Paris 1975, Frankfurt 1965,
51 Tuetey,288 (1411). Bd. VIII, 5.551-622.
52 Tuetey, 132 (1404). 5 Zitiert nach N. L. Beaty, Tbe Craft of Dyizg, Yale University Press, 1970, S. 150.
53 BN, Papiers de Joly de Fleury, Friedhof von Vauvert. 6 A. Tenenti, Il Senso..., a. a. O.,S. 312, Fußnote 61.
54 A. P. Scieluna, The Church of St. Jobn in Vallette, Malta 1955. 7 N. Z. Davis, Holbein Pictures of Deatb and the Ret'ormdtion at Lyons. Studies on
55 Ich nehme den Fall der englischen Friedhöfe aus, auf denen das Kreuz selten ist : the Renaissance, Bd. VIII, 1956, S. 115.
er wird im elften Kapitel behandelt. 8 A. Tenenti, Il Senso..., a.a.O.,S. 312, Fußnote 56.
56 Tuetey, 55 (1400). 9 J. de Vauzelles, zitiert nach N. Beaty, a. a. O.,5. 115.
57 Tuetey, 122 U4A4). 10 N. L. Beaty, a.a. O., S.68.
58 Tuetey, 244 (1409). 11 A. Tenenti, Il Senso.. ., a. a. O., S. 315, Fußnote 107.
s9 MC lrr, st7 (1622). 12 Erasmus von Rotterdam, Naut'ragium, im Ersten Buch der Familiarum collo-
60 Tuetey,288 (1411). quiorum t'ormulae, Basel 1518; dr. Vefiraute Gespräche, übers. von H. Schiet,
6r MC rII, 4e0 (1611). Köln 1947.
62 MC LXXV, 137 (1667). 13 N. L. Beary, a. d. O.,5.215.
63 MC III, 533 (1669). 14 Miroir de l'äme du pöcheur et du juste ..., d. d. O.,S. 22, S. 60 und 188.
64 Tuetey, 337 (1416). l5 A. Tenenti, Il Senso..., a. d. O., S. 161, Fußnote 99.
65 MC IrI, 502 (1616). 16 G. und M. Vovelle, a. a. O.
66 So etwa in Notre-Dame in Paris, wo die Pfeiler von Grabtafeln und Altären I Z Ph. Ariäs, Essais sur I'histoire de la mort en Occident,Paris, Ed. du Seuil, 1975 ; dr.
geradezu bedeckt waren - bis zu ihrer Zerstörung auf Geheiß der Kanoniker des Studien zur Gescbicbte des 'lodes im Abendland,, München, Hanser, 1976,
18. Jahrhunderts. Vgl. O. Ranum, Les Parisiens du XVIF siäcle,paris,A. Colin, s.109-i16.
1973,5.15. Seit der Zeit Ludwigs XIV. im Chor (cf. E. Rauni6, Epitaphier, 18 MC LXXV, 78 (1652).
a. a. O., Einleitung). 19 MC LXXV, 372 (16ea).
67 R. de Gaigniöres, Tombeaux. Röpertoire Bucbot,B.3427. 20 Vgl. oben, Kapitel 3.
68 Lenz Kriss-Rettenbeck, Exaoto, Zirich 1972. Das Exvoto aus dem Jahre 21 A. Tenenti, Il Senso..., a. a. O., 5. 291..
1767 5.130 das von 1799 S. 60; die SoldatenNapoleons I. S. 58-59;dieSoldaten 22 A. Tenenti, ebenda, S. 364, Fußnote 124.
des 18. Jahrhunderts S. 62. Vgl. auch für die Exvotos das Vorwort von M. Mollat 23 A. Tenenti, ebenda, S. 364, Fußnote 125 (30. November 1447).
in Ex-ooto des rnarins du Ponant, Ausstellungskatalog, Nantes-Caen,1975-76. 24 N. L. Beaty, a. a. O.
70 Vgl. Kapitel 4 und 10. 25 A. Tenenti, I I Senso, a. a. O.,S. 213 ; S. 227,Fußnore 134 ; S. 21 1 ff. ; S. 227,Fuß-
71 Tuetey,55 (1400),230 (1408). note 137; S.228, Fußnote 140.
z2 AN, MC XXVI,23 (1603). 26 Suso, nach A.Tenenti, a.a.O.
73 MC XXVI, 33 (1617). 27 H. de Sponde, Les cimetiires sacrez,Bordearx 1598.
74 MC III, s16 (1622);XLII,407 (174s). 28 BN, Ms.fr., Papiers Joly de Fleury,l,209.
75 MC XXVI, 2s (1606); LXXV, 66 (1650). 29 Zum Gegensatz zweier Friedhö{e ein- und derselben Pfarre vgl. oben, Kapitel 2,
das Beispiel aus Toulouse mit den beiden Friedhöfen von Daurade.
Kapitel 6: Der lange und nahe Tod (S. 329)
Kapitel 7: Nichtigkeiten (S.412)
1A'corvisier,"LesDansesmacabreso, Reaued'histoiremoderneetcontemporai-
ne, 1969, S. 537*538. 1 AN, S 6 160, Dossier d'Alengon, zitiert nach A.Fleury, a. a. O.
2 Dieses Kapitel war bereits abgeschlossen, als rnden Annales ESC, 1926, Nr. 1, 2 MC LXXV, 364 (16e0).
die Aufsätze von R. Chartier über
"Les arts de mourir (1450-1600)", 5.71-75, 3 MC CXrX,3ss (1708).
und von D. Roche über "La m6moire de la mortn, 5.76-119, erschienen. 4 MC LV, 1156 (1721). Testament des Herzogs von Saint-Simon, 1754 (veröf{ent-
3 A. Tenenti, I l Senso. . ., a. a. O.,S. 268, Fußnote 47 und, 49 ;S. 269, Fußnote 55 ; licht rn Extraits d.es Mömoires von A. Dupouy, Paris, Larousse, 1930, Bd. IV,
s.24243. s.1ee).

804 805
/ f. ll. Wrrrrl,rs , l)rttttt,t!tott \tt l,t,ttt,ttrlult.,/,.r.tll,,r ,lt l,r rtt,rrt,.t,lr l'.rrr., A (,,lrrr. l',''1, \ .','l
L'ttt(t-r(»ltrIt \ t,l (ntlttt,
l,,tl,ttllr 1l A llrrlrl,,rr, (,tt,lt ,lr I t'tt \trttt. Nr',r;,r I I 'ils
tsruhier)'lllll,l,lttll)llrcll|)lt(\,I,.rrrsl/.l01lrz,[)llcrs.\''ll.|'.J' M rlr' (,rrrrrlx rr tllc, Lr l ),', lt rrr,,l, r,,t,r,,r r, ll''l(', \ 100 10.'.

8 E. de Martino , Morte \l S Stcu,,rrtl, /rtrrr n,r(lr I) \t.rrrrr,rrrl,.r ,r () 1Arrrrr.,l5)


e pianto rituale, a. a. ().
9 AD, Haute-Garonne, \.1 Lrrrsttrrrs von llrrttt'rtl.rrrr, l,rtt,tlt,trurrr r,tll,trl,rt,trttrrt lornttllt,a.a.O.
SE 11 g0g. l)er Graf von Latresne gege n srine Schu,igcrrn,
die Marquise de Noä. Testament von 1757. Vgl. untcrr, K,rlrircl I L
l0 Amsterdam, Rijhsmuseum: Dirk Iuli l/5ti, Montrpahch, A[) ]lrrrtc (lrronnc B, Verfahren 360 und 325.
Jacoby, porträt eines Mannes mit Totenkopf. \7 []. l.cbrun, l-cs Hommes et ld Mort en Anjou, Paris/Den Haag, Mouton, 1971,
J' I\{olenaer' porträt einer Fanitie (r63i A J). Die Kinder spieren mit
Früchten s. 480.
und rieren, eine junge Frau hält eine Brumenk.on"
in Händen und das Familien,
oberhaupt einen Totenkopf. i1l Reproduzierr in E. Hugues, Histoire de la restauration du protestdntisme en
1l G. Dou, Museum von Genf, Nr. 1949_12. France au XVIII" siicle, Paris 1875, Bd. II, S.424. Hinweis von Ph. Joutard.
12 A. Chasrel, r9 G. Lely, Sade. ttude sur saoie et son euore, Paris, Gallimard, 1966.
"L'Art et le senriment de la mort au XVII. sidcle", Repue du XVII
siäcle, Nr. 36-37, 1957, S. 293. 40 J. Potocki, Le Manuscrit trouoö ä Saragosse, a. a. O., 5. 235.
l3
!, V9ber, Aspects of Deatb, London 1918, ziriert nach Th. Spencer, Deatb and Kapitel 8: Der tote Körper (S. 451)
Elizabetban Tragedy, Cambridge (Mass.),
_ _ Harvard University press, 1936.
14 D. E. Stannard, The puritan Way of Death,New york,
Oxford Unirersity press, I L. C. F'. Garmann, De miraculis mortuorum, Dresden und Leipzig 1709.
1977. Reprodukrionen von mourningrizgs
Abb. 7,5.714.
l5 6.-\4äle, L'Art religieux de lafin a, ui.r, igr,ia.is, 2 Siehe M. Foucault, Die Geburt der Klinik, München, Hanser, 1973.
Arma.,d Colin, I931, l Ph. Ariös, Studien zur Gescbicbte des Todes, a. a. O.,5. 1211lf.
s. 353.
V^ovetfe, Mourirautrefoü, paris, Gallimard, Reihe,Archives", 4 E. Brontd, Wuthering Heights, London, Penguin Books, 1965, S. 65.
11 11.. 1974,5. t63ff.
l7 Die Spanienreise von Sainr-Simon im 5 R. E. Giesey, a. a. O.
Jahre 17121 : Mömoires de Saint-Simon,hgg.
von A. de Boislisle, paris, Hachette, Reihe ,Les 6 L. Sone, The Criis of Aristoctaqt, a. a. O., S. 579. Das Stroh ist wahrscheinlich
grands 6crivains d. l, F;";;::;
L927, Bd. 39, S. 59_62. ein Flechtwerk.
18 J.-8. Bossuet, Sermon sur la mort 7 MC LXXV,80 (r6s2).
pour le Samedi saint,in (Luvres,ed. von Abb6
Velat u. y. Champailler, paris, Biü1. de la pl6iade, 8 MC CXIX, 355 (1771).
tsit u.0., S. toTlff.
t9 BN, Papiers Joly de Fleury, a. a. O. 9 J.-A. Chaptal, Mes souoenirs, Paris, 1893, zitiert von L. Delaunay, La oie mödi-
20 O. Ranum, Les Parisiens au XVIf cale des XVI', XVIf , XVIIf siäcles, Paris, 1935, S. 80.
siicle, a. a. O.,5.32A.
21 Viviers, AD Haute-Garonne B, Verfahren 10 MC LXXV, 142 (166e).
Nr. 497, mitget"ilt von y. Casran.
22 F. Burgess, Churchyard and English Memoriolr,Londin 11 M. Aymard, "Une famiile de l'aristocratie sicilienne", Reztue bistoriqte,Januar-
196J, S. 50.
2J Ebenda. März 1972, S. 11, 32.
24 vas hier in Hinsicht auf die Gräber und Friedhöfe 12 Handgeschriebenes Testament des Herzogs Saint-Simon, Mömoires, 1754. Aus-
in virginia wird,
ist der nicht veröffentlichten Dissertation 'orgebracht züge von A. Dupouy, Paris, Larousse, 1910, Bd. IV, S. 199.
von patrick Henry Brtler enrnommen
O: r!, Memorial Art of Tidewater, Virginia,The l3 Zitiert von D. E, Stannard, a. a. O.
_ Johns Hopkins University, 14 MC LXXV, 489 (',1712),CY 1156 (1723).
Juni 1969.
25 P. H. Butler, 1.5 Journal de Cälestin Guittard de Floriban, bourgeois de Paris sots la Rdvolution,
a. a. O.: D. Stannard, Deatb in America, University of pennsylva-
nia Press, 1975. hgg. von R. Aubert, Paris, France-Empire,1974.
26 M. Fumaroli, ,Les Mdmoires du XVII. siäcle., 16 Artikel ,Anatomie. d,er Encyclopidie.
Rezse d.u XVIß siicle, 1971, l7 J. Rousset. a.a.O.,S. 10.
Nr. 94-95, 5.7-37.
27 R. Balton, London 1635,zirierrnach D. Stannar<J, 18 A. Chastel, Reu-ue du XVII" si6c1e,1957,5.288-293.
Deatb in America, a.a.O.
28 J. Rousset, La Litt'ratwe ä l,äge baroque 19 Sade, La Marquise de Ganges, Paris, Pauvert, 1961,5.237-238.
,, Frorrr,paris, Corti, 1954, S. l3g
29 Zitierr nach Chateaubr rand in La Vie äe Ranci. 20 I. Ringhieri, Dialoghi della oita et della morte,Bologna, 1550, zitiert bei A. Ten-
enri, Il senso, a. a. O., S. 327 und S. 357, Fn. 52. Siehe auch A. Chastel , Le Baro-
806
807
qt4e et ld Mort, IIt congräs international des |tudes bumanisres, Rom, 1955, 50 M. Vovelle, L'lrrösistible Ascension de Josepb Sec, bourgois d'Aix, Arx, EDISUR,
s. 33-46. 1975.
21 Sade, Juliette, Paris, Pauvert, 1954, Bd. lY,S.21-Z+. 57 Journal de Barbier, a. a. O., 172J.
22 S. Mercier, Tableaux de Paris, Paris, 1789, Bd. IX, S. 1,77tf .,5. 139-141. 52 Ubers. von Hannot B. und Jeman.
23 BN, Papiers Joly d.e Fleury, a.a.O. 53 Potocki, a.a.O.,5 213,234-
24 R. de Chateaubriand, Mimoires d'Ottre-Tombe,6d. E. Bir6, Paris, Garnrer 1925, 54 Sade, Juliette, a. a. O,Bd. IV, Rede des Papstes Braschi, Bd' VI, S' 170, 269'
Bd. II, S. 122.
25 Jounal de Barbier, Paris, Charpentier, 1858, Bd. II, S. 453-54 (Mi,rz 1734). Kapitel 9: Der Scheintote (S. 504)

26 Dtrk Bouts: Das Martyrium des beiligen Erasmus,l.ürtich, Kirche Saint-Pierre.


1 Deschambre, Dictionnaire enqclopödique d.es stiences midicales, Paris 1 876, Ar-
Man beobachtet denselben Gleichmut bei Henkern und Opfern rm Martyrium
des Heiligen Hyppolitos desselben Malers in Brügge, im sorgfältigen Abziehen tikel ,Mort..
der Haut des pflichtvergessenen Richters von Gerrit Dou in Brügge. Sauval, Antiquitds, a. a. O., Der junge Friese mit dem gebrochenen Arm'
2 H.
2/ J. Rousset, a.a.O., S.82-83. 3 J.-J. Bruhier und J. B. Vinslaw, a, a. O.
28 Ebenda, S.88. 4 Ebenda, S. 151. L. G. Stevenson hat den Einfall gehabt, den Beziehungen zwi-
29 R. Gadenne, "Les spectacles d'horreur de P. Camus", Revue du XVll" siicLe, schen Scheintod und Anästhesie nachzugehen, in "susPended Animation and the
Nr. 92, S. 25-36. History of Anaesthesia", Bulletin of the Hitory of Medecine,49, 1975,

30 J. Rousset, a. a. O.,5.84. s_ 482-51 1.

3 1 Zitiert von L. Spitzer, .Das Problem der lateinischen Renaissancedichtung*, Re- 5 Foeder6, Dictionnaire mödical, Paris, 1813, IIi, S' 188.
naissancestudien II, 1955, von O. Ranum angegeben. 6 Mme. Dunoyer, Lettres ec Histoires galantes, a. a O.,l' S' 177-178'
32 Museum von Bologna. 7 J.-J. Bruhier und J. B. §Urnslaw, a. a. O., S. 49-50.
JJ Ztriert bei M. Praz, Tbe Romantic Agony,London, Fontana Bücherei, S. 120 8 MC, LXXV, 117 (1662),146 (166e), cxlx,35s (1768), LXXV,364 (16e0), XLII'
(S. 130); dr. Liebe, Tod und Teufel,Münc\en, Hanser, 1963. 399 (1743), AN S 6160 (1696), CXIX (21. Juni 1790)'Xll,63s (1855).
34 Fnßli, Brünhilde. 9 Erlaß vom 31. Vend6miaire des Jahres IX über die Inspektion der Toten'
35 J. Rousset, a. a. O., und Th. Spencer, Deatb and ElizabethanTragedy,Cambrid- 10 Dictionnaire des sciences mädicales in 60 Bänden, Paris, 1818' Attikel "lnbuma-
ge (Mass.), Harvard University Press, 1936. tion* .

t6 11 Deschambre, Dictionnaire, a. a. O., Artikel "Mort. und 'Cadaore*.


J. Rousset, a. a. O.
t/ 2 E. Bouchot, Traitä des signes de la mort et des moyens de präoenir les inhumations
J.-J. Bruhier und J. B. Vinslaw, a. a. O., Bd. I, S. 66.
1

prömataräes, Paris, 1883, S. 402.


38 J.-J. Bruhier und J. B. Vinslaw, a. a. O.
39 Sade, Juliette, a. a. O., Bd. VI, S. 70ff ., S. 27A-271.
40 Potocki, a. a. O., 5. 74, 75. Kapitel 1O: Die Zeit der schönen Tode (S. 521)
41 Mme. Dunoyer, Lettres et Histoires galantes, a.a.O.,Bd.)I, S. 275.
42 Ebenda, S. 313. 1 Caroly de Gäx, CEuttres,1912, S. 116.
43 L. Lenormand, Des Inbumations pr|cipitöes, Paris, S. 34; E . Bouchot, Traitö des 2 R. de Chateaubrtand, Renö, Ed. du Milieu du Monde, Genf, S. 143.
signes de la mort, Paris, 1883. 3 C. de Gaix, a. a. O.,5. 61.
44 BN, Papiers Joly de Fleury, Lamartine, CEuores poötiques complites,Texte 6tabli, annot6 et p16sent6 par Ma-
4
a. a. O. 45 ; A. P. Scieluna, The Cb urcb of Saint John,
a.a.O.,S. 161. rius-Frangois Guyard.
46 Mimoires de Saint-Simon, 1721, a. a. O. 5 P. Craven, Ricit d'une soeur. Souttenir de t'amille,2. Bde., Paris, 1868.

47 Mme. Dunoyer, O., siehe auch L. Stone, The Family, Sex and Marriage in
a. a. 6 Mme. F. de La Ferronays, Mdmoires, Paris, 1899.

England (t500-1 800), London, \Teidenfeld and Nicholson, 1 977, S. 250 ; Besuch Mme. F. de La Ferronay s, a. a. O., S. 212.
von Lord Spencer in der Krypta. 8 P. Craven, a. a.O., Bd. I, S. 224.

48 Th. Spencer, a.a.O.,5.225. 9 Ebenda, Bd. I, S. 35.


49 l.-C. Herold, GerrtaineNecherd,eStaöl,Paris,Plon, 1,962,5.561,137,484;N{. l0 Ebenda, Bd. I, S.61 und 63.
Prrz, a. a. O., S. 139 (die Prinzessin Belgiojoso). 11 Ebenda, Bd. I, S.99 und 103.

809
808
t.l I l,r.rrrl.r, lt,l l, \ tr,., I
l5 Lbcntl.r, Ii(1. Il, \..rl ll. K.r1,rr,l tI It,r ll, ,r,l, r,rl,1,rn I rr,,llr,,l (\ (,0l1
t6 Iibenda, Ild. lt. S. t25.
17 Ebenda, Bd. I, S.446. ! I Ir. (,. (l.ttttt,ttttt, l11 tt1t,t'nlt\ ,tttrttt)ttt,tt, t t (1.
18 Ebenda, Bd. II, S.312. .' f'lr.Arit's,.\lt,lr,'rttr,,(,,,, l,r,l,tt,lt' l,',1,'t»tAl,cndLanl,a.a.().,S- l^2 lt.
19 Ebenda, Bd. !t, S. l2Z und s. \ LaGrandt'r'lNlrlrr,rrrr'l|/,r,.I'.rrrs,Nicol.rsAlcxandre, 1619(Ausz-ügedar.rus
2a Ebenda, Bd. II, S. 4OO-403.
irr I)r. (larral, l.t': <nrn'ttLrrs rlr ltans, I'aris 1884, Bd. I).
2l Lamartine,
"Le Crucifix", Nosoelles Mlditations poötiques (22.M6ditation). | '/,ir,ierr nach M. Iroisil, vgl. l]ullnote 6.
)) P. Craven, a.a.O., Bd. II, S. 414-422. 5 Abb6 Poir6e, Lettres sur la söpulture dans les öglises, Caen 1745.
23 C. de Gaix, a. a. A. t, Madeleine Foisil, "Les attitudes devant la mort au XVIII'siöcle: s6pultures et
24 C. de Gaix, a. a. O., S. 252-253. suppressions des s6pultures dans le cimetiäre parisien des Saints-Inno6sn15n, Re-
25 Charlotte Bronrö, Jane Eyre,pengrinBooks, S. 1Og_114.
vue bistorique, April/Juni 1974, Nr. 510, S. 303-30.
26 Tbe Complete_poems of Emily
ITilr- 9-i16, Jane Brontd,hgg. von C. \7. Har- 7 BN, Mss. Joly de Fleury, 1207.
York: Morningside Heighis Columbia University press, ll Dre Dokumente der Sammlung Joly de FIeury wie die hier benutzte medizinische
{i:ld: Y*
Mario Praz, Romantic Agony, a. a. O.
1941.
Literatur sind von mehreren amerikanischen Historikern verwendet worden, so
28 Emily.
Brontö, Wutberings Heights,penguin Books Einleitung,
; S. 14. etwa von R. A. Edin, "Landscapes of Eternity: Funerary Architecture and the
29 Ebenda, S.119-i22.
Cemetery, 1793-1881., OppositionsNr.7,1976; ders., "L'airdansl'architecture
30 L. O. Saum, Death in pre-Cioil
War America,in D. E. Stannard, a.a.O., des Lumiäres", Dix-huitiime Släcle Nr. 9, 1977 ;O. und C. Hannaway, "La fer-
s. 30-48.
meture des Innocents: Le conflit entre Ia Vie et la Mort", Dix-buitiöme Siöcle
31 A. Douglas, Hea,en our home: Consolation litterature Nr. 9, 1977.
in the Nonhern lJS,
1830-1880, rn D. E..Stannard, a. a. O., S. 49-6g.
9 O. und C. Hannaway, a. a. O.
32 L. O. Saum, a. a. O., S. 47. lO M. Maret, Mimoire sur I'usage oi I'on est d'enterrer les rnorts dans les öglises et
33 Charlotte Brontö,
Jane Eyre, a. a. O., S. 346. dans l'enceinte despilles, Dijon 1773, S.36.
34 Ebenda, S. 444.
1 I P. Toussaint Navier, .Ri/ie:i ons sur le ddnger des exbumations pr|cipitöes et sur les
35 Siehe oben, Kapitel 5.
abus des inhumations dans les öglises, suioies d'obserttations sur les Plantttions
36 Clr. Brontä, Jane Eyre, a. a. O.,Erklärung
von Helen Burns. d'arbres dans les cirnetiires, Paris 1 775 ; Scipion Piattoli (übers. von Vicq d'Azyr),
37 Maurice Lanoire, R|t'lexions ,r,
lo ,r*lr,
paris, Nouvelle Edition Debresse, in Vicq d'Azyr, Essais snr les lieux et les dangers des söpubmes, 1778, G,uares
197 1 ; Transcendance s, 197 5.
comPlötes,Bd. Vl.
38 AN, MC LXXV, es (16s7). 12 Ph. Ariös, Annales de demograpbie historique,1975, S. 107-113, erneut in Str-
39 Gilbert Grimaud, in Ch. Barth6l€my, Liturgie sacröe,paris,l854,
Bd. V, S. 290. dien zur Geschichte des Todes, a. a. O.. S. 117-125 ("Der 'schmätzende, Tod";.
40 AN, MC LXXV,94 (1657). 13 T. Navier, a-a. O.
41 G. und M. Vovelle, ,Vision de la mort et de l,ar:-delä en provence du XV. au XX. 14 T. Navier, a. a. O.
silcle", Cahiers A. Colin, 1920.
des Annales, l5 BN. Mss. Joly de Fleury.
42 F6nelon, Lettres spirituelles, Nr.224, 12. Nov.
17a"1, (Luores coTnplötes, 1g51, 16 BN. Mss. Joly de Fleury, Mimoire des curis de Pari.
LVIII,
S. 591, zir. nach V. Jank€l€ virch, La Mort, a.
a. O. 17 Riflexions au sujet de I'anät des cimetiires, BN, Mss. Joly de Fleury.
4l Michelet, La Sorciäre (Einl. v. R. Mandrou), paris, 18 Lettre de M. M. @lfl ä M. /. [amet le jeune] sur les moyens de transt'örer les
Julliard, 1964, S.33.
44 Ebenda, S. 9i-95.
cirnetiires hors d.e I'enceinte d.es ailles, November 7776,Parrs.
4s AN, MC LXXV, 987 (1811).
19 Verordnung von Ms' Lom6nie de Brienne, Erzbischof von Toulouse, vom 23.
46 AN, MC CXIX, 35s (1774).
März 1775, zitiert nach Dr. Ganal, a. a. O.
47 AN, MC CXrx, 35s (1778).
20 M. Cadet de Vaux, Mimoire hütoriqt4.e sw le cimetiire des Innocenti, vorgetragen
48 AN, MC CXIX, 355 (1775).
vor der Academie royale des sciences tm Jahre 1781, zitierr nach Dr. Ganal,

810
811
ll t;, ,, '.,, r,r ., t-,...,...

2l Scibastrcn Mt'rr.rt,r,
ttnt, l\lOlt) lHltt,l,,rr,l,,rr, l', rr1,r,rr 11,,,,Ir l'r''t, Alrlr l0r'rrntl\. l./../l I .Sr,rrrt.
l,iltlraux tlr l),rrrr, r.t.().,1t(1. X., S. I90.
22 MaximcduCarnp, parts, l375,iiJ. III;vgl.M.Agulhon, pinitertsctt'rdil(rntd n,r'rstttt /rlrr'l,rll/t ,.r,r tt.', .'.'r,,,',,1 '1.', lrrlirr. \,.ru. lr.trrl Wcrt\,)ü!'r'orn
lrc, lltr.krrrglr.rrrrrlrrr, . l,,rr
COns, 4. d. O.
23 BN, Mss. Joly de Fleury. ll'l A. Rrrr.rlrlr, I t ,ll,rt,,,tt ,1, ' .ltl,ltt, t. /rlrcrt n.I(lt J. I)i.rtrcr in Le Mondc,30-lJl.
24 Rapport sur les s'pultures prösent| Mai 1971.
ä r'Administration cen*are du däpartement tl( ,19 S. Iircnch, ,'l'hc (,crrrcrcry .rs crrhural Institution", in D. E. Stannard, Death in
la Seine par le citoyen Cambry,Jahr VII (1299).
-_ America, a. a. O., 5. 7 5
25 Amawy Duval, Des söpuhures, paris, .

Jahr tX if AOf ,). 50 J.§fl.Draper,Thtl"uneralElegyandtheRiseof EnglishRomanticism,NewYork


26 Abb6 Mulor, vues sur res söpu,u.res ä-propos
)'ur
roppor, sur res sipurtnres de 't929.
Daubermesnil, vorgerragen vor dem Rar ier
Frinfhundert am 2 r . Brumaire tres 5l Cuyier, The Empty Crib, zrrtert nach A. Douglas, d.4. O., S. 61.
Jahres v ( 1 1 ' November 1796). Es war dieser Bericht, der
dem Erraß des seine- 52 Mg'Gaume, LeCimetiireauXIXsiicle,Pariso.J.(Endedeslg.Jahrhunderts).
D6partements vom 4' F,or6ar rles
Jahres
y, (2i.April I 799) übe. ai. s..rd-;g;r- 5.} Bericht des Londoner Korrespondenten von le Monde,lS.Dezember 1962.
gen zur Annahme verhalf.
54 P. Ferran, Le Liore d.es öpitapbes, Paris, 6,d. ouvriöres, 1973.
27 c. Aulard, Paris pend,ant la riaction thermidorienne, paris
1g9g_r902, Bd. v, 55 D. E. Stannard, a. a. O.
s. 698 f.
28 Rapport de I'Administra.tion des Traoaux ptbrics 56 E. V. Gillon, Victorian Cefietery,4t, New York, Dover Press, 1972.
sur les cimetiäre-§, vorgerragen 57 S. French, a. a.O.,5.89.
, 1or dem Conseil gön|ral vom Bürger Avri).
29 Berichtvordem Conseilgin,raldiloseinr^^l5.ThermidordesJahresvIII(2. 58 Tbe Walter's Art Gallery, Baltimore, Nr. 1520.
59 Dasselbe Motiv (Genua, Cimitero di Staglieno) hat zur Illustration des Schutz-
Augusr 1800).
3a Sipuhures publiques et pdrticuliires,Jahr umschlages der deutschen Ausgabe meiner Essals sur I'bistoire de la mort,Min-
IX. chen, Hanser, 1976, gedient.
31 A.Duval, a.a.o.ir.Girard,Autorvonpraxilefsic)desTombeauxetder,influ_
ence des institutions
60 Denkschrift(überdiePariserFriedhöfe),vorgelegtvomPräfektendesSeine-D6-
t'unilr7r-r*
les m<zurs, n..ir,
1.t. IX (l gOI); D.. R";;;;, partements beim Hotel de Ville.
Paris sans cimetiires, paris 1g69.
32 Sdpultures publiques, a. a. O. 61 Chenel, Sur un projet d.e cimetiöre et de cbemin de fer municipal ou mortuaire,
33 P. Giaud, a. a. O. Paris 1867.
34 A. Duval, a. a. O. 62 Gufrard, Visite au cimetiire de l'Ouest, Paris 1850.
35 S€puhures publiques, a. a. O. 63 L. Bertoglio, Les Cimetiöres, Paris 1889.
36 P. Giraud, a. a. O. 64 J.-F.-E. Chardouillet, LesCimetiiressont-ilsdest'oyersd'infection?, Paris 1881.
37 G. F. Coyer, Etrennes dflx morts et aux 65 Ebenda.
uioants, paris 176g. 56 L. Bertoglio, a. a. O.
38 Reoue bistorique,1974, a. a. O.
)9 L. r.anzac de Labo.e, paris sous Naporöon. La oie 67 Dr.Robinet,Parissanscimetiires,Parisl86g;P.Laffitre,Considörationsgönira-
et la Mort,paris r906. les ä propos des ametiires de Paris, Paris 1874.
40 Präfektur des Seine-l)6p..,.....,,.,
Leitung der Gemeindeangelegenheiten, 68 P.Laf|iue, a.a.O.
Friedhofsverwaltung, Note sur
_ res cimetiiresäe h vilte de paris, 1gg9. 69 J. Brunfaut (ein Anhänger der Verlegung nach M6ry-sur-Oise), la Nöoopole de
41 L. Berroglio, Les cimetiires, paris lgg9.
42 L. Lanzac de Laborte, a. a. O. M,iry-sur Oise. De noueeaux sentices ä cröer pour les inhumations parisiennes,
43 C. Aulard, Paris sous le Consulat, Bd. Paris 1876.
II, S. 235. ZO A. Lenoir (vom Instintr de France), Citnetiires de Paris. (Eutre des söpuhwes,
44 MM' Richard und XXX, Le vöritabre
conducteur aux cimetiires du pire-Lacbai- Paris 1864.
se, Montmartre et Vaugirard, paris
1g36.
45 M. Vovelle, L'l116sistible Ascension de 71 §üir haben unsere Beispiele aus dem Pariser Bereich gewählt. Dieselbe Geschich-
Joseph Sec, a. a. O. re hätte aber auch in den Gro(lstädten der Provinz geschrieben werden können.
46 F- R. de Chareaubriand, M|moires a,öuir_fo_Ur,hgg.
von Bir6, paris, Gar- R. Bertrand hat der gleichen Situation, diesmal in Marseille, seine Habilitations-
nier, Bd. I, S. XIX und 445.
schrift unter der Leitung von P. Guiralgewidmet. Eine Zusammenfassungdaraus

812
8r3
tl lh( lrYlttlt tttttt'ttt"t t' '
t.urt\.r l\1.)r\r'rll( (lu nrlr(u,lrr \Vlll'rrr'. l, ,rl.tlrr,lrr \l\'..,S l(,.1 fr,r "Sorst '.t IhtI)Ytnlilt,tlttttl,'t 't
(''" ,'I'l
rli«scrStlrrt'tktttsotlrltsl1l..l.rlrrlrrrrr.lcrt\$cnrli(r.rlsIrrrtttlt'tt.l.thnrlr.ttcrzrrrrr N,u \"rL,l\lr('r'rrv llrll' l')59'
., I ll. lrcilcl, ll,t Mt,rrttrtr,,tl Itr,tt)'.
,l )t'rrtli. N' rv \'"'k' Me Millrrrr' 1969; dt' /nter-
Ccgenst,rntl tlcr St,rlzct urt.l tlts I{cspektcs 1;cw,rr,lrrr.,. (
.,,1 lr. Kiihlcr Ros:, )rr I)r,,,t1, ',,,,1
\iirl.rg' V 'Ihomas' L'Antbropologie
72 Dr.h. Martin, /-es cimetiircs dt La oinati<tn, I)aris l81,ll. ?t?Ies tntt Strrlr.tr),t,l, rlrr, Kr< rrr "19/1
73 Faucheux (Paris) und Revel (Lyon), Les Tbmbes dts paut'res,19a3. ,le la Mort' a. u. ()'
74 F.Zonabend, ,Les Morts et les Vivants", Etudesrurales Nr. 52, 1971,23 Seitcn. (lalder tt Boyars' 1975; dt' Die Enteig-
.)5 Ivan lllrch, Metlttal Nrrrtt'rrs, I.'rtrtlon'
75 Ph. Ariäs, Studien zur Geschicbte des Todes im Abendland, d.4. O., S. l15f. nnng der Gesvndheit, Rcinbck' Rowohlt' 1975'
76 Esprx,1965, S.610. travail de la mort*' Annales ESC' 1976'S' 214'
.l{, Claude Herzlich, 'La
)7 lt The DYing Patient, a' a' O' Perrin' 1951'
Kapitel 12: Der ins Gegenteil verkehrte Tod (S. 715) ,, n. Criff"i, Quat,eE"ais de sociologie contempordine' Paris'
American York' Simon E< Schuster' t963 ; dt'
ioy d O'"oth'New
19 I. Mitford, Tb e
1 L. N. Tolstoi, Tri smerti, 1859; dr. Drei Tode, Leipzrg 1860 u. ö. "Der V/alter' 1965'
Tod als Geschät't, Olten/Freiburg'
2 Mark Twain, Was it heaoen? or bell?,in Tbe Cornplete Sbort Stories of Marh A Douglas in Death in Ameica' 4' 4' O'S' 6'l'
tO So.,o.,, 1857, zrrieitnach
Twain,New York, Bantam Books, I972, 5.474-491. ri 1. Ul,io.a, Der Tod als Geschäft, 4' 4' O 'S' 2101'
3 L. N. Tolstoi, Der Tod des ltan lljitscb,7886, a. a. O. l2 Dieselbe, ebenda, S' 225'
4 Journal d'un bowgeois de Paris sous la Röpolution (Celestin Guirtard), hgg. von
R. Aubert, Paris, France-Empire, 1974.
5 B. Ribes, "Ethique, science et mort", Etrdes, November l974,S.494,zitiert bei
Ph. Ariös, Studien, a.a.O.,5.201.
6 G. Gorer, Deatb, Grief and Mourning in Contemporary Britain, New York,
Doubleday, 1965.
7 V. Jank6l6vitch, La Mort, Paris, Flammarton, 1966,5.229.
8 Derselbe, ebenda, S. 202.
9 L. Vitzel, Britisb MedicalJournal, 1975, Nr. 2,5.82.
10 B. G. Glaser und A. L. Strauss, Auareness ol Dying, Chicago, Aldine, 1965; Ph.
Aräs, Studien, a. a. O., S. 166f .
l1 G. Gorer, a.a.O., Ph. Ariäs, Studien, a.a.O.,S. l7JII.
12 Psychology Toda1, lunt 197 1, 5. 41-72.
13 ln Les Religions populaires, Inrernationales Kolloquium im Jahre 1970, Presses
de l'Universit6 de Laval, Qu6bec 1972, S. 29.
l4 G. Gorer, a.a.O.,S. 128.
l5 C. M. Parkes, Bereaoment Studies of Grief in Aduh Z/e, New York, Internatio-
nal Universities Press, 1973 ; L. Pincus, Death and the Fanjl7, New York, Vinta-
ge Books, 1974.
l6 H. de Campion, Mömoires, hgg. von Marc Fumaroli, Paris, Mercure de France,
1967.
17 Rees und Lutkins, "Mortality of Bereavment.,, Brit. Med. Journal,1967, Nr. 4,
S. 1l-16, kommentiert von L. Lasagna,in Tbe DTing Patient, hgg. von O. G.
Brim, New York, Russel Sage Foundation, 1970, S. 80.
1 8 S. Harsenty,
"Les Survivanrs ", Esprit, Mdrz 1976, S. 478.
19 R. S. Morrison, rn Tbe Dying Patient, a.a.O.

815
814
Inhalt
Vorbemerkung

Erstes Bucb
DieZeirder Ruhenden

Erster Teil : 1wir sterben alle 11

1. DergezähmteTod 13

Sein Ende nahe fühlend_... i3 Mors repentina 19 Der außergewöhn-


liche Tod des Heiligen'25'i Auf dem Sterbebett: Die vertrauten Todesri-
wale24',Die öffentlichlieit 30 Historische Überbleibsel : England im
20. Jahrhundert 31 Rußland im 19. und 20. Jahrhundert 32 DieToten
schlafen 35 'Im Biumengarten 37 Die Fügung ins Unvermeidliche 40
Der gezähmte Tod-ä

2. Ad sanctos; apud ecclesiam . 43

Der Schutz der Heiligen 43 Der Friedhofsyorort. Die Toten intra mu-
ros 47 Der Friedhof : "Schoß der Kirche" 56 Die Bestattung der Ver-
dammten 59 Das Kirchenrecht: Das Verbot der Bestattung in Kir-
chen - Die Praxis: Die Kirche als Friedhof 63 Aitre und charnier 69
Die großen Gemeinschaftsgräber 75 Die Ossuarien 79 Der große
Freilandfriedhof 82 Asyl und bewohnte Stätte. Hauptplatz und
öffentlicher Ort 83 Die Kirche als Ersatz des Heiligen. Velche Kir-
che 95 Der Ort der Beisetzung in der Kirche I 02 Bestattung in der Kir-
che? Auf dem Friedhof ? Ein Beispiel aus Toulouse 108 Ein Beispiel
England 117

817
V
Zw e it er Te il : D er eigene Tod
121 Das Epitaph - zunächst Identitätsnachweis und Gebet 279 Die Anru-
fung des Vorübergehenden 280 Das Epitaph als ausführlicher biogra-
3. Die Todesstunde : Vergegenwärtigung phischer Bericht über moralische und heldenhafte Großtaten 284 Das
des Lebens D3 Familiengefühl 295 Eine Typologie der Grabformen. Das Epitaphien-
Die Eschatologie als Indikator der kollektiven
Mentalität 123 Die Grab 100 Das vertikale Vandgrab. Das große Monument 301 Das
letzte Ankunft 125 Das Gericht am
Ende der Zeien. Das Buch des horizontale ebenerdige Grab 305 Im imaginären Grabmuseum: Der
Lebens 128 Das GerichtamEndedes
Lebens 135 DiemakabrenThe- Liegend-Ruhende 308 Der nach dem Vorbild des gisant au{gebahrte
men 141 Vieille ombre de la terre, ainEois
ombre d,enfer 144 Di. Tote 312 Die '§üanderung der Seele 317 Die Verbindung von gisant
Todesangst - Einfluß missionarisch.. s..lro.g. oder hoher tvton.litari und priant: pis "Doppeldecker"-Gräber 321 Der Betende 1.26 Die
160 Die leidenschaftriche Liebe zum Leben 166
Die avaritia und das \(iederkehr des Porträts 332 Die eschatologische Bedeutung von Ru-
Stilleben. Der Sammler l7l Scheitern und
Tod 1Zg hendem und Betendem 340 Auf dem Friedhof: Die Grabkreuze 342
Der Friedhof von Marville 349 Die Stiftungsgräber: Die "Tafeln" 353
4. Garantien fürs
Jenseits
Die Seelengräber 359 Die Exvotos 366 Kapellen und Familiengrüfte
181
368 Die Botschaft des imaginären Museums 374
Die archaischen Rituale: Absolution, Trauerüberschwang
und Geleit
des Leichnams 181 Die Totengebete 189
Oie Litrr:gie, il i;-
sung der Namen 191 DieAngst vorewigerVerdammnis."lte purgatorium Zuteites Buch
und Reich des Harrens 195 Die römiJche
Messe - eine Totenmesse Der verwilderte Tod
lr,, ,,:clerVerkündigungsgebere
rcnarz
201 Die klösterliche Sensibilirät: Der
Krrche 203 Die neuen Rituale des Hochmitteralters:
Die
Rolle des Klerus 207 Das neue Geleit:
Eine prozession von Klerikern DritterTeil:Derlange und nahe Tod 379
und Armen 212 Sarg und Karafalk
als neue Ulmel a., V..hüilr; ;;;
222 DerCottesdienst am Tage
l::.I:::ls
oer öersetzung225 lesrabnismessen
^-D.re Die Gottesdienste an 6. Der Rückfluß 381
den Tagen nach der Beise"t-
z^un9,229. Die mildtätigen Stiftungen
und ihre öff".nrli.hkeilrr- öf. Ein unauffälliger Vandel 381 Die Abwertung der hora morris 382
Bruderschaften 235 Garantien firs
Diesseits und fürs Jenseits. Die Die neuen artes moriendi: Mit dem Tode leben 385 Die volkstümli-
Funktion des Testaments. Die Umverteilung
der Ve.mögen 242 Reich_ chen Andachtsformen des guten Todes 391 Die Folgen der Entwer-
tum und Tod: Die Nutznießung 24g Das
Tesramenr als Gewissens_ tung des guten Todes: Der nicht-natürliche Tod. Die Mäßigung. Der
pflicht und persönlicher Akt 25i O^ f.r,r-.r,,
als literarische Gar_ schöne und erbauliche Tod 394 Der Tod des Freigeists 400 Der Tod in
tung 254 Der gezähmte Tod _ noch
einmal 25g vorsichtiger Distanz 4A2 Die Auseinandersetzung über die öffentli-
chen Friedhöfe zwischen Protestanten und Katholiken 404 Die Verle-
5. Ruhende, Berende und wandernde Seelen gung der Pariser Friedhöfe. Die Vergrößerung der posttridentinischen
26A
Kirche 407 Die Lockerung der Verbindung von Kirche und Friedhof
Die Anonymisierung des Grabes 260 Der übergang
vom Sarkophag 410
zum Sarg oder zur Bahre. Die Armenbeisetzungei ,ohre
Sch.ein" Zoi
Erinnerung ans Dasein, Ruhestätre des Leichnairs
266 Die Ausnahme
persönlichkei rcn 7. Vanitas 412
{er le;ljqe.n und der großen 269 Die beiden Arten
des Nachlebens: im Himmel wie auf Erden
274 Die Situation gegen Das Bedür{nis nach Schlichtheit der Leichenbegängnisse und des Testa-
Ende des I O. Jahrhunde rts 276 Die Viederkehr der Grabinsch rtk 27g ments 412 Die Unpersönlichkeit der Trauer 415 Einladung zur Me-

818
819
lancholie: Die Vanitasdarstellungen 41 8 Der Tod im Herzen der Dinge. Testamenten 596 Die Revolution des Gefühls 599 Der Rückzug des

Das Ende der avaritia 424 Die Einfachheit der Gräber: Könige und Bösen. Das Ende der Hölle 601
Privatpersonen 426 Die Rehabilitation des Friedhofes unter freiem
Himmel 431 Die Verlockung des Nichts in der Literatur 436 Die Friedhof 603
1 1. Der Besuch auf dem
Verlockung des Nichcs in der Grabkunst 440 Die besänftigende und
Teuf e I ruf dem
die schaurige Natur. Die Nacht der Erde: Die Gruft 442 Die der Natur Die Friedhöfe im topographischen Überblick 603 Der
Friedhof 604 Die Ungesundheit der Friedhöfe: Arzte und
Parlamcn-
überiassenen Gräber 445
t".i.. d.. 18. Jahrhundlrt§608 Der Radikalismus der Stadtparlamcn-
tarier: Der nicht ,erwirklichte Aussetzungsbeschluß von 1763
614
8. Der tote Körper 451
Die Reaktionen auf den Aussetzungserlaß des Parlamentes 617 Die
Zwei Arzte: Zacchia und Garmann. Das Leben des Leichnams 451 V"A.grng der Friedhö{. ,t" dtn Städten' Velcher Friedhöfe
(1763"47;6)? 625 Die Auflassung des Cime.tiöre des Innocents
630
Öffnung und Einbalsamierung 461 Die Anatomie für alle 465 Die
der Pariser ihren
privaten Sektionen. Die Entführungen von Leichen 468 Die Annähe- Ein n.r., ö."bl.gungs.til 632 Die Gleichgültigkeit
Jg..,.n Tot.,, g.i.r,ti'ber 634 Modelle kün{tiger Friedhöfe 637
Die
rung von Eros und Thanatos im Barockzeitaher 471, Die Nekrophilie
Schindanger
des 18. Jahrhunderts 477 Der Friedho{ der Mumien 485 Die Mumie ,."habig. 'l«lrHlc[keit der Friedhöfe: Die Toten auf dem
im 1801 644 Die
im Haus 490 Vom Leichnam zum Leben: Der moderne Prometheus 64l ö"r'W"ttbe*erb des Institut de France Jahre
Entwickiung des Totenkultes 646 Zu Glas gewordene Tote ' ' '
654
495 Die Sadesche Begegnung des Menschen und der Natur 498 Der
657
Das Dekretl om 23. Prairial des Jahres XII (11' Juni
1804) Di-e
Schutzwall gegen die Natur hat zwei schwache Punkte: die Liebe und
auf dem Fried-
den Tod 500 private Grabstätte im 19. JahrhunJert 663 -Der Besuch
'hof Friedho{ 678 Porträts
66g Der rural cemetery. Der ausgestaltete
t.nd Genreszenen 685 Paris ohne Friedhöfe? 688 Das Büpdnis von
9. Der Scheintote 504 positivisten und Katholiken zur Bewahrung der Pariser E.ieäh,;fe egZ
Ein Beispiel für einen Landfriedhof :
Der Scheintod 504 Die Arzte um 1240. Das Anwachsen der Furcht Die Denkmäler für die Toten 70O
505 Die Vorsichtsmaßnahmen der Erblasser 508 Ausläufer im 19. Minot 705 ,,$si 5ish" 711
Jahrhundert 5Q9 Zweire Hälfte des 19. Jahrhunderrs: Beruhigung und
Ungläubigkeit der Arzte 511 Die Arzte und der Tod 513 Die Ur-
713
sprünge der Großen Angst vor dem Tod 515 Fünfterleil: Der ins Gegenteilverkehrte Tod

715
12. Der ins Gegenteil verkehrteTod
Viert er Teil : D er Tod des Anderen 5'19
Beginn der
Der Tod verbirgt sich 715 Der Beginn der Lüge 717 Der
Medikalisieruntzzo D"rUmsichgreifen derLigeT23 Derschmutzi-
10. DieZeitderschönenTode 521
geTod 226 D[ Einli.f..ung ins Kranke"ltt:.7.29 Der Tod
M6lisan-

Die betäubende Süße 521 In Frankreich: Die Familie de La Ferronays äes 731 Die letzten Arrgenblicke und die Tradition 733 Sehr zurück-
524 Alexandrine de Gaix 549 In England: Die Familie Brontä 550 ln haltende Leichenbegängnisse 736 Die Unschicklichkeit der Trauer
Amerika: Die Briefe der Auswanderer 568 [n Amerika: Die Trostbü- 740 Die Ausbürgenrng des Todes 741 Der Triumph der Medikalisie-
rrrrrg 747 Die Viederkehr der Todesankündigung'
Die Mahnung zur
cher 572 Anfänge des Spiritismus 577 Die Desinkarnierten 579
lrruia.. Der heutige Tod 753 Die Geographie des ins Gegenteil ver-
Die Schmuck-Andenken 585 Die Seelen im Fegefeuer 587 Die Hexe
von Michelet 594 Das Verschwinden der frommen Klauseln in den kehrten Todes 760 Der Fall Amerika 763

821
820
Konklusion n
771
Fünf Variationen über vier Themen 773

Anmerkungen 790

Register

Abälard, Perer 640,679 486, 489, 568f., 572f., 577, 662,


Abraham 39f., 127, 19af ., 198, J96, 666f ., 681 f ., 7A4, 7 48, 754 ff., 759,
406 76tff., 766f., 769,788
Abraham, Karl 743 Amiens 142, 283, 290, 297, 422
Achilles 25, 477 Ampurias 49f.
Hl. Adon 269 Amsterdam 240
Aecola 48 Andreas, Apostel 55
Agypten 444,563 Andresy 362 f.
Afrika 48f., 262, 290, 306 Los Angeles 648,767t.
Hl. Agatha 474,591 Fra Angelico 473
Agen 605 Angers 90
Hl. Agilbert, Bischof von Dorchester Anjou 304, 338
und Paris 126,27A Hl. Anna 593
Hl. Agilberte 270 Anne, Königin von England 271,219
Agrippa d'Aubignd 61, 466 Antibes 135 .
d'Aguesseau, Kanzler 432 Antigny 796
Agulhon, Michel 216, 24O Hl. Antonius 330, 490
Aix-en-Provence 774, 469, 493, 592, Anvers 357
665 Apollo 474
Alarcos, Graf 33, ltz Arles 65, 78
Albano 540 Arles-sur-Tech 307
Alberegne, Jacopo 134 Arras 51 f.,247,250
d'Albertes 493 Artus, König 20, 24,271., 184-187,
Albi 114 209,274
Alengon, Fräulein von 413 Assisi 135, 1,44, 146, 161
Alexander I., Zar 525 Atttgny 206
Alexandria, Patriarch von 186f. Aubervilliers 639
Hl. Alexius 274 d'Aubray, Claude 104
Alfort 691 Aude, Braut von Roland 24, 188
Alkuin 192 Hl. Augustinus 57f., 125, 190,242, 330
Alleghanv, Familie 575 Aureilhan 686
Alopoeus, Graf von 528 Autun 129, 1f1
Altieri, Ehepaar 440 Auvillar 279,307
Amat, Frangoise, Marquise von Sol- Avignon 14a,145,423
liers 413, 463 Avioth (Dept. Meuse) 348, 351
Hl. Ambrosius f9, 190 Avranche 208
Amerika 40, 117, 351, 434 t., 444, 484, Aymeric, Kanoniker 323, 325, 327

823

-]
Babel, Isaak 34
il
Benson, Edmund \White, Erzbischof Bourgeois, Jacques 345 ( ..rl,r t'r, rl lc,lc Villttlr.rn, .l errr tlc -16-1
Babelon, J.-8.324 von \üestminster 584 ( l.rr r rrr, Ugolino 210
Bourget, Paul 40f.
Bad Ischl 30 Bentham, Jeremy 493 (l.r,ltr. M.6l-]
Boury (Normandie) 536, 543,546
Baden 546f. Berlin 420, 49A,511, 528 (..rcn
Bouts, Dierick 175, 472 1.14
Bagneux 673 Bernard 697 (..rilL,is, Rogtr
Bovary, Madame 726f., 734f., 752 764
Baltimore 422, 682 Bernard, A. gZ, 96,94 (irlrgrrlr.ltl/
Bozouls 430
Balzac, Honor€ de 571,721,721 Bernard, R.-J. (ielvin, .lohann
72 Bra,ga 44, 63 -184, 387
Ban, König 25,27f. H[. Bernhard 110, 123, 169 Crrn:ralot 9U, 188
Bramante 666
Bar, Graf von 349 Bernhard von Cluny 275 (ianrbridge 584
Bramer, L. 422
Barbara, Francesco 398 Bernini, Lorenzo 331, T7, 341, 427, Le Bras, Gabriel 61 , 82f ., 94, 449 Cambry 641f .,644
Barbarossa 504 476, 48Af. Le Bras, Guillaume 206 H. de 40Q,745
Carrrpi<rn,
Barberini, Antonio 442, 489 de Bernis, Mademoiselle 494 Camus, Albert 425
Brasilien 712
Barbier, Renault 357, 471 de Berry, Jean 174f.,525 Camus, Bischof 474f .,48A
Le Braz, A. 79 f[., 89, 92, 96
Barbusse, Henrj 728 Berthod 92f.,343 Bregno, Lorenzo 338 Canius 387f.
Bardi, Kaufmannsfamilie aus Irlorenz Bertoglio 694 Brest 682 Canova, Antonio 444, 524
247 Bertrand du Guesclin i34 Bretagne 67,75, 84, 89,96, 682 Carcassonne l1 1, 319
Baroccius, Petrus 402 de B6rulle, Pierre 123 Cardan 453
Le Breton, Guillaume 73
de la Barre, Jacques 361 Binet 438 Breton, Jules 351 Caron 289
Barrös, Maurice 650, 670 Blacas, Herzog von 525 Carpaccio, Vittore 80, 49A,497
Breughel, Pieter 152
Bartholin, Thomas 457, 46A, 6A5 Blair, Robert 444 Cartier 643
Brienne, Lom6nie de 628, 694
Hl. Bartholomäus 474, 478 Blanchefleur 33 Brinay 172 Castan, Nicole 40, 42
Baskenland 208 Blaye 188 Castan, Y. 432
Brontä, Anne 551
Basterot, Graf von 682 Blois 103 Brontö, Charlotte, 551, 572, 579f., Castelaetrano 464
Bastoneau, FranEois 101 Blosset, Pierre 290 Castelamare 529
582,588,602
Bataille, Georges 35, 501 Bloy, L6.on 673 Brontö, Emily 436, 459, 551f., 555, Castres 521, 549
Bauchot 512 Boccaccio, Giovanni 479 de Castro, Josu6 712
557, 559, 563, 572, 684
Baudelaire, Charles 595, 602 Böhmen 563,605 Catherine, Tochter von Edgar Linton
Brontö, Familie 436-727 (passim)
de Baudoin, Charlotte 298 Bohan 24 des Brosses 481 554,564,566f.
Baudry, Abt von Borgueil 211 Boileau, Nicolas 650 Cavaillon 234
Brüssel 367, 419, 541, 546
Bayonne 208 Bologna 2'18, JA3, 446, 477 C*allino
Bruhier 506,51a,512 474
Beaulieu 128f. Bonal 667 Hl. Paulus 48
Le Brun, Madame 597 Celsus, Sohn des
Beauvais 82 Bonaparte, Lucien 644 Brunet 642 Centula 205
Becker 654 f. Hl. Bonifatius 206 Brunhilde 478 Cergy-sur-Oise 360
Becon, Thomas 383 Bonifatius VIII., Papst 335 Bucherie, Pierre 371 Cevennen 666
Beda 460 Bordeaux 50, 404, 509f.,667 Buckingham, Herzog und Herzogin Cezanne, Paul 172
Bee, M. 240f. des Bordes, Guillaume 105 von 219 Chälons-sur-Marne 66, 126, 129, 279,
Beethoven, Ludwig van j35 Borghese 369, 538 Buda 21 611
Begon, Abt von Conques 272f.,317f. Borgia, Cesare 313 Buffon, Georges 521 Chalus 334
Beleth, Jean 238 Borromini 331,341 Buissonnets 583 Chambers, Thomas 682
Belgien 541 Bosch, Hieronymus 136, l70 Burgund 146, 213, 278, 302 Chamborand, Guillaume de 353
Belgiojoso, Prinzessin 493 Bossuet, Jacques 32, 429, 438fL, 49O Burgund, Herzog von327 Chambord, Graf von 525, 538
Bellarmin, Robert, Kardinal 3g3 f., Boston 1 18 Burns, Helen 552ff ., 574,582f., 588 Champmol 327
390, 394_397, 401 f., 561 Boudain 82 de Bussiöre 518, 540 de Champr6, Thomas 590
Bellesort l2 f. Bouillon, Erzherzog von G62 de La Bussiöre, Abb6 278 Chanzy, General 668, 685
Bellour, Raymond und H6löne 551 Iloulay 104 Chaptal 463
van Butchell, Martin 491
Benassis 571 Boull6e 443 Butler, P. H. 434 Chardin 172
Benevent 59 Boulogne 96 Buzanzy 668 Chardouillet, J.-F.-E. 695 f.
Benoit d'Aniane 205 Bourbonen 426 ff. Byron, Lord 496 Charente 666,668

824
825
Charenton 1A7,448 Crashan 438 Donnet, Kardinal 509, 511 Etty, V. 478
Charles-Picard, Jean 2O5, 27Of. Craven, Auguste 531, 541 Dorchester 270 Euphrasine 642
Chartier, Alain 60f. Craven, Madame, Frau von Auguste C. Dor6, Pater 391 Europa 314, 426,447,485, 494' 568,
Chartres 125 524, 526, 541 Doria 491 682, 684, 766,77C
Chassignet 467 Crespin, Baude 250 Dornröschen 504 Hl. Eustropius 105f.,
Chastel, Andr6 42i, 467, 475 Creteur, Chemiker 701 f. Dou, G6rard 421 Evelyn, John 433
Chastel, I.-P. 493 Creti, Donato 477 Douai 711 Evrard, Claude 356
Chateaubriand, Frangois Ren6, vi- La Croix, Camille de, Pater S..J. 55 Douglas, Ann 572f ., 575f Evreux 82
comte de 16, 436, 471, 521, 524, Curchod, Slzanne 492 766 van Eyck, Jan 136, 144,313
644,665 Cuyler, Pastor 575,672 Dours, Jehan de 371 Eyre, Jane 5521.,579t.
Chätelet 471 Druon, Aim6 711
Chätenay-sous-Bagneux 53 Dagobert, König 320 Ducange 84f.,90, 187 Favre, R. 394
Chevalier, Louis 61 Dainville F. de, Pater 726 Dürer, Albrecht 472 Feifel 754, 759
Chevalier, M. 507 Dalbade 111, 114f.,507 I)umont, Fernand 739 F6nelon, Frangois 592
Chicago 759,767 Dammartin 360 Dupanloup, Abb6 525, 533, 518 de Fenes, Jean 345
Childeberr, König 50, 309 Damond, Madame 105 Duplessis-Mornay 385 Fernand, Gräfin 525ff., 546
Chimena, Geliebte des Cid 2O9, 416 Damous el Karita 65 La Durand 482 Fernel 612
Hl. Christoph 360 Daniel 28, 127,132{. Durandal 33 de La Ferronays, Farnilie 525-756
cid 209f. Dante, Alighieri 38, 59, 393, Duval, Amaury 644, 647, 651, 653 (passim)
Circe 401 589 van Dyck, Anthonis 367 Feuillet, Pierre 103
Citeaux 279, 3A2 Daret, Maler 592 Fidani, Orazio 472
Civaux (Poitou) 52f ., 7O5 Dartigues 655 Ecouis 125 Fidelis 452
Civitavecchia 530 Darwin, Charles 495 EduardIII.2l9 Finance, I.697
Clamart 506 Daumelas, Mademoiselle 483 Ehrmann, Gilles 687 Firmino, loio 712
Clemens IV., Papst 59 Daurade 111,114{f- ElisabethL, Königin von England Flamarion, Camille 584
Hl. Cl6ment 50 Dauvergne, R. 53 219, 526 Flandern 146,247,491
Le Cler, P. 507 David, Gerard 474 Elne 318 Flandrin, J. L. 653
Clotilde 673 Davies, Nathalie Z. 385 Elvire 673, 712 Flaubert, Gustave 726, 728
Clovis I. 55 Deakins 666 L'Enfant, Maior 704 Fl6malle, Meister von 173
Cluny 204f.,2O8, 422 Debray, J.-R. 753 England 31, 111, 117, l'tg, 147, 264, Fleury, Antoinette 109, 113, 163f''
Colbert, Simon 224 Debussy, Claude 231f. 298, 300, 305,312, 314,346, 349, 343
Colin, Professor 691 Delacroix, Eugöne 474 384, 422, 432-435, 444 f ., 447 f .,
35',1, Fleury, Joly de 470,633
Colinet 60 Delft 336 550, s82, 639, 666ft., 68rf., 739, Florenz 210, 238, t70, 430, 472, 686
Collevin 338 Delille, Jacques 663f., 666,671 754, 767, 763 1., 769, 784 Foisil, Madeleine 609, 624, 652
Colmar 279, 313 Delumeau, J. 163 Enguerrand de Marigny 325 Fontaine-Condrez 707
Columbanus 269 Saint-Denis 50 Enguerrand de Monstrelet 265 Formigny 72
Complutum (: Alcala bei Madrid) 48 Denizart-Rivail, L6on 583 F.ntre-deux-mers 667 Fosdyke 118
Comte, Auguste 692f. Denoix, P. 753 Epernon 449 Foucault, Michel 787
Cond6, Prinz von 525, 610 Deschamps, Eustache t 56 f. Ephesus 37 Fouilloy, Evrard de, Bischof von
Connecticut 570 Desmoulins, Denis, Bischof 87 H[. Erasmus 472 Amiens 283
Conques 128f., 133 f., 136, 3t7 Deutschland 146, 305, 310, 312,314, Erasmus von Rotterdam 382f., 386f., Fournier 687f.
Conversano, G. 276 352,51t,546,549,677 389,394, 407, 446 F{l. Foy 273
Coppet 648 Diafoirus, Thomas 467 Erhart, Gregor 421 Hl. Francesca Romana 491
Corrozet 75, 78 Diderot, Denis 481, 563 Erlande-Brandenburg, A. 332 San Francesco tRipa 476
Cosenza 333,335 Dijon 136, 145ff., 213, 295, 611, 710 de l'Estoile, Claude, Ritter 107 Franco 754,760
Coulommiers 344 Dinteville, lean de 422 de l'Estoile, Pierre 292 Frankenstein 496, 5QA, 657
Courson 462 Dodonville 373 d'Estr6es, Graf 105 Frankfurt 367,654
Coyer, Abb6 652f. Hl. Dominikus Etienne, Märtyrer 50 Frankreich 24, 27, 71, 7s, 117 tt., 146,
1O4, 162,392, 591

826 827

ü
201 f., 213, 239, 29A, 298, 305, 310, Gerbet, Abb6 525, 537,540 (iriechenland 416 Hohenlohe, Prinz von 549
314, 331, 333, 338f., 349, 351f., Hl. Germain, Bischof von Paris 50, .le Grille, M. 483 Holbein, d.J. 385, 422, 424
358 {., 381 f ., 394, 416, 430-433, 435, 52,71 (irimaud, Gilbert 16, 590 Holland 66, 305, 338, 340
446ff., 484, 493,511,524ff., s30, Germain, Joseph 145 { }ryphius, Andreas 438, 480 Holmes, Thorras 765
s32, 569, 572, 576ff., 579, 58tff., Germanien 54 ( ludrande 86 Homer 35, 42
648, 625, 638, 64A, 647,653,658, Gerson 68, 388 ( lu6rard 690 Honorius von Autun 39,58,67,204,
661{., 665ff., 669f., 673, 677tf., Saint Gervais 373 (luercino 421 238
688, 692, 694f., 702, 704, 771, Gesvres 288 (]uidarelli, Guidarello 3 13 Horaz 645
7 18 ft., 740, 749, 761, 766, 770 Glvarda;n 72 (iuillaume le Breton 93 Houdon 524
Franz I. 288 Giambattista 275 ,le Guiry, Gabriel 55 Houllier 612
Hl. Franziskus 110,. Gilbertus Porretanus 225 Guiry-en-Vexin 53, 55 Howard, Familie 666
French, 5.668, 679f. Gioberti 525 Guittard de Floriban, C6lestin 466 Hugo, Victor 529, 572, 583
Fressine 463 Giotto 238, 114 (iuitton, Jean 19 Huizinga, Johan 161, 164, 178
Freud, Sigmund 743 Girard, J. 645, 647, 651, 653 (]ulielmus Durandus, Bischof von Humbert von Burgund 56f.
Friedrich II. 187 de Girardin, Madame 583 Mende 20ff., 24,57,63f., 183, Hurault, Marguerite 288
Füssli 478 Giraud, Pierre 654f ., 657 315f.,326 Hyattsville 666
Fumaroli, M. 437 Giraudoux, Jean676 Gunther 478
Furetiäre 72, 108, 264, 466 Gisleni, G. B. 441 Hl. Ignatius 45,204, 437
Furtenagel 423 Gisors 231 Den Haag 337 Ignatius von Loyola 384ff.,390
Glaber, Raoul 15, 29,76,204 Haarlem 66 Indiana 571
Gabelin, Henriette 344 Glaser, B. G. 734, 751 Habsburger 428 Indien 580, 637,778
Gabriel, Erzengel 130 Glasgow 688 Hadrian, Prpst 2O2 Indochina 711 d
Gadenne, R. 474{. Le Goff, J. 95,245 F{rgtr 477 Isabella von Aragon, Königin von
Gaheris 185, 188 Gomberville 442f.,445 Halcombe, Villiam 576 Frankreich 96, 333,315
Gaigniöres 82, 145, 148, 250, 278, 359 Hl.Gondebertus 238 Hamlet 80, 411 Isarn, Abt 309
Gaignot, Anne, Frau von NicolasI. Goneval 61f. d'Harcourt, Gruf +29 Isidor von Sevilla 197
von Rambouillet 107 Gorer, Geoffrey 730, 736-740, 742, Harprgon 177 Isolde 24, 29,61L,188
Gaix, Caroly de 417, 521, 549t., 572 759,761 Hattstadt, Conrad Werner von 313 Italien 66f., 1r7, 146, 213, 216, 218,
Galaad 13,23 Goritz 538 Haussmann, Georges-Eugöne 689' 264,302f.,305, 310, 313, 315, 333,
Galen 459 Gossart, Pierre 360 692 351, 416, 419, 430, 435, 468, 493,
Galicien 96 Gottfried von Aniou 185 Haute-Provence 711 526, 530, 540, 577, 582, 639, 661,
Sankt Gallen 205f. Goya, Francisco 421, 458 Heathcliff 563-567, 581, 595, 672 677, 717
Gallien 50, 262,269 Grandet, Pdre 249 Heers, J. 162,246f. Ivan Iliitsch 722-726, 732-735, 747,
Ganelon 62 Grangerford, Colonel 575 Heinrich VII. 137 749,751f.,759
Garmann, L. Christ. Frid. 451457, Grangerford, Miss 574, 579 Hektor 477 Iwein (Yvain) 27, 185
460, 506, 605{rf., 635 Grasse 701 H6loise 64A, 679
Garmer 473 de Gravier, Yirey 473 Hennegau 70, 89 laca 320
Gascogne 590,686 Gray, Thomas 179, 436, 443f., 669, Hermes Trismegistos 398 Jacobus de Voragine 36
Gassendi 454 682 Herodot 474 Jank6l6vitsch, Vladimir 35, 156' 166,
Gaufier, Mönch 15 Green, Thomas 464 Hervas 496f. 599, 731f., 753, 773
Gaume, Mgr. 678,698 Greffulhe 685 Herv6, Mönch 15 lay 90
Gauvain, Mörder Iweins 27f., 185ff. G16goire, Senator 662 Herzlich, Claude 760 Jeanne de Lorra'ine 270
La Gayolle 55 Hl. Gregor 173,271 Hl. Hieronymus 175,420 Jeanne la Vairiöre 87
Ga26.697 Gregor VII. 526 Hl. Hilarius 350 Jefferson, Thomas 666, 704
Gelli, J. B. 401 Gregor der Große 58, 63, 67, 195, 797, Hildesheim 319 St. Jehan 234
Genet, lean 729 204,224, 242, 275f. Hinkmar von Reims 98 Jersey 583
Hl.Genoveva 269 Gregor von Tours 36 Hippo 49 Jerusalem 24
Genua 430, 532 Gretze 448,728 Hirnhaim, Hieronymus 457 Johann der Gute 21 I

828 829

j
Johanna von Orl6ans 88 Lamartine, Alphonse de 523, 558f., l.ouis, Chirurg 481f. Marseille 38, 49,3O9, 694
Johannes, Evangelist 1,25, 131, 330, 572, 577 f., 672, 674, 676 l-ouis-Philippe 525, 583, 688 Marsyas 474
350 Lampedusa (Insel) 45 I ll. Ludovica Albertoni 476 Martel, Anicet 493
Hl. Johannes der Täufer 350,354 Lancelot 24,27, 187 LudwigVI.281 &iartignac 525
Hl. Johannes Chrysostomus 44, 187 Landen (Belgien) 126
I{1. LudwigIX. 38, 45,80, 213, 309, Hl. Martin 48, 71, 233, 367, 626
Joinville, Iean de 45 Languedoc 40,349,447
J24,333,387f. Martin, Dr. F. 7O2
Jonas, Bischof von Orl6ans 54, 59 Lanoire, Maurice 583 f. t.udwigXII. 211,324 Marville (Meuse) 81,290, 349ff .,705
Hl. Joseph 103, 106, 134,59i Lanrivoi16 9O t.udwig XIII. 287, 296, 339 Mary Tudor 526
Jouarre 126f ., 129, 133, 195, 269, 302 Laon 130 l.udwig XIV. Massillon 529
287, 296, 339, 363
' 427 ,
Jouve, P.-.f. 475 Laplane, Robert 753 469, 516, 716 Massinger 422
Judas Makkabäus 149 La Reynie 432
Hl. Julian l.udwig XVL 492, 625 Mather, Increase 437
58 Lataille, Martine 361 Ludwig der Deutsche 69 Maturin, Charles Roberr 477
Jungmann 203,206 Lateinamerika 486 [-usarches 96 Maurras, Charles 392, 494, 650
La Tremoilles 685 Luther, Martin 587,6A6 Maximianus 37
Kalabrien 333 Hl. Laurentius 474, 478 I-uxembourg, Mar6chal de 494 Maxirnus Turinus 47
Kanada 763 La Valetta 307,346, 411, $A
[,uxemburg 349 Medici 304, 337,37A
Kardec, Allan 583f. Lazare 673
Lyon 208, 385 Medici, Guiliano de 476
Karl IL von England 458 Lazarus 28, 170, 318f., 330 Medici, Maria von 270
Karl V. von Spanien 290, 332,334,427 Lebeuf, Abb6 262 Madrid 464 Mege, Bernard 319
KarlVL 104 Dom Leclercq 47 Maeterlinck, Maurice 231 M6haign6, König 13, 23
Karl X. 525 Lefebre, Nicolas 361
Magnin, F. 692 Meiss, Millard 161
Karl der Große 24, 27f.,71,97, 181, Le Maistre, Pierre 286
de Mahault, Laure 107 M6lisande 731 tf ., 735, 746, 751, 759
184f., 188, t9t, t9s, r99,202,209 Le Mans 56
Mailand 470 Mellebaude, Abt 55,271
Karl der Kühne 7Ol Lenoir-Dufresne, M. 676
Hl. Karl Mainz 63f., 511 Mellini, Pietro 217
Borromäus J07 Leo III., Papst 203
Mäle, Emile 129, 145, 1,50" 309-312, Memling, Hans 175
Karman 453, 459 L6opold 673 423 Menescardi 471
Karthago 49, 65 Leroy, Eugöne 683 Malhter 453 Mercier, S6bastien 470, 632
Kastenmayer. Ulrich, Bürgermeister Lestocquoy, l. 127, 247 f.
von Straubing 313 Malta 289, 346,487 M6ry-sur-Oise 689f., 692, 697, 699,
Lesteur 477 Man{red, Sohn Kaiser Friedrichs II. 707
Katalonien 78,301, 487 Leszczynski, Stanislas 701
59 Meslier 443
Hl. Katharina von Siena 33O, 475f . Levine, S. 753 Manlius 121 Metz 247, 320, 329
Klagenfurt 525 Lewis 563
Konstantin 71 Manuel, Nicklaus 472 Mexiko 419, 494,597
Lille 700
Marat, Jean P^ri 494,7o0 Hl. Michael 52, 130, 135, 139, 147,
Konstantinopel 44 Limoges 1C3, 353
Kopenhagen 525 Marcel, Bischof 50 320
Limoux 319 Marcel, Gabriel 584 Michael, Erzengel 130
Korinth 36 Lincoln, Abraham ll8, 577, 7O4
Marcoussis 148 Michael, Fürst 132
Korsika 666 f. Lincolnshire 1 19 Maret, M. 611 Michault, Pierre 144, 752f ., 159, 161
Kriss-Rettenbe ck, Lenz 3 67 I. Linton, Edgar 554 f ., 564, 672
Marguerite von Navarra J96 Michelangelo 337, 167
Kübler-Ross, Elisabeth 734, 754, 759 Lisieux 220 Maria II. 219 Michelet, Jules 141, 594f.
Loix-en-R6 687 Maria Christina, Erzherzogrn 444 Mignet, Historiker 493
Laborie, Lanzac de 659 Lombardo, Tullo 313 Maria Magdalena 33O, 420 Miguel, M. e91
Labre, Benoit 608 Lonati, Bernardo, Kardinal 217 Maria Theresia 428 f . Minot-en-Chätillonais 54, 705, 7O9 f .
Lacordaire 525 London 338, 422, 429, 434, 471, 492f., Marie-Madeleine 55 Mirabeau, Octave 494
L{{itte 692-697 586, 681, 688,749 Marke, König 61 Mirabeau-Tonneat 494
La Fayette, Madame de 781 Longport 250,325
La Fontaine, Jean de 13,78,26,398, Marle, Anne de 285 f. Mirford, Iessica 764f ., 769
Lorenzetti 161 Marlowe, Christopher 491 Misnie 606
650 Lothringen 146 Marmontel 448 Modena 611
Lagrange, Kardinal 145 Lothringen, Herzog von 701
Marosini, Doge 338 Moissac 125, 17A,263

830
831
Mol6, Gräfin 597 Napoleon I. 367,704 Le Page, Claude 361 Pichat, P. 753
Mol6, Jean 414, 632, 636 Napoleon IIL 701 Palästina 636 Pierre d'Ailly, Bischof von Cambrai
Mol6, Mathieu 509,625ff .,632,636 Narbonne 15, 17, 19 Palermo 489,54A,635 145
{
Molenaer, J. 420 Navarra 429 Panofsky, Erwin 145, 176,262,342, Pierre von Cluny, Abt 16
Mol6on 208 Naviers, P. T. 611 306, 309-313, )2A, fi6f .,42t Pilat, Vater (:
Priester) 54f
Moliöre 177, 383, 467, 640 Neapel 81, 304, 337 f ., 429, 442, 469, Pantagruel 80 Pincus, Lily 31, 743, 76J
Hl. Monika 39, 190, 195 485, 528, 54A,592 Paracelsus 453,496 Piranesi, Giambattista 443
Montaigne, Michel de 123 Neapolis 49 Par6, Ambroise 605 Pirenne, Henri 162
Montal 533 Necker, Jacques 492, 648 Paris 37, 49-52, 70[., 7 3, 77, 91, 93 f., Pisa 143f., 153, 161, 337, 531
Montalembert 525,5JJ Nesson, Pierre de 154 96, 101 f., 104, 106, 109f ., 142, 145, Piancy, Nicholas de 359
Montapalach 447f. Neu-England 422, 434f., 437, 447, 211, 215,223f.,233, 236,241, 243, Plato 383
Montefeltre, Federico de 276 666, 668 26e t.,28Aff.,285 f..324, 344 f.,347, Plinius 451, 457
Montespan, Madame de 30 Neuvillette-en-Charnie 325 350, 361, 363, 393, 407 f ., 411, 413 f ., Poissy 348
Montesquieu, Charles de Secondat Newhaven 668 429, 431 f ., 446, 462, 465, 485, 492, Poitier, L6on, Herzog von Gesvres,
498 New York 447f.,49O,583, 681, 748, 512, 534,538, 541, 591, 608, 610, Pair von Frankreich 288
Montfaucon 61 766 612-61 5 , 619 , 621 , 62.7 , 632 fL , 636 , Poitiers 49, 55, 183, 271,3O1
Montferrand (Aube) 349 Nicopolis 105 641 f ., 644, 653, 662, 679, 688-692, Poitou 590
Montfort 96 Hl. Nikolaus 118, 130,371 69+-697 , 702ff., 7A7 f.., 722, 748 Polidori 496
Montfort-l'Ama:ury 75 Nikolaus II., Papst 67 Parkers, Collin Murray 743 Poliziano 476
Monthiers, Pierre du 362 Niort 170, 685 Parson, englischer Jesuit 400 Pont-ä-Mousson 292
Monticelle (Virginia) 666 Nizza 686 Pascal, Blaise 34 Pontoise 357,3601f.
Montmirail,
Jean de 325 Noä, Marquise de 417 Pasteur, Louis 457 Por6e, Abb6 609,623
Montmorency 611 Nördlingen 288 PaulVI. 127,131f.,799 Pot, Philippe 241
Montmorency, Familie 281, 284 Nohan 668 Paulina 475 Potocki, Jan 60, 483, 496f., 500
Montorio 666 Normandie 241,546 Paulus, Rechtsgelehrter 44 Pouget 19
Montpellier 463, 612 Notker 2l Hl. Paulus 36, 48, 186 Poussin, Nicolas 427, 477, 7lO
Montreuil 104, 213, 229, 232, 244, 358 Noyers 231 f. Paulus Diaconus 36 Prag 351, 433
Moreau, H6g6sippe 495 Noyon 703 Peabody, Oliver 573 Praz, Mario 475,563
Morholt 188 Ntekida, J. 190 P6dauque, Königin 112 Pr6vost, Abh6 463,475
Morin, Edgar 773 Nymphius 272 P6guy 650 Prometheus 495,498f.
Morrison, R. S. 751 Pelissane 392 Provence 218, 591
Moses 127 Oberkirch 289 Penvenan 79 Provins 29A,320, 495
Moulins, Pierre de 316 Odessa 530 Pepys, Samuel 335 Prudentius 305
Mount Auburn 679-692, 688 Odilon von Cluny 142,2O5 Perceval 23 Puget, Etienne 370
Mount Vernon 666 Odysseus 25, 401 Perthuis 392 Puteaux 233,357
Moustier-en-Brie 356 f . Ohio s70 Petersburg 525,527
München 511 Olivier, Gefährte Rolands 27, 29, 35, Petrarca 1 66 de Quatrelivres, Geneviäve 108
Mulot, Abb6 o++ 37, 98, 184, 188 Hl. Petrus, Apostel 127,33a,7o5 Quiberon 702 f.
Multon 118 Hl. Omer 269 Petrus Christus 175 Quicherat 211
de Mun, Adrien 538f. Optatus von Mileve 206 Philadelphia 175 Don Quichotte 18
de Mun, Albert 539 Orl6ans 99, 111, 508 Philipp, König von Frankreich 590 Quinlan, Karen Ann 75O,76A
Muret, Pierre 446 Orl6ans, Elisabeth von 413, 463,509 PhilippIL, König von Spanien 290, Quos, Roger de 360
Murillo, Bartolom6 Esteban 478 Orl6ans, Familie 688 327, 427
Muzac 372 Orl6ans, Gaston von 413, 463 Philipp der Kühne 322, 333 Rabelais, Frangois 93
Orl6ans, F{erzog von, Sohn Ludwigs Philipp der Schöne 93 Racine, Jean Baptiste 559
Nancy I 46, 345, 347 , 427, 701 xlv. 363, 495 Philippe de Valois 76 Hl. Radegundi s 36, 172f.
Nantes 63f., 90, 1O7, 149, 404, 448, Ostende 541 Picardie 18, 416, 506 Ragnachilde 1 12
666 Ovid 35 Picasso, Pablo 172 Raigecourt, Marquis de 540

832 833
Ramalzini 612 Rousseau, Jean-Jacques 522, 650 Saum, Lewis O. 568f., 57lf .,579 Strauss, A. L. 734,751
de Ranc6, Abb6 439 Rousset, Jean 438, 473ff., 480 Saunders, James 7?-9 Stuart Philips, Elizabeth 576,578
Ranconnet-Nicot Zj Rubens, Peter Paul 149,205,417 Sauval 56, 74,76,281,283, 505 Sudnow, D. 752
Randulph, Bischof 319 Rußland 31,34, 40, S2B,721 Sauvigny, Comtesse de 463 Südamerika 428
Ranum, O. 432 Savelli, Paolo 338 Suger 129
Raphael 467 Sablez, Jean 231 Savonarola 140, 146, 422 Suso, Mystiker 166
Ratisbonne 538 ff. Sachsen, Marschall von j38,429 Scaliger 454
Raum6 143 Sade, Marquis de 449f., 4691., 475, Schmitt, J.-Cl. 316 Tamburlaine 491
Ravaillac, Frangois 22 482-48s, 498ff., 503 Schottland 751 Tarragona 306
Ravenna 309,313,327 Saint-Alban, M. de 484 Scotch, N. A. 753 Taur 1O7,233
Reed, Mrs. 575 Saint-Andri-des-Arts 29-] Scud6ry 480 Tauras, Marquis de 494
Rignier, Jean 100, 244,255 Saint-Antonin 447 FIl. Sebastian lO4, 162,238, 474 Taverny 281,284-
Reichenau 206 Saint-Didier 105 Sec, Joseph 665f.,493 Taylor 384. 390'
Reims 49, 65, f54 Saint-Eustache 41 1 Sedan 701 f. Tebessa I 90
Remarque, Erich Maria 728 Saint-Germain-l'Auxerrois 61 8 S6guier, Kanzler in Saint-Eustache Tenenti, Alberto 139f., 166f{., 21,1,
Rembrandt 422 Saint-Germain-en-Laye 509 411 275, 395,398, 401
R6musat 702 Saint-Gilles 164 Seigneur, Marie 362 Terranova, Herzog von 464
Rennes 477 Saint-Guilhem-du-D6sert 3 19 Seigneur, Martin 362 Tertullian 46,790,453
Renou 637 Saint-Hilaire-de-l'Aude 269, 3t9, 705 S6lestat 85 Hl. Th6odechilde 269f .
Rheinland 205 Saint-Jean-en-Gröve 323, Seneca 387, 454 Theodor, Mönch 195
61 8
Ribes, Pater 726 Saint-Junien 550 Serapion 38 Theodosius 36
Richard, König von England 590 Saint-Malo 524,665 Seurin, Bischof 50 Theodulf, Bischof von Orlöans 65
Richardson, D. S., Reverend 678 Saint-Maximin 55 Shakespeare, Villiam 539 Hl. Theresa 220
Richelet, P.-C. 73, 84, 265 Saint-Merri 618 Shelley, Mary 198 Hl. Theresa von Lisieux 583
Richet, Charles 584 Saint-Savin 97 Shelley, Percy Bysshe 496,682 Hl. Theresia 476, 481
Riley, J. V. 761 Saint-Sernin 269,319 Silvester II. 605 Thionville 289
Rinaldi, Angelo 666 Saint-S6verin 281 Hl. Simon Stock 392, 591 Hl. Thomas von Aquin 393, 589
Robert d'Artois l 24 Saint-Simon 30, 427 f ., 487 f . Simon, P.-H. 32 Hl. Thomas von Canrerbury 446
Robinet 692 f. Saint-Simon, Herzog von 414, 464, Sizilien 59, 416, 464, 534, 54A Thomassin, L., Kanoniker 21,67f.
Rochester, Edward Fairlax 579f . 466 Slevin, irischer Priester 542 Thouret 634t.,654
Hl. Rochus 238 Saint-Sulpice 505,610 Sodoma 475f. Tipasa 49
Roemer, M. 755t. Sainte-Beuve 538 Soissons 358 da Todi, Giacopone 142
Rohalt 33 Sallust 2/2 Sokrates 398,731 Toledo 50
Roland 13, 24 f ., 27 {.,
35, 37, 39, 70f ., Salomon 196 Solschenizyn, Alexander 27 Tolstoi, Leo 13, 78, 33, 42,398, 506,
80, 97 f., 127 f., 181f., 184, 186, 188, Salon ll5 Souillac 262 f. 717-720,728t., 731, 733, 735, 761
196, 209, 243,274, 398 Salutati, Florentiner Kanzler 2lA, 394, Spanien 48, 94, 146, 187, 2O9, 273, Toskana, Großherzog von 469
Rollin, Kanzler 327, 329 398 216, 220, 262, 302f. , 3 1 0, 3 1 s, 340, Tosker, §(illiam 433
Rom 48, 81, 217, 22O, 239, 297, 305, Salviati 166 416, 427 , 487 , 677 , 734 Tcrulouse 15, 40, 49f., 96, 99, 102,
307, 309, 313, 326 f ., 331, 339, 369, Sanchuniathon 496 Spoleto 17 107f., 1 10, 712, 174, 233, 269, 272,
419, 430,440441, 459, 476,489fi., Sand, George 668 Sponde, Henri de, Bischof 4O44O7, 281, 304, 32t f ., 331, 347 f ., 363, 417,
525, 527f.,538, 540, 587, 591, 609, di Sangro, Prinz Raimondo 469, 485, 410,449,647,6J5 4s9, 483f., 488f., 507, 593, 625,
635, 676, 682, 687, 7C5, 712 657 de StaäI, Madame 492 627ff.
Roncevaux l8l, 188,274 San Salvarore del Monte 294 Stannard, D. E. 679,764 La Tour d'Auvergne 495
Ronsard 156,728 Sapori 247 Hl. Stephanus 36 Tournai 126
Roosevelt, Franklin D. 704 Saragossa 6O Sterling, Charles 171 Totrrs 15, 50, 70f.
Rosa, Salvator 428 Sardinien 41 6 Stone, L. 462 Trrbur 63,70,97
Rouen 64, 75, 79, 82, gB, 92, 205, 2OB, Sartre, Jean P^ul 425, 729 Stradanus 151 Trient 101, 4O7,4O9
334 Saulieu 612 Straßburg 324,338,429 Trier 205

834 835
T
Tristan 13, 15, 24, 29, 33, 62, 188, 734 Hl. Vincent 48, 54
Trivulzio 483 Hl. Vincent Ferrier 166
Tunis 333 Hl. Vincent von Saragossa 50
Turenne 495 Virginia 434f .,666
Turpin, Erzbischof von Reims 24f., Vivarais 208
28,37,70, 181 Viviers 432
Twain, Mark 511, 574,579,719,742 Voltaire 526
Vovelle, Michel 230, 235, 242, 248,
Ungarn 2l 253, 258, 392, 414, 426, 493, 591,
Urban II. 98 597, 665, 695,781
Urbino 276
d'Urre d'Aubais, Maurice 492
\X/zles 746
Hl. Vaast, Bischof von Arras 51 §üashington 339, 666, 7A4
Va[-de-Gräce 495 Vashington, George 666, 704
Valentinus, Bernhardus 605 van §Tassenaer, J., Admiral 337
Valet, Marie 343 \i7augh, Evelyn 764
Valis 304, 3J6,37O, 426f. lWeimar 511
Yatchez, A.249 §flestminster, Abtei 336
Vauvert 83,343,345 riüien 421 ff., 427f., 477,597f.,764
Vauzelles, .lean de 185f., 389f. Hl. \ü/ilhelm 354
Vend6e 525 VilhelmIII.2l9
Venedig 749, 3o2f., 338, 348, 473, Vilhelm der Eroberer 334
531 f. Vilhelm der Schweiger 336f.
'§flislaw 506,512
Verd, Philippe de 324
Verd, Ulrich de 324 de Vitte, E. 67
Vergil 35, 38 lü/itzler, G.734
Verona 532
Verrochio, Andrea del 338 Yale 422
Versailles 339, 427, 429, 449
York 299
Veyne, Paul 247 f ., 261, 712 Yorkshire 119,551
Vico 693 Yver, Kanoniker 145, 324
Vicq d'Azyr 30,512,611f .
Vieillard, Nicolas 358
Vieillard, Pierre 358 Zacchia, Paul 451, 458ff., 477, 484,
Vienne 48, 52,54,86 486
Villon, Frangois 61, 156, 159,255f., Zene, J. 420
267, 275 Zonabend, F. 54,705*708, TlAf.

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