Sie sind auf Seite 1von 467

FRANZ VON SSALES

VON ALES – AUSGEWÄHL


AUSGEWÄHL TE PREDIG
USGEWÄHLTE TEN
PREDIGTEN

1
Deutsche Ausgabe der

WERKE DES HL. FRANZ VON SSALES


VON ALES

Band 9

Nach der vollständigen Ausgabe der

OEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALES

der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)

herausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Sales

Begründet von P. Dr
Dr.. FFranz
ranz Reisinger OSFS.

2
Franz von Sales

A USGEWÄHLTE PREDIG
USGEWÄHLTE TEN
PREDIGTEN

F ranz-Sales-Verlag . Eichstätt 2002


ranz-Sales-V

3
Aus dem Französischen übertragen
von Anneliese Lubinsky und P. Anton Nobis OSFS.

© Franz-Sales-Verlag, Eichstätt 2002


2. Auflage
ISBN 3-7721-0061-9
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Brönner & Daentler, Eichstätt

4
VO RRW
W O RRT
T

Es muß auffallen, daß seit 200 Jahren keine deutsche Ausgabe von
Predigten des hl. Franz von Sales erschienen ist. Dadurch entsteht ein
einseitiges Bild des Wirkens und der geistlichen Lehre des Bischofs von
Genf. Durch die beiden Hauptwerke, die er verfaßt und selbst herausge-
geben hat, die „Anleitung zum frommen Leben“ und die „Abhandlung
über die Gottesliebe“, die auch am häufigsten ins Deutsche übersetzt
werden, hat er sich Rang und Namen als einer der bedeutendsten Leh-
rer der christlichen Spiritualität erworben; die geistlichen Briefe, von
denen es einen Teil in deutscher Übersetzung gab, sind Zeugnisse seiner
ausgedehnten persönlichen Seelenführung; die „Geistlichen Gespräche“
mit den Schwestern der Heimsuchung,ebenfalls öfter übersetzt, zeigen
Franz von Sales als Ordensgründer; – sein pastorales Wirken als Priester
oder Bischof für die Allgemeinheit der Gläubigen scheint jedoch in die-
sen Werken nicht auf, nimmt aber in seinem Leben, in seinem Denken
und Wirken einen hervorragenden Rang und Raum ein.
Inhalt und Form seiner Glaubensverkündigung und religiösen Unter-
weisung für die breite Öffentlichkeit sind neben der Katechese, die er
mehrere Jahre selbst gehalten und in seiner Diözese verpflichtend einge-
führt hat, vor allem in der Predigt zu suchen. Daher können in einer
deutsche Ausgabe, die nach der Absicht des Herausgebers das Wesent-
liche seiner Werke enthalten soll, die Predigten nicht übergangen wer-
den.
Aus zuverlässigen Quellen weiß man, daß Franz von Sales oft und
eindrucksvoll gepredigt hat, nach Ansicht seines eigenen Vaters schon
als Neupriester zu oft und zu einfach. Während seiner Missionstätigkeit
im Chablais war die Predigt das wichtigste Mittel in der Rückführung
des Volkes zum Glauben der Kirche. Als Bischof nahm er die Mahnung
des Konzils von Trient sehr ernst, daß die Predigt die vorzüglichste Pflicht
eines Bischofs ist; er predigte nicht nur regelmäßig an Sonn- und Feier-
tagen in seiner Kathedrale, sondern bei seinen Visitationen täglich ein-
mal und öfter in den Pfarreien und oft in Klöstern, besonders in der von

5
ihm gegründeten Heimsuchung. Dazu kamen große Advent- und Fasten-
zyklen in- und außerhalb seiner Diözese. Er hat selbst 1620 die Zahl
seiner Predigten auf 3000 bis 4000 in 28 Jahren geschätzt (OEA
XIX,321).
Obwohl die Annecy-Ausgabe seiner Werke zahlreiche bis dahin unbe-
kannte Predigten veröffentlicht hat, ist doch offenkundig, daß die in
vier Bänden erhaltenen Predigten nur ein geringer Bruchteil derer sein
können, die er in 30 Jahren tatsächlich gehalten hat.
Das mag es in etwa rechtfertigen, daß daraus für die deutsche Ausga-
be eine Auswahl getroffen wurde, die diesen 9. Band bildet und einen
Querschnitt der überlieferten Predigten des Heiligen zeigen soll. Sie folgt
der Planung, die P. Franz Reisinger, der Begründer dieser Ausgabe, schon
vor Jahren getroffen hatte. Er sah allerdings ursprünglich zwei Predigt-
bände vor, konnte aber seine Auswahl, nachdem er sich auf einen Band
festgelegt hatte, nicht mehr revidieren. Als sein Schüler und langjähriger
Mitarbeiter an der deutschen Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales
darf ich den Band mit den notwendigen Abweichungen von seiner Pla-
nung der Öffentlichkeit übergeben, hoffend, daß er den Intentionen des
bisherigen Herausgebers entspricht und das Bild des hl. Franz von Sales
durch eine wichtige Seite seines Wirkens und seiner Lehre ergänzt.

Eichstätt, 21. August 1976


P. Anton Nobis OSFS

6
Inhaltsübersicht
Vorwort 5
Zur Einführung 10

A. Autographe Predigten

2 29. 6. 1593 Zum Fest des hl. Petrus 16


8 1. 1. 1594 Zum Fest der Beschneidung des Herrn I 32
9 1. 1. 1594 Zum Fest der Beschneidung des Herrn II 34
10 6. 2. 1594 Zum Sonntag Septuagesima 35

Fastenpredigten 1594 in Annecy

12 E. 2. 1594 Einleitung 42
13 3. 3. 1594 Zum Donnerstag der 1. Fastenwoche 43
14 18. 3. 1594 Zum Freitag der 3. Fastenwoche 46
15 20. 3. 1594 Zum 4. Fastensonntag 50
17 12. 4. 1594 Zum Osterdienstag 52
18 3. 5. 1594 Zum Fest der Kreuzauffindung 56
27 5. 2. 1595 Zum Sonntag Quinquagesima 61
30 21. 5. 1595 Zum Fest der heiligsten Dreifaltigkeit 67
41 9. 2. 1597 Zum Sonntag Sexagesima 73
43 Juli 1597 Über die heilige Eucharistie I 77
44 Juli 1597 Über die heilige Eucharistie II 82
45 Juli 1597 Über die heilige Eucharistie III 92
50 11. 3. 1601 Zum 1. Fastensonntag 97
51 6. 4. 1601 Zum Freitag der 4. Fastenwoche 100
61 15. 8. 1602 Zum Fest der Aufnahme Marias 102

Fastenpredigten 1604 in Dijon

66 10. 3. 1604 Zum Mittwoch der 1. Fastenwoche 122


67 12. 3. 1604 Der Teich und der Kranke 123
68 15. 3. 1604 Zum Montag der 2. Fastenwoche 124
69 17. 3. 1604 Zum Mittwoch der 2. Fastenwoche 126
70 1604 Über die heilige Kommunion 127
71 12. 3. 1606 Zum Passionssonntag 128
72 24. 5. 1607 Zum Fest Christi Himmelfahrt 131
74 8. 12. 1608 Zum Fest der Unbefleckten Empfängnis 134

7
78 4. 3. 1609 Zum Aschermittwoch 136
80 20. 11. 1610 Zum 1. Adventssonntag I 142
82 27. 11. 1611 Zum 1. Adventssonntag II 143

Fastenpredigten in Chambéry

84 7. 3. 1612 Zum Aschermittwoch 145


86 2. 4. 1612 Zum Mittwoch der 4. Fastenwoche 151
87 6. 4. 1612 Zum Freitag der 4. Fastenwoche 155
88 20. 4. 1612 Zur Verehrung des heiligen Kreuzes 156
95 24. 12. 1613 Zur Weihnachtsvigil 158
96 19. 3. 1614 Zum Fest des hl. Josef 161
104 20. 3. 1615 Zum Freitag der 2. Fastenwoche 162
105 22. 3. 1615 Zum 3. Fastensonntag 164
106 10. 4. 1615 Zum Freitag nach dem Passionssonntag 165
110 Juli 1616 Paraphrase zu Psalm 125 166

Fastenpredigten in Grenoble

131 23. 2. 1617 Zum Donnerstag der 2. Fastenwoche 170


135 28. 2. 1617 Zum Dienstag der 3. Fastenwoche 172
136 1. 3. 1617 Zum Mittwoch der 3. Fastenwoche 175
137 2. 3. 1617 Zum Donnerstag der 3. Fastenwoche 177
141 8. 3. 1618 Am Donnerstag der 1. Fastenwoche 179
142 9. 3. 1618 Am Freitag der 1. Fastenwoche 183
143 11. 3. 1618 Am 2. Fastensonntag 186
144 12. 3. 1618 Am Montag der 2. Fastenwoche 187
145 13. 3. 1618 Am Dienstag der 2. Fastenwoche 189
147 15. 8. 1618 Zum Fest der Aufnahme Marias 192
154 19. 3. 1621 Zum Fest des hl. Josef 193
156 1. 5. 1621 Zum Fest der Heiligen Philippus und Jakobus
(5. Sonntag nach Ostern) 196
158 undatiert Zum Fest der Kreuzerhöhung 198

B. Gesammelte Predigten

1 24. 12. 1613 Zur Weihnachtsvigil 206


4 23. 2. 1614 Zum 2. Fastensonntag 216
7 22. 3. 1615 Zum 3. Fastensonntag 219
8 29. 3. 1615 Zum 4. Fastensonntag 223
9 5. 4. 1615 Zum Passionssonntag 228

8
10 12. 4. 1615 Zum Palmsonntag 234
11 6. 5. 1617 Zum Fest des hl. Johannes vor der
lateinischen Pforte 240
12 6. 6. 1617 Zur Einkleidung am Fest des hl. Claudius 248
15 1. 11. 1617 Zum Fest aller Heiligen 252
18 8. 6. 1618 Zur Profeß am Freitag der Pfingstoktav 263
19 2. 7. 1618 Zum Fest der Heimsuchung Mariä 269
21 15. 8. 1618 Zum Fest der Aufnahme Mariens 279
23 9. 10. 1618 Zu einer Einkleidung 290
26 21. 11. 1619 Zum Fest der Darstellung Marias 294
28 2. 2. 1620 Zum Fest Maria Reinigung 301
29 17. 4. 1620 Zum Karfreitag 313
30 21. 4. 1620 Zum Osterdienstag 328
32 7. 6. 1620 Zum Pfingstfest 346
33 28. 8. 1620 Zum Fest des hl. Augustinus 352
36 1. 11. 1620 Zum Fest aller Heiligen 365
43 17. 1. 1621 Zum 2. Sonntag nach Epiphanie 376
49 28. 8. 1621 Zum Fest des hl. Augustinus 389
51 1. 11. 1621 Zum Fest aller Heiligen 402
52 1. 1. 1622 Zum Fest der Beschneidung 413
56 17. 2. 1622 Zum Donnerstag der 1. Fastenwoche 427
59 27. 2. 1622 Zum 3. Fastensonntag 441
67 8. 12. 1622 Zum Fest der Unbefleckten Empfängnis 453
68 21. 12. 1622 Zum Fest des hl. Thomas 458
69 25. 12. 1622 Zum Weihnachtsfest 463

Namen- und Sachregister 467

9
Zur Einführung
Der Ruf des hl. Franz von Sales als großer Prediger reichte weit über die
Grenzen seines Bistums und seiner Heimat Savoyen hinaus. Wo immer er
predigte, drängten sich die Menschen unter seiner Kanzel selbst in Paris, wo er
auch mehrmals vor dem königlichen Hof zu predigen hatte. Man hat daher
mehrfach versucht, ihn mit der „klassischen“ französischen Predigt in Verbin-
dung zu bringen und ihn als unmittelbaren Vorläufer der großen Kanzelredner
dieser Periode zu bezeichnen, eines Bossuet, Fénelon und anderer. Diese Ein-
stufung wird der eigentlichen Bedeutung seiner Predigt kaum gerecht.
Das Breve seiner Ernennung zum Kirchenlehrer 1 nennt Franz von Sales ei-
nen „Erneuerer und Lehrer der Beredsamkeit“ und sagt, daß aus seiner Schule
jene bedeutenden Prediger hervorgingen, die überreiche Früchte über die gan-
ze Kirche verbreiteten. Sein Hauptverdienst sieht das Breve darin, daß durch
ihn „die Würde der heiligen Beredsamkeit, die durch die Unsitte der Zeit
verfallen war, nach dem Vorbild der heiligen Väter im alten Glanz wiederher-
gestellt wurde“ (p XX). Tatsächlich lag die katholische Predigt zu Beginn der
Wirksamkeit des hl. Franz von Sales sehr im Argen; sie war weitgehend huma-
nistisch verweltlicht und gekünstelt, lebensfremd und oft würdelos trivial. In
diesem Sinn darf Franz von Sales sicher zu den Wegbereitern einer heilsamen
Erneuerung der katholischen Predigt in Frankreich durch Lehre und Beispiel
gerechnet werden. 2
Formal und methodisch war er gewiß noch stark der Predigtweise seiner Zeit
verhaftet, doch nach Ziel und Inhalt war die Predigt für ihn von Anfang an ein
wesentliches Mittel der Verkündigung des Glaubens sowie der Erneuerung und
Vertiefung des christlichen Lebens. Gedrängt von seinem apostolischen Eifer
ergriff er bereitwillig jede Gelegenheit zu predigen. Er suchte nicht den Ruhm
des Kanzelredners, sondern einzig die Ehre Gottes und das Heil der Men-
schen, wie er selbst in der Einleitung einer Fastenpredigt in Chambéry feier-
lich beteuert. Daher predigte er vor einem Dutzend Zuhörer in Thonon mit
gleicher Hingabe wie in einer überfüllten Kathedrale, vor dem königlichen
Hof nicht lieber und nicht besser als vor den Schwestern der Heimsuchung.
Um seine Zuhörer anzusprechen, zu überzeugen und zu bewegen, bediente er
sich einer verständlichen Sprache und eines „affektiven“ Stils, den er auch
anderen Predigern und Schriftstellern nachdrücklich empfahl. Zusammen mit
der Ausstrahlung seiner würdevollen gütigen Persönlichkeit und dem zuneh-
menden Ruf der Heiligkeit begründete dies alles die außergewöhnliche Wir-
kung seiner Predigten.

1
„Dives in misericordia“ Breve Pius IX. vom 16. 11. 1877: lateinischer Text in:
OEA I, pp. XV-XXIII; Deutsch in: Jahrbuch 1977 für salesianische Studien
(Eichstätt 1977), S. 130-137; und: Salesianisch Leiten, hg. v. Internationalen
Komission für salesianische Studien, Eichstätt 2002, S. 39-47.
2
Wichtige Grundsätze der erneuerten Predigt in diesem Sinn enthält der
Brief an André Frémyot vom 5. 10. 1604: OEA XII,299-325 (DASal 12,29-
49). Vgl. dazu Manfred Tietz, die Predigt bei Saint François de Sales, in:
Jahrbuch 1973 für salesianische Studien (Eichstätt 1974), S. 19-84 – Zur
Predigtpraxis: M. Tietz, Literarische Untersuchungen zur Predigtpraxis bei
François de Sales, in Jahrbuch 1974 (Eichstätt 1975) S. 28-60.

10
I.

Franz von Sales hat selbst nur die Leichenrede auf den Herzog de Mercoeur
veröffentlicht; die Predigt zu Maria Himmelfahrt 1602 in Paris (Nr. A 61)
dieser Ausgabe) wurde ohne sein Wissen in einem Predigtwerk abgedruckt.
Nach seinem Tod erschienen erstmals 60 Predigten in den Oeuvres, die der
Commandeur de Sillery 1641 herausgab. Davon waren 27 autographe Predig-
ten, d. h. solche nach Manuskripten des Heiligen und 33 gesammelte, d. h.
mit- oder nachgeschriebene. Zwei Jahre später erschienen diese Predigten
getrennt, vermehrt um eine autographe (Nr. A 2) und zehn gesammelte, d. h.
mit- oder nachgeschriebene. Diese Ausgabe von 1643 blieb lange für die Wie-
dergabe und Übersetzung der Predigten maßgebend, 3 bis Blaise (1821) und
nach ihm Vivès (1856-58) in ihrer Gesamtausgabe der Werke des hl. Franz
von Sales die Predigten ohne Unterscheidung in autographe und gesammelte
nach dem Kirchenjahr anordneten; Migne (1860/61) hat außerdem die Spra-
che „modernisiert“ und fünf unveröffentlichte Predigten aufgenommen.
Die Annecy-Ausgabe enthält in vier Bänden 160 autographe Predigten, Frag-
mente, Zusammenfassungen und Entwürfe (Band VII und VIII) sowie 70 ge-
sammelte (und 2 nachträglich aufgefundene autographe) Predigten (Band IX
und X), beide Gruppen in chronologischer Ordnung.
Die auffallende Vermehrung vor allem der Autographen führte vorüberge-
hend sogar zum Zweifel an ihrer Echtheit, dies allerdings zu Unrecht. Franz
von Sales hat seine Predigten in der Regel nicht ohne schriftliche Vorberei-
tung gehalten, wenn auch die Zahl der vollständig ausgearbeiteten innerhalb
der Gesamtzahl relativ gering sein dürfte. Manchmal hat er seine Entwürfe auf
fliegende Blätter geschrieben, er hat aber auch Hefte mit solchen Vorberei-
tungen angelegt. Frau von Chantal schickte 1637 dem Commandeur de Sillery
mit den Manuskripten der 27 veröffentlichten Predigten „15 weitere kleine
Hefte, geschrieben von der gesegneten Hand“ des Heiligen. Sie enthielten
„Gedanken der Predigten in Kurzform; da ist nur der Anfang ausgeführt, das
Folgende durch Punkte“.4 Durch den Tod des Herausgebers unmittelbar nach
Drucklegung der Ausgabe 1641 dürften weder die Manuskripte der veröffent-
lichten Predigten noch diese Hefte zurückgegeben worden sein (Frau von
Chantal starb fern von Annecy im gleichen Jahr); Abschriften waren aber
nicht angefertigt worden.

3
Vgl. Des hl. Franciscus von Sales, Bischofs zu Genf, sämmtliche und ächte
Reden auf alle Festtage des Jahres, auf die Fasten und das Advent. Aus dem
Französischen übersetzt von P. Vital Mösl, Benediktiner von St. Peter in
Salzburg. Salzburg, gedruckt und zu finden bey Johann Joseph Mayrs sel.
Erbin 1777 (4 Bände).
4
Sainte Jeanne-Françoise Frèmyot de Chantal, sa vie et ses Oeuvres (Paris
1879), Bd VII, Brief Nr. 1476.

11
Seit dem Erscheinen der „Anleitung“ wurde Franz von Sales von verschiede-
nen Seiten gedrängt, weitere Schriften dieser Art herauszugeben. Das hatte er
tatsächlich bis zu seinem Lebensende vor 5 und er hat von da an systematisch
Material gesammelt, auch in großformatigen Heften und Predigtentwürfen.
Sein Neffe Charles-Auguste de Sales hat im Zusammenhang mit der Heilig-
sprechung seines Onkels freigiebig dessen Manuskripte verschenkt; ein kleines
Paket kam durch Mère Chaugy nach Turin und blieb dort bis 1867 ungeöffnet.
Es enthielt Reste eines dieser Hefte: 58 von ursprünglich mindestens 350
Blättern, die auf der Vorder- und Rückseite beschrieben sind. Ein zweites
Heft gleichen Umfangs ist ebenso unauffindbar wie die fehlenden Blätter des
Heftes von Turin.

II.

Das in den vier Bänden der Annecy-Ausgabe gebotene Material läßt sowohl
die Arbeitsweise des hl. Franz von Sales bei der Vorbereitung seiner Predigten
aus den Autographen erkennen als auch seine Predigtweise aus den gesammel-
ten Predigten.
Die zwei Bände mit den Autographen enthalten zahlreiche vollständig aus-
gearbeitete Predigten oder Fragmente davon, uzw. nicht nur aus den ersten
Jahren, wenn auch ihre Zahl später zurückgeht. Bei den Entwürfen ist viel-
fach die Einleitung ausgearbeitet 6 und eine mehr oder weniger ausführliche
Disposition gegeben, wie es Frau von Chantal von den „kleinen Heften“ be-
schrieben hat. Dazu werden die Schriftstellen angegeben, Zitate von Kirchen-
vätern und gelegentlich von profanen Autoren, meist aus der Antike, sowie
Beispiele. Vielfach genügte ihm ein Stichwort, besonders für die „similitudines“,
die Bilder und Vergleiche aus der „Naturgeschichte“ des Plinius; davon hatte
er eigene Sammlungen angelegt (s. OEA XXVI,100-164). Die Entwürfe im
Heft von Turin sind aus dem angegebenen Grund (als Materialsammlung) ziem-
lich ausführlich.
Diese Texte sind in der Regel lateinisch wiedergegeben, wie in den zeitgenös-
sischen Predigthilfen, deren Franz von Sales sich bediente. Im Heft von Turin
sind ganze Entwürfe lateinisch geschrieben, abgesehen von einzelnen franzö-
sischen Ausdrücken oder Sätzen. Aber auch in den ausgearbeiteten Predigten
der ersten Zeit sind die Texte der Heiligen Schrift (nach der Vulgata) durch-
wegs lateinisch zitiert. Im Vortrag der Predigt dagegen verwendete Franz von

5
Vgl. u. a. E. J. Lajeunie, Franz von Sales, Leben, Lehre, Werk. Übersetzt
von P. Johannes Ehle OSFS, (Eichstätt und Wien 1975), S. 579. – Am 16.
8. 1620 schrieb Franz von Sales an P. Antoniotii SJ, der die Introduction ins
Italienische übersetzt hat: „Ich hätte viel zu schreiben über die Nächstenlie-
be und über Dinge, die ich in 3000 oder 4000 Predigten, die ich in 28
Jahren hielt, gepredigt habe, die zu veröffentlichen nach der Ansicht vieler
nützlich wäre ... Es ist aber unmöglich, sie unter der Last des Hirtenamtes
für den Druck zu schreiben“ (OEA XIX,321f).
6
Vgl. die fünf verschiedenen Fassungen für die Predigt zum Aschermittwoch
1612 in Chambéry (Nr A 84).

12
Sales das Latein äußerst sparsam, wie die gesammelten Predigten zeigen. 7 Der
damaligen Gepflogenheit entsprechend wurde die Schriftstelle des „Vor-
spruchs“ lateinisch zitiert und sogleich in der Übersetzung wiederholt. Darü-
ber hinaus bot Franz von Sales gelegentlich sehr bekannte oder geläufige Stel-
len aus der Liturgie, meist anschließend in (oft interpretierend freier) Über-
setzung. Für die Predigtweise aufschlußreich ist ein Vergleich zwischen
autographem Entwurf und nachgeschriebener Predigt; er ist nach dem vorlie-
genden Material nur vereinzelt möglich, so bei der Predigt zur Wehnachtsvigil
1613 (Nr. A 95 u. B 1), zum 3. Fastensonntag 1615 (Nr. A 105 und B 7) und
zum Fest der Aufnahme Mariens 1618 (Nr. A 147 u B 21; vgl. aber Anm. 1 zu
A 147). Darin wie in den übrigen gesammelten Predigten wird erkennbar, daß
Franz von Sales gern der Eingebung des Augenblicks folgt, einen Punkt so
breit ausführt, daß er den letzten nicht mehr behandeln kann, ja sogar die
Disposition während des Vortrags ändert (Nr. B 49), daß er mehrfach den
Schluß ankündigt und dann immer noch einen Gedanken hinzufügt. Insge-
samt entsteht der Eindruck einer lebendigen, recht persönlichen Predigtweise.

III.

Die in diesem Band der deutschen Ausgabe gebotene Auswahl folgt der
Annecy-Ausgabe mit der Unterscheidung in (A) autographe und (B) gesam-
melte Predigten sowie mit der chronischen Abfolge in beiden Gruppen. Auf
diese Weise ergibt sich einerseits ein Querschnitt der Predigten des hl. Franz
von Sales nach ihrer Art und Thematik, andererseits die Möglichkeit, durch
den Vergleich von Predigten aus verschiedenen Jahren eine Entwicklung sei-
ner Predigtweise festzustellen. In den Jahren bis zur Bischofsweihe (1602)
überwiegt die doktrinäre Predigt mit der Darlegung, Begründung und Vertei-
digung der katholischen Lehre, besonders ausgeprägt in den Jahren seines
Wirkens im Chablais (1594-1598). Die Predigten des Bischofs haben zuneh-
mend einen väterlichen Zug und seit dem Erscheinen der „Anleitung“ (1608/
09) immer mehr das christliche Leben zum Inhalt.
Dies zeigt sich auch in der Art, wie er die heilige Schrift verwendet. Sie dient
ihm häufig nicht als eine Begründung der vorgetragenen Lehre, sondern als
Beispiel in ähnlicher Funktion wie Erzählungen aus Heiligenleben oder Ver-
gleiche aus der Natur. Außerdem werden die Schrifttexte vielfach nicht ihrem
Wortsinn verwendet, sondern nach der damals verbreiteten vierfachen Schrift-
auslegung im übertragenen Sinn; das gilt vor allem für das von ihm sehr oft
zitierte Hohelied.

7
Die früheste stammt allerdings vom 24. 12. 1613, also aus einer Zeit, da
Franz von Sales bereits 20 Jahre predigte. Die ausgearbeitete Predigt zu
Maria Himmelfahrt 1602 enthält vergleichsweise mehr lateinische Zitate,
wohl mit Rücksicht auf den gehobenen Zuhörerkreis in Paris.

13
Die Auswahl kann auch deutlich machen, daß einerseits bestimmte Themen
in verschiedenen Formen und Zusammenhängen oft wiederkehren, so die
Menschwerdung, die Eucharistie, das Kreuz, die Gnade, die Tugenden, das
Gebet, Maria; andererseits behandeln Predigten zum gleichen Anlaß verschie-
dene Themen und Varianten eines Themas. Unter diesem Gesichtspunkt lohnt
sich ein Vergleich der Predigten zum Fest der Beschneidung 1594 und 1622
(Nr A 8, 9 u. B 52), zum Aschermittwoch 1609 und 1612 (Nr. A 78 u. 84),
zum Donnerstag der 1. Fastenwoche 1594, 1618 und 1622 (Nr. A 13, 141 u.
B 56), zu Maria Himmelfahrt 1602 und 1618 (Nr. A 61, 147 u. B 21), zur
Unbefleckten Empfängnis 1608 und 1622 (Nr. A 74 u. B 67) der drei
Allerheiligenpredigten 1617, 1620 und 1621 (Nr. B 15, 36, 51) und anderer.
Da für wissenschaftliche Studien die Predigten des hl. Franz von Sales der
Rückgriff auf die französische Ausgabe unerläßlich ist, wurde hier auf den
umfangreichen „Apparat“ der Annecy-Ausgabe weitgehend verzichtet, um das
Lesen des Textes zu erleichtern. Die Annecy-Ausgabe gibt ausführlich Re-
chenschaft über die Arbeitsweise der Redaktion, über die Herkunft der Texte,
die Datierung der Predigten und ähnliches. Darauf wie auf der Einleitung der
einzelnen Bände beruht diese Einführung wie auf die wenigen Anmerkungen
und die folgenden Angaben:
In der Zeile nach der Überschrift der Predigt, die übernommen wurde, sind
angegeben: die Nummer der Predigt in der Annecy-Ausgabe, das Datum und
womöglich der Ort der Predigt sowie rechts außen der Band und die Seiten-
zahlen in der Annecy-Ausgabe.
Beibehalten wurden Bezeichnungen von liturgischen Tagen, die inzwischen
geändert sind oder nicht mehr gelten, z. B. Fest der Beschneidung,
Quinquagesima u. ä.
Verzichtet wurde im allgemeinen auf den Nachweis der Zitate von Kirchen-
vätern, geistlichen und profanen Autoren, soweit sie nicht in den Entwürfen
vom Heiligen selbst angegeben sind, oder als Beispiele. Die Stellen der Heili-
gen Schrift sind in Klammern im Text angegeben, der ohne Anführungszeichen
durch Kursivdruck hervorgehoben ist; dadurch werden die Häufigkeit und die
Art der Schriftzitation durch den Prediger sichtbar.
Ein Namen- und Sachregister am Schluß des Bandes soll das Auffinden von
Themen erleichtern; es wird zugleich die oftmalige Wiederkehr bestimmter
Namen und Gedanken auf einen Blick zeigen.

14
A. Autographe Predigten

Seine erste Predigt hielt Franz von Sales als Subdiakon am 24. Juni 1593, dem
Oktavtag von Fronleichnam; sie ist nicht überliefert. Die an erster Stelle der
Annecy-Ausgabe (VII,1-30) wiedergegebene Pfingstpredigt hat er wohl geschrie-
ben, aber nicht gehalten. Die hier als erste angeführte Predigt zum Fest des hl.
Petrus (Nr. A 2) wurde von der Annecy-Ausgabe den Predigten von 1643 ent-
nommen.
Von den Predigten im Chablais werden hier nur vier Beispiele angeführt, weite-
re sind in Band 10 (Kontroversschriften I) veröffentlicht. Eine deutliche Lücke
bilden die Jahre 1598-1600 infolge einer langen Krankheit des Heiligen, seiner
Romreise und der langwierigen Verhandlungen über die kirchliche Reorganisation
des Chablais (vgl. dazu Band 8 dieser Ausgabe, S. 49ff). Auch von den zahlrei-
chen Predigten in Paris 1618/19 findet sich keine Spur, ebenso nicht von den
Predigten bei der Visitation der Pfarreien.
Die ersten Fastenpredigten außerhalb seiner Diözese hielt der Bischof 1604 in
Dijon; was davon erhalten ist (Nr. A 66-70) wird hier wiedergegeben. Von den
Fastenpredigten 1617 in Grenoble, deren Entwürfe die Annecy-Ausgabe fast voll-
ständig enthält, wurden vier Entwürfe aufgenommen; von den Fastenpredigten
1618, ebenfalls in Grenoble, was davon überliefert ist.
Die letzte der datierten autographen Predigten ist vom 1. 5. 1622; nach ihr
wird noch die undatierte Predigt (Nr. A 158) zum Fest der Kreuzerhöhung wie-
dergegeben.

15
Zum Fest des hl. Petrus

Nr. 2: Annecy, 29. Juni 1593 VII,31-54

Du bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich


meine Kirche bauen (Mt 16,18).

Meine lieben Zuhörer, in der vergangenen Woche habe ich euch von
dieser Kanzel Brot gereicht mit den Worte: „Das ist das Brot, das vom
Himmel herabgekommen ist.* Es könnte manchen befremden, daß ich
euch heute hier einen Stein reiche mit den Worten: Du bist Petrus, und
auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen. Trotzdem versprach ich
euch, als ich euch zu dieser Predigt einlud, eine ähnliche geistliche
Nahrung wie jene, die ich euch damals bot. Nein, ich täusche mich
nicht, denn ich reiche euch diesen Stein nach dem allmächtigen Wort
Unseres Herrn; das gibt uns die Gewißheit, daß dieser Stein uns alle
nähren wird: Petrus, liebst du mich? Herr, du weiß, daß ich dich liebe.
Weide meine Schafe (Joh 21,17).
Wenden wir uns an unsere glorreiche Herrin, die heilige Jungfrau;
bitten wir sie, daß sie zu ihrem göttlichen Sohn sage, nicht um ihn zu
versuchen, sondern um ihn zu verherrlichen: Sag, daß dieser Stein zu
Brot werde (Mt 4,3). Seid überzeugt, wie Unser Herr euch in der ver-
gangenen Woche gespeist hat mit dem Mark des Weizens, wird er euch
jetzt sättigen mit Honig aus dem Felsen (Ps 81,17). Dazu erbitten wir
den Beistand der heiligen Jungfrau und sagen: Ave Maria.
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: als du jünger warst, hast du dich
selbst gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber älter
bist, wirst du deine Hände ausbreiten und ein anderer wird dich gürten
und dich führen, wohin du nicht willst (Joh 21,18). Alles hat seine Zeit:
eine Zeit, geboren zu werden, und eine Zeit zu sterben (Koh 4,1f), sagt
die Heilige Schrift. Das veranlaßt mich, unsere Mutter, die heilige
Kirche zu bewundern, die nicht ohne Grund angeordnet hat, daß man
während der Oktav von so großer Freude, wie die der Geburt des hl.
Johannes ist, das glorreiche Gedächtnis des Martyriums des hl. Petrus
feiert, des großen Lenkers der streitenden Kirche. Wenn die Heilige
Schrift (Sir 22,6) sagt, Musik während der Trauer ist wie ein Geschwätz
zur Unzeit, und wenn es eine Zeit zu sterben und eine Zeit, geboren zu

* Über dieses Thema hatte Franz von Sales am 24. Juni 1593, dem Oktavtag von
Fronleichnam, seine erste Predigt gehalten, deren Text nicht überliefert ist.

16
werden, gibt, warum hat man dann in der gleichen Oktav den Tod des
hl. Petrus mit der Geburt des hl. Johannes vereinigt? Es wäre gewiß
ganz leicht, eine Antwort auf diesen Einwand zu finden und diese Be-
wunderung zu rechtfertigen. Aber vielleicht sagt ihr mir, die Kirche
halte jene nicht für tot, die als Märtyrer sterben, sondern für lebendig.
Da sie in ein besseres Leben eingehen, habe man allen Grund, sich
über ihren Tod zu freuen; da ihre Geburt von der Sünde begleitet ist,
bringe sie ihnen Leid, ihr Tod aber führe sie zur Herrlichkeit, deshalb
feiere man ihre Geburt an ihrem Todestag.
Wenn aber die Geburt der Heiligen armselig ist und ihr Tod glor-
reich, warum gibt man dann einer glorreichen Sache wie dem Tod den
beklagenswerten Namen Geburt? Ich finde soviel Ähnlichkeit zwi-
schen der Geburt des hl. Johannes und dem Tod des hl. Petrus, daß
beide als Tod und beide als Geburt bezeichnet werden müssen; es ist ja
unwahrscheinlich, daß zwei so ähnliche Dinge verschiedene Namen
haben müßten. Wenn ich die Ähnlichkeit und herrliche Übereinstim-
mung zwischen der Erschaffung der Welt und ihrer Erneuerung und
Wiederherstellung betrachte, bin ich voll Bewunderung für den gro-
ßen Schöpfer. Er verstand es vorzüglich, durch ein so schönes Mittel
und göttliches Geschick in der Erschaffung und Erneuerung die Ein-
heit des Schöpfers und Erlösers zu zeigen. Aber heute will ich mich
nicht bei diesen Dingen aufhalten, um sie zu erläutern; ich will nur das
aufgreifen, was meinem Vorhaben für diesen Festtag entspricht.
Wenn ich überlege, daß die Mutter Kirche uns in der festlichen Ok-
tav der Geburt des hl. Johannes das Fest des schmerzlichen Todes des
hl. Petrus vorschlägt, und wenn ich weiß, daß sie vom Heiligen Geist
geleitet ist, dann glaube ich, daß sie das tut wegen einer gewissen Ähn-
lichkeit und Beziehung zwischen dem Tod des einen und der Geburt
des anderen. In diesem Gedanken werde ich um so mehr bestärkt, da
ich sehe, daß die gleiche Kirche ebenso den Tod des hl. Petrus als
Geburt bezeichnet wie die Geburt des hl. Johannes. Ich sehe, daß ich
nicht nur in ihrem Tod sondern auch in ihrem Leben selbst eine Ver-
bindung und Ähnlichkeit finde, wenn es auch in bestimmten Punkten
einen Unterschied gibt, wie es stets zwischen Dingen des Alten und
des Neuen Bundes zutrifft.
Gewiß, als ich in der Genesis (1,1) las, daß Gott zwei große Leuch-
ten am Himmel schuf, die eine, um den Tag zu beherrschen und zu
erhellen, die andere für die Nacht, da dachte ich sogleich, daß dies die
beiden großen Heiligen seien, der hl. Johannes und der hl. Petrus.
Dünkt euch nicht, daß der hl. Johannes das große Gestirn des mosai-

17
schen Gesetzes ist, das nur ein Schatten oder wie eine Nacht war im
Vergleich zur Helle des Gesetzes der Gnade, obgleich er mehr als ein
Prophet (Mt 11,9) war? Obwohl er nicht das Licht war, gab er dennoch
Zeugnis für das Licht durch eine gewisse Teilnahme am Licht, das in
der Finsternis leuchtet (Joh 1,5.8). Und meint ihr nicht, daß der hl.
Petrus die größere Leuchte des Evangeliums ist, weil er dem Tag des
Evangeliums vorsteht? Diese zwei Leuchten wurden von Jenem am
Himmel der Kirche angebracht, der sie geschaffen und gebildet hat,
Unser Herr Jesus Christus.

Wir lesen (Ex 25,18-20), daß auf dem Gnadenthron zwei Kerubim
waren, die einander zugewandt waren. Der Gnadenthron, meine lie-
ben Zuhörer, ist Unser Herr. Der ewige Vater hat ihn uns gegeben, daß
er das Sühneopfer für unsere Sünden (1 Joh 2,1) sei; ihn hat Gott als
Sühneopfer dargestellt (Röm 3,25). Die zwei Kerubim, glaube ich, sind
der hl. Johannes und der hl. Petrus; sie sehen einander an, der eine als
Prophet, der andere als Apostel. Meint ihr nicht, daß sie einander
ansahen, als der eine sagte: Seht das Lamm Gottes (Joh 1,29.36), und
der andere: Du bist Christus, der Sohn Gottes (Mt 16,16)? Es ist wahr,
daß das Bekenntnis des hl. Johannes noch ein wenig nach dem alten
Gesetz klingt, wenn er Unseren Herrn Lamm nennt, denn er spricht
vom Gleichnis; das des hl. Petrus dagegen verrät den Tag, weil Johan-
nes der Nacht vorstand, Petrus dem Tag. Das sage ich nicht, um euch
zu verstehen zu geben, der hl. Johannes hätte die Wahrheit nicht gut
gekannt, sondern damit ihr wißt: so wie der hl. Petrus, der als das
große Gestirn über dem Tag stand, offen spricht, so paßt sich der hl.
Johannes der Zeit an, der er vorstand, die eine Zeit der Schatten und
Bilder war, und spricht geheimnisvoller.

Bei der Erschaffung der Welt heißt es (Gen 1,2): Der Geist des Herrn
schwebte über den Wassern. Der einfache Text will im Grunde sagen: be-
fruchtete, belebte. So, scheint mir, hat Unser Herr bei der Erneuerung der
Welt die Wasser fruchtbar gemacht, als er am See Gennesaret wandelte.
Und mit dem Wort, das er zum hl. Petrus und zum hl. Andreas sprach:
Folgt mir nach, ließ er bei den Seemuscheln den hl. Petrus und den hl.
Andreas hervorgehen (Mt 4,18f). Darin ist der hl. Johannes dem hl. Petrus
auch in etwa ähnlich, da es am Ufer des Wassers war (Joh 1,28), wo der hl.
Johannes zum erstenmal die Ehre hatte, Jenen zu sehen, den er ankündig-
te, so wie der hl. Petrus am Wasser seinen göttlichen Meister erkannte und
ihm folgte. Da wir aber beim Geheimnis der Berufung des hl. Petrus sind,
will ich euch darüber eine tiefe Erwägung darlegen.

18
Pharao hatte den Hebammen der Hebräer befohlen, alle Knaben
Israels zu töten. Die Mutter des Mose hegte diesen nach seiner Geburt
drei Monate, und als sie ihn schließlich nicht mehr verbergen konnte,
legte sie ihn in einen Binsenkorb, den sie so gut als möglich zurechtge-
macht hatte, dann setzte sie ihn bei bestimmten Wasserpflanzen am
Ufer des Wassers aus. Als die Tochter des Pharao dorthin kam, um zu
baden, sah sie ihn, ließ ihn holen, und da sie sah, daß der kleine Knabe
sehr schön war, ließ sie ihn zum Glück von seiner eigenen Mutter
ernähren. Weil sie ihn aus dem Wasser gezogen hatte, nannte sie ihn
Mose, d. h. der Herausgezogene (Ex 1 u. 2). Erkennt ihr nicht das
Geheimnis, das diese Geschichte enthält? Mose war das Haupt der
Synagoge und wurde durch die Vorsehung Gottes dazu gerettet und
aus dem Wasser gezogen. Seht, Unser Herr, die einzige Weisheit des
ewigen Vaters (Spr 8,12), holt das Oberhaupt der streitenden Kirche,
den hl. Petrus, aus dem Wasser am See von Cäsarea. Man könnte ihn
sehr wohl Mose nennen, weil er aus dem Wasser gezogen wurde wie
Mose. Und tatsächlich will Simon, einer der Namen des hl. Petrus, das
gleiche aussagen, denn Simon bedeutet gehorsam. Mose bedeutet ein-
fach herausgezogen, da er noch nicht den Gebrauch der Vernunft be-
saß, als man ihn herauszog. Der hl. Petrus wird gehorsam genannt,
weil er, im Gebrauch der Vernunft berufen, durch den Gehorsam her-
ausgezogen wurde: Folgt mir nach. Und sogleich folgten sie ihm (Mt
4,19). Der hl. Petrus war also Mose und dem hl. Johannes ähnlich.
Doch betrachten wir jetzt die Ähnlichkeit der Geburt des hl. Johan-
nes und des hl. Petrus, jedoch unter der Voraussetzung, daß wir die des
hl. Johannes nur streifen, um uns mehr beim hl. Petrus aufzuhalten.
Zunächst finde ich, daß die Geburt des hl. Johannes durch den Engel
vorhergesagt wurde: Und viele werden sich über seine Geburt freuen
(Lk 1,14). Die des hl. Petrus wurde ebenfalls vorhergesagt; der große
Unterschied liegt aber darin, daß die des hl. Johannes der Engel vor-
hersagt, die des hl. Petrus von Unserem Herrn vorhergesagt wurde
(Joh 21,18f).
Der hl. Johannes wurde geboren, um das mosaische Gesetz zu been-
den, der hl. Petrus starb, um die katholische Kirche zu beginnen. Nicht
als ob der hl. Petrus der grundlegende Beginn der Kirche, noch der hl.
Johannes das Ende der Synagoge wäre, denn es ist Unser Herr, der
dem Gesetz des Mose ein Ende setzte, als er am Kreuz sagte: Es ist
vollbracht (Joh 19,30), und in seiner Auferstehung die neue Kirche
begann; denn wie er sich selbst erneuerte, so erneuerte er auch seine
Kirche. Er erneuerte sich, sage ich, indem er bei der Auferstehung mit

19
Unsterblichkeit bekleidet wurde, er, der zuvor mit unserer Sterblich-
keit bekleidet war: Und er wurde im Äußeren als Mensch erfunden
(Phil 2,7). Der Rabbi Saadias sagt, wenn der Adler durch das Feuer
fliegt und sich dann ins Meer stürzt, erneuert er seine Schwingen und
seine Jugend. So verbrannte Unser Herr im Feuer seiner übergroßen
Liebe und stürzte sich dann in das Wasser des Roten Meeres seiner
Passion; dadurch erschien er, als er aus ihr auferstand, glorreich, er-
neuert wie der Adler, wie es in den Psalmen heißt: Wie dem Adler wird
dir deine Jugend erneuert (Ps 103,5).
Die Geburt des hl. Johannes wurde dem Zacharias angekündigt, als
er dem Herrn das Rauchopfer bereitete, wie es beim hl. Lukas (1,9)
heißt: Als Zacharias dem Herrn das Rauchopfer darbrachte. Doch was
glaubt ihr, welches Rauchopfer der hl. Petrus dem Herrn darbrachte,
als er ihm antwortete: Herr, du weißt, daß ich dich liebe (Joh 21,17), als
einzigen Wohlgeruch, der seiner göttlichen Majestät wohlgefällig ist.
Der hl. Johannes wurde im Schoß seiner Mutter geheiligt in Gegen-
wart der heiligen Jungfrau; ebenso wurde der hl. Petrus im Schoß der
streitenden Kirche geheiligt.
Ihr müßt aber wissen, daß die Heiligen auf fünffache Weise geheiligt
werden: 1. aus notwendiger Konsequenz; so war Unser Herr geheiligt,
der als wahrer Sohn Gottes nur heilig sein konnte. Da er seiner Natur
nach heilig ist, heißt er heilig schlechthin: Der Heilige wird Sohn Got-
tes genannt werden (Lk 1,35), da er einer der drei Sanctus, Sanctus,
Sanctus ist (Jes 6,3), die die Serafim, die Jesaja sah, im Himmel unab-
lässig zu Ehren der heiligsten Dreifaltigkeit singen. Die zweite Art ist
die jener, die bedingt und durch keine andere Notwendigkeit als durch
den Willen Gottes heilig sind; gleichwohl sind sie es immer. Von die-
ser zweiten Art haben wir nur die heilige Jungfrau, von der David sagt:
Herr, du hast dein Land gesegnet, hast die Gefangenschaft Jakobs ab-
gewendet (Ps 85,1). Die dritte Weise der Heiligung ist die jener, die
nicht immer heilig sind, sondern erst im Schoß ihrer Mutter geheiligt
wurden. Solche waren der hl. Johannes, Jeremia und nach der Auffas-
sung einiger der hl. Josef. Auf sie wendet man die Worte (Jer 1,5) an:
Ehe du aus dem Mutterleib hervorgingst, habe ich dich geheiligt. Die
vierte Weise ist die jener, die geheiligt wurden durch eine allgemeine
Heiligung für alle Gerechten vor ihrem Tod; von ihnen heißt es (Weish
3,1): Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand. Die letzten aber
sind geheiligt, nicht durch eine allgemeine Heiligung, die man Recht-
fertigung nennt, sondern durch eine besondere Heiligung, die sie nicht
mehr verlieren können. Dafür haben wir das Zeugnis des hl. Paulus,
der (Röm 8,38f) sagt, er sei überzeugt, daß nichts, nicht einmal der

20
Tod ihn von der Liebe Jesu Christi trennen könne: Ich weiß, daß nicht
einmal der Tod uns von der Liebe Christi trennen wird.
Um euch nun zu zeigen, welche Beziehung zwischen dem hl. Johan-
nes und dem hl. Petrus besteht, finde ich, daß die heilige Jungfrau bei
ihrer Heiligung gegenwärtig war. Über die des hl. Johannes heißt es:
bei ihrer Ankunft bei der hl. Elisabet hüpfte das Kind vor Freude (Lk
1,44). Dasselbe kann man von der Heiligung des hl. Petrus sagen, die
im Abendmahlssaal erfolgte, wo auch die heilige Jungfrau zugegen
war, bei der Herabkunft des Heiligen Geistes. So kann man von ihm
wie vom hl. Johannes sagen: Das Kind jubelte, weil der hl. Petrus vor-
her wie ein Kind gleichsam nie gesprochen hatte und sogleich seinen
Mund öffnete (Apg 2,14), zu predigen und die Menschen zu Tausen-
den zu bekehren begann.
Der hl. Johannes war der letzte Prediger des mosaischen Gesetzes,
der hl. Petrus der erste des Evangeliums. Ihr zwei brennende Leuchten
der Predigt, helft durch eure heilige Fürsprache meiner Jugend, damit
es Gott gefalle, sich meiner in dieser Aufgabe zu bedienen, um seinem
Volk die Erkenntnis des Heiles zu schenken, zur Vergebung ihrer Sünden
(Lk 1,77), auf daß ich meine Lippen durch Unseren Herrn so zu öff-
nen vermöge, daß mein Mund sein Lob verkünde, daß ich das Rechte
lehre, und was ich lehre, in der Tat vollbringe, damit ich nicht anderen
predige und selbst verworfen werde (Ps 1,17; 1 Kor 9,27).
Bis jetzt habt ihr gesehen, welche Übereinstimmung zwischen der
Geburt des hl. Johannes und dem Tod des hl. Petrus besteht. Jetzt
wollt ihr vielleicht wissen, wer der Größere ist im Himmelreich (Mt
18,1). Das ist eine Frage, die ich nicht gut beantworten kann. Ich
will euch nur sagen: ahmt die Heiligkeit des einen wie des anderen
nach, dann werdet ihr es wissen, sobald ihr im Himmel seid. Als
die Philosophen vor mehr als 2000 Jahren die Ursache von Flut
und Ebbe suchten, konnten sie diese nie finden; aber ich will euch
nicht dieses Ziel setzen, um die Lösung dieser Frage zu kennen:
studiert nur die Heiligkeit dieser zwei großen Heiligen durch die
Nachahmung, und die meisten der hier Anwesenden werden sie in
kurzer Zeit wissen.
Übrigens nennt die Kirche den Tod des hl. Petrus eine Geburt, weil
er im Tod das Leben gefunden hat. Der Tod des hl. Johannes konnte
aber nicht als Geburt bezeichnet werden, da er in den Vorhimmel
eingehen mußte, weil der Himmel damals noch nicht geöffnet war.
Seit der Himmelfahrt des Herrn nun haben diejenigen, die diese Sterb-

21
lichkeit geringschätzen, aus ihrem Tod eine Geburt gemacht. Ich täte
aber der Schriftstelle Unrecht, die ich am Anfang dieser Predigt ange-
führt habe, wenn ich noch länger den Ähnlichkeiten zwischen der
Geburt des hl. Johannes und dem Tod des hl. Petrus nachginge, da ich
soviel Gelegenheit habe, einen höheren Vergleich anzustellen, näm-
lich zwischen dem Tod des hl. Petrus und dem unseres göttlichen
Erlösers.
Niemand soll sagen, alle Vergleiche seien verpönt und es gebe kei-
nen Vergleichspunkt zwischen dem Herrn und dem Diener, da Unser
Herr keine Bedenken hatte, sich mit den Hirten und den Schafen zu
vergleichen, mit dem Weinstock und mit den Steinen. Der hl. Paulus
sagt im Römerbrief (8,29): Die er vorherwußte, hat er auch vorherbe-
stimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu werden. Er nennt sich
unseren Bruder (Joh 20,17), er nennt uns seine Freunde (Joh 15,14f)
und seine Miterben (Röm 8,17); außerdem gibt er uns einen Namen,
dessen Grundlage überhaupt nicht mitteilbar ist: Ich habe gesagt,
Götter seid ihr und Söhne des Allerhöchsten (Ps 82,6). Aber beachtet
das, denn Gott nennt uns Götter; der Teufel nennt uns Götter, wenn
auch nicht unbedingt, wenn er sagt: Ihr werdet wie Götter sein, Gut und
Böse erkennend (Gen 3,5). Gott gibt uns diese Namen, um uns zu
demütigen und uns seine Liebe zu zeigen; der Teufel wendet sie auf
uns an, um uns in Hochmut fallen zu lassen und auf diese Weise von
der Liebe zu trennen. Schließlich zeigen diese Namen, die den Men-
schen gegeben wurden, mehr die Ehre Gottes als die der Menschen: Er
ist so gütig, daß er uns ihm ähnlich machen will, soweit unsere Nied-
rigkeit das zuläßt.
Meine lieben Zuhörer, wir dürfen es also nicht mit unserem kleinen
Verstand kritisieren und verurteilen, wenn wir sehen, daß die Kirche
bestimmten großen Heiligen, namentlich unserer glorreichen Herrin,
hervorragende Titel gibt. Sie hat ja mehrere Namen, die ihr nicht nur
bild- und gleichnishaft zukommen, sondern in Wahrheit, wie Mutter
der Gnade, Mutter Gottes und folglich Königin der Engel, Königin
des Himmels und der Erde, Zuflucht der Sünder, Mutter der Barm-
herzigkeit. Sie, die wahrhaft die Mutter Gottes ist, besitzt ja alle Titel
offenbar mit größerem Recht, als ein König den Namen seines König-
tums trägt. Die übrigen Namen der heiligen Jungfrau verstehen sich
als angemessen durch Teilnahme, so wenn wir sie unsere Zuflucht,
unsere Hoffnung nennen, weil sie es tatsächlich ist, obwohl sie es nur
durch Anteilnahme und durch ihr Ansehen ist.
Als Unser Herr zum hl. Petrus gesagt hatte, wenn er älter geworden
sei, werde er seine Hände ausstrecken, werde gebunden und geführt,

22
wohin er nicht wolle, da sagte er zu ihm: Folge mir (Joh 21,19). Der hl.
Augustinus fragt, warum Unser Herr zum hl. Petrus sagt: Folge mir; er
antwortet: Das ist, als wollte er ihm sagen: Was dich betrifft, Petrus,
du wirst mir nicht nur in den Tod folgen, sondern auch in der Art des
Todes. Dem stimmt auch Euthymius zu, obwohl Theophylact dieses
Wort so versteht, als wollte ihm Unser Herr sagen: Sei mein Stellver-
treter. Die eine wie die andere Auslegung ist gut, denn Unser Herr
sagte ihm: Folge mir, in der Folge dessen, was er ihm vorher gesagt hat.
Nun hat er ihm zwei Dinge gesagt: 1. Weide meine Lämmer; 2. Wenn
du aber älter geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken ... Infol-
gedessen sagt er ihm zweimal: Folge mir: das erste Mal, nachdem er
ihm seinen Tod vorhergesagt hat: Nach diesen Worten sagte er zu ihm:
Folge mir nach (Joh 21,19), als wollte er sagen: Du wirst gekreuzigt,
um zu zeigen, daß du meine Schafe nicht nur mit meinem Wort nährst,
sondern auch nach meinem Vorbild; sei also Hirte, mein Statthalter
und mein Stellvertreter. Das zweite Mal sagt er zu ihm: Folge mir, als
Petrus wissen wollte, was mit dem hl. Johannes geschehen soll (Joh
21,22). Der hl. Johannes wird bleiben, wie es mir gefallen wird; was
dich betrifft, mußt du mir nachfolgen, nicht nur als Stellvertreter in
der Leitung der Kirche, sondern auch darin, daß du an einem Kreuz
stirbst wie ich.
Der Ort, wo der hl. Petrus gekreuzigt wurde, ist ohne Zweifel Rom,
denn das berichtet die ganze alte Überlieferung. Damit sind unsere
Gegner nicht einverstanden; sie wollen nicht nur leugnen, daß er in
Rom gestorben ist, sondern auch, daß er dort seinen Sitz hatte, und das
mit den lächerlichsten und haltlosesten Begründungen, die man sich
vorstellen kann. Indessen bestätigt es der Apostelschüler Papias (nach
dem Bericht des Eusebius) und führt als Beweis dafür an, daß der hl.
Petrus seinen ersten Brief von Babylon datiert, d. h. von Rom. Dieser
Auffassung folgte auch der große hl. Hieronymus in seinem Werk „De
viribus illustris“. Jemand, der in Fragen des Glaubens wenig bewan-
dert ist und schlecht mit ihnen vertraut, wird mir sagen: Rom wird
also Babylon genannt? Es grüßt euch die mit auserwählte Gemeinde in
Babylon, schreibt er (1 Petr 5,13). Ja wirklich, denn in Rom, das durch
die Schreckensherrschaft Neros mit dem Blut der Märtyrer getränkt
war, herrschte damals der Götzendienst; deshalb mußte es die
neronische Stadt oder Babylon genannt werden, nicht eine christliche
Stadt. Beachtet deshalb, daß der hl. Petrus nicht sagt: Es grüßt euch
die Gemeinde von Babylon, sondern: Es grüßt euch die mit auser-
wählte Gemeinde in Babylon. Die römische Christengemeinde war in
Babylon, nicht von Babylon, so wie viele Antichristen aus uns hervor-

23
gegangen sind, aber sie waren nicht von uns (1 Joh 2,18f). So muß
man auch die andere Stelle verstehen: Babylon saß auf den sieben
Hügeln (Offb 17,9).
Der hl. Petrus war also in Rom und trat dem Magier Simon entge-
gen. Nachdem er die Kirche ungefähr 25 Jahre geleitet hatte, wollte
Nero ihn töten lassen. Die Christen baten ihn aber, sich in Sicherheit
zu bringen, da er für die Kirche sehr notwendig sei, die nicht ihr Ober-
haupt verlieren könne, ohne Schaden zu nehmen. Deshalb verließ er
Rom. Außerhalb des Tores erschien ihm Unser Herr. Da fragte ihn der
große Heilige in seiner gewohnten Einfalt, wohin er gehe: „Herr, wo-
hin gehst du?“ Unser Herr antwortete ihm: „Ich gehe nach Rom, um
noch einmal gekreuzigt zu werden.“ Durch diese Worte erkannte der
hl. Petrus, daß Unser Herr in seiner Person gekreuzigt werden wollte,
da er gesagt hat: Was ihr einem meiner Geringsten getan habt, das habt
ihr mir getan (Mt 25,40). Er kehrte schnell in die Stadt zurück, wurde
sogleich ergriffen und zur Kreuzigung verurteilt. Aus Demut bat er
jedoch, daß er mit dem Kopf nach unten und mit den Füßen nach oben
gekreuzigt werde, da er aus Ehrfurcht nicht genau so wie sein göttli-
cher Meister sein wollte. So verherrlichte der große hl. Petrus, alt
geworden, Gott, indem er seine Hände ausstreckte, wie ihm vorherge-
sagt war. Nun wird alles, was ich euch gesagt habe, von unwiderlegba-
ren Gewährsmännern berichtet, deren Auffassung kein Mensch von
gutem Urteil zu widersprechen wagt. Da ist der hl. Ambrosius in sei-
ner Rede gegen Auxentius, der hl. Athanasius in der Rechtfertigung
seiner Flucht, der hl. Hieronymus in einer Predigt über den hl. Petrus,
abgesehen von den Erinnerungen, die in Rom noch erhalten sind. So
folgte also der hl. Petrus Unserem Herrn nach, nicht nur darin, daß er
sein Stellvertreter auf Erden war, sondern auch darin, daß er am Kreuz
starb wie er.
Als Gott diese Welt erschuf und den Menschen erschaffen wollte,
sagte er: Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleich-
nis, daß er herrsche über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels
und die Tiere des Landes (Gen 1,26). So, scheint mir, hat er es auch bei
ihrer Erneuerung gemacht. Als er den hl. Petrus zum Vorsteher und
Leiter seiner ganzen Kirche machen wollte, daß er ebenso Befehlsge-
walt habe über jene, die im Meer dieser Welt sind, wie über jene, die
sich ins Kloster zurückziehen, um in der Luft der Vollkommenheit zu
fliegen, da wollte er ihn sich ähnlich machen, und mir scheint, daß er
sagte: Laßt uns ihn nach unserem Bild machen, d. h. dem gekreuzigten
Jesus ähnlich; deshalb sagte er: Folge mir.

24
Nach der Sage war Narziß ein so stolzer Jüngling, daß er nie jemand
seine Liebe schenken wollte. Als er sich aber schließlich in einer kla-
ren Quelle betrachtete, war er von seiner Schönheit ganz hingerissen.
Wenn wir uns in einer Quelle betrachten, erscheinen wir darin ver-
kehrt dargestellt, den Kopf unten und die Füße oben. Meint ihr nicht,
daß Unser Herr den hl. Petrus in seinem Martyrium betrachtete, da
seine Augen auf den Armen schauen (Ps 11,32)? Er sah ihn wie im
Meer der Bitterkeit und Drangsal, mit den Füßen nach oben gekreu-
zigt, so daß er wie sein wahres Abbild war. Und wenn Narziß, der nie
jemand liebte, von seinem eigenen Spiegelbild so hingerissen war, wie-
viel mehr Unser Herr, der nur liebte? So sagt auch sein Lieblings-
jünger von ihm: Da er die Seinen liebte, liebte er sie bis zum Äußersten
(Joh 13,1). Und an einer anderen Stelle heißt es: Mit ewiger Liebe
habe ich dich geliebt (Jer 31,5). Was meint ihr, sage ich, um wieviel
mehr der göttliche Heiland von der Liebe des hl. Petrus hingerissen
war, der wie sein Ebenbild war, versenkt im Meer der Trübsal des
Martyriums? Zu den Jüngern von Emmaus sagte er: Mußte nicht Chris-
tus leiden, und so in seine Herrlichkeit eingehen? (Lk 24,26). Ebenso
möchte ich sagen: Mußte nicht Petrus leiden, und so in die Herrlich-
keit seines Herrn eingehen? Ja, ohne Zweifel, denn Unser Herr hatte
ihm gesagt: Folge mir; komm in die Herrlichkeit, aber so wie ich.
Schaut auf die Passion: ihr werdet sehen, als Unser Herr das Kreuz
nicht tragen konnte, da er von den Martern so zerschlagen war, da ließ
man einen Mann kommen, um ihm zu helfen; er folgte ihm und trug
das Kreuz auf seinen Schultern. Der Evangelist nennt nicht viele beim
Namen, die bei der Passion anwesend waren; diesen aber nennt er, und
nicht ohne Geheimnis nennt er ihn Simon. Simon trägt Unserem Herrn
das Kreuz nach. Das Kreuz ist das Königszepter Unseres Herrn: Und
seine Herrlichkeit ruht auf seinen Schultern (Jes 9.6), wie es der hl.
Hieronymus auslegt. Dieses Zeichen war für den hl. Petrus wie ein
Vorzeichen, daß er eines Tages das Kreuz und das Szepter Unseres
Herrn tragen werde, nicht nur im Leiden, sondern auch im Herrschen.
Simon von Zyrene trug das Kreuz, um anzudeuten, daß unser Simon
das Kreuz Unseres Herrn in der Hand halten werde wie ein Szepter,
um in der streitenden Kirche zu herrschen und zu leiden.
Von da aus kann ich euch zum Verständnis einer weiteren Schwie-
rigkeit führen, die ich euch erklären will. Sie besteht darin, daß Unser
Herr, als er dem hl. Petrus die Leitung seiner Herde übergeben wollte,
ihn stets Simon, Sohn des Johannes nennt, nicht Petrus, obwohl er
selbst seinen Namen geändert hat. Woher kommt das? Ein hervorra-

25
gender Theologe unserer Zeit glaubt, das sei geschehen, um den hl.
Petrus zu warnen, sich nicht zu überheben und sich zu erinnern, was er
war, bevor Unser Herr ihn Petrus nannte. Ich glaube aber, daß darin
ein tieferes Geheimnis liegt. Als Unser Herr dem hl. Petrus zeigen
wollte, er werde ihn zum Haupt der Kirche bestellen, sagte er zu ihm:
Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. Wenn
er ihm damit die Sorge für seine Herde übertrug, so gab er ihm auch
einen seiner Namen, der Macht bedeutet; denn der Stein ist einer der
Namen, die die Heilige Schrift Unserem Herrn beilegt: Der Stein aber
war Christus (1 Kor 10,4). Der Stein, den die Bauleute verworfen ha-
ben, ist zum Eckstein geworden (1 Petr 2,7). Er verhieß ihm also seine
Stellvertretung in der Leitung der Kirche und gab ihm dazu einen sei-
ner Namen, der Macht bedeutet.
Da er ihn aber nicht nur zu seinem Stellvertreter machen wollte,
sondern auch vorhersagen, daß er den Tod am Kreuz erleiden werde,
gab er ihm noch einen Namen des Leidens, des Kreuzes und des Mar-
tyriums, einen Namen, der Unserem Herrn zueigen war. Und welchen
Namen des Martyriums, des Leidens und Duldens hatte unser Herr?
Den Namen, der uns allen am Herzen liegen müßte, um uns zur Beob-
achtung der Gebote Gottes zu ermutigen; das ist der Name des Gehor-
sams. Hört, was der Apostel sagt: Er ist gehorsam geworden bis zum
Tod, ja bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8). Im Hebräischen bedeutet der
Name Simon „gehorsam“. Unser Herr, der ihm den Namen der Macht
gab, als er ihm die Macht übertrug, gibt ihm also jetzt seinen Namen
des Leidens und des Duldens, da er ihm seinen Tod vorhersagt: so
kann man sagen, daß Simon Petrus geworden ist bis zum Tod.
Der hl. Petrus gab sich einmal als der Mutige, da er zu Unserem
Herrn sagte: Auch wenn ich mit dir sterben müßte, werde ich dich nicht
verleugnen (Mt 26,35). Dann hat er ihn auf das Wort einer Magd hin
dreimal verleugnet. Als er seine Sünden erkannte, zog er sich sogleich
zurück, um sie bitterlich zu beweinen, und nicht nur damals, sondern
er beweinte sie ein Leben lang, wie der hl. Klemens sagt, so daß er
wohl sagen konnte: Herr, besprenge mich mit Ysop der Reue, und ich
werde von meiner Sünde gereinigt; wasche mich im Wasser meiner
Tränen, und ich werde weißer als Schnee (Ps 51,9). Trotzdem tadeln
die Centuriatoren von Magdeburg diese Sünde des hl. Petrus unauf-
hörlich, nennen sie schrecklich und abscheulich. Es war tatsächlich
eine Sünde, die ihn die Furcht vor dem Tod begehen ließ. Sie täten
aber besser, sich vor der Sünde zu hüten, als den Fehltritt des hl. Pe-
trus so zu übertreiben. Mir scheint nun, der große Heilige habe am
Kreuz zu solchen Leuten die Worte des hl. Paulus gesagt: Fürderhin

26
falle mir niemand lästig, denn ich trage die Wundmale meines Herrn an
meinem Leib (Gal 6,17), so als wollte er sagen: Niemand werfe mir
weiterhin meine Sünde vor; denn darüber hinaus, daß ich mich in
meinen Tränen reingewaschen habe, habe ich jetzt einen Beweis mei-
ner Treue geliefert und mache durch meinen Tod den Fehler wieder
gut, den ich aus Furcht vor dem Tod begangen habe.
Bevor ich schließe, will ich der Wißbegier jener gerecht werden, die
fragen könnten, warum der hl. Petrus mit dem Kopf nach unten ge-
kreuzigt werden wollte.
Der erste Grund dafür war die Demut. Der zweite Grund war, daß
Unser Herr die Füße zur Erde gerichtet hatte, um zu zeigen, daß er
vom Himmel auf die Erde gekommen ist; der hl. Petrus hatte die Füße
himmelwärts gerichtet, um zu zeigen, daß er von der Erde in den Him-
mel ging. Außerdem hatte Unser Herr, als er starb, das Gesicht und
die Augen stets auf die Erde gerichtet, um zu zeigen, daß er für seine
Kirche nach seinem Tod nicht weniger Sorge trage als zuvor und daß
er stets ihr Hirte sein wolle; der hl. Petrus wandte das Haupt gegen die
Erde und die Augen zum Himmel, um zu zeigen, daß er sterbend sein
Amt an seinen Nachfolger übergebe. So ist Unser Herr immer das
Haupt der Kirche, nicht aber der hl. Petrus; Unser Herr hat seinen
Stellvertreter, der hl. Petrus seinen Nachfolger.
Der hl. Petrus wandte außerdem das Haupt gegen die Erde, um zu
zeigen, daß er wohl in den Himmel ging, aber seine Nachfolge den-
noch auf Erden zurückließ, von der Unser Herr ihm gesagt hat: Du
bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen. Stellt
euch vor, daß nächst Christus der hl. Petrus das erste Fundament der
Kirche ist; auf ihm sind dann seine Nachfolger nacheinander aufge-
baut als Ecksteine, die miteinander das Bauwerk der Kirche tragen.
Das ist der Prüfstein, mit dem man stets den Irrtum oder die Irrlehre
erkennt; das ist der Quaderstein des Tempels Salomos. Es heißt (1
Kön 5,17), daß der König Steine für das Fundament suchen und sie
viereckig behauen ließ. Als Unser Herr den heiligen Apostel erwählt
hatte, um nächst ihm der erste Stein des Fundamentes der Kirche zu
sein, ließ er ihn formen am Kreuz. Wie das mosaische Gesetz auf
einen Stein geschrieben wurde, ebenso wurde auf diesen lebendigen
Stein das Gesetz des Evangeliums geschrieben. Wenn ihr im Zweifel
seid, wie das Gesetz des Evangeliums zu verstehen ist, dann geht zu
diesem Felsen, um zu lernen, wie man glauben muß. Ich will mich
nicht lange dabei aufhalten, das des langen und breiten zu beweisen,
da ich mir als Gegenstand dieser Predigt nur den Tod des hl. Petrus

27
vorgenommen habe. So will ich mich damit begnügen, euch für jetzt
einen einzigen Grund vorzutragen, der aber grundlegend ist.
Die Kirche ist eine Monarchie; deshalb braucht sie ein sichtbares
Oberhaupt, das sie als oberster Statthalter Unseres Herrn regiert. Wem
sollten wir es sonst sagen und wie die Einheit des Glaubens wahren, da
Unser Herr gesagt hat: Sag es der Kirche (Mt 18,17)? Und wenn je-
mand sich losreißen wollte, wer könnte ihn zum Schafstall zurückfüh-
ren? Wie könnte man verhindern, daß es Spaltungen in der Kirche
gibt? Wie anders sollte, wenn „die ganze Welt erstaunt ist, daß sie
arianisch geworden ist“, wie der hl. Hieronymus sagt, die Welt bekehrt
werden? Jedes Reich, das in sich uneins ist, wird verwüstet werden“ (Lk
11,17).
Es ist also wahr, daß die Kirche einen obersten Statthalter braucht.
Sehen wir nun, wer das sein kann. Gewiß kein anderer als der hl. Pe-
trus und seine Nachfolger. Abgesehen von der allgemeinen Überein-
stimmung aller Jahrhunderte, vor allem der ersten acht, wie aus der
„Sichtbaren Monarchie“ von Sanders ersichtlich ist, gibt es einen ge-
wichtigen Grund: Es gab nie einen Bischof, der gedacht hätte, er sei
der oberste und allgemeine Hirte der ganzen Kirche, außer die Nach-
folger des hl. Petrus; und man hat nie in Erwägung gezogen noch be-
hauptet, daß es ein anderer sei. Außerdem gibt es jetzt keinen Bischof
in der ganzen Christenheit, der sich diese Eigenschaft zuschriebe oder
von dem man behauptete, er sei Oberhirte und Papst. Die Häretiker
wollen kein Oberhaupt; deshalb sind sie auch in so viele Sekten ge-
spalten. Die Katholiken anerkennen den Papst als den gemeinsamen
Vater und das einzige sichtbare Oberhaupt der ganzen Kirche; die
Schismatiker anerkennen ihn nicht. Was können wir also sagen? Nie-
mand als die Nachfolger des hl. Petrus hat je in Anspruch genommen,
es zu sein; niemand beansprucht es und von keinem hat man es je
gedacht, außer vom Papst. Das ist eine der Wahrheiten, die man in der
Kirche immer geglaubt hat. Andererseits muß es einen geben; also ist
er es ohne Zweifel. Er ist es, von dem der hl. Hieronymus im Brief an
Damasus spricht, wo er sagt: „Ich kenne Vitalis nicht; Meletius lehne
ich ab; Paulinus anerkenne ich nicht. Wer nicht mit dir sammelt, der
zerstreut (Mt 12,30); d. h., wer nicht zu Christus gehört, ist des Anti-
christ“ (Epist. XV, § 2).
Man könnte mich aber fragen, warum der hl. Petrus den Sitz des
Stellvertreters Unseres Herrn nach Rom verlegte, da doch Unser Herr
in Jerusalem gestorben ist. Die Begründung dafür ist leicht zu geben:
Gott hatte die Absicht, die Heiden als sein Volk anzunehmen, indem
er das undankbare Volk der Juden absetzte; nicht als ob er ihm die

28
notwendigen Hilfen zu seinem Heil vorenthielte; er entzog ihm aber
die Privilegien, die er ihm gewährt hatte, deren es sich unwürdig er-
wies. Ihr wißt doch, was die heiligen Apostel Paulus und Barnabas zu
den Juden sagten: Euch mußte das Wort Gottes zuerst verkündet wer-
den; weil ihr es aber zurückgewiesen habt, wenden wir uns an die Hei-
den (Apg 13,46). Und wißt ihr nicht, was Hosea sagte? Ich werde zu
Nicht-mein-Volk sagen: Mein Volk bist du; und es wird sagen: Mein
Gott bist du (Hos 2,24). Davon spricht der hl. Paulus im 9. Kapitel
seines Briefes an die Römer. Unser Herr ist also in Jerusalem gestor-
ben, damit von Zion das Gesetz und von Jerusalem das Wort Gottes
(Mi 4,2) ausgehe, weil es die Hauptstadt von Judäa war. Ebenso wollte
er den Sitz seiner Kirche nach Rom, der Hauptstadt des Heidentums
verlegen, um zu Nicht-mein-Volk zu sagen: Mein Volk bist du. Der hl.
Petrus ist also in Rom gestorben, nicht als der erste Grundstein, son-
dern der zweite. Unser Herr ist ja der große erste grundlegende Eck-
stein, nicht nur der streitenden Kirche, sondern auch der triumphie-
renden. Der hl. Petrus ist als Grundstein auf den ersten gegründet, und
nur für die streitende Kirche: ein fester Stein, ein sicherer Fels im
Meer dieser Welt; je mehr er bestürmt wird, um so weniger rückt er
von seiner Stelle.
Damit ist genug über den Tod des hl. Petrus gesagt. Was kann ich
euch als Anwendung mitgeben? Als erstes fordere ich euch auf, Gott
dafür zu danken, daß er uns einen solchen Fels gegeben hat, so daß wir
nie untergehen, wenn wir uns auf ihn stützen. Als zweites wünsche ich
zur Erneuerung unseres Geistes, daß wir einfach und fest seien im
Glauben, den uns die heilige Kirche lehrt, und fest glauben, was auf
diesem Stein geschrieben steht; ich habe euch ja gesagt, daß auf ihm
das Gesetz des Evangeliums geschrieben ist. Glauben wir also ein-
fach, unterwerfen wir unseren Verstand dem Glauben, den Unser Herr
auf diesen Fels gegründet hat, denn die Pforten der Hölle werden sie
nicht überwältigen (Mt 16,18). Christus bat für Petrus, daß sein Glau-
be nicht wanke (Lk 22,32); das Haupt der Kirche ist die Säule und
Grundfeste der Wahrheit, wie der hl. Paulus (1 Tim 3,15) sagt.
Selig, wer seine Kindlein an den Felsen schmettert (Ps 137,9), sagt der
Psalmist. Was sollt ihr tun, wenn irgendwelche Vorstellungen in Glau-
bensfragen kommen, bestimmte Einwände, Einbildungen und Gedan-
ken des Unglaubens? Wenn ihr sie in euren Geist einlaßt, werden sie
euch verwirren und den Frieden rauben. Zerschlagt diese Gedanken
und Vorstellungen, zerschmettert sie an diesem Felsen der Kirche und
sagt zu eurem Verstand: Ach, mein Verstand, Gott hat dir nicht aufge-
tragen, dich selbst zu nähren; das ist Sache dieses Felsens und seiner

29
Nachfolger; deshalb selig der Mann, der seine Kindlein an den Felsen
schmettert.
Die Schriftsteller, die über die Natur der Tiere geschrieben haben,
sagen, der Adler habe einen so scharfen Schnabel und er wachse so
stark, daß er ihn hindert, seine Nahrung aufzunehmen. Sie versichern,
daß er nie stirbt, außer weil sein Schnabel zu lang und zu krumm ist.
So, scheint mir, machen es manche, die nur einen zu lebhaften Geist
aber nicht genügend Urteilsfähigkeit haben; sie wollen trotzdem alles
wissen, alles kritisieren, vor allem theologische Fragen; denn die Theo-
logie ist das einzige, sagt der hl. Hieronymus, worin jeder sich einmi-
schen will. Die Spitze ihres Geistes ist zu lang, daher können sie die
Nahrung des Glaubens nicht aufnehmen, wie es sich gehört. Aber was
hilft dagegen? Sie müssen tun, was der Adler nach den Worten des hl.
Augustinus tut: er bricht die Spitze seines Schnabels ab, indem er ihn
gegen den Felsen schlägt. Wenn er dann von diesem Hindernis befreit
ist, kann er wieder besser fressen. So möchte ich auch jenen raten, die
etwas zu wissen meinen und gestützt auf diese Einbildung die Spitze
und Lebhaftigkeit ihres Geistes durch eine bestimmte menschliche
Denkweise so weit wachsen lassen, daß sie infolge einer gewissen Selbst-
überhebung die gesunde Lehre der Kirche nicht mehr annehmen wol-
len: sie sollen ihr Räsonieren an diesem Felsen brechen: Selig, wer
seine Kindlein an den Felsen schmettert. Beachtet, daß der Psalmist
nicht einfach Kindlein sagt, sondern seine Kindlein. Warum? Weil die
Gedanken des Unglaubens von uns kommen, die Gedanken des Glau-
bens von Gott. Wir sind unfähig, etwas von uns aus zu denken, als
käme es von uns, sondern all unser Können kommt von Gott (2 Kor
3,5). Beachten wir diese Gedanken gegen den Glauben niemals; sie
kommen nicht von Gott und sind nicht gegründet auf dem Felsen der
katholischen Kirche. Brechen wir sie vielmehr, schlagen wir ihre Spit-
ze gegen diesen Felsen, d. h. mit der Autorität der Kirche.
Aber außer diesen Gedanken, die Kinder des Verstandes sind,
von denen der Psalmist spricht, gibt es andere Kinder des Wil-
lens; das sind unsere Sünden, von denen ich ebenfalls sage: Selig,
wer seine Kindlein an den Felsen schmettert; denn Gott hat diesem
Fels die Macht gegeben, die Sünden nachzulassen und zu tilgen
(Mt 16,19). Wenn man zum Priester kommt, um sie zu beichten,
was ist das anderes, als diese Kinder des Willens zum Felsen brin-
gen? Und beachtet noch, meine lieben Zuhörer, daß er sagt: seine
Kinder, um zu zeigen, daß man mit der Beichte nicht warten darf,
bis unsere Sünden alt geworden sind; denn wenn sie alt geworden
sind, ist es sehr schwierig, sie gut zu bekennen, und noch mehr, sie

30
zu bessern! Weil ich schwieg, sind meine Gebeine alt geworden,
sagt David (Ps 32,3). Zerbrechen wir unsere Sünden zu Beginn an
diesem Felsen.
Ich weiß, daß ihr alle sehnlichst den Frieden wünscht. Deshalb will
ich euch mit dem königlichen Propheten sagen: Wenn ihr ihn erlangen
wollt, dann wendet euch an Gott mit Bitten und Gebeten: Erfleht, was
Jerusalem zum Frieden dient (Ps 122,6). Liebt ihn von ganzem Herzen,
dient ihm treu, meidet sorgsam alles, was ihn beleidigen kann. Auf
diese Weise werdet ihr den Frieden erlangen, denn es heißt: Reicher
Friede denen, die das Gesetz Gottes lieben, und nichts gibt ihnen An-
stoß (Ps 119,165). Da nun niemand so heilig ist, daß er nicht manch-
mal gegen das Gebot Gottes verstieße, bekennen wir wenigstens, daß
wir dieses Gebot lieben, indem wir Gott um Vergebung bitten und
unsere Sünden durch die Beichte und Buße zu Füßen des Priesters
tilgen wie an einem Stein, der auf dem Felsen des Glaubens gegründet
ist: Selig, wer seine Kindlein an den Felsen schmettert.
Schließlich wünschte ich, daß wir alle nach dem Beispiel des hl.
Petrus gekreuzigt wären. Der Krieg, die Armut und die übrigen Nöte
kreuzigen uns, das ist wahr; aber sie kreuzigen uns wie den linken
Schächer, nicht wie den hl. Petrus; d. h. statt aus diesen Übeln Nutzen
zu ziehen, werden wir durch sie schlechter. Ach, der hl. Petrus wurde
am Kreuz Christi gekreuzigt. Es genügt nicht, sein Kreuz auf sich zu
nehmen, man muß auch Unserem Herrn nachfolgen, denn nachdem er
gesagt hat: Er nehme sein Kreuz auf sich, fügt er hinzu: und folge mir
nach (Mt 16,24). Dann wird das Kreuz uns süß werden, dann werden
wir das Leben finden im Tod und Tröstungen in Widerwärtigkeiten.
Als Elija vor der Verfolgung Isebels floh, einen Tag gewandert war
und sich unter einem Ginsterstrauch befand, heißt es: Er wünschte sei-
ner Seele, daß er sterbe, und sagte: Es ist genug für mich, Herr: nimm
meine Seele (1 Kön 19,4). Wie zufrieden, meine ich, war der hl. Petrus
am Kreuz, daß er das Gebot des Herrn, ihm zu folgen, erfüllt sah; da
sah er sein Verlangen erfüllt. Als Unser Herr ihm begegnete und ihm
sagte, daß er gekreuzigt werden soll, da kehrte er auch sogleich in die
Stadt zurück, beseelt von dem großen Verlangen, im Schatten des hei-
ligen Kreuzesbaumes zu sein. Er sagt nichts zu seinem göttlichen Mei-
ster und hält sich nicht damit auf, mehr mit ihm zu sprechen, sondern
kehrt im selben Augenblick zurück. Doch meint ihr nicht, daß er da-
mals mit der Braut im Hohelied (2,3) sagte: Im Schatten dessen, nach
dem ich mich sehnte, sitze ich, und seine Frucht ist süß? Was ist diese
Frucht?

31
Das ist das ewige Leben. Da also all sein Sehnen erfüllt war, glaube
ich, wiederholte er auch wie Elija: Es ist genug für mich, Herr: nimm
meine Seele. Es heißt, daß der hl. Andreas, sein Bruder, zwei Tage
lebendig am Kreuz hing, das Volk belehrte und wohl zeigte, daß dieses
Holz der Baum des Lebens ist und daß an diesem Baum der Tod über-
wunden wurde. So, glaube ich, hat der hl. Petrus nach dem Beispiel des
Elija Unseren Herrn gebeten, daß er seine Seele aufnehme: Er wünschte
seiner Seele, daß er sterbe. So könnten auch wir sterben, meine lieben
Zuhörer, an das Kreuz Unseres Herrn geheftet, um Jenem in das ewige
Leben zu folgen, dem wir in den Tod folgen werden. Wer gibt mir Flügel
gleich einer Taube? (Ps 55,7).
Glorreicher Apostel, erwirke uns die Gnade, daß wir unseren Glau-
ben stets auf die Kirche stützen. Da sie nächst Unserem Herrn auf dir
als einem sicheren Felsen gegründet ist, ist sie die echte Säule und
Grundfeste der Wahrheit. Ich lege dir stets zu Füßen, was ich je auf der
Kanzel und außerhalb von ihr sagen werde. Du bist ja dieser Fels, auf
dem die Kirche Jesu Christi gegründet ist; ihm sei Ehre und Herrlich-
keit in alle Ewigkeit. Amen.

Zum Fest der Beschneidung des Herrn

I.

Nr. 8 (Entwurf): 1. Januar 1594 VII,114-116

... Das alles sind also Mittel, um in den Himmel zu kommen. Den-
noch bleibt immer die Gnade, immer das Erbarmen.
1. Aufgrund der Erbschaft. Wenn Kinder, dann auch Erben (Röm
8,17). Er gab ihnen die Macht, Kinder Gottes zu werden (Joh 1,12).
Den Geist der Kindschaft, in dem wir rufen: Abba, Vater (Röm 8,15).
Ebenso Kinder ... (Hebr 2,13 f). Das hat nichts mit unseren Werken zu
tun.
2. Durch den Anspruch des Verdienstes. Die Seelen der Gerechten ...
Gott hat sie geprüft und sie seiner würdig befunden (Weish 3,1.5). Der
Apostel dankt (2 Thess 1,4f) für die Ausdauer der Thessalonicher und
sagt, das führe dazu, daß ihr würdig befunden werdet des Reiches Got-
tes, für das ihr auch leidet. Offb (3,4): Sie werden in weißen Kleidern
mit mir wandeln, denn sie sind würdig. „Die Ausdauer bewirkt die ewi-
ge Fülle der Herrlichkeit.“ Beachte das.

32
In dieser zweiten Sicht kommt alles von der Barmherzigkeit, denn
alle guten Werke sind von Gott. Niemand kann zu mir kommen ... (Joh
6,4). Wer gibt dir einen Vorrang? Was hast du, das du nicht empfangen
hättest? Wenn aber ... (1 Kor 4,7). Zieh mich an dich, wir werden dem
Wohlgeruch nacheilen (Hld 1,3). Und wer hat uns diese Barmherzig-
keit verdient? Unser Herr; denn ohne ihn haben wir nichts. Beispiele
vom Baum, vom Edelmut, vom Weinstock, vom Haupt.
Aber über all das hinaus hat Unser Herr uns noch die Herrlichkeit
verdient. Freut euch und frohlockt, denn euer Lohn wird groß sein im
Himmel (Mt 5,12). Ein gutes, gehäuftes, gerütteltes und überfließendes
Maß wird man euch in den Schoß schütten (Lk 6,38). O Blut, kostba-
res Blut! Wer will sich also noch auf die Unkenntnis der Absicht der
Kirche berufen? Sie bekennt, daß alles von Gott kommt. Wenn wir an
Kindes statt angenommen sind, ist es das Verdienst Unseres Herrn;
wenn wir den Glauben haben, kommt es von Unserem Herrn; die
Hoffnung: von Unserem Herrn; die Liebe: von Unserem Herrn; die
Sakramente: von Unserem Herrn; gute Werke: von Unserem Herrn.
Man weiß ja sehr wohl: Wir sind nicht fähig, aus eigener Kraft etwas zu
denken, als käme es von uns (2 Kor 3,5). Aus seiner Fülle haben wir
alle empfangen (Joh 1,16). Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn (1 Kor
1,31). „Ohne Gnade gelangt man nicht zur Gnade“ (Prosper v. A.).
„Wenn Gott uns den Himmel schenkt, krönt er in uns seine eigenen
Gaben“ (Aug.). Sieh, wie ihm der Name Jesus gegeben wurde, als er
den ersten Tropfen Blut vergoß (Lk 2,21), weil er uns durch sein Blut,
gleichsam durch das Rote Meer, erretten sollte. Wie ausgegossenes Öl
ist also Dein Name (Hld 1,2). O heilbringender Name, Name der
Hoffnung. Er gab ihm einen Namen, der über alle Namen erhaben ist,
damit im Namen Jesu jedes Knie sich beuge ... (Phil 2,9f).
O Herr! Herr, du mein Gott, wir beugen das Knie vor deinem heili-
gen Namen; wir bekennen, daß wir in keinem anderen Namen Heil
finden können (Apg 4,12). Er ist das Losungswort, um in das Paradies
eingelassen zu werden.
Das Blut Unseres Herrn ruft nach Barmherzigkeit (Hebr 12,24),
anders als das Blut Abels.

33
II.

Nr. 9 (2. Entwurf: Eodem die): 1. Januar 1594 VII,117f

Aus ganzem Herzen bitte ich Gott, andächtige Zuhörer: wie es ihm
gefallen hat, euch diesen Tag, diese Woche, diesen Monat und dieses
Jahr „so gut beginnen zu lassen“, so möge er euch „gesund und heil
erhalten“. Damit in euch stets die Gesinnung erneuert werde, ihm zu
dienen und ihn zu ehren, möge „euer Tun und Denken mit ihm begin-
nen“ (Brev.), mit Gott, hochgelobt in Ewigkeit (Röm 9,5). Gewiß, die
Kirche trägt uns zu diesem Beginn das kürzeste Evangelium vor, aber
es ist überaus gehaltvoll. Ich werde darüber nur sprechen, soweit es
unserem Vorhaben dient.
1. Beachtet, daß es früh beginnt: Am Anfang des Buches steht von
mir geschrieben (Ps 40,38). Außerdem wird er sagen: Ich muß eine
Taufe empfangen, und wie drängt es mich (Lk 12,50). Welche Liebe!
2. Beachtet ferner den Gehorsam, den er der Kirche leistet. Für ihn
bestand keine Notwendigkeit, er zeigte sich aber stets dazu bereit. Er
mußte die Kirche verändern, er verachtet sie dennoch nicht, sondern
ist darauf bedacht, sie geläutert und ehrenvoll zu bekleiden.
3. Er heißt Jesus, und man verwundet ihn oftmals; er muß leiden und
so in die Herrlichkeit eingehen (Lk 24,26). Ben-Oni, Benjamin (Kind
der Schmerzen, Kind des Glückes: Gen 35,18).
a) Lernen wir, Gott gern und frühzeitig zu dienen: Zur Morgenstun-
de werde ich deiner gedenken (Ps 63,7). Es ist gut, daß der Mann das
Joch von Jugend auf trage (Klgl 3,27). Kain verhielt sich nicht gut. Wer
als Knabe verweichlicht lebt, wird Sklave sein (Spr 29,21). Man weiß
nicht, wann man stirbt.
b) Seid nicht lau gegenüber den Sakramenten. Ihr Empfang ist not-
wendig. Sie sind die Mitteilung und Zuwendung des Blutes Unseres
Herrn: In seinem Blut hat er uns reingewaschen (Offb 1,5). Im Blut des
Lammes haben sie ihre Kleider weißgewaschen (Offb 7,14). Man darf
nicht auf jene hören, die das Gegenteil sagen. Man darf die Kirche
nicht verachten. Unser Herr achtet die sichtbare Kirche, und man
mißachtet die geistige.
c) Man muß große Ehrfurcht vor dem heiligen Namen unseres Herrn
haben. Hat man Ärger, macht der Name Jesus wieder froh; in der
Versuchung hilft er; ist man verwundet, er heilt. Es ist der Name unse-
rer Zuversicht. Die Schatzkammer ist geöffnet.

34
Zum Sonntag Septuagesima
Nr. 10: Seyssel, 6. Februar 1594 VII,119-129
Jesus trug seinen Jüngern folgendes Gleichnis vor:
Das Himmelreich ist einem Hausvater gleich, der
am frühen Morgen ausging, um Arbeiter für seinen
Weinberg zu dingen. Als er sich mit den Arbeitern
auf einen Denar Tageslohn geeinigt hatte, schickte
er sie in seinen Weinberg. (Mt 20,1f)
Das Volk Israel im Alten Bund zeigte sich den Geboten Gottes ge-
genüber stets hartherzig. Besonders widerspenstig aber verhielt es sich,
als es sich nach dem günstigen Bericht Josuas und Kalebs über die
Fruchtbarkeit des Gelobten Landes und nach der Aufforderung, die
sie ermutigen sollte, dorthin zu ziehen, beschlossen, dies nicht zu tun
(Num 14,1-4). Und als dann Gott die Israeliten warnte, nicht weiter-
zuziehen, da drängten sie mit aller Gewalt vorwärts und zogen alle
zum Gebirge, wo sie dann das Unheil ereilte (14,40-45). Ihr ganzes
Unglück kam daher, daß sie gar zu leicht falschen Berichten der
Kundschafter ihr Ohr liehen, die in das Land der Verheißung gezogen
waren; nicht Kaleb und Josua wollten sie glauben, die ihnen einen
heiligen Rat gaben.
Ebenso kommt ein großer Teil des Unheils bei den Christen heute
daher, daß sie denen glauben, denen sie nicht glauben dürfen, und daß
sie jenen nicht glauben, denen sie glauben müssen: Die Menschen lieb-
ten die Finsternis mehr als das Licht (Joh 3,19). Deshalb sehen wir im
Evangelium ein untrügliches Kennzeichen derjenigen, denen wir glau-
ben sollen, ebenso auch derjenigen, denen wir nicht glauben dürfen;
derjenigen, die echte Arbeiter sind, und jener, die eher Zerstörer sind.
Da ich für diesen Tag als Arbeiter im Weinberg Gottes zu euch gesandt
bin, möchte ich euch nun zeigen, wie man gewisse Leute fliehen muß,
die behaupten, das Land der Heiligen Schrift erkundet zu haben, und
wie man der Stimme jener Gehorsam leisten muß, die sich durch ge-
sunde Lehren auszeichnen.
Herr, besprenge deinen Weinberg mit dem milden Regen deiner
Gnade, damit Hacke und Spaten gut eindringen können; mache ihn
aufnahmefähig und gib deinem unwürdigen Winzer die Kraft und das
Geschick, die Dornen und die Unzahl falscher Auffassungen auszu-
reißen, welche die Zeit treiben ließ, damit dir der Weinberg zur rech-
ten Zeit Frucht bringe (Ps 1,3) und der Winzer den versprochenen
Denar erhalte, den ewigen Tag. Dazu wollen wir die Hilfe der heiligen
Jungfrau erbitten: Ave Maria.

35
Mose, der Führer von großer Rechtschaffenheit, wurde von Gott
gerufen, als er die Schafe seines Schwiegervaters Jitro am Berg Horeb
weidete. Er erhielt den Auftrag, die Führung und oberste Leitung Isra-
els zu übernehmen, um es aus den Händen Pharaos zu befreien. Als
die Majestät Gottes ihm in einem brennenden Dornbusch erschien,
wandte er alle geeigneten Mittel an und erbat von Gott alle erforderli-
chen Eigenschaften, Kennzeichen und Voraussetzungen, mit denen er
es wagen konnte, im Namen Gottes zum Volk zu sprechen und es zu
leiten.
1. bekennt er seine Unwürdigkeit: Wer bin ich, daß ich zu Pharao
gehen und Israel aus Ägypten führen soll? (Ex 3,11). – 2. fragt er nach
dem Namen dessen, der ihn sendet: Wenn sie mich fragen: Wie ist sein
Name?, was soll ich ihnen dann sagen? (3,13). – 3. erbittet er ein Zei-
chen: Sie werden mir nicht glauben und nicht auf mich hören, sondern
sagen: Der Herr ist dir nicht erschienen (4,1).
Heiliger Prophet, großer Hirte Israels, weiser Mose, würdiger Ge-
sandter Gottes, geeigneter Botschafter Gottes, wie gut kanntest du die
vor allem erforderlichen Voraussetzungen für einen solchen Auftrag!
Er hält sich für unwürdig, er fragt nach dem Namen, er bittet um ein
Zeichen.
Sagt mir, wie anders konnte er würdig werden, als daß er sich für
unwürdig hielt? Ebenso machte sich Maria bereit, Mutter Gottes zu
sein, indem sie sich als seine niedere Magd (Lk 1,38) bekannte. Und
wäre er würdig gewesen, wie hätte man ihn angenommen, wenn er den
Namen des Herrn nicht nennen konnte, der ihn gesandt hat? Wäre er
würdig gewesen und hätte den Namen seines Herrn nennen können,
wie hätte man ihm geglaubt, wenn er nicht klare Kennzeichen für sei-
ne Sendung vorwies?
Dies, meine Brüder, ist der Prüfstein, an dem ihr erkennt, ob jene,
die sich des Wortes Gottes rühmen, echte oder falsche Propheten sind.
Es gab wohl nie eine Sekte, die nicht behauptet hätte, daß sie im Auf-
trag Gottes spreche, daß ihre Predigten das wahre Wort Gottes seien,
und die sich nicht auf die Heilige Schrift berufen hätte. So machten es
Luther, Calvin und alle anderen nach dem Beispiel des Teufels, der
Jesus Christus versuchen wollte, indem er sich auf die Schrift berief:
Er hat seinen Engeln deinetwegen befohlen (Ps 91,11; Mt 4,6). Sie alle
behaupten, daß sie gesendet seien; sie nennen den Namen dessen, der
sie gesandt habe. Wenn Gott es ist, so kann er es mittelbar oder unmit-
telbar sein: Wenn mittelbar, dann sollen sie die Nachfolge nachwei-
sen; wenn unmittelbar und in außergewöhnlicher Weise, dann sollen
sie dafür Beweise erbringen und Wunder wirken. Die Katholiken, die

36
durch rechtmäßige Nachfolge gesandt sind, können sagen: Wie er zu
unseren Vätern gesprochen hat (Lk 1,55), und auf den Ursprung ihrer
Sendung hinweisen: Jesus hat Petrus gesandt, Petrus ... usw. Wir kön-
nen sagen: Gott, wir haben es gehört mit unseren Ohren; unsere Väter
haben es uns verkündet (Ps 44,1).
Der Herr warnt durch Jeremia (23,16): Hört nicht auf die Worte
jener Propheten, die euch prophezeien und euch täuschen. Sie verkün-
den Trugbilder des eigenen Herzens, nicht die Worte, die aus dem Mund
des Herrn kommen; und dann (23,21): Ich habe diese Propheten nicht
gesandt, sie gingen selbst; ich habe nicht zu ihnen gesprochen, sie pro-
phezeien von sich aus. Als David einmal in bestimmten Irrtümern be-
fangen war, sagte er in Psalm 12 (1-4): Rette mich, Gott, es gibt keinen
Heiligen mehr, denn die Wahrheit ist von den Menschen gewichen. Jeder
sagt Falsches zu seinem Nächsten; ihre heuchlerischen Lippen reden
doppelsinnig. Gott möge alle heuchlerischen Lippen vertilgen. Sie ha-
ben gesagt: wir machen die Macht unserer Sprache offenbar; unsere
Lippen sind uns zu eigen; wer ist unser Herr? Und bei Jeremia (14,14)
heißt es: Ich komme über die Propheten, spricht der Herr, die nach ihrer
eigenen Zunge reden. Den Willen des Herrn aber können wir daran
erkennen: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch; und nach
seiner Auferstehung fügte er hinzu: Empfangt den Heiligen Geist (Joh
20,21f). Vor der Himmelfahrt schließlich sagte er: Mir ist alle Gewalt
gegeben im Himmel und auf Erden; ferner: Geht hin und lehrt alle
Völker (Mt 28,18f).
Meine Brüder, betrachtet dieses Kennzeichen als wesentlich und
fragt jene, die euch vom Schoß der Kirche fernhalten wollen: Wer hat
dich gesandt? (Ex 2,14). Johannes der Täufer war ein großer Refor-
mator und in außergewöhnlicher Weise von Gott gesandt. Wenn er
auch nichts sagte, was im Gegensatz zur jüdischen Kirche stand, da er
mit einem großen Auftrag kam, so seht ihr doch, daß er die Kennzei-
chen hatte, um sich auszuweisen. Sein wundervolles Leben, seine Ge-
burt veranlaßten die Frage: Was meint ihr, was aus diesem Kind werden
soll? (Lk 1,66). Der hl. Paulus, der in besonderer Weise gesandt war,
wünschte zudem ein sichtbares Zeichen durch die Auflegung der Hän-
de des Hananias (Apg 9,17): Damit du sehend und vom Heiligen Geist
erfüllt wirst, sagte Hananias.
Was soll ich euch noch sagen? Obwohl die Sendung. Unseres Herrn
mit allen Umständen vorhergesagt war, wollte er sie noch deutlicher
machen; er berief sich ständig auf sie und sagte wiederholt: Wie mich
der Vater gesandt hat (Joh 20,21; 6,58). Meine Lehre stammt nicht von
mir, vielmehr von dem, der mich gesandt hat (Joh 7,16). Dann rief er

37
aus: Ihr kennt mich und wißt, woher ich bin. Ich bin nicht aus mir selbst
gekommen (Joh 7,28). Ihr seht also, wie er sich auf seine Sendung
beruft, obwohl er keines anderen Beweises bedurft hätte als der Heili-
gen Schrift. Er war ja so ausdrücklich vorhergesagt, daß man ihn klar
erkennen konnte: Forscht in den Schriften; sie legen Zeugnis von mir
ab (Joh 5,39). Trotz all dem begnügte er sich nicht damit zu sagen, daß
er gesandt ist, und war er nicht damit zufrieden, daß seine Sendung
durch die Heilige Schrift verbürgt wurde: er wollte ein sichtbares und
klares Zeugnis seines Vaters bei der Taufe (Mt 3,17) und bei der Ver-
klärung (Mt 17,5; Lk 9,35): Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich
mein Wohlgefallen habe; ihn sollt ihr hören; und wiederum beim hl.
Johannes (12,28): Ich habe ihn verherrlicht und will ihn weiter verherr-
lichen. Er beglaubigt seine Sendung durch Wunder und versichert, daß
ohne Wunder seine Sendung dem Volk nicht hinreichend bewiesen
wäre. So heißt es beim hl. Johannes (14,10): Die Worte, die ich zu euch
spreche, sage ich nicht aus mir selbst; und weiter (14,12): Glaubt we-
nigstens aufgrund der Werke; und (15,24): Hätte ich nicht unter ihnen
Werke getan, die kein anderer getan hat, so wären sie ohne Sünde.
Ziehen wir daraus folgende ganz sichere Schlüsse: 1. Die Sendung
ist notwendig, wie der hl. Paulus (Röm 10,14f) sagt: Wie können sie
den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie können sie an den glauben,
von dem sie noch nichts gehört haben? Wie können sie von ihm hören,
wenn niemand predigt? Wie können sie predigen, wenn sie nicht ge-
sandt sind?
2. Es genügt nicht zu sagen, daß man gesandt ist, sondern man muß
nachweisen, wie: ob mittelbar wie Timotheus durch den hl. Paulus,
der an ihn schrieb: Ich ermahne dich, die Gnade neu zu beleben, die in
dir ist, die dir gegeben wurde durch die Auflegung meiner Hände (2 Tim
1,6); oder ob man unmittelbar gesandt ist wie der hl. Paulus und
Barnabas (Apg 13,2f): Sondert mir Paulus und Barnabas aus, sprach
der Heilige Geist, für das Werk, zu dem ich sie berufen habe. Nachdem
sie nun gefastet und gebetet hatten, legten sie ihnen die Hände auf und
entließen sie. Das gibt auch Calvin (Inst. 4,3) zu.
3. Wer sich auf eine außergewöhnliche Sendung beruft, muß sie be-
weisen. Denn an welche Regel könnten wir uns halten, wenn man sie
nur zu behaupten bräuchte? So haben Mose, der hl. Johannes, ja selbst
Unser Herr den Beweis erbracht.
4. Eine außergewöhnliche Sendung ist nie echt, wenn sie nicht vom
ordentlichen Lehramt anerkannt wird. Seht den hl. Paulus, wie er von

38
der außerordentlichen Sendung zur ordentlichen kommt (Apg 9,17).
Das zeigt auch ein weiteres Beispiel: War der hl. Johannes nicht von
den Priestern und Schriftgelehrten anerkannt, die jene würdevolle
Abordnung zu ihm sandten: Wer bist du? (Joh 1,19), und seine Lehre
immer billigten? Unser Herr brauchte von niemand eine Vollmacht
zu empfangen; für ihn genügte es zu beweisen, daß er der Sohn des
Allerhöchsten ist. Trotzdem anerkennen ihn Simeon, Zacharias, der
hl. Johannes, selbst Kajaphas, der weissagte (Joh 11,49-52). Doch seit
Jesus Christus und der Gründung der Kirche sei dir jeder, der nicht
durch die Kirche anerkannt wurde, wie ein Heide und öffentlicher Sün-
der. Sag es der Kirche (Mt 18,17). Die Kirche ist das Fundament und
die Säule der Wahrheit (1 Tim 3,15). Ich bleibe bei euch bis ans Ende
der Zeit (Mt 28,20).
Doch hört, ob dies auch nach dem Gesetz des Alten Bundes galt.
Euer Hohepriester sei der Vorsteher in allen Angelegenheiten Gottes (2
Chr 19,11); und: Wäre einer so vermessen, daß er auf das Gebot des
Priesters nicht hörte, so sterbe er nach dem Urteil des Richters (Dtn
11,12). Man darf auch nicht sagen, das ordentliche Lehramt fehle bis-
weilen, denn seines Reiches wird kein Ende sein (Lk 1,35). Dein Reich
ist ein Reich für alle Zeiten (Ps 145,13). Ich bleibe bei euch bis zur
Vollendung der Welt (Mt 28,20).
Was können wir nun zusammenfassend feststellen? Da unsere Irr-
lehrer uns nicht sagen können, woher sie kommen, noch wer sie
gesandt hat, muß man sich hüten, auf sie zu hören. Sie sprechen
nämlich ihre eigene Sprache, behaupten aber: der Herr spricht (Jer
23,31). Da sie die Kirche nicht hören wollen, seien sie uns wie Hei-
den und öffentliche Sünder (Mt 18,17). Wir können von ihnen sa-
gen, was der hl. Paulus zu den Vorstehern in Ephesus vor seiner
Abreise sagte: Ich weiß, daß nach meinem Weggang wilde Wölfe bei
euch eindringen und die Herde nicht schonen werden. Und selbst
aus eurer Mitte werden Männer auftreten, die Falsches lehren, damit
sie die Jünger auf ihre Seite ziehen (Apg 20,29f). 1. Sie werden ein-
dringen, also nicht gesandt sein. 2. Es sind Wölfe, keine Hunde; im
Wald lebende, nicht gezähmte; wilde, nicht den Hirten gehorchen-
de. 3. Aus eurer Mitte sind sie; nicht die Katholiken kommen von
den Calvinisten, sondern umgekehrt, weil die Katholiken früher da
waren als die Häretiker. 4. Damit sie die Jünger auf ihre Seite zie-
hen; nicht die Katholiken haben die Jünger Calvins zu sich her-
übergezogen, sondern Calvin manche von den Katholiken. Ihr seht
also, das sind keine richtigen Arbeiter, da der Hausvater sie nicht
gedungen, nicht ausgesandt und zu ihnen nicht gesagt hat: geht. Sie

39
sind vielmehr eingedrungen, sie sind von selbst gekommen: Sie eil-
ten, und doch sandte ich sie nicht (Jer 23,21).
Dies alles ist von der Berufung der Priester, Lehrer und Hirten der
Kirche zu verstehen, die nicht allen zuteil wird (1 Kor 12,28-30; Eph
4,11). Denn wenn jeder Hirte wäre, wo bliebe dann die Herde? Sie gilt
nur einigen, die gesandt sind wie Mose, Aaron, Johannes, Jesaja,
Jeremia, Elija, David usw. Nun gibt es aber noch eine andere Beru-
fung, die allgemein ist; und wie nicht jeder denken kann, daß er auf die
erste Weise berufen sei, so muß jeder sich in der zweiten Art berufen
wissen. Und wie es eine große Sünde wäre, wenn jeder sich zur ersten
Gruppe rechnen wollte, so wäre es auch eine große Sünde, wenn einer
der zweiten Art der Berufung nicht entsprechen wollte. Kurz gesagt:
wie es eine große Sünde ist, der Stimme falscher Hirten zu folgen, so
ist es auch eine Sünde, die Stimme der echten nicht zu hören und ihr
nicht zu gehorchen. Den ganzen Tag, sagt der Herr, habe ich meine
Hände über dieses ungläubige und widerspenstige Volk ausgebreitet (Jes
65,2; Röm 10,21). Wen dürstet, der komme zu mir (Joh 7,37). Ich stehe
vor der Tür und klopfe an (Offb 3,20). Er tut es durch die Prediger: Wer
euch hört, der hört mich (Lk 10,16). Wenn ihr heute seine Stimme hört
(Ps 94,8). Welche Stimme? Was steht ihr den ganzen Tag hier müßig?
Geht auch ihr in meinen Weinberg (Mt 20,6f). Es kommt die Nacht, da
niemand mehr wirken kann (Joh 9,4). Bande des Todes umfangen mich,
die Gefahren der Hölle umgeben mich (Ps 116,3).
Wartet nicht, bis die Fastenzeit euch drängt. Wißt ihr denn, ob ihr
sie erleben werdet? Sie verbringen ihre Tage in Freude; in einem Augen-
blick steigen sie zur Unterwelt hinab (Ijob 21,13). Schmerzen des Todes
umgeben mich. Wir sind nur dann befreit, wenn uns ein Fuß fehlt. Wie
lange willst du schlafen, Faulenzer? Du willst ein wenig schlafen, ein
wenig schlummern, und die Armut wird über dich kommen wie ein Be-
waffneter (Spr 6,9-11); das heißt, du kannst ihr nicht entgehen. Wenn
ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle in gleicher Weise zugrundegehen (Lk
13,3.5). Oder wißt ihr nicht, sagt der hl. Paulus, daß die Langmut Got-
tes erwartet, daß du Buße tust? Du aber mit deinem unbußfertigen Her-
zen ... (Röm 2,4f). Fang heute an, aus Furcht, daß du überrascht wer-
den könntest. Ich rief, und ihr habt euch geweigert. So lache ich über
euren Untergang (Spr 1,24.26). Laßt uns das Gute tun, solange wir Zeit
haben (Gal 6,10). Abner fragte Davids Feldherrn Joab: Wie lange noch
soll denn dein Schwert wüten? Joab sagte: So wahr der Herr lebt, wenn
du heute morgen gesprochen hättest, dann hätte das Volk schon von
der Verfolgung abgelassen (2 Sam 2,26f). Pharao wollte den Rückzug

40
aus der Mitte des Roten Meeres antreten, aber er konnte nicht mehr.
„Er hat den Bußfertigen Verzeihung verheißen, aber er hat nicht die
Zeit zur Buße versprochen“ (Aug.).
Welche Gelegenheiten haben wir doch, um unsere Trägheit abzule-
gen! Soviel Leid, das wir jeden Tag sehen ... Unser Herr macht es wie
der Vater, der die Rute in der Hand hält und zu seinen Kindern, die er
züchtigt, sagt: Werdet ihr denn nie vernünftig? – Gebete, Reue, Beich-
te, gute Werke.
Die Welt ruft: Deficio (ich vergehe: 1 Joh 2,17); das Fleisch ruft:
Inficio (ich töte: Röm 8,13); der Dämon ruft: Decipio (ich täusche:
Gen 3,13); Christus ruft: Reficio (ich erquicke: Mt 11,28).
Geht auch ihr in den Weinberg des Herrn; er wird euch geben, was
euch zusteht. Es ist gerecht, daß jene, die er gerufen hat und die ihm in
dieser Welt gefolgt sind, ihm auch in die andere folgen werden: Wo
immer ich bin, soll auch mein Diener sein und er wird seinen Lohn
empfangen (Joh 12,26; 4,36). Ich bin dein überreicher Lohn (Gen 15,1).
Mut, meine Brüder! Alle sind berufen, doch nicht alle sind auserwählt
(Mt 20,16). Von uns hängt es ab, ob wir hingehen, um in seinem Wein-
berg zu arbeiten. Es macht Mühe, aber die Leiden dieser Zeit sind nicht
zu vergleichen mit der künftigen Herrlichkeit (Röm 8,18). Einen Tag
der Arbeit vergilt er mit dem ewigen Tag. Für die Mühe eines Tages
gibt er ewige Ruhe im Paradies dort oben. Das sei in Ewigkeit der Ort
unserer Ruhe; hier werden wir wohnen, wenn wir ihn erwählt haben
(Ps 132,14). Dort werden wir dich loben in alle Ewigkeit, wenn wir dir
den kurzen Tag dieser Welt gedient haben. Daher bitten wir dich, Herr,
gib uns dazu die Gnade, denn du bist ja der Gott des Erbarmens, Vater,
Sohn und Heiliger Geist.

41
Fastenpredigten 1594 in Annecy
Einleitung

Nr. 12: Ende Februar 1594* VII,139-141

Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe (Mt 3,2;


4,17).

Das sind die ersten oder vielmehr fundamentalen Worte der Predigt
Unseres Herrn. Nachdem er vierzig Tage im Gebirge gefastet hatte
(Mt 4,2), stieg er von dort herab und begann den Juden und dann der
ganzen Welt die heilige Buße zur Vergebung der Sünden (Mt 1,4) zu
predigen. Dadurch belehrt er uns, daß er dieses heilige Fasten auf sich
genommen hat als eine nicht notwendige Buße (denn wer nie gesün-
digt hat und niemals sündigen kann, bedarf der Buße nicht), sondern
als Vorbild der Buße. Er verlangt von uns ebenfalls Buße und daß wir
in gleicher Weise die Versuchungen überwinden. So wurde diese Leh-
re von allen Kirchenvätern verstanden, selbst von den Aposteln und
ihren Nachfolgern in den Jahrhunderten, und sie wurden so ausgelegt
durch den Mund der Heiligen, die von Christus her Propheten sind.
Deshalb haben sie durch „Überlieferung von Hand zu Hand“ die hei-
lige Fastenzeit sehr genau eingehalten und das Fasten angeordnet, da-
mit man besonders in dieser Zeit Buße tut, um möglichst würdig dem
Himmelreich zu nahen oder sich seiner nicht unfähig zu erweisen. Es
naht sich uns durch die Mitteilung des kostbaren Leibes Unseres Herrn,
des lebendigen Gedächtnisses des Todes Unseres Herrn und seines
Kreuzes, durch das das Reich Gottes (Mt 1,15), das nur in Gott allein
war, selbst den Menschen zuteil wurde.
Aus diesem Grund habe ich dieses Schriftwort gewählt, ehe ich eine
geeignete Predigt wählte, durch die ich euch an einigen Tagen Schritt
für Schritt im Geist an des Fuß des Kreuzes auf dem Kalvarienberg
und tatsächlich zum heiligen Leib und Blut Unseres Herrn führen und
dort glücklich ankommen lassen möchte. Durch diese Worte werden
wir belehrt, daß wir uns dem Reich Gottes, wenn es naht, auch unserer-
seits nähern müssen. Wir sind im Meer dieser Welt, inmitten der Wo-
gen und Stürme unserer eigenen Sünden, in die wir durch den bekla-
genswerten Schiffbruch unserer Taufunschuld geraten sind, den wir

* In seinem ersten Priesterjahr hielt Franz von Sales die Fastenpredigten in Anne-
cy. Davon sind außer dieser Einleitung (von der er offenbar nicht mehr ge-

42
selbst verschuldet haben. Um uns dem Reich Gottes zu nähern, müs-
sen wir uns am Nachen der Buße festhalten, der einzigen Zuflucht,
dem einzigen Trost in diesen Gefahren. Wenn wir in ihm auch nicht
ohne Furcht und Leid, ohne Seufzer, Hunger und ähnliche Nöte sind,
so sind wir doch sicher: wenn wir guten Mut haben, werden wir im
ersehnten Hafen des Kreuzes und dann der Glorie ankommen. Wir
wissen: wenn wir wollen, wird das Himmelreich, das wahre Land der
Verheißung, unser sein. Wir müssen nur aus Ägypten ausziehen und
Buße tun, um bald dort anzukommen. Über diese Reise, über diese
Pilgerfahrt will ich sprechen und euch an Hand der Erwägung gleich-
sam von Station zu Station (Num 33,1) führen bis zu dem Ort, den ihr
anstreben müßt.
Da aber der Weg, auf dem wir gehen müssen, eine große Wüste der
Buße ist, will ich euch vor allem ein wenig über deren Bedingungen
und Eigenschaften sagen, damit ihr mit Hilfe der Dinge, die wir dabei
im einzelnen sehen werden, nicht so unerfahren seid; dann werden wir
uns ankommen sehen.

Zum Donnerstag der 1. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 13 (Fragment): 3. März 1594 VII,142-145

– – – Ich liebe die Zierde deines Hauses und die Stätte deiner Herr-
lichkeit (Ps 26,8). Selig, die in deinem Haus wohnen, Herr (Ps 84,5).
Nun nimmt er sich vor, nicht mehr zu sündigen; er bedauert, sein
Paradies verloren zu haben, und beklagt seinen Verlust. Dann blickt er
nach oben und sieht den Himmel geöffnet mit dem Schlüssel des Kreu-
zes (Jes 22,22). Er steigt auf den Hügel der Hoffnung, der mit Blumen
bedeckt ist und erfüllt vom Duft der Oliven der Gnade und des Lor-
beers der Glorie. Da atmet die Seele auf; der Geist erwacht, um sich
dem Paradies zuzuwenden und die Sünde zu verlassen. Wer an die
Freuden der Sünde gewöhnt ist, beginnt auf diesem Hügel der Hoff-
nung bereits die Freuden der Gnade zu ahnen, zu fühlen und zu verko-
sten. Er bedauert unendlich die verlorene Zeit; und wenn er den ewi-
gen Lohn der Tugend bedenkt, kann er mit Recht sagen: Meine Augen
schmachten nach deinem Wort, und sagen: Wann wirst du mich trös-
ten? (Ps 119,82). Meine Augen werden schwach, wenn sie zum Himmel
aufschauen (Jes 38,14). Wer gibt mir Schwingen gleich der Taube, daß
ich fliege? (Ps 55,7)

43
Der hungrige Sperber späht nach der schönen Beute aus, will sich im
Flug auf sie stürzen und sie ergreifen, um seinen Hunger und seine
Gier zu stillen. Wenn er sich beim ersten Aufschwung gefesselt fühlt,
schlägt er zornig mit den Flügeln und zappelt mit den Füßen, um seine
Fesseln zu sprengen. So ergeht es auch der Seele, die auf diesem grü-
nen, freundlichen Hügel der Hoffnung angekommen ist: sie sieht das
Paradies, das ihr zur Beute gegeben ist, und versucht sich zu erheben.
Da fühlt sie sich durch die Sünde gefesselt, unfähig, es zu erreichen.
Welches Leid! Ihr fehlen weder die Flügel noch der Mut. Laßt uns die
Fesseln sprengen (Ps 2,3). Der Herr befreit die Gefesselten (Ps 146,7).
Nun beginnt sie sich zu bewegen. Sie will einerseits die Hölle fliehen,
andererseits die Beute erringen. So gerät sie in den heiligen und ge-
rechten Zorn der Reue. Doch stellt euch vor, der Sperber könnte spre-
chen und hätte Verstand, oder vielmehr, einer könnte für ihn spre-
chen; würde er dann nicht dem Herrn sagen: Laß mich frei, ich bitte
dich. Ich werde nicht mehr auf Abwege geraten; ich will stets zu dir
zurückkehren. Wenn sich die fromme Seele, die ja Verstand besitzt,
gefesselt fühlt, macht sie es nicht wie der Vogel, der nur um sich schla-
gen kann. Sie schaut vielmehr auf ihren Herrn und sagt: Herr, befreie
mich. Herr, meine Tochter wird von einem bösen Geist geplagt (Mt
15,22). Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele; mein Gott, auf dich ver-
traue ich; nie werde ich zuschanden werden (Ps 25,1f).
Von da gelangt die Seele auf den Berg der Liebe. Sie sieht, daß ihr
Herr bereit ist, sie trotz all ihrer Sünden aus der Hölle zu befreien und
ihr das Paradies zu schenken. So beginnt sie seine Güte zu bewundern:
Israel, wie gut ist Gott denen, die aufrechten Herzens sind (Ps 73,1).
Wäre ich so weise gewesen, seine Gebote zu befolgen, dann dürfte ich
mich jetzt seiner Gunst erfreuen. Wie gut ist er: Preiset den Herrn,
denn er ist gut (Ps 18,1). Und dann plötzlich ist er da, mitsamt der
Anmut der Liebe: Ich will dich lieben, Herr, meine Stärke (Ps 18,1). Ich
liebe, weil der Herr mich erhören wird (Ps 116,1). Von diesem Berg aus
betrachtet sie von neuem ihre Sünden, die sie verachtet: Ich habe ge-
sündigt wider den Himmel und vor dir. Herr, ich bin nicht mehr wert,
dein Sohn zu heißen (Lk 15,21). Ich bin nicht würdig, daß du eingehst
unter mein Dach (Mt 8,8). Geh nicht ins Gericht mit deinem Diener,
Herr (Ps 143,2). Erbarme dich meiner, Herr, nach deiner großen Barm-
herzigkeit (Ps 51,1). Wie konnte ich nur die Stirn haben, eine solche
Güte zu beleidigen? Wie konnte es geschehen, daß ich erst jetzt von so
großer Bosheit mich abwende?
Vielleicht kannst du noch nicht zum Himmel aufsteigen, um die
Güte Gottes zu betrachten; dann schau sie in ihrem Spiegelbild. Der

44
Spiegel der Güte Gottes (Weish 7,26) ist die Passion des Erlösers Je-
sus. Betrachte diesen schönen, jungen und edlen Mann, die Zierde der
Welt, die vollkommene Güte, die Wonne der Engel, der auf die Erde
kam, und frage: Warum ist der König des Himmels auf die Erde ge-
kommen? Die Engel werden dir antworten: So sehr hat Gott die Welt
geliebt (Joh 3,16). Und ist er freiwillig auf die Erde gekommen? Ganz
freiwillig: freudig, wie ein Krieger seine Bahn durchläuft (Ps 19,6). Und
warum? So sehr hat Gott ... Doch wenn er schon kommen wollte, wa-
rum kam er dann nicht in Herrlichkeit, leidensunfähig? Um unser
aller Sünden zu tragen (Jes 53,5.6.11). Und hat er das gerne getan? So
gern, daß er mit großer Sehnsucht dieses Pascha erwartet hat (Lk 22,15).
Warum? Weil Gott die Welt so sehr geliebt hat. Warum aber wird er
dann traurig im Ölgarten, in den ich mit ihm gekommen bin? Um dir
zu zeigen, daß er wirklich leidet, und weil er andererseits sieht, daß du
seine Erlösung so mißachtest, und weil es wenige Menschen gibt, die
tatsächlich auf sie rechnen. Warum wollte er aber so viel leiden? Weil
Gott die Welt so sehr geliebt hat.
Wohlan, meine Seele, richte dich auf. Wenn Gott die Welt so sehr
geliebt hat, daß er seinen Sohn gesandt hat, um dich von deinen Sün-
den reinzuwaschen, so bereue, beklage und beweine die Sünden, die
du begangen hast, und verlaß von nun an nie mehr deinen guten Herrn.
Sag ihm Dank für die Vergangenheit; für die Zukunft versprich ihm,
daß du die nächste Gelegenheit zur Beichte nützen willst. Um nicht
undankbar zu sein, führe ein Leben wahrer Buße; verbringe deine Tage
in Reue, Buße und Genugtuung. Meine Brüder, wenn ihr diese Gesin-
nung habt, dann seid ihr gut auf dem Ölberg angekommen, d. h. in
Frieden und Gnade. Wenn ihr noch nicht so weit seid, dann verbringt
diese Woche in der Verachtung eurer Sünden, und ich bin sicher, wenn
Gott euch dazu hilft, werdet ihr dort ankommen und die gütige Stim-
me des Erlösers vernehmen: Seele, dein Glaube ist groß; es sei dir ge-
währt, worum du bittest (Mt 15,28).

45
Zum FFreitag
reitag der 3. FFastenwoche
astenwoche

Nr. 14: 18. März 1594 VII,146-152


Es kommt die Stunde, und sie ist schon da, in der
die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der
Wahrheit anbeten werden. Solche Anbeter sucht der
Vater. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen
ihn anbeten im Geist und in der Wahrheit (Joh
4,23f).

Hier haben wir eine der beachtenswertesten und kennzeichnendsten


Stellen des Evangeliums. Gott selbst erklärt und gibt die Art an, wie
wir ihm gut und wohlgefällig dienen sollen. Im übrigen ist diese Stelle
ziemlich schwierig und wurde manchmal von den Gegnern der katho-
lischen Kirche aufgegriffen, um den Glauben der Väter zu erschüt-
tern. Gleichwohl sind in ihr mehrere wunderbare Geheimnisse zur
Stärkung des Glaubens der Kirche und ihrer Wahrheit verborgen. Es
sind dies Geheimnisse, die wir selbst niemals entdeckt hätten, wenn
nicht Er, der sie zu unserem Heil geschaffen hat, sie uns durch seine
Gnade sichtbar werden ließe. Bitten wir ihn also bei seinem Blut, daß
er uns seiner Glorie und seiner Ehre teilhaftig mache, und gewinnen
wir seine Mutter als Fürsprecherin; an sie richten wir nun den Gruß
des Engels. Ave Maria.
Wenn der Jäger auf Hirsch und Hindin Jagd macht, erwartet er sie
an einer Quelle, an die sie gewöhnlich zum Trinken kommen (denn
diese Tiere haben einen besonders starken Durst), um sie zu fangen,
wenn die Kälte des Wassers sie erschlaffen ließ, entsprechend dem
Wort des Psalmisten (Ps 42,1): Wie der Hirsch nach der Quelle ruft, so
sehnt sich meine Seele nach dir, mein Gott. So ging auch Unser Herr in
der Begebenheit des heutigen Evangeliums zu einer Quelle, erwartete
eine arme Sünderin, die in ihrer Sündhaftigkeit lechzte, um sie in
meisterhafter Jagd zu fangen, nachdem er durch seine heiligen Worte
die Regungen der Sünde und der Begierlichkeit in ihr betäubt hat.
Doch hört in kurzen Worten den Hergang (Joh 4,1-19); dann wollen
wir beim wichtigsten Punkt verweilen, der uns begegnet.
Die Jünger des Herrn tauften viele Menschen in Judäa, viel mehr,
als der hl. Johannes der Täufer getauft hatte. Als Unser Herr bemerk-
te, daß die Pharisäer und Schriftgelehrten aus Mißgunst gegen ihn da-
rüber aufgebracht waren, zog er weiter nach Galiläa, um dort mit sei-
ner heiligen Predigt zu beginnen, da die Zeit seines Leidens noch nicht
gekommen war und er zudem sah, daß er in Judäa keinen besonders

46
großen Erfolg hatte. Er blieb in Kafarnaum, das an der Grenze von
Sebulon und Naftali liegt, wie Jesaja (9,1) vorhergesagt: Früher war
das Land von Sebulon und Naftali verachtet.
Zwischen Judäa und Galiläa lag nun Samaria. Dort war eine Stadt
mit Namen Sichem, am Berg Garizim gelegen, einst berühmt als Haupt-
stadt des Königreichs Israel, die der abtrünnige Jerobeam erbaute (1
Kön 12,25). Abraham hatte hier einen Altar errichtet, als er nach sei-
nem Auszug aus Mesopotamien hierher kam, da ihm dieses Land ver-
sprochen worden war (Gen 12,6f; 13,14f). Jakob schlug hier sein Zelt
auf, als er aus Mesopotamien zurückkam, und kaufte einen Teil des
Feldes von Hamor (Gen 33,18f). Hier wurde Dina geschändet, wurde
der Sohn des Königs und viele Männer von den Söhnen Jakobs er-
schlagen (Gen 34). Sichem war eine Asylstadt (1 Chr 6,67) Hier wur-
de Josef auf einem Grundstück begraben, das Hamor gehörte und Jo-
sef zum Erbe gegeben wurde (Jos 24,32).
Hier war ein Brunnen, den Jakob gegraben hatte, und hier war Josef
begraben. Als Unser Herr müde und erschöpft vom Weg, den er hinter
sich hatte, hier ankam, setzte er sich am Brunnen nieder: Jesus aber,
müde vom Weg, setzte sich an den Brunnen. So also, wie er war, müde
und erschöpft, setzte er sich wie jeder andere Mensch. Seht ihr nicht
die Güte des Herrn, die Liebe dieses Jägers, der eilt, um die Seele als
Beute zu gewinnen, obgleich er müde ist und sozusagen gezwungen,
sich auszuruhen? Seht unsere Nachlässigkeit: wir sind schon entrüstet
über die geringste Mühe der Welt, die wir auf uns nehmen müssen, um
uns selbst zu retten. Unser Herr war nicht ohne Grund müde; er war
lange gewandert, und ohne Zweifel zu Fuß, denn das Evangelium sagt:
Es war um die sechste Stunde und fast Mittagszeit. Die Juden teilen
nämlich den Tag in zwölf Stunden ein, ebenso die Nacht.
Während nun der himmlische Jäger sich ausruht, siehe da kommt
die arme, beklagenswerte Hindin zum Brunnen, die jedoch bald die
glückliche und überglückliche Samariterin sein wird. Es kam eine Frau
aus Samaria, um Wasser zu schöpfen. Glückselige Samariterin, du
kamst, um vergängliches Wasser zu holen, und du hast das unvergäng-
liche Wasser der Gnade des Erlösers gefunden. Glücklich warst du,
Rebekka; du kamst an die Quelle und fandest dort den Knecht Abra-
hams, der dich zu Isaaks Frau machte (Gen 24,15.51). Glücklicher
noch bist du, Samariterin, die du jetzt zum Wasser kommst und dort
Unseren Herrn findest, der dich aus einer Sünderin, die du warst, zu
seiner Tochter und zu seiner Braut macht.

47
Sieh die Gelegenheit, die Unser Herr ergreift, um diese Seele zu
retten. Hier an der Quelle sagt er zu ihr: Da mihi bibere; gib mir zu
trinken. Unser Herr bittet uns um Werke der Barmherzigkeit, damit er
Gelegenheit findet, uns Gutes zu tun. Er verlangt den Trunk nicht, um
zu trinken, sondern um die Samariterin das Wasser der Gnade trinken
zu lassen. So beginnt er ein Gespräch mit ihr, da seine Jünger in die
Stadt gegangen sind, um Nahrung zu kaufen. Discipuli enim ejus abierant
in civitatem ut cibos emerent. Da er allein mit ihr redet, ist es auch
leichter, sie zum Bekenntnis ihrer Sünde zu veranlassen, von der die
Frau zu ihm spricht. So sagt die Samariterin zu ihm (denn sie hat noch
nicht begonnen; Bernhard, De Gratia et Libero arbitrio XIII,1: „Die
Anstrengungen unseres freien Willens sind vergeblich, wenn sie nicht
unterstützt werden, und nichtig, wenn sie nicht angeregt worden sind.“).
Sie sagt: Wie kannst denn du als Jude von mir einen Trunk erbitten, da
ich eine Samariterin bin? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den
Samaritern. Die Juden verachteten die Samariter, wie ich später zei-
gen werde. Diese Frau hielt ihm das vor, als sie sagte: Ihr Juden be-
trachtet die Samariter als Ausgestoßene; wie kannst du mich also um
einen Trunk bitten? Sie weiß wohl, daß es kein verbotener Umgang ist,
um ein wenig Wasser zu bitten, aber sie sagt es doch als Vorwurf.
Jesus antwortet ihr und sagt: Wenn du die Gabe Gottes kenntest und
wüßtest, wer zu dir sagt: Gib mir zu trinken, so hättest du ihn wohl
gebeten, und er würde dir lebendiges Wasser geben. Sieh, Unser Herr
beginnt den Pfeil seiner göttlichen Liebe auf sie zu richten. Zwei Din-
ge: 1. Wenn du die Gabe Gottes kenntest, die der Vater der Welt gege-
ben hat: So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen
Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben habe (Joh
3,16). 2. Und wer jener ist, der dich um einen Trunk bittet. Er ist ja
jener, der gekommen ist, nicht um Gerechte zu berufen, sondern die
Sünder zur Buße zu führen (Lk 5,32). Wenn du also beides erkannt
hättest, die Gabe des Vaters, und daß ich diese Gabe bin (Joh 4,26).
Zwei weitere Dinge: Du hättest ihn vielleicht darum gebeten. 1. Viel-
leicht: der freie Wille. – 2. Du hättest ihn darum gebeten; du hättest es
nicht von ihm erwartet. – Und nochmals zwei Dinge: 1. Er hätte dir
gegeben; sich nicht geweigert wie du. – 2. Lebendiges Wasser: viel
besseres als das, worum ich dich bitte.
Da sprach die Frau zu ihm: Herr, du hast nichts, womit du schöpfen
könntest, und der Brunnen ist tief. Woher willst du also lebendiges
Wasser nehmen? Wie verkennt sie die Absicht Unseres Herrn! Er
spricht von der Gabe Gottes, und sie redet von der Erde. – 2. Unser
Herr spricht von lebendigem Wasser, sie vom toten: Wie kann der uns

48
sein Fleisch zu essen geben? (Joh 6,53). Bist du etwa größer als unser
Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat, der selbst daraus
trank mit seinen Kindern und seinen Herden? Seht die List: Sie ist
schon vom Erlöser erleuchtet; so wagt sie nicht zu sagen: „Nein, du
bist es nicht“; sie fragt vielmehr: Bist du etwa? Indessen zeigt sie sehr
wohl, daß es ihr schwerfällt zu glauben. Doch achtet darauf, welch
ehrenvolles Andenken sie Jakob wahrt und wie sie nach und nach
zutraulich wird: patre nostro, von unserem Vater Jakob; wir alle stam-
men vom gleichen Vater ab.
Jesus antwortet ihr und sagt: Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird
wieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben
werde, wird in Ewigkeit keinen Durst mehr haben. Betrachten wir ein
wenig den Unterschied zwischen beiden Arten von Wasser: das eine
stillt den Durst, aber nicht für lange Zeit; das andere dagegen in Ewig-
keit ... Es handelt sich hier um zwei verschiedene Arten von Durst: den
des Leibes und den der Seele, denn die Wünsche sind ein Durst der
Seele; von ihm sagt der Herr: Er wird nicht dürsten, und der Psalmist
(Ps 42,2: Vulg. ant.): Meine Seele dürstet nach Gott, der lebendigen
Quelle. Doch der Heilige Geist stillt dem, der ihn durch die Gnade
empfängt, den Durst des Leibes und der Seele in dieser und in der
anderen Welt. In dieser Welt: Ich erachte alles als Kehricht, damit ich
Christus gewinne (Phil 3,7f); aber unvollkommen, denn er bleibt stets
im Menschen: Ich fühle in meinen Gliedern ein Gesetz, das dem Gesetz
meines Geistes widerstreitet (Röm 7,23). In der anderen Welt voll-
kommen: Ich werde gesättigt sein, wenn deine Herrlichkeit sichtbar
wird (Ps 17,15). Die Wasser löschen den ewigen Durst nicht; das kön-
nen nur die Wasser des Heiligen Geistes. Denken wir an die Parabel
von Lazarus und dem unglücklichen Reichen (Lk 16,19-31). Doch
das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer sprudelnden
Quelle des ewigen Lebens. Das Wasser steigt ebensoviel, als es fällt. Er
wird eure sterblichen Leiber auferwecken durch seinen Geist, der in
euch wohnt (Röm 8,11) ...
Die Frau sagt zu ihm: Herr, gib mir von diesem Wasser, damit ich nicht
mehr dürste und nicht mehr hierher kommen muß, um Wasser zu schöp-
fen. Sie glaubt, daß Unser Herr größer ist als Jakob und daß er besseres
Wasser gibt. Aber sie erbittet es für das Zeitliche, da sie noch nicht
erleuchtet ist.
Jesus sagt zu ihr: Rufe deinen Mann. Sie antwortet: Ich habe keinen
Mann. Da sagt ihr Jesus: Du hast richtig gesagt, daß du keinen Mann
hast. Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht

49
dein Mann. Du hast die Wahrheit gesagt. Die Frau sagt zu ihm: Herr, ich
sehe, daß du ein Prophet bist. – Sündenbekenntnis. – Ich habe gesagt:
Ich gestehe meine Ungerechtigkeit dem Herrn, und du hast mir die Bos-
heit meiner Schuld vergeben (Ps 32,5).

Zum 4. FFastensonntag
astensonntag

Nr. 15 (Fragment): 20. März 1594 VII,153-156

Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn anbe-
ten im Geist und in der Wahrheit (Joh 4,24).

Nachdem Elija Rache an den Propheten Baals am Bach Kischon


genommen und das große Gemetzel gemacht hat, wie es (1 Kön 18,40)
heißt, sagte er Ahab einen großen Regen voraus. Er befahl seinem
jungen Diener, vom Berge Karmel siebenmal gegen das Meer auszu-
schauen. Beim siebenten Mal sah er eine Wolke kommen, klein wie die
Fußspur eines Mannes, und kurz darauf kam eine regenschwere Wolke,
ein Wind und ein großer Regen (18,41.45). Wenn ihr die sieben Worte
betrachten wollt, die Unser Herr zur Samariterin gesagt hat, werdet
ihr in ihnen eine kleine Wolke erkennen, schwer von heiliger Buße. Sie
wird dann größer und läßt eine große Schar von Samaritern kommen
(Joh 4,30). Ihr seid schon beim fünften Wort, da Unser Herr die
Samariterin ihre Sünde bekennen läßt.
Ich glaube, ihr kennt die Geschichte der Auferweckung des Kindes
der frommen Schunemitin durch Elischa. Wie es (2 Kön 4,8-35) heißt,
wohnte Elischa bei ihr. Als Gegenleistung erbat er ihr ein Kind, aber
es starb jung. Sie wandte sich an den Propheten auf dem Berg Karmel,
damit er ihrem Kind das Leben erwirke. Elischa kam selbst zur
Schunemitin, schloß die Tür hinter sich und dem Knaben, betete zu
Gott und legte sich zweimal über den kleinen Knaben; schließlich gähnte
das kleine Geschöpf siebenmal, öffnete die Augen und erwachte zum
Leben. So paßt sich Unser Herr dermaßen der Samariterin an, als er
allein mit ihr ist, daß sie siebenmal gähnte und vom Tod der Sünde
zum Leben der Gnade erstand; das sind die sieben Worte, die sie
sprach; wir waren beim fünften: Du bist ein Prophet. Ihr müßt euch
aber an zwei Dinge erinnern, die ich am Freitag sagte: 1. daß die Um-
stände die Samariterin Unseren Herrn als Propheten erkennen ließen;

50
2. daß die Juden die Samariter als Häretiker und Heiden ansahen; ich
will mich aber bei den Gründen nicht aufhalten.
Der Ursprung der Samariter ist folgender: Nach der Teilung des
Reiches Israel durch Jerobeam (1 Kön 12), die der Schilonite Ahija (1
Kön 11,31) vorhergesagt hatte (es wäre zu lang, sie zu schildern), fürch-
tete Jerobeam, daß die zehn Stämme seiner Untertanen wieder Liebe
zu ihrem ursprünglichen König Rehabeam faßten, wenn sie den Tem-
pel und die ordentliche Nachfolge der Priester in Jerusalem anerkann-
ten. Deshalb errichtete er einen Tempel falscher Götter in Samaria
und machte Leute aus dem niedrigen Volk zu Priestern, die nicht in der
legitimen Nachfolge Levis waren (1 Kön 12,27-31). Von dieser Spal-
tung kam nur Unheil nach Israel. Unter Hosea führte schließlich
Salmanassar von Syrien alle diese Schismatiker in Gefangenschaft,
wie es der Türke mit unseren Schismatikern gemacht hat. Um einer
Rebellion vorzubeugen, ließ er sie nach Assyrien ziehen und setzte an
ihre Stelle Skythen und Babylonier; das waren böse Leute. Gott sandte
Löwen; zur Abhilfe sandte man ihnen einen Priester von den Gefange-
nen, der sie das Gesetz Gottes lehren sollte. Diese Leute konnten sich
aber nicht entschließen, ihren Götzendienst aufzugeben, folglich be-
teten sie Gott an und verehrten ihn und die falschen Götter (2 Kön
17). Nun darf man annehmen, daß nicht alle abfielen, sondern einige
von ihnen aushielten, andere zurückkehrten; so waren die Samariter.
Dann kommt ein Betrüger, ein Abtrünniger, der ihnen verschiedene
Irrlehren in den Kopf setzt.
Unter dieser Voraussetzung haßten nun die Juden die Samariter, 1.
weil sie ihre Besitzungen innehatten, denn Samaria gehörte den He-
bräern; 2. weil sie zum Volk der Assyrer gehörten, die die Juden sehr
gequält hatten; 3. weil bei ihnen das Heidentum neben der wahren
Religion herrschte und jeder sich verhielt, wie es ihm gefiel. 4. Die
Samariter hinderten die Juden, die zur Zeit des Artaxeres aus der
Gefangenschaft zurückkehrten, die Stadt und den Tempel wieder auf-
zubauen (Esra, Kap. 4 u. 5). 5. Sie waren unentschiedene Leute, sagt
Josephus (XII,7). 6. Weil sie ihnen Ärgernis gaben und ihre Übeltäter
zurückhielten, sagt Josephus (XI,8); 7. vor allem aber, weil sie
Schismatiker waren und einen Gegenaltar errichtet hatten, indem sie
einen Tempel auf dem Berg Garizim bauten und Priester außerhalb
der ordentlichen Nachfolge einsetzten. Darüber kam es zum Streit vor
dem König von Ägypten, der den Hebräern rechtgab (Josephus
XI,XIII); und weil sie nur die fünf Bücher Mose, den Pentateuch, an-
nahmen, die übrigen verspotteten. Das war die hauptsächliche Streit-
frage.

51
In unserem Fall hatte der Herr die Samariterin ihre Sünde bekennen
lassen und sie ihr enthüllt; dadurch erkannte sie, daß er ein Prophet
sei: Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist. Weil es ihr aber mißfiel, bei
diesem Gespräch zu bleiben, lenkte sie es auf eine Streitfrage der Re-
ligion. Das ist ja bei den falschen Religionen das Gewöhnliche, die
Streitgespräche sehr zu fördern, an denen sich das Volk ebenso betei-
ligen kann wie die anderen. So wird also diese Frau zur Theologin,
will ihr Heil suchen und sagt: Unsere Väter haben auf diesem Berg
angebetet; ihr sagt, Jerusalem ist der Ort, an dem man anbeten muß.
Jakob hat auf diesem Berg angebetet, als er aus Mesopotamien zurück-
kehrte (Gen 33,18-20); ebenso Abraham (Gen 12,7). Wenn also unse-
re Väter hier angebetet haben, warum sagt ihr ...
Ihr müßt aber wissen, daß anbeten hier für opfern steht. Was die
persönliche Anbetung betrifft, kann sie überall geschehen; nicht aber
das Opfern, außer am Ort, den der Herr erwählt hat (Dtn 12,5f). Das
war die Frage, die zwischen den Juden und den Samaritern stand, die
diese Frau aufwirft. Und ich glaube eine Frau in Genf sagen zu hö-
ren: Warum eßt ihr kein Fleisch? Die Apostel haben doch davon
gegessen. – – –

Zum Osterdienstag

Nr. 17: 12. April 1594 VII,166-171

Friede sei mit euch! (Lk 24,37; Joh 20,19)

Ohne Zweifel war in der Arche Noachs die Freude sehr groß, als die
Taube, die kurz zuvor fortgeflogen war, um den Zustand der Erde zu
erkunden, schließlich mit dem Ölzweig im Schnabel zurückkam, als
sicheres Zeichen dafür, daß die Flut zurückgegangen war (Gen 8,10f)
und daß Gott der Welt wieder den Segen seines Friedens geschenkt
hat. Mit welchem Jubel aber, o Gott, mit welcher Fröhlichkeit und
Freude wurde die Schar der Apostel erfüllt, als sie die heilige Mensch-
heit des Erlösers nach der Auferstehung in ihre Mitte zurückkehren
sahen, der in seinem Mund den Ölzweig eines heiligen und willkom-
menen Friedens trug: Friede sei mit euch! Er zeigte ihnen die untrügli-
chen Zeichen der Wiederversöhnung der Menschen mit Gott: Und er
zeigte ihnen seine Hände und seine Füße (Lk 24,40). Ohne Zweifel
waren ihre Seelen nun ganz vom Trost erfüllt: Die Jünger freuten sich,
als sie den Herrn sahen (Joh 20,20). Aber diese Freude war nicht die

52
wichtigste Wirkung dieser heiligen Erscheinung: ihr schwankender
Glaube wurde gefestigt, ihre schüchterne Hoffnung wurde gesichert
und ihre fast erloschene Liebe wurde neu entfacht. Darüber möchte
ich in dieser Predigt sprechen. Das kann ich jedoch nur gut tun, und
ihr könnt nur gut zuhören, wenn der Heilige Geist uns beisteht. Rufen
wir ihn also an; um ihn aber besser anrufen zu können, bemühen wir
uns um die Fürsprache der heiligen Jungfrau. Ave Maria.
Nunc autem manent fides, spes, charitas, tria haec; major autem
horum est charitas. Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, die-
se drei; das Größte aber unter ihnen ist die Liebe (1 Kor 13,13). Der
Glaube für den Verstand, die Hoffnung für das Gedächtnis, die Liebe
für den Willen. Der Glaube ehrt den Vater, denn er stützt sich auf die
Allmacht; die Hoffnung ehrt den Sohn, denn sie ist gegründet auf sei-
ne Erlösung; die Liebe ehrt den Heiligen Geist, denn sie umfängt und
liebt die Güte. Der Glaube zeigt uns die Glückseligkeit, die Hoffnung
läßt uns nach ihr streben, die Liebe bringt uns in ihren Besitz. Alle
drei sind notwendig, uzw. für jetzt, denn im Himmel bleibt nur die
Liebe. Der Glaube geht nicht in den Himmel ein, denn dort schaut
man alles; die Hoffnung noch weniger, denn man besitzt dort alles.
Nur die Liebe hat dort ihren Platz, um Gott in allem, durch alles und
mit allem zu lieben. Elija ließ seinen Mantel fallen (2 Kön 2,12f): Der
Mantel des Glaubens und der Schleier der Hoffnung kommen nicht in
den Himmel mit, sondern sie bleiben auf der Erde, wo sie notwendig
sind. Unser Herr will nichts anderes, als uns diese drei Lehren gut
einzuprägen: wie man glauben, hoffen und lieben muß. Das tut er vor
allem in diesen vierzig Tagen, in denen er nach der Auferstehung mit
seinen Aposteln verkehrt (Apg 1,3), und ganz besonders bei der Er-
scheinung, von der heute berichtet wird.
Fürs erste: Die Jünger waren in einem Saal versammelt und hatten
aus Furcht vor den Juden die Türen fest verschlossen (Joh 20,19). Der
Heiland tritt ein, grüßt sie und zeigt ihnen seine Hände und seine
Füße. Warum das?
(I.) Um ihren Glauben zu festigen. Ach, wie war ihr Glaube erschüt-
tert! Die arme Magdalena war ihn unter den Toten suchen gegangen
und wollte ihn einbalsamieren; nun glaubte sie, daß man ihn geraubt
habe. Die Apostel waren in einer Verfassung, daß sie die Kunde für
leeres Gerede hielten; sie glaubten ihnen nicht, nämlich den Frauen,
die Botschaft, die sie von den Engeln erfahren hatten (Lk 24,6.11).
Die beiden Pilger sagten: Wir hatten gehofft (Lk 24,21). Der große hl.
Thomas rief aus: Ich kann nicht glauben (Joh 20,25). Um also diesen
Glauben zu festigen, dem der Untergang drohte, kam Er und sagte:

53
Friede sei mit euch; und er zeigte ihnen seinen Leib. Aber wie kann es
geschehen, daß sie glaubten, da sie ihn gesehen und berührt haben?
(Gregor d. Gr.). Der Verstand hat gehandelt wie der Quartiermeister,
der einem anderen die Wohnung bereitet, selbst aber nicht dableibt.
So hat er den Glauben in das Herz der Apostel und in das unsere
gebracht. Dennoch bleibt er nicht länger in Tätigkeit, denn wenn der
Glaube gekommen ist, weicht der Verstand, wie die Nadel, die die
Seide einführt ...
Welche Glaubensartikel aber werden begründet? (1.) Die Identität
des Leibes bei der Auferstehung: Ich werde Gott, meinen Erlöser, in
meinem Leib schauen; von neuem werde ich von meiner Haut umge-
ben sein (Ijob 19,26). Seht, ich bin es selbst (Lk 24,39). O bewunde-
rungswürdiger Glaubenssatz! Wenn wir daran fest glauben, sind wir
gute Christen, denn wir werden daraus ohne Schwierigkeit folgende
Konsequenzen ziehen: Ich darf also meinen Leib nicht entweihen, denn
in einem Augenblick, beim Schall der letzten Posaune, werden wir auf-
erweckt werden (1 Kor 15,51f). Warum sollte beim ersten Posaunen-
schall nicht der gleiche Leib erscheinen? Ist Christus nicht auferstan-
den, dann ist unser Glaube nichtig (1 Kor 15,14.17). – (2.) Die Wahr-
heit von der Beschaffenheit des Leibes, der den Regungen der Seele
folgt wie die Kleider. Der Leib beschwert die Seele (Weish 9,15); die
Seele macht den Leib leicht. Der gute David konnte sich in der Rü-
stung Sauls nicht bewegen (1 Sam 17,39). Solange unsere Seele mit
dem irdischen Leib beschwert ist, kann sie sich nicht gut bewegen.
Siehe, sie glaubten ein Gespenst zu sehen (Lk 24,37); Magdalena einen
Gärtner (Joh 20,15); die Pilger einen Pilger (Lk 24,15); die Fischer
einen Fischer (Joh 21,4-7). Einmal war er sichtbar, einmal kam er
durch verschlossene Türen. Gesät wird ein Sinnenleib, auferweckt wird
ein vergeistigter Leib (1 Kor 15,44). Wie der Adler, der nicht fliegen
kann, bis er seine Jugend erneuert hat (Die Rabbiner, Genebrard zu
Ps 103,5). Was sollten jene tun, die sich für die Toten taufen lassen?
Wozu lassen sie sich für jene taufen? Wozu setzen wir uns zu jeder Stun-
de so vielen Gefahren aus? Jeden Tag sterbe ich für euren Ruhm, den
ich in unserem Herrn Jesus Christus habe. Was nützte es mir, daß ich in
Ephesus gegen wilde Tiere gekämpft habe, wenn die Toten nicht aufer-
weckt werden? Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot (1
Kor 15,29-32).
II. Die Hoffnung. Nun, ihre Hoffnung war schwach: Wir hatten ge-
hofft. Sie fürchteten sich. Die Hoffnung ist der Furcht entgegenge-
setzt. Sie trauerten und weinten, sagt der hl. Markus (16,10). Es ist eine
ernste Sache, wenn man von Gott getrennt ist. Man ist ängstlich, man

54
verliert die Kraft. So war es bei den Aposteln, so war es bei Magdale-
na. Wie ein Schiff ohne Lotsen und ohne Steuermann im Unwetter
und Sturm zerschellt oder vom Wind getrieben wird, so war dieses
arme Schifflein ohne Hoffnung: Efraim ist geworden wie eine verirrte
Taube ohne Mut (Hos 7,11). O, ich möchte nicht, daß wir ohne Hoff-
nung wären, aber ich wollte wohl, daß wir weinen, wenn wir Gott ver-
lieren. Der Hirsch ... (Ps 42,1.3). Aber Unser Herr kommt, um Hilfe
zu bringen, an diesem Ort, der von der Furcht belagert ist: Seht meine
Hände und meine Seite (Lk 24,39). Braucht ihr Kraft, so seht meine
Hände; braucht ihr ein Herz, seht hier das meine. Wenn ihr Täubchen
seid, so seht die offenstehenden Wundmale (Hld 2,14). Seid ihr krank,
hier habt ihr den Arzt: Verschlungen ist der Tod im Sieg (1 Kor 15,54).
Estis captivi, en redemptio; seid ihr Gefangene, hier ist die Befreiung
(Jes 61,1; Lk 4,19). Ach, wie könnten wir uns fürchten? Seht, er kommt;
er blickt durch das Gitter und späht durch die Fenster (Hld 2,8f).
(III.) Die Liebe. Kann denn die Frau das Kind vergessen, das sie in
ihrem Schoß getragen hat? Und wenn sie es vergäße, so vergesse ich
dich nicht. In meine Hände habe ich dich eingeschrieben (Jes 49,15f).
Er nimmt unser Elend und adelt es; er legt unser Elend auf sein Herz
(Ijob 7,17): Er zeigte seine Seite. Schenken wir ihm also wieder Liebe,
sonst wird Er, der uns seine Wunden aus Liebe zeigt, sie uns eines
Tages in Zorn und Entrüstung zeigen: so wie die Bilder, auf denen
rechts eine Frau und links der Tod steht, rechts ein Lamm, links ein
Löwe; wie die Bienen, die Honig bereiten, aber auch schmerzhaft ste-
chen. Seht die Hände, ihr Betrüger, ihr Spötter, ihr Schamlosen. Sie
werden aufschauen zu dem, den sie durchbohrt haben (Sach 12,10; Joh
19,37). Alle Völker werden wehklagen über sich (Offb 1,7).
Gütiger Jesus, gib, daß wir den Frieden annehmen, den du bringst,
und laß uns deine Wunden sehen. Und da der Glaube, die Hoffnung
und die Liebe bleiben, mögen wir, festgewurzelt im Glauben (Eph
3,17; Kol 2,7), freudig in der Hoffnung, glühend in der Liebe (Röm
12,10-12), das beseligende Ziel unserer Hoffnung, deine Ankunft er-
warten (Tit 2,13). Gib, daß wir dabei zur Rechten dich als Lamm
sehen, nicht als Löwen zur Linken. Gib, daß wir anstelle des Glaubens
das Schauen, anstelle der Hoffnung den Besitz und anstelle der unvoll-
kommenen Liebe die vollkommene Liebe besitzen, deren wir uns in
alle Ewigkeit erfreuen werden. Amen.

55
Zum Fest der Kreuzauffindung
Nr. 18: 3. Mai 1594 VII,172-179
Ferne sei es von mir, mich zu rühmen, außer im Kreuz
unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt
gekreuzigt ist und ich der Welt (Gal 6,14).
Wenn schon der Prophet Jona so sehr getröstet war durch den
Wunderbaum, den der Herr für ihn wachsen ließ, daß die Heilige Schrift
(Jona 4,6) von ihm sagt: Und Jona freute sich sehr über den Wunder-
baum, wie groß muß dann erst die Freude der Christen sein über das
hochheilige Kreuz Unseres Herrn, unter dem sie viel mehr Schatten
finden als Jona durch den Wunderbaum. Sie haben hier mehr Schutz
und Sicherheit als Jona unter dem Wunderbaum. So können wir also
sagen: Mag Jona unter dem Wunderbaum wieder froh werden, mag
Abraham unter dem Baum den Engeln ein Mahl bereiten (Gen 18,4-
8), mag Ismael unter dem Strauch in der Wüste erhört werden (Gen
21,15f); mag Elija in der Einsamkeit unter dem Ginsterstrauch Nah-
rung erhalten (1 Kön 19,4f): wir suchen keinen anderen Schatten als
den des Kreuzes, kein anderes Mahl, als uns hier bereitet ist. Ihm
gelten unsere Tränen und unser Rufen. Wir wollen keine andere Nah-
rung als die Früchte des Kreuzes. Es sei uns ferne, uns in irgendetwas
anderem zu rühmen.
Was bedeutet es nun tatsächlich, sich einer Sache zu rühmen? Es
bedeutet, sich ihretwegen hochschätzen, eine hohe Meinung von sich
haben, ihretwegen sich für glücklich und stark halten. Jeder rühmt
sich der Dinge, in denen er sich groß dünkt, sagt der gelehrte Doctor
angelicus, der hl. Thomas. Die Güter nun, in denen wir uns für groß
erachten, sind von dreierlei Art: Werte der Seele, des Leibes, des Glük-
kes. Der eine rühmt sich seines Wissens, der andere seiner Gesund-
heit, Kraft und Schönheit, jener seiner Anlagen, seines Ranges und
seines Reichtums. Wozu aber? O Eitelkeit der Eitelkeiten; alles ist Ei-
telkeit (Koh 1,2). Der Mensch vergeht wie der Schatten (Ps 38,7). Was
das Wissen betrifft, gleicht er unvernünftigen Tieren (Ps 48,13.21); was
den Leib betrifft: Staub ist er (Gen 3,19); von Reichtum und Glücks-
gütern gilt: Die Welt vergeht samt ihrer Lust (1 Joh 2,17). So kommt es
also dazu, daß man sich wegen so nichtiger Dinge rühmt und für groß
hält. Doch im Kreuz Unseres Herrn, welche Ehre! Wenn Er, der groß
war, weil er Gott ist, in ihm seine Erhöhung findet (Joh 3,14; 12,32),
seine Verherrlichung (Joh 12,23; 17,1), wenn er es das Tor zu seiner
Herrlichkeit nennt (Lk 24,26), was bleibt euch dann anderes zu tun,
was bleibt mir anderes zu sagen als: Habt in euch die gleiche Gesin-

56
nung, wie sie auch in Jesus Christus war. Obwohl er in der Gottesgestalt
war, glaubte er dennoch nicht, gewaltsam an seiner Gottgleichheit fest-
halten zu müssen. Vielmehr entäußerte er sich selbst; deshalb hat Gott
ihn so hoch erhoben ... (Phil 2,5f.9).
Doch betrachten wir ein wenig, welche Art von Ehre Unser Herr
durch das Kreuz gewann. Lest eifrig in diesem Buch des Kreuzes, und
ihr werdet den Ruhm begreifen, den Unser Herr in ihm erwarb. Findet
es nicht befremdend, daß ich euch auf dieses Buch verweise, um hier
eure Lektion zu lernen; denn es ist das vortrefflichste Buch von allen,
die jemals geschrieben wurden. Wer daher den Ruhm des Wissens
erstrebt, der nahe ihm in heiliger Absicht und lese in diesem heiligen
Buch; er wird hier die tiefste Lehre finden, die es je gab. Denn was
könnte ich je Herrlicheres sagen, als was ich jetzt sagen will? Daß
Unser Herr selbst in diesem Buch etwas erfahren hat, was er noch
nicht wußte, eine Erfahrung, die er in seiner ganzen Ewigkeit noch
nicht gemacht hatte. Von dieser Erfahrung sagt der hl. Paulus im
Hebräerbrief (5,8): Aus dem, was er gelitten hat, lernte er Gehorsam.
Will man sich also des Wissens rühmen, so sei es in diesem Buch des
Neuen Bundes.
Wo der hl. Paulus im Hebräerbrief (9,19) berichtet, wie der Alte
Bund begründet wurde, sagt er: Nachdem Mose alle Gebote des Geset-
zes vorgelesen hatte, nahm er das Blut der Rinder und Böcke mit Was-
ser, roter Wolle und Ysop; damit besprengte er das Buch selbst und alles
Volk. Das alles aber geschah ihnen als Gleichnis (1 Kor 10,11). Und
was ist im Neuen Bund das Buch, das Unser Herr mit seinem Blut
besprengte, wenn nicht das Kreuz? An ihm rief er mit lauter Stimme:
Vater, vergib ihnen. In deine Hände ... (Lk 23,34.46), nachdem er alle
Gebote des Gesetzes verkündet hatte, das in nichts anderem besteht
als darin: Du sollst den Herrn lieben ... (Dtn 6,7; Mt 22,37), und: Ein
neues Gebot gebe ich euch: daß ihr einander liebt (Joh 13,34). Er be-
sprengte die ganze Welt mit seinem Blut durch die Einsetzung der
heiligen Sakramente, besonders jenes des Altares.
Das Kreuz ist das wahre Buch der Christen. Ich rufe dich zum Zeu-
gen an, hl. Bernhard, du gütiger und frommer Lehrer; denn wo anders
als in diesem Buch hättest du die Kenntnis der überaus milden und
köstlichen Lehre gewonnen, von der du uns die heiligen Unterweisun-
gen hinterlassen hast, indem du (Sermo 43 in Hld § 3) sagst: Mein
Geliebter ist mir ein Myrrhenstrauß? Ich rufe dich zum Zeugen an, gro-
ßer hl. Augustinus; zwischen den beiden Geheimnissen der Geburt
und der Passion stehend, kannst du sagen: Hinc lactor ab ubere, hinc
pascor a vulnere (einerseits werde ich von der Brust mit Milch ge-

57
nährt, andererseits werde ich aus der Wunde erquickt). Ich rufe dich
zum Zeugen an, serafischer hl. Franziskus; denn nur aus diesem Buch
hast du die heiligen und bewundernswerten Sätze deiner Predigten
und Gespräche gewonnen. Ich berufe mich auf dein Zeugnis, engel-
gleicher hl. Thomas; nie hast du zu schreiben begonnen, ohne deine
Zuflucht zum Kreuz zu nehmen. Und du, überaus heiliger serafischer
Lehrer Bonaventura, scheinst mir kein anderes Blatt gekannt zu haben
als das Kreuz, keine andere Feder als die Lanze, keine andere Tinte als
das Blut meines Erlösers, als du deine gottbegnadeten Opuscula
schriebst. Welch schöne Stelle ist dein Satz (Stim. amoris, c. 1): „Wie
gut ist es, beim Kreuz zu sein; hier will ich drei Hütten bauen (Mt 17,4):
eine in seinen Händen, die andere in seinen Füßen und die dritte in
seiner Seitenwunde. Hier will ich ruhen, will ich wachen, will ich le-
sen, will ich sprechen.“
Hier hat auch die fromme Magdalena ihre heiligen Gedanken ge-
faßt, die sie später den Provencalen mitteilte; hier ebenfalls die from-
me Katharina von Siena, die uns, noch später, ihre frommen Erinne-
rungen hinterlassen hat.
Was aber veranlaßt uns, in einer so klaren Sache so viele Zeugen
anzuführen? Unser Herr will, daß wir gründlicher als alles andere die
Sanftmut und die Demut kennenlernen (Mt 11,29). Wohin sonst wollt
ihr gehen, um sie kennenzulernen, wenn nicht zum Kreuz? Von ihm
schrieb der hl. Paulus, der weiseste aller Menschen, die je waren: Ich
erachte es als richtig, nichts zu kennen als Jesus Christus, und zwar als
den Gekreuzigten (1 Kor 2,2).
Ich habe ausführlich über diese erste Art gesprochen, wie wir uns im
Kreuz rühmen müssen, um euch zu beschwören, daran alle Tage im-
mer wieder zu denken, sooft ihr könnt, ebenso nachts jedesmal, wenn
ihr aufwacht. Lest also in diesem göttlichen Buch, das euch die Wis-
senschaft des Heiles lehrt; aus ihm hat Jesus Christus selbst den Ge-
horsam gelernt, der Gott gebührt. Das ist die erste Aufgabe, die wir
haben: uns im Kreuz zu rühmen.
Nun zur zweiten Art des Rühmens. Sie beruht darauf, daß hier unser
Heil ist, daß Unser Herr uns im Kreuz erlöst hat. Denn obwohl alle
Akte seines Lebens, selbst die geringsten, unendlich hinreichend wa-
ren, unser Heil zu wirken, war es dennoch der Wille seines göttlichen
Vaters und sein eigener, daß es nicht anders vollendet werde als im
Kreuz. Grund genug, uns seiner zu rühmen! Ferne sei es von mir, mich
zu rühmen ... In ihm finden wir uns außerdem wiederhergestellt in der

58
ganzen Gesundheit, Kraft und Schönheit der Seele und des Leibes, denn
unsere Unsterblichkeit und unsere Auferstehung hängt von ihm ab.
Lest also von neuem in diesem Buch, und ihr werdet da den Namen
Jesus finden (Joh 19,19). Er bedeutet Erlöser, uzw. Erlöser, der sein
Volk von seinen Sünden heilt (Mt 1,21). Lest weiter, und ihr findet:
Nazarener! das bedeutet „blühend“. Das ist ein weiterer Grund zum
Rühmen; denn durch das Kreuz ist unsere Seele geschmückt mit den
schönen, heiligen Blumen so vieler Tugenden, so vieler duftender Krän-
ze. Hier war Unser Herr die Rose des Martyriums, das Veilchen der
Erniedrigung, die Lilie der Reinheit. Er war nicht nur selbst rein, son-
dern machte auch rein: Unser Lager ist mit Blumen bedeckt (Hld 1,15).
Schöner Weißdorn, in deinen Zweigen wohnen die Vögel des Himmels
der Kirche in der Betrachtung, hier zwitschern sie lieblich in heiligem
Lobpreis. Ferne sei es von mir ... Denn wenn man sich der Schönheit
rühmen kann, welche Schönheit ist mir doch durch das Kreuz verlie-
hen! Wie habe ich doch ein Wasser gefunden, das mich nicht nur weiß
und rein, sondern außerdem strahlend macht: „In ihm ist unser Leben,
unser Heil und unsere Auferstehung“ (Introitus).
Schließlich werdet ihr hier lesen: König der Juden. Alle Christen
sind Juden und Kinder Abrahams nach dem Schriftwort (Röm 9,8;
Gal 3,7): Die Kinder der Verheißung werden als Nachkommen betrach-
tet. Dieses Königreich steht ihm von Natur aus zu und durch das Ver-
dienst am Baum des Kreuzes: Deshalb hat Gott ihn auch erhöht ...;
daß im Namen Jesu jedes Knie sich beuge (Phil 2,9f). Deshalb hüllt bei
seinem Tod die ganze Welt sich in Trauer (Mt 27,45.51; Lk 23,44f)
und verkündet, daß ihr König gestorben ist. Das war durch David (Ps
96,9f) vorhergesagt worden: Bei seinem Anblick wird die ganze Welt
erzittern; verkündet unter den Völkern, daß der Herr vom Holz her re-
giert. O heiliges Königreich! Wenn ich von der Erde erhöht bin, werde
ich alles an mich ziehen. Jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen
(Joh 12,32.31). Die Kirche, die er mit seinem Blut erkauft hat (Apg
20,28).
Welche Ehre für uns, christliche Zuhörer, daß wir durch das Kreuz
und im Kreuz aus dem Reich der Unterwelt in das Königreich des
Himmels versetzt sind, das Unser Herr, der erhabenste König der Welt,
uns verliehen hat. Welche Ehre aber erst, daß wir selbst darin Könige
und Erben des himmlischen Reiches geworden sind. Er ist Christus,
wir aber sind die Christen: Erben Gottes und Miterben Christi (Röm
8,17). Ihr Christen, wenn ich euch je verwehrt hätte, euch zu rühmen,
so widerrufe ich das. Seid fortan stolz darauf, daß ihr zu diesem Erbe
berufen seid. Fühlt ihr nicht das Herz sich weiten, wenn man euch

59
sagt, daß ihr Könige seid? Wenn ihr wollt, sagt also: Alle Reichtümer
der Welt sind überhaupt nicht zu vergleichen mit dieser Königswürde,
denn sie werden vergehen, man kann sich ihrer nicht freuen; dieses
aber gehört uns ganz. Ferne sei es also von mir, mich zu rühmen ...
Die große Herrlichkeit des Kreuzes macht es für jedermann ehrwür-
dig. Deshalb wollte Gott, daß Helena, die Mutter Konstantins des
Großen, es suchte. Sie kam ausdrücklich dazu nach Jerusalem, um es
zu finden. Als sie es gefunden hatte, wurde ihm sogleich in der ganzen
Kirche große Ehre erwiesen. Wer wollte in der Tat eine so bedeutende
Reliquie nicht ehren, ein so außergewöhnliches Zeichen der Liebe des
Gottessohnes. Gern würde ich euch eine schöne Belehrung des hl.
Bonaventura über die Verehrung des Kreuzes vortragen; aber ich will
zum Schluß kommen. Es genügt, daß wir das Kreuz nicht aus Liebe
zum Kreuz verehren, sondern aus Liebe zu Dem, dem es angehört. Die
Ehre, die wir dem Kreuz erweisen, gefällt dem Gekreuzigten überaus.
Wir verehren das Kreuz nie anders als in der Absicht, den Gekreuzig-
ten zu ehren. Zu eurem Trost gebe ich euch den Rat: wenn ihr das
Kreuz anschaut, sollt ihr stets den Gekreuzigten an ihm sehen. So wird
euch dieser Baum viel ehrwürdiger, wenn ihr an ihm seine erhabene
Frucht hangen seht; ebenso die Dornen mit der Rose und der Weiß-
dorn mit der Nachtigal, die in ihm wohnt.
Schließlich: laßt die Gegner reden! Viele wandeln, wie ich euch oft
gesagt habe, als Feinde des Kreuzes Christi (Phil 3,18). Alles, was mich
an Unseren Herrn erinnert, halte ich in Ehren; jedes Bild des Kreuzes
muß in Ehren gehalten werden. Sagen wir also, daß das Holz des heili-
gen Kreuzes einzigartig ehrwürdig ist. Wenn geschrieben steht: Ich
will anbeten an dem Ort, wo seine Füße standen (Ps 132,7; 99,5), wie
sollten wir nicht verehren, worauf der ganze Leib lag? Deshalb heißt
es (Ps 132,8) weiter: Erhebe dich, Herr, zur Ruhe. Und wenn man, wie
der hl. Hieronymus sagt, das Bundeszelt mit solcher Ehrfurcht behan-
delt, um wieviel mehr das Holz des Kreuzes, auf dem der Leib des
Gottmenschen ausgestreckt war, das von seinem kostbaren Blut be-
netzt, gefärbt und durchtränkt wurde. Daher ist der christliche Brauch
heilig. Der hl. Chrysostomus sagt darüber: „Dieses Holz wird so in
Ehren gehalten, daß jene, die ein Teilchen davon erhalten können, es
in Gold fassen und es sich um den Hals hängen.“
Ich komme auf Helena zurück, die Zierde der Fürstinnen, die dieses
heilige Holz mit solcher Sorgfalt, Mühe und Anstrengung suchte und
es fand. Sie kam zum Kalvarienberg, wo die Heiden ein Standbild der
Venus errichtet hatten. Beachtet den Gegensatz: am Ort der Krippe
hatten sie Adonis aufgestellt, an der Stelle des Grabes Jupiter; Helena

60
aber entfernte das alles und brachte diese heiligen Gedenkstätten wie-
der zu Ehren. Laßt uns sehen, ob wir auf unserem Kalvarienberg, d. h.
in unserem Kopf und Verstand den festen Glauben bewahrt haben, der
uns in der Taufe dort eingepflanzt wurde, oder ob wir nicht ein Göt-
zenbild der Venus in unserer Phantasie errichtet haben; ob wir in un-
serem Gedächtnis, dem die heilige Hoffnung gegeben wurde, nicht
Adonis aufgestellt haben; in unserem Willen, dem Gott die Liebe ver-
liehen hat ... Laßt uns nach dem Vorbild Helenas diese fluchbeladenen
Bilder der Welt entfernen, diese eitlen Eindrücke zerstören, und an
ihrer Stelle das Kreuz aufrichten, indem wir sagen: Ferne sei es von
mir, mich zu rühmen ..., denn es ist unsere Rettung. Als Konstantin in
den Krieg zog, hörte er die Stimme (Gottes): „In diesem Zeichen wirst
du siegen.“ Ebenso will er, daß wir siegen: Du hast angeordnet, daß
wir durch die Waffen deines Sohnes triumphieren (Postcomm.). Der
Tag lädt uns ein, der Ort spornt uns an, die Zeit drängt uns dazu, denn
unsere Bedrängnis ist noch nicht beendet.

Zum Sonntag Quinquagesima

Nr. 27: 5. Februar 1595 VII,231-239


Siehe, wir ziehen nach Jerusalem hinauf, und alles wird
in Erfüllung gehen, was von den Propheten über den
Menschensohn gesagt wurde: er wird den Heiden aus-
geliefert, verspottet, mißhandelt und angespien wer-
den: nachdem sie ihn gegeißelt haben, werden sie ihn
töten, und am dritten Tag wird er auferstehen (Lk
18,31-33).

Wenn ein Fürst die Eroberung einer Stadt unternimmt oder einen
bedeutenden Sieg sicher erwartet, hört man ihn bei jeder Gelegenheit
von der Schlacht reden. Auch wir sprechen unaufhörlich von dem, was
wir erwarten und wünschen. Das könnten die Reisenden bestätigen,
die irgendeine Stadt erreichen wollen und jeden, den sie treffen, fra-
gen, wie weit der Weg dahin ist. So machte es auch Unser Herr, der
sehnlichst danach verlangte, das Werk unserer Erlösung zu vollenden.
Als die Zeit seiner Passion nahte, sprach er darüber zu seinen Apo-
steln und sagte sie an mehreren Stellen voraus, besonders in dem Ab-
schnitt des Evangeliums, den unsere Mutter Kirche uns heute vorlegt
zur Erhaltung unserer Seelen. Hier spricht Unser Herr als großer Feld-
herr mit seinen Aposteln vom Sieg, den er über die Sünde und ihre

61
Verbündeten erringen sollte; doch zuvor spricht er von dem harten
Kampf seiner Passion, was die Apostel zu der Zeit nicht verstehen (Lk
18,34). Damit wir es nun verstehen können, rufen wir den Heiligen
Geist um seinen Beistand an. Ave Maria.
Die Braut im Hohelied spricht (1,12) von ihrem vielgeliebten Erlö-
ser und sagt: Mein Vielgeliebter ist wie ein Myrrhenbüschel für mich; er
ruht an meinem Busen. Diese Braut, liebe Christen, ist entweder die
Kirche oder die fromme Seele in der Kirche. Wie dem auch sei, mit
diesen Worten, die sie durch den weisen Salomo ausspricht, zeigt sie,
daß ihr Unser Herr, der wahre Bräutigam der Seele und der Kirche,
stets im Gedächtnis ist als der am meisten Geliebte von allen Gelieb-
ten und der Liebenswerteste von allen Liebenswerten. Ihr wißt, daß
die Freundschaft der Todfeind des Vergessens ist. Wenn die Alten sie
malten, schrieben sie ihr als Wahlspruch auf ihre Kleider: „Winter
und Sommer, fern und nahe, Tod und Leben“, als vergäße sie weder im
Glück und Unglück, noch fern und nahe, im Leben und im Tod.
Die Braut sagt aber nicht nur, daß sie ihn stets im Gedächtnis haben
werde, an ihrem Busen, an ihrer Brust, in ihrem Herzen, sondern als
einen duftenden Strauß, um zu zeigen, daß sie in diesem Gedenken
großen Trost findet; und nicht nur als einen Strauß, sondern als Myrrhen-
strauß. Der Duft der Myrrhe ist sehr süß, ihr Saft aber ist sehr bitter.
Die liebe Braut sagt also, daß ihr Freund für sie wie ein Myrrhen-
büschel auf ihrem Herzen ist, um zu zeigen, daß sie stets der Bitterkeit
seiner Passion gedenkt: Ein Myrrhenbüschel ... Das spricht auch der
königliche Prophet David (Ps 45,9f) besonders fein aus: Myrrhe, Aloe
und Kassia duften aus deinen Kleidern; mit ihnen ergötzen dich Königs-
töchter in deiner Herrlichkeit. Der Prophet spricht nämlich zum Messi-
as und sagt zu ihm: Die Myrrhe und deren Tropfen und Kassia, das
heißt der Duft dieser kostbaren Flüssigkeiten, entströmt deinen Klei-
dern. Was sind seine Kleider anders als sein Leib und seine Seele, wie
der Apostel (Phil 2,7) sagt: Er nahm Knechtsgestalt an, wurde den
Menschen ähnlich und im Äußeren als Mensch erfunden. Und diesem
Leib und dieser Seele entströmt nur der Duft der Myrrhe, d. h. große
Tröstungen, die aus einer schmerzlichen Grundlage stammen, näm-
lich aus der Passion; diese Kleider stammen aus den überaus reinen
Elfenbeinpalästen des Himmels und von der glorreichen Jungfrau.
Der Trost der Passion ist also der ständige Duft, den die Heiligen der
Kirche wahrnehmen. Das lehrt der hl. Paulus (Hebr 12,3): Betrachtet
ihn, der von den Sündern solchen Widerspruch gegen sich erduldet hat,

62
damit ihr nicht müde werdet und nicht euren Mut verliert. Dazu fordert
er selbst uns auf: Ihr alle, die ihr des Weges vorübergeht, merkt auf und
seht, ob ein Schmerz dem meinen gleicht (Klgl 1,12). Das hat die Kir-
che, die wahre Braut Unseres Herrn, bewogen, sich auf jede Weise zu
bemühen, bei ihren Kindern und Schülern das Andenken an die Passi-
on unseres Herrn und Meisters lebendig zu erhalten; deshalb legt sie
uns unter anderem heute dieses Evangelium vor. Sie weiht diesem
Gedenken die ganze Fastenzeit, sie vergegenwärtigt es im Meßopfer,
sie spricht jedesmal davon und lehrt alle, bei jedem Anlaß das Kreuz-
zeichen zu machen, um stündlich dieses Gedenken kurz zu erneuern.
In ihren Kirchen stellt sie unablässig das Kruzifix vor Augen; sie setzt
stets das Zeichen des Kreuzes auf ihre Kirchen, an die Wege, über alle
ihre Übungen. Und wahrhaftig, wie könnte sie treffender und kürzer
unserem Verstand die Passion Unseres Herrn vor Augen halten?
Deswegen wollte man aber die Kirche tadeln und unsere Gegner
behaupten, daß hier ein Aberglaube herrsche. Daher müssen wir ein
wenig dabei verweilen, um ihre Begründungen anzusehen, und dürfen
nicht meinen, das sei unpassend. Die Gründe, die die Gegner für die
wichtigsten gegen den Gebrauch des Kreuzzeichens halten, sind ohne
jede Beweiskraft. Gehen wir dabei der Reihe nach vor, denn es gibt
mehrere Streitpunkte zwischen der Kirche und dem Gegner.
Der erste Streitpunkt besteht darin, daß der Gegner sagt, man dürfe
das nicht tun, und wenn es solche Handlungen gebe, müsse man sie
verhindern und abschaffen. Die Kirche sagt das Gegenteil, und das
sind unsere Gründe.
1. Das Gedächtnis der Passion ist nützlich, wie ich gesagt habe und
sagen werde. Sagt mir um Gottes willen, warum es nicht ebenso nütz-
lich im Zeichen sein sollte wie im Wort. Wenn es nützlich für die
Gläubigen ist, ihnen die Passion Jesu Christi durch Worte in Erinne-
rung zu rufen, wer sieht dann nicht ein, daß es auch nützlich sein wird,
sie ihnen durch Zeichen zu vergegenwärtigen?
2. Unser Herr wird sein Kreuz selbst verherrlichen; warum nicht
auch wir? Als Beweis, daß das wahr ist, heißt es bei Matthäus (24,30)
unter den übrigen Vorzeichen, die sich am Tag des Gerichtes ereignen
werden, daß das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen
wird. Welches Zeichen? Ohne Zweifel das Kreuz, meine Brüder. Wel-
ches andere Zeichen sonst, ich bitte euch? Die Fahne dieses Fürsten
wird erscheinen, aber daran darf man nicht zweifeln, denn alle Kir-
chenväter legen die Heilige Schrift so aus. Ich weiß, daß Calvin und

63
alle bei Marlorat Genannten es so auslegen: „Das Zeichen ist der
Menschensohn selbst“, der so offenkundig erscheinen und durch das
so gegebene Zeichen die Augen aller auf sich lenken wird. Seht doch,
wie man mit der Heiligen Schrift umgeht: wenn da ein Zeichen ist,
deuten sie es als die Sache selbst; wenn es (Mt 26,26) der Leib heißt,
legen sie es als Zeichen aus.
Aber außer diesem Erscheinen des Kreuzes haben wir andere; sie
sind zwar nicht in der Heiligen Schrift enthalten, trotzdem aber
glaubwürdig. Eusebius berichtet, daß Konstantin der Große das Kreuz
sah, wie er selbst erzählt, mit den Worten: „In diesem Zeichen wirst
du siegen.“ 1 Dann zur Zeit des Konstans auf dem Ölberg.² Zur Zeit
Julians Apostata, der aus Verachtung für die Katholiken den jüdischen
Tempel wieder errichten wollte, erschien am Himmel ein silberheller
Kreis mit dem Kreuz.³ Zur Zeit des Arkadius, als man gegen die Per-
ser zog.4 Zur Zeit des Alfons Albucerque de Bargua, erschien eines in
einer Gegend der Inder.5
3. Durch die Übung der Kirche seit den ersten Jahrhunderten. Zeu-
ge ist der hl. Dionysius, im 4., 5. und 6. Buch seiner Hierarchia
ecclesiastica, wo er sagt, daß man bei allem das Kreuzzeichen anwen-
det. Justinus6 beantwortet die Frage, warum die Christen nach Osten
gewendet beten, warum sie sich mit der Rechten mit dem Kreuz be-
zeichnen und andere segnen: weil man Gott das Bessere geben muß,
sagte er. Tertullian7 sagt, die Christen machten das Kreuzzeichen bei
jedem Schritt, „ad omnem progressum“, etc.
Meint ihr nicht, daß wir recht haben, eher der Übung der Kirche im
Altertum zu folgen als den Einwänden dieser zuletzt Gekommenen?
Doch sagt, welche Gründe bringen sie denn vor?
1. Da das Kreuz für den Herrn schmerzlich war, ist es zu verab-
scheuen. Wenn aber das Zeichen und das Werkzeug des Leidens, das
Unser Herr erduldete, zu verabscheuen ist, dann ist das Leiden selbst
und die Passion des Herrn es noch viel mehr. Das Kreuz war nicht in
sich schlecht und wurde von Unserem Herrn willig umfangen; durch
das Kreuz ist er zu seiner Herrlichkeit und Erhöhung gelangt, wie der

1
Eusebius, Vita Constantini. lib. I. cap. 28.
2
Cyrill v. Jerusalem, im Brief über diese Tatsache.
3
Gregor v. Nazianz, Oratio 2 in Jul. § 4.
4
Prosper, in lib. De Promiss. divini, cap. 34.
5
Osorius, De Rebus Emanuelis IX; Maffeius. Hist. Ind. V.5.
6
Ad Gentiles. qu. 118 ad Orthod.
7
De corona militis. cap. 3

64
hl. Paulus (Phil 2,8f) sagt: Er hat sich selbst erniedrigt; deshalb wurde
er erhöht.
2. Ein Kind wäre verrückt, das Gefallen am Anblick des Galgens
hätte, an dem sein Vater erhängt wurde; also denken wir nicht mehr an
die Passion. Die Antwort: Wenn aber die Passion Jesu Christi nicht
nur eine Strafe ist, sondern ein Opfer, dann ist das Kreuz gewiß nicht
nur ein Galgen, sondern ein Altar, auf dem das Werk unserer Erlösung
vollzogen wurde. Und in dieser Eigenschaft muß es von allen Gläubi-
gen verehrt werden, muß sein Andenken empfehlenswert, sein Zei-
chen kostbar sein. Zu bedauern sind jene, die es mit soviel Verachtung
und Abscheu ablehnen, denn dadurch geben sie zu erkennen, daß sie
keinen Anteil an dem haben, was im Kreuz gewirkt wurde, etc. Und
wie kann man einer Meinung sein mit jenen, die sich durch das Kreuz
mit Schmach zu bedecken glauben, wenn der hl. Paulus (Gal 6,14)
sagt: Ferne sei es von mir, mich zu rühmen, außer im Kreuz Unseres
Herrn ...? Und (1 Kor 1,23f): Wir verkünden Christus als den Gekreu-
zigten, den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit, denen aber, die
berufen sind, Juden wie Heiden, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Ich
habe mich entschlossen, nichts zu kennen außer Jesus Christus, und
ihn als den Gekreuzigten (1 Kor 2,2). An die Philipper (3,18): Viele
wandeln, wie ich oft gesagt habe, als Feinde des Kreuzes Christi.
Unsere Gegner sagen außerdem, man dürfe dem Kreuz nicht die
Ehre erweisen, wie man es tut. Die Kirche sagt: im Gegenteil; seht,
warum.
1. Alles, was Gott geweiht ist, verdient geehrt zu werden. Nun, dieses
heilige Zeichen ist Gott geweiht, also ...
2. Daß alles, was Gott geweiht ist, geehrt zu werden verdient, beweist
die Heilige Schrift, die es gewissermaßen überhaupt heilig nennt.
Warum nennt man den Sonntag heilig? Warum den Schemel seiner
Füße (Ps 98,5)? Ex (3,5) heißt es: Zieh deine Schuhe aus, denn der Ort,
wo du stehst, ist heiliges Land. Der Psalmist sagt (Ps 132,2): Erhebt in
den Nächten eure Hände zum Heiligtum, d. h. zu Gott Geweihtem;
und im Psalm 99,5: Fallt nieder vor dem Schemel seiner Füße, denn er
ist heilig. Dieser Schemel ist der Tempel, wie die Chaldäer sagen; er ist
die Bundeslade, wie die Hebräer sagen. Wie dem auch sei, für uns gilt
das immer, und daraus ergibt sich schlüssig, daß dieses heilige Zei-
chen geehrt zu werden verdient, weil es Gott geweiht ist.
3. Aufgrund all des vorher Gesagten; denn heißt es nicht, das Kreuz
für uns ehrwürdig machen, wenn Unser Herr es in den Himmel ver-
setzt hat, wenn er es mit so großen Wirkungen gezeigt hat?

65
4. Weil für uns das Kreuz das Zepter und der Königsthron Unseres
Herrn ist. Bei Jesaja (9,6) heißt es: Und seine Herrschaft ruht auf sei-
nen Schultern. Im Psalm 96 (9f): Vor seinem Angesicht erbebe die gan-
ze Erde; kündet den Völkern, daß der Herr regiert. Nach der Septuaginta
hieß es, vom Holz, aber nach dem Bericht Justins im Dialog mit
Tryphon (§ 73) entfernten die Juden dieses Wort. Wenn also das Kreuz
das Zeichen der Macht und Königsherrschaft Unseres Herrn ist, wa-
rum, etc. Wenn der Dornbusch, in dem Gott erschien, Ehrfurcht ver-
diente, etc. Wenn die Bundeslade, wie es im Psalm 132 (7f) heißt: Ich
will eintreten in sein Zelt, ich will anbeten an dem Ort, wo seine Füße
standen, etc. (das läßt sich passend abwandeln: ich will den Ort oder
den Schemel seiner Füße verehren), warum dann nicht diesen königli-
chen Thron? Johannes (12,32): Wenn ich von der Erde erhöht bin,
werde ich alles an mich ziehen, gleichsam als Fürst und Herr aller.
5. Wegen der großen Wirkungen, die Gott durch das Kreuzzeichen
hervorrufen wollte, vor allem gegen die Dämonen, die es hassen. Das
bezeugt Lactanz8 und Gregor von Nazianz9: Er sah bei den Opfern und
Auguren die Teufel, wie er gewünscht hatte; er bezeichnete sich mit
dem Kreuz, und sie verschwanden. Worauf führen alle diese Erschei-
nungen hinaus?
6. Weil es in seinem Vorbild, der ehernen Schlange (Num 21,8f)
geehrt wurde, bevor es war; warum nicht in seinem Andenken, nach-
dem es war? Johannes (3,14): Wie Mose die Schlange erhöhte, so muß
der Menschensohn erhöht werden.
7. Weil diese Verehrung in der Kirche sehr alt ist. Tertullian10 ant-
wortete den Heiden, die die Verehrung des Kreuzes angriffen; Kon-
stantin verbot, künftig jemand zu kreuzigen:11 damit es in Ehren, nicht
ein Schrecken sei. Augustinus (Sermo 18 De Verbis). Theodosius ver-
bot, es auf den Boden zu malen.12 Als Tiberius ein Kreuz am Boden
liegen sah, ließ er es aufrichten und sagte: „Mit dem Kreuz des Herrn
müssen wir unsere Stirn und Brust bewehren, und wir treten es mit
Füßen.“13
8. Unsere Vorfahren trugen das Kreuz um den Hals, wie der hl.
Gregor von Nazianz von seiner Schwester Macrina bezeugt (Vita).
Amen.

8
Divin. Inst. lib. 4, cap. 27.
9
Oratio I, § 53f; in Jul.
10
Apologet., cap. 16.
11
Soz. Hist. Eccl., lib. I, c. 8.
12
Codicis I. tit. 8.
13
Diakon Paul, lib. 18 Rerum Rom.

66
Zum Fest der heiligsten Dreifaltigkeit

Nr. 30: Annecy, 21. März 1595 VII,254-264


Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen
Geist; wie im Anfang so auch jetzt und allezeit und in
Ewigkeit. Amen.

Eine der größten Auszeichnungen, die die Güte Gottes seinem treu-
en Diener Abraham, unserem Ahnherrn, erwies, war meines Erach-
tens eine der bedeutendsten, als die göttliche Majestät ihn im Tal von
Mamre in sichtbarer Gestalt besuchte, wie die Genesis (18,1f) berich-
tet. Denn was für ein Mensch war dieser Abraham, daß du ihn be-
suchst? (Ps 8,3). Der Herr erschien ihm im Tal von Mamre. Es war der
Heilige der Heiligen (Dan 4,24), es war Gott selbst, der ihm erschien;
aber in welcher Gestalt? Als er seine Augen erhob, erschienen ihm drei
Männer; in der Gestalt von drei suchte jener, der der einzige Herr ist,
seinen Diener auf. O Geheimnis der Geheimnisse! Der einzige Herr
erschien dem Abraham in drei Personen. Treffend heißt es am Anfang
der Genesis (1,26), daß Gott sagte: Laßt uns den Menschen machen
nach unserem Bild und Gleichnis. Durch diese Worte wurde die Drei-
faltigkeit des Schöpfers ausgedrückt. Sie war vor Abraham nie erschie-
nen, den man mit Recht den Vater der Glaubenden (Röm 4,11) nann-
te, da er eine so bedeutende Offenbarung dieses grundlegenden Ge-
heimnisses unseres Glaubens empfing: Der Herr ist erschienen; „drei
sah er, einen betete er an“, sagt die Auslegung. Abraham sagte (Gen
18,3f nach der Sept. und alten Vulgata) zu ihnen: Herr, wenn ich Gnade
in deinen Augen gefunden habe, geh nicht an deinem Diener vorüber;
ich will ein wenig Wasser bringen, um eure Füße zu waschen; ruht unter
dem Baum etwas aus. Bald sprach er zu allen drei in der Einzahl, bald
in der Mehrzahl, um die Einheit in der Dreiheit zu zeigen.

So ist die Geschichte und das Geheimnis. Und jetzt, fromme Zuhö-
rer, zeigt sich uns der gleiche Herr, um uns zu besuchen: einer im
Wesen, dreifaltig in den Personen, nicht mehr in einer äußeren Er-
scheinung, sondern durch eine innere Erleuchtung des Glaubens, in
diesem guten Tal der Kirche. Die Kirche feiert heute ein Hochfest zu
Ehren der allmächtigen, überaus guten und unendlichen Dreifaltig-
keit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, um unseren Herzen die Ehre und
höchste Huldigung einzuprägen, die wir ihr schulden. Ehre sei dem
Vater ... Wir erweisen ihm die Ehre, wenn wir an die höchste Wesenheit
in ihrer glorreichen Dreifaltigkeit glauben, auf sie hoffen und sie lie-

67
ben; wenn wir die drei Personen bitten, bei uns zu bleiben, wenn wir
ihnen die Füße waschen; wenn wir sie unter den Baum einladen. Ich
will euch kurz zeigen, wie man das machen muß. Dazu aber müssen
wir es alle gemeinsam machen wie Abraham, der seine Augen zum
Himmel erhob und sonst diese Ehre nicht gehabt hätte. Erheben wir
die Augen zu diesem ewigen Licht, damit es uns mit seinem Geist zu
erleuchten geruhe, auf daß wir in seiner Klarheit von diesem Geheim-
nis erkennen können, was wir kennen müssen; damit es ihm gefalle,
uns sehend zu machen, auf daß wir ihm glauben, glaubend darauf hof-
fen und in der Hoffnung lieben, so daß auf diese Weise wahrhaft Ehre
sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Um das in größe-
rer Fülle zu erlangen, setzen wir dazu den Einfluß der Tochter des
Vaters, der Mutter des Sohnes und der Braut des Heiligen Geistes ein.
Ave Maria.
Der grundlegende Artikel unseres Glaubens ist der, dessen Feier die
Kirche den heutigen Tag geweiht hat, d. h. die heilige Dreifaltigkeit
der göttlichen Personen. Gewiß muß offenbar diese heilige Dreifaltig-
keit auf die Einheit des Wesens zurückgeführt werden, um so mehr, als
nach unserer Denkweise das eine früher ist als die andere. Dennoch ist
der Artikel von der Einheit des einen Gottes den Christen nicht so
ausschließlich eigen wie der von der Dreifaltigkeit, zumal mehrere
Gott in seiner Einheit erkannt haben, die keine Christen sind. Darauf
stützt sich der hl. Paulus und bestätigt den Römern (1,20f): Das Un-
sichtbare an Gott wird aus der Wahrnehmung der geschaffenen Welt
erkannt, so daß sie unentschuldbar sind, weil sie Gott erkannten aber
nicht als Gott verherrlichten. Was aber den Artikel von der heiligsten
Dreifaltigkeit betrifft, ist er so sehr den Christen ausschließlich eigen,
daß selbst das Volk der Hebräer zum Großteil keine ausdrückliche
Kenntnis von ihm hatte und daß die Heiden nie zu ihr gelangten. Das
veranlaßt den hl. Hieronymus im Brief an Paulinus (53, § 4) zu dem
Ausruf: „Der gelehrte Platon wußte es nicht, der beredte Demosthenes
hatte keine Kenntnis davon.“ Auf diesem Artikel von der Dreifaltig-
keit beruht die Menschwerdung und auf der Menschwerdung unsere
ganze Erlösung. Auf diesem Artikel beruht die Sendung des Heiligen
Geistes und auf ihr unsere ganze Rechtfertigung. Er ist also der Grund-
artikel: „Es ist also katholischer Glaube, daß wir einen Gott verehren
...“ (Symb. Athan.).
Aus diesem Grund stellt uns zunächst Unser Herr (Mt 28,19), dann
seine Kirche bei der Spendung des grundlegenden Sakramentes der
Taufe dieses heilige Geheimnis vor: Im Namen des Vaters und des
Sohnes und des Heiligen Geistes. Deshalb hat die Kirche unter Papst

68
Damasus, nach der Aufforderung durch den hl. Hieronymus, bestimmt,
daß man am Schluß jedes Psalms singt: Ehre sei dem Vater und dem
Sohn und dem Heiligen Geist ... Deshalb hat man, als sich zur Zeit
Karls des Großen mehrere Irrlehren gegen die heilige Dreifaltigkeit
erhoben, dieses besondere Fest als Bekenntnis unseres Glaubens ein-
gesetzt. Wie sehr müssen wir daher auch in unserer schlimmen Zeit
dieses heilige Fest feiern und sagen: Ehre sei dem Vater ... Meint ihr
nicht, daß sich unsere Gegner bemühen, die Kirche zu zerstören? Der
Hochmut derer, die dich hassen, erhebt sich ständig (Ps 74,23). Ein
Valentin Gentil, ein Servet, ein Farel, ein Viret haben diese heilige
Lehre vollkommen vergiftet, wo Calvin und Beza sich einmischten
und ein Ende machten. Wenn also dieses Fest mit so viel und so ge-
rechtem Grund eingesetzt wurde, mit welcher Frömmigkeit müssen
wir es jetzt feiern, da die Gründe seiner Einsetzung von neuem gege-
ben sind.
Ehre sei dem Vater ... Ich finde, daß wir dem Vater, dem Sohn und
dem Heiligen Geist auf zweifache Weise Ehre wünschen können: ent-
weder die Ehre, die ihm naturgemäß und wesentlich ist, oder die äuße-
re und denominative. Zunächst: Gott Vater im unerforschlichen Ab-
grund seiner ganzen Ewigkeit, in der Fülle seines unbegrenzten We-
sens, seiner Güte, Schönheit und Vollkommenheit, erkennt und be-
greift im Blick auf sich selbst mit seinem überaus fruchtbaren Ver-
stand seine Natur so vorzüglich, daß er mit einem Gedanken und Be-
greifen seine ganze Größe ausdrückt. Dieser Gedanke, dieses Aus-
sprechen, dieses Wort, dieser Ausdruck seines Herzens war ein zwei-
tes Ich. Er war schon in sich glorreich, er war die ganze göttliche Voll-
kommenheit; aber wie? Das ist seine Herrlichkeit: er sieht sich, er
erkennt sich selbst, und indem er sich erkennt, zeugt er seinen ihm
wesensgleichen Sohn: Aus meinem Schoß habe ich dich vor dem Mor-
genstern gezeugt (Ps 110,3). Hebräisch: Aus dem Schoß kommt dir vor
der Morgenröte der Tau deiner Jugend. Jesaja (66,9): Sollte ich, der
andere gebären läßt, selbst nicht zeugen; der ich anderen Nachkom-
menschaft gewähre, unfruchtbar sein? Der Sohn ist die Ehre des Va-
ters; vom hl. Paulus wird er (Hebr 1,3) der Abglanz der Herrlichkeit
und das Abbild seines Wesens genannt.
Welche Ehre für den Vater, einen solchen Sohn zu haben! Welche
Ehre für den Sohn, einen solchen Vater zu haben! Der Sohn hat ganz
dieselbe Wesenheit wie der Vater; der Vater teilt ihm alle seine
Vollkommenheiten mit. Denkt daran, welche Ehre es für einen sehr
guten Vater ist, einen Sohn zu haben, der ihm vollkommen gleicht;
doch wenn er ihm so sehr gleicht, daß er ein zweites Ich wird, welche

69
Freude! Ich habe Väter gekannt, die einige Tugend besaßen; wie waren
sie froh, tugendhafte Kinder zu haben, etc. Diese Ehre verdient stets
gefeiert zu werden. Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heili-
gen Geist ... Doch darüber hinaus, welche überströmende Freude, wenn
der Vater seinen Sohn sieht und der Sohn seinerseits seinen Vater! Der
Vater und der Sohn sehen, daß sie gegenseitig einer grenzenlosen Lie-
be würdig sind; sie sehen, daß ihr Wille aufeinander abgestimmt ist,
sie lieben einander so sehr, wie sie es verdienen, sie lieben sich im
höchsten Grad, grenzenlos und göttlich. Und diese höchste Liebe, die
sie so miteinander verbindet, die aus der Anschauung des einen vom
anderen hervorgeht, ist eine dritte göttliche Person wie sie, wesens-
gleich mit ihnen, unendlich, ewig und unabhängig wie sie; das ist der
Heilige Geist, die Liebe und die Einheit des Vaters und des Sohnes,
das grenzenlose Ziel ihres gegenseitigen Wohlgefallens und des ewi-
gen Hervorgehens.
Singen wir also: Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen
Geist ... Ich weiß wohl, daß ihr dieses Geheimnis nicht begreift, so wie
auch ich nicht; aber mir genügt es, daß wir um so besser daran glau-
ben. Was ich darüber gesagt habe, hat keinen anderen Zweck, als es
euch mehr vor Augen zu stellen und euch zu helfen, deutlicher daran
zu glauben. Es gibt bestimmte Beispiele, die uns helfen könnten, ein
wenig davon zu verstehen; es gibt jedoch noch so viel zu sagen, daß wir
uns bei sonst nichts aufhalten und uns begnügen zu wissen: es ist der
katholische Glaube, „daß wir einen Gott in drei Personen und die
Dreifaltigkeit in der Einheit verehren.“
Wir werden stets singen: Ehre sei dem Vater ..., um so mehr noch, als
Calvin, Beza und ihre Irrlehren wollen, daß alle drei Personen ihre
Gottheit aus sich haben, nicht durch Mitteilung. Das ist eine außerge-
wöhnliche Blasphemie, denn auf diese Weise gäbe es weder Sohn noch
Heiligen Geist. Der Hochmut jener, die dich hassen, erhebt sich stän-
dig (Ps 74,23). Die Katholiken dagegen bleiben dabei zu sagen: „Gott
von Gott, Licht vom Licht“ (Symb. Nic.), und Ehre sei dem Vater und
dem Sohn und dem Heiligen Geist, indem wir von den drei in der Ein-
zahl sprechen, weil die drei Personen die gleiche Herrlichkeit besit-
zen. Wir sagen: dem Vater und dem Sohn, denn obwohl die zwei Perso-
nen ein einziger gleicher Gott sind und der Vater den Sohn als ein
anderes Ich betrachtet, besteht doch die Unterscheidung, daß der Va-
ter das Gottsein durch sich selbst besitzt, der Sohn durch die Mittei-
lung des Vaters: sonst wäre der eine nicht Vater, der andere nicht Sohn,
sondern beide Namen wären falsche Bezeichnungen ohne Grundlage.
Ebenso sagen wir: dem Heiligen Geist, der einen Hauch gegenseitiger

70
Liebe bezeichnet, um auszudrücken, daß der Vater und der Sohn, die
sich in gegenseitiger Liebe ansehen, diese dritte Person durch diesen
Blick und diese gegenseitige Liebe hervorbringen.
Die zweite Blasphemie besteht darin, daß sie den Namen Trinität
nicht annehmen wollen. Ihre Begründung ist, Dreifaltigkeit wolle nur
die Personen bezeichnen; Person bedeute nur Wohnsitz und Eigenart;
Wohnsitz und Eigenart ist nicht Gott. Außerdem, sagen sie, sei das
kein gutes Latein. O Unglück unserer Zeit, o Eitelkeit, o Anmaßung
des menschlichen Geistes, der es unternimmt, so erhabene Wahrhei-
ten mit so schwachen Argumenten zu erörtern! Dieses Wort Person,
ihr Calvinisten, bedeutet viel mehr, als ihr sagt, und die Theologen
wissen, daß Person der Träger einer vernunftbegabten Natur ist, daß
sie deren Eigentümer und Besitzer ist; so ist eine göttliche Person
jener, der die göttliche Natur zu eigen besitzt.
Was den schönen Einwand betrifft, das Wort Trinität sei nicht latei-
nisch, so wißt ihr doch, wenn es Gott gefiel, im Übermaß seiner Liebe
uns neue Wahrheiten zu offenbaren, dann mußte man neue Wort su-
chen, um sie auszudrücken. Wißt ihr nicht, daß die Worte für die Din-
ge geschaffen sind, nicht die Dinge für die Worte? Man muß sich sehr
hüten, die Dinge den Worten unterzuordnen, und noch viel mehr, die
heiligsten und göttlichen Dinge zu verleugnen, weil man in der bei den
Römern gebräuchlichen Sprache nicht den Ausdrücken begegnet, die
sie bezeichnen. Bei diesem Grundsatz eurer Schule müßte man auch
das grundlegende Geheimnis unseres Heiles ablehnen, die Inkarnati-
on des ewigen Wortes, weil man das Wort Inkarnation im klassischen
Latein nicht findet. O unglückselige und unglückliche Theologen, die
lieber Lateiner als Christen sind! Das ist eine der Listen des Teufels;
unter dem Vorwand größerer Reinheit des Latein trachtet er uns den
Glauben an die ersten und wichtigsten Geheimnisse unserer heiligen
Religion zu nehmen. Die Arianer gingen nach dem Bericht des
Epiphanius so in ihren Irrlehren vor; die einen verlangten, daß ein
Jota gestrichen werde, die anderen, wie der Bischof Ancrytin, forder-
ten, daß alle Worte gestrichen werden, die nicht aus der Heiligen Schrift
stammen. Es ist ein Jammer, ihre Blasphemien zu sehen: Falsches
sagte jeder zu seinem Nächsten (Ps 12,3); mit ihrer Zunge üben sie
Trug; richte sie, Herr (Ps 5,11).
Der hl. Johannes von Damaskus berichtet im 3. Buch der Theologie
eine Begebenheit, um die Anrufung der heiligen Dreifaltigkeit zu recht-
fertigen. In Konstantinopel, sagt er, „ereigneten sich unter Erzbischof
Proclus mehrere Zeichen des gerechten Zornes Gottes. Als das Volk
beim Gebet war, wurde ein Kind entrückt, und in der Entrückung

71
lehrten es die Engel diesen Gesang: Heiliger Gott, heiliger Starker,
heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser. Als das Kind zu sich kam
und berichtete, was es vernommen hat, begann das Volk dieses Lied zu
singen, besänftigte damit den Zorn Gottes und wandte die Übel ab, die
es bedrohten.“ Lassen wir daher nicht ab zu singen: „Gott Vater im
Himmel, erbarme dich unser.“ Lassen wir nicht ab zu sagen, daß die
drei göttlichen Personen anbetungswürdig und mehr als anbetungs-
würdig sind aufgrund der wesenhaften und inneren Ehre und durch die
äußere, erwiesene Ehre.
Angemessen nennt man die Ehre, die Gott zukommt, nicht durch
seine inneren Werke, sondern durch äußere, wie David (Ps 19,1) sagt:
Die Himmel verkünden die Ehre Gottes, und wie der hl. Paulus (1 Kor
10,31) sagt: Tut alles zur Ehre Gottes. Das tun wir dann, wenn wir
darauf bedacht sind, daß Gott verherrlicht wird: damit sie eure guten
Werke sehen und euren Vater preisen (Mt 5,16).
Was die wesenhafte Ehre betrifft, kann niemand sie beeinträchtigen,
denn Ich bin, der ich bin (Ex 3,14). Meine Herrlichkeit gebe ich keinem
anderen (Jes 42,8). An diese Ehre denken wir vor allem, wenn wir
sagen: Ehre sei dem Vater ..., nicht als wünschten wir sie ihm als etwas
Fehlendes, sondern wir freuen uns über sie. Was die äußere Ehre be-
trifft, kann sie vermehrt werden durch unsere guten Werke. Verherr-
licht Gott (und tragt ihn) in eurem Leib, sagt der hl. Paulus (1 Kor
6,20). In diesem Sinn sagen wir mit Ehre sei dem Vater das gleiche wie:
Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden (Mt 6,10). Erweist Gott
Verherrlichung und Ehre, erweist dem Namen des Herrn Ehre; betet
den Herrn an in seinem Heiligtum (Ps 29,2; 96,7-9). Der hl. Paulus
beklagt sich (Röm 1,21-23) über die heidnischen Philosophen, denn
obwohl sie Gott erkannten, verherrlichten sie ihn nicht als Gott oder
sagten ihm Dank; vielmehr waren ihre Gedanken eitel und ihr törichtes
Herz wurde verfinstert. Sie gaben sich als Weise aus und waren Toren.
Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit dem
Abbild der Gestalt des vergänglichen Menschen. Ach, es gibt unter den
Christen manche, die diesen Philosophen gleichen; sie sind kalt, sie
lieben die Gott und seinen Freunden gebührende Ehre nicht. Nun, wer
so eingestellt ist, kann nicht sagen: Ehre sei dem Vater und dem Sohn
und dem Heiligen Geist.
Diese Ehre ist äußerlich und kann in zweifacher Weise verstanden
werden; denn für alles Gute müssen wir dem Vater, dem Sohn und
dem Heiligen Geist Ehre erweisen, besonders aber für den Tod Unse-
res Herrn und für die Gnade der Erlösung, denn so sehr hat Gott die
Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn hingab (Joh 3,16). So hat

72
Gott, nämlich der Vater geliebt, das ist der Heilige Geist, daß er seinen
Eingeborenen, den Sohn hingab. Ehre gebührt daher dem Vater, der
ihn gab, dem Sohn, der hingegeben wurde, und dem Heiligen Geist,
durch den er uns geschenkt wurde.
Wir müssen alle drei göttlichen Personen verherrlichen, und wir
müssen sie verherrlichen durch die Person des Fleisch gewordenen
Wortes, besonders durch seine Passion, die er beim hl. Johannes (7,39)
seine Verherrlichung nennt: Denn der Heilige Geist war noch nicht
verliehen, weil Jesus noch nicht verherrlicht war. So legen nämlich der
hl. Johannes Chrysostomus und Euthymius die Stelle aus; ausdrück-
lich der hl. Hieronymus im Brief an Hedibia (Ep. 120, qu. 9); darin
zeigt er, daß Jesus die Passion seine Verherrlichung nennt, und folgert
zum Schluß: „Die Herrlichkeit des Erlösers ist das Kreuz des Sie-
gers.“ Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn (1 Kor 1,31). Ferne sei es
von mir, mich zu rühmen, außer im Kreuz des Herrn Jesus Christus (Gal
6,14).
Erlaubt mir nun, daß ich vertraulich zu euch spreche. Wir müssen
Gott verherrlichen durch die Passion seines Sohnes. Diese Passion ist
nun nicht mehr gegenwärtig, um durch sie Gott zu verherrlichen; wir
müssen also auf das Gedächtnis zurückgreifen. Es gibt zwei Arten des
Gedächtnisses der Passion Jesu Christi in der Kirche, ein lebendiges
und ein lebloses. Das lebendige Gedächtnis der Passion Jesu Christi
ist die Eucharistie: Verherrlicht Gott (und tragt ihn) in eurem Leib (1
Kor 6,23). Sie aßen und beteten an (Ps 22,30). Das leblose Andenken
ist das heilige Zeichen des Kreuzes; das sind die kostbaren Reliquien
der Heiligen, wie der hl. Paulus (Kol 1,24) sagt: was von den Leiden
Jesu Christi bleibt.

Zum Sonntag Sexagesima

Nr. 41: Chablais, 9. Februar 1597 VII,306-310

Der Same ist das Wort Gottes (Lk 8,11).

Kostbarer und bewunderswerter Same, der vom Himmel genom-


men ist, in die Erde gelegt wurde und zum Himmel emporsteigt; Same,
der aus sich selbst ewige Frucht bringt, aber ein zarter Same, der kei-
nerlei Frucht bringt, wenn er nicht von einem guten Erdreich (Lk 8,8)
aufgenommen wird, sondern das Erdreich um so abscheulicher macht,
als er bewundernswert und kostbar ist (1 Kor 11,29). Der Same ist das

73
Wort Gottes. Die gleiche Sonne zeigt im Frühling die Schönheit der
Gärten, der Felder und Wiesen, der Haine und der lachenden Fluren,
enthüllt aber auch die Häßlichkeit der Gossen und Kloaken. Ebenso
läßt der gleiche Same, der die Kostbarkeit eines guten Feldes zur Gel-
tung bringt, die Unfruchtbarkeit der anderen erkennen und führt zu
deren Geringschätzung. Wie wichtig ist es deshalb, daß der Boden
recht bereitet ist, um diesen heiligen Samen aufzunehmen.

Der Same ist das Wort Gottes. Die Frucht ist der Glaube, die Hoff-
nung, die Liebe und das Heil. Das Erdreich ist unser Herz. O wie
wird sich dieses Herz, dieses Erdreich bereitmachen, wenn es be-
denkt, wer der ist, der sät. Es wird sehen, daß es der Herr ist: Ein
Sämann ging aus, um zu säen. Wenn es bedenkt, in welcher Absicht,
wird es sehen, daß er es tut, damit wir Furcht bringen in Geduld (Lk
8,15). Wenn es überlegt, wer diesen Samen empfängt, wird es sehen,
daß es ein Herz ist, das nichts ist als Erde, Staub und Asche (Gen
3,19; 18,27); denn der Sämann versetzt es in Erwartung, das Erd-
reich in Demut, die Absicht des Säenden in die Tat. Ich will mich
bemühen, darüber zu sprechen; es muß aber Gott sein, der spricht,
denn es ist sein Same ...

Der Same ist das Wort Gottes. So empfängt also das Erdreich den
Samen nicht in der Scheune oder im Hof, sondern der Bauer bringt
ihn auf das Feld und streut ihn mit der Hand in bestimmtem Gleich-
maß aus. So möchte ich euch zunächst sagen, daß der Same das Wort
Gottes ist. Das Wort Gottes muß seiner Natur entsprechend gepredigt,
ausgesät und verkündet werden. Wenn es aufgeschrieben wurde, dann
nicht, um die Predigt abzuschaffen, sondern vielmehr, um sie anzu-
passen und zu bereichern. Dies gegen das törichte Gerede einiger, die
sagen, man brauche nichts glauben, was nicht geschrieben steht; die
Heilige Schrift genüge ohne ein anderes Wort Gottes; jeder könne sie
verstehen und hier die Entscheidung seines Glaubens finden. Wenn
dem so wäre, wäre der Same nicht das Wort Gottes; denn als Unser
Herr dieses Wort sprach, war das Evangelium noch nicht geschrieben,
und trotzdem war der Sämann schon ausgegangen, seinen Samen aus-
zustreuen. Es war also nicht die Heilige Schrift, von der gesagt wurde:
Der Same ist das Wort Gottes. Wenn das also nicht von der Heiligen
Schrift galt und wenn es kein anderes Wort Gottes gäbe als die Heilige
Schrift, dann wäre der Same nicht das Wort Gottes. Geben sie über-
dies nicht zu, daß der Sämann in dieser Parabel Unser Herr ist? Wo
aber finden sie, daß Unser Herr je das Evangelium geschrieben hätte?

74
Wenn er also sagt: Der Same ist das Wort Gottes,dann versteht er das
vom Wort, das nicht geschrieben ist, aber gepredigt wird.
Wenn ihr das deutlicher verstehen wollt, dann seht zunächst, in wel-
cher Weise dieser Same aufgenommen wird: Das sind jene, sagt er, die
das Wort hören und es in gutem Herzen bewahren (Lk 8,15). Wenn
jene, auf die man sät, Hörer sind, dann sind diejenigen, die säen, Spre-
chende. Das Gehör nimmt nur das gesprochene Wort auf, das Auge
das geschriebene. Beim hl. Paulus (Röm 10,17) werdet ihr auch fin-
den: Der Glaube kommt vom Hören, das Hören durch das Wort Gottes.
An die Korinther (1,23): Wir predigen Christus den Gekreuzigten. Im
1. Thessalonicherbrief (2,13): Das Wort ist Verkündigung Gottes. Im 1.
Brief an Timotheus (2,5-7): Ein Gott, ein Mittler zwischen Gott und
den Menschen, der Mensch Jesus Christus, der sich selbst als Lösepreis
für alle hingab ... Dafür bin ich als Verkünder und Apostel bestellt. Im 2.
Brief an Timotheus (4,2): Verkündige das Wort, dränge, ob gelegen ...;
und bei Markus (16,15): Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen.
Der hl. Philippus begab sich auf Eingebung des Engels auf den Weg,
der von Jericho nach Gaza hinabführt, und siehe, ein mächtiger Äthio-
pier ... Er sagte zu Philippus: Tritt heran und schließe dich diesem
Wagen an ... (Apg 8,27-29).
In der Tat, warum hätte Unser Herr die anderen als Hirten und Apo-
stel hinterlassen (Eph 4,11), wenn uns nicht sein Wort verkündet wer-
den müßte von jenen, die in seinem Namen und in seinem Geist spre-
chen?

Aufmerksamkeit

Wenn man nicht verstehen kann, ohne zu hören, und wenn dieses
Hören zum Heil notwendig ist, mit welcher Aufmerksamkeit muß
man auf das Wort horchen, das nicht ein menschliches Wort ist, son-
dern Wort Gottes. Denn der zu sündhaften Menschen spricht, sagt
ihnen: Nicht ihr seid es, die sprechen, sondern der Geist eures Vaters,
der in euch spricht (Mt 10,2). Wer euch hört, der hört mich; wer euch
verachtet, der verachtet mich (Lk 10,16). So erachte uns der Mensch
als Diener Christi und Ausspender der Geheimnisse Gottes (1 Kor 4,1).
Infolgedessen rief Unser Herr nach dem Gleichnis aus: Wer Ohren hat
zu hören, der höre (Lk 8,8).
Ich finde im Evangelium, daß Unser Herr sechsmal gerufen hat: 1.
Er rief im Tempel und sagte: Ihr kennt mich und wißt, woher ich bin
(Joh 7,28). – 2. Wen dürstet, der komme zu mir und trinke (Joh 7,37).
3. Lazarus, komm heraus (Joh 11,43). – 4. Wer an mich glaubt, der

75
glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat (Joh 12,44).
– 5. Eli, Eli, lema sabachtani: Mein Gott ... (Mt 27,46). – 6. Mit lauter
Stimme rufend gab er den Geist auf (Mt 27,50). Und jetzt, zum siebten
Mal, rief er aus und sagte: Wer Ohren hat zu hören, der höre, um seine
Zuhörer aufmerksam zu machen auf den Vergleich des Wortes Gottes
mit dem Samen. Der Same ist das Wort Gottes. Und wie der Same in
das Erdreich eindringt und nicht an der Oberfläche bleibt, so muß
auch das Wort Gottes, etc. Ich will hören, was Gott der Herr in mir
spricht (Ps 85,9). Setze vor deinen Mund Schloß und Riegel (Sir 28,28).
Eli zu Samuel: Rede, Herr, dein Diener hört (1 Sam 3,10). So muß die
Aufmerksamkeit und Ehrfurcht beschaffen sein.

Demut

Demut und Ehrfurcht, die unendlich wachsen wird, wenn wir beden-
ken, an wen dieses Wort gerichtet ist. An den Menschen. Was ist der
Mensch, daß du ihn beachtest?(Ps 94,3). Er wandelte unter den Men-
schen (Bar 3,38). Vielfach und auf vielfältige Weise hat Gott einst zu
den Vätern in den Propheten gesprochen; zuletzt hat er in diesen Tagen
zu uns sündhaften Menschen gesprochen im Sohn (Hebr 1,1f).
Lk 10,39: Maria saß zu Füßen des Herrn und hörte auf sein Wort, weil
der Same das Wort Gottes ist. Der Same bringt mehr Frucht in Tälern
als auf Bergen. So wird es mit dem Regen verglichen, der sich sammelt
und in die Täler herabfließt. Ex 32,1f in diesem letzten Hymnus: Hört,
ihr Himmel, was ich sage; die Erde vernehme die Worte meines Mundes.
Wie Regen verdichte sich meine Lehre, wie Tau fließe meine Rede.
Sir 1,5: Quelle der Weisheit ist das Wort Gottes; wer aber aus der
Quelle trinken will, muß sich niederbeugen.

76
Dogmatische Predigten über die heilige Eucharistie

I.

Nr. 43: Chablais, Juli 1597 VII,320-327

Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise (Joh 6,56)

Die Wahrheit ist in sich so schön und so köstlich, daß unser Ver-
stand sie notwendigerweise mit Liebe und höchstem Wohlgefallen
umfängt, wenn sie ihm klar und verständlich vorgestellt wird. Sie ist
sein Ziel, sagen die Peripatetiker; sie ist seine Nahrung, sagen die
Platoniker; sie ist seine Vollendung, sagen sie alle gemeinsam mit
unseren ehrwürdigen Theologen. „Die ganze Welt ruft und verlangt
nach der Wahrheit; der Himmel preist sie, alles wird durch ihre Macht
in Bewegung gesetzt“, sagte der weise Serubbabel (3. Esra 4,36), der
wegen dieser Sentenz als der Klügste von allen Medern und Persern
galt. Wenn das von jeder Form der Wahrheit gesagt werden kann, wie-
viel mehr dann, ich bitte euch, meine lieben Brüder, von der Wahrheit,
die von allen die erste und vortrefflichste ist, ich sage, von der christ-
lichen Wahrheit. Im Vergleich mit ihr ist jede andere Wahrheit eher
Einbildung als Wahrheit. Diese Wahrheit ist „schöner, als die berühmte
Helena war“, ob deren Schönheit so viele Griechen und Trojaner ihr
Leben ließen, sagt der hl. Augustinus (Epist. 40,4), denn aus Liebe zu
ihr sind unvergleichlich mehr hervorragende Menschen und heilige
Märtyrer gestorben. Sie ist erstrebenswerter als Gold und Topas (Ps
119,127), süßer als Zucker und Honig (Ps 19,11; 119,103), sie macht
den Geist froh und die Augen leuchtend (Ps 19,9), wie David singt.
Beseelt vom Wunsch, in den folgenden Predigten die Wahrheit des
allerheiligsten Altarssakramentes zu beweisen, meine sehr teuren Brü-
der, glaube ich das nicht besser unternehmen zu können als dadurch,
daß ich euch so klar und bündig die wirkliche Lehre der Kirche darle-
ge. Diese Lehre ist so klar und so köstlich, daß euer Verstand beim
ersten Anblick ihrer Schönheit sie mit unglaublicher Liebe und Freu-
de annehmen wird, dessen bin ich sicher. An ihrer Art und ihrer An-
mut wird er mit Sicherheit erkennen, daß sie eine Tochter Gottes ist,
hervorgegangen aus seinem Mund, empfangen im Schoß seiner unend-
lichen Weisheit (Sir 24,5). Wenn ich euch aber daneben das Aussehen
der gegenteiligen Unwahrheit zeige, so zweifle ich nicht im gering-

77
sten, daß deren unglaubliche Häßlichkeit euch die Schönheit der kirch-
lichen Lehre noch viel mehr bewundern und lieben läßt. Das ist es,
kurz gesagt, was ich in dieser ersten Predigt vorhabe: die Wahrheit
sehr klar darzustellen, und um sie noch deutlicher zu zeigen, ihr die
Irrtümer gegenüberzustellen, die ihr widersprechen. Macht eure Au-
gen auf, ihr Christen, seht diese Wahrheit: begehrenswerter als jede
andere im Evangelium, zugleich aber so gewaltig und erhaben, daß
weder ihr noch ich ihren Glanz zu ertragen vermöchten, wenn nicht
Er uns beisteht, der sie geoffenbart hat. Rufen wir ihn deshalb vor
allem um seinen Beistand an durch die Fürsprache seiner allerseligsten
Mutter, die wir in der gewohnten Weise grüßen: Ave Maria.
Ein Leib kann nicht zur Speise werden, wenn er nicht in irgendeiner
Gestalt dem gegenwärtig ist, der ihn ißt, und er kann nur in der Gestalt
eine Speise sein, in der er dem gegenwärtig ist, der ihn ißt. Diese Wahr-
heit, glaube ich, kann niemand leugnen; denn das Essen ist ein Aneig-
nen und eine Vereinigung der Speise mit dem, der sie zu sich nimmt,
überaus innig und im strengsten Sinn, bis schließlich die Speise sich in
den umwandelt, der sie ißt, oder dieser sie in sich umwandelt. Es ist
daher einfach notwendig, daß ihm die Speise gegenwärtig ist, und man
kann das Essen nicht anders verstehen, als daß die Speise in den ein-
geht, der sie ißt, und sich mit ihm vereinigt. Nun finde ich, ganz allge-
mein gesprochen, daß ein Leib nur in einer von drei Weisen gegenwär-
tig sein, zu einem anderen in Beziehung kommen oder mit ihm verei-
nigt werden kann: wirklich und ungeistig, geistig und unwirklich oder
wirklich und geistig zugleich. Die erste Art ist wirklich, aber grob,
natürlich und fleischlich; die zweite ist geistig, bildlich und weniger
wirklich; die dritte ist ebenso wirklich wie die erste, ebenso geistig
wie die zweite, sie ist bewundernswerter als die erste und bewunderns-
werter als die zweite. Erwägen wir sie eingehender und sehen wir,
welche der drei Arten der Gegenwart und dem Genuß des Leibes Un-
seres Herrn im hochheiligen Sakrament angemessener ist.
Ich sage also zunächst, daß ein Leib einem anderen gegenwärtig sein
und folglich gegessen werden kann: wirklich und ungeistig, aber auf
natürliche und fleischliche Weise. Dabei gibt es keine Schwierigkeit.
So ist mein Leib gegenwärtig auf dieser Kanzel, der eure auf euren
Bänken. Das ist wirklich, meine Brüder, denn es ist das unserem Leib
eigene Wesen und Sein, das hier ist. Aber es ist fleischlich, denn es ist
verbunden mit allen natürlichen Eigenschaften unseres Fleisches, der
Schwere und Stofflichkeit, der Sterblichkeit, Unansehnlichkeit und
ähnlichen Merkmalen unserer Armseligkeit und der uns eigenen Na-
tur. Das ist die gewöhnliche und natürliche Art des Gegenwärtigseins

78
unseres Leibes und aller Körper hier auf Erden; nach dieser Art kön-
nen sie auch eine Speise sein. Das geschah mit dem Leib Isebels (2
Kön 9,35-37), denn die Hunde fraßen ihn wirklich, tatsächlich und
fleischlich; sie zerfleischten ihn, da er hinfällig war; sie zerrten ihn
hin und her, da er schwer war; sie bissen hinein, da er stofflich war;
schließlich war er nicht mehr und nicht weniger als das Fleisch eines
Pferdes oder eines Ochsen. So wurden die Leute, die der König von
Assyrien herholte, um Samaria zu bevölkern, wirklich und fleischlich
von den Löwen gefressen (2 Kön 18,25), gleicherweise von den Bären
die Kinder, die Elischa verspotteten (2 Kön 2,23f). Ebenso essen die
Menschenfresser unter den Indianern sich gegenseitig wirklich und
tatsächlich auf, uzw. genau so fleischlich, wie sie das Fleisch von Scha-
fen und Kälbern verzehren. Auf gleiche Weise aßen die zwei Samariter-
innen (2 Kön 6,26-29), vom Hunger während der Belagerung getrie-
ben, wirklich und fleischlich das eine ihrer Kinder; sie zerfleischten
es mit starken Zähnen, füllten ihren Magen und ihren Leib mit dem
Fleisch, das aus ihm hervorgegangen war. Das genügt zu diesem Punkt.
Ich glaube, ihr habt mich verstanden, da ich nur von der einen Art des
Gegenwärtigseins und Essens spreche, von der gewöhnlichen, natürli-
chen und fleischlichen.
Meine Brüder, nun muß ich euch sagen: als die Leute in Kafarnaum
hörten, wie unser Erlöser in einer Rede, die er vor ihnen hielt, so oft
nachdrücklich betonte, daß man sein Fleisch essen und sein Blut trin-
ken muß, daß sein Fleisch wahrhaft eine Speise ist, daß das Brot, das er
geben wird, sein Fleisch für das Leben der Welt ist (Joh 6,52-56), da
glaubten sie, daß er ihnen sein Fleisch in dieser ersten Weise zu essen
geben wollte, d. h. wirklich (denn seine Worte waren so eindeutig, daß
sie nicht zweifeln konnten), aber fleischlich. Denn sie dachten, er wol-
le es ihnen tot geben, stück- und bissenweise, roh, gewöhnlich, fett,
verderblich, schwer, greifbar, sichtbar; daß sie es folglich zerfleischen
und kauen müßten, wie die Menschenfresser, Kannibalen und unge-
bildeten Wilden, die einander auffressen, wie jemand das Fleisch von
Hammeln und Schafen ißt. Sehr erstaunt über diese Zumutung sagten
sie zueinander: Wie kann der uns sein Fleisch zu essen geben? Und als
sie sahen, daß er darauf bestand, es ihnen sogar mit seiner feierlichsten
Beteuerung zu versichern, fügten sie hinzu: Diese Rede ist hart; wer
kann sie hören? (Joh 6,54.61).
Sie nannten die Worte Unseres Herrn hart, d. h. herb, roh, ungehö-
rig, grausam, weil sie dachten, Unser Herr wollte sie sein Fleisch es-
sen und sein Blut trinken lassen, fleischlich und nach der natürlichen
und gewöhnlichen Seinsweise des Fleisches und Blutes; das aber schien

79
ihnen wahrhaftig sehr roh, barbarisch und ungehörig. Wem sträubten
sich nicht die Haare vor Entsetzen und wer würde nicht erschaudern,
wenn er einen menschlichen Leib essen und das Blut eines Menschen
trinken müßte? Wieviel grausamer aber mußte das den Zuhörern Un-
seres Herrn erscheinen, da er ebenso wie sie Jude der Nation und der
Religion nach war. Bei den Juden war aber das menschliche Fleisch so
unantastbar, daß man selbst nach der Berührung mit einem toten Leib
unrein und befleckt war. Und was das Blut betrifft, war es so verpönt,
daß es nach dem Gesetz nicht einmal erlaubt war, das der Tiere zu
genießen (Dtn 12,23). Was Wunder also, wenn diese armen Leute so
erstaunt waren, als sie hörten, daß Unser Herr sein Fleisch und sein
Blut als Speise und Trank geben wollte, da sie glaubten, er wollte das
tote Fleisch und Blut in der ihm eigenen Gestalt, in der natürlichen,
fleischlichen Beschaffenheit geben? Wahrhaftig ein plumper Verstand,
der sehr schwerfällig arbeitet.
Der gleichen Art des groben, fleischlichen Essens wurden die ersten
Christen von den gottlosen Heiden beschuldigt; ich bitte euch, meine
lieben Brüder, das zu beachten. Die Urkirche, die sich über den gan-
zen Erdkreis ausbreitete, legte vor ihren Kindern offen Zeugnis dafür
ab, daß der Leib des Gottessohnes wirklich genossen und sein Blut
getrunken wird. Als die Worte, mit denen sie das erklärte, den Heiden
und anderen Feinden des Erlösers zu Ohren kamen, ergriffen sie die
Gelegenheit, die Christen zu verleumden und sie der Menschen-
fresserei zu beschuldigen. Sie behaupteten, daß sie kleine Kinder ver-
zehrten, sie schlachteten und mit starken Zähnen zerfleischten; sie
sagten, die Christen hielten bei ihrem Sakrament und Mysterium ihr
Festmahl nach Art der Zyklopen mit Menschenfleisch. Tertullian sagt
in seiner Apologie (c. 4): „Man bezichtigt uns des verbrecherischen
Kindermordes und des anschließenden Mahles beim Sakrament.“ In
der Tat bestätigt Plinius II. in dem Brief, den er an Trajan schrieb, der
bei Tertullian (c. 2) wiedergegeben ist, daß man die Christen dieses
Verbrechens beschuldigte. Wenn man ihn genau liest, entlastet er sie
allerdings.
Diese Verleumdung bestand noch zur Zeit des Minutius Felix. Er
zitiert (Dialog, c. 3) die Worte eines gewissen Caecilius, der die Chris-
ten noch in gleicher Weise beschuldigt: eine wahrhaft häßliche Be-
schuldigung. Aber bei diesen frühen Feinden der Kirche ist diese ver-
kehrte Auffassung einigermaßen entschuldbar, denn unsere Kirchen-
väter bekannten öffentlich, daß sie den Leib des Herrn genießen, und
die heiligen Schriften erklärten es so offenkundig, daß die Heiden,
wenn sie entweder Christen miteinander reden hörten oder die Schrif-

80
ten sahen, annehmen mußten, daß die Kirche daran glaubte. Anderer-
seits überstieg es ihr geistiges Vermögen, zum rechten Verständnis
dieses wirklichen Genießens zu kommen, denn das lehrt nur der Glau-
be. Außerdem waren unsere Christen bei der Feier dieses Geheimnis-
ses so abgeschlossen und versteckt, daß sie nicht einmal den
Katechumenen erlaubten, es zu sehen. Da also die Heiden einfach
sagen hörten, daß die Christen das Fleisch des Gottessohnes essen, da
sie aber weder wußten noch erraten konnten, daß dies anders als auf
fleischliche Weise geschieht, beschuldigten sie die Christen des Ver-
brechens der Menschenfresserei.
Wer aber kann diese Beschuldigung für entschuldbar halten in unse-
rer Zeit, in der die Unverschämtheit so weit zu gehen wagt, daß sie die
gleiche Verleumdung wieder aufgreift, um die Katholiken zu beschimp-
fen? Und wer waren diese Unverschämten, sagt ihr mir. Meine Lieben,
das sind Getaufte, erzogen und unterwiesen in der Kirche Gottes, die
tausendmal der Feier der heiligen Eucharistie beigewohnt, die hun-
dertmal an ihr teilgenommen haben. Nach all dem haben sie sich von
der heiligen Gemeinschaft der Gläubigen getrennt, um eigene Sekten
zu gründen. Und nun lassen sie uns nicht einmal die Beweise gegen
diese Verleumdung ebenso eindeutig vorbringen, wie sie ganz und gar
unwissend über unseren Glauben sind. Wie oft warfen sie uns vor,
wenn wir wirklich den Leib Unseres Herrn genießen, dann müßten
wir ihn zerfleischen, kauen und abnagen; und von daher griffen sie zu
so unverschämten und ausgefallenen Argumenten, daß es schlimmer
nicht sein könnte. Hat es denn jemals in der Irrlehre eine anmaßendere
Unverschämtheit gegeben als diese?
Nun, das alles ist nichts anderes als eine Verleumdung, das wißt ihr
sehr wohl, meine sehr teuren Brüder. Nein, das hat Unser Herr nie-
mals gemeint oder gesagt, daß man sein Fleisch auf fleischliche, grobe
Art essen soll, wie man totes, verderbliches Fleisch ißt. Die Leute in
Kafarnaum, die es so auffaßten, waren arme Menschen, die die Worte
des Herrn nicht recht bedachten, die nie in diesem Sinn ausgelegt
werden können. Hört doch Unseren Herrn; er sagt: Mein Fleisch ist
wahrhaft eine Speise, aber auch: Wer mein Fleisch ißt, hat das ewige
Leben. Wenn er nichts gesagt hätte als das, dann hätte die Auslegung
der Leute von Kafarnaum eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich,
weil er nur einfach von Fleisch gesprochen hätte. Aber hat er nicht
seine Absicht hinreichend zum Ausdruck gebracht, als er in der glei-
chen Rede sagte: Ich bin das lebendige Brot, der ich vom Himmel her-
abgestiegen bin? Seht ihr nicht, daß er nicht von einer toten Speise
spricht, sondern von einer lebendigen? Sie wäre aber nicht lebendig,

81
wenn sie zerfleischt, gebrochen und in Stücke zerrissen würde. Wer
mich ißt, sagte er, wird durch meine Liebe leben. Er will also nicht sein
totes Fleisch und nicht nur dieses geben, sondern er will sich selbst
ganz schenken. Er gäbe aber nicht sich selbst ganz, wenn er nur sein
totes Fleisch anböte.
Vor allem aber hat Unser Herr in beredter Weise diese grobe und
ganz fleischliche Auffassung zurückgewiesen durch die Worte: Spiri-
tus est qui vivificat, caro non prodest quidquam; verba quae locutus
sum vobis, spiritus et vita sunt. Der Geist ist es, der lebendig macht; das
Fleisch ist zu nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe,
sind Geist und Leben (Joh 6,64) Heilige Worte, göttliche Worte, über-
aus erhabene Worte, die geeignet sind, dieser schwerfälligen und gro-
ben Auffassung den Boden zu entziehen, daß der Leib Unseres Herrn
fleischlich genossen werde; dies durch zwei schöne Gedanken, die
unsere Kirchenväter aus diesen Worten sehr weise herausgelesen und
abgeleitet haben. „Wie also“, sagt der hl. Chrysostomus (Hom. 47 in
Joh, § 2), „ist das Fleisch zu nichts nütze? Spricht er nicht von seinem
eigenen Fleisch? Das geht niemals an, sondern er spricht von Men-
schen, die es fleischlich verstehen.“ Und der hl. Cyprian sagt (De
Coena): „In diesem Sinn nützen das Fleisch und das Blut zu nichts,
noch vermag der fleischliche Sinn zu einer Auffassung von solcher
Tiefe vorzudringen, wenn nicht der Glaube zu Hilfe kommt; nec carnalis
sensus ad intellectum tantae profunditatis penetrat nisi fides accedat.“*

II.

Nr. 44: Chablais, Juli 1597 VII,328-341

Meine lieben Zuhörer, am Sonntag habe ich euch gesagt, daß alle
Schwierigkeiten, die unsere Gegner gegen den Glauben an die wirkli-
che Gegenwart des Leibes und Blutes Unseres Herrn im allerheilig-
sten Sakrament vorbringen, sich auf zwei Zweifel der Juden und der
Jünger unseres Herrn Jesus Christus zurückführen lassen, als er diese
Glaubenswahrheit lehrte. Der eine war: Wie kann der uns sein Fleisch

* Die zweifache Bezugnahme in der folgenden Predigt zwingt zur Annahme, daß
diese entweder nicht vollständig niedergeschrieben wurde oder ein Teil des Ma-
nuskriptes verloren ging.

82
zu essen geben? Der andere war: Diese Rede ist hart; wer kann sie
hören? (Joh 6,53.61). Denn alle Einwände, die man gegen uns erhebt,
laufen darauf hinaus, daß diese Gegenwart entweder nicht eingesetzt
und verwirklicht werden kann oder daß sie ungehörig sei. Und es
scheint, daß alle Stellen der Heiligen Schrift, die sie herangezogen
haben, ihnen nur als Bestätigung dieser beiden Zweifel zugute kom-
men. Nun, ich will zunächst nachweisen, daß Gott es kann, sowohl
nach dem allgemeinen Grundsatz seiner Allmacht als auch durch be-
stimmte Beispiele, daß der gleiche Körper an mehreren Orten sein
kann. Dann will ich euch zeigen, daß die Art, wie Unser Herr in die-
sem Sakrament gegenwärtig ist, keineswegs hart und schrecklich ist,
sondern überaus köstlich und lieblich.
Nun will ich euch in der Fortsetzung der Predigt über den gleichen
Gegenstand zeigen: (1.) Es ist keineswegs unmöglich, daß sich in die-
sem heiligen Sakrament ein Körper an einem bestimmten Ort befin-
det, ohne die äußere Ausdehnung anzunehmen, wie wir es naturgemäß
bei anderen Körpern sehen. 2. Die Transsubstantiation ist keineswegs
unmöglich, sondern in diesem Sakrament durchaus verwirklicht. 3.
Aus allem, was ich sagen werde, will ich die Anbetung dieses heiligen
Sakramentes begründen.
Herr, von ganzem Herzen will ich deine Allmacht preisen, wenn du
meine Lippen zu deinem Lob öffnest (Ps 51,17). Ich will deine Maje-
stät im heiligen Sakrament anbeten, wenn du deine Worte stets in mei-
nem Herzen bewahrst. Denn dein Wort belehrt mich, daß du hier wahr-
haft gegenwärtig bist als Gott und Mensch und daß diese Gegenwart
deinem Willen weniger unmöglich ist als unserem schwachen Ver-
stand unbegreiflich, wie alle übrigen deiner Werke wunderbar sind.
Damit diese Bitte bei deiner göttlichen Güte Erhörung finde, vereini-
gen wir sie mit der Fürsprache Unserer lieben Frau: Ave.
(1.) Wir sind also fest davon überzeugt, daß ein Körper an mehreren
Orten zugleich sein kann im Gehorsam gegen die Anordnung des all-
mächtigen Gottes, dem darin nichts unmöglich ist. Ich sage nun: ein
Körper kann an einem Ort gegenwärtig sein, ohne an ihm irgendeinen
Raum einzunehmen, ohne daß man ihn sehen, berühren und wahrneh-
men kann. Für die meisten von euch ist es vielleicht erforderlich, den
tieferen Grund dieser Schwierigkeit zu erkennen; hört also aufmerk-
sam zu, ich will mich ausführlich dazu äußern.
Wenn sich ein Gegenstand an einem Ort befindet, sind wir gewohnt,
an ihm zwei Dinge, zwei Beschaffenheiten, zwei Eigenheiten wahrzu-
nehmen. Das eine ist seine Gegenwart, daß also der Gegenstand an

83
einem Ort anwesend ist. Diese Tatsache bedeutet nichts anders, als
daß er sich an einem Ort befindet. An einem Ort gegenwärtig sein
bedeutet also nur, hier zu sein; abwesend sein heißt, nicht hier sein.
Die andere Beschaffenheit, die wir an einem Gegenstand feststellen,
der sich an einem bestimmten Ort befindet, ist die, daß er hier einen
Raum einnimmt, d. h. er ist hier in der Weise, daß gleichzeitig mit ihm
kein anderer Gegenstand hier sein kann. Er füllt den Ort, an dem er
sich befindet, so aus, daß ein anderer Gegenstand dort nicht Platz
haben kann.
Nach unserer schwerfälligen Denkweise scheinen uns diese zwei Be-
schaffenheiten so eng miteinander verbunden, daß sie in keiner Weise
voneinander getrennt werden können. Wir sind der Meinung, wenn
ein Gegenstand sich an einem Ort befindet, nehme er dort einen Raum
ein, folglich könne dort kein anderer Gegenstand gleichzeitig mit ihm
sein. Die Sache verhält sich aber trotzdem nicht so, denn es ist ein
großer Unterschied zwischen dem Gegenwärtigsein und der räumli-
chen Ausdehnung, so daß das eine sehr wohl ohne das andere möglich
ist. Ich will damit sagen: Ein Gegenstand kann ganz wirklich an einem
Ort gegenwärtig sein, ohne dort einen Raum einzunehmen. So neh-
men die Dinge um so weniger Raum ein, je vollkommener sie an ei-
nem Ort gegenwärtig sind. Davon sollen euch folgende Beispiele über-
zeugen.
Die Majestät Gottes ist so sehr überall gegenwärtig, daß der hl. Pau-
lus gesagt hat: Keinem von uns ist er ferne; denn in ihm leben wir, bewe-
gen wir uns und sind wir (Apg 17,27f). Das sagte er zu den Athenern
vom unbekannten Gott (17,23). Ebenso sagte ich euch neulich die
Worte Davids (Ps 139,8): Steige ich zum Himmel hinauf, so bist du da;
steige ich hinab in die Unterwelt, du bist da. Wenn er überall gegenwär-
tig ist, so bedeutet das, daß er keinen Platz oder Raum einnimmt. So
nehmen auch die Engel in sich keinen Raum ein, so daß ganze Legio-
nen von Teufeln sich in einem Leib befanden (Mt 5,9). Das
Gegenwärtigsein ist also möglich, ohne einen Platz einzunehmen. Das
trifft regelmäßig bei den Engeln zu; bei körperlichen Dingen gibt es in
der Regel keine Anwesenheit eines Gegenstandes, ohne daß sie einen
Platz einnehmen.
Da liegt nun die offene Streitfrage zwischen uns und unseren Geg-
nern. Wir sagen: Wie bei geistigen Dingen in der Regel das
Gegenwärtigsein getrennt ist von der räumlichen Ausdehnung, ebenso
kann es durch die Allmacht Gottes auch bei körperlichen Dingen ge-
schehen. Sie leugnen das, wir beweisen es. Unser erster Beweis besteht
darin, was wir am Sonntag sagten, wie umgekehrt das, was wir am

84
Sonntag bewiesen haben, durch das bestätigt wird, was wir nun sagen,
denn es liegt in der Natur der Wahrheit, daß ihre Sätze sich gegenseitig
stützen.
Am Sonntag haben wir gesagt, daß ein Körper an zwei Orten sein
kann, und wir haben es hinreichend bewiesen. Also können auch zwei
Körper an einem Ort sein; denn es ist nicht schwieriger, daß zwei
Körper nur einen Platz haben, als zu sagen, daß ein und derselbe Kör-
per an zwei Orten ist. Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als
daß ein Reicher in das Himmelreich eingeht. Als die Jünger das hörten,
wunderten sie sich sehr und sagten: Wer kann da noch gerettet werden?
Jesus blickte sie an und sagte: Bei den Menschen ist das unmöglich, bei
Gott ist alles möglich (Mt 19,24-26). Wie anders könnte es geschehen,
daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß es keinen Raum ein-
nimmt? Ein so großes Tier auf so kleinem Raum zu sehen, ist das
nicht ein schönes Beispiel für unsere Frage? Ich weiß sehr wohl, daß
darunter manche eine Hanfschnur verstehen, die man cable (Tau)
nennt; aber alle Kirchenväter verstehen darunter dieses Tier. Seht, er
sagt, daß das alles bei den Menschen unmöglich ist; aber weder das
noch etwas anderes ist unmöglich bei Gott. Und wenn es nicht unmög-
lich ist, einen so großen Körper auf einen so kleinen Raum zu verset-
zen, warum sollte es unmöglich sein, daß er einen verklärten mensch-
lichen Leib in der Hostie und in deren kleinsten Partikeln birgt?
Nach dem hl. Johannes (20,19-26) kam Unser Herr am Tag seiner
Auferstehung bei verschlossener Tür zu den Jüngern, war bei ihnen und
sagte: Der Friede sei mit euch. Ökolampadius sagt, er sei durch das
Fenster eingestiegen; Calvin, er habe die Tür geöffnet und wieder ge-
schlossen, oder er habe sie zerstört und sogleich wieder hergestellt.
Petrus der Märtyrer sagte, er sei durch irgendeine Öffnung hereinge-
kommen oder habe die Tür dünn gemacht oder bewirkt, daß sie nach-
gab. Meine Brüder, ich betone, daß diese Erklärungen und Auslegun-
gen nicht in der Heiligen Schrift stehen. Mein Gott, was dem mensch-
lichen Geist widerstrebt, ist ihm wirklich verhaßt. Was erfindet er
nicht alles, um sich zu rechtfertigen! Seht beim hl. Lukas (24,36f), wie
seine Jünger sich wunderten über dieses plötzliche Erscheinen; da sie
die Türen wohl verschlossen sahen, glaubten sie einen Geist zu sehen.
Ebenso glauben unsere Gegner, wenn man ihnen sagt, daß Unser Herr
keinen Raum einnimmt, es sei nicht sein Leib. Nein, nein, es ist sein
Leib; es ist nicht die Erscheinung eines Geistes, es ist sein wirklicher
Leib, aber vergeistigt.
Wenn die Väter gedacht hätten, daß diese Ausflüchte stichhaltig sei-
en, hätten sie sich ihrer bedient gegen die Marcioniten, die den Ab-

85
schnitt beim hl. Johannes als Einwand gebrauchten, um zu beweisen,
daß der Leib Unseres Herrn ein Scheingebilde sei, wie der hl. Cyrillus
an der genannten Stelle bezeugt. Doch kein Angriff ließ sie je auch nur
einen Schritt zurückweichen. Sie wollten in allem und unter allen
Umständen am natürlichen und einfachen Sinn der Heiligen Schrift
festhalten.
Ach, mein Gott, mein Erlöser, mein Herr, erlaube mir denn, daß ich
von deinem ersten Eintreten in diese Welt spreche. Damals hast nicht
du, sondern haben die Engel an deiner Stelle gesungen: Ehre sei Gott
in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen guten Willens (Lk
2,14), als sie dich den Menschen gleich sahen, ein kleines Kind, arm,
nackt und weinend. Wie erschienst du, Herr, bei diesem Kommen hier
unter den Menschen? Ohne Zweifel blieb die jungfräuliche Pforte
Unserer lieben Frau, deiner heiligen Mutter, fest verschlossen, als du
hier erschienst, denn sie war während und nach der Geburt Jungfrau.
Weder an ihrer hochheiligen Seele noch an ihrem Leib erlitt sie ir-
gendeinen Schaden. Seht ihr, meine Brüder, Unser Herr ging mit sei-
nem wirklichen Leib aus dem Schoß seiner Mutter hervor ohne die
geringste Minderung oder Verletzung ihrer Jungfräulichkeit; muß das
nicht geschehen sein, ohne daß er einen Raum einnahm? Ging er nicht
aus diesem jungfräulichen Leib hervor unter Aufhebung der Ausdeh-
nung?
Es könnte Gott nicht gefallen, wollte ich sagen, was unsere Gegner
an dieser Stelle antworten; es widerspräche der Ehrfurcht. Sie wollen
um jeden Preis wahrhaben, was sie einmal gesagt haben. Lieber geben
sie die Jungfräulichkeit der Mutter Gottes preis, als ihren Fehler zu-
zugeben. Gewiß, Jovinian wurde als Häretiker betrachtet unter ande-
rem, weil er gesagt hatte, Unsere liebe Frau habe ihre Jungfräulichkeit
verloren, als sie ihren Sohn gebar. Jesaja sagt und bestätigt (7,14), daß
die Mutter Gottes Jungfrau war, nicht nur, als sie empfing, sondern
auch als sie gebar: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und gebären;
und in unserem Glaubensbekenntnis heißt es: „Geboren von Maria
der Jungfrau.“
Ging etwa Unser Herr nicht aus dem verschlossenen Grab hervor?
Ohne Zweifel. Der hl. Matthäus (28,2) und der hl. Markus (16,4) sa-
gen, daß der Engel den Stein wegwälzte, nachdem Unser Herr aufer-
standen war. Also ging er durch den Stein hindurch, ohne den gering-
sten Raum einzunehmen.
Wünscht ihr noch, meine Herren, daß ich mich des Zeugnisses des
hl. Augustinus im 22. Buch des „Gottesstaates“ (c. 8, § 21) bediene?
Dort berichtet er, daß Petronia von einem gewissen Juden einen Ring

86
besaß, in dem sich ein Stein befand, der sie von einer bestimmten
Krankheit heilen sollte, an der sie litt. Der Ring war sehr gut an einem
Band angebunden und befestigt, sehr stark und fest. Sie ging nun zum
Grab des hl. Stephanus. Damit die Heilung nicht dem Ring des Juden
zugeschrieben werde, fiel der Ring plötzlich der Frau zu Füßen, ohne
daß er zerbrochen, noch das Band gelöst oder zerrissen war. So, sagt
der hl. Augustinus, muß man glauben, daß Unser Herr aus dem jung-
fräulichen Schoß hervorging, ohne ihn im geringsten zu verletzen. Ihr
seht also, daß ein Körper an einem Ort sein kann, ohne hier einen
Raum einzunehmen.
Unsere Gegner wissen nicht, was sie sagen sollen. Sie sehen, daß
unsere Beweise gut in der Heiligen Schrift begründet sind, in der sie
geforscht haben, ob es dort nichts gebe, was ihrer Leugnung dienlich
sein könnte. Da sie sahen, daß es dort nichts gibt, stürzten sie sich auf
die Philosophie und wollten zeigen, daß das unmöglich sei. Wenn ich
die Begründung wiedergeben wollte, die Petrus der Märtyrer und Cal-
vin vorbringen, so habe ich es doch nie getan, obwohl es mir ein Leich-
tes wäre, ihnen mit Philosophie und mit der Scholastik zu antworten.
Aber ich habe es nicht nötig, mich auf die Philosophie zu stützen,
wenn ich das Wort Gottes für mich habe. Unser Herr antwortet auf
alle diese Argumente hinreichend, wenn er beim hl. Matthäus (18,26)
sagt: Bei Menschen ist das unmöglich; bei Gott ist alles möglich. Ihr
versteht das nicht? O, deswegen muß man nicht aufhören, zu glauben.
Wenn ihr aber die Heilige Schrift zugunsten der Philosophie aufgeben
wollt, dann sagt mir bitte, wie ihr sehen könnt: ob es nämlich durch
Ausstrahlung oder durch Einstrahlung geschieht. Wenn es das erste
ist, wie kann euer Auge so viele Dinge enthalten, obwohl es so klein
ist? Wie kann es so viele Strahlen haben, als notwendig sind, um ein
ganzes Gebirge zu bedecken, das es mit einem Blick sieht, und den
Raum von fünfzig Meilen Entfernung einzunehmen. Der dünnste Fa-
den der Welt ergäbe bei dieser gewaltigen Entfernung einen sehr gro-
ßen Knäuel. Wenn es das zweite ist, wie kann euer Auge eine Darstel-
lung so großer und so verschiedener Dinge aufnehmen, da es so klein
ist? Sie werden mir sagen: So wie das körperliche Licht in einem Au-
genblick Himmel, Licht und Wasser durchdringt; außerdem, daß es
keine Substanz habe, wenn dies heißt, daß es stofflich ist.
Wohlan, meine Brüder, das ist in der Tat die Wahrheit: Unser Herr
ist in der Eucharistie gegenwärtig, ohne darin einen Raum einzuneh-
men. Hier sind die Teile zugleich wohlgestaltet, aber ohne irgendeine
räumliche Ausdehnung, da sie keinen Raum einnehmen. Man wird

87
mir sagen: Wie kann das geschehen, da er unsichtbar und nicht faßbar
ist? Das ist leicht; denn als man Unseren Herrn von der Höhe des
Berges stürzen wollte, ging er mitten durch sie hinweg, ohne dabei ge-
sehen oder bemerkt zu werden (Lk 4,29f). Als er nach seiner Auferste-
hung die Jünger in Emmaus verließ, verschwand er vor ihnen und sie
sahen ihn nicht mehr, obwohl sie ihn vorher gesehen hatten und ihnen
die Augen geöffnet worden waren (Lk 24,31).
Von all diesen Seiten gibt es also keine Schwierigkeit mehr. Ein
Körper kann an zwei Orten sein, wie aus der Geschichte der Bekeh-
rung des hl. Paulus (Apg 9,3-7; 22,6-9) hervorgeht. Ein Körper kann
an einem Ort sein, ohne einen Raum einzunehmen, wie aus dem Ein-
treten Unseres Herrn durch verschlossene Türen und aus seiner Ge-
burt hervorgeht. Ein Körper kann an einem Ort sein, ohne daß man
ihn sehen und erkennen kann, daß er da ist, wie aus den Beispielen
hervorgeht, die ich angeführt habe.
(2.) Da gibt es aber doch noch eine Schwierigkeit. Unsere Gegner
wollen nicht von ihrem Wie ablassen. Sie fragen: Wie ist es möglich,
daß etwas, das eben noch Brot war, nun Fleisch Unseres Herrn ist?
Das ist möglich durch die vollkommene Verwandlung des Wesens in
ein Wesen, die man sehr richtig mit dem Wort Transsubstantiation
bezeichnet. Jene, die Luther folgen, um die Kirche zu bekämpfen, ver-
treten die Meinung, daß es in diesem Sakrament keine Verwandlung
des Brotes gebe, daß vielmehr weiterhin Brot da sei. Trotzdem erklä-
ren sie, daß der wahre Leib Unseres Herrn zugegen sei. Die Calvin
folgen, leugnen die Verwandlung des Brotes und gleichzeitig die wirk-
liche Gegenwart des Leibes. Nun, die Kirche bekennt sich zur Wirk-
lichkeit und sagt, daß der Leib Unseres Herrn hier wahrhaft gegenwär-
tig ist, ohne die geringste Substanz des Brotes, die in sein Fleisch ver-
wandelt wurde ... Petrus der Märtyrer bestreitet im Buch gegen
Gardinerus fest und heftig diese Wesensverwandlung als etwas Un-
mögliches.
Ich weiß allerdings nicht, worin sie diese Unmöglichkeit erblicken.
Hat man nicht gesehen, daß auf der Hochzeit zu Kana in Galiläa die
Substanz des Wassers verwandelt wurde in die Substanz des Weines
(Joh 2,9: es ist zu Wein geworden), die Frau des Lot in eine Salzsäule
(Gen 19,26)? Aber seht doch, wie selbst der Teufel anerkennt, daß die
Wesensverwandlung möglich ist: Wenn du der Sohn Gottes bist, sag,
daß diese Steine Brot werden (Mt 4,3). Doch welche Schwierigkeit: Er
verwandelt Felsen in einen See und die Klippe in Wasserquellen (Ps
14,8). Wurde der Stab Aarons nicht wirklich in eine Natter verwandelt
(Ex 7,10f)? Die Schrift sagt nämlich, was die anderen taten, ist durch

88
Zauberei geschehen, was aber Aaron tat, geschah wirklich. Hat nicht
unser Erlöser das Nichts in das All verwandelt? Wird er nicht bei der
Auferstehung unsere Verwesung in einen schönen Leib verwandeln (1
Kor 15,42-44)? Hat er nicht den Staub in Fleisch verwandelt (Gen
3,19. 23)? Es gibt also keinen Zweifel mehr, daß das möglich ist. Nun
will ich beweisen, daß es bei der Einsetzung des allerheiligsten Sakra-
mentes geschehen ist.
Unser Herr nahm das Brot und sprach: Das ist mein Leib (Mt 26,26).
Also ist es nicht mehr Brot, wenn es der Leib des Herrn ist; denn wäre
das, was er in seinen ehrwürdigen Händen hielt, nicht verwandelt wor-
den, könnte er nicht sagen, daß es etwas anderes sei, als es vorher war.
Vorher war es Brot, jetzt ist es sein Leib; also ist es von Brot in seinen
Leib verwandelt worden. Er kann nicht sagen, daß hier sein Leib ist
und außerdem das Brot. Denn wer einen Sack, halb mit Weizen und
halb mit Hafer gefüllt, verkauft und sagte: „Kauft das, es ist Weizen“,
der hätte ohne Zweifel die Welt betrogen und würde für einen Lügner
gehalten. Ebenso würde einer als Lügner betrachtet, der von einem
Faß voll Wasser und Öl sagte: „Das ist Öl.“ Man kann also nicht sagen,
daß da noch Brot sei, wenn Unser Herr sagt: Das ist mein Leib. Indem
er sagt: Hoc est corpus meum, zeigt er klar, daß er das Brot verwandelt
hat.
Außerdem bei Johannes (6,52), wo Unser Herr sagte: Das Brot, das
ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt. Wäre das, was
er ankündigte, nicht durch eine Verwandlung entstanden, dann wäre
das falsch. Denn Brot, das Brot bleibt, kann nicht Fleisch sein. Er muß
also darunter ein verwandeltes Brot verstanden haben, eines, wie er es
hier selbst beschrieb: Ich bin das lebendige Brot, der ich vom Himmel
herabgekommen bin (6,51).
Sie möchten also, meine Herren, daß man in diesem Sakrament den
Magen und den Geist gleichzeitig erquickt? Nein, das wäre nicht zu
vereinbaren. Ich weiß, daß darin eine Schwierigkeit liegt, aber die gibt
es andersherum noch mehr. Und was die Heilige Schrift betrifft, so ist
alles, was sie gegen uns einzuwenden wissen, daß erstens der Ausdruck
Transsubstantiation nicht in der Schrift steht; darauf antworte ich:
auch nicht der Name Dreifaltigkeit, nicht homousios (wesensgleich)
noch Theotokos (Gottesgebärerin). Es genügt, daß die Sache in der
Schrift enthalten ist, auch wenn es der Name nicht ist.
Zweitens sagen sie, daß dieses Sakrament Brot genannt wird; ich
antworte aber: das ist nicht deswegen, weil es Brot wäre, sondern weil

89
es das äußere Aussehen des Brotes hat, oder vielleicht, weil es aus dem
Brot geschaffen wurde, oder weil es die Wirkung und Eigenschaften
des Brotes hat, oder weil nach dem Sprachgebrauch der Hebräer jede
Art von Speise Brot genannt wurde (wie man beim Manna sieht, das in
Ex 16,15.32 Brot genannt wurde, während Unser Herr nicht sagte:
Mein Fleisch ist wahrhaft ein Brot, sondern: ist wahrhaft eine Speise,
was dasselbe ist, als da er sagte: Ich bin das lebendige Brot: Joh 6,56.51).
Die Schrift bezeichnet außerdem die Dinge gewöhnlich mit dem Na-
men dessen, woraus sie gemacht sind, wie man in Ex 7,12 leicht sehen
kann, wo der Stab Aarons, nachdem er in eine Schlange verwandelt
war, weiterhin als Stab bezeichnet wurde; in Gen 3,19 wird der aus
dem Staub gewonnene und geschaffene Mensch weiterhin Staub ge-
nannt.
Drittens sagen sie, die Lehre von der Wesensverwandlung sei neu;
aber damit täuschen sie sich sehr, denn in Wahrheit bestand sie zu
allen Zeiten in der Kirche. Es wäre ein Leichtes, alles zu sammeln,
was die Alten darüber gesagt haben. Hört einiges davon. Der hl.
Cyprian, der vor mehr als 1300 Jahren lebte, sagt in der Predigt vom
Herrenmahl: „Dieses Brot, das der Herr den Jüngern reichte, war nicht
im Aussehen sondern im Wesen verwandelt und durch die Allmacht
des Wortes Fleisch geworden.“ Der hl. Cyrillus von Jerusalem (Catech.
4): „Einst verwandelte er Wasser in Wein, wird er nicht Glauben ver-
dienen, wenn er den Wein in Blut verwandelt?“ Gregor von Nyssa (Or.
Catech. Magna, c. 37): „Zu Recht glauben wir, daß das Brot, durch das
Wort geheiligt, in den Leib des Wortes Gottes verwandelt wird.“ Der
hl. Augustinus, den Beda zitiert: „Nicht jedes Brot wird der Leib Chri-
sti, sondern nur jenes, das den Segen Christi empfängt.“ Schließlich
wurde vor 500 Jahren auf einem allgemeinen Konzil unter Papst Ni-
kolaus II., der aus diesem Land Savoyen und aus einem sehr edlen
Hause stammte, Berengar gezwungen, diesem Irrglauben abzuschwö-
ren. Wollen wir das ganze Altertum preisgeben, das sich so gut auf die
Heilige Schrift stützt, um einer kleinen Schwierigkeit auszuweichen
und den Schlußfolgerungen unseres eigenen Geistes zu schmeicheln?
Ziehen wir also den Schluß, daß nach der Wandlung der wahre Leib
Unseres Herrn gegenwärtig ist. Hier ist keine andere Substanz, wel-
cher Art sie auch sein mag. Er ist gegenwärtig, sage ich, wirklich und
ganz wahrhaftig.
(3.) Daraus folgt der dritte Satz, den ich aufgestellt habe: Da dieses
Sakrament Unseren Herrn enthält, ist es anbetungswürdig, muß man
es anbeten. Denn wahrhaftig, wenn Jesus Christus Gott ist, ich bitte
euch, wer wird ihn nicht anbeten, hier ebenso wie im Himmel, wenn

90
beim hl. Matthäus (4,10) steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbe-
ten und ihm allein dienen? Unser Herr will angebetet sein, wo immer
er sein mag. So wurde er angebetet am Kreuz durch den Schächer (Lk
23,42), bei seinem Einzug in Jerusalem von den Scharen, die Hosanna
riefen (Mt 21,9), in der Krippe von den Königen (Mt 2,11). In der
Eucharistie ist er verborgen, aber das darf kein Hindernis sein, daß er
darin angebetet wird; denn er wurde auch von den Königen angebetet,
obwohl er in Windeln gewickelt verborgen war.
Nun will ich in einem Zug beweisen, daß Unser Herr wirklich sei-
nem Leib nach in diesem hochheiligen Sakrament gegenwärtig ist,
zugleich, daß er darin angebetet werden muß. Das eine kann nicht
ohne das andere sein; weder kann er angebetet werden, wenn er nicht
gegenwärtig ist, noch kann er gegenwärtig sein, ohne von der Kirche
angebetet zu werden, die sich glücklich schätzt, ihrem Bräutigam alle
Ehre zu erweisen. Daher bitte ich euch zu beachten, wie angemessen
das ist, da diese Anbetung schon von David vorausgesehen wurde, denn
er richtet sich im Trost auf und singt (Ps 22,30): Alle Reichen der Erde
haben gegessen und angebetet. Augustinus (Epist. 140) sagt: „Die
Reichen der Erde haben den Leib der Niedrigkeit ihres Herrn geges-
sen, sie wurden aber nicht wie die Armen bis zur Nachahmung gesät-
tigt; sie beteten aber dennoch an.“ Ambrosius, Basilius, Theodor. Die
Stelle in Ps 99,5: Betet an den Schemel seiner Füße, denn er ist heilig,
wird von Augustinus so ausgelegt. Was aber sagt der hl. Paulus (1 Kor
11,29)? Wer unwürdig ißt und trinkt, der ißt und trinkt sich das Gericht,
weil er den Leib des Herrn nicht unterscheidet.
Es gilt also, einen angemessenen Unterschied zu machen und den
Leib des Herrn zu verehren. Damit es nicht so aussieht, als sei das eine
Neuerung, damit man vielmehr erkenne, daß es die Anbetung der Eu-
charistie in der Kirche schon immer gegeben hat, daß man folglich
immer fest geglaubt hat, daß in ihr der wahre Leib Unseres Herrn
gegenwärtig ist, hört kurz das Zeugnis einiger großer Kirchenväter.
Als ersten führe ich den hl. Chrysostomus an, der vor mehr als 1200
Jahren lebte, wegen seiner Vortrefflichkeit gerühmt und „Goldmund“
genannt wurde. In der Homilie 61 an das Volk von Antiochia sagt er:
„Bedenke, ich bitte dich, es ist die königliche Tafel; Engel dienen, der
König ist selbst zugegen, und du stehst teilnahmslos da? Bete also an
und nimm teil am Mahl. Wenn du die Schleier zurückgezogen siehst,
öffnet sich der Himmel über dir und die Engel steigen nieder.“ Im 6.
Buch „Vom Priestertum“ berichtet er von der Vision eines Greises,

91
die er bewundernswert nennt: Während der Messe sah er plötzlich
eine Schar strahlender Engel, die den Altar umgaben und sich verneig-
ten, wie Soldaten vor ihrem König. Beachtet diesen Vergleich, beach-
tet das Wort Altar. Dann berichtet er von einem anderen, der durch
eine Vision erkannte, daß jene, die an ihrem Lebensende das heilige
Sakrament ehrfürchtig empfangen, von Engeln umgeben sind, die sie
zum Himmel geleiten. Es ist auch schön zu sehen, was er in der 3. und
4. Homilie gegen die Amonäer sagt.
Der hl. Ambrosius spricht in seinem Vorbereitungsgebet dieses hei-
lige Sakrament an und nennt es „heiliges Brot, belebend, rein und
schön, überaus köstlich“, und erbittet von ihm die Gnade, in sein Reich
zu kommen.
Der hl. Gregor von Nazianz berichtet in der Lobrede auf seine
Schwester Gorgonia: Als seine Schwester an einer seltsamen Krank-
heit litt, kam sie nachts an den Altar, warf sich nieder und betete zu
Ihm, der auf dem Altar angebetet wird. Sie nannte ihn bei all seinen
Namen und zählte alles auf, was er getan hat; und nun hört, was sie
tat: „Sie lehnte unter Klagen und Tränen ihr Haupt gegen den Altar
und beteuerte, sie werde nicht fortgehen, ohne die Gesundheit wie-
dererlangt zu haben ...“ Und so wurde sie geheilt.
Origines, der noch früher lebte, sagt in einer Homilie (zu verschie-
denen Evangelien), daß wir in diesem Sakrament den Leib Unseres
Herrn in uns gleichsam in unserem Haus empfangen: Herr, ich bin
nicht würdig ... (Mt 8,8).
Cyprian in der Predigt „Von den Gefallenen“ (§ 26): „Eine Frau, die
ihr Schatzkästchen, in das sie den heiligen Leib des Herrn gelegt hatte,
mit unwürdigen Händen zu öffnen versuchte, schreckte davor zurück,
als ihr daraus Feuer entgegenschlug.“

III.

Nr. 44: Chablais, Juli 1597 VII,342-347


Ist das Brot, das wir brechen, nicht die Teilnahme
am Leib Christi? (1 Kor 10,16).

Auf diese Frage antworten die Gegner der katholischen Kirche mit
„nein“ und berufen sich auf das Wort Jesu Christi: Caro non prodest
quicquam; das Fleisch ist zu nichts nütze (Joh 6,64). Die Katholiken
antworten mit „ja“; sie sagen: Accepimus a Domino, quoniam Dominus
Jesus, in qua nocte tradebatur, accepit panem, et gratias agens, fregit et

92
dixit: Accipite et manducate, hoc est corpus meum; Wir haben vom
Herrn gelernt, daß der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten wurde, das
Brot nahm, Dank sagte, es brach und sprach: Nehmt und eßt, das ist
mein Leib (1 Kor 11,23f). Bei diesem Punkt wünsche ich euch auf-
merksamer denn je, meine Zuhörer, damit ihr unsere Beweisführung
versteht. Ich beschwöre euch, laßt jedes Vorurteil beiseite, damit ihr
in einer so wichtigen Sache richtig urteilen könnt. Ich bin sicher: wenn
ihr alles reiflich überlegt, werdet ihr zugunsten der Katholiken ent-
scheiden, denn ihre Beweise übertreffen die der Gegner an Sicherheit,
Heiligkeit, Gediegenheit und Güte.
Mehr denn je bitte ich demütig und inständig: der den Mund der
Kinder beredt macht (Ps 8,3; Weish 10,21), möge mir in seiner Güte
Einsicht schenken, um seine Zeugnisse gut zu ergründen: Gib mir Ein-
sicht, und ich will dein Gesetz erforschen und es von ganzem Herzen
bewahren (Ps 119,34). Und für euch, meine teuersten Zuhörer, bitte
ich, daß er eure Herzen den Zeugnissen seines Wortes geneigt mache.
Denn in dieser schwierigen Frage sehe ich die Gegner mit einer Fülle
von Zweifeln und menschlichen Fragen aufwarten: Die Sünder lauer-
ten mir auf, um mich zu verderben; ich habe dein Zeugnis erkannt (Ps
119,95); aber die Erkenntnis deiner Gebote wird mich daraus befrei-
en. Der eine will mich fangen durch die Meinung von den Gestalten,
der andere mit der Ubiquität, ein anderer mit den Wirkungen. Herr,
gib, daß ich mich nur von deinem Wort leiten lasse; es sei auf dieser
Schiffahrt mein Leuchtturm: Dein Wort sei meinen Schritten eine Leuch-
te und ein Licht auf meinen Wegen (Ps 119,105). Damit es so sei, rufen
wir den Beistand des Heiligen Geistes an und sprechen: Ave Maria.
Aus Sorge, daß durch Vorurteile oder Irrtum euer Verstand irgend-
wie gegen uns eingenommen werde, liebe Zuhörer, bitte ich euch zu
glauben, daß wir in dieser strittigen Frage (wie in jeder anderen) unse-
ren Gegnern nicht nachstehen wollen in der Hochschätzung der Hei-
ligen Schrift, die wir geschworen haben. Man hat euch vielleicht weis-
gemacht, der Unterschied zwischen uns und unseren Gegnern beruhe
nur darauf, daß sie nur das glauben wollen, was in der Heiligen Schrift
steht, daß wir dagegen unsere Lehre auf andere Weise zu begründen
suchten. Ganz im Gegenteil! Wir beteuern, daß wir den Streit einzig
durch das reine und ausdrückliche Wort Gottes entscheiden wollen,
wie wir es am Sonntag getan haben. Wenn man euch daher gesagt hat,
die Kirche berufe sich nur auf die Autorität von Menschen, wenn man
euch gesagt hat, sie vernachlässige die Heilige Schrift, dann bitte ich
euch, diesen Irrtum zu erkennen und zu glauben, daß die Heilige Schrift

93
immer in unseren Händen war. Glaubt, daß dieser reiche Schatz nur
von der Kirche gehütet wurde und daß unsere Gegner ihn nur von uns
haben. Wir wollen uns hier nur auf die Heilige Schrift stützen.
Wir sind also schon einig in dem Punkt, daß dieser Streit nur durch
die Heilige Schrift entschieden wird. Unsere Kontroverse und unsere
Auseinandersetzung erstreckt sich auf die Auslegung. Denn wir füh-
ren schöne und gediegene Stellen der Heiligen Schrift an, und sie brin-
gen welche bei, die sie ebenfalls dafür halten. Alle stammen aus der
Heiligen Schrift; doch wie? Sie wollen die unseren und die ihren ge-
gen uns auslegen; wir befinden uns dagegen in der Defensive. Ohne
unsere Belegstellen zu interpretieren, denn sie sind eindeutig, wollen
wir nur ihre Auslegungen zurückweisen, damit sie uns nicht Unrecht
tun. Kommen wir also zur Sache, und ihr werdet klar die Wahrheit
dessen erkennen, was ich sage.
Gegen Bernegar hielt die Kirche daran fest, daß im heiligen Sakra-
ment der Eucharistie der Leib und das Blut Jesu Christi wirklich,
wesenhaft und wahrhaftig gegenwärtig sind. Das hielt sie unangefoch-
ten aufrecht bis zur Zeit des Jan Hus und Wiclef. Dann kamen
Ökolampadius, Karlstadt, Zwingli und Calvin. Sie behaupteten, die
Kirche irre und behaupte das ohne Fundament. Dagegen führt sie fol-
gende Gründe an:
An erster Stelle das 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums, über das
ich am Sonntag gesprochen habe. Zweitens führt die Kirche die Ein-
setzungsworte an: Mt 26,26; Mk 14,22; Lk 22,19; 1 Kor 11,24. An all
diesen Stellen spricht Unser Herr von der Speise, die er gab, als er das
Abendmahl einsetzte. Die Schrift berichtet, daß er sagte, es ist sein
Leib, uzw. in so ausdrücklichen Worten, daß sie nicht deutlicher sein
könnten. Daraus zieht die Kirche den klaren Schluß: Gott hat es ge-
sagt, Gott kann nicht lügen, also ist es so. Der Gegner erwidert, Gott
habe das nicht gesagt; wir weisen seine eigenen Worte vor. Der Gegner
sagt, man dürfe sie nicht so verstehen, wie wir denken; wir sagen: doch.
Hier liegt unser Streitpunkt: Wer versteht die Heilige Schrift besser?
Wenn ich klar zeigen kann, daß wir gute Gründe haben, dann folgt
daraus, daß die Gegner sie um so weniger haben, daß sie den bekämp-
fen wollen, der im Besitz des rechten Glaubens ist.

Die Beweise der Katholiken

Erster Beweis: Unser Herr setzt hier ein Sakrament ein. Sakramente
müssen nun durch eindeutige Worte eingesetzt werden; also ... Der

94
Untersatz wird durch die Vernunft bestätigt: der Empfang des Sakra-
mentes muß leicht und für alle möglich sein; also muß jeder verstehen,
was es enthält. Seht bei Mt 28,19 und bei Joh 3,3-5, wie klar Unser
Herr sich ausdrückte, als er die Taufe einsetzte.
Zweiter Beweis: Es ist ein Vermächtnis. Mt 26,28: Das ist das Blut
des Neuen Bundes. Lk 22,20: Das ist der Kelch, der Neue Bund in
meinem Blut, das für euch vergossen wird. Nun müssen Testamente in
klaren Ausdrücken abgefaßt sein. Hebr 9,19f: Als Mose allem Volk alle
Vorschriften des Gesetzes vorgelesen hatte, nahm er das Blut von Rin-
dern und Böcken mit Wasser, roter Wolle und Ysop, besprengte das Buch
und alles Volk und sagte: Das ist das Blut des Vermächtnisses, das Gott
euch übertragen hat. Gal 3,15f: Das rechtskräftige Testament eines
Menschen mißachtet niemand und man fügt nichts hinzu. Abraham
und seinem Nachkommen wurden Verheißungen gegeben; es heißt nicht
seinen Nachkommen (in der Mehrzahl). Meine Herren, warum wollt
ihr zum Vermächtnis Unseres Herrn eure Auslegungen hinzufügen?
Wenn der hl. Paulus die ursprünglichen Ausdrücke so genau nehmen
will, daß er auf einen Singular und auf einen Plural achtet, warum
wollen wir uns das Recht herausnehmen, die Gültigkeit der Worte des
Gottessohnes hier in seinem Testament zu leugnen?
Außerdem war es die Absicht Unseres Herrn, als er beim heiligen
Abendmahl sein Testament machte, seiner Braut ein Unterpfand sei-
ner Liebe zu ihr zu hinterlassen; einer so großen Liebe, daß er für sie
sterben wollte. Möchtet ihr wohl, liebe Zuhörer, daß ein Stück Brot,
ein derart kleines Legat, das Unterpfand einer so großen Liebe wäre?
Nein, er gibt sich selbst unter einer anderen, leidensunfähigen Gestalt
hin als angemessenes und sicheres Zeugnis des Übermaßes seiner Lie-
be. Zudem besaß Unser Herr nichts als seinen Leib und sein Blut;
denn der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen könnte
(Mt 8,20; Lk 9,58). Da er also sein Testament machte und seinen Freun-
den ein Vermächtnis hinterließ, konnte er nichts hinterlassen als sei-
nen Leib und sein Blut. Hieltet ihr schließlich ein Stück Brot für ein
Geschenk, das eines so großen Herrn würdig wäre? Und möchtet ihr,
daß wir Knechte seien, da wir als Erbe nur ein Gleichnis hätten wie
die mosaischen Juden?
Dritter Beweis: Es ist Gesetz und Dogma. Gesetze und Dogmen
aber dürfen nie unklar ausgedrückt werden, wie der hl. Augustinus
(Lib. 2 de Doct. Christ., c. 6 u. 9) sagt: Nichts, was sich auf Glaube und
Sitten bezieht, ist dunkel gesagt oder geschrieben, was nicht an ande-
ren Stellen ganz deutlich ausgesprochen ist.

95
Vierter Beweis: Hier gibt es keinerlei Hinweis auf ein Gleichnis wie
an anderen Stellen, wo er bildlich spricht.
Fünfter Beweis: Alle Schriftsteller (der Tradition) stimmen darin
überein.
6. Alle früheren Auslegungen stimmen darin überein.
7. Die wörtliche Bedeutung darf niemals außer acht gelassen wer-
den, sonst ist alles willkürlichen Auslegungen ausgeliefert.
Das sind die allgemeinen Beweise, durch die deutlich wird, daß wir
auf sicherem Boden stehen, wenn wir die Worte der Heiligen Schrift
in ihrem ausdrücklichen und eigentlichen Sinn erklären, nicht bild-
lich und entstellt. Das wollen wir nun etwas eingehender mit Bezug
auf die Argumente unserer Gegner zeigen.
Erste Auslegung von Andreas Karlstadt: „Hoc bedeutet hic“; er be-
hauptet, das habe ihm der himmlische Vater geoffenbart. Darüber hat
Luther ein Buch geschrieben mit dem Titel „Contra coelestes
Prophetas“ (Gegen die himmlischen Propheten). Seit ich hier in die-
ser Gegend bin, habe ich eine in französischer Sprache gedruckte Bi-
bel gesehen, wo es heißt: „C’est cy mon cors“ (Hier ist mein Leib).
Dem widerspricht ganz offenbar das griechische Wort „tuto“ und der
Sinn; denn was hätte das für einen Sinn: „Eßt, hier ist mein Leib“?
Eine andere Auslegung stammt von Zwingli. Er beruft sich auf eine
Vision von jemand, ich weiß nicht, ob klar oder dunkel, der ihm sagte:
„ist“ will sagen „versinnbildet“. Ökolampadius sagt: „Leib“ bedeutet
„Zeichen des Leibes“; ebenso Calvin, abgesehen davon, daß er die
Aneignung durch den Glauben hinzufügt. Luther dagegen will zeigen,
daß er genau so viel Geist besitzt wie die anderen, um die Sakramente
zu verhöhnen, und sagt in seinem Buch „Quod verba Domini firmiter
stant“ (Das Wort Gottes steht fest): „Meum, quia omnia mea sunt“
(mein, weil alles mir gehört).
Dadurch wird deutlich, daß es unter den vier Worten, aus denen die
Einsetzung dieses großen Geheimnisses besteht, keines gibt, das von
den hochmütigen Gegnern des Glaubens, die allzu sehr an ihrer Mei-
nung und an ihrer eigenen Ansicht hängen, nicht mit großer Kühnheit
angefochten würde.

96
Zum 1. FFastensonntag
astensonntag

Nr. 50 (Entwurf): 11. März 1601 VII,367-372

Jesus wurde vom Geist in die Wüste geführt, um vom


Teufel versucht zu werden (Mt 4,1).

Das ist wohl die Beschreibung des größten und denkwürdigsten Zwei-
kampfes, den es je gab: Die Parteien auf beiden Seiten sind sehr stark,
entschlossen und mutig bis zum äußersten; die Waffen sind gefährlich,
die Feindschaft unversöhnlich; das Ende kann nur der Sieg sein, denn
es gibt keine Einigung, die diesen Kampf beenden könnte. Die Partei-
en sind Gott und der Teufel, die Waffen sind das Wort Gottes, die
Feindschaft beruht auf einer Rebellion. Diese Beschreibung gibt uns
die Kirche heute, um uns Mut zu gleicher Ausführung zu machen,
denn wir müssen unserem Feldherrn folgen, der heute kämpft, und
unser Leben auf Erden ist nur ein ständiger Kampf (Ijob 7,1). Beson-
ders in der Fastenzeit, in der wir uns um die Buße bemühen, müssen
wir auf härtere und häufigere Angriffe gefaßt sein als zu jeder anderen
Zeit. Sie ist die Zeit unserer geistlichen Ernte; das läßt die feindlichen
Streitkräfte zu Felde ziehen, um uns daran zu hindern. Man muß ernst-
haft kämpfen: das Beispiel Unseres Herrn steht vor unseren Augen,
der Feind ist nicht unüberwindlich; wenn wir unserem Meister zu fol-
gen versuchen, wird der Sieg ohne Zweifel unser sein. Ich will den
Inhalt des Evangeliums behandeln. Möge der Heilige Geist, der Unse-
rem Herrn bei diesem Kampf beistand, mir beistehen, um euch recht
zu belehren, und euch, um mir gut zuzuhören. Darum müssen wir ihn
durch die Fürsprache Unserer lieben Frau bitten. Ave Maria.
Es gibt drei Arten von Gütern für den Menschen auf dieser Welt: das
Nützliche, das Angenehme und das Ehrenhafte, und wir werden zu
allem Unterfangen und zu allem Tun durch eines dieser drei Mittel
angeregt: entweder durch den Nutzen oder durch das Vergnügen oder
durch die Ehrbarkeit. Es gibt aber nichts, was unserem Willen ganz
angemessen wäre, als die Ehrbarkeit; denn wenn der Wille nach der
Ehrbarkeit strebt, soviel er will, wird er stets nur gut und lobenswert
sein; wenn er sich aber über ein bestimmtes Maß und über eine Gren-
ze hinaus der Nützlichkeit und dem Vergnügen hingibt, wird er da-
durch schlecht. Wenn die Nützlichkeit zu groß ist, verwandelt sie sich
in Habsucht. Der Wunsch nach Vergnügungen kann sich im Geist und
im Leib finden; das leibliche heißt Wollust, das geistige Ruhm und
Hochmut. Das sind die drei großen Übel in dieser Welt; denn wie der

97
hl. Johannes in seinem ersten Brief (2,16) sagt, ist alles in der Welt
entweder Begierlichkeit des Fleisches oder Begehrlichkeit der Augen
oder Hochmut des Lebens. Das heißt, wir müssen uns vor drei Dingen
hüten: vor Wollust, Geiz und Hochmut; denn wir können das Maß
überschreiten, indem wir zu sehr nach äußeren Gütern und Bequem-
lichkeiten für den Leib und zu viel Ehre für den Geist erstreben. Ent-
sprechend diesen drei Arten des Lasters unternimmt Satan heute drei
heftige Angriffe gegen den großen Feldherrn; denn was das Vergnügen
des Leibes betrifft, sagt er ihm: Wenn du der Sohn Gottes bist ...; was
den Hochmut betrifft: Stürze dich hinab ...; was die Habsucht betrifft:
Das alles will ich dir geben (Mt 4,3.6.9).
Aber gut angegriffen, gut abgewehrt. Doch betrachten wir, dem Be-
richt des Evangeliums folgend, ein wenig die Zeit und die Umstände.
Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um vom Teufel ver-
sucht zu werden.

Dann Nach der Taufe, um zu zeigen, daß die Chris-


ten zum Kampf berufen sind.
Bevor er zu predigen begann, um zu zeigen,
daß das Leben des Predigers Versuchungen
unterworfen ist.
Er stieg auf den Berg, um zu zeigen, daß die
Versuchungen dem Menschen überallhin
folgen.
wurde Jesus vom Geist Er wird vom Heiligen Geist geführt genannt,
geführt damit wir tiefer von dieser Versuchung den-
ken. Damit der böse Geist, der in der Schlan-
ge siegte, vom Heiligen Geist im Herrn be-
siegt werde.
in die Wüste Der rechte Ort für den Kampf.
Damit jener, der im Garten siegte, in der
Einöde besiegt werde.
Damit er mit den Augen, den Ohren und
mit allen Sinnen des Leibes faste.
Damit er mit der Kasteiung des Leibes als
Vorbild für uns den Entzug der vergängli-
chen Dinge und die Flucht vor eitlem Ruhm
verbinde.
um versucht zu werden. Damit wir wissen, daß niemand vor dem
Kampf gefeit ist.
Damit wir zuversichtlich auf den Sieg hof-

98
fen. Damit er uns lehre, wie wir siegen, und
wir belehrt werden, daß wir durch seinen
Beistand geschützt sind.

Er fastete vierzig Tage und vierzig Nächte. Ich frage: warum das? 1.
Um das Fasten durch sein Beispiel zu heiligen. 2. Um das Fasten als
geistliche Waffenrüstung zu zeigen. 3. Um zu zeigen, daß das Fasten
das geeignete Mittel ist, geistliche Dinge zu empfangen. 4. Um durch
Mäßigkeit zu heilen, was Adam durch Gier zerstört hat.
1. Folgen wir also seinem Beispiel. 1 Kor 4,16: Ahmt mich nach, wie
ich Christus. – 2. Ergreifen wir die Waffen des Fastens; die Stadt des
Teufels muß durch Hunger eingenommen werden. Diese Art von Dä-
monen wird nur durch Gebet und Fasten ausgetrieben (Mt 17,20; Mk
9,28). – 3. Nützen wir (die Zeit) zum Gebet. Dan 10,12: Von dem Tag
an, da du ein Herz faßtest, dich im Angesicht Gottes zu kasteien, sind
deine Worte erhört worden. Vorher (10,2f) hatte er gesagt: Drei Wo-
chen habe ich getrauert, das köstliche Brot nicht gegessen, Fleisch und
Wein kam nicht in meinen Mund. – 4. Als Heilmittel gegen die Sünden.
Jona (3,7-10): Sie fasteten vor dem Herrn, und Gott sah ihre Werke.

Da hungerte ihn. Einerseits zeigte er die göttliche Macht, wie


ehedem nicht; andererseits die menschliche
Natur, da ihn dann hungerte.
Und der Versucher sag- Der Versucher, der den ersten Adam besieg-
te zu ihm: te, um über den zweiten zu siegen.
Der Versucher zum Bösen, damit aus dem
guten Werk ein böses werde.
Der Ankläger der Brüder, um auch den Va-
ter anzuklagen.
Wenn du der Sohn Got- Um zu wissen, ob er es ist; wenn nicht, um
tes bist, sag, daß die ihn zum Hochmut zu verleiten.
Steine Gott wirkt durch das Wort. Er konnte das,
der bewirkte, daß sich der Stab des Mose in
eine Schlange verwandelte (Ex 4,3).
Zur Begierde: „Es fehlt ihm das Ergötzen
der Bäume, es fehlt ihm Eva als Trösterin,
es fehlt ihm die köstliche Lockung der Äp-
fel. Da er keine Speise fand, um sie dem
Hungrigen anzubieten, verlangt er, die Stei-
ne in Brot zu verwandeln“ (Ambr., Sermo
35).

99
Er antwortete ihm und sagte: Es steht geschrieben, nicht vom Brot
allein ... Ex 8,3 über das Manna. Die Heilige Schrift hilft gegen Versu-
chungen. Die Vorsehung Gottes.
Dann führte er ihn in die Heilige Stadt, stellte ihn auf die Zinne des
Tempels und sagte: Stürze dich hinab; es steht geschrieben ... Wie läßt
Christus sich vom bösen Geist führen? Was Wunder, wenn wir auf so
verschiedene und sonderbare Weise vom Teufel geplagt werden?

Zum FFreitag
reitag der 4. FFastenwoche
astenwoche

Nr. 51 (Entwurf): 6. April 1601 VII,373-376


Herr, den du liebst, der ist krank (Joh 11.3).

Dieses Gebet ist kurz, aber schön und gut geformt. Der Anlaß war
die Krankheit des Lazarus: Da war einer krank, nämlich Lazarus. Die
das Gebet sprachen, waren zwei heilige Frauen: Seine Schwestern
schickten zu ihm und ließen ihm sagen.
Das Motiv oder die Begründung, die sie anführen, ist die Liebe: Den
du liebst. Die Wirkung war vor allem die größere Ehre Gottes: Diese
Krankheit führt nicht zum Tod, sondern zur Verherrlichung Gottes.
Die Verherrlichung Gottes folgt aus der Auferstehung des Lazarus.
Sie ist um so bewunderswerter, 1. weil sie in Gegenwart vieler ge-
schah: Denn viele Juden waren gekommen; 2. weil sie verzögert wur-
de: Er blieb dennoch zwei Tage an jenem Ort; 3. weil sie sehr feierlich
erfolgte: Jesus erhob seine Augen zum Himmel und sagte ...
Die zweite Wirkung dieses Gebetes ist, daß die Frauen eine größere
Gnade erlangten, als sie erbeten hatten. Sie hatten nur um die Gene-
sung ihres Bruders Lazarus gebeten; Unser Herr erweckte ihn vom
Tod.
Der Grund also, weshalb die zwei Schwestern zu Unserem Herrn
schickten, ist die Krankheit und das Siechtum des Lazarus. Da war
einer krank, Lazarus von Betanien, dem Ort der Maria und Marta. So
schickten sie jemand; also baten sie. Ihr Bruder war krank, folglich
schickten sie jemand. Sie waren betrübt, deshalb suchten sie Zuflucht
beim Herrn.
O heilige Trübsal, gebenedeite Drangsal, die uns beim himmlischen
Tröster Zuflucht suchen läßt! Gewiß, unter all den nicht geringen Vor-
teilen der Drangsal halte ich diesen für einen der hervorragendsten,
daß sie uns zu Unserem Herrn zurückfinden läßt. Solange wir im Glück
leben, vergessen wir ihn sehr oft; aber im Unglück finden wir zu ihm

100
als unserer einzigen Zuflucht zurück. Wie der Saft der Rebe fault und
verdirbt, wenn man ihn zu lange in der Traube läßt, so auch die Seele
des Menschen, wenn man sie in ihren Freuden und Vergnügungen be-
läßt, in ihren Wünschen und Sehnsüchten. Wenn man sie aber be-
drängt, dann entströmt ihr der süße Saft der Buße und der Liebe.
So bestätigt der königliche Prophet, daß sich die Hebräer dem Herrn
zuwandten, wenn er ihnen Bedrängnisse schickte: Wenn er sie würgte,
suchten sie ihn und kamen in der Morgenfrühe zu ihm (Ps 78,34). Das
Volk lagerte sich, um zu essen und zu trinken, und erhob sich zum Spiel
(Ex 32,6); sie fürchteten sich sehr und schrien zum Herrn (Ex 14,10);
und von ihm selbst: Weil deine Hand schwer auf mir lastete, habe ich
mich in meiner Not bekehrt, als der Dorn mich stach (Ps 32,4). Trübsal
und Leid habe ich gefunden und habe den Namen des Herrn angerufen
(Ps 116,3 f). Bedecke ihr Gesicht mit Schmach, Herr, und sie werden
deinen Namen anrufen (Ps 83,17), heißt es von den gottlosen Feinden
der Kirche. So wandte sich Kaiser Valens an den hl. Basilius, den er
verfolgt hatte, als sein Sohn krank war; und der Präfekt Modestus, der
denselben Heiligen mit dem Tod bedroht hatte, kam in seiner Krank-
heit ebenfalls zu ihm (Gregor v. Nazianz, in Monodia de Sto Basilio,
Oratio 63, § 54).
Als Jona frei war, floh er vor dem Angesicht des Herrn; im Bauch
des Fisches nahm er seine Zuflucht bei ihm (Jona 1,3; 2,1f). Beispiel
vom Fleisch, das im Salzwasser nicht verdirbt, wohl aber im süßen.
Was von David gesagt werden kann, sagt der hl. Augustinus (Enarr. in
Ps 1. § 4): Während er verfolgt wurde, verfaßte er seine Psalmen, im
Frieden sündigte er. Ebenso die Arche Noachs (Gen 7,17): Die Wasser
stiegen und hoben die Arche in die Höhe. Hiskija bekehrte sich in der
Krankheit zu Gott (Jes 38,1f).
Herr, den du liebst, der ist krank. Ein schönes Beispiel dafür, wie man
sich an Gott wendet; aber man muß es mit Vertrauen tun wie diese
frommen Frauen. Unser Herr ist fern; sie lassen ihm nur sagen: Ecce
quem amas, infirmatur; Den du liebst, der ist krank.

Bedingungen für das Gebet

Meine Seele läßt sich nicht trösten (Ps 77,3). Ich setze meine Hoff-
nung nicht auf meinen Bogen; mein Schwert wird mich nicht retten;
aber in deinem Namen werden wir unsere Verfolger verachten. Sie kom-
men auf Wagen und Rossen, wir aber rufen den Namen Gottes, unseres
Herrn an (Ps 20,8).

101
Vertrauen auf Gott

Weil er seine Hoffnung auf mich gesetzt hat, werde ich ihn befreien
(Ps 91,14). Als David von Saul verfolgt wurde (1 Sam 19), sagte er: Ich
vertraue auf den Herrn (Ps 11,1). Es ist besser, auf den Herrn zu vertrau-
en, als sich auf einen Menschen zu verlassen (Ps 118,8). Erbarme dich
meiner nach deiner großen Barmherzigkeit (Ps 51,1). Preist den Herrn,
denn er ist gut (Ps 118,1). Deshalb lehrt er uns beten: Vater unser (Mt
6, 9); und den verlorenen Sohn: Vater, ich habe gesündigt (Lk 15,18);
und die Frauen: Den du liebst, der ist krank. Wie wird der nicht alles
gewähren, der seinen Sohn hingegeben hat (Röm 8,32)?

Bekenntnis unseres Elends

Den du liebst, der ist krank. Ps 8,5: Was ist der Mensch, daß du seiner
gedenkst? Ps 136,23: In unserer Erniedrigung hat er unser gedacht. Das
lehrt uns der Herr, der sich im Ölgarten auf sein Angesicht niederwarf
(Mt 26,39). Jakob: Herr, ich bin all dein Erbarmen nicht wert (Gen
32,10).

Zum Fest der Aufnahme Marias

Nr. 61: Paris, 15. August 1602 VII,439-462

Quae est ista quae ascendit de deserto, deliciens


affluens, innixa super Dilectum suum?
Wer ist jene, die heraufkommt aus der Wüste, ge-
stützt auf ihren Vielgeliebten? (Hld 8,5).

Die Bundeslade war lange Zeit unter Zelt- und Segeltuch gestanden,
als schließlich der große König Salomo sie in dem prächtigen, reich
geschmückten Tempel aufstellte, den er für sie gebaut hatte (1 Kön 8).
Da war der Jubel in Jerusalem so groß, daß das Blut der Opfertiere in
den Straßen floß. Die Luft war erfüllt vom Rauch der vielen Brand-
und Rauchopfer, die Häuser und Plätze hallten wider von den Hym-
nen und Psalmen, die überall mit wohlklingenden Instrumenten und
Gesang erklangen.
Mein Gott, wenn schon der Empfang der Arche des Alten Bundes so
feierlich war, wie müssen wir uns den Einzug der Arche des Neuen
Bundes vorstellen, ich meine den Empfang der glorreichsten Jungfrau

102
und Mutter des Gottessohnes am Tag ihrer Aufnahme in den Himmel!
O unfaßbare Freude! O wundervolles Fest, das die frommen Seelen,
die wahren Kinder Zions, vor Bewunderung ausrufen läßt: Wer ist jene,
die da heraufkommt? Wer ist sie, die aus der Wüste heraufsteigt? Wahr-
haftig, Wunderbares ist geschehen: die Mutter des Lebens ist gestor-
ben, die Tote wurde auferweckt und steigt empor zum Ort des Lebens.
Und das ist trostvoll: sie ist aufgefahren zur Verherrlichung ihres Soh-
nes und um in uns eine große Verehrung zu wecken. Das ist in etwa der
Gegenstand, meine Zuhörer, den ich vor euch zu behandeln habe. Das
kann ich aber nicht gut tun, ohne den Beistand des Heiligen Geistes zu
erlangen. Ave Maria.

1. Die seligste Jungfrau blieb nach der Himmelfahrt ihres Sohnes in


dieser Welt

Gott schuf am Anfang zwei Leuchten am Himmel: die eine wurde


wegen ihres strahlenden Glanzes die große Leuchte genannt, die zwei-
te die kleinere. Die große sollte den Tag erhellen und beherrschen, die
kleinere die Nacht (Gen 1,16). Unser Schöpfer wollte, daß Tag und
Nacht einander abwechseln und daß die Dunkelheit auf das Licht fol-
ge. Da er aber selbst das Licht ist (1 Joh 1,15), wollte er nicht, daß die
Dunkelheit der Nacht völlig des Lichtes beraubt sei; nachdem er also
die große Leuchte für den Tag geschaffen, schuf er deshalb die kleinere
für die Nacht, damit auch die Dunkelheit der Finsternis noch von ih-
rem Schein durchdrungen und gemildert werde.
Als der gleiche Gott die geistliche Welt seiner Kirche zu erschaffen
beschloß, da gab er ihr in seiner heiligen Vorsehung gleichsam am
göttlichen Firmament zwei große Leuchten, von denen aber eine grö-
ßer, die andere kleiner war. Die größere ist sein Sohn Jesus Christus,
unser Erlöser und Herr, ein Abgrund des Lichtes, Quelle des Glanzes
(Hebr 1,3), die wahre Sonne der Gerechtigkeit (Mt 4,2); die kleinere
Leuchte ist die allerseligste Mutter dieses erhabenen Sohnes, die über-
aus glorreiche Mutter, ganz strahlend und wahrhaftig schöner als der
Mond (Hld 6,9).
Als nun das große Licht auf diese Erde niederstieg, der Sohn Gottes,
der unsere Menschennatur annahm, wie die wahre Sonne über unserer
Hemisphäre aufgeht, da ward es heller Tag. Glückseliger, so ersehnter
Tag, der etwa dreißig Jahre dauerte, in denen er das Land der Kirche
erleuchtete durch seine Wunder und sein Beispiel, durch die Verkün-
digung seines heiligen Wortes. Als aber schließlich die Stunde gekom-
men war, daß diese kostbare Sonne untergehen und ihre Strahlen auf

103
die andere Hemisphäre der Kirche senden sollte, d. h. auf den Him-
mel und die Scharen der Engel, was konnte man da anderes erwarten
als die Finsternis einer dunklen Nacht?
Die Nacht brach auch sogleich an und folgte auf den Tag; denn was
waren die großen Trübsale und Verfolgungen, die über die Apostel
kamen, anderes als eine Nacht? Aber diese Nacht hatte noch ihre
Leuchte, damit ihre Finsternis erträglicher sei; denn die seligste Jung-
frau blieb auf Erden bei den Jüngern und Gläubigen. Daran können
wir in keiner Weise zweifeln, denn der hl. Lukas bezeugt in der Apo-
stelgeschichte (2,1-4; 1,14), daß Unsere liebe Frau am Pfingstfest mit
den Jüngern beisammen war und mit ihnen im Gebet verharrte. Darü-
ber befanden sich manche im Irrtum und glaubten, sie sei mit ihrem
Sohn gestorben, weil Simeon ihr vorhergesagt hatte, daß das Schwert
ihre Seele durchbohren werde (Lk 2,35). Ich werde die Stelle gleich
erklären und werde nach ihrem richtigen Sinn zeigen, daß Unsere lie-
be Frau nicht mit ihrem Sohn gestorben ist.
Seht also die Gründe, warum ihr Sohn sie nach seiner Himmelfahrt
auf dieser Erde bleiben ließ: 1. Diese Leuchte war notwendig zum
Trost der Gläubigen in der Nacht der Bedrängnisse. 2. Ihr Verbleiben
hier unten gab ihr Gelegenheit, eine Fülle von guten Werken zu tun, so
daß man von ihr sagen konnte: Viele Töchter haben Reichtümer ge-
sammelt, du aber hast sie alle übertroffen (Spr 31,29). 3. Gleich nach
dem Tod und der Himmelfahrt Unseres Herrn sagten manche Irrlehrer,
er hätte keinen natürlichen menschlichen Leib gehabt, sondern einen
Scheinleib. Daß seine jungfräuliche Mutter nach ihm auf Erden blieb,
war ein sicheres Zeugnis für die Wirklichkeit seiner Menschennatur.
So begann sich schon da zu bewahrheiten, was wir von ihr sagen:
„Cunctas haereses interemisti“ (Brev.); o Jungfrau, du hast alle Irrleh-
ren zuschanden gemacht und zerstört. Sie lebte also nach dem Tod
ihres Lebens, d. h. ihres Sohnes, und nach seiner Himmelfahrt; und sie
lebte lange genug, wenn auch die Zahl der Jahre nicht ganz sicher ist;
es müssen aber mindestens 15 Jahre gewesen sein, so daß sie das Alter
von 63 Jahren erreichte. Ich sage „mindestens“, weil andere mit guten
Gründen sagen, daß sie 72 Jahre erreichte; aber das ist nicht wichtig.
Für uns genügt es zu wissen, daß diese heilige Arche des Neuen Bun-
des nach der Himmelfahrt ihres Sohnes unter Zelten in der Wüste
dieser Welt blieb.

104
2. Sie starb dennoch nach einiger Zeit

So gewiß das ist, ebenso sicher ist es, daß die heilige Jungfrau schließ-
lich gestorben ist. Nicht daß die Heilige Schrift es bezeugte; denn ich
finde in der Heiligen Schrift keine Stelle, wo gesagt würde, daß die
seligste Jungfrau gestorben ist. Einzig die kirchliche Überlieferung
versichert uns das und die heilige Kirche, die es in der heutigen Fest-
messe bestätigt.
Richtig ist, daß uns die Heilige Schrift in allgemeinen Ausdrücken
belehrt, daß alle Menschen sterben, und es gibt keinen, der vom Ge-
setz des Todes ausgenommen wäre. Sie sagt aber nicht, daß alle Men-
schen gestorben sind, noch daß alle, die gelebt haben, schon gestorben
sind. Sie nimmt im Gegenteil einzelne davon aus, so Elija, der ohne zu
sterben auf dem feurigen Wagen entführt wurde (2 Kön 2,11), und
Henoch, der vom Herrn hinweggerafft wurde, ehe er den Tod verkoste-
te (Gen 5,24; Hebr 11,5). Ich halte das auch vom heiligen Evangeli-
sten nach dem Wort Gottes (Joh 21,22) für wahrscheinlich, wie ich
euch kürzlich an seinem Fest im Mai erklärt habe. Diese drei Heiligen
sind nicht gestorben, sie sind dennoch vom Gesetz des Todes nicht
ausgenommen; denn obwohl sie nicht gestorben sind, werden sie am
Ende der Zeit unter der Verfolgung des Antichrist sterben, wie in der
Geheimen Offenbarung (11,7) deutlich wird.
Warum sollte man das gleiche nicht auch von der Mutter Gottes
annehmen, nämlich daß sie nicht gestorben sei, daß sie aber hernach
sterben werde? Gewiß, wenn jemand diese Meinung vertreten wollte,
könnte man ihn nicht durch die Heilige Schrift widerlegen, und nach
euren Grundsätzen, ihr Gegner der katholischen Kirche, stünde er auf
sicherem Boden. In Wirklichkeit ist sie aber ebenso wie ihr Sohn und
Erlöser gestorben und verschieden. Wenn man das auch nicht aus der
Heiligen Schrift beweisen kann, so bestätigen es doch die Überliefe-
rung und die Kirche als unfehlbare Zeugen.
Da wir also sicher sind, daß sie gestorben ist, bitte ich euch zu erwä-
gen, welchen Todes sie starb. Welche Todesart war so verwegen, daß
sie es wagte, die Mutter des Lebens anzufallen, sie, deren Sohn den
Tod überwunden hat und seine Macht, die in der Sünde besteht (1 Kor
15,55f)? Merkt gut auf, meine teuersten Zuhörer, denn diese Frage ist
beachtenswert. Die Frage werde ich rasch beantwortet haben, aber es
wird nicht leicht sein, die Antwort gut zu begründen und zu erklären.

105
3. Sie starb des gleichen Todes wie ihr Sohn

Meine Antwort ist kurz die: Unsere liebe Frau, die Mutter Gottes,
ist des gleichen Todes wie ihr Sohn gestorben. Der tiefste Grund dafür
liegt darin, daß sie nur das gleiche Leben mit ihm besaß; sie konnte
also nur des gleichen Todes sterben. Sie lebte nur vom Leben ihres
Sohnes; wie hätte sie also eines anderen Todes sterben können als des
seinen? Unser Herr und Unsere liebe Frau waren wirklich zwei Perso-
nen, aber ein Herz und eine Seele, ein Geist und ein Leben. Das Band
der Liebe einte und verband die Christen der Urkirche so eng, daß der
hl. Lukas (Apg 4,32) versichert, daß sie nur ein Herz und eine Seele
waren; wieviel mehr Grund haben wir, zu sagen und zu glauben, daß
der Sohn und seine Mutter, Unser Herr und Unsere liebe Frau, nur
eine Seele und ein Leben waren!
Hört, was der große heilige Apostel Paulus sagt. Er fühlte eine so
starke Vereinigung und Verbindung der Liebe zwischen seinem Mei-
ster und sich, daß er bekannte, er habe kein anderes Leben als das des
Erlösers: Vivo ego ... Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Jesus Chris-
tus lebt in mir (Gal 2,20). Meine Zuhörer, groß war die Einheit, die
Verschmelzung und Vereinigung der Herzen, die den hl. Paulus sol-
che Worte gebrauchen ließ; sie ist aber nicht zu vergleichen mit jener,
die zwischen dem Herzen des Sohnes Jesus und dem seiner Mutter
Maria bestand. Denn die Liebe, die Unsere liebe Frau zu ihrem Sohn
hegte, übertrifft um soviel jene, die der hl. Paulus für seinen Meister
empfand, als die Namen Mutter und Sohn an Wesen der Zuneigung die
Namen Herr und Diener übertreffen. Wenn deshalb der hl. Paulus nur
vom Leben Unseres Herrn lebte, so lebte auch Unsere liebe Frau nur
aus demselben Leben, aber noch wesentlicher.
Lebte sie aus seinem Leben, so ist sie auch an seinem Tod gestorben.
Gewiß, der greise Simeon hat lange Zeit vorher Unserer lieben Frau
diese Todesart vorhergesagt, als er ihr Kind auf seinen Armen trug und
zu ihr sagte: Tuam ipsius animam pertransibit gladius; deine Seele wird
vom Schwert durchbohrt; das Schwert wird deine Seele durchdringen (Lk
2,35). Erwägen wir diese Worte. Er sagt nicht: „Das Schwert wird dei-
nen Leib durchbohren“, sondern er sagt: „deine Seele“. Welche Seele?
„Deine eigene Seele“, sagt der Prophet. Die Seele Unserer lieben Frau
mußte also durchbohrt werden; aber durch welche Klinge, welches
Messer? Das sagt der Prophet nicht. Da es sich aber um die Seele han-
delt, nicht um den Leib, kann es sich nicht um ein gegenständliches und
stoffliches Schwert handeln, sondern nur um ein geistiges Schwert, das
die Seele und den Geist zu erreichen vermochte (Hebr 4,12).

106
Nun finde ich drei Schwerter, die einen Stoß gegen die Seele führen
können: 1. das Schwert des Gotteswortes, das durchdringender ist als
ein zweischneidiges Schwert, wie der Apostel (Hebr 4,12) sagt; 2. das
Schwert des Schmerzes, das die Kirche in den Worten Simeons ausge-
sprochen findet, wenn sie sagt: „Deine Seele durchdrang das Schwert
des Schmerzes“ (Festmese Sieben Schmerzen). „Durch die Seele vol-
ler Trauer, seufzend unter Todesschauer, jetzt das Schwert des Schmer-
zes ging.“ 3. Das Schwert der Liebe; von ihm spricht Unser Herr: Non
veni mittere pacem, sed gladium; ich bin nicht gekommen, den Frieden
zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34). Das bedeutet dasselbe,
wie wenn er sagt: Ignem veni mittere; ich bin gekommen, Feuer zu
bringen (Lk 12,49). Und im Hohelied der Liebe erachtet der Bräuti-
gam die Liebe als ein Schwert, durch das er verwundet wurde, wenn er
sagt: Du hast mein Herz verwundet, meine Schwester, meine Braut (Hld
4,9). Von diesen drei Schwertern wurde die Seele Unserer lieben Frau
beim Tod ihres Sohnes durchbohrt, vor allem vom dritten, das die
beiden anderen enthält.
Wenn man einem Gegenstand einen starken und kräftigen Stoß gibt,
empfängt diesen alles, was mit ihm in Berührung steht, und erhält den
Gegenstoß. Der Leib Unserer lieben Frau war mit dem ihres Sohnes in
der Passion nicht in Verbindung; ihre Seele aber war unlösbar verbun-
den mit der Seele, dem Herzen, dem Leib ihres Sohnes. So bewirkten
die Schläge, die der gebenedeite Leib des Erlösers am Kreuz empfing,
zwar keineswegs eine Verletzung des Leibes Unserer lieben Frau, aber
sie hatten heftige Wirkungen in ihrer Seele zur Folge, durch die sich
bewahrheitete, was Simeon vorausgesagt hatte. Die Liebe läßt uns ge-
wöhnlich die Wirkung der Bedrängnisse derer empfinden, die wir lie-
ben: Quis infirmatur, et ego non infirmor? Wer ist krank, ohne daß ich es
bin? Wer empfängt einen Stoß, ohne daß ich dessen Wirkung empfän-
de, sagt der heilige Apostel (2 Kor 11,29). Dabei war die Seele des hl.
Paulus mit den übrigen Gläubigen nicht so eng verbunden, wie die
Seele Unserer lieben Frau mit Unserem Herrn verbunden war; sie
stand mit ihm in inniger Verbindung, so eng wie sonst nichts; in Ver-
bindung mit seiner Seele und mit seinem Leib, dessen Ursprung und
Wurzel sie als Mutter war. Es ist also nicht verwunderlich, wenn ich
sage, daß die Schmerzen des Sohnes die Schmerzen waren, die die
Seele der Mutter durchbohrten.
Sagen wir es etwas deutlicher: ein scharf auf einen Menschen abge-
schossener Pfeil, der seinen Leib durchbohrt hat, wird auch den tref-
fen, der mit ihm in Berührung und Verbindung steht. Die Seele Unse-
rer lieben Frau war in vollkommener Vereinigung mit der Person ih-

107
res Sohnes verbunden, sie haftete an ihr: Anima Jonathae conglutinata
est ad animam David, sagt die Heilige Schrift (1 Sam 18,1); die Seele
Jonatans war mit der Seele Davids verbunden oder klebte an ihr, so eng
war ihre Freundschaft. Die Dornen, die Nägel und die Lanze, die das
Haupt, die Hände und Füße, die Seite Unseres Herrn durchbohrten,
trafen demnach auch die Seele der Mutter und durchbohrten sie. Folg-
lich kann ich sehr wohl in Wahrheit sagen, heilige Jungfrau, daß deine
Seele durchbohrt wurde von der Liebe, vom Schmerz und von den
Worten deines Sohnes. Denn was seine Liebe betrifft, wie hat sie dich
verwundet, als du den Sohn sterben sahst, der dich so sehr liebte und
den du so verehrtest! Was seinen Schmerz betrifft, wie lebhaft hat er
dich berührt, alle Lust und Freude, allen Trost tödlich getroffen! Und
was seine gleichzeitig so liebevollen und so bitteren Worte betrifft,
waren sie ebenso wie die Winde und die Stürme, um deine Liebe und
deinen Schmerz zu entfachen und das Schiff deines Herzens voranzu-
treiben, das im Sturm eines so bitteren Meeres fast zerschellt ist. Die
Liebe war der Bogenschütze, denn ohne sie hätte der Schmerz nicht
genügend Schwung gehabt, um deine Seele zu treffen; der Schmerz
war der Bogen, der die inneren und äußeren Worte wie ebensoviele
Pfeile abschoß, die kein anderes Ziel hatten als dein Herz.
Ach, wie konnten so liebevolle Pfeile derart schmerzhaft sein? So
verursachen die in Honig getauchten Stachel der Bienen jenen großen
Schmerz, die von ihnen gestochen werden, und es scheint, daß die
Süße des Honigs den Schmerz des Stichs vergrößert. Es ist wahr, mei-
ne Zuhörer, je liebevoller die Worte Unseres Herrn waren, desto
schmerzlicher waren sie für seine jungfräuliche Mutter, und sie wären
es für uns, wenn wir ihren Sohn liebten. Gibt es ein liebevolleres Wort
als jenes, das er zu seiner Mutter und zum hl. Johannes sagte (Joh
19,26f)? Worte, die ein sicheres Zeugnis für das Fortbestehen seiner
Liebe und Sorge geben, für seine Anhänglichkeit zur seligsten Jung-
frau. Und doch waren diese Worte ohne Zweifel für sie äußerst
schmerzlich. Nichts läßt uns das Leid eines Freundes so sehr fühlen
wie die Versicherung seiner Liebe.

4. Sie starb trotzdem nicht zugleich mit ihrem Sohn

Aber kommen wir zu unserem Gegenstand zurück. Wir sagten also,


daß die Seele Unserer lieben Frau vom Schwert durchbohrt wurde.
Und, sagt ihr, starb sie daran? Ich habe schon gesagt, daß einige sehr
im Irrtum waren, die das behaupten wollten. Die Heilige Schrift be-
zeugt, daß sie am Pfingstfest noch lebte und mit den Aposteln im Ge-

108
bet und in Gemeinschaft verharrte. Ich habe weiterhin gesagt, daß sie
nach der Überlieferung hernach noch einige Jahre gelebt hat. Doch
hört bitte: Kommt es nicht oft vor, daß eine Hindin vom Jäger ange-
schossen wird und, obwohl getroffen und verwundet, entflieht und
mehrere Tage später weit von dem Ort entfernt stirbt, wo sie ange-
schossen wurde? So wurde Unsere liebe Frau gewiß verwundet und
getroffen vom Pfeil des Schmerzes bei der Passion ihres Sohnes auf
dem Kalvarienberg; sie starb dennoch nicht sogleich, sondern trug
ihre Wunde längere Zeit, an der sie schließlich starb. O liebevolle
Wunde, Verwundung durch die Liebe! Wie bist du geliebt und liebe-
voll gehegt worden von dem Herzen, das du verwundet hast.
Aristoteles berichtet, daß die wilden Ziegen Kretas (Plinius sagt
dasselbe von den Hirschen) eine schlaue List anwenden oder vielmehr
einen bewundernswerten Instinkt haben: wenn sie von einem Pfeil
getroffen sind, bedienen sie sich eines Baumharzes, mit dessen Hilfe
der Pfeil ausgestoßen und aus dem Körper entfernt wird. Welcher
Christ würde nicht manchmal vom Pfeil der Passion des Erlösers ge-
troffen? Welches Herz wäre nicht gerührt, wenn es seinen Erlöser be-
trachtet, der gegeißelt, gefoltert, gefesselt, angenagelt, mit Dornen ge-
krönt und gekreuzigt wurde? Aber ich weiß nicht, ob ich es sagen soll,
daß die Mehrzahl der Christen den Kretern gleicht, von denen der
Apostel sagt: Cretenses mendaces, ventres pigri, malae bestiae; die
Kreter sind Lügner, faule Bäuche, schlimme Bestien (Tim 1,12, nach
Epimenides). Zum mindesten kann ich wohl sagen, daß viele den wil-
den Ziegen Kretas gleichen; denn wenn ihre Seele von der Passion des
Erlösers getroffen und verwundet wird, nehmen sie sogleich ihre Zu-
flucht zum Baumharz weltlicher Tröstungen, durch das die Pfeile der
göttlichen Liebe aus ihrem Gedächtnis entfernt und verdrängt wer-
den. Als sich dagegen die seligste Jungfrau verwundet fühlte, pflegte
und hütete sie die Geschoße sorgsam, von denen sie durchbohrt wur-
de, und wollte sie nicht entfernen. Das war ihr Ruhm, das war ihr
Triumph, und so sehnte sie sich danach, an ihnen zu sterben, und starb
schließlich daran. So starb sie am Tod ihres Sohnes, obwohl sie daran
nicht sogleich starb.

5. Unser Herr starb aus Liebe

Hier müssen wir etwas verweilen; das ist nach meiner Ansicht gün-
stig. Unsere liebe Frau starb des Todes ihres Sohnes; welchen Todes
aber starb ihr Sohn? Hier schlagen von neuem Flammen der Liebe
empor, meine Christen. Unser Herr litt unsagbar in seiner Seele und

109
an seinem Leib; für seine Leiden gibt es keinen Vergleich in dieser
Welt. Seht die Bedrängnisse seines Herzens, seht die Schmerzen sei-
nes Leibes, ich bitte euch; beachtet es und seht, ob es einen Schmerz
gibt, der dem seinen gleicht (Klgl 1,12). Dennoch vermochten ihn alle
seine Schmerzen nicht zu töten, alle seine Bedrängnisse, alle Schläge
mit der Hand, mit dem Rohr und den Dornen, mit der Geißel und dem
Hammer, der Stich der Lanze. Der Tod hatte nicht Kraft genug, um
Sieger über dieses Leben zu werden; es war ihm unerreichbar. Wie
starb er dann?
Ihr Christen, die Liebe ist stark wie der Tod; fortis ut mors dilectio
(Hld 8,6). Die Liebe verlangte, daß der Tod bei Unserem Herrn ein-
trat, damit sie sich durch seinen Tod auf alle Menschen ausbreiten
konnte. Der Tod wollte bei ihm eintreten, aber er vermochte es nicht
aus sich selbst. Er wartete auf die günstige Stunde, die glückliche Stun-
de für uns, in der die Liebe ihn eintreten ließ und ihm Unseren Herrn
an Händen und Füßen angenagelt auslieferte. Was der Tod nicht ver-
mochte, unternimmt die Liebe, die stark ist wie er, und vollbringt es.
Er ist aus Liebe gestorben, der Erlöser meiner Seele. Der Tod ver-
mochte hier nichts, außer mit Hilfe der Liebe: Er wurde geopfert, weil
er selbst es wollte (Jes 53,7).
Es geschah aus eigenem Entschluß, daß er starb, nicht durch die
Macht des Bösen: Ich setze mein Leben ein; niemand nimmt es mir,
sondern ich gebe es hin (Joh 10,17f). Jeder andere Mensch wäre an so
vielen Schmerzen gestorben, aber Unser Herr, der die Schlüssel des
Todes (Offb 1,18) und des Lebens in seiner Hand hielt, hätte jederzeit
die Anstrengungen des Todes und die Wirkungen der Schmerzen aus-
schalten können. Doch nein, er wollte es nicht. Die Liebe, die uns
bedrängt wie eine Delila, raubte ihm all seine Kraft (Ri 16,19) und
ließ ihn freiwillig sterben. Deshalb heißt es nicht, daß sein Geist ihn
verlassen hätte, sondern daß er ihn hingab: Emisit spiritum (Mt 27,50;
Joh 19,30). Der hl. Athanasius weist darauf hin, daß er das Haupt
senkte, bevor er starb: Inclinato capite, emisit spiritum, um den Tod
herbeizurufen, der sich sonst nicht zu nahen gewagt hätte. Das ließ ihn
sterbend mit lauter Stimme rufen, um zu zeigen, daß er Kraft genug
besaß, um nicht sterben zu müssen, wenn es ihm so gefiele. Die Erklä-
rung gibt er selbst: Niemand hat eine größere Liebe, als wer sein Leben
hingibt für seine Freunde (Joh 15,13).
Er ist also aus Liebe gestorben. Dadurch wurde sein Opfer am Kreuz
ein Brandopfer, weil er vom unsichtbaren aber um so heißeren Feuer
seiner göttlichen Liebe verzehrt wurde. Sie machte ihn zum Opferprie-
ster, nicht die Juden oder die Heiden, die ihn kreuzigten, zumal sie ihm

110
durch alles, was sie taten, den Tod nicht beifügen konnten, wenn nicht
seine Liebe die letzte Wirkung erlaubt und befohlen hätte durch den
erhabensten Akt der Liebe, den es je gab. Denn alle Martern wären er-
folglos geblieben, wenn ihnen nicht die Liebe den Sieg über sein Leben
hätte erlauben und ihnen Macht darüber geben wollen: Du hättest keine
Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre (Joh 19,11).

6. Folglich starb auch Unsere liebe Frau aus Liebe

Da also feststeht, daß der Sohn aus Liebe gestorben ist und daß die
Mutter des Todes ihres Sohnes starb, kann man nicht daran zweifeln,
daß die Mutter aus Liebe gestorben ist. Aber wie ist das geschehen? Ihr
habt gesehen, daß sie auf dem Kalvarienberg eine Liebeswunde emp-
fing, als sie ihren Sohn sterben sah. Von da an bedrängte sie die Liebe so
stark, fühlte sie solche Schmerzen, brannte diese Wunde so sehr, daß sie
schließlich daran sterben mußte. Sie kannte nur noch die Sehnsucht; ihr
Leben bestand nur aus Ohnmachten und Verzückungen; sie schmolz
innerlich durch solche Glut, daß sie mit vollem Recht sagen konnte:
Stipate me floribus, fulcite me malis, quia amore langueo; stärkt mich
mit Blütenduft, erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe
(Hld 2,5). Amnon wurde von schändlicher Liebe zu Tamar erfaßt und
davon so krank, daß man ihn abmagern und hinsiechen sah (2 Sam 13).
O, die göttliche Liebe ist noch viel wirksamer und mächtiger! Ihr Ziel
und ihr Ursprung sind viel größer. Deshalb ist es nichts Außergewöhn-
liches, wenn ich sage, daß Unsere liebe Frau an ihr starb. Sie trug in
ihrem Herzen ständig die Wunden ihres Sohnes. Einige Zeit trug sie
das, ohne zu sterben, aber schließlich starb sie, ohne zu leiden. O amor
vulneris, o vulnus amoris! O Leiden der Liebe, o Liebe der Passion!
Ach, ihr Schatz, d. h. ihr Sohn war im Himmel; ihr Herz war also
nicht mehr in ihr. Dort war der Leib, den sie so sehr liebte, Bein von
ihrem Bein, Fleisch von ihrem Fleisch (Gen 2,23); dorthin flog dieser
heilige Adler: Wo immer ein Leib ist, dort sammeln sich die Adler (Mt
24,28). Mit einem Wort, ihr Herz, ihre Seele, ihr Leben war im Him-
mel; wie hätte sie auf Erden bleiben können? Nach so oftmaligem
Aufschwung des Geistes, nach so vielen Entrückungen und Ekstasen
wurde schließlich diese Burg der Reinheit, diese Festung der Demut,
nachdem sie auf wunderbare Weise abertausend Stürmen der Liebe
standgehalten hatte, in einem letzten Generalangriff eingenommen und
erobert. Die Liebe, die als Siegerin diese schöne Seele als ihre Gefan-
gene entführte, ließ im heiligen Leib den bleichen, kalten Tod zurück.
Tod, was tust du in diesem Leib? Glaubst du ihn behalten zu können?

111
Denkst du nicht daran, daß der Sohn dieser Frau, deren Leib du
besitzest, dich besiegt, dich überwunden und zu seinem Sklaven ge-
macht hat? Nein, es wird nie geschehen, daß er dir den Ruhm dieses
Sieges läßt. Du wirst bald ebenso schmachvoll abziehen, wie du jetzt
stolz bist, und die Liebe, die dich in einem gewissen Übermaß an die-
sen heiligen Ort brachte, wird sehr bald zu sich kommen und dir den
Besitz wieder nehmen.
Der Phönix stirbt durch das Feuer; die seligste Jungfrau starb an der
Liebe. Der Phönix trägt Holz von wohlriechenden Bäumen zusammen
und bringt sie auf den Gipfel eines Berges; auf diesem Holzstoß schlägt
er so stark mit den Flügeln, daß sich dadurch an den Strahlen der
Sonne das Feuer entzündet (Plinius, Hist. nat. X, 2). Die seligste Jung-
frau sammelte in ihrem Herzen das Kreuz, die Dornenkrone und die
Lanze Unseres Herrn und legte sie auf den Gipfel ihres Geistes. Durch
ständige Betrachtung bewirkte sie eine starke Bewegung über diesem
Scheiterhaufen, und von den Lichtstrahlen ihres Sohnes ging das Feu-
er aus. Der Phönix starb in jenem Feuer, die seligste Jungfrau in die-
sem, und man kann nicht daran zweifeln, daß sie ihrem Herzen die
Leidenswerkzeuge eingeprägt hatte. Wenn schon so viele Jungfrauen,
wie die hl. Katharina von Siena und die hl. Klara von Montefalco,
diese Gnade hatten, warum nicht Unsere liebe Frau, die ihren Sohn,
seinen Tod und sein Kreuz unvergleichlich mehr liebte, als alle Heili-
gen es je vermochten? So war sie nichts als Liebe. In unserer Sprache
bedeutet das Anagramm für Maria nichts anderes als „lieben“: aimer
ist soviel wie Marie; Maria, das heißt lieben. Geh hin, schöner Phönix,
brennend und sterbend vor Liebe; schlafe in Frieden auf dem Lager
der Liebe!

7. Aber sie wurde bald darauf auferweckt

So starb also die Mutter des Lebens. Doch wie der Phönix bald nach
seinem Tod aufersteht und ein neues, glücklicheres Leben wiederge-
winnt, so blieb auch die seligste Jungfrau nicht lange (höchstens drei
Tage) tot, bis sie auferweckt wurde. Ihr Leib wurde nach ihrem Tod
nicht dem Verfall ausgeliefert; der Leib, der während ihres heiligen
Lebens nie der Verderbnis ausgesetzt war. Die Verwesung hatte keine
Macht über solche Unversehrtheit; diese Bundeslade bestand aus un-
verweslichem Holz der Akazie wie jene des Alten Bundes (Ex 25,10).
Das gleiche glaubt man von den Leibern des Elija und Henoch; wie es
in der Geheimen Offenbarung (11,7-11) heißt, werden sie sterben,
aber nur für drei Tage, ohne zu verwesen.

112
Wieviel mehr gilt das von der seligsten Jungfrau, deren unbefleckter
Leib mit dem des Erlösers so innig verbunden ist, daß man sich kei-
nerlei Unvollkommenheit an dem einen vorstellen kann, die nicht auf
den anderen zurückfiele und ihn entehrte. Staub bist du, und zum Staub
wirst du zurückkehren, wurde dem ersten Adam und der ersten Eva
gesagt (Gen 3,19); auf den zweiten Adam und die zweite Eva trifft das
nicht zu. Das ist gewiß ein allgemeines Gesetz, aber nicht ohne Aus-
nahme, wie ich von Elija und Henoch gezeigt habe. Die Stadt Jericho
wurde vollständig geplündert und verwüstet, aber das Haus der Rahab
wurde von der Plünderung ausgenommen und verschont, weil sie die
Kundschafter des großen Josua eine Nacht beherbergt hatte (Jos 6,24f).
Die Welt und alle ihre Bewohner sind dem Untergang als Raub des
Weltbrandes verfallen; aber halten wir es nicht für gerecht, daß Unse-
re liebe Frau und ihr Leib davon ausgenommen sind? Der Leib, der
nicht Botschafter aufnahm und beherbergte, sondern den wahren Josua
selbst, den wirklichen Jesus, und nicht für eine Nacht, sondern viel
länger: selig der Leib, selig die Brust (Lk 11, 27). Unser Leib wird eine
Beute der Würmer; sie hatten aber Scheu vor jenem, aus dem der Leib
ihres Schöpfers hervorgegangen ist.
Der Priester Abjatar hatte am Aufstand des Adonija teilgenommen,
war dabei entdeckt und gefangen genommen worden: Du müßtest ster-
ben, sagte Salomo zu ihm: aber weil du vor meinem Vater die Bundesla-
de getragen hast, sollst du nicht sterben (1 Kön 2,26). Gewiß, nach dem
allgemeinen Gesetz sollte die seligste Jungfrau nicht vor dem Tag der
allgemeinen Auferstehung auferweckt werden und ebenso nicht vor
der Verwesung verschont bleiben. Aber die Ehre, vor dem ewigen Va-
ter nicht die Bundeslade, sondern den eingeborenen Sohn zu tragen,
den Heiland und Erlöser, das machte sie erhaben über die Gesetze. Ist
es nicht wahr, daß unbeschadet dieser Gesetze am Tag der Auferste-
hung (Christi) viele auferweckt wurden? Viele Leiber der Heiligen, die
entschlafen waren, standen auf (Mt 27,52). Warum dann nicht die
seligste Jungfrau? Ihr dürfen wir dem großen Anselm zufolge keinen
Vorzug und keine Ehre absprechen, die irgendeinem einfachen Ge-
schöpf zuteil wurden.
Wenn man mich schließlich bedrängt, um zu erfahren, welche Ge-
wißheit wir über die Auferweckung der seligsten Jungfrau haben, so
antworte ich, daß wir darüber genau die gleiche Gewißheit haben wie
über ihren Tod. Die Heilige Schrift, die weder der einen noch der
anderen dieser beiden Wahrheiten widerspricht, bestätigt weder die
eine noch die andere durch ausdrückliche Worte. Aber die heilige
Überlieferung, die uns lehrt, daß sie gestorben ist, lehrt uns mit glei-

113
cher Sicherheit, daß sie auferweckt wurde. Wenn jemand die Glaub-
würdigkeit der Überlieferung bezüglich der Auferweckung bestreitet,
dann kann er auch den nicht überzeugen, der das gleiche bezüglich des
Todes und Hinscheidens tut. Wir Christen aber glauben, bekennen
und verkünden, daß sie gestorben ist und bald darauf auferweckt wur-
de, weil die Überlieferung das berichtet, weil die Kirche dafür Zeug-
nis gibt. Wenn jemand widersprechen will, können wir ihm antworten:
Si quis videtur contentiosus esse, nos talem consuetudinem non
habemus, neque Ecclesia Dei; Will aber einer unbedingt recht haben,
wir haben eine solche Gewohnheit nicht, ebenso nicht die Kirche Gottes
(1 Kor 11,16).

8. Und sie stieg zum Himmel empor

Nun genügt es nicht zu glauben, daß sie auferweckt wurde, wie wir
auch in unserer Seele daran festhalten, daß sie nicht auferweckt wur-
de, um noch einmal zu sterben, wie Lazarus, sondern um ihrem Sohn
in den Himmel zu folgen, wie jene, die auferweckt wurden am Tag der
Auferstehung Unseres Herrn (Mt 27,52). Der Sohn, der seinen Leib
und sein Fleisch von seiner Mutter empfing, als er in diese Welt kam,
ließ nicht zu, daß seine Mutter hier auf Erden blieb, weder dem Leib
noch der Seele nach. Bald nachdem sie dem Tod den allgemeinen Tri-
but geleistet hatte, holte er sie vielmehr zu sich in das Reich seines
heiligen Paradieses. Dafür legt die Kirche Zeugnis ab, wenn sie dieses
Fest der Aufnahme feiert und sich dabei auf die gleiche Überlieferung
stützt, durch die sie die Gewißheit von ihrem Tod und ihrer Auferwek-
kung hat.
Gewiß, die Störche haben eine natürliche Liebe zu ihren Eltern, die
schon alt und hinfällig sind. Sobald die Härte der Jahreszeit sie zwingt,
in wärmere Gegenden zu ziehen, nehmen sie die Eltern, laden sie sich
auf und tragen sie auf ihren Schwingen, um in etwa die Wohltat zu
vergelten, die sie während ihrer Aufzucht empfangen haben. Unser
Herr hat seinen Leib aus dem seiner Mutter empfangen, sie hat ihn
lange Zeit in ihrem heiligen Schoß getragen, auf ihren keuschen Ar-
men, selbst als sie wegen der grausamen Verfolgung nach Ägypten
fliehen und dort Zuflucht suchen mußten. Herr, sagt der himmlische
Hofstaat nach dem Tod der seligsten Jungfrau, erhebe dich nach dem
Gebot, das du gegeben (Ps 7,7). Du hast den Kindern geboten, ihren
Vätern im Alter beizustehen, und hast dieses Gebot der Natur so tief
eingeprägt, daß es sogar die Störche befolgen. Erhebe dich nach dem
Gebot, das du gegeben hast, und laß nicht zu, daß der Leib, der dich

114
unversehrt geboren hat, jetzt durch den Tod der Verwesung ausgelie-
fert werde. Erwecke ihn vielmehr, setze ihn auf die Schwingen deiner
Macht und Güte, um ihn aus der Wüste der Welt dort unten an diesen
Ort unsterblicher Glückseligkeit zu versetzen. Ohne Zweifel wollte
der Erlöser dieses Gebot, das er allen Kindern gab, vollkommener
erfüllen, als man sich vorstellen kann. Welches Kind würde nicht sei-
ne vielgeliebte Mutter wiedererwecken, wenn es das könnte, und sie
nach ihrem Tod in das Paradies versetzen? Die Mutter Gottes starb
aus Liebe; die Liebe ihres Sohnes hat sie auferweckt. Bei dieser Erwä-
gung, die vollkommen der Vernunft entspricht, wie ihr seht, sagen wir
heute: Wer ist jene, die heraufkommt aus der Wüste, voll der Wonnen,
gestützt auf ihren Vielgeliebten? Das ist der Gegenstand unseres Festes
und der Grund für den großen Jubel, mit dem alle Heiligen der strei-
tenden und triumphierenden Kirche es feiern.
Als der Patriarch Josef seinen lieben Vater Jakob im Königreich
Ägypten am Hof des Pharao empfing (Gen 47,7), kamen ihm ohne
Zweifel über den freundlichen Empfang hinaus, den ihm der König
selbst bereitete, die Vornehmsten des Hofstaates entgegen und bezeug-
ten ihm auf jede Weise eine große Freude. Wie könnten wir zweifeln,
daß beim Empfang der allerseligsten Mutter des Erlösers alle Engel
ein Fest feierten und ihre Ankunft mit jeder Art von Freudengesängen
begingen. Mit ihnen vereinigen wir unsere Glückwünsche und müssen
wir ein großes Fest begehen mit Liedern und Triumphgesängen: Wer
ist jene, die heraufkommt aus der Wüste, überreich an Wonne?

9. voll der Verdienste und Gnaden

Ihr Einzug war auch der schönste und großartigste, der nach dem des
Sohnes je im Himmel gesehen wurde; denn welche Seele wäre je emp-
fangen worden, so erfüllt von Vollkommenheiten, so reich geschmückt
mit Tugenden und Vorzügen? Sie kommt herauf aus der Wüste der
geringen Welt, trotzdem aber so duftend von geistlichen Gaben, daß
der Himmel, abgesehen von der Person ihres Sohnes, nichts Vergleich-
bares besitzt. Sie steigt auf wie die Rauchwolke aus aromatischer Myr-
rhe und Weihrauch. Wer ist jene, sagt das Hohelied (3,6), die aus der
Wüste aufsteigt wie eine Rauchsäule, duftend von Myrrhe und Weih-
rauch, von Spezereien aller Art? Wie ihr wißt, kam die Königin von
Saba den König Salomo besuchen, um seine Weisheit und die vorzüg-
liche Ordnung seines Hofes zu sehen. Bei ihrer Ankunft schenkte sie
ihm eine große Menge Goldes, von Spezereien und kostbaren Steinen.
Nie wurden so viele Gewürze gebracht, wie die Königin von Saba dem

115
König Salomo schenkte (1 Kön 10,1.2.10). Als aber die seligste Jung-
frau in den Himmel an den Hof ihres Sohnes aufstieg, brachte sie so
viel Gold der Liebe, so viele Wohlgerüche der Frömmigkeit und Tu-
gend mit, so viele kostbare Steine der Ausdauer im Leid, das sie für
seinen Namen ertragen hatte, dies alles in Verdienste umgewandelt, so
daß man mit Recht sagen kann: Nie wurde davon so viel in den Him-
mel gebracht, nie wurde so viel davon ihrem Sohn dargebracht wie von
dieser heiligen Frau.
Wollt ihr in dieser Lehre klar sehen? Ihr müßt wissen, daß es nie-
mand gibt, der so früh wie Unsere liebe Frau begonnen hat, gute Wer-
ke zu vollbringen, und es so eifrig fortsetzte. Denn was uns betrifft, wir
beginnen sehr spät, sie zu tun, und wenn wir sie tun, verlieren wir sie
sehr oft durch die Sünde und halten nicht durch. So kommt nicht viel
an Verdiensten zusammen; denn wenn wir auch auf gut Glück einige
Silberlinge sammeln, so geschieht das nur manchmal, und sehr oft
verspielen und vertun wir unser Geld auf einen Schlag durch die Sün-
de. Und obwohl wir durch die Buße wiederhergestellt werden, seht ihr
doch, daß in unserem Tun keine rechte Ordnung ist, denn wir verlie-
ren viel Zeit. Auch sind unsere Anstrengungen nach der Sünde und
selbst nach der Buße geschwächt, so daß unser Gewinn nicht groß sein
kann. Doch sprechen wir von den Vollkommeneren. Selbst der hl.
Johannes der Täufer, euer großer Patron, meine Zuhörer, war nicht
ausgenommen von der läßlichen Sünde. Die läßliche Sünde verzögert
jedoch unsere Werke, verlangsamt unseren Fortschritt, verhindert un-
ser Vorwärtskommen. Unsere liebe Frau dagegen, die schon bei ihrer
Empfängnis voll der Gnade war, hat unablässig Fortschritte gemacht,
seit sie den Gebrauch der Vernunft erlangt hatte, und immer mehr
zugenommen an Tugenden und Gnaden, so daß sie einen unvergleich-
lichen Reichtum davon besaß: Multae filiae congregaverunt divitias,
sed tu supergressa es universas (Spr 31,29); viele Seelen haben Reich-
tümer gesammelt, du aber hast sie alle übertroffen.

10. Deshalb wurde ihr der höchste Rang im Himmel zuteil

Wie reich an Wonne wurde sie, da sie so reich an Werken und Taten
in dieser Welt war! So wurde ihr der höchste Ehrenplatz unter den
Heiligen zuteil. Der Pharao war Josef so gewogen, daß er ihm, als sein
Vater in Ägypten eintraf, sagte: Dein Vater und deine Brüder sind zu dir
gekommen; Ägypten steht dir zur Verfügung. Laß deinen Vater und dei-
ne Brüder auf dem besten Land wohnen (Gen 47,5f). An dem heiligen

116
Tag jedoch, an dem Unsere liebe Frau im Königreich ihres Sohnes
ankam müßt ihr euch vorstellen, daß der ewige Vater zu ihm sagte: All
meine Herrlichkeit gehört dir (Joh 17,10), mein vielgeliebter Sohn.
Deine Mutter ist zu dir gekommen; laß sie den höchsten Rang einneh-
men, den besten und vornehmsten Platz in deinem Reich. Daran darf
man nicht zweifeln, ihr Christen. Als Unser Herr in diese Welt kam,
wählte er den geringsten Rang (Eph 4,9), den es gab, und er fand kei-
nen an Demut geringeren als die seligste Jungfrau. Jetzt versetzt er sie
in den höchsten Rang des Himmels durch die Herrlichkeit. Sie gab
ihm den Rang nach seinem Wunsch, er gibt ihr nun den Rang nach
seiner Liebe und erhebt sie über die Kerubim und Serafim.

11. Alles gereicht zur Verherrlichung ihres Sohnes

Doch wenden wir uns dem letzten Teil des Satzes zu, den wir zum
Gegenstand der Betrachtung gewählt haben. Er sagt, die heilige Jung-
frau, die überreich an Wonne aus der Wüste heraufkommt, stützt sich
auf ihren Vielgeliebten. Das ist das Ergebnis allen Lobes, das die Kir-
che in rechter Weise den Heiligen und vor allem der seligsten Jung-
frau spendet; denn wir bringen es stets zur Ehre ihres Sohnes dar,
durch dessen Macht und Wirken sie aufsteigt und die Fülle der Wonne
empfangen hat. Habt ihr nicht beachtet, daß die Königin von Saba die
vielen Kostbarkeiten, die sie nach Jerusalem brachte, alle Salomo dar-
brachte? Das gleiche tun alle Heiligen, insbesondere die seligste Jung-
frau. Alle ihre Vollkommenheiten und Tugenden, all ihre Glückselig-
keit ist dargebracht, bestimmt und ausgerichtet auf die Ehre ihres Soh-
nes, der deren Wurzel, Urheber und Vollender ist (Hebr 12,3). Gott
allein Ehre und Verherrlichung (1 Tim 1,17); darauf geht alles hinaus.
Wenn sie heilig ist, wer hat sie geheiligt, wenn nicht ihr Sohn? Wenn
sie erlöst ist, wer ist ihr Erlöser, wenn nicht ihr Sohn? Gestützt auf
ihren Vielgeliebten. All ihr Glück beruht auf der Barmherzigkeit ihres
Sohnes. Wollt ihr, daß Unsere liebe Frau eine Lilie der Reinheit und
Unschuld ist? Ja, sie ist es in der Tat; aber diese Lilie hat ihr Weiß vom
Blut des Lammes, durch das sie weiß geworden ist wie die Kleider
jener, die sie im Blut des Lammes gewaschen haben (Offb 7,14). Wenn
ihr sie eine Rose nennt wegen ihrer übergroßen Liebe, so kommt das
leuchtende Rot nur vom Blut ihres Sohnes. Wenn ihr sagt, sie ist eine
Rauchsäule, lieblich duftend, dann sagt sogleich, daß das Feuer, von
dem dieser Rauch aufsteigt, die Liebe ihres Sohnes ist, das Holz sein
Kreuz. Mit einem Wort, in allem und durch alles stützt sie sich auf

117
ihren Vielgeliebten. Auf diese Weise muß man eifrig bedacht sein, Je-
sus Christus zu ehren, ihr Christen, nicht wie die Gegner der Kirche,
die den Sohn besser zu ehren glauben, wenn sie der Mutter die gebüh-
rende Ehrung verweigern. Dabei läßt im Gegenteil die der Mutter er-
wiesene Ehre, da sie auf den Sohn zurückgeführt wird, den Ruhm sei-
nes Erbarmens großartiger erstrahlen.
Um die Richtigkeit der Absicht der Kirche zu beweisen, die sie bei
der Verehrung der seligsten Jungfrau hat, will ich euch zwei gegen-
sätzliche Irrlehren zeigen, die im Widerspruch zur echten Verehrung
Unserer lieben Frau standen; die eine durch Übertreibung, da sie
Unsere liebe Frau als Himmelsgöttin bezeichnete und ihr Opfer dar-
brachte; das wurde von den Kollyridianern behauptet; die andere durch
zu wenig, da sie die Verehrung der seligsten Jungfrau durch die Katho-
liken verwarf; das waren die Antidikomarianiten. Die Verrückten bil-
den stets die Extreme und sind einander entgegengesetzt. Die Kirche,
die stets die königliche Straße zieht und den Mittelweg der Tugend
einhält, bekämpft die einen nicht weniger als die anderen. Gegen die
einen stellt sie fest, daß die seligste Jungfrau nur ein Geschöpf ist und
man ihr folglich keinerlei Opfer darbringen darf; gegen die anderen
hält sie daran fest, daß der heiligen Jungfrau, weil sie die Mutter des
Gottessohnes war, eine besondere Verehrung zuerkannt werden muß,
die unendlich unter der ihres Sohnes steht, die aller anderen Heiligen
aber weit übertrifft. Den einen hält sie entgegen, daß die seligste Jung-
frau ein Geschöpf ist, aber so heilig und vollkommen, so innig verbun-
den, vereinigt und eins mit ihrem Sohn, so sehr und innig geliebt von
Gott, daß man den Sohn nicht recht lieben kann, wenn man nicht um
seiner Liebe willen die Mutter überaus liebt und wenn man nicht um
der Ehre des Sohnes willen die Mutter in besonderer Weise ehrt. Den
anderen aber sagt sie: Das Opfer ist die höchste Verehrung der Anbe-
tung, die man nur dem Schöpfer erweisen darf. Seht ihr nicht, daß die
seligste Jungfrau nicht die Schöpferin ist, sondern nur ein Geschöpf,
wenn auch ein ganz ausgezeichnetes?
Ich meinerseits pflege zu sagen, daß die seligste Jungfrau gewisser-
maßen mehr Geschöpf Gottes und seines Sohnes ist als die übrige
Welt. Gott hat ja in ihr viel mehr Vollkommenheiten geschaffen als in
den übrigen Geschöpfen, denn sie wurde vollkommener erlöst als die
übrigen Menschen, weil sie nicht nur von der Erbschuld erlöst wurde,
sondern auch von der Neigung zur Sünde und davon, sündigen zu kön-
nen. Einem Menschen, der Sklave werden soll, die Freiheit erkaufen,
bevor er versklavt wird, ist eine größere Gnade, als ihn loszukaufen,
nachdem er gefesselt wurde. Wir sind weit davon entfernt, daß wir den

118
Sohn mit der Mutter völlig gleichsetzen wollten, wie die Gegner glau-
ben oder zu glauben vorgeben, um es dem Volk einzureden.
Kurz gesagt, wir nennen sie schön, aber schön wie der Mond (Hld 6,
9), der sein Licht von der Sonne empfängt, denn sie empfängt ihre
Ehre von der ihres Sohnes. Der Aspalatusstrauch, sagt Plinius (Hist.
nat. XII, 24), ist an sich nicht wohlriechend; sobald ihn aber der Re-
genbogen berührt, verleiht er ihm einen unvergleichlich süßen Duft.
Die seligste Jungfrau war der brennende aber unversehrte Dornbusch,
den Mose sah (Ex 3,2): Als Dornbusch, den Mose unversehrt sah, er-
kennen wir deine heilige Jungfräulichkeit, sagt die Kirche im Brevier.
In der Tat, aus sich wäre sie keiner Verehrung würdig, sie wäre ohne
Duft. Nun kam aber der große Himmelsbogen, das große Zeichen der
Versöhnung zwischen Gott und den Menschen (Gen 9,13-17), um sich
allmählich auf diesen Dornbusch niederzulassen, zuerst durch die
Gnade ihrer unbefleckten Empfängnis, dann durch die Menschwer-
dung, als er ganz ihr Sohn wurde und sich in ihrem kostbaren Schoß
barg. Dadurch wurde der Wohlgeruch so groß, daß keine andere Pflan-
ze je einen solchen hat; ein Duft, der Gott so angenehm ist, daß die
Gebete, die ihn angenommen haben, niemals zurückgewiesen werden
und nie vergeblich sind. Aber die Ehre dafür fällt auf den Sohn zu-
rück, von dem sie den Duft empfangen hat.
Ihr Sohn ist unser Fürsprecher, sie unsere Fürsprecherin, aber in
ganz anderer Weise; das habe ich schon oft gesagt. Der Erlöser ist
Anwalt von Rechts wegen, denn er tritt für uns ein, indem er Rechts-
gründe in unserer Sache vorbringt. Er legt die Beweise vor, die nichts
anderes sind als seine Erlösung, als sein Blut und sein Kreuz. Er be-
kennt vor seinem Vater, daß wir Schuldner sind, aber er weist nach,
daß er die Schuld für uns bezahlt hat. Die seligste Jungfrau und die
Heiligen sind Anwälte gnadenhalber: sie bitten für uns um Verge-
bung, und das um der Passion des Erlösers willen. Sie haben selbst
nichts vorzuweisen, um uns zu rechtfertigen, sondern sie vertrauen
dabei auf den Erlöser. Mit einem Wort, sie vereinigen ihre Bitten mit
der Fürsprache des Erlösers, aber sie haben nicht die gleiche Eigen-
schaft wie diese, sondern gleichen unseren Bitten. Wenn Jesus Chris-
tus im Himmel bittet, bittet er in eigener Vollmacht; die seligste Jung-
frau dagegen bittet nur unter Berufung auf ihren Sohn, aber mit größe-
rem Einfluß und Ansehen. Seht ihr, daß das alles zur Ehre ihres Soh-
nes gereicht und seinen Ruhm verherrlicht?
Um Unseren Herrn zu verherrlichen, hat deshalb das ganze Alter-
tum seine Mutter so sehr verehrt. Schaut auf die Christenheit: von drei
Kirchen stehen zwei unter dem Schutz der seligsten Jungfrau oder

119
haben besondere Kennzeichen der Verehrung des Volkes zu ihr.
Viderunt eam filiae Zion (Hld 6,8); die Töchter Zions, die Seelen der
Gläubigen, die Völker schauten auf sie und priesen sie überglücklich.
Und Königinnen priesen sie. Nicht nur das Volk, sondern auch erhabe-
nere Seelen haben sie gelobt und gepriesen: die Bischöfe, die Theolo-
gen, die Fürsten und Könige. Wie die Vögel, jeder auf seinem Zweig,
im Morgengrauen zu zwitschern beginnen, so bemühen sie alle sich,
ihr Ehre zu erweisen, wie sie selbst vorhergesagt hat: Alle Geschlechter
werden mich seligpreisen (Lk 1,48). Folglich müssen alle Gläubigen
und müßt besonders ihr Christen von Paris sie anrufen und ihr gehor-
chen. Das sind die beiden Hauptformen der Verehrung, die wir ihr
erweisen können und zu denen sie uns eingeladen hat.

12. Ermahnung zur Anrufung und Verehrung Unserer lieben Frau

Ich finde im Evangelium nur zwei Stellen, wo berichtet wird, daß


Unsere liebe Frau zu den Menschen gesprochen hat: die eine, als sie
Elisabet grüßte (Lk 1,40); dabei betete sie ohne Zweifel für sie, denn
die Gläubigen grüßen sich durch Gebete. Das zweitemal war, als sie
zu den Dienern bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa sprach, wobei sie
nur sagte: Tut alles, was mein Sohn euch sagen wird (Joh 2,5). In die-
sen beiden Akten ist der Ausdruck der Liebe und des Willens der
seligsten Jungfrau den Menschen gegenüber enthalten, nämlich für sie
zu bitten; deshalb müssen wir sie mit großem Vertrauen anrufen. In
allen Gefahren, in allen Stürmen, ihr Christen von Paris, „seht diesen
Stern des Meeres, ruft sie an“ (St. Bernhard): durch ihre Gunst wird
euer Schiff den Hafen erreichen, ohne zu stranden und ohne Schiff-
bruch zu erleiden.
Wenn ihr aber wollt, daß sie für euch bittet, dann hört auf ihr zweites
Wort und gehorcht ihren Anordnungen. Nun, ihre Anordnungen be-
stehen kurz gesagt darin, daß ihr den Willen ihres Sohnes tut: Tut alles,
was er euch sagen wird. Wollen wir, daß die seligste Jungfrau uns er-
hört, ihr Christen? Dann laßt uns auf sie hören. Wollt ihr, daß sie auf
euch hört? Dann hört auf sie. Sie bittet euch von ganzem Herzen und
um den Preis ihrer Liebe, daß ihr treue Diener ihres Sohnes seid. Ei-
nes Tages kam Batseba in großer Demut und Ehrfurcht zu David, um
ihm ein Anliegen und eine Bitte vorzutragen; aber schließlich bat sie
statt allem nur, daß ihr Sohn nach seinem Vater König und Nachfolger
seiner Krone werde (1 Kön 1,16f). Die seligste Jungfrau, meine Zuhö-
rer, bittet euch vor allem um den deutlichsten Erweis eurer Ehrerbie-
tung gegen sie: daß ihr ihren Sohn zum König eures Herzens und eurer

120
Seele macht, damit er in euch herrsche und damit ihr seine Anordnun-
gen ausführt. Tut das, meine Zuhörer, eurer Pflicht gemäß, um eures
Heiles willen und aus Liebe zu Unserer lieben Frau. Wie ihr gesehen
habt, blieb sie nach der Himmelfahrt ihres Sohnes noch einige Jahre
auf Erden und starb dennoch nach einiger Zeit, uzw. des Todes ihres
Sohnes, d. h. aus Liebe. Aber sie war nicht lange tot, sondern wurde
auferweckt und fuhr aus der Wüste dieser Welt zum Himmel auf, wo
sie den höchsten Rang unter allen Geschöpfen einnimmt; und das
alles zur größeren Ehre ihres Sohnes; ihretwegen bittet sie für uns und
fordert uns auf, seine treuen Diener zu sein.
Allerseligste, glückselige Frau, die du im höchsten Paradiese der
Seligkeit bist, hab Mitleid mit uns, die wir in der Wüste des Elends
sind. Du bist in der Fülle der Wonnen, wir im Abgrund der Trostlosig-
keit. Erwirke uns die Kraft, alle Trübsal zu ertragen und uns stets recht
auf deinen Vielgeliebten zu stützen, die einzige Stütze unserer Hoff-
nung, den einzigen Lohn unserer Mühen, das einzige Heilmittel unse-
rer Übel. Glorreiche Jungfrau, bitte für die Kirche deines Sohnes;
steh mit deiner Huld allen Obrigkeiten bei, dem Heiligen Vater, den
Prälaten und Bischöfen, besonders dem der Stadt Paris. Erweise dich
huldvoll dem König. Dein Vorfahr David tat dem Sohn des Jonatan
Gutes um der Dienste und Hilfeleistungen willen, die er von Jonatan
empfangen hatte (2 Sam 9,7). Dieser König ist der Nachfolger eines
deiner treuesten und ergebensten Diener, des glorreichen hl. Ludwig;
wir bitten dich, ihm deine Fürsprache im Namen dieses heiligen Kö-
nigs zuteilwerden zu lassen. Die Königin, die die Ehre hat, deinen
Namen zu tragen, möge stets unter dem Schutz deiner heiligen Gunst
stehen. Himmlische Lilie, begieße die Lilien deines Frankreich mit
deinen heiligen Segnungen, damit sie weiß und rein seien in der Ein-
heit des wahren Glaubens und der Religion. Du bist ein Meer; gewäh-
re dem jungen Dauphin die Wellen deiner Gunst; du bist der Stern des
Meeres; sei dem Schiff von Paris hold, damit es den heiligen Hafen der
Herrlichkeit erreiche, um den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist
zu preisen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

121
Fastenpredigten 1604 in Dijon
Von diesen Predigten, die für Franz von Sales durch die Begegnung mit Johan-
na Franziska von Chantal sehr bedeutsam wurden, sind nur Bruchstücke der
beiden Hefte mit den (überwiegend lateinischen) Entwürfen erhalten. Auf der
letzten Seite der Hefte findet sich je ein Verzeichnis der Themen; im ersten Heft:
Meister, wir wollen von dir ein Zeichen sehen – Der Teich und der Kranke – Wer
von euch kann mich einer Sünde zeihen? – Jesus wurde in die Wüste geführt, um
versucht zu werden – Ihr Heuchler, treffend hat Jesaja von euch geweissagt – Die
Samariterin; im zweiten Heft: 1. Ihr werdet mich suchen – 2. Auf dem Lehrstuhl
des Mose – 3. Zu meiner Rechten sitzen.
Was davon überliefert ist, wird auf den folgenden Seiten wiedergegeben: in der
Reihenfolge und mit der Datierung, die von den Herausgebern der Annecy-Aus-
gabe ermittelt wurde.

Zum Mittwoch der 1. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 66 (Zusammenfassung): 10. März 1604 VIII,1-3

Meister, wir wollen von dir ein Zeichen sehen. – Böses


und ehebrecherisches Geschlecht (Mt 12,38f; 16,4).

Nie haben die Israeliten eine gediegenere Speise genossen als da-
mals, da sie das Manna aßen; trotzdem murren sie und verlangen eine
andere (Num 11,4-6). Jesus glänzte durch zahllose Wunder, und trotz-
dem fordern sie noch eines.
Christus tadelt sie offenbar, daß sie Zeichen fordern. Wieso das?
Verlangen und fordern sie nicht mit Recht Zeichen von Christus?
Um das zu verstehen, haltet fest, daß Gott seine Worte durch Wun-
der zu beglaubigen pflegte, besonders dann, wenn er etwas Neues ver-
kündet. Siehe Mose (Ex 4. Kap.). So erachtete Christus Wunder für so
notwendig, daß er sagte: Hätte ich nicht Wunder gewirkt, wie sie kein
anderer gewirkt hat, dann hätten sie keine Sünde (Joh 15,24; Jes 53,12).
Ferner sind Wunder eine Mitgift der Kirche: Denen, die glauben, wer-
den Zeichen folgen (Mk 16,17). Damit das verständlich wird, unter-
scheide ich in der Heiligkeit der Kirche: Alle Herrlichkeit der Kirche
kommt von innen, in goldenem Saum (Ps 45,14); aber der Duft ihrer
Kleider (Hld 4,11). So spricht Isaak vom Duft seines Sohnes (Gen 27,
27). Siehe das Manuskript (vermutlich der Kontroversen).
Warum tadelt er sie also? Weil sie Heuchler waren. Meister, wir wol-
len sehen. So Joh 4,48: Wenn sie nicht Zeichen sehen. So Thomas (Joh

122
20, 25): Wenn ich nicht sehe. Man muß der Kirche glauben, und über-
triebene Sorge kommt vom Starrsinn. Das ist ein Grundsatz der Weis-
heit. Ein böses, verkehrtes, ehebrecherisches Geschlecht. Mt 13,13: Sie
werden sehen und doch nicht sehen. Verblendung wie Pharao, Saul
und Judas. Joh 15,25: Ohne Grund hassen sie mich. Erklären, wo Schell-
kraut für Gelbsüchtige nützt. Querulanten; daher: ein böses und ehe-
brecherisches Geschlecht. Hld 1,14; 4,1: Deine Augen gleichen denen
der Tauben. Wir suchen Wasser im Meer. Seneca und seine Zimmer-
frau. Ps 4,6: Viele sagen: wer zeigt uns Gutes?
Die Auslegung dagegen ist sehr schwierig. Es wird ihm kein Zeichen
gegeben werden als das Zeichen des Propheten Jona. 1. Auslegung von
vielen: das ist die Auferstehung Christi. Dabei gibt es aber viele Schwie-
rigkeiten; denn für sie war die Auferstehung (Christi) so wenig ein
Zeichen wie die Himmelfahrt und die Auferstehung der Toten ...
2. Außer das Zeichen des Propheten Jona; d. h. außer das Zeichen der
Verurteilung, weil die Leute von Ninive sich erhoben (Mt 12,41).
Hilarius und Maldonat. 3. Das heißt: keines. Drohungen, Untergang;
noch vierzig Tage (Jona 3,4). Noch vierzig Jahre, Panso (Tr. 10,14).
Augustinus: Daß ich könnte!

Der TTeich
eich und der Kranke
Kranke

Nr. 67 (Fragment): 12. März 1604 VIII,4f

– – – Wer sind die Kranken, Blinden, Lahmen, Schwindsüchtigen


(Joh 5,1-14)? Blinde: die Ungläubigen sehen nicht; Lahme, auch
Zornmütige oder Begierliche; Schwindsüchtige: Laue oder Erbschuld.
Alle Sünden werden durch die Taufe abgewaschen.
Fünf Hallen: fünf Bücher Mose oder fünf Sinne. Oder weil die Ju-
den und die Heiden blind, an einem Fuß lahm, schwindsüchtig sind.
Wer als erster hinabstieg, wurde gesund, an welcher Krankheit er auch
litt. Apg 2,38: Zur Vergebung der Sünden. Daher sind die Christen
Fische, Christus ichtys, der Fisch (Augustinus). Mt 4,19: Ich will euch
zu Menschenfischern machen.
Hier sind wir Kinder Gottes (Joh 1,12; Röm 8,14.16). Jener Mann
war schon 38 Jahre krank. Veraltetes Leiden, die Macht der Krankheit
etc.
Als er ihn sah. Ps 25,16: Schau auf mich und erbarme dich meiner.

123
Ps 21,4: Du bist ihm mit Segnungen zuvorgekommen. 2 Kor 3,5: Wir
sind nicht fähig. Beichte: Da er erfuhr, daß er schon lange krank war.
Daher sagen die meisten, Christus habe ihn nach seiner Krankheit
gefragt, oder vielmehr nach deren Ursache; daher sagt er: Sündige
nicht mehr. Vorsatz. Willst du gesund werden? Prüfung. Nimm dein
Bett ... Die Niniviten. Panso.

Zum Montag der 2. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 68 (Entwurf): 15. März 1604 VIII,6-8

Ihr werdet mich suchen, aber nicht finden; und ihr


werdet in euren Sünden sterben (Joh 7,34; 8,21).

Eine harte Drohung, ein schrecklicher Ausspruch! Aber wie kann


das von einem so gütigen Vater stammen?
Die wörtliche Deutung ist meines Erachtens die: ihr vernachlässigt
den wahren Messias; ihr sucht mich in etwas anderem. Da aber auch
von ihrem Tod in der Sünde gesprochen wird, wollen wir überlegen:

1. Welches Unglück es bedeutet, in der Sünde zu sterben.

Ez 18,23.30-32: Will ich etwa den Tod des Sünders, nicht vielmehr,
daß er sich bekehre und lebe? Bekehret euch von all euren Missetaten
und tut Buße, dann gereicht euch die Sünde nicht zum Unheil. Warum
wollt ihr sterben, Haus Israel? Denn ich will nicht den Tod des Sterben-
den, spricht der Herr; bekehrt euch und lebt.
In seinem Zorn hält er seine Erbarmungen zurück. In seinem Zorn,
wie am Tage des Gerichtes. Wird Gott vergessen, Erbarmen zu üben (Ps
77,10)? Er vergilt über das Verdienst hinaus: Seine Erbarmungen er-
strecken sich auf alle seine Werke (Ps 145,9). Erbarmen und Gericht
(Ps 38,5). Gleichwohl wird die Strafe ewig sein.
1. Grund: weil Gott beleidigt wurde. Den Herrn, deinen Gott, hast du
vergessen (Jer 2,17). Mich, den Quell lebendigen Wassers, haben sie ver-
lassen (2,13). Gegen dich allein habe ich gesündigt ... daß du gerechtfer-
tigt wirst (Ps 51,6). – 2. Grund: weil der Sünder sich selbst in einen
Zustand bringt, in dem er nach der Natur des Aktes ewig bleiben muß.
So wird er darin bleiben. – 3. Grund: weil der Sünder ewig den Willen
hat zu sündigen; denn wenn er sündigt, obwohl er weiß, daß er sterben
muß, was würde er tun, wenn er wüßte, daß er nicht sterben wird? Er hat
sie verstoßen, entsprechend den Gelüsten ihres Herzens (Ps 81,13).

124
2. Was läßt uns in der Sünde sterben?

(Der erste Grund ist) eine falsche Buße. Die falsche ist der echten
ähnlich. Schierling und Petersilie. Damit ihr sie vermeidet, will ich
euch zwei Kennzeichen nennen: a) Sie muß vollständig sein: Bekehrt
euch zu mir von ganzem Herzen (Ps 119,10). Von ganzem Herzen habe
ich (zu dir) gerufen (Ps 119,145). Dieser Bedingung entspricht nicht:
1) Michal (1 Sam 19); 2) ebenso nicht jene, die (an der Sünde) festhal-
ten. Zefanja (1,5): Die bei Gott schwören und bei Milkom. Dagon und
die Bundeslade (1 Sam 5,2). Der Wasseradler (Plinius). – b) Sie muß
von Dauer sein, ohne Rückfall: Ich habe es geschworen und gehalten
(Ps 119,106). Ich werde Gott allezeit preisen (Ps 33,1).* Meine Sünde
steht mir immer vor Augen; wasche mich noch reiner (Ps 50,5.4). Lots
Frau (Gen 19,26).
Der zweite Grund ist die falsche Furcht vor der Härte der Buße;
falsch, denn der Sünder freut sich und ist traurig, wie der Affe über die
Nuß. Die Bienen holen den Honig vor allem aus dem Thymian. Sieh,
ich muß sterben; was nützt mir das Erstgeburtsrecht? (Gen 25,32).
Nach der Zahl der Schmerzen in meinem Herzen erfreuen deine Trö-
stungen meine Seele (Ps 94,19). Mild und gerecht ist der Herr (Ps 25,8).
Wie gut (ist er) Israel (Ps 73,1). Wie süß für meinen Gaumen (Ps
119,103).

* Eine dritte Bedingung für die echte Buße war hier angegeben mit den Worten
„rechte Absicht“; der Autor hat sie im Manuskript offenbar selbst gestrichen.

125
Zum Mittwoch der 2. FFastenwoche
astenwoche

Nr. 69 (Entwurf): 17. März 1604 VIII,9-11

Zu meiner Rechten sitzen ... (Mt 20,23).

Erstaunliche Einfalt des Ehrgeizes! Der Herr spricht von der Passion,
und sie tritt an ihn heran. Musik in der Trauer ist ein Geschwätz zur
Unzeit (Sir 22,6).
Ich muß mit dem Schluß beginnen: Es ist nicht meine Sache, es euch
zu gewähren; nicht als Mensch, denn es ist Sache Gottes (Augustinus).
Denn jetzt bin ich gekommen, um zum Kampf einzuladen (Ambrosi-
us). Euch, den Verwandten, den Bittenden, die ihr es noch nicht ver-
dient habt (Remigius: den Stolzen), sondern denen es bereitet ist, d. h.
die es wohl verdient haben. Er scheint nämlich darauf anzuspielen,
was er (Mt 25,34) sagen wird: Nehmt das Reich in Besitz, das euch
bereitet ist; denn ich war hungrig ... Ps 62,13: Du vergiltst alles nach
ihren Werken. Mt 16,27: Der Menschensohn wird in der Herrlichkeit des
Vaters kommen, dann wird er jedem vergelten. Röm 2,5f: Du häufst dir
Strafe für den Tag des Zornes an ... Gerechte ... der vergelten wird. Offb
22,12: Siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir, jedem zu vergel-
ten. 2 Kor 4,17: Unsere leichte augenblickliche Drangsal wirkt in uns
eine über die Maßen erhabene ewige Herrlichkeit.
Lk 17,10: Wenn ihr das alles getan habt, dann sagt: unnütze Knechte
sind wir. Ambrosius: von Natur aus. Denn alles, was wir haben, stammt
von Gott: das Nützlichsein kommt also von Gott. Der Purpur. Offb
21,15-17: Der mit mir sprach, hatte ein goldenes Meßrohr; das Maß des
Menschen, das ist das Maß der Engel. Beda: Für Gott, nicht für uns,
weil er unserer Güter nicht bedarf (Ps 76,2). Augustinus: Weil wir an
sich sein Eigentum sind, verdienen wir, daß Gott es so will.
Chrysostomus: Sprecht; aber nicht ich will sprechen, denn wohlan du
guter und getreuer Knecht (Mt 25,21.23). Beda: Wir haben weniger
verdient, als wir empfangen werden; über Verdienst. Bernhard sagt
himmlisch im Buch über Gebot und Vergeltung: „Ich habe nicht ge-
stohlen. Du wirst nicht eine Speise der Raben am Kreuz.“ Bersabee,
Adonis, Abischag.
Ehrgeiz ist der Affe der Demut. Der Taurus, ein ganz kleiner Vogel,
äfft den Stier (griechisch: tauros) nach. Demokrates. Der Dichter Accius
und die Statue. Der Zyniker Anthistenes. Das Krokodil. Bäume, die
ihre Blätter verändern. Das Chamäleon. Agrippina.

126
Über die heilige Kommunion

Nr. 70 (Entwurf): 1604* VIII,12-14

Vorbereitung: Die Absicht: gehorchen, sich mit Gott und dem Näch-
sten vereinigen.
Das Verlangen: um zu gehorchen, aus Liebe, um der Ehre willen, aus
Bedürftigkeit.
Aufmerksamkeit auf das Geheimnis; darauf, was es darstellt, und
auf seine Wirkungen.
Übung: Liebe, Kräftigung, Gebete.
– – – Naaman (2 Kön 5,13): Wenn er dir etwas Schwieriges aufgetra-
gen hätte ...
Um sich mit Gott zu vereinigen. Er bleibt in mir und ich in ihm (Joh
6,56). Es gibt keine engere Vereinigung als die mit der Speise. Zwei
werden in einem Fleisch sein (Gen 2,24). Deshalb wird die Seligkeit
mit dem Mahl und dem Essen verglichen. Ijob (31,31): Wer wird uns
von seinem Fleisch geben, daß wir gesättigt werden? Die Braut (Hld
1,12): Wie ein Myrrhenstrauß ist mir mein Geliebter, an meinem Busen
wird er ruhen. Wie treffend können wir das sagen! Der Arme hatte ein
einziges Lämmlein; er hatte es gekauft und aufgezogen; es fraß von
seinem Brot, trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß (2
Sam 12,3). Vergleich vom Wachs; Cyrillus. Sauerteig; Cyrillus,
Cyprian: Pflaster.
Mit dem Nächsten (vereinigen). Wir alle sind ein Leib, da wir an dem
einen Brot teilhaben (Röm 12,5; 1 Kor 10,17), und an dem einen Kelch.
Hier die Geschichte von David und dem Lämmlein. Wie die Blüten
einem Baum angehören, die Edelsteine zu einer Krone. Daher sind
wir alle Blutsverwandte, weil wir von einem Leib und einem Blut ge-
nährt werden zum ewigen Leben.
– – – Belschazzar und die heiligen Gefäße (Dan 5,2-4).
Mit der Passion (vereinigen): Sooft ihr dies tut, verkündet ihr den
Tod des Herrn, bis er wiederkommt (1 Kor 11,26). In der Wüste fiel das
Manna, und dieses Manna wurde in einem goldenen Gefäß aufbewahrt.
Bei ihm befand sich der Stab Aarons (das Kreuz) und die Gesetzes-
tafeln (Hebr 9,4). Deshalb setzte sich Elija unter den Ginsterstrauch
(1 Kön 19,4-8). Deshalb wird Ex 12,2f angeordnet: Wenn sie euch

* Vermutlich hat Franz von Sales diese Predigt während seines Aufenthalts in
Dijon in der Fastenzeit 1604 jenem Kreis frommer Damen gehalten, die sich
unter seine Leitung stellten.

127
fragen ... das Osterlamm. Ich habe Myrrhe mit meiner Milch gemischt
(Hld 5,1).
Mit dem Himmel (vereinigen): Ich habe mich darüber gefreut, was
man mir sagte (Ps 122,1). Joh 6,52: Er wird leben in Ewigkeit. Der sich
uns verborgen im Manna schenkt, ... wird uns das Übrige hernach of-
fenkundig schenken. Als Jonatan vom Honig aß, wurden seine Augen
geöffnet (1 Sam 14,27). Lk 24,35: Sie erkannten ihn am Brotbrechen.
– – – Hld 8,6: Lege mich wie ein Siegel ... Hld 2,16: Mein Vielgelieb-
ter ist mein ... Lea (Gen 29,32): Nun wird mein Gemahl mich liebgewin-
nen.
Kräftigung: Wenn der Elefant Blut sieht, sammelt er seine Lebens-
geister. Elija (1 Kön 19,7): Du hast einen weiten Weg vor dir. Ps 104,15:
Das Brot stärkt das Herz des Menschen. Ps 23,4: Ich fürchte kein Un-
heil, denn du bist bei mir. Wenn du mit mir kommst, will ich gehen:
Barak und Debora (Ri 4,8).
Gebete: Die Molosser (Plutarch). Ps 134,10: Schau auf das Ange-
sicht deines Gesalbten. Moly dodecatheon, in Wasser gelöst getrun-
ken, heilt alle Krankheiten; es ist aber schwer zu finden (Plinius).

Zum PPassionssonntag
assionssonntag

Nr. 71 (Entwurf): Chambery, 12. März 1606 VIII,15-19


Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen? Wenn
ich euch die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?
Wer aus Gott ist, hört auf das Wort Gottes: deshalb
hört ihr nicht darauf, weil ihr nicht aus Gott seid (Joh
8,46f).

Zu Beginn wird die Geschichte der Stadt Jericho (nach Josua, 6.


Kapitel) vorgetragen; sie wurde von den Priestern erobert, die unter
Posaunenschall die Bundeslade trugen. Die Bundeslade tragen heißt,
das Gesetz erfüllen, nach dem Schriftwort (Mt 1,30): Mein Joch ist
mild und meine Bürde ist leicht. Mt 23,4: Sie wollen aber keinen Finger
dafür rühren. Die Posaune ist das Wort Gottes. Nun schickt Christus
sich an, das Jericho dieser Mond-Stadt Welt zu erobern, und zeigt wie
ein zweiter Josua, daß er die Bundeslade getragen und das Gesetz er-
füllt hat: Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen? Er zeigt auch,
daß er gepredigt und die Posaune des Gotteswortes geblasen hat: Wenn
ich euch die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht? Es steht nichts

128
im Wege, daß ihr glaubt, denn ich sage die Wahrheit, und ihr werdet in
meinem Leben keinen Widerspruch zu ihr finden. In der Musik macht
der Meister manchmal einen Fehler, wenn er zwar richtig singt, aber
den Takt falsch angibt. Ich aber, sagt der Herr, singe richtig und gebe
den Takt besser: Warum also glauben sie nicht, wenn ich die Wahrheit
sage?
Allerdings, Herr, gerade weil du die Wahrheit sprichst, kann deine
Lehre nicht aufgenommen werden. Klgl 2,14: Deine Propheten hatten
falsche und törichte Visionen über dich; sie deckten nicht deine Sünd-
haftigkeit auf, um dich zur Buße aufzufordern. Das wäre aber ange-
bracht gewesen. Ez 4,1f: Menschensohn, nimm dir einen Ziegelstein,
leg ihn vor dich hin und zeichne darauf die Stadt Jerusalem. Ordne
gegen sie eine Belagerung an, bau Befestigungen und errichte einen Wall;
errichte ein Heerlager gegen sie und stell ringsum Sturmböcke auf. Der
Ziegelstein ist das Herz des Menschen, denn es ist aus Erde gebildet
(Weish 15,10). Jerusalem ist die Zierde und die Würde der Seele und
des Ebenbildes Gottes, des Glaubens und der Gaben Gottes. Christus
erkennen, Christ sein. Ordne eine Belagerung an. Das geschieht, wenn
man dem Menschen zeigt, wie viele Laster, Sünden und Verbrechen
ihn belagern. Was aber ist die Wirkung? Sie verhärteten sich. So ver-
härteten sie sich hier und hoben Steine auf (Joh 8,59). Vorzüglich ist
die Geschichte von Secharja, dem Sohn des Priesters Jojada, der von
Joasch und dem Volk getötet wurde (2 Chr 24,20-22; Mt 23,35). Siehe
auch die Geschichte vom Sieg der Wahrheit (3. Esra 3 u. 4); Serubbabel:
Die Wahrheit siegt und wird siegen.
Nachdem er alle Entschuldigungen zurückgewiesen hat, gibt (Chris-
tus) den Grund an, warum sie nicht auf ihn hören: Wer aus Gott ist,
hört das Wort Gottes. Es ist ein Zeichen der Auserwählung und dafür,
daß wir Kinder Gottes sind, wenn wir sein Wort hören. Wenn die Kin-
der spielen und der Vater eines von ihnen nur mit leiser Stimme ruft,
versteht es das Kind, ohne daß die anderen es merken. Apg 2,8: Wieso
hören wir sie jeder in seiner Muttersprache reden? Jeder hört in seiner
Sprache reden: der Weltmensch hört die Sprache der Welt, den Hoch-
mut; der fleischliche Mensch hört die Sprache des Fleisches, die Be-
gierde; der teuflische Mensch hört die Sprache des Teufels, Streitig-
keiten. Die blökenden Mutterschafe werden von den Lämmern gehört,
die Rebhühner von den jungen Rebhühnern.
Nun werdet ihr sagen: Wir hören ja. Auch die hier Getadelten hör-
ten. Man nennt es aber nicht hören, wenn einer nicht gehorcht. Jak
1,22: Seid Vollbringer des Wortes, nicht nur Hörer, die sich selbst täu-
schen. Gen 11,7: Laßt uns hinabsteigen und ihre Sprache verwirren,

129
daß einer des anderen Stimme nicht mehr hört. Daß er sie nicht hört,
heißt „nicht versteht“. Woran erkennt ihr, daß jemand taub ist? Doch
daran, daß Worte ihn nicht bewegen. Elieser gab der Rebekka am Brun-
nen Ohrgehänge im Gewicht von zwei Schekeln und Armspangen von
zehn Schekeln (Gen 24, 22).
Der Hauptgrund aber, warum sie nicht hören, ist der Haß, der böse
Wille, wie wir hier sehen. Der Zorn verschließt den Geist. Die Wut ist
für sie wie die einer tauben Natter (Ps 58,5). Sie hielten sich die Ohren
zu und stürmten einmütig auf ihn ein (Apg 7,56).
Die Juden erwiderten ihm und sagten: Sagen wir nicht mit Recht, daß
du ein Samariter bist und einen bösen Geist hast? (Joh 8,48). Das sind
Reden des Teufels, d. h. Gotteslästerungen, Reden der Hölle. (Jesus
sagte nichts zum „Samariter“, weil das offenkundig war.) Er sagte: Ich
habe keinen bösen Geist, sondern ehre meinen Vater; ihr aber entehrt
ihn. Ich suche nicht meine Ehre; es gibt aber einen, der sie sucht und
richtet. Amen, amen, ich sage euch: wenn einer mein Wort bewahrt,
wird er den Tod in Ewigkeit nicht schauen (Joh 8,49-51). Es bewahren
wie die seligste Jungfrau (Lk 11,28); es hüten wie David (Ps 119). Da
sagten die Juden: Nun erkennen wir, daß du einen bösen Geist hast.
Abraham ist gestorben und die Propheten sind gestorben; was machst
du aus dir selbst? Jesus antwortete: Wenn ich mich selbst rühme, ist
meine Ehre nichtig; mein Vater ist es ... (Joh 8,52-54).
Dtn 4,29: Wenn du den Herrn suchst, wirst du ihn finden, allerdings
nur, wenn du ihn von ganzem Herzen mit aller Kraft deiner Seele suchst.
Joel 2,13: Zerreißt eure Herzen. Ps 51,19: Ein Opfer für Gott ist ein
zerknirschter Geist und ein reuevolles Herz ... Ps 4,5: Bereut auf eurem
Lager. Ps 51,5: Meine Sünde steht mir stets vor Augen. Jona 3,8: Der
Mensch wende sich von seinem bösen Weg ab. Ps 50,11: Wende dein
Angesicht ab von meinen Sünden. 2 Sam 24,10.17: David aber klagte
sein Herz an und sagte: Mit dieser Tat habe ich schwer gesündigt; ich
bitte dich, deine Hand wende sich gegen mich. Jer 2,27: Sie kehrte mir
den Rücken zu, nicht das Gesicht. Gen 4,16: Er floh vor dem Angesicht
des Herrn. Klgl 4,8: (Ihr Gesicht) wurde schwärzer als Kohle.

130
Zum FFest
est Christi Himmelfahr
Himmelfahrtt
Nr. 72 (Entwurf): Thonon, 24. Mai 1607 VIII, 20-25
Nachdem Jesus mit ihnen gesprochen hatte, wurde er
in den Himmel aufgenommen und sitzt zur Rechten
Gottes (Mk 16,19).

Als Elija entrückt wurde, bat ihn Elischa, daß ihm sein Geist dop-
pelt zuteil werde. Elija sagte zu ihm: Du verlangst etwas Großes; gleich-
wohl, wenn du mich auffahren siehst, wird es geschehen: wenn du nichts
siehst, wird es nicht geschehen (2 Kön 2,9f). Ebenso sicher wird uns,
meine Zuhörer, wenn wir Christus auffahren sehen, der überreiche
Schatz seiner Gaben zuteil werden. Sehen wir ihn also mit den Augen
des Geistes in den Himmel auffahren. Damit aber die Augen nicht
geblendet werden und erblinden, laßt uns von Gott die Gnade erbit-
ten, daß er sich zeige, durch die Fürsprache derjenigen, durch die er
uns sichtbar wurde.
Schön früher, als Christus seinen Jüngern verheißen hat, daß er ih-
nen sein Fleisch, sich selbst als das lebendige Brot vom Himmel geben
werde, schien ihnen das hart. Deshalb sagten sie: Wie kann das gesche-
hen? Und: Diese Rede ist hart. Und sie murrten. Christus aber wußte
... Ihr nehmt daran Anstoß? Wenn ihr aber den Menschensohn dahin
auffahren sehen werdet, wo er zuvor war? (Joh 6,53-63). Er sah näm-
lich voraus, daß von der Himmelfahrt Christi viele eine Ablehnung
des Sakramentes der Eucharistie ableiten werden, wie es alle
Sakramentarier unserer Zeit tun. Vor allem will ich daher ihre Dor-
nen ausreißen und dann Blumen pflanzen.
Die Häretiker suchen gewöhnlich die Extreme. Die Kirche, sagt
Tertullian, ist wie Christus in allem stets inmitten von Räubern ge-
kreuzigt. Was z. B. die Heilige Schrift betrifft, wollen Schwenckfeld,
Quintinus und Chapinus nichts vom Wort wissen, sondern nur von der
Inspiration; die meisten anderen glauben der Kirche nichts und beru-
fen sich auf die Eingebung des Heiligen Geistes. In der heiligsten Drei-
faltigkeit lassen Servetus und Paulus von Samosata keine Unterschei-
dung der Personen zu. Valentinus Gentilis behauptet eine dreifache
Wesenheit. In Christus will Nestorius zwei Personen sehen, Eutyches
nur eine Natur. Was die Verehrung der seligsten Jungfrau betrifft,
wollen die Collyridianer sie durch Opfer anbeten, Copronymus hält
sie keiner Verehrung für würdig. Bezüglich der Buße hält Novatus
keine für ausreichend, Pelagius jede. Um auf unseren Gegenstand zu
kommen, behaupten in unserer Zeit bezüglich des Geheimnisses der

131
Eucharistie die Ubiquisten, daß Christus überall sei; andere sagen, er
sei nirgends in dieser Welt zu finden, sondern nur außerhalb der Welt
im Himmel; die einen sagen, er sei nicht aufgefahren, die anderen, er
sei nicht auf Erden geblieben.
Die katholische Kirche dagegen geht mitten durch sie hindurch (Lk
4,30), geht den Mittelweg und sagt weder, er sei überall, noch er sei
nirgends in der Welt; sie lehrt vielmehr, daß er im Sakrament des
Altares gegenwärtig ist, wo er es sein wollte. Warum? Weil er, der
beides konnte, das eine wie das andere gesagt hat. Er hat nicht etwas
gesagt und es nicht gewollt. Wenn die Häretiker unserer Zeit zwei
Wahrheiten in der Heiligen Schrift finden, von denen sie nicht begrei-
fen, wie sie gleichzeitig bestehen können, pflegen sie oft immer eine
durch die andere zu verwerfen, obwohl zwischen ihnen kein Gegen-
satz besteht. Ein Beispiel: Der Glaube rechtfertigt (Röm 4 u. 5; Gal
3); also, sagen sie, rechtfertigen die Werke nicht, obwohl es die Heili-
ge Schrift ganz klar von beiden sagt. Die Kirche lehrt nach Jakobus
(Kap 2): der Glaube und die Werke. Man muß am geschriebenen Wort
Gottes festhalten; also, sagen sie, muß man die Überlieferung verwer-
fen. Die Kirche sagt: Haltet fest an der Überlieferung, die ihr empfan-
gen habt, sei es durch die Predigt oder durch unseren Brief (2 Thess
2,14). Man muß seine Schuld vor Gott bekennen; also nicht vor den
Dienern Christi. Die Kirche sagt aber: sowohl vor Gott als auch vor
seinen Dienern. Und so ist es fast immer wie hier: Es ist ein Glaubens-
artikel: „aufgefahren in den Himmel“; also, sagen sie, ist er in der
Eucharistie nicht gegenwärtig. Die Kirche dagegen sagt: Er ist im Him-
mel und in der Eucharistie gegenwärtig. Der ganze Beweis für die Tat-
sächlichkeit ist die Allmacht dessen, der es bewirkt.
An dieser Klippe pflegt der menschliche Verstand sehr oft zu schei-
tern. Als Abraham hört, daß er als Greis einen Sohn als Erben bekom-
men soll, versteht er das so, daß Elizier gemeint sei (Gen 15,2f). Gott
hat einen Nachkommen verheißen (13,6); darunter versteht Abraham
den Sohn des Elieser. Gott kündigt einen Sohn von Sara an; da lacht
Abraham: Glaubst du, ein Hundertjähriger ...? (17,16f). Möge nur Ismael
am Leben bleiben (17,18). Auch Sara lacht (18,2). Gott ist größer als
unser Herz (1 Joh 3,20). Nachher glaubte Abraham gegen alle Hoff-
nung (Röm 4,18), als er Isaak opferte, über dessen Nachkommen-
schaft ihm eine so große Verheißung zuteil geworden war.
Niemand zweifelt mehr, daß Christus seine Himmelfahrt durch Zeu-
gen bestätigt hat; seine Gegenwart in der Eucharistie wollen wir nun
kurz aus der Heiligen Schrift beweisen. Er verheißt, er bewirkt, er
lehrt sie. Er belehrt den hl. Paulus: Denn ich habe vom Herrn empfan-

132
gen ... In der Nacht, da er verraten wurde ..., nahm er das Brot (1 Kor
11,23). Er verwandelte in seinen Leib, was früher Brot war; wie das
Wasser in Wein (Joh 2,9), wie die Rippe Adams in Eva (Gen 2,7.21f).
Manna? Was ist das? Das ist das Brot, das der Herr als Speise gegeben
hat (Ex 16,15). Die Israeliten glaubten; sie sagten nicht: es hat nicht
die Gestalt des Brotes, sondern von Koriander oder von Rauhreif;
vielmehr sammelten es alle. Nun aber sagt Christus: Das ist mein Leib
(1 Kor 11, 24); was zweifelst du? Ohne Zweifel ist es der Leib Christi.
Das Manna fiel in der Nacht, damit die Israeliten nicht sahen, wie es
geschah, sondern an das Geschehene glaubten. Glaub an die Tatsache,
ohne zu forschen, wie es geschah.
Ferner berief sich auch Chrysostomus vor 1300 Jahren auf dieses
Wunder (De Sacerdotibus III, § 4): „O Wunder“, sagt er, „o Güte
Gottes! Der mit dem Vater in der Höhe thront, wird gleichzeitig von
allen in Händen gehalten und überläßt sich selbst allen, die ihn auf-
nehmen und umfangen wollen.“ Und (Homil. 2 ad Antioch. § 9): „Elija
hinterläßt seinem Schüler den Mantel (2 Kön 2,13), der Sohn Gottes
hinterläßt bei der Himmelfahrt seinen Leib. Aber Elija hat sich ent-
blößt; Christus dagegen hat uns seinen Leib verborgen hinterlassen
und besitzt ihn zugleich selbst.“
Schließlich widerspricht die Himmelfahrt nicht nur nicht dem Glau-
bensartikel von der Eucharistie, sondern bekräftigt ihn. Denn seht doch,
welcher Leib: nicht mehr fleischlich sondern vergeistigt, der die Him-
mel durchdringt (1 Kor 15,44).
Nun denn, es ist etwas überaus Beglückendes, in rechter Weise so-
wohl das eine wie das andere zu glauben. Da aber heute das Fest des
zweiten ist, nämlich der Himmelfahrt, wollen wir darüber ein wenig
betrachten. Nachdem der Erlöser am Kreuz erhöht wurde, ist es gewiß
sehr angebracht, daß er in der Herrlichkeit erhöht wurde. Darin liegt
das letzte und vollendende Geheimnis der Erlösung: Er liebkose mich
mit dem Kuß seines Mundes ... Mein Vielgeliebter, flieh dem Reh und
dem jungen Hirsch gleich auf die Balsamberge (Hld 1,1; 8,14). Aber
warum nimmt er uns nicht mit? Der Magnet zieht das Eisen an, wenn
nicht ein Diamant, Fett oder Knoblauch zwischen ihnen liegt und es
verhindert. Phil 1,23: Nach beiden Seiten zieht es mich hin ...

133
Zum Fest der Unbefleckten Empfängnis

Nr. 74 (Entwurf): 8. Dezember 1608 VIII,28-31

Mein Geliebter ist mein und ich bin sein. Er weidet


unter Lilien, bis der Tag anbricht und die Schatten
weichen (Hld 2,16f).

Die große Liebe, die Unser Herr für Unsere liebe Frau hegt, durch
die er vollkommen der Ihre wird, ist die Ursache, daß umgekehrt
Unsere liebe Frau ganz die Seine ist und folglich keine Sünde begehen
konnte. Die göttliche Majestät will, daß wir ihr ganz gehören. Ihr seht,
ich will eine Predigt ganz voll Liebe halten, aber ich kann das nicht,
wenn nicht der Heilige Geist, die himmlische Liebe, mich beseelt und
wenn mir diese Gnade nicht durch jene erwirkt wird, die von ihm
mehr Liebe empfangen hat als irgendein Geschöpf.
Alle Kirchenväter bestätigen, daß mit den Worten des Hoheliedes
die gegenseitige Liebe zwischen Bräutigam und Braut beschrieben
wird. Darin gibt es keine Schwierigkeit. Da ist die Liebe des Bräuti-
gams zur Braut: Mein Geliebter ist mein; und der Braut zum Bräuti-
gam: und ich bin sein. Da nun Christus der Bräutigam ist, laßt uns,
obwohl es nicht den geringsten Zweifel an seiner Liebe gibt, zu unse-
rem Trost die Erweise der Liebe Christi gegen seine Mutter sehen.
Das erste Zeichen der Liebe ist die affektive Einheit, d. h. die Ein-
heit des Willens. Daher sagt Christus (Joh 14,23): Wenn jemand mich
liebt, wird er mein Wort bewahren. 1 Joh 2,4: Wer sagt, er liebe Gott,
aber seine Gebote nicht hält, der ist ein Lügner. Apg 3,32: Sie waren ein
Herz und eine Seele. 1 Sam 18,1: Die Seele Jonatans war mit der Seele
Davids verschmolzen. Deshalb lobt Augustinus (Bekenntnisse 4,6) je-
nen, der vom Freund sagt, er sei „die Hälfte seiner Seele“; denn durch
die Zuneigung ist der Freund das zweite Ich. Ich kann mir aber nicht
versagen, zwei Dinge anzuführen: einerseits die Geschichte dieser
Freundschaft des Augustinus, andererseits den Widerruf jener Worte
im 6. Kapitel: „Der von der Hälfte sprach“, ist Horaz (Retract. II,6),
der von Vergil, als er zur See fuhr, sagte: „Achte auf die Seele, die die
Hälfte der meinen ist“ (Carm. I,3,8).
Wie aber ist Christus mit der Mutter eins geworden? Lk 2,51: Er war
ihnen untertan, um stets ihren Willen wie den der vielgeliebten Braut
zu erfüllen. Sie war umgekehrt Christus aufs engste verbunden: Lege
mich wie ein Siegel auf dein Herz (Hld 8,6). Ich schlafe, aber mein Herz
wacht (5,2). Das gilt vom Herzen der seligsten Jungfrau für Christus;

134
ebenso das andere (Lk 2,35): Deine Seele wird das Schwert des Schmer-
zes durchbohren. Hugo versteht darunter die Seele Christi, die die
Seele Marias ist; daher steht sie beim Kreuz, an Gitter gebunden ... wie
eine Lilie unter Dornen (Hld 7,6; 2,2).
Das zweite Zeichen der Liebe ist das innigste Anhangen, entspre-
chend dem Philipperbrief (1,7): Weil ich euch in meinem Herzen trage.
Die Seele Jonatans war verschmolzen. Ps 63,9: Meine Seele haftet an
dir. Ps 73,28: Es ist gut für mich, Gott anzuhangen. So war die Liebe
zwischen Noomi und Rut (1,14-18). Daher war die Vereinigung Chri-
sti mit der seligsten Jungfrau die innigste überhaupt, folglich auch die
der seligsten Jungfrau mit Christus. Daher gilt von ihr: Mein Geliebter
ist mein. Hld 3,2: Ich will ihn suchen, den meine Seele liebt. Röm 8,35:
Wer wird uns trennen von der Liebe Christi? Gal 2,19: Mit Christus bin
ich ans Kreuz geheftet.
Das dritte Zeichen ist die Ekstase oder Entrückung. Dionysius
Areopagita sagt, daß Christus in Ekstase geriet, als er in den Schoß der
Jungfrau kam. Sir 24,3: Ich bin aus dem Mund des Allerhöchsten her-
vorgegangen vor aller Schöpfung. Umgekehrt geriet auch die seligste
Jungfrau außer sich. Phil 1,21: Für mich bedeutet leben Christus, ster-
ben ist mir Gewinn. Gal 2,20: Ich lebe, aber nicht mehr ich. Darauf
bezieht sich Hugos Gedanke.
Das vierte Zeichen ist der Eifer, von dem es zwei Arten gibt: den
Eifer des Begehrens, z. B. jener, die nach Würden streben; da er sich
auf ein begrenztes Gut richtet, heißt er Neid. Der Eifer der Freund-
schaft hält das Böse vom Freund fern. Diesen Eifer besaß die seligste
Jungfrau im höchsten Grad; für das Haus Gottes. 2 Kor 11,29: Wer
nimmt Anstoß, ohne daß ich entbrenne? Der Eifer Christi für die seligste
Jungfrau. Hld 8,6: Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz. Hld 4,12:
Der verschlossene Garten. Hld 2,15f: Fangt die kleinen Füchse, die den
Weinberg verwüsten, denn mein Weinberg blüht bereits. Mein Geliebter
ist mein.

135
Zum Aschermittwoch

Nr. 78: Annecy, 4. März 1609 VIII,43-58

Sammelt euch Schätze im Himmel (Mt 6,20). Beden-


ke, o Mensch, daß du Staub bist und zum Staub zu-
rückkehren wirst (Gen 3,19).

Hld 2,11: Schon ist der Winter gewichen, der Regen hat aufgehört
und ist vorüber; jener fleischliche Winter, der die Seelen verroht, der
alle geistliche Schönheit der Erde und der Seelen verblassen ließ und
die Regungen der Herzen lähmte, der den nassen, unheilvollen Regen
schimpflicher Vergnügungen hervorbrachte. Weichen und aufhören
soll diese Zeit des Fleisches; vergehen sollen diese Tage und nicht
mehr den Jahren zugerechnet werden; sie sollen ewiger Vergessenheit
verfallen (Ijob 3,3.6). Komm, ja komm, günstige Zeit (Koh 6,4);
kommt, ja kommt, Tage des Heiles (2 Kor 6,2); eure Augenblicke
mögen zu Stunden werden, die Stunden zu Tagen, die Tage zu Wochen,
die Wochen zu Monaten, die Monate zu Jahren, die Jahre zu Jahrhun-
derten und die Jahrhunderte zu dauernder Ewigkeit (Dan 12,3). Wenn
auch die quakenden Frösche sich in den Sümpfen des Regens und
dieser trüben Zeit erfreuten, so beglückwünschen doch die himmli-
sche Nachtigal und die Turteltaube einander ob der Zeit der trockenen
Fasten und der hellen Buße; sie erfreuen uns mit ihrem Gesang, ver-
bunden mit den lieblichsten Stimmen der Buße und der Hoffnung.
Hören wir Christus als Nachtigal singen: Sammelt euch Schätze ...
Hören wir die Stimme der Kirche, der Turteltaube auf unserer Erde
(Hld 2,12): Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und zum Staub zu-
rückkehren wirst. Das sind die einleitenden Gesänge der ganzen Fa-
stenzeit; das sind die beiden Enden des Weges der Bußfertigen: der
Ausgangspunkt von der Asche, der Zielpunkt, zum Himmel; von der
Armseligkeit zu den Schätzen. Von diesen beiden soll die erste Pre-
digt handeln, von den Mitteln die übrigen.
Sieh mich, Herr: Ich bekenne vor dir, Vater, Herr des Himmels und
der Erde (Mt 11,25): Staub bin ich und Asche (Gen 18,27), und will
dennoch Schätze sammeln von den Reichtümern deines Wortes; nicht
nur für mich, sondern auch für meine vielgeliebten Kinder. „Was soll
ich Armer tun?“ In mir sind alle Reichtümer des Elends und der Nied-
rigkeit verborgen, ja auch offenkundig; in dir aber sind alle Schätze
der Weisheit und der Wissenschaft verborgen (Kol 2,3), wenn auch jetzt

136
nicht offenbar. Aber die Schätze meines Elends sind in der Erde ver-
graben, die deinen sind im Himmel; und soweit der Himmel von der
Erde entfernt ist, so fern sind deine Gedanken meinen Gedanken (Ps
103,11; Jes 55,9). Wie soll also der Mensch, d. h. meine Armseligkeit,
Zugang finden zum erhabenen Herzen (Ps 64,7), d. h. zu deinen rei-
chen Schätzen? Wie soll ich von Staub und Asche zum Himmel gelan-
gen? Wohlan denn, meine Fürsprecherin, Himmelsleiter, Gottesberg,
Mittlerin, durch die Gott zu meiner Armseligkeit kommt, erwirke
mir, daß meine Armseligkeit vor Gott hintritt. Meine teuerste Mutter
und Herrin, sage mir, ob jene Schätze der Weisheit und Wissenschaft
nicht im Wort Gottes, im Sohn Gottes erstrahlten, ehe du ihn in dei-
nem Schoß empfangen hast? Du aber, verehrungswürdigste Herrin,
hast diese Schätze in deinem Leib bedeckt und verborgen; in ihm sind
sie ja verborgen. Wer verbirgt sie demnach? Nicht du, heilige Jung-
frau? Doch sage mir, gütigste Mutter, für wen verbergen denn die Müt-
ter die Schätze, wenn nicht für ihre Kinder? Also hast du sie für uns
verborgen. Doch breite nun aus, was du verborgen hast, da dein Sohn,
vom Übermaß des Reichtums seiner Schätze erfüllt, gleichsam über-
fließt und ausruft: Sammelt euch Schätze im Himmel.
Herr, im Himmel gibt es nur Schätze der Weisheit, der Wissenschaft
und der Güte. Du aber hast sie alle, denn alle sind in dir. Wieso sagst
du dann: sammelt Schätze. Gib du selbst uns Schätze, und wir werden
reich sein. Da deine Mutter sie gleichsam als Schatzmeisterin verbor-
gen hat, befiehl, daß sie uns diese eröffne. Gütige Mutter, öffne uns,
was du verborgen hast. Doch wenn wir Reichtümer gesammelt haben,
verbirg diese Schätze wieder in uns, wie du sie in deinem Sohn verbor-
gen hast. Du hast die Reichtümer des Sohnes unter der Niedrigkeit des
sterblichen Leibes verborgen; in uns seien sie verborgen im Gedanken
an den Tod und das Ende. Demütigste Herrin, lehre uns die Demut.
Herr, Gott, bedenke, daß wir Staub sind und zum Staub zurückkehren
werden. Willst du deine Macht zeigen am Staub, den der Wind des
Todes vom Angesicht der Erde fegt, und willst du einen trockenen Stroh-
halm verfolgen? (Ps 1,5; Joh 13,25). Herr, vergib uns, und wir werden
Buße tun. Gewähre uns vierzig Tage, und wenn wir nicht Buße tun,
dann vernichte uns (Jona 3,4). Ja, Herr, im Eifer für deine Liebe will
ich sprechen: Wie du gütig denen verzeihst, die Buße tun wollen, so
gebe ich zu, daß du jenen nicht vergibst, die deiner spotten, Herr, und
deine Barmherzigkeit mißbrauchen.
Ja, meine Brüder, wir sterben; das Reich Gottes naht immer mehr
und durch die Buße werden unvergängliche Schätze erworben. Be-
kehrt euch daher und tut Buße (Joel 2,12f; Mt 3,2). Den Unbußferti-

137
gen droht ja die Strafe der Hölle, den Bußfertigen gehört das Himmel-
reich. Du aber, Herr, Vater, Sohn und Heiliger Geist, gib uns allen
deinen Segen.
Um Holofernes zu töten, teuerste Brüder, machte sich die keusche
Judit in zwei gegensätzlichen Gewändern bereit; denn zuerst trug sie
ein Bußgewand und bedeckte sich mit Asche, dann legte sie die besten
Kleider an und all ihren Schmuck (Jdt 9,1; 10,3). Um Holofernes zu
besiegen, d. h. den Teufel mit all seinen Kriegern, der Welt, dem Fleisch
und ihren Lockungen, müssen auch wir zweierlei tun, meine Brüder:
1. uns mit Sack und Asche bedecken, den Leib unterjochen, das Fleisch
abtöten: Bedenke, Mensch ... Bekehrt euch zu mir in Fasten, Weinen
und Wehklagen (Joel 2,12). 2. müssen wir die Seele mit allem Ge-
schmeide schmücken: Sammelt euch Schätze. Weil aber die Seele
wertvoller ist und die körperliche Übung der Schönheit der Seele dient,
wollen wir zunächst vom Schätzesammeln sprechen.
Als Schatz bezeichnet man „in alter Zeit hinterlegtes Geld, an das
sich niemand erinnert, so daß es keinen Eigentümer hat.“ Andere, wie
Kaiser Leo (bei Hilaret) „bewegliche Güter, die von Unbekannten in
alter Zeit versteckt wurden“. Augustinus (bei Thomas) meint dassel-
be, ohne vom Alter der Zeit zu sprechen; er sagt aber, der Schatz
bestehe entweder aus Geld, das dem Grünspan, aus Kleidern, die den
Motten, oder aus Edelsteinen, die Räubern zum Opfer gefallen sind.
In der Heiligen Schrift scheint das Wort Schätze sammeln dreierlei zu
enthalten 1. das Sammeln (anhäufen), 2. von kostbaren Dingen, 3. die
verborgen sind. So heißt es in Ex (28,12): Der Herr wird dir seinen
besten Schatz öffnen, den Himmel. um dir zur rechten Zeit Regen zu
gewähren. Im Himmel wird ja das Regenwasser gesammelt, das zu
seiner Zeit kostbar ist, und in den Wolken verborgen. Num 20,6: Herr,
öffne ihnen deinen Reichtum, die Quelle lebendigen Wassers. Ps 33,7:
Er verschließt die Abgründe in den Schätzen. Ps 135,7: Er bringt aus
seinem Schatz die Winde hervor. Dagegen wird auch die Anhäufung
außergewöhnlicher Strafen ein Schatz genannt. Röm 2,5: Du häufst
dir Zorn für den Tag des Gerichtes an. Dtn 32,33f: Drachengalle ist ihr
Wein und unheilbares Gift. Ist das nicht bei mir verborgen und versiegelt
in meinen Schätzen?
Was drückt nun der Herr damit aus? Offenbar spricht er von Fasten,
Gebet und Almosen, von denen das ganze 6. Kapitel handelt; ihre
Werke nennt er echte Schätze, wenn sie recht geschehen. Damit aber
diese Werke zu Recht Schätze genannt werden können, müssen gleich-

138
zeitig drei Bedingungen erfüllt sein. 1. müssen viele gesammelt wer-
den; niemand wird ja ein Goldstück einen Schatz nennen. Das zeigt er
mit den Worten: Sammelt euch Schätze. Obwohl das ein Hebraismus
ist, bezeichnet es doch eine große Menge: voll Erwartung erwarten,
Tränen weinen, schreiend rufen, das bedeutet „viel“. So heißt Schätze
sammeln, ungeheure Schätze anhäufen. Diese Habsucht der Kinder
Gottes ist heilig, weil sie nie genug bekommen an guten Werken. Da-
her werden in der Heiligen Schrift die Armen und die Bettler fromm
genannt, denn obwohl sie gute Werke im Überfluß haben, betteln sie
doch immer. Ps 10,17: Das Verlangen der Armen (hat der Herr erhört).
Ps 22,27: Die Armen werden essen und gesättigt werden. Mt 5,3: Selig
die Armen im Geiste (griechisch Bettler; so Sa nach Maldonat). Mt
5,6: Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, d. h. die heilig
sind, die stets danach streben. Leib und Geist sind Gegensätze, daher
fast alles, was sie betrifft. Die äußere Habsucht ist die Wurzel aller Übel
(1 Tim 6,10), die geistliche Habsucht die alles Guten. Die mich ko-
sten, werden noch hungern, die mich trinken, werden noch dürsten (Sir
24,28). Es gibt manche Christen, die sich mit einem noch so kleinen
guten Werk begnügen; sei es, daß sie ein Vaterunser beten, einen Bis-
sen Brot schenken, ein kleines Unrecht verzeihen, sie werden nie Schät-
ze sammeln.
Wer aber sammeln will, muß auch das Kleinste beachten, Neues und
Altes (Mt 23,52), im Kleinen treu sein (25,21), nichts geringachten; er
wird seine Hand an Großes legen (Spr 31,19), an das Geschäft, und die
Spindel ergreifen. Ihr seht die Bienen sich auf Rosen, Lilien und die
größten Blumen niederlassen; sie sammeln den Honig aber ebenso
aus Thymian, Rosmarin und anderen ganz kleinen Blumen, die aber
nützlicher sind wegen ihrer Menge und weil der Honig in ihren engen
Gefäßen besser geborgen ist und weniger verdunstet. Was sollt ihr
demnach tun? Hört in dieser Fastenzeit das Wort Gottes, genießt es in
der Eucharistie, fastet, gebt Almosen, besucht die Armen: das sind die
großen Werke. Und was sind die kleinen? Enthaltet euch des Vergnü-
gens unnützer Unterhaltungen, überflüssigen Schmuckes; beherrscht
die geringsten Leidenschaften; verrichtet oft kleine aber sehr häufige
Stoßgebete, sagt ein gutes Wort, demütigt euch, usw.
2. Es müssen kostbare Dinge gesammelt werden; denn wer gewöhn-
liches Metall sammelt, wird weniger einen Schatz sammeln als irgend-
einen Haufen. Es gibt ein Herrenwort: „Seid tüchtige Geldwechsler“
(bei Cassian, Coll. 1, c. 20, der die Stelle bewundernswert auslegt).
Das zeigt der Herr mit den Worten (Mt 6,16): Wenn ihr fastet, macht
nicht wie die Heuchler ein finsteres Gesicht, um von den Menschen

139
gesehen zu werden. Das ist ein Fasten, aber ein falsches, wertloses und
nichtiges: 1) weil er ein Heuchler ist; 2) weil es geschieht, um von den
Menschen gesehen zu werden. Dieses Fasten ist ein Schatten des Hun-
gers, weiter nichts. Amen, ich sage euch, sie haben ihren Lohn empfan-
gen, d. h. (den Lohn ihrer) Eitelkeit. Ps 4,3: Wozu liebt ihr die Eitelkeit?
Eitle Werke erhalten als Lohn Eitelkeit.
Du willst fragen: Wie soll ich fasten? 1. Du aber, der du kein Heuch-
ler bist, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht (Mt 6,17). Hierony-
mus: Er spricht nach dem Brauch des jüdischen Volkes; denn an Fest-
tagen und bei Gelagen salbten sie das Haupt und wuschen das Gesicht.
Zeigt euch festtäglich, setzt eure Feiertagsmiene auf. Chrysostomus
sagt: das Haupt ist Christus; wir salben es durch Barmherzigkeit ge-
gen die Armen, etc. Wasche das Gesicht, d. h. das Gewissen.
Augustinus: Salbe das Haupt, d. h. den Geist, den höheren Teil der
Seele, in geistlicher Freude; wasche das Gesicht, d. h. die niedere See-
le, die durch die Sinne wirkt. Daher sagt Bernhard: „Wenn nur die
Kehle gesündigt hat, soll sie allein fasten; haben aber auch die anderen
Glieder gesündigt, warum sollen sie nicht ebenfalls fasten?“ (siehe die
Stelle zum Wort Fasten). – 2. Wascht euch, seid rein, entfernt das Übel
aus euren Gedanken (Jes 1,16). Wasche dein Herz von Bosheit rein,
Jerusalem (Jer 4,14). So zeige mir dein Gesicht, deine Stimme klinge an
mein Ohr (Hld 2,14). So ist dein Gesicht schön und anmutig, klingt
auch deine Stimme angenehm. Sing mir kein Lied, ehe ich dich von
Angesicht gesehen habe. Gott schaute auf Abel und auf seine Gaben
(Gen 4,4). So wünsche ich also, daß ihr alle euch über diese Zeit des
vierzigtägigen Fastens freut und sogleich beichtet, damit eure Werke
aus Gold sind und geeignet, von ihnen Schätze zu sammeln.
3. Man muß seine Absicht ausrichten, denn von ihr hängt die Güte
des Werkes ab. Wenn auch die meisten meinen, so u. a. Suares, sie
müsse nicht notwendig ausdrücklich und aktuell sein, so ist es doch
sicherer und besser, eine ausdrückliche Absicht zu haben und die Augen
auf Gott zu richten. Ps 123,1f: Zu dir erhebe ich meine Augen, der du
im Himmel wohnst; wie die Augen der Sklaven auf die Hände ihrer
Herren gerichtet sind. Auf die Hände sind sie gerichtet, denn was die
Hände des Herrn anzeigen, suchen die Hände des Sklaven zu tun. Das
Auge aber mahnt, es zu tun. Hld 4,9: Mit einem deiner Augen hast du
mich verwundet. Daraus folgt: Laß die Menschen nicht merken, daß du
fastest, sondern deinen Vater, der im Verborgenen sieht; und dein Vater,
der im Verborgenen sieht, wird es dir vergelten (Mt 6,18). Er wird dir
vergelten, was du ihm zuliebe tust, doch nicht das gleiche, sondern

140
reichen Lohn. Die Insel Halones, die einst den Athenern gehörte, wur-
de von Räubern besetzt. Philipp von Mazedonien eroberte sie zurück.
Die Athener verlangten von ihm, daß er sie zurückgebe. Er versprach,
sie ihnen zu schenken, nicht zurückzugeben. Die Athener wollten sie
nicht als Geschenk, sondern zurückerstattet haben. Vergelten bedeu-
tet eine Verpflichtung; Gott hat sich allerdings zur Belohnung ver-
pflichtet. Daher heißt es Hebr 6,10: Gott ist nicht ungerecht, daß er
eurer Werke vergäße.
4. Um die Schätze besser zu verbergen, müssen wir sie mit der Asche
der Demut bedecken. Die Erze liegen unter trockener und unfruchtba-
rer Erde. „Bedenke, Mensch.“ Den Ausspruch Augustins vom Pelikan
(am Anfang der Rückseite) bringen. Den Vergleich vom Blutsauger
vortragen. Sir 24,19f: Auf den Plätzen verströmte ich den Duft wie von
Zimt und Balsam. Der beste Balsam sinkt zu Boden, das Olivenöl
schwimmt obenauf. Die Liebe bringt gute Werke hervor, die Demut
bewahrt sie. Die Bienen bereiten den Honig, und um ihn zu bewahren,
machen sie das Wachs. Sammelt Schätze im Himmel. Ermunterung.
Seht, der Winter ist gewichen, wie am Anfang.
Um die Motten und Schaben zu hindern, daß sie das Tuch zerstören,
muß man das Tuch mit Aluin bedecken, einer bitteren Pflanze wie der
Absinth, wenn es nicht eine Absinth-Art ist. Ebenso schützt eine Schlan-
genhaut, über die Kleider gebreitet, diese vor Motten und anderem
Ungeziefer. Die Haut der ersten Schlange ist der Tod, den sie uns
gebracht hat. Ebenso bedeutet die Haut der Schlange die Buße.*
Der hl. Augustinus zu Ps 102,7: Wie der Pelikan in der Wüste: „Man
sagt, diese Vögel töten ihre Jungen durch Hiebe ihres Schnabels und
betrauern sie dann drei Tage; schließlich verwundet sich die Mutter
selbst und besprengt sie mit ihrem Blut, durch das sie wieder lebendig
werden. Christus hat uns gegenüber väterliche Macht und mütterliche
Liebe, wie die Henne (Mt 23,37), die ihre Jungen mit Autorität sam-
melt und mit Liebe wärmt. So war Paulus Vater: Denn hättet ihr auch
zahllose Lehrer, so doch nicht viele Väter (1 Kor 4,15); er war ebenso
Mutter: Meine Kindlein, die ich von neuem gebäre (Gal 4,19). Wie
Christus uns mit seinem Blut Leben schenkt, ist klar; nicht dagegen,

* Die folgenden Seiten (von der Rückseite des Manuskripts dieser Predigt: VIII,
54-58) enthalten eine Materialsammlung zum Thema, die später ergänzt wurde.
Davon wird die in dieser Predigt verwendete Stelle von Augustinus wiedergege-
ben.

141
wie er uns mit seinen Mund tötet. Aber er tötet, wie er Paulus wie tot
zu Boden warf, und belebt, wie er ihn zu predigen sandte (Apg 9,4.15).
Christus tötet alle Sünder mit seinem Mund, da er sie tötet und in die
Unterwelt führt und dadurch zeigt, daß sie den ewigen Tod verdient
haben; die Reue ist gleichsam der Tod der sündigen Seele. Doch die er
des Todes würdig erweist, belebt er wieder durch das Verdienst seines
Blutes und führt sie zu neuem Leben. So tötet auch jetzt die Kirche:
„Bedenke, Mensch, daß du Staub bist.“ Dann belebt sie euch wieder:
Sammelt Schätze ...

Zum 1. Adventssonntag

I.

Nr. 80 (Zusammenfassung): 28. November 1610 VIII,62f

Hätten die Söhne Jakobs gewußt, daß Josef Vizekönig und ihr Rich-
ter sein wird, dann hätten sie ihn gewiß äußerst freundlich empfangen,
als er in Dotan zu ihnen kam (Gen 37,17). Seht, Christus kommt uns
suchen; die Kirche lädt uns ein, ihn gut zu empfangen: Es werden
Zeichen sein ... Wie nützlich ist die Gottesfurcht; wie richtig ist die
Furcht vor dem Gericht ...
Gottesfurcht. Ekkl 12,13: Fürchte Gott und halte seine Gebote, denn
das ist jedes Menschen Sache. Ps 111,10: Die Furcht des Herrn ist der
Anfang der Weisheit. Ps 112,1: Glücklich, wer den Herrn fürchtet; in
seinen Geboten ... Ps 128,1: Selig, die den Herrn fürchten, die wandeln
... Ps 115,11: Die den Herrn fürchten, hoffen auf ihn; ihr Helfer ... Jes
11, 2: Und der Geist der Furcht des Herrn wird ihn erfüllen. Hierony-
mus fragt, warum es nur von der Furcht heißt, daß er ihn mit ihr er-
füllt. Weil die Furcht allen notwendig ist, sagt er. Ihre reiche Quelle
mußte in dem sein, der sie allen mitteilen mußte; denn die Furcht
macht die Seele für die Liebe bereit, und wie Augustinus sagt, ist die
Furcht die Dienerin der Liebe, die ihr die Wohnung bereitet. Daher
sagt die seligste Jungfrau (Lk 1,50): Und sein Erbarmen gilt von Ge-
schlecht zu Geschlecht allen, die ihn fürchten.
Damit ihr eine so wichtige Sache recht versteht, müßt ihr wissen,
daß es zweierlei Furcht gibt, die menschliche und die göttliche; die
menschliche aber in zweifacher Weise: als bürgerliche oder morali-

142
sche und als weltliche. Moralisch fürchten wir die Richter, die nach
Paulus (Röm 13,4) nicht ohne Grund das Schwert tragen. Weltlich
Pilatus, Herodes, der hl. Petrus; im Gegensatz dazu die Märtyrer,
Susanna, Josef. Mt 10,28: Fürchtet nicht jene, die den Leib töten. Die
göttliche Furcht ist vierfältig: servil, die Sklaven. Ps 119,120: Durch-
dringe mein Fleisch mit deiner Furcht, denn ich bange vor deinen Urtei-
len. Augustinus unterscheidet sie in der Erklärung der Worte (Ps 149):
Um ihre Könige in Ketten zu legen und ihre Edlen in eiserne Bande, von
jenen, die goldene Ketten tragen, d. h. Bande der Liebe. Hos 11,4: Ich
will sie mit Banden Adams anziehen, mit Banden der Liebe.

II.

Nr. 82 (Fragment): 27. November 1611 VIII,68-71

Die Natur hat verschiedene Zeiten geschaffen und jeder einen be-
sonderen Charakter gegeben, so dem Winter die Kälte, dem Sommer
die Hitze, mäßige Wärme dem Herbst und dem Frühling. So feiert
auch die Kirche verschiedene Feste, etc.
Am vierten Schöpfungstag sprach Gott: Am Himmel sollen Leuch-
ten entstehen, sie sollen Tag und Nacht voneinander scheiden und sol-
len Zeichen der Zeiten, der Tage und Nächte sein, auf daß sie am Fir-
mament des Himmels leuchten und die Erde erhellen (Gen 1,14f).
Wenn sich bei einer öffentlichen und feierlichen Versammlung alle
entfernt haben, löschen die Diener die Lichter, die sie tragen, und man
geht durch das ganze Haus, um alle Fackeln löschen zu lassen. Wenn
das Ende der Welt kommt und alle Bewohner gestorben sind, wird
Gott ebenso die Lichter am Himmel ausgehen lassen: Die Sonne wird
verfinstert und der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben (Mt
24,29). Es wird nicht mehr notwendig sein, Tag und Nacht voneinan-
der zu scheiden, denn im Himmel wird für die Heiligen ewiger Tag
sein, für die anderen ewige Nacht. Es wird keine Zeichen mehr geben,
sondern die Wirklichkeit, keine Tage mehr, sondern die Ewigkeit. Der
Himmel bedarf nicht mehr der Sterne, denn die (Leiber der) Seligen
werden ihre Stelle einnehmen: Die Gerechten werden leuchten wie die
Sonne und wie strahlende Sterne in alle Ewigkeit (Mt 13,43; Dan 12,3).
Auch die Erde braucht nicht mehr erleuchtet zu werden, denn es wird
auf ihr keine Augen mehr geben, um sie zu sehen. Das sagt das Evange-
lium (Lk 21,25): Es werden Zeichen ... sein und auf Erden Drangsal
der Völker. O Gott, wie wunderbar ist der Anfang der Welt und mit

143
welcher Sorgfalt ordnet Gott alles an! Aber, o Gott, wie schrecklich
ist ihr Ende, wenn Gott alles verwirrt und umstürzt! Wenn der König
in ein Schloß einziehen will, spannt man Wandteppiche und stellt
Möbel auf; ebenso wenn Gott den Menschen in die Welt versetzt. Und
wie man alles umwirft, wenn der König auszieht, etc.
Doch warum spricht Christus so oft vom Gericht und vom Ende der
Welt? Um Furcht einzuflößen. Aber warum will er, daß wir uns fürch-
ten? Damit wir lieben, denn die Furcht ist der Anfang der Weisheit (Ps
111,10). Jes 26,17f: Vor deinem Angesicht (nach Sa: von deiner Furcht,
wegen der Furcht vor dir) haben wir den Geist empfangen und gleich-
sam geboren, d. h. die Liebe. Vor deinem Angesicht, d. h. angesichts
deines Zornes und Unwillens (Ps 101,11). So hat das Konzil von Trient
gegen Luther erklärt, daß unsere Rechtfertigung bisweilen auch mit
der Furcht beginnt, d. h. die Disposition zu unserer Rechtfertigung.
Da wir diesen Gegenstand im vergangenen Jahr zu erörtern begon-
nen haben, können wir fortfahren. Es gibt zweierlei Furcht: die mensch-
liche und die Gottesfurcht. Die Menschenfurcht kann wieder zweifach
sein: natürlich moralisch und weltlich. Die Gottesfurcht ist vierfältig:
knechtisch, die Furcht des Mietlings, kindlich und bräutlich.
Die Furcht der Knechte, der Sklaven, der Leibeigenen und Sträflin-
ge, weil sie die Strafe fürchten. Sie kann aber zweifach sein: gut und
schlecht. Schlecht, wenn sie den Willen zu sündigen nicht ausschließt,
vielmehr den Wunsch zu sündigen einschließt. Wer also sagt: Hätte
Gott das geboten und dem Gebot nicht die Androhung der Strafe hin-
zugefügt, würde ich sündigen; da er aber, usw., der ist im Herzen ein
Sünder. Ja, diese Furcht ist sündhaft, weil sie glaubt, die Strafe sei
mehr zu fürchten als die Schuld und Gott, und weil sie den eigenen
Vorteil höher als alles und höher als Gott schätzt. 1 Joh 4,18: Die
Liebe verbannt die Furcht. Diese Furcht unterscheidet sich auch nicht
von der Trostlosigkeit der Verdammten. Gut ist diese Furcht, 1. wenn
sie die Hölle einfach ohne die genannte Überlegung fürchtet; so die
Niniviten, Christus, die Apostel. Wenn es erlaubt ist, das Gute des
Lohnes wegen anzustreben, dann auch, die Sünde aus Furcht vor der
Strafe zu meiden. – 2. Wenn man von der Furcht bewogen und ange-
trieben wird, Gott zu dienen und die Beleidigung Gottes zu meiden.
Das ist ein Akt der Hoffnung, denn die gleiche Tugend, die zum Stre-
ben nach dem Guten drängt, führt auch dazu, das Böse zu meiden.
Beispiele zur Verdeutlichung s. S. 28. – – –

144
Fastenpredigten in Chambéry
In Chambéry hat Franz von Sales zweimal Fastenpredigten gehalten: 1606 und
1612. Vom ersten Zyklus ist nur der Entwurf für den Passionssonntag (Nr. A 71)
überliefert, vom zweiten die folgenden Predigten und Entwürfe.

Zum Aschermittwoch

Nr. 84: 7. März 1612 VIII,74-85

Bedenke Mensch ... Sammelt euch Schätze ... (Mt 6,20).

Als Gideon den berühmten Kampf unternahm, der im Buch der Rich-
ter (7,16-22) beschrieben ist, wählte er für dieses wichtige Unterneh-
men 300 Soldaten aus. Er befahl ihnen, keine anderen Waffen zu ver-
wenden als den Schall der Trompeten und den Schein der brennenden
Fackeln, die jeder von ihnen in der Hand trug. Um die Wahrheit zu
sagen, sind das für diesen Zweck wenig geeignete Waffen, wenn wir sie
nach dem ersten Anschein und ihrem äußeren Sinn betrachten. Tat-
sächlich aber waren sie vorzüglich: durch sie wurde das ganze Heer
der Midianiter verwirrt, in die Flucht geschlagen und schließlich ver-
nichtet. Der Schall der Trompeten, die einen furchtbaren Lärm für die
Ohren erzeugten, und der Feuerschein, der mitten in der Nacht rings
um das Lager aufleuchtete, erweckten beim Feind Angst wie vor ei-
nem schrecklichen Gespenst. Der Schall der Trompeten weckte die
Midianiter, und als sie schauten, woher er kam, sahen sie ringsum
plötzlich 300 brennende Fackeln aufleuchten, die aus den zerschlage-
nen Krügen hervorgeholt wurden. Der Schall der Trompeten erschreck-
te sie, weil er mitten in der Nacht erscholl, als sie im tiefsten Schlaf
lagen; der Schein der Fackeln machte ihnen Angst, weil sie ihn ur-
plötzlich aus den zerschlagenen Krügen aufleuchten sahen. Die bren-
nenden Fackeln, die aus den zerschlagenen Krügen kamen, waren auch
ein geheimnisvolles Zeichen dafür, daß der Ruhm Israels und der Tri-
umph des Sieges sogleich aus den toten und erschlagenen Leibern der
Midianiter erstehen sollte, und die Trompeten kündigten das an.
Nun denn, meine lieben Zuhörer, wenn ihr es nicht wißt, die
Midianiter versinnbilden die Kinder der Welt, Gideon ist das Sinn-
bild Christi und die 300 Soldaten sind ein Bild der Prediger. Ihr
Midianiter, ihr Weltlichen, ihr ausschweifenden Sünder, der Erlöser
erklärt euch den Krieg, und wir sind seine Elitesoldaten. Nicht wahr,

145
ihr schlaft in euren groben irdischen Freuden? Seht, der göttliche Feld-
herr befiehlt uns, laut und hell unsere Trompeten zu blasen und über-
all unsere Hörner erschallen zu lassen. Jes 40,6: Eine Stimme sagte
mir: Rufe, erhebe deine Stimme wie eine Trompete (58,1). Ich sagte:
Was soll ich rufen? (40,6) Ja, Herr, ich will rufen; aber was soll ich
rufen? Rufe, rufe unablässig (58,1): Alles Fleisch ist Gras („Bedenke,
Mensch ...“ Zerschlagt die Krüge), und all seine Herrlichkeit gleicht der
Blume des Feldes; das Gras verdorrt ..., Die Blume verfällt (und du wirst
zum Staub zurückkehren). Aber aus diesem zerschlagenen Krug kommt
die Fackel hervor. Jes 40,9f: Steig auf einen hohen Berg, der du Zion
predigst; sag den Städten Judas: Seht, euer Gott, der Herr Gott wird mit
Macht kommen und sein Lohn mit ihm. Sammelt euch Schätze. Mt
6,17f: Wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht; und
dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir vergelten.
Tod und Leben, das ist das allgemeine Thema des Predigers; aber es
ist auch der besondere Gegenstand, den ich heute behandeln muß.
Meine lieben Zuhörer, wenn ich auf dieser Kanzel den Wunsch nach
einem anderen Ruhm hätte als den Wunsch nach der Ehre Gottes;
wäre ich aus einer anderen Passion gekommen als wegen der Passion
des Erlösers; wollte ich nach einem anderen Erfolg streben als nach
dem eures Heiles, dann soll meine Zunge verdorren und am Gaumen
kleben (Ps 137,6), dann soll mein Mund vertrocknen wie ein verstopf-
ter Brunnen, der sein Wasser nicht ergießen kann. Herr und Erlöser
unserer Seelen, wenn aber meine Seele von dem Verlangen erfüllt ist,
deinen Namen vor diesem Volk zu verherrlichen, wenn der Mut mei-
nes Herzens danach trachtet, deine Gnade zu preisen, und wenn ich
vom Verlangen getrieben werde, die Frucht deines Leidens diesen See-
len zu verkünden, für die du es erduldet hast, dann, gütiger Jesus, sei
mir gnädig. Da ich den Willen habe zu sprechen, mache es mir mög-
lich und gib mir ein, was ich sagen soll. Meine Zuhörer, hört in Ehr-
furcht die Worte, die ich euch vortrage, denn ich spreche als Sonder-
botschafter Gottes zu euch. Doch laßt uns beten, daß ich himmlische
Worte sage, daß ihr sie mit der gebührenden Ehrfurcht anhört, und
empfehlen wir uns dazu den Bitten der allerseligsten Jungfrau. Ave.
Das muß man indessen kürzen, etwa folgendermaßen: An diese Stel-
le versetzt, teuerste Zuhörer, glaube ich wie ein zweiter Jesaja eine
Stimme zu hören, die mir sagt: Rufe.
Oder so: Was Jesaja einst geschah, das gilt allen Predigern als Die-
nern Christi. (1.) Eine Stimme, sagt er, die Stimme eines, der sprach:

146
Rufe. Denn ihm und mir obliegt die Notwendigkeit zu predigen (1 Kor
9,16). Er fragte: Was soll ich rufen? Ich bin bereit zu rufen, aber was?
Rufe: Alles Fleisch ist Gras. Und frage ich meine Mutter, die Kirche,
was ich rufen soll: „Bedenke, Mensch ...“ – 2. Eine Stimme sagte mir:
Der du predigst, steig auf einen hohen Berg; erhebe deine Stimme laut
(Jes 11,9). Doch was soll ich rufen? Sag den Städten Judas: Sieh, euer
Gott und sein Lohn mit ihm ...
Oder die Einleitung kann so lauten: Jer 24,1-3: Der Herr ließ mich
schauen, und siehe, da waren zwei Körbe voll Feigen vor dem Tempel
des Herrn aufgestellt; und der Herr sprach zu mir: Was siehst du,
Jeremia? Ich sagte: Feigen, etc. So schien auch mir, meine Zuhörer,
im Gottesdienst dieses bedeutenden Tages, der Herr zeige mir zwei
Körbe, einen der Propheten und den des Evangeliums, und es erschien
mir, als sagte der Herr zu mir: Was siehst du, Jeremia? Zwei Arten von
Feigen, von denen die Völker sich nähren. Welche Feigen? Schlechte,
sehr schlechte: „Bedenke, Mensch, daß du Staub bist.“ Joel 2,12:
Bekehret euch zu mir von ganzem Herzen, in Fasten, Weinen und Weh-
klagen. Aber auch gute, sehr gute Feigen. Mt 6,17f: Wenn du fastest,
salbe dein Haupt; dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir ver-
gelten. Sammelt euch Schätze, etc. Laßt uns also im Namen des Herrn
die guten und die schlechten Feigen versuchen; doch bitten wir die
seligste Jungfrau, daß durch ihre Fürbitte die guten Feigen ganz gut,
aber auch die schlechten gut werden.
Oder auch so: 2 Kön 4,38-41: Elischa befahl einem seiner Diener:
Setze einen großen Topf auf und koche den Söhnen der Propheten Ge-
müse. Einer ging, etc. Nun scheint mir, Christus habe mir als einem
seiner Diener und unwürdigen Knecht aufgetragen: Setze einen großen
Topf auf, bereite viele geistliche Speisen für das Volk von Chambéry.
Da ging ich auf das Feld der Heiligen Schrift, das uns im heutigen
Evangelium ausgebreitet ist, und ich sammelte auf gut Glück Kürbis-
se: „Bedenke, Mensch!“ Bekehrt euch zu mir mit Fasten, Weinen und
Wehklagen, etc. Doch wenn ihr davon kostet, werdet ihr sagen: O Gott,
diese Predigt handelt nur vom Tod: Im Topf ist der Tod, Mann Gottes.
Deshalb sagte Elischa: Bring mir Mehl; trag das Evangelium vor, das
nichts anderes ist als ein Weizenkorn (Joh 12,24), d. h. Christus selbst,
zerkleinert und in verschiedenen Lehren erklärt. Er tat es in den Topf,
er fügte der Prophezeiung das Evangelium hinzu und sagte: Setz es
dem Volk vor. Kostet, Teuerste. Seht, es ist bitter: „Bedenke, Mensch.“
Mit Fasten, Weinen und Wehklagen. Aber der Tod, der folgt, ist nicht
mehr bitter, der Besitz des Schatzes im Himmel. Der Kürbis bedeutet:

147
mit Fasten; doch füge das Mehl hinzu: Dein himmlischer Vater wird es
dir vergelten. Der Kürbis bedeutet: Du wirst zur Erde zurückkehren;
doch füge Mehl hinzu: Sammelt euch Schätze. Nun denn, geliebte Brü-
der, ich biete euch heute eine Speise, die aus Kürbis und Mehl zusam-
mengesetzt ist. Von ihr kann man sagen: wenn sie auch aus Bitterem
besteht, bleibt doch nichts Bitteres mehr an ihr, wenn man das Mehl
der Belohnung hinzugibt. Kostet also mit Genuß.
Hld 1,6: Sag mir, wo du weidest, den meine Seele liebt, wo du am
Mittag lagerst. Das heißt: wie ist die Seele, die du liebst, mit der du
deine Freude hast, an der du dich erquickst, indem du deine Neigung
weidest und sie gleichsam auf ein Ruhelager bettest. Wenn ich nicht
weiß, wie ich dir gefalle, könnte ich anfangen herumzuziehen nach
weltlichen Neigungen der Weltkinder. Die das Herz des Menschen zu
besitzen trachten, wollen alle Rivalen Gottes sein; die böse Welt, die-
se Freundin, die den Geboten Gottes vorgezogen werden will, diese
Freundin ... Das ist die Stimme der menschlichen Natur, die ihr Glück
sucht.
Der Bräutigam antwortet (Hld 1,7) und legt die ersten Fundamente
der Gotteserkenntnis in der Selbsterkenntnis: Wenn du dich nicht
kennst, Schönste. Er sagt gleichsam: Willst du sicher sein? Dann lauf
nicht vielen Liebhabern nach. Beginn dich selbst zu erkennen und
halte als sicher fest: Wenn du dich nicht kennst, Schönste der Frauen,
wirst du der Spur deiner Herden folgen, d. h. verschiedenen Neigungen,
und wirst Ziegen weiden, d. h. schlechte Regungen, bei den Zelten Frem-
der, die sich rühmen, meine Rivalen und Nebenbuhler zu sein, die die
Seelen nähren, aber mit Wind.
Es gibt zwei Auslegungen. Die erste ist die von Honorius, Rupert
und von Neueren, vor allem aber von Theodoret. Sie sagen, die Worte
müsse man im guten Sinn verstehen, uzw. so: Wenn du nicht weißt, wo
ich am Mittag lagere, folge den Spuren der Schar der Kirchenväter,
folge der bekannten und allgemeinen Lehre und weide Ziegen, deine
Gedanken, die im natürlichen Licht Ziegen sind und sich durch das
übernatürliche in Schafe verwandeln. Weide sie bei den Zelten der
Hirten, der Bischöfe, die durch das Konzil der Konzile, den Apostoli-
schen Stuhl als Hirten eingesetzt sind. Die zweite Auslegung gibt den
Worten den Sinn eines Tadels, so Ambrosius, Gregor, Bernhard. Ich
verstehe sie nicht im Sinn einer Zurechtweisung, sondern einer freund-
lichen Belehrung, wie wir beginnen müssen, Gott zu suchen. Wenn du
dich nicht kennst, geh, d. h. dann wirst du gehen (ebenso Ps 83,14:

148
Mein Gott, mache sie zu einem Wirbel, d. h. du wirst machen; Ps 69,26:
Ihre Wohnung möge verödet werden, d. h. sie wird verödet werden; Ps
69,28: Füge ihrer Sünde andere Sünden hinzu, und sie sollen nicht ge-
langen, d. h. sie werden nicht gelangen, du wirst hinzufügen). Wir ken-
nen uns selbst in zweifachem Sinn nicht, wie bei den Philosophen der
Satz „Erkenne dich selbst“ in zweifachem Sinn verstanden wird. Denn
Sokrates sagt in der Alcibiade bei Platon, die Selbsterkenntnis beste-
he in der Erkenntnis der Vorzüglichkeit unserer Seele; andere sagen,
in der Erkenntnis unserer Niedrigkeit dem Leibe nach; Kleinmut und
Hochmut.
Was die zweite Auslegung betrifft, hat Gott uns von Anfang an den
Namen Adams gegeben: Als Mann und Frau schuf er sie und gab ihnen
den Namen Adam (Gen 5,2), d. h. Irdische, Lehmige. Darauf weist
Gregor von Nyssa (Von der Erschaffung des Menschen, c. 2) hin: aus
dem Lehm der Erde (Gen 2,7). Dadurch, daß unser Name die Erde
enthält, sollen wir an den Tod gemahnt werden: „Bedenke, Mensch.“
Aber wir denken genügend daran, sagst du. Ach, wir denken oft genug
daran, aber wir bedenken es nicht genügend. Jer 12,11: Öde und ver-
lassen ist das ganze Land ... Sag mir, du Stolzer, Geiziger, Feinschmek-
ker, Ehrgeiziger ... Die Grundlage aller Versuchungen war, den Ge-
danken an den Tod zu verbannen.
Hört die hinreichend bekannte aber zu wenig bedachte Geschichte
(Gen 2,15-3,4), denn dazu lädt uns die Kirche ein. Als Gott den Men-
schen erschaffen hatte, versetzte er ihn in das Paradies der Wonne. Er
gebot ihm und sagte: Iß von allen Bäumen des Paradieses, d. h. du
kannst essen; vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollst du
nicht essen; sobald du ... Adam blieb einige Zeit unter dem Gebot. Er
gab allen Dingen und Lebewesen einen Namen. Damals wollte ihn die
Schlange nicht versuchen; sie wartete also, bis sie ein geeignetes Werk-
zeug für seine Versuchung hatte in der Frau. Denn als die Frau er-
schaffen war, kam die Schlange und sagte: Warum hat Gott euch gebo-
ten, von keinem Baum des Paradieses zu essen? Seht die Schlauheit:
Warum hat er geboten? Weil er der Herr ist! Er hat uns erschaffen,
nicht wir selbst (Ps 100,3). Daß ihr von keinem Baum eßt; seht den
Betrug. So macht es die Schlange auch heute; sie redet euch ein: Diese
Prediger wollen nicht, daß ihr irgendeine Freude habt; sie wollen nicht,
daß ihr eßt, daß ihr lacht; sie wollen nicht, daß ihr euch mit irdischen
Dingen befaßt; sie wollen, daß ihr den ganzen Tag in der Kirche ver-
bringt; sie wollen, daß ihr immer fastet. Du Verführerin des Men-
schengeschlechtes, nicht das sagen wir, sondern: Von jeder Freude
sollst du genießen, nur nicht von der Freude der Sünde, etc. Gott hat

149
uns geboten, sagt Eva, daß wir von der Frucht des Baumes ... nicht essen
und ihn nicht berühren, d. h. den Baum.
Dieses „nicht berühren“ ist in zweifachem Sinn zu verstehen. Viel-
leicht war es wirklich im Verbot enthalten, ihn nicht zu berühren,
wegen der Gefahr, denn auf das Berühren des Baumes folgte das Be-
rühren der Frucht, auf das Berühren das Essen. Oder Eva erfand es,
übertrieb und täuschte etwas Schweres und Strenges im Gebot vor (Ps
94,20). Damit wir nicht sterben. Ach, hier ist der erste Schritt zum
Bösen; sie zweifelt am Tod. Du wirst des Todes sterben, schärft Gott
doppelt ein; das vergißt sie und schwächt es durch den Zweifel ab.
Ach, ach, du zweifelst und öffnest damit dem Teufel die Tür. Sieh, der
Teufel macht sich lustig: Ihr werdet keineswegs sterben. Die Jagd auf
das Wild machen, halten sich an die Felsen, denn wenn es die geringste
Öffnung sieht, kriecht es hinein. So müssen auch wir uns an die Gebo-
te halten und keinen Finger breit davon abweichen. Der Teufel ist wie
die Schlange, deren Gestalt er annahm; wo sie den Kopf hineinsteckt,
zieht sie den ganzen Leib nach. Ihr wißt doch, daß die bösen Geister
von den Wahrsagern und Zauberern meist nichts Großes verlangen,
sondern ein Barthaar oder ein Schnipsel vom Fingernagel. Gibst du
es, bist du gefangen. Anfangs verlangt er wenig, mit der Zeit nimmt er
alles. So verlangen die Häretiker, daß man ihnen ein Jota zugestehe:
homoiousion; gibst du es zu, bist du gefangen. Ich will nicht (sagt er),
daß du an Schlechtes denkst, aber höre auf meine Worte; ich will nicht,
daß du daran glaubst, aber höre, wie lieblich der junge Mann singt; ich
will nicht, daß du auf Unanständiges achtest, aber sieh doch, wie ele-
gant er schreibt. „Flieht von hier, Jünglinge, in der Blume lauert die
kalte Schlange“ (Vergil).
Als Gott sah, daß der Mensch sündigte, weil er den Tod vergaß, schärf-
te er ihm ein: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen,
bis du zur Erde zurückkehrst, von der du genommen bist; denn Staub
bist du und zum Staub wirst du zurückkehren (Gen 3,19). Mensch,
denk an den Tod. 1 Kor 4,7: Was rühmst du dich, Staub und Asche?
Wie treffend sagt der Büßer (Ijob 17,14): Zum Moder sagte ich: mein
Vater, mein Bruder und meine Schwester zu den Würmern. Wir rühmen
uns meistens unseres Leibes und verwenden wenig Sorgfalt auf die
Seele. Staub, Staub, was rühmst du dich? Man schaut in den Spiegel,
ehe man ausgeht; sein Gewissen prüft man nicht. Wir sorgen uns um
die Kleidung des Leibes, um die der Seele nicht.
Dennoch, wenn du dich nicht kennst, Schönste von allen Geschöp-

150
fen, dann laß dir kurz Folgendes sagen: (1.) Wie edel ist die Seele, die
Gottes Bild und Gleichnis ist. Wie Phidias, als er die Statue der Mi-
nerva schuf, in der Mitte des Schildes (sein Bild anbrachte: Tr. 4,4):
Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild (wörtlich: mit
dem Bild und Gleichnis). – 2. Er bildete ihn und hauchte ihm den Atem
des Lebens ein (Gen 2,7), den Atem des sterblichen und unsterbli-
chen, des zeitlichen und ewigen Lebens; eines dreifachen Lebens: sen-
sitiv, vegetativ und rational; eines natürlichen und eines gnadenhaften
Lebens. Seht also, da ihr des ewigen Lebens fähig seid, macht kein
finsteres Gesicht wie die Heuchler, wenn ihr fastet (Mt 6,16). Was seid
ihr traurig, wenn ihr solchen Lohn erwartet? Was gleicht ihr Heuch-
lern und strebt nach vergänglicher Ehre, wenn ihr ewige haben könnt?

Zum Montag der 4. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 86 (Entwurf): 2. April 1612 VIII,89-95

Ijob (26,13) antwortet dem Schuachiten Bildad auf die Frage nach
der Allmacht und Vorsehung Gottes; er lobt unter anderem Gott vor
allem, weil sein Geist den Himmel geschmückt hat und aus seiner Schöp-
ferhand die Ringelnatter hervorging. Davon gibt es drei sehr bekannte
Auslegungen.
Die erste: Gott sorgt nicht nur für das Große, wie die Zierden des
Himmels, d. h. die Ordnung der Sphären, der verschiedenen Bahnen
und Bewegungen, der Anordnung der Sterne und der Planeten usw. Er
ist vielmehr auch um das Geringste besorgt, wie die Entstehung der
Schlange und Natter, das niedrigste und im Wert geringste aller Lebe-
wesen, die von selbst und nicht zufällig entstehen. Er schmückt in der
Tat den Himmel durch seinen Geist, da er einmal gesprochen hat, und
die Welt wurde für immer geschaffen und es gibt in ihr weder Ände-
rung noch Wechsel der Entstehung und Hervorbringung.
Habt ihr nie gesehen, wie die Glasbläser die Gläser machen? Sie
nehmen die Masse mit dem Ende eines hohlen Stabes auf, dann blasen
sie hinein und das Glas entsteht, so daß es seine Form nicht mehr
ändert. Daher wird (Offb 4,6) der Himmel gläsernes Meer genannt;
deutlicher 21,18: Die Stadt selbst ist reines Gold und gleich reinem
Glas. 21,21: Der Platz der Stadt ist reines Gold, durchscheinend wie
Glas.

151
Der Himmel wurde durch das bloße Wort Gottes geschaffen (Ps
33,6.9). Auf Anregung des Geistes hat er aus nichts den Himmel ge-
schmückt; er hauchte, und die Sonne entstand, der Mond, die Sterne
Orion und Merkur, etc. Er legte die Tierkreise wie einen Gürtel um
ihn, etc. Doch für die irdischen Dinge gebraucht er gleichsam die Hän-
de, weil er alles allmählich, in der Abfolge von Werden, Vergehen und
Wachsen macht, wie die Hebamme das Kind umsichtig entbindet,
wäscht, stillt und wickelt, etc. Die Hand der Vorsehung ist also die
Hebamme der ganzen Welt.
Wunderbar ist die Vorsehung für die Schlangen. Mit Fenchel reini-
gen sie die Augen, sie streifen die Haut ab und erneuern ihre Jugend,
und wie die meisten glauben, heilen sie Wunden mit wildem Thymian.
Und für uns sollte nicht sorgen, der für die Schlangen sorgt? Die Schlan-
ge frißt Staub und entbehrt nicht der Nahrung; das Herz des Menschen
nährt sich vom Himmel; sollte der Himmel ihm fehlen? Die Schlange
verliert das Gift, wenn sie trinkt; sollte der Mensch nicht das Gift der
Leidenschaften verlieren, wenn er mit Himmlischem erquickt wird?
Wie sollte Gott, der die treulose Schlange nicht im Stich läßt, den
Menschen im Stich lassen, der ihm treu folgt? Das gestrige Evangeli-
um von der Vorsehung Gottes (Joh 6,1-12).
Die zweite Bedeutung ist isagogisch nach der Version der Septuaginta
bei Sa: Auf seinen Befehl wurde der abtrünnige Drache getötet. Hervor-
gebracht, nämlich aus der Welt oder aus nichts. Gewunden, verschla-
gen, hebräisch flüchtig. Nach dieser Version muß die Stelle folgender-
maßen ausgelegt werden. 1. Der Geist des Herrn schmückte den Him-
mel mit den Chören der Engel. Da aber einer, d. h. der alte Drache, und
durch ihn mehrere sich auflehnten, führte, warf und verbannte er sie
durch seinen Befehl aus dem Himmel (Offb 12,9). Nach unserer Ver-
sion aber warf seine starke Hand die bösen Geister wie Ungeheuer
hinaus. Als er das himmlische Jerusalem von diesen Ungeheuern
schwanger und gleichsam in Geburtswehen sah, entband er als Heb-
amme mit seiner Hand dieses Ungeheuer. Denn hier findet sich eine
Anspielung auf die Geburt, nicht wegen der Leibesfrucht, sondern
wegen der Schmerzen. Es ist, als hieße es: Er schmückte den Himmel
mit Engeln, da aber unter ihnen einige abtrünnig wurden, entstanden
dort Geburtswehen (Ps 48,7). Daher wird die Verstoßung der bösen
Geister dem Hervorgehen bei der Geburt verglichen.
Oder einfacher: er ging aus dem Nichts hervor. Er schmückte den
Himmel mit Engeln, und durch seine Hand ist sogar der böse Geist
aus dem Nichts hervorgegangen; das ist eine emphatische Wiederho-
lung. Auch der böse Geist ist sein Geschöpf und wurde zur Zierde

152
erschaffen wie die anderen, obwohl er durch seine Bosheit verdarb.
Der Schwerpunkt liegt auf dem Wort „entbinden“, als ob er sagte:
Sorgsam und aufmerksam schuf er ihn und schuf ihn gerade, nicht
verdreht, wenn er auch jetzt verdreht und verschlagen ist.
Von dieser Bedeutung kann man einen trefflichen Vergleich zwi-
schen dem Himmel und dem Tempel ableiten, denn der Tempel ist ein
Abbild des Himmels. Daher haben die Vorfahren die Kirchen mit
Bildern der Heiligen geschmückt, wie Gott den Tempel mit den
Kerubim (Ex 25,18), damit die Bilder der Heiligen ein Gleichnis des
Himmels seien. In der Kirche wie im Himmel ist der Hof Gottes; und
beide sind ein Ort des Gebetes, wie die Geheime Offenbarung (5,8-
14; 8,3) bezeugt; nach ihr sind die Wohlgerüche die Gebete der Heili-
gen, und die 24 Wesen mit goldenen Harfen beten an. Daher hat Gott
aus beiden die Käufer und Verkäufer (Mt 21,12) hinausgeworfen. Der
böse Geist wollte die Unabhängigkeit kaufen und stehlen und sich als
König des Hochmuts über die anderen erheben; daher der Ausdruck
Räuberhöhle. Denn sie waren Räuber, wie meist die Käufer und Ver-
käufer, wenn sie nicht große Sorgfalt für ihr Herz haben und furcht-
sam sind. Satan treibt Handel, um Gott die Autorität, den anderen den
Gehorsam zu stehlen. Er setzte sich in den Sinn, über die Geschöpfe
zu herrschen, die Schafe, Rinder und Tauben (Joh 2,14): die Schafe,
d. h. die untergebenen Gläubigen; die Rinder, d. h. die mit Mühen
beladenen Prälaten; die Tauben, d. h. die Ordensleute, die durch Kon-
templation fliehen; aber auch über die niederen und höheren Ränge
der Engel, sogar über die Serafim. Gott aber warf alle hinaus, die er
dem Aufruhr verfallen sah. Im Teufel fand er die Habsucht, durch die
er König des Himmels sein wollte, und er warf ihn hinaus.
Er machte eine Geißel aus Stricken (Joh 2,15). Wegen der Vorzüg-
lichkeit seiner Natur wurde Luzifer überheblich, und durch diesen
Vorzug wird er am meisten gequält. Warum ist er unverbesserlich in
seiner Bosheit? Weil er von erhabenster Natur ist. Warum wird er am
meisten gequält? Weil er den fähigsten Verstand hat und seinen gro-
ßen Fall am klarsten erkennt. Dem Knaben macht es wenig Kummer,
wenn ihn der Vater enterbt; wenn er aber allmählich heranwächst, be-
rührt ihn der Schmerz darüber um so mehr, je schärfer sein Verstand
wird. Je größer der Wunsch zu herrschen ist, um so schmerzlicher ist
das Dienen. Satan wurde von höchstem Ehrgeiz getrieben, den Gott
ihm beließ, und gerade von diesem Ehrgeiz wird er wie mit einer Gei-
ßel gezüchtigt. Denn bleibt der Ehrgeiz, so wächst ihr Hochmut stän-
dig (Ps 74,23), und je höher sie aus Ehrgeiz steigen wollen, um so
tiefer fallen sie durch die Erniedrigung.

153
Am besten gefällt mir die Lehre Epiktets. Wie können wir den Ehr-
geizigen bestrafen? Er soll noch ehrgeiziger werden. Verdient der
Habsüchtige Strafe? Geh, werde zur Strafe noch habsüchtiger, werde
noch ausschweifender, so daß du die Ruhe verlierst, etc. Die Sünder
werden ja mit ihren eigenen Sünden bestraft. Seht die Väter und Müt-
ter; sie sündigen, wenn sie darüber lachen, daß sie die Kinder schlech-
ten Reden, den Anfängen der schlimmsten Eitelkeit verfallen sehen.
Gott wird daraus eine Geißel machen, und diese Kinder werden ihren
Eltern größten Schmerz bereiten etc. „Niemand wird verletzt, außer
durch sich selbst“ (Joh. Chrys.). Die Armut schadet weder Ijob noch
dem hl. Franziskus; auch dir schadet nichts als deine Ungeduld. Die
Verleumdungen schadeten weder den Aposteln noch allen Demüti-
gen; nicht sie schaden dir, sondern dein Stolz und deine Anmaßung,
die dich ein erlittenes Unrecht schmerzlicher fühlen lassen.
Doch seid auf der Hut, Brüder! Der den Engeln nicht vergeben hat (2
Petr 2,4) wegen eines schlechten Gedankens im Heiligtum, wie wird
er euch schonen, wenn ihr hier ausgelassen lacht? Ich wollte mein Blut
dafür geben, daß ihr in alle Ewigkeit alle Sünden meidet, und ich be-
schwöre euch im besonderen, daß ihr Ehrfurcht vor dem Heiligtum
habt. Ihr Edlen der Stadt, ihr Frauen, etc., Chambéry ist das Vorbild
für ganz Savoyen. Nichts ist Gott wohlgefälliger, nichts euch nützli-
cher. Gold von Toulouse, Quintus Caepio. Brennus und der Apollo-
tempel in Delphi ...; „er legte Hand an sich“ (Valerius Max. I,1). Wollt
ihr, daß euer Haus in Ehren steht, dann haltet das Haus Gottes in
Ehren. 1 Sam 5,2.6: Die Philister erobern die Bundeslade mit Waffen-
gewalt und bringen sie in den Tempel des Dagon; und Gott schlug sie
mit unsichtbaren Plagen. Ihr bringt oft den Dagon in das Haus Gottes.
Es ist gleichermaßen eine Sünde, den Dagon in das Haus Gottes zu
bringen oder die Bundeslade in den Tempel des Dagon. Alles könnte
uns zum Nutzen sein, etc. Dagon, Getreide, Idol der Habsucht.
Beispiel der hl. Maria von Ägypten. Sie vermochte den Tempel in
Jerusalem nicht zu betreten, in dem das Kreuz aufbewahrt wurde, weil
sie eine grundverdorbene Dirne war, bis sie vor dem Bild der seligsten
Jungfrau von Reue ergriffen wurde. So tritt Christus den Eintretenden
im Bild des Gekreuzigten entgegen, um ihnen sogleich Ehrfurcht ein-
zuflößen; so bei Lactanz.

154
Zum FFreitag
reitag der 4. FFastenwoche
astenwoche

Nr. 87 (Entwurf): 6. April 1612 VIII,96-99


Herr, den du liebst, der ist krank (Joh 11,3)

Kurzes Gebet. Als Demosthenes einen Schwätzer hörte, sagte er:


Wenn du viel verstündest, würdest du nicht viel reden. Je höher die
Engel im Rang, desto umfassender ist ihre Einsicht. Mit einem einzi-
gen Wort schafft Gott alles (Ps 33,6.9). Die beste Art zu beten ist, mit
wenig Worten beten, aber nicht zu wenig. Ex 14,15: Was schreist du zu
mir? Deshalb schwieg er. Ps 10,17: Das Verlangen der Armen erhörte
der Herr; die Bereitschaft ihres Herzens hat dein Ohr vernommen. Wenn
du nicht erhört wirst, dann deshalb, weil du entweder nicht arm bist
oder weil du nicht die Bereitschaft des Herzens hast. Ps 27,13: Mein
Herz hat zu dir gesprochen; mein Auge hat dich gesucht. Dein Ange-
sicht, Herr, will ich suchen. Wie die Augen der Diener auf die Hände
ihrer Herren gerichtet sind ... Ps 123,2.1: Zu dir habe ich meine Augen
erhoben, der du im Himmel wohnst. Ps 119,82: Nach deinem Spruch
schmachten meine Augen: wann wirst du mich trösten? Schon durch
den Blick sprechen wir.
Man muß also viel beten, aber nicht mit vielen Worten. Die Väter
führen Hanna als Beispiel an: Als sie ihre Gebete vor dem Herrn ver-
vielfachte, geschah es, daß Eli ihren Mund beobachtete (1 Sam 1,12).
So unterbreiten auch diese Frauen (von Betanien) mit wenigen Wor-
ten ihre Nöte. Vortrefflich ist die Geschichte 2 Kön 19,14: Rabschake
oder der König schickte einen Brief an Hiskija; der stieg zum Haus des
Herrn hinauf, breitete den Brief vor dem Herrn aus ... und von den Assy-
rern wurden 185 000 getötet (19,35). Tu desgleichen (Lk 10,37). Gott
gab uns den Geist seines Sohnes, der in unseren Herzen ruft: Abba,
Vater (Gal 4,6). Der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichen
Seufzern (Röm 8,26).
Beachte, daß Jesus Marta, ihre Schwester Maria und Lazarus liebte.
Deshalb: Unser Freund Lazarus schläft; aber ich will hingehen (Joh
11,5. 11). Gewiß sagte der Blinde, von dem wir vorgestern sprachen:
Wir wissen, daß Gott Sünder nicht erhört (Joh 9,31). Auf diesen Satz
gibt es drei Antworten: 1. Der Blinde hat damit eine blinde Ansicht
ausgesprochen. 2. Er hat es verstanden von der Erlangung von Wun-
dern als Bestätigung der eigenen Heiligkeit. Die dritte Antwort unter-
scheidet: es gibt Gerechte, es gibt Sünder und es gibt Bußfertige. Die
Bußfertigen erhört er. Hier war aber doch eine Büßerin und eine Ge-
rechte.

155
Seht jedoch das schönste Gebet: Den du liebst, der ist krank. Wir
beschwören Christus unter Berufung auf zweierlei: auf unser Elend
und auf die Liebe oder Barmherzigkeit Gottes. Gott braucht in der Tat
unser Elend. Ps 6,2: Erbarme dich meiner, denn ich bin schwach. Und
unser Elend braucht die Barmherzigkeit Gottes. Ps 84,6: Glücklich
der Mann, dem Hilfe von dir kommt; er bereitet sein Herz für den Auf-
stieg. Denn geben ist seliger als nehmen (Apg 20,35). Das Kind und
die Amme. „Möchte ich dich erkennen, daß ich mich erkenne“
(Augustinus). „Wer bist du und wer bin ich?“ (Augustinus und Franz
von Assisi). Ps 57,1: Erbarme dich meiner, erbarme dich meiner, denn
auf dich vertraut meine Seele. Ambrosius: Dem Blinden wird Lehm
auf die Augen gestrichen, damit er sich erinnere, daß er Staub ist; die
Blindheit des Geistes ist nämlich zumeist Stolz. Dasselbe verdeutlicht
Lazarus, der uns entgegenkommt. Daher wird dem Bischof von
Laodizea gesagt: Bestreiche deine Augen mit Salbe (Offb 3,18).
Christus kam und weinte mit den Weinenden (Joh 11,35; Röm
12,15). O kostbare Tränen! Hld 7,4: Deine Augen sind wie die Teiche
von Heschbon. Die Augen sind im Tor oder im Fenster; durch sie
können wir in das Innere des Hauses sehen. Deshalb sagten sie auch
(Joh 11,36): Seht, wie er ihn liebte. Sie sahen seine Liebe. So sagen wir,
wenn wir Wasser vom Rosenstrauch träufeln sehen, daß er Feuer sei.
Sie sind im Tor, d. h. in Christus, dem Tor der Tochter des Volkes (Hld
7,5), d. h. der Kirche. Heschbon bedeutet Gürtel des Schmerzes, Zone
des Schmerzes, da Gott sich mit Schmerz gürtete. In Heschbon sind
die Augen voll Tränen, weil Gott den Schmerz auf sich nimmt und
sich mit Gedanken gürtet, die Tränen hervorrufen.
(Der Herr weint): 1. als Kind, da er die Welt erblickt (vgl. Weish
7,3); 2. da er auf Jerusalem blickt, das der Zerstörung geweiht ist (Lk
19,41); 3. jetzt aus Liebe; 4. da er den Geist aufgibt, laut rufend und
unter Tränen (Mt 27,50; Hebr 5,7).

Zur Verehr
Verehr ung des heiligen Kreuzes
erehrung
Nr. 88 (Zusammenfassung): 20. April 1612 VIII,100-102

Nach dem Vergleich vom Spinnenfisch (Plinius) und von der Galle,
die Tobias (6,2-6) als Andenken aufbewahrte: Hier, ihr Christen, wird
ein Denkzeichen des Glaubens aufbewahrt und euch ein überaus erha-
benes Geheimnis eures Glaubens in so vielen Bildern vor Augen ge-

156
stellt. Ich wünschte, daß uns das gleiche widerfahre, wie Macrina. Als
Vestiana ihren Leichnam schmückte, wie es für Jungfrauen Brauch ist,
sagte sie: „Welch ein Kleinod trägt die Heilige als Halsschmuck!“
(nach Gregor von Nyssa: sie trug einen Kreuzpartikel). Dann Gregor
von Nyssa über Abraham. Wer, frage ich, sähe das Bild des Gekreuzig-
ten, ohne zu weinen? Denn hier sehen wir am gekreuzigten Christus
den Leib überall verwundet, die Augen voller Tränen, die Lippen ge-
tränkt von Galle und Essig, das Haupt mit Dornen umwunden und das
Blut aus allen Gliedern seines Leibes tropfen. Wer empfände kein
Mitleid! O Jesus, reinige, die mit deinem Blut gezeichnet und erkauft
sind; erquicke, vervollkommne, mache sie dir gleichförmig.
Ja, wir lieben alles, was dich unserem Geist einprägt. Wessen Bild
und Aufschrift ist das? (Mt 22,20). Ist dies das Gewand Unseres Herrn
oder nicht? (Gen 37,32f). Herr, wenn wir dich selbst ansehen: Warum
ist dein Gewand so rot? Die Kelter ... (Jes 63,2f). Das Zeichen, dem
man widersprechen wird (Lk 2,34).
Über die seligste Jungfrau unter dem Kreuz: Deine Seele wird ein
Schwert durchdringen (Lk 2,35). Nach dem letzten Wort geriet sie au-
ßer sich, d. h. sie hatte keinen Atem mehr, keinen Geist, keine Denkfä-
higkeit außer Bewunderung. Sie hatte keinen Geist mehr, sondern al-
les in ihrem Sohn. 1 Kön 10,5.10: Nie wurden so viele Wohlgerüche
dargebracht.
Gen 28,12: Er sah die Leiter. Hieronymus (zu Ps 99) und Augustinus
(Sermo XI) sagen, sie sei ein Sinnbild des Kreuzes. Gen 28,20f: Wenn
Gott der Herr mich beschützt auf dem Weg, den ich wandle, wird der
Herr mein Gott sein.
Gründe, warum Christus gekreuzigt wurde: damit das Heilmittel
der Krankheit entspreche; der Demut wegen; damit die Erlösung über-
reich sei (Ps 130,7); damit sie allen kund werde.
2 Kor 5,14f: Die Liebe Christi drängt uns, wenn wir das bedenken;
denn wenn einer für alle gestorben ist, sind folglich alle gestorben. Und
Christus ist für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr sich le-
ben, sondern ihm, der für sie gestorben ist. Die Jungfrau von der Insel
Sestos (Plinius).
Sach 13,6: Was sind das für Narben an deinen Händen? Er wird sa-
gen: Die habe ich empfangen im Haus jener, die mich liebten.

157
Zur Weihnachtsvigil
Weihnachtsvigil
Nr. 95 (Entwurf): Annecy, 24. Dezember 1613 VIII,124-129*

Die Kirche bietet alles auf, um die Großartigkeit eines bevorstehen-


den Festes anzukündigen; das beweist die Liturgie der Adventzeit.
Unter anderem bedient sie sich im Introitus der heutigen Messe der
ein wenig abgewandelten Worte, mit denen Mose (Ex 16,6f) den Israe-
liten den Manna-Regen ankündigte: „Heute sollt ihr wissen, daß der
Herr kommt, und morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen.“ Berich-
te die Geschichte bis zu den Worten des Mose (und erwähne nebenbei
das Murren der Söhne Israels, die gern aus Ägypten ausgezogen sind,
wie die meisten Ordensleute aus der Welt, wenn sie aber in der Wüste,
d. h. einsam sind, murren und sich der Fleischtöpfe der Welt erin-
nern): Am Abend sollt ihr wissen, daß der Herr euch aus dem Land
Ägypten herausgeführt hat, und morgen werdet ihr die Herrlichkeit des
Herrn sehen. Mit diesen Worten gibt die Kirche zu verstehen, daß Chris-
tus dem Manna gleicht, uzw. 1. in seiner Geburt, 2. im Geschmack.
Daher werde ich über zwei Dinge sprechen: ich werde 1. das Geheim-
nis der Menschwerdung kurz erklären, 2. wie wir alle dieses Geheim-
nis auskosten müssen, am meisten ihr Schwestern.
Zum ersten Punkt bemerke ich nur drei Dinge 1. Nach Lev 11,9 fiel
das Manna unsichtbar in der Nacht vom Himmel. So wird Christus
heute in der Nacht geboren, unsichtbar, auf eine Weise, die dem
menschlichen Geist unbegreiflich ist. Er kommt ganz vom Himmel,
auch der Leib. Wenn auch der Stoff von der seligsten Jungfrau genom-
men ist, so ist er doch durch die Kraft des Allerhöchsten und durch die
Überschattung des Heiligen Geistes gebildet. Er wird auf himmlische
Weise geboren, wie das Licht aus dem Himmel hervorgeht und das
ewige Wort vom Vater. Das Manna schmolz im Licht der Sonne und
verhärtete sich im Feuer; ebenso ist es mit diesem Geheimnis: wer
sich darin im himmlischen Licht vertiefen will, dem wird es flüssig,
für die natürliche Neugierde verhärtet es sich.
2. Das Manna schien aus zwei Substanzen zu bestehen: Olivenbrot,
das von der Erde stammt, und Honig, der vom Himmel ist. Jes 45,8:

* Dieser Entwurf ist von besonderem Interesse, weil ihm die Mit- oder Nach-
schrift der tatsächlich für die Schwestern der Heimsuchung gehaltenen Predigt
(Nr. B 1) entspricht und einen Vergleich erlaubt, wie Franz von Sales seine
Predigtentwürfe ausgeführt hat.

158
Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken regnet ihn herab; die Erde öff-
ne sich und sprosse den Erlöser. Die göttliche und menschliche Natur
vereinigend ist Christus einer, wie es ein Manna war.
3. Das Manna kam als Speise der Menschen; so auch Christus. Daher
wurde er in Betlehem geboren, d. h. Haus des Brotes. Er ist Speise in
der Eucharistie, ebenso mystisch Speise des Herzens für alle Men-
schen. Daher Lamm, daher Honig.
Um aber zum zweiten Punkt zu kommen: Diese Geburt Christi oder
Christus als Kind gefällt allen, die es wollen. Er gefällt den Hirten,
weil er Hirte ist, den Königen als König, dem Simeon als Priester, der
Prophetin Hanna als Prophet; er gefällt in der Tat allen. Am meisten
entspricht er den Frommen, den Religiosen und Oblatinnen, weil er
selbst fromm, religiös und hingegeben ist. Daher verehrten vor allem
drei Ordensväter dieses Geheimnis besonders: Augustinus: „Hier
werde ich aus der Fülle genährt“; Bernhard, der diese Geburt in einer
Vision schaute; Franziskus, wie alle wissen.
Sehen wir, welche Eigenschaften der Ordensleute dieser kleine Knabe
besitzt. 1. Über die Keuschheit gibt es keinen Zweifel. Hld 2,16: Er
weidet unter Lilien. Wenn er auch keine Gelübde abgelegt hat, so hat er
doch tatsächlich die Hingabe vollzogen.
2. Armut. Seht doch, wie arm er ist. Armut der Wohnung, Armut der
Kleidung, Armut der Nahrung: „Mit ein wenig Milch wird der ge-
nährt, der nicht einmal die Vögel hungern läßt“ (Hymnus am Weih-
nachtsfest). Er nennt nichts sein Eigen. Niedrigste Armut. Dränge sehr
nachdrücklich auf diese Erwägung: nackt ist er auf Erden erschienen,
wie die hl. Birgitta sagt.
3. Gehorsam. Er besitzt den Gebrauch der Vernunft und unendliche
Weisheit; trotzdem läßt er sich in Windeln wickeln, mit Bändern
schnüren und legen, wohin die Mutter oder der Vater wollen. Er könn-
te selbst gehen, bleibt aber in der Krippe.
4. Bewundernswertes Schweigen. Die anderen Kinder sprechen nicht,
weil sie nicht können, er dagegen, weil nicht die Zeit zu sprechen,
sondern zu schweigen ist.
5. Liebe zur Niedrigkeit. Bei den Tieren liegend, erträgt er gern ihr
Schnauben und sogar ihre Stumpfsinnigkeit. Außerdem liebt er diese
Tiere, weil das eine das Joch trägt, das andere Lasten, das eine mühse-
lig ist, das andere beladen. Daher: Kommt zu mir, die ihr mühselig und
beladen seid, ich will euch erquicken (Mt 11,28).

159
6. Seht die Milde dieses Knaben: stärker als Simson, läßt er sich
dennoch binden; er bleibt freundlich bei den unfreundlichen Tieren.
Ich meine ihn zu sehen, wie er seine gütigen Augen auf seine liebe
Mutter, den Vater und die Hirten richtet, wie er die Mutter liebkost
und küßt, nach Hld 1,1: Er küsse mich; wie er die Milch trinkt.
7. Seht seine Abtötung: in der Kälte wird er geboren, liegt auf dem
Stroh, im Stall etc.
8. Er weint. Weish 7,3: Gleich allen habe ich weinend meine Stimme
erhoben. Die natürliche Erklärung, warum die Neugeborenen weinen,
ist, daß sie nach der Wärme und Geborgenheit im Mutterschoß zum
erstenmal die Kälte, das Licht und eine ungewohnte Luft spüren. Die
mystische Erklärung: weil sie geboren werden, um zu sterben und viel
zu leiden. Deshalb haben manche darauf hingewiesen, der erste Schrei
der Knaben sei „a“, der Mädchen „e“; das sind die Anfangsbuchstaben
von Adam und Eva, durch die wir so viel Leid erfahren. Nach Aristo-
teles lachen übrigens die Kinder nicht vor dem vierzigsten Tag, außer
auf wunderbare Weise, wie Zoroaster, „der unglückselige Mensch, der
lachend zur Welt kam“. So beginnen Ordensleute die Reinigung mit
der Buße; 40 ist die Zahl der vollkommenen Reinigung; erst wenn sie
erreicht ist, lachen sie, d. h. sind sie getröstet.
Darüber hinaus sagt der Bräutigam im Hohelied (4,11): Von meinen
Lippen träufelt Honig. Also ist die Braut ein Bienchen, das im Mund
Honig erzeugt, und so ist es. Die Oblatinnen sind Bienen. Sie gehen im
Haus der Heimsuchung aus und ein; sie haben kein Eigentum. Sie sind
Jungfrauen und gebären nicht, sondern erhalten die Nachkommen-
schaft vom Himmel, damit wir uns durch seine Eingebung vermehren.
Sie gehorchen, denn auf den Ruf der einen kommen sie; morgens ste-
hen auf den Ton der Glocke alle zur gleichen Zeit auf; sie haben Vor-
gesetzte. Ihr seid also allerliebste Bienen; aber habt ihr keinen König?
Seht euren kleinen Herrn, den wahren König der Bienen. Sammelt
euch um ihn, betrachtet ihn, ahmt ihn nach und seid vortreffliche
Oblatinnen. Schaut auf die Mutter, die kleine Biene; schaut auf den
Vater. Folgt dem neuen König. Er sei euer Manna, er selbst euer Ho-
nig, er, der König, der Herr über euer Herz und euren Leib ist, bis er
euch in den Bienenstock des Himmels führt. Dort werdet ihr noch viel
süßeren Honig bereiten, etc.
Man könnte an diesem Kind das schönste Bild des ganzen Ordens-
kleides entwerfen. Die Kinder sind ja wie die Mönche mit einer Kutte
bekleidet, gehen barfuß, etc.

160
Zum Fest des hl. Josef

Nr. 96 (Entwurf): 19. März 1614 VIII,130-133

Er ward geliebt von Gott und den Menschen; sein


Andenken ist gesegnet (Sir 45,1).

Hier begegnet uns unter anderem das Andenken des hl. Josef, eure
und meine Verehrung. Bevor wir aber beginnen, bitten wir die liebens-
würdigste, am meisten geliebte und am innigsten liebende Braut, daß
wir vom liebenswürdigsten, geliebtesten und am meisten liebenden
Gemahl recht sprechen können.
Drei Namen werden dem hl. Josef im Evangelium gegeben. Er wird
Gemahl Marias genannt (Mt 1,16-19); von Maria wird er der Vater
Christi genannt; Lk 2,48: Dein Vater und ich haben dich schmerzlich
gesucht. Schließlich wird er ein gerechter Mann genannt (Mt 1,19).
Der zweite Name ergibt sich aus dem ersten, der dritte aus dem ersten
und zweiten.
Zum ersten. Gen 2,18: Laßt uns eine Hilfe für ihn machen, die ihm
ähnlich ist. Um die Würde der Ehe hervorzuheben; um die Sittsam-
keit und Ehre der seligsten Jungfrau zu wahren, wenn ihr Sohn von
einer Vermählten geboren wurde; um ihre Keuschheit im Schatten der
Ehe zu verbergen, war sie im übrigen Josef wirklich als Gattin ver-
mählt. Wie die weibliche Palme im Schatten des Palmbaums; wie das
Ei des Straußes. Vergleich bei Plutarch: wie ein mit Edelsteinen ver-
zierter Spiegel, wenn er nicht das Gesicht spiegelt ... Sonne und Mond.
Vgl. den Abschnitt über die Frau (Plutarch, De Legibus matrimonii).
Die die Elefanten versorgen, tragen keine Kleider von leuchtenden
Farben; denn Elefanten werden durch Feuer gereizt wie der Stier durch
das rote Tuch. Tiger fliehen vor dem Klang der Trommel. Die Frau
vermeide alles, was den Mann reizen kann.
2. Vater. Rahel sagte (Gen 30,3): Ich habe meine Magd Bilha; geh zu
ihr, daß sie auf meinen Knien gebäre und ich durch sie Kinder habe.
Christus stammt aus dem Geschlecht des hl. Josef. Gen 2,23: Das ist
nun Bein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. 1 Kor
7,4: Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann; ebenso
verfügt aber auch der Mann nicht über seinen Leib, sondern die Frau.
Eph 5,28ff: Wer seine Frau liebt, der liebt sich selbst; denn niemand
haßt sein eigenes Fleisch. Der Mann wird daher Vater und Mutter ver-

161
lassen und seiner Frau anhangen und sie werden zwei in einem Fleisch
sein. Lk 2,48: Dein Vater und ich haben dich schmerzlich gesucht. Er ist
sein Sohn nach dem natürlichen Recht, nicht nach dem Gesetz des
Lebens.
3. Der Gerechte, d. h. ausgezeichnet mit jeder Art von Tugend wie
der Josef des Alten Bundes. Daher sah er den Mond, die Sonne und die
Sterne sich vor ihm verneigen (Gen 37,9): die Vielzahl der Menschen
(ausgedrückt in der Zahl zehn), die Welt der Engel, unter einem Na-
men gefaßt, die seligste Jungfrau und der Herr. Wie der ägyptische
Josef ist er in kostbares Linnen gekleidet. Wie die Palme wird der Ge-
rechte erblühen (Ps 92,13).
Die höchste Tugend war die Gottesfurcht, wie bei Mt 1,19 zu sehen
ist. Nach dem Gesetz des Mose (Dtn 22,22; Lev 20,19) waren die
Ehebrecherin und der Ehebrecher dem Tod verfallen, nicht der Steini-
gung. Desgleichen die Braut, die den Mann betrogen hatte oder die als
Braut von einem anderen Mann in der Stadt verführt worden war. Ge-
steinigt wurden sie nach der Überlieferung, wie die beiden Greise
(Dan 13,62). Warum? Weil das ein Vergehen gegen die Gesellschaft
war und weil Gott die Sünden des Fleisches straft, etc. Gen 12,17. Wie
Josephus Flavius bestätigt, wurde Pharao mit dem ganzen Hof ge-
züchtigt durch eine Seuche, ebenso nach Kapitel 20 Abimelech in
Gerar. Thales von Milet sagte einem Jüngling auf die Frage, ob er
durch einen Eid den Ehebruch ableugnen solle: „Es gibt keinen schlim-
meren Meineid als den Ehebruch.“

Zum FFreitag
reitag der 2. FFastenwoche
astenwoche

Nr. 104 (Fragment): 20. März 1615* VIII,163-165

Alexander der Große tat Buße, weil er Clytus getötet hatte; er hätte
aber eher für seine Trunkenheit büßen sollen. Er verbarg aber das
Götzenbild unter dem Gewand, denn alle Höflinge entschuldigten ihn.
Siehe Calepinus zum Wort Clytus.
Es gibt zwei Bedingungen für die Echtheit der Reue: 1. Sie muß sich
auf alle Sünden erstrecken. Die ganze Stadt Jericho wurde gebannt;

* Von diesen Fastenpredigten in Annecy sind außer den drei folgenden vier Nach-
schriften (Nr. B 7-10) überliefert. Vom 3. Fastensonntag geben das Fragment
Nr. A 105 und die Nachschrift Nr. B 7 eine Vergleichsmöglichkeit.

162
Achan behielt eine Zunge oder einen Stab aus Gold, einen babyloni-
schen Mantel und 200 Silberschekel zurück (Jos 7,1-21). So machen es
bei uns häufig die Beichtenden und Büßer. Sie haben eine goldene
Zunge, halten aber ihre Schlangenzunge zurück; sie haben einen baby-
lonischen Mantel, mit dem sie ihre schlechten Gewohnheiten bedek-
ken; sie haben 200 Schekel Silber, behalten aber fremdes Geld zu-
rück. Daher werden diese Zunge, dieses Gewand und diese Geldsum-
me nicht Gott dargebracht, sondern gestohlen; denn das alles hätte der
Wahrheit dienen sollen, nicht der Eitelkeit.
Klgl 2,19: Gieße dein Herz wie Wasser vor dem Angesicht des Herrn
aus. Die anderen Flüssigkeiten hinterlassen entweder einen Ge-
schmack oder Flecken, ausgegossenes Wasser nichts, etc. Jakob sagte
(Gen 35, 2.4): Entfernt die fremden Götter aus eurer Mitte, reinigt euch
und wechselt die Kleider. Sie gaben ihm alle fremden Götter, die sie
hatten, und die Ohrgehänge; er aber vergrub sie unter der Terebinthe.
Gen 27,38f: Als er mit lauter Stimme klagte, war Isaak bewegt ... Hebr
12,17: Er fand keinen Platz zur Sinnesänderung, obwohl er ihn unter
Tränen suchte. Du fragst aber, ob die Reue über alle Sünden gleich
sein muß. Keineswegs. Ps 51,16: Befreie mich von Blutschuld, Gott ...
Mose steckte seine Hand in seinen Busen, und sie wurde aussätzig (Ex
4,6f). Stecke deine Hand in dein Herz, in deine Brust, und es wird
erschüttert werden. Ramses (Ex 12,37), die erste Station der Hebräer,
bedeutet nach Hieronymus Erschütterung der Motte.
Zweite Bedingung: Sie muß aus einem christlichen Beweggrund her-
vorgehen. Gen 3,10f: Ich fürchtete mich, weil ich nackt bin. Gott ant-
wortet: Wer hat dir das gesagt? Ex 4,4: Mose ergriff die Schlange beim
Schwanz. Die Wirkung der Sünde ist der Tod. Die Lust führt zu endlo-
ser Strafe. Du fragst aber, ob dieser Beweggrund genügt. Er genügt
nicht. Als er mit lauter Stimme weinte ... Der Stab des Elischa (2 Kön
4,29.31). Judas.

163
Zum 3. FFastensonntag
astensonntag

Nr. 105 (Fragment): 22. März 1615 VIII,166-168

Über das Gebet vor den Schwestern der Heimsuchung

Wie Eusebius berichtet, schrieb der Jude Philo ein Buch über das
kontemplative Leben oder das Leben der Bittenden; er nennt sie auch
therapeutes (d. h. Ärzte, Heilende) oder Anbeter. Siehe Dionysius
(Hier. Eccl.); er nennt hier auch die Mönche Anbeter. Daher sind
Mönche, Anbeter, Bittende dasselbe. Beter, Gebet.
Über die Notwendigkeit des Gebetes will ich nicht sprechen. Lk
18,1: Man muß immer beten und nicht nachlassen. Lk 21,36: Wacht
also und betet allzeit. 1 Thess 5,17: Betet ohne Unterlaß. Der Herr
lehrte sie beten (Mt 6,9; Lk 11,1). Zwei Gruppen von Häretikern: die
Euchiten und Messalianer, die behaupten, alles werde durch das Ge-
bet bewirkt, sonst sei nichts erforderlich; die Pelagianer verneinten
die Notwendigkeit des Gebetes. Johannes Wiclef.
Was ist das Gebet? Das Wort kann man auf zweifache Weise verste-
hen. (1.) Im engeren Sinn als Bittgebet; dann ist es eine Bitte, die man
an Gott richtet, um das, was wir von ihm wünschen. Wir bitten auf
dreifache Weise, wie im Inventarium virtutum ausgeführt. – 2. Allge-
mein, wie der hl. Bonaventura: „Das Gebet enthält alle Akte des kon-
templativen Lebens.“ Der hl. Gregor von Nyssa sagt: „Es ist der Um-
gang mit Gott.“ Der hl. Chrysostomus: „Es ist ein Zwiegespräch mit
Gott.“ Johannes von Damaskus: „Die Erhebung des Geistes zu Gott.“
Augustinus: „Der Aufstieg des Geistes von den irdischen zu den himm-
lischen Dingen.“ Hieronymus an Eustochium: „Wenn du betest,
sprichst du mit dem Bräutigam; wenn du (die Heilige Schrift) liest,
spricht er zu dir“ (De custodia Virginitatis). Bernhard: „Das Wort,
das Beispiel, das Gebet; das Größte aber unter ihnen (1 Kor 13,13) ist
das Gebet.“ Dieses Gebet ist die mystische Theologie (vgl. Tr 6,1 u. 2).
Beachtet folgende Akte: Denken, Studium, Meditation, Kontempla-
tion. Das Denken gleicht den Mücken, das Studium den Maikäfern,
die Meditation den Bienen, die Kontemplation der Bienenkönigin.
Die beiden ersten haben nichts mit unserem Gegenstand zu tun; das
dritte und vierte betrifft das Gebet, doch zwischen ihnen steht das
Bittgebet.
Das Ziel des Gebetes ist die Vereinigung mit Gott, denn Gott bedarf
im übrigen des Gebetes nicht. Es ist die Umgestaltung, denn das bleibt
im Himmel.

164
Zum FFreitag
reitag nach dem PPassionssonntag
assionssonntag

Nr. 106 (Entwurf): 10. April 1615 VIII,169-171

Baruch 4,28: Wie euer Sinn danach stand, von Gott abzuirren, so sollt
ihr ihn zehnfach wieder suchen.
1. Es bleibt noch einiges über die Generalbeichte zu sagen. Sie ist in
drei Fällen notwendig: wenn (die Beichte) ungültig war, weil die Reue
fehlte, weil das Bekenntnis unvollständig war oder weil die Genugtu-
ung, d. h. der Wille zur Wiedergutmachung fehlte. Sie ist notwendig in
Todesgefahr und wenn du dein Leben erneuern willst. Jes 38,15: Alle
meine Jahre überdenke ich von neuem in der Bitterkeit meiner Seele.
Beispiel vom Bekenntnis bei Busäus unter dem Wort „Beichte“ ...
2. Genugtuung ist die freiwillig angenommene Sühne für die Sün-
den. Es gibt eine zweifache Genugtuung: nach dem strengen Maßstab,
die wir nicht leisten, und die angemessene, durch ein materielles Op-
fer oder einen persönlichen Dienst, usw.
3. Können wir erkennen, ob wir richtig gebeichtet haben? Wir kön-
nen keine absolute Gewißheit haben, wohl aber Vertrauen. Erstes
Kennzeichen nach dem hl. Basilius: wenn wir aus Überzeugung mit
dem königlichen Büßer sagen können: Das Böse hasse ich, dein Gesetz
aber liebe ich (Ps 119,163). Zweites: Mein Herz hängt nicht am Bösen
(Ps 101,3). Drittes: Ich sah die Treulosen und verging (Ps 119,158).
Wer ist schwach, ohne daß ich schwach werde? (2 Kor 11,29). Hl.
Bernhard (Sermo 106 de Divers.). Mt 9,5f: Steh auf, nimm dein Bett
und wandle. 1) Sehnsucht nach den höheren Gütern; 2) das Fleisch
und die Sinne beherrschen; 3. wandeln, Verlangen nach Fortschritt.
4. Das einzige ganz Sichere ist die Besserung des Lebens. Magdale-
na, David usw. Um Davids willen (1 Kön 15,4f) gab Gott dem Abija
den Sohn Asa, weil David in den Augen des Herrn gerecht gehandelt
hatte und nicht abgewichen war von allem, was er ihm geboten hatte,
mit Ausnahme des Wortes über den Hetiter Urija. Beachtet aber, ich
sage nicht, daß die wahrhaft Bußfertigen nicht wieder fallen können;
vielmehr, daß es das beste Zeichen ist, nicht zu fallen.
5. Das sind die Regeln, um einen Rückfall zu vermeiden: eine gute
Buße tun. Jeder, der echte Buße tut, macht sie ganz. Ps 119,101.104:
Ich habe meine Füße von jedem bösen Weg zurückgehalten, um deine
Gebote zu halten. Durch deine Gebote wurde ich verständig; deshalb
hasse ich jeden verkehrten Weg des Unrechts. Umgekehrt sprachen sie
zu Gott: Geh fort von uns, wir wollen von deinen Wegen nichts wissen
(Ijob 21,14). Jehu zu Jonadab, dem Sohn Rechabs: Gib mir deine Hand,

165
geh mit mir. Einen festen Vorsatz haben. Will der Kranke die Gesund-
heit? Alle wollen, der Faule aber will und will doch nicht (Spr 13,4).
Man nimmt sich zu wenig Zeit. Man erforscht sein Übel nicht gut.
Es ist ein Unterschied, ob man beichtet, um sein Gewissen zu entla-
sten, oder um sein ganzes Leben zu ändern.

P araphrase zu Psalm 125

Nr. 110: Annecy, Juli 1616* VIII,179-187

Vers 3: Denn der Herr wird die Rute der Sünder nicht das Los der
Gerechten bleiben lassen, damit nicht die Gerechten ihre
Hände nach Unrecht ausstrecken.

Nach der Auslegung der vorhergehenden Verse: 1. Stelle fest, daß


Rute der Sünder in dreifachem Sinn verstanden werden kann. a) Rute
der Sünder ist die Rute, mit der die Sünder gezüchtigt werden, entspre-
chend Ps 32,10: Viele Schläge werden den Sünder treffen, doch die
Barmherzigkeit des Herrn wird den umgeben, der auf ihn hofft. Siehe
dazu die Stelle bei Toletus über den Unterschied der Züchtigung der
Sünder und der Gerechten. Diese Auslegung hat Titelmann. – b) Rute
bedeutet Szepter, Herrschaft; das ist die allgemeine Auslegung. –
c) Rute, das ist Verfolgung, Geißel, mit der der Sünder den Gerechten
mißhandelt.
2. Nun fragen wir, ob das zutrifft. Meistens sehen wir ja, daß die
Gottlosen und Frevler über die Gerechten herrschen und Macht ha-
ben; z. B. Potifar über Josef, Laban über Jakob, Pharao vierzig Jahre
über die Israeliten, Ahab über den Weinberg Nabots. Ps 73,2f.5f.11-
13: Meine Füße aber wären fast gestrauchelt, weil ich gegen die Frevler
eiferte, da ich den Frieden der Sünder sah. Sie teilen nicht die Mühsal
der Menschen und werden nicht mit ihnen gezüchtigt. Darum hält Hoch-
mut sie gefangen; sie sind von ihrer Sünde und Gottlosigkeit bedeckt
und sagten: Wie sollte Gott es wissen und der Höchste Kenntnis davon
haben? Siehe, sie sind Sünder und haben Reichtümer in der Welt erwor-
ben. Und ich sagte: Also habe ich umsonst mein Herz gerecht erhalten.
Jer 12,1: Warum ist der Weg der Gottlosen erfolgreich?
Die erste Antwort zu dieser Stelle (Ps 125,3) gibt Augustinus, in-
dem er das Wort nicht bleiben lassen auslegt. Denn im Gericht werden

* Im Juli 1616 hat Franz von Sales in akuter Kriegsgefahr (vermutlich in mehre-
ren Predigten) diese Paraphrase gehalten, deren Anfang nicht überliefert ist.

166
die zu Unrecht Herrschenden entmachtet werden und der Herr wird
es mit seiner Hand ändern (er wird die Lämmer von den Böcken schei-
den); Efraim wird Manasse vorgezogen, obwohl Manasse älter ist (Gen
48,13-20): Dann wird Josef seinen Brüdern vorgesetzt. Gregor der
Große. Wie sollte er größer sein, wenn es den Bösen schlecht, den
Guten gut ergeht?
Zweite Antwort: Er wird nicht bleiben lassen; er läßt zwar zu, daß die
Gottlosen herrschen, aber sehnsüchtig harrte ich auf ihn, und er merkte
auf mich (Ps 40,1). Ich sah den Gottlosen erhöht wie die Zedern des
Libanon (Ps 37,35). So ziehen die Israeliten aus; so ging es Ijob, Ja-
kob, Josef, so Isebel und allen.
Dritte Antwort: Manchmal glauben wir, es sei die Rute der Sünder,
und es ist die Rute Gottes. Ps 23,5: Deine Rute und dein Stock, sie haben
mich getröstet. So blühte Aarons Stab; so wurde der Stab des Mose
angenommen. Also ist es nicht die Rute der Sünder, sondern der Ge-
rechten, denn die Schlange verwandelt sich in den Stab (Ex 4,4).

Vers 4: Erweise Gutes den Guten, die aufrichtigen Herzens sind.

Dieses Gebet scheint nicht erhört zu werden; denn bisweilen, ja mei-


stens geht es den Schlechten gut, den Guten schlecht. Seht den guten
und gerechten Ijob, seht seine schlechten und ungerechten Freunde; er
verfault auf dem Misthaufen, sie lachen und verspotten ihn. Seht Abel
und Kain; der Gerechte wird getötet, der andere lebt und obsiegt. Seht
die Apostel und die Tyrannen. Seht die Häretiker und die Katholiken;
jenen scheint es gut zu gehen, sie bemächtigen sich der kirchlichen
Güter, sind mächtig usw. Sie teilen nicht die Mühsal der Menschen und
werden nicht mit ihnen gezüchtigt. Darum hält Hochmut sie gefangen;
sie sind von ihrer Sünde und Gottlosigkeit bedeckt und sagten: Wie
sollte Gott es wissen und der Höchste Kenntnis davon haben? Siehe, sie
sind Sünder und haben Reichtümer in der Welt erworben. Und ich sag-
te: Also habe ich umsonst mein Herz gerecht gehalten, meine Hände
mit den Unschuldigen gewaschen, und doch wurde ich den ganzen Tag
geschlagen und meine Züchtigung begann schon am Morgen. Doch
spräche ich: das will ich erzählen, siehe, ich würde das Geschlecht dei-
ner Kinder verleugnen. Ich habe nachgedacht, um das zu verstehen,
aber es ist mir mühsam, bis ich eingehe in das Heiligtum Gottes und ihr
Ende erkenne (Ps 73,5f).
Seht den ganz heiligen Josef und die allerseligste Jungfrau, die Li-
lien der Reinheit und Spiegel der Unschuld; wie werden sie von Hero-

167
des verfolgt, wie leiden sie auf der Flucht nach Ägypten, etc. Seht den
Gerechten der Gerechten, Christus den Herrn.
Antwort. Selig der Mann, der den Herrn fürchtet, ... mächtig; Ehre
und Reichtum (Ps 112,1-3). Du wirst gut zum Guten sein, mit dem
Heiligen wirst du heilig sein, mit dem Unschuldigen unschuldig (Ps 18,26).
Jubelt alle, die ihr geraden Herzens seid (Ps 32,11). Denen, die geraden
Sinnes sind ... (Ps 73,1).
Zur Begründung. 1. Aus Augustinus (Sermo X), wo er von jenen
spricht, die geraden Herzens sind. Ein gerades Herz ist jenes, das mit
Gott übereinstimmt, der selbst die Rechtschaffenheit und Gerechtig-
keit ist. Daher ist ihm alles willkommen, was Gott will, auch Trübsal
und Bedrängnis, und es nimmt alles als Wohltat an. Er sagt: Gerecht
bist du, Herr, und gerecht ist dein Gericht (Ps 119,137). Der Ältere soll
dem Jüngeren dienen (Gen 24,23), nachfolgend, nicht gehorchend. So
tun auch die Ärzte den Kranken Gutes, indem sie ihnen Schmerzen
zufügen. Man darf nicht so sehr darauf sehen, was gefällt, als darauf,
was nützt.
2. Bedrängnisse sind in Wahrheit gut, deshalb liebte sie der Herr.
Wenn die Unwetter aus Perlen bestünden, möchten die meisten sie auf
ihren Feldern haben. Doch die Bedrängnis bewirkt Geduld, die Geduld
Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung, die Hoffnung jedoch wird
nicht zuschanden (Röm 5,3-5). Mein Geliebter ist mir ein Myrrhenstrauß
(Hld 1,12). Alles trägt zum Guten bei (Röm 8,28). Sagt dem Gerech-
ten, daß alles gut ist (Jes 3,10). Ergreife sie beim Schwanz; und die
Schlange wurde in einen Stock verwandelt (Ex 4,4).
3. Augustinus bringt die Lösung. Ps 73,16f: Ich sann nach, um das zu
verstehen, aber es war mir zu mühsam, bis ich in das Heiligtum Gottes
eintrat. Dann werden wir sehen, warum den Bösen Gutes, den Guten
Schlechtes zuteil wurde. Wenn den Guten Schlechtes widerfährt, dann
geschieht es, damit sie hier und nicht auf ewig gestraft werden, wenn
sie in etwas gefehlt haben; wenn es den Schlechten gut geht, damit sie
hier ihren Lohn empfangen, da sie des ewigen nicht würdig sind. Siehe
diese Frage bei Gregor (Moralia V,1) und Gretscher (De Cruce V,4).
So steht es uns also nicht zu, jetzt zu fragen, warum den Guten
Schlechtes widerfährt. So sagt auch der Psalmist zu Recht: Herr, er-
weise Gutes den Guten, die aufrichtigen Herzens sind; nicht in der
Weise, die wir für richtig halten, sondern erweise Gutes nach deinem
Willen und danach, was bei dir auch in dieser Welt gut ist, wie Kreuze,
Bedrängnisse usw., und in der künftigen, wo es ganz gut ist: Geh ein in
deine Ruhe, weil der Herr dir Gutes erwiesen hat (Ps 116,7).

168
Im übrigen sind jene gut, die der gütige Gott gut gemacht hat. Aber
ist gut und geraden Sinnes nicht dasselbe? Weish 8,19f: Ich hatte ein
gutes Gemüt erhalten, und als ich noch besser wurde, kam ich zu einem
unbefleckten Leib. Ich kann mich nicht erinnern, in der Heiligen Schrift
gelesen zu haben, daß jemand gut genannt wird im Sinn der Güte, die
übernatürlich ist, obwohl ich Menschen guten Willens fand. Niemand
ist gut außer Gott (Mk 10,18), weil nämlich die Güte eine innere und
absolute Eigenheit des Seins ist. Daher fügt der Psalmist zur Erläute-
rung hinzu: geraden Sinnes.

Die aber auf schiefe Wege abweichen, wird der Herr mit denen führen,
die Böses tun. Friede über Israel.

Vom Weg weichen ab, die nicht geraden Herzens sind. Sie weichen
vom Weg ab, sie irren vom Pfad der Wahrheit ab (Weish 5,6). 1. Auf
schiefe Wege. Sa sagt: In Fesseln; Genebrard: in Bande; sie verstricken
sich. Sie geraten in Fallstricke, sie haben Spinnennetze gewoben. Wie
die Seidenraupen sich unablässig in ihrem Werk einwickeln, so ver-
strickt das Herz sich in schlechten Neigungen. Sie verlieren sich auf
ihren Wegen wie in einem Labyrinth. – 2. Hieronymus sagt: in
Verkehrtheiten, in gewundene Wege. Jes 11,4: Krummes soll gerade
werden. Der erste Sünder, der Teufel, nahm die Gestalt der Schlange
an; weil die Sünder nach Art der Schlangen sich winden, nicht gerade-
aus gehen, den Kopf bald nach rechts, bald nach links beugen. –
3. Chaldäisch: schiefe Wege; das ist dasselbe. Dtn 5,32: Ihr sollt nicht
nach rechts und nach links abweichen, nicht nach beiden Seiten schwan-
ken: nach rechts durch Tun, denn die Rechte ist tätig, noch nach links
durch Unterlassen, denn die Linke ist müßig und untätig. Oder schwan-
kend: bald gut, bald schlecht; wie jene, die bei Gott schwören und bei
Moloch (Zef 1,5).
Er wird sie mit den Übeltätern führen, 1. mit denen, die offenkundig
ein sündhaftes Leben führen; oder 2. mit den Teufeln (in das Feuer,
das dem Teufel bereitet ist: Mt 25,41). Der Teufel ist ja der Erfinder
und Baumeister der Schlechtigkeit.
Friede über Israel. Geschichte Gen 32,24-28: Jakob ringt mit Gott,
daher erhält er den Namen Sieger über Gott oder Fürst mit Gott, was
dasselbe ist; denn wer mit Gott als Fürst handelt, der macht im Kampf
Gott sich ergeben. Daher sagen Pereira, Viegas, Cornelius mit Hiero-
nymus, Israel bedeute das gleiche wie Fürst mit Gott. Aber am Schluß
jeder Bibel lautet die Version dieser Worte: mächtig über Gott.

169
Fastenpredigten in Grenoble
In Grenoble predigte Franz von Sales im Advent 1616 über das Benedictus (Nr.
A 114-119), außerdem in der Fastenzeit 1617 und 1618.
Von den Fastenpredigten 1617, zum jeweiligen Tagesevangelium, sind eine Samm-
lung von Notizen (Nr. A 120) und 20 Entwürfe (Nr. A 121-140) überliefert (das
einzige an Autographen aus diesem Jahr); davon werden vier Entwürfe wieder-
gegeben.
Der Fastenzyklus 1618 behandelte, ausgehend vom Fall und der Bekehrung des
hl. Petrus, das Thema Sünde und Gnade. Davon werden die überlieferten Predig-
ten (Nr. A 141-145) wiedergegeben.

Zum Donnerstag der 2. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 131 (Entwurf): 23. Februar 1617 VIII, 296-300

Vom reichen Prasser


Von den Reichen und den Reichtümern

Wenn Nebel die Erde bedecken, kann niemand recht unterscheiden,


ob ein Ort schön oder häßlich, wo ein Garten oder ein Misthaufen ist.
Solange die Menschen leben, kann keiner leicht beurteilen, ob die
Reichen unglücklich und die Armen glücklich sind.
Als der Herr den jungen Mann traurig sah (Mk 10,21-27; die ganze
Begebenheit ist beachtenswert), blickte er sich um und sagte zu den
Jüngern: wie schwer ist es für jene, die Reichtümer besitzen, in das Reich
Gottes zu gelangen! Die Jünger wunderten sich über seine Worte. Jesus
aber sagte von neuem zu ihnen: Kindlein, wie schwer ist es für jene, die
ihr Vertrauen auf Geld setzen, in das Reich Gottes einzugehen! Leichter
geht ein Kamel ... Darüber wunderten sie sich noch mehr und sagten
zueinander: Wer kann dann gerettet werden? Jesus blickte sie an und
sagte: Bei den Menschen ... So sage ich, wenn ich heute das Evangeli-
um (Lk 16,19-31) lese: Wie schwer ist es ... Um aber der Reihe nach
vorzugehen: es gibt vier Arten von Reichen, sowohl guten als schlech-
ten; es gibt auch die Irrlehre der Armen von Lyon, der Apostoliker,
der Manichäer und des Julian Apostata.
1. Im Erwerben des Reichtums. Ex 20,15: Du sollst nicht stehlen.
Hos 8,4: Sie haben Könige eingesetzt, die nicht von mir kommen. Lk
19,8: Wenn ich jemand übervorteilt habe, erstatte ich es vierfach. Ps
15,15: Herr, wer wird in deinem Zelt wohnen? Wer sein Geld nicht gegen

170
Zinsen leiht und keine Bestechung gegen einen Redlichen annimmt. Lk
16,9: Der ungerechte Mammon. Sie gleichen Ahab, der den Weinberg
haben wollte, der an den seinen angrenzte (1 Kön 21,2). Sie sind wie
Eselinnen, wenn sie ihre Fohlen säugen; denn da lieben sie ihre Jun-
gen überaus, sagt Plinius. Wenn jedoch ein kleiner Bach zwischen ih-
nen und ihren Jungen ist, kommen sie nur sehr schwer hinüber und
wollen keinen Fuß ins Wasser setzen. Sie scheuen sich aber nicht,
durchs Feuer zu gehen. So kommen auch viele Väter in das Feuer der
Hölle wegen ihrer (falschen) Liebe zu den Kindern. Sie möchten für
diese aber nicht einmal das Wasser der Armut oder der Aufwendun-
gen berühren, d. h. nichts ausgeben, um sie in guter Lebensart und in
den Wissenschaften auszubilden. Sie gleichen den Kaninchen, die sich
die Haare an der Brust ausrupfen, um für ihre Jungen das Nest oder
Lager zu bereiten; sie entblößen ihr Gewissen. Auch brauchen sie viel
Platz zum Schlafen (ich denke an Packesel), denn im Schlaf kommen
ihnen tausend Einfälle und sie wälzen sich hin und her. So verbringen
diese Reichen ihren Schlaf (Ps 76,6); den einen berauben sie seiner
Habe, jenen verzehren sie ... Ruades. Und wehe euch, die ihr Haus an
Haus baut und Feld an Feld reiht, bis kein Platz mehr bleibt. Wohnt ihr
etwa allein im Land? (Jes 5,8).
Die nach der Ordnung Gottes erworbenen Güter sind gut. Deshalb
sagt Isaak beim Segen über Jakob: Der Herr gebe dir vom Tau des
Himmels und von der Fruchtbarkeit der Erde, Überfluß an Korn und
Wein (Gen 28,28). Und Ijob (1,21): Gott gab ...
2. Im Festhalten (des Reichtums); wie Söhne und Erben bei schlech-
ten Verträgen, die sie selbst nicht als solche erkennen. Ebenso fromme
Vermächtnisse. (Halietus, Seeadler*). Fremdes Gut zurückbehalten,
darüber verfügen.
3. Den Reichtum zwar rechtmäßig erwerben, aber zu habsüchtig er-
werben. Appian von Alexandria berichtet, daß die Parther, als sie in
die Flucht geschlagen wurden (vgl. similitudes), vom Hunger gepei-
nigt, ein Kraut aßen, das sie alles vergessen ließ; ihre Sinne wurden
verwirrt, sie erbrachen sich und starben. Nun, nun, was tut ihr? Große
Gefahr. 1 Tim 6,5: Die reich werden wollen, geraten in Versuchung und
in die Schlingen des Teufels, in viele schädliche Wünsche, die den Men-
schen in Untergang und Verderben stürzen.

* Wenn der Seeadler (halietus) einen großen Fisch fängt, den er nicht zu tragen
vermag, läßt er sich eher von seiner Beute auf den Grund des Meeres ziehen, als
sie loszulassen (Lauretus. Sylva)

171
4. Durch Geiz im Besitz. Götzendienst (Kol 3,5; Eph 5,5). Men-
schen der Reichtümer (Ps 76,6). Glückselig der Reiche, der ohne Schuld
erfunden wird, der dem Geld nicht nachjagt, noch seine Hoffnung auf
Geld und Reichtum setzt. Wer ist es, wir wollen ihn loben (Sir 31,8f).
Dem Geizigen fehlt ebenso, was er hat, wie das, was er nicht hat.
5. Wer beim Ausgeben wie der reiche Prasser die Reichtümer nur
für sich, für Vergnügungen und eitlen Ruhm verwendet, Vergleich der
ägyptischen Hunde (Plinius), der Hirsche, Schiffe, Kleider.
6. Grausamkeit gegen Arme. Die Armen haben ihre Würde und
müssen geachtet werden; deshalb muß man sie anstelle des Herrn be-
suchen.
Die Geschichte Belschazzars (Dan 5) lebendig und eindringlich
schildern: Mene, du bist gezählt, tekel, gewogen, phares, geteilt. Hüten
wir uns.

Zum Dienstag der 3. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 135 (Entwurf): 28. Februar 1617 VIII,315-319

Hat dein Bruder gegen dich gefehlt ... (Mt 18,15)

Gegen dich, vor dir; wie Ps 51,6: Gegen dich allein habe ich gesün-
digt und Böses vor dir getan. Gegen dich und vor dir bedeutet das glei-
che und die Auslegung des einen gilt auch für das andere. Gegen dich:
wodurch du entweder Ärgernis nimmst oder verletzt wirst.
Das ganze Gebot der brüderlichen Zurechtweisung wird vom Schluß-
satz bestimmt: Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen
(Mt 18,15). Das ist das bewegende Rädchen dieser Uhr, das Steuerru-
der dieses Schiffes, der Pol dieser Seefahrt. Es ist ja das Ziel (causa
finalis) der Zurechtweisung, und vom Zweck läßt sich der Künstler
bei allem bestimmen.
Daraus ergibt sich die causa efficiens (Wirkursache); denn alle Men-
schen ohne Ausnahme sind zur Zurechtweisung verpflichtet, auch sol-
che von geringem Ansehen gegenüber Höhergestellten. So hat Paulus
auch Petrus zurechtgewiesen: Als Kephas nach Antiochien kam, habe
ich ihm ins Angesicht widersprochen, weil er zu tadeln war (Gal 2,11).
Obwohl Petrus nur ganz leicht gegen ihn fehlte, wurde er in Anbe-
tracht der Schwere der Konsequenzen doch von Paulus getadelt, „da-
mit der Erste der Würde nach auch der Erste in der Demut war“ (Gre-

172
gor). „Wenn die Guten über eine Sache nicht das gleiche denken, bleibt
ihre Freundschaft davon dennoch unberührt“ (Thomas). Wer zurecht-
weist, muß jedoch gerecht sein, d. h. untadelig, damit man ihm nicht
sagt: Arzt, heile dich selbst (Lk 4,23). Der Gerechte möge mich tadeln
(Ps 141,5). Ist das Salz schal geworden ... (Mt 5,13). Die goldenen
Lichtscheren (1 Kön 7,49).
Gegenstand (causa materialis der Zurechtweisung) sind Todsünden,
denn nur durch sie stürzt der Bruder ins Verderben. Der Arzt gibt
nicht gegen jeden kleinsten Schmerz und gegen einen Mückenstich
eine Medizin. Hier werden die aufdringlichen Tadler zurückgewiesen,
wie die Pharisäer: Warum waschen deine Jünger die Hände nicht, be-
vor sie essen? (Mt 15,2).
Es genügt aber nicht, daß es sich um schwere Sünden handelt, es
muß auch die Möglichkeit der Besserung bestehen, d. h. man muß die
Hoffnung haben können, daß sie durch die Zurechtweisung gebessert
werden. Wenn nämlich der Bruder so verdorben ist, daß er sich nicht
bessern lassen will, muß man von ihm ablassen. So hat auch Christus
der Herr im gestrigen Evangelium (Lk 4,30) die Nazarener verlassen,
überläßt die Blinden und Führer der Blinden (Mt 15,14) sowie Judas
ihrem Schicksal.
Wenn aber läßliche Sünden sehr gefährlich und zu häufig sind und
der Bruder zu sehr an ihnen hängt, können wir ihn zurechtweisen, wir
sind dazu aber nicht verpflichtet. Abraham verscheuchte die Vögel
vom Opfer (Gen 15,11); auch von der Tafel der Könige und Fürsten
werden die Mücken verjagt. So müssen zwischen Ordensleuten und
solchen, die nach Vollkommenheit streben, ebenfalls die Mücken ab-
gewehrt werden, denn sie verderben den Duft des Salböls (Koh 10,1).
Für die causa formalis, d. h. die Form der Zurechtweisung gilt:
1. Man muß das rechte Maß halten, nicht gleich ätzende und brennen-
de Heilmittel anwenden; wenn milde und leichte genügen, sollst du
keine stärkeren gebrauchen.
2. Die Zurechtweisung muß mit Mitgefühl geschehen: Wer ist
schwach, ohne daß ich schwach werde? Wer nimmt Anstoß, ohne daß
ich brenne?“ (2 Kor 11,29). Mit einem mütterlichen Herzen bin ich
allen alles geworden (1 Kor 9,22). Der Gerechte weise mich zurecht in
Barmherzigkeit und tadle mich; aber das Öl des Sünders komme nicht
auf mein Haupt (Ps 141,5). Öl des Sünders ist nach dem Hebräischen
der Same, der Tau, das Öl des Giftes. Man soll mir nicht vom (gifti-
gen) Honig von Heraklea geben. Öl und Wein muß in die Wunde ge-
träufelt werden (Lk 10,34). Röm 14,1: Nehmt einen Schwachen im
Glauben auf. Gal 6,1: Brüder, wenn einer übereilt einen Fehler begeht,

173
dann weist ihn als geistlich Gesinnte zurecht im Geist der Milde. Achte
auf dich selbst, daß nicht auch du versucht wirst. In der Bundeslade
waren die Gesetzestafeln, der Stab Aarons und das Manna (Hebr 9,4).
Wer zurechtweist, in dem muß das Gesetz sein, denn er muß gerecht
sein; das Manna, süß wie Honig, und die Rute der Zurechtweisung.
Der Stab Aarons war blühend, grünend und fruchttragend (Num 18,8);
die Rute der Zurechtweisung muß milde sein und fruchtbringend, d.
h. nützlich. Hld 4,11: Honig und Milch auf der Zunge, Honigseim träu-
felnd.
3. Mit Klugheit und Diskretion. Bezüglich des Zeitpunkts. So, sagt
der hl. Gregor, wartete Abigajil, bis in Nabal der Wein verraucht war
(1 Sam 25,37). Einen Menschen zurechtweisen, solange er zornig ist,
hieße eine Schleuse in einem Strom bauen wollen, der über die Ufer
getreten ist. Ein rasendes Pferd. Koh 3,1: Alles hat seine Zeit.
Bezüglich der Person stellt der hl. Gregor Regeln auf: Einen Vorge-
setzten oder Älteren demütig. 1 Tim 5,1: Einen, der älter ist als du,
fahre nicht schroff an, sondern rede ihm wie deinem Vater zu. David
besänftigte den Geist Sauls mit der Harfe (1 Sam 16,23). Einen Unter-
gebenen strenger, so daß er (dich) sowohl liebt als auch fürchtet. Die
Weisen der Welt muß man so zurechtweisen, daß sie lernen, nicht zu
wissen, was sie wissen, und zu wissen, was sie nicht wissen. Anmaßen-
de kräftig; Furchtsame äußerst human.
Bezüglich der Art und Weise. Natan streichelt den Arm, bindet ihn,
lenkt den Blick des Kranken ab, dann schneidet er das Geschwür auf
(2 Sam 12,1-13). Ebenso jener Chirurg, von dem Seneca berichtet. Er
schnitt der Tochter des Königs (der Bischof von Belley sagt, es sei die
Tochter des Augustus gewesen) die kranke Brust auf, indem er das
Skalpell unter einem Schwamm verbarg, mit dem er das Geschwür
weichzumachen vorgab. Einen Umschlag machen, um ihn zu besänfti-
gen. Ebenso die Frau des Tekoa (2 Sam 14,4-21). Der selige Ägidius
und der andere Prediger. Jes 14,11: Unter dich wird Gewürm gebreitet
und deine Decke werden Würmer sein. Archelaus oder Argesilaus, den
ein geschwätziger Barbier fragte: „Wie soll ich dich rasieren?“, sagte:
„schweigend“ (Plutarch). Die beste und leichteste Art der Zurecht-
weisung. Der hl. Franziskus predigte schweigend (vgl. OEA VI,133).
Simeon Stylites, dessen Anblick schon jene zurechtzuweisen schien,
die ihn sahen (ActaSanctorum).

174
Zum Mittwoch der 3. FFastenwoche
astenwoche

Nr. 136 (Entwurf): 1. März 1617 VIII,320-324

Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der


Alten? (Mt 15,2)

Der Herr tadelt hier die Heuchler, daß sie ängstlich auf bestimmte
Überlieferungen pochen und solche geschaffen haben, die im Wider-
spruch zum Wort Gottes stehen. Er lehrt also im Gegenteil, daß gut
jene Überlieferungen sind, die dem Wort Gottes nicht widersprechen,
vielmehr mit ihm übereinstimmen. Bei dieser Gelegenheit will ich
euch eine kurze Belehrung über die Überlieferung geben.
Die ganze christliche Lehre ist ursprünglich und in sich Überliefe-
rung. Denn der Urheber der christlichen Lehre war Christus der Herr.
Aber er hat 1. selbst überhaupt nichts geschrieben, außer das Wenige,
als er die Ehebrecherin lossprach; er wollte aber nicht, daß wir wissen,
was er schrieb, deshalb hat er es in den Sand geschrieben (Joh 8,8). Er
hat 2. auch niemand beauftragt zu schreiben, außer was er den Bischö-
fen Kleinasiens mitteilen wollte (Offb 1,11). Deshalb nannte er 3.
seine Lehre nicht „Eugraphium“ (die frohe Schrift), sondern Evange-
lium (frohe Botschaft) und gab den Auftrag, sie vor allem durch die
Predigt zu verbreiten. Er hat nämlich nie gesagt: Schreibt das Evange-
lium der ganzen Schöpfung, sondern verkündet (Lk 16,15).
4. Deshalb sagte er nicht, daß der Glaube durch das Lesen entsteht,
sondern durch das Hören. So sagt er selbst (Lk 10,16 u. ö.): Wer euch
hört, der hört mich; Mt 13,9.43: Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Deshalb sagt der Vater (Mt 17,5): Ihn sollt ihr hören. Ebenso sagt der
Apostel (Röm 10,17f; Ps 19,5): Der Glaube kommt vom Hören, das
Hören aber vom Wort Gottes. Ihr Schall drang in alle Länder. – 5. So
sagt der hl. Paulus (2 Thess 2,14) auch: Haltet fest an den Überliefe-
rungen, die ihr empfangen habt, sei es mündlich oder durch unseren
Brief. Und 1 Tim 6,20: Timotheus, bewahre das anvertraute Gut, mei-
de die Neuerungen eitler Reden und die Einwände der fälschlich so
genannten Erkenntnis. Die Häretiker deuten das anvertraute Gut als
die Gnade Gottes, die Timotheus empfangen hat, um seines Amtes gut
zu walten. Wie unvernünftig und falsch das ist, zeigen die folgenden
Worte. Paulus stellt das anvertraute Gut den Neuerungen eitler Rede
und den Einwänden der fälschlich so genannten „Erkenntnis“ gegen-
über. Dazu sind die Väter zu hören; sehr schön Vinzenz von Lerin,
Judas in seinem Brief (3f): Geliebteste, ich habe es mir zum Anliegen

175
gemacht, euch über euer gemeinsames Heil zu schreiben, und ich hielt
es für notwendig, euch zu schreiben und euch anzuflehen, daß ihr euch
mit aller Kraft einsetzt für den Glauben, der ein- für allemal den Heili-
gen überliefert wurde; denn es haben sich gewisse Leute eingeschlichen
... Auf jedes Wort legt er Nachdruck: supercertari, sich anstrengen,
nicht nur kämpfen, sondern hart und tapfer kämpfen, mehr als kämp-
fen; semel, nicht zweimal, stets ganz der gleiche Glaube, überliefert,
überliefert.
Nun werden aber in der ganzen Lehre zwei Teile unterschieden, ent-
sprechend dem Wort des hl. Paulus: sei es mündlich oder durch unse-
ren Brief. Nun zweifelt niemand daran, daß der beste und notwendigste
Teil der Lehre schließlich niedergeschrieben wurde; ein Teil jedoch
wurde nicht schriftlich, sondern gleichsam von Hand zu Hand über-
liefert. Da fällt mir die Begebenheit 1 Kön 3,16-28 ein: Die Frau, der
das Kind, d. h. die christliche Lehre gehört, will nicht, daß es zerstük-
kelt wird. Die katholische Kirche will das ganze Wort Gottes: die
Schriften und die Überlieferungen. Die Sekten dagegen wollen im-
mer, daß es zerstückelt wird. So lehnen gegenwärtig Kaspar
Schwenckfeld und die Libertiner die heiligen Schriften ab, die
Calvinisten die Überlieferung. Das ist ein Kennzeichen fast aller, daß
sie einen Teil annehmen und einen Teil ablehnen: Gestalt, Zeichen,
aber nicht die Sache; Anrechnung, nicht Gnade; Glaube, keine Wer-
ke; Nachlassen, nicht Vergebung (der Sünden); Verwaltung, kein Bi-
schofsamt, unmittelbares Gebet, kein mittelbares.
Aber, sagen sie, genügen die heiligen Schriften nicht allein? Sind sie
nicht ausreichend und mehr als das? Gewiß möchte ich nicht behaup-
ten, wie gewisse sehr berühmte und gelehrte Männer, daß sie nicht
genügten. Sie selbst genügen vollständig, aber wir sind nicht hinrei-
chend fähig, die katholische Lehre nur aus den heiligen Schriften, al-
lein für sich genommen, zu schöpfen. Hatten denn nicht alle Irrlehrer
die heiligen Schriften, ja sogar die Juden und andere? Und doch glaub-
ten sie nicht und sind dem Irrtum verfallen. Also sind die Überliefe-
rungen notwendig; denn die Lehre nur unter der Eingebung des Heili-
gen Geistes schöpfen zu wollen, ist unsinnig und wir hätten „soviel
Meinungen als Köpfe“. Deshalb muß man das anvertraute Gut
(depositum) sehen, dem ein- für allemal den Heiligen überlieferten Glau-
ben folgen, auf die Kirche als dessen Hüterin hören. Sie besitzt ja die
Lehre nicht als ihre eigene Erfindung, sondern als treu gehütetes Gut.
Die Kirche genügt, weil sie uns die heiligen Schriften gibt; die Über-
lieferung genügt, weil sie die heiligen Schriften empfiehlt; die heiligen
Schriften genügen, weil sie die Kirche und die Überlieferungen emp-

176
fehlen. Die Kirche ist wie eine Taube, die zwei Flügel hat: die Heilige
Schrift und die Überlieferung.
Die Kirche bedarf der Überlieferung, 1. daß sie uns die Existenz
bestimmter heiliger Schriften lehre. Denn woher sollte die Gewißheit
kommen, wenn nicht vom Zeugnis der Kirche, die diese Überliefe-
rung empfangen hat? So gibt entweder die Heilige Schrift keinen Glau-
ben oder die Überlieferung gibt den Glauben.
2. Damit wir die Zahl der kanonischen Bücher kennen. Denn der hl.
Paulus schrieb z. B. einen Brief an die Gemeinde von Laodizea (Kol
4,16), und er wird weitergegeben. Man sagt aber, daß er auch an Seneca
geschrieben habe. Ferner erwähnt Judas in seinem Brief (14,15) eine
Weissagung Henochs. Dazu bemerken die Genfer: „Diese Weissagung
Henochs steht nicht in der Bibel, sondern wurde mündlich von den
Vätern an die Kinder weitergegeben, wie vieles andere auch.“ So sagt
der Apostel (Hebr 5,11): Darüber hätten wir Großes zu sagen, aber es
ist nicht in Worten auszusprechen, weil ihr unfähig geworden seid zu
hören. Pastor Hermes, Evangelium der Nazarener, des Thomas.
3. Um den Sinn der Heiligen Schrift festzustellen. Denn Irrlehren
entstehen, „wenn die echten Schriften nicht recht verstanden werden“
(Augustinus).

Zum Donnerstag der 3. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 137 (Entwurf): 2. März 1617 VIII,325-329

Jesus ging von der Synagoge in das Haus des Si-


mon. Die Schwiegermutter Simons wurde von ei-
nem schweren Fieber heimgesucht (Lk 4,38).

Nun müssen wir kurz behandeln, was gestern von der Überlieferung
ungesagt blieb. Das liegt keineswegs außerhalb unseres Gegenstandes,
denn unter den kirchlichen Überlieferungen ist die von der Ehelosig-
keit der Priester eine der bedeutendsten. Über sie mußte am Anfang
des heutigen Evangeliums unbedingt gesprochen werden. Doch laßt
uns Gott bitten.
Ich glaube, ihr habt bemerkt, daß ich meine Ausführungen nicht
ausgedehnt habe auf die Überlieferungen, auf denen die Religion über-
haupt beruhte bis auf Mose, der als erster etwas aufgezeichnet hat;
ebenso nicht auf die Überlieferungen, die es bei den Hebräern gab,

177
denn das wäre zu lang gewesen. Ich habe also die Predigt auf die christ-
liche Lehre beschränkt, von der ich sagte, daß sie am Anfang nicht
geschrieben, sondern überliefert wurde. Und wenn sie auch später auf-
geschrieben wurde, so doch nur unvollständig. Das zwingt uns zuzuge-
ben, 1. daß wir heilige Schriften besitzen, denn nur durch die Überlie-
ferung wissen wir, daß wir sie haben.
2. daß wir sie in dieser Zahl haben. Denn woher anders als durch die
Überlieferung wissen wir, daß der Brief an die Gemeinde von Laodizea
und der Brief an Seneca keine echten Paulusbriefe sind? Dann sagt der
Apostel selbst (Hebr 5,11): Darüber hätten wir Großes zu sagen, aber
es ist nicht in Worten auszusprechen. Was ist aus diesem großen Wort,
aus dieser langen Rede geworden? Wir Katholiken wissen genug. Das
versteht sich von der Gestalt Christi im Sakrament des Altares; fast
das ganze Altertum handelt davon.
3. um den Sinn der Heiligen Schrift zu ermitteln. Denn nur durch
die Überlieferung können wir je die Hartnäckigkeit der Häretiker über-
winden; deshalb hassen sie ja die Überlieferung. Gewiß hätten die
Arianer tausend Jahre an ihrer falschen Lehre festgehalten, hätte man
nicht durch die Überlieferung die Autorität der Väter und der Apostel
anführen können. Es gibt wirklich nur mehr wenig, was man nicht aus
den heiligen Schriften belegen könnte, wenn man die Überlieferung
zu Hilfe nimmt. Legt man sie nicht zugrunde, dann kann man fast
nichts sicher belegen. Vgl. die Lehre des Epiphanius ...
4. Für die Form, die Zahl, die Materie und den Ritus der Sakramen-
te. Deshalb sagt der Apostel (1 Kor 11,34): Das übrige werde ich re-
geln, wenn ich komme. Dabei hatte er vieles schriftlich angeordnet.
5. Für die Gesetze, z. B. für die Verlegung des Sabbats auf den Sonn-
tag, über das Osterfest, die Fastenzeit, daß nach einiger Zeit der Ge-
nuß von Blut und Ersticktem erlaubt wurde (vgl. Apg 15,20). Die
Genfer Bibel: Was Ersticktes und Blut betrifft, war der Genuß nicht
etwas in sich Unerlaubtes, aber er war zeitweise durch ein Gebot ver-
wehrt. Das Verbot galt nicht zur Zeit Tertullians, wie man in seiner
Apologetik (c. IX) sehen kann (dort findet man eine schöne Bemer-
kung über den Kindermord). Die Ehelosigkeit der Priester seit der
frühesten Zeit aus tausend Gründen.
6. Unterschiede zwischen den kirchlichen Überlieferungen. Alle sind
dennoch so in Ehren zu halten, wie die Kirche lehrt.
7. Man muß feststellen, daß keine Überlieferung je zu den heiligen
Schriften in Widerspruch stand, denn sie stammen vom gleichen Gott;
vielmehr stimmen sie mit ihnen überein. Deshalb kann man auch von

178
den Überlieferungen sagen: Forscht in den Schriften; sie geben Zeug-
nis (Joh 5,39) für die Überlieferungen und für die unfehlbare Autori-
tät der Kirche. Sie fügen nichts hinzu, sondern erklären, wie man aus
dem Myrrhen und Balsambaum den Saft nicht mit einem Messer aus
Stahl gewinnt, sondern mit Glas, Stein, Knochen, Elfenbein oder ei-
nem anderen Holz; wie die Bienen Honig aus Blüten saugen. Die
Häretiker gewinnen (aus der Schrift) Galle und Gift wie Spinnen. Nicht
daß sie Gift enthielte, vielmehr verwandeln sie ihren Sinn in Gift. Lk
16,29: Sie haben Mose und die Propheten; auf die sollen sie hören.
Hören bedeutet aber gehorchen; dem gehorchen, der spricht. Auf Mose
hören heißt, auf die Lehre hören, die die Bücher Moses darlegen.
Bleiben wir also mit Christus im Haus des Simon und Andreas. Hier
heilt Christus die Fieberkranken. Es ist eine fremdartige Hitze, die
unnatürlich ist. Ach, wie viele Fieberkranke sehe ich, die mir den
Puls, die Augen, die Zunge zeigen!
Die Tradition und die Heilige Schrift verhalten sich zueinander wie
das Hervorgegangene und das Hervorgehen. Die Heilige Schrift hat
den Vorzug, daß in ihr alles kanonisch ist, sogar die Interpunktion.
Das zeigte sich, als die Arianer einen Punkt verrücken wollten: Im
Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war. Das
Wort ... (vgl. Joh 1,1). Für diesen Punkt muß man zu sterben bereit
sein. So muß man auch glauben, daß der Hund des Tobias einen
Schwanz hatte (Tob 1,9). Da Sinn und Folgerung bei den Überliefe-
rungen die gleichen sind, fügen sie den Worten nichts hinzu. Die Über-
lieferungen haben den Vorteil, daß sie von den Häretikern nicht ver-
fälscht werden können.

Am Donnerstag der 1. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 141: 8. März 1618 VIII,343-351

2. Predigt: Über den Weg und die Verstrickung des hl. Petrus in die Sünde.

Diese Sünde (der Verleugnung Jesu) war fürwahr sehr schwer durch
verschiedene Umstände: 1. Die Wiederholung der gleichen Sünde;
2. am Tag der Kommunion und der vollkommenen Reinigung durch
die Fußwaschung: Ihr seid rein, aber nicht alle (vgl. zu diesen Worten
Joh 13,10); 3. in der Nacht, in der die Sünde getilgt wurde; 4. im
gleichen Haus mit Christus; 5. aus einem winzigen Anlaß; 6. erschwert

179
durch die Schwüre;7. von dem man es am wenigsten erwartet hätte:
wegen der zahllosen Wohltaten, die er empfangen hatte, die den Un-
dank vergrößern, und weil er ausdrücklich versprochen hatte, stand-
haft zu sein. Gern möchte ich auf Petrus den Vorwurf anwenden, den
Jesaja (14,10.12-14) buchstäblich gegen den König von Tyrus richtet,
im mystischen Sinn gegen Luzifer: Alle werden antworten und dir sa-
gen. Was werden sie sagen? Wie bist du gefallen, leuchtender Stern, der
am Morgen aufgeht! Zu dir wurde gesagt: In den Himmel der Kirche
wirst du aufsteigen, über die Sterne Gottes will ich deinen Thron erhö-
hen; auf dem Berg des Bundes wirst du sitzen; aufsteigen wirst du zu den
höchsten Wolken, dem Höchsten ähnlich, d. h. sein Stellvertreter sein.
Wie ist das Gold dunkel geworden und seine leuchtende Farbe getrübt
(Klgl 4,1).
Das ist fürwahr erstaunlich, Brüder. Um es aber recht zu verstehen,
müßt ihr euch merken, daß die Menschen auf zweifache Weise in Sün-
den fallen, so wie in Krankheiten. Denn es gibt Krankheiten, die einen
plötzlich befallen, wie Epilepsie, Schlagfluß, Ohnmacht, Würmer in
der Herzgegend; andere kommen allmählich, und das ist die Regel.
Ebenso fallen die Menschen auf verschiedene Weise in die Sünde:
durch einen plötzlichen Fall, z. B. vom Zorn übermannt. Das dürfte
Mose geschehen sein, als er den Ägypter erschlug (wenn er überhaupt
gesündigt hat). Die Begebenheit (Ex 2,12) erzählen und ausschmük-
ken durch den Kommentar des Vinzenz von Lerin. Ebenso durch eine
plötzliche Begierde, wie sie Juda (Gen 38,15) nach Tamar erfaßte.
Der hl. Augustinus glaubt nämlich, daß Juda und Tamar gesündigt
haben, daß auch Mose gesündigt hat. So geschieht die Sünde meist aus
einer plötzlichen Regung der Leidenschaft. Diese Sünde ist aber kaum
von Dauer; sie ist leichter zu heilen.
In der Regel kommt es allerdings allmählich zur Sünde. So sagt
Jesus Sirach (27,12): Der Verständige beharrt in der Weisheit wie die
Sonne; der Tor dagegen ist unbeständig wie der Mond. Das kann auf
zweifache Weise verstanden werden. Der Törichte ist unbeständig: ein
Rohr, das vom Wind bewegt wird (Mt 11,7); deshalb steht im Hebräi-
schen unbeständig statt töricht; bald will er, bald will er nicht: Der
Faule will und will doch nicht (Spr 13,4). Oder: der Törichte ändert
sich allmählich wie der Mond; es geht schrittweise abwärts, nicht durch
einen plötzlichen Fall, so wie mit der Gesundheit, wenn die kleinen
Warnzeichen nicht beachtet werden.
Sehen wir einige Beispiele. Der Fürst der Engel fiel mit einem Schlag;
er konnte ja nicht läßlich sündigen (wie der hl. Thomas, der hl.
Bonaventura und Alexander von Hales in dem leichteren Fall Adams

180
im Paradies annehmen), denn bei Luzifer gab es kein Überlistetwerden,
keine ungeordnete Regung. Den schrittweisen Abstieg Adams und Evas
zur Sünde habe ich an anderer Stelle in der Predigt zu Maria Reini-
gung beschrieben.
Kain fiel nach und nach in die abscheuliche Sünde. 1. Er teilte
schlecht (nach Septuag.) und opferte Gott eine mindere Gabe; 2. er
war neidisch; 3. er war sehr zornig und sein Gesicht war eingefallen,
deshalb die Frage: Warum ist dein Gesicht eingefallen? 4. Er tötete
(Gen 4,5-8).
David. 1. Müßiggang: Um die Jahreswende, wenn die Könige in den
Krieg zu ziehen pflegen. 2. Da geschah es, daß David sich nach Mittag
vom Lager erhob, auf dem er müßig geschlafen hatte. 3. Er sah die
Frau, die sich wusch, und schaute länger hin, so daß er ihre Schönheit
erkennen konnte. Hätte er andernfalls nur flüchtig hingeschaut, so
hätte er sie nicht bemerkt (und er sagte nicht: Wende meine Augen ab,
damit sie nicht Eitles sehen: Ps 119,37). 4. Er schickte hin, wer sie sei.
Gefährliche Neugierde, denn hätte er sie nicht gekannt, hätte er sie
nicht begehrt. 5. Als er es wußte, besaß er sie. 6. Er versuchte Urija
betrunken zu machen; 7. er tötete ihn; 8. er lebte ein Jahr lang in der
Sünde.
Salomo: 1. Er gefiel sich in seinen herrlichen Werken: Ich schuf mir
herrliche Werke, baute mir Häuser (Koh 2,4). Nichts von allem, was
meine Augen begehrten, versagte ich ihnen und hinderte mein Herz nicht,
jedes Vergnügen zu genießen (2,1). Clemens von Alexandria bringt ein
vorzügliches Beispiel von den Tempeln der Ägypter, die außen herr-
lich geschmückt sind, im Heiligtum aber als Gottheit eine Katze oder
ein Krokodil enthalten. 2. Er vergaß auf Gott: Gott zürnte Salomo,
weil sein Sinn sich vom Herrn, dem Gott Israels abgewandt hatte (1
Kön 1, 9). 3. Mißbrauch der geistlichen Freuden (vgl. Pineda). Schließ-
lich verbrachte er seine Tage so, daß er sich zugrunde gerichtet hätte,
wenn Gott sich nicht seiner erbarmte, worüber man nicht sicher ist.
Es gibt also „Stufen zur Gottlosigkeit“. Läßliche Sünden schaffen
die Bereitschaft zur Todsünde, indem sie die Hilfen abschwächen und
einen besonderen Beistand verhindern.
Wie ist nun Petrus in die Sünde gefallen? Vor allem durch übermä-
ßiges Selbstvertrauen. (1.) Der Herr hatte gesagt: Wohin ich gehe, da-
hin könnt ihr nicht kommen. Da sagte Petrus: Warum können wir dir
nicht folgen? Ich will mein Leben für dich einsetzen. Der Herr antwor-
tete: Dein Leben willst du für mich hingeben? (Joh 13,33.37). Simon,
Simon, Satan hat verlangt ... (Lk 22,31). In dieser Nacht werdet ihr alle
an mir irre werden.

181
(2.) Petrus antwortet: Und wenn alle an dir irre werden, ich bin bereit,
mit dir in den Kerker und in den Tod zu gehen, zum Kreuz (Mt 26,31;
Lk 22,33). Übermäßige Sicherheit. Ps 112,1: Selig der Mann, der den
Herrn fürchtet. Lk 1,50: Sein Erbarmen waltet auf immer mit denen,
die ihn fürchten. Ach, wir halten zu viel von uns. Es genügt nicht anzu-
erkennen, daß wir alles von Gott haben; man darf nicht glauben, viel
zu haben. Ps 125,1: Die auf den Herrn vertrauen, sind wie der Berg
Zion.
3. Die Furcht ist die Hüterin der Gnade. Lk 2,25: Ein gerechter und
gottesfürchtiger Mann. Spr 28,14: Glücklich, wer stets auf der Hut ist.
Ps 78,9: Die Söhne Efraims, gewohnt den Bogen zu führen, kehrten am
Tag des Kampfes den Rücken. Ps 30,7f: Im Überfluß habe ich gesagt:
Ich werde in Ewigkeit nicht wanken. Herr, in deiner Kraft hast du mei-
ner Blüte Bestand gegeben; du hast dein Angesicht von mir abgewandt,
und ich wurde verwirrt (vgl. Bellarmin). Ähnlich scheint die Geschich-
te des anmaßenden Mönches im Leben des hl. Pachomius. Glücklich,
wer stets auf der Hut ist: Sei auf der Hut, wenn dir die Gnade lacht; sei
auf der Hut, wenn sie weicht; sei auf der Hut, wenn sie wiederkehrt:
solang du sie hast, daß du nicht ihrer unwürdig handelst, sie nicht
vergeblich empfangen hast (2 Kor 6,1). Röm 11,20: Sei nicht hochmü-
tig, sondern furchtsam.
Der zweite Schritt ist die Nachlässigkeit im Gebet. Lk 22,40.46:
Betet, daß ihr nicht in Versuchung geratet. Beharrlichkeit ist nicht das
Werk eines Tages. Die Mönche des Altertums beteten unablässig: Gott
merke auf meine Hilfe (Ps 70,1). Joh 15,5: Ohne mich könnt ihr nichts
tun. Aber die Apostel schliefen: Simon, du schläfst? Konntet ihr nicht
einmal eine Stunde mit mir wachen? (Mk 14,37; Mt 26,40). Die Braut
ist gestützt auf ihren Vielgeliebten (Hld 8,5). Ohne mich könnt ihr nichts
tun.
Der dritte Schritt ist die falsche Kühnheit, die in einer Wallung des
Zornes besteht. Das Krokodil verfolgt jene, die vor ihm fliehen. Die
Jünger fragten: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Ohne
die Antwort abzuwarten, schlug er unbesonnen zu (Lk 22,49f).
Der vierte. Er geht in das Haus und hält sich schwätzend bei den
Dienern auf. Dann geschah Folgendes: Während er im Hof saß, kam
eine Magd, die Türhüterin des Hohepriesters dazu. Sie sah Petrus, der
sich wärmte, im Lichtschein sitzen, schaute ihn an und sagte zu den
Umstehenden: Der war auch bei ihm. Dann zu Petrus selbst: Gehörst
du etwa auch zu den Jüngern dieses Menschen? Du warst auch bei
Jesus von Nazaret. Er aber leugnete es vor allen und sagte: Frau, ich bin

182
es nicht. Ich kenne ihn nicht und weiß nicht, was du sagst. Er ging
hinaus, und der Hahn krähte. Als er aber hinausging, sagte eine andere
Magd zu den Umstehenden, daß er bei Jesus von Nazaret war.
Petrus kam zurück, um sich mit den anderen zu wärmen. Da sah ihn
ein anderer und sagte zu Petrus: Du gehörst auch zu ihnen. Die übrigen
aber sagten: Gehörst du etwa auch zu seinen Jüngern? Da schwört er:
Ich kenne den Menschen nicht. Mann, ich bin es nicht. Nach einer
Stunde versicherte ein anderer: Er war wirklich bei ihm, er ist ja aus
Galiläa. Die Umstehenden kamen herbei und sagten zu Petrus: Wahr-
haftig gehörst du zu ihm, denn du bist aus Galiläa; deine Sprache verrät
dich ja. Da sagte ein Verwandter dessen, dem er das Ohr abgeschlagen
hatte: Habe ich dich nicht im Ölgarten bei ihm gesehen? Er leugnete
abermals: Mann, ich weiß nicht, was du sagst. Er begann sich zu ver-
wahren und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht, von dem ihr
sprecht (Mt 26,69-74; Mk 14,66-71; Lk 22,55-60; Joh 18,16-18.25-
27).
Beachtet, meine Zuhörer: eine Magd beginnt unsicher: Der gehört
auch zu ihm. Denn sie wagt es Petrus nicht bestimmt zu sagen, sondern
nur: Gehörst du auch zu seinen Jüngern? Bald behauptet sie es. O
vorwitzige Zunge, du sagst, was du nicht weißt; während du es sagst,
beginnst du es zu glauben und als wahr zu behaupten, und während du
sprichst, festigt sich die Überzeugung. Beispiel des hl. Basilius vom
Hund, der zu bellen anfängt, dem alle antworten.

Am FFreitag
reitag der 1. FFastenwoche
astenwoche

Nr. 142: 9. März 1618 VIII,351-357

3. Predigt: Im ersten Teil setzen wir die Stufen des Falles fort; im zweiten
nennen wir die Gründe, warum Christus einen solchen Fall zugelassen hat.

Leidenschaften, auch gegensätzliche, regen sich gegenseitig an. Pe-


trus hat mit äußerster Kühnheit (dem Malchus) das Ohr abgeschla-
gen; von dieser ungeheuren Kühnheit fiel er leicht in die entgegenge-
setzte Leidenschaft der Furchtsamkeit, wie eine vom Osten aufstei-
gende Welle sehr leicht gegen Westen zurückfällt; wie in Rom die
Nächte im Sommer sehr kühl sind.
Soll ich das eine oder andere Beispiel anführen? Amnon und Tamar,
2 Sam 13,15: Und er haßte sie in heftigster Abneigung ... Saul liebte

183
anfangs David sehr (1 Sam 18,2.5), durch den Gesang der Mädchen
von Jerusalem verwandelte sich aber die Liebe in Zorn und heftigsten
Neid (18,6-9). Der Elefant ist das sanfteste Tier, aber ebenso das grau-
samste. Sieh also, da Petrus der Tapferste schien, begann er, von einem
einzigen Wort der Magd erschüttert, sogleich zu leugnen und sich zu
fürchten. Wir wundern uns über den Elefanten, der dem Rhinozeros
standhält, dann die Maus fürchtet; wie das Krokodil den Ichneumon.
Die Söhne Efraims (Ps 7,9), usw. wie in der 2. Predigt, Nr. 3. Er zer-
streut, die stolzen Sinnes in ihrem Herzen sind (Lk 1,51). Tadelnswert
war die Kühnheit der Apostel und des Petrus; denn entweder meinten
sie, Christus werde Wunder wirken, dann war es Prahlerei zu sagen:
Sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? (Lk 22,49); oder sie erwar-
teten es nicht, dann war die Verwegenheit fehl am Platz. Auf die von
Leidenschaften Verwirrten muß man anwenden, was Psalm 107,23f
von den Seefahrern sagt; ebenso die Geschichte von Barak und Sisera,
denn Sisera schlief nach großer Furcht in tiefster Sicherheit ein (Ri 5).
Er ging also unbesonnen ohne Rüstung auf den Vorplatz und in den
Hof, denn solche Orte sind gefährlich und Verderben bringend. O
Hof, wie oft tötest du Petrus! Alle im Hof verschwören sich gegen
Petrus. Ein Pferd, das auf die Spur der Wölfe trifft, kommt kaum wei-
ter (Plinius).
Dann begann er sich zu fürchten, denn von Furcht erschüttert leug-
nete er. Auf die Kühnheit folgte also die Furchtsamkeit. Fürchtet euch
nicht vor denen ... (Mt 10,28). Die Furcht des Pilatus, aller Bösen. Sie
zitterten vor Furcht, wo kein Grund zur Furcht bestand (Ps 14,5). Sie
waren verwirrt und wankten wie ein Betrunkener (Ps 107,27). Von da-
her werden die Augen schwach. Der Hirte von Getulien fing den Lö-
wen, indem er ihm den Mantel überwarf (Plinius). So fliegen die Bie-
nen nie bei nebligem Wetter, spannen die Spinnen stets bei nebligem
Wetter ihre Netze.
Verwickelt. Die Stricke der Sünder umfingen mich (Ps 119,61). Er-
staunlich ist die Schwachheit des menschlichen Geistes, wenn er ver-
wirrt ist. Siehe das Beispiel Lots, Gen 19,14: Als die Schwiegersöhne
Lot sprechen hörten, hielten sie seine Worte für einen Scherz. Als es
Morgen wurde, drängten (die Engel): Steh auf ... Als er zögerte ...
(19,15f). Wenn du nicht Hand anlegst, wirst du nichts schaffen.
Erstaunlich, daß er von solcher Furcht getrieben zwei- oder dreimal
unter Eid und Flüchen leugnete. Das bewirkt die verderbte Begierde
und Leidenschaft. Vergleiche die Geschichte Nabots, 1 Kön 21,1-4;
dort siehst du ein ungeheures Verbrechen entstehen aus der kleinen
aber ungezügelten, wenn auch nicht ungerechten Begierde, den Wein-

184
berg zu besitzen. Vgl. die Glossa ordinaria und Lyranus. Warum sollte
Nabot sagen: Gott sei mir gnädig? Natürlich, weil es den Juden verbo-
ten war, ihr Eigentum zu verkaufen, außer bis zum Jubiläumsjahr.
Vgl. Ahab, der in der Krankheit wie Alexander weinte. Haman, der
über Mordechai erzürnt ist, der als einziger das Knie nicht beugt (Est
5,11ff).
Das also ist der Ursprung der Sünden.
Aber warum hat Christus den Fall des Petrus zugelassen? 1. Ich über-
gehe die allgemeinen Gründe, warum Gott die Sünden zuläßt
(Bellarmin), und sage: damit er die Apathisten widerlege: Euthymius,
Palladius, Evagrius von Pontus; sie behaupten, die Heiligen und die
Gerechten seien frei von jeder Leidenschaft. Vgl. Rossignol II,27.
Hieronymus hat sie widerlegt im Brief an Ktesiphon, Augustinus im
14. Buch, Kapitel 9 des „Gottesstaates“ durch das Beispiel Christi,
der scheinbar Leidenschaften hatte. In Wahrheit hatte er keine Lei-
denschaften, sondern propassiones.* Folglich werden sie zutreffender
widerlegt von den heiligsten Männern, am meisten durch Petrus, der
nach der Eucharistie, der Fußwaschung usw. gerecht war und doch von
der Furcht verwirrt wurde. Folglich besteht die Vollkommenheit nicht
im Fehlen von Leidenschaften, sondern in ihrer Beherrschung; denn
das Herz hat Leidenschaften, wie die Harfe Saiten hat; sie müssen zum
Zusammenklingen gebracht werden, damit wir sagen können: Ich will
dich mit der Harfe preisen (Ps 43,4).
2. Damit jene widerlegt werden, die sagen, die Gläubigen könnten
nicht sündigen und seien ihres Heiles sicher. Wer stand denn fester als
Petrus, der durch die Eucharistie und so viele Mahnungen Christi ge-
stärkt war, und doch fiel? 1 Kor 10,12: Wer steht, sehe zu, daß er nicht
falle. Offb 3,7.11: Dem Engel von Philadelphia schreibe: Halte fest,
was du hast, damit nicht ein anderer deine Krone empfange. Gregor an
Gregoria, die Kammerfrau der Kaiserin (Epist. 25): „Du hast etwas
Unnützes und zugleich Schwieriges begehrt.“ Die Geschichte der 40
Märtyrer vortragen, auf deren Vigil diese Predigt trifft. Unter Furcht
und Zittern (Ps 2,11; Phil 2,12). Man muß wachen und beten (Mt
26,41).
3. Weil die Ehre Gottes mehr aus Sündern erstrahlt, die Buße tun.
Die Freude ist größer (Lk 15,7.10); da sich die Heiligen doch nur über
die größere Ehre Gottes freuen. Da also Christus die Buße voraussah,

* Vgl. Ludwig Ott, Handbuch der Dogmatik, S. 202: propassiones sind anfangen-

185
ließ er die Sünde sehr leicht zu. Die Geschichte des Apostels Thomas,
des hl. Augustinus. Die Sünden sind Staub und Mist, aber in der Buße
und Beichte verwandeln sie sich in Rosen und Lilien.
4. Beim hl. Hieronymus (in der Catena zu den Worten bei Lk 22,54:
Petrus aber folgte ihm); Petrus war etwas zu hart und zu streng. (Chris-
tus ließ also seinen Fall zu), damit er aus dem, was er gelitten, Gehor-
sam lernte und Milde gegen die Sünder (Hebr 5,8). Der Hirte muß
sich von Schwachheit umgeben wissen; wer selbst der Buße bedurfte,
gewährt anderen leichter Vergebung. Gen 9,2: Furcht und Schrecken
vor euch komme über alle Lebewesen der Erde: über die Tiere, nicht
über die Bußfertigen. Ez 34,4: Das Gebrochene habt ihr nicht ange-
bunden. Daher demütigt sich Paulus (1 Tim 1,15): Zuverlässig und
aller Annahme wert ist das Wort, daß Christus gekommen ist, um die
Sünder zu retten, deren erster ich bin. Gal 6,1: Brüder, wenn auch ein
Mensch aus Übereilung gefehlt hat, so weist ihn, die ihr Geistesmenschen
seid, im Geist der Milde zurecht. Achte auf dich selbst, daß du nicht
versucht wirst. Die Demut ist eine große Tugend, die bisweilen aus
Sünden entsteht. Ps 119,67f: Bevor ich gedemütigt wurde, habe ich
gesündigt; deshalb habe ich dein Wort bewahrt. Gütig bist du; in deiner
Güte lehre mich deine Satzungen. Er besaß die übrigen Tugenden, nicht
aber die Demut; daher sündigte er. Deshalb ist Petrus von da an sehr
demütig: nicht herrisch in der Gemeinde (1 Petr 5,3); er erträgt den
Tadel des Paulus (Gal 2,11). „Damit der Erste an Würde der Erste sei
in der Demut“ (Gregor der Gr.).

Am 2. FFastensonntag
astensonntag

Nr. 143 (Zusammenfassung): 11. März 1618 VIII,358f

4. Predigt: Über die Petrus zuvorkommende Gnade.

Zu folgendem Text: Als er noch sprach, krähte der Hahn sogleich


zum zweiten Mal. Der Herr wandte sich um und sah Petrus an. Da
erinnerte sich Petrus des Wortes, das der Herr Jesus gesprochen hatte
(Mk 14,72; Lk 2,60f).
1. Stelle fest: Petrus fiel von sich aus in die Sünde. Gott sah alles,
was er geschaffen, und es war sehr gut (Gen 1,31). Ez 18,23: Will ich
etwa den Tod des Sünders, spricht der Herr. 2 Petr 3,9: Gott will nicht,

186
daß einer verloren gehe. Jak 1,13: Keiner, der versucht wird, soll sagen
... Hos 13,9: Dein Verderben, Israel, kommt von dir; einzig von mir
kommt dein Heil. Daher die Frage (Gen 3,9): Adam, wo bist du? Zu
Kain, der zürnte: Wirst du nicht Lohn empfangen, wenn du Gutes tust?
(Gen 4,7). Bar 3,10-12: Woher kommt es. Israel, daß du in fremdem
Land bist? Du bist in fremdem Land alt geworden, mit den Toten bist
du unrein geworden und zu denen gezählt, die in die Unterwelt hinab-
steigen. Du hast die Quelle der Weisheit verlassen. Deshalb: Zweierlei
Böses hat mein Volk getan; sie haben mich verlassen ... (Jer 2,13).
2. Dein Verderben, Israel, kommt von dir; einzig von mir kommt deine
Hilfe. Joh 6,44: Niemand kann zu mir kommen, wenn ihn nicht mein
Vater zieht. Hld 1,3: Ziehe mich, wir werden dir nacheilen. Ähnlich den
Apoden und den Paradiesvögeln. Mit den Toten bist du unrein gewor-
den: wie ein Mensch, der in Ohnmacht gefallen ist. Daher kommt das
Elend der Sünder und die gerechte Strafe. Da greift die zuvorkom-
mende Gnade ein. Gott wird nicht geliebt, wenn er nicht zuerst liebt.
Seht David, Paulus, seht Petrus. Ez 33,11: Ich lebe ... Siehe die Ab-
handlung über die Gottesliebe (2,8ff).
3. Gott sendet seine hinreichende Gnade: Sage nicht, es liege an
Gott, daß sie fehlt (Sir 15,2). Vgl. 1 Tim 2,4; 2 Petr 3,4.
4. Das ist die zuvorkommende Gnade; sie wirkt auf dreifache Weise:
als zuvorkommende Gnade der Bekehrung, als zuvorkommende Gna-
de der Tat und als zuvorkommende Gnade der Lebensweise.

Am Montag der 2. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 144 (Entwurf): 12. März 1618 VIII,360-363

5. Predigt: Über die helfende Gnade.

5. Diese zuvorkommende Gnade wird in der Heiligen Schrift mit


vielen Namen bezeichnet. So wird sie Anziehung genannt: Ziehe mich
an dich (Hld 1,3); Berufung: Viele sind berufen (Mt 20,16; 22,14);
Stimme: Die Stimme meines Vielgeliebten (Hld 2,8); Zuvorkommen:
Sein Erbarmen kommt mir zuvor (Ps 59,11); Erleuchtung: Erhebe dich,
der du schläfst, und Christus wird dich erleuchten (Eph 5,14); und so in
vielfacher Weise. Anklopfen: Ich stehe an der Tür und klopfe an (Offb
3, 20).

187
Drei Bezeichnungen beziehen sich jedoch im besonderen auf unse-
ren Gegenstand. 1. Die Gnade wird ein Pfeil genannt. Ps 45,5f: In
deiner Würde und Schönheit; für Wahrheit und Milde ...; deine Pfeile
sind scharf. Jes 49,1f: Vom Mutterleib an hat der Herr mich gerufen;
vom Schoß meiner Mutter an hat er meines Namens gedacht. Adamus
wendet diese Stelle auf Christus an; er sagt: Er hat meinen Mund einem
scharfen Schwert gleich gemacht und hat mich wie einen erlesenen Pfeil
gemacht; in seinem Körper verbarg er mich (Jes 49,2). Gott hat Chris-
tus verborgen, doch in welchem Körper? In der Brust des Vaters, im
Schoß des Vaters. Welchen Pfeil? Christus selbst, da er in das Herz
eindringt durch die Liebe.
Warum aber wird die zuvorkommende Gnade ein Pfeil genannt?
1. weil sie jene durchbohrt, die nicht daran denken. Wie es im umge-
kehrten Sinn die Bösen machen. Ps 11,1f: Ich vertraue auf den Herrn,
denn siehe, die Sünder spannen den Bogen, sie halten ihre Pfeile im
Köcher bereit, um sie im Dunkeln auf jene abzuschießen, die aufrichti-
gen Herzens sind. – 2. Von ferne, weil sich die Sünder entfernt haben.
Schöner Vergleich von der Liebe, die einen trifft, und jenen, die die
Hirsche von Candia jagen. Siehe die Predigt zum Aschermittwoch (Nr.
A 78).
2. Sie wird Einsprechung genannt. Gen 2,7: Er hauchte in sein Ange-
sicht den Odem des Lebens. Der Sünder ist ja tot; er wird lebendig
durch die zuvorkommende Gnade.
3. Sie wird Einladung genannt, Aufforderung, damit die freie Ent-
scheidung sichtbar wird. Es ist ja wunderbar, auf wieviele Weisen und
auf welchen Wegen er die Herzen verwundet und durchbohrt. Maria
von Ägypten sah ein Bild der seligsten Jungfrau, und dieses traf sie wie
eine stumme Predigt. Gregor von Nazianz berichtet von einer scham-
losen Frau, die dem Laster nachging; als sie ein Bild Polemons, eines
sehr eingezogenen Mannes, sah, bekehrte sie sich und floh. Ebenso
Gregor von Nyssa, als er eine Darstellung der Geschichte Abrahams
sah; der selige Pachomius durch das Beispiel der Nächstenliebe; Au-
gustinus beim Lesen der Stelle Röm 13,13: Nicht in Wollust ...;
Pelagia, deren Name Perle bedeutet, auf das Wort des Nonnus. Man-
che bekehrten sich auf die Worte (Jes 14,11) hin: Unter dich wird
Gewürm gebreitet und Würmer werden deine Decke sein. Ein anderer,
als er das Wort (Apg 7,55) hörte: Er sah den Himmel offen. Daher
werden die Einsprechungen Pfeile genannt, weil sie Leiden verursa-
chen. Franz Borgia, als er die tote Kaiserin sah, etc. Die gewöhnliche
Weise ist aber das Wort Gottes.
Durch diese zuvorkommende Gnade wird also unser Wille ange-

188
regt. Sie läßt uns das Gute wollen und vollbringen (Röm 7,18); sie
wirkt in uns das Wollen (Phil 2,13). Denn noch brauchen wir die hel-
fende Gnade. Denn sich im allgemeinen bekehren wollen, ist schon
etwas Großes; sich schnell bekehren wollen, etwas Größeres; sich jetzt
bekehren wollen, das Größte. Doch meist mißfällt, was im allgemei-
nen gefällt, wenn man es im einzelnen tun soll. Seht (Tob, Kap. 8-10),
wie es Raguel hinauszögert, Tobias zurückzuschicken; und Hanna. So
halten auch Betuel und Laban Rebekka zurück (Gen 24,55). Dazu
kommt die Schwierigkeit der Bekehrung. Mt 26,75: Er ging hinaus
und weinte. Alles aufgeben. Gen 21,10: Schicke den Knaben und seine
Mutter fort. Joh 11,44: Lazarus kommt aus dem Grab, an Händen und
Füßen mit Binden gebunden. 1 Kön 17,21: Elija streckte sich dreimal
über den Knaben aus. 2 Kön 4,35: Der Knabe gähnte siebenmal. So
Paulus (Apg 9).
1. Hinausgehen, um nachzusinnen (Gen 24,63), um sich zur Reue
anzuregen; 2. weinen, aus Reue; 3. bekennen: Petrus brauchte aller-
dings nicht zu bekennen, weil er sich vor den Augen des Hohepriesters
befand.

Am Dienstag der 2. FFastenwoche


astenwoche

Nr. 145: 13. März 1618 VIII,364-369

6. Predigt: Über die wirksame Gnade.

Der hl. Bernhard (Sermo 76): „Wir brauchen einen dreifachen Se-
gen: zuvorkommend, helfend, vollendend. Der erste ist jener des Er-
barmens, der zweite der Gnade, der dritte der Glorie.“ Ich ändere die
Einteilung ein wenig, denn ich führe die vollendende Gnade auf die
wirksame zurück.
(1.) Das zuvorkommende Erbarmen bewirkt in uns, daß wir uns be-
kehren wollen (Phil 2,13). Das genügt aber nicht, denn wie oft sagen
wir: Ich will mich bekehren, und wir bekehren uns doch nicht! Des-
halb tadelt Jesaja (21,11f) die Edomiter: Drückende Last über Duma,
das ist der Teil Edoms, der sich nach Süden erstreckt; man ruft mir aus
Seir zu. Seir ist ein Gebiet von Edom; der Name kommt von Esau, der
auch Edom heißt, das bedeutet rothaarig; Seir bedeutet dicht behaart
(Gen 25,25). Das Volk von Seir also ruft: Wächter, welche Nachtstun-
de? Der Wächter sagte: Es kommt der Morgen; es ist Morgengrauen,
und doch dauert die Nacht noch an. Das ist ein Bild der Sünder, dicht

189
behaarter, tierischer Menschen wie Nebukadnezzar. Wie weit ist die
Nacht? Ich möchte mich dem Tag zuwenden. Seht, die zuvorkommen-
de Gnade leuchtet auf und die Nacht weicht zurück, wie die Trägen,
die die Augen öffnen (Spr 6,9f: Wie lange noch, du Fauler, schläfst du
und willst du schlummern?), dann schließen sie die Augen wieder und
machen den hellen Tag zur Nacht. Warum Tag und Nacht vermengt?
(Jes 21,12: Wenn ihr fragt, dann fragt ernsthaft.) Weil ihr nicht ernst-
haft fragt; weil ihr wollt und doch nicht wollt (Spr 13,4). Bekehrt euch
von ganzem Herzen (Jer 29,13). Es gibt manche, die zwar die Augen,
nicht aber den Körper denen zuwenden, die ihnen zurufen. Siehe oben:
Tobias, Betuel, Lazarus, der an Händen und Füßen gebunden aus dem
Grab kommt.
2. Zum Heil des Sünders ist daher die helfende Gnade notwendig,
von der wir das letzte Mal gesprochen haben. Sie besteht darin, daß
wir von ganzem Herzen alle Mittel zur echten Buße anwenden. Ein
schönes Beispiel bietet Gen 24,15-53. Nichts ahnend trifft Rebekka
am Brunnen Elieser; der bittet sie, etc. Das ist die erste Eröffnung; sie
hört den Boten, sie hört sein Wort. Dann gibt er ihr goldene Ohrgehän-
ge, d. h. Lieblichkeit und Annehmlichkeit des Hörens; er gibt ihr Arm-
reifen, d. h. die Möglichkeit, das Gehörte auszuführen. Die Seele lädt
die Gnade, diese gute Regung, ein zu bleiben. Das ist ja die Wirkung
der zuvorkommenden Gnade, das Gehör, d. h. den Verstand zum Hö-
ren bereitzumachen und den Willen zu bewegen, daß sie wünschen,
diese Gnade und diese Freude möchten andauern. Dann verlangt die
eingelassene Gnade Zustimmung. Sobald sie diese erhält, gibt sie sil-
berne Gefäße, d. h. die Furcht, und goldene, d. h. die Liebe. Bald dar-
auf bekleidet sie die Seele mit dem festen Vorsatz, d. h. führt sie von
der beginnenden zur starken Liebe, die sich vornimmt, bis zum Tod
auszuharren. Der verschwenderische Sohn geht in sich durch die An-
regung der Gnade; Wieviele Taglöhner im Haus meines Vaters haben
Brot im Überfluß; ich will mich aufmachen (Lk 15,17f). Sogleich kehrt
er heim. So wird Lazarus von den Binden befreit. Glückselige Buße in
Magdalena! Als sie erfuhr, daß Jesus beim Gastmahl war ... (Lk 7,37);
das ist die zuvorkommende Gnade. Da brachte sie sogleich; das ist die
helfende, mitwirkende Gnade.
Die mitwirkende Gnade besteht in dreifacher Hilfe, wie Rafael sie
dem Tobias leistete: in mittelbarer oder unmittelbarer Führung, in-
nerlich oder äußerlich (beachte: wenn du die äußere, d. h. den mensch-
lichen Führer vernachlässigst, wirst du kaum einen inneren haben;
höre auf den Hahn, und der Herr wird dich ansehen). Die helfende

190
Gnade kann im Schutz und in der Verteidigung gegen Übel bestehen,
gegen den Fisch (Tob 6,2-6); ebenso in der Unterstützung wie durch
Rafael, der auch Nahrung beschafft. So berichtet Elieser, daß er ge-
schickt wurde, um seinem Herrn die Frau zuzuführen; das ist die Füh-
rung; schließlich im Schutz, indem sie Kleidung gibt, die gegen die
Unbill des Wetters schützt. Drittens kann sie darin bestehen, daß sie
hilft, wie die Kamele zu tränken (Gen 24,34-38). So half sie Paulus:
Geh zu Hananias; das ist die Führung; ihm gab sie den Geist der Füh-
rung und ließ die Schuppen von den Augen fallen; dann vertrieb sie
die Sünde durch die Taufe, darauf aß Paulus (Apg 9,7; 17-19).

3. Zum Heil der Sünder ist also die Beharrlichkeit notwendig. Mt


10,22: Wer ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden. Origines,
Tertullian, Hosius, Salomo, Judas waren nicht beharrlich. Der Wille
des Menschen ist wandelbar bis zum Tod. Gal 5,7: Ihr seid gut gelau-
fen; wer hat euch aufgehalten? Das Konzil von Trient: Die Gnade der
Beharrlichkeit ist die höchste und geheimnisvollste Gabe. 1 Kor 10,12:
Wer steht, sehe zu, daß er nicht falle. 1 Kor 9,24: Alle laufen zwar, aber
nur einer gewinnt den Preis. Es gibt eine zweifache Beharrlichkeit: die
eine im engeren Sinn und die äquivalente. Die sich beim Tod bekeh-
ren, wie der Schächer und ganz wenige andere, haben eine äquivalente
Beharrlichkeit; sie sind ja nicht eigentlich beharrlich, aber ihre Be-
kehrung gilt soviel wie die Beharrlichkeit und ist nichts anderes als
die Bekehrung. Die Beharrlichkeit im engeren Sinn besteht darin, daß
wir lange Zeit durchhalten. Daher ist die Gabe der Beharrlichkeit
nichts anderes als eine bestimmte Folge von leitenden, schützenden
und helfenden Gnaden (vgl. Tr. 3,4).

Über das Gesagte erhebt sich aber ein zweifacher Zweifel. Der er-
ste: Wenn wir aus uns nichts vermögen, wird also jemand, der ver-
dammt wird, deshalb verdammt, weil Gott ihm nicht geholfen hat? Ri
15,18: Darum sterbe ich vor Durst. Doch dieses Argument ist so nich-
tig wie kein anderes. Denn obwohl wir die Gnade brauchen, fehlt sie
uns dennoch nicht. Ijob 24,13: Sie lehnten sich gegen das Licht auf.
Die Gnade fehlt dir so wenig wie die Natur. Beispiel des Mannes, der
die Augen schloß, im Buch von der göttlichen Liebe (Tr. 4,4). Beispiel
der Israeliten in der Wüste: nicht das Manna fehlte, sondern sie fehl-
ten gegen das Manna (Ex 16,13-29); sie hatten die Wolkensäule am
Tag und die Feuersäule in der Nacht (13,31). Beispiel der Arche
Noachs: sie hätten ebenso leicht hineingehen als draußen bleiben kön-
nen, sie wollten aber nicht (Gen 7,7; 1 Petr 3,20).

191
Der zweite Zweifel: ob die Akte der Buße fühlbar sind. Das Gefühl
kann auf zweifache Weise angeregt werden: innerlich vom vernünfti-
gen Seelenteil her oder im niederen Teil. Die Töchter Jerusalems wein-
ten, im niederen Teil bewegt, daher sagte der Herr: Weint nicht über
mich (Lk 23,28), nämlich im niederen Teil. Tränen sind also etwas
Gutes, denn sie sind die Wirkung der Reue; da aber das Gefühl nicht
immer der Vernunft gehorcht, sind äußere Tränen nicht erforderlich,
sondern nur innerliche.
Nun fragen wir noch: Wie war die Buße des Petrus beschaffen? Sie
erstreckte sich 1. auf den ganzen Menschen; sein Weinen entsprang ja
dem Verstand, erfaßte das Herz und vom Herzen her die Augen, wie
bei Magdalena. Hier löse den zweiten Zweifel. 2. Sie erstreckte sich
auf alle Fähigkeiten oder Empfindungen der Seele; so heißt es 1 Sam
(10,6): Der Geist des Herrn durchdringe dich, und du wirst ein anderer
Mensch. 3. Sie erstreckt sich auf das ganze Leben, das er ob der Bekeh-
rung von zwei Frauen beendete, wie zwei Frauen ihn zur Verleugnung
veranlaßt hatten. Siehe die Geschichte bei Baronius.

Zum Fest der Aufnahme Marias

Nr. 147 (Zusammenfassung): Annecy, 15. August 1618 VIII,376f1

Wer ist jene, die hervorgeht wie die aufsteigende Mor-


genröte, schön wie der Mond, erlesen wie die Sonne,
furchtbar wie ein geordnetes Heerlager? (Hld 6,9).

Zeuxis malte ein wunderbares Bild, von dem er sagte, es sei „mehr
Bewunderung als Nachbildung“. So hält euch die Kirche die Aufnah-
me Marias vor Augen; sie will, daß ihr sie bewundert und nachahmt.
Der hl. Bernhard sagt in der 2. Predigt zur Weihnachtsvigil: „Der Fort-
schritt gleicht einer Reise.“ Ps 84,6-8: Selig, dessen Beistand von dir
kommt. Er hat in seinem Herzen den Aufstieg zurechtgelegt; im Tal der
Tränen hin zum Ziel, das er festgesetzt hat. Den Segen wird der Gesetz-
geber verleihen; sie werden von Tugend zu Tugend fortschreiten. Bern-
hard an Garinus (Epist. 204). Wie vorzüglich drängt der hl. Bernhard
im Brief 341 jene, die keinen Fortschritt machen wollen: „Wer sagt, er

1
Dieser autographen Zusammenfassung entspricht die nachgeschriebene Pre-
digt Nr. B 21, allerdings nur im Datum, so daß man zweifeln kann, ob es sich
um die gleiche Predigt oder um eine zweite am gleichen Tag handelt.

192
bleibe in Christus, muß ebenso, wie Christus wandelte, auch selbst wan-
deln. Jesus aber wuchs und nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade“ (Lk
2,40.52).
So wuchs unsere heilige Herrin wie die Morgenröte, von ihrer Emp-
fängnis zur Mutterschaft. Daher fand sie der Engel voll der Gnade;
und der Heilige Geist, der auf sie herabkam, überschattete sie. Du hast
Gnade gefunden (Lk 1,28-35). Noach, Abraham, Josef. Siehe Seite
135. 2

Zum Fest des hl. Josef

Nr. 154: Lyon, 19. März 1621* VIII,397-402

Der Gerechte blüht wie die Palme (Ps 92,13).

Heilig und liebenswert ist dieses Fest, meine Zuhörer, heilig und
ehrwürdig die Kirche, die dem heiligen und liebenswerten Patriar-
chen geweiht ist. Heiliger Josef, „ich weiß nicht, mit welchem Lob-
preis ich dich ehren soll, denn du hast auf deinen Armen getragen, den
die Himmel nicht zu fassen vermochten“ (Brevier). Der erste Lob-
preis, den die Kirche heute in der Meßfeier ausspricht und singt, lau-
tet: Der Gerechte blüht wie die Palme. Ihn habe ich zum Gegenstand
gewählt, weil er der erste ist, weil er vom Ahnherrn des hl. Josef
stammt, vor allem aber, weil er mir reichen Stoff bietet, von der ganz
heiligen Ehe Josefs und Marias zu sprechen und von der ganz heiligen
Demut, durch die er seine hervorragenden Vorzüge und Tugenden ver-
barg. Das werden die zwei Punkte dieser Predigt sein; ich werde sie
schließen mit der Bitte um das Wasser, das die Samariterin erbat (Joh
4,15), um auch etwas über das Evangelium des Tages zu sagen. Damit
ich aber Nützliches von deinem Vater sage, wende ich mich an dich,
Jesus: „Wir bitten dich, Herr, daß uns durch die Verdienste des Bräu-
tigams deiner allerseligsten Mutter Hilfe zukomme, damit uns durch
seine Fürbitte geschenkt werde, was unser Vermögen nicht erreicht“
(Oration). Und zu dir, heilige Jungfrau, sage ich: Ave Maria.

2
Dieser Hinweis bezieht sich auf eine Predigt über Maria Verkündigung, die
nicht überliefert ist.
* in der neuerbauten Kirche des Noviziatshauses der Jesuiten, am ersten
Patroziniumsfest.

193
Arabien ist durch den günstigen Einfluß des Himmels so fruchtbar
an allen Arten aromatischer Bäume, daß man es das Glückliche nennt.
Hier gab es, sagten die Alten, jenen überaus bewundernswerten und so
seltenen Vogel, daß er einmalig ist, den man Phönix nennt. Nun wird
er nach Ablauf mehrerer Jahrhunderte so schwach und alt, sagt man,
daß er kaum noch fliegen kann und ihm dann sein Leben so hinfällig
erscheint, daß er nur mehr durch den Tod zu leben hoffen kann. Daher
sammelt er aromatisches Holz, macht einen Holzstoß, etc. Hernach
fliegt er wieder, lebt munter und fröhlich; in einer ganz lebendigen
Jugend überlebt er dann eine neue Reihe von Jahrhunderten, etc. Das
ist der Bericht der Alten, uzw. nicht nur der profanen, sondern auch
der christlichen Schriftsteller, des hl. Basilius, des hl. Ambrosius und
vieler anderer.
Es ist gewiß wahr, meine teuersten Zuhörer: wenn der Sünder in
seiner Bosheit alt geworden ist, muß er sich einen Holzstoß errichten
und ein Feuer entfachen, das ihn in Asche verwandelt und zu einem
Wurm der Buße werden läßt. Dann gelangt er von diesem Zustand zur
Gerechtigkeit, und wie ein zweiter Phönix fliegt er, ist munter, und
man kann sagen, er bringt das Opfer der Gerechtigkeit dar. Ps 4,6;
116,17: Ich will das Opfer der Gerechtigkeit darbringen. Ps 43,4: Ich
will hintreten zum Altar Gottes, zu Gott, der meine Jugend froh macht.
Doch warum sage ich das? Deshalb, meine teuersten Zuhörer, weil
Tertullian (Von der Auferstehung des Fleisches) unseren Vers und
den Vergleich so verstanden hat: Der Gerechte wird blühen wie die
Palme. In der Fassung der Septuaginta fand er nämlich das Wort Phö-
nix: Der Gerechte wird aufblühen wie der Phönix. Daher sagte er: Wenn
der Sünder zur vollkommenen Sinnesänderung und Buße gelangt ist,
dann wird er ganz verjüngt und wie neugeboren in der Gnade.
Aber obwohl das Ansehen dieses großen Mannes viel Achtung ver-
dient für das, was er mit großer Klugheit gesagt hat, müssen wir uns
doch an die gewöhnliche Fassung halten, die von der heiligen Kirche
kanonisiert ist, die in sich gerechtfertigt ist (Ps 19,10). Obwohl Phönix
im Griechischen den seltenen und wundervollen Vogel bedeutet, von
dem wir gesprochen haben, bedeutet das Wort tatsächlich auch Palme.
Die Palme ist der Phönix der Bäume, wie der Phönix die Palme der
Vögel ist. Beide haben viel Ähnlichkeit miteinander, abgesehen da-
von, daß die Palme nicht so selten ist wie der Phönix und der Phönix
nicht so fruchtbar wie die Palme.
Sagen wir also mit David: Der Gerechte wird blühen wie die
Palme,und sprechen wir von der wahren Palme. Denn wer sieht nicht,

194
daß sein Vergleich mit den Bäumen von der Palme und von der Ze-
der gilt? Wie die Zeder, und dann: er wird blühen, und gepflanzt, etc.
(Ps 92,13.14).
Nun gibt es zahllose Vergleichspunkte zwischen der Palme und dem
Gerechten. Die Palme ist der Fürst unter den Bäumen, der Gerechte
unter den Menschen. Die Palme ist immer grün, sie wächst in die Höhe
und bleibt auf dem Boden stets klein und schlank; sie ist ganz stark
und erträgt Lasten; sie trägt ganz vorzügliche Früchte. Doch mir dünkt,
das ist allen Gerechten gemeinsam, trifft aber in besonderem und grö-
ßerem Maß auf den glorreichen hl. Josef zu. Deshalb habe ich mein
Augenmerk auf die bewundernswerten und seltenen Eigenschaften
dieses Baumes gerichtet, die vergleichsweise ganz einmalig auf den hl.
Josef zutreffen.
Die erste: Es gibt zwei Arten von Palmen; die einen sind männlich,
wir können sie Palmbäume nennen; die anderen weiblich, sie sollen
den Namen Palme behalten. Und das ist das Wunderbare: man ver-
mählt die Palmen, um sie fruchtbar zu machen, und ihre Vermählung
ist ganz jungfräulich und rein, heilig und unbefleckt. Lege die Schilde-
rung (nach Plinius) so anschaulich wie möglich dar. O Gott, ihr seht
schon das meiste, was ich euch sagen will, aber es ist angebracht, daß
ich es für die Einfachen erläutere. Mt 1,18: Als die Mutter Jesu, Maria,
mit Josef vermählt war, ehe sie zusammenkamen, etc. Nein, nicht der
Palmbaum befruchtet die Palme, vielmehr befruchtet die Sonne sie.
Vielleicht wollte die Natur diese Vorgangsweise nur einhalten, um
uns durch dieses Gleichnis zum Verständnis dessen zu führen, was wir
nun sagen. Es ist der Heilige Geist, der die seligste Jungfrau fruchtbar
macht. Lk 1,35: Der Heilige Geist wird auf dich herabkommen und die
Kraft des Allerhöchsten, etc. Mt 1,20: Was aus ihr geboren wird, stammt
vom Heiligen Geist. Der Heilige Geist wollte aber die Vorgangsweise
einhalten, daß die seligste Jungfrau nur im Stand und im Schatten der
Ehe (den Sohn Gottes) empfing, in einer ganz und gar jungfräulichen
Ehe, die „die Jungfräulichkeit Marias nicht beeinträchtigte, sondern
heiligte“ (Missale); und es erhöht den Rang des hl. Josef wunderbar,
daß er der wirkliche Gemahl einer so heiligen Braut ist. Hld 8,8f:
Unsere Schwester ist klein und hat noch keine Brüste. Was werden wir
mit unserer Schwester machen an dem Tag, da man um sie wirbt? Ist sie
eine Mauer, so wollen wir silberne Bollwerke bauen; ist sie ein Tor, dann
wollen wir es mit Zederngetäfel bewehren. Josef war daher der Wächter
ihrer Jungfräulichkeit. Hld 7,2: Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen,
von Lilien eingesäumt. „Tempelwächter des Heiligen Geistes“ nennt

195
Tertullian die Keuschheit. Aus dieser Ehe ergibt sich aber ein zweiter
Vorzug des hl. Josef: Obwohl er nicht der natürliche Vater Christi des
Herrn ist, ist er doch mehr als sein Nährvater, mehr als ein Oheim.
Obwohl Christus nicht das Kind Josefs ist, ist er doch sein Sohn; er ist
nicht sein Kind, aber er ist ein Sohn, der ihm gehört. Wenn die Taube
eine Dattel trägt und über dem Garten fallen läßt, dann gehört die
Palme, die aus ihr wächst, dem Eigentümer des Gartens. Daher wird er
blühen wie die Palme: der Palmbaum blüht, d. h. er trägt Frucht in der
Palme.
Hld 5,11: Seine Haare gleichen den Kronen der Palmen, schwarz wie
der Rabe. Die schwarzen Kronen tragen weiße Blüten. Trage den Be-
richt (Plinius) vor. Der Gerechte wird blühen wie die Palme. Das gilt
zwar für alle, am meisten aber für den hl. Josef, der alle Tugenden, die
ihn zum Gerechten machten, durch die Demut verbarg. Daher war er
zu seiner Zeit ein unbekannter Mann. Kol 3,3: Ihr seid gestorben und
euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Welche Demut offenbart
doch das heutige Evangelium! (Mt 1,18-21).

Zum Fest der Heiligen Philippus und Jakobus


zugleich 5. Sonntag nach Ostern

Nr. 156: 1. Mai 1622 VIII,405-409

Am 1. Mai 1622, dem Fest der Heiligen Philippus und Jakobus und dem
Bittsonntag, habe ich die Predigt so geschrieben.

Amen, amen, ich sage euch: wenn ihr den Vater in meinem Namen
bittet, wird er es euch gewähren (Joh 16,23). Wenn ihr mich in meinem
Namen um etwas bittet, werde ich es tun (Joh 14,14). Nachdem Chris-
tus den Jüngern die Füße gewaschen, den Verrat des Judas und Petrus
vorhergesagt hatte, sprach er in den folgenden Kapiteln Worte des
Trostes, voll der Geheimnisse zu den Jüngern. Unter anderem tröstete
er sie damit, daß er ihnen zwar seine sichtbare Gegenwart entziehen,
sie aber immer mit seinem Beistand beschützen und erhören werde.
Das drückt er auf zweifache Weise aus: wie am Anfang des Sonntags-
Evangeliums: Amen, amen, ich sage euch: wenn ihr den Vater in mei-
nem Namen bittet ..., und wie am Schluß des Evangeliums der Fest-
messe: Wenn ihr mich in meinem Namen um etwas bittet, werde ich es
tun. Sowohl in dem einen wie in dem anderen Wort wird die Macht der

196
Bitte und des Gebetes ausgedrückt. Deshalb müssen wir vom Gebet
überhaupt sprechen, und die Bittage verlangen es so. Wir können je-
doch über das Gebet nur sprechen, wenn Gott uns belehrt. So müssen
wir mit den Aposteln (Lk 11,1) sagen: Herr, lehre uns beten.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn ihr den Vater in meinem Na-
men um etwas bittet, wird er es euch gewähren.
1. Man muß die Irrtümer der Messalianer oder Euchiten vermeiden,
die (dem Gebet) zu viel (zuschreiben), und die Irrtümer der Pelagianer
und der Wiclefiten. Vgl. Bellarmin, Band 3 (Kontroversen) Von den
guten Werken.
2. Wiclef verwendet die Unterscheidung der echten Theologen und
Heiligen falsch (drei Formen des Gebetes: mündlich, geistig, Gebet
des Lebens oder der Werke); wir müssen sie richtig anwenden.
(Mündliches Gebet) Ps 142,1: Mit meiner Stimme rief ich zum Herrn;
mit meiner Stimme habe ich den Herrn angefleht. Augustinus und die
Übung der Kirche: Herr, öffne meine Lippen, und mein Mund wird
dein Lob verkünden (Ps 1,17). „Durch heilbringende Anordnung ge-
mahnt und durch göttliche Belehrung angeleitet ...“ (Missale).
Geistesgebet: Jes 38,14: Wie das Schwalbenjunge rufe ich und sinne
nach wie die Taube. Ps 119,97: Wie liebe ich dein Gesetz, Herr! Den
ganzen Tag ist es Gegenstand meiner Betrachtung. Eine schöne Stelle,
Ex 14,15: Was rufst du nach mir? Bernhard (Sermo 16 zu Ps 90, § 1):
„Das Rufen ist in den Ohren Gottes ein heftiges Verlangen.“ Bei Gott
zählt weniger das Rufen als die Liebe. Cassiodor, zu Ps 17: „Vollkom-
men ist das Gebet, das ruft durch seinen Grund und seine Sprache,
durch das Leben und Denken.“
Gebet des Lebens. Sir 29,15: Verbirg, verschließe das Almosen in der
Brust, im Herzen des Armen, und es wird selbst für dich beten zum
Herrn. Abt Lucius im „Leben der Väter“, bei Corneille im Kommen-
tar zu 1 Thess (5,17f), S. 697. So haben im Altertum die Fürsten Klö-
ster gegründet und gründen fromme Männer Klöster, in denen immer
gebetet wird und sie selbst immer mit den Betenden beten, wie Saulus
durch die Hände der Steinigenden (steinigte: Apg 7,57.59).
3. In jedem Gebet wird immer Gott um etwas gebeten; ihm dienen
wir, unnütz nicht für uns, sondern für Gott (Lk 17,10): Ich neigte mein
Herz, zu tun ... (Ps 119,112). Dreierlei wird jedoch festgestellt:
Wenn ihr den Vater in meinem Namen um etwas bittet, wird er es euch
gewähren. Also sind vor allem zwei Worte zu erklären. Den Vater. Ps

197
121,1: Ich habe meine Augen zu den Bergen erhoben. Jedes Gebet ist
an Gott gerichtet. Ps 123,1: Zu dir erhebe ich meine Augen, der du in
den Himmeln wohnst. Wenn wir Vater sagen, sprechen wir von der
ganzen Dreifaltigkeit; so heißt es nämlich bei Johannes (14,14): Wenn
ihr mich in meinem Namen um etwas bittet, werde ich es tun. Joh 10,30:
Ich und der Vater sind eins. Joh 14,9f: Wer mich sieht, Philippus, sieht
auch meinen Vater. Wißt ihr nicht, daß ich im Vater bin und der Vater
in mir ist? Wir erbitten zwar etwas von den Heiligen, aber nicht unmit-
telbar, sondern wir bitten, daß unsere Gebete durch ihre Gebete un-
terstützt werden. Deshalb: „Erhebt die Herzen; wir haben sie beim
Herrn“ (Präfation).
In meinem Namen, als Mittler. (So beteten schon die Alten, wenn
auch nicht ausdrücklich; jetzt deutlicher, ausdrücklicher, wie klarer
geglaubt wird.) Anders sind wir nicht wert, daß wir beachtet werden.
Ps 132,10: Um Davids, deines Dieners willen weise das Antlitz deines
Gesalbten nicht ab. Das Gebet ist allmächtig, denn „es ist wahrhaft
würdig und recht“, daß der Sohn vom Vater erhört wird. Röm 8,15: Ihr
habt nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, wiederum zur Furcht,
sondern ihr habt den Geist der Kinder empfangen, in dem wir rufen:
Abba, Vater. Ps 83,10: Schau auf das Angesicht deines Gesalbten. Das
Gebet des Abtes Johannes (Corneille, S. 565). Jakob am Fuß der Lei-
ter (Gen 28,12). So sind von Anfang an alle Gebete der Kirche; sie
beginnt mit dem Kreuzzeichen und schließt mit dem Kreuzzeichen.

Zum Fest der Kreuzerhöhung

Nr. 158 (undatiert) VIII,414-420

Gott hat mir ein außergewöhnliches Verlangen geschenkt, den Her-


zen aller Kinder der heiligen Kirche die Ehrfurcht und Liebe zum
heiligen Kreuz unseres Herrn Jesus Christus einzupflanzen. Ich habe
schon öfter erwogen: Nachdem der große Judas Makkabäus den Tem-
pel des Alten Bundes wieder aufgebaut hatte, empfand das Volk der
Hebräer so viel Trost, daß alles Volk auf das Angesicht niederfiel und
Gott lobte und pries, der ihnen solchen Erfolg verlieh (1 Makk 4,55).
Beim Gedanken daran sage ich: Mein Gott, welchen Trost und welche
Herzensfreude müssen die Christen empfinden, wenn sie die Erhö-
hung des heiligen Kreuzes erwägen, das von den Ungläubigen gefällt
und umgerissen und vom hochherzigen Feldherrn Heraklius wieder

198
aufgehoben und aufgestellt wurde! Unsere Freude muß gewiß um so
größer sein, als im alten Tempel stets nur Kälber, Böcke und Schafe
geopfert wurden; aber auf dem Kreuz und im Kreuz hat sich der ewige
Sohn Gottes selbst dargebracht und geopfert.
Der alte Tempel wurde nie von anderem Blut benetzt als dem von
Tieren, das heilige Kreuz aber wurde benetzt vom Blut des Urhebers
und Vollenders (Hebr 12,2) aller Opfer. Das Kreuz übertrifft die Erha-
benheit des alten Tempels soviel, als das Opfer des heiligen Kreuzes
alle anderen übertrifft; und es gibt keinen guten Christen, der nicht die
Armut, die Verachtung und die Schmerzen des Kreuzes Jesu Christi
zärtlicher lieben müßte, als die Juden des Alten Bundes die Reichtü-
mer, die Pracht und die Wonnen ihres Tempels liebten.
Der Tempel des Alten Bundes wurde dreimal erbaut: das erstemal
unter Salomo, das zweitemal unter Darius, das drittemal unter
Makkabäus. So wurde auch das heilige Kreuz dreimal erhöht: das erste-
mal unter unserem Herrn Jesus Christus, das zweitemal unter Kon-
stantin durch die fromme hl. Helena, das drittemal unter Heraklius.
Die guten Juden haben immer wieder versucht, den Tempel neu aufzu-
bauen, wenn ihn die Feinde zerstörten oder wenn sie ihn beschädig-
ten; ebenso müssen sich die guten Christen stets bemühen, das heilige
Kreuz zu erhöhen, je mehr die Feinde sich anstrengen, seine Ehre und
Verehrung zu zerstören.
Der hl. Paulus, dieser unvergleichliche Meister und Lehrer der ent-
stehenden Kirche, hat Jesus Christus den Gekreuzigten zur Wonne
seiner Liebe erwählt, zum Gegenstand seiner Predigt, zum Gipfel all
seines Ruhmes, zum Ziel all seiner Bestrebungen in dieser Welt und
zum Unterpfand all seiner Hoffnung auf die Ewigkeit. Ich habe dafür
gehalten, sagt er (1 Kor 2.2), nichts zu kennen als meinen gekreuzigten
Jesus. Gal 6,14: Es möge nie geschehen, daß ich mich in etwas ande-
rem rühme als im Kreuz meines Jesus. Glaubt nicht, meine lieben
Galater, daß ich ein anderes Leben besäße als das des Kreuzes, denn
ich versichere euch, ich sehe und fühle dermaßen überall das Kreuz
meines Erlösers, daß ich durch seine Gnade vollkommen der Welt
gekreuzigt bin und die Welt mir gekreuzigt ist. Glücklich die Seele, die
ebenso überall den gekreuzigten Jesus Christus sieht.
Damit meine frommen Männer und Frauen öfter die Erinnerung an
das hochheilige Kreuz auffrischen, rate ich ihnen gern, daß sie stets
eines um den Hals oder an ihrem Rosenkranz tragen und daß sie stets
ein Kreuz bei sich haben, um es oft anzuschauen und zu küssen, denn

199
der Kuß ist ein Zeichen der Freundschaft. Deshalb küßte Jesus Chris-
tus, der vollendete Liebhaber unserer Seelen, seine Apostel, als sie zu
ihm zurückkehrten; und der hl. Paulus lehrte seine Schüler: Grüßt
einander von mir, indem ihr euch den heiligen Kuß gebt (Röm 16,16;
1 Kor 16,20).
Wer ohne Verstellung und Heuchelei, sondern in tugendhafter Ab-
sicht seinen christlichen Bruder küßt, bezeugt in Wahrheit, daß er ihn
liebt. Als Beweis unseres Glaubens dürfen wir uns nun nicht damit
begnügen, das Kreuz zu küssen, sondern wir müssen das Kreuz lieben;
denn das Kreuz küssen, ohne es zu lieben, hieße den Frevel unseres
Unglaubens vermehren und uns die Strafen jenes Volkes zuziehen,
von dem Jesus Christus (Mt 15,8; Jes 29,13) sagte: Diese Leute ehren
mich mit den Lippen; sie geben mir heuchlerische und falsche Lob-
sprüche; ihr Herz aber ist sehr weit von mir entfernt, folglich sind auch
ihre Werke sehr weit von meinen Absichten entfernt. Daraus muß der
Christ folgern, daß es nicht genügt, das Kreuz zu verehren, wenn man
es nicht liebt; es zu küssen, wenn man es nicht durch einen herzlichen
und festen Entschluß umfängt; nicht nur das Kreuz zu lieben, sondern
auch die Kreuzigung des Herrn.
Einige beschauliche Seelen haben erwogen, daß Jesus Christus in
der Werkstatt des hl. Josef sich in den dreißig Jahren seines verborge-
nen Lebens manchmal damit beschäftigt habe, Kreuze für verschiede-
ne Gruppen von Menschen anzufertigen; und ich erlaube mir, sie in
seinem Namen allen vorzustellen. Den hochwürdigsten Prälaten biete
ich das Kreuz der Sorge und der Mühen, die ein guter Hirte auf sich
nehmen muß, um seine Herde zu hüten, zu vermehren, zu nähren, zu
vervollkommnen und zu bessern. Dieses Kreuz der Hirten ist das er-
ste, das Jesus getragen hat. Das könnte ich leicht nachweisen durch
seine Krippe, seine Wege, durch die Ermüdung und den Schweiß am
Brunnen der Samariterin (Joh 4,6) und durch seine liebevolle Sorge
selbst für jene, die ihn marterten.
Den Ordensfrauen und anderen geistlichen Personen biete ich das
Kreuz der Zurückgezogenheit, der Ehelosigkeit und der Verleugnung
der Welt; ein heiliges Kreuz, das wahrhaftig das Kreuz Unseres Herrn
berührt hat; ein kostbares Kreuz, das die Jungfrau der Jungfrauen,
Unsere liebe Frau getragen hat, die nächst ihrem anbetungswürdigen
Sohn am heiligsten war, am unschuldigsten und am meisten gekreu-
zigt von allen Seelen, die das hochheilige Kreuz lieben.
Den Herren des Adels gebe ich das Kreuz der Bescheidenheit, der
guten Verwendung der Zeit durch gute und heilige Beschäftigung des

200
Geistes, die so hoch über der Handarbeit der Bürgerlichen steht, wie
es der Vorrang ihres Standes, ihrer Geburt und ihres Vorzugs vor den
anderen ermöglicht. Und als dritten Balken dieses Kreuzes, daß sie
die wahre Ehre lieben; sie ist die einzige Tugend der Frömmigkeit und
der Gottesfurcht und die Flucht vor dem Trugbild einer eingebildeten
Ehre, das sie verfolgt; wenn es sich ihrer bemächtigt hat, verwickelt es
sie in Eigendünkel, in Selbstüberschätzung und von da in Duelle, uzw.
in Duelle in die ewige Verdammnis.
Den Herren der Justiz biete ich das Kreuz der Gelehrsamkeit, der
Unparteilichkeit und der lauteren Wahrheit; ein Kreuz, das wahrhaft
angemessen ist für Diener und Sachwalter des gerechten und lebendi-
gen Gottes (Röm 13,4.6). Es läßt Gerechtigkeit und Gerichte vor sei-
nem Angesicht sich vollziehen und richtet die ganze Erde in Gerech-
tigkeit, wie David (Ps 85,14; 97,2; 96,10.13). Ein wünschenswertes
Kreuz, das die menschlichen Rücksichten kreuzigt, die Menschen-
furcht und die Liebe zum eigenen Vorteil, das in einem Land den Frie-
den und in den Familien die Ruhe gedeihen läßt.
Den Angehörigen des dritten Standes bringe ich das Kreuz der De-
mut, der Mühe und der Arbeit ihrer Hände; ein Kreuz, das Gott mit
ihrer Herkunft verbunden aber auch geheiligt hat dadurch, daß Jesus
Christus das Handwerk des Zimmermanns ausübte. Es läßt ihn mit
seinem Propheten (Ps 88,16) von sich sagen: Ich bin seit meiner Ju-
gend in Mühe und Arbeit. Dieses Kreuz der Arbeit ist sehr heilsam, um
dem Menschen zum ewigen Heil zu verhelfen. Da Müßiggang aller
Laster Anfang ist, befreit eine notwendige und gute Beschäftigung den
Geist von tausend Vorstellungen, die die Ursache der Sünden sind,
erhält ihn in liebenswerter Unschuld und in gutem Glauben.
Für die jungen Leute bestimme ich das Kreuz des Gehorsams, der
Keuschheit und der Bescheidenheit in ihrer Haltung; ein heilsames
Kreuz, welches das Ungestüm des jungen Blutes kreuzigt, das zu wal-
len beginnt mit einem Mut, der noch nicht die Klugheit zur Führerin
hat, das schließlich unsere jungen Leute befähigt, das überaus süße
Joch Unseres Herrn zu tragen, in jedem Stand, zu dem seine Einge-
bung sie beruft.
Den Alten biete ich das Kreuz der Geduld an, der Milde und des
weisen Rates; ein Kreuz, das ein Herz verlangt, das mit Mut bewaffnet
ist, denn sie werden in diesem fortgeschrittenen und abgekühlten Al-
ter nur Mühe und Leid auf Erden finden, wie David (Ps 90,10) sagt.
Es gibt so viele Kreuze für Verheiratete, die eine Familie haben, daß
es nicht notwendig ist, für sie eigene zu bestimmen. Eines, das ich

201
ihnen trotzdem sehr gern vorstelle, ist das gegenseitige Ertragen, die
treue, von keiner fremden Liebe durchbrochene Freundschaft und die
Sorge für die Erziehung der Kinder; mögen sie darin der ganzen Fami-
lie ein gutes Beispiel geben und sich nicht schuldig machen an den
Vergehen anderer.
Den Witwen fehlt das Kreuz ebensowenig. Wenn sie wahrhaft Wit-
wen sind (1 Tim 5,3.5), müssen ihr Herz, ihre Liebe und ihre Freude
an das Kreuz Jesu Christi geheftet sein, durch den Verzicht auf die
Vergnügungen der Welt und durch die Erwägung des Todes, da ihre
teure Hälfte schon im Grab modert.
Der glorreiche hl. Antonius sah eines Tages die Erde mit Schlingen
und Netzen bedeckt; ich meine sie mit meinem inneren Auge mit
Kreuzen übersät zu sehen. Glücklich jene, die das Kreuz nicht fliehen!
Judas, der treulose Jünger, führte seine höllische Schar an, um Jesus
gefangennehmen und an das Kreuz nageln zu lassen. Für sich selbst
wies er das Kreuz vollkommen zurück; er wollte nicht einmal das der
Reue und Buße, das Jesus Christus ihm anbot. Die sich weigern, das
Kreuz, das Gott ihnen in diesem Leben auferlegt, demütig anzuneh-
men und tapfer zu tragen, werden im anderen Leben das Los des Judas
teilen.
Der große König Salomo sagt (Koh 1,14): Alles, was unter der Sonne
geschieht, ist Eitelkeit und Plage des Geistes. Unter dieser Vorausset-
zung gibt es keinen Menschen unter der Sonne, der dem Kreuz und
Leiden entgehen könnte. Aber die Gottlosen, die schlecht gewordenen
Menschen sind gegen ihren Willen und trotz des Widerwillens, den sie
dagegen haben, an Kreuz und Trübsal gebunden; und durch ihre Unge-
duld machen sie ihr Kreuz für sich verhängnisvoll. Sie haben Gefühle
der Überheblichkeit, ähnlich denen des linken Schächers (Lk 23,39);
auf diese Weise vereinigen sie ihr Kreuz mit dem dieses Verbrechers,
und so wird unfehlbar auch ihr Lohn der gleiche sein. Ach, der gute
Schächer macht aus seinem Kreuz ein Kreuz Jesu Christi. Gewiß, die
Mühen, die Ungerechtigkeiten, die Trübsale, die wir empfangen, sind
Kreuze eines echten Diebes, und wir haben sie wohl verdient. Wir
müssen mit dem glücklichen Schächer demütig sagen: Wir empfangen
in unserem Leid, was wir durch unsere Sünden verdient haben (Lk
23,41). Durch diese Demütigung machen wir unser Kreuz des Übeltä-
ters zu einem Kreuz des wahren Christen. Vereinigen wir daher, wie
der gute Schächer, unser Kreuz des Sünders mit dem Kreuz dessen,
der uns durch das Kreuz erlöst hat. Durch diese liebevolle und from-

202
me Vereinigung unserer Leiden mit den Leiden und dem Kreuz Jesu
Christi werden wir als gute Schächer in seine Freundschaft und in der
Folge in sein Paradies aufgenommen.
Wenn ich also das heilige Kreuz Jesu mit einem Herzen voller Liebe
und Ehrfurcht betrachte, werde ich folgende ewige und unverletzliche
Entschlüsse fassen: O mein Jesus, Vielgeliebter meiner Seele, erlaube
mir, daß ich dich wie einen Myrrhenstrauß an meine Brust drücke (Hld
1,12), gefärbt von deinem kostbaren Blut. Laß mich sagen, daß mein
Mund, der so glücklich ist, dein heiliges Kreuz zu küssen, sich künftig
der Verleumdung, des Murrens und der Lüsternheit enthalten wird.
Meine Augen, Jesus, die deine Tränen über meine Sünden, über das
Kreuz fließen sehen, mögen nie mehr etwas ansehen, was gegen dich
ist; diese zwei Leuchten meines Leibes sollen schwach werden durch
das Emporschauen (Jes 38,14) zu meinem am Kreuz erhöhten Erlö-
ser. Ich will sie abwenden, damit sie die Eitelkeit der Welt nicht sehen
(Ps 119,37), sondern stets die Wahrheit deiner heiligen Liebe anschau-
en. Meine Ohren, die mit soviel Trost die sieben Worte am Kreuz
vernehmen, sollen keine Freude mehr haben an eitlem Lob, an fal-
schen Berichten, an Reden, die meinen Nächsten herabsetzen, an eit-
len Vorschlägen, an unnützem Geschwätz.
Mein Verstand, der mit Wohlgefallen die anbetungswürdigen Ge-
heimnisse des hochheiligen Kreuzes erwägt, soll sich nie mehr aufleh-
nen in böswilligen und schlechten Vorstellungen. Mein Wille, der sich
dem Gesetz des heiligen Kreuzes und der Liebe Jesu Christi des Ge-
kreuzigten unterworfen hat, soll nie jemand hassen, weil sein vielge-
liebter Jesus aus Liebe für alle gestorben ist (2 Kor 5,14f).
Schließlich soll es mein eifriges Bestreben sein, das Kreuz zu errich-
ten in meinem Herzen, in meinem Verstand, in meinen Augen und
Ohren, in meinem Mund, in allen meinen inneren und äußeren Sin-
nen, damit nichts Eingang finde oder hervorgehe, was nicht verpflich-
tet wäre, die Erlaubnis dazu vom heiligen Kreuz zu erbitten. Ich will
das Kreuzzeichen in Ehrfurcht machen und mit ihm mein Herz be-
zeichnen beim Erwachen und vor dem Einschlafen. Wenn ich im hei-
ligen Kreuz meine Stütze suche in den Ängsten dieses Lebens, hoffe
ich in ihm meine ewige Freude zu finden. Denn wenn ich den gekreu-
zigten Jesus Christus in dieser Welt liebe, werde ich meine Freude in
der anderen im verherrlichten Jesus finden. Ihm sei Ehre und Ver-
herrlichung von Ewigkeit zu Ewigkeit. So sei es.

203
204
B. Gesammelte Predigten

Darunter versteht man Predigten, die nicht vom hl. Franz von Sales geschrie-
ben sind, sondern von Zuhörern mit- bzw. nachgeschrieben wurden. Man weiß
zwar, daß dies bei seinen Predigten öfter geschah, so bei den Fastenpredigten
1604 in Dijon und besonders bei seinen Advent- und Fastenpredigten in Grenoble,
doch davon war nichts mehr aufzufinden. Die 70 gesammelten Predigten der
Annecy-Ausgabe wurden ausschließlich von Schwestern der Heimsuchung gesam-
melt. Die Niederschriften stammen, mit Ausnahme der wenigen, die er nicht in
Annecy gehalten hat, von Sr. Claude-Agnes de La Roche (bis Juli 1620) und von
Sr. Marie-Marguerite Michel (bis April 1622).
Die erste dieser Predigten stammt vom Heiligen Abend 1613, die letzte datiert
von der Christmette 1622 in Lyon, eine der letzten Predigen, die Franz von Sales
gehalten hat.
Der Inhalt dieser Predigten ist naturgemäß auf die Zuhörer abgestimmt. Dazu
gehörten freilich in der Kirche der Heimsuchung vielfach nicht nur die Schwes-
tern, sondern auch andere Gläubige, wie aus den Themen und ihrer Behandlung
mehrfach erkennbar ist. Hier wurden die meisten Ansprachen zur Einkleidung
und Profeß und andere, die überwiegend Fragen des Ordenslebens behandeln,
ausgeklammert, die allerdings auch in den wiedergegebenen Predigten ausgiebig
zur Sprache kommen. Einige der ausgesparten Themen können in Band 12 Raum
finden.

205
Zur Weihnachtsvigil
Weihnachtsvigil
Nr. 1: Annecy, 24. Dezember 1613* IX,1-14

Hodie scietis quia Dominus veniet, et mane videbitis


gloriam ejus.
Heute sollt ihr wissen, daß der Herr kommt, und
am Morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen (vgl.
Ex 16,6f).

Die heilige Kirche ist gewohnt, uns am Vortag der großen Feste vor-
zubereiten, damit wir besser befähigt sind, die großen Gnadenerweise
zu erkennen, die wir an ihnen von Gott empfangen haben. Wenn die
Christen der Urkirche Unserem Herrn gewissermaßen Genugtuung
leisten wollten für sein Blut, das er bei seinem Tod am Kreuz so freige-
big vergossen hat, dann waren sie sorgsam bedacht, die Zeit der Feste
recht zu nutzen und sie möglichst gut zu feiern. Deshalb gab es fast
kein Fest, das keine Vigil hatte, in der sie sich auf das Fest vorzuberei-
ten begannen. Das geschah nicht nur in der Kirche, sondern auch im
Alten Bund; dem Sabbat gingen stets verschiedene Vorbereitungen
voraus, die man am Tag zuvor traf.
Die heilige Kirche will also, daß wir uns in der Vigil des heiligen
Weihnachtsfestes vorbereiten, und als ganz liebenswürdige Mutter will
sie nicht, daß wir von einem so großen Geheimnis unvorbereitet über-
rascht werden; deshalb sagt sie uns die Worte: „Heute sollt ihr wissen,
daß Unser Herr morgen kommt“ (Introitus). Das heißt soviel wie:
morgen wird er geboren, und ihr werdet ihn als ganz kleines Kind in
einer Krippe liegend (Lk 2,12) sehen. Diese Worte sind jenen entnom-
men, die Mose an die Kinder Israels richtete, da er den Tag kannte, den
Gott bestimmt hatte, um ihnen das Manna in der Wüste zu geben. Er
ließ sie zusammenkommen und sagte ihnen deshalb (Ex 16,6f) die
Worte: Am Abend sollt ihr wissen, daß der Herr euch aus dem Land
Ägypten geführt hat, und am Morgen werdet ihr die Herrlichkeit des
Herrn sehen. Das heißt soviel, als hätte er gesagt: morgen früh wird er
kommen. Er sprach also so, als sollte der Herr in seiner eigenen Herr-
lichkeit kommen. Wir wissen aber alle, daß Gott nicht kommt und
geht, als hätte er einen Leib, denn er ist unveränderlich, fest und dau-
erhaft, ohne irgendeine Bewegung. Mose gebraucht trotzdem diese
Ausdrücke, um zu zeigen, daß das Manna ein so großes Geschenk war,

* Vgl. den autographen Entwurf Nr. A 95.

206
daß Gott gewissermaßen selbst kommen mußte, um es den Kindern
Israels auszuteilen. Daher trägt er Sorge, daß sich die Israeliten darauf
vorbereiteten durch die Erwägung einer so großen Gnade, um sich
würdiger zu machen, sie zu empfangen. Ebenso sagt uns die Kirche:
Heute sollt ihr wissen, daß der Herr morgen kommen wird. Dabei hat
sie keine andere Absicht, als zu erreichen, daß wir unseren Verstand
in die Betrachtung der Größe des Geheimnisses der hochheiligen
Geburt Unseres Herrn versenken.
Um das möglichst gut zu machen, werden wir vor allem unseren
Verstand demütigen und anerkennen, daß er in keiner Weise fähig ist,
auf den Grund dieses großen Geheimnisses vorzudringen, das ein wahr-
haft christliches Mysterium ist. Ich sage „christlich“, weil nur die Chris-
ten jemals begreifen konnten, daß Gott Mensch und der Mensch
vergöttlicht wurde. Alle Menschen hatten stets eine gewisse Neigung
zu glauben, daß das möglich sei und geschehe, doch nur die Christen
sind zu der Erkenntnis gekommen, wie das geschehen kann. Ich weiß
wohl, daß es im Alten Bund die Propheten und bestimmte große und
erhabene Persönlichkeiten gab, die es wußten; was aber das gewöhnli-
che Volk betrifft, vermochte es niemand zu erkennen. Bei den Heiden
hat die Ahnung, die sie hatten, daß Gott Mensch werde und der Mensch
Gott, dazu geführt, daß sie absonderliche Dinge taten. Das ging so
weit, daß sie oder wenigstens manche glaubten, sie könnten sich zu
Göttern machen und sich von den übrigen Menschen anbeten lassen.
Sie dachten nämlich, wenn es auch einen höchsten Gott gebe, der als
oberster Fürst über allem steht, könne es dennoch mehrere Götter
geben, oder wenigstens Menschen, die in irgendeiner Weise an den
göttlichen Eigenschaften teilhaben und sich Götter nennen. Als Ale-
xander der Große im Sterben lag, sagten seine Höflinge, Verrückte,
Schwachsinnige und Schmeichler: „König, wenn du willst, machen
wir dich zu einem Gott.“ Da zeigte Alexander durch die Antwort, die
er ihnen gab, daß er nicht so töricht war wie sie: „Ihr könnt mich zu
einem Gott machen, wenn ihr glückselig seid“, antwortete er, als woll-
te er sagen: unglücklichen, vergänglichen und sterblichen Menschen
steht es nicht zu, Götter zu sein, die nur glückselig und unsterblich
sein können.
Die Christen wurden mehr erleuchtet und hatten das Glück zu wis-
sen, daß der Mensch vergöttlicht wurde und Gott Mensch geworden
ist, obwohl sie nicht fähig sind, die Größe des Geheimnisses der
Menschwerdung und der hochheiligen Geburt Unseres Herrn zu be-
greifen. Es ist ja ein Geheimnis, das verborgen ist im Dunkel und in
der Finsternis der Nacht; nicht als ob das Geheimnis dunkel in sich

207
selbst wäre, denn Gott ist nur Licht (Joh 1,5.9). Man weiß ja, daß unse-
re Augen nicht fähig sind, das Licht oder die Klarheit der Sonne zu
betrachten, ohne zu erblinden (wenn wir es unternehmen wollten, die-
ses Licht zu betrachten, sind wir gezwungen, die Augen zu schließen,
und sind einige Zeit unfähig, etwas zu sehen). Ebenso liegt das, was
uns daran hindert, das Geheimnis der hochheiligen Geburt Unseres
Herrn zu begreifen, nicht daran, daß es in sich dunkel wäre, sondern
daran, daß es nichts als helles Licht ist. Unser Verstand, der das Auge
unserer Seele ist, kann es nicht lange betrachten, ohne sich zu trüben,
und muß demütig bekennen, daß er dieses Geheimnis nicht ergründen
kann, um zu begreifen, wie Gott im jungfräulichen Schoß der
allerseligsten Jungfrau Fleisch angenommen hat und Mensch gewor-
den ist gleich uns, um uns Gott ähnlich zu machen.
Gott ließ den Israeliten in der Wüste das Manna in der Nacht regnen
(Num 11,9); und damit die Israeliten mehr Grund hatten, ihm dank-
bar zu sein, wollte er selbst das Mahl und die Tafel bereiten. Ihr habt ja
gehört, daß Mose sagte: Ihr sollt wissen, daß der Herr euch aus Ägypten
geführt hat, und am Morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen. Er ließ
also zunächst einen sanften Tau vom Himmel fallen, der als Tischtuch
in der Wüste diente, dann fiel plötzlich das Manna wie kleine Koriander-
körper. Und um zu zeigen, daß er sie ehrenvoll bediente, wie man jetzt
den Fürsten auf bedeckten Platten serviert, ließ er dann einen kleinen
Tau fallen, der das Manna bis zum Morgen bedeckte, bis die Israeliten
es rasch zu sammeln kamen, ehe die Sonne aufging. Ebenso wollte
Gott ein ganz besonderes und unvergleichlich liebenswertes Geschenk
den Menschen machen, die auf Erden wie in einer Wüste leben, nur
seufzen und sich nach den Freuden des gelobten Landes sehnen, das
unsere wahre Heimat ist. Daher kommt er selbst in Person, um uns zu
führen, und das auf dem Höhepunkt der Nacht (Weish 18,14f). Dieses
Geschenk ist nichts anderes als die Gnade, die uns befähigt, die Freu-
de der Glorie und Glückseligkeit zu erlangen, deren wir für immer
beraubt wären ohne diese Gabe, die er uns in seiner Güte geschenkt
hat. Deshalb wird Unser Herr im Dunkel der Nacht geboren und zeigt
sich uns als kleines Kind in einer Krippe liegend, wie wir ihn morgen
sehen werden.
Doch erwägen wir ein wenig, wie das geschieht. Die seligste Jung-
frau gebar ihren Sohn jungfräulich, wie die Sterne ihr Licht hervor-
bringen. Nun trägt Unsere liebe Frau in ihrem Namen die Bezeich-
nung Stern des Meeres oder Morgenstern. Der Stern des Meeres ist der
Pol, auf den die Kompaßnadel stets zeigt; durch ihn werden die Steu-

208
ermänner auf See geführt und können erkennen, wohin ihre Reise geht.
Jeder weiß, daß die frühen Kirchenväter, die Patriarchen und Prophe-
ten, alle nach diesem Polarstern ausschauten und ihre Seefahrt nach
seiner Gunst lenkten.
Die allerseligste Jungfrau ist auch der Morgenstern, der uns die lieb-
liche Kunde vom Aufgang der wahren Sonne bringt (Lk 1,78). Alle
Propheten haben gewußt, daß die Jungfrau ein Kind empfangen und
gebären wird (Jes 7,14), das Gott und Mensch zugleich ist. Sie emp-
fing aber durch die Kraft des Heiligen Geistes (Lk 1,35); sie empfing
ihren Sohn jungfräulich und gebar ihn ebenso jungfräulich. Ich bitte
euch, welche Wahrscheinlichkeit bestand denn, daß Unser Herr die
Unversehrtheit seiner Mutter verletzte, da er sie nur deswegen erwählt
hatte, weil sie Jungfrau war? Konnte er, der die Reinheit selbst war,
die Reinheit seiner hochheiligen Mutter mindern oder beflecken?
Unser Herr ist von aller Ewigkeit gezeugt und jungfräulich aus dem
Schoß seines ewigen Vaters hervorgegangen; denn obwohl er die glei-
che Göttlichkeit von seinem ewigen Vater empfängt, teilt er sie den-
noch nicht auf, sondern bleibt ein und derselbe Gott mit ihm. Die
seligste Jungfrau gebar ihren Sohn, Unseren Herrn, auf Erden jung-
fräulich, wie er von seinem Vater ewig im Himmel gezeugt wird, je-
doch mit dem Unterschied, daß sie ihn aus ihrem Schoß gebar, nicht
in ihrem Schoß, denn nachdem er aus ihm hervorgegangen war, kehrte
er nicht mehr in ihn zurück; sein ewiger Vater dagegen hat ihn aus
seinem Schoß und in seinem Schoß gezeugt, denn er bleibt ewig in
ihm.
Das darf aber nicht unter die Lupe genommen noch neugierig erwo-
gen werden, und unser Verstand darf diese göttliche Zeugung nicht
spitzfindig untersuchen, da sie für ihn etwas zu Hohes ist. Es ist jedoch
gut, sich dessen als Ausgangspunkt der Betrachtungen zu bedienen,
die wir über das Geheimnis der Geburt Unseres Herrn anstellen. Mit
gutem Grund hat deshalb die seligste Jungfrau einen Namen, der Stern
bedeutet, denn wie die Sterne ihr Licht jungfräulich hervorbringen
und ohne dadurch in sich irgendeinen Schaden zu erleiden, sondern
unseren Augen dadurch noch schöner erscheinen, ebenso gebar Unse-
re liebe Frau dieses unzugängliche Licht (1 Tim 6,16), ihren gebene-
deiten Sohn, ohne dadurch irgendeinen Schaden zu nehmen, noch ihre
jungfräuliche Reinheit irgendwie zu beflecken. Es besteht aber der
Unterschied, daß sie ihn gebar ohne Anstrengung, Erschütterung und
irgendein Ungestüm, anders als die Sterne, die anscheinend ihr Licht,
wie man sieht, mit Gewalt, Ungestüm und Kraftaufwand hervorbrin-
gen.

209
Als zweites stelle ich fest, daß das Manna einen dreifachen Ge-
schmack hatte, der ihm eigentümlich war, abgesehen davon, daß es
jeden Geschmack hatte, den man sich wünschen konnte (Weish 16,20-
25). Wenn nämlich die Kinder Israels das Verlangen hatten, Brot zu
essen, hatte es den Geschmack des Brotes; wünschten sie Rebhuhn
oder was immer zu essen, so hatte das Manna zugleich diesen Ge-
schmack. Die meisten Väter bezweifeln, ob alle, die Bösen ebenso wie
die Guten, dieser Gunst teilhaftig wurden. Ob das zutraf oder nicht,
das Manna hatte insbesondere den Geschmack oder die Süßigkeit von
Mehl, von Honig und von Öl (Ex 16,31; Num 11,8). Das versinnbildet
uns die drei Wesenheiten, die sich in dem gebenedeiten Kind finden,
das wir morgen in der Krippe liegend finden werden. Und wie dieser
dreifache Geschmack oder die Süßigkeit sich in einer einzigen Speise
finden, die das Manna war, ebenso gibt es in der Person Unseres Herrn
drei Wesenheiten, die dennoch alle drei nur eine Person bilden, die
aber zugleich Gott und Mensch ist.
In diesem hochgebenedeiten Kindlein findet sich die göttliche Na-
tur, die Natur der Seele und die des Leibes. Das Manna hatte den
Geschmack von Honig, der ein himmlischer Saft ist. Obwohl die
Bienen den Honig auf den Blumen sammeln, gewinnen sie die Süßig-
keit doch nicht aus den Blüten, sondern sie sammeln mit ihrem klei-
nen Mund den Honig, der mit dem Tau vom Himmel fällt, und das
nur zu einer bestimmten Zeit des Jahres. Ebenso kam die göttliche
Natur Unseres Herrn vom Himmel und stieg gleichzeitig mit der
Empfängnis herab auf die gebenedeite Blüte der allerseligsten Jung-
frau, unserer lieben Frau, in der die menschliche Natur sie aufnahm
und im Bienenkorb des Schoßes der glorreichen Jungfrau neun Mo-
nate bewahrte, nach denen sie in die Krippe gelegt wurde, wo wir sie
morgen sehen werden.
Der Geschmack von Öl, der sich im Manna findet, versinnbildet uns
die Natur der hochheiligen Seele Unseres Herrn. Was ist diese hoch-
gebenedeite Seele anderes als ein Öl, ein Balsam, ein verströmender
Wohlgeruch (Hld 1,2), der den Geruchssinn derjenigen ungemein be-
friedigt, die sich ihr in der Betrachtung ihrer Vorzüglichkeit nähern?
Welchen Duft verbreitet sie doch angesichts der göttlichen Majestät,
mit der sie sich vereinigt sieht, ohne es verdient zu haben, noch von
sich aus je verdienen zu können! Welche Akte vollkommener Liebe,
tiefer Demut erweckt sie doch im Augenblick dieser unvergleichli-
chen Vereinigung mit dem ewigen Wort gleichzeitig mit der Mensch-
werdung! Und welchen Duft, welchen Wohlgeruch, welchen Ge-
schmack einer unvergleichlichen Süßigkeit hat sie doch für uns ver-

210
breitet, um uns zur Nachfolge und zur Nachahmung ihrer Vollkom-
menheit anzuspornen!
Der Geschmack der Weizenblüte schließlich, der sich noch im Man-
na fand, versinnbildet uns den anderen Teil der hochheiligen Mensch-
heit Unseres Herrn, seinen anbetungswürdigen Leib, der auf dem Baum
des Kreuzes gemahlen und ein überaus köstliches Brot wurde, das uns
nährt für das ewige Leben (Joh 6,35). Köstliches Brot, wer dich würdig
genießt, wird ewig leben und kann nie des ewigen Todes sterben (Joh
6,50f). Welch unvergleichlich lieblichen Geschmack hat dieses Brot
für die Seelen, die es würdig genießen! Welche Köstlichkeit, ich bitte
euch, sich zu nähren mit dem Brot, das vom Himmel herabgekommen
ist, dem Brot der Engel (Ps 78,23-25; Weish 16,20; Joh 6,33ff)! Was es
indessen am köstlichsten macht, das ist die Liebe, mit der es uns gege-
ben wurde von jenem selbst, der zugleich die Gabe und der Geber ist.
Damit ich mich aber nicht so viel bei den ersten Punkten aufhalte,
gehe ich weiter, um vom dritten Punkt zu sprechen, der einiges ent-
hält, um unseren Willen zu entflammen.
Ich bemerke nebenbei, daß es unter der großen Zahl von Menschen,
die damals in Betlehem waren, nur einfache Hirten waren, die Unse-
ren Herrn aufsuchten. Nach ihnen kamen die königlichen Magier, die
von weither kamen, um unseren neuen König anzubeten, der in einer
Krippe lag, und ihm zu huldigen. Als die Engel die Botschaft dieser
glückbringenden Geburt verkündet hatten, gaben sie den Hirten be-
wundernswerte Weisungen. Geht, sagten sie, ihr werdet das Kind fin-
den, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend (Lk 2,8-10). Gott,
welche Lehren sind das, um Unseren Herrn zu erkennen, und welche
Einfalt der Hirten, einfach zu glauben, was ihnen verkündet wurde!
Die Engel hätten einigen Anspruch gehabt, Glauben zu finden, wenn
sie gesagt hätten: Geht, ihr werdet das Kind finden, auf einem Elfenbein-
thron sitzend und umgeben von einem himmlischen Hofstaat, der ihm
Gesellschaft leistet. Aber sie sagen: Euer Erlöser ist geboren mit die-
sen Insignien: ihr werdet ihn in einer Krippe liegend finden, zwischen
Tieren und in Windeln gewickelt.
Warum, meint ihr, wandten sich die Engel eher an die Hirten als an
irgendeinen anderen in Betlehem? Aus keinem anderen Grund als
dem, weil Unser Herr als der König der Hirten (1 Petr 5,4) gekommen
ist und nur seinesgleichen bevorzugen wollte. Was aber bedeuten die
Hirten? Die einen sagen, sie repräsentieren die Hirten der Kirche, als
da sind die Bischöfe, die Oberen der Orden, die Pfarrer und alle Seel-

211
sorger. Es ist die Ansicht eines Teils der heiligen Väter, daß ihnen der
Herr seine Geheimnisse eingehender offenbart, weil sie von Gott be-
auftragt sind, sie dann ihrer Herde darzulegen, den Seelen, die ihnen
anvertraut sind. Einige andere sagen, die Hirten stellen die Ordens-
leute dar und alle, die sich das Streben nach Vollkommenheit vorge-
nommen haben. Nun, wenn jeder von uns Hirte und Schäfer ist, was
kann man dann unsere Schafe nennen? Das sind unsere Leidenschaf-
ten, Neigungen und Anhänglichkeiten, die Fähigkeiten unserer Seele.
Doch beachtet, daß nur die Hirten, die über ihre Herde wachten, die
Ehre und die Gnade hatten, die liebliche Botschaft von der Geburt
Unseres Herrn zu hören. Das soll uns zeigen: wenn wir nicht über die
Herde wachen, die Gott uns anvertraut hat, das heißt, wie ich gesagt
habe, unsere Leidenschaften und Neigungen, die Fähigkeiten unserer
Seele, um sie auf einer heiligen Weide sich nähren zu lassen, sie in
Ordnung zu ihrer Pflicht anzuhalten, dann verdienen wir nicht, die so
liebenswürdige Botschaft von der Geburt des Erlösers zu hören, und
wir werden nicht fähig sein, ihn in der Krippe aufzusuchen, in die ihn
seine gebenedeite Mutter morgen legen wird.
Wie überaus lieblich ist doch das Geheimnis der hochheiligen Ge-
burt Unseres Herrn! Alle und jeder können hier einen tiefen Grund
des Trostes finden; am meisten aber jene, die besser vorbereitet sind
und die nach dem Vorbild der Hirten recht über ihre Herde gewacht
haben. Ach, wir wären unwürdig, zu wissen, wie wir sie recht führen
und ordnen sollen; aber Unser Herr kommt selbst, um uns zu lehren,
was wir tun müssen. Er ist der gute Hirte (Joh 10,11) und der überaus
liebenswürdige Schäfer unserer Seelen, die seine Schafe sind, für die
er soviel getan hat. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir ihn getreu
nachahmen und seinem Beispiel folgen, das er uns gibt. Aber was tut
dieses allerliebste Kind? Seht es in der Krippe liegen. Ihr werdet es
finden, sagen die Engel, in Windeln gewickelt. Ach, es hatte nicht nötig,
so gebunden zu werden. Gewiß pflegt man die Kinder zu wickeln, weil
sie noch zart sind und, wenn sie nicht gewickelt und gebunden wären,
die Gefahr bestünde, daß sie eine falsche Wendung machen und auf
diese Weise mißgestaltet werden. Man bindet sie auch, damit sie sich
nicht die Augen oder das Gesicht zerkratzen, wenn sie die Händchen
frei haben, um sich die Augen zu reiben, wann sie wollen. Sie haben ja
noch nicht den Gebrauch der Vernunft, um das zu unterlassen, wie es
notwendig ist. Doch was hatte Unser Herr für sich zu befürchten, da er
vom Augenblick seiner Empfängnis an den Gebrauch der Vernunft
besaß? Er, der das Ebenmaß selbst ist, konnte keine Mißbildung er-
fahren. O Gott, welche Güte des liebenswürdigen Heilands! Er unter-

212
warf sich, alles zu tun, was die anderen Kinder tun, um als nichts ande-
res zu erscheinen denn ein armes Kindlein, dem Gesetz der Kindheit
unterworfen. Er weint wirklich, aber nicht aus Selbstverzärtelung, d.
h. nicht bitteren Herzens, sondern ganz einfach, um sich den anderen
Kindern gleichförmig zu machen.
Ich überlege, ob Unser Herr noch einen anderen Grund hatte, der
ihn bewog, das zu tun, daß er gebunden und gewickelt sein wollte,
seiner allerseligsten Mutter unterworfen, so daß er mit sich machen,
sich tragen und wickeln ließ, ganz wie es ihr gefiel, ohne irgendeinen
Widerwillen zu zeigen. Er tat es, um uns zu lehren, unsere geistige
Herde zu lenken und zu leiten, d. h. unsere Leidenschaften und Nei-
gungen, die Fähigkeiten unserer Seele. Aber unter allen Fähigkeiten
gibt es zwei, die gleichsam der Ursprung sind, von dem alle anderen
abhängen, nämlich das begehrliche und das aufbrausende Vermögen.
Alle anderen Kräfte, Fähigkeiten und Leidenschaften erscheinen die-
sen zwei Vermögen untergeordnet und regen sich nur auf ihren Befehl.
Das Begehrungsvermögen ist jenes, das uns lieben und wünschen läßt,
was uns gut und nützlich scheint; es läßt uns Freude empfinden im
Glück und Traurigkeit im Unglück, in der Abtötung und in allem, was
unserem Eigenwillen widerstrebt. Das aufbrausende Vermögen erzeugt
den Kummer, den Widerwillen, die Regungen des Zornes, der Ver-
zweiflung und ähnliches. Unser Herr will nun, daß wir von ihm ler-
nen, das alles der Herrschaft der Vernunft unterzuordnen. Und wie
wir ihn durch seine hochgebenedeite Mutter mit Windeln und Bän-
dern gewickelt und gebunden sehen, so will er uns aneifern, alle unse-
re Leidenschaften, Anhänglichkeiten und Neigungen zu binden,
schließlich alle unsere inneren und äußeren Kräfte, unsere Sinne und
Säfte und alles, was wir sind, durch die Bande des heiligen Gehorsams
zu binden, um uns künftig nicht mehr selbst zu leiten, noch über uns
selbst zu bestimmen, aus Furcht, davon einen schlechten Gebrauch zu
machen, außer in dem Maß, als es der Gehorsam uns erlauben kann.
Seht doch dieses überaus liebliche Kind, das sich von seiner hoch-
gebenedeiten Mutter so sehr lenken und führen läßt, daß es in keiner
Weise anders zu können scheint. Das hat keinen anderen Grund, mei-
ne Lieben, als den, uns zu zeigen, was wir tun müssen, vor allem die
Ordensfrauen, die Gehorsam gelobt haben. Ach, Unser Herr, dessen
Wille und dessen Freiheit unermeßlich sind, wollte trotzdem, daß al-
les unter den Windeln verborgen sei, auch das Wissen und die ewige
Weisheit (Kol 2,3 ) mit allem, was er als Gott besaß, wesensgleich mit
dem Vater, so der Gebrauch der Vernunft, die Fähigkeit zu sprechen,
kurz alles, was er im Alter von dreißig Jahren tun sollte. Alles ohne

213
Ausnahme wurde verschlossen und verborgen unter dem Schleier des
heiligen Gehorsams, den er seinem Vater leistete, der ihn verpflichte-
te, sich in nichts von den anderen Kindern zu unterscheiden, wie der
hl. Paulus (Hebr 2,17) sagt, daß er in allem seinen Brüdern gleichen
mußte.
Es bleibt uns noch zu sagen, daß das Geheimnis der Geburt Unseres
Herrn ein Geheimnis der Heimsuchung ist. Wie die allerseligste Jung-
frau ihre heilige Base Elisabet besucht hat, so müssen wir während
dieser Oktav recht oft das göttliche Kindlein besuchen, das in der
Krippe liegt. Da werden wir vom höchsten Hirten der Hirten lernen,
unsere Herde zu leiten und zu lenken, so daß sie seiner Güte wohlge-
fällig ist. Aber die Hirten kamen ihn ohne Zweifel nicht besuchen,
ohne ihm einige kleine Lämmer zu bringen; so dürfen auch wir nicht
mit leeren Händen kommen, sondern müssen etwas mitbringen. Doch
sagt, was können wir dem göttlichen Hirten bringen, was ihm wohlge-
fälliger wäre, als das kleine Lamm unserer Liebe, die der vorzüglich-
ste Teil unserer geistlichen Herde ist. Die Liebe ist ja die erste Leiden-
schaft der Seele. Wie wird er uns wohlgeneigt sein wegen dieses Ge-
schenkes, meine lieben Schwestern, und mit welch großer Genugtu-
ung wird es die heilige Jungfrau entgegennehmen wegen ihres Verlan-
gens nach unserem Wohl. Das göttliche Kind wird uns zum Dank für
unser Geschenk und als Zeichen seiner Freude darüber mit seinen
gebenedeiten lieblichen Augen ansehen. Wie glücklich werden wir
sein, wenn wir den teuren Erlöser unserer Seelen besuchen. Wir wer-
den unvergleichlichen Trost empfangen, und wie das Manna den Ge-
schmack hatte, den jeder wünschen konnte, ebenso kann jeder Trö-
stung finden, wenn er dieses überaus liebliche Kindlein besucht.
Die Hirten besuchten es und empfanden darüber sehr große Freude.
Sie kehrten zurück, sangen das Lob Gottes und verkündeten allen,
denen sie begegneten, was sie gesehen hatten (Lk 2,20). Doch der hl.
Josef und die glorreiche Jungfrau empfingen unvergleichlich größere
Tröstungen, weil sie bei ihm blieben, um ihm nach ihrem Vermögen
zu dienen. Die fortgingen und die blieben, wurden alle getröstet, aber
nicht in gleichem Maß, sondern jeder nach seiner Fähigkeit.
Hanna, die Mutter Samuels, blieb lange Zeit kinderlos. Das verur-
sachte ihr so große Bitterkeit, daß man sie nie in gleicher Stimmung
fand (1 Sam 1,18). Denn wenn sie Frauen sah, die sich mit ihren Kin-
dern freuten, dann klagte sie und härmte sich, weil sie keine hatte.
Und wenn sie welche sah, die sich über ihre Kinder beklagten, dann

214
freute sie sich, daß Gott ihr keines geschenkt hatte. Doch sobald sie
den kleinen Samuel hatte, sah man sie nie mehr schwankend. Wir
haben ohne Zweifel einige Entschuldigung, daß wir uns beklagen und
wankelmütig sind in unserer Stimmung, solange wir dieses so liebens-
würdige Kind nicht hatten, das eben geboren wurde oder morgen ge-
boren wird. Künftig aber wird uns das nicht mehr erlaubt sein, denn in
ihm besteht aller Grund für unsere Freude und unser Glück.

Die Bienen finden keine Ruhe, solange sie keine Königin haben: sie
fliegen unablässig durch die Luft, zerstreuen und verirren sich und
finden doch keine Rast in ihrem Bienenkorb. Sobald aber ihre Köni-
gin geboren ist, bleiben sie um diese versammelt und fliegen nur aus,
um Honig zu sammeln, und anscheinend nur auf Befehl oder mit Er-
laubnis ihrer Königin. Dasselbe gilt für unsere Sinne, unsere inneren
Kräfte, die Fähigkeiten unserer Seele als geistige Bienen. Bis sie einen
König haben, d. h. bis sie unseren neugeborenen Herrn zu ihrem Kö-
nig erwählt haben, finden sie keine Ruhe. Unsere Sinne verirren sich
ständig und ziehen unsere inneren Fähigkeiten an sich, um sich bald
an den Gegenstand zu hängen, dem sie begegnen, bald an einen ande-
ren. So ist das nur ein dauernder Zeitverlust, Anstrengung des Geistes
und Ruhelosigkeit, die uns den Frieden und die für unsere Seele so
notwendige Gemütsruhe verlieren läßt. Sobald sie aber Unseren Herrn
zu ihrem König erwählt haben, müssen sie sich nach der Art keuscher
mystischer Bienen um ihn scharen und dürfen ihren Bienenstock nur
verlassen, um Übungen der Liebe zu sammeln, die er ihnen dem Näch-
sten zu erweisen gebietet. Dann müssen sie sich sogleich zurückziehen
und um ihn scharen, um den Honig heiliger, liebevoller Eindrücke zu
sammeln und zu bewahren, die sie von der heiligen Gegenwart unseres
höchsten Herrn gewinnen. Er wird durch einfache Blicke, die er auf
unsere Seele richtet, in ihr unvergleichliche feurige Wünsche entfa-
chen, ihm zu dienen und ihn immer vollkommener zu lieben.

Das ist die Gnade, die ich euch wünsche, meine Lieben, daß ihr euch
nahe dem heiligen Erlöser aufhaltet, der kommt, um uns um sich zu
scharen, damit wir stets unter der Fahne seines hochheiligen Schutzes
bleiben, sei es, daß er als der Hirte Sorge trägt für seine Schafe und
seine Herde, sei es als König der Bienen. Von der Bienenkönigin sagt
man ja, daß sie so für ihre Bienen sorgt, daß sie den Bienenstock nie
verläßt, ohne von ihrem ganzen kleinen Volk umgeben zu sein. Seine
Güte möge uns die Gnade erweisen, daß wir seine Stimme hören, wie
die Schafe die ihres Hirten (Joh 10,27), damit wir ihn als unseren

215
obersten Hirten anerkennen, uns nicht verirren und nicht auf die Stim-
me des Fremden hören, der sich wie ein höllischer Wolf in unserer
Nähe aufhält in der Absicht, uns zu verderben und uns zu verschlingen
(1 Petr 5,8). Mögen wir ebenso die Treue zu halten vermögen, uns
seinem Willen und seinen Geboten ergeben, gehorsam und unterwor-
fen zu halten, wie es die Bienen ihrer Königin gegenüber tun, damit
wir auf diese Weise mit Hilfe der Gnade Gottes in diesem Leben zu
tun beginnen, was wir im Himmel ewig tun werden. Dorthin mögen
uns führen der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Zum 2. FFastensonntag
astensonntag

Nr. 4: 23. Februar 1614 IX, 27-31

Die Kirche zeigt uns am ersten Fastensonntag die Versuchung Jesu,


am zweiten seine Verklärung und die Herrlichkeit des himmlischen
Jerusalem, am dritten die Vorsehung Gottes für jene, die von Unse-
rem Herrn gelernt haben, tapfer zu kämpfen, und die es so treu getan
haben, daß sie die Belohnung nach dem Kampf verdienten, die er ih-
nen zeigt. Heute wollen wir einige kurze Erwägungen anstellen, durch
die wir zeigen, daß es im Gebet vier Stufen gibt. Doch vor allem laßt
uns einige Worte sagen.
Die Seele Unseres Herrn war im Besitz der Seligkeit vom Augen-
blick seiner Empfängnis an. Sie glich der Jakobsleiter, die mit dem
einen Ende den Himmel berührte, mit dem anderen die Erde (Gen
28,12). Ebenso war es mit der Seele Unseres Herrn, denn mit ihrem
höheren Teil war sie im Schoß des Vaters geborgen, mit dem niederen
Teil berührte sie die Erde, da er unsere Armseligkeiten, Leiden und
Schwächen annehmen wollte. Daraus erkennen wir klar, daß das Ge-
heimnis der Verklärung kein Wunder war, sondern eine Unterbre-
chung des Wunders; denn die Schätze der Glorie, die den höheren Teil
dieser gebenedeiten Seele schmückten, gebührten auch dem niederen
Teil; doch der erfreute sich ihrer in keiner Weise, sondern war unserer
ganzen Armseligkeit und Not ausgeliefert und überlassen. Das ist so,
wie wenn eine mächtige Quelle auf dem Gipfel eines hohen Berges
ihre Wasser zurückhielte und sie nicht in die Täler fließen ließe. In
der Stunde der Verklärung war dieses Wunder zeitweise ausgesetzt, da
Unser Herr den niederen Teil seiner Seele an der Herrlichkeit und am
Trost des höheren Teiles sich erfreuen ließ.

216
Manche fromme Seele wird vielleicht fragen, wie wir erkennen kön-
nen, daß wir im Gebet Fortschritte machen und durch das Gebet in
der Vollkommenheit. Wir nehmen in der Tat durch das Gebet an Voll-
kommenheit zu. Nachdem der hl. Bernhard andere Mittel dazu ange-
geben hat, sagt er, daß das Gebet alle übertrifft. Die vier Erwägungen,
die ich davon ableiten will, werden euch hinreichend zeigen, ob ihr
Fortschritte macht, denn das sind vorzügliche Stufen zur Vollkom-
menheit.
Die erste Erwägung ist die: Als Jesus auf den Berg gestiegen war,
begann er zu beten. Während er betete, wurde er verklärt und sein Ge-
sicht wurde leuchtender als die Sonne und seine Kleider weiß wie Schnee
(Mt 17,1f; Lk 9,28f). Nun erkennen wir, daß unser Gebet gut ist und
daß wir in ihm Fortschritte machen, wenn nach dem Gebet unser Ge-
sicht wie das des Herrn leuchtet wie die Sonne und unsere Kleider weiß
wie Schnee sind, d. h. wenn unser Gesicht vor Liebe strahlt und unser
Leib durch die Keuschheit. Die Liebe ist die Reinheit der Seele, denn
sie kann in unseren Herzen keinerlei unreine Neigung dulden oder
eine, die dem widerspräche, den sie liebt (la charité und l’amour ist ja
dasselbe); die Keuschheit ist die Liebe des Leibes, da sie jede Art von
Unreinheit zurückweist. Wenn ihr nach dem Gebet ein verdrießliches
und ärgerliches Gesicht macht, sieht man zur Genüge, daß ihr nicht so
gebetet habt, wie ihr sollt.
Die zweite Erwägung geht davon aus, daß die Apostel Mose und Elija
sahen, die mit Unserem Herrn über den Ausgang sprachen, den er in
Jerusalem vollenden mußte. Seht ihr, während der Verklärung wird
von der Passion gesprochen; denn dieser Ausgang ist nichts anderes
als die Passion. Unser göttlicher Meister bewirkt seinen Ausgang ganz
anders als wir übrigen; denn wir streben von unten nach oben. Aus-
gang bedeutet Ekstase. Er sprach also vom Exzeß; welcher Exzeß?
Von dem, daß Gott von seiner höchsten Glorie herabstieg; und wozu?
Um unsere Menschennatur anzunehmen und sich den Menschen gleich
zu machen, sogar in allem menschlichen Elend. Er ging so weit, daß er
sich dem Tod unterwarf, obwohl er unsterblich war, ja dem Tod am
Kreuz (Phil 2,6-8). Die Liebe nährt sich nicht so, wie wir denken.
Unser Herr spricht also von seinem Leiden und von seinem Tod, weil
das die höchste Tat seiner Liebe ist. Auch die Seligen in der ewigen
Herrlichkeit werden von nichts anderem sprechen und sich über nichts
so freuen wie über diesen Tod (Offb 5,9-12). Folglich muß man sich
inmitten der Tröstungen an die Passion erinnern. Man darf gewiß nicht
wie der hl. Petrus sagen: Hier ist gut sein (Mt 17,4), sondern: Es ist gut,
hier zu leiden, um zum Kalvarienberg zu gehen.

217
Man muß auf den Berg Tabor steigen, um getröstet zu werden, wer-
det ihr sagen, denn das drängt und führt die schwachen Seelen voran,
die nicht den Mut haben, das Gute zu tun, ohne daß sie dabei eine
Befriedigung finden. Aber glaubt mir, die wahre Frömmigkeit erwirbt
man nicht inmitten des Trostes. Seht ihr das nicht im heutigen Ge-
heimnis? Obwohl die drei Apostel die Herrlichkeit Unseres Herrn
gesehen hatten, verließen sie ihn später in seinem Leiden, und der hl.
Petrus, der stets so kühne Reden führte, beging doch eine schwere
Sünde, indem er seinen Meister verleugnete. Vom Berg Tabor steigt
man als Sünder herab, vom Kalvarienberg dagegen gerechtfertigt (Lk
18,14). Das gilt dann, wenn man sich dort fest am Fuß des Kreuzes hält
wie Unsere liebe Frau, der Ausbund alles Schönen und Vorzüglichen
im Himmel und auf Erden. Der hl. Johannes harrte dort treu zu Füßen
seines Meisters aus, und man sieht ihn nie mehr eine Sünde begehen.
In der Tröstung ist man wahrhaftig sehr in Sorge, denn man weiß nicht,
ob man die Tröstungen Gottes liebt oder vielmehr den Gott der Trö-
stungen (2 Kor 1,3). In der Trübsal dagegen gibt es nichts zu befürch-
ten, wenn man treu ist, weil es da nichts Liebliches gibt. Soviel also zur
zweiten Erwägung.
Die dritte stelle ich darüber an, daß man die Stimme des ewigen
Vaters hört, der spricht: Dieser ist mein vielgeliebter Sohn: auf ihn sollt
ihr hören (Mt 17,5; 2 Petr 1,17). Man muß also dem ewigen Vater
gehorchen, indem man Unserem Herrn folgt, um sein Wort zu hören.
Daher werden wir belehrt, daß alle, in welchem Stand immer, bitten
und beten müssen, denn vorzüglich im Gebet spricht der göttliche
Meister zu uns. Ich sage nicht, daß wir alle gleichviele Gebete verrich-
ten müßten; denn es wäre nicht angebracht, wenn jene, die viel Arbeit
haben, ebensoviel Zeit im Gebet verbrächten wie die Ordensleute. Ich
sage aber sehr wohl: wenn ihr eure Pflicht gut erfüllen wollt, müßt ihr
Gott im Gebet bitten, daß wir gut zu tun lernen, was wir tun. Wenn
Unser Herr etwas Großes unternehmen wollte, zog er sich zum Gebet
zurück; nicht nur zu einem einfachen Gebet der Vorbereitung, son-
dern er zog sich auf einen Berg und an einen einsamen Ort zurück.
Bevor er zu predigen und die Seelen zu belehren begann, zog er sich
vierzig Tage zurück (Mt 4,1f). Heute will er verklärt werden und den
drei Aposteln eine Probe seiner Herrlichkeit zeigen. Er begibt sich
ins Gebet und gerät in Ekstase. Dabei wird sein Gesicht leuchtender
als die Sonne und seine Kleider weißer als Schnee; das war unsere erste
Erwägung. Darauf erschien er zwischen Mose und Elija im Gespräch
über den Ausgang, den er in Jerusalem vollenden sollte; das war die
zweite. Dann hörte man die Stimme des ewigen Vaters, der spricht:

218
Dieser ist mein vielgeliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören. Die dritte
Stufe des Gebetes und zugleich der Vollkommenheit besteht also da-
rin, dem Vater zu gehorchen, indem man auf seinen Sohn hört.
Es würde aber nichts nützen, auf ihn zu hören, wenn wir nicht täten,
was er sagt, indem wir getreu seine Gebote und seinen Willen befol-
gen. Viele sind ja gern bereit, ihn zu hören; viele möchten ihm auf den
Berg Tabor folgen, sehr wenige aber auf den Kalvarienberg. Trotzdem
ist das eine vorteilhafter als das andere. Ebenso bringt es mehr Nut-
zen, den Willen Gottes zu erfüllen oder ihn zu lieben in einem Ereig-
nis, das uns widerstrebt, als Unseren Herrn sprechen zu hören in der
Tröstung, die man manchmal im Gebet erfährt.
Ich komme zur vierten Erwägung. Als sich die Apostel aufrichteten
(sie waren ja auf ihr Angesicht niedergefallen, als sie die Stimme des
ewigen Vaters vernahmen), da sahen sie niemand als Jesus allein (Mt
17,6.8). Das ist die höchste Stufe der Vollkommenheit, in allem, was
wir tun, nichts zu sehen als Unseren Herrn. Viele hüten sich wohl, die
Menschen und die Dinge dieser Welt anzusehen, aber es ist äußerst
selten, daß sie nicht auf sich selbst schauen. Sogar sehr geistlich Ge-
sinnte suchen und wählen unter den Übungen der Frömmigkeit jene,
die mehr nach ihrem Geschmack sind und ihren Neigungen mehr ent-
sprechen. Man darf indes nur Gott sehen, nur ihn suchen, nur ihn
lieben, dann werden wir glücklich sein. Jene Seelen, die diese Stufe
der Vollkommenheit erreicht haben, sind mit besonderer Sorgfalt dar-
auf bedacht, auf den gekreuzigten Herrn auf dem Kalvarienberg zu
schauen und sich bei ihm aufzuhalten; denn hier finden sie ihn eher
allein als irgendwo anders. Amen.

Zum 3. FFastensonntag
astensonntag

Nr. 7: 22. März 1615* IX,46-50

Der hl. Bernhard steht hoch im Kurs bei denen, die über das Gebet
zu sprechen haben. Einem Bischof schrieb er, alles, was er brauche,
sei, gut zu sprechen (das bezieht sich auf das Lehren und Predigen),
dann ein gutes Beispiel in der Tat zu geben und schließlich dem Gebet
zu obliegen. Wir wollen das auf alle Christen anwenden und beim
dritten Punkt verweilen, d. h. beim Gebet.

* Vgl. die Anmerkung zu Nr. A 105.

219
Bemerken wir zunächst am Rand: so sehr wir bestimmte Häretiker
unserer Zeit verurteilen, die das Gebet für nutzlos halten, behaupten
wir trotzdem nicht mit anderen Häretikern, daß es allein zu unserer
Rechtfertigung hinreichend sei. Wir sagen nur: es ist so nützlich und
notwendig, daß wir ohne das Gebet nichts Gutes zustandebringen, da
wir durch das Gebet alle unsere Handlungen gut zu verrichten lernen.
Daher halte ich meinen Wunsch für berechtigt, über das Gebet zu
sprechen, zumal es nicht meine Absicht ist, alle seine Formen zu er-
klären, weil man darüber aus Erfahrung mehr weiß, als man sagen
könnte. Auch ist es nicht sehr wichtig, die Namen der Gebetsformen
zu kennen, und ich möchte nicht, daß man je nach der Bezeichnung
fragt, noch nach der Form des Gebetes, das man verrichtet. Denn der
hl. Antonius sagt richtig: Ein Gebet, bei dem man darauf schaut, daß
man betet, ist unvollkommen. Ein Gebet, das man verrichtet, ohne zu
wissen, wie man betet, und ohne darüber nachzudenken, um was man
bittet, zeigt andererseits zur Genüge, daß die Seele sehr mit Gott be-
schäftigt, folglich dieses Gebet sehr gut ist. Wir wollen also an den
vier folgenden Sonntagen sprechen von der causa finalis (d. h. vom
Zweck) des Gebetes, von der causa efficiens (der Wirkursache), da-
von, was man nicht eigentlich causa materialis nennen kann, sondern
seinen Gegenstand, und von der causa effectiva oder dem Gebet an
sich. Jetzt will ich nur von der causa finalis sprechen. Bevor ich aber
in die Erörterung des Gebetes eintrete, muß ich kurz drei oder vier
Dinge sagen, die man wissen soll.
Unserem Verstand sind vier Tätigkeiten eigen: das einfache Den-
ken, das Studium, die Meditation und die Kontemplation. Das einfa-
che Denken besteht darin, daß wir uns flüchtig mit einer Vielfalt von
Dingen beschäftigen, ohne irgendeine Absicht, wie es die Mücken
machen; sie setzen sich auf die Blumen, ohne die Absicht, irgendeinen
Saft aus ihnen zu gewinnen; sie lassen sich auf ihnen nur nieder, weil
sie ihnen gerade begegnen. Wenn unser Verstand auf diese Weise von
einem Gedanken zum anderen wandert, selbst wenn diese Gedanken
Gott betreffen, wenn sie aber kein Ziel haben, dann sind sie weit da-
von entfernt, gut zu sein, sondern sie sind unnütz, abträglich und bil-
den ein großes Hindernis für das Gebet.
Eine andere Tätigkeit unseres Verstandes ist das Studium. Es be-
steht darin, daß wir die Dinge nur erwägen, um sie zu kennen, um sie
gut verstehen und über sie richtig sprechen zu können, ohne ein ande-
res Ziel, als unser Gedächtnis damit zu speisen. Darin gleichen wir
den Maikäfern; sie lassen sich auf die Rosen nur zu dem Zweck nie-
der, um sich zu sättigen und ihren Bauch zu füllen. Nun, über diese

220
beiden Tätigkeiten unseres Verstandes wollen wir weiter nicht spre-
chen, weil sie zu unserem Gegenstand nichts beitragen.
Kommen wir zur Meditation. Um zu verstehen, was die Betrachtung
ist, muß man die Worte des Königs Hiskija hören, als ihm das Todes-
urteil verkündet wurde, das dann durch seine Buße widerrufen wurde:
Ich werde schreien wie die junge Schwalbe und werde nachsinnen wie
die Taube (Jes 38,14) in meinem großen Leid. Er wollte sagen: Wenn
das Schwalbenjunge ganz allein ist, weil seine Mutter fort ist, um Schell-
kraut zu suchen und ihm damit die Augen zu öffnen, dann schreit und
piepst es um so mehr, da es die Mutter nicht mehr in seiner Nähe fühlt
und da es nicht sehen kann. So werde auch ich schreien, wenn ich
meine Mutter, d. h. die Gnade verloren habe und niemand mir zu
Hilfe kommen sehe. Er fügt aber hinzu: Ich werde nachsinnen wie die
Taube. Man muß wissen, daß alle Vögel den Schnabel zu öffnen pfle-
gen, wenn sie singen oder zwitschern, ausgenommen die Taube; sie
bringt ihren kleinen Gesang oder ihr Girren dadurch hervor, daß sie
die Luft zurückhält, und sie erzeugt den Laut durch das Brummen
ihres zurückgehaltenen Atems. Ebenso geschieht die Betrachtung,
wenn wir unseren Verstand bei einem Geheimnis verweilen lassen,
aus dem wir gute Regungen zu gewinnen wünschen; denn wenn wir
nicht diese Absicht hätten, wäre es nicht mehr Betrachtung, sondern
Studium. Das Betrachten geschieht also, um Affekte hervorzurufen,
besonders jene der Liebe. So ist die Betrachtung die Mutter der Gottes-
liebe, die Beschauung die Tochter der Gottesliebe.
Zwischen der Betrachtung und der Beschauung gibt es aber die Bit-
te. Wenn wir die Güte Unseres Herrn betrachtet haben, seine grenzen-
lose Liebe, seine Allmacht, dann beginnen wir ihn vertrauensvoll zu
bitten und anzuflehen, daß er uns schenke, was wir ersehnen. Nun gibt
es drei Arten von Ersuchen, die auf verschiedene Weise vorgebracht
werden: die erste stützt sich auf die Gerechtigkeit, die zweite auf die
Autorität, die dritte auf die Gnade. Ein Ersuchen, das sich auf die
Gerechtigkeit stützt, kann man nicht Bitte nennen, obwohl wir dieses
Wort gebrauchen, denn wir verlangen eine Sache, auf die wir einen
Anspruch haben. Noch weniger kann man das Ersuchen eine Bitte
nennen, das sich auf die Autorität stützt. Wenn jemand, der viel Auto-
rität über uns hat, wie Vater, Herr oder Meister, sich der Form der
Bitte bedient, sagen wir sogleich: Du kannst befehlen, oder: Deine
Bitte ist mir Befehl. Die wirkliche Bitte ist jene, die sich auf die Gnade
beruft, da wir um etwas ersuchen, worauf wir keinen Anspruch haben,
und weil wir jemand darum ersuchen, der sehr hoch über uns erhaben
ist wie Gott.

221
Die vierte Tätigkeit unseres Verstandes ist die Beschauung. Sie be-
deutet nichts anderes als Gefallen am Gut dessen finden, den wir in
der Betrachtung kennen und durch diese Erkenntnis lieben gelernt
haben. Dieses Wohlgefallen wird unsere Glückseligkeit im Himmel
ausmachen.
Nun müssen wir vom Zweck des Gebetes sprechen. Man muß vor
allem wissen, daß alle Dinge für das Gebet geschaffen sind. Als Gott
Engel und Menschen erschuf, geschah es mit dem Ziel, daß sie ihn
ewig im Himmel loben sollten. Das ist also das Letzte, wozu wir be-
stimmt sind, wenn man als das Letzte bezeichnen kann, was ewig ist.
Um das besser zu verstehen, können wir sagen: wenn wir irgendetwas
tun wollen, schauen wir stets auf den Hauptzweck, zu dem wir es tun.
Wenn wir z. B. eine Kirche bauen lassen und man fragt uns, wozu wir
sie bauen lassen, dann werden wir sagen, um uns dorthin zurückzuzie-
hen und in ihr das Lob Gottes zu singen; das wird demnach das Letzte
sein, was wir tun werden. Ein anderer Vergleich: Wenn ihr in das Zim-
mer eines Fürsten kommt, werdet ihr dort einen Vogelbauer mit ver-
schiedenen kleinen Vögeln in einem bunten, schön ausgestatteten Käfig
sehen. Wenn ihr wissen wollt, zu welchem Zweck man ihn dort hinge-
stellt hat, so nur dazu, um ihrem Herrn Freude zu machen. Wenn ihr
euch anderswo umseht, werdet ihr dort Sperber, Falken und Raubvö-
gel mit einer Lederkappe sehen; sie sind da, um Rebhühner und ande-
re Vögel als Leckerbissen für den Fürsten zu fangen. Gott aber gelü-
stet nicht nach Fleisch, er hält sich keine Raubvögel, sondern nur klei-
ne Vögel, die im Käfig eingeschlossen sind, um ihn zu erfreuen. Als
solche Vögel kann man sich die Ordensmänner und Ordensfrauen
vorstellen. Sie haben sich freiwillig im Kloster eingeschlossen, um das
Lob Gottes zu singen. So muß ihre vorzüglichste Übung das Gebet
sein, um das Wort Unseres Herrn im Evangelium (Lk 18,1) zu befol-
gen: Betet ohne Unterlaß.
Die Schüler des heiligen Evangelisten Markus unter den ersten Chris-
ten waren so ausdauernd im Gebet, daß einige Kirchenväter ihnen den
Beinamen „Beter“ gaben; andere nannten sie „Therapeuten“, weil sie
im Gebet das Heilmittel für alle ihre Übel fanden. Man nannte sie
auch noch Mönche, weil sie sehr einfach waren; die Bezeichnung Mönch
bedeutet auch „einzig“. Daraus können wir folgern, wie notwendig das
Gebet für den Menschen ist; denn ein Baum, der nicht genug Erde hat,
um seine Wurzeln zu bedecken, hat keinen Bestand. Ebenso kann ein
Mensch nicht bestehen, wenn er nicht eine besondere Sorgfalt auf die
himmlischen Dinge verwendet. Nun ist das Gebet nach den meisten
Vätern nichts anderes als „eine Erhebung des Geistes zu den himmli-

222
schen Dingen“; andere sagen, daß es eine Bitte ist. Diese beiden Auf-
fassungen widersprechen einander nicht; denn wenn wir unseren Geist
zu Gott erheben, können wir ihn um das bitten, was wir für notwendig
halten.
Die wichtigste Bitte, die wir an Gott richten müssen, ist die um die
Einheit unseres Willens mit dem seinen, und das letzte Ziel des Gebe-
tes besteht darin, nichts zu wollen als Gott. Darin ist auch die ganze
Vollkommenheit enthalten, wie der Vater Ägidius sagt, ein Gefährte
des hl. Franziskus. Als ihn einer fragte, wie er es anstellen müsse, um
recht bald vollkommen zu sein, antwortete er: „Gib die eine dem Ei-
nen.“ Das heißt: du hast nur eine Seele und es gibt nur einen Gott; gib
ihm deine Seele, und er wird sich dir schenken. Das letzte Ziel des
Gebetes kann also nicht sein, daß man die Zärtlichkeiten und Tröstun-
gen haben will, die Unser Herr manchmal schenkt; denn die Vereini-
gung mit ihm besteht nicht in Tröstungen, sondern im Willen Gottes.

Zum 4. FFastensonntag
astensonntag

Nr. 8: 29. März 1615 IX,51-56

Wir haben nun von der causa efficiens des Gebetes zu sprechen. Wir
müssen also wissen: wer kann und wer muß beten? Die Frage wäre
sehr schnell entschieden, wenn wir sagten, daß alle Menschen beten
können und daß alle es tun müssen. Um aber die Geister besser zufrie-
denzustellen, wollen wir den Gegenstand ausführlicher behandeln.
Zunächst müssen wir wissen, daß Gott nicht beten kann. Das Gebet
ist ja eine Bitte, die sich auf die Gnade stützt, und es setzt in uns die
Erkenntnis voraus, daß wir irgendeiner Sache bedürfen; man bittet ja
gewöhnlich nicht um etwas, was man bereits besitzt. Nun kann Gott
nichts gnadenhalber verlangen, sondern nur auf Grund der Autorität;
er kann weiterhin keiner Sache bedürfen, da er alles besitzt. Es ist also
ganz sicher, daß Gott nicht beten kann und nicht zu bitten braucht.
Das gilt von Gott.
Einige der frühen Väter, selbst der hl. Gregor von Nazianz, lehren,
daß auch unser Herr Jesus Christus nicht beten könne. (Insofern er
Gott ist, ist das ganz klar, da er der eine Gott mit dem Vater ist; davon
haben wir schon gesprochen.) Sie begründen ihre Auffassung mit den
Worten, die der göttliche Heiland (Joh 16,16.26) zu seinen Jüngern

223
gesagt hat: Ich gehe zu meinem Vater, aber ich sage nicht, daß ich ihn
bitten werde. Sie fügen hinzu: Wenn er sagt, daß er nicht bitten wird,
warum behaupten wir es dann? Die übrigen Väter halten daran fest,
daß Unser Herr betet, weil sein Lieblingsjünger von seinem Meister
geschrieben hat, daß wir in ihm einen Anwalt beim Vater haben (1 Joh
2,1). Trotzdem widersprechen sie einander mit ihren verschiedenen
Auffassungen nicht, wenn es auch so scheinen mag. Es ist sicher, daß
unser Herr Jesus Christus nicht beten muß, sondern er kann gerechter-
weise von seinem Vater verlangen, was er will. Man sieht auch, daß die
Auserwählten gewöhnlich nichts gnadenhalber verlangen, sondern
unter Berufung auf die Gerechtigkeit die Rechte, die sie beanspru-
chen. Der Erlöser verlangt nichts ohne guten Rechtstitel, denn er zeigt
seinem Vater seine Wundmale, wenn er von ihm etwas erlangen will.
Es ist dennoch eine ganz sichere Wahrheit, daß Unser Herr, obwohl er
gerechterweise verlangt, was er will, sich als Mensch vor seinem Vater
verdemütigt, mit so großer Ehrfurcht zu ihm spricht und Akte so tiefer
Demut verrichtet, wie es kein Geschöpf jemals verstehen und tun könn-
te. So kann seine Bitte als Gebet bezeichnet werden.
An einigen Stellen der Heiligen Schrift heißt es, daß der Heilige
Geist gebeten und gebetet hat (Röm 6,26f). Das darf man nicht so
verstehen, daß er gebetet hätte, denn das kann er nicht, da er mit dem
Vater und dem Sohn wesensgleich ist. Damit soll vielmehr gesagt wer-
den, daß er den Menschen eingegeben hat, ein solches Gebet zu ver-
richten.
Die Engel beten. Das wird uns an einigen Stellen der Heiligen Schrift
(Tob 12,12; Offb 8,3f) gezeigt. Für die Menschen, die im Himmel
sind, haben wir solche Zeugnisse nicht; denn als Unser Herr starb,
auferstand und in den Himmel auffuhr, waren keine Menschen im
Himmel; sie waren alle in Abrahams Schoß. Es ist trotzdem ganz klar,
daß die Menschen beten, da die Engel beten, in deren Gemeinschaft
sie sind.
Laßt uns nun sehen, ob alle Menschen beten können. Ich sage Ja und
sage, daß sich niemand davon entschuldigen kann, nicht einmal die
Häretiker. Es gab einmal einen Heiden (vgl. Apg 10,4.30f), der so
vorzüglich betete, daß dieses Gebet vor den Thron der göttlichen Barm-
herzigkeit gebracht zu werden verdiente. Und Gott gewährte ihm die
Gnade, ihm eine Möglichkeit der Unterweisung im Glauben zu ge-
ben; er wurde dann ein großer Heiliger bei den Christen. Es ist wahr,
daß große Sünder viele Schwierigkeiten haben zu beten. Sie gleichen
den jungen Vögeln. Sobald diese Federn bekommen, können sie selbst
mit Hilfe ihrer Flügel fliegen; sobald sie sich aber auf den Leim set-

224
zen, den man bereitet hat, um sie zu fangen, muß man sehen, wie dieser
klebrige Saft ihnen die Flügel verklebt, so daß sie dann nicht mehr
fliegen können. So ergeht es auch den Sündern, die sich auf das Laster
einlassen und sich auf seinem schlüpfrigen Boden niederlassen; sie
lassen sich so sehr von der Sünde fesseln, daß sie sich nicht mehr
durch das Gebet zum Himmel erheben können. Soweit sie jedoch für
die Gnade empfänglich sind, können sie dennoch beten. Nur der Teu-
fel kann es nicht, denn nur er allein ist unfähig zu lieben.
Nun bleibt noch zu erklären, welche Voraussetzungen man haben
muß, um gut zu beten. Ich weiß wohl, daß die Väter, die diese Frage
behandeln, deren eine große Zahl anführen; die einen zählen fünfzehn
auf, die anderen acht. Da diese Zahl so groß ist, will ich nur drei nen-
nen. Die erste ist, daß man klein sein muß durch die Demut; die zwei-
te, groß in der Hoffnung, und die dritte, daß man dem gekreuzigten
Jesus Christus aufgepfropft sein muß.
Sprechen wir zunächst von der ersten Bedingung; sie ist nichts ande-
res als jene geistliche Demut, von der Unser Herr (Mt 5,3 nach dem
Griechischen) sagt: Selig die Bettler im Geiste, denn ihrer ist das Him-
melreich. Obwohl einige Theologen dieses Wort auslegen mit selig die
Armen im Geiste, widersprechen sich die beiden Auslegungen nicht;
denn alle Armen sind Bettler, wenn sie nicht stolz sind, und alle Bett-
ler sind arm, wenn sie nicht geizig sind. Um also gut zu beten, müssen
wir zugeben, daß wir arm sind, und müssen uns sehr demütigen. Seht
ihr nicht, daß ein Bogenschütze, der einen Meisterschuß tun will, die
Sehne um so mehr anzieht, je höher er schießen will? So müssen auch
wir tun, wenn wir wollen, daß unser Gebet bis zum Himmel dringt:
wir müssen uns erniedrigen durch die Erkenntnis unserer Nichtigkeit.
Dazu mahnt uns David (Ps 130,1; vgl. Sir 35,21) mit den Worten:
Wenn du beten willst, erniedrige dich so im Abgrund deines Nichts,
daß du dann ohne Schwierigkeit dein Gebet wie einen Pfeil zum Him-
mel schießen kannst.
Seht ihr nicht, wenn die Großen einen Springbrunnen auf der Höhe
ihrer Burgen errichten wollen, nehmen sie das Wasser dafür aus einer
Quelle an einem noch höher gelegenen Ort und leiten es durch Rohre
so weit herunter, als sie es aufsteigen lassen wollen; denn sonst könnte
das Wasser nie in die Höhe steigen. Wenn ihr sie fragt, wie sie erreicht
haben, daß es hochsteigt, werden sie euch antworten: durch seinen
Abstieg. Genau so ist es beim Gebet. Denn wenn man fragt, wie es zum
Himmel aufsteigen kann, wird man euch antworten, daß es aufsteigt
durch seinen Abstieg in der Demut. Die Braut im Hohelied (3,6; 8,5)

225
setzt die Engel in Staunen, so daß sie fragen: Wer ist jene, die aus der
Wüste kommt und aufsteigt wie eine Säule duftenden Rauches, zusam-
mengesetzt aus Myrrhe, Weihrauch und allen guten Düften der Spezerei-
en, und die gestützt ist auf ihren Vielgeliebten? Die Demut ist in ihren
Anfängen eine Wüste, obwohl sie am Ende sehr fruchtbar ist, und die
demütige Seele glaubt eine Wüste zu sein, wo weder Vögel noch wilde
Tiere leben und wo es keinen fruchttragenden Baum gibt.
Gehen wir nun zur Hoffnung weiter, der zweiten Voraussetzung, die
notwendig ist, um gut zu beten. Die Braut, die aus der Wüste kommt,
steigt empor wie ein Schößling oder eine Säule duftenden Rauches,
bestehend aus Myrrhe. Das ist ein Sinnbild der Hoffnung; denn ob-
wohl die Myrrhe einen lieblichen Duft ausströmt, schmeckt sie den-
noch bitter. So ist auch die Hoffnung süß, insofern sie uns verspricht,
daß wir uns eines Tages dessen erfreuen dürfen, was wir ersehnen; sie
ist aber bitter, weil wir noch nicht im beglückenden Besitz dessen
sind, was wir lieben. Der Weihrauch ist ein noch treffenderes Sinnbild
der Hoffnung; denn wenn er auf die Glut gelegt wird, sendet er seinen
Rauch stets nach oben. Ebenso muß die Hoffnung auf die Liebe gelegt
werden; andernfalls wäre sie nicht mehr Hoffnung, sondern Vermes-
senheit. Die Hoffnung steigt wie ein Pfeil bis zur Pforte des Himmels
empor, aber sie kann nicht eindringen, weil sie eine Tugend ist, die
ganz der Erde angehört. Wenn wir wollen, daß unser Gebet den Him-
mel durchdringt (Sir 35,21), müssen wir den Pfeil schärfen mit dem
Schleifstein der Liebe.
Kommen wir zur dritten Bedingung. Die Engel sagten, daß die Braut
auf ihren Vielgeliebten gestützt ist. So haben wir gesagt, daß die letzte
Voraussetzung darin besteht, dem gekreuzigten Jesus Christus aufge-
pfropft zu sein. Als der Bräutigam einmal seine Braut lobte und sie
eine Lilie unter Dornen nannte, sagte sie als Erwiderung: Mein Vielge-
liebter ist wie ein Apfelbaum unter Sträuchern. Dieser Baum ist ganz
bedeckt mit Blättern, Blüten und Früchten; ich will mich in seinen
Schatten setzen und die Früchte sammeln, die in meinen Schoß fallen;
ich werde sie essen, und wenn ich sie gekaut habe, mit meinem Gau-
men schmecken, wo ich sie süß und lieblich finde (Hld 2,2f). Wo aber
ist dieser Baum gepflanzt? In welchem Garten werden wir ihn finden?
Ohne Zweifel ist er auf dem Kalvarienberg gepflanzt und man muß
sich in seinem Schatten aufhalten. Was aber sind seine Blätter? Nichts
anderes als die Hoffnung auf unser Heil durch den Tod des Erlösers.
Und die Blüten? Das sind die Gebete, die er für uns an seinen Vater
richtete (vgl. Hebr 5,7). Die Früchte sind die Verdienste seines Todes
und seiner Passion.

226
Bleiben wir also zu Füßen des Kreuzes; gehen wir nicht fort, bis wir
ganz vom Blut getränkt sind, das von ihm herabfließt. Die hl. Kathari-
na hatte einmal eine Entrückung, als sie über den Tod und die Passion
Unseres Herrn betrachtete. Da wurde ihr geoffenbart, daß sie sich in
einem Bad aus einem kostbaren Blut befand. Als sie wieder zu sich
kam, sah sie ihr Kleid ganz rot von diesem Blut; die anderen aber
sahen es nicht. So dürfen wir nicht zu beten beginnen, ohne daß wir
mit seinem Blut besprengt sind; zum mindesten muß man sich damit
besprengen am Morgen bei seinem ersten Gebet. Der hl. Paulus schrieb
an seine lieben Kinder (Röm 13,14) und trug ihnen auf, sich mit Un-
serem Herrn zu bekleiden, d. h. mit seinem Blut. Aber was heißt das,
mit seinem Blut bekleidet sein? Ihr wißt doch, daß man sagt: Der
Mann ist in Scharlach gekleidet. Der Scharlach ist ein Fisch. Das Kleid
des Mannes ist aus Wolle gemacht, aber es ist gefärbt im Blut des
Fisches. Ebenso ist es bei uns: obwohl wir mit Wolle bekleidet sind, d.
h. gute Werke verrichten, haben diese keine Geltung und keinen Wert,
insofern sie von uns stammen, wenn sie nicht eingetaucht sind in das
Blut unseres Meisters, dessen Verdienst sie der göttlichen Majestät
wohlgefällig macht.
Als Jakob den Segen seines Vaters Isaak haben wollte, ließ ihn seine
Mutter ein Zicklein wie Wildbret bereiten, weil Isaak das liebte. Au-
ßerdem ließ sie ihn Fellhandschuhe anziehen, weil Esau, der Erstge-
borene, dem der Segen zustand, ganz behaart war. Sie ließ ihn auch das
duftende Gewand anziehen, das für den Vorsteher des Hauses bestimmt
war, und führte ihn so zu ihrem blinden Mann. Als Jakob um den
Segen bat, beugte Isaak sich vor, um seine Hände zu berühren, dann
rief er ganz laut: In welcher Verlegenheit bin ich! Die Stimme, die ich
höre, ist die meines Sohnes Jakob, aber die Hände, die ich fühle, sind
die von Esau. Und nachdem er den Duft des Gewandes wahrgenom-
men, sagte er: Der gute Duft, den ich wahrgenommen, ist so süß in
meinem Geruchssinn, daß ich meinem Sohn den Segen gebe (Gen
27,9-29). Wenn wir das Lamm ohne Makel (1 Petr 1,19) bereitet und
dem ewigen Vater dargebracht haben, um seinem Geschmack zu ent-
sprechen, und ihn dann um seinen Segen bitten, wird er, wenn wir mit
dem Blut Christi bekleidet sind, sagen: Die Stimme, die ich vernehme,
ist die Jakobs, aber die Hände, die unsere armseligen Werke sind, sind
die Esaus; wegen des Wohlgefallens, den Duft seines Gewandes wahr-
zunehmen, will ich ihm dennoch meinen Segen geben. So sei es.

227
Zum PPassionssonntag
assionssonntag

Nr. 9: 5. April 1615 IX,57-64

Wir haben gezeigt, daß das Ziel unseres Gebetes die Vereinigung
mit Gott ist und daß alle Menschen, die sich auf dem Weg des Heiles
befinden, beten können und beten müssen. Aber es bleibt noch eine
Schwierigkeit aus unserer letzten Predigt: ob nämlich die Sünder er-
hört werden können. Ihr wißt doch, daß der Blindgeborene, von dem
das Evangelium (Joh 9,31) berichtet, daß Unser Herr ihn sehend mach-
te, zu denen, die ihn ausfragten, sagte, daß Gott die Sünder nicht erhört.
Aber lassen wir ihn reden, denn er redet noch als Blinder.
Man muß nämlich wissen, daß es dreierlei Sünder gibt: die Unbuß-
fertigen, die bußfertigen Sünder und die gerechtfertigten Sünder. Nun
ist es sicher, daß die unbußfertigen Sünder nicht erhört werden, zumal
sie in ihren Sünden verkommen wollen. So sind auch ihre Gebete vor
Gott ein Greuel. Das gibt er selbst denen zu verstehen, die ihm sagten:
Wir haben gefastet und unsere Seele kasteit, du aber hast nicht darauf
geachtet (Jes 58,3). Gott gibt ihnen die Antwort: Euer Fasten, eure
Kasteiungen und eure Feste sind mir ein Greuel, denn bei all dem habt
ihr eure Hände mit Blut befleckt (Jes 58,3-5; 1,13-15; 59,3). Das Ge-
bet solcher Sünder kann nicht gut sein, denn niemand kann Jesus sa-
gen, außer in der Kraft des Heiligen Geistes (1 Kor 12,3), und keiner
kann Gott Vater nennen, wenn er nicht als sein Kind angenommen ist
(Röm 8,15; Gal 4,5f). Ein Sünder, der in seiner Sünde verharren will,
kann den erhabenen Namen Unseres Herrn nicht aussprechen, weil er
den Heiligen Geist nicht in sich hat, denn der wohnt nicht in einem
Herzen, das von Sünden befleckt ist (Weish 1,4f). Wißt ihr nicht auch,
daß keiner zum Vater gelangen kann als in der Kraft des Namens sei-
nes Sohnes, da er selbst (Joh 16,6.13) gesagt hat, daß man alles erhal-
ten wird, was man in seinem Namen vom Vater erbittet? Die Gebete
der unbußfertigen Sünder sind also Gott nicht wohlgefällig.
Kommen wir zum bußfertigen Sünder. Man tut ihm ohne Zweifel
Unrecht, wenn man ihn einen Sünder nennt, denn er ist keiner mehr,
da er seine Sünde bereits verabscheut; und wenn auch der Heilige
Geist noch nicht in seinem Herzen Wohnung genommen hat, so ist er
doch bei ihm mit seinem Beistand. Wer anders als der Heilige Geist
hat ihm nach eurer Meinung eingegeben, daß es ihn reut, Gott belei-
digt zu haben, da wir nicht einen guten Gedanken zu unserem Heil
fassen können, wenn nicht er ihn uns gibt (2 Kor 3,5)? Aber hat dieser

228
arme Mensch von sich aus nichts getan? Gewiß ja; merkt auf die Worte
Davids, der sagt: Herr, du hast auf mich geschaut, als ich im Sumpf
meiner Sünde steckte; du hast mein Herz aufgetan, und ich verschloß
es nicht; du hast mich herausgezogen, und ich ließ mich führen; du
hast mich gedrängt, und ich leistete keinen Widerstand (Ps 102,18.20f;
Ps 103,3f; Jes 1,5). Wir haben eine Fülle von Beweisen, daß die Gebe-
te des bußfertigen Sünders der göttlichen Majestät wohlgefällig sind;
ich will mich aber darauf beschränken, das Beispiel des Zöllners an-
zuführen, der als Sünder zum Tempel hinaufstieg und gerechtfertigt
fortging dank des demütigen Gebetes, das er verrichtete (Lk 18,10-
14).

Kommen wir nun zum Inhalt des Gebetes. Ich will nichts sagen über
sein Objekt, denn darüber habe ich am Sonntag gesprochen. Gegen-
stand des Gebetes ist, Gott um alles zu bitten, was gut ist. Wir müssen
aber wissen, daß es zweierlei Güter gibt: die geistigen Güter und die
leiblichen oder zeitlichen Güter. Als die Braut im Hohelied (5,13)
ihren Vielgeliebten pries mit den Worten, daß seine Lippen einer Lilie
glichen, von der Myrrhe herabträufelte, antwortete der Bräutigam, daß
sie Honig und Milch unter der Zunge habe (4,11).

Ich weiß wohl, daß man diese Worte so auslegt, daß die Prediger
Honig unter der Zunge haben, wenn sie zum Volk sprechen, und Milch
unter der Zunge, wenn sie für das Volk Gottes beten. Nach einer ande-
ren Auslegung haben die Prediger Milch unter der Zunge, wenn sie die
Tugenden Unseres Herrn als Mensch verkünden: seine Milde, seine
Sanftmut, seine Barmherzigkeit; und sie haben Honig unter der Zun-
ge, wenn sie von seiner Gottheit sprechen. Viele täuschen sich, wenn
sie denken, der Honig werde nur aus dem Saft der Blüten bereitet. Der
Honig ist eine Flüssigkeit, die wie Tau vom Himmel fällt, sich auf die
Blüten niederläßt und ihren Geschmack annimmt, wie das bei allen
Flüssigkeiten geschieht, die man in ein Gefäß gießt, das irgendeinen
Geschmack hat. Der Honig versinnbildet also die göttlichen
Vollkommenheiten, die alle himmlisch sind.

Doch wenden wir die Worte der Braut auf unser Gebet an. Wir ha-
ben gesagt, daß es zweierlei Güter gibt, um die wir im Gebet bitten
können, die geistigen und die leiblichen. Bei den geistigen Gütern gibt
es zwei Arten: die einen sind notwendig zu unserem Heil; um sie müs-
sen wir Gott einfach und ohne Bedingungen bitten, denn er will sie uns
geben. Obwohl die anderen Güter geistig sind, müssen wir um sie
unter den gleichen Bedingungen bitten wie um die leiblichen, d. h.

229
wenn es der Wille Gottes ist und wenn es zur größeren Ehre Gottes
gereicht. Unter diesen Voraussetzungen können wir um alles bitten.
Die zu unserem Heil notwendigen Güter nun, die durch den Honig
versinnbildet werden, den die Braut unter ihrer Zunge hat, sind Glau-
be, Hoffnung und Liebe und die anderen Tugenden, die uns zu ihnen
führen. Die übrigen geistlichen Güter sind Ekstasen, Entrückungen,
Zärtlichkeiten und Tröstungen; um alle diese Dinge dürfen wir Gott
nur bedingungsweise bitten, weil sie in keiner Weise zu unserem Heil
notwendig sind.
Manche denken, wenn sie mit Weisheit ausgestattet seien, wären sie
besser befähigt, Gott zu lieben; aber das stimmt nicht. Ihr erinnert
euch wohl, daß der Bruder Ägidius einmal den hl. Bonaventura auf-
suchte und sagte: Wie glücklich bist du, mein Vater, daß du so gelehrt
bist, denn du kannst Gott viel mehr lieben als wir Unwissenden. Dar-
auf antwortete der hl. Bonaventura, die Gelehrtheit helfe ihm nichts,
um Gott zu lieben, und eine einfache Frau könne Gott ebenso lieben
wie die gelehrtesten Männer der Welt.
Doch wer sieht nicht die Täuschung derjenigen, die ständig hinter
ihrem geistlichen Vater her sind, um sich zu beklagen, daß sie in ihren
Gebeten nichts von diesen zärtlichen Gefühlen und Tröstungen ver-
spüren? Seht ihr nicht, daß ihr euch des eitlen Ruhmes nicht erwehren
könnt, wenn ihr solche Gefühle habt, und daß ihr nicht verhindern
könnt, daß sich die Eigenliebe darin gefällt, so daß ihr euch mehr an
den Gaben erfreut als am Geber? Gott erweist euch also große Barm-
herzigkeit, wenn er sie euch nicht gibt; und man darf deshalb nicht den
Mut verlieren, denn die Vollkommenheit besteht nicht darin, solche
zärtliche Gefühle zu haben, sondern darin, unseren Willen mit dem
Willen Gottes vereinigt zu haben. Das ist es, was wir von der göttli-
chen Majestät bedingungslos erbitten können und müssen.
Als Tobias schon alt war und seine Geschäfte ordnen wollte, gab er
seinem Sohn den Auftrag, nach Rages zu reisen, um eine bestimmte
Summe Geldes einzufordern, die man ihm schuldete. Dazu übergab er
ihm einen Schuldschein, der ihm dazu dienen sollte, daß man ihm das
Geld nicht vorenthalten konnte (Tob 4,21f; 5,3f). So müssen auch wir
es machen, wenn wir vom ewigen Vater sein Paradies erbitten wollen,
die Vermehrung unseres Glaubens, seiner Liebe. All das will er uns
geben, wenn wir den Schuldschein übergeben, den sein Sohn ausge-
stellt hat, d. h. wenn wir ihn stets im Namen Unseres Herrn und um
seiner Verdienste willen bitten.
Der gute Meister hat uns klar die Ordnung gezeigt, an die wir uns bei
unseren Bitten halten müssen, als er uns gebot, im Vaterunser zu sa-

230
gen: Sanctificetur nomen tuum, adveniat regnum tuum, fiat voluntas
tua (Mt 6,9-11; Lk 11,2f). Wir müssen also vor allem bitten, daß sein
Name geheiligt werde, d. h. daß er von allen Menschen anerkannt und
angebetet werde. Dann bitten wir um das, was uns das Notwendigste
ist, daß nämlich sein Reich uns zukomme, daß wir Himmelsbewohner
werden können; dann, daß sein Wille geschehe. Und nach diesen drei
Bitten fügen wir hinzu: Unser tägliches Brot gib uns heute. Jesus Chris-
tus heißt uns sagen: Gib uns unser tägliches Brot, weil unter der Be-
zeichnung Brot alle zeitlichen Güter zu verstehen sind. Wir müssen
sehr zurückhaltend sein, wenn wir um diese Güter bitten, und müssen
in großer Furcht sein, um sie zu bitten, da wir nicht wissen, ob Unser
Herr sie uns nicht in seinem Zorn gibt. Deshalb bitten jene, die im
Gebet vollkommen sind, sehr wenig um diese Güter, sind vielmehr
Gott gegenüber wie Kinder gegen den Vater, dem sie volles Vertrauen
schenken; oder wie ein Diener, der seinem Herrn treu dient; denn er
verlangt nicht jeden Tag seine Nahrung, vielmehr sprechen seine Dien-
ste hinreichend für ihn. Soviel über den Gegenstand des Gebetes.

Die frühen Kirchenväter unterscheiden drei Formen des Gebetes,


nämlich das Gebet des Lebens, das Geistesgebet und das mündliche
Gebet. Wir werden jetzt nicht vom Geistesgebet sprechen, sondern
nur vom mündlichen Gebet. Alle Handlungen derjenigen, die gottes-
fürchtig leben, sind fortgesetzte Gebete; das nennt man das Gebet des
Lebens. Vom hl. Johannes heißt es (Mt 2,4), daß er sich in der Wüste
nur von Heuschrecken oder Grillen und Zikaden nährte, daß er weder
Trauben aß noch Wein oder Berauschendes trank (Lk 1,15). Ich will
mich bei all dem nicht aufhalten, sondern nur dabei, daß er nichts als
Heuschrecken oder Zikaden aß.

Man weiß nicht, ob die Zikaden himmlisch oder irdisch sind, denn
sie streben immer himmelwärts, doch manchmal fallen sie auch zu-
rück auf die Erde. Sie nähren sich vom Tau, der vom Himmel fällt, und
singen unablässig. Was man vernimmt, ist nichts anderes als ein Ton
oder ein Zwitschern, das in ihren Eingeweiden entsteht. Mit vollem
Recht nährte sich also der glückselige hl. Johannes von Zikaden, da er
selbst eine mystische Zikade war. Man konnte nicht sagen, ob er himm-
lisch oder irdisch war; denn obgleich er manchmal die Erde berührte,
um ihren Erfordernissen zu entsprechen, erhob er sich doch sogleich
wieder und strebte himmelwärts und nährte sich mehr von himmli-
scher als von irdischer Speise. Seht doch seine Enthaltsamkeit. Er aß
nur Heuschrecken, trank nur Wasser, und das noch sehr mäßig. Er

231
sang auch fast unablässig das Lob Gottes, denn er selbst war eine Stim-
me (Joh 1,23); mit einem Wort, sein Leben war ein ständiges Gebet.
Ebenso kann man sagen: wer Almosen gibt, die Kranken besucht und
sich in allen guten Werken dieser Art übt, der betet und seine guten
Handlungen selbst verlangen von Gott Vergeltung.
Kommen wir nun zum mündlichen Gebet. Man kann es nicht Beten
nennen, etwas mit den Lippen zu murmeln, wenn damit nicht die Auf-
merksamkeit des Herzens verbunden ist. Um zu sprechen, muß man
zuerst im Inneren geformt haben, was man sagen will. Es gibt das in-
nerliche Wort und das äußere, das vernehmbar macht, was das innere
zuvor ausgesprochen hat. Beten heißt nichts anderes als mit Gott spre-
chen; nun ist aber sicher, daß es Gott sehr mißfällt, wenn man zu ihm
spricht, ohne auf das zu achten, was man ihm sagt. Eine heilige Per-
sönlichkeit berichtet, daß man einen Sittich oder Papagei abrichtete,
das Ave Maria zu sprechen. Als der Sittich einmal entflogen war, stürzte
sich ein Sperber auf ihn; als aber der Sittich das Ave Maria herzusagen
begann, ließ der Sperber von ihm ab. Es ist nicht so, daß der Herr das
Gebet des Sittichs erhört hätte; er ist ja ein unreiner Vogel (Lev 11,19)
und war auch nicht als Opfertier geeignet. Er ließ es dennoch zu, um
zu zeigen, wie angenehm ihm dieses Gebet ist. Die Gebete jener, die
sie wie dieser Papagei verrichten, sind Gott ein Greuel (Jes 1,13); er
achtet mehr auf das Herz des Betenden als auf die Worte, die er spricht.
Wir müssen wissen, daß es drei Arten von mündlichen Gebeten gibt:
die einen sind geboten, die anderen empfohlen, die übrigen freiwillig.
Geboten sind das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis, die wir
jeden Tag sprechen müssen. Das gibt Unser Herr uns deutlich zu ver-
stehen, wenn er sagt: Unser tägliches Brot gib uns heute. Das zeigt uns,
daß wir jeden Tag darum bitten müssen. Wenn ihr mir sagt, daß ihr
heute nicht gebetet habt, werde ich antworten, daß ihr den Tieren
gleicht. Die anderen gebotenen Gebete sind das Offizium für uns im
kirchlichen Stand; wenn wir davon einen beträchtlichen Teil auslas-
sen, sündigen wir. Nur empfohlen sind die Vaterunser oder Rosen-
kränze, die verlangt werden, um die Ablässe zu gewinnen. Wenn wir
sie unterlassen, sündigen wir nicht; um aber zu zeigen, daß sie wünscht,
wir sollten sie verrichten, verleiht die Kirche denen Ablässe, die sie
verrichten. Freiwillige Gebete sind alle übrigen außer denen, von de-
nen wir eben gesprochen haben.
Wenn auch die Gebete sehr gut sind, die man freiwillig verrichtet, so
sind doch die empfohlenen viel besser, weil hier die heilige Tugend
der Fügsamkeit dazukommt. Es ist, als sagten wir: Gute Mutter Kir-

232
che, du wünschst, daß ich es mache; auch wenn du es nicht befiehlst,
bin ich sehr gern bereit, dich zufriedenzustellen. Das ist schon ein
wenig Gehorsam. Die gebotenen Gebete aber haben einen ganz ande-
ren Wert wegen des Gehorsams, der mit ihnen verbunden ist; und
ohne Zweifel ist auch mehr Liebe dabei.
Von diesen Gebeten nun sind die einen öffentliche, die anderen pri-
vate. Öffentliche sind die Messe, das Stundengebet und solche, die wir
in Notzeiten verrichten. O Gott, mit welcher Ehrfurcht müssen wir zu
diesen öffentlichen Gebeten kommen, ganz anders vorbereitet als für
private Gebete, weil wir bei diesen mit Gott nur von unseren Anliegen
sprechen, oder wenn wir für die Kirche beten, das aus Liebe tun; bei
den öffentlichen Gebeten aber beten wir für alle gemeinsam. Der hl.
Augustinus erzählt, daß er noch als Heide eine Kirche besuchte, wo
der hl. Ambrosius das Stundengebet abwechselnd singen ließ, wie man
es von da an allgemein tat. Er war so hingerissen und außer sich, daß er
sich im Paradies zu befinden glaubte. Manche versichern, daß sie die
Engel chorweise kommen sahen, um am Offizium teilzunehmen. Mit
welcher Aufmerksamkeit müssen wir ihm demnach beiwohnen, wenn
die Engel anwesend sind und oben in der triumphierenden Kirche
wiederholen, was wir hier unten singen!
Vielleicht möchten wir sagen, wenn wir einmal die Engel bei unse-
rem Chorgebet gesehen hätten, würden wir mehr Aufmerksamkeit und
Ehrfurcht aufbringen. O nein, erlaubt mir, das würde nichts helfen.
Denn wenn wir mit dem hl. Paulus in den dritten Himmel (2 Kor 12,2)
entrückt würden, ja wenn wir dreißig Jahre im Paradies weilten, aber
nicht im Glauben festgegründet wären, würde das alles nichts nützen.
Es ist eine Tatsache, die ich oft erwogen habe: der hl. Petrus, der hl.
Jakobus und der hl. Johannes, die Unseren Herrn in seiner Verklä-
rung gesehen hatten, haben ihn dennoch in seinem Leiden und Tod im
Stich gelassen.
Besonders wir, die das Chorgebet singen, dürfen dazu nie kommen,
ohne Akte der Reue zu erwecken und ohne den Beistand des Heiligen
Geistes zu erbitten, bevor wir beginnen. Wie glücklich sind wir doch,
hier unten das zu beginnen, was wir ewig im Himmel tun werden.
Dahin mögen uns führen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Amen.

233
Zum PPalmsonntag
almsonntag

Nr. 10: 12. April 1615 IX,65-72

Es bleibt mir noch eine Einteilung im Gebet zu erklären, sowohl im


Geistesgebet wie im mündlichen. Wir wenden uns in zweifacher Wei-
se an Gott, um ihn zu bitten. Beide hat Unser Herr empfohlen und
unsere heilige Mutter Kirche geboten. Wir bitten nämlich Gott das
eine Mal unmittelbar, ein andermal mittelbar, so wenn wir die
Antiphonen Unserer lieben Frau beten, das Salve Regina und andere.
Wenn wir unmittelbar beten, üben wir das kindliche Vertrauen, das
sich auf Glaube, Hoffnung und Liebe stützt. Wenn wir mittelbar und
durch die Vermittlung eines anderen bitten, üben wir die heilige De-
mut, die aus unserer Selbsterkenntnis hervorgeht. Wenn wir uns un-
mittelbar an Gott wenden, berufen wir uns auf seine Güte und seine
Barmherzigkeit, auf die wir unser ganzes Vertrauen setzen; wenn wir
aber mittelbar beten, Unsere liebe Frau, die Heiligen und die seligen
Geister um ihren Beistand bitten, tun wir das, um von der göttlichen
Majestät besser aufgenommen zu werden, und dann berufen wir uns
auf seine Erhabenheit und Allmacht und auf die Ehrfurcht, die wir
ihm schulden.
Ich möchte der letzten Predigt noch ein Wort hinzufügen über die
äußere Ehrfurcht, die wir beim Gebet haben müssen. Unsere Mutter
Kirche bestimmt genau, welche Haltung wir nach ihrem Wunsch beim
Rezitieren des Offiziums einnehmen sollen: einmal stehen, einmal
sitzen, dann knien; einmal das Haupt bedeckt, einmal unbedeckt. Alle
diese Verhaltensweisen sind aber nichts anderes als Gebete. Alle Ze-
remonien der Kirche sind erfüllt von tiefem Sinn; die frommen, de-
mütigen und einfältigen Seelen empfangen sehr viel Trost bei ihrem
Anblick. Sagt mir doch, was nach eurer Meinung die Zweige bedeuten,
die wir heute in Händen halten? Doch nichts anderes, als daß wir Gott
bitten, er möge uns siegen lassen durch das Verdienst und den Sieg,
den Unser Herr am Baum des Kreuzes errungen hat.
Beim Gottesdienst müssen wir darauf achten, die Haltung einzu-
nehmen, die in unseren Meßbüchern angegeben ist. Welche Ehrfurcht
aber müssen wir in unseren persönlichen Gebeten wahren? Wir ste-
hen genau so vor Gott wie bei den gemeinsamen Gebeten, wenn wir
auch bei den gemeinsamen wegen der Erbauung des Nächsten beson-
ders sorgfältig darauf bedacht sein müssen. Die äußere Ehrfurcht trägt
viel zur inneren bei. Wir haben verschiedene Beispiele dafür, daß wir

234
uns auch beim persönlichen Gebet in großer äußerer Ehrfurcht halten
müssen. Hört den hl. Paulus (Eph 3,14): Ich beuge mein Knie vor dem
Vater unseres Herrn Jesus Christus, sagt er für uns alle. Und seht ihr
nicht, daß unser Erlöser selbst sich zu Boden warf, als er zu seinem
Vater betete (Mt 26,39; Mk 14,35)?
Noch dieses Beispiel: Ihr wißt sicher, daß der große hl. Paulus der
Einsiedler viele Jahrzehnte in der Wüste lebte. Als ihn der hl. Antoni-
us aufsuchte, traf er ihn im Gebet. Er sprach mit ihm und entfernte
sich wieder. Als er ihn aber das nächste Mal besuchen kam, fand er ihn
in derselben Haltung wie beim ersten Mal: das Haupt erhoben, die
Augen zum Himmel gerichtet, die Hände gefaltet, auf beiden Knien
liegend. Nachdem der hl. Antonius schon lange gewartet hatte, begann
er sich zu wundern, daß er ihn nicht seufzen hörte, wie er es gewöhn-
lich getan hatte. Er blickte auf, und als er ihm ins Gesicht schaute,
erkannte er, daß er tot war. Es sah so aus, als ob sein Leib, der im
Leben so viel gebetet hatte, auch nach seinem Tod noch betete. Mit
einem Wort, der ganze Mensch muß beten. David sagt, daß sein ganzes
Gesicht betete (Ps 27,8), daß seine Augen so aufmerksam auf Gott
gerichtet waren, so daß sein Augenlicht ganz geschwächt war (Ps 69,4)
und sein Mund geöffnet wie der Schnabel eines Vögelchens, wenn es
merkt, daß seine Mutter kommt, es zu atzen. In jedem Fall aber ist jene
Haltung die beste, die uns die größte Aufmerksamkeit ermöglicht. Ja
selbst das Liegen ist gut und scheint selbst zu beten. Seht ihr nicht den
heiligen Mann Ijob auf seinem Misthaufen liegend ein so vorzügliches
Gebet verrichten, daß es von Gott gehört zu werden verdiente (Ijob
42,9f)? Nun, das sei nur nebenbei gesagt.
Sprechen wir nun vom Geistesgebet; und wenn es euch recht ist, will
ich euch durch einen Vergleich mit dem Tempel Salomos zeigen, daß
es in der Seele vier Schichten gibt. In diesem Tempel gab es erstens
einen Vorhof, der für die Heiden bestimmt war, damit sich niemand
von der Anbetung entschuldigen konnte. Deshalb war dieser Tempel
der göttlichen Majestät wohlgefälliger, da es kein Volk gab, das ihm
nicht an diesem Ort seine Huldigung erweisen konnte. Die zweite
Abteilung war für die Juden bestimmt, Männer und Frauen, wenn man
auch später eine Trennung einführte, um Anstößiges zu verhindern,
das entstehen konnte, wenn sie beisammen waren. Weiter aufsteigend
gab es dann die Abteilung für die Priester und schließlich die höchste
Abteilung, bestimmt für die Kerubim und ihren Herrn. Hier stand die
Bundeslade und hier offenbarte Gott seinen Willen; sie wurde das
Allerheiligste genannt.

235
In unserer Seele gibt es die erste Schicht; das ist eine bestimmte
Erkenntnis, die wir durch die Sinne gewinnen. So erkennen wir durch
unsere Augen, ob ein Gegenstand grün, rot oder gelb ist. Dann aber
gibt es eine Stufe oder Schicht, die schon etwas höher ist, nämlich eine
Erkenntnis, die wir durch die Überlegung gewinnen. Wenn z. B. ein
Mensch an einem Ort mißhandelt wurde, wird er durch Überlegung
herauszufinden versuchen, wie er vermeiden kann, an diesen Ort zu-
rückzukehren. Die dritte Schicht ist die Erkenntnis, die wir durch den
Glauben haben. Die vierte, das Allerheiligste, ist die feine Spitze unse-
rer Seele, die wir Geist nennen. Da diese feine Spitze stets auf Gott
gerichtet ist, dürfen wir uns nicht verwirren lassen.
Die Schiffe auf dem Meer haben alle einen Kompaß, dessen Nadel,
vom Magnet angezogen, stets auf den Polarstern zeigt. Selbst wenn das
Schiff nach Süden fährt, zeigt die Kompaßnadel dennoch unablässig
nach dem Nordpol. So scheint es auch manchmal, als ob sich die Seele
ganz nach der Sünde wende, so sehr ist sie von Zerstreuungen beunru-
higt; die feine Spitze der Seele aber schaut unablässig auf Gott, der ihr
Pol ist. Selbst die fortgeschrittensten Menschen haben manchmal so
große Versuchungen, selbst gegen den Glauben, daß es ihnen scheint,
die ganze Seele stimme zu, so verwirrt ist sie. Sie haben nur noch diese
feine Spitze, die widersteht; und dieser Teil unserer Seele ist es, der
das Geistesgebet vollzieht, denn obwohl alle anderen Fähigkeiten und
Kräfte der Seele von Zerstreuungen erfaßt sind, betet der Geist in
seiner feinen Spitze.
Nun, im Geistesgebet gibt es vier Teile; der erste ist die Betrachtung,
der zweite die Beschauung, der dritte sind die Herzenserhebungen,
der vierte die einfache Gegenwart Gottes. Der erste Teil geschieht
durch die Betrachtung in der Weise: wir wählen ein Geheimnis, z. B.
Unseren Herrn am Kreuz; wenn wir ihn uns vorgestellt haben, erwä-
gen wir seine Tugenden: seine Liebe gegen seinen Vater, die ihn den
Tod erdulden läßt, den Tod am Kreuz (Phil 2,8), viel mehr um ihm zu
gefallen, als um ihm nicht zu mißfallen; seine große Sanftmut, Demut
und Geduld, mit der er so große Schmähungen erduldete; schließlich
seine große Liebe gegen jene, die ihn töteten, indem er inmitten der
größten Schmerzen für sie betete (Lk 23,34). Wenn wir das alles erwo-
gen haben, wird unser Gemüt bewegt zum glühenden Verlangen, ihn
in seinen Tugenden nachzuahmen. Dann gehen wir dazu über, den
ewigen Vater zu bitten, daß er uns seinem Sohn gleichförmig mache
(Röm 8,29).
Die Betrachtung geschieht so, wie es die Bienen machen, wenn sie
den Honig sammeln. Sie sammeln den Honig, der vom Himmel auf

236
die Blüten fällt, nehmen ein wenig vom Saft der Blüten selbst und
tragen ihn in den Bienenkorb. So verkosten auch wir die Tugenden
Unseres Herrn eine nach der anderen, um dadurch zur Nachahmung
angeregt zu werden. (Dann schauen wir sie alle zusammen mit einem
Blick in der Beschauung.) Gott betrachtete bei der Schöpfung (vgl. Tr.
6,5). Seht, wie er, nachdem er den Himmel geschaffen hat, sagt, daß er
gut war. Ebenso tat er, nachdem er die Erde geschaffen, die Tiere und
schließlich den Menschen. Er fand alles gut, indem er eines nach dem
anderen betrachtete; als er aber alles zusammen sah, was er geschaf-
fen, sagt er, daß alles sehr gut war (Gen 1,10-25.31).

Nachdem die Braut im Hohelied (5,9-16) ihren Vielgeliebten ge-


priesen hat wegen der Schönheit seiner Augen, seiner Lippen, kurz
nacheinander aller seiner Glieder, schließt sie folgendermaßen: Wie
schön ist mein Vielgeliebter, wie liebe ich ihn; er ist mein Allerliebster!
Das ist die Beschauung. Denn wenn wir Geheimnis um Geheimnis
erwägen, wie gut Gott ist, kommen wir dahin, wie es mit den Stricken
unserer Schiffe geht: wenn man sehr kräftig rudert, erhitzen sich die
Stricke derart, daß sie Feuer fangen, wenn man sie nicht anfeuchtet.
Unsere Seele dagegen, die sich den zu lieben erwärmt, den sie als so
liebenswert erkannt hat, schaut fortwährend auf ihn, weil sie sich im-
mer mehr daran erfreut, ihn so schön und so gut zu sehen.

Der Bräutigam im Hohelied (5,1 nach Sept. und Vätern) sagt: Komm,
meine Vielgeliebte, denn ich habe meine Myrrhe gesammelt, ich habe
mein Brot gegessen und meine Honigscheibe, ich habe meinen Wein mit
meiner Milch getrunken. Kommt, meine Vielgeliebten, eßt und berauscht
euch, meine Teuersten. Diese Worte stellen uns die Geheimnisse vor
Augen, die in den nächsten Wochen gefeiert werden. Ich habe meine
Myrrhe gesammelt und mein Brot gegessen; das geschieht im Tod und
in der Passion des Erlösers. Ich habe meine Honigscheibe gegessen;
das geschieht, wenn er seine Seele wieder mit dem Leib vereinigt. Zum
Schluß fügt der Bräutigam hinzu: meinen Wein mit meiner Milch. Der
Wein versinnbildet die Freude seiner Auferstehung, die Milch seinen
freundlichen Umgang. Er hat sie beide zugleich getrunken, denn er
bleibt vierzig Tage nach seiner Auferstehung auf der Erde (Apg 1,3),
sucht seine Jünger auf, läßt sie seine Wundmale berühren und ißt mit
ihnen. Wenn er aber sagt: Eßt, meine Vielgeliebten, will er damit sagen:
betrachtet. Ihr wißt doch, damit man das Fleisch schlucken kann, muß
man es zuerst kauen und zerkleinern und oftmals im Mund von einer
Seite auf die andere schieben. So müssen wir es auch mit den Geheim-

237
nissen Unseres Herrn machen: man muß sie zergliedern und mehr-
mals in unserem Verstand hin- und herbewegen, bevor wir unseren
Willen erwärmen und zur Beschauung kommen. Der Bräutigam
schließt dann: Berauscht euch, meine Teuersten. Was will das heißen?
Ihr wißt wohl, daß man den Wein nicht zu kauen gewohnt ist; man
schluckt ihn nur. Das versinnbildet uns die Beschauung, bei der man
nicht kaut, sondern nur schluckt. Du hast genug betrachtet, wie gut ich
bin, scheint der göttliche Bräutigam zu seiner Vielgeliebten zu sagen:
schau mich an, und du wirst dich daran ergötzen zu sehen, daß ich es
bin.

Der hl. Franziskus verbrachte eine Nacht damit zu wiederholen: Du


bist „mein Alles“. Er sprach diese Worte in der Beschauung, als wollte
er sagen: Ich habe dich Stück für Stück betrachtet, mein Herr, und
habe gefunden, daß du überaus liebenswert bist; nun schaue ich dich
an und sehe, daß du „mein Alles“ bist. Der hl. Bruno begnügte sich mit
den Worten: „O Güte!“ Der hl. Augustinus: „O alte und neue Schön-
heit!“ Du bist alt, weil du ewig bist, aber du bist neu, weil du eine neue
Wonne in mein Herz gebracht hast. Das waren einige Worte über die
Beschauung.

Kommen wir zum dritten Teil des Geistesgebetes, der in den Her-
zenserhebungen besteht. Davon kann sich niemand entschuldigen, weil
sie im Kommen und Gehen bei den Beschäftigungen geschehen kön-
nen. Ihr sagt mir, daß ihr nicht die Zeit habt, um zwei oder drei Stun-
den zu beten. Wer spricht denn davon? Empfehlt euch am Morgen
Gott, beteuert, daß ihr ihn nicht beleidigen wollt, dann geht an euer
Tagewerk mit dem Entschluß, gleichwohl häufig euren Geist zu Gott
zu erheben, selbst in Gesellschaft. Wer kann euch daran hindern, auf
dem Grund eures Herzen mit ihm zu sprechen? Es ist ja nicht nötig,
daß ihr geistigerweise oder mündlich mit ihm sprecht. Sagt kurze aber
feurige Worte. Jenes, das der hl. Franziskus wiederholt sagte, ist aus-
gezeichnet, denn es war ein Wort der Beschauung, weil es andauerte
wie ein Fluß, der beständig fließt. Es ist wahr, es wäre nicht gut, wenn
man zu Gott sagte: Du bist mein Alles, dabei aber etwas anderes woll-
te als ihn, denn die Worte müssen mit der Gesinnung des Herzens
übereinstimmen. Aber zu Gott sagen: Ich liebe dich, obwohl wir kein
starkes Gefühl der Liebe haben, das dürfen wir nicht unterlassen, weil
wir es doch wollen und ein großes Verlangen haben, ihn zu lieben.
Ein gutes Mittel, uns in diesen Herzenserhebungen zu üben, besteht
darin, das Vaterunser nacheinander herzunehmen, indem man für je-

238
den Tag einen Satz wählt. Ihr habt z. B. heute genommen: Vater unser,
der du im Himmel bist. Sagt also beim ersten Mal: Mein Vater im Him-
mel; eine Viertelstunde später könnt ihr sagen: Wenn du mein Vater
bist, wann werde ich ganz deine Tochter sein? So könnt ihr von einer
Viertelstunde zur anderen euer Gebet fortsetzen. Die heiligen Väter,
die in der Wüste lebten, in Wahrheit die Ordensleute der Frühzeit,
waren so sorgsam bedacht, diese Gebete und Herzenserhebungen zu
machen, daß der hl. Hieronymus davon berichtet: Wenn man sie be-
suchte, hörte man den einen sagen: Mein Gott, du bist alles, was ich
ersehne; einen anderen: Wann werde ich ganz dein sein, mein Gott?
Wieder einer wiederholte: Gott, eile mir zu helfen (Ps 70,1). Man ver-
nahm schließlich eine überaus angenehme Harmonie ihrer verschie-
denen Stimmen. Ihr werdet mir aber sagen: Wenn man diese Worte
mündlich ausspricht, warum nennen Sie das ein Geistesgebet? Weil es
auch geistigerweise verrichtet wird und weil es vor allem aus dem
Herzen kommt.
Der Bräutigam sagt im Hohelied (4,9 nach Sept.), daß seine Vielge-
liebte ihm das Herz entzückte durch eines ihrer Augen und durch eines
ihrer Haare, das auf ihren Hals herabfällt. Diese Worte sind ein Köcher
voll überaus lieblicher Anregungen. Hier ist eine recht liebenswerte:
Wenn ein Mann und eine Frau in ihrem Hauswesen Aufgaben haben,
die sie zwingen, sich zu trennen, und sie begegnen sich zufällig, dann
schauen sie einander im Vorbeigehen kurz an, aber nur mit einem
Auge, weil sie einander von der Seite begegnen und man es nicht gut
mit zwei Augen tun kann. So will dieser Bräutigam sagen: Obwohl
meine Vielgeliebte sehr beschäftigt ist, unterläßt sie es doch nicht,
mich mit einem Auge anzuschauen und mir durch diesen Blick zu
versichern, daß sie ganz die Meine ist. Sie hat mein Herz entzückt durch
eines ihrer Haare, das auf ihren Hals herabfällt, d. h. durch einen Ge-
danken, der aus ihrem Herzen kommt.
Wir wollen jetzt nicht mehr vom vierten Teil des Geistesgebetes
sprechen. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir je in den Himmel
kommen! Denn dort werden wir betrachten, indem wir alle Werke
Gottes im einzelnen betrachten und erwägen; und wir werden finden,
daß alle gut sind. Wir werden die Beschauung haben und alle zusam-
men sehr gut finden. Und wir werden ewig unser Herz zu ihm erheben.
Dort wünsche ich euch alle zu sehen. So sei es.

239
Zum FFest
est des hl. Johannes vor der lateinischen Pfor te
Pforte
Nr. 11: 6. Mai 1616 oder 1617 IX,73-83

Die heilige Kirche feiert heute eines der beiden Feste des glorrei-
chen heiligen Evangelisten Johannes. Ich weise darauf hin, daß das
Evangelium (Mt 20,20-23), statt seine Vollkommenheiten und Vorzü-
ge aufzuzählen, von seinen Unvollkommenheiten und Sünden berich-
tet, vor allem von einem Fehler, den man für einen seiner schwersten
hält, nämlich von seiner Anmaßung und seinem Ehrgeiz. Statt ihn zu
loben und zu preisen, scheint es ihn zu schelten und zu tadeln. Ich
bewundere jene, die das geschrieben haben. Wenn die Weltleute je-
mand loben wollen, den sie lieben, zählen sie stets seine Tugenden,
Vollkommenheiten und Vorzüge auf, alle Titel und Eigenschaften, die
sie für ehrenvoll halten. Sie verbergen, bedecken und bemänteln seine
Sünden und Unvollkommenheiten, lassen alles vergessen, was ihn ver-
ächtlich und gemein machen könnte. Aber unsere Mutter Kirche, die
Braut Christi, tut das Gegenteil. Denn obwohl sie ihre Kinder einzig-
artig liebt, berichtet sie doch, wenn sie eines loben und hervorheben
will, getreulich seine Sünden, die es vor seiner Bekehrung begangen
hat, um die Majestät dessen zu verherrlichen, der es zu seiner größeren
Ehre und Verherrlichung bekehrt hat, um seine grenzenlose Barmher-
zigkeit erstrahlen zu lassen, mit der er es aus seinen Armseligkeiten
und Sünden erhoben und es mit so vielen Gnaden und mit seiner Liebe
überhäuft hat.
Diese gute Mutter will gewiß nicht, daß wir erstaunt und in Sorge
sind über das, was wir waren, über die großen Sünden, die wir früher
begangen haben, noch über unsere gegenwärtige Armseligkeit. O nein,
wenn wir nur jetzt den festen und unverbrüchlichen Entschluß haben,
ganz Gott zu gehören und mit Vorbedacht die Vollkommenheit und
alle Mittel zu ergreifen, die uns in der heiligen Liebe zunehmen las-
sen. Sie wird diesen Entschluß wirksam machen und Taten hervor-
bringen. Nein, so groß unsere Armseligkeiten und Gebrechen auch
sein und gewesen sein mögen, sie dürfen uns gewiß nicht entmutigen;
aber ihre Wirkung muß sein, daß wir uns demütigen und in die Arme
der göttlichen Barmherzigkeit werfen. Sie wird um so mehr in uns
verherrlicht, je größer unser Elend ist, wenn wir uns daraus erheben;
dies mit Hilfe seiner heiligen Gnade zu erreichen, darauf müssen wir
alle hoffen.
Der große hl. Chrysostomus lobt den hl. Paulus, so treffend er es
vermag, und spricht von ihm mit soviel Verehrung und Hochachtung.

240
Es ist bewundernswert, wie er seine Tugenden, Vollkommenheiten und
Vorzüge aufzählt, die Auszeichnungen und Gnaden, mit denen Gott
ihn geschmückt und bevorzugt hat. Um aber zu zeigen, daß diese Ga-
ben nicht von ihm stammten, sondern von der grenzenlosen Güte der
göttlichen Majestät, die ihn zu dem gemacht hat, was er war, deshalb
spricht der gleiche Heilige anschließend auch von den Fehlern des hl.
Paulus und beschreibt ausführlich seine Sünden und Unvollkommen-
heiten; er sagt: Schaut euch den kleinen, mißgestalteten Buckligen an
(denn er war klein von Statur und sah nicht viel gleich), wie Gott ihn
zu einem Gefäß der Auserwählung (Apg 9,15) gemacht hat. Seht die-
sen großen Sünder und Christenverfolger, wie er ihn aus einem Wolf
in ein Lamm verwandelt hat. Seht diesen mißmutigen, eigensinnigen,
hochmütigen und anmaßenden Menschen, wie Gott ihn überhäufte
und erfüllte mit so vielen Gnaden und Segnungen, wie er ihn so demü-
tig und liebenswürdig machte, daß er selbst von sich sagte, er sei der
geringste und kleinste unter den Aposteln (1 Kor 15,9), der größte
Sünder (1 Tim 1,15), und daß er allen alles geworden ist, um alle zu
gewinnen (1 Kor 9,22). Dieser große Heilige sagt auch noch (2 Kor
11,29; Röm 12,15): Wer ist krank, mit dem ich nicht leide? Wer ist
traurig, mit dem ich nicht traurig bin? Wer ist fröhlich, mit dem ich
mich nicht freute? Wer nimmt Anstoß, mit dem ich nicht entbrenne?
Gewiß, die in alter Zeit die Lebensgeschichte der Heiligen beschrie-
ben, haben deren Fehler und Sünden gewissenhaft ausgeforscht, be-
richtet und erklärt, um Unseren Herrn zu lobpreisen, der in ihnen
verherrlicht wurde, da er sie aus ihrem Elend zog, sie bekehrte und so
große Heilige aus ihnen machte.
Kommen wir nun wieder zu unserem glorreichen und ganz liebens-
würdigen hl. Johannes zurück. Er hatte gewiß sehr wenige Fehler und
Unvollkommenheiten, denn er war ganz rein und keusch. Er war auch
noch jung, als er mit seinem Bruder, dem hl. Jakobus, von dieser dum-
men Regung des Ehrgeizes erfaßt wurde, daß sie einen Platz, einer zur
Rechten und der andere zur Linken Unseres Herrn haben wollten. Es
ist anzunehmen, daß die beiden übereingekommen waren, wie sie es
anstellen wollten, um zu dieser Würde zu gelangen. Sie wollten nicht
darum bitten. O nein, Ehrgeizige hüten sich ja, selbst um eine Ehre zu
bitten, aus Furcht, daß sie für ehrgeizig gehalten werden. Die beiden
finden also einen Ausweg miteinander und sagen: Unsere Mutter ist
eine gute Frau, die uns sehr gern hat; sie wird das wohl für uns tun; und
unser Meister liebt uns auch; er wird uns ohne Zweifel diese Gunst
gewähren. Es ist wahr, daß er sie sehr liebte, besonders den hl. Johan-
nes, seinen Lieblingsschüler; er war der liebenswürdigste Mensch, den

241
man sich vorstellen kann. Sie bitten also ihre Mutter, diesen Wunsch
vorzubringen. Sie, die sehr auf das Glück ihrer Kinder bedacht war,
suchte also Unseren Herrn in dieser Absicht auf, wie einer der Evan-
gelisten (Mt 20,20) sagt. Listig wie ein kleiner Fuchs trat sie mit vielen
Verneigungen und demütigen Gebärden an ihn heran, kniete vor ihm
nieder, um seine Gunst zu gewinnen, damit er ihr gewähre, was sie von
ihm wünschte.

Als der göttliche Heiland sie sah, sagte er zu ihr: Was willst du? Sie
antwortete: Ich habe eine kleine Bitte an dich, Herr. Seht die gute
Frau, die tausend Windungen macht und nicht einfach vorgeht. Nun,
das hat die Eigenliebe bewirkt. Sie hütete sich, ihm zu sagen: Das will
ich, gewähre mir diese Gunst. O nein, denn die Eigenliebe ist dafür zu
schlau und zu berechnend; sie läßt uns in heuchlerischer und unechter
Demut Vorreden und wohlgesetzte Lobsprüche machen, damit man
uns für recht bieder und klug halte. Sie ist ein gefährliches Tier, das
uns großen Schaden zufügt, indem sie uns daran hindert, in allem ein-
fach und gerade vorzugehen, und uns bei allen Dingen unseren eige-
nen Vorteil und unsere Befriedigung suchen läßt. Es gibt wenige, selbst
unter geistlich Gesinnten, die einfach auf Gott schauen, ohne ihre
eigene Befriedigung zu suchen, die nur ihn und nicht sich selbst zu-
friedenstellen wollen.

Er sagt also zu ihr: Was willst du? Der Heiland liebte ja nicht so viele
Worte, er, der die Einfachheit einzigartig liebte. Sie antwortete: Herr,
ich bitte, daß meine Kinder in deinem Reich einer zu deiner Rechten
und der andere zu deiner Linken sitzen. Und ihre Söhne, die bei ihr
standen, fügten hinzu: Herr, wir möchten, daß du uns alles gewährst,
um was wir dich bitten (Mk 10,35). Seht, wie groß unsere Armseligkeit
ist! Wir wollen, daß Gott unseren Willen erfüllt, und wir wollen nicht
seinen Willen erfüllen, wenn er nicht mit dem unseren übereinstimmt.
Wenn wir uns genau prüfen, werden die meisten von uns finden, daß
unsere Bitten sehr ungeläutert und unvollkommen sind. Wenn wir
beten, möchten wir, daß Gott zu uns spricht, daß er uns besuchen,
trösten und aufrichten kommt; wir sagen zu ihm, daß er dies tun, daß
er uns das geben soll. Und wenn er es nicht tut, obwohl das zu unserem
Besten ist, sind wir darüber beunruhigt, verwirrt und bekümmert.

Unsere Seele hat zwei Kinder; eines davon ist das eigene Urteil, das
andere der Eigenwille. Beide wollen ihren Platz, das Urteil zur Rech-
ten, der Wille zur Linken. Ja, denn unser Urteil will über allem ande-

242
ren stehen und sich nicht unterwerfen, ebensowenig unser Eigenwille.
Es gibt viele, die gehorchen, aber äußerst wenige, die ihr Urteil unter-
werfen und auf ihren Willen völlig verzichten. Es gibt viele, die sich
demütigen, die sich abtöten, die ein Bußgewand tragen, die Bußwerke
und Strengheiten üben, die beten und Betrachtung halten; ganz selten
aber sind jene, die ihr eigenes Urteil und ihren Eigenwillen vollkom-
men unterwerfen.

Nichts schadet uns im geistlichen Leben so sehr und nichts hindert


uns so, auf dem Weg Gottes voranzukommen. Denn wenn sein heiliger
Wille in uns herrschte, würden wir nie die geringste Sünde begehen;
wir wären nicht darauf bedacht, nach unseren Neigungen und Launen
zu leben; gewiß nicht, denn sein Wille ist die Richtschnur alles Guten.
Schließlich ist es dieser Eigenwille, der in der Hölle brennen wird,
sagt der hl. Bernhard. Wenn er im Himmel ist, wirft man ihn hinaus;
denn die Engel wurden gestürzt, weil sie ihren eigenen Willen hatten
und Gott gleich sein wollten; deshalb stürzten sie in die Hölle. Wenn
der Eigenwille in der Welt ist, zerstört und verdirbt er alles. Wenn wir
in uns etwas finden, was nicht mit dem Willen unseres teuren Erlösers
übereinstimmt, müssen wir uns vor ihm niederwerfen und ihm sagen,
daß wir es verabscheuen und verwerfen, das und alles, was ihm in uns
mißfallen und seiner Liebe widersprechen könnte, und müssen ihm
versprechen, nur das zu wollen, was seinem Wohlgefallen und seinem
göttlichen Willen entspricht.

Unser Herr antwortet demnach der Frau und ihren Söhnen: Ihr wißt
nicht, um was ihr bittet. Sie verstanden wirklich nicht, um was sie
baten; denn im Himmel gibt es keine linke Seite; denn auf der linken
Seite sind die Verdammten, die der Gegenwart Gottes beraubt sind.
Im Himmel gibt es nur die rechte Seite, wo die Seligen sind, die sich
der göttlichen Wesenheit erfreuen und sie genießen werden, die sie
mit aller Befriedigung und Glückseligkeit erfüllen wird. Wir wissen
nicht, um was wir bitten, wenn wir zu Unserem Herrn sagen, daß er
unseren Willen erfüllen und uns geben soll, was wir wünschen. Gewiß
nicht, denn ihr wißt doch, meine Lieben, daß all unser Gut und Glück
davon abhängt, der göttlichen Vorsehung ganz ergeben zu sein, nichts
zu suchen als sein Wohlgefallen, seinem heiligen Willen uns vollkom-
men zu unterwerfen, uns daran zu erfreuen, daß wir diesen sich in uns
und in allen Geschöpfen erfüllen sehen, wenn auch unter Anfechtun-
gen und Leiden. Wir fühlen manchmal den Wunsch und die Neigung,
Tugenden zu üben, die unserem Willen entsprechen. Da ist z. B. eine

243
Kranke, der wir sagen: Mein Kind, du weißt doch gut, daß deine
Schmerzen und Leiden der göttlichen Majestät einzigartig wohlgefäl-
lig sind, wenn sie in Geduld und Unterwerfung unter seinen Willen
angenommen werden. Ja, wird sie antworten, aber ich möchte lieber
im Chor sein, um wie die anderen zu Gott zu beten; ich möchte wie sie
mit Eifer und Gefühl Bußübungen, Abtötungen und Tugendakte ver-
richten. Seht ihr, sie möchte Gott dienen im Tätigsein; Gott aber will,
daß sie ihm diene durch Leiden und Ertragen aus Liebe zu ihm.
Der göttliche Heiland sagt zu seinen Aposteln über diesen Ehrgeiz
der beiden Heiligen: Glaubt nicht, daß ihr größere Herrlichkeit und
mehr Liebe hättet, wenn ihr einen Vorrang an Würde in meinem Reich
innehabt (Mt 20,25f). Ihr alle, die ich erwählt und berufen (Joh 15,6)
habe, um mit mir am Tag des Gerichtes auf Thronen zu sitzen und zu
richten (Mt 19,28), ihr werdet dadurch nicht mehr erhöht sein und
deshalb keine größere Herrlichkeit besitzen. O nein, denn meine
Mutter, die nicht zu dieser Würde erkoren wurde, wird trotzdem un-
endlich mehr Herrlichkeit und Liebe im Himmel besitzen als ihr alle.
Es gibt eine affektive und eine Tatliebe, so wie es auch zwei Arten
gibt, das Martyrium zu erleiden: die eine affektiv, die andere tatsäch-
lich. Der hl. Johannes wurde Märtyrer auf die erste Art, denn Gott ließ
nicht zu, daß er tatsächlich Märtyrer wurde, sondern nur dem Willen
und dem Verlangen nach. Denn das siedende Öl, das man für ihn be-
reitet hatte, in das man ihn warf, fügte ihm kein Leid zu, sondern war
für ihn mild und lieblich, als wäre es das wohltuendste Bad gewesen.
Der hl. Jakobus wurde tatsächlich Märtyrer, denn Gott gewährte ihm
die Gnade, aus Liebe zu ihm zu sterben; gleichwohl blieb auch dem hl.
Johannes der Lohn und die Krone des Martyriums nicht vorenthalten.
Unser göttlicher Meister sagte also zu den beiden Heiligen: Könnt
ihr den Kelch mit mir trinken, der für mich bereitet ist (Mt 20,22)?
Denn ich bin vom Himmel herabgestiegen, um den Willen meines Va-
ters zu erfüllen, der mich gesandt hat, um sein Werk zu vollenden (Joh
6,38; 4,34). Sie antworteten: Wir können es. Und er fügte hinzu: Wißt
ihr, was das heißt, meinen Kelch trinken? Glaubt nicht, das bedeute,
Ehrenstellungen zu haben, Gunsterweise und Tröstungen; gewiß nicht.
Meinen Kelch trinken heißt, an meiner Passion teilhaben, Leiden und
Schmerzen erdulden, Nägel und Dornen, Galle und Essig trinken.
Wie groß sind diese Gunsterweise! Wie müssen wir es als großes
Glück schätzen, mit unserem Erlöser das Kreuz zu tragen und gekreu-
zigt zu werden! Die Märtyrer haben den Kelch in einem Zug ausge-

244
trunken, die einen in einer Stunde, die anderen in zwei oder drei Ta-
gen, andere in einem Monat. Wir können Märtyrer werden und den
Kelch trinken, nicht in zwei oder drei Tagen, sondern unser ganzes
Leben, wenn wir uns ständig abtöten, wie es die Ordensmänner und
Ordensfrauen tun und tun müssen, die Gott in einen Orden berufen
hat, damit sie mit ihm das Kreuz tragen und gekreuzigt sind. Ist es
nicht ein großes Martyrium, nie seinen eigenen Willen zu tun, sein
Urteil zu unterwerfen, sein Herz zur entblößen, es leer zu machen von
all seinen unlauteren Regungen und von allem, was nicht Gott ist;
nicht nach seinen Neigungen und Launen zu leben, sondern nach dem
göttlichen Willen und nach der Vernunft? Das ist ein Martyrium, das
sehr lange dauert, das langweilig ist und unser ganzes Leben währen
muß; aber am Ende werden wir als Lohn eine herrliche Krone erhal-
ten, wenn wir darin treu sind.
Wenn eine große Fürstin oder ein hoher Herr eines unversehenen
Todes stirbt, öffnet man ihren Leichnam, um zu sehen, an welcher
Krankheit sie gestorben sind. Hat man die Todesursache gefunden, ist
man zufrieden und unternimmt weiter nichts. Als Unser Herr am Kreuz
hing, sagte er, ehe er seinen Geist aufgab, mit lauter Stimme, fest und
schallend die Worte: Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist
(Lk 23,46), und er gab seinen Geist auf (Mt 27,50; Joh 19,30), uzw.
unmittelbar nach diesem Ausruf. Man konnte es nicht glauben, daß er
gestorben ist, da er eben noch mit so kräftiger Stimme gerufen hat, so
daß es nicht den Eindruck machte, als müßte er bald sterben. Deshalb
kam der Hauptmann der Soldaten, um zu erfahren, ob er wirklich
gestorben sei. Als er sah, daß er tot war, befahl er, ihm einen Lanzen-
stich in die Seite zu geben. Das geschah, und man stieß ihn genau ins
Herz (Joh 19,33 f). Als seine Seite geöffnet war, sah man, daß er wirk-
lich tot war, gestorben an der Krankheit seines Herzens, d. h. an der
Liebe seines Herzens.
Unser Herr wollte aus mehreren Gründen, daß seine Seite geöffnet
wurde. Der erste Grund war, daß man die Gesinnungen seines Her-
zens sehe; das sind die Gedanken der Liebe und herzlicher Zuneigung
(Jer 29,11) für uns, seine vielgeliebten Kinder und Geschöpfe, die er
nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat (Gen 1,26; 5,1). Da-
durch sollten wir sehen, wie sehr er danach verlangt, uns seine Gnaden
und Segnungen zu schenken, ja sogar sein Herz, wie er es der hl. Ka-
tharina von Siena gewährt hat. Ich bewundere diese unvergleichliche
Gnade, durch die er das Herz mit ihr tauschte. Vorher hatte sie gebe-
tet: „Herr, ich empfehle dir mein Herz“; von da an aber sagte sie:
„Herr, ich empfehle dir dein Herz“, da das Herz Gottes ihr Herz war.

245
Gewiß, die frommen Seelen dürfen kein anderes Herz haben als das
Herz Gottes, keinen anderen Willen als den seinen, keine andere Lie-
be als die seine, keine anderen Wünsche als die seinen; mit einem
Wort, sie müssen ihm gehören.
Der zweite Grund war, damit wir mit allem Vertrauen zu ihm kom-
men, um uns in seine Seite zurückzuziehen und darin zu bergen; um in
ihr auszuruhen, wenn wir sehen, daß er sie geöffnet hat, um uns darin
aufzunehmen mit unvergleichlicher Güte und Liebe, wenn wir uns
ihm schenken und uns vollkommen und ohne Rückhalt seiner Güte
und Vorsehung überlassen.
Ihr möchtet mich vielleicht fragen, warum unsere Herzen vor den
anderen so versteckt sind, daß man sie nicht sieht. Aus zwei Gründen
ist es ratsam, daß dem so ist: erstens weil man Abscheu davor hätte, in
den Herzen von Bösewichten und großen Sündern so häßliche und
abscheuliche Dinge, so viel Elend zu entdecken. Die hl. Katharina
hatte von Gott die Gabe erhalten, die Gewissen zu durchschauen und
die geheimsten Sünden zu erkennen; sie hatte davor so großen Ab-
scheu, daß sie sich abwenden mußte, um sie nicht sehen zu müssen. In
unserer Zeit hat der selige Philipp Neri von der göttlichen Güte die
gleiche Gnade erhalten. Oft hielt er sich die Nase zu, um den furchtba-
ren Gestank nicht wahrzunehmen, der von einem Sünder ausging. Der
zweite Grund ist, daß es nicht ratsam ist, das Herz der Guten zu sehen,
aus Furcht, daß sie der Eitelkeit verfallen oder daß es in den anderen
Neid erwecke. Nun, bei Unserem Herrn gab es nichts zu befürchten,
wenn man sein Herz sah, denn in ihm gab es nichts, was Abscheu
wecken könnte, weil es so rein, so heilig und die Reinheit selbst war.
Er konnte auch nicht eitel werden, da er der Urheber der Herrlichkeit
ist.
Ich staune über den Eifer, mit dem die beiden Heiligen Unserem
Herrn antworteten, als er davon sprach, seinen Kelch zu trinken: Wir
können es, sagten sie. Seht ihr, wenn wir im Eifer sind, gute Empfin-
dungen und Tröstungen haben, scheint es uns, daß wir Wunder voll-
bringen können; aber beim geringsten Anlaß straucheln wir und las-
sen die Nase hängen. Wenn man uns an der Fingerspitze oder Fußspit-
ze anrührt, ziehen wir uns sofort zurück; wenn man uns ein Wörtchen
sagt, das nicht nach unserem Geschmack ist, sind wir gekränkt. Wir
machen es wie die Soldaten von Efraim, die in ihrer Phantasie große
Kriegstaten vollbrachten und so tapfer waren, daß sie alle ihre Feinde
zu töten gedachten; als es aber zur Tat und zum Angriff kam, wurden

246
sie blaß und mutlos und ergriffen die Flucht. Wir sind genau so, denn
wir machen im Geist große Pläne und fassen schöne Entschlüsse, in-
dem wir uns vorstellen, daß wir dies und jenes für Gott tun werden;
wenn aber die Gelegenheit dazu kommt, dann wenden wir ihr den
Rücken, dann fehlen uns der Mut und die Treue.
Der hl. Petrus sagte mit großer Bestimmtheit zu Unserem Herrn:
Ich werde dich nicht verlassen, sondern will mit dir sterben (Lk 22,33;
Joh 13,37); aber auf das bloße Wort einer Magd hin verleugnete er ihn
dreimal (Mt 26,69-75). Gewiß, wenn uns solch glühende Wünsche
kommen, große Dinge für Gott zu tun, dann müssen wir uns mehr
denn je vertiefen in Demut und Mißtrauen gegen uns selbst und in das
Vertrauen auf Gott, uns in seine Arme werfen und anerkennen, daß
wir keine Kraft haben, um unsere Entschlüsse und guten Absichten zu
verwirklichen, noch irgendetwas zu tun, was ihm wohlgefällig wäre.
Aber in ihm und mit seiner Gnade wird uns alles möglich sein (Phil
4,13). Töricht wäre, wer ein großes Bauwerk errichten wollte und nicht
vorher überlegte, ob er Geld genug hat, um dafür zu bezahlen (Lk
14,28-30). Wir wollen den Himmel erwerben, wollen den großen Bau
der Vollkommenheit errichten; wir sind Toren, wenn wir nicht überle-
gen, ob wir etwas haben, um dafür zu bezahlen, und was wir dafür
geben müssen. Fehlt diese Überlegung, dann werden wir auf dem Weg
steckenbleiben.
Die Münze, mit der wir diese Vollkommenheit erkaufen müssen, ist
unser Eigenwille; ihn müssen wir verkaufen und uns seiner entäußern,
indem wir vollkommen auf ihn verzichten. Wir müssen uns selbst ver-
leugnen und das Kreuz aufnehmen (Mt 16,24; Lk 9,23); wir müssen
unser eigenes Urteil unterwerfen; wir müssen unsere schlechten Nei-
gungen und Launen ablegen. Schließlich werden wir die Vollkommen-
heit nie auf einem anderen Weg erreichen. Wir müssen alles verkau-
fen, um diese kostbare Perle (Mt 13,46) der heiligen Liebe zu erwer-
ben, die Gott für uns bereithält, wenn wir uns treu bemühen, sie zu
erlangen. Glücklich sind also die Seelen, die diesen Kelch mit Unse-
rem Herrn trinken, die sich abtöten, das Kreuz tragen und liebend aus
Liebe zu ihm leiden, die alle Ereignisse in gleicher Weise annehmen.
Aber, mein Gott, wie wenige finden sich dafür! Indessen sage ich das
nicht, ohne einige Ausnahmen zu machen.
Ihr werdet mir trotzdem sagen, daß es viele gibt, die sich danach
sehnen, zu leiden und das Kreuz zu tragen. Das ist wahr. Ich weiß, daß
es viele gibt, die sich danach sehnen und Gott um Leiden und Trübsal

247
bitten, die ihn bitten, sie leiden zu lassen. Unter dieser Voraussetzung
geschieht es oft, daß er sie heimsucht und in ihren Leiden tröstet, ih-
nen versichert, daß er sie mit Wohlgefallen leiden sieht und sie dafür
reich belohnen wird mit unsterblicher Herrlichkeit. Es gibt auch man-
che, die den Grad der Glorie kennen wollen, den sie im Himmel ha-
ben werden. Das ist gewiß sehr vorwitzig, denn danach dürfen wir kei-
neswegs fragen. Wir müssen der göttlichen Majestät dienen, so gut wir
es vermögen, indem wir getreu seine Gebote und Räte befolgen und
seinen Willen erfüllen mit der größtmöglichen Vollkommenheit, Lau-
terkeit und Liebe; wir dürfen aber nicht nach dem Lohn fragen, son-
dern das seiner Güte überlassen. Er wird nicht versäumen, uns mit
unendlicher und unfaßbarer Glorie zu belohnen, indem er sich selbst
uns als Lohn schenkt (Gen 15,1); so hoch schätzt er und nimmt er
wohlgefällig an, was wir für ihn tun. Mit einem Wort, er ist unser guter
Herr, wir brauchen nur seine ganz treuen Diener und Dienerinnen zu
sein, und er wird uns gewiß ein treuer Vergelter sein (Mt 25,21.23).
Es ist ein unvergleichliches Glück, dem göttlichen Heiland unserer
Seelen zu dienen und den Kelch mit ihm zu trinken. Seht ihr die große
hl. Katharina von Siena, die die Dornenkrone der goldenen vorzog?
Wir müssen es ebenso machen; denn schließlich ist der Weg des Kreu-
zes, der Leiden und Trübsale ein sicherer Weg, der uns zu Gott führt
und zur Vollendung seiner Liebe, wenn wir nur treu sind. Zum Schluß:
wir müssen den Kelch Unseres Herrn mutig trinken und mit ihm ge-
kreuzigt sein in diesem Leben. Wenn wir seinem Beispiel und seinen
Spuren folgen, wird seine Güte uns die Gnade erweisen, daß wir mit
ihm verherrlicht werden im anderen Leben. Dahin möge uns führen
der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Zur Einkleidung am Fest des hl. Claudius

Nr. 12: 6. Juni 1617 IX,84-89

Die Aufnahme von Seelen, die sich Gott weihen, um ihm im Ordens-
leben zu dienen, hat man immer sehr feierlich gemacht. Ich stelle
allerdings fest, daß man darin bei der Aufnahme von Mädchen mehr
getan hat als bei den Männern. Ich persönlich glaube, daß dies deswe-
gen geschieht, weil man beim zarten Geschlecht um so mehr die Stär-
ke bewundern und feiern muß, mit der sie sich von allen irdischen

248
Dingen lossagen. Ihre Hochherzigkeit beschämt gewiß viele, die sich
für sehr tapfer und mutig halten.
Sie schätzen das Glück sehr hoch, sagen sie, ganz Gott zu gehören.
Wenn es stimmt, daß ihr es so hoch einschätzt, warum zieht ihr euch
nicht ins Kloster zurück, um Unserem Herrn noch ausschließlicher
anzugehören und ihm noch vollkommener zu dienen, da ihr keinen
triftigen Grund habt, in der Welt zu bleiben? O Gott, ich kann mich
von dem und jenem nicht trennen, das ich sehr liebe; ich möchte wohl,
aber ich kann nicht. Gebt also zu, daß euch die Kraft und der Mut fehlt
und daß ihr euch übertreffen laßt von Seelen, die ihr für schwächer
und gebrechlicher haltet als euch. Damit aber die einen wie die ande-
ren Gelegenheit haben, sich zu demütigen, müssen wir bekennen, daß
unsere Stärke und unser Mut nicht von uns stammen; der große Apo-
stel Paulus sagt ja, daß unsere ganze Fähigkeit vom Himmel kommt (2
Kor 3,5). Wir müssen deshalb dem Heiligen Geist die Ehre geben,
denn er gefällt sich darin, das Schwächste und Niedrigste zu erwählen,
um seine Größe und seine unvergleichliche Güte zu offenbaren (1
Kor 1,27f).
Überaus bewundernswert ist die Vielfalt der Lockungen des Heili-
gen Geistes. Die Braut im Hohelied (1,2f) sagt zu ihrem göttlichen
Bräutigam: Dein Name, mein Vielgeliebter, ist wie Öl und wie ausge-
gossener Balsam; er verbreitet einen so guten Duft über die ganze Erde,
daß sich die Mädchen nach dir sehnen. Wie groß ist das Glück der
jungen Mädchen, die aus Sehnsucht nach Unserem Herrn kommen,
um sich alle seiner Liebe zu weihen! Unter den Jungen verstehe ich
nicht jene, die es an Jahren sind, obwohl ihr Glück sehr groß ist, daß
sie die ersten und besten Jahre dem Dienst der göttlichen Majestät
widmen können; damit meine ich vielmehr diejenigen, die noch zart
und jung sind an Frömmigkeit. Was aber meint ihr, sind jene Düfte, die
sie anlocken? Wieviel Ursache hat die göttliche Liebende und wieviel
haben auch wir, erstaunt zu sein, denn diese Düfte sind nichts anderes
als das Kreuz, die Dornen, die Nägel und die Lanze. O Gott, welches
Wunder, daß Unser Herr den Seelen Sehnsucht nach ihm schenkt und
sie zu seiner Nachfolge anzieht durch alles, was dem menschlichen
Empfinden so hart und abstoßend ist!
Seht, bei uns ist es nicht üblich, die Mädchen zu täuschen, die sich
vorstellen, um ins Kloster aufgenommen zu werden. Denn wir sagen
ihnen, daß sie bei ihrem Eintritt sterben und daß sie nicht mehr für all
das leben dürfen, wofür sie in der Welt gelebt haben. In der Welt habt
ihr für euren eigenen Willen gelebt; den muß man jetzt sterben lassen.

249
Ihr habt nach euren Sinnen gelebt; sie müssen nun gestorben sein. Ihr
habt in der Hoffnung gelebt, die Güter zu besitzen, die die alten Philo-
sophen das Glück nennen wollten, nämlich Reichtum, Ehren, Größe,
Würden; dem muß man absterben. Ihr werdet nichts Eigenes mehr
besitzen, man wird nicht länger euer Lob singen, man wird keine No-
tiz mehr von euch nehmen, als wäret ihr nicht mehr auf der Welt. Mit
einem Wort, ihr müßt dem eigenen Willen, den Sinnen und der Eitel-
keit absterben.

Dem Willen sterben. Wie notwendig ist dieser Punkt! Man kann
diese Notwendigkeit nicht hoch genug ansetzen. Der große hl. Basilius
dachte darüber eines Tages nach und fragte sich: Sollte es nicht mög-
lich sein, Gott vollkommen zu dienen, indem man große und harte
Bußwerke und Strengheiten übt, ja Großes für Unseren Herrn tut, und
doch seinen eigenen Willen zu behalten? Sogleich schien es ihm, daß
Unser Herr und hochheiliger Meister ihm antwortete: Ich habe mich
aus meiner eigenen Herrlichkeit begeben, ich bin vom Himmel herab-
gestiegen, ich habe alle menschlichen Armseligkeiten auf mich ge-
nommen und bin schließlich gestorben, ja am Kreuz gestorben (Phil
2,7f). Und warum das alles? Vielleicht um zu leiden und dadurch die
Menschen zu erlösen? Oder habe ich das zufällig aus freier Wahl ge-
tan? O nein, erlaube, der einzige Grund, warum ich alles getan habe,
was ich tat, war der, mich dem Willen meines Vaters zu unterwerfen,
der das wollte. Und um zu zeigen, daß es nicht nach meiner Wahl
geschah, sollst du wissen: wäre es der Wille meines Vaters gewesen,
daß ich eines anderen Todes sterbe als am Kreuz oder daß ich in Freu-
den lebte, dann hätte ich mich dazu ebenso willig bereitgefunden, denn
ich bin nicht in die Welt gekommen, um meinen Willen zu tun, sondern
den meines Vaters, der mich gesandt hat (Joh 5,30; 6,38; Ps 40,9; Röm
15,3). O Gott, der Wille unseres teuren Erlösers konnte stets nur ganz
vollkommen sein und folglich nichts wählen, was seinem Vater nicht
höchst wohlgefällig gewesen wäre; wenn er nicht nach seinem eigenen
Willen leben wollte, wie könnten wir dann so kühn sein, den unseren
leben zu lassen, dessen Wahl gewöhnlich alle unsere Werke verdirbt?

Es wäre sogar wertvoller, gegen unseren Willen zu Ehrenstellen er-


hoben zu werden (und es gehörte unvergleichlich mehr Mut dazu, sie
anzunehmen), als sie nach eigener Wahl und Entscheidung zurückzu-
weisen, wenn wir erkennen, daß wir ihrer nicht würdig sind. Dafür
sehen wir ein Beispiel am großen hl. Claudius, dessen Fest wir heute
feiern. Nachdem er als Domherr von Besançon dem geistlichen Stand

250
seltene Beispiele der Tugend gegeben hatte, wurde er einmütig zum
Erzbischof dieser Stadt gewählt. Obwohl seine Demut bewirkte, daß
er sich dessen unwürdig erachtete, nahm er das Amt dennoch an, weil
es der Obere befahl, der Papst es anordnete und weil ihn die einmütige
Wahl des Volkes erkennen ließ, daß es der Wille Gottes war. Es ist
Stolz, Ämter und Ehrenstellen zu suchen, es wäre andererseits Ver-
messenheit, sie zurückzuweisen, wenn sie uns von denen angeboten
werden, die Macht über uns haben.

Schließlich gibt es keine echte Tugend ohne das Absterben des Eigen-
willens, und der hl. Bernhard sagt, daß in der Hölle nur der Eigenwille
brennt.

Aber das ist nicht alles; denn wir sagen diesen Mädchen, die in das
Kloster eintreten wollen, daß sie allen Sinnen absterben müssen. Das
heißt, man darf keine Augen mehr haben, um zu sehen, keine Ohren,
um zu hören, usw. Man muß ihnen also ihre Funktion entziehen. Ihr
seid gewohnt, den Blick erhoben zu halten und die Augen stets offen,
um alles anzuschauen; von nun an müßt ihr den Blick senken und die
Augen nur öffnen, wenn es notwendig ist, nicht aus Neugierde. Das
Kleid, das wir ihnen geben, macht das hinreichend deutlich, vor allem
aber der Schleier, den wir ihnen aufs Haupt setzen; er zeigt, daß sie
sich ihrer Sinne und ihrer Fähigkeiten für nichts Irdisches mehr be-
dienen dürfen; vielmehr darf in ihnen wie in toten Mädchen, nichts
mehr von all dem lebendig sein, was bis zu dieser Stunde in ihnen
gelebt hat. Mit einem Wort, wir wiederholen: Ihr müßt eurem bürger-
lichen Leben absterben, denn wie wir schon gesagt haben, werdet ihr
kein Ansehen mehr genießen, man wird von euch nur mehr wie von
Toten sprechen. Man wird euch auch mit einem schwarzen Sack be-
kleiden, der euch daran erinnern soll.

Wozu aber derart allem absterben, insbesondere sich selbst? Gewiß


nur zu dem Zweck, daß Jesus Christus in euch lebe. Welcher Christus?
Der Verherrlichte? O nein, noch nicht. Das wird im Himmel sein, daß
der Verherrlichte in uns lebt; für jetzt aber muß es der Gekreuzigte
sein, denn wir sind in der Zeit der Drangsal, nicht der Freude. Hört,
was der hl. Paulus von sich selbst sagt: Ich lebe, doch nicht mehr ich
lebe, sondern mein Herr lebt in mir (Gal 2,19f); nicht mein verherr-
lichter Herr, sondern der gekreuzigte. Im übrigen wundere ich mich
sehr, wie man den Mut hat, zum Dienst Gottes zu kommen, da man
keine Tröstungen und Freuden verspricht, sondern daß man immer
arbeiten und leiden muß, sich immer abtöten und demütigen. Da ist

251
ohne Zweifel eine geheime Kraft am Werk; es ist die Kraft der Lok-
kungen des Heiligen Geistes, die auf diese Weise zu seiner größeren
Verherrlichung wirkt.
Indessen erwäge ich, daß im heutigen Evangelium (Mt 25,14-23)
von den Talenten, die der Herr seinen Dienern übergab, als er eine
Reise antrat, berichtet wird, daß er davon eines übergab, dann zwei
und dann fünf. Es ist ein großes Talent, christlich zu leben in der Beob-
achtung der Gebote Gottes. Trotzdem ist der mehr begünstigt, der
deren zwei erhalten hat, d. h. mit diesem einen auch noch das, nach der
Vollkommenheit des christlichen Lebens streben zu wollen. Aber, o
Gott, wie groß ist das Glück dessen, der darüber hinaus drei Talente
erhalten hat, in denen alle christlichen Vollkommenheiten enthalten
sind! Das sind die drei wichtigsten Ratschläge Unseres Herrn: Gehor-
sam, Keuschheit und Armut. Das sind die drei verwirklichten Gelüb-
de, die uns mit Gott vereinigen (ich sage verwirklicht, nicht nur ge-
lobt). Durch diese drei Gelübde weihen wir uns Gott und übergeben
ihm alles, was wir haben: durch das Gelübde der Armut übergeben wir
unseren Besitz und alle Ansprüche, die wir haben, etwas zu besitzen;
durch das Gelübde der Keuschheit übergeben wir unseren Leib und
durch das des Gehorsams übergeben wir unsere Seele mit all unseren
Kräften. – – –

Zum Fest aller Heiligen

Nr. 15: 1. November 1617 IX,112-124

Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört, es


ist in keines Menschen Herz gedrungen, was Gott de-
nen bereitet hat, die ihn lieben (1 Kor 2,9; Jes 64,4).

Meine lieben Schwestern, das sind die Worte, deren sich der hl. Pau-
lus im Brief an die Korinther bedient, um sie anzuspornen, sich von
allen niedrigen und irdischen Dingen zu lösen, sich über die hinfälli-
gen irdischen Güter zu erheben, sich von den Neigungen dieses sterb-
lichen Lebens freizumachen, ihre Herzen zu erheben und an die dau-
erhaften ewigen Güter zu denken. Da ich am Fest aller Heiligen zu
euch zu sprechen habe, gedenke ich mich der gleichen Worte des gro-
ßen Apostels zu bedienen und sie an euch zu richten, um euch durch
sie aufzufordern, eure Herzen und eure Gedanken zu erheben zur
Betrachtung der ewigen Herrlichkeit und Glückseligkeit, die Gott

252
denen bereitet hat, die ihn fürchten und lieben in diesem Leben, und
um euch durch diese Predigt anzuspornen, daß ihr alle geschaffenen
Dinge geringschätzt und ihnen eure Liebe entzieht; denn wie der hl.
Johannes in der Geheimen Offenbarung (21,1.4) schreibt, werden Him-
mel und Erde vergehen, d. h. alles hier unten wird ein Ende nehmen.
Um euch nun etwas über diese Herrlichkeit zu sagen, werde ich
mich einer Geschichte bedienen, die im 1. Kapitel des Buches Ester
wiedergegeben ist. Da wird berichtet, daß der König Artaxerxes ein
Festmahl gab, großartiger, als man sehen und denken kann. Hier war
alles vorhanden, was notwendig und wünschenswert ist, um ein Gelage
ausgezeichnet und denkwürdig zu machen. An erster Stelle: der es
veranstaltete, war König über 127 Provinzen; und er war anwesend.
Das ist ja etwas vom Wichtigsten beim Gastmahl, daß der Veranstalter
daran teilnimmt, besonders dann, wenn er ein Mann von königlichem
Rang ist. Was die Speisen betrifft, gab es die vorzüglichsten; die Weine
waren die auserlesensten und köstlichsten, die man finden konnte. Die
beim Festmahl dienten, waren vom König aufgestellt und erfüllten
ihre Aufgabe sehr sorgsam. Der Ort, an dem das Festmahl stattfand,
war überaus schön und herrlich. Die Säulen waren aus Marmor, das
Pflaster aus Smaragden, die Wandteppiche waren alle mit Seide, Gold-
und Silberfäden auf azurblauem Grund bestickt. Es gab aus Gold und
Silber getriebene Ruhebetten. Die schönste und vollendetste Musik
von überaus harmonischen Instrumenten und Stimmen erklang. Über-
aus kunstvolle Blumenbeete waren mit einer bunten Vielfalt unzähli-
ger Blumen bedeckt. Die Geladenen waren die größten Fürsten des
Landes, und das Fest dauerte 180 Tage mit all diesem großartigen Glanz.
Mit einem Wort, die Heilige Schrift berichtet darüber als über das
Großartigste, das man sagen kann.
Ich habe keine Geschichte und keinen Bericht gefunden, der geeig-
net wäre, euch die Herrlichkeit und die Glückseligkeit der Heiligen
zu schildern, als dieses Bankett des Königs Artaxerxes, weil diese
Glückseligkeit nichts anderes ist als ein Fest oder ein Gastmahl, zu
dem wir geladen sind (Lk 12,37; 14,15f; Offb 19,9) und bei dem jene,
die aufgenommen werden, mit jeder Art von Wonne gesättigt und er-
füllt werden. Gewiß, wenn ich dieses Gastmahl mit dem des Königs
Artaxerxes zu vergleichen beginne, finde ich, daß dieses nichts ist im
Vergleich mit jenem. Es gibt auch nichts, das ihm gleichkommen könn-
te. Bei diesem Gastmahl des Lammes ohne Makel, wie es der hl. Jo-
hannes (Offb 19,7-9; 1 Petr 1,19) nennt, findet sich alles, was wir bei
dem des Artaxerxes festgestellt haben, aber in einer viel großartigeren
Weise, weil bei ihm alle notwendigen Voraussetzungen zugleich er-

253
füllt sind, um ein Festmahl großartig und ganz bewundernswert zu
machen. Der es gibt, ist Gott selbst, der an Größe und Würde alles
überragt, was ist und sein kann. Und diese göttliche, königliche Per-
sönlichkeit nimmt am Festmahl teil; ja mehr noch, er ist selbst die
Speise (Joh 6,50f.56); er erquickt und sättigt die Geladenen und Aus-
erwählten durch die wunderbaren Mitteilungen seiner selbst. Anwe-
sende und Bedienende sind die Engel, Erzengel und die übrigen himm-
lischen Geister, die Gott zu diesem Dienst berufen und bestimmt hat.
Von der Schönheit des Ortes zu sprechen, an dem dieses Gastmahl
stattfindet, ist unmöglich. Aber wir werden die übrigen Dinge im ein-
zelnen erklären, die sich da befinden, und wir werden zu jedem und zu
den Umständen und Bedingungen ein Wort sagen, wenn Gott uns die
Gnade erweist, uns daran denken zu lassen.
Um mit dem Wichtigsten zu beginnen: Gott, der dieses Festmahl
gibt, der anwesend und selbst die Speise ist, die die Geladenen sättigt.
Denn hier ist das Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, sagt der
hl. Johannes (Joh 1,29); er ist das Lamm des Jeremia (11,9; Offb
5,6.12), das geschlachtet ist für die Sünden der Welt. Das ist Er, der sie
getilgt und hinweggenommen hat und der sich zur Speise seiner Aus-
erwählten macht. Nun ist es ganz klar und über jeden Zweifel und jede
Kontroverse erhaben, daß die Glückseligkeit der Seligen, wie sie die
Theologen lehren, in der Anschauung Gottes besteht, wie umgekehrt
die Strafe der Verdammten, die man Verdammnis nennt, im Verlust
dieser klaren Anschauung besteht. Über die wesentliche Glorie hin-
aus gibt es aber noch eine akzidentelle, die den Seligen zusätzlich
zuteil wird, wie die Verdammten über die Verdammnis hinaus noch
eine andere Strafe erleiden, die man Strafe der Sinne nennt.
Sagen wir ein Wort über die wesentliche Glorie, die darin besteht,
Gott unverhüllt zu sehen, so wie er ist (1 Joh 3,2), ohne Schatten und
Gleichnis. Man sieht in dieser Glorie so erhabene und kostbare Din-
ge, daß Gott in seiner unbegrenzten Allmacht keine größeren erschaf-
fen kann. Das erste ist die Gottheit, d. h. Gott selbst; das zweite ist die
Mutterschaft der seligsten Jungfrau; unserer erhabenen Mutter und
Herrin; das dritte ist die Glorie selbst, deren erhabener Gegenstand
Gott ist.
Was den ersten Gegenstand betrifft, der die wesentliche Glorie der
Heiligen ausmacht, die Gottheit, kann man nichts Größeres sehen
und kann es nichts Größeres geben, denn wie die Theologen sagen, ist
Gott ein Sein über allem Sein, ein ganz reiner und einfacher Akt.
Nichts ist größer als Gott in der Unendlichkeit seiner Macht und er

254
kann nichts erschaffen, was erhabener als er selbst wäre. Denn wenn er
irgendetwas Größeres oder Erhabeneres, als er selbst ist, erschaffen
könnte, wäre er nicht Gott, denn Gott ist ein Wesen über allen Wesen,
dem keines gleichen kann. Darin stimmen alle Theologen überein und
das ist so klar, daß es darüber nie irgendeinen Streit gab.
Das zweite ist die Mutterschaft der seligsten Jungfrau. Sie ist das
erhabenste Werk, das der allmächtige Herr in einem einfachen Ge-
schöpf vollbringen konnte; denn wie konnte er sie höher erheben als
dadurch, daß er sie zur Mutter Gottes machte, d. h. zu seiner eigenen
Mutter (Lk 1,35)?
Das dritte ist die Glorie, die größte Herrlichkeit, die es geben kann,
da sie zum Gegenstand Gott selbst hat, eine Klarheit und ein
ungeschaffenes Licht, durch das man jedes andere Licht sieht (vgl. Ps
36,10), das aus diesem hervorgeht wie aus seiner Quelle und als sei-
nem Ursprung, ohne es im geringsten zu vermindern.
Dieser drei so großen und überragenden Dinge nun erfreuen sich die
Seligen. Hier sehen sie von Angesicht zu Angesicht, klar und deutlich,
ohne Schatten, Bild und Gleichnis, Gott den Dreifaltigen und Einen,
nicht durch ein Rätsel (1 Kor 13,12), sondern so wie er ist, mit einer
Klarheit, daß man das Licht vom Licht sieht. In diesem Licht sehen sie
die Größe und Erhabenheit des Geheimnisses der Mutterschaft der
seligsten Jungfrau und sehen auch, welcher Art und wie groß die Glo-
rie ist, die Gott seinen Auserwählten schenkt. In dieser klaren An-
schauung Gottes kommen sie zur Erkenntnis und zum Verständnis
der übrigen hohen und unerforschlichen Geheimnisse, deren Erkennt-
nis sie mit solcher Freude erfüllt, daß sie eine größere nicht wünschen
und ersehnen können. Hier empfangen sie das volle, gerüttelte und
nach allen Seiten überfließende Maß (Lk 6,38), weil die Wonne und
der Jubel, deren sie sich in dieser wesentlichen Glorie erfreuen, sie
durch die Erkenntnis der tiefsten Geheimnisse überaus vollkommen
befriedigt. Ach, was denkt ihr, welche Wonne sie empfinden in der
klaren Schau des unaussprechlichen Geheimnisses der heiligsten Drei-
faltigkeit, des ewigen Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes?
Welche Freude zu begreifen, daß der Sohn nicht geringer ist als der
Vater, daß der Vater nicht größer ist als der Sohn, um Vater zu sein,
und daß der Heilige Geist in allem dem Vater und dem Sohn gleich ist!
Welche Wonne zu sehen, daß der Sohn ewig und ebenso alt ist wie der
Vater, und daß der Heilige Geist ebenso wie der Vater und der Sohn
ist, und daß die drei Personen, da sie ein gleiches Wesen haben, nur ein
einziger Gott sind.

255
Im Leben des gottseligen Ignatius, des Gründers der Jesuiten, habe
ich gelesen, daß Gott ihm eines Tages das unaussprechliche Geheim-
nis der anbetungswürdigen Dreifaltigkeit enthüllte. Durch diese Visi-
on empfing er soviel Klarheit und Licht in seinem Verstand, daß er
von da an die denkbar erhabensten Predigten hielt. Er verbrachte meh-
rere Tage damit, aufzuschreiben, was er erfahren hatte, und füllte meh-
rere Hefte mit den höchsten und subtilsten Dingen der Theologie. Das
zeigt, daß Gott ihn von diesen göttlichen Geheimnissen erkennen ließ,
was man in diesem Leben erkennen kann. Daher blieb diese Wahrheit
seinem Herzen und seinem Geist so tief eingeprägt, daß er von da an
eine einzigartige Verehrung für das heilige Geheimnis der anbetungs-
würdigen Dreifaltigkeit hatte, so daß er vor Freude verging, sooft er
sich daran erinnerte. Wenn schon dieser Heilige solchen Trost durch
diese Vision empfing, was meint ihr, wie groß die Freude der Seligen
sein muß in der klaren Schau dieses unaussprechlichen Geheimnis-
ses?
Sie sehen auch den unlösbaren Knoten, durch den die Menschheit
mit der Gottheit verbunden und vereinigt ist, das unvergleichliche
Werk der Inkarnation, in der Gott Mensch und der Mensch vergöttlicht
wurde. Sie erkennen klar, wie dieses Geheimnis verwirklicht wurde,
als das Wort im Schoß der seligsten Jungfrau den menschlichen Leib
annahm, ohne ihre Jungfräulichkeit im geringsten zu beeinträchtigen,
da sie ganz rein und fleckenlos blieb, ohne daß ihre jungfräuliche
Unversehrtheit irgendwie verletzt wurde. Welche Seligkeit und wel-
che Freude auch, die Früchte und den Nutzen des Empfangs der Sa-
kramente zu sehen. Denn da begreift man, wie durch sie die Gnade
sich mitteilt entsprechend der Empfänglichkeit, die man dazu mit-
bringt; wie die einen sie annehmen, die anderen sie zurückweisen; wie
Gott seine wirksame Gnade den einen gibt und sie anderen vorenthält,
ohne ihnen Unrecht zu tun. Wer kann sich vorstellen, mit welcher
Wonne die Seligen das alles erkennen?
Nun schauen sie nicht nur Gott, der ihre Glückseligkeit ist, sondern
sie hören ihn auch sprechen und sprechen mit ihm, und darin liegt
einer der vorzüglichsten Gründe ihrer Seligkeit. Aber welche Rede-
weise haben sie und welcher Sprache bedienen sie sich? Ihre Sprache
und Redeweise ist keine andere als die eines Vaters mit seinen Kin-
dern; sie ist ganz kindlich und liebevoll. Da dieser Ort die Wohnung
der Kinder Gottes ist, ist auch ihre Sprache ganz kindlich und voll
Liebe, denn der Himmel ist der Ort der Liebe, und niemand hat hier
Zutritt, der die Liebe nicht hat und Gott nicht liebt. Und welche Wor-
te der Liebe sagen sie? Solche wie diese: Du wirst immer bei mir sein

256
und ich immer bei dir; ich werde mich nie im geringsten entfernen; du
wirst von nun an ganz mir gehören und ich ganz dir; du bist ganz mein
und ich werde ganz dein sein. Von wem stammen diese Worte? Von
keinem anderen als von Gott selbst; er wird sie zum Herzen der treu-
en, glückseligen Seele sagen; sie wird mit gleicher Liebe als Antwort
die lieblichen, wonnevollen Worte der Braut (Hld 2,16; 6,2) sagen:
Mein Freund ist ganz mein und ich bin ganz sein. Er ist zur Stunde ganz
der Meine und ich werde von nun an die Seine sein. Wenn die Braut
diese Worte der Liebe mit solcher Wonne sagt, während sie noch in
diesem Tal des Elends weilt, o Gott, was glauben wir, welche Freude
und welcher Jubel wird die Seligen erfüllen bei dem Zwiegespräch,
das sie in der Glückseligkeit führen werden?
Hier wird ihnen Unser Herr die großen Geheimnisse enthüllen und
mit ihnen darüber sprechen, was er gelitten, was er für sie getan hat. Er
wird ihnen sagen: Damals habe ich das für dich gelitten. Er wird mit
ihnen über das Geheimnis der Menschwerdung sprechen, über ihre
Rettung und die Erlösung, und ihnen sagen: Das habe ich getan, um
euch zu erlösen und an mich zu ziehen. Ich habe euch so lange erwar-
tet und bin euch nachgegangen, als ihr widerspenstig wart, ich habe
euch mit sanfter Gewalt gedrängt, meine Gnaden anzunehmen. Ich
habe euch diese Regung und jene Einsprechung zu der Zeit gegeben;
ich habe mich jener bedient, um euch an mich zu ziehen. Mit einem
Wort, er wird ihnen seine geheimen Ratschlüsse und seine unerforsch-
lichen Wege (Röm 11,33) enthüllen, die er eingeschlagen hat, um sie
vom Bösen abzuhalten und sie für die Gnade empfänglich zu machen.
In dieser wesentlichen Glorie wird der Verstand ganz erfüllt sein von
klarer Erkenntnis, sowohl des Wesens und der Erhabenheit Gottes als
auch dessen, was der Erlöser für uns getan und gelitten hat, der Gna-
den, die er uns verliehen hat, wie auch der erhabensten und tiefsten
Geheimnisse der allerheiligsten Dreifaltigkeit, der Menschwerdung
und alles dessen, was die Gottheit und Menschheit Unseres Herrn
betrifft, ebenso bezüglich Unserer lieben Frau.
Wie ihr wißt, war der hl. Bernhard ganz erfüllt von Liebe und tiefer
Verehrung für Jesus Christus und seine hochheilige Mutter, ganz be-
sonders aber für die Menschheit des Erlösers, so daß er mit besonde-
rer Freude über seine heilige Kindheit betrachtete. Als er sich eines
Tages in der Kirche von Châtillon sur Seine in die Betrachtung der
heiligen Geburt Unseres Herrn vertiefte, waren sein Verstand und alle
seine Fähigkeiten so in ihre Schau verschlungen, so erfüllt von Trost
und Bewunderung, daß er davon völlig eingenommen war und mehre-
re Tage blieb, ohne sich losreißen und zurückziehen zu können, soviel

257
er sich auch bemühen mochte. In welchem Abgrund, ich bitte euch,
wird sich der Verstand des Menschen verlieren bei der klaren Schau
nicht nur der Geburt des Erlösers, sondern aller göttlichen Geheim-
nisse? Der Wille wird dann unlösbar mit seinem Gott vereinigt sein,
ohne ihm je irgendeinen Widerstand leisten zu können; vielmehr wird
er stets ohne jedes Widerstreben alles erfüllen, was seinem göttlichen
Willen entspricht.

Nun bleibt das Gedächtnis, das ganz erfüllt sein wird von Gott und
von allem Guten, das er uns in diesem Leben erwiesen hat, und selbst
von dem geringen Dienst, den wir ihm geleistet haben im Vergleich zu
dieser großen Belohnung und Vergeltung. Die Kräfte und Fähigkeiten
der seligen Geister werden so befriedigt sein, daß sie nichts wünschen
können über das hinaus, was sie besitzen. Ich werde sie speisen, sagt
Gott (Offb 2,17), mit himmlischem Manna, das sie sättigen wird; au-
ßerdem werde ich jedem einen Stein geben, auf den ein Name geschrie-
ben ist, den niemand kennt als jener, der ihn empfängt. Was ist dieser
weiße Stein, der der glückseligen Seele gegeben wird, anderes als Je-
sus Christus, der wahre Eckstein (Jes 28,16; 1 Petr 2,4.6), der sich
jedem Seligen schenkt durch die wonnevolle Mitteilung seiner selbst?
Was das Weiß dieses Steines betrifft, so ist es nichts anderes als die
strahlende Reinheit Unseres Herrn, des wahren Lammes ohne Makel
(1 Petr 1,19). Aber was wird das für ein Name sein, der in diesen Stein
eingeprägt ist? Es besteht gewiß kein Zweifel, daß wir gleichsam die
Lettern sind, die in die Menschheit des Erlösers eingeprägt wurden:
Er hat uns in seine Hände geschrieben (Jes 49,16), denn die Nägel, die
sie durchbohrten, haben uns in sie eingeprägt; ebenso hat er uns in
sein Herz geschrieben, als sie seine Seite öffneten.

Als ich diesen Abend darüber nachdachte, was ich euch sagen soll,
kam mir folgender Gedanke: Das Wort, das auf diesen weißen Stein
geschrieben ist, das niemand kennt als jener, der ihn empfängt, ist nichts
anderes als ein kindliches Wort, ein Wort der Liebe von der Art jener,
über die wir gesprochen haben: Ich bin ganz dein und du ganz mein;
du wirst dich nie von mir trennen und ich werde mich nie von dir
entfernen. Ach, meine teuersten Schwestern, darin liegt der Gipfel des
Glückes der Seligen, daß diese Glückseligkeit ewig sein und nie ein
Ende haben wird. Was bereitet denn in den Glücksfällen dieses Le-
bens mehr Freude als die Hoffnung, daß sie von langer Dauer sein
werden? Umgekehrt drückt und vermindert nichts so sehr die Freude
wie die Furcht, daß sie nicht lang währen und bald vorübergehen wer-

258
de. Die Seligen aber besitzen die Glückseligkeit mit einer vollkom-
menen Freude, frei von jeder Furcht und Sorge. Sie brauchen keine
Angst zu haben, das Gut zu verlieren, dessen sie sich erfreuen, denn
sie haben die Gewißheit, daß ihre Glorie ewig sein wird und ihnen nie
genommen werden kann (Lk 10,42).
Ihr habt sicher im Leben der gottseligen Mutter Theresia gelesen,
mit welcher Frömmigkeit sie das Credo der heiligen Messe hörte, wie
es die Kirche singt, besonders andächtig aber die Worte: cujus regni
non erit finis, die bedeuten: sein Reich wird ewig währen. Bei der Er-
wägung dieser Ewigkeit zerfloß sie ganz in Tränen außergewöhnlicher
Freude. Gewiß, ich habe diesen Zug im Leben dieser großen Heiligen
nie gelesen, ohne zutiefst gerührt zu sein, trotz meines Elends und
meiner Herzenshärte. Wenn nun der Gedanke, daß das Reich Gottes
ewig ist, im menschlichen Herzen solchen Jubel bewirkt, was meint
ihr, wie groß die Freude der himmlischen Geister sein muß über die
Gewißheit, die sie von der Ewigkeit ihrer Glorie haben? Das ist es,
was ich über die wesentliche Glorie der Seligen sagen wollte.
Sagen wir nun einige Worte zur akzidentellen Glorie. Wie wir gesagt
haben, kommt sie ihnen zusätzlich zu. Diese akzidentelle Glorie er-
gibt sich aus verschiedenen Dingen, vor allem aber aus der Anschau-
ung und klaren Schau aller Bewohner des Himmels. Ihr wißt, daß
nicht alle die Glorie in gleichem Maß besitzen, sondern in verschiede-
nen Graden: die einen haben sie in höherem Maß als die anderen,
trotzdem aber sind alle zufrieden und gesättigt. Die sie in geringerem
Maß besitzen, freuen sich über diejenigen, die mehr haben, denn im
Himmel ist die Liebe vollendet und es gibt dort weder Neid noch
Eifersucht (vgl. 1 Kor 13,4f); sie freut sich vielmehr über die Glorie
der seligen Bewohner, und durch diese Anteilnahme und Mitteilung
der einen an der Glückseligkeit der anderen sind alle befriedigt. Das
werdet ihr jedoch durch einige Beispiele besser verstehen.
Da ist ein guter Familienvater, der seine zwei Kinder in goldgewirktes
Tuch kleidet. Da die beiden aber nicht von gleicher Größe und Statur
sind, braucht man für das eine mehr Stoff als für das andere. Für das
eine braucht man davon sechs oder sieben Ellen, für das andere nur
drei oder vier. Wenn ihr sie anschaut, sind beide in goldgewirktes Tuch
gekleidet und sie sind zufrieden, zumal jedes genug für sein Gewand
hat. Obwohl der erste davon sieben Ellen und somit mehr als der mit
drei oder vier Ellen hat, hat dieser überhaupt keinen Neid gegen ihn,
weil sein Gewand soviel Tuch hat, als es braucht, um ihn zu kleiden.

259
Ebenso ist es mit der Seligkeit: alle sind glücklich über den Lohn und
ihren Anteil an der Glorie.
In diesem Leben vernehmen alle den Ton und Akkord einer Musik
verschieden. Wer etwas schwerhörig ist, kann in ihr nicht alles so gut
wahrnehmen, was die Melodie vollkommen macht, obwohl der die
Musik hört und erkennt, wie jener, der ein feineres Gehör hat. Obwohl
der erste sich an der Lieblichkeit erfreut, die er beim Hören dieser
Musik empfindet, empfindet er sie doch nicht im gleichen Maß wie
jener, der sie besser hört, obwohl beide befriedigt sind.
Die Sonne wird nicht von allen in gleicher Weise gesehen. Trotzdem
erfreuen sich alle ihres Lichtes und empfangen, soviel sie davon ver-
tragen können. Denn wer triefende Augen hat, kann die Sonnenstrah-
len nicht mit der gleichen Helligkeit wahrnehmen wie jener, der gute
Augen hat. Trotzdem sind die einen wie die anderen erfreut, obwohl
die Befriedigung der einen viel größer ist als die der anderen.
Über die Schönheit des Ortes zu sprechen, an dem das Festmahl
stattfindet, die auch ein Teil der akzidentellen Glorie ist, und über die
Würde derjenigen, die daran teilnehmen und dabei dienen, das würde
zu lange dauern, wollte man es beschreiben. Zudem wäre alles, was
man darüber sagen könnte, nichts im Vergleich zur Wirklichkeit. Die
Mutter Theresia bemüht sich bei der Beschreibung der Schönheit des
Himmels, einige Vergleiche zu finden, um manches verständlich zu
machen. Sie vergleicht also das Paradies mit einem großen Saal, der
ringsum bedeckt ist mit schönen Bildern und Spiegeln. Wenn man
sich nun, sagt sie, in einem dieser Spiegel betrachten will, wird man
diesen Spiegel sehen, in dem man sich betrachtet, und man wird sich
selbst sehen; und zugleich wird man mit einzigartigem Vergnügen alle
Bilder und alle Spiegel in diesem Saal sehen. Was aber noch mehr ist,
man wird darin auch alles wahrnehmen, was die anderen Spiegel im
einzelnen zeigen. Dieser Saal mit den Spiegeln ist ein schwaches Bild
des Himmels. Was ist denn dieser Spiegel, in dem man alles sieht,
wovon ich gesprochen habe, anderes als das Wesen Gottes, in dem
man ihn schaut und ihn selbst erkennt, so wie er ist? In diesem glei-
chen Wesen erkennt man sich selbst mit allem, was man empfangen
hat, und man sieht in ihm auch die Glorie aller anderen Heiligen, alle
ihre Verdienste, was sie alles getan und gelitten haben, und alle Gna-
den und Gunsterweise, die ihnen verliehen wurden. Man sieht auch
alle geschaffenen Dinge: wie Gott den Himmel erschaffen hat, ihn mit
Sonne und Mond geschmückt, ihn mit Sternen und allem bereichert

260
hat, was sich an ihm befindet; wie er die Erde geschaffen hat, prangend
in solcher Vielfalt von Blumen; mit einem Wort, wie er alles geschaf-
fen hat und wie er dabei vorging. Das alles wird ein Bestandteil dieser
akzidentellen Glorie sein, die aus der wesentlichen hervorgeht, wie
ihr seht.
Zur akzidentellen Glorie der Seligen gehört auch eine klare Schau
der Kerubim und Serafim, der Throne und Herrschaften, der Kräfte,
Mächte, Fürsten, Erzengel und Engel. Das sind die neun Chöre der
seligen Geister, eingeteilt in drei Ordnungen, unter denen sich die
Heiligen befinden. Sie werden den Glauben der Patriarchen bewun-
dern, den Gehorsam der Propheten, die Liebe der Apostel, den glü-
henden Eifer der Märtyrer, die Reinheit der Jungfrauen, die Demut
und Treue der Bekenner. Sie werden ihre Bußwerke erkennen, ihr Fa-
sten, ihre Nachtwachen und Abtötungen; schließlich wird die Voll-
kommenheit, Heiligkeit und Glorie aller Heiligen zur akzidentellen
Glorie aller insgesamt und jedes einzelnen im besonderen beitragen.
Darüber hinaus wird nach der Auferstehung unser Leib verherrlicht
sein (ich sage „unser“ Leib unter der Voraussetzung, die ich immer
mache, daß uns nämlich Gott die Barmherzigkeit erweist, zur Zahl
der Auserwählten zu gehören). Er wird wie unsere Seele die vier Ga-
ben der Glorie haben: die Einfachheit, die Behendigkeit, die Leidens-
unfähigkeit und die Herrlichkeit. Jetzt ist unsere Seele in unseren Leib
eingefügt, wenn man so sagen darf, der sie trägt und dahin zu gehen
nötigt, wohin er will, und sie scheint sozusagen irgendwie an seinem
Elend teilzuhaben (Weish 9,15). So werden bei der Wiedervereini-
gung der verherrlichten Seele mit dem Leib diesem die vier Gaben
und Kleinode der Glorie mitgeteilt, durch die sie ihn lenken und füh-
ren wird, wohin sie will, ohne daß er ihr irgendeinen Widerstand lei-
stet. Er wird eine so große Einfachheit besitzen, daß er durch kein
Hindernis aufgehalten wird; eine Behendigkeit, daß kein Pfeil schnel-
ler fliegt. Und wie er einfacher sein wird als der Strahl der Sonne, so
wird er ebenso behende sein wie die Regungen des Geistes und schnel-
ler als der Wind. Er wird die Leidensunfähigkeit besitzen, die in kei-
ner Weise verletzt oder verändert werden kann, so daß er nie einer
Krankheit oder Unpäßlichkeit unterworfen sein wird, und seine Klar-
heit wird schöner sein als die der Sonne (Mt 13,45). Mit einem Wort,
als Höhepunkt der Glückseligkeit werden die Seligen Gott gleich sein
(1 Joh 3,2), nämlich durch Teilhabe. Das lehrt uns die Heilige Schrift,
wenn sie (Ps 50,1) Unseren Herrn den Gott der Götter nennt, d. h. den
Gott all der kleinen Götter, der Heiligen, die im Paradies sind.

261
Ich wollte euch noch ein Wort zu all den anderen Dingen sagen, die
sich beim Gastmahl des großen Artaxerxes, Unseres Herrn, finden;
aber ich sehe, daß die Zeit vorangeschritten ist. Deshalb beende ich
diese Predigt, weil ich an einen anderen Ort gerufen bin, weil ich au-
ßerdem eure Geduld nicht mißbrauchen darf. Was bleibt mir noch zu
sagen, meine lieben Schwestern, als euch von neuem mit den Worten
des hl. Paulus aufzufordern, eure Herzen und eure Gedanken zu erhe-
ben zu den Gütern, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, keines
Menschen Herz empfunden, die Gott denen bereitet hat, die ihn lieben
(1 Kor 2,9) in diesem Leben. Strengt euren Verstand an, sie zu be-
trachten, meine lieben Schwestern, damit ihr durch die Schönheit und
die Vorzüge, die ihr dabei entdeckt, dahin kommt, sie zu lieben und zu
ersehnen. Entzieht eure Liebe allen geschaffenen und vergänglichen
Dingen dieses Lebens und befleißigt euch sorgsam zu tun, was notwen-
dig ist, um die unvergänglichen zu erlangen. Seid ausdauernd, das gött-
liche Geheimnis Unseres Herrn und unserer Erlösung zu betrachten
(Eph 1,9f; 3,3f.9), damit euer Wille es zu lieben beginnt durch die
Erkenntnis, die er davon erwirbt. Man muß ja dieses Gut auf Erden
lieben, um es ewig im Himmel zu lieben, weil es keinen Himmel gibt
für einen, der keine Liebe hat.
Spannt also euren Willen hier auf Erden an, ihn soviel als möglich
zu lieben. Es gibt keine Grenze und kein Maß für die Liebe. Die rechte
Art, Gott zu lieben, ist, ihn mehr als alles und über alles zu lieben.
„Das Maß“, sagt der hl. Bernhard, „ist, kein Maß zu haben.“ Erfüllt
euer Gedächtnis mit all diesen Dingen und richtet es auf Gott, indem
ihr ihm die Erinnerung und Vorstellung all dessen entzieht, was nicht
Gott ist; nährt es mit diesen göttlichen Geheimnissen, sowohl der
Kindheit des Erlösers als seines ganzen übrigen Lebens, seines Lei-
dens und Todes. Füllt es auch mit der Erinnerung an eure Fehler und
Untreuen, um euch zu demütigen und zu bessern; mit den Wohltaten,
die ihr von Gott empfangen habt, um ihm dafür zu danken. Und wenn
ihr Gnaden empfangen habt, dann erinnert euch an sie, um sie gut zu
pflegen und zu bewahren und euch dadurch für ihre Vermehrung und
ihr Wachstum bereit zu machen. Wirkt schließlich treu in diesem Le-
ben und seid beharrlich bis zum Ende (Mt 10,22; 24,13), auf daß ihr in
der ewigen Glückseligkeit den seligen Geistern zugezählt und mit ih-
nen vereinigt werden könnt, um die göttliche Majestät zu lieben und
euch ihrer zu erfreuen in alle Ewigkeit. Das ist es, was ich euch von
ganzem Herzen wünsche. Amen.

262
Zur Profeß am Freitag der Pfingstoktav

Nr. 18: 8. Juni 1618 IX,149-156

Das Fest, das wir in diesen Tagen feiern, ist ein sehr hohes, sowohl
wegen seines Alters als auch wegen der großen Geheimnisse, die es
enthält und die es uns vor Augen stellt. Ihr wißt vielleicht nicht, daß es
von Gott selbst eingesetzt wurde, als die Kinder Israels aus Ägypten
auszogen und aus der Knechtschaft befreit wurden. Der Herr ordnete
an, daß man aus Dankbarkeit fünfzig Tage nach Ostern das Pfingstfest
feierte als Danksagung für eine so große Wohltat. Um es feierlicher zu
gestalten, bestimmte er, was an diesem Tag nach seinem Willen ge-
schehen sollte, nämlich daß man im Tempel zwei Brote aus neuem
Weizen opferte, zwei Widder, kleine Lämmer und einen Ziegenbock
(Lev 23,15-21; Dtn 16,9-12). Er hatte angeordnet, am Osterfest Gar-
ben als Erstlingsgabe der Ernte zu opfern (Lev 23,10). Deshalb schnit-
ten die Alten auf ihren Feldern die ersten Ähren, die über die anderen
hinausragten, und an Pfingsten opferte man zwei Brote, die aus dem
bereits reifen Weizen bereitet waren.
Aber wozu soll das alles dienen, wenn nicht als Einleitung der Pre-
digt, die ich euch darüber halten will? Alle Christen werden bei ihrer
Taufe der göttlichen Majestät dargebracht wie die Garben am Oster-
fest. Pascha bedeutet nichts anderes als Übergang (Ex 12,11); und die
Menschen vollziehen bei ihrer Taufe einen sehr glücklichen Über-
gang, denn sie wechseln von der Tyrannei und Knechtschaft des Teu-
fels über zur Gnade der Annahme als Kinder Gottes (Röm 8,23; Eph
1,5; Kol 1,13). Sie sind wahrhaftig dargebracht als Garben, die zu
nichts taugen, wenn sie nicht geschlagen und zerrieben werden, damit
das Korn herausfällt, das von Stroh und tausend überflüssigen Dingen
umgeben ist. So sind wir nach der Taufe von tausenderlei Neigungen
zum Bösen umgeben; es ist aber um vieles schlimmer, wenn wir zu
unserem Unglück diesen schlechten Trieben und verderbten Neigun-
gen folgen. Wir nehmen die Gewohnheit des Bösen und der Laster an,
als ob es unmöglich wäre, das zu unterlassen, wozu unsere Natur und
die Versuchung uns verleiten.
Es gibt in der Tat Leute, die sagen: Es ist wahr, daß ich jähzornig bin,
aber was soll ich tun? Das ist meine Veranlagung. Wer sieht nicht die
Täuschung der Eigenliebe? Als ob es durch die Güte Gottes nicht in

263
unserer Macht stünde, uns zu überwinden, gegen unsere Neigungen
und nach der Vernunft zu leben, die uns lehrt, daß wir nicht auf sie
hören dürfen! Eine andere sagt: Es stimmt, daß ich ein wenig eitel bin;
aber ich neige dazu, mich zu putzen und Verlangen danach zu haben,
daß ich gelobt und geschätzt werde; ich wüßte nicht, was man da tun
soll. O Gott, man beachtet nicht, wozu die göttliche Güte zugelassen
hat, daß als Folge der Sünde unseres Stammvaters uns nach der Taufe
manche schlechten Neigungen geblieben sind, zumal uns in der Taufe
die hinreichende Gnade geschenkt wurde, uns zu überwinden. Seine
Absicht dabei ist nichts anderes, als uns Gelegenheit zu geben, daß wir
auf diese Weise mehr Verdienste erwerben, indem wir mutig daran
arbeiten, aus Liebe zu Gott uns selbst zu überwinden.

Dazu empfangen wir, nachdem wir den Gebrauch der Vernunft er-
langt haben, das Sakrament der Firmung, durch das wir uns unter das
Banner der göttlichen Majestät stellen, um als tapfere Soldaten für die
Verherrlichung seines Namens zu kämpfen. Nachdem die Christen
auf diese Weise gestärkt sind, bringen sie sich am Pfingstfest als Brote
dar, die mit dem neuen Weizen der unverbrüchlichen Vorsätze berei-
tet sind, die sie gefaßt haben, lieber zu sterben, als Gott freiwillig zu
beleidigen. Die Apostel aber haben diese Opfergabe viel vollständiger
und vollkommener als irgendein anderer dargebracht, da sie die Voll-
kommenheit viel vortrefflicher als jeder andere übten. Sie haben sich
Unserem Herrn dargebracht als gesegnete Garben zur Osterzeit, d. h.
als sie alles verließen, um ihm nachzufolgen (Mt 19,27). Gleichwohl
waren sie in der Tat Garben, die von viel Überflüssigem umgeben
waren; das sieht man deutlich daran, daß sie Sünden und Unvoll-
kommenheiten begingen, ja sogar ihren guten Meister verließen.

Aber dann, am Pfingstfest, waren sie die vollkommene Opfergabe,


da sie nicht mehr nur Garben darbrachten, sondern Brot, das im Feuer
der Gottesliebe gebacken ist. So sieht man, daß der Heilige Geist auf
sie herabkam in Gestalt feuriger Zungen (Apg 2,3), als wollte er sie zu
echten Brandopfern machen, ganz geheiligt und ohne Rückhalt dem
Dienst seiner Liebe geweiht; denn dieses heilige Feuer verzehrte in
ihnen alles Überflüssige, das sie mit sich selbst am Osterfest darge-
bracht hatten, d. h. als sie sich entschlossen, Unserem Herrn nachzu-
folgen.

Ihr wißt, um Brot zu bereiten, muß man das Mehl kneten, es mit
Wasser mischen und vermengen und schließlich backen. Bevor der
Teig gebacken wird, ist er geschmeidig und leicht zu formen, hernach

264
aber steif, fest und hart. So wurden die Apostel in der Zeit der Passion
gemahlen; als sie dann im Abendmahlssaal versammelt waren, wo sie
die Ankunft des Heiligen Geistes erwarteten, vermengten sie das Mehl
ihrer Entschlüsse mit dem Wasser der Betrübnis und Zerknirschung,
weil sie ihren Meister verlassen und ihn auf diese Weise in seinen
Ängsten allein gelassen hatten. Da waren sie also noch wie weicher,
knetbarer Teig, denn sie hätten ihn von neuem verlassen und seine
heilige Liebe verlieren können. Als aber der Heilige Geist in der Ge-
stalt des Feuers kam, machte er sie unwandelbar und unveränderlich
in der heiligen Liebe und machte den Teig ihrer Entschlüsse so fest,
daß sie diese nie mehr verlassen und verlieren konnten. Das sieht man
im weiteren Verlauf ihres Lebens, da sie sich für das Bekenntnis des
Glaubens opferten wie kleine Lämmer, die zur Schlachtbank geführt
werden (Ps 44, 22; Jes 53,7; Röm 8,36). Sie vollendeten die Opferga-
be noch, die Gott am Pfingstfest forderte. Sie opferten sich wie Böcke,
ich will sagen, sie verkehrten mit den Sündern und wollten für solche
gehalten werden wie die übrigen Menschen (Lk 18,11). Schließlich übten
die Apostel die Vollkommenheit nach dem Beispiel, das ihnen ihr
Herr und Meister gegeben hatte.
Zu dieser Opfergabe muß ich aber eine Erklärung geben. Die alten
Kirchenväter verstanden unter den zwei Broten die Unterscheidung
der affektiven und effektiven Liebe. Die anderen sagten, die zwei Bro-
te versinnbildeten unser eigenes Urteil oder den Verstand und unse-
ren eigenen Willen. Meiner Meinung nach ist das die bessere Ausle-
gung, und sie paßt mir besser. Die Widder, die man opfern mußte,
bedeuten unsere Einbildungskraft, die kleinen Lämmer unsere Nei-
gungen und der Ziegenbock unsere Keuschheit; durch sie entsagen wir
aus Liebe zu Gott allen sinnlichen Freuden, sogar den erlaubten und
zulässigen.
Seht also, wie außerordentlich gut die Apostel die Opfergabe in je-
der Form der Vollkommenheit darbrachten. Sie unterwarfen ihr Ur-
teil und ihren Willen vollständig durch den Gehorsam. Sie opferten
den Widder ihrer Einbildungskraft durch die Armut. Die Welt will uns
gewöhnlich glauben machen, daß Reichtum, Ehren und Bequemlich-
keit erstrebenswerte Güter seien. Die Apostel entsagten dieser Vor-
stellung für immer, indem sie die Armut als etwas sehr Schätzenswer-
tes erachteten. Sie opferten die Lämmlein aller Anhänglichkeiten, um
künftig keine andere mehr zu haben als die himmlische Liebe. Sie
opferten durch die Übung beständiger Keuschheit den Bock ihrer
Neigung, die sie zu sinnlichen und hinfälligen Freuden haben könn-
ten. Diese drei Tugenden wurden so geschätzt und als die drei wichtig-

265
sten erachtet, um die Vollkommenheit zu erwerben, so daß die ersten
Christen sie alle nach dem Vorbild der Apostel übten. Nachdem aber
die erste Glut erloschen war, waren es nur noch Bestimmte, die nach
dieser evangelischen Vollkommenheit strebten. Da es aber äußerst
schwierig war, sich ihr in der Welt zu widmen, verließen jene die Welt,
die dieses großmütige Unterfangen wagen wollten, und schlossen sich
im Kloster ein.
Damit bin ich nun bei dem Punkt, den ich zu behandeln vorhatte;
denn was wir bisher gesagt haben, dient alles nur dazu, um besser zu
verstehen, was ich davon ableiten will. Es ist sicher, daß alle Men-
schen, in welchem Beruf sie auch sein mögen, sich Unserem Herrn
weihen und hingeben können und müssen. Aber es ist ein großer Un-
terschied zwischen der Hingabe derjenigen, die in der Welt bleiben,
und jener der Menschen, die sie ganz verlassen, um sich ausschließlich
der Übung der göttlichen Liebe zu weihen.
Diese Seelen bringen sich vor allem in der Gestalt von Garben und
Ähren dar, umgeben von tausenderlei Einbildungen, Vorstellungen,
Leidenschaften und weltlichen Neigungen. Sie sind aber entschlossen,
sich unter den Händen des Gehorsams zerreiben und in der Mühle der
Abtötung mahlen zu lassen, um Brot zu werden, das geeignet ist, auf
den Tisch Unseres Herrn gelegt und ihm am Tag des ewigen
Pfingstfestes dargebracht zu werden. Dazu gibt man ihnen ein Probe-
jahr. Man täuscht sie nicht, indem man ihnen etwa Tröstungen ver-
spricht, obwohl die geringste, die sie verkosten, unvergleichlich mehr
wert ist als alle zusammen, die die Welt bietet. Man führt sie allmäh-
lich ein in die Übung eines beständigen Gehorsams, der Abtötung des
Eigenwillens, der Verleugnung des eigenen Urteils. Man spricht zu
ihnen nur „von der Abtötung der Sinne und aller menschlichen Nei-
gungen“ (Konst. 44); schließlich läßt man sie erkennen, wie eitel ihre
Vorstellungen sind, zu glauben, daß Besitz, Reichtum und Ehren er-
strebenswerte Güter seien. Man versucht alle ihre Neigungen umzu-
wandeln, damit sie nur noch solche für Gott und nach seinem heiligen
Willen haben. Schließlich versucht man sie im Verlauf ihres Noviziats-
jahres fähig zu machen, daß sie dieses letzte Opfer ihrer selbst dar-
bringen, in dem sie sich durch die Gelübde so eng mit der göttlichen
Majestät vereinigen, daß sie sich nie mehr von ihm lossagen können.
Dieser Dienst ist wahrhaftig ehrenvoller als die Würde von Königen
und Kaisern. Es stimmt, sie unterwerfen alle Fähigkeiten ihrer Seele,
alle ihre Wünsche, Neigungen und Leidenschaften, schließlich ihr gan-
zes Ich dem Gesetz der Vollkommenheit durch die beständige Übung
des Gehorsams gegen die Regeln und Konstitutionen ihres Ordens.

266
Aber das ist eine so milde und liebenswerte Unterwerfung, daß sie
tausendfach mehr Befriedigung schenkt als die Freiheit der Weltleute,
nach ihrem Willen zu leben. Diese Freiheit ist eigentlich eine Tyran-
nei, weil sie gewöhnlich dazu führt, daß sie tun, wovon ihr Gewissen
ihnen sagt, daß man es meiden muß, um Gott gemäß zu leben.
Wenn diese Seelen auf diese Weise vorbereitet sind, wie wir gesagt
haben, dann haben sie bereits die Gaben des Heiligen Geistes empfan-
gen (Jes 11,2f). Sie haben die Gabe der Weisheit empfangen, denn sie
haben verkostet, wie mild und lieblich der Herr ist (Ps 34,9; 86,5) und
wie liebenswert seine Wege sind (Ps 25,10; Spr 3,17), wenn auch hart
(Ps 17,4) und rauh nach menschlicher Auffassung. Sie haben die Gabe
des Verstandes empfangen, denn sie haben die Grundsätze der evange-
lischen Vollkommenheit verstanden: Inmitten von Reichtümern ha-
ben sie erkannt, wie kostbar die Armut ist; inmitten sinnenhafter Freu-
den haben sie die Keuschheit und Reinheit erwählt; inmitten von Ei-
genliebe und Eigenwillen die Selbstverleugnung, um sich dem Gehor-
sam zu unterwerfen. Sie haben die Gabe des Rates empfangen, denn
sie tun nichts nach ihrer eigenen Meinung und Regung, ohne vorher
Erleuchtung zu erbitten vom Herrn oder von jenen, die seine Stelle
einnehmen. Sie haben die Gabe der Stärke empfangen, um tapfer ge-
gen die Feinde der Ehre Gottes zu kämpfen und um ihren Entschluß
zu verwirklichen, sich selbst zu überwinden. Sie haben auch die Gabe
der Wissenschaft empfangen, denn sie schätzen das Glück höher, sich
Gott ausschließlich hinzugeben, als in der Welt zu bleiben. Schließ-
lich haben sie die Gabe der Frömmigkeit und der Furcht empfangen,
denn sie fliehen die Gelegenheiten, die Gottesliebe zu verlieren, de-
nen sie in der Welt begegnen könnten.
Wenn alle diese Gaben den Seelen so eingegossen sind, wie wir eben
gesagt haben, dann sind sie auch fest entschlossen, sie zu gebrauchen,
indem sie jede andere Lust zurückweisen außer der einen, zu verko-
sten, wie mild und lieblich der Herr ist und wie köstlich die Wege sind,
auf denen man zu ihm gelangt, d. h. auf denen wir uns mit seiner Maje-
stät vereinigen. Sie sind entschlossen, ihren Verstand nie mehr mit der
Erwägung irdischer und hinfälliger Dinge zu befassen, sondern mit
jener der ewigen Güter und mit der Erkenntnis Gottes und der Selbst-
erkenntnis. Sie folgen beharrlich den Ratschlägen jener, die Gott ih-
nen zu ihrer Leitung gegeben hat, und machen sich fügsam, um ihrem
Willen zu folgen. Sie sind entschlossen, die Werke starker und hoch-
herziger Seelen zu vollbringen, denn sie erheben keinen geringeren
Anspruch, als den höchsten Gipfel der christlichen Vollkommenheit

267
zu erreichen, ohne sich im Guten entmutigen zu lassen; vielmehr stüt-
zen sie sich und sichern sie sich die Gunst und Hilfe der göttlichen
Güte, die das Werk ihrer Vervollkommnung begonnen hat und vollen-
den wird (Phil 1,6), indem sie jene unterstützt, die ihr treu sind.

Sie werden sorgsam die Gabe der Wissenschaft gebrauchen, die da-
rin besteht, nach den echten Gütern zu streben und die falschen zu-
rückzuweisen. Mit ihrer Hilfe können sie die einen von den anderen
unterscheiden. Sie werden treu die Gabe der Frömmigkeit nützen,
indem sie Gott als ihren Vater betrachten und ehren, zumal er will,
daß wir mit diesem Namen alles Liebenswerte bezeichnen. Dann wer-
den sie alles tun, was in ihrer Macht steht, um ihm zu gefallen, indem
sie die Nächsten wie sich selbst als Kinder Gottes betrachten, folglich
als ihre Brüder, um vollkommen jede Form der Ehrerbietung und der
Liebesdienste gegen sie zu üben. Schließlich werden sie Gott unend-
lich fürchten, nicht mit einer knechtischen Furcht, sondern mit einer
Furcht, die aus der Liebe zu ihm hervorgeht; sie fürchtet nicht nur, ihn
zu beleidigen, sondern auch, ihm nicht genug zu gefallen. Diese lie-
bende Furcht wird ihnen als Ansporn dienen, um jeden Tag mehr in
der heiligen Liebe voranzukommen.

Aber sagt mir bitte, was fehlt diesen glücklichen Seelen noch, die
sich so bereitgemacht haben, um sich vollständig und ohne Rückhalt
dem Dienst der heiligen Liebe zu weihen? Einzig, daß der Heilige
Geist, der ihnen schon seine Gaben verliehen hat, jetzt in der Gestalt
des Feuers auf ihre Opfergabe herabkommt, um sie zu verzehren oder,
um besser unserer ersten Auslegung zu entsprechen, um die Brote zu
backen, die sie geknetet haben, da sie ganz bereit sind, in den Ofen
gelegt zu werden. Der Teig wurde während ihres Noviziatsjahres berei-
tet entsprechend den Entschlüssen, die sie gefaßt hatten, sich zerrei-
ben und mahlen zu lassen, sowohl durch den heiligen Gehorsam wie
durch die Abtötung ihres eigenen Urteils und Willens; sie sind ja die
zwei Brote, die Unser Herr von den Ordensleuten fordert. Diese See-
len sind auch entschlossen, ihre Vorstellung und Einbildungskraft zu
unterwerfen, die einem Widder gleich zwischen den irdischen Dingen
hin- und hergeht; ebenso haben sie alle ihre Wünsche auf einen be-
schränkt, auf den nach Gott.

In Verbindung mit den Gelübden, die sie gleich ablegen werden,


durch die sie sich für den Rest ihres Lebens zur Übung dessen ver-
pflichten, was wir eben gesagt haben, sind diese ersten Entschlüsse das
heilige Brot, das gebacken, gefestigt, haltbar und unveränderlich ge-

268
macht werden muß durch das heilige Feuer des Heiligen Geistes, die
Liebe unserer Seelen. Dann wird die göttliche Majestät an ihm ihr
Verlangen stillen wie an einem köstlichen Gericht beim Festmahl der
Ewigkeit. Als Vergeltung wird sie euer Verlangen sättigen mit ihrem
göttlichen Wesen; das ist die einzige Speise, die ewige Befriedigung
der Glückseligkeit, zu der uns alle seine erhabene Güte zu seiner Ver-
herrlichung führen möge. Amen.

Zum Fest der Heimsuchung Mariä

Nr. 19: 2. Juli 1618 IX,157-169

Exsurgens Maria, abiit in montana cum


festinatione, in civitatem Juda.
Maria machte sich auf und ging eilends ins Gebir-
ge, in eine Stadt in Judäa (Lk 1,39).

Unsere überaus liebenswerte und nie genug geliebte Frau und Her-
rin, die glorreiche Jungfrau, hatte kaum ihre Einwilligung zu den
Worten des heiligen Erzengels Gabriel gegeben, da erfüllte sich in ihr
das Geheimnis der Menschwerdung. Als sie vom gleichen hl. Gabriel
erfuhr, daß ihre Base Elisabet in ihrem Alter einen Sohn empfangen
hatte (Lk 1,36), da wollte sie diese aufsuchen, da sie ihre Verwandte
war, in der Absicht, ihr zu dienen und ihr in der Zeit ihrer Schwanger-
schaft beizustehen, denn sie wußte, daß dies der Wille Gottes war.
Und sogleich, sagt der heilige Evangelist, verließ sie Nazaret, eine
kleine Stadt in Galiläa, wo sie wohnte, um sich nach Judäa zum Haus
des Zacharias zu begeben. Abiit in montana, sie stieg in das Gebirge
von Judäa hinauf und unternahm die Reise, obwohl sie lang und schwie-
rig war. Wie einige Autoren sagen, war die Stadt, in der Elisabet wohn-
te, 27 Meilen von Nazaret entfernt; andere sagen, etwas weniger. Es
war jedenfalls ein recht beschwerlicher Weg für diese zarte und schwa-
che Jungfrau, weil er quer durch das Gebirge führte.
Sobald sie also die göttliche Eingebung vernahm, machte sie sich
dorthin auf den Weg, nicht etwa gedrängt durch irgendeine Neugierde,
um zu sehen, ob auch wirklich wahr sei, was ihr der Engel gesagt hatte.
Daran zweifelte sie in keiner Weise, sondern sie war sicher, daß es sich
so verhielt, wie er ihr erklärt hatte. Trotzdem wollten einige unterstel-
len, daß bei ihrem Vorhaben die Neugierde eine gewisse Rolle ge-
spielt habe. Es war ja wirklich ein unerhörtes Wunder, daß die hl.

269
Elisabet, die nie ein Kind hatte und unfruchtbar war, in ihrem Alter
empfangen hat. Oder es könnte sein, sagen sie, daß sie irgendeinen
Zweifel daran hatte, was ihr der Engel sagte. Dem war nicht so, der hl.
Lukas rügt und widerlegt sie durch das Wort (1,45), das die hl. Elisabet
ausrief, als sie die seligste Jungfrau eintreten sah: Selig bist du, die du
geglaubt hast. Es war also weder Neugierde noch irgendein Zweifel an
der Schwangerschaft der hl. Elisabet, die sie zu dieser Reise veranlaßt
hätten, vielmehr mehrere sehr schöne Erwägungen; davon will ich ei-
nige aufgreifen.
Sie ging hin, um das große Wunder oder die große Gnade zu sehen,
die Gott dieser betagten und unfruchtbaren Frau erwiesen hatte, daß
sie trotz ihrer Unfruchtbarkeit einen Sohn empfing. Sie wußte ja sehr
wohl, daß es im Alten Bund eine Schande war, unfruchtbar zu sein. Da
aber die gute Frau alt war, ging sie auch hin, um ihr in ihrer Schwan-
gerschaft zu dienen und ihr jede Erleichterung zu verschaffen, die ihr
möglich war. Zweitens geschah es, um ihr das tiefe Geheimnis der
Menschwerdung mitzuteilen, das sich in ihr verwirklicht hat. Unserer
lieben Frau war ja nicht unbekannt, daß ihre Base Elisabet ein gerech-
ter Mensch war (Lk 1,6), sehr gut, gottesfürchtig, und die Ankunft des
Messias sehnlich erwartete, der im Alten Bund verheißen war, um die
Welt zu retten. Es mußte für sie ein großer Trost sein zu erfahren, daß
sich die göttlichen Verheißungen erfüllt haben und daß die von den
Propheten und Patriarchen ersehnte Zeit gekommen war. Drittens ging
sie auch hin, um Zacharias die Sprache wiederzugeben, die er durch
seinen Unglauben gegenüber der Vorhersage des Engels verloren hat-
te, als er ihm ankündigte, daß seine Frau einen Sohn empfangen wer-
de, der Johannes heißen soll. Viertens wußte sie, daß dieser Besuch
dem Haus des Zacharias eine Fülle des Segens bringen werde, der bis
auf das Kind im Schoß der hl. Elisabet überströmen wird, das durch
ihre Ankunft geheiligt werden soll. Das sind die Gründe, und ich könnte
noch mehrere hinzufügen; aber ich käme damit nie zu Ende.
Meint ihr übrigens nicht, meine teuersten Schwestern, was unsere
glorreiche Herrin vor allem veranlaßte, diese Reise zu machen, das
war ihre überaus glühende Liebe und eine sehr tiefe Demut, die sie so
geschwind und bereitwillig in das Gebirge von Judäa gehen ließ? Ge-
wiß, meine lieben Schwestern, das waren die beiden Tugenden, die sie
drängten, ihr kleines Haus in Nazaret zu verlassen, denn die Liebe ist
nicht untätig. Sie wogt in den Herzen, in denen sie wohnt und herrscht.
Die allerseligste Jungfrau war von ihr ganz erfüllt, da sie die Liebe
selbst in ihrem Schoß trug. Sie besaß davon nicht nur ständige Akte
der Liebe zu Gott, mit dem sie durch die denkbar vollkommenste

270
Liebe verbunden war, sondern sie besaß die Liebe zum Nächsten in
einem Grad höchster Vollkommenheit, die sie das Heil der ganzen
Welt und die Heiligung der Seelen glühend wünschen ließ. Da sie wußte,
daß sie zur Heiligung des hl. Johannes im Schoß der hl. Elisabet bei-
tragen konnte, ging sie mit großer Emsigkeit hin. Ihre Liebe drängte sie
auch, sich mit der guten Greisin darüber zu freuen, da der Herr sie mit
so großem Segen bedacht hat, daß die Unfruchtbare empfing und den
trug, der der Vorläufer des Mensch gewordenen Wortes werden sollte.
Sie ging also, um sich mit ihrer Base zu freuen und sich mit ihr
gegenseitig zum Lob Gottes zu ermuntern, der über beide so viele
Gnaden ausgegossen hat; über die Jungfrau, daß sie durch das Wirken
des Heiligen Geistes den Sohn Gottes empfing (Lk 1,35); über die hl.
Elisabet, die unfruchtbar war, daß sie auf wunderbare Weise durch
eine besondere Gnade den empfing, der der Vorläufer des Messias
sein sollte. Es wäre nicht angemessen gewesen, wenn jener, der erwählt
war, dem Herrn die Wege zu bereiten (Lk 1,76), von der Sünde befleckt
war. Deshalb eilte Unsere liebe Frau, damit er geheiligt werde und
damit das heilige Kind, das Gott war, dem allein die Heiligung der
Seelen zukam, bei diesem Besuch auf die Seele des glorreichen hl.
Johannes einwirken, ihn reinigen und von der Erbsünde befreien konn-
te. Das geschah so vollkommen, daß manche Theologen kühn behaup-
ten, daß er nie eine läßliche Sünde beging, obwohl einige andere an
der gegenteiligen Meinung festhalten.
Die Liebe war also die Ursache, daß die allerseligste Jungfrau bei
dieser Heiligung mitwirkte. Aber es ist kein Wunder, daß ihr heiliges
Herz ganz erfüllt war von Liebe und vom Verlangen nach dem Heil
der Menschen, da sie in ihrem keuschen Schoß die Liebe selbst trug,
den Heiland und Erlöser der Welt. Mir scheint, daß man auf sie die
Worte des Hoheliedes (7,5) anwenden muß: Dein Haupt gleicht dem
Berg Karmel. Seht, wenn der göttliche Bräutigam die Schönheit seiner
Braut im einzelnen beschreibt, beginnt er mit ihrem Haupt. Was aber
will der göttliche Liebhaber damit sagen, wenn er das Haupt seiner
Vielgeliebten mit dem Berg Karmel vergleicht? Der Berg Karmel ist
ganz bunt von überaus duftenden Blumen, und die Bäume, die auf ihm
wachsen, strömen nur Wohlgerüche aus. Was bedeuten diese Blumen
und diese Wohlgerüche anderes als die Liebe? Sie ist eine überaus
schöne und duftende Tugend, die nie allein in einer Seele ist. Man
wendet diese Worte des Hoheliedes wohl auf die Kirche an, die wahre
Braut Unseres Herrn; in ihr finden sich wie auf dem Berg Karmel in
Fülle alle Arten von Blumen der Tugenden und sie ist ganz duftend
von Heiligkeit und Vollkommenheit. Man kann das aber auch von der

271
heiligen Jungfrau sagen, denn sie ist die getreue Braut des Heiligen
Geistes. Da sie nun die Liebe in solcher Vollendung besaß, glich sie
dem Berg Karmel durch die häufigen Akte der Liebe sowohl gegen
Gott als gegen den Nächsten; und diese Liebe verströmte wie ein Duft-
baum überaus angenehmen Duft und Süßigkeit.
Aber die Rabbiner und einige andere scheinen noch deutlicher zu
machen, daß der göttliche Bräutigam die Liebe meint, wenn er vom
Haupt seiner Vielgeliebten spricht; sie übersetzen nämlich: Dein Haupt
gleicht dem Scharlach. An anderer Stelle (Hld 4,3; 6,6) werden die
Wangen der Braut mit den Kernen des Granatapfels verglichen, die
ganz rot sind. Was ist das alles, wenn nicht das natürliche Sinnbild der
Liebe in der seligsten Jungfrau? Sie besaß ja nicht nur die Liebe, son-
dern hatte sie in solcher Fülle empfangen, daß sie die Liebe selbst war.
Sie hatte jenen empfangen, der ganz Liebe ist und sie selbst zur Liebe
machte. Deshalb kann man auf sie besser als auf irgendjemand die
folgenden Worte des Hoheliedes (2,7; 3,5) anwenden. Als der heilige
Bräutigam seine Vielgeliebte in ihrer lieblichen Ruhe betrachtete,
wurde er von heiligem Wohlgefallen erfüllt, das ihn veranlaßte, die
Töchter Jerusalems zu beschwören, sie ja nicht zu wecken; er sagte:
Töchter Jerusalems, ich beschwöre euch bei den Zicklein und Ziegen
des Feldes, weckt meine Vielgeliebte nicht, die in der Liebe ist, bis sie
will oder es wünscht. Und warum? Weil sie in der Liebe ist. Nach einer
anderen Version heißt es: Töchter Jerusalems, ich beschwöre euch,
weckt die Liebe selbst nicht, bis sie es will. Diese Liebe ist meine Viel-
geliebte, d. h. die heilige Jungfrau, die nicht nur die Liebe besitzt,
sondern selbst die Liebe ist. Sie ist es, auf die Gott mit ganz besonde-
rem Wohlgefallen geschaut hat. Denn wer konnte Unserem Herrn ge-
fallen wie jene, die alle Arten der Tugend in vollem Maß besaß? Zu-
sammen mit der Liebe war sie ausgestattet mit einer tiefen Demut, wie
die Worte zeigen, die sie sprach, als die hl. Elisabet sie pries: Da Gott
auf die Demut seiner Magd geschaut hat, werden alle Nationen sie rüh-
men und seligpreisen (Lk 1,48).
Um aber unseren Geist vor jeder Verwirrung zu bewahren, wollen
wir erklären, wie diese Worte zu verstehen sind. Mehrere Theologen
meinen, als Unsere liebe Frau sagte, daß der Herr auf die Demut sei-
ner Magd schaute, wollte sie nicht von der Tugend der Demut spre-
chen, die in ihr war. Unter denen, die diese Meinung vertreten, findet
man Maldonat und einige andere. Sie sagen: obwohl die seligste Jung-
frau eine tiefe Demut besaß, hielt sie sich nicht für demütig und wollte
noch weniger von der Demut sprechen, weil ein solches Wort gegen
die Demut selbst gewesen wäre. Wenn sie sagt: Er hat auf die Demut

272
seiner Magd geschaut, wollte sie damit vielmehr die Nichtswürdig-
keit, die Armseligkeit und Niedrigkeit bezeichnen, die sie in sich sah,
in dem, was ihrer Natur und dem Nichts entsprach, aus denen sie her-
vorgegangen war. In diesem Sinn versicherte sie, daß Gott auf die De-
mut seiner Magd geschaut hat; denn, sagen diese Theologen, der wahr-
haft Demütige glaubt und sieht nie, daß er die Tugend der Demut be-
sitzt.
Andere vertreten die gegenteilige Meinung, und sie ist die wahr-
scheinlichere. Sie denken, daß Unsere liebe Frau von der Tugend der
Demut sprechen wollte und klar erkannte, daß diese Tugend es war,
die den Sohn Gottes ihren Schoß wählen ließ. Es gibt also keinen
Zweifel daran, daß sie diese Tugend in sich sah, und das ohne die
Gefahr, sie zu verlieren; sie erkannte ja, daß die Demut, die sie in sich
sah, nicht von ihr stammte. Bekannte nicht der große heilige Apostel
Paulus, daß er die Liebe besaß, uzw. mit so sicheren Worten, daß er
eher anmaßend als demütig zu sprechen scheint? Er sagte (Röm 8,35-
39): Wer wird mich von der Liebe Christi trennen? Etwa Ketten, Trüb-
sale, der Tod, das Kreuz, das Feuer, das Schwert? Nein, nichts vermag
mich von der Liebe Gottes zu scheiden, die in Jesus Christus ist. Seht
ihr, mit welcher Sicherheit der Apostel spricht? Wenn er bekennt, daß
nichts ihn von der Liebe Gottes zu trennen vermag, muß er also glau-
ben, daß er die Liebe besitzt. Gewiß, daran besteht kein Zweifel, zu-
mal man seine Worte, Wer wird mich von der Liebe Gottes trennen?,
dahin verstehen muß: mit Hilfe der Gnade Gottes. So ermangelte auch
die seligste Jungfrau nicht der Demut, noch beging sie den geringsten
Fehler gegen sie, als sie versicherte, daß Gott auf die Demut seiner
Magd geschaut hat, ebensowenig wie der hl. Paulus, als er ausrief: Wer
könnte mich von der Liebe trennen? Sie wußte ja, daß unter allen ande-
ren Tugenden diese das Herz Gottes rührt und anzieht.
Nachdem der Bräutigam im Hohelied seine Braut im einzelnen be-
trachtet hatte, richtete er seinen Blick auf ihre Schuhe und auf ihren
Gang. Das befriedigte ihn so sehr, daß er bekannte, darin ganz verliebt
zu sein: Deine Schuhe gefallen mir, sagt er (Hld 7,1); welche Anmut ist
in deinem Schreiten! In der Heiligen Schrift lesen wir auch (Jdt 10,3;
16,10f), daß Judit besonders schön geschmückt war, als sie Holofernes
aufsuchte. Ihr Gesicht war von der denkbar köstlichsten Schönheit,
ihre Augen leuchteten, ihre Lippen waren purpurrot, ihre Haare fielen
in Locken auf die Schultern. Trotzdem war Holofernes weder von den
Augen Judits eingenommen noch von ihren Lippen und ihren Haaren
noch von irgendetwas, was ich euch an ihr hätte beschreiben können.

273
Als er aber seinen Blick auf ihre Sandalen und ihre Schuhe richtete,
war er davon ganz hingerissen und gerührt. Wir können uns ja denken,
daß sie besonders geschmackvoll mit Gold verziert waren. Ebenso
betrachtete Unser Herr wohl die Vielfalt und Schönheit der Tugenden
Unserer lieben Frau, die sie überaus schön machten; als aber der ewi-
ge Vater seine Augen auf ihre Sandalen oder Schuhe richtete, war er
davon so ergriffen, daß er sich dadurch bestimmen ließ und ihr seinen
Sohn sandte, der in ihrem keuschen Schoß Mensch wurde.
Was sind diese Sandalen oder Schuhe der seligsten Jungfrau anderes
als ihre Demut, versinnbildet durch die Schuhe? Sie sind der geringste
Schmuck, dessen man sich zur Zierde des Leibes bedient, denn sie
sind stets der Erde nahe, treten in Schmutz und Schlamm. Das ist auch
der Demut eigen, wenn sie echt sein soll, da sie stets niedrig, klein und
jedermann zu Füßen ist. Sie ist der Boden und das Fundament des
geistlichen Lebens, denn sie will immer nahe der Erde, ihrer Nichtig-
keit und Niedrigkeit sein. Auf diese Niedrigkeit schaute Gott bei der
heiligen Jungfrau, und davon ging all ihr Glück aus. Sie sagt ja, daß sie
deshalb seliggepriesen wird von allen Geschöpfen, von Geschlecht zu
Geschlecht. Als nun Unsere liebe Frau sagte, daß Gott auf ihre Demut
geschaut hat, dachte sie an sich ihrer Natur und ihres Wesens wegen,
und das bewirkte, daß sie sich demütigte.
Der Glaube Abrahams war so groß, daß er die Gaben Gottes in sich
nicht verkennen konnte. Wie in der Genesis (18,27) berichtet wird,
bekannte er dennoch, daß er nichts anderes sei als Staub und Asche.
Unser Herr sagt von sich selbst (Ps 22,7), er sei ein Wurm und kein
Mensch. Als die seligste Jungfrau ihr ganz heiliges und ganz reines
Leben erwog, fand sie es gut; und da sie in sich die Demut sah, konnte
sie in diesem Sinn sagen, daß Gott auf ihre Demut geschaut hat. Da sie
aber andererseits ihre Nichtigkeit sah, sagte sie, daß er auf ihre Nied-
rigkeit geschaut hat, auf ihr Klein- und Verächtlichsein, und daß sie
deswegen seliggepriesen wird.
Sowohl in dem einen wie im anderen Sinn sprach sie nun mit so
großer Demut, daß sie klar erkennen ließ, sie habe all ihr Glück darin
gefunden, daß Gott seine Augen auf ihr Kleinsein richtete. Man kann
deshalb auf sie die Worte des Hoheliedes (1,11) anwenden: Dum esset
Rex in accubito suo, nardus mea dedit odorem suum.* Meine Vielge-
liebte ist für mich ein Narde, die einen sehr starken Duft verbreitet.
Die Narde ist ein kleiner Strauch, der einen überaus lieblichen Duft

* Während der König auf seinem Lager ruhte, gab meine Narde ihren Duft.

274
ausströmt. Er erhebt sich nicht in die Höhe wie die Zedern des Liba-
non, sondern bleibt niedrig und gibt einen Duft von solcher Lieblich-
keit von sich, daß er alle erquickt, die ihn riechen. Diese kostbare
Narde war die heilige und allerseligste Jungfrau; sie hat sich nie er-
höht wegen irgendetwas, was ihr geschah oder gesagt wurde; wie die
Narde hat sie vielmehr in ihrer Niedrigkeit und ihrem Kleinsein den
Duft eines so lieblichen Wohlgeruchs verbreitet, daß er bis zum Thron
der göttlichen Majestät emporstieg. Gott war von ihm so gerührt und
erfreut, daß er den Himmel verließ, um auf die Erde herabzukommen
und im reinsten Schoß dieser unvergleichlichen Jungfrau Mensch zu
werden.
Ihr seht also, meine teuersten Schwestern, wie wohlgefällig Gott die
Demut ist. Die glorreiche Herrin wurde zur Mutter Unseres Herrn
erwählt, weil sie demütig war. Das bestätigte ihr göttlicher Sohn selbst.
Als jene gute Frau das Wunder sah, das er eben gewirkt hatte, und das
Murren der Juden hörte, da erhob sie sich und rief mit lauter Stimme:
Selig der Schoß, der dich getragen, und die Brüste, die dich genährt
haben! Darauf antwortete der Heiland: Seliger noch sind jene, die das
Wort Gottes hören und es bewahren (Lk 11,27f). Damit wollte er sa-
gen: Es ist wahr, daß meine Mutter sehr glücklich ist, weil sie mich in
ihrem Schoß getragen hat; aber sie ist es noch mehr durch die Demut,
mit der sie die Worte meines himmlischen Vaters gehört und sie be-
wahrt hat. An einer anderen Stelle heißt es: Als man ihm mitteilte, daß
seine Mutter nach ihm fragte, antwortete der göttliche Meister, daß
jene seine Mutter, seine Brüder und Schwestern sind, die den Willen
meines Vaters tun (Mt 12,47-50). Nicht daß er seine Mutter verleug-
nen wollte, vielmehr wollte er zu verstehen geben, daß sie Gott nicht
nur wohlgefällig war, weil sie ihn in ihrem Schoß getragen hat, son-
dern viel mehr durch die Demut, mit der sie seinen Willen in allem
erfüllte.
Doch ich sehe, daß die Zeit vergeht. Deshalb will ich diese Betrach-
tung beenden und die kurze Zeit, die noch bleibt, der Begebenheit des
heutigen Evangeliums widmen. Sie ist ja, wie mir scheint, außeror-
dentlich schön und sehr lieblich anzuhören. Der Evangelist sagt also,
die selige Jungfrau machte sich eilends auf den Weg und ging in das
Gebirge von Judäa. Damit will er die rasche Bereitschaft zeigen, mit
der man den göttlichen Eingebungen Folge leisten muß; denn es ist
dem Heiligen Geist eigen, wenn er an ein Herz rührt, daraus alle Lau-
heit zu vertreiben. Er liebt die rasche Bereitschaft; er haßt die Verzö-
gerung und den Aufschub in der Erfüllung des göttlichen Willens.
Exsurgens Maria, sie erhob sich sogleich und ging eilends in das Gebir-

275
ge von Judäa. Das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, behinderte
sie in keiner Weise, denn es war nicht mit anderen zu vergleichen.
Folglich empfand die seligste Jungfrau nicht die Beschwerden wie
andere Frauen, die schwerfällig sind und schlecht gehen können we-
gen der Last des Kindes, das sie tragen, weil diese Kinder Sünder sind.
Das Kind Unserer lieben Frau aber war kein Sünder, sondern der Er-
löser der Sünder, der kam, um die Sünde der Welt hinwegzunehmen
(Joh 1,29). Deshalb fühlte sie sich durch ihn nicht belastet, sondern
leichter und beschwingter. Sie ging auch eilends, weil ihre jungfräuli-
che Reinheit sie dazu antrieb, um bald geborgen zu sein; denn die
Jungfrauen sollen im Verborgenen bleiben und sich so wenig wie mög-
lich im Getümmel der Welt aufhalten.
Intravit Maria. Sie betrat das Haus des Zacharias und grüßte ihre
Base Elisabet (Lk 1,40). Sie küßte und umarmte sie. Seht, ich folge
rasch dem Evangelium, denn die Zeit ist vorangeschritten. Der hl.
Lukas sagt wohl, daß sie Elisabet grüßte, von Zacharias dagegen sagt
er das nicht; denn die Jungfräulichkeit erlaubte Unserer lieben Frau
nicht, Männer zu grüßen. Sie wollte uns damit auch zeigen, daß die
Jungfrauen nie zu viel bedacht sein können, ihre Reinheit zu bewah-
ren. Es gibt dafür tausend schöne Belege, aber ich will weitergehen
und die Geschichte zu Ende erzählen. Welche Gnaden und Gunster-
weise, denkt ihr, meine lieben Schwestern, kamen über das Haus des
Zacharias, als die seligste Jungfrau eintrat? Abraham empfing so viele
Gnaden, weil er drei Engel in seinem Haus beherbergte (Gen 18);
Jakob brachte Laban so viel Segen (Gen 29), obwohl er ein schlechter
Mensch war; Lot wurde vor der Zerstörung Sodoms gerettet, weil er
drei Engel aufgenommen hatte (Gen 19); der Prophet Elija füllte alle
Gefäße der armen Witwe (1 Kön 17,10-16); Elischa erweckte das Kind
der Schunemitin wieder zum Leben (2 Kön 4); schließlich empfing
Obed-Edom so viele Gunsterweise des Himmels, weil er die Bundes-
lade bei sich geborgen hatte (2 Sam 6,10f). Welche Gnaden und wel-
che Fülle himmlischen Segens kamen erst über das Haus des Zachari-
as, in das der Engel des großen Ratschlusses (Jes 9,6 nach Sept.) ein-
trat, der wirkliche Jakob und göttliche Prophet, die wahre Bundesla-
de, Unser Herr im Schoß Unserer lieben Frau!
Gewiß, das ganze Haus wurde erfüllt von Freude: das Kind hüpfte
vor Freude, der Vater gewann die Sprache wieder, die Mutter wurde
vom Heiligen Geist erfüllt und erhielt die Gabe der Weissagung, denn
als sie die heilige Jungfrau ihr Haus betreten sah, rief sie aus: Woher
kommt mir, daß die Mutter meines Gottes mich heimsuchen kommt

276
(Lk 1,41-44.64)? Seht ihr, sie nennt Maria Mutter, ehe sie geboren hat.
Das entspricht nicht dem allgemeinen Brauch, denn man nennt die
Frauen nicht Mutter, bevor sie ein Kind geboren haben, weil sie häufig
eine Fehlgeburt haben. Elisabet aber wußte sicher, daß die seligste
Jungfrau eine glückliche Niederkunft haben werde; deshalb zögert sie
nicht, sie Mutter zu nennen, ehe sie es ist, denn sie ist sicher, daß sie es
sein wird, und nicht nur Mutter eines Menschen, sondern Gottes, folg-
lich Königin der Menschen und der Engel. Deshalb ist sie erstaunt,
daß eine so hohe Fürstin sie heimsucht.
Darauf sagt sie (Lk 1,45.42): Glückselig bist du, hohe Frau, weil du
geglaubt hast; und weiter: Du bist gebenedeit über alle Frauen. Daraus
ersehen wir, in welchem Grad sie die Gabe der Weissagung empfan-
gen hat, denn sie spricht von vergangenen, gegenwärtigen und zukünf-
tigen Dingen. Glückselig bist du, weil du geglaubt hast, was dir der
Engel gesagt hat, denn damit hast du gezeigt, daß du mehr Glauben
hast als Abraham. Du hast geglaubt, daß die Jungfrau und die Un-
fruchtbare empfangen werden, denn das ist etwas, was den Lauf der
Natur übersteigt. Das also wußte sie in prophetischem Geist von der
Vergangenheit. Von der Zukunft sah sie durch den gleichen Geist, daß
die seligste Jungfrau gebenedeit unter allen Frauen sein wird, und sie
verkündete es. Sie sprach auch von der Gegenwart und nannte sie Mutter
Gottes. Außerdem fügte sie hinzu, daß das Kind, das sie trug, bei ihrer
Ankunft vor Freude hüpfte. Gewiß ist es nicht verwunderlich, wenn
der hl. Johannes vor Freude hüpfte bei der Ankunft seines Erlösers.
Unser Herr sagt ja (Joh 8,56) zu den Juden: Euer Vater Abraham freu-
te sich, als er meinen Tag in prophetischem Geist kommen sah, den ihr
seht. Alle Propheten ersehnten den im Alten Bund verheißenen Mes-
sias und freuten sich, da sie wußten, daß alles sich zu seiner Zeit erfül-
len wird. Um wieviel mehr müssen wir denken, daß der hl. Johannes
von Freude erfüllt wurde, als er vom Schoß seiner Mutter aus den
wahren verheißenen Messias sah, den Ersehnten der Patriarchen (Apg
2,8), der ihn aufsuchen kam, um mit ihm das Werk der Erlösung zu
beginnen, indem er ihn aus dem Sumpf der Erbschuld zog!
Meine sehr teuren Schwestern, wie sehr müßt ihr von Freude erfüllt
sein, da ihr vom göttlichen Heiland heimgesucht werdet im allerhei-
ligsten Sakrament des Altares und von inneren Gnaden, die ihr stünd-
lich von der göttlichen Majestät empfangt durch so viele Eingebungen
und Worte, die er zu eurem Herzen spricht. Er ist ja immer da, klopft
an und sagt euch, was er will, daß ihr aus Liebe zu ihm tun sollt. Ach,
wieviel Dank schuldet ihr dem Herrn für so viele Gunsterweise! Wie

277
müßt ihr mit großer Aufmerksamkeit auf ihn hören, treu und rasch
seinen Willen erfüllen!
Als die allerseligste Jungfrau vernahm, was ihre Base Elisabet zu
ihrem Lob sagte, gab sie für alles Gott die Ehre. Dann bekannte sie,
daß ihr ganzes Glück, wie ich gesagt habe, daher kam, daß er auf die
Niedrigkeit seiner Magd geschaut hat, und stimmte den wundervollen
Lobgesang des Magnificat an (Lk 1,46-55). Dieser Lobgesang über-
trifft alle, die andere Frauen sangen. Er ist erhabener als das Lied der
Judit (16,1-21), unvergleichlich schöner als jenes, das die Schwester
des Mose sang, als die Kinder Israels durch das Rote Meer zogen,
Pharao und die Ägypter in seinen Fluten begraben waren (Ex 15,1-
21), kurz, schöner als jene, die von Simeon (Lk 2,29-32) und all den
anderen gesungen wurden, von denen die Heilige Schrift berichtet.
Meine lieben Schwestern, ihr habt die seligste Jungfrau zur Mutter,
ihr seid Töchter der Heimsuchung Unserer lieben Frau und der hl.
Elisabet; mit welcher Sorgfalt müßt ihr sie nachahmen, vor allem in
ihrer Demut und Liebe. Sie sind die vorzüglichsten Tugenden, die die-
se Heimsuchung sie üben ließ. In diesen Tugenden müßt ihr euch vor
allem auszeichnen, wenn ihr euch mit großem Eifer freudig aufmacht,
eure kranken Schwestern zu besuchen, indem ihr einander erleichtert
und in den geistigen und leiblichen Krankheiten herzlich dient. Und
in allem, wo es die Demut und die Liebe zu üben gilt, müßt ihr es mit
besonderer Sorgfalt und Bereitschaft tun; denn seht, für euch genügt
es nicht, Töchter Unserer lieben Frau zu sein und euch damit zu be-
gnügen, in einem Haus der Heimsuchung zu sein und den Schleier der
Ordensfrauen zu tragen. Das hieße einer so guten Mutter Unrecht tun;
es hieße aus der Art schlagen, wollte man sich damit begnügen. Man
muß sie vielmehr nachahmen in ihrer Heiligkeit und in ihren Tugen-
den. Meine lieben Schwestern, seid also sehr sorgfältig bestrebt, euer
Leben nach dem ihren zu gestalten. Seid sanft, demütig, liebenswür-
dig, gutherzig, und verherrlicht mit ihr Unseren Herrn in diesem Le-
ben. Wenn ihr das treu und demütig in dieser Welt tut, werdet ihr
zweifellos im Himmel mit der seligsten Jungfrau das Magnificat sin-
gen. Und indem ihr durch diesen heiligen Gesang die göttliche Maje-
stät preist, werdet ihr von ihr die ganze Ewigkeit gesegnet sein. Dort-
hin mögen uns führen der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.
Amen.

278
Zum Fest der Aufnahme Marias

Nr. 21: 15. August 1618* IX,178-191

Die heilige Kirche feiert heute das Fest des glorreichen Heimgangs
oder Entschlafens der allerseligsten Jungfrau und ihrer Aufnahme in
den Himmel. Manche haben diesem Fest verschiedene Namen gege-
ben: die einen nennen es die Himmelfahrt, andere die Krönung Unse-
rer lieben Frau, die übrigen ihre Aufnahme in den Himmel. Man könn-
te zahllose Erwägungen zu diesem Gegenstand anstellen; ich will mich
aber darauf beschränken, nur über zwei davon zu sprechen, nämlich
wie die heilige Jungfrau unseren Herrn und Meister empfing, als er
vom Himmel auf die Erde herabstieg, und wie ihr göttlicher Sohn sie
empfing, als sie die Erde verließ, um in den Himmel einzuziehen.
Das Evangelium, das wir heute in der heiligen Messe gelesen haben
(Lk 10,38-42), bietet uns Stoff genug für das eine und das andere Vor-
haben. Dieses Evangelium handelt davon, daß Unser Herr durch ei-
nen Ort mit dem Namen Betanien kam und in das Haus einkehrte, das
einer Frau namens Marta gehörte. Sie hatte eine Schwester mit Namen
Maria Magdalena. Marta war sehr aufgeregt und eifrig bemüht, Unse-
rem Herrn ein Mahl zu bereiten. Maria saß zu seinen Füßen und lausch-
te seinem Wort. Marta wünschte, daß alle ebenso besorgt seien wie sie,
dem Heiland zu dienen; sie beklagte sich bei ihm und sagte, er möge
ihre Schwester auffordern, ihr zu helfen. Sie hielt es nicht für nötig,
daß jemand bei ihm bleibe, da er sich ganz allein zu unterhalten wüß-
te. Aber unser göttlicher Meister rügte sie und sagte ihr, sie sei sehr
geschäftig und bemühe sich um viele Dinge; und er fügte hinzu: Nur
eines ist notwendig; Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nicht
genommen werden soll.
Die beiden Frauen stellen Unsere liebe Frau dar: Marta in dem Emp-
fang, den die heilige Jungfrau ihrem göttlichen Sohn bereitete, und in
der Sorge für ihn, solange er in diesem sterblichen Leben weilte; Ma-
ria in dem Empfang, der ihr von ihrem Sohn oben in seiner Glorie
bereitet wurde. Unsere liebe Frau erfüllte bewundernswert gut in die-
sem Leben die Aufgabe der einen wie der anderen der beiden Schwes-
tern. O Gott, mit welcher Sorgfalt versah sie doch Unseren Herrn mit
allem Notwendigen, solange er klein war! Welche Geschäftigkeit, oder
besser gesagt, welche Sorgfalt wandte sie auf, um dem Grimm des

* Vgl. Anm. 1 zu Nr. A 147.

279
Herodes zu entgehen! Was tat sie nicht alles, um ihn aus so vielen
Gefahren und Unfällen zu retten, von denen er bedroht war!
Doch sehen wir ein wenig, wie wunderbar gut sie die Aufgabe der
Maria erfüllte. Das heilige Evangelium erwähnt ausdrücklich das
Schweigen Unserer lieben Frau (Lk 2,51). Maria schwieg und hielt
sich zu Füßen ihres Meisters. Sie hatte nur eine Sorge: in seiner Ge-
genwart zu sein. Ebenso scheint unsere würdige Herrin nur diese Sor-
ge gehabt zu haben. Seht sie in der Stadt Betlehem, wo man alles Mög-
liche unternimmt, um eine Unterkunft für sie zu finden. Es findet sich
keine; sie sagt kein Wort. Sie geht in den Stall, sie kommt nieder und
gebiert ihren vielgeliebten Sohn; sie legt ihn in die Krippe. Die Köni-
ge kommen, um ihn anzubeten, und man kann sich denken, welches
Lob sie dem Kind und der Mutter spenden; sie sagt kein Wort. Sie trägt
ihn nach Ägypten, sie bringt ihn zurück, ohne mit einem Wort ihren
Schmerz auszudrücken, daß sie ihn dorthin bringen muß, noch die
Freude, die sie empfinden mußte, ihn zurückzubringen. Was aber noch
bewundernswerter ist: seht sie auf dem Kalvarienberg (Joh 19,25-27).
Sie stößt keinen Seufzer aus, sie sagt kein einziges Wort; sie steht zu
Füßen ihres Sohnes, und das ist das einzige, was sie ersehnt. Folglich
ist sie wie in vollkommenem Gleichmut: Alles komme, wie es mag,
scheint sie zu sagen; wenn ich nur bei ihm bin und ihn besitze, bin ich
zufrieden, denn ich will und suche nur ihn.
Beachtet bitte, daß Unser Herr Marta rügte, weil sie zu geschäftig
war, nicht deswegen, weil sie Sorge trug. Unsere liebe Frau verwandte
große Sorgfalt auf den Dienst unseres göttlichen Meisters, aber eine
Sorgfalt ohne Verwirrung und Aufregung. Die Heiligen im Himmel
sind mit Sorgfalt darauf bedacht, Gott zu verherrlichen und zu loben,
aber ohne Unruhe, denn die gibt es dort nicht. Die Engel haben Sorg-
falt für unser Heil, aber in Frieden und Ruhe. Nun, wir sind so armse-
lig, daß wir selten für etwas Sorge tragen ohne Aufregung und Verwir-
rung. Sehr oft könnt ihr einen Mann sehen, der großen Eifer für die
Predigt hat; verwehrt ihm zu predigen, und schon ist er verwirrt. Ein
anderer, der die Kranken besuchen und trösten will, wird es nicht
ohne Geschäftigkeit tun, ja ohne sich zu beunruhigen, wenn er verhin-
dert ist, es zu tun. Wieder ein anderer, der eine große Vorliebe für das
Geistesgebet hat, so daß er nur auf den Geist bedacht zu sein scheint,
wird doch aufgeregt und verwirrt sein, wenn man ihn daran hindert,
um ihn etwas anderes tun zu lassen.
Sagt mir nun: wäre Marta so geschäftig gewesen, wenn sie nur Sorge
getragen hätte, Unserem Herrn zu gefallen? Gewiß nicht, denn ein
einziges Gericht, gut zubereitet, hätte als Nahrung für ihn genügt, zu-

280
mal er mehr Freude empfungen hätte, wenn sie ihm zugehört hätte wie
Maria. Mit ihrer Arbeit und Geschäftigkeit, dafür zu sorgen, was unser
Meister brauchte, verband Marta auch ein wenig Selbstgefälligkeit,
die sie zeigen und wünschen ließ, daß man die Höflichkeit und Freund-
lichkeit sehe, mit der sie jene empfing, die ihr die Ehre erwiesen, sie
zu besuchen. Deshalb ging sie ganz in der Aufwartung auf, die der
äußeren Bedienung des Heilands galt. Das gute Mädchen glaubt noch,
auf diese Weise eine gute Dienerin Gottes zu sein, und hielt sich für
etwas Besonderes. Da sie ihre Schwester sehr liebte, wünschte sie, daß
auch diese wie sie geschäftig sei, um ihren teuren Meister zu bedienen.
Er aber hatte trotzdem mehr Gefallen an der Haltung Marias, in deren
Herz er durch seine Worte größere Gnaden träufelte, als wir denken
können.
Das entspricht der Antwort, die er jener Frau gab, von der im Evan-
gelium (Lk 11,27f) berichtet wird. Du sagst, selig der Leib, der mich
getragen, und die Brüste, die mich genährt haben; ich aber sage dir:
selig sind jene, die das Wort Gottes hören und es bewahren. Nun, jene,
die sich ereifern und abmühen wie Marta, etwas für Unseren Herrn zu
tun, halten sich für fromm und diese Geschäftigkeit für eine Tugend.
Das stimmt trotzdem nicht, wie er selbst zu verstehen gibt: Nur eines
ist notwendig, nämlich Gott haben und ihn besitzen. Wenn ich nur ihn
suche, was kann es mir dann ausmachen, daß man mich dies oder das
tun heißt? Wenn ich nur seinen Willen erfüllen will, ist es dann wich-
tig für mich, ob man mich nach Spanien oder Irland schickt? Und
wenn ich nur sein Kreuz suche, warum rege ich mich darüber auf,
wenn man mich nach Indien schickt, in die neue oder alte Welt? Ich
bin ja sicher, daß ich das Kreuz überall finden werde.
Unsere glorreiche Herrin versah schließlich das Amt der Marta,
indem sie Unseren Herrn mit größter Liebe und Ehrfurcht in ihrem
Haus und in ihrem Schoß aufnahm. Sie diente ihm sein ganzes Leben
lang mit beispielloser Sorgfalt. Bleibt noch zu zeigen, wie ihr Sohn sie
zum Lob dafür im Himmel aufnahm. Das geschah mit unvergleichli-
cher Liebe und Glorie, mit einer Herrlichkeit, die jene aller Heiligen
in dem Maß übersteigt, als ihre Verdienste die der Heiligen übertref-
fen.
Bevor wir aber von ihrer Aufnahme in den Himmel sprechen, müs-
sen wir sagen, wie und welchen Todes sie starb. Ihr kennt die Ge-
schichte ihres glorreichen Heimgangs. Ich fühle mich trotzdem stets
gedrängt, mit Rücksicht auf die gewöhnlichen und einfachen Zuhörer
von den Geheimnissen zu berichten, die wir feiern. Als unsere liebe
Frau und würdigste Herrin das Alter von 63 Jahren erreicht hatte,

281
starb sie oder vielmehr fiel sie in den Schlaf des Todes. Es gibt genug
Leute, die sich darüber wundern und sagen: Unser Herr liebte doch
seine heilige Mutter so zärtlich und so sehr; wieso hat er ihr nicht das
Privileg verschafft, daß sie nicht sterben mußte? Der Tod ist doch die
Strafe für die Sünde, sie aber hat nie eine begangen; wieso hat er sie
dann sterben lassen? Ihr Sterblichen, eure Gedanken widersprechen
denen der Heiligen und eure Entscheide sind weit entfernt von denen
der göttlichen Majestät (Jes 55,8f)! Wißt ihr nicht, daß der Tod nicht
mehr schmachvoll sondern kostbar ist, seit Unser Herr und Meister
sich von ihm an den Baum des Kreuzes heften ließ? Es wäre für die
heilige Jungfrau kein Vorzug und kein Privileg gewesen, nicht zu ster-
ben, sondern sie hat den Tod stets ersehnt, seit sie ihn in den Armen, ja
selbst im Herzen ihres allerheiligsten Sohnes gesehen hat. Der Tod ist
so süß und erstrebenswert, daß die Engel sich glücklich schätzen wür-
den, wenn sie sterben könnten, und die Heiligen waren glücklich, ihn
zu erleiden, und haben darin viel Trost gefunden, weil unser göttlicher
Erlöser, der unser Leben ist (Kol 3,4), sich dem Tod als Beute über-
ließ.
Man sagt gewöhnlich: Wie das Leben so der Tod. Was meint ihr also,
welchen Todes starb die heilige Jungfrau, wenn nicht des Todes aus
Liebe? Es ist über jeden Zweifel erhaben, daß sie aus Liebe starb, aber
ich sage das nicht, weil es geschrieben steht. Sie war immer die Mutter
der schönen Liebe (Sir 24,24). Man kann in ihrem Leben keine Ent-
rückungen und Ekstasen feststellen, weil diese Entrückungen ständig
andauerten. Sie liebte mit einer stets starken, stets glühenden aber
ruhigen und von tiefem Frieden begleiteten Liebe. Und obschon diese
Liebe unaufhörlich zunahm, geschah dieses Wachsen nicht ruck- oder
stoßweise, sondern stets fließend wie ein ruhiger Strom und fast nicht
wahrnehmbar, durch die stets so ersehnte Vereinigung ihrer Seele mit
der göttlichen Güte.
Als nun für die glorreiche Jungfrau die Stunde gekommen war, aus
diesem Leben zu scheiden, bewirkte die Liebe die Trennung ihrer See-
le von ihrem Leib, und der Tod war nichts anderes als diese Trennung.
Ihre ganz heilige Seele flog geradewegs in den Himmel; denn was hät-
te sie daran hindern können, ich bitte euch. Sie war ja ganz rein und
hatte sich nie den geringsten Makel der Sünde zugezogen. Was uns
daran hindert, wie Unsere liebe Frau geradewegs in den Himmel zu
kommen, wenn wir sterben, ist die Tatsache, daß wir fast alle Staub
oder Schmutz an unseren Füßen haben. Deshalb müssen wir sie wa-
schen und reinigen gehen an dem Ort, den man Reinigungsort nennt,
bevor wir in den Himmel eingehen.

282
Die Großen dieser Welt veranstalten manchmal Gesellschaften, und
meist ganz unnütze. Es kommt ihnen in den Sinn, daß sie den Ort ihrer
Zusammenkunft nicht hell wünschen, sondern sie wollen ihn dunkel
und finster haben; und das, um irgendein Ballett, oder was weiß ich, zu
veranstalten, das im Dunkeln vorteilhafter erscheint. Die Kerzen und
Fackeln verbreiten zu viel Licht, folglich muß man Lampen verwen-
den, die mit duftendem Öl gespeist werden. Die Lampen verströmen
ständig eine Ausdünstung und spenden der Gesellschaft mehr Lieb-
lichkeit und Ergötzen. Wenn nun diese Lampen erlöschen, verbreiten
sie einen viel herrlicheren Duft und erfüllen den Raum mit größerem
Wohlgeruch. An vielen Stellen der Heiligen Schrift finden wir, daß die
Lampen die Heiligen versinnbilden. Sie gleichen Lampen, die ständig
den Duft des guten Beispiels vor den Menschen verströmen und stets
vom Feuer der Gottesliebe entbrannt waren. Welch süßen Duft haben
diese Lampen während ihres Lebens vor der göttlichen Majestät ver-
breitet, aber viel mehr noch in der Stunde ihres Todes. Der Tod des
Gerechten ist kostbar vor dem Herrn, wie im Gegenteil der Tod des
Bösewichts ihm ein Greuel ist (Ps 34,22), so daß er sie zur Verdamm-
nis führt.
Wenn nun die Heiligen brennende und duftende Lampen waren (Hld
8,6; Joh 5,35), um wieviel mehr die allerseligste Jungfrau. Ihre Voll-
kommenheit übertrifft die aller Seligen. Ja, wenn alle ihre
Vollkommenheiten in eine vereinigt wären, wäre sie nicht zu verglei-
chen mit der ihren. Sie war gewiß eine Lampe, vollkommen gespeist
mit duftendem Öl. Was meint ihr also, welchen Wohlgeruch sie in der
Stunde ihres glorreichen Hinscheidens verströmte? Die jungen Mäd-
chen folgten ihr nach wegen des Duftes ihrer Salben (Hld 1,2f). Die
heilige Seele unserer glorreichen Herrin flog geradewegs in den Him-
mel und begann ihren Wohlgeruch vor der göttlichen Majestät zu ver-
strömen, die sie aufnahm und auf einen Thron zur Rechten ihres Soh-
nes setzte.
Doch was glaubt ihr, mit welchem Triumph, mit welchem Prunk sie
von ihrem vielgeliebten Sohn empfangen wurde als Erwiderung der
Liebe, mit der sie ihn empfing, als er auf die Erde kam? Man darf wohl
glauben, daß er nicht undankbar war, sondern daß er sie belohnte mit
einem Grad der Glorie, um soviel erhabener über alle seligen Geister,
als ihre Verdienste die aller Heiligen zusammen überragten. Der gro-
ße heilige Apostel Paulus gibt einen Hinweis, wenn er von der Herr-
lichkeit des Gottessohnes, unseres Herrn spricht, durch den man den
hohen Grad der Glorie seiner allerseligsten Mutter gut erkennen kann.
Er sagt (Hebr 1,5-7): Jesus wurde soviel über alle Kerubim und die

283
übrigen seligen Geister erhöht, als sein Name über alle anderen Na-
men erhaben ist. Von den Engeln steht geschrieben: Ihr seid meine
Diener und meine Boten; aber zu welchem von ihnen wurde gesagt: Du
bist mein Sohn, ich habe dich gezeugt? Ebenso können wir von der
allerseligsten Jungfrau sagen: sie ist der Ausbund alles Schönen im
Himmel und auf Erden. Zu welcher Frau wurde gesagt: Du bist die
Mutter des Allmächtigen und des Gottessohnes, außer zu ihr? Ihr könnt
euch also gut vorstellen, daß sie über alles erhöht wurde, was nicht
Gott ist.
Als die hochheilige Seele Unserer lieben Frau ihren reinsten Leib
verlassen hatte, wurde dieser ins Grab gelegt und der Erde übergeben
wie der ihres Sohnes, denn es war sehr angemessen, daß die Mutter
nicht mehr Vorrechte besaß als der Sohn. Wie aber Unser Herr nach
drei Tagen auferstanden ist, ebenso ist auch sie nach drei Tagen aufer-
standen, allerdings auf andere Weise: Der Erlöser ist aus eigener Kraft
und Autorität auferstanden; Unsere liebe Frau ist auferstanden durch
die Allmacht ihres Sohnes. Er befahl der gebenedeiten Seele seiner
hochheiligen Mutter, sich wieder mit ihrem Leib zu vereinigen. Es
war gewiß sehr geziemend, weil aus seinem keuschen Schoß der Leib
Unseres Herrn gebildet wurde und in ihm neun Monate geborgen war.
Die Bundeslade, in der sich die Gesetzestafeln befanden (1 Kön 8,9;
Hebr 9,4), konnte in keiner Weise von Fäulnis befallen werden, denn
sie war aus Zedernholz gemacht, das unverweslich ist (Ex 25,10). Wie-
viel angemessener ist es, daß die Arche von jedem Verfall ausgenom-
men war, in der der Herr des Gesetzes ruhte! Die Auferweckung der
allerseligsten Jungfrau ist vorhergesagt mit den Worten (2 Chr 6,41;
Ps 132,8): Erhebe dich, Herr, du und die Arche deiner Heiligung. Die
Worte erhebe dich beziehen sich auf die Auferstehung Unseres Herrn;
die folgenden Worte, und die Arche deiner Heiligung, müssen von jener
seiner Mutter verstanden werden. Unser Leib wird wieder zu Staub,
ob wir das wollen oder nicht; das ist der Tribut, den wir schuldig sind
und den wir alle bezahlen müssen für die Schuld, die wir alle in Adam
auf uns geladen haben. Erde bist du, und zur Erde wirst du zurückkeh-
ren (Gen 3,19; Koh 12,7). Die Würmer werden uns fressen, und wir
haben allen Grund, zu den Würmern zu sagen: Ihr seid mir Vater, ihr
seid mir Mutter (Ijob 17,14).
Ich weiß nicht, ob euch aufgefallen ist, daß der junge David, ehe er
den Kampf gegen Goliat aufnahm, sich bei den Kriegern genau erkun-
digte, was man dem geben wird, der diesen Riesen, den Feind der
Kinder Gottes, besiegt und bezwingt. Man antwortete ihm, der König

284
habe dem große Reichtümer versprochen, dem es gelingt, ihn zu über-
wältigen. Aber das genügte dem Herzen Davids nicht, das großmütig
war und an nichts weniger als an Reichtümer dachte. Man fügte den
Reichtümern die Ehre hinzu und sagte: Der König wird ihn nicht nur
reich machen, er wird ihm seine Tochter zur Frau geben, ihn zu seinem
Schwiegersohn machen und darüber hinaus sein Haus von Abgaben
befreien (1 Sam 18,25-27.30).
Als unser Herr und Meister in diese Welt kam, erkundigte er sich
wie sein Vorfahre David, was man dem geben wird, der den mächtigen
Goliat besiegen wird, den Teufel, den er selbst den Fürsten dieser Welt
(Joh 12,31; 14,30) nennt wegen seiner großen Macht vor der Mensch-
werdung des Wortes. Man gab ihm die gleiche Antwort wie David: Der
König wird den reich machen, der diesen grausamen Goliat überwin-
det. Und hört das Unvergleichliche, das der ewige Vater sagte: Ich
werde ihn zum König machen und ihm alle Macht im Himmel und auf
Erden geben (Ps 2,6-8; Hebr 1,2). Aber Unser Herr wäre damit nicht
zufrieden gewesen, hätte man nicht hinzugefügt: Der König hat ver-
sprochen, ihm seine Tochter zur Frau zu geben. Nun, die Tochter des
Königs, d. h. Gottes, ist nichts anderes als die Herrlichkeit. Unser
göttlicher Meister war immer sehr glorreich und besaß stets die ganze
Herrlichkeit. Seine Seele war im höheren Bereich stets unlösbar ver-
einigt und verbunden mit der Gottheit vom Augenblick seiner Emp-
fängnis an. Aber die Herrlichkeit, die ihm versprochen wurde, war die
Verherrlichung seines Leibes. Trotzdem wäre er noch nicht damit zu-
frieden gewesen, wenn man nicht hinzugefügt hätte, daß sein Haus
vom Tribut befreit sein wird. Was ist aber das Haus Unseres Herrn,
wenn nicht der heilige jungfräuliche Leib Unserer lieben Frau? Sie
war also durch die Verdienste ihres Sohnes vom Tribut befreit, d. h. sie
wurde auferweckt, bevor sie im Grab irgendeinen Makel oder Scha-
den erlitt.
Was bleibt uns nun noch zu sagen, als zu fragen, ob wir nicht in
irgendeiner Weise die Himmelfahrt unserer glorreichen und höchst
würdigen Herrin nachahmen können. Dem Leib nach können wir das
bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes nicht; da werden die Leiber der
Seligen glorreich auferweckt, die Verworfenen, um ewig verdammt zu
sein. Doch sehen wir, wie wir sie der Seele nach darin nachahmen
können, daß sie sich untrennbar mit der göttlichen Majestät zu verei-
nigen und zu verbinden strebte. Im Evangelium heißt es, daß Marta,
als Unser Herr ihr Haus betrat, sehr geschäftig war, hin- und herging,
um ihn gut zu bedienen, während Maria zu Füßen des Heilands blieb,

285
wo sie sein Wort hörte. Während Marta darauf bedacht war, den Leib
ihres Meisters zu speisen, gab Maria diese Sorge auf zugunsten jener,
seine Seele zu erquicken und zu stärken; das tat sie, indem sie Unse-
rem Herrn lauschte.
Marta wurde von einem Anflug des Neides erfaßt. Es gibt äußerst
wenige, die das nicht sind, so vergeistigt sie sein mögen. Je mehr man
vergeistigt ist, um so feiner und kaum wahrnehmbar ist der Neid; er
geht so geschickt vor, daß man große Mühe hat, ihn zu bemerken.
Wenn wir jemand loben und ein wenig von dem Lob zurückhalten, von
dem wir wissen, daß es ihm gebührt, wer bewirkt das, wenn nicht der
Neid, den wir auf seine Tugend haben? Aber Marta führt ihren kleinen
Schlag und macht den kleinen Ausbruch ihres Neides in Form eines
Scherzes, und das ist die feinste. Sie sagt: Meister, läßt du zu, daß
meine Schwester mir nicht hilft und mir die ganze Sorge um das Haus-
wesen überläßt? Befiehl ihr, daß sie mir zu Hilfe kommt. Unser Herr,
der beispiellos gütig ist, tadelt sie nicht streng, obwohl er ihre Unvoll-
kommenheit sehr wohl erkennt, sondern liebevoll, denn dieses Evan-
gelium ist erfüllt von Liebe. Der Evangelist vermerkt, daß er sie an-
sprach und sagte: Marta, Marta, du machst dir Sorge um vieles. Nur
eines ist notwendig; Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nicht
genommen werden soll.
Aber sprechen wir noch ein wenig von den kleinen Streichen des
Neides, die unsere Eigenliebe verübt. Sie sind gewiß wie kleine Füch-
se, die den Weinberg verwüsten und verderben (Hld 2,15). Hört die
Ordensleute, wenn sie von ihrem Institut sprechen; sie schätzen es
stets höher als alle anderen. Es ist wahr, sagen sie, dieser Orden, von
dem ihr sprecht, ist von großer Vollkommenheit, aber der meine ist
immer etwas voraus. O, ich spreche nicht von mir, sondern nur von
der großen Vollkommenheit, nach der man in ihm strebt. Gebt acht
auf euch, denn schließlich werdet ihr auf euch selbst zurückkommen,
ich sage sogar, ohne es zu bemerken. Ein anderer wird sagen: Ich bin
armselig, ich kann nichts tun, was einen Wert hätte; aber eine solche
Predigt, wie ich sie gehalten habe ... Und er wird tun, als wolle er diese
Worte nicht fortsetzen, bis man die Predigt irgendeines anderen lobt.
Und so auch, wenn wir hören, daß man jemand lobt, streuen wir ne-
benbei irgendein kleines Wort ein, damit man auf uns selbst zurück-
komme.
Kommen wir zur geschäftigen Marta zurück. Gewiß, wir verstehen
es nicht, etwas ohne Geschäftigkeit zu tun, oder besser gesagt, ohne
große Beflissenheit dem äußeren Menschen nach. Wir müssen wissen,
daß es zwei Teile in uns gibt, die den einen Menschen bilden: den

286
äußeren Menschen und den inneren. Der innere Mensch strebt stets
nach der Vereinigung mit der göttlichen Majestät und führt die not-
wendigen Gespräche, um zu dieser Vereinigung zu gelangen. Der äu-
ßere Mensch ist der, den wir sehen, der schaut, der spricht, der be-
rührt, der schmeckt, der hört. Er ist es, der geschäftig ist in der Übung
der Tugenden, die das Gebot der Nächstenliebe betreffen, während
der innere Mensch die Gottesliebe übt. Diese zwei Menschen betäti-
gen sich also in der Beobachtung der zwei Hauptgebote, auf denen wie
auf zwei Säulen das ganze Gesetz und die Propheten beruhen (Mt
22,40). Die alten Philosophen sagten, man muß vor dem Werk auf das
Ziel schauen; wir aber tun genau das Gegenteil, denn wir machen uns
geschäftig an die Ausführung des Werkes, das wir unternommen ha-
ben, bevor wir überlegen, welchen Zweck es haben soll.
Sagen wir das etwas deutlicher. Das Ziel unseres Lebens ist der Tod.
Wir müßten also sorgfältig überlegen, wie unser Tod beschaffen sein
soll und was dazu notwendig ist, damit wir unser Leben einstellen auf
den Tod, den wir uns wünschen. Es ist ja sicher: wie unser Leben ist, so
wird unser Tod sein, und unser Tod ist so, wie unser Leben war.
Sehen wir nun, wie der äußere Mensch nichts ohne größte Geschäf-
tigkeit zu tun weiß, selbst nicht die Übung der Tugenden. Die Alten,
die eine Aufzählung der Tugenden vornahmen, haben deren eine gan-
ze Völkerschaft festgestellt und schließlich gefunden, daß sie sich noch
zu kurz gefaßt haben. Treten wir in diese Abfolge der Tugenden ein,
um zu untersuchen, ob wir keine davon ohne Sorgfalt und Aufmerk-
samkeit üben können. Man muß große Sorgfalt darauf verwenden, die
Sittsamkeit zu üben. Seht ihr diesen Menschen, der sich vorgenom-
men hat, sie zu üben? Er beginnt damit, ein Abkommen mit seinen
Augen (Ijob 31,1) zu schließen, daß sie nur die notwendigen Dinge
ansehen und nichts darüber hinaus. Dazu macht er es mit ihnen wie
mit den Sperbern, denen man eine Kappe aufsetzt, wenn man sie nicht
fliegen lassen will, um sie leichter auf der Faust zu halten. Das gleiche
macht er mit seinen Augen, denn er bedeckt sie mit ihrer natürlichen
Kappe, das sind die Lider, damit sie nur sehen, was notwendig ist. Er
ist außerdem sehr darauf bedacht, sich ständig sittsam zu verhalten,
damit ihm keine Handlung unterlaufe, die leichtfertig aussieht.
Welcher Aufmerksamkeit bedarf es doch, um die Geduld zu üben
und um nicht in Zorn zu geraten! Cassian schreibt, daß es nicht ge-
nügt, die Gelegenheiten zu meiden, mit den Menschen zu sprechen
und zu verkehren. Das Mittel, diese Tugend zu erwerben, besteht nicht
darin, die Gelegenheit zu ihrer Übung zu meiden, zumal er von sich
selbst berichtet, daß er allein in der Wüste nachts aufstand und den

287
Feuerstein nahm, um seine Lampe anzuzünden; wenn der Stein kei-
nen Funken geben wollte, geriet er in Zorn und warf den Stein zu
Boden.
Man muß gewiß sehr darauf achten, keine Handlung in Ungeduld zu
verrichten; aber, o Gott, die geistliche Tapferkeit zu üben, sich nie-
mals im Guten entmutigen zu lassen, das kann man nur erreichen
durch große Achtsamkeit, die Bescheidenheit zu wahren. Das gleiche
sage ich von der Standhaftigkeit, von der Beharrlichkeit, von der
Freundlichkeit, vom Maßhalten und vor allem vom Maßhalten in sei-
nen Worten. Welche Zügel muß man doch der Zunge anlegen, um sie
daran zu hindern, daß sie wie ein durchgegangenes Pferd durch die
Straßen läuft und in das Haus des Nächsten eindringt, ja sogar in sein
Leben, um sie zu zügeln und sie zu überwachen oder ihr doch ein
wenig von der Wertschätzung zu nehmen, von der wir wissen, daß sie
ihr zusteht.
Aber welches Mittel gibt es dagegen, fragt ihr mich, daß man so viel
Sorge hat, da ich mich doch in der Tugend üben muß? Diese Sorge ist
gewiß sehr lobenswert, wenn sie ohne Ängstlichkeit und Geschäftig-
keit ist. Hier ist gleichwohl ein Mittel, um euch von zuviel Sorge zu
befreien: Unser Herr sagt: Nur eines ist notwendig, nämlich um geret-
tet zu werden. Zur Förderung unseres Heiles bedarf man nicht so viel-
facher Mittel, wenn auch die Förderung für alles notwendig ist. Ich
sage euch: Habt die hochheilige Liebe, und ihr werdet alle Tugenden
besitzen. Daß dem so ist, hört vom großen Apostel (1 Kor 13,4-7): Die
Liebe ist mild, sie ist geduldig, sie ist gütig, sie ist mitfühlend, sie ist
demütig, sie ist freundlich, sie erträgt alles; schließlich begreift sie in
sich selbst alle Vollkommenheiten der anderen Tugenden, aber viel
vorzüglicher, als diese selbst es tun. Die Liebe hat nur einen Akt, näm-
lich den der Verbindung und Vereinigung. Gott über alles zu lieben, ist
das erste Gebot; den Nächsten über alles zu lieben, was nicht Gott ist,
ist das Abbild des ersten Gebotes (Mt 22,37-39).
Die allerseligste Jungfrau, unsere glorreiche Herrin, übte die eine
und die andere Form dieser Liebe in dem Empfang, den sie ihrem
Sohn bereitete: sie liebte und empfing ihn als ihren Gott; sie empfing
ihn, liebte ihn und diente ihm als ihrem Nächsten. Man kann die eine
Liebe nicht ohne die andere haben (1 Joh 4,20f). Liebt ihr Gott voll-
kommen, dann liebt ihr also auch den Nächsten vollkommen. In dem
Maß, in dem die eine Liebe wächst, nimmt auch die andere zu; ebenso
bleibt es nicht aus, wenn die eine abnimmt, daß sich auch die andere
vermindert. Wenn ihr die Gottesliebe habt, dann laßt euch nicht auf
Mühen und Sorgen ein, die anderen Tugenden zu üben, zumal wenn

288
sich keine Gelegenheit bietet, sich darin zu üben, wenn ihr es nicht
ohne Sorge tut. Ich sage, welche Tugend immer das sein mag: die Ge-
duld, die Güte, die Sittsamkeit und ebenso die anderen.
Die Kaninchen werfen alle drei Wochen Junge; es gibt eine Menge
von Häschen, abertausende von Fliegen, unzählige Mücken, aber nur
sehr wenige Adler. Der Elefant bekommt nur ein Kalb, ein Elefanten-
junges; die Löwin wirft immer nur einen jungen Löwen. Ebenso be-
steht die Übung der Marta aus einer Vielzahl von Akten, aber jene der
Maria, nämlich die Liebe, nur aus einem einzigen, nämlich in der Ver-
bindung und Vereinigung, wie wir gesagt haben.
Es hat den Anschein, daß die Aufnahme Unserer lieben Frau in den
Himmel in gewisser Hinsicht herrlicher und strahlender war als die
Himmelfahrt Unseres Herrn, zumal bei seiner Himmelfahrt nur die
Engel zugegen waren, die ihm entgegenkamen, bei der Aufnahme sei-
ner hochheiligen Mutter kam der König der Engel selbst. Deshalb
riefen die Engel voll Staunen aus: Wer ist jene, die heraufsteigt aus der
Wüste, gestützt auf ihren Vielgeliebten (Hld 8,5)? Von daher können
wir erkennen: obwohl Unsere liebe Frau ganz rein in den Himmel
auffuhr, stützte sie sich unbeschadet ihrer Reinheit dennoch auf die
Verdienste ihres Sohnes; kraft dieser Verdienste ging sie in die Glorie
ein. Nie hatte man so viele Spezereien in der Stadt Jerusalem gesehen,
wie die Königin von Saba brachte, als sie den großen König Salomo
besuchte; er hingegen machte ihr Geschenke entsprechend seiner Grö-
ße und königlichen Herrlichkeit (1 Kön 10,1f.10). Ebenso sage ich,
daß nie so viele Verdienste und so viel Liebe durch irgendein bloßes
Geschöpf in den Himmel mitgebracht wurden, wie die hochheilige
Jungfrau bei ihrer glorreichen Aufnahme dorthin mitbrachte. Als
Gegengabe verlieh ihr der große König der Ewigkeit, der allmächtige
Gott einen Grad der Herrlichkeit, der seiner Erhabenheit würdig ist,
ebenso die Macht, denen, die sie verehren, Gnaden zu vermitteln, die
ihrer Freigebigkeit und Herrlichkeit würdig sind. Amen.

289
Zu einer Einkleidung

Nr. 23: 9. Oktober 1618 IX,202-207

Ich habe überlegt, wovon ich bei der Zeremonie ausgehen soll, die
wir feiern, wenn wir unsere Postulantin in das Noviziat aufnehmen.
Da fand ich die Worte des hl. Paulus in seinem Brief an die Epheser
(4,22-24) und an die Kolosser (3,9f) passend: Erneuert euch in Ge-
rechtigkeit und Wahrheit; zieht den alten Menschen aus, um euch von
neuem zu bekleiden mit unserem Herrn Jesus Christus. Er sagt: Zieht
die Gewohnheiten der Welt und ihre Neigungen aus. Das ist der
Wunsch der Kirche bei der Segnung, wenn sie den Jungfrauen den
Schleier aufsetzt. Wenn wir Ihnen gleich den Schleier geben werden,
teuerste Tochter, werden wir sagen: „Der Herr möge dich des alten
Menschen entkleiden, um dich neu zu bekleiden.“ Das ist gleichsam
ein Vorwort dafür, was ich behandeln will.
Viele gehen aus unterschiedlichen Gründen ins Kloster. Die einen
tun es aus Hoffnungslosigkeit, denn sie wissen nicht mehr, was sie in
der Welt machen sollen. Da die Welt von ihnen nichts mehr wissen
will, kommen sie ins Kloster. Ach, ihre Absicht ist nicht gut. Andere
wollen eintreten aus Furcht vor der Hölle. Sie fürchten, verloren zu
gehen, wenn sie in der Welt bleiben inmitten der ständigen Gelegen-
heiten zur Sünde und zu soviel Unglück und Elend, die dort herr-
schen. Wieder andere kommen, um das Paradies zu gewinnen, denn
sie wissen, daß man es leichter im Kloster erwirbt. Zurückgezogen
vom Plunder dieser Welt und in der Observanz lebend können sie
leichter in den Himmel kommen. Es gibt noch andere, die sich ins
Kloster zurückziehen, um durch das Gebet immer bei Unserem Herrn
in Ruhe zu leben und hier die Wonnen zu genießen, die er denen
schenkt, die ihm dienen; denn wer wünscht diese Wonnen nicht?
Jeder dieser Beweggründe ist sehr unvollkommen und entspricht
nicht der Absicht Unseres Herrn, weshalb er die Orden geschaffen
hat, nämlich „um sich vollkommen mit Gott zu vereinigen“ auf dem
Kalvarienberg (Konst. 33.44) und mit ihm im Himmel zu leben (Röm
6,8; 2 Tim 2,11f), um den alten Menschen auszuziehen und mit dem
neuen bekleidet zu werden. Die mit einer anderen Absicht kommen,
täuschen sich sehr. Man darf nicht kommen, um es schön zu haben,
denn man muß sich in allem abtöten, woran die Natur in der Welt

290
Gefallen haben kann; man muß seinen Eigenwillen verleugnen, um in
allem dem der anderen zu folgen; man muß sein eigenes Urteil ver-
leugnen, seine Neigungen und Leidenschaften überwinden, um sich
vollständig den Vorgesetzten zu unterwerfen. Mit einem Wort, man
muß den alten Menschen ausziehen, sich selbst, sein Fleisch, seine
Gewohnheiten, denen man in der Welt so sehr gefolgt ist.
Die schlechten Gewohnheiten sind in uns als Folge der Sünde unse-
rer Stammeltern Adam und Eva, die durch den Ungehorsam die ur-
sprüngliche Gnade verloren haben. Seither sind sie groß geworden.
Man sieht ja heute viel mehr Eitelkeit als früher, mehr Habsucht, mehr
Begehrlichkeit nach weltlichen Freuden, mehr Streben nach Ehre und
Würden (vgl. 1 Joh 2,16). Ich erinnere mich an die Zeit, als ich ein
junger Mann war. Da kannte man nicht so viel Prunk; die Kinder wa-
ren einfacher gekleidet. Heutzutage muß man für die Eitelkeit so viel
aufwenden. Die Damen von Paris sinnen stets darauf, neue Eitelkeiten
zu erfinden, um das Geld ihrer Gatten auszugeben. So lebt man in der
Welt nach dem alten Menschen. Was heißt das, nach dem alten Men-
schen leben? Das heißt leben wie die Weltmenschen. Sie sind ständig
begierig nach Reichtum, um immer mehr davon zu besitzen, und be-
kommen davon nie genug. Sie jagen nach Würden, um höher als alle
geschätzt zu werden. Sie folgen unaufhörlich dem rohen, sinnlichen
und ehrlosen Vergnügen. Sie wollen Herr über alle sein und von nie-
mand eine Zurechtweisung annehmen. Sie lieben bei allem ihr Fleisch
und ihre Bequemlichkeit. Das ist der alte Mensch, von dem der hl.
Paulus sagt, daß er gekreuzigt werden muß, um nach dem neuen Men-
schen zu leben in Gerechtigkeit und Wahrheit.
Der alte Mensch, das ist unser Stammvater Adam und unsere
Stammmutter Eva. Von ihnen haben wir die Sünde und alle unsere
Leidenschaften: den Zorn, die Begierlichkeit, die uns Güter und Eh-
ren wünschen läßt; die Liebe zur Selbstgefälligkeit, die
Selbstverzärtelung, die uns die Freiheit so lieben läßt, daß man die
Unterordnung nicht liebt. Nun, das alles muß man abtöten, um ins
Kloster zu kommen, und Gewohnheiten annehmen, die der Welt ganz
entgegengesetzt sind; um nach dem neuen Menschen zu leben. Man
liebt die Freiheit; hier muß man sich den Regeln, dem Gehorsam und
den Befehlen der Vorgesetzten unterwerfen. In der Welt liebt und pflegt
man die Selbstgefälligkeit sehr; im Kloster muß man vor allem die
Demut üben; denn wer sich in dieser Tugend gut übt, besitzt bald alle
anderen. Unser Herr hat sie hervorragend und in höchstem Grad ge-
übt; denn es gibt kein Geschöpf in der Welt, selbst unter allen Heili-
gen und unter allen Engeln, das der Demut unseres Heilands nahekä-

291
me. Im Kloster muß man in beständiger Keuschheit leben, die der
Freizügigkeit des Fleisches und Blutes entgegengesetzt ist; in voll-
kommener Armut, entgegen den Reichtümern und Bequemlichkei-
ten, von denen die Welt so viel Aufhebens macht; man muß sein Urteil
abtöten, was sehr schwierig ist, seine Neigung zur eigenen Ruhe, das
Behagen, das man am Gespräch mit Gott findet, um seine Wonnen zu
genießen.
Mag die letztgenannte Absicht auch gut scheinen, so ist das doch
nicht die Absicht, deretwegen die Orden geschaffen wurden. Dies ge-
schah zu dem Zweck, daß man Gott vollkommener diene, den alten
Menschen ausziehe und den neuen anziehe; denn wenn man in den
Orden eintritt, darf man nicht die alten Gewohnheiten mitbringen.
Der hl. Basilius schrieb an Syncleticus, der Senator war und Ordens-
mann wurde, und fragte ihn: „Mein Bruder, was hast du gemacht? Du
hast einen Senator abgeschafft, aber du hast keinen Ordensmann aus
ihm gemacht.“ Du bist nicht mehr Senator, denn du hast dieses Amt
niedergelegt; du bist aber kein guter Ordensmann, denn du lebst mit
den Gewohnheiten, die du von der Welt mitgebracht hast.“ Meine lie-
be Tochter, wenn Sie im Kloster bleiben wollen, dürfen Sie nicht die
Sitten der Welt mitbringen, sondern müssen sich des alten Menschen
entledigen: der kleinen Wallungen des Zornes, die man fühlt, wenn
man uns tadelt, denn niemand liebt die Zurechtweisung; der
Selbstverzärtelung, wenn man uns widerspricht; der Tränen des Mit-
leids und der kleinen Regungen der Ungeduld, wenn man unseren
Neigungen und Launen widerspricht; der hohen Meinung von uns
selbst, dem Wunsch, wegen der Abstammung aus gutem Haus für et-
was Besseres als die anderen gehalten zu werden. O, wir sind alle gleich,
denn wir sind alle Kinder des gleichen Vaters Adam und der gleichen
Mutter Eva. Es ist deshalb eine große Torheit, sich seiner Abstam-
mung zu rühmen.
Alles dessen muß man sich entledigen. Es bedeutet nichts, die äuße-
ren Kleider abzulegen, die man sieht, um das Ordenskleid zu nehmen,
wenn wir nicht die Gewohnheiten und Sitten des Ordenslebens anneh-
men. Wie viele Menschen sah man Heilige werden in Kleidern aus
Seide und Atlas, Samt und Goldbrokat. Beispiele dafür sind die heili-
ge Königin Radegunde von Frankreich, die heilige Königin Elisabeth
von Ungarn, die heilige Königin Elisabeth von Portugal und viele an-
dere. Es bedeutet nichts, die äußeren Kleider abzulegen, wenn man
sich nicht von neuem bekleidet in Gerechtigkeit und Wahrheit. Die
Kirche verrichtet noch dieses Gebet: Gott „möge dich des alten Men-

292
schen entkleiden und dich von neuem bekleiden“, um uns zu zeigen,
daß all unsere Kraft von Gott kommt. Als der hl. Paulus Unseren
Herrn bat, ihn von seinen Gebrechen zu befreien, antwortete ihm die-
ser: Paulus, meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft vollendet sich in
deiner Schwachheit (2 Kor 12,8-10). Was bedeutet: meine Kraft voll-
endet sich in deiner Schwachheit? Das bedeutet: wenn wir uns in unse-
rer Schwachheit schwach glauben, um das Gute zu unternehmen, dann
stützen wir uns vollständig auf Gott, erkennen unser Kleinsein und
daß wir ohne göttliche Gnade nichts aus uns vermögen. O, wir müssen
uns sehr demütigen, denn durch diese Tugend werden wir der göttli-
chen Majestät sehr wohlgefällig und gestalten uns in Unseren Herrn
um.
Der hl. Augustinus war sehr gut erzogen und lebte lange Zeit in der
Lebensart der Welt. Eines Tages befand er sich in einem Garten unter
einem Feigenbaum; da hörte er etwas wie Stimmen kleiner Kinder,
die so melodisch sangen, daß er nie Ähnliches gehört hatte. Ohne
Zweifel waren es die Engel, die sangen: „Nimm und lies; nimm und
lies.“ Sie wollten, daß Augustinus die Briefe des hl. Paulus lese, die er
bei sich hatte. Er nimmt das Buch, öffnet es und findet den Brief, den
der Apostel an die Römer geschrieben hatte: Seid nicht dem Trunk
ergeben und haltet keine Gelage, flieht den Umgang mit Frauen, usw.
(13,13f). Nun, Unser Herr sprach zum Herzen des hl. Augustinus:
Ändere die alten Gewohnheiten, liebe nicht Feste, Vergnügungen, eit-
le Unterhaltungen, zieh den alten Menschen aus, und du wirst mit dem
neuen bekleidet.
Um vor dem ewigen Vater zu erscheinen, muß man die Livree seines
Sohnes anziehen und alles verachten, womit die Welt soviel Staat macht.
Als Isaak alt und krank geworden war, hatte er Lust, Wildbret zu es-
sen. Er sagte zu Esau: Wenn du mir Wildbret bringst, werde ich dir
meinen priesterlichen Segen geben. Ich will nicht die ganze Geschich-
te (Gen 27,1-29) erzählen, denn das ist nicht nötig. Rebekka hatte
gehört, was Isaak zu Esau sagte, nahm ein Böcklein, das sie anstelle
des Wildbrets zubereitete, dann ließ sie es durch Jakob seinem Vater
bringen, damit er seinen Segen erhalte (Gott ließ nicht zu, daß er auf
Esau komme). Um aber Isaak besser zu täuschen, ließ sie Jakob die
Kleider seines Bruders anziehen, die stark dufteten. Isaak umarmte
seinen Sohn, den er für Esau hielt, und als der den Duft seiner Kleider
wie blühendes Feld spürte, nahm er seine Hände und gab ihm den
Segen des himmlischen Erbes. Meine liebe Tochter, bekleiden auch
Sie sich mit den Kleidern und Gewohnheiten des heiligen Sohnes des

293
ewigen Vaters, damit Sie der Gnade gewürdigt werden können, seinen
Segen zu empfangen.
Wie glücklich sind die Seelen, die um dieses höchsten Zieles willen
in den Orden eintreten: um die Blüten der Gnade Gottes zu sammeln
und dann ihre Früchte im Himmel zu genießen! Jene aber, die aus
anderen Beweggründen gekommen sind, brauchen den Mut nicht zu
verlieren. Man kann ja seine Absicht immer berichtigen, sie gut und
besser machen, wenn man den alten Menschen auszieht, wie wir gesagt
haben, und die Gewohnheiten des Ordenslebens annimmt.
Wohlan denn, meine sehr teure Tochter, bleiben wir im Frieden, und
Sie werden den neuen Menschen anziehen, wie wir Ihnen sagen wer-
den, wenn wir Ihnen den Schleier aufsetzen, und Sie werden den Segen
empfangen, den die Kirche in dieser Absicht gibt. Amen.

Zum Fest der Darstellung Marias

Nr. 26: 21. November 1619 IX,231- 239

Das Evangelium (Lk 11,27f), das uns die heilige Kirche am heutigen
Fest vorlegt, setzt sich aus zwei Teilen zusammen, die beide auf das
Lob der hochheiligen Jungfrau hinauskommen, deren Darstellung im
Tempel wir feiern. Der erste berichtet: Während Unser Herr predigt,
ruft eine Frau ganz laut und sagt zu ihm: Selig ist der Schoß, der dich
getragen, und die Brüste, die dich genährt haben. Er antwortet ihr dar-
auf: Selig sind jene, die das Wort Gottes hören, es anhören und es befol-
gen. Das ist der zweite Teil; bei ihm will ich vor allem verweilen, weil
er mehr zum Ruhm der seligsten Jungfrau beiträgt.
Das gibt unser göttlicher Meister uns zu verstehen durch die Ant-
wort, die er jener Frau gab; denn wenn auch der erste Lobspruch vom
Heiligen Geist eingegeben war, wurde er doch von einem Menschen
ausgesprochen. Da aber der Heiland das Lob, das man seiner hoch-
heiligen Mutter spendete, nicht mindern sondern steigern wollte, setz-
te er das Loblied fort, das von der hl. Marcella zu Ehren Unserer
lieben Frau angestimmt wurde, und sagte: Das ist wahr, aber noch
seliger ist sie, weil sie das Wort meines Vaters gehört und es befolgt
hat. Ohne Zweifel ist es eine große Ehre, daß sie mich in ihrem Schoß
getragen und mit der Milch genährt hat, die ihren Brüsten entquoll,
mich, der ich die Nahrung der Engel und der Menschen in der himm-

294
lischen Glorie bin. Dennoch war das nicht die Grundlage ihrer Glück-
seligkeit, sondern daß sie stets gehorsam gegen den Willen meines
Vaters war. Die Seligkeit ist nicht an die Würde gebunden und wird
nicht nach deren Maß verliehen, sondern nach dem Maß unserer Ein-
heit mit dem göttlichen Willen. Wenn man also die Würde der Mutter
Gottes von der vollkommenen Unterwerfung der allerseligsten Jung-
frau unter seinen heiligen Willen trennen könnte, hätte sie doch den
gleichen Grad der Glorie und die gleiche Glückseligkeit besessen, die
sie jetzt im Himmel hat. Nun, das sei nebenbei gesagt.
Unsere liebe Frau hatte drei große Vorzüge vor allen bloßen Ge-
schöpfen: 1. war sie dem Willen Gottes, d. h. seinem Wort stets ganz
gehorsam, und das vom Augenblick ihrer Empfängnis an, ohne jemals
auch nur einen Augenblick zu schwanken oder abzuweichen. Sie war
nie einer Versuchung ausgesetzt und konnte sich nie lösen von jener
Vereinigung und Verbindung ihres Willens mit dem Willen Gottes,
die sie damals einging. Dieser Vorzug wurde keinem anderen Geschöpf
zuteil, nicht einmal den Engeln; sie konnten sich ja ändern und sich
der Gnade begeben, die sie von der göttlichen Majestät bei ihrer Er-
schaffung empfangen hatten. Das zeigt der Sturz Luzifers und seines
Anhangs zur Genüge. Und was die Menschen betrifft, wer könnte
Mensch sein und nicht wissen, daß er dem Wechsel und der Verände-
rung unterworfen ist? Diese Erfahrung machen wir an uns selbst jeden
Tag. Wo ist einer, der stets in der gleichen Stimmung wäre? Zur Stunde
wollen wir dies, gleich darauf wollen wir es nicht mehr, sondern möch-
ten etwas anderes; innerhalb kurzer Zeit sind wir fröhlich, dann trau-
rig; kurz, es ist ein ständiger Wechsel.
Unsere liebe Frau kann nie von der ersten Gnade abweichen, die sie
von der erhabenen Majestät empfangen hat, da sie immer in Abhängig-
keit vom göttlichen Willen blieb, so daß sie unaufhörlich neue Gna-
den verdiente. Und je mehr sie empfing, um so mehr wurde ihre Seele
fähig, Gott anzuhangen, so daß sie sich mehr denn je mit ihm vereinig-
te und ihre erste Verbindung mit ihm festigte. Wenn man also eine
Veränderung in der seligsten Jungfrau feststellen kann, dann die, daß
sie sich noch mehr vereinigte und, soviel sie konnte, in jeder Art von
Tugend zunahm, um ihren Entschluß, Gott ganz zu gehören, unverän-
derlich zu machen. Deshalb wollte sie sich in den Tempel zurückzie-
hen, nicht weil es für sie notwendig gewesen wäre, sondern um uns, die
wir dem Wandel unterworfen sind, zu lehren, daß wir uns aller mögli-
chen Mittel bedienen müssen, um unsere inneren und äußeren guten
Vorsätze recht zu bestärken und zu bewahren. Für sie genügte es, um
in ihrem guten Vorsatz zu beharren, daß sie sich vom ersten Augen-

295
blick ihres Lebens an Gott hingegeben hat, ohne daß sie deswegen das
Haus ihres Vaters hätte verlassen müssen. Sie brauchte nicht zu fürch-
ten, daß äußere Dinge sie je ablenken könnten; aber als gute Mutter
wollte sie uns lehren, daß wir nichts unterlassen dürfen, um unsere
Berufung recht zu sichern, wie der hl. Petrus uns mahnt (2 Petr 1,10).
Die heilige Jungfrau besaß den Gebrauch der Vernunft vom Augen-
blick ihrer Empfängnis an und sah im selben Augenblick, wie die gött-
liche Güte sie vor dem Abgrund der Erbsünde bewahrte, in den sie
gestürzt wäre, hätte sie nicht seine allmächtige Hand zurückgehalten.
Aus Dankbarkeit für diese Gnade übergab und weihte sie sich so un-
bedingt seinem Dienst, daß das Wort, das sie der göttlichen Majestät
gab, unwiderruflich war. Dessen ungeachtet aber hielt sie drei Jahre
lang ihren Entschluß verschlossen und verborgen unter der Gestalt
des Kindseins. Ich sage, unter dem äußeren Anschein, denn in Wirk-
lichkeit war sie kein Kind, sondern führte ein rein beschauliches Le-
ben, da sie den Gebrauch der Vernunft besaß. Sie war ein so weises
Kind, wie man sich keines vorstellen kann, das ihr je gleichkäme, ab-
gesehen von ihrem vielgeliebten Sohn. Als sie drei Jahre alt war, wur-
de sie einen Teil des Weges von Nazaret nach Jerusalem getragen, den
anderen Teil legte sie mit ihren kleinen Füßen zurück. Es wird berich-
tet, wie schön es anzusehen war, als sie freudig die fünfzehn Stufen des
Tempels hinaufstieg.
Damit sind wir schon beim zweiten Teil unserer Predigt. Der hl.
Joachim und die hl. Anna trugen sie tatsächlich, um das Gelübde zu
erfüllen, das sie Gott gemacht hatten, sie ihm in seinem Tempel darzu-
bringen. Das gebenedeite Kind kam aber auch, gedrängt von seinem
eigenen Willen; und obwohl es sich an die Grenzen der Kindheit hielt
und diesen Willen nicht offen zeigte, wurde ihm doch die Zeit lang,
bis es sich vollkommen dem Dienst der göttlichen Majestät geweiht
sah. Sie kam mit unvergleichlichem Verlangen, sich Gott ohne Rück-
halt hinzugeben. Hätte sie es gewagt, dann hätte sie offenbar zu den
frommen Frauen, die die Mädchen erzogen, die man im Tempel dem
Herrn weihte, gern gesagt: Ich bin in euren Händen wie eine Wachs-
kugel; macht mit mir alles, was ihr wollt, ich werde keinen Wider-
stand leisten. Sie war auch so gefügig und unterwürfig, daß sie sich von
jeder Hand leiten ließ, ohne jemals irgendeinen Wunsch nach dem
oder jenem zu äußern. Sie zeigte sich so fügsam, daß sie Bewunderung
erweckte.
Von da an begann sie ihren Sohn nachzuahmen, der sich dem Willen
jedes einzelnen so unterwerfen sollte, daß er sich dem nie widersetzen

296
wollte, obwohl es in seiner Macht lag, allen zu widerstehen. Am Be-
ginn seines Leidens zeigte er seine Allmacht, da er als Löwe aus dem
Stamm Juda (Offb 5,5) das Wort brüllte: Ego sum; ich bin es. Als die
Juden ihn suchten, fragte er sie: Wen sucht ihr? Sie antworteten ihm:
Jesus von Nazaret. Er sagte: Ich bin es, und mit diesem Wort warf er
alle seine Feinde zu Boden (Joh 18,4-6). Doch gleich darauf hieß er
sie wieder aufstehen und verbarg seine Allmacht von neuem unter
dem Mantel einer heiligen Sanftmut und Milde. Vom Augenblick an,
da sie ihn gefangennahmen und zum Tod führten, fanden sie bei ihm
nicht den geringsten Widerstand. Er erlaubte ihnen nicht nur, ihn zu
scheren wie ein sanftes Lämmlein (Jes 53,7; Jer 11,19), sondern ihn
auch bis auf die Haut zu entblößen. Die heilige Jungfrau sah das alles
voraus, unterwarf sich ohne jeden Vorbehalt, ergab sich und lieferte
sich vollkommen der Hand des göttlichen Willens aus.
Das ist der zweite Vorzug, den sie vor allen Geschöpfen besaß, denn
keines übergab sich je so vollkommen und bedingungslos wie sie der
göttlichen Majestät. Sie gehorchte vollkommener dem Wort Gottes
als irgendjemand und schenkte sich ihm bedingungsloser als alle. Wer
alles gibt, behält nichts zurück. Aber ich bitte euch, was heißt das, uns
Gott ganz schenken? Das heißt, nichts für sich behalten, was nicht
Gott wäre, nicht einmal eine einzige unserer Neigungen oder einen
Wunsch. Verlangt das Gott von uns? Hört bitte den heiligen Erlöser
unserer Seelen: Mein Kind, schenk mir dein Herz (Spr 23,26), wieder-
holt er für jeden von uns.
Aber, wird man mir sagen, wie kann das geschehen, daß ich Gott
mein Herz schenke, das voll von Sünden und Unvollkommenheiten
ist? Wie könnte es ihm wohlgefällig sein, da es ganz erfüllt ist von
Ungehorsam gegen seinen heiligen Willen? Armer Mensch, worüber
regst du dich auf? Warum weigerst du dich, es ihm so zu schenken, wie
es ist? Begreifst du nicht, daß er nicht sagt: Gib mir ein Herz wie das
der Engel oder Unserer lieben Frau, sondern: schenk mir dein Herz?
Es ist dein eigenes Herz, das er verlangt; schenk es ihm so, wie es ist.
Denn ach, wissen wir denn nicht, daß alles zum Guten gewendet wird,
was in seine heiligen Hände gelegt wird (Röm 8,28)? Ist dein Herz
auch aus Erde, Schlamm oder Schmutz, fürchte dennoch nicht, es in
die Hände Gottes zu legen. Als er Adam erschuf, nahm er wohl ein
wenig von der Erde, dann schuf er daraus ein lebendes Wesen (Gen
2,7). Hast du ein gutes Herz? Schenk es ihm so, wie es ist, denn das ist
es, was die göttliche Güte verlangt. Er will nichts, als was wir sind und
was wir haben.

297
Im Alten Bund hatte Gott angeordnet, daß jeder seinen Tempel
besuche; er verbot aber, daß einer mit leeren Händen komme (Ex
23,15; Dtn 16,16), ob arm oder reich. Dennoch wollte er nicht, daß
alle das gleiche Opfer darbrachten, sondern wollte, daß die Reichen
als Wohlhabende entsprechend ihrem Reichtum opferten, die Ar-
men entsprechend ihrer Armut (Ex 12,8; Lk 2,24). Folglich war er
nicht zufrieden, wenn die Reichen Gaben darbrachten, die denen
der Armen entsprachen, weil das Geiz verriet. Ebensowenig war er
einverstanden, daß die Armen die Gabe der Reichen darbrachten,
weil das Anmaßung wäre. Wenn die Weltleute der göttlichen Maje-
stät ihren Wunsch und Willen darbringen, seinen Geboten zu folgen,
wird Gott sich damit begnügen und sie werden recht glücklich sein;
denn wenn sie diese beobachten, werden sie gerettet (Mt 19,17). Aber
die Seelen, die reich an heiligen Vorsätzen sind, große Dinge für
Gott zu tun, dürfen nicht die Gabe der Armen darbringen, denn da-
mit wird er sich nicht begnügen. Der Herr hat euch reich mit seiner
Gnade beschenkt; er will, daß ihr ihm bringt, was ihr habt.
Unsere liebe Frau bringt heute eine Gabe dar, wie Gott sie wünscht;
denn abgesehen von der Würde ihrer Person, die alle anderen außer
ihrem Sohn übertrifft, opfert sie alles, was sie ist und was sie hat; das
ist es, was Gott verlangt. Wie glücklich sind wir also. Durch die Ge-
lübde, die wir gemacht haben, haben wir ihm alles geweiht: unseren
Leib, unser Herz und unseren Besitz. Auf Reichtümer haben wir ver-
zichtet durch das Gelübde der Armut, auf die Freuden des Fleisches
durch das der Keuschheit und auf unseren Eigenwillen durch das des
Gehorsams. Ihr Weltleute, erfreut euch eures Besitzes, wenn es euch
gutdünkt, soweit ihr niemand unrecht tut; genießt die erlaubten und
von der heiligen Kirche gebilligten Freuden; tut euren Willen bei so
vielen Gelegenheiten; Gott erlaubt euch das alles. Wir aber müssen
sehr darauf achten, nichts zurückzubehalten, denn Gott will keinen
Vorbehalt, er will alles. Und wie er sich uns in seinem göttlichen Sa-
krament ganz schenkt, ebenso will er uns ganz. Beachten wir, daß er
nicht getäuscht werden kann (Gal 6,7). Wenn wir sagen, daß wir alles
geben wollen, müssen wir es ganz tun, auf die Gefahr hin, wie Hananias
und seine Frau Saphira bestraft zu werden, die den Heiligen Geist
belogen (Apg 5,1-10).
Bei uns ist es aber nicht wie bei Unserer lieben Frau. Sie hatte es
nicht nötig, ihre Opfergabe von neuem zu bekräftigen, nachdem sie
diese einmal dargebracht hatte; denn sie hörte nie auch nur einen
Augenblick auf, ganz Gott zu gehören, dem göttlichen Willen verhaf-

298
tet und verbunden zu sein. Für uns dagegen ist es wegen der Unbestän-
digkeit und Wandelbarkeit unserer Neigungen und Launen notwen-
dig, daß wir jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr das
Versprechen und das Wort, das wir gegeben haben, ganz Gott zu gehö-
ren, wieder bekräftigen und erneuern. Deshalb hat man nicht nur im
Neuen Bund, sondern selbst im Alten Bund stets daran festgehalten,
bestimmte Zeiten und bestimmte Tage hervorzuheben, um die Men-
schen zu ermutigen, ihre guten Entschlüsse zu erneuern.
Die Israeliten, die das Volk Gottes waren, machten ihre Erneuerung
an jedem Neumond, und um dazu jeden einzuladen, begingen sie feier-
liche Feste und bliesen die Hörner (Lev 23,24; Num 10,10; 29,1; Ps
81,4), um den Geist anzuregen, nicht zu Prahlerei oder Nichtigkeit,
sondern zu den ewigen Dingen. Die heilige Kirche als weise Mutter
bietet uns das ganze Jahr hindurch von Zeit zu Zeit besondere Feste,
um uns zu ermutigen, unsere guten Vorsätze zu erneuern. Denn ich
bitte euch, wer wollte sich am hohen Osterfest nicht ganz erneuern
durch heilige Affekte und Entschlüsse, es besser zu machen, wenn er
Unseren Herrn in seiner Auferstehung ganz erneuert sieht? Welcher
Christ erneuerte nicht sein Herz am Pfingstfest, wenn er bedenkt, daß
Gott vom Himmel einen neuen Geist auf jene herabsendet, die ihn
lieben (Ps 1,12; Ez 18,31; Apg 2,17); und am Fest aller Heiligen, an
dem uns die heilige Kirche die Glorie und Glückseligkeit der seligen
Geister vor Augen stellt, nach der wir uns sehnen und die wir erhof-
fen? Wer könnte schließlich so wenig Mut haben, daß er sich am Weih-
nachtsfest nicht zu erneuern trachtete, an dem man den Erlöser unse-
rer Seelen ein überaus liebenswürdiges Kindlein werden sieht, das uns
loszukaufen kommt?
Doch über alle diese Feste hinaus ist es Brauch bei allen, die sich in
besonderer Weise Gott geweiht haben wie die Ordensmänner und Or-
densfrauen, einen bestimmten Tag zu wählen, um ihre Gelübde zu
bekräftigen, damit sie den Rat des großen Apostels (2 Petr 1,10) bes-
ser befolgen, unsere Berufung recht zu festigen. Wie könnten wir das
besser tun als durch die neue Bekräftigung unseres Vorsatzes und der
Wahl, die wir getroffen haben? Ihr, meine Lieben, habt also heute
einen neuen Nagel auf eure Berufung gesetzt durch die Erneuerung
eurer Gelübde in Gegenwart der göttlichen Majestät. Sie erwartet das
von euch als Anerkennung für die heilige Gabe, die sie euch gleichzei-
tig durch sich selbst geschenkt hat.
Zum dritten Vorzug der glorreichen Jungfrau kann ich nicht mehr
kommen. Fügen wir trotzdem noch das Wort hinzu, daß sie der göttli-
chen Majestät gehorsam war, nicht nur ihren Geboten, sondern auch

299
ihren Wünschen und Eingebungen. Sie darin möglichst genau nachzu-
ahmen, darauf müssen wir bedacht sein, meine Lieben. Das sage ich
deswegen, weil sich sehr wenige finden, die das getreu tun, und viele,
die erklären, es tun zu wollen. Dem Willen Gottes gehorchen heißt,
seinem Wort folgen. Fragt doch einen Christen, ob er das Wort Gottes
nicht befolgen will: O, das will ich gewiß. Doch hört Unseren Herrn,
der (Mt 5,3f) sagt: Selig sind die Armen im Geiste. Trotzdem gibt es so
wenige, die nicht reich sein möchten! Ich mache mir nichts daraus,
reich zu sein, ja ich liebe die Armut. Ja, wenn euch nichts mangelt.
Und wer wird dem Wort des Erlösers: Selig sind die Sanftmütigen,
gerecht? Ich komme eben aus der Welt und ich kann euch versichern,
daß es sehr wenige gibt, die das verwirklichen. Wenn man ihnen Sanft-
mut predigt, weil Unser Herr gesagt hat: Lernt von mir, denn ich bin
sanft und demütig von Herzen (Mt 11,29), gibt es wenige, die nicht
erwidern: Aber die Sanften fürchtet man nicht genügend. O Gott, wenn
ihr gefürchtet sein wollt, werdet ihr nicht demütig sein, denn nichts ist
der Demut mehr entgegengesetzt. Beachtet, daß unser göttlicher Mei-
ster nicht gefürchtet werden wollte, außer einmal in seinem Leben,
wie ich schon erwähnt habe, als er im Ölgarten zu denen, die ihn er-
greifen wollten, sagte: Ich bin es. Es gibt noch weniger, die an das Wort
glauben wollen: Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen
(Mt 5,10).
Bei diesem Gehorsam darf es ebensowenig eine Ausnahme geben
wie bei der Hingabe unserer selbst, die Gott von uns will. Unsere liebe
Frau wäre der göttlichen Majestät nicht wohlgefällig gewesen ohne
diesen bedingungslosen Gehorsam. Das zeigt Unser Herr durch das
Lob, das er ihr nach jenem der begnadeten Frau spendete, von dem
unser Evangelium berichtet. Um so weniger werden wir es sein. Meine
lieben Schwestern, wenn auch keine andere als die seligste Jungfrau
die Ehre haben konnte, tatsächlich die Mutter Unseres Herrn zu sein,
müssen wir dennoch danach trachten, diesen Namen zu verdienen durch
den Gehorsam gegen den Willen Gottes. Ihr wißt ja, daß Unser Herr
eines Tages im Tempel Worte des ewigen Lebens (Joh 6,69) sprach,
während Unsere liebe Frau draußen stand. Da sagte ihm jemand, daß
seine Mutter und seine Brüder nach ihm verlangten (es gab nämlich
einige Verwandte, die er seine Brüder nannte). Darauf antwortete er:
Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Das sind jene, die den
Willen meines Vaters im Himmel tun (Mt 12,46-50). – – –

300
Zum Fest Maria Reinigung

Nr. 28: 2. Februar 1620 IX,250-265

Gott spricht, wenn er wirkt, und er wirkt, indem er spricht (Ps 33,9;
148,5). Damit zeigt er uns, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen,
gut zu sprechen; vielmehr müssen wir unseren Vorsätzen die Wirkun-
gen folgen lassen und unseren Worten die Taten, wenn wir ihm wohl-
gefällig sein wollen. Wie sein Wort Tat ist, ebenso will er, daß unserem
Wort unverzüglich die Tat folgt und unserem guten Vorsatz die Aus-
führung. Wenn man deshalb im Altertum den guten Menschen vorstel-
len wollte, bediente man sich des Vergleichs mit einem Pfirsich, auf
den man ein Blatt des Pfirsichbaums legte, weil der Pfirsich die Form
eines Herzens hat und das Blatt des Pfirsichbaums die Form der Zun-
ge. Damit drückte man aus, daß der gute, tugendhafte Mensch nicht
nur eine Zunge hat, um viel Gutes zu sagen; da diese Zunge auf seinem
Herzen liegt, spricht er vielmehr nur, insofern sein Herz es will. Das
heißt: er sagt nur Worte, die zuerst aus seinem Herzen hervorgehen,
das ihn zugleich zur Ausführung und zur Verwirklichung seiner Worte
führt. Aus dem gleichen Grund hatten die vier Wesen (Ez 1,5-8) nicht
nur Flügel, um zu fliegen, sondern unter ihnen auch Hände. Das soll zu
verstehen geben, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen, Flügel zu
haben, um durch heilige Wünsche und Erwägungen zum Himmel zu
fliegen, wenn wir nicht zugleich Hände haben, die uns zur Verwirkli-
chung und Ausführung unserer Wünsche bringen. Es ist ja sicher, daß
uns gute Vorsätze und heilige Entschlüsse allein nicht in das Paradies
führen, wenn sie nicht von Wirkungen begleitet sind, die ihnen ent-
sprechen.
Um diese Wahrheit zu bekräftigen, kommt also Unser Herr heute in
den Tempel, um hier Gott, seinem Vater dargebracht zu werden. Da-
mit unterwarf er sich dem Gehorsam gegen das Gesetz, das Gott einst
dem Mose auf die steinernen Tafeln geschrieben gegeben hat (Ex 24,12;
34,1; 2 Kor 3,7). In diesem Gesetz gab es eine Reihe besonderer Vor-
schriften, die unseren göttlichen Meister und Unsere liebe Frau in
keiner Weise verpflichteten. Der Erlöser ist ja der König und Herr-
scher aller Welt, der Himmel, der Erde und all dessen, was sie erfüllt;
er konnte daher keinem Gesetz und Gebot unterworfen sein. Weil er
uns aber als erhabenes und unvergleichliches Vorbild vor Augen ge-
stellt werden sollte, dem wir in allem gleichförmig werden müssen,

301
soweit es die Schwachheit unserer Natur zulassen kann, deswegen
wollte er trotzdem das Gesetz beobachten und sich ihm unterwerfen,
nach seinem Beispiel auch seine hochbegnadete Mutter, wie wir im
heutigen Evangelium (Lk 2,22-38) sehen. Es berichtet von der Reini-
gung Unserer lieben Frau und von der Darstellung Unseres Herrn im
Tempel. Darüber will ich drei Erwägungen anstellen, bei denen ich
mich nicht lange aufhalten, sondern sie nur im Vorbeigehen streifen
will. Ich überlasse sie dann eurem Geist, daß ihr sie wie die reinen
Tiere (Lev 11,2f.47) wiederkäuen und sie gut und nutzbringend ver-
dauen könnt. Die erste Erwägung betrifft das Beispiel einer tiefen,
echten Demut, das unser göttlicher Heiland und die glorreiche Jung-
frau uns geben; die zweite den Gehorsam, der auf die Demut gepfropft
ist; an dritter Stelle erwäge ich die vorzügliche Methode, gut zu beten,
die sie uns lehren.
Zum ersten: welch größere und tiefere Demut könnte man sich vor-
stellen als jene, die Unser Herr und Unsere liebe Frau üben, indem sie
in den Tempel kommen, der eine, um wie alle Kinder der sündigen
Menschheit hier dargebracht zu werden, die andere, um gereinigt zu
werden? Es ist ganz sicher, daß Unser Herr zu dieser Zeremonie nicht
verpflichtet sein konnte, die nur Sünder betraf, da er die Reinheit selbst
war. Und welcher Reinigung konnte Unsere liebe Frau bedürfen, da
sie weder befleckt war noch sein konnte? Sie hatte vom Augenblick
ihrer Empfängnis an eine so außergewöhnliche Gnade empfangen, daß
die der Kerubim und Serafim in keiner Weise damit zu vergleichen ist.
Denn obwohl Gott ihnen vom Augenblick ihrer Erschaffung an mit
seiner Gnade zuvorkam, um sie davor zu bewahren, in Sünde zu fal-
len, waren sie dennoch nicht von diesem Augenblick an so gefestigt,
daß sie nicht untreu werden konnten, sondern wurden es erst hernach
kraft der Entscheidung, die sie fällten, sich dieser ersten Gabe zu be-
dienen, und durch die freiwillige Unterwerfung ihres freien Willens.
Unserer lieben Frau jedoch kam die Gnade Gottes zuvor und sie wur-
de im Augenblick ihrer Empfängnis zugleich so gefestigt, daß sie we-
der fallen noch sündigen konnte. Unbeschadet ihrer Reinheit kamen
jedoch das Kind und seine Mutter an diesem Tag, sich im Tempel dar-
zustellen, als wären sie Sünder wie die übrigen Menschen. O unver-
gleichlicher Akt der Demut!
Je größer die Würde der Person ist, die sich demütigt, um so höher
ist der Akt ihrer Demut zu schätzen. O Gott, welche Größe Unseres
Herrn und Unserer lieben Frau, die seine Mutter ist! Welch schöne
Erwägung, zugleich die nützlichste und fruchtbarste, die wir anstellen
können, ist die über die Demut, die der Heiland so innig geliebt hat!

302
Es hat den Anschein, daß sie seine Vielgeliebte war und daß er nur
vom Himmel herabstieg, um aus Liebe zu ihr auf die Erde zu kom-
men. Sie ist die größte der rein sittlichen Tugenden, denn ich will nicht
von der Gottesliebe und der heiligen Liebe sprechen; sie sind nicht
nur eine besondere Tugend, sondern eine allgemeine Tugend, die alle
anderen umfaßt und von der sie ihren Glanz empfangen. Was aber die
einzelnen Tugenden betrifft, gibt es keine, die so groß und so notwen-
dig ist wie die Demut.
Unser Herr hat sie so sehr geliebt, daß er lieber sterben wollte, als von
ihrer Übung zu lassen. Er hat selbst (Joh 15,13) gesagt: Es gibt keine
größere Liebe, als sein Leben einzusetzen für das, was man liebt. Nun, er
hat wahrhaftig sein Leben gegeben für diese Tugend, denn sterbend hat
er den hervorragendsten und erhabensten Akt der Demut gesetzt, den
man sich je vorstellen kann. Um uns in etwa die Liebe unseres Erlösers
zu dieser heiligen Tugend begreiflich zu machen, sagt der heilige Apo-
stel Paulus (Phil 2,8), daß er sich erniedrigt hat bis zum Tod und bis zum
Tod am Kreuz, als wollte er sagen: Mein Meister hat sich nicht nur für
einige Zeit oder für einige bestimmte Handlungen verdemütigt, son-
dern bis zum Tod, d. h. vom Augenblick seiner Empfängnis an und dann
sein ganzes Leben lang bis zum Tod; und nicht nur bis dahin, sondern er
wollte sogar im Sterben die Demut üben. Er überbietet diese Demut
und fügt hinzu: zum Tod am Kreuz, zum schimpflichsten und über jede
andere Todesart hinaus verächtlichen Tod.
Dieses göttliche Vorbild belehrt uns, daß wir uns nicht damit begnü-
gen dürfen, die Demut in einigen besonderen Akten zu üben oder nur
für einige Zeit, sondern immer und bei jeder Gelegenheit; nicht nur
bis zum Tod, sondern bis zur Abtötung unser selbst, indem wir auf
diese Weise die Liebe zu unserer eigenen Hochschätzung und die
Hochschätzung unserer Eigenliebe demütigen. Man darf sich nicht
mit der Übung einer bestimmten Demut in der Haltung und in Worten
abgeben; sie besteht darin, zu sagen, daß wir nichts sind, und so viele
äußere Ehrenbezeigungen und Verdemütigungen zu machen, wie ihr
wollt, und was weiß ich für Dinge, die nichts weniger als die Demut
selbst sind. Nun, damit sie gut ist, muß sie uns nicht nur erkennen,
sondern anerkennen lassen, daß wir ein wahres Nichts sind, das nicht
zu leben verdient. Sie macht uns biegsam, geschmeidig und gegen je-
dermann gefügig. Auf diese Weise befolgen wir das Gebot des Hei-
lands, der uns befiehlt, uns selbst zu verleugnen, wenn wir ihm folgen
wollen (Mt 16,24).
Viele täuschen sich darin, daß sie denken, die Demut sei eine nur für
Novizen und Anfänger geeignete Übung; sobald sie ein kleines Stück

303
auf dem Weg zu Gott zurückgelegt hätten, könnten sie gut in dieser
Übung nachlassen. Gewiß, während sie sich schon für weise halten,
werden sie als sehr töricht erfunden (Röm 1,22). Sehen sie denn nicht,
daß Unser Herr sich erniedrigte bis zum Tod, d. h. die ganze Zeit seines
Lebens? Wie gut wußte der göttliche Meister unserer Seelen, daß die-
ses Beispiel für uns notwendig war. Er hatte es ja in keiner Weise nötig,
sich zu erniedrigen, und wollte dennoch dabei bleiben, es zu tun, weil
die Notwendigkeit dazu in uns lag. Wie notwendig ist die Ausdauer in
diesem Punkt, denn wie viele hat man schon gesehen, die sehr gut mit
der Übung der Demut begannen, aber aus Mangel an Ausdauer ge-
scheitert sind. Unser Herr hat nicht gesagt: Wer anfängt, sondern wer
ausharrt in der Demut, wird gerettet (Mt 10,22; 24,13).
Was ließ die Engel sündigen, wenn nicht der Mangel an Demut?
Denn obwohl ihre Sünde Ungehorsam war, ließ sie dennoch der Stolz
ungehorsam werden, um alles bei seinem Ursprung zu erfassen. Der
elende Luzifer begann damit, sich anzuschauen und zu betrachten,
dann ging er dazu über, sich zu bewundern und sich in seiner Schön-
heit zu gefallen, und aus diesem Wohlgefallen sagte er: Ich will nicht
dienen, und warf damit das Joch der heiligen Unterwerfung ab (Jes
14,13f; Jer 2,20). Er hatte wohl recht, sich zu sehen und die Vorzüg-
lichkeit seiner Natur zu betrachten, aber nicht, um sich darin zu
gefallen und darüber eingebildet zu werden. Es ist nicht schlecht,
sich zu betrachten, um Gott für die Gaben zu preisen, die er uns
geschenkt hat, wenn wir nicht zur Eitelkeit und Selbstgefälligkeit
übergehen. Es gibt ein Wort der Philosophen, das aber von den christ-
lichen Lehrern für gut befunden wurde, das heißt: erkenne die Vor-
züglichkeit deiner Seele, um sie nicht geringzuschätzen und zu ver-
achten. Indessen muß man immer in den Grenzen und im Rahmen
einer heiligen, liebevollen Dankbarkeit gegen Gott bleiben, von dem
wir abhängig sind und der uns zu dem gemacht hat, was wir sind (Ps
100,3).
Unsere Stammeltern und fast alle anderen, die gesündigt haben,
wurden durch den Stolz bewogen. Als guter, liebevoller Arzt faßt Un-
ser Herr das Übel an der Wurzel und beginnt anstelle des Stolzes vor
allem die schöne und nützliche Pflanze der hochheiligen Demut ein-
zusetzen; jene Tugend, die uns um so notwendiger ist, als das entgegen-
gesetzte Laster unter den Menschen allgemein verbreitet ist. Wir ha-
ben gesehen, wie es bei den Engeln den Stolz gab und wie der Mangel
an Demut sie für immer verlorengehen ließ. Sehen wir aber, wie viele
Menschen, die gut begonnen haben, aus Mangel an Ausdauer in dieser

304
Tugend gescheitert sind. Was hat König Saul am Beginn seiner Regie-
rung nicht alles getan. Die Heilige Schrift sagt (1 Sam 13,1), daß er
unschuldig war wie ein Kind von einem Jahr. Trotzdem änderte er sich
durch seinen Stolz derart, daß er verdiente, von Gott verworfen zu
werden. Welche Demut bewies doch Judas, solange er in der Gefolg-
schaft Unseres Herrn lebte; seht indessen, welchen Stolz er im Ster-
ben hatte. Da er sich nicht demütigen und Werke der Buße tun wollte,
die eine sehr große, gediegene Demut voraussetzen, verzweifelte er,
daß er Vergebung erlangen könnte (Mt 27,4f). Es ist unerträglicher
Hochmut, sich vor der göttlichen Barmherzigkeit nicht erniedrigen
zu wollen, von der wir alles Gute und all unser Glück erwarten müs-
sen.
Mit einem Wort, das ist ein allen Menschen gemeinsames Übel.
Deshalb kann man nie genug darüber predigen und ihrem Geist die
Notwendigkeit der Ausdauer in der Übung der hochheiligen und über-
aus liebenswürdigen Tugend der Demut einprägen. In dieser Absicht
kamen Unser Herr und Unsere liebe Frau heute, um das Brandmal
der Sünder anzunehmen, sie, die es nicht sein konnten, und um sich
dem Gesetz zu unterwerfen, das für keinen von beiden erlassen war.
Welch große Demut, sich so zu erniedrigen! Die Erniedrigung der
Kleinen ist nichts Großes und nichts sehr Bedeutendes im Vergleich
mit der von Riesen. Die Katzen, die Ratten und ähnliche Tiere, deren
Bauch fast die Erde berührt, haben keine große Schwierigkeit, sich
wieder zu erheben, wenn sie einmal gefallen oder zusammengebro-
chen sind; wenn aber die Elefanten einmal gefallen oder gestürzt sind,
haben sie die größte Mühe und Schwierigkeit, sich wieder zu erheben
und auf die Beine zu kommen. Ebenso ist es nichts Großes zu sehen,
daß wir uns erniedrigen und demütigen, denn wir sind nur ein kleines
Nichts und verdienen nur Verachtung und Erniedrigung; unser lieber
Heiland dagegen und die heilige Jungfrau sind wie Riesen von unver-
gleichlicher Größe und Erhabenheit; ihre Demütigungen sind von un-
schätzbarem Wert. Seit sie sich einmal gedemütigt hatten, blieben sie
es die ganze Zeit ihres Lebens und wollten sich nicht mehr erheben.
Vielmehr hat Unser Herr, und seine hochgebenedeite Mutter nach
ihm, sich erniedrigt bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Wir Elen-
den aber kriechen und schleichen wie Ratten, Katzen oder ähnliche
Tiere nur über die Erde; doch wenn wir uns bei einer günstigen Gele-
genheit erniedrigt haben, erheben wir uns sogleich wieder, werden
hochmütig und streben danach, für etwas Besonderes gehalten zu wer-
den.

305
Wir sind die Unlauterkeit selbst und wollen, daß man uns für rein
und heilig halte; wahrhaftig eine größere Torheit, als man sagen kann.
Unsere liebe Frau hat nicht gesündigt, wollte aber dennoch für eine
Sünderin gehalten werden. Nehmt doch eine Tochter Evas: wofür er-
wartet sie nicht geehrt und geachtet zu werden? Gewiß, wenn dieses
Übel auch allgemein unter den Menschen verbreitet ist, so scheint es
dennoch, daß dieses Geschlecht mehr dazu neigt als jedes andere.
Unsere glorreiche Herrin war in keiner Weise ein Tochter Evas dem
Geist, sondern nur dem Blute nach, denn sie war stets nur äußerst
demütig und bescheiden, wie sie selbst in ihrem heiligen Lobgesang
(Lk 1,48) sagt: Der Herr hat auf die Demut seiner Magd geschaut;
deswegen werden mich alle Geschlechter seligpreisen. Ich weiß wohl,
sie hat es so verstanden, daß Gott auf ihr Kleinsein und ihre Niedrig-
keit geschaut hat; aber gerade darin erkennen wir ihre tiefe und auf-
richtige Demut besser. Hört sie bitte, wie sie sich stets geringschätzte,
vor allem, als der Engel ihr verkündete, daß sie die Mutter des Gottes-
sohnes werden sollte: Ich bin seine Magd, sagte sie. Ich beschließe den
ersten Punkt (denn man muß sich kurz fassen, zumal sich das Thema
oft bietet). Unser göttlicher Meister lehrt uns, welche Hochschätzung
wir für die hochheilige Demut haben müssen, der stets seine Liebe
gehörte. Sie ist auch der Boden und das Fundament des ganzen Gebäu-
des der Vollkommenheit. Dieses kann nur beruhen und sich erheben
auf der Übung einer tiefen, aufrichtigen und wahrhaftigen Anerken-
nung unserer Niedrigkeit und Schwachheit, die uns zu echter Ernied-
rigung und Selbstverachtung führt.
Gehen wir zum zweiten Punkt über und sagen wir: die Demut unse-
res göttlichen Heilands und seiner hochgebenedeiten Mutter war stets
von einem vollkommenen Gehorsam begleitet. Dieser Gehorsam hat-
te solche Macht über beide, daß sie lieber sterben wollten, ja des Todes
am Kreuz, als nicht zu gehorchen. Unser Herr starb am Kreuz aus
Gehorsam. Und welch glänzende Akte des Gehorsams machte Unse-
re liebe Frau selbst in der Todesstunde ihres Sohnes, der das Herz
ihres Herzens war! Sie widersetzte sich ja nicht im geringsten dem
Willen des himmlischen Vaters, sondern verharrte fest und standhaft
am Fuß des Kreuzes (Joh 19,25) und dem göttlichen Wohlgefallen
ganz unterworfen. Wir können die gleichen Worte des hl. Paulus (Phil
2,8) anwenden, wie wir es für die Demut getan haben: Unser Herr ist
gehorsam geworden bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Die ganze
Zeit seines Lebens tat er alles nur im Gehorsam, wie er selbst bestä-
tigt, wenn er (Joh 6,38) sagt: Ich bin nicht gekommen, um meinen
Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Er

306
schaute also stets in allem auf den Willen seines himmlischen Vaters,
um ihm zu folgen, und nicht nur einige Zeit, sondern immer, bis zum
Tod.
Was Unsere liebe Frau betrifft, seht und betrachtet den Verlauf ihres
Lebens; ihr werdet darin nichts als Gehorsam finden. Sie schätzte die-
se Tugend so hoch, daß sie sich fügte, als ihr befohlen wurde, sich zu
vermählen, obwohl sie das Gelübde der Jungfräulichkeit gemacht hat-
te. Hernach verharrte sie immer im Gehorsam, wie wir heute sehen,
da sie in den Tempel kommt, um dem Gesetz der Reinigung zu gehor-
chen, obwohl weder für sie noch für ihren Sohn irgendeine Notwen-
digkeit bestand, ihm zu gehorchen, wie wir bereits im ersten Punkt
ausgeführt haben. Das war vielmehr ein ganz freiwilliger Gehorsam,
und er war nicht geringer, da er freiwillig und nicht notwendig war. Sie
hat diese Tugend selbst so sehr geliebt, die ihr göttlicher Sohn wie ein
göttliches Reis auf den Stamm der heiligen Demut gepfropft hat, daß
sie den Menschen keine andere empfahl. Im Evangelium findet sich
kein Wort, außer daß sie bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa sagte:
Tut alles, was mein Sohn euch sagen wird (Joh 2,5). Damit hat sie die
Beobachtung des Gehorsams gepredigt. Diese Tugend ist die unzer-
trennliche Begleiterin der Demut. Die eine findet sich nicht ohne die
andere; denn die Demut bewirkt, daß wir uns dem Gehorsam unter-
werfen.
Unsere liebe Frau und heilige Herrin fürchtete nicht, ungehorsam
zu sein, weil sie dem Gesetz in keiner Weise unterworfen war; sie
fürchtete vielmehr den Schatten des Ungehorsams. Denn wäre sie nicht
in den Tempel gekommen, um Unseren Herrn darzubringen und sich
zu reinigen, obwohl sie dessen nicht bedurfte, da sie ganz rein war,
hätten sich Leute finden können, die Nachforschungen über ihr Leben
anstellen wollten, um zu erfahren, warum sie nicht tat wie die übrigen
Frauen. Sie kommt also heute in den Tempel, um den Menschen jeden
Argwohn zu nehmen, den sie hegen könnten, aber auch noch, um uns
zu zeigen, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen, die Sünde zu
meiden, sondern auch den Schatten der Sünde; daß wir nicht bei unse-
rem Entschluß stehenbleiben dürfen, diese oder jene Sünde nicht zu
begehen, sondern daß wir sogar die Gelegenheiten fliehen müssen, die
uns zur Versuchung werden könnten, in sie zu fallen. Sie lehrt uns
auch, daß wir nicht mit dem Zeugnis unseres guten Gewissens zufrie-
den sein dürfen, sondern sorgfältig darauf achten müssen, jeden Arg-
wohn zu meiden, durch den andere an uns oder unserem Benehmen
Anstoß nehmen könnten. Das sage ich für gewisse Leute, die entschlos-
sen sind, bestimmte Sünden nicht zu begehen, die sich aber nicht be-

307
mühen, die Äußerungen zu meiden, daß sie diese Sünden gern begin-
gen, wenn sie es wagten.
Wie sehr muß dieses Beispiel des hochheiligen Gehorsams, das
Unser Herr und Unsere liebe Frau uns geben, uns anspornen, uns
vollkommen und ohne Rückhalt dem Gehorsam zu unterwerfen in
allem, was uns befohlen wird, uns aber damit nicht zu begnügen, son-
dern auch das zu befolgen, was uns geraten wird, um uns der göttlichen
Güte wohlgefälliger zu machen. Mein Gott, ist es etwas so Großes, uns
gehorsam zu sehen, die wir geboren sind, um zu dienen, da der erha-
benste König, dem alles untertan sein muß, sich dem Gehorsam unter-
werfen wollte? Nehmen wir also dieses heilige Beispiel an, das der
Heiland und die glorreiche Jungfrau uns geben; lernen wir, uns zu
unterwerfen, biegsam, geschmeidig und für alle Hände lenksam zu
werden durch den hochheiligen Gehorsam, und nicht nur für einige
Zeit, noch für bestimmte einzelne Akte, sondern für immer, für die
ganze Zeit unseres Lebens bis zum Tod.
Sehen wir drittens, wie wir im heutigen Evangelium eine vorzügli-
che Art finden können, das Gebet zu verrichten. Viele täuschen sich
sehr, wenn sie glauben, daß es vieler Dinge, vieler Methoden bedürfe,
um es gut zu machen. Einige von ihnen findet man sehr eifrig bemüht,
alle möglichen Mittel ausfindig zu machen, um eine bestimmte Kunst
zu finden, die zu kennen ihnen notwendig scheint, um es gut zu ma-
chen, und sie hören nie auf, an ihrem Gebet herumzutüfteln und zu
klügeln, um zu sehen, wie sie es nach ihrem Wunsch machen könnten.
Die einen denken, man dürfe nicht husten und sich nicht rühren, aus
Furcht, daß sich der Geist Gottes zurückziehe; eine überaus große
Torheit, als ob der Geist Gottes so empfindlich wäre, daß er von der
Methode oder von der Haltung derer abhinge, die das Gebet verrich-
ten. Ich sage nicht, daß man sich nicht bestimmter Methoden bedie-
nen soll; aber man darf sich nicht an sie klammern und an ihnen hän-
gen, so daß wir unser ganzes Vertrauen in sie setzen wie jene, die glau-
ben, wenn sie nur stets ihre Erwägungen vor den Affekten machen, sei
alles gut. Es ist sehr gut, Erwägungen zu machen, nicht aber, sich der-
maßen an die eine oder andere Methode zu klammern, daß man denkt,
alles hänge von unserer Betriebsamkeit ab.
Um ein gutes Gebet zu verrichten, ist nur eines notwendig, nämlich
Unseren Herrn in unseren Armen zu halten. Wenn das zutrifft, ist es
immer gut gemacht, auf welche Weise wir es auch anstellen. Es gibt
keinen anderen Kunstgriff, und ohne diese Voraussetzung vermögen
unsere Gebete nie etwas und können von Gott nie angenommen wer-

308
den. Der göttliche Meister hat ja selbst (Joh 14,6) gesagt: Niemand
kann zum Vater gelangen, außer durch mich. Das Gebet ist nichts an-
ders als „eine Erhebung unseres Geistes zu Gott“, die wir keineswegs
aus uns selbst machen können. Wenn wir nun unseren Heiland in un-
seren Armen halten, wird uns alles leicht. Seht doch den hl. Simeon,
wie gut er betet, während er Unseren Herrn in seinen Armen hält. Laß
nun deinen Diener in Frieden gehen, sagt er, denn er hat sein Heil, sei-
nen Gott gesehen. Es wäre ein übler Streich, wollte man unseren Herrn
Jesus Christus aus seinem Gebet ausschließen und meinen, es ohne
seinen Beistand gut zu machen. Ohne Zweifel können wir dem ewigen
Vater nicht gefallen, wenn er uns nicht anschaut durch seinen Sohn,
unseren Heiland (vgl. Ps 84,10; Röm 8,29); und nicht nur die Men-
schen, sondern auch die Engel, denn wenn er auch nicht ihr Erlöser
ist, so ist er doch ihr Retter und sie sind durch ihn in der Gnade gefe-
stigt. Wenn man durch ein rotes oder violettes Glas schaut, erscheint
unseren Augen alles, was man sieht, von der gleichen Farbe; ebenso
findet uns der ewige Vater so schön und gut, wie er es wünscht, wenn er
uns durch die Schönheit und Güte seines hochgebenedeiten Sohnes
anschaut; denn sonst sind wir die Häßlichkeit und Unförmigkeit selbst.

Ich habe gesagt, das Gebet ist „eine Erhebung zu Gott“. Das ist rich-
tig; denn obwohl wir auf dem Weg zu Gott den Engeln und Heiligen
begegnen, erheben wir den Geist nicht zu ihnen, noch richten wir un-
sere Gebete an sie, wie die Häretiker boshafterweise behaupten woll-
ten. Vielmehr bitten wir sie nur, ihre Gebete mit den unseren zu verei-
nigen und eine heilige Verschmelzung mit ihnen zu bewirken, damit
durch diese heilige Verbindung die unseren von der göttlichen Güte
besser aufgenommen werden. Er wird sie immer gnädig annehmen,
wenn auch wir seinen teuren Benjamin mitbringen, wie die Kinder
Jakobs taten, als sie ihren Bruder Josef in Ägypten aufsuchten (Gen
43,15). Wenn wir ihn nicht mitbringen, werden wir die gleiche Strafe
erhalten, die Josef seinen Brüdern androhte, daß sie nämlich sein
Angesicht nicht mehr schauen und von ihm nichts bekommen würden,
wenn sie ihren kleinen Bruder nicht mitbrächten (Gen 42,20; 43,3).

Unser lieber kleiner Bruder ist das gebenedeite Kindlein, das Unse-
re liebe Frau heute in den Tempel bringt, das sie selbst oder durch den
hl. Josef dem guten Greis Simeon übergibt. Es ist wahrscheinlicher,
daß es der hl. Josef tat, nicht die seligste Jungfrau; dies aus zwei Grün-
den: einmal, weil die Väter ihre Kinder darzubringen kamen, so als
hätten sie mehr Anteil an ihnen als die Mutter selbst; zum anderen,

309
weil sich die Frauen, solange sie noch nicht gereinigt waren, dem Al-
tar nicht zu nahen wagten, auf dem das Opfer geschah (Lev 12,4). Wie
dem auch sei, das hat nicht viel zu bedeuten. Es genügt, daß der hl.
Simeon das hochgebenedeite Kindlein auf seine Arme nahm, entwe-
der aus den Händen Unserer lieben Frau oder des hl. Josef. Wie glück-
lich sind jene, die in der rechten Verfassung in den Tempel kommen,
um diese Gnade zu erlangen, von der Gottesmutter oder ihrem Bräu-
tigam unseren Herrn und Meister zu empfangen. Denn wenn wir ihn in
unseren Armen halten, haben wir nichts mehr zu wünschen und wir
können wohl das heilige Lied singen: Nun laß deinen Diener in Frieden
ziehen, mein Gott, denn meine Seele ist ganz zufriedengestellt, da sie
alles besitzt, was das Wünschenswerteste im Himmel und auf Erden
ist (Ps 73,25).
Ich bitte euch aber, erwägen wir ein wenig die notwendigen Voraus-
setzungen, um diese Gunst zu erlangen, daß wir den Erlöser in die
Arme schließen und ihn aus den Händen Unserer lieben Frau empfan-
gen wie der hl. Simeon und Hanna, jene gute Witwe, die das Glück
hatte, zur gleichen Zeit im Tempel zu sein. Die Kirche läßt uns (im
Brevier) singen, daß der hl. Simeon gerecht war, weil er gottesfürchtig
war. Das Wort gottesfürchtig an mehreren Stellen der Heiligen Schrift
läßt uns an die Ehrfurcht vor Gott und den Dingen in seinem Dienst
denken. Er war also voll Ehrfurcht vor den heiligen Dingen. Dann
erwartete er die Erlösung Israels und der Heilige Geist war in ihm. Diese
vier Voraussetzungen sind notwendig, um das Gebet gut zu verrichten,
denn diese muß man zunächst erfüllen, damit wir Unseren Herrn in
unseren Armen halten können; denn darin besteht das wahre Gebet.
Erstens, Simeon war gerecht. Was heißt das anderes, als daß er sei-
nen Willen nach dem Willen Gottes ausgerichtet hatte? Gerecht sein
heißt nichts anderes als nach dem Herzen Gottes sein und nach sei-
nem Wohlgefallen leben. Was uns betrifft, sind wir um so weniger
fähig, das hochheilige Gebet zu verrichten, je weniger wir unseren
Willen dem Unseres Herrn angeglichen haben. Fragt jemand, wohin
er gehe: Ich gehe beten. Das ist gut; Gott möge dich zum Ziel deines
Wunsches und Unterfangens führen. Aber sag mir bitte, was willst du
dabei tun? Ich will Gott um Tröstungen bitten. Das ist gut gesagt: du
willst also nicht deinen Willen nach dem Willen Gottes ausrichten,
der will, daß du Trockenheit und Unfruchtbarkeit hast? Das heißt nicht
gerecht sein. O, ich will Gott bitten, daß er mich von den vielen Zer-
streuungen befreit, die mir beim Gebet kommen und mich dabei belä-
stigen. Ach, seht ihr nicht, das heißt doch nicht, euren Willen befähi-

310
gen, sich dem Unseres Herrn zu vereinigen und anzupassen. Er will,
daß ihr zu Beginn des Gebetes entschlossen seid, dabei die Not ständi-
ger Zerstreuungen, Trockenheiten und des Widerwillens zu ertragen,
die euch überkommen, und ebenso zufrieden zu sein, als wenn ihr
viele Tröstungen und Ruhe hättet. Es ist ja sicher, daß euer Gebet Gott
nicht weniger angenehm, noch uns weniger nützlich sein wird, weil es
unter vielen Schwierigkeiten verrichtet wird. Wenn wir nur unseren
Willen bei allen Ereignissen nach dem der göttlichen Majestät aus-
richten, sei es im Gebet oder bei anderen Gelegenheiten, werden wir
immer unsere Gebete und alles andere nützlich und in den Augen
seiner Güte angenehm verrichten.
Die zweite Voraussetzung, die notwendig ist, um das Gebet gut zu
verrichten, besteht darin, daß wir wie der gute hl. Simeon die Erlösung
Israels erwarten, d. h. daß wir in der Erwartung unserer eigenen Voll-
endung leben und nicht ablassen zu warten. Das sage ich für manche,
die das Verlangen haben, vollkommen zu werden durch die Aneig-
nung von Tugenden, die aber alle auf einen Schlag haben möchten, als
ob die Vollkommenheit in nichts anderem bestünde als im Verlangen
nach ihr. Das wäre gewiß eine große Wohltat, wenn wir sogleich ohne
andere Mühe demütig sein könnten, sobald wir das Verlangen haben,
es zu sein. Oder wenn ein Engel eines Tages eine Schatzkammer mit
Tugenden und mit der Vollkommenheit selbst füllen könnte und wir
nichts anderes zu tun hätten, als hinzugehen und sie anzuziehen, wie
wir es mit einem Kleid tun. Das wäre gewiß sehr angenehm. Weil das
aber nicht möglich ist, müssen wir uns daran gewöhnen, das Eintreten
unserer Vollkommenheit in Herzensruhe zu suchen, indem wir alles
tun, was wir vermögen, um die Tugenden zu erwerben durch die Treue
in ihrer Übung, jeder nach seinem Stand und Beruf. Was das Errei-
chen des Ziels unseres Strebens früh oder spät betrifft, bleiben wir in
Erwartung; überlassen wir das der göttlichen Vorsehung. Sie wird dar-
auf bedacht sein, uns wie den hl. Simeon zu der Zeit zu trösten, die sie
dafür bestimmt hat (1 Petr 5,7.10). Und selbst wenn das erst in der
Stunde unseres Todes wäre, muß uns das genügen, wenn wir nur unsere
Pflicht erfüllen, indem wir stets tun, was an uns liegt und in unserer
Macht steht. Wir würden immer früh genug haben, was wir ersehnen,
wenn wir es haben, sobald es Gott gefällt, es uns zu geben.
Die dritte Bedingung ist, daß wir gottesfürchtig sein müssen wie der
hl. Simeon, d. h. voll Ehrfurcht vor Gott zur Zeit des heiligen Gebetes.
Denn welche Verehrung und Ehrfurcht müssen wir doch haben, wenn
wir mit der göttlichen Majestät sprechen, wenn die Engel, die so rein

311
sind, in seiner Gegenwart zittern. Aber, mein Gott, ich kann dieses
Gefühl der Gegenwart Gottes nicht haben, die eine so große Erniedri-
gung der ganzen Seele bewirkt, d. h. aller Fähigkeiten unserer Seele,
und schließlich jene fühlbare Ehrfurcht, die mich so sanft und ange-
nehm vor Gott erniedrigt. Nun, von dieser Ehrfurcht will ich nicht
sprechen, sondern von jener, die bewirkt, daß der höhere Teil und die
Spitze unseres Geistes sich niedrig und demütig vor Gott hält, seine
unendliche Größe und unsere tiefe Niedrigkeit und Unwürdigkeit
anerkennt. Wie gut tut es, die Ehrfurcht zu sehen, mit welcher der hl.
Simeon das göttliche Kind in seinen Armen hielt, da er die Erkenntnis
der erhabenen Würde dessen besaß, den er trug!
Viertens wird gesagt, daß der Heilige Geist im hl. Simeon war und
seine Wohnung in ihm nahm. Das geschah deshalb, weil er gewürdigt
wurde, unseren Herrn zu sehen und in seinen Armen zu halten. Wir
müssen also dem Heiligen Geist Raum in uns geben, wenn wir wollen,
daß Unsere liebe Frau oder der hl. Josef uns den göttlichen Heiland zu
tragen und in unseren Armen zu halten gibt. Darin besteht unser gan-
zes Glück, denn wir können nur durch seine Vermittlung und seine
Gunst Zugang zu seinem Vater haben (Röm 5,2; Eph 2,18; 3,12). Was
muß man nun tun, um dem Heiligen Geist Raum in uns zu geben? Der
Geist des Herrn ist ausgegossen über die ganze Erde (Weish 1,7). Trotz-
dem heißt es aber an einer anderen Stelle (4,5), daß er nicht in einem
falschen und heuchlerischen Herzen wohnt. Es ist wichtig, daß der
Geist Gottes nur den Vorbehalt der Falschheit und Heuchelei macht,
um nicht in uns zu wohnen. Wir müssen also schlicht und einfach sein,
wenn wir wollen, daß er zu uns kommt und nach ihm Unser Herr. Der
Heilige Geist scheint ja der Quartiermacher unseres Erlösers Jesus
Christus zu sein. Wie er von aller Ewigkeit von ihm als Gott ausgeht,
scheint er mit ihm zu tauschen, indem Unser Herr als Mensch von ihm
ausgeht.
Was bleibt uns jetzt noch zu sagen? Wenn wir in diesem vergängli-
chen und sterblichen Leben den Heiligen Geist in uns haben und uns
in großer Achtung und Ehrfurcht vor der göttlichen Majestät halten,
ergeben das Erreichen unserer Vollkommenheit erwarten und, soviel
wir können, unseren Willen dem Willen Gottes angleichen, dann wer-
den wir das Glück haben, den Heiland in unseren Armen zu halten,
und durch diese Gnade werden wir ewig selig sein. Amen.

312
Zum Kar freitag
Karfreitag

Nr. 29: 17. April 1620 IX,266-285

Der große heilige Apostel Paulus, der Prediger des Kreuzes Unseres
Herrn, berichtet (Apg 17,22f), daß er eines Tages durch die Stadt Athen
ging und sein Blick zufällig auf einen Altar fiel, der die Aufschrift
trug: Dem unbekannten Gott. Er sagt: Zufällig sah ich mit meinen
Augen einen Altar, dem unbekannten Gott geweiht. Das nahm er zum
Anlaß, den Athenern zu verkünden, wer dieser unbekannte Gott ist,
den sie verehrten. Vielgeliebte, teuerste Athener, sagte ihnen der gro-
ße Prediger des Kreuzes, dieser Gott, den ihr noch nicht kennt, den
ich euch eben jetzt kennen lehren will, ist kein anderer als Gott, der
ewige Vater, der seinen Sohn auf die Erde herabsandte, damit er unse-
re menschliche Natur annehme. Obwohl er Gott war wie sein Vater, in
Natur und Wesen ihm gleich, hat er dennoch in der menschlichen
Natur den Tod erlitten, ja den Tod am Kreuz (Phil 2,8), um dem ge-
rechten Gott, seinem Vater, Genugtuung zu leisten; der war mit Recht
gegen die Menschen erzürnt wegen der Sünde unserer Stammeltern,
eine Sünde, die ohne Zweifel allen den ewigen Tod brachte. Wie die
meisten Menschen jener Zeit anerkannten die Athener mehrere Göt-
ter, doch schließlich bekannten sie, daß unter diesen einer war, den sie
nicht kannten.
Der große Apostel nahm also diese Aufschrift zum Anlaß, ihnen
eine ausgezeichnete Predigt zu halten und sie mit bewundernswerten
Ausdrücken den Gott erkennen zu lehren, den sie noch nicht kannten.
Meine sehr teuren Schwestern, da ich hier kurze Zeit zu euch sprechen
soll, habe ich bei meiner Erwägung die Augen auf die Inschrift gerich-
tet, die ich nicht auf dem Altar der Athener, sondern auf dem unver-
gleichlichen Altar gesehen habe, auf dem unser Erlöser und Meister
sich für uns Gott, seinem Vater geopfert hat als überaus wohlgefälliges
Opfer von unvergleichlicher Lieblichkeit. Dieser Altar ist nichts an-
deres als das Kreuz, das seither stets als überaus kostbar und anbe-
tungswürdig verehrt wurde. Als ich nun über die Inschrift nachdachte,
die auf ihm angebracht ist, glaubte ich nach dem Vorbild des Predigers
des Kreuzes keinen anderen Gegenstand als Grundlage nehmen zu
dürfen für das, was ich euch zu sagen habe. Nicht daß ich zu euch
sprechen wollte über einen unbekannten Gott, denn dank seiner Güte
kennen wir ihn; gewiß könnte ich aber von einem verkannten Gott
sprechen. Wir werden euch also diesen Gott nicht kennen lehren, son-

313
dern euch lehren, ihn, der für uns gestorben ist, als ganz liebenswürdig
anzuerkennen.
Wie nützlich ist doch diese Anerkennung! Denn wahrhaftig, um nur
einiges zu nennen: Abraham, Isaak und Jakob hätten eine gewisse Ent-
schuldigung gehabt, wenn sie die göttliche Majestät nicht anerkannt
hätten, da sie ihn nicht so klar erkannten wie wir. Wir sind unent-
schuldbar, denn wir haben von Gott selbst erfahren, wer er ist, durch
den göttlichen Mund Unseres Herrn, der mit seinem Vater der gleiche
Gott ist, wie wir gesagt haben. Die Christen werden unentschuldbar
sein (Röm 1,20), wenn sie ihn nicht aus ganzem Herzen geliebt und
ihm gedient haben, denn sie wurden so gut belehrt, wie liebenswert er
ist und wie sehr er sie geliebt hat, indem er sein Leben für sie hingab
(vgl. Gal 2,20; Eph 5,2).
Nun habe ich nicht die Absicht, meine lieben Schwestern, zu euch
darüber zu sprechen, unter wieviel Schmach und Schmerzen, Bitter-
keit und Angst, Schimpf, Beleidigung und Verachtung unser göttli-
cher Meister den Tod erlitten hat; ich will euch auch keine Beschrei-
bung der bitteren Grausamkeit geben, mit der die Juden ihn ans Kreuz
schlugen. Ihr wißt ja, ich habe euch immer zu verstehen gegeben, daß
dies die weniger wichtige Erwägung über die Passion unseres Erlösers
ist und jene, bei der ihr weniger verweilen sollt, weil die Regung des
Mitleids über sein Leiden weniger nützlich ist. Er scheint uns das selbst
einprägen zu wollen, als er zu den Frauen, die ihm folgten, sagte, sie
sollten nicht über ihn, sondern über sich selbst weinen (Lk 23,27f).
Wenn wir Tränen haben, weinen wir ganz einfach, denn wir können sie
über keinen würdigeren Gegenstand vergießen. Aber bleiben wir nicht
dabei stehen, gehen wir zu nützlicheren Erwägungen über, wie sie das
Leiden unseres Erlösers erfordert.
Ich greife also mein Vorhaben wieder auf und erwäge die Inschrift,
die über das Kreuz gesetzt ist. Wie bewundernswert ist sie doch! Wenn
ich sie erwäge, bin ich ganz ergriffen! Jesus von Nazaret, König der
Juden (Joh 19,19). Wer hätte je annehmen können, daß so heilige Worte
durch den erbärmlichen Mund eines derart schlechten Menschen aus-
gesprochen würden, wie Pilatus es war? Sie waren dennoch sehr wahr,
und Unser Herr hat sie in seiner Passion bestätigt, wie wir im Verlauf
unserer Predigt sehen werden. Es ist bemerkenswert, welch schöne
Worte die Juden beim Tod unseres Erlösers gesagt haben, obgleich sie
das nicht beabsichtigten, sondern sie böswillig in schlechter Absicht
sagten. Welch schönere und der Wahrheit besser entsprechende Aus-
sage hätte man machen können als die des Schlechtesten unter allen
Menschen, des erbärmlichen Kajaphas: Es ist notwendig, daß ein

314
Mensch stirbt (nämlich der Vortrefflichste aller Menschen), aus Furcht,
daß andere zugrundegehen, als daß alle zugrundegehen (Joh 11,49f).
Und die Juden: Sein Blut werde ausgegossen über uns und unsere Kin-
der (Mt 27,25). Das geschah in der Person vieler von ihnen, so durch
die Bekehrung der Apostel und der anderen Jünger, die ihre Kinder
waren. Als Pilatus die Inschrift des Kreuzes geschrieben hatte, sagte
er: Was ich geschrieben habe, ist geschrieben (Joh 19,22); damit be-
kräftigte er diese Wahrheit.
Was aber wollen diese geheimnisvollen Worte besagen? 1. Jesus be-
deutet soviel wie Erlöser; 2. von Nazaret, der blütenreichen, blühen-
den Stadt; 3. wird gesagt, daß Unser Herr König war: drei Eigenschaf-
ten, die ihm in höchstem Maß zukamen.
Zunächst: er ist Erlöser. Wie wahr ist das! Er ist Heiland nicht nur
der Menschen, sondern auch der Engel. Alle empfangen das Heil von
der göttlichen Güte und empfangen es kraft des Todes und Leidens
Jesu Christi; denn von Ewigkeit faßte er diesen Gedanken voll Erbar-
men (Jer 29,11; 31,3), für alle zu sterben. Man muß aber bekennen,
daß die Menschen im Tod und Leiden Unseres Herrn einen Grund
unausprechlichen Trostes haben; denn wenn er auch der Retter der
Engel ist, so ist er doch nicht ihr Erlöser, wohl aber der Menschen. Als
die Engel gesündigt hatten, wurden sie sogleich in ihrer Bosheit ver-
härtet infolge der freien Wahl des Bösen, die sie trafen, und dessen,
was Gott mißfallen konnte. So gab es für sie von da an keine Hoffnung
mehr, sich davon freimachen zu können. Seit sie die Sünde gewählt
hatten, waren sie deren Sklaven (Joh 8,34; Röm 6,16; 2 Petr 2,19). Sie
waren der Verworfenheit in einem Maß verfallen und verhaftet, daß es
ihnen nie mehr möglich sein wird, sich von ihr zu lösen. Unglückli-
cher Weise machten sie von ihrer Willensfreiheit gegen den göttlichen
Willen Gebrauch; deshalb wurde dieser freie Wille für immer den
Qualen der Hölle unterworfen. Als aber der Mensch von der verbote-
nen Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse (Gen 2,17;
3,6) gegessen hatte, beschloß Unser Herr, d. h. die zweite göttliche
Person der heiligen Dreifaltigkeit, diesen armen Menschen um den
Preis seines überaus kostbaren Blutes zu erlösen und die menschliche
Natur anzunehmen, die er untrennbar mit seiner göttlichen Person
vereinigte, um leiden und sterben zu können, wie er es getan hat.
Wie lieblich und erfreulich, mehr als man sagen kann, ist dieser
Gedanke! Welche Freude, welche Rührung des Herzens, welches Lab-
sal muß diese Wahrheit im Menschen bewirken, daß Unser Herr sein
Erlöser und Retter ist und daß er sein Leben von ihm erhält! Ihm ist
das Leben dazu gegeben, damit er es jedem schenke und damit alle es

315
von ihm empfangen, wie er es vom Vater hat (Joh 5,24-26; 6,58). Es ist
nicht das Leben des Leibes, wovon wir zu sprechen beabsichtigen, dar-
an kann niemand zweifeln, sondern das geistliche Leben. Unser Herr
besaß nun nicht ein gewöhnliches, kleines Leben, sondern ein überrei-
ches Leben (Joh 10,10), damit jeder Mensch daran teilhaben und le-
ben kann aus diesem gleichen Leben, nämlich dem der Gnade, das
ganz vollkommen und ganz liebenswürdig ist. Um uns aber dieses
Leben zu erwerben, hat Unser Herr es für uns erkauft um den Preis
seines Blutes (1 Kor 6,20; 1 Petr 1,18f) und das seine hingegeben.
Also ist unser Leben nicht das unsere, sondern das seine; wir gehören
nicht mehr uns, sondern ihm. Da er uns erkauft hat, sind wir seine
Sklaven. Welch glückliche Sklaverei! Wir dürfen also nicht mehr für
uns leben, sondern für ihn (2 Kor 5,15). Welche Macht hat dieser Zu-
sammenhang, uns zu veranlassen, daß wir uns ganz dem Dienst dieser
himmlischen Liebe weihen, durch die wir so liebevoll begünstigt wor-
den sind, wenn ich es zu sagen wagen darf, sogar mehr als die Engel.
Sehen wir nun, auf welche Weise sich Unser Herr in seinem Tod und
Leiden wahrhaft als Erlöser und Retter der Menschen erwies. Als die
treulosen Juden ihre unerhört barbarische Grausamkeit gegen das
überaus sanfte Lamm (Jer 11,19) fast gestillt und ihn ans Kreuz ge-
schlagen hatten, da stieß ihr elender Mund mehrere abscheuliche Got-
teslästerungen gegen die göttliche Majestät aus. Als Antwort auf diese
ungerechten und unwürdigen Gotteslästerungen rief unser Erlöser die
göttlichen Worte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun
(Lk 23,34). Mein Gott, wie bewundernswert sind diese Worte! Ich
bitte euch, bedenkt die Herzensgüte unseres Meisters und seht, zu
welchen Mitteln die Liebe greift, um das Ziel ihrer Absichten zu errei-
chen, nämlich die Ehre Gottes und das Heil des Nächsten. Mein Vater,
rief unser teurer Erlöser, als wollte er sagen: Ich bin dein Sohn; erin-
nere dich, daß du mein Vater bist und mir deshalb nichts abschlagen
darfst. Und um was bittet er? Um nichts für sich, denn er hat sich
selbst vergessen. Er leidet mehr, als man sich je vorstellen kann; er
denkt aber trotzdem nicht an sich und an das, was er erduldet. Er tut
genau das Gegenteil von uns; wenn wir einen Schmerz haben, können
wir nur daran denken und vergessen fast alles andere; ja sogar Zahn-
schmerzen lassen uns alles um uns herum vergessen, so sehr lieben wir
uns selbst und sind wir dem armseligen Leib verhaftet.
Die Menschen denken fast ihr ganzes Leben lang daran, was sie bei
ihrem Tod machen müssen, wie sie ihren letzten Willen gut aufsetzen,
damit er recht verstanden wird für das, was sie ihren Kindern oder
anderen hinterlassen, die ihr Vermögen erben sollen. Deshalb machen

316
viele ihr Testament bei voller Gesundheit, da sie fürchten, die Macht
des Todesleidens könnte sie der Möglichkeit dazu berauben, ihre Ab-
sichten bei ihrem Tod zu bekunden. Unser Herr aber wußte, daß er
sein Leben hingeben und es bewahren konnte, wie es ihm gefiel (Joh
10,17f); er schob es bis zu seinem Tod auf, sein Testament zu machen;
ein Testament, das er versiegelte und verschloß, bevor es geschrieben
und verkündet wurde.
Um zu zeigen, daß das Geschriebene ihr Wille ist und daß sie ver-
langen, es soll so geschehen, verschließen die Menschen das Testa-
ment mit ihrem Siegel, das sie aber erst anbringen, wenn alles vollen-
det ist. Der Erlöser wollte sein Testament erst am Kreuz und kurz vor
seinem Tod verkünden; trotzdem drückte er ihm sein Siegel auf und
verschloß es vor allem anderen. Sein Siegel ist nichts anderes als er
selbst, wie er Salomo in seiner Person der frommen Seele sagen ließ:
Drücke mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie einen Stempel auf
deinen Arm (Hld 8,6). Er brachte dieses heilige Siegel an, als er das
allerheiligste und anbetungswürdigste Sakrament des Altares einsetz-
te, das er sein neues Testament nennt (Mt 26,8; Lk 22,20; 1 Kor 11,25).
Dieses Sakrament enthält in sich die Gottheit und Menschheit zu-
gleich und vollkommen die heilige Person Unseres Herrn.
Durch die heilige Kommunion legte und drückte er sich also wie ein
heiliges Siegel und ein überaus liebenswürdiger Stempel auf unser
Herz. Dann machte er sein Testament und tat seinen letzten Willen am
Kreuz kund, kurz bevor er starb, damit alle Menschen, die seine Miter-
ben (Röm 8,17) im Königreich seines himmlischen Vaters sein sollen,
ganz genau unterrichtet sind, sowohl darüber, was sie tun müssen, wie
über seine unvergleichliche Liebe zu ihnen. Er vergißt sich selbst, um
zuerst an sie zu denken, so groß ist seine Liebe; erst dann kommt er auf
sich zurück.
Sein Testament, meine Lieben, ist nichts anderes als die göttlichen
Worte, die er am Kreuz sprach. Ganz eingenommen von der Liebe, die
er zu den Sündern hegte, wollte er also seinen himmlischen Vater be-
sänftigen, indem er ihn Vater nannte: Mein Vater, vergib ihnen, denn sie
wissen nicht, was sie tun. Welch unvergleichlicher Beweis vollkomme-
ner Liebe! Liebet einander, wie ich euch geliebt habe (Joh 13,34; 15,12;
vgl. Mt 5,44f; Lk 10,37), hatte er oft gesagt, als er dem Volk oder den
Aposteln predigte, so daß es schien, als liege ihm nichts anderes so am
Herzen, als ihnen diese hochheilige Liebe einzuprägen. Jetzt aber gibt
er dafür ein ganz und gar unvorstellbares Beispiel: er entschuldigt
sogar jene, die ihn gekreuzigt und mit geradezu barbarischer Wut be-
schimpft haben, und er sucht Gründe, um zu erreichen, daß sein Vater

317
ihnen verzeihe, und das sogar, während sie sündigen und ihn schmä-
hen. Wie armselig sind wir dagegen; denn zur Not können wir eine
Beleidigung zehn Jahre, nachdem sie uns zugefügt wurde, vergessen.
Ja, es gab sogar solche, die nicht einmal in der Todesstunde jene nen-
nen hören und ihnen vergeben wollten, von denen sie irgendein Un-
recht erfahren hatten. O Gott, wie groß ist unser Elend! Wir können
unseren Feinden kaum verzeihen, und Unser Herr liebte sie so innig
und bat so inständig für sie!
Diese so bewundernswerte Bitte trug solche Früchte, daß einige von
ihnen sich bekehrten: die einen sogleich; nachdem sie gehört hatten,
was die menschliche Natur völlig überstieg, bekannten sie, daß er wahr-
haftig der Sohn Gottes war (Mt 27,34; Mk 15,39). Die anderen glichen
einem Hirsch; wenn er getroffen ist, sucht er dennoch den Todeskampf
weit genug von dem Ort entfernt, wo er den tödlichen Stoß empfing.
Unser göttlicher Meister hatte von seinem himmlischen Vater erwirkt,
daß er aus der Höhe viele Pfeile in die Herzen jener abschoß, für die er
bat. Das geschah ganz so, wie er gewünscht hatte. Trotzdem übergaben
viele ihr Leben nicht sogleich, sondern trugen die Wunde von diesen
göttlichen Pfeilen als innere Gewissensbisse bis zum Pfingstfest. An
diesem Tag bekehrten sich auf die erste Predigt des hl. Petrus an die
3000 Menschen (Apg 2,41). Unter ihnen waren zweifellos manche
von denen, die beim Tod Unseres Erlösers zugegen waren. Diese Be-
kehrung ist das Verdienst des bewundernswerten Gebetes, das er an
seinen himmlischen Vater richtete, selbst inmitten der Schmach und
Bosheiten, die seine Feinde ihm zufügten.
Diese entarteten, unglücklichen Menschen stießen gegen seine gött-
liche Majestät und gegen die seines Vaters unerträgliche Gottesläste-
rungen aus wie diese: Wenn er allmächtig ist, wie er sagt, und auf
seinen Vater vertraut, der ihn gesandt hat, soll er ihn jetzt anrufen, daß
er ihn rette; wenn er will, daß wir an ihn glauben, dann rette er sich
jetzt selbst; er sagt, daß er den Tempel in drei Tagen wieder herstellen
wird, und ähnliche wahrhaft teuflische Worte (Mt 27,39-43; Mk 15,29-
33; Lk 23,35-37). Zur selben Zeit, sage ich, sendet Unser Herr Seufzer
des Mitleids zu Gott und Worte, die süßer als Honig (Ps 119,103) und
Zucker sind, damit er ihnen ihre Freveltaten verzeihe und ihnen seine
Gnade schenke. Seht also, daß Unser Herr gerechterweise Erlöser ge-
nannt wird.
Doch abgesehen davon, daß er den Sündern Gnade gewährt, erbittet
er sie von seinem himmlischen Vater mit einer so erfinderischen Lie-
be, daß er ihn nicht Gott und Herr nennt, wie wir sehen werden, daß er
es später tun wird, wenn er für sich spricht. Er sagt vielmehr mein

318
Vater zu ihm, denn er weiß wohl, daß dieses zärtliche Wort, in herzli-
cher Liebe ausgesprochen, ehrfürchtiger ist als mein Herr und er des-
halb eher erhört wird. Anscheinend beginnt er sein Gebet damit, um
das väterliche Herz zu gewinnen, daß er den armen Sündern verzeihe,
für die er sich zum Gewährsmann und Bürgen gegenüber der göttli-
chen Gerechtigkeit macht. Es ist, als habe er sagen wollen: Mein Vater,
vergib diesen armen Sündern, selbst denen, die mich kreuzigen, denn
ich bin da, um für sie zu bezahlen. Ich bitte nicht um Schonung für
mich, denn ich bin auf den Zahltisch des Kreuzes gestiegen, um für
alle ihre Schulden Genugtuung zu leisten. Damit du nichts von ihnen
forderst und damit deine Güte ihnen vergibt, will ich mein Blut bis auf
den letzten Tropfen vergießen, obwohl ein einziger ausreichend wäre.
Ich nehme es bereitwilligst auf mich, die Forderungen deiner Gerech-
tigkeit zu erfüllen. Räche an mir ihre Sünden, den Sündern aber ver-
gib, denn das ist mein Wille. O Gott, welche Güte und welche Milde
des Herzens unseres überaus gütigen Erlösers!
Das erste Vermächtnis in seinem Testament war, den Sündern seine
Gnade zu schenken, durch die sie dann zu seiner Herrlichkeit gelan-
gen könnten, zu der niemand gelangen kann ohne seine Gnade und
ohne die Verdienste seines Leidens. Nachdem er also bereits gezeigt
hat, daß er sehr zu Recht Erlöser genannt wird, da er den Sündern seine
Gnade schenkt, verspricht er dem guten Schächer, der bußfertig war,
seine Herrlichkeit (Lk 23,39-43). Am Rande muß aber bemerkt wer-
den, daß einer der Schächer sich bekehrte, der andere nicht. Wir wer-
den gerechterweise bestraft für unsere Missetaten, sagt der gute Schächer,
denn wir waren stets böse und schlecht und haben große Diebereien
verübt. Auf diese Weise bekannte er seine Sünden. Wir könnten das
ebenso jedesmal tun, wenn wir irgendeine Trübsal erleiden. Wir wer-
den mit Recht bestraft, müßten wir sagen, indem wir aus der Not eine
Tugend machen und unsere Sünden bekennen. Aber ach, wir beneh-
men uns wie der andere Schächer, der in seiner Verhärtung verharrte
und Gott noch im Sterben lästerte.
Nachdem der gute Schächer sein Bekenntnis gemacht hatte, erbat er
sogleich die Lossprechung: Ach, Herr, fügte er hinzu, gedenke meiner,
wenn du in deinem Reich sein wirst. Darauf antwortete unser teurer
Erlöser gütig: Heute noch wirst du bei mir im Paradies sein. Soviel man
weiß, war dies das erstemal, daß er dies versprach. Welch liebliches
und liebenswertes Wort: Heute wirst du bei mir sein. Groß war stets die
Liebe Unseres Herrn zu den Bußfertigen. Kurz zuvor hatte er gebeten,
daß den Sündern Gnade zuteil werde; nun schenkt er den Büßern die
Herrlichkeit. Die Gnade macht die Sünder bußfertig, und nur sie sind

319
der Herrlichkeit würdig. Der Himmel ist fast ausschließlich von Buß-
fertigen erfüllt. Da sind nur Unsere liebe Frau, der hl. Johannes der
Täufer, der hl. Josef und einige andere, die von der Sünde frei waren;
ihnen kam die Gnade zuvor und bewahrte sie davor, daß sie sündigten.
Die allerseligste Jungfrau stand einzigartig über allen anderen, denn
sie wurde nicht nur vor der Erbsünde und der persönlichen Sünde
bewahrt, sondern auch vor ihrem Schatten, indem sie nicht einmal
Unvollkommenheiten beging, so klein sie auch sein mochten.
Das Paradies ist ganz geschmückt mit Büßern, und wie wir gesehen
haben, findet man dort sonst fast nichts. Die Märtyrer waren Büßer,
indem sie ihr Blut vergossen, in dem sie gewaschen wurden wie in
einem Bad der Buße. Alle Martern, die sie erduldeten, waren nichts
anderes als Akte der Buße. Die Jungfrauen waren Büßer, ebenso die
Bekenner. Mit einem Wort, keiner kam in den Himmel ohne Buße
und ohne sich als Sünder zu bekennen, außer jene, von denen wir ge-
sprochen haben. Alle ohne Ausnahme bedurften der Verdienste des
Blutes, das Unser Herr vergossen hat. Ich glaube, es verbreitete so
vorzügliche Düfte und Wohlgerüche vor der Majestät des ewigen Va-
ters wie vor den Menschen, daß es fast unmöglich war, es nicht anzuer-
kennen als das Blut nicht eines bloßen Menschen, sondern eines Gott-
Menschen.
Nach meiner Meinung war dieses hochheilige Blut wie Weihrauch;
wenn man ihn auf das Feuer legt, verbreitet er rings um sich einen
duftenden Rauch, ja läßt diesen Rauch in die Höhe steigen. Ebenso
verbreitete das Blut Unseres Herrn Wohlgerüche nach allen Seiten
(vgl. Eph 5,2), als es bis zum letzten Tropfen aus seinem hochheiligen
Leib zur Erde floß. Dieser kostbare Duft erreichte auch den guten
Schächer, der von so großer Lieblichkeit erfüllt wurde, daß er sich
augenblicklich bekehrte und das gnadenvolle Wort zu hören verdien-
te: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. Von diesem Paradies
wollte unser Erlöser nicht sprechen, bis er jetzt so nahe daran war,
dort einzutreten, und schon an seiner Pforte stand. Ist es nicht ein
echtes Zeichen, daß Unser Herr wahrhaftig unser Erlöser ist, da er so
unbedingt die Herrlichkeit verspricht, daß er es nicht aufschiebt, sie
zu schenken, sondern heute sagt? O Wort voll Trost für die bußferti-
gen Sünder! Doch was seine Güte für den guten Schächer getan hat,
wird sie auch für alle anderen Kinder des Kreuzes tun, d. h. für die
Christen. Glückliche Kinder des Kreuzes, denn sobald ihr bußfertig
seid und eure Sünden bereut, habt ihr die Gewißheit, daß unser Erlö-
ser im gleichen Augenblick euer Retter sein und euch die Herrlich-
keit schenken wird.

320
Dennoch bleibt ihm noch manches Vermächtnis in seinem göttli-
chen Testament zu machen. Wie, sagt ihr mir: gibt es noch etwas ande-
res? Was, meine lieben Schwestern? Da ist eine gewisse geistliche Zärt-
lichkeit, die er seinen liebsten Freunden schenken mußte; eine Zärt-
lichkeit, die nichts anderes ist als ein ganz einzigartiges Mittel, die
erworbene Gnade zu bewahren und zu einem höheren Grad der
Herrlichkeit zu gelangen. Da er also mit Augen voll Mitleid auf seine
gebenedeite Mutter schaute, die mit seinem Lieblingsjünger am Fuß
des Kreuzes stand, wollte er ihr nicht die Gnade schenken oder erbit-
ten, denn die besaß sie schon in höchstem Grad, noch weniger wollte
er ihr die Herrlichkeit versprechen, denn die war ihr ganz sicher; er
schenkte ihr vielmehr eine bestimmte Herzenseinheit und zärtliche
Liebe für den Nächsten. Diese gegenseitige Liebe ist eines der größten
Geschenke, die seine Güte den Menschen gemacht hat.
Doch welche Liebe? Eine mütterliche Liebe. Frau, sagt er, sieh dei-
nen Sohn (Joh 19,26). Gott, welcher Tausch! Statt des Sohnes der
Diener, statt Gott das Geschöpf! Trotzdem weigert sie sich nicht, denn
sie weiß sehr wohl, daß sie in der Person des hl. Johannes alle Kinder
des Kreuzes als ihre Kinder empfängt und daß sie ihnen eine liebevol-
le Mutter sein wird. Unser göttlicher Meister lehrt uns dadurch: wenn
wir teilhaben wollen an seinem Testament und an den Verdiensten
seines Todes und Leidens, müssen wir alle einander lieben mit einer
zärtlichen und überaus herzlichen Liebe des Sohnes zur Mutter und
der Mutter zum Sohn, die in gewisser Hinsicht größer ist als die der
Väter.
Man muß darauf hinweisen, daß Unsere liebe Frau am Fuß des Kreu-
zes stand. Hier haben jene sehr unrecht, die meinen, sie sei vom Schmerz
so überwältigt gewesen, daß sie ohnmächtig wurde. Das trifft ohne
Zweifel nicht zu; sie blieb vielmehr fest und standhaft, wenn auch ihr
Schmerz der größte war, den je eine Frau über den Tod ihres Kindes
empfand, weil es nie eine gab, die so viel Liebe hatte wie sie zu Unse-
rem Herrn, nicht nur, weil er ihr Gott war, sondern auch, weil er ihr
überaus teurer und liebenswerter Sohn war.
Groß war die Standhaftigkeit der seligsten Jungfrau und des
Lieblingsjüngers. Deshalb wurde er mit dem Geschenk ausgezeichnet,
das seine Güte ihm mit seiner heiligen Mutter machte, der liebens-
würdigsten Mutter, die man sich vorstellen kann. Diese Tugend der
Standhaftigkeit und der Großmut des Geistes liebte Unser Herr stets
mehr als viele andere. Die Liebe Unserer lieben Frau war wahrhaftig
stärker und zärtlicher, als man sagen kann, folglich ihr Schmerz beim
Tod und Leiden Jesu Christi heftiger als jeder andere. Wie aber diese

321
Liebe dem Geist gemäß war, gelenkt und geleitet von der Vernunft, so
bewirkte sie auch keine ungeordnete Regung in dem Schmerz, den sie
empfand, als sie sich ihres Sohnes beraubt sah, der ihr unvergleichli-
chen Trost brachte. Die glorreiche Mutter blieb also fest, standhaft
und dem Wohlgefallen Gottes vollkommen unterworfen; er hatte be-
stimmt, daß Unser Herr für das Heil und die Rettung der Menschen
starb.
Wir müssen weitergehen, denn ich habe nicht die Zeit, lange bei
diesem Gegenstand zu verweilen, obwohl es mir Freude gemacht hät-
te, über dieses heilige Zartgefühl zu Ende zu sprechen, d. h. über die
herzliche und zärtliche Liebe, die wir nach dem Willen unseres teuren
Meisters zueinander haben sollen. Unser Herr wurde also Erlöser ge-
nannt, und mit vollem Recht, weil er es selbst bestätigt hat und weil er
es am Kreuz in besonderer Weise verwirklicht hat, wie wir sagten.
Denn wenn auch alles, was er im Lauf seines sterblichen Lebens getan
hat, geschah, um uns zu erlösen, und in der Absicht, seinem himmli-
schen Vater für uns Genugtuung zu leisten, so wird dennoch das, was
er in seinem Tod und Leiden wirkte, als dessen Zusammenfassung das
Werk unserer Erlösung schlechthin genannt.
Er erwies sich aber nicht nur als würdig des Namens Jesus, sondern
auch jenes des Nazareners. Das ist der zweite Punkt unserer Predigt
und das zweite Wort der Inschrift, die ich über dem Altar des Kreu-
zes gesehen und erwogen habe, der nicht dem unbekannten Gott ge-
weiht ist, sondern dem verkannten. Der gütige Erlöser unserer See-
len hat gewollt, daß man ihn Jesus von Nazaret nannte, weil Nazaret
blühende und blumenreiche Stadt bedeutet. Er selbst wollte im Ho-
helied (2,1) die Blume des Feldes und die Lilie der Täler genannt wer-
den. Um uns nun zu zeigen, daß er nicht nur eine Blume, sondern ein
Blumenstrauß war, zusammengesetzt aus einer Anordnung der schön-
sten und duftendsten Blumen, die man finden kann, deshalb wollte
er den Namen Blühender am Baum des Kreuzes behalten. Aber sagt
mir, war Unser Herr am Kreuz nicht eher eine verwelkte, verdorrte
und verblühte Blume als eine blühende? Seht ihn doch, wie er es
wagt, sich blühend zu nennen, obwohl er so erstarrt ist, ganz bedeckt
und besudelt von ekelhaftem, übelriechendem Speichel, die Augen
eingefallen und trüb, das Gesicht von Schlägen zerschunden, blaß
und farblos durch die heftigen Schmerzen und weil er sein hoch-
gebenedeites Blut vergossen hat. Mit einem Wort, die Todesschmerzen
(Ps 18,5; 115,3) hatten sich bereits aller Teile seines Leibes bemäch-
tigt.

322
Meine lieben Schwestern, groß und wunderbar schön sind die Blü-
ten, die diese gesegnete Pflanze des Todes und Leidens aufblühen und
sich entfalten ließ, solange er am Kreuz hing. Es würde zu lange dau-
ern, euch alle zu schildern; deshalb werde ich mich damit begnügen,
nur deren vier zu nennen. Ich werde sie nur im Vorbeigehen berühren
und es dann jeder von euch überlassen, sie den Rest des Tages über zu
betrachten, damit ihre überaus angenehmen Düfte eure Seelen durch-
duften können und sie mit dem Wohlgeruch eines heiligen Vorsatzes
erfüllen, oft an ihnen zu riechen, wie es der Heiland für euren Fort-
schritt in der Vollkommenheit wünscht. Diese vier Blüten sind nichts
anderes als vier von den bedeutendsten und notwendigsten Tugenden.
Die erste ist die hochheilige Demut, die wie das Veilchen einen über-
aus lieblichen Duft beim Tod Unseres Herrn verbreitete; die zweite ist
die Geduld, die dritte die Beharrlichkeit; die vierte ist eine überaus
vortreffliche Tugend, nämlich der heilige Gleichmut.
Was die erste betrifft: hat denn Unser Herr während seines Leidens
nicht nur die tiefste Demut geübt, die echteste und aufrichtigste, die
man sich vorstellen kann, sondern die unvorstellbarste in allen Peinen
und Erniedrigungen, die er erduldete? Hat er diese Tugend nicht sein
Leben lang geübt? Sie war gewiß groß darin, daß er sich wohl nach
Jerusalem nennen lassen konnte oder nach Betlehem, der Stadt, in der
er geboren war und die seinem Vorfahren David gehörte, daß er es
aber trotzdem nicht wollte. Damit wollte er zeigen, daß er seine Wahl
im Gegensatz zu den Großen dieser Welt traf, die die ehrenvollsten
Namen annehmen, die sie können. Er aber wählte den Namen der
geringsten Stadt, den er annehmen konnte, denn er behielt als seinen
Anteil stets die Erniedrigung, die Armut und Niedrigkeit.
Nun sagen uns die Evangelisten (Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23,44f):
Sogleich nachdem unser Erlöser die ersten drei Worte gesprochen hatte,
die wir erwähnten, kam eine Finsternis über die ganze Erde und die
Sonne verfinsterte sich für die Dauer von drei Stunden. Nicht daß diese
Finsternis natürlich gewesen wäre, sie trat auf außergewöhnliche Wei-
se ein. Der Mond hatte seinen Lauf geändert und kam vor der Sonne zu
stehen, woraus die Finsternis folgte. Dabei stelle ich mir vor, daß der
Mond den Sternen einen besonderen Gefallen tat, damit sie die Ehre
hatten, ihr Licht in Gegenwart der wahren Sonne der Gerechtigkeit
(Mal 3,2) erstrahlen zu lassen, die ohne Zweifel verfinstert zu sein
schien, so matt war ihre Farbe. Diese Blume war verwelkt durch die
Todesschmerzen, die sie schon umgaben, so daß sie gestorben zu sein
schien; denn die ganze Zeit über sprach der Erlöser kein Wort, son-

323
dern wahrte während drei Stunden tiefstes Schweigen. Daher kommt
es, daß man in allen gut reformierten Klöstern stets einige Stunden des
Schweigens angeordnet hat, um das Schweigen Unseres Herrn am
Kreuz nachzuahmen.
Doch was denkt ihr, tat der gütige Erlöser unserer Seelen während
dieses Schweigens? Er zog sich in sich selbst zurück und betrachtete
das Geheimnis seiner Erniedrigung. Was ist denn die Demut anderes
als ein Einkehren in uns selbst, um uns gründlich zu betrachten? Daß
dem so ist, gibt er uns zu verstehen durch das, was er nachher sagt:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Ps 22,1; Mt
27,46; Mk 15,34). Nachdem er nicht so sehr seine äußere, sondern
vielmehr seine innere Armut betrachtet hatte, rief er dieses Wort voll-
kommener Demut aus und ließ seine Not, seine Erniedrigung und
Verlassenheit erkennen. Trotzdem darf man das nicht so verstehen, als
hätte der himmlische Vater ihn in der Weise verlassen, daß er seine
väterliche Gunst für den überaus liebenswerten Sohn zurückgezogen
hätte, denn das ist unmöglich, weil er mit der Gottheit verbunden und
vereinigt war. Was aber das Bewußtsein dieser ganz heiligen Huld und
Einheit betrifft, war es einzig auf die Spitze seines Geistes beschränkt,
die übrige Seele war vollkommen den Peinen und Bedrängnissen aller
Art ausgeliefert, so daß es ihn drängt zu sagen: Warum hast du mich
verlassen? Während seines Lebens hatte er stets oder gewöhnlich ir-
gendwelche Tröstungen empfangen. Manchmal zeigte er, daß er Freu-
de empfand über die Bekehrung von Sündern, wie er zu den Aposteln
sagte (Lk 15,4.10.32); in seinem Todesleiden aber hatte er keinerlei
Trost. Alles gereichte ihm zur Bedrängnis, zur Qual und Bitterkeit.
Groß war deshalb seine innere Armut, groß auch der Akt der Demut,
daß er sie uns zu erkennen gab.
Und was denkt ihr, hat unser gütiger Erlöser während dieses langen
Schweigens noch getan? Für mich steht es außer Zweifel, daß er alle
Kinder des Kreuzes schaute, alle wahrhaft guten Menschen, im beson-
deren jene, die Nutzen aus seinem Tod und Leiden ziehen würden. Er
betrachtete uns alle, eines nach dem anderen, und erwog die erforder-
lichen Mittel, um uns die Verdienste seines Leidens zuzuwenden. O
Gott, welche Herzensgüte unseres Meisters, der uns so innig liebte!
Uns, sage ich, und sogar jene, die die furchtbarste Sünde begingen, die
ein Mensch je begehen kann. Es gibt ja keine größere Sünde, als Gott
zu hassen, der in sich in keiner Weise hassenswert sein kann. Nein,
dieser Haß kann sich nur im Herzen von Menschen finden, die rasend
sind vor Verzweiflung und Wut infolge heftiger Schmerzen, die sie
erleiden. Daher kommt es manchmal, daß sie Gott hassen und ganz

324
unfähig sind, ihn zu lieben. Was aber die Juden betrifft, die Unseren
Herrn kreuzigten, so war ihre Sünde ein Ungeheuer an Bosheit. Trotz-
dem hatte Unser Herr Gedanken der Liebe für sie, indem er die Mittel
voraussah, die er ihnen geben wollte, um Nutzen aus seiner heiligen
Passion zu ziehen.
Das gehört bereits zur zweiten Blüte, die wir zu betrachten unter-
nommen haben, nämlich zur Geduld. Diese Geduld war so groß, mehr
als man sagen kann; denn niemals hörte man eine Klage aus dem Mund
des Erlösers kommen (Jes 53,7). Er gibt kein Zeichen, wie wir es tun,
von der Größe seiner Schmerzen, um die Anwesenden zum Mitleid
mit ihm zu bewegen. Seine Leiden waren unbeschreiblich. Ich gebe
euch zu bedenken: er war mit Nägeln an das Kreuz geheftet, vom Kopf
bis zu den Füßen derart zerschunden, daß er nur eine Wunde hatte, die
sich über seinen ganzen Leib erstreckte (Jes 1,6); seine Glieder waren
ganz verrenkt. Was seine inneren Leiden betrifft, waren sie unvergleich-
lich größer. Jenes Wort nun, das wir vorhin wiedergegeben haben, sag-
te er keineswegs, um sich zu beklagen, sondern nur, um uns zu lehren,
wie wir uns mitten in unseren inneren Leiden, in Hilflosigkeit und
innerer Verlassenheit an Gott wenden müssen und uns nur bei ihm
beklagen; er allein soll unsere Bedrängnis sehen und wir sollen sie die
Menschen so wenig wie möglich merken lassen.
Wie groß aber war der Schmerz unseres Meisters, als er die abscheu-
lichen Gotteslästerungen hörte, die seine Feinde gegen ihn und gegen
seinen himmlischen Vater ausstießen, und als er sah, daß ihre Wut
nicht gestillt werden konnte, soviel sie ihn auch quälten. Ohne Zwei-
fel durchbohrte ihm dies das Herz noch mehr, als die Nägel seine
Füße und seine hochgebenedeiten Hände durchbohrten. Wie groß muß
überdies die Rührung gewesen sein, die ihm der Schmerz seiner hoch-
heiligen Mutter verursachte, die er so innig liebte. Die Herzen des
Sohnes und der Mutter schauten einander in beispiellosem Mitleid an,
aber auch mit unvergleichlicher Großmut und Standhaftigkeit; denn
sie beklagten sich nicht, sie wandten den Blick nicht voneinander ab,
um ihr Leid weniger merken zu lassen, sondern sie sahen sich fest an.
Mit einem Wort, wir können nicht beschreiben, wie groß die Schmer-
zen unseres Meisters in seinem Leiden waren.
Trotzdem beklagte er sich nie. Er sagte wohl, daß er Durst hatte (Joh
19,28); aber obwohl das wahr war, verlangte er doch nicht zu trinken,
denn wonach er dürstete, das war das Heil der Seelen. Er tat dennoch
zu unserer Belehrung einfach seine Not kund, wenn ihr es in diesem
Sinn nehmen wollt. Danach machte er einen Akt größter Unterwer-

325
fung; denn als jemand einen Schwamm, der mit Essig getränkt war,
auf die Spitze einer Lanze gesteckt hatte, um seinen Durst zu stillen,
saugte er daran mit seinen hochgebenedeiten Lippen (Joh 19,29f).
Sonderbar, ihm war nicht unbekannt, daß dies ein Trunk war, der
seine Pein steigern wird; trotzdem nahm er ihn einfach, ohne irgend-
wie zu zeigen, daß es ihn kränkte oder daß er es nicht gut fand. Damit
will er uns lehren, mit welcher Fügsamkeit wir nehmen müssen, was
uns verordnet wird, wenn wir krank sind, selbst wenn wir im Zweifel
wären, ob das unser Übel vergrößern könnte. Ebenso müssen wir es
mit den Speisen machen, die uns vorgesetzt werden, ohne irgendwie
zu zeigen, daß sie uns nicht schmecken oder daß wir Widerwillen
dagegen haben.
Ach, wenn wir ein noch so geringes Übel haben, tun wir genau das
Gegenteil von dem, was unser überaus gütiger Meister uns gelehrt hat,
denn wir jammern und klagen unaufhörlich. Wir können anscheinend
nicht genug Leute finden, um ihnen alle unsere Leiden im einzelnen
zu schildern. So klein unser Übel auch sein mag, es ist unübertrefflich,
und was die anderen leiden, ist nichts im Vergleich damit. Wir sind
mißmutiger und ungeduldiger, als sich sagen läßt. Wir finden nichts
so, daß es uns befriedigt. Es ist sehr erbärmlich zu sehen, wie wenig
wir die Geduld unseres Erlösers wahren. Er vergaß seine Leiden und
trachtete nicht danach, die Menschen auf sie aufmerksam zu machen,
sondern begnügte sich damit, daß sein himmlischer Vater sie kannte
(Mt 6,1-6.16-18) durch den Gehorsam, mit dem er sie ertrug, und
dadurch, daß er seinen Zorn gegen die menschliche Natur besänftigte,
für die er litt.
Ich gehe weiter und weise auf die dritte Tugend hin, die Unser Herr
am Kreuz uns wie eine sehr angenehme Blüte vorstellt. Das ist die
heilige Beharrlichkeit, eine Tugend, ohne die wir der Früchte seines
Todes und Leidens nicht würdig sein können. Es ist ja nicht alles, gut
zu beginnen, wenn man nicht ausharrt bis zum Ende (Mt 10,22; 24,13).
Der Zustand, in dem wir uns am Ende unserer Tage befinden werden,
wenn Gott den Faden unseres Lebens abschneidet, wird ja sicher der
Zustand sein, in dem wir die ganze Ewigkeit bleiben (vgl. Ekkl 11,3).
Glücklich wird also die Seele sein, die beharrlich ist, gut zu leben und
das zu tun, wozu sie gesandt wurde, wie Unser Herr, der bis zu seinem
Tod beharrlich alle Tugenden aus Gehorsam übte, wie der hl. Paulus
(Phil 2,8) schreibt: Er war gehorsam bis zum Tod, d. h. sein ganzes
Leben bis zum Tod. Deshalb sagt er am Ende sehr richtig: Alles ist
vollbracht (Joh 19,30). Dieses Wort ist wundervoll: Alles ist vollbracht,

326
d. h. es bleibt nichts mehr zu tun von dem, was mir aufgetragen wurde.
Wie glücklich wären die Ordensmänner und Ordensfrauen, wenn sie
am Ende ihres Lebens ganz wahrheitsgemäß mit dem Erlöser sagen
könnten: Alles ist vollbracht, ich habe alles getan, was mir aufgetragen
wurde, sei es durch die Regeln, sei es durch die Konstitutionen oder
durch die Anordnungen der Vorgesetzten; ich habe getreu ausgeharrt
in meinen Übungen, mir bleibt nichts mehr zu tun.
Aber vorzüglicher als jede andere ist die vierte Tugend, denn sie ist
die Blüte der Liebe, der Duft der Demut, anscheinend das Verdienst
der Geduld und die Frucht der Beharrlichkeit. Diese Tugend ist groß
und verdient allein, von den liebsten Kindern geübt zu werden; das ist
der überaus liebenswerte Gleichmut. Mein Vater, sagt unser gütigster
Erlöser nach dem sechsten Wort, in deine Hände übergebe ich meinen
Geist (Lk 78,46). Es ist wahr, wollte er sagen, alles ist vollbracht und
ich habe alles erfüllt, was du mir aufgetragen hast (Joh 17,4); wenn es
aber dein Wille ist, daß ich weiter an diesem Kreuz hänge, um noch
länger zu leiden, bin ich damit trotzdem zufrieden. Ich gebe meinen
Geist in deine Hände zurück, du kannst mit ihm ganz so verfahren, wie
es dir gefällt. Meine lieben Schwestern, wir müssen es bei allen Gele-
genheiten ebenso machen, sei es, daß wir leiden, oder sei es, daß wir
uns freuen, und wir müssen wiederholen: Mein Vater, in deine Hände
empfehle ich meinen Geist, mache mit ihm alles, was dir gefallen mag.
So müssen wir uns vom göttlichen Willen führen lassen, ohne uns je
von unserem eigenen Willen einnehmen zu lassen.
Unser Herr liebt also mit besonders zärtlicher Liebe jene, die so
glücklich sind, sich vollkommen seiner väterlichen Sorge zu überlas-
sen, die sich von seiner göttlichen Vorsehung leiten lassen, wie es ihm
gefällt. Sie geben sich nicht mit Überlegungen ab, ob die Wirkungen
dieser Vorsehung ihnen nützlich, vorteilhaft oder abträglich sind. Sie
sind überzeugt, daß uns von diesem väterlichen und sehr liebenswür-
digen Herzen nichts geschickt werden kann und daß es nichts über uns
kommen lassen wird, woraus es uns nicht Gutes ziehen ließe, wenn
wir nur unser ganzes Vertrauen auf ihn setzen und aufrichtig sagen: In
deine Hände empfehle ich meinen Geist; und nicht nur meinen Geist,
sondern meine Seele, meinen Leib und alles, was ich habe, auf daß du
damit verfährst, wie es dir gefallen wird.
Dabei wird sich erweisen, daß Unser Herr sehr vernünftiger und
gerechterweise König genannt werden muß. Das ist die dritte Eigen-
schaft, die Pilatus ihm zuschrieb; von ihr wollte die Güte unseres

327
Meisters, daß sie ihm bis jetzt zuerkannt wird. Er will ja, daß wir sei-
nem Willen ganz und ohne Vorbehalt unterworfen bleiben. Unser teu-
rer Erlöser setzt seine Seele aus (Jes 53,11f), d. h. er setzt sein Leben
der Grausamkeit der Feinde der Menschen aus, um sie vor jedem Un-
glück zu bewahren und ihnen den Frieden wiederzuschenken, den sie
durch die Sünde für immer verloren hatten. Um uns wieder in seine
Gunst zu versetzen und uns seiner Barmherzigkeit würdig zu machen,
hat er die Schläge der göttlichen Gerechtigkeit auf sich genommen.
Diese Gerechtigkeit müßte sich an uns auswirken, weil wir allein es
sind, gegen die sie mit Recht aufgebracht war. Überlegen wir also, ob
er nicht mit Recht unser König genannt werden muß, da er solche
Sorge trug, sein armes Volk vor allem Unglück zu schützen, und es
gegen seine Feinde verteidigte.
Da er nun unser König ist, müssen wir alles seinem Dienst unterord-
nen, was wir haben. Wir schulden ihm unseren Leib, unser Herz und
unseren Geist, damit er darüber verfüge als über sein Eigentum und
wir sie nie im Gegensatz zu seinen göttlichen Gesetzen gebrauchen.
Was aber sind die Gesetze unseres Königs? Was sind sie denn, meine
lieben Schwestern? All das, wovon ich eben gesprochen habe. Er hat
es zuerst befolgt, um uns ein Beispiel zu geben: die hochheilige De-
mut, Großmut, Geduld, Standhaftigkeit und unveränderliche Beharr-
lichkeit und schließlich die überaus liebenswürdige und vorzügliche
Tugend des Gleichmuts. Er will, daß wir diese Tugenden von ihm ler-
nen bei der Erwägung seines Todes und Leidens und er wünscht, daß
wir ihm durch sie unsere Liebe und unsere Treue bezeigen, denn durch
ihre Übung hat er uns die Größe und Glut seiner Liebe zu uns bewie-
sen, deren wir so unwürdig waren. Der Name Jesu sei gepriesen. Amen.

Zum Osterdienstag

Nr. 30: 21. April 1620 IX,286-307

Friede sei mit euch. Ich bin es. Fürchtet euch nicht
(Lk 24,36-39).

Die Apostel und die Jünger des Herrn waren wie Kinder ohne Vater
und wie Soldaten ohne Hauptmann. Ganz verschreckt, wie sie waren,
hatten sie sich in ein Haus zurückgezogen. Da erschien der Heiland
unter ihnen, um sie in ihrer Betrübnis zu trösten, und sagte zu ihnen:
Friede sei mit euch. Er wollte ihnen gleichsam sagen: Warum seid ihr

328
so furchtsam und betrübt? Wenn es der Zweifel ist, daß nicht eintrifft,
was ich euch von meiner Auferstehung gesagt habe, dann Pax vobis;
bleibt in Frieden, es werde Friede in euch, denn ich bin auferstanden.
Seht meine Hände, berührt meine Wunden; ich bin es doch selbst. Fürch-
tet euch nicht mehr; Friede sei mit euch. Von diesen Worten ausgehend
unterscheide ich einen dreifachen Frieden. Der erste ist der Friede des
heiligen Evangeliums und der Kirche; denn das Evangelium und die
Kirche sind nur Friede, Güte und Ruhe. Außerhalb der Befolgung des
Evangeliums und des Gehorsams gegen die Kirche gibt es nichts als
Krieg und Aufregung, wie wir gleich darlegen werden. Der zweite ist
jener Friede, in dem die Väter unterschieden haben den Frieden mit
Gott, den Frieden untereinander und den Frieden mit sich selbst. Die
dritte Form des Friedens ist jener, den wir im ewigen Leben besitzen
werden. Wenn die Zeit reicht, werde ich diesen dreifachen Frieden
behandeln, wenigstens aber will ich über die beiden ersten Formen
sprechen.
Als die Israeliten die Beobachtung der Gebote Gottes aufgegeben
und sich von seiner Gnade entfernt hatten, war der Herr mit Recht
über sie erzürnt und ließ sie zur Strafe in die Hände der Midianiter,
ihrer geschworenen Feinde fallen (Ri 6,1-24). Somit entzog er ihnen
seinen Frieden, in dem er sie stets bewahrt hatte, solange sie treu wa-
ren. Wahrhaft groß ist die Züchtigung, die Gott über uns verhängt,
wenn er uns in die Hände unserer Feinde fallen läßt, wenn er uns
seinen göttlichen Beistand entzieht und uns nicht mehr unter seiner
heiligen Obhut hält. Wenn er uns der Verstoßung überläßt, ist das ein
ganz deutliches Zeichen und ein sicherer Hinweis auf unseren Unter-
gang; denn ohne Zweifel werden die Midianiter, d. h. unsere geistli-
chen Feinde uns überwältigen und wir werden besiegt sein.
Die Midianiter hatten also beschlossen, die Israeliten langsam zu
vernichten. Sie kamen jedes Jahr zur Zeit der Ernte scharenweise in
ihre Dörfer, so daß ihnen nichts mehr zum Leben blieb. Nachdem nun
Gott die Israeliten ungefähr sieben Jahre lang im Stich gelassen hatte,
beschloß er in seiner Güte, die so groß gegen die Menschen ist, Mit-
leid mit ihnen zu haben. Er schickte einen Engel zu Gideon, um ihm
zu verkünden, daß er sie durch seine Vermittlung wieder in den ur-
sprünglichen Frieden einsetzen wolle. Der Engel kam also zu ihm an
einem Ort, wo er Korn drosch, und grüßte ihn mit den Worten: Der
Herr ist mit dir, du Starker unter allen Menschen. Dann forderte er ihn
auf, seine Arbeit aufzugeben und die Waffen gegen die Midianiter zu
ergreifen; er werde unfehlbar den Sieg erringen und die Feinde nieder-
werfen. Gideon war über diese Worte sehr erstaunt und antwortete:

329
Ach, wie kann das wahr sein, was du sagst? Du versicherst mir, daß der
Herr mit mir ist; wenn das stimmte, wie wäre es dann möglich, daß ich
von soviel Bedrängnis betroffen und umgeben bin? Der Herr ist der
Gott des Friedens (Röm 15,33; 16,20), ich aber bin nur in Kampf und
Aufregung. Ein Fall großer Täuschung der Welt und der Menschen;
sie glauben, wo Unser Herr ist, da könnte es Bedrängnis und Not nicht
geben, sondern stets überreichen Trost. Das trifft aber nicht zu. Im
Gegenteil: in Bedrängnis und Trübsal ist Gott uns näher, weil wir
seines Schutzes und seines Beistands mehr bedürfen.
Der Herr ist mit dir, sagt der Engel, obwohl du in Bedrängnis bist.
Wie aber wagst du mich stark zu nennen, antwortet Gideon, da ich so
schwach bin? Dem Feind ist es eigen, uns selbst für schwach halten zu
lassen, so daß wir keine Kraft zu haben glauben. Du sagst mir, fährt er
fort, ich soll zu den Waffen greifen und ich werde siegreich sein. Ach,
weißt du denn nicht, daß ich der Geringste unter allen Menschen bin?
Das ist unwichtig, antwortet der Engel; Gott will, daß du es bist, der
die Israeliten aus der Bedrängnis befreit, in der sie sind. Gut, sagt
Gideon, ich glaube, was du mir ankündigst; um aber sicherer zu sein,
möchte ich, daß es dir gefalle, mir irgendwelche Zeichen zu geben,
durch die ich erkennen kann, daß alles eintrifft, was du mir versi-
cherst. Da gibt der Engel seinem Verlangen nach und sagt ihm: Geh,
nimm ein Ziegenböcklein und bring dem Herrn ein Opfer. Gideon tut
das sogleich. Nachdem er das Böcklein geschlachtet und mit einer
guten Tunke zubereitet hat, nimmt er Mehl und macht auf der Asche
gebackene Kuchen. Dann kam er zurück und bereitete seine Opferga-
be. Sobald diese bereitet war, berührte der Engel sie mit der Spitze
seines Stabes und sogleich fiel Feuer vom Himmel, das sie verzehrte.
Dann entschwand der Engel. Als Gideon das sah, sagte er: Ich bin des
Todes, denn ich habe einen Engel gesehen. Es war eine Volksmeinung,
wenn auch falsch, denn die Erfahrung hat das mehrmals gezeigt, ein
lebendiger Mensch könne einen Engel nicht sehen, ohne zu sterben.
Als er sich aber ein wenig beruhigt hat, gewinnt er Mut und Kraft und
tut, was ihm der Engel befohlen hat, den er bis dahin für irgendeinen
Wanderpropheten gehalten hatte. Darauf errichtete er einen Altar an
dem Ort, wo er zu ihm gesprochen hatte, und nannte ihn Domini pax,
d. h. Friede des Herrn, weil ihm an diesem Ort von Gott der Friede
angekündigt wurde.
Es gibt keinen Zweifel, meine Lieben, daß das Kreuz in wunderba-
rer Weise diesen Altar darstellt, auf dem das Opfer des Friedens
dargebracht und der dann Friede des Herrn genannt wurde; oder viel-

330
mehr war das Opfer Gideons und sein Altar das Vorbild dessen, das
unser Herr und Meister am Kreuz vollendet hat, da dieses Opfer als
das Opfer der Versöhnung und Befriedung bezeichnet wurde. Denn
nachdem die Menschen mit Gott ausgesöhnt waren (Röm 5,1; Eph
2,14-16; Kol 1,20), empfingen sie den Frieden in sich selbst durch
die Gnade, die der Erlöser ihnen durch seinen Tod und sein Leiden
erworben hatte. In seinem Sterben wurde er für uns zur Sünde ge-
macht, wie der hl. Paulus (2 Kor 5,21) sagt. Das heißt: Er, der nicht
sündigen konnte, wurde vor dem Angesicht Gottes, seines Vaters,
wie ein Sünder, da er in seiner unerhörten Güte alle unsere Misseta-
ten auf sich genommen hat, um für uns der göttlichen Gerechtigkeit
Genugtuung zu leisten.
So wurde er wie ein gebratenes Böcklein geopfert. Im Alten Bund
(Ex 12,5) war nicht so ausdrücklich gesagt, daß man das Pascha feiern
sollte, indem man ein Lamm aß, daß man nicht statt des Lammes ein
Ziegenböcklein nehmen könnte, so daß man sich des einen oder des
anderen bediente. Aber bei diesem Pascha oder diesem Opfer, das
Unser Herr am Tag seiner Passion feierte, brachte er sich selbst dar,
nicht nur als ein ganz sanftes Lamm (Jes 53,7; Jer 11,19), ganz sanft,
gütig und in voller Reinheit, sondern auch als ein Ziegenböcklein, das
die Sünden seines Volkes trägt (Lev 16,21f). So wurde er für uns zur
Sünde gemacht.
Als das Opfer Gideons bereitet war, berührte es der Engel mit einem
Stab, durch den das Feuer darauf niederfiel und es verzehrte. Als das
Opfer des Kreuzes bereitet war, berührte es der ewige Vater und nicht
ein Engel mit seiner ganzen Güte, und sogleich kam das Feuer seiner
hochheiligen Liebe darauf herab und verzehrte es. Und wie durch die-
ses Zeichen Gideon bestärkt wurde in der Hoffnung auf den kommen-
den Frieden und auf den Sieg, den er über die Midianiter erringen
sollte, wie ihm der Engel vorhergesagt hatte, ebenso wurden die Men-
schen, als das Opfer des Kreuzes vollbracht war und Unser Herr ge-
sagt hatte: Mein Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist (Lk
23,46), sogleich in der Hoffnung bestärkt, die ihnen die Propheten
durch so viele Jahrhunderte gegeben hatten, daß eines Tages der Frie-
de in ihnen hergestellt und der Zorn Gottes durch dieses Opfer be-
sänftigt werde, das ein Opfer der Versöhnung und der Befriedung ist,
daß sie über ihre Feinde siegen und triumphieren werden (Lk 1,70-
79).
Das wollte unser göttlicher Meister seinen Aposteln mit den Worten
ankündigen: Friede sei mit euch; seht meine Füße und meine Hände.

331
Damit gab er ihnen ein sicheres Zeichen, daß ihnen der Friede durch
seine Wunden sicher war. Es ist, als wollte er ihnen sagen: Was habt
ihr? Ich sehe wohl, daß ihr ganz verschreckt und furchtsam seid; aber
dazu habt ihr von jetzt an keinerlei Ursache mehr, denn ich habe den
Frieden erworben, den ich euch schenke. Den schuldet mir mein Vater
nicht nur, weil ich sein Sohn bin, sondern auch, weil ich ihn erkauft
habe um den Preis meines Blutes und dieser Wunden, die ich euch
zeige. Seid nun nicht mehr feige und furchtsam, denn der Krieg ist
beendet. Ihr hattet einigen Grund zur Furcht in den vergangenen Ta-
gen, als ihr saht, daß ich gegeißelt wurde (oder wenigstens davon spre-
chen hörtet, denn alle haben mich verlassen außer einem von euch, der
mir treu blieb). Ihr habt also gewußt, daß ich geschlagen wurde, mit
Dornen gekrönt, zerschlagen vom Kopf bis zu den Füßen (Jes 1,6; 53,5),
ans Kreuz geschlagen; daß ich viel Schmach, Verlassenheit und
Schimpf ertragen habe und daß die gegen mich verbündeten Feinde
mich tausend Qualen erdulden ließen. Jetzt aber fürchtet euch nicht
mehr; der Friede sei in euren Herzen. Ich bin ja Sieger geblieben und
habe alle meine Feinde zu Boden geschlagen: Ich habe den Teufel
überwunden, die Welt und das Fleisch. Habt keine Furcht, denn ich
habe den Frieden hergestellt zwischen meinem himmlischen Vater
und den Menschen. Durch dieses Opfer, das ich der göttlichen Güte
dargebracht habe, vollzog ich diese heilige Aussöhnung. Bis zur Stun-
de habe ich euch verschiedene Male meinen Frieden entboten, jetzt
aber zeige ich euch, wie ich ihn für euch erworben habe. Ich bin arm,
denn ich habe nichts. Ihr wißt, daß meine Größe nicht im Besitz von
irdischen Gütern besteht, weil ich die ganze Zeit meines Lebens sol-
che nicht besessen habe. Aber statt aller Reichtümer habe ich den
Frieden; er ist das Vermächtnis, das ich euch bestimmt habe, als ich
von euch ging (Joh 14,27), das ich noch einmal bestätige. Der Friede
ist alles, was ich meinen Liebsten gebe; deshalb Pax vobis und allen,
die an mich glauben.
Früher (Mt 10,7.12.14; Lk 10,3.5) hatte er ihnen gesagt: Geht, ver-
kündet den Menschen, was ich euch gelehrt habe, und sagt, wenn ihr in
ein Haus kommt: Der Friede herrsche hier. Das ist, als wollte er sagen:
Verkündet beim Eintritt in ein Haus vor allem, daß ihr nicht kommt,
Krieg zu bringen, sondern meinen Frieden. Wer immer euch aufnimmt,
wird im Frieden bleiben; wer euch dagegen abweist, wird ohne Zwei-
fel Krieg haben. Aber darüber werde ich gleich sprechen.
Das heilige Evangelium ist ebenso wie die heilige Kirche nur Frie-
de. Es begann mit dem Frieden, wie wir im Evangelium sehen, das bei
der Geburt Unseres Herrn gelesen wird; da sangen die Engel: Ehre sei

332
Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen guten Willens (Lk
2,14). Und später verkündet es nur Frieden: Ich gebe euch meinen
Frieden, sagt der Heiland zu seinen Aposteln, ich übergebe euch mei-
nen Frieden, aber ich gebe ihn euch nicht so, wie die Welt ihn gibt. Die
Welt, scheint er sagen zu wollen, hält nicht, was sie verspricht, denn
sie ist eine Betrügerin. Sie schmeichelt den Menschen und verspricht
ihnen viel, dann gibt sie ihnen schließlich nichts und verspottet sie
noch, nachdem sie sie betrogen hat. Ich aber verspreche euch nicht nur
den Frieden, sondern ich gebe ihn euch; und nicht nur irgendeinen
Frieden, sondern einen, wie ich ihn von meinem Vater empfangen habe.
Durch ihn werdet ihr alle eure Feinde überwinden und Sieger über sie
sein. Sie werden wohl Krieg gegen euch führen, aber trotz ihrer An-
griffe werdet ihr Ruhe und Frieden in euch selbst bewahren. Mit ei-
nem Wort, das heilige Evangelium handelt fast ausschließlich vom
Frieden; und wie es mit dem Frieden beginnt, so schließt es mit dem
Frieden, um uns zu lehren, daß er das Erbe ist, das Gott der Herr,
unser Meister, seinen Kindern hinterlassen hat, die in Abhängigkeit
von der hochheiligen Kirche leben, unserer guten Mutter und seiner
sehr lieben Braut.
Da indessen dieser Friede etwas zu allgemein ist, müssen wir vom
zweiten sprechen; das ist jener, der uns mit Gott aussöhnt, mit dem
Nächsten und mit uns selbst. Zum ersten haben wir schon gesagt, daß
wir mit Gott durch den Tod und die Passion Unseres Herrn versöhnt
wurden. Da wir aber widerspenstig und ungehorsam gegen seine gött-
lichen Gebote wurden und, sooft wir in Sünde fielen, den Frieden
verloren, den Jesus Christus uns erworben hatte, bedurften wir eines
neuen Mittels der Versöhnung. Zu diesem Zweck hat unser göttlicher
Meister das allerheiligste und erhabenste Sakrament der Eucharistie
eingesetzt. Wie unser Friede mit seinem Vater hergestellt wurde durch
das Opfer, das er selbst ihm am Kreuz dargebracht hat, so soll er auf
gleiche Weise besänftigt werden durch dieses göttliche Opfer, sooft es
seiner erzürnten Gerechtigkeit dargebracht wird. Kein Mensch außer
den Kindern der Kirche kann solche Mittel haben, um sich mit Gott
auszusöhnen; ohne sie bleiben sie Kinder des Zornes (Eph 2,3) und
armselig.
Unser Herr sagte also sehr richtig: Ich gebe euch meinen Frieden,
weil er selbst sich gegeben hat, der der wahre Friede ist (Eph 2,14; Mi
5,15). Der Friede gehört nur den Kindern der Kirche, das ist wahr;
denn alle anderen haben nicht die Mittel der Versöhnung, die unser
Erlöser uns gegeben hat, um uns wieder in die Gunst Gottes, seines

333
Vaters, zu versetzen, sooft wir sie verlieren, obwohl wir sie wahrhaftig
durch unsere Schuld verloren haben. Krieg gibt es unter den Christen
nur in dem Maß, als sie nicht in der Gnade Gottes sind; denn wenn sie
in ihr bleiben, haben Teufel, Welt und Fleisch keine Macht über sie.
Seht ihr das nicht, da Unser Herr seinen Aposteln versicherte, daß sie
in Frieden leben werden, da er durch seine Wunden und seine Pein
ihre Feinde niedergerungen und deren Macht gebrochen hat?
Stellt euch einen Fürsten vor, der aus dem Krieg heimkehrt, in dem
er seine Feinde von allen Seiten geschlagen hat. Er ließ sie über die
Klinge springen, ohne einen am Leben zu lassen, außer einigen Flücht-
lingen, einigen Lakaien und Feiglingen, denen er aus Mitleid Gnade
gewährte. Nach diesem Sieg wird er im Triumph in die Hauptstadt
zurückkehren, wenn auch mit Wunden bedeckt. Wenn er vor seine
Untertanen tritt, wird er ihnen sagen: Mut, meine Freunde; das sind
die Wunden, durch die ich euch den Frieden gewonnen habe. Bleibt
ruhig, habt keine Furcht mehr, denn ich habe unsere Feinde niederge-
schlagen. Ich habe wohl einigen Troßknechten das Leben geschenkt,
die euch möglicherweise ein wenig belästigen werden; aber fürchtet
nichts, denn die haben keinerlei Macht über euch und sie werden euch
nicht schaden können, wenn sie euch auch lästig sind.

Unser Herr und Meister wird der Friedensfürst genannt (Jes 9,6). Er
kommt aus dem Kampf zurück, in dem er wahrhaftig viele Wunden
empfangen hat, aber Wunden, die nicht der Verachtung, sondern un-
vergleichlicher Ehre würdig sind; er macht sie zum Siegeszeichen und
verdient dafür ewiges Lob. Er wendet sich an seine Apostel als sein
vielgeliebtes Volk und zeigt ihnen die Wunden: Pax vobis, seht meine
Wunden. Berühre sie, wird er am Sonntag zum hl. Thomas sagen, be-
rühre mit deinen Fingern die Wunden meiner Füße und meiner Hän-
de; wenn es dir gutdünkt, lege deine ganze Hand in meine Seite (Joh
20,27) und sieh, daß ich selbst es bin (Lk 24,39); und wenn du das
getan hast, sei nicht mehr ungläubig, sondern gläubig. Seht meine Wun-
den und wißt, daß ich sie empfangen habe, als ich eure Feinde zu Bo-
den streckte und besiegte, die ich geschlagen und vernichtet habe. Es
sind zwar einige übriggeblieben, aber fürchtet euch nicht, denn sie
werden keine Macht über euch haben, sondern ihr werdet volle Ge-
walt über sie haben; bleibt also in Frieden.

Die zweite Seite dieses Friedens ist, daß wir ihn untereinander ha-
ben. Sein Fehlen ist die Quelle allen Unglücks, aller Bedrängnis und
Not, die man in dieser Welt unter den Menschen sieht. Denn ich bitte

334
euch, woher kommt so viel Armut, unter der viele leiden, wenn nicht
von der elenden Anmaßung der anderen, ihren Besitz zu vermehren
und reich zu sein, auch wenn es auf Kosten des Nächsten geschieht?
Die einen haben zu viel und die anderen haben nichts. Was ist der
Untergang des Friedens, wenn nicht die Prozesse, der Ehrgeiz, das
Verlangen nach Ehren, Würden und Vorrang? Wenn der Friede un-
ter den Menschen herrschte, würde man solches Elend nicht sehen.
Woher kommen so viele Kriege, wenn nicht davon, daß der Friede
fehlt?
Mit einem Wort, nichts führt Krieg gegen den Menschen als der
Mensch selbst. Es gibt nichts, was nicht vom Menschen und nur vom
Menschen geordnet und gelenkt werden könnte. Wohl ist die Macht,
die Gott dem Adam im irdischen Paradies über alle Tiere gegeben
hat, durch die Sünde etwas beeinträchtigt worden; trotzdem kann der
Mensch, wie die Erfahrung täglich lehrt, die wildesten Tiere zähmen
mit Hilfe der Vernunft, mit der Gott ihn begabt hat. Wenn die Men-
schen untereinander in Frieden lebten, könnte nichts ihre Ruhe stö-
ren. Wovor sollten sie Angst haben, wovor sich fürchten? Vor Löwen?
Keineswegs, denn wie wir gleich hören werden, hätten sie von sich aus
Geschicklichkeit genug, um sich vor ihrer Wut und vor der aller ande-
ren Tiere zu schützen, so wild sie auch sein mögen.
Unser Herr wußte sehr gut, wie überaus notwendig die Menschen
den Frieden haben. Deshalb hat er über nichts so viel gepredigt wie
über diesen Frieden, der aus der gegenseitigen Liebe hervorgeht, die
er uns so sehr empfohlen hat. Sie hat er seinen Aposteln am meisten
eingeprägt. So sagt der glorreiche hl. Paulus, daß er nichts anderes
kennen und predigen will als den gekreuzigten Jesus Christus (1 Kor
2,2), der uns ausgesöhnt und uns jenen Frieden geschenkt hat, durch
den wir ihm in allem gleichgeworden sind (vgl. Hebr 2,17), dem
Friedensfürsten, der den Frieden sowohl auf Erden wie im Himmel her-
gestellt hat (Kol 1,20). Der Erlöser besucht seine Apostel, aber erst,
da sie alle versammelt sind, da sie alle im Frieden sind und alle in
heiliger Einheit leben. Obwohl er den zwei Jüngern erschien, die von
der Stadt Jerusalem fortgegangen waren, die den Frieden versinnbildet,
da sie Schau des Friedens genannt wurde, dürfen wir doch nicht glau-
ben, daß er für alle tun wollte, was er für die beiden getan hat. Der hl.
Thomas hatte diese Gunst nicht, bis er in die Gemeinschaft der Apo-
stel zurückgekehrt war (Joh 20,24-26). Wenn wir nicht miteinander in
Frieden und Eintracht leben, dürfen wir nicht die Gnade erwarten,
unseren auferstandenen Herrn zu sehen.

335
Die dritte Eigenschaft dieses Friedens besteht darin, daß wir ihn mit
uns selbst und in uns selbst haben. Um das besser zu verstehen, muß
man wissen, was uns der große Apostel (Röm 7,21-25; Gal 5,17) sehr
genau bestätigt, daß es nämlich in uns zwei Bereiche gibt, die sich
ständig bekämpfen: den Geist und das Fleisch. Das Fleisch begehrt
gegen den Geist und der Geist hat seine Gesetze, die denen des Flei-
sches völlig entgegengesetzt sind. Jeder der beiden Bereiche hat seine
Anhänger und Untergebenen. Das Fleisch hat den Bereich der Begier-
den, bestimmte Fähigkeiten und Sinne, die ihm mit der Seele gemein-
sam sind, die in seinem Interesse gegen den Geist streiten. Der Geist
hat als seine ganze Streitmacht nur drei Soldaten, die für ihn kämpfen,
die ihn noch dazu bei jeder Gelegenheit im Stich lassen und die Treue
brechen, die sie ihrem Feldherrn schulden; sie schlagen sich auf die
Seite des Fleisches, um für dieses gegen den Geist selbst zu kämpfen,
der ihr Herr ist.
Ja, wenn diese Soldaten treu wären, hätte der Geist nichts zu fürch-
ten, sondern könnte seiner Feinde spotten wie jene, die sich mit aus-
reichenden Vorräten versehen im Turm einer uneinnehmbaren Fe-
stung befinden, und das, obwohl die Feinde bereits in den Vororten
sind, ja sogar die Stadt eingenommen haben. So geschah es bei der
Zitadelle von Nizza. Die Streitkräfte von drei großen Fürsten vor ihr
waren nicht imstande, jene zu erschrecken, die sich im Turm befan-
den. Der Geist, der der Turm der Seele ist, fürchtet ebenfalls nichts,
wenn er auf sich zurückgezogen bleibt und von seinen drei Soldaten
umgeben ist, vom Verstand, dem Gedächtnis und dem Willen. Wenn
die Welt, der Teufel und das Fleisch alle ihre Kräfte gegen ihn vereini-
gen, können sie ihn keineswegs in Schrecken versetzen. Sie werden
zwar einige Verwirrung stiften, indem sie sich der anderen Fähigkei-
ten der Seele bedienen; sie können ihm aber trotzdem nicht schaden
dank dem Frieden, den Unser Herr uns erworben hat. Wenn der Geist
in gutem Einvernehmen mit diesen drei Gefolgsleuten lebt, wird er
stets seiner Feinde spotten und sie werden unterlegen sein.
Die wahre Rüstung der Christen ist der Friede; mit ihm werden sie
in allen Kämpfen siegreich bleiben. Wenn er aber fehlt und wenn das
Einvernehmen zwischen dem Geist, dem Verstand, dem Gedächtnis
und dem Willen schwindet, ist alles verloren; der Mensch wird ohne
Zweifel unterliegen. Solange der Verstand daran festhält, was uns der
Glaube lehrt oder was Unser Herr uns gelehrt hat, behält er eine un-
vergleichliche Macht über das Fleisch, das im Vergleich zu ihm nur
Schwäche ist. Wenn er aber auf die Gründe und Einwände zu hören

336
beginnt, die das Fleisch vorbringt, um ihn von der Beachtung der gött-
lichen Wahrheiten abzubringen, ist sogleich alles verloren; das bestä-
tigt die Erfahrung täglich.
Niemand kann daran zweifeln, daß unser teurer Meister gesagt hat:
Selig die Armen und die Verfolgung leiden. Statt fest auf diese Wahrheit
bedacht zu sein, beginnt der Verstand die Vorstellung anzunehmen,
die ihm das Fleisch macht, man müsse viele Güter besitzen, um ihm
sein Wohlbehagen und seine Bequemlichkeit zu verschaffen, und schon
beginnt der Krieg. Das Fleisch redet dem Geist jammernd ein, die
Armen seien nicht geachtet; hört er auf diese Auffassung, ist er schon
verloren. Mit einem Wort, alles, was das Fleisch wünscht, ist dem Geist
völlig entgegengesetzt. Wenn er vom himmlischen Licht erleuchtet ist,
kann er nicht umhin zu sehen, daß die Gründe, die ihm vom Fleisch
eingeflüstert werden, tierisch und ungebührlich sind und daß er sie
nicht anerkennen kann.
Auf diese Weise wird der Geist in einen sehr schweren Kampf ver-
strickt, wenn er sieht, daß einer seiner Soldaten gewonnen und er oft
schon ganz verloren ist. Wir sagen zwar alle, daß wir den Glauben
haben, aber wir zeigen ihn nicht durch Taten. Wenn wir in uns selbst
den Frieden mitten im Krieg bewahren wollen, müssen wir den Ver-
stand fest an die Wahrheiten gebunden halten, die Unser Herr uns
gelehrt hat, und müssen ihn daran hindern, auf die menschlichen Mei-
nungen und Gründe zu hören oder sie anzunehmen.
Von daher ist das Verderben der Engel und der Menschen gekom-
men. Die abtrünnigen Engel hörten auf die falsche Meinung, sie müß-
ten sein wie Gott, und sie verloren sich in ihren Gedanken (Röm 1,21).
Der hl. Michael unternahm es, ihrer Verwegenheit zu widerstehen,
und sagte: Elende, wer ist wie Gott? Auf dieses Wort hin wurden sie
gestürzt und für immer unselig. Sobald aber Luzifer sah, daß ihn sein
vermessener Ehrgeiz zugrundegerichtet hat, bereitete er unserer ar-
men Mutter Eva die gleiche Versuchung. Er versicherte ihr, sie werde
nicht sterben, auch wenn Gott es gesagt habe, sie werde ihm vielmehr
gleich sein, wenn sie von der verbotenen Frucht esse. Statt sich fest an
das Wort zu halten, das der Herr ihr gegeben hatte, hörte die Ärmste
auf ihn und stimmte dem verderblichen Vorschlag zu, der die Ursache
war, daß sie zugrundeging und ihr Mann mit ihr (Gen 3,1-6). Es wäre
besser für sie und uns gewesen, wenn sie dem Feind geantwortet hätte:
Elender, laß uns in der Niedrigkeit und Demut bleiben, in der wir
erschaffen wurden, statt uns eine Erhöhung vorzuschlagen, durch die
du gestürzt wurdest. Wie glücklich wäre Adam gewesen, wäre er allein

337
geblieben und unverheiratet, denn dann wäre er nicht bei Gott in Un-
gnade gefallen, indem er untreu gegen sein Gebot war.
Unser Verstand ist gewöhnlich so voll von Gründen, Meinungen
und Erwägungen, die ihm von der Eigenliebe eingeflößt werden, daß
das schwere Kämpfe in der Seele auslöst. Statt uns damit zu begnügen
und damit zu befassen, uns in allem so zu verhalten, wie Unser Herr es
uns gelehrt hat, machen wir uns Erwägungen der menschlichen Weis-
heit zu eigen, die uns weismacht, man müsse wohl unterscheiden und
die Dinge der Klugheit entsprechend mäßigen, damit alles gut geht.
Indessen trifft das Gegenteil zu, denn das führt dazu, daß alles schlecht
geht. Gewiß, man weiß nicht, wie man diesen Menschen beikommen
soll, die sich dieser falschen Klugheit bedienen. Denn statt ihren Ver-
stand zu vereinfachen, wollen sie die Gründe nicht hören, die man
ihnen sagt, und bringen hundert Gegenargumente, um ihre Meinung
zu stützen, wenn sie auch oft schlecht sind. Wenn sie sich einmal dar-
auf festgelegt haben, weiß man nicht mehr, was man mit ihnen machen
soll.
Bedient euch der Klugheit, denn sie ist gut; aber gebraucht sie wie
ein Pferd: besteigt sie, lenkt sie mit sicherer Hand, gebt ihr hundert-
mal die Sporen, bis ihr sie gezügelt und gezähmt habt, um sie der
Einfachheit Unseres Herrn zu unterwerfen. Der überaus gute Meister
sah die Apostel verstrickt in verschiedene Erwägungen und Zweifel
über die Erfüllung seiner Verheißung. Sie hatten nicht die Geduld,
den Abend des Tages abzuwarten, für den er ihnen seine Auferstehung
vorhergesagt hatte (es war erst Morgen, als sie zu zweifeln begannen).
Pax vobis, sagte er zu ihnen; euer Verstand werde befriedet durch die
Zurückweisung aller Überlegungen. Seht meine Wunden und seid nicht
mehr ungläubig sondern gläubig.
Wieviel Aufhebens um den menschlichen Geist! Unser Herr hat
gesagt: Alles, worum ihr in meinem Namen bitten werdet, wird euch
gegeben (Joh 14,13; 16,23). Trotzdem werden wir sogleich wankend
im Glauben an diese Verheißung, weil wir es nicht so schnell erhalten,
wie wir möchten. Aber ich habe schon so viel um diese Tugend gebe-
tet, und trotzdem habe ich sie nicht. Geduld! Der Tag ist noch nicht
vergangen; es ist erst Morgen, und du zweifelst. Warte den Abend die-
ses sterblichen Lebens ab. Wenn du beharrlich bittest, wirst du sie
ohne Zweifel erhalten. Die Apostel sahen den auferstandenen Herrn
nicht sogleich, und schon waren sie bestürzt. Ach, dachten sie bei sich,
wie glücklich wären wir gewesen, hätten wir einen unsterblichen Mei-
ster gehabt, und mehrere derartige Überlegungen, durch die sie zeig-

338
ten, daß sie an der Wirksamkeit der Verheißungen des Heilands zwei-
felten. Deshalb sagte er ihnen, um sie zu beruhigen: Friede sei mit
euch. Die erste Ursache, die in uns den Kampf bewirkt und den Frie-
den vertreibt, ist also nichts anderes als der Mangel an sicherem Glau-
ben an die Worte Unseres Herrn sowie die Leichtigkeit, mit der wir
auf die Vielzahl von Gründen der menschlichen Klugheit hören.
Der zweite Soldat unseres Geistes ist das Gedächtnis. Wenn seine
Zuverlässigkeit fehlt, wird die Unruhe in der Seele groß. Das Gedächt-
nis ist der Sitz der Hoffnung und der Furcht. Ich weiß wohl, daß die
Hoffnung eine Sache des Willens ist, aber für jetzt will ich so sagen.
Der Großteil der Unruhe in unserem Geist kommt daher, daß die
Phantasie des Fleisches der Einbildungskraft des Geistes Erinnerun-
gen bietet; wenn unser Gedächtnis sie aufgenommen hat, dann lassen
sie uns zu eitlen Befürchtungen übergehen, daß wir von dem und je-
nem nicht genug besäßen, statt uns damit zu befassen, uns der Verhei-
ßung zu erinnern, die Unser Herr uns gegeben hat, und auf diese Weise
fest im Vertrauen zu verharren, daß eher alles vergehen werde, als daß
diese Verheißungen nicht erfüllt werden (Mt 24,35; Mk 13,31); daher
kommt diese Unruhe. Das Fleisch bietet alle seine Kräfte gegen den
Geist auf, bringt den Verstand und das Gedächtnis auf seine Seite, um
gegen uns zu kämpfen.
Es ist ein Jammer, welchen Schaden das Fehlen des Friedens in der
Seele anrichtet. Statt uns einer großen Ruhe zu erfreuen, wenn das
Gedächtnis fest dabei bleibt, sich der göttlichen Verheißungen zu er-
innern, die uns nicht nur der Treue Gottes versichern, sondern auch
seiner zärtlichen und liebevollen Fürsorge für alle jene, die auf ihn
vertrauen und ihre ganze Hoffnung auf seine Güte gesetzt haben (Klgl
3,25). Wie glücklich wären wir, wenn wir uns damit befaßten, uns
nicht nur der Versprechungen zu erinnern, die wir bei der Taufe, son-
dern die Mehrzahl von uns durch die Gelübde Gott gemacht haben,
ihm treu zu sein und uns stets nur damit zu befassen, was uns in seinen
Augen wohlgefälliger machen kann! Wenn die Ordensmänner und
Ordensfrauen ihre Versprechen erfüllten, ihre Regeln und Konstitu-
tionen treu zu beobachten und die Ratschläge zu befolgen, die ihnen
gegeben werden, ich sage, dann würden sie den Frieden in ihrer Seele
besitzen; dann würde Unser Herr zu ihnen kommen und ihnen sagen,
wie er zu seinen Aposteln gesagt hat: Friede sei mit euch.
Der dritte und stärkste Soldat unseres Geistes ist der Wille; denn
nichts kann die Freiheit des menschlichen Willens überwinden. Selbst
Gott, der ihn erschaffen hat, will ihn in keiner Weise zwingen oder

339
ihm Gewalt antun (Sir 15,14.17f). Und doch ist er so feig, daß er sich
sehr oft durch die Beredsamkeit des Fleisches gewinnen läßt und sich
seinen Bestrebungen anpaßt, obwohl er weiß, daß das Fleisch der ge-
fährlichste Feind des Menschen ist. Es ist die treulose Delila, die den
armen Simson arglistig tötete, der sie so herzlich liebte (Ri 16). Das
Fleisch kennt Listen ohnegleichen, um den Geist zu besiegen und ihn
für seine tierischen Neigungen zu gewinnen. Aber der Hauptfeind des
Willens und das, was ihn so feig macht, daß er den Geist im Stich läßt,
der wie sein liebster Gemahl ist, das ist die Menge unserer Wünsche
nach dem und jenem. Mit einem Wort, unser Wille ist so voller An-
sprüche und Pläne, daß er sich sehr oft damit abgibt, sie einen nach
dem anderen zu betrachten, statt sich damit zu befassen, einige der
nützlichsten zu verwirklichen.
Wie viele Wünsche hast du in deinem Willen, kann man zu einem
sagen. Wie viele? Ich habe deren nur zwei. Das ist zu viel, denn man
braucht nur einen. Das sagt Unser Herr selbst: Maria hat das einzig
Notwendige erwählt. Und was ist das eine? Man muß Gott wollen,
meine lieben Schwestern, und sonst nichts. Denn wem Gott nicht
genügt, der verdient, nichts zu besitzen. Ihr werdet mir erwidern:
Aber muß man nicht den Nächsten lieben? Wenn Sie sagen, daß man
nur Gott lieben darf und nur ihn allein wollen, wozu dann so viele
geistliche Bücher, so viele Predigten und alle anderen Übungen der
Frömmigkeit? Ein Beispiel wird euch das verständlich machen. Ihr
schaut diese Wand an, die weiß ist, und ich frage euch, was ihr seht.
Ihr werdet antworten: Ich sehe diese Wand, die weiß ist. Aber seht
ihr nicht die Luft, die zwischen ihr und euch ist? Nein, werdet ihr
antworten, weil ich nur diese Wand ansehe; obwohl mein Blick durch
die Luft hindurchgeht, die dazwischen ist, sehe ich sie dennoch nicht,
weil mein Blick nicht bei ihr verweilt. Ebensogut könntet ihr sagen:
Wenn ich Gott liebe, treffe ich mehrere andere Dinge, wie die Bü-
cher, die Tugenden, das Gebet, den Nächsten, die ich wirklich recht
liebe. Indessen bewirkt meine Hauptabsicht, nur Gott zu lieben, daß
ich alle diese Dinge liebe und mich ihrer bediene, aber nur wie im
Vorbeigehen, um mich anzuspornen, Gott noch mehr und immer
vollkommener zu lieben, denn das ist mein Wille, und ich will nie
etwas anderes.
Schließlich und endlich: wenn wir den Frieden in uns selbst haben
wollen, dürfen wir nur einen Wunsch haben, wie wir gesagt haben,
und nicht anders als der hl. Paulus, der sich vornahm, nichts anderes
zu kennen und zu predigen als unseren gekreuzigten Herrn Jesus

340
Christus (1 Kor 2,2). Das war seine ganze Lehre, darin bestand seine
ganze Wissenschaft; mit dem Tod Unseres Herrn befaßte er sein
Gedächtnis und auf diese Liebe zum Gekreuzigten allein hatte er all
sein Verlangen und sein ganzes Wollen beschränkt. So können auch
wir es machen, meine Lieben, dann werden wir wie er den wahren
Frieden besitzen. Wenn alle unsere Kräfte und Fähigkeiten in uns
gesammelt sind, wird unser göttlicher Heiland, dem zuliebe wir sie
vereinigt haben, ohne Zweifel nicht verfehlen, in uns zu sein und uns
diesen Frieden zu bringen, den er heute seinen vielgeliebten Apo-
steln schenkt.
Aber, mein Gott, was für ein Friede ist das und wie verschieden ist er
von jenem, den die Welt gibt (Joh 24,27)! Die Weltleute rühmen sich
manchmal, den Frieden zu besitzen, aber es ist ein falscher Friede, auf
den schließlich ein ganz großer Krieg folgt. Stellt euch bitte vor, ihr
seht zwei Boote oder Schiffe auf dem See fahren; eines davon ist jenes,
in dem Unser Herr mit seinen Aposteln ist und ganz sanft schläft.
Während er schläft, erheben sich die Winde, der Sturm nimmt zu, die
Wogen werden so ungestüm, daß sie das Schiff jeden Augenblick zu
verschlingen scheinen. Die Apostel sind durch die gegenwärtige Ge-
fahr ganz aufgeregt, sie laufen vom Bug zum Heck und vom Heck zum
Bug. Schließlich wecken sie Unseren Herrn und sagen: Meister, wir
gehen zugrunde, wenn du uns nicht zu Hilfe kommst. Arme Leute,
warum seid ihr unruhig? Habt ihr nicht den Erlöser bei euch, der der
wahre Friede ist? Da sagt Jesus zu ihnen: Was fürchtet ihr, kleingläubi-
ge Menschen? Habt keine Angst. Sogleich gebot er dem See, sich zu
beruhigen, und sofort trat Stille ein (Mt 8,23-26; Lk 8,23-25). Der gött-
liche Meister blieb im Frieden, in dem er geschlafen hatte, der aus der
Unschuld und Reinheit seiner Seele hervorging. Ebenso machte es
nach ihm sein vielgeliebter Apostel, der hl. Petrus, denn er schlief
friedlich, als der Engel kam, um ihn aus dem Gefängnis zu befreien,
am Abend vor dem Tag, an dem er hingerichtet werden sollte (Apg
12,6). So ruhig sind die echten Freunde Gottes und besitzen den Frie-
den, den Unser Herr ihnen erwirkt hat.
Das zweite Schiff, von dem ich gesprochen habe, das den Frieden der
Kinder der Welt darstellt, ist jenes, auf dem sich Jona befand. Der
Sturm war heftig und die Matrosen wußten nicht mehr, was sie tun
sollten, um der höchsten Gefahr zu entrinnen, der sie sich fast ausge-
liefert sahen. Da stiegen sie in den Bauch des Schiffes hinab und fan-
den dort Jona schlafend, aber nicht den Schlaf des Friedens, sondern
den Schlaf der Hilflosigkeit. Sie sagen zu ihm: Wie, du Elender, du

341
schläfst in dieser Bedrängnis? Als sie sich erkundigten, woher er kom-
me, antwortete er: O, ich bin ein elender Mensch und fliehe vor dem
gerechten Unwillen Gottes, der über mich erzürnt ist. Als der Schiffs-
hauptmann das hörte, sagte er sogleich zu ihm: Woher kommst du und
woher bist du? Jona antwortete wieder: Ich bin ein elender Mensch.
Da warfen ihn die Schiffsleute sofort ins Meer (Jona 1,4-15). So ma-
chen es auch die Sünder, wenn sie dem Zorn Gottes zu entgehen ge-
denken. Sie rühmen sich eines guten Schlafs, als ob sie den Frieden
besäßen, aber oft sehen sie sich beim Erwachen sehr getäuscht, wenn
sie sich von tausend Wirren umgeben sehen, die sie fast in das Meer
ewiger Stürme stürzen, wenn sie nicht bereuen und sich an die göttli-
che Güte wenden, um sein Erbarmen zu erflehen, damit sie durch ihre
Zerknirschung die Gnade wiedergewinnen können, die sie inmitten
ihres Friedens und der Ruhe verloren haben. Dieser Friede müßte
eher Unfriede genannt werden, weil er schließlich in einer unerträgli-
chen Unruhe endet.
Der Friede, meine Lieben, findet sich nur unter den Kindern Gottes
und der Kirche, die nach dem göttlichen Willen in der Beobachtung
seiner Gebote leben. Viel echter und größer aber ist der Friede, den
jene besitzen, die nicht nur nach den Geboten leben, sondern in der
Beobachtung der Räte und nach der Regel der Tugend, denn der wahre
Friede findet sich in vollkommener Abtötung. Die Kinder des Frie-
dens (Lk 10,6) führen beständig Krieg gegen das Fleisch, das sehr
heftige Angriffe gegen sie unternimmt, das aber doch nicht die Macht
hat, ihre Ruhe zu trüben, ebensowenig wie der Teufel und die Welt,
wie wir schon gesagt haben.
Jeder von uns muß aber wissen, daß man nicht in einem Frieden
bleiben darf, der vom Faulenzen begleitet ist, denn man muß immer
kämpfen. Wir können das Fleisch wohl schwächen, unseren Haupt-
feind, der uns so nahe ist, daß er uns nie verläßt. Trotzdem können wir
es aber nicht ganz zur Strecke bringen und niederschlagen, weil es
einer jener Flegel und Schurken ist, die Gott am Leben gelassen hat,
um uns in Übung zu halten, wenn sie uns auch nicht schaden können.
Das Fleisch wohnt in unserer Brust (Mi 7,5); deshalb beunruhigt es
manchmal das Herz. Wenn wir aber fest im Turm bleiben, begleitet
von den drei Soldaten, von denen wir gesprochen haben, werden wir
immer die Stärkeren sein und den wahren Frieden besitzen, der uns
zufrieden erhält inmitten von Beleidigungen und Verachtung, von
Bedrängnissen und Widersprüchen und schließlich inmitten all des-
sen, was uns der Natur Widerstrebendes begegnet.

342
Dazu muß ich euch ein schönes Beispiel erzählen, das ich kürzlich
in den neu gesammelten „Leben der Väter“ gelesen habe (ein Buch,
das noch nicht ins Französische übersetzt ist). Mit diesem Beispiel
will ich schließen. Ein junger Mann wurde vom Geist Gottes gedrängt,
sich in einen Orden zurückzuziehen; er begab sich in ein Kloster der
Thebais, um einen geistlichen Vater zu finden. Dem berichtete er von
seiner Absicht und bat ihn, ihn als seinen Schüler aufzunehmen. Er
hielt eine seinem Eifer entsprechende bemerkenswerte Rede und sag-
te: Mein Vater, ich komme zu Euch, damit Ihr mich unterweist, wie
ich es anstellen kann, sehr bald vollkommen zu sein. Seht ihr, er woll-
te es sein, aber sehr bald. Der gute Vater lobte seine Absicht und ant-
wortete ihm: Mein Sohn, soweit es darum geht, dir den Weg zu zeigen,
um dich zu vervollkommnen, werde ich das gerne tun; aber daß du so
bald vollkommen wirst, wie du möchtest, das kann ich dir nicht ver-
sprechen; denn in diesem Haus haben wir nicht eine fertige Vollkom-
menheit, sondern jeder muß seine eigene machen.

Der Ärmste dachte, die Vollkommenheit würde ihm geschenkt, wie


man den Ordenshabit verleiht. Da hatte er sich schwer getäuscht, denn
der geistliche Vater fuhr in seiner Belehrung fort und sagte: Mein Sohn,
die Vollkommenheit gewinnt man nicht mit einem Schlag, wie du
meinst; so schnell kann man sie nicht erreichen. Man muß alle Stufen
durchlaufen, angefangen von den untersten, eine nach der anderen hin-
aufsteigen bis zur höchsten. Siehst du nicht, daß die Jakobsleiter Spros-
sen hatte, auf denen man von einer zur anderen aufsteigen mußte, bis
man ganz oben war, wo man dem Herzen Gottes begegnete (Gen
28,12f)? Bevor man an seiner göttlichen Brust trinken kann, muß man
von Stufe zu Stufe hinaufsteigen; denn die Vollkommenheit, die du
ersehnst, findet man nicht fertig vor. Wenn du sie eines Tages besitzen
willst, werde ich dich gern lehren, wie man sie erwirbt, mein Sohn,
wenn du nur guten Willen hast und wenn du getreu tust, was ich dir
sagen werde. Als der junge Mann das hörte, versprach er, es zu tun. Da
fügte der gute Vater hinzu: Mein Sohn, drei Jahre lang mußt du dich
außer der allgemeinen Übung der Tugenden damit befassen, alle Brü-
der zu entlasten. Wenn du z. B. den Koch triffst, der Wasser holen,
Holz sammeln oder spalten geht, sollst du für ihn gehen. Wenn du
dann andere triffst, die beladen sind, wirst du ihre Last nehmen und sie
entlasten, indem du diese für sie trägst. Mit einem Wort, du wirst dich
zum Diener aller machen und ihnen in allem ohne Ausnahme dienen.
Wirst du wohl den Mut haben, das zu tun? Der junge Neuling, der sich
nach der Vollkommenheit sehnte, fügte sich dem. Aber werde ich am

343
Ende dieser drei Jahre vollkommen sein? Das kann ich nicht wissen,
antwortete der Vater; wir werden sehen, was dann sein wird.
Als die drei Jahre vorüber waren, suchte der gute Novize seinen
Meister wieder auf, um zu erfahren, ob er vollkommen sei. Mein
Vater, sagte er, ich sehe mich am Ende meiner Frist. Das ist nicht
alles, erwiderte der gute Vater; wenn du vollkommen sein willst, mußt
du noch eine andere Übung für weitere drei Jahre auf dich nehmen.
Du hast in diesen drei Jahren gut und treu getan, was ich dir aufgetra-
gen hatte, das ist wahr; aber dabei darf man nicht stehenbleiben. O
Gott, sagte der arme Junge, wie, ist es noch nicht so weit? Muß man
noch einmal von vorne beginnen? Genügen drei Jahre Noviziat nicht?
Ach, ich glaubte vollkommen zu sein, indem ich es sein wollte, und
trotzdem ist noch so viel zu tun! Nachdem er seine Klagen vorge-
bracht hatte, war der Vater nicht sehr erstaunt und begann ihn zu
ermutigen. Er sagte, nachdem er schon so viel getan habe, müsse er
weitermachen. Die Vollkommenheit sei ein so hohes Gut, daß uns
weder Mühe noch Zeit reuen dürfen, die man darauf verwendet, sie
zu erwerben.
Schließlich war der arme Novize so überzeugt, daß er versprach,
noch drei Jahre zu tun, was man ihm sage. Die Übung, die ihm der
Vater auftrug, bestand darin, alle Abtötung, Verachtung, Zurecht-
weisung und Demütigung gut anzunehmen, so daß er nie unterlasse,
denen irgendeinen Dienst zu erweisen oder ein Geschenk zu ma-
chen, die sie ihm zufügten, und das prompt. Und wenn er nichts
anderes zu schenken habe, solle er einen Strauß binden und ihnen
schenken, eine Matte flechten oder ähnliche Dinge. Er versprach, es
zu tun, und tat es sehr getreu, so daß er keine Gelegenheit zur Übung
versäumte; denn der geistliche Vater gab den Auftrag, wenn es not-
wendig sei, ihn zu prüfen, ob er sich bei jeder Gelegenheit bemühe,
Geschenke zu machen, so daß es ihm nicht an Verachtung, Abtötung
und Demütigungen fehlte.
Als nun das zweite Noviziat beendet war, kam er, seinem Meister
Rechenschaft zu geben, voll Verlangen zu erfahren, ob er vollkommen
sei. Der Vater aber sagte ihm: Mein Sohn, das Urteil, ob du es bist oder
nicht, steht nur Gott zu; wenn du aber willst, machen wir eine kleine
Probe. Er ließ ihn also ganz beschmieren und nahm ihn in eine nahe-
gelegene Stadt mit. An ihrem Tor waren Soldaten, die nichts anderes
zu tun hatten, als die Vorübergehenden zu beobachten und über sie zu
lachen. Sobald sie den armen jungen Mann sahen, fielen sie über ihn
her. Der eine stichelte mit Worten gegen ihn, es kam bis zu Schlägen,
andere beleidigten ihn; mit einem Wort, sie belustigten sich mit ihm

344
ganz so, als wäre er verrückt. Zu der Meinung, daß er verrückt sei,
kamen sie deswegen, weil er, je mehr ihn die Soldaten behandelten,
wie ich beschrieben habe, darüber in seinem Herzen solche Freude
empfand, daß sie auf seinem Gesicht zu sehen war. Je mehr Beleidi-
gungen man ihm sagte, um so fröhlicher und zufriedener schien er zu
sein. Darüber staunten die Umstehenden sehr und der geistliche Va-
ter, der ihn während dieser Probe beobachtete, war damit sehr zufrie-
den.
Einer der Soldaten kam schließlich durch das Verhalten des armen
Novizen zur Besinnung und voll Staunen begann er ihn auszufragen.
Er fragte ihn, wieso er lachen könne (er lachte nicht laut, sondern
lächelte nur). Er konnte nicht verstehen, daß ein Mensch so unemp-
findlich gegen Beleidigungen sein konnte, wie er es zu sein schien.
Seht ihr, Unser Herr erlaubt stets, daß die Tugenden seiner wahren
Freunde und Diener von manchen erkannt werden. Da antwortete der
gute Novize: Gewiß, ich glaube guten Grund zu haben, zu lachen und
zufrieden zu sein, denn ich habe den Frieden in meiner Seele inmitten
eurer Angriffe und eures Gelächters über mich. Aber mehr noch, ich
habe allen Grund zufrieden zu sein, denn in Wirklichkeit seid ihr
gütiger und freundlicher zu mir, als es mein Meister war, den ihr hier
seht, der mich hergebracht hat. Er hat mich nämlich drei Jahre in
solcher Unterwürfigkeit gehalten, daß ich allen ein Geschenk machen
mußte, die mich quälten, als Vergeltung für die Kränkung, die sie mir
zugefügt haben. Ihr dagegen versucht mich zu quälen und zu betrüben
und verpflichtet mich nicht, es euch zu vergelten.
Groß war der Friede, den dieser junge Mann in seiner Seele hatte, da
Beleidigungen, Spötteleien und Gelächter einer liederlichen Bande
ihn überhaupt nicht erschütterten. Das ist der wahre Friede, meine
Lieben. Ich wünsche euch, daß er erhalten bleibt, ja daß er zunimmt
mitten im Kampf und Wirbel des Sturms der Verfolgungen und De-
mütigungen, der Abtötungen und Widersprüche, die wir in diesem
sterblichen Leben erfahren. Auf diese Bedrängnisse und Nöte werden
schließlich Tröstungen und ewige Ruhe folgen, wenn wir sie nach dem
Beispiel dieses guten Ordensmannes in innerem Frieden ertragen ha-
ben. Nun, solchen Frieden gewinnt man in diesem Leben nur durch
die Einheit des Verstandes, des Gedächtnisses und des Willens mit
dem Geist, wie wir es eben gezeigt haben. Mehr noch, er kann sich
nicht außerhalb der heiligen Kirche finden, wie uns die Erfahrung
täglich lehrt. Schließlich und endlich findet er sich stets nur im Ge-
horsam gegen das heilige Evangelium, das nur Friede ist. Amen.

345
Zum Pfingstfest

Nr. 32: 7. Juni 1620 IX,315-323

Es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich


verteilten und auf jeden von ihnen niederließen; und
alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt (Apg 2,3f).

Wir feiern heute das Fest der Geschenke und der Gabe aller Gaben;
das ist der Heilige Geist, der vom Vater und vom Sohn in Gestalt
feuriger Zungen auf die Apostel herabgesandt wurde. In dieser Gabe
sind aber sieben andere enthalten, die wir Gaben des Heiligen Geistes
nennen. Es war gewiß ein überaus großes Geschenk, das der himmli-
sche Vater der Welt machte, als er ihr seinen eigenen Sohn gab, wie er
selbst gesagt hat und nach ihm sein großer Apostel, der hl. Paulus:
Wenn schon der ewige Vater die Welt so sehr geliebt hat, daß er ihr
seinen eigenen Sohn gab, warum sollte er ihr nicht mit dieser Gabe jede
andere verleihen (Joh 3,16; Röm 8,32)?
Erinnert euch an die schöne Geschichte des ägyptischen Josef (Gen
42ff). Sie wurde schon so oft erzählt, kann aber nicht genug erwogen
werden. Als er Vizekönig von Ägypten war, kamen seine Brüder mehr-
mals zu ihm, um bei ihm Hilfe zu finden in der äußersten Not, in der
Jakob und sie sich befanden infolge der Hungersnot, die in ihrem Land
herrschte. Er schickte sie jedesmal mit Korn und Lebensmitteln verse-
hen zurück. Als man aber den kleinen Benjamin zu ihm brachte, schick-
te er sie nicht nur wie früher ausreichend mit Proviant versehen zu-
rück, sondern überdies mit reichen Geschenken, mit Wagen, die mit
allem beladen waren, was sie nur wünschen konnten. Wir sehen, daß
der ewige Vater an diesem Tag das gleiche tat. Obwohl er im Alten
Bund seinem Volk sehr große Gaben verlieh, geschah es doch nur in
ausreichendem Maß. Im Neuen Bund aber, als er seinen lieben Benja-
min wiedersah, d. h. sobald Unser Herr in seine Herrlichkeit einge-
gangen war (Lk 24,26; Joh 7,39), öffnete er seine Hand, um alle Gläu-
bigen mit seinen Gaben und seinen Gunsterweisen zu überhäufen (Ps
68,19; 145,16; Joh 3,34; Eph 4,8), wie (Joel 2,28) geschrieben steht,
daß er seinen Geist über alles Fleisch ausgießen wird, d. h. über alle
Menschen, nicht nur über die Apostel.
Ihr wißt doch, daß (Jes 11,2f) geschrieben steht, daß der Erlöser
unermeßliche Gnaden empfangen hat und daß die Gaben des Heiligen
Geistes auf seinem Haupt ruhen. Und warum das, da er selbst die

346
Gnade ist und keiner davon bedurfte noch bedürfen konnte? Das ge-
schah also nur, um uns zu verstehen zu geben, daß alle Gnade und aller
himmlische Segen uns durch ihn zuteilwerden muß, indem er sie über
uns ausströmen läßt, die wir Glieder der Kirche sind, deren Haupt er
ist (1 Kor 12,12; Eph 1,22f; 4,7-16). Und als Beweis für diese Wahr-
heit vernehmt, was er selbst seiner Vielgeliebten im Hohelied (5,2)
sagt: Öffne mir, meine Braut, meine Schwester. Er nennt sie meine
Braut wegen der Größe seiner Liebe und meine Schwester, um die
Reinheit seiner Zuneigung zu beteuern, sagt er, aber öffne mir schnell,
denn meine Haare sind voll Tau und die Locken meines Hauptes sind
voller Tropfen der Nacht. Nun, der Tau und die Tropfen der Nacht sind
dasselbe. Was denkt ihr, wollte der Vielgeliebte unserer Seelen damit
ausdrücken, wenn nicht den glühenden Wunsch, daß ihm seine Braut
unverzüglich die Tür ihres Herzens öffne, damit er dort wie Tau und
kostbares Naß die Gaben und Gnaden ausgießen kann, die er so über-
reich von seinem Vater empfangen hat?
Sehen wir nun, wie Gott seinen Heiligen Geist allen sandte, die im
Abendmahlssaal versammelt waren. Ihre Zahl war 120 und alle rede-
ten, wie es ihnen der Heilige Geist eingab. Die Apostel hatten ihn schon
empfangen, als Unser Herr sie anhauchte und ihnen sagte: Empfangt
den Heiligen Geist, da er sie als Vorsteher seiner Kirche einsetzte und
ihnen die Gewalt verlieh, die Seelen zu binden und zu lösen (Joh
20,22f). Das geschah aber nicht mit dem Glanz und der Pracht, mit
der sie ihn am heutigen Tag empfingen, und hinterließ in ihnen nicht
die gleichen Wirkungen. Ebenso verlieh der ewige Vater der Welt ein
überaus großes Geschenk, als er ihr seinen eigenen Sohn gab; es war
aber ein verborgenes Geschenk, eingeschlossen und gedrängt in der
niedrigen und geringen Hülle unserer sterblichen Menschennatur. Das
Geschenk aber, das er an diesem Tag seiner Kirche macht, muß als das
hervorragendste erachtet werden, weil der Vater und der Sohn es sen-
den (Joh 14,16.26; 15,26; 16,7).
Der Wert der Geschenke wird nach der Liebe bemessen, mit der sie
gegeben werden. Dieses hier ist nun nicht nur mit großer Liebe gege-
ben worden, sondern die Liebe selbst wird gegeben, denn jeder muß
wissen, daß der Heilige Geist die Liebe des Vaters und des Sohnes ist.
Wenn wir aber sagen, der Heilige Geist ist uns verliehen vom Vater
und vom Sohn, dann darf man das nicht so verstehen, daß er von ihnen
getrennt worden sei, denn das ist nicht möglich, da es nur einen unteil-
baren Gott gibt. Wir wollen damit vielmehr sagen, daß Gott uns sein
göttliches Wesen geschenkt hat, wenn es auch in der Person seines

347
Geistes geschah. Darüber kann man nicht viel sprechen, aber fest dar-
an glauben.
Wir können die Größe der Verleihung des Heiligen Geistes erwägen
mit allen Wirkungen, insofern er vom ewigen Vater und von Unserem
Herrn seiner Kirche verliehen wurde, oder insofern er jedem einzel-
nen von uns verliehen wurde. Gewiß können wir Gott nicht genug
dafür danken, daß er seiner Kirche dieses einmalige Geschenk ge-
macht hat, wegen des Guten, das daraus folgt. Der Heilige Geist wurde
sehr sinnvoll in der Form und Gestalt von Zungen verliehen, uzw. von
feurigen Zungen, denn in der Sprache liegt alle Macht der Kirche. Wer
wüßte nicht, daß sie alle ihre Geheimnisse durch die Sprache wirkt?
Die Predigt geschieht durch die Sprache; bei der heiligen Taufe, ohne
die niemand gerettet werden kann (Mk 16,16), muß die Sprache dazu-
kommen, um dem Wasser die Kraft zu verleihen, unsere Sünden und
Missetaten abzuwaschen; ebenso kann das hochheilige Meßopfer nur
vermittels der Sprache gefeiert werden.
Ich bitte euch aber, erwägen wir dieses kostbare Geschenk, inso-
fern es jedem einzelnen von uns verliehen wird. Wir haben schon
gesagt, daß in ihm sieben weitere Gaben enthalten sind; wir nennen
sie die Gaben der Furcht, der Wissenschaft, der Frömmigkeit, der
Stärke, des Rates, des Verstandes, der Weisheit (Jes 11,2f). Sofern
wir von diesen sieben Gaben Gebrauch machen und auf ihnen wie
auf einer Leiter emporsteigen, werden wir erkennen, ob wir den
Heiligen Geist empfangen haben oder nicht, denn gewöhnlich teilt
er sie den Seelen mit und steigt zu denen herab, die er bereit findet,
ihn aufzunehmen.
Beginnen wir also mit der Gabe der Furcht. Die Gabe der Furcht ist
die allgemeinste. Wir sehen ja, daß sogar die Bösen Furcht und Schrek-
ken bekommen, wenn sie vom Tod sprechen hören, vom Gericht und
den ewigen Peinen. Diese Furcht ließ sie jedoch weder Sünde noch
Bosheit meiden, weil sie nicht den Heiligen Geist empfangen haben.
Denn die Furcht, die man eine Gabe des Heiligen Geistes nennt, läßt
uns nicht nur das göttliche Gericht, den Tod und die Hölle fürchten,
sondern läßt uns Gott als unseren Herrn und Richter fürchten und
bringt uns deshalb dazu, das Böse zu fliehen und alles, wovon wir
wissen, daß es ihm mißfällt. Beachten wir doch, daß es heißt, die Ga-
ben des Heiligen Geistes, jene der Weisheit und die übrigen, ruhten
auf dem Haupt unseres göttlichen Erlösers, und dann: Er war erfüllt
von der Furcht des Herrn. Was soll das heißen? Unser Herr bedurfte
doch nicht der Furcht. Wir müssen es also so verstehen, daß er von ihr

348
erfüllt wurde, um sie auf jeden von uns auszugießen, auf Vollkomme-
ne und Unvollkommene; denn die Vollkommenen müssen fürchten,
in ihrer Vollkommenheit nachzulassen, die Unvollkommenen, sie nicht
erreichen zu können. Wir sehen eine Flasche mit irgendeiner Flüssig-
keit gefüllt, ohne daß sie dessen bedürfte, denn sie ist so hart, daß sie
selbst davon nicht durchdrungen wird. Ebenso war unser gebenedeiter
Erlöser erfüllt von der Furcht des Herrn, nicht für sich, denn er konn-
te sich ihrer nicht bedienen, sondern nur, um sie auf seine Brüder
auszugießen.
Man braucht nicht viel über die Furcht zu sprechen, vor allem an
dem Ort nicht, wo ich mich befinde, denn man muß sich ihrer nur
bedienen als Hilfe für die Liebe, wenn es erforderlich ist. Man darf
sich auch nicht länger bei der Furcht aufhalten, noch weniger sie in
unserem Herzen bewahren, das der Sitz der Liebe ist; man darf sie
vielmehr nur vor der Tür unseres Herzens lassen (1 Joh 4,18), damit
sie bereitstehe, der Liebe zu Hilfe zu kommen, wie ich gesagt habe.
Gehen wir also zur Gabe der Frömmigkeit über, die die zweite ist.
Die Frömmigkeit ist nichts anderes als eine kindliche Furcht, die uns
Gott nicht mehr als unseren Richter betrachten läßt, sondern als unse-
ren Vater; ihm zu mißfallen fürchten wir und ihm zu gefallen wün-
schen wir.
Es würde uns aber kaum nützen, daß wir den Wunsch haben, Gott zu
gefallen, und die Furcht, ihm zu mißfallen, wenn uns nicht der Heilige
Geist die dritte Gabe verliehe, jene der Wissenschaft. Durch sie lernen
wir, was Tugend ist und was Laster, was Gott gefällt und was ihm miß-
fällt. Mehrere der alten Philosophen wußten diese Unterscheidung
wohl zu machen. Aristoteles hat eine bewunderswerte Abhandlung
über die Tugenden verfaßt. Das bewahrte ihn trotzdem nicht davor, in
der Hölle zu braten; denn obwohl er den Weg der Tugend erkannte,
wollte er ihm nicht folgen. Durch die Gabe der Weisheit hilft uns der
Heilige Geist, die Tugenden zu erkennen, deren Übung für uns not-
wendig ist, und die Laster, die man meiden muß.
Es ist außerdem sehr notwendig, daß uns der Heilige Geist die vierte
Gabe verleiht, das ist die der Stärke, denn sonst würden uns die vor-
ausgehenden nichts nützen. Es genügt ja nicht, daß man den Willen
hat, das Böse zu meiden und das Gute zu tun, noch weniger, das eine
wie das andere zu kennen, wenn wir nicht Hand anlegen. Deshalb brau-
chen wir die Stärke sehr notwendig; wir müssen aber wissen, worin sie
besteht. Sie dient nicht dazu, um es wie Alexander der Große zu ma-
chen, der die ganze Welt durch die Stärke der Waffen eroberte. Er

349
besaß nicht die Gabe der Stärke, soviel man sie ihm auch wegen seiner
Eroberungen zuschreiben mag. Seine Stärke bestand in den Bleikugeln,
die die Mauern der Städte niederrissen und die Festungen zerstörten.
Noch weniger besaß er den Mut, den man so sehr an ihm rühmt; das
zeigt sich darin, daß er nicht einmal Macht über sich selbst besaß, sich
zu überwinden und ein Glas Wein nicht zu trinken, denn er war ein
Trinker. Seht, wie er sich am Boden wälzte und weinte, als ein Philo-
soph ihm sagte, es gebe noch andere Welten als jene, die er unterwor-
fen und erobert hatte. Er war so traurig darüber, sie nicht erobern zu
können, daß er sich nicht trösten konnte.
Vergleichen wir ein wenig die Tapferkeit und den Mut eines heiligen
Einsiedlers Paulus oder vielmehr des großen heiligen Apostels Paulus
mit diesem Alexander. Dieser zerstörte die Städte, schleifte die Fe-
stungen, eroberte die Welt durch die Stärke der Waffen und ließ sich
schließlich durch sich selbst besiegen. Unser großer Apostel dagegen
wollte offenbar die ganze Welt durcheilen und unterwerfen, nicht um
die Mauern einzureißen, sondern die Herzen der Menschen, und sie
seinem Meister durch seine Predigt zu unterwerfen (1 Kor 1,21-23).
Damit nicht genug, seht doch seine Gewalt über sich selbst, indem er
seine Neigungen und Leidenschaften besiegt, der Ordnung der Ver-
nunft unterwirft und alles dem hochheiligen Willen der göttlichen
Majestät. Darin besteht die Gabe der Stärke und die Größe des Mutes:
sich selbst zu überwinden, um sich Gott zu unterwerfen; sich abzutö-
ten und ausnahmslos alles Überflüssige und Unvollkommene in unse-
rem Geist zu beschneiden, so gering es sein mag. Darüber hinaus läßt
uns diese Gabe es unternehmen, zum Gipfel der Vollkommenheit zu
gelangen, ohne die Schwierigkeiten zu fürchten, die damit verbunden
sind, sie zu erwerben.
Doch wenn wir so entschlossen und gefestigt sind, die wahre Übung
der Tugenden zu erwählen, brauchen wir die Gabe des Rates, um jene
Tugenden auszuwählen, die unserer Berufung nach die notwendigsten
für uns sind. Denn wenn es auch immer gut ist, die Tugenden zu üben,
so muß man sie doch in der rechten Ordnung zu üben wissen. Weiß
ich, ob es bei einer bestimmten Gelegenheit ratsamer ist, daß ich die
Geduld nur innerlich übe und nicht äußerlich, oder ob ich beides mit-
einander verbinden muß? Man muß deshalb die Gabe des Rates besit-
zen, um die Übung fortzusetzen, die uns die Gabe der Stärke und des
Mutes beginnen ließ, und damit wir uns nicht selbst täuschen und die
Tugenden nach unseren Neigungen auswählen und nicht nach der Not-
wendigkeit für uns, indem wir nur auf das Äußere schauen und nicht
auf das wahre Wesen der Tugenden.

350
Nach der Gabe des Rates kommt die des Verstandes. Sie läßt uns
durch Erwägungen in die Geheimnisse unseres Glaubens eindringen
und die Lehren der inneren Vollkommenheit auf dem Grund dieser
Geheimnisse gewinnen. Bedenkt aber bitte, daß ich sage, durch die
Betrachtung und das Gebet, und nicht durch Wißbegierde, Spekulati-
on und Studium, wie es die Theologen machen. Denn ein einfaches
armes Weiblein ist dazu fähiger als die hervorragendsten Theologen,
die weniger Frömmigkeit besitzen. Seht diese arme Frau: sie wird sich
unter dem Kreuz des Erlösers sogleich des Grundsatzes der Vollkom-
menheit erinnern: Selig die Armen im Geiste (Mt 5,3). Im Geheimnis
der Menschwerdung entdeckt sie die gleiche Grundregel, außerdem
die der Demut und Erniedrigung. Ihr seht also sehr deutlich die Wir-
kungen der Gabe des Verstandes. Über das hinaus, was wir gesagt ha-
ben, läßt sie uns die Wahrheit der Geheimnisse begreifen, ebenso, wie
notwendig es für uns ist, auf das wahre Wesen der Tugenden zu schau-
en und nicht nur auf den äußeren Anschein; außerdem, wie nützlich es
für uns ist, den erkannten Wahrheiten zu folgen, sei es durch die Gabe
des Rates oder die des Verstandes.
Nun läßt es aber der Heilige Geist gewöhnlich nicht dabei bewen-
den, einer Seele diese sechs Gaben zu verleihen, die wir eben erklärt
haben, ohne auch die der Weisheit hinzuzufügen, d. h. die Gabe einer
„köstlichen Gelehrsamkeit“ (Thomas). Er verleiht der Seele Neigung,
Geschmack und Wertschätzung, mit einem Wort Befriedigung in der
Verwirklichung der Grundsätze der christlichen Vollkommenheit, die
sie durch die Gabe des Verstandes erkannt hat. Ganz im Gegensatz zu
den Weltmenschen, die die Reichen für glücklich halten, jene, die ge-
ehrt werden und in Genüssen leben, wird sie die Armen im Geiste
glücklich schätzen, weil sie diese Tugend im Herzen Gottes selbst
gefunden hat. Glücklich die Demütigen, glücklich jene, die in ihrem
Äußeren sichtbar die Abtötung tragen, die aus der inneren Verleug-
nung und Verachtung alles dessen hervorgeht, womit die Welt Staat
macht.
Ich schließe mit der Erwägung, daß alle, die im Abendmahlssaal
waren, den Heiligen Geist empfingen und redeten, wie es der gleiche
Heilige Geist ihnen eingab; nicht jedoch alle auf gleiche Weise. Er
wurde ja nicht allen verliehen, um das Evangelium zu verkünden wie
der hl. Petrus und die anderen Apostel. Man kann ja nicht leugnen, daß
auch Frauen dabei waren, wie der Evangelist (Apg 1,14f) schreibt, daß
es mit Unserer lieben Frau und den anderen Frauen 120 waren. Nun,
sie redeten so, wie es ihnen der Heilige Geist eingab; d. h. jene, die

351
nicht öffentlich predigten, ermutigten sich gegenseitig, Gott zu prei-
sen. Wir müssen aber wissen, daß es ein Sprechen gibt, das ohne Worte
geschieht; das ist das gute Beispiel. David sagt (Ps 19,1): Die Himmel
verkünden die Ehre Gottes. Wie das? Die Himmel sprechen doch nicht.
Er will sagen, daß die Schönheit des Himmels und des Firmaments die
Menschen einlädt, die Größe der Schöpfung zu bewundern und seine
Wunder zu verkünden. Er fügt hinzu, daß die Tage und die Nächte sich
ablösen, die Herrlichkeit Gottes zu künden. Wer wüßte nicht, daß wir,
wenn wir in einer recht klaren Nacht den Himmel betrachten, ange-
regt werden, die Allmacht und Weisheit dessen zu bewundern und
anzubeten, der ihn mit so vielen schönen Sternen übersät hat? Es ist
nicht anders, wenn wir einen schönen Tag vom Licht der Sonne er-
leuchtet sehen, ja selbst wenn Unser Herr uns den Regen sendet, da er
dazu dient, die Pflanzen wachsen zu lassen.
Was will ich mit all dem anderes sagen als das: Wir, die wir mehr
sind als die Himmel und alles Geschaffene, weil das alles für uns ge-
schaffen ist und nicht wir für sie, wir sind fähiger, die Herrlichkeit
Gottes zu künden als die Himmel und die Sterne. Das gute Beispiel ist
eine stumme Predigt. Wenn wir auch nicht die Sprachengabe empfan-
gen haben, um zu predigen, können wir es doch auf diese Weise immer
tun. Ist es nicht ein größeres Wunder, eine mit großen Tugenden ge-
schmückte Seele zu sehen als den Himmel geschmückt mit Sternen?
Die Tage lösen einander ab, die Herrlichkeit Gottes zu künden; wer
wüßte nicht, daß die Heiligen dasselbe getan haben, indem sie ihre
Tugenden einander weitergaben? Auf den hl. Augustinus folgte der hl.
Hilarion, auf den hl. Hilarion andere Heilige, und so wird es immer
bleiben. – – –

Zum Fest des hl. Augustinus

Nr. 33: 28. August 1620 IX,324-339

Der hl. Augustinus berichtet von dem großen Streit und Zwist bei
seiner Bekehrung, von dem Kampf und der Spannung zwischen den
beiden Bereichen seiner Seele, dem niederen und dem höheren, den
härtesten Kampf, den man sich denken kann. Schließlich gewahrt er

352
die Augen der Barmherzigkeit, die ihn schon bisher angeblickt haben,
und ruft am Anfang des 9. Buches seiner „Bekenntnisse“ aus: Herr, du
hast auf deinen Diener geschaut, auf den Sohn deiner Magd. Als er
dann die machtvolle Hand Gottes fühlt, die ihn befreit, fährt er mit
den Worten aus Psalm 116 (3f.7) fort: Dirupisti vincula mea. Du hast
meine Fesseln zerbrochen; Herr, du hast mich von den Banden meiner
Sünden befreit. Was kann ich zum Dank für eine solche Gunst tun? Ich
will dir ein Opfer des Lobes weihen, ich will den Kelch des Heiles trinken
und den Namen des Herrn anrufen. Da ich zu euch zu sprechen habe,
welch besseren Gegenstand könnte ich wählen als diese Worte des
Psalmisten: Dirupisti ...? Um aber meine Predigt leichter verständlich
zu machen, will ich sie in drei Punkte einteilen: Im ersten werden wir
sehen, was das für Bande sind, von denen der hl. Augustinus befreit
wurde; im zweiten, welches Lobopfer er Unserem Herrn dargebracht
hat; und im dritten, was dieser Kelch des Heiles ist.

Zum 1. Punkt: Es ist wunderbar, wie der große hl. Augustinus von
sich selbst im gottbegnadeten Buch seiner „Bekenntnisse“ spricht und
in bewundernswertem Stil von den Banden berichtet, mit denen er
gefesselt war. Ich will mich nicht dabei aufhalten, euch viel darüber zu
sagen, denn ihr habt dieses Buch. Dort könnt ihr diese Dinge mit grö-
ßerer Freude ausführlich lesen, besser als ich es erzählen könnte. Ich
werde mich damit begnügen, euch zu sagen, was meinem Thema ent-
spricht. Er schreibt: Ich war gebunden und gefesselt mit Ketten und
Banden einer fluchwürdigen Leidenschaft, mit einem verhärteten Wil-
len, der bewirkte, daß ich mich aus freien Stücken in meinen lasterhaf-
ten Gewohnheiten wälzte.

Wenn die Theologen von den Banden sprechen, mit denen die Men-
schen gefesselt sind, sagen sie, daß es deren drei Arten gibt. Der Teufel
hat Bande und Ketten, mit denen er die Menschen gefesselt hält, sie zu
seinen Sklaven und Untertanen macht. Diese Ketten sind nichts ande-
res als die Sünde, die uns nicht nur zu Sklaven unserer Leidenschaften,
sondern auch des Teufels macht. Und niemand kann uns davon befrei-
en als die mächtige Hand Gottes. Wie uns der gleiche hl. Augustinus
sagt, sind diese Bande vortrefflich versinnbildet durch die Ketten und
eisernen Handschellen, mit denen der hl. Petrus im Gefängnis gebun-
den war (Apg 12,6). Denn wenn er auch ungerecht eingekerkert war,
versinnbilden uns seine Bande dennoch die Sünde. Wie eiserne Hand-
schellen und Ketten hält sie den Sünder so fest gefangen, daß keiner
außer Gott ihn befreien kann.

353
Die zweite Art der Bande sind die der Welt; sie sind nichts anderes
als die Sinnlichkeit und Wollust; Bande, die überaus gefährlich und
schwer zu zerreißen sind.
Aber auch Gott hat Bande, Stricke und Ketten, mit denen er seine
Diener fesselt: die einen sind aus Eisen, die anderen aus Gold. Wie
unser großer Vater, der hl. Augustinus sagt, sind die eisernen nichts
anderes als die Furcht vor dem Gericht, vor dem Tod und der Hölle; es
sind die Drohungen, die wir im Evangelium lesen und mit denen der
heilige Apostel Paulus die Könige und Fürsten, die Bauern und Hand-
werker, Groß und Klein erschreckte, wenn er ihnen (Apg 17,31; 24,25;
2 Kor 5,10f; Kol 4,1) sagt: Ich mache euch aufmerksam, daß es einen
höchsten Richter der Lebenden und Toten gibt, dem ihr Rechenschaft
schuldet. Viele nun, die diese und ähnliche Worte hörten und die
schrecklichen Gerichte Gottes fürchteten, taten Buße, ließen sich
durch die Furcht und lebhafte Angst fesseln und bekehrten sich. Die
goldenen Bande sind die Bande der Liebe, mit denen Unser Herr viele
Seelen fesselt und sie zu seinen Sklaven und Untertanen macht, aber
in einer milden und sehr liebevollen Knechtschaft. Das sind jene See-
len, die ohne jeden Gedanken der Furcht, vielmehr angezogen von der
milden und liebenswürdigen Anziehung unseres teuren Meisters kom-
men, um sich vollkommen seinem göttlichen Dienst hinzugeben und
zu weihen.
Der hl. Augustinus war mit dreierlei Banden gefesselt, von denen er
in seinen „Bekenntnissen“ spricht; gewiß aber in einer Weise, daß es
jene zu Tränen rührt, die es aufmerksam lesen, wenn sie sehen, wie der
bedauernswerte junge Mann hilflos und so bedrängt war, daß er sich
nicht befreien konnte. Seht ihn gefesselt mit den fluchwürdigen Ban-
den der Wollust. Er glaubte nicht leben zu können, ohne dieses ab-
scheuliche Laster zu begehen. Er wünschte und wollte doch nicht von
ihm befreit werden. Was taten Alypius und seine übrigen Freunde nicht
alles, um ihn davon abzubringen. Sie redeten ihm zu, sich zu verheira-
ten, damit er dadurch seine unerlaubten Freuden in erlaubte verwand-
le; alle ihre Bemühungen waren vergeblich. Es bedurfte deiner all-
mächtigen Hand, Herr, sagte er selbst, um mich von diesen Banden zu
befreien und mich den Krallen meines Feindes zu entreißen, denen
ich mich freiwillig ausgeliefert hatte. Gewiß, diese Sünde ist abscheu-
lich und die gefährlichste von allen. Wenn sie auch nicht so groß ist
wie die Gotteslästerung und der Gotteshaß, so ist es doch schwieriger
als bei allen anderen, sich von ihr loszumachen und zu befreien.
Die zweite Fessel, mit der der hl. Augustinus gebunden war, ist die
Eitelkeit, denn er war ein Meister der Rhetorik. Was aber ist Rede-

354
kunst und weltliche Humanität anderes als eine Schule der Eitelkeit?
Er war also Meister in der Eitelkeit, und er gesteht das selbst. Armer
Augustinus, damals warst du Meister der Rhetorik, und bei den schö-
nen Phrasen und Dichtungen, bei ungebundener Rede und Vorträgen
war deine Seele aufgeblasen, eitel und hochmütig, denn das menschli-
che Wissen bläht auf (1 Kor 8,1). Er war ein großer Redner und hielt
wundervolle rhetorische Vorträge. Deshalb war er so gefürchtet, denn
man wagte ihm nicht nahezutreten und einen Disput mit ihm aufzu-
nehmen, weil man fürchtete, verwirrt daraus hervorzugehen. Das bläh-
te ihn noch mehr auf. Dazu trug noch sein schöner und überaus subti-
ler Geist bei.
Ich pflege zu sagen, daß zwischen einem schönen und einem gedie-
genen Geist der gleiche Unterschied besteht wie zwischen dem Pfau
und dem Adler. Wie jeder weiß, ist der Pfau ein schöner Vogel und hat
schöne Federn, aber er ist sehr eitel und stolz. Er macht ein Rad und
spreizt sein Gefieder; was aber sind seine Werke? Er gibt sich nur mit
Albernheiten ab; er nährt sich von Fliegen und Mücken; deshalb füt-
tert ihn der Bauer nicht, da er außerdem unnütz in seinem Haus ist. Er
verursacht Schaden, denn er steigt auf das Dach und deckt es ab, um
Spinnen zu suchen. Die Adler dagegen, die kein so schönes Gefieder
haben und nicht dieses schöne Äußere, verrichten trotzdem edlere
Werke. Man sieht sie fast nie auf der Erde, sie schwingen sich vielmehr
stets in die Lüfte. So sagen die Naturforscher, daß der Adler der König
der Vögel ist, nicht wegen seiner Schönheit, sondern wegen seiner
Hochherzigkeit.
Ebenso verhält es sich mit einem schönen und einem gediegenen
Geist. Der eine ist eitel; er beschäftigt sich nur mit eitlen Vorstellun-
gen, und so wenig er tut, bläht er sich doch großartig auf. Ein gediege-
ner Geist dagegen vollbringt gute und gediegene Werke; er bläht sich
deswegen nicht auf, sondern wird demütiger und bescheidener. Ein
kleiner Schüler der Rhetorik bläht sich über eine kleine Redewen-
dung oder Geschichte auf und wird ein sogenannter Pedant, d. h. auf-
geblasen, eingebildet und hochmütig. Was kann man da tun? Ein
Schöngeist ist solchen Eitelkeiten und Torheiten unterworfen, ein ge-
diegener Geist aber vollbringt gute und gediegene Werke, wie ich ge-
sagt habe; er bläht sich nicht auf und rühmt sich nicht, sondern bleibt
immer bescheiden und demütig. So machte es der hl. Augustinus nach
seiner Bekehrung; er verwandelte die Schönheit seines Geistes in Ge-
diegenheit oder verband vielmehr die Gediegenheit mit der Schön-
heit, denn er war der Phönix unter den Kirchenlehrern und man teilt

355
den Ruhm zwischen dem hl. Thomas und dem hl. Augustinus; der
eine erhält ihn für die Theologie im allgemeinen, der andere für die
Scholastik im besonderen.
Die dritte Fessel, mit der der hl. Augustinus gebunden war, ist die
Habsucht, denn er lehrte um des Gewinnes willen. Er verdiente
wegen seiner Gelehrsamkeit viel, war berühmt und sehr angesehen.
(Er war nicht von hoher Herkunft, sondern stammte vielmehr aus
einer guten, wenn auch armen Familie. Er hatte Brüder und Schwes-
tern. Er bekennt selbst und schämt sich nicht zuzugeben, daß er
während des Studiums von einem Edelmann unterstützt wurde. O
Gott, das würde ein Mann unserer Zeit nicht sagen!) Nun, er war
habsüchtig; das ist eine starke Fessel, denn infolge seines Einkom-
mens hatte er große Pläne und Hoffnungen, reich zu werden und
voranzukommen.
Gott, wie bedurfte es einer allmächtigen Hand, um ihn aus so mäch-
tigen Ketten zu befreien! Ach, wer könnte die Kämpfe und Krämpfe
begreifen, die diese bedauernswerte Seele erduldete, als sie ihre Frei-
heit wiedergewinnen und die eisernen Fesseln abstreifen wollte, mit
denen sie gefesselt war? Als aber Gott in seiner grenzenlosen Barm-
herzigkeit diese Bande berührte, fühlte sie sich in Freiheit, begann
ganz hingerissen das hohe Lied der göttlichen Erbarmungen zu singen
und rief von Staunen ergriffen aus: Dirupisti vincula mea! Herr, mein
Gott, du hast mich befreit von den Fesseln und Ketten meiner Leiden-
schaften, lasterhaften Sitten und Gewohnheiten. Gott, wie groß sind
die Wirkungen deiner Macht und Barmherzigkeit!
Nun sind manche ebenso wie der hl. Augustinus vom gleichen Herrn
befreit worden, als sie in den Orden eintraten. Manche kommen keusch
und frei von aller Sinnlichkeit; andere sind nicht habsüchtig und ver-
lassen bereitwillig allen zeitlichen Besitz, um arm zu werden. Indes-
sen verläßt man sehr oft die Erde und andere Nichtigkeiten dieser Art,
aber es gibt nur wenige, die auf ihre Anmaßung verzichten und ihren
inneren Geiz ablegen. Man hat so viele Wünsche, so schöne Hoffnun-
gen; man ist so wenig leer von seinem Eigennutz! Und was die Eitel-
keit betrifft, weiß ich gewiß nicht, ob es einen gibt, der von ihr frei ist.
Sie ist ein allgemein verbreitetes Übel; es gibt nur sehr wenige, die
nicht in ihre Netze verstrickt sind. Der hl. Augustinus sagt darüber:
Ich weiß nicht, ob irgendjemand von der Eitelkeit, Selbstgefälligkeit
und Hochschätzung seiner selbst ausgenommen ist. Wenn es zutrifft,
weiß ich nichts davon, aber ich meinerseits gehöre nicht dazu, denn
ich bin ein sündhafter Mensch (Lk 5,8).

356
O Gott, wie zerknirscht und demütig (Ps 51,19) war dieser Heilige
nach seiner Bekehrung, wie bescheiden und voll Dankbarkeit für die
Gnaden, die er von der erhabenen Güte empfangen hatte! Mit welch
liebevollen Empfindungen schrieb er: Was soll ich dem Herrn vergel-
ten für soviel Gutes, das er mir erwiesen hat? Dann sagte er, sich mit
einem Geist voll demütiger und liebevoller Dankbarkeit besinnend:
Ich will ihm ein Opfer des Lobes weihen (Ps 116,4).
Was will er mit diesen Worten ausdrücken? (Sie sind einer jener
hebräischen Wendungen entnommen, die gewiß besonders geeignet
sind, das darzustellen, was sie ausdrücken.) Es gibt tausend Auslegun-
gen davon, aber ich will mich mit der folgenden begnügen. Ein Opfer
des Lobes darbringen heißt nichts anderes, als Gott für seine
Erbarmungen loben und preisen. Die göttliche Majestät loben, das ist
ein Akt, zu dem jeder Mensch verpflichtet ist und wovon sich niemand
ausschließen kann. Man kann nicht leugnen, daß jeder die Pflicht hat,
Gott für seine Wohltaten zu loben, wie man auch nicht leugnen kann,
daß ein Gott der Schöpfer und Lenker der Welt ist. Die heidnischen
Philosophen waren gezwungen, das zu bekennen, obwohl sie nicht vom
Licht der Wahrheit erleuchtet waren. Ein Cicero hat wie mehrere an-
dere freimütig anerkannt, daß es eine Gottheit gibt und daß niemand
anderer als sie den Menschen erschaffen noch das ganze Weltall regie-
ren und erhalten konnte. Die christliche Lehre zeigt uns, daß man
Gott jederzeit loben muß (Ps 34,1): wenn wir trinken und essen, wa-
chen und schlafen, bei Tag und Nacht (vgl. 1 Kor 10,31; Kol 3,17),
zumal wir jederzeit die Wirkungen seiner Barmherzigkeit erfahren.
Alle guten Christen tun es, wenn sie dem Gottesdienst beiwohnen oder
in die Kirche gehen, um Gott zu erkennen, ihn zu loben und anzube-
ten, und wenn sie ihn bei ihren übrigen Beschäftigungen benedeien
und anrufen.
Der hl. Augustinus sagt aber nicht einfach, daß er sein Lob singen
will, sondern daß er ihm ein Opfer des Lobes weihen will, um uns zu
zeigen, daß er nicht nur von jenen sprechen will, die wie das gewöhnli-
che Volk Gott loben, sondern von solchen, die von ihm besondere
Gnaden empfangen haben. Sie ziehen sich dazu aus dem Getümmel
der Welt zurück, widmen und weihen sich dem Dienst Unseres Herrn
und bringen hier ein Opfer des Lobes dar. Das heißt nichts anderes, als
von Herzen und im Geist das aussprechen, was sie mit dem Mund
sagen (vgl. Jes 29,13; Mt 15,8), indem sie mit ihren Gesängen,
Psalmodien, Hymnen und Liedern eine liebevolle, fromme Aufmerk-
samkeit verbinden, die den Vielgeliebten unserer Seelen erfreut.

357
Das hat der göttliche Bräutigam gemeint, wenn er von der Braut im
Hohelied (5,1; 6,1f) sagt: Meine Vielgeliebte, meine Liebste, die bei
euch ist, die ihr kennt, die sich mir ganz geschenkt hat, findet ihre
Freude darin, mich zu loben und mich mit den Früchten ihres Gartens
zu erquicken; und nicht zufrieden damit, mir seine Früchte zu schen-
ken, gibt sie mir auch den Baum. Wenn er an anderer Stelle (4,9) die
Schönheit dieser Schulammit beschreibt, sagt er schließlich: Meine
Vielgeliebte ist so beschaffen, daß sie mein Herz verwundet; sie gleicht
den Chören und den Heeren (6,3; 7,1). Wer ist diese Schulammit, wenn
nicht die fromme Seele? Was sind die Chöre, wenn nicht die Stätten,
die dazu bestimmt sind, das Lob Gottes zu singen? Wenn also die
fromme Seele Gott zu loben und zu verherrlichen sucht, gleicht sie
den Chören. Aber damit begnügt sich der göttliche Bräutigam nicht,
sondern sagt auch noch, daß sie den Heeren gleicht. Was sind diese
Heere, wenn nicht die verschiedenen Affekte der Liebe, der Demut,
der Zerknirschung und Unterwerfung, mit denen sie die Lobpreisun-
gen begleitet, die sie auf ihren Vielgeliebten singt?
Diese liebliche Schulammit gleicht also den Chören und den Hee-
ren, denn sie verbindet ihre Lobpreisungen mit Liebe und ihre Liebe
mit dem Lob. Sie schenkt die Früchte ihres Baumes, wenn sie ihn
preist, und den Baum, wenn sie mit dem Lob ihre liebevollen Affekte
verbindet. Und mit dieser schönen Vielfalt schlägt sie wie ein himmli-
sches Heer die Feinde Gottes in die Flucht, die nach nichts so sehr
trachten, als diese heilige Übung zu verhindern. Wenn der Teufel die
göttliche Majestät loben könnte, wäre er nicht der Teufel. Wir spre-
chen hier nicht von der großen Spaltung und vom Aufstand, der sich
im Himmel ereignete, noch wie es dazu kam. An ihm sieht man, daß
der Teufel nur zum Teufel wurde, weil er seinen Schöpfer nicht loben
wollte. Als der große heilige Erzengel Michael das sah, rief er: Wer ist
wie Gott? Wer ist wie Gott? Das wiederholte er oftmals und alle ande-
ren seligen Geister folgten ihm, die chorweise mit dem gleichen Ruf
antworteten: Wer ist wie Gott? Dadurch schlugen sie Luzifer und sei-
ne Anhänger in die Flucht. Diese wurden in den Abgrund gestürzt,
weil sie nicht in diesen göttlichen Gesang einstimmen wollten wie die
anderen Engel, die in der Gnade gefestigt wurden. Es gibt gewiß kein
besseres Mittel als dieses, um den Teufel in die Flucht zu schlagen,
weil der Elende den Lobpreis Gottes nicht ertragen und nicht sehen
kann, daß er angebetet und verherrlicht wird.
Nun können wir sagen, die Seele des hl. Augustinus war diese lie-
bende Schulammit, denn vom Augenblick seiner Bekehrung an lobte

358
er unaufhörlich Gott Tag und Nacht, wenn er trank und aß, wenn er
sprach und schrieb, wenn er die Loblieder seiner Barmherzigkeit und
seiner Liebe sang. Er war der göttlichen Gnade so ergeben, daß er nie
müde werden konnte, sie nicht nur zu preisen, sondern auch zu ihrem
Lob zu sprechen und zu schreiben. Mit bewundernswerter Beredsam-
keit widerlegte er jene Irrlehrer, die die Wirksamkeit der Gnade leug-
neten. Durch seine Schriften und Streitreden zeigte er, daß ihre Leh-
ren Hirngespinste waren. Kurz, in den Büchern und Abhandlungen
über die Gnade, die er verfaßt hat, spricht er von ihr so wirkungsvoll,
in einer so erhabenen Sprache und so beredt, daß er alle anderen Leh-
rer übertrifft, so daß man deutlich sieht, wie er sie liebte und schätzte.
Die Schulammit des heiligen Bräutigams wird aber auch verstanden
als die Kirche. Was ist denn in der Tat die Kirche anderes als die Chöre
und die Heere? Und was sind diese Chöre, wie ich schon gesagt habe,
wenn nicht alle Christen, die unablässig in allen Ständen und Berufen
das Lob Gottes singen? Der hl. Ludwig (dessen Fest wir in den vergan-
genen Tagen gefeiert haben), der größte Heilige unter den Königen
und der größte König unter den Heiligen, hatte den Gipfel der christ-
lichen Vollkommenheit erreicht. Er ist ein Vorbild für Könige und für
das ganze gläubige Volk. Er hat große Taten für den Glauben an Jesus
Christus vollbracht; trotzdem war er kein Ordensmann, sondern ein
Weltchrist. Indessen müssen wir unter diesen Chören und Heeren im
besonderen die Ordensleute und die Geistlichen verstehen. Sie loben
Gott nicht nur durch Psalmen, Hymnen und Lobgesänge (Eph 5,19f;
Kol 3,16), sondern bemühen sich auch, durch Predigten wie durch die
ihrem Stand eigenen Funktionen die anderen zur Anerkennung der
Wahrheit zu bewegen, um sie zum Lob Gottes anzuregen.
Die menschliche Klugheit soll hier nicht ihre Einwände erheben
und sagen: O, das ist gut für die Geistlichen, die Prediger und Gelehr-
ten, die durch ihren Eifer der Allgemeinheit dienen; wozu aber sind
jene nütze, die in den Klöstern eingeschlossen sind? Zu nichts; sie
sind unnütz für die Kirche Gottes. Das sind Reden der Weltmenschen.
Man muß wohl sagen, daß die menschliche Klugheit sich anmaßt, alles
zu beurteilen, und das auch bei jenen will, die das beschauliche Leben
gewählt haben. Sie tun nichts, sagen sie. Gott, die armen Leute! Sie
sind blind in ihren Ansichten. Sie wissen nicht, daß Unser Herr Gefal-
len hat an diesen Klöstern und Stätten der Zurückgezogenheit. Der
Gesang der Ordensleute ist nicht so laut wie jener der anderen, aber er
ist melodischer; sie gleichen den Vögeln, die in Käfigen gehalten wer-
den, um ihren Herrn durch ihr Gezwitscher zu erfreuen.

359
In den Häusern der Großen gibt es zwei Arten von Vögeln: solche,
die nicht singen, und solche, die singen. Die nicht singen, das sind die
Sperber, die immer auf die Suche gehen, um ihrem Herrn irgendetwas
zum Essen zu bringen. Sie versinnbilden die Bischöfe und Seelsorger,
die über ihre Herde wachen. Sie sind unablässig tätig, um irgendeine
Seele für Gott zu gewinnen; wie Wachsoldaten vollbringen sie nützli-
che Werke in der Kirche. Es gibt auch andere, die nur singen, aber so
wohlklingend, daß Unser Herr daran seine Freude hat.
Es wird erzählt, daß ein großer Herr eines Tages einen kleinen Vogel
kaufte, der 570 Taler kostete. Das war eine große Summe, und sie hätte
gereicht, um dafür Pferde zu kaufen. Es fehlte nicht an Unzufriede-
nen; die Welt hat ja zu viel Klugheit und weiß nicht, was mit ihr anfan-
gen. Was heißt das, sagten die einen: wozu soll dieser Matz nützlich
sein? Man hätte so- und soviele Pferde bekommen können, die dem
Herrn große Dienste geleistet hätten; dieser Vogel aber ist zu nichts
nütze. Ihr Armen, wie plump und irdisch seid ihr doch! Es ist wahr,
die Pferde wären nützlich, aber dieser kleine Matz ist es nicht weniger,
denn in seinem Käfig hat er keine andere Sorge und kein anderes Be-
streben, als seinen Herrn durch seinen melodischen Gesang zu erfreu-
en. Er ist sogar sehr einverstanden, seine Freiheit zu verlieren, um sein
ganzes Leben in dieser Gefangenschaft zu bleiben und seinen Herrn
zu erfreuen. Außerdem beliebt es diesem Herrn so; ist er nicht Herr
seines Eigentums, um damit zu tun, was ihm beliebt? Hört also auf mit
eurem Murren; begnügt euch damit, daß er es so will.
Das gleiche kann man von den Seelen sagen, die sich in den Klöstern
eingeschlossen haben. Wie kleine Vögel ergötzen sie ihren Herrn durch
die Melodie ihres Gesanges. Sie geben ihre Freiheit auf, die das Leben
der Seele ist, um in Gefangenschaft zu leben. Sie versagen sich jede
Art von Befriedigung, um ihn zu erfreuen durch ihre Gebete, Seufzer
und ständigen Betrachtungen. Und nicht nur das, sondern noch mehr:
die für die Kirche arbeiten, werden wunderbar gestärkt, um ihre Auf-
gaben zu erfüllen und in ihren Arbeiten auszuharren, die damit ver-
bunden sind, durch diese liebliche Harmonie, d. h. durch die Gebete,
die die Ordensleute dafür verrichten.
Der hl. Augustinus gehörte zu diesen Chören und Heeren. Wie wir
gesagt haben, begnügte er sich nicht damit, Gott zu loben, sondern war
bestrebt, viele um sich zu scharen, indem er den einen predigte, ande-
ren eine Form sehr vollkommenen Lebens gab. Das tat er als Bischof,
indem er eine große Zahl von Priestern sammelte, denen er seine Re-
gel gab, durch die er den Ordensstand und den weltlichen Stand auf

360
den gleichen Stamm pfropfte, so daß seine Priester Ordensleute waren
und seine Ordensleute Priester. Damit nicht zufrieden, vereinigte er
auch noch eine große Zahl von Mädchen, denen er ebenfalls eine Re-
gel gab.
Seht ihr, mit welch großem Recht dieser glorreiche Heilige sagen
konnte: Ich weihe dir ein Opfer des Lobes? Er hatte in der Tat ein Herz
voll großer Liebe und Dankbarkeit. Es gibt Menschen, die undankbar
sind für die Gnaden und Gunsterweise, die sie empfangen haben. Die-
ser Undank hat seinen Sitz manchmal im Verstand; er bewirkt, daß sie
die Verpflichtung gegen jene nicht sehen, die ihnen Gutes tun. Wenn
die Undankbarkeit im Verstand sitzt, ist sie gewiß sehr böse und ge-
fährlich und geht gewöhnlich auf den Willen über; sie verdirbt ihn
derart, daß man sich niemand gegenüber zum Dank verpflichtet wis-
sen will. Solche Leute sind sehr stolz und von einer gefährlichen Krank-
heit befallen. Sie meinen, daß nichts sie verpflichten könne, sondern
glauben im Gegenteil, sie könnten alle verpflichten. Was man auch für
sie tut, sie glauben, das sei man ihnen schuldig, und sie denken nicht
daran, daß man ihnen nichts umsonst geben kann. Wenn sie irgendeine
Gnade empfangen, glauben sie diese durch irgendeinen besonderen
Dienst verdient zu haben.
Gott, welche schreckliche Untugend ist doch diese Undankbarkeit!
Der hl. Augustinus war von ihr in keiner Weise befallen; er fühlte sich
vielmehr dem vielgeliebten Erlöser unserer Seelen dermaßen zum
Dank verpflichtet dafür, daß er die Fesseln seiner Sünden und laster-
haften Gewohnheiten gebrochen hat, daß er in der Erwägung der Lie-
be aufging, die er für seinen erhabenen Wohltäter und Befreier hegte.
In seinen Betrachtungen zerfloß seine Seele oft in Liebe zu dem, der
ihm so großes Erbarmen erwiesen hatte. Er wurde von den Freuden
und Wonnen dieser Liebe so stark erfaßt, daß er den Ruhm mit dem hl.
Bernhard teilt, was die Liebe betrifft, wie mit dem hl. Thomas in der
Theologie.
Ich habe oft gesagt, daß es eine zweifache Liebe gibt: die erste ist
affektiv, die zweite effektiv. Wenn man sie nicht kennt und nicht zu
unterscheiden weiß, kommt es zu großen Mißgriffen und Täuschun-
gen. Die erste, die affektive Liebe streben alle an; und diese Liebe ist
wahrhaftig gut. Sie bewirkt, daß das Herz beim Gebet ganz honigsüß
ist und erfüllt von einer sehr angenehmen Milde. Gott, wie groß ist
diese Süßigkeit! Man fühlt das Drängen des Herzens, die Empfindun-
gen der Liebe, die der Heilige Geist verleiht, wie man kleinen Kindern
Zuckerbohnen gibt, um sie anzulocken. Das ist gut, wenn es von Gott

361
kommt, und der hl. Augustinus hat es erfahren, wie er selbst sehr
schlicht bekennt, wenn er sagt: O Gott, Jesus, Jesus, du hast mich von
den Banden meiner Sünden befreit, aber gleichzeitig hast du mich
wieder gefesselt mit diesen Banden, den Ketten der Liebe. Und er fügt
hinzu: Wo war ich denn? Wo war meine Freiheit, bevor du sie gefesselt
hast mit den milden Ketten, die mich jetzt in dieser glücklichen Knecht-
schaft halten?
Seht, er spricht von der Freiheit. Sie ist ja der kostbarste Teil des
Menschen, denn wie ich gesagt habe, ist sie das Leben unseres Her-
zens. Sie ist also das Kostbarste, was wir schenken können. Sie ist
außerdem das Letzte, was wir aufgeben, und es ist uns schmerzlicher,
darauf zu verzichten. Die Freiheit ist so vortrefflich, daß sie der Teufel
nicht verletzen kann. Er verdreht, verwirrt und bringt wohl alles rings
um sie durcheinander, aber sie selbst kann er nicht bezwingen. Gott
selbst, der sie uns geschenkt hat, will sie nicht mit Gewalt haben, und
wenn er verlangt, daß wir sie ihm schenken, will er, daß es freiwillig
und gern geschieht. Nie hat er jemand gezwungen, ihm zu dienen, und
er wird es nie tun. Er spornt uns zwar an, öffnet unser Gewissen, um-
gibt unser Herz, regt uns an, uns zu bekehren und ihm alles zu schen-
ken, niemals aber nimmt er es mit Gewalt. Wahrhaftig, er könnte es
tun, denn er hat die Macht, aber er will es nicht.
O Gott, wer könnte den vollkommenen Verzicht beschreiben, mit
dem der hl. Augustinus der göttlichen Güte sich selbst und sein Leben
ganz überließ, das nichts anderes ist als die Freiheit. Ich bin ganz
ergriffen, wenn ich in seinen „Bekenntnissen“ lese, was er darüber
sagt. Er hat sich selbst in solchem Maß geschenkt, daß er nicht mehr
wußte, was er war. Man weiß in der Tat nicht, was man mehr bewun-
dern soll: die Aufrichtigkeit, mit der er spricht, ohne irgendwelche
Bedenken oder Zweifel, oder die bewundernswerte Sprache, mit der
er verständlich macht, was er in seinem Innern fühlte. Er war so sehr
in heiliger Liebe entbrannt, daß er den Geschmack an allem anderen
verloren hatte und in allem Geschmack an seinem Erlöser fand. Ich
trank und aß, sagt er, ohne zu wissen, was ich aß; ich schlief, ohne zu
wissen, was ich tat; ich fand in allem den Geschmack der Liebe meines
Erlösers.
Ich habe gesagt, daß es eine andere Liebe gibt: die effektive. O, die
ist gut in höchstem Grad, und unser glorreicher Heiliger schritt von
der affektiven Liebe zur effektiven fort. Sie wirkt und ist nicht müßig.
Sie erträgt Anstrengungen und Mühen, sie erduldet Beleidigungen und
Verleumdungen. Das wollte ich in meinem dritten Punkt erklären:
Ich will den Kelch meines Heiles trinken. Es ist aber nicht möglich,

362
darüber noch zu sprechen, denn die Zeit ist schon vorangeschritten.
Ich will nur sagen, daß diese Liebe unablässig leidet; sie drängt immer
zum Handeln. Seht ihr Magdalena? Sie war von der affektiven Liebe
getroffen; als sie ihren Meister sah und ihm die Füße küssen wollte,
rief sie aus: Rabbuni. Aber Unser Herr wies sie zurück und sagte:
Fasse mich nicht an, geh zu meinen Brüdern. Seht da die effektive Lie-
be, denn sie ging sogleich hin (Joh 20,16-18).
Als der hl. Augustinus die Freuden der affektiven Liebe verkostet
hatte, ging er zu den Werken der effektiven über. Er gab einer Gemein-
schaft von Mädchen eine Regel, und sogleich erhoben sich die
Häretiker gegen ihn. Ihre Verleumdungen gaben ihm Gelegenheit zu
bekennen, daß er nicht der Erfinder, sondern nur der Verbreiter des
klösterlichen Lebens in Afrika war. Was glaubt ihr, wieviel er erduldet
hat, als er die Irrlehren der Manichäer, der Donatisten und anderer
Afrikaner widerlegte? O Gott, das ging nicht ohne viel Mühe und An-
strengung. Und ihr, ihr habt große Freuden im Gebet empfangen, aber
abgesehen davon könnt ihr keine Kränkung ertragen, kein Wort und
keine Handlung, die aus Übereilung geschah. Ihr könnt euch den Men-
schen mit einem Charakter, der dem euren entgegengesetzt ist, nicht
anpassen. Da gibt es solche, denen die Natur große Vorzüge gegeben
hat, und es ist leicht, mit ihnen auszukommen; andere haben diese
Eigenschaften nicht, sie haben im Gegenteil, ich weiß nicht was, das
euren Neigungen widerstrebt. Aber sicher, die effektive Liebe über-
windet das alles und gibt die eigenen Launen auf, um sich in allem
ganz denen der anderen anzupassen.
Der hl. Augustinus hat ein Wort gesagt, das wir alle auf der Stirnseite
unserer Zimmer oder vielmehr unserer Herzen eingravieren sollten.
O Gott, sagte er, wie wünschenswert wäre es, daß man nur dich liebt,
daß man dich in allem liebt und daß man nichts ohne dich liebt. Du
willst also, glorreicher Heiliger, daß man nur Gott liebt; muß man
nicht auch seine Freunde lieben? Ja, aber in Gott. Und muß man nicht
auch seine Feinde lieben? Ja, aber um Gottes willen. Wie glücklich
wären wir, wenn wir das befolgten! Es gibt viele, die ihre Freunde
lieben, aber sie lieben sie nicht in Gott, denn sie begehen große Unge-
rechtigkeiten, um sie zu begünstigen, und lieben sie auf Kosten der
Ehre und Verherrlichung Gottes. Zudem ist es kein großes Wunder,
seine Freunde zu lieben; das ist natürlich, die Heiden tun das gleiche.
Aber seine Feinde lieben, das ist gewiß eines wahren Christen würdig.
Nun, das ist geeignet, darüber in der Öffentlichkeit zu predigen. Kom-
men wir also zurück zu jener Liebe, die uns durch vollständige und
ausschließliche Selbstverleugnung uns selbst sterben läßt. Zu den

363
Worten, die Unser Herr an Magdalena richtete: Geh zu meinen Brü-
dern, sagt der hl. Augustinus: Um zu gehen, muß man zwei Schritte
tun: allem absterben und entsagen, was außer uns ist, und uns selbst
absterben und entsagen, was schwieriger ist. Man findet genug, die in
das Kloster kommen und auf alle Bequemlichkeiten, Güter und
Freunde verzichten; aber man findet wenige, die sich selbst vollstän-
dig entsagen durch die vollkommene und ausschließliche Selbstver-
leugnung. Viele sagen, daß sie die Mühen lieben, ja sogar nach ihnen
verlangen, aber wenige ertragen sie mit der erforderlichen Vollkom-
menheit.
Zum Schluß (ich muß aufhören): Als der große Heilige sich selbst
vollkommen abgestorben war und sich entsagt hatte, beklagte er sich
bei Unserem Herrn mit den Worten: Herr, laß mich sterben, damit ich
nicht sterbe! Zeige mir dein Angesicht, mein Gott (Ps 80,4.8.20). Da er
aber weiß, daß ein sterblicher Mensch Gott nicht sehen kann, bittet er
darum, zu sterben, damit er nicht sterbe. Das ist, als wollte er sagen:
Die Liebe zu dir, die du mir gegeben hast, ist so groß, daß ohne dich
leben für mich sterben bedeutet; deshalb laß mich sterben, Herr, da-
mit ich nicht sterbe, denn dich sehen bedeutet für mich leben. Ja,
unser Leben besteht in der Tat darin, das Angesicht Gottes zu schauen.
Aus dieser großen Gottesliebe geht die Liebe zum Nächsten hervor.
Der große Heilige wurde sogar von dem Wunsch gedrängt, Wunder für
den Nächsten zu wirken, so sehr wünschte er, ihm Gutes zu tun und
ihm in seinen Nöten zu helfen. Er war so wohltätig, daß er nichts für
sich behielt. Als ihn eines Tages jemand um etwas bat, was er bestimmt
nicht hatte, sagte er offen: Ich habe nicht, um was du mich bittest. Als
aber jener weiter in ihn drang, wandte sich Augustinus an Unseren
Herrn und bat ihn, ihm das zu verleihen. Doch, Herr, fügte er hinzu,
wenn du es nicht mir geben willst, gib es ihm selbst. Seine Liebe ging
so weit, daß er, als man ihn kurz vor seinem Tod drängte, sein Testa-
ment zu machen, sagte: Ach, ich bitte euch, drängt mich nicht dazu.
Als man ihn nun sehr dazu drängte, fand man nichts.
Bevor wir schließen, sagen wir noch dieses Wort, das der hl.
Augustinus an anderer Stelle schreibt: O Gott, ist es möglich, daß man
weiß, du bist Gott, und dich nicht liebt? Es ist wahrlich ein Jammer in
dieser Zeit: wir wissen, daß Gott Gott ist, wir glauben aber nicht an
ihn und lieben ihn nicht. Das sagt Unser Herr, wenn er sich darüber
beklagt: Wenn jemand mich liebt, folge er mir (Joh 14,13; 12,26). Wenn
jemand mich liebt; seht, damit zeigt er, daß die Zahl derer, die ihn
lieben, klein ist.

364
Doch schließen wir mit dem liebevollen Tod des hl. Augustinus. Ich
will wiederholen, was ein Prediger eines Tages seinen Zuhörern sagte:
Ich will aufhören, denn ich fürchte, wenn ich über den Tod eines sol-
chen (er nannte seinen Namen) Heiligen spreche, könntet ihr sterben,
denn ich sehe, mit welcher Aufmerksamkeit ihr angehört habt, was ich
von ihm berichtete. Meine lieben Schwestern, nachdem ich euch eini-
ges über den großen hl. Augustinus gesagt habe und am Ende meiner
Ausführungen über sein Absterben und seine vollkommene Selbstver-
leugnung angelangt bin, will ich schließen, nicht weil ich fürchte, daß
ihr eines ähnlichen Todes sterben könntet, sondern eher aus Furcht,
euch durch eine zu lange Ansprache zu langweilen. Denn nachdem ihr
einen Teil des Tages andächtig das Offizium gesungen habt, mögt ihr
nach dieser Predigt, die ihr aufmerksam angehört habt, irgendetwas
von dem tun, was wir über diesen glorreichen Kirchenvater gesagt ha-
ben, den ihr bewundern und nachahmen sollt. Um euch euer Offizium
fortsetzen zu lassen, schließe ich also und sage euch: Möge euch jener
segnen, der diesen glorreichen Heiligen gesegnet hat; möge euch hei-
ligen, der ihn geheiligt hat; und möge euch im Himmel verherrlichen,
der ihn verherrlicht hat, in alle Ewigkeit. Amen.

Zum Fest aller Heiligen

Nr. 36: 1. November 1620 IX,366-3 79

Dieses Fest enthält Stoff in Fülle, um seine Größe und seine Feier-
lichkeit zu zeigen, und die Prediger sind erfreut über die Fülle und
Vielfalt dessen, worüber man an diesem Tag sprechen kann. Die einen
sprechen über die Glorie der Heiligen und über ihre Seligkeit, die
anderen behandeln ebenso nutzbringend und lobenswert ihre Tugen-
den und die Heiligkeit, durch die sie diese Seligkeit erworben haben.
Wieder andere erklären die wunderbare Bergpredigt, in der Unser
Herr die acht Seligkeiten verkündete (Mt 5,1-11). Ich will mich mei-
nerseits in dieser Predigt so gut wie möglich der Absicht der heiligen
Kirche anschließen und euch einen unserer Glaubensartikel auslegen,
nämlich die Gemeinschaft der Heiligen.
Diese Gemeinschaft kann man in verschiedener Weise auffassen und
erklären, wie wir in der Heiligen Schrift sehen; wir wollen euch aber
zeigen, daß man sie vor allem verstehen muß von der zweifachen Lie-
be, die sich viel besser erklären läßt, wenn man von ihr spricht, soweit

365
sie Unseren Herrn betrifft, als die Geschöpfe. Es gibt 1. die Liebe des
Wohlgefallens, 2. die Liebe des Wohlwollens. Durch die Liebe des
Wohlgefallens haben wir Gefallen am Gut, das einer besitzt, den wir
lieben; durch die Liebe des Wohlwollens wünschen wir ihm, daß er
davon mehr habe. Man kann Gott auf diese zweifache Weise lieben.
Das Wohlgefallen erfüllt uns mit Freude darüber, daß er unendlich,
grenzenlos, von unbegreiflicher Vollkommenheit, mit einem Wort,
daß er Gott ist; und wir sagen mit lebhaftem Empfinden die Worte
Davids (Ps 16,2; 77,3): Ich habe gesagt: mein Gott bist du; darüber
habe ich mich gefreut. Man kann also diese Liebe gegen Gott üben,
aber die Liebe des Wohlwollens scheint unmöglich, da er unendlich
und die Unendlichkeit selbst ist; man kann ihm nicht mehr an Heilig-
keit und Vollkommenheit wünschen, als er besitzt. Er ist von uner-
meßlicher Größe, er überragt unendlich an Herrlichkeit die Kerubim
und Serafim, die Mächte und Throne, alle Engel und himmlischen
Geister; er besitzt mehr Vollkommenheit als alle Heiligen zusam-
men; und ihre ganze Vollkommenheit, selbst die der glorreichen Jung-
frau Maria, ist nichts im Vergleich mit der des Gottessohnes. Seine
Heiligkeit überragt die aller Heiligen, der Engel und der seligsten
Jungfrau, und ihr Glück hängt von Gott ab, denn er ist es, der es ihnen
schenkt und mitteilt. Sie können daher stets eine Vermehrung ihrer
Glorie erfahren, zwar nicht wesentlich, sondern akzidentell. Die Herr-
lichkeit und Vollkommenheit Gottes geht von niemand aus und kann
von niemand eine Vermehrung oder Minderung erfahren. Was können
wir also tun, um ihn mit einer Liebe des Wohlwollens zu lieben? Wir
können diese Akte nur durch die Vorstellung von etwas Unmögli-
chem üben, als wenn wir zu ihm sagten: wenn wir ihm mehr Herrlich-
keit und Vollkommenheit wünschen könnten, als er besitzt, würden
wir sie ihm wünschen und verschaffen, wenn es in unserer Macht stün-
de. Auf diese Weise üben wir die Liebe des Wohlwollens Unserem
Herrn gegenüber.
Doch kommen wir auf uns selbst zurück und sehen wir, wie man die
Gemeinschaft der Heiligen, an die wir glauben, in dieser Liebe des
Wohlgefallens und des Wohlwollens verstehen kann. Wenn wir sagen:
„Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen“, zeigt das, daß uns ihre
Güter gemeinsam sind, d. h. daß wir an allen Gütern teilhaben, die sie
im Himmel besitzen, und daß die Heiligen teilhaben an den kleinen
Gütern, die wir Sterblichen hier unten haben. Glaubt nicht, daß die
Seligen im Himmel sind und wir armselige Sterbliche auf Erden, das
sei ein Hindernis für diese Gemeinschaft. O nein, der Tod hat nicht
die Macht, diese Trennung zu bewirken. Wir alle haben ja nur ein und

366
dasselbe Haupt, das Jesus Christus ist (Eph 1,22; 4,15; Kol 1,18). Nun
sind unsere Liebe und Einheit in ihm begründet; wie könnte also der
Tod die Macht haben, sie je zu zerstören? Der hl. Paulus sagte (Röm
8,35.38f): Wer wird mich scheiden von der Liebe Jesu Christi? Nicht
Engel und Mächte, nicht Himmel und Erde noch Hölle wird uns tren-
nen können von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist. Diese Liebe
ist nichts anderes als die Gemeinschaft der Heiligen, und wenn wir
sterben, werden wir mit ihnen enger vereint sein als mit den liebsten
Freunden, die wir hier auf Erden haben.
Die Güter, an denen wir auf diese Weise teilhaben, sind unaussprech-
lich, sowohl wegen ihrer Großartigkeit als wegen der Unzahl der En-
gel und Seligen, die in der Herrlichkeit sind. Denn wie es an so vielen
Stellen der Heiligen Schrift (vgl. Dan 7,10; Offb 5,11) heißt, gibt es im
Himmel so viele Engel, daß ihre Zahl unfaßbar ist; wenn auch der
dritte Teil davon mit Luzifer in die Hölle stürzte (es heißt ja Offb 12,4,
daß er bei seinem Sturz den dritten Teil der Sterne des Himmels, d. h.
der Engelsgeister, mit sich riß), so ist die Zahl jener, die treu blieben,
dennoch so groß, daß sie nicht zu fassen ist. Über diese himmlischen
Geister hinaus ist die Zahl der Seligen so groß, daß sie nicht gezählt
werden können. Was meint ihr denn, wie viele Heilige es seit der Er-
schaffung der Welt bis jetzt gibt? Das kann man nicht sagen. Der hl.
Hieronymus spricht von der Zahl der Heiligen, die im Himmel sind,
und sagt: wenn die Kirche für alle Märtyrer ein Fest feiern wollte, gäbe
es jeden Tag des Jahres 700, von denen man sicher weiß, daß sie gemar-
tert wurden; doch wie viele gab es, die man nicht kennt! Und wenn es
so viele Märtyrer gibt, wie viele Kirchenlehrer, Bekenner und andere
muß es dann geben? Ihre Zahl ist unaussprechlich. Deshalb feiern wir
heute das Fest aller im allgemeinen, nicht nur der Heiligen, sondern
auch der Serafim, der Kerubim und aller Engel, die sich dieser Herr-
lichkeit erfreuen und Gott preisen für die Gnaden, die er den Seligen
erwiesen hat, die wir feiern. Die Kirche nimmt an dieser Freude teil
und lädt uns ein, uns dieses Festes zu freuen und den Sohn Gottes an
diesem Tag ob der Heiligen zu preisen.
Um uns nun in der rechten Weise zu freuen und auf die Absicht der
Kirche einzugehen, müssen wir gegen die Heiligen im Himmel die
Liebe des Wohlgefallens und des Wohlwollens üben, da wir das leicht
tun können. Wenn wir das himmlische Jerusalem betrachten und in
ihm die heiligen Seelen sehen, die sich so großer Glorie und Seligkeit
erfreuen, fern den Gefahren dieser Welt, in denen wir Sterblichen noch
sind, dann müssen wir Akte des Wohlgefallens hervorbringen, uns über
ihre Glorie und Seligkeit freuen und daran Wohlgefallen haben, als

367
wenn wir selbst uns ihrer erfreuten. Dieses Wohlgefallen bewirkt die
Gemeinschaft der Heiligen, denn in dem Maß, in dem wir Wohlgefal-
len an den Gütern haben, die sie besitzen, werden wir ihrer teilhaft.
Das Wohlgefallen hat ja die Macht, das Geliebte an sich zu ziehen und
sich zu eigen zu machen. Wir sehen ja tatsächlich, daß jemand der
einen anderen mit dieser Liebe liebt, das Gute an sich zieht, das sich in
ihm findet, denn es ist unmöglich, in dieser Weise zu lieben, ohne die
Teilnahme und Gemeinschaft mit den Gütern derjenigen zu haben,
die man liebt.
Die Seligen lieben Unseren Herrn; auch der Himmel ist erfüllt von
dieser Liebe des Wohlgefallens; sie ist die hauptsächliche Ursache
ihrer Seligkeit. Da sie die Hoheit und Vollkommenheit Gottes und
alle göttlichen Attribute in ihm klar erkennen, lieben sie ihn überaus
mit dieser Liebe des Wohlgefallens und eignen sich auf diese Weise
seine Vollkommenheiten an. Ich habe gesagt, die Liebe des Wohlge-
fallens ist die hauptsächliche Ursache der Seligkeit der Heiligen, denn
bei allem Respekt vor denen, die gegenteiliger Ansicht sind, glaube
ich, daß die hauptsächliche Ursache der Glorie der Seligen nicht im
Verstand liegt, mit dem sie Gott sehen und erkennen, sondern im Wil-
len, durch den sie ihn mit dieser Liebe des Wohlgefallens lieben; und
ich halte dafür, daß darin ihre Seligkeit besteht. Auf gleiche Weise
verwirklicht sich auch die Liebe des Wohlgefallens gegen die Heili-
gen.
Auch die Liebe des Wohlwollens gegen sie kann sich ohne Schwie-
rigkeit verwirklichen. Denn obwohl sie alle gesättigt und zufrieden
sind in der Seligkeit, die sie besitzen, und obwohl wir ihre wesentliche
Glorie nicht vermehren können, die darin besteht, Gott von Angesicht
zu Angesicht zu sehen (1 Kor 13,12) und vollkommen zu lieben, kön-
nen wir doch eine Vermehrung der akzidentellen Glorie bewirken
und folglich die Liebe des Wohlwollens üben. Wir können für sie die
Güter wünschen und ersehnen, die sie noch nicht besitzen, d. h. die
Auferstehung des Fleisches, die Wiedervereinigung mit ihrem Leib,
denn in dieser Wiedervereinigung besteht ein Teil ihrer Glorie; nicht
zwar der wesentlichen, die der Seele eigen ist, denn sie wird durch die
Auferstehung des Fleisches nicht vermehrt, wohl aber der akzidentel-
len, die dem Leib ebenso zukommt wie der Seele.
Die Seelen der Heiligen genießen im Himmel die wesentliche und
akzidentelle Glorie, so daß sie befriedigt sind und nichts wünschen
können, was sie nicht schon besitzen, außer mit ihrem Leib wieder
vereinigt zu werden. Deshalb sehnen sie sich stets nach dieser Wieder-

368
vereinigung, die ihre akzidentelle Glorie abschließen und vollenden
wird. Die Heiligen sind Menschen wie wir, bestehend aus Seele und
Leib. Um ein ganzer Mensch zu sein, muß man eine Seele und einen
Leib haben; und obwohl die Seele den Menschen ausmacht, hat Gott
sie dennoch bei der Erschaffung mit einem Leib ausgestattet. Wir sa-
gen daher, daß der Mensch aus Seele und Leib besteht; und obwohl sie
der Tod voneinander trennt, der durch die Sünde in die Welt gekommen
ist (Röm 5,12), hoffen wir doch und glauben „an die Auferstehung des
Fleisches“, durch die unser armseliger Leib mit unserer Seele verei-
nigt und durch diese Wiedervereinigung an ihrer Glorie und Seligkeit
oder an ihrer Pein in der ewigen Verdammnis teilhaben wird.
Die Kirche übt also an diesem Tag die Liebe des Wohlgefallens und
des Wohlwollens gegen die Heiligen. Sie freut sich über die Glorie,
die sie schon besitzen, beglückwünscht sie und ruft ihre Kinder zum
Wohlgefallen daran auf und dazu, Gott zu verherrlichen, der sie gehei-
ligt hat. Sie macht auch Akte des Wohlwollens, da sie ihnen die Aufer-
stehung des Fleisches wünscht; wir sehen ja, daß sie darum in so vielen
Psalmen und Liedern bittet, die der Heiligen Schrift entnommen sind.
Sie will aber auch, daß alle ihre Kinder sie wünschen und darum bit-
ten. Das tun wir jeden Tag im Gebet des Herrn oder Vaterunser; darin
wünschen wir den Heiligen diese Auferstehung. Was bedeuten denn
die Worte (Mt 6,20): Dein Reich komme zu uns, wenn nicht, daß wir
unseren Wunsch nach der Wiedervereinigung der Seelen mit ihrem
Leib vortragen? So als wollten wir sagen: Herr, dein Reich ist schon
gekommen, es ist für die Heiligen bereitet, es ist für alle bereitet; und
nicht nur für alle jene, die heilig sind, sondern auch für jene, die es
nicht sind. (Gott wünscht alle zu retten: 1 Tim 2,4. Es ist an uns, von
der Freiheit Gebrauch zu machen, die uns gegeben wurde, das Para-
dies zu wählen oder nicht. Das hängt von uns ab. Gott gibt uns hinrei-
chende Gnade, dahin zu gelangen, wenn wir es wünschen.) Dein Reich
komme zu uns. Es ist schon gekommen zu den Heiligen, d. h. zu den
glorreichen Seelen, die im Himmel sind. Was uns betrifft, die wir auf
Erden sind, ist es auch bereits zu uns gekommen. Herr, du hast uns ja
die Wahl und Entscheidung darüber gelassen, und die Gerechten be-
sitzen es bereits durch das Verlangen und die Hoffnung. Aber dein
Reich komme zu uns, d. h. jenes Reich, das du geschaffen hast für die
Seelen und die Leiber. Möge die Auferstehung des Fleisches gesche-
hen, denn die Heiligen haben ihren Leib noch auf Erden, folglich sind
sie noch nicht vollkommen verherrlicht. Deshalb bitten wir um die
allgemeine Auferstehung, nach ihr sehnen sich jene, die im Himmel
sind, und wir Sterblichen.

369
Außer diesen Akten des Wohlwollens, das wir gegen die Heiligen
hegen, gibt es noch zwei andere, die unmittelbar von unserer Mitwir-
kung abhängen; durch sie können wir ihren Wünschen entsprechen
und ihnen eine akzidentelle Glorie verschaffen, die sie sonst nicht
haben. 1. Die Heiligen loben und verherrlichen Gott ohne Rast und
Unterbrechung. Sie singen unablässig und unermüdlich einen unun-
terbrochenen Lobgesang. Sie preisen Gott mit einer Freude und ei-
nem Wohlgefallen voll unvergleichlicher Lieblichkeit; sie eifern und
spornen sich gegenseitig an, ihn stets zu verherrlichen, aber mit einem
milden, ruhigen Verlangen, das sie vollkommen befriedigt. Sie loben
Gott in sich selbst und weil er Gott ist, wegen der Vorzüge, die er in
sich und an sich hat, an deren Schau sie ein vollkommenes Wohlgefal-
len haben. Sie loben ihn auch dafür, daß er sie zu Heiligen gemacht
hat; sie anerkennen, daß ihre Heiligkeit von ihm ausgeht als von ihrem
Prinzip und ihrer tiefsten Ursache, und geben ihm dafür alle Ehre.
Dann beglückwünschen sie sich gegenseitig, daß sie selig sind und
Gott sie geheiligt hat. Sie empfinden eine einmalige Freude, wenn sie
sehen, wie er sie die Wirkungen seiner großen, grenzenlosen Barm-
herzigkeit erfahren ließ.
Nun lieben uns die Heiligen überaus und wünschen, daß wir hier auf
Erden tun, was sie im Himmel tun, d. h. daß wir unablässig und im-
merwährend Gott loben. Doch wenn wir sagen, sie wünschen, daß wir
den Herrn wie sie loben, darf man das nicht so verstehen, daß das in
allem und ganz geschieht. Sie preisen ihn ja ohne Unterlaß, unermüd-
lich und ohne Unterbrechung, und sie wissen wohl, daß wir das infolge
der Schwachheit unserer Natur nicht zu tun vermögen. Obwohl der
Lobpreis, den wir Gott weihen, stetig und unveränderlich sein muß,
wird es doch mit mancher Pause sein. Es gibt ja keinen Menschen, so
heilig er sein mag, der zu behaupten wagte, sein Wille sei mit dem
Willen Gottes so eng verbunden, daß er nicht einen Augenblick von
ihm getrennt oder durch irgendeinen Vorfall dieses Lebens abgelenkt
werden könnte, noch daß einer sein Herz so aufmerksam auf das Lob
Gottes halten könnte, daß es keinerlei Unterbrechung in der Übung
der Liebe und des Lobpreises gäbe, die ihm gebühren.
Es gibt zahlreiche Stellen und Sätze in der Heiligen Schrift, die das
von uns zu verlangen scheinen. Die einen sagen: Lobt Gott immerwäh-
rend (vgl. Ps 34,1; 35,28); an anderen Stellen: Gott werde Tag und
Nacht gepriesen (vgl. Ps 1,2; 19,3; 42,9); das muß man aber so verste-
hen. Die Kirche erwartet ebenso wie die Heiligen nicht, daß wir den
Herrn immer ohne Unterbrechung loben, noch weniger, daß wir die
ganzen Nächte und den ganzen Tag im Gebet verbringen; „stets“ be-

370
deutet vielmehr, daß wir es verrichten, sooft wir können, daß wir unser
Herz oft zu ihm erheben, daß wir ihn einige Zeit der Nacht und des
Tages preisen, wie es in der Kirche geschieht. Zu allen Stunden des
Tages und der Nacht gibt es Menschen, die Gott loben und verherrli-
chen.
Die Heiligen wünschen also, daß wir auf Erden Gott verherrlichen,
wie sie es im Himmel tun, allerdings entsprechend unserer Verfassung
und der Reichweite unseres Geistes; daß wir singen und wünschen,
alle möchten mit ihnen singen: Heilig, Heilig, Heilig (Jes 6,3; Offb 4,8),
und alle möchten ihren Wünschen entsprechen. Wenn wir nun solche
Wünsche haben, bewirken wir ihnen eine akzidentelle Glorie; die hät-
ten sie nicht, wenn wir Gott nicht verherrlichen und wenn wir nicht
wünschen, daß alle es tun. Nachdem wir aber diesem Wunsch der Hei-
ligen entsprochen haben, uns den Herrn preisen zu sehen, müssen wir
auch sie selbst beglückwünschen, daß sie Heilige sind, und Gott in
ihnen preisen. Die heilige Kirche tut dasselbe, wenn sie ihre Feste
feiert: sie preist Gott in ihnen (vgl. Ps 150,1). Wer nämlich das Fest
aller Heiligen zu ihrer Ehre feiern wollte und nicht zur Ehre Gottes,
der täte nichts, was Gott und auch den Heiligen selbst wohlgefällig ist,
weil sie keine Ehrung annehmen können, wenn sie nicht den Herrn in
ihnen und sie in ihm verherrlicht sehen.
Ein weiterer Akt des Wohlwollens, das wir den Heiligen gegenüber
üben können, besteht darin, ihrem Verlangen zu entsprechen, daß wir
Heilige werden wie sie. Wenn wir diesem Wunsch entsprechen, ver-
schaffen wir ihnen eine Vermehrung der Glorie. Wenn wir trachten,
uns mehr und mehr zu vervollkommnen, die Heiligung anderer zu
fördern, indem wir unsererseits alles dazu beitragen, was wir können,
wenn wir wünschen, alle möchten Gott loben und preisen, da alle es
tun können und müssen, daß alle Heilige werden, da alle es sein kön-
nen, dann verschaffen wir den Seligen eine akzidentelle Glorie, die sie
sonst nicht haben. So also verwirklicht sich die Gemeinschaft der
Heiligen durch die Liebe des Wohlgefallens und des Wohlwollens.
Es gibt noch eine andere Liebe, das ist die Liebe der Nachahmung.
Dazu ist es notwendig, daß man Sympathie mit denen hat, die man
liebt. Doch was bedeutet Sympathie? Die Weltleute verstehen das gut,
doch ihr, die ihr nicht von der Welt seid, werdet es vielleicht nicht
verstehen, wenn ich es euch nicht sage. Die Sympathie ist eine gewisse
Teilnahme an den Leidenschaften jener, die wir lieben. Die Liebe der
Nachahmung bewirkt, daß wir in uns die Tugenden oder Laster anneh-
men, die wir an ihnen sehen. Die Sympathie bewirkt, daß der Zornige
eine Zuneigung zum Zornigen hat, der Stolze und Anmaßende zum

371
Stolzen und Anmaßenden. Die Leidenschaft der Liebe ist die erste
und stärkste in der Seele; daher kommt es, daß die Liebe uns derma-
ßen zu eigen macht, was wir lieben, daß wir allgemein sagen, die Güter
der geliebten Sache gehören mehr dem Liebenden als dem, der sie
besitzt. Das also ist Sympathie.
Sie ist die Ursache, daß viele Weltleute große Schwierigkeiten ha-
ben, bestimmte Laster abzulegen, denen sie unterworfen sind. Sagt
einem, es sei ratsam, daß er sich vom Zorn oder vom Stolz bessere
oder daß er einen Ehrbegriff aufgebe, in den er so vernarrt ist, daß er
sogleich aufbraust, wenn man an sein Ansehen rührt (das ist etwas,
worauf die Menschen dermaßen eifersüchtig bedacht sind, daß es
scheint, sie seien nur dazu geboren, sich Achtung, Lob und Liebe zu
verschaffen; so verwendet man auch seine erste Sorge darauf, Ehrun-
gen und Ansehen bei allen zu gewinnen). Sagt also solchen Leuten,
man müsse etwas gegen dieses Laster tun; was wird man euch antwor-
ten? Das liegt in meiner Art, das ist die Sympathie mit meinem Vater;
er war jähzornig und liebte die Ehre wie ich. Eine schöne Begründung!
Das ist, als sagte dir einer: Dein Vater war dumm, du mußt es also auch
sein, denn daran wird man erkennen, daß du mit ihm verwandt bist.
Wenn wir auch gesagt haben, daß diese Liebe der Nachahmung von
einer gewissen inneren Verwandtschaft miteinander kommt, darf man
dennoch nicht meinen, daß sich solche, die nach menschlicher Ehre
und nach Ruhm streben, jenen besser angleichen, die jähzornig und
stolz sind, als solchen, die es nicht sind. O nein, denn die Ehrgeizigen
wetteifern stets, wer von ihnen mehr Ehre und anderes dergleichen
habe, denn jeder möchte seinen Nebenmann übertreffen. Sie sind sich
aber ähnlich und man sagt tatsächlich: Die zwei Menschen sind einer
so jähzornig wie der andere; und sie begegnen sich gern und ergreifen
die Gelegenheit, um ihre Tapferkeit zu zeigen, sich zu übertreffen. So
spricht die Welt.
Daß uns die Liebe denen ähnlich macht, die wir lieben, das ließe
sich nun an tausend Beispielen zeigen. Die Väter lieben ihre Kinder,
ganz besonders aber, wenn sie ihnen gleichen oder irgendeinem ihrer
Vorfahren. Sie betrachten sich in ihnen wie in einem Spiegel und ge-
fallen sich darin, in ihnen ihre Art, ihre Gesichtszüge und ihre Hal-
tung verkörpert zu sehen. Die Griechen liebten ihren Kaiser so sehr,
daß sie wünschten, ihre Kinder möchten seiner Person gleichen; des-
halb trachteten sie, ihr Aussehen, wenn sie zur Welt kamen, soviel als
möglich dem ihres Kaisers anzugleichen.
Um also das Fest der Heiligen recht zu feiern, muß man sie lieben
mit einer Liebe der Nachahmung, des Wohlgefallens und des Wohl-

372
wollens. Durch die Liebe der Nachahmung machen wir uns ihnen ähn-
lich, indem wir ihr Leben nachahmen, indem wir lieben, was sie ge-
liebt haben, tun, was sie taten, und auf dem Weg zum Himmel zu
gehen trachten, dem sie gefolgt sind, um dahin zu gelangen. Das stellt
uns die Kirche heute vor Augen, wenn sie uns im Evangelium der
heiligen Messe die Rede vorträgt, die Unser Herr auf dem Berg gehal-
ten hat (Mt 5,1-12), in der er von acht Seligkeiten spricht. Darin heißt
es, daß er sich setzte, seinen Mund auftat und sprach: Selig sind die
Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich; selig sind die Sanft-
mütigen; selig, die weinen; selig, die verfolgt werden um der Gerechtig-
keit willen, denn ihrer ist das Himmelreich, und so die übrigen. Nun
bemerkt das Evangelium nicht ohne Grund, daß er seinen heiligen
Mund auftat, um uns zu zeigen, daß seine göttliche Güte uns etwas
Großes sagen und eine Lehre verkünden wollte, die man noch nicht
vernommen hatte. Er wandte sich an die Apostel, um deutlich zu ma-
chen, daß er vor allem für sie und ihre Nachfolger die erste und die
letzte Seligkeit verkündete: Selig die Armen im Geiste, selig, die ver-
folgt werden um der Gerechtigkeit willen. Sie müssen ja diese Armut in
besonderer Weise üben und viele Verfolgungen erleiden als Menschen,
die Unserem Herrn in besonderer Weise angehören. Dann schaute er
das übrige Volk an und sagt: Selig, die weinen, die hungern und dürsten
nach Gerechtigkeit, die rein und lauter von Herzen sind. Damit zeigt er,
daß diese evangelischen Räte nicht nur für die Apostel gelten, sondern
für alle, da alle Buße tun müssen, alle rein und lauter von Herzen sein
müssen. Schließlich: selig die Sanftmütigen.

Von diesen Seligkeiten haben nun die Menschen tausend Auslegun-


gen gemacht. Die einen meinten, wenn der Heiland sagt: Selig die Ar-
men im Geiste, wollte er von denen sprechen, die einfältig sind und
kaum Intelligenz besitzen. Ich leugne nicht, daß solche Leute leicht
glücklich sind; trotzdem hat Jesus Christus nicht in diesem Sinn ver-
kündet: Selig die Armen im Geiste. Er wollte vielmehr von der Armut
sprechen, die er selbst übte und die jene übten, die alles aufgegeben
und freiwillig alle Unbequemlichkeiten auf sich genommen haben,
die daraus folgen. Davon ist weit entfernt, wer keinen Mangel leiden
will und die Ehre beansprucht, arm zu sein, obwohl ihm nichts man-
gelt. Die Armut ist ehrenwert, und es gab sogar heidnische Philoso-
phen wie Sokrates und Epiktet, die sich rühmten, arm zu sein. Manche
wollen die Armut wählen, weil sie alles haben, was sie brauchen. Das
sind aber nicht die Armen im Geiste, von denen Unser Herr spricht,
denen er das Himmelreich verspricht.

373
Nachdem unser göttlicher Meister diese Seligkeiten verkündete, hat
die Welt andere verkündet und hat gesagt: Glückselig die Reichen,
denn der Reichtum bewirkt, daß man nichts nötig hat, daß man geehrt
wird, daß man die Prozesse gewinnt. Mit einem Wort, die Reichen
sind glücklich, denn sie brauchen niemand und jeder ist von ihnen
abhängig. Glücklich jene, die keine Barmherzigkeit üben, die hüten,
was sie haben, ohne sich darum zu kümmern, den Armen zu dienen,
sondern nur darauf bedacht sind, Besitz auf Besitz zu häufen und nie-
mand etwas zu geben, aus Furcht, ihn zu vermindern. Glücklich jene,
die nicht weinen, sondern sich ergötzen und Kurzweil haben, denn
Tränen sind langweilig. Selig, die sich rächen. Kurz der Weltgeist steht
ganz im Gegensatz zum Geist Gottes. Aber die Apostel und jene, die
sie genau nachahmten, haben die Armut im Geiste im Sinn Unseres
Herrn geübt, denn sie haben alles verlassen, um ihm nachzufolgen (Mt
19,27), und haben viel Ungemach ertragen, das den Armen gewöhn-
lich zustößt. Nach der Herabkunft des Heiligen Geistes zogen sie aus,
um das Evangelium zu verkünden; doch das geschah nicht, um Geld
zu verdienen, Bezüge und Einkünfte, sondern sie lebten von Almosen,
die sie von einem Tag zum anderen bettelten. Der hl. Paulinus, Bischof
von Nola, gab nach dem Beispiel des hl. Paulus alles, was er besaß, den
Armen, und nicht zufrieden damit, gab er sich selbst hin, um die Ge-
fangenen loszukaufen.
Und wie groß war die Armut des großen Apostels! Nachdem er aus
Liebe zu seinem Meister alles verlassen hatte, wollte er den Korin-
thern und anderen umsonst dienen. Nachdem er gepredigt, für das
Evangelium und, um den Weg zum Heil zu zeigen, Schweiß vergossen
und gelitten hatte, wollte er in der Tat nicht von den Almosen der
Christen leben, sondern von der Arbeit seiner Hände und im Schweiß
seines Angesichts; er arbeitete ja, um seinen Lebensunterhalt zu ver-
dienen, und sagte: Um zu zeigen, wie sehr ich meinen Meister liebe,
dem zuliebe ich euch diene, und daß ich die Mühe nicht auf mich
nehme, um mich an euren Mitteln zu bereichern, sondern rein aus
Liebe zu Ihm, dem ich diene, will ich nicht, nachdem ich euch zu
eurem Heil verholfen habe, daß ihr mich mit euren Almosen ernährt,
wie ihr es bei den anderen Aposteln getan habt; ich will vielmehr
meinen Lebensunterhalt im Schweiß meines Angesichts verdienen und
euch umsonst dienen und euch auf diese Weise alles geben, was ich
habe. Er sagt, alles, was ich habe, denn was er verdiente, gehörte ihm.
Trotzdem legte er nichts davon in die Sparbüchse, sondern verwendete
es nur für seinen Unterhalt. Er ging noch weiter und wollte selbst
geopfert werden (2 Kor 12,15). Ich will mich nicht nur selbst für euer

374
Heil aufopfern, sagte er, sondern was mehr ist, ich will mich durch
andere opfern und verkaufen lassen. Ich will mich z. B. nicht nur gei-
ßeln, sondern will es leiden, daß andere mich geißeln. Wenn ich mich
nämlich ganz allein geißelte, läge es in meiner Macht, sobald ich ge-
nug davon habe, aufzuhören und nicht weiter zu gehen; wenn ich mich
aber von anderen nach ihrem Belieben geißeln lasse, werden sie nicht
zu schlagen aufhören, wenn ich schon ganz zerschlagen bin. Ich will
also für euer Heil, meine lieben Kinder, geschlagen, gegeißelt, gefes-
selt und eingekerkert werden, nicht durch mich selbst, sondern durch
die anderen und nach ihrem Belieben. So gebe ich alles für euch, was
ich habe, ohne meinen Leib und meine Haut auszunehmen.
Das ist eine vollendete Armut; sie ist von der Art, von der Unser
Herr gesagt hat: Selig die Armen im Geiste. Viele Heilige haben sie
sehr genau geübt und haben sich ihr so liebevoll gewidmet, daß sie
freudig die Beschwerden und Unbilden erlitten, die sie begleiten. Was
meint ihr denn, was unsere frühen Väter mit solcher Sanftmut die
Härte der Wüste ertragen ließ, daß es ihnen als Kleinigkeit erschien,
wenn nicht diese Armut, die sie so zärtlich liebten wie sonst nichts?
War nicht der hl. Franziskus in sie so verliebt wie ein junger Mann in
seine Braut, die er glühend liebt? So nannte er sie auch seine Frau und
war stets auf sie bedacht, um ihre Unbilden zu erleiden und an ihnen
seine Wonne zu haben. Alle Heiligen sind in den Himmel gekommen
durch die Armut im Geiste, durch Tränen, durch die Barmherzigkeit,
durch Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und andere Seligkeiten.
Daher legt uns die Kirche an ihrem Festtag diese Seligkeiten vor und
lädt uns ein, ihnen zu folgen und in ihre Fußstapfen zu treten. Bemüht
euch also treu in diesem Leben, meine lieben Töchter, und seid be-
harrlich bis ans Ende (Mt 10,22; 24,13), damit ihr mit den seligen
Geistern in dieser Seligkeit versammelt und vereinigt werden könnt,
um Gott zu lieben und euch die ganze Ewigkeit seiner zu erfreuen.
Amen.

375
Zum 2. Sonntag nach Epiphanie

Nr. 43: 17. Januar 1621 X,1-17

Heute lesen wir in der Messe zwei Evangelien: das eine von den
Bekennern (Lk 12,35-40), das andere vom ersten Wunder, das Unser
Herr bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa wirkte (Joh 2,1-11); über
dieses will ich in der kleinen Predigt sprechen. Über den hl. Antonius
zu sprechen, würde sich nämlich nicht gut machen, denn über ihn
wurde in der großen Predigt hervorragend gesprochen, in der fast alles
gesagt wurde, was man über ihn sagen kann. Ich werde mich also auf
das zweite beschränken, wo des ersten Wunders oder nach dem hl.
Johannes des ersten Zeichens gedacht wird, das Unser Herr wirkte,
um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Wir werden vor allem die Ursa-
che des Wunders sehen, d. h. wie es gewirkt wurde, an zweiter Stelle,
durch wen es gewirkt wurde und welche Menschen sich dabei einge-
schaltet haben. Der Evangelist erklärt, daß dies das erste Zeichen war,
das Jesus wirkte, um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Ich weiß indes
gar wohl, daß einige Theologen Gründe und Gegengründe vorbrin-
gen, um zu zeigen, daß dieses Wunder nicht das erste gewesen sei, das
Unser Herr wirkte. Aber nicht nur der hl. Johannes bestätigt das, son-
dern auch der hl. Ambrosius; und die Mehrzahl der alten Kirchenvä-
ter hält an dieser Meinung fest. Deshalb halten wir uns an sie und
folgen ihr. Um nun die Auffassung des hl. Ambrosius und der anderen
Kirchenväter besser einzuführen, wollen wir vor allem zwei Schwie-
rigkeiten ausräumen, die ihre Meinung weniger annehmbar machten;
hernach werden wir eine Erwägung zur Festigung unseres Glaubens
anstellen.
Sagen wir zunächst, daß dieses Wunder das erste Zeichen war, das
der Heiland selbst gab, um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Es ist
wahr, daß einige Wunderwerke vor diesem geschahen, die einen durch
Unseren Herrn, andere an Unserem Herrn, die übrigen vor der An-
kunft Unseres Herrn, wie jenes der Menschwerdung, die das größte
von allen und das Wunder der Wunder ist. Aber dieses Wunder war
unsichtbar, geheim und verborgen; sie war ein so erhabenes Werk, daß
es unendlich alles überragt, was die Engel und Erzengel davon begrei-
fen können. Folglich war sie kein Zeichen, das die Herrlichkeit Got-
tes offenbarte wie jenes, das bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa ge-
schah, wie der Evangelist sagt. Das überaus erhabene Geheimnis der
Menschwerdung ist so tief, daß es dem Geist der Heiden und alten

376
Philosophen nicht einging und nicht eingehen konnte. Ja selbst die
Lehrer des mosaischen Gesetzes, die doch mit der Heiligen Schrift
vertraut waren, vermochten es nicht zu begreifen, weil es unsichtbar
und so erhaben war, daß es jeden Verstand der Menschen und Engel
übersteigt. Wir glauben zwar in diesem sterblichen Leben daran, weil
es der Glaube uns lehrt, im Himmel aber werden wir es sehen, und das
wird ein Teil unserer ewigen Glückseligkeit sein. In der Menschwer-
dung ereigneten sich noch andere Wunder; deren größtes ist, daß das
göttliche Wort von einer Frau empfangen und geboren wurde und daß
diese Frau zugleich Jungfrau und Mutter war. Die Geburt des Erlösers
begleiteten mehrere Wunder, so das Erscheinen des Sterns, der die
Magier des Orients führte (Mt 2,1f). Aber obwohl diese Zeichen ge-
schahen, um die Herrlichkeit Unseres Herrn zu offenbaren, war nicht
er es, der sie wirkte, sondern der Vater und der Heilige Geist wirkten
sie für ihn. Ich weiß wohl, daß er sie wirkte, insofern er Gott ist; denn
was der Vater tut, bewirken ebenso der Sohn und der Heilige Geist;
aber das Wunder von Kana wirkt der Sohn im besonderen.
Zweitens muß erklärt werden, was die alten Väter vorbringen, daß
nämlich unser göttlicher Heiland mehrere Wunder wirkte, während er
in Ägypten weilte, und selbst im Haus seiner Eltern (das ist glaubwür-
dig, denn verschiedene Geschichten sind davon voll). Die waren aber
sehr geheim und unsichtbar, weil Unser Herr zu der Zeit nicht be-
kannt war. Wenn er auch deren eine große Zahl wirkte, war doch das
Zeichen von Kana in Galiläa, von dem der Evangelist berichtete, wirk-
lich das erste, das geschah, um seine Herrlichkeit zu offenbaren.
Welche Erwägung aber können wir davon ableiten zur Stärkung un-
seres Glaubens? Seht, dieses erste Wunder geschah durch die Ver-
wandlung des Wassers in Wein, genau wie das letzte Wunder, das Jesus
Christus in seinem Erdenleben wirkte, die Verwandlung des Weins in
sein Blut im allerheiligsten Sakrament der Eucharistie war. Wir, die
das Wort Gottes verkünden, sind nun verpflichtet, euch zu jedem Ge-
heimnis zu sagen, was zur Festigung unseres Glaubens dienen kann,
wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, wie hier über das der Euchari-
stie. Dies nicht, um euch zu belehren, denn ihr glaubt daran hinrei-
chend; nicht um euren Glauben zu stärken oder zu bestätigen, denn
ihr würdet sterben, um an dieser Wahrheit festzuhalten, sondern um
euer Herz zu erfreuen und eine gewisse Wonne in ihm zu bewirken,
die man empfindet, wenn man von diesem großen Geheimnis spricht.
Unser Herr ist der Erste, das Alpha und Omega, d. h. der Anfang und
das Ende aller Dinge. Wenn deshalb die Ägypter die Gottheit darstel-

377
len und irgendwie begreiflich machen wollten, malten sie eine Schlan-
ge, die sich in den Schwanz beißt. Dadurch bildete sie einen Kreis und
man konnte an ihr keinen Anfang und kein Ende sehen; ihr Kopf, der
den Anfang bildet, berührt das Ende, den Schwanz. So ist Unser Herr
von aller Ewigkeit der Anfang aller Dinge und wird in alle Ewigkeit
ihr Ziel sein. Beachtet, wie er stets sowohl den Anfang als das Ende
machte, und die wunderbare Beziehung, die zwischen den beiden be-
steht. Als Gott den Adam erschuf, gab er das erste Zeichen dieser
Schöpfung, indem er den Lehm der Erde in den Leib des Menschen
verwandelte. Als Jesus Christus ihn wiederherstellte, war ebenso das
erste Zeichen dieser Neuschöpfung die Verwandlung einer Substanz
in eine andere, die Verwandlung des Wassers in Wein. Der Erlöser
kam ja, um den Menschen wiederherzustellen, denn er war verloren.
Ich bin gekommen, sagt er, um einen neuen Menschen zu schaffen.
Der Mensch war ja durch die Sünde so zugerichtet, daß nicht mehr zu
erkennen war, was er bei seiner Erschaffung gewesen ist. Als daher
Unser Herr kam, um ihn zu erneuern, begann diese Neuschöpfung so,
wie er die Erschaffung vollzogen hatte. Beachtet in der Tat die wun-
derbare Beziehung. Wie wir bereits angedeutet haben, hat Gott bei der
Erschaffung des Menschen die Erde in menschliches Fleisch verwan-
delt und eine wundervolle Umwandlung bewirkt. Denn nachdem er
gesagt hatte: Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild und
Gleichnis, nahm er Ton und formte daraus einen Leib, der nun nichts
anderes war als ein Erdklumpen. Dann hauchte er diesen Leib an, und
da wurde diese Masse in Fleisch und Blut verwandelt, d. h. es wurde
ein lebendiger Mensch daraus (Gen 1,26f; 2,7). So begann Unser Herr
auch bei der Neuschöpfung mit der Verwandlung des Wassers in Wein,
indem er ein Zeichen gab, um seine Herrlichkeit zu offenbaren.
Diese Beziehung zeigte er stets in all seinen Werken. Wenn wir ihn
nämlich seit seinem Eintritt in diese Welt beobachten, werden wir
sehen, daß er ganz nackt aus dem Schoß seiner Mutter hervorging.
Nach den Offenbarungen der hl. Birgitta sah ihn die allerseligste Jung-
frau so vor ihren Augen, als sie die hochgebenedeite Frucht ohne Mühe
und ohne Beeinträchtigung ihrer Jungfräulichkeit geboren hatte. Sie
war in einer sanften, liebevollen und süßen Beschauung, als der Erlö-
ser, ohne daß sie es wahrnahm, aus ihrem Schoß hervorging. Als sie
aber zu sich kam, sah sie ihn ganz nackt, sie nahm ihn und wickelte ihn
in Windeln und kleine Tücher. Er wollte die Welt verlassen, wie er in
sie gekommen war; er starb ganz nackt am Stamm des Kreuzes. Nach
seinem Tod wurde er abgenommen, dann ließ er sich in Tücher einhül-
len, wie er es bei seiner Geburt getan hatte. Er kam weinend zur Welt

378
wie die übrigen Kinder, die alle so ankommen; denn man hat nie eines
von ihnen gesehen, das nicht weinend geboren wäre, außer Zoroaster,
ein sehr böser Mensch, „der bei seiner Geburt zu lachen begann“
(Plinius). Unser Herr aber wurde nicht lachend geboren, sondern wei-
nend und seufzend, wie eine Stelle der Heiligen Schrift bestätigt, die
man gut auf ihn anwenden kann, obwohl diese Stelle Salomo betrifft,
der von sich sagt: Obwohl ein großer und bewundernswerter König,
bin ich doch weinend und seufzend auf Erden geboren wie die anderen
Kinder (Weish 7,3). Ebenso wollte unser wahrer Salomo, obwohl er
als erhabener König auf Erden geboren wurde, weinend geboren wer-
den; folglich ist er auch weinend gestorben.
Er wollte das Evangelium einleiten durch dieses erste Wunder der
Verwandlung und Umwandlung des Wassers in Wein; er wollte auch
seine Predigten beschließen mit der Verwandlung von Wein in Blut.
Er hat das erste Wunder bei einem Festmahl gewirkt; er wirkte das
letzte, das der Eucharistie bei einem anderen Mahl. Er verwandelte
das Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa; beim letzten
Abendmahl, das wie die Hochzeit dieses heiligen Bräutigams war, ver-
wandelte er das Brot in seinen Leib und den Wein in sein Blut. Auf
diese Weise begann er mit dieser Verwandlung seine Hochzeit zu fei-
ern, die er am Stamm des Kreuzes vollendet hat, denn der Tod des
Erlösers war sein Hochzeitstag (vgl. Hld 3,11).
Mit einem Wort, sein erstes Wunder war die Verwandlung des Was-
sers in Wein, das letzte, das er vor seinem Tod wirkte, war die Einset-
zung der Eucharistie, in der er wahrhaft und wirklich gegenwärtig ist.
Wir glauben an diese Wahrheit und an dieses Geheimnis, das mit dem
der Menschwerdung das größte und dunkelste ist. Weil es der Glaube
uns lehrt, glauben wir indes, daß Jesus im allerheiligsten Sakrament
mit Leib und Seele enthalten ist. Der Apostel sagt (1 Kor 10,16; 11,24-
27), daß der Christ genährt wird mit dem lebendigen Fleisch und dem
Blut des lebendigen Gottes; und das ist wahr. Und obwohl diese Wahr-
heit unseren Sinnen widerstreitet, die nichts sehen können, glauben
wir dennoch daran und sogar mit um so mehr innerer Freude, je weni-
ger unsere Sinne davon erkennen können. Da die göttliche Vorsehung
sah, wie dunkel dieses heilige Geheimnis der Eucharistie ist, hat sie
uns abertausend Beweise für diese Wahrheit gegeben an aberhundert
Stellen sowohl des Evangeliums als des Alten Testamentes. Unser Herr
selbst hat davon so viele Erleuchtungen und Einsichten gegeben, daß
es bewundernswert ist, was viele über diesen Gegenstand geschrieben
haben, die ihn so klar und verständlich behandeln, daß man ganz hin-

379
gerissen ist, wenn man es hört und liest. Gewiß, wir müßten dieses
göttliche Sakrament jeden Tag hunderttausendmal anbeten als Dank
für die Liebe, mit der Gott unter uns weilt. Das ist die Erwägung, die
wir zur Stärkung unseres Glaubens machen müssen.
Sehen wir nun, wie dieses Wunder gewirkt wurde. Dazu will ich euch
den ganzen Bericht des Evangeliums wiedergeben. Zu Kana in Galiläa
fand eine Hochzeit statt, sagt der hl. Johannes. Das war ein kleines
Städtchen nahe bei Nazaret, wo die Verwandten der seligsten Jungfrau
und folglich auch Unseres Herrn wohnten. Man feierte also eine Hoch-
zeit, und der Heiland und seine Mutter waren dazu eingeladen. Einige
Theologen gefallen sich im Disput darüber, ob die Apostel eingeladen
waren oder nicht. Es ist eine köstliche Sache um die verschiedenen
Meinungen, die es darüber gibt; aber lassen wir ihnen ihre Gründe
und halten wir uns daran, was der Evangelist sagt. Einige frühere Kir-
chenväter glauben übrigens, da Unser Herr und seine allerseligste
Mutter eingeladen waren, seien auch die Apostel eingeladen gewesen.
Der hl. Johannes sagt ganz klar: und seine Jünger; daran müssen wir
uns halten. Man diskutiert darüber, ob das die Hochzeit des hl. Johan-
nes war oder die eines anderen; aber lassen wir das, es ist unwichtig.
Soviel steht fest, daß unser teurer Meister und Unsere liebe Frau ein-
geladen waren. Sie gingen hin; aber wie? Es ist gewiß glaubwürdig, daß
die heilige Jungfrau am Vortag hinging, denn wenn eine Hochzeit ge-
feiert wird, kommen die Frauen und die Verwandten nicht am Tag
selbst, sondern schon am Vortag, und nicht nur, um empfangen zu
werden, sondern auch um die anderen Geladenen empfangen zu hel-
fen und auf diese Weise der Braut Ehre zu erweisen. Man kann nun
annehmen, daß die heilige Frau, die sehr demütig war, schon am Vor-
tag hinging, um dem Bräutigam und der Braut diesen schönen Dienst
zu erweisen.
Die Apostel gingen also zur Hochzeit; und da Unser Herr eingela-
den war, lehnte er es nicht ab, sich dabei einzufinden; denn seht, er war
gekommen, um den Menschen loszukaufen, zu erneuern und neu zu
schaffen. Um das zu tun, wollte er nicht eine würdevolle, strenge und
steife Haltung annehmen, sondern vielmehr eine ganz sanfte, umgäng-
liche und höfliche Umgangsform. Als er daher eingeladen wurde, ent-
schuldigte er sich nicht, sondern ging hin und unterdrückte dadurch
wirksam den Leichtsinn und die Ausschweifungen, die sich bei sol-
chen Gelegenheiten gewöhnlich ergeben. Gewiß, die Hochzeiten, an
denen Unser Herr und Unsere liebe Frau teilnehmen, sind sehr geord-
net und man wahrt eine große Bescheidenheit. Aber die Hochzeiten

380
dieser Zeit hier sind voller Ausschweifungen und erfüllt von Schwin-
deleien, denn wie viele Lügen sagt man, wenn man eine Tochter ver-
heiraten will! Sie ist so und so, sie erbt so viel; dieser junge Mann hat
alle diese Voraussetzungen und Eigenschaften. Und auf das hin schließt
man die Ehe, und wenn es geschehen ist, findet man, daß es nicht so ist,
wie man gesagt hat. Dann kommen die Reue und die Vorwürfe von der
einen und der anderen Seite, aber es ist zu spät, denn nun ist es gesche-
hen. Bei der Hochzeit von Kana war es nicht so, denn wo Unser Herr
ist, kann sich keine Lüge finden. Was meint ihr, wie sittsam diese Hoch-
zeit war! Ohne Zweifel bewirkte die Anwesenheit des Heilands, daß
man sich sehr zurückhielt.
Ich weiß nicht, wie es kam; jedenfalls ging der Wein aus. Die Diener
waren darüber etwas erschrocken und aufgeregt, und als sie sahen, daß
die Flaschen leer wurden, begannen sie untereinander darüber zu re-
den, während sie den Wein eingossen. Vielleicht kam es auf diese Weise
den Frauen zu Ohren; die waren untereinander uneinig, was man tun
müßte. Die allerseligste Jungfrau, ganz weise, klug und erfüllt von
großer Liebe, fand einen bewundernswerten Ausweg, durch den sie
dieser Verlegenheit abhalf. Aber was will die heilige Frau tun? Sie hat
ja kein Geld, um Wein kaufen zu lassen. Ihr Sohn hat ebenso wie sie
keines. Worauf beruht also ihre Hoffnung, dieser Not abzuhelfen? Sie
wußte gewiß, daß sie Ihn mitgebracht hat, der allmächtig ist und des-
sen große Liebe und Barmherzigkeit sie kannte; durch sie würde er
unfehlbar der Notlage dieser armen Leute abhelfen. Es ist in der Tat
glaubwürdig, da es die Hochzeit armer Leute war; deshalb wurde Un-
ser Herr dazu eingeladen. Das ist wahr, denn er verkehrte und ging so
gern mit den Armen um, daß er sie stets bevorzugte. Er war gewöhn-
lich bei ihnen. Er liebte die Armut überaus, selbst in den Palästen der
Könige, und fand einmaliges Gefallen daran, sich dort aufzuhalten,
wo die Armut herrscht. Wenn der teure Erlöser unserer Seelen Gefal-
len daran hat, der Armut in den Häusern der Großen und bei Hochzei-
ten zu begegnen, wie groß wird seine Befriedigung sein, sie in den
Klöstern zu sehen, wo man das Gelübde macht, sie zu beobachten!
Wie wird es ihm gefallen, hier Mangel im Überfluß zu sehen; ich will
sagen, nicht Mangel am Notwendigen, daß man hier aber trotzdem des
Überflusses entbehrt. Das sei gesagt als ein kleines Wort der Unter-
weisung, die ich euch nebenbei gebe.
Die seligste Jungfrau kam also zu ihrem Sohn, der allein ohne Geld
dieser Notlage abhelfen konnte. Achtet ein wenig darauf, was die
allerseligste Jungfrau tut und sagt: Mein Herr, sie haben keinen Wein,

381
als wollte sie sagen: Mein Herr und mein Sohn, diese Leute sind arm;
und obwohl die Armut sehr liebenswert und dir sehr wohlgefällig ist,
so ist sie an sich doch sehr beschämend, denn sie bringt den Armen oft
arge Verachtung und Verlegenheit vor der Welt. Diese guten Leute, die
dich eingeladen haben, werden in große Schande geraten, wenn du
ihnen nicht zu Hilfe kommst. Ich weiß aber, du bist allmächtig, du
hast ihre Notlage vorausgesehen und wirst verhindern, daß sie in sol-
che Schande und Verachtung fallen. Außerdem zweifle ich nicht an
deiner Liebe und deinem Erbarmen. Erinnere dich an die Gastfreund-
schaft, die sie uns durch die Einladung zu ihrem Fest erwiesen haben,
und verschaffe ihnen bitte, was ihnen fehlt.
Die heilige Jungfrau brauchte indes keine so lange Rede zu halten,
um ihrem Sohn die Notlage dieser Hochzeit zu schildern. Sehr klug
und erfahren in der rechten Weise zu beten, bediente sie sich außer-
dem der kürzesten aber erhabensten und vorzüglichsten Form des Ge-
betes, die es gibt und geben kann, indem sie nur die paar Worte sagte:
Mein Sohn und mein Herr, sie haben keinen Wein. Die heilige Jung-
frau wollte damit sagen: Du bist so gütig und so liebevoll, du hast ein
Herz so mild und voll Erbarmen; bitte, laß dich also herab zu tun, um
was ich dich für die armen Leute bitte. Gewiß, ein ausgezeichnetes
Gebet, in dem die heilige Frau zu Unserem Herrn mit der größten
Ehrfurcht und Demut spricht, die man sich vorstellen kann; sie wen-
det sich nämlich an ihren Sohn nicht mit Selbstvertrauen, noch mit
Worten voll Anmaßung, wie es viele unbescheidene und anmaßende
Menschen tun; vielmehr stellt sie ihm mit tiefster Demut die Notlage
dieser Hochzeit vor und hält es für sicher, daß er ihr abhelfen wird,
wie wir gleich sehen werden.
Es ist also ein sehr gutes Gebet, sich damit zu begnügen, Unserem
Herrn seine Nöte vorzustellen, sie ihm vor Augen zu halten und ihn
machen zu lassen, in der Überzeugung, daß er uns entsprechend unse-
ren Bedürfnissen erhören wird, indem man ihm, wenn man sich trok-
ken, trostlos und mutlos fühlt, nach dem Beispiel der seligsten Jung-
frau sagt: Herr, sieh mich arme Tochter, wie verzagt, bekümmert, voll
Trockenheit und Dürre ich bin. Herr, sieh mich armen Menschen, den
ärmsten von allen Menschen und voll Sünde. Aber um was bittest du?
Ach, um was bitte ich? Du weißt wohl, wessen ich bedarf. Es genügt
mir, dir zu zeigen, was ich bin; es ist an dir, meinem Elend und meinen
Nöten so abzuhelfen, wie es dir gefallen wird.
Ich weiß dennoch gut, daß man Gott nicht nur um Geistliches bitten
kann, sondern auch um Zeitliches. Es gibt keinen Zweifel, daß man

382
das kann und darf, weil es Unser Herr selbst uns gelehrt hat. Im Gebet
des Herrn, das wir jeden Tag sprechen, bitten wir zuerst, daß das Reich
Gottes zu uns komme, als Ziel und Ende, nach dem wir ausschauen;
dann, daß sein Wille geschehe, als das einzige Mittel, um uns zu dieser
Seligkeit zu führen; darüber hinaus aber stellen wir noch eine andere
Bitte, nämlich, daß er uns unser tägliches Brot gebe (Mt 6,9-13; Lk
11,2-4). Die heilige Kirche hat sogar besondere Gebete, um von Gott
zeitliche Güter zu erbitten, denn sie hat eigene Gebete, um in Kriegs-
zeiten den Frieden zu erbitten, in Zeiten der Trockenheit den Regen
und in übermäßig langen Regenzeiten schönes Wetter; ja es gibt sogar
eigene Messen für Zeiten der Pest. Dadurch werden wir belehrt: es
gibt keinen Zweifel und keine Schwierigkeit, daß man in seinen geist-
lichen und zeitlichen Nöten bei Gott Hilfe suchen kann und darf.
Es gibt zwei Arten, Gott darum zu bitten: die eine in der Weise, wie
es die seligste Jungfrau tat, die andere, ihn zu bitten, daß er uns dies
oder jenes gebe oder daß er uns von einem bestimmten Übel befreie,
jedesmal unter der Bedingung, daß dabei sein Wille geschehe, nicht
der unsere (Lk 22,42). Doch gewöhnlich bitten wir nicht so. Ihr seht
einen Menschen ganz in Andacht versunken, der in all seinen Gebeten
um große Wonnen bittet. Was begehrst du, meine liebe Tochter? Ich
bitte um Tröstungen. Ja, das ist gut. Aber ich bitte auch um die Demut,
denn ich bin nicht demütig, sehe aber trotzdem, daß man ohne diese
Tugend nichts zu tun vermag. Ich bitte auch um die Gottesliebe, die
alles so mild und leicht macht. Man tut gut, um die Demut zu bitten,
denn sie muß unsere teure Tugend sein. Es ist eine gute Sache, um die
göttliche Liebe zu bitten und sich nach ihr zu sehnen. Trotzdem sage
ich euch, daß eure Bitte um die Demut und die Liebe nicht gut ist. Seht
ihr denn nicht, daß ihr nicht die Demut ersehnt, sondern das Gefühl
der Demut? Ihr wollt wissen und fühlen, daß ihr demütig seid, ob ihr
die Demut habt. Nun, das darf man nicht tun, denn um diese Tugend zu
besitzen, ist es nicht erforderlich, daß man das Gefühl der Demut hat.
Im Gegenteil, die sie wirklich besitzen, sehen und wissen nicht, daß
sie demütig sind. Ebenso ist es, um Gott zu lieben, nicht notwendig zu
fühlen, daß man ihn liebt. Die Liebe zu ihm besteht ja nicht darin, daß
man seine Güte fühlt. Ihr könnt also demütig sein und Gott lieben,
ohne es zu fühlen.
O, ich möchte ihn lieben wie eine hl. Katharina von Siena, wie eine
hl. Theresia. Ihr täuscht euch; sagt lieber: Ich möchte die Ekstasen,
die Gefühle der Liebe und der Demut einer hl. Theresia, einer hl.
Katharina von Siena haben; denn es ist nicht die Liebe, die ihr begehrt,

383
sondern das Empfinden der Süßigkeit dieser Liebe. Es ist nur das
Fehlen des Gefühls, worüber wir uns beklagen, denn wir wollen alles
kosten und schmecken. O Gott, wartet ein wenig, meine Lieben;
wartet, bis ihr im Himmel seid, dort werdet ihr erkennen, ob ihr die
Demut habt, und werdet euch ihrer Süßigkeit erfreuen. Dann werdet
ihr sehen, wie ihr Gott liebt, und die Wonne seiner Liebe verkosten.
In diesem Leben aber will der Herr, daß wir zwischen Furcht und
Hoffnung leben, daß wir demütig sind und ihn lieben, ohne es zu
wissen.
Wenden wir uns wieder der seligsten Jungfrau zu. Mein Herr, sagte
sie, sie haben keinen Wein. Als der Heiland das hörte, sagte er zu ihr:
Frau, was hast du mit mir zu tun? Meine Stunde ist noch nicht gekom-
men. Diese Antwort erscheint auf den ersten Blick recht schroff. Ei-
nen solchen Sohn zu einer solchen Mutter so sprechen zu hören, das
hat den Anschein, daß ein so freundlicher und gütiger Sohn eine Bitte
abschlägt, die mit solcher Ehrfurcht und Demut ausgesprochen wur-
de. Welche Worte sind das zwischen dem Sohn und der Mutter, zwi-
schen den zwei am meisten liebenden und liebenswürdigen Herzen,
die es je gab! Was hast du mit mir zu schaffen, Frau? Ach, Herr, was hat
das Geschöpf mit dem Schöpfer zu tun, von dem es das Sein und das
Leben erhält? Was hat die Mutter mit ihrem Sohn zu tun, was hat der
Sohn mit der Mutter zu schaffen, von der er den Leib erhalten hat, d. h.
die menschliche Natur, Fleisch und Blut? Diese Worte scheinen recht
befremdend zu sein, und in der Tat wurden sie von Unwissenden falsch
verstanden, die sie erklären wollten, und führten zu drei oder vier
Irrlehren. Gott, wer wollte aber so kühn sein, hier die Spitze seines
Geistes ansetzen zu wollen, so scharf und spitzfindig er sein mag, um
deren wahren Sinn zu erkennen, ohne dafür das Licht von oben emp-
fangen zu haben? Diese Antwort war ganz liebevoll, und die heilige
Jungfrau, die sie richtig verstand, fühlte sich dadurch als die am meis-
ten geehrte Mutter, die es gab. Das wird daraus sichtbar, daß ihr Herz
nach dieser Antwort ganz von heiligem Vertrauen erfüllt blieb und sie
zu den Dienern sagte: Ihr habt gehört, was mein Sohn mir geantwortet
hat. Ihr versteht die Sprache der Liebe nicht, deshalb könnten euch
Zweifel kommen, daß er mich abgewiesen habe. O nein, habt keine
Angst, tut nur, was er euch sagen wird, und macht euch um nichts
Sorgen, denn er wird gewiß nach eurem Bedarf Abhilfe schaffen.
Unter den Theologen gibt es sehr verschiedene Meinungen über die-
se Worte Unseres Herrn: Frau, was hast du mit mir zu schaffen? Einige
sagen, er wollte ausdrücken: was haben wir beide, du und ich, damit zu

384
tun, uns da einzumischen? Wir sind nur Gäste, wir brauchen also nicht
für das zu sorgen, was fehlt; und mehrere ähnliche Auslegungen. Aber
bleiben wir fest bei dem, woran die Mehrzahl der Kirchenväter fest-
hält, daß nämlich der Erlöser seiner heiligen Mutter antwortete: Was
habe ich mit dir zu schaffen? Damit habe er jene belehren wollen, die
in irgendein kirchliches Benefizium, eine Prälatur oder andere Wür-
de dieser Art eingesetzt sind, daß sie sich dieser Ämter nicht bedienen
dürfen, um die Verwandten dem Fleisch und Blut nach zu beschenken
oder zu ihren Gunsten irgendetwas zu tun, was nur im geringsten dem
Gesetz Gottes widerspricht. Denn sie dürfen sich nie so weit verges-
sen, daß sie sich bei solcher Gelegenheit von der Rechtschaffenheit
entfernen, mit der sie ihr Amt auszuüben verpflichtet sind. Da nun
unser göttlicher Meister der Welt diese Lehre geben wollte, bediente
er sich des Herzens der seligsten Jungfrau. Dabei gab er ihr gewiß
große Beweise seiner Liebe, als ob er sagte: Meine liebste Mutter,
wenn ich dir antworte: Was hast du mit mir zu schaffen?, will ich kei-
neswegs die Bitte abschlagen; denn was könnte ein solcher Sohn die-
ser Mutter abschlagen, der am meisten geliebten und am meisten lie-
benden, die es je gab? Aber da du mich vollkommen liebst, liebe auch
ich dich überaus, und diese Liebe, die ich zu dir hege, und die Liebe,
von der ich weiß, daß du sie gegen mich hegst, ließ mich auf die Festig-
keit deines Herzens setzen, um der Welt diese Lehre zu erteilen. Ich
war ja ganz sicher, daß dieses überaus liebevolle Herz sich darüber
nicht aufregen wird. Obwohl scheinbar etwas schroff, ist sie es nicht
für dich, die die Sprache der Liebe versteht, die sich nicht nur durch
Worte ausdrückt, sondern auch durch die Augen, durch Gebärden und
Handlungen. Was die Augen betrifft, sind die Tränen, die aus ihnen
quellen, Beweise der Liebe. So gab der Psalmist Zeugnisse seiner Lie-
be, als er vor Gott eine Überfülle von Tränen vergoß (Ps 6,7; 39,13;
42,4).
Die Braut im Hohelied (1,12) sagte: Mein Geliebter ist für mich ein
Myrrhenstrauß; ich will ihn nehmen und zwischen meine Brüste legen,
d. h. mitten in meine Gefühle. Wenn ein Tropfen dieser Myrrhe herab-
träufelt, wird er mein Herz stärken und kräftigen. So nahm auch die
Gottliebende, die seligste Jungfrau, die Worte Unseres Herrn wie ei-
nen Myrrhenstrauß an und legte sie auf ihre Brust, mitten in ihre Liebe.
Sie nahm den Tropfen auf, der dieser Myrrhe entquoll, der ihr Herz so
kräftigte, daß sie bei seiner Antwort, die anderen als eine Zurückwei-
sung erschien, ohne Zweifel glaubte, daß der Heiland ihr gewährt hat,
worum sie ihn gebeten hatte. Deshalb sagte sie zu den Dienern: Tut
alles, was er euch sagen wird.

385
Was die Worte betrifft: Meine Stunde ist noch nicht gekommen, mein-
ten manche, Unser Herr habe gedacht, der Wein sei noch nicht ausge-
gangen. Es gibt mehrere andere Erklärungen und Meinungen der hei-
ligen Väter über diesen Gegenstand, aber ich will mich dabei nicht
aufhalten. Es ist wahr, daß es für die göttliche Vorsehung bestimmte
Stunden gibt, von denen all unser Gut und unsere Bekehrung abhän-
gen. Es ist auch wahr, daß Gott von aller Ewigkeit die Stunde und den
Augenblick bestimmt hat, zwei große Wunder zu wirken: das der
Menschwerdung und dieses, um der Welt das erste Zeichen zur Offen-
barung seiner Herrlichkeit zu geben. Das geschah aber im allgemeinen
und nicht in der Weise, daß er diese Stunde nicht früher eintreten
lassen könnte, wenn er darum gebeten wurde. Um mich besser ver-
ständlich zu machen, will ich ein Beispiel anführen. Seht Rebekka
und Isaak, die beide Kinder wünschten; doch unglücklicherweise war
Rebekka unfruchtbar und konnte natürlicherweise keine Kinder ha-
ben. Gleichwohl hatte Gott von Ewigkeit vorhergesehen, daß Rebek-
ka empfangen und Kinder haben werde, aber unter der Bedingung, daß
sie diese durch ihre Gebete erlangte. Hätte sie nicht mit ihrem Mann
Isaak darum gebetet, hätte sie keine bekommen. Da sie sah, daß sie
wegen ihrer Unfruchtbarkeit keine Kinder bekommen konnte, schloß
sie sich mit ihrem Mann in ein Zimmer ein und sie beteten so instän-
dig, daß Gott sie hörte und sie erhörte. Rebekka wurde guter Hoff-
nung mit den Zwillingen Esau und Jakob (Gen 25,21). Wie die Kir-
chenväter sagten, beschleunigten auf diese Weise auch die Liebesseufzer
Unserer lieben Frau die Menschwerdung Unseres Herrn. Nicht daß er
deswegen vor der Zeit, die er bestimmt hatte, Mensch wurde; nein,
aber er hatte von Ewigkeit vorhergesehen, daß die heilige Jungfrau ihn
beschwören werde, den Augenblick seiner Ankunft in der Welt zu
beschleunigen, daß er sie erhöre und früher Mensch werde, als er getan
hätte, wenn sie ihn nicht gebeten hätte.
Ebenso ist es mit dem ersten Wunder, das Unser Herr heute bei der
Hochzeit zu Kana in Galiläa gewirkt hat. Meine Stunde ist noch nicht
gekommen, sagte er zu seiner heiligen Mutter, aber weil ich dir nichts
abschlagen kann, werde ich diese Stunde beschleunigen und tun, wor-
um du mich bittest. Er hatte also von aller Ewigkeit vorausgesehen,
daß er es den Gebeten Unserer lieben Frau zuliebe früher wirken
werde. Wie glücklich ist die Stunde, zu der Gott uns so viel Gnade
und Gutes mitteilen wollte! Wie glücklich ist die Seele, die in Ge-
duld warten und sich vorbereiten wird, ihr treu zu entsprechen, wenn
sie eintrifft! Es war gewiß die Stunde der göttlichen Vorsehung, in
der sich die Samariterin bekehrte. Von dieser Stunde hängt auch

386
unsere Bekehrung und Änderung ab, und man muß große Sorgfalt
darauf verwenden, sich gut dafür zur disponieren, damit wir, wenn
Unser Herr kommt, bereit sein können, seiner Gnade recht zu ent-
sprechen.
Der Heiland befahl den Dienern, sechs Steinkrüge zu füllen, die für
die Reinigung der Juden dienten. Sie wuschen sich ja, sobald sie etwas
berührt hatten, was das Gesetz verbot. Sie machten ja viele äußere
Zeremonien, in denen sie sehr genau waren, aber sie kümmerten sich
kaum darum, ihr Inneres zu reinigen (Mt 23,25f; Mk 7,3-6). Ich habe
in Paris im Haus der Zisterzienser einen dieser Krüge gesehen; sie
sind sehr groß und tragen eine hebräische Aufschrift, aber ich habe sie
nicht gelesen, weil ich sie nur von ferne gesehen habe. Die Diener
waren sehr sorgsam bedacht zu tun, was ihnen die heilige Jungfrau
aufgetragen hatte, denn sobald die den Befehl erhielten, füllten sie die
Krüge so voll, daß das Wasser bis ganz oben stand. Da sprach Unser
Herr innerlich das Wort, das niemand hörte, und sogleich wurde all
dieses Wasser in sehr guten Wein verwandelt. Dieses Wort glich ohne
Zweifel jenem, durch das er alle Dinge aus nichts erschaffen hat, dem
Menschen Leben und Sein gab, durch das er auch beim letzten Abend-
mahl, das er mit seinen Jüngern hielt, im heiligen Sakrament der Eu-
charistie den Wein in sein Blut verwandelte. Ein ganz hervorragender
Wein ist das, durch den wir genährt werden, denn durch den Empfang
des Leibes und Blutes des Erlösers werden uns die Verdienste seines
Leidens und Todes zugewendet.
Könige und Fürsten haben gewöhnlich stets ein Pulver aus dem Horn
des Einhorns bei sich, das geeignet ist, vor Gift zu schützen; und wenn
sie irgendein Unwohlsein befällt, nehmen sie von diesem Pulver in
Wein, um sich davor zu schützen. Der menschliche Geist ist sonder-
bar! Einige streiten, ob es Einhörner gibt und ob der Staub dieser
Hörner diese Kraft besitzt oder nicht. Es ist nicht unsere Sache, den
Gründen für diesen Streit nachzugehen; aber halten wir uns jetzt an
jene, die sagen, daß es Einhörner gibt und daß ihr Pulver die Eigen-
schaft hat, das Gift zu entfernen. Von diesem Pulver können alle eben-
so haben wie die Fürsten; diese haben den anderen gegenüber den
Vorteil, daß man ihnen Becher aus diesem Horn macht und sie in
ihnen das Pulver des Einhorns nehmen. Das kostbare Blut Unseres
Herrn gleicht dem Einhorn; es vertreibt das Gift der Sünde, die unsere
Seele vergiftet. Durch das Sakrament der Eucharistie wird uns ja die
Frucht der Erlösung zugewendet, wie wir gesagt haben. Dieses Sakra-
ment wurde versinnbildet durch die Wunder, die im Alten Bund ge-

387
schahen. Mose hatte einen Stab, mit dem er wunderbare und erstaunli-
che Dinge vollbrachte; er verwandelte sich in eine Schlange und Nat-
ter, und als Mose es dann wollte, wieder in seine ursprüngliche Gestalt
(Ex 4,2-4). Mit ihm ließ er Wasser aus dem Felsen entspringen (17,5f);
er verwandelte das Wasser in Blut (7,19f); kurz, er wirkte Wunder-
zeichen, die Vorbilder derjenigen waren, die im Bund der Gnade sich
ereignen sollten (vgl. 1 Kor 10,4.11).
Bevor wir schließen, sagen wir: Nachdem Unsere liebe Frau so gro-
ßen Einfluß hat, müssen wir uns an sie wenden, damit sie ihrem Sohn
unsere Nöte vortrage. Wir müssen sie zu unserem Fest einladen, denn
wo der Sohn und die Mutter sind, geht der Wein nicht aus; sie wird ja
unfehlbar sagen: Mein Sohn, diese meine Tochter hat keinen Wein.
Aber welchen Wein begehrt ihr, meine Lieben? O gewiß keinen ande-
ren als den der Tröstungen; der ist es, den wir wollen, keinen anderen.
Ich will euch das durch ein einfaches Beispiel begreiflich machen. Da
ist eine gute Frau, die einen kranken Sohn hat. O Gott, man muß
Himmel und Erde bemühen, denn er ist das einzige Kind, er ist die
Frucht meines Schoßes, auf ihn habe ich all meine Hoffnung gesetzt.
Wenn die menschlichen Mittel nichts mehr vermögen, nimmt man
seine Zuflucht zu Gelübden, die man den Heiligen macht. Das ist gut;
es ist recht, die Heiligen anzurufen; aber meine Tochter, warum be-
gehrst du die Gesundheit dieses Sohnes so sehr? Was wirst du tun,
wenn es ihm gut geht? Ich werde ihn auf den Altar meines Herzens
stellen und ihm Weihrauch streuen. Seht nun, wenn die seligste Jung-
frau um Wein gebeten hätte, damit jene, die bei der Hochzeit waren,
sich betrinken, dann hätte Unser Herr diese Verwandlung des Wassers
in Wein ohne Zweifel nicht gewirkt.
Wenn wir wollen, daß Unsere liebe Frau ihren Sohn bittet, das Was-
ser der Lauheit in den Wein der Liebe zu ihm zu verwandeln, müssen
wir alles tun, was er uns sagen wird; das ist hier sehr wichtig. Die Die-
ner waren also sehr beflissen, alles auszuführen, was er ihnen auftrug,
wie unsere himmlische Frau ihnen geraten hatte. Machen wir gut, was
der Heiland uns sagen wird; erfüllen wir unser Herz recht mit Buße,
und dieses laue Wasser wird in den Wein glühender Liebe verwandelt
werden. Tut sorgsam, was ihr heute zu tun habt, morgen wird man euch
etwas anderes auftragen. Wollen wir ein langes und glühendes Gebet?
Beschäftigen wir uns während des Tages mit guten Gedanken, machen
wir häufig Stoßgebete. Wollt ihr im Gebet gesammelt sein? Verhaltet
euch außerhalb des Gebetes, als ob ihr im Gebet seid; vergeudet die
Zeit nicht mit unnützen Gedanken, weder über euch noch darüber,

388
was um euch geschieht. Gebt euch nicht mit Albernheiten ab. Ihr möch-
tet irgendeine Erleuchtung des Glaubens haben, um das Geheimnis
der Menschwerdung zu begreifen; befaßt euch tagsüber mit frommen
Gedanken über die grenzenlose Güte Gottes. Kurz, meine lieben
Schwestern, übt das gut, was man euch bisher gelehrt hat, und vertraut
auf die Vorsehung Gottes, denn er wird nicht versäumen, euch zu ver-
schaffen, was ihr braucht (Ps 55,23; 1 Petr 5,7). Preist ihn in diesem
Leben, und ihr werdet ihn mit allen Seligen des Himmels verherrli-
chen. Dahin mögen uns führen der Vater, der Sohn und der Heilige
Geist. Amen.

Zum Fest des hl. Augustinus

Nr. 49: 28. August 1621 X, 99-115

Nicht in Schwelgereien ... (Röm 13,13f).

Das sind die Worte, deren sich die göttliche Vorsehung bediente, um
den glorreichen hl. Augustinus vollständig zu bekehren. Der bedau-
ernswerte junge Mann erlebte harte Kämpfe in seinem Herzen, zumal
er alle Gaben der Natur und der Gnade, die ihm der Herr freigebig
geschenkt hatte, elend mißbrauchte. Unter anderem war er mit einem
großen Geist begabt, mit einem guten Urteil in Verbindung mit einem
erfreulichen Gedächtnis. Er gebrauchte sie aber, um sich gegen Gott
zu verschließen, wie er selbst berichtet, wenn er sagt: Ich gebrauchte
meinen menschlichen Geist, um dem göttlichen zu widerstehen. Ob-
wohl er einen guten Charakter hatte, hat er ihn dennoch ganz verdor-
ben durch schlechte Gewohnheiten; er lebte in jeder Art von Freizü-
gigkeit, wälzte sich in schamlosen Vergnügungen und war so in seine
lasterhaften Gewohnheiten verstrickt, daß er die Bande seiner Sünd-
haftigkeit mit einer eisernen Kette verglich. Er glaubte, sie in keiner
Weise zerbrechen und sich aus ihnen befreien zu können.
Da er sich nun von der Last seiner Sünden ganz niedergedrückt fühl-
te, andererseits eine starke göttliche Einsprechung, die ihm naheging,
zog er sich ganz beunruhigt unter einen Feigenbaum zurück. Bedrängt
von dem harten Kampf, der zwischen seinem inneren und äußeren
Menschen entbrannt war, begann er hier wie ein zweiter hl. Paulus
seinen Schmerz mit den Worten eben dieses Apostels (Röm 7,24)
auszudrücken: Wer wird mich von diesem Todesleib befreien und mich
von dem unvergleichlichen Kampf erlösen, den ich in den beiden Tei-

389
len meiner Seele erfahre? Wer wird mich befreien von diesem Fleisch,
das wider den Geist streitet? Ach, Herr, sagte er (denn das sind seine
eigenen Worte, die er selbst in seinem Buch der „Bekenntnisse“ be-
richtet), wie lange, wie lange noch willst du über mich erzürnt sein?
Wie lange willst du meiner Sünden gedenken? Ihr Himmel, wie lange
wollt ihr mir zürnen? Wie lange wird diese große Trennung zwischen
euch und mir bestehen und wann werdet ihr euch mit meiner Seele
aussöhnen? Auf dem Höhepunkt seiner Klagen hörte er hinter der
Mauer, an der er sich befand, die Worte singen: „Nimm und lies. Nimm
und lies.“ Als er hinhorchte, um besser zu verstehen, vernahm er noch
einmal: „Nimm und lies.“ Er dachte bei sich, ob das nicht eine Grup-
pe von Mädchen sei, die diesen Gesang wiederholte, und suchte sich
zu erinnern, ob nicht gerade einer im Umlauf sei, in dem sich diese
Worte finden: „Nimm und lies.“ Wie ihr wißt, und wenn ihr es nicht
wißt, werdet ihr es erfahren, sind in allen Städten beim gewöhnlichen
niederen Volk stets irgendwelche Lieder im Umlauf, die man eher
mißachten als anhören sollte. Ein solches glaubte der hl. Augustinus
zu hören.
Während er nun diese häufige Wiederholung hörte, griff er nach
dem Buch der Briefe des hl. Paulus, das vor ihm lag, öffnete es ohne
irgendeinen Gedanken und ohne darauf zu achten, was er tat, und las
die Worte, die ich zu meinem Thema gewählt habe: Nicht in Schwelge-
reien usw. Meine Kinder, sagt der Apostelfürst im Brief an die Römer,
erhebt euch, gebt eure Ausschweifungen auf, eure Spiele und Gelage,
die Trunksucht und Gefräßigkeit, verlaßt das Lager eurer fleischlichen
Lüste, legt die Kleider eurer Gewohnheiten ab, und ihr werdet die
Kleider und Gewohnheiten Jesu Christi anziehen. Ihr Kinder des Lich-
tes (Joh 12,36; Eph 5,8; 1 Thess 5,5), legt eure Kleider der Nacht ab,
hütet euch, mit ihnen im Licht zu erscheinen. Über diese Worte werde
ich also drei kleine Erwägungen anstellen. Dabei werden wir, aller-
dings knapp und recht kurz, das ganze Leben des hl. Augustinus be-
trachten, eingeteilt in drei Abschnitte: im ersten seine Ausschweifun-
gen und seine Reinigung nach den Worten: Verlaßt das Lager eurer
fleischlichen Lüste; im zweiten werden wir sehen, wie er die Kleider
und Gewohnheiten Jesu Christi anzog; im dritten, wie er nicht mehr in
Kleidern der Nacht im Licht erschien.
Um auf den ersten Punkt einzugehen: ihr wißt sicher alle, daß die
Menschen auf dreierlei Weise zur Heiligkeit gelangt sind, d. h. daß sie
in verschiedenem Alter und auf verschiedene Art Heilige wurden. Bei
den einen gab es nichts als Heiliges, Sanftes und Wohlgefälliges. Sie
begannen sehr eifrig, machten Fortschritte und fanden ein kostbares

390
Ende. Alles war bei ihnen gut, die Blätter, die Blüten und die Früchte:
ihre Kindheit, ihre Jugend und ihr weiteres Leben. Wie viele heilige
Männer und Frauen haben sich seit ihrer Kindheit dem Dienst Gottes
gewidmet und geweiht, die standhaft bis ans Ende ausharrten und sehr
köstliche Früchte trugen. Unter ihnen ist der hl. Johannes der Täufer,
dessen Enthauptung wir morgen feiern werden. Er war überaus be-
wundernswert in seinem ganzen Leben; an ihm gab es nichts, was nicht
hervorragend war. Das gleiche könnt ihr von einer guten Zahl von
Heiligen annehmen.
Wir sehen manche Pflanzen, bei denen alles zu irgendetwas zu ge-
brauchen ist: die Blätter, die Blüten und die Früchte. Um mich kurz
zu fassen, will ich nur von einer sprechen. Betrachtet den Weinstock.
Seine Blüten sind nicht nur schön anzusehen, sie sind auch geeignet
als Mittel gegen das Gift der Schlange; seine Frucht dient auch, solan-
ge sie noch nicht reif ist, zum Gebrauch des Menschen (denn aus ihr
bereitet man einen Saft, der für die Gesundheit sehr nützlich ist). Sie
wächst aber stets weiter, bis sie ihre Reife erreicht hat; dann liefert sie
uns einen sehr bekömmlichen und köstlichen Wein. Es gibt andere
Pflanzen, die wahrhaft gute und liebliche Früchte tragen, die aber kei-
ne Blüten haben. Von dieser Art sind die Feigenbäume. Ihr Stamm ist
rauh und hat nichts Angenehmes; ihre unreifen Früchte sind gewiß
sehr herb; sie haben keinen Geschmack, schmecken im Gegenteil fad.
Sind sie aber reif, so gibt es nichts so Süßes und Liebliches wie die
Feige, die um so angenehmer im Geschmack ist, als sie am Anfang
unschmackhaft war. Von dieser zweiten Art sind die Heiligen, zu de-
nen der hl. Augustinus gehörte. So ist es nicht ohne geheimnisvolle
Bedeutung, daß er sich ausgerechnet im Schatten eines Feigenbaumes
bekehrte. Das sollte zeigen, daß die Früchte seines reifen Lebens, ob-
wohl sein Anfang roh und schlecht war, doch sehr kostbar wurden.
Da sitzt er unter dem Feigenbaum und liest die Briefe des hl. Paulus.
Sie scheinen seinem Herzen zu sagen: Augustinus, du stehst schon im
33. Jahr deines Lebens; wie lange willst du noch auf dem Lager deiner
Sinnlichkeit und Wollust liegenbleiben? Verlaß es, gib diese Spiele
auf, die Trinkgelage und Schmausereien, Streit und Mißgunst. Seht ihr,
wie der Heilige Geist die Lanzette vor allem in die Eiterbeule seines
Herzens stößt, die Quelle und den Ursprung seiner ganzen Krank-
heit? Es ist ja wahr, wie der hl. Augustinus selbst berichtet, daß er der
abscheulichen Sünde des Fleisches sehr ergeben war. Es schien ihm
unmöglich, sich dieser sinnlichen und unerlaubten Freuden zu enthal-
ten, der Hauptursache seines Widerstandes gegen den Geist Gottes,

391
daß er sich nicht entschließen konnte, die Wollust aufzugeben und
sich aus ihren Banden zu befreien.
Er war auch sehr streitsüchtig. Als er nämlich den heftigen Streit
zwischen dem Fleisch und dem Geist fühlte, stritt er gegen den Geist
Gottes und leistete ihm Widerstand. Er zeigte sich aber nicht nur da-
rin streitsüchtig, sondern auch in den Disputationen, die er führte. Er
trat allen Thesen entgegen und widerlegte sie mit soviel Spitzfindig-
keit und Beredsamkeit, daß er von allen gefürchtet war. In der Art des
Häretikers, der er ja war, legte er es darauf an, jene, die die Wahrheit
verteidigten, so zu verblüffen, daß der Schein mehr für die Irrtümer
seiner Sekte sprach als für den Sinn der Heiligen Schrift, die eine
einfachere Sprache führt als die der Manichäer. Er stritt auch mit al-
len, mit denen er verkehrte, denn da er mit einem großen und schönen
Geist begabt war, wollte er keinem nachgeben, sondern immer die
Oberhand haben. Obwohl nun sein Geist nicht nur schön war, son-
dern auch tüchtig und mit einem ausgezeichneten Charakter verbun-
den, hatte er auf ihn ein sehr übles Kraut gepflanzt, nämlich die Eitel-
keit und das Streben nach eigenem Ruhm. Das machte ihn hochmütig,
unverträglich, mißgünstig, streitsüchtig und so in seine Vorzüge ver-
narrt, daß er darin Philipp und Alexander übertraf, von denen die
Humanisten so viel sprechen, die sie als gleich an eitlem Ruhm schil-
dern. Sie waren beide stolz, wenn auch mit dem Unterschied, daß Ale-
xander Lob nur für Dinge von großem Wert in sich annehmen wollte,
während er es nicht anstrebte für geringe Taten, die er vollbrachte,
oder für Eigenschaften, die er besaß. Philipp dagegen gewann seinen
Ruhm nur aus geringen und kleinen Taten, z. B. daß er gut Laute spie-
len konnte, und ähnliche Bagatellen.
Der hl. Augustinus besaß wahrhaftig einen edlen Mut wie ein zwei-
ter Alexander, der den Ruhm in großen und erhabenen Taten suchte,
aber er zog ihn auch aus kleinen wie Philipp; ja er ging noch weiter
und gewann ihn auch aus Dingen, die in sich schlecht waren, sogar aus
der Lüge, wie er im Buch seiner „Bekenntnisse“ berichtet. Er sagt in
der Tat, daß er sich vor seinen Kameraden und den jungen Freigeistern
der schlechtesten, niedrigsten und unverschämtesten Taten rühmte,
weil er sich schämte, nicht die gleichen Unverschämtheiten und Bös-
artigkeiten verübt zu haben, deren die anderen sich rühmten; er schäm-
te sich, daß er sich schämte, nicht als so lasterhaft wie sie zu gelten. Er
behauptete, auffallende Schlechtigkeiten begangen zu haben, deren er
nicht schuldig war, um sich ihrer zu rühmen, um wegen dieser Aus-
schweifungen für einen mutigen, tapferen Mann und für großzügig ge-
halten zu werden.

392
Beachtet ein wenig das Elend des menschlichen Geistes, zu wel-
chen Extremen die schrankenlose Jugend kommt und womit sich
Gruppen von Schülern befassen, die ohne Furcht und Zucht leben.
Das sieht man, wenn diese jungen Narren sich im Winter zusammen-
rotten und unter tausend Possen lärmend durch die Straßen ziehen.
Bei ihnen gilt der als der Tüchtigste, der am besten den Narren und
Kauz spielt. Auf solche Taten gründen sie ihren Ruhm. Das gleiche
tat der hl. Augustinus. Er gewann ihn aber auch aus seinen Dieberei-
en. Als er noch klein war, schreibt er, habe er geprahlt und sich ge-
rühmt, daß er die Früchte aus dem Garten der Nachbarn gestohlen
habe, und er habe sich um so mehr gefühlt, je listiger und geheimer
der Diebstahl geschah, auch wenn er geringfügig war. Wenn er er-
zählt, was er getan hatte, ließ er die Schliche und Erfindungen seines
Geistes glänzen.
Ich habe nicht bemerkt, daß man ihn beschuldigte, trunksüchtig und
ein Schlemmer zu sein; wenigstens erinnere ich mich nicht gut daran.
Indessen lassen uns die Worte des hl. Paulus, die er beim Öffnen sei-
nes Buches fand, die ihm vom Heiligen Geist geschickt wurden, an-
nehmen, daß er auch mit diesem Laster behaftet war. Entfernt euch
von eurer Trunksucht und Schwelgerei, sagt der Apostelfürst. Es gibt
noch zwei weitere Gründe, die uns zur Annahme veranlassen könnten,
daß er von ihr befallen war und sich ihrer rühmte. Der erste ist der
Anteil seiner Mutter, der hl. Monika. Sie hatte diesen Fehler und hätte
sich wohl häufig betrunken, wenn nicht eine gute Frau sie geändert
hätte, die ihre Erzieherin in der Jugend war. Nun ist es durchaus glaub-
haft, daß ihr Sohn diese Anlage und diese Neigung mit seiner Mutter
teilte, genauso wie wir alle nur zu sehr teilhaben an dieser uns so nahe-
liegenden Natur. Wie viele gibt es doch, die sich dieses Lasters rüh-
men! Der zweite Grund aber ist der wahrscheinlichste. Augustinus
war der Fleischeslust ergeben, folglich auch der Trunksucht und
Schwelgerei, denn die beiden Sünden kommen kaum je eine ohne die
andere vor. Wer sich der einen ergibt, kann sich schwerlich davor be-
wahren, in die andere zu versinken. Deshalb lesen wir in der Heiligen
Schrift, daß man alle, die wegen der ersten bestraft wurden, auch der
zweiten beschuldigte. Das war also im frühen Lebensabschnitt des hl.
Augustinus, der gewiß bedauerlich und bemitleidenswert war; es ist
zum Erbarmen, was er darüber in seinen „Bekenntnissen“ berichtet.
Der Heilige Geist aber regt ihn zur Reinigung an, um eine vollstän-
dige Bekehrung zu bewirken. Nachdem er ihn bewogen hat, sich von
seiner Sünde loszusagen, lädt er ihn nicht nur ein, seine Kleider abzu-
legen, sondern sich auch mit den Kleidern und Haltungen Jesu Christi

393
zu bekleiden. Was heißt, seine Kleider ablegen, um Jesus Christus an-
zuziehen? Legt eure Gewohnheiten ab, sagt der Apostel (Röm 13,12;
Eph 4,22-24; Kol 3,9f), mit denen ihr bekleidet seid. Die Kleider be-
decken ja den Leib von allen Seiten, der in sie gehüllt ist; die Gewohn-
heiten tun dasselbe beim Herzen wie die Kleider beim Leib. Legt die
Schwelgerei ab und zieht die Mäßigkeit an, indem ihr nüchtern wer-
det. Gebt die Sinnlichkeit auf, verlaßt das Lager der Lust, bekleidet
euch mit der Keuschheit und betet ohne Unterlaß (Eph 6,18; 1 Thess
5,17). Legt ab die Streitigkeiten, Neid und Zorn, und bekleidet euch
mit Güte und Sanftmut (Kol 3,12). Durch die unseren Lastern entge-
gengesetzten Tugenden werden wir die Gewohnheiten des Menschen
und die Unseres Herrn erkennen, jene, die wir ablegen müssen, und
jene, die wir annehmen, mit denen wir uns umgeben müssen. Wir wer-
den über jede ein Wort sagen, wenn auch knapp und kurz, denn ich
werde sie nur streifen und werde es euch überlassen, sie jeder nach
Maß für sich zu kauen und zu verdauen.
Seid nüchtern, sagt der Apostel (1 Tim 3,2f.8.11; Tit 1,7f; 1 Petr
5,8), indem ihr streng werdet. Er setzt die Strenge als Hüterin der
Nüchternheit ein, denn es ist sehr schwierig, mitten in Schlemmerei
und Überfluß mäßig zu sein. Die Mäßigkeit ist genau genommen an
sich die Enthaltsamkeit vom Übermaß im Trinken und Essen; im geist-
lichen Sinn aber bedeutet Mäßigkeit Armut; das ist das Wort, das man
dafür verwenden muß. Darin hat sich der hl. Augustinus ganz beson-
ders geübt und hat es auch seinen Kindern sehr empfohlen. Er hat sich
vor allem bemüht, sie ihrem Geist einzuprägen. Es ist bewunderns-
wert, wie er darüber mit sehr deutlichen Ausdrücken in seiner Regel
spricht. Darin verbietet er, daß einer, unter welchem Vorwand immer,
etwas als Eigentum besitzen dürfe. Um also ein wahres Kind des hl.
Augustinus zu sein, muß man eine große Liebe zur Armut haben.
Ihr wißt alle, wie er sie liebte, denn er wollte keinerlei Reichtum. Er
übte einen edlen Beruf aus, stammte aus vornehmem Haus; mit der
Größe seines Geistes und mit seiner einzigartigen Beredsamkeit hätte
er viele Ehren und Güter erwerben können, da die Beredsamkeit da-
mals sehr geschätzt und begehrt war. Er verzichtete trotzdem auf all
das, gab es auf und zog sich in eine ländliche Wohnung zurück, wo er
in äußerster Armut lebte. Hier gründete er seine beiden Orden. Die
einen schickte er in die Wüste, damit sie dort leichter die Armut üben
konnten. Dann gründete er an der Bischofskirche, die ihm zugefallen
war, eine Gemeinschaft von Priestern oder Regularklerikern, denen
er seine Regel gab. Unter diese Regel haben sich seither mehrere Or-

394
den gestellt, denn sie ist so mild und sanft, daß sie für Menschen jeder
Verfassung geeignet ist; dafür hat sie der Heilige verfaßt. Er hat aber
den einen wie den anderen seiner geistlichen Kinder nachdrücklich
die Armut gepredigt und wollte nicht einmal, daß sie die Bücher, die
sie studierten, als Eigentum betrachteten, sondern ordnete an, daß man
sie im Gehorsam erbat und sie dem zurückgab, der sie verwaltete.
Für sich liebte er diese Tugend so sehr, daß er es nach seiner Bekeh-
rung ablehnte, ein sehr reiches Mädchen zu heiraten, das man für ihn
ausersehen hatte. Als er Priester und Bischof geworden war, übte er
die Armut in einer Weise, daß er nichts für sich behielt, all seinen
Wein und sein Korn den Armen gab. Er ging so weit, daß er die Wand-
teppiche und den Schmuck der Kirche verkaufte, um ihrer Not abzu-
helfen. Das tat er auf eine besondere Eingebung Gottes, denn außer im
Notfall ist es nicht erlaubt, den Altar zu entblößen, um die Bedürfti-
gen zu ernähren. Als er nichts mehr hatte, um es ihnen zu geben, wand-
te er sich an sein Volk und sagte ihm mit ganz bewundernswerter
Schlichtheit, Einfalt und Offenherzigkeit: Mein sehr geliebtes Volk,
ich habe nichts mehr, um dem Elend der Armen abzuhelfen; ich habe
alles hergegeben, was ich besaß, ich habe dazu sogar den Schmuck der
Kirche verkauft. Nun bitte ich euch, ihnen nach eurem Vermögen zu
helfen; teilt ihnen freigebig mit eigenen Händen aus oder bringt mir
die Almosen, die ihr ihnen zuwenden wollt; ich werde sie ihnen aus-
teilen. Das taten die guten Leute, denn es schien ihnen, ihre Liebesga-
ben wären nicht gut, wenn sie nicht durch die Hände dieses heiligen
und würdigen Prälaten gingen. Beachtet doch die Einfalt und Schlicht-
heit seiner Worte, das große Vertrauen und den Freimut, mit denen er
zu seiner Herde sprach, und die Hochachtung, die diese für ihn hegte.
Gewiß, um so vorzugehen, mußte sie zwischen dem Herzen eines Va-
ters und dem Herzen von Kindern herrschen: dem Herzen des Vaters
im hl. Augustinus und dem Herzen der Kinder in seinen Untergebe-
nen. So also wahrte er die Mäßigkeit.
Ich will nicht von der Einfachheit seiner Tafel sprechen noch von
der Armut seiner Kleider, die stets aus gewöhnlichem Stoff waren.
Obwohl er sich angemessen kleidete, wie es sein bischöfliches Amt
erforderte, waren die übrigen Kleidungsstücke sehr ärmlich. Sowohl
im Essen wie in der Kleidung begnügte er sich mit dem zur Erhaltung
des menschlichen Lebens Notwendigen. Nach dem Beispiel des
Apostelfürsten (1 Tim 6,8) verlangte er auch nur Brot und Wasser für
seine Nahrung und ein Gewand, um seine Blöße zu bedecken, und
sagte mit dem gleichen Apostel (1 Tim 6,7), alles andere sei Überfluß.

395
Er starb in dieser Armut und machte kein Testament, denn er hatte
nichts als seinen Geist, um in den Himmel zu kommen, und seinen
Leib, um ihn auf Erden zu lassen. Seht, wie er sich mit der Armut
bekleidete, indem er die Mäßigkeit und Nüchternheit wahrte. Darüber
sollt ihr nachdenken, denn ich streife diese Erwägungen nur im Vor-
beigehen.
Das zweite, wovon der hl. Paulus spricht, ist dies: Zieht die Keusch-
heit an und betet. In diesem Punkt hat unser glorreicher Heiliger
sich ausgezeichnet. Er hat die Keuschheit mit solcher Sorgfalt be-
wahrt, er hat sie sosehr geschätzt und gepriesen, daß er darüber Bü-
cher verfaßt hat, die die Bewunderung jener verdienen, die sie lesen,
die sie zur Liebe dieser schönen Tugend anregen. Da er seine Un-
schuld nicht mehr besaß, war er um so eifersüchtiger darauf bedacht,
die Keuschheit zu bewahren, so daß er viele jungfräuliche Menschen
übertraf, genau wie die hl. Magdalena. So unkeusch sie zuvor war,
übertraf sie doch viele Jungfrauen in ihrer Unschuld, und es gibt
keine, die wegen ihrer Jungfräulichkeit so geehrt wurde wie die hl.
Magdalena wegen ihrer Keuschheit, abgesehen von der seligsten Jung-
frau, die über jeden Vergleich erhaben ist. Unser glorreicher Kir-
chenvater erschien also schöner in dieser Tugend, als wenn er sie
nicht entehrt hätte; er bewahrte sie auch mit unvergleichlicher Sorg-
falt und Achtsamkeit, indem er sich sehr gewissenhaft von allem fern-
hielt, was ihr widerspricht.
Die Keuschheit ist aber eine Gabe Gottes, die man nicht mit Brachi-
algewalt erwirbt und nicht durch Geschicklichkeit und Kunstgriffe
bewahrt. Die Gaben Gottes reißt man ja nicht mit seinen Händen durch
Anstrengung und Gewalt an sich; sie werden umsonst gegeben (Mt
10,8) und nach der Disposition des Herzens. Was muß man also tun,
um diese Gabe Gottes aus seinen Händen zu gewinnen und an sich zu
ziehen, da niemand keusch sein kann, wenn nicht der Herr ihm die
Gnade schenkt (Weish 8,21)? Betet, sagt der Apostel, d. h. bittet um
sie im Geist tiefer Demut, denn durch das Gebet werdet ihr sie erlan-
gen und bewahren, wenn ihr sie gewonnen habt. Ich weiß wohl, daß
Fasten, Bußgewand, Geißeln und Mäßigkeit (die nicht nur darin be-
steht, die Eßlust zu bezähmen, sondern auch auf ausgesuchte und sehr
nahrhafte Speisen zu verzichten, um sich mit dem Notwendigen zu
begnügen und sich einfacher und grober Speisen zu bedienen), ich
weiß wohl, sage ich, daß das alles gut ist, um die einer Seele eingeflöß-
te Keuschheit zu bewahren. Das wäre aber gewiß wenig, wenn es nicht
von demütigem Gebet begleitet ist, denn die Gaben Gottes sind an die
Demut gebunden. Auch der hl. Augustinus bediente sich des Gebetes,

396
um die Keuschheit zu bewahren, durch die er die Unschuld jungfräu-
licher Menschen übertraf. Gedrängt vom Geist Gottes, von der Liebe
und seiner Kenntnis ihrer Schönheit und Erhabenheit, verfaßte er
Bücher, wie wir gesagt haben, die für Jungfrauen und Witwen bestimmt
waren; sie reißen zur Bewunderung hin und führen alle, die sie lesen,
dazu, diese Tugend zu lieben.
Er war also bewundernswert keusch, weil er äußerst demütig war.
Die Demut ist die Tugend der Tugenden, weil sie die anderen Tugen-
den nach sich zieht und in der Seele bewahrt. Das machte dieser glor-
reiche Heilige deutlich, als er auf die Frage, welche Tugend die erste
sei, antwortete: die Demut. Und die zweite? Die Demut. Und die drit-
te? Die Demut. So hätte er immer geantwortet, wenn man weitergefragt
hätte. Damit wollte er sagen: Wenn diese Tugend auch klein ist dem
Anschein nach, ist sie doch die größte; ohne sie sind die übrigen Tu-
genden nichts. Wie Stolz und eitler Ruhm die Pflanzstätte aller Sün-
den und die Nährmutter aller Laster sind, so ist die Demut die Amme
aller Tugenden.
Der große Heilige gab in mehreren bemerkenswerten Dingen Pro-
ben seiner tiefen Demut, die nützlich und förderlich sein können an
dem Ort, wo ich mich befinde. Deshalb kann ich mir nicht versagen,
darüber zu sprechen. Ich will also den übrigen Teil meiner Predigt
fallen lassen und mich damit befassen. Jeder weiß, daß der hl.
Augustinus einer der größten Geister war, die es je gab, und daß er
außerdem mit einem bewundernswerten Wissen begabt war. Nun, ich
will nicht von den großen Männern sprechen, die im Alten Bund leb-
ten; ich spreche von denen im Neuen Bund; bei ihnen kann er zu den
ersten gezählt werden. Mir ist nicht unbekannt, daß in den Schulen die
einen sagen, Platon sei der größte Geist gewesen, andere sagen Cicero.
Gewiß, beide ragten unter den heidnischen Philosophen hervor, aber
dabei will ich mich nicht aufhalten. Außerdem will ich keinen Ver-
gleich anstellen, zwischen unserem glorreichen Kirchenvater und dem
heiligen Apostel Paulus; ihm war das Wissen auf eine ganz außerge-
wöhnliche Weise vom Himmel eingegossen. Aber abgesehen davon ist
allen bekannt, daß man den hl. Augustinus für den größten Geist unter
den Kirchenvätern des Altertums hält. Man zögert nicht, ihn Phönix
der Kirchenlehrer zu nennen.
Ihr habt gewiß gehört, daß sich die Demut selten zusammen mit dem
Wissen findet, das von selbst aufgeblasen macht (1 Kor 8,1), um so
weniger noch mit einem so großen Wissen wie dem des hl. Augustinus.
Bei ihm war es indessen mit einer so tiefen Demut verbunden, daß

397
man nicht weiß, ob er mehr Gelehrsamkeit als Demut besaß oder mehr
Demut als Gelehrsamkeit. Er besaß gewiß mehr Gelehrsamkeit als
jeder andere Kirchenlehrer, denn er war deren Phönix; seine Demut
war dennoch noch größer. Urteilt doch selbst. Sein Wissen hatte einen
Mangel: er beherrschte die griechische Sprache nicht. Obwohl sie sinn-
reicher ist als die lateinische, ist sie im Stil nicht so fein wie diese. Da
sich der hl. Augustinus mehr mit dem Stil als mit dem Sinn befaßte,
wollte er nicht Griechisch lernen, als er studierte. Nun verheimlichte
er das nicht, sondern bekannte es großzügig und freimütig. Er sagte,
daß er sich für den Geringsten von allen halte, weil er von der griechi-
schen Sprache nichts verstehe, die jedoch die sinnreichste von allen
sei.
O Gott, welche Demut und Aufrichtigkeit ist das! Er verstand davon
gewiß ein wenig, aber er hielt das für nichts, und es fiel ihm leicht, das
zuzugeben und zu bekennen, um seiner Liebe zur Erniedrigung Raum
zu geben. Hätte er nicht gestanden, daß er diese Sprache nicht be-
herrschte, wer hätte es vermutet, wenn er seine Disputionen hörte oder
seine Schriften voll von so tiefer Gelehrsamkeit las? Niemand, denn
jeder hätte geglaubt, daß sie ihm ebenso geläufig sei wie Latein. Seine
Demut war aber zu groß, um diesen Mangel zu verbergen; deshalb
wollte er ihn laut und freimütig bekennen. Sehen wir nun, ob unsere
Heiligkeit der dieses Heiligen gleicht. Gewiß nicht, denn heute wol-
len jene, die zwei oder drei Worte Griechisch kennen, keine andere
Sprache gebrauchen, und wie N. sehr treffend sagt, spucken unsere
Prediger sozusagen griechisch, so wenig sie davon auch verstehen.
Zweitens zeigte der hl. Augustinus große Demut darin, daß er sich
der Kritik seiner Schriften und seiner Lehre unterwarf; einer Kritik
nicht nur von jenen, die ihm überlegen oder ebenbürtig sein konnten,
was ein Kennzeichen sehr tiefer Demut ist, sondern auch von solchen,
die ihm an Wissen und Würde nachstanden. Damit zeigte er, daß er sie
in dieser Tugend weit überragte. Der hl. Hieronymus erteilt ihm eine
Zurechtweisung, die nicht gering und nicht schmeichelhaft für ihn ist,
aber würdig der großmütigen Herzensdemut des hl. Augustinus. Er
behandelt ihn, wie ein Meister und Lehrer seinen Lehrling und Schü-
ler behandelt. Er schneuzt ihm nicht mit einem leinenen, sondern mit
einem härenen und recht rauhen Schnupftuch. Was macht da unser
glorreicher Heiliger? Er nimmt den Tadel mit bewundernswerter Un-
terwerfung an. Und was sagt er dem hl. Hieronymus? Ich weiß wohl,
schreibt er ihm, daß der Priester geringer ist als der Bischof und daß
ich als Bischof mehr bin als du, der du nur ein einfacher Priester bist.

398
Das betrifft indes nur die Würde, die wir in der Kirche Gottes inneha-
ben; im übrigen weiß ich, Hieronymus, daß du mich überragst. Beach-
tet doch diese Demut. Deshalb unterwerfe ich mich, fährt er fort, und
nehme gern den Tadel und die Zurechtweisung an, die du mir erteilst,
und ich bekenne, daß du recht hast, sie mir zu geben.
Meine lieben Schwestern, beachtet die Einfalt, Aufrichtigkeit und
Demut der Worte dieses glorreichen Kirchenvaters. O Gott, heute
wollen wir keine Zurechtweisung. Es ist schon viel, wenn wir sie von
unseren Vorgesetzten ertragen; aber von Gleichgestellten kann man
sie nicht ertragen. Das Herz bläht sich auf und ist empört, denn der
Gleichgestellte hat keine Vollmacht, mich zurechtzuweisen. Was die
Untergebenen betrifft, davon will ich gar nicht sprechen: Hätte mir
das einer meiner Vorgesetzten gesagt, würden ich es noch hinnehmen,
aber von so einem kann ich es nicht ertragen, dem werde ich nicht die
Autorität über mich zugestehen. Dennoch liegt hier einer der wichtig-
sten Punkte der Demut und der christlichen Vollkommenheit. Wir
wollen wohl zugeben: Ich bin so und so; aber wir können es nicht
ertragen, daß man uns das sagt. Wir würden es vielleicht noch hinneh-
men von einem, der höher steht als wir, von anderen aber bestimmt
nicht!
Als Ijob auf seinem Misthaufen saß, ganz bedeckt mit Geschwüren,
glich er mehr einer Mißgeburt als einem Menschen. Er saß da wie ein
Hund oder wie ein totes, stinkendes Pferd. Er nahm irgendeine Scher-
be und schabte den Eiter von seinen Geschwüren. Es gab ja niemand,
der ihm diesen Liebesdienst erweisen wollte, denn er war von allen
verlassen. Nicht einmal seine Frau wollte ihm den Dienst erweisen,
denn sie verspottete und verabscheute ihn; seine Freunde taten das
gleiche. Wir wären gewiß sehr glücklich, wenn wir die Scherbe der
Zurechtweisung ergriffen, um den Schmutz von unserem Gewissen zu
entfernen. Aber ihr seid noch viel glücklicher, meine lieben Schwes-
tern, in einem Haus zu wohnen, wo man die Zurechtweisung so genau
nimmt, daß man mit ihrer Hilfe die kleinsten Unvollkommenheiten
an euch verbessert. O Gott, wie groß wird euer Glück sein, wenn ihr
sie im Geist der Unterwerfung annehmt wie der glorreiche hl.
Augustinus.
Drittens zeigte der Heilige seine Demut im Bekenntnis seiner Feh-
ler. Darin war er gewiß überaus bewundernswert, wie man aus der
Aufrichtigkeit und Einfalt sieht, mit der er das Buch seiner „Bekennt-
nisse“ schrieb. Das tat er in der Blüte seiner Jahre, und er beschreibt
darin nicht im Großen, sondern im einzelnen seine Fehler und Lau-

399
nen, seine lasterhaften Gewohnheiten und Neigungen. Wozu diese
Bekenntnisse? Etwa, um sie einem Beichtvater ins Ohr zu sagen? O
nein, das hatte er getan, ehe er sein Buch schrieb. Sollte es nicht dazu
dienen, um es seinen Zeitgenossen zu zeigen, die ihn kannten, die
leicht seine Jugend entschuldigen würden, wenn sie die Schönheit
seines Geistes sähen und die Vorzüge, die er von der Natur empfan-
gen hatte? Gewiß nicht. Sollte es dazu dienen, um es dem Volk seines
Landes oder seiner Diözese zu zeigen, das wegen der Hochachtung
vor seiner Heiligkeit diese Taten seiner jungen Jahre für nichts er-
achten würde angesichts der Tugenden, die gegenwärtig an ihm er-
strahlten? Oder machte er diese Bekenntnisse vielleicht, um von den
Gerechten gelobt zu werden, die gewiß seine Haltung seit seiner Be-
kehrung jener in seiner Jugend entgegenhalten würden? O nein, sei-
ne Bekenntnisse sind nicht an solche Menschen gerichtet. An welche
dann? An alle Menschen im allgemeinen: an junge und alte, an ge-
lehrte und ungebildete; an solche, die seine Demut bewunderten und
sich an ihr erbauten, und an solche, die über ihn spotteten und An-
stoß an ihm nahmen; an Männer und Frauen; mit einem Wort, er
wollte, daß das elende Leben, das er in seiner Jugend geführt hatte,
aller Welt bekannt werde. O Gott, wie weit ist die Heiligkeit unserer
Zeit davon entfernt; sie besteht ja nur darin, seine Fehler zu verber-
gen, selbst vor dem Beichtvater. Gerade da liegt die Heiligkeit unse-
rer Zeit, wie darin, die Fehler nicht zu erkennen und die Zurechtwei-
sung nicht zu ertragen.
Hier möchte ich schließen, denn die Zeit vergeht. Gern hätte ich in
einem letzten Punkt ein Wort über die Sanftmut dieses großen Heili-
gen gesagt, aber dazu fehlt mir die Zeit. Deshalb will ich es unterlassen
und mich damit begnügen, als Abschluß dieser Predigt zwei oder drei
Sätze über die Worte des hl. Paulus anzufügen: Nehmt die Lebensart
Jesu Christi an. Wir sprechen in dieser Weise von denen, die gekleidet
sind, und sagen: Der Mann ist in Seide gekleidet, der in Büffelleder,
jener in Kamelhaar. Nun sagt der Apostel: Kleidet euch nicht in Seide,
in Büffelleder oder Kamelhaar, sondern zieht die Lebensweise Jesu
Christi an, die Passion Unseres Herrn, kleidet euch in das Blut des
Erlösers. Wie die Kleider den Leib umgeben, so umgebt auch euer
ganzes Herz und eure Affekte mit dem Erlöser, d. h. stützt euch nicht
auf eure Verdienste, sondern auf die Verdienste seines Todes und sei-
nes Leidens. Das ist eine Mahnung, die der große hl. Augustinus allge-
mein jedermann gibt, sich nicht auf die eigenen Verdienste zu stützen
und nicht zu meinen, man könnte durch sein eigenes Bemühen in den
Himmel kommen, ohne von der göttlichen Gnade unterstützt zu wer-

400
den. Damit wies er die Irrlehre der Pelagianer zurück, sowohl in sei-
nen Disputationen wie in seinem Buch „Von der Gnade“, in dem er
zeigt, daß wir ohne sie nichts vermögen.
Nein, meine lieben Schwestern, erhebt Ansprüche für den Himmel
wie für die Erde nur durch die Verdienste des Blutes und des Todes
unseres Erlösers. Glaubt nicht, aufgrund eurer guten Werke in den
Himmel zu kommen, denn niemand wird dahin gelangen, außer kraft
des Blutes und der Passion Jesu Christi. Tut das, was ihr tut, nicht um
viele Verdienste zu haben, und forscht nicht nach, ob ihr welche habt,
wenn ihr dies oder jenes tut. Das wurde schon oft gesagt, es kann aber
nicht oft genug wiederholt werden. Das müssen wir alle unserem Geist
einprägen, weil man von den Leuten nichts anderes hört als: Ihr habt
ein großes Verdienst, wenn ihr dies tut oder jenes unterlaßt; oder auch:
Bei dem oder jenem Werk werde ich verdienstlich oder nicht verdienst-
lich handeln. Es sieht so aus, als ob der Himmel uns geschuldet würde
einzig für die Verdienste, die wir erwerben, wenn wir tun, wozu wir
verpflichtet sind, oder unterlassen, was man nicht tun soll. Ich bitte
euch, meine lieben Schwestern, sagt das nicht, wenn ihr echte Töchter
nicht nur der seligsten Jungfrau sein wollt, denn unter ihrem Namen
seid ihr errichtet, sondern auch des hl. Augustinus, weil ihr unter sei-
ner Regel steht.
Stützt euch immer auf die Verdienste des Blutes Unseres Herrn, und
wenn ihr getreu alles getan habt, dann sagt, daß ihr unnütze Dienerin-
nen seid (Lk 17,10). Wenn ihr das bekennt, wird Unser Herr das nicht
sagen, denn er wird euch nach eurer Treue belohnen, die ihr in seinem
Dienst bewiesen habt; und obwohl ihr nicht um der Verdienste willen
gearbeitet habt, wird es euch am Lohn dafür im Himmel nicht fehlen.
Sagt nicht: Der Mensch wird durch seine Werke viele Verdienste ha-
ben; sagt lieber: Gott hat dem Menschen große Gnaden erwiesen. Wie
groß war sein Erbarmen gegen ihn! Habt kein anderes Ziel, als die
Ehre Gottes zu suchen, denn dazu seid ihr in den Orden eingetreten,
nicht nur, um euch aus dem Getümmel der Welt zurückzuziehen. Die
heidnischen Philosophen leisteten wohl diesen Verzicht, um mehr Zeit
zu haben, dem Studium der menschlichen Wissenschaften zu oblie-
gen. Ihr seid auch nicht gekommen, um reicher zu werden; o nichts
davon, denn hier wird man arm. Nicht, um mehr zu verdienen; diese
Absicht wäre zu niedrig. Wozu dann? Um Gott in all eurem Tun zu
gefallen, um ihm besser zu gefallen; um euch mit den Verdiensten des
Leidens und des kostbaren Blutes Jesu Christi zu bekleiden. Wie kost-
bar sind die Kleider, die aus dem Blut des Erlösers gemacht sind, ohne
das unsere Werke nicht verdienstlich sind! Es ist wahr, wenn man ein

401
Glas Wasser aus Liebe zu Gott gibt, verdient man das ewige Leben (Mt
10,42); aber woher gewinnt es seinen Wert, wenn nicht vom Leiden
des Erlösers, das diese Tat der Liebe verdienstvoll macht? Erhebt also
eure Herzen und eure Affekte, glaubt nicht, daß das Verlangen des
Fleisches verdienstlich sei, d. h. die Wünsche, die in diesem Fleisch
leben (Röm 8,8; Eph 2,3); gründet vielmehr eure Hoffnung auf die
Verdienste des Gottessohnes, der in Ewigkeit mit dem Vater und dem
Heiligen Geist lebt und regiert. Amen.

Zum Fest aller Heiligen

Nr. 51: 1. November 1621 X,133-146

Das erste Fest, das je gefeiert wurde, war ein Fest des Wohlgefallens.
In der Genesis (1,4.10.12) heißt es: Als Gott Himmel und Erde er-
schaffen hatte, betrachtete er sie, fand sie gut und fand daran Gefallen;
denn als er das Licht betrachtete, sagte er, daß es gut sei; als er dann
das Land sah wie eine Pflanzstätte von Bäumen, Kräutern und Pflan-
zen, und das Meer mit allen Fischen, sagte er von neuem, daß es gut
sei. Als aber die göttliche Majestät, wie die alten Väter bemerken,
Mesopotamien abgesondert und das irdische Paradies geschaffen hat-
te, erschuf er den Menschen (Gen 1,27), dann nahm er eine seiner Rip-
pen und machte daraus die Frau (2,21f). Als er darauf sein ganzes
Werk betrachtete, fand er es nicht nur gut, sondern mehr als sehr gut
(1,31). Das ist das Wohlgefallen.
Die heilige Kirche nun, die nicht nur die Braut Unseres Herrn ist,
sondern ihn auch nachahmt, will sich in allem und durch alles ihm
angleichen; so feiert sie die Feste der Heiligen mit wunderbarer Freu-
de. Wenn sie diese einzeln betrachtet und ehrt, indem sie auf die Glut
der Märtyrer schaut, auf die Liebe der Apostel, die Reinheit der Jung-
frauen, sagt sie nach dem Vorbild des Schöpfers, daß dies gut ist; wenn
sie aber alles zusammenfaßt und ein Fest für alle miteinander feiert,
die Kronen, die Siegespalmen und Triumphe aller Heiligen betrach-
tet, empfindet sie darüber unvergleichliches Wohlgefallen und ruft
aus: Wie gut ist das, aber mehr als sehr gut! Das ist das Fest, das wir
heute feiern.
Es gibt mehrere Gründe für seine Einsetzung; ich will mich aber
damit begnügen, nur über einen zu sprechen, der grundlegend ist. Es

402
wurde eingeführt, um viele heilige Männer und Frauen zu ehren, die
im Himmel sind, deren Namen aber hier auf Erden nicht bekannt
sind, so daß die Kirche ihr Fest nicht gesondert feiern kann. Glaubt
nicht, daß es die Wunder und die außergewöhnlichen Berufungen sind,
die alle heilig werden ließen, die im Himmel sind. O nein, denn es ist
wahr, daß es dort eine unendliche Zahl gibt, die in diesem Leben unbe-
kannt waren, die keine Wunder gewirkt haben, deren man auf Erden
keinerlei Erwähnung tut, die dennoch jene überragen, die viele Wun-
der gewirkt haben und in der Kirche Gottes verehrt wurden und wer-
den. Es war in der Tat ein Werk der göttlichen Vorsehung, die Heilig-
keit des hl. Paulus, des ersten Eremiten, offenkundig und bekannt zu
machen, der so verborgen und wenig beachtet in der Wüste lebte. O
Gott, was meint ihr, wie viele Heilige es gab in Höhlen, in Geschäften,
in frommen Häusern und Klöstern, die unbekannt gestorben und jetzt
in der Herrlichkeit über jene erhöht sind, die auf Erden sehr bekannt
waren und verehrt wurden?
Deshalb blickt die Kirche auf das Fest, das im Himmel gefeiert wird,
und begeht ein solches auf Erden, in dem sie jene preist, die sie kennt,
ebenso aber jene, von denen sie weder den Namen noch das Leben
kennt.
Man bewundert die wunderbare Beziehung und Wechselwirkung zwi-
schen Himmel und Erde, die so eng ist, daß man sagen kann, der Him-
mel ist der Gatte der Erde, die nichts hervorbringen kann, außer durch
die Einwirkung, die sie von ihm erfährt. Ich will hier nicht von den
Einflüssen sprechen, die die Astrologen behandeln; das ist hier nicht
am Platz. Ich spreche von denen, die nach den Platonikern der Him-
mel auf die Erde ergießt, die sie Früchte, Bäume und Pflanzen her-
vorbringen lassen. Und was gibt die Erde dem Himmel als Entgelt?
Sie breitet vor ihm die Pflanzen, Blumen und Früchte aus und schickt
Düfte zu ihm empor, die wie Weihrauch aufsteigen, und der Himmel
nimmt sie auf. Mit einem Wort, es ist herrlich, die Wechselwirkung
zwischen Himmel und Erde zu sehen.
O Gott, wieviel wunderbarer ist es noch, die Beziehung zwischen
dem himmlischen und dem irdischen Jerusalem zu erwägen, zwischen
der triumphierenden und der streitenden Kirche (Hebr 8,5). Die strei-
tende Kirche tut hier auf Erden, wovon sie glaubt, daß es in der trium-
phierenden oben geschieht. Und wie eine gute Mutter entnimmt sie
dem himmlischen Jerusalem, was sie kann, um damit ihre Kinder zu
ernähren. Sie bemüht sich, sie zu erziehen und soviel als möglich den
Bewohnern des Himmels gleichförmig zu machen. Wenn sie daher

403
sieht, wie dort das Martyrium und der Triumph jedes einzelnen Heili-
gen gefeiert wird, tut sie hier unten das gleiche. Wie besingt sie die
Glut und Standhaftigkeit des hl. Laurentius, wie bewundert sie einen
hl. Bartholomäus und so die anderen! Da sie aber sieht, welche Freude
darüber hinaus im Himmel über alle im allgemeinen herrscht, hat
auch sie eine Festfeier mit diesem Ziel eingesetzt; das ist jene, die wir
heute begehen. Das will sie uns am Beginn der heiligen Messe dieses
Tages zu verstehen geben, wenn sie sagt: „Freuen wir uns über das Fest
aller Heiligen“, besingen wir ihren Triumph und Sieg, und andere Worte
der Freude und des Jubels. Ich will also so kurz als möglich einiges
darüber sagen, was man tun muß, um dieses Fest recht zu feiern, und
das auf drei Punkte zurückführen: einen ersten, den ich ausführen
will, und zwei weitere, die ich davon ableiten werde.
Gott hat von aller Ewigkeit gewünscht, uns seine Gnade zu schen-
ken und uns die Wirkungen seiner Barmherzigkeit erfahren zu las-
sen, folglich auch die seiner Gerechtigkeit, durch die er uns seine
Glorie verleihen will. Dazu wünscht er, daß wir uns der Anrufung
der Heiligen bedienen; sie sollen unsere Fürsprecher sein und „wir
sollen durch ihre Vermittlung empfangen, was wir nicht zu erlangen
verdienen“ ohne sie (Miss.). Nun lieben uns die seligen Geister, die
Kerubim, die Serafim und alle übrigen Engel überaus und wünschen
uns nicht nur die himmlischen Gunsterweise, sondern erwirken sie
uns auch, gedrängt durch das Motiv der Liebe. Die Liebe zum Nächs-
ten entspringt ja aus der Liebe zu Gott als ihrer Wurzel und Quelle.
So geht auch aus der großen Liebe der Seligen zu unserem Erlöser
und Meister der überaus lebhafte Wunsch hervor, er möge uns seine
Gnade in dieser Welt und seine Glorie in der anderen schenken und
verleihen. In Wahrheit empfangen wir die Gnade von seiner Barm-
herzigkeit und die Glorie von seiner Gerechtigkeit. Indessen ist sei-
ne Barmherzigkeit so groß, daß sie über allem steht (Ps 145, 9; Jak
2,13); folglich erhalten wir die Glorie von der einen und der ande-
ren. Der Gerechtigkeit ist es eigen, jene zu belohnen, die sich bemü-
hen, das Reich Gottes zu gewinnen, denn die göttliche Majestät hat
uns auf die Erde gestellt, wo wir Verdienst oder Schuld erwerben
können. Der Lohn, den er uns für unsere Anstrengung und Mühe
gibt, ist indessen unendlich größer als unsere Verdienste, und darin
erstrahlt seine große Barmherzigkeit.
Die Heiligen haben aber noch ein anderes Motiv, das sie veranlaßt,
Gott zu bitten und zu wünschen, daß er uns seine Gnade schenkt: sie
sehen in ihm das lebhafte Verlangen, sie uns mitzuteilen. Das be-

404
wirkt, daß sie uns diese wünschen und erwirken mit einer um so
größeren Liebe, je größer sie den Wunsch in Gott sehen. Das ist ihr
hauptsächliches und vorzügliches Motiv. Sie wissen, daß wir für die
ewige Glorie geschaffen sind, daß Unser Herr uns deshalb erlöst hat
und nichts sehnlicher wünscht, als daß wir uns der Früchte der Erlö-
sung erfreuen; deshalb gleichen sie ihren Wunsch und ihre Liebe der
göttlichen Majestät an in dem, was unser Heil betrifft, wie in allem.
O Gott, diese Liebe bringt die zum Nächsten hervor und bewirkt,
daß man sich bemüht, ihm zu helfen, daß man sich selbst vergißt, um
ihm zu dienen.
Man muß also die Heiligen bitten und anrufen. Das ist die Art, wie
man ihre Feste feiern muß, indem man ihren Beistand erbittet und
sich seiner bedient, um die Gnaden und Gunsterweise zu erlangen, die
wir nötig haben. Unserem Herrn hat es so gefallen, daß man sich der
Anrufung der Heiligen bedient, daß er uns, wenn er uns eine Gnade
gewähren will, oft dazu anregt, zu ihrer Vermittlung Zuflucht zu neh-
men, damit er uns gewährt, was wir erbitten. Er selbst fordert sie auf zu
bitten, indem er ihnen sein Verlangen bezeugt, daß sie die Gnaden
erwirken, deren wir bedürfen. So beschwört auch die Kirche Unseren
Herrn, die Heiligen anzuregen, daß sie für uns bitten (Miss.). Wir
müssen uns also mit vollem Vertrauen an sie wenden, vor allem an
ihrem Festtag, denn ohne Zweifel erhören sie uns und tun gern, um
was wir sie anflehen.
Da wir vom Gebet sprechen, müssen wir sagen, daß daran drei Per-
sonen beteiligt sind: die erste ist jene, die man bittet; die zweite jene,
durch die man bittet; die dritte jene, die bittet. Die erste, die man
bittet, kann stets nur Gott sein, denn er besitzt in sich alle Schätze der
Gnade und der Glorie. Wenn wir also die Heiligen bitten, so bitten wir
sie nicht, daß sie uns eine bestimmte Tugend oder Gnade gewähren
oder zuteilwerden lassen, obwohl sie uns das erwirken; denn es steht
nur Gott allein zu, seine Gnaden zu schenken, wie es ihm gefällt und
wem er will.
Nun kann man Gott auf zweierlei Weise bitten, nämlich unmittelbar
und mittelbar. Unmittelbar heißt, direkt mit Gott sprechen, ohne Ver-
mittlung eines Geschöpfes. Das tat der Hauptmann (Mt 8,6.8), der
Zöllner (Lk 18,13), die Samariterin (Joh 4,15), die Kanaanäerin (Mt
15,22-27) und mehrere andere, von denen wir in der Heiligen Schrift
lesen, daß sie Unseren Herrn direkt gebeten und von ihm große Gna-
den empfangen haben wegen der Demut, mit der sie ihre Bitten vor-
brachten. Seht den guten Abraham; was sagt er? Ich will zu meinem

405
Herrn sprechen, obwohl ich nur Staub und Asche bin (Gen 18,27), so
als wollte er sagen: Ach, es ist wahr, dieser Gott, zu dem ich sprechen
will, ist sehr erhaben und ich bin nichts als Staub, Asche und Unrat
und ohne Wert. Trotzdem will ich mit meinem Herrn sprechen, weil er
mein Schöpfer ist und ich sein Geschöpf. Der Zöllner empfing die
Vergebung seiner Sünden, ebenso die Samariterin und viele andere,
denn Gott kann schenken, was ihm beliebt, ohne daß er der Hilfe und
Unterstützung irgendeines Geschöpfes bedürfte.
Gott mittelbar bitten heißt, sich an ihn wenden durch Vermittlung
der Heiligen und der seligsten Jungfrau, wie es der Hauptmann (Lk
7,3-7) gemacht hat, der seine Freunde schickte, um Unseren Herrn zu
beschwören, er möge kommen und seinen Diener heilen. Nachdem
die Kanaanäerin den Heiland unmittelbar gebeten hatte und sich von
ihm zurückgewiesen sah, sprach sie zu ihm mittelbar durch Vermitt-
lung der Apostel, die sie bat, ihre Fürsprecher zu sein (Mt 15,23).
Diese Art zu bitten ist gut und sehr verdienstvoll, denn sie ist demütig.
Sie geht von der Erkenntnis unserer Unwürdigkeit und Nichtigkeit
aus. Da wir uns Gott nicht zu nahen wagen, um von ihm zu erbitten,
was wir nötig haben, läßt uns die Demut uns an die Heiligen wenden.
So werden unsere Gebete, die in sich schwach und von geringem Wert
sind, mit denen dieser Heiligen vereinigt und werden große Kraft und
Wirkung haben.
Das unmittelbare Gebet ist ganz kindlich, voll Liebe und Vertrauen;
es richtet sich an Gott als unseren Vater und unseren höchsten Herrn.
Unser Herr selbst hat uns diese Art gelehrt im Gebet des Herrn (Mt 6,
9-13; Lk 11,2-4), das mit dem Wort Unser Vater beginnt. O Gott, wie
erfüllt von Liebe ist dieses Wort und wie erfüllt es das Herz mit Süßig-
keit und kindlichem Vertrauen! Das könnt ihr erkennen an den Bitten,
die in diesem Gebet ausgesprochen werden. Nachdem man Gott mit
dem Namen Vater angeredet hat, bittet man ihn um sein Reich und
daß sein Wille geschehe hier auf Erden, wie er im Himmel oben ge-
schieht. Wie groß sind diese Bitten, wie erfüllt von Liebe und Vertrau-
en!
Die zweite Person, die am Gebet beteiligt ist, ist jener, der ver-
langt. Beachtet, ich sage nicht, „der bittet“, sondern „der verlangt“,
denn es ist ein Unterschied zwischen bitten und verlangen. Der Herr
verlangt wohl von seinem Diener, aber er bittet ihn nicht; im Gegen-
teil, wenn er etwas von ihm verlangt, befiehlt er ihm gewissermaßen,
es ihm zu geben. Ein anderer wird verlangen, was man ihm schuldet;
der bittet nicht wie beim Gebet, sondern fordert, was ihm von Rechts

406
wegen zusteht. In der scholastischen Theologie wurde die Frage er-
örtert, ob Unser Herr als Mensch jetzt für uns bittet, denn er ist unser
Anwalt (1 Joh 2,1) und Mittler (1 Tim 2,5; Hebr 9,15; 12,24). Auch
die Anwälte müssen ebenso bitten wie die Mittler. Das wurde unter
den Theologen heftig diskutiert. Mir scheint aber, man muß sich
dabei darauf berufen, was unser göttlicher Meister erklärt hat: Ich
sage nicht, daß ich für euch bitten werde (Joh 16,26). Es ist ja ein
Unterschied zwischen bitten und verlangen, wie wir eben gesagt ha-
ben. Es gibt keinen Zweifel, daß unser Herr Jesus Christus nicht um
das Himmelreich für uns bittet, das ihm gehört und das er für uns um
den Preis seines Blutes und seines Lebens erkauft hat; deshalb ver-
langt er es als etwas, das ihm von Rechts wegen zusteht. Ebenso ist es
mit den anderen Forderungen, die er an seinen Vater richtet. Man
mag entgegnen, daß er diese Forderungen in der Form des Flehens
und der Bitte ausspricht, indem er sich zu unserem Mittler macht.
Ich bin kein streitlustiger Mensch; soviel steht fest: was er für uns
verlangt, gehört ihm von Rechts wegen.

Die dritte Person, die am Gebet beteiligt ist, ist das vernunftbegabte
Geschöpf. Doch lassen wir alles beiseite, was man dazu sagen könnte,
und sagen wir nur, daß wir diese dritte Person sind. Wir Christen, die
wir in diesem Tal des Elends leben, bitten und schicken unser Flehen
und unsere Seufzer zum Himmel; wir erflehen die Hilfe Gottes und
bitten um seine Gnade. Dazu bedienen wir uns der Anrufung der Hei-
ligen. Wir flehen sie an, für unsere Anliegen einzutreten, da wir Fremd-
linge und Pilger auf dieser Erde sind (Ps 39,13; Hebr 1,13; 1 Petr 2,11);
wir bitten, daß sie uns helfen, zur Glückseligkeit zu gelangen, deren
sie sich erfreuen.

Aber ach, wir sind armselige Menschen! Unsere Gebete sind so kalt
und schwach, nachlässig und lau. Zwischen den Gebeten der Seligen
und den unseren besteht wahrhaftig ein Unterschied und ein Mißver-
hältnis. O Gott, die glorreichen Heiligen beten ständig und unabläs-
sig, ihre Glückseligkeit ist es, immerwährend das Lob Gottes zu sin-
gen, aber mit solcher Glut, tiefer Demut, Liebe und Festigkeit, daß es
von unvergleichlichem Wert ist. Wenn unser armseliges, geringes und
unreines Gotteslob sich mit dem ihren verbindet, gewinnt es eine wun-
derbare Kraft und Wirksamkeit. Damit ist es so wie mit einem Trop-
fen Wasser, der in ein Faß Wein fällt: er hört auf zu sein, was er war,
und verwandelt sich in Wein. Wenn unsere Gebete in Verbindung mit
denen der glorreichen Heiligen vor die göttliche Majestät gelangen,

407
verlieren sie ebenso ihre Schwäche und nehmen die Kraft, Stärke und
Wirksamkeit der ihren an. Durch diese himmlische Verbindung wer-
den sie kostbar vor Gott und verdienstvoll für uns und unseren Näch-
sten; denn die göttliche Güte und Liebe will nicht, daß man sich nur
für sich bemüht, sondern auch für den Nächsten.

Wie wir sagten, wünschen und bitten die Heiligen im Himmel unab-
lässig, daß wir die Früchte der Erlösung genießen und auf diese Weise
zur Glückseligkeit gelangen, die sie besitzen. Dazu werden sie gedrängt
durch jene Liebe, die nicht eifersüchtig ist (1 Kor 13,4), die kein ande-
res Ziel hat als die Ehre Gottes; deshalb wünschen sie, daß wir sie
besitzen. Das war der zweite Punkt, daß die Seligen um so glühender
und inniger für uns bitten, als sie im Wesen Gottes klarer sehen, wie
sehr seine Güte unser Heil und unser Glück wünscht. Das gleiche
müssen wir für unseren Nächsten tun, indem wir uns seinem Dienst
widmen und ihm helfen, sich zu retten, mit einer Liebe, die nicht eifer-
süchtig oder neidisch ist, sondern auf Gott allein schaut und kein an-
deres Streben kennt, als ihn zu verherrlichen.

Wenn wir doch ein wenig begreifen könnten, wie groß diese Liebe
der Heiligen ist und mit welcher Glut und Demut sie ihre Gebete
begleiten! Wir hätten gewiß allen Grund, uns zu demütigen, wenn wir
die geringe Demut, die sich in unseren Gebeten findet, mit jener ver-
gleichen wollten, die sie mit den ihren verbinden. Wir würden sehen,
wie groß auch die Demut sein mag, die unsere Gebete begleitet, sie
wäre nichts im Vergleich mit jener, die sie im Himmel üben. Die De-
mut der Seligen entspringt ihrer überaus klaren Erkenntnis ohne Schat-
ten und Gleichnis (1 Kor 13,4; 1 Joh 3,2) von der Erhabenheit und
Wesenheit Gottes, vom unendlichen Abstand zwischen Gott und dem
Menschen, zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf; und je höher
der Grad ihrer Glorie ist, um so mehr erkennen sie diesen unendli-
chen Abstand, um so tiefer ist folglich ihre Demut. Wenn ein Mensch
in diesem Leben durch die häufige Übung der Erwägung und Betrach-
tung der Erhabenheit Gottes und seiner eigenen Niedrigkeit zur Fest-
stellung eines so großen Mißverhältnisses und Abstands voneinander
kommt, daß er sich bis in den tiefsten Abgrund seines Nichts ernied-
rigt und demütigt, daß er keinen Ort findet, um sich tief genug in ihn
zu versenken, wie groß muß dann erst die Demut der glorreichen Hei-
ligen sein, die die Majestät Gottes so klar schauen!
Die Demut der heiligen Jungfrau war gewiß die größte in diesem
Leben, denn sie besaß eine größere Erkenntnis Gottes als jedes Ge-

408
schöpf. Wenn sie (Lk 1,48) sagt, daß er auf die Niedrigkeit seiner Magd
geschaut hat, zeigt sie, daß sie den unendlichen Abstand zwischen
Gott und ihr erkannte und bekannte. Die Demut, mit der sie die Worte
(Lk 1,3 8) sagte: Siehe, ich bin die Magd des Herrn, war so außerge-
wöhnlich, daß sie selbst die Engel erstaunte. Aber die Demut Unserer
lieben Frau jetzt im Himmel ist abertausendmal größer, als jene hier
unten war, weil sie eine tausendmal größere Erkenntnis der Erhaben-
heit Gottes hat, als sie damals war. Diese Erkenntnis der göttlichen
Majestät, ihrer Erhabenheit und Vollkommenheit ist der vorzüglich-
ste und stärkste Beweggrund, uns zu demütigen und uns in unser eige-
nes Nichts zu erniedrigen. So wird die Demut in der Glorie geübt. Es
gibt also keinen Zweifel, daß die Gebete der Heiligen, die aus solcher
Demut verrichtet und von ihr begleitet werden, sehr verdienstvoll sind
und uns viel helfen können.
Bevor wir jedoch ihre Wirkungen erfahren, müssen wir sie uns zu
sichern verstehen; denn wenn wir nicht unsererseits mitwirken, wer-
den wir nicht mit ihrer Unterstützung rechnen können. Es wäre lä-
cherlich, die Heiligen zu bitten, daß sie für uns eintreten und uns eine
Gnade erwirken, wenn wir unsererseits uns nicht für sie aufnahmefä-
hig machen wollten. Wir bitten sie, uns Tugenden zu erwirken, und
wollen uns nicht mit ihrer Übung befassen, noch einen Akt dieser
Tugenden machen. Trotzdem erwarten wir, daß die Heiligen sie uns
erwirken, obwohl wir tun, was den Tugenden entgegengesetzt ist, um
die wir bitten. Welch ein Mißbrauch ist das! Die Barmherzigkeit Got-
tes will gewiß, daß wir mit seinen Gnaden und seinen Gaben mitwir-
ken. Wenn wir von ihm durch die Fürbitte der Heiligen irgendwelche
Tugenden erbitten, so gewährt er sie uns auch, wenn wir sie zuerst zu
üben beginnen. Denn seht, unser teurer Erlöser und Herr hat uns er-
schaffen ohne uns, d. h. er hat uns das Sein gegeben, als wir nichts
waren; aber er will uns nicht retten ohne uns, er will unserer Freiheit
nicht Gewalt antun und keinen mit Gewalt retten; er braucht unsere
Zustimmung und unsere Mitwirkung mit seiner Gnade.
Nur dann wird sich unsere Erlösung erfüllen, ohne die wir nicht in
den Himmel kommen können. Es gibt keine andere Pforte, um in das
Paradies einzutreten, als die Erlösung des Heilands. Deshalb schließt
die Kirche alle ihre Gebete mit dem Namen unseres Herrn Jesus Chris-
tus, um zu zeigen, daß die Gebete der Engel und der Menschen vom
ewigen Vater nur im Namen seines Sohnes erhört werden können (Joh
14,13; 16,23). Folglich kann kein Geschöpf, selbst nicht die seligste
Jungfrau, welche Gebete es auch verrichten mag, zur Glorie gelangen,

409
außer durch den Tod und die Passion Unseres Herrn, der sie uns er-
kauft und verdient hat. Die Heiligen bitten also, daß uns das Verdienst
dieses Leidens zugewendet werde. In dem Maß nun, wie wir den Ga-
ben Gottes entsprechen, teilt er uns neue zu, und dann vermehren wir
sein Wohlgefallen, uns immer neue zu schenken. Auch die Seligen
bitten seine Güte inständig, sich über uns zu ergießen. Wie wir sagten,
werden sie dazu angespornt, weil sie das Verlangen und die Freude
sehen, die Gott daran hat, sich zu ergießen und mitzuteilen.
Seht, wenn wir uns recht empfänglich machen wollen für die Unter-
stützung durch die Heiligen und wenn wir sie bewegen wollen, für uns
zu bitten, müssen wir treu die Tugenden üben, die wir durch ihre Ver-
mittlung erbitten, und uns recht aufnahmebereit machen für die Ga-
ben des Herrn. Das ist der dritte Punkt. Um das zu tun, müssen wir es
machen wie sie, nämlich die Lehren annehmen die unser Heiland auf
dem Berg verkündete, auf den er sich zurückzog (Mt 6,1-12), als er
sich von einer großen Volksmenge umgeben sah. Da sprach er die
heiligen Worte, in denen die ganze christliche Vollkommenheit ent-
halten ist: Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich;
selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen; selig die
Weinenden, denn sie werden getröstet werden; selig schließlich, die Ver-
folgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmel-
reich.
Das ist eine ungewöhnliche Lehre, die dem Geist der Welt direkt
entgegengesetzt ist. Ihr werdet sie aber besser verstehen durch das
Gleichnis jener Statue, die Nebukadnezzar im Traum sah. Sie hatte
einen Kopf aus Gold, Hände aus Silber, einen Rumpf aus Erz und
Füße aus Ton, und alles übrige, wie ihr oft gehört habt. Während
Nebukadnezzar ihre Schönheit bewunderte, sah er, wie sich ein klei-
ner Stein von der Höhe löste, der die Füße der Statue traf, sie zu Boden
warf und sie zu Staub machte, so daß nichts von ihr übrigblieb (Dan
2,31-35). Meine lieben Schwestern, das sage ich euch, denn obwohl
ihr noch nicht außerhalb der Welt seid, lebt ihr doch wie die Nasiräer
(Num 6) von der Welt und ihrer Eitelkeit entfernt und zurückgezogen.
Was ist denn diese Statue anderes, ich bitte euch, als die Welt oder
vielmehr ihre Eitelkeit und ihr Stolz, die einen Kopf aus Gold hat,
usw.? Und der Berg, von dem ein kleiner Stein herabfiel, ist nichts
anderes als Unser Herr, aus dessen Mund dieser Stein der acht
Seligkeiten kam, der die Statue der Eitelkeit zerstört; er bewirkte, daß
immer mehr Menschen die Welt, ihre Reichtümer, Ehren und Wür-
den aufgaben und arm, gering und verächtlich wurden.

410
Es ist wahr, daß diese Lehre des Evangeliums über die ganze Erde
verbreitet und von vielen ergriffen wurde. Seht, wie das geschehen ist.
Unser Herr sagt: Selig die Armen im Geiste; die Welt sagt: Glücklich,
die reich sind, Gold und Silber haben; glücklich sind jene, die jede Art
von Bequemlichkeit in diesem Leben haben. Wie unglücklich sind
dagegen die Armen, die nichts von all dem haben. Sie gelten nichts,
man hält sie für bemitleidenswert. Doch Unser Herr, der die Torheit
und das Elend der Weltmenschen sieht, und worauf sie ihr Glück grün-
den, wirft diesen Stein auf die Füße dieser Statue und sagt als erstes:
Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich; wehe
dagegen über die Reichen (Lk 6,24); denn abgesehen davon, daß sie
dieses Reich nicht besitzen werden, werden sie unglücklich sein, weil
sie als Lohn nur die Hölle und die Gesellschaft der Teufel haben wer-
den.
Ich könnte darüber noch viel hinzufügen, wenn ich anderswo wäre;
ich will es aber übergehen, weil ich nur für euch spreche. Unser göttli-
cher Meister fährt fort: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden
das Land besitzen. Diese Sanftmut will nun, daß man die Regungen
des Zornes unterdrückt, daß man mild, herzlich und voll Güte gegen
alle ist, daß man dem Feind verzeiht, daß man Verachtung erträgt; die
Eitelkeit der Welt dagegen, die einen Geist hat, der dazu in direktem
Widerspruch steht, sagt: Glücklich, wer sich an seinem Feind rächt,
wer allen Furcht und Angst einjagt, dem man kein Wort der Erwide-
rung und der Geringschätzung zu sagen wagt; der ist glücklich! Dage-
gen erachtet die Welt den für unglücklich, der in Verachtung und An-
feindung mild und gütig ist. Unser Herr wirft von neuem diesen Stein
und erklärt: Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besit-
zen. Mit diesen Worten macht er den Stolz und die Arroganz zunichte,
auf denen die Welt ihr Glück begründet.
Er fügt noch hinzu: Selig, die weinen, denn sie werden getröstet wer-
den. Die Welt sagt: Glücklich jene, die lachen und es sich gut gehen
lassen, die auf Bällen tanzen, die maskiert gehen, den Vergnügungen
und Eitelkeiten nachjagen; wehe denen, die weinen! Wie sind solche
Leute zu bedauern! Schließlich fügt der Erlöser hinzu: Selig, die Hun-
ger und Durst nach Gerechtigkeit haben. Selig nicht nur jene, die Ge-
rechtigkeit üben, sondern auch jene, die um der Gerechtigkeit willen
verfolgt werden. Sagt die Welt nicht genau das Gegenteil? Gründet sie
ihr Glück nicht gerade auf dem, was den Lehren des Evangeliums
entgegengesetzt ist? Unser Herr schaute diese Staute nicht im Traum
wie Nebukadnezzar, sondern in Wirklichkeit, und sah, daß sie nur

411
Füße aus Ton hat, d. h. daß alles, was diese Welt schätzt, nur auf nich-
tigen und vergänglichen Dingen beruht; deshalb warf er, wie wir gesagt
haben, diesen Stein von der Höhe der Seligkeiten, in denen die ganze
christliche Vollkommenheit enthalten ist.

Als aber die Welt sah, daß ihr Ruhm zerstört ist und daß man ihn
aufgibt für die Armut, die Verachtung, Tränen und Verfolgung, da
schlich sich die menschliche Klugheit ein und erfand abertausend
Auslegungen dieser Seligkeiten; und sie hat alles verniedlicht. O Gott,
sagt sie, die Armen im Geiste sind wirklich glücklich. Aber heißt arm
im Geiste sein nicht, den Gebrauch des Reichtums haben, Güter und
Würden besitzen, wenn man nur sein Herz nicht zu sehr daran hängt?
Andere werden sagen: Um arm im Geiste zu sein, genügt es, Religiose
zu sein, auf die Welt und dergleichen verzichtet zu haben. Es ist wahr,
daß man es durch diesen Verzicht schon in gewissem Maß ist; aber
ach, nicht das meint Unser Herr. Gerade darüber beklagt sich der hl.
Augustinus, denn es ist sehr schwer, viele Güter und Ehren zu besitzen
und nicht daran zu hängen. Das genügt nicht, sagt er, um Religiose zu
werden. Alles aufgeben, um alles nach Wunsch zu haben, arm werden,
indem man ins Kloster geht, und wollen, daß uns nichts abgeht, die
Armut geloben und keinerlei Unbequemlichkeit spüren, und was das
Schlimmste ist, im Orden suchen, was wir in der Welt nicht finden
konnten, trotz des Gelübdes danach trachten, mehr Bequemlichkeit
und Behaglichkeit zu haben, als ehe wir arm wurden, o Gott, was für
eine weichliche, fade und sträfliche Armut! Es ist trotzdem wahr und
es ist ein Unglück, daß jene im Kloster schwerer zufriedenzustellen
sind, die vor ihrem Eintritt am wenigsten Besitz hatten.

Gewiß will unser Herr und Meister nicht nur von solcher Armut
sprechen; so haben er und die Heiligen sie nicht geübt. Er ist ganz
nackt gestorben und seine Heiligen sind ihm in dieser Armut nachge-
folgt; sie haben alles aufgegeben und sich mutig allem Ungemach aus-
gesetzt, das sie mit sich bringt. Seht den heiligen Abt Serapion, von
dem im „Leben der Väter“ berichtet wird, daß er alles verließ und sich
ganz nackt auszog. Hätte man ihn gefragt: Guter Heiliger, was hat dich
dazu bewogen?, so hätte er gesagt: O Gott, dieser liebenswerten Ar-
mut ist das Himmelreich verheißen; das hat mich dazu bewogen und
läßt mich in dieser Weise leiden. Seht, wie uns die Armut dazu bringt,
die Unbequemlichkeiten anzunehmen, die aus ihr folgen.
Was nun die menschliche Klugheit gegen die Armut vorzubringen
weiß, das erfindet sie ebenso gegen die Sanftmut, die Tränen und alle

412
anderen Seligkeiten zusammen. Man braucht aber nicht so viele Deu-
tungen, man muß einfach vorgehen und sich an den Wortlaut halten.
Wenn wir uns zur Aufgabe machen wollen, die Armut anzunehmen,
dann nehmen wir gern die Beschwerden und Unbequemlichkeiten an,
die sie von selbst mit sich bringt. Seien wir gütig und herzlich gegen
alle; weinen wir, wenn wir getröstet werden wollen; ich will sagen,
vergießen wir geistliche Tränen. Ich weiß wohl, daß die Worte: Selig,
die weinen, von jenen zu verstehen sind, die ihre Sünden und die des
Nächsten beweinen, weil sie Gott widersprechen, oder vielmehr we-
gen der Entfernung vom höchsten Gut, wie David getan hat (Ps 42,4),
der sein Brot mit Tränen netzte und sagte: Wo ist dein Gott? Doch
nicht alle haben diese Tränen; sie sind auch nicht zum Heil notwendig.
Dennoch können alle das Verlangen nach ihnen haben und vor der
göttlichen Majestät stehen mit einem zerknirschten und demütigen
Herzen (Ps 59,19). Laßt uns gerecht sein, Verfolgungen aller Art um
der Gerechtigkeit willen erleiden und ertragen, auf diese Weise Durst
und Hunger nach ihr haben, und laßt uns dadurch den Vater und den
Sohn und den Heiligen Geist verherrlichen. Amen.

Zum Fest der Beschneidung

Nr. 52: 1. Januar 1622 X,147-163

Als acht Tage vorüber waren und der Knabe be-


schnitten werden mußte, erhielt er den Namen Je-
sus (Lk 2,21).

Die Tage, die Monate und die Jahre gehören alle Gott, der sie ge-
macht und geschaffen hat. Ich weiß, das Altertum teilte die Tage und
Jahre so ein, daß man sie nach dem Lauf des Mondes benannte und
unterschied und ihnen eigene Namen gab, die ihren falschen Gotthei-
ten eigen waren, wie Merkur, Mars, Jupiter und ähnliche. Dieser Aber-
glaube war bei den Menschen so verbreitet, daß man ihn nur schwer
ausrotten konnte. Als ihn daher die heilige Kirche ausmerzen wollte,
hat sie die Tage den Heiligen geweiht und wollte lieber jene, auf die
kein Fest trifft, von dem sie den Gottesdienst feiert, als Ferie bezeich-
nen, als sich jener Namen zu bedienen, die das heidnische Altertum
gebrauchte. Obwohl man aber die Tage des Jahres den Heiligen weih-
te, bleiben sie dennoch alle Unserem Herrn geweiht als demjenigen,

413
der sie geschaffen und dem sie alle gehören. Deshalb weiht ihm die
Kirche den heutigen Tag als den ersten und mit ihm das ganze Jahr.
An diesem Tag nun begehen wir das Fest der Beschneidung unseres
göttlichen Heilands, wobei er nach der Beschneidung den heiligen
Namen Jesus erhielt. Die Geschichte der Beschneidung ist sehr schön
und bewundernswert; sie ist gleichsam ein Bild oder eine Darstellung
der geistigen Beschneidung, die wir alle vornehmen müssen. Das Evan-
gelium (Lk 2,21), das heute gelesen wird, ist zwar das kürzeste des
ganzen Jahres, trotzdem aber sehr erhaben und sehr tiefgründig. In
ihm wird ja des Blutes und des Namens Jesu gedacht, und in diesen
zwei Worten ist die ganze Bedeutung der Beschneidung enthalten. Ich
werde also dem Evangelium folgen und die Predigt in zwei Punkte
einteilen: im ersten werden wir sagen, was die Beschneidung ist und
wie man die geistige Beschneidung vornehmen muß; im zweiten, wie
man den heiligen Namen Jesus recht aussprechen muß.
Zum ersten Punkt: Die Beschneidung war eine Art Sakrament im
Alten Bund (Gen 17,10-14; Lev 12,3), das die Reinigung von der
Erbschuld versinnbildete. Sie war gleichsam ein Bekenntnis des Glau-
bens und der Erwartung der Ankunft Unseres Herrn, und die Beschnit-
tenen wurden aus Feinden Gottes, die sie vorher waren, zu seinen Kin-
dern und Freunden. Unser göttlicher Heiland hatte es nicht nötig,
beschnitten zu werden, denn er war nicht nur der Gesetzgeber, son-
dern war ohne jeden Rostfleck der Sünde. Er war der Sohn Gottes,
folglich ganz heilig und ohne Makel (1 Petr 1,19). Vom Augenblick
seiner Menschwerdung an war er infolge der engen Verbindung der
menschlichen Natur mit der göttlichen dem Leib wie der Seele nach
erfüllt von allen Gnaden und Segnungen. Dadurch war er nicht nur
mit der Fülle der Gnaden überhäuft, sondern seine Seele war auch
ganz verklärt, da er sich der klaren Anschauung Gottes erfreute. So
hatte er in keiner Weise nötig, dem Gesetz der Beschneidung zu ge-
horchen; er wollte aber trotzdem nicht unterlassen, sich ihm zu unter-
werfen. Die Beschneidung war zweitens ein Kennzeichen, an dem das
Volk Gottes unter den anderen zu erkennen war. Unser Herr hatte
aber nicht nötig, mit diesem Merkmal gekennzeichnet zu werden, da
er selbst das Siegel oder Abbild des ewigen Vaters war (Hebr 1,3). Es
gibt eine endlose Zahl von Erklärungen und Begründungen, die zeigen
sollen, daß der Heiland diesem Gesetz nicht unterworfen war; es wür-
de aber zuviel Zeit beanspruchen, sie wiederzugeben. Es soll also ge-
nügen zu sagen, daß er dazu in keiner Weise verpflichtet war. Wenn er
sich der Beschneidung unterziehen wollte, dann deswegen, um uns ein

414
vorzügliches Beispiel der geistigen Beschneidung zu geben, die wir
vollziehen müssen.
Die Beschneidung geschah an einem Teil des Leibes, der von der
Sünde Adams am meisten betroffen und geschädigt wurde. Das ist der
erste Hinweis, den die alten Väter geben, wenn ich mich nicht täusche,
auch der hl. Johannes Chrysostomus. Sie wollen uns zeigen: wenn wir
die geistige Beschneidung vollziehen wollen, müssen wir sie an dem
Teil vornehmen, der am meisten von allen krank ist. Es ist gewiß ein
großes Mißgeschick, daß viele und fast alle Christen, wenn sie die
geistige Beschneidung an sich vollziehen wollen, um am heutigen Fest
teilzuhaben, sie an dem Teil vornehmen, der am wenigsten betroffen
ist. Da sind jene, die sinnlichen Lüsten verfallen sind (ich nehme die-
ses etwas derbe Beispiel, bis mir ein anderes einfällt) und diesen tieri-
schen Freuden nachjagen. Sie wollen die geistige Beschneidung voll-
ziehen, entnehmen ihrer Börse Geld und gefallen sich in einigen Al-
mosen. Es ist recht, die Börse zu beschneiden und Almosen zu geben.
Das Almosen ist etwas Gutes, sagt der Apostel (1 Tim 6,18; Hebr
13,16), es ist gut zu jeder Zeit und Gelegenheit; aber seht ihr nicht,
obwohl ihr die geistige Beschneidung vornehmt, vollzieht ihr sie nicht
in der rechten Weise. Beschneidet nicht eure Börse, denn nicht das ist
der Teil, ihr Wollüstigen, wo ihr am meisten krank seid, sondern be-
schneidet das Herz. Beschneidet diese Reden, diese Gesellschaft, die-
se Unterhaltungen und Freundschaften, diese Liebeleien und ähnliche
Torheiten, denn da müßt ihr beginnen, wenn ihr eine gute Beschnei-
dung vornehmen wollt. Aber das tun sie nicht, sie folgen vielmehr
ihren tierischen Neigungen und glauben viel zu tun und allem Genüge
getan zu haben, wenn sie irgendein Almosen geben.
Andere sind geizig und begierig, Reichtum, Güter und Bequemlich-
keiten zu erwerben und zu besitzen. Sie wollen sich gleichwohl be-
schneiden; deshalb machen sie Nachtwachen, strenges Fasten und
Abstinenz; sie besorgen sich Bußhemd, Bußgürtel und was weiß ich;
und wenn sie das tun, glauben sie schon halbe Heilige zu sein. O Gott,
was macht ihr? Diese Nachtwachen, dieses Fasten sind gut, aber ihr
macht die geistige Beschneidung nicht gut, denn ihr beginnt nicht bei
dem am meisten betroffenen Teil. Das Übel sitzt im Herzen, und ihr
tötet den Leib ab. Ihr müßt eure Börse beschneiden, indem ihr euren
Besitz den Armen austeilt. Schneidet alles aus eurem Herzen, was sich
in ihm findet an ungeordneter Anhänglichkeit an Reichtum, Ehren
und Bequemlichkeit. Setzt das Messer der Beschneidung sicher und
kühn an dieses Herz, an diese Neigungen an und beginnt da also an der
Stelle, die in euch am schwersten krank ist.

415
Andere machen große Bußübungen und Strengheiten, kasteien ih-
ren Leib durch Mühen und Anstrengungen jeder Art, sie zögern aber
nicht, ihre Zunge in das Blut des Nächsten zu tauchen, indem sie ihn
verleumden und herabsetzen. Ihr Bedauernswerten, ihr glaubt recht
beschnitten zu sein, wenn ihr ein Bußhemd tragt, euch geißelt und
ähnliches. Seht ihr denn nicht, daß die Zunge der Teil ist, der beschnit-
ten werden muß; sie badet sich im Blut des Unschuldigen (Ps 64,4).
Man findet auch solche, die ihre Zunge recht beschneiden und sich
entschließen, ein ganz strenges, tiefes Schweigen zu beobachten, aber
sie knurren und murren stets in ihrem Herzen und sind ständig voll
von Murren und Widerspruch. Ach, meine Lieben, was macht ihr?
Das Übel ist versteckt in eurem Herzen; es ist also nicht damit getan,
die Zunge zu beschneiden. Man muß die Beschneidung an dem betrof-
fenen Teil vornehmen, in dem das Knurren und Murren und die Emp-
findungen entstehen, denn die Beschneidung muß an der Stelle ge-
schehen, die am schwersten krank ist.
Darin also besteht die geistige Beschneidung, die Leidenschaften,
Strebungen, Launen und Neigungen zu untersuchen, um ihre Auswüch-
se zu beschneiden und abzutrennen. Dazu ist eine sorgfältige und ge-
diegene Prüfung erforderlich, welcher Teil am meisten betroffen, wel-
che Leidenschaft, Neigung und Laune in uns ist, um hier mit der inne-
ren Beschneidung zu beginnen.
Der zweite Hinweis, den ich gebe, ist der, daß es eine Beschneidung
war, nicht ein Einschnitt. Zwischen Beschneidung und Einschnitt ist
ein großer Unterschied. Der Einschnitt ist erforderlich bei Kranken,
die irgendeine Wunde oder ein Geschwür haben, an die man das Mes-
ser oder das Eisen anlegt, um sie zu öffnen und den Schmutz aus ihnen
zu entfernen. Die Beschneidung dagegen ist nicht das gleiche. Die
meisten Christen machen einen Einschnitt statt der Beschneidung: sie
machen wohl irgendeinen Schnitt am betroffenen Glied, aber sie set-
zen nicht das Messer an, um vom Herzen abzuschneiden und zu tren-
nen, was ein Auswuchs ist. Nun, das mußte ich euch gleichsam als
Vorwort sagen: Alle sind verpflichtet, die Beschneidung vorzuneh-
men, aber auf verschiedene, nicht in gleicher Weise. Denn die Geistli-
chen, die Priester und Bischöfe, die Ordensmänner und Ordensfrauen
haben eine besondere Verpflichtung, es zu tun, und auf andere Art als
jene, die in der Welt leben, da sie in besonderer Weise Unserem Herrn
geweiht sind.
Es gibt Christen, die alles abschneiden, was sie daran hindert, das
Gesetz Gottes zu beobachten. Sie sind sehr glücklich, denn sie werden

416
schließlich das Paradies besitzen; denn um es zu besitzen, muß man
nur die Gebote Gottes gut beobachten und befolgen (Mt 19,17). Es
gibt andere, die sich damit begnügen, eine sündhafte Leidenschaft oder
Gewohnheit zu beschneiden und gegen sie zu kämpfen; sie hören aber
nicht auf, in tausend anderen Sünden gegen das Gesetz des Herrn zu
verkommen und sich darin zu wälzen. Nun, die machen keine Be-
schneidung, sondern nur einen Einschnitt, denn sie gehen nicht an den
schadhaften Teil heran, um zu entfernen, was wirklich beschnitten
werden muß. Sie begnügen sich vielmehr damit, irgendeinem betroffe-
nen Glied einen Schnitt beizubringen, obwohl es gewöhnlich nicht
das am schwersten erkrankte ist. Trotzdem glauben sie, auf diese Wei-
se eine richtige Beschneidung vorzunehmen. Daher kommt es, daß ihr
in der Welt Leute seht, die sich im Schlamm und Morast unzähliger
Sünden wälzen, die mit vielen verderbten Leidenschaften und Neigun-
gen behaftet sind. Wenn ihr sie fragt, was sie tun oder getan haben,
werden sie antworten, daß sie nichts Schlechtes getan haben. O, wir
haben nicht getötet, nicht gestohlen, werden sie sagen; ich bin kein
Räuber, kein Mörder. Das stimmt, aber das ist nicht alles. Es gibt viele
andere Sünden als diese, die ihr vielleicht begangen habt, die ebenso
gefährlich sind wie jene, von denen ihr sagt, daß ihr sie nicht begangen
habt. Gott hat in seinem Gesetz nicht nur zwei Gebote, sondern es gibt
noch andere, die man notwendigerweise beobachten muß, um gerettet
zu werden; denn gegen ein Gebot Gottes fehlen heißt, sich selbst zu
den Peinen der Hölle verurteilen und verdammen. Als der Herr Mose
sein Gesetz gab, sagte er nicht nur: Wer tötet, muß sterben, noch: Wer
stiehlt, muß sterben, sondern er spricht die gleiche Drohung aus, ver-
hängt die gleiche Qual und dieselbe Strafe bezüglich der anderen Ge-
bote.
Es ist eine unbestreitbare Wahrheit, daß keiner je in den Himmel
kommt, der nicht das ganze Gesetz des Herrn befolgt hat (Mt 5,19;
Jak 2,10); ich sage, das ganze und nicht nur einen Teil davon. Wer
daher nur einen Einschnitt macht, wer sich darauf beschränkt hat, ein
oder zwei Gebote zu beobachten, indem er die schlechte Gewohnheit
ablegt, dagegen zu verstoßen, ohne sich zu bemühen, die sündhaften
Gewohnheiten zu beschneiden, die ihn zum Übertreter der übrigen
Gebote werden lassen, der wird verdammt. Seht also, wie notwendig
es ist, daß jeder die geistige Beschneidung vollzieht, nicht alle auf
gleiche Weise; aber alle insgesamt müssen schneiden und das Messer
nicht nur an einer Stelle ansetzen, wie jene, die einen Einschnitt ma-
chen, sondern ringsherum, indem sie das ganze Gesetz beobachten
und befolgen, ohne etwas davon auszunehmen. Wenn sie das tun, wer-

417
den sie sehr glücklich sein, denn mit diesem Kennzeichen versehen
werden sie als Kinder Gottes erkannt und schließlich in seine Herr-
lichkeit versetzt werden.
Was jene betrifft, die dem göttlichen Dienst hingegeben und geweiht
sind, uns Geistliche und Ordensleute, so sind wir mehr als die anderen
zu dieser geistigen Beschneidung verpflichtet. Wir müssen sie nicht
nur in der Weise vornehmen wie die Weltleute, sondern noch auf eine
andere Art, zu der sie nicht verpflichtet sind, weil sie nicht die dazu
geeigneten Mittel haben wie wir und weil sie außerdem nicht so aus-
schließlich Unserem Herrn geweiht sind. Es genügt nicht, daß Ordens-
leute sich damit zufriedengeben, ein Laster oder eine schlechte Nei-
gung zu beschneiden und zu bekämpfen; sie müssen vielmehr rings
um das ganze Herz vorgehen. Darauf verwenden sie besondere Sorg-
falt, damit sie ihre Leidenschaften und Launen, ihre Zu- und Abnei-
gungen und Gewohnheiten beobachten und feststellen, um sie zu be-
schneiden. Dazu nehmen sie eine besondere Prüfung vor. Es gibt auch
heute Ordensleute, die diese Prüfung zweimal am Tag vornehmen, um
zu sehen und zu erkennen, in welchem Zustand sich ihr Herz befindet,
um dann mit dem Messer der Beschneidung alles abzuschaben, was
überflüssig und gefährlich ist; uzw. nicht nur, was krank ist, sondern
auch, was das geringste Hemmnis und Hindernis im geistlichen Leben
verursachen könnte. Dieses Messer ist nichts anderes als ein guter,
fester Entschluß, der sie alle Schwierigkeiten überwinden läßt, um
diese innere Beschneidung großmütig vorzunehmen. Deshalb wird das
Ordensleben ein Krankenhaus oder Hospital genannt, in dem man
nicht nur die gefährlichen und tödlichen Krankheiten behandelt, son-
dern auch die leichten und ungefährlichen. Ja, man geht noch weiter
und gelangt dahin, sich hier von den kleinsten Fehlern zu reinigen,
von leichten Dingen, die aber das geistliche Leben hemmen, und sei es
nur ein wenig, und die Vollkommenheit verzögern. Man entfernt sogar
die Ursachen des Übels und führt das Messer rings um das Herz; es ist
ein Teil, den man stets mit dieser inneren Beschneidung reinigen muß.
Auf dieses Herz muß man achten und darüber wachen, um seine Ge-
danken und Wünsche zu sehen, seine Leidenschaften und Neigungen,
seine Gefühle, Zu- und Abneigungen, um sie zu stutzen. Wer das tut,
ist wirklich sehr glücklich.
Mancher wird mir aber sagen: Das ist wahr, doch ich habe schon
öfter das Messer angesetzt, um solche Leidenschaften und Neigungen
zu stutzen, solche Widerstände und Abneigungen, die ich in meinem
Herzen unbeschnitten entdecke, die mir einen erbitterten Kampf lie-

418
fern. Obwohl ich bisher alles getan zu haben glaube, was ich konnte,
obwohl ich darauf viel Zeit mit aller möglichen Sorgfalt verwendet
habe, fühle ich trotzdem noch ständig starke und mächtige Leiden-
schaften, Abneigungen, Unlust, Widerstände und viele andere Regun-
gen, die mir zu schaffen machen und mich befehden. Gemach, meine
Lieben, antwortet man ihnen, wir sind nicht hergekommen, um zu
genießen, sondern um zu leiden. Wartet ein wenig; eines Tages werdet
ihr im Himmel sein, wo es nur Frieden und Freude gibt. Dort werdet
ihr keine Leidenschaften fühlen, keine Regung des Neides, der Abnei-
gung und des Widerstrebens, sondern ihr werdet Frieden und dauern-
de Ruhe besitzen. Dort also wird man genießen, nicht in diesem Le-
ben, wo man leiden und sich beschneiden muß. Wer hier auf Erden
ohne Leidenschaft wäre, der litte nicht, sondern genösse bereits. Nun,
das kann und darf nicht sein, denn solange wir leben, werden wir Lei-
denschaften haben und werden sie bis zum Tod nicht loswerden, denn
unser Sieg und unser Triumph beruht auf dem Kampf gegen diese Lei-
denschaften und Regungen. Das ist die allgemeine Auffassung der
Kirchenlehrer, die von der ganzen Kirche übernommen wurde.
Ich weiß wohl, daß es einige Einsiedler und Anachoreten in Palästi-
na gab, die behaupten wollten, der Mensch könne durch sorgsame und
häufige Abtötung so weit kommen, daß er frei von Leidenschaften und
Regungen des Zornes ist, daß er eine Ohrfeige hinnehmen könne, ohne
zu erröten, beleidigt, verspottet, geschlagen werden, ohne es zu fühlen.
Ihre Meinung wurde aber von der Kirche als falsch verurteilt und zu-
rückgewiesen. Sie hat als wahr erklärt: solange der Mensch lebt, über
diese Erde kriecht und sich hinschleppt, wird er Leidenschaften ha-
ben, Regungen des Zornes empfinden, Aufruhr des Herzens, Regun-
gen und Neigungen, Widerwillen, Abneigungen und alle anderen Din-
ge, denen wir alle unterworfen sind.
Wir dürfen also nicht erstaunt sein, wenn man uns auf unsere Fehler
aufmerksam macht oder uns tadelt, daß wir sogleich oder sogar sehr
lange diese Erregung fühlen, daß wir Widerwillen gegen etwas emp-
finden, was uns widerfährt, oder was uns gegen unsere Neigungen ge-
schieht; noch weniger, daß wir mehr Vorliebe für das eine als für etwas
anderes haben. Gewiß nicht, denn das sind natürliche Leidenschaften,
die an sich keine Sünde sind. Ihr dürft nicht meinen, daß ihr sündigt
und Gott im geringsten beleidigt, wenn ihr Regungen und Widerstre-
ben fühlt; keineswegs, denn das geschieht unabhängig von uns. Diese
verschiedenen Regungen sind keineswegs sündhaft; nicht da muß man
das Messer der Beschneidung ansetzen. Viele täuschen sich, wenn sie

419
sich einbilden, alles beruhe darauf, nichts zu fühlen. Wenn sie irgend-
einen Aufruhr der Leidenschaften empfinden, halten sie alles für ver-
loren. Ihr Armen, seht ihr nicht, daß nicht das der Teil ist, der am
meisten krank ist, und nicht der, den man beschneiden muß, da ihr
keine Gewalt über seine Regungen habt?
Was soll ich also beschneiden? Seht, beschneidet das, was infolge
dieser Regungen geschieht, legt das Messer an den Ausdruck des Ge-
fühls. Ihr Weltleute, beschneidet die Gotteslästerungen, die Flüche,
die ungerechten und verleumderischen Worte, die aus dem Zorn ent-
stehen; sie sind wirklich eine Sünde und eine tödliche Krankheit. Ihr
Lieben, beschneidet die Gedanken des Grolls, die ihr Tage, Wochen
und Monate lang im Herzen bewahrt, erwägt und aufrechthaltet, den
freiwillig genährten Widerstand gegen den Gehorsam, der eurem Ge-
schmack und eurer Vorstellung widerspricht. Ihr übrigen, sucht euer
Herz ab, betrachtet sorgsam eure Leidenschaften, Neigungen und Af-
fekte, dann schabt und stutzt alles sauber und vollständig. Begnügt
euch nicht damit, einen Einschnitt zu machen, wie jene, die in der
Welt leben, sondern macht eine gute geistige, innerliche Beschnei-
dung. Das ist die zweite Bemerkung, die ich zum Evangelium mache.
Die dritte ist, daß im Alten Bund jener, der beschnitten werden muß-
te, sich nicht selbst beschnitt, sondern durch die Hand eines anderen
beschnitten wurde. Unser Herr nun, der sich in allem und ganz den
anderen angleichen und ohne Ausnahme dem Gesetz unterwerfen
wollte, wollte auch nicht durch sich selbst beschnitten werden, son-
dern durch die Hand eines anderen, wer es auch sei. Ich weiß wohl,
daß es darüber verschiedene Meinungen der Kirchenlehrer und der
alten Väter gibt, aber ich will sie jetzt nicht wiedergeben; ich will nur
von einer sprechen. Sie besagt, Unser Herr wollte von der Hand eines
anderen beschnitten werden als Vorbild für uns, um uns zu zeigen, daß
es zwar eine gute Sache ist, sich selbst zu beschneiden, noch besser
aber, durch andere beschnitten zu werden. Gewiß, ich weiß zur Genü-
ge, wie empfehlenswert die alten Einsiedler und Anachoreten sind,
die in der Wüste lebten, und wie hoch man sie schätzen muß wegen der
bewundernswerten Siege und Triumphe, die sie errungen haben, in-
dem sie selbst ihr Herz und ihre inneren Leidenschaften abgetötet
oder beschnitten haben, dabei unterstützt von der Gnade Gottes, an-
geregt und gedrängt durch die Einsprechung des Heiligen Geistes, der
Heiligen und ihrer Schutzengel. Ich weiß aber ebensogut, daß die Be-
schneidung, die wir von der Hand anderer erdulden, die ihre über-
trifft, weil sie schmerzlicher und deshalb verdienstvoller ist.

420
Alle Christen sind verpflichtet, sich gegenseitig zu beschneiden.
Trotzdem gibt es in den Ordensfamilien und Ordenshäusern stets Per-
sonen, die sich darüber hinaus bereithalten und ständig über ihr eige-
nes Herz wachen, um zu erkennen, was unterdrückt und abgetötet
werden muß. Folglich haben sie das Messer zur Hand, um sich selbst
zu beschneiden. Das hindert sie aber nicht daran, daß sie von anderen
beschnitten werden wollen, und ohne Zweifel ist diese Beschneidung
schmerzlicher und fühlbarer als die andere. Es gibt stolze, aufgeblase-
ne, hochmütige und ungeschliffene Leute; sie erkennen wohl, daß es
unbedingt notwendig ist, diese Leidenschaften zu beschneiden, denn
sie sind ein großes Hindernis für die Gnade Gottes. Sie sind beim
Gebet und dabei entflammt sich ihr Herz im Verlangen nach dieser
Beschneidung. Sie befassen sich tatsächlich mit sich selbst, sie begin-
nen damit und mit solchem Eifer, daß es ihnen nicht schwerfällt, mit
soviel Freude und Trost, daß sie dabei eine Fülle von Tränen vergie-
ßen, die mit unvergleichlicher Freude ihren Augen entströmen. Mit
einem Wort: was wir selbst ausdenken oder nach unserer eigenen Wahl
und aus eigenem Entschluß tun, kostet uns sozusagen nichts; so groß
sind die Schliche unserer Eigenliebe. Wenn aber zur gleichen Zeit
irgendwer zu ihnen sagt: Du bist ein Tölpel, ein Lümmel oder etwas
ähnliches, würde gewiß das Blut in Wallung geraten, man wäre ganz
verwirrt und würde sogleich Regungen des Zornes fühlen. Das kann
man nicht ertragen und man findet schöne Ausreden, um seine Grün-
de verständlich und geltend zu machen. Ihr seht also, wie notwendig es
ist, daß ein anderer das Messer ergreift, um uns zu beschneiden, denn
er weiß viel besser als wir, wo man es ansetzen muß.
Der erste unter den Aposteln, der hl. Petrus, sah im Ölgarten die
Soldaten kommen, um seinen guten Meister gefangenzunehmen. Da
wurde er plötzlich von einer Wallung des Zornes befallen, wandte sich
an Unseren Herrn und fragte ihn, ob er mit dem Schwert zuschlagen
sollte, als wollte er sagen: Ich habe zwar nur ein kleines Messer, wenn
du aber willst, daß ich dieses Gesindel niederschlage, werde ich ein
Blutbad anrichten. Er konnte die Antwort nicht abwarten, denn er war
leidenschaftlich und aufbrausend, schlug auf einen der Soldaten ein
und hieb ihm das rechte Ohr ab. Unser göttlicher Heiland billigte aber
diese Tat nicht; er tadelte und schalt ihn, nahm das Ohr des Malchus
und setzte es wieder an seine Stelle; dann sagte er zu Petrus (Mt 26,51f;
Lk 22,49-51; Joh 18,10f): Stecke dein Schwert in die Scheide, als woll-
te er sagen: Du hast das Messer nicht da angesetzt, wo es notwendig ist.
Diese Beschneidung ist nicht gut gemacht, denn das ist nicht der Teil,
den man abschneiden muß. Du hast ihm das rechte Ohr abgeschnitten;

421
mit dem empfängt und hört man die geistlichen Dinge, die
Einsprechungen und guten Regungen. Du hast ihm das linke gelassen,
mit dem man die weltlichen und eitlen Dinge vernimmt. Man hätte
ihm besser dieses abschlagen sollen als das andere, damit er mehr
imstande und bereit wäre, die Einsprechungen, die göttlichen und
himmlischen Worte zu vernehmen. Weil du genau das Gegenteil getan
hast, ist die Beschneidung nicht gut vollzogen. Seht also, wie wichtig
es ist, gut zu treffen und das Messer richtig an der Stelle anzusetzen,
die am meisten anfällig und krank ist.
Ich schließe, denn der Tag vergeht, und ich will die Predigt mit einer
Geschichte beenden und euch dennoch ein Wort zum zweiten Teil des
Evangeliums sagen. Der Prediger, der heute die große Predigt gehal-
ten hat, begann seine Predigt mit einer wundervollen Begebenheit, die
ich euch nicht vorenthalten will; sie ist ein Gericht, das auch für zwei
Mahlzeiten sehr geeignet ist, ebenso dazu, meine Ansprache zu be-
schließen. In der Genesis (33,18-20; 34) heißt es: Jakob schlug eines
Tages mit seinen Kindern und seinem ganzen Gesinde, das sehr groß
war, seine Zelte nahe der Stadt Sichem auf. Jakob hatte nun eine sehr
schöne Tochter namens Dina. Da sich diese Tochter in der Nähe der
königlichen Stadt befand, war sie neugierig, sie zu besichtigen. Sie
beschloß also, ganz allein fortzugehen, um in ihr einen Rundgang zu
machen. Seht, das ist der menschliche Geist: sie ging nicht nur hin, um
sie anzuschauen, sondern wie ich glaube, gewiß auch, um von anderen
gesehen zu werden, denn sie war sehr schön und wußte das sehr wohl.
Da ging sie nun ganz allein durch die große Stadt Sichem und besich-
tigte überall ihre wundervollen Sehenswürdigkeiten. Es geschah aber,
daß der Königssohn sie vom Fenster aus erblickte, und da er sie mit so
seltener Schönheit begabt sah, erkundigte er sich, wer sie sei. (Der
junge Prinz hieß selbst Sichem, sein Vater Hamor.) Da wurde er von
solcher Leidenschaft nach ihr erfaßt, daß er sie entführen ließ. Das war
für ihn nicht schwierig, denn die Großen finden immer viele Leute,
die ihnen helfen und ihre bösen Vorhaben fördern. Das Mädchen wur-
de also entführt und vom Prinzen Sichem geschändet. Darüber ent-
stand große Aufregung, denn König Hamor und sein Sohn waren von
einem anderen Volk als Dina.
Als der Vater erfuhr, was geschehen war, wollte er Abhilfe schaffen,
denn er erkannte, daß sein Sohn in Dina leidenschaftlich verliebt war.
Die Heilige Schrift sagt (34,3) tatsächlich, daß Sichems Seele an der
Dinas klebte. Das war aber eine Bindung, die nicht sehr stark war, ein
Strohfeuer, wie die Liebschaften der Welt sind, die nur drei Tage an-

422
halten. Die Gottesliebe ist anders, denn sie bleibt in der Seele, in die
sie einmal eingekehrt ist, verläßt sie nie mehr, vereinigt und verbindet
sie mit der göttlichen Majestät, nicht für zwei oder drei Tage wie die
irdische Liebe, sondern auf ewig. Die andere Liebe dagegen ist töricht,
gefährlich und verwerflich, denn sie wird nur von Gefallsucht, Al-
bernheit und Possen geweckt und genährt. Als nun Hamor sah, daß
man zur Befriedigung seines Sohnes so weit gehen müsse, ihn mit Dina
zu vermählen, beschloß er, mit Jakob darüber zu verhandeln, und ließ
ihn zu diesem Zweck rufen. Da er König war, versammelten sich viele
Leute und man brachte viele Gründe vor, daß die Heirat sozusagen
beschlossen war.
Die Erfindungen des menschlichen Geistes sind aber sonderbar. Als
Dinas Brüder Simeon und Levi erfuhren, daß ihr Vater Jakob über die
Vermählung ihrer Schwester mit Sichem verhandelte, waren sie sehr
empört über die Schande, die ihr widerfahren war, und beschlossen,
dem König etwas vorzuschlagen, ohne das sie nicht zustimmen woll-
ten. Sie verlangten also, wenn er eine Verbindung mit ihrem Volk ein-
gehen wollte, müßten alle beschnitten werden. Wegen dieses Vorschlags
gab es zunächst große Schwierigkeiten, aber nach vielen Vorstellun-
gen von der einen und der anderen Seite beschloß man schließlich,
dem Volk des Landes Sichem die Beschneidung vorzuschlagen. Als
alle am Platz der Beratungen versammelt waren, schlug man ihnen die
Beschneidung vor und führte viele Gründe an, um sie zu bewegen,
dem zuzustimmen, was der König zur Befriedigung seines Sohnes
wünschte. Man sagte ihnen, Jakob stamme von einem guten Volk, er
verbinde sich samt seinem Volk mit ihnen, so daß sie einander stärk-
ten, denn er habe große Herden. Kurz, man legte ihnen so viele Dinge
vor, daß alle zustimmten, sich der Beschneidung zu unterziehen. Da
sie aber sehr schmerzhaft war, wurde die Mehrzahl der Männer so
geschwächt, daß sie halbtot waren. Als Simeon und Levi das erfuhren,
gingen sie in die Stadt und richteten ein dermaßen grausames Gemet-
zel an, daß sie alles in Feuer und Blut tauchten, um sich für das Un-
recht zu rächen, das Hamors Sohn ihrer Schwester angetan hatte.
In dieser ganzen Begebenheit fällt mir vor allem die Bereitschaft
dieses Volkes auf, sich dem Willen des Königs anzuschließen, die be-
wundernswerte Unterwerfung, die in der Zustimmung zu seinem Wil-
len sichtbar wird, indem man sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, um
nur seinem Sohn Freude zu machen. O Gott, werden wir so feige und
zaghaft sein, daß wir unserer geistigen Beschneidung ausweichen, wenn
wir heute unseren teuren Heiland sich dem Gesetz dieser Beschnei-

423
dung unterwerfen sehen, um uns ein Beispiel zu geben? Indem er sein
Blut vergießt, fordert er uns nicht dazu auf, das unsere zu vergießen,
sondern nur dazu, unser Herz und unseren Geist vor ihm auszugießen
(1 Sam 1,15; Ps 62,9; Klgl 1,19). Wie lassen wir es zu, daß er uns zu
dieser inneren Beschneidung einlädt, nicht zu seinem Vorteil oder
Vergnügen, sondern zu unserem Wohl, Heil und Nutzen, und wollen
wir uns dann weigern zu tun, was er von uns verlangt? Werden wir
wohl den Mut haben, das Volk von Sichem sich einem so harten König
unterwerfen zu sehen, einzig um dem Königssohn Befriedigung zu
verschaffen, und selbst so furchtsam und feige sein, daß wir unseren
Geist nicht so leichten und bequemen Dingen unterwerfen?
Schließen wir mit einem Wort über den Namen, der Unserem Herrn
gegeben wurde. Wir werden das mit einer anderen Geschichte been-
den. Das heutige Evangelium gibt zu verstehen, daß das Vergießen des
Blutes Jesu der Grund für seinen Namen war. Es ist sehr passend, daß
man ihm diesen Namen am Tag seiner Beschneidung gab, denn er konn-
te nicht Erlöser sein, ohne Blut zu vergießen, noch Blut vergießen,
ohne Erlöser zu sein. Er hätte wahrhaftig die Welt erlösen können,
ohne sein Blut zu vergießen, aber das hätte seiner Liebe zu uns nicht
genügt. Gewiß hätte er der göttlichen Gerechtigkeit für alle unsere
Sünden durch einen einzigen Seufzer seines Herzens Genugtuung lei-
sten können; das hätte aber seine Liebe nicht zufriedengestellt. Sie
wollte, daß er mit der Annahme des Namens Erlöser sein Blut als An-
geld dessen gebe, das er zu unserer Rettung vergießen wollte. Der Name
des Erlösers wurde ihm an diesem Tag mit Recht gegeben, denn es gibt
keine Erlösung ohne Blutvergießen (Hebr 9,22) und kein Heil ohne
Erlösung, denn niemand kann in den Himmel kommen außer durch
diese Pforte. So begann Unser Herr, als er Erlöser und Retter wurde,
indem er diesen Namen annahm, unsere Schulden in keiner anderen
Währung als mit seinem kostbaren Blut zu begleichen. Er wurde also
Jesus genannt, das bedeutet Erlöser.
Die alten Väter sagen, Unser Herr hatte unter anderen Namen und
Titeln deren drei, die ihm wesenseigen waren. Der erste ist der des
höchsten Seienden, der ihm so sehr vorbehalten ist, daß er keinem
anderen zugelegt werden kann (Ex 3,14f; Jes 42,8); in diesem Namen
erkennt er sich selbst durch sich selbst. Der zweite ist der des Schöp-
fers, der ebenfalls nur ihm gegeben werden kann, denn keiner ist Schöp-
fer außer ihm; in dem Namen erkennt er sich durch sich selbst, aber er
erkennt sich auch in seinen Geschöpfen. Der dritte Name ist Jesus, der
gleichfalls nur ihm zusteht, weil kein anderer außer ihm Erlöser sein

424
konnte (Apg 4,12). Darüber hinaus hat er noch einen, nämlich Chris-
tus (Mt 1,16); er bedeutet Hohepriester, Gesalbter Gottes. Seht nun,
wir Christen haben an den beiden letzten Namen Anteil (1 Petr 2,9;
Apg 4,12). Jetzt tragen wir den Namen Christi, nämlich als Christen,
und wir alle sind Gesalbte durch die Sakramente, die wir empfangen.
Im Himmel werden wir den Namen des Erlösers tragen, denn dort
werden wir uns alle des Heiles erfreuen und wir werden alle Erlöste
sein. Seht, wie wir nach dem anderen Namen Unseres Herrn genannt
werden, denn wir werden Erlöste genannt werden.
Wie aber muß man den heiligen Namen Jesus aussprechen, damit er
für uns nützlich und gewinnbringend ist? Das will ich euch sagen und
zeigen durch eine Geschichte, mit der ich schließe. Dieser Name darf
nicht irgendwie ausgesprochen werden. Es genügt nicht zu wissen, daß
er aus zwei Silben besteht, noch weniger, ihn nur mit dem Mund aus-
zusprechen. Die Papageien tun das wohl auch, und sie werden dadurch
nicht gerettet. Unser Herr zeigt uns, wie man ihn nachahmen muß,
indem er bei seiner Annahme sein Blut vergießt; denn dadurch zeigt
er, daß er zu tun bereit ist, was dieser heilige Name bedeutet, nämlich
die Menschen zu erlösen. Es genügt nicht, ihn mit dem Mund wieder-
zugeben, man muß ihn vielmehr dem Herzen eingeprägt haben. Wie
glücklich werden wir sein, wenn wir in uns alles haben, was unsere
Namen bedeuten! Es ist nicht alles, sich Priester, Bischof, Ordens-
mann oder Ordensfrau zu nennen, man muß vielmehr bedenken, ob
das Leben, das man führt, mit dem Namen übereinstimmt, den man
trägt. Man muß auf das Amt schauen, das man ausübt, auf die Beru-
fung, in der man lebt, was unser Beruf ist; mit einem Wort, wie geord-
net unsere Leidenschaften und Neigungen, wie unterworfen unser Ur-
teil ist, ob unsere Handlungen mit unserem Stand übereinstimmen.
Im Buch der Richter (Kap. 11.12) wird berichtet, daß der große
Heerführer Jiftach über die Amoniter siegte durch das Gelöbnis, das
er dem Herrn machte. Als er aber seine Tochter geopfert und alles
getan hatte, wovon die Geschichte berichtet, glaubte er Frieden und
Ruhe zu haben; doch da erhob sich ein Aufstand. Die Kinder Efraims
warfen ihm vor, daß er sie nicht eingeladen und nicht in den Krieg
mitgenommen habe, obwohl sie tapfere Krieger waren, und daß er das
ohne Zweifel getan habe, um sie zu verachten. Der gute Jiftach war
über diesen Aufruhr erstaunt und sagte ihnen: Aber meine lieben
Freunde, ihr wißt recht gut, daß ich euch eingeladen habe, als ich in
den Krieg ziehen wollte, aber ihr habt euch entschuldigt, daß ihr nicht
gekommen seid. Als daher der Augenblick gekommen war, daß ich

425
den Kampf eröffnen mußte, habe ich es getan. Aber die Leute von
Efraim wollten seine Gründe nicht einsehen und erklärten ihm den
Krieg. Doch Gott stand auf der Seite Jiftachs, weil seine Sache gerecht
war, und half ihm dermaßen, daß er 42 000 von ihnen tötete, so daß
Efraim und das übrige Volk sehr bestürzt waren, als sie so in die Flucht
geschlagen wurden. Nun stellte Jiftach am Ufer des Jordan Wachen
auf, gab ihnen ein Losungswort und sagte: Fragt jene, die übersetzen
wollen, wer sie sind. Wenn sie sagen, daß sie von Efraim sind, dann
tötet sie; wenn sie es verneinen, dann laßt sie das Losungswort
Schibbolet sagen. Sagen sie Sibbolet, dann überliefert sie dem Tod;
sagen sie aber Schibbolet, dann gebt ihnen freien Durchgang. Beach-
tet, daß Schibbolet und Sibbolet fast gleichlautende Worte sind
(Schibbolet bedeutet Ähre, Sibbolet Bürde), aber Schibbolet wird
schnarrend ausgesprochen, Sibbolet dagegen feiner und zierlicher.
Wie glücklich werden wir sein, wenn wir in der Todesstunde und
noch zu Lebzeiten den heiligen Namen des Erlösers gut aussprechen,
denn er wird gleichsam das Losungswort sein, durch das wir freien
Zugang zum Himmel erhalten werden, denn er ist der Name unserer
Erlösung. Wenn Gott uns soviel Gnade schenkt, daß wir nicht eines
plötzlichen Todes sterben, wird in unserer letzten Stunde ein Priester
bei uns sein, der eine geweihte Kerze in Händen hält und uns zuruft:
Denkt an euren Erlöser, sagt Jesus, sagt Jesus. Glücklich werden jene
sein, die den Namen fromm aussprechen und mit einem Gefühl tiefer
Dankbarkeit dafür, daß der Erlöser uns losgekauft hat durch sein Blut
und sein Leiden; denn jene, die ihn zu diesem Zeitpunkt recht ausspre-
chen, werden gerettet sein. Dagegen werden jene, die ihn nicht gut
aussprechen, die ihn nachlässig und leichthin aussprechen, verdammt
und gepeinigt werden. Wir müssen also große Sorgfalt darauf verwen-
den, ihn während unseres Lebens oft zu wiederholen, denn er wurde
vom ewigen Vater seinem Sohn gegeben. Es ist ein Name über alle
Namen, ganz göttlich, ganz mild und gütig. Er ist ausgegossener Bal-
sam (Hld 1,2), geeignet, alle Wunden unserer Seele zu heilen. Vor
diesem Namen beugen sich alle Knie (Phil 2,9f); er erfreut die Engel,
rettet die Menschen und läßt die Teufel erzittern, damit wir ihn in
diesem Leben preisen und ehren und dadurch würdig werden, mit den
Seligen zu singen: Es lebe Jesus!

426
Zum Donnerstag der 1. FFastenwoche
astenwoche

Nr. 56: 17. Februar 1622 X,215-232

Frau, dein Glaube ist groß: dir geschehe, wie du


willst (Mt 15,28).

An diesem Tag schlagen die Prediger verschiedene Umwege ein, um


die Tugenden der Kanaanäerin zu loben; ich will dagegen den Glau-
ben zum Gegenstand nehmen und euch zeigen, was er ist. Wenn ich
dabei auf das stoße, was im Evangelium sich zwischen Unserem Herrn
und der Kanaanäerin abspielt (Mt 15,21-28), werden wir es mit dem
verbinden, was ich euch sagen will. Auf diese Weise werdet ihr erken-
nen, welche Eigenschaften der Glaube haben muß.
Zunächst: Wenn der Heiland sagt: Frau, dein Glaube ist groß, heißt
das, daß der Glaube dieser Frau größer war als der unsere? Soweit es
den Gegenstand betrifft, nein. Der Glaube hat ja zum Gegenstand die
geoffenbarten Wahrheiten von Gott oder von der Kirche und er ist
nichts anderes als eine Zustimmung unseres Verstandes zu diesen
Wahrheiten, die er gut und schön findet. Dadurch kommt er dazu, sie
zu glauben, und der Wille, sie zu lieben. Denn wie die Güte das Objekt
des Willens ist, so ist die Schönheit das des Verstandes. Dem äußeren
Menschen nach wird das Gute durch die Begierde angestrebt und die
Schönheit von unseren Augen geliebt. Ebenso verhält es sich dem in-
neren Menschen nach bezüglich der Wahrheiten des Glaubens. Da sie
gut, lieblich und echt sind, werden sie nicht nur vom Willen geliebt
und erstrebt, sondern auch vom Verstand wegen der Schönheit ge-
schätzt, die er in ihnen findet. Sie sind schön, weil sie wahr sind; denn
es gibt keine Schönheit ohne Wahrheit und keine Wahrheit ohne Schön-
heit. Ebenso ist eine Schönheit, die nicht wahrhaftig ist, nicht mehr
schön, da sie falsch und trügerisch ist.
Da nun die Wahrheiten des Glaubens sehr wahrhaftig sind, werden
sie wegen der Schönheit dieser Wahrheit geliebt, die das Objekt des
Verstandes ist. Geliebt sage ich, denn obwohl der unmittelbare Ge-
genstand der Liebe des Willens die Güte ist, kommt er dadurch, daß
ihm der Verstand die Schönheit der geoffenbarten Wahrheiten zeigt,
dahin, auch die Güte zu entdecken, und liebt indessen die Güte und
die Schönheit der Geheimnisse unseres Glaubens. Um einen großen
Glauben zu haben, ist es also notwendig, daß der Verstand dessen Schön-
heit erkennt, so daß Unser Herr, wenn er ein Geschöpf zur Erkenntnis
der Wahrheit (1 Tim 2,4) führen will, ihm stets dessen Schönheit ent-

427
hüllt. Wenn sich auf diese Weise der Verstand angezogen und einge-
nommen fühlt, teilt er diese Wahrheit dem Willen mit, der sie wegen
der Güte und Schönheit ebenfalls liebt, die er darin erkennt. Dann
bewirkt die Liebe, die diese beiden Seelenkräfte für die erkannten
Wahrheiten hegen, daß der Mensch alles aufgibt, um an sie zu glauben
und sie anzunehmen. Das geschieht durch Abstraktion. Ihr seht also,
daß der Glaube nichts anderes ist als eine Zustimmung des Verstandes
und des Willens zu den Wahrheiten der göttlichen Geheimnisse.
Was aber den Gegenstand des Glaubens betrifft, kann er für die ei-
nen nicht größer sein als für andere, ebensowenig bezüglich der Zahl
der Dinge, die man glauben muß, denn wir müssen alle das gleiche
glauben, sowohl dem Gegenstand als dem Umfang nach. Darin sind
alle gleich, denn alle müssen alle Wahrheiten des Glaubens anneh-
men, sowohl jene, die Gott selbst geoffenbart hat, als jene, die er durch
seine Kirche geoffenbart hat, so daß einer, der nicht alle diese Ge-
heimnisse glaubt, nicht katholisch ist und folglich niemals in das Pa-
radies eingehen wird. Wenn also Unser Herr sagt: Frau, dein Glaube
ist groß, dann heißt das nicht, daß sie an mehr glaubt als wir, sondern,
daß verschiedene Dinge ihren Glauben vortrefflicher machen. Es ist
wahr, daß es nur einen Glauben (Eph 4,5) gibt, den alle Christen haben
müssen; trotzdem besitzt ihn nicht jeder im gleichen Grad der Voll-
kommenheit. Um verständlich zu machen, ob er groß oder klein ist,
spricht man deshalb von Bedingungen, die seine Größe ausmachen,
und von Tugenden, die ihn begleiten. Aber um das recht zu begreifen,
muß man es nach und nach entwickeln.
Der Glaube ist die Basis und das Fundament aller anderen Tugen-
den, besonders aber der Hoffnung und der Liebe. Wenn ich aber von
der Liebe spreche, muß man das auch auf die große Zahl der Tugenden
anwenden, die ihr folgen und sie begleiten. Wenn diese Liebe mit dem
Glauben vereinigt und verbunden ist, belebt sie ihn. Daraus folgt, daß
es einen toten und einen sterbenden Glauben gibt. Der tote Glaube ist
jener, der von der Liebe getrennt ist. Diese Trennung bewirkt, daß man
nicht die Werke tut, die mit dem Glauben übereinstimmen, den man
bekennt. Das ist der Glaube vieler Christen in der Welt; sie glauben
wohl an alle Geheimnisse unserer heiligen Religion, da aber ihr Glau-
be nicht von der Liebe begleitet wird, tun sie nichts Gutes, das mit
ihrem Glauben übereinstimmte. Der sterbende Glaube ist jener, der
nicht völlig von der Liebe getrennt ist. Er bewirkt zwar einige gute
Werke, wenn auch selten und schwach, denn die Liebe kann nicht in
einer Seele sein, die den Glauben hat, ohne mehr oder weniger zu

428
wirken; sie muß wirken oder vergehen, denn sie kann nicht sein, ohne
zu wirken.
So wie die Seele nicht im Leib sein kann, ohne Lebensäußerungen zu
bewirken, so kann auch die Liebe nicht mit unserem Glauben verbun-
den sein, ohne Werke hervorzubringen, die ihm entsprechen (Gal 5,6;
Jak 2,14-26); das kann nicht anders sein. Wenn ihr deshalb erkennen
wollt, ob euer Glaube tot oder sterbend ist, dann schaut auf eure Wer-
ke und Handlungen. Mit ihm verhält es sich wie mit einem sterbenden
Menschen: wenn ihn eine Schwäche befällt oder wenn er die Seele
ausgehaucht zu haben scheint, dann hält man ihm eine Feder vor die
Lippen und die Hand auf das Herz; wenn die Seele noch da ist, dann
fühlt man, daß das Herz schlägt, man sieht an der Feder vor seinem
Mund, daß er noch atmet, und man schließt daraus mit Sicherheit, daß
dieser Mensch wohl im Sterben liegt, aber doch noch nicht ganz tot ist.
Da er Lebenszeichen gibt, muß notwendigerweise die Seele mit sei-
nem Leib vereinigt sein. Wenn er kein Lebenszeichen mehr gibt, sagt
man, daß die Seele von ihm getrennt, folglich dieser Mensch gestorben
ist.
Der tote Glaube gleicht einem dürren Baum, der keinen Lebenssaft
hat. Wenn deshalb die anderen Bäume im Frühling Blätter und Blüten
treiben, bringt er keine hervor, weil er nicht den Saft hat wie die ande-
ren, die nicht tot sind, sondern nur abgestorben. Das ist ja etwas ande-
res; wenn sie auch im Winter dem äußeren Anschein nach den toten
Bäumen gleichen, tragen sie doch zu ihrer Zeit Blätter, Blüten und
Früchte, was ein toter Baum nie tut. Dieser ist gewiß ein Baum gleich
den anderen, das ist wahr; er ist dennoch tot, denn er trägt nie Blüten
und Früchte. So hat der tote Glaube wohl das gleiche Aussehen wie
der lebendige, aber mit dem Unterschied, daß der erste keine Blüten
und nicht die Früchte der guten Werke bringt, der zweite aber solche
zu jeder Jahreszeit hervorbringt.
Mit dem Glauben und der Liebe verhält es sich ebenso. An den Wer-
ken, die die Liebe hervorbringt, erkennt man, ob der Glaube tot oder
im Sterben ist. Bringt sie keine guten Werke hervor, dann sagen wir,
daß er tot ist; sind sie klein und schwerfällig, dann sagen wir, daß er im
Sterben ist. Wenn es aber einen toten Glauben gibt, dann muß es als
Gegenstück einen lebendigen Glauben geben. Der ist vorzüglich, denn
da er mit der Liebe verbunden und vereinigt ist und von ihr beseelt
wird, ist er stark, fest und beständig, er tut viele große und gute Werke,
die verdienen, daß man ihn preist mit den Worten: Dein Glaube ist
groß; dir geschehe, wie du willst.

429
Wenn man nun sagt, daß dieser Glaube groß ist, will man damit
nicht ausdrücken, daß er 14 oder 15 Ellen lang sei; o nein, so darf man
das nicht verstehen. Er ist groß wegen der guten Werke, die er bewirkt,
ebenso wegen der großen Zahl von Tugenden, die ihn begleiten, die er
wie ein König regiert, der sich für die Verteidigung und Bewahrung
der göttlichen Wahrheiten einsetzt. Daß diese Tugenden ihm gehor-
chen, darin zeigt sich seine Erhabenheit und Größe, genau so wie die
Könige nicht nur groß sind, wenn sie viele Provinzen und zahlreiche
Untertanen haben, sondern wenn sie dabei Untertanen haben, die sie
lieben und ihnen ergeben sind. Wenn aber bei all ihrem Reichtum die
Vasallen ihre Erlässe und ihre Gesetze nicht beachten, würde man
nicht sagen, daß sie große Könige sind, sondern recht kleine. So folgen
der mit dem Glauben vereinigten Liebe nicht nur alle Tugenden, son-
dern sie befiehlt ihnen wie eine Königin; und alle gehorchen ihr und
kämpfen für sie nach ihrem Belieben. Von daher kommt die große
Zahl von guten Werken des lebendigen Glaubens.

Drittens gibt es einen wachen Glauben, der ebenfalls abhängig ist


von seiner Verbindung mit der Liebe; es gibt aber auch einen, der
eingeschlafen ist, schwerfällig und lethargisch, und das ist das Gegen-
teil vom wachen Glauben. Er ist träge, sich mit der Erwägung der
Geheimnisse unserer Religion zu befassen; er ist recht schläfrig, da-
her dringt er nicht in die geoffenbarten Wahrheiten ein; er sieht sie
wohl und nimmt sie wahr, weil er die Augen nicht ganz geschlossen
hat, da er nicht schläft, aber er ist benommen und schlaftrunken. Er
gleicht sehr schläfrigen Leuten, die wohl die Augen offen haben, aber
trotzdem fast nichts sehen, und obwohl sie reden hören, nicht verste-
hen und begreifen, was man sagt. Warum? Ach, deswegen, weil sie
ganz vom Schlaf befangen sind. Ebenso hat dieser schläfrige Glaube
wohl die Augen offen, denn er glaubt an die Geheimnisse, er versteht
genügend, was man davon erklärt, aber ich weiß nicht, mit welcher
Schwerfälligkeit und Schläfrigkeit, die ihn hindert zu begreifen, was
es bedeutet. Dieser Glaube gleicht auch noch Menschen, die einen
schwerfälligen und verträumten Geist haben. Wirklich, sie öffnen die
Augen, ihr seht sie nachdenklich und scheinbar aufmerksam auf irgend-
etwas, aber sie wissen nicht, was es ist. Ebenso ist es bei denen, die
einen schläfrigen Glauben haben: Sie glauben an alle Geheimnisse im
allgemeinen, aber fragt sie, was sie davon verstehen, sie wissen nichts.
Wenn der Glaube so eingeschläfert ist, ist er in großer Gefahr, von
verschiedenen Feinden überfallen und verführt zu werden, ja in ge-
fährliche Abgründe zu stürzen.

430
Der wache Glaube dagegen tut nicht nur gute Werke wie der leben-
dige, sondern durchdringt und begreift die geoffenbarten Wahrheiten
mit lebhaftem Scharfsinn. Er ist eifrig tätig, zu erforschen und zu er-
fassen, was ihn vermehren und festigen kann. Er wacht und nimmt alle
seine Feinde in großer Ferne wahr. Er ist stets auf der Hut, um das
Gute zu entdecken und das Böse zu meiden. Er hütet sich vor dem,
was ihm zum Untergang gereichen könnte, und da er wach ist, geht er
sicher voran und vermeidet leicht, in Abgründe zu stürzen.
Dieser wache Glaube wird von den vier Kardinaltugenden begleitet.
Er besitzt die Stärke, die Klugheit, die Gerechtigkeit und die Mäßi-
gung. Er bedient sich ihrer als Waffenrüstung, um seine Feinde in die
Flucht zu schlagen, und bleibt mit ihnen fest, unüberwindlich und
unerschütterlich. Seine Stärke ist so groß, daß er nichts fürchtet, weil
er nicht nur stark ist, sondern diese Stärke kennt und sich auf sie stützt,
die die Wahrheit selbst ist. Nun gibt es nichts so Starkes wie die Wahr-
heit (3. Esra 4,36). Die Menschen besitzen wohl diese Stärke, sie ha-
ben Macht und Gewalt über alle Tiere; weil wir aber nicht erkennen,
daß wir sie haben, folgt daraus, daß wir uns fürchten wie Schwache und
Feiglinge und wie Tölpel vor den wilden Tieren fliehen. Die Stärke
des Glaubens dagegen besteht zum Teil darin, daß er sie kennt. Daher
gebraucht er sie bei Gelegenheit und schlägt alle seine Feinde in die
Flucht.
Er gebraucht die Klugheit, um sich anzueignen, was ihn stärken und
vermehren kann. Er begnügt sich nicht damit, alle Wahrheiten zu glau-
ben, die von Gott geoffenbart sind und von der Kirche verkündet wer-
den, was zum Heil notwendig ist; er ist vielmehr wach, um immer
mehr neue zu entdecken; und nicht nur das, er vertieft sich in sie, um
aus ihnen den Saft und das Mark zu gewinnen, mit denen er sich nährt
und labt, stärkt und vermehrt. Diese Klugheit ist nun nicht wie die
vieler Weltmenschen, die sehr darauf aus sind, Reichtümer anzuhäu-
fen, Ehren und ähnlichen Plunder, die sie reich und in den Augen der
Menschen angesehen machen, die ihnen aber für das ewige Leben nichts
nützen. Das ist eine falsche Klugheit! Obwohl sie mich Städte,
Fürstentümer und Königreiche gewinnen läßt, was nützt sie mir, wenn
ich dabei verdammt werde (Mt 16,26)? Was nützt mir mein Wachsein,
wenn ich es nur dazu gebrauche, um vergängliche Dinge dieses sterbli-
chen Lebens zu erwerben? Wäre ich auch der stärkste und klügste
Mensch der Welt, wenn ich mich dieser wachen Klugheit nicht für das
ewige Leben bediene, ist es gewiß nichts.
Trotzdem gibt es so viel menschliche Klugheit! Man gewahrt sie in
abertausend Gestalten und wir sehen bestimmt, daß der Großteil un-

431
serer Übel von dieser falschen Klugheit kommt. Doch sprechen wir in
dieser Stunde nur von der Klugheit des Glaubens. Die Mehrzahl der
Christen, die den Glauben haben (den muß man ja haben, um einer zu
sein), glaubt alles, was man glauben muß, um das Heil zu erlangen.
Nun gut, sagt der hl. Bernhard, ihr werdet es erlangen, wenn ihr glaubt
und tut, wovon euch der Glaube lehrt, daß es notwendig ist, um das
ewige Leben zu gewinnen. Es braucht wenig, um das Heil zu erlangen:
alle Geheimnisse unserer Religion glauben und die Gebote Gottes
halten (Mt 19,16f). Die Klugheit dieser Menschen begnügt sich damit
und will nicht mehr tun, als notwendig ist, um das ewige Leben zu
besitzen, und fliehen, was ihnen die Verdammnis bringen kann. Ihr
bemüht euch also nicht für Gott, sondern einzig für euch selbst, weil
eure Klugheit nicht weiter reicht, als das zu tun, wovon ihr wißt, daß es
euch vor dem Verderben bewahren kann. Ihr gehört nicht zu den wach-
samen Dienern, die stets das Auge auf die Hände ihres Herrn gerichtet
haben (Ps 123,2), die sehr sorgsam darauf bedacht sind, alles zu tun,
wovon sie wissen, daß es ihm ihre Dienste wohlgefällig machen kann.
Sie zeigen damit, daß sie nicht für sich arbeiten, sondern aus Liebe zu
ihrem Herrn. Sie wenden ja ihre ganze Klugheit an, um nicht nur ihre
Pflicht gegen ihn zu erfüllen, sondern um auch alles zu tun, was sie als
ihm wohlgefällig entdecken. Sie sind treue Knechte (Mt 25,21.23), sie
werden daher das ewige Leben besitzen und darüber hinaus eine große
Herrlichkeit und Seligkeit in der Freude der Gegenwart der göttli-
chen Majestät.
Es gibt aber auch manche, schreibt der hl. Bernhard, die sagen: Ich
halte die Gebote Gottes. Nun gut, du wirst das Heil erlangen, das ist
dein Lohn. Ich bin kein Dieb. Du wirst nicht gehängt, das ist dein
Lohn. Ich habe niemand um seine Ehre gebracht. Du wirst nicht ent-
ehrt, das ist dein Lohn. Ich habe getan, wovon ich weiß, daß man es tun
muß, um das Heil zu erlangen. Nun denn, du wirst das ewige Leben
besitzen, das ist dein Lohn. Nun, der wache Glaube handelt nicht so;
er dient Gott nicht als Mietling, sondern treu, denn er setzt all seine
Kraft und Klugheit ein, seine Gerechtigkeit und Mäßigung, um alles
zu tun, was er vermag und als unserem Herrn und Meister wohlgefällig
erkennt. Er beobachtet nicht nur, was zum Heil notwendig ist, son-
dern sucht, ergreift und übt getreu alles, was er vermag, um Gott näher
zu kommen.
Es gibt eine fünfte Eigenschaft des Glaubens, nämlich wachsam zu
sein. Der wachsame Glaube ist sehr groß und vorzüglich, denn darü-
ber hinaus, daß er lebendig und wach ist, gelangt er durch diese Wach-

432
samkeit zum Gipfel der Vollkommenheit. Diesen Glauben hatte die
Kanaanäerin. Sehen wir also ein wenig, wie groß der Glaube dieser
Frau ist wegen dieser Wachsamkeit. Da Unser Herr die Gegend von
Tyrus und Sidon durchzog und sich verbergen wollte, um nicht seine
Herrlichkeit zu offenbaren, gedachte er sich in ein Haus zurückzuzie-
hen, um nicht gesehen und erkannt zu werden. Da nämlich sein Ruhm
von Tag zu Tag zunahm, folgte ihm eine große Volksmenge, die ange-
lockt wurde von den Wundern und großartigen Taten, die er wirkte. Da
er sich also verbergen wollte, trat er in eines der nahegelegenen Häu-
ser. Doch da war eine heidnische Frau, die in Bereitschaft stand, die
wartete und sorgsam darauf achtete, wann der Heiland vorüberkäme,
von dem sie so viel Wunderbares gehört hatte. Sie war wachsam wie
ein Hund, der auf der Lauer oder auf der Spur ist, um die Beute zu
erspähen, die auf diesem Weg fliehen müßte. So kann man nämlich die
Worte des hl. Markus auslegen, der einer seiner Evangelisten ist.
Unser Herr kam vorüber, betrat das Haus oder hatte es betreten
oder hatte es verlassen (das ist eine Streitfrage, aber darüber will ich
hier nicht sprechen; ich meinerseits glaube, daß es sich zutrug, als er
in diesem Haus war); da trug ihm die Kanaanäerin, die auf der Hut
war, um ihre Beute zu erhaschen, ihre Bitte vor und rief: Herr, Sohn
Davids, hab Erbarmen mit mir, denn meine Tochter wird vom Teufel
grausam gequält. Seht doch den großen Glauben dieser Frau: sie bittet
unseren göttlichen Meister nur, er möge Erbarmen mit ihr haben, und
glaubt, dieses Erbarmen werde genügen, um ihre Tochter zu heilen
und von dem bösen Geist zu befreien, der sie quälte. Ihr Glaube wäre
nicht so groß gewesen, hätte sie nicht darauf geachtet, was sie über
Unseren Herrn sagen hörte und was sie davon verstand. Die ihm folg-
ten oder in den Häusern wohnten, die dem benachbart waren, wo er
sich zurückgezogen hatte, hatten wohl die Wundertaten gesehen, die
er wirkte, durch die er die Lehre bekräftigte, die er verkündete, oder
hatten davon reden gehört. Sie hatten ebensoviel Glauben wie die
Kanaanäerin, denn ein Großteil glaubte, was von ihm gesagt wurde,
aber ihr Glaube war nicht so groß wie jener dieser Frau, weil er nicht
so wachsam war wie der ihre.
Wir sehen das im allgemeinen bei den gewöhnlichen Weltleuten. Da
gibt es Leute, die sich in guter Gesellschaft befinden, in der man ein
gutes Gespräch führt und von guten und heiligen Dingen spricht. Ein
geiziger Mensch wird wohl hören, was man sagt, aber fragt ihn, wenn
er die Gesellschaft verlassen hat, was in diesem Gespräch gesagt wur-
de, dann wird er davon kein Wort wiederholen können. Und warum?

433
Deshalb, weil er nicht aufmerksam hörte, was gesagt wurde; seine
Aufmerksamkeit galt seinem Reichtum. Ebenso ein Vergnügungssüch-
tiger; denn obwohl er scheinbar hört, worüber man spricht, wird er
sich trotzdem an nichts erinnern, weil seine Aufmerksamkeit mehr
seinem Vergnügen gilt als dem, worüber gesprochen wird. Wenn es
aber einen gibt, der seine ganze Aufmerksamkeit darauf richtet, was
gesprochen wird, der wird sehr genau wiedergeben, was er gehört hat.
Warum erleben wir, daß man so wenig Nutzen zieht aus den Predigten
oder aus den Geheimnissen, die man uns erklärt und lehrt, oder aus
jenen, die wir betrachten? Deswegen, weil der Glaube nicht wachsam
ist, mit dem wir sie hören oder betrachten. Daher kommt es, daß wir
wohl glauben, aber nicht mit großer Gewißheit. Der Glaube der
Kanaanäerin war nicht so geartet. Frau, dein Glaube ist groß, nicht nur
wegen deiner Aufmerksamkeit, mit der du hörst und glaubst, was man
von Unserem Herrn sagt, sondern auch wegen der Wachsamkeit, mit
der du ihn bittest und ihm dein Anliegen vorträgst. Ohne Zweifel macht
die Aufmerksamkeit, die wir aufbringen, um die Geheimnisse unserer
Religion zu begreifen, mit der wir sie erwägen und betrachten, unse-
ren Glauben noch größer.
Doch was ist das, Gebet und Betrachtung? Diese Worte scheinen aus
einer anderen Welt zu stammen; wenige Menschen wollen sie hören.
Wißt ihr, was Betrachtung und Beschauung ist? Das ist kurz gesagt das
Gebet. Beten heißt bitten; und mit Aufmerksamkeit bitten heißt, ei-
nen lebendigen, wachsamen und wachen Glauben haben wie die
Kanaanäerin. Diesem wachen Glauben oder dem aufmerksamen Ge-
bet folgt eine große Vielfalt weiterer Tugenden und begleitet es, die in
der Heiligen Schrift genannt werden; da ihre Zahl aber unermeßlich
ist, will ich mich darauf beschränken, euch jene aufzuzählen, die sich
für euch eignen und die im Gebet der Kanaanäerin besonders auf-
scheinen. Der vorzüglichen Tugenden, von denen die Bitte dieser Frau
begleitet war, sind vier: das Vertrauen und die Beharrlichkeit, die
Geduld und die Demut. Über jede will ich euch ein Wort sagen, denn
ich will nicht lang sprechen.
Sie hatte Vertrauen; das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen,
die unserem Gebet vor Gott Gewicht geben. Herr, sagte diese Frau,
hab Erbarmen mit mir, denn meine Tochter wird vom Teufel arg gequält
(tourmenté ist ein französisches Wort, das uns das lateinische male
vexatur wiedergibt). Das ist also, als wollte sie sagen: Dieser böse Geist
behandelt sie äußerst grausam, deshalb hab Erbarmen mit mir. Welch
großes Vertrauen! Sie glaubt, wenn der Herr Erbarmen mit ihr hat,

434
wird ihre Tochter geheilt. Sie zweifelt weder an seiner Macht noch an
seinem Willen, denn sie ruft nur: Hab Erbarmen mit mir. Ich weiß,
wollte sie sagen, daß du so gütig und gnädig zu allen bist, so daß ich
nicht daran zweifle, daß du dich meiner erbarmen wirst, wenn ich dich
darum bitte, und daß meine Tochter sogleich geheilt wird, wenn du
dich erbarmst.
Der größte Mangel in unseren Gebeten und bei allem, was uns be-
gegnet, vor allem, was unsere Prüfungen betrifft, ist gewiß unser schwa-
ches Vertrauen. Daher kommt es, daß wir die Hilfe nicht zu erlangen
verdienen, die wir ersehnen und erbitten. Dieses Vertrauen nun be-
gleitet stets den wachen Glauben. Als der hl. Petrus und die übrigen
Apostel sich mit ihrem Herrn im Boot befanden und den Sturm los-
brechen sahen, bekamen sie Angst und riefen seinen Beistand an. Dar-
an taten sie gut, denn bei ihm müssen wir Zuflucht suchen und von
ihm müssen wir alle Hilfe erwarten. Als sie aber den See immer aufge-
wühlter und ihren Meister schlafend sahen, erregten sie sich sehr und
riefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde. Der Heiland rügte sie und
sagte ihnen: Ihr Menschen von geringem Glauben (Mt 8,24-26), als
wollte er sagen: Wie schwach ist euer Glaube, da euch das Vertrauen
bei der Gelegenheit fehlt, wo ihr es mehr hättet zeigen müssen. Da nun
das Vertrauen klein ist, das euch noch bleibt, ist es auch euer Glaube.
Die Kanaanäerin dagegen hatte großes Vertrauen, als sie ihre Bitte
aussprach, selbst in Sturm und Unwetter, die dieses Vertrauen nicht
im geringsten zu erschüttern vermochten. Es war ja begleitet von der
Beharrlichkeit, mit der sie mutig zu rufen fortfuhr: Herr, Sohn Davids,
hab Erbarmen mit mir. Sagte sie denn sonst nichts? Nein, sie brachte
kein anderes Wort über die Lippen als dieses und gebrauchte es dau-
ernd die ganze Zeit, die sie hinter Unserem Herrn her rief. Welch
große Tugend ist diese Beharrlichkeit! Hättet ihr den guten Ordens-
mann des hl. Pachomius, der Gärtner war, gefragt, ob er nichts anderes
mache als den Garten besorgen und Matten flechten, er hätte geant-
wortet: Nichts anderes. Das war seine Beschäftigung seit seinem Ein-
tritt ins Kloster und er strebte den ganzen Rest seines Lebens nicht
danach, eine andere Aufgabe zu bekommen. Welche Beharrlichkeit!
Wenn ich jedoch von der Beharrlichkeit spreche, will ich nicht von
der Beharrlichkeit bis ans Ende sprechen, die wir haben müssen, um
gerettet zu werden, sondern von jener, die unser Gebet begleiten muß.
Wie wenige verstehen recht, worin sie besteht! Ihr könnt junge Mäd-
chen finden, die erst am Beginn der Frömmigkeit stehen, auch Männer
(aber sprechen wir jetzt nicht von ihnen; sprechen wir nur von den

435
Mädchen, da ich mich an Mädchen wende); da gibt es also solche, die
mit dem Gebet und der Nachfolge Unseres Herrn erst beginnen: die
bitten um Freuden und Tröstungen und wollen sie auch schon haben;
sie können nicht beharrlich beten, außer kraft süßer Empfindungen.
Ach, wenn man irgendwie Unlust am Gebet empfindet, wenn Gott uns
die gewohnte Freude und Leichtigkeit entzieht oder vorenthält, be-
klagt man sich, ist man bekümmert und sagt: Weil ich nicht demütig
bin, läßt Gott mich nichts empfinden; er beachtet mich nicht, denn er
schaut nur auf die Heiligen, und was weiß ich, welche Albernheiten
und tausend Gedanken, die man unterhält, um sich der Verdrossen-
heit und Mutlosigkeit zu überlassen. Man wird bei dieser Trockenheit
und Niedergeschlagenheit des Gebetes überdrüssig; und was will man?
Ekstasen, Verzückungen, süße Gefühle und Tröstungen. Wenn Gott
nicht unverzüglich gibt, worum man ihn bittet, oder wenn er uns nicht
zeigt, daß er uns erhört, verliert man den Mut; man kann nicht beharr-
lich beten, gibt alles auf.
Nicht so die Kanaanäerin; denn obwohl sie sieht, daß der Herr ihre
Bitte nicht beachtet, da er ihr keine Antwort gibt, und damit scheinbar
ein Unrecht begeht, fährt diese Frau dennoch fort, hinter ihm her zu
rufen, so daß die Apostel sich veranlaßt sahen, ihm zu sagen, er möge
sie wegschicken, weil sie dauernd ihm nachrufe. Dazu meinen die ei-
nen, sie habe sich an die Apostel gewandt, als sie sah, daß der Heiland
ihr keine Antwort gab, und sie um Fürsprache gebeten; deshalb hätten
sie gesagt: Sie hört nicht auf, hinter uns her zu rufen. Andere glauben,
sie habe die Apostel nicht gebeten, sondern immer lauter nach Unse-
rem Herrn gerufen. Ich will mich aber dabei nicht aufhalten; ich halte
mich meinerseits an die letzte Ansicht und glaube, als die Apostel
sagten: Herr, entlasse sie, oder vielmehr: schicke die Frau weg, denn
sie hört nicht auf, hinter uns her zu rufen, wollten sie damit sagen,
hinter dir her, denn hinter ihnen her rufen hieß, hinter ihrem Meister
her rufen.
Obwohl Unser Herr taube Ohren für all das hatte, hörte sie nicht
auf, das gewohnte Gebet fortzusetzen. Damit bewies sie ihre Beharr-
lichkeit, denn es ist keine geringe Tugend, stets im gleichen Gebet und
in den gleichen Übungen zu beharren. Und welches Gebet sollen wir
immer verrichten? Unser Herr hat es mit seinem eigenen Mund ge-
sagt: Sprecht: Vater unser im Himmel (Mt 6,9-13; Lk 11,2-4). Das sol-
len wir jeden Tag tun. Sollen wir kein anderes Gebet verrichten? Das
sage ich nicht; aber Gott gebietet euch kein anderes. Ich weiß wohl,
daß es nicht schlecht ist, in den Gebeten und Betrachtungen abzu-
wechseln, denn das lehrt uns die Kirche selbst in der Vielfalt ihrer

436
Stundengebete. Aber außer diesen Gebeten werdet ihr eines jeden Tag
verrichten, das man nicht nur nach der Laudes, der Prim und Vesper
sprechen muß, sondern oftmals am Tag. Und welches soll das sein?
Vater unser im Himmel. Wie glücklich wird man sein, wenn man das
Gebet mit dieser Beharrlichkeit verbindet; wenn man, sobald man
Unlust und Trockenheit dabei empfindet, sobald uns die Süßigkeit des
Gebetes entzogen wird, zu beten fortfährt, ohne dessen überdrüssig zu
werden, sich zu beklagen und sich davon zu befreien zu versuchen,
sondern wenn man sich damit begnügt, bei all dem unablässig auszu-
rufen: Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir.
Cicero sagt an einer Stelle seiner Schriften, ich weiß aber nicht, wo,
in der Form eines Sprichworts, daß nichts den Wanderer so sehr ermü-
det wie ein langer Weg, wenn er eben ist, oder ein kurzer, wenn er recht
uneben und bergig ist (ich entsinne mich nicht seiner eigenen Worte).
Er fügt einige andere Dinge hinzu, aber er will doch ausdrücken, daß
die Beharrlichkeit etwas sehr Schwieriges ist. Obwohl der Wanderer
auf einem schönen, ebenen Weg geht, ist es dessen Länge, die ihn er-
müdet; und wenn er die Nacht anbrechen sieht, wird er unmutig und
unruhig. Schließlich hätte er gewiß mehr Freude, wenn dieser Weg
abwechslungsreich wäre durch einige Täler und Hügel. Ebenso ermü-
det und langweilt der unebene und bergige Weg den Pilger, obwohl er
kurz ist, zumal man immer das gleiche tun muß. Aber er ist doch kurz.
Trotzdem möchte er lieber, daß er länger wäre und es manche Ebenen
und Täler gäbe.
Was ist das anderes als Launenhaftigkeit des menschlichen Geistes,
der keine Ausdauer hat in dem, was er unternimmt? Deshalb verste-
hen es die Weltmenschen, die nach ihren Launen leben, so gut, durch
Zeitvertreib und Veranstaltungen Abwechslung in die Jahreszeiten zu
bringen. Sie erfreuen sich nicht immer am gleichen Vergnügen, son-
dern an verschiedenen, denn sonst würden sie dessen müde. Bald hal-
ten sie Tanzfeste und Maskenbälle in der Karnevalszeit, kurz sie ver-
bringen die Zeit in einer Vielfalt von Vergnügungen, die nichts ande-
res sind als Launen und Unbeständigkeit des menschlichen Geistes.
Deshalb ist die Ausdauer, im Ordensleben stets das gleiche zu tun, ein
Martyrium für den, der recht darauf bedacht ist. Es ist wahr, daß es
auch ein Paradies genannt wird von denen, die es recht verstehen; aber
auch das kann man ein Martyrium nennen, denn dabei tötet man stän-
dig die Einbildungen des menschlichen Geistes und jeden Eigenwillen
ab. Ist es denn kein Martyrium, immer auf die gleiche Art gekleidet zu
sein, ohne die Freiheit zu haben, seine Kleider zu verbrämen oder

437
abzuschneiden, wie es die Weltleute tun? Ist es kein Martyrium, im-
mer zur gleichen Zeit zu essen und fast die gleichen Speisen, wie es
auch bei den Bauern eine große Ausdauer ist, als Nahrung gewöhnlich
nur Brot und Käse zu haben? Trotzdem sterben sie davon nicht früher,
sondern halten sich besser als die Feinschmecker, bei denen man nicht
weiß, welches Fleisch recht ist. Man braucht so viele Köche, so viele
Arten der Zubereitung! Und wenn ihr ihnen die Speisen vorsetzt, sa-
gen sie: O, tragen Sie das ab, das ist nicht gut; oder: Das macht mich
krank; oder ähnliche Launen. Im Kloster dagegen macht man nicht so
viele Umstände; man ißt, was man bekommt. Das ist ebenso ein Mar-
tyrium wie immer die gleichen Übungen zu machen.

Bleiben wir allzeit beharrlich im Gebet; denn wenn Unser Herr uns
nicht zu hören scheint, dann nicht deswegen, weil er uns zurückweisen
wollte, sondern um uns zu verpflichten, unseren Ruf lauter zu erheben
und uns die Größe seines Erbarmens mehr fühlen zu lassen. Die etwas
von der Jagd verstehen, wissen wohl, daß die Hunde im Winter die
Beute nicht wittern können, weil die Luft kalt ist und der Frost sie
hindert, die Spur zu verfolgen wie in den übrigen Jahreszeiten. Ebenso
nimmt ihnen im Frühling die Vielfalt des Duftes der Blumen die Fä-
higkeit, die Witterung des Wildes aufzunehmen. Um dem abzuhelfen,
nimmt der Jäger Essig in den Mund, hält den Kopf des Hundes fest
und gießt ihm den Essig ins Maul. Das tut er nun nicht, um ihn zu
entmutigen, sich auf die Spur der Beute zu setzen, sondern vielmehr,
um ihn dazu zu drängen und anzuspornen, zu tun, was seine Aufgabe
ist. Genau so ist es, wenn Unser Herr uns die süßen Gefühle und Trö-
stungen entzieht; das geschieht nicht, um uns zurückzuweisen oder
den Mut verlieren zu lassen; er gibt uns vielmehr den Essig in den
Mund, um uns anzuspornen, uns seiner göttlichen Güte um so mehr zu
nahen, und uns zur Beharrlichkeit anzuregen.

Es geschieht außerdem noch, um unsere Geduld auf die Probe zu


stellen. Sie ist die dritte Tugend, die das Gebet der Kanaanäerin be-
gleitete. Als der Heiland ihre Beharrlichkeit sah, wollte er auch ihre
Geduld prüfen, die Tugend, durch die wir soviel als möglich den
Gleichmut in allen Wechselfällen dieses Lebens bewahren. Deshalb
erwiderte er seinen Aposteln, die ihn baten, sie fortzuschicken, ein
Wort, das sie sehr schmerzlich berühren und sie offenbar aus der Fas-
sung bringen mußte. Es ist nicht recht, sagte er, daß ich den Kindern
das Brot nehme, um es den Hunden zu geben. Ich bin nicht gekommen,
um alle verirrten Schafe, sondern um die verlorenen Schafe aus dem

438
Hause meines Vaters zu finden. Nun denn, Herr, gehört dieses Schäf-
lein hier nicht zum Haus deines Vaters? Soll es zugrundegehen? Bist
du nicht für alle gekommen, für das jüdische Volk und für die Heiden?
Es ist ganz klar, daß Unser Herr für die ganze Welt gekommen ist; das
wird in der Heiligen Schrift ganz offenkundig. Wenn er aber sagt: Ich
bin nicht für die verirrten Schafe gekommen, sondern nur für die verlo-
renen Schafe aus dem Hause meines Vaters, dann will er damit zu
verstehen geben, daß er nur den Juden verheißen war, die Kinder Got-
tes genannt werden. Das heißt, es war (Jes 11,1f.10f; 61,1; Lk 4,18-21)
vorhergesagt, er werde kommen und auf seinen eigenen Füßen unter
diesem Volk wandeln; er werde es mit seinem Mund lehren, seine
Kranken heilen mit seinen eigenen Händen; er werde selbst in Israel
Wunder wirken. Folglich durfte er den Kindern Gottes, d. h. dem jüdi-
schen Volk nicht das Brot wegnehmen, um es den Hunden vorzuwer-
fen, dem heidnischen Volk, einer Nation, die ihn nicht kannte. Das ist,
als wollte Jesus Christus sagen: Die Gnaden, die ich den Heiden er-
weise, zu denen ich nicht gesandt bin, sind so klein und ihre Zahl so
gering im Vergleich zu jenen, die ich unter den Israeliten austeile, daß
sie keinen Grund haben, deswegen eifersüchtig zu sein.

Wie aber ist das zu verstehen, daß Unser Herr ebenso für die Heiden
gekommen ist wie für die Juden? Seht, wie er gekommen ist, um auf
seinen eigenen Füßen unter den Kindern Israels zu wandeln, so muß
er auf den Füßen der Apostel unter den Heiden wandeln; er muß ihre
Kranken heilen, nicht mit seinen eigenen Händen, sondern durch die
der Apostel, ihnen seine Lehre predigen, aber durch den Mund der
Apostel, das verlorene Schaf wiederfinden, aber durch den Fleiß der
Apostel. Deshalb sagt er zur Kanaanäerin die scheinbar so harten und
verletzenden Worte, die so sehr nach Verachtung und Geringschät-
zung dieser armen heidnischen Frau klingen. Gewiß verletzt im allge-
meinen nichts so sehr wie kränkende Worte, die man sagt, um jene zu
mißachten, denen man sie sagt, besonders dann, wenn sie Personen
von Ansehen und Autorität aussprechen. Man hat schon Menschen
sterben gesehen vor Schmerz und Kummer über ein Wort der Verach-
tung, das ihr Fürst ihnen sagte, wenn auch in Erregung oder von Lei-
denschaft überrascht. Als diese Frau Unseren Herrn hörte, wurde sie
nicht ungeduldig, war nicht traurig und beleidigt, sondern warf sich
ihm zu Füßen und antwortete: Es ist wahr, ich bin ein Hündlein, das
gebe ich zu; aber ich nehme dich beim Wort, denn die Hunde folgen
ihrem Herrn und nähren sich von den Brocken, die unter den Tisch
fallen.

439
Diese Demut ist die vierte Tugend, die den Glauben und die Bitte
der Kanaanäerin begleitete; eine Demut, die dem Heiland so wohlge-
fällig war, daß er ihr alles gewährte, worum sie bat, und sagte: Frau,
dein Glaube ist groß! Dir geschehe, wie du willst. Gewiß, alle Tugenden
sind Gott teuer, aber die Demut gefällt ihm über alles und er kann ihr
anscheinend nichts verweigern. Diese Frau nun machte die Größe ih-
rer Demut deutlich durch das Bekenntnis, daß sie ein Hündlein sei,
und als Hündlein bat sie nicht um Gnaden, die den Juden als den
Kindern Gottes vorbehalten waren, sondern nur darum, die Brocken
sammeln zu dürfen, die unter den Tisch fallen. Manche sagen wohl, sie
seien nichts, seien nur Niedrigkeit, Elend und ähnliches (von dieser
Demut ist die Welt erfüllt); sie könnten es aber nicht ertragen, wenn
ein anderer ihnen sagte, sie seien nichts wert, sie seien dumm, oder
ähnliche Ausdrücke der Verachtung. Sie bekennen es, soviel man will,
aber hütet euch wohl, es ihnen zu sagen, denn dann sind sie beleidigt.
Ich will nebenbei noch dieses Wort hinzufügen, weil es mir einfällt:
Die Beichtväter wären recht glücklich, wenn sie ihre Pönitenten im-
mer dazu bringen könnten, zu bekennen, daß sie Sünder sind. Doch
nein, obwohl man ihnen ihre Fehler zeigt und sie zu bewegen versucht,
ihr Unrecht zuzugeben, wollen und können sie es oft nicht glauben.
Was unsere Kanaanäerin betrifft, war sie nicht nur nicht gekränkt, daß
sie ein Hündlein genannt wurde, sondern sie glaubte es, bekannte es
und bat nur um das, was den Hunden zukommt. Darin zeigte sie eine
bewundernswerte Demut, die durch den Mund Unseres Herrn gelobt
zu werden verdiente; das tat er mit den Worten: Frau, dein Glaube ist
groß; dir geschehe, wie du willst. Indem er ihren Glauben lobte, lobte
er alle übrigen Tugenden, die ihn begleiteten.
Nun denn, vermehren wir also unseren Glauben, beseelen wir ihn
durch die Liebe und die Übung der guten Werke, die in Liebe getan
werden. Wachen wir sorgsam darüber, ihn zu bewahren und zu ver-
mehren, sowohl durch die aufmerksame Erwägung der Geheimnisse,
die man uns lehrt, als auch durch die Übung der Tugenden, über die
wir gesprochen haben, besonders der Demut; durch sie hat die
Kanaanäerin alles erlangt, was sie wünschte. Ahmen wir diese Frau
darin nach, daß wir unserem Erlöser und Meister immer nachrufen:
Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir. Dann wird er uns am Ende
unserer Tage sagen: Es geschehe, wie du willst. Komm, um dich dafür,
was du getan hast, der Ewigkeit zu erfreuen. Im Namen des Vaters, des
Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

440
Zum 3. FFastensonntag
astensonntag

Nr. 59: 27. Februar 1622 X,265-280

Jedes Reich, das in sich selbst uneins ist, wird ver-


wüstet werden (Lk 11,17).

Jedes Reich, das geteilt und in sich selbst nicht einig ist, wird verödet
sein, sagt Unser Herr im heutigen Evangelium (Lk 11,14-28); oder
umgekehrt werden alle Reiche, die in sich selbst eins sind durch Ein-
tracht, die keine Uneinigkeit zulassen, ohne Zweifel von Tröstungen
erfüllt sein. Wenn nämlich die Voraussetzungen gegensätzlich sind,
müssen es die Folgen ebenso sein. Diese Worte sind um so bedeuten-
der und beachtenswerter, haben um so mehr Gewicht, als unser göttli-
cher Meister sie gesprochen hat. Deshalb haben sich die frühen Kir-
chenväter oft damit befaßt, davon Auslegungen abzuleiten. Sie sagen,
daß es drei Arten von Einheit gibt, von denen der Heiland sprechen
wollte, deren Auflösung schließlich die Trostlosigkeit folgt. Die erste
ist die Eintracht, die zwischen den Untertanen und ihrem König herr-
schen muß, die seinen Gesetzen unterworfen und gehorsam sind. Die
zweite ist die Einheit, die wir in uns selbst haben müssen, im König-
reich, das wir in unserem Inneren haben; seine Königin muß die Ver-
nunft sein; ihr müssen alle Fähigkeiten unseres Geistes, ja selbst alle
Sinne und unser Leib unbedingt unterworfen bleiben; denn ohne die-
sen Gehorsam und diese Unterwerfung können wir nicht vor Betrüb-
nis und Verwirrung bewahrt werden, ebenso wie ein Königreich, wo
die Untergebenen den Gesetzen des Königs nicht gehorchen.
Da es aber zu viel Zeit in Anspruch nähme, über alle Formen der
Einheit zu sprechen, werde ich mich nur bei der dritten aufhalten; das
ist jene, die wir untereinander haben müssen. Diese Einheit und Ein-
tracht hat Unser Herr uns in Wort und Tat gepredigt, empfohlen und
gelehrt, aber mit unvergleichlichem Nachdruck und bewundernswer-
ten Worten, so daß es scheint, als habe er vergessen, uns die Liebe zu
empfehlen, die wir zu ihm haben müssen, zu seinem himmlischen
Vater, um uns besser die Liebe und die Einheit einzuprägen, von der er
wollte, daß wir sie untereinander haben. Er hat sogar das Gebot der
Nächstenliebe sein Gebot genannt (Joh 15,12), gleichsam sein lieb-
stes. Er ist in diese Welt gekommen, um uns als ganz göttlicher Mei-
ster zu belehren, und dennoch dringt er auf nichts so sehr und mit so
klaren Worten wie auf die Befolgung dieses Gebotes der Nächstenlie-

441
be. Und das nicht ohne triftigen Grund, denn der Lieblingsjünger des
Vielgeliebten, der große heilige Apostel Johannes versichert (1 Joh
4,20f): Wenn einer sagt, er liebe Gott, und seinen Nächsten nicht liebt,
ist er ein Lügner. Wer umgekehrt sagt, er liebe den Nächsten, liebe
aber Gott nicht, verstößt gegen die Wahrheit, denn das kann nicht
sein. Gott lieben, ohne den Nächsten zu lieben, der nach seinem Bild
und Gleichnis geschaffen ist (Gen 1,26f), das ist unmöglich.
Wie aber muß diese Einheit und Eintracht beschaffen sein, die wir
untereinander haben sollen? O, wie muß sie sein? Wenn es nicht Un-
ser Herr selbst erklärt hätte, besäße niemand die Kühnheit, es mit den
gleichen Ausdrücken wie er zu tun. Als er beim letzten Abendmahl
das unvergleichliche Zeugnis seiner Liebe zu den Menschen durch die
Einsetzung des allerheiligsten Sakramentes der Eucharistie gegeben
hatte, sagte er: Mein teuerster Vater, ich bitte dich, daß alle eins seien,
die du mir anvertraut hast, wie du, Vater, und ich eins sind (Joh
17,11f.21f). Um zu zeigen, daß er nicht nur von den Aposteln sprach,
sondern von allen, hat er vorher gesagt: Ich bitte nicht nur für diese hier,
sondern für alle, die auf ihr Wort hin an mich glauben (17,20). Wer
hätte es gewagt, sage ich noch einmal, einen solchen Vergleich zu ma-
chen und zu bitten, daß wir eins seien, wie es der Vater, der Sohn und
der Heilige Geist untereinander sind?
Dieser Vergleich scheint sehr sonderbar zu sein, denn die Einheit
der drei göttlichen Personen ist unbegreiflich und niemand, wer es
auch sei, vermag sich diese einfache Einheit und diese unaussprech-
lich einfache Einigkeit vorzustellen. So dürfen wir auch nicht zur glei-
chen Einheit zu gelangen verlangen, denn das kann nicht sein, wie die
frühen Väter bemerken. Wir müssen uns damit begnügen, ihr entspre-
chend unserer Fähigkeit so nahe als möglich zu kommen. Unser Herr
beruft uns nicht zur gleichen, sondern zur gleichartigen Einheit, d. h.
wir müssen einander lieben und untereinander einig sein, so rein und
vollkommen als möglich.
Ich habe es mit um so größerer Freude unternommen, heute über
diesen Gegenstand zu sprechen, als ich gefunden habe, daß uns der hl.
Paulus diese Liebe mit bewundernswerten Ausdrücken in der Epistel
empfiehlt, die wir in der heiligen Messe gelesen haben; da sagt er im
Brief an die Epheser (5,1f): Geliebte, wandelt auf dem Weg gegensei-
tiger Liebe als vielgeliebte Kinder Gottes; wandelt auf ihm, wie Jesus
Christus gewandelt ist, der sein eigenes Leben für uns hingegeben hat,
als er sich Gott, seinem Vater als Brandopfer und als duftende, wohl-
gefällige Opfergabe dargebracht hat. Wie liebenswert und wie erwä-

442
genswert sind diese Worte! Das sind ganz goldene Worte, durch die
uns der große Heilige begreiflich machen will, wie unsere Eintracht
und unsere gegenseitige Liebe beschaffen sein muß. Eintracht und ge-
genseitige Liebe sind ein und dasselbe; denn das Wort Eintracht be-
zeichnet die Einheit der Herzen; und Liebe, Zuneigung aus Wahl, ist
Einheit der Neigungen. Er wollte uns anscheinend erklären, was der
Heiland beabsichtigte, als er seinen himmlischen Vater bat, daß wir
alle eins seien, d. h. einig, wie er und sein Vater eins sind. Unser Herr
drückte sich etwas kurz aus, als er uns mit Worten belehrte, wie sehr
er wünschte, daß wir diese heilige und ganz geheiligte Einheit ver-
wirklichen. Deshalb drückte es sein glorreicher Apostel etwas aus-
führlicher aus, indem er uns auffordert, auf dem Weg der Liebe zu
wandeln als vielgeliebte Kinder Gottes. Er wollte gleichsam sagen:
wie Gott, unser allgütiger Vater, uns so innig liebte, daß er alle als
seine Kinder angenommen hat (Eph 1,5; 1 Joh 3,2f), so zeigt auch
ihr, daß ihr wirklich seine Kinder seid, indem ihr einander von gan-
zem Herzen innig liebt.

Damit wir aber nicht mit Kinderschritten auf diesem Weg der Liebe
wandeln, den Gott, unser Vater, uns zu gehen so sehr empfohlen hat,
fügt der hl. Paulus hinzu: Wandelt auf ihm, wie Unser Herr auf ihm
gewandelt ist, der sein Leben für uns hingegeben hat, usw. Damit zeigt
er uns, daß wir mit Schritten eines Riesen gehen sollen, nicht mit
denen eines Kindes. Liebt einander, wie Jesus Christus uns geliebt hat
(Joh 13,34; 15,12), nicht eines Verdienstes wegen, das wir hätten, son-
dern einzig weil er uns nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat.
Dieses Bild und Gleichnis müssen wir in allen Menschen ehren und
lieben, nicht etwas anderes in ihnen; denn nichts ist an uns liebens-
wert, was von uns stammt, weil es dieses göttliche Abbild nicht nur
nicht schöner macht, sondern es entstellt, befleckt und besudelt, so
daß wir fast nicht mehr wiederzuerkennen sind. Das nun darf man im
Nächsten in keiner Weise lieben, denn Gott will es nicht.

Warum hat nun Unser Herr gewollt, daß wir einander so lieben, und
warum, fragt die Mehrzahl der heiligen Väter, war er so darauf be-
dacht, uns dieses Gebot als dem Gebot der Gottesliebe gleichwertig
(Mt 22,39) einzuschärfen? Das ist doch sehr erstaunlich, wenn man
sagt, daß diese zwei Gebote gleichwertig sind, weil das eine darauf
abzielt, Gott zu lieben, das andere das Geschöpf. Gott ist unendlich,
das Geschöpf begrenzt. Gott ist die Güte selbst und von ihm kommt
uns alles Gute zu; der Mensch ist voll Bosheit und von ihm geschieht

443
uns soviel Böses; das Gebot der Nächstenliebe enthält ja auch die
Liebe der Feinde (Mt 5,34f). Mein Gott, welches Mißverhältnis im
Gegenstand der einen und der anderen Liebe! Und doch sind die bei-
den Gebote in der Weise gleichartig, als das eine nicht ohne das ande-
re bestehen kann. Die eine muß notwendig untergehen oder zuneh-
men, sobald die andere abnimmt oder wächst, wie der hl. Johannes
(3,30) sagt.
Marc Anton kaufte eines Tages zwei Knaben, die ihm ein Händler
anbot; denn damals verkaufte man Kinder, wie es in einigen Gegenden
noch geschieht. Es gab Leute, die daraus ein Geschäft machten und
damit Handel trieben, wie man bei uns mit Pferden handelt. Die zwei
Knaben glichen einander so vollkommen, daß ihm der Händler weis-
machte, sie seien Zwillinge; denn es war nicht zu glauben, daß sie sich
ansonsten so vollkommen gleichen könnten. Wenn man sie nämlich
voneinander trennte, konnte man nicht feststellen, wer von ihnen wel-
cher war. Diese Seltenheit begeisterte Marc Anton so, daß er sie sehr
teuer bezahlte. Als er sie jedoch vorführen ließ, fand er, daß die zwei
Knaben ganz verschiedene Sprachen redeten, zumal Plinius berichtet,
daß der eine aus der Dauphiné stammte, der andere aus Asien, zwei
voneinander so weit entfernte Gegenden, daß man es fast nicht sagen
kann. Als Marc Anton das erfuhr, daß sie nicht nur keine Zwillinge
waren, sondern nicht einmal aus dem gleichen Land stammten und
nicht unter dem gleichen König geboren waren, da wurde er sehr auf-
gebracht gegen jenen, der sie ihm verkauft hatte. Als ihm aber ein
junger Schelm ausmalte, daß diese Ähnlichkeit um so bewunderns-
werter sei, als sie aus verschiedenen Ländern stammten und miteinan-
der nicht verwandt waren, wurde er vollkommen besänftigt und mach-
te dann viel Wesens daraus, so daß er lieber seinen ganzen Besitz ver-
loren hätte als die zwei Knaben wegen ihrer seltenen Ähnlichkeit.
Was will ich damit anderes sagen, als daß das Gebot der Gottesliebe
und das der Nächstenliebe sich so gleichen wie die zwei Knaben, von
denen Plinius erzählt, obwohl sie aus den entferntesten Gegenden
stammten. Ich bitte euch, welcher Abstand besteht doch zwischen der
Unendlichkeit und dem Endlichen, zwischen der Gottesliebe, die ei-
nem unsterblichen Gott gilt, und der Nächstenliebe, die einem sterb-
lichen Menschen gilt, zwischen der einen, die dem Himmel gilt, und
der anderen, die der Erde gilt? Diese göttliche Ähnlichkeit ist also um
so bewundernswerter. Deshalb müssen wir es machen wie Marc An-
ton: wir müssen die eine und die andere Liebe erwerben wie Zwillin-
ge, die beide gleichzeitig aus dem Schoß der Barmherzigkeit unseres

444
gütigen Gottes entsprungen sind; denn als Gott den Menschen nach
seinem Bild und Gleichnis schuf, da gebot er gleichzeitig, daß er Gott
und ebenso seinen Nächsten liebe.
Das Naturgesetz hat das Herz aller Menschen stets diese zwei Gebo-
te gelehrt. Auch wenn Gott sie nicht ausgesprochen hätte, wüßten doch
alle, daß sie verpflichtet sind, sie zu erfüllen. Das sehen wir daran, daß
der Herr die Antwort des unglückseligen Kain äußerst schlecht fand.
Als er ihn fragte, was er mit seinem Bruder Abel getan habe, besaß er
die große Frechheit, zu sagen, daß er nicht verpflichtet sei, ihn zu
hüten (Gen 4,9). Keiner kann sich entschuldigen, er habe nicht ge-
wußt, daß wir den Nächsten lieben müssen wie uns selbst, denn Gott
hat diese Wahrheit auf dem Grund unseres Herzens eingeprägt, als er
uns alle einander ähnlich geschaffen hat. Da wir alle in uns das Bild
des Schöpfers tragen, sind wir folglich einer das Abbild des anderen
und stellen alle nur das gleiche Bild dar, das Gott ist.
Da dem so ist, betrachten wir doch ein wenig, mit welchen Worten
Unser Herr uns die Nächstenliebe geboten hat; auf diese stütze ich
diese Erwägung. Er sagte zu seinen Aposteln (Joh 13,14): Ich gebe
euch ein neues Gebot; es besteht darin, daß ihr einander liebt. Vor
allem, warum nennt er dieses Gebot neu? Es war ja schon im mosai-
schen Gesetz (Lev 19,18) gegeben, und wie wir schon gesehen haben,
war es selbst dem Naturgesetz nicht unbekannt, sondern bekannt und
seit der Erschaffung des Menschen sogar von manchen befolgt wor-
den. Unser göttlicher Meister nennt dieses Gebot neu, weil er es er-
neuern wollte. Wenn man viel neuen Wein in ein Faß gießt, in dem
noch ein wenig alter Wein ist, dann sagt man nicht, das Faß enthalte
alten Wein, sondern neuen, weil er an Menge den anderen unvergleich-
lich übertrifft. Ebenso nennt Unser Herr dieses Gebot neu, denn ob-
wohl es vorher gegeben war, wurde es nur von einer sehr kleinen Zahl
von Menschen befolgt, so daß man es ganz neu nennen konnte, weil er
es in der Weise erneuern wollte, daß alle einander lieben.
Das taten die ersten Christen, die alle nur ein Herz und eine Seele
waren (Apg 4,32). Sie wahrten so große Einheit miteinander, daß man
bei ihnen nie eine Uneinigkeit untereinander sah; durch ihre Ein-
tracht erfreuten sie sich auch des größten Trostes. Aus vielen Getreide-
körnern, die gemahlen und miteinander geknetet werden, macht man
ein einziges Brot, das aus all diesen Getreidekörnern zuammengesetzt
ist, die vorher getrennt waren, die man aber jetzt nicht mehr trennen
kann, so daß man sie jetzt nicht mehr einzeln feststellen und erkennen
kann. Ebenso hatten diese Christen eine so glühende Liebe füreinan-

445
der, daß alle ihren Willen und ihre Herzen auf heilige Weise miteinan-
der verbunden und vereint hatten. Diese heilige Verbindung und Ver-
einigung brachte aber keinerlei Nachteil, denn es konnte dabei weder
Uneinigkeit noch Trennung geben, so daß das aus all diesen Herzen
geknetete Brot dem Geschmack der göttlichen Majestät überaus ange-
nehm war.
Wir sehen auch, daß aus vielen Trauben, die miteinander gepreßt
werden, nur ein Wein wird, und daß man nicht mehr feststellen kann,
welcher Wein von diesem Rebstock oder von dieser Beere stammt,
sondern daß alles miteinander vermengt nur einen Wein ergibt, der
von vielen Rebstöcken und Trauben gewonnen wird. Ebenso bildeten
die Herzen der ersten Christen, in denen die heilige Liebe und Zunei-
gung herrschte, nur einen Wein, der aus vielen Herzen wie aus vielen
Trauben zusammengesetzt war. Was aber eine so große Einheit unter
ihnen bewirkte, meine Lieben, das war nichts anderes als die heilige
Kommunion (Apg 2,42; 1 Kor 10,17). Als sie aufhörte oder seltener
wurde, begann die Liebe bei den Christen im gleichen Maß zu erkalten
und sie verlor sehr an Kraft und Anmut.
Das Gebot der Nächstenliebe ist also neu aus dem Grund, den wir
eben genannt haben, d. h. weil Unser Herr gekommen ist, es zu erneu-
ern, und weil er bestätigt hat, daß er es besser als früher befolgt wissen
wollte. Es ist auch deswegen neu, weil Unser Herr es gleichsam wie-
dererweckt hat, wie man einen Menschen neu nennen kann, der gestor-
ben und auferstanden ist. Dieses Gebot war von den Menschen so sehr
vernachlässigt worden, daß es schien, als sei es nie gegeben worden, so
wenige erinnerten sich daran oder befolgten es gar. Unser Herr hat es
also von neuem gegeben; also will er, daß es als etwas Neues, als ein
neues Gebot treu und eifrig befolgt wird.
Es ist auch neu wegen unserer neuen Verpflichtungen, es zu befol-
gen. Was sind nun diese neuen Verpflichtungen, die Jesus Christus der
Welt gebracht hat, um uns fügsam in der Befolgung dieses göttlichen
Gebotes zu machen? Sie sind gewiß groß, da er selbst gekommen ist,
um es uns zu lehren, nicht nur durch Worte, sondern viel mehr durch
das Beispiel. Der überaus liebenswürdige göttliche Meister wollte uns
nicht etwas malen lassen, ohne es vorher vor unseren Augen zu malen.
Er hat uns kein Gebot gegeben, ohne es zuerst zu befolgen, ehe er es
gab. Bevor er das Gebot der Nächstenliebe erneuerte, hat er uns ge-
liebt und durch sein Beispiel gezeigt, wie wir es befolgen müssen, da-
mit wir keine Entschuldigung haben, es sei etwas Unmögliches. Er hat
sich im allerheiligsten Sakrament geschenkt und dann gesagt: Liebt

446
einander, wie ich euch geliebt habe (Joh 15,12). Die Menschen des
Alten Bundes sind verdammt, wenn sie den Nächsten nicht geliebt
haben, denn dazu verpflichtete sie entweder das Naturgesetz oder noch
mehr das mosaische Gesetz. Aber die Christen, die nach dem Bei-
spiel, das Unser Herr uns gegeben hat, einander nicht lieben und die-
ses göttliche Gebot der gegenseitigen Liebe nicht befolgen, werden zu
einer ungleich größeren Strafe verdammt werden.
Die Menschen früher, ich will sagen, die vor der glorreichen Mensch-
werdung unseres teuren Erlösers und Meisters lebten, konnten eine
gewisse Entschuldigung haben; denn wenn man auch damals schon
wußte, daß Unser Herr kommen werde, indem er unsere menschliche
Natur mit der göttlichen Natur vereinigt, um durch seinen Tod und
seine Passion das Bild und Gleichnis Gottes wiederherzustellen, das
uns eingeprägt ist, waren es doch nur einige der Größten, wie die Pa-
triarchen und Propheten, die diese Erkenntnis besaßen, während die
übrigen Menschen fast alle nichts davon wußten. Da wir aber jetzt
wissen, nicht daß er kommen wird, sondern daß er gekommen ist und
daß er uns von neuem diese heilige Liebe zueinander geboten hat,
welche Strafe verdienen wir dann, wenn wir unseren Nächsten nicht
lieben!
Dürfen wir uns also wundern, wenn der Vielgeliebte unserer Seelen
will, daß wir einander lieben, wie er uns geliebt hat, da er uns so voll-
kommen in der Ähnlichkeit mit ihm wiederhergestellt hat, daß kein
Unterschied mehr zu bestehen scheint? Gewiß, niemand kann daran
zweifeln, daß das Abbild Gottes in uns vor der Menschwerdung des
Erlösers nicht grundlegend verschieden war vom Abbild dessen, den
wir darstellen und dessen Bild wir sein sollen. Ich frage euch, in wel-
chem Verhältnis stehen denn Gott und das Geschöpf? Die Farben die-
ses Bildes waren unendlich matt und blaß; es hatte nur einige Züge,
einige kleine Linien, wie man bei einem Porträt oder einem Gemälde
sieht, das nur entworfen ist, wo die Farben noch nicht aufgetragen
sind. Man erkennt nur einen ganz kleinen Schein und recht wenig von
dem, was es darstellt. Als aber Unser Herr in die Welt kam, hat er
unsere Natur dermaßen über alle Engel erhöht, über die Kerubim und
alles, was nicht Gott ist. Er hat uns dermaßen ihm ähnlich gemacht,
daß wir mit Gewißheit sagen können, wir gleichen Gott vollkommen,
der Mensch wurde gleich uns, und uns die Ähnlichkeit mit ihm schenk-
te. Wie müssen wir daher unseren Mut aufrichten, um dem gemäß zu
leben, was wir sind, und so vollkommen als möglich Den nachzuah-
men, der gekommen ist, um uns zu lehren, was wir tun müssen, um in

447
uns diese Schönheit der Gottähnlichkeit zu bewahren, die er in uns so
vollständig wiederhergestellt und noch schöner gemacht hat.
Sagt mir also, wie muß die herzliche Liebe beschaffen sein, die wir
zueinander haben müssen, nachdem Unser Herr uns alle in gleicher
Weise wiederhergestellt und ihm ähnlich gemacht hat, ohne jemand
auszuschließen? Man muß sich indessen stets vor Augen halten, daß
man am Nächsten nicht lieben darf, was dieser Gottähnlichkeit wider-
spricht oder dieses heilige Bild trüben kann. Doch davon abgesehen,
meine Lieben: müssen wir nicht den herzlich lieben, der uns so leben-
dig die heilige Person unseres Meisters vor Augen stellt? Ist das nicht
einer der vordringlichsten Beweggründe, die wir haben können, um
einander mit überaus glühender Liebe zu lieben? Ach, wenn wir unse-
ren Nächsten sehen, müssen wir es da nicht machen wie der gute Raguel,
als er den jungen Tobias sah? Als dieser im Auftrag seines Vaters nach
Rages kam, begegnete er Raguel; als der ihn anschaute, sagte er zu
seiner Frau: Mein Gott, dieser junge Mann erinnert mich sehr an unse-
ren Vetter Tobit! Deshalb fragte er ihn, woher er sei und ob er nicht den
Tobit kenne. Darauf antwortete der Engel, der ihn begleitete: Der mit
dir spricht, ist sein Sohn; du kannst dir denken, daß wir ihn kennen!
Da umarmte ihn der gute Raguel, von Freude ganz hingerissen, herzte
und küßte ihn sehr zärtlich. Mein Kind, rief er, wie bist du doch der
Sohn eines guten Vaters und wie gleichst du einem großen Mann! Dann
nahm er ihn in sein Haus auf und bewirtete ihn überaus gut, entspre-
chend seiner Liebe zu seinem Vetter Tobit.
Nun denn, müssen wir es nicht ebenso machen, wenn wir einander
begegnen? Wir müssen zu unserem Bruder sagen: Wie gleichst du
doch einem großen guten Mann, denn du bist das Abbild meines
Erlösers und Meisters! Und welch zärtliche Liebkosungen müssen wir
einander geben auf die Versicherung hin, die er uns gibt oder die wir
uns gegenseitig geben, daß wir das Abbild des Schöpfers recht gut
erkennen und daß wir seine Kinder sind. Doch besser gesagt, wie lie-
bevoll müssen wir den Nächsten aufnehmen, indem wir in ihm diese
Gottähnlichkeit ehren und stets von neuem die zwei Bande der Liebe
(Kol 3,14) knüpfen, die uns miteinander verbunden, zusammengefügt
und vereinigt halten. Wandeln wir also auf dem Weg der Liebe als
vielgeliebte Kinder Gottes, wie uns der heilige Apostel in der heutigen
Epistel auffordert.
Wandelt aber auf ihm, sagt er weiter, wie Jesus Christus auf ihm
wandelte, der sein Leben für uns hingegeben, d. h. es seinem Vater als
Brandopfer und Opfergabe von süßem Wohlgeruch dargebracht hat. In

448
diesen Worten erkennen wir den Grad, den unsere gegenseitige Liebe
erreichen, und die Vollkommenheit, zu der sie gelangen muß, nämlich
füreinander die Seele hinzugeben, das Leben, mit einem Wort alles,
was wir sind, und alles, was wir haben, außer das Heil; Gott will ja, daß
dies allein ausgenommen sei. Unser Herr hat sein Leben für jeden von
uns hingegeben; er hat seine Seele hingegeben, seinen Leib und sich
schließlich nichts vorbehalten; folglich will er nicht, daß wir uns
irgendetwas vorbehalten, ausgenommen das ewige Heil.
Unser göttlicher Meister hat sein Leben nicht nur für uns hingege-
ben, indem er es damit verbrachte, die Kranken zu heilen, Wunder zu
wirken und uns zu belehren, was wir tun müssen, um das Heil zu erlan-
gen und ihm wohlgefällig zu sein. Er hat es vielmehr auch hingegeben,
indem er während dessen ganzer Dauer das Kreuz zimmerte, da er
abertausend Verfolgungen sogar von denen erduldete, denen er so viel
Gutes tat, für die er sein Leben hingab. Wir müssen es ebenso machen,
sagt der Apostel, d. h. wir müssen unser Kreuz zimmern, einander
ertragen, wie es uns der Heiland gelehrt hat, müssen unser Leben hin-
geben selbst für jene, die es uns nehmen möchten, wie er es so liebevoll
getan hat. Wir müssen es für den Nächsten einsetzen nicht nur in ange-
nehmen Dingen, sondern in den beschwerlichsten und unangenehm-
sten, wie liebevoll die Verfolgungen zu ertragen, die unsere Liebe zu
unseren Brüdern irgendwie erkalten lassen könnten.
Manche sagen: Ich liebe meinen Nächsten sehr und möchte ihm
gern irgendeinen Dienst erweisen. Das ist recht gut, sagt der hl. Bern-
hard, aber es ist nicht genug; man muß noch weiter gehen. O, ich liebe
ihn doch! Ich liebe ihn so sehr, daß ich gern all meinen Besitz für ihn
verwenden möchte. Das ist mehr und schon besser, aber es ist noch
nicht genug. Ich versichere Ihnen, ich liebe ihn so sehr, daß ich gern
selbst meine Person für ihn einsetzen würde zu allem, was er von mir
wünschen mag. Das ist gewiß ein sehr gutes Zeichen deiner Liebe, aber
man muß noch weiter gehen, denn es gibt in dieser Liebe noch eine
höhere Stufe, wie uns der hl. Paulus lehrt, wenn er (1 Kor 11,1) sagt:
Ahmt mich nach, wie ich Jesus Christus nachahme. Und in einem an-
deren seiner Briefe (2 Kor 12,14f.19), wenn er zu seinen teuersten
Kindern spricht und schreibt: Ich bin bereit, mein Leben für euch hin-
zugeben und mich so vollständig einzusetzen, daß ich keinerlei Vorbe-
halte mache, um euch zu beweisen, wie zärtlich und herzlich ich euch
liebe. Ja, ich bin sogar bereit, durch euch oder für euch alles gesche-
hen zu lassen, was man von mir will. Damit belehrt er uns, daß es nicht
so viel ist, sich für den Nächsten einzusetzen, ja bis zur Hingabe seines

449
Lebens, als sich nach dem Belieben der anderen verwenden zu lassen,
sei es für sie oder durch sie.

Das hatte Paulus von unserem göttlichen Erlöser gelernt; der hatte
sich selbst für unser Heil und unsere Erlösung eingesetzt und ließ sich
dann verwenden, um diese Erlösung zu vollenden und uns das ewige
Leben zu erwerben, indem er sich sogar von denen ans Kreuz schlagen
ließ, für die er starb. Er hatte sich selbst sein Leben lang eingesetzt,
aber bei seinem Tod ließ er sich einsetzen und alles geschehen, was
man wollte, nicht durch seine Freunde, sondern durch seine Feinde,
die ihn in unerträglicher Wut töteten. Er leistete trotzdem keinen
Widerstand und weigerte sich nicht, sich von jedem führen und behan-
deln zu lassen, wie es die Grausamkeit diesen Unglücklichen eingab
(Jes 1,5). Er sah darin den Willen seines himmlischen Vaters, der
bestimmte, daß er für die Menschen starb. Diesem Willen unterwarf
er sich mit unvergleichlich großer Liebe, die viel mehr angebetet zu
werden verdient, als man sich vorstellen und begreifen kann.

Zu dieser höchsten Stufe der Vollkommenheit sind die Ordensleute


und wir alle, die wir dem Dienst Gottes geweiht sind, zu dieser höch-
sten Stufe der Nächstenliebe, sage ich, sind wir berufen und nach ihr
müssen wir mit allen Kräften streben. Wir müssen uns nicht nur für
sein Wohl und zu seinem Trost einsetzen, sondern müssen uns für ihn
verwenden lassen durch den hochheiligen Gehorsam, ganz wie man
will, ohne uns je zu widersetzen. Wenn wir uns selbst einsetzen, bringt
das, was wir nach der Entscheidung unseres Willens oder nach eigener
Wahl tun, unserer Eigenliebe stets große Genugtuung. Uns aber zu
Dingen verwenden zu lassen, die man will, die nicht wir wollen, d. h.
die wir nicht wählen, darin liegt die höchste Stufe der Selbstverleug-
nung, die unser Herr und Meister uns durch seinen Tod gelehrt hat.
Wir möchten predigen, und man schickt uns zum Krankendienst; wir
möchten für den Nächsten beten, und man schickt uns, dem Nächsten
zu dienen. Was man uns tun heißt, ist stets unvergleichlich mehr wert
(ich meine, was nicht im Widerspruch zu Gott steht und ihn nicht
beleidigt) als das, was wir selbst tun oder wählen.
Liebt also einander, sagt der hl. Paulus, wie Unser Herr uns geliebt
hat. Er hat sich als Sühnopfer dargebracht; das geschah, als er am
Kreuz sein Blut bis zum letzten Tropfen über die Erde ergoß, damit es
gleichsam ein heiliges Bindemittel bilde (Kol 1,20), durch das er alle
Bausteine seiner Kirche, nämlich die Gläubigen, miteinander vereini-
gen, verbinden und zusammenhalten wollte, damit sie so vereinigt sei-

450
en, daß es unter ihnen nie irgendeine Trennung gebe; so sehr fürchtete
er, daß diese für sie die Ursache ewiger Trauer werde. Wie dringlich
ist doch dieser Beweggrund, um uns zur Liebe dieses Gebotes und zu
seiner genauen Befolgung anzuspornen. Wir wurden in gleicher Weise
mit diesem kostbaren Blut getränkt als mit einem heiligen Bindemit-
tel, um unsere Herzen miteinander zu verbinden und zu vereinigen.
Wie groß ist doch die Güte Gottes!
Unser Herr wurde seinem göttlichen Vater auch für uns dargebracht
oder hat sich geopfert als wohlduftende Opfergabe. Welch göttlichen
Duft verbreitete er doch, als er das allerheiligste Sakrament des Alta-
res einsetzte, in dem er uns die Größe seiner Liebe so wunderbar be-
zeugt! Diese Tat der Vollendung verbreitete einen unvergleichlichen
Wohlgeruch; durch sie gab er sich uns hin, die wir seine Feinde waren
und seinen Tod verschuldet haben; und damals gab er uns das Mittel,
das zu erreichen, was er uns wünschte, nämlich eins mit ihm zu wer-
den, wie er und sein Vater eins sind, d. h. das Gleiche. Darum hat er
seinen himmlischen Vater gebeten oder wollte ihn bitten, und glei-
cherweise und gleichzeitig fand er, wie das geschehen kann. O unver-
gleichliche Güte, wie verdienst du geliebt und angebetet zu werden!
Wie weit hat die Größe Gottes sich erniedrigt für jeden von uns und
wie weit will er uns erhöhen! Uns so vollkommen mit sich zu vereini-
gen, daß er uns zu ein und demselben mit ihm macht. Das hat Unser
Herr gewollt, um uns zu belehren, daß wir, wie wir alle mit der glei-
chen Liebe geliebt werden, mit der er uns alle im heiligsten Sakrament
umfängt, nach seinem Willen uns lieben sollen mit der gleichen Liebe,
die nach Einigung strebt, aber nach der denkbar größten und vollkom-
mensten Einheit. Wir alle werden mit dem gleichen Brot genährt (1 Kor
10,17), nämlich mit dem himmlischen Brot der göttlichen Euchari-
stie, mit der Speise, die Kommunion heißt und, wie wir gesagt haben,
die allgemeine Einheit darstellt, die wir miteinander haben müssen.
Ohne diese Einheit verdienen wir nicht, den Namen von Kindern Got-
tes zu tragen, weil wir ihm nicht entsprechen.
Kinder, die einen guten Vater haben, müssen ihn nachahmen und
seinen Geboten in allem folgen. Wir haben nun einen Vater, der besser
ist als jeder andere, von dem alle Güte kommt (Jak 1,17). Seine Gebo-
te können nur sehr vollkommen und heilsam sein; deshalb müssen wir
ihn möglichst vollkommen nachahmen und ebenso seinen göttlichen
Anordnungen gehorchen. Aber unter all seinen Geboten ist keines,
auf das er solchen Nachdruck gelegt und von dem er sein Verlangen
nach einer genauen Befolgung so klar bezeugt hat, wie das der Näch-

451
stenliebe. Das bedeutet nicht, daß das Gebot der Gottesliebe nicht den
Vorrang hätte; da aber für die Befolgung des Gebotes der Nächstenlie-
be die Natur weniger hilfreich ist als für das andere, war es notwendig,
daß wir dazu in besonderer Weise angespornt werden.
Lieben wir also einander mit der ganzen Fülle des Herzens, um un-
serem himmlischen Vater zu gefallen, doch lieben wir einander auf
vernünftige Weise. Das bedeutet, daß unsere Liebe von der Vernunft
geleitet werden soll; sie will, daß wir die Seele des Nächsten mehr
lieben als seinen Leib; daß wir dann auch den Leib lieben und hernach
in rechter Ordnung alles, was dem Nächsten gehört, alles nach Ge-
bühr, zur Erhaltung dieser Liebe.
Wenn wir das tun, mit wieviel Recht und gewiß nicht ohne großen
Trost können wir dann den Psalm (133) singen, dessen Betrachtung
dem großen hl. Augustinus so lieblich war: Ecce quam bonum! Wie
gut ist es, die Brüder beisammen wohnen zu sehen in heiliger Einheit, in
Eintracht und Frieden, denn sie sind wie kostbares Öl, das ausgegossen
wird über das Haupt des Hohepriesters Aaron, das dann herabfließt
über seinen Bart und seine Kleider. Unser göttlicher Meister ist der
Hohepriester, über den das unvergleichlich kostbare und duftende Öl
der heiligen Liebe, sowohl zu Gott als zum Nächsten, ausgegossen
wurde. Wir sind gleichsam die Haare seines Hauptes sowie seines
Bartes. Oder wir können vielmehr in den Aposteln den Bart Unseres
Herrn sehen; er ist unser Haupt, wir seine Glieder (1 Kor 12,12-17;
Eph 4,15; Kol 1,18). Sie waren gleichsam mit seinem Gesicht ver-
wachsen, da sie sein Beispiel und seine Wunder sahen, seine Lehren
unmittelbar aus seinem heiligen Mund vernahmen. Was uns betrifft,
hatten wir nicht diese Ehre, sondern haben von den Aposteln gelernt,
was wir wissen. Wir sind also gleichsam die Kleider unseres Hohe-
priesters, unseres Erlösers; auf sie fließt gleichwohl auch dieses kost-
bare Salböl der überaus heiligen Liebe herab, die er uns so sehr emp-
fohlen und befohlen hat. Das hat uns auch sein heiliger Apostel in
deutlicheren Ausdrücken gesagt, da er nicht wollte, daß wir uns damit
befassen, in dieser so notwendigen Übung die Engel und die Kerubim
nachzuahmen, sondern Unseren Herrn selbst, der sie uns viel mehr
durch Werke als durch Worte gelehrt hat, vor allem, als er ans Kreuz
geheftet war.
Am Fuß dieses Kreuzes müssen wir uns ständig aufhalten als an dem
Ort, an dem die Nachahmer unseres erhabenen Meisters und Erlösers
hauptsächlich ihren Aufenthalt nehmen. Hier empfangen sie ja dieses
himmlische Öl der heiligen Liebe, das wie eine heilige Quelle mit
aller Macht dem Herzen des göttlichen Erbarmens unseres gütigen

452
Gottes entströmt. Er hat uns geliebt mit einer so starken, beständigen,
so glühenden und beharrlichen Liebe, daß selbst der Tod sie nicht
erkalten lassen konnte, sondern sie im Gegenteil angefacht und gren-
zenlos vermehrt hat. Die Wasser der bittersten Trübsal vermochten das
Feuer seiner Liebe zu uns nicht auszulöschen (Hld 8,6f), so glühend
war sie; und die schlimmsten Verfolgungen seiner Feinde waren nicht
stark genug, um die unvergleichliche Gediegenheit und Festigkeit der
Liebe zu überwinden, mit der er uns geliebt hat. So muß unsere Liebe
zum Nächsten sein: stark, glühend, gediegen und beständig. – – –

Zum Fest der Unbefleckten Empfängnis

Nr. 67: Lyon, 8. Dezember 1622 X,399-405

Die geringe Zeit und Muße, die uns das Getümmel der Welt läßt,
wird die Ursache sein, daß ich sehr einfach und zwanglos (denn mir
scheint, daß die Dinge dafür besser geeignet sind) zu euch über zwei
Punkte sprechen werde, die ich euch am letzten Donnerstag nicht er-
klären konnte, d. h. darüber, wie man die Feste feiern muß und wel-
cher Art die Feste und Geheimnisse sind, die wir feiern. Ich bin ge-
wohnt, stets den Gegenstand zu erklären, ehe ich darüber spreche.
Vor allem muß man wissen, daß es dreierlei Feste gibt: jene, die uns
die Kirche gebietet, solche, die sie uns empfiehlt, und die staatlichen
Feste, wie jenes, das heute wegen des Einzugs des Königs in diese Stadt
veranstaltet wird. Es wurde von den Herren der Stadt angeordnet und
ist auf diese Weise zu einem staatlichen geworden. Die Feste wurden
uns empfohlen, um Gott Ehre zu erweisen, den Kult und die Anbe-
tung, die wir ihm schulden als unserem höchsten Meister und Herrn.
Das Fest der Empfängnis der seligsten Jungfrau ist uns nicht geboten,
wohl aber empfohlen. Um uns zur frommen Feier dieses Festes einzu-
laden, gewährt uns die Kirche als liebenswürdige Mutter Ablässe, und
es gibt sogar Bruderschaften mit dieser Absicht. Der hl. Hieronymus
und der hl. Bernhard empfehlen uns die Feier im Brevier und in den
Homilien dieses Tages. Bevor wir aber auf unsere Ausführungen näher
eingehen, sagen wir ein Wort über den Inbegriff unseres Glaubens zur
Unterweisung der Christen. Man muß vor allem wissen, daß es darin
vier Teile gibt: 1. was wir glauben müssen, 2. was wir erhoffen müssen,
3. was wir lieben müssen, 4. was wir tun und üben müssen.

453
Das erste ist enthalten im Apostolischen Glaubensbekenntnis, das
so genannt wird, weil es die Apostel verfaßt haben. Alles, was wir
glauben müssen, ist in ihm enthalten; und obwohl darin nicht alles im
einzelnen steht, ist es doch im großen enthalten. Im Credo ist z. B.
nicht gesagt, daß es Engel gibt; trotzdem ist das eine Wahrheit, die wir
glauben und in der Heiligen Schrift finden, sogar, daß sie mit Aufträ-
gen in diese Welt hier unten gesandt wurden. Ebenso wollten die tük-
kischen Häretiker behaupten, das heilige Meßopfer sei nicht in unse-
rem Glaubensbekenntnis enthalten. Das benützten diese Elenden, um
zu sehen, ob es jemand gebe, der so schwachen Glauben hat, an ihre
Irrtümer zu glauben. O meine Lieben, ich sage euch, es gibt hundert
Artikel in unserem Glauben, die nicht ausdrücklich im Glaubensbe-
kenntnis stehen, die dennoch alle Christen glauben müssen. Man darf
nicht sagen: Ich begnüge mich damit, zu glauben, was die Kirche
glaubt, und auf diese Weise in dieser krassen Unwissenheit zu verhar-
ren.
Was wir erhoffen und von Gott erbitten müssen, ist alles in den sie-
ben Bitten des Vaterunser enthalten, das wir gewöhnlich das Gebet des
Herrn nennen, das Unser Herr (Mt 6,9-13) hinterlassen hat.
Zum dritten haben wir die göttlichen Gebote, durch die wir belehrt
werden, Gott und den Nächsten zu lieben; denn von diesen zwei Gebo-
ten hängt das ganze Gesetz und die Propheten ab (Mt 22,37-40). Ihr
kennt auch die anderen, die im Dekalog folgen, und die Gebote der
Kirche; sie gleicht einem schönen Baum oder vielmehr dem Orangen-
baum, der zu jeder Jahreszeit immer grün ist. Tatsächlich sieht man
ihn in Italien in der Gegend von Genua und auch in Gegenden Frank-
reichs, wie in der Provence entlang der Küste, zu jeder Jahreszeit Blät-
ter, Blüten und Früchte tragen. (Gewiß ist der Orangenbaum immer
im gleichen Zustand, ohne zu welken; gleichwohl hat er das, weil er
nicht nährt.) So hat die Kirche ihre Blätter, das sind ihre Zeremonien,
ihre Blüten, das sind ihre Handlungen, und ihre Früchte, das sind ihre
guten Werke und das gute Beispiel, das sie bei jeder Gelegenheit dem
Nächsten gibt.
Außerdem gibt es in ihr sieben Sakramente, die wir indessen nicht
alle zu empfangen verpflichtet sind, sondern nur jeder nach seiner
Berufung, wie das der Weihen für die Priester und das Sakrament der
Ehe für jene, die Gott dazu berufen hat. Der anderen müssen wir uns
nach Zeit und Ort bedienen und sie empfangen, wie es die Kirche uns
befiehlt, denn dazu sind wir verpflichtet.
Kommen wir zu unserem zweiten Punkt, d. h. welcher Art die Feste
sind, die wir feiern. Erwägen wir zunächst: Gott als reiner und freier

454
Geist wollte etwas außer sich schaffen; da schuf er die Engel und
dann Adam und Eva im Stand der ursprünglichen Unschuld und
Gerechtigkeit. Außerdem ließ er ihnen die Willensfreiheit, beglei-
tet von allen Vorzügen und Privilegien der Gnade, die sie nur wün-
schen konnten. Aber was tat Luzifer, dieser Geist des Aufruhrs, der
sich mit einer so vorzüglichen Natur ausgestattet sah? Er wollte
sich in keiner Weise unterordnen. Nun wißt ihr, daß alle Engel in
der Gnade geschaffen wurden, aber sie waren nicht sogleich in ihr
gefestigt. Gott hatte ihnen den freien Willen und volle Freiheit ge-
lassen. Da nun der oberste Engel, der Luzifer war, sich so schön
und so hervorragend seiner Natur nach sah, denn er war vollkom-
mener als alle, da sagte er bei sich: Ich werde mich dem Höchsten
gleich machen und werde mich auf die Flanken des Nordwinds set-
zen (Jes 14,13f); sie sind die höchsten, und alle werden mir Ehre
erweisen. Als der hl. Michael das sah, begann er zu rufen: Wer ist
wie Gott? Auf diese Weise stürzte er ihn in den Abgrund der Hölle
(Jes 14,11-15; Offb 12,7-9), da sich, wie der hl. Bernhard schreibt,
niemand erhöhen kann, der sich nicht zuvor gedemütigt hat.
Da sich Luzifer in dieser Weise gegen seinen Schöpfer aufgelehnt
hatte und folglich gegen sein Ebenbild, das der Mensch ist, wandte
er sich an unsere Stammeltern, vor allem an Eva, und sprach so zu
ihr: Wenn du von dieser Frucht ißt, wirst du Gut und Böse kennen
und Gott gleich sein. Sie öffnete ihr Ohr diesem Vorschlag (denn
wenn man uns davon spricht, uns zu erhöhen, scheint uns davon all
unser Glück abzuhängen); sie gab ihre Zustimmung und aß von der
verbotenen Frucht, ja sie ging noch weiter und gab ihrem Mann zu
essen, so daß beide nachgaben und ungehorsam gegen Gott wurden.
Im selben Augenblick empfanden sie Scham und Verwirrung in
sich selbst, denn das bringt die Sünde mit sich, und sie versteckten
sich, so gut es ihnen möglich war (Gen 3,1-7). Wären sie in der
Gnade geblieben, wären wir dieses unvergleichlichen Glückes teil-
haft geworden, denn von ihrem Fall nahm die Erbschuld ihren Aus-
gang. Das ist das Erbe, das sie uns hinterlassen haben, wie wir eben-
so die Gnade und ursprüngliche Gerechtigkeit geerbt hätten, in der
sie erschaffen wurden, wenn sie in ihr verharrt wären. Aber ach, sie
blieben es nur sehr kurz, es war nur ein Augenblick, und da wir alle
vom gleichen Stamm und Geschlecht Adams sind, sind wir alle mit
der Erbschuld behaftet; das läßt den großen königlichen Propheten
(Ps 51,7) ausrufen: Ecce enim in iniquitatibus ...; das heißt: wir alle
sind in Sünde empfangen und alle Empfängnis vom Anfang der Welt
bis zum Ende geschieht in Sünde.

455
Wenn es auch wahr ist, daß unsere Stammeltern, auch Eva, erschaf-
fen wurden und nicht empfangen, so geschieht doch jede Empfängnis
der Menschen in Sünde. Nur Unsere liebe Frau und heilige Herrin war
von diesem Übel ausgenommen, sie, die Gott zuerst in ihrem Herzen
und in ihrem Geist empfing, bevor sie ihn in ihrem keuschen Schoß
empfangen hat. Alle Menschen werden als Kinder des Zornes (Ps 51,7;
Eph 2,3) geboren infolge der Erbschuld, die sie zu Feinden Gottes
macht. Aber durch die Taufe sind sie wiederhergestellt und seine Kin-
der geworden, fähig seiner Gnade und der Erbschaft des ewigen Le-
bens. Alle waren mit der Erbschuld behaftet, aber einige wurden durch
ein besonderes Wunder vor ihrer Geburt gereinigt, wie der hl. Johan-
nes der Täufer und auch der Prophet Jeremia (1,5). Der hl. Johannes
wurde gereinigt bei den Worten der heiligen Jungfrau Maria durch die
Gegenwart dessen, der in ihrem heiligen Schoß eingeschlossen war.
Unser Herr und der hl. Johannes der Täufer besuchten sich im Leib
ihrer Mütter (der Schoß unserer Mütter ist ja eine kleine Welt), und
man glaubt, daß der glorreiche Vorläufer auf die Knie fiel, um seinen
Erlöser anzubeten, und daß ihm im selben Augenblick der Gebrauch
der Vernunft verliehen wurde. Aber die Welt will nur glauben, was sie
sieht. Das sei nur nebenbei gesagt.
Indessen wurden der hl. Johannes und Jeremia auf dem gewöhnli-
chen Weg der Zeugung in Sünde empfangen. Aber bei Unserem Herrn
war es nicht so, denn er war empfangen durch den Heiligen Geist (Mt
1,18.20; Lk 1,35) von seiner heiligen Mutter ohne Vater; deshalb gab
es keinen Grund, daß er die Erbschuld erbte. Man könnte mir erwi-
dern: Da er unsere Natur angenommen hat, ist er ein Mensch. Das ist
wahr, aber er ist auch Gott, und auf diese Weise ist er vollkommen
Gott und Mensch, ohne irgendeine Trennung oder Unterscheidung.
Er ist nicht aus dem Geschlecht Adams, d. h. nicht auf dem Weg der
Zeugung, sondern er wurde von seiner Mutter empfangen ohne Vater;
er war wohl aus dem Stoff Adams, nicht aber aus seinem Geschlecht.
Was Unsere liebe Frau betrifft, die seligste Jungfrau, wurde sie auf
dem gewöhnlichen Weg der Zeugung empfangen. Da Gott sie aber in
seinem Plan von aller Ewigkeit zu seiner Mutter vorherbestimmt hat,
bewahrte er sie rein und frei von aller Befleckung, obwohl sie ihrer
Natur nach sündigen konnte. Darüber gibt es keinen Zweifel, was die
persönliche Sünde betrifft. Ich muß mich eines Vergleichs bedienen,
um euch das verständlich zu machen. Wißt ihr, wie die Perlen entste-
hen? (Viele Frauen wünschen sich Perlen, aber um mehr kümmern sie
sich nicht.) Die Perlmütter machen es wie die Bienen. Sie haben eine

456
Königin, wählen dazu die größte unter ihnen und folgen ihr alle. Sie
kommen an die Oberfläche der Meereswellen zur Zeit der größten
Kühle, d. h. am Beginn des Tages, vor allem im Monat Mai. Wenn sie
da sind, öffnen sie ihre Schalen gegen den Himmel, und wenn die
Tautropfen in sie fallen, schließen sie die Schalen wieder derart, daß
sie diesen Tau im Meer umschließen und in Perlen verwandeln, mit
denen man solchen Staat macht. Beachtet aber, daß sie ihre Schalen so
fest schließen, daß kein Salzwasser eindringen kann (Plinius).

Dieser Vergleich dient meinem Vorhaben gut. Der Herr hat dassel-
be für die heilige Jungfrau, Unsere liebe Frau, getan, denn im Augen-
blick ihrer Empfängnis griff er ein oder fing sie vielmehr gewisserma-
ßen auf, um zu verhindern, daß sie der Erbschuld verfiel. Wenn der
Tautropfen keine Schale fände, die ihn auffängt, fiele er ins Meer und
würde in bitteres Salzwasser verwandelt. Wenn ihn aber die Schale der
Perlmutter aufnimmt, wird er in eine Perle verwandelt. Ebenso wurde
die heilige Jungfrau in das Meer dieser Welt geschickt auf dem ge-
wöhnlichen Weg der Zeugung, wurde aber vor dem Salzwasser der
Verderbnis der Sünde bewahrt. Sie mußte diesen einzigartigen Vorzug
haben, weil es untragbar wäre, daß der Teufel Unserem Herrn vorhal-
ten könnte, ihm sei jene dienstbar gewesen, die ihn in ihrem Schoß
getragen hat. Aus diesem Grund erwähnt das Evangelium weder Vater
noch Mutter der seligsten Jungfrau, sondern nur Josef, den Bräutigam
einer Jungfrau namens Maria, von der Jesus geboren ist (Mt 1,16). So
hatte ihre Seele durch eine besondere Gnade nichts von ihren Eltern
an sich, wie es bei den anderen Geschöpfen gewöhnlich ist.

Sagen wir nun etwas über die Verehrung, die wir für die heilige Jung-
frau haben müssen. Die Weltleute stellen sich gewöhnlich vor, die
Verehrung Unserer lieben Frau bestehe darin, einen Rosenkranz am
Gürtel zu tragen, und es scheint ihnen zu genügen, davon einen Teil zu
beten, ohne sonst etwas zu tun. Darin täuschen sie sich sehr. Unsere
teure Herrin will ja, daß man tut, was ihr Sohn befiehlt (Joh 2,5), und
sie betrachtet als ihr selbst erwiesen die Ehre, die man ihrem Sohn
erweist, wenn man seine Gebote beobachtet.
Dafür gibt es Beispiele. Ich will mich damit begnügen, davon eines
oder zwei zu nennen. Als die Mutter des Kaisers Nero, dieses Unmen-
schen, der die Kirche Gottes so schwer verfolgt hat, mit ihm schwan-
ger war, ließ sie die Zauberer und Wahrsager kommen, um zu erfah-
ren, was aus ihrem Kind werde. Als sie befragt wurden, wahrsagte ei-
ner von ihnen, dieses Kind werde Kaiser sein, herrschen und groß sein.

457
Ein anderer jedoch, der bemerkte, daß ihr das schmeichelte, sagte ihr,
er werde wirklich Kaiser sein, doch sobald er es sei, werde er sie töten
lassen. Da antwortete diese bedauernswerte Mutter: Das macht nichts,
„wenn er nur herrscht“ (Tacitus). Seht, wie die stolzen Herzen nach
Ehren und Vergnügungen verlangen, die ihnen oft schädlich sind. Wir
haben ein anderes Beispiel im 1. Kapitel des 1. Buches der Könige.
Dort wird berichtet, daß die Königin Batseba David aufsuchte und vor
ihm mehrere Kniefälle und Ehrenbezeugungen machte. Als der König
das sah, erkannte er, daß sie etwas begehrte, und fragte sie, was sie
wünsche. Batseba antwortete: Herr, daß mein Sohn nach dir König
sei. Wenn nun die Mütter natürlicherweise so sehr wünschen, daß ihre
Kinder herrschen und geehrt werden, mit wieviel mehr Recht dann
Unsere liebe Frau, die weiß, daß ihr Sohn Gott ist. Die Ehre des Soh-
nes ist auch die der Mutter.
Doch sagen wir zu unserem Trost noch dieses Wort. Ihr, meine lie-
ben Schwestern, habt die Welt verlassen und euch unter die Schirm-
herrschaft der seligsten Jungfrau gestellt. Wenn ihr sie fragt: Hohe
Frau, was ist dein Wunsch, daß wir für dich tun sollen?, wird sie euch
ohne Zweifel antworten, sie wünsche und wolle, daß ihr tut, was sie bei
der bekannten Hochzeit zu Kana in Galiläa, wo der Wein ausging, zu
tun empfohlen hat. Dort sagte sie zu denen, die dafür zu sorgen hatten:
Tut alles, was euch mein Sohn sagen wird (Joh 2,5). Wenn ihr also treu
auf sie hört, werdet ihr in eurem Herzen vernehmen, daß sie euch das
gleiche Wort sagt: Tut alles, was euch mein Sohn sagen wird. Gott
schenke euch diese Gnade, das zu vernehmen in diesem und im ande-
ren Leben. Amen.

Zum Fest des hl. Thomas

Nr. 68: 21. Dezember 1622 X,406-411

Wenn ich den Bericht des heutigen Evangeliums (Joh 20,24-29) be-
trachte, fällt mir dabei Protogenes aus dem Altertum ein, der gleich-
zeitig den Beruf des Malers und des Höflings ausübte. Als er daher den
großen Antigones malen wollte, der auf einem Auge blind war, fand er
einen Ausweg, der seines Geistes würdig war, um die Unvollkommen-
heit seines Fürsten schmeichelhaft zu verheimlichen: er stellte ihn im
Profil dar und zeigte nur die eine Hälfte seines Gesichtes, die schön
und ohne Gebrechen war. In unserer Zeit machen es die Geschichts-
schreiber ebenso bei den Taten der Großen dieser Erde, denn sie ver-

458
heimlichen und verschleiern die Wahrheit bei allem, was den Anschein
des Bösen hat, so daß man nichts von ihnen lernen kann. Der Geist
Gottes dagegen sagt die Wahrheit ohne jede Schmeichelei. Gewöhn-
lich sehen wir, daß die Heilige Schrift die schlimmsten Fehltritte vie-
ler großer Heiliger offen darlegt, so wenn sie uns die Buße einer hl.
Magdalena zeigen will, die Tränen eines hl. Petrus, die Bekehrung
eines hl. Paulus; dann läßt sie uns zuerst ihre Fehler lesen, bevor sie
von ihrer Reue spricht. So ist es auch beim hl. Matthäus und anderen,
besonders beim hl. Thomas.
Das Evangelium, das heute gelesen wird, zeigt klar die Treulosig-
keit, die dieser Apostel begeht, als er nicht glauben will. Er fällt wirk-
lich in einen sehr großen Fehler, der fast unbeschreiblich ist; das kön-
nen wir bei den heiligen Vätern feststellen. Aber ich bitte euch, wa-
rum tun sie das, wenn nicht deshalb, um uns die grenzenlose Barmher-
zigkeit Gottes zu zeigen im Vergleich mit dem Elend der Sünder? Wie
wir sehen, heißt es in der Heiligen Schrift (Ps 113,5-7; 138,7; Röm
9,13; 1 Tim 1,15f), daß Gott seinen Thron auf unserer Armseligkeit
errichtet. Sehen wir also 1. wie der Evangelist berichtet, daß der hl.
Thomas am Tag der Auferstehung nicht bei den anderen war; wie er 2.
nicht glauben wollte und damit eine große Unklugheit beging; und
wie er 3. übertrieb mit den Worten: Ich werde nicht glauben, wenn ich
ihn nicht berühre und ihn nicht sehe.
Der erste Fehler, nämlich sich nicht einzufügen und bei den anderen
zu sein, war der Anfang des Bösen, das von hier seinen Ausgang nahm.
Man muß nämlich etwas sehr Wichtiges feststellen: daß der Mensch
nicht mit einem Schlag zur Vollkommenheit gelangt, sondern allmäh-
lich von Stufe zu Stufe (Ps 84,6). Ebenso verhält es sich, wenn man in
ihr nachläßt und in eine Sünde oder Unvollkommenheit fällt; man
fällt nicht auf einen Schlag, sondern kommt von kleinen Fehlern zu
größeren. Man darf nicht sagen: Es ist unbedeutend, wenn man nicht
bei der Gemeinschaft ist, sowohl beim Gebet wie bei irgendeiner an-
deren Übung. Wäre der hl. Thomas bei den übrigen Aposteln gewe-
sen, dann wäre er acht Tage früher heilig und treu gewesen. Wir dürfen
nicht glauben, es habe wenig zu bedeuten, wenn wir acht Tage in der
Untreue verharren und unsere Vollkommenheit auch nur ein wenig
verzögern; es ist im Gegenteil ein großes Übel, da jeder Augenblick
sehr kostbar für uns ist und uns sehr wertvoll sein muß.
Den zweiten Schritt seines Fehltritts machte der hl. Thomas, als er
bei seiner Rückkehr seine Mitbrüder und Mitjünger sagen hörte: Wir
haben den Herrn gesehen. Da antwortete er: Ich glaube nicht; und da er
sich der Gnade beraubt sah, die die anderen bei diesem Besuch emp-

459
fangen hatten, ließ er sich zu Eigensinn und Verdruß verleiten. Gewiß
hätte er die Apostel fragen müssen, wie ihnen der Heiland erschienen
ist, und sich mit ihnen über dieses Glück freuen; leider tat er aber das
Gegenteil und wollte seinen Fehler auf keinen Fall zugeben. So geht es
uns allen, daß wir es nicht zugeben wollen, wenn wir gefehlt haben.
Hätte der hl. Thomas seine Brüder zum Glück und zum Trost be-
glückwünscht, den sie alle empfangen hatten, und sich schuldig be-
kannt, dann hätte er diese großen Unvollkommenheiten vermieden.
Wer sich entschuldigt, klagt sich an. Man darf sich also nie entschuldi-
gen, denn wir haben allen Grund zu glauben, daß wir immer unrecht
haben.
Der dritte Fehler des hl. Thomas und sein eigentlicher Fehltritt be-
stand darin, daß er sich zur Leidenschaft bis zum Eigensinn hinreißen
ließ und dann zur Übertreibung mit den Worten: Nein, ich werde nicht
glauben, daß er auferstanden ist, wenn ich nicht meinen Finger in die
Wundmale seiner Hände und Füße lege und meine Hand in seine durch-
bohrte Seite. Darauf erwidert der hl. Bernhard und sagt: Armer Tho-
mas, warum willst du nicht glauben, ohne zu berühren, da unser Glau-
be nicht zu greifen ist und nicht von den Sinnen abhängt? Dieser große
Heilige hat wirklich recht, denn der Glaube ist ein Geschenk Gottes;
er flößt ihn einer demütigen Seele ein, denn er wohnt nicht in einer
Seele, die von Stolz erfüllt ist. Man muß Demut haben, um den Strahl
des göttlichen Lichtes zu empfangen, das ein ganz unverdientes Ge-
schenk ist. Hört, was Unser Herr zu den Pharisäern (Joh 5,33) sagt:
Wie könntet ihr glauben, die ihr ganz aufgeblasen seid von eitlem Ruhm
und Selbstüberschätzung?
Kommen wir zu unserem Thema zurück, nämlich daß der hl. Tho-
mas sich zur Leidenschaft hinreißen ließ. Es ist ein großes Übel, sich
in dieser Weise hinreißen zu lassen, denn die Theologen lehren, wenn
wir unseren Leidenschaften nachgeben, führen sie uns bis zur Todsün-
de. Der große hl. Paulus oder vielmehr Unser Herr im hl. Paulus sagt
nach dem Propheten (Ps 4,5; Eph 4,26): Zürnt, aber sündigt nicht. Es
ist ja keine Sünde, wenn die Leidenschaften erregt sind; aber es ist
etwas ganz anderes, auf den Zorn einzugehen und seinen Empfindun-
gen zu folgen, wie sich zu erbittern und sich dann darauf zu versteifen:
das macht die Sünde aus. Die dem Geiz unterworfen sind, gehen z. B.
gewöhnlich nicht bis zur Todsünde, aber sie hüten ihren Besitz etwas
zu genau; das ist die erste Frucht der Leidenschaft, und das ist je nach
der Wichtigkeit der Sache eine läßliche Sünde.
Der hl. Thomas ging bis zur dritten Stufe und beging die Sünde des
Unglaubens, die sehr schwer war. Als die anderen Apostel das sahen,

460
waren sie davon sehr betroffen. Gewiß, ohne Zweifel belasten jene, die
in einer Gemeinschaft sind und ihrer Lebensweise nicht folgen, ihre
Brüder sehr schwer, besonders jene, die das Heil der Seelen wünschen.
Aber auch die Apostel haben den Schuldigen nicht aus ihrer Gemein-
schaft ausgestoßen, sondern für ihn gebetet, und Unser Herr kam in
seiner unaussprechlichen Barmherzigkeit ein zweites Mal einzig des
hl. Thomas wegen. Damit gibt er uns eine Probe der Milde, mit der er
die Sünder behandelt; er hat ja zwei Arme: der eine ist seine allmäch-
tige, unparteiische Gerechtigkeit, der andere seine Barmherzigkeit,
den er über den der Gerechtigkeit erhebt (Jak 2,13).
Bei dieser Gelegenheit fällt mir der hl. Dionysius Areopagita ein,
dem man mit vollem Recht den Beinamen des Apostels Frankreichs
gegeben hat. In einem seiner Briefe erzählt er folgende Geschichte,
die ihr alle gut kennt. Als Demophilus einen armen sündigen Mann in
der Nähe des Altares zu Füßen seines Beichtvaters sah, jagte er ihn mit
groben Fußtritten aus der Kirche, denn er hielt ihn nicht für würdig,
hier zu sein. Das tat er aus glühendem Eifer, der allerdings falsch und
maßlos war, obwohl er ihn für gut hielt. Im gleichen Brief berichtet
der hl. Dionysius, der hl. Carpus habe Unseren Herrn geschaut, der
ganz bereit war, noch einmal für jeden Sünder zu sterben, wenn sein
Leiden für ihn nicht überreich genügen sollte.
Erwägen wir doch, wie gütig der Heiland ist. Er kam in den
Abendmahlssaal einmal für alle Apostel (Joh 20,19-23) und ein zwei-
tes Mal für den hl. Thomas allein, acht Tage nach seiner Auferstehung,
als sie alle beisammen waren; er wendet sich an Thomas allein und
sagt zu ihm: Du willst nicht glauben; wohlan, berühre, betaste, denn
ein Geist hat nicht Fleisch und Bein (Lk 24,39). Er legte also seine
Finger auf die heiligen Wundmale seines Erlösers. Doch, was glaubt
ihr, tat der gute Heilige? Gewiß, als er ihn berührte, fühlte er eine
große göttliche Glut, vor allem als er seine Hand an die kostbare Schatz-
kammer der Gottheit legte, als er das heilige Herz berührte, das ganz
glühend vor Liebe war. Da rief er voll Staunen aus: Mein Herr und mein
Gott! Im gleichen Augenblick wurde er verwandelt und gläubig, so
daß er ein Verkünder des Glaubens war wie die anderen Apostel; und
nachdem er Großes für ihn gewirkt hatte, starb er schließlich für die-
sen Glauben.
Unser gütiger Heiland antwortete ihm: Thomas, du hast geglaubt,
weil du gesehen hast; aber selig werden jene sein, die glauben und nicht
sehen. Seine göttliche Güte hatte uns ja alle vor Augen, die wir zu
seiner Kirche gehören, denn sie hat ihren Anfang in der kleinen Schar

461
der Apostel genommen. Wir wissen von den Geheimnissen des Glau-
bens nur das, was sie uns gelehrt haben, obwohl ihr Glaube damals
unvollkommen war, da sie, wie die Theologen lehren, in der Gnade
nicht soweit gefestigt waren. Hier auf Erden haben wir den Glauben
ohne den Genuß des Besitzes, aber im Himmel werden wir den Genuß
haben ohne den Glauben, weil wir im Himmel seiner nicht mehr be-
dürfen (1 Kor 13,8.12f; Hebr 12,1). Der Glaube ist ein großes Ge-
schenk Gottes; er trennt uns von den bedauernswerten Häretikern, die
nicht an das heilige Sakrament des Altares glauben wollen, weil man
hier nichts sieht und nichts greifen kann, wie sie sagen. Als ob das, was
Gott gesagt hat, nicht recht gesagt und getan wäre (Jes 55,11; 1 Petr
1,25) und als ob man sehen und berühren müßte, um zu glauben.
Meine lieben Schwestern, es ist ein großer Vorteil, in einer Gemein-
schaft zu sein. Hätte der hl. Thomas nicht seine Brüder gehabt, dann
wäre er nicht so bald von seinem Unglauben losgekommen. Sie bete-
ten für ihn und so wurde er gerettet. Ebenso ist es bei euch in den
Ordensgemeinschaften; wenn eine fällt, helfen ihr die anderen, sich
wieder zu erheben, durch die schwesterliche Zurechtweisung, durch
Gebet und gutes Beispiel. So gehen in den Orden die Seelen selten
verloren, außer sie wollen es, indem sie sich verhärten und eigensinnig
im Bösen verharren. Darüber bringt der hl. Bernhard einen schönen
Vergleich: Von 200 Schiffen und Ruderbooten, die im Hafen von
Marseille vor Anker gehen, geht keines verloren, sagt er,* die sich
aber anderswo einschiffen, laufen große Gefahr, zugrundezugehen.
Ebenso geht es den Seelen, die mitten im Getriebe der Welt stehen
und alle Liebe auf sie verwenden; denn von zweihundert werden zur
Not zwei gerettet, weil sie nicht an die ewigen Dinge denken und stets
auf Ehren, Vergnügungen und Reichtum bedacht sind. Deshalb sind
wir verpflichtet, für sie zu beten, damit Gott ihnen einen vollkomme-
nen Glauben schenke, der sie allen irdischen Dingen entsagen läßt.
Das heutige Fest scheint uns einzuladen, für die Ungläubigen und
Irrgläubigen zu beten, vor allem für jene, die in diesem Königreich
leben, damit alle sich dem Gehorsam gegenüber dem König unterwer-
fen. Bitten wir Unseren Herrn auch mit aller Inbrunst, uns die Gnade
der Beharrlichkeit im Glauben zu schenken, den wir ihm gelobt ha-
ben. Denken wir daran: die Ursache für den Fall des hl. Thomas war,

* Dieser Vergleich findet sich nicht in den authentischen Schriften des hl. Bern-
hard.

462
daß er sich gegen den Glauben verschloß und in seinem schlimmen
Zustand verhärtete. Gott schenke uns die Gnade, daß wir niemals zu
dieser dritten Stufe kommen; und sollten wir so weit kommen, möge
er uns in seiner Güte und Barmherzigkeit davon zurückführen, bis es
ihm gefällt, uns zum ewigen Leben zu führen, wo wir den Vater, den
Sohn und den Heiligen Geist immer preisen werden. Amen.

Zum Weihnachtsfest
Weihnachtsfest
In der Mitternachtsmesse

Nr. 69: Lyon, 25. Dezember 1622 X,412-416

Unter allen Festen, die wir in der heiligen Kirche feiern, gibt es drei,
die zu allen Zeiten gefeiert wurden, die ihren Ursprung und Ausgang
vom großen Paschafest nehmen, das im Alten Bund gefeiert wurde.
Diese drei Feste werden Pascha genannt, eine Bezeichnung, die nichts
anderes bedeuten will als Übergang (Ex 12,11). In der Tat ist das heu-
tige Fest nur eingesetzt zum Gedächtnis des Übergangs Unseres Herrn
von seiner Gottheit zu unserer Menschheit. Der zweite Übergang ist
der von seinem Tod und Leiden zur Auferstehung; das ist der Über-
gang von der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit, den wir jedesmal in
der Heiligen Woche und an Ostern feiern. Den dritten feiern wir zu
Pfingsten als dem Tag, an dem Gott die Heiden annahm und sie über-
gehen ließ vom Unglauben zum Glück, seine vielgeliebten Kinder zu
sein, das größte Glück, das die Kirche erfahren kann. Alle diese Feste
nehmen gleichwohl ihren Ausgang vom heutigen Geheimnis.
Man könnte mir aber sagen, es sei nicht üblich, bei der Mitternachts-
messe zu predigen. Ich antworte, daß dies sehr wohl in der Urkirche
üblich war, als sie in ihrer Blüte und in ihrer Kraft stand. Der hl.
Gregor bestätigt das durch die Homilie dieses Tages. Die frühen Chris-
ten verrichteten sogar die drei Nokturnen der Matutin getrennt und
erhoben sich auf diese Weise dreimal in der Nacht; mehr noch, man
ging siebenmal am Tag das Chorgebet verrichten, um zu erfüllen, was
der Psalmist (Ps 119,164) sagt. Außerdem predigte man dreimal an
diesem Fest: einmal in der Mitternachtsmesse, das zweite Mal in der
Messe bei Tagesanbruch und das dritte Mal bei der Messe am Tag, wie
uns der hl. Augustinus versichert. Der Eifer der ersten Christen war ja

463
so groß, daß ihnen nichts zu viel war; der Geringste unter ihnen war
noch mehr wert als die besten Ordensleute unserer Zeit. Seither hat
sich aber der Eifer so abgekühlt, daß man die Messe, das Chorgebet,
die Predigten einschränken und vermindern mußte. Nun, dies alles ist
nicht das, worüber ich in der kurzen Zeit, die uns bleibt, zu euch spre-
chen will. Ich habe vielmehr vor, euch zu sagen, was wir von diesem
Geheimnis glauben müssen, das uns die Kirche an diesem Tag vor-
stellt, dann darüber zu sprechen, was wir erhoffen und üben müssen.
Wenn ich nicht damit zu Ende komme, euch jetzt alles zu erklären,
wird das übrige für den Rest des Tages sein, wenn Gott uns die Zeit
dazu schenkt.
Bevor ich meine Predigt fortsetze, will ich euch sagen, daß ich mich
irgendeines Bildes zu bedienen pflege. Bei all unseren Werken, die wir
schaffen oder beginnen, haben wir, falls wir gut beraten sind, das Ziel
vor Augen, weil wir es haben müssen. Wenn z. B. jemand ein Haus
oder einen Palast bauen will, überlegt er zuerst, ob es als Wohnung für
einen Winzer oder irgendeinen Bauern bestimmt ist oder vielmehr für
einen Herrn. Er muß ja eine ganz andere Bauweise anwenden je nach
dem Stand der Person, die er hier wohnen lassen will. Der ewige Vater
hat dasselbe getan, als er die Welt schuf; er plante ja, sie für die Mensch-
werdung seines Sohnes zu schaffen, der das ewige Wort ist. Das Ziel
seines Werkes war also dessen Anfang, denn seine göttliche Weisheit
hat ja von aller Ewigkeit vorhergesehen, daß das Wort unsere Natur
annehmen und auf diese Erde kommen soll. Das alles hatte er be-
schlossen, ehe Luzifer und die Welt geschaffen wurden und ehe unsere
Stammeltern sündigten, und wir halten nach der Überlieferung für
sicher, daß Unser Herr vor 1622 Jahren in diese Welt gekommen ist,
unsere Natur angenommen hat und Mensch wurde.
Wir feiern also die Geburt des Heilands auf Erden. Doch bevor wir
darüber sprechen, laßt uns etwas sagen über die göttliche und ewige
Geburt des Wortes. Von aller Ewigkeit hat der Vater seinen Sohn ge-
zeugt, der ihm gleich und ewig wie er ist, denn er hat nie begonnen und
ist in allem seinem Vater gleich, der ihn gleichsam aus seinem Schoß,
aus seinem eigenen Wesen aussprach. Das ist so, wie wir z. B. sagen,
daß die Strahlen der Sonne aus ihrem Schoß hervorgehen, da die Son-
ne und ihre Strahlen ein und dasselbe sind. Wir sind gezwungen, diese
Ausdrücke zu gebrauchen, weil wir keine anderen haben. Wenn wir
Engel wären, würden wir von Gott ganz anders sprechen, auf viel vor-
züglichere Weise. Aber ach, wir sind nur ein wenig Staub und Kinder,
die nicht wissen, was sie sagen. Der Sohn ist also vom Vater gezeugt, er

464
geht vom Vater aus, ohne einen anderen Platz einzunehmen. Er ist im
Himmel geboren ohne Mutter, aus seinem Vater, der zugleich der
Ursprung der allerheiligsten Dreifaltigkeit ist und dennoch jungfräu-
lich unter allen Jungfrauen bleibt. Auf Erden ist er ohne Vater gebo-
ren von seiner Mutter, Unserer lieben Frau. Wir wollen nun ein Wort
sagen über diese zweifache Geburt, für die wir sichere Zeugnisse ha-
ben, wie wir gleich erklären werden.
Das Evangelium (Lk 1,35) versichert uns, daß das göttliche Wort
Fleisch angenommen hat im Schoß der allerseligsten Jungfrau, mit
den Worten des Engels: Der Heilige Geist ... Er verkündete ihr, daß der
Heilige Geist über sie kommen und die Kraft von oben sie überschat-
ten werde. Damit ist dennoch nicht gesagt, daß in Jesus Christus zwei
Personen seien, denn da sich die Gottheit mit unserer Menschheit
vereinigte, war er vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an voll-
kommen Gott und Mensch ohne irgendeine Trennung. Doch bringen
wir einige Beispiele. Die Naturforscher bemerken, daß der Honig ent-
steht aus einem Harz, das wir Manna nennen, das vom Himmel fällt
und sich mit der Blume vereinigt oder verbindet, die ihrerseits ihre
Substanz aus der Erde gewinnt. Wenn sich nun diese beiden Substan-
zen miteinander vereinigen, bilden sie nur den einen Honig. So hat in
unserem Herrn und Meister die Gottheit unsere Natur gleichsam mit
der ihren vereinigt und uns in gewisser Weise seiner Gottheit teilhaft
gemacht (1 Petr 1,4), denn sie ist Mensch wie wir geworden (Phil 2,7;
Hebr 4,15).
Es ist aber ein Unterschied zwischen dem Honig, der aus dem Thy-
mian gewonnen wird, weil er viel vorzüglicher ist als der, den man
Honig von Heraklea nennt, der aus dem Eisenhut und anderen Blu-
men entsteht. Wenn man ihn verkostet, erkennt man sogleich den
Honig, der vom Thymian gesammelt ist, denn er ist stark und süß
zugleich, während der Honig von Heraklea tödlich ist. So ist es auch
mit der heiligen Menschheit Unseres Herrn; denn hervorgegangen aus
dem jungfräulichen Boden Marias unterscheidet er sich sehr von unse-
rer Natur, die ganz befleckt ist von Verderbnis und Sünde. In der Tat,
da der ewige Vater wollte, daß sein Sohn das Haupt und der unum-
schränkte Herr aller Geschöpfe (Kol 1,15-18) wurde, wollte er zu-
gleich, daß die allerseligste Jungfrau das vorzüglichste unter allen
wurde, denn er hat sie von aller Ewigkeit erwählt, die Mutter seines
göttlichen Sohnes zu sein. Der heilige Leib Marias ist wahrhaftig ein
mystischer Bienenstock, in dem der Heilige Geist diese Honigwabe
mit ihrem allerreinsten Blut gebildet hat. Ferner hat das Wort Maria
erschaffen und ist aus ihr geboren, so wie die Biene den Honig erzeugt

465
und der Honig die Biene, so daß man nie Bienen sieht ohne Honig,
noch Honig ohne Bienen.
Bei der Geburt Unseres Herrn haben wir Zeugnisse seiner Gottheit,
uzw. sehr einleuchtende. Man sieht die Engel vom Himmel herab-
kommen, um den Hirten zu verkünden, daß ihnen ein Retter geboren
ist (Lk 2,8-14), und sieht die königlichen Magier kommen, um ihn
anzubeten (Mt 2,1-11). Das alles zeigt uns, daß er mehr ist als ein
Mensch, wie wir andererseits an seinem Wimmern, das er zitternd vor
Kälte in der Krippe hören läßt, sehen, daß er wahrer Mensch ist.
Erwägen wir doch die Güte des ewigen Vaters. Es wäre in seiner
Macht gelegen, wenn er die Menschheit seines Sohnes erschaffen woll-
te, wie er unsere Stammeltern erschaffen hat, oder wenn er ihm die
Natur der Engel geben wollte. Wäre dem so gewesen, nun, dann wäre
Unser Herr nicht von unserer Natur gewesen, dann hätten wir keine
Verbindung mit ihm. Seine Güte hat ihn aber so weit geführt, sich zu
unserem Bruder zu machen, um uns ein Beispiel zu geben (Röm 8,29;
Hebr 2,11-17) und uns auf diese Weise seiner Glorie teilhaftig zu
machen. Deshalb wollte er aus der Nachkommenschaft Abrahams sein,
denn die seligste Jungfrau war von seinem Stamm, und aus diesem
Grund heißt es von ihr (Lk 1,55; Röm 1,3; Gal 3,16): Abraham und
seinem Nachkommen.
Ich lasse euch zu Füßen dieser glückseligen Wöchnerin, damit ihr
wie weise Bienen den Honig und die Milch sammelt, die aus diesen
heiligen Geheimnissen und von ihren keuschen Brüsten träufeln, in
Erwartung dessen, was ich euch des weiteren erklären will, wenn Gott
uns dazu die Gnade und die Zeit gibt. Ihn bitte ich, euch mit seinem
Segen zu überhäufen. Amen.

Das ist die letzte Predigt vor seinem Tod, die wir besitzen. Am Abend des
folgenden Tages hielt er noch eine Ansprache bei der Noviziatsaufnahme zweier
Postulantinnen, die nicht überliefert ist. Es ist nicht klar, ob er bei der zweiten
Weihnachtsmesse für den Prinzen von Piemont und bei der dritten Messe in der
Heimsuchung, die erst mittags begann, gepredigt hat.

466

Das könnte Ihnen auch gefallen