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Kleiner · Lay Brander · Wansleben (Hg.

)
Geteilte Gegenwarten

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Stephanie Kleiner · Miriam Lay Brander
Leon Wansleben (Hg.)

Geteilte Gegenwarten
Kulturelle Praktiken
von Aufmerksamkeit

Wilhelm Fink

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Gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des
Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der
Universität Konstanz „Kulturelle Grundlagen von Integration“.

Umschlagabbildung:
William Hemsley (1819–1906),
„Divided Attention“,
Öl auf Leinwand

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn


Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn

Internet: www.fink.de
Intervention: Alexander Schellow

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München


Printed in Germany.
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5927-5

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    7

Stephanie Kleiner, Miriam Lay Brander, Leon Wansleben


Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    9

I. INSZENIERUNGSPRAKTIKEN UND SYNÄSTHETISCHE


ARRANGEMENTS VON AUFMERKSAMKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . .   27

Aleida Assmann
Denkmäler und ihre Paradoxien. Praktiken der Erinnerung und
Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    29

Hanna Katharina Göbel


Urbane Ruinen als Aufmerksamkeitsgeneratoren. Zur Praxeologie von
Atmosphären in der kulturalisierten Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    43

Julian Bauer
Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung. Skizzen zur Körpergeschichte
bei Mach, Meinong, Musil und Malinowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    59

Robert Suter (†)


Dichter mit Herzinfarkt. Vom Stress in der organisierten Moderne
zum Stress im flexiblen Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    91

Christopher Möllmann
Merivel, Do Not Sleep. Rose Tremains Poetologie der Hände . . . . . . . . . . . .   123

II. ANLEITUNGEN ZUR (SELBST-)AUFMERKSAMKEIT . . . . . . . . . .  151

Ulrike Sprenger
Wachsrezepte. Überlegungen zur aufklärerischen Wissensweitergabe
am Beispiel Diderots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  153

Leon Wansleben
Korrekturschleifen der Selbstkontrolle. Aufmerksamkeitstechniken
in den elektronisierten Finanzmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  171

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6 Inhalt

Stephanie Kleiner
Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung. Die Dominanz
der Zeitform ‚Gegenwart‘ in der Ratgeberliteratur der 1970er und
1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  189

III. NARRATIVE STRATEGIEN UND GEGENENTWÜRFE . . . . . . . .  221

Daniela Fuhrmann
„Er sprach vil worte der sie vergaze“. Überlegungen zum Erzählprinzip
ständiger Wiederholung in den Offenbarungen Adelheid Langmanns . . . . . .  223

Miriam Lay Brander


Mit List und Tücke. Praktiken der Aufmerksamkeit im
frühneuzeitlichen Schelmenroman am Beispiel des Lazarillo de Tormes . . . . .  243

Jurij Murašov
‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ Zur Poetologie kalter
Aufmerksamkeitsregime in der russischen Literatur
(am Beispiel von Dostoevskijs Arme Leute) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  265

Gwendolyn Whittaker
Die Digression der Zeichen. Pädagogisches Konzentrationstraining um 1900
und narratives Mäandern in Robert Walsers Tagebuch eines Schülers . . . . . . .  289

Alexander Schellow
Nachworte. Zur Wahrnehmung in der Zeit / Tirana . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  307

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Vorwort

Der vorliegende Band bildet einen gemeinsamen Ertrag des interdisziplinären


Doktorandenkollegs „Zeitkulturen“, das von 2007 bis 2012 im Exzellenzcluster
„Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz zu unter-
schiedlichen Modi der Herstellung und Organisation von Temporalität arbeitete.
Im Zusammenhang der Frage danach, wie geteilte Gegenwarten im praktischen
Vollzug erzeugt werden, kristallisierte sich das Thema und Problem der Auf-
merksamkeit aus unterschiedlichen Forschungsinteressen und -perspektiven der
Literatur-, Geschichts- und Politikwissenschaften sowie Soziologie und Philoso-
phie heraus. Der folgenden gemeinsamen Auseinandersetzung mit Praktiken von
Aufmerksamkeit schlossen sich weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
aus dem Exzellenzcluster an, die sich mit den interessierten Mitgliedern des Kollegs
zu Arbeitstreffen im erweiterten Rahmen zusammenfanden.
Wir danken dem Sprecher des Kollegs, Jürgen Osterhammel, sowie Ulrike
Sprenger und Jurij Murašov, die dem Kolleg stellvertretend vorstanden und eben-
falls wichtige Impulse einbrachten. Auch den ehemaligen Promovenden des Kol-
legs, die nicht mit einem eigenen Beitrag vertreten sind, ist für die zahlreichen
Diskussionsbeiträge zu danken, die eine zentrale Grundlage für diesen Band legten.
Unser besonderer Dank gilt Michael Kempe und Gwendolyn Whittaker für ihre
maßgebliche Beteiligung an der Konzeptionsarbeit. Dank geht insbesondere auch
an Alexander Schmitz für seine Beratung und Unterstützung hinsichtlich der Ver-
lagswahl, an Simone Warta für die sorgfältige Korrektur und Vorbereitung für die
Drucklegung des Manuskripts sowie an unsere studentischen Hilfskräfte Stefanie
Boßhammer, Miriam Lieb und Cynthia Trendafilova für die Unterstützung bei der
Redaktion. Danken möchten wir auch Alexander Schellow, der als Artist in Resi-
dence an der Universität Konstanz die Entstehung dieses Bandes künstlerisch be-
gleitete. Dem Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ danken
wir für die großzügige Finanzierung.

Die Herausgebenden

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Einleitung

1. Seelenvermögen, Ressource, Emergenzphänomen

Zur Selbstbeschreibung gegenwärtiger westlicher Gesellschaften scheinen wenige


Diagnosen so eingängig und überzeugend zu sein wie diejenigen, die sich auf
Krankheiten, Krisen und Konflikte der Aufmerksamkeit beziehen. Diese Diagno-
sen knüpfen einerseits an die Beobachtung an, dass in den mediatisierten Lebens-
welten des 21. Jahrhunderts1 Aufmerksamkeitskämpfe neuer Art ausgetragen wer-
den.2 Insbesondere die medial hergestellte Sichtbarkeit wird als Existenz- und
Erfolgsbedingung zeitgenössischer Individuen und Organisationen beschrieben.3
Die Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung, oftmals entwickelt von spezialisier-
ten Aufmerksamkeitsexperten (Werbefachleuten, Psychologen, Informatikern),
scheinen dabei sowohl aggressiver als auch subtiler zu werden: Beispielsweise ist
kaum noch wahrnehmbar, wie Suchmaschinenalgorithmen im Internet das Such-
verhalten lenken, indem sie dieses Verhalten wiederum als Information ständig
verarbeiten.
Zugleich werden in der Gegenwart individuelle Aufmerksamkeitsdefizite in
einem nie zuvor beobachteten Maße problematisiert und pathologisiert: So wird
festgestellt, dass das Unvermögen, sich längerfristig auf einen Gegenstand zu kon-
zentrieren, innere Unruhe, Zappeligkeit und eine geringe Frustrationstoleranz zu
den charakteristischen Verhaltensweisen zählen, die sich insbesondere bei Kindern
beobachten lassen. Diese Verhaltensauffälligkeiten werden zu Anlässen für Proble-
matisierungen und (kommerziell vermarktete) Selbsthilfestrategien sowie zuneh-
mend auch für Fremdbehandlungen durch Mediziner und Psychologen. Vor dem
Hintergrund der breiten medialen Berichterstattung über die Aufmerksamkeitsde-
fizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)4 verwundert es kaum, dass sie die „no. 1.

  1 Vgl. Krotz, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns.


  2 Siehe ausführlich Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, sowie vor allem Schroer, „Selbstthe-
matisierung“; Ders., „Das ausgestellte Selbst“; Ders., „Sichtbar oder unsichtbar?“.
  3 Siehe exemplarisch Heinich, Digital Utopia.
   4 Als prägnante Belege aus den Darstellungen im Feuilleton vgl. den Aufmacher der ZEIT 18
(2011) zum Thema Aufmerksamkeit („Verzettle Dich nicht!“) und Eduard Kaesers Diagnose der
Zerstreuung als „Zivilisationskrankheit“, die er unter dem Titel „Cogitus interruptus“ im Mai
2009 in der Neuen Zürcher Zeitung stellte. ADHS ist auch ein Dauerbrenner in den „Schule“-
Sparten der größeren Magazine, vgl. etwa das Titel-Thema von Focus Schule 2 (2010): „ADHS –
Was wirklich hinter der Störung steckt“. (Der Inhalt löst die versprochene Aufklärung allerdings
nicht ein.) Dass der Diskurs sich nicht auf Deutschland beschränkt, zeigt exemplarisch Matt
Richtels Artikel „Growing Up Digital, Wired for Distraction“ aus der New York Times vom No-
vember 2010.

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10 Stephanie Kleiner, Miriam Lay Brander, Leon Wansleben

childhood psychiatric disorder“ in den USA und Deutschland darstellt.5 Besonders


überzeugend wirken denn auch jene Zeitdiagnosen, die die allseits beobachteten
Kämpfe um Aufmerksamkeit mit deren Pathologisierungen in einen Zusammen-
hang zu bringen vermögen. Denn bei diesen Diagnosen sind es genau ebenjene
aggressiven, subtilen Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung, welche letztlich
zur Zerstreuung ihrer Adressaten beitragen.6
Im Folgenden möchten wir zeigen, dass diese fast schon selbstevident wirkenden
medienkritischen Zeitdiagnosen und Beobachtungen von Aufmerksamkeitsdefizi-
ten auf einen Diskurs zurückgehen, der eine zumindest 300-jährige Geschichte
aufweist. Diese Geschichte lässt sich auf der Grundlage neuerer kulturwissenschaft-
licher Arbeiten rekonstruieren – insbesondere sind hier die Analysen von Jonathan
Crary, Barbara Thums, Lorraine Daston und Michael Hagner hervorzuheben7 –, in
denen sozio-kulturelle Kontextbedingungen und epistemische Brüche des Auf-
merksamkeitsdiskurses in Neuzeit und Moderne analysiert werden. Damit ist folg-
lich zugleich der Forschungsstand zu einer Kulturwissenschaft der Aufmerksamkeit
umrissen, wie er sich gegenwärtig darstellt.
Auf dieser Basis wird sich begründen lassen, warum der vorliegende Band einen
weiteren Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Aufmerksamkeitsforschung leistet.
Unser Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass Aufmerksamkeit so grundlegend für
die Strukturierung des Erlebens und Gelingens von Handlungen sowie für das
Zustandekommen von Sozialität ist, dass sie nicht allein in philosophischen, ästhe-
tischen und wissenschaftlichen Diskursen thematisiert und problematisiert werden
kann, wie dies im Fall der genannten Forschungsperspektiven zumeist zu beobach-
ten war. Vielmehr wollen wir ‚Aufmerksamkeit‘, ‚Zerstreuung‘ und verwandte Be-
griffe wie ‚Konzentration‘, ‚Selbstsorge‘, ‚Dissipation‘ oder dispersio in kulturwis-
senschaftlich relevanten Phänomenbereichen verorten und damit ihrer theoretischen
wie historischen Einengung auf Modernephänomene entgegenwirken. Leitfaden
ist dabei eine kulturwissenschaftliche Praxeologie, die Aufmerksamkeit weder im
Innenleben des Menschen, noch in den Quoten oder hits massenmedialer Kom-
munikation festschreibt.8 Wir interessieren uns vielmehr für Aufmerksamkeit als
„Zwischeninstanz“9, die Wahrnehmungsakte, Kognitionen, soziale Interaktionen
und Objektgebräuche miteinander synchronisiert und auf diese Weise die Zeit der

  5 Singh, „Bad Boys“; Schlack et al., Bundesgesundheitsblatt 50 (2007), S. 827-835.


   6 Als Beispiel sei hier Christoph Türckes Monographie zur Erregten Gesellschaft (2002) genannt;
seinen Befund einer durch traumatischen Wiederholungszwang gleichsam zur Zerstreuung ver-
dammten Generation hat er 2011, nicht unumstritten, noch einmal eindringlich formuliert
(Türcke, „Konzentrierte Zerstreuung“; zu einer Kritik dieses Ansatzes vgl. Löchel, „Aufmerksam-
keitstechnik Psychoanalyse“). Ungleich populistischer hat die amerikanische Journalistin Maggie
Jackson mit einer von der Zerstreuungsdiagnose ausgehenden Kulturkritik gar ein unmittelbar
bevorstehendes zweites Mittelalter ausgerufen, wenn der Untertitel ihrer Programmschrift Dis-
tracted die „Erosion of Attention and the Coming Dark Age“ beschwört.
  7 Crary, Aufmerksamkeit; Hagner, „Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand“; Ders., „History of At-
tention“; Thums, Aufmerksamkeit.
  8 Vgl. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, bes. S. 15-24.
  9 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 25.

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Einleitung 11

Gegenwart konstituiert. Eine Untersuchung von Aufmerksamkeit kann sich dem-


nach nicht auf Strategien der Steuerung und Manipulation beschränken, sondern
muss immer auch die unwahrscheinliche Emergenz von Aufmerksamkeit im Sinne
einer Synchronisation von Bewusstsein, Körpern, Artefakten und Räumen in den
Blick nehmen. In diesem Sinne beschreiben wir Aufmerksamkeit als kulturelle Pra-
xis, wodurch zugleich eine alternative Heuristik zu den bisher dominierenden ko-
gnitivistischen und ökonomistischen Ansätzen, die Aufmerksamkeit allzu engma-
schig als begrenzte Ressource definieren, vorgeschlagen werden soll. Dem etwas
schematischen Modell einer zusehends prekären ‚Mangelressource Aufmerksam-
keit‘, wie sie in Klagen über die „vergessensintensive Serialität“10 digitaler Bilderflu-
ten und die damit einhergehende „habituelle Überstimulierung unserer Sinne“11
vernehmbar wird, wollen wir ein geschmeidigeres Konzept vielgestaltiger Aufmerk-
samkeitspraktiken entgegenstellen. Dies hat insofern wiederum normative Impli-
kationen, als ein derartiger Ansatz die zeitgenössischen Aufmerksamkeitskulturen
nicht nur unter individualpsychischen Gesichtspunkten – etwa im Hinblick auf zu
motivierende Kräfte, mit denen Aufmerksamkeitspathologien entgegengewirkt
werden soll – untersucht, sondern gerade auch die Vielfalt diverser Aufmerksam-
keitspraktiken ins Zentrum rückt.
Aus dem gewählten Ansatz ergibt sich eine Konzeption von Aufmerksamkeit,
die diese im Sinne einer kulturell codierten, von technischen und medialen Bedin-
gungen abhängigen sowie an den Gebrauch von Körpern und Sinnen gebundenen
Kapazität interpretiert, deren Ausprägungen in je spezifischen Praktiken konkret
fassbar werden. Solche Praktiken, ihre Entstehungen, Formungen, Variationen und
Transformationen, sollen im vorliegenden Band anhand interdisziplinärer Skizzen
näher analysiert werden. Insofern geht es nicht um eine Beteiligung an oder Bewer-
tung der diversen, oben skizzierten Ursachenanalysen eines gesellschaftlichen Auf-
merksamkeitsdiskurses, sondern um die Relevanz von Aufmerksamkeit für Prakti-
ken in sich wandelnden sozialen und kulturellen Kontexten.
Um diese kulturwissenschaftliche Perspektive zu entwickeln, greifen wir zu-
nächst in Abschnitt 2 die bisherigen kulturwissenschaftlichen Arbeiten zu Auf-
merksamkeit auf, aus denen wir Anregungen für die Konzeption des Bandes ge-
wonnen haben. Wir möchten gleichzeitig bei der Diskussion dieser Beiträge zeigen,
dass die bisherige Literatur den Gegenstand noch nicht hinlänglich für die Kultur-
wissenschaften geöffnet hat, weil sie sich vor allem von einer Kulturgeschichte der
Moderne hat leiten und somit engführen lassen. Demgegenüber versuchen wir in
Abschnitt 3 zu zeigen, wie Aufmerksamkeit und Zerstreuung in Feldern kultureller
Praktiken jeweils zeitspezifisch beobachtet werden können. Wir argumentieren ins-
besondere, dass Aufmerksamkeit durch die in Praktiken sich vollziehende Synchro-
nisation von Körpern, sozialen Beziehungen sowie beweglichen und unbewegli-
chen Artefakten emergiert. Dabei lässt sich zeigen, dass Aufmerksamkeit nicht nur
ein möglicher Gegenstand für eine Praxeologie ist, sondern ihrerseits einen Blick

 10 Schmidt, Die Welt der Medien, S. 68.


 11 Assmann, „Einleitung“, S. 19.

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auf Praktiken eröffnet, der ihre impliziten, vor allem zeitlichen, Merkmale sichtbar
macht. Abschnitt 4 schließlich wird die Beiträge dieses Bandes vorstellen und mit
Bezug auf das Konzept der Aufmerksamkeitspraktiken verorten.

2. Aufmerksamkeit als Disziplinierungsdiskurs und Kulturkritik


der Moderne
Wie einleitend angedeutet, haben sich kulturwissenschaftlich inspirierte Forschun-
gen in den vergangenen Jahren vor allem auf die vielfältigen Zusammenhänge zwi-
schen Aufmerksamkeit und Moderne konzentriert. So argumentieren etwa Barbara
Thums und Michael Hagner, dass mit dem 18. Jahrhundert eine „verstärkte Dis-
kursivierung“ der Aufmerksamkeit einsetzt.12 Sie wird als „Seelenvermögen“13 ver-
standen, das der Ordnungsstiftung und der Steigerung geistiger Leistungsfähigkeit
dient. Diese voluntaristische, selektiv auswählende und souverän organisierende
Aufmerksamkeit, die Erleben mit intentionalem Handeln zu verschränken erlaubt,
ist anthropologisch fundiert: Sie stellt ein rational-handlungsmächtiges Subjekt
vor, das eine sowohl organisierende wie aktivierende Kraft darstellt bzw. zu einer
solchen geformt werden kann.
Dieser neue Typ von Aufmerksamkeit bildet sich wesentlich im Kontext neuer
wissenschaftlicher und künstlerischer Praktiken heraus. So zeigt Daston, dass im
18. Jahrhundert eine eigenständige wissenschaftliche Aufmerksamkeit entstand14:
Die Naturforscher dieser Zeit wandten sich verstärkt der Beobachtung empirischer
Phänomene zu, ließen sich jedoch nicht wie in früheren Zeiten von der Neugier für
das Außergewöhnliche oder Spektakuläre leiten. Vielmehr richteten sie ihre Auf-
merksamkeit vermehrt jenen vermeintlich gewöhnlichen Erscheinungen wie Insek-
ten oder Pflanzen zu und konstruierten diese als epistemische Dinge mittels spezi-
fischer Techniken der Beobachtung und einer sich von anderen Sozialnormen
abkoppelnden ‚Ethik der Forschung‘. Auch die Erfahrungs- und Erlebniswelt des
bürgerlichen Individuums wurde im 18. Jahrhundert verstärkt in Begriffen von
Aufmerksamkeit beschrieben und durch Aufmerksamkeitsexperimente erforscht.15
‚Zerstreuung‘ etablierte sich als negativ konnotierter Gegenbegriff; ihre Ursache
wurde dem Verlust der inneren Willenskraft angelastet. Der zerstreute Mensch galt
nun als jener, der zum Opfer von Ablenkung und Verführung – von Idolatrie – ge-
worden war.16
Seit den 1850er Jahren wurde dieser Begriff der Aufmerksamkeit allerdings zu-
sehends durch einen neuen Aufmerksamkeitsdiskurs überlagert: Während der erste
Typus mithin die Intentionalität eines souveränen Subjektes hervorhob, rückte der

 12 Thums, Aufmerksamkeit, S. 140.


 13 Hagner, „History of Attention“, S. 679.
 14 Daston, Wissenschaftliche Aufmerksamkeit.
 15 Hagner, „History of Attention“.
 16 Schaffer, „The Devices of Iconoclasm“.

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Einleitung 13

Aufmerksamkeitsdiskurs der klassischen Moderne die Störanfälligkeit und Über-


forderung individueller Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt und öffnete sich für
einen Subjektbegriff, der der Unsicherheit, Kontingenz und Substanzlosigkeit des
modernen Individuums nachspürte.17
Aufmerksamkeit entsprach zwar weiterhin einer erwünschten Verhaltensweise,
wurde aber nun als unwahrscheinlicher Zustand der Wahrnehmung und des Be-
wusstseins verstanden. Dies kommt am prägnantesten in den Arbeiten des franzö-
sischen Psychologen und Philosophen Théodule Ribot zum Ausdruck, demzufolge
Aufmerksamkeit einen abnormen Zustand der Psyche bezeichnet, die sich gewöhn-
lich in konstantem Wandel befindet.18 Wesentlich für die Ausformung dieses neuen
Aufmerksamkeitsbegriffs waren vornehmlich zwei Entwicklungen: Erstens brö-
ckelte durch neue Experimente der Psychophysik und anderer Wissenschaften
die Unterscheidung zwischen voluntaristischer und unwillkürlicher Aufmerksam-
keit. Die nun entstehende, experimentell vorgehende Aufmerksamkeitsforschung
konnte darlegen, dass Individuen die Bedingungen, unter denen sie zur Aufmerk-
samkeit und Konzentration (un-)fähig waren, nicht selbst beherrschen und umfas-
send kontrollieren konnten. Zweitens gewannen im späten 19. Jahrhundert Tech-
nologien und Medien an Bedeutung, die die Aufmerksamkeit durch Schocks
unterbrechen, durch Inszenierungen sowie Rahmungen manipulieren oder kanali-
sieren und durch Reizüberflutungen verführen konnten. Gerade innerhalb einer
kapitalistisch organisierten Marktwirtschaft, die auf Werbung und Massenkonsum
aufruhte, war die erfolgreiche Organisation und Modulation von Wahrnehmung,
Aufmerksamkeit und Begehren zentral. Aufmerksamkeit war somit genuiner Be-
standteil einer „institutionalisierten Macht“, die einerseits die „disziplinäre Immo-
bilisierung“, andererseits aber die stets neu zu leistende „subjektive Anpassung an
Veränderung und Neuerung“ des Einzelnen bewirken sollte.19 Aufmerksamkeit
wurde somit zum Kreuzungspunkt verschiedenartiger Diskurse, wobei sich „indi-
viduelles Erleben, kooperatives oder strategisches Handeln, Erwartungsstrukturen
und Regime der Disziplinierung sowie autonome Vergesellschaftungsbereiche“ 20
überlagerten.
Träger dieses neuen Aufmerksamkeitsregimes waren neben einer sich aus-
differenzierenden Publizistik vor allem die neuen elektronischen Technologien,
bildliche sowie audiovisuelle Medien, aber auch neue Verkehrs- und Produktions-
techniken (z. B. Eisenbahn, Fließband etc.). Jonathan Crarys Analysen erläutern
eindrücklich, dass nach Meinung vieler Zeitgenossen die innere Willenskraft durch
die ständige Befeuerung der Wahrnehmung und des Bewusstseins allmählich er-
schlaffen musste; die ‚neue‘ Geisteshaltung der Moderne war somit nicht zuletzt
durch Passivität gekennzeichnet: „Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land
und Volk von der Eisenbahn aus kennen“, wie Friedrich Nitzsche treffend bemerk-

 17 Siehe ausführlich Crary, Aufmerksamkeit, S. 21-69.


 18 Hagner, „History of Attention“, S. 684.
 19 Vgl. Crary, Aufmerksamkeit, S. 36.
 20 Ziemann, Medienkultur und Gesellschaftsstruktur, S. 41.

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te.21 ‚Zerstreuung‘ konnte nun nicht mehr als Gegenbegriff zu einem ohnehin
machtlosen inneren Willen verstanden werden. Vielmehr bezeichnete sie nun die
Pathologien einer gesamten Kultur, deren Technologien und Medien imstande
waren, die individuelle und kollektive Aufmerksamkeit in einer Bewegung zu dis-
ziplinieren und zu verführen. Die modernen Aufmerksamkeitserreger, so die Argu-
mentation, konnten nämlich keine in sich kohärenten, identitätsstiftenden Welter-
fahrungen sicherstellen, sondern führten zur Desintegration der Individualpsyche.22
Aufmerksamkeitspathologien wurden somit zum Symptom einer allgemeinen
„epistemologischen Krise des späten 19. Jahrhunderts“: Die nur temporär auf-
rechtzuerhaltende Aufmerksamkeit glich einer Behelfslösung, die für Momente
den beständigen Wandel der individuellen Bewusstseinsströme wie der äußeren
Zerstreuungsanreize sistieren bzw. stabilisieren konnte; zugleich aber konnte es ihr
nicht gelingen, dauerhaft dem Strudel einer zusehends als inkohärent-fragmentiert
wahrgenommenen Welt- und Selbstwahrnehmung zu entkommen.23
Diese Diskursformation schrieb sich im 20. Jahrhundert im Wesentlichen fort:
Die Reizüberflutung der Großstadt, ihre schockartigen An- und Überforderungen,
auf die – wie die klassischen Analysen Georg Simmels oder Walter Benjamins
nahelegen – der Einzelne nur mehr mit Nervosität und Blasiertheit antworten
konnte, korrespondierten mit einem um die letzte Jahrhundertwende grassierenden
„Tempo-Virus“24, das eine überwältigende, digital-massenmedial angeheizte Reiz-
überflutung freisetzte und dem Einzelnen eine „intensive Zeitpräsenz“ raubte. In
neueren Verfallsdiagnosen wurden folglich der Telegraph, das Kino und die Groß-
stadt durch Fernsehen und Video sowie durch Computer und Internet ersetzt.25
Zudem intensivierten sich, wie eingangs bereits erwähnt, die Bemühungen der Psy-
chologie und Medizin, verschiedenste ‚Verhaltensauffälligkeiten‘ als Aufmerksam-
keitsdefizite zu pathologisieren. Als zentral erwies sich hierbei die Etablierung von
Normalitätsmaßstäben: Diese betrafen zunächst das unmittelbare Verhalten (etwa
in Schule und Arbeit), dann aber zunehmend medizinische Größen; seit den spä-
ten 1950er Jahren werden Aufmerksamkeitsdefizite beispielsweise mit Abweichun-
gen in der Dopamin-Ausschüttung zu erklären versucht. Diese Biologisierung von
Aufmerksamkeit wie auch von Aufmerksamkeitsdefiziten weist bereits einen direk-
ten Zusammenhang mit der zunehmenden Behandlung von Verhaltensauffällig-
keiten mittels Ritalineinnahme auf.26 Die Koppelung der Aufmerksamkeit an das
„kulturelle Regime“ ‚Normalität‘ erlaubte es mithin, bestimmte Verhaltensweisen
als pathologisch zu identifizieren und sie entsprechend „psychisch-sozialer Normie-
rung“ zu unterziehen.27

 21 Zit. in Hagner, „History of Attention“, S. 683 f.


 22 Vgl. Crary, Aufmerksamkeit, S. 23, 67.
 23 Vgl. ebd., S. 58.
 24 Vgl. Borscheid, Das Tempo-Virus.
 25 Vgl. Assmann, „Einleitung“, S. 19.
 26 Singh, „Bad Boys“, S. 591.
 27 Zur Genese und Reichweite des Normalismus vgl. grundlegend Link, Normalismus, S. 25 f. Inte-
ressanterweise – aber dies kann hier nur im Sinne einer Nebenbemerkung eingefügt werden – ver-

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Einleitung 15

Die bisherigen kulturwissenschaftlichen Arbeiten rekonstruieren ‚Aufmerksam-


keit‘ und ‚Zerstreuung‘ also vornehmlich innerhalb eines spezifischen Diskurses,
der sich mit der Moderne und ihren pathogenen Begleiterscheinungen beschäftigt.
Dieser Diskurs wird einerseits durch kulturkritische Reflexionen bedient, seit Mitte
des 19. Jahrhunderts aber zunehmend von der Psychologie und Medizin domi-
niert.
Obgleich es folglich nahezuliegen scheint, die Geschichte der Aufmerksamkeit
in den Zusammenhang von Welt- und Selbstentfremdung zu stellen und die Ursa-
chen dieser Entfremdung in den Spezifika moderner Erfahrungsräume zu suchen,
wollen wir – die vorsichtig formulierten Einwände Barbara Thums’ aufgreifend –
für eine kleinschrittigere Erkundung plädieren, die sich gerade nicht an einer
Meistererzählung der Aufmerksamkeit versucht, sondern die Pluralität möglicher
Aufmerksamkeiten und kulturell variierender Aufmerksamkeitsstile und -konstel-
lationen in den Blick nimmt. Bezüge zu spezifisch modernistischen Konditionie-
rungs- und Reflexionsweisen werden zwar an verschiedenen Stellen deutlich, doch
sind die Beiträge insgesamt in einem weiteren Feld diachroner und synchroner
Variationen verortet. Mit dem Fokus auf die Vielfalt von Aufmerksamkeitsphäno-
menen und -stilen knüpfen wir an das Projekt von Aleida und Jan Assmann an, die
von der konstitutiven Pluralität widerstreitender Aufmerksamkeiten ausgehen:
Vormoderne, religiös-ethisch geprägte Praktiken von Aufmerksamkeit rekonstruie-
ren sie ebenso wie Aufmerksamkeitsformen im massenmedialen Zeitalter, so dass
die vielstimmigen Debatten um Aufmerksamkeit bzw. Aufmerksamkeitsstörungen
hier erstmals systematisch gebündelt und analysiert worden sind. Wir halten die
sich daraus ergebenden Vergleichsmöglichkeiten vor allem vor dem Hintergrund
kulturwissenschaftlicher Zugänge für fruchtbar, die an die cultural studies und ihre
Ideen zur Heterogenität und Komplexität der Populärkultur sowie an Michel de
Certeaus Überlegungen zu den Spielräumen alltäglicher Praktiken anschließen.28
Zudem knüpfen wir an Bernhard Waldenfels’ Vorschlag an, das Phänomen der
Aufmerksamkeit jenseits der psychologischen und medizinischen Diskurse an den
irreduziblen Raum menschlicher Erfahrung rückzubinden.29 Mit Waldenfels füh-
ren wir deshalb eine Unterscheidung zwischen den jeweils kontextspezifischen
Strategien der Konditionierung von Aufmerksamkeit und ihrer unwahrscheinli-
chen Emergenz, als Synchronisation von Bewusstseinsträgern, Körpern und Arte-
fakten ein. Eine entsprechende Heuristik soll im folgenden Abschnitt dargelegt
werden.

läuft der Prozess der Pathologisierung der Aufmerksamkeit parallel zur Emergenz des Normalis-
mus, der „mit dem take-off der modernen, symbolisch exponentiellen Wachstumsdynamiken“ zu-
sammenfiel und „Dispositive kompensierender Ver-Sicherung […] gegen die Risiken eines
hyperdynamischen, symbolisch exponentiellen Wachstums zur Verfügung“ stellte (ebd., S. 39,
Herv. i. O.).
 28 Wir folgen konzeptuell also nicht der von Aleida Assmann (2001) eingeführten Unterscheidung
zwischen strategischer, d. h. auf die Bewältigung individueller Lebensprobleme angelegter, und
transzendierend-sinndeutender Aufmerksamkeit.
 29 Siehe Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 13 ff.

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3. Aufmerksamkeit und kulturelle Praxis

Eine auf Praktiken ausgerichtete Herangehensweise an historisch spezifische Auf-


merksamkeitskonstellationen kann von der seit einiger Zeit in den Kulturwissen-
schaften zu beobachtenden praxeologischen Wende30 ebenso profitieren wie von
den konzeptionellen und methodischen Impulsen, die auf Hans Joas’ Konzept des
kreativen Handelns sowie auf Michel de Certeaus Praxeologie des Alltags zurück-
gehen.31 Diese Praxistheorien gehen davon aus, dass soziales Handeln die Möglich-
keit kultureller Innovation grundsätzlich einschließt und ihm somit ein Element
der Unvorhersehbarkeit und Offenheit, wenn nicht gar der Subversion innewohnt.
Indem sie die je situativen und kreativ-eigenwilligen Potentiale individuellen wie
kollektiven Handelns hervorheben, ergänzen und erweitern sie den normativ-rati-
onalen Zugriff der klassischen Handlungstheorie. Entsprechend werfen sie einen
„quasi ethnologischen Blick auf die Mikrologik des Sozialen“, um die „Kontingenz
des scheinbar Selbstverständlichen wie auch die implizite Logik des scheinbar
Fremden“ sichtbar zu machen.32 Praxeologische Ansätze gehen demgemäß von
einem Subjektbegriff aus, der personale Identität als stets zu vollziehende und zu
bestätigende begreift. Das Subjekt ist damit – zugespitzt formuliert – immer Resul-
tat spezifischer historisch-kultureller Praktiken, es existiert nicht vorgängig, son-
dern nur „innerhalb des Vollzugs“ 33 dieser Praktiken. Zugleich sind historische
Subjekte unter diesem Blickwinkel Träger verschiedenartiger und vielfältiger „Ver-
haltens/Wissenskomplexe sozialer Praktiken“ 34, die über unterschiedliche, mögli-
cherweise widersprüchliche Formen praktischen Wissens verfügen, mit deren Hilfe
Alltags- und Lebenswelten hervorgebracht und verändert werden können. Innere
Prozesse des Reflektierens und des Erlebens sind dabei ebenso wie performative
Handlungen in ihrer jeweiligen historischen Spezifik und damit in ihrer grundsätz-
lichen Wandelbarkeit und Offenheit, aber auch in ihrer Komplexität und Kontin-
genz ernst zu nehmen. Eine so verstandene Praxistheorie greift darüber hinaus in
eigenwilliger Weise auf die Dimension symbolisch-ritueller Kommunikation zu:
Rituale, Sprechakte und performative Handlungen folgen keinem vorgängig fest-
gelegten Skript, sondern ihnen kommt selbst eine kreative, erzeugende Kraft zu,
die ihrerseits Ordnungsmuster schafft und Arenen sozialen Miteinanders konstitu-
iert.35
Der Fokus auf Praktiken der Aufmerksamkeitssteuerung hat somit den andau-
ernden und veränderbaren Prozess der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer

 30 Vgl. hierzu besonders die konzeptionellen und methodischen Anregungen von The Practice Turn
in Contemporary Theory, hg. v. Theodore R. Schatzki, Karin Knorr-Cetina und Eike von Savigny;
Reckwitz, „Theorie sozialer Praktiken“; Reichardt, „Praxeologische Geschichtswissenschaft“;
Schmidt, Soziologie der Praktiken; Shove/Pantzar/Wattson, The Dynamics of Social Practice.
 31 Vgl. Joas, Die Kreativität des Handelns; Certeau, Die Kunst des Handelns.
 32 Vgl. Reckwitz, „Theorie sozialer Praktiken“, S. 298.
 33 Ebd., S. 296.
 34 Ebd.
 35 Vgl. grundlegend Joas, Kreativität des Handelns, S. 15 f.

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Einleitung 17

Ordnungsmuster zum Gegenstand. Praxisanalysen untersuchen soziale Phäno-


mene in ihrem Zustandekommen und in ihrer prozessualen Logik. Kulturtechni-
ken der Aufmerksamkeit, ihrer Störung und Perpetuierung gewinnen vor dem
Hintergrund dieses practice turn noch einmal eine neuartige Relevanz: Sie werden
zum Ausgangspunkt einer sich in je konkreten historischen Lagen vollziehenden
Welterzeugung, die sich freilich ihres stets instabilen, vorläufigen Status bewusst
sein muss und folglich mit Michael Hagner als ‚Ausnahmezustand‘ begriffen wer-
den kann.36 Weisen der Welterzeugung und der Subjektkonstitution sind hier-
bei fraglos eng aufeinander bezogen37. Allerdings wollen wir nachfolgend einen
Perspektivwechsel versuchen, der Aufmerksamkeit als Gegenstand einer Praxeolo-
gie begreift, die ihren Ausgangspunkt nicht mehr bei den historischen Akteuren
nimmt, sondern aus je konkreten Situationen heraus emergiert.
Auf dieser Grundlage lässt sich rekonstruieren, wie in verschiedenartigen Settings
je eigene, größtenteils pragmatische Lösungen zur Evokation und Organisation von
Aufmerksamkeit gefunden werden, die auf je eigene Problemkonstellationen reagie-
ren. Zunächst wenden sich kulturelle Praxeologien von Aufmerksamkeit bewusst
einem Ensemble alltäglicher Handlungen, Routinen und Praktiken zu; denn gerade
hier – in der Sphäre alltäglicher Verrichtungen und Wahrnehmungen – treten die
dynamischen und kreativen Möglichkeiten der Aufmerksamkeitspraktiken beson-
ders hervor. Sie werden mithin nicht so sehr als Effekt bzw. Ableitung eines spezifi-
schen Habitus gedeutet, sondern formieren eine eigenständige und eigenmächtige,
in ihrer situativen Variier- und Wandelbarkeit zugleich aber durchaus eigenwillige
„sphere of invention“.38
Diesen kreativen Spielraum haben vor allem die post-marxistischen cultural stu-
dies als Kennzeichen von Alltagspraktiken hervorgehoben. Stark beeinflusst wurde
dieser Ansatz von Michel de Certeaus nicht unumstrittener Kunst des Handelns, der
darin Praktiken definiert als fragmentarische Operationen, die auf Gelegenheiten
und Details ausgerichtet sind. Die Handelnden sind hier Subjekte, die nur ver-
meintlich einer Passivität und Disziplin unterliegen. Ihre Praktiken bestehen darin,
Ordnungen, die von einer dominanten Instanz vorgegeben werden, auf subtile Art
und Weise zu nutzen, ohne diese Ordnungen selbst zu zerstören. Daraus geht eine
Anti-Disziplin hervor, deren Merkmal die Zerstreuung ist. Praktiken bedeuten hier
eine ‚zerstreute Kreativität‘ im Sinne einer versteckten Produktion von Sinn. Sie
sind Taktiken, die mit List operieren und sich auf diese Weise einer offiziellen Auf-
merksamkeitsstrategie entziehen, der sie sich vermeintlich zwar unterstellen, inner-

 36 Hagner, „Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand“.


 37 Darauf weist bereits Aleida Assmann in ihrer Analyse verschiedenartiger Aufmerksamkeitsmodi
hin (Assmann, „Einleitung“). ‚Aufmerksamkeitsmanagement‘ meint zunächst eine besondere
Form, sich gegenüber der Welt, Dingen und Menschen zu verhalten, bezeichnet darüber hinaus
aber auch Weisen individueller Subjektivierung, da „Akte der Aufmerksamkeit“ stets auch „Akte
der Selbstaufmerksamkeit“ sind, wie Barbara Thums einprägsam formuliert hat (Thums, Auf-
merksamkeit, S. 10).
 38 Zur Annäherung an die Kategorie des ‚Alltäglichen‘ und der ‚Alltäglichkeit‘ vgl. die bedenkens-
werte Studie von Sheringham, Everyday Life, S. 361.

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halb derer sie jedoch eigene Spielarten entwickeln. Darüber hinaus können Über-
wachungsstrategien selbst zu Taktiken werden, wenn Überwachung in einer
Gesellschaft, in der Jeder Jeden beobachtet, nicht mehr als von einem strategischen
Zentrum ausgehende Bedrohung wahrgenommen, sondern gewünscht und aktiv
gesucht wird.39
Die konstitutive Verschränkung von Aufmerksamkeit und Praxis wird etwa da-
durch deutlich, dass ihre Verankerungen in körperlichen und materialen Vorgängen
analysiert werden: In Bewegungen und Aktivitäten des Körpers sowie durch das
praktische Wissen, das den Körpern der handelnden Subjekte buchstäblich einver-
leibt ist, werden sowohl Aufmerksamkeiten erzeugt als auch Handlungen vollzo-
gen. Ebenso sind sie mit bestimmten materialen Settings und medialen Arrange-
ments verbunden. Mentale und geistige Aktivitäten wie Lesen, Schreiben oder
Sprechen etwa lassen sich dann einer praxeologischen Zugriffsweise unterziehen,
wenn die Dimension der Schriftlichkeit wie die historisch spezifischen Anordnun-
gen von „Körpern, Wissensordnungen und Artefakten“ in Rechnung gestellt wer-
den.40 Wenn Aufmerksamkeit hierbei programmatisch im Sinne einer kulturellen
Praxis beschrieben wird, dann nicht zuletzt deshalb, weil die mit ihr verbundenen
Formen sensorischer Wahrnehmung körpergebunden sind.
Zugleich impliziert eine Praxeologie der Aufmerksamkeit, dass deren Emergenz
stets an einen konkreten raum-zeitlichen Kontext gebunden ist. Zum einen wird
Aufmerksamkeit durch räumliche Ordnungen und Ensembles bedingt: Architekto-
nische Arrangements im öffentlich-städtischen Raum etwa – beispielsweise in
Form von Denkmälern oder Architekturruinen – steuern die Blicke des Betrachters
und binden seine Aufmerksamkeit, sie inszenieren Bedeutung und vermitteln
Codes sozialen Verhaltens und ästhetischer Präferenz.
Indem wir Prozesse der Emergenz von Aufmerksamkeit ins Zentrum rücken,
können wir darüber hinaus die spezifische Zeitlichkeit von Aufmerksamkeitsprakti-
ken „in der lebendigen Gegenwart“ konturieren41, Momente des Vollzugs und der
Verzögerung untersuchen und auf diese Weise die gleichsam Welt erzeugende und
Sozialität hervorbringende Dimension von Aufmerksamkeitspraktiken hervorhe-
ben. Aufmerksamkeitspraktiken wohnt eine spezifische Zeitlichkeit inne, die sich
mithilfe einer Dialektik von Regelhaftigkeit und Unberechenbarkeit, aber auch,
gleichsam einem Lichtschalter, mithilfe der Modi von ‚An‘ und ‚Aus‘ beschreiben
lässt.
Praktiken sind Handlungen, die in der Vergangenheit so häufig wiederholt wur-
den, dass sie zu Verhaltensroutinen geworden und dadurch auch in der Zukunft
wiederholbar sind. Als Ergebnis einer Bindung von Raum und Zeit sind sie über
räumliche und zeitliche Grenzen hinweg reproduzierbar. So hängen die Selektivitä-

 39 Vgl. Schroer, „Sehen, Beobachten, Überwachen“.


 40 Auf die praxeologischen Dimensionen mentaler Akte und Arrangements verweist Andreas Reck-
witz in seinem Nachwort zur Studienausgabe von Die Transformation der Kulturtheorie.
 41 Siehe zum Konnex von Gegenwart und Aufmerksamkeit unter phänomenologischen Aspekten
Steinbock, „Affektion und Aufmerksamkeit“, S. 249.

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ten, die Aufmerksamkeit bedingen, von kulturellen und individuellen Voreinstel-


lungen, von der Beherrschung bestimmter Alltagstechniken sowie von institutio-
nellen Kontexten ab. Andererseits ist diese Routiniertheit Unbestimmtheiten
ausgesetzt. Eine Praktik ist im immer wieder neuen Vollzug nie eine reine Wieder-
holung, sondern in ihrem jeweiligen zeitlichen und räumlichen Kontext einmalig.
Dadurch ist sie offen für plötzliche oder allmähliche Verschiebungen in ihrem Ab-
lauf und Bedeutungsgehalt. Wenn Aufmerksamkeit bedeutet, dass Körper, Arte-
fakte, Wahrnehmung und Kommunikation beständig miteinander synchronisiert
werden, dann lassen die sich daraus ergebenden komplexen Resonanzverhältnisse
weite Spielräume für neue Sinnkonstellationen offen, die je unterschiedliche An-
schlusshandlungen ermöglichen.
Aufmerksamkeitspraktiken sind in der Regel kollektiv ausgerichtet, das heißt,
sie umschließen „Teilnehmerschaften und Praktikergemeinschaften“42, die aus Au-
toren, Lesern, Architekten, Künstlern, Wissenschaftlern, Analysten etc. bestehen.
Darüber hinaus bildet, wie in der Soziologie neuerdings immer wieder festgestellt
wird, die Wahrnehmung auch unter Nichtanwesenheitsbedingungen die Grund-
lage sozialer Gegenwart, sodass ein shared focus of attention auch bei der Lektüre
von Texten, dem Arbeiten an Bildschirmen, dem Begutachten bürokratischer Akten
und dem Vollzug hierarchischer Entscheidungsprozesse Voraussetzung für das Ge-
lingen der entsprechenden Praktiken bleibt. Aufmerksamkeitspraktiken erfordern
somit streng genommen nicht nur Synchronisierung, sondern auch Koordinie-
rung: Gilt es auf individueller Ebene Körper, Bewusstsein und Artefakte zu synchro-
nisieren, so werden auf einer kollektiven Ebene viele individuelle Aufmerksamkeits-
akte koordiniert und erzeugen gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf bestimmte
Phänomene und Themen.
Aus dem Zusammenspiel von Synchronisation und Koordination ergeben sich
komplexe Konstellationen, in denen Aufmerksamkeit und Gegenwart in einem
spannungsreichen Verhältnis aufeinander bezogen sind: Ausgehend von der Beob-
achtung, dass Gegenwart sich in einer Vielzahl stets konkreter, praktisch erzeugter
Gegenwarten vollzieht – Armin Nassehi hat in diesem Zusammenhang den Begriff
der ‚operativen Gegenwart‘ geprägt, die sich im Sinne einer Praxisgegenwart in je-
weils konkreten Gegenwarten zu bewähren hat43 –, geraten auch die Techniken und
Erzeugungsweisen dieser gemeinsamen Gegenwarten in den Blick.44 Wenn hierbei
differenztheoretisch von ‚multiplen Gegenwarten‘ die Rede ist, soll die Vielzahl der
Perspektiven und heterogenen Wahrnehmungsweisen ernst genommen werden, aus
denen eine gemeinsam geteilte Welt hervorgeht und mit der sie zurechtkommen
muss. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung an die Themenfelder ‚Aufmerk-
samkeit‘ und ‚Gegenwart‘ richtet den Blick mithin auf Verfahrensweisen des
Ordnungsaufbaus und auf die performative Herstellung von Bedeutung. Indem
Prozesse der Emergenz und der Entfaltung sich ereignender Gegenwarten in den

 42 Schmidt, Soziologie der Praktiken, S. 10.


 43 Siehe ausführlich Nassehi, Gesellschaft der Gegenwarten.
 44 Ebd., S. 16.

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Mittelpunkt rücken, soll ihrer spezifischen Zeitlichkeit, ihrem episodisch-fragmen-


tarischen Charakter Rechnung getragen werden. Gegenwart formiert und wandelt
sich so stets innerhalb eines Gefüges komplexer Praktiken und sich überlappender
zeitlicher Logiken. Damit ereignet sich Gegenwart im Sinne einer gemeinsam ge-
teilten Welt dann, wenn es gelingt, eine Vielzahl von Perspektiven temporär zusam-
menzuführen. ‚Aufmerksamkeit‘ etabliert sich dadurch als zentraler Modus des
Ordnungsaufbaus und der Welterzeugung.
Die Untersuchung pluraler Aufmerksamkeitspraktiken verleiht nicht zuletzt der
Praxeologie selbst eine neue Dimension, indem sie deren Zeitlichkeit aufschlüsseln
hilft. Zum einen ist Aufmerksamkeit in Form von Disziplinierung, Kontinuierung
und Konzentration eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen von Prakti-
ken. Zum anderen sind Praktiken deshalb grundsätzlich unstet und permanenter
Störung ausgesetzt, weil es auf Dauer nicht gelingen kann, eine Synchronizität von
Wahrnehmungen, Körpern und Artefakten und damit einen gemeinsamen focus of
attention aufrecht zu erhalten. Sie sind unberechenbar, weil Aufmerksamkeit kein
Normalzustand ist, sondern lediglich eine ‚Zwischeninstanz‘ – um den Begriff von
Waldenfels noch einmal aufzugreifen –, die auf der Grundlage von individuellen
und kulturellen, alltagstechnischen und institutionellen Voreinstellungen An-
schlusshandlungen und -kommunikation ermöglicht, sie zugleich aber unkontrol-
lierbar macht. Das Aufmerken ist also sowohl als Bedingung wie auch als Effekt
spezifischer Praktiken zu denken. Denn einerseits können wir nur handeln, wenn
wir, wie Waldenfels argumentiert, die Welt im Sinne von je spezifischen Hand-
lungsrelevanzen differenzieren und entdifferenzieren.45 Andererseits lässt sich die-
ser Vorgang der Differenzierung und Entdifferenzierung weder von den zugrunde
liegenden, oftmals unbewussten Handlungsintentionen, noch von Handlungsvoll-
zügen und ihren materialen oder symbolischen Bedingungen trennen.
Die Bedeutung von Aufmerksamkeit für kulturelle Praktiken wird vor allem
dort virulent, wo die Resonanzen und Selektivitäten zwischen kommunikativen,
körperlichen und psychischen Prozessen sowie deren Koordination auf kollektiver
Ebene zu einem expliziten Problem werden. Dieses Problem tritt in dem Maße auf,
wie Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auseinandertreten: Je stärker und
häufiger die Brüche sind, denen der focus of attention ausgesetzt ist, desto ausdiffe-
renzierter treten verschiedenartige Aufmerksamkeitsstile hervor und desto markan-
ter kommt die desintegrierende Wirkung der verschiedenartigen Selektivitäten
zum Ausdruck. Gerade durch solche Brüche, die sich in Figuren wie Subversion,
Überraschung oder Zerstreuung manifestieren, aber auch in Modi des Wachens
und Schlafens sowie der Anspannung und Erschöpfung zeigt sich die Unberechen-
barkeit von Praktiken. Aufmerksamkeit und Praktik verweisen also in ständiger
Reziprozität aufeinander. So bildet Aufmerksamkeit als Synchronisierung von phy-
sischen und psychischen Prozessen sowie als Koordinierung kollektiver Prozesse die
Voraussetzung von Praktiken und emergiert zugleich in deren Ausübung. Sie ge-
währleistet auf der Grundlage eines auf gemeinsamen Voreinstellungen beruhen-

 45 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 22.

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Einleitung 21

den shared focus of attention das Gelingen von Praktiken und macht diese zugleich
durch zersetzende Effekte instabil. Diese konstitutive Dialektik von Routine und
Unterbrechung, von Voreinstellung und Unberechenbarkeit gilt es in ihrer histo-
risch je spezifischen Eigenart, ja Eigenwilligkeit zu konturieren.

4. Zum Aufbau dieses Bandes

Die Beiträge des Bandes sind nicht chronologisch angeordnet, sondern nach unter-
schiedlichen Kontexten, in denen Praktiken von Aufmerksamkeit eine Rolle
spielen. In der ersten Sektion werden räumliche und körperliche Dimensionen von
Aufmerksamkeit in den Blick genommen. So beschäftigen sich die ersten beiden
Beiträge mit Inszenierungspraktiken und synästhetischen Arrangements von
Aufmerksamkeit im städtischen Raum und arbeiten exemplarisch das Verhältnis
zwischen Vergangenheit und Gegenwart in räumlichen Aufmerksamkeitspraktiken
heraus.
Aleida Assmann zeigt am Beispiel von Denkmälern im öffentlichen Raum den
Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeitsstrategien und Erinnerungspraktiken
auf. Die Neu-Inszenierung von Denkmälern setzt mithilfe äußerer Stimuli tempo-
rale Dynamiken des Erinnerns und Aufmerkens in Gang und macht die Schwierig-
keit einer Vergangenheit sichtbar, die nicht problemlos auf die Gegenwart bezogen
werden kann und daher neu überdacht werden muss. So verweist etwa die gering-
fügige Schrägstellung der Statue des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Dr. Karl
Lueger „auf den problematischen Umgang der Stadt Wien mit ihrer antisemiti-
schen Vergangenheit“ (S. 37). In einem anderen Fall, dem Richard-Wagner-Denk-
mal in Leipzig, wird durch die Disproportion zwischen der Statue und deren
Schatten eine Irritation der Aufmerksamkeit produziert, die die Sprache der Denk-
malsrhetorik selbst in den Blick rückt.
Mit sensuellen und ästhetischen Stimuli im städtischen Raum setzt sich auch
Hanna Katharina Göbel auseinander, wenn sie danach fragt, wie die Wiederauf-
wertung bestehender Bauten Aufmerksamkeit generiert. Im Zuge einer Zwischen-
nutzung des ehemaligen Ost-Berliner Kulturhauses Palast der Republik als Begeg-
nungsstätte von Kunst- und Kulturprojekten durch eine Gruppe von Architekten,
Stadtplanern und Künstlern in den Sommermonaten 2004 und 2005 findet eine
kreative Aneignung des Gebäudes statt. Fotografien von Ausblicken durch die mil-
chig gewordenen Scheiben des Palasts geben Aufschluss darüber, wie ein melancho-
lisches Moment erzeugt wird, das die DDR-Vergangenheit des Palastes mit der
Gegenwart verschaltet und so einen Aufmerksamkeit erregenden Reiz des Neuen
schafft.
In drei weiteren Beiträgen dieser Sektion gilt das Augenmerk wissens- und kör-
pergeschichtlichen Aufmerksamkeitskonzepten und den mit ihnen zusammenhän-
genden Praktiken der Selbstaufmerksamkeit seit Ende des 19. Jahrhunderts.
Julian Bauer arbeitet ausgehend von der Vorstellung einer „lokalen Verfasstheit“
von Aufmerksamkeit (S.  61), die spätestens seit dem mittleren 19. Jahrhundert

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voluntaristische Aufmerksamkeitsmodelle ablöst, Mischformen willentlich gesteu-


erter und körperlich bedingter Aufmerksamkeit um 1900 heraus. Beobachtet er bei
Ernst Mach ein komplexes Zusammenspiel von Subjekt und Umgebung, so bleibt
Aufmerksamkeit bei Meinong auf Wille und Verstand bezogen. Bei Musil und
Malinowski überlagern sich körperliche und voluntaristische Aspekte in der Vor-
stellung von Aufmerksamkeit als einer durch sportliche Aktivität zu schulenden
Technik der Selbstsorge, die einerseits Möglichkeiten der subjektiven Entfaltung
freisetzt, dabei aber aufgrund der geforderten Entbehrungen ständig vom Scheitern
bedroht ist.
Ebenfalls die Themenkomplexe von Subjektivierung und Selbstsorge aufgrei-
fend, beschreibt Robert Suter eine epistemologische Verschiebung der Selbstauf-
merksamkeit im Umgang mit Stress von der organisierten Moderne zum flexiblen
Kapitalismus. Gilt in den 1950er Jahren mangelnde Selbstsorge als Symptom des
Wirtschaftswunders, so führt eine ‚Subjektivierung von Arbeit‘ in den 1980er Jah-
ren zu übertriebener Selbstaufmerksamkeit. In den dazwischen liegenden Jahr-
zehnten entwickelt sich Aufmerksamkeit im Umgang mit Stress „zur privaten und
beruflichen Schlüsselkompetenz“ (S. 104). In den 1970er Jahren tritt das Phäno-
men Stress insofern in den Vordergrund, als es sich in die Problematik permanenter
Aufmerksamkeitssteuerung im Informationszeitalter einschreibt. Die Auseinander-
setzung von – inzwischen selbst betroffenen – Schriftstellern mit dem Stressphäno-
men führt schließlich in ein „neues Zeitalter der Empfindsamkeit“ (S. 110).
Einem ausdrücklich nicht empfindsamen, handzentrierten Verständnis von
Aufmerksamkeit wendet sich der die erste Sektion abschließende Aufsatz zu. Chris-
topher Möllmann legt in seiner Darstellung einer Poetologie der Hände, wie sie in
den Romanen der englischen Gegenwartsautorin Rose Tremain wirksam wird, ein
interaktives Modell von Aufmerksamkeit offen. Die behandelten Romane laden
den Leser zu einer sehr spezifischen Mittätigkeit an ihrer Bedeutungskonstitution
ein, die auch seine Hände einbezieht. Seine Aufmerksamkeit soll vom Textgesche-
hen nicht ‚absorbiert‘ werden, sondern ihm eine reflexive Distanz zu Reziprozitäts-
praktiken und insbesondere zur Text-Leser-Beziehung selbst ermöglichen. Damit
liegt dem in dem Aufsatz entwickelten Argument zugleich ein Verständnis von
Aufmerksamkeit im doppelten Sinne einer konzentrierten und respektbezeugen-
den Zugewandtheit zugrunde.
Die Beiträge der zweiten Sektion sind der Kodifizierung von Aufmerksamkeits-
praktiken in Gebrauchstexten, das heißt, im weitesten Sinne nichtfiktionalen,
handlungsorientierten Textsorten,46 und deren Umsetzung gewidmet.
Ulrike Sprenger widmet sich in ihrem Beitrag dem Rezept als Instrument der
Wissensweitergabe im 18. Jahrhundert. Am Beispiel von Diderot, dessen Streit-
schrift L’histoire et le secret de la peinture en cire sie als aufklärerisch geprägte Anlei-
tung zum empirischen Experiment mit Wachs liest, zeigt sie, wie Aufmerksamkeit
zum Ausnahmezustand im Erfindungsprozess wird. Aufmerksamkeit emergiert
hier aus einer Grenzsituation heraus, in der Geist und Materie interagieren, und

 46 Vgl. Anm. 2 im Beitrag von Ulrike Sprenger, S. 153.

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Einleitung 23

bildet die „Grundlage einer geniehaft inspirierten Empirie“ (S. 162), in der Zufäl-
ligkeit und Zerstreuung für einen produktiven Fortschritt ausschlaggebender sind
als eine vernunftgeleitete (Selbst-)Disziplinierung.
Sind Emotionen bei Diderot Teil einer produktiven Aufmerksamkeit, so gilt es
sie, wie Leon Wansleben in seinem Beitrag zeigt, bei Spekulationspraktiken im
Kontext Ticker-basierter Finanzmärkte zu unterdrücken. Vielmehr erfordern diese
Praktiken, die in der sogenannten Investmentliteratur kodifiziert sind, „Wachsam-
keit, Konzentration und Emotionskontrolle“ (S. 175). Diese Techniken von Auf-
merksamkeit gewinnen durch die erhebliche Beschleunigung von Informationsver-
mittlung und Preisreaktionen auf den gegenwärtigen Finanzmärkten an Bedeu-
tung, sodass sich eine genealogische Verbindung zwischen den Handbüchern für
Finanzinvestoren des frühen 20. Jahrhunderts und der heutigen Praxis beobachten
lässt.
Einigen für das Genre der Ratgeberliteratur charakteristischen Aufmerksamkeits-
praktiken wendet sich der Beitrag von Stephanie Kleiner zu. Sie untersucht zahlrei-
che Glücksratgeber, die in den 1970er und 1980er Jahren eine auffallende Kon-
junktur erlebten. In einer Phase umfassender Krisenerfahrung, in der sich die Zu-
kunft nicht mehr aus dem linearen Fortschreiten der Gegenwart ableiten ließ,
regten diese Ratgeber ihre Leserschaft zu Praktiken individueller Gegenwartsbe-
mächtigung an. Ihre Aufmerksamkeit sollte sich auf das eigene Selbst verschieben,
das sich vor unmittelbare, gegenwärtige Herausforderungen gestellt sah. Dieses
Programm individueller Selbstanleitung wurde in dem neu aufkommenden Genre
der Antiratgeber ironisch gebrochen. Diese nahmen die Komplexität erlebter Ge-
genwart nicht mehr zum Ausgangspunkt, um Techniken zu ihrer Reduktion zu
entwerfen. Stattdessen eröffnen sie ihrer Leserschaft die Option, die unübersichtli-
che Fülle von Gegenwart in ein angemessen komplexes Selbstverhältnis aufzuneh-
men.
Die dritte Sektion geht der Frage nach, wie Aufmerksamkeit in narrativen Texten
als Erzählstrategie eingesetzt wird und mit welchen Gegenentwürfen sie untermi-
niert wird.47
Daniela Fuhrmann eröffnet die Sektion mit einem Beitrag zur frauenmystischen
Vitenliteratur des Spätmittelalters am Beispiel der Offenbarungen der dominikani-
schen Nonne Adelheid Langmann. Sie interpretiert den Bericht einer Reihe von
Begegnungen zwischen der Nonne und Gott im Hinblick auf eine liturgische Pra-

 47 Der Fragestellung liegt die Annahme zugrunde, dass die in literarischen Texten geführten Auf-
merksamkeitsdiskurse sich von einem offiziellen Aufmerksamkeitsdiskurs darin unterscheiden,
dass sie das Problem einer geteilten Gegenwart performativ vorführen, während offizielle Auf-
merksamkeitsdiskurse einen deskriptiven bzw. normativen Umgang mit Zeit aufweisen. Der lite-
rarische Text wird so zu einem privilegierten Ort der Konstitution von Aufmerksamkeit. Dabei
erschöpft er sich weder in einem Konterdiskurs noch in einer fiktionalen Reproduktion offizieller
Aufmerksamkeitsdiskurse, sondern bringt komplexe Konstellationen von Aufmerksamkeit hervor,
die sich aus einem Zusammenspiel von Darstellung und Dargestelltem speisen. Zur Unterschei-
dung von Erzählung und Narrativ siehe Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative. Zu einer
Zusammenfassung des Begriffs der Konterdiskursivität siehe Warning, Heterotopien, S. 23-26.

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xis, die mithilfe der Wiederholung von Wortlauten und kontrollierten Körperbe-
wegungen Aufmerksamkeit zu steuern sucht. So weisen die untersuchten Texte das
Prinzip der Wiederholung nicht nur strukturell als gattungsspezifisches Merkmal
auf, sondern reflektieren es zugleich auf inhaltlicher Ebene. Dabei erscheint das
Aufrechterhalten von Aufmerksamkeit durch Wiederholung problematisch, wie
sowohl die verschiedenen Digressionen im Text als auch die beschriebenen Erfah-
rungen subjektiver Zerstreuung innerhalb eines reglementierten liturgischen Rah-
mens erkennen lassen.
Im Spannungsfeld von offizieller Ordnung und subjektiver Aneignung stehen
auch die Aufmerksamkeitspraktiken im spanischen Schelmenroman der Frühen
Neuzeit, die Miriam Lay Brander am Beispiel des Lazarillo de Tormes untersucht.
Indem der Roman, der seinerzeit der Zensur zum Opfer fiel, das taktische Gelegen-
heitshandeln eines Individuums vorführt, verhandelt er zum einen auf einer fiktio-
nalen Ebene das Umgehen eines staatlichen und religiösen Aufmerksamkeitsre-
gimes, dem er selbst unterworfen ist. Zum anderen macht er anhand der Darstellung
von Aufmerksamkeit im Abwarten und schnellen Ergreifen von Gelegenheiten
deutlich, dass die bisher als relativ stabil wahrgenommene Ordnung der Dinge
zunehmend durch Unbestimmtheiten und deren Nutzung durch ein Subjekt er-
schüttert wird.
Jurij Murašov begreift in seinen Überlegungen zu einer „Poetologie kalter Auf-
merksamkeitsregime in der russischen Literatur“ Aufmerksamkeit als eine „Leis-
tung von Schrift“ (S.  266), die das Zusammenspiel körperlicher, medialer und
mentaler Komponenten optimiert. Am Beispiel von Dostoevskijs Arme Leute zeigt
er, dass in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts ein kaltes, d.h. ein in akus-
tisch-verbalen Zeichen gegründetes Aufmeksamkeitsregime die literarische Poetik
und die kulturellen Poetiken dominiert. Diese Art von Aufmerksamkeit, mithilfe
derer sich eine Gemeinschaft ihrer sprachlichen Werte vergewissert, macht er be-
reits im russisch-orthodoxen Mittelalter fest und sieht sie darüber hinaus in der
russischen literaturwissenschaftlichen Theoriebildung des 20. Jahrhunderts fortge-
setzt.
Mit schulpädagogischen Aufmerksamkeitspraktiken und deren literarischer
Darstellung um 1900 setzt sich Gwendolyn Whittaker auseinander. Dabei zeigt sie
am Beispiel von Fritz Kochers Aufsätzen von Robert Walser, dass die sogenannte
Schulliteratur nicht lediglich das Echo einer verstärkten Auseinandersetzung mit
Aufmerksamkeitsdefiziten in der herrschenden pädagogischen Praxis sowie der phi-
losophischen Theoriebildung ist, sondern dass diese außerliterarischen Diskurse
durch literarische Texte subversiv unterlaufen werden, ohne sich in der Subversion
zu erschöpfen. So stellt Walser etwa der zeitgenössischen Sorge um mangelnde
Konzentration zugleich die Zerstreuung als ästhetischen Wert gegenüber.
Wurde der Band mit Überlegungen zu Aufmerksamkeitspraktiken im städti-
schen Raum eingeleitet, so führt das Nachwort von Alexander Schellow wieder in
diesen Kontext zurück. Während jedoch in den ersten beiden Texten synästhetische
Arrangements beschrieben wurden, so ist der Text von Schellow selbst eine Inszenie-
rung, die Erinnerung, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit zueinander in Bezie-

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Einleitung 25

hung setzt. Ausgangspunkt bildet die Anfrage, eine künstlerische Arbeit für die al-
banische Kunstbiennale in Tirana zu entwickeln, von der aus sich eine reflektierte
Informations- und Wahrnehmungstopographie spinnt. Indem Alexander Schellow
den Leser auf seine persönliche Reise nach Triana mitnimmt, lässt er ihn teilhaben
an einem individuellen Orientierungsverhalten im raum-zeitlichen Kontext der al-
banischen Hauptstadt. Der städtische Raum löst in seiner Zeitlichkeit und Materi-
alität subjektiv wahrgenommene und erinnerte Reize aus, die sich als „Nachbilder
[]einer visuellen Aufmerksamkeitsverteilung“ (S. 326) rekonstruieren und reflek-
tieren lassen.

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I. Inszenierungspraktiken und synästhetische
Arrangements von Aufmerksamkeit

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Aleida Assmann

Denkmäler und ihre Paradoxien

Praktiken der Erinnerung und


Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum

Aufmerksamkeit kann nicht erzwungen werden. Sie stellt sich ein oder auch nicht.
Sie ist keine Sache des Zustands und gesicherter Dauer, sondern notorisch wankel-
mütig, unzuverlässig, volatil. Sie ist das Produkt eines Impulses und einer Reak-
tion; zwei Dinge müssen zusammenkommen, damit sie sich einstellen kann: ein
äußerer Stimulus und eine innere Spannung. Im diesem Beitrag soll es um eine
besondere Klasse von äußeren Stimuli im öffentlichen Raum gehen, die als Auslö-
ser für Aufmerksamkeit in Frage kommen: Denkmäler. Sie werden konzipiert, ge-
staltet und aufgestellt, um Aufmerksamkeit zu erheischen, zu verlängern und zu
verstetigen. Das jedenfalls ist ihre Intention. Die Wirkung von Denkmälern aller-
dings ist meist das Gegenteil. Wenn an ihnen nicht gerade bestimmte Praktiken
vollzogen werden wie öffentliche Reden, frische Blumen oder Kranzniederlegun-
gen, ziehen sie keine Aufmerksamkeit auf sich. Am sichtbarsten werden sie, wenn
sie bewegt werden wie das Bronzedenkmal des russischen Soldaten Aljoscha, der an
den Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland erinnert und 2007 aus dem
Zentrum der Stadt Tallin auf einen Ruheplatz in einem Soldatenfriedhof am Rande
der Stadt versetzt wurde. Dieses Verschwinden aus dem Mittelpunkt der Lebenden
und die Überführung in den Raum der Toten und damit zugleich aus der Gegen-
wart in ein Asyl der Vergangenheit hat in der russischen Bevölkerung dieser Stadt
für einen erheblichen Aufruhr gesorgt.
Eine andere Form der Versetzung haben Denkmäler in den postsowjetischen Staa-
ten erlebt. Neben der verbreiteten Praxis, nach dem politischen Systemwechsel die
früheren Helden einfach vom Sockel zu stürzen und sie materiell zu vernichten,
entwickelte sich auch eine andere Praxis, die sie bewahrte und wie Aljoscha durch
Überführung an einen anderen Ort entschärfte. In diesem Fall war der neue Ort
nicht ein Friedhof, sondern ein Stadtpark; die Heroen, denen ihre politische Bot-
schaft abgenommen worden war, rückten dabei in einen friedlichen Raum der Kunst
oder des Museums, in dem ihnen als Gegenstand der historischen Neugierde ein
Leben nach dem Leben gewährt wurde. Denkmäler sind also nicht unbedingt harm-
los. Sie können auch Störenfriede sein, politisch untragbar werden und Stoff für ge-
sellschaftliche Kontroversen bieten. So oder so ist ihnen Aufmerksamkeit sicher.
Nach einem viel zitierten paradoxen Satz von Robert Musil sind Denkmäler un-
sichtbar, sie stimulieren keine Aufmerksamkeit, sondern werden geflissentlich über-
sehen:

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30 Aleida Assmann

Abb. 1: Das Denkmal des russischen Soldaten ‚Aljoscha‘ in seiner neuen Umgebung auf
dem Friedhof von Tallin.

das Auffallendste ist […], daß man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was
so unsichtbar wäre wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gese-
hen zu werden, ja, geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig
sind sie durch irgend etwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert, und diese rinnt Was-
sertropfen-auf-Ölbezug-artig an ihnen ab, ohne auch nur einen Augenblick stehen zu
bleiben?1

Diesen ‚Teflon-‘ oder ‚Lotus-Effekt‘ der Denkmäler, wie wir ihn heute nennen
würden, erklärt Musil mithilfe der gestaltpsychologischen Begriffe von ‚Figur‘ und
‚Grund‘. Was in der Wahrnehmung der Lebenswelt als stabiles Inventar eingestuft
wird, wird von Passanten, die möglichst direkt und schnell ihre Ziele erreichen und
ihre Besorgungen erledigen wollen, automatisch dem ‚Hintergrund‘ zugeordnet
und damit ausgeblendet. Das Innehalten, zu dem das Denkmal auffordert, wird im
Stadtbild der modernen Großstädte von der marktschreierischen Werbung gefor-
dert, die die Denkmäler im wahrsten Sinne des Wortes in den Schatten stellt.
Denkmäler können sich in einer umtriebigen Großstadt im Kampf um die knappe
Ressource ‚Aufmerksamkeit‘ nicht mehr behaupten. „Wo andere Weitergehen,

   1 Musil, „Denkmäler“, S. 506.

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Denkmäler und ihre Paradoxien 31

Abb. 2: Abgesetzte Denkmäler im Statuenpark von Moskau.

bleib ich stehen“, lautet ein Satz von Wittgenstein.2 Seine Aufmerksamkeit und
sein Stehenbleiben wird er jedoch kaum auf die Denkmäler bezogen haben, die den
Menschen zur Wahrnehmung und Andacht an den Weg gestellt sind, sondern auf
überraschende Phänomene seiner Umwelt, die er mit seinem staunenden Blick al-
lererst entdeckte.
Die Geschichte der Denkmäler hat in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifen-
den Stilwandel von heroischen und kritischen zu reflexiven Darstellungsformen
erfahren. In der gegenwärtigen künstlerischen Praxis ist die Gattung ‚Denkmal‘
selbst selbstreflexiv geworden. Sie mahnt nicht nur und fordert Gedenken ein, son-
dern setzt sich mit den Paradoxien der Aufmerksamkeit auseinander und lädt dazu
ein, auch über die Möglichkeiten und Grenzen von Denkmälern nachzudenken. In
diesem Beitrag sollen zwei Beispiele für diese neue künstlerische Praxis im Umgang
mit Denkmälern vorgestellt und in dem hier skizzierten Rahmen ausführlicher
diskutiert werden.

  2 Wittgenstein, Bemerkungen, S. 543. 

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32 Aleida Assmann

1. Ein Weckruf im Herzen der Stadt. Interventionen rund um


das Karl Lueger-Denkmal in Wien

1.1 Der Sturz der Denkmäler

Wie schon angedeutet mit dem Hinweis auf das Schicksal der Denkmäler in post-
sowjetischen Staaten, geht es nach einem politischen Systemwechsel nicht nur den
ehemaligen Machthabern, sondern auch ihren Statuen an den Kragen. Wenn eine
Gesellschaft im Begriff ist, von einem politischen System auf ein anderes umzustel-
len oder ihre ideologischen und normativen Grundlagen zu verändern, wird es für
die Bewohner einer Stadt zunehmend unerträglich, sich weiterhin mit der Verherr-
lichung von Werten konfrontiert zu sehen, von denen man sich soeben distanziert
hat und die man nun im Vollzug eines radikalen Neubeginns möglichst rasch dem
Vergessen überantworten möchte. Das Ergebnis dieses Impulses ist der wohlbe-
kannte Bildersturm, den wir in den letzten Jahrzehnten in vielen postsozialisti-
schen Gesellschaften nach dem Sturz der Sowjetunion erlebt haben. In abrupte
Ungnade fielen in den ehemaligen Ostblockstaaten nicht nur die Machthaber, son-
dern mit ihnen auch ihre historischen Vorbilder und Identifikationsfiguren, deren
Denkmäler als symbolische Stützen des Regimes prominent sichtbar in der Stadt
verteilt waren. Stalin- und Lenin-Statuen stürzten von ihren Sockeln, Straßen und
Plätze wurden nach 1989 umbenannt. In Moskau vollzog sich der Denkmalsturz
mit deutlich geringerem revolutionären Eifer. Der Chef des Geheimdienstes, Dser-
schinski, zum Beispiel, stand noch bis Mitte der 1990er Jahre auf einem öffentli-
chen Platz in der Stadtmitte Moskaus. Inzwischen ist er stillschweigend pensioniert
worden, die Statue verbringt ihren Ruhestand in einem idyllischen Statuenpark in
der Stadt.3
Wer Denkmäler stürzt, lässt in aller Regel die Sockel stehen, weil dieser neutrale
Träger wiederverwendet werden kann. Neue Anwärter warten auf einen aufmerk-
samkeitsstrategisch günstigen Platz im öffentlichen Raum der Stadt und im kultu-
rellen Gedächtnis der Gesellschaft, die nach solchen Systemwechseln aus der Ver-
bannung und Vergessenheit in die öffentliche Anerkennung und Bekanntheit
gehoben werden. Die politische Neuorientierung erzwingt die Entscheidung eines
Entweder-Oder: Das neue System ersetzt dabei flächendeckend das ältere. Das Pro-
blem bei diesem lückenlosen Austausch ist jedoch, dass mit der Bereinigung und
Begradigung der falschen Vergangenheit auch die historischen Spuren der Erinne-
rung an sie gelöscht werden. Deshalb müssen wir im öffentlichen Raum mindes-
tens drei Optionen unterscheiden:
–– das negierende Vergessen (die Abräumung von Denkmälern)
–– das affirmative Erinnern (die Neuaufstellung von Denkmälern) und

   3 Feliks Edmundowitsch Dserschinski war der Chef der ersten Geheimpolizei Russlands (1917–
1926). Aufgrund seines gnadenlosen Einsatzes im Ausmerzen konterrevolutionärer Kräfte wurde
er als das „Schwert der Revolution“ bezeichnet.

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Denkmäler und ihre Paradoxien 33

–– das historische Erinnern (die Rückstufung, Folklorisierung und Kontextualisie-


rung von Denkmälern)

Die Fragen des affirmativen Erinnerns und negierenden Vergessens sind wiederholt
behandelt worden, angefangen mit Orwells radikalen Thesen in seinem Roman
1984 zur Abschaffung von Geschichte und zur Herstellung einer tabula rasa
als Projektionsfläche für gegenwartskonforme Vergangenheitsmanipulationen. Die
flächendeckende Erneuerung der politischen Symbolsprache ist jedoch eher der
Ausnahmefall. Oft bestehen Denkmäler im öffentlichen Raum einfach fort, ers-
tens, weil es gar nicht so einfach ist, sie alle abzutragen, wenn ihre historische
Stunde abgelaufen ist, und zweitens, weil sie so sehr zum Teil des built environment
geworden sind, dass sie allmählich zum festen, unverlierbaren Bestand des Stadtbil-
des gehören. Keiner käme auf die Idee, in einer modernen Demokratie alle Reiter-
standbilder früherer Epochen vom Sockel zu stoßen, die Ausdruck einer vergange-
nen Phase imperialer und monarchischer Politik sind. Diese Denkmäler sind meist
fest mit der Stadt verwachsen und prägen ihr Bild. Sie werden heute, wie zum
Beispiel der Goldene Reiter in Dresden,4 als pittoreske historische Identitätssym-
bole erlebt und nicht mehr als Träger politischer Botschaften. In ihrer Ausstattung
und Formensprache sind diese Denkmäler attraktive, weil dekorative Elemente im
Stadtbild, die die Bewohner obendrein an wichtige, meist heroische Stationen in
der Geschichte ihrer Stadt erinnern.
Neben der Alternative von Affirmation und Negation bzw. Errichten und Abrei-
ßen von Denkmälern gibt es also noch einen dritten Weg: die Aneignung durch
Historisierung. Die meisten Denkmäler früherer Epochen müssen gar nicht vom
Sockel gestoßen werden, weil sie einem schleichenden Prozess der Historisierung
unterliegen. Sie dürfen bleiben, weil sie nicht mehr primär als Träger von Botschaf-
ten wahrgenommen werden, sondern selbst als Verkörperungen von ‚Geschichte‘.
Deshalb stört es auch nicht, wenn diese Botschaften der Gegenwart explizit wider-
sprechen. Da der Bruch mit den von ihnen verkörperten Werten und Zielen längst
vollzogen wurde, tun sie der Gegenwart keinen Abbruch mehr, weshalb sie auch
nicht mehr beseitigt werden müssen. In dem Maße, wie ihr affirmativer Identifika-
tionswert verfallen ist, ist ihr historischer Identitätswert gestiegen. Auf eine nicht
kompromittierende Weise verkünden sie Botschaften aus einer anderen Welt und
sind geschätzt als nostalgische Erinnerungstücke an eine glorreiche Vergangenheit
oder als pittoreske Versatzstücke im Palimpsest des Stadtbildes.
Unter diesen historisch gewordenen Denkmälern gibt es jedoch auch solche, die
plötzlich wieder in die gesellschaftliche Aufmerksamkeit und damit auch in die
Erinnerung zurückkehren. Ihr Status ist problematisch. Sie verkörpern eine Ver-

  4 Der Goldene Reiter auf dem Neustädter Markt ist das bekannteste Denkmal Dresdens. Es zeigt
Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen (genannt August der Starke; zugleich König August II.
von Polen, 1694–1733) in der damals bereits historisierenden Haltung eines Caesaren im römi-
schen Schuppenpanzer. 1956 wurde das Reiterstandbild wieder aufgestellt und neu vergoldet. In
den Jahren 2001 bis 2003 wurde die Statue erneut restauriert.

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34 Aleida Assmann

gangenheit, die doch noch nicht gänzlich historisch geworden ist, weil ihre Bot-
schaften in einer unausgesprochenen Form die Gegenwart stören. Denn kompro-
mittierende Botschaften bleiben solange vergessen und ungebrochen, bis ihre
Geltung explizit infrage gestellt wird. Sobald solche Denkmäler wieder ins Schein-
werferlicht gesellschaftlicher Aufmerksamkeit geraten, sind sie reif für einen Refle-
xionsprozess. In diesem Reflexionsprozess muss die Gegenwart ihr Verhältnis zu
dieser Vergangenheit neu klären. Sie muss entscheiden, und das heißt ja zugleich
auch trennen, was vom Denkmal als Bestandteil der eigenen Geschichte im öffent-
lichen Bewusstsein noch anerkannt werden kann und was dem eigenen Selbstbild
der Gesellschaft und den Werten der Gegenwart explizit widerspricht und deshalb
dementiert werden muss.

1.2 Zwischen Natur und Geschichte

In diese letzte Kategorie der Denkmäler mit ungeklärtem historischen Status im


Niemandsland zwischen Vergangenheit und Gegenwart gehört das Standbild von
Dr. Karl Lueger auf dem gleichnamigen Platz in Wien. Diese Stadt ist besonders
reich an Denkmälern unterschiedlicher Epochen. Jeder Denkmalsetzer hatte das
Ziel, seine Botschaft unsterblich zu machen und sie nachhaltig ins Gedächtnis der
Gesellschaft einzuschreiben. Dieses Programm ist allerdings unrealistisch; es kann
schon deshalb nicht eingelöst werden, weil die Aufmerksamkeitskapazität der An-
wohner und Passanten radikal begrenzt ist. Denkmäler, die als imposante Träger
von Botschaften errichtet wurden, verwandeln sich unweigerlich zurück in ‚Natur‘.
Sie werden Teil des fraglos Gegebenen und unterscheiden sich darin meist kaum
noch von den Bäumen, die sie umgeben. Die Statue des ehemaligen Wiener Bür-
germeisters Dr. Karl Lueger ist heute umrankt von ausladenden Ästen knorriger
alter Platanen, die auf bestem Wege sind, das Denkmal in die Natur zurückzuho-
len. Diese große Platane wurde übrigens seit 1994 selbst als Wiener Naturdenkmal
klassifiziert.
Denkmäler haben, nachdem sie einmal aufgestellt wurden, die Eigenschaft,
stumm vor sich hinzudämmern und werden im Aufmerksamkeitsspektrum der
Bürger meist nur noch als Ruheplatz, Wegmarke oder Treffpunkt wahrgenommen.
Deshalb tendieren sie – da hat Musil absolut recht – trotz ihrer großen Gesten und
ihres ostentativen Pathos letztlich zur Unauffälligkeit. Ihre schiere Dauer und Un-
beweglichkeit verleiht ihnen, wie Musil bereits betonte, keine außergewöhnliche
Aura, sondern Unsichtbarkeit. Diese fortschreitende Naturwerdung des Denkmals
wurde durch die Ausschreibung zur Umgestaltung des Karl-Lueger-Denkmals im
Jahre 2009 jäh unterbrochen. Damals schrieb die Universität für angewandte
Kunst Wien einen Wettbewerb zur Umgestaltung des Denkmals zu einem „Mahn-
mal gegen Antisemitismus und Rassismus in Österreich“ aus. Der Aufruf, sich die-
sen Platz anders vorzustellen, als er ist, hat viele Menschen zum Hinsehen angesto-
ßen. Er war wie ein Weckruf im Herzen der Stadt. Bis April 2010 gingen über 150
Vorschläge ein. Aber nicht nur Künstler begannen sich mit der Person des ehema-

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Denkmäler und ihre Paradoxien 35

ligen Wiener Bürgermeisters Lueger auseinanderzusetzen, auch die Politiker, Be-


hörden, Stadträte und Bewohnerinnen der Stadt wurden notgedrungen in diesen
Prozess einbezogen. Karl Lueger und sein Standbild wurden zum Gegenstand all-
gemeiner Diskussion und genauer Wahrnehmung. In einem Spiel der kreativen
Imagination galt es, alternative Posen und Rahmungen für das Denkmal zu erfin-
den, was zu einer anhaltenden Debatte führte. Der Name, der in der Alltagskom-
munikation nicht viel mehr als einen Orientierungspunkt in der Stadt bezeichnet
hatte, kam plötzlich aus der Geschichte zurück in die Gegenwart. Mithilfe von
Wikipedia informierte man sich über Luegers Biographie, andere griffen zu dicken
Büchern. In Blogs und auf Internetseiten wurde seine Person diskutiert. Lueger
verwandelte sich damit von einem bloßen Namen zu einem Gegenstand öffentli-
chen Interesses und gegenseitiger Belehrung und Bewertung. Das Standbild wurde
auf diese Weise in den Debatten der Gegenwart wiederbelebt.

1.3 Dementieren statt Demontieren

Warum dieser Weckruf für eine schlafende Statue? Worum ging es genau bei dieser
Debatte? Das Ziel der Debatte war die Neupositionierung des Lueger-Denkmals in
der Geschichte und im Selbstbild der Stadt. Dafür musste es in diesem Fall nicht
versetzt, wohl aber durch Rahmungen und Inszenierungen neu ins Bewusstsein
gehoben werden. Es galt hier genauer zu klären und zu unterscheiden, was an die-
ser Statue zu einem unbestrittenen Teil der Wiener Stadtgeschichte geworden ist
und was an ihr als problematische historische Last aufzuarbeiten ist. Der histori-
sche Lueger, Bürgermeister der Stadt Wien zwischen 1897 und 1910, hat durch
seine großen Modernisierungsprojekte einen festen Ort im historischen Gedächt-
nis der Stadt. Aber nicht alles, wofür der Name ‚Lueger‘ steht, kann in der Gegen-
wart noch affirmiert werden. Die Anerkennung seiner historischen Rolle als Mo-
dernisierer schließt in diesem Fall die Absage an seine politischen Positionen mit
ein. Lueger gilt heute als ein früher Vertreter des Populismus. Darunter versteht
man eine politische Strategie, die mithilfe von Feindbildern Bedrohungsgefühle in
der Bevölkerung schürt, um Wählerstimmen für eine nationalistische Politik der
Stärke zu mobilisieren. So betrachtet enthält das Denkmal eine problematische, ja
gefährliche Aussage, die eine fortgesetzte affirmative Identifikation mit dieser Per-
son verunmöglicht. Solange das Denkmal aber in seiner Stummheit verharrt, kann
kein wirklicher Denkprozess in Gang gebracht werden. Genau das ist das Ziel der
Ausschreibung gewesen. Durch die künstlerischen Interventionen und Inszenie-
rungen wurde Aufmerksamkeit auf das Denkmal gelenkt und dieses in die aktuel-
len Debatten der Gegenwart einbezogen.
Das aus seinem Tiefschlaf gerissene Lueger-Denkmal ist zum Gegenstand von
Disputen und Debatten geworden, die das Selbstverständnis der Stadt und seiner
Bürgerinnen unmittelbar betreffen. Wer die Errungenschaften von Luegers Person
und seiner Regierungszeit retten will, muss sich heute explizit von diesem anderen
Teil seines Erbes distanzieren, denn Schweigen bedeutet in diesem Fall nicht nur

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36 Aleida Assmann

Abb. 3: ‚Schieflage‘ – Entwurf


von Klemens Wihlidal; 1. Preis des
Wettbewerbs zur Veränderung des
Dr. Karl Lueger Denkmals 2010
in Wien.

Duldung, sondern auch Anerkennung und Fortschreibung dieser problematischen


Tradition. Dementieren aber bedeutet nicht demolieren. Die Distanzierung von
Lueger sollte nicht zu einer Beseitigung seiner Statue führen, weil dann mit dem
Stein des Anstoßes zugleich die Geschichte entsorgt wäre. Geschichte sollte im
Stadtraum in heterogenen Schichten erhalten bleiben, um das historische Bewusst-
sein sowohl für Kontinuitäten als auch für Brüche zu schärfen. Der Bruch mit
Lueger, der bisher aus Mangel an Information, Aufmerksamkeit und Interesse in
der Wiener Bürgerschaft nicht vollzogen wurde, kann nun, nachdem der Weckruf
der Künstler erschallt ist, auch öffentlich vollzogen und durch ein symbolisches
Zeichen sichtbar gemacht werden.
Prämiert wurde der Umgestaltungsentwurf von Klemens Wihlidal, der vorsieht,
Statue und Sockel um 3,5 Grad nach rechts zu neigen. Dieser Neigungswinkel
befindet sich in einem Wahrnehmungsspektrum unterhalb der Schwelle des Offen-
sichtlichen und oberhalb der gesicherten Normalität.
Die geringfügige Verlagerung der Statue aus der Achse erzeugt eine subkutane
Irritation, einen leichten Schwindel. Dieser leichte Schwindel entsendet das Signal,
dass hier irgendetwas nicht stimmt mit dem Denkmal, mit Karl Lueger, und stimu-
liert zu Rückversicherung und Nachfragen. Diese Unsicherheit stand auch im Zen-
trum der Entscheidung der Jury. Der Entwurf verdeutliche die Unsicherheit der
Stadt Wien im Umgang mit ihrem ehemaligen Bürgermeister und zeige damit zu-

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Denkmäler und ihre Paradoxien 37

gleich den aktuellen Stand der Diskussion auf. Die ‚Schieflage‘ verweise auf den
problematischen Umgang der Stadt Wien mit ihrer antisemitischen Vergangenheit.
Durch den Eingriff werde der heroisch vertikale Charakter des Monuments gebro-
chen und der Mythos um Lueger als Vaterfigur Wiens hinterfragt.5
Das Kippen des Denkmals, bislang nur ein Gedankenspiel, ist aber noch nicht
in die Tat umgesetzt worden. Während diese Umsetzung noch auf sich warten läßt,
geschah im April 2012 ohne lange Vorbereitungen etwas anderes. Im Zentrum der
Stadt wurde der ‚Dr. Karl Lueger Ring‘ in ‚Universitätsring‘ umbenannt. Dieser
Namenswechsel auf dem Stadtplan und im Stadtbild entbehrt nicht einer gewissen
Ironie, denn das ehemalige Stadtoberhaupt war wissenschaftsfeindlich gesonnen
und hatte Universitäten abschätzig als „Brutstätten der Religions- und Vaterlands-
losigkeit“ bezeichnet.

1.4 Lueger in neuer Gesellschaft

Ein weiterer interessanter Beitrag zu dieser Debatte, der die Frage nach dem Zu-
sammenhang von Aufmerksamkeitsstrategien und Denkmalspraktiken vertieft, ist
der Entwurf 118 ‚A modern rebuke‘ in der Liste der eingereichten Bewerbungen.
Er stammt von dem Designer-Team John McGill und Lucienne Roberts. Der Ent-
wurf sieht eine Neugestaltung des Lueger-Platzes vor, die die Statue mit einem
Kreis unterschiedlicher farbiger Figuren in gleicher Größe umgibt, die dem Lue-
ger-Denkmal schematisch nachgebildet sind.
Der einsame Lueger wird auf diese Weise zum Teil einer Konstellation, mit der
er in einen kommunikativen Austausch versetzt wird. Er ‚unterhält‘ sich auf Au-
genhöhe mit zehn ‚Personen‘ unterschiedlicher Herkunft, die als Migranten in der
Stadt leben. Die schematischen Figuren werden individualisiert durch ein recht-
eckiges durchsichtiges Fenster, das in die Konstruktion eingearbeitet ist. Es ist auf
Augenhöhe der Besucher des Platzes angebracht, bietet ein (wechselndes) Informa-
tionsfeld, in dem alte und neue Einwanderungsgeschichten der Bewohner der
Stadt vorgestellt werden. Österreich ist inzwischen eine de facto Einwanderergesell-
schaft geworden; Anfang 2014 lebten 1,07 Millionen Menschen in Österreich (das
sind 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung), die eine nicht-österreichische Staatsan-
gehörigkeit haben. In Wien hat jeder vierte Bewohner einen ausländischen Pass
oder seinen Geburtsort in einem anderen Land. Die Tendenz ist steigend. Diese
neuen Entwicklungen haben zu einer Veränderung des Selbstbildes des Landes und
der Stadt geführt, die mit der Tradition des antisemitisch und fremdenfeindlich
instrumentierten Populismus, wie sie Lueger verkörpert, in einen scharfen Gegen-
satz geraten ist. Dieser zweite Denkmalsentwurf bezieht sich auf die neue demogra-
phische Situation und hat eine doppelte Wirkung: Nach innen stellt er eine Ver-
bindung her zwischen Karl Lueger und der Geschichte Wiens mit neuen Bewohnern
der Stadt und ihren Schicksalen, und nach außen vermittelt er diese neueste Epi-

  5 Wien Heute.at vom 19.04.2012.

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38 Aleida Assmann

Abb. 4: ‚A modern rebuke‘ – Entwurf Nr.118 von John McGill und Lucienne Roberts;
Einreichung zum Wettbewerb zur Veränderung des Dr. Karl Lueger Denkmals 2010
in Wien.

sode der Stadtgeschichte in den öffentlichen Raum, in dem es bislang noch kaum
ein symbolisches Zeichen für diese aktuelle Entwicklung gibt. Mit einfachen Mit-
teln schlägt die Denkmal-Inszenierung eine Brücke zwischen der Vergangenheit
und Zukunft der Stadt Wien; sie erzählt an einem öffentlichen Platz die Geschichte
der Stadt auf eine symbolisch anschauliche und informative Weise weiter. Solche
temporären Verwandlungen und Bespielungen öffentlicher Plätze können Auf-
merksamkeit, Interesse und Neugier mobilisieren und damit ein erstarrtes Denk-
mal zu einem dialogischen Denkort machen.

2. Ein Denkmal auf Raten


Richard Wagners langer Schatten in Leipzig
Lasst die Sockel stehen, die brauchen wir noch! Was einst als bedeutend und unver-
gesslich für die Ewigkeit ausgezeichnet worden war, muss nach einem politischen
Systemwechsel diesen Sockel wieder räumen. Die Denkmäler kommen und gehen,
aber die Sockel bleiben stehen. Denn der Wunsch nach Verewigung ist dem Men-
schen eingeschrieben und verlangt immer wieder nach neuen Ausdrucksformen.

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Denkmäler und ihre Paradoxien 39

Der Sockel erhält so die Funktion eines neutralen Trägers, der wiederverwendet
werden kann, um neuen Anwärtern einen Platz im Raum der Stadt, in der öffent-
lichen Aufmerksamkeit und im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft zu ver-
schaffen.
Um den Sockel des Künstlers Max Klinger in Leipzig, im Volksmund aufgrund
der Abbildung von drei nackten Rheintöchtern auch ‚Pornowürfel‘ genannt, rankt
sich allerdings eine ganz andere Geschichte. Dieser Sockel blieb über ein Jahrhun-
dert im Wartestand und erhielt erst im Jahre 2013 das ihn vervollständigende
Denkmal. Der schwere Block überstand den Ersten Weltkrieg in einem Marmor-
steinbruch und wartete nach dem Tode des Künstlers in der Nähe von dessen Ate-
lier auf seine Rückkehr in den öffentlichen Raum. Dieser Sockel ist das Relikt einer
anderen Zeit und der letzte Hinweis auf ein unvollendet gebliebenes Projekt.
Gleichzeitig ist er der Eckstein, der in eine neue Zukunft weist.
Ein Denkmal durchläuft normalerweise eine mehr oder minder bewegte Entste-
hungsgeschichte, in der es um kulturpolitische Entscheidungen, Debatten um äs-
thetische Fragen und Probleme der Finanzierung geht. Sobald das Denkmal auf
dem Sockel steht, ist diese Geschichte abgeschlossen. Die Uhr hört auf zu ticken
– das Denkmal steht still und geht in die Ewigkeit ein, ganz im Gegensatz zu seiner
rastlosen Umgebung,. Beim Denkmal, das am 22. Mai 2013 zu Richard Wagners
200. Geburtstag in Leipzig eingeweiht wurde, war das ganz anders: Das Denkmal
war selbst Teil einer Entstehungsgeschichte, die sich über ein Jahrhundert zog.
Auch das Denkmal der Völkerschlacht bei Leipzig hat eine lange Geschichte, denn
es hat ebenfalls ein Jahrhundert auf seine Realisierung gewartet. Hier lagen andere
Gründe vor: Der Prozess der Herstellung des Denkmals durchlief grundlegende
Mutationen. Das Resultat ist ein neuartiges ‚Denkmal mit Geschichte‘, an dem
zwei Künstler unterschiedlicher historischer Epochen gearbeitet haben. Die Vision
des einen Künstlers wird durch die des anderen ergänzt und abgeschlossen in einer
Form, die die Differenz der Zeiten, die in dieses Denkmal eingegangen sind, nicht
verschleiert, sondern überdeutlich hervorkehrt. Das Werk ist auf diese Weise ein
steingewordener Dialog, in dem zwei Künstler miteinander über die Zeiten hinweg
Zwiesprache halten. Das Produkt ist ein in mehrfacher Hinsicht gebrochenes und
gedoppeltes Bild von Richard Wagner.
In der Tradition der gutsituierten bürgerlichen Kunstreligion der Gründerzeit,
die Konzerthäuser als Musentempel erbaute und dem Geniekult huldigte, hatte
sich Max Klinger für Wagner in Leipzig ein großes Geschenk zu dessen 100. Ge-
burtstag ausgedacht. Es sollte mehr sein als nur ein Denkmal, er plante einen Ort
der Kunst mit einer repräsentativen Treppenanlage als Kulisse für ein fünf Meter
hohes Standbild des Künstlers. Teile dafür wurden fertiggestellt, aber seine Vision
konnte Klinger nicht mehr umsetzen. Der große (Ent-)Wurf zerfiel in Fragmente.
Die Stadt Leipzig hatte die Idee, dieses work in progress wieder aufzunehmen und
durch einen zweiten Künstler beenden zu lassen. Dadurch entstand ein neuer hyb-
rider, epochenübergreifender Denkmalstyp. Statt einer 5 Meter hohen Statue ent-
schied sich der Künstler Stephan Balkenhol, der die Ausschreibung für diesen
Wettbewerb gewann, für ein nur lebensgroßes Standbild. Das bedeutet: Die neue

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40 Aleida Assmann

Richard Wagner-Statue, auf die der Max Klinger-Sockel 100 Jahre gewartet hat,
entspricht in seiner Höhe gerade einmal den Maßen dieses Sockels. Die Statue
Richard Wagners wirkt im Rahmen der groß dimensionierten Anlage notgedrun-
gen zwergenhaft. Das Denkmal ist übrigens nicht dem erwachsenen und reifen
Schöpfer von Bayreuth, sondern dem jungen Wagner von Leipzig gewidmet. Es
zeigt uns aber nicht den jungen Menschen, der noch wachsen kann, sondern den
Künstler, der auf ein menschliches Maß zurückgestutzt ist, jenseits der Bildrhetorik
des Geniekults in bewusster Brechung der Gesetze des Bedeutungsmaßstabs. Größe
kommt aber auch diesem Wagner zu, der einen überdimensionalen Schatten wirft.
Dieser übermächtige Schatten, vor dem die Figur noch zierlicher wirkt, ist mit ihr
verwachsen. Es ist nicht nur die Gewalt seiner Musik, die er im Rücken hat, son-
dern auch die gewalttätige antisemitische Wirkungsgeschichte, die mit seiner
Musik verbunden ist.
Auch Balkenhols Denkmal produziert eine Irritation der Aufmerksamkeit. Es ist
eine sinnfällige Auseinandersetzung mit der heroisierenden Sprache der Denkmals-
rhetorik. Durch die Verminderung und Steigerung von Größenverhältnissen arbei-
tet es konkret am Symbolsystem des Bedeutungsmaßstabs. Die Betrachter sind ir-
ritiert durch das gleichzeitige ‚Zu klein‘ und ‚Zu groß‘ dieses Denkmals, der Blick
oszilliert zwischen der Figur und ihrem Schatten und findet keine Ruhe.
Anders als die freie Kunst ist die traditionelle Denkmalsrhetorik extrem redu-
ziert und festgelegt, sie hält sich statisch über die Jahrhunderte und ist in der
Tendenz affirmativ, heroisch, selbstfeiernd. Inzwischen haben wir aber auch mit
Gegendenkmälern Bekanntschaft gemacht, unscheinbaren und ephemeren Denk-
mälern, die den Denkmals-Code brachen, indem sie sich den Erwartungen verwei-
gerten, die Aufmerksamkeit umlenkten und die Betrachter auf sich selbst verwie-
sen.6 Auch Balkenhols Denkmal steht in der Tradition dieser Gegendenkmäler.
Seine Inszenierung des jungen Richard Wagner mündet in ein reflexives Meta-
Denkmal, das man nicht anschauen kann, ohne nicht zugleich über die Sprache
der Denkmäler nachzudenken. Nach einem weiteren Jahrhundert hat er Klingers
Geburtstagsgeschenk an Wagner vervollständigt, aber in einer Weise, die die krasse
Diskrepanz von Sockel und Standbild, von Entwurf und Realisation herausarbei-
tet. Damit fügt er ihm eine neue Dimension hinzu, die ihm erst im Laufe des 20.
Jahrhunderts zugewachsen ist und seinen langen Schatten ins 21. Jahrhundert
wirft. Beide Künstler haben zusammen ein Denkmal geschaffen, das nicht in die
starre Trance der Ewigkeit übergeht, sondern in die Geschichte mündet und diese
in einem künstlerischen Dialog sichtbar verkörpert.
Erinnerung und Aufmerksamkeit hängen, wie diese Beispiele gezeigt haben,
aufs Engste zusammen. Beides sind mentale Tätigkeiten, die nur im Vollzug exis-
tieren und auf den Halt einer äußeren Referenz oder einen externen Stimulus an-
gewiesen sind. Erinnern und Aufmerken halten das Bewusstsein somit in einer
ständigen Bewegung, die sich nicht abschließend arretieren lässt. Die konstruktive
Arbeit der Erinnerung setzt paradoxerweise dort an, wo – wie im Denkmal – das

  6 Young, „The Counter-Monument“.

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Denkmäler und ihre Paradoxien 41

Andenken auf Dauer gestellt werden soll und eine für alle Zukunft verpflichtende
monumentale Gestalt erhält. Denn nichts ist schneller veraltet als der in eine zeit-
typische Form gegossene Anspruch auf Ewigkeit. Deshalb werden Denkmäler auch
so leicht unsichtbar. Bei aller Monumentalität der Form verlieren sie bald den Auf-
merksamkeitsimpuls, mit dem sie einst ausgestattet worden waren. Diese Aufmerk-
samkeit kann unter entsprechenden Rahmenbedingungen allerdings immer wieder
neu entfacht werden. Besonders belebend sind dafür Provokationen, Krisen und
Kontroversen, die Werte hinterfragen, Emotionen freisetzen und Identitätspro-
bleme aktualisieren. Die neue Aufmerksamkeit bildet zugleich das Medium für
neue Wendungen der Erinnerung in der historischen Selbstvergewisserung im
städtischen Raum. Die temporale Dynamik von Aufmerken und Erinnern ermög-
licht und erfordert es, dass aus der aktuellen Perspektive der Gegenwart Vergangen-
heit und Zukunft immer wieder neu aufeinander bezogen werden. Das lässt sich
besonders anschaulich an den dargestellten Denkmalspraktiken ablesen. Machen
sie doch deutlich, dass die Zukunft der Vergangenheit, die die Monumente verkör-
pern grundsätzlich offen ist.

Abbildungen
Abb. 1: Das Denkmal des russischen Soldaten ‚Aljoscha‘ in seiner neuen Umgebung auf
dem Friedhof von Tallin. Foto: Aleida Assmann.
Abb. 2: Abgesetzte Denkmäler im Statuenpark von Moskau. Foto: Aleida Assmann.
Abb. 3: ‚Schieflage‘ – Entwurf von Klemens Wihlidal; 1. Preis des Wettbewerbs zur Verän-
derung des Dr. Karl Lueger Denkmals 2010 in Wien. Foto: © Martin Krenn. http://
opencall.luegerplatz.com/einr.php?e=106&n=w
Abb. 4: ‚A modern rebuke‘ – Entwurf Nr.118 von John McGill und Lucienne Roberts;
Einreichung zum Wettbewerb zur Veränderung des Dr. Karl Lueger Denkmals 2010 in
Wien. Foto: © Martin Krenn. http://opencall.luegerplatz.com/einr.php?e=118&n=m

Literatur
Arbeitskreis zur Umgestaltung des Lueger-Denkmals, Open Call. Handbuch zur Umgestal-
tung des Lueger Denkmals, Wien: Universität für Angewandte Kunst, 2011.
Musil, Robert, „Denkmäler“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2: Prosa und Stücke, hg. v.
Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg, 1978, S. 506.
Wien Heute.at vom 19.04.2012, online unter: http://www.heute.at/news/oesterreich/wien/
art23652,694316, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
Wittgenstein, Ludwig, Werkausgabe, Bd. 8: Bemerkungen über die Farben, über Gewißheit,
Zettel, vermischte Bemerkungen, Berlin, 1984.
Young, James E., „The Counter-Monument: Memory against Itself in Germany Today“, in:
Critical Inquiry 18/2 (Winter 1992), S. 267-296.

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Hanna Katharina Göbel

Urbane Ruinen als Aufmerksamkeitsgeneratoren

Zur Praxeologie von Atmosphären


in der kulturalisierten Stadt

1. Einleitung

Die Stadt kann als Ort pluralisierter Aufmerksamkeitsregime und geteilter Gegen-
warten gesehen werden, was anhand dieses Beitrags in Bezug auf die sichtbarste
materielle Ausformung des Urbanen, die Architektur, gezeigt und plausibilisiert
werden soll. Hier ist die ständige Aushandlung von kulturellen Konventionen des
Wahrnehmens, ästhetischer Bewertungen der gebauten Architekturen einer Stadt
sowie der Politisierung von Ästhetik in Bezug auf unterschiedliche Raumprodukti-
onsweisen und -visionen des Städtischen sichtbar.
Seit den 1970er Jahren und der urbanistischen Kritik am funktionalen moder-
nistischen Städtebau1 wird der urbane Raum in seiner kulturellen Struktur wahrge-
nommen, die explizit über inszenierte sensuelle und ästhetische Stimuli seiner ge-
bauten Gestalt operiert. Mit der diagnostizierten architektonischen Postmoderne2
werden die modernistischen Prämissen funktionaler Architektur und der nach ra-
tionalem Kalkül gestalteten Städte der architektonischen Avantgarde der 1920er
Jahre um Le Corbusier und die Bauhaus-Schule somit abgelöst von einer sensibili-
sierten Aufmerksamkeit in Stadtplanung, Architektur und urbanem Design, die
symbolische und zeichenhafte Dimensionen des Gebauten in den Blick nehmen.
Dabei sollen zudem ästhetisch ansprechende und möglichst angenehme gebaute
Atmosphären des Städtischen entstehen. Die Ästhetisierung der materiellen Gestalt
wurde seit den 1980er Jahren zu einem strukturellen Merkmal des Urbanen. And-
reas Reckwitz spricht im Zusammenhang der Entwicklung des (für seine neolibe-
rale und ästhetisierende Stoßrichtung viel kritisierten) stadtplanerischen Paradig-
mas der „creative cities“3 von der „kulturalisierten Stadt“4. In der kulturalisierten
Stadt operiert ein sogenanntes „Kreativitätsdispositiv“, welches das atmosphärisch
ansprechende „Neue“ als eine „fortwährende Sequenz von Reizen, die jenseits von
zweckrationaler Verwendung als Reize affizieren“5, priorisiert. Jene ästhetischen
Affizierungen werden somit zur leitenden Kulturprämisse von urbanen Praktiken

  1 Jacobs, American Cities; Mitscherlich, Unwirtlichkeit.


  2 Harvey, Postmodernity.
  3 Florida, Cities and the Creative Class.
  4 Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität.
  5 Ebd., S. 40.

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44 Hanna Katharina Göbel

und institutionalisieren ein „soziales Aufmerksamkeitsregime, das einen immer


wieder eine Aufmerksamkeit für neue Reize entwickeln lässt“6. Es sind hierbei die
Praktiken selbst, welche die ästhetischen Affizierungen hervorbringen und somit
Stadt gestalten. Markus Schroer und Jessica Wilde sprechen in diesem Zusammen-
hang von dem „Aufmerksamkeitsgenerator Stadt“.7
In der für postindustrielle Städte diagnostizierten Renaissance des Innerstädti-
schen und der Wiederentdeckung von brachliegenden Stadtvierteln und Architek-
turen der Industriemoderne verdichten sich diese ästhetischen Aufmerksamkeitsre-
gime der Architektur.8 In diesem Beitrag möchte ich einen speziellen Gebäudetypus
diskutieren: die urbane Ruine. Dieser Begriff umfasst – in der Stadt Berlin, die im
Folgenden Gegenstand der Analyse sein wird – wilhelminische Architektur der
Jahrhundertwende, ehemalige innerstädtische Industrieanlagen, die wieder genutzt
werden, Kriegsbunker sowie modernistische (sozialistische) Architekturen der
1960er und 1970er Jahre, die neu bewertet werden. Urbane Ruinen sind nicht
ausschließlich anhand ihrer baufälligen oder ruinösen materiellen Struktur erfass-
bar, sondern geben sich über ihre kulturelle Entwertung zu erkennen. Somit
schließe ich immaterielle Bedeutungs- und Wahrnehmungsebenen der Objekte
mit ein und die allgemeineren Fragen des kulturellen Wertes, der Erinnerung und
des kulturellen Gedächtnisses. Anders als zahlreiche Neubauprojekte wird die
Ruine gerade nicht „für den Zweck entworfen, Aufmerksamkeit zu erregen“9. Auch
wenn es – in der Tradition der Ruine der Romantik des 19. Jahrhunderts – auch
immer wieder künstlich errichtete Objekte gibt, so muss die (erneute) Aufmerk-
samkeit für sie und ihr kulturelles Gedächtnis einstiger Nutzungs- und Interakti-
onsordnungen sowie ihre (erfundene) Vergangenheit erst praktisch wahrnehmbar,
erzeugt und vollzogen werden. Ihre Gegenwärtigkeit wird zu einem Emergenzphä-
nomen, das kollektiv bindend wirkt. Die Konstituierung dieses Regimes des Auf-
merkens wird im Folgenden konturiert. Dabei ist die Frage leitend, in welcher Art
und Weise urbane Ruinen als Aufmerksamkeit generierende Objekte agieren und
in welchem Verhältnis zu anderen Architekturen, Körpern und Diskursen sie die
ästhetische Wahrnehmungsinteraktionen mit ihnen lenken.
Im Folgenden werde ich mich auf die Auseinandersetzung mit dem ehemaligen
Palast der Republik in Berlin konzentrieren.10 Zunächst werde ich meine Analyse-

  6 Ebd.
  7 Schroer/Wilde, „Mit allen Sinnen“.
   8 Die Renaissance der Innenstädte wurde mit dem Begriff ‚Gentrifizierung‘ bezeichnet. Die Stadt-
soziologin Ruth Glass verwendete ihn erstmalig 1964, um auf die Wiederaufwertung brachlie-
gender Industriestadtviertel in London aufmerksam zu machen und auf die systematische Ver-
drängung eingesessener Bewohner hinzuweisen. Er leitet sich ab von dem Verb to gentry (dt. Ver-
edeln). Da der Begriff eng mit der postmarxistischen Tradition in der Stadtsoziologie verbunden
ist, ist mit der Kulturalisierung und Ästhetisierung von Nachbarschaften immer auch eine kri-
tisch bewertete Ökonomisierung zu verzeichnen.
  9 Schroer/Wilde, „Mit allen Sinnen“, S. 49.
 10 Die Analyse ist Teil einer Feldstudie in Berlin, die sich auf ausgewählte Bauten, unter anderem
den Palast der Republik, das E-Werk und das Café Moskau in Berlin konzentriert. Siehe Göbel,
Urban Ruins.

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Urbane Ruinen als Aufmerksamkeitsgeneratoren 45

heuristik vorstellen, in welcher ich über den architekturtheoretischen Begriff der


Atmosphäre einen praxeologischen Zugriff auf die Konstitution von Aufmerksam-
keit in Bezug auf Gebäude und ihre Interaktionsordnungen und Ruinen im Spezi-
ellen vorschlage. Daran anschließend diskutiere ich die Stadt Berlin als eine kultu-
ralisierte Stadt und richte das Augenmerk auf den ehemaligen Kulturpalast der
DDR, den Palast der Republik, dessen Rückbau unter anderem nicht ohne den
Diskurs um die Rekonstruktion von Architektur seit der Wiedervereinigung zu
denken ist. Anhand der erneuten Nutzungsphase der bereits im Rückbau befindli-
chen Ruine in den Jahren 2004 und 2005 soll gezeigt werden, wie sich ein soziales
Aufmerksamkeitsregime konstituiert, die Erzeugung von Gegenwärtigkeit zu einem
ästhetischen Merkmal dessen wird und sich die kulturelle Praxis der Raumproduk-
tion erfassen und theoretisieren lassen.

2. Architektur, Atmosphäre, Ruinen

In einem praxeologischen Verständnis wird gebaute Architektur ausschließlich als


ein durch Praktiken hervorgebrachtes und stabil gehaltenes Artefakt verstanden.
Bruno Latour und Albena Yaneva schlagen vor, Architektur als ein „moving project“
in den Blick zu nehmen und sich von einem statischen, repräsentationalen bzw.
bildhaften und passiven Verständnis materieller Kultur zu verabschieden.11 Der oft-
mals elitäre Blick auf Architektur als ein einst von Architektenhand geschaffenes
und von ihr/ihm dauerhaft kontrolliertes Objekt wird von einer ‚flachen‘ Perspek-
tive, die auf die sozialen Interaktionen und deren Ordnungen12 des gebauten Ob-
jekts mit Körpern, Diskursen, Gesetzen und anderen Artefakten abzielt, abgelöst.13

 11 Latour/Yaneva, „‚Give me a Gun‘“. Dieses Argument richtet sich nicht nur an den sozialwissen-
schaftlichen Diskurs, sondern ebenfalls an die Architekturtheorie selbst. Ausgenommen die archi-
tektonische Avantgarde um Le Corbusier und die Bauhaus-Schule, welche die sozialen Effekte
von realisierten Bauten versuchte mitzugestalten und zu kontrollieren, habe die Theorie seit den
1970er Jahren Architektur überwiegend als ein bildhafter Bedeutungsträger und semiotisches
Zeichen konzipiert. Nutzer und diverse Nutzungspraktiken tauchen in diesen Theorien nicht
auf. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Stewart Brand, How Buildings Learn.
 12 Hier beziehe ich mich auf die Arbeiten von Erving Goffman zu Interaktionsordnungen im öf-
fentlichen Raum (Goffman/Herkommer/Knoblauch, Interaktion). Seinen Interaktionsbegriff er-
weitere ich um die Dimension der interobjektiven Interaktionen mit Räumen, Artefakten, und
Medien.
 13 Durch die Kritik an einem bildhaften und/oder passiven Verständnis von Architektur wird das
Hierarchiegefälle zwischen dem Architekt/Designer auf der einen und dem Nutzer auf der ande-
ren Seite neu interpretiert. Ebenso bezieht diese praxeologische Perspektive sehr unterschiedliche
Praktiken in die Analyse mit ein: Praktiken der professionellen Entstehung von Architektur
(durch den Designer in seinem/ihrem Architekturstudio), dem Bauen (durch die Praktiken der
Ingenieure und Baufirmen, aber auch durch DIY-Praktiken) und später dem Wohnen bzw. allge-
meiner gesprochen dem alltäglichen Nutzen durch die Bewohner und deren diversen Praktiken
des Einrichtens, den DIY-Kulturen, aber auch künstlerischen Aneignungen, aktivistischen Strate-
gien der Besetzung von Häusern, sowie den zahlreichen (Architekten-) Praktiken des späteren
Umbauens (bspw. mittels der Implementation von technischen Innovationen, den Reglements
der Denkmalpflege) bis zu einem möglichen Abriss. Hinzu kommen die Berücksichtigung von

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46 Hanna Katharina Göbel

Jane M. Jacobs und Peter Merriman formulieren den Anspruch, Architektur aus-
schließlich als ein Artefakt zu sehen, welches sich über Praktiken erfassen lässt. Dies
bedeutet, eine Forschungsperspektive zu kultivieren, in welcher „to embed ar-
chitecture in practice“14 als eine neue leitende Prämisse gilt.
Um die ästhetische Praxis der kulturellen Wahrnehmungskonstitutionen in den
Blick zu bekommen, gilt es, die Atmosphäre von Gebäuden als eine Interaktions-
form analytisch zu erfassen. Architekturtheoretiker wie Mark Wigley, Gernot
Böhme oder auch der Architekt Peter Zumthor haben zu diesem Begriff gearbei-
tet.15 Wigley bringt die Notwendigkeit einer atmosphärischen Perspektive auf den
Punkt: „To construct a building is to construct […] an atmosphere […] what is
experienced is the atmosphere, not the object as such“16. Die synästhetisch wahrge-
nommenen Stimuli, die gebaute Materialitäten zu generieren vermögen, bedürfen
demnach einer eigenen analytischen Perspektive. Für Gernot Böhme wird der Be-
griff der Atmosphäre durch die Überwindung seines diffusen und impressionisti-
schen Status interessant:
Dabei wird Atmosphäre aber nur dann zum Begriff, wenn es einem gelingt, sich über
den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt
Rechenschaft zu geben. […] Dieses Und, dieses zwischen beidem, dasjenige, wodurch
Umgebungsqualitäten und Befinden aufeinander bezogen sind, das sind die Atmo-
sphären.17

Böhme, der in der Tradition der Neuen Phänomenologie nach Hermann Schmitz
argumentiert, spricht der architektonischen Atmosphäre einen „quasi-objektiven“
Status zu. Für eine praxeologische Perspektive ist dies besonders interessant. Dem-
nach konstituieren sich Atmosphären als ein relationales Gefüge, bestehend aus
subjektivem Empfinden und den affizierenden Aufforderungsangeboten der mate-
riellen Welt. Der Begriff des Aufforderungsangebotes geht zurück auf die Gestalt-
psychologie nach James J. Gibson. In seinem Buch The Ecological Approach to Vi-
sual Perception (1986) hebt Gibson hervor, in welcher Art und Weise Objekte über
den Begriff der „affordance“ zu uns sprechen und sich in wahrnehmungsbezogene
Praktiken einbringen. Sie bestimmen durch ihre Handlungsangebote mit, in wel-
cher Art und Weise ‚wir‘ mit Objekten umgehen:
The composition and layout of surfaces constitutes what they afford. If so, to perceive
them is to perceive what they afford. This is a radical hypothesis for it implies that the
‚values‘ and ‚meanings‘ of things in the environment can be directly perceived.18

diversen Interventionen der Natur, wie zum Beispiel Verfall oder Verwüstung, die auch an der
Stabilisierung von Praktiken beteiligt sind.
 14 Jacobs/Merriman, „Practicing Architectures“, S. 211.
 15 Wigley, „The Architecture of Atmosphere“; Böhme, Atmosphäre; Ders., Architektur und Atmo-
sphäre; Zumthor, Atmospheres.
 16 Wigley, „The Architecture of Atmosphere“, S. 18.
 17 Böhme, Atmosphäre, S. 22 f.
 18 Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, S. 127.

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Davon ausgehend bietet Architektur immer mehr wahrnehmungsbezogene Stimuli


an als letztlich genutzt werden. Das heißt, sie kann vielfache Bedeutungsebenen
eröffnen, unterschiedliche Diskurse hervorrufen, kulturelle Werte unterschied-
lichster Art transportieren, und diverse ästhetische Spielereien initiieren, die jedoch
erst durch deren Aufnahme des Subjektes an sozialer Effektivität gewinnen. Für
Gibson ist dabei wichtig, das Augenmerk auf die „niche of perception“19 zu rich-
ten. Die Wahrnehmungsnische befindet sich in jenem Raum zwischen Subjekt und
Objekt. Durch diesen Raum operiert das oben eingeführte Aufmerksamkeitsre-
gime, da in solch einer Nische der Wahrnehmung in Praktiken ausgehandelt wird,
welche Aufforderungsangebote und Handlungsanweisungen der Objekte selektiert
werden und welche als Überschussangebot irrelevant sind. Folgt man dieser Argu-
mentation, dann ist sinnliche Wahrnehmung selbst etwas Co-Konstituiertes, das
heißt eine sozial fabrizierte Einheit, welche die Aufmerksamkeit des Subjektes auf
bestimmte Objekte lenkt, diese dabei jedoch nicht intentional und durch das Sub-
jekt gesteuert erscheint, sondern als Produkt zwischen der Materialität und der
prinzipiellen Wahrnehmungsfähigkeit des Subjektes entsteht.
In der hitzigen Diskussion um den Begriff der Ästhetisierung der Lebenswelt in
der Postmoderne hat Martin Seel eine wichtige Unterscheidung eingeführt. Er kri-
tisiert Böhme in Bezug auf seinen Begriff der Atmosphäre, der versuche, den urba-
nen Raum in Hinblick auf ästhetische Wahrnehmungen zu totalisieren. Dabei ver-
gesse das postmoderne Projekt der Ästhetisierung, zwischen Ästhetik und einer
Aisthesis, verstanden als sinnengeleitete Wahrnehmung, zu unterscheiden. Die
Modi der Wahrnehmung von Ästhetik und Aisthesis unterscheiden sich und der
jeweilige sinnliche Modus ist auch jeweils an unterschiedliche Praktiken gebunden.
Für den Modus des Ästhetischen hebt Seel das Selbstzweckhafte von Wahrneh-
mung hervor:
Vollzugsorientiert sind Wahrnehmungen, bei denen die Wahrnehmungstätigkeit
selbst zu einem primären Zweck der Wahrnehmung wird. Man kann auch von selbst-
zweckhafter Wahrnehmung sprechen. […] Ästhetische Wahrnehmung ist keine bloße
Empfindung, sondern Aufmerksamkeit für ein Objekt oder eine Umgebung. Ihr ist
nicht allein der Akt, sondern zugleich das Objekt der Wahrnehmung ein Selbstzweck.
Beides ist hier nicht zu trennen. Ästhetische Wahrnehmung ist Wahrnehmung zu-
gleich um der Wahrnehmung und des Wahrgenommenen willen.20

Charakteristisch für den ästhetischen Modus von Wahrnehmung ist der „Zeitcha-
rakter des Verweilens“, das heißt eine Aufmerksamkeit um der Aufmerksamkeit
halber, ein Vernehmen eines Objektes um die Spürbarkeit dieses Vernehmens
zu kultivieren: „In ästhetischer Wahrnehmung sehen, hören, fühlen, riechen,
schmecken und imaginieren wir nicht einfach etwas, sondern wir vollziehen dieses

 19 Ebd., S. 128.


 20 Seel, „Ästhetik und Aisthetik“, S. 50.

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Sehen, Hören, Fühlen, usw. als ein Sehen, Hören, Fühlen usw.“21 Ganz anders ge-
staltet sich der Modus sinnengeleiteter Wahrnehmung:
Sinnengeleitet nenne ich darüber hinaus Wahrnehmungen, die ihre Basis haben
in oder ihren Ausgang nehmen bei sinnlichen Leistungen der ersten Art, ohne
notwendigerweise an konkrete sinnliche Vollzüge gebunden zu sein.22

Auch wenn sinnengeleitete Wahrnehmung Elemente einer affektiven und in sich


selbst verweilenden Interaktion mit Objekten haben kann, so geht es hier doch
vielmehr um politische, ökonomische, kulturelle oder anderweitig gelagerte Inter-
essen und Rationalisierungen, nach denen bestimmte Praktiken sich strukturieren
und durch welche auch die Wahrnehmung geleitet wird. Die Aufmerksamkeit rich-
tet sich hier weniger auf das gebaute Objekt in seiner präsenzhaften Gestalt, als
vielmehr auf die Effekte, die es in nicht selbstzweckhaften ästhetischen Praktiken
generiert.
Für das Aufmerksamkeitsregime einer urbanen Ruine, wie es dem ehemaligen
Palast der Republik in seiner kurzen Wiedernutzungsphase zuteil wurde, bedeutet
dies, ästhetische und sinnengeleitete Praktiken sowie deren wechselseitige Durch-
dringungen zu analysieren. Der moderne Topos der Ruine bringt bereits eigene
kulturelle und ästhetische Prägungen ein, die bislang schwerpunktmäßig eher in
den Kulturwissenschaften als in der Soziologie diskutiert wurden.23 Ruinen stehen
in diesem aktuellen Diskurs für einen Abgesang an die Moderne. Sie werden zum
Symbol modernekritischer Diskurse, tauchen in ökonomiekritischen Diskussionen
zur aktuellen Wirtschaftskrise auf und stehen ebenfalls für eine politische Kritik an
der modernen Organisation von Stadt und den Prinzipien moderner Architektur.
Sie evozieren ästhetische Spielmöglichkeiten dadurch, dass sie eine spezielle mate-
rielle Struktur aufweisen, mit denen Neubauten heutiger Innenstädte nicht dienen
können – sie vermitteln ein kulturelles Gedächtnis und sind dadurch sozial rele-
vante Akteure. Der Kulturgeograph Tim Edensor spricht im Anschluss an Gibson
in diesem Zusammenhang von „multiple affordances“24 der Ruinen. Ihre fragmen-
tartigen, teils verschlüsselten symbolischen Verweise in ihre Vergangenheit(en) als
Gebäude sowie die kulturelle Formung der Wahrnehmung durch das bildhaft Pit-
toreske sind Charakteristiken dieses Gebäudetypus. In der architektonischen Land-
schaft der Stadt stechen sie dadurch hervor. Die ästhetischen Spiele mit dem kultu-
rellen Gedächtnis und den einstigen Nutzungs- bzw. hier Interaktionsordnungen
mit den Ruinen, werden dabei zum zentralen Merkmal der Erzeugung von Auf-
merksamkeit für das ehemalige Gebäude. Aber wie werden diese kulturellen Be-
dingheiten ästhetischer Wahrnehmung sichtbar im Fall der Palast-Ruine?

 21 Ebd., S. 51.


 22 Ebd., S. 48, Herv. i. O.
 23 Assmann et al., Ruinenbilder; Hell/Schönle, Ruins of Modernity.
 24 Edensor, Industrial Ruins, S. 124.

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3. Die Palast-Ruine in Berlin

Berlin über die heterogene Vielfalt an architektonischen Stilen, Brachen und urba-
nen Ruinen wahrzunehmen, ist ein historisch gewachsenes Strukturmerkmal in
den Erzählungen über die Stadt. Bereits 1910 schreibt Karl Scheffler in der vielzi-
tierten Schrift Berlin – ein Stadtschicksal von dem Berlin, das immer im Werden ist
und sich niemals im Sein befindet. Er beobachtet die Metropole der Jahrhundert-
wende und sieht die stadtplanerischen und architektonischen Umbrüche des Wil-
helminismus als symptomatisch für Modernitätserfahrungen der damaligen Zeit
an. Berlins Schicksal ist dabei in stadtplanerischer Hinsicht besonders bemerkens-
wert. Im 20. Jahrhundert etablieren sich in der Stadt – folgt man der Argumenta-
tion des Architekturhistorikers Florian Hertweck25, der an Scheffler anschließt –
aufeinander folgende radikale Paradigma modernistischer Stadtplanung, welche
die je vorhandenen gebauten Strukturen systematisch zu zerstören wissen, um uto-
pische Vorstellungen der sozial-architektonischen Organisation von Stadt zu reali-
sieren. Bruno Tauts Vision der Mietskasernenstadt in den 1920er Jahren, Albert
Speers Pläne für Germania im Dritten Reich, Hans Scharouns und Hermann
Henselmanns Neues Bauen der Nachkriegszeit im Westen der Stadt, die sozialisti-
sche Architektur des Stalinismus und die spätere Ostmoderne im Osten Berlins
und seit den 1980er Jahren die Berliner Konvention der Kritischen Rekonstruk-
tion bereits zerstörter Gebäude bringen einerseits neue Stile, Architekturtypolo-
gien, -konstruktionsweisen und -materialien in die gebauten Strukturen ein, und
erheben andererseits den Anspruch der radikalen Umstrukturierung. Dabei schei-
tern – so Hertweck – die modernistischen Pläne allesamt an einer totalitären Um-
setzung ihrer Vision der Homogenisierung von Stadt. Das heißt, es gelingt nicht,
die unerwünschten Strukturen, die urbanen Ruinen des jeweiligen ‚Vorgänger‘-
Paradigmas vollständig zu ersetzen. Die Stadt Berlin erscheint so im Bild eines he-
terogenen Palimpsests, das bis heute in stadtplanerischen Debatten im Rahmen
diskursiver Strategien eingesetzt wird. Der Topos der Berliner Ruinen umfasst
dabei die Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts, die repräsentativen Monu-
mente und Häuserzeilen des Wilhelminismus, die modernen Mietskasernen der
1920er Jahre, die Kriegsarchitekturen und Bunkerstrukturen, als auch die Nach-
kriegsarchitektur im Osten und Westen der Stadt.26
Die modernistische Architektur des ehemaligen Ost-Berliner Kulturhauses ‚Pa-
last der Republik‘ fungiert in diesem Zusammenhang als eine urbane Ruine der
Wiedervereinigung im Jahr 1990. In den 1990er und 2000er Jahren wurde diese
Ruine zu einem Objekt der Aufmerksamkeit, indem sie ein stadtplanerisches und
zivilgesellschaftliches „Diskurskonfliktfeld“27 strukturierte: die sogenannte Schloss-

 25 Hertweck, Der Berliner Architekturstreit.


 26 Die Architekturen der Kritischen Rekonstruktion bilden hierbei eine Ausnahme, da diese keine
gewachsenen Ruinen darstellen sondern Gebäude aus dem Archiv (Assmann, „Rekonstruktion“)
sind, die speziell so rekonstruiert werden, wie sie einst errichtet wurden.
 27 Binder, Streitfall Stadtmitte.

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platzdebatte. Die sinnengeleitete Wahrnehmung dieser Ruine war und ist nach wie
vor an politische als auch stadtplanerische Diskurse geknüpft. Ihre zentrale Präsenz
auf dem Schlossplatz war der Ausgangspunkt für einen andauernden Streit über
ästhetisierte Repräsentationen in der kulturalisierten Stadt. Neben den nostalgi-
schen Befürwortern eines Erhalts dominierten die Auseinandersetzung politische
und stadtplanerische Vertreter des Paradigmas der Kritischen Rekonstruktion, die
für einen Abriss plädierten und die Wiederrichtung des ehemaligen Berliner Stadt-
schlosses befürworteten (welches 1951 vom damaligen SED-Generalsekretär Wal-
ter Ulbricht abgerissen wurde und somit einem modernistischen Stadtplanungspa-
radigma der Nachkriegszeit zum Opfer fiel).
In die Schlossplatzdebatte schaltet sich eine zweite Gruppe ein, die aus Künst-
lern, Architekten und Aktivisten der Berliner Clubkultur der 1990er Jahre besteht:
ein Professionen und Expertisen übergreifender Zusammenschluss von den von
mir bezeichneten ‚urbanen Designern‘, die alternative teils subkulturelle, urbanis-
tische und aktivistische, künstlerische, stadtplanerische und architektonische Stra-
tegien entwickeln, um urbane Ruinen wiederzubeleben. Sie sind antimodernisti-
sche Vertreter ihrer Professionen (Architektur, Stadtplanung) und somit Kritiker
einer homogenisierenden Stadtplanung, die auf die je totalitäre Implementierung
von Masterplänen und deren architektonischen bzw. stadtplanerischen Visionen
setzt. Die urbanen Designer vertreten eine Heterogenisierungsperspektive auf Stadt,
die im Sinne des Palimpsests die vielfältigen Überreste der Vergangenheit als kultu-
rell wertvoll bewertet. Im Konfliktfeld des Schlossplatzes haben es sich Vertreter
dieses von mir als eigenes „regime of practices“28 bezeichneten Feldes zur Aufgabe
gemacht, die Ruine des Palastes der Republik für eine Zwischennutzung mit künst-
lerisch-aktivistischen Strategien wiederzubeleben. In der Forschungsliteratur hat
man sich bislang vor allem auf den Konflikt zwischen den Schlossbefürwortern
und den sogenannten Palastfreunden konzentriert.
In den Sommermonaten der Jahre 2004 und 2005 wurde die Schlossplatzruine
des ehemaligen Palastes der Republik neu „bespielt“ (SP)29. Eine Gruppe von Ar-
chitekten, Urbanisten, Theatermachern, Kuratoren und bildenden Künstlern grün-
dete einen Verein, der die Ruine (nicht ohne bürokratische Schwierigkeiten) bei
dem in Berlin ansässigen Bundesvermögensamt für einen bestimmten Zeitraum
mieten konnte. Sie entwickelte ein kuratorisches Konzept, welches den Titel ‚Volks-
palast‘ trug. Natürlich in Anlehnung an das einstige Kulturhaus der DDR, aber
auch in Referenz auf die Volkshäuser der Arbeiterklasse, die um die Jahrhundert-
wende zahlreich existierten, wurden im ‚Volkspalast‘ Kunst- und Kulturprojekte
unterschiedlichster Art realisiert. Es war die Ruine und deren materielle Überbleib-
sel des von Spritzasbest befreiten Stahlskeletts des Palastes der Republik, welche
dabei im Mittelpunkt zahlreicher Projekte standen. Der Palast der Republik wurde
dadurch seiner einstigen architektonischen Symbolik regelrecht entkleidet und ver-

 28 Thévenot, „Pragmatic Regimes“.


 29 Alle Begriffe aus dem von mir untersuchten Feld werden mit den Initialen der Interviewpartner
versehen.

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fremdet. Die multiplen Affordanzen der Ruine, die Tim Edensor hervorhebt30,
dienten den Zwischennutzern, so möchte ich im Folgenden zeigen, nicht nur als
ästhetische Rahmengeber für soziale Praktiken, sondern das Gedächtnis des Ge-
bäudes wurde durch diese Stimuli selbst zum Ort ästhetischer Befragung und
einem Spiel mit der Zeit. Die Ruine agierte dabei als Aufmerksamkeitsgenerator,
indem sie die ästhetisch stimulierende Wahrnehmung auf die Materialität der Frag-
mente des Palastes der Republik zu richten wusste.
Im Folgenden werde ich mich auf ein von den urbanen Designern als ein „vir-
tuelles Ritual“ (MH) bezeichneten Aneignungen der Ruine konzentrieren. Dabei
gilt es herauszuarbeiten, durch welche Kulturtechnik und in Form von welchen
speziellen fotografischen Praktiken die Ruine als Aufmerksamkeitsgenerator insze-
niert wurde und inwieweit eine ästhetische Expertise im Umgang mit den kulturel-
len Symboliken des einstigen Palastes der Republik ausgebildet wird. Ich werde
mich auf das Moment konzentrieren, in welchem das Gedächtnis der Architektur,
konkret die einstige Nutzungsweise des Gebäudes als Kulturhaus, erinnert wird.
Eine immer wiederkehrende Aufmerksamkeit genau dieses Momentes wird anhand
der zahlreichen fotografische Dokumentationen inszeniert und memoriert, die
nach der Zwischennutzungszeit zirkulierten.

4. Die erneuten Ausblicke auf die Stadt

Nach der Definition von Bernard Cache gibt es drei charakteristische soziale Merk-
male von Architektur. Erstens zieht die Architektur eine räumliche Differenz zwi-
schen zwei Territorien ein und regelt dadurch soziale Inklusionen wie Exklusionen.
Zweitens schafft sie Ausblicke und Blickkonstellationen, die kein anderes Artefakt
zu organisieren vermag. Drittens versteht sie es, die Grenzziehungen und Binnen-
strukturen eines Gebäudes zu regeln.31 Ruinen, verstanden als Gegenpart zu Archi-
tektur, können dies nur noch in unvollständigem Maße, ihre Materialität bröckelt
und ist nicht mehr in der Lage, diese soziale Handlungsmacht zu erfüllen. Die
Ausblicke auf den Stadtraum des Palastes der Republik waren einst elementarer
Bestandteil des Handlungsprogramms des Gebäudes.32 Das Gebäude, welches sich
an den von Mies van der Rohe und anderen westlichen Architekten etablierten
Internationalen Stil der damaligen Zeit anlehnte, vermochte durch die Glasfassade
(der sogenannten curtain wall), die vor die Stahlkonstruktion gehängt wurde, den
Blick auf das Panorama des ostdeutschen Teils der Stadt Berlin zu lenken. So konn-
ten nicht nur der Fernsehturm auf dem Alexanderplatz, der Dom auf der Spreeinsel
und das Staatsratsgebäude bestaunt werden, auch das Alltagsleben auf der Straße
lud zum Flanieren und Schauen entlang der Korridore und deren inneren Blick-
achsen nach Außen auf den fünf Etagen des Gebäudes ein. Man spazierte entlang

 30 Edensor, Industrial Ruins.


 31 Cache, Earth Moves.
 32 Kuhrmann, Der Palast der Republik.

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Abb. 1: Die klare Sicht auf den


Fernsehturm beim Flanieren
durch das Gebäude, 1976.

der Korridore, saß in einem der fünf Restaurants oder auf einer der öffentlichen
Bänke im Gebäude, um die im Winkel von 180 Grad mögliche Aussicht auf die
Stadt zu genießen (Abb. 1).
Mit der Schließung des Palastes der Republik im Jahr 1990 und der daran an-
schließenden Spritzasbestentfernung wurden die Ausblicke auf die Stadt verun-
möglicht. Das Gebäude war nicht zugänglich und verkam mit den Jahren immer
mehr zur Ruine. Die Entkernung hatte die räumliche Organisation dekonstruiert
und die Glasfassade war durch ein spezielles Spray zur Entfernung von Asbestfasern
in der Luft, das sich auf dem Glas abgesetzt hatte, milchig geworden. Mit der pro-
visorischen und temporär begrenzten Öffnung des Gebäudes im Jahr 2004 zeigte
sich jedoch, wie stark das Handlungsprogramm der Ausblicke noch in die ruinierte
Gebäudestruktur eingeschrieben war. Während der Sommermonate 2004 und spä-
ter im Jahr 2005 wurde der Palast zum Objekt der Fotografie. Nicht nur die Kura-
toren und beteiligten Künstler der Veranstaltungen, auch andere Künstler und Fo-
tografen, Journalisten, Online-Blogger und Laien-Fotografen wurden aufmerksam
auf dieses Objekt. Aber was wurde fotografiert und durch welche atmosphärischen
Elemente konstituierte sich dieses Aufmerksamkeitsregime? Welche atmosphäri-
schen Elemente stimulierten das wiederholte Knipsen der Ausblicke? Und warum
wurden diese überhaupt im Medium der Fotografie festgehalten?

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Abb. 2: Die Aussicht auf den Fernsehturm und das Rote Rathaus, 2005.

Der Vergleich zwischen Abbildung 1 und 2 zeigt, dass die Ausblicke durch das
milchige Glas des ehemaligen Palastes der Republik auf den Fotografien eine ähn-
liche Struktur aufweisen, die sich immer wiederholt. Dabei waren die weiterhin zu
sehenden touristischen Objekte (wie der Fernsehturm, das Staatsratsgebäude oder
der Dom) genauso wichtig, wie die Möglichkeit, entlang der großen Korridore im
Inneren des Gebäudes noch einmal entlang zu flanieren. In der Wiederholung zeigt
sich, wie der Blick selbst zu einer eigenen Praxis des Sehens33 wird, durch welche
die Differenz zwischen Innen- und Außenraum einerseits als auch andererseits die
Differenz zwischen dem Ausblick in der Vergangenheit und der Gegenwart Teil
einer ästhetischen Auseinandersetzung wird.
Das „virtuelle Ritual“ (MH), welches sich in der Interaktion zwischen Kamera,
Fotograf und dessen Körperbewegung durch den Raum34 der Ruine ereignete, be-
stand sicherlich darin, die Ausblicke ein letztes Mal zu ermöglichen, denn es war
zur Zeit der Zwischennutzung bereits klar, dass der Palast der Republik vollständig
rückgebaut werden würde. Die atmosphärischen Stimuli sind jedoch noch detail-
lierter zu beschreiben. Das Innere des Palastes der Republik gleicht zweifelsohne
einer Ruine. Zum Zeitpunkt der Wiedernutzung war das Gebäude durch die vor-

 33 Prinz, Die Praxis des Sehens.


 34 Jacobs/Cairns/Strebel, „Materialising Vision“.

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angegangene Asbestentkernung bereits vollständig zur Ruine geworden. Das eins-


tige Gebäude war zurückgebaut bis auf die Beton-Stahlkonstruktionen, textile Ma-
terialien oder Möbelstücke im Inneren nicht mehr zu finden. Der Hall, den das
Laufen durch und Sprechen in den leergefegten Ebenen erzeugte, umgab den Be-
sucher. Der Straßenlärm war durch die Scheiben deutlich zu hören. Die milchige
Glasfassade entstand durch die Ablagerung des Sprays, das zum Einfangen der As-
bestfasern eingesetzt wurde. Oftmals sind hier auch Baustellenzeichen oder schmie-
rige Farbmarkierungen zu erkennen. Einzig der Grundriss und die großflächigen
Ausblicke auf die Stadt, mit denen das Gebäude bereits zu Nutzungszeiten in den
1980er Jahren seine Besucher begeisterte, erinnerten an das einstige Gebäude. Die
DDR-Symbolik, die sich vor allem in den textilen Strukturen und den Einrich-
tungsgegenständen, wie auch etwa dem Lampensystem sowie dem Emblem am
Eingang des Gebäudes wiederfand, war nur noch zu erahnen.
Durch die räumliche Reduktion und die Konzentration auf die großflächigen
Fensterfronten, die zudem die Erinnerungen an das Flanieren und Bestaunen des
Stadtraums durch die Fenster wecken – sofern das Gebäude dem Besucher bekannt
war, fordert die Ruine die Besucher weiterhin auf, nach Außen zu blicken. Doch
erscheinen durch das atmosphärische Element der milchigen Glasfassade die Au-
ßenwelten nicht mehr als ‚echte‘ Repräsentationen. Der Fernsehturm, der Dom,
oder auch das Staatsratsgebäude wirken im Kontrast zu einem Gebäude, das keines
mehr ist, eines, das seiner Struktur entgleitet und eine nichtrepräsentationale Er-
scheinung annimmt. Nur in der Differenz zwischen Innen und Außen ist diese
ästhetische Erkenntnis möglich; es sind die atmosphärischen Elemente des Innen-
raums der Ruine als auch der städtische Außenraum, der nur in der Differenz zum
Innen andersartig und eben nicht ‚aus der Zeit gefallen‘ erscheint.
Der immer wiederkehrende ästhetische Stimulus ist deshalb die zeitliche Diffe-
renz zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die sich über
die atmosphärische Raumkonstellation stabilisiert. Die einstigen Praktiken des Fla-
nierens und Schauens auf den Stadtraum durch die Glasfassade werden hier erin-
nert, aktualisieren den Übergang zwischen Gebäude und Ruine. Die Zukunft der
Ruine definiert sich in Differenz zu den Architekturen im Stadtraum. Während
Fernsehturm, Dom und Staatsratsgebäude auch nach dem Ende des DDR-Regi-
mes eine Zukunft haben, so hat sie der Palast mit dem Entscheid des Rückbaus
nicht. In den erneuten Ausblicken der Ruine des Palastes der Republik treffen also
Vergangenheit und Zukunft des Gebäudes aufeinander.
Künstler und Fotografen haben diesen Kulminationspunkt von Zeitlichkeit als
ein ästhetisches Moment in zahlreichen Arbeiten als ästhetisches Spiel mit dieser
Differenz aufgegriffen. Die atmosphärische „Stellendifferenz im Raum“35 wird je-
doch nicht nur in künstlerischen Praktiken, sondern auch in denen der Laien-Fo-
tografen aufgegriffen. Die Praktik des ‚tagging‘ (der digitalen Markierung und Ver-
linkung von Elementen in Bildern) ist dabei besonders hervorzuheben. Auf
Online-Portalen, wie zum Beispiel der Website www.flickr.de, teilen Laien-Foto-

 35 Baecker, „Atmosphäre“, S. 32.

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Urbane Ruinen als Aufmerksamkeitsgeneratoren 55

grafen auch noch einige Jahre später ihre Bilder mit anderen Nutzern, die sie von
einem ihrer Besuche der urbanen Ruine in den Sommermonaten 2004 und 2005
angefertigt haben. Neben Kommentaren lassen sich bestimmte Elemente in den
Bildern mit der Computermaus markieren und mit Namen versehen. So werden
mittels des Blicks durch die milchige Glasscheibe die monumentalen Gebäude wie
der Fernsehturm oder das Rote Rathaus markiert und dementsprechend in ihrer
repräsentationalen Funktion bezeichnet.
Das Medium der Fotografie ist für dieses ästhetische Spiel entscheidend. In den
Bildern wird die Interaktion mit den atmosphärischen Elementen, den fragmentarti-
gen, noch immer präsenten Handlungsprogrammen der einstigen Architektur, der
porösen Materialität der Ruine sowie mit den Repräsentationen des Außenraums des
ehemaligen Palastes der Republik regelrecht ‚eingefroren‘. Das heißt, die Differenz
zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird nicht nur visualisiert, sondern
sie agiert als der ästhetische Stimulus, der immer und immer wieder das Fotografieren
dieses Moments der Verschaltung der Zeitebenen generiert. Dieses Moment stellt
dadurch den ästhetischen Reiz des Neuen dar. Die Fotografie dokumentiert diesen
zugleich als melancholische Momentaufnahme. In Bezug auf Roland Barthes’ be-
rühmtes Fotoessay ist es gerade nicht die suggerierte Präsenz der Fotografie, die stimu-
liert, sondern die Absenz des Moments, der zu einer Präsenzerzeugung genutzt wird.
In diesem ästhetischen Moment zeigt sich die Gegenwart. Sie stabilisiert sich in der
Fotografie und als vollzogene Praxis des Schauens, ist allerdings schon längst wieder
eine andere geworden. Die Künstlerin Tacita Dean hat 2004 einen Film gedreht, in
welchem die Kamera von Außen auf die Ruine schaut und mittels Mikro-Aufnahmen
der Glasfassade, in welcher sich die repräsentativen Monumente des Schlossplatzes
und der Berliner Innenstadt spiegeln, ein Portrait des Gebäudes entwirft. Dabei ver-
schwimmen die Grenzen zwischen der einstigen Symbolkraft des Gebäudes, sie ver-
flüssigt sich praktisch, und der porösen Ruinenstruktur der gegenwärtigen Situation.
Dean inszeniert ein Aufmerksamkeitsregime für das intime Moment des Abschied-
nehmens von einer einstigen Architektur. Es ist das Moment, welches Svetlana Boym
als „love at last sight“36 bezeichnet hat.

5. Interaktionsordnungen der Palast-Ruine

Anhand des diskutierten Beispiels wurden die Interaktionen zwischen diskursiven


und symbolischen Konnotationen, atmosphärischen Stellendifferenzen von Arte-
fakten im Raum und sich bewegenden Körpern entfaltet, um die Konstellationen
von Aufmerksamkeit für ein kulturell entwertetes Gebäude darzustellen. Durch die
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Gebäudes konstituiert sich eine ei-
gene Gegenwart der Ruine. Die atmosphärische Handlungsmacht der Ruine wurde
dabei versucht, in ihrer praktischen und räumlichen Konstellation und nicht aus-
schließlich in ihrer diskursiven Dimension aufzugreifen, wie dies in der kulturwis-

 36 Boym, The Future of Nostalgia, S. 82.

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senschaftlichen Forschung überwiegend der Fall ist. Die politisierte Debatte um


die Zukunft des Schlossplatzes konnte dabei nur gestreift werden, denn der Palast
der Republik musste den Rekonstruktionsbestrebungen der Berliner Konvention
in der Stadtplanung weichen, die bis heute – auch nachdem das politische Stadt-
planungsprogramm der 1990er Jahre sich geändert hat – darin besteht, die Fassa-
den des ehemaligen Stadtschlosses zu rekonstruieren. Der Bau ist bereits im Gange.
Insofern ist der diskutierte Fall auch besonders in Bezug auf die Frage, wie urbane
Ruinen mit rekonstruierten Bauten um Aufmerksamkeit konkurrieren und wie
sich der kulturelle Wert von „Architektur aus dem Archiv“ (Assmann) in verschie-
dentlichen Regimen generiert. Dabei stehen Fragen nach der Authentizität des kul-
turellen Gedächtnisses im Vordergrund, und wie dieses über unterschiedliche at-
mosphärische (Im-)Materialitäten vermittelt wird.
In der Analyse der Emergenz von Aufmerksamkeit wurde ebenfalls deutlich,
dass sich eine nichtintentionale Konstellation einer Praxis des Sehens und Ausbli-
ckens stabilisiert, die von dem ästhetischen Moment der zeitlichen Differenz zwi-
schen Vergangenheit und Gegenwart getragen wird. Die praktische Expertise der
Fotografen zeigt sich darin, dieses Moment sichtbar zu machen, zu interpretieren
und die Bilder sowie deren Interpretationen wechselseitig zu teilen. Die Stabilisie-
rung dieses Interaktionsmusters greift auf erinnerte Interaktionsordnungen des Ge-
bäudes zurück, nämlich in diesem Fall die kollektive Praxis des Sehens und Ausbli-
ckens. Diese speist sich aus Erfahrungen von Zeitzeugen, aber genauso aus
Erzählungen und den Aufforderungsangeboten der Ruine selbst. Insofern zeigt sich
die Handlungsmacht des einstigen Gebäudes und seiner sozialen Ordnungsmuster
auch hier. Gerade weil dieses Moment der Herstellung eines Interaktionsmusters
Teil ästhetischer Erkenntnis wird, hat es die Palast-Ruine geschafft, zu einem tem-
porären Aufmerksamkeitsgenerator in einer kulturalisierten Stadt zu werden.

Abbildungen
Abb. 1: Die klare Sicht auf den Fernsehturm beim Flanieren durch das Gebäude, 1976.
Quelle: Thomas Beutelschmidt/Julia Novak, Ein Palast und seine Republik. Ort Architek-
tur – Programm, Berlin, 2001, S. 123.
Abb. 2: Die Aussicht auf den Fernsehturm und das Rote Rathaus, 2005. Quelle: Plattform
Flickr, © Henriette von Muenchhausen.

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Julian Bauer

Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung

Skizzen zur Körpergeschichte bei Mach, Meinong,


Musil und Malinowski

0. Die Subjekte der Aufmerksamkeit. Einleitende Bemerkungen zur


Geschichte einer Selbsttechnik um 1900

Es ist anders geworden in der Welt. Und alle menschliche Entwicklung geht nothwen-
dig in Extremen und Einseitigkeiten vor sich, so daß die Besserung nach der einen
Seite fast immer eine Verschlechterung nach der andern enthält. […] Manche phan-
tastische Irrthümer, vielleicht auch ebenso viel[e] Ideale sind wir losgeworden. […]
Die Originale verschwinden, der Boden verliert sich von Tag zu Tag mehr, auf dem
sie entstehen können. […] Fassen wir zusammen, was wir den modernen Verkehrs-
mitteln nachrühmen müssen, so läßt es sich in dem einen Wort aussprechen: wir sind
über die elementaren Schranken unserer Existenz, über Raum und Zeit, in einer
Weise Herr geworden wie kein früheres Geschlecht. Wir sehen, wir erleben das hun-
dert- und mehrfache von dem, was unsere Großväter gesehen. […] Freilich wer mit-
kommen will im Leben, muß alle individuellen Wünsche zurücklassen, dem raschen
Tempo, den allgemeinen Bedingungen des Dauerlaufs sich fügen. Immer schneller
soll es gehen. Immer hastiger stürzt sich das junge Geschlecht in die Bahn des Lebens.
Keine Minute verlieren ist die Losung; das ganze Leben gleicht einem dahinbrausen-
den Eisenbahnzug.1

Bereits 1873 formuliert der Nationalökonom Gustav Schmoller in seiner Abhand-


lung „Ueber den Einfluß der heutigen Verkehrsmittel“ die voranstehenden Ein-
sichten. Er thematisiert darin zentrale Erfahrungen der gesellschaftlichen Umbrü-
che im späten 19. Jahrhundert und liefert Qualifikationen dieser Vorgänge aus der
Perspektive eines politisch engagierten Gelehrten. Vor allem drei Elemente sollen
meine folgenden Überlegungen anleiten: Erstens spricht Schmoller direkt am An-
fang die doppeldeutigen Ergebnisse des zeitgenössischen Wandels an, der neben
„Besserung“ immer auch „Verschlechterung“ erzeuge. Zweitens beklagt er den
strukturellen Wegfall von Individualität durch die Zunahme von Transport- und
Kommunikationsmitteln in der Moderne. Schließlich konterkariert er drittens
die gewonnenen Bewegungsspielräume mit einem diffusen, aber offenbar bewusst

  1 Schmoller, „Einfluß der heutigen Verkehrsmittel“, S. 413, 423 f.

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60 Julian Bauer

empfundenen Verlust „ebenso viel[er] Ideale“.2 Aufmerksamkeit, so ließe sich


Schmollers Gedankengang reformulieren, wird in modernen Gesellschaftsformati-
onen immer unwahrscheinlicher und vom „raschen Tempo“ des Lebens bedroht,
so dass Hektik und Zerstreuung um sich greifen und das vormals souveräne Indi-
viduum Gefahr läuft, im ununterbrochenen Strom ständig wechselnder Erlebnisse
unterzugehen.
Allgemeiner gesprochen wurden die Beobachtungen Schmollers bisher in drei
wissensgeschichtlichen Deutungstraditionen bewertet: Eine erste, kapitalismuskriti-
sche Interpretation stammt von Christoph Asendorf und Anson Rabinbach. Bei
ihnen steht der fortschreitende Schwund der Aufmerksamkeitskontrolle durch den
Menschen unter dem Vorzeichen einer zunehmenden Entfesselung des industriellen
Kapitalismus im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.3 Eine zweite,
machtkritisch angelegte Lesart führt Jonathan Crary in seinen Büchern Techniques
of the Observer und Suspensions of Perception ein. Crary beschreibt für das 19. Jahr-
hundert einen zutiefst paradoxen Prozess: Einerseits komme es zur Individuali-
sierung der menschlichen Wahrnehmung, andererseits führe die psychophysische
Erklärung der subjektiven Wahrnehmungsvorgänge zur Entmündigung des Indivi-
duums. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass laut Crary Aufmerksamkeit seit
1800 verstärkt als individuelle Leistung sichtbar wird, allerdings zugleich einen
prekären Zustand kennzeichnet, der durch Dressur und Übung optimierungsbedürftig
ist.4 Ein drittes, wissenschaftskritisches Interpretament hat Michael Hagner im An-
schluss an Asendorf, Rabinbach und Crary entworfen. Hagner meint, „das Neuar-
tige und Spezifische am Wissensraum der Aufmerksamkeit im späten 19. Jahrhun-
dert“ darin zu erkennen, „daß die Aufmerksamkeit als Attribut des Bewußtseins
bzw. der Willkür grundsätzlich in Frage gestellt und auf die Seite der physischen
Prozesse gezogen“ werde. Die Lenkung der Aufmerksamkeit durch den menschli-
chen Willen, die noch die älteren Aufmerksamkeitsmodelle dominieren würde, ver-
löre in dieser Auslegung jegliche Signifikanz. An die Stelle eines optimistischen,
oftmals intentionalistisch oder voluntaristisch gefärbten Menschenbildes trete eine
pessimistische Anthropologie des Menschen „als problematisches und gefährdetes
Wesen“.5
Der vorliegende Aufsatz möchte diese drei Perspektiven durch eine stärker ak-
teurszentrierte Untersuchung des Quellenmaterials ergänzen, um sowohl die Vari-
ationsbreite von Aufmerksamkeitspraktiken zu skizzieren als auch Mischformen
intentionalistischer und physikalistischer Aufmerksamkeitsvorstellungen um 1900

  2 Siehe auch die ideologiekritische Interpretation von Schmoller bei Asendorf, Batterien der Lebens-
kraft, S. 105-108, und grundlegend zum Kontext der Arbeiten Schmollers Grimmer-Solem, His-
torical Economics.
  3 Siehe Asendorf, Batterien der Lebenskraft; Ders., Ströme und Strahlen; Rabinbach, Human Motor.
  4 Siehe Crary, Techniques of the Observer; Ders., Suspensions of Perception.
  5 Hagner, „Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand“, S. 289 (Zitate); siehe auch Ders., „History of
Attention“, S. 683.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 61

darzustellen.6 Damit knüpft der Text einerseits an jüngste Forschungsliteratur zum


Thema an, die gezeigt hat, dass die traditionelle Geschichte der Reaktionszeitinter-
valle im Gefolge weniger großer Männer nicht ausreicht, um der Bedeutung des
Phänomens gerecht zu werden.7 Theorien und Praktiken der Aufmerksamkeit
müssen spätestens seit dem mittleren 19. Jahrhundert in ihrer „lokalen Verfasstheit“
verstanden werden.8 Andererseits versuchen die folgenden Quellenstudien, die
Thematisierung von Aufmerksamkeit weniger als eine vorherrschende Machtstruk-
tur oder ein umfassendes Handlungsdispositiv zu erfassen, sondern vielmehr das
Phänomen auf ideeller und praktischer Ebene auch als ein Subjektivierungsmo-
ment, also als Technik einer „Sorge um sich“ zu begreifen.9 Es geht darum, Frage-
stellungen der Körpergeschichte aufzugreifen. Bemerken Philipp Sarasin und Jakob
Tanner 1998 eine Verschiebung „von der Untersuchung der Auswirkungen der In-
dustrialisierung auf den Körper zur Untersuchung der Produktion eines bestimm-
ten, industriegesellschaftlichen Körpers“, dann möchte der folgende Aufsatz einen
Beitrag dazu leisten, diesen Prozess der industriekapitalistischen Körperproduktion
um die subjektive Erfahrungsdimension historischer Akteure zu bereichern.10
Selbst- und Fremdkontrolle sind nicht als ein Widerspruch, ein Ausschlussverhält-
nis oder als Steigerung, wie z. B. bei Norbert Elias’ Vorstellung einer wachsenden
Internalisierung ursprünglich externer Normen, zu verstehen,11 sondern in ihren
jeweiligen Verschränkungen zu betrachten. Auf diesem Weg wird sichtbar, dass
erstens Ernst Mach nur bedingt als Kronzeuge für eine psychophysische Auflösung
des Individuums taugt (1.); dass zweitens Alexius Meinongs Philosophie trotz aller
Anleihen bei den psychologischen Experimentalwissenschaften den Einzelwillen zu
stärken gedenkt (2.); dass drittens Robert Musil in seinen Sachtexten die Argu-
mente Meinongs bzw. Machs sowohl bisweilen unterstützt als auch partiell verwirft
und dadurch Ambivalenzen beider Positionen hervorkehrt (3.) sowie viertens
Bronisław Malinowski ähnlich wie Musil psychophysische und voluntaristische Be-
trachtungsweisen zu verbinden sucht (4.) und sich dabei weitgehend im Einklang
mit der zeitgenössischen Literatur zum Sport befindet (5.). Der letzte Abschnitt des
Textes resümiert die Ergebnisse der Analysen und plädiert für zusätzliche akteurs-
nahe Quellenstudien, um die Tragfähigkeit der These von Aufmerksamkeit als Sub-
jektivierungstechnik weiter zu erhärten (6.).

  6 Siehe auch Aufmerksamkeiten, hg. v. Aleida und Jan Assmann, sowie die Einleitung des vorliegen-
den Bandes.
  7 Siehe Canales, Tenth of a Second, bes. S. 53-58.  
  8 Windgätter, „Euphorie und Erschöpfung“, S. 19, Herv. i. O.
  9 Siehe Foucault, Der Gebrauch der Lüste; Ders., Die Sorge um sich; Ders., Subjectivité et vérité;
Ders., Hermeneutik des Subjekts, und kritisch dazu mit weiterer Literatur Sarasin, Reizbare Ma-
schinen, bes. S. 452-465, sowie zuletzt Schroer, „Soziologie der Aufmerksamkeit“, S. 202-207.
 10 Sarasin/Tanner, „Physiologie und industrielle Gesellschaft“, S. 17, Herv. i. O.; siehe auch Sarasin,
„Die Rationalisierung des Körpers“ und Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft.
 11 Siehe Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, der nichtsdestoweniger die im vorliegenden Aufsatz
behandelten Traditionsstränge fortführt, wie unten in Abschnitt 6 kurz näher dargestellt wird.

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62 Julian Bauer

1. Zerstreuung der Aufmerksamkeit durch Ernst Mach?

Auf den ersten Blick mag Ernst Mach als ein strikter Anhänger psychophysischer
Paradigmen erscheinen, wie es Asendorf, Crary und Hagner in ihren Beiträgen
andeuten.12 Tatsächlich finden sich in seinen Arbeiten Passagen mit einer derarti-
gen Stoßrichtung. So nutzt Mach Die Principien der Wärmelehre (1896), um auf
dem Boden der Evolutionstheorie Darwins den Menschen als ein Tier unter ande-
ren Tieren zu situieren, das „durch das Streben nach Selbsterhaltung beherrscht“
werde und „seine ganze Thätigkeit […] in de[n] Dienst derselben“ stelle.13 In einer
zuerst im kleingedruckten Anmerkungsteil fast versteckten und später prominent
in den Fließtext integrierten Bemerkung aus der Analyse der Empfindungen
(1886/1903) tritt die sogenannte ‚Unrettbarkeit des Ich‘ (Hermann Bahr) ver-
meintlich mit noch größerer Deutlichkeit hervor: „Die scheinbare Beständigkeit
des Ich besteht vorzüglich nur in der Continuität, in der langsamen Aenderung.
[…] Man kennt sich persönlich sehr schlecht.“14 Bevor ich näher auf den Stellenwert
der Erinnerungen für die Konstitution des Individuums bei Mach zu sprechen
komme, gilt es, einen weiteren, inhaltlich gegenläufigen Abschnitt in den Populär-
wissenschaftlichen Vorlesungen (1896/1903) genauer zu untersuchen, der das Ich
nicht verabschiedet, sondern es ausdehnt und ein soziales, emotionales und solida-
risches Ich entwirft.
Wie viel von dem Leben anderer Menschen, von ihrer Lust und ihrem Schmerz,
ihrem Glück und ihrem Elend, spielt in uns hinein, wenn wir nur um uns blicken,
wenn wir nur auf moderne Lektüre uns beschränken. […] Wie erweitert sich hierbei
das Ich, und wie klein wird doch die Person! […] Wir fühlen, daß im wechselnden
Inhalt des Bewußtseins die wahren Perlen des Daseins liegen, und daß die Person nur
ist wie ein gleichgiltiger symbolischer Faden, an dem sie aufgereiht sind.15

Hinsichtlich der Semantik des Aufmerksamkeitsbegriffs findet hier eine Positivie-


rung der vielfach negativ besetzten Zerstreuung statt. Mach spricht eine Ansicht
aus, die man mit der Medienwissenschaftlerin Petra Löffler als eine Art der Zerstreu-
ung ansprechen kann, die auf verteilte Aufmerksamkeit hinausläuft. „Eine Vertei-
lung der Aufmerksamkeit“, wie es bei Löffler treffend heißt, die „eine Selbsttechnik
vorausschauenden Handelns dar[stellt] “ und „eingeübt werden kann.“16 Dass Auf-
merksamkeit eine körperliche Disposition bildet, kann man Machs „Theorie des
Gehörorgans“ (1863) entnehmen.17 Dennoch verfügt der Mensch über ein nahezu

 12 Siehe mit genauen Literaturangaben oben Anm. 3-5.


 13 Mach, Principien der Wärmelehre, S. 365, Herv. i. O.
 14 Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, S. 3, Anm. 1; Ders., Die Analyse der Empfindungen
und das Verhältniss des Physischen zum Psychischen, S. 3, Herv. 1 („Continuität“) i. O.; Herv. 2
(„Man […] schlecht.“) J. B.
 15 Mach, Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, S. 249 f.
 16 Löffler, Verteilte Aufmerksamkeit, S. 8; siehe auch S. 35-62, 159-190, und Mach, Notizbuch, NL
174/0541 ab 12.03.1894, [82, Verso].
 17 Mach, „Zur Theorie des Gehörorgans“, S. 297.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 63

unerschöpfliches Gedächtnis und einen umfänglichen Vorrat an Vorstellungen und


Begriffen, die die Einheit der Menschheit und des Individuums garantieren. Im
Vorwort seiner späten Veröffentlichung Kultur und Mechanik (1915) ist z.  B. in
einem rekapitulationstheoretischen Idiom die Rede von einer „Urgeschichte der
Mechanik“ und der „Begründung einer genetischen Technologie“, die Mach mit
„Erinnerungsversuche[n]“ seines Sohnes Ludwig belegt, die zeigten, „daß die gewal-
tigen, unauslöschlichen, dynamischen Empfindungserfahrungen jener Zeit uns mit
einem Male auch dem instinktiven Ursprung aller Behelfe, wie Werkzeuge, Waffen
und Maschinen, nahe rücken.“18 Dermaßen konzipierte Gedächtnisvorstellungen
bilden Bedingungsmöglichkeiten wissenschaftlichen Wissens. Originalität, Innova-
tion und Individualität der Gelehrten gehen laut Mach aus der konzentrierten und
kontingenten Rekombination einzelner Erinnerungen hervor.19 Daher kann ein ge-
dachtes, nur phantasiertes Zwiegespräch Erkenntnis produzieren. Außerdem wird
so Machs liberale, reformorientierte Pädagogik verständlich: Begriffe können nicht
eingetrichtert werden, sondern müssen aktiv nachvollzogen, in Handlungen umge-
setzt und geübt werden.20 Neben erlernten Fähigkeiten, die im Falle Machs unter
anderem aus einer Tischlerlehre stammen, hält die „Kette der Erinnerungen“ das
Individuum zusammen, wie man in seiner Autobiographie von 1913 sehen kann:
Ein intellektuelles Erlebnis steht aber als unvergesslich vor mir. Es dürfte ungefähr in
meinem fünften Lebensjahr gewesen sein, als ich unter Begleitung meines Kinder-
mädchens durch Zufall Einblick in eine Windmühle erhielt. […] Der entsetzliche
Lärm, der mich erschre[c]kte, konnte mich nicht hindern die Verzahnung der Welle
zu sehen, welche in die Verzahnung des Mahlgangs eingriff und einen Zahn nach dem
andern fort schob. Dieser Anblick wirkte bis in mein reiferes Denken nach und hob
nach meinem Gefühl das kindliche Denken von dem Niveau des wundergläubigen
Wilden zum kausalen Denken empor […] Diese Erfahrung und andere […] lehrten
mich 70 Jahre später Levy Brühls Buch „Les fonctions mentales dans les sociétés in-
férieures“ besser als sonst zu verstehen. […]
Das Ich ist nicht unveränderlich, sondern während des Lebens sehr langsam verän-
derlich, nachdem es sich langsam entwickelt hat und im Tode ganz verschwindet. Die
Kontinuität des Ich begründet die Möglichkeit des bedeutenden Menschen und des
Philisters; es kann sich mit geringeren oder grösseren Modifikationen in jedem Nach-
kommen regeneri[e]ren.21

 18 Mach, Kultur und Mechanik, S. 5; siehe auch S. 20 f., 61, 83 f., 86; zum Gedächtnis außerdem
Ders., Die Analyse der Empfindungen und das Verhältniss des Physischen zum Psychischen, S. 182;
Ders., Erkenntnis und Irrtum, S. 9, 44 f.; zu Vorstellungen Ders., Die Analyse der Empfindungen
und das Verhältniss des Physischen zum Psychischen, S. 154; zu Begriffen Ders., Erkenntnis und Irr-
tum, S. 60, 66 f., 70-87, 112, 141, 316, 454.
 19 Mach, Principien der Wärmelehre, S. 388 f.; siehe auch Ders., Populär-wissenschaftliche Vorlesun-
gen, S. 289 f.
 20 Siehe Mach, Principien der Wärmelehre, S. 412 (Phantasiegespräch und einsames Denken); S. 420
(Pädagogik) sowie eingehender zum pädagogischen Kontext Bauer, „Kann man lernen, mit Ge-
danken zu experimentieren?“.
 21 Mach, „Text of the [Autobiographical] 1913 Manuscript“, S. 411 (Absatz 1), 416 (Absatz 2,
Herv. i. O.). Von der „Kette der Erinnerungen“ redet Mach, wie oben erwähnt, in Beiträge zur
Analyse der Empfindungen, Anm. 1.

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64 Julian Bauer

Aufmerksamkeit zerstreut sich bei Mach einerseits in einzelne Augenblicke, be-


wahrt und sammelt sich andererseits in Erinnerungen.22 Zieht man überdies die
Materialien aus Machs Nachlass hinzu, lässt sich diese Interpretation weiter unter-
mauern. Ohne einen Begriff des Ich kommt auch Mach nicht aus. Aus Platzgrün-
den seien hier nur die folgenden Stellen aus dem Notizbuch ab 04.09.1901 zitiert:
Das Ich. Sonne. Das Ich[,] das instinktiv sicherste. […] Das Beständigste. Verlässt
mich nie. Sind aber solche Einheiten beständig[?] Entstehen bei der Zeugung[.] Ver-
schwinden durch den Tod. Oder bestehen sie latent vor[-]und nachher? […] Das in-
timere Ich, der Character eines Menschen, welche durch den Tageslärm übertüncht
werden[.] […] Der Welt u[nd] dem Ich können wir nicht entkommen. Wir können
aber die einzelnen Züge erfassen, an[a]lysi[e]ren.23

Das Absehen vom Ich drückt demnach eine methodische Strategie aus, um Unter-
suchungsgegenstände für die Physik zu gewinnen. Mach trifft keine ontologische
Aussage und bezweckt nicht, das Ich auszulöschen. Eine rein psychophysische Les-
art Machs und seines Aufmerksamkeitsbegriffs ist ungenügend, wie die vorange-
hende Analyse gezeigt hat, um dessen komplexen Standpunkt zu beschreiben. So
positiviert Mach erstens die Vorstellung von verteilter Aufmerksamkeit und dyna-
misiert zweitens das Subjekt mit Hilfe eines rekapitulationstheoretisch begründe-
ten Verständnisses des menschlichen Erinnerungsvermögens. Das Ich ist kein An-
derer, das Ich ist ein dynamischer Speicher, der sich nicht nur ständig vergisst,
sondern im Gegenteil Erinnerungen auf Dauer stellen kann und im diffizilen Zu-
sammenspiel von Körper und Geist, Subjekt und Umwelt, persönlichem Gedächt-
nis und kollektiver Stammesgeschichte existiert.

2. Alexius Meinong und der Wille zur Aufmerksamkeit

Trotz des spannungsreichen Wechselspiels zwischen Individuum und Umgebung,


das bei Mach identifizierbar ist, wurde er zeitgenössisch oftmals auf „das unrettbare
Ich“ reduziert, wie es formelhaft der Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann
Bahr 1904 im Dialog vom Tragischen ausdrückte.24 Obwohl Meinong auf diskursi-

 22 Siehe auch Mach, „Die Leitgedanken“, S. 602.


 23 Mach, Notizbuch, NL 174/0548 ab 04.09.1901, [13, Recto] (Teil 1: „Das Ich“ bis „nachher?“),
[24, Verso] (Teil 2: „Das intimere Ich“ bis „werden“; Herv. i. O.), [43, Verso] (Teil 3: „Der Welt“
bis „analysieren“); siehe auch ebd., [90, Verso-91, Recto]; Ders., Vorlesung „Ueber einige Haupt-
fragen der Physik“, NL 174/0449 Sommer 1872, S. 1 f., 7, 30; Ders., Notizbuch, NL 174/0521
ab 26.01.1881, [176, Recto]; Ders., Notizbuch, NL 174/0522 ab 02.1882, [10, Recto]; Ders.,
Notizbuch, NL 174/0523 ab 04.1882, [36, Recto]; Ders., Notizbuch, NL 174/0527 ab
02.01.1886, [57, Verso]; Ders., Notizbuch, NL 174/0536 ab 06.12.1890, [70, Verso-71, Recto];
Ders., Entwürfe, NL 174/0482 1895/6, [27. Einlageblatt]; Ders., Vorlesung „Psycholog[ie] u.
Logik d. Forschung“, NL 174/0452 W[inter] 1895/6, passim; Ders., Notizbuch, NL 174/0546
ab 29.05.1898, [17, Verso], [41, Recto]; Ders., Notizbuch, NL 174/0549 ab 05.10.1902, [74,
Verso-75, Recto].
 24 Siehe Bahr, Dialog vom Tragischen, bes. S. 79-114.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 65

ver Ebene Berührungspunkte zu Mach aufweist, herrscht auf der Oberfläche seiner
Texte eher ein Abgrenzungsbedürfnis vor, das mitunter zu Einseitigkeiten neigt, an
der Tradierung klassischer philosophischer Unterscheidungen interessiert ist und
von einem starken Verständnis des menschlichen Willens motiviert wird. Beispiel-
haft für diese Haltung ist Meinongs Kritik am Begriff des Gedankenexperiments
bei Mach. Unterzieht man die entsprechenden Abschnitte aus Meinongs Beitrag
Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften von 1907
einer genauen Durchsicht, wird klar, dass seine Missbilligung Machs auf die Beibe-
haltung etablierter Grenzen zwischen Erfahrungen und Gedanken hinausläuft.
Rede man von Gedankenexperimenten, dann, so Meinongs maßgebliche Sorge,
gingen die Spezifika des Denkens im Experiment unter.25 Anders gesagt, treiben
Meinong die Besinnung auf die Innenwelt und die Behauptung des Verstands
gegen die putativen Kränkungen des Subjekts durch die radikale Psychophysik um.
In diesem Sinn liest man in Meinongs kurz vor dem Tod vollendeter „Selbstdarstel-
lung“ (1921), dass die Philosophie „innere Erlebnisse entweder ausschließlich oder
mindestens auch innere Erlebnisse zum Gegenstande haben“ müsse und es „die
eigenste Aufgabe der Gegenstandstheorie [sei], der Ratio zu geben, was der Ratio
ist.“26 Wird die philosophische Diskussion der Arbeiten Meinongs seit Anbeginn
von großen Zweifeln ob seiner erfinderischen Hypothesen begleitet,27 mehren sich
seit einiger Zeit wissenschaftsgeschichtliche Stimmen, die sein Werk einer Neube-
wertung unterziehen.28 Meine Darstellung orientiert sich an diesen Beiträgen und
beschränkt sich auf drei hier interessierende Aspekte: erstens Meinongs Auffassung
von Intentionalität; zweitens die Unterscheidung zwischen Dasein, Sosein und Au-
ßersein, und drittens die protokonstruktivistische Tendenz seiner Philosophie, die
alle drei ein rationalistisch grundiertes Verständnis von Aufmerksamkeit entfalten.
Gemeinhin lässt sich Meinongs erstes Buch Über philosophische Wissenschaft und
ihre Propädeutik (1885) als ein Plädoyer für eine psychologische Grundlegung der
Philosophie lesen.29 Zudem liefert die Arbeit einige fundamentale Einblicke in sein
Verständnis von Pädagogik, das neben einer Betonung der „Selbstthätigkeit“ von
Schülern und Studenten darauf abhebt, die Notwendigkeit der Übung körperli-
cher „Geschicklichkeiten“ als Voraussetzung erfolgreicher wissenschaftlicher Arbeit
ohne Rücksicht auf Fächergrenzen herauszustellen, und damit eine fühlbare Ge-

 25 Siehe Meinong, Über die Stellung der Gegenstandstheorie, bes. S. 280, 283.
 26 Meinong, „Selbstdarstellung“, S. 13 (Zitat 1), 46 (Zitat 2).
 27 Siehe Russell, „Meinong’s Theory of Complexes and Assumptions“; Findlay, Meinong’s Theory of
Objects and Values, z. B. S. 221, 229, 256, 340-348; Quine, „On What There Is“, bes. S. 22-25;
Kneale, Probability and Induction, S. 11 f., 31 ff. Die Arbeiten Roderick Chisholms bilden einen
Gegenpol zur ubiquitären Kritik an Meinong. Siehe Chisholm, Perceiving, S. 137 ff.; Ders., The-
ory of Knowledge, bes. S. 28, 47 f., 51, 54; Ders., Brentano and Meinong Studies, bes. S. 37-67,
80-91, 98-113.
 28 Siehe Jenseits von Sein und Nichtsein, hg. v. Rudolf Haller, bes. S. 25-36, 63-102, 117-125; Haller,
Studien zur österreichischen Philosophie, S. 5-22, 37-77; Lindenfeld, The Transformation of Positi-
vism; Smith, Austrian Philosophy, bes. S. 125-134.
 29 Siehe z. B. Meinong, Über philosophische Wissenschaft, S. 19 ff.

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meinsamkeit zu Machs Sichtweise dokumentiert.30 Hinsichtlich der Intentionalität


– ein Thema, das auf seinen akademischen Lehrer Franz Brentano zurückgeht –31
zeigen die frühen psychologischen Schriften außerdem, dass Meinong daran die
spezifischen Grenzen der Zurichtung menschlicher Wahrnehmung zu bestimmen
gedenkt.32 Zudem gelangt er zur Auflösung eindeutiger Wirklichkeitsreferenzen
und gradualisiert den Übergang zwischen Einbildung und Wahrnehmung.33
Gänzlich gegen „[d]as Vorurteil zugunsten des Wirklichen“ wendet sich die Ge-
genstandstheorie.34 Seit der vorletzten Jahrhundertwende widmet Meinong sich
diesem Gebiet, das aus dem Intentionalitätsbefund erwächst: „[N]iemand zweifelt
daran, daß man nicht vorstellen kann, ohne etwas vorzustellen, und auch nicht
urteilen kann, ohne über etwas zu urteilen.“35 Im Aufsatz „Über Gegenstandstheorie“
(1904) werden diese Existenzweisen durch die Unterscheidung von ‚Sein‘, ‚Nicht-
sein‘ und ‚Sosein‘ angesprochen. Selbst nichtexistierenden Gegenständen könnten
auf diesem Weg eindeutige Eigenschaften zugeschrieben werden. Zusätzlich postu-
liert Meinong eine weitere Sphäre, die den ‚reinen Gegenständen‘ vorbehalten ist
und als ‚Außersein‘ deklariert wird.36 Hierdurch begibt er sich, wie an anderer
Stelle freimütig eingeräumt wird, in die Nähe sowohl des Neokantianismus als
auch der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls.37
Eine gleichsam konstruktivistische Passage findet man in den Erfahrungsgrund-
lagen unseres Wissens (1906).38 Die dort anklingende konstruktive Dimension sei-
ner Philosophie beginnt wohlgemerkt nicht erst mit den gegenstandstheoretischen
Abhandlungen um 1900, sondern lässt sich auch schon davor in den psychologi-
schen Schriften finden, z.  B. in der Unterscheidung und exakten Untersuchung
von ‚Wahrnehmungs- und Einbildungsvorstellungen‘.39 Man sieht mithin insge-
samt bei Meinong eine eigentümliche Mischung aus Zugeständnissen an die expe-
rimentell verfahrende Psychologie auf der einen Seite und dem unbeirrten Festhal-
ten an philosophischen Kategorien auf der anderen Seite, die weg von empirischen
Sachverhalten zu metaphysischen Fragestellungen führen.40 Aufmerksamkeit mag
zwar in Meinongs „Philosophie von unten“41 auch eine Frage körperlicher Übung

 30 Ebd., S. 144 (Zitat 1), 145 (Zitat 2); auf S. 148 folgt dann die ausdrückliche Erweiterung auf die
‚wissenschaftliche Philosophie‘; siehe außerdem S. 64, 80, 95-99, 117 f., 162-165, 168.
 31 Siehe zu Brentano Lindenfeld, The Transformation of Positivism, S. 59 ff.; Smith, Austrian Philoso-
phy, S. 35-60; Jacquette, „Brentano’s Concept of Intentionality“.
 32 Meinong, „Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung“, S. 116.
 33 Siehe ebd., S. 147, 157, 178, 181 f., sowie Meinong, „Phantasie-Vorstellung und Phantasie“,
S. 257.
 34 Meinong, „Über Gegenstandstheorie“, S. 3.
 35 Meinong, „Über Gegenstände höherer Ordnung“, S. 381, Herv. i. O.
 36 Siehe Meinong, „Über Gegenstandstheorie“, bes. S. 12 f.
 37 Meinong, „Selbstdarstellung“, S. 57 f.; siehe auch weiterführend Lindenfeld, The Transformation
of Positivism, S. 243-261.
 38 Siehe Meinong, Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, S. 473, 478-481.
 39 Siehe Meinong, „Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung“, bes. S. 144-170, sowie wei-
terführend Ders., „Phantasie-Vorstellung und Phantasie“.
 40 Siehe auch Lindenfeld, The Transformation of Positivism, S. 9.
 41 Meinong, „Selbstdarstellung“, S. 42.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 67

sein, sie bleibt jedoch über den Intentionalitätsbegriff eng an die Existenz von Wil-
len und Verstand gebunden.

3. Die Paradoxien mechanisierter Aufmerksamkeit in


Robert Musils Sachtexten
Musil, heutzutage vor allem als Autor der Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906)
und vom Mann ohne Eigenschaften (1930–1943) bekannt, schloss kurz nach der
Veröffentlichung des Törleß im März 1908 sein 1903 aufgenommenes Studium der
Philosophie und Psychologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin mit
einer Dissertation unter dem Titel Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs bei
Carl Stumpf ab. Die Dissertation brachte Musil das Angebot von Alexius Meinong
ein, bei ihm in Graz zu habilitieren, das Musil ausschlug, um sich ganz auf die
Schriftstellerei zu konzentrieren.42 Wichtige Erkenntnisse zum wissenschaftshisto-
rischen Kontext der literarischen Arbeiten Musils wurden in den letzten Jahren von
Christoph Hoffmann grundlegend aufgearbeitet und von Thomas Borgard zusam-
mengefasst.43 Jüngeren Datums ist die Studie Anne Fleigs über Körperkultur und
Moderne (2008). Sie untersucht die engen Bezüge zwischen Musils Schriften zum
Sport und seiner literarischen Ästhetik. Fleig macht in ihrem Buch überzeugend
klar, dass die Beschreibungen des Sports bei Musil selbstreflexiv angelegt sind und
trotz psychophysischer Anleihen immer auch, zum Teil ironisch gebrochen oder
von Paradoxien begleitet, Subjektivierungschancen thematisieren, die einer konse-
quenten Mechanisierung von Aufmerksamkeit entgegenstehen.44 Unter Berück-
sichtigung dieser Ergebnisse soll im vorliegenden Abschnitt mit einem engeren
Fokus auf die weniger bekannten Sachtexte von Musil dargetan werden, inwiefern
die Dissertationsschrift, der Aufsatz über „Psychotechnik und ihre Anwendung im
Bundesheere“, die Glossen zum Sport sowie einige Einträge aus dem Tagebuch
Musils in einem von Mach und Meinong geprägten Konfliktfeld zu verorten sind
und die Regulierung von Aufmerksamkeit sowohl durch den Willen als auch durch
die Beherrschung von Körpertechniken sich als ein heikles, gewiss nicht vorausset-
zungsloses Unterfangen entpuppt.
Musil erläutert in den einleitenden Sätzen seiner Dissertation, dem Beitrag zur
Beurteilung der Lehren Machs, dass er die jüngste Philosophie als eine wissenschaft-
liche Philosophie ansehe, die sich weniger um metaphysische Spekulation als viel-
mehr um Nachvollzug und Rekonstruktion (natur-)wissenschaftlicher Begriffe
drehe.45 Diese Haltung teilt er mit Meinong und Mach. Musils Anspruch in der

 42 Siehe Musil, Briefe, S. 61-64 (Briefe von Musil an Meinong, 30.12.1908; 18.01.1909); Frisé,
„Vorbemerkung“.
 43 Siehe Hoffmann, „Der Dichter am Apparat“; Borgard, „Robert Musils früher Beitrag zur Wissens-
geschichte“.
 44 Siehe Fleig, Körperkultur und Moderne, bes. S. 310 f.
 45 Musil, Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs, S. 15. Im Folgenden unter der Sigle MBB mit
Seitenangabe direkt im Text zitiert.

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68 Julian Bauer

Dissertation ist es, die philosophischen Aussagen Machs einer rein immanenten
Überprüfung zu unterziehen, mit dem deflationären Ziel, „ihnen eine entschei-
dende Bedeutung“ abzuerkennen. Das steht offenkundig in einem Spannungsver-
hältnis zum antisystematischen Zug von Machs Werk. Wenig später arbeitet Musil
heraus, dass durch die aphoristische Anmutung der Mach’schen Arbeiten kein ein-
liniger Blick auf dessen Texte möglich sei, sondern es multiperspektivischer Analy-
sen bedürfe (MBB, S.  22). In Entgegnung auf eine durchschlagende, erkenntnis-
theoretische Deutung der Schriften Machs trennt Musil als ersten Ansatzpunkt
seiner Kritik die Genesis von der Geltung spezifischer naturwissenschaftlicher Be-
griffe. So erfasse Mach zwar die genetische Seite durch seinen evolutionären Natu-
ralismus, die Frage nach der Geltung bleibe davon unbenommen und der Philoso-
phie als epistemologische Problemstellung erhalten (MBB, S.  32  f.). Man sieht,
dass die Argumentationsstrategie von Musil große Ähnlichkeit zu Meinongs Ansatz
einer Verteidigung der Philosophie gegen die Übergriffe der Naturforschung be-
sitzt. Dieser Eindruck verstärkt sich im weiteren Argumentationsverlauf. In der
Diskussion von Machs Vorschlag, auf einen naiven Kausalitätsbegriff zu verzichten,
wirft Musil ihm zuerst pauschal „metaphysische Unbekümmertheit“ vor (MBB,
S. 73). Etwas später substantiiert er die Hintergründe seines Vorwurfs und nimmt
eine realistische Position ein, die metaphysisch eingefärbt ist (MBB, S. 86 f.; siehe
auch 132 f.). Wirklich erhärten kann Musil seinen Standpunkt jenseits dieser Fun-
damentalebene nicht, so dass der Text häufig rein appellativen Charakter bekommt
und das selbstgewählte Prinzip der immanenten Kritik verletzt, wenn er von „der
herrschenden Ansicht“ redet (MBB, S.  127). Fasst man den Gedankengang
der Dissertation Musils zusammen, fällt auf, dass er sich erstens im Rahmen der
zeitgenössischen akademischen Philosophie bewegt; zweitens Musil gegenüber me-
taphysischen Begründungsverfahren aufgeschlossen ist, und er drittens aus diesen
Gründen ebenfalls an herkömmlichen Kategorien wie ‚Willen‘ und ‚Verstand‘ im
Gesamten festhält.46
Es ist wichtig, dieses Resultat im Hinterkopf zu behalten, wenn es nun um den
Aufsatz zur „Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere“
(1922) geht. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet Musil in befristeter Anstellung als Fach-
beirat für Methoden der Geistes- und Arbeitsausbildung im Österreichischen
Staatsamt für Heereswesen.47 Am Aufsatz überrascht, dass psychotechnischen Op-
timierungsprozeduren eine große Reichweite zugestanden wird. Unter Berufung
auf Hugo Münsterberg, einen der Pioniere der angewandten Psychologie, hofft
Musil, „Fähigkeiten wie Gedächtnis, Beobachten, Denken [und] Aufmerksamkeit“
durch den psychotechnischen Ansatz zu perfektionieren.48 Hier wird unstreitig ein
mechanisierter Aufmerksamkeitsbegriff befürwortet.49 Es nimmt dann wenig wun-

 46 Siehe auch Musil, Tagebücher, Heft 4: 1899?–1904 oder später, S. 20, und mit vergleichbarem
Urteil Wright, „Musil and Mach“.
 47 Siehe auch Hoffmann, „Der Dichter am Apparat“, S. 232-237.
 48 Musil, „Psychotechnik“, S. 188 f., 189 (Zitat). Siehe weiterführend zu Münsterberg Hale, Human
Science and Social Order.
 49 Siehe auch Musil, „Psychotechnik“, S. 193.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 69

der, dass Musil auch in Bezug auf sein eigentliches Thema, die Anwendung psycho-
technischer Erkenntnisse auf militärische Problemstellungen, sehr zuversichtlich
ist. So seien in diesem Gebiet „Schieß- und Ladegriffe“ oder auch die „Bedienungs-
griffe der verschiedenen Kampfmittel“ durch die Psychotechnik zur Vollendung zu
bringen.50
In seinen essayistischen Gelegenheitsschriften zum Sport verquickt Musil die
psychotechnische und die voluntaristische Anschauung reflexiv miteinander. „Als
Papa Tennis lernte“ (1931) beschreibt das Verhältnis beider Überzeugungen spiele-
risch und stellenweise mit kulturkritischen Untertönen: „Was den Sport zum Sport
gemacht hat, ist also nicht so sehr der Körper als der Geist. […] Gegen die Tatsache,
daß wir heute eine Körper-‚Kultur‘ besitzen, ist […] nichts zu machen. Aber wes-
sen Geisteskind ist sie eigentlich? An dieser Stelle muß ich zugeben, daß ich selbst
sehr viel Sport getrieben habe.“51 Man sollte sich davor hüten, die Erzählinstanz
des Textes, die dem Leser in der ersten Person Singular entgegentritt, mit dem
Autor, Musil, vollständig gleichzusetzen.52 Trotzdem bringt der Text ein glänzendes
Beispiel für das Verständnis von Aufmerksamkeit als körperliche und geistige Tech-
nik der Sorge um sich hervor, wie das folgende Zitat illustriert:
[I]n der Sportübung [gibt es] aber auch eine Fülle wirklicher kleiner geistiger Anre-
gungen, die sie vor der Gefahr bewahren, bloß eine seelische Erkrankung zu werden.
Ich will das kurz fassen, da es ohnehin oft genug hervor gekehrt wird: da sind Mut,
Ausdauer, Ruhe, Sicherheit, die man auf dem Sportplatz […] so erwirbt wie ein Seil-
tänzer das Gleichgewicht auf einem Seil […]. Man lernt, die Aufmerksamkeit zu
sammeln und zu verteilen wie ein Mann, der mehrere Spinnstühle beaufsichtigt. Man
wird angelernt, die Vorgänge im eigenen Körper zu beobachten, die Reaktionszeiten,
die Innervationen, das Wachstum und die Störungen in der Koordination der Bewe-
gungen, man erlernt die Beobachtung und Auswertung von Nebenvorgängen, die
rasche intellektuelle Kombination […]. Das Wesen des Ich leuchtet in den Erlebnis-
sen des Sports aus dem Dunkel des Körpers empor.53

Die Formung des Körpers und die Schulung der Aufmerksamkeit durch sportliche
Aktivitäten führen im Idealfall nicht bloß zu nach außen hin sichtbaren athleti-
schen oder mentalen Leistungssteigerungen, sondern ermöglichen zugleich eine
Intensivierung der Selbstbeobachtung und -wertschätzung.54 „Kunst und Moral
des Crawlens“ (1932) kennzeichnet hingegen ein paradoxales Verhältnis zum eige-
nen Gegenstand. Zuerst wird der erfolglose Versuch gemacht, die Kraultechnik
biomechanisch zu erhellen. Im zweiten Schritt wird sie stilistisch ausgedeutet und
zu einem Kennzeichen der individuellen Persönlichkeit, um am Schluss wieder als
unbewusste Anpassungsleistung des menschlichen Körpers zu enden, die „ohne

 50 Ebd., S. 194-200, 195 (Zitate).


 51 Musil, „Als Papa Tennis lernte“, S. 687 f.
 52 Siehe Bal, Narratology, bes. S. 19-31; Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 84-90.
 53 Musil, „Als Papa Tennis lernte“, S. 689 f.
 54 Siehe auch mit ähnlichen Gedanken anhand anderer Quellenbestände Sicks, „Muskelmänner“,
S. 180 f.

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70 Julian Bauer

Geist“ ablaufe und den Geist schlechthin aus dem Sport vertreibe.55 „Durch die
Brille des Sports“ (1925/26 oder später) fokussiert auf zwei andere Themen. Einer-
seits wird der Sport in einer kurzen soziologischen Seitenbemerkung als ein Bedürf-
nis moderner Gesellschaften bezeichnet. Andererseits wird die Frage nach der Stel-
lung des Ich im Sport aus „Als Papa Tennis lernte“ wieder aufgegriffen. Dem Willen
räumt Musil indes jetzt eine unrühmliche Rolle ein.56 Hier kündigt sich eine Auf-
fassung verteilter Aufmerksamkeit an, die Musil mehr mit Mach als mit Meinong
verbindet und gelassene Zerstreuung zu einer positiven Fähigkeit erklärt, wie es
auch genauso die „Randglossen zu Tennisplätzen“ (1925/26 oder später) tun.57 Im
Tagebuch, Heft 30 (etwa März 1929–November 1941 oder später) stellt Musil aus-
drücklich einen Zusammenhang zwischen der Problematik verteilter Aufmerksam-
keit im Sport und seinen Schreibhemmungen her. So heißt es dort: „Die Unsicher-
heit, die sich einstellt, ist keine andere als die nervöse, die ich beim Tennis, Fechten,
Maschinenschreiben kenne, wenn mir jemand zusieht oder ich es besonders gut
machen will.“ Um dem „Gefühl, einen Schwarm, eine Wolke von Möglichkeiten
im Kopf zu haben“, zu entkommen, übt sich Musil in der Kunst der Zerstreuung
und nutzt Psychotechniken der analytischen Aufgliederung: „Ablenkung, […] die
überfixierte Aufmerksamkeit verteil[en]. […] Entspannen, Unterbrechen, Spazier-
engehen. […] Ich muß mir darum die Aufgabe erleichtern, sie teilen! Eins nach
dem andern.“58 Die Aporien willentlicher und mechanisierter Aufmerksamkeits-
praktiken verhandeln in geradezu dramatischer Manier Musils Notate über seine
Rauchgewohnheiten im gleichen Heft des Tagebuchs. Musil bespricht im ersten
Eintrag zum Thema die Sorge um seine Gesundheit aufgrund eines „sehr bösartig
aussehenden Rachenkatarrh[s]“, den „die entnikotinisierten Zigaretten“ womög-
lich ausgelöst haben. Er ermahnt sich, „Maß zu halten (stündlich nur 1 Zigarette)“.59
Zum nächsten Eintrag mit der Überschrift „Wieder über Rauchen“ merkt der Her-
ausgeber, Adolf Frisé, knapp an, dass die Schrift „zunehmend älter, weniger fest,
kraftvoll, erkennbar nervös, schließlich angestrengt, zerfahren“ wirke.60 Musil
bezeichnet jetzt seinen Zigarettenkonsum als eine kompensatorische Aktivität.
Allerdings hindere der Konsum von Zigaretten ihn daran, seiner Arbeit nachzu-
gehen. Es folgt ein „Vorschlag zur Güte: Meide das Rauchen als eine alberne Form

 55 Siehe Musil, „Kunst und Moral des Crawlens“, S. 694 ff. (Physiologie), 696 f. (Stil), 697 ff. (An-
passung), 698 (Zitat).
 56 Musil, „Durch die Brille des Sports“, S. 793.
 57 Siehe Musil, „Randglossen zu Tennisplätzen“, bes. S. 796 f.; Löffler, Verteilte Aufmerksamkeit.
 58 Musil, Tagebücher, Heft 30: Etwa März 1929–November 1941 oder später, S. 715 f. Tagebücher
eignen sich bestens als Quelle zur Untersuchung von Subjektivierungskulturen, weil sie in erhöh-
tem Maß ein reflexives, meist spannungsreiches Spiel mit Identitäten aufführen. „Le diariste est
deux:“, streicht Béatrice Didier entsprechend heraus, „il est celui qui agit et celui qui se regarde
agir“ (Didier, Le journal intime, S. 116).
 59 Musil, Tagebücher, S. 697. Peter Boerner spricht deshalb im Zusammenhang solcher Selbstmaß-
regelung in einer frühen gattungstheoretischen Übersicht vom Tagebuch als „Zuchtrute“ (Boer-
ner, Tagebuch, bes. S. 20-23, 20 [Zitat]).
 60 Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 489.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 71

des Müßiggangs!“61 Auch die folgenden Kurzeinträge „Forts. Rauchen“, „Rauchen,


Forts.“, „Rauchen“, „Rauchen, Einfall“ beinhalten Appelle Musils an sich selbst,
Maß zu halten. Die auf den ersten Blick lapidare Notiz „Wenn du kannst[,] zwinge
dich zur Enthaltsamkeit“ signalisiert gleichwohl, wie schwer es ihm fällt, mit seinen
schlechten Angewohnheiten zu brechen.62 Darüber hinaus versagt zu guter Letzt
das raffinierte psychotechnische Instrument der zergliedernden Buchhaltung tragi-
scherweise und gewinnt eine existenzielle Dimension. In einem im Anmerkungs-
teil zum Tagebuch verzeichneten, mit „Zig.“ titulierten Heftchen aus dem Nachlass
führt Musil akribisch über seinen Tabakkonsum Buch. Es gelingt ihm zwar, seine
tägliche Zigarettenration allmählich zu senken, den strengen Vorsatz „Arbeite statt
zu Rauchen“ verwirklicht Musil nicht mehr. Er stirbt, so vermutet Frisé, am
15.04.1942 mittags kurz nach dem letzten Eintrag zweier Zigarettenpausen um
„920 110“.63
Der Gang durch die Sachtexte von Musil konnte demonstrieren, dass erstens
seine Auseinandersetzung mit den Schriften Machs zunächst aus realistischer Warte
erfolgt und Aufmerksamkeit innerhalb des Bezirks von Willen und Verstand situ-
iert wird. Im Aufsatz zur „Psychotechnik und ihre Anwendung im Bundesheere“
drehen sich zweitens dann die Vorzeichen um und Musil hofft derweil, mit Hilfe
psychotechnischer Verfahren Aufmerksamkeit zu mechanisieren. In den Essays
zum Sport werden drittens beide Positionen reflexiv miteinander verbunden, und
Musil verdeutlicht viertens hier, wie auch im Tagebuch, dass im Training der Auf-
merksamkeit Subjektivierungsmöglichkeiten und -paradoxien einer körperbewuss-
ten und geistreichen Sorge um sich freigesetzt werden, die seinen Standort als einen
komplexen, aufreibenden Balanceakt zwischen den mehrdeutigen Sichtweisen
Meinongs und Machs bestimmen.64

 61 Musil, Tagebücher, S. 801, Herv. i. O. Musil greift an dieser Stelle auf den Begriff der Ersatzhand-
lung von Kurt Lewin zurück. Siehe auch weiterführend die Exzerpte Musils zu Lewin in Musil,
Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 1213 ff., und zu Lewin im Kontext der Gestaltpsy-
chologie Ash, Gestalt Psychology in German Culture, bes. S. 263-275.
 62 Musil, Tagebücher, S. 802, Herv. i. O. Siehe weiterführend zu schlechten Angewohnheiten auch
Schlechte Angewohnheiten, hg. v. Bernhard Kleeberg.
 63 Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, S. 584, Anm. 694 (Zitate 1, 3); Ders., Tagebü-
cher, S. 802 (Zitat 2).
 64 Ralph-Rainer Wuthenow bezeichnet allgemein die „kontrollierte Erprobung der unerträglich
oder doch problematisch gewordenen Lebenssituation“ als ein neues Charakteristikum des Tage-
buchs im 20. Jahrhundert und zählt Musil zu den prägenden Kräften dieses Vorgangs. Siehe
Wuthenow, Europäische Tagebücher, bes. S. 15 f., 60-69, 15 (Zitat). Musils – und Malinowskis
(siehe den folgenden Abschnitt 4) – Notate kreisen, wie gezeigt wurde, hingegen auch zentral um
die Darstellung von Situationen des Kontrollverlusts und die Ablösung einer rein rationalen, stets
souveränen Vorstellung des Ich.

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4. Sammlung, Training und Erschöpfung bei Bronisław Malinowski

Wird gegenwärtig der Name Malinowskis erwähnt, fallen wohl als Erstes Stichwör-
ter ein wie Erfinder der teilnehmenden Beobachtung, Vertreter des Sozialfunktio-
nalismus und tatkräftiger Komplize des Kolonialismus, verbunden mit seinen be-
rühmtesten Schriften sowie den posthum publizierten Forschungstagebüchern.65
Weitaus weniger geläufig sind dagegen die Anfänge seiner Karriere um 1900. Ähn-
lich wie Musil, der vor bzw. zeitweise parallel zu seinen schriftstellerischen Tätigkei-
ten über philosophische Fragestellungen im Ausgang von den Schriften Machs
nachdachte (siehe oben Abschnitt 3), schrieb Malinowski ebenfalls vor Beginn
seiner kometenhaften Laufbahn in der britischen Anthropologie 1906 eine Disser-
tation an der Krakauer Jagiellonen-Universität über Machs Prinzip der Denk-
ökonomie, die nicht nur sein postpositivistisches Paradigma der teilnehmenden
Beobachtung zu verstehen hilft, sondern es auch ermöglicht, seine Tagebücher kör-
perhistorisch zu rekontextualisieren und dichotome Deutungsansätze der Anthro-
pologiegeschichte aufzubrechen.66 Um dieses Ziel einer körpergeschichtlichen
Neubewertung von Malinowski zu erreichen, werden im Wesentlichen drei Analy-
seschritte durchgeführt: Erstens erfolgt eine genaue Lektüre der Dissertation und
einiger anderer früher Schriften Malinowskis, die darlegen soll, inwiefern seine
Grundposition – parallel zu Musil – zwischen einem physikalistischen und einem
voluntaristischen Aufmerksamkeitsverständnis changiert; zweitens werden die For-
schungstagebücher im Hinblick auf diese Problemstellung untersucht und der
Nachweis geführt, dass sportliche Aktivitäten Malinowski machtvolle Selbsttech-
nologien der Sorge um sich zur Verfügung stellen, die – vergleichbar mit Musils
Erfahrungen – in den Dilemmata moderner Subjektivierungskulturen enden.67
Drittens wird im folgenden fünften Abschnitt ausblickend Malinowskis Haltung
mit weiteren Stellungnahmen in Beziehung gesetzt, um stichprobenartig zu prü-
fen, ob er sich innerhalb eines damals gängigen Diskussionszusammenhangs be-
wegt oder seine Gedanken den Argumentationshorizont der Zeitgenossen kreativ
überschreiten.
Noch aus der Studienzeit in Krakau stammt ein Essay von Malinowski zur Phi-
losophie Nietzsches.68 Der Text besitzt einen inhaltlichen Eigenwert, weil er an

 65 Siehe Malinowski, Argonauts of the Western Pacific; Ders., The Sexual Life of Savages in North-
Western Melanesia; Ders., Coral Gardens and Their Magic; Ders., A Diary in the Strict Sense of the
Term.
 66 Siehe Malinowski, „On the Principle of the Economy of Thought“; zum Entstehungskontext des
frühen Werks Malinowski Between Two Worlds, hg. v. Roy F. Ellen, Ernest Gellner, Grażyna Ku-
bica und Janusz Mucha, bes. S. 1-11, 88-127, 195-200; Thornton/Skalník, „Introduction“, bes.
S. 26-38, und weiterführend zur wandelnden Bewertung Malinowskis in der Anthropologiege-
schichte z. B. Richards, „Field Work Methods“; Man and Culture, hg. v. Raymond Firth; Urry,
„‚Notes and Queries on Anthropology‘“; Kuper, Anthropology and Anthropologists, bes. S. 1-22;
Stocking, „The Ethnographer’s Magic“; Clifford, The Predicament of Culture, bes. S. 92-113.
 67 Den Begriff der Subjektivierungskultur verwende ich in loser Anlehnung an Reckwitz, Das hyb-
ride Subjekt. Siehe auch unten das Resümee (Abschnitt 6).
 68 Siehe Malinowski, „Observations“.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 73

vielen Stellen auf die Argumente der Dissertation vorausweist. Dieser Sachverhalt
wird beispielsweise in der skeptischen Beurteilung metaphysischer Aussagen deut-
lich.69 Hier kündigt sich erneut ein Blickwinkel zwischen Mechanisierung und
Voluntarisierung der Aufmerksamkeit an.70 Ohne allen Einzelheiten der Seminar-
arbeit von Malinowski gerecht werden zu können, sind noch folgende Passagen
von thematischem Belang: Erstens stellt Malinowski im Aufsatz eine funktionalis-
tische Deutung von Mythen auf, die methodologisch augenfällig von Mach inspi-
riert wird.71 Zweitens nutzt er im Sinne eines strukturzentrierten Denkstils das
Medium der synoptischen Tabelle, um die Unterschiede zwischen apollonischer
und dionysischer Kunst bei Nietzsche herauszukehren.72 Dieses Instrument spielt
immerhin in der historiographischen Praxis Machs eine bedeutende Rolle.73 Drit-
tens entwickelt Malinowski eine psychologische Interpretation der Entstehung von
Musik, die er introspektiv gewinnt.74 Malinowski zeigt sich hier zweifelsohne auf-
geschlossen gegenüber zeitgenössischen Auffassungen einer Denkpsychologie, die
um 1900 sowohl in der Grazer Schule Meinongs als auch in der Würzburger Schule
von Oswald Külpe befürwortet wird, und nimmt eine Mittlerstellung zwischen
den Polen von Physikalismus und Voluntarismus ein.75
Ein nahezu identischer Argumentationsgang charakterisiert Malinowskis Kra-
kauer Dissertation On the Principle of the Economy of Thought (O zasadzie ekonomii
myślenia) von 1906. Eingangs lobt Malinowski einerseits antimetaphysische Ten-
denzen in der Gegenwartsphilosophie, weil sie „many obsolete errors and prejudi-
ces“ beseitigten. Andererseits stellt er die Frage, ob die sogenannten Anti-Metaphy-
siker nicht doch auch Metaphysik unter einem anderen Namen trieben.76 Um die
Frage zu beantworten, untersucht er mit Richard Avenarius und Ernst Mach zwei
paradigmatische Vertreter des Prinzips der Denkökonomie als Alternative zur klas-
sischen Metaphysik. Methodisch orientiert er sich an hermeneutischen und histo-
ristischen Prinzipien, obwohl seine diesbezüglichen Angaben – gerade auch im
Vergleich mit Musils Dissertationsschrift – etwas vage bleiben (MOP, S.  90). Vor
Beginn seiner Kritik der Lehren von Avenarius variiert Malinowski diese Doppel-
strategie und zieht als Maßstab plötzlich auch, wie er es nennt, die Regeln der for-
malen Logik heran, ohne seine Vorgehensweise näher zu begründen (MOP, S. 97).
Das Urteil fällt vernichtend aus: So fehle der Philosophie von Avenarius jegliche

 69 Siehe ebd., S. 67 f.


 70 Siehe auch Martynkewicz, Das Zeitalter der Erschöpfung, S. 324.
 71 Siehe Malinowski, „Observations“, S. 71.
 72 Siehe ebd., S. 73 f.; diese Vorgehensweise prägt später die Feldforschung Malinowskis: Malinow-
ski, Argonauts of the Western Pacific, bes. S. 14 f., und weiterführend zum Denken im Medium der
Tabelle Bauer, Zellen, Wellen, Systeme, Kap. 2.2.
 73 Siehe Mach, Notizbuch, NL 174/0509 ab 18.09.1874, [34, Recto].
 74 Siehe Malinowski, „Observations“, S. 76.
 75 Siehe nur Meinong, „Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung“, bes. S. 116, 134 f.,
144 f., 160, bzw. weiterführend zu Meinong oben Abschnitt 2, und zur Würzburger Schule Intro-
spektion, hg. v. Paul Ziche.
 76 Malinowski, „On the Principle of the Economy of Thought“, S. 89. Im Folgenden unter der Sigle
MOP mit Seitenangabe direkt im Text zitiert.

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74 Julian Bauer

wissenschaftliche Grundlage, weil er herbartianisch argumentiere, obwohl diese


Form der Psychologie längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit sei (MOP, S. 102 ff.).
Nach diesem methodischen Zickzack wendet sich Malinowski Machs Fassung des
Denkökonomiebegriffs zu. Eigenartigerweise bekräftigt er auf der einen Seite wie-
der, hermeneutisch vorzugehen: „Let us now pass on to a review of what Mach
himself says about his principle.“ Auf der anderen Seite reduziert Malinowski sei-
nen Quellenkorpus enorm und möchte die Diskussion auf zwei Bücher und einen
Vortrag Machs beschränken, nämlich Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Die Prin-
cipien der Wärmelehre und die Rede über „Die ökonomische Natur der physikali-
schen Forschung“. Darauf folgt eine weitere reduktive Operation: Malinowski ver-
kürzt Machs Argumentation auf eine einfache biologistische These, die schlicht
besage, dass „Man aims at self-preservation.“ (MOP, S.  106) Im nächsten Schritt
kontextualisiert Malinowski zuerst die Überlegungen Machs in groben Zügen und
identifiziert Darwins Evolutionstheorie als entscheidende Ursache der Mach’schen
Wissenschaftsphilosophie, um anschließend seinen Hauptvorwurf gegen Mach zu
formulieren. Man dürfe, argumentiert Malinowski, nicht ohne Weiteres evoluti-
onstheoretische Hypothesen aus dem Bereich der Biologie auf die Psychologie
übertragen (MOP, S.  108  f.). Malinowski zeiht Mach eines kategorialen Fehlers,
bedenkt aber selber nicht, dass dessen Monismus die unterstellte Differenz zwi-
schen biologischen und psychologischen Phänomenen nicht anerkennt. Die selbst-
gesetzten Gebote einer immanenten hermeneutischen Kritik verletzt Malinowski
auf ähnlich flagrante Weise wie Musil. Und wie bei Musil bildet ein voluntaristi-
sches Weltbild den Hintergrund dieser Verletzung (MOP, S. 110 f.). Nichtsdesto-
trotz sehnt Malinowski sich nach einer strikt empirischen Geisteshaltung (MOP,
S. 115). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Malinowski in den frühen Schrif-
ten zwischen einem voluntaristischen und einem physikalistischen Verständnis von
Aufmerksamkeit oszilliert. Seine Argumentation wird vom traditionellen Volunta-
rismus der akademischen Philosophie getragen, wohingegen seine Hoffnungen für
die nahe Zukunft von den Erfolgen empirischer Naturforschung beflügelt werden
und mit Mach auf eine einheitliche Erfahrungswissenschaft zielen.77
Dass Malinowski zu Beginn seiner Karriere enge Bezüge zu empiristischen und
historistischen Diskussionen seiner Zeit sucht, ließe sich anhand seiner ersten eng-
lischsprachigen Monographie, The Family among the Australian Aborigines (1913),
verfolgen, die noch als klassische Lehnstuhlethnographie durch Bibliotheksarbeit
im British Museum entstanden ist und distanziert auf die Veränderungen der eige-
nen Disziplin hin zu einer stärkeren empirischen Fundierung durch Feldforschung
reagiert.78 Erst mit seiner Studie der Mailu, The Natives of Mailu (1915), ändert
sich die Situation dahingehend, dass fortan die meisten Publikationen von Mali-

 77 Siehe auch Malinowski, „Totemism and Exogamy“, z. B. S. 140; Ders., „The Economic Aspects
of the Intichiuma Ceremonies“, bes. S. 224.
 78 Siehe Malinowski, The Family among the Australian Aborigines, bes. S. viii zu den Folgen der Tor-
res Straits Expedition von 1898/99, und S. 22 über die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Mis-
sionar und Ethnograph.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 75

nowski auf eigens erhobenen Daten aus dem Feld basieren.79 Weil es im vorliegen-
den Abschnitt weniger um die Malinowski’schen Lernprozesse am Schreibtisch
und im Feld geht, können diese Aspekte hier nicht weiter vertieft werden.80 Statt-
dessen gilt es, seine Tagebücher des Aufenthalts bei den Mailu (1914–1915) sowie
die zweite Forschungsphase auf den Trobriandinseln (1917–1918) auszuwerten,81
um zu überprüfen, inwiefern Malinowski während seiner Feldaufenthalte im Pazi-
fik sportliche Aktivitäten als Selbsttechnologien der Sorge um sich einsetzt und
dabei vergleichbaren Aporien wie Musil begegnet. Gleich zu Beginn vermittelt das
Tagebuch der Jahre 1914–1915 einen Eindruck von den körperlichen Strapazen,
die Malinowski auf sich nimmt: Er beschreibt eine panische Angst vor großer Hitze
und wappnet sich dagegen mit dem Einkauf von Pharmazeutika.82 Auch in den
darauffolgenden Tagen ist Malinowski mehr mit seinen eigenen Leiden als mit der
Umgebung beschäftigt, und seine Laune bessert sich nur langsam (MP1, S. 6-11).
Neben medikamentöser Therapie mit Arsen und Chinin nennt er körperliche Er-
tüchtigungsübungen, um das Ziel einer Beherrschung des Selbst und der Situation
im Feld zu erreichen (MP1, S.  13). Zuerst scheint ihm dies nur bedingt zu gelin-
gen, und es folgen wortreiche Beschwerden über die eigene Müdigkeit (MP1,
S.  15  ff.). Ungefähr eine Woche später notiert Malinowski dann erste sportliche
Aktivitäten und vermerkt positive Auswirkungen (MP1, S.  19  f.). Nach drei ar-
beitsreichen Wochen auf Mailu droht erneut krisenhaft der Verlust jeglicher Selbst-
kontrolle, und er schildert einen Zustand verteilter Aufmerksamkeit, der an
Machs sensationalistische Assoziationspsychologie erinnert (MP1, S.  33  f.; siehe
auch 73, 82). Im weiteren Verlauf vergräbt Malinowski sich oft entweder in die
Datenerhebung oder ergreift die Flucht aus der Wirklichkeit mit Hilfe belletristi-
scher Literatur oder melancholischer Erinnerungen an die Vergangenheit (MP1,
S. 34 f., 37 f., 40 f., 48 f., 52 ff., 79, 90 f.). Spürbare Selbstachtung gewinnt Mali-
nowski erst durch sportliche Aktivitäten wieder, wie er wenig später festhält (MP1,
S. 59). In Folge dieser Erfahrung häufen sich die Einträge mit knappen Informati-
onen zu Trainingseinheiten beachtlich und demonstrieren, dass Malinowski durch
körperliche Ertüchtigung seiner Sorge um sich Ausdruck verleiht und in diesen
Momenten sein Selbst erfolgreich formt (MP1, S. 65 f., 69, 74, 81). Zur gleichen
Zeit gelingt es ihm – wie schon bei Musil gesehen – nicht immer, eigene Vorsätze
zu beachten (MP1, S.  75  ff.). Das Fazit am Schluss des Tagebuchs fällt trotzdem
nicht einfach nur konziliant aus, sondern fokussiert auf den Zugewinn körperli-
cher Fähigkeiten, die offenkundig Rückwirkungen auf die Wahrnehmung eigener
Ängste und Unsicherheiten haben: „I don’t feel a bit worse than when I came. I am
a better sailor and I walk much better – the distances no longer terrify me. […] [I]n

 79 Siehe nur Malinowski, Malinowski Among the Magi; Ders., „Baloma“, sowie weiterführend
Young, „The Intensive Study of a Restricted Area“, bes. S. 8-11; Ders., „Malinowski Among the
Magi“, bes. S. 24-27.
 80 Siehe weiterführend zu diesem Aspekt Bauer, „Die (Be-)Handlung des Objekts“.
 81 Siehe Malinowski, „Part One: 1914–1915“; Ders., „Part Two: 1917–1918“.
 82 Siehe Malinowski, „Part One: 1914–1915“, S. 3 ff. Im Folgenden unter der Sigle MP1 mit Sei-
tenangabe direkt im Text zitiert.

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76 Julian Bauer

the light of old fears and uncertainties I have decidedly won a victory.“ (MP1,
S. 97)
Das Tagebuch der Jahre 1917–1918 enthält ähnliche Auszüge und bestärkt die
Ergebnisse der Untersuchung des ersten Teils. Malinowski kämpft auch während
des Aufenthalts auf den Trobriand-Inseln mit der Umgebung, den eigenwilligen
Untersuchungsgegenständen und sich selbst. Sein Verhalten schwankt weiterhin
zwischen aggressiven Willensbekundungen und regelrechten Wutausbrüchen,
buddhistisch anmutenden Glücksmomenten verteilter Aufmerksamkeit, Flucht in
die Lektüre von Poesie und Belletristik, Erschöpfung, Resignation und Melancho-
lie sowie zahlreichen Versuchen, mit Hilfe von gymnastischen, athletischen oder
handwerklichen Übungen Kontrolle über sich selbst, über Körper und Geist zu-
rückzugewinnen.83 Hierzu zählt nun auch – das ist neu im Vergleich zum ersten
Tagebuch – die Selbstreflexion über Schreibprozesse.84 Der Sinn einer Beobach-
tung liege nie in der Sache selbst, sondern entstehe im Auge des Betrachters bzw.
genauer im Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung, Erinnerung und Verschrift-
lichung. In einer zweiten Lesart entsprechender Partien wird des Weiteren klar, dass
Malinowski – im Sinne Machs – seine eigene Identität dynamisiert und die Stabi-
lität des Ich als einen medialen Effekt betrachtet. In gewisser Weise bahnt sich bei
Malinowski eine wichtige Erkenntnis der jüngeren wissensgeschichtlichen Schreib-
forschung an, die besagt, dass „[d]as Selbst, das schreibt, […] nie im Geschriebe-
nen, sondern stets außerhalb von ihm [liegt], wie ein Gespenst.“85 Der Bedeutung
körperlichen Trainings als fundamentaler Technik der Malinowski’schen Sorge um
sich tut diese Einsicht freilich keinen Abbruch.86

5. Muskulöses Selbst, Balance und Ekstase von Aufmerksamkeit


in der zeitgenössischen Sportliteratur
Malinowskis Ansatz, durch körperliche Ertüchtigung das eigene Selbst in Form zu
bringen und ein Gleichgewicht zwischen willentlicher und somatischer Aufmerk-
samkeit zu schaffen, lässt sich in einem letzten, ausblickenden Untersuchungs-
schritt ohne Schwierigkeiten im zeitgenössischen Vorstellungsraum verorten. Dass

 83 Siehe Malinowski, „Part Two: 1917–1918“, zu Wille, Wut: S. 110, 112 f., 120, 122, 128, 136,
140, 148, 157, 167, 179, 181, 193, 236, 253, 272, 279; zu verteilter Aufmerksamkeit: S. 126,
132, 163, 186, 219, 259, 268 f.; zur Lektüre von Belletristik und Poesie: S. 114, 144, 146, 149,
172, 186 f., 190, 195, 200, 209, 240 f., 261, 264 f., 281, 289, 291; zu Erschöpfung, Resignation,
Melancholie: S. 119, 131, 135, 143 f., 165, 172, 178, 195, 196 ff., 204 ff., 217, 237, 240, 260,
264, sowie zu Gymnastik, Handwerk: S. 111, 115, 120, 123 f., 150 f., 158, 169, 174, 176, 186 f.,
203, 215, 240.
 84 Ebd., S. 175; siehe auch S. 114, 188, 204, 247 f.
 85 Giuriato/Stingelin/Zanetti, „Einleitung“, S. 14, Herv. i. O. Diese Auslegung birgt mehr Raffi-
nesse als Arno Dusinis Vorschlag, dass Tagebücher qua Gattung „das Problem einer durch Schrift-
lichkeit gebrochenen, aber gerade in diesen Brechungen an Leuchtkraft gewinnenden Authentizi-
tät“ verhandeln (Dusini, Tagebuch, S. 10).
 86 Siehe Malinowski, „Part Two: 1917–1918“, S. 187.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 77

allgemein gesprochen um 1900 im Sport Gedanken des Ausgleichs und der Har-
monie zwischen Körper und Geist eine größere Rolle als die pure Leistungsopti-
mierung spielen, hat John Hoberman in seiner diskursgeschichtlichen Studie zu
Mortal Engines: The Science of Performance and the Dehumanization of Sport (1992)
deutlich gemacht.87 Da Hoberman nicht primär nach der im vorliegenden Aufsatz
interessierenden Bedeutung derartiger Vorstellungen als Techniken der Selbstsorge
fragt, muss diese Dimension anhand dreier Fallstudien kurz umrissen werden. Um
ansatzweise etwas Breite zu gewinnen, wurden Quellen aus dem englischen, deut-
schen und französischen Sprachraum herangezogen. Untersucht man die einfluss-
reichen Bücher Archibald Maclarens, fallen fünf wesentliche Aspekte auf: Erstens
konturiert Maclaren in Training in Theory and Practice (1866/1874), dass sportli-
che Übungen und die Arbeit am Selbst ein dynamisches Verständnis des Ich vor-
aussetzen, wie es Mach, Musil und Malinowski vorschwebt.88 Zweitens bestätigt
das Buch die Thesen Hobermans. Maclaren entwirft keine einseitigen Trainings-
programme, sondern betont die Notwendigkeit gradueller, akkumulativer, konti-
nuierlicher und holistischer Übungsregimes, um extreme Erschöpfung und dauer-
hafte Blessuren zu verhindern.89 Drittens impliziert Maclarens ganzheitlicher
Ansatz, neben körperlichem Training Ruhepausen und geistige Aktivitäten nicht
zu vernachlässigen.90 Viertens weitet er mit A System of Physical Education: Theore-
tical and Practical (1869/1885) den Radius seiner Überlegungen aus und bezeich-
net sportliche Aktivitäten als Grundlage jeglicher fortschrittlicher Körperkultur.91
Fünftens betrachtet Maclaren – ebenso wie Malinowski, aber auch Musil – körper-
liches Training als eine zentrale Voraussetzung für ein gelungenes Leben in der
modernen Gesellschaft.92 Individuelle Resilienz und Originalität sind, so könnte
man Maclaren paraphrasieren, Resultate eines ausgewogenen Trainingsprogramms.
Moderne Subjektivität wird zu einer Übungssache und von Besitzverhältnissen
entkoppelt.93
Emil du Bois-Reymond, Physiologe an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Berlin, Mitgründer der Berliner Turngemeinde und dort langjähriger Vorturner am
Barren, vertritt in seinen Beiträgen zum Thema eine nahezu identische Sichtwei-
se.94 Auch hier dient erstens moderates und ausgeglichenes Training der Förderung
körperlicher und geistiger Gesundheit.95 Diese Haltung wird in der Aussage ver-

 87 Hoberman, Mortal Engines; siehe auch Becker, Amerikanismus in Weimar, und weiterführend zur
Wissenschaftsgeschichte der Erschöpfung Felsch, Laborlandschaften.
 88 Maclaren, Training in Theory and Practice, S. 29.
 89 Siehe ebd., bes. S. 20 f., 35 ff., 40-43, 120 f., 125, 131 f., 136, 138, 150 f., 160.
 90 Siehe ebd., z. B. S. 40, 128 f., 135 f., 140 f.
 91 Siehe Maclaren, A System of Physical Education, S. 4.
 92 Siehe ebd., S. 22-27.
 93 Siehe auch ebd., bes. S. 7.
 94 Siehe Bois-Reymond, Ueber das Barrenturnen; Ders., Hr. Rothstein und der Barren; Ders., „Ueber
die Uebung“, sowie weiterführend Sarasin, „Der öffentlich sichtbare Körper“, S. 447-452; Die-
rig, Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 122-144; Finkelstein, Emil du Bois-Reymond, S. 179-
182.
 95 Siehe z. B. Bois-Reymond, Ueber das Barrenturnen, S. 7, 15.

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78 Julian Bauer

dichtet, dass „das Turnen […] gerade ebensosehr eine Anstrengung und Uebung
des Nervensystems, ebensosehr Nervengmnastik als Muskelgymnastik“ sei.96 Bois-Rey-
mond befürwortet zweitens gleichfalls einen ganzheitlichen Ansatz sportlicher
Übungen und lehnt drittens einseitiges Training spezifischer Muskelpartien ent-
schieden ab.97 Viertens gibt er wie Maclaren zu verstehen, dass Sport seiner Mei-
nung nach moderne, widerstandsfähige Subjekte überhaupt erst erschaffe, und
fünftens Sport im Sinne einer Sorge um sich die Selbstwertschätzung intensiviere.98
Bois-Reymond behandelt noch einen zusätzlichen Gesichtspunkt: Um den Vor-
wurf zu entkräften, dass durch das Barrenturnen die Feinmotorik verloren gehe,
weist er darauf hin, dass nicht nur sein handwerkliches Geschick als Experimenta-
tor nicht unter seinen turnerischen Aktivitäten gelitten habe, sondern diese Tatsa-
che gleichermaßen für seine Kollegen, „die Herren Brücke in Wien, Heintz in
Halle, Helmholtz und Kirchhoff in Heidelberg, Kölliker in Würzburg, [und] Pflüger
in Bonn“ gelte.99 Das ideale Subjekt und a fortiori der ideale Gelehrte vereinen
hiernach in sich die Fähigkeit zu körperlichen und geistigen Höchstleistungen, wie
man durch Kombination mit dem folgenden Zitat schließen darf:
Ein Mensch, der im Leben nichts kann als schwimmen oder schlittschuhlaufen, wird
schwerlich sehr geachtet sein. Ich habe aber nie gefunden, daß es der Verehrung, mit
der Lord Byron’s oder Dieffenbach’s Name genannt wird, Abbruch that, daß der
große Dichter zugleich einer der besten Schwimmer, der geniale Chirurg einer der
feinsten Schlittschuhläufer seiner Zeit war.100

In einer modernen Subjektivierungskultur treibt man nicht einfach Sport. Sport


wird zu einem Kernbestandteil der gesamten Lebensführung und, so lässt sich
Bois-Reymond zusammenfassend interpretieren, zur Grundlage kultureller Autori-
tät.101
Sehr ähnliche Beurteilungen finden sich bei dem französischen Historiker, Päd-
agogen und Sportfunktionär Pierre de Coubertin. Sein Essay „La psychologie du
sport“ von 1900 zeichnet sich – neben den Berührungspunkten zu den bisher be-
sprochenen Texten – insbesondere durch eine Betonung der Ambivalenzen von
Training und Wettkampf aus. Einerseits stellt er, wie bei Musil, Malinowski, Ma-
claren oder Bois-Reymond gesehen, die Ertüchtigung des Körpers in den Dienst

 96 Ebd., S. 22, Herv. i. O.; siehe auch Ders., Hr. Rothstein und der Barren, S. 31; Ders., „Ueber die
Uebung“, bes. S. 417-421.
 97 Siehe z. B. Bois-Reymond, Ueber das Barrenturnen, S. 8, 18-23, 26, 28; Ders., „Ueber die Ue-
bung“, S. 440.
 98 Siehe Bois-Reymond, Ueber das Barrenturnen, S. 9 f., 13 f.; Ders., Hr. Rothstein und der Barren,
S. 3, 23 f., 35; Ders., „Ueber die Uebung“, S. 441.
 99 Siehe Bois-Reymond, Hr. Rothstein und der Barren, S. 29, Herv. i. O.
100 Bois-Reymond, Ueber das Barrenturnen, S. 29. Siehe auch Ders., „Ueber die Uebung“, S. 425 f.,
428 f., und in aller Deutlichkeit Dierig, Wissenschaft in der Maschinenstadt, S. 13: „Der geübte
Turner und der geübte Experimentator, beides waren die Resultate einer Muskel- und Nerven-
gymnastik, der physischen Selbstkultivierung im Umgang mit Geräten.“
101 Siehe auch Bois-Reymond, Hr. Rothstein und der Barren, bes. S. 36 f.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 79

des Verstands.102 Des Weiteren unterstreicht Coubertin, dass der Sport ein genuin
modernes Phänomen sei, dem ein demokratisierendes Potential inneliege, weil er
eine global verbreitete, von Intelligenz und Reichtum unabhängige Aktivitätsform
darstelle.103 Zugleich bricht sich bei Coubertin andererseits eine konträre Perspek-
tive Bahn. Anstatt sportliche Aktivitäten als ein Mittel für andere Zwecke – seien
es nun Gesundheit, Wohlbefinden, schnellere Geistesgaben o.  Ä. – anzusehen,
wird der Sport fühlbar zu einem Selbstzweck.104 Am Schluss des Aufsatzes spitzt
Coubertin diesen Standpunkt weiter zu und postuliert, dass der Sport zum Exzess
tendiere und darin die Eleganz und der Zauber sportlichen Engagements liege.105
Statt körperliches Training als eine Technik der Sorge um sich aufzufassen, maschi-
nisiert Coubertin sportliche Aktivitäten, die nun nur noch höher, weiter, schneller
streben und den Genuss des Selbst nicht mehr vorsehen. Der Mensch reduziert sich
im Gefolge von Coubertins Ausführungen so tatsächlich zur ‚sterblichen Ma-
schine‘, um die stimmige Formulierung Hobermans aufzugreifen.106
Durch eine körpergeschichtliche Rekontextualisierung der Forschungstage-
bücher Malinowskis konnte veranschaulicht werden, dass die ‚Magie des Ethno-
graphen‘ nicht bloß von einer wissenschaftlichen Zielsetzung, teilnehmender
Beobachtung und empirischen Methoden der Datenerhebung abhängt, wie es
Malinowski stilbildend in The Argonauts of the Western Pacific (1922) beschreibt,107
sondern mindestens genauso auf harter, mehr oder weniger gelingender körperli-
cher Arbeit am Selbst des Beobachters beruht.108 Die Aufmerksamkeit des Ethno-
graphen ist eine diffizile Balance zwischen Körper und Geist, die situativ immer
wieder neu im Spannungsfeld von Zerstreuung, Sammlung, Training und Erschöp-
fung hergestellt werden muss. Mit dieser Problematik steht Malinowski im Ein-
klang mit zeitgenössischen Ansichten. Durch Seitenblicke auf einige Schriften von
Maclaren, Bois-Reymond und Coubertin konnte über Mach, Musil und Meinong
hinaus belegt werden, dass die Formung des Selbst und die Schulung der Aufmerk-
samkeit mittels sportlichen Engagements von vielen Zeitgenossen aktiv betrieben
und breitenwirksam zur Nachahmung empfohlen wurde. Die im vorliegenden
Aufsatz untersuchten Schriftsteller und Gelehrten bekunden erstens ein ausgepräg-
tes Körperbewusstsein. In ihren Beiträgen kommt zweitens selten ein rein volunta-

102 Coubertin, „La psychologie du sport“, S. 169 f. Siehe auch Ders., Révélation, bes. S. 371-432,
und weiterführend Thibault, L’influence du mouvement sportif, bes. S. 95-123; Boulongne, La vie
et l’œuvre pédagogique de Pierre de Coubertin; MacAloon, This Great Symbol; Bermond, Pierre de
Coubertin.
103 Siehe Coubertin, „La psychologie du sport“, S. 170.
104 Ebd., S. 178.
105 Siehe ebd., S. 179.
106 Siehe Hoberman, Mortal Engines, bes. S. 62-99, 304-311 (Anm.).
107 Siehe Malinowski, Argonauts of the Western Pacific, bes. S. 6-25.
108 Die Rezension von Clifford Geertz anlässlich der Veröffentlichung der Tagebücher Ende der
1960er Jahre thematisiert ebenfalls Malinowskis Arbeitswut im Feld. Geertz nimmt jedoch eine
mentalitätsgeschichtliche Deutung vor und vertritt die These, dass Malinowskis Verhalten einem
„Calvinist belief in the cleansing power of work“ entspringe (Geertz, „Under the Mosquito Net“,
S. 12).

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80 Julian Bauer

ristisches oder ein strikt physikalistisches Aufmerksamkeitsverständnis zum Aus-


druck. Es herrschen im Gegenteil drittens Mischformen vor. Die Tagebücher
Machs, Musils und Malinowskis legen viertens offen, dass die Formung des Selbst
durch körperliche Aufmerksamkeitspraktiken voraussetzungsvoll, entbehrungs-
reich und ständig vom Scheitern bedroht ist. Die Grenzen der Selbstoptimierung
in kapitalistischen Gesellschaften führen sie der Leserin in grellen Tönen vor Au-
gen.109

6. Maschinenmenschen, Augenblickswesen und das Ende


der Persönlichkeit? Aufmerksamkeitspraktiken als widersprüchliche
Formen der Sorge um sich
Der Soziologe Alois Hahn stellt in einem Artikel über die Geschichte der Aufmerk-
samkeit eine originelle Beobachtung an, indem er konstatiert, dass die Vorstellung
der Flüchtigkeit von Sinn bei Niklas Luhmann keine althergebrachte, stabile Ein-
sicht der abendländischen Geistesgeschichte darstelle, sondern erst in der Moderne
entdeckt worden und virulent geworden sei.110 Bemüht Hahn primär die Phäno-
menologie Husserls, um Luhmanns volatilen Sinnbegriff ideengeschichtlich abzu-
leiten, kann mit Hilfe der vorliegenden praxis- und subjekttheoretisch fundierten
Untersuchung von Aufmerksamkeitspraktiken als Techniken der Sorge um sich der
Hahn’sche Blickwinkel ergänzt werden. So ist die Volatilität von Sinn nicht allein
als geistesgeschichtliches Phänomen im 20. Jahrhundert greifbar, sondern vielmehr
ein Resultat der Szientifizierung des Selbst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.
Ob man dazu nun eine außenweltorientierte Experimentalstrategie wählt, das
Selbst vermisst und an der Oberfläche sein Verhalten beobachtet oder nach innen
gerichtete Selbstbeobachtung und Introspektion anstellt, ist gar nicht so entschei-
dend, weil beide Verfahren grundsätzlich dazu führen, ein substantialistisches Ver-
ständnis des Individuums aufzulösen und stattdessen sowohl das Ich und die Ins-
tanz des Beobachters zu dynamisieren als auch die Grenzen und Fehleranfälligkeiten
des menschlichen Wahrnehmungsapparates zu bestimmen. Kurz gesagt: Die Vola-
tilität von Sinn setzt die Volatilität des Subjekts voraus.
Die Flüchtigkeit des Subjekts bedeutet indes nicht automatisch – dies ist als ein
weiteres Ergebnis festzuhalten –, dass man es von nun an mit Maschinenmenschen
und Augenblickswesen zu tun bekommt oder das Ende der Persönlichkeit bevor-
steht. Weder taugt Mach bei genauer Hinsicht als Kronzeuge einer psychophysi-
schen Zerstörung des Subjekts noch wurde er zeitgenössisch nur derart reduktiv
interpretiert. Wille, Gefühl und Gedächtnis garantieren auch bei Mach die relative
Beständigkeit des Ich. Musil beispielsweise greift zu Mach, um sich „das Vorhan-
densein einer vorwiegend verstandlichen Existenz […] zu erweisen“.111 Umgekehrt

109 Siehe dazu neuerdings auch Crary, 24/7.


110 Siehe Hahn, „Aufmerksamkeit“.
111 Musil, Tagebücher, Heft 4: 1899?–1904 oder später, S. 20.

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Aufmerksamkeit, Zerstreuung, Erschöpfung 81

lässt sich auch nicht die These aufrechterhalten, dass es stets eine klare Frontstel-
lung zwischen voluntaristischer Stärkung und physikalistischer Auflösung des
Selbst gegeben habe. Meinong besinnt sich zweifellos auf die Existenz des eigenen
Verstands, zur gleichen Zeit erkennt er die Notwendigkeit einer körperzentrierten
Schulung der Aufmerksamkeit an.112 Bei Malinowski sieht man schließlich beson-
ders plastisch, wie die Aufmerksamkeit des Ethnographen den Ausgleich zwischen
Körper und Geist benötigt und situativ immer wieder neu hergestellt werden muss,
ohne den Willen jedoch vollkommen erlahmt. Die Kategorie des Willens folgt im
Untersuchungszeitraum mithin einer reflexiven, „selbstinvolutive[n] Logik“.113
Aufmerksamkeitspraktiken haben sich außerdem als mächtige und mehrdeutige
Techniken der Sorge um sich erwiesen. Einerseits frönen alle untersuchten Autoren
körperlichen Aktivitäten, steigern dadurch ihre Selbstwahrnehmungskompetenzen
und erhöhen ihre Selbstwertschätzung. Andererseits dokumentieren sämtliche
Quellen, dass die Formung von Körper und Selbst nicht immer gelingt, der Druck
zur Selbstoptimierung enorm ist und zu Selbstentfremdung oder im Extremfall
zum Tod führen kann. So setzt sich z. B. Musil immer strengere Ziele, um den ei-
genen Zigarettenkonsum einzudämmen, scheitert jedoch am Ende kläglich und
stirbt. Auch Malinowski hofft durch körperliches Training, die eigene Leistungsfä-
higkeit zu steigern und den Arbeitswillen zu stählen. Dennoch verfehlt er seine
Zielsetzungen regelmäßig, flüchtet sich in die Welt der schönen Literatur oder ver-
abreicht sich großzügig Schmerzmittel und Alkohol. Das eigene seelische und kör-
perliche Wohlbefinden leidet unter diesen Eskapaden sichtlich, wie es die Tagebü-
cher Malinowskis schonungslos offenbaren.114
Nicht zuletzt aufgrund solcher Zwiespälte setzt Mach in einem Notizbuchein-
trag bereits um 1880 seine Hoffnung auf eine bessere Zukunft und eine zuneh-
mende Triebkontrolle.115 Mach demonstriert einprägsam, dass die Gelehrten im
ausgehenden 19. Jahrhundert intensiv über die Beziehungen zwischen Körper,
Geist und Affekten nachdenken, große Schwierigkeiten in der Beherrschung eige-
ner Körper- und Sprachhandlungen sehen und darauf hoffen, durch eine wissen-
schaftlich angeleitete Reflexivitätssteigerung das Selbst, den Körper und die Ge-
fühle zukünftig besser zu kontrollieren.116 Innerhalb dieser Denkweise Machs,
Meinongs, Musils und Malinowskis operieren noch in den 1930er Jahren Pioniere
der Körper- und Kulturgeschichte wie Johan Huizinga, Norbert Elias und Marcel
Mauss. Die Untersuchung von Aufmerksamkeitspraktiken als Techniken der Sor-
ge um sich erweist sich demnach als ein vorzügliches Analyseinstrument für

112 Siehe nur Meinong, Über philosophische Wissenschaft, S. 145, und weiterführend oben Abschnitt 2.
113 Siehe Stöckmann, Der Wille zum Willen, S. 4 (Zitat).
114 Siehe Malinowski, A Diary in the Strict Sense of the Term, z. B. S. 75 ff., und weiterführend oben
Abschnitt 4.
115 Siehe Mach, Notizbuch, NL 174/0519 ab 25.10.1879, [6, Verso].
116 Siehe auch Kleeberg, „Schlechte Angewohnheiten. Einleitung“, bes. S. 13 f.

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moderne.117
So schreibt Huizinga in Homo ludens (1938) an einer Schlüsselstelle des Buchs:
„echte cultuur kan zonder zeker spelgehalte niet bestaan, want cultuur veronders-
telt zekere zelfbeperking en zelfbeheersching“.118 Was hier fast ein wenig beiläufig
anklingt, wird zeitgleich systematisch von Elias in seiner zweibändigen Schrift Über
den Prozeß der Zivilisation (1939) zu einer soziologischen Theorie ausgebaut, die
makrostrukturell eine Zunahme von Selbst- und Affektkontrolle auf psychischer
und habitueller Ebene seit dem Mittelalter konstatiert. Mit dieser Themenstellung
steht Elias in der hier erörterten Tradition modernistischer Menschenbilder, die
einerseits das Subjekt gleichermaßen fremdbestimmt und selbstbestimmend denkt
sowie andererseits Geist und Körper, Psyche und Habitus in ihren wechselseitigen
Bezügen untersucht und gegenwartsorientiert eine fragile Balance zwischen der
Kontrolle und Dissipation von Aufmerksamkeit beobachtet.119 Genausowenig mag
es daher als Zufall erscheinen, dass Mauss nur wenige Jahre vor Elias über Die
Techniken des Körpers (1935) publiziert. So nehmen die Mauss’schen Überlegungen
unter anderem ihren Ausgang von der persönlich erlebten „Ablösung des Brust-
schwimmens und des Kopf-über-dem-Wasser-Haltens durch verschiedene Arten
des crawl“ – ein mit Musil geteiltes Interesse – und arbeiten heraus, dass Körper-
techniken „das Werk der individuellen und kollektiven praktischen Vernunft“
seien, die sich „mit den Individuen […], mit den Gesellschaften, den Erziehungs-
weisen, den Schicklichkeiten und den Moden“ verändern würden.120 Auch bei
Mauss erscheint der Mensch zugleich als Einzel- und Gesellschaftswesen, das zwi-
schen individuellen und kollektiven Ansprüchen flottiert. Man habe beim Schwim-
men, hebt Mauss in einer charakteristischen selbstreflexiven Wendung seines Aus-
gangsbeispiels hervor, „die Gewohnheit aufgegeben, Wasser zu schlucken und es
wieder auszuspucken […], aber ich vollziehe immer noch diese Geste: ich kann
mich nicht von meiner Technik trennen.“121 Vor dem Hintergrund einer lebendi-
gen und bereits mehrere Jahrzehnte anhaltenden Debatte über natürliche und kul-
turelle, über körperliche und geistige, über persönliche und gesellschaftliche Deter-
minanten des menschlichen Subjekts und seiner Aufmerksamkeitskapazitäten
kann es nicht verwundern, dass Mauss Ende der 1930er Jahre „Eine Kategorie des
menschlichen Geistes: Den Begriff der Person und des ‚Ich‘“ erörternd zum Schluss

117 Siehe auch die Einleitung in diesem Band, und weiterführend Reckwitz, Das hybride Subjekt;
Cohen-Cole, The Open Mind.
118 Huizinga, Homo ludens, 1950, S. 244. Die deutsche Übersetzung lautet: „Echte Kultur kann
ohne einen gewissen Spielgehalt nicht bestehen, denn Kultur setzt eine gewisse Selbstbeschrän-
kung und Selbstbeherrschung voraus“ (Huizinga, Homo ludens, 1981, S. 228 f.)
119 Siehe Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 329, 453 ff.
120 Mauss, „Die Techniken des Körpers“, S. 200 (Zitat 1, Herv. i. O.), 202 f. (Zitate 2, 3). Zwecks
besserer Lesbarkeit habe ich oben im Haupttext ausnahmsweise die deutsche Übersetzung einge-
fügt. Die Fundstellen im Original sind in Mauss, „Les techniques du corps“ auf S. 366 (Zitat 1),
368 f. (Zitate 2, 3).
121 Mauss, „Die Techniken des Körpers“, S. 200 f. Siehe auch Ders., „Les techniques du corps“,
S. 367.

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die kritische Frage in den Raum stellt: „Qui sait même si cette ‚catégorie‘ que tous
ici nous croyons fondée sera toujours reconnue comme telle?“122 Ganz ohne die
Kategorie des Ich kommen, wie der vorliegende Aufsatz nachgewiesen hat, aller-
dings weder die Zeitgenossen von Mauss noch ihre illustren Nachfahren aus, wie
sich am Beispiel Michel Foucaults zeigen ließe.123 Die Geschichte der Aufmerk-
samkeitspraktiken als Techniken einer Sorge um sich erhellt nach dieser Einschät-
zung somit die Geschichte ihrer eigenen Methode.

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122 Mauss, „Une catégorie de l’esprit humain“, S. 281. Siehe auch die Übersetzung Mauss, „Eine
Kategorie des menschlichen Geistes“, S. 252: „Wer weiß überhaupt, daß diese ‚Kategorie‘, die wir
alle für fest verankert halten, immer als solche anerkannt werden wird?“
123 Siehe bei Foucault die radikalisierte Frage nach dem Verschwinden des Menschen in Foucault,
Die Ordnung der Dinge, S. 462, und den Kontrast in seinen späteren Untersuchungen zur Ge-
schichte der Sexualität, die vor allem im zweiten und dritten Band um Fragen des Wandels der
Subjektkonstitution durch variierende Technologien des Selbst kreisen und schon in den Vorle-
sungen am Collège de France am Anfang der 1980er Jahre behandelt werden: Foucault, Der Ge-
brauch der Lüste; Ders., Die Sorge um sich; Ders., Subjectivité et vérité; Ders., Hermeneutik des
Subjekts.

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Robert Suter (†)

Dichter mit Herzinfarkt

Vom Stress in der organisierten Moderne zum Stress


im flexiblen Kapitalismus

17.5. Er wartet auf den Herzkatheter


Ruhig Blut! Greif zur ‚Geo‘!
Schalt ab und bewundre
Auf Bildern der Maya,
wie Priester den Opfern
bei lebendigem Leibe
das Herz aus – gerechnet
jetzt wird mein Name gerufen!

So der Dichter als Patient. In dem Fall Robert Gernhardt, auf seine Herzoperation
wartend, im Gedichtband Herz in Not, dem Tagebuch eines Eingriffs in einhundert
Eintragungen (1996).1 Die im Gedicht erst in der letzten Zeile durchbrochene Form
der Apostrophe sorgt für Mehrdeutigkeit: Bis zur Unterbrechung, bedingt durch
den Aufruf des Namens, handelt es sich offensichtlich um einen Versuch der Selbst-
überredung, der jedoch nur dazu führt, dass sich dem lyrischen Ich unausgespro-
chen ein Du hinzugesellt, dem jene ostentative Gelassenheit zugeschrieben wird, die
dem Sprecher fehlt und die er sich einzureden versucht. Das Du, der durch seine
Apostrophierung figurierte Adressat des Gedichts, verkörpert jene Handlungssouve-
ränität, die dem sprechenden Ich, trotz des fortgesetzten Versuchs der Selbstberuhi-
gung, abgeht. Indem das Du als Double des Ich fungiert, dokumentiert das Gedicht
eine Selbstentfremdung nahe an der Persönlichkeitsspaltung, gipfelnd im deperso-
nifizierenden Albtraum von der Persönlichkeitsspaltung, der jäh unterbrochen wird
durch die Aufrufung „mein[es] Name[ns]“. Nicht „das Herz“, sondern allein der
Name („mein Name“) scheint personale Identität zu gewährleisten. Als alternative
Lesart bleibt jedoch offen, ob das Ich hier nicht doch zum Opfergang aufgerufen
wird, was auch hieße, dass der Arzt an die Stelle des Priesters getreten wäre. Den-
noch erscheint die Aufrufung als Erlösung, gibt dem Dichter einen Namen, lenkt
ihn ab von seinem Herzschmerz. Sie leitet, dokumentiert durch den Gedanken-
strich, somit auch einen Wechsel der Aufmerksamkeit ein: weg vom organischen
Befund hin zu sich selbst. Anlass dieser Selbstzuwendung ist nicht die fortgesetzte
Selbstüberredung, sondern der Anruf aus dem Off, der den Sprecher zwingt, sich
zum aufgerufenen Namen zu bekennen. Der Fortlauf der Eintragungen zeigt, dass

  1 Gernhardt, „17.5. Er wartet auf den Herzkatheter“, in: Ders., Herz in Not, S. 16.

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92 Robert Suter

er, indem er diesen Rufen folgt, sich sukzessive in den angerufenen Herzinfarktpa-
tienten verwandelt. Er unterzieht sich einer Subjektivierung, die ihn zum „Attentä-
ter und Opfer“ macht2 – verantwortlich für seine Krankheit und an ihr (das heißt
auch: an sich selbst) leidend. Wie es in einer anderen Eintragung heißt, quittiert er
„die Rechnung / für knapp sechzig Jahre / gut Essen, schön Trinken, stramm Schaf-
fen, träg Sitzen, / hoch Fliegen, tief Sumpfen – : / […] links oben“.3 Gernhardt
liefert mit diesen Eintragungen mehr als nur eine biographische Rückschau, denn
das angeführte Gedicht stellt auch eine kleine Rekapitulation jener Geschichte dar,
die den Herzinfarkt im 20. Jahrhundert in einen Gegenstand poetischen Interesses
verwandelt.
Als in den 1950er Jahren von der Managerkrankheit die Rede ist, welcher der
Herztod junger Leistungsträger des Wirtschaftswunders zur Last gelegt wird, befin-
den sich die Dichter noch in der Rolle distanzierter Beobachter. Die neue Krank-
heit ist ein willkommener Anlass, Kulturkritik an der Zunahme von Konsum, Ver-
kehr und sozialer Entfremdung, vor allem aber an der organisierten Moderne zu
üben, die individuelle Selbstentfaltung nur in Grenzen zulässt. Doch spätestens in
den 1970er Jahren wendet sich das Blatt. Nun schreibt der Dichter als Betroffener
über den Herzinfarkt. Als Teilhaber der Informationsgesellschaft, Angehöriger der
kreativen Klasse, Protagonist projektbasierter Arbeit wird er zum prototypischen
Betroffenen einer neuen Form von Stress, nicht dem der organisierten Moderne,
sondern dem des Zeitalters der Flexibilisierung. Die Figur des selbstvergessenen
Fleißigen der Leistungsgesellschaft weicht dem hypersensiblen Hypochonder, dem
Arbeitskraftunternehmer, dessen vielen Risiken ausgesetzte Gesundheit sein Be-
triebskapital darstellt. Eine Genealogie der Literatur im Stresszeitalter zu schreiben,
heißt also auch, ihren Weg in den Postfordismus zu verfolgen.

1. Fleiß und Hypochondrie

Fleiß und Hypochondrie stellen jene Kategorisierungen subjektiver Aufmerksam-


keit dar, zu denen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gern gegriffen wird,
um die eigene Befindlichkeit im Spiegel des aufklärerischen Zeitalters zu beschrei-
ben. Der Philosoph Otto Friedrich Bollnow wendet sich in Wesen und Wandel der
Tugenden (1956) dabei der Wortgeschichte von ‚Fleiß‘ zu.4 Im Rückblick erweist
sich Fleiß – ursprünglich identisch mit der „lateinische[n] diligentia“, „die man
wörtlich vielleicht sogar mit Aufmerksamkeit hätte übersetzen können“ – „als
etwas wesentlich anderes als das, was wir heute darunter verstehen“.5 Fleiß sei auf
„das Hinhorchen des Menschen auf die in seinem Innern zu ihm sprechende

  2 Gernhardt, „Selbstmordkommando“, in: Ders., Herz in Not, S. 62.


  3 Gernhardt, „Vorgeschichte: Stummer Infarkt“, in: Ders., Herz in Not, S. 8.  
  4 Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, S. 159-170.
  5 Ebd., S. 160.

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Dichter mit Herzinfarkt 93

Stimme der Vernunft“ bezogen gewesen.6 Bereits im 18. Jahrhundert sei jedoch
eine Externalisierung von Fleiß zu beobachten, als sich die „engere Beziehung des
Fleißes zur Arbeit“ durchzusetzen begann.7 Dennoch sei vor „einer einseitigen
Übersteigerung der Arbeit“ gewarnt worden, man hätte vielmehr „das richtige
Gleichgewicht von Anspannung und Erholung“ bezweckt.8 Auch wenn das Anlie-
gen der Aufklärung eine Diätetik zwischen nach Innen und Außen gerichteter Auf-
merksamkeit war, hätte sie dennoch, so Bollnow dem Credo einer Dialektik der
Aufklärung folgend, zur „Verabsolutierung dieser Tugend“ beigetragen und so das
nach dem Fleiß benannte industrielle Zeitalter eröffnet. Sicher nicht zufällig er-
scheinen Bollnows philosophische Ausführungen, als im Wirtschaftswunder ge-
rade intensiv über die sogenannte Managerkrankheit diskutiert wird, die für den
häufigen Tod junger, ambitionierter Männer verantwortlich gemacht wird. Man
nimmt an, dass sie insbesondere die Fleißigen bedrohe, die Leistungsträger des
Wirtschaftswunders, die auch deshalb reihenweise an Herzinfarkten erkranken,
weil sie nicht achtgeben auf die Warnsignale ihres Körpers. Für Bollnow stellt die
Diätetik der Aufklärung, die selbstbezogene und fremdfixierte Aufmerksamkeit zu
kombinieren versucht, offenbar einen Ausweg dar.
Während mangelnde Selbstaufmerksamkeit als Problem des Wirtschaftswun-
ders erscheint, richtet sich der Fokus in den 1980er Jahren, in der Zeit der zuneh-
menden „Subjektivierung von Arbeit“,9 auf das gegenteilige Problem: die übertrie-
bene Selbstaufmerksamkeit. Ebenfalls mit Bezug auf die Aufklärung beschreiben
Hartmut und Gernot Böhme in Das Andere der Vernunft (1983), wie mit der Hy-
pochondrie „sich der Mensch seine selbstverschuldete Krankheit erfunden“ habe:
„Wenngleich er sie erleidet, so ist er doch selbst ihr Urheber oder vielmehr etwas in
ihm, dessen er nicht Herr ist, die Einbildungskraft.“10 Das „Eingebildete der
Krankheit in der Hypochondrie“ bestehe darin, „daß der Patient ängstlich als Sym-
ptome körperlicher Krankheit deutet, was doch nur die leibliche Präsenz seiner
Affekte ist.“11 Wie Lothar Müller anfügt, verwandelt sich die Hypochondrie in der
Aufklärung in eine Form der Selbstaufmerksamkeit, die jeden „Lebensaspekt als
Krankheitsherd erscheinen“ lässt;12 sie erfüllt so auch die diskursive Funktion einer
„Meta-Krankheit“, die alle möglichen Krankheiten und Gefahrenlagen zu erörtern
erlaubt. Die Hypochondrie als Mittel der Zuwendung zu sich selbst ermöglicht
also die affektive Besetzung des Leibes und eine permanente Selbsthermeneutik im
Zeichen aktueller Gefahren sowie künftiger Krankheiten. Dem historischen Inter-
esse an der Hypochondrie steht der Befund entgegen, dass 1972 die letzte psychia-
trische Monographie über sie erscheint, in der ihr Kern jedoch, was auf ihre Aktu-

  6 Ebd.
  7 Ebd., S. 162.
  8 Ebd., S. 165.
  9 Vgl. Subjektivierung von Arbeit, hg. v. Manfred Moldaschl und Günter G. Voß.
 10 Böhme/Böhme, Das Andere der Vernunft, S. 389.
 11 Ebd., S. 418.
 12 Müller, „Hypochondrie und Hermeneutik“, S. 128.

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alität hinweist, als krankhafte Form zwanghafter Risikovermeidung bestimmt wird.


Der Psychiater Harald Feldmann schreibt:
Die Kontingenz des Leiblichen ist für den Hypochonder nicht nur Thema der Ausei-
nandersetzung, sondern unüberwindbares Hindernis, sich selbst über den Leib hin-
ausgreifend zu verwirklichen.13

In der Weise definiert, ist die psychopathologische Form der Risikovermeidung


kaum mehr zu unterscheiden von jenen alltäglichen Praktiken der Vorsorge, die
ebenfalls darauf abzielen, Lebensrisiken zu minimieren. So scheint sich die Hypo-
chondrie in dem Maße aus dem psychiatrischen Diskurs zurückzuziehen, wie sie
als Subjektivierungsform und damit in der alltäglichen Selbstwahrnehmung an
Selbstverständlichkeit gewinnt. „Heutzutage“, diagnostiziert die amerikanische
Psychologin Susan Baur, „führt einer der bevölkertsten Pfade in den Rückzug fort
von der herzlosen Welt zu einer übertriebenen Sorge um die eigene Gesundheit.“14
Dass die Hypochondrie eine Normalisierung erfährt, liegt maßgeblich am Stress-
konzept, das sich in Deutschland ab den 1960er Jahren zum Inbegriff der „flexib-
len Normalität“ entwickelt,15 denn Stress, wie ihn sich die Biochemie vorstellt,
bewirkt eine Irritation des inneren Gleichgewichts des Organismus, die von diesem
als homöostatisches System autoregulativ ausgeglichen wird. Gibt es zu viele Reize,
findet eine Überforderung des Organismus statt, da er, hormonell gesteuert, in
einen beständigen Alarmzustand versetzt wird. Dieser Vorgang gilt dann landläufig
als Stress. Da derselbe, so der Konsens der Stressforscher, als durch die Reizüberflu-
tung bedingte Zivilisationserscheinung unumgänglich sei, bleibt den Betroffenen
nur, ihre Aufmerksamkeit auf das beständig gefährdete, da dynamische innere
Gleichgewicht ihres Körpers zu richten und auf entsprechende Alarmsignale zu
achten. Der Körper verwandelt sich in ein Medium, das ein Übermaß krankma-
chender äußerer Reize anzeigt. Vorsorge zu treffen für die laut Baur „herzlose[]
Welt“, heißt also in der Tat, jenes „scharfe Ahnungsvermögen für eigne Körperzu-
stände“ zu entwickeln,16 das den alten Hypochonder auszeichnete, und die Auf-
merksamkeit unter anderem auf das eigene Herz zu richten, denn dessen mehr oder
weniger regelmäßige Schläge scheinen nunmehr unmittelbar auf das subjektive

 13 Feldmann, Hypochondrie, S. 2.


 14 Baur, Die Welt der Hypochonder, S. 156.
 15 Link, Versuch über den Normalismus, S. 400.
 16 Der Begriff stammt aus Immermanns Münchhausenroman (1838/39). Über Münchhausen, ein
großer Hypochonder laut dem über ihn berichtenden Nachfahren, heißt es dort: „Besonders war
an ihm ein scharfes Ahnungsvermögen für eigne Körperzustände ausgebildet worden, und alles,
was nachmals in diesem Betreff von nervösen oder somnabülen Personen erzählt worden ist, war
Kleinigkeit gegen das, was glaubwürdige Gewährsmänner mir von ihm berichtet haben. Er wußte
an sich selbst jede Befindensveränderung, wie die Homöopathen die Krankheiten nennen, vor-
auszuspüren, und trug, sozusagen, seine ganze somatische Zukunft, im Geruch vorgebildet, mit
sich umher. Daß einer merkt, wenn ein Schnupfen bei ihm im Anzug ist, will nicht viel bedeuten;
aber durch den Schnupfen hindurch die späteren Übel, die ihn noch betreffen sollen, zu merken,
ist allerdings nicht jedem gegeben.“ (Immermann, Münchhausen, S. 8 f.) Zur Hypochondrie im
18. Jahrhundert vgl. Thums, Aufmerksamkeit, S. 53-72.

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Dichter mit Herzinfarkt 95

Behagen oder Unbehagen in der Zivilisation zu verweisen. Ob man sich in der ei-
genen Umwelt behaglich fühlt, ist jedoch nicht einfach Schicksal, sondern das zivi-
lisatorische Wohlbefinden entwickelt sich zu einem permanent herzustellenden
und ausbaufähigen Zustand. So wird ein 1974 im Bertelsmann Ratgeberverlag er-
schienenes Anti-Stress-Programm mit dem Versprechen beworben, es bewerkstellige
„die Wiederherstellung des körperlichen, seelischen, und sozialen Wohlbefindens
und Gleichgewichts“.17 Da sich mit Stress die Forderung nach einer unspezifi-
schen, synthetischen Selbstaufmerksamkeit verbindet, die sich auf alle möglichen
Lebensumstände und Krankheitsrisiken richtet, ist seine Verbindung mit dem
Herzinfarkt keineswegs selbstverständlich. Da Stress ubiquitär ist, trägt die assozi-
ative Verbindung mit dem Herzen offenbar zu seiner symbolischen Kodifizierung
bei. Und das Herz liefert hierbei einen konkreteren Angriffspunkt als großflächige,
ebenfalls für Stress anfällige Organe wie Haut oder Darm. Als Gefahr für den ruhi-
gen Schlag des Herzens wird Stress greifbar. Zudem werden auf die Weise zwei
heterogene Aufmerksamkeitsregime miteinander verkoppelt: bei Herzstörungen
eine partikulare, auf Warnsignale gerichtete Aufmerksamkeit und bei Stress eine
universale, auf die Vermeidung jeglichen schädlichen Verhaltens ausgerichtete Auf-
merksamkeit.18 Was diese semiotische und hermeneutische Aufmerksamkeit ver-
bindet, ist die Angst.
Mit der Hypochondrie geht auch die Ästhetisierung von Angst einher. Sie stellt
das notwendige Mobilisierungspotential bereit, das es ermöglicht, den organization
man zur aktiven Lebensgestaltung zu bewegen. Denn wenn man der These folgt,
dass die Ästhetisierung der Moderne auf den „Motivationsmangel“ als deren
„strukturelles Problem“ reagiert,19 so gehört dazu auch die Überwindung jener
Herzlosigkeit, die der rational organisierten Moderne nachgesagt wird.20 Der Herz-
infarkt oder auch nur das Herzinfarktrisiko verwandeln sich so in einen affektiven
Treibstoff für individuelle Veränderungen, sie liefern die Motivationsgrundlage zu
tiefgreifenden Verhaltenstransformationen, sei dies die Beendigung schlechter An-
gewohnheiten, das Eingehen neuer Liebesbeziehungen oder die Realisierung lang
gehegter Lebensträume. Entsprechend wird das Herz, teilweise unter Aktualisie-
rung älterer Semantiken,21 zum Code für spontanes Empfinden, Einfühlungsver-
mögen, instabile Stimmungen und ängstliche Selbstaufmerksamkeit. Im Folgen-
den soll gezeigt werden, wie schon in den 1950er Jahren die Diskussionen um die
Managerkrankheit dazu dienten, eine vom neuen Konzept des Stresses beeinflusste
Pathologie des organization man zu erstellen. Der Stress macht den Herzinfarkt zur

 17 Lindemann, Anti-Stress-Programm, Klappentext.


 18 Die erste Praktik der Aufmerksamkeit hat vor allem Jonathan Crary untersucht, während die
zweite Praktik in den späten Schriften Michel Foucaults zur Subjektbildung eingehend analysiert
wird. Vgl. Crary, Aufmerksamkeit; Foucault, Die Sorge um sich; Ders., Hermerneutik des Subjekts.
 19 Vgl. Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, S. 317.
 20 The managed Heart lautet denn auch der Titel einer der frühen Modellstudien zum emotionalen
Kapitalismus, in deutscher Übersetzung: Hochschild, Das gekaufte Herz.
 21 Vgl. u. a. Hoystad, Kulturgeschichte des Herzens.

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Risikokrankheit, die viele Männer betrifft und noch mehr Männer bedroht.22 Es
geht nicht mehr nur um die Rehabilitation der Kranken, sondern auch um die
Gesundheit der Gesellschaft, eine Ausweitung des Referenzhorizontes, die Räume
für nichtmedizinische Akteure eröffnet: für Gesellschaftsexperten und Medienex-
perten, etwa Sozialwissenschaftler und Ratgeberautoren. Die Kritik an der herzlo-
sen Moderne bleibt dabei prägend, doch entsteht seit den 1970er Jahren darüber
hinaus ein Bild vom Stress, dass ihn, unter Einfluss der Kybernetik, als semipatho-
logisches Phänomen des Informationszeitalters ausweist.

2. Managerkrankheit

In der Kurzerzählung „Es wird etwas geschehen“ (1956) legt Heinrich Böll das dem
Phänomen der Managerkrankheit, einem Phänomen der 1950er Jahre, zugrunde
liegende Kernnarrativ frei. Die Erzählung beginnt mit der Eignungsprüfung des
Erzählers, berichtet, nach dessen nunmehr bestandener Prüfung, von dessen Ar-
beitsleben in einem Wirtschaftsunternehmen, gipfelt im plötzlichen Tod des Chefs
und endet mit der Kündigung des Erzählers, der eine neue Stelle als professionell
Trauernder in einem Beerdigungsinstitut annimmt. Der Aufbau der Nachkriegs-
wirtschaft geht, so das Narrativ der Managerkrankheit, mit dem Raubbau an den
Kräften ihrer Erbauer einher, deren Herzen sich Hetze, Leistungsdruck und Über-
forderung nicht gewachsen zeigen. Unter dem Label der Managerkrankheit taucht
in medizinischen Ratgebern und Aufklärungsschriften als beschworenes Schreck-
gespenst der angeblich verbreitete unvermittelte Tod durch Herzinfarkt auf. In
dem Zusammenhang wird das deutsche Lesepublikum auch zum ersten Mal mit
dem Phänomen des Stresses vertraut gemacht.23 Den Manager beschreiben Wal-
ther von Hollander und Kurt R. von Roques, die beiden Verfasser einer Fibel für
Manager (1958), als „ein Aufbau-Genie“, das sich nicht unbedingt „für das Erhal-
ten und Verwalten“ eigne.24 Die Figur des Managers verweise, so gleichfalls Hol-
lander und Roques, auf den „Manager in uns allen“.25 Beim Begriff der Manager-
krankheit handle es sich, so wiederum der Wissenschaftsjournalist Herbert L.
Schrader, um eine Begriffsprägung eines Referenten des Arbeitsministeriums, der
das Wort anlässlich der 1950 stattgefundenen Tagung „Raubbau an Gesundheit
und Arbeitskraft“ in die Welt gesetzt habe.26 Als weitere Quelle dieser Begriffs-
schöpfung verweist Schrader zudem auf Burnhams soziologische Managertheorie.
Die Managerkrankheit formiert sich demnach im Kräftefeld medizinischer, litera-

 22 Die Geschichte des Herzinfarkts lässt sich also in den Umkreis der Emotionalisierung männlicher
Subjektivierungsformen einordnen. Vgl. Die Präsenz der Gefühle, hg. v. Manuel Borutta und
Nina Verheyen.
 23 Übergreifend zum Stress der 1950er Jahre vgl. Borck, „Kummer und Sorgen im digitalen Zeital-
ter“.
 24 von Hollander/von Roques, Fibel für Manager, S. 15.
 25 Ebd.
 26 Schrader, Das Herz soll länger schlagen, S. 188.

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rischer und soziologischer Einflussfaktoren. Sie artikuliert das Unbehagen in der


fordistischen Leistungs- und Konsumgesellschaft. Als Schwachstelle macht sie
dabei nicht zufällig das männliche Herz aus. Die amerikanische Kolumnistin Bar-
bara Ehrenreich konstatiert im Zusammenhang mit dem Herzen, das zum „Sym-
bol für die Anfälligkeit der Männer angesichts der bürokratischen kapitalistischen
Gesellschaft wurde“,27 nachträglich einen historischen Bruch, der die Männer als
das neue kranke Geschlecht in den Blickpunkt treten ließ. Gerade Leistung und
Konsum, die in der fordistischen Gesellschaft den sozialen Erfolg bringen und re-
präsentieren sollten, scheinen nunmehr krank zu machen. Berufskarriere, Famili-
engründung und exzessiver Konsum, alles das, was auf gelingendes männliches
Leben hindeutete, wird nun als Symptom für dessen Verletzlichkeit und Kränk-
lichkeit gedeutet. Das ermöglicht jedoch auch, die Belastungen von Bürotätigkeit,
also nichtphysischer Arbeit, zu dokumentieren und legitimieren. Der Infarkt gilt
als sichtbares Zeichen des Arbeitsstresses, dem auch „Kopfarbeiter“ ausgesetzt
sind.28 Angesichts der unspezifischen Auswirkung von Stress bleibt jedoch erklä-
rungsbedürftig, warum er letztlich doch immer das Herz anzugreifen scheint.
Als der Wirtschaftsjournalist und Kulturhistoriker Richard Lewinsohn in seiner
Weltgeschichte des Herzens (1959), die das neu erwachte Interesse an diesem Zent-
ralorgan des Lebens dokumentiert, auch auf die Managerkrankheit zu sprechen
kommt, listet er als ihre häufig erwähnten Ursachen „vorbildlichen Arbeitseifer“,
„aufopfernde Berufstätigkeit“ und „unermüdliche Emsigkeit“ auf.29 Unter Bezug
auf das „amerikanische[] Modeschlagwort ‚Stress‘, das der aus Wien gebürtige Ka-
nadier Hans Selye geprägt“ habe, schreibt er weiter:30
Der Infarkt ist demnach eine Abnutzungskrankheit und bis zu einem gewissen Grade
eine vermeidbare. Die Kunst, gesund zu bleiben und insbesondere dem Herzinfarkt
zu entgehen, besteht darin, sich dem äußeren Stress erfolgreich anzupassen.31

Nicht die Medizin scheint also, wie Lewinsohn beobachtet, gegen den Herzinfarkt
zu helfen, sondern einzig die „Kunst gesund zu bleiben“, die mit der Fähigkeit
identifiziert wird, „sich dem äußeren Stress erfolgreich anzupassen“. Das heißt um-
gekehrt, dass der Herzinfarkt mitunter eine nicht gänzlich gelungene individuelle
Anpassung an die Gesellschaft manifest macht. Der Herzinfarkt kann somit entwe-
der als individuelles Versagen oder als Ausdruck einer strukturellen umweltbeding-
ten Überforderung des Menschen erscheinen, wobei sich beide Interpretationen
nicht zwingend ausschließen. Die Störungen des Herzens verweisen jedenfalls auf
die mangelnde „Funktionstüchtigkeit“32 seines Trägers. Wie Lewinsohn ausführt,
erfährt das Herz in den 1950er Jahren, nach der Erfindung der Herzlungenma-

 27 Ehrenreich, Die Herzen der Männer, S. 80.


 28 Ebd., S. 83.
 29 Morus (Lewinsohn), Eine Weltgeschichte des Herzens, S. 215.
 30 Ebd., S. 227.
 31 Ebd., S. 228.
 32 Dies ist eine Begriffsprägung von Helmut Roessler. Vgl. Ders., Jugend im Erziehungsfeld, S. 441.
Bekannt geworden ist sie durch Helmut Schelsky, der Roessler darin zustimmt, „die Berufs- und

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schine und der ersten gelungenen Herztransplantation, zwar eine Aufwertung, ver-
liert aber zugleich, seiner Funktionalität überführt, seinen „Nimbus“.33 Doch es ist
eben diese vermeintliche Entauratisierung, die eine Revitalisierung der alten Sym-
bolik des Herzens als Sitz der Seele und personaler Mitte nach sich zieht, denn
nunmehr ist medizinisch beglaubigt, dass der Herzinfarkt einer Rebellion des Her-
zens gegen die äußeren Verhältnisse gleichkommt.
Neben Ratgebern wie der Fibel für Manager bilden auch die Gesellschaftsro-
mane ein Medium, in dem die symbolische Recodierung des Herzens erfolgt. So
etwa in Der Friede des Herzens (1956) des Zürcher Schriftstellers Kurt Guggen-
heim. Die Erzählperspektive ist jene eines der exemplarischen Erbauer der neuen
Welt der Fünfziger Jahre – „Geschäftsführer einer Liegenschaftsverwaltung“, der an
der Planung und dem Bau „eine[r] große[n] Siedelung mit halbstädtischem Cha-
rakter“ mitwirkt.34 Der Titel nimmt zugleich den Handlungsfaden vorweg: Die
Handlung dreht sich um die Wahrung des persönlichen Friedens, so dass sich der
Roman in eine Chronik der Wagnisse, Abenteuer und Liebschaften verwandelt, die
sein Protagonist, verheiratet und sozial abgesichert, nicht eingeht. Nicht zufällig
nimmt dieser, als er das Gespräch zwischen einem Humanmediziner und einem
Tierarzt über die neueste „Revolution in der Pathologie“ verfolgt, auch Notiz vom
„sonderbare[n], nicht in unsere Sprache zu übersetzende[n] Wort vom ‚Streß‘“.35
Heimberger, so sein Name, erfährt hierbei, dass nunmehr auch Organen wie Leber,
Gallenblase, Magen oder Bauchspeicheldrüse ein Bewusstsein zugeschrieben
werde. Nicht mehr nur die Nerven, sondern der ganze Organismus verarbeite die
Hektik des modernen Lebens. Heimberger „lauschte, wie eben Laien lauschen“:
Ich hätte das vielleicht nicht tun sollen. Es weckte die Aufmerksamkeit, es lenkt die
Gedanken auf den eigenen Körper hin – und was ist die Gesundheit anderes als das
vollkommene Vergessen des Leibes, der ohne unser Bewußtsein und ohne unser Da-
zutun mit unserer Seele durch die Jahrzehnte trottet und seine Notdurft verrichtet?36

Der Erzähler nimmt Stress demnach als Möglichkeit wahr, eine neue Form der
Selbstaufmerksamkeit einzuüben. Das neue Leibbewusstsein geht mit der Ent-
wicklung einer ängstlichen Selbstaufmerksamkeit einher. Dennoch führt sie letzt-
lich zu keiner Umgestaltung des Lebens, vielmehr mag der Erzähler die Sicherheit
der bestehenden Verhältnisse nicht aufgeben. Der Roman endet konsequenterweise
mit dem Verbleib Heimbergers in seiner Normalexistenz, die zwar das physiolo-
gisch störungsfreie Funktionieren des Organismus, also das leibliche Wohl sichert,
in symbolischer Hinsicht jedoch einem Herztod gleichkommt.
Ganz anders das Ende des Romans Wildtaubenruf (1958) von Hermann Stahl,
einem in der Bundesrepublik vielgelesenen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Darin

Funktionsbezogenheit des heutigen Schülers auf ein notwendiges soziales Sicherungsbedürfnis


der jungen Generation“ zurückzuführen (Schelsky, Die skeptische Generation, S. 236).
 33 Morus (Lewinsohn), Eine Weltgeschichte des Herzens, S. 244.
 34 Guggenheim, Der Friede des Herzens, S. 7.
 35 Ebd., S. 178.
 36 Ebd., S. 179.

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wird von der zunehmenden Erschöpfung des Protagonisten, eines Journalisten, er-
zählt, der sich der „Unrast der Stadt“, der „nervöse[n] Betriebsamkeit seines Be-
rufs“ nicht gewachsen fühlt und unter der mangelnden Fürsorge seiner ebenfalls
berufstätigen, emanzipierten Lebensgefährtin leidet:37 „Er war müde, und sein
Herz klopfte plötzlich schmerzhaft.“38 Eine vom Arzt empfohlene Reise auf das
Land bringt nicht die erhoffte Erholung. Der Roman endet mit dem Tod Mehrin-
gers an einem Herzschlag. Ein mitlaufender Erzählfaden ist dabei der des „Spät-
heimkehrers“ aus russischer Kriegsgefangenschaft,39 der sich nach seiner Rückkehr
in der neuen bundesdeutschen Wirklichkeit und Gesellschaft nicht zurechtfindet.
Entsprechend erzählt der Roman, in melodramatischem Ton, vom vorzeitigen
Ende eines zu spät Angekommenen, der im eisigen sozialen Klima der Nachkriegs-
zeit, in der die Gesellschaft nur durch ihren Willen zum Erfolg und Vergessen zu-
sammengehalten zu werden scheint, in letzter Konsequenz einen Kältetod erleidet.
Der Roman liefert so zwar auch ein Stück Zivilisationskritik, zugleich bettet er
die Geschichte jedoch auch in einen spezifischeren Problemkreis ein, indem er
einerseits von den Problemen eines Spätrückkehrers und andererseits von der schei-
ternden Anpassung eines Journalisten an den dem Zeitgeist verpflichteten Presse-
betrieb erzählt. Stahl gelingt eine eigentümliche Variation des Presseromans, der im
Wirtschaftswunder ohnehin eine Konjunktur erlebt.40 Mit dem Journalisten kons-
tituierte sich in der Nachkriegsliteratur eine Figur, an deren Beispiel sich Vergan-
genheitsbewältigung, Demokratisierung, Ökonomisierung, Alltagshektik, Erfolgs-
orientierung und Gegenwartsbezogenheit gleichermaßen verhandeln ließen. Im
Roman Der Redakteur (ca. 1955) schildert Hans F. Erb, nachmaliger Geschäftsfüh-
rer des Springer-Verlags, die Demaskierung eines Journalisten:
Deine Maske fällt dir aus dem Gesicht.
Dein Gesicht ist wie eine Trommel, deren Haut überspannt ist.
Überspannt vom Lächeln.
Vom Guten-Tag-Sagen.
Vom Freundlichsein.
Vom Aufmerksamsein.
Vom Auf-die-anderen-Hören.
Vom Höflichsein.
Vom Demokratischsein.
Vom Anständigsein.
Vom Optimistischsein.
Vom Fleißigsein.
Vom Gerechtsein.

 37 Stahl, Wildtaubenruf, S. 47.


 38 Ebd., S. 20. Das von Stahl gezeichnete Krankheitsbild weist auch Bezüge zum Krankheitsbild der
„vegetativen Dystonie“ des Spätheimkehrers auf, das die beiden Mediziner Max Hochrein und
Irene Schleicher als „ein[en] Zustand von Fehlfunktionen vielfältigster Spielart“ physiologischer
und psychologischer Art beschreiben (Hochrein/Schleicher, Die vegetative Dystonie beim Spät-
heimkehrer, S. 2).
 39 Stahl, Wildtaubenruf, S. 35.
 40 Vgl. ohne Berücksichtigung Stahls: Weber, „Nichts ist passiert“.

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Vom Pünktlichsein.
Vom Mir-geht-es-gut-wie-geht-es-Ihnen?
Vom Up-to-date-sein.
Vom Fortschrittlichsein.
Vom Hilfsbereitsein.
Vom Gewinnendsein.
Vom Treusein.
Vom Erfolgreichsein und vom Tüchtigsein und vom Strebsamsein und vom Niemals-
Weinen ist Deine Haut überspannt.41

Erb listet hier die Kostenfaktoren der Vergesellschaftung in der Zeit des Wirt-
schaftswunders auf, indem er das Bild eines Subjekts entwirft, zu dessen Eigen-
schaften nicht zufällig auch „Fleißigsein“ zählt und das sich mit angespannter Auf-
merksamkeit („Aufmerksamsein“) auf seine Umwelt ausrichtet. Geistesgegenwärtig
und erfolgsorientiert auf deren Impulse und Irritationen reagierend, erweist es sich
als blind für die Warnsignale des eigenen Leibes. Dieses Portrait des Journalisten
entspricht weitgehend jenen Charakterzügen, die David Riesman in seiner soziolo-
gischen Programmschrift Die einsame Masse (1956) dem von ihm identifizierten
„außen-geleiteten Charakter“ attestiert, der „Erfolg“ durch „bessere Anpassung“ zu
erreichen trachtet.42 Der Herzinfarkt als medizinisches Ereignis und soziales Sym-
ptom nimmt infolgedessen eine zweideutige Stellung ein: Er führt die kollektiven
Kosten sozialer Mimikry als individueller Anpassungs- und Erfolgsstrategie vor
Augen, markiert nichtsdestotrotz aber auch die individuelle Unangepasstheit des
Betroffenen, mithin also dessen persönliches Scheitern. Der Infarkt kann darum,
codiert durch die Differenz zwischen sozialer Funktionalität und Disfunktionalität,
sowohl den Ausgangspunkt zivilisationskritischer Skepsis bilden als auch von Op-
timierungsprogrammen, die Wege zur besseren Anpassung an die Gesellschaft auf-
zeigen. Der Untertitel eines damaligen Ratgebers, „Manager bleiben ohne Mana-
gerkrankheit“, liefert einen deutlichen Hinweis, dass dessen Absicht gerade nicht
im Vorschlag einer radikalen Lebensumgestaltung liegt, sondern vielmehr, wie die
beiden Autoren zur Frage „Was ist zu ändern?“ schreiben, in der „[b]erufliche[n]
Fortbildung und persönliche[n] Vervollkommnung“.43 Im Zentrum von Stahls
Roman steht hingegen ein Außenseiter, dem eine solche Anpassung an seine flüch-
tige Gegenwart misslingt. An dieser Stelle wird auch die Aufgabenteilung zwischen
poetischer Literatur und Ratgeberliteratur manifest. Zeigt letztere praktische Me-
thoden zur gelingenden Außenorientierung auf, führen die Romane und Erzählun-
gen, die in dezidiert unsachlicher Weise einem Pathos der Innerlichkeit verhaftet

 41 Erb, Der Redakteur, S. 28 f.


 42 Riesman, Die einsame Masse, S. 37.
 43 Goguelin/Bize, Der Unfug der Überbelastung, S. 23. In einem anderen Ratgeber beginnen die
Ausführungen über Vorsorgemaßnahmen etwa mit Ausführungen über die richtige „Betriebspsy-
chologie“, wobei insbesondere die „Arbeitsfreude und Leistung“ zuwider laufenden und deshalb
zu überwindenden „Neurosen und emotionelle[n] Widerstände der Arbeiter gegen ihre Tätigkeit,
ihre Vorgesetzten und ihre Mitarbeiter“ angeführt werden (Schroeder, Unrast – Erfolg – Gefahr,
S. 88).

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sind, in kritischer Absicht die emotionalen Mangelerscheinungen des außengelei-


teten Charakters vor. Nur Böll, allerdings in dezidiert satirischer Absicht, deutet
einen Ausweg an, indem sein Protagonist, gewarnt durch das Exempel seines toten
Chefs, eine Stellung als professionell Trauernder annimmt, Gefühle zu zeigen also
zu seinem Beruf macht.
Was dagegen bei den Romanen Guggenheims und Stahls44 auffällt, ist der Fata-
lismus der Protagonisten, der durch die Ich-Perspektive auch die Erzählhaltung
bestimmt. Es scheint, als wenn den vorgespurten Berufslaufbahnen in der organi-
sierten Moderne auch unentrinnbare Krankheits- und Patientenkarrieren entspre-
chen würden.45 So sei es, wie selbst in Ratgebern zu lesen ist, unwiderruflich das
„Managerschicksal“,46 am Herzinfarkt zu sterben. Entsprechend wird die fehlende
Selbstaufmerksamkeit der Betroffenen als konstitutiver Mangel begriffen, als Struk-
tureffekt der auf „Fleißigsein“ ausgerichteten tayloristischen Leistungsgesellschaft.
Wo Fleiß prämiert wird, ist die Blindheit für sich selbst, das mangelnde Gefühl für
die eigene Befindlichkeit zwangsläufig. Fleiß befördert die Konzentration auf die
Gegenwart, bewirkt dadurch jedoch das Absehen von der Vergangenheit, ist somit
Ausdruck der Unfähigkeit zu trauern, wie auch Alexander und Margarete Mit-
scherlich konstatieren, wenn sie bemerken, dass man alle „Energie […] auf die
Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung unseres indus-
triellen Potentials bis zur Kücheneinrichtung hin“ konzentriert habe.47 Dazu ge-
höre auch die „Abstumpfung eines neuen Typs“, die „Verarmung […] in den von
Gefühl und Denken getragenen Kommunikationsprozessen“.48 Obwohl diese Kri-
tik an der affektarmen Moderne anders motiviert ist, nämlich politisch und nicht
zivilisationskritisch, weist sie dennoch in dieselbe Richtung wie Bölls, Stahls und
Guggenheims Erzählungen. Diese entdecken jedoch nicht die traumatische Ver-
gangenheit, sondern das Ereignis des Herzinfarkts als ganz konkretes Instrument,
um den organization man das Fürchten zu lehren und seine Selbstaufmerksamkeit
zu steigern.

3. Risikofaktoren

Wenn in den 1950er Jahren, trotz der empfohlenen Vorsorgemaßnahmen, der


Herzinfarkt mehr Schicksal als beeinflussbares Risiko zu sein scheint, so ändert sich
das in den Folgejahrzehnten grundlegend. Mit den Risikofaktoren erfährt nun
auch jenes Konzept eine Popularisierung, das es in epistemischer Hinsicht über-
haupt erlaubte, Stress und Herzinfarkt zu verkoppeln. Zudem unterliegt die Fleiß-
gesellschaft einem Umbau, in dem Emotionalität, Selbstaufmerksamkeit und

 44 Andere Romane Stahls führen Außenseitertum allerdings durchaus als Bedingung für gelingendes
Leben vor, so der Roman Wohin du gehst (1954) oder der Künstlerroman Jenseits der Jahre (1959).
 45 Vgl. Gerhardt, Patientenkarrieren.
 46 Schroeder, Unrast – Erfolg – Gefahr.
 47 Mitscherlich/Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 19.
 48 Ebd., S. 18.

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Kommunikationskompetenz aufgewertet werden. Die Aufmerksamkeit für Stress


und den eigenen Umgang mit ihm verwandelt sich in eine berufliche Schlüssel-
kompetenz.
Mit dem Konzept der Risikofaktoren erfährt seit den 1960er Jahren der episte-
mologische Hintergrund, welcher der Kopplung von Stress und Herzinfarkt ihre
Evidenz verlieh, in der BRD eine Popularisierung. Wichtige Übersetzungsarbeit
leisteten dabei am Heidelberger Institut für Arbeits- und Sozialmedizin die Medi-
ziner Hans Schaefer und Maria Blohmke, deren Zusammenarbeit in die Publika-
tion des gemeinsam geschriebenen Buches Herzkrank durch psychosozialen Streß
(1977) mündete. Sie griffen dafür auf die Daten der Heidelberger Studie, einer von
Blohmke durchgeführten Modellstudie zurück, welche die Implementierung ame-
rikanischer Untersuchungsmethoden bezweckte.49 Die Resultate solcher Studien
wirken, wie Schaefer sich im Klaren ist, zunächst einmal irritierend für die Leser,
da die „Zuordnung vieler Schädlichkeiten zu denjenigen Krankheiten, die man
bislang als Folge jener Schäden ansah“, nur auf statistischer Wahrscheinlichkeit
beruht, nicht aber auf medizinisch nachweisbaren kausalen Zusammenhängen:50
„Man erforscht die Lebensgewohnheiten der Menschen, ihre Lebensgeschichte
und sucht nun mit Hilfe elektronischer Rechenmaschinen, ob zwischen bestimm-
ten Beobachtungen und bestimmten Krankheiten oder gar Todesursachen eine
mehr als zufällige Beziehung besteht.“51 Zu entdecken ist also keine einzelne der
Krankheit zuweisbare Krankheitsursache, sondern eine Vielzahl von Ursachen.
Entsprechend führen die statistischen Untersuchungen zur Erkenntnis, dass es „of-
fenbar das Zusammenwirken mehrerer schädigender Faktoren“ sei, „das unser
Herz tödlich trifft“ – konkret die „Häufung von Überernährung, Zigarettenrau-
chen, Bewegungsarmut, Lärm und geistige[r] Spannung“, typische Belastungen
des „moderne[n] Mensch[en]“.52 Obwohl die Risikofaktoren, deren Konzept aus
einer 1947 begonnenen Langzeituntersuchung über Herzkreislaufkrankheiten in
der amerikanischen Kleinstadt Framingham hervorgegangen ist,53 nur das Resultat
statistischer Propabilität sind, erfahren sie eine Interpretation, als wären sie ontolo-
gische Krankheitsursachen. Basierend auf einem Kausalitätsmodell, das auf der
bakteriologischen Bekämpfung der Infektionskrankheiten beruht, entsteht der
Eindruck, es genüge, die Krankheitsursachen zu beseitigen, um auch chronische
Krankheiten wie Herzkreislaufkrankheiten zu kurieren.54 Diese Unschärfe des
Konzepts hat Kalkül, denn wenn kollektive Risikofaktoren als individuelle Gefähr-
dungen erscheinen, entsteht für die betroffenen Personen ein Anreiz, sie zu be-
kämpfen. Auch Blohmke und Schäfer interpretieren den Risikofaktor wechselweise
als „Indikator der Krankheit, die er bewirkt“,55 und dann wieder als die Krank-

 49 Vgl. Timmermann, „Risikofaktoren“, S. 267 f.


 50 Schaefer, „Das kranke Herz als Symptom unseres Lebens“, in: Ders., Das kranke Herz, S. 15.
 51 Ebd., S. 16.
 52 Ebd., S. 20 f.
 53 Vgl. Timmermann, „Risikofaktoren“, S. 255.
 54 Vgl. dazu Schlich, „Einführung“.
 55 Blohmke/Schaefer, Herzkrank durch psychosozialen Streß, S. 41.

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Dichter mit Herzinfarkt 103

heitsursache selbst. Kritische Mediziner wie Dieter Borgers kritisierten deshalb


schon früh, mit dem Konzept der Risikofaktoren werde ohne epistemologische
Rechtfertigung „ein großer Teil der Bevölkerung für potentiell krank und behand-
lungsbedürftig erklärt“.56 Tatsächlich stieg, so auch der Medizinhistoriker Robert
A. Aronowitz, mit der Erhebung von Risiken, „die Anzahl der eigentlich gesunden
Individuen, die als ‚gefährdet‘ oder als Träger von Risikofaktoren für eine be-
stimmte Krankheit gelten“.57 Diese Kritik verdeckt jedoch einen weiteren episte-
mologischen Shift, der sich mit dem Risikofaktorenmodell verbindet, das nicht
primär Krankheiten, sondern Gesundheitsrisiken anvisiert. Wenn die Gesunden
und nicht mehr die Kranken das Objekt der Sorge bilden, wird die Gesellschaft
zum Operationsfeld von Prävention und die Medizin erfährt umgekehrt eine Ver-
gesellschaftung.58 Alle können gleichermaßen zur Schärfung ihrer Aufmerksamkeit
angehalten werden, und es macht kaum einen Unterschied, ob jemand schon einen
Herzinfarkt erlitten oder nur ein erhöhtes Herzinfarktrisiko hat.
Im Zentrum steht dabei nicht nur das multiplen äußeren Gefährdungen ausge-
setzte Individuum, sondern auch sein Verhalten, das selbst als Gefahrenquelle er-
scheinen kann. So kann bei Schaefer und Blohmke auch die „Persönlichkeitsstruk-
tur“, wenn sie inadäquate Stressbewältigungsstrategien bewirkt, als „Risikofaktor“
erscheinen.59 Dass hiermit die „koronare Risikopersönlichkeit“ und ihre disfunkti-
onale Verarbeitung von Stress in den Blick rückt,60 verweist auf Fortschritte beim
Umbau der Fleißgesellschaft. Blohmke und Schaefer identifizieren „hohe Emotio-
nalität“ als das gemeinsame Merkmal unterschiedlicher Risikotypen, die alle dem
gleichen „patho-physiologischen Mechanismus“ unterliegen, wobei „es gleichgül-
tig ist, ob die hypothalamische, hypophysäre und sympathische Aktivierung aus
hohem Antrieb, Angst oder Aggression kommt“.61 Dass Ehrgeiz, Angst und Ag-
gression problematisiert werden, fügt sich ein in die zeitgleiche Umdeutung der
Arbeitsverhältnisse zu „emotionalen und psychologischen Verhältnissen“, welche
die „Harmonie zwischen der Organisation und dem einzelnen“ befördern sollen.62
Nur unter der Bedingung eines gemäßigten emotionalen Klimas wird, wie die von
Elton Mayo begründete Lehre der human relation darlegt, eine Form der Teamar-
beit möglich, deren Produktivität direkt vom Gelingen intersubjektiver Kommuni-
kation abhängt.63 Ein Betrieb erscheint nunmehr als Netzwerk kommunizierender
Persönlichkeiten, denen aufgegeben wird, sowohl auf sich selbst wie die anderen
achtzugeben. In den Stressratgebern findet man entsprechend Kritik am „Erfolgs-
prinzip bedingungsloser Leistungskonkurrenz“, das keineswegs den „idealen Weg

 56 Timmermann, „Risikofaktoren“, S. 272.


 57 Aronowitz, „Risiko- und Krankheitserfahrung“, S. 357.
 58 Vgl. Bauch, Gesundheit als sozialer Code; O’Neill, Die fünf Körper.
 59 Blohmke/Schaefer, Herzkrank durch psychosozialen Streß, S. 116.
 60 Ebd., S. 109.
 61 Ebd., S. 123.
 62 Illouz, Die Errettung der modernen Seele, S. 131.
 63 Vgl. dazu u. a. Gelhard, Kritik der Kompetenz, S. 90-95; Illouz, Die Errettung der modernen Seele,
S. 118-127.

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zur Selbstverwirklichung“ darstelle.64 Selbst für die Privatsphäre, insbesondere für


das Gelingen von Ehen, sei es von Vorteil, „wenn die traditionellen Erfolgseigen-
schaften des Mannes, sein aggressiv-kämpferischer Wille, sein Streben nach Leis-
tung und Macht mehr und mehr abgebaut würden.“65 Für erfolgreiche Arbeit und
gelingende Paarbeziehungen gelten nunmehr also dieselben Parameter. Und da der
Abbau hoher Emotionalität, bei Schaefer und Blohmke gleichbedeutend mit Ehr-
geiz, Angst und Aggression, zu mehr individueller und kollektiver Entspannung
führt, fällt der Unterschied zwischen beruflichem und privatem Erfolg weg. Weit-
gehend identisch mit guten Gefühlen, hängt Erfolg nicht mehr nur von Fleiß,
sondern auch von der Aufmerksamkeit für Stress und den eigenen Umgang mit
ihm ab, denn der letzte Punkt entscheidet über die Integrationsfähigkeit in soziale
Kontexte, seien es berufliche oder private.66 Selbstaufmerksamkeit avanciert damit
gleichzeitig zur privaten und beruflichen Schlüsselkompetenz.
Dieser Wandel wird auch dort greifbar, wo die Einengung des Risikofaktoren-
modells auf subjektives Verschulden durch persönliches Fehlverhalten kritisiert
wird. So geht es im zu Beginn der 1980er Jahre lancierten Forschungsprojekt
„Herz-Kreislauf-Krankheiten und industrielle Arbeitsplätze“, das vom WBZ (Wis-
senschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) durchgeführt wird, um die Frage, ob
sich Herzinfarkte nicht auch auf konkrete Arbeitsbedingungen zurückführen lie-
ßen.67 Eine unmittelbar kausale Beziehung zwischen Herzinfarkten und sozialen,
insbesondere beruflichen Faktoren wie erhöhtem Druck am Arbeitsplatz durch
Rationalisierung und Leistungssteigerung kann dabei, wie bei einer Risikofaktore-
nuntersuchung nicht anders zu erwarten, zwar nicht nachgewiesen werden. Man
vermutet als Auslöser aber ein multifaktorielles Geschehen, in dem die berufliche
Belastung und Überforderung im industriellen Arbeitsprozess eine Schlüsselrolle
spielt. Um die durch die statistische Auswertung von Fragebögen gewonnenen Un-
tersuchungsergebnisse einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wird
der Wissenschaftsjournalist und Schriftsteller Jürgen-Peter Stössel angefragt. Stös-
sel schlägt daraufhin vor, einen wissenschaftlichen Tatsachenroman zu schrei-
ben. 1983 erscheint derselbe unter dem Titel Herz im Streß als Taschenbuch bei
Knaur.68 Der Roman gibt sowohl die Perspektiven unterschiedlicher Herzinfarkt-
patienten wie diejenige eines Journalisten wieder, der sich für die Häufung von
Herzinfarkten in bestimmten Betrieben interessiert und den aktuellen wissen-
schaftlichen Kontroversen um das Risikofaktorenmodell nachgeht. Letztlich arbei-
tet der Roman, übereinstimmend mit der Studie, folgendes biographisches Schema
von Herzinfarktpatienten heraus, das zugleich „ein soziales Modell der Herzinfarkt-
genese“ darstellen soll:69

 64 Stein/Stein, Streß, S. 54.


 65 Ebd., S. 58.
 66 Vgl. Gelhard, Kritik der Kompetenz, S. 99.
 67 Maschewsky/Schneider, Soziale Ursachen des Herzinfarkts.
 68 Stössel, Herz im Streß.
 69 Ebd., S. 237, Herv. i. O.

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Dichter mit Herzinfarkt 105

Der Betroffene kann den ihm gestellten Aufgaben immer weniger gerecht werden,
was er allerdings entweder nicht wahrhaben will oder dadurch wettzumachen ver-
sucht, daß er das Letzte aus sich herausholt, um bei der Arbeit trotz allem noch mit-
halten zu können. Häufig ist damit ein Gesundheitsverhalten verbunden, das auf
Leistungssteigerung zielt, wie hoher Nikotin- oder Koffeinkonsum oder forcierte
sportliche Betätigung.

Mit diesem Verhalten wachse „die Wahrscheinlichkeit, daß ein beliebiger Belas-
tungsschub im privaten oder beruflichen Bereich […] den Herzinfarkt auslöst“.70
Als Risikogruppe werden die unteren Vorgesetzte ausgemacht, die gleichzeitig dem
Druck ihrer Untergebenen wie dem ihrer Vorgesetzten ausgesetzt sind. Der an der
WBZ-Studie beteiligte Arbeitswissenschaftler Fritz Friczewski schildert, wie die
untersuchten Arbeiter und Herzinfarktpatienten, unter dem Eindruck fortgesetzter
Rationalisierungen des industriellen Arbeitsprozesses, eine „Strategie des Sich-
Unentbehrlich-Machens“ verfolgen, wobei sie die vermeintlich „höhere Sicher-
heit“ „mit vermehrter Belastung“ bezahlten.71 Einer der zentralen Protagonisten
und Herzinfarktpatienten im Tatsachenroman von Stössel heißt nicht umsonst
„Fleißer“. Es geht in der Erzählung jedoch nicht einfach um das Fehlverhalten von
Männern wie Fleißer, sondern um die Interpretation ihres Verhaltens als Folge
eines Regimes tayloristischer Rationalisierungen, das keinen Raum für persönliche
Entfaltung lasse:
Rolle und Funktion des unteren Vorgesetzten werden heute also immer umfassender
in gesamtbetriebliche, zentral gesteuerte Abläufe integriert, ohne daß der untere Vor-
gesetzte aber immer genügend Spielraum hat, um mit den ungeplanten und unplan-
baren Nebeneffekten der zentralen Steuerung fertig zu werden.72

Die WBZ-Studie ist Teil der Ende der 60er Jahre einsetzenden intensiven Kritik
am Taylorismus, die sich, so Boltanski und Chiapello, untergliedern lässt in For-
men der Sozialkritik und der Künstlerkritik. Da die erste Form der Kritik Sicher-
heit und die zweite Autonomie einfordert, ist die Kritik an tayloristischen Rationa-
lisierungen, auch wenn sie einen gemeinsamen Ausgangspunkt hat, keineswegs auf
ein gemeinsames Ziel angelegt.73 Mit dem Stichwort der Flexibilisierung verbindet
sich jedenfalls die Hoffnung auf eine Arbeitswelt, in der die Selbstentfaltung der
Mitarbeiter mehr Gewicht erhält, wenn auch um den Preis, dass Sicherheit gegen
Autonomie getauscht werden muss.74 Die Flexibilisierung soll einen Ausgang aus
dem Stress der organisierten Moderne eröffnen. Entsprechend fordert Friczewski
„flexible – d. h. mit ausreichenden Puffern – vernetzte Arbeitsabläufe; und zum
anderen genügend Raum dafür, daß die dennoch auftretenden Unstimmigkeiten
und Belastungen grundsätzlich und straflos zum Thema gemacht werden können

 70 Ebd., S. 239.


 71 Friczewski, Sozialökologie des Herzinfarkts, S. 83.
 72 Ebd., S. 91.
 73 Boltanski/Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 236.
 74 Ebd., S. 243; zur negativen Umwertung von Flexibilisierung in Deutschland in den 1990er Jah-
ren vgl. Negt, „Flexibilität und Bindungsvermögen“, S. 17.

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und dürfen“.75 Konsequenterweise werden darum nicht nur starre Hierarchien,


fehlende Kommunikation und zeitliche Unflexibilität für die Häufung von Herz-
infarkten verantwortlich gemacht, sondern auch das Verhalten der Arbeiter, deren
angeblich übersteigertes persönliches Sicherheitsbedürfnis in eine chronische
Selbstüberforderung mündet, einer Kritik unterzogen. Im Diskurs über Arbeits-
stress und Herzinfarkte vollzieht sich mithin auch der Umbau des organization man
zu einem Arbeitnehmer, der fähig sein soll, sich, mit einem Begriff von Boltanski
und Chiapello, in die „Netzwelt der projektbasierten Polis“ zu integrieren,76 in der
individuelle Flexibilität, Selbstentfaltung, Mobilität, Kommunikationsfähigkeit und
Kreativität zählen.
Dieser Übergang zu einer neuen Arbeitswelt betrifft in Stössels Tatsachenroman
jedoch nicht nur die Arbeiter. Die deutlichsten Hinweise auf sie finden sich viel-
mehr in anderen Passagen. So erweist sich der Journalist, der Material für seinen
Artikel sammelt, als prototypische Figur des Informationszeitalters. Seine Arbeit
erfüllt die Kriterien von Projektbasiertheit, Kreativität, flexiblen Arbeitszeiten und
setzt selbstverständlich Kommunikationskompetenz voraus. Dennoch bleibt im
Roman die Figur beschränkt auf ihre Funktion als Erzählmedium, das es erlaubt,
eine zwischen Distanz und Empathie changierende Beobachterperspektive auf den
Stress der Arbeiter und die Diskussionen der Wissenschaftler zu eröffnen. Der
Umstand, dass dem Beobachter, wie seine Lebensgefährtin bemerkt, die Arbeit
zuweilen „über den Kopf wächst“, bildet so ein unartikuliertes Stressnarrativ in der
Erzählung.77 Der Stress des Beobachters bleibt ausgeklammert. Stössels Tatsachen-
roman, der schon vom Titel her nicht den Status poetischer Literatur beansprucht,
stellt mit dieser Beobachterfigur ein interessantes Außen dar, sofern man einen
Blick auf die Literatur der Neuen Subjektivität wirft, für welche Stress einen Anlass
literarischer und subjektiver Introspektion liefert. Während dort auf die Weise ge-
rade der Stress des Informationsverarbeiters thematisch wird, erweist sich bei Stös-
sel demnach der Journalist, von jeder Pathologisierung sorgsam ausgenommen, als
der wahre ‚Fleißer‘ des Romans.

4. Schriftsteller im Stress

In den 1970er Jahren wird Stress als Phänomen und Diskurs unvermeidlich. Und
er trifft auch die Literaten, obwohl noch Robert Gernhardt „peinlich“ berührt be-
merkt, „das Herz eines Dichters / schmerzt beim Befund / es leide an der
‚Managerkrankheit‘“.78 Gernhardt beobachtet zurecht, dass sich Manager und
Dichter offenbar näher gekommen sind, als es letzterem lieb sein kann. Das liefert
einen Hinweis, dass der Stress unter dem Regime persönlicher Autonomie und

 75 Friczewski, Sozialökologie des Herzinfarkts, S. 92f.


 76 Boltanski/Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 165.
 77 Stössel, Herz im Streß, S. 107.
 78 Gernhardt, „Er schämt sich“, in: Ders., Herz in Not, S. 55.

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allgemeiner Flexibilisierung nicht verschwindet, sondern nur die Seiten wechselt.


Er beschreibt nunmehr nicht mehr das Unbehagen in der organisierten Moderne,
vielmehr wird er zum Ausdruck des Leidens in der deregulierten postfordistischen
Informationsgesellschaft. Auf den Stress der organisierten Moderne folgt jener des
Zeitalters der Flexibilisierung. Und der freie Schriftsteller verkörpert einen der Pro-
totypen dieses neuen Zeitalters. Als Zulieferer der creative industries, Vertreter eines
Kulturberufs, Betroffener projektbasierter Beschäftigung gehört er zu einer jener
sozialen Gruppen, welche die Soziologie nicht zufällig seit einigen Jahren als cha-
rakteristische Protagonisten flexibilisierter Arbeitsformen zu untersuchen begon-
nen hat.79 Er stellt, wie die untenstehenden Fälle, inklusive Robert Gernhardt,
zeigen, einen Typus des „Arbeitskraftunternehmers“ dar, dessen Gesundheit direk-
ten Einfluss auf seine von Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstratio-
nalisierung80 abhängige Produktivität hat, so dass er sich den Rufen nach ihrer
Optimierung nur schwer entziehen kann.81 Die Gesundheit stellt in den fluiden
Strukturen der creative industries gewissermaßen sein Betriebskapital dar. Das
Überangebot entsprechender Informationen verlangt trotz ihrer zunächst affizie-
renden Wirkung zugleich nach Selektion. Als Spezialist für die affektive Verarbei-
tung, die Selektion und die Kombination von Informationen bastelt der Schrift-
steller aus ihnen einen eigenen Lebensstil, verwandelt sich in einen wahrhaften
„Lebenskünstler“82, bewegt von der Sorge um seine Gesundheit, die unmittelbaren
Einfluss hat auf seine Arbeitsproduktivität und ökonomische Existenz. Was die
Literatur der Neuen Subjektivität als Stress beschreibt, erweist sich entsprechend
als ambivalent: Noch immer geht es um Künstlerkritik im Sinne Boltanskis und
Chiapellos, noch immer um die zivilisationskritisch motivierte Kritik an der durch
die organisierte Moderne bewirkte Entfremdung, noch immer um die Suche nach
authentischer Selbstwahrnehmung am Leitfaden hypochondrischer Sensibilität;
zum Anderen aber auch um die Kritik an der Manipulation solcher Selbstwahrneh-
mung durch multimediale Informationen, um die Problematisierung permanenter

 79 Grundlegend Florida, Cities and the Creative Class; vgl. auch Reckwitz, Die Erfindung der Kreati-
vität. Im deutschen Kontext hat insbesondere das Theater als Ort zugleich kreativer und prekärer
Beschäftigung einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vgl. u. a. Haunschild, „Das Beschäfti-
gungssystem Theater“; Eikhof/Haunschild, „Arbeitskraftunternehmer in der Kulturindustrie“;
Dies., „For art’s sake!“; Ökonomie im Theater der Gegenwart, hg. v. Christine Bähr und Franziska
Schößler. Die Konzentration richtet sich allerdings meist auf die Arbeitsverhältnisse der Schau-
spieler, eine Ausnahme macht Jürgen Becker, der in einem Kurzbeitrag die Umstellung der För-
derpraxis in Bezug auf Theaterautoren analysiert, die nunmehr Stückaufträge erhalten (Becker,
„Kunst oder Kinsey?“).
 80 Diese Kompetenzen zeichnen Hans J. Pongratz und G. Günter Voß zufolge den modernen Ar-
beitskraftunternehmer aus (Pongratz/Voß, Arbeitskraftunternehmer, S. 24). Laut Axel Haunschild
trifft dieselbe Feststellung auch für Theaterschauspieler zu (vgl. Haunschild, „Ist Theaterspielen
Arbeit?“, S. 147).
 81 Insofern erfolgt die „Körper-Selbstvergewisserung“, wie Jan Distelmeyer gegen die These vom
Verschwinden des Körpers im Zeitalter der Digitalisierung und der New Economy argumentiert,
nicht nur kompensatorisch, sondern auch über Praktiken der Selbstsorge (Distelmeyer, „Bei le-
bendigem Leibe“, S. 201).
 82 Vgl. Baumann, Wir Lebenskünstler.

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Aufmerksamkeitssteuerung, die noch durch die Lenkung des Blicks auf den eige-
nen Leib eine Entfremdung desselben bewirkt.83 Hier scheint sich in den Erzeug-
nissen der Neuen Subjektivität doch eine nicht irrelevante Erweiterung der Künst-
lerkritik anzudeuten, die Boltanski und Chiapello übergehen, wenn sie das Ende
der Künstlerkritik dadurch gekommen sehen, dass deren Autonomiepostulate in
der neuen Arbeitswelt des Postfordismus verwirklicht werden. Die Erweiterung der
Künstlerkritik besteht in der Frage, wie man informiert, angeleitet, kritisiert – mit
einem Wort und mit Foucault: wie man regiert werden möchte.84 So wird Stress,
wie auch bei Gernhardt, als Effekt medialer Rückkopplungen und Aufmerksam-
keitssteuerung thematisierbar und kritisierbar.
Die Einschreibung von Stress in das Informationszeitalter wird in den Aufklä-
rungskampagnen des Biochemikers, Kybernetikers und Populärwissenschaftlers
Frederic Vesters greifbar, dies auch im Sinne eines performativen Akts, da er hierfür
virtuos alle medialen Möglichkeiten ausschöpft. Vester, der 1976 sowohl für die
Ausstrahlung einer Fernsehdokumentation wie die Publikation des wiederholt auf-
gelegten Bestsellers Phänomen Streß verantwortlich zeichnet, schreibt über Stress-
folgen: „Vielen Krankheiten geht […] eine Langzeitschädigung voraus, die durch
die Summe kleinster, aber ständiger, nicht umgesetzter Streßreize erfolgt und über
Jahre unbemerkt bleibt“.85 Stress interpretiert er als Geschehen im Kontext eines
„Gefüge[s] von Wirkungen und Rückwirkungen, das im wahrsten Sinne des Wor-
tes durch die Haut geht“ (PS 11). Das Problem in Bezug auf den modernen Stress
ist für Vester die Antiquiertheit des Menschen, dessen hormonell gesteuerter biolo-
gischer Regulationsmechanismus nicht auf die Reizüberflutung eingerichtet ist, die
in der modernen Zivilisation herrscht und durch die „immer dichter[e] Vernet-
zung“ untereinander sowie mit ihrer künstlichen Umwelt noch intensiviert wird
(ebd.). Stress als in evolutionärer Hinsicht sinnvoller Verteidigungsmechanismus,
der im Angesicht einer akuten Gefahr unter Aussetzung reflektierten Nachdenkens
die schnelle Mobilisierung aller Kräfte erlaubte, wird so vom Ausnahmezustand
zum Dauerzustand, er „entartet und wird zum pathologischen Streß“ (PS 49).
„Lärm, Hetze, Frustrationen, Schmerz, Existenzangst und vieles andere“ (PS 14)
würden dem modernen Menschen zusetzen, sie alle seien Risikofaktoren für „Herz-
und Gefäßerkrankungen, verminderte Immunabwehr und dadurch Infektionsan-
fälligkeit, Stoffwechselstörungen, Ulcus Colitis, Konzentrationsschwäche, gestaute
Aggressionen, Neurosen, Asthma und erhöhte Krebsdisposition“ (PS 47). Die
Krankheitsursache liegt letztlich in der unwillkürlichen ständigen Anpassung des
Organismus an das moderne Leben, mit der er sich überfordert. Betroffen sind
dabei zunächst die „biologischen Kommunikationssysteme“ des Körpers, die auf

 83 Vgl. Lieskounig, „Der Kampf um die bedrohte Körperlichkeit“.


 84 Vgl. Foucault, Was ist Kritik?, S. 12.
 85 Vester, Phänomen Streß, S. 120. Im Folgenden unter der Sigle PS mit Seitenangabe direkt im Text
zitiert. Vester umreißt das Verhältnis zwischen Film und Publikum so, „daß die Filme nur anrei-
ßen“ sollen, was „durch das Begleitbuch ‚Phänomen Stress‘ mit seinen über 300 Literaturanga-
ben“ vertieft wird (Vester, „‚Stress‘ in den Medien und durch die Medien“, S. 117. Im Folgenden
unter der Sigle SM mit Seitenangabe direkt im Text zitiert.).

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Dichter mit Herzinfarkt 109

Störungen mit „dem gleichen stereotypen Schema“ reagieren, „wie es schon seit
Äonen in unseren Urahnen für Angriff oder Flucht vorprogrammiert war“ (PS 34).
Die Dauerstörung durch Reizüberflutung gefährdet die Homöostase der biologi-
schen Systeme, deren beständige Selbstregulation, da der ständige Reiz keine Erho-
lungsphase erlaubt, eine selbstdestruktive Dynamik entfaltet, die zur Selbster-
schöpfung führt. In sozialer Hinsicht besonders gefährdet, gerade für „Herzinfarkte
und Gefäßerkrankungen“, gelten deshalb die Protagonisten forcierter Anpassung,
„die auf Wettbewerb gedrillten, ständig auf ihr Prestige bedachten dynamischen
Typen“ (PS 103). Was Vester vornimmt, wenn er auf die „gewaltige Summe kleiner
unterschwelliger Stressoren“ (PS 35) aufmerksam macht, ist eine umfassende Pa-
thologisierung des vermeintlich normalen konformen Lebens. Der Stressabbau soll
dagegen nicht durch bessere Anpassung, sondern durch nonkonformes Verhalten
gefördert werden, wie Vester anhand der eigenen Biographie plausibel macht – ins
Zentrum rückt die eigene „Selbstverwirklichung“ (PS 112):
Erst durch den Entschluß, naturwissenschaftliche Forschung mit ihrer gesellschaftli-
chen Aufgabe zu verbinden, also auch Bücher zu schreiben, wissenschaftliche Filme
zu machen und damit sogar künstlerisch tätig zu sein, war es auf einmal möglich,
Hobby, Beruf, Freizeit, Familienleben und Lebensphilosophie miteinander zu ver-
schmelzen (PS 130).

Als bestes Mittel der Vorsorge gilt angesichts der Omnipräsenz von Stressoren also
ein eigener, auf Stressverminderung ausgerichteter Lebensstil, der Abwechslung,
Entspannungsmomente und Selbstverwirklichung einschließt. Zu den Bedingun-
gen dieses Lebensstils gehört auch ein „neues medizinisches Denken“, das der
Komplexität und ubiquitären Verbreitung negativer Stressoren gerecht wird: „Ein
Denken in Netzen, ja selbst in mehrdimensionalen Strukturen“ (PS 146). Da der
Organismus als selbstregulatives System eine inadäquate Anpassungsleistung an die
zivilisatorische Umgebung vollbringt, muss seinen Funktionen eine neue Aufmerk-
samkeit zukommen. Denn im beständigen Beobachten des Körpers, im Aufmer-
ken auf sein Biofeedback, sieht Vester die Möglichkeit zu seiner intelligenten Steu-
erung, die sich bei ihm mit folgender Technikutopie verbindet:
Wenn man die Meßgeräte mit dem Körper rückkoppelt, dann ergibt sich nicht nur
die Möglichkeit, seinen eigenen Zustand, also Blutdruck, Herzschlag und so weiter
zu verfolgen, sondern man kann auch im ständigen Feedback, zum Beispiel über ein
Tonsignal, ausprobieren, wie man diese Meßwerte im gewünschten Sinne steuern
kann. (PS 132 f.)

Aufmerksamkeit verwandelt sich hier wortwörtlich in eine kybernetische Selbst-


technik, die Zugang verschafft zur Kontrolle des „subtile[n] Terrain[s] der allerin-
nersten Lebensfunktionen“ (PS 81). Da hierbei, wie Vester am „Angstmechanis-
mus“ vorführt, auch die „geistigen Impulse[]“ und „materiellen körperlichen
Vorgänge[]“ miteinander verschaltet werden, kann das Denken ebenso der Selbst-
kontrolle und Stressminderung dienen wie auch selbst zum Stressor werden,
„[d]enn Angst hat man nur, wenn einem eine Situation als gefährlich klargeworden

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ist“ (PS 86). Die Rückkopplung zwischen psychischem und organischem Stress
mache es jedenfalls möglich, „über ein bewußtes Verhalten und eine bewußte In-
terpretation in die Wirkung bestimmter Streßreize aktiv einzugreifen – negativ wie
positiv“ (PS 97). Und „Menschen mit größeren Chancen zur Selbstverwirklichung“
würden „weniger Gefahr laufen, später einmal einen Herzinfarkt zu erleiden oder
von Magengeschwüren oder krebsartigen Prozessen befallen zu werden“ (PS 112).
Die Aufmerksamkeit soll also auf die eigenen basalen Lebensfunktionen gerichtet
werden, deren Feedback darüber Aufschluss gibt, ob man ein gutes Leben lebt oder
nicht. Das mediale Feedback führt in ein neues Zeitalter der Empfindsamkeit.
Kritik an einem solchen neuen empfindsamen Zeitalter äußert Botho Strauß,
immerhin selbst Autor des Theaterstücks Hypochonder (1972), als er in Paare, Pas-
santen (1981) „eine Art hypochondrisches Display“ beklagt, über das „Werbung
für die eigene Hochempfindlichkeit“ betrieben werde.86 Die Polemik gegen das
poetische Programm der Neuen Subjektivität läuft nicht nur auf eine Selbstdistan-
zierung hinaus, sie umfasst vielmehr, da von „Werbung“ die Rede ist, eine weitere
Pointe, überführt sie doch die nach Authentizität suchenden Erzeugnisse der
Neuen Subjektivität ihrer Medialität. Während Strauß sich von der Neuen Subjek-
tivität distanziert, schließt er hier jedoch zugleich an ihre Kritik an, die sich immer
auch gegen das Informationszeitalter richtete, das keine authentischen Erfahrun-
gen und Selbstwahrnehmungen mehr ermögliche. So lässt sich der Protagonist bei
Nicolas Born in Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) „zur Beobachtung“
in ein Krankenhaus aufnehmen. Eine neu entdeckte „Selbstfürsorge“ treibt ihn
an,87 „nicht einfach über ein besseres Leben“ nachzudenken, „sondern über ein
gesteuertes, einen Lebensplan anzufertigen, eine Aufstellung meines künftigen Le-
bens zu Papier zu bringen“.88 Und der erste im neuen Lebensplan vorgesehene
Schritt, der auch sogleich in den Aufzeichnungen festgehalten wird, ist die Selbst-
einweisung in die Klinik. Die Aufzeichnungen werden an dieser Stelle, wo es auf
den ersten Blick um die hypochondrische Körpererfahrung geht, in Wahrheit
selbstreferentiell: Die Einweisung folgt einem selbstgefertigten Skript. Während
der Eingewiesene allerdings eine Überprüfung seiner „Körperfunktionen“ be-
zweckt, wollen die Ärzte seine „Konflikte in die Hand kriegen, etwas sozial
Exemplarisches“.89 Der Patient lehnt diese Psychopathologisierung seiner körperli-
chen Symptome jedoch ab. Dennoch bleibt er vorerst in der Klinik, geleitet vom
„Interesse von mir an mir selbst“,90 das darin zum Ausdruck kommt, „unter den
eigenen Reproduktionen von Lebensäußerungen […] eine Natur“ zu entdecken.91
Der Sehnsucht nach authentischem Erleben der eigenen Natur steht die Erfahrung
des Wirklichkeitsverlusts entgegen, die etwa dort greifbar wird, wo eine flüchtige

 86 Strauß, Paare, Passanten, S. 164.


 87 Born, Die erdabgewandte Seite der Geschichte, S. 117; zur Einordnung Borns in die Neue Subjekti-
vität vgl. Stein, „Nicolas Born“.
 88 Born, Die erdabgewandte Seite der Geschichte, S. 119 f.; vgl. dazu Lieskounig, „Entwirklichung“.
 89 Born, Die erdabgewandte Seite der Geschichte, S. 121.
 90 Ebd., S. 124.
 91 Ebd., S. 128.

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Dichter mit Herzinfarkt 111

Geliebte dem Erzähler nach dem gemeinsamen Sex vorhält: „Ich glaube, du erlebst
überhaupt nichts wirklich, es sind bei dir bloß Geschichten, glaube ich, lauter
Geschichten.“92 Auch der Erzähler selbst beklagt, „ein Filmleben“ zu führen, „das
sich auch schon wieder in verfilmbare Wirklichkeit“ verwandelt.93 Dazu gehöre
auch, dass einen keine „Krankheiten“ mehr peinigten, „aber die Medizin“.94 Im
Ergebnis legt die Passage von der Selbsteinweisung in die Klinik von einem zweifa-
chen Scheitern Zeugnis ab. Denn es scheitert sowohl der Versuch, dem eigenen
vorgefertigten Erzählskript spontan Leben einzuhauchen, als auch das Vorhaben,
den Alarmzeichen des eigenen Körpers eine objektive Ursache zuzuweisen. Die
Lebenskrankheit erweist sich als Effekt der Beobachtung durch die Medizin und
das Selbst. Nicht zufällig wird der nächste Ausbruchsversuch, eine Reise nach Paris,
deswegen nicht im Zeichen der Selbstfürsorge, sondern der Ablenkung von den
eigenen Sorgen stehen.95 Wenn Krankheiten bloß Alarmzeichen sind, auf Risiken
verweisen, dann gewinnen sie ihren Wirklichkeitsstatus nicht als Wirklichkeiten,
sondern als gefährliche, beunruhigende Informationen. Die „Prävention unter ak-
tiver Beteiligung der Betroffenen“, die das Ziel der WBZ-Studie bildet,96 bezweckt
genau diese Beunruhigung. Beobachtet der Dichter in den 1950er Jahren, was der
Fleißgesellschaft durch ihre mangelnde Selbstaufmerksamkeit entgeht, so stellt sich
der Dichter der 1970er Jahre als ein Subjekt dar, welches das prädestinierte Objekt
für solche medial vermittelte Strategien permanenter Selbstbeobachtung bildet.
Die Zivilisationskritik, die Nicolas Born, Peter Handke oder Rolf Dieter Brink-
mann dabei formulieren, findet man bereits zwanzig Jahre zuvor, nicht aber die
Problematisierung der Mediologie dieser Kritik. Was sich gewandelt hat, ist denn
auch der exemplarische Status des Dichters, der dabei mit der Figur des Journalis-
ten verschmilzt. Wie dieser bewegt sich der Schriftsteller in der Sphäre permanen-
ter Informationsflüsse. Als Experte des Informationszeitalters verliert er seinen Sta-
tus als distanzierter Beobachter, er ist das erste Opfer der Irritationen und
Störungen, die er aufzeichnet, aber auch ihr erster Kritiker.97 Entsprechend handelt
es sich bei den literarischen Darstellungsmedien mehrheitlich auch nicht mehr um
Romane, sondern um Journale, d. h. Medien der permanenten Aufzeichnungen
von Umweltbeobachtungen und Selbstwahrnehmungen. „Einziger ‚Held‘“ solcher
Texte sei, so Thomas Groß über Brinkmann, „die Empfindlichkeit subjektiver
Wahrnehmung, in der Alltag und Praxis des Schriftstellers immer schon untrenn-
bar verwoben sind.“98 Ein Blick in Brinkmanns Aufzeichnungen zeigt allerdings,

 92 Ebd., S. 80.


 93 Ebd., S. 56.
 94 Ebd.
 95 Vgl. ebd., S. 202.
 96 Friczewski, Sozialökologie des Herzinfarkts, S. 19.
 97 Diese Form der Beobachtung hängt laut Urs Stäheli auch mit dem epistemischen Status der Stö-
rung zusammen, da der Beobachter das Ereignis der Störung nur als Betroffener, nicht als distan-
zierter Beobachter beobachten können wird (Stäheli, „Die Beobachtung von Wirtschaftsstörun-
gen“, S. 53).
 98 Groß, Alltagserkundungen, S. 24.

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dass Alltag und Praxis des Schriftstellers nicht nur verwoben sind, sondern dem
Informationszeitalter und kybernetischen Selbsttechniken insofern entsprechen,
als sie in einem Rückkopplungsverhältnis stehen.
Brinkmann entwickelt in dem Zusammenhang eine hypochondrische Poetolo-
gie, in deren Rahmen er zunächst alle möglichen Warnzeichen aufzeichnet, um sie
abwechselnd mit Krebs, Herzinfarkt oder psychischen Krankheiten in Zusammen-
hang zu bringen: „Nackenschmerzen, Kreuzschmerzen, Brennen in den Fußknö-
cheln, Pickel, graue Haare, Flucht, Angst, Schmerzen in der Brust, Husten, kalte
Füße, starrer Körper, irres Lachen“.99 Den Befund von Gernot und Hartmut
Böhme, die das „Eingebildete der Hypochondrie“ dadurch erklären, „daß der Pati-
ent ängstlich als Symptome körperlicher Krankheit deutet, was doch nur die leib-
liche Präsenz seiner Affekte ist“,100 erweitert Brinkmann informationstheoretisch,
indem er die „Wahrnehmung der Fakten“ durch „TV, Illustrierten-Photos, den
Wort- und Geräuschwirbel anggeriffen [sic]“ sieht.101 Die leibliche Selbstwahrneh-
mung wird demnach durch affektiv besetzte Risikoinformationen gesteuert:
Der Mund wird trocken, ich bekomme Angst wegen meines vorherigen langen Rau-
chens, mir fällt Krebs ein, und das ist wieder eine Verwirrung. Und da diese Sachen
nicht konkret anzufassen sind wie eben ein Eimer Asche, den man wegkippt, und
damit ist die Sache erledigt, geht mir auf, wie genau man doch mit sich aufpassen
muß, und ich denke bei allem, und dann: wie verträgt sich das Aufpassen auf sich mit
der Selbstverständlichkeit der eigenen Anwesenheit, einer angenehmen Offenheit, da
man ja andernfalls zu sehr zusammengezogen ist, aus Vorsicht, aus Angst, aus Verletz-
lichkeit und erlittenen Verletzungen.102

Es schlägt sich bereits als leiblich präsentes Zeichen nieder, was sich erst in der
Zukunft realisieren soll. Was nach schlichter Semiotik aussieht, verwandelt sich in
Hermeneutik, in eine Deutung, die der Logik des Verdachts folgt. So bezweifelt
Brinkmann zwar die Faktizität der Informationen und Artefakte, die er sammelt,
registriert am eigenen Leib aber zugleich deren durchaus reale affektive Wirkung.
Das Paradox dieser Informationen liegt darin, dass ihr fiktiver Charakter fortbe-
steht, während sie reale Effekte erzielen. Was Brinkmann bei seinen Recherchen
anstrebt, ist keine reflexive Verarbeitung, sondern vielmehr, in den Worten Sibylle
Schönborns, die unmittelbare Abbildung von „Blitzlichter[n] semantischer Reflexe
auf der Leinwand des Gehirns“.103 Der literarische Text verwandelt sich in ein Me-
dium, in dem die Antizipation jener Warnzeichen, die das tägliche Leben durch-
dringen und in ein Minenfeld unterschiedlichster Risiken verwandeln, durchge-
spielt werden kann. Die Motive, die Brinkmann in seinen Journalen versammelt,
gleichen auffällig dem Bild- und Textmaterial, das auch Vester verwendet: Bestän-
diger automobiler Verkehr, die entfremdete Großstadtwüste oder sexualisierte Wer-

 99 Brinkmann, Erkundungen, S. 193.


100 Böhme/Böhme, Das Andere der Vernunft, S. 418.
101 Brinkmann, Erkundungen, S. 331.
102 Ebd., S. 349.
103 Schönborn, „Bilder einer Neuropoetik“, S. 221.

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Dichter mit Herzinfarkt 113

bung verweisen auf die gleichen zivilisationskritischen Gemeinplätze. Während bei


Vester die Symptomhaftigkeit und objektivierbare Exemplarizität des illustrativen
Materials unangezweifelt bleibt, erweist sich seine Zusammenstellung bei Brink-
mann hingegen als Dokument, das den Prozess einer radikal persönlichen Wahr-
nehmung und Selektion zur Darstellung bringt.104 Die Montage und Verdichtung
des Materials bleibt auch nicht ohne Auswirkungen auf den Autor. „Der Streß wird
größer. Je mehr ich denke“, notiert Brinkmann in seinen Erkundungen für die Prä-
zisierungen des Gefühls für einen Aufstand.105 Fast identisch findet sich der Satz auch
bei Vester, als er die Rückkopplungseffekte des ängstlichen Denkens analysiert.106
Brinkmann setzt dies jedoch nun in eine poetische Praxis und Form um. Die
schriftstellerische Tätigkeit registriert die gefährlichen Informationen nicht nur,
sondern potenziert sie. Sie erweist sich somit als eigener Stressfaktor. Es wird unun-
terscheidbar, ob die Umwelt oder die eigene Beobachterhaltung den Stress produ-
ziert. Die poetische Tätigkeit kann somit als der eigentliche Stressor erscheinen.
Konsequent lenkt Brinkmann die Aufmerksamkeit, wenn er die pathogene Um-
welt in Bild und Text darstellt, derart auf die Medien der Aufmerksamkeitsgenerie-
rung und den Stress, den die beständige Aufklärung über Stress produziert. Wenn
Stress bei Brinkmann als Phänomen einer medialen Selbstinduktion kenntlich ge-
macht wird, entsteht zugleich im engeren Sinn eine Poetologie des Stresses, indem
die Literatur als Verdichtung von Informationen nunmehr selbst als primäre Stres-
sursache erschlossen wird.
Unmerklich verschiebt Brinkmann also den Akzent: vom Gegenstand der Auf-
merksamkeit hin zu den Medien, welche die Steuerung der kollektiven und indivi-
duellen Aufmerksamkeit besorgen. Als der Herzspezialist Max Halhuber, bekannt
für die Entwicklung neuer Rehabilitationsmethoden für Herzinfarktpatienten, im
Juli 1976 das erste von zwei Werkstattgesprächen über Psychosozialen Stress und
koronare Herzkrankheit veranstaltet, lädt er zum Thema „‚Stress‘ in den Medien
und durch die Medien“ als ausgewiesenen Medienexperten auch Frederic Vester
ein (SM 99). In diesen Gesprächen führt Vester zunächst vor, wie man das Fernseh-
studio, in dem die meisten Aufnahmen für den Dokumentar- und Aufklärungsfilm
über Stress gedreht wurden, auf eine „das entstressende Gefühl der Vertrautheit“
vermittelnde Weise eingerichtet hatte, um einerseits die eigene „Kreativität“ nicht
zu blockieren und andererseits die Zuschauer nicht künstlich übermäßig aufzure-
gen. Auch das „Antistress-Studio“ (SM 100) ändere aber nichts daran, „daß unsere
Gehirnverschaltungen durch das Medium Fernsehen in einer sehr einseitigen Weise
überbeschäftigt“ seien, denn „das Urteilsvermögen, welches in der rechten Hirn-
hälfte stattfindet“, komme „gar nicht mit dem Gesehenen“ mit, „weil diese rechte
Hirnhälfte mit der Farbkomposition der Bilder beschäftigt ist“ (SM, 103). Den-

104 Diese Form der Verdichtung weist Analogien auf zum isomorphen Prinzip der Kybernetik, dass
Nachrichten erreichen, „wen auch immer es betrifft“, was umgekehrt heißt: „Der Empfang ist die
Sendung.“ (Schüttpelz, „To whom it may concern messages“, S. 126)
105 Brinkmann, Erkundungen, S. 360.
106 Dort kommt Vester nämlich zum Schluss: „Der Streß wurde also eindeutig durch das Denken
ausgelöst.“ (PS 86)

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noch setzt Vester darauf, den Zuschauer mit seinem Film „sowohl zu interessieren
als auch zu entspannen“ (ebd.). Das hindert ihn jedoch nicht daran, andererseits
auch „Hilfsmittel […] wie Zauberei und Tricks“ einzusetzen, „die einen von der
Verblüffung her am Bildschirm halten“ (SM 105). Obwohl am Nachmittag im
ZDF ausgestrahlt, enthält der Film eine Schreckensszene. Man führt einen Herzin-
farkt vor, woran Vester in den Gesprächen eine Anekdote anknüpft, derzufolge die
Szene den Darsteller des Infarktes „so sehr an den Moment seines eigenen Herzin-
farktes“ erinnert habe, „daß er lange Zeit danach am Boden lag, und wir direkt
Angst hatten, er hätte wirklich einen zweiten Herzinfarkt bekommen“ (SM 106).
Hier wird deutlich, dass der Film entgegen der von Vester behaupteten Ästhetik der
Vertrautheit offenbar sehr wohl auf einer Ästhetik der Angst aufbaut, nämlich
selbst Angst, Schrecken, Verblüffung und somit auch Stress erzeugt, was zugleich
der Fokussierung und Steuerung der Publikumsaufmerksamkeit dient. Die eben-
falls dokumentierte, durchaus heftige Diskussion zwischen Vester und den anwe-
senden Medizinern dreht sich anschließend um die Legitimität der Popularisierung
von Wissenschaft, und Halhuber merkt an, wie wenig, wenn es um Prävention
geht, „ganz verschiedene Aspekte, nämlich die Information der Öffentlichkeit, die
Motivation der Betroffenen und schließlich auch die pädagogischen Qualitäten
(z. B. auch die Glaubwürdigkeit) der ‚Prediger‘ zu trennen sind“ (SM 115). Hier
zeigt sich die Entgrenzung, die der Herzinfarktdiskurs durch die Stressvorsorge
erfahren hat – und zwar nicht nur insofern, als das Verhalten des Gesunden zum
Gegenstand medizinischer Sorge erklärt wird, sondern auch durch den Auftritt
neuer Akteure wie Vester, die als Medienexperten und öffentliche Kritiker den Ärz-
ten ihre Rolle als unumstrittene medizinische Autoritäten streitig machen.
Auch die Literatur muss sich in diesem Spannungsfeld neu positionieren, denn
Konkurrenz erwächst ihr sowohl in Gestalt von Kritikern wie Vester als auch neuer
Massenmedien wie vor allem dem Fernsehen. Ein Text des Medienpädagogen und
Essayisten Michael Rutschky liefert dabei einen Hinweis, dass diese Neupositionie-
rung zunächst einmal einer Nichtpositionierung gleichkommt, einem Spiel mit
jenen nichtpoetischen Medien, die den Herzinfarktdiskurs dominieren. Rutschky
begreift den Herzinfarkt, unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen, zunächst als
„Lektion am eigenen Leibe“. Den Text, der unter dem Titel am 27. September
1984 als Zeitungsartikel in der Welt erscheint, übernimmt er später unter dem
Stichwort „Der Herzinfarkt“ in seinen ironischen Ratgeber Was man zum Leben
wissen muß (1987).107 Er vollzieht damit eine literarische Camouflage, verschmilzt
das Genre des Ratgebers mit jenen des Essays und der Autobiographie. Am Anfang
des Textes steht die Ereigniserzählung, die Zäsur des Herzinfarktes, für die zu-
nächst, im Augenblick des Geschehens, nur scheinbar „kein Begriff“ existiert, denn
reflexartig, ohne weitere Überlegungen daran zu knüpfen, bemerkt Rutschky in der
Situation selbst: „Hoffentlich […] ist es kein Herzinfarkt“ (LW 93). Als symboli-

107 Vgl. Rutschky, Was man zum Leben wissen muß, S. 91-101. Im Folgenden unter der Sigle LW mit
Seitenangabe direkt im Text zitiert. Zu Rutschkys Verbindung von Essayismus, Lebenskunst und
Literaturdidaktik vgl. bes. Stanitzek, Essay – BRD, u. a. S. 134.

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sches Deutungsmuster ist der Herzinfarkt dem Ereignis vorgängig, existiert als Me-
tapher, bevor er auf den Begriff gebracht wird. Nach der Herzoperation und dem
Aufenthalt in einer Klinik kommt Rutschky in eine „sog. Reha-Klinik, eine Art
Sanatorium, wo systematisch die Rehabilitation für unsereinen betrieben wird,
durchaus erfolgreich, wie ich für mich dankbar sagen will“ (LW 97). Überall stößt
er „auf die nur allzu willige Bereitschaft […], psychologische und soziologische
Diagnosen – an denen ich auch selbst hänge, anzunehmen“ (ebd.). Dabei fällt ihm
auf, dass jene Zivilisationskritik, die vordem noch Sache der Literaten war, eine
Institutionalisierung erfahren hat. Die Rehabilitationsklinik erweist sich als Ort
der „Schulung für Zivilisationskritiker“, deren Aufmerksamkeit auf „Nikotin, Fett
und Zucker als Schmiermittel“ der modernen Konsumgesellschaft gelenkt wird
(LW 100). Zudem gelte es „Unlust, Aufregung und Konflikt“ zu vermeiden,
kurzum all das, was unter das „Zauberwort“ Stress und unter die „Risikofaktoren“
falle (LW 98). Irritiert muss Rutschky feststellen, dass seine Kritik von den medizi-
nischen Institutionen und Autoritäten geteilt wird. Was dem Kritiker bleibt, ist
„aufgeklärte[r] Fatalismus“: „Ich rauche nicht mehr; ich kontrolliere meinen Fett-
konsum, ich schlucke meine Pillen; ich schwimme dreimal in der Woche einen
Kilometer.“ (LW 101) Rutschky ergeht es in gewisser Weise nicht anders als zur
gleichen Zeit Michel Foucault, der erleben muss, wie die von ihm entwickelte
Machtkritik von einer neuen Generation von Unternehmensberatern als Legitima-
tion für die Flexibilisierung fester Organisationsstrukturen und ihre Auflösung he-
rangezogen wird.108 Seine Genealogie der Sexualität, welche die nach 1968 ver-
meintlich errungene sexuelle Freiheit anzweifelt, und seine an Kant anknüpfenden
Überlegungen zu „Was ist Aufklärung?“, zur Möglichkeit von Kritik nach ihrer
erfolgreichen Durchsetzung, lassen sich auf dieses Problem beziehen. Ausgangs-
punkt seiner Reflexionen zur Möglichkeit von Kritik ist allerdings weniger Kant als
vielmehr jenes Feld, das Boltanski und Chiapello als Künstlerkritik beschreiben;
mit Bezug auf Baudelaire und die Bohème bemerkt Foucault, dass das moderne
Projekt, „sich selbst zu erfinden, den Menschen in seinem Sein“ nicht etwa befreie,
sondern vielmehr „zur Aufgabe“ nötige, „sich selbst auszuarbeiten“.109 Judith But-
ler, die diese Fragestellung aufgreift, verweist darauf, dass sich bei Foucault damit
der Fokus verschiebe, weg vom Verhältnis von Disziplinarmacht und Subjekt hin
zum Selbst, das sich selbst forme, „aber es formt sich selbst im Rahmen von For-
mierungspraktiken, die als Weisen der Unterwerfung/Subjektwerdung charakteri-
siert werden“.110 Auch die Subjektivierung des Selbst unterliegt Regeln, vollzieht
sich vor dem Hintergrund einer bestimmten symbolischen Ordnung, wird flan-
kiert von Dispositiven der Macht, was aber nicht heißt, dass sich das Selbst nicht
dazu verhalten könnte, indem es Formen der Parodie und Selbstironie entwickelt.
Dass Foucaults Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ im selben Jahr wie Rutschkys Zei-
tungsartikel erscheint, weist auf den gemeinsamen Problemhorizont hin, dem

108 Vgl. Boltanski/Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 252 f.


109 Foucault, „Was ist Aufklärung?“, S. 698.
110 Butler, „Was ist Kritik?“, S. 245.

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beide mit einer ähnlichen Strategie begegnen: einer Selbstproblematisierung der


Kritik. So stellt Rutschky im nächsten Abschnitt seines Ratgebers, „Die Karriere“
überschrieben, zwei „Männer, beide Anfang 40“, vor, denen man, während sie
scheinbar fit mit entblößtem Oberkörper einander auf einem Balkon gegenüber
sitzen, nicht ansieht, „daß beide in einer außerordentlich schweren Lebenskrise
stecken“ (LW 102). Beide sind von der „Managerkrankheit“111 betroffen und be-
finden sich nach dem Herzinfarkt im Sanatorium. Der eine, „Leiter der deutschen
Filiale eines großen ausländischen Maschinenbauunternehmens“, träumt von
einem „künstlerischen Beruf“ (LW 103). Der andere wendet ein, er sei Künstler,
aber das hätte „auch nicht vor dem Infarkt geschützt“ (ebd.). Rutschky kommen-
tiert den Dialog wie folgt: „Einzig sie [die Künstlerkarriere, R.S.], so scheint es,
realisiert einen emphatischen Lebenssinn, insofern nämlich die Vorstellungen –
oder Phantasmen – von Erlösung und Verdammnis mitspielen, was man von der
Karriere eines Mannes, der Leiter der deutschen Filiale eines großen ausländischen
Maschinenbauunternehmens ist, in der Tat kaum sagen kann.“ (LW 104) Der
Traum von der Künstlerkarriere stellt sich, wie Rutschky unter Zuhilfenahme von
Honoré de Balzacs Verlorene Illusionen, dieses „Desillusionsromans“ des 19. Jahr-
hunderts rekonstruiert (LW 108), keineswegs als Alternative, sondern nur als eine
andere Form der vertikalen Karriere heraus, welche dieselbe „Selbstvergessenheit“
einfordert, „die auch der ausländische Konzern von unserem Freund Karl, die
jede Institution von ihren Funktionären fordert“ (ebd.). Da der Manager aber die
„Rollendistanz“ (ebd.) wahrt, stellt sich der Künstler als der wahre Manager heraus
und stirbt ein Jahr später am „sog. Sekunden-Herztod“, während der Manager an
seinen Schreibtisch zurückkehrt und fortan die bis anhin geliebten „kulturellen
Features“ im Fernsehen verschmäht (LW 109). Rutschky spekuliert über eine
Rückkehr von Max Webers altem „Geist des Kapitalismus“, demzufolge erfolgrei-
che Arbeit Ausdruck göttlicher Gnade sei. Während in den Institutionen aber
längst wohltuende Entfremdung eingekehrt ist, während man sich dort in Prakti-
ken der Selbstdistanzierung übt, ist für Rutschky gerade die Literatur der letzte
Hort dieses „Kernstücks unserer kulturellen Mythologie“, so dass sie in Wahrheit
der eigentliche Ort „gänzlich selbstvergessene[r] und deshalb „erfolgreiche[r] Ar-
beit“ sei (LW 108).
Hier verortet sich die Literatur nicht mehr an der Seite der Muße suchenden
Außenseiter, vielmehr verkörpert sie selbst den Inbegriff selbstvergessener Fleißar-
beit. Rutschkys Ansatz ist ebenso aufklärerisch wie mystifizierend, er enthüllt den
Mythos selbstvergessener Arbeit, um ihn zugleich für die Literatur in Beschlag
zu nehmen. Im Zentrum kehrt der Akt der Selbstopferung wieder. Doch opfert
sich der Schriftsteller für keine Institution oder Organisation auf, sondern für das

111 „‚Managerkrankheit‘ wurde der Herzinfarkt nicht ohne Bewunderung in den fünfziger Jahren
genannt; wer ihn erlitt, demonstrierte damit eine gewisse selbstvergessene Überanstrengung bei
seiner Berufsarbeit, die ihn bereits in die höheren Ränge geführt hatte; so erlangte der Herzin-
farktkranke besonderes Prestige – das ist lange her.“ (Rutschky, „Die Karriere“, in: LW 102).

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eigene Werk, auch wenn sich seine „Bücher schlecht“ verkaufen und bald nach
seinem Tod in „Restauflagen verramscht“ werden (LW 109). Man geht nicht fehl,
Rutschkys Artikel als selbsttherapeutischen Gegenentwurf zu einer solchen, wenn-
gleich auf Selbstverwirklichung gerichteten, selbstvergessenen ästhetischen Arbeit
zu lesen. Die scheinbare ironische Etikettierung als Ratgeber lässt sich insofern als
durchaus ernsthaften Hinweis interpretieren, als der Text nicht auf ästhetische und
subjektive Verwirklichung hin geschrieben ist, sondern die Bewegung einer Ablen-
kung, einer Dezentrierung ästhetischer und subjektiver Selbstaufmerksamkeit voll-
zieht. Die Kritik an stressbestimmter Arbeit, an pathogenen Arbeitsverhältnissen
mündet hier in literarische Selbstkritik, in eine Bewegung der subjektiven und
poetischen Selbstdistanzierung. Die intrinsische Motivationsstruktur ästhetischer
Arbeit erscheint als maßgeblicher Risikofaktor für Herzinfarkte, wogegen nur eine
gezielte Strategie der Selbstentfremdung hilft.

5. Fazit

Der vollzogene Perspektivwechsel vom Stress der organisierten Moderne zum Stress
des flexiblen Kapitalismus stellt keinen simplen historischen Übergang dar, viel-
mehr kommt es zu einer Koexistenz der beiden Stressformen; die Grenze zwischen
ihnen erweist sich dabei als porös. Seit Einführung der Bypassoperationen beob-
achtet man, dass es zwar einen „hohen Anteil erfolgreich klinisch Rehabilitierter“
gibt, denen aber „ein niedriger oder jedenfalls wesentlich niedrigerer Anteil erfolg-
reich postoperativ beruflich Rehabilitierter“ gegenübersteht.112 Die Medizin prä-
sentierte die Bypassoperation als Methode zur erfolgreichen Rehabilitation des or-
ganization man, als funktionalen Eingriff, der zur annähernd vollständigen
Wiederherstellung individueller Leistungsfähigkeit führen sollte. Doch die Patien-
ten verhielten sich nicht wie konforme Leistungsträger, die nur darauf warten, zur
Arbeit zurückzukehren. Was die Soziologie im selben Zeitraum als „Wertewandel“
registriert, als Übergang von Ordnung und Fleiß zur „Selbstentfaltung“, verbun-
den mit dem „Absinken der Leistungsorientierung“,113 betrifft offenbar nicht nur
die junge Generation, die gerade den Eintritt in den Arbeitsmarkt vollzieht. Die
Herzoperation oder der Herzinfarkt markieren einen Einschnitt, der auch bei älte-
ren Arbeitnehmern zu einer individuellen Neuorientierung und Abkehr von den
Standards der Leistungsgesellschaft führt. Auch für den organization man nach
dem Herzinfarkt zählt eine Vorstellung von Selbstentfaltung, die auf das gute
Leben und nicht primär auf den Beruf ausgerichtet ist. Das angeschlagene Herz
liefert den Hintergrund für rites de passage, die das fleißige in ein hypochondrisches
Subjekt verwandeln. Poetische Darstellungen dieser Transformation, etwa Gerold

112 Gerhardt, Herz und Handlungsrationalität, S. 51.


113 Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 110; vgl. dazu Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem
Boom, S. 83.

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Späths Das Spiel des Sommers neunundneunzig (1999),114 zeigen allerdings, dass mit
der neuen Selbstsorge, dem Dialog mit dem eigenen Herzen, auch auf biographi-
scher Ebene der Übergang vom Stress der organisierten Moderne zu dem des Zeit-
alters der Flexibilisierung verbunden ist. Die mannigfaltigen Verbindungen zwi-
schen dem Stress der organisierten Moderne und dem Stress des Zeitalters der
Flexibilisierung harren noch näheren Untersuchungen.

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114 Heinrich R, ein „Mann […] in seinem neunundfünfzigsten Jahr“ und eben von einem Herzin-
farkt genesen, zieht sich nach Irland zurück und beginnt dort, tagebuchartige Notizen anzuferti-
gen. Der Herzinfarkt erscheint dabei als Warnzeichen. „Ihr kluges Herz hat Sie gewarnt“, heißt es
im Roman (S. 7). Doch gerade darum tragen im Roman weder der Aufenthalt in Irland noch das
Schreiben zur Entspannung bei, vielmehr verwandeln sich sowohl das fremde Land wie der ei-
gene Text in unheimliche Orte, an denen der Erzähler regelmäßig von der Angst vor der Wieder-
holung der Vergangenheit eingeholt wird. So wird auch bei Späth die Selbstbeobachtung im Me-
dium des poetischen Textes selbst zum Stressfaktor. Späth, Das Spiel des Sommers neunundneun-
zig.

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Merivel, Do Not Sleep

Rose Tremains Poetologie der Hände

1. Auge, Herz und Hand

Rose Tremains in der englischen Restaurationszeit des späten 17. Jahrhunderts an-
gesiedelten historischen Romane Restoration (1989) und Merivel. A Man of His
Time (2012) erzählen die Lebensgeschichte des Arztes, höfischen Günstlings und
Sohns eines königlichen Handschuhmachers, Robert Merivel. In der Ich-Form ge-
schrieben, stehen sie unter zwei poetologischen Prämissen, die beide eine signifi-
kante Dezentrierung produzierender und rezipierender Subjektivität betreffen.1
Gleich im Eingangskapitel des ersten Romans Restoration, in dem fünf mögliche
Anfänge der turbulenten Lebensgeschichte Merivels ouvertürenhaft durchgespielt
werden, bekennt der Protagonist:
I am fond of the feel of objects made of polished woods. My telescope, for instance,
I admit, I find greater order restored to my brain from the placing of my hands round
this instrument of science than from what its lenses reveal to my eye. (R 3)

Das Teleskop wird seinem eigentlichen Erkenntniszweck entfremdet, seine Funkti-


onalität verschiebt sich vom Gesichts- auf den Tastsinn. Es ermöglicht nicht mehr
Welterkenntnis, sondern bietet dem Subjekt eine Berührungsfläche, die es zur
Selbstkonstitution nutzen kann. Diese ist entsprechend nicht mehr okular, sondern
haptisch vermittelt.2 Eine für die Erkenntnispraxis des späten 17. Jahrhunderts
konstitutive Allianz wird relativiert: Die für ein empiristisches Paradigma unerläss-
liche Kooperation von Hand und Auge wird geradezu in eine asymmetrische Kon-
kurrenz überführt, die Dominanz des Sehsinns unterminiert. Die Hände bringen

  1 Zitate aus Rose Tremains Texten werden mit nachgestellten Siglen und Seitenangaben belegt. Die
beiden Restaurationsromane sind Restoration (R) und Merivel. A Man of His Time (M), bei den
weiteren Texten handelt es sich um Sadler’s Birthday (SB), The Swimming Pool Season (SPS), Sac-
red Country (SC), „Evangelista’s Fan“ (EF) und „The Ebony Hand“ (EH). Sämtliche Kursivierun-
gen in Zitaten entsprechen den Originaltexten. Für wichtige Hinweise und Anregungen ist den
drei Herausgebenden, Anna-Lisa Dieter, Alexander Schmitz und Simone Warta zu danken.
  2 Zum poetologischen Potential des Teleskops vgl. die kunst-, literatur- und medienwissenschaftli-
chen Aufsätze Belting, „Himmelsschau“; Heinritz, „Teleskop“ und Vogl, „Medien-Werden“. Die
drei Beiträge konzentrieren sich auf die optischen Dimensionen teleskopischer Praxis und Meta-
phorik. Vogl geht eingangs seines Aufsatzes auf Galileis Hand und ihre Rolle im zwischen Sternen
und Lesern vermittelnden Medienverbund ein. Vgl. zum Sehen als „master sense of the modern
era“ Jay, „Scopic Regimes“.

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124 Christopher Möllmann

das prototypische frühneuzeitliche Instrument visueller Erkenntnis – seinerseits


Produkt handwerklicher Fertigkeit – nicht präzise in Stellung, sondern lassen das
Subjekt in einer dingvermittelten, taktilen Selbstbezüglichkeit verharren.3 Wäh-
rend die solcherart berührte und ergriffene Oberfläche die Funktionsfähigkeit des
Tastsinns unter Beweis stellt, offenbart sie in Bezug auf das Auge dessen rezeptive
Unzulänglichkeit, ja Prothesenbedürftigkeit. Am Beispiel einer behandschuhten
Hand lässt sich vorführen, dass dem Sehen, indem es nicht unter die Oberfläche
der Objekte vorzudringen vermag, das Wesentliche an ihnen entgeht. Der Restau-
rationskönig Karl II., dessen Gunst Merivel rasch zu gewinnen versteht, stimmt
ihm gegenüber, ebenfalls im ersten Kapitel von Restoration, ein Lob auf die Hand
an:4
Look at my hand, for instance. Wearing a glove made by your late father. What we see
is the excellent glove […]. Whereas, underneath the glove is the hand itself, capable
of a thousand movements, en l’air like a dancer, supplicant like a beggar, fisted like a
ruffian, in prayer like a bishop […] He went on to describe, with some accuracy, the
skeletal structure of the human hand. (R 15)

Die interne Struktur der Hand lässt sich erst im Zuge einer – imaginären – Sektion
aufdecken, die Hand wird zum Paradigma selbstreflexiver Erkenntnis par excel-
lence. Ihre innere Verfasstheit kann nur sie selbst dem Betrachter erschließen.5 Zu-
gleich durchmisst ihre Beweglichkeit ein weites soziales Verhaltensspektrum, kons-
tituieren ihre Gesten soziale Regelwerke und Interaktionsangebote. Der Tastsinn
und sein zentrales Organ, die Hand, stellen den Sonderfall einer in elementarer
Weise reziproken Sinneskonfiguration dar: „[O]ne cannot touch without being
touched in return“.6 Die Bitt- und Betgesten von Bettler und Bischof, die der
König anführt, schreiben diesen basalen Reziprozitätsmechanismus der Hände auf
einem höheren sozialen Emergenzniveau fort, verbunden freilich mit der immer zu
gewärtigen Option, dass auf Reziprozitätsofferten nicht oder nicht wie erhofft ein-
gegangen wird. Bitten und Gebete bleiben unerhört, Geschenke erfreuen nicht
immer.7
Merivels Berührung des Fernrohrs, sein Innehalten auf der Oberfläche des Inst-
ruments und die damit einhergehende Suspension seiner visuellen Repräsentati-

  3 Vgl. Chapman, Stargazers, S. 313 ff. zur handwerklichen Herstellung signifikant verbesserter Te-
leskoplinsen ab Mitte des 17. Jahrhunderts sowie Schramm, „Hand“. Grundsätzlich zum Verhält-
nis von Auge und Hand vgl. Gebauer, „Hand“.
  4 Vgl. Focillons klassischen Text Lob der Hand, neuerdings auch Tallis, Hand, der seinen in dem
Buch verfolgten Anspruch folgendermaßen formuliert: „I have wanted to share my astonished
admiration at the versatility of the hand […] at least as much to advance theories about its key
role in lifting us out of total immersion in organic life.“ (S. 315 f.)
  5 Vgl. das Portrait von Andreas Vesalius aus dem Jahre 1542 in Richter/Lukehart, Writing on
Hands, S. 72 f., auf dem seine Hände einen sezierten Unterarm halten und dem Betrachter eine
freigelegte Hand vorführen.
  6 Classen, Deepest Sense, S. 43. Vgl. Ratcliffe „Touch“, S. 139, 146.
  7 Zum Zusammenhang von Hand und Gabe vgl. Derrida, „Heideggers Hand“, S. 63 ff. Zu Gabe
und Literatur im Allgemeinen vgl. Ecker, ‚Giftige‘ Gaben.

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Merivel, Do Not Sleep 125

onsfunktion sind zugleich Vorboten eines Textmodells, das diesen Doppelcharakter


von Dargestelltem und Vehikel der Darstellung ebenfalls kontinuierlich ausstellt.
Die Maserung des Holzes, seine Textur, findet sich analog in der Linienführung des
Textes. Die Aufmerksamkeit des Lesers soll, so die erste poetologische Prämisse,
von Beginn an auf Oberflächenstrukturen und geometrische Figuren umgelenkt
werden, das Personal der Romane wird auf diese Weise von vornherein signifikant
depsychologisiert, ohne dass sich seitens der Leserschaft der Eindruck einstellt, es
nicht mehr länger mit menschlichen Wesen zu tun zu haben.
Die Aufstellung der fünf möglichen Romananfänge beginnt Merivel mit seiner
ersten eigenen anatomischen Sektion, die er bereits als Kind an einem toten Vogel
ausführte; sodann schildert er ein einschneidendes Erlebnis während seiner Studi-
enzeit in Cambridge, bevor er die Ernennung seines Vaters zum königlichen Hand-
schuhmacher und den Feuertod seiner Eltern verzeichnet; abgeschlossen wird diese
Liste mit Merivels arrangierter Heirat einer Mätresse des restaurierten Stuartmon-
archen. Merivels Erlebnis während der Studienzeit – es handelt sich um die Berüh-
rung des offenen Herzens eines lebenden Mannes – trägt in den Text ein phantas-
tisches Element ein, das aufgrund seiner Einzigartigkeit eine besondere Stellung im
Rahmen eines ansonsten realistischen Erzählens gewinnt. Der Mann mit dem ge-
öffneten Brustkorb empfindet keinen Schmerz, als die Hände Merivels und seines
Freundes Pearce es umgreifen; das Organ ist ganz ohne Gefühl:
My hand entered the cavity. I opened my fingers and […] took hold of the heart. Still
the man showed no sign of pain. […] I tightened my grip. The beat remained strong
and regular. I was about to withdraw my hand when the stranger said: „Are you tou-
ching the organ, Sir? […] I feel nothing at all.“ (R 8)

Diese Szene spielt nicht nur auf die Mechanisierung des Herzens im medizinischen
Diskurs des 17. Jahrhunderts an, sie entwertet das Herz zugleich als empathisches
Rezeptionsorgan von Literatur.8 Dieses phantastische Intermezzo führt somit eine
zweite grundsätzliche poetologische Aussage in den Text ein. Zur Beschreibung von
Gefühlszuständen und deren Nachvollzug wird der Rekurs auf das Herz problema-

  8 Zur Kultur-, Wissens- und Literaturgeschichte des Herzens vgl. die Studien Bound Alberti, Mat-
ters of the Heart; Erickson, Language of the Heart; Fuchs, Mechanisierung des Herzens. Refskou/
Thomasen weisen in „Handling“ ebenfalls auf die Konsequenzen des Übergangs von einem gale-
nischen zu einem Harvey’schen Verständnis des Herzens hin, der auch in Tremains historischen
Romanen wirksam wird: „[W]here the heart is the embodied seat of spirits and emotions as in
Galenic humoral theory, it is, to Harvey a functional muscle. As a consequence, the metaphor of
the heart as the seat of emotions can become precisely merely a metaphor, as indeed it is to the
present day.“ (S. 43) Dieser metaphorische Rekurs auf das Herz wird in Tremains Poetologie sei-
nerseits problematisiert. Als Kontrast zu einer im Ausgang des Erzählens mit den Händen de-
monstrierten Fühllosigkeit des Herzens vgl. Bittner/Kaul, Moralische Erzählungen, die im Blick
auf das 18. Jahrhundert schreiben, dass Literatur den Anspruch gehabt habe, „durch bestimmte
Techniken und durch bestimmte Inhalte des Erzählens […] die Reaktionsweisen von Lesern, ihr
‚Herz‘, fürs Lebens zu verändern,“ eine Intention, die für Bittner/Kaul „auch im heutigen Ver-
ständnis durchaus eine Rolle [spielt]“ (S. 9). Zur ‚Austreibung der Empfindsamkeit‘ aus dem
französischen Roman der Restaurationsepoche nach 1814 und ihren poetologischen Konsequen-
zen vgl. Dieter, Restauration.

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tisch. Verbindungen zwischen Personen müssen in anderer Weise gestiftet und mo-
tiviert werden. Ein poetologisches Programm, das kaum mehr auf die Innerlichkeit
von Empfindungen bauen will, sie nicht mehr im Herz zu lokalisieren vermag,
vollzieht somit die Mechanisierung des Herzens auch ästhetisch nach. Äußerliche,
relationale Formen der Nähe und Integrität rücken an die Stelle einer auf Inner-
lichkeit rekurrierenden Substanziierung. Das Personal in Tremains Prosa wird maß-
geblich über die Beschreibung der Hände eingeführt; ob sie groß sind oder klein,
rot oder weiß, eher plump oder feingliedrig. Auch die Beziehungen zwischen den
Figuren konstituieren und vollziehen sich auffallend oft handvermittelt. Es ließe
sich ein umfassendes, sämtliche Romane und Erzählungen einbeziehendes Inven-
tar von Gesten der Hand erstellen, solchen der Selbst- wie auch der Fremdbezug-
nahme.
Die höfischen Kontexte der Merivel-Romane – neben den englischen Restaura-
tionshof rückt im zweiten Band als Schauplatz einiger Episoden der Hof von Ver-
sailles – hätten zudem eine auffällige Thematisierung von Dissimulationsverhalten
erwarten lassen, eine kontinuierliche Problematisierung von Innen-Außen-Diffe-
renzen. Doch dergleichen geschieht kaum. Das Herz als Sitz des Gefühls wird weit-
gehend substituiert durch die Hand als Instrument zwischenmenschlicher, wenn-
gleich nicht selten misslingender Reziprozität. Die Integrität der Protagonisten
wird in Interaktionen hergestellt wie dementiert, zur Selbstdeutung sind sie nicht
zuletzt auf technische Instrumente wie das Teleskop angewiesen, die eine Stabilisie-
rung von Identität gewährleisten sollen. Dies kann so weit gehen, dass ein hollän-
discher Uhrmacher, den Merivel am Hof Ludwigs XIV. kennenlernt, seine weitere
Existenz von einem exakten Gleichlauf einer von ihm gebauten Uhr und der offi-
ziellen Hofzeitmessung von Versailles abhängig macht (vgl. M 49 f., 55 ff.). In Tr-
emains Erzählung „Evangelista’s Fan“, deren postrestaurativer Grundkonflikt – Ort
des Geschehens ist neben London das Königreich Sardinien-Piemont nach 1815
– große Ähnlichkeiten mit den beiden englischen Restaurationsromanen aufweist,
setzt der Protagonist, ebenfalls ein gelernter Uhrmacher, sein Talent zur Herstel-
lung von Präzisionsinstrumenten für den Bau von Barometern ein, die – anders als
Uhren – Aussagen über zukünftige Entwicklungen zu treffen erlauben (vgl. EF
19 f.). Er reagiert damit auf eine Kalenderreform, die mit den Jahren 1789 bis 1815
auch sein eigenes Geburtsjahr eliminiert (vgl. EF 4). Die Konstruktion solcher mit
handwerklicher Meisterschaft verfertigter Prothesen rückt allenthalben an die Stelle
einer Thematisierung seelischer Innenräume. Die Protagonistin der Erzählung
„The Ebony Hand“ arbeitet in einem Modegeschäft, in dessen Auslage Hand-
schuhe auf einem ebenhölzernen Modell der menschlichen Hand ausgestellt wer-
den, das für sie zu einem geradezu fetischisierten Bürgen eigener Integrität wird.
Auf ein Deutungsangebot ihres Schwagers zurückgreifend, deckt sich ihre Be-
schreibung dieses Verhältnisses bis in die Wortwahl hinein mit Merivels Teleskop-
Erfahrung:

When Victor said what he said about our minds being held together by peculiar
things, I thought to myself that the peculiar thing, in my personal case, was this

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Merivel, Do Not Sleep 127

wooden hand. It was well made and heavy and smooth. I polished it with Min cream
one [sic] a week. (EH 129 f.)

Im Zuge der beiden poetologischen Prämissen wird auch der Rezipient signifikant
depsychologisiert, die Teilhabe an der literarischen Textkonstitution kann nicht
länger primär eine des Erlebens und des Mitfühlens sein. Die Hände von Merivel
und Pearce decken in Restoration die Fühllosigkeit des Herzens auf, nehmen ihm
die Position eines privilegierten Motivations- wie Rezeptionsorgans. In der Teles-
kop-Szene werden somit die Augen, hier wird das Herz aus einer ästhetischen Zen-
tralstellung abgezogen. In diese doppelte Vakanz rücken die Hände ein. Rose Tr-
emain entwirft in ihren Romanen eine Poetologie der Hände, die spezifische
Praktiken der Aufmerksamkeit – im Sinne einer konzentrierten wie respektbezeu-
genden Zugewandtheit – auf der Handlungsebene bedingen und im Rezeptions-
vorgang evozieren.9 Diese These gilt es im Fortgang zu entfalten und zu belegen,
unter Einbezug nicht nur der zweibändigen Lebensgeschichte Robert Merivels,
sondern insbesondere der poetologisch ebenso aufschlussreichen Tremain-Romane
Swimming Pool Season und Sacred Country.

2. Zwei Rezeptionsweisen: Von der absorbierten


zur interaktiven Aufmerksamkeit
Der produktions- wie rezeptionsästhetische Reflexionsstand Merivels und des Ma-
lers Elias Finn, eines Bekannten und regelmäßigen Gesprächspartners, bewegt sich
nicht immer auf der Höhe der sich in den Romanen vollziehenden ästhetischen
Programmatik. Merivel wird im Gegenzug für seine Bereitschaft, eine königliche
Mätresse zu heiraten, das Landgut Bidnold überlassen. Dort versucht er sich zu-
nächst in verschiedenen Künsten. Er beginnt zu malen, später auch Oboe zu spie-
len. Mit Finn, einem seiner Gäste in der ländlichen Abgeschiedenheit, tauscht er
sich über technische und kompositorische Fragen der Malkunst aus. In einem die-
ser Gespräche, kurz nachdem Finn vom König beauftragt wurde, dessen Mätresse
Celia Clemence, Lady Merivel, zu portraitieren, äußert sich Finn zu seinen an-
spruchsvollen Ambitionen, die er mit diesem Auftrag verbindet. Er wolle mit dem
Portrait Celias „essence“ einfangen – „I will capture it and the face will be a magnet,
drawing all eyes and hearts towards it.“ (R 143)
Diese Passage, in der ein auf die magnetische Anziehung eines empfindsamen
Betrachters hin gedachtes Produktionskalkül entworfen wird, findet ein rezeptions-
seitiges Gegenstück in einem späteren Traum Merivels aus dem zweiten Band.
Er träumt davon, wie seine Mutter und er – „snug within the circle of her arm“
(M 206) – gemeinsam Dachse beobachten. „‚If your are very quite‘“, mahnt Meri-

  9 Vgl. zu diesen beiden Bedeutungsdimensionen von Aufmerksamkeit Kemp, „Aufmerksamkeit“,


S. 253 f. mit Hinweis auf Olin, „Forms of Respect“, die sich ihrerseits auf Alois Riegls Begriffsge-
brauch bezieht.

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vels Mutter in diesem Traum, „‚a Badger will come from its sett and you will see its
black-and-white face.‘ And then, after a short while one of the animals appears, and
it turns in circles and pirouettes on its hind legs, as though dancing for us, and I am
held by the spell of this […].“ (Ebd.) Der von dem ästhetisierten Bewegungsablauf
des Dachses ausgehende Bann rückt Merivel als Betrachter ebenfalls in eine passive
Position, dem Zauber der Darbietung erlegen. Die geometrische Anlage dieser Re-
zeptionsszene umfasst zwei Kreisformationen – Merivel umkreist von dem Arm
seiner Mutter sowie die Kreisbewegungen des Dachses –, die allerdings nur äußer-
lich gegeneinander geschlossen sind. Die vornehmlich passivische Haltung Meri-
vels, die auch hier trotz figürlicher Schließung ein mentales Aufgehen des Betrach-
ters in dem ästhetischen Geschehen impliziert, bestimmt noch Merivels Schilderung
seiner Lektüre des ersten Teils seiner Lebensbeschreibung ganz am Ende des zwei-
ten Romans: „Indeed, the Book so absorbed my attention that I only raised my eyes
from it when the light all around me suddenly underwent its great Transition to the
deep red of sunrise.“ (M 334) Merivels eigene Lektürepraxis ist okularzentrisch,
selbst- und weltvergessen. Er wendet seine Aufmerksamkeit dem Buch nicht aktiv
zu, sondern wird im Gegenteil von ihm absorbiert.
Auch zu dieser rezeptiven Aufmerksamkeitspraxis lässt sich ein produktionssei-
tiges Komplement ausmachen. Merivels eigene schriftstellerische Ambitionen be-
ziehen sich nämlich weniger auf seine Lebensbeschreibungen, von denen dem
Leser immerhin zwei Bände vorliegen. Er ist vielmehr auf der Suche nach einem
geeigneten Thema für ein Traktat, das er gerne abfassen möchte: „What I would
fain to discover is some Subject […] which might absorb all my attention and lead
to a Work of Proper Distinction […] ‚Why,‘ said I to myself, ‚should it not be I,
Robert Merivel, who brings the full power of his mind to this subject of the Souls
of Animals and tries to explore it further?‘“ (M 234) Wiederum findet sich die Idee
einer absorbierten, also eher passivisch in Anspruch genommenen Aufmerksam-
keit, dieses Mal bezogen auf die eigene Arbeitshaltung. Bereits dem Eintritt in den
Produktionsprozess werden zudem wohltuende Wirkungen auf das Herz des Ver-
fassers zugeschrieben: „While understanding that the road to my Treatise […]
would be very long, I permitted myself to scribble down some first Notes upon
it, and this feeling of a true Beginning gladdened my heart so intensely […].“
(M 238)
Insgesamt zeichnen sich in diesen Passagen die Konturen einer produktions- wie
rezeptionsästhetischen Programmatik ab, die sich an zentrierenden Kategorien wie
Essenz, Herz und Seele orientiert, deren Erzeugnisse den Betrachter visuell in den
Bann zu ziehen beabsichtigen und in deren Rahmen über Aufmerksamkeit vor
allem im Sinne einer passivischen Inanspruchnahme disponiert wird. Erst auf der
Folie von Elias Finns „drawing all eyes and hearts towards it“ (R 143) gewinnt eine
vermeintlich unscheinbare Leseranrede wie die folgende an poetologischer Aussa-
gekraft und Brisanz. Gleich zu Beginn des zweiten Teils von Restoration wendet sich
Merivel direkt an den Leser. Der Gabentausch zwischen König und Merivel hat
sich als nicht tragfähig erwiesen. Als Celia in ihrer Position als Mätresse zu hohe
Ansprüche an Karl stellt, wird sie für eine Zeit nach Bidnold verbannt. Erst diese

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gabenökonomische Anomalie – entgegen der ursprünglichen Absicht, dass Merivel


seine Ehefrau nur selten sehen soll, werden die beiden getauschten Güter am selben
Ort zusammengebracht – führt zu einer emotionalen Verwicklung auf der Figure-
nebene. Merivel findet Gefallen an Celia und verliebt sich in seine Ehefrau; der
König reagiert mit dem Einzug von Bidnold und wendet sich von Merivel ab.
Unmittelbar an den Leser gerichtet schreibt Merivel: „Under these things you may
draw a line: my house at Bidnold, the colours of my park, Celia’s face at my table.
Neither you nor I will see them again.“ (R 217) Die Anziehung von Augen und
Herz wird hier in das Ziehen einer Linie transponiert und damit ein vollkommen
andersartiges poetologisches Paradigma angedeutet. Der dem Leser aufgetragene
Rezeptionsakt wird signifikant verschoben, von der Objektposition eines Gezoge-
nen rückt er in die Subjektrolle des Ziehenden. Zugleich jedoch wird dieses Sub-
jekt – gemessen an hergebrachten Standards – dezentriert. Der Text spricht nicht
mehr Augen und Herz an, sondern ermuntert die periphere Hand samt einem von
ihr geführten Zeichen- bzw. Schreibwerkzeug zu einer den Konstitutionsprozess
des Textes mitvollziehenden Tätigkeit. Diese Aktivität des Lesers unterstreicht die
Geschehensqualität ästhetischen Hervorbringens, das nicht mehr in ein magneti-
sierendes, bezauberndes Erzeugnis mündet, dem sich der Rezipient gegenüberge-
stellt, wenn nicht sogar ausgeliefert sieht. Die Scheidung einer zeitlich vorauslie-
genden Produktion und einer nachfolgenden Rezeption wird – soweit dies für
einen literarischen Text möglich ist – in die synchrone Aktivität einer Koproduk-
tion überführt.10
Diese nur scheinbar marginale Handreichung an den Leser führt ins Zentrum
der Poetologie Rose Tremains. Ihre textkonstituierenden Konsequenzen lassen sich
in den Merivel-Romanen wie auch in den anderen exemplarisch zu untersuchen-
den Texten aufweisen. Die vor allem handvermittelte Verschränkung von Produk-
tions- und Rezeptionsakten ist zunächst mit der Tradition einer Rezeptionsästhetik
zu konfrontieren, deren Vokabulare und Argumentationsfiguren sich weitgehend
auf die visuellen und mentalen Dimensionen des Rezeptionsakts konzentriert
haben. In E. H. Gombrichs Studie Kunst und Illusion wird die in den frühen sech-
ziger Jahren bahnbrechende Wendung hin zu einer kunsttheoretischen Einbezie-
hung der Betrachterrolle in beeindruckender Deutlichkeit with the hand left out
proklamiert. Gombrich leitet seine Studien zum „Anteil des Beschauers“ mit eini-
gen Gesprächsabschnitten aus Flavius Philostratos’ spätantiker Biographie des Ap-
polonios von Tyana ein. Aus ihnen bezieht er die für seine Konfiguration der Be-
trachterposition maßgebliche Problemexposition:

 10 Vgl. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, insbesondere S. 121 ff. Seinem Verständnis zufolge
sind Kunstwerke auf Praktiken des Nachvollzugs angewiesen, sie fordern sie geradezu heraus.
Diesem Entwurf verdankt das im Folgenden zu entwickelnde Argument viele Anregungen, so-
wohl das Grundverständnis ästhetischer Praxis als auch das zu ihrer Rekonstruktion taugliche
Beschreibungsvokabular betreffend. Die „selbstbezügliche Konstitution von Kunstwerken“, der
Bertram ein Kapitel widmet (S. 113 ff.), bleibt auf die Aktivität des Rezipienten verwiesen und ist
somit „als Moment einer Interaktion, als Moment eines wechselseitigen Konstitutionsverhältnis-
ses“ (S. 122) zu verstehen.

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‚Aber geht daraus nicht hervor‘, schürft Apollonius weiter, ‚daß die Kunst der Nach-
ahmung zwiefältig ist? Besteht sie nicht auf der einen Seite in der Herstellung von
Nachahmungen mit Hilfe von Hand und Geist, auf der andern jedoch in der Schaf-
fung von Bildern mit dem Geiste allein?‘ Er legt dann dar, daß die geistige Mitwir-
kung des Betrachters beim Vorgang der Nachahmung eine wichtige Rolle spiele. […]
Ich habe diesen antiken Autor deshalb so ausführlich zitiert, weil mir scheint, daß er
die Rolle des Betrachters in der Deutung von Kunstwerken, also jenes Problem, dem
wir uns jetzt zuwenden wollen, mit bewundernswerter Klarheit zum Ausdruck ge-
bracht hat.11

Gombrichs Studien setzen also eine Asymmetrie von künstlerischer Produktion


und Rezeption dergestalt voraus, dass letztere ganze ohne Einbezug der Hand von-
statten gehen kann. Entsprechend konstruiert Gombrich eine Entwicklungsge-
schichte der Kunst, in der das Bewusstsein des Rezipienten, seine Phantasie und
Projektionsfähigkeit einen stetig wachsenden Raum einnehmen. Es geht im Laufe
der Kunstgeschichte immer mehr darum, sich beim Anfertigen von Bildern auf
Andeutungen zu beschränken, die eine umso genussvollere Rezeptionstätigkeit an-
regen:
Das Bild hat eigentlich auf der Leinwand keine feste Verankerung mehr […], es wird
gleichsam nur in unserem Geiste ‚heraufbeschworen‘. Der wohlwollende Betrachter
kommt den Andeutungen des Künstlers entgegen, weil ihm das Erlebnis der Ver-
wandlung, das sich vor seinen Augen vollzieht, Genuß bereitet. Aus dieser Form des
Genusses entstand […] allmählich und fast unbemerkt eine neue Funktion der
Kunst. Indem der Künstler dem Beschauer immer mehr überläßt, zieht er ihn in den
Zauberkreis des Schaffens und ermöglicht ihm, etwas von jener Freude am Bild zu
erleben, die bis dahin die streng gewahrte Domäne des Künstlers war. Hier liegt der
Wendepunkt, von dem aus der Weg zu jenen Kunstwerken des zwanzigsten Jahrhun-
derts führt, die wie Vexierbilder oder Bilderrätsel unseren ganzen Scharfsinn heraus-
fordern und uns zwingen, in den Tiefen unserer eigenen Psychen nach dem Unausge-
sprochenen und Unaussprechlichen zu suchen.12

Bis in die Metaphorik des Zauberkreises hinein ähneln sich diese Ausführungen
und die wirkungsästhetischen Reflexionen aus Merivels Traum. Bei Gombrich fin-
den sich allerdings auch einige bemerkenswerte Abschnitte, die eine chiastische
Relativierung dieser für seinen Argumentationsgang ansonsten bestimmenden
Grundkonstellation nahelegen. Produktionsseitig kündigt er die Allianz von Geist
und Hand auf, wenn er etwa die in Kunsttheorien der Renaissance verbreitete Ge-
ringschätzung der handwerklichen Dimensionen künstlerischen Schaffens be-
tont.13 Auf Seiten des Rezipienten setzt er dagegen die Hand an einigen wenigen
Stellen überhaupt erst in ihr Recht. Die für Gombrich so wichtige und bis heute
wirkmächtige These vom konstitutiven Doppelcharakter des Bildes als Leinwand
und Darstellung, als Fläche und Tiefenraum wird denjenigen am ehesten auffallen,

 11 Gombrich, Kunst und Illusion, S. 154 f.


 12 Ebd., S. 169.
 13 Vgl. ebd., S. 163.

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Merivel, Do Not Sleep 131

die Leinwände nicht nur betrachten, sondern auch mit ihren Händen zu tragen
und anzufassen haben.14 Er spricht hier etwas abfällig von „Leute[n], deren Ge-
schäft es ist, Bilder zu verpacken und aufzubewahren“.15
Auch das Bild „Dorf und Mühle unter Bäumen“ (um 1670) von Meindert Hob-
bema bringt Gombrich auf eine Idee, die den Rahmen einer einseitig psychologi-
sierenden Lesart der Betrachterrolle with the hand left out sprengt. Um dem Sehen,
das sich mit der Auflösung einer von dem Bild evozierten Vieldeutigkeit der Bau-
manordnung schwertut, auf die Sprünge zu helfen, schlägt Gombrich vor: „Man
müßte einer Anzahl von Versuchspersonen den Auftrag geben, ein Drahtmodell
der Bäume anzufertigen, um die verschiedenen möglichen Lesarten miteinander
vergleichen zu können.“16 Ganz entgegen der dominierenden Bewusstseinszentrie-
rung in Gombrichs Darstellung kommen hier die Hände des Betrachters als Er-
schließungsorgane visueller Phänomene ins Spiel. Ein Vergleich räumlich model-
lierter Linienführungen soll dabei helfen, rezeptionsseitige Varianzen der Bildlektüre
aufzudecken. Nicht im Bewusstsein des Betrachters, sondern in den Fertigkeiten
seiner Hände wäre dieser Rezeptionsprozess also anzusiedeln.
Während Gombrich explizit, wenn auch ganz ausnahmsweise auf eine mögliche,
bilderschließende manuelle Tätigkeit des Betrachters rekurriert, findet sich in
einem für die literaturwissenschaftliche Rezeptionstheorie wegweisenden Aufsatz
Wolfgang Isers aus den frühen 1970er Jahren, der sich im Übrigen ganz auf das
bewusstseinsimmanente Geschehen des Lesevorgangs konzentriert, eine wenigs-
tens implizite Anspielung auf die rezeptiv-koproduzierenden Beiträge der Hand:
We have seen that, during the process of reading, there is an active interweaving of
anticipation and retrospection, which on a second reading may turn into a kind of
advance retrospection. The impressions that arise as a result of this process will vary
from individual to individual […]. In the same way, two people gazing at the night
sky may both be looking at the same collection of stars, but one will see the image of
a plough, and the other will make out a dipper. The „stars“ in the literary text are
fixed; the lines that join them are variable. The author of the text may, of course, exert
plenty of influence on the reader’s imagination – he has the whole panoply of narra-
tive techniques at his disposal – but no author worth his salt will ever attempt to set
the whole picture before his reader’s eyes.17

Die hier gewählte Himmelsmetaphorik hat Iser in der deutschen Übersetzung des
Beitrags getilgt.18 Vielleicht war sie aus seiner Sicht zu spekulativ geraten. Linien-
förmige Gebilde anzufertigen (wie bei Gombrich) oder Linien im Imaginations-
raum des eigenen Bewusstseins zu ziehen (so Iser) und die jeweiligen Ergebnisse
nebeneinander zu legen – diese Aktivitäten scheinen geradezu als experimenta crucis

 14 Vgl. García Düttmann, Teilnahme, S. 93 f. und Rebentisch, Gegenwartskunst, S. 82, hier aller-
dings nur mit Bezug auf García Düttmann.
 15 Gombrich, Kunst und Illusion, S. 236.
 16 Ebd., S. 224. Die zugehörige Abbildung findet sich auf S. 52.
 17 Iser, Reading Process, S. 287.
 18 Vgl. Iser, „Lesevorgang“, S. 260.

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zu fungieren, um der Pluralität von Lesarten Gestalt zu verleihen. Die Metaphorik


der Linie öffnet den Raum des Bewusstseins zugleich hin auf die mitlaufenden,
imaginären Konstitutionsleistungen der Hände. Das unvollständige, im Lesevor-
gang zu ergänzende Bild des Textes wird dem Leser eben nicht nur vor Augen ge-
stellt, wie Iser resümiert, es appelliert implizit zugleich an seine Hände, regt sie zu
imaginären Zeichenbewegungen an.19
Dieser bei Iser nur latent mitgeführte Einbezug der Hand findet in Hans-Georg
Gadamers beinahe zeitgleich entstandenem Text zur „Aktualität des Schönen“ eine
eindrückliche Explikation. Auch er verweist auf die rezeptionsseitige „Varianz und
Differenz“ von ästhetischen Werken: „Jedes Werk läßt gleichsam für jeden, der es
aufnimmt, einen Spielraum, den er ausfüllen muß.“20 Entscheidend bei dieser Be-
reitstellung von unterschiedlich auszufüllenden Spielräumen ist der Formaspekt
von Werken, etwa die „Umrißform von Zeichnungen“ und zwar deshalb, fährt
Gadamer fort, „weil man [die Form] zeichnen muss, wenn man sie sieht, weil man
sie aktiv aufbauen muß, wie jede Komposition das verlangt, die zeichnerische
Komposition so gut wie die musikalische, so gut wie das Schauspiel, so gut wie die
Lektüre. Es ist ein ständiges Mit-Tätigsein.“21 Das Nachzeichnen gewinnt hier ex-
emplarischen Charakter für eine in allen Kunstformen, also von Hörern und Le-
sern, von Bildbetrachtern und Performance-Teilnehmern zu verrichtende, rezep-
tive „Aufbauarbeit“22. Gadamer rückt den bei Gombrich und Iser noch im Kern als
reine Bewusstseinsleistung begriffenen Mitvollzug von Werken somit denkbar nahe
an eine im Weiteren näher zu entfaltende, Produktions- wie Rezeptionspraktiken
einbeziehende Poetologie der Hände.23
In Rose Tremains Romanen tragen sich diese zeichnenden Operationen, wie
bereits exemplarisch vorgeführt, auf der Textoberfläche selbst zu. Dies lässt sich
anhand vieler Beispiele belegen. Erst auf diese Weise tritt ein alternatives, interak-
tives Modell von Aufmerksamkeit zutage, auf das die Bedeutungskonstitution der
Tremainschen Prosatexte angewiesen ist.24 Die komplizierte Personenkonstellation
von Swimming Pool Season, dem vor Restoration veröffentlichten Roman aus dem

 19 Vgl. Gehlen, Mensch, S. 185 zur Fundierung des Sehens im Tasten: „Vor allem schließt unsere
Phantasie unsere verschiedenen Sinne zusammen: […] und da optische Dinge zunächst in Bewe-
gungen und Handgriffen entwickelte Dinge sind, so fließen in die Sehwahrnehmung auch unsere
Tasterwartungen ein.“
 20 Gadamer, „Aktualität des Schönen“, S. 117.
 21 Ebd.
 22 Ebd., S. 128.
 23 In Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 122 f. wird Gadamers Verständnis der rezeptionsseiti-
gen Mitarbeit als Ballspiel konkretisiert: „Gadamer spricht davon, dass die Rezipientin eine Mit-
spielerin sein muss: Sie muss die Bälle, die das Kunstwerk ihr zuspielt, aufgreifen und immer
wieder zurückspielen.“ Gadamer selbst verwendet diese Ballmetaphorik allerdings nicht. Das
zentrale Dingsymbol in Sacred Country ist ein kleiner Tennisball der Protagonistin Mary: „[P]er-
haps my life is like my old tennis ball […] it will always be ahead of me and never in my hand“
(SC 285, vgl. z. B. SC 50, 54, 279, 390).
 24 Vgl. zu einem interaktiven, dynamischen Kunstverständnis nochmals Bertram, Kunst als mensch-
liche Praxis. „[D]ie Interaktion Rezipierender (und Produzierender) mit Kunstwerken“ bezeich-
net er als „die ästhetische Praxis par excellence.“ (S. 110)

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Merivel, Do Not Sleep 133

Jahr 1985, dessen Plot in einem südfranzösischen Dorf und in Oxford angesiedelt
ist, tritt dem Leser insgesamt als ein dynamisches Arrangement von Linien gegen-
über. Wie in Restoration wird er hier, wenn auch nicht in einer ausdrücklichen Le-
seransprache, zu einer zeichnenden Mittätigkeit animiert: „The lines of love and
longing, if you drew them, they’d crisscross Pomerac like a tangle of wool.“ (SPS
179) Linien gehen auf Reisen, ihnen wird Grausamkeit attestiert, die „lovelines“
von zwei Akteuren „weave a basket which holds them together“ und – wir befinden
uns kurz vor Eintritt in das letzte Romandrittel – „[c]ertain lines […] are about to
be redrawn.“ (SPS 180)
In Sacred Country, dem 1992 publizierten und Restoration nachfolgenden
Roman Tremains, in dessen Zentrum die schrittweise, konfliktreiche Geschlechts-
umwandlung der Farmerstochter Mary in Martin steht, stützen sich die Protago-
nisten in ihren existentiellen Selbstdeutungen ebenfalls auf Linienzeichnungen –
mit darstellerischen Folgen, die bis in die Typographie hineinreichen. Marys Bruder
Timmy sieht sich in einem 90°-Winkel eingesperrt, der in den Text – „He made a
drawing of his existence“ (SC 228) – als Zeichnung mit Timmy als winzigem
Strichmännchen eingefügt ist und seiner Gefangenschaft anschauliche Gestalt ver-
leiht:
One night Timmy remembered how he’d once seen his life as a 90° angle, made by
the vertical line of his devotional singing and the horizontal line of his swimming
practice. He had never been able to see what filled the 90° between the two arms of
the angle, but now he did: he saw it was his imprisonment on the failing farm. (SC
228)25

Wie im Liniengeflecht der Swimming Pool Season werden Linien auch in diesem
Text mit personalen Qualitäten aufgeladen. Timmy identifiziert die beiden Win-
kelschenkel mit seinen Eltern – „Estelle the vertical line with her head in the sky
somewhere. Sonny the horizontal, flat as the fields […].“ (SC 229) Marys und
Timmys Großvater Cord lässt sich durch einen in V-Formation am Himmel vorü-
berfliegenden Gänseschwarm in Unruhe versetzen, bildet sogar eine vom Arzt als
„reaktive Paralyse“ diagnostizierte, bezeichnenderweise mit einem zuckenden Auge
einsetzende Lähmung aus (vgl. SC 143 ff.). In einem Gespräch mit Mary kommt
Cord zu einer die geometrische Figur mit einer geradezu aggressiven Handlungs-
macht aufladenden Deutung dieses Vorfalls, „[that] a flock of geese had flown over
Gresham Tears in a V-formation and the V was the arrow of time, wounding every-
thing in its path.“ (SC 158)
Während diese Episode noch einmal ein passives Rezeptionsmodell vorführt –
immerhin bildet der Betrachter einer Himmelszeichnung beinahe umgehend eine
Lähmung aus – und an Merivels geträumtes, kindliches Gebanntsein von den
„Kreisen und Pirouetten“ eines Dachses denken lässt (vgl. M 206), findet sich

 25 Vgl. auch die Titelerzählung der Sammlung Tremain, Colonel’s Daughter, in der auf S. 17 ein Satz
in die Form eines Rechtecks gebracht wird. Der Leser kann ihn nur entziffern, wenn er das Buch
um 180° wendet.

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gegen Ende von Sacred Country eine Szene, die einen anderen Umgang mit einem
solchen figürlichen Geschehen demonstriert. Martin, ehemals Mary, ist zwischen-
zeitlich wie Walter, ein Metzgerssohn, aus seiner englischen Heimatstadt nach Nas-
hville, Tennessee, ausgewandert. Gemeinsam mit Walter, der in Nashville eine Sän-
gerkarriere verfolgt, seiner Freundin Sky und einem Musikmanager macht Martin
einen Ausflug in den vorstädtischen Vergnügungspark Opryland, genauer auf den
„biggest parking lot in the world“ –
So [Sky] starts skating. With the thin legs she has, the skates look enormous. I expect
her to fall and bruise herself. But she doesn’t fall. She lifts her arms like a dancer and
glides cleanly away. She does circles and figures. […] We sit absolutely still, with the
sun burning down on us, gazing at her. […] Walter hears nothing, sees nothing, ex-
cept Sky. He gets slowly out of the car and walks towards her. He takes off his rhine-
stone jacket and lets it drop. He holds out his arms. (SC 382 f.)

Hier lässt sich eine operative Öffnung des kreisenden ästhetischen Geschehens be-
obachten. Einer der Betrachtenden, zunächst in seiner Aufmerksamkeit ähnlich
absorbiert wie Merivel beim Lesen seiner Lebensbeschreibung oder beim Anblick
des tanzenden Dachses, tritt ein in die „Kreise und Figuren“ der Darbietung, bricht
den von ihnen ausgehenden Bann und transformiert die Szene in eine der mittäti-
gen Interaktion. Die Rezeption verharrt nicht im aufnehmenden Blick, sondern
sucht den Eintritt in den Konstitutionsprozess der anmutigen Figuren, ohne dabei
die Asymmetrie zwischen den beiden Polen Produktion und Rezeption ganz einzu-
ebnen.
Eine vergleichbar offene Form des Kunstschaffens und eine durch sie bedingte,
interaktive Praxis der Aufmerksamkeit finden sich im zweiten Teil von Restoration.
Robert Merivel lebt in der Quäkergemeinschaft seines alten Studienfreundes
Pearce, die ein Hospital für die Betreuung von geistig und seelisch Erkrankten
unterhält. Anlässlich eines Festes begleitet er mit seiner Oboe einen Tanz der Heim-
insassen:
[E]veryone was moving, trying to spin and whirl and clapping their hands and some
trying to sing and some wailing and some shrieking like the devil. […] And when it
was over and we stopped playing … [I] joined absolutely in spirit to every man and
woman there, and I wanted to make a circle with my arms and take them in. (R 274)

Das Kreismotiv ruft abermals die Traumsequenz auf, in der Merivel den Blick nicht
von dem tanzenden Dachs lassen kann. In einer Szene, die einer alle Sinne anspre-
chenden, synästhetischen Performance gleichkommt, rückt er nun in die Rolle des
Kreisziehenden. Halb Darbietender, halb Empfangender, zieht Merivel sich nicht
zurück in eine eingekreiste Position, sondern begreift sich als Teil eines interaktiven
Geschehens, will der Gruppe der Versammelten auch im Nachgang zum eigentli-
chen Vollzug Form geben. Der Leser absolviert parallel hierzu ein Training in kon-
tinuierlicher Aufmerksamkeitsverschiebung. Merivel wird als Akteur in der Tiefe
eines illusionistischen Handlungsraums wahrgenommen, zugleich als Produzent
und Rezipient geometrischer Figuren, die dem Leser eine stetig mitlaufende Auf-

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Merivel, Do Not Sleep 135

merksamkeit für die Textoberfläche abverlangen. Wie sehr deren Erschließung in


den beiden Merivel-Romanen auf eine Mittätigkeit der rezipierenden, respektive
koproduzierenden Hand angewiesen ist, wird sich im Fortgang noch erweisen. Um
aber die klassische rezeptionsästhetische, textvermittelte Bezugnahme von Bewusst-
sein auf Bewusstsein weiter in Richtung auf eine virtuelle Interaktionsbeziehung
von aufmerksamen Händen zu verschieben, soll zunächst die Produktionsseite der
Tremain’schen Poetologie in den Vordergrund rücken.

3. Die Hand des Künstlers

Larry, eine der Hauptfiguren von Swimming Pool Season, die Schwimmbecken kon-
struiert und zu Eingang des Romans auf ein gescheitertes Firmenprojekt namens
„Aquazure“ (SPS 17, vgl. SPS 182 f.) zurückblickt, vertritt eine ästhetische Posi-
tion, nach der Kunstwerke aus einem Entwurf – design oder vision – eines einzelnen
Individuums hervorgehen.26 Als „new azure jewel replacing nettles or a field, this
superb manifestation of design and plumbing and know-how where before there
was only wasteland“ (SPS 6) begreift Larry einen der von ihm entworfenen Pools.
Den Bau des konkreten Beckens in Pomerac beschreibt er folgendermaßen: „I de-
signed it along the lines of a cathedral. Klaus understood my vision and has started
to make it beautiful with mosaic. It’s a work of art, or at least that’s what I want it
to be.“ (SPS 247 f.) Die Umstände, in die hinein ein solcher Pool als Kunstwerk
entworfen wird, interessieren ihn nicht, ein Schwimmbecken ersetzt „wasteland“
(SPS 6). Die im Roman geschilderten Prozesse der konkreten Hervorbringung, an
denen Larry sich im Übrigen anders als sein freiwilliger Helfer Klaus kaum betei-
ligt, blendet er in ihrem künstlerischen Eigenwert ebenfalls weitgehend aus, redu-
ziert sie auf bloße Umsetzungsmaßnahmen einer vorausliegenden Idee. Sowohl die
materielle wie die soziale Komponente künstlerischer Produktion bleiben in sei-
nem ästhetischen Selbstverständnis, das sich auf das vorwiegend mental kreative
Individuum und dessen „sense of design“ (SPS 20) verengt, unterrepräsentiert. Für
die Zukunft des Pools in Pomerac imaginiert er nicht seine materielle Präsenz und
die für Schwimmbecken üblichen reichhaltigen Formen lebendiger Aneignung –
wie schwimmen, hineinspringen, umlagern, bewundern –, sondern einzig die Er-
innerung an den Erbauer, dessen Leistung abermals auf die der Komposition zu-
grunde liegende Idee verengt wird: „Long after I’m gone, the people of Pomerac

 26 Vgl. zum Titel dieses Abschnitts und zum Themenkomplex Gohr, „Hand des Künstlers“ und
Christadler „Hand des Künstlers“. Christadler macht im Zuge der Frühen Neuzeit eine Entwick-
lung von Kunstdiskurs und -praxis aus, in deren Verlauf „das Körperliche der Hand immer mehr
zugunsten einer spirituellen Überhöhung der künstlerischen ‚Idee‘ und der ‚genialen‘ Künstler-
persönlichkeit“ (S. 329) zurückgewichen sei. Vgl. zudem die Ausführungen von Gormans,
„Hände des Künstlers“, die diesen Befund bestätigen. Abgesehen von modernen Auseinanderset-
zungen mit der Künstlerhand im 19. und 20 Jahrhundert sind in diesem Kontext allerdings auch
die Bildpraxis und der Reflexionsstand Albrecht Dürers zu nennen, auf den alle drei Beiträge
eingehen. Gormans spricht von „einer manuellen Nobilitierung in Dürers Œuvre.“ (S. 197)

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will be proud of it: the St. Front pool. An Englishman built it, they’ll say. He had
this wonderful idea.“ (SPS 248)
Im Laufe des Romans schreitet auch die durch formale Anleihen bei einem Kir-
chengebäude vorgezeichnete religiöse Überhöhung des Swimming Pools als Kunst-
werk weiter voran. Schien die Kathedrale zunächst nur Inspirationsquelle zu sein,
stellt Larry in einem Gespräch mit seinem Sohn Thomas gegen Ende des Romans
klar: „‚I wasn’t building a swimming pool. It never was one!‘ […] ‚It was a bloody
cathedral! That’s what it was. It was a cathedral!‘ […] ‚God? Who mentioned God?
[…] I wasn’t building it for Him. It wasn’t a church monument. It was a monu-
ment to me!‘“ (SPS 270) Zu diesem Zeitpunkt ist der radikal selbstreferentiell ent-
worfene, niemals fertiggestellte Swimming Pool von Baggern wieder zerstört wor-
den. Larry und sein Pool werden allerdings nicht nur Opfer nativistischer Arroganz
und Aggressivität, auch sein Scheitern ist durch eine produktionsästhetische An-
spielung im Text bereits vorgezeichnet. In Pomerac selbst, das über kein Zentrum
verfügt, gibt es auch keine Kirche (SPS 22). Die nahegelegene Kirche Ste. Cathe-
rine les Adieux zeichnet sich durch eine gipserne Jesusfigur aus, mit der etwas Ent-
scheidendes nicht stimmt – „The hand raised in blessing has a chipped thumb.“
(SPS 175) Ein „plaster Jesus with a mutilated thumb“ (SPS 176), später ist von ihm
als „Jesus with a broken thumb“ (SPS 272) die Rede, kann letztlich keinen glaub-
würdigen Segen spenden. Vor allem aber veranschaulicht seine skulpturale Unvoll-
kommenheit den Webfehler eines ästhetischen Programms, das die materiellen,
handwerklichen Dimensionen eines im Übrigen religiös überhöhten Schaffenspro-
zesses ausblendet.27 Als Larry im Gespräch mit seinem Sohn davon erfährt, dass
sein Pool eingeebnet wurde, reagiert er konsequent, indem er eine seiner missach-
teten Hände geradezu bestraft – „When the full realisation of what has happened
comes to him, Larry’s first thought is, I want to hurt him, I want to throw my fist
in his face, I want to kill him – for his pity. Instead, he brings his hand crashing
down onto the burning hot emanel of the Rayburn.“ (SPS 269)

4. Figura serpentinata und eine ikonoklastische Geste der Hand:


Der elementare Untergrund der Romane
Der Roman Swimming Pool Season thematisiert also ex negativo eine grundlegende
Gelingensbedingung ästhetischen Schaffens. Die göttliche Hand der schadhaften
Jesusfigur findet ihr weltliches Gegenstück in der zunächst weitgehend ignorierten,
dann abgestraften Hand des scheiternden Künstlers. Doch ist dies nur eine Form
der Zwangsläufigkeit, die der Handlungs- und Figurenführung des Romans unter-
legt ist. Larry hat aus einem weiteren Grund keine Aussicht darauf, in Pomerac

 27 Vgl. hierzu auch die Hinweise zu Rodin und seinen beiden Handskulpturen „Kathedrale“ (1885)
und „Hand Gottes“ (1898) bei Gohr, „Hand des Künstlers“, S. 10 f. „Die Loslösung der Hand als
eines eigenen plastischen Ereignisses“, konstatiert Gohr, „geht einher mit ihrer Deutung als ein
ausgezeichnetes, der Schöpferhand Gottes ebenbildliches Werkzeug“ (S. 11).

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einen künstlerisch ambitiösen Swimming Pool zustande zu bringen. Sein Scheitern


ist durch eine sich im Handlungslauf ebenfalls geltend machende Logik der vier
Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft vorgezeichnet, die unterhalb einer trans-
zendenten, aber auch unterhalb einer psychologischen bzw. ideologischen Motivie-
rung von Unausweichlichkeit operiert.28 Während zum Auftakt von Restoration ein
Handgriff das menschliche Herz aus dem poetologischen Zentrum des Romans
verbannt, vollzieht sich in Swimming Pool Season eine Verschiebung anderer Art.29
Larrys Schwiegermutter Leni träumt,
[that] a surgeon comes and tells her: your heart is technically dead. Snails have sucked
it too small to be viable. The only long-term hope is a transplant, but blood is the
problem. Your blood group is H2O, which you may recognise as the scientific hiero-
glyph denoting water. (SPS 84)

Leni wird in diesem Traum ihres menschlichen Innenlebens entkleidet und in ein
Wasserwesen verwandelt. Damit wird zugleich eine narrative Logik der Elemente
implementiert, die sich auch in einer charakterlichen Sortierung des Romanperso-
nals niederschlägt, wie sie Lenis Tochter Miriam später unternimmt. Leni ordnet
sie das Element Luft zu, während ein enger Hausfreund der in Oxford lebenden
Familie, Dr. O., mit Feuer assoziiert ist. Das ihren Ehemann Larry charakterisie-
rende Element dagegen ist für Miriam Erde (vgl. SPS 244). Sein Helfer Klaus,
dessen wasserbegeisterte Cousins in einer Rückblende sogar mit Aalen (SPS 257)
gleichgesetzt werden, kann selbst nicht einmal schwimmen, er ist in seinem bishe-
rigen Leben „landlocked“ (SPS 258) geblieben. Gegen Ende des Romans, als Leni
gestorben, der Pool wieder mit Erde aufgefüllt ist und es seine Künstlerhand ver-
brannt hat, stellt das Erdwesen Larry lapidar fest: „Everything, in the end, goes
back into the earth.“ (SPS 269) Letztlich entspricht gerade ein dem Erdboden
gleichgemachter Pool Larrys elementarem Naturell, erfüllt er doch mustergültig
den intendierten Status eines exklusiv ihm selbst gewidmeten Monuments.
Während das untergründige Wirken der Elemente in Swimming Pool Season zur
irreversiblen Festlegung einer Person führt und Larry kein Entrinnen aus einem
elementaren Schema erlaubt, erzählen Sacred Country wie die Merivel-Romane ele-
mentare Metamorphosen. Deren poetologische Pointe liegt darin, dass sich diese
Verwandlungen auf der Ebene der materiellen Substanz der Romane selbst vollzie-
hen, dass ihr Nachvollzug einer tiefgreifenden, handvermittelten Intervention
unter die Oberfläche des Textes bedarf. Es erfolgen Appelle an die Hände des auf-
merksamen Lesers bis hin zu einer abermals traumvermittelten Aufforderung, eine
imaginäre ikonoklastische Geste zu vollführen. Bereits der Schlussstrich unter den

 28 Vgl. zur Kulturgeschichte der vier Elemente Böhme/Böhme, Elemente.


 29 In Sacred Country wird leitmotivisch auf das – fehlende – „heart of the onion“ verwiesen, zurück-
gehend auf ein Jugenderlebnis von Marys Mutter Estelle (z. B. SC 45, 48, 391). Auch dies kann
als Beleg für die einleitend formulierte These gelten, dass der Rückgriff auf das Herz als privile-
giertes Motivations- und Rezeptionsorgan in Tremains Texten problematisch wird, zumal es aber-
mals die Hände sind, die das Fehlen – „there is nothing there at all“ – durch das Schälen der
Zwiebel aufdecken (vgl. SC 45).

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ersten Teil von Restoration, den zu ziehen der Leser eingeladen wird, ratifiziert ein
elementares Verwandlungsgeschehen. Dieses steht – wie im Übrigen auch sein ei-
genes Schicksal – unter der von Merivel als „First Rule of the Cosmos“ bezeichne-
ten Regel, „[t]hat all matter is born of fire and will one day again be consumed by
it.“ (R 144)30 Nicht nur würde der Leser das Haus in Bidnold, die Farben des Parks
und Celias Gesicht nicht wiedersehen, nein, so fährt Merivels Text fort, „[t]hey
have been consumed, not by actual flames, […] but by the fire of the King’s dis-
pleasure. I must thus imagine them turned to ash, and so must you, for you will not
be returned to them. I have become Robert.“ (R 217) Mit dem Strich ist zugleich
aus Merivel Robert geworden, aus dem Günstling des Königs ein gewöhnlicher
Untertan, der sich die Anrede- und Umgangsformen einer Quäkergemeinschaft zu
eigen macht.
In Sacred Country trägt sich eine entscheidende Etappe im Verwandlungsprozess
von Mary in Martin sogar ganz buchstäblich in einer Linie zu, die auf die ästheti-
sche Tradition der figura serpentinata anspielt.31 Im ganzen Romanverlauf tritt
Mary/Martin als Wasserwesen auf, sei es, dass sie als vollkommen durchnässter
Gast auf der Hochzeit einer Freundin auftaucht (vgl. SC 179 ff. ), sei es, dass die
therapeutischen Gespräche im Vorfeld der Geschlechtsumwandlung zunächst di-
rekt an der Themse (SC 217 ff.), später sogar in einer aquariumsartigen Umgebung
stattfinden (vgl. SC 262 f., 280) oder er noch in Amerika als kulinarischer Krab-
benliebhaber beschrieben wird (vgl. SC 370, 376). Regen, der in ihr Zimmer
tropft, sammelt Mary in Schüsseln – „set [...] out in a line“ (SC 122) – und fühlt
sich hierbei an den indischen Monsoonregen erinnert, den sie in der Schule ken-
nengelernt hat: „Rain could bring change“ (SC 122). Dieser Wandel vollzieht sich
in ihrem Falle nach dem Abschreiten eines Serpentinenwegs im Londoner Hyde
Park. Indem Tremain an dieser wie an vielen anderen, bereits angeführten Stellen
neben bzw. über den geschriebenen Text geometrische Figuren legt, leitet sie die
Aufmerksamkeit der Leser nicht nur auf die Oberflächengestalt des Textes um,
sondern auch auf die handwerkliche Praxis ihrer Hervorbringung zurück. Prakti-
ken des Schreibens und Zeichnens, deren Grad an Dis- bzw. Kontinuität in einer
noch jungen Anthropologie der Linie weiterhin diskutiert wird,32 werden ineinan-

 30 Vgl. zur philosophiehistorischen Verortung einer solchen kosmologischen Vorstellung, wie sie
etwa für den Vorsokratiker Heraklit überliefert ist, Böhme/Böhme, Elemente, S. 57.
 31 Vgl. zu dieser auf Michelangelo zurückgeführten und vor allem durch William Hogarths Kon-
zeption einer Line of Grace neu akzentuierten Tradition Summers, „Figura Serpentinata“ und
Gerlach, „Simulation“. Das Gefallen des Betrachters an der Schlangenfigur führt Hogarth, so
Summers, auf die „continuity of its variety“ zurück (S. 269). Hofmann, Schönheit, legt unter Re-
kurs auf eine Fülle an kunstpraktischen und -theoretischen Belegen dar, wie Schlangenlinien im
Zuge ihres „Potential[s] an Ambivalenzen“ (S. 117) einer synchronen Dynamik von Festlegung
und Offenheit, von Bindung und Freiheit, von Künstlichkeit und Natürlichkeit Form verleihen,
wobei Hofmann in der Schlangenlinie insbesondere eine „Metapher der Befreiung“ (S. 15) sieht.
Diese Assoziationen schwingen bei der Schilderung von Marys Metamorphose in Sacred Country
mit.
 32 Vgl. die beiden Bücher von Ingold, Lines und Life of Lines, speziell zum Zusammenhang von
Zeichnen und Schreiben Lines, S. 120 ff.

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Merivel, Do Not Sleep 139

der verschränkt, die doppelte Genese von Texten und Zeichnungen gleichsam in
Gegenwart des Lesers vorgeführt.
Mary arbeitet eine Zeit lang als Redaktionsassistentin für ein kleines Londoner
Lyrikmagazin:
In her lunch hours, she ran all the way to Hyde Park, then along the Serpentine to the
boathouse. It was autumn in London. There were hardly any boaters. One day, the
boat attendant said to her: „Want to take one out, lad?“ (SC 279 f.)

At least some people sometimes called me ‚Sir‘. Barmen. Waiters. Shop assistants.
I liked this. I would sit at a bar counter, smiling. But I never felt the same stupid bliss
I’d experienced by the Serpentine when the boat attendant called me ‚lad‘. (SC 285;
vgl. SC 335)

Als junge Frau betritt Mary die zum Wasser führende Schlangenlinie, um nach
ihrem Durchschreiten von einem Bootsmann als junger Mann angesprochen zu
werden. Die Linie wird zum eigentlichen „Ort des Ästhetischen“;33 Handlungs-
ebene, textuelle Oberflächengestalt und eine untergründig wirksame Transformati-
onslogik der Elemente werden zusammengebracht in einer einzigen dynamischen
geometrischen Figur. „[D]ie Metamorphose als Metamorphose“ ist hier, um eine
Formulierung des Kunsthistorikers Werner Busch zur Beschreibung eines von ihm
konstruierten Genus des „unklassischen Bildes“ aufzugreifen, „das eigentliche
Thema“.34 Die Verwandlung vollzieht sich im Liniengeflecht des Textes, nicht im
Bewusstsein des Rezipienten. Um ihr auf die Spur zu kommen, bedarf es des ima-
ginären Nachvollzugs zeichnender Bewegungen, die einen „Produktionsprozess“
offenlegen, „der eben nicht“, um nochmals Busch zu zitieren, „ein Ergebnis, son-
dern den Generierungsprozess selbst vorführt.“35
Auch Merivel macht im Laufe der beiden Romane Verwandlungen durch. Wäh-
rend seiner Zeit auf Bidnold bemüht er sich, seine vorrestaurative, professionelle
Persona als Physikus radikal abzustreifen und die eines Angehörigen der landsässi-
gen gentry anzunehmen. Nach dem zeitweisen Verlust seines Besitzes weckt er als
Robert in der Quäkergemeinschaft sowie als praktizierender Arzt in London seine
schlummernden medizinischen Fertigkeiten sukzessive wieder auf. Bei der Entbin-
dung seiner Tochter per Notkaiserschnitt gelingt es ihm, ihr Leben zu retten. Die
Mutter, eine Insassin der Quäkeranstalt, mit der Merivel verbotenerweise eine se-
xuelle Liaison eingegangen ist, stirbt bei dieser Operation. Nach dem großen Brand
von London am Ende von Restoration wieder auf Bidnold lebend, tritt Merivel als
Vater, Arzt und restituierter Günstling des Stuartmonarchen in den zweiten Band
Merivel. A Man of his Time ein.
Die verwickelten Details dieses sich über insgesamt beinahe 750 Seiten erstre-
ckenden Plots, seine gerade in diesem zweiten Band stark episodenhaften Züge

 33 Busch, Unklassisches Bild, S. 75. Vgl. das gesamte Kapitel 3 „Die Möglichkeiten der nicht-fixie-
renden Linie. Von Tizian bis Seurat“, S. 74 ff.
 34 Busch, Unklassisches Bild, S. 82.
 35 Ebd., S. 75.

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brauchen im Weiteren nicht zu interessieren. Wie um ein Diktum Elias Canettis –


„Macht in ihrem Kern und auf ihrem Gipfel verachtet Verwandlung.“36 – zu be-
stätigen, lässt König Karl Merivel bereits während dessen erster Lebensphase auf
Bidnold ein statusgemäßes Geschenk zukommen, einen Instrumentenkasten für
chirurgische Eingriffe, der den studierten Physikus an den prekären Status seiner
neuen Existenzform erinnert, die einzig von der Gunst des Königs abhängt. „It was
not necessary for him to send any message with them. They themselves were the
message,“ gesteht Merivel sich ein (vgl. R 124). Auf dem Handgriff eines der Inst-
rumente jedoch, einem besonders scharfen Skalpell37 und wichtigen Dingsymbol
der beiden Romane, findet sich die strenge Gravur: „Merivel, Do Not Sleep.“ (R 124)
Das Instrument wie den eingeritzten Imperativ versucht Merivel sich später glei-
chermaßen zu eigen zu machen, etwa wenn er bei der Schilderung des mit diesem
Skalpell ausgeführten Kaiserschnitts zur Entbindung seiner Tochter von sich sagen
kann, „[that a]ll of my attention was concentrated in my hands.“ (R 341) Als er für
ein Bildnis Modell sitzt, fängt der Maler Finn Merivels ärztliche ‚Essenz‘ ebenfalls
mit Hilfe dieses königlichen Geschenks ein:
Finn wishes to title the picture A Physician, thus rendering me anonymous, but I do
not mind. The only nuisance was that I had to sit still for several hours at a time with
my hand uncomfortably poised in the act of taking up the scalpel from my box of
surgical instruments. (R 350)

Einige Monate später malt Finn das Portrait einer Frau, die auf dem Bild eine ganz
ähnliche Pose wie Merivel einnimmt – „the same concentration upon the hands“
(R 359) – und Merivel sehr an seine Mutter erinnert. Er findet sich also väterlicher-
wie mütterlicherseits in eine genealogische Linie ungewöhnlicher Handzentriert-
heit gerückt, mit einschneidenden Konsequenzen für die in beiden Romanen prak-
tizierte Poetologie der Hände:
[…] I had a dream of my mother. She came and looked at my portrait. She put her
hand up to the canvas and scratched away at it until she had obliterated a bit of my
forehead and revealed the white pigment underneath. Then she said: ‚On the surface,
he is whole, but beneath the surface, he is filled with a most peculiar broken light.‘ (R
359 f.)

In seinem Traum lässt sich die manuell versierte Mutter Merivels von der Anzie-
hungskraft des Bildes nicht in den Bann ziehen, sondern macht Gebrauch von

 36 Elias Canetti, Masse und Macht, S. 241.


 37 Neben Teleskop und Mikroskop nimmt Sennett, Handwerk, S. 261 ff. das im Vergleich zu seinen
Vorgängern „sehr fein“ geschärfte neuzeitliche Skalpell in seine Reihe „schwieriger Werkzeuge“
auf. Dieses erforderte laut Sennett nicht nur „eine virtuose Handfertigkeit im Umgang mit dem
Skalpell. Die Aufmerksamkeit musste sich stärker auf die Fingerspitzen verlagern, da Schulter
und Oberarm bei der Öffnung und Zerlegung des Körpers nicht mehr so stark eingesetzt zu wer-
den brauchten.“ (S. 264)

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ihren Händen.38 Diese dienen ihr als Erkenntnisinstrument, ihr Einsatz steht ein
weiteres Mal für eine material- und prozessorientierte Rezeptionshaltung ein. Sie
decken den künstlerischen Schaffensprozess auf, indem sie mit einem ikonoklasti-
schen, gleichsam sezierenden Eingriff eine den Augen zunächst verborgene Farb-
und Materialschicht freilegen. Merivels Portraitist Finn hat nämlich in der Tat eine
bereits gebrauchte Leinwand verwendet und diese vor Eintritt in den eigentlichen
Malprozess weiß übermalt (vgl. R 349 f.). Zugleich lüften die geträumten Hände
der Mutter Merivels das metamorphotische Betriebsgeheimnis der beiden Merivel-
Romane. Auch ein Text, dessen Ich-Erzähler um die Kontingenz von Anfang und
Ende jeder Erzählung weiß und seinen diesbezüglichen Reflexionsstand vorführt,
fängt an und endet. Noch vor den fünf möglichen Anfängen setzt Restoration mit
der Schilderung eines imaginären Portraitbildes der Hauptfigur ein, zu dessen Be-
trachtung der Leser eingeladen wird (vgl. R 3). Der letzte Absatz des Romans wen-
det sich wiederum an den Leser, ermuntert abermals zu einem Blick auf ein Stand-
bild Merivels:
Do you see me now? I am in the room. I am standing in the white room in my torn
white nightshirt. Merivel. Just as he was. Do you see him? He has no wig on his
head. His hogs’ bristles itch. He puts a hand to his cheek and discovers a cake crumb.
[… I]n this high white space […] I hold [Margaret] in my arms […]. (R 399)

Abgesehen davon, dass Merivel sich selbst anders als am Romaneingang nun in die
dritte Person rückt und seine kleine Tochter Margaret in den Armen hält, fällt bei
diesem vom Leser zu imaginierenden Schlussbild die Dominanz von Weiß auf.
Merivel geht in seinem weißen Nachtkleid beinahe in der Umgebung des weißen
Zimmers auf, die Tiefendimension des narrativen Raums tendiert zur Flächigkeit
eines Bildes, auch wenn das Weiß noch auf der Ebene der Bildgegenstände ver-
bleibt. Dies ändert sich in den Schlusspassagen des zweiten Merivel-Romans, der
in exakter Symmetrie zum ersten frühzeitig und ebenso ouvertürenhaft mit einer
Liste von fünf möglichen Enden aufwartet (vgl. M 15  ff.). Hier wird in einem
kurzen Epilog Merivels Tod geschildert. Er stirbt in der Wäscherei seiner langjähri-
gen Freundin, der Gelegenheitsprostituierten Rosy Pierpoint. Sie lässt ihn in ihren
Laden hinein, „near my burning cauldrons to warm him, and gave him a Handker-
chief, newly ironed“ (M 337). Später findet sie ihn in diesem „Wash Room, some-
what foggy now with steam“ (M 340), schlafend zunächst, doch nicht mehr in der
Lage, aus eigener Kraft aufzustehen. Nach Merivels Tod schließt sie seine Augen;
„The steam from the boiling Coppers shrouded us and made all the air around us
white.“ (M 341)

 38 Zu einer gelungenen Analyse der Erzählung „Death of an Advocate“ aus Tremain, Darkness of
Wallis Simpson, S. 89-98, der die Schwarz-Weiß-Reproduktion eines Tissot-Gemäldes vorange-
stellt ist, im Paradigma der Ekphrasis-Forschung vgl. Karastathi, „Ekphrasis“, S. 106 ff. Karasta-
thi konzentriert sich auf die originelle Rekonstruktion eines „dialogue between reading and view-
ing“ (S. 107). Die hier auf anderer und erweiterter Textbasis gezeigte, genreübergreifende Ver-
schiebung der Rezeptionstätigkeit in die Hände spielt für ihr Argument keine Rolle.

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Am Ende des zweiten Romans legt sich somit weißer Dampf über das Gesche-
hen, Figuren und Gegenstände lösen sich darin auf. Dem Leser wird vom Text
aufgetragen, eine vollständig geweißelte Fläche als Schlussszene zu imaginieren.
Der Traum von der Mutter wird so zur Handreichung für eine Rezeptionshaltung,
die das im Traum von ihr praktizierte Abkratzen des Merivel-Portraits wenigstens
simuliert. Die Augen des Lesers werden vom Text erst im Sinnesverbund mit den
mittätigen Händen angesprochen, allein mit deren Hilfe wird die materielle Flä-
chigkeit des Dargestellten und das untergründig wirksame elementare Geschehen
fassbar. Die lesende Aufmerksamkeit muss maßgeblich in die Hände wandern. Ro-
bert Merivel, der wie Mary aus Sacred Country in den gesamten Romanverläufen
immer wieder mit dem Element Wasser assoziiert wird (vgl. z. B. R 152, 169, 183,
203 ff. sowie M 59, 280, 311), hat eine letzte, feuergetriebene Metamorphose er-
fahren: Er ist tatsächlich zu einer weißen Wasserwolke geworden.
Die Verwandlung des Wasserwesens Mary in Martin ereignet sich auf der Hand-
lungsebene von Sacred Country in Form einer Operation, die abermals eine geome-
trische Gestalt hervorbringt – „Three incisions, like a triangle, were made to my
nipples and through the wounds all the breast tissue that remained in me was taken
out.“ (SC 311) Die ärztlichen Hände ziehen mit ihren Instrumenten Schnittlinien
in Marys Brüste, so wie Merivel mit seinem Skalpell einen Schnitt ausführt, unter
die Oberfläche der weiblichen Haut dringt und seine Tochter Margaret entbindet.
Merivels Hand umschließt dabei die mahnende Inschrift auf dem Handgriff des
Skalpells, so dass ihre von lesbaren Linien durchfurchten Innenflächen den eingra-
vierten Schriftzug unmittelbar berühren. Das Deuten von solchen Handlinien
wird in Restoration ebenfalls vorgeführt (vgl. R 382 ff.), wie auch in Sacred Country
Chiromantie praktiziert wird (vgl. 67 f.). Das Schneiden und Ritzen mit dem Skal-
pell wird also in mehrfacher Weise enggeführt mit der Verwendung eines Schreib-
werkzeugs.39 In den Merivel-Romanen und in den anderen Texten Tremains finden
sich zudem zahlreiche, detailliert entworfene Schreibszenen (vgl. z.  B. R 319  f.,
352 f.; M 41; SC 28, 139, 391; SPS 112 ff., 265 ff.), die vor allem die Beschaffen-
heit der verwendeten Schreibinstrumente thematisieren, ob es sich um einen Blei-
stift handelt, einen Kugelschreiber oder um besonders scharfe Schreibfedern, die
Merivels Freund Pearce vorzugsweise benutzt. Das Rezept für eine Pest-Prophylaxe
hat Pearce auf gewachstes Papier geschrieben, das Merivel nach seinem Tod entzif-
fert:
Luckily, he had employed a very sharp quill (he was always very fussy about his pens
and liked them to be thin) and so, when I held the paper in front of the light, the
words were magically illuminated, having been scratched into the wax. (R 328)

Das Schreiben in die Wachsoberfläche hinein kommt einem chirurgischen Eingriff


gleich, der auf Merivels späteren Traum vorausweist, in dem seine Mutter die
oberste Farbschicht von seinem Portrait abkratzt und den Leser so auf die Spur

 39 Zur neueren Schreibforschung vgl. exemplarisch Stingelin, „Schreibwerkzeuge“.

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Merivel, Do Not Sleep 143

seiner elementaren Metamorphose bringt. Nicht nur werden durch diese analogen
Kratz- und Ritzpraktiken Arzt-, Schreib- und Malkunst nahe aneinander gerückt,
abermals erscheinen Produktions- und Rezeptionsprozesse bis in die Wortwahl hi-
nein symmetrisch. 40

5. Aufmerksamkeit schenken. Romanlektüre als Reflexionsform


von Reziprozitätspraktiken
Das vom König übersandte Skalpell erreicht Merivel, als diesem gerade „the idea of
reciprocity“ zu Bewusstsein gekommen ist und er sich danach sehnt, „to be Merivel,
the proper man.“ (R 123) So ignoriert er zunächst die königliche Botschaft, seine
ärztliche Persona zu restituieren, und sieht sich sogar aufgefordert, den König
durch eine Gegengabe zu erfreuen. Dieser Akt der Reziprozität geht allerdings
gründlich schief (vgl. R 188 f.), wie überhaupt die Romane von Tremain fortwäh-
rend den ungewöhnlichen Verlauf und das Scheitern von reziproken Praktiken vor-
führen.41 Ist es im ersten Band ein Tennisspiel mit dem König, dem Merivel nur für
kurze Zeit gewachsen ist – „‚[Y]ou have become slow […] Very slow. And the
game, of course, is a fast one.‘“ (R 192) –, fehlt ihm im zweiten Band die für ein
Duell nötige Handfertigkeit, die nicht nur aus Selbstschutz hilfreich wäre, sondern
auch seinem Mitduellanten einen letzten Dienst erweisen könnte. Seinen Todes-
wunsch muss ihm sein Adjutant erfüllen, der an Merivels Statt einen tödlichen
Schuss abgibt (vgl. M 259 ff.).
Auch in Swimming Pool Season spielt die gabenökonomische Variante von Rezi-
prozitätspraktiken eine wichtige Rolle. So missrät beispielsweise die Geschenkzere-
monie anlässlich von Miriams Geburtstag in Oxford. Beim Öffnen eines aus ihrer
Sicht ganz unpassenden Schmuckpräsents ihrer Mutter kann sie nur mit Mühe an
sich halten – „Why? Miriam wants to ask. Why jewellery? You know I never wear
finery.“ –, um dann aber wenigstens scheinbar erfreut zu reagieren: „‚It’s very beau-
tiful, Leni darling. Thank you.‘“ (SPS 77) Eine parallel geführte Szene, die sich in
Pomerac zuträgt, steht ebenfalls unter dem Stern des Scheiterns, gelingt aber wider
Erwarten. Larry ist im Dorf zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, hat zuvor einen
kleinen Baum als Geschenk erworben, für den er nun seinerseits bei der Begrüßung
Glückwünsche einheimst. „He knows“, heißt es im Fortgang allerdings,
they expected him to bring something inappropriate, like a shop-bought cake. But
the tree has delighted Gervaise, so even the old Maréchal offers his hand to the
Englishman to shake and Klaus slaps him the on the back and smiles […] and Mallé-

 40 Vgl. zur etymologischen Beziehung von write und scratch Miller, „Line“, S. 9.
 41 Die in diesem Schlussabschnitt entwickelte These greift nochmals einen konzeptionellen Vor-
schlag von Bertram, Kunst als menschliche Praxis, S. 139 ff., S. 211 ff. auf, den er unter dem Titel
„Kunst als reflexive Praxis“ ausarbeitet. Bertram betont das Potential von Kunst, als Praxis eine
Reflexion von anderen „Aktivitäten in der Welt“ anzuregen und so „Neuaushandlungen mensch-
licher Praktiken an[zu]stoßen“ (S. 144). Vgl. auch Holy, „Reciprocity and Reception Theory“.

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lou hands him a glass of wine and Gervaise gives him two insubstantial kisses like
moths on his face. (SPS 141)

Diese beinahe übertriebene Reaktion der Festgesellschaft, die sich im Übrigen


hauptsächlich händevermittelt abspielt, zeugt ebenso von Freude wie von einer of-
fenkundig mitschwingenden Erleichterung, eine potentiell krisenhafte Abfolge von
Geben und Erwidern gut gemeistert zu haben. Wie tief die Verunsicherung über
korrekte Formen des reziproken Austauschs beim Romanpersonal sitzt, zeigt auch
die Reaktion des Hausfreundes Dr. O. auf Lenis Tod. Er komme „empty handed“
(SPS 245) in das Oxforder Haus der Verstorbenen, eröffnet er Miriam, um dann
fortzufahren: „I wanted […] to offer something to Leni. She seemed to ask it. The
thing I wanted to offer most was my love for you …“. Und da er um die Unerfüll-
barkeit dieses Begehrens weiß, wird er auch nicht an der Beerdigung teilnehmen –
„‚I have nothing to offer.‘“ (SPS 245)
Die mahnende Gravur „Merivel, Do Not Sleep“ der Skalpell-Gabe wird nun in
der deutschen Übertragung von Restoration in die etwas altertümelnde, zeremoni-
elle Distanz markierende zweite Person Plural gerückt und mit „Merivel, schlaft
nicht“ übersetzt, während in der deutschen Version des zweiten Bandes der
schlichte, näherliegende Imperativ „Schlaf nicht, Merivel“ steht. 42 Die philologisch
zunächst etwas ungewöhnliche Pluralform führt allerdings auf eine interessante
Fährte, weil sie auch so gelesen werden kann, dass sich die Adresse des Imperativs
verunklart. Ob über Merivel hinaus noch das nähere Umfeld des Protagonisten, die
Profession der Ärzte oder sogar die Gesamtheit der Untertanen Karls II. zur Wach-
heit ermahnt werden, erschließt sich dann nicht. Die Bevorzugung der Pluralform
ermöglicht es sogar, die Gravur als eine auch die Leserschaft einbeziehende Auf-
forderung zu deuten, als nachdrückliche Ermahnung, ihrerseits wach und kon-
zentriert zu sein. Der Leser wird in die Reziprozitätsbeziehungen des Textes hin-
eingezogen, nicht nur zu Aufmerksamkeit im Sinne einer interaktionsbereiten,
konzentrierten Zugewandtheit animiert, sondern auch zu einem Schenken von
Aufmerksamkeit als Form der Respektbezeugung aufgefordert.
Dieser Respekt gegenüber dem Kunstwerk wird jedoch insofern relativiert, als
die Beziehung von Text und Leser als potentiell gewaltförmig entworfen wird. Es
ist gerade die gegenüber dem Merivel-Portrait respektlose, ikonoklastische Geste
der Mutter, also gewissermaßen ihre attentive inattention bzw. inattentive attention,
die dem Leser als Muster für seinen eigenen Textumgang vorgeführt wird. Der Text
selbst verlangt dem Leser eine paradoxe Praxis der Aufmerksamkeit ab. Wie die
vielen prekären und misslingenden reziproken Praktiken auf Handlungsebene wird
somit auch die Text-Leser-Beziehung in ihrer Reziprozität problematisiert.43 Sie

 42 Vgl. Tremain, Zeit der Sinnlichkeit, S. 171, sowie dies., Adieu, Sir Merivel, S. 402.
 43 Die Reziprozitätspraxis zwischen Text und Leser wird also im Sinne Bertrams ‚neu ausgehandelt‘
und nicht einfach in einhelliger Weise fortgeschrieben. Auch Rebentisch, Gegenwartskunst, S.
68 ff. legt Wert darauf, dass es bei einem partizipativen Kunstgeschehen „gar nicht, oder zumin-
dest nicht nur, um direkte Partizipation geht […], sondern um die Problematisierung oder The-
matisierung von Partizipation oder Teilnahme.“ (S. 68) Später spricht sie auch von einer „reflexi-

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Merivel, Do Not Sleep 145

umfasst nicht nur die einvernehmliche Mittätigkeit des Lesers, sein Eingehen auf
die Offerten des Textes, sondern dieser erwidernden Mittätigkeit müssen im Zwei-
felsfalle Zügel anlegt werden. Der Leser wird dazu angehalten, die Fallstricke und
Grenzen seiner Mittätigkeit zu reflektieren. Ist Ikonoklasmus opportun, selbst
wenn das Kunstwerk hierzu animiert?
Ob und wie weitgehend der Leser sich auf die Interaktion mit dem Text einlässt,
ist nicht nur seiner bewussten Entscheidung überlassen. Hier kommt ein Eigensinn
der Hände ins Spiel, wie überhaupt die Hände in Tremains Prosatexten oftmals in
Subjektpositionen einrücken oder aber in ihrem Tun von den Akteuren eher beglei-
tet als kontrolliert werden.44 Bereits in ihrem ersten Roman Sadler’s Birthday bringt
die Erzählinstanz in einem entscheidenden Moment die Hände als solche eigen-
ständigen, sich erinnernden Agenten zur Geltung. Die unverheiratete Mutter des
noch jungen Sadler, musikalisch talentierte Tochter eines Klavierstimmers, ist als
Dienerin angestellt und wird von ihrem Sohn eines Morgens gedrängt, verbotener-
weise auf dem herrschaftlichen Klavier zu spielen:
It was so long since she’d sat down at a piano. […] Her fingers had stiffened since
then, but she believed she still knew one or two pieces in her head and, standing
looking at the keyboard, she was suddenly curious, suddenly longed to find out if the
process would begin and her hands would remember where to go. […] Then she
started to play. […] But she couldn’t get to the end. Somewhere, after a perfectly re-
membered beginning, the process stopped and her hands were lost. (SB 89 f.)

Die Erinnerung wie das Vergessen werden vom Kopf in die Hände verlagert.45 Bis
zu einem gewissen Grad vollführen die Hände von Sadlers Mutter eine Geste un-
botmäßiger Widerständigkeit, versuchen sie doch, eine ihr nicht länger zustehende
Fertigkeit aus einer Zeit vor ihrem Eintritt in die Dienerrolle aufzurufen. In ihnen
ist ein praktisches Körperwissen gespeichert, das einzusetzen nicht mehr legitim ist.
König Karls Ermahnung an Merivel ist ebenfalls zweischneidig, indem sie Merivel
dazu bringen will, eine vorrestaurative Handfertigkeit zu reaktivieren. Karl legt
damit die sorgsam austarierte Balance von Erinnern und Vergessen, auf der sein
Regime basiert, gleichsam in die Hände des Günstlings.46 Deren Eigensinn entgeht
auch Merivel nicht, der sich in der Phase seiner proklamierten Verwandlung zu
Robert eingesteht:

ven Problematisierung“ (S. 70). Die Texte Tremains gehen in ihren Angeboten und Aufforderun-
gen an den Leser, sich interaktiv in die Bedeutungskonstitution einzubringen, gemessen an den
Möglichkeiten von Literatur sehr weit, insbesondere indem sie die literarische Rezeptions- und
Produktionspraxis in die Nähe anderer Kunstpraktiken, einschließlich der ärztlichen, rücken.
Zur Zentralstellung des Tastsinns in gegenwärtigen Spielarten der musealen „Beziehungskunst“
vgl. Kemp, Betrachter, S. 53 ff.
 44 Zur ‚Eigenständigkeit‘ und zum ‚Eigenleben‘ der Hände vgl. Gebauer, „Hand“, S. 484, 488 mit
Hinweis auf Canetti, Masse und Macht, S. 255.
 45 Zur Erinnerung der Hände vgl. die aufschlussreichen Passagen in Pethes, Mnemographie,
S. 123 ff.
 46 Zum Regime des Vergessens und Erinnerns in der englischen Restaurationszeit vgl. Berensmeyer,
„Oblivion“.

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146 Christopher Möllmann

I examined my hands, which is a thing I do sometimes when I am troubled, and in


consequence I know the appearance of my hands extraordinarily well. My fingers are
wide and red and the ends of them very flat, with flat nails. My palms are moist and
hot. On the backs of my hands are a few hairs and some freckles. They are Merivel’s
hands, not Robert’s, yet when they take up the scalpel they do not tremble and they
do not err. (R 261, vgl. R 382)

In Merivels Händen manifestiert sich seine gespaltene Person, damit aber auch die
jeweilige Instabilität seiner beiden Existenzweisen als Merivel und Robert. Merivels
Hände verfügen über die medizinisch-technischen Fertigkeiten Roberts, die er
ihnen trotz großer Mühe, sie zu vergessen (vgl. R 33), nicht austreiben konnte und
im Zuge der königlichen Ermahnung reaktiviert. „Man hat das Gefühl“, schreibt
auch Elias Canetti, „daß die Hände ihr eigenes Verwandlungsleben führen.“47
Während Merivels Hände in der eingangs analysierten Teleskopszene dafür sorgen,
eine verloren gegangene Ordnung in seinem Kopf wiederherzustellen, dokumen-
tieren sie hier die anhaltende Unschlüssigkeit seiner Existenz und stellen ein stabi-
les, identitätsverbürgendes Regime von Erinnern und Vergessen in Frage. Wenn er
als Erzähler seiner Lebensgeschichte den Leser dazu anregt, einen Schlussstrich
unter die erste Zeit auf seinem Landsitz Bidnold zu ziehen, kommt eine Mittätig-
keit somit paradoxerweise einer Weigerung gleich. Ob und inwieweit die Hände
des Rezipienten bereit sind zu vergessen, bleibt nicht zuletzt ihrem Eigensinn über-
lassen. Merivel lädt den Leser also nicht nur ein, seine Aufmerksamkeit in seinen
Händen zu konzentrieren und sich am Konstitutionsprozess des Textes zu beteili-
gen. Dem Leser wird zugleich nahegelegt, wie Merivel zu respektieren, dass er den
Eigensinn seiner Hände, ihre stille Widerständigkeit nicht nach Belieben zu kont-
rollieren vermag. Die in der literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorie diagnos-
tizierte „kontrapunktische Spaltung“48 der Person des Lesers, die in ihrem Bewusst-
sein eine Spannung zwischen den zugemuteten fremden „Gedanken eines
anderen“49 und den eigenen Überzeugungen auszutragen hat, ließe sich im Rah-
men einer allgemeinen Poetologie der Hände um ein weiteres Spannungsverhältnis
ergänzen. Es entspränge einer relativen Fremdheit und Unverfügbarkeit der Leser-
hände, die gleichsam als eigene Wesen agieren und an einer „im Lesen erfolgende[n]
Verwandlung“ 50 des lesenden Subjekts allenfalls zu ihren eigenen Bedingungen
teilhaben.

 47 Canetti, Masse und Macht, S. 255.


 48 Iser, Akt des Lesens, S. 252. In Iser, „Kritik“, S. 338 ist von einer „Abhebung des Subjekts von sich
selbst im Vorgang der Lektüre“ und von einem „Riß […], der im Subjekt durch Abhebung von
seinem Habitus entstanden ist“, die Rede.
 49 Iser, Akt des Lesens, S. 251.
 50 Iser, „Kritik“, S. 339.

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II. Anleitungen zur (Selbst-)Aufmerksamkeit

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Ulrike Sprenger

Wachsrezepte

Überlegungen zur aufklärerischen Wissensweitergabe


am Beispiel Diderots

1. Einleitung: Rezept, Autorität und Wissen

Das Rezept – sei es medizinisch, kulinarisch oder technisch – ist die Form autori-
tativer Wissensvermittlung schlechthin.1 Als nichtfiktionaler Gebrauchstext trägt
es selbst keine formalen Hinweise auf Sprechinstanzen und zieht gerade aus dieser
ostentativen Objektivität seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Normati-
vität.2 Sein auf eindeutige Benennung angelegter „denotativer Grundcharakter“
behauptet unmittelbaren Wirklichkeitsbezug.3 Beide Merkmale verweisen wiede-
rum auf einen realen Autor, der das hier weitergegebene Wissen aus eigener Erfah-
rung zieht, wie es die noch frühneuzeitlich übliche, abschließende Formel „proba-
tum est“ bezeugt.4 Der in vergangener Erfahrung begründete, unmittelbare
Wirklichkeitsbezug wird von der Pragmatik des Rezeptes zugleich in die Zukunft
projiziert: Als imperativische Handlungsanweisung greift das Rezept explizit (und
normierend) in die Wirklichkeit seines Lesers aus.

  1 Joachim Telle bescheinigt dem Rezept eine „geradezu pontifikalisch-autoritative Aura“ in seinem
Aufsatz „Das Rezept als literarische Form“. Zur Gattung des Rezepts gibt es umfangreiche lingu-
istische, textlinguistische sowie wissenschaftsgeschichtliche Forschung, die ich hier nur streifen
kann; vgl. exemplarisch jüngst Reading and Writing Recipe Books, hg. v. Michelle DiMeo und Sara
Pennell, und Pomata, „The Recipe and the Case“. Jene eher seltenen Beiträge, die eine kultur-
oder literarhistorische Perspektive wählen, konzentrieren sich dabei (wie auch Telle und Pomata)
vorwiegend auf medizinische und hier insbesondere auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Re-
zepte und Rezeptbücher, die einen wichtigen Bestandteil der kompilatorischen Literatur bilden.
Genuin literaturwissenschaftliche Überlegungen zum Rezept als immer schon fiktional eingebet-
teter embedded discourse scheinen mir eher die Ausnahme, wie der kurze, aber umso einfallsrei-
chere, gendertheoretisch perspektivierende Artikel von Leonardi, „Recipes for Reading“. Eine
systematisch-historische Darstellung des Rezeptes in seinem Verhältnis zu den jeweiligen literari-
schen Gattungssystemen, insbesondere der Moderne, steht aus.
  2 Ich verwende den Begriff ‚Gebrauchstext‘ hier als eher pauschalen Sammelbegriff für nichtfiktio-
nale, handlungsorientierte Textsorten im Sinne des Eintrages im Reallexikon der deutschen Litera-
turwissenschaft.
  3 Telle, „Das Rezept als literarische Form“, S. 251.
  4 Pomata grenzt das Rezept über diese Verankerung in der Erfahrung von anderen frühen „episte-
mischen Genres“ wie z. B. dem Kommentar ab und unterstreicht die direkte begriffliche Verbin-
dung des Rezeptes zu den ebenfalls erfahrungsbegründeten, empirisch überprüften experimenta
(Pomata, „The Recipe and the Case“, S. 141).

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Gerade dieser im unmittelbaren, handlungsorientierten Wirklichkeitsbezug be-


gründete, imperativisch formulierte Autoritätsanspruch des Rezeptes provoziert
schon mittelalterlich wie frühneuzeitlich parodistische und satirische Formen: Das
‚Scherzrezept‘ eignet sich, wie Telle gezeigt hat, zur Verspottung der selbstgewissen
Autorität von Kirche und Medizin ebenso wie für einen charakteristisch frühneu-
zeitlichen Hinweis auf die grundsätzliche Begrenztheit und Ohnmacht menschli-
chen Wissens.5
Die Kritik am Rezept bzw. durch das Rezept trifft nicht nur den Anspruch auf
Autorität und Funktionalität des weitergegebenen Wissens, sondern auch die Wei-
tergabe bzw. Geheimhaltung des Wissens selbst: Wenngleich die mittelalterliche
und frühneuzeitliche Verschriftung von Rezepten Fachwissen erstmalig über die
persönliche Weitergabe durch Meister, Lehrer usw. hinaus verfügbar macht, lastet
auf dem Rezept doch stets der Verdacht, es gebe nicht das ganze Geheimnis preis,
es fehle die eine Zutat oder der eine Kniff, der über Gelingen und Wirkung in der
Ausführung des Rezeptes entscheidet. Das Teilen oder auch das Vorenthalten von
Rezepten stiftet Wissensgemeinschaften, die einerseits das Wissen verbreiten, sich
die letzte Autorität jedoch über die selektive Weitergabe vorbehalten. Frühneuzeit-
lich artikuliert sich diese Wahrnehmung des Rezeptes als einer Form der Verwal-
tung von Geheim- und Herrschaftswissen z. B. in der Alchemistenkritik.6 Leonardi
weist für die Moderne die gemeinschaftsstiftende, emanzipatorische Funktion des
recipe sharing und recipe withholding in den bürgerlichen (realen und fiktiven) Frau-
engemeinschaften des beginnenden 20. Jahrhunderts nach. Ein letztes Echo dieser
Doppelbewegung der Rezeptweitergabe zwischen Inklusion und Exklusion, zwi-
schen demokratischer Teilhabe und Autoritätsaffirmation ließe sich schließlich
noch im Rollenspiel der aktuell ubiquitären Kochsendungen sehen: Der unbehol-
fene Laie, der dem Starkoch häufig als ‚Assistent‘ zur Seite gestellt wird, ist einer-
seits idealer Rezipient des Rezeptes und steht ein für dessen Ausführbarkeit durch
jedermann, andererseits macht er ein Autoritäts- und Kompetenzgefälle anschau-
lich, das durch die bloße Rezeptweitergabe nicht kompensiert werden kann. Aus
kulturpessimistischer Perspektive entlarvt diese Konstellation die Wissensweiter-
gabe als bloße Show zugunsten der Selbstinszenierung von Autorität; in einer opti-

  5 Vgl. Anm. 1. Von den bei Telle aufgeführten Texten scheinen mir vor allem jene Rezepte, die in
karnevalesker Verkehrung ekelerregende oder obszöne Zutaten kombinieren, um in einem sich
dann ebenfalls ironisch verkehrenden probatum est zu gipfeln, Beispiele für autoritätskritische
Parodie zu bieten, während die generelle Erkenntniskritik vor allem von jenen Scherzrezepten
bedient wird, die Unheilbares wie Liebeskummer oder Melancholie heilen, oder gar Liebe erzeu-
gen zu können vorgeben.
  6 Vgl. grundlegend Simmel, „Das Geheimnis“. Zu Wissensweitergabe und Geheimnis im Kontext
des Rezepts vgl. z. B. Secrets and Knowledge in Medicine and Science, hg. v. Elaine Leong und
Alisha Rankin; Spiller, „Recipes for Knowledge“. Pomata („The Recipe and the Case“) zitiert
Beispiele und Forschung für das Rezept als frühneuzeitliche Weitergabe spezifisch weiblichen
Praxiswissens.

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mistischen Lesart führt sie vor, dass ein Rezept eigene Erfahrung nicht ersetzen,
sondern höchstens zu deren Erwerb anleiten kann.7
So geraten, wie hier nur flüchtig skizziert, durch die Epochen hindurch Prakti-
kabilität und Vollständigkeit des Rezeptes in Zweifel, und provoziert die im Rezept
formal angelegte autoritative Wissensweitergabe zu Parodie und Kritik, welche den
Wirklichkeits- und Handlungsbezug des Rezeptes zentral in Frage stellen. Spätes-
tens frühneuzeitlich gibt es darüber hinaus Hinweise auf eine weitere Form
der Rezeptlektüre, welche das Rezept weniger kritisch-parodistisch, als vielmehr
produktiv seiner „fachlichen Zweckgebundenheit“ und Handlungsorientierung
entkleidet:8 Nach Paracelsus kann das Rezept den Anlass für eine Meditation über
die Materie bieten.9 Eine solche naturphilosophische ‚Zweckentfremdung‘ verleiht
dem ‚denotativen Charakter‘ des Rezepts eine Rezeptionsmöglichkeit jenseits der
praktischen Handlung. Das Rezept vermag hier die gleiche Aufmerksamkeit zu
erregen und das Denken in gleichem Maße anzuregen wie die Materie selbst, es
wird offenbar nicht nur als epistemische, sondern auch als epistemologische Text-
form wahrgenommen. Zwar befiehlt das Rezept seine praktische Umsetzung, im-
pliziert damit aber zugleich die mögliche Nichtrealisierung oder eine alternative
Realisierung der von ihm entworfenen Materie-Konstellationen und wird auf diese
Weise zum incitament einer Reflexion der Möglichkeiten.
Allein in dieser kurzen, notwendig lückenhaften Aufstellung sollte sich die Fülle
der kulturellen Kontexte zeigen, in denen sich die Wissensvermittlung durch das
Rezept bewegt, von Fragen der Autorität und der empirischen Erfahrung bis hin zu
Fragen nach dem Wissenstransfer in der Zeit, seiner gesellschaftlichen Funktion
und der korrekten Rezeption eines Rezeptes. Scheint die mittelalterliche und früh-
neuzeitliche Kritik am Rezept vor allem dessen autoritativen Optimismus ins Visier
zu nehmen, wendet sich die Aufklärung nach meinem Eindruck verstärkt den
durch das Rezept aufgeworfenen epistemologischen Fragen zu und sucht insbeson-
dere das Verhältnis von Autorität und Empirie auch im Medium des Rezeptes
neu zu verhandeln. Ich will im Folgenden darstellen, wie Diderot das Rezept als
embedded discourse nutzt, als zitierte textuelle Autoritätsgeste, die einerseits den
aufklärerischen Wissensoptimismus und den empirischen Enthusiasmus Diderots
transportiert, zugleich aber als wissenschaftlich oder narrativ eingebettetes ‚Autori-

  7 Auch zum Format der Kochsendung existiert eine Fülle medienwissenschaftlicher und medien-
kritischer Literatur, die jedoch kaum die hier inszenierte und praktizierte Wissensweitergabe in
den Blick nimmt, sondern vor allem um die Frage kreist, ob tatsächlich zum Kochen angeleitet
wird oder nicht. Vgl. exemplarisch (und polemisch) Droste, „Die Brei-Verderber“.
  8 Telle, „Das Rezept als literarische Form“, S. 252.
  9 Secrets and Knowledge in Medicine and Science, hg. v. Elaine Leong und Alisha Rankin, S. 64. Re-
zeptbücher und -sammlungen bieten auf diese Weise nicht nur Anleitungen, sondern laden ein,
die möglichen Zusammenhänge zwischen Körper und Materie zu erforschen. Auf den im zitier-
ten Artikel entfalteten, für den medizinischen Kontext relevanten Unterschied zwischen den auf
individuelle Körperzustände zugeschnittenen paracelsischen Rezepturen und deren postparacelsi-
schen Standardisierungen muss im vorliegenden Zusammenhang nicht näher eingegangen wer-
den.

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tätsfragment‘, das die Vorläufigkeit des Wissens in gleichem Maße ausstellt, wie es
Aufmerksamkeit und Möglichkeitssinn anregt.
Um dem Verhältnis von Rezept, wissenschaftlicher Erkenntnis und literarischer
Form bei Diderot auf die Spur zu kommen, wähle ich einen eher willkürlichen
thematischen Umweg, der seinen Ausgang nimmt von einer Streitschrift Diderots
zur Wachsmalerei: Zwei Texte über das Wachs sollen zeigen, auf welche Weise
Diderot mit einer ehrwürdigen Denk- und Speicher-Metapher experimentiert und
dabei zugleich Aufzeichnungs- und Aktivierungsformen von Wissen reflektiert, die
zuletzt in eine Verwendung des Rezeptes als Modell für experimentelles Wissen,
Denken und Lesen münden.

2. Diderot, das Wachs und die Rezepte

2.1. Vorgeschichte: Descartes

Antike und Christentum sehen in der Wandelbarkeit und der Unbeständigkeit des
form- und brennbaren Wachses einen Beleg für die Scheinhaftigkeit der irdischen
Welt. In seiner zweiten Meditation greift Descartes angesichts eines Stückes Wachs
den vanitas-Topos auf, wenn er im Wachs die Unzuverlässigkeit der sinnlichen
Wahrnehmung verkörpert sieht. Zugleich aber verwandelt sich das Wachs als buch-
stäblicher Gegenstand der Meditation in ein „MetaMedium“, das für die Mediali-
tät des Denkens selbst einsteht:10 In den Gestaltwandeln des Wachses und den
daran geknüpften Eindrücken des Geistes wird das Denken seiner eigenen Bewe-
gungen, wird es seines eigenen cogito gewahr. Gerade weil das Wachs kein Bild auf
Dauer festhält, figuriert es das mimetische Vermögen des Denkens, figuriert es das
Figurieren selbst. Das Wachs als Speichermetapher, wie Platon sie vorgibt, wenn er
die in der Seele gespeicherten Eindrücke mit den Prägungen auf einer Wachstafel
oder einem Siegelgrund vergleicht, erscheint in Descartes’ „ceroplastischer Kon-
templation“ (Wild) zurückgenommen zugunsten der Bewegungen eines Geistes,
der sich im Kontakt mit der Materie die eigene Immaterialität bewusst macht.
Diderot wiederum greift in verschiedenen Texten sowohl die erkenntnistheore-
tische als auch die mnemotechnische Wachsmetapher auf und setzt dabei Geist,
Materie und Text in ein sehr eigenes Verhältnis zueinander, das ich im Folgenden
versuche, an drei Textbeispielen zu skizzieren. Da schon bei Descartes die Form der
Meditation die Denkbewegungen angesichts des Wachses nachvollzieht, kommt es
mir auch bei den Texten Diderots darauf an, das Wachs als Gegenstand mit der
gewählten sprachlichen Form, hier insbesondere mit den in ein wissenschaftliches
Narrativ eingebetteten Rezepten zu korrelieren. Im Zeichen konkurrierender Re-
zepte wandelt sich das Wachs bei Diderot von einer Metapher für die Formbarkeit
des menschlichen Geistes und seines mimetischen Potentials zu einem Sinnbild für
die Vorläufigkeit empirischer Erfahrung und empirisch abgeleiteter Wissensord-

 10 Wild, „Cartesian Ceroplastics“.

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nungen. Flüchtigkeit und Brennbarkeit – bei Descartes Zeichen der Immaterialität


des Geistes – stehen bei Diderot nun im Kontext einer stets auch affektiven Wis-
sensübertragung, eines erfinderischen Feuers, das sich die Materie aneignet, aber
auch an ihr scheitern kann.

2.2 Enkaustik: Experiment und Rezept

Der Text, in dem Diderot das Wachs als Medium am ausführlichsten reflektiert, ist
ganz im Gegensatz zu Descartes‘ einsamer Meditation am Kaminfeuer von vornhe-
rein in charakteristischer Weise dialogisch und streitbar angelegt. Mit seinem 1755
anonym publizierten Pamphlet L’histoire et le secret de la peinture en cire schaltet
Diderot sich ein in die öffentlich ausgetragene Enkaustik-Debatte:11 Die zeitgenös-
sischen Ausgrabungen in Pompeji hatten nicht nur Fresken, sondern auch fantas-
tisch erhaltene Gemälde – insbesondere Portraits – zutage gefördert, bei denen als
Trägermaterial für die Farbe Wachs verwendet worden war, das durch Hitze auf
dem Untergrund fixiert wurde. Die offensichtliche Haltbarkeit dieser Wachsmale-
rei und ihre im Gegensatz zum Ölfirnis matte Oberfläche, die eine täuschende
Natürlichkeit des Portraits bewirkte, begeisterten Historiker, Maler und Wissen-
schaftler. Trotz einzelner antiker Quellen, welche die Enkaustik erwähnen, war die
genaue technische Herstellung unbekannt, als entscheidender Schritt galt jedoch
die schon aus der antiken Bezeichnung ableitbare Erhitzung des Bildes, die es für
die Ewigkeit fixiert. Den folgenden Wettbewerb um die experimentelle Rekonst-
ruktion der Enkaustik-Malerei und den daran geknüpften Ruhm gewann der
Comte de Caylus, der 1754 in der Académie ein angeblich auf der Basis der Anga-
ben bei Plinius entstandenes Minerva-Portrait ausstellte und sich dabei als Ent-
decker und Bewahrer des antiken Geheimnisses feierte.
Diderots Streitschrift antwortet in vielfältiger Weise auf ein sich in Caylus verkör-
perndes, geradezu antiaufklärerisches Wissens- und Wissenschaftsverständnis, das
für den Autor der Encyclopédie eine Provokation darstellten musste. In L’histoire et le
secret de la peinture en cire stellt Diderot den Ansprüchen von Caylus eine konkurrie-
rende, auf Fakten gründende Entdeckergeschichte entgegen: Erzählt wird die paral-
lele Wiedererfindung der Enkaustik durch den Hofmaler Jean-Jacques Bachelier in
ausführlicher Darstellung von dessen Überlegungen, sowie den mal gelingenden,
mal scheiternden Experimenten.12 Der Zufall spielt auf Bacheliers Weg zur En-

 11 Diderot, L’histoire et le secret de la peinture en cire.


 12 Bei Jean-Jacques Bachelier handelt es sich um eine real existierende bekannte Figur, auf die Dide-
rot hier absichtsvoll Bezug nimmt, die er aber zugleich in ähnlicher Weise fiktionalisiert wie Jean-
François Rameau, den Neveu de Rameau aus dem gleichnamigen Dialog. Vgl. auch Dieckmann,
Cinq leçons sur Diderot, S. 69 ff. Während Rameau dazu dient, den zeitgenössischen Kunstbetrieb
kritisch darzustellen und Fragen nach Originalität und Moral des Künstlers in der Gesellschaft zu
reflektieren, übernimmt Bachelier in der Streitschrift zur Enkaustik die Rolle des Erfinders und
Entdeckers, über dessen Methoden und gesellschaftliche Rolle die zahlreichen Erzählerkommen-
tare digressiv reflektieren.

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kaustik eine entscheidende Rolle und zwar mehr im Sinne des Unfalls als dem der
göttlichen Vorsehung: Mal fällt dem Entdecker in der Werkstatt ein Klumpen
Wachs in einen Eimer, der endlich das geeignete Lösungsmittel zur Verflüssigung
enthält, mal bringt ihn nach einem Rückschlag das Reiben und Kratzen an der
misslungenen Wachsschicht auf einen neuen Weg.13 Der wechselvolle Lauf der Ex-
perimente wird begleitet von einem kommentierenden Erzähler, der das Wiederge-
gebene offenbar einerseits als Anleitung versteht, zudem aber unaufhörlich gesell-
schaftskritische und philosophische Reflexionen einschiebt, Bacheliers Vorgehen
kritisiert, alternative Experimente entwirft und den Leser explizit zum Weiterexpe-
rimentieren mit verschiedenen Zutaten und Erhitzungsprozessen auffordert.14 Di-
derots Text leistet auf diese Weise weniger die narrative Rekonstruktion einer Erfin-
dungsgeschichte, sondern liest sich vielmehr wie eine Anleitung zum empirischen
Experiment, eine Anleitung zur Erprobung von Materie-Konstellationen. Parallel
dazu demontiert Diderot die autoritäre und besitzergreifende Wissenstranslatio
durch Caylus: Dem adeligen Comte stellt er den Hofmaler Bachelier gegenüber.
Wo jener behauptet, ein allein durch seinen Geist hervorgebrachtes Geheimnis zu
besitzen, betont Diderots Erfindergeschichte den glücklichen Zufall in einer un-
aufgeräumten Werkstatt. Nicht zuletzt gründet Bacheliers Erfolg auch in der durch
die öffentliche Debatte hervorgebrachten Konkurrenzsituation: Statt von individu-
ellem Streben und Geltungsdrang wird der Wissenserwerb Bacheliers vom kollek-

 13 „Des enfans de la maison où il étoit pensionnaire, s’amuserent à jouer avec des boules de cire, au
défaut de volans. Une de ces boules tomba dans un godet où M. Bachelier tenoit de l’essence de
térébenthine pour son usage; l’essence de térébenthine produisit son effet sur la cire; la boule fut
dissolute, & tout le mérite de M. Bachelier fut alors de conjecturer, à l’aspect de cette dissolution
fortuite, qu’on pourroit la substituer à l’huile qu’on employe dans la peinture.“ (Diderot, L’histoire
et le secret de la peinture en cire, S. 3 f. „Kinder aus dem Hause, in dem er zur Pension wohnte,
vergnügten sich mangels Federbällen im Spiel mit Wachskugeln. Eine dieser Kugeln fiel in ein
Gefäß, in dem M. Bachelier Terpentin zur weiteren Verwendung aufbewahrte; das Terpentin übte
seine Wirkung auf das Wachs aus; die Kugel löste sich auf, und der ganze Verdienst von M. Ba-
chelier bestand darin, angesichts dieser zufällig entstandenen Lösung zu vermuten, dass man sie
anstelle des Öles in der Malerei verwenden könnte.“, Übers. U.S.) Bachelier folgt hier vorbildlich
der empirischen Methode im Sinne Diderots, wenn er die Beobachtung einer materiellen Wir-
kung in eine Hypothese übersetzt und diese in der Folge in weiteren Experimenten überprüft.
Der herausgestellte Zufall in Gestalt der naiv spielenden Kinder schmälert zugleich sein intellek-
tuelles Verdienst und damit auch seine Rechte an der Erfindung: Er hat einen natürlichen Vor-
gang beobachtet, der auch von Anderen für andere Zusammenhänge nutzbar sein kann und soll.
 14 „Nous demanderons ici à M. Bachelier s’il est bien sûr que l’alkali employé dans son savon de cire,
n’attaquera pas à la longue l’huile du tableau? Cela mérite la considération la plus sérieuse. Il s’agit
de conserver les tableaux, & non pas de les détruire, en cherchant à les faire valoir. Au reste son
eau de cire ne deviendroit-elle pas beaucoup plus transparente, si son savon se dissolvoit dans
l’esprit-de-vin? Il faut encore interroger là-dessus la Chimie.“ (Diderot, L’histoire et le secret de la
peinture en cire, S. 92 f. „Wir müssen hier M. Bachelier fragen, ob er sich ganz sicher ist, dass das
für seine Wachsseife verwendete Alkali nicht auf die Dauer die Oberfläche des Bildes angreift.
Dies muss sorgfältig überlegt werden. Es geht darum, die Bilder zu erhalten und nicht sie zu zer-
stören, im Versuch ihren Wert zu steigern. Würde im übrigen sein Wachswasser nicht viel durch-
scheinender, wenn man seine Seife in Weingeist auflöste? Darüber muss abermals die Chemie
befragt werden.“, Übers. U.S.)

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tiven Dialog und öffentlichem Wettbewerb vorangetrieben.15 Wo der Comte Tex-


texegese und akademische imitatio der antiken Autorität betreibt, verschreibt
Bachelier sich einer „interprétation de la nature“ und experimentiert direkt mit
dem Material.16 Wo Caylus sein Geheimnis ostentativ hütet und es auf Kosten des
Allgemeinwohls der eigenen Ruhm- und Geldvermehrung vorbehält, gibt Diderots
Text Bacheliers Enkaustiktechniken in einer Fülle von genauen Rezepturen der
Öffentlichkeit preis. Auf der polemischen Ebene der mit Rezepten und Anleitun-
gen durchsetzten Streitschrift zeigt Diderot sich damit abermals als ein notorischer
und ostentativer Geheimnisverräter im Dienste der Wissenschaft und des techni-
schen Fortschritts.17 Liliane Hilaire-Pérez verortet diese Polemik sehr überzeugend
im zeitgenössischen Austausch zwischen Kunst und Handwerk: Sie liest Diderots
Darstellung der Rekonstruktion und Vermarktung der Enkaustik vor allem als ein
historisches Plädoyer für eine öffentliche Kontrolle von Methode und Nutzen tech-
nischer Erfindungen, über das Diderot zugleich die „technical invention“ von der
„artistic creation“ abgrenze.18 Die technische Erfindung könne laut Diderot dem
Allgemeinwohl nur dann dienen, wenn ihre Methoden nachvollziehbar, ihr Nut-
zen kontrolliert und jede ökonomische Spekulation mit Wissen staatlich unterbun-
den werde – Geheimhaltung von Erfindungen oder Rezepten sei als Diebstahl an
der Allgemeinheit zu werten. Im gleichen Atemzug betone Diderot kontrastiv, dass
der Wert der Kunst nicht in der Kontrollierbarkeit ihrer Methoden und Wirkun-
gen liege, sondern im originellen und individuellen Austausch mit dem Betrachter.
Vor diesem Hintergrund zeigen sich Caylus wie Bachelier weder Diderots Ansprü-
chen an eine nützliche, öffentlich diskutierte Wissenschaft noch denen einer inspi-
rierten Kunst gewachsen: Beide versuchen ihre Rezepte geheimzuhalten oder zu
verkaufen und beide folgen mit antikisierenden Portraits oder handwerklich per-
fekten Blumenstillleben in Diderots Augen obsoleten, akademischen Kunstmodel-
len.19 Zwar gelingt es schließlich beiden, die Erhitzungstechnik der Antike zu
rekonstruieren, letztlich fehlt aber ihren Werken das Feuer der Inspiration,
der göttliche Funke des Genies – echte Enkaustik im Sinne Diderots gelänge erst

 15 Diderot betont, dass Bachelier nach ersten Versuchen der Enkaustik-Malerei nicht weiter nach-
geht und sie erst wieder aufnimmt, als Caylus Erfolge postuliert.
 16 Zwar liest auch Bachelier Plinius, aber erst nachdem die eigenen Experimente gescheitert sind,
und die Konkurrenz ihn zu überholen droht: Er folgt mithin nicht der Autorität des Textes, son-
dern sucht ihm gezielt nützliche Informationen zum Weiterexperimentieren zu entnehmen.
 17 Vgl. Starobinski, Diderot. Starobinski stellt hier den Geheimnisverrat, das Verbreiten fremder
Worte und Gedanken, als Triebkraft und zentrales Verfahren von Erzählen und Wissenschaft bei
Diderot heraus.
 18 Hilaire-Pérez, „Diderot’s views“, bes. S. 149. Hilaire-Pérez erkennt in Diderots merkwürdigem
Text in erster Linie den Versuch einer Moralisierung des Handwerks, dessen technische Erfindun-
gen einerseits aufgewertet und andererseits durch staatliche Kontrolle den Spekulationen eines
risikofreudigen frühkapitalistischen Marktes entzogen werden müssen.
 19 Auf lebensweltlicher Ebene erweist sich Diderot tatsächlich als erfolgreicher Geheimnisverräter
und Geschäfteverderber: Der Kunstschmied und Farbenhersteller Odiot, dem Bachelier sein En-
kaustikrezept zwischenzeitlich verkauft hatte, verlangte sein Geld zurück, als er das Rezept in Di-
derots Streitschrift publiziert sah.

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in einer noch ausstehenden Verbindung von gekonnter Technik und inspirierter


Kunst.
Für mich erschöpft sich Diderots formal bizarrer Text mit seiner Mischung aus
Erzählung, Kommentaren und Rezepturen jedoch nicht in dieser durchaus über-
zeugend nachgezeichneten Kontrastierung von methodischer Technik und genia-
lisch inspirierter Kunst bzw. in der kontrastiven Ausdifferenzierung der gesell-
schaftlichen Funktionen von Technik und Kunst. Ich möchte im Folgenden
vielmehr auf die Analogien zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Me-
thode hinweisen, die der Text vor allem durch das eingebettete Rezept herstellt. So
zeigt Bachelier in seinen Experimenten durchaus Genie, wenn er auf die Zufälle
und verschiedenen Materie-Konstellation in seiner Werkstatt so geschickt wie pro-
duktiv reagiert. Er besitzt offenbar jene Fähigkeit zu einer interprétation de la na-
ture, die nicht nur für die technische Erfindung, sondern gerade auch für die von
Diderot gleichermaßen empirisch wie intuitiv-irrational verstandene philosophi-
sche Erkenntnis einer höheren Ordnung notwendig ist.20 Bachelier folgt damit
einer Methode, die zwar technisch nicht immer erfolgreich sein muss, dafür aber
der Vielfalt der Natur durch Flexibilität und Vielgestaltigkeit ihrer Beobachtung
gerecht wird. Dazu gehören eben nicht nur Kumulation und Imitation,21 sondern
der Erfinder soll sich stets aufs Neue von der Materie an- und erregen lassen und
sie in einem induktiv-intuitiven Vorgehen experimentell und reflektierend zugleich
erforschen. Wenn Bacheliers Bilder bei seinen Enkaustik-Experimenten immer
wieder zu verbrennen drohen, kann dies zwar auch technikkritisch gelesen werden,
zugleich ist aber die stets drohende Zerstörung durch die wiedergefundene Technik
Zeichen einer Erfinder-Leidenschaft, eines von gesteigerter Aufmerksamkeit ge-
leiteten Ausnahmezustandes im Erfindungsprozess, vor dessen Hintergrund die
künstlerisch ohnehin belanglosen Ergebnisse verblassen – weder die antiken pom-
pejanischen Portraits noch ihre modernen Imitationen und Übertragungen kön-
nen das Feuer ihres Entstehungsprozesses abbilden, der für die experimentelle In-
teraktion zwischen Materie und Geist einsteht.22

 20 Dieckmann stellt Diderots Verständnis der interprétation ausführlich dar, die den methodischen
Kern seiner „physique expérimentale“ bildet und sich weniger an der reinen Empirie Bacons als
an einer Kombination aus Descartes’ Rationalismus und Buffons Induktion orientiert: „En fon-
dant le concept d’interprétation sur l’analyse des moyens de connaissance, telle qu’elle se réalise
dans la ‚physique expérimentale‘, Diderot a établi un rapport significatif entre la critique de la
pensée rationaliste et systématique d’une part, et la théorie de la connaissance ainsi que la logique
scientifique au XVIIIe siècle de l’autre. […] L’interprétation intervient toutes les fois que l’enchaî-
nement des causes et des effets se trouve arrêté ou que l’esprit doit transcender le mode empirique
de la causation.“ (Dieckmann, Cinq leçons sur Diderot, S. 56, 61)
 21 „The main issue for Diderot was to explain that technical invention relied on a method, an ‚art‘,
which was not actually the case in artistic creativity; the crucial point was the understanding of
the concepts of cumulation and imitation in the process of invention.“ (Hilaire-Pérez, „Diderot’s
views“, S. 131)
 22 Vgl. den in der Einleitung des vorliegenden Bandes zitierten Aufsatz von Hagner, „Aufmerksam-
keit als Ausnahmezustand“, und Ders., „History of Attention“. Zu Diderots grundsätzlicher Kri-
tik an der Portraitkunst und seiner Favorisierung einer nicht narrativen‚ offenen Landschaftsma-

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Darüber hinaus stellt Bacheliers Experimentierfreude in Kombination mit den


konkurrierenden Rezeptvorschlägen des Erzählers nicht zuletzt Wachs und Wachs-
rezept als Wissensspeicher infrage und betont damit abermals die produktive Vor-
läufigkeit des experimentell erworbenen Wissens, seinen Charakter als Ausgangs-
punkt weiterer Experimente: Bacheliers Experimente und Rezepte brechen mit
dem Gedanken einer durch die Wiederentdeckung der Enkaustik herstellbaren
Kontinuität zwischen Antike und Gegenwart, einer translatio, wie sie dem Akade-
miemitglied, Sammler und Archäologen Caylus vorschwebt. Stattdessen nimmt
Diderot in seinem Text die perfekt erhaltenen pompejanischen Bilder gerade zum
Anlass, das Wachs und damit auch das Wachsrezept als dauerhaften Wissensspei-
cher in Zweifel zu ziehen. Die von Bachelier in zahlreichen Experimenten gefun-
dene Technik kann nämlich nicht identisch sein mit der antiken Technik, selbst
wenn sie oberflächlich ein ähnliches Resultat hervorbringt. Zum ersten ist es nicht
die Antike selbst, der Bachelier nacheifert, sondern Caylus’ vermutlich „falsch“,
d. h. kalt hergestellte Enkaustik inspiriert ihn dazu, einen ganz eigenen experimen-
tellen Weg zu gehen, dessen Übereinstimmung mit dem antiken Verfahren nie
überprüft werden kann. Zum zweiten mokiert sich Diderots Erzähler wiederholt
über die letztlich auch Bachelier beherrschende Vorstellung einer genauen Rekon-
struktion. So kommentiert er zum Beispiel, ein gewisses Rezept funktioniere auch
mit kaltem Wachs, wenn nun aber der geneigte Nachahmer partout darauf bestehe,
das Wachs heißzumachen, um die Technik Enkaustik nennen zu können, so müsse
er dies eben tun: „S’ils vouloient à toute force que leur peinture s’appellât Encaus-
tique, il ne leur seroit pas impossible d’y employer le feu. Premierement au lieu de
laisser dissoudre leur cire à froid, ils n’auroient qu’à la dissoudre à chaud:…“
(„Wenn sie nun unbedingt ihre Malerei Enkaustik nennen wollten, so wäre es
durchaus möglich, Feuer dafür zu verwenden. Zunächst könnten sie ihr Wachs
statt kalt einfach erhitzt schmelzen lassen…“)23 Und selbst wenn es gelingen sollte,
eine Wachsmalerei zu rekonstruieren, bei der wie in der Antike die Erhitzung des
Bildes ein zwingender, sein Erscheinungsbild und seine Oberfläche transformieren-
der Schritt sein sollte, wie Bachelier es schließlich doch noch zuwege bringt, so
muss der Gegenstand ein anderer sein als in der Antike – den andernorts von
Diderot kritisierten prestigesüchtigen Portraits des pompejanischen Adels und dem
potentiell lächerlichen Minerva-Kopf aus der Académie entsprechen Bacheliers
handwerklich gekonnte, aber ebenso nichtssagende Blumenstillleben für den zeit-
genössischen Massengeschmack. Eine solche Absage an die Kontinuität zwischen
Antike und Gegenwart fügt sich nicht bloß diskursiv in die fortgesetzte querelle des
anciens et des modernes. Diderots Ausführungen zum Wachsbild und die Wieder-
gabe der Rezepte und Experimente zu dessen Rekonstruktion lesen sich vielmehr
auch als grundsätzliche Reflexion über das Speichern und Weitergeben von Wis-
sen: Im Wachsbild scheinen Wissen und Leben der Antike gespeichert, abrufen

lerei, welche den Betrachter in den dargestellten Raum hineinzieht und auf diese Weise aktiviert
vgl. Graczyk, Das literarische Tableau.
 23 Diderot, L’histoire et le secret de la peinture en cire, S. 36, Übers. U.S.

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162 Ulrike Sprenger

lässt sich dieses Wissen jedoch nur im potentiell scheiternden Experiment, das
weder vergangene Prozeduren rekonstruieren, noch zuverlässige Anleitungen für
die Zukunft garantieren kann – als finaler Unfall droht stets das Verbrennen des
ganzen Bildes. Damit findet sich auch das Wachs als Speichermedium kompromit-
tiert oder zumindest entscheidend von Diderot umgedeutet: Das Wachs kann zwar
Bilder, nicht aber Denk-Prozesse speichern. Erst durch diese jedoch kann das alte,
im obsoleten Bild erstarrte Wissen wiederbelebt und fruchtbar für Neues gemacht
werden. Gerade die weitgehend unbekannten Verwandlungsprozesse der Materie
(zum Beispiel die für immer verlorene antike Technik der Enkaustik) werden zum
incitament, weitere Verwandlungsmöglichkeiten auszuprobieren und aufzuspüren.
Diderots dialogischer, digressiver, in jeder Hinsicht unkonzentrierter Text verfährt
damit zunächst ähnlich wie Descartes’ Wachs-Meditation, wenn das Wachsbildnis
zum Auslöser von suchenden Denkbewegungen wird. Dann aber verkehrt Diderot
das Ergebnis von Descartes: Im Kontakt mit einer Materie, die weder das Geheim-
nis ihrer Entstehung noch das ihrer Verwandlungen verrät, wird nicht der Geist auf
sich selbst zurückgeführt, erkennt er sich nicht selbst in souveräner Immaterialität
und Rationalität, sondern wird er dazu aufgefordert, sich der Materie und ihren
geheimnisvollen, wandelbaren Zusammensetzungen immer neu experimentell aus-
zusetzen. Es kommt Diderot hier weniger darauf an, Geist und Materie voneinan-
der zu differenzieren und untereinander zu hierarchisieren, als den ständig notwen-
digen Austausch zwischen ihnen zu betonen und zu fordern.24 Die Leitopposition
findet sich in der Wachsmetapher selbst, im Gegensatz zwischen überliefertem,
erstarrtem Bild und flüssigem Material. Das Eigentliche spielt sich zwischen diesen
beiden Polen im Experiment ab. Erst durch Transformation und Umordnung der
Materie schafft der Geist Neues, ist dabei allerdings analog zur Materie stets in
Gefahr selbst entweder zu erstarren oder in Flammen aufzugehen.
Diderots induktiv-intuitive Methode zeigt sich dabei letztlich als ein Zustand
der Aufmerksamkeit im Sinne Hagners, eine Aufmerksamkeit, die hervorgebracht
wird von physischen und mentalen Grenzsituationen, in denen der Geist mit der
Materie interagiert. Will man diese Methode zwischen den von Hagner skizzierten
und differenzierten Aufmerksamkeitsregimes des 18. und 19. Jahrhunderts veror-
ten, erkennt man bei Diderot insbesondere im Anteil der Leidenschaften eine Ver-
bindung zwischen Affektdiskurs des 18. Jahrhunderts und produktiver Aufmerk-
samkeit: Die geistige Offenheit für zufällige, wechselnde Materiekonstellationen
erscheint hier als ein sensualistisches Komplement der Vernunft, als ein notwendi-
ger Entzündungs- und Erregungszustand, der die für das Experiment notwendige
Ablenkung vom Selbst und den eigenen Zielen gewährleistet.25 Aufmerksamkeit als
Grundlage einer geniehaft inspirierten Empirie ist für Diderot damit wesentlich

 24 Dieckmann betont, dass im Rahmen von Diderots „physique expérimentale“ Subjekt und Objekt
nicht dialektisch, sondern als Pole eines ständigen Austauschs verstanden werden müssen: „La
connaissance pour lui est un acte résultant du mouvement de la pensée vers les objets; la pensée se
réalise et devient réelle par cet acte qui établit un lien entre le moi et le monde.“ (Dieckmann,
Cinq leçons sur Diderot, S. 54)
 25 Hagner, „History of Attention“.

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Wachsrezepte 163

von Zufälligkeit und Zerstreuung abhängig, von materiellen ‚Erregern‘ einer Auf-
merksamkeit, die sich weder als ‚das Andere‘ der Vernunft zeigt, noch als bürgerli-
che Tugend der Selbsterforschung bzw. -disziplinierung, wie Hagner dies für das
19. Jahrhundert nachzeichnet. Allerdings verweisen Scheitern und Entgleisen der
Diderot’schen Experimente, sowie das Risiko einer eigennützigen Vereinnahmung
durch ihre Urheber bereits darauf, dass die Aufmerksamkeit sehr wohl eines ver-
nünftigen, kollektiven Managements bedarf, um für Öffentlichkeit und Fortschritt
produktiv zu werden.
Diderots Insistenz auf einem so leidenschaftlichen wie unberechenbaren Erfah-
rungsprozess, in dem die Ergebnisse stets vorläufige Grundlage für neue Hypothe-
sen und Experimente sein sollen, bestimmt auch die Form seines Pamphlets, die
sich wesentlich von Descartes’ konzentrierter Meditation unterscheidet: Während
sich Descartes auf einen reflektierenden soliloque beschränkt, in dem der Geist über
das Medium des Wachses in Verständigung mit sich selbst tritt, öffnet Diderot
seinen Text von vornherein einer Vielzahl von Redeinstanzen. Der Aufruf zum
Experiment, in dem der Denkprozess durch die Materie in Gang gehalten wird,
spiegelt sich in den Wucherungen eines Erzählens, das den Geist seines Lesers in
lebendiger Bewegung erhält – in den metafiktionalen a-partes, in den eingestreuten
Reflexionen, Fragen und Fußnoten zu Fragen der Ästhetik, Wissenschaft und Ge-
sellschaft:
„Je le [Bachelier] fais raisonner trop bien pour un homme qui n’a que des idées
brouillées de chimie; cela est ridicule. Je prie le Lecteur de n’en rien conclure contre
la vérité de ce Mémoire.“ („Ich lasse ihn [Bachelier] zu klug urteilen für einen
Mann, der nur vage Vorstellungen von der Chemie hat, das ist lächerlich. Ich bitte
den Leser, daraus nichts gegen die Wahrheit dieser Abhandlung zu schließen.“)26
Kurz darauf behauptet der Kommentator selbst, die chemischen Ausführungen
Bacheliers seien für ihn Kauderwelsch („verbiage“), nur um dies in einer Fußnote
zu widerrufen. Mit ähnlichen Verfahren findet sich immer wieder die hinter dem
Text stehende Autorität ironisch verborgen und die Praktikabilität der Anweisun-
gen verunklart.
Wie in all seinen fiktionalen, philosophischen und wissenschaftlichen Texten
bricht Diderot hier das große Narrativ auf zugunsten einer Stimmen- und Stilviel-
falt, zugunsten des Episodischen und des Einzelbildes, welche die Lesererwartung
implizit wie explizit provozieren und enttäuschen.27 Bemerkenswert scheint mir in
diesem Zusammenhang insbesondere die Verwendung des Rezeptes, das den Lauf
der Narration auf ganz spezifische Weise sprengt. Diderots Erzähler erspart seinem

 26 Diderot, L’histoire et le secret de la peinture en cire, S. 40, Übers. U.S.


 27 Dem entspricht unter vielen anderen Verfahren Diderots auch der Einsatz des tableau als eine
zunächst dramentechnische Neuerung, dessen Prinzip einer die Handlung gleichermaßen ver-
dichtenden wie die Narration durchbrechenden Komposition jedoch auf Diderots Forderungen
an eine das große (historische) Narrativ verweigernde Malerei übertragen werden kann und im
Rahmen der Encyclopédie zur Wissensvermittlung eingesetzt wird. Das tableau ist zwar als organi-
sche, geschlossene Einheit gedacht, muss aber in Hinblick auf die Handlung (das Wissen) stets
interpretiert werden. Vgl. Graczyk, Das literarische Tableau.

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164 Ulrike Sprenger

Leser nichts, sowohl gelingende als auch scheiternde Rezepte werden in genauer
Aufführung der Bestandteile, Mischungsverhältnisse und Prozeduren wiedergege-
ben – Bacheliers erprobte Rezepte stehen dabei gleichberechtigt neben den vom
Erzähler vorgeschlagenen Alternativen. Je näher die Erfindergeschichte ihrem Ziel
einer Rekonstruktion der antiken Enkaustik zu kommen scheint, desto mehr zer-
fällt der Text in eine Aufzählung von Bestandteilen und Möglichkeiten der Enkaus-
tik-Technik. Als Ausgangspunkt eines Experiments enthält jedes Rezept dabei
gleichsam die Zutaten zu einer Erzählung in nuce, zur Geschichte einer gelingen-
den, scheiternden, oder künftigen Transformation von Materie. Formal bildet das
Rezept damit den Gegenpol zum erstarrten Bild: Es stellt die geordnete Materie,
jene Zutaten bereit, die es in einem so systematischen wie ungewissen Prozess zu
verbinden gilt. Das Rezept bietet eine Konstellation von Materie, in Diderots Vo-
kabular wäre dies eine Form der conjecture, eine als mögliche Materie-Zusammen-
setzung gefasste Hypothese.28 Zugleich figuriert das Rezept dabei als ein Erzählen,
das seinem Leser argumentative Synthetisierungsprozesse programmatisch über-
lässt, ihn den Schluss aus den stets neu- und umgeordneten Elementen des Textes
selbst ziehen lässt – eines Textes, der sich, abermals in den Begriffen Diderots und
analog zu einer interprétation de la nature, unaufhörlich zwischen Zeigen und Ar-
gumentieren bewegt, zwischen montrer und démontrer.29
Die Streitschrift bietet damit weder die im Titel versprochene Enthüllung eines
antiken Geheimnisses, noch die narrative Rekonstruktion einer Erfindungsgeschich-
te.30 Gerade weil Bacheliers Erfindungs- und Experimentierlust über die eingefügten
Rezepte ständig in den Erzählerkommentar übergreifen, kann das Ergebnis der Er-
findung letztlich nicht methodisch-systematisch erzählt werden, sondern der Text
nimmt selbst die Form eines Rezeptes an, welches Material zum gedanklichen Expe-
rimentieren in der Lektüre bereitstellt. Zugleich veranschaulichen die eingefügten
Rezepte, wie der erzählende Kommentator durch die Materie zu stets neuen Gedan-
ken oder conjectures wissenschaftlicher wie moralischer Art angeregt wird.
Das Wachs findet sich so im gleichen Maße als Speichermetapher diskreditiert,
wie seine Rezepte zur Metapher für aufklärerisches Schreiben und Lesen avancie-
ren: In einer mise en abyme zeigen die Rezepte den Text als eine vorläufige Auf- und
Zusammenstellung, die ein Ergebnis erst in der Zukunft, nach ihrer interprétation
durch einen zukünftigen Leser zeitigen kann.31 Die argumentative und affektive
Sprengung der narrativen Ordnung in der Schrift simuliert die Affektion durch die

 28 Zum Begriff der conjecture bei Diderot vgl. ebenfalls Dieckmann, Cinq leçons sur Diderot, Kap. 2.
 29 Démontrer bezeichnet die (metaphysische) Deduktion, montrer die empirisch-induktive Me-
thode. Diderot selbst ironisiert dieses programmatische Begriffspaar im Roman Jacques le Fataliste
et son maître.
 30 Hier deute ich abermals anders als Hilaire-Pérez, die den Titel zwar ebenfalls ironisch liest, aber
im Sinne der Verweigerung einer Heroisierung des Erfinders und seiner Erfindung („Diderot’s
views“, S. 132 f.). Dies trifft sicherlich zu, zeigt darüber hinaus aber Diderots immer wieder auf-
brechende Zweifel an den Möglichkeiten eines kontinuierlichen, verlustfreien Wissenstransfers.
Vgl. auch Dieckmann, Cinq leçons sur Diderot, S. 46 f.
 31 Zu Diderots Orientierung auf ein zukünftiges Publikum vgl. Dieckmann, Cinq leçons sur Diderot,
S. 26 ff.

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Wachsrezepte 165

Materie, die sich in der interprétation stets nur provisorisch ordnet. Dabei leistet die
Schrift weniger eine Fixierung oder lineare Abbildung des Gedankens als dessen
digressive oder auch leidenschaftliche Verlebendigung (Dieckmann): In dem Maße,
in dem der Erfindungs- und Erhitzungsprozess der Enkaustik im Mittelpunkt
von Diderots Aufmerksamkeit steht, verfällt der Text selbst der Erfindungsleiden-
schaft.32 Noch in seiner abschließenden captatio verweigert der Erzähler explizit die
Reduktion seiner Abhandlung auf das autoritäre Rezept oder den autoritären (mo-
ralischen) Kommentar und greift dabei subtil auf das Enkaustik-Motiv zurück:
„Pour épargner au lecteur toutes ces notes, il eût fallu refondre l’ouvrage entier, &
heureusement nous n’en avons ni le tems ni la volonté.“ („Um dem Leser all diese
Bemerkungen zu ersparen, hätte man das ganze Werk wieder einschmelzen (= um-
gestalten) müssen, und dafür fehlen uns glücklicherweise sowohl die Zeit als auch
der Wille.“)33 Nur im dialogischen Nebeneinander von Materie und Hypothese,
von Rezept und Reflexion, gewinnt der Text seine ostentativ vorläufige und da-
durch anregende Form und nur in dieser Form dekonstruieren die Autoritätsgesten
einander zugunsten eines in die Zukunft gerichteten Aufrufs zum Experiment. Der
im Rezept angelegte unmittelbare Wirklichkeitsbezug dient in diesem Zusammen-
hang dem Verweis auf künftiges Wissen und künftige technische Möglichkeiten,
die der Text erst vorbereitet. Zugleich illustriert das eingefügte Rezept Diderots
textuelles Verfahren als eine stete Permutation von nur scheinbar autoritativen
Textbausteinen, welche die Aufmerksamkeit des Lesers in gleichem Maße zerstreut,
wie sie ihn zur interprétation provoziert.

2.3 Enzyklopädie: Sammeln und Speichern

Liest man den Artikel zum Wachs in der Encyclopédie, findet man viele der eben
nachgezeichneten Denk- und Textbewegungen wieder: Der Eintrag folgt der kon-
ventionellen Systematik von Naturgeschichte, Kulturgeschichte und technischer

 32 Diderots Verständnis des Textes und seiner Lektüre als Simulation von Erfahrung und Anregung
zu deren wissenschaftlicher oder moralischer interprétation findet sich auch in seinem empfindsa-
men Programmtext, dem Éloge de Richardson. Dieser weist ein sehr ähnliches paradoxales Ver-
hältnis von polemischer Aussage und ironischer Selbstzersetzung der Form auf, wie ich sie für den
Enkaustik-Text nachgezeichnet habe: Diderot lobt an Richardson dessen Abkehr von moralisti-
schen Sentenzen zugunsten einer scheinbar unmittelbaren Gegenwart der Affekte, die den Leser
Pamelas Lieben und Leiden so direkt miterleben lässt, dass er zur interprétation der Leidenschaf-
ten fähig wird, mit anderen Worten über den Affekt zu einem eigenen moralischen Urteil geführt
wird. Beim Belegen von Richardsons affektiver Wirksamkeit löst sich Diderots Text selbst zuletzt
in eine Reihe von Ausrufen und Seufzern auf und stellt damit wiederum die Vorläufigkeit eines
moralischen Urteils aus, das jederzeit von neuen Affekten eingeholt werden kann. Die Schrift
vollzieht bei Diderot offenbar gerade in den programmatisch polemischen Texten keine rationale
Synthese, sondern steht ganz im Zeichen einer ‚Inkarnation‘ (Dieckmann) und Verlebendigung
des Gedankens durch simulierte Affekte. Auf diese Weise verschieben letztlich alle Texte Diderots
zu Wissenschaft, Technik, Ästhetik und Moral ihre Ergebnisse in die Zukunft, zugunsten der
Vorführung eines Verfahrens der interprétation.
 33 Diderot, L’histoire et le secret de la peinture en cire, S. 102, Übers. U.S.

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Verarbeitung des Wachses unter Berücksichtigung von unterschiedlichen Querver-


weisen.34 In allen Kontexten findet sich das Speichervermögen des Wachses immer
wieder inhaltlich wie strukturell unterlaufen oder diskreditiert: So beschreibt der
Artikel zwar ausführlich die fixierende oder sanktionierende Verwendung z. B. in
der Besiegelung des Testaments oder administrativer Dokumente mit unterschied-
lichen Siegelfarben und gibt auch die Geschichte der antiken Wachstafeln wieder.
Ebenso erwähnt er die pompejanischen Wachsportraits und die täuschend ähnli-
chen zeitgenössischen Wachsfiguren – wie kein anderes Material vermag das Wachs
menschliche Züge wiederzugeben und festzuhalten. In all diesen Zusammenhän-
gen jedoch wird ein mal deutlicher, mal leiser Ton der Kritik hörbar: Einem reprä-
sentativen adeligen Portrait mit seinem Standesdünkel („noblesse empruntée“)
oder einer Wachsfigur sind in jedem Fall die beeindruckenderen anatomischen
Modelle vorzuziehen, für welche das Wachs zeitgenössisch verwendet wird. Ebenso
kritisch betrachtet der Artikel die verschwenderische Verwendung des Wachses in
der Kirche, wie generell den Luxus in der Beleuchtung, der dazu führt, dass Europa
seinen Wachsbedarf bald nicht mehr decken kann. So sehr das Wachs als Pfründe
der Kirche oder als Luxusgut in die Kritik gerät, so sehr faszinieren die technischen
Möglichkeiten des Materials. Die Erwähnung des anatomischen Modells deutet
bereits auf wissenschaftliche Verwendungszwecke, bei seiner naturgeschichtlichen
Beschreibung der Wachsherstellung durch die Bienen, bei den Techniken der Ge-
winnung, Bleichung und Verarbeitung, schließlich beim Entwurf aktueller neuer
Verfahren wie der möglichen Wachsgewinnung aus exotischen Pflanzen in den Ko-
lonien bietet der Artikel ungeheuer genaue, sich enthusiastisch im technischen De-

 34 Vgl. das elektronische Faksimile der Erstausgabe der Encyclopédie: http://fr.wikisource.org/wiki/
Page:Diderot_-_Encyclopedie_1ere_edition_tome_3.djvu/486. Der Eintrag kann nicht eindeu-
tig zugeordnet werden, da ihm der Stern als Diderots Autorsigle fehlt. Die im Folgenden bespro-
chenen inhaltlichen Aspekte legen jedoch nahe, dass Diderot zumindest beteiligt war – in jedem
Fall gibt der Eintrag die von Diderot selbst in anderen Zusammenhängen reflektierten und für
eine aufklärerische Programmatik funktionalisierten Eigenschaften des Wachses wieder. So ver-
wendet Diderot in den Pensées sur l’interprétation de la nature (1754) das Sammeln des „Rohwach-
ses“ (hierfür hielt man die Pollen) durch die Bienen und dessen anschließende Verarbeitung zu
Wachs und Waben als Illustration für ein sich zwischen Beobachtung und Reflexion bewegendes
Denken – als spezifisches Bild der von ihm geforderten induktiv-deduktiv vorgehenden empiri-
schen Methode, in der die Hypothese aus der empirischen Erfahrung hervorgeht und wieder von
ihr überprüft werden muss. Die einzelne pensée erscheint vor diesem Hintergrund als Wabe eines
unabgeschlossenen Gedankengebäudes, dessen Bausteine passgenau aneinander anschließen, des-
sen Gesamtgestalt jedoch nicht abzusehen ist: „IX Les hommes en sont à peine à sentir combien
les loix de l’investigation de la vérité sont sévères, & combien le nombre de nos moyens est borné.
Tout se réduit à revenir des sens à la réflexion, & de la réflexion aux sens: rentrer en soi & en sortir
sans cesse. C’est le travail de l’abeille. On a battu bien du terrein en vain, si on ne rentre pas dans
la ruche chargé de cire. On a fait bien des amas de cire inutile, si on ne sçait pas en former des
rayons.“ (Diderot, Pensées sur l’interprétation de la nature, S. 10 f. „Die Menschen müssen spüren,
wie streng die Gesetze der Erforschung der Wahrheit sind und wie begrenzt die Zahl unserer Mit-
tel ist. Alles läuft darauf hinaus, dass wir von den Sinnen zur Reflexion und von der Reflexion zu
den Sinnen zurückkommen: unaufhörlich in sich gehen und aus sich herausgehen. Das ist Bie-
nenarbeit. Viele Wege hat man vergeblich gemacht, wenn man ohne Wachs in den Bienenstock
zurückkehrt. Eine große Menge Wachs hat man nutzlos angehäuft, wenn man daraus keine
Waben zu bilden vermag.“, Übers. U.S.)

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Wachsrezepte 167

tail verlierende Darstellungen, die sich auch als Anleitungen verstehen lassen.
Unter dem von Diderot allein verfassten Eintrag zum Siegellack (frz. cire à cacheter,
„Siegelwachs“) dominieren schließlich die ebenfalls in ausführlichen Rezepten wie-
dergegebenen, verschiedenen Herstellungsmöglichkeiten die Darstellung als Ver-
ewigungsmedium. Wie im Enkaustik-Text erkennt man auch in den Encyclopédie-
Artikeln zum Wachs eine Faszination an der wandelbaren Materie einerseits und
den zugrunde liegenden Transformationsprozessen andererseits, welche die Abbild-
und Speicherfunktionen deutlich überlagern, um nicht zu sagen überwuchern in
einer schier nicht enden wollenden Fakten- und Rezeptesammlung.
Man könnte nun – abermals im Anschluss an Hilaire-Pérez – sagen, dass Diderot
hier am oder im Medium des Wachses eine aufklärerische Trennlinie zieht zwischen
Technik und Kunst, zwischen dem génie des Wissenschaftlers und jenem des Künst-
lers. Gerade die Popularisierung des Wachses als Leuchtmittel und Werkstoff, wel-
che nun nicht mehr für Kirche und Louvre reserviert sind, fordert Wissenschaft
und Technik zu neuen kreativen Höchstleistungen heraus, während die Wachs-
Kunst in obsoletem Standesdünkel oder einem oberflächlichen Abbildungsver-
ständnis erstarrt. Das Transformationsvermögen des Wachses wäre damit einem
optimistischen Technikbegriff im Dienste des Allgemeinwohls zugeschlagen, die
Kunst im gleichen Zuge in das Genialische enthoben. Mir kommt es eher an auf
das auch in den Encyclopédie-Texten erkennbare Verhältnis von Material und Trans-
formationen, das mir für Diderots Umgang mit dem Wachs so spezifisch wie pro-
grammatisch scheint und den Text als Rezeptsammlung stets in eine Einladung
zum materiellen wie gedanklichen Experiment verwandelt. Wie schon der Enkaus-
tik-Text beschreiben auch die Encyclopédie-Artikel zahlreiche unbekannte oder un-
geklärte Transformationsprozesse – sei es die Herstellung der Substanz durch die
Bienen, welche aus den Pollen oder einer anderen unbekannten Substanz das ei-
gentliche Wachs herstellen, sei es das natürliche oder künstliche Bleichen durch
den Menschen. Und auch hier sind es diese unbekannten Transformationsprozesse,
die sowohl den Gegenstand des Textes ausmachen, als auch dessen Interesse an
weiteren unbekannten, alternativen oder neuen Prozessen generieren – wie schon
im Enkaustik-Text muss das ursprüngliche Geheimnis nicht notwendig gelüftet
werden, um weitere Rezepte und Experimente, weitere mögliche Konstellationen
oder Konjekturen auf den Plan zu rufen. Das Wachs steht also auch hier im Zei-
chen eines unvollständigen Wissens und einer Diskontinuität in der Wissenswei-
tergabe, eines Wissens, das sich selbst in die Zukunft projiziert und damit als vor-
läufig versteht. Es geschieht nicht nur aus der Not, dass sich wie im polemischen
Enkaustik-Text auch in der Enzyklopädie unbekannte Prozesse die Waage halten
mit genauen Fakten- und Materialsammlungen. In dieser Form erfüllen die Artikel
vielmehr auch strukturell das aufklärerische Konzept der Encyclopédie als kollekti-
ves, nicht autoritäres, gezielt an eine weiterforschende Nachwelt gerichtetes und
damit letztlich ebenfalls dialogisch angelegtes Werk. Wenngleich der Horizont
einer vollständigen Einsicht in die systematische Ordnung der Natur von den En-
zyklopädisten noch nicht aufgegeben ist, scheint er doch in die Zukunft verlegt,
auch hier erscheint das Wachsrezept als Form der Hypothesenbildung und Voraus-

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168 Ulrike Sprenger

schau auf künftige Wissens- und Funktionszusammenhänge, als Baustein eines


noch nicht überschaubaren Wissensgebäudes.35 Mit seiner Systematik, die immer
wieder droht, sich in die Wiedergabe technischer Prozeduren aufzulösen, spiegelt
auch der Enzyklopädie-Eintrag das von Diderot geforderte Gleichgewicht von
montrer und démontrer, von Beobachten, Zeigen und Schlussfolgern, die einander
nie vollständig äquivalent sind.36
Ausgehend von der philosophischen Wachsmetaphorik, die in der präg- und
formbaren Substanz sowohl den Speicher des Denkens als auch dessen mimetische
Performanz abgebildet sieht, wird für Diderot insbesondere das Wachsbild und
dessen Herstellung zum Anlass, die Möglichkeiten der Erfahrungs- und Wissens-
weitergabe zu reflektieren. Das Wachs und seine Verarbeitung werden dabei zur
Metapher einer in Schrift und Lektüre geleisteten, aufklärerischen, in die Zukunft
gerichteten und doch stets vorläufigen Geheimniserschließung durch die gedankli-
che Transformation von materieller Erfahrung, zur Metapher einer empirischen
interprétation de la nature, deren Ergebnisse sich als wieder einschmelzbare Waben
darstellen. Insbesondere das dialogische Ineinander von Narration und Rezept
stellt dabei den experimentellen Wissenserwerb als Prozess vor die autoritative Wis-
sensweitergabe: Das Rezept selbst zeigt sich als eine hypothetische Lektüre von
Materie, als eine noch zu überprüfende, vorläufige Ordnung. Im Rahmen eines
aufklärerischen Aufmerksamkeitsregimes erscheint das Rezept weniger als Anlei-
tung denn als ein ‚Erreger‘ affektiv besetzter Aufmerksamkeit, es steht ein für eine
von Zufälligkeit und Zerstreuung erregte, produktive Interaktion zwischen Geist
und Materie.

2.4 Ausblick: Rezept und Partizipation

Wenn die Aufklärung – so könnte eine Hypothese nach der vorangehenden Diderot-
Lektüre lauten – das Rezept befreit von seinem autoritativen Gestus und es statt-
dessen einsetzt als Indikator für einen so experimentellen wie partizipatorischen
Wissenserwerb und -austausch, so ließe sich diese Entwicklung gegebenenfalls bis
in die betont partizipatorischen Medien der Gegenwart verfolgen. Tatsächlich ma-
chen kostenlose Rezepte und Anleitungen einen unüberschaubaren Anteil der im
Internet weitergegebenen Informationen aus. Von Kochrezepten jeder Art über
Anleitungen zum Bau von Waffenschalldämpfern, zur medizinischen Selbstbe-

 35 Vgl. das Bild der Wabe in Anm. 33.


 36 Zum systematischen Anspruch der Encyclopédie und dessen Aufschub durch die alphabetische,
anekdotisch-erfahrungsgesättigte und metaphorische Anlage der Artikel, die ein eher kumulatives
„enrichissement progressif des rapports entre les objets“ ermöglicht, vgl. Dieckmann, Cinq leçons
sur Diderot, S. 43 ff. Jüngst hat Konstanze Baron gezeigt, wie in moralphilosophischem Rahmen
der eingebettete Kasus bzw. die Charakternovelle eine ähnlich systemsprengende, zur interpréta-
tion anleitende Funktion bei Diderot übernimmt (Baron, Diderots Erzählungen). Vgl. zum mora-
lischen Kasus vorangehend auch Warning, „Opposition und Kasus“, sowie Behrens, Umstrittene
Theodizee.

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Wachsrezepte 169

handlung bis zu Vorlagen für Basteln, Stricken und Lernen kann sich hier jeder
bedienen und selber helfen. Ganz im Sinne Diderots bedeutet dieser Rezept-
austausch zum einen die Emanzipation von institutionellen Autoritäten und deren
Wissensmacht, der Geheimnisverrat wird – nicht nur in den umstrittenen politi-
schen, sondern auch den alltäglich-banalen Zusammenhängen – zur vornehmsten
Aufgabe des Mediums. Zum anderen – und auch dies gilt als Selbstverständnis des
Mediums – impliziert die selbstverständliche Rezeptweitergabe einen Abschied von
Autorenrechten und -verdiensten zugunsten der Valorisierung einer unhierarchi-
schen ‚Schwarmintelligenz‘: Wer ein Rezept liest, gibt es auch weiter und optimiert
es dabei gegebenenfalls. Zeigt sich voraufklärerisch die Wissensweitergabe abhän-
gig von der Zugehörigkeit zu einer (Standes-)Gemeinschaft, so könnte man in der
gigantischen Rezeptsammlung des Internet den Vollzug der von den Enzyklopädis-
ten eingeleiteten Umkehrung dieses Prinzips sehen: Sie begründet eine neue Ge-
meinschaft aus der Wissensweitergabe an alle, mit potentieller Teilnahme aller. Im
Rezept fände sich jene Form, mit der die gesammelten Informationen direkt (de-
mokratisierend und verbessernd) in die Handlungswelt der virtuellen Gemein-
schaft ausgreifen, sowie als Handlungsmöglichkeiten zugleich Aussicht auf weitere
Teilnahme und Verbesserung bieten. Bliebe zu fragen, welche Gemeinschaften hier
gestiftet werden bzw. ob die Rezeptweitergabe postaufklärerisch nicht doch eher im
Zeichen einer erneuten Partikularisierung und Privatisierung steht. So wird aktuell
weniger die weitergegebene Information und deren praktischer Nutzen als viel-
mehr der Akt ihrer Evaluierung und damit die Kommunikation als solche als ge-
meinschaftsstiftend verstanden, so dass das Rezept abermals zum bloßen Anlass
einer Etablierung von neuen (sozialen) Wissenshierarchien geworden wäre. Des
Weiteren wäre zu fragen, wohin sich in der uneingeschränkten Zirkulation von
Rezepten deren über die einzelne Rezeptur ausgreifende philosophische Dimension
zurückgezogen hat, die das Verhältnis zwischen Denken und Materie reflektiert.
Mit anderen Worten, was bedeutet virtuelle Rezeptlektüre heute, und verschiebt
nicht auch sie die vom Rezept formulierten Versprechen der Wissensgemeinschaft
ins Private, in die Vorstellungen der Bewirtung eines Freundeskreises, der Neube-
gründung von Familie, der körperlichen Selbstsorge?
Solche hier nur angedeuteten Fragen zu klären wäre die Aufgabe einer Ge-
schichte des Rezepts, welche dieses in Anschluss an Diderot zugleich als epistemo-
logische Form und Nukleus einer gesellschaftlichen Narration begreift.

Literatur
Baron, Konstanze, Diderots Erzählungen. Die Charaktergeschichte als Medium der Aufklä-
rung, München, 2014.
Behrens, Rudolf, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeu-
tung und der französische Roman (1670–1770), Tübingen, 1994.
Diderot, Denis, Pensées sur l’interprétation de la nature, Paris, 1754, Faksimile eingesehen
auf https://archive.org/stream/pensessurlinte00dide#page/10/mode/2up, zuletzt am
24.03.2016.

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170 Ulrike Sprenger

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Leon Wansleben

Korrekturschleifen der Selbstkontrolle

Aufmerksamkeitstechniken in den elektronisierten


Finanzmärkten1

1. Whose Opportunity?

William Ganns Truth of the Stock Tape, ein im Jahr 1923 veröffentlichter Ratgeber
für Finanzinvestoren, zitiert ein Gedicht von Walter Malone mit dem Titel
„Opportunity“.2 Darin tritt die Gelegenheit als ständige Erneuerin einer Gegen-
wart auf, die sich von Vergangenem löst („I burn the records of the day“) und die
Zukunft als unbeschriebenes Blatt („future’s pages white as snow“) neu definiert:
My judgments seal the dead past with its dead,
But never bind a moment yet to come.

Diese Zeilen formulieren die ‚Wahrheit des Börsenticker-Bandes‘, die Ganns Rat-
geber zu verkünden verspricht: Der Finanzmarkt ist eine Sukzession sich ständig
erneuernder spekulativer Gelegenheiten, die auf einem Papierband, erzeugt vom
Börsenticker, sichtbar werden. Korrespondierend stellt Gann die Börsenspekula-
tion als Tätigkeit der Aufmerksamkeit dar, als Erkennen und Ergreifen der sich auf
diesem Papierband flüchtig zeigenden Gelegenheiten.
Jonathan Crary rekonstruiert in seiner Studie Suspensions of Perception die Ent-
stehung einer spezifisch modernen Aufmerksamkeitskultur gegen Ende des 19.
und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese zeichnet sich nach Crary dadurch aus,

  1 Ich danke meinen Mitherausgeberinnen, den anderen ehemaligen Doktoranden des Zeitkul-
turen-Kollegs, insbesondere aber Jagoda Motowidlo und Rahel Villinger für hilfreiche Hinweise
und Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Beitrags.
   2 „They do me wrong who say I come no more/When once I knock and fail to find you in / For
every day I stand outside your door / And bid you wake and rise to fight and win. / Wail not for
precious chances passed away, / Weep not for golden ages on the wane! / Each night I burn the
records of the day; / At sunrise every soul is born again. / Laugh like a boy at splendors that have
fled, / To vanished joys be blind and deaf and dumb; / My judgments seal the dead past with its
dead, / But never bind a moment yet to come./Though deep in mire wring not your hands and
weep; / I lend my arm to all who say, ,I can!‘ / No shame-faced outcast ever sank so deep/But yet
might rise and be again a man! / Dost thou behold thy lost youth all aghast? / Dost reel from
righteous retribution’s blow? / Then turn from blotted archives of the past / And find the future’s
pages white as snow. / Art thou a mourner? Rise thee from thy spell, / Art thou a sinner? Sins may
be forgiven, / Each morning gives thee wings to flee from hell, / Each night a star to guide thy feet
to heaven.“ (Walter Malone, „Opportunity“, zit. nach Gann, The Truth of the Tape, S. 151)

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dass Beobachterpositionen in immer stärkerem Maße an mediale Konfigurationen


geknüpft sind; dass Aufmerksamkeit durch die Zeitlichkeit von Informationsflüs-
sen und -brüchen zugleich gebunden und zerstreut wird; und dass individuelle
Selektionsleistungen bzw. Selektionsversagen darüber entscheiden, ob Menschen
in einer konsistenten oder einer fragmentierten Wirklichkeit leben.3 Auch Michael
Hagner beobachtet eine spezifische Problematik moderner Aufmerksamkeit gegen
Ende des 19. Jahrhunderts, die die Fortschritts- und Selbstaufklärungssemantik des
18. Jahrhunderts ablöst.4
In dem von Crary, Hagner und anderen aufgespannten Untersuchungsfeld las-
sen sich auch die Aufmerksamkeitssemantiken und -techniken verorten, die in
Ganns Ratgeber zum Ausdruck kommen: Die Einführung des Börsentickers auf
den Finanzmärkten gegen Ende des 19. Jahrhunderts markiert die von den ge-
nannten Autoren diagnostizierte Umstellung auf elektronische Medien, Echtzeitin-
formationsübertragungen sowie die Entkopplung von Beobachterpositionen von
spezifischen Handlungs- und Erlebniskontexten. Crary selbst verweist auf diesen
Zusammenhang zwischen einer neuen Aufmerksamkeitskultur und der Elektroni-
sierung der Börse:
Edison’s first technological product, a hybrid telegraph-stock ticker in the early 1870s,
is paradigmatic for what it foreshadows in subsequent technological arrangements,
including those of the late twentieth century: the indistinction between information
and visual images, and the making of quantifiable and abstract flow into the object of
attentive consumption.5

Auch historische Untersuchungen der Finanzmärkte haben gezeigt, dass die Einfüh-
rung des Börsentickers eine Zäsur in der Entwicklung dieser Märkte darstellt. Mit
der Einführung der relevanten Technologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts kön-
nen Marktteilnehmer erstmals von außerhalb der Börse an dem täglichen Spekula-
tionsgeschehen mehr oder weniger unmittelbar teilnehmen.6 Denn der Börsenti-
cker sorgt dafür, dass sämtliche Transaktionen an der Börse sofort registriert und
mittels Telegraphen an Maklerbüros gesendet werden. Spekulanten lesen nun in
diesen Büros mit ihren speziellen ‚Tickerräumen‘ die Preise ihrer Aktien und treffen
auf dieser Grundlage Kauf- und Verkaufsentscheidungen. Per Telegramm oder Tele-
fon geben sie ihre Aufträge an die Händler auf dem Parkett durch, die dann wieder
nach ihrer Ausführung als Transaktionen auf dem Band registriert werden. Auch
wenn im Börsensaal nach wie vor die Geschäfte gemacht werden, wandert die Auf-

  3 „Attention thus became an imprecise way of designating the relative capacity of a subject to selec-
tively isolate certain contents of a sensory field at the expense of others in the interests of maintai-
ning an orderly and productive world.“ (Crary, Suspensions of Perception, S. 17)
  4 „Man is no longer seen as a being that lives in a stable condition and makes continued progress in
a certain direction, but as one that lives amid continual changes and must constantly adapt.“
(Hagner, „History of Attention“, S. 683) Moderne Aufmerksamkeit wird damit gleichzeitig zu
einem prädestinierten Gegenstand der Psychologie und von Erziehungsdiskursen. Siehe Thums,
„‚Selbstbeherrschung‘“.
  5 Crary, Suspensions of Perception, S. 33.
  6 Siehe Preda, „Socio-Technical Agency“, und Stäheli, „Takt der Börse“.

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merksamkeit also nun verstärkt zu den vom Ticker vermittelten Informationen, die
Marktlagen mittels Preisen und Handelsvolumen beschreiben. Weil diese Informa-
tionen in einer stetigen Sequenz in den Maklerbüros eintreffen, vermag das Ticker-
band auch über die Entwicklung von Trends und Überraschungen im Markt zu
informieren. Eine wachsende Anzahl von Spekulanten muss folglich von nun an vor
allem das Lesen und Interpretieren des Tickerbandes erlernen – die Vermittlung
entsprechender Techniken versprechen Gann und andere Ratgeber-Autoren.
Obschon diese Ratgeberliteratur als eigenes Genre interpretiert werden muss,
zeigt sie doch hervorragend, wie Marktteilnehmer versucht haben, ihre Praxis der
Spekulation in der Frühphase elektronisierter Märkte mithilfe bestimmter Techni-
ken und Formen der Selbstdisziplin zu stabilisieren.7 Letztere Interpretationslinie
verfolge ich im Folgenden. Ich komplementiere die Untersuchung eines Corpus
von Ratgebern aus der Frühphase elektronisierter Märkte durch die Analyse von
empirischen Erhebungen zu heutigen Praktiken der Finanzmarktspekulation.8 Wie
sich in beiden Quellencorpi zeigen wird, bilden Techniken der Aufmerksamkeit
den Kern der (z. T. hilflosen) Versuche der jeweiligen Akteure, ihre Spekulationen
in stabile Tätigkeiten zu transformieren.
Für den kulturwissenschaftlichen Diskurs über Aufmerksamkeit sind diese Be-
funde deshalb von Interesse, weil die elektronisierten Finanzmärkte emblematisch
für das Informationszeitalter stehen: Hier sehen wir in verdichteter Form die Prob-
leme der Informationsüberflutung und Strategien der „Schockabwehr“, wie sie
Walter Benjamin bereits mit der modernen Großstadt in Verbindung brachte.9
Gleichzeitig formuliert sich mit dem Finanzmarkt auch eine besondere Problema-
tik moderner Aufmerksamkeit: Einerseits fordert der Markt Aufmerksamkeit für
stetig sich erneuernde Gelegenheiten der Bereicherung, der Beobachtung und des
Studiums; andererseits verlangt die Instabilität der Marktentwicklungen und das

   7 In aller Kürze kann man sagen, dass die Entwicklung dieser Ratgeberliteratur mit der Expansion
der Teilnahme am US-amerikanischen Finanzmarkt nach dem Ersten Weltkrieg und während der
1920er Jahre in Zusammenhang steht: 1914 besitzen etwa drei Prozent der US-amerikanischen
Bürger Aktien, 1929 bereits ein Viertel. Siehe hierzu O’Sullivan, „Expansion of the US Stock
Market“. Zahlreiche Faktoren tragen zu dieser Veränderung der Börse von einem elitären Zirkel
von Bankiers und Maklern zum Herz des „people’s capitalism“ bei. Siehe hierzu Fraser, Wall Street
und Ott, „‚The Free and Open People’s Market‘“. Ein wichtiger Aspekt ist die Ideologie, propa-
giert über zahlreiche Kanäle, dass die aufstrebenden Mittelschichten Möglichkeiten der Wohl-
standsvermehrung dadurch erlangen können, dass sie zu Anteilseignern einer wachsenden US-
Wirtschaft werden. Ein Genre, das von dieser Vorstellung profitiert und sie fortschreibt, ist die
Ratgeberliteratur, in der Investmenttipps von ‚Insidern‘ zu finden sind. Allerdings formuliert
diese Ratgeberliteratur, vor allem nach dem ‚Great Crash‘ von 1929, eine entscheidende Ein-
schränkung des Versprechens von Reichtum: Gewinnen kann nur, wer die notwendigen Kennt-
nisse und Fähigkeiten der Börsenspekulation erlernt. Spekulation wird also als voraussetzungsrei-
che, aber erlernbare Praxis eingeführt: Techniken werden empfohlen, die die Selektion von Infor-
mationen, ihre Interpretation und das konsistente Treffen von Entscheidungen ermöglichen
sollen. Die Ratgeberliteratur diskutiert darüber hinaus diejenigen Charaktereigenschaften, die
einen kompetenten Spekulanten auszeichnen. Siehe hierzu Wansleben, „Inventing the Amateur
Speculator“.
  8 Siehe für einen vergleichbaren Ansatz Schimank, „Die Hyperkomplexität des Finanzmarkts“.
  9 Vgl. Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“, S. 603-653, bes. 612-627.

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unkontrollierbare Eintreffen von Gewinnen und Verlusten eine Akzeptanz seiner


Zufälligkeit. So versuchen sich Spekulanten in stetig neuen Schleifen auf den
Markt zu beziehen und begegnen dabei vor allem ihren eigenen, in den Markt
projizierten Erwartungen und Wünschen. Diese müssen dann – in einer endlos
mitlaufenden Schleife der Selbstentleerung – gleichsam ausgelöscht werden, um
der nächsten Gelegenheit wieder unvoreingenommen begegnen zu können.
Im folgenden Abschnitt werde ich die Investment-Ratgeberliteratur des frühen
20. Jahrhunderts im Hinblick auf die Entwicklung von neuen Aufmerksamkeits-
techniken im Kontext eines elektronisierten Marktes rekonstruieren. Drei relevante
Techniken stehen hier im Zentrum – das wachsame Verfolgen des Tickerbandes,
Techniken der Konzentration auf objektive Anhaltspunkte und die Kontrolle der
eigenen Psyche. Anschließend werde ich auf Basis von Untersuchungen gegenwär-
tiger Finanzmärkte zeigen, wie diese drei Aufmerksamkeitstechniken in gegenwär-
tigen Praktiken des Handelns an Computerterminals figurieren. Abschließend
werde ich aufzuzeigen versuchen, dass die studierten Aufmerksamkeitstechniken
auf eine paradoxale Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit zulaufen.

2. Dem Tickerband folgen

In diesem Abschnitt konzentriere ich mich auf Tape Reading als eine Frühform der
Börsenspekulation in elektronisierten Finanzmärkten. Beim Tape Reading geht es
um die Verarbeitung einer neuen Art von Marktinformation, die der Ticker er-
zeugt: Der Ticker druckt beständig ein oder zwei Papierbänder, auf denen die Kür-
zel des entsprechenden Titels (sich beziehend auf den Firmenname), die Transakti-
onsvolumen (Anzahl der Aktien) und die Preise zu lesen sind, zu denen die
Transaktionen stattfinden (siehe Abb. 1).
Bald nach der Einführung des Tickers entwickelt sich das Tickerband zum zen-
tralen Bezugspunkt für Marktakteure: Die Zugänglichkeit von aktuellen Informa-
tionen außerhalb der Börse und die schnellen Taktungen von Preisänderungen
motivieren neue Formen der Spekulation, praktiziert von einer wachsenden Anzahl
von Marktteilnehmern.10 Das Tape Reading beschreibt professionell entwickelte
Techniken, die eine kontrollierte Nutzung der Chancen und Minimierung der Ri-
siken in diesem neuen Marktumfeld ermöglichen sollen; in den entsprechenden
Ratgebern werden diese Techniken codifiziert und einem breiteren Publikum ver-

 10 O’Sullivan beschreibt die Verbreitung spekulativer Praktiken wie folgt: „In addition to the growth
in the number of investors participating in the stock market, there was also a change in their atti-
tudes to investments in corporate securities. In particular, they became more interested in inves-
ting for capital gains on the prices of the securities that they held as much as for the income that
accrued to them from dividend payments. This change in attitude led to a growing willingness on
their part to invest in corporate stocks, especially common stocks, as compared with bonds. Con-
temporary financial commentators played an important role in encouraging this shift by pointing
to the favourable historical record of common stocks in delivering returns to investors.“
(O’Sullivan, „Expansion of the U.S. Stock Market“, S. 46)

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Abb. 1: Serie von Kotierungen von US Steal (US) und Pennsylvania Railroads.

mittelt. Dabei konzentrieren sich die Autoren vor allem auf die Beschreibung von
in der eigenen Spekulationspraxis entwickelten Techniken der Aufmerksamkeit,
von denen ich hier drei unterscheiden möchte: Wachsamkeit, Konzentration und
Emotionskontrolle.
(a) Wachsamkeit erlangt mit der wachsenden Bedeutung ständiger Preisände-
rungen an Bedeutung. Diese Preisänderungen, objektiviert als Zahlen auf einem
Tickerband, können an keine außermarktliche Realität rückgebunden werden und
erzeugen deshalb den Eindruck einer medialen Eigenzeitlichkeit des Marktes. Dies
beschreibt der erfolgreiche Spekulant Jesse Livermoore in seiner Biographie:
Those quotations did not represent prices of stocks to me, so many dollars per share.
They were numbers. Of course, they meant something. They were always changing.
It was really all I had to be interested in – the changes. Why did they change? I didn’t
know. I didn’t care.11

Die Herausforderung, die das Tape Reading stellt, besteht in der Verarbeitung die-
ser permanenten Preisänderungen. Hierfür sind Strategien der Synchronisation
mit dem Rhythmus notwendig, den das Tape vorgibt. Die Spekulanten müssen
jeweils über den aktuellen Preis informiert sein.12 Zu vergangenen Preisen, selbst
wenn diese nur wenige Minuten zurückliegen, kann nicht gehandelt werden. Des-
halb vergleicht William Gann das Tickerband mit einem fahrenden Zug:
The stock is not going to move back to a high level just to let you sell out, no more
than the 20th century train will back up to the Grand Central station to let one pas-
senger get on after it is twenty miles out.13

 11 Zit. nach Knight, „Reading the Market“, S. 3. Dies scheint keine bloße Rhetorik zu sein. Zaloom
beobachtet: „[Traders] don’t care about German economic status or European economic status.
What they’re looking at typically are numbers. They’re trading numbers, using numbers to make
decisions all day long. I would say that it’s like a motor racing driver that doesn’t look at the
scenery as he’s doing two hundred miles an hour going down the track. He’s looking at the hazy
outline of the road. He’s looking at the numbers on his dial. That’s it. He’s focused.“ (Zaloom,
„Ambiguous Numbers“, S. 8)
 12 Siehe auch Preda, „Socio-Technical Agency“, S. 768. Crary schreibt hierzu: „One feature of many
contemporary technological arrangements is the imposition of a permanent low-level attentiven-
ess that is maintained to varying degrees throughout large expenses of waking life.“ (Crary, Sus-
pensions of Perception, S. 77)
 13 Siehe Gann, Truth of the Stock Tape, S. 64. Diese Metapher des Zuges ist direkt mit dem Begriff
moderner Aufmerksamkeit verbunden. So beobachtet Nietzsche, dass modernes Wahrnehmungs-

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Wichtig für das Tape Reading ist außerdem, dass die Änderung der Preise kontinu-
ierlich beobachtet wird. Über diese Kontinuität der Beobachtung werden vergan-
gene mit gegenwärtigen Preisen implizit verbunden, was eine Erwartungsbildung
in Hinblick auf die nahe Zukunft ermöglicht:
Thousands of those who operate in the stock markets now recognize the fact that the
market momentarily indicates its own immediate future; that these indications are
accurately recorded on the tape; therefore those who can interpret what is written on
the paper ribbon have a distinct advantage over the general public.14

Richard Wycoff formuliert hier explizit die Vorstellung, dass sich beim synchronen
Lesen des Tickerbandes Erwartungen über den „immediate trend“ direkt über die
Wahrnehmung und zumeist unbewusst einstellen.15 Er vergleicht diesen Prozess
mit dem Straßenverkehr, wo unmittelbar, ohne bewusste Reflexion, entschieden
wird.16 Auch Gann spricht von einer intuitiven Auffassungsgabe, die eine Sensibi-
lität für „the most minute indications“ und „quick and accurate decision“ ermög-
liche.17
Diese implizit hergestellten Verbindungen zwischen unmittelbarer Erinnerung,
erwarteter sowie sich aktualisierender Gegenwart führt die Tape Reader schließlich
zu einer neuen Semantik der Wachsamkeit für Überraschungen und Brüche:
But he must remember that even his most accurate readings will often be nullified by
events which are transpiring every moment of the day […]. The Tape Reader must be
quick to detect such changes, switch his position and go with this newly formed
trend.18

Wachsamkeit bedeutet also einerseits, für Überraschungen präpariert zu sein. An-


dererseits müssen kompetente Spekulanten auch jene Phasen unbeschadet überste-
hen, in denen sich keine Spekulationsgelegenheit bietet, weil kein Trend herrscht
und Preise ‚unentschieden‘ fluktuieren. Tape Reader betonen, dass es in diesen
Phasen darauf ankomme, geduldig zu bleiben und auf die richtige Gelegenheit zu
warten: „You must have patience to wait for the right opportunity to come, and not
be overanxious and get in too soon.“19

(b) Neben Wachsamkeit steht die Fähigkeit zur Konzentration im Zentrum des
Tape Reading. Crary behauptet, dass eine der Implikationen moderner Aufmerk-

vermögen von einem passiven Hinnehmen von Stimulationsflüssen geprägt ist, das sich mit dem
Blick des Reisenden vergleichen lässt, der „Land und Volk von der Eisenbahn aus [kennt]“ (zit.
nach Hagner, „History of Attention“, S. 683 f.).
 14 Wycoff, Studies in Tape Reading, S. 5.
 15 Ebd., S. 52.
 16 Ebd., S. 117, und Gann, Truth of the Stock Tape, S. 2.
 17 Ebd., S. 135.
 18 Wycoff, Studies in Tape Reading, S. 128. „You must learn to go with the tide, and not against it.
Discern the signs of times, and do not get caught in the undertow when the tide is flowing out.“
(Gann, Truth of the Stock Tape, S. 19)
 19 Gann, Truth of the Stock Tape, S. 22.

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samkeitskultur die zunehmende Belastung des Individuums mit Selektionsleistun-


gen sei. In der Tat gehen Psychologen davon aus, dass Kohärenzherstellung eine
Leistung funktionstüchtiger Aufmerksamkeit darstellt, während pathologische Er-
scheinungen wie Dissipation zu Inkohärenzen in Wahrnehmung und Bewusstsein
führen; Aufmerksamkeit heißt heute immer zugleich selektive Aufmerksamkeit.20
Dass der Finanzmarkt ein prominenter Fall dieser modernen Konstellation ist,
zeigt sich an der vor allem in den 1920er Jahren aufkommenden Beschreibung des
Börsengeschehens als Spektakel.21 Diese Beschreibung wird getragen von einer
wechselseitigen Durchdringung kollektiver und medialer Aufmerksamkeiten. Die
Tape Reader nehmen hierzu eine kritische Haltung ein. Sie gehen davon aus, dass
naive Investoren ihr Geld verlieren, weil sie durch die Dynamik des emotional
aufgeladenen Geschehens eingenommen, durch falsche Gerüchte informiert und
von Massenstimmungen beeinflusst sind. Konzentration wird demnach zu einem
wesentlichen Unterscheidungsmerkmal eines kompetenten Spekulanten innerhalb
dieses Spektakels.
Für Tape Reader hat Konzentration deshalb zwei Dimensionen: Oberflächlich
betrachtet geht es darum, dass die menschliche Verarbeitungsfähigkeit begrenzt ist
und dass kompetente Spekulanten dem Überfluss an Informationen, die nun ver-
fügbar sind, mit geübter Selektion begegnen. Die Selektion von Information wird
dabei bestimmt von den jeweiligen Techniken und Strategien, die die Spekulanten
verfolgen: Tape Reader sollen sich beispielsweise auf die Preise selbst konzentrieren
und dann einige Aktien auswählen, deren Preisentwicklung sie genauer verfolgen:
Tape reading requires patience, and the essence and value of it is concentration. There
is no such thing as a man being born with a mind that can concentrate on ten things
at one time, much less 700. Then success depends upon selecting a few stocks and
concentrating upon them.22

Die Unfähigkeit zur Konzentration führt unmittelbar zu Verlusten: „Dissipation…


may render one unfit to carry all the quotations in his head, or to plan and execute
his moves quickly and accurately.“23
Das tieferliegende Problem der Konzentration ist jedoch das Folgende. Wie
können Spekulanten es schaffen, sich nicht von ihrer strengen Technik der Beob-
achtung und Entscheidung durch oftmals unbewusste Kräfte abbringen zu lassen?
So herrschen am Markt sozialpsychologische Einflüsse, die die Entscheidungsstra-
tegien der Spekulanten usurpieren können. Insider versuchen beispielsweise die
Meinungen der Masse zu manipulieren: „A good business man advertises his goods
and that is what the manipulators do. When they wish to distribute stocks and get
them into the hands of the public, they use the newspapers in every way possible to

 20 Hahn, „Aufmerksamkeit und Normalität“.


 21 „Wall Street, which in the past always seemed to wear a lugubrious mien, now seemed sportier, a
recreational arena where one could not only spectate but join the game.“ (Fraser, Wall Street,
S. 350; siehe auch Stäheli, Spektakuläre Spekulation)
 22 Gann, Truth of the Stock Tape, S. 4.
 23 Ebd., S. 155.

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advertise the stock“24. Die größte Gefahr droht in den Maklerbüros, wo sich Spe-
kulanten um den Ticker versammeln. Gann beschreibt diese Büros als prädesti-
nierte Orte der Digression:
If a trader goes into a broker’s office to watch the tape, he will find anywhere from two
or three to a dozen traders standing around the ticker, all talking from time to time
and expressing their opinions or what they hear on different stocks. He must also
listen to the gossip that comes over the news ticker, floating rumors from the street,
and information about buyers and sellers that comes from the floor. With all of these
disturbances, there is not one man in a million that can concentrate enough to tell
anything about what stocks are going to do.25

Das Stimmengewirr der anderen Händler beeinträchtigt nicht allein die kognitiven
Fähigkeiten. Vielmehr suggerieren die kursierenden Gerüchte Einsicht in die Mei-
nungsdynamiken der Masse, deren Kenntnis Gewinnchancen in Aussicht stellt. Es
liegt also eine starke Versuchung darin, den Gerüchten zu folgen, und diese Versu-
chung führt aus Sicht der Tape Reader regelmäßig zu falschen Entscheidungen und
Verlusten: „The tape and boardroom gossip has caused more losses to traders and
investors than most all other reasons combined.“26 Konzentration bedeutet nun
also, diesen inhärenten Marktkräften und -versprechen zu widerstehen und allein
auf Grundlage kontrollierter Beobachtungen der Preise zu handeln. Es geht nicht
darum, notwendigerweise gegen den Trend zu handeln, sondern vielmehr die
Kräfte der Masse in ihrer objektivierten Form, nämlich als Serie von Preisen einzu-
schätzen.27 Dies erfordert ein Setting, in dem die gesamte Aufmerksamkeit dem
Tickerband selbst gewidmet werden kann. Wycoff schreibt deshalb: „A small room
with a ticker, a desk and private telephone connection with his broker’s offices are
all the facilities required.“28

(c) Schaffen es die Spekulanten, sich von den sozialen Einflüssen des Marktes zu
isolieren, so sind sie auf sich selbst und die ihnen zur Verfügung stehenden Appa-
rate und Techniken zurückgeworfen. Die unmittelbaren Vergleichsmöglichkeiten
mit anderen Händlern und der Eindruck eines Spiels mit Gewinnern und Verlie-
rern, die an der Börse und möglicherweise auch im Maklerbüro noch vorherrschen,
fallen weg. Genau diese isolierte Situation des Handelns, in der die Spekulanten
allein mit ihren Apparaten interagieren, ist die ideale Ausgangslage für das Tape
Reading. Dies führt allerdings zu einem weiteren Problem, nämlich der Frage, was
eigentlich das spekulative Selbst in dieser Situation auszeichnet. Hierfür greifen die

 24 Ebd., S. 16.


 25 Ebd., S. 5.
 26 De Villiers/Taylor, The Point and Figure Method, S. 158.
 27 Vgl. auch Stäheli, Spektakuläre Spekulation, S. 231 ff.
 28 Wycoff, Studies in Tape Reading, S. 17. Spätere Tape Reader und vor allem die technischen Ana-
lysten erkennen, dass Wycoffs Vorschlag aufgrund der Kosten der Börsenticker für Privatinvesto-
ren kaum realisierbar ist. Aber auch hier wird kompetente Spekulation als radikale Individuation
definiert. Diese wird erreicht durch die Selektion spezifischer Informationen (Preise, Volumen)
und die Objektivierung von Trends anhand der Visualisierung dieser Informationen als Charts.

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Tape Reader auf Psychologisierungen zurück. Das heißt, sie betrachten die Speku-
lanten als Bündel oftmals widersprüchlicher emotionaler Kräfte. Für das Spekulie-
ren heißt dies, dass in der Situation der Isolation die Spekulanten vor allem mit den
vom Tickerband ausgelösten Emotionen konfrontiert sind. Eine entsprechende
Konfrontation mit diesen Emotionen bildet den Kern der Spekulation: „The stock
market does not beat you. You beat yourself.“29 Allerdings geht es den Tape Rea-
dern nicht um ein grundlegendes Verständnis der psychischen Kräfte, sondern um
deren Kontrolle und Disziplinierung.30 Die Fähigkeit des Führens und Gewinnens
eines Kampfes mit dem ‚schwachen‘ Selbst avanciert zur entscheidenden Eigen-
schaft kompetenter Spekulanten. Die Tape Reader sprechen von „self-mastery“31
und definieren sie wie folgt: „[T]he power to drill [one]self into the right mental
attitude; to stifle [one’s] emotions, such as fear, anxiety, elation, recklessness.“32
Die Idee ist dabei nicht die einer statischen Vorstellung von Selbstbeherrschung,
sondern einer permanenten Regeneration von Fähigkeiten, die auf die Instabilitä-
ten des Marktes zu antworten erlauben. Denn einerseits zwingt das Tickerband die
Spekulanten dazu, mit der Veränderung der Preise Schritt zu halten und flexibel
auf Überraschungen zu reagieren; sie sollen sich also in einem Zustand gesteigerter
und fokussierter Aufmerksamkeit halten. Andererseits besteht die Gefahr, dass man
vom Tickerband selbst in den Bann gezogen wird und in eine Art von ‚Tickerfieber‘
fällt. Entscheidungen würden dann zu stark von emotionalen Reaktionen auf In-
formationssignale gesteuert. Kompetente Spekulation erfordert deshalb selektive,
kontrollierte Bezugnahme auf Informationen sowie Unterdrückung der durch die
Informationen ausgelösten emotionalen Reaktionen. Zusammengefasst sollen sich
Spekulanten also in einer mentalen Verfassung halten, in der sie sowohl flexibel als
auch konsistent handeln, ihre Intuitionen entscheiden lassen und zugleich einen
klaren Kopf bewahren:
I endeavor to perfect myself in clearheadedness, quickness of thought, accuracy of
judgement, promptness in planing and executing my trades, foresight, intuition, cou-
rage and initiative. Masterful control of myself in these respects will produce a win-
ning average.33

 29 Gann, Truth of the Stock Tape, S. 47.


 30 Michael Hagner entdeckt eine ähnliche Semantik der Aufmerksamkeit als Unterdrückung psy-
chischer Impulse bereits um 1800: „In the last decade of the 18th century, attention became more
than a metaphor for enlightened ambitions. For Darwin, Herz and others, it was a technique for
suppressing mental or physical disturbances. At the same time, it was conceived as the basis for
introspection.“ (Hagner, „History of Attention“, S. 678)
 31 Gann, Truth of the Stock Tape, S. 20, 158; siehe auch Stäheli, Spektakuläre Spekulation, S. 245.
 32 Wycoff, Studies in Tape Reading, S. 7.
 33 Gann, Truth of the Stock Tape, S. 158. „Dieses Handlungsmodell lässt sich im Kontext eines zeit-
lich dimensionierten Subjektivierungsprozesses als kulturelle Praxis der Selbstkonstruktion ver-
stehen. Ausgehend von der Instabilität der Aufmerksamkeit dringt sie nicht auf die dauerhafte
Beherrschung der Datenfluten, sondern sucht im strategischen Umgang damit temporäre, mithin
permanent transformierbare Positionen der Ich-Stabilität einzunehmen.“ (Thums, „‚Selbstbe-
herrschung‘“, S. 162)

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Hier appelliert Gann dafür, die Kontrolle über sich selbst als Ursache für erfolgrei-
ches Spekulieren zu sehen. Er imaginiert einen idealen Spekulanten, der weder
überhastet noch zu langsam reagiert, der eigene Erwartungen ausbildet, aber auch
jede Sekunde von ihnen ablassen kann; ich komme am Ende des Essays auf diese
paradoxe Inanspruchnahme von Aufmerksamkeit zurück.

3. Einige Anhaltspunkte für die Bedeutung von


Aufmerksamkeitstechniken für gegenwärtige Spekulationspraktiken
Die Tape Reader-Ratgeber, die im frühen 20. Jahrhundert veröffentlicht wurden,
zeigen die zentrale Bedeutung von Aufmerksamkeitstechniken für das Spekulieren.
Wie gesehen handelt es sich bei den Ratgebern nicht bloß um ein profanes literari-
sches Genre; vielmehr können sie genutzt werden, um Versuche der Stabilisierung
von Praxisformen zu studieren. Nun soll diese These mithilfe der Finanzmarktso-
ziologie weiterverfolgt und die Bedeutung von Techniken der Aufmerksamkeit für
gegenwärtige spekulative Praktiken aufgezeigt werden.
Wir haben es dabei natürlich nicht mehr mit dem Börsenticker zu tun. In der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden an den Telegraphen und das Telefon
gebundene Technologien schrittweise von vernetzten Computern abgelöst. Die
entsprechenden Datenübertragungen wurden seitdem stetig beschleunigt und wer-
den nun im Bereich von Mikrosekunden, also unterhalb der Aufmerksamkeits-
schwelle, gemessen. Gleichzeitig bedeutet der Wechsel hin zu Computertechnolo-
gien einen Sprung im Volumen der übertragbaren Daten, ihrer Verarbeitungs- und
Darstellungsmöglichkeiten. So ist einer der im frühen 20. Jahrhundert noch schwer
vorstellbaren Effekte dieses technologischen und institutionellen Wandels, dass
heutzutage an vielen Börsen über die Hälfte der Transaktionen nicht mehr von
Menschen, sondern von Algorithmen initiiert und ausgeführt werden.34 Allerdings
besteht neben und oftmals in Überlappung mit diesem algo bzw. high frequency
trading eine Praxis der Spekulation fort, die in gewisser Kontinuität mit dem oben
beschriebenen Tape Reading des frühen 20. Jahrhunderts steht: Händler beobach-
ten Preise sowie weitere Informationen (Wirtschaftsdaten, politische Neuigkeiten)
und entscheiden aufgrund dieser Beobachtungen mithilfe eines Mausklicks über
die Durchführung von Transaktionen.35 Ich werde mich hier auf diese Praxis kon-
zentrieren, deren fortdauernde Relevanz oftmals mit der hochgradig entwickelten
intuitiven Beobachtungs- und Einschätzungsfähigkeit professioneller Händler be-
gründet wird.36

 34 MacKenzie, „Mechanizing the Merc“, und Ders. et al., „Drilling“.


 35 Vgl. zu entsprechenden Erhebungen etwa die zitierten Arbeiten von Zaloom sowie Knorr Cetina/
Bruegger.
 36 Siehe Lo/Hasanhodzic, Evolution of Technical Analysis, S. 129.

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Abb. 2: Vier Bildschirme eines Währungsanalysten.

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Diese Variante der Spekulation hat sich vor allem als eine an Bildschirme gebun-
dene Praxis, also als visuelle Beobachtung, entwickelt: Die Bildschirme von Reuters
Monitor Anfang der 1970er Jahre waren noch auf die gleichzeitige Anzeige von 170
Wörtern reduziert, doch Folgetechnologien haben die Möglichkeiten exponentiell
gesteigert: Eikon, eine jüngere Finanztechnologie der Firma Reuters, oder das Kon-
kurrenzprodukt Bloomberg Terminal verfügen über sich selbst aktualisierende
Charts, farbliche Darstelllungen und audio-visuelle Daten (Videos, Bilder etc.;
siehe Abb. 2).37 Die aus mehreren Monitoren bestehenden Bildschirmoberflächen
lassen sich in Hinblick auf multiple Informationskomponenten und Darstellungs-
optionen arrangieren. Diese interaktiven Möglichkeiten der Technologie implizieren
auch, dass auf den Bildschirmen nicht nur übertragene Informationen dargestellt,
sondern diese unter Einsatz von Algorithmen aufbereitet werden können.38 Inge
Hinterwaldner spricht in diesem Zusammenhang von der „Versinnlichung“ einer
hohen Anzahl schriftlicher und numerischer Informationen und ihrer wechselseiti-
gen Bezüge.39 Hier scheint sich Crarys für das 19. Jahrhundert beobachtete Phäno-
men einer „indistinction between information and visual images“ auf eine Unun-
terscheidbarkeit zwischen kognitiven Vorgängen und ihren visuellen Darstellungen
auszuweiten.40
Wie die folgenden Befunde zeigen, bleibt jedoch trotz der Möglichkeiten zur
Manipulation und Einstellung der Bildschirme das Problem der Aufmerksamkeit
bestehen, nämlich die Frage nach der mehr oder weniger kontrollierten Bezug-
nahme auf die dargestellten Informationen und Berechnungen. So gilt als Kern-
kompetenz für das Spekulieren am Bildschirm, dass Händler Preise zusammen mit
anderen Informationen und Indikatoren synchron beobachten können. Mitchell
Abolafia spricht in seiner Studie Making Markets etwa von „vigilance“ als essenziel-
ler Fähigkeit von Händlern, in einem permanenten Überfluss von Informationen
die Orientierung zu behalten.41 Ähnlich wie Wycoff dies zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts beschrieben hat, basiert dieses synchrone visuelle Beobachten auf größ-
tenteils unbewusst gesteuerten Handlungen und Entscheidungen.42 Wie ein Wäh-
rungsanalyst berichtet:

 37 Siehe zur Geschichte der Reuters-Technologie Read, Power of News.


 38 Pryke, „Money’s Eyes“.
 39 Siehe Hinterwaldner, Das systemische Bild, S. 113. Ein Designer einer eigens für die Londoner
Börse entwickelten Visualisierung beschreibt die Funktion des Einsatzes von Farben wie folgt: „If
you kept seeing flashes, red or blue, you knew that the thing was damn active, and the more you
saw changing, the more active it was. So if you saw the whole wretched hundred in changing co-
lour you knew that there was mayhem, absolutely chaos. The other thing you could see by eye was
that if you saw nearly everything red, you knew the floor was bombing out. If you saw everything
blue, you knew it was all going up. But mostly you would see, say, three quarters blue and a quar-
ter red, or something like that, so you got this feeling of what it was like.“ (Zit. nach Pardo-
Guerra, „Creating Flows of Interpersonal Bits“, S. 101)
 40 Wycoff beobachtete: „The tape furnishes a continuous series of motion pictures, with their res-
pective explanations written between the printings. These are in a language which is foreign to all
but Tape Readers.“ (Wycoff, Studies in Tape Reading, S. 82)
 41 Abolafia, Making Markets, S. 23.
 42 Knorr Cetina, „Synthetic Situation“, S. 76.

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Also, man schaut immer so mit einem Auge hin und nimmt das gar nicht mehr rich-
tig bewusst war, aber wenn was Wichtiges erscheint, dann schaut man doch mal eher
hin […]. Also, durchschnittlich würde ich sagen, [bekomme ich] dreißig bis vierzig
[Nachrichten pro Minute], aber sehr unterschiedlich, manchmal passiert viel und
manchmal wenig. Und wenn viel passiert, wenn es schnell läuft, dann sieht man ja
schon, da ist irgendwas los, und ich muss da hinschauen. 43

Wichtig ist, dass die Händler nicht einfach den auf dem Bildschirm sichtbar wer-
denden Informationen passiv folgen. Vielmehr versuchen sie durch Manipulation
ihrer Aufmerksamkeit aus einem Überfluss inkohärenter Informationen und
Marktindikatoren eine kohärente Sichtweise zu gewinnen. Dies muss erlernt wer-
den: Ich selbst wurde Zeuge davon, wie eine unerfahrene Kollegin eine erfahrene
Händlerin und Analystin im Handelssaal einer Bank fragte, wie man wichtige In-
formationen von unwichtigen unterscheiden könne; die Händlerin antwortete,
dass dies nur durch jahrelange Erlernung und Übung der Beobachtung des Mark-
tes auf den Bildschirmen möglich sei. In einer anderen Studie wird ein Händler mit
folgender Aussage zitiert:
„I can rely on my own experience… If I sit here for 12 hours a day, and every second
of those 12 hours I’m bombarded with information, you know, somewhere inside my
brain it’s got to fall into the important or not important column. You know. And the
vast majority of them go into the never mind, never mind, never mind, never mind
– and then all of a sudden one of them goes: Oh oh! Pay attention! This means
something!“44

Ein wesentliches Kompetenzmerkmal besteht also in der Fähigkeit zur Konzentra-


tion und Fokussierung. Caitlin Zaloom beobachtet, dass Händler, sobald sie auf
den Handelsflur kommen, sämtliche ‚außermarktlichen‘ Relevanzen ausblenden
und sich in eine Praxis vertiefen, die sie als „unobstructed observation“ bezeich-
net.45 Weder private Erlebnisse, noch der Lärmpegel im Handelssaal sollen die
Beobachtung der Informationen und die Entscheidungsfindung beeinflussen.
Wichtig ist ein weiterer Aspekt der Konzentration, der sich auf die oben disku-
tierte Emotionskontrolle bezieht: Der Markt wird als eine Quelle von Gelegenhei-
ten verstanden, die sich nicht wesentlich von einem Zufallsgenerator unterschei-
det. Der Kern erfolgreicher Spekulation, so sehen es professionelle Marktteilnehmer,
ist deshalb die Kontrolle der durch Verluste oder Gewinne ausgelösten Emotionen.
Diese dürfen nicht Anlass zur Selbstüberschätzung geben und/oder zukünftige
Handelsentscheidungen beeinflussen. Ein Händler sagt:

 43 Aus eigenen Erhebungen. Auch Crary meint, dass eine solch dauerhafte Beobachtung von Echt-
zeit-Daten eine spezifische Aufmerksamkeitskultur etabliere, die die Unterscheidung zwischen
bewusster, willkürlicher und unbewusster Aufmerksamkeit unterlaufe: „In these technological
environments, it’s questionable whether it is even meaningful to distinguish between conscious
attention to one’s action and mechanical autoregulated patterns.“ (Crary, Suspensions of Percep-
tion, S. 78)
 44 Zit. nach Bruegger, Wie handeln Devisenhändler?, S. 108.
 45 Zaloom, Out of the Pits, S. 128.

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„You learn to deal with emotions […]. You have seen the ups and downs more. You
have experienced them: and in a way you are probably more prepared for it and you
are aware that every now and then it will happen…“46

Solche Reflexionen verweisen nach meiner Lesart primär auf Versuche der Akteure,
Spekulationspraktiken in einem sich ständig ändernden Markt zu stabilisieren; sie
gewinnen allerdings in jüngerer Zeit zusätzliche wissenschaftliche Plausibilität
durch die behavioral finance, d. h. durch die auf psychologische Mechanismen fo-
kussierende Untersuchung von Investorenverhalten. In einer normativen Wendung
dieser Forschung besteht kompetente Spekulation dann genau in der Aushebelung
entsprechender Mechanismen.

4. Unmögliche Aufmerksamkeit

Beide Gruppen der hier zitierten Befunde – die Investment-Ratgeberliteratur des


frühen 20. Jahrhunderts sowie die Evidenzen aus soziologischen Untersuchungen
professioneller Finanzmarktspekulation – zeigen, dass im Zentrum der Bemühun-
gen um die Stabilisierung von Spekulationspraktiken Aufmerksamkeitstechniken
stehen. Diese sollen die Fähigkeiten zur Beobachtung von Informationen steigern,
zugleich deren Selektion steuerbar machen und die Emotionen von Gier, Selbst-
überschätzung und Angst, die sich im Spekulieren abwechseln, zu beherrschen er-
lauben.
Im Zusammenbringen der unterschiedlichen Quellen wurden viele notwendige
Differenzierungen ausgeklammert: So besteht ein wesentlicher Unterschied zwi-
schen professionellen und nichtprofessionellen Spekulanten in Hinblick auf die
Ressourcen, die diese Gruppen zur Beeinflussung ihrer Aufmerksamkeit für den
Markt zur Verfügung haben. Professionelle Händler können nicht nur ihre gesamte
Arbeitszeit dem Markt widmen. Auf den Handelsfluren der Banken sind sie auch
eingebettet in soziale und technologische Umwelten, die sich am Markt ausrichten
sowie Lernkontexte und tägliche Rituale zur Konditionierung von Aufmerksam-
keit bereitstellen. Auch wurde hier ausgeklammert, dass sich das Problem der Auf-
merksamkeit nochmals entscheidend reformuliert, wenn Händler nicht allein mit
anderen Händlern, sondern auch mit Algorithmen um Gewinnchancen im Markt
konkurrieren.
Nun stellt sich (in Einklammerung einiger Differenzierungen) die Frage, wie
sich die Befunde in eine breiter angelegte Untersuchung von Aufmerksamkeitskul-
turen einbetten lassen. Crary hat durch seine eigenen Verweise auf den Börsenti-
cker hierfür bereits Hinweise gegeben: Die oben besprochenen Aufmerksamkeits-
semantiken und -techniken stehen im Kontext eines elektronischen Zeitalters, in
dem wir ständig über elektronische Medien vermittelten ,Informationsschocks‘
ausgeliefert sind. Die selektive Bezugnahme auf und gleichzeitige Abwehr von die-

 46 Zit. in: Fenton-O’Creevy et al, „Thinking, Feeling and Deciding“, S. 1051.

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Korrekturschleifen der Selbstkontrolle 185

sen Schocks formuliert das Ausgangsproblem für die Entwicklung neuer Aufmerk-
samkeitstechniken und verursacht das Auftreten neuer Aufmerksamkeitspatholo-
gien. Die Börse, ähnlich wie Benjamins Großstadt, sind genau jene Räume, in
denen entsprechende Probleme besonders sichtbar auftreten und bilden prädesti-
nierte Experimentierfelder für neue Techniken und Subjektivierungsformen.
Dabei zeigt sich am Beispiel des Finanzmarkts besonders deutlich, dass die neue
Kultur der Aufmerksamkeit aus dem Scheitern derjenigen anthropologisch fun-
dierten Aufmerksamkeitsstrategien erwächst, die Aleida Assmann mit dem Be-
griffsdualismus der strategischen und transzendierenden Aufmerksamkeit im Blick
hat.47 Selbstverständlich ist strategische Aufmerksamkeit nach wie vor zentral: Spe-
kulanten müssen lernen, ihre implizite Orientierungsfähigkeit so zu trainieren,
dass sie sich in einer Welt von Informationsüberflüssen zurechtfinden können.
Dies scheint augenscheinlich der von Assmann erwähnten Vigilanz zu entsprechen.
Das Problem der Aufmerksamkeit besteht jedoch nicht in der Entwicklung dieser
Orientierungsfähigkeit, sondern in der notwendigen Suspendierung und stetigen
Erneuerung unserer Orientierungsmuster in sich ändernden Marktlagen. Auch
werden im Marktkontext unsere Aufmerksamkeitsstrategien aus der sozialen Um-
welt prekär. Beziehungsnetzwerke, die Sichtbarkeiten verteilen und Aufmerksam-
keitshierarchien erzeugen, existieren zwar weiterhin (etwa unter professionellen
Händlern in bestimmten Marktsegmenten). Doch wie Untersuchungen gezeigt
haben, dienen diese Beziehungsnetzwerke nicht als Orientierungsrahmen für das
eigene Handeln und Erleben. Vielmehr stellen sie eine Art support-Struktur bereit,
um Erwartungen an einen weiterhin opaken Markt heranzutragen bzw. um Ent-
scheidungsunsicherheiten zu überspielen.48 Die Problematisierung von relationa-
len Orientierungsmustern im Sozialen ist schon in dem Konzept der Masse ange-
legt, das eng mit der modernen Börse in Zusammenhang steht.49 Auch eignet sich
der Markt selbst kaum als „postsoziales“ Gegenüber, wie Karin Knorr Cetina und
Urs Bruegger vermuten, weil die nahezu zufälligen Preisänderungen und Verteilun-
gen von Gewinn und Verlust verlangen, dass Händler in jeder Sekunde die sich
bildenden Verbindungen zwischen dem Markt und ihrem Selbst wieder unterbre-
chen.50
So wie es die Ratgeberschreiber und Händler ausdrücken, verlangt der Markt
eher nach einer Bezugnahme, die die Transzendierung sämtlicher Erwartungen,
Wünsche und Hoffnungen beinhaltet. Allerdings ist dies eine Form der Transzen-
denz, die, anders als die Kunst, kein Versprechen nach gesteigerter Einsicht in die
Sache und nach Erfüllung enthält: Vielmehr geht es um die Entwicklung einer
Haltung der Indifferenz gegenüber den eigenen sich ändernden Emotionen, die
durch die ständig mitlaufenden Schleifen der Selbstkontrolle erreicht werden soll.
Diese Suspendierung der das Selbst bestimmenden Emotionen – seine konstante

 47 Assmann, „Einleitung“, S. 21.


 48 Siehe zu den fatalen Folgen dieser Strategie MacKenzie, „How a superportfolio emerges“.
 49 Arnoldi/ Borch, „Market Crowds“.
 50 Siehe Knorr Cetina/Bruegger, „Traders’ Engagement“.

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Entleerung – bildet das notwendige Korrelat gegenüber der Zufälligkeit und Sinn-
losigkeit, mit der uns der Markt konfrontiert.

Abbildungen
Abb. 1: Serie von Kotierungen von US Steal (US) und Pennsylvania Railroads. Quelle:
Wycoff, Richard D., Studies in Tape Reading, New York 1910, S. 94.
Abb. 2: Vier Bildschirme eines Währungsanalysten. Quelle: Eigene Forschung.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung

Die Dominanz der Zeitform ‚Gegenwart‘ in der


Ratgeberliteratur der 1970er und 1980er Jahre

Altersversorgung und Pensionssysteme sind heutzutage für uns alle eine Selbstver-
ständlichkeit. Außerdem kennen wir Krankenkassen, Arbeitslosenversicherungen,
Werksverpflegung etc. Daneben werden von unserer Regierung Milliarden Dollar
über die ganze Welt gestreut – sie gehen an Freunde und sogenannte Gegner; den-
noch ist überall ein tiefes Gefühl der Unsicherheit, Besorgnis und Furcht zu verspü-
ren. In Hollywood und auch sonst überall sehen wir uns einem pornographischen
Pfuhl der Verdorbenheit und des moralischen Verfalls gegenüber. […] Viele Men-
schen haben Angst, des Nachts die Straße zu betreten. Ja, allenthalben herrscht ein
tiefes Gefühl der Unsicherheit. […] Herzleiden, Krebs und Alkoholismus fordern
ihren Tribut. Einige sagen, die Welt ginge vor die Hunde.1

Mit dieser kulturkritischen Zeitdiagnose brachte der amerikanische Psychologe


und Ratgeberautor Joseph Murphy (1898–1981) ein in den 1970er Jahren an-
wachsendes Unbehagen an der eigenen Gegenwart zum Ausdruck. „Täglich“, so
beklagte Murphy, der zu diesem Zeitpunkt längst zum „millionenschweren Guru
einer spirituellen Weltgemeinde“ aufgestiegen war,2 „lesen wir von Kriegen, Unru-
hen, Aufruhr, Bombenattacken, Entführungen etc.“3 Die beklommenen Fragen:
„Was kann ich dagegen tun? Wie kann ich meinen inneren Frieden erhalten, mein
Gefühl der Sicherheit in dieser sich verändernden Welt?“ drängten sich vielen
Menschen auf und seien ein Anzeichen dafür, dass eine „negative Mentalatmo-
sphäre“ immer weiter um sich greife und „Krankheit, Leiden, Kriege, Unglück,
Verbrechen, Armut, Unfälle, Mißgeschicke und Katastrophen aller Art“ verursa-
che.4 Die Erschütterungen der Gegenwart stellten sich Murphy als derart stark
dar, dass sich auch die Zukunft nicht mehr als kontinuierliche Fortschrittserzäh-
lung prognostizieren ließ; stattdessen beschwor er Szenarien apokalyptischen Un-
tergangs und allgemeinen Verfalls.
Den vielfältigen Bedrohungen setzten Murphy und zahlreiche andere Ratgeber-
autoren der 1970er und 1980er Jahre ein pragmatisches Programm der Selbsthilfe
entgegen, das ihrem Lesepublikum die Wiedererlangung von Lebensfreude, Har-
monie und Glück in Aussicht stellte. Den diagnostizierten strukturellen Problem-

  1 Murphy, Ihr Weg zu innerer Sicherheit, S. 195.


  2 Siehe hierzu den Artikel „Anstiftung zum Optimismus“, in: Der Spiegel 19 (1997), S. 206 f.
  3 Murphy, Ihr Weg zu innerer Sicherheit, S. 196.
  4 Vgl. diese Passagen in: Murphy, Ihr Weg zu innerer Sicherheit, S. 196-198.

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lagen begegneten Ratgeber folglich mit Rezepten subjektiver Selbstregulierung.


Die in auflagenstarken Publikationen offerierten Unterweisungen versprachen,
„alle Schwierigkeiten […] lösen“ und den „gerade[n] Weg zu Freiheit, Glück und
Seelenfrieden“ finden zu können, indem die Leserinnen und Leser die „Herrschaft“
erlangten über ihre Ängste und Befürchtungen.5 Ziel der Ratgeberliteratur war es,
„zielgerichtet“ auf den eigenen Körper, auf Gedanken und Gefühle, mithin auf den
je eigenen Nahbereich einwirken zu können.6 Angesichts einer weit verbreiteten
Angst, dass die Menschheit auf eine „alles und alle“ umfassende „Krise neuer und
besonderer Art“ zusteuere7, stellte das Ratgeberwissen auf die Stabilisierung der je
individuellen Umwelt ab.
Dass das Versprechen einer Immunisierung gegen die Zumutungen einer sich
rapide und mit negativen Vorzeichen verändernden Lebenswelt gerade innerhalb
jener Gesellschaften ein außerordentliches Echo fand, die sich der westlichen Mo-
derne und ihren Imperativen individueller Leistung und Autonomie verschrieben
hatten, zeigt der Erfolg der Self-help-Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren.8
Angesichts einer Erschütterung stabiler Fortschrittsversprechen und Zukunftser-
wartungen erfuhr der gedruckte Ratgeber eine enorme Konjunktur und avancierte
mit seiner Fokussierung auf kleinschrittige, unmittelbar auf die Zeitform der Ge-
genwart bezogene Zeithorizonte zu einem Leitmedium der Beratungs- und Thera-
piegesellschaft.9 Die Vielzahl von als bedrohlich und verunsichernd wahrgenomme-
nen Krisenphänomenen erforderte ein Subjekt, das fähig war, diesen Anforderungen
so flexibel wie virtuos zu begegnen. Ensembles von „Menschenregierungskünsten“
und Selbsttechnologien bildeten sich heraus,10 die dem Subjekt in dieser Phase der

  5 Joseph Murphys Titel Die Macht Ihres Unterbewußtseins (1962) etwa lag 1988 im deutschsprachi-
gen Raum schon in 40. Auflage vor, der 1981 erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlichte
Ratgeber Die unendliche Quelle Ihrer Kraft erlebte 1987 bereits seine 10. Auflage. Siehe hierzu:
Murphy, Die Macht Ihres Unterbewusstseins, S. 14 sowie Die unendliche Quelle Ihrer Kraft. Vgl.
außerdem: http://www.zeitzuleben.de/1931-joseph-murphy-die-macht-ihres-unterbewusstseins/,
zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
  6 Siehe zur Funktion des Ratgebers und seinem Ensemble an Selbsttechniken exemplarisch Dutt-
weiler, „Vom Treppensteigen“, S. 251.
  7 Vgl. zum Krisenbewusstsein in den 1970er Jahren exemplarisch Maier, „Fortschrittsoptimismus
oder Kulturpessimismus“, S. 4. Obgleich diese Passage das Lebensgefühl in der Bundesrepublik
beschreibt, waren vergleichbare Stimmungen und Ängste auch in den USA weit verbreitet. Siehe
hierzu beispielsweise Ehrenreich, Fear of Falling.
  8 Vgl. dazu ausführlich Moskowitz, In Therapy We Trust, bes. S. 218-244, sowie die Beiträge in:
Maasen et al., Hg., Das beratene Selbst.
  9 Insbesondere soziologische Studien haben den Beratungsboom seit den 1970er Jahren eingehend
analysiert und den Fokus ihrer Analyse hierbei auf Prozesse und Techniken der Selbststeuerung
gelegt. Ausgehend von gouvernementalitätstheoretischen Anregungen haben sie untersucht, in
welcher Weise Offerten der Selbstverwirklichung und des Autonomiegewinns, die die Therapie-
gesellschaft anfangs in Aussicht stellte, unter den Vorzeichen eines neoliberalen Gebots der Effizi-
enzsteigerung immer mehr umschlugen in den Zwang zur Selbstoptimierung. Beratung und The-
rapie lassen sich demnach als Ausweis einer „gesellschaftliche[n] Kontroll- bzw. Ordnungsmacht“
deuten. Siehe Hellerich, Homo therapeuticus, S. 15. Vgl. zudem Maasen, „Das beratene Selbst“;
Duttweiler, Sein Glück machen; Traue, Das Subjekt der Beratung.
 10 Foucault, Was ist Kritik?, S. 10. Vgl. auch Maasen, „Das beratene Selbst“, S. 25.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 191

„neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) Orientierung und Halt bieten


sollten. Als Medien der Subjektivierung sind Ratgeber somit mit einem historischen
Index versehen, denn sie entfalten sich – wie nachfolgend am Beispiel exemplari-
scher Glücksratgeber der 1970er und 1980er Jahre gezeigt werden soll – in den
„historisch je spezifischen Weisen des Selbstbezugs“.11
Als Gegenstand der Ratgeberliteratur eignet sich Glück aufgrund seiner Univer-
salität und bedeutungsoffenen Vagheit ganz besonders:12 Es beruht auf einer Öko-
nomie des Wünschens und Versprechens und setzt eine temporale Spirale in Gang,
die fortwährend zwischen Verheißung und Enttäuschung changiert, gerade deshalb
aber nach einer systematisierenden Ordnung des Glückswissens verlangt. Charak-
teristische Modi des durch Ratgeber vermittelten Glückswissens sollen nachfol-
gend vorgestellt und vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Krisenstimmung
der 1970er und 1980er Jahre diskutiert werden. Dabei werden der deutschspra-
chige und der US-amerikanische Kontext in den Blick genommen: Zum einen
wurden hier ähnliche Krisenmomente akut (siehe Abschnitt 1); zum anderen lassen
sich anhand einer Analyse des Ratgeberwissens transatlantische Wissenstransfers
sowie Konstellationen des Austauschs und der wechselseitigen Rezeption eines zeit-
spezifischen Glückswissens untersuchen.
Zeitgenössische soziologische und historische Analysen wiesen bereits pointiert
darauf hin, dass in dieser Phase ein „pessimistische[r] Blick auf die Zukunft“ die
„subjektive wie die kollektive Wahrnehmung zumindest in der westlichen Welt“
bestimmte.13 Ein Bündel soziopolitischer Krisen – von der zunehmenden Umwelt-
verschmutzung über die wachsende Bedrohung sozialen Abstiegs aufgrund steigen-
der Arbeitslosenzahlen und einer sich rapide verändernden Arbeitswelt bis hin zur
Gefahr eines atomaren Krieges – korrespondierte mit einer „Krise der Zeitpers-
pektiven“.14 Entlastung verheißende Zukunftserwartungen schienen sich angesichts
dieser Vielzahl „unvorhergesehener und nicht praktikabler Probleme“ zu zerschla-
gen.15 Brüchig wurde vor allem ein dem sozialen Handeln Sinn und Orientierung
verleihendes Alltagswissen.16 Ein Krisenbewusstsein entwickelte sich, das sich als
Substrat einer „gedehnte[n] Gegenwart“ erwies, der „jeder Horizont fehlt“.17 Krisen
– so formulierte der Soziologie Sighard Neckel 1988 programmatisch – „fixieren das
Individuum zwanghaft und alternativlos auf das gegenwärtig sich Ereignende und
selektieren die Möglichkeiten auf Zukunft gerichteter Handlungen erheblich.“18
Bereits 1976 hatte der amerikanische Historiker Christopher Lasch den Rückzug in
einen privaten, gegenwartsbezogenen Nahbereich als eines der Leitthemen des Jahr-

 11 Siehe hierzu Duttweiler, „Glück durch dich Selbst“, S. 45.


 12 Vergleiche grundlegend zum Genre der Glücksratgeber, ihrer diskursiven Ordnung und ihrer
epistemischen Logik Duttweiler, Sein Glück machen, bes. S. 77 ff.
 13 Vgl. ausführlich Neckel, „Entzauberung der Zukunft“, S. 466.
 14 Neckel, „Entzauberung der Zukunft“, S. 466.
 15 Ebd.
 16 Ebd.
 17 Ebd., S. 467.
 18 Ebd.

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192 Stephanie Kleiner

zehnts konstatiert, eine Entwicklung, die er darauf zurückführte, dass zahlreiche


Amerikaner das Vertrauen in die Gestaltungsmacht der politischen Institutionen
verloren und sich angesichts eines „growing despair of changing society“ einem
„cult of expanded consciousness, health, and personal ‚growth‘“ verschrieben hät-
ten.19
Techniken der Selbstaufmerksamkeit waren konstitutiver Bestandteil einer An-
thropologie des Ratgebens, die sich die Ergebnisse einer „anwendungszentrierte[n]
psychologische[n] Forschung“ zunutze machte und die Formbarkeit wie die „indi-
viduellen Selbststeuerungskräfte“ des Individuums in den Vordergrund rückte.20
Hierbei scheint ein schillerndes Aufmerksamkeitskonzept auf, das verschiedenar-
tige Facetten umfasste: Einerseits entstanden Aufmerksamkeitstechniken, die auf
Praktiken der suggestiven Selbstaffizierung aufruhten und Strategien der beständi-
gen Wiederholung und Vertiefung beinhalteten, deliberativ fundierte Willensakte
dabei aber ausblendeten. Andererseits machen die untersuchten Ratgeber Auf-
merksamkeit jedoch als einen situativ jeweils strategisch einzusetzenden, volunta-
ristischen Willensakt eines autonomen, sich selbst transparenten Subjekts aus und
erheben sie zum Ausgangspunkt einer glücksversprechenden Subjektivierungspra-
xis. Um die Bandbreite des Genres der Glücksratgeber sowie die Vielfalt seiner
Wissensordnungen und Subjektivierungsweisen darzulegen, soll in einem zweiten
Abschnitt daher eine Typologie entwickelt werden, die verschiedenartige Glücks-
programme auffächert. Hierbei kann an konzeptionelle und empirische Befunde
der Ratgeberforschung angeknüpft werden, die sich seit einiger Zeit um eine syste-
matische Historisierung und Kontextualisierung dieses Genres bemüht.21
Vorgestellt wird dabei zunächst eine Gruppe von Texten, die ein durch Techni-
ken der Selbstimmunisierung vermitteltes Glück offerieren. Diese rückten den
Glauben an die Wirkmacht positiver Imaginationen und autosuggestiver Techni-
ken, die ein Heilungsgeschehen initiieren sollen, in den Mittelpunkt (Abschnitt
2.1). Sodann wird es um ein durch (psycho-)kybernetische Selbststeuerung indu-
ziertes Glück gehen. Die eigene Biographie wird in den hierbei untersuchten Tex-
ten zum Testlabor wissenschaftlicher Methoden der Selbstführung und zum Effekt
erfolgreicher Selbstprogrammierung (Abschnitt 2.2).22 Glück im Sinne eines ent-
schlossen-disziplinierten Trainings propagiert eine dritte Gruppe von Texten: Den
Fokus setzen sie auf Leistung, Disziplin und Willensstärke, die Ingredienzen eines

 19 Lasch, „The Narcissist Society“.


 20 Siehe hierzu Hörl/Hagner, „Überlegungen zur kybernetischen Transformation des Humanen“,
S. 32.
 21 Mit dem Versuch einer Typologisierung des Ratgeberwissens in den 1970er und 1980er Jahren
folgt der Beitrag insbesondere den Anregungen der Soziologin Stefanie Duttweiler, die in ein-
schlägigen Publikationen Vorschläge zur Periodisierung sowie zur klassifikatorischen Einordnung
exemplarischer Glücksratgeber vorgelegt hat. Siehe hierzu ausführlich Duttweiler, Sein Glück ma-
chen; Dies., „Beratung“; Dies., „Glück durch dich Selbst“.
 22 Vgl. zur Konjunktur kybernetischen Wissens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die
1970er Jahre hinein ausführlich Hörl/Hagner, „Überlegungen zur kybernetischen Transforma-
tion des Humanen“, S. 19.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 193

Glückskalküls bezeichnen, das auf Formaten kontinuierlicher Selbstoptimierung


aufruht (Abschnitt 2.3).
Allen drei Varianten ist gemeinsam, dass sie – in mehr oder minder direkter
Form – auf dem bereits um 1900 entwickelten Methodenspektrum der Autosug-
gestion und des Positiven Denkens aufruhen; so beriefen sich einige Autoren bei-
spielsweise immer wieder explizit auf die autosuggestiven Techniken des französi-
schen Apothekers Émile Coué (1857–1926), der die Methode der autosuggestiven
Therapie begründet hatte und mit dem rasch zur „Modewelle“ avancierten Thera-
pieprogramm des Couéismus zu einer charismatischen „Persönlichkeit des öffentli-
chen Interesses“ aufgestiegen war.23 Dem Couéismus entliehene Praktiken der
Selbstbemeisterung – etwa das Repetieren verbalsuggestiver Sentenzen – fanden
Eingang in die Selbsthilfekultur der 1970er und 1980er Jahre, wie nachfolgend dar-
zulegen sein wird. Etabliertes Ratgeberwissen wurde dabei allerdings nicht nur recy-
celt, sondern bewusst modifiziert und an zeitgenössische Problemlagen angepasst.
Trotz einiger Ähnlichkeiten setzen die hier verhandelten Glücksrezepte jeweils ei-
genwillige Akzente, so dass merkliche Unterschiede in Bezug auf die zu vermitteln-
den Wissensformen und Selbsttechniken herausgearbeitet werden können.
Während die ersten drei Varianten ihre Leserinnen und Leser aktiv in den „Dis-
kurs der Selbstverbesserung“ einbinden24 und Glück als Resultat konsequenter
Selbsterziehung auffassen, etabliert sich mit dem Genre der sogenannten Antirat-
geber ein hiervon stark abweichendes Glücksprogramm. Seit den späten 1960er
Jahren differenzierte sich die Ratgeberliteratur so sehr aus, dass das Genre seine
eigene parodistische Demontage zu betreiben begann.25 Obwohl der Antiratgeber
als eigenständige Textsorte in den 1970er und 1980er Jahren sowohl im deutsch-
als auch im englischsprachigen Raum eine außerordentliche Konjunktur erlebte,
hat er erst in jüngster Zeit das Interesse einer kulturwissenschaftlich inspirierten
Literaturwissenschaft gefunden.26 Im Schlussabschnitt soll eine Lesart des Genres
vorgeschlagen werden, die auf dessen eigenwilliger temporaler Logik basiert. Wäh-
rend klassische Ratgeber die Gegenwart zum Ausgangspunkt einer dynamischen
Selbstverbesserung erheben und Mikro-Geschichten individuellen Fortschritts
skizzieren – „Lesen Sie das erste Kapitel vor dem Mittagessen – und schon vor dem
Abendessen wird sich die erste Verbesserung Ihres Lebens eingestellt haben“27 –
warten Antiratgeber mit einem ironisch-melancholischen Blick auf die Gegenwart
auf, der diese Logik autonomer Selbsttransformation konterkariert. Antiratgeber
rechnen mit einer ‚langen‘, durch Unübersichtlichkeit und Komplexität gekenn-

 23 Siehe hierzu ausführlich Mayer/Notter, „Émile Coué und sein Heilsystem“, S. 30. Vgl. zur Früh-
phase der Institutionalisierung des Ratgebergenres auch Kleiner/Suter, „Konzepte von Glück und
Erfolg“.
 24 Duttweiler, „Glück durch dich Selbst“.
 25 Siehe als exemplarische Beispiele für das Genre der Antiratgeber Greenburg, How to make Yourself
miserable; Cremer, Dein Leben & die Erdnuß; Percy, Lost in the Cosmos; Rutschky, Was man zum
Leben wissen muß; Watzlawick, The Situation is hopeless, but not serious.
 26 Niehaus/Peeters, „Zum diskursiven Ort von Anti-Ratgebern“.
 27 Petrie/Stone, Geistige Isometrik, S. 5.

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zeichneten Gegenwart und konfrontieren ihr Lesepublikum dadurch mit einem


„Panorama der Desorientierung“ (Abschnitt 2.4).28
Mit diesen vier Varianten von Glücksratgebern soll ein Tableau zeitspezifischen
Glückswissens entworfen werden. Die vielfach diagnostizierte „Entzauberung der
Zukunft“ verlieh den Ratgebern der 1970er und 1980er Jahre einen pragmatischen
Zug subjektiver Selbstanleitung, der im Antiratgeber ironisch-parodistisch gebro-
chen wurde.29 Changierend zwischen einem Zeitstil, der auf Zukunft hin ausge-
richtet ist und die Gegenwart dadurch zum Einsatzpunkt ungeahnter individueller
„Zu- und Eingriffsmöglichkeiten“ der „(Selbst-)Transformation“ erhebt,30 und
einer Zeitordnung, die mit der steten Wiederkehr der Vergangenheit in einer ‚lan-
gen‘ Gegenwart rechnet und in ironischer Manier gerade die Potentialität zukünf-
tiger Glückshoffnungen hinterfragt, markiert diese Zeit sowohl eine Hochphase
des Ratgebergenres wie seine Krise.

1. Zeitdiagnosen der Krise: Zum historischen Kontext


der 1970er und 1980er Jahre
Die eingangs zitierte Klage Joseph Murphys ist charakteristisch für eine durch und
durch pessimistisch gefärbte Zeitstimmung, die in den USA spätestens ab 1975
immer weitere Kreise zog:
Very rapidly, the economic downturn of the 1970s, with its deep recessions, weak
recoveries, high inflation, and stagnating income, undermined the confidence and
optimism that permeated postwar America, bringing unaccustomed uncertainty and
pessimism to politics and culture.31

Zeithistorische Rekonstruktionen dieser Jahre sehen in Faktoren wie der Ölkrise,


einer anhaltenden Inflation, steigenden Arbeitslosenzahlen, dem Watergate-Skandal
und dem desaströsen Verlauf des Vietnam-Krieges Hauptgründe für ein anhalten-
des Krisenbewusstsein, das mit einem Vertrauensverlust in die stabilisierenden
Kräfte staatlicher Institutionen einherging. 32 Im Zuge der Bürgerrechts- und Frau-
enbewegung veränderte sich auch die soziokulturelle Struktur der amerikanischen
Mittelstandsgesellschaften, abzulesen vor allem am Wandel der Familie. Die zuneh-
mende Zahl der Ehescheidungen, bislang kaum gekannte „single-parent households“
und der verstärkt aufkommende Sozialtypus der „working mothers“ boten Anlass zu
Sorge und Furcht vor den familienerodierenden Kräften einer allgemeinen „moral
crisis“, die das Land lähmte.33 Flankiert wurde dieses Unbehagen von einer weiteren

 28 So der Schriftsteller Michael Rutschky in seinem Essay Erfahrungshunger über die Zeitstimmung
der 1970er Jahre. Siehe dazu ausführlich Rutschky, Erfahrungshunger, S. 35.
 29 Vgl. ausführlich Neckel, „Entzauberung der Zukunft“.
 30 Duttweiler, Sein Glück machen, S. 116.
 31 Freeman, American Empire, S. 310.
 32 Vgl. etwa Jenkins, Decade of Nightmares, S. 4 f.
 33 Vgl. zur Krise der amerikanischen Familie ausführlich Zaretsky, No Direction Home, S. 12.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 195

Angst, die von der Publizistin Barbara Ehrenreich 1989 treffend als „fear of falling“
charakterisiert wurde und sich auf die Gefahr einer auch inneren Schwächung und
Ermattung bezog:
But in the middle class there is another anxiety: a fear of inner weakness, of growing
soft, of failing to strive, of losing discipline and will. Even the affluence that is so often
the goal of all striving becomes a threat, for it holds out the possibility of hedonism
and self-indulgence. Whether the middle class looks down toward the realm of less,
or up toward the realm of more, there is the fear, always, of falling.34

Bereits zeitgenössisch hatte eine intensive Reflexion über Entwicklungs- und Wand-
lungstendenzen der eigenen Gegenwart eingesetzt. Besonders breit rezipiert wurden
dabei sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen, die zentrale Problemfelder dieser Um-
bruchphase benannten und eindringlich pointierten. In der zeitgeschichtlichen For-
schung wird der Stellenwert dieser Analysen in ihrer Doppelrolle als Symptom für
sich vollziehende Wandlungsprozesse und einem ersten Versuch zu ihrer konzeptio-
nellen Beschreibung intensiv diskutiert.35 So konstatierte der Soziologe Daniel Bell
in seiner besonders wirkmächtigen Zukunftsprognose von 1973 den Beginn eines
postindustriellen Zeitalters, das er durch die Umstellung der Wirtschaft auf den
Bereich der Dienstleistungen, durch die wachsende Bedeutung wissensbasierter
Technologien sowie durch den sozialen Aufstieg neuer technischer Eliten gekenn-
zeichnet sah.36 Seine soziologischen Beobachtungen zur Dynamik und dem Um-
fang sozialen und technologischen Wandels verband er mit einer pessimistisch-kul-
turkritischen Diagnose der nachindustriellen Gesellschaft, die einen „hedonistischen
Lebensstil“ anstrebe und durch ihre antibürgerlich-antinomische Haltung „in einen
immer radikaleren Autismus“ verfalle, der letzten Endes „die Gemeinschaft mit
ihren Möglichkeiten der Partizipation“ zu zerstören drohe.37 Für die nachfolgende
Analyse zentral ist dabei Bells Annahme, dass die Vorstellung von der Zukunft pro-
blematisch geworden war und darum einer prognostischen Anleitung bedürfe. Der
nachindustriellen Gesellschaft drohte der Verlust eines stabilen Erwartungshori-
zonts, innerhalb dessen sich soziales Handeln sinnhaft vollziehen konnte: Konfron-

 34 Ehrenreich, Fear of Falling, S. 15.


 35 Zum zeitdiagnostischen und erkenntnistheoretischen Status sozialwissenschaftlicher Analysen
sowie zu ihrer Verwendung in der zeitgeschichtlichen Forschung hat sich in den letzten Jahren
eine intensive Debatte entwickelt. Hierbei werden das erkenntnistheoretische Potential wie auch
die methodischen Konsequenzen reflektiert, die sich aus der besonderen Nähe der Zeitgeschichte
zu sozialwissenschaftlichen Theoremen wie Wertewandel, Modernisierung oder postindustrielle
Gesellschaft ergeben. Insbesondere Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel haben in dieser
Hinsicht für eine umfassende Historisierung und Kontextualisierung sozialwissenschaftlicher
Deutungsangebote plädiert, um deren „wirklichkeitskonstituierende Funktion“ in kritischer Dis-
tanzierung in die „historiographische Analyse“ einbeziehen zu können. Siehe hierzu Graf/Prie-
mel, „Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften“, S. 482. Siehe außerdem Doering-
Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, bes. S. 75 ff., sowie Pleinen/Raphael, „Zeithistoriker in
den Archiven der Sozialwissenschaften“.
 36 Siehe zur Diagnose und Analyse der postindustriellen Gesellschaft ausführlich Bell, The Coming
of Post-Industrial Society.
 37 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, S. 366 f.

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tiert mit einem „unvorhergesehenen“ und rapide sich vollziehenden „Wandel im


Charakter der Gesellschaft“ stehe diese vor bislang ungekannten Herausforderun-
gen. Da sie allerdings nicht länger über eine „transzendente Ethik“ verfüge, sei sie
aufgrund ihrer inhärenten „Widersprüchlichkeit“ in ihrem „Fortbestand“ bedroht.38
Als Medien zeitgenössischer Selbstbeschreibung können sozialwissenschaftliche
Analysen in ihrem pessimistischen und oftmals dezidiert kulturkritischen Impetus
somit der Ratgeberliteratur der 1970er und 1980er Jahren zur Seite gestellt werden.
Auf diese Weise entsteht ein düsteres Tableau zeitspezifischer Ängste und Befürch-
tungen, die die Konjunktur von Programmen, die auf die Stärkung und Selbstim-
munisierung des Einzelnen abzielten, besonders plausibel machten.
Blickt man auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland, findet man
vergleichbare Entwicklungen, die verlässliche institutionelle Ordnungsgefüge und
akzeptierte Verhaltensnormen zu erschüttern drohten.39 Ein tiefgreifender sozioöko-
nomischer Strukturwandel führte auch hier zum Niedergang von Traditionsindust-
rien – etwa im Bergbau oder der Stahlbranche – und begünstigte den Aufschwung
des Dienstleistungssektors. Der Siegeszug der neu entstehenden Kommunikations-
und Informationstechnologien brachte eine andersartige Logik der Rationalisierung
und Flexibilisierung mit sich, die die Arbeitswelt grundlegend veränderte.40 Inflation
und wachsende Arbeitslosigkeit ließen ein Krisenbewusstsein entstehen, das sich zu
einer „weit verbreiteten Zukunftsangst steigerte“.41 Ähnlich wie in den USA waren
ökonomische, politische und ökologische Transformationen von soziokulturell und
mentalitätsgeschichtlich relevanten Veränderungen begleitet. Traditionelle Familien-
strukturen und Geschlechterverhältnisse erodierten zugunsten einer Vielzahl mögli-
cher Lebensformen und -modelle. Die zweite Welle der Frauenbewegung, das Auf-
kommen neuer Jugendbewegungen sowie veränderte Vorstellungen im Hinblick auf
Erziehung, Ehe und Sexualmoral oder die Anreize der Konsum- und Mediengesell-
schaft führten zu einer „Diversifizierung und Pluralisierung der Lebensstile“, schür-
ten aber zugleich Ängste vor Entfremdung und Ordnungsverlust.42 Bestimmend
wurde nun – darin stimmen zahlreiche historische Rekonstruktionen der Über-
gangsphase nach 1970 überein – das „dumpfe Gefühl eines epochalen Wandels“, das
die „Umkehrung“ jenes linearen „Fortschrittsparadigmas“ mit sich brachte, das für
die Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kennzeichnend gewesen
war.43 Auch im bundesrepublikanischen Kontext bilden die 1970er und 1980er
Jahre eine Phase ambivalenter Empfindungen: „Verzagtheit auf der einen Seite, Pes-
simismus vor allem im ‚annus horribilis‘ 1977 – und auf der anderen Seite immer
neue Anläufe zu einer ‚moralisch-politischen Wende‘“, die sich freilich erst mit dem

 38 Ebd., S. 367.


 39 Vgl. ausführlich bei Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 29.
 40 Siehe Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 72. Vgl. zur „mikroelektronischen Revolu-
tion“ und ihren Auswirkungen auf die Arbeitswelt Anfang der 1980er Jahre außerdem ausführ-
lich Eichler, System und Selbst, bes. S. 257-262.
 41 So die Einschätzung von Reichardt in Authentizität und Gemeinschaft, S. 72.
 42 Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 73.
 43 Siehe dazu ausführlich Maier, „Fortschrittsoptimismus oder Kulturpessimismus?“, S. 4.

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Ende der 1980er Jahre und dem „zuversichtlich stimmenden Signal“ der Wiederver-
einigung andeuten sollte.44
Das Bewusstsein, in einem von Brüchen zerfurchten Zeitalter zu leben, rief eine
Reihe von Gegenwartsdiagnosen auf den Plan, die das „Ende einer Epoche der
Industriegesellschaft, des Fordismus oder der Hochmoderne“ betonten.45 Ob die
Phase „nach dem Boom“ (Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael) dabei einer
„optimistischere[n] Lesart“ unterzogen und als „Aufbruch in neue Lebensent-
würfe“ gedeutet oder einem „Krisennarrativ“ der Vorzug gegeben wird, das den
Fokus auf „ein verbreitetes gesellschaftliches Unbehagen“ richtet – fest steht, dass
sich nun neuartige Konzepte personaler Identität auszubilden begannen, die spezi-
fische Formen und Praktiken des Selbstbezuges hervorbrachten.
Sam Binkley hat die 1970er Jahre als eine Zeit charakterisiert, in der „the project
of becoming loose“ zu einem zentralen Merkmal bürgerlicher Identitätspolitiken
wurde:
Loosening was a story of personal change designed to allay anxieties resulting from
the increasing flexibility of identity and social life: it unfolded a small but intact moral
universe in which the undercutting of the traditional foundations of identity and
selfhood could be tolerated, even enjoyed, given specific meaning, transformed into a
narrative of self-growth and realization told against the backdrop of traumatic twists
and turns in the social fabric.46

Das Genre des Glücksratgebers und seine Varianten, die nun in das Zentrum der
Argumentation rücken werden, lassen sich einfügen in diese Erzählung eines „so-
cial and personal loosening“, das dem personalem Nahbereich ein ganz neuartiges
Gewicht verlieh, stellte dieser doch einen „buffer against the existential uncertainty
of modernity’s relentless forward thrust“ in Aussicht.47

2. Glücksratgeber und Antiratgeber

2.1 Glück durch Techniken der Selbstimmunisierung

Als einer der Protagonisten dieses Glücksprogramms kann der eingangs erwähnte,
der New-Thought-Bewegung zugehörige amerikanische Psychologe, Prediger und
Erfolgsautor Joseph Murphy gelten, der seit den 1940er Jahren mit zahlreichen
Buchpublikationen und Zeitschriftenartikeln, später mit regelmäßigen Rund-

 44 Vgl. diese Einschätzung bei Maier, „Fortschrittsoptimismus oder Kulturpessimismus?“, S. 17.
 45 Neben der bereits erwähnten Studie Daniel Bells zur Entstehung der postindustriellen Gesell-
schaft möchte ich auf Ronald Ingleharts 1977 veröffentlichte Diagnose eines postmateriellen
Wertewandels hinweisen, der für Ingelhart durch „einen Wandel von kollektivem Pflichtbewusst-
sein zu individueller Selbstverwirklichung“ gekennzeichnet war. Vgl. dazu ausführlich Jarausch,
„Verkannter Strukturwandel“, S. 17.
 46 Binkley, Getting Loose, S. 9.
 47 Ebd., S. 35.

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funk- und Fernsehsendungen von sich reden machte und zum Begründer eines
Selbsthilfe-Imperiums aufstieg.48 Murphy propagierte die Wirkmacht universeller
Energien, die sich der Einzelne strategisch zunutze machen müsse. Esoterische
Wissensformen – etwa der Glaube an solare Energieströme, an die Wirkungsweise
bestimmter stellarer Konstellationen oder die heilende Präsenz von Engeln – wur-
den mit mystisch-religiösen Frömmigkeitsformen und autosuggestiven Techniken
der Selbstheilung kombiniert und in eine synkretistische und alltagspragmatische
„Gebetstherapie“ überführt.49 Ein zentrales Moment, um zu Glück und Harmonie
zu gelangen, stellte für Murphy das bewusste Eintauchen in eine „Heilungsgegen-
wart“ dar:50
Sie sind immer sicher, wenn Sie in der Erkenntnis verharren, daß Gott in Ihrem In-
nern wohnt – daß er sozusagen in Ihnen geht und spricht. Machen Sie sich bewußt,
daß Sie sich ständig in der heiligen Allgegenwart befinden, umgeben vom heiligen
Kreis der ewigen Liebe Gottes. Damit immunisieren Sie sich gegen alles Ungemach.
Bejahen, fühlen und wissen Sie, daß Sie, Ihre Familie, Ihr Besitz und alles, was Ihnen
etwas bedeutet, sich an dem geheimen Ort des Höchsten befindet, behütet von einer
alles überstrahlenden Gegenwart, die in jeder Hinsicht über Sie wacht. Das ist eine
uneinnehmbare Festung, unbezwinglich und unzugänglich für alles Negative.51

Die erfolgreiche Selbstimmunisierung gegen Unbehagen und Leid erfolge dabei –


so Murphy – vor allem durch die Korrektur der „unterbewußten Annahmen und
Überzeugungen des Menschen“ über sich selbst.52 Angesichts einer nahezu epide-
misch um sich greifenden Atmosphäre der Angst und Unruhe, die das „Routi-
nedenken“ so Vieler beherrsche, sei ein Umdenken notwendig: In „Büros, Fabriken
und Geschäften“ liefen die Menschen Gefahr, „sich von jedem Windstoß umpus-
ten zu lassen“, da sie in ihrem Denken, Fühlen und Handeln beständig „genau das
Falsche“ wiederholten.53 Der Prozess der Selbstheilung könne von dem Moment
an wirksam werden, in dem „Sie auf die unendliche Gegenwart […] in Ihrem In-
nern blicken als Ihren Führer, Berater, Ihren Boss und die Quelle aller Segnungen“:54

 48 Murphys Predigten, Ansprachen und Vorlesungen, die er als „Minister-Director of the Church of
Divine Science in Los Angeles“ hielt, hörten wöchentlich Tausende an; „Millions of people tuned
in his daily radio program and have read the over 30 books that he has written. […] Over the
years Dr. Murphy has given lectures and radio talks to audiences all over the world.“ Siehe aus-
führlich http://www.dr-joseph-murphy.com/bio.php. Im deutschsprachigen Raum begründete
der Murphy-Schüler Erhard F. Freitag 1974 das sogenannte Institut für Hypnoseforschung; Frei-
tag vertrat als „alleiniger Lehrbeauftragter von Dr. Murphy in Europa“ „die von seinem Lehrer
aufgestellten Thesen. Er besuchte ihn in den Jahren bis 1981 mehrfach in den USA und hat über
Jahre hinweg mit ihm in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland Tourneen veranstaltet.“
Siehe ausführlich http://www.efreitag.com/murphy.html, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
 49 Murphy, Ihr Weg zu innerer Sicherheit, S. 19.
 50 Ebd., S. 91.
 51 Ebd., S. 193.
 52 Ebd., S. 210.
 53 Murphy, Die Macht der Suggestion.
 54 Murphy, Ihr Weg zu innerer Sicherheit, S. 210.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 199

Ist Ihnen jemals der Gedanke gekommen, daß Sie jeden Plan, den Sie für die Zukunft
schmieden, jetzt – in diesem Augenblick – machen? Wenn Sie etwas Zukünftiges
fürchten, dann fürchten Sie es jetzt. Das Furchtgefühl haben Sie jetzt, in diesem Mo-
ment. Und wenn Sie über die Vergangenheit nachgrübeln, dann tun Sie auch das
genau jetzt. Deshalb ist es ganz allein ihr [sic] gegenwärtiges Denken, das zu ändern
ist. Ihres gegenwärtigen Denkens sind Sie sich immer bewußt. […] Die ‚beiden Räu-
ber‘ sind die Vergangenheit und die Zukunft.55

Lebenskunst und Zeitmanagement setzt Murphy in dieser zentralen Passage des


Ratgebers unmittelbar zueinander in Beziehung, um einen Halt in der Gegenwart
zu erzeugen. Vergangenheit und Zukunft blendet er hingegen strategisch aus. Da
die „Auswirkungen vergangener Geschehnisse“ lediglich „Repräsentationen“ ge-
genwärtigen Denkens seien, müsse der Einzelne darauf hinwirken, dieses gegen-
wärtige Denken und Empfinden in „die richtigen Kanäle“ zu leiten und sich auf
diesem Weg eine „heilende Gegenwart“ erschaffen.56
Seinem Lesepublikum empfahl Murphy hierzu die so bezeichnete „Spiegel-
Technik“, mit der der Einzelne „sein Image“ jederzeit „umpolen“ könne: 57 Vor
dem Spiegel stehend oder während des Autofahrens müsse zu festgelegten Uhrzei-
ten mehrmals am Tag eine Heilungssentenz wiederholt werden („ICH BIN wohl-
habend. ICH BIN gesund. ICH BIN glücklich. Ich fühle mich großartig“).58 Das
hier propagierte Programm der Selbstimmunisierung basierte im Wesentlichen auf
der von Emile Coué entwickelten Methode der Selbstbemeisterung durch bewußte
Autosuggestion59, so der Titel seines Ratgeberklassikers, der 1925 zum ersten Mal in
deutscher Sprache veröffentlicht worden war.60 In der Selbsthilfekultur der 1970er
und 1980er Jahre und ihrem Ansatz des Positiven Denkens wirkte Coués autosug-
gestiver Therapieansatz fort, wobei vor allem Joseph Murphy die Coué’schen Me-
thoden der Selbstbemeisterung aufgriff und weiterentwickelte.61 Coué ging von
der Wirkmacht unbewusster Vorstellungen und Annahmen aus, auf die er seelische
und körperliche Leiden zurückführte. Diese ließen sich aber auch – so die zentrale
Prämisse seines Therapieansatzes – umkehren durch „positive Ein-Bildungen“: Das
wiederholte Anwenden von verbalsuggestiven Heilmethoden sollte dabei – explizit

 55 Murphy, Die Macht der Suggestion, S. 189 f.


 56 Ebd., S. 188-190.
 57 Ebd., S. 76.
 58 Ebd., S. 28.
 59 Coué, Die Selbstbemeisterung durch bewußte Autosuggestion.
 60 Coués Heilungsmethode der autosuggestiven Selbstbemeisterung hatte in den 1920er Jahren eine
„Modewelle ungekannten Ausmaßes“ ausgelöst; und obgleich er in akademischen Fachkreisen
lange als „Laientherapeut“ eingestuft wurde, setzte man sich sukzessive auch hier immer intensi-
ver mit seinen Methoden auseinander, wie zahlreiche Neuauflagen seiner Werke sowie ein „wie-
dererwachtes Interesse an seiner Methode“ bezeugen. Zum Werk und der Wirkungsgeschichte
Coués vgl. ausführlich Mayer, „Émile Coué und sein Heilsystem“, hier zitiert S. 25, 28. Siehe
außerdem Ders., „Erziehung der Einbildungskraft“.
 61 Siehe zur Rezeption der Schriften und des Therapieansatzes von Émile Coué exemplarisch Mayer,
„Émile Coué und sein Heilsystem“, S. 32.

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200 Stephanie Kleiner

ohne „Einmischung des Willens“ – einen Zustand der Entspannung herbeiführen,


der einen Prozess der Genesung auslöse.62
Coués Methode der Selbstbemeisterung führte Murphy in ein Programm der
Selbstimmunisierung über, wobei basale Techniken auf dem Methodenspektrum
Coués aufruhten. Zu den zentralen Praktiken der Selbstheilung zählte für Murphy
vor allem das aufmerksame „Repetieren“, das regelmäßige und geduldige Einüben
neuer „Gewohnheiten“, mit deren Hilfe das Unterbewußtsein einen neuartigen
inneren Monolog erlerne:63
Durch Ihre ICH BIN-heit, Ihr Gewahrsein, verändern Sie die Welt. Alles, was Sie
dem ICH BIN hinzufügen, zu dem werden Sie. Wenn Sie wissend und fühlend beja-
hen: Ich bin erleuchtet, inspiriert, liebevoll, harmonisch, friedvoll, glücklich und
stark, dann werden Sie diese in Ihnen schlummernden Eigenschaften erwecken, und
Wunder werden geschehen in Ihrem Leben.64

Das Herbeiführen einer ‚Heilungsgegenwart‘ war vor allem an Zeitpraktiken wie


das „Zählen […] Ihrer Segnungen“ oder das konsequente Denken an „glückliche,
freudige“ Begebenheiten gebunden.65 Glück ließ sich demnach definieren als das
systematische Überblenden negativer emotionaler Zustände mit einem positiven
„Lebensprinzip“:
Wenn Sie auf das Unendliche eingestimmt sind und sich von ihm durchströmen
lassen – harmonisch und freudvoll –, wenn Sie richtig denken, richtig fühlen und
richtig handeln, dann wird Ihr Leben zu einem nicht enden wollenden Erfolg und
Glück auf der ganzen Linie – hier und jetzt.66

„[R]ationale Persönlichkeitsanteile“ sollen ausdrücklich unterdrückt werden zu-


gunsten der „emotionalen Resonanz“; die Übergänge zu hypnotischen Heilverfah-
ren, bei denen „man nichts weiter als eine abgesenkte oder eingeengte Bewußt-
seinslage“ wahrnimmt, sind fließend.67 Wille, Rationalität und Selbstdisziplin
spielen im Programm der autosuggestiven Selbstheilung ausdrücklich keine Rolle;
vielmehr – so gibt der Mediziner und Publizist Klaus W. Schneider in seinem 1988
veröffentlichten Glücksratgeber Stell dir vor, es geht lapidar zu bedenken – bewirk-
ten rationale Willensanstrengungen geradezu „das Gegenteil dessen, was man ei-
gentlich möchte.“68
Umfassendere gesellschaftspolitische Lösungsansätze zur Einhegung apokalypti-
scher Angstszenarien wie „Atomkrieg, Umweltschäden, Rauschgift etc.“, die eine
„deprimierende Weltuntergangsstimmung“ auslösten, waren im Programm der

 62 Vgl. Mayer, „Erziehung der Einbildungskraft“, S. 86.


 63 Murphy, Die Macht der Suggestion, S. 21.
 64 Murphy, Ihr Weg zu innerer Sicherheit, S. 186.
 65 Murphy, Die Macht der Suggestion, S. 190.
 66 Ebd., S. 192.
 67 Mayer, „Émile Coué und sein Heilsystem“, S. 29.
 68 Schneider, Stell dir vor, es geht, S. 21.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 201

Selbstimmunisierung nicht vorgesehen.69 Im Zentrum stand allein das sich durch


die Kraft seines positiven inneren Monologes gegen alle Unsicherheiten und Belas-
tungen abschirmende Individuum. Zwar konstatierten die Ratgeber immer wieder,
dass gerade in „unserer Zeit“ eine große Zahl von Menschen „an einer unbestimm-
ten Lebensangst“ und an „unbegründeter Mutlosigkeit“ leide, doch wurden diese
„schleichenden Gifte“ allein auf die Wirkmacht negativer Gedanken zurückge-
führt, die nur durch die konsequente Schulung des Positiven Denkens wirksam
bekämpft werden könnten. Schneider brachte dieses Prinzip folgendermaßen auf
den Punkt:
Es wird an zahlreichen Beispielen erläutert, daß Glück, Gesundheit und Erfolg nicht
von äußerlichen und unbeeinflußbaren Faktoren wie Schicksalsschlägen oder Zufäl-
len abhängen, sondern allein vom richtigen Denken. Wer denkt bzw. glaubt, er sei
glücklich, der ist glücklich – selbst wenn er unter den schlechtesten Bedingungen lebt
und allen Grund zur Unzufriedenheit hätte.70

Seine therapeutische Herangehensweise beschrieb der Mediziner und Publizist


dabei explizit als „Immunisierung gegen negative Gedanken“, die gerade angesichts
einer in der Gegenwart „immer bedrohlicher werdenden Epidemie negativer Ge-
danken“ notwendig werde.71
Andere Ratgeber, die dieses Programm der Selbstimmunisierung propagierten –
beispielsweise „America’s best-loved Bestseller“ How To Be Your Own Best Friend, der
bereits 1971 veröffentlicht wurde – , basieren gleichfalls auf einer Lebenskunstlehre,
die den Blick nach innen richtet:
The source is not outside us; it is within. Most of us haven’t begun to tap our own
potential. […] We must realize that the kingdom is in us; we already have the key.72

Glück wird auch hier als Resultat eines gelingenden inneren Monologes beschrie-
ben, der eine aufmerksame Selbstsorge beinhalte:
You must also learn to talk to yourself. That’s very important. You need to explain
things, to reassure yourself. You need to establish an on-going dialogue. It can help
you through all kinds of tough situations. When the child in you is up to mischief,
you can tell him ‚no‘. There is usually a moment when it could go either way. If you
pay attention, you can take the moment and consider what you really want to do.73

Formal ist diese Gruppe von Ratgebern zumeist dialogisch angelegt und im Ton
freundlichen Verständnisses gehalten, was den Eindruck unmittelbarer Anteil-
nahme von Seiten der beratenden Experten hervorruft. Eine direkte Anrede des
Lesers („Sie sind hier, um Probleme zu lösen. […] Es gibt Fehlschläge im Leben,

 69 Ebd., S. 157.


 70 Ebd., S. 7.
 71 Ebd., S. 157.
 72 Newman/Berkowitz, How To Be Your Own Best Friend, S. 22.
 73 Ebd., S. 86.

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202 Stephanie Kleiner

gewiß! […] Sie brauchen eine Basis für konstruktives Denken.“)74 und Beschwö-
rungsformeln wie „You have the power to stop yourself“, „don’t punish yourself;
you’ve done that enough“, „Forgive the child in you“ verstärken diesen Eindruck
und stellen Pathosformeln suggestiver Einflussnahme dar, die die psychischen Be-
findlichkeiten des Lesepublikums in eine bestimmte Richtung lenken sollen.75
Das Glücksprogramm der Selbstimmunisierung bevorzugte somit in erster Linie
Aufmerksamkeitspraktiken der beständigen Wiederholung und Vertiefung, mit deren
Hilfe negative Dispositionen gewissermaßen überschrieben werden sollten. Adressiert
wurde ein den Unsicherheiten und Bedrohungsszenarien der Gegenwart ausgeliefertes
Subjekt, dem Techniken der affirmativen Selbstbeschwörung vermittelt werden soll-
ten. Auf Stärkung und Heilung abzielend wollten sie Techniken der Absicherung und
Abwehr weitergeben, die den Einzelnen gegen die Pathologien eines „Massengemüts“
immunisieren sollten, das von „Haß, Groll, Neid und Feindseligkeit“ erfüllt sei.76

2.2 Glück durch „Hypnokybernetik“

Methoden der Selbstregulation durch bewusste Lenkung des ‚inneren Monologs‘


waren auch für ein Glücksprogramm entscheidend, das auf Praktiken (psycho-)ky-
bernetischer Selbststeuerung basierte. Die 1970er und 1980er Jahre markieren hier-
bei eine Hochphase kybernetischen Glückswissens und bereiteten den Boden für
gegenwärtige Glücksformate, die ebenfalls einem „kybernetischen Modell der Selbst-
steuerung durch Reflexionsprozesse, externalisierte Außenhalte und interne[ ] Regel-
kreise“ folgen, aber in einem andersartigen politischen und sozioökonomischen Um-
feld situiert sind.77 Die derzeitige Konjunktur kybernetischer Glücksmodelle kann
durch die Wirkmacht neoliberaler Gouvernementalität plausibel erklärt werden.
Diese adressiert „selbstbestimmte und handlungsmächtige Individuen“ und privile-
giert dabei eine Subjektivierungsform, die „Selbstdistanzierung, Verobjektivierung
und Technologisierung des Selbst“ mit „Selbstermächtigung und Selbstverbesserung,
Steigerung der Individualität und Stabilisierung der Identität verknüpft.78
Anschließend an diese konzeptionellen Überlegungen soll nachfolgend darge-
legt werden, in welcher Weise genuin kybernetische Vorstellungen individueller
Selbststeuerung bereits in der Ratgeberliteratur der 1970er und 1980er Jahre ver-
breitet waren. Während nämlich das oben vorgestellte Glücksmodell der Selbstim-

 74 Murphy, Die Macht der Suggestion, S. 180.


 75 Newman/Berkowitz, How To Be Your Own Best Friend, S. 86 f.
 76 Murphy, Ihr Weg zu innerer Sicherheit, S. 198.
 77 In ihrer Analyse aktueller Lebenshilferatgeber hat Stefanie Duttweiler auf kybernetische Modi der
Selbststeuerung aufmerksam gemacht und deren spezifische „Aneignungsweisen, Akzeptabilitäts-
bedingungen und Techniken des Selbstbezugs“ untersucht. Der vorliegende Beitrag greift Anre-
gungen Duttweilers somit explizit auf und versucht, ratgeberspezifische Techniken kyberneti-
scher Selbstführung in ihrer historischen Genese nachzuvollziehen, um so deren je zeitspezifische
Eigenheiten zu profilieren. Duttweiler, „Vom Treppensteigen“, S. 248, 258.
 78 Duttweiler, „Vom Treppensteigen“, S. 258.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 203

munisierung auf Heilungsprozesse hinzuwirken suchte bzw. die Wiederherstellung


eines inneren Gleichgewichts und emotionaler Harmonie anstrebte, rücken Kon-
zepte der Selbstprogrammierung Aspekte der „Steigerung der Selbstverfügung“,
der Aktivierung und Optimierung in den Vordergrund.79 Nicht die Abwehr von
Leid und Angst, sondern das Durchsetzen persönlicher Ziele und Wünsche bildete
das Zentrum dieser Strategie der Lebensbemeisterung. Erforderlicher Bestandteil
eines gelingenden Lebens sei – so propagieren es die hier untersuchten Ratgeber –
ein Prozess der mentalen Um- oder Neuprogrammmierung. Um ihre Rezipientin-
nen und Rezipienten hierin zu bestärken, entwickelte diese Gruppe von Ratgebern
das Leitbild eines Subjektes, das äußere Krisen durch den strategischen Einsatz in-
nerer Glückspotentiale zu entkräften imstande war:
Alle Fähigkeiten, Gewohnheiten und persönlichen Eigenheiten können auf gleiche
Weise umprogrammiert werden. Die Umprogrammierung ist im Grunde eine Befrei-
ung von begrenzenden Vorstellungen. Sobald diese stattgefunden hat, kann Ihr Geist
die schwierigsten Aufgaben bewältigen.80

Die menschliche Psyche wurde mit technizistischen Metaphern beschrieben, die


deren Lenk- und Verfügbarkeit plausibilisieren sollten: Auch die „moderne Psycholo-
gie“, so argumentierte beispielsweise der Publizist und Selbsthilfe-Lehrer Oscar
Schellbach (1901–1970), der bereits 1921 ein Institut für „Mentalen Positivismus“
gegründet hatte und zu einem der erfolgreichsten Lebensberater Deutschlands aufge-
stiegen war, sehe das „Wesen“ des Menschen als „Produkt von in uns ablaufenden
Schaltvorgängen.“81 Es gelte daher – so postulierte er in seinem 1980 posthum veröf-
fentlichten Ratgeber Siebenmal Lebenskunst –, das „Schaltwerk dieser Maschine“ so zu
programmieren, dass „eine vollkommene Leistung“ erreicht werden könne.82 Dieser
Ratgeber bediente sich somit explizit einer kybernetischen Semantik und schrieb
einen Diskurs planungseuphorischen Steuerungswissens weiter, der in den 1950er
und 1960er Jahren in Form einer „kybernetischen Pädagogik, der kybernetischen
Wirtschaftslehren“ und einer „kybernetischen Biologie“ zu einem „Paradigma in den
Wissenschaften ebenso wie in den Alltagssemantiken“ avanciert war.83 Hatte die um-
fassende „Kybernetisierung des Menschen“84 dabei einerseits ein „Symptom einer
Neuorientierung nach dem Weltkrieg“ markiert, war sie andererseits mit dem „Auf-
brechen einer Grundlagenfrage angesichts der technologischen Verschärfung“ in Ver-
bindung gebracht worden.85 In der Ratgeberliteratur der 1970er und 1980er Jahre
kam ihr eine weitere, grundsätzlich andere Funktion zu: In einer Phase, in der die

 79 Siehe ebd., S. 256.


 80 Petrie/Stone, Autogenic, S. 23.
 81 Schellbach, Siebenmal Lebenskunst, S. 15.
 82 Ebd., S. 14 f.
 83 Vgl. zur Konjunktur kybernetischer Wissensformen nach dem Zweiten Weltkrieg exemplarisch
Rieger, Kybernetische Anthropologie, S. 18. Zur Geschichte der „Planung“ als „Signalvokabel“ der
Nachkriegszeit siehe ausführlich van Laak, „Planung, Planbarkeit und Planungseuphorie“. Siehe
zur historiographischen Situierung der Kybernetik besonders: Aumann, Mode und Methode.
 84 Hörl/Hagner, „Überlegungen zur kybernetischen Transformation des Humanen“, S. 10.
 85 Ebd., S. 10.

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Fortschrittsnarrative der Nachkriegsjahre allmählich ihre Strahlkraft einbüßten, offe-


rierten die in Ratgeber eingelagerten Erzählungen und Rezepte individueller Selbst-
steuerung ein alltagspragmatisches Orientierungswissen, mit dem sich neuartige Op-
tionen der Selbstverfügbarkeit verbinden ließen. Noch am „Ende der kybernetischen
Kultur“ – die Hochphase kybernetischer Wissensmodelle war seit der Mitte der
1970er Jahre vorüber –86 stellte der Rekurs auf Techniken der erfolgreichen Selbstpro-
grammierung ein derart wirkmächtiges Versprechen dar, dass entsprechende Ratgeber
in immer neuen Auflagen publiziert wurden. Das amerikanische Autorenduo Sidney
Petrie und Robert B. Stone etwa, das mit seinen Ratgebern wie Autogenic explizit auf
Verfahren der „Hypnokybernetik“ zurückgriff, verfasste seit den späten 1960er Jahren
eine Reihe von Ratgebern zu unterschiedlichen Lebensproblemen – die Thematik
ihrer Bücher reichte von Diättipps bis zu allgemein gehaltenen Lebensratgebern –, die
stets auf der Methode einer erfolgreichen Selbstprogrammierung aufruhten.87 Popu-
lär gemacht hatte das Konzept der Selbstprogrammierung erstmals der amerikanische
Schönheitschirurg Maxwell Maltz, der mit seinem schon 1960 veröffentlichten Rat-
geber Psycho-Cybernetics eine Welle psychokybernetischer Ratgeber anstieß und in
den 1970er Jahren ein „Schriftenimperium“ begründete, das ausdrücklich auf kyber-
netische Verfahren der Selbstführung zurückgriff.88 Das Ratgeberwissen der 1970er
und 1980er Jahre schrieb auf diesem Weg den fortschritts- und planungsoptimisti-
schen Diskurs der 1950er und 1960er Jahre fort und wurde in einer Phase zunehmen-
der Verunsicherung und grassierender Ängste zum Residuum eines kybernetischen
Alltagswissens.89
Im Unterschied zum Konzept der Selbstimmunisierung legitimierte sich die
Psychokybernetik ausdrücklich durch den Rekurs auf die Wissenschaftlichkeit der
von ihr propagierten Verfahrensweisen. Die empfohlenen Verhaltenslehren wurden
mit den technischen Errungenschaften der Industriellen Revolution des 19. Jahr-
hunderts sowie mit der informationellen Revolution des Computerzeitalters auf
eine Stufe gestellt und dadurch zusätzlich plausibilisiert.90 Das Programmieren der
menschlichen „Gedankenmaschine“ stand im Mittelpunkt dieses Ansatzes, der auf
die Steigerung bzw. Entgrenzung eigener Potentiale abzielte:
Das führt uns zur Vernunft auch in den wichtigen Fragen der Leistungsfähigkeit und
Leistungssteigerung. […] Der Mensch lebt völlig unrationell in dieser Hinsicht. Un-
rationell behandelt er sein Gehirn, seine Gedankenmaschine. Weil er die Gesetze,
nach denen diese Maschine arbeitet, nicht kennt, arbeitet er in sich selber immer
gegen den Strich, leidet er an Hemmungen, an Konzentrationsstörungen, ist er nicht
in der Lage, von seinen wunderbaren Möglichkeiten und Fähigkeiten Gebrauch zu

 86 Ebd., S. 7, 26.


 87 Petrie/Stone, How to Strengthen Your Life with Isometrics; Dies., The lazy lady’s easy diet; Dies.,
Martinis and Whipped Cream; Dies., Autogenic, S. 11.
 88 Maltz, Psycho-Cybernetics. Vgl. zu Maltz’ Konzept der Psychokybernetik ausführlich Rieger, Ky-
bernetische Anthropologie, S. 19-22, hier S. 19.
 89 Vgl. zur Geschichte der „Planung“ als „Signalvokabel“ der Nachkriegszeit van Laak, „Planung,
Planbarkeit und Planungseuphorie“.
 90 Vgl. bei Schellbach, Siebenmal Lebenskunst, S. 16 f.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 205

machen. […] Wenn man diesen Computer mit seinen Milliarden Schaltzellen so
kontrollieren und programmieren kann, daß die geistigen Kräfte so arbeiten, wie man
selber wünscht und will, dann ist man auch in der Lage, das eigene Leben bewußt zu
beeinflussen.91

Die Signalvokabeln dieser Passage – etwa die individuelle „Leistungssteigerung“, die


durch die intentionale „Kontrolle“ der „Gedankenmaschine“ bewirkt werden soll-
te – adressierten ein Subjekt, das sich seiner Umwelt nicht länger schutzlos auslie-
fern, sondern lernen wollte, den „Umwelteinfluss“ zu „beherrschen und positiv für
sich [zu] nutzen“.92 Ermöglicht werden sollte dies durch die stete Aktualisierung
„bestimmte[r] mentaler Bilder und Vorstellungen“.93 Basierend auf dem Konzept
des Positiven Denkens sollte durch den Einsatz entsprechender Aufmerksamkeits-
praktiken ein neuer Gegenwartsbezug hervorgebracht und eingeübt werden, der
keinen Raum ließ für willkürliche Augenblickslaunen. Der Alltag wurde hierbei
einer rigiden Regulation unterzogen:
Darum geht der positiven Tat immer das positive Denken voraus, aber nicht das
einmalige, aus Laune, aus Freude an einer augenblicklichen Stimmung, sondern das
planmäßig durchgeführte, andauernde positive Denken. Man muß seinen ganzen
Tagesablauf, seine ganze Lebensführung auf diese Tatsache einstellen, muß über den
Ablauf eines jeden Tages ein Tagebuch führen und seine Erfolgsplanungen schriftlich
fixieren.94

Durch Verfahren der aufmerksamen Selbstbeobachtung und -anleitung sowie


durch Techniken des Planens und Notierens sollten die Subjekte in die Lage ver-
setzt werden, ein dynamisches, auf permanente Veränderbarkeit und Verbesserung
ausgerichtetes Selbstverhältnis einzuüben. Diese Rezepte der Lebensführung waren
kennzeichnend für eine Variante des Glückswissens, das Glück mit der „Grenzver-
schiebung des individuell Verfügbaren“, mit einer Potenzierung von „Handlungs-
optionen“ und einer Erhöhung der „Selbstwirksamkeit“ in Verbindung brachte.95
Kybernetik und Lebenskunst wurden im reibungslosen Verarbeiten „positive[r]
Daten“ miteinander kurzgeschlossen.96 Den Techniken der Selbstimmunisierung
ähnlich, sollten „positive Zielvorstellungen, positive Wünsche, positive Befehle an
unser Gehirn“ weitergeleitet werden.97 Positive „Urbilder“ waren dabei Formeln
wie „Ich kann, was ich will“, „Ich bin ein positiver Mensch“, „Ich habe Macht über
mich“,98 die regelmäßig zu wiederholen waren.

 91 Schellbach, Siebenmal Lebenskunst, S. 31.


 92 Vgl. Stefanie Duttweilers Beitrag zu kybernetischen Formen der Selbstprogrammierung, in:
Dies., „Vom Treppensteigen“, S. 257.
 93 Schellbach, Siebenmal Lebenskunst, S. 68 f.
 94 Ebd., S. 62.
 95 Vgl. Duttweiler, „Vom Treppenstreigen“, S. 256.
 96 Schellbach, Siebenmal Lebenskunst, S. 68 f.
 97 Ebd., S. 68.
 98 Ebd., S. 72.

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Erweitert wurde dieses Spektrum von Selbstanleitungen durch Techniken der


Fremdsuggestion und durch gezielte Entspannungsübungen – etwa in Form von
sogenannten „Seelephonie-Platten oder -Cassetten“. Derartige Motivations- und
Entspannungspraktiken wurden explizit begrüßt, da man die sprachmagischen
Qualitäten dieses Medienformats als besonders effektiv einstufte. Die mediale Aus-
differenzierung des Ratgeberwissens befeuerte außerdem den kommerziellen Er-
folg einzelner Selbsthilfe-Schulen.99
Dem Programm der Selbstüberschreitung entsprechend, wurden die empfohle-
nen Aufmerksamkeitstechniken ausdrücklich als Generatoren von Wandel und
Dynamisierung beschrieben. Ein Zustand leidvoller Stagnation und routinierten
Stillstands sollte – so der Anspruch der Ratgeber – überführt werden in eine Erfah-
rung energetischer Weltzugewandtheit, die die Adaption an die veränderten Le-
bens- und Arbeitswelten erleichtern sollte. Petrie und Stone etwa führen das Bei-
spiel einer Versicherungsgesellschaft an, die eine Methode gesucht habe, um ihre
Vertreter stärker zu motivieren: „Unentschlossenheit, Mangel an Begeisterung,
Mangel an Interesse für Details, Mangel an Organisation und Mangel an Zuver-
sicht“ hätten zu stagnierenden Gewinnbilanzen geführt.100 Ein Teil dieser Vertreter
unterzog sich daraufhin psychokybernetischen Gruppensitzungen, und bereits
nach vier Wochen – so bilanzierten die Autoren – hätten sich die Abschlüsse dieser
Vertreter „um 8 Prozent erhöht, bis zum Ende des Jahres um 16 Prozent.“101 Die
Verkaufszahlen – so wussten die Autoren zu berichten – hatten sich allein deshalb
erhöht, weil die „Vertreter ihre begrenzenden Vorstellungen erkannt und sie dar-
aufhin geändert“ hätten.102 Ein Ensemble verbalsuggestiver Modelle und spezifi-
scher Atem- und Entspannungstechniken habe dazu beigetragen, „unerwünschte
Konditionierungen aus der Vergangenheit“ zu entschärfen, und den Einzelnen zu-
gleich „für bessere Leistungen und Fähigkeiten und größeren Erfolg“ zu program-
mieren.103 Die eigene Biographie wurde hiermit zum Testlabor wissenschaftlicher
Methoden der Selbststeuerung.
Die Tonlage, die diese Gruppe von Ratgebern anschlug, unterschied sich merk-
lich von der nahezu seelsorgerischen Anteilnahme der oben analysierten Publikati-
onen. Ein forscher Duktus, der bisweilen in einen Befehlston umschlug, herrschte
vor, um das Lesepublikum zu größerer Anstrengung und Leistung anzufeuern:
Wir allein haben uns zu einem tatenlosen Schwachkopf erzogen, wenn wir es sind.
Nur wir allein sind daran schuld, wenn wir bis heute nichts leisten konnten […]. Wir

 99 Ebd., S. 68. Oscar Schellbach beispielsweise war mit seinen sogenannten Seelephonie-Platten im
deutschsprachigen Raum einer der Pioniere massenmedialer Lebensberatung. Seine Seminare,
Vorträge und Veranstaltungen wurden von Millionen von Menschen besucht; die Gesamtauflage
seiner Publikationen, Kassetten und Zeitschriften überstieg dabei viele Millionen. Nach seinem
Tod wurde das Oscar Schellbach-Institut von seinem Sohn übernommen, der das Lebenswerk
seines Vaters weiterführte. Vgl. hierzu Schellbach, Mein Erfolgssystem, Klappentext.
100 Petrie/Stone, Autogenic, S. 22.
101 Ebd.
102 Ebd., S. 23.
103 Ebd., S. 76.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 207

haben in uns Hemmungen großgezüchtet und sind selbst die Ursache unserer Fehl-
schläge […].104

Die Entscheidung zu aktiver Problembewältigung setzte man hingegen schon mit


einer Rückeroberung von Kontrolle, Autonomie und Glück gleich:
Aus allem ergibt sich, daß wir lernen müssen, während des ganzen Tages positiv zu
schalten. Das geschieht, indem wir eine bejahende Haltung zum Leben einnehmen
und uns dazu systematisch im positiven Denken trainieren; also kraftvolle, positive
Leitbilder und Leitsuggestionen immer wieder von neuem in unserem Innern auf-
leuchten lassen.105

Das fortwährende Einüben positiver „Leitsuggestionen“ bezeichnet somit ein Mo-


ment der Selbsttransformation, mit deren Hilfe ein als pathologisch identifizierter
Selbstbezug dauerhaft korrigiert werden sollte. Die skizzierten Subjektivierungsfor-
men lassen sich aber zudem als Skripte einer symbolischen Ordnung lesen, die er-
wünschte Formen sozialen Handelns hervorbringen wollte. Die Übergänge zu
einem durch Leistung, Training und Disziplin herbeizuführenden Glücksmodell
waren fließend.

2.3 „[Z]urück an den Arbeitstisch!“ oder die Disziplinierung des Glücks

In Abgrenzung zu jenen Selbsthilfe-Ratgebern, die ihren Leserinnen und Lesern


„gigantische Mengen an Mystik, Religiosität und utopischen Tagträumereien“
empfahlen und einer „unrealistisch übertrieben[en]“ „Lebenseinstellung“ wie dem
„positiven Denken“ anhingen, setzte eine dritte Gruppe von Ratgebern auf „prak-
tische, handlungsorientierte Übungen“.106 Ihre Rezipientinnen und Rezipienten
sollten befähigt werden, „in einer höchst irrationalen Welt rational vorgehen“ und
„unter den schwierigsten und ‚unmöglichsten‘ Umständen so glücklich wie mög-
lich leben [zu] können“.107 Glück wurde in dieser Variante des Ratgeberwissens
zwar erneut als Effekt subjektiver Selbstregulierung vorgeführt, doch standen der
strategische Einsatz des eigenen Willens und die konsequente „Arbeit am Selbst“
(Stefan Rieger) im Zentrum, wie die Überschrift dieses Abschnitts, die dem popu-
lären Ratgeber Training der Gefühle entnommen ist, nahelegt, den der amerikani-
sche Psychotherapeut Albert Ellis 1988 veröffentlicht hatte.108
Objektive Umweltfaktoren wurden hierbei als ausgesprochen krisenhaft einge-
stuft. Gerade in einer „zunehmend verwalteten Welt“, die systematisch „Hilfsbe-
dürftigkeit“ und „Schwäche“ erzeuge, gelte es, Verantwortung für das eigene Glück

104 Schellbach, Siebenmal Lebenskunst, S. 49.


105 Ebd., S. 65.
106 Ellis, Training der Gefühle, S. 14.
107 Ebd., S. 16.
108 Siehe ebd., S. 215.

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208 Stephanie Kleiner

zu übernehmen und den „Muskel“ der eigenen „Existenz“ zu trainieren.109 Diese


programmatischen Darlegungen, die einem 1978 veröffentlichten Glücksratgeber
des Publizisten und Psychologen Ulrich Beer entnommen sind, umreißen in nuce
ein ‚Glückstraining‘, das für diese dritte Gruppe von Ratgebern typisch war. In den
Fesseln einer „entfremdenden, meistens autoritären Erziehung“ sehe sich das Indi-
viduum gezwungen, seine Impulse zur Selbstverwirklichung zu unterdrücken110
und lebe daher in einem „krank machenden Zustand nicht getroffener Entschei-
dungen“, auf den eine Fülle von Zivilisationskrankheiten wie Depression, Schlaf-
losigkeit oder Magenbeschwerden zurückgeführt werden könne.111 Ratgeber
spornten daher umso dringlicher dazu an, „Halt“ und „Beständigkeit“ nicht in
behelfsmäßigen „Notlösungen“ und „Kompromisse[n]“ zu suchen; denn Lebens-
glück und Zufriedenheit ließen sich allein dort aufspüren, wo man sie „offenbar am
wenigsten“ suche: „in sich selbst.“112 Ausgangspunkt war der strategische Umgang
mit der eigenen Lebenszeit:
Die Flucht aus der Gegenwart ist heute verbreitet. Die einen retten sich in konserva-
tive Romantik. Alte Menschen vergolden ihre Vergangenheit und sprechen davon,
wie schön es früher war. Junge Menschen flüchten vor der Zivilisation in Landkom-
munen und probieren das einfache Leben als Hippies und Blumenkinder. Politische
Richtungen versuchen, die Probleme der Gegenwart zu lösen mit Ordnungsvorstel-
lungen, die schon gestern überholt waren […]. Die Vergangenheit ist unabänderlich
und wie ein Bleiguß nach dem Erkalten erstarrt. Die Zukunft ist noch nicht greifbar.
[…] Wir passieren sie über die Schwelle des Augenblicks, in dem wir leben. An ihn
sollten wir uns halten […]. Nur er enthält die Dimensionen des Glücks […].113

Beers Ratgeber, die für das Glückskalkül entschlossenen Selbsttrainings charakte-


ristisch sind, enthalten eine umfassende Palette konkreter Techniken umsichtiger
Zeitplanung. Leserinnen und Leser wurden dazu angehalten, ihren Alltag in rigide
reglementierte Zeiteinheiten zu unterteilen und dies schriftlich zu fixieren114:
Zeitplanung dient dazu, die Zukunft ein wenig zu präparieren, um nicht jeden Au-
genblick auf den verwirrenden Umfang zahlloser Alternativen zu stoßen und uns
damit überfordern zu lassen. Planung garantiert größere Konsequenz in den Ent-
scheidungsprozessen und damit einen höheren Wirkungsgrad. Ein Zeitplan muß den
jeweiligen Erfordernissen und Zielen entsprechen. Aber er bleibt unverbindlich […],
wenn wir ihn nicht schriftlich fixieren. Das betrifft die großen Planungen genauso
wie den Stundenplan. Der Sinn ist ein doppelter: Zum einen wird das Ziel noch
einmal deutlich umrissen und festgehalten, zum anderen wird dieses Ziel leichter er-
reicht, wenn wir den Weg dahin in überschaubare, klar abgegrenzte zeitliche Schritte
zerlegen.115

109 Beer, Entscheide dich richtig, S. 48.


110 Ebd., S. 48 f.
111 Ebd., S. 13.
112 Ebd.
113 Ebd., S. 52.
114 Ebd., S. 60.
115 Ebd.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 209

Propagiert wurde demnach ein Aufmerksamkeitsregime, das den Alltag in klein-


schrittige „Zeiteinheiten“ zerlegte, die möglichst konsequent strukturiert werden
sollten, um Glück und Erfolg zu generieren; denn das, was „wir erreicht haben,
können wir sichtbar von rechts nach links schieben oder auf der Liste abhaken“:116
Was wir noch vor uns haben, wird sichtlich weniger. Dies gibt uns neuen Mut und
neue Motivation: Wenn wir das geschafft haben, werden wir auch das nächste schaf-
fen. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Jede gelöst Teilaufgabe vermittelt ein klei-
nes Glücksgefühl oder […] ein Erfolgserlebnis.117

Der Ratgeber fungierte programmatisch als „Arbeitsbuch“, wobei Signalvokabeln


wie Planung, Kontrolle und Struktur eine zentrale Rolle zukam.118 Dies unter-
scheidet die Ratgeber, die ein Glückstraining propagieren, von psychokyberneti-
schen Rezepten; zwar vermitteln diese gleichfalls Techniken des schriftlichen Fixie-
rens, doch sind sie formal in durchgehenden Fließtexten organisiert. Konkrete,
oftmals durchnummerierte Übungen sowie auszufüllende Tabellen oder Fragebö-
gen finden sich darin in der Regel nicht.
Das planmäßige Protokollieren, das gewissenhafte Erledigen von Hausaufga-
benberichten sowie die Einteilung in konkrete Trainingseinheiten ist demgegen-
über unerlässlicher Bestandteil einer disziplinierten, die Gegenwart stabilisierenden
„Selbst-Arbeit“.119 Mit Hilfe minutiöser „Tageslaufanalysen“ sollten „besondere
Schwierigkeiten“ erkannt, belastende Einstellungen korrigiert und notwendige
„Verbesserungen“ in Angriff genommen werden.120 Praktiken der konzentriert-
disziplinierten Selbstrationalisierung hatten zwar schon in der Frühphase des Rat-
geberhandelns – etwa in den Erfolgsmanualen zur Selbstoptimierung, die Gustav
Großmann bereits in den 1920er Jahren entwarf121 – Konjunktur gehabt; indem
Ratgeber aber beispielsweise mit zeitspezifischen Therapieansätzen wie dem von
Albert Ellis entwickelten, in den 1980er Jahren äußerst populären „Rational emo-
tiven Denken“ (RED) arbeiteten, passten sie etablierte Techniken der Selbstbera-
tung in das Ratgeberwissen und die Selbsthilfekultur der 1970er und 1980er Jahre
ein.122

116 Ebd., S. 61.


117 Ebd., S. 62.
118 Buchmann, So lebst du besser, S. 8.
119 Ebd.
120 Vgl. exemplarisch etwa die Arbeitsbögen im Ratgeber So lebst Du besser, den der auch als Psycho-
therapeut tätige Psychologe und Soziologe Knud Eike Buchmann 1986 veröffentlichte. Buch-
mann war in den 1980er Jahren ein vielgelesener Autor von Glücksratgebern, der neben dem er-
wähnten So lebst Du besser weitere Titel wie Lebe jetzt oder Du selbst bist Deines Glückes Schmied
veröffentlichte.
121 Vgl. zum Selbsthilfe-Programm Gustav Großmanns ausführlich Rieger, „Arbeit an sich“. Vgl. zur
Person und dem ‚Erfolgsprogramm‘ Gustav Großmanns ebenfalls Steinfeld, „Pionier der Selb-
stoptimierung“. Vgl. zum Motiv des ‚Glückstrainings‘ in der Frühphase des Ratgeberwissens au-
ßerdem ausführlich Duttweiler, „Glück durch dich Selbst“.
122 Der amerikanische Psychotherapeut Albert Ellis (1913–2007) hatte die Methode der „Rational-
Emotiven Therapie“ (RET) bereits seit 1955 in deutlicher Abgrenzung zur klassischen Psycho-
therapie entwickelt. Ellis gilt als Mitbegründer der kognitiven Verhaltenstherapie; sein Therapie-

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210 Stephanie Kleiner

Blickt man auf entsprechende US-amerikanische Pendants eines zu disziplinier-


tem Glückstraining anleitenden Ratgeberwissens, so lassen sich ähnlich Befunde
formulieren:
Überlegen Sie sich Ihren typischen Tagesablauf, Ihre wöchentliche Routine. Noch
besser, nehmen Sie Stift und Papier und schreiben Sie auf – schwarz auf weiß –, um
Ihre Gedanken leichter zu konzentrieren. Von allen regulären Aktivitäten greifen Sie
eine heraus, die Ihnen besonders verschwenderisch, schädlich oder zumindest unpro-
duktiv erscheint. Dann entschließen Sie sich dazu, diese zu ändern, jetzt gleich.123

„Hausaufgabenbericht[e]“, „Selbsthilfe-Formular[e]“ und ähnliche Aufschreibe-


praktiken waren auch hier essenzieller Bestandteil eines auf rationaler Selbstanlei-
tung aufruhenden Glückskalküls und dienten besonders der temporalen Selbstre-
gulierung.124
Zeitgenössische Beobachter bewerteten diese Hinwendung zur Zeitform der
Gegenwart allerdings oft kritisch und vermuteten darin eine geschichtsrelativisti-
sche Ablehnung historischen Bewusstseins. In seiner 1979 publizierten Studie The
Culture of Narcissism beklagte der eingangs bereits erwähnte Historiker Christo-
pher Lasch den „Verfall des historischen Zeitgefühls“ und attackierte die 1970er
Jahre als ein therapeutisches Zeitalter, in dem sich ein kollektiver Narzissmus aus-
breite.125 Nach den politischen und gesellschaftlichen Reformbewegungen der
1960er Jahre würden sich die Amerikaner nun auf „rein private Neigungen“ zu-
rückziehen, so Lasch anklagend:
Da die Leute die Hoffnung aufgegeben haben, ihr Leben in entscheidenden objekti-
ven Aspekten verbessern zu können, haben sie sich klargemacht, es komme lediglich
auf eine psychische Selbstverbesserung an.126

Mit dem Verlust eines Bewusstseins für die historische Kontinuität zwischen Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft ging für Lasch – ebenso für andere zeitgenös-
sische Autoren wie etwa Jim Hougan oder Richard Sennett – eine als pathologisch
eingestufte Fixierung auf das eigene Selbst einher. Ein kollektiver, auf den persön-
lichen Nahbereich fokussierender Narzissmus wurde diagnostiziert, der „aus-
schließlich um das Ich“ kreise und sich in einer therapeutischen Kultur manifes-
tiere, die dem Einzelnen dazu verhelfen solle, eine „momentane Illusion von

ansatz war ganzheitlich-handlungsorientiert und betonte den Zusammenhang von Denken, Füh-
len und Handeln und avancierte zu einer der einflussreichsten Schulen der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Internationalen Einfluss gewann die RET vor allem in den 1980er Jahren. In einer
„Umfrage unter amerikanischen Psychologen wurde Ellis 1982 als einflussreichster Psychologe
noch vor S. Freud, C.G. Jung und B.F. Skinner gewertet.“ (http://www.ret-revt.de/revt-kvt/al-
bert-ellis, zuletzt eingesehen am 23.03.2016) Vgl. außerdem Schwartz, Vernunft und Emotion.
123 Gittelson, Wie man sein Glück macht, Herv. i. O.
124 Ellis, Training der Gefühle, S. 272 ff.
125 Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, S. 19. Lasch berief sich hierbei auch auf den 1975 im Harper’s
Magazine publizierten Artikel „The New Narcissism“ von Peter Marin; siehe Marin, „The New
Narcissism“.
126 Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, S. 20.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 211

persönlichem Wohlbefinden, von Gesundheit“ und „seelischer Geborgenheit“ zu


empfinden.127 Die Diagnose eines aus Angst geborenen, epidemisch um sich grei-
fenden Hedonismus wurde von Seiten einer kulturkritischen Publizistik dabei ve-
hement als Ausweis eines ‚falschen‘ Denkens attackiert.
Dieser zeit- und kulturkritischen Sichtweise enthielt sich der Ratgeber – als in-
tegraler Bestandteil der von Lasch kritisierten therapeutischen Kultur – allerdings
ostentativ. Stattdessen privilegierte er ein Leben „im Augenblick“ und riet zugleich
davon ab, „endlos Zeit und Energie mit dem törichten Versuch zu vergeuden, Ihre
Vergangenheit zu begreifen, zu bewältigen und zu verklären.“128 Entsprechend pos-
tulierten Ratgeber die Hinwendung zum Augenblick, wobei diese zeitliche Neu-
ausrichtung performativ unmittelbar nachvollzogen wurde, indem etwa empha-
tisch der Modus des Präsens gewählt wurde:
Ich tue das, was mir jetzt gut scheint. Ich erfülle meine Wünsche. Ich bin gut zu mir.
Ich gönne mir etwas. Ich lege das Gefühl ab, frustriert zu sein, entsagen und verzich-
ten zu müssen, vom Schicksal benachteiligt zu werden, […]. Ich kümmere mich und
vergleiche nicht mehr, weder mit anderen noch mit dem, was gestern war oder mor-
gen sein wird. Ich nehme die Chance wahr, die ich habe.129

Beer begünstigt hier eine autobiographische Logik, die ein glückliches Leben als
Ergebnis einer erfolgreichen Wiederaneignung temporaler Souveränität markiert.
Wer nur konsequent die dargereichten Techniken einübe und seine „Aufmerksam-
keit“ darin trainiere, „falsche Versionen“ des Glücks zu erkennen und auszuschal-
ten, so das implizite Versprechen, dem gelinge es, sein „wahres Ich“ und damit sein
„wahres Glück“ zu finden, ein Glück nämlich, das „jene Form“ angenommen habe,
„die wir uns vorgenommen“ und in diszipliniertem Üben angeeignet haben.130
Diese Variante des Ratgeberwissens offerierte Regularien für ein fokussiertes Auf-
merksamkeitstraining und leitete zu einem Gegenwartsvollzug an, der als eine Zeit-
form im beständigen Übungsmodus entworfen wurde.

2.4 Das skeptische Glück der Antiratgeber

Der „Verzicht auf religiöse Ersatzbefriedigungen“, so beschloss der Schriftsteller


Michael Rutschky sein 1987 veröffentlichtes Vademecum von A bis Z, sei „in der
modernen Welt der schwerste“, wie er mit Blick auf die Selbsthilfe-Konjunktur der
1980er Jahre notierte:
[Z]yklisch kehren die Ostasiatika wieder und haben als Mode Konjunktur, weil wie-
der einmal eine Generation aus dem Jugendalter heraustritt und in Todesangst hin-

127 Ebd.
128 Ellis, Training der Gefühle, S. 15.
129 Beer, Entscheide dich richtig, S. 54.
130 Beer, Mehr Glück durch Selbstentfaltung, S. 137 f.

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212 Stephanie Kleiner

eingerät. Aber Erwachsensein ist in der modernen Welt mit dieser Todesangst ver-
knüpft; auf religiöse Ersatzbefriedigungen gilt es zu verzichten.131

Im Vergleich zu klassischen Ratgebertexten weisen Antiratgeber – so die nachfol-


gend zu entfaltende These – eine grundsätzlich andere temporale Logik auf. Die
Gegenwart bezeichnet für sie gerade kein Eingriffsfeld voluntaristischer Glücks-
techniken; vielmehr tritt sie – wie dies auch bei Michael Rutschky anklingt – her-
vor als Emergenzort instabiler Identitäten und schreibt Unsicherheiten fort. Auf-
merksamkeitspraktiken bringen nicht länger ein Selbst hervor, das über seine
Umwelt triumphiert und dieser Glück und Erfolg abtrotzt. Stattdessen adressieren
sie ein Selbst, das sich seiner konstitutiven Gefährdung bewusst bleiben und eine
skeptisch-ironische Haltung zu sich und seiner Umwelt einnehmen soll. Bewusst
arbeiten Antiratgeber mit Strategien der Verfremdung, der Ironisierung und der
Übertreibung, die vom Publikum als paradoxe Gedankenexperimente dekodiert
und in eine Lektüre gelingender Selbstsorge überführt werden sollen. Insofern ver-
harrt der Antiratgeber tatsächlich in der Logik des Rat-Gebens. Im Gegensatz zu
klassischen Ratgebertexten – hier möchte ich an die Befunde von Peeters und Nie-
haus anknüpfen – verfolgt er dabei ein im Kern aufklärerisches Projekt, das zu
kritischer Reflexion über Anspruch, Selbstwidersprüchlichkeiten und Möglichkei-
ten des Genres anhalten will.132 Entsprechend werden essayistische Passagen mit
(kultur-)kritischen Reflexionen und ironischen, oftmals autobiographisch einge-
färbten Einschüben kombiniert zu einer „Selbstproblematisierung der Kritik“.133
In eine Gattung lässt sich der Antiratgeber somit nur schwer einordnen, da er mit
seiner Ironisierung des klassischen Ratgebers zwischen kulturkritischer Emphase
und satirischer Persiflage changiert, dabei aber am formalen Aufbau des Ratgebers
festhält – von konkreten Handlungsanleitungen bis hin zu Multiple-choice-Tests,
die der Selbsteinschätzung dienen.
In seinen anthropologischen Grundannahmen weicht der Antiratgeber aller-
dings merklich von denen des klassischen Ratgebers ab. Das sich selbst begeis-
ternde und anleitende Subjekt des Ratgebers konfrontiert der amerikanische
Schriftsteller Walker Percy (1916–1990) in seinem 1983 publizierten „last self-
help-book“ mit dem „lost self“ des späten 20. Jahrhunderts, das seine Umwelt zwar
rational verstehen und beherrschen konnte, sie aber nicht mehr mit Sinn und Halt
auszustatten vermochte:
The rational Jeffersonian pursuit of happiness embarked upon in the American Revo-
lution translates into the flaky euphoria of the late twentieth century. Every advance
in an objective understanding of the Cosmos and in its technological control further
distances the self from the Cosmos precisely in the degree of the advance – so that in
the end the self becomes a space-bound ghost which roams the very Cosmos it under-
stands perfectly.134

131 Rutschky, Was man zum Leben wissen muß, S. 244.


132 Vgl. Niehaus/Peeters, „Zum diskursiven Ort von Anti-Ratgebern“, S. 80.
133 Vgl. hierzu den Beitrag Robert Suters in diesem Band.
134 Percy, Lost in the Cosmos, S. 12 f.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 213

Dem den personalen Nahbereich akribisch vermessenden Ratgeber stellte Percy ein
Panorama pathologischer Subjektivität entgegen. Am Ende jeden Kapitels findet
sich so etwa – der Ordnung des klassischen Ratgebers nachempfunden – ein
Thought Experiment, das allerdings stets grotesk überzeichnet ist. Die autosugges-
tive Logik des Ratgebers wird in ein absurdes Gedankenexperiment überführt, das
die Validität des offerierten Rates konterkariert.135
Wie Lasch attackiert der Romancier Percy die Therapiekultur seiner Zeit, die
zwar vielfältige Möglichkeiten der Freizeitgestaltung bereitstelle, einen ungehin-
derten Zugang zu kulturellen Angeboten aufweise und zudem in großem Umfang
„instruction[s] on self-help, self-growth“ und „self-enrichment“ anbiete, im Letz-
ten aber dazu beitrage, dass sich ihre Mitglieder zunehmend entfremdet fühlten, als
„ghost in a machine.“136 Die der Kybernetik nahestehende Maschinen-Metaphorik
wird an dieser Stelle nicht im Sinne eines „Steuerungs- und Programmierungsver-
sprechens des sozialen Verhaltens“ verstanden, sondern als enthumanisierende, na-
hezu unheimliche Technologie umfassender Welt- und Selbstentfremdung.137 In
der Self-help-Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts manifestiert sich für den
Schriftsteller Percy wie auch für den Gesellschaftskritiker Lasch daher das Dilemma
des „autonomous Self“, dessen Handlungsspielraum beide auf den privaten Nahbe-
reich subjektiven Well-beings zusammengeschrumpft sehen. Wo der Ratgeber eine
Temporalität hervorbringt, die auf die emphatische Aneignung und Stabilisierung
der Gegenwart abzielt, perpetuiert der Antiratgeber der 1970er und 80er Jahre die
Empfindung tiefer Enttäuschung:
The peculiar predicament of the present-day self surely came to pass as a consequence
of the disappointment of the high expectations of the self as it entered the age of sci-
ence and technology. Dazzled by the overwhelming credentials of science […] and
the technological transformation of the very world itself, the self finds itself in the end
disappointed by the failure of science and technique in those very sectors of life which
had been its main source of ordinary satisfaction in past ages.138

135 „Thought Experiment: You are invited to a party. You have a choice of going as one of these
four people. Which would you choose?
(a) Mickey Rooney, who […] is not shy […], who comes into a room like a tornado
(b) Johnny Carson, who is terrified, who sidles along the wall in dark glasses hoping no one will
speak to him and then is miserable because no one speaks to him
(c) Yourself, who is shy and don’t think you should be, therefore you spend all your energy conce-
aling your terrible malady and trying to figure out how to correct it
(d) Yourself, who is shy, but who knows you’re entitled and that everyone else is likely to be in the
same fix, and who therefore accepts it like a prisoner thrown into the drunk tank with ten
other people all strange to each other […] and so are free to ask simple-minded questions and
make simple-minded requests such as: […] You are good-looking and since there is clearly
nothing for us to talk about, would you care to step outside to my car and fool around?
(CHECK ONE)“ (Percy, Lost in the Cosmos, S. 35 f.).
136 Percy, Lost in the Cosmos, S. 70 f.
137 Hörl/Hagner, „Überlegungen zu einer kybernetischen Transformation des Humanen“, S. 19.
138 Percy, Lost in the Cosmos, S. 178 f.

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214 Stephanie Kleiner

Der Antiratgeber kleidet sich zwar in das Gewand des Ratgebers, indem er dessen
formale Choreographie übernimmt; zugleich aber etabliert er eine gegenläufige
Epistemik, die den Status therapeutischer Wissens- und Selbsthilfekulturen radikal
hinterfragt und die Selbst- und Weltsicherheit, die der klassische Ratgeber auch im
Zeichen der Krise der Modernisierung offeriert, radikal unterminiert.
Anhand seiner besonderen temporalen Logik kann abschließend aufgezeigt wer-
den, in welcher Weise der Antiratgeber als repräsentatives Genre der ‚gedehnten‘
Gegenwart der 1970er und 1980er Jahre gelten kann, die er einerseits diagnostisch
analysiert, dadurch andererseits aber auch verstärkend fortschreibt. Als klassisches
Beispiel eines Antiratgebers gilt gemeinhin Paul Watzlawicks 1983 erschienener
Millionen-Bestseller The Situation is hopeless, but not serious, der allein auf Deutsch
in über 20 Auflagen vorliegt und längst zum Kultbuch avanciert ist.139 Der öster-
reichisch-amerikanische Psychotherapeut, Kommunikationstheoretiker und Philo-
soph Paul Watzlawick (1921–2007) legte seine Anleitung zum Unglücklichsein im
Stil einer „paradoxen Intervention“ an, einer therapeutischen Maßnahme, die viel-
fach in der systemischen Therapie angewandt wird: Um eine pathologische Verhal-
tensweise zu stören, wird diese vom Therapeuten ausdrücklich empfohlen – ein
vermeintlich widersprüchlicher Therapieansatz, der allerdings beim Patienten eine
Reflexion über destruktive Denk- und Verhaltensschemata auslösen und diese
somit sukzessive auslöschen soll.140 Wenn Watzlawick seinem Lesepublikum mit-
hin Anweisungen zum Unglücklichsein unterbreitet, soll dieses – der Logik der
paradoxen Intervention folgend – in die Lage versetzt werden, individuelle Patho-
logien zu hinterfragen und zu durchbrechen.
Watzlawicks ‚Unglücks-Rezepte‘ können darüber hinaus auch als Medium einer
skeptischen Weltauslegung interpretiert werden. Mit ironischer Verve macht er
nämlich die Anweisungen zu einem Pursuit of Unhappiness als sozialpolitisch und
ökonomisch notwendig aus: In einer Zeit, in der „modern governments“ versuch-
ten, „to render their citizens’ lives secure and dripping with happiness from cradle
to grave“, sei die „systematic and relentless education of citizens in the direction of
greater and greater social incompetence“ notwendig, um den Zusammenbruch von
„ministries and other monster bureaucracies“ zu verhindern:
To help avert this disaster, this book wishes to make a small but conscientious contri-
bution. The modern state is in such dire need of the ever-increasing helplessness and
unhappiness of its citizenry that the fulfillment of this need cannot be left to the well-
intentioned but inept attempts of its individual citizens. As in all other walks of
human life, here, too, government planning and direction is the road to sucess.141

Watzlawicks satirische Übertreibung griff somit den bis in die 1970er Jahre hinein
wirksamen planungseuphorischen Anspruch sozial- und wohlfahrtstaatlicher Insti-

139 Watzlawick, The Situation is hopeless. Siehe zur Rezeption Niehaus/Peeters, „Zum diskursiven Ort
von Anti-Ratgebern“, S. 76.
140 Siehe ausführlich Niehaus/Peeters, „Zum diskursiven Ort von Anti-Ratgebern“, S. 77.
141 Watzlawick, The Situation is hopeless, S. 14 f.

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tutionen an, individuelles und kollektives Wohlergehen rational kalkulier- und


steuerbaren Gesetzen unterwerfen und gesellschaftliche Realität dadurch vorherseh-
barer gestalten zu können.142 Sein Antiratgeber lässt sich demnach als kritische In-
version jenes modernisierungstheoretischen Paradigmas deuten, das dem Ideal eines
„linear gedachten, kalkulierbaren Fortschritts“ anhing.143 Im Besonderen werden
hierbei jene sozialwissenschaftlichen Projekte in Zweifel gezogen, die – wie etwa das
Social Indicators Movement der 1970er Jahre144 – Möglichkeiten und Rahmenbe-
dingungen individuellen und kollektiven Wohlergehens empirisch erfassen und in
sozialpolitisches Handeln überführen wollten. Diesen optimistischen und zukunfts-
gewissen Planungsszenarien setzte sein polemischer Antiratgeber ein „set of instruc-
tions and suggestions“ entgegen, in dem die „most useful and reliable mechanisms
for the pursuit of unhappiness“ dargelegt wurden.145
Breiten Raum nimmt in Watzlawicks Antiratgeber der Umgang mit der tempo-
ralen Logik des Ratgebens ein. Dessen Programm der Glücksbemeisterung stellt
Watzlawick radikal in Frage und deklariert es als gefährliches Nullsummenspiel:
Arriving – by which is meant either literally or metaphorically reaching a destination
– is generally taken to be an important criterion of success, power, recognition, and
self-esteem. By the same token, failure, or, especially, indolent drifting is considered a
sign of stupidity, laziness, irresponsibility, or cowardice.146

Demgegenüber weiß aber der „talented unhappiness expert“, der sich nachfolgend
auf ältere Klugheitslehren beruft und die Position eines Weisheitslehrers einnimmt,
dass „the arrival at the most sublime goal is fraught with a special danger“, nament-
lich „the disenchantment of successful arriving“.147 Die Logik des Verheißens und
der antizipierten Glücksbemeisterung wird darum – etwa im Kapitel „Beware of
Arriving“ – bewusst durchkreuzt, indem Strategien des Ausharrens in einer als zu-
nehmend kontingent erlebten Gegenwart vermittelt werden. Zielvorgabe des Anti-
ratgebers ist mithin nicht das sich zu permanenter Selbstübersteigerung antrei-
bende Selbst, das erfolgreich über die „gaps and inconsistencies“ des Lebens
triumphiert und die Gegenwart ausschließlich im Modus des Gewinnens bzw. des
Verlierens entwirft.148 Angestrebt wird vielmehr eine Form moderater Selbstregu-
lierung, die merklich von den autosuggestiven und kybernetischen Planungsme-
thoden des klassischen Ratgebers abweicht und auch das Versprechen kalkulierter
Selbstoptimierung in Frage stellt. An die Stelle der pragmatischen Gegenwartssta-

142 Zur Konjunktur wissenschaftlich-technizistischer Planungsvisionen in der Nachkriegszeit vgl.


ausführlich van Laak, „Das technokratische Momentum in der deutschen Nachkriegsgeschichte“;
Ders., „Zwischen ‚organisch‘ und ‚organisatorisch‘“.
143 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 79.
144 Vgl. zur Geschichte des Social Indicators Movement exemplarisch Andrews/Whitey, Social Indi-
cators of Well-Being.
145 Watzlawick, The Situation is hopeless, S. 17.
146 Ebd., S. 66.
147 Ebd., S. 67.
148 Rowe, The successful Self, S. 40 f.

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bilisierung setzt der Antiratgeber die skeptische Selbstproblematisierung (in) der


Gegenwart.
Gleichwohl belässt es der Antiratgeber nicht bei dieser kritischen Inversion tra-
ditionellen Ratgebens. Dem Nullsummenspiel des Ratgebers, der einen unbeding-
ten Willen zur Durchsetzung eines individuellen Glückskalküls einfordert, wird
ein skeptisch-moderates Glückskonzept entgegengestellt; denn „what zero-sum
players are likely to overlook, stuck as they are with the idea of having to win so as
not to lose, is that greatest opponent of all, life, and all that life has to offer quite
apart from victory and defeat.“149 Dem individuellen Kampf um Glück und Erfolg
steht ein Glücksverständnis gegenüber, das sich der Unsicherheit und Komplexität
der je eigenen Gegenwart bewusst aussetzt. Vor allem aber wird ein Glückskonzept
entwickelt, das sich nur in der Beziehung zu Anderen entfaltet. Watzlawick hebt
hierbei explizit auf Qualitäten wie „fairness, tolerance, and trust“ ab und entwirft
somit ein Glücksmodell, das auf Vorstellungen sozialer Inklusion aufruht und dem
trotzig-diszipliniert erkämpftem Modell individuellen Glücks ein Ideal solidari-
schen Miteinanders entgegenstellt.150 Der Antiratgeber entfaltet also Maßgaben
zum Erreichen eines skeptischen Glücks, das den Menschen als ein in seine Gegen-
wart verstricktes Wesen begreift und Aufmerksamkeitspraktiken entwirft, die die-
ser prekären Situation des Ausgeliefertseins Rechnung tragen.
Resümierend kann der Antiratgeber somit als eine Variante des Ratgebergenres
charakterisiert werden, die in ihrer ironischen Brechung der Gattungskonventio-
nen einen grundsätzlich eigenständigen Bezug zur Zeitform der Gegenwart etab-
liert und diese damit zugleich problematisiert. Techniken der Gegenwartsstabilisie-
rung und der damit einhergehenden Steigerung souveräner Selbstverfügung finden
sich hier kaum. Vielmehr herrschen Zeitpraktiken vor, die die klassischen Selbst-
techniken des Ratgebers – etwa die beschriebenen Methoden des Wiederholens
und der Selbstbegeisterung – dekonstruieren und damit eine ‚gedehnte‘ Gegenwart
hervorbringen: „Der Wiederholungszwang“, so heißt es lakonisch bei Michael
Rutschky, „hat eine eigene Ewigkeit; hier beglaubigt sie aber nicht die strahlende
Helle einer gegenwärtigen Erfahrung“:151
[G]anz im Gegenteil, die Ewigkeit entwertet die Gegenwart bis zur völligen Unemp-
findbarkeit: Wenn es doch bloß etwas Neues gäbe! […] Danach ist Dr. Abel geradezu
süchtig. Deshalb hat er die Psychoanalyse aufgegeben und sich den ekstatischen The-
rapien zugewandt. Keine Frage, daß seine Depression die Ekstase bald entwertet
haben, daß er auch sie bald mit der Formel quittieren wird: ‚Alles schon mal dagewe-
sen‘. Gerade die Ekstase verliert ja mit der Wiederholung fortschreitend die Kraft.152

Diese Passage ironisiert die dem Glücksratgeber eigene Verheißung steter Selbstop-
timierung, indem diese als modische Augenblickslaune bzw. als stete Wiederkehr
des immer Gleichen abgetan wird.

149 Watzlawick, The Situation is hopeless, S. 120.


150 Ebd., S. 121.
151 Rutschky, Was man zum Leben wissen muß, S. 241.
152 Ebd.

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Glückstechniken am Abgrund der Modernisierung 217

Vor dem Hintergrund einer „Krise der Zeitperspektiven“ (Sighard Neckel), die
für die 1970er und 1980er Jahre charakteristisch wurde, verhandeln Ratgeber wie
Antiratgeber somit sehr verschiedenartige, ja widerstreitende Modi der Gegenwarts-
adressierung. Sie lassen sich zusammenfassend als repräsentative Krisenerzählungen
einer Umbruchphase charakterisieren, die mit der Entzauberung stabiler, zukunfts-
gerichteter Fortschrittserzählungen umgehen mussten. Mit ihren gegenläufigen
Subjektivierungsformen sowie den damit korrespondierenden Aufmerksamkeits-
praktiken führten sie einerseits etablierte Genrekonventionen des Ratgebens weiter.
Gerade aber die Konjunktur des Antiratgebers, der einen Gattungswechsel zur iro-
nischen Kulturkritik vollzieht, verweist auf die Historizität des Ratgeberformates
und dessen eigenwilligen Umgang mit der Zeitform der ‚Gegenwart‘.

Literatur

(Anti-)Ratgeber

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München, 10. Aufl., 1987. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1969 unter dem
Titel Infinite Power for richer Living.
—, Die Macht Ihres Unterbewusstseins: das Buch der inneren und äußeren Entfaltung, Genf,
40. Aufl., 1988. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel The
Power of Your Subconscious Mind.
—, Die Macht der Suggestion. Mehr Glück und Erfolg durch die richtigen Anwendung der
geistigen Gesetze, München, 10. Aufl., 1994. Die amerikanische Originalausgabe erschien
1980 unter dem Titel How to use the laws of mind.
—, Ihr Weg zu innerer Sicherheit. Die Wahrheiten für ein perfektes Leben, Bindlach, 1995. Die
amerikanische Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel Great Bible Truths for
Human Problems.
Newman, Mildred/Berkowitz, Bernard mit Jean Owen, How To Be Your Own Best Friend,
New York, 1971.

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and youthful attractiveness, West Nyack, 1969.
— , Geistige Isometrik. Der Weg zu Glück, Reichtum, Gesundheit, Erfüllung, Freiburg im
Breisgau, 2. Aufl., 1975. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1967 unter dem
Titel How to Strengthen Your Life with Mental Isometrics.
— , Martinis and Whipped Cream: The New Carbo-Cal Way to Lose Weight and Stay Slim,
New York, 1976.
— , Autogenic. Das Selbsthilfe-Programm für Glück und Erfolg, München, 1984. Die ameri-
kanische Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel Helping yourself with Autogenics.
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Rutschky, Michael, Was man zum Leben wissen muß. Ein Vademecum von A bis Z, Zürich 1987.
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Watzlawick, Paul, The Situation is hopeless, but not serious. The Pursuit of Unhappiness, New
York, 1983.

Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften sowie Weblinks

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Lasch, Christopher, „The Narcissist Society“, in: The New York Review of Books, 30.09.1976
Issue, http://www.nybooks.com/articles/1976/09/30/the-narcissist-society, zuletzt ein-
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Marin, Peter, „The New Narcissism“, in: Harper’s Magazine 10/1975, Bd. 251, Ausgabe
1505, S. 45-56.
Steinfeld, Thomas, „Pionier der Selbstoptimierung“, in: Magazin der Süddeutschen Zeitung,
Heft 02/2012, siehe http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/36861/Pionier-
der-Selbstoptimierung, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
http://www.ret-revt.de/revt-kvt/albert-ellis, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
http://www.zeitzuleben.de/1931-joseph-murphy-die-macht-ihres-unterbewusstseins, zu-
letzt eingesehen am 23.03.2016.
http://www.efreitag.com/murphy.html, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.

Forschungsliteratur

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Göttingen 2009.

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220 Stephanie Kleiner

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III. Narrative Strategien und Gegenentwürfe

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Daniela Fuhrmann

„Er sprach vil worte der sie vergaze“1

Überlegungen zum Erzählprinzip ständiger Wiederholung


in den Offenbarungen Adelheid Langmanns

1. Die „rede […] von einer closterfrauwen“

Adelheid, eine dominikanische Nonne, spricht mit Gott. Am Dreifaltigkeitstag


beispielsweise bittet sie ihn, er möge sie kleiden. Gott entgegnet daraufhin: „daz wil
ich tuen“ (AL 7, 6 f.), und beginnt, ihr verschiedenfarbige Kleidung anzulegen.
Anschließend entspinnt sich ein Dialog zwischen den beiden über die allegorische
Ausdeutung der Farben ihrer neuen Kleider (vgl. AL 7, 7-19). Ein anderes Mal, im
Jahre 1330 zu Pfingsten, verspricht Gott Adelheid, ihr den Heiligen Geist zu sen-
den, ebenso wie ihn die Jünger einst empfangen hätten. Tags darauf allerdings
nutzt Adelheid die Gelegenheit während der Messe, als man das Sanctus singt, sich
wegen der Nichteinhaltung des Versprechens bei Gott zu beschweren. Er habe ihr
den Heiligen Geist geben wollen wie seinen Jüngern, doch irgendetwas scheint bei
der Geist-Übermittlung schiefgelaufen zu sein: „do konden si alle sproche und
elleu dink, des kan ich niht“ (AL 15, 22 f.). Aber Gott weiß sie zu beruhigen und
versichert ihr, dass auch ihre Seele den Geist empfangen habe. Nur bestehe gerade
keine Notwendigkeit, dass sie mehrere Sprachen beherrsche (vgl. AL 15, 24-27).
Die skizzierten Begebenheiten bieten nur eine kleine Auswahl derjenigen Situatio-
nen, in denen Adelheid mit Gott in Kontakt tritt. Denn die Klosterschwester hat
nicht nur ein einziges Mal diese außergewöhnliche Gelegenheit, sondern die Ge-
spräche zwischen ihr und „unserm herren“ finden wiederholt statt – meist, wie an
den geschilderten Begegnungen bereits zu sehen ist, an kirchlichen Festtagen, wäh-
rend liturgischer Feierlichkeiten oder privater Andachten.
So zumindest berichtet es ein Text aus dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts,
der sich selbst als „rede […] von einer closterfrauwen“ ausgibt, die beschreibt, „wie
got mit ir gewundert hat von jugent auf […]“ (AL 1, 2 f.). Der in der Forschung
als Offenbarungen der Adelheid Langmann, einer Dominikanerin des Klosters En-
gelthal bei Nürnberg, bekannte Text ist in lediglich drei Handschriften überliefert,2

   1 Zit. nach der Edition: Offenbarungen der Adelheid Langmann, Klosterfrau zu Engelthal, hg. v. Phi-
lipp Strauch, S. 9, Z. 25 f. Im Folgenden unter der Sigle AL mit Seiten- sowie Zeilenangabe direkt
im Text zitiert.
  2 Zur Überlieferung siehe ebd., S. IX-XV, bes. S. XIII. Außerdem Ringler, „Art. Langmann, Adel-
heid“, Sp. 600 f., sowie Thali, Beten, S. 169-171. Von Interesse für die vorliegende Studie sind
lediglich die Münchener und insbesondere die Berliner Handschrift, die vermeintlich älteste Fas-

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224 Daniela Fuhrmann

die alle im monastischen Kontext entstanden sein dürften und dort vermutlich
auch ihren bevorzugten Rezeptionsort hatten.3 Über die Gebrauchssituation der
Offenbarungen ist so gut wie nichts bekannt. Spekulationen über Verwendung und
Funktion des Textes sind nahezu ausschließlich auf diejenigen Aussagen angewie-
sen, die der Text selbst über sich macht,4 auf seine spezifischen Gestaltungsmerk-
male sowie den Vergleich mit anderen, den Offenbarungen ähnlichen Texten. Denn
die „rede […] von [der] closterfrauwen“ Adelheid Langmann reiht sich ein in eine
Gruppe von Schriftzeugnissen, die im Laufe des 14. Jahrhunderts, offenkundig in
der Tradition derjenigen Werke der Helftaer Zisterzienserinnen des 13. Jahrhun-
derts, entstanden sind.5 Die Offenbarungen zählen somit zur sogenannten Nonnen-
oder auch frauenmystischen Vitenliteratur des Spätmittelalters.6 Sie präsentieren
eine einzelpersönliche Vita, die allerdings weniger als äußere Biographie der Klos-
terschwester zu lesen ist,7 d. h. nicht so sehr auf die äußeren Ereignisse in Adelheids
Leben abhebt, sondern vielmehr ihr spirituelles Leben und dabei vornehmlich ihr
Erleben diverser Gottesbegegnungen in den Blick nimmt. So reiht das Werk eine
Vielzahl von Berichten ebensolcher Gnadenerfahrungen, wie sie eingangs kurz
skizziert wurden, aneinander, in denen sich Gott – meist in seiner menschlichen
Verkörperung als Jesus Christus – der Dominikanerin nicht zuletzt auch immer
wieder in direkter Ansprache zuwendet. Die Gottesgespräche Adelheids wiederho-

sung der Offenbarungen. Die Wiener Handschrift, angefertigt für ein Augustinerchorfrauenstift,
entstammt bereits dem Reformkontext und verlässt den Dominikanerorden. Reformzwecken an-
gepasst, weist der Text, wie Ringler herausarbeiten konnte, Legendarisierungsmerkmale auf. Vgl.
Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 65-80.
  3 Hierzu besonders Thali, Beten, S. 169-171, welche die Münchener Handschrift aufgrund sprach-
licher Merkmale dem „Nürnberger Raum […vielleicht sogar] Engelthal selbst“ zuordnet (S. 170)
und für die Berliner Handschrift auf den Besitzvermerk verweist, der diese Fassung eindeutig
dem Kloster St. Katharina in Nürnberg zuschreibt (S. 171 sowie Anm. 9). Alois M. Haas spricht
im Zusammenhang mit den dominikanischen Viten von „eigentliche[r] Klosterliteratur“ (Haas,
„Deutsche Mystik“, S. 292). Und Gertrud Jaron Lewis wählt für ihre Studie zu den Schwestern-
büchern einen Titel, der das Verhältnis der Literatur zu ihrem Umfeld ebenso treffend beschreibt.
Vgl. Lewis, By Women, For Women, About Women.
  4 Maßgebliche Untersuchungen zur Genese und Funktion derartiger frauenmystischer Viten bei
Ringler, „Rezeption mittelalterlicher Frauenmystik“; Peters, Religiöse Erfahrung, bes. S. 176-188;
Bürkle, Literatur im Kloster.
  5 Über die Kenntnis des Fließenden Lichts Mechthilds von Magdeburg in den Klöstern Maria Me-
dingen und Engelthal legen die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner sowie die
Offenbarungen Christine Ebners Zeugnis ab. Vgl. hierfür Briefe Heinrichs von Nördlingen, Brief
XLIII, S. 246 f., Z. 117-141. Außerdem Offenbarungen der Christine Ebner, in: cod. Cent. V,
App, 99, Nürnberg Stadtbibliothek [N 1]. Vorläufig und noch unkritisch ediert durch Susanne
Bürkle, S. 36, Z. 9-11, die mir ihr Exemplar freundlicherweise zur Verfügung stellte.
  6 Zum Gattungsbegriff ‚Nonnenliteratur‘ siehe Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 3-6.
Angewandt und diskutiert im Hinblick auf die dominikanischen Offenbarungstexte bei Bürkle,
Literatur im Kloster, S. 9, 15-17. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Terminus ‚Frauen-
mystik‘ findet sich außerdem bei Dies., „Die Offenbarungen der Margareta Ebner“, bes. S. 84-86.
  7 Für die Differenzierung zwischen „äußere[m] Lebenslauf“ und der Darstellung einer „inneren
Entwicklung“ siehe von Wilpert, „Art. Biographie“. Einen Überblick über Definitionsmöglich-
keiten sowie konstitutive Bestandteile einer Biographie bietet außerdem Zymner, „Biographie als
Gattung?“.

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„Er sprach vil worte der sie vergaze“ 225

len sich sogar derart oft, dass es mitunter vorkommt, dass die Schwester die mitge-
teilte Gottesbotschaft gar nicht mehr aufnimmt, sondern vergisst:
Zu einen zeiten an dem samztage als man den advent anhebet ze vesper do wart disiu
swester ser wainent und pat unsern herren […], daz er geruchet zu ir komen. do kom
unser herre zu ir und sprach: ‚frid sei mit dir.‘ er sprach vil worte der si vergaze und
sprach: ‚ich wil deinen namen schreiben an daz lebendige puech, daz er nimmer dar
an vertiliget schol werden. da von gehabe dich wol.‘ (AL 9, 21-29, Herv. D.F.)

Ein derartiges Vergessen göttlicher Botschaften befremdet den modernen Rezipien-


ten. Wenn Gott schon bereit dazu ist, aus der Transzendenz hervorzutreten und mit
dem Menschen zu sprechen, wie kann man sich nicht merken, was er zu sagen hat?
Doch die zuvor zitierte Reaktion der Klosterschwester auf die Anrede Gottes macht
überaus deutlich, dass auf der Ebene des Dargestellten das in moderner Vorstellung
gemeinhin Außergewöhnliche – der direkte Kontakt mit Gott – aufgrund seiner
augenscheinlichen Wiederholung und somit zu erwartenden Wiederholbarkeit als
wenig Aufmerksamkeit erregend oder aber aufgrund seiner Intensität als die Auf-
merksamkeitsfähigkeit überfordernd empfunden wird. Nun potenzieren die Offen-
barungen diese Wiederholung obendrein, indem sie keineswegs iterativ von den
häufigen Gottesbegegnungen berichten,8 sondern deren hohe Frequenz geradezu
betonen. Denn sie nehmen die Repetition auch in ihre formale Gestaltung auf und
machen das Wiederholungsgeschehen auf diese Weise gleichermaßen zum Gegen-
stand der Darstellung wie zu deren Erzählprinzip. So sieht sich der Rezipient in
gewisser Weise doppelt mit dem Phänomen der Wiederholung konfrontiert. Dabei
wirkt es beinahe ironisch, dass der Text heutzutage mit derjenigen Passage, in der er
seiner Protagonistin einen Mangel an Aufmerksamkeit attestiert, Aufsehen für eben
dieses ihn auf mehreren Ebenen prägende Gestaltungsmerkmal erregt.
Gerade das sich hier andeutende Spannungsfeld von Wiederholung, Exzeptio-
nalität und Gewohnheit soll im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen,
wobei in einem ersten Schritt zu zeigen sein wird, dass nicht nur der moderne Blick
aus der Alterität heraus die Spannung zwischen Aufsehen erregender und Erwart-
barkeit generierender Wiederholung wahrnimmt,9 sondern die Offenbarungen
selbst diese widersprüchlich scheinenden Reaktionen als mögliche Rezeptionsmodi
der sich wiederholenden Gottesbegegnungen in sich enthalten und somit beispiel-
haft vorgeben (2.). In einem zweiten Schritt wird die insbesondere in der Syntax
der Offenbarungen deutlich zutage tretende Wiederholungsstruktur genauer in Au-
genschein genommen und mit der liturgischen Wiederholung verknüpft, von wel-
cher der Text implizit handelt, indem er das Leben einer Ordensschwester präsen-

  8 Vgl. Genette, Die Erzählung, S. 74 ff.


  9 Hier zeigt sich die Produktivität der ‚Alterität‘ als methodologischer Kategorie, wie sie Christian
Kiening formuliert. Der Blick aus der Distanz heraus auf einen Text nimmt Auffälligkeiten wahr,
versucht diese aber nicht als das völlig Andere zu klassifizieren oder dem eigenen Blick einzuver-
leiben, sondern die Spezifik über komplexe Beschreibung des Gegenstandes herauszuarbeiten
und zur Grundlage für Konzeptualisierungen zu verwenden. Siehe hierzu Kiening, „Alterität und
Methode“, bes. S. 161-163.

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tiert. Dabei wird zu zeigen sein, wie die Offenbarungen die Liturgie und die sich an
sie anschließenden frömmigkeitspraktischen Handlungen als wesentliche Bestand-
teile einer kulturellen monastischen Praxis interpretieren, die die Wiederholung zu
Zwecken der Aufmerksamkeitslenkung einsetzt (3.) und die, so wird abschließend
argumentiert werden, nicht allein auf inhaltlicher Ebene Eingang in den Text fin-
det, sondern gleichermaßen modellbildend für dessen formale Gestaltung sowie
mögliche Funktionalisierung gewirkt haben mag (4.). Auf diese Weise leisten die
folgenden Untersuchungen einen Beitrag dazu, eine potentielle Wirkung des Of-
fenbarungstextes zu erschließen, indem sie herausarbeiten, wie er sich mit Hilfe des
Erzählprinzips der Wiederholung als frömmigkeitspraktische Literatur und somit
als Medium der Kontaktaufnahme mit Gott inszeniert.10

2. Transzendenzbegegnung zwischen Alltäglichkeit


und Exzeptionalität
Thema der Offenbarungen ist, wie die einleitenden Zeilen selbst angeben, die Tat-
sache, dass Gott mit der Dominikanerin Adelheid gewundert habe. Diese Wunder,
wie man im weiteren Fortgang des Textes erfährt, gestalten sich überwiegend als
Gespräche oder Begegnungen mit der Transzendenz. Nahezu jeder Sinnabschnitt
der Offenbarungen führt diesen zentralen Gegenstand in ähnlicher Form aus, so
dass das vorgestellte Leben der Schwester aus – abstrakt gesehen – immer densel-
ben Geschehnissen, wenn man so will, einer Verstetigung des Wunderbaren be-
steht. Indem der Text selbst seine Handlung mit dem Begriff des Wunders klassifi-
ziert, steckt er die Bandbreite möglicher Reaktionen auf das derart Dargestellte
bereits ab: Zwar beschreibt das Wunder mit Blick auf einen christlichen und das
heißt allmächtigen Gott einerseits etwas Normales in dem Sinne, dass es in ständi-
ger Wiederholung stattfinden kann. Auf der anderen Seite aber impliziert es in der
Wirkung auf den Menschen und zu Demonstrationszwecken der göttlichen All-
macht doch auch das Außeralltägliche und Staunenswerte.11 Eben diese bereits
über die handlungsbeschreibende Terminologie aufgerufenen, scheinbar unver-
einbaren Reaktionsoptionen auf den Gegenstand der Darstellung finden sich im
weiteren Textverlauf schließlich durch das Verhalten der Figuren realisiert, deren
beispielhafte Rezeptionsmodi, unterstützt durch ebenfalls widersprüchliche Er-
zählstrategien, auch die Aufnahme der Offenbarungen beeinflussen und lenken.
Die Interaktionen zwischen der Nonne Adelheid und Gott in einer seiner drei
Gestalten oder auch der Kontakt zu Gottes himmlischem Personal positionieren
sich dabei innerhalb der Sphäre der Normalität, indem sie nicht das Staunenswerte
der Transzendenzbegegnungen, sondern deren Alltäglichkeit ausstellen. Die Grenze
zwischen Diesseits und Jenseits, welche durch den Menschen Adelheid und das
heilige Personal der Gottesschau impliziert ist, wird von den Figuren selbst nicht

 10 Ausführlicher dazu Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit.


 11 Vgl. Angenendt, „Art. Wunder“. Siehe ebenfalls Signori, Wunder, bes. S. 9-15.

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„Er sprach vil worte der sie vergaze“ 227

hervorgehoben, sondern vielmehr verwischt. Es macht den Anschein, als teilten die
Figuren einen gemeinsamen Raum, innerhalb dessen die gegenseitige Ansprache
und Kontaktaufnahme ohne jegliche Hindernisse möglich ist. So findet sich das
Erscheinen Gottes in der Regel auch nicht weiter kommentiert als mit einem blo-
ßen: „do kom unser herre zue ir“ (AL 5, 15 f.).12 Er muss sich weder ankündigen
lassen, noch in seiner eigenen Rede zunächst auf seine Anwesenheit hinweisen.
Seine Präsenz und Kommunikation mit der Schwester bedürfen keiner dieser vor-
bereitenden Zeichen. Gott und seine Heiligen verhalten sich keineswegs wie Ange-
hörige eines für die Nonne unerreichbaren Raumes, sondern sind dazu bestimmt,
überaus menschlich zu agieren. Sie nehmen sich überwiegend als gewöhnliche Ge-
sprächspartner aus und verzichten auf herrschaftliches oder Ehrfurcht erregendes
Verhalten. Stattdessen erhalten sie durch ihr Gebaren der Schwester gegenüber die
Funktion guter Freunde. Eine erzähllogische Begründung erfährt dieses Verhalten
durch eine Vielzahl von Äußerungen, mit denen Gott seine Heiligen und sich
selbst der Nonne als Vertraute empfiehlt, die ihr – als Ersatz fehlender menschli-
cher Nähe im Kloster –13 zum Teil recht basale Bedürfnisse erfüllen. Manche Epi-
soden heben Gottes Position als Vertrauter, zu dem kein Distanzverhältnis zu be-
stehen scheint, besonders hervor, wenn er ihr beispielsweise anbietet: „[S]wenn dir
iht werre, so kum zu mir, so wil ich dich trösten.“ (AL 24, 10 f.) Die gegenseitige
Vertrautheit macht eine Anspannung innerhalb der Interaktion obsolet; diese stellt
sich vielmehr erst dann ein, wenn die zu erwartende Gewohnheit enttäuscht wird
und die Gottesbegegnung ausbleibt. Erst dann zeigt die Protagonistin Gefühlsre-
gungen: „dar nach an dem andern tage under der messe do waint si […]“ und er-
klärt im Anschluss daran, dass diese Traurigkeit aus der Absenz Gottes herrühre:
„herre, nu wil ich immer mer wainen, du kumst denn zu mir.“ (AL 10, 22-25)
Beachtenswert an dieser Episode ist, dass Gott der ‚emotionalen Erpressung‘ Folge
leistet und seine häufig betonte Verfügbarkeit demnach über jeden Zweifel erhaben
ist.
Die Art, wie die Figuren sich selbst einführen und miteinander umgehen, lässt
folglich auf der Ebene des Dargestellten nicht auf eine Interaktion mit Gott, also
etwas gemeinhin Außergewöhnliches schließen. Lediglich der den Konversationen
zu entnehmende Informationsgehalt geht teilweise über reduziertes menschliches
Wissen hinaus, handelt es sich doch häufig um ein Heilsversprechen, das aus-
schließlich derjenige äußern kann, der Heil aussendet. So ist beispielsweise allein
Gott dazu imstande, die Schwester während einer langwierigen Krankheit darüber
aufzuklären, was sie erwarten wird, sollte er ihren Tod zu diesem Zeitpunkt als
Resultat ihres Leidens zulassen: „[W]iltu nu sterben, so wil ich dich gewern, du
verst in daz himelrich; aber des grozen lones, den du noch verdinen maht, des
mustu enpern.“ (AL 17, 22-24) Dem wenig Aufmerksamkeit erregenden Verhalten

 12 Siehe außerdem beispielsweise AL 5, 30; 7, 2 f.; 9, 25; 10, 12; 11, 12 f.
 13 Vgl. AL 3, 20 - 4,1: „nu lagen ir ir freunde dannoch ser an dem herzen daz si di lozzen scholt. […]
do sprach unser herre: ‚so wil ich dich deiner freunde ergetzen. habe dir mein mueter und alle
mein heiligen, daz die dein versprecher schuln sein vor mir.‘“

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Gottes und seiner Heiligen entspricht eine kaum vorhandene emotionale (Auf-)
Regung der Protagonistin, die weder durch Verwunderung noch Staunen, weder
durch Ehrfurcht noch Furcht gekennzeichnet ist, sondern sich vornehmlich durch
Entspannung charakterisiert. Wenn überhaupt eine Beschreibung ihrer Gefühlslage
erfolgt, betont diese vielmehr das Angenehme, das diese Erfahrung in ihr hervor-
ruft. In einer Art erlebter Rede heißt es beispielsweise: „der swester was als reht
wohl mit unserm herren.“ (AL 7, 21) Will man am Verhalten der an der Gnaden-
erfahrung beteiligten Figuren innerhalb der Offenbarungen ablesen, wie das Erleb-
nis einer Gottesbegegnung zu bewerten ist, kommt man nicht umhin, diese als
gewöhnliches Ereignis zu interpretieren.14
Und auch die Darstellung gestaltet die Interaktionsmöglichkeit mit Gott und
seinen Heiligen, die sich in den Momenten der geistigen Schau sehr konkret für die
Schwester ergibt, kaum als Besonderheit. Ebenso wie dem Verhalten der Figuren
mangelt es der narrativen Inszenierung der Begegnungen zwischen Ordensschwes-
ter und heiligem Personal an Gesten der Aufmerksamkeitserregung, die das berich-
tete Geschehen als etwas Besonderes hervorheben könnten. Bewertende Erzähler-
kommentare, Plötzlichkeitsmarkierungen ebenso wie Enthüllungsmetaphern, die
ein unerwartetes und daher beachtenswertes Ereignis einleiten könnten, kommen
im eigentlichen Offenbarungstext nicht zum Einsatz.15 Ob es sich um Begebenhei-
ten zwischen Gott und Mensch oder ausschließlich zwischen Menschen handelt,
macht die Narration kaum ersichtlich. Die Darstellung erfolgt zum Teil sogar in
identischem Wortlaut und lässt, wie die folgenden Beispiele zweier Begegnungen
zeigen, keinerlei Qualitätsunterschied deutlich werden. Der erste Auszug gibt eine
Unterredung mit der Vertrauten Adelheids, Christina von Kornburg,16 wieder (1);
der zweite präsentiert eine beliebig herausgegriffene Begegnung mit Gott (2). Beide
bedienen sich einer sehr wenig ausgeschmückten, drehbuchartigen Darstellung
und unterscheiden sich nahezu ausschließlich durch die Nennung verschiedener
auftretender Personen.
(1) Si het ein gespilen di was ein heilige frau, di hiez swester Cristina von Kuren-
burg. di was ir gar liep. […] eins tages sprach si zu ir: ‚libe Cristina, sag mir auch

 14 Die Selbstverständlichkeit der Gottesbegegnung wird auch bei Thali schon herausgestellt, aller-
dings weniger argumentationslogisch aus dem Text selbst als vielmehr – in Anlehnung an Hum-
bert von Romans Konstitutionen von 1259 – mit der allgemeinen Funktionsbestimmung einer
Nonne als sponsa Christi und der sich daraus ergebenden Verbundenheit, um nicht zu sagen Inti-
mität, begründet. In dieser Deutung wäre die Inszenierung der sich kontinuierlich wiederholen-
den Gottesbegegnung allerdings weniger narrative Strategie als theologische Aussage. Vgl. Thali,
Beten, S. 204.
 15 Ganz im Gegensatz zur nicht mehr zeitgenössischen Titelgebung, die ein gleich zweifach zu ver-
stehendes Geheimnis impliziert: Zum einen gibt der Text vor, das innerliche Erleben einer Or-
densschwester und deren göttliche Zuwendungen offenzulegen. Zum anderen gibt er auch die
Offenbarungen, d. h. Botschaften wieder, welche diese von Gott erhalten haben will.
 16 Da aus Engelthal kein vollständiges Verzeichnis der Nonnen überliefert ist, muss auf eine von
Gustav Voit erstellte Auflistung zurückgegriffen werden, der in unterschiedlichen Quellen ge-
nannte Namen der Schwestern zusammengetragen hat. Vgl. Voit, Engelthal. Die hier interessie-
rende Nonne wird 1312 in einem Urbar erwähnt (vgl. ebd., S. 189).

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etwaz von unserm herren, waz er dir guetes tue.‘ do sprach si: ‚ich sag dir nit.‘
[…] noch dem cristtag am dritten tag do ging si zu ir gespilen und pat si aber
daz si ir sagt, waz ir got zu guet tet. do wolt si ir nit sagen. do sprach si: ‚nu du
mir nit sagen wilt, so wil aber ich dir sagen,‘ und hueb an und sagt ir alz daz si
west […]. do si ir uz gesagt, do sprach si: ‚werlich du weist ez als wol als ich und
hon ez menschen nie gesagt.[…]‘ (AL 47, 17 - 48, 14)

(2) do zu vesper do kom unser herre und sprach: ‚mein geminteu, mein zarte und
mein traute und mein libe gemahil und mein libez kint, waz wirret dir? wor um
weinstu?‘ si sprach: ‚ach liber herre, nu all leut ir treu an mir brechent, nu fürht
ich du werdest auch dein treu an mir brechent.‘ do sprach unser herre: ‚gehab
dich wol, ich wil mein gotlich treu an dir nimmer brechen. […]‘ (AL 24, 1-8)

Die narrative Einbettung, die ausschließlich aus Sprechereinleitungen besteht, lässt


keinerlei Unterscheidung zwischen den beiden Interaktionsszenen deutlich wer-
den. Ganz im Gegensatz dazu die Figurenrede. Dieser Ausschnitt bestätigt aber-
mals die zuvor erwähnte vertraute Beziehung zwischen Gott und der Protagonistin.
Er verdeutlicht überdies, dass die lieblichen Worte als Ausdruck nahezu amouröser
Zuneigung besonders stark von Gott genutzt werden und nicht allein der Schwes-
ter obliegen. Es handelt sich in der Inszenierung weniger um einen fernen Gott,
dem die minnende Schwester sich hingibt und ihn anfleht, sich ihrer anzunehmen.
Es ist vielmehr der schon bei Mechthild von Magdeburg als solcher charakterisierte
„minnensieche“ Gott,17 der mit den Attributen – in diesem Beispiel mit der liebe-
vollen Sprechweise – ausgestattet ist, die einen Liebenden auszeichnen. Diese Dar-
stellungsweise macht auch die zuvor angesprochene ‚emotionale Erpressung‘ von
Seiten der Schwester glaubhafter, die sich der göttlichen Zuwendung doch sehr
bewusst zu sein scheint. Das gemeinhin Außergewöhnliche, die Begegnung mit
Gott, wird folglich sowohl auf der Ebene des Dargestellten, abzulesen am Verhal-
ten der Figuren, wie auch auf der Ebene der Darstellung, die auf Aufsehen erre-
gende Gesten verzichtet, zum Alltäglichen stilisiert und somit seiner Besonderheit
beraubt. Man gewinnt den Eindruck, der Text sei geradezu bemüht, dafür zu wer-
ben, das außergewöhnliche, da zu Lebzeiten in der Regel nicht zu erlangende Er-
eignis der Transzendenzerfahrung zur Alltäglichkeit werden zu lassen.
Doch sind dies nicht die einzigen, dem Werk zu entnehmenden Indizien, die
eine Bewertung der gnadenhaften Erfahrung bzw. ihres Berichts ermöglichen. Der
Text konstituiert durch den Einsatz sich zuwiderlaufender narrativer Strategien ein
Spannungsfeld, das zwischen Verstetigung durch Wiederholungsakte auf der einen
und Ausdruck von Besonderheit auf der anderen Seite geprägt ist. Bereits die Tat-
sache, dass es einen, sogar in schriftlicher Form abgefassten Bericht von den Erleb-
nissen der Schwester gibt, zeugt mehr von der Erzähl- bzw. Notationswürdigkeit
des Dargestellten als von seiner Alltäglichkeit. Darüber hinaus verweist – sollte sich
Bedeutsamkeit über Erzählvolumen ausdrücken – die Extension und bloße Anzahl

 17 Vgl. die an Gott gerichteten Lobesworte der Seele: „Herre, du bist ze allen ziten minnensiech na
mir, das hast du wol bewiset an dir.“ (Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gott-
heit, Buch III, Kap. II, S. 79, Z. 15 f.)

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derjenigen Passagen innerhalb des Textes, welche die geistige Schau zum Inhalt
haben und diejenigen thematisch anders besetzten Abschnitte bei Weitem überstei-
gen, darauf, dass die Gottesbegegnung wenigstens für den Rezipienten des Berichts
qualitativ anders besetzt sein kann, obwohl sie aus Sicht der Protagonistin unspek-
takulär anmuten mag.
Das Werk bietet darüber hinaus nahezu als beispielhaft zu lesende Rezeptions-
möglichkeiten an, die illustrieren, welcher Art eine Reaktion auf die begnadete
Schwester bzw. auf den Bericht ihrer Gnaden sein kann. Die in den Offenbarungen
aufgeführten Figuren, die in der einen oder anderen Weise Zeuge der Begnadung
Adelheids werden, scheinen deren Erlebnisse nämlich durchaus als Besonderheit zu
interpretieren. Zuallererst ist an dieser Stelle der „hohe […] lesmeister“ (AL 26, 1)
zu nennen, der eine systematische Position besetzt, die zwischen der textinternen
und der textexternen Rezeption vermittelt. Auf Gottes Anweisung nämlich eröffnet
Adelheid dem Lesemeister „all ir sache“ (AL 26, 3), der diese daraufhin approbiert
und für derart notationswürdig befindet, dass er die Schwester ermutigt, alles nie-
derzuschreiben (vgl. AL 26, 4-6). In diesen Zeilen also findet sich die Genese der
Offenbarungen beschrieben, welche die Gnadenerfahrungen im Bericht allererst
zugänglich macht.
Abgesehen von dem für die Frauenviten charakteristischen und daher stark lite-
rarisierten Szenarium des Schreibbefehls18 enthalten die Offenbarungen Adelheids
noch weitere Episoden, die eher die Besonderheit denn die Alltäglichkeit der
schwesterlichen Erlebnisse hervorheben. Die Nonne nämlich sieht sich in der Regel
unmittelbar nach dem Bekanntwerden ihrer erlebten Gnaden dazu angehalten, die
Mitwisser zur Geheimhaltung aufzurufen. Beispielhaft sei hierfür ein Dialog zwi-
schen Adelheid und ihrer Lehrerin in der Klosterschule angeführt, der sich im
Anschluss an eine dort erfahrene Gnade entspinnt, innerhalb derer Adelheid auf-
grund göttlicher Einwirkung des Lernens ohnmächtig wird. Jesus selbst ersetzt sie
daraufhin in ihrer lernenden Rolle:
[…] do kome sie aller dinge von ir selber. do kom unser herre und lernt für si und tet
ir auch gar gutlichen. des morgens sprach ir maisterin zu ir: ‚wa wer du gestern?‘ si
sprach: ‚ich lernt hie.‘ do sprach ir maisterin: ‚unser herre lernt oder du?‘ si pat ir
meisterin flizzik daz si swige. (AL 14, 10-15, Herv. D.F.)

Die für die spätmittelalterliche Frauenmystik topische Heimlichkeit lässt sich dem-
nach als weiteres Element identifizieren, das über die Stilisierung des Erlebten zum
Geheimnis auf die Erzeugung von Neugierde zielt und den Status des Berichteten
als exzeptionell auszuweisen sucht.19 Doch werden diese zum Teil nur punktuell
zum Vorschein kommenden Elemente wie der Heimlichkeitstopos durch das für
die Offenbarungen charakteristische repetitive Erzählen überformt und regelrecht

 18 Grundlegend für die inszenierten Schreibbefehle Peters, Religiöse Erfahrung.


 19 Zur literarischen Produktivität des Geheimnisses im Allgemeinen Schleier und Schwelle, Bd. 1-3,
hg. v. Aleida und Jan Assmann. Insbesondere bezogen auf spätmittelalterliche frauenmystische
Texte Keller, My Secret is Mine, sowie Dies., „Absonderungen“.

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überschrieben, was eine Exzeptionalität des Dargestellten nachgerade widersinnig


erscheinen lässt.

3. Syntaktische und liturgische Wiederholung

Denn wie der folgende Auszug demonstriert, sind die verschiedenen Gnadenerfah-
rungen innerhalb des Textes abschnitthaft so angeordnet, dass die Offenbarungen
ein für sie typisches formales Muster ausbilden:
An dem sunntage vor dem crissetage, do der convent ze naht aze. do was ez als spet daz
man muest lieht auf zünden. do gedaht ir disiu swester: ‚ach herre, also tut man zue
hohzeiten, so ez spet ist, so zunt man lieht auf. […]
Dar nach an dem cristage do si unsern herren gnam, do dauht si, wi ir unser herre niht
als gutlichen tet als ein ander mol. do waint si ser. […]
Dar nach an der kindlein tak nach der messe do kom unser herre zue dirre swester
und tet ir gar gutlichen. […] (AL 10, 5 - 11, 13, Herv. D.F.)

Der Text ist dergestalt aufgebaut, dass sich jeder Gnadenbericht aus der Kombina-
tion einer geschilderten Gottesbegegnung im Anschluss an eine Temporaladverbi-
ale zusammensetzt, die angibt, zu welcher Zeit das berichtete Ereignis sich zugetra-
gen haben soll. Dieser formale Schematismus bewirkt zunächst den Eindruck einer
Enumeration, die durch beständig realisierte Aufzählungszeichen – die Temporal-
adverbiale als Markierung einer neuen Sinneinheit – die Vielzahl und Häufigkeit
der Gottesbegegnungen ausstellt. Darüber hinaus generiert das musterhafte Erzäh-
len Erwartungshaltungen, indem es eine Wiederholbarkeit des Dargestellten sug-
geriert und somit dem Eindruck der Außeralltäglichkeit von Gottesbegegnungen
vehement entgegenwirkt.
Sieht man sich den formalen Aufbau der Offenbarungen genauer an, fällt außer-
dem auf, dass beinahe jeder Sinnabschnitt mit einer häufig auf frömmigkeitsprak-
tische, wenn nicht gar liturgische Handlungen zurückgehenden Zeitangabe begon-
nen wird. Folglich erhält der Text gleichermaßen wie das von ihm dargestellte
Leben der Ordensschwester seine Struktur durch die Liturgie. Durch den wieder-
holten Einsatz der Zeitangaben, die auf das monastische Gebetsleben referieren,
entwerfen die Offenbarungen einen nahezu idealtypischen Klosteralltag, der im
Zeichen der ausschließlichen Konzentration auf das Officium Divinum steht.20
Dabei gilt zu bedenken, dass die zum Gottesdienst gehörigen frömmigkeitsprakti-
schen Handlungen mit diversen Modi der Text-, wenn nicht gar der Schriftrezep-
tion verknüpft sind. Ob gesungene Psalmen, Predigt, Evangelien- oder Tischle-

 20 Hieronymus Wilms beschreibt in seiner Studie über Das Beten der Mystikerinnen das Leben in den
spätmittelalterlichen Dominikanerinnenklöstern. Auch wenn er die Problematik, den literarisch
stilisierten Texttypus ‚Schwesternbuch‘ als historiographische Quelle heranzuziehen, keineswegs
reflektiert, gibt er in seinen Worten sehr eindrücklich wieder, welchen idealen Entwurf die Schwes-
ternviten vom Klosterleben zeichnen und übermittelt wissen wollen, wenn er von der „vollen Ent-
faltung des liturgischen Gottesdienstes“ spricht (Wilms, Das Beten der Mystikerinnen, S. 14).

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sung, der – vielfach sogar kanonisierte – Text ist als konstitutiv für die Ausübung
der Praktiken zu sehen,21 so dass die Zeitangaben in den Offenbarungen als Impli-
kationen von Liturgie und Frömmigkeitspraxis auch immer als Implikation von
Textrezeption gelesen werden können.
Die Referenzen auf die Liturgie, die private Andacht und Gebete prägen den Text
und lassen sich als Reflexe einer für sein Entstehungsumfeld typischen Norm deu-
ten.22 Diese spiegelt sich folglich im Werk, ohne ihm jedoch einen explizit norma-
tiven Charakter zu verleihen. Die Offenbarungen sind vielmehr deskriptiv-exempla-
risch angelegt. Die Zeitmarkierungen übernehmen die Funktion der Repräsentation
des auch außerhalb der Textwelt gültigen, kulturell festgelegten Anspruchs, dem
sich das Subjekt mit Eintritt ins Kloster, insbesondere mit dem Ablegen der Profess
unterstellt. Das Leben der Ordensschwester und dasjenige ihrer Gemeinschaft sind
zeitlich wie inhaltlich dem Gottesdienst verpflichtet.23 Feste Gebetszeiten und (in
der Regel) fixierte Gebetsinhalte prägen ihren Tag, die Woche und das Jahr.24 Die
gemeinschaftliche kulturelle Praxis verleiht dem individuellen Leben einen verbind-
lichen Rhythmus, durch den es in ein Kollektiv, den Konvent, überführt wird und
innerhalb dessen zu bestimmten Zeiten eine überaus konzentrierte Haltung ein-
gefordert wird. So rufen akustische Signale mehrfach am Tag zum Gebet, wel-
ches wiederum – besonders in Form antiphonaler Psalmodie während des Stunden-
gebets – bereits aufgrund des Wechselgesangs in seiner Natur die aufmerksame Be-
trachtung des jeweiligen Gegenübers sowie einen gewissen Grad an Selbstbeobach-
tung und -kontrolle erfordert. Derlei fest in den Klosteralltag eingefügte und von
der Gemeinschaft auszuführende Frömmigkeitspraktiken bedingen gleichermaßen
die Wachsamkeit der Wahrnehmungsorgane sowie des Geistes und nehmen darüber
hinaus – das ist für den Gesang evident und zeigt sich noch deutlicher in gewissen
Gebetshaltungen wie beispielsweise den Venien, dem fußfälligen Gebet, – den Leib
in ihren Dienst; sie verlangen im Wortsinne dessen Anspannung. Sensorische, intel-
lektuelle ebenso wie physische Aufmerksamkeitsansprüche, die in geregelten Ab-
ständen und nach wiederkehrendem Muster an die Nonne gestellt werden und sich
vom Leben außerhalb der klösterlichen Ordnung unterscheiden, gehen miteinander
einher. Die Institution, welche die nahezu kontinuierliche Andacht durch ihre
Strukturierung des Alltags ermöglicht und auch einfordert, findet in Form der litur-
gischen Zeitmarkierungen wiederholt Eingang in den Text.

 21 Vgl. Ehrenschwendtner, Die Bildung der Dominikanerinnen, bes. S. 149 ff. Ausgehend von Quel-
len unterschiedlichster Art (präskriptiv wie auch literarisch) werden hier die „Grundelemente des
Klosterlebens“ herausgearbeitet. Siehe bes. Kap. 2.1 „Die Gebetsverpflichtungen“, S. 152-176.
 22 Siehe dafür die Constitutiones sororum, die als ihr erstes Kapitel „De officie ecclesie“ handeln und
damit die Dominanz der den Klosteralltag prägenden Gebete deutlich herausheben. Vgl. Consti-
tutiones sororum ordinis fratrum predicatorum, S. 339.
 23 Vgl. Ehrenschwendtner, Die Bildung der Dominikanerinnen, S. 27 f.
 24 Eine Darstellung der Gebetsverpflichtungen in spätmittelalterlichen Dominikanerinnenklöstern
des süddeutschen Raumes findet sich ebd., S. 155-157, wobei der Fokus, der Ausrichtung der Stu-
die gemäß, auf dem Potential der den Gebeten zugrunde liegenden Texten hinsichtlich ihrer Funk-
tion als Bildungsgenerator liegt. Allgemein zur dominikanischen Liturgie vgl. Bonniwell, A History
of the Dominican Liturgy, bes. „XVII. The Liturgy in the Fourteenth Century“, S. 223-252.

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Dass es sich hierbei um eine eindeutig institutionsgebundene Aufmerksamkeit


handelt,25 deren Gültigkeit mit dem Eintritt ins Kloster virulent wird, veranschau-
lichen die Offenbarungen Adelheid Langmanns besonders eindrücklich, indem sie
eine formale Imitation ihres inhaltlich thematisierten Lebenswandels vollziehen.
Der Text ändert, parallel zum dargestellten Leben, seine Struktur, nachdem der
Eintritt ins Kloster geschildert worden ist.26 Erst mit der Einleitung: „An dem ers-
ten antlaztage dar nach und si in daz closter was komen […]“ (AL 4, 27 f.), setzt
die spezifische, durch die klösterliche Liturgie und Frömmigkeitspraxis geprägte
Gestalt der Offenbarungen ein.
Bemerkenswert ist, dass sich der Text in seiner evidenten Prägung durch die
Norm als Zeuge dieser lesen lässt, ohne jedoch, wie bereits angedeutet wurde, der
die Norm setzenden Institution selbst eine explizite Stimme zu verleihen. Der
Erzähler formuliert keine klaren, an präskriptivem Schriftgut wie Regel und Kons-
titutionen angelehnten Handlungsanweisungen, und auch die Protagonistin the-
matisiert so gut wie nie an sie gestellte Anforderungen durch die Institution. Sie
reflektiert nicht über den kontinuierlichen Gottesdienst, sondern übt diesen
schlicht aus, ohne ihn dabei ausdrücklich als die durch das Kloster, die Priorin oder
Mitschwestern von ihr geforderte Pflicht zu kennzeichnen. Lediglich in einem der
Gespräche mit Gott deuten sich Zweifel an, ob ihre Absenz bei gemeinschaftlichen,
durch die Zugehörigkeit zum Orden vorgesehenen Anlässen zugunsten der Gottes-
begegnung angemessen sei:
under dem Agnus dei do kom unser herre und tet ir gar gutlichen und was pei ir, untz
man ze tische leute. do sprach si: ‚herre, gib mir deinen segen, ich schol hintze tische.‘
‚du scholt hie sein, du hast ein urlaup.‘ do sprach si: ‚daz weiz ich wol, da furht ich der
leut ergerunge.‘ (AL 11, 21-26)

 25 Assmann spricht in einem solchen Fall von einer „transzendierende[n] Aufmerksamkeit“ (Ass-
mann, „Einleitung“, S. 22).
 26 Thali begründet diese auffällige Zäsur inhaltlich. Sie weist auf zwei thematische Blöcke hin, von
denen der erste die Kindheit, Jugend und Berufung zum Klosterleben behandelt, die Thali mit
dem Begriff kêr überschrieben sehen möchte. Der zweite Block widmet sich den verschiedenen
Gnadenerfahrungen der Nonne im Kloster. Thalis Charakterisierung des thematischen Blocks als
„legendenhafte[r] Einstieg“ übersteigt jedoch eine lediglich thematische Distinktion der beiden
„Offenbarungsteile“ (Thali, Beten, S. 177). Die generische Anlehnung an die Legende impliziert
auch formale Merkmale, die zu einer Unterscheidung beider Blöcke führen und von denen ein
prägnantes Merkmal im vorliegenden Text in der spezifischen Verwendung von liturgischen Zeit-
markierungen als narrativen Strukturierungselementen gesehen werden kann. Ursula Peters hin-
gegen spricht in diesem Zusammenhang von einer „Vorgeschichte“ (Peters, Religiöse Erfahrung,
S. 176). Mit dieser Wortwahl weist sie implizit auf den narrativen Status des ersten Blocks inner-
halb der Offenbarungen hin, der sich von den folgenden Episoden unterscheidet, die kein zielge-
richtetes Ganzes bilden und keine entwicklungsgezeitigte ‚Geschichte‘ erzählen. Der für Erzähl-
texte konstitutiven Zustandsveränderung unterliegt nur der erste Block deutlich, allerdings in
vielerlei Hinsicht: Er stellt einen Alterungsprozess aus („Daz stuent untz daz ditz kint gewuehse
hintz dreizehen jaren.“ [AL 1, 15 f.]). Darüber hinaus wird ein Weg sowohl geographischer
(„[…] do diseu frau hintz dem closter fuer […]“ [AL 4, 7]) wie mentaler Art („nu lagen ir ir
freunde dannoch ser an dem herzen daz si di lozzen scholt.“ [AL 3, 20-22]; „Dar nach […] do gab
si do unserm herren uf alle ir freunde […] [AL 3, 23-26]) zurückgelegt. Für die verwendete Defi-
nition von ‚Erzählung‘ vgl. Schmid, Narratologie, S. 2 f.

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Die Angst vor der „ergerunge“ verweist auf die institutionellen Anforderungen, die
aus der Perspektive der Schwester in eben diesem Moment in Konkurrenz zu den
durch Gott erhobenen Ansprüchen stehen. Hier zeigt sich folglich eine – ansonsten
ausbleibende – Reflexion über die an die Institution ‚Kloster‘ gebundenen Regeln.
Ein Hinterfragen der institutionellen Verpflichtungen, das legt die zitierte Szene
nahe, scheint aber nur genau dann notwendig, wenn die klösterlichen Pflichten
und Gott in Widerspruch zu geraten drohen. So vermag eben diese Episode zu er-
hellen, dass sich die durch die Norm angeordnete wie gewährleistete, durch diverse
Praktiken provozierte und daher als voluntaristisch zu bezeichnende Aufmerksam-
keit nicht in einem Selbstzweck erschöpft:27 Sie ist als gewissermaßen bewusst zu
beschreitender Weg zu Gott zu verstehen, auf den es sich zu konzentrieren gilt. Das
Ziel des Weges allerdings ist nicht selbsttätig kontrolliert zu erreichen, sondern es
stellt sich vielmehr, wenn man so will, als Emergenzphänomen,28 als göttlich ge-
währte Gnade ein.29
Eben dies führen die Offenbarungen wiederholt vor Augen: Denn die Protago-
nistin verharrt trotz des Aufmerksamkeit fördernden Raumes, der institutionellen
Gebundenheit an Gebetsstrukturen und vorgegebene Inhalte, eben nicht in die-
sem, sondern schweift ab. Sie nutzt den liturgischen Rahmen als Möglichkeits-
raum, der die Gottesbegegnung zulässt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Offenbarungen für die von ihnen
dargestellte Klosterwelt das Prinzip der Wiederholung, welches die Liturgie und
frömmigkeitspraktische Akte im Allgemeinen prägt, indem verbunden mit kont-
rollierten Bewegungen des Körpers ähnliche oder identische Wortlaute repetiert
werden, als eine Praxis der Aufmerksamkeitslenkung präsentieren. Dieser eignet
allerdings ein paradoxales Moment: Sie erfordert eine intensive und wiederholte
Auseinandersetzung sowohl körperlicher als auch geistiger Natur mit den zu rezi-
pierenden Texten, um sie schlussendlich in ihrer Existenz als Hilfsmittel der Fröm-
migkeitspraxis zugunsten einer anderen Erfahrung zu übersteigen.30 Dieses Mo-
ment temporärer Vergessenheit sämtlicher religiös motivierter Handlungen infolge
der gnädigen Zuwendung Gottes tritt in komischer Form auch in einem anderen

 27 Verschiedene theoretische Konzepte von Aufmerksamkeit bietet Neumann, „Art. Aufmerksam-
keit“, bes. Sp. 635.
 28 Vgl. die Einleitung in diesem Band, bes. Abschnitt „1. Seelenvermögen, Ressource, Emer-
genzphänomen.“
 29 Im Moment der durch kulturelle Frömmigkeitspraktiken begünstigten Transzendenzerfahrung
sieht Peter von Moos einen Zusammenfall zweier Aufmerksamkeiten, eine Zeit, in der sich „für
einen Augenblick willentliche und spontane Aufmerksamkeit“ verbinden (von Moos, „Attentio“,
S. 98).
 30 An dieser Stelle muss betont werden, dass die rezipierten Texte durchaus präformierendes Poten-
tial haben können, d. h. inhaltlichen Einfluss auf die ihnen folgende Gotteserfahrung nehmen
und demnach nicht vollständig in Vergessenheit geraten. Ihr Inhalt allerdings wird, wenn er wei-
ter wirkt, performativ auf eine andere Ebene geführt, ist nicht mehr allein Lektüreobjekt, sondern
wird zum Erlebnis. Überlegungen zur derartig performativen Kraft der liturgischen Zeiten finden
sich bei Heinzer, „Imaginierte Passion“. Außerdem, wenn auch weniger analytisch, Hilpisch,
„Chorgebet“.

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„Er sprach vil worte der sie vergaze“ 235

Werk, der Tochter Syon, überaus anschaulich zutage. Dieser Text war in einer Ver-
sion, vielleicht sogar derjenigen hier zitierten Lamprechts von Regensburg, im
Kloster Engelthal bekannt und hat die Offenbarungen Adelheids möglicherweise
sogar beeinflusst.31 In der Tochter Syon betont die Figur Karitas, die personifizierte
Liebe, ausdrücklich, dass zum Erwerb der Minne Gottes Oratio, das personifizierte
Gebet, als ihre Begleitung unabdingbar sei und sie als Bote der Seele auf dem Weg
zur mystischen Vereinigung dienen müsse: „sol ich die botschaft werben dir, sô
muoz Oratio mit mir, wan der bedarf ich dar zuo wol, swaz ich dir erwerben sol.“32
Auch hier also wird die Frömmigkeitspraxis in Form des Gebets als notwendige
Voraussetzung für den Kontakt mit Gott ausgegeben. Doch erschöpft sie sich in
eben dem Moment göttlicher Präsenz, wie dies auch die Offenbarungen Adelheid
Langmanns wiederholt vorführen. Im Werk Lamprechts präsentiert sich dieses Er-
schöpfungsmoment in einem durchaus buchstäblichen Sinn, denn Oratio reagiert
im Anblick der göttlichen Sphäre wie folgt:
Als Oratio gesach
ein lützel, als ich nû sprach,
der manicvalten hêrschaft,
dô gebrast ir der kraft,
wand ir geist was ze merken swach
die grôzen êre und daz gemach.
dâvon dô sie geluogt darin
viel sie zehant unmehtic hin
[…]33

Ein von der Ebene der Personifikation abstrahierender Erzählerkommentar ergänzt


die bildsprachliche Ohnmacht des Gebets und reflektiert in einem allgemeineren
Sinn über die Reichweite von Frömmigkeitspraktiken:
Swer sô vaste gearbeitet,
daz sîn herze sich bereitet,
in den himel mit gedenken,
so beginnent sich diu wort krenken
und erstummet im der munt,
swenn im diu süeze wirdet kunt.34

Eine ähnliche Interpretation von Frömmigkeitspraktiken, wie sie die humorig ge-
staltete Darstellung in der Tochter Syon Lamprechts bietet, präsentieren auch die

 31 Zur Überlegung bezüglich des Vorhandenseins und des Einflusses der Tochter Syon Lamprechts
von Regensburg siehe zusammenfassend Thali, Beten, S. 265 f., bes. Anm. 106.
 32 Tochter Syon, hg. v. Karl Weinhold, S. 451, V. 3335-3338.
 33 Ebd., S. 459, V. 3518-3525. Hildegard Elisabeth Keller interpretiert die Ohnmacht als ein Be-
wusstmachen von Grenzen zwischen menschlichen Tätigkeiten sowie Fähigkeiten und der göttli-
chen Sphäre. Vgl. Keller, „înluogen“, S. 369. Sie betont zudem, im Rahmen einer ausführlichen
Lektüre der Tochter Syon, dass diese Unmöglichkeit des Grenzübertritts auch für andere mensch-
liche Seelenkräfte wie z. B. Gedanc Muot Wille unde Sin gegeben sei.
 34 Tochter Syon, S. 461, V. 3581-3586.

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236 Daniela Fuhrmann

Offenbarungen, wenn sie die Aufmerksamkeit ihrer Protagonistin Adelheid konti-


nuierlich zwischen den zwei Polen, dem Officium Divinum und der Gottesschau,
hin- und herpendeln lassen: Die Liturgie ermöglicht die göttliche Gnadenerfah-
rung und wird in eben dieser überstiegen. Sie ist aber auch derjenige Rahmen, in
den die Nonne zurückfällt, wenn die Gnadenerfahrung ein Ende gefunden hat.
Zugespitzt formuliert befindet sich die Protagonistin mit dem Ausführen der sich
ständig wiederholenden Frömmigkeitspraktiken in einer Warteschleife,35 die als –
unter Umständen sogar notwendige, aber eben nicht hinreichende – Voraussetzung
für das eigentlich Angestrebte, die temporär erfahrbare Gottesschau, dient.

4. Die Offenbarungen als frömmigkeitspraktischer Text

Das Prinzip der Wiederholung nun lässt sich als Bindeglied zwischen frömmigkeits-
praktischen Handlungen, wie sie im Text mit Hilfe der Zeitmarkierungen darge-
stellt werden, und der Lektürepraxis sehen, welche die Offenbarungen selbst erfor-
dern. Zwar werden innerhalb der Diegese die den Frömmigkeitspraktiken zu-
grunde liegenden Texte nur durch Zeitangaben repräsentiert und inhaltlich sowie
strukturell kaum näher beschrieben.36 Doch genügen allein die Referenzen auf das
Stundengebet, um – zunächst lediglich im Hinblick auf die formale Gestaltung –
in den Offenbarungen eine Imitation derjenigen Texte zu sehen, die diegetisch der
Ordensschwester als Andachts- und Meditationsgrundlage dienen, über welche die
Gotteserfahrung ermöglicht wird.37 Ebenso wie die Psalmen als Basiselement des
Stundengebets in sich eine repetitive Struktur aufweisen und zudem im wöchentli-
chen Rhythmus als Lektüreinhalt wiederkehren,38 zeichnen sich auch die Offenba-
rungen, wie zuvor gezeigt wurde, durch eine auf ähnliche Weise durch Wiederho-

 35 Vgl. von Moos, „Attentio“, S. 98. Von Moos beschreibt das Moment des „desiderium“ als konsti-
tutiv für die mittelalterliche religiöse Aufmerksamkeit, die sich als „Erwartungshaltung“ inner-
halb asketisch-spiritueller Übungen als „Erwartungssteigerung“ generiert, die auf den „Einbruch
der Transzendenz in die Seele, […] den es zu merken gilt“, ausgerichtet ist.
 36 Stellenweise wird ein gesungener Vers zitiert. Vgl. z. B. „do kom unser herre ze dem Sanctus.“ (AL
15, 11 f.); „[…] do der prister an hueb Gloria in excelsis […]“ (AL 33, 8 f.); „do sang man die
mess Gaudeamus.“ (AL 74, 17)
 37 Formale wie inhaltliche Korrespondenzen zwischen den Gebrauchstexten des Entstehungsumfel-
des und der aus diesem hervorgegangenen eigenen (literarischen) Textproduktion sind vielfach
Untersuchungsgegenstand. Felix Heinzer beispielsweise stellt die These auf, dass der „Psalter als
Erstlesebuch“ besonders adliger Frauen ein mittelalterliches Textverständnis überhaupt geprägt
haben mag, dass er „zum Paradigma für Text schlechthin und damit auch für die Konstitution und
Rezeption mittelalterlicher Texte“ werden konnte. Seine kodikologischen Untersuchungen stützt
die vorliegende Studie durch Befunde auf narratologischer Ebene (Heinzer, „Psalter“, S. 166).
Auch Peter Ochsenbein zeigt am Beispiel des Engelberger Gebetsbuchs, wie die liturgischen Textvor-
gaben als Referenz für die Entwicklung privater Gebete gedient haben mögen, weist demnach
ebenfalls auf eine enge strukturelle wie inhaltliche Verquickung von liturgischen Vorkenntnissen
und eigener Textproduktion hin, wenngleich seinen Deutungen der Eigenproduktion nicht
immer Folge zu leisten ist, insbesondere nicht im Hinblick auf die These des unerfüllten Mutter-
wunsches von Ordensschwestern. Vgl. Ochsenbein, „Privates Beten“, bes. S. 148 ff.
 38 Siehe hierzu Bieritz, Liturgik, bes. S. 612-614.

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lung geprägte Struktur aus,39 so dass eine Beziehung zwischen rezipiertem und
eigens produziertem Textgut unterstellt werden kann.
Dass vertraute Gestaltungsprinzipien in die Darstellungsform der Offenbarun-
gen einfließen, lässt sich außerdem an einem von der Berliner Handschrift überlie-
ferten Supplement des Werks zeigen (vgl. AL 80, 20 - 91, 28). Die Offenbarungen
der Adelheid Langmann führen ein an eine Litanei erinnerndes Gebet mit sich,40
in dem das Prinzip der Wiederholung überaus deutlich wird. Zum einen ist das
Gebet in sich, wie der folgende kurze Auszug eindrücklich demonstriert, durch
Textteile geprägt, die in identischem Wortlaut wiederholt als Abschnittseinleitung
genutzt werden:
Ich man dich daz di überheilig junkfrau Maria was an irem gepete in grozzer andaht,
und pit dich daz du mir gebst volkomne andaht und gotliche minne in allem mein
gepet und in allem mein leben.
Ich man dich, herre, daz si der engil vant volkumen an aller heilikeit […] und pit
dich daz du mich volbringest in aller volkumenheit […]
Ich man dich, herre, der minne der du zu ir hest, daz si der engil gruest als ein frau-
wen von reht […] ich pit dich, herre, daz du mir gebst in allen gotlichen dingen zu
erkennen di rehten worheit on all trüknüzz. (AL 82, 3-20, Herv. D.F.)

In den sich wiederholenden Elementen zeigt sich eine evidente Parallele zu den
eher als abstrakte Konstante zu beschreibenden Zeitmarkierungen innerhalb der
Offenbarungen, die dort ebenfalls der Abschnittseinleitung dienen. Zum anderen
wird das Gebet als Ganzes mehrfach gesprochen, so dass die an verschiedener Stelle
integrierten, identischen Wortlaute nicht nur mehrmalig innerhalb eines Gebetes
auftreten, sondern mit jeder Rezitation vervielfacht werden. Diese potenzierte
Wiederholung drückt sich in einem Paratext aus, wenn es in dem den Text einlei-
tenden Titel heißt, hier handle es sich um ein „gepete daz si gwonlichen tet“ (AL
80, 19 f.). Die Beigabe dieses Gebetstextes in seiner auffällig repetitiven Struktur

 39 Zu überlegen wäre des Weiteren, ob eine Imitationsleistung auch hinsichtlich der Thematik gege-
ben ist, da die Offenbarungen Jesus eine explizite Stimme verleihen, indem sie ihn als Gesprächs-
partner der Nonne imaginieren. Auch im Psalter, so die patristische Auslegung, spreche Gott
selbst und gewissermaßen über den Text mit seinem Rezipienten. So beispielsweise in Augustins
Enarrationes in psalmos, in denen es zu Psalm 30 sowie 85 ausdrücklich heißt: „Hier spricht Chris-
tus im Propheten; ich wage es zu behaupten: Christus spricht.“ Sowie „Diese Worte: ‚Weil ich
heilig bin‘ darf und kann wohl niemand sprechen als jener, der ohne Sünde war in der Welt […]
Seine Stimme ist es, die wir hier erkennen, er ist es, der hier spricht […]“ (Aurelius Augustinus,
Die Auslegungen der Psalmen, S. 47, 174). Dass auch ein Offenbarungswerk – dem Psalter somit
ähnlich – die direkte sprachliche Interaktion zwischen Jesus und dem Rezipienten des Werks
produzieren kann, betont Walter Haug in seiner Untersuchung zu Präsenzeffekten innerhalb des
Fließenden Lichts Mechthilds von Magdeburg. Vgl. Haug, „Das Gespräch“, bes. S. 258, 271.
 40 Im Unterschied zur Litanei, die in der Regel im Kollektiv gebetet wird und sich durch einen
Wechselgesang auszeichnet, ist durch den Paratext des Gebets hier eher eine individuelle Gebets-
praxis impliziert. Vgl. Küppers, „Art. Litanei“.

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238 Daniela Fuhrmann

erhärtet die Vermutung einer formalen Ähnlichkeit zwischen den Offenbarungen


und denjenigen Texten, deren Rezeption sie vorgeben.41
Über den zeitgenössischen Gebrauch der Offenbarungen sowie über sich daraus
ergebende Informationen zur Lektürepraxis ist, wie bereits betont wurde, wenig
bekannt, so dass lediglich werkinterne Äußerungen als Indizien einer derartigen
Ähnlichkeitsbeziehung herangezogen werden können. Doch wird diese Feststel-
lung durch analog aufgebaute Werke gestützt, die eine vergleichbare Relation von
rezipiertem Textgut und eigener Genese nahelegen. Die Offenbarungen Margaretha
Ebners führen in ihrer ältesten überlieferten Fassung von 1353 ebenfalls einen Ge-
betstext von anderer gleichzeitiger Hand mit,42 auf den innerhalb des Werks häufig
rekurriert und der als bevorzugtes Meditationsmedium ausgezeichnet wird.43
„[D]er Ebnerin Paternoster“ (ME 161-166) weist wie auch das Gebet Adelheid
Langmanns eine Struktur auf, die maßgeblich durch sich wiederholende Ab-
schnittseinleitungen („ich bitt dich, min herre; gib uns, min herr“, z. B. ME 162,
3, 18, 27) geprägt ist und in diesem parallelistischen Aufbau große Ähnlichkeit zur
ebenfalls parallelistischen Struktur der aneinandergereihten Gnadenberichte inner-
halb ihrer Offenbarungen aufweist.
Allein aus der Verfasstheit der hier vorgestellten Offenbarungen Adelheid Lang-
manns heraus lässt sich – und damit würde diese Quelle über eine im weitesten
Sinne (produktive) Rezeption liturgischer Texte und Formen informieren – vermu-
ten, dass dieser Text, indem er sich in seiner repetitiven Struktur an frömmigkeits-
praktische Texte formal anlehnt und somit ebenso wie diese Abschweifungen vom
Text begünstigt und Räume für andersgeartete Erfahrungen eröffnet, auf einen
ähnlichen Effekt angelegt ist, wie er ihn selbst den frömmigkeitspraktischen Texten

 41 Thali zeigt bereits an einer Untersuchung u. a. des Engelberger Gebetbuchs, dass das Prinzip der
Wiederholung Ähnlichkeitsbeziehungen und daraus resultierend auch ähnliche Funktionszu-
schreibungen zwischen verschiedenen Texten provoziert. Vgl. Thali, „Leser“, bes. S. 454. Zwar
wird hier auf eine Lektürepraxis ganzer Texte referiert, d. h. globaler argumentiert, doch dürften
diese Erkenntnisse auch auf die Mikroebene, d. h. die starke Wiederholung innerhalb ein und
desselben Textes, übertragbar sein, die diesen ebenso in eine Beziehung zum „liturgischen Gottes-
dienst“ (ebd.) stellt.
 42 Für eine Beschreibung der Medinger Pergamenthandschrift (M) siehe Margaretha Ebner und
Heinrich von Nördlingen, S. XIV-XVI. Im Folgenden unter der Sigle ME mit Seiten- und Zeilen-
angabe zitiert.
 43 Dieser Sonderstatus des Gebets wird hier allerdings nicht durch einen Paratext ausgedrückt, son-
dern in der Darstellung der Offenbarungen selbst deutlich, indem Margaretha immer wieder das
Paternoster betend beschrieben wird. Die starke Verbindung zu eben diesem Gebet und somit
auch seine möglicherweise Textproduktion präjudizierende Wirkkraft drückt sich auf formaler
Ebene besonders über die Spezifikation mittels Possessivpronomen aus („minen paternoster“, ME
8, 25; 12, 2; 12, 5; 21, 22; 21, 23; 26, 14 und andere mehr). Inhaltlich wird dieser Eindruck
durch explizite Favorisierungsaussagen gestützt („ich het auch grossen lust und fräud zuo minem
gebet und sunderlichen zuo minen paternoster.“ [ME 8, 24 f.]) oder aber durch wiederholte Be-
richte der Verzweiflung, wenn das Gebet nicht zu sprechen ist („ […] und ich gedaht, daz ich min
paternoster nit gesprechen moht, so kom mir daz aller gröst lait […]“ [ME 67, 24 - 68, 2]).

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zuschreibt: Sie können zur Gotteserfahrung hinführen.44 Dahingehend lässt sich


zusammenfassend festhalten, dass die Offenbarungen angelehnt an monastische
Frömmigkeitspraktiken eine Lektürepraxis zu Zwecken der Aufmerksamkeitslen-
kung propagieren, indem sie diese inhaltlich vorführen sowie in ihrer formalen
Gestaltung imitieren und damit zu ähnlichen Erfahrungen, als deren Zeuge sie sich
ausgeben, anleiten. Sie gerieren sich selbst folglich als frömmigkeitspraktischer
Text.45 Motivisch wie auch strukturell wird so in bzw. mit den Offenbarungen eine
die Andacht fördernde Lektüreform, deren maßgebliches Prinzip die Wiederho-
lung ist, nicht nur vorgestellt, sondern in performativer Umsetzung mit ihrem Re-
zipienten zugleich eingeübt.46

Literatur

Quellen

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Hugo Weber, Paderborn, 1955.
Briefe Heinrichs von Nördlingen, Brief XLIII, in: Margaretha Ebner und Heinrich von Nörd-
lingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, hg. v. Philipp Strauch, Freiburg,
Tübingen, 1882, ND Amsterdam, 1966, S. 169-270.
Constitutiones sororum ordinis fratrum predicatorum, in: Analecta Sacri Ordinis Fratrum Prae-
dicatorum 3 (1897/98), S. 338-348.

 44 Niklaus Largier spricht sogar von der Bildung eines „Textarchivs“, das aus der immer neuen Inter-
aktion von meditierten Lektüren und den sich daraus ergebenden, irgendwann verschriftlichten
Gotteserfahrungen entsteht, die wiederum selbst zur Meditationsgrundlage werden. Vgl. Largier,
„Phänomenologie“, bes. S. 954, 963. Die Offenbarungen Margaretha Ebners thematisieren selbst
ihre Funktion der Ermöglichung eines Wiedererlebens göttlicher Gnade durch den Akt des Auf-
schreibens. Die Qualität als Erbauungstext, der durch Wiedergabe der Gotteserfahrungen einem
breiteren Publikum dienen kann, hat Ursula Peters bereits herausgearbeitet. Vgl. Peters, Religiöse
Erfahrung, bes. S. 146, 151.
 45 Andere Studien haben zeigen können, dass nichtliturgische Texte außerdem eine Aufwertung und
quasi-liturgischen Status erfahren können, indem sie sich über paratextuelle Zuschreibungen an
die Liturgie anbinden. Private Gebetstexte werden beispielsweise mit einer Anleitung zum Voll-
zug versehen, die angibt, wann genau, d. h. zu welchem Festtag, welcher liturgischen Sequenz
oder begleitet durch welche aus der Liturgie bekannten Gebärden sie zu beten sind. Vgl. beispiels-
weise Kiening, „Gebete“, bes. S. 108; außerdem Thali, „Leser“, S. 426, 430, 454. Die so erzeugte
Nähe zu liturgischen Feiern enthebt den privaten Text der Alltagskommunikation und stilisiert
ihn durch seine Anknüpfung an die Liturgie zu einem Medium der Kontaktaufnahme mit Gott.
Diese Vorbereitung oder Begleitung des Leseaktes durch liturgische Gebete und Gebärden erfolgt
in den Offenbarungen nicht mittels paratextueller Zuschreibung. Sie ist vielmehr – aber wohl mit
ähnlicher Intention – in Form der liturgischen Zeitmarkierungen in den Text eingeschrieben.
 46 Siegfried Ringler hat bereits Mitte der 1980er Jahre darauf hingewiesen, dass das „didaktische
Moment“ der Nonnenliteratur nicht unterschätzt werden darf (Ringler, Die Rezeption mittelalter-
licher Frauenmystik, S. 195). Am Werk Adelheid Langmanns kann gezeigt werden, dass sich die
Didaxe nicht allein in dem dargestellten, vorbildhaften Leben erschöpft, sondern gleichermaßen
auf durch das Werk transportierte und für das Klosterleben konstitutive Rezeptionsmodi aus-
greift. Nicht nur das Dargestellte kann Exempelcharakter haben, sondern auch die Darstellung
selbst übernimmt die Schulung bestimmter Verhaltensweisen.

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240 Daniela Fuhrmann

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Gisela Vollman-Profe, hg. v. Hans Neumann, München, Zürich, 1990.
Offenbarungen der Adelheid Langmann, Klosterfrau zu Engelthal, hg. v. Philipp Strauch,
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Miriam Lay Brander

Mit List und Tücke

Praktiken der Aufmerksamkeit im frühneuzeitlichen


Schelmenroman am Beispiel des Lazarillo de Tormes

Wer sich dem Thema der Aufmerksamkeit in der Frühen Neuzeit nähert, stößt auf
das Problem, dass diese Epoche vor Descartes keine Theorie der Aufmerksamkeit
kennt, die über Variationen der mittelalterlichen Aufmerksamkeitslehre von Au-
gustinus hinausgeht.1 Demgegenüber lassen sich bereits vor dem 18. Jahrhundert
kulturelle Praktiken von Aufmerksamkeit beobachten, in denen sich die cartesiani-
sche Unterscheidung von spontan-affektiver und willkürlicher Aufmerksamkeit2
abzeichnet. Stephen Greenblatt etwa weist Züge des spontanen Aufmerksamkeits-
begriff bereits im Entdecker-Diskurs des 16. Jahrhunderts im Kontext der Begeg-
nung zwischen Europa und der Neuen Welt und der damit zusammenhängenden
Erfahrung des Wunderbaren nach. Die Verwunderung angesichts des Neuen und
Unbekannten bringt dort eine kontingente Wahrnehmung von Differenz mit sich,
die die Aufmerksamkeit des Beobachters unverhofft bindet.3 Auch literarische
Texte wie der Schelmenroman Lazarillo de Tormes (1554), der im Zentrum dieser
Untersuchung stehen wird, lassen erkennen, dass die mittelalterliche Auffassung
von Aufmerksamkeit als reinem Willensakt in der Frühen Neuzeit problematisch
geworden ist. Schon allein aufgrund dieses Vorsprungs diskursiver Praktiken ge-
genüber der Theorie ist der Kulturwissenschaftler, der sich für Aufmerksamkeit im
16. Jahrhundert interessiert, auf die Untersuchung konkreter Aufmerksamkeits-
praktiken angewiesen.
Bisherige Studien zu Aufmerksamkeit zwischen Mittelalter und Aufklärung
haben sich vor allem mit wissenschaftlichen Praktiken auseinandergesetzt.4 Ergän-

  1 Zur Geschichte der Aufmerksamkeit als theoretisches Konzept vgl. Historisches Wörterbuch der
Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 1, S. 637. In der spanischen Scholastik findet eine Auseinan-
dersetzung mit Aufmerksamkeit als phänomendeskriptiver Begriff statt. Mithilfe des sogenannten
Klarheitsaspekts beantwortet Buridan die von Aristoteles aufgeworfene Frage, ob zu einem Zeit-
punkt nur ein oder mehrere Inhalte wahrgenommen werden können. Aus seiner Sicht können
zwar mehrere Inhalte gleichzeitig aufgefasst werden, jedoch mit unterschiedlicher Klarheit.
  2 Spontane bzw. affektive Aufmerksamkeit wird durch Reize von Außen ausgelöst, während die
willkürliche Aufmerksamkeit solche Reize bewusst ausblendet, um sich auf einen Gegenstand zu
konzentrieren. Vgl. Hagner, „Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand“, S. 274 f.
  3 Greenblatt definiert die Verwunderung in Anlehnung an Descartes als „an instinctive recognition
of difference, the sign of a heightened attention, ‚a sudden surprise of the soul‘ in the face of the
new“ (Greenblatt, Marvelous Possessions, S. 20).
  4 Vgl. exemplarisch die Studie von Lorraine Daston (2001) zur wissenschaftlichen Aufmerksamkeit
vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. An Descartes anknüpfend nähert sie sich Aufmerksamkeit von

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zend hierzu liegt der Fokus im vorliegenden Artikel auf Alltagspraktiken. Diese
werden in Anlehnung an Michel de Certeau begriffen als Taktiken, mit denen eine
Masse von kulturell Dominierten sich eine herrschende Strategie aneignet, indem
sie sich ihr zwar vordergründig unterwirft, ihre Unbestimmtheiten mithilfe von
Tricks, Finten und List jedoch im Hinblick auf eigene Interessen nutzt.
Die Herausbildung von Aufmerksamkeitspraktiken steht im Spanien der Frühen
Neuzeit in engem Zusammenhang mit einem Konflikt zwischen unterschiedlichen,
nebeneinander existierenden Sinn- und Zeithorizonten.5 Im frühen 15. Jahrhun-
dert waren unter den Katholischen Königen außerhalb der Höfe Schreib- und Lese-
rollen entstanden, die von einer zunehmenden Eigenständigkeit des Individuums
gegenüber vorgegebenen Denkmustern zeugten.6 Eine weitere Phase intellektueller
Freiheit brachte zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Regierung Karls V., Enkel der
Katholischen Könige, mit sich. Diese zeichnete sich durch eine verhältnismäßige
Offenheit nicht nur gegenüber politischen Reformen, sondern auch gegenüber
neuen intellektuellen Strömungen wie den Lehren des später durch die Inquisition
verurteilten Erasmus von Rotterdam aus. Die Atmosphäre intellektueller Freiheit
war nicht von langer Dauer. 1537 weitete die Inquisition – ursprünglich 1478 ein-
gerichtet, um konvertierte Juden und Muslime zu kontrollieren – ihre Tätigkeit auf
andere Bereiche aus, indem sie einige führende Humanisten verurteilte. Sie entwi-
ckelte sich bald zur leitenden Institution der spanischen Gegenreformation, die jeg-
liche die kulturelle Homogenität störende Tendenz durch verstärkte religiöse Bil-
dung und repressive Maßnahmen zu bannen suchte.7 Die Katholische Reform war
zunächst eine Bewegung, die einerseits die Festlegung von Dogmen in Abgrenzung
vom Protestantismus, andererseits die Fortführung von bereits vor dem lutherischen
Aufstand eingeleiteten Reformen zum Ziel hatte. Bald jedoch weiteten sich ihre
Bemühungen zu einer Bewegung aus, die sämtliche Bereiche des Kulturellen um-
fasste. Die Inquisition und die Katholische Kirche entwickelten sich so neben der
spanischen Monarchie zu den Hauptorganen kultureller Produktion, die fortan von
der Rückkehr zu vergangenen Sinnstrukturen geprägt war. Denn nicht nur die Ab-
grenzung von der Reformation, sondern auch die Missionierung neuer Gebiete im
Zuge der Kolonisierung erforderte eine feste Verankerung in einem geschlossenen
und kohärenten Weltbild und damit einhergehend die Unterdrückung jeglicher
Subjektivität. Somit bewirkte ausgerechnet die Kolonisierung, die den damaligen
Zukunftshorizont Spaniens darstellte, eine Wiederherstellung von Orthodoxie und
damit eine Rückkehr in die Vergangenheit.8 Allerdings riefen die von den dominan-
ten religiösen und sozialen Instanzen vermittelten Sinnvorgaben alternative Deu-

den kognitiven Leidenschaften des Staunens und der Neugier her. Sie zeigt, dass im 16. und 17.
Jahrhundert eine epistemische Verschiebung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit hin zum
Wunderbaren stattfindet, bevor im 18. Jahrhundert die Hinwendung zu gewöhnlichen Objekten
„eine neuartige Disziplinierung der Aufmerksamkeit“ (Daston, Aufmerksamkeit, S. 12) ermöglicht.
  5 Vgl. hierzu Gumbrecht, ‚Eine‘ Geschichte der spanischen Literatur, S. 280.
  6 Vgl. ebd., S. 175.
  7 Vgl. Cruz/Perry, Culture and Control, S. xii-xiii.
  8 Vgl. Gumbrecht, ‚Eine‘ Geschichte der spanischen Literatur, S. 280.

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Mit List und Tücke 245

tungen hervor9, wovon auch der 1554 erschienene erste spanische Schelmenroman
La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas10 zeugt. Der anonym veröffentlichte
Roman fiel der staatlichen Zensur zum Opfer und war in Spanien über 250 Jahre
lang nur in ‚gereinigter‘ Form bekannt, was seine Rezeption jedoch nicht minderte.
Laut Hans Ulrich Gumbrecht liefert der enorme Erfolg, der dem Lazarillo unter
seinen Zeitgenossen zuteil wurde, Evidenz dafür, „daß in diesem Text die verschie-
denen konfligierenden Sinn- und Zeitdimensionen seines historischen Umfelds
konvergierten und eine besondere Verdichtung erfuhren“.11 Im Kontext dieses Wi-
derstreits von offizieller Weltordnung und subjektiver Weltaneignung modelliert
der Roman Praktiken von Aufmerksamkeit, die sich dem Blick einer zentralisierten
Überwachungsstrategie taktisch entziehen und damit neue Positionen erschließen.
Er verhandelt die Schwierigkeiten, vor die sich ein Individuum gestellt sieht, dessen
Laufbahn nicht mehr durch eine prästabilierte Ordnung vorgegeben ist und das
unter kontingenten Bedingungen stattdessen auf Selbstbestimmung angewiesen
ist.12 Indem er die Möglichkeiten des Individuums, sich durch ein geschicktes
Ausnutzen von Spielräumen einer herrschenden Strategie gegenüber zu behaupten,
vorführt, verhandelt der Roman auf einer fiktionalen Ebene das Umgehen eines
strategischen Überwachungsapparates, dem er selbst unterworfen ist. Pikareske Auf-
merksamkeitspraktiken können somit als Symptome eines gesellschaftlichen Han-
delns gelesen werden, das die Unbestimmtheiten eines strategischen Regimes auslo-
tet, indem es die Zentrierung von Aufmerksamkeit durch einen staatlich-geistlichen
Überwachungsapparat taktisch hintergeht.

1. Überwachung und Gelegenheitshandeln

Die angedeutete Heuristik von Strategie und Taktik, die Certeau in seiner Studie
Kunst des Handelns13 entwickelt, kann dazu dienen, frühneuzeitliche Praktiken von
Aufmerksamkeit zu erhellen.14 Ihre Anwendung auf den Schelmenroman macht

  9 Vgl. Cruz/Perry, Culture and Control, S. x. Eine Umdeutung vorgegebener Sinnsysteme manifes-
tiert sich etwa, wie Ulrike Sprenger (2013) gezeigt hat, in den spanischen Karprozessionen An-
fang des 17. Jahrhunderts, in denen katholische Dogmen unter dem Deckmantel einer offiziell
gewollten spektakulären Zurschaustellung mit konkurrierenden weltlichen Bedeutungen aufgela-
den werden (Sprenger, Gehen und Stehen).
 10 Zitiert wird aus der zweisprachigen Reclam-Ausgabe von 2006, im Folgenden unter der Sigle LT
mit Seitenangabe direkt im Text zitiert. Der dortige spanische Text folgt der von Francisco Rico
besorgten Ausgabe, Madrid: Cátedra, 1987.
 11 Gumbrecht, ‚Eine‘ Geschichte der spanischen Literatur, S. 283.
 12 Vgl. zu dieser generellen frühneuzeitlichen Problematik aus systemtheoretischer Sicht Stanitzek,
Blödigkeit, S. 5-7.
 13 Certeau, L’invention du quotidien I.
 14 Certeaus Konzeption von Alltagspraktiken in Kunst des Handelns bezieht sich auf ein modernes
Verbraucherverhalten. Seine Übertragung auf den frühneuzeitlichen Schelmenroman entspricht
einem ‚illegitimen Vergleich‘, da die beiden Texte in keinerlei historischem Abhängigkeitsverhält-
nis zueinander stehen. Vgl. zum illegitimen Vergleichen als kulturwissenschaftliche Methode
Lutz/Missfelder, Äpfel und Birnen. Certeaus Studie liegt ein Kulturbegriff zugrunde, der kultu-

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246 Miriam Lay Brander

deutlich, wie sich Individuen einer frühneuzeitlichen Volkskultur die Art und
Weise, in der die sie dominierende Gesellschaft Aufmerksamkeit bindet, zu eigen
machen. So nutzt der Schelm einerseits gerade die Tatsache aus, dass er von der
gesellschaftlichen Oberschicht nur wenig beachtet wird, versucht jedoch zugleich,
sich durch sozialen Aufstieg Aufmerksamkeit zu verschaffen und damit in die
Sphären der dominanten Kultur vorzudringen. Diese wird repräsentiert durch eine
recht heterogene Oligarchie, bestehend aus Land besitzenden Adligen, reichen
Händlern sowie führenden Geistlichen, die sich trotz Interessensunterschieden
kollektiv als Regierung der Stadt verstehen.15 Ihre Einheit bestand oft darin, sich
gegen einen gemeinsamen Feind einzusetzen: gegen die Störenfriede der sogenann-
ten ‚Unterwelt‘, deren Identität sich von der dominanten Kultur der Stadt abhob.
Zu dieser gehörten aus zeitgenössischer Sicht bestimmte Berufsgruppen wie fah-
rende Schauspieltruppen und Musikanten, Puppenspieler und Bettler, aber auch
Schlachter, Soldaten und Seefahrer. Diese Gruppen hielten sich existentiell mit
listigem Verhalten über Wasser, indem sie sich derselben Techniken wie die Ober-
schicht bedienten, ohne jedoch die ihnen zugrunde liegenden Werte zu teilen. So
benutzten etwa Diebe und Kleinhändler häufig die gleichen Begriffe und Struktu-
ren wie erfolgreiche, anerkannte Händler, stützten sich jedoch nicht auf dieselbe
kommerzielle Ethik.16
Solche Verhaltensweisen, die die Spielräume dominanter Strukturen geschickt
ausnutzen, lassen sich als Praktiken im Sinne von Certeau verstehen. Sie sind frag-
mentarische Operationen, die auf Gelegenheiten und Details ausgerichtet sind.
Die Handelnden sind hier Subjekte, die zwar vermeintlich einer Passivität und
Disziplin unterliegen, zugleich aber die Ordnungen, die von einer dominanten
Instanz vorgegeben werden, auf subtile Art und Weise nutzen, ohne diese Ordnun-
gen selbst zu zerstören. Indem sie sich einer offiziellen Strategie vermeintlich zwar
unterstellen, innerhalb ihrer Vorgaben jedoch eigene Spielarten entwickeln, entzie-
hen sie sich ihr zugleich. Die Strategie hingegen postuliert einen klar umgrenzten
Ort (lieu), der als eigener gekennzeichnet ist und von dem aus die Beziehungen zu
einem Außen organisiert werden.17 Von diesem Zentrum aus verfügt die Strategie

relle Differenz gerade nicht in einer Gegenkultur lokalisiert wissen möchte (vgl. Certeau,
L’invention du quotidien I, S. xxxvi). Demgegenüber besteht in der Frühen Neuzeit noch die hier-
archische Unterscheidung zwischen Hochkultur und Populärkultur. Im Lazarillo äußert sich dies
darin, dass die Alltagskultur teilweise unter folkloristischen Vorzeichen präsentiert wird. Aller-
dings zeigt nicht zuletzt das Verbot des Romans durch die Inquisition, dass der Lazarillo eine
kulturelle Brisanz besitzt, die über den Bereich einer geduldeten volkstümlichen Gegenkultur hi-
nausgeht. Dass Certeau selbst als Beispiel für seine Konzeption der Taktik rituelle Praktiken indi-
gener Bevölkerungsgruppen im Zuge der spanischen Kolonisierung anführt und damit seine
Konzeption moderner Alltagspraktiken auf einen vormodernen Zeitraum überträgt, zeugt von
der historischen Flexibilität seiner Begriffe.
 15 Vgl. Perry, Crime and Society, S. 12-19.
 16 Vgl. ebd., S. 43.
 17 Vgl. ebd., S. 59.

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über einen panoramatischen Blick18, mit dessen Hilfe sie die Umwelt zu kontrol-
lieren und sich dadurch gegen unberechenbare Veränderungen in der Zukunft ab-
zusichern sucht. Ein so konzipiertes System ist jedoch instabil, da es die ständigen
Bewegungen, die unter der sichtbaren Oberfläche stattfinden, nicht mit einrech-
net.19 Diese subtilen, unberechenbaren Bewegungen beschreibt Certeau als Takti-
ken. Die Taktik nimmt die Position des Anderen ein und existiert daher in Abhän-
gigkeit von der Strategie. Ihre ständige Mobilität rührt daher, dass ihr kein fester
Ort zugewiesen ist,20 was sie dazu zwingt, Gelegenheiten zu nutzen, ohne den Aus-
gang ihres Handelns zu kennen.
Aus den Eigenschaften von Strategie und Taktik resultieren je unterschiedliche
Aufmerksamkeitstechniken: Das Machtzentrum setzt auf raumbezogene Aufmerk-
samkeitsstrategien (Überwachen, Buch führen, etc.), die Peripherie operiert mit
zeitbezogenen Aufmerksamkeitstaktiken, indem sie Gelegenheiten nutzt, die der
Augenblick bietet. Wo Strategien durch ihren fest gefügten Ort gegenüber zeitlich
unvorhergesehenen Veränderungen relativ resistent sind, zielen Taktiken gerade auf
eine geschickte Ausnutzung von Kontingenzen.21
Das Widerspiel von strategischer und taktischer Aufmerksamkeit, das sich in
Spanien um die Mitte des 16. Jahrhunderts aus der Spannung unterschiedlicher
Zeit- und Sinnhorizonte ergibt, lässt sich am Schelmenroman exemplarisch beob-
achten. Ohne sozialen Rückhalt und festen Wohnsitz sucht der pícaro, ein Reprä-
sentant der oben geschilderten ‚Unterwelt‘, seinen Platz in der Gesellschaft und
verdingt sich als Diener vieler Herren. Die widrigen Umstände, unter denen er
bald ums Überleben, bald um eine akzeptable soziale Stellung kämpft, zwingen ihn
zu listigem Verhalten, wobei sich das Vorgehen des pícaro stets nach gesellschaftli-
chen Aufmerksamkeitsregimen richten muss. So wechselt etwa Guzmán de Alfara-
che, der Protagonist des gleichnamigen Romans von Mateo Alemán22, immer wie-
der planmäßig den Ort, um nicht durch zu häufiges Betteln die Gunst seiner Geber
zu verspielen. Um aus den herrschenden gesellschaftlichen Strukturen möglichst
viel Profit zu schlagen, muss der Schelm mit deren Aufmerksamkeit dahingehend
haushalten, dass er weder zu wenig noch zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Außerdem sucht Guzmán an Festtagen diejenigen Kirchen auf, welche die größten
Besucherströme versprechen.23 Der Schelm ist als das Andere stets darauf angewie-

 18 Die Nähe der Strategie zum Panoptikum, das Michel Foucault in Surveiller et punir (1975) be-
schreibt, ist nicht zufällig. Certeau bezieht sich ausdrücklich auf diese Referenz (L’invention du
quotidien I, S. XXXIX), wobei er sich zugleich vom Foucault’schen Überwachungsbegriff distan-
ziert. Von einer Filiation zwischen den beiden Werken kann auch deshalb nur eingeschränkt ge-
sprochen werden, weil Certeau das Begriffspaar von Strategie und Taktik bereits 1974 und damit
vor dem Erscheinen von Surveiller et punir verwendet. Vgl. Giard, „Histoire d’une recherche“,
S. XII.
 19 Vgl. ebd., S. 144 f.
 20 Vgl. ebd., S. 61.
 21 Certeau, L’invention du quotidien I, S. 62.
 22 Alemán, Guzmán de Alfarache.
 23 Vgl. Cordie, Raum und Zeit des Vaganten, S. 129 f.

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sen, seine Interessen mit den sozialen Zeitrastern der dominanten Kultur in Ein-
klang zu bringen und Gelegenheiten im Vorübergehen zu ergreifen:
Die Zeitform des Schelmen ist die Gelegenheit, die er wahrzunehmen hat. Sie be-
stimmt sich als Eintreten bestimmter Bedingungen zu einer bestimmten Zeit an
einem bestimmten Ort. Wahrnehmung von Gelegenheiten ist nicht an allgemeine
moralische Maximen gebunden, sondern an die genaue Beobachtung von Zeitrhyth-
men und lokalen Umständen. Schelmisches Handeln steht unter dem Gesetz zufälli-
ger Gegebenheiten und bemißt sich einzig nach seinem Erfolg.24

Die Aufmerksamkeitstaktik des pícaro beruht also auf einer genauen Beobachtung
zeitlicher Abläufe und der Fähigkeit, sich materieller Güter durch einen räumlich
und zeitlich präzise abgestimmten Körpereinsatz zu ermächtigen. Diese Beobach-
tung besteht darin, Ereignisse in seiner Umwelt daraufhin abzutasten, „ob ihnen
Gelegenheitsqualität zukommt.“25 Gelegenheiten unterscheiden sich von anderen
Ereignissen dadurch, dass sie „Anschlußmöglichkeiten für eigenes Handeln“26 dar-
stellen, das der Selbsterhaltung dient. Dieses Wahrnehmen von Gelegenheiten
durch den pícaro ist stets von der Strategie dominanter Aufmerksamkeitsregime
abhängig, die das gesellschaftliche Geschehen zu überblicken und Bestrebungen,
aus einer gottgewollten sozialen Ordnung auszubrechen, im Keim zu ersticken su-
chen. Diese Wechselbeziehung von strategischer und taktischer Aufmerksamkeit
wird nun anhand von ausgewählten Episoden im Lazarillo illustriert.

2. Aufmerksamkeit im Lazarillo de Tormes

2.1 Die Strategie und ihr Anderes

Als Sohn eines Mühlenwächters, der als Galeerensträfling gefallen ist, muss Lázaro
seine Heimat schon früh verlassen. Auf seinem Streifzug durch die spanische Ge-
sellschaft des Siglo de Oro gerät er als Blindenführer in die Halbwelt der Bettler, in
die scheinheilige Welt der Priester, lernt die Lebensverhältnisse des niederen Adels,
die Tricks und Intrigen der Ablasshändler und schließlich die dubiose Lebensfüh-
rung eines Erzpriesters kennen, nachdem er sich kurzzeitig als Gehilfe eines
Mönchs, eines Trommelbemalers und als Hilfspolizist verdingt hat. Das Dienstver-
hältnis mit dem Erzpriester betrachtet er als „Gipfel allen Glückes“ (LT 161), da
ihn dieser nicht nur als Ausrufer einstellt, sondern ihn auch mit seiner Magd ver-
heiratet. Allerdings hat er nur scheinbar eine akzeptable soziale Stellung gefunden,
denn Gerüchten zufolge unterhält der Erzpriester mit der Frau Lázaros ein zweifel-
haftes Verhältnis.

 24 Ebd.
 25 Stanitzek, Blödigkeit, S. 50.
 26 Ebd.

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Das Zusammenspiel von strategischer und taktischer Aufmerksamkeit wird vor


allem in den ersten beiden Kapiteln des Romans deutlich, in denen Lázaro überle-
bensnotwendige Taktiken entwickeln und anwenden lernt. Bemerkenswert ist
dabei, dass seinem ersten Lehrmeister, einem Blinden, ausgerechnet jener Sinn
fehlt, der im Roman an erster Stelle mit Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht
wird. So gesteht Lázaro seinem zweiten Herrn, dem das Augenlicht geschenkt ist,
eine erhöhte Fähigkeit zur Aufmerksamkeit zu:
Meine Tricks anzuwenden, hatte ich keinerlei Gelegenheit, gab es doch nichts, was
ich hätte stibitzen können. Und selbst wenn es etwas gegeben hätte, ich konnte ihn
[den Pfarrer, M.L.B.] ja nicht hintergehen, wie ich es bei dem anderen [dem Blinden,
M.L.B.] gemacht hatte; dem fehlte nun einmal der wichtigste Sinn, da konnte der
mich ja bei aller Schläue nicht richtig wahrnehmen […]. Dieser hier aber, der hatte
scharfe Augen wie kein anderer. Wenn es zur Opfergabe kam, fiel kein Groschen in
die Schale, den er sich nicht gemerkt hätte. Das eine Auge hatte er auf den Leuten,
das andere auf meinen Händen. Dabei tanzten ihm die Augen im Schädel, als wären
sie von Quecksilber. (LT 53)

Und nach einem Streich, den Lázaro dem Pfarrer gespielt hat, bittet er den Him-
mel inständig, er möge seinen Herrn mit Blindheit schlagen, damit er den Betrug
nicht bemerke (LT 59). Das körperliche Auge (und nicht das geistige) wird also
zum Inbegriff für ein strategisches Aufmerksamkeitsregime, dessen Wachsamkeit
nur durch einen erhöhten Einsatz von List hintergehbar ist. Der Pfarrer von Ma-
queda verkörpert die Sicht der Strategie, über die der Blinde nur eingeschränkt
verfügt, ist letzterer doch selbst Teil einer kulturell dominierten und daher auf den
Einsatz von Taktiken angewiesenen Schicht. Er unterscheidet sich jedoch insofern
von Lázaro, als er als Blinder das Recht zum Betteln und damit einen fest zugewie-
senen Platz in der Gesellschaft besitzt, von dem aus er seinen Blindenjungen in
diese einführt. Außerdem verfügt er über die quasi-visuelle Fähigkeit eines Sehers,
über einen „Sinn für Prophezeiung“ (LT 43) sowie über ein ausgeprägtes Gedächt-
nis (LT 23) und damit über einen, wenn nicht räumlichen, so zumindest zeitlichen
Überblick. Der Blinde ist also sowohl auf der Seite der Taktik als auch auf derjeni-
gen der Strategie anzusiedeln. Seine taktischen Fähigkeiten zeigen sich darin, dass
er „in seinem Geschäft […] ein Adler“ (LT 23) ist, so dass sich Lázaro „keinen
Schlaueren, keinen Gerisseneren“ (ebd.) vorstellen kann. Seine strategische Auf-
merksamkeit hingegen tritt dann zutage, wenn er seine Habseligkeiten überwacht
und gegenüber Lázaro verteidigt:
Er trug das Brot und alles andere in einem leinenen Beutel, der sich oben mit einem
Eisenring und einem Vorhängeschloss verschließen ließ. Bei allem, was er hineintat
und wieder herausholte, war er von so großer Wachsamkeit und zählte alles einzeln so
genau nach, dass kein Mensch auf der Welt es schaffte, ihm ein Krümelchen zu ent-
wenden. (LT 25)

Dass die strategische Position des Blinden jedoch nicht uneingeschränkt ist, zeigt
sich nicht zuletzt darin, dass er schließlich durch Lázaro mit seinen eigenen Waffen
geschlagen und von ihm überlistet wird. In einem Augenblick der Zerstreuung

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250 Miriam Lay Brander

entledigt sich Lázaro seines Herrn, indem er ihn in seinem Glauben, über einen
Bach zu springen, gegen einen Pfeiler stoßen lässt. Die Folge ist ein Verlust jegli-
cher Aufmerksamkeit, da der Blinde das Bewusstsein verliert. Mit dieser Tat rächt
sich Lázaro an seinem Herrn für einen Schlag, den dieser ihm zu Beginn des
Dienstverhältnisses versetzt hatte und dessen Effekt der Bewusstlosigkeit des Blin-
den diametral gegenübersteht:
Wir wanderten aus Salamanca hinaus und als wir zur Brücke gelangten, an die Stelle
am Anfang, wo ein Tier aus Stein steht, das fast so aussieht wie ein Stier, da befahl mir
der Blinde, nah an das Tier heranzugehen, und als ich dort stand, rief er:
„Lázaro, leg mal dein Ohr an den Stier, da kannst du ein mächtiges Geräusch
hören.“
Ich, ganz arglos, tat es, im Glauben, es sei so. Und wie er fühlte, dass ich den Kopf
dicht am Stein hielt, machte er die Hand steif und schlug mir den Kürbis so heftig
gegen den verdammten Stier, dass mir der Schmerz davon mehr als drei Tage lang
nicht mehr verging. […]
Mir schien, ich erwachte in diesem Augenblick aus der Einfalt, in der ich als Kind
geschlummert hatte. Ich sagte bei mir: Recht hat er doch, der da, ich muss von jetzt
an genauer hinschauen [wörtl.: das Auge beleben und aufpassen, M.L.B.], denn ich
bin allein, und muss überlegen, wie ich mich durchsetzen kann. (LT 20-21)

Fällt der Blinde nach dem durch Lázaro veranlassten Zusammenstoß mit dem Pfei-
ler „wie tot nach hinten nieder“ (LT 47), so erwacht Lázaro hier, ganz im Gegen-
teil, metaphorisch aus seinem kindlichen Schlaf. Nicht einen Verlust, sondern eine
Erhöhung von Bewusstsein bewirkt der Schlag gegen den steinernen Stier. Das in
dieser Episode geschilderte Initiationserlebnis Lázaros nimmt eine Schlüsselposi-
tion in der Aufmerksamkeitsbildung des Helden ein, denn die Lektion, die der
Blinde ihm erteilt, lautet: Sei aufmerksam! Dabei geht es nicht um den gängigen
zeitgenössischen Aufmerksamkeitsbegriff, wie ihn Covarrubias y Orozco in seinem
Wörterbuch27 einige Jahrzehnte später definiert. Demnach ist der Aufmerksame
(atento) „derjenige, der mit Sorgfalt etwas hört oder betrachtet“28. Wird bereits im
Hinblick auf das Adjektiv ‚aufmerksam‘ das Sehen erst an zweiter Stelle genannt, so
fällt es in der nachfolgenden Definition von Aufmerksamkeit (atención) zugunsten
des Hörens vollständig weg: „die Stille und Sorgfalt, mit der einer Sache gelauscht
wird“29. Legt man der zitierten Passage aus dem Lazarillo diesen Aufmerksamkeits-
begriff zugrunde, so wird deutlich, dass der anonyme Autor ihn unterläuft. Denn
ausgerechnet als Lázaro angestrengt dem lauscht, was zu hören man ihm verspro-
chen hat, und dadurch die gängigen Kriterien eines Aufmerksamen erfüllt, ist er
zerstreut in dem Sinne, dass ihm entgeht, wie der Blinde zu seinem Schlag ausholt.
Es erscheint hier als Nachteil, seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was Auto-
ritäten vorgeben, vielmehr erweist es sich als lohnenswert, angesichts des Scheins
einer trügerischen Realität eine Aufmerksamkeitsökonomie zu entwickeln, die auf

 27 Covarrubias y Orozco, Tesoro.


 28 Ebd., S. 163, Übers. M.L.B.
 29 Ebd.

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Mit List und Tücke 251

eigenem Urteilungsvermögen beruht. Um sich gegen eine feindselige Welt durch-


zusetzen, gilt es, sowohl das innere als auch das äußere Auge offen zu halten.30
Ohne näher auf die Debatte um das Verhältnis von körperlichem und geistigem
Sehen sowie um die Konkurrenz von Auge und Ohr in der Frühen Neuzeit
einzugehen,31 soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass der aus dem Mittelalter
übernommene voluntaristische Aufmerksamkeitsbegriff32, der sich auf ein willent-
liches Ausrichten der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand bezieht,
hier eine neue Komponente erhält, offenbar bevor dies in den offiziellen Nach-
schlagewerken geschieht. An die Stelle eines konzentrierten Zuhörens und Betrach-
tens tritt die Fähigkeit, die Absichten eines Gegenübers zu erkennen und die eige-
nen Handlungen danach auszurichten. Ein kurzzeitiger Verlust einer solchen
handlungsorientierten Aufmerksamkeit kann fatale Folgen haben, wie es der
Blinde, nachdem er es seinem Gehilfen beigebracht hat, am eigenen Leib zu spüren
bekommt. Lázaro kann seinen Herrn nur überlisten, weil er aufgrund verschiede-
ner Umwelteinflüsse zerstreut ist, nämlich – so Lázaro – „[d]a es stark regnete und
der Elende nass wurde, und wegen der Eile, die wir hatten, dem Wasser von oben
zu entkommen, und weil, das Wichtigste, Gott ihm in dieser Stunde den Verstand
blendete[.]“ (LT 45)
Die Taktik Lázaros besteht hier also ganz im Sinne von Certeau darin, die Auf-
merksamkeitslücken der Strategie zu erspüren und zu nutzen. Dies gestaltet sich
für Lázaro bei seinem zweiten Herrn schwieriger als beim ersten, da der Pfarrer von
Maqueda im Gegensatz zum Blinden über „de[n] wichtigste[n] Sinn“ (LT 53) ver-
fügt. Hinzu kommt, dass der Geistliche Lázaro noch mehr darben lässt als sein
Vorgänger, während er sich selbst zwei Rationen Fleisch am Tag gönnt (LT 51).
Wie der Blinde wendet auch er die strategischen Praktiken des Verschließens und
Zählens an, dies jedoch noch mit verschärfter Rigorosität:
Er besaß eine alte, verschließbare Lade, deren Schlüssel er an einer Gürtelschlaufe
seines Mantels befestigt hatte; und wenn aus der Kirche das Spendenbrot kam, wurde
es sogleich dort hinein gesteckt und die Lade wieder verschlossen. (LT 49)

Nachdem es Lázaro durch einen Trick gelungen ist, sich Zugang zu der Lade zu
verschaffen und Brote zu entwenden, sieht er seinen „Hungermörder zur Unzeit
über der Lade, wie er die Brote hin und her schob, nachzählte und abermals nach-
zählte“ (LT 59), bis er schließlich „längere Zeit mit Rechnen zugebracht hatte, die
Tage an den Fingern abzählend“ (ebd.). Noch stärker als beim Blinden ist die Auf-
merksamkeit des Pfarrers an Mechanismen der Überwachung gebunden (genaues
Beobachten immer wiederkehrender Abläufe, Zählen, Rechnen, Buch führen) und

 30 So führt Covarrubias das für ‚aufpassen‘ verwendete Wort avisar auf visus zurück, „denn mit den
Augen des Verstandes sieht man und passt man auf, und auch mit den körperlichen Augen.“
(Tesoro, S. 169, Übers. M.L.B.).
 31 Siehe hierzu exemplarisch Loenhoff, Die kommunikative Funktion der Sinne.
 32 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie.

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252 Miriam Lay Brander

dort, wo er keine beständige Aufmerksamkeit leisten kann, greift er auf Hilfsmittel


wie das Schloss zurück.
Das strenge Überwachungsregime des Geistlichen zwingt Lázaro zu einer Opti-
mierung der erlernten taktischen Fähigkeiten. Mehr denn je ist er auf Zufälle, auf
Koinzidenzen in Raum und Zeit angewiesen. Als eines Tages „zufällig ein Kesselfli-
cker“ (LT 57) an seine Tür kommt, nutzt Lázaro die Gelegenheit, um einen Schlüs-
sel für die Brotlade zu erwerben. Als der Geistliche das erneute Fehlen der Brote
bemerkt, beschließ er, über ihre Anzahl Buch zu führen. In seiner Verzweiflung
kommt Lázaro ein „kleiner Einfall zu Hilfe“ (LT 61), der darin besteht, Brocken
aus den Broten herauszubrechen und damit den Anschein zu erwecken, es seien
Mäuse in die löchrige Lade gelangt. Lange Zeit scheint die Taktik Lázaros erfolg-
reich, da der Pfarrer, der des Brotdiebstahls weder durch ein immer neues Verna-
geln der Lade noch durch das Aufstellen einer Mausefalle Herr wird, schließlich der
Vermutung einiger Nachbarn Glauben schenkt, es mache sich eine kleine Schlange
an den Broten zu schaffen. Allerdings ist der Schlaf des Pfarrers in seiner Entschlos-
senheit, der Schlange den Garaus zu machen, so leicht geworden, dass Lázaro seine
nächtlichen Annäherungen an die Lade einstellen muss:
Ich musste natürlich befürchten, er würde mich bei so viel Wachsamkeit bald mit
dem Schlüssel entdecken, den ich unter dem Stroh versteckt hielt, und daher schien
es mir sicherer, mir den nachtsüber in den Mund zu stecken. Schon als ich mit mei-
nem Blinden lebte, hatte ich ja diese Börse benutzt und gelegentlich zwölf oder fünf-
zehn Maravedís darin aufbewahrt, alles in halben Blancas, ohne dass sie mich je beim
Essen gestört hätten; anders hätte ich nie eine Blanca besessen, auf die der Blinde
nicht gestoßen wäre, untersuchte er doch jede Naht und jeden Flicken an mir regel-
mäßig und eingehend. (LT 73)

Schließlich erlaubt es der Zufall, dass der Geistliche den Schlüssel in Lázaros Mund
entdeckt. Dies geschieht in einem Moment der Quasi-Bewusstlosigkeit Lázaros,
der im Schlaf nicht bemerkt, wie sich der Schlüssel in seinem Mund umdreht und
diesem dadurch ein Pfeifen entweicht, das der Pfarrer für das Zischen der lange
schon verfolgten Schlange hält. Die darauf folgenden Ereignisse entziehen sich
Lázaros Aufmerksamkeit vollständig:
Was an den drei folgenden Tagen geschah, darüber kann ich nichts Verlässliches
sagen, denn ich brachte sie im Bauche des Walfischs zu, aber was ich gerade berichtet
habe, das hörte ich, nachdem ich wieder zu mir gekommen war, von meinem Herrn,
der es allen Vorüberkommenden in extenso erzählte. (LT 75-77)

Das Scheitern der Taktik führt zum völligen Verlust von Aufmerksamkeit in Form
einer tagelangen Bewusstlosigkeit und schließlich zum Ausschluss aus dem Über-
wachungsbereich der Strategie. Sobald der Schelm den Spielraum taktischer Hand-
lungsmöglichkeiten sprengt, wozu er freilich durch die Verschärfung strategischer
Maßnahmen gezwungen ist, wird er zur Gefahr für die Strategie und muss aus
deren Aufmerksamkeitshorizont verbannt werden. Als Lázaro so weit genesen ist,
dass er sich wieder auf den Beinen halten kann, entlässt der Geistliche seinen Mess-

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Mit List und Tücke 253

diener mit den Worten „Es kann gar nicht anders sein: Du musst Bursche bei
einem Blinden gewesen sein.“ (LT 79) Hier wird die Fähigkeit zur taktischen Auf-
merksamkeit zum Identifikationskriterium, das auf die Vorgeschichte des Individu-
ums verweist und zu dessen Diskriminierung führt: Die von Lázaro angewandten
Überlebenstechniken ermöglichen es dem Pfarrer, als er sie einmal durchschaut
hat, ihn als Blindenjungen zu identifizieren und aus der Gefahr, die er damit ver-
bindet, die ihm notwendig erscheinenden Konsequenzen zu ziehen.
An dieser Stelle reißt das Thema der Aufmerksamkeit im Lazarillo ab. Denn die
darauf folgenden Herren Lázaros – ein Escudero aus dem niederen Adel, ein
Mönch, ein Ablassverkäufer und ein Trommelbemaler – verfolgen für den pícaro
keine Strategie, der gegenüber er sich behaupten müsste. Vielmehr sind auch sie,
ähnlich wie der Blinde, Teil derjenigen Unterwelt, die das Andere der städtischen
Oligarchie bildet. Erst im letzten Kapitel, als Lázaro eine ansehnliche Stellung als
Ausrufer erlangt hat, wird der anfangs gesponnene Aufmerksamkeitsfaden wieder
aufgenommen:
In dieser Zeit nun erregten meine Anstelligkeit und ordentliches Leben die Aufmerk-
samkeit des Herrn Erzpriesters von Sankt Salvador, bei dem ich in Diensten stand
und der auch Euer Gnaden Diener und Freund ist. (LT 157)

Fällt Lázaro beim Erzpriester von Sankt Salvador, der ihn in seinen Dienst nimmt,
durch Fleiß und guten Lebenswandel auf, so erregt er die Aufmerksamkeit dessen
Freundes, dem Lázaro seinen Lebensbericht widmet, vielmehr durch ein Gerücht,
das über ihn im Umlauf ist. Dem geistlichen Würdenträger ist zu Ohren gekom-
men, dass Lázaros Frau zugleich die Geliebte des Erzpriesters sei, und er möchte
sich den Fall von Lázaro ausführlich erzählen lassen.33
Der Umstand, dass Lázaros Frau dem Erzbischof vor ihrer Heirat bereits drei
Kinder geboren hat, steht auch im Interesse einer öffentlichen Aufmerksamkeit,
der sich der Erzpriester zu entziehen versucht, indem er seinem Diener rät:
Lázaro von Tormes, wer auf üble Nachrede hören wollte, der käme nie auf einen
grünen Zweig. […] Daher sollst du denn auch gar nicht darauf achten, was sie so
reden, sondern vielmehr darauf, was für dich von Vorteil ist. (LT 159)

Hier erhält der voluntaristische Aufmerksamkeitsbegriff eine fragwürdige Ausrich-


tung: Lázaro soll seine Aufmerksamkeit bewusst auf diejenigen Dinge richten, die
ihm persönlichen Nutzen einbringen und nicht versuchen, die Wahrheit über sei-
nen Herrn und seine Frau herauszufinden. Dies schlägt ausgerechnet ein Geistli-
cher vor und damit eine Instanz, die für die Verbreitung und, vor allem in der Zeit
der Katholischen Reform, auch für die Verteidigung der als gültig anerkannten
Wahrheit zuständig ist. Obwohl die Verspottung von Geistlichen im Zuge der Ka-

 33 Bemerkenswerterweise werden beide Fälle der Erregung von Aufmerksamkeit mit tener noticia
(wörtl.: Kenntnis erhalten) bezeichnet: Der Erzpriester nimmt Kenntnis vom Lebenswandel
Lázaros, und „Euer Gnaden“ nimmt Kenntnis von der zweifelhaften Lebensführung sowohl
Lázaros und seiner Frau als auch derjenigen des Erzbischofs.

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254 Miriam Lay Brander

tholischen Reform allmählich tabuisiert wird,34 übernimmt der anonyme Autor


des Lazarillo den Antiklerikalismus der mittelalterlichen Fabliaux35 und verbindet
ihn mit frühneuzeitlichem Individualismus. Doch auch dieser erscheint ironisch
verkehrt, da er sich allein auf persönliche Bereicherung bezieht, und da die Selbst-
verwirklichung, die Lázaro schließlich erreicht zu haben glaubt, nur eine schein-
bare ist.

2.2 Aufmerksamkeit und Erzählschema

Betrachtet man die Erzählsituation im Lazarillo näher, so ergibt sich ein komplexes
Wechselspiel von Aufmerksamkeiten. Zunächst ist es auf einer intradiegetischen
Ebene die Bevölkerung, im Roman vertreten durch die „bösen Zungen“ (LT 159),
die auf die seltsame Dreierbeziehung zwischen Lázaro, seiner Frau und dem Erzbi-
schof von Sankt Salvador aufmerksam wird. Auf einer extradiegetischen Ebene
weckt das daraus entstehende Gerücht die Aufmerksamkeit des mit „Euer Gnaden“
angesprochenen Geistlichen, der sich von Lázaro Näheres berichten lässt. Lázaro
wiederum nutzt die Gelegenheit, um die Aufmerksamkeit, die vermutlich seinem
Herrn gilt, auf sich selbst zu lenken und seine Lebensgeschichte ausführlich zu er-
zählen, „damit Ihr [Euer Gnaden, M.L.B.] auch umfassende Kenntnis von meiner
Person bekommt“ (LT 9). Dadurch hält er zugleich der ihn umgebenden Gesell-
schaft einen Spiegel vor und lenkt so die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Miss-
stände seiner Zeit. Dabei ist sich der Erzähler bewusst, dass sich die Leserschaft, die
das letzte Glied in der Aufmerksamkeitskette bildet, nicht auf den im Prolog expli-
zit angesprochenen Adressaten „Euer Gnaden“ beschränkt, wie es im Prolog heißt:
„Ich denke, es wird gut sein, wenn so bedeutsame Dinge, wie man sie vielleicht
noch nie gehört und gesehen hat, vielen zur Kenntnis gelangen und nicht in die
Gruft des Vergessens hinabsinken[.]“ (LT 5)
Diese Formel scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zur Briefform des
Romans zu stehen.36 Doch gerade die lapidar daher gesagte Prologsfloskel situiert
das erzählte Geschehen zwischen Banalität und Unerhörtheit: Was Lázaro zu erzäh-
len hat, ist ein Fall unter vielen, von denen einzig der seine dem Erzbischof zu
Ohren gekommen ist. Banal ist der Fall auch, weil die darin involvierten Figuren
Prototypen darstellen: vom blinden Bettler über den geizigen und zugleich genuss-
süchtigen Kleriker und den verarmten Adligen bis hin zum trügerischen Ablass-
händler. Unerhört sind diese Dinge, da sie aus der moralischen Sicht des damaligen
Lesers Skandale darstellen. Das sind sie auch für den geistlichen Würdenträger, der
sich nun im Detail berichten lässt, wie es zu der seltsamen Dreiecksbeziehung des
Erzbischofs von Sankt Salvador, seinem Ausrufer und dessen Frau gekommen ist.

 34 Vgl. Müller, „‚Komödie‘ und ‚Comedia‘“, S. 150.


 35 Vgl. Bataillon, Novedad y fecundidad, S. 17.
 36 Vgl. Guillén, „La disposición temporal“, S. 357.

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Mit List und Tücke 255

Dass Lázaro die Aufmerksamkeit eines hohen Geistlichen nutzt, um seine eigene
Lebensgeschichte zu erzählen, ist Teil einer Taktik, um sich als Glied einer unbe-
deutenden Gesellschaftsschicht Gehör zu verschaffen. Die Situierung des Erzählers
auf der Seite der Taktik hat Konsequenzen für die Erzählstruktur: Lázaro ist kein
allwissender Erzähler, der das Geschehen in der Vogelperspektive überblickt, in
jede Figur hineinschauen kann und sämtliche Zusammenhänge auktorial zu deu-
ten weiß. Vielmehr ist er selbst Teil des Geschehens, das er lediglich aus seiner ei-
genen Perspektive rückblickend darzustellen vermag. Ohne an dieser Stelle näher
auf die Debatte um den Ursprung des erzählenden Ich im Lazarillo einzugehen,37
soll das rückblickende Erzählen in der ersten Person hier als Bewusstseinsakt be-
trachtet werden, der die zentralen Komponenten der Erinnerung Lázaros mitein-
ander verbindet.38 Ausschlaggebend ist hierbei die Vermischung der erzählenden
mit einer erlebenden Ebene. Der Erzähler identifiziert sich nie vollständig mit sei-
ner Geschichte, sondern präsentiert sie stets aus einer Doppelperspektive: zum
einen aus der naiven Sicht eines Kindes, zum anderen aus der Sicht eines erwach-
senen Mannes, der das Geschehen aufgrund seiner hinzugewonnenen Erfahrung
zu deuten weiß. Dies wird besonders in der Episode von Lázaros schwarzem Stief-
brüderlein deutlich:
Und ich weiß noch, wie mein schwarzer Stiefvater einmal mit dem Bübchen herum-
tollte und das Kind meine Mutter und mich weiß sah und ihn nicht, vor ihm floh,
ängstlich, zu meiner Mutter hin, und auf ihn zeigend rief:
„Mama, coco!“
[…]
Ich, obwohl noch ganz Junge, merkte mir dieses Wort meines Brüderchens und sagte
bei mir: „Wie viele muss es geben in der Welt, die vor anderen fliehen, weil sie sich
selber nicht sehen!“ (LT 15)

Es liegt auf der Hand, dass diese Maxime, entgegen der Behauptung des Erzählers,
nicht von dem kindlichen Lazarillo, sondern höchstens von dem erwachsenen
Lázaro stammen kann. In ihr ist die Gesellschaftskritik vorweggenommen, die in
den nachfolgenden Episoden geübt wird: Dass nämlich die dominierende Schicht
der Gesellschaft sich nicht an die moralischen Regeln hält, denen sie ihr Anderes
unterwirft; dass sie bei aller strategischen Überwachung selbst Taktiken anwendet,
um die von ihr selbst definierten Regeln zu umgehen. Lehrt der Geistliche von
Maqueda Lázaro die Askese, so befolgt er selbst dieses geistliche Prinzip nicht, ver-
sucht jedoch, nach Außen den Anschein zu bewahren, es zu tun. Dies erscheint
umso scheinheiliger, als er sich bei der Entlassung Lázaros bekreuzigt, „als ob [die-
ser] vom Dämon besessen wäre“ (LT 79). Die dominante Gesellschaft, so lautet die
im Lazarillo geübte Kritik, schließt das feindliche Andere aus, ohne die eigene
Ähnlichkeit mit diesem zu erkennen. Während die Strategie den Spielraum der
Taktik zu minimieren sucht, hintergeht sie taktisch sich selbst.

 37 Siehe dazu exemplarisch Jauß, „Ursprung und Bedeutung“.


 38 Vgl. Guillén, „La disposición temporal“, S. 359.

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In Lázaros Bericht lässt sich eine Korrelation zwischen der Intensität seines
Hungers und der Ausführlichkeit der Erzählung beobachten. Je stärker das Hun-
gergefühl, umso tiefer scheint sich das Erlebte in Lázaros Gedächtnis einzugraben.
Ausgedehntes Erzählen geht zudem mit einer erhöhten Aufmerksamkeit des Prot-
agonisten einher, was sich darin zeigt, dass er sich später noch an die Details seines
Leidens erinnern kann. Diese unterschiedlichen Erzähltempi sind Teil einer „Auto-
projektion der Figur in der Zeit“39, die das Bewusstsein des Erzählers für die Zeit
und das Verfließen von Zeit zeigt. Je mehr der pícaro leidet, umso mehr ist er auf
die Beobachtung von zeitlichen Rhythmen angewiesen. Die Ausführlichkeit der
Erzählung korreliert also mit der Notwendigkeit taktischer Aufmerksamkeit: Das
beständige Ausschauhalten nach Gelegenheiten, zu dem der Schelm in existenziell
besonders prekären Phasen gezwungen ist, führt zu einem bewussteren Erleben des
Zeitflusses, was sich in einer erhöhten Deckungsgleichheit von erzählter Zeit und
Erzählzeit manifestiert. So finden sich in keinem Kapitel des Romans so viele und
so genaue Zeitangaben wie in der Episode des Escudero, in welcher der Hunger
Lázaros am größten ist. Allerdings ergeben sich aus dieser zeitlichen Beobachtung
keine Handlungsmöglichkeiten, denn, schlimmer noch als die Wachsamkeit des
Blinden und die Überwachungsstrategien des Geistlichen, findet sich im Haus des
Escudero „keine Lade wie jene bewusste von ehedem“ (LT 85) und damit auch
keine Aussicht darauf, durch einen taktischen Einsatz von List an Nahrung zu ge-
langen. Lázaro muss erkennen, dass er sich in einem „Spukhaus“ (LT 85) und
somit an einem gesellschaftlich nicht lokalisierbaren Ort befindet und dass in die-
ser Heterotopie40 das Zusammenspiel von Strategie und Taktik nicht funktionieren
kann. So wendet er sich wieder seiner beim Blinden erlernten Tätigkeit, dem Bet-
teln, zu, dank der er trotz der herrschenden Nahrungsmittelknappheit in der Stadt
„mit gutem Geschick, noch bevor die Uhr vier Mal schlug, ebenso viele Brote in
[sich] hineinschlichten und noch zwei weitere in Ärmel und Brusttasche stecken
konnte.“ (LT 101)
In den darauf folgenden Episoden lässt die taktische Aufmerksamkeit des Prot-
agonisten nach: Je weiter er sozial aufsteigt, umso mehr verliert er das Bewusstsein
für das Verfließen von Zeit, bis diese schließlich stillzustehen scheint: „So konnte
ich es mir in dieser Zeit wohlergehen lassen und erlebte den Gipfel allen Glückes.“
(LT 161) Da Lázaro eine feste soziale Stellung erreicht hat, benötigt er die Fähigkeit
zur taktischen Aufmerksamkeit mit ihren zeitbezogenen Verfahren nicht mehr.
Stattdessen muss er eine bewusste Steuerung von Aufmerksamkeit erlernen, die es
ihm ermöglicht, unangenehme Wahrheiten über seine Person willentlich auszu-
blenden: „Bis zum heutigen Tag hat von uns nie jemand etwas über den Fall verlau-
ten lassen; vielmehr schneide ich, wenn ich merke, dass einer davon anfangen will,
ihm sofort das Wort ab“ (LT 161). Auch hier erscheint der voluntaristische Auf-
merksamkeitsbegriff provokativ umgekehrt, wenn aufmerksames Zuhören der Un-

 39 Guillén, „La disposición temporal“, S. 359.


 40 Zum Begriff der Heterotopie siehe Foucault, „Des espaces autres“.

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Mit List und Tücke 257

terbrechung des Gegenübers und damit nicht dem Aufnehmen, sondern dem Ver-
drängen von Wahrheiten dient.

2.3 Aufmerksamkeit und Komik

Die Koppelung des Aufmerksamkeitsthemas an das Hungermotiv verweist auf


Körperlichkeit als eine zentrale Komponente von Aufmerksamkeitspraktiken41.
Körperbezogene Referenzen nehmen im Lazarillo eine bedeutsame Stellung ein
und werden bis ins Groteske gesteigert. Höhepunkt des Grotesken bildet die Epi-
sode, in der Lázaro dem Blinden eine Schlackwurst entwendet, indem er sie gegen
eine Rübe austauscht. Als der Blinde den Betrug bemerkt, setzt er seinen Geruchs-
sinn ein und steckt, um herauszufinden, ob Lázaro die Schlackwurst verspeist hat,
diesem seine Nase so weit in den Rachen, dass er die Wurst erbricht. Die Episode
enthält mehrere körperliche Motive: das Verspeisen und das Wiederausscheiden
eines Nahrungsmittels, letzteres hervorgerufen durch eine Nase im Mund eines
anderen – die Nase galt überdies im Mittelalter und bis ins 16. Jahrhundert als
Phallussymbol. Auch wenn die Episode beim Leser Ekel hervorrufen kann, so
zeugt sie nicht nur von erzählerischem Geschick, sondern lenkt darüber hinaus den
Fokus auf die körperliche Dimension von Aufmerksamkeit. Denn zu dieser grotes-
ken Situation kann es nur deshalb kommen, weil dem Blinden mit dem Sehvermö-
gen das wichtigste Überwachungsorgan fehlt und er deshalb darauf angewiesen ist,
seinen Geruchssinn einzusetzen. Mit dem Begriffspaar von Strategie und Taktik
sind die grotesken Motive insofern vereinbar, als sie sich nicht mehr wie im Mittel-
alter auf eine volkstümliche Gegenkultur beschränken, sondern zu künstlerisch-
ideologischen Praktiken einer neuen Zeitwahrnehmung werden.42 Diese entziehen
sich einem offiziellen Aufmerksamkeitsregime, indem sie geltende Gesetze und
Normen spielerisch außer Kraft setzen.
Die groteske Fokussierung des Körpers im Lazarillo erzeugt Komik, denn, so
Henri Bergson, „[s]obald man sich mit dem Körper beschäftigt, ist eine Infiltration
der Komik zu befürchten“.43 Allerdings bildet im Lazarillo nicht die Betonung des
Körperlichen die Hauptquelle der Komik, sondern das mit ihr verbundene Wider-
spiel von Strategie und Taktik. Dessen komische Effekte ergeben sich einerseits aus
der Dialektik der Erfindungen zwischen dem Herrn, der immer höhere Hürden
schafft, und dem Knecht, der immer neue Kniffe erfinden muss, um sie zu über-

 41 Vgl. dazu die Einleitung in diesem Band.


 42 Vgl. Bachtin, Rabelais, S. 75: „Der Sinn für die Zeit und ihre Phasenwechsel erweitert und ver-
tieft sich und umgreift nach und nach sozial-historische Phänomene. Das Zyklische wird über-
wunden, es entsteht ein Gefühl für die historische Zeit. Nun werden groteske Motive mit ihrer
Verbindung zu Zeitenwenden und mit ihrer ganzen Ambivalenz zum wichtigsten Mittel, dessen
sich die Renaissance als künstlerisch-ideologischer Ausdruck ihrer neuen Aufmerksamkeit für Ge-
schichte und historische Umbrüche bedient.“
 43 Bergson, Das Lachen, S. 43.

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258 Miriam Lay Brander

winden. Denn komisch ist das, was einem Automatismus gehorcht,44 und in der
Tat folgen die Schliche des pícaro sowie die Abwehrreaktionen seines Herrn einem
mechanischen Zwang, dem beide Seiten hilflos ausgeliefert sind. Weiter ergibt sich
Komik aus der Zerstreutheit einer Figur45 und damit aus fehlender Aufmerksam-
keit. Die von Lázaro angewandten Taktiken sind nicht zuletzt deshalb komisch,
weil sie die vorübergehende Unaufmerksamkeit seines jeweiligen Herrn ausnutzen.
Die komische Wirkung der Zerstreuung einzelner Figuren auf den Leser spiegelt
sich innerhalb der fiktionalen Welt wider. So lacht etwa der Blinde, nachdem er
Lázaros Schädel gegen den steinernen Stier geschlagen hat, „ausgiebig über seinen
Streich“ (LT 21), ist es ihm doch gelungen, die Aufmerksamkeit seines Blindenfüh-
rers in eine falsche Richtung zu lenken und ihn auf diese Weise zu hintergehen.
Dies belustigt ihn umso mehr, als es seine eigene Fähigkeit zur Aufmerksamkeit
trotz seiner Blindheit beweist und so eine Warnung für Lázaro darstellt, dem er
zuruft: „Dummkopf, mach dir klar, dass der Bursche des Blinden noch ein Stück-
chen schlauer sein muss als der Teufel.“ (LT 21). Und als der Blinde nach dem
Vorfall um die Schlackwurst den Umstehenden von den Tricks seines Blindenfüh-
rers berichtet,
gab es ein solches Gelächter, dass alle, die auf der Straße vorbeigingen, hereindräng-
ten, um den Grund der Heiterkeit zu erfahren. Der Blinde indessen erzählte meine
Schandtaten mit so viel Schalk und Witz, dass, obwohl ich doch übel zugerichtet und
weinend da stand, mir schien, ich täte Unrecht, wenn ich nicht mit ihm darüber
lachte. (LT 41)

Die Komik der im Lazarillo dargestellten Aufmerksamkeitspraktiken dient zum


einen dazu, den Überlebenskampf Lázaros nicht ins Tragische umschlagen zu lassen.
Dieses Bestreben, Lachen im Zusammenhang mit einer erschütternden Lebensge-
schichte zu erzeugen, hat wiederum zum Ziel, die sich darin widerspiegelnden ge-
sellschaftlichen Probleme zu kompensieren.46 Zum anderen soll durch die Komik
eine Spielwelt erzeugt werden, unter deren Deckmantel Gesellschaftskritik betrie-
ben werden kann. Im Modus des Lachens können soziale Missstände aufgezeigt
werden, ohne dass dies sofort als Kritik erkennbar wird. Mit seinen komischen
Situationen und grotesken Motiven schreibt sich der Lazarillo in eine Lachkultur
ein, die beansprucht, rein spielerisch zu sein und dadurch in keinem offensichtlich
erkennbaren Widerspruch zur dominanten Kultur steht. Dadurch wird der Text
selbst zur Taktik: Er nutzt die Freiräume, die ihm die dominante Kultur zugesteht,
versucht jedoch die nicht klar definierten Grenzen dieser Freiräume auszudehnen.
Auf solche taktischen Überschreitungsversuche reagierte das damalige spanische
System, verkörpert durch den Überwachungsapparat der Inquisition, mit Sanktio-
nen. Dass der Lazarillo in Spanien zunächst nur in ‚gereinigter‘ Form erscheinen
durfte, zeigt, dass sein anonymer Autor das taktische Schreiben für damalige Be-

 44 Vgl. ebd.


 45 Vgl. ebd., S. 19, 105.
 46 Vgl. dazu in Bezug auf die spanische Comedia Müller, „‚Komödie‘ und ‚Comedia‘“, S. 155.

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Mit List und Tücke 259

griffe zu weit getrieben hatte. Er hatte die Grenzen einer rein spielerischen Lachkul-
tur, die im Gegensatz zur Alltagsrealität stand, überschritten und sich zu weit in die
gesellschaftliche Wirklichkeit hineingewagt. Dieser Bezug zur historischen Realität
wird am deutlichsten, wenn die fiktionale Handlung des Romans mit zeitgenössi-
schen Ereignissen verknüpft wird: Lázaros Biographie spannt sich auf zwischen drei
historischen Eckpunkten, nämlich der Schlacht von Gelves im Jahr 151047, in der
sein Vater gefallen ist (LT 18), dem Bettelverbot, das aufgrund einer schlechten
Weizenernte um 1545 in Toledo erlassen wurde (LT 108) und schließlich dem Ein-
zug Karls V. in Toledo, der dort 1525 bzw. 1538–153948 seine Ständeversammlung
abhielt (LT 160). Dass diese Ereignisse jedoch nur angedeutet werden und sich
nicht mit letzter Sicherheit identifizieren lassen, deutet auf eine bewusste Verschlei-
erung des Realitätsbezugs hin. Der Lazarillo überschreitet zwar die Grenze zwischen
Spiel- und Alltagswelt, versucht jedoch zugleich, diese Überschreitung unter einem
folkloristischen Deckmantel zu verbergen.

3. Die historische Dimension pikaresker Aufmerksamkeitspraktiken

Vor dem Hintergrund des taktischen Schreibens erhalten Episoden wie die des
Geistlichen von Maqueda eine neue Dimension: Die Überwachungsstrategien des
Priesters können als Hinweis auf eine staatliche Strategie gelesen werden, die sub-
versives Potential zu unterdrücken sucht. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf Texte,
die den herrschenden Diskurs möglicherweise unterlaufen – ein weiteres promi-
nentes Beispiel sind neben dem Lazarillo die Colloquia von Erasmus –, sondern
auch für Individuen und Personengruppen, die das Andere verkörpern. War die
Inquisition ursprünglich dazu eingerichtet worden, die sogenannten conversos in
Schach zu halten, so fehlt es nicht an Spekulationen, beim anonymen Autor des
Lazarillo könne es sich um einen konvertierten Juden oder Muslim handeln.49 Ein
weiteres staatliches Überwachungsorgan bildete die vor allem für die Kontrolle des
Handels mit der Neuen Welt zuständige Casa de la Contratación in Sevilla. Die
dortigen Beamten führten Listen, in die sie Herkunft, Beruf, Lebenslauf und an-
dere Daten der in die Neue Welt reisenden Passagiere eintrugen. Dies ermöglichte
eine strenge Selektion und Kontrolle, die verhinderte, dass Personengruppen in die
Neue Welt gelangten, welche die Reinheit des Glaubens in den neuen Gebieten
hätten gefährden können: So blieb die Ausreise Juden, Mauren, Ketzern und später
auch Konvertierten, ‚Zigeunern‘ und Homosexuellen verwehrt.50 Nach jüngeren,

 47 Für die Datierung der Handlung des Lazarillo kommen zwei Schlachten von Gelves in Betracht,
eine von 1510 und eine von 1520, wobei die erstere aufgrund einer vergleichsweise schwereren
Niederlage stärker im kollektiven Gedächtnis verankert war. Vgl. LT 18 f., Anm.
 48 Wie im Falle der Seeschlacht von Gelves (vgl. vorherige Anm.) kommen auch für die Ständever-
sammlung zwei Daten in Frage. Vgl. LT 160 f., Anm.
 49 Diese These wird von zahlreichen Kritikern im Anschluss an Castro, „El Lazarillo de Tormes“,
vertreten.
 50 Vgl. María Serrera, „La Casa de la Contratación“.

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260 Miriam Lay Brander

von Roberto González Echevarría51 angestoßenen Lesarten imitiert der Lebensbe-


richt Lázaros, der sich einleitend gegenüber einer höheren Instanz legitimiert, die
rhetorischen Konventionen der ausführlichen, biographischen Leistungs- und Ver-
dienstberichte (relaciones de méritos y servicios), welche diejenigen zu verfassen hat-
ten, die eine Ausreisegenehmigung in die Neue Welt beantragten und hierfür ihre
limpieza de sangre nachweisen mussten. Noch naheliegender erscheint mir, dass
Lázaros Erzählung an die spätmittelalterlichen Absolutionsgesuche52 angelehnt ist,
in denen Menschen, die gegen das Kirchenrecht verstoßen hatten, den Papst nach
ausführlicher Schilderung ihres Falls um Freispruch baten. Aus der Sicht einer
Heuristik von Strategie und Taktik kommen beide Quellentypen insofern als Mo-
delle für den Lazarillo in Frage, als sich der Erzähler einer von der Strategie vorge-
gebenen Rhetorik bedient, um diese taktisch zu unterlaufen.
Die Überwachung von Individuen in der Frühen Neuzeit durch religiöse und
staatliche Organe zielt darauf ab, einer zunehmenden sozialen Unüberschaubarkeit
entgegenzuwirken. Die beginnende Auflösung der ständisch-hierarchischen Ge-
sellschaftsordnung führt dazu, dass sich Individuen nicht mehr eindeutig in einem
geschlossenen Ganzen verorten lassen und ihren Platz in der Gesellschaft durch
kontingente Inklusionsprozesse erwerben.53 Diese Prozesse lassen sich an der Le-
bensführung des pícaro beobachten, die „als fortgesetzte und immer wieder schei-
ternde Erprobung verbleibender Handlungsmöglichkeiten“54 durch ein Subjekt
dargestellt wird. Hinter dem Gelegenheitshandeln des Schelms steht der Versuch,
durch bestimmte Aufmerksamkeitstechniken Fortuna zu überlisten55 und Herr sei-
nes eigenen Schicksals zu werden. Auch wenn dieser Versuch im Falle Lázaros nur
bedingt gelingt, so entspricht er dennoch einer Infragestellung prästabilierter ge-
sellschaftlicher Strukturen und damit der göttlichen Ordnung, die diese Strukturen
in der mittelalterlichen Tradition widerspiegeln. Der Augenblick der Gelegenheit
enthält im Lazarillo keine heilsgeschichtliche Dimension, etwa im Sinne eines Ent-
scheidungsmoments im Hinblick auf die Ewigkeit.56 Aufmerksamkeit im Abwar-
ten und schnellen Ergreifen einer Gelegenheit dient hier vielmehr dazu, irdisches
Glück zu erlangen. Eine solche Wahrnehmung der occasio entbehrt einer überzeit-
lichen Dimension und dient allein der persönlichen Bereicherung im Zeichen des

 51 Myth and Archive, S. 43-92.


 52 Vgl. für eine ausführliche Aufbereitung der Gesuche Esch, Die Lebenswelt des europäischen Spät-
mittelalters.
 53 Vgl. Stanitzek, Blödigkeit, S. 5 f.
 54 Cordie, Raum und Zeit des Vaganten, S. 63.
 55 Wurde Fortuna in der Antike als Göttin und im Mittelalter als Sinnbild der göttlichen Vorsehung
betrachtet, das dem Menschen die Vergänglichkeit seiner Existenz vor Augen führte, so erfährt
der Topos durch Machiavelli eine neue Wendung, indem er Fortuna nicht mehr als Werkzeug der
göttlichen Allmacht begreift, sondern sie teilweise menschlicher Vorsehung unterwirft. Vgl. Orr,
„The Time Motif in Machiavelli“, S. 198-201. Zum Fortuna-Topos allgemein sowie zum Zusam-
menhang von Fortuna und occasio vgl. Kirchner, Fortuna.
 56 Vgl. Voßkamp, Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, S. 197 f.

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Mit List und Tücke 261

Genusses. Dadurch enthält der Augenblick „keine Möglichkeit des Überzeitlichen,


sondern die des Zeitlichen.“57
Der subjektive Eingriff in die Welt wird durch die Erzählperspektive des Schel-
menromans noch verstärkt. Dem panoramatischen Überblick, wie er etwa den
Fronleichnamsspielen eigen war – „eine allumfassende, alles ‚sehende‘ göttliche
Perspektive […], die es erlaubt, sozusagen ‚von oben‘ auf das große Welttheater
herabzublicken“58 – wird der Blick eines Subjekts ‚von unten‘59 auf die spanische
Gesellschaft entgegengesetzt. Der Raum, durch den sich der pícaro bewegt, ist ein
von kosmologischen Programmen befreiter Raum, in dem die Perspektive auf die
Ewigkeit einer notgedrungenen Fokussierung auf irdische Güter weicht. Der pícaro
überlebt mithilfe einer Taktik, die sich auf zufällige Gelegenheiten stützt. Damit
macht die Darstellung von Aufmerksamkeitspraktiken im Lazarillo de Tormes deut-
lich, dass die überwiegend räumliche Ordnung der Dinge, wie sie durch die neue
Orthodoxie hochgehalten wird, zunehmend eine Verzeitlichung erfährt,60 und
zwar in dem Sinne, dass ihre unumschränkte Gültigkeit durch Zufälle und deren
Nutzung durch ein Subjekt in Zweifel gezogen wird.
Doch nicht nur die Infragestellung einer göttlich legitimierten sozialen Ord-
nung macht den Lazarillo, zusammen mit einer Verunglimpfung des Klerus, für
die Inquisition so brisant. Auch das taktische Schreiben auf der strukturellen sowie
das taktische Handeln auf der inhaltlichen Ebene dürften bei der Zensur mit ins
Gewicht gefallen sein. Durch die hohe Anschaulichkeit, mit der der anonyme
Autor Taktiken vorführt, um herrschende Strategien zu umgehen, liefert er Anlei-
tungen für aufmerksames Handeln, das einem strategischen Überwachungsregime
zuwiderläuft. Zudem verleihen die erzählerisch-strukturelle Untermauerung dieser
Taktiken sowie ihre hochgradige Reflektiertheit dem Text theoretische Eigenschaf-
ten, die auf eine längst schon fällige Revision der gültigen Aufmerksamkeitstheo-
rien verweisen. Im Lazarillo wird ein Aufmerksamkeitsdiskurs geführt, dem es an
philosophisch-intellektuellem Unterbau fehlt und der sich deshalb in der fiktiona-
len Literatur einen Boden schafft. Diese diskutiert das Verhältnis von strategischer
und taktischer Aufmerksamkeit ausgerechnet aus der Sicht des Taktikers:61 zum
einen aus der Sicht eines Autors, der sich mithilfe des Anonymats einer staatlichen
Überwachungsstrategie entzieht und zum anderen aus derjenigen eines erzählen-
den Ichs, das seine Auseinandersetzung mit der Strategie nicht nur schildert, son-
dern auch reflektiert und somit Deutungshoheit beansprucht. Vor diesem Hinter-
grund lässt sich die eingangs in Anlehnung an Gumbrecht formulierte These
dahingehend zuspitzen, dass sich die Brisanz des Lazarillo nicht nur der Verdich-

 57 Voßkamp, Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, S. 198.


 58 Mecke, „Die Atopie des Pícaro“, S. 68.
 59 Vgl. auch Jauß, „Ursprung und Bedeutung“.
 60 Vgl. dazu grundlegend Lay Brander, Raum-Zeiten im Umbruch.
 61 Vgl. dazu auch Stanitzek, Blödigkeit, S. 6, der, wenn auch erst für die ständische Gesellschaft im
18. Jahrhundert, feststellt, dass die heuristisch-theoretische Diskussion der Probleme individuel-
ler Existenz in der Frühen Neuzeit zunehmend in der fiktionalen Literatur und damit durch die
betroffenen Individuen selbst stattfindet.

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262 Miriam Lay Brander

tung unterschiedlicher Sinn- und Zeithorizonte und der daraus resultierenden Auf-
merksamkeitspraktiken verdankt, sondern auch seiner Stellung zwischen Praxis
und Theorie, zwischen Handlungsanleitung und theoretischer Reflexion – und dies
nicht durch die dominante Kultur, sondern durch ihr Anderes.

Literatur
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Mit List und Tücke 263

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Jurij Murašov

‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘

Zur Poetologie kalter Aufmerksamkeitsregime


in der russischen Literatur
(am Beispiel von Dostoevskijs Arme Leute)

1. Hören und Sehen und die Temperierung von Aufmerksamkeit


auf der Szene der Schrift
In dem Maße, wie ‚Aufmerksamkeit‘ in ihren verschiedenen theoretischen Ausfor-
mungen von Aristoteles, über Augustinus, Descartes und Christian Wolff bis hin
zu der wahrnehmungsphysiologischen Fassung bei Wundt oder Freuds psychoana-
lytischer „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ stets den Rückkopplungsmecha-
nismus zwischen sinnlicher, vornehmlich visueller und akustischer Wahrnehmung
einerseits und kognitiver, analytischer Leistung andererseits meint,1 erweist sie
sich bedingt durch die Technologie der Schrift. Denn erst mit der visuellen Verge-
genständlichung und (analytischen) Zerlegung des klingenden Sprachsinns durch
graphische Zeichen wird jene Differenz in die Welt gesetzt, die das ermöglicht, was
Aufmerksamkeit ausmacht – nämlich die Trennung von Denken und Handeln,
von sema und soma, von Bedeuten und körperlichem Sinnerleben. Die Technologie
der Schrift etabliert mentale Dispositionen, um jetzt aufmerksam aus dem kontin-
genten Wahrnehmungsstrom Sinnesdaten zur Steigerung von kognitiven Prozessen
und Erleben von Sinn herauszulesen. Gegenüber einem sprachfundierten Weltbe-
zug, der unter der Dominanz des Hörens die Sinne integriert, etabliert die Schrift
die Autonomie des Visuellen.2 Auch wenn es sich um akustische oder olfaktori-
sche Eindrücke, um das konzentrierte Hören von Beethovensonaten oder um die
Degustation von Blauburgunder Rotwein handelt, so erscheinen nun sinnliche
Wahrnehmungen als äußerliche, für das Bewusstsein relevante Daten, auf die sich
Aufmerksamkeit richtet. Diese an der Geste des Blicks und letztlich am lesenden
Auge orientierte, bewusste ‚Gerichtetheit‘ von Aufmerksamkeit dominiert auch die
begriffsgeschichtliche Tradition des lateinischen Ausdrucks attentio. Daran schlie-
ßen auch die Begriffsbildungen im Englischen attention und im Französischen at-
tention an. Etwas anders, nun auch etymologisch auf das Auge bezogen, erweist

  1 Für einen Überblick vgl. Neumann, „Art. Aufmerksamkeit“.


  2 Dazu ausführlicher vgl. Murašov, „Das unheimliche Auge der Schrift“.

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266 Jurij Murašov

sich der Begriff ‚Aufmerksamkeit‘ im Deutschen, der mit dem Lexem mark histo-
risch die visuellen Entitäten ‚Zeichen‘, ‚Grenze‘ oder ‚Notiz‘ meint.3
Als eine Leistung von Schrift funktioniert Aufmerksamkeit als eine wechsel-
seitige Schärfung sowohl der Wahrnehmung als auch der analytischen Erkenntnis-
lust – als ein Mechanismus, der insofern über ein hohes energetisches Potential
verfügt, als sich die Unterscheidungsprozeduren auf der Seite der Wahrnehmung
und auf der der Kognition gegenseitig in Gang bringen und befördern. Mit
McLuhan, Lévi-Strauss aber auch Jan Assmann lässt sich diese Aufmerksamkeit im
Hinblick auf ihre selbstreferentielle Dynamik und ihre drängende, sowohl nach
innen als auch nach außen gewendete Unterscheidungsarbeit als heiß beschreiben.4
Einmal eingestellt, strebt diese unterscheidungsfreudige Aufmerksamkeit aus sich
heraus auf Scharfstellung und Perfektionierung der beteiligten physiologischen,
medialen und mentalen Apparaturen.
Eben dieser heiße Aufmerksamkeitsmechanismus konfrontiert die Akteure sozi-
aler Gemeinschaften allerdings auch mit einer vertrackten Spracherfahrung. Denn
so, wie die in graphischen Zeichen vergegenständlichte und darin sich selbst reflek-
tierende Sprache instand gesetzt wird, begriffliche Instrumentarien zur Beobach-
tung des Sozialen hervorzubringen und zu verfeinern, werden gleichzeitig gerade
jene sozialen Kohäsionskräfte abgebaut, die unmittelbar und performativ aus dem
verbal-akustischen, gemeinschaftlichen Erleben von Sprache resultieren. Platons
prominente Schriftkritik resultiert aus dieser Erfahrung des Verlusts eines im Ver-
balen basierten Ethos und der „Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation“5, die
mit der Schrift in die (politische) Gemeinschaft hineingetragen wird. Auf diese
Weise den ausgreifenden Horizont des Akustisch-Verbalen pragmatisch begren-
zend und differenzierend, lässt das aufmerksame Auge der Schrift die spezifischen
sozialen und ethischen Bindungskräfte der klingenden Sprache sichtbar werden
und macht sie damit (über das Instrumentarium der Rhetorik) für die Kommuni-
kation und die Hervorbringung von Texten verfügbar. Komplementär zum Regime
der heißen, visuell orientierten Aufmerksamkeit resultiert aus diesem schriftbe-
dingten Abbau des im Verbalen selbst fundierten Ethos eine zweite Option für
Aufmerksamkeit, die jetzt kompensatorisch funktioniert: Die mit der Schrift sich
aufdrängenden Unterscheidungsmechanismen werden blockiert, um dafür aber die

  3 Zur Wortgeschichte von ‚Aufmerksamkeit‘ im Deutschen vgl. Grimm/Grimm, Deutsches Wörter-
buch, Bd. 1, S. 691 f.; aufschlussreich sind gleichfalls etymologische Hinweise zur lateinischen
attentio bei Peter von Moos, „Attentio“, S. 92 f.
  4 Im Hinblick auf die Unterscheidung von einen einzelnen Sinn ansprechenden, auflösungsstarken
und distanzfördernden, heißen Medien wie die Schrift oder das Radio, und kalten Medien, die
detailschwach dazu tendieren, den Rezipienten kommunikativ zu involvieren wie die akustische
Sprache oder das Fernsehen, vgl. McLuhan, Understanding media, S. 22-32; zur Unterscheidung
von heißen, entwicklungsdynamischen Schriftgesellschaften und kalten, schriftlosen und auf Be-
wahrung disponierten, primären Gesellschaften vgl. Lévi-Strauss, Das Wilde Denken, S. 298 ff.; in
der Perspektive von Lévi-Strauss erfolgt auch die Unterscheidung von zukunftszugewandtem hei-
ßen Gedächtnis und dem um die Sicherung von Vergangenem bemühten kalten Gedächtnis bei
Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 68 f.
  5 Vgl. Luhmann, „Unwahrscheinlichkeit“.

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 267

akustisch-verbalen und performativen Sprachelemente so zu verstärken, dass nun


im Raum der Schrift sprachversichertes Ethos imaginär erfahrbar werden kann. Im
Verhältnis zur unterscheidungsfreudigen, heißen Aufmerksamkeit erscheint dieses
Aufmerksamkeitsregime als kalt, da hier die Rezipienten weniger zu beobachten-
dem und damit reflexiv operierendem Unterscheiden disponiert werden, als viel-
mehr dazu, sich akusmatisch und empfindend den sinnlichen Daten zu überant-
worten, sich von diesen als angesprochen zu erfahren und, von dem den Dingen
anhaftenden Sinn durchströmt, ihre Bindung (religio) an das Sprachethos der Ge-
meinschaft zu erleben.
Zusammenfassend lässt sich das heiße Aufmerksamkeitsregime am Modell des
Kinderspiels ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ veranschaulichen, bei dem anhand
eines durch einen Spieler benannten pars pro toto die übrige Gruppe das gemeinte
und begehrte Objekt zu erraten hat. In diesem Spiel wird die visuelle Beobachtungs-
und Unterscheidungslust, die sich an gegenständlichen Realien erprobt, in die Welt
der sprachlichen Zeichen übertragen und zum Gegenstand eines Rätselspiels ge-
macht. Kalte Aufmerksamkeitsregime hingegen operieren nach dem Prinzip ‚Ich
höre was, was Du nicht siehst‘, um aus der Welt äußerer Realien – der Dinge ebenso
wie der schriftlichen Sprachzeichen – „sprachliche Werte“ herauszuhören,6 deren
sich eine Sprachgemeinschaft kommunikativ und konspirativ versichert, denen aber
visuell in der Welt der Dinge und der Zeichen kein Referent zugewiesen werden
kann. Gerade weil hier die visuelle Referenz entzogen wird, kann die soziale Bin-
dungskraft, die religio des Verbalen und der Grad konspirativer Eingeweihtheit der
Akteure auf die Probe gestellt und bestätigt werden.

2. Heiße und kalte Aufmerksamkeiten in den lateinischen artes


und scientiae und im russisch-orthodoxen Mittelalter
Die Geltungsbereiche dieser beiden Aufmerksamkeitsregime, ihre Koexistenz und
jeweilige Dominanz sind zu einem gewissen Grad stets pragmatisch bedingt und
durch die jeweils aktuellen diskursiven Aufgabenstellungen definiert.7 In dem Au-
genblick allerdings, in dem dabei das Selbstverständnis von Gemeinschaften, ihr
Ethos, ins Spiel gebracht wird und medienkulturelle Traditionen virulent werden,
herrscht ein striktes Entweder-Oder von Ja oder Nein zur Schrift, von Auge oder
Ohr. Wie kalte und heiße Aufmerksamkeitsregime zum einen koexistieren, zum
anderen aber durch mediale Traditionen jeweils einem Regime eine dominante

  6 Zu dem hier grundlegenden Begriff des „sprachlichen Werts“ („valeur linguistique“) vgl. die Aus-
führungen im Abschnitt „Der sprachliche Wert unter seinem konzeptuellen Aspekt“ bei de Saus-
sure, Cours de Linguistique générale, S. 246/245-254/255.
  7 Insofern spricht auch Aleida Assmann im Plural von „Aufmerksamkeiten“, um dann aber in einer
anthropologischen Perspektive „strategische“ Aufmerksamkeiten der „Vigilanz“ und der „Insze-
nierung“ von den „transzendierenden“ Aufmerksamkeiten zu unterscheiden, die sich ihrerseits in
eine „ethische“, „philosophische“ und eine „religiöse“ Aufmerksamkeit unterscheiden lassen (Ass-
mann, „Einleitung“, S. 21 ff.).

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268 Jurij Murašov

Rolle zukommt, lässt sich am Beispiel der unterschiedlichen Religionskulturen des


europäischen Mittelalters, der lateinischen und der russisch-orthodoxen Kultur,
illustrieren.
Analog zu den unterschiedlich temperierten Aufmerksamkeiten, doch mit
einem Akzent auf dem Kognitiven, bestimmt die Unterscheidung zwischen gerich-
teter und unwillkürlicher Aufmerksamkeit (attentio) „von Aristoteles bis heute die
theoretische Diskussion über die Wahrnehmung, in der zwischen voluntaristischer
und spontaneistischen Extremen eine Vielzahl von mittleren Positionen überwie-
gen […].“8 Sie bildet auch ein Kernstück der philosophischen Theologie des latei-
nischen Mittelalters, wobei sich hier allerdings die artes und scientiae – wie von
Moos in einem höchst instruktiven Artikel zeigt – „weit ausführlicher mit der ak-
tiv-willentlichen attentio als mit der spontanen ‚Aufmerksamkeit‘ beschäftigen.“9
Vor allem in der Gebetslehre bestand das Ziel aller geistigen Anstrengung darin,
sich durch willkürliche, heiße Aufmerksamkeitssteigerung so zu disponieren, um
als „auditor suspensus et intensus, ein gespannt und andächtig Horchender, […]
Gottes Stimme auch wirklich zu hören“, und so im Zustand spontaner, ‚kalter‘,
akustisch disponierter Aufmerksamkeit jene Bindung, religio, an den transzenden-
talen Horizont zu erfahren, der sich in der intellektuellen Beobachtungs- und Un-
terscheidungsarbeit permanent entzieht. Dieses Erlebnis transzendentaler Sinngabe
und -gnade stellt einen unwillkürlichen und unkalkulierbaren Augenblick dar, der
aber seinerseits wieder zum Gegenstand erinnernder, reflektierender, heißer Auf-
merksamkeit gemacht wird.10 In der lateinischen, von Augustinus geprägten Tradi-
tion stellt diese kalte Aufmerksamkeit, die den Akteur für das akusmatische Erle-
ben transzendentaler Sinngaben disponiert, keinen in der Zeit expandierenden
Zustand dar, sondern reduziert sich auf bedeutsame, sinnbeglückte Momente, in
denen sich der heiße, schriftfundierte und begriffsrationale, theologische Selbster-
kenntnisdiskurs in dem Ethos der religiösen Gemeinschaft versichert.
Ganz anders stellt sich das Verhältnis von kalter und heißer Aufmerksamkeit im
ostkirchlichen Denken des russischen Mittelalters dar, das zwar keine vergleichbar
prononcierte attentio-Diskussion kennt, aber deshalb nicht minder von der darin
eingeschlossenen Frage umgetrieben wird, wie denn unter den Bedingungen der
Schriftkultur mit ihrer Privilegierung eines erkenntnisfreudigen Augensinns ein re-
ligiöses Ethos etabliert und bewahrt werden kann, das, hörend und gehorchend,
sich aus der transzendentalen Instanz der Gnade begründet. Aufschlussreich und
prägend ist in dieser Hinsicht für die russische Orthodoxie die Rede über das Gesetz
und die Gnade (Slovo zakone i blagatati, zw. 1037 und 1050) des ersten Kiewer
Metropoliten Ilarion. In diesem Text wird die historiographische Ordnung von
Altem und Neuem Testament als eine Erfolgsgeschichte der zunehmenden Offen-

  8 von Moos, „Attentio“, S. 92.


  9 Und auch wenn die „spontane Aufmerksamkeit“ in der Rhetoriktradition verstärkt Beachtung
findet, so dient sie auch „in diesem kommunikationsstrategischen Zusammenhang […] als eine
Art Köder der Neugier und fördert insofern gerade die willentliche Aufmerksamkeit.“ (Ebd.,
S. 95 f.)
 10 Vgl. ebd, S. 98 ff.

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 269

barungs- und Heilsmöglichkeiten für den Menschen erzählt. Die alttestamentari-


sche, anachronistische, vom äußerlichen, schriftgestützten, mosäischen Gesetz ge-
prägte Epoche erscheint als eine mühselige Vorgeschichte und wird der
neutestamentarischen Zeit gegenübergestellt, in der die Welt jetzt unmittelbar
durch Christus der göttlichen Gnade teilhaftig werden kann. Die Gnade Gottes
erweist sich darin, dass der Welt und ihrer Geschichte der göttliche Heilsplan nicht
mehr durch Bücher und Gesetze, sondern durch die beispielgebende Lebensfüh-
rung Christi kommuniziert wird.11 Durchaus in einer durch die Kirchenväter ver-
mittelten Kenntnis antiker Philosophie entwirft Ilarion ein Heilsmodell, das sich
aus einer Frontstellung gegen die abstrakten und begriffsanalytischen Verfahren
begründet, die bei Augustinus jenen reflektierenden Grundzustand ausmachen, aus
dem heraus die gnadenvollen Augenblicke von Transzendenz erfahrbar werden.
Das Verhältnis von heißer, reflektierender und kalter, hörend empfangender Auf-
merksamkeit, das bei Augustinus vorherrscht, wird von Ilarion umgekehrt. Bei Ila-
rion geht es darum, in einem Dauerzustand kalter Aufmerksamkeit sich in die
Geschichte Christi einzuhören, ihr zu gehorchen, sich von ihrem Sinn durchströ-
men zu lassen und so danach zu streben, sein Leben dem Christi ähnlich zu ma-
chen. Im Unterschied zu Augustinus, bei dem die alerte Unterscheidungslust durch
wenige Augenblicke von Transzendenz belohnt wird, setzt das russisch-orthodoxe
Heilsmodell auf ein über die Dauer intensiviertes Erleben von Ähnlichkeit zwi-
schen erzählter Heilsgeschichte und Lebensvollzug. Die gnadenvolle Sinngabe, die
die Geschichte Christi leistet, bewährt sich dabei gerade darin, inwieweit im Sog
der Ähnlichkeit die dem Sinn äußerliche, sprachlich-schriftliche Repräsentation
der neutestamentarischen Erzählung absorbiert werden kann. Wiederum im Gegen-
satz zur lateinischen, theologischen Tradition wird in diesem Modell die Gramma-
tik, die für die unterscheidungsfreudige Selbstbeobachtung eine Art Primärdisziplin
darstellt, für das religiöse Sinnerleben ausdrücklich als inadäquat zurückgewiesen –
mit dem Argument, dass der Name Gott als absolutum dem menschlichen Gesetz
der grammatischen Regeln nicht unterworfen sei und somit auch nicht deklinierbar
sein darf.12
Diese konzeptuelle Dominanz eines auditiv disponierten, kalten Aufmerksam-
keitsregimes, das einen (religiösen) Sinn hört und empfängt, der sich der Semiose
entzieht, lässt sich direkt auch an der Etymologie und Pragmatik von vnimanie, der
russischen Bezeichnung für Aufmerksamkeit verfolgen, die sich vom Verb vnjat‘,
vnimat‘ (nehmen, einnehmen, aufnehmen) ableitet und bis in das 17. Jahrhunderts
hinein weit weniger in der substantivischen Form als vnimanie (Aufmerksamkeit),

 11 Ilarion, „Slovo o zakone i blagodati“; dt. Übers.: Müller, Die Werke des Metropoliten Ilarion, S. 23-
38; zu Ilarions „Slovo o zakone i blagodati“ vgl. bes. Forschungen von Senderovič, „Slovo o za-
kone i blagodati kak ekzegetičeskij tekst. Ilarion Kievskij i pavlianskaja teologija“, und Avenarius,
„Metropolitan Ilarion on the Origin of Christianity in Rus’“.
 12 Vgl. dazu ausführlicher Bogdanov, Očerki po antropologii molčanija, S. 140 f.; in diesem Zusam-
menhang wird auch deutlich, dass von dieser Position der kalten Aufmerksamkeit jegliche Form
der Formalisierung von Sprache und der Abstraktion suspekt sein muss, so auch und vor allem
die Rhetorik und die Philosophie.

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270 Jurij Murašov

sondern vor allem als Verb in Verbindung mit dem Hören als vnimat‘ ušami (mit
den Ohren aufnehmen) in den Texten figuriert. Ein Beispiel dafür stellt die Vita des
Feodosii (Žitie Feodosii, ca. 1088) dar, in der der Autor den Ausspruch Davids „Die
Augen des Herren sind auf die Gerechten gerichtet, und seine Ohren nehmen
deren Gebete auf“, 143 („Очи Господни устремлены на праведных, и уши его
внимают молитвам их“, 377)13 zitiert und diesen dann paraphrasiert: „Beständig
wendet der Allmächtige, der uns geschaffen hat, sein Gehör den ihn aufrichtig
Preisenden aufnehmend zu, und erlöst sie, ihr Gebet erhörend“, ebd. („Постоянно
ведь Владыка, создавший нас, склоняет слух свой, внимая искренне
призывающим его, и, услышав молитву их, спасет их“, ebd.). Interessanter-
weise finden sich neben diesen beiden Stellen in der Vita des Feodosii auch zwei
Substantivierungen des Verbs vnimat‘ (aufnehmen) im Kontext jeweils einer akus-
tischen Szene,14 in denen das Substantiv vnimanie (Aufmerksamkeit) in direktem
Wortsinne ‚Aufnahme‘ bedeutet; in beiden Szenen geht es dem Erzähler nicht um
eine gerichtete Aufmerksamkeit, sondern um Aufnahmebereitschaft des Hörenden
im Sinne einer Hingabe an das Gehörte. Wenn das Verb vnimat‘ (aufnehmen) zu-
nächst auf das Hören bezogen ist, erweitert sich seine Bedeutung in den folgenden
Jahrhunderten in Richtung auf ein innerliches Wahrnehmen und ein kognitives
Begreifen oder Auffassen, wenn es z. B. heißt, man solle in der Kirche „mit Ehr-
furcht zuhören und den Gesang und das Lesen der Verse aufnehmen, diese Worte
im Herz bewahren, um mit ihnen dann die zu Hause Verbliebenen belehren zu
können.“ („s bojazniju slušai i vnimai pėnia i čtenija stych, vonmi v srdcy slovesa
tė, da tėm domašnjaja naučiši.“)15 In dem Maße wie sich hier der Geltungsbereich
aus der akustischen Wahrnehmung in das Mentale verschiebt, bezieht sich das Verb
vnimat‘ (aufnehmen) jetzt auch auf das visuelle Wahrnehmen; so heißt es denn in
einer Gebetsanleitung: „In der Zeit des Gebets empfangen/sehen sie eine weise
Vision und richten auf sie all ihr Streben.“ („V vremja mltvy […] vnimajut umnoe
videnie i k nemu prostiraut vsja svoa dviženia.“)16 Wobei hier und in zahlreichen
weiteren Beispielen mit dem Visuellen nicht beobachtendes Unterscheiden, son-
dern das erlebende Sehen von inneren Vorstellungsbildern gemeint ist. Eine solche
Wendung ins erlebende Innere (des Herzens) findet sich auch, wenn vnimat‘ (auf-
nehmen) direkt auf das Lesen von Texten bezogen wird, und es beispielsweise heißt:
„Stets wenn Du Bücher liest, so lese ordentlich mit dem ganzen Herzen aufneh-

 13 Vgl. hier und im Weiteren nach freier Übersetzung Benz, Russische Heiligenlegenden; die zweite
Ziffer bezieht sich auf den altrussischen Text in Pamjatniki literatury drevnej Rusi. XI – načalo XII
veka.
 14 Es handelt sich um die Passagen: „Doch hört, Brüder, mit ganzer Aufmerksamkeit, da diese Rede
voll ist von Nutzen für alle Zuhörenden.“, 83 („Но послушайте, братья, со всяческим
вниманием, ибо слово это исполнено пользы для всех слушающих.“, 307) und: „und ich
ging jeden Tag in die Kirche Gottes, um mit aller Aufmerksamkeit die Lesung der göttlichen Bü-
cher zu hören“, 86 („… и ходил каждый день в церковь Божью, со всем вниманием слушая
чтение божественных книг.“, 309).
 15 Dies und die folgenden Beispiele aus Slovar‘ russkogo jazyka XI-XVII vv., vypusk 2 (V – Vologa),
S. 241.
 16 Ebd.

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 271

mend und lese die Worte wiederholt.“ („Egda ubo čteši knigi, to prilėžno vsėm
srdcem čti vnimaja i dvokratny pročitai slovesa.“) Entsprechend ist dann auch im
17. Jahrhundert in einem Vorwort zu einer Grammatik in der Substantivierung des
Partizips von vnimat‘/aufnehmen mit dem „wohlüberlegenden Aufnehmenden“
(„blagorazsuditel’nyj vnimatel‘“) der „Leser“ gemeint.17 Gleichzeitig bleibt aber
mit der Ausweitung von vnimat‘ (aufnehmen) und von vnimanie (Aufmerksam-
keit) auf das visuelle Wahrnehmen und auf das kognitive Begreifen der semantische
Akzent auf dem inneren Erleben gewahrt, das sich am Dispositiv des Hörens ori-
entiert und das ein kaltes Aufmerksamkeitsregime begründet. So definiert noch das
Wörterbuch der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg von
1847 vnimanie (Aufmerksamkeit) als „Bereitschaft ohne Ablenkung etwas anzuhö-
ren“ („Gotovnost‘ slušat‘ čto libo bez razvlečenija“).18
Erst im 18. Jahrhundert setzt durch die Rezeption und Übersetzung deutscher
und französischer philosophischer Texte eine begriffsgeschichtliche Formierung
von vnimanie (Aufmerksamkeit) ein, bei der sich dann der Begriff je nach Diskurs
auf kalte oder heiße Aufmerksamkeiten bezieht, bis sich dann im späten 19. Jahr-
hundert vnimanie (Aufmerksamkeit) zu einen Fachterminus im Rahmen der
Wahrnehmungspsychologie und -physiologie verdichtet und dann als solcher in
die russischen Enzyklopädien und Fachwörterbücher eingeht.19
Wenn sich künstlerische Texte dadurch auszeichnen, dass sie die Herstellung
und Kommunikation von Sinn unter dem Aspekt der medialen Wahrnehmungsbe-
dingungen, also der sensuellen Asymmetrie von Schrift und Sprache, befragen,
dann bilden sie damit gleichzeitig auch die Sphäre, in der sprachkulturelle Milieus
und soziale Systeme jenes Regime von Aufmerksamkeit einstellen und temperie-
ren, das den kulturellen Zusammenhalt sichert als Balance zwischen dem schrift-
technologischen Differenzierungs- und Abstraktionsdruck einerseits und den im
verbalen Sprachraum verbürgten, traditionalen Gewissheiten des Ethos anderer-
seits.
Die These, die im Weiteren verfolgt werden soll, besteht darin, dass in der russi-
schen Literatur (und Kultur) des 19. Jahrhunderts jenes kalte, im Auditiven und
Verbalen fundierte Aufmerksamkeitsregime ‚Ich höre ’was, was du nicht siehst‘, das
sich im russisch-orthodoxen Mittelalter beobachten lässt, weiterhin die literarische
Poetik (und die kulturellen Poetologien) ebenso dominiert, wie auch die darauf
bezogene russische, literaturwissenschaftliche Theoriebildung des 20. Jahrhun-
derts. An diese anschließend lässt sich eine Reihe von Merkmalen identifizieren,
durch die sich die Poetiken kalter Aufmerksamkeitsregime von heißen Regimen
unterscheiden.

 17 Ebd.
 18 Slovar‘ cerkovno-slavjanskogo i russkogo jazyka, Bd. I, S. 136.
 19 Vgl. Slovar‘ russkogo jazyka XVII veka, Vypsk 3 (Vėk – Vozduvat‘), S. 232 f.; zu ‚Aufmerksamkeit‘
(vnimanie) als wahrnehmungsphysiologischer und -psychologischer Fachterminus vgl. Novyj
ėnciklopedičeskij slovar‘, Bd. XI, S. 15-19. Zur westeuropäischen Wissenschaftsgeschichte von
„Aufmerksamkeit“ ab ca. 1800 grundlegend, vgl. Hagner, „History of Attention“.

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Während schriftzentrierte, heiße Aufmerksamkeitspoetiken von einer Domi-


nanz des Visuellen und einer entsprechenden Akzentuierung von logischen, syn-
tagmatischen und grammatisch-systemischen Bezugnahmen geprägt sind, kommt
in den kalten, schriftskeptischen Poetiken den akustischen und klanglichen Ele-
menten eine textkonstitutive und -generierende Funktion zu. Aus einer verallge-
meinernden Perspektive ist dieser Sachverhalt seit dem Formalismus der 1920er
Jahre bis zu Jurij Lotmans struktureller Texttheorie ein Problem der künstlerischen
Sprache; hier dominiert auf signifikante Weise die Poesie mit ihren lautlichen und
rhythmischen Wiederholungen über die Analyse von Erzähltexten.20 Nicht eine
außerordentliche Begebenheit erregt hier Aufmerksamkeit und ist Anlass des Er-
zählens, sondern die Sprache selbst mit ihren klanggestischen Möglichkeiten und
phonemischen Eigenheiten, aus der heraus dann die Figuren mit ihren Handlun-
gen ‚geboren‘ und entwickelt werden. In der russischen Tradition bietet dafür
Gogol’s Erzählung Der Mantel ein prominentes Beispiel, wenn hier aus den akus-
tisch-klanglichen Eigenheiten der Namensgebung die Geburt und die Entfaltung
des Sujets erfolgt. So stellen denn auch sprechende Namen und etymologische Fi-
gurationen in der russischen Literatur eine bis in die aktuelle Gegenwart des 21.
Jahrhunderts hinein wirksame poetologische Matrix für das künstlerische Erzählen
dar. Gleichzeitig stellt dieses ‚Gemachtsein‘ des Erzähltextes aus akustisch-klangli-
chen Sprachereignissen auch den Startpunkt der russischen, modernen, vom For-
malismus bis in den Strukturalismus reichenden Literaturtheorie dar, wenn Boris
Ėjchenbaums am Beispiel von Gogol’s Erzählung Der Mantel das Konzept des skaz
als einer in schriftlichen Texten stilisierten, auf Sprachspielen und Wortwitzen ba-
sierenden Mündlichkeit etabliert.21
Analog konzeptualisiert auch Viktor Šklovskij Erzählprozesse nicht auf der
Grundlage von Ereignissen oder Handlungslogiken, vielmehr ist für ihn Sujetfü-
gung „im Prinzip identisch mit den Verfahren etwa der Lautinstrumentierung.
Wortkunstwerke stellen ein Geflecht von Lauten, von Artikulationsbewegungen
und Gedanken dar.“22
Evident ist die Orientierung auf das Klangliche in Michail Bachtins Poetik mit
ihren zentralen Begriffen der Intonation und der Polyphonie. Wenn Bachtin von
Stimme spricht, sind es nicht die im Text veräußerlichten und objektivierten Stim-
men des Erzählers und der Figuren; Bachtins Stimmen lassen sich nicht auf perso-
nale Instanzen beziehen, die Handlungen bzw. Erzählakte konstituieren. Vielmehr
zielen Bachtins poetologische Überlegungen auf die Autoreninstanz als empirischer
Urheber des Sprachprozesses und auf dessen (Selbst-)Konfrontation mit den se-
mantischen Unschärfen und Polysemie-Effekten der Schrift, denen sich der Autor
als (eigenständige) Personenstimme aussetzt. Insofern spricht Bachtin auch – mit

 20 Vgl. Lotman, Struktur des künstlerischen Textes; hier stehen 300 Seiten der Analyse von Poesie
mühsame 100 Seiten zur Prosa gegenüber, in denen dann wiederum Beispiele aus der Lyrik domi-
nieren!
 21 Ėjchenbaum, „Wie Gogol’s Mantel gemacht ist“, S. 123 f.
 22 V. B. Šklovskij, „Sujetfügung und allgemeine Stilverfahren“, S. 107, Herv. i. O.

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 273

Blick auf Dostoevskij – von der Emanzipation des Wortes des Helden gegenüber
seinem Autor.23
Auch Lotmans prominente Definition „eines literarischen Sujets als Überschrei-
tung einer semantischen Grenze“, mit der er Vladimir Propps funktionalistische
Erzähltheorie des Märchens strukturalistisch universalisiert, unterschlägt die struk-
turelle Differenz von Sprach- oder Weltgeschehen, um erzählenswerte Ereignisse
auf eine Bewegung innerhalb von Sprache, auf ein Sprachgeschehen im Sinne einer
kalten, verbalfundierten Poetik zu reduzieren, in der nicht Welt-, sondern Sprach-
ereignisse Erzählbewegungen auslösen.24
Diese unterschiedliche Ausrichtung der Texte auf die Dominanz von Welt- oder
Sprachereignissen bedingt gleichfalls spezifische Rezeptionsmodi. Mit ihren jewei-
ligen ästhetischen ‚Leerstellen‘ stimulieren sie die Rezipienten zu unterschiedlichen
Dispositionen. Die erzählerische Ausrichtung auf Weltereignisse produziert ästhe-
tische ‚Leerstellen‘, die den Rezipienten kognitiv, intellektuell oder epistemologisch
fordern, um die Abgründe paradoxer Konstellationen zwischen gegenläufigen
Handlungslogiken, wie z. B. Liebe und politische Gefolgschaftspflicht, zu bewälti-
gen. Kalte Aufmerksamkeitspoetiken, in denen es um Sprachereignisse geht, invol-
vieren die Rezipienten hingegen auf kommunikative und verbale Weise; sie appel-
lieren an die verbale Kompetenz des Rezipienten und produzieren, prüfen und
stärken damit die sozialen Kohäsionskräfte sprachlicher Kommunikation, indem
sie mit den jeweils spezifischen „sprachlichen Werten“25 von natürlichen Sprach-
systemen operieren.
Damit unterscheiden sich auch kalte und heiße Poetiken der Aufmerksamkeit in
der Art und Weise, wie sie sich auf vorgängige Texte und Diskurse beziehen. Heiße
Differenzpoetiken interessieren sich für Spezialsemantiken, für Eigenlogiken von
Diskursen und den zwischen ihnen auftretenden Brüchen und Paradoxien.26 Den
in dieser poetologischen Tradition stehenden Erzähltexten eignet eine strukturelle
Interdiskursivität, was sich nicht zuletzt auch in der literaturwissenschaftlichen
Forschung dokumentiert, die diese Texte in dem Interpretationsalgorithmus von
‚Literatur und x‘ durch die sozialen Funktionssysteme von Ökonomie, Recht, Wis-
senschaft, Religion, Kunst, Liebe, Macht etc. durchdekliniert. In kalten Regimen
hingegen treten diskursive Formationen als sprachlich-performative Ereignisse und
in ihrer Textualität und Sprachlichkeit in den Blickpunkt poetologischer Aufmerk-
samkeit. Im Hinblick auf diese gegensätzliche Orientierung auf Text oder Diskurs
sind Michail Bachtins prominente Überlegungen zur Dialogizität aufschlussreich,
die strikt vom dramatischen Dialog unterschieden wird, der den Antagonismus
von Aussagen, Intentionen oder Argumentationen meint und sich somit stets auf
diskursive Strukturen bezieht. Bachtins Konzept von Dialogizität stülpt diesen An-

 23 Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, hierin das Kapitel „Der Held und die Einstellung des
Autors zum Helden im Werk Dostoevskijs“, S. 53-87.
 24 Vgl. Lotman, Struktur des künstlerischen Textes, S. 350.
 25 Vgl. Anm. 6.
 26 Vgl. hierzu das Kapitel „Doppelkonditionierungen“ in Koschorke, Wahrheit und Erfindung,
S. 368-382.

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274 Jurij Murašov

tagonismus gleichsam in das Innere der Sprache selbst als eine jeder sprachlichen
Aussage innewohnende ‚Antwortlichkeit‘. Als Moment eines kommunikativen
Vollzugs formuliert sich jede Aussage nicht primär in Bezug auf einen repräsentier-
ten Sachverhalt, sondern als Antwort auf vorgängige Aussagen, die in der aktuellen
Aussage aufbewahrt bleiben. Im Rahmen dieser Poetik funktioniert die Literatur
nicht als interdiskursives Relais, sondern als Knoten- oder Schnittpunkt von Tex-
ten; der Sinn von Literatur erschließt sich erst in deren Intertextualität.27
Diese gegensätzliche Akzentuierung des Visuellen oder des Akustischen, der
Welt- oder Sprachereignisse bedingt auch eine unterschiedliche Pragmatik sprach-
licher Mittel: Während der sich dominant visuell konstituierende Text auf Reprä-
sentation setzt und im Hinblick auf das Erzählen von äußeren Handlungen und
inneren, mentalen Prozessen die sprachlichen Mittel auf ihre darstellende Funktion
hin zum Einsatz bringt, geht es dem am Klanglich-Akustischen orientierten, kalten
Text darum, Sprache in ihren kommunikativen und performativen Dimensionen
zu profilieren. Während die visuell disponierten Repräsentationen auf einem Zei-
chentypus basieren, der der Logik der Differenz folgt, organisieren sich die Zeichen
im Rahmen kalter Poetologien, in denen das Verbal-Akustische dominiert, nach
dem Prinzip der Ähnlichkeit – der Ähnlichkeit zwischen (innerer) Bedeutung und
ihrer zeichenhaften Exteriorisierung.28 Diese Ähnlichkeit betrifft sowohl die Struk-
tur des Zeichens selbst, das Verhältnis zwischen signifié und signifiant, als auch in
einem weiteren Sinne das Verhältnis zwischen dem Essenziellen und dem Phäno-
menalen, der Welt der Wesenheiten und der Erscheinungen. Die äußere, klangli-
che, aber auch visuelle Gestalt der Zeichen erweist sich in ihrer Struktur transpa-
rent auf die innere Bedeutung. Diese beiden semiologischen Organisationsformen,
der Differenz und der Ähnlichkeiten, bedingen auch eine unterschiedliche Akzen-
tuierung der beiden Achsen, der syntagmatischen und der paradigmatischen, ent-
lang derer sich nach Roman Jakobson sprachliche Texte organisieren: 29 Während
die Logik von differenziellen Zeichen zur Ausbildung von syntagmatischen Struk-
turen und durch Rekursionen stabilisierte Narrative tendiert, privilegiert das Prin-
zip der Similarität die Entfaltung von paradigmatischen Reihen; hier dominiert das
Szenische, das Handlungsgeschehen absorbiert.30 Das in der Zeit entwickelte Er-
zählen besteht dann im Variieren und Verschieben von Ähnlichkeiten. Beispielhaft
für diese paradigmatische Ausrichtung von kalten Erzähltexten sind Lotmans
Überlegungen zur Personenkonstellation in mythogenen Texten, in denen er davon
ausgeht, dass hier die Vielfalt der Figuren letztlich eingefaltet werden kann auf eine
agierende Heldeninstanz. Nicht wie bei Lévi-Strauss die Differenz, sondern die

 27 Zum Dialog- bzw. Dialogizitätsbegriff vgl. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 202-228;
zur Intertextualität in der russischen literarischen Tradition grundlegend und einzigartig vgl.
Lachmann, Gedächtnis und Literatur.
 28 Zur Wiederentdeckung der Ähnlichkeit als komplementäres Forschungsparadigma in Bezug auf
die Logiken der Differenz vgl. Bhatti et al., „Ähnlichkeit“.
 29 Jakobson, „Linguistik und Poetik“, S. 94.
 30 Vgl. auch Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 71 ff.

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 275

Ähnlichkeit der Figuren konstituiert hier den narrativen Text.31 In dem Maße,
wie differenzbasierte Syntagmen auf eine scharfe Abgrenzung gegenüber system-
fremden Elementen und auf systemische Schließung drängen, damit narrative und
diskursive Ordnungen stabilisieren und diese gegenüber der realen Mannigfaltig-
keit als eine Möglichkeit unter anderen behaupten, tendieren kalte Textregime
dazu, narrative und diskursive Ordnungen in Bündeln unabschließbar expandie-
render Paradigmen aufzulösen. Hier herrschen diskursive Atopik und narrative
Dissipation.32
Einer kalten Aufmerksamkeitspoetik verpflichtete Texte weisen einen spezifi-
schen Realitätsbezug auf. Durch ihre performative Ausrichtung und die wuchern-
den Ähnlichkeiten scheinen diese Texte direkt in die Wirklichkeit einzugreifen und
funktionieren im Hinblick auf ihre Umwelten als heteronome Einheiten, die über
vielfache Ähnlichkeiten Außenbezüge herstellen – im Gegensatz zu den Autono-
miepoetiken, die jeden externen Bezug als systeminternen Vorfall bearbeiten. Ent-
sprechend wird auch in den heißen, schriftgewissen Poetiken der Zugriff auf die
Realität von systemintern generierter Intentionalität bestimmt, während der Status
des Realen im Rahmen kalter Poetik über die Steigerung von Intensität hergestellt
wird. Nicht die Art und Weise des Zugriffs, die Spezifik der Perspektive auf die
Wirklichkeit steht hier zur Disposition, sondern es zählt die über die Ähnlichkeiten
produzierte Tiefe des Eingriffs in das Reale, die Intensität, mit der Text in die Wirk-
lichkeit drängt. Im Hinblick auf diesen Wirklichkeitszugriff lassen sich die kalten
Aufmerksamkeitsregime insofern als simulativ beschreiben, als es um intensive
Ähnlichkeit geht. Davon unterscheiden sich heiße Aufmerksamkeitspoetiken, die
auf geschlossene Fiktionen abzielen.
Der Gegensatz von Differenzlogik und Ähnlichkeitsprinzip bedingt ein weiteres
Strukturmerkmal im Hinblick auf die Modellierung von Zeit in den unterschied-
lichen poetologischen Regimen: In dem Maße, wie differenzbasierte Systeme auf
syntagmatische Schließung drängen, ist ihnen ein treibendes, auf Zukunft gerich-
tetes Moment eigen, das textintern in pars pro toto-Konstellationen funktioniert,
die die Handlung ebenso wie den Leseprozess vorantreiben: Man möchte wissen,
wie’s weitergeht. Anders in kalten Poetiken der Ähnlichkeit, in denen syntagmati-
sche Strukturen entkoppelt werden und das Szenische gegenüber der Handlung
dominiert. Damit wird hier die Aufmerksamkeit von den Begebenheiten und Er-
eignissen auf deren Verbalisierung verschoben, was nicht nur Handlungsverläufe
bremst, sondern die intentionale Spannung auf die Zukunft in eine Intensivierung
der Erfahrung von Gegenwärtigkeit (des Rezeptionsprozesses) umlenkt. Hier re-
giert nicht die spannungsvolle Metonymie, sondern die szenische Statik der Meta-
pher, mit ihren paradigmatisch ineinander gestaffelten Bildbereichen und mit
ihren verbalen Realisierungsmöglichkeiten. Eben auf diese poetologische Zeit-
struktur im Rahmen eines kalten Aufmerksamkeitsregimes ist auch Šklovskijs so

 31 Vgl. dazu ausführlicher Murašov, „Rechenkunst und Kartentrick“.


 32 Zum Konzept des atopischen Diskurses vgl. Murašov, „Der entsetzte Diskurs“.

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prominente Konzeption der „Verfremdung“ als „Deautomatisierung der Wahrneh-


mung“ und der „erschwerten Form“33 gerichtet.
Diese Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher poetologischer Aufmerksam-
keitsregime lässt sich in folgendem Schema zusammenfassen:

Poetik heißer Aufmerksamkeitsregime Poetik kalter Aufmerksamkeitsregime


Sehen Hören
Repräsentation Performanz, Kommunikation
Sachgebundenheit Sprachgebundenheit
Interdiskursivität Intertextualität
Differenz Ähnlichkeit
Syntagmatik, Narration, Handlungslogik Paradigmatik, Atopik, narrative Dissipation
Dialog, Konflikt, Paradoxie Dialogizität, Intonation, Polyphonie
pars pro toto, Metonymie Metapher
Fiktionalität Simulation
Zukunftsbezogenheit: Wie geht’s weiter? Gegenwärtigkeit
Intentionalität Intensität
Autonomie Heteronomie

3. Dostoevskijs Arme Leute: Die Logik der Geschichte und


ihr verkehrter Sinn.
Bereits Jurij Tynjanov hat in seiner Studie Dostoevskij i Gogol‘ (Dostoevskij und
Gogol‘, 1921) darauf hingewiesen, dass Dostoevskij die Literatur selbst „beharrlich“
(„nastojčivo“) zum Gegenstand des literarischen Erzählens macht.34 Das gilt im
besonderen Maße für Dostoevskijs frühen Text, den Briefroman Arme Leute, in
dem die Korrespondenz zwischen dem kleinen Beamten und erfolglos bemühten
Schriftsteller, Makar Devuškin, einerseits, und der Näherin, Varvara Petrovna, an-
dererseits, kritisch kulminiert, als Varvara ihrem Briefpartner ein Buchgeschenk
zukommen lässt – nämlich Gogol’s Erzählung Der Mantel, was jedoch bei Makar
auf heftigen Unmut stößt:
Ich beeile mich, Ihnen Ihr Büchelchen, das ich am sechsten dieses Monats erhal-
ten habe, wieder zuzustellen, und beeile mich gleichzeitig, mich in diesem Briefe
mit Ihnen auseinanderzusetzen. Es ist nicht hübsch von Ihnen, liebes Kind, gar

 33 Šklovskij, „Kunst als Verfahren“, sowie Ders., „Die Auferweckung des Wortes“.
 34 Tynjanov, Dostoevskij i Gogol‘, S. 22.

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 277

nicht hübsch von Ihnen, dass Sie mich zum Äußersten gedrängt haben. […]
Nein, das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, liebes Kind, nein, liebe Varvara!
Gerade von Ihnen hätte ich das nicht erwartet! (93 f.)35

Makar fühlt sich von seiner Briefpartnerin verraten, schickt sie ihm doch eine Er-
zählung, in der mit der von Gogol‘ entworfenen Figur des Akakij Akakievič die
intime Lebenslage und die Sehnsüchte eines kleinen Beamten auf dreiste Weise
offenbart und verlacht werden. Sich offensichtlich in Gogol’s Figur Akakij Akakievič
wiedererkennend, versucht Makar seiner Briefpartnerin das Elend der „armen
Leute“ klarzumachen, das weniger in den materiellen Bedingungen besteht, als
vielmehr auf einer Asymmetrie der Beobachtung und Wahrnehmung beruht, der
die „armen Leute“ hilflos ausgeliefert sind. Und dabei sind es die literarischen
„Schmierfinken“, die mit ihrer Schaulust, die „armen Leute“ gleichsam ausbeuten
und sie ihres „Geheimnisses“ („zavet“) berauben:
Er, der Arme, hat an allem etwas auszusetzen, er sieht auch Gottes Welt anders an, wie
es andere Menschen tun, und jedem Vorübergehenden wirft er einen schiefen Blick
zu und schaut ängstlich und mißtrauisch um sich und horcht auf jedes Wort, ob da
nicht etwa über ihn gesprochen wird? Warum schaut er so unansehnlich aus? Was
empfinde er wohl in diesem Augenblick? Wie zum Beispiel sieht er von dieser, und
wie von jener Seite aus? Und jedermann weiß, liebe Varvara, dass ein armer Mensch
wertloser ist als ein alter Lappen und von niemand geachtet wird, mögen die Leute
darüber auch schreiben, was sie wollen! Was die Schmierfinken auch schreiben
mögen, es bleibt mit dem armen Menschen doch immer, wie es war. Und warum
bleibt alles beim alten? Weil nach der Ansicht der Leute, nach ihrer Meinung, bei
einem armen Menschen alles nach aussen gekehrt sein muss; er soll über kein Ge-
heimnis verfügen, er soll keine Ambitionen haben, ja nicht, ja nicht! (106)36

Makars entrüsteter Ausbruch gegen seine Briefpartnerin und gegen Gogol’s Der
Mantel gipfelt in der Idee der jungfräulichen, schamhaften Verhüllung:

 35 Zit. mit Korrekturen hier und im Folgenden nach Dostoevskij, Sämtliche Romane und Erzählun-
gen, Bd. 1: Arme Leute; „Книжку вашу, полученную мною 6-го сего месяца спешу возвра-
тить вам и вместе с тем спешу в сем письме моем объясниться с вами. Дурно, ма-
точка, дурно то, что вы меня в такую крайность поставили. […] Нет, я этого не
ожидал от вас, маточка; нет, Варенька! Вот от вас-то именно такого и не ожидал.“
(Dostoevskij, Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach, Bd.  1: Bednye ljudi, Povesti i rasskazy
1846–1847, S. 61 f.)
 36 „Он, бедный-то человек, он взыскателен; он и на свет-то божий иначе смотрит, и на
каждого прохожего косо глядит, да вокруг себя смущенным взором поводит, да
прислушивается к каждому слову, -- дескать, не про него ли там что говорят? Что вот,
дескать, что же он такой неказистый? что бы он такое именно чувствовал? что вот,
например, каков он будет с этого боку, каков будет с того боку? И ведомо каждому,
Варенька, что бедный человек хуже ветошки и никакого ни от кого уважения получить
не может, что уж там ни пиши! они-то, пачкуны-то эти, что уж там ни пиши! -- всё
будет в бедном человеке так, как и было. А отчего же так и будет по-прежнему? А
оттого, что уж у бедного человека, по-ихнему, всё наизнанку должно быть; что уж у
него ничего не должно быть заветного, там амбиции какой-нибудь ни-ни-ни!“ (68)

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278 Jurij Murašov

Ja, wenn Sie mir einen herben Ausdruck verzeihen wollen, liebe Varvara, so möchte
ich Ihnen sagen, dass ein armer Mensch in dieser Hinsicht dieselbe Schamhaftigkeit
besitzt wie Sie zum Beispiel Ihre mädchenhafte Schamhaftigkeit. Sie werden sich ja
doch nicht vor aller Augen (verzeihen Sie mir den derben Ausdruck!) entkleiden wol-
len; sehen Sie, ganz ebenso kann es auch ein armer Mensch nicht leiden, dass ihm
einer in sein Hundeställchen hineinsieht und seine Familienverhältnisse ausschnüf-
felt; ja, so ist das. (107)37

Das Bemerkenswerte an dieser zentralen Auseinandersetzung der Briefpartner ist


zunächst der eigentümliche double bind, bei dem das, was im Titel des Romans
Arme Leute als Objekt des literarischen Erzählers versprochen wird, hier durch eine
Figur des Textes eigentlich dementiert und den Blicken der Beobachtung entzogen
werden soll. Gleichzeitig besteht der Clou dieser Passage darin, dass der Protagonist
Makar mit seinem Ausfall gegen Gogol’s Mantel und seinem Plädoyer für ein
schamvolles, verhülltes Erzählen eigentlich nur das realisiert, was der Autor
Dostoevskij der Figur durch den Familiennamen Devuškin, von devica (dt. Jung-
frau) eingeschrieben hat.
Dieses poetologische Verhüllungsprogramm, für das Makar Devuškin argumen-
tiert und das er durch die etymologische Bedeutung seines Familiennamens ver-
bürgt, verfolgt der Romantext aber auch als Ganzes im Hinblick auf die Sachlagen,
die personalen Konstellationen und die Handlungen mit ihren vermeintlichen In-
tentionen, von denen in den Briefen der beiden Korrespondenten die Rede ist. Die
eigentliche Geschichte, die der Roman mit der Korrespondenz der beiden Protago-
nisten erzählt, handelt vom Scheitern des Makar Devuškin, dem es nicht gelingt,
Varvara dem Einfluss der Kupplerin Anna Fedorovna zu entziehen und zu verhin-
dern, dass sich Varvara schließlich bereit erklärt, dem Heiratsangebot des reichen
Gutbesitzers Bykov zu entsprechen.38 Makars Erfolglosigkeit und die ökonomi-
schen, sozialen und sexuellen Machtverhältnisse, von denen die Geschichte han-
delt, werden nicht nur abermals etymologisch durch den Familiennamen des er-
folgreichen Freiers Bykov, von russ. Byk (dt. Stier) sanktioniert; vielmehr zeichnen
sich die korrespondierenden Figuren selbst durch ein eigentümliches Desinteresse
an eben jenen Realitäten aus, in die sie involviert sind. Die individuellen Intentio-
nen und Gefühlslagen der Figuren werden in den Briefen weder befragt, reflektiert
noch wechselseitig kommuniziert. Bei Makar geht es so weit, dass er in dem ersten
Brief, den er Varvara schickt, sogar gesteht, dass die gefühlvolle Schilderung der
Frühlingsstimmung, in der er sich befindet, aus einem literarischen Text abge-
schrieben sei. Deutlich wird hier, dass das Briefschreiben für Makar nichts mit
Selbsterkundung und Selbstbeobachtung zu tun hat, sondern – genau im Gegen-

 37 „Да уж если вы мне простите, Варенька, грубое слово, так я вам скажу, что у бедного
человека на этот счет тот же самый стыд, как и у вас, примером сказать, девический.
Ведь вы перед всеми -- грубое-то словцо мое простите -- разоблачаться не станете; вот
так точно и бедный человек не любит, чтобы в его конуру заглядывали, что, дескать,
каковы-то там его отношения будут семейные, -- вот.“ (69)
 38 Zu den Motiven von Geld und Schrift in Dostoevskijs Arme Leute vgl. Murašov, „Musengeschäfte
und Kuppelei“.

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 279

teil – schamvolle Verhüllung des Ich bedeutet. Die Schrift fungiert hier nicht als
Medium einer heißen, visuell disponierten und unterscheidungsfreudigen Auf-
merksamkeitssteigerung. Auf komplementäre Weise entzieht sich aber auch Var-
vara als personale Entität den beobachtenden Blicken sowohl ihres Briefpartners als
auch denen des Lesers. Bei ihr ist es die Rätselhaftigkeit der erinnerten Ereignisse,
die sie so gefangen hält, dass Varvara alles sie Umgebende vergisst und sich gegen-
über dem aktuellen Geschehen als Subjekt nicht in Beziehung zu setzen vermag;
alles Gegenwärtige erscheint absorbiert von der Macht vergangener, unbewältigter
Ereignisse:
Es liegt in meinen Erinnerungen ein mir unerklärtes Element, das mich unwidersteh-
lich in seinen Bann schlägt, mit einer solchen Gewalt, dass ich stundenlang gegen
meine ganze Umgebung unempfindlich bin und alles, die ganze Wirklichkeit, ver-
gesse. Und es gibt in meinem jetzigen Leben keine, sei es angenehme oder bedrü-
ckende und traurige Empfindung, die mich nicht an etwas Ähnliches in meiner Ver-
gangenheit erinnerte und am allerhäufigsten an meine Kindheit, an meine Kindheit!
Aber nach solchen Augenblicken fühle ich mich immer sehr bedrückt. (131)39

Ebenso wenig wie sich die Protagonisten wechselseitig über das verständigen, was
sie jeweils aneinander bindet, bleibt auch die Beziehung zwischen Makar und Var-
vara im Dunkeln sowohl im Rahmen der Geschichte selbst als auch für den Leser,
wenn Makar sein Interesse und seine Fürsorglichkeit für seine Briefpartnerin durch
eine von ihm behauptete, entfernte Verwandtschaft mit Varvara rechtfertigt, die
aber andererseits von anderen Figuren bestritten wird – aber ohne dass sich die
beiden über ihre tatsächliche Beziehung einvernehmlich Rechenschaft ablegen
würden. Zusätzlich wird die Beziehung zwischen Varvara und Makar dadurch ver-
unklart, dass Dostoevskij beide Protagonisten mit dem gleichen Vatersnamen,
Alekseevič bzw. Alekseevna ausstattet, was eine geschwisterliche Verwandtschaft
suggeriert, die aber faktisch nicht gegeben wird. Die mindestens seit Sophokles für
das Erzählen und die Selbsterkenntnis der Figuren so grundlegende Referenz auf
biologisch-verwandtschaftliche Bindungen mit dem darin implizierten Inzesttabu
wird auf diese Weise systematisch unterlaufen. Durch die Handlung werden die
Protagonisten nicht als individuelle und personale Instanzen profiliert, sondern
erscheinen durch die textuell-verbalen Merkmale in einem Netz von Ähnlichkeiten
eingesponnen, das die intentionalen Strukturen überlagert und kaschiert. Ganz
offensichtlich ist das bei Makar, dessen Briefe an Varvara und die darin erwähnten
Liebesgeschenke, Blumen, Pralinen und Unterwäsche, von einem erotischen Be-
gehren des Schreibenden erzählen, das aber durch den Verweis auf verwandtschaft-
liche Beziehungen zur pädagogischen und altruistischen Fürsorglichkeit umgedeu-

 39 „В воспоминаниях моих есть что-то такое необъяснимое для меня, что увлекает меня
так безотчетно, так сильно, что я по нескольку часов бываю бесчувственна ко всему
меня окружающему и забываю всё, всё настоящее. И нет впечатления в теперешней
жизни моей, приятного ль, тяжелого, грустного, которое бы не напоминало мне чего-
нибудь подобного же в прошедшем моем, и чаще всего мое детство, мое золотое детство!
Но мне становится всегда тяжело после подобных мгновений.“ (83)

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280 Jurij Murašov

tet und neutralisiert erscheint. Analog werden auch die in ihren Handlungsweisen
im Hinblick auf das Schicksal der Varvara so diametral entgegengesetzten Figuren
wie die geschäftstüchtige Kupplerin Anna Fedorovna und die fürsorgliche Kinder-
frau Fedora durch die Namensähnlichkeit auf der sprachlichen Ebene in ein dubi-
oses Similaritätsverhältnis zueinander gebracht.
Während die Geschichte, in die die Figuren handelnd involviert sind, einer re-
flektierenden Beobachtung entzogen wird, insistieren die Briefe jeweils auf den
unmittelbar gegenwärtigen materiellen Belangen und emotionalen Befindlichkei-
ten, um die kleinen Geschenke und Geldgaben zu kommentieren, durch die sich
die Figuren ihrer wechselseitigen Fürsorge versichern – doch auf eine eklatant
asymmetrische Weise. Während Devuškin seine Fürsorge und das darin verhüllte
erotische Interesse für Varvara mit Topfpflanzen, Pralinen, Unterwäsche sowie von
Literatur russischer Trivialautoren der 1830er Jahre zum Ausdruck bringt, antwor-
tet Varvara, die als Näherin kundig mit Texturen umzugehen versteht, ihrem Brief-
partner, der sich ebenso ambitioniert wie erfolglos der Schriftstellerei verschrieben
hat, mit Texten der russischen literarischen Tradition, die dem beschenkten
Devuškin die Möglichkeit verschaffen, sich selbst zu erkunden, sich in fremden
Texten ebenso zu entdecken wie zu verstecken. So ist es nicht nur Gogol’s Mantel,
von dem sich Devuškin entblößt und verraten fühlt, sondern da ist auch Puškins
Erzählung Der Postmeister, in der sich Devuškin wiederzufinden glaubt und seine
Briefpartnerin – und damit auch den Leser – auffordert, mit gesteigerter „Auf-
merksamkeit“ den Text zu lesen, um hier den vermeintlichen Ähnlichkeiten seines
eignen Selbstbildes mit dem Protagonisten von Puškins Text nachzuspüren:

Jetzt habe ich den „Postmeister“ hier in Ihrem Buche durchgelesen, und da muss ich
Ihnen sagen, liebes Kind: Es kommt vor, dass man so dahinlebt, ohne zu wissen, dass
neben einem ein Büchelchen existiert, in dem das eigene Leben, das man führt, mit
allen Einzelheiten vorgetragen ist. Und auch was einem selbst vorher unklar war, das
kommt einem hier, wenn man in einem solchen Büchelchen zu lesen anfängt, allmäh-
lich alles wieder ins Gedächtnis und wird einem begreifbar und verständlich. Und
dann noch ein Grund, weshalb mir Ihr Büchlein so gefällt: Manche Schrift, mag sie
sein, wie sie will, die liest und liest man, manchmal, dass einem der Kopf brummt,
aber es ist alles darin so verschmitzt, dass man es nicht versteht. Ich zum Beispiel, bin
schwer von Begriffen (das bin ich schon von Natur), und kann allzu hohe Bücher
nicht lesen, aber wenn ich dieses hier lese, dann ist es mir, als hätte ich es selbst ge-
schrieben, als hätte ich sozusagen mein eigenes Herz, mag es sein, wie es will, genom-
men und vor allen Menschen umgekrempelt, das Innere nach außen, und alles genau
beschrieben, – ja, so ist mir! […] Ja, diese Schrift von ihm ist gut, liebe Varvara, sehr
gut; lesen Sie sie noch einmal mit rechter Aufmerksamkeit; folgen Sie meinen Rat-
schlägen, und machen Sie mich alten Mann durch Ihren Gehorsam glücklich! (89 f.,
Herv. J.M.)40

 40 „Теперь я ‚Станционного смотрителя̔ здесь в вашей книжке прочел; ведь вот скажу я
вам, маточка, случается же так, что живешь, а не знаешь, что под боком там у тебя
книжка есть, где вся-то жизнь твоя как по пальцам разложена. Да и что самому прежде
невдогад было, так вот здесь, как начнешь читать в такой книжке, так сам всё пома-

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 281

Die eigentliche Geschichte von dem erfolglosen Versuch Makars, seine vermeint-
lich Verwandte Varvara von den Machenschaften der Kupplerin zu befreien und sie
vor der Heirat mit dem Gutsbesitzer Bykov zu bewahren, diese Geschichte, die als
plot den Text strukturiert, ihm Anfang und Ende und Spannung verleiht, erscheint
auf diese Weise transformiert in eine Erzählung, in der die Protagonistin Varvara
nun nicht mehr als Opfer kupplerischer Machenschaften figuriert, sondern als Per-
sonifikation und Vermittlerin russischer literarischer Tradition, der gegenüber sich
ihr Briefpartner Makar und auch der Leser zu behaupten haben. Und ebenso wie
Makar bei seinen Lektüren ständig auf abstruse Weise ebenso scheitert, wie es ihm
auch nicht gelingt, Varvara davon abzubringen, der Heirat mit dem machtvollen
Freier Bykov zuzustimmen, so verfehlt auch der Leser den Sinn der Geschichte,
wenn es ihm nicht gelingt, auf die Anspielungen zu hören, die den Sinn der Ge-
schichte jenseits und gleichsam gegen die Logik der Handlungen freilegen.

4. Kalte Aufmerksamkeit wider die ‚geistigen Vergewaltigungen‘


durch die Literatur
Wenn Varvara ihrem Briefpartner Makar gegenüber als Muse und Agentin der rus-
sischen Literatur fungiert, dann liegt es nahe, dass die einem der Briefe als eigene
Skizze beigelegte Geschichte, die von ihrer ersten Liebe erzählt, im gleichen Maße
auch von Literatur und Formen der Lektüre handeln muss – und zwar in doppelter
Hinsicht: einmal auf der Ebene des Sujets und einmal auf der Ebene des Textes
selbst, der sich seinerseits als Umschrift vorgängiger Texte erweist.
Um Varvaras nächtliche Einsamkeit und Langeweile während des Wachens am
Bett der kranken Mutter zu vertreiben, versorgt der Hauslehrer Pokrovskij, ein
passionierter Leser und Bücherfreund, seine Schülerin mit Lektüre.41 In dieser Bü-

леньку и припомнишь, и разыщешь, и разгадаешь. И наконец, вот отчего еще я полюбил


вашу книжку: иное творение, какое гам ни есть, читаешь-читаешь, иной раз хоть тресни
-- так хитро, что как будто бы его и не понимаешь. Я, например, -- я туп, я от природы
моей туп, так я не могу слишком важных сочинений читать; а это читаешь, -- словно сам
написал, точно это, примерно говоря, мое собственное сердце, какое уж оно там ни есть,
взял его, людям выворотил изнанкой, да и описал всё подробно -- вот как! […] Да, очень
хорошо, Варенька, очень хорошо; прочтите-ка книжку еще раз со вниманием, советам
моим последуйте и послушанием своим меня, старика, осчастливьте.“ (59)
 41 Vgl. „[…] da klopfte um elf Uhr Pokrowski an unser Zimmer. Ich öffnete. ‚Es muß Ihnen
langweilig sein, so allein zu sitzen‘, sagte er zu mir; ‚hier ist ein Buch für Sie; nehmen Sie es; dann
werden Sie sich doch nicht so langweilen.‘ Ich nahm es; ich erinnere mich nicht, was es für ein
Buch war; ich habe damals kaum hineingesehen, obgleich ich die ganze Nacht nicht schlief. Eine
seltsame innere Aufregung ließ mich nicht schlafen; ich konnte nicht ruhig auf einem Fleck
bleiben; mehrere Male stand ich von dem Lehnstuhl auf und begann im Zimmer auf und ab zu
gehen. Eine Art von innerer Zufriedenheit durchströmte mein ganzes Wesen. Ich freute mich so
über Pokrowskis Aufmerksamkeit. […] Übrigens sah ich mit geheimer Freude und stolzer
Befriedigung, daß er um meinetwillen seine unerträglichen Bücher vergaß.“ (52 f.) „Покров-
ский часов в одиннадцать постучался в нашу комнату. Я отворила. ‚Вам скучно сидеть
одной, – сказал он мне, – вот вам книга; возьмите; всё не так скучно будет̔. Я взяла; я не

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cherwelt lässt auch Dostoevskij die Liebesbeziehung zwischen Varvara und Po-
krovskij beginnen, indem er Varvara während der Abwesenheit Pokrovskijs in des-
sen Arbeitszimmer schleichen und damit jene prominente Szene aus Puškins
Versroman Evgenij Onegin wiederholen lässt, in der Tat’jana sich gleichfalls heim-
lich in Onegins Bibliothek stiehlt, um in dessen Büchern zu blättern und sich an-
hand der auf den Buchseiten vorfindlichen Notizen und Markierungen ein Bild
(vom Objekt) ihres Begehrens zu machen.42
Kläglich und grotesk hingegen lässt jetzt Dostoevskij Varvaras literarisch-herme-
neutische Erkundungen ihres begehrten Pokrovskij scheitern:
Schnell trat ich an das erste Regal heran. Ohne zu denken, ohne zu zaudern, zog ich
den ersten besten verstaubten alten Band heraus, der mir in die Hände kam, und er-
rötend und erblassend, zitternd vor Aufregung und Furcht, trug ich das gestohlene
Buch in unser Zimmer, um es in der Nacht beim Scheine der Nachtlampe, wenn
meine Mutter schliefe, zu lesen.
Aber wie groß war mein Verdruss, als ich nach der Rückkehr in unser Zimmer eilig
das Buch aufschlug und sah, dass es ein altes, halbvermodertes, ganz von Würmern
zerfressenes lateinisches Werk war. Ohne Zeit zu verlieren ging ich wieder zurück.
(48 f.)43

Beim Versuch schließlich, das nutzlose Buch zurückzubringen, bricht das Regal aus
der Wand – just in dem Augenblick, als Pokrovskij das Zimmer betritt. Auf diese
Weise auf frischer Tat ertappt, bedarf nun Varvara nicht mehr des Briefes wie
Puškins Tat’jana,44 um ihre Liebe zu gestehen. Den berühmtesten Liebesbrief der
russischen Literatur kommentierend, lässt Dostoevskij Varvara von der Enthüllung
ihrer Gefühle vor Pokrovskij erzählen:
Es war ein eigentümlicher Augenblick; ich war, glaube ich, gar zu aufrichtig und of-
fenherzig; eine seltsame Glut und Begeisterung riss mich hin, und ich gestand ihm
alles: dass ich hatte lernen und etwas wissen wollen, dass ich mich darüber geärgert

помню, какая эта была книга; вряд ли я тогда в нее заглянула, хоть всю ночь не спала.
Странное внутреннее волнение не давало мне спать; я не могла оставаться на одном
месте; несколько раз вставала с кресел и начинала ходить по комнате. Какое-то вну-
треннее довольство разливалось по всему существу моему. Я так была рада вниманию
Покровского. […] Впрочем, я с тайною радостию и с гордым удовольствием видела, что
он из-за меня забывал свои несносные книги.“ (38)
 42 Vgl.: „Хранили многие страницы / Отметку резкую ногтей; / Глаза внимательной девицы
/ Устремлены на них живей. / Татьяна видит с трепетаньем, / Какою мыслью, замечаньем
/ Бывал Онегин поражен, /В чем молча соглашался он. / На их полях она встречает /
Черты его карандаша. / Везде Онегина душа / Себя невольно выражает / То кратким
словом, то крестом, / То вопросительным крючком.“ (Puškin, Polnoe sobranie sočinenij v
desjati tomach, Bd. 5: Evgenij Onegin, S. 149 f.)
 43 „Я бросилась к первой полке; не думая, не останавливаясь, схватила в руки первый по-
павшийся запыленный, старый том и, краснея, бледнея, дрожа от волнения и страха,
утащила к себе краденую книгу, решившись прочесть ее ночью, у ночника, когда заснет
матушка. Но как же мне стало досадно, когда я, придя в нашу комнату, торопливо раз-
вернула книгу и увидала какое-то старое, полусгнившее, всё изъеденное червями латин-
ское сочинение. Я воротилась, не теряя времени.“ (36)
 44 Vgl. Murašov, „Schrift und Geschlecht“.

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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 283

hatte, für ein kleines Mädchen, für ein kleines Kind gehalten zu werden. Ich wieder-
hole, dass ich mich in einer eigentümlichen Gemütsstimmung befand; das Herz war
mir weich, die Tränen standen mir in den Augen; ich verbarg nichts; ich erzählte alles,
alles: von meiner freundschaftlichen Gesinnung gegen ihn, von meinem Wunsche,
ihn zu lieben, mit ihm in herzlichem Einvernehmen zu leben, ihn zu erheitern, zu
beruhigen. (53)45

Während Tat’jana nach ihrem brieflichen Liebesgeständnis von Onegin schroff ab-
gewiesen wird, gelingt es Varvara durch ihre aufrichtige und unverstellte Rede,
Pokrovskij aus der Welt der stummen ästhetischen Zeichen, der Schrift und der
Bücher herauszulocken und ihn dazu zu bringen, „in einem einfachen, reinen Ge-
fühl“ sich ihr zu erklären. Varvara erlebt hier die Liebe als ein wechselseitiges, spon-
tanes Verstehen, einer wechselseitigen „Aufmerksamkeit“ („vnimanie“) – jenseits
des Begehrens:
[…] aber in der Folge schwand seine Unschlüssigkeit, und er nahm meine Anhäng-
lichkeit zu ihm, meine freundlichen Worte, eine Aufmerksamkeit, mit dem gleichen
schlichten, aufrichtigen Gefühl auf wie ich und antwortete auf all dies mit der glei-
chen Aufmerksamkeit, ebenso freundschaftlich und freundlich wie ein wahrer
Freund, wie ein enger Bruder. (54)46

Mit der Entdeckung dieser Form der Liebe als spontanes Verstehen und einer sich
für den anderen öffnenden und aufnehmenden Disposition von Aufmerksamkeit,
eines eigentümlich entgrenzten, „schwärmerischen“ („mečtatel’nyj“) Zustands, be-
ginnt nun Varvara auch zu lesen, aber – im Unterschied zu den weiblichen Figuren
in Puškins Evgenij Onegin, Tat’jana und Olga – gefeit gegen die erotisch-sexuelle
Verführungsmacht der Literatur:
Pokrovskij gab mir häufig Bücher; ich las sie anfangs nur, um nicht einzuschlafen;
dann aber aufmerksamer, dann mit einer wahren Gier; unendlich viel Neues, bisher
Ungeahntes, Unbekanntes tat sich auf einmal vor meinem geistigen Blicke auf. Ein
Strom neuer Gedanken, neuer Empfindungen drang plötzlich auf mein Herz ein.
Und je mehr Aufregung, Unruhe und Mühe mich die Aufnahme der neuen Eindrü-
cke kostete, um so lieber waren sie mir, um so wonniger erschütterten sie meine ganze
Seele. Sie drängten sich mit einem Male, plötzlich in mein Herz hinein und ließen es
nicht mehr zur Ruhe kommen. Das seltsame Chaos, das so entstand, versetzte mein
ganzes Wesen in Aufregung. Aber diese geistige Vergewaltigung konnte meinen Geist

 45 „Минута была странная, я как-то слишком была откровенна и чистосердечна; горяч-
ность, странная восторженность увлекли меня, и я призналась ему во всем… в том, что
мне хотелось учиться, что-нибудь знать, что мне досадно было, что меня считают
девочкой, ребенком... Повторяю, что я была в престранном расположении духа; сердце
мое было мягко, в глазах стояли слезы, – я не утаила ничего и рассказала всё, всё – про
мою дружбу к нему, про желание любить его, жить с ним заодно сердцем, утешить его,
успокоить его.“ (38)
 46 „[…] впоследствии нерешительность его исчезла, и он, с таким же простым, прямым
чувством, как и я, принимал мою привязанность к нему, мои приветливые слова, мое
внимание и отвечал на всё это тем же вниманием, так же дружелюбно и приветливо, как
искренний друг мой, как родной брат мой.“ (39)

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nicht ganz zerrütten. Dazu war ich zu schwärmerisch; das rettete mich. (54 f., Herv.
J.M.)47

Wenn Varvara dann schließlich das Glück ihrer wechselseitig aufmerksamen Lie-
beskommunikation jenseits des Begehrens beschreibt, das darin besteht, „Worte
(zu wechseln), oft leere und wenig bedeutende/unbedeutende, […] doch allem
seine eigene Bedeutung, seinen eigenen, mitgedachten Wert zu geben“, dann for-
muliert sie damit eben jenes poetologische Prinzip, mit dem Dostoevskij von Var-
varas Liebe erzählt. Nur mit dieser von Varvara formulieren kalten Aufmerksam-
keitsdisposition, die nicht die Geschichte begehrt, sondern auf die verbalen
Konnotationen hört, lässt sich der seltsame weitere Gang der Liebesepisode verste-
hen.
Höhepunkt und gleichzeitig das Ende des trauten Einverständnisses zwischen
den Liebenden wird eine Ausgabe von Puškins gesammelten Werken, die Varvara
als Geburtstagsgeschenk Pokrovskij überreicht. Offensichtlich missversteht aber
Pokrovskij Varvaras Buchgeschenk. Seine Aufmerksamkeit Varvara gegenüber wan-
delt sich in das Bestreben nach Intimität, dem sich aber Varvara ebenso zu entzie-
hen vermag, wie sie es versteht, den erotischen Verführungen und ‚geistigen Verge-
waltigungen‘ der Literatur zu trotzen:
Pokrowski benahm sich gegen mich sehr aufmerksam und suchte immer eine Gele-
genheit, mit mir allein zu sprechen; aber ich ließ es nicht dazu kommen. Das war der
schönste Tag in diesen ganzen vier Jahren meines Lebens. (61 f., Herv. J.M.)48

Mit dieser fast unmerklichen Wandlung von einer verstehenden, sich für sein Ge-
genüber öffnenden Aufmerksamkeit zu einem aufmerksam erotischen, begehren-
den Wollen erweist sich Puškins Werk für die Figur des Pokrovskij als Lackmus-
Test, der schließlich die wahre Identität der Figur offenbart und dann auch den
Autor Dostoevskij veranlasst, diese Figur unmittelbar nach dem Geburtstagsfest
lapidar und grausam aus dem Leben und dem Text zu nehmen:

Jeden Tag ging er in seinem leichten Mäntelchen aus, um in seiner Angelegenheit


tätig zu sein, das heißt, um durch Bitten und Flehen irgendwo eine Stelle zu erlangen,
ein Bemühen, das ihm eine seelische Qual war. Er bekam dabei nasse Füße, wurde

 47 „Часто Покровский давал мне книги; я читала, сначала чтоб не заснуть, потом
внимательнее, потом с жадностию; передо мной внезапно открылось много нового,
доселе неведомого, незнакомого мне. Новые мысли, новые впечатления разом,
обильным потоком прихлынули к моему сердцу. И чем более волнения, чем более
смущения и труда стоил мне прием новых впечатлений, тем милее они были мне, тем
сладостнее потрясали всю душу. Разом, вдруг, втолпились они в мое сердце, не давая
ему отдохнуть. Какой-то странный хаос стал возмущать всё существо мое. Но это
духовное насилие не могло и не в силах было расстроить меня совершенно. Я была
слишком мечтательна, и это спасло меня.“ (39)
 48 „Покровский был ко мне внимателен и всё искал случая поговорить со мною наедине,
но я не давалась. Это был лучший день в целые четыре года моей жизни.“ (43)

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vom Regen durchweicht und mußte sich schließlich ins Bett legen, von dem er nicht
wieder aufstand. Er starb im Spätherbst, Ende Oktober. (62)49

In dieser Szene verdichtet Dostoevskij zwei Strafaktionen gegen erotische Eigen-


sucht, aus jenen beiden Texten, aus denen sein Briefroman Arme Leute immer wie-
der die Episoden generiert. So spielt dieses Ende des Pokrovskij zum einen auf
Gogol’s Der Mantel an, in der der Erzähler Akakij schnell und elend an einer Erkäl-
tung sterben lässt, nachdem Akakij der mühsam ersparte Mantel, der die eroti-
schen Phantasien der Figur ebenso befördert wie kaschiert hatte, gestohlen worden
ist. Zum anderen liegt hier, motivisch weniger offensichtlich, aber durch die Ge-
samtanlage von Varvaras Liebesgeschichte umso hintersinniger, ein Bezug auf
Puškins elegante Variante im Poem Evgenij Onegin vor, wo Lenskij, der mit schlech-
ten Versen versucht, die Liebe seiner Olga zu gewinnen, in einem Duell durch
Onegin eliminiert wird, dessen männliche Autonomie sich (zunächst) nicht durch
Liebesbekenntnisse beirren lässt.
Welche Bedeutung und Funktion Varvaras eigentümlich rätselhafte Liebesepi-
sode mit ihren diversen intertextuellen Bezügen in der Gesamtanlage des Texte
zukommt, enthüllt sich hier erst mit dem sprechenden Namen des Protagonisten
„Pokrovskij“, was, abgeleitet von pokrov (dt. Bedeckung, Hülle, Schutz) ‚Schutzge-
bender‘, aber ebenso der ‚Verhüllte‘ meinen kann. Welche Seite dieser diabolischen
Doppelgesichtigkeit das Wesen der Figur ausmacht, lässt Dostoevskij allmählich
hervortreten, wenn er im Gegensatz zu Pokrovskij, Varvara ihr eigenes, von allen
literarischen Verführungen und Verstellungen ungetrübtes, „herzensreines“ („чисто-
сердечный“) Verhalten mit einer lexikalischen Analogie unter Verwendung eines
konträren Präfixes auf den Namen ‚Pokrovskij‘ bezieht und sie davon sprechen
lässt, dass dies „viel zu offenherzig“ („слишком […] откровенна“) sei. Mit dieser
lexikalisch signifikanten Selbstcharakterisierung Varvaras deutet sich an, dass es
Pokrovskij wohl nicht darum ging, im Augenblick der Krankheit von Varvaras
Mutter, der Tochter Schutz und Fürsorge zu bieten, was der Name zunächst ver-
sprechen könnte, sondern dass Pokrovskij – im Gegenteil – gerade unter dem Vor-
wand selbstloser Hilfe mit den Büchern eigensüchtig darauf spekuliert, Varvaras
Leidenschaften für sich zu wecken. In dieser Perspektive erweisen sich Varvaras
Gefühle als Produkt von Pokrovskijs bibliophiler Tücke. Welches Gesicht schließ-
lich die Figur ausmacht, wird unzweideutig klar, wenn Dostoevskij Varvara von
den „wertvollen“ und „seltenen“ Büchern in Pokrovskijs Bibliothek sprechen lässt,
sie dann aber, ein fremdes lateinisches, von Würmern zerfressenes Buch aus dem
Regal ziehen lässt. Damit wird die Figur aber nicht nur als moralisch zweifelhafte,
eigensüchtige Figur disqualifiziert, sondern mit dem Verweis auf ein „lateinisches
Buch“ als eine dem russischen Sprachethos fremde Figur entlarvt. Pokrovskij ist

 49 „Каждый день выходил он в своей легкой шинельке хлопотать по своим делам, просить
и вымаливать себе где-нибудь места – что его внутренно мучило; промачивал ноги, мок
под дождем и, наконец, слег в постель, с которой не вставал уже более… Он умер в
глубокую осень, в конце октября месяца.“ (44)

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eben jenem russischen Sprachethos fremd, das der Text selbst permanent durch
seine Anspielungen und etymologischen Figuren aktiviert. Hinzu kommt noch die
Endung des Namens ‚-skij‘, die auf einen polnischen und zusammen mit dem la-
teinischen Buch auf einen katholischen Ursprung verweist.
Bedenkt man, dass über die gesamte Korrespondenz des Briefromans Arme Leute
die in Texturen kundige Näherin Varvara gegenüber dem kleinen Beamten und
bemühten Schriftsteller Devuškin die Bildungs- und Kulturinstanz der russischen
Literatur vertritt, dann gerät die von ihr geschilderte erste Liebe zu einer allegori-
schen Urszene des russischen Literaturverständnisses, in der Varvara durch einen
diabolischen undercover agent in die fremde, gefährliche literarische Buchwelt ein-
geführt wird, um gerade darin ihre russische Identität und Unschuld durch ihr
empfangendes Sprachverstehen zu bewahren, das auf jener kalten Aufmerksamkeit-
spoetik beruht, deren Prinzip ‚Ich höre ’was, was du nicht siehst‘ es ihr ermöglicht,
die ‚geistigen Vergewaltigungen‘ einer sich ständig aufdrängende libidinösen, hei-
ßen Lektüre erfolgreich abzuwehren.

Literatur
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‚Ich höre was, was Du nicht siehst.‘ 287

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Gwendolyn Whittaker

Die Digression der Zeichen

Pädagogisches Konzentrationstraining um 1900


und narratives Mäandern in Robert Walsers
Tagebuch eines Schülers

Die Tische sollten, außer an den Stellen, wo der Schüler sein Buch hinlegt und
schreibt, voll in die Höhe stehender eiserner Nadeln sein, damit alle Versuchung über
die Tische zu steigen, oder sich darüber zu legen, um mit dem in der nächsten Loge
sitzenden Nachbarn zu konversieren, wegfiele. […] Die Nadeln werden mit grobem
grünen Tuche […] überzogen, um ihren Anblick den Schülern zu entziehen, und
dadurch die Lust zu verhüten, mit den Nadeln einen Kampf anzufangen, sie umzu-
schlagen und dergleichen; auch um die Furcht vor den Nadeln zu vermehren, weil das
Unsichtbare, durch die Imagination ausgemalt, mehr schreckt, als das Sichtbare
[…].1

Nicht jeder Pädagoge ließe es wohl, wie hier Ernst Christian Trapp in seinem Ver-
such einer Pädagogik von 1780, für einen konzentrierten Unterricht auf den einen
oder anderen auf der Schulbank aufgespießten Schüler ankommen. Sein innenar-
chitektonischer Entwurf bringt jedoch in seiner Drastik ein Problem zum Aus-
druck, das für Formen institutionalisierter Bildung und Erziehung immer schon
grundlegend war und bleibt: Die Schulbank lässt sich ein Instrument verstehen,
das in pädagogischen Kommunikationssituationen Aufmerksamkeit in Form ge-
teilter Gegenwart ermöglichen soll. Dabei stellt sich die Aufmerksamkeit in der
pädagogischen Interaktion stets als doppeltes Paradigma dar: Sie ist einerseits Be-
dingung der Möglichkeit einer Lernsituation, insofern diese einen Kontext der auf-
merksamen Kommunikation voraussetzt; und sie ist gleichzeitig Gegenstand dieser
Lernsituation, der gleichsam simultan mit dem zu erwerbenden Stoff als Kultur-
technik eingeübt und trainiert werden soll.2
Dabei lassen sich in der Geschichte der Pädagogik immer wieder Konjunkturen
ausmachen, in denen dieses Setting in eine Art Aufmerksamkeitsmanie umschlägt.
Die gegenwärtige Debatte über die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperak-
tivitäts-Störung (ADHS) kann man als eine solche Hochphase begreifen, und sie
ist vor diesem Hintergrund aus historischer Perspektive mitnichten singulär. Viel-

  1 Trapp, Versuch einer Pädagogik, S. 167.


  2 In diesem Sinn lassen sich schulische Aufmerksamkeitskonstellationen auch als Elemente eines
‚heimlichen Lehrplans‘ begreifen, der neben dem offiziellen „amtlichen“ Stundenplan herläuft,
der „der Aufmerksamkeit der Pädagogen weitgehend entgangen ist“ und der „den Grundkurs in
den sozialen Regeln, Regelungen und Routinen“ beinhaltet (Jackson, „Einübung“, S. 29).

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290 Gwendolyn Whittaker

mehr lässt sich die Diagnose defizienter Aufmerksamkeitsvermögen und die Ent-
wicklung von Techniken ihrer pädagogischen Disziplinierung mit dem Erziehungs-
wissenschaftler Andreas Nießeler als Thema begreifen, das „genuin mit der
Institutionalisierung von Unterricht und Schule verbunden ist und bereits eines
der brennenden praktischen Probleme des Unterrichtsalltags im 18. Jahrhundert
war. ADHS ist also […] ein prinzipielles Phänomen von künstlich eingerichteten
Lernarrangements […].“3
Diesen Befund will der vorliegende Aufsatz aufgreifen und mit Blick auf eine
konkrete historische Konstellation spezifizieren. Im Zentrum der folgenden Über-
legungen steht die These, dass die Herstellung eines aufmerksamen Bewusstseinszu-
standes in der Zeit um 1900 nicht nur in der philosophischen Theoriebildung und
im psychophysiologischen Experiment, sondern auch und insbesondere in der pä-
dagogischen Praxis zum Problem wird. Insoweit folgt die Darstellung zunächst der
in der Einleitung dieses Bandes skizzierten Erzählung der Aufmerksamkeit als Pro-
blemfall der Moderne, verortet sie jedoch in einer konkreten pädagogischen Kons-
tellation. Zunächst wird dargelegt, dass und inwiefern die Schwierigkeit, welche
die Schule mit der Aufmerksamkeit hat, mit bildungspolitischen Entscheidungen,
aber auch mit Diagnosen gesellschaftlicher Nervens- und Willenspathologien zu-
sammenhängt (1.). Eine Folge dessen ist eine neuartige ‚Konzentration auf die Auf-
merksamkeit‘ als ein Vermögen, das als Remedium der vermeintlichen kollektiven
Erschöpfung empfohlen wird. Im wilhelminischen Gymnasium, auf das hier näher
eingegangen wird, beschränken sich solche Aufmerksamkeitsexerzitien nicht auf
Verhaltensregulationen, sondern reichen bis in fachwissenschaftliche Details hin-
ein, wie am Beispiel deutschsprachiger Aufsatzdidaktiken ausgeführt wird (2.).
Gleichsam in einem komplementären Strang dieses Diskurses macht die Literatur
zwischen etwa 1880 und 1918 pädagogische Praktiken und insbesondere die
Schule zu ihrem Gegenstand. Es wäre jedoch ein Missverständnis, dies als bloße
Reaktion auf eine vermeintliche außerliterarische Realität zu deuten. Vielmehr be-
einflussen sich außerliterarischer und literarischer Schuldiskurs wechselseitig,4
wobei letzterer sich stärker für die Bruchstellen des ersteren interessiert. Am Bei-
spiel von Robert Walsers Fritz Kochers Aufsätze (1904) wird exemplarisch gezeigt,
wie literarische Verfahren herrschende Aufmerksamkeitsdiskurse unterlaufen kön-
nen (3.), zugleich aber auch – affirmativ – auf ein anderes Paradigma verweisen, das
den Appellen zur Konzentration die Betonung der Digression entgegensetzt (4.).

1. Aufmerksamkeit als pädagogisches Problem


Um 1900 erreicht die pädagogische Sorge um die Aufmerksamkeit einen der oben
geschilderten Höhepunkte – zu einem Zeitpunkt mithin, an dem die Aufmerksam-
keit aus epistemologischer Perspektive problematisch wird. Liefen philosophische

  3 Nießeler, „Übung der Aufmerksamkeit“, S. 47, Herv. i. O.


  4 Vgl. detaillierter Whittaker, Überbürdung.

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Die Digression der Zeichen 291

und physiologische Entwürfe noch des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auf die
Annahme hinaus, „daß sich alle Hindernisse der Aufmerksamkeit durch Übung
und Einhaltung bestimmter Regeln vermeiden lassen“5, so bekommt dieser Opti-
mismus nach 1850 Risse. Dann nämlich
entwickelte sich ein zweiter Diskurs, der dem ersten diametral entgegensteht und die
Risiken und Brüche der Aufmerksamkeit in den Vordergrund stellt. Zeitlich passiert
das genau in dem Moment, da Begriffe wie Degeneration, Dekadenz und Ermüdung
zu Chiffren einer Krise der Vernunft werden; im gleichen Zuge wird auch die Auf-
merksamkeit in einem neuen Wissens- und Erfahrungsraum rekonfiguriert.6

In dem Maße, wie die rasanten Veränderungen der modernen Lebenswelt als „Zu-
mutung“ (G. Simmel) begriffen wurden, gewannen wahrnehmungsphysiologische
Ansätze an Bedeutung, welche entgegen der Vorstellung von rational und souverän
kontrollierten Wahrnehmungsakten die tendenzielle Überforderung des menschli-
chen Wahrnehmungsapparates durch unablässig eindringende äußere Reize beto-
nen. Auf diese grundsätzliche ‚Überwältigungsdiagnose‘ lassen sich Varianten nicht
nur der um 1900 allgegenwärtigen neurasthenischen Pathologien zurückführen.7
Diese und andere Pathologien haben ihren Ursprung in solchen Störungen perzep-
tiver Syntheseleistungen, wie sie Wilhelm Wundt einschlägig beschrieben hatte:
Für Wilhelm Wundt ist das Bewusstsein ein Feld, in dem die Wahrnehmungsobjekte
schrittweise von einer nur diffus organisierten Peripherie in ein Zentrum bewusster
und aktiver Apperzeption aufrücken. In der Konsequenz dieser aktiven Steuerung der
Aufmerksamkeit liegt es beschlossen, dass die Erfahrung kohärenter Wirklichkeitsge-
halte nicht mehr aus dem Wesen dieser Wirklichkeit und ihrer analogischen Wieder-
gabe hergeleitet, sondern allein in den flüchtigen Momenten ihrer apperzeptiven
‚Konstruktion‘ begründet werden kann. Wille und Aufmerksamkeit bilden daher
Momente einer aktiven Organisation der wahrgenommenen Welt, die so lange dis-
kontinuierlich bleibt, wie das Bewusstsein nicht über Mechanismen verfügt, die in
die Vielzahl optischer und akustischer Attraktionen eingreifen und eine begrenzte
Zahl ihrer Gehalte isolieren.8

Parallel zu dieser Entwicklung, wenn auch zunächst nicht in direktem Zusammen-


hang mit ihr, lässt sich eine mit zunehmender Virulenz geführte bildungspolitisch-
medizinische Debatte beobachten. Das seit dem frühen 19. Jahrhundert staatlich
institutionalisierte Schulwesen verlange den Schülern zu hohe Leistungen ab, lau-
tet das gängige Argument; eine Reihe mal mehr und mal weniger spezifischer Pa-
thologien wird auf diese vermeintliche Überforderungssituation zurückgeführt.9
Auf eine erste Flut solcher Klagen, zu der 1836 eine Schrift des Medizinalrates

  5 Hagner, „Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand“, S. 279.


  6 Ebd., S. 281 f. Für eine ähnliche Darstellung vgl. auch Crary, Aufmerksamkeit, S. 25 f.
  7 Vgl. einschlägig Radkau, Das Zeitalter der Nervosität.
  8 Stöckmann, Der Wille zum Willen, S. 358.
  9 Die bildungshistorische Forschung hat diese Debatte bislang nur in groben Zügen rekonstruiert.
Für einen Überblick vgl. Fröhlingsdorf, Überbürdung der Kinder; Albisetti/Lundgreen: „Höhere
Knabenschulen“, S. 231 f.; Stross, „Überbürdung als Nebeneffekt“.

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292 Gwendolyn Whittaker

Ignaz Lorinser den Anstoß gab,10 folgte im Zuge der wilhelminischen Bildungsre-
formen zwischen 1870 und 1900 und der resultierenden Ausdifferenzierung der
Stundenpläne eine zweite Welle der Kritik an der sogenannten Überbürdung. Zu
den Symptomen dieses zwischen Kulturkrankheit und Pathologie changierenden
Phänomens werden somatische Erscheinungen wie Kurzsichtigkeit, Kopfschmerz
oder Stoffwechselstörungen gerechnet, hinzu kommen psychische Diagnosen etwa
der Hysterie, Neurasthenie oder Epilepsie.11 Insbesondere wurde angenommen,
die schulische Überforderung affiziere das Konzentrationsvermögen. An dieser
Stelle kommt die Strukturähnlichkeit der Überbürdungs- mit der gesamtgesell-
schaftlichen Nervositätsdebatte besonders deutlich zum Ausdruck: In beiden Fäl-
len hat man es mit Effekten kognitiver Überforderung zu tun.12 Der Mediziner
Ludwig Strümpell, um nur ein Beispiel anzuführen, nennt in seinem Inventarium
pädagogischer ‚Fehler‘ auffällig viele, die ihren Ursprung in einer pathologischen
Störung der Aufmerksamkeit haben. Darunter fallen die Lemmata „unaufmerksam“13
oder „Zerstreutheit“14, wie er auch an anderer Stelle Fehler häufig mit Rückbezug
auf die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit formuliert. Unter der Überschrift „Störun-
gen, Alterationen und Defekte, welche aus inneren Gründen im psychischen Me-
chanismus entstehen“ listet Strümpell unter anderem auf: „Zu rascher Ablauf der
Vorstellungen und springende Übergänge desselben [sic] aufeinander […] – […]
Ausbleiben jeder Konzentration des Vorstellens […] – […] Unschlüssigkeit, Um-
herschwanken motivloser Vorstellungen schon während der Entstehung eines Wol-
lens […].“15 Er zeichnet damit das Bild eines unsteten, flüchtigen und willenlosen
Charakters.
Neben Strümpell widmet sich eine Vielzahl von Publikationen dem Vermögen
der Aufmerksamkeit unter pädagogischen Gesichtspunkten.16 Es wird in dem Maß
problematisiert, wie empirisch-experimentell ausgerichtete Ansätze versuchen,
Schülerleistungen mit arbeitswissenschaftlichen Methoden gleichsam maschinen-
analog zu optimieren und technisch zu perfektionieren. So heißt es bei Ernst Meu-
mann, dem Begründer der experimentellen Pädagogik:
Wenn wir jeden Augenblick wüßten, warum ein Kind so und nicht anders lernt,
aufsagt, rechnet, zeichnet, schreibt usf., weil die und die bestimmte Seite seiner ele-
mentaren Anlage es dazu zwingt, so zu lernen, wie es lernt, so würden wir damit das
Kind in jedem Augenblick seiner Tätigkeit verstehen, und wir wüßten sicher zugleich,
wo wir mit unserer Bekämpfung seiner Fehler und Schwächen einzugreifen und mit

 10 Lorinser, Gesundheit in den Schulen.


 11 Vgl. Fröhlingsdorf, Überbürdung der Kinder, S. 55 f.
 12 Joachim Radkau behandelt in seiner Monographie die Schulüberbürdung ausführlicher als einen
Effekt des Nervositätsdiskurses (vgl. Das Zeitalter der Nervosität, S. 315-21), betont aber auch,
dass es sich hierbei nicht notwendig „um ein empirisch gesichertes Faktum“ handle (S. 317).
 13 Strümpell, Pädagogische Pathologie, S. 192.
 14 Ebd., S. 212 f.
 15 Ebd., S. 133 f.
 16 Vgl. als Auswahl Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit, und Kerrl, Die Lehre von der Aufmerk-
samkeit. Kerrl gibt im dritten Teil seiner Studie einen instruktiven Überblick über zeitgenössische
Veröffentlichungen zur Aufmerksamkeit, vgl. ebd., S. 175 f.

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Die Digression der Zeichen 293

unserer positiven Vervollkommnung und Übung seiner Fähigkeiten nachzuhelfen ha-


ben.17

Zahlreiche Studien zum Erschöpfungspotential geistiger Arbeit versuchen deshalb,


die Grenzen zwischen maximaler Leistungsfähigkeit und beginnender Erschöpfung
exakt zu bestimmen. Wenn die Unfähigkeit zur Konzentration dabei zum Indika-
tor sinkender Leistungsfähigkeit wird, gilt es entsprechend, die Ursachen der Auf-
merksamkeitsschwankungen möglichst genau zu definieren, um sie beeinflussen zu
können.18
Neben solchen arbeitsökonomischen Fragen hat die Debatte um die kindliche
Aufmerksamkeit aber auch eine semiotische Dimension: Die von der Psychologie
des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Untersuchung von
Willenspathologien beobachtete allgemeine Tendenz zur „Auflösung der perzepti-
ven Syntheseleistung“19 macht sich insbesondere bei Intellektuellen – etwa „Studie-
renden und geistigen Arbeitern“20 – bemerkbar. Insofern ist es naheliegend, diese
Diagnose des von einer Masse an Zeichen überwältigten Wahrnehmungsapparates
auch und insbesondere auf den Schüler als ‚geistigen Arbeiter‘ zu übertragen. Ingo
Stöckmann hat in diesem Zusammenhang am Beispiel eines einschlägigen franzö-
sischen Willensratgebers auf den semiotischen Aspekt hingewiesen, der in dieser
Debatte über Zerstreuung und die kognitive Bewältigung von Texten zum Aus-
druck kommt:
Entscheidend aber ist die innere Verwandtschaft, die Payot zufolge zwischen den ge-
wachsenen Textmassen, den Zirkulationen ihrer Zeichen und der zerstreuten Rezep-
tion einerseits und dem mentalen Effekt – der „Zersplitterung“ – andererseits besteht.
Offenbar handelt es sich um Formen einer Kongruenz, die auf abstraktestem Niveau
‚dezentrierende‘ Analogien zwischen Zeichen- und Assoziationsprozessen stiftet.21

Das Gelingen eben dieser Syntheseleistung aber, auf die an späterer Stelle noch
genauer einzugehen ist, wird für die pädagogische Praxis um 1900 zum Problem.
Die Aufmerksamkeit wird damit vor dem Horizont der Nervositäts- und der Über-
bürdungsdebatte für die Pädagogik zu einem wichtigen Steuerungsinstrument.
Von der angestrebten gezielten Kontrolle schülerischer Leistungen erhoffte man
sich zu einem Zeitpunkt, an dem die Gesellschaft in hohem Maße verunsichert in

 17 Meumann, Experimentelle Pädagogik, Bd. I, S. 325, Herv. G.W. Dieses Ideal des technisch perfek-
tionierten Subjekts im Zusammenhang mit der Schulung der Aufmerksamkeit betont auch Jona-
than Crary in seiner kunsthistorischen Untersuchung (Crary, Aufmerksamkeit, S. 31).
 18 Vgl. Meumann: „Wenn wir das vermöchten, so könnten wir diese Schwankungen leichter be-
herrschen und sie in ihrem Einfluß auf den Versuch kontrollieren […].“ (Meumann, Experimen-
telle Pädagogik, Bd. II, S. 33) Für allgemeine Ausführungen zum Stellenwert der Aufmerksamkeit
in Meumanns experimenteller Pädagogik vgl. ebd., Bd. I, S. 77 ff. Einschlägig sind in diesem
Zusammenhang außerdem die Arbeiten von Emil Kraepelin: Kraepelin, „Die Arbeitscurve“;
Ders., Über geistige Arbeit, sowie von Altschul, „Die geistige Ermüdung der Schuljugend“.
 19 Stöckmann, Der Wille zum Willen, S. 360.
 20 Payot, Selbstbemeisterung, S. 24.
 21 Stöckmann, Der Wille zum Willen, S. 360.

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die Zukunft blickte,22 die Optimierung einer jungen Generation und damit – auf
lange Sicht – die Sicherung einer besseren gesellschaftlichen Zukunft.

2. Konzentrationstraining am Beispiel des deutschen Aufsatzes

In die Schule der Jahrhundertwende hält also, ebenso wie in anderen gesellschaftli-
chen Bereichen, zunehmend eine arbeitswissenschaftliche Denkweise Einzug,
wenn der pädagogisch-didaktische ‚Input‘ des Lehrers mit möglichst geringen Ver-
lusten vom Schüler verinnerlicht und reproduziert werden soll, wenn das gleichsam
transparente Kind zum erziehungswissenschaftlichen Ideal wird. Grundvorausset-
zung dieses Optimierungsbestrebens ist stets das belastbare Aufmerksamkeitsver-
mögen des Schülers, und entsprechend beschränkt sich die Konzentrationsschu-
lung nicht auf bloße Appelle an aufmerksames Stillsitzen, sondern erstreckt sich bis
ins fachdidaktische Detail hinein. Besonders deutlich wird dieser Umstand an dem
Stellenwert, der dem Deutschaufsatz in der bildungspolitischen Diskussion zu-
kommt.
Wilhelm II. hatte diesen auf der Schulkonferenz des Jahres 1890 zum Prüfstein
geistiger Reife erklärt: „Der deutsche Aufsatz muss der Mittelpunkt sein, um den
sich Alles dreht. Wenn Einer im Abiturientenexamen einen tadellosen deutschen
Aufsatz liefert, so kann man daraus das Maß der Geistesbildung des jungen Man-
nes erkennen und beurtheilen, ob er etwas taugt oder nicht.“23 War so erst einmal
die Bedeutung des deutschen – in schrittweiser Ablösung des altsprachlichen –
Aufsatzes etabliert, entwickelte er schnell einen derart prominenten Stellenwert,
dass es in der 1904 in zweiter Auflage erschienenen Encyklopädie Wilhelm Reins
heißt, der Aufsatz habe „allmählich den Vorrang vor allen übrigen Aufgaben, die
der Gymnasialunterricht seinen Schülern stellt, errungen.“24 Zwischen den Schul-
konferenzen 1890 und 1900 war der Aufsatz sogar so bedeutend, „dass eine Kom-
pensation für eine mangelhafte Gesamtleistung im Deutschen bei der Reifeprü-
fung für unstatthaft erklärt wurde.“25 Die Encyklopädie betont als besonderen
Vorzug des Aufsatzes dessen strukturbildende Leistung:
Einmal dient er unmittelbarer als irgend eine andere Übung den wichtigsten forma-
len Zwecken des gesamten Unterrichts, – dem Zwecke, den Schüler zur Herrschaft
über seine Muttersprache, zur Anordnung und Darlegung seiner Gedanken zu befä-
higen. Und zweitens gibt es für die Aneignung und innerliche Verarbeitung des Stof-
fes […] kein zweites Hilfsmittel von der gleichen Wirkung.26

 22 Für ein Panorama der westlichen Welt von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkriegs vgl. jüngst Blom, The Vertigo Years.
 23 Anonym, Fragen des höheren Unterrichts, S. 72.
 24 Lehmann, „Deutscher Unterricht“, S. 162.
 25 Ebd. Diese Monopolstellung wurde jedoch von der Schulkonferenz 1900 wieder zurückgenom-
men.
 26 Lehmann, „Deutscher Unterricht“, S. 162.

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Die Digression der Zeichen 295

Der Aufsatz soll den Schüler dazu befähigen, „seine Gedanken angemessen und
klar auszudrücken“ und „sie logischer und übersichtlicher in Ordnung zu
bringen.“27 Dass die programmatische pädagogische und bildungspolitische Aus-
richtung auf das Vermögen der Konzentration und der Aufmerksamkeit vor fach-
didaktischen Feinjustierungen nicht Halt macht, wird auch in einem Handbuch-
eintrag zur „Aufmerksamkeit“ deutlich. In Karl Adolf Schmids Enzyklopädie des
gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens zitiert der Verfasser dieses Eintrags
den Pädagogen August Grube:
„Zu dieser Frivolität [gemeint ist das mentale Abschweifen, G.W.] leiten wir aber
die Kinder ganz systematisch an dadurch, daß wir sie nötigen, sobald als möglich
über die Dinge Betrachtungen anzustellen, zu räsonnieren, wo ihre Anschauung
noch nicht fertig ist.“ Ein wichtiges Mittel, zur Aufmerksamkeit zu erziehen,
findet G[rube] in der Gewöhnung an eine reine, klare, fließende Sprache; in der
Sprache komme die Krankheit der Unaufmerksamkeit zur Erscheinung, sie ent-
halte aber auch das Korrektiv, um dem Übel Einhalt zu tun.28

Diese Betonung der konzentrationsbildenden Funktion des Schulaufsatzes findet


sich nicht nur im wilhelminischen Reich.29 Auch Schweizer Aufsatzlehren verbin-
den programmatisch Stil- mit Konzentrationsübungen. So heißt es in einer der
einschlägigen zeitgenössischen Stillehren zum Aufsatz, die 1900 in Bern erschien,
zum Stichpunkt des „Sammeln[s]“:
Das Ha u ptm i t t el zur Her bei scha f f ung d es Gedankens toffs sind das
Na c h d e nken (die Meditation), das Nachlesen und in einzelnen Fällen auch das
Be s p re c h en des Gegenstands mit Sachverständigen. […] Das Nachdenken […]
besteht darin, dass der Schreibende seine Aufmerksamkeit auf den durch das Thema
bezeichneten Gedankenbezirk richtet und danach strebt, alles, was Verstand, Ge-
dächtnis und Phantasie ihm über den Gegenstand zuführen, sich zu vergegenwärti-
gen, zu überschauen, zu beherrschen, um Stück für Stück am rechten Ort und in
rechter Weise verwenden zu können.30

Das Hauptaugenmerk des Verfassers muss in diesem Produktionsstadium mithin


auf dem Vermeiden rhetorischer Digression liegen: „[…] und der Sammler hat nur
dafür zu sorgen, dass die besten Gedanken nicht, durch andere verdrängt, ihm so-
gleich wieder davon laufen.“31 Als Mittel, dies zu erreichen, gibt die Stilistik drei
Kompetenzen an, die als virtutes oratori in der römischen Rhetorik mit den Begrif-
fen der puritas (Sprachrichtigkeit), des aptum (Angemessenheit) und der brevitas

 27 Ebd., S. 164.


 28 Bock, „Aufmerksamkeit“, S. 262, Herv. i. O.
 29 Dort kommt dem Aufsatz allerdings, das darf nicht unterschlagen werden, neben seinem stilbil-
denden Element auch eine maßgebliche gesinnungsbildende Funktion zu. Demgemäß diente der
Aufsatz der frühen systematischen Einübung in eine deutschnationale Gesinnung. Vgl. dazu
Ludwig, Der Schulaufsatz, S. 252-264, sowie die Übersicht einschlägiger Aufsatzthemen in Herr-
mann, „Über ‚Bildung‘“, S. 355 f.
 30 Steiger, Stilistik, S. 10 f., Herv. i. O.
 31 Ebd., S. 11.

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(Kürze) bezeichnet wurden. Der Vermeidung von Digression dient vor allem das
Kriterium der Klarheit: „Bei Schülern hat die Unklarheit ihre Quelle meist in der
unbewachten Thätigkeit der Phantasie, im Verweilen bei Nebendingen, in der
Liebe zum Bunten, Glänzenden, Effektvollen, kurz im Mangel an ernster Auffas-
sung und an Sorgfalt in der Wahl der Wörter und Satzformen […].“32 Diese Ten-
denz äußere sich stilistisch vor allem in der Wahl ambivalenter Ausdrücke und
Stilfiguren wie Pleonasmus und Tautologie.
Gegenüber diesem bildungspolitisch und fachwissenschaftlich verordneten sti-
listischen Training regt sich freilich – auch und insbesondere im reformpädagogi-
schen Lager – Widerstand. Im Zentrum der Kritik steht der Vorwurf, diese Art der
Aufsatzdidaktik ignoriere die sprachliche und intellektuelle Individualität der Kin-
der und reduziere sie zu reinen Schreibautomaten.33 Der dominante Diskurs zielt
jedoch darauf ab, mit Hilfe des deutschen Aufsatzes ein Konzentrationstraining
durch die Schrift zu erreichen: Wer seine Gedanken strukturiert wiederzugeben
imstande ist, so die zugrunde liegende Logik, wer äußere Ablenkungen ignorieren
und sich in die schriftliche Argumentation versenken kann, der übt gleichsam ne-
benbei einen aufmerksamen Habitus ein. Die Analyse der unter solchen Vorgaben
entstandenen Schulaufsätze wäre eine eigene Untersuchung wert. An dieser Stelle
soll der Blick jedoch auf spezifisch literarische Narrative gelenkt werden – konkret:
auf fingierte Schüleraufsätze, welche die ‚Aufmerksamkeitspraktik des Aufsatzes‘
mit einem doppelten Boden versehen.

3. Spiele mit der Norm: Fritz Kochers Aufsätze

Denn die Literatur hat an der oben geschilderten Debatte um die schulische Über-
forderung und das kindliche Vermögen oder Unvermögen zur Konzentration maß-
geblichen Anteil: Die Schule ist im Zeitraum zwischen etwa 1880 und 1918 ein
außerordentlich populäres literarisches Sujet. Allerdings nutzt allein ein Autor
die Möglichkeit, den Gegenstand auch in Form einer der Schule entliehenen Gat-
tung zu verhandeln: Robert Walser verfasst 1904 mit Fritz Kochers Aufsätze[n] seine
erste Prosaveröffentlichung und einen von drei schulliterarischen Texten seines Ge-
samtwerks.34 Diese Texte entstehen zu einem Zeitpunkt, an dem Walser sich noch
nicht der ‚kleinsten Form‘ zugewandt hat, die als Mikrogramm sein späteres Werk

 32 Ebd., S. 41.


 33 Auf diese Kritik des Schulaufsatzes zielte schon Nietzsches Polemik in seinen postum publizierten
Vorträgen „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ ab: „Und solange die deutschen Gym-
nasien in der Pflege der deutschen Arbeit der abscheulichen gewissenlosen Vielschreiberei vorar-
beiten, so lange sie die allernächste praktische Zucht in Wort und Schrift nicht als heilige Pflicht
nehmen, so lange sie mit der Muttersprache umgehen als ob sie nur ein nothwendiges Übel oder
ein todter Leib sei, rechne ich diese Anstalten nicht zu den Institutionen wahrer Bildung.“ Nietz-
sche, Nachgelassene Schriften, S. 681 Ähnlich fällt auch das Urteil von Adolf Jensen und Wilhelm
Lamszus in ihrer Programmschrift aus. Vgl. Jensen/Lamszus, Unser Schulaufsatz, S. 19.
 34 1908 folgt das Tagebuch eines Schülers und 1909 Jakob von Gunten, einer von Walsers bekanntes-
ten Romanen.

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kennzeichnet. Dennoch lassen sich bereits in den Aufsätzen Charakteristika der


Walser’schen Poetologie ausmachen:
So bilden denn die Vorgaben eines aufgaben- und außengeleiteten Schreibens per se,
nämlich des Aufsatzschreibens, bereits in Walsers erster Prosaveröffentlichung […]
die Folie für eine Auseinandersetzung mit Gesetzmäßigkeiten der Textproduktion,
ihrer inhaltlichen und formalen Normierung und den Konflikten auf einer unmittel-
bar textuellen Ebene, die sich aus der Konfrontation einer Schreibpraxis mit den
normativen Anforderungen an sie ergeben.35

Die im Folgenden auszuführende These lautet, dass diese subversive Note der Auf-
sätze dahingehend zu präzisieren wäre, dass sie gerade nicht den stilistischen Nor-
men eines konzentrierten Stils folgen, sondern vielmehr eine Poetologie der Digres-
sion profilieren. Weniger als die Frage, ob oder inwiefern Walser hier ausdrücklich
bildungspolitische Referenzen beabsichtigte,36 interessiert hier der Befund der nar-
rativen Subversion eines dominanten Aufmerksamkeitsdiskurses, die Frage, welche
Form diese Subversion annimmt und die poetologischen wie diskurslogischen
Schlüsse, die sich daraus ziehen lassen.
Die Aufsätze werden von einer Herausgeber-Fiktion eingeleitet, die Sorge trägt,
dass der Leser der Figur Fritz Kocher mit Wachsamkeit begegnet. Der fiktive Her-
ausgeber gibt an, Kocher sei „kurz nach seinem Austritt aus der Schule gestorben.“37
Dieser Umstand rückt die Verfasserschaft in ein ambivalentes Licht und lässt die
Aufsätze nicht zuletzt als Text erscheinen, die zwischen nichtliterarischem (nähme
man die Behauptung ernst, sie stammten von einem verstorbenen Schüler) und
literarischem Schreiben changieren. Zu diesem intrikaten Rollenverhältnis hat Cle-
mens Pornschlegel weitere Überlegungen angestellt, die die Subversion von Autor-
schaft betreffen.38 An dieser Stelle interessiert vor allem die Schreibstrategie, das
Verfahren des Aufsatzschreibens, das der zwischen realer Schüler- und fiktionaler
Autor-Figur changierende Fritz Kocher verfolgt. Zunächst fällt dabei auf, dass er
sich als bemerkenswert demütiger, pflichtbewusster, ja autoritätshöriger Schüler
erweist: Er bezeichnet sich als „dummen Schüler“ (FKA 8), tadelt sich für seinen
Stil (vgl. FKA 9) und betont: „Ein Lehrer weiß, was er tut.“ (FKA 16) Wer vor
diesem Hintergrund nun Aufsätze erwartet, die gleichsam als Paradebeispiele der
zeitgenössischen stilistischen Vorgaben gelten können, wird jedoch enttäuscht.

 35 Kammer, Figurationen und Gesten des Schreibens, S. 84.


 36 Dass er den deutschen bildungspolitischen Diskurs mindestens in Auszügen zur Kenntnis ge-
nommen haben könnte, ist insofern plausibel, als Walser vor der Niederschrift der Aufsätze bereits
einige Zeit in Stuttgart und München verbracht hatte. Vgl. dazu Mächler, Das Leben Robert Wal-
sers, S. 39 f., 63 f. Darüber hinaus fand in der Schweiz zeitgleich eine ähnliche Diskussion statt,
vgl. Ehrich-Haefeli, „Fritz Kochers Aufsätze“.
 37 Walser, Fritz Kochers Aufsätze. Im Folgenden unter der Sigle FKA mit Seitenangabe direkt im Text
zitiert.
 38 Pornschlegel, „Der Autor und sein Double“, S. 261.

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Als Annäherung an die 20 Aufsätze39 bietet sich die exemplarische Analyse des
Aufsatzes „Der Herbst“ an. An ihm lassen sich stilistische Eigentümlichkeiten ver-
deutlichen, die sämtlichen in den Aufsatzstilistiken erwähnten Kriterien zuwider-
laufen. Charakteristisch ist zunächst der ständige Metakommentar, den Fritz ge-
genüber seinen eigenen Texten vornimmt, indem er sie wiederholt auf die
fachdidaktischen Normen hin reflektiert, die er gleichzeitig unterläuft. Der Aufsatz
beginnt folgendermaßen: „Wenn der Herbst kommt, fallen die Blätter von den
Bäumen an den Boden. Ich müsste es eigentlich so sagen: Wenn die Blätter fallen,
ist es Herbst.“ (FKA 10) Diese Selbstkorrektur bereits im zweiten Satz lässt darauf
schließen, dass das Produktionsstadium der dispositio nur mangelhaft ausgeführt
wurde. Fritz reflektiert dies auch gleich: „Ich habe es nötig, mich im Stil zu verbes-
sern. Letztes Mal bekam ich die Note: Stil erbärmlich. Ich gräme mich darüber,
aber ich kann es nicht ändern.“ (Ebd.) Gleiches gilt für die spätere Überlegung, ob
das Geschriebene eigentlich wahr sei: „Ich weiß nicht, ob das zutrifft. Nun, der
Lehrer wird schon so freundlich sein und es korrigieren.“ (FKA 11) So stellt jeder
Aufsatz das Bewusstsein seiner Künstlichkeit und Zweckbezogenheit immer wieder
deutlich aus, unterläuft mithin die implizite Voraussetzung, die Artifizialität der
Schreibsituation unthematisiert zu lassen.
Weiterhin kennzeichnet Fritz’ Stil die Tendenz zur Digression. Denn was als Auf-
satz über den Herbst beginnt, geht nach wenigen Zeilen zum Winter über: „Ich
liebe auch den Schnee, wenn es auch unangenehm ist, mit kalten nassen Füßen drin
lange zu waten.“ (FKA 10) Seine Aufzeichnungen ergehen sich dann in einem ein-
zigen Mäandern der Gedanken – von armen Kindern über die Farben des Herbstes
und des Winters. Dabei – und das wäre die dritte stilistische Auffälligkeit –
verstrickt Fritz Kocher sich in Widersprüche und verliert sich in Wortspielen. Lobt
er zunächst die Farbenprächtigkeit des Herbstes, so heißt es wenig später: „Ich liebe
das Einfarbige, Eintönige. […] Weiß ist wie ein Murmeln, Flüstern, Beten. Feurige,
zum Beispiel Herbstfarben, sind ein Geschrei.“ (FKA 11) Und er stellt fest: „Wenn
alles so weiß ist, weiß man alles besser in der Schule.“ (Ebd., Herv. G.W.) – verstößt
also gegen die Vorgabe, Ambivalenz im Ausdruck zu vermeiden. Der Aufsatz schließt
fatalistisch:
Habe ich nun aber auch genügend vom Herbst gesprochen? Ich habe viel vom Schnee
gefaselt. Das wird eine schöne Note ins Zeugnis geben, dieses Quartal. Noten sind
eine dumme Einrichtung. Im Singen habe ich die Note eins und ich singe doch kei-
nen Ton. Wie kommt das? Man sollte uns lieber Äpfel geben, statt Noten. Aber da
würden schließlich doch zu viele Äpfel verteilt werden müssen. Ach! (FKA 12)

 39 Die einzelnen Themen lauten „Der Mensch“, „Der Herbst“, „Die Feuersbrunst“, „Freundschaft“,
„Armut“, „Die Schule“, „Höflichkeit“, „Die Natur“, „Freithema“, „Aus der Phantasie“, „Der
Beruf“, „Das Vaterland“, „Mein Berg“, „Unsere Stadt“, „Weihnacht“, „Als Ersatz eines Aufsat-
zes“, „Jahrmarkt“, „Musik“, „Der Schulaufsatz“, „Die Schulklasse“. Dass die Themen einen re-
präsentativen Charakter beanspruchen können, legt unter anderem Steigers Hinweis auf das Auf-
satzthema „Berg“ nahe (Steiger, Stilistik, S. 11).

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Diese stilistischen Charakteristika prägen auch die weiteren Aufsätze. Sie lesen sich
dadurch wie ein Musterfall dessen, wie ein Schulaufsatz auf keinen Fall auszusehen
hat.40 Und sie sind geprägt von einem Verfahren, das Walser später mit dem Bild
des Schleichens um den heißen Brei zu fassen versucht hat:
Besteht nicht Schriftstellern vielleicht vorwiegend darin, dass der Schreibende bestän-
dig um die Hauptsächlichkeit herumgeht oder -irrt, als sei es etwas Köstliches, um
eine Art heißen Brei herumzugehen? Man schiebt schreibend immer irgend etwas
Wichtiges, etwas, was man unbedingt betont haben will, auf, spricht oder schreibt
vorläufig in einem fort über etwas anderes, das durchaus nebensächlich ist.41

In Kochers stilistischen Digressionen wird somit gleichsam avant la lettre eine –


wenn nicht: die – produktionsästhetische Strategie Walsers erkennbar, die das Un-
vermögen zur kognitiven Feststellung, das ständige Abdriften ins Kleine und Ne-
bensächliche, zum Stilprinzip erhebt. Sie verweigert sich damit aber ausdrücklich
normativen Zugriffen – ohne dies jedoch ostentativ und explizit zu tun:
Die Ironie der Kocherschen Aufsätze besteht […] darin, die normativen Werts-
chätzungen anzuerkennen auf der propositionalen Ebene, um sie um so [sic] besser
unterlaufen zu können auf der Ebene eines digressiven, quasi-‚automatischen‘ Schrei-
bens […].42

Die textuelle Strategie unterläuft mithin die normativen Vorgaben des Schulaufsat-
zes, gerade indem sie diese obsessiv anzuerkennen vorgibt. Der selbstreflexive Text
„Der Schulaufsatz“ beschreibt diese Strategie in nuce. Er stellt in einer für alle Auf-
sätze – und im Übrigen auch für Walsers andere schulliterarische Texte – charakte-
ristischen Weise die stilistische Subversion dessen dar, was auf der Ebene des Gehal-
tes behauptet wird.
Einen Aufsatz soll man reinlich und mit leserlichen Buchstaben schreiben. Nur ein
schlechter Aufsatzschreiber vergisst, sich der Deutlichkeit sowohl der Gedanken als
der Buchstaben zu befleißen. Man denke zuerst, bevor man schreibt. […] Die Trägheit
des Schülers allerdings glaubt, Worte ergeben sich aus Worten. Das ist aber nichts als
eine eitle und gefährliche Einbildung. (FKA 45, Herv. G.W.)

Eben diese in altklugem Ton geäußerten Regeln unterläuft Fritz im Schreiben per-
manent. „Mit unfertigen Gedanken einen Satz beginnen, ist eine Liederlichkeit,
die nie zu verzeihen ist.“ (Ebd.) – dieser Satz führt in seiner ungeschickten syntak-
tischen Fügung Fritz’ antiperformatives Schreiben vor, das in der Form des Aus-

 40 Besonders deutlich kommt die Diskrepanz zwischen den stilistischen Vorgaben und Fritz’ Ver-
stoß dagegen im Aufsatz „Mein Berg“ zum Ausdruck. Wo Steiger meint: „Über den ‚Berg‘ wird
wenig zu sagen wissen, wer nicht den Fuß, die Abhänge und Gipfel gesondert ins Auge fasst […]“
(Steiger, Stilistik, S. 11), belehrt Fritz ihn in seinem Aufsatz „Mein Berg“ eines Besseren, indem er
statt einer Bergbeschreibung einen privaten Erlebnisbericht einer Wanderung anbietet (vgl. FKA
32-34).
 41 So der Erzähler im „Prosastückelchen“ Der heiße Brei, zit. nach Hong, Selbstreflexion von Moder-
nität, S. 10.
 42 Pornschlegel, „Der Autor und sein Double“, S. 263.

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drucks das unterläuft, was es auf Ebene des Gehaltes behauptet. So oder ähnlich
präsentiert sich auch der Rest dieses Aufsatzes: Fritz reiht beliebige stilistische Sen-
tenzen aneinander, die überdies vielmehr dem materiellen Aspekt des Schreibens
als Stilfragen gelten: „Auf sauberem, glattem Papier lässt sich’s viel hübscher, und
deshalb viel fließender, und deshalb viel empfindlicher und gefälliger schreiben
[…]“ (ebd.); „Worte ausstreichen gibt einen unsauberen Anblick.“ (FKA 46)
„Stil ist Ordnungssinn. Wer einen unklaren, unordentlichen, unschönen Geist
hat, wird einen ebensolchen Stil schreiben“ (FKA 45) hält Fritz außerdem fest. Es
ist bemerkenswert, dass in diesem Zusammenhang der ansonsten so häufig vorge-
nommene selbstkritische Kommentar fehlt. Fritz verzichtet darauf, sich selbst in
dieses von der Institution übernommene Normensystem einzuordnen. Sein Stil, so
scheint es, lässt sich nicht mit den Kriterien schulischen Schreibens beurteilen.
Weshalb das so ist, macht der Aufsatz mit der Überschrift „Freithema“ deutlich.
Zunächst moniert Fritz darin die Wahlfreiheit als solche: „Diesmal, sagt der Lehrer,
dürft ihr schreiben, was euch gerade einfällt. Ehrlich gestanden, mir will nichts
einfallen. Ich liebe diese Art von Freiheit nicht. Ich bin gerne an einen vorgegebe-
nen Stoff gebunden.“ (FKA 24) Denn worum es ihm geht, ist nicht der Stoff,
sondern die Form: „Mich reizt nicht das Suchen eines bestimmten Stoffes, sondern
das Aussuchen feiner, schöner Worte. […] Was weiß ich, ich schreibe, weil ich es
hübsch finde, so die Zeilen mit zierlichen Buchstaben auszufüllen. Das ‚Was‘ ist
mir vollständig gleichgültig.“ (Ebd.) Fritz ordnet hier dem rhetorisch durchkom-
ponierten, gegenstandsbezogenen Argument das zweckfreie Interesse an der Form
deutlich über. Indem er sich weniger für den Gehalt des Geschriebenen als für
dessen (Material-)Ästhetik interessiert, ist sein Schreiben literarisch zu nennen.

4. Verkehrung der Vorzeichen: Digression als ästhetischer Wert

Diesen Umstand gesteht er in einem anderen Aufsatz mit dem Titel „Als Ersatz
eines Aufsatzes“ auch ein, wenngleich er das Geständnis einer anderen Person in
den Mund legt. Der Aufsatz beinhaltet einen Brief seines Bruders, in dem dieser
schreibt: „Du bist ein Schurke im Stil. Du schreibst wie zwei Professoren zusam-
men. Ein Schriftsteller von Beruf könnte sich nicht besser ausdrücken.“ (FKA 38)
Als Gemeinsamkeit von Walsers frühen Texten macht Clemens Pornschlegel den
„(ersehnten) Übergang[] vom nichtliterarischen zum literarischen Text, vom Schul-
aufsatz oder Tagebuch zur Literatur“43 aus. So lassen sich die Aufsätze auch als
Quelle der Transformation eines Schülers zum Schriftsteller lesen, die auch und vor
allem durch das dauernde Unterlaufen institutioneller Normen zum Ausdruck
kommt.

 43 Ebd., S. 258.

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Die Digression der Zeichen 301

Dieser Lesart nach wird die institutionell so negativ sanktionierte schriftliche


Digression, das Abschweifen und das Tagträumen im Aufsatz, aber gerade zum
Prüfstein und Charakteristikum literarischen Schreibens. Es hat seinen Ursprung
in der Zurückweisung von Versuchen, es institutionell zu normieren. Diese Subver-
sion drückt sich einerseits in dem beschriebenen Verfahren der formalen Missach-
tung propositional behaupteter Normen aus. Andererseits kommt sie auch auf in-
haltlicher Ebene zum Ausdruck. Davon zeugen zum Einen die Anekdoten aus den
beiden Aufsätzen, welche die Institution selbst behandeln und damit ein selbstre-
flexives Element in Fritz’ Aufsätze einführen: „Die Schule“ und „Die Schulklasse“.44
Besonders bemerkenswert ist aber zum Anderen eine Kritik, die auf ein systemati-
sches Problem abzielt, wenn Fritz eine temporale Bedingung des Schulaufsatzes
reflektiert:
Mich wundert überhaupt, daß man uns eine solche Frage [gemeint ist das Aufsatz-
thema „Die Schule“, G.W.] vorlegt. Schüler können eigentlich nicht über den Nut-
zen und die Notwendigkeit der Schule, in der sie selbst noch stecken, reden. Über so
etwas sollen ältere Leute schreiben. […] Die Gegenwart, die einen singend und lär-
mend umgibt, ist in keine genügende Form schriftlich zu fassen. (FKA 19)

Damit benennt Fritz nicht nur ein im zeitgenössischen aufsatzdidaktischen Dis-


kurs umstrittenes Problem,45 sondern weist auch auf Ebene des Gehalts auf ein
temporales Paradox der Aufmerksamkeit hin, auf das er mit seiner stilistischen Di-
gression reagiert: auf die Unmöglichkeit, eine geteilte Gegenwart herzustellen. Die-
ser Versuch wird, wie oben gezeigt, im zeitgenössischen naturwissenschaftlichen
Diskurs aus wahrnehmungsphysiologischer Perspektive schon ‚innerhalb‘ eines
Subjekts als prekär angesehen.46 Umso mehr muss diese Unmöglichkeit aber für die
intersubjektive schriftliche Kommunikation gelten, die Fritz, wie erläutert, daher
auch gar nicht erst anstrebt.
Vielmehr partizipiert Fritz’ digressives Schreiben an einem anderen Diskurs, der
Assoziationsströme gerade nicht der ordnenden und fokussierenden Instanz des
Verstandes unterwirft. Die Analyse der Aufsätze griffe zu kurz, beschränkte sie sich
auf die Diagnose eines rein subversiven Gestus. Während sich der Verfasser der
Texte zwar den pädagogischen Stilvorgaben verweigert, verhält er sich in anderen
Passagen mit Blick auf einen anderen Diskurs affirmativ.47 Anschaulich wird das
etwa am Beispiel des Aufsatzes „Aus der Phantasie“. Der schildert in poetisch an-
mutender Sprache eine märchenhaft-träumerische Szene, die sich auf inhaltlicher
Ebene mit einem psychoanalytischen Paradigma als ein ästhetisch sublimierter Akt

 44 Vgl. FKA 18-20, 47 f. Auch diese Aufsätze kennzeichnet die charakteristische Mischung aus ver-
meintlicher Anerkennung der Norm und ihrer gleichzeitigen Ironisierung.
 45 Vgl. Abschnitt 2 dieses Aufsatzes.
 46 Odmar Neumann fasst die apperzeptionstheoretische Fassung dieses Gegenwartsproblems fol-
gendermaßen: „Die Apperzeption eines Inhalts ist mit seiner unbemerkten Wahrnehmung nicht
zeitlich koexistent, sondern folgt ihr nach einer, wenn auch unmerklich kurzen, Zeitspanne.“
(Neumann, „Art. Aufmerksamkeit“, S. 642)
 47 Für diesen Hinweis danke ich Robert Suter.

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der (sexuellen) Initiation deuten lässt. Ein Knabe und eine Dame rudern in die
Mitte eines Sees:
Die Dame stammt aus dem Schloß, das dort am rechten Seeufer emporragt, dessen
Türme glitzern. Sie ist eine Gräfin. Der Knabe hat auf ihr Geheiß das kleine Schiff
losgebunden und es bis dahin gerudert, wo die beiden noch sind: fast in der Mitte des
Sees. Die Dame hält die weiße Hand in das grünliche, bläuliche Wasser. Das Wasser
ist warm. Es küßt die dargebotene Hand. Es hat einen recht feuchten Mund zum
Küssen. Vom Ufer her schimmern die weißen Wände der zerstreuten Landhäuser.
(FKA 27, Herv. i. O.)

Die Konstellation Dame und Page ist eine, die sich in Walsers Texten vielfach,
wenn auch mitunter in modifizierter Form, häufig wiederholt.48 In diesem Aufsatz,
der qua Titelvorgabe ausnahmsweise dem schulischen Normenregister enthoben ist
und der im Vergleich mit den übrigen Aufsätzen geradezu penetrant auf Semanti-
ken des Traumhaften und Amourösen basiert,49 bricht das Unbewusste durch:
„Wir sollen etwas aus der Phantasie schreiben. Meine Phantasie liebt das Farbige,
Märchenhafte. Ich mag nicht von Pflichten und Aufgaben träumen. Das Nächst-
liegende ist für den Verstand, das in der Ferne liegende für den Traum.“ (FKA 26)
So weist dieser Aufsatz in seinem Ausnahmecharakter auf einen Aspekt hin, den die
anderen Aufsätze mehr verbergen als zeigen: Unter ihrer Oberfläche gibt das schrei-
bende Subjekt wiederholt Facetten oder vielmehr Fragmente einer Identität zu er-
kennen, die sich jenseits seiner Identität als Subjekt der Institution bewegt:
[E]rst aus der distanziert-ironischen, die Zensur außer Kraft setzenden Perspektive
literarischer Aufsätze stellt sich die Frage nach der Identität des fragmentierten, büro-
kratisch archivierten Subjekts, nach seinen Wünschen, Affekten, Zerrissenheiten. Das
literarische Schreibspiel der Aufsätze […] setzt sie [die Frage nach der Subjektivität
des Schreibers, G.W.] überhaupt erst in Gang – und zwar gegen das Anonymat eines
[…] durchgängig funktionalisierten Schüler- und Angestelltenlebens […].50

Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Die Aufsätze erschöpfen sich nicht in der
Subversion. Sie haben gleichzeitig Anteil an einem Diskurs, der sich für Fragen der
Subjektbildung gleichsam von den Rändern her interessiert: von dessen Wünschen,
Träumen und unregulierten Affekten her. Für deren Darstellung bieten Fritz Ko-
chers Aufsätze eine neue Form an. Der dissoziative Stil – der auch in der oben zitier-
ten Passage in der fragmentarisch-impressionistischen Darstellung der Szene ange-
deutet ist – führt aus dieser Perspektive ein Schreibverfahren vor, das sich dem
stream-of-consciousness annähert. Es verweigert sich den Normen konzentrierten
Schreibens zugunsten einer andersartigen, gerade nicht das Bewusste, sondern das
Unbewusste beschwörenden Protokollform. Und es erhebt dadurch die im norma-

 48 Vgl. Ehrich-Haefeli, „Fritz Kochers Aufsätze“, S. 336.


 49 Vgl. „Traum“ (FKA 26), „wunderbar“, „träumen“, „lieb haben“, „Lächeln“, „Kuß“, „fühlen“,
„küßt“, „feuchten Mund“ (alle FKA 27).
 50 Pornschlegel, „Der Autor und sein Double“, S. 264.

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tiven Diskurs gerade so verpönte Digression von Zeichen- und Assoziationsprozes-


sen zu einem ästhetischen Wert.
Wie die Werkgeschichte zeigt, war dieser Art Prosa zu Walsers Lebzeiten kaum
Erfolg beschieden. Die Aufsätze wurden 1902 in der Berner Zeitschrift Bund veröf-
fentlicht, und schon in diesem Rahmen fiel die Reaktion der Leser verhalten aus.
Verstimmte Leser schrieben, „am meisten ärgerte“ sie die Tatsache, „daß sie diese
Sachen, obschon sie sie ‚absurd‘ fanden, doch immer zu Ende lesen mußten. Es lag
etwas Suggestives in Walsers Art, seine eigentümlichen Gedanken so ohne Hast
und Nachdruck fast wie sanft gleitende Billardbälle auf grünem Tisch hervorrollen
zu lassen.“51 Der Insel-Verlag druckte die Aufsätze dann zusammen mit anderen
Texten und Illustrationen von Walsers Bruder Karl im Jahr 1904 in einer ersten
Auflage von 1300 Exemplaren.52 Ein halbes Jahr später waren von dieser Auflage
allerdings nur 47 Bücher abgesetzt – ein Umstand, der den neuen Leiter des Verlags
dazu veranlasste, die restlichen Exemplare in Berliner Kaufhäusern „verramschen“53
zu lassen. Diese Resonanz zeugt von einer Haltung, die nicht nur die von Fritz
vielbeschworene Zensurinstanz des Lehrers, sondern – eine in diesem Zusammen-
hang nicht beliebige Homophonie – auch die des Lesers kennzeichnet: „Solch
kraft- und saftloses Geschreibe in den Tag hinein ist nicht zum Aushalten.“54 Die
literarische Öffentlichkeit, so scheint es, hat sich – mit wenigen Ausnahmen – die
Norm der stilistischen Konzentration erfolgreich zu eigen gemacht.

Literatur

Quellen

Altschul, Theodor, „Die geistige Ermüdung der Schuljugend. Ermüdungs-Messungen und


ihre historische Entwicklung“, in: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 69
(1911), S. 267-341.
Anonym, Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4. bis 17. Dezember
1890, Berlin, 1891.
Bock, o.V., „Aufmerksamkeit“, in: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichts-
wesens in 10 Bänden, Bd. 1, hg. v. K. A. Schmid, Gotha, 1876, S. 261-65.
Dürr, Ernst, Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig, 2. Aufl., 1914.
Hofmiller, Josef, „Jakob von Gunten. Gedichte“, in: Über Robert Walser, Bd. 1, hg. v. Katha-
rina Kerr, Zürich, 1978, S. 51-52.
Jensen, Adolf/Lamszus, Wilhelm, Unser Schulaufsatz – ein verkappter Schundliterat, Ham-
burg, 1910.
Kerrl, Theodor, Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Eine psychologisch-pädagogische Studie,
Gütersloh, 2., umgearb. Aufl., 1909.

 51 Josef Viktor Widmann 1904 im Bund, zit. nach Greven, „Nachwort“, S. 377.
 52 Vgl. ebd., S. 378, sowie das editorische Nachwort im jüngst erschienenen ersten Band der Kriti-
schen Walser-Ausgabe: Heerde/von Reibnitz/Sprünglin: „Editorisches Nachwort“.
 53 Greven, „Nachwort“, S. 379.
 54 Hofmiller, „Jakob von Gunten“, S. 52.

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via Universitat Wien
304 Gwendolyn Whittaker

Kraepelin, Emil, „Die Arbeitscurve“, in: Philosophische Studien 19 (1902), S. 459-507.


— , Über geistige Arbeit, Jena, 4. Aufl., 1903.
Lehmann, Rudolf, „Deutscher Unterricht in höheren Knabenschulen“, in: Encyklopädisches
Handbuch der Pädagogik, Bd. 2: Deklamieren – Franziskaner, hg. v. Wilhelm Rein, Lan-
gensalza, 1904, S. 147-168.
Lorinser, Carl Ignaz, Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen [1836], Berlin, 1861.
Meumann, Ernst, Vorlesungen zur Einführung in die Experimentelle Pädagogik und ihre psy-
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Die Digression der Zeichen 305

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Alexander Schellow

Nachworte

Zur Wahrnehmung in der Zeit / Tirana

1. In diesem Buch gibt es eine Intervention

Möglicherweise haben Sie sie bei der Lektüre dieses Buches einfach überblättert.
Was? Lassen Sie mich raten, Sie haben sie nicht bemerkt. Haben Sie sie nicht be-
merkt? Die Seiten 101-104 sind eine Spur dicker. Vielleicht wird dieser Umstand bei
einigen Wenigen von Ihnen so weit in den Bereich bewusster Wahrnehmung ge-
drungen sein, dass Sie kurz inne gehalten, vielleicht die Seite intuitiv mit dem Finger
noch einmal leicht gebeugt haben. Bei den Meisten allerdings wird dieser Effekt
einer mehr oder weniger deutlichen Distanznahme vom Automatismus des Seiten-
Umblätterns nicht eingetreten sein. (Obgleich – Sie können es jetzt noch einmal
überprüfen – die Differenz deutlich ist.) Denn: Wir müssen uns schützen. Um einem
Text auf einer Seite in einem Buch die Realität als Rahmung geben zu können, die er
benötigt, um von uns lesend verarbeitet zu werden, müssen wir eine Unzahl von
(Reiz-)Ebenen ausblenden. Aber sind diese deshalb als unsere Wahrnehmung mit
konstituierende Elemente nicht existent? Sind sie für den Vorgang des Lesens nicht
relevant? Auch wenn Sie nicht inne gehalten haben: Vielleicht hat das ungewohnte
Gewicht, die leicht andere Spannung und Textur, die Ihre Fingerkuppe zweifellos
aufgenommen hat, vielleicht haben diese Reize zwar nicht Ihr Bewusstsein erreicht,
aber doch die momentane Verteilung Ihrer Aufmerksamkeit beeinflusst. Vielleicht
waren Sie sich etwas stärker des Vorgangs bewusst, ein Buch in der Hand zu halten?
Oder Ihre Sinne sind für einen Moment wacher geworden für Ihre Umgebung: eine
leichte Temperaturdifferenz, eine Bewegung in Ihrem peripheren Sichtfeld?
„Was haben Sie gehört, als Sie das Wort ‚Aufmerksamkeit‘ auf Seite 102 oben
gelesen haben?“ Was würden Sie antworten? Sie erinnern sich nicht, vermutlich.
Oder doch? Jedenfalls haben Sie etwas gehört. Vielleicht war es das leise Klicken
einer erkaltenden Heizung, ein anfahrendes Auto vor dem Fenster, die Tastatur
eines Computers nebenan. Oder eine Stimme, ein anderes Wort zum Beispiel?
Möglicherweise hat dieses Geräusch sogar Ihre Aufmerksamkeit beeinflusst, Ihre
Wahrnehmung unmerklich erweitert oder verengt. Wenn dem so wäre, hätte es
wahrscheinlich die im Lesen des Wortes hervorgerufene Vorstellung beeinflusst.
Tiefer oder weniger tief: Es hätte – es hat Sie beeinflusst. Warum aber sollten Sie
sich dann nicht mehr erinnern?
An Vieles erinnert man sich nicht und doch scheint unser Gedächtnis manch-
mal ungeheure Potentiale zu entfalten. Wie ist es möglich, das Gesicht einer Be-

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308 Alexander Schellow

kannten X zu erkennen, die wir vielleicht zehn Jahre nicht gesehen haben? Wenn
jemand sagte: Zeichne das Gesicht von X – wir hätten es vermutlich nicht gekonnt.
Womit also werden die Reize abgeglichen, die in diesem Beispiel die Augen aufneh-
men? Ein Bild (ist es ein Bild?), das dazu nur sehr wenig mit dem gemein haben
kann, was erinnerbar wäre: Die Person ist älter, hat wahrscheinlich viele Attribute
(wie Haarfarbe, Kleidung, Gewicht) geändert. Was für eine enorme Leistung steckt
dahinter, diesem Gesicht, das eigentlich nicht erkennbar ist, trotzdem eine Ge-
schichte zu geben. Ein Witz sagt: „Ich habe Sie nicht erkannt, denn Sie haben sich
nicht verändert.“ Wird Erkennen gerade durch die Veränderung erst möglich?
Oder: Wie finden wir uns zurecht an Orten, die wir sehr lange nicht gesehen
haben? Und warum scheint das insbesondere dann gut zu gelingen, wenn wir uns
nicht ‚aktiv‘ erinnern, sondern uns ‚intuitiv‘ verorten?
„Wahrnehmungen, konkrete räumliche wie zeitliche Verteilungen von Aufmerk-
samkeit konstruieren unsere Wirklichkeit.“ Aus dieser Aussage folgt die Frage, wie
und wann sie dies tun. Es scheint offensichtlich, dass Wahrnehmung, als Reiz in
Aufnahme und Verarbeitung, sich in der Zeit entfaltet. Auf neuronaler Ebene lässt
sich der temporale Modus, in dem unser Gehirn arbeitet, relativ einfach vorausset-
zen: Es ist der Modus der Gegenwart. Immer. Dies gilt für das, was wir als Wahr-
nehmung bezeichnen, im Prinzip ebenso wie für das, was als ihre reaktualisierte
Form Erinnerung wird. Die Antwort auf die gleiche Frage vor einem philosophi-
schen oder wahrnehmungstheoretischen Hintergrund wird ungleich komplizierter:
Wann ist (war/wird sein) Erinnerung, wann ist (war/wird sein) Wahrnehmung?
Ist im Beispiel oben die genaue Art Ihrer Vorstellung des gedruckten und von
Ihnen gelesenen Wortes ‚Aufmerksamkeit‘ auf Seite 102 als Begriff oder nicht viel-
mehr: als integriertes Ganzes, als komplexe Realität und Realisierung dieses Begrif-
fes wiederum Teil Ihrer Welt geworden? Mit Sicherheit wird hier eine kleine Ver-
schiebung beschrieben, wahrscheinlich eine winzige. Aber ist sie nicht als solche
eine von all jenen kleinsten Verschiebungen, die einmal zu größeren und schließ-
lich vielleicht zu entscheidenden geworden sein werden? Ich spreche nicht von in-
tentional gesetzten Manipulationen, sondern von komplexen und in wesentlichen
Teilen selbst auf einer Mikroebene unkontrollierbaren relationalen Netzwerken.
Wenn also das, was Sie im Moment des Lesens gehört haben, bewusst oder unbe-
wusst, Teil dieser Realisierung und damit Ihres Begriffes von ‚Aufmerksamkeit‘ ge-
worden ist – ist dann nicht auch dieses integrierte Ganze Teil Ihrer Wirklichkeit
geworden? Als der Art und Weise, wie Sie von nun an ‚Welt‘ strukturiert haben
werden? Wird es das nicht auch (oder gerade) dann geworden sein, wenn Sie sich
nicht (aktiv) daran erinnern können?

2. Ich kam 2009 nach Tirana

I. März 2009. Ich sitze mit der Kuratorin Corinne Diserens in einem italienischen
Restaurant in Berlin-Schöneberg. Per E-Mail lädt sie mich zu diesem Treffen ein
mit der Ankündigung, dass sie mir ein Projekt vorschlagen will. Ich habe mit Co-

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Nachworte 309

rinne schon mehrfach zusammengearbeitet, unter anderem bei der Eröffnungsaus-


stellung des MUSEION – Museum für Moderne und zeitgenössische Kunst.1
Während wir also zusammensitzen und essen, lädt sie mich ein, eine künstlerische
Arbeit für die Tirana International Contemporary Art Biennale (T.I.C.A.B.), die
albanische Kunstbiennale in Tirana zu entwickeln, bei der sie als Kuratorin betei-
ligt sein wird. Im Rahmen der T.I.C.A.B. sollen einige Beiträge von Künstlern ei-
gens für die Ausstellung produziert und vor Ort realisiert werden.2 Corinne kennt
meine Praxis der Beschäftigung mit Räumen und Raumwahrnehmung über zeich-
nerische Erinnerungsrekonstruktionen. Offenbar hält sie deren Konfrontation mit
dem Raum ‚Albanien‘ für produktiv. Was sie mir anbietet, ist eine carte blanche: die
Ressourcen und den Rahmen, um etwas in und mit diesem spezifischen Raum zu
realisieren. Sie ahnt nicht, wie leer die Karte in meinem Kopf zu diesem Zeitpunkt
wirklich ist. Ich esse Pasta mit Meeresfrüchten und einen Salat. Ich zeige nicht, dass
ich über dieses Land so gut wie nichts weiß. Ich tue so, als hätte ich zumindest eine
vage Idee davon, um welchen Kontext es sich handelt. Wir einigen uns darauf, dass
ich im Sommer eine längere Reise nach Albanien unternehmen werde.
II. Ich gebe ‚Albanien‘ in das Suchfenster von Google ein. Mein Nichtwissen
über das Land unterscheidet sich von dem Halbwissen, das ich von anderen Län-
dern habe. Ich würde nicht in gleicher Weise sagen, dass ich über die Schweiz, über
China oder über Uganda ‚nichts weiß‘. Albanien ist für mich kein Name, keine
Sammlung von Klischees, auch keine schematische Folie, die es vor Ort differen-
ziert zu hinterfragen und zu dekonstruieren gilt – in dem Wissen, dass sie letztlich
immer unzureichend bleibt. ‚Albanien‘ ist für mich ein Wort beinahe ohne Attri-
bute. Je länger ich über diesen Umstand nachdenke, desto bemerkenswerter er-
scheint er mir. Ich beginne eine erste Reise vor der Reise im Netz, orientiert am
Leitfaden meines Nichtwissens. Absichtsvoll ungerichtet. Der Eintrittspunkt in die
Recherche ist insofern beliebig, als jeder geöffnete link (im weitest möglichen Igno-
rieren der Google’schen Vorsortierung) der erste hätte sein können. Er ist auch
entscheidend, weil sich nur von diesem einen Punkt aus eine spezifische Topogra-
phie von Informationen, Darstellungen, Schemata, Fakten, Fiktionen entfaltet. Ich
stoße doch noch auf Bilder in meinem Gedächtnis, je länger ich insistiere. Sie sind
medialer Art. Sie bleiben unklar und verschwommen: Berichterstattungen über

  1 Das MUSEION – Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst, jedenfalls unter der Lei-
tung von Corinne Diserens 2008/2009, ist – wie die T.I.C.A.B. – Tirana International Contem-
porary Art Biennale – eine Institution, die ihre kuratorische Praxis bewusst in einem von politi-
schen Spannungen geprägten Umfeld situiert. Im Fall von Bozen ist diese in Form der Sprach-
spaltung zwischen italienisch- und deutschsprachiger Bevölkerung bis heute ein prägender
Aspekt des städtischen Alltags.
  2 Teilnehmende Künstler waren: Francis Alys, Sandra Boeschenstein, Vincenzo Castella and Multi-
plicity, Tacita Dean, Marta Dell’Angelo & conversazione (Gäste: Mimoza Ahmeti, Ema Andrea,
Ardian Klosi, Kozeta Noti, Gezim Qendro, Anila Sulstarova), Peter Friedl, Amar Kanwar, Elena
Kovylina, Pierre Leguillon (Diane Arbus: A Printed Retrospective), Sugar Jar, David Maljkovic,
Aernout Mik, Santu Mofokeng, Jean-Luc Moulène/Marc Touitou und Manuel Joseph in Zusam-
menarbeit mit Milosao newspaper, Maxi Obexer, Anri Sala, Alexander Schellow, Jalal Toufic,
Rosemarie Trockel, Luca Vitone, Paola Yacoub.

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310 Alexander Schellow

ökonomische und politische Wirren in den 1990ern. Sie sind in meiner Erinnerung
offenbar auf unfruchtbaren Grund gefallen. Sie konnten sich mit nichts oder zu
wenig verbinden, das sie als Hintergrund hätte hervortreten lassen, ins reflektie-
rende Bewusstsein rücken können. Ich lasse diese Bilder da, wo sie sind. Ich bemühe
mich nicht, sie scharf zu stellen. Stattdessen lese ich Witze über Albanien.3 Das ist
mein Eintrittspunkt: Witze zur Nichtexistenz Albaniens in einer außeralbanischen
Sicht – gleich neben den grundsätzlichen historischen und geographischen Infor-
mationen: „Papi, wo liegt Albanien?“ – „Da mußt du die Oma fragen, die räumt
hier immer alles auf!“4 Einige clicks weiter der Kinofilm Wag the dog (USA 1997),
in der Regie von Barry Levinson. Es geht um einen erfundenen Krieg, der von in-
nenpolitischen Problemen des US-amerikanischen Präsidenten ablenken soll.5 Ein
Hollywood-Regisseur sucht einen Ort dafür, der im kollektiven Gedächtnis der
westlichen Welt schwach genug besetzt ist, um die mediale Inszenierung nicht
scheitern zu lassen. Er findet: Albanien. Witze also. Satire. Einerseits. Andererseits
eine extreme jüngste Geschichte. Ich lese über die Zeit der kommunistischen Dik-
tatur von Enver Hoxha, die erst 1985 mit seinem Tod endete. 40 Jahre Abschot-
tungspolitik. Isolation, so radikal wie vielleicht nur im Fall Nordkoreas – abgese-
hen allein von wechselnden Bündnissen mit Jugoslawien, Russland und China, die
die persönlich paranoiden Züge des Diktators tragen.6 Ein System, das einen er-

  3 An erster Stelle Wikipedia: „Albanien, amtlich Republik Albanien (albanisch: Shqipëri/Shqipëria
oder Republika e Shqipërisë) ist ein Staat in Südosteuropa. Er grenzt im Norden an Montenegro
und Kosovo, im Osten an Mazedonien sowie im Süden an Griechenland. Die natürliche West-
grenze wird durch die Küsten der Adria und des Ionischen Meeres gebildet, wodurch das Land zu
den Anrainerstaaten des Mittelmeers zählt. Das Land ist Mitglied der Vereinten Nationen, der
NATO, der CEFTA, der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation, der Organisation der Islami-
schen Konferenz, Teilnehmerstaat der OSZE, des Europarates und des Kooperationsrates für
Südosteuropa. […]“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Albanien, zuletzt eingesehen am 23.03.2016)
  4 http://www.aberwitzig.com/witze-41.htm, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
  5 Wag the dog (USA 1997, Regie: Barry Levinson, Drehbuch: Larry Beinhart, u. a. mit Robert de
Niro, Dustin Hoffman). Nur ein Jahr nach dem Kinostart wird der Inhalt der Satire schon öffent-
lich als reale Möglichkeit diskutiert. Nicht nur wird ein Hollywood-Stuntman als Trainer ameri-
kanischer Elite-Soldaten berufen, in den Medien beginnt man auch über das zeitliche Zusam-
menfallen der Lewinsky-Affäre Präsident Clintons mit ersten Bombardements des Irak durch die
Vereinigten Staaten nachzudenken. Es dauert weitere fünf Jahre, bis ein Hollywood-Kamera-
mann in einem Krieg ‚Regie führt‘: Im dritten Golfkrieg verpflichtet das Pentagon einen ehemali-
gen Assistenten von Ridley Scott aus der Kriegsfilm-Produktion Black Hawk Dawn (2001) für die
medienwirksame filmische ‚Dokumentation‘ der Rettungsaktion der Soldatin Jessica Lynch im
Irak.
  6 In den Jahren der Diktatur zwischen 1944 und 1985 verfolgt Hoxha, anders als andere kommu-
nistische Ideologen, keine internationalistische, sondern eine zunehmend nationalistische Dokt-
rin. Er sucht wechselnde Partner, an denen er nur eine begrenzte Zeit festhält. Nach dem Jugosla-
wien Titos wird Russland zum engen Verbündeten. Dem Bruch mit Russland folgt eine Partner-
schaft mit China. Beide Mächte hinterlassen Spuren in Albanien, die bis heute wirken. Russische
Fachleute und Technologien ermöglichen die Trockenlegung der inneralbanischen Sümpfe, die
wegen ihrer ökologischen Auswirkungen etwa auf endemische Arten der Sumpflandschaft um-
stritten, aber für die Entwicklung der heutigen Landwirtschaft unverzichtbar ist. In der Zeit der
Zusammenarbeit mit China entstehen mittlerweile vielfach stillgelegte Fabriken, die mit Hilfe
chinesischer Ingenieure und nach technischen Standards damals schon veralteter Ersatzteile auf-
gebaut werden. Überdurchschnittlich viele Albaner sprechen heute noch Chinesisch. In den

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Nachworte 311

heblichen Teil seiner eigenen Bevölkerung in politische Haft bringt.7 Ich lese, dass
Religionen, Umzüge und Privatautos verboten waren. Ich lese über 600.000 pilz-
förmige Bunker, in die ein ganzes Land im Fall eines (nie erfolgenden) Angriffs
evakuiert werden soll.8 Man versucht seit Hoxhas Tod 1985 und dem Systemwech-
sel 1990/91 immer wieder sie loszuwerden. Anwohner überhäufen die Betonhüllen
mit alten Autoreifen, um sie durch die Hitzeentwicklung im extremen albanischen
Sommer zum Platzen zu bringen. Die neue Regierung, lese ich anderswo, setzt
T59-Panzer als Abrissfahrzeuge ein. Heißt es. An der Wand meines Ateliers hängt
ein Zeitungsausschnitt. Ein Bild des planierten Geländes, auf dem früher in Berlin
der Palast der Republik gestanden hat. Es erscheint am Tag nach der Beendigung
der Abrissarbeiten in einer Berliner Tageszeitung mit der Bildunterschrift „Der Pa-
last ist Geschichte“.9 Die Bunker sind demnach nicht Geschichte. Sie sind noch da.
Auf Feldern, an Stränden, Vorgärten. Das behaupten Bilder, die ich finde. Bilder
von Feldern und Bunkern, Stränden und Bunkern, Vorgärten und Bunkern. Die
artifiziellen Pilze bilden Teile von Mauern oder Gebäuden. Auf öffentlichen Plät-
zen, Verkehrsinseln, Flughäfen. Davon erzählen die Geschichten und Geschichts-
überblicke, die ich lese. Ich lese von einer Welle der Emigration aus Albanien in
Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und geradezu anarchistischen Gesell-
schaftszuständen in den Jahren seit dem Regimewechsel. Plötzlich treffe ich auf
meinen Reisen überall Albaner. In Griechenland, der Schweiz, Frankreich, in
Deutschland, Belgien, UK oder Italien.10 Oft sind es alte Bekannte, von denen ich

1980er Jahren bricht Hoxha endgültig mit allen Partnern. Seit dem Ende seines Regimes gibt es
Anknüpfungen an einige der alten Beziehungen. So bildet der Schrott-Export nach China, um
den dortigen wachsenden Rohstoffbedarf zu decken, einen wichtigen Faktor der albanischen
Wirtschaft. Wegen Unstimmigkeiten mit den Zollbehörden der Europäischen Union in Südita-
lien prüft China zeitweise die Möglichkeit, Albanien als hauptsächliches Import-Eintrittsland für
chinesische Waren im Übertritt nach Europa zu nutzen.
  7 Bei der Öffnung der Gefängnisse nach dem Sturz des Regimes finden erste Besucher wie interna-
tionale Beobachter von Hilfsorganisationen und politischen Gremien extreme und schockierende
Zustände vor. Unter Hoxha gibt es unterschiedliche Formen der Inhaftierung. Ganze Familien
von Personen, die wegen versuchter Landflucht angeklagt sind, werden etwa in sogenannte ‚Inter-
nierungsdörfer‘ deportiert.
  8 Mit dem Personenkult um Hoxha nimmt seine Paranoia zu. Sie richtet sich, abgesehen von den
eigenen, masseninhaftierten Bürgern, vor allem auf „ausländische Konspiration“ durch die
NATO, aber auch auf die kommunistischen „Partner“. Er legt ein massives Verteidigungspro-
gramm auf, das für die etwa 3 Mio. Einwohner ein dichtes Netz von über 600.000 Bunkern, die
kleinste Ausführung für nur ein bis zwei Personen, überall im Land vorsieht. Sie werden zwischen
1981 und 1982 gebaut. Leitender Architekt ist Alfred Moisiu. Er wird von 2002 bis 2007 der
vierte albanische Präsident. Bereits kurz nach Ende des Hoxha-Regimes in den 1990er Jahren
hatte er zu einer pro-westlichen Politik und zum Beitritt in die NATO geraten.
  9 „Der Palast der Republik ist Geschichte“, in: Berliner Morgenpost, 03.12.2008.
 10 Die zu albanischer Diaspora vorliegenden Statistiken sind umfangreich und länderspezifisch. Die
Mehrheit der albanischen Migranten etwa in der Schweiz und in Deutschland stammt nicht aus
Albanien, sondern aus dem Kosovo. Viele kommen als Gastarbeiter in den 1970er Jahren oder
durch Familiennachzug und mit der Verschärfung der politischen Situation auf dem Balkan in
den 1990er Jahren nach Europa. Der Großteil der mehrheitlich illegalen Migration aus Albanien
selbst führt nach Griechenland und Italien. Während Griechenland und Albanien 271 km
Grenze auf dem Land verbinden – die sich überwiegend im Hochgebirge befindet und bis auf

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nun erfahre, dass sie oder ihre Eltern aus Albanien gekommen sind. Ich habe mich
vorher nie gefragt, was für Landsleute sie sind.
III. Juni 2009. Ich nehme einen Linienflug über Budapest nach Tirana. Wir
passieren die Berge im Grenzgebiet zwischen Kosovo und Albanien. Die Flughöhe
ist eher niedrig und die Luft sehr klar, so dass das Bodenrelief aus Wäldern, Felsen
und karstigen Flächen gut zu sehen ist. Keine Menschen, so gut wie keine Straßen
oder Siedlungen, einige verfallene Fabriken und Mienen. Auf meinen Knien liegen
Kartenausdrucke. Sie zeigen Schmugglerrouten, auf die ich während der Vorberei-
tung gestoßen bin.11 Ich versuche, sie mit dem abzugleichen, was ich von oben
sehen kann. Es sind vor allem ältere militärische Karten, die über open source-Ka-
näle im Internet leichter zu finden waren. Ich erinnere mich: Ich habe gelesen, dass
in dieser Gegend unter anderem der amerikanische und deutsche Geheimdienst an
der Ausbildung der Ushtria Çlirimtare e Kosovës (UÇK)12 beteiligt waren. Ich habe
online einen CNN-Bericht gesehen, in dem ein Experte der CIA vor der Kamera
nach einem mutmaßlich durch UÇK-Aktivisten verübten Attentat auf amerikani-
schem Boden viel Mühe darauf verwendet, sein Nichtwissen über die Organisa-
tion, ihre Geschichte und heutige Struktur zur Schau zu stellen. Ich erinnere mich
an seinen Auftritt als ziemlich unglaubwürdige Performance. Was nichts beweist
außer meinem eigenen Nichtwissen, das sich nur langsam verringert. Was ich jetzt
kenne, sind zum Beispiel eben jene Vermutungen, die brauchbarsten Wegkarten
der Bergregionen und detaillierte Beschreibungen dortiger Familienstrukturen
stammten aus deutschen bzw. US-amerikanischen Militär- und Geheimdienstquel-
len. Es gibt Kaffee und Sandwiches. Die Stewardessen tragen Kostüme und blaue
Blusen. Dunkles Blau, Weiß, das Rot und Grün des Logos. Mein Sitznachbar
spricht mich an. Ich habe ihn vorher nicht bewusst wahrgenommen. Ein Mann in
bräunlichem Sakko mit Hemd, etwas gedrungen, Stoppelbart. Vielleicht 45 Jahre
alt. Ich bin schlecht im Schätzen von Alter. Er entschuldigt sich, er habe nur einen

zwei offizielle Übergänge an Pässen sehr schwer zu passieren ist –, liegt zwischen Italien und Alba-
nien die Adria, die an der Straße von Otranto eine lediglich 72 km breite Passage bildet. Der ille-
gale Schiffsverkehr hat in der Hochzeit der Migration allein im albanischen Hafen Vlora zeitweise
ein Aufkommen von bis zu 200 Fahrzeugen täglich.
 11 Zu Zeiten des Embargos während des Jugoslawienkrieges (Beschluss der Vereinten Nationen vom
24.09.1994, Resolution 943 des UN-Sicherheitsrates; bzw. im Kosovo-Krieg durch Resolution
1160 des UN-Sicherheitsrates am 31.03.1998) wird auf diesen Wegen praktisch alles geschmug-
gelt: von Waffen und Zigaretten bis hin zu Toilettenpapier und Küchengeräten. Im schwer pas-
sierbaren Gelände des Berglands bilden die Schmugglerrouten auch für Militär und Geheim-
dienste eine wichtige Infrastruktur für Transport und Fortbewegung.
 12 Die UÇK – deutsch ‚Befreiungsarmee des Kosovo‘, englisch ‚Kosovo Liberation Army‘ (KLA) –
operiert nach ihrer Gründung 1994 als albanische paramilitärische Organisation im bewaffneten
Kampf für eine Unabhängigkeit des Kosovo. So uneinheitlich die Quellen zum konkreten Enga-
gement der NATO in Hinsicht auf die UÇK sind, so lässt sich feststellen, dass beide spätestens
mit Beginn des Kosovokrieges am 24.03.1999 faktisch Verbündete sind. Unter anderem über die
CIA und andere inoffizielle Kanäle wird während des Krieges eine ständige Verbindung gehalten.
Die britische SAS (Special Air Service) bildet darüber hinaus UÇK-Angehörige im Grenzgebiet
zum Kosovo aus. Die NATO stellt Kommunikationsmittel zur Verfügung, bevor die Kämpfer
über die Grenze geschleust werden.

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Nachworte 313

Blick auf meine Karten geworfen. Er fragt, was ich in Albanien mache. Ich sage,
dass ich an einem Beitrag für die Kunstbiennale arbeite. Ich frage mich, wer der
Mann ist, der sich für die halb legal beschafften Papiere in meinem Schoß interes-
siert. Wir kommen ins Gespräch. Der Mann lebt in Brüssel. Er besucht in Tirana
seine Familie. Für die Wahlen ist es ja nun zu spät, sagt er und lacht.13 Ich verstehe
nicht. Er erzählt: Als er noch in Albanien lebte, war er Mitglied von Hoxhas Leib-
garde. Kein Witz. Ich bin geschockt. Monatelang habe ich über diesen Diktator
gelesen. Ich frage nach. Nach der ersten Regierungsperiode von Sali Berisha denkt
der Mann erstmals an Flucht. Die Situation ist schwierig. Die Zeit der Pyramiden-
fonds.14 Die wirtschaftliche und politische Lage gerät außer Kontrolle. Belgien
nimmt als einziges europäisches Land pauschal Personen mit Diplomatenpass auf.
Aus seiner Zeit in der Garde besitzt der Mann einen. Über den Meerkanal zwischen
Italien und Albanien überquert er die Grenze mit anderen Flüchtlingen auf einem
Ruderboot. Er schafft es nach Belgien. Heute leitet er dort eine Firma, die Sicher-
heitsglas herstellt und einbaut. Vielfach für Banken, aber auch für andere Kunden.
Er unterstützt seine Familie in Albanien finanziell. Seit er mit seiner belgischen
Frau Kinder hat, kann er das ihr gegenüber immer schwerer rechtfertigen.15 Wir

 13 Sali Berisha, der bereits von 1992 bis 1997 Staatspräsident war, wird nach einer Amtsperiode ab
2005 im Jahr 2009 als Premierminister wiedergewählt. Seiner damit bestätigten Regierung wer-
den in der Zeit nach der Wahl zahlreiche Unregelmäßigkeiten und Brüche mit demokratischen
Wahlstandards vorgeworfen. So sollen auf den Wahllisten ihrer ehemaligen Wohnbezirke ver-
zeichnete Exilalbaner auf dem Papier ihre Stimme abgegeben haben, obwohl sie nachweislich
nicht im Land waren, was für die Stimmabgabe notwendig wäre. Dass das Wahlergebnis trotz
anders lautender Stimmverhältnisse den Demokraten (Sali Berisha) 70 Mandate und den Sozia-
listen (Edi Rama) nur 66 Mandate zuweist, geht auf eine Besonderheit des albanischen Wahlrech-
tes zurück: Nicht absolute Stimmanteile der Wahlkreise werden in Mandate umgerechnet, son-
dern es gibt eine ‚Formel‘, nach der die Stimmen in Relation zu der Anzahl beteiligter Koalitions-
partner gesetzt werden. Koalitionen können schon vor den Wahlen geschlossen werden. Eine
Woche vor der Wahl 2009 gründen sich 13 neue Parteien, alle Koalitionspartner der Demokra-
ten.
 14 Diese Fonds, die im Nachwende-Albanien nach dem Schneeballsystem den Anlegern astronomi-
sche Renditen versprechen und so massenhaft Albaner zu Investitionen bewegen, brechen schnell
zusammen und führen 1997 zum sogenannten ‚Lotterieaufstand‘. Die Ereignisse, obgleich durch
den organisierten und staatlich gedeckten Kreditbetrug ausgelöst, werden auch als Reaktion auf
den auf allen Ebenen gescheiterten Transformationsprozess gelesen. Die ein weiteres Mal trauma-
tisierte Gesellschaft Albaniens bricht auseinander. Die staatlichen Strukturen zerfallen in bürger-
kriegsähnlichen Zuständen von Gewalt und Plünderung praktisch vollständig. Mehr als 1.000
Menschen sterben. Deutschland und die USA evakuieren ihre Staatsbürger. Eine OSZE-Mission,
die durch internationale Friedenstruppen (unter Beteiligung von Griechen, Italienern, Spaniern,
Franzosen, Türken und Rumänen) unterstützt wird, beendet den Ausnahmezustand. Unter ihrer
Aufsicht finden im Juli 1997 freie Wahlen statt.
 15 In manchen Regionen Albaniens mit sehr hoher Arbeitslosigkeit basiert die lokale Ökonomie ge-
radezu auf der finanziellen Unterstützung, die im Ausland lebende Albaner an ihre Familien schi-
cken. Derzeit befindet sich dieses eingespielte System im Umbruch, weil die erste Generation der
Auswanderer zunehmend in ihre neuen Kontexte integriert ist und dort eigene Familien gründet.
Den neuen Lebenspartnern gegenüber besteht ein wachsender Rechtfertigungszwang, was die
fortlaufende Mitfinanzierung der Familie ‚zuhause‘ angeht. Für die absehbaren verheerenden
Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Lebenssituation vieler Familien in Albanien gibt es im
Land ein hohes Bewusstsein.

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314 Alexander Schellow

landen und steigen aus. Ich ärgere mich, dass ich den Mann nicht nach seiner Te-
lefonnummer gefragt habe. An der Passkontrolle für die Einreise stehe ich in einer
langen Schlange. Er auch. Er gibt mir ungefragt seine Handynummer. Ich nehme
mir vor, ihn auf jeden Fall anzurufen. Ich rufe ihn nie an.
IV. Ich erinnere mich an meine erste Fahrt nach Tirana als müde, kraftlose Erzäh-
lung einer verlorenen Wahl. An den Ausfallstraßen gibt es trotz oder wegen des
jahrelangen PKW-Verbotes Unmengen von Tankstellen und Waschsalons. Ich
werde mit dem Auto vom Flughafen in die Stadt gebracht. Edi Muka sitzt am
Steuer. Er ist der albanische leitende Kurator der Biennale. Er holt mich ab. Die
Stimmung im Auto ist depressiv. Es ist kurz nach den Wahlen, von denen schon der
Mann im Flugzeug gesprochen hatte. Viele Albaner haben sich Hoffnungen auf
einen Machtwechsel gemacht. Edi Rama, der Bürgermeister von Tirana16, trat gegen
den amtierenden Ministerpräsidenten Berisha an. Früher war Edi Rama Professor
an der Kunstakademie in Tirana. Beide Kandidaten betrieben großen Aufwand für
die Wahl. Der Kurator gehört zu den Unterstützern Ramas. Er erzählt mir, was alles
unternommen wurde, um ihm zum Sieg zu verhelfen. Umsonst. Berisha ist wieder-
gewählt, trotz umstrittener Bedingungen. Der Kurator ist mit einer Schwedin ver-
heiratet. Er lebt zeitweise in Schweden. Wir fahren am Bahnhof vorbei. Hinter ihm
sortieren auf weiten offenen Feldern mitten im Zentrum die ‚Roma‘ vor Baracken
ihre Waren. Bei der Gründung Albaniens ist Tirana ein Dorf. Ich kenne Pläne und
Fotos der sich seitdem überlagernden Architekturen. Ideologische Projektionen:
durch Österreich-Ungarn, durch die italienischen Faschisten, durch die albanischen
Kommunisten. Den Menschen sehen sie alle als Funktion in einer raumpolitischen
Maschine, die die Aufgabe hat, das jeweilige System in den Köpfen und Körpern zu
verankern. Die Geschichte Tiranas wird immer wieder neu als architektonisch ganz-
heitliche in die Vergangenheit und in die Zukunft projiziert. Schrittweise bildet sich
ein seltsamer Hybrid. Auf fast allen frühen Bildern gibt es eine unglaubliche Leere.
Als erstes entstehen der große Bulevardi Dëshmorët e Kombit17 und das Grand
Hotel Dajti. Mitten im Nichts. Ich erinnere mich an ein Foto aus den 1920er Jah-
ren, der Gründungszeit. Der Kanal, hinten die Großbaustelle des Hotels. Am Kanal
entlang läuft ein Mann mit einem Esel. Es sieht aus, als entstehe das Hotel in der

 16 Edi Rama war vor seiner Zeit als Politiker professioneller Basketballer und Künstler. Seit Oktober
2000 ist er der Bürgermeister von Tirana. Er wird für seine Eingriffe ins Stadtbild bekannt. So
lässt er die damals für ihre graue Uniformität bekannten Wohnbauten Tiranas durch Künstler als
Projekte im Auftrag der Stadt großflächig bemalen, und verändert so das Aussehen der albani-
schen Hauptstadt grundlegend. Der albanische Künstler Anri Sala dokumentiert dieses Projekt in
seinem Film Dammi I Colori (2003). Mit derartigen, unkonventionellen Methoden gelingt Rama
eine Eindämmung der illegalen Besetzung des öffentlichen Raums etwa durch überall ohne Ge-
nehmigung gebaute Kioske. Er wird für seine Leistungen mehrfach ausgezeichnet, so von den
Vereinten Nationen oder von der Internet-Community City Mayors als „World Mayor 2004“. Bei
der nächstfolgenden Wahl schließlich, am 10. September 2013, wird Rama offiziell zum Minis-
terpräsidenten Albaniens gewählt.
 17 Deutsch: Boulevard der Märtyrer der Nation. Er bildet zusammen mit dem Bulevardi Zogu I und
dem sie verbindenden Sheshi Skënderbej (Skanderbergplatz), basierend auf der ursprünglichen
Planung von Armando Brasini, die zentrale Achse in der faschistischen Stadtplanung Tiranas.

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Nachworte 315

Wüste. Auf Aufnahmen aus den 1970er und 1980er Jahren ist das Dajti umgeben von
Stadt, aber die Leere ist immer noch da. Es fehlen die Autos. Jemand beschreibt Hox-
has Politik unter anderem des Privatwagenverbots als Politik der „kleinen Radien“:
Die Menschen sind, wo sie sind, und sie bleiben, wo sie sind. Wir erreichen die Woh-
nung, in der ich während meiner Zeit in Tirana bleibe. Elmars Svekis, mein Gastge-
ber, arbeitet für die OSZE.18 Er wohnt in der Nähe des Präsidentenpalastes in einem
großen Apartmenthaus. Vor dem Präsidentenpalast stehen Wachen mit schwerer Be-
waffnung. Es ist Nachmittag. Am Abend mache ich einen Spaziergang auf dem Bou-
levard. Keine Spur von Leere mehr, Überfülle. Ein reizüberflutendes, dichtes Gewühl
aus Menschen und Fahrzeugen aller Art. Als das Autoverbot aufgehoben wird, kauft
jeder, der es sich leisten kann, einen PKW. Diese Autos sind heute alt, laut und schad-
stoffintensiv.19 Ich sehe meine Fotos wieder. Alle markanten Orte der Stadt liegen an
dieser einen Straße. Ich setze mich auf einen parkähnlichen Platz nahe dem Boule-
vard. Ein Vater will mit seinem Kind Fußball spielen. Das Kind spielt lieber mit ver-
knoteten Wurzelgeflechten, die aus dem Boden ragen. Der Vater wirft ihm den Gum-
miball gegen den Kopf, um es abzulenken. Immer und immer wieder.
V. Am nächsten Tag gehe ich ins Hotel Dajti.20 Hier wird die Biennale stattfin-
den. Ich habe viel gelesen über diesen Ort. Wie immer kenne ich bisher Texte und
Bilder. In meinem Kopf gibt es schon ein Grand Hotel: als virtuellen, fast mytho-
logischen Ort. Als politischen Ort. ‚Das Hauptquartier‘ für wechselnde Machtha-
ber. Legendär sind die früheren Überwachungstechniken im Haus. Das Dajti in
meinem Kopf hat zehn Meter dicke Wände, Böden und Decken wegen all der
Mikrofone, Kameras und Zwischengeschosse für die viel beschäftigten Spione. Ich
stehe vor einem konkreten, mittelgroßen Gebäude. Über dem Eingang ein Schrift-
zug: hotel hd dajti. Das Dajti von innen ist nicht das Dajti von außen. Das
äußere Dajti ist beinahe eingewachsen, überwuchert. Ein Pförtner bewacht es.
Trotzdem wurde seit der Schließung im Jahr 2002 immer wieder eingebrochen.

 18 Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.


 19 Nach einem Bericht des Guardian Weekly von 2004 ist Albanien zu diesem Zeitpunkt auf dem
europäischen Kontinent das Land mit der höchsten Umweltverschmutzung. Der Grund dafür ist
neben den industriellen Altlasten und der verbreiteten Praxis des Verbrennens von Müll jeder Art
der hohe Schadstoffverbrauch infolge des Anstiegs der Autozahlen. Es handelt sich vor allem um
westliche Gebrauchtwagenimporte. Wegen der schwierigen Fahrverhältnisse bevorzugen albani-
sche Käufer robuste Dieselfahrzeuge. Mercedes-Benz-Wagen alter Bauart sind auf albanischen
Straßen sehr häufig.
 20 Das Dajti ist nach dem ‚Hausberg‘ Tiranas benannt. Viele Jahre lang ist es das ‚erste Haus‘ der
Stadt und gilt zeitweise sogar als eines der besten Hotels auf dem Balkan. Es wird Anfang der
1940er Jahre von Gherardo Bosio, dem Leiter des Zentralen Bau- und Urbanistikamtes von Ti-
rana, gebaut. Bosios Architektur prägt die Struktur Tiranas entscheidend. Gio Ponti entwirft
Teile der Innenarchitektur. Dem faschistischen Bebauungsplan entsprechend, liegt das Dajti am
repräsentativen Bulevardi Dëshmorët e Kombit. Nach dem Zweiten Weltkrieg dient es kurzzeitig
als Sitz der kommunistischen Regierung. Lange ist das Hotel das einzige in Tirana, in dem auslän-
dische Gäste zugelassen sind. Ab den 1970er Jahren dürfen ausschließlich Staatsgäste und Ge-
schäftsreisende hier wohnen. Nach dem Systemwechsel verbleibt das Dajti in Staatsbesitz und
wird nach mehreren erfolglosen Versuchen, es zu verkaufen, im Jahr 2002 geschlossen. Seit 2007
steht es als ‚Kulturmonument‘ offiziell unter Denkmalschutz.

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316 Alexander Schellow

Das innere Dajti ist fast völlig ausgeschlachtet. Die Biennale hier zu veranstalten,
ist eine politische Geste. Ein Raum soll zugänglich gemacht werden, in dem ganz
wörtlich albanische Geschichte gemacht worden ist. Es gibt Pläne, ein Ministerium
hier unterzubringen. Damit wäre das Haus ein weiteres Mal geschlossen für die
Öffentlichkeit.21 Wenige Deckenleuchter haben die Plünderungen überstanden, so
wie in den verwüsteten Hotelzimmern die Einbauschränke. Dunkles, glattes Holz.
Klare, monumentale Formen. Das Gegenteil von austauschbar. Berge von Papieren
auf dem Boden. Gemusterte Tapeten. Hier und da ein zerschlagenes Tischchen,
Überbleibsel von Kleinmöbeln, die nicht für wert befunden worden sind, wegge-
tragen zu werden. Für die Ausstellung der Biennale werden die Räume im Origi-
nalzustand belassen sein, bis auf den Müll auf dem Boden. Ein Stockwerk wird für
die Öffentlichkeit gesperrt werden. Reste von Teppichböden. Mosaik-Steinböden.
In den Sälen Parkette. Ein Saal hat eine Wand aus Fenstern. Fetzen der schweren
Vorhangbordüren hängen herunter. Dahinter: ein Urwald. Allein gelassen, ist der
ehemalige ‚Botanische Garten‘ des Hotels regelrecht explodiert. Ein undurch-
schaubares Dickicht. Der Hauptspeisesaal hat Fenster an drei Seiten und hohe Flü-
geltüren an der vierten. In den Vorhängen leben Vögel. An der Decke zirkelt endlos
eine Schwalbe Ornamente in die Luft. Ich sehe ihr lange zu.
VI. Ich habe Probleme mit dem Geld.22 Ich kann die Münzen nur sehr schwer
unterscheiden. An der Kasse im Supermarkt in der Nähe der Wohnung, bei dem
ich immer mein Wasser kaufe, brauche ich ewig, um zu bezahlen. Die Kassiererin
lacht schon, wenn sie mich sieht. Ich gehe immer in dieselbe Espresso-Bar. Der
Espresso ist unglaublich billig. Ich habe mich gut vorbereitet. Zum Beispiel auf das
Zusammenbrechen von Verkehrswegen und die damit verbundenen Probleme,
sich im Land planvoll zu bewegen. Ich habe Berichte über Touristen gelesen, die
wegen unpassierbarer Straßen in den Bergen festsaßen und abseits der festen Wege
die Bekanntschaft von Wölfen und Bären gemacht haben.23 Ich habe keinen Hut
dabei. Ich trage ungern Kopfbedeckungen jeder Art, egal ob gegen Wärme oder
gegen Kälte. Am zweiten Tag in Tirana habe ich einen Kreislaufkollaps. Ein Laden-
besitzer bietet mir an, mich in seinem Hinterzimmer hinzulegen und auszuruhen.
Er gibt mir Wasser. Sogar für albanische Verhältnisse ist dieser Sommer mit über
40 Grad im Schatten extrem heiß.24 Am dritten Tag kaufe ich mir eine gebrauchte

 21 2010 wird das 2.000 qm große Gebäude schließlich für 30 Mio. Euro an die albanische Zentral-
bank Banka e Shqipërisë verkauft.
 22 Die albanische Währung ist seit 1925 der Lek (pl.: Lekë). Sie ist nicht frei konvertierbar. Die al-
banische Staatsbank (Banka e Shqipërisë) hält den Kurs gegenüber dem Euro relativ stabil. Er
bewegt sich seit der Euro-Einführung etwa zwischen 120 und 130 Lek für einen Euro. Oft ist im
Land auch die Zahlung mit Euro oder US-Dollar möglich.
 23 Tatsächlich scheinen die Wölfe nach Angaben einiger Bewohner der Bergsiedlungen um Puke
2009 auf dem Vormarsch in die wenigen Zentren der Menschen zu sein. In Gesprächen werde ich
darauf hingewiesen, dass hierfür klimatische Veränderungen und die damit einhergehende Nah-
rungsmittelknappheit für die Tiere eine Rolle spielen könnten. So sollen in den vorhergehenden
Wintern gelegentlich sogar Wolfsrudel in Stadtparkanlagen gesichtet worden sein.
 24 Durchschnittliche Werte für Tirana liegen für Juni bei etwa 29 °C, für Juli und August knapp
unter 32 °C (http://de.wikipedia.org/wiki/Tirana).

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Nachworte 317

Mütze auf dem Markt der Roma. Ich verbringe Zeit in ihrem Gebiet in der nörd-
lichen Stadtmitte hinter dem Bahnhof. In Hallen verkaufen sie hier an Ständen
Altkleider aus den Containern europäischer Sammelorganisationen, die auf Um-
wegen hier landen. Hinter dem Verkaufsbereich gibt es ein Tor. Hinter dem Tor
gibt es Wiesen. Auf diesen Wiesen werden die eintreffenden Kleider sortiert. Nach
Farben, Größen, Arten. 5000 Mützen auf einem Haufen. Die meisten Leute aus
Tirana kaufen hier ein. Außer der Mütze kaufe ich ein Paar Flip-Flops. Ich besuche
in diesen ersten Tagen Orte, von denen ich in Deutschland gelesen oder gehört
habe, darunter die alten, nicht mehr genutzten Filmstudios.25 Ein Medienzentrum
veranstaltet hier Filmabende. Die Besucher-Community ist klein, aber sehr enga-
giert. Ich sehe einen Film, der im Roma-Milieu spielt.26
VII. Klaidi ist mein Übersetzer. Seinen Nachnamen erfahre ich nicht. Er spricht
fließend Deutsch. Er hat in Österreich studiert. Irgendwann will er in Tirana öster-
reichische Musikfestspiele gründen. Klaidi tut zwei Dinge ununterbrochen. Er
redet und raucht Hasch. Er führt mich herum. Er stellt mich seinen Eltern vor, bei
denen er wohnt. Die Wohnung liegt in einem Hochhaus. Unterhalb des Hochhau-
ses gibt es eine Kneipe. Diese Kneipe ist ein zentraler Treffpunkt für die Kunst- und
Kulturszene der Stadt. Wir essen bei Klaidi. Er, seine Eltern und ich. Die Wohnung
liegt in einem höheren Stockwerk. Man betritt sie über einen sehr kleinen Flur.
Links geht es ins Wohnzimmer. Ein Fenster zeigt zur Stadt. Links die Küche. Klai-
dis Mutter kocht. Es gibt Fleisch.27 Es gibt übergroße Veloursofas. Starkfarbig. Ich
glaube, blau. Neben der Tür hängt ein Foto zwischen vielen anderen. Grausepia.
Ein Mann in der Mitte. Mit seiner Frau und vielen Kindern. Er erinnert mich an
Siegmund Freud. Wahrscheinlich liegt das am Bart. Sein Blick ist fest in die Ka-
mera gerichtet. Die Familie wölbt sich um den Mann herum. Er trägt eine Kra-
watte, die Mädchen Schleifen und weiße Kleider. Alle Frisuren sind streng. Der
ganze Raum des Bildes ist Inszenierung. Ich denke an Photoshop. Es gibt einen
einzigen unscharfen Punkt. Ein Gesicht, das sich abwendet, eine Bewegung. Dieses
nicht zu erkennende Element wirkt lebendig. Ein Junge? Ich habe einmal ein Foto

 25 Das Albanische Filminstitut, kurz darauf umbenannt in ‚Kinostudio Shqipëria e re‘ (‚Neues Alba-
nien‘) wird in den 1950er Jahren gegründet. Hier arbeiten bis zum Ende der Sowjetunion vor
allem russische Regisseure. Die erste abgeschlossene Produktion ist Skenderbeg (1952), ein Hym-
nos auf den gleichnamigen albanischen Nationalheld. Bis zu 14 albanische Filme entstehen jähr-
lich in den Studios.
 26 Über die Anzahl der Roma in Albanien gibt es keine offiziellen Angaben. Schätzungen belaufen
sich auf 90.000 bis 150.000 Menschen. Die meisten von ihnen leben in Armut. 2011 werden ihre
Siedlungen in Tirana von Unbekannten angegriffen. Etwa 120 Roma werden vertrieben und ihre
Baracken verbrannt, was Botschafter der EU und der USA zu scharfer Kritik veranlasst.
 27 Eine albanische Anekdote besagt, dass Caesars Heer in Albanien unter dem Weizenmangel gelit-
ten haben soll. Es wird damals als ein großes Zugeständnis betrachtet, das im Gegensatz zum
Getreide reichlich vorhandene Schlachtvieh zu essen. Als Belohnung für die Soldaten für beson-
dere Leistungen wird eine Verdopplung der Weizenration ausgesetzt. Das Verhältnis zu Fleisch
hat sich seitdem auch außerhalb Albaniens geändert, aber es wird in Albanien auch nach diesen
Maßstäben weiterhin viel Fleisch konsumiert. So ist beispielsweise an Straßenraststätten soge-
nannte Fleischsuppe ein Standardfrühstück. Auch „ein Teller Fleisch“ ist für den, der es bezahlen
kann, ein durchaus übliches Gericht.

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318 Alexander Schellow

auf dem Flohmarkt gekauft, das eine Schulklasse zur Zeit des Ersten Weltkriegs
zeigt. Darauf gibt es denselben blinden Fleck eines einzigen Kindes, das seinen
Blick abrupt auf etwas außerhalb des Bildes richtet. Ich habe das Foto deswegen
gekauft. Ich sehe ’was, was du nicht siehst. Ich frage Klaidi, wer auf dem Bild zu
sehen ist. Seine Urgroßeltern mit Familie. Wer der Junge ist, weiß er nicht.
VIII. Ich fahre mit Klaidi durch den Norden der Stadt. Wir sind auf dem Weg
zu den ehemaligen LPGs.28 In kommunistischen Zeiten waren sie Zentren dieser
Gegend. Wir passieren den Bahnhof, dann Lagerhallen. Hier werden Obst und
Gemüse von Großhändlern an Straßenhändler verkauft. Die Straßenhändler ver-
kaufen dann Obst und Gemüse ‚aus Privatanbau‘ auf Tüchern oder Kartons an
Passanten. Die Art der Gebäude ändert sich. Ihre Anordnung ist die einer Unord-
nung. Wuchernde Architekturen. Improvisiert, aber überhaupt nicht provisorisch.
Häuslich. Sorgfältig. Nur von ihrer Struktur her hat diese seltsame Form einer
Gartenstadt etwas mit einem Slum zu tun. Ich sehe Menschen, die sich sehr gerich-
tet durch sie hindurch bewegen. Trotz der urbanen Dichte wirkt alles fast ländlich.
Trotz Müll, städtischem Alltagsbetrieb, mächtigen Toren aus schwerem Metall, ver-
ziert, manchmal mit patriotischen Symbolen. Albanische Doppeladler.29 Nur die
Villenauffahrt fehlt. Ich möchte aussteigen und weiter laufen. Klaidi sagt mir, dass
das nicht geht. Es geht nicht, weil man sich in diesem Gebiet nicht zurechtfinden
kann. Sagt er. Man findet nicht wieder heraus. Sagt er. Auf mich wirken die Stra-
ßen nicht besonders labyrinthisch. Wege sind zwar nicht asphaltiert, aber durchaus
sichtbar. Lesbar. Nur unter Protest lässt Klaidi mich aus dem Wagen steigen. Als
ich ihn am Abend im Zentrum wieder treffe, erfahre ich, dass er und seine Kollegen
auf mein Verlorengehen gewettet haben. Am nächsten Tag gehe ich zurück in die
Gegend, in der man verloren geht. Am übernächsten Tag auch. Es werden keine
Wetten mehr abgeschlossen. Ich verlaufe mich nur dann, wenn ich auf die Karte
schaue.
IX. Ich komme mit Menschen ins Gespräch. Eine alte Frau und ihre Tochter
betreiben seit etwa 15 Jahren ein Café. Ich bin der erste Gast von außerhalb. Sagen
sie. Außerhalb meint nicht ‚aus dem Ausland‘. Außerhalb ist jeder beliebige andere
Bezirk Tiranas. Wer nicht hier lebt, kommt nicht her. Wer hier ist, lebt auch hier.
Man bleibt unter sich. Die Tochter spricht Englisch, Italienisch, Spanisch und
Französisch. Ich wundere mich nur anfangs. Zehnjährige erklären mir in fließen-
dem Englisch, dass sie „doctor“ oder „lawyer“ werden wollen.30 Die Leute bauen

 28 Albanisch: Kooperativave bujqësore të prodhimit.


 29 Der albanische Doppeladler der albanischen Nationalflagge geht auf den Nationalhelden Skan-
derberg zurück, der ihn als Siegel verwendet haben soll.
 30 Die verbreiteten Kenntnisse von Fremdsprachen in den armen Stadtgebieten stehen im Kontrast
zu drastischen Einbrüchen im Bildungssystem im Zuge der politischen Umwandlung des Landes
nach 1990. Eine Ursache mag darin liegen, dass praktisch jede Familie über emigrierte Familien-
mitglieder Verbindungen in mindestens ein anderes Land hat. Eine andere wird von Sprachwis-
senschaftlern in der isolierten Entstehungssituation der albanischen Sprache gesehen. Linguisti-
sche Untersuchungen belegen, dass das Albanische (Gjuha Shqipe /ˈɟuha ˈʃcipɛ/ oder kurz
Shqipja /ˈʃcipja/) einen eigenen Zweig innerhalb der indogermanischen bzw. indoeuropäischen
Sprachfamilie bildet. Dabei finden zahlreiche Lehnwörter aus dem Lateinischen, Altgriechischen,

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Nachworte 319

ihre Häuser mit den eigenen Händen. Sie kommen aus den nördlichen Bergregio-
nen. Dem Grenzgebiet zu Europa. Sie haben keine Architekten, aber sie haben
Ingenieure. Deshalb ist nichts nach Plan, aber fast alles statisch solide gebaut. Ihre
Wohngebiete wachsen wie ein Gürtel um das nördliche Tirana herum und breiten
sich spinnennetzartig aus. Flächenmäßig nehmen sie fast die Hälfte des Stadtgebie-
tes ein. Jemand sagt: Die „panalbanische“ Linie ist schuld. So nennen Kritiker die
Autobahn von Tirana nach Pristina. Mit großer Eile wird dieses Projekt Stück für
Stück fertiggestellt.31 Vorher bildet das alte, im Winter oft unpassierbare Straßen-
netz der italienischen Faschisten die einzige Verbindung nach Europa. Die Orte in
den Bergen entlang der alten Straßen leben davon. Heute sterben sie aus. Deshalb
bauen nun massenhaft „Nordleute“ im Norden Tiranas. In den Bergen gilt teil-
weise immer noch der Kanun.32 Die junge Generation der inneralbanischen Mig-
ranten kennt die Berge nur noch als Besucher. Ein Mann will mit mir über Fußball
reden. Er hat gemerkt, dass ich Deutscher bin. Er schickt mich zu einem anderen
Mann, mit dem ich mich besser auf Englisch unterhalten können soll. Ich unter-
halte mich mit ihm. Er fragt mich, wo ich in Tirana wohne. Mir fällt der Name der
Straße nicht ein. Er lacht. Er sagt, dass er sein ganzes Leben lang schon dort wohnt,
wo er wohnt, aber den Namen seiner Straße auch nicht kennt. Ich schaue in meiner
Karte nach und finde nur ein chaotisches Linienknäuel. Ein Bild von einem Laby-
rinth. Eine Fiktion. Wenn ich mich visuell und assoziativ im Stadtraum orientiere,
finde ich meine Wege beinahe blind. Ich frage mich, wie dieses Bild der Undurch-
dringlichkeit entstanden ist. Vielleicht werden die Fremdheit, die Vorbehalte ge-
genüber einer Lebensweise von Menschen auf die von ihnen gestalteten Räume
übertragen. Denkt sich der Tourist. Meine Mutter behauptet bis heute, dass es im
Ostteil Berlins mehr Einbahnstraßen und eine unübersichtlichere Verkehrsführung

Bulgarischen, Italienischen, Französischen, Türkischen und neuerdings auch Anglizismen in der


Sprache Verwendung.
 31 Neben ideologischer Kritik gibt es auch scharfe ökonomisch-politische Kritik an diesem Projekt
im Land. „Autobahn der nationalen Korruption“ ist ihr Spitzname in der Bevölkerung. Infra-
strukturell ist die neue direkte Autobahnverbindung bedeutend: Sie soll die Fahrzeit zwischen
Tirana und Pristina auf drei Stunden verkürzen. Auf der alten Straße benötigt man für den 130
km langen Streckenabschnitt zwischen Shkodra und der Grenze zum Kosovo sieben Stunden.
Der Bau teilt sich in drei Abschnitte: einen vom Kosovo bis nach Kukës, unterstützt durch einen
Kredit der Islamischen Entwicklungsbank, einen von Rrëshen bis Milot – von dort nach Tirana
nutzt man weiterhin eine Nationalstraße – mitfinanziert durch die Weltbank und ein 61 km lan-
ges Stück durch schwieriges Gebirgsterrain von Kalimash bis Rrëshen, das der albanische Staat
ohne internationale Hilfe tragen muss. Zur Finanzierung dient ein Kredit der griechischen Al-
pha-Bank, durch den Albanien auf lange Zeit verschuldet ist.
 32 In den nordalbanischen Bergen regelt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein der sogenannte
‚Kanun‘ das Zusammenleben – ein mündlich überlieferter traditioneller Gesetzeskodex. Das
kommunistische System ist bemüht, diese Strukturen nicht durch die staatliche Gesetzgebung zu
ersetzen, sondern sie zu modifizieren und so der politischen Ideologie anzupassen. Dies bedeutet
die gleichzeitige Konservierung und Aushöhlung der bis dahin lebendigen Tradition. Die Basis
des Kanuns bildet das Leben in der Großfamilie. Sie umfasst in der Regel drei Generationen, die
unter einem Dach mit dem ältesten Mann als Familienoberhaupt leben. Bis heute ist der Kanun,
obwohl in vielen Bereichen eher in den Hintergrund getreten, noch ein starker Motor gesell-
schaftlicher Prozesse. Das gilt besonders für den Norden Albaniens.

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320 Alexander Schellow

gibt. Ich bin in Berlin-Charlottenburg aufgewachsen.33 Tirana leuchtet. Ich stehe


auf der Dachterrasse eines Hotels in der Innenstadt. Es gibt einen Empfang mit
Politikern im Vorfeld der Biennale.34 Ich bin fünf Kilometer Luftlinie von den
Vierteln entfernt, durch die ich am Tag gelaufen bin. Ich kann sie sehen. Sie sind
unendlich weit weg.
X. Ich bitte Klaidi, mit mir in die Berge zu fahren. Solange die Straße zwischen
Shkodër und Kukës noch Hauptverkehrsachse ist, leben die Anwohner von denen,
die durchreisen. Fast 100 Jahre lang. Es gibt neben der Holzwirtschaft einige we-
nige Fabriken, die, mit veralteter chinesischer Technik betrieben, den Systemwech-
sel mehrheitlich nicht überlebt haben. Und den Schmuggel, der sich kaum noch
lohnt, seit die Grenzen offen sind für Waren. Ansonsten bildet der Durchgangsver-
kehr die Basis-Ökonomie. Die Autobahn, die teilweise geöffnet ist, sehe ich zum
ersten Mal in Tirana. Auf dem Bulevardi Dëshmorët e Kombit. Auf alten Wahlpla-
katen. Präsident Berisha wirbt mit ihr als sein Vorzeigeprojekt: die Autobahn, in-
szeniert in einem Idyll albanischer Landschaft.35 Auf einem Plakat-Hügel sitzt ein
Plakat-Albaner und schaut ins Bild hinein in die Weite. Auf die Plakat-Baustelle.
Ich glaube einige dieser Bilder schon zu kennen. Ohne Autobahn. Vielleicht hat
man sie einfach wiederverwertet. Das nächste Mal höre ich von der Autobahn. Ich
sitze mit dem Kurator Edi Muka in einem Fischrestaurant. Er erklärt mir, dass sich
die inneralbanische Migration seit dem Autobahnbau vervielfacht hat. Die Viertel,
die Berge, die Autobahn. Ein neues Bild. Neue Verbindungen. Wir nehmen die
alte: Ich fahre mit Klaidi von schrumpfendem Dorf zu schrumpfendem Dorf ent-
lang der alten Straße. Wir halten in Fushë-Arrëz.36 Ich habe über eine Fabrik aus
der Zeit von Hoxhas Partnerschaft mit China gelesen, die unter türkischer Leitung
wieder eröffnet worden ist.37 In einem Restaurant treffen wir einen Jugendlichen.
Das Restaurant hat eine spektakuläre Sicht. Man schaut über die Weite der Land-
schaft ins Tal. Der junge Mann setzt sich zu uns. Er erzählt, dass er bald wegzieht

 33 Der Bezirk Charlottenburg, seit der Neuaufteilung der Berliner Bezirke im Jahr 2001 nun ‚Char-
lottenburg-Wilmersdorf‘, liegt im ehemaligen Westteil Berlins.
 34 Eine Biennale, die sich wie die T.I.C.A.B. so deutlich als eine zivil-künstlerische Auseinanderset-
zung mit einem auch politischen Kontext versteht, steht natürlich immer und notwendig in sol-
chen Spannungsverhältnissen, die u. a. sehr konkrete Ressourcen wie Finanzierung, logistische
Unterstützung und Ähnliches betreffen. In Albanien gehen diese Konflikte zeitweise sehr weit. So
wird dem Hotel Dajti wenige Tage vor der Eröffnung der Biennale aufgrund einer politischen
Intervention im wörtlichen Sinn ‚der Strom abgedreht‘. Nur auf eine engagierte Intervention der
Schweizer Botschaft in Tirana hin können die Vorbereitungen fortgesetzt und der Eröffnungster-
min eingehalten werden.
 35 Sali Berisha will in den Wahlen 2009 die Autobahn als seine politische Leistung herausstellen.
Die Bauarbeiten werden weiter beschleunigt. Mangelhafte Bausicherheitsmaßnahmen führen
dazu, dass am 20.03.2009 ein Tunnel einstürzt. Die Baufirma versucht den Unfall mehrere Tage
lang zu verheimlichen.
 36 Fushë-Arrëz ist mit 4.650 Einwohnern die zweitgrößte Ortschaft im Kreis Puka. Diese Gegend
ist eine der ärmsten Albaniens und zugleich vom Autobahnbau mit am härtesten betroffen. Die
Patenschafts-Organisation Ora International betreibt eine ihrer Missionsstationen vor Ort.
 37 1997 wird der einstmals wichtigste Arbeitgeber des Ortes in seiner bisherigen Form geschlossen.

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Nachworte 321

mit seinen Eltern. Ich laufe durch den Ort.38 Ich gehe zu der Fabrik, wegen der ich
hier bin. Ich gehe weiter. Ich setze mich auf einen Mauervorsprung. Ich höre auf
die Geräusche. Ich fühle mich beobachtet. In dem Eingang zu einem Geschäft
etwas oberhalb von mir sitzt ein Junge auf den Stufen und beobachtet mich. Ich
schaue zurück und lächle. Der Junge reagiert nicht. Er hat einen Besen in der
Hand. Er spielt mit dem Besen. Er spielt ihn wie eine Gitarre. Er umarmt den
Besenkopf wie ein Kuscheltier. Hin und wieder betrachtet er mich. In unregelmä-
ßigen Abständen gehen hinter ihm erwachsene Beine vorbei. Jemand im Laden.
Vielleicht seine Mutter. Der Junge konzentriert sich auf sein Instrument. Als er den
Besen wie ein Gewehr anlegt, zielt er auf mich. Er versucht, den Besen senkrecht
auf seiner Hand in Balance zu halten. Er weiß, dass ich ihn anschaue. Zwischen
ihm und mir befindet sich ein Zaun. Der Zaun hat senkrechte Streben. Der Besen
pendelt zwischen ihren Linien hin und her. Der Junge verwandelt nicht den Besen
in wechselnde Gegenstände. Er entwirft wechselnde Räume mit seinen wechseln-
den Handhabungen. Er steht auf und geht in den Laden. Ich bleibe sitzen. Ich
denke nicht, dass der Junge in meinem Projekt eine Rolle spielen wird.39 Ich gehe
zurück zum Restaurant.
XI. Wir fahren bis ans Ende der Straße in Kukës. Kukës ist die Grenzstadt zum
Kosovo.40 Kukës hat einen fertigen Flughafen, der nie eröffnet wurde. Es gibt un-
zählige Gerüchte über diesen Ort. Über seine heimliche Nutzung durch das ame-
rikanische Militär. Über angebliche Nachtfluggeräusche. Ich möchte Sound-Auf-
nahmen machen. Am Tag. Der Wachmann, der den Flughafen bewacht, verbietet
es. Er kommt aus einem Dorf in der Nähe. Jeden Tag bewacht er den leeren Flug-
hafen. Wir dürfen kurz auf dem Parkplatz bleiben und durch die Fenster sehen.
Aschenbecher, Sitzbänke, Gepäcklaufbänder, alles ist da. Nur keine Menschen. Die
deutsche Firma Hochtief, sagt ein anderes Gerücht, hält das Monopol für interna-
tionalen Flugverkehr in Albanien.41 Deshalb darf der Flughafen momentan nicht

 38 In vielen kleineren Ortschaften bis hin zu Städten gibt es eine Praxis, in der sich öffentlicher und
privater Raum auf seltsame und ganz funktionale Weise verschränken: Einmal täglich, meist am
frühen Abend, wird die Hauptstraße (die oft auch die Hauptverkehrsachse durch die Ortschaften
hindurch bildet) für Autos gesperrt. Die Bewohner gehen dann einzeln und in kleinen Gruppen
auf dieser Straße spazieren. Es gibt keine Geschäfte zum Shoppen, und die Straße ist meistens so
kurz, dass man auf ihr immer wieder hin und her laufen muss. Die kollektive Bewegung, die ent-
steht, wirkt wie ein zeitlich und örtlich begrenztes Auf und Ab des ganzen Ortes.
 39 Tatsächlich rückt die später aus dem Gedächtnis rekonstruierte Sequenz des Jungen, nachdem sie
in der ursprünglichen Recherche 2009 als eine Art narrativer Kontrapunkt der Arbeit zu städti-
scher Orientierung (siehe unten) gedient hatte, schnell in das Zentrum meiner weiteren Ausein-
andersetzung mit Albanien, die schließlich in den animierten Dokumentarfilm TIRANA ein-
mündet (vgl. Anm. 58). Dessen Kernerzählung bildet der Junge.
 40 Die Geschichte der Stadt ist geprägt durch ihre Grenzlage zum Kosovo. 1999 gibt es nach den
NATO-Bombardements eine Fluchtwelle Zehntausender von Kosovoalbanern nach Kukës. Sie
fürchten die serbischen Repressionen. 160.000 Menschen treffen bis April in der Stadt ein. Eben-
falls in Kukës befindet sich seinerzeit eines der UÇK-Lager, in denen der Kollaboration verdäch-
tigte Albaner, Roma und Serben gefoltert werden.
 41 Der deutsche Baukonzern hatte in einem Konsortium mit der Deutschen Investitions- und Ent-
wicklungsgesellschaft (DEG) sowie der Albanian American Enterprise Fund (AAEF) – 2004 den

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322 Alexander Schellow

betrieben werden. Auf der Lande- und Startbahn blähen sich die Windsäcke. Wir
fahren auf der Autobahn zurück nach Tirana. Sie ist zwar eröffnet, aber nicht wirk-
lich fertig. Wir müssen immer wieder auf andere Straßen ausweichen. Auf einer
Verkehrsinsel steht ein Esel. Jemand hat auf ihn den Namen edi rama geschrieben.
Klaidi erzählt mir, dass es sich um Anti-Werbung für den Ministerpräsidentschafts-
kandidaten Rama von Berisha-Anhängern handelt: Esel, mit dem Namen edi rama
versehen, die auf Verkehrsinseln stehen. Diesen hier hat man offenbar vergessen.
XII. Auf meinen Wegen durch die nördlichen Viertel Tiranas lerne ich einen
Fensterbauer kennen. Schon der zweite Albaner, der mit Glas handelt, nach mei-
nem Sitznachbarn im Flugzeug. Der Fensterbauer ist ein schmaler Typ. Vielleicht
25 Jahre alt. Vielleicht noch jünger. Ein Kind bringt mich zu ihm. Sein jüngerer
Bruder. Er will unbedingt, dass wir uns kennenlernen. Er gehört zu einer Gruppe
von Kindern, die mir auf meinen Rundgängen regelmäßig irgendwo im Gebiet
begegnen. Der Fensterbauer hat in England studiert. Jetzt führt er das Geschäft
seines Vaters. Man betritt das Werkstattgelände über eine Toreinfahrt. An Tischen
arbeiten zwei oder drei Leute. Sie schneiden Glas und setzen es in Holzrahmen ein.
Der Fensterbauer bietet mir Tee an und Wasser. Er nimmt sich Zeit für mich. Er
erzählt mir von seiner Arbeit, wie er die Fenster baut und wie er sie einsetzt. Es gibt
einen enormen Bedarf an Fenstern, sagt er.42 Er philosophiert über Ökonomie. Die
spezielle regionale Ökonomie des Nordens, die wie so Vieles hier den Familien-
strukturen folgt, ist weder kapitalistisch noch kommunistisch, sagt er. Sie basiert
weder auf dem Prinzip des Mehrwerts und der Konkurrenz noch auf der Überzeu-
gung, dass die Dinge allen gehören. Es gibt einen sehr starken, nur eben anders
reglementierten und organisierten Besitzbegriff.
XIII. In Durrës43, der Hafenstadt neben Tirana, treffe ich Vlash Muka. Vlash
Muka ist der Vater von Edi Muka, der für mich übersetzt. Vlash Muka ist Archi-
tekt. Er ist 79 Jahre alt. Er trägt einen grauen Pullunder, den er während unseres
Gespräches auszieht. Sein Hemd hat kurze Ärmel. Er zeichnet nachträglich Bau-
pläne für die ohne Genehmigung gebauten Häuser in den nördlichen Stadtgebie-
ten. Seine Auftraggeber sind die Bewohner der Häuser. Zu kommunistischer Zeit
hat Vlash Muka für eine staatliche Behörde gearbeitet. Er wohnt in einem kleinen
Haus mit Garten. Studiert hat er in Moskau. Viele Albaner, erzählt er, werden
während Hoxhas Partnerschaft mit Russland dort ausgebildet. Dem politischen
Bruch folgt eine chaotische Rückholaktion.44 In Hörsälen in Tirana gibt es Veran-
staltungen zur Identifizierung herrenloser, aus Russland abtransportierter Gepäck-

Zuschlag für den Bau, sowie einen 20-jährigen Konzessionsvertrag für den Betrieb des Tiraner
Flughafens Mutter Teresa erhalten.
 42 Fenster und Tore haben in den informellen Siedlungen der albanischen Städte in der Tat eine
große und sichtbare Bedeutung. In einem Kontext, der so stark durch eine Auseinandersetzung
mit der Frage privaten/öffentlichen Raumes geprägt ist, scheint diese Beobachtung auch einen
symbolischen Aspekt zu haben.
 43 Auch Albaniens zweitgrößte Stadt Durrës wächst, wie Tirana, insbesondere in östlicher Richtung
durch informelle Besiedlung vor allem inneralbanischer Migranten.
 44 Vgl. Anm. 6.

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Nachworte 323

stücke. Jemand hält sie hoch, auf dass sich der rechtmäßige Besitzer findet. Vlash
Muka zeigt mir die Pläne, die er von Bauten in den illegal gewachsenen Stadtvier-
teln anlegt hat. Sein PC ist alt und kastenförmig. Er arbeitet mit der Software
Auto-CAD.45 Die Programm-Struktur basiert auf der geometrischen Konstruktion
von geraden Achsen, Parallelen und 90 Grad-Winkeln. Nichts davon erfüllen die
Häuser, die in diesem Fall vermessen werden. Nicht die Mindest-Materialdicken.
Nicht die Mindest-Abstände. Die Details jeder einzelnen schiefen Wand zu erfas-
sen, sagt Muka, ist unmöglich. Doch behauptet man einfach, die Wand ist gerade,
addieren sich diese Fehler zu Folgefehlern, und am Ende verschwinden so ganze
real existierende Straßenzüge von der entstehenden Karte. Vlash Muka hat ein ver-
schmitztes Lachen, bei dem er kaum ein Geräusch von sich gibt. Der einzige Weg
ist ein Kompromiss zwischen baurechtlichen Anforderungen und vorhandenen
Bauten, der weder vom einen noch vom anderen zu stark abweicht. Vlash Muka
konstruiert mögliche Häuser. Er rekonstruiert eine Planung, die nie stattgefunden
hat. Sie bildet die Basis für eine pragmatisch orientierte Stadtpolitik, denn die
künftige Legalisierung ist unumgänglich. Derzeit, sagt er, ist ein großer Teil Tiranas
nicht einmal illegal, denn ihm fehlt jeder legale Status. Wenn Vlash Muka redet,
bewegen sich seine Hände ununterbrochen, ohne dass er gestikulierend das unter-
streicht, was er sagt. Sie spiegeln sich in dem Glastisch, an dem wir sitzen.
XIV. Elmars Svekis arbeitet für die OSZE. Er leitet eine Abteilung, die die Eta-
blierung demokratischer Strukturen in Albanien voranbringen soll. Auch in Hin-
blick auf eine EU-Bewerbung.46 Ich wohne in seinem Gästezimmer mit Schränken
an beiden Seiten. In den Schränken hängen seine Anzüge. Das Bad ist links neben
meinem Zimmer und mit ihm über einen umlaufenden Balkon verbunden. Von
hier aus sieht man die absolute Dunkelheit der Stadt während der Stromausfälle.
Der Strom fällt oft aus.47 Jeder hat Kerzen in der Wohnung. Es gibt eine Einbau-
küche. Demokratische Strukturen, sagt Elmars, sind nur möglich, wenn eine Per-
son einem Ort im Land zugeordnet werden kann.48 Jeder Bürger braucht den glei-
chen Zugang zu Information, die gleiche Möglichkeit zu wählen. Nötig ist dazu ein
funktionierendes Adresssystem. Straßen brauchen einen verbindlichen Namen,

 45 Auto-CAD, die mit über 3 Mio. Lizenzen seinerzeit weltweit meistverkaufte CAD-Software, ist
ein vektor-basiertes Zeichenprogramm, das auf einfachen geometrischen Objekten aufgebaut ist.
 46 Der 2009 beantragte Beitritt zur Europäischen Union wird von einer großen Mehrheit der alba-
nischen Bevölkerung gewünscht – dies nicht zuletzt wegen der Hoffnung auf vereinfachte Visa-
Prozeduren. Auch ohne einen Beitritt werden die Einreisebestimmungen für Albaner in die EU
2010 gelockert. Für das Passieren der Schengengrenze brauchen sie ab dieser Zeit nur noch einen
biometrischen Pass.
 47 Die Stromausfälle sind das Symptom einer Energie-Unterversorgung. 1995 ist Albanien noch
Stromexporteur und produziert fast 80 % seiner Energie mit Wasserkraftwerken. Der dramati-
sche Anstieg des Bedarfs führt jedoch zu einer derartigen Verknappung in der Energieversorgung,
dass es am 16.01.2008 einmalig sogar zu einem landesweiten Zusammenbruch des Stromnetzes
kommt.
 48 Der Politikberater, der ursprünglich mit wesentlich weniger pragmatischen Aufgaben als der Er-
arbeitung eines Adresssystems in die Region geschickt worden war, beschreibt diese Einsicht als
das Ergebnis eines langsamen persönlichen Erkenntnisprozesses angesichts der konkreten albani-
schen Situation und seines Auftrags der Mitarbeit bei der Demokratisierung.

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Häuser eine verbindliche Nummer. Elmars arbeitet vom Büro aus mit Hilfe von
Luftaufnahmen. Zu klären ist: Was ist wo überhaupt eine Straße? Wo hört ein
Haus auf und wo fängt ein anderes an? Erfassungsgesten zwischen Ermöglichung
und Kontrolle.49 Elmars betritt die Gebiete, die er bearbeitet, nicht. Er weiß nicht,
was die Leute, die eine neue Adresse bekommen, davon halten. Er weiß, dass die
Lokalpolitiker stolz darauf sind. Er versucht, mit der regionalen Verwaltung zu-
sammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass die neuen Namen der Straßen auch
angenommen werden. Nach der albanischen Tradition wird ein Ort nach der dort
ansässigen Familie benannt. Straßen haben oft so viele Namen, wie Familien in
ihnen wohnen. Es ist unmöglich, sich auf einen zu einigen. In den illegal gebauten
Siedlungen hängt der Postbote handgeschriebene Plakate aus, damit die Empfän-
ger ihre Sendungen bei ihm abholen. Ein Team von Sprachwissenschaftlern wird
beauftragt, eine Liste ‚neutraler‘ Namen für Straßen zu entwickeln. Elmars kommt
aus Lettland und ist Mitte Dreißig. Er kennt alle Bars und guten Restaurants in der
Stadt.
XV. Ich plane, einen Comic über meine Wege durch die nördlichen Stadtviertel
zu zeichnen. Ich finde eine Wegkreuzung mitten in dieser Gegend nahe einer LPG,
die die Taxifahrer in Tirana kennen. So muss ich nicht jedes Mal den ganzen Weg
von der Innenstadt laufen. Das erhöht meinen Bewegungsradius vor Ort. Auf der
Kreuzung stehen alte Sessel herum.50 Wenn jemand meiner Bekannten von der
Biennale mich begleiten will, sage ich: Fahre mit dem Taxi zu der LPG. Da sitze ich
dann auf einem Sessel. Die Straßen, die sich kreuzen, haben vielleicht Namen, aber
kein Taxifahrer kennt sie. Wenn ich durch den Bezirk laufe, grüßen mich die Leute.
Ich bin eine Seltsamkeit, die immer wiederkommt. Das Adressbuch meines Han-
dys füllt sich mit Nummern ‚für alle Fälle‘. Meine Wahrnehmung verändert sich.
Der Stadtraum, durch den ich mich bewege, ist meinem Körper nicht mehr fremd.
Ich orientiere mich nach anderen Kriterien. Automatisch. Ich übertrete seltener
ungewollt die Grenze zwischen meinem und dem Raum der Anderen. Ich ent-
scheide, dass ich keinen Comic zeichne. Ich werde mein Orientierungsverhalten
und seine Veränderungen auf meinen Wegen durch Tirana-Nord aus zeitlichem
Abstand in Berlin im Atelier zeichnerisch rekonstruieren. Ich werde Wahrnehmun-
gen aufzeichnen, an die ich mich erinnere.51 Ich systematisiere mein Gehen. Ich

 49 Die Schwierigkeiten hierbei waren und sind erheblich. 2009 ist nach mehreren Jahren Arbeit erst
etwa die Hälfte des Landes abschließend erfasst. Elmars Svekis hat Albanien mittlerweile verlas-
sen. Er arbeitet seit 2011 als Projektleiter in Pristina an der Entwicklung und Implementierung
vergleichbarer Verfahren für den Kosovo.
 50 Wird unter den Kommunisten das Konzept des privaten Raums praktisch ausradiert, machen die
Menschen nach dem Systemwechsel den öffentlichen Raum nun zu ihrem, wo immer es geht:
überall in Tirana, von größeren Bauten bis hin zu den sogenannten Kiosken, auf Plätzen, Straßen
und in Parks. Diese starke Gegenreaktion der unmittelbaren Nachwendezeit schwächt sich jen-
seits der informellen Siedlungen allmählich ab, unter anderem durch die stadtpolitischen Inter-
ventionen des Bürgermeisters Edi Rama, vgl. Anm. 16.
 51 Ich interessiere mich in meiner Arbeit für solche Fragen. Jeder denkbare Raum, mit dem wir uns
beschäftigen können, stellt schon eine komplexe und in sich selbst relationale Konstellation ver-
schiedener Aspekte dar. Der so gebildete ‚Kontext‘ entfaltet sich zwischen einer ihm eigenen Ma-

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Nachworte 325

setzte mir jeweils einen fixen Startpunkt, kreuze Tirana-Nord und verlasse es wie-
der an je unterschiedlichen Seiten. Die Wege dauern vier bis neun Stunden.52 Ein-
und Austrittspunkt markiere ich in Karten.
XVI. Februar 2008. Ich unterrichte an der Metropolitan University in London.
Eine gemischte Gruppe. Manche wollen Architekten werden, andere Künstler, wie-
der andere Designer. Eine Übung: Gehe eine überfüllte Straße entlang und rekon-
struiere, was Du wahrnimmst, aus dem Gedächtnis. Gehe dieselbe Straße entlang
mit einem randvollen Glas Wasser in der Hand, ohne etwas zu verschütten und
rekonstruiere, was Du wahrnimmst, aus dem Gedächtnis.53
XVII. Januar 2012. Ich schreibe an einem Text für eine Publikation mit dem
Titel Geteilte Gegenwarten. Kulturelle Praktiken von Aufmerksamkeit. Ich schreibe:
„Wenn ein urbaner Mythos wie der des ‚Labyrinths‘ Tirana-Nord in einer kollekti-
ven Projektion eigentlich soziale Ausschluss- und Zurückweisungsmechanismen als
Fiktion räumlicher Orientierungslosigkeit auf gebaute städtische Architekturen
bezieht, ist es dann nicht umgekehrt möglich, in einer Reflexion ebensolcher kon-
kreter Orientierungsvorgänge im Stadtraum derartige soziale Aufteilungen nicht
nur in einem bestimmten Rahmen zu dokumentieren, sondern de facto als ästheti-
sche Struktur zu bearbeiten?“ Ich mag keine rhetorischen Fragen. Aber ist es eine?
Ich glaube nicht. Jedenfalls ist sie zu lang. Ich mag auch keine Fußnoten.54 Ich bin
unzufrieden. Ich stelle mir einen Text wie einen Raum vor. Verschachtelt. Ge-
schichtet.
XVIII. August/September 2009. Drei Monate nach meinem Aufenthalt in Alba-
nien. Ich sitze im Atelier in Berlin. Ich zeichne. Ich lokalisiere einen ‚Zeitpunkt‘ als

terialität und der darin eingebetteten Wahrnehmung. Beide hängen voneinander ab. Zusammen
realisieren sie die Bedingungen, die die Art und Weise bestimmen, wie die/eine Welt sich im je-
weiligen Zusammenhang konstituiert, beispielsweise durch eine momentane Ausrichtung oder
Fokussierung der Sinne, durch eine Aufmerksamkeitsverschiebung. Oder: Sie zeichnen die
Grenzlinien, die unsere Möglichkeiten wahrzunehmen und zu handeln leiten, beeinflussen und
limitieren. Jede Frage der Analyse von räumlichen Verhältnissen erscheint so immer zugleich als
eine ästhetische und politische.
 52 Die Dauer und grundlegende Informationen, etwa zur Temperatur oder zu besonderen Ereignis-
sen, notiere ich jeweils unmittelbar nach jedem Weg.
 53 Wie können derartig komplexe und zugleich subtile Verhältnisse wie die der Wahrnehmung do-
kumentiert und reflektiert, also Teil einer Untersuchung werden, die einen je konkreten Raum
bearbeitet? Gibt es zwischen den Vorgängen von Dokumentation und Reflexion nicht eine un-
überbrückbare Lücke, weil im Moment der Dokumentation bereits die Reflexion zwangsläufig
einsetzt – was wiederum eine Beobachtung von un- oder halbbewussten Wahrnehmungsvorgän-
gen unmöglich machen würde – und weil umgekehrt eine Reflexion ohne die Basis der Beobach-
tung und Dokumentation nicht objektiviert, nicht kommuniziert werden kann? Ist das hier ent-
stehende Wissen, wenn man von ‚Wissen‘ sprechen will, nicht notwendig strukturell implizit, das
heißt – (heißt es das?) – nicht ‚fassbar‘? Meine Zeichenpraxis macht den Versuch, die subjektiven
Aspekte der Handhabung von Räumen zum entscheidenden ‚Instrument‘ einer Recherche zu
machen.
 54 Es geht um das Verhältnis eines konkreten raumzeitlichen Zusammenhangs und der möglichen
Materialität eines Wahrnehmungsraumes mit den sich in ihn einschreibenden sozialen Verhal-
tensweisen und politischen Normierungen einer je ortsbezogenen singulären gesellschaftlichen
Wirklichkeit.

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326 Alexander Schellow

Auslösemechanismus. Ich tauche die Spitze des Pinsels in die Tusche. Meine Hand
sucht mit zwischen Mittelfinger und Daumengelenk senkrecht gehaltenem Pinsel in
der Fläche nach dem Ort für die Setzung des ersten Flecks. Ich rekonstruiere fünf
Wege durch Tirana-Nord aus dem Gedächtnis. Ich zeichne Querschnitte durch mein
Sehfeld beim Laufen.55 Keine Überblicksdarstellungen. Keine Karten. Keine sche-
matischen Skizzen. Ich zeichne die Nachbilder meiner visuellen Aufmerksamkeits-
verteilung. Manchmal kommt dasselbe ‚Bild‘ an verschiedenen Orientierungspunk-
ten eines Weges vor. Gabelungen, Wendungen. Wo Wegmarken, Schatten oder
Bodentexturen Richtungsentscheidungen beeinflusst haben könnten. Ich zeichne
auf Transparentpapier. Zwischen 500 und 600 Zeichnungen pro Weg.56 Meine
Augen beobachten die Bewegung meiner Hand. Der äußere Handballen streift leicht
auf der Oberfläche des Papiers. Er hält den Kontakt zur Fläche. Die Ränder des
Formates sind über die Haltung meines Körpers und die Position meiner Hand spür-
bar, ohne dass ich sie sehe. Es stellt sich eine Assoziation her zwischen dem Bewusst-
sein der Hand, ihrer Position in Bezug auf das Spannungsgefüge des sie umgebenden
Formates, und der im Gedächtnis vorgehaltenen punktuell konstruierten Erinne-
rung, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht Bild ist. Diese Assoziation stellt sich als
eine körperliche und nicht als bloße Analogie her. Meine Hand verlangsamt ihre
Bewegung über einer bestimmten Position auf der ‚Karte‘ des Papiers. Der senkrecht
gehaltene Pinsel senkt sich bis auf einen Punkt sehr dicht über der Papieroberfläche.
IXX. Jeden Weg binde ich zu einem Buch. Wegen des Transparentpapiers muss
man die Seiten anheben, um sie richtig zu sehen. Sonst sieht man immer mehrere
Zeichnungen gleichzeitig. Die Bilder überlagern sich. Ich finde keinen Buchbinder,
der meinen Auftrag annehmen will. Alle sagen, dass Transparentpapier zu stark mit
der Luftfeuchtigkeit arbeite, um in dieser Menge gebunden zu werden. Ich bin spät
dran. Ein Buchbinder erklärt sich doch bereit, allerdings nur, wenn jeder Weg auf
zwei Bücher aufgeteilt wird. Er bindet ein Buch verkehrt herum. Beim Verschicken
nach Albanien zur Eröffnung der Biennale deklarieren wir ein Buch versehentlich
nicht korrekt. Ich bin schon in Tirana. Die Sendung bleibt beim Zoll hängen. Je-
mand von der Biennale fährt jeden Tag hin und verhandelt. Erst kurz vor der Ver-
nissage wird das Paket freigegeben. Ich zeige die Bücher im Grand Hotel Dajti
offen und nicht gesichert. Ich werde gewarnt vor den Risiken. Ich will, dass man
die Bücher selbst in die Hand nehmen kann. Ich sehe niemanden aus Tirana-Nord

 55 Basis meiner Arbeitsweise ist ein Verfahren des Zeichnens mit Tusche oder Filzstift ‚Fleck um
Fleck‘, das auf der Anlage von Fleckenstrukturen in einem gegebenen Format basiert. Jedes Setzen
eines weiteren Flecks bedeutet gleichzeitig das Hinzufügen von Information und die Re-Interpre-
tation der gegebenen Fleckenstruktur aus einer neuen Perspektive. Das aus der Erinnerung rekon-
struierte Bild ist das Resultat der Oszillation zwischen diesen Funktionen der Addition und der
Interpretation. Die so erreichte Einschreibung eines Prozesses des Erinnerns ist damit mehr eine
Realisierung als eine Repräsentation des Erinnerten. Durch die praktisch unzählige Wiederholung
des Pendelns zwischen der Betrachter- und der Produzentenposition ‚wächst‘ anhand eines kon-
kreten Eintrittspunktes – sagen wir: eines Erinnerungsanlasses (eines Geräusches, einer Bewegung)
– etwas aus der Fläche heraus, das so im Kopf des Zeichnenden vorher nicht vorhanden war.
 56 Verteilt auf vier bis neun Stunden pro Weg ergibt das eine vergleichsweise geringe zeitliche
Dichte.

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Nachworte 327

auf der Eröffnung. Ich habe die Leute, die ich getroffen habe, immer wieder einge-
laden, zur Ausstellung zu kommen. Ich bin nicht überrascht. Es sind 3.000 Men-
schen da. Während der Vernissage wird eines der Bücher gestohlen. Die zweite
Hälfte des dritten Weges. Es ist nicht das verkehrt herum gebundene.
XX. April 2011. Ich werde von der Regisseurin Claudia Bosse zu einem Vortrag
nach Wien eingeladen. Es geht um den Begriff der ‚operativen‘ Subjektivität. Ich
spreche über meine Zeichenpraxis. Ort der Veranstaltung ist ein leer stehender,
ehemaliger Verwaltungsbau. Ich spreche über die Tirana-Recherche, die ich gegen-
wärtig mit der Entwicklung eines zeichnerischen Archivs, einer Serie von Installa-
tionen57 und einem animierten Dokumentarfilm58 fortsetze. Im Vortragstext sage
ich: „Ich werde 2009 nach Tirana eingeladen werden, um dort ein Projekt zu reali-
sieren. Ich werde am 19. April 2011 in Wien sein. Ich werde dort vor und mit 56
Personen zu methodischen Fragen bei der Realisierung eines Projektes reflektie-
ren.“ Monate nach dem Vortrag rekonstruiere ich im Atelier Ansichten der Räume,
in denen er stattfand. Auf einer Zeichnung taucht ein alter Schriftzug auf. „Militär-
geographisches Institut“ steht an der Wand. Ich nehme ihn erst jetzt bewusst wahr.
Ich erinnere mich an etwas, das ich gelesen habe. Ich blättere in meinen frühen
Recherche-Unterlagen von 2009. Die ersten Planzeichnungen Tiranas im frühen
20. Jahrhundert, kurz nach der Gründung der albanischen Nation, werden genau
hier, in diesen Räumen angefertigt.

3.

Wir befinden uns nun auf Seite 327. Auch sie ist ein wenig dicker. Vielleicht haben
Sie es erwartet? Lesen Sie das Wort ‚Aufmerksamkeit‘ auf Seite 102 noch einmal.
Können Sie sich erinnern?
Konstanz, Januar 201259

Quellen
http://www.aberwitzig.com/witze-41.htm, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
„Albanien“, http://de.wikipedia.org/wiki/Albanien, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
Black Hawk Dawn (USA 2001, Regie: Ridley Scott, Drehbuch: Ken Nolan).
Dammi I Colori (Video, Albanien 2003, Regie: Anri Sala).

 57 U. a. 2012 in Le Fresnoy, Lille, im Rahmen einer Ausstellung, die eine Bestandsaufnahme heuti-
ger animationsfilmischer Praxen versucht (Visions Fugutives. Du Dessin Animé aux Images de Syn-
thèse, Februar-April 2012, kuratiert von Marie-Thérèse Champesme und Pascale Pronnier).
 58 TIRANA (animierter Dokumentarfilm, SW, 26 min, Produktion: Films de Force Majeure (FR),
index.film (DE), catalogue du sensible (FR), September 2012).
 59 Der Logik des vorliegenden Textes entsprechend geben alle Angaben in Text und Fußnoten ein
Bild des Zeitpunktes der Verfassung des Textes wieder. Die schnelle Entwicklung des Landes
bringt es mit sich, dass viele der genannten Ereignisse und Personen seit 2012 eine erhebliche
Veränderung durchlaufen haben, auf die hier nicht eingegangen wird.

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„Der Palast der Republik ist Geschichte“, in: Berliner Morgenpost, 03.12.2008.
Skenderbeg (Albanien/Russland 1953, Regie: Sergej Jutkewitsch, Drehbuch: Mikhail Pa-
pava).
„Tirana“, http://de.wikipedia.org/wiki/Tirana, zuletzt eingesehen am 23.03.2016.
TIRANA (Frankreich/Deutschland 2012, Regie und Drehbuch: Alexander Schellow).
Wag the dog (USA 1997, Regie: Barry Levinson, Drehbuch: Larry Beinhart).

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