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Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder.

In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder ...“

Erziehung und Verführung durch Lieder


Stefanie Stadler Elmer

Zusammenfassung

Musik soll den Charakter bilden, die Intelligenz und soziale Kompetenz steigern. Ein Einblick in
die Geschichte der Singkultur zeigt, dass diese Aussagen in dieser Form nicht stimmen. Um die
Rolle der Musik in einer Gesellschaft zu verstehen, braucht es eine Analyse der Funktionen des
Singens, denn Singen ist die einfachste und am meisten verbreitete Art des Musizierens.
Gemeinsames Singen erzeugt Gefühle der Zugehörigkeit. Diese erhöhen die Bereitschaft, sich mit
den Werten der Gruppe zu identifizieren. Lieder Singen wurde seit jeher verwendet, um Werte zu
vermitteln (in Religionen, Politik, Erziehung), um Menschen zu vergemeinschaften und um
Identität zu stiften. Musik verbindet innerhalb der Gemeinschaft und grenzt aus gegenüber
Nichtmitgliedern. Musik ist nie neutral, denn sie steht stets im Rahmen einer Tradition und
symbolisiert Werte. Gebrauch und Missbrauch liegen nahe beieinander.

1. Einleitung: „... böse Menschen haben keine Lieder.“1

Die Idee ist alt: Die Staatsheorie bei Platon und Aristoteles enthält die Lehre von der
Charakterbildung durch die Musik.2 Werden die Menschen durch das Singen von Liedern
moralischer und gar humaner und kultivierter? Ist Musik tatsächlich ein Königsweg, um bei den
Menschen Intelligenz, Toleranz und Sozialkompetenz zu steigern, wie dies in den letzten 15 Jahren
oft behauptet wird oder gar als bewiesen gelten soll.3

Ja und nein. Das Spiel mit Klängen und Lauten hat seit jeher im Zusammenleben der Menschen
eine grosse Bedeutung. Beispielsweise lassen Studien vermuten, dass die Anfänge der vokalen
Kommunikation dem heutigen Singen ähnlich waren. Daraus entwickelte sich allmählich das
Sprechen.4 Angesichts der langen Geschichte menschlichen Musizierens ist es unangemessen, wenn
die heutige Musikerziehung ihre Daseinsberechtigung dadurch begründen will, dass auf
zeitgemässe Tugenden verwiesen wird. Zu anderen Zeiten galten andere Tugenden, die der Musik
zugeschrieben wurden. Tugenden sind daher keine überzeugenden Begründungen. Es sind Irrwege
oder Labyrinthe. Ein Ausweg besteht darin zu klären, welches die Funktionen sind, die das
Musizieren oder Singen für die Menschen haben kann. Dieser Beitrag kann lediglich eine Richtung
angeben, in welche zukünftige Überlegungen gehen sollten, und Differenzierungen anbieten, um
einseitige Zuschreibungen zu vermeiden.

1
Zu diesem Sprichwort ist im Brockhaus 2004 zu finden: „Die zum geflügelten Wort gewordene Zeile stammt aus
einem Gedicht mit dem Titel ‚Die Gesänge‘ von Johann Gottfried Seume (1763-1810). Seine erste Strophe lautet: ‚Wo
man singet, lass dich ruhig nieder,/Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;/Wo man singet, wird kein Mensch
beraubt;/Bösewichter haben keine Lieder.‘ Meist werden die erste und die letzte Zeile zusammen in abgewandelter
Form zitiert: ‚Wo man singt, da lass dich ruhig nieder; böse Menschen haben keine Lieder.‘ Der hier ausgesprochene
Gedanke ist bei den verschiedensten Dichtern bereits vor Seume zu finden. Bei Martin Luther (1483-1546) heisst es
zum Beispiel in einem Lied mit dem Titel ‚Frau Musica‘: ‚Hie kann nicht sein ein böser Mut,/Wo da singen Gesellen
gut.‘ Als Zitat ist das geflügelte Wort ein Lob des Gesangs und seiner positiven Wirkung auf die Menschen. Es bedeutet
auch: Hier, unter Menschen, die gern singen, ist gut sein.“ Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2004.
2
Helms Dietrich: Der Humanismus und die musikalische Erziehung der Frau in der Renaissance. In: Mechthild von
Schoenebek (Hg.), Vom Umgang des Fachs Musikpädagogik mit seiner Geschichte. Essen, 2001, S. 63.
3
Bastian, Hans Günther: Kinder optimal fördern. Intelligenz, Sozialverhalten und gute Schulleistungen durch
Musikerziehung. Mainz, 2001.
4
Bannan Nicholas: „Reverse-engineering“ the human voice: Examining the adaptive prerequisites for song and
language. Paper presented at the 5th ESCOM Conference, Hanover, Sept. 8-13, 2003.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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Das Singen von Liedern oder der Volksgesang ist jene Art zu Musizieren, mit der wir alle von
früher Kindheit an oder spätestens in der Schulzeit aufwachsen. Das Singen ist die einfachste Art zu
musizieren. Es setzt wenig Fertigkeiten oder Wissen voraus, und es braucht keine Materialien,
sodass alle Bevölkerungsschichten, vom Kleinkind bis zu den Betagten daran teilnehmen können.
Die Praxis des Singens ist daher ein besonders interessantes kulturelles Phänomen. Dafür lassen
sich mindestens zwei Gründe nennen:

Die Lieder, die gesungen werden, bringen zum Ausdruck, was die Menschen beschäftigt, wer sie
sein möchten, was sie verehren oder verabscheuen. Kurzum, Lieder sind kollektive Symbole für
Wert- und Wunschvorstellungen, welche mitgeteilt und miteinander geteilt werden.Die Teilnahme
an der Praxis des Singens stiftet Gefühle der Zugehörigkeit und der Gruppenidentität. Durch das
gemeinsame Singen fühlt man sich als Teil der Gruppe, und man identifiziert sich mit ihr und mit
dem Geschehen oder dem Ritual. Lieder sind Ausdrucksweisen der kollektiven Identität, welche
individuell verinnerlicht sind oder werden.

Eine übergeordnete Frage ist die von den Menschen geschaffene Kultur in ihrem Wandel. Lieder
sind ein Teil der Kultur, und die Praxis des Singens bietet Einblick in eine kollektiv und symbolisch
gestaltete Erfahrungswelt. Das Ziel dieses Beitrags ist es, allgemeine Funktionen des Liedersingens
zu beleuchten und aufzuzeigen, wie es dazu beiträgt, individuelle und kollektive Identitäten zu
stiften. Hierzu bietet ein kurzer historischer Rückblick wichtige Einsichten. Religionen, Politik,
Erziehung und andere gesellschaftliche Systeme haben sich schon immer dieses Mittels bedient. Es
erreicht uns auf einer exrationalen, oder anders gesagt, emotionalen Ebene. Gerade deswegen
verdient es eine besondere Aufmerksamkeit. Erst die Reflexion und das Wissen um die möglichen
Wirkungen erlauben uns, freier über diese Mittel zu verfügen.

Ein Blick in den Wandel der Lied- und Singkultur


In der Zeit, als Reinhold Heyden (1904-1946) eine Melodie zum Text „Wo man singt ...“
komponierte, - es muss aufgrund seiner Lebensdaten zwischen den 1920er und 1940er Jahre
gewesen sein -, war die Situation des Volksliedes und des Volksgesangs im deutschsprachigen
Raum anders als heute.

In Deutschland gab es zwischen 1918 und 1933 eine "Jugendmusikbewegung".5 Sie zeichnete sich
aus durch geselliges Singen, durch gemeinsames Wandern (Wandervogelbewegung) und durch eine
Belebung des deutschen Volksliedes. Das Gruppen- und Gemeinschaftsleben unter den
Jugendlichen war wesentlich getragen durch das Singen. Heute schreiben Historiker dieser
Jugendbewegung gerade durch ihre scheinbar apolitische „musische Haltung“ eine Vorläuferrolle
zum Nationalsozialismus zu.6 Von 1935 an wurden nationalsozialistische Elitenschulen gegründet.
Für sie war typisch, „dass der Sportunterricht sowie die freiwilligen zusätzlichen Stunden mit
Leibesübungen im erheblichen Umfang ausgebaut wurden.“ Arnd Krüger schreibt weiter, dass „[...]
auch die Musikerziehung zu den Gewinnern zählte: Neun Stunden mehr pro Woche wurde
Chorgesang gepflegt, während eine Stunde an traditionellem Musikunterricht eingespart wurde.“7
Der Deutsche Sängerbund, 1862 gegründet, hatte „die Ausbildung und Veredelung des
volksthümlichen deutschen Männergesangs“ zum Ziel und beabsichtigte, „durch die dem deutschen
Liede inwohnende einigende Kraft [...] die nationale Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme
[zu] stärken und an der Einheit und Macht des Vaterlandes mit[zu]arbeiten.“8 Ab 1933 stellte sich
5
Riemer Franz: Wege zur Jugendmusikbewegung nach individuellen Mustern (wie Anm. 2), S. 153 ff.
6
Boresch Hans-Werner: Neubeginn mit Kontinuität. Tendenzen der Musikliteratur nach 1945. In: Brundhilde Sonntag,
Hans-Werner Boresch & Detlef Gojowy (Hg.), Die dunkle Last, Musik und Nationalsozialismus (S. 286-317). Köln,
1999, S. 294.
7
Krüger Arnd: „Es gab im Grund keine Sportstunde, die, von Gesten abgesehen, anders verlaufen wäre als vor- und
nachher.“ Realität und Rezeption des nationalsozialistischen Sports (wie Anm. 2), S. 22. Auslassung von S.S.E.
8
Der Deutsche Sängerbund 1862-1912, hrsg. vom Gesamtausschuss des Deutschen Sängerbundes, [o. O.]:
[Selbstverlag] 1912, S. 34., zitiert von Brusniak Friedrich: Der Deutsche Sängerbund und die Rolle der Musikforschung
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der Deutsche Sängerbund ganz in den Dienst des nationalsozialistischen Staates. Sowohl dort wie
auch in der Hitler Jugend (HJ) wurde neues Liedgut eingeführt: Der deutsche Schriftsteller Ludwig
Harig9 berichtet von drei Gruppen: Kampflieder, die aggressiven Charakter hatten, Bekenntnislieder
und Weihelieder, die fast religiös oder sakral waren, und hymnische Lieder zur Feier, welche
jeweils mit besonderer Inbrunst gesungen wurden.

Der junge deutsche Musikpädagoge Josef Müller-Blattau kommentierte diese Entwicklung 1934:
„Das neue Liedgut ist begeistert aufgenommen worden und steht fortan im Mittelpunkt. In allen
Schulgattungen werden die Kampflieder der Bewegung gesungen. Hier gehen sie in den festen
Besitz der Jugend über. [...] Hier ist schon manches neue Lied aus der SA, dem freiwilligen
Arbeitsdienst, der HJ in die Schulmusik eingegangen. Wir verdanken es ganz unmittelbar unserem
Führer, dass in unseren Feiern die Jugend sich weiter in Wort und Lied begeistern darf für Volk und
Reich.“10

Ein weiteres Beispiel, wie die Musikerziehung und insbesondere das Liedgut gezielt für politische
Zwecke genutzt wurden bietet Österreich: Als das Land 1938 dem Dritten Reich angeschlossen
wurde, erfolgte eine systematische Neugestaltung des schulischen Umfelds und des Lehrplans
gemäss deutschen Regeln. Im Lehrplan heisst es zum Fach Musik: „Die Musikerziehung dient nicht
nur der Entfaltung der Einzelpersönlichkeit, sondern führt zum Erlebnis der Gemeinschaft ... Solch
seelisch-geistiges Erlebnis knüpft das Band zwischen der Musik und dem Dasein des Einzelnen wie
der Gemeinschaft und stellt den Musikerzieher vor die Aufgabe, das Musizieren der Jugend mit
dem Leben unseres Volkes im Kreislauf des Tages und Jahres, in Fest- und Feiergestaltung in
Einklang zu bringen.“ 11 Und zum Fach „Leibeserziehung“: „Musik formt im Verein mit der
Gymnastik den politischen Soldaten, dessen Wehrhaftigkeit im leiblichen Können gründet, sich
aber erst in der seelischen Haltung vollendet.“12

Für das besetzte Polen soll Hitler in den „Tischgesprächen“ als Lernziele vorgegeben haben: „Die
Polen sollten nach gewonnenem Krieg in ihren Schulen ihren Namen schreiben, bis 500 rechnen
und die Verkehrszeichen lesen lernen – sonst aber viel Musik, viel Musik.“13

Zu keiner Zeit wurde dem Fach Musik so viel Raum im Lehrplan eingeräumt wie während der Zeit
des Nationalsozialismus. Musikerziehung war „völkisch“, denn es wurde nicht nur in der Schule
eingesetzt, sondern auch in den der Partei angeschlossenen Verbänden, auf Grossveranstaltungen
und selbstverständlich in den Jugendorganisationen (HJ und BDM). Das Volkslied war in den
1920er und 1930er Jahren in Deutschland die stärkste und lebendigste Stütze des Volkstums und
der Volksgemeinschaft.14

Im Film von Karl-Heinz Käfer15 wird dokumentiert, wie eine Masse von Jugendlichen Fahnen
tragend und marschierend Lieder singt. Ein typisches Lied ist Folgendes:

Unsre Fahne flattert uns voran,


in die Zukunft ziehn wir Mann für Mann.
Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not
in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Gesellschaft der Musikforschung, Isolde von Foerster, Christopf Hust &
Christoph-Hellmut Mahling (Hg.) Musikforschung, Faschismus, Nationasozialismus (S. 181-196). Mainz, 2001, S. 187.
(Zitat wörtlich und mit Auslassungen und Zusätzen übernommen)
9
Käfer Karl-Heinz: Lieder der Verführung. Dokumentarfilm, Deutschland, 1995.
10
Brusniak (wie Anm. 8), S. 182. (Auslassung vom Autor übernommen)
11
Wolf Christian: Musikerziehung unterm Hakenkreuz. Die Rolle der Musik am Beispiel der Oberschulen im Gau
Tirol-Vorarlberg. Anif/Salzburg, 1998, S. 131.
12
Wolf (wie Anm. 11), S. 131. (Auslassung vom Autor übernommen.)
13
Segler Helmut: Zur Gründungsversammlung der „Gesellschaft für Musikpädagogik“ (GMP) (1975). In: Günter
Kleinen (Hg.) Heutungen. Braunschweig, 1982, S. 130.
14
Brusniak (wie Anm. 8), S. 189.
15
Käfer (wie Anm. 9).
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.

Unsre Fahne flattert uns voran.


Unsre Fahne ist die neue Zeit.
Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit.
Ja, die Fahne ist mehr als der Tod.

Die Melodie ist einfach und eingängig. Die Szene vermittelt einen Eindruck von der euphorischen
Stimmung, die damals in der Öffentlichkeit in Deutschland herrschte.
Was geschah nach 1945? Das Lieder Singen geriet in eine grosse Krise. Das vertraute Liedgut war
braun gefärbt, und es weckte vielschichtige Erinnerungen.16 In der Musikerziehung wurde auf das
zurück gegriffen, was aus der Jugendmusikbewegung noch lebendig war.17 Aber Lieder kamen
selbst in Lehrprogrammen der Grundschule nicht mehr vor. Die Praxis des Schulsingens wurde
zwar nicht ausgelöscht, aber mehrere Jahrzehnte als Folge des Missbrauchs an den Rand gedrängt.18
Gelegentlich diskutierten wenige Musikpädagogen den Stellenwert des Singens.19 Meist kreiste die
Diskussion um den viel zitierten Satz von Theodor W.Adorno 1957: „Nirgends steht geschrieben,
dass Singen not tut.“ Der folgende Zusatz ist wichtig, wurde aber meist weggelassen: „Zu fragen
ist, was gesungen wird, wie und in welchem Ambiente.“20 Eine breite Aufarbeitung der Rolle der
Musik und vor allem des Singens während der NS-Zeit liess lange auf sich warten. Erst in den
1990er Jahren begann eine intensivere Forschung zu diesem Thema.

Der Gebrauch oder der Missbrauch von Musik ist keine Neuerscheinung des 20. Jahrhunderts. Die
Intensität, mit welcher während des Dritten Reichs Lieder gezielt eingesetzt wurden, um
Gemeinschaft und Identifizierung zu fördern, ist jedoch beispiellos. Die heutige extrem Rechte
Szene in Europa benutzt ebenfalls Musik, gemäss Analysen21 allerdings über die
gemeinschaftstiftende Funktion hinaus vor allem dazu, die Tatbereitschaft der Mitglieder zu
erhöhen.

Die Schweiz hat eine andere Geschichte, auch wenn es Hinweise gibt, dass Strömungen der
nördlichen Nation ihre Spuren in der Deutsch-Schweizer Musikerziehung hinterliessen.
Auch in der Schweiz gab es - wie in Deutschland - im 19. Jahrhundert Männervereinigungen -
Turner, Sänger, Schützen - , die das nationale Pathos pflegten. Auch in der Schweiz trugen
Männergesangsvereine dazu bei, sowohl patriotische wie auch volkstümliche Hymnen zu pflegen
und zu verbreiten. Ihnen wird zugeschrieben,22 dass sie zu den Wegbereitern des freisinnigen
schweizerischen Bundesstaates gehörten. Frauenchöre und gemischte Chöre standen damals im
Schatten dieser Männerchöre. Ein Meilenstein in der Geschichte der Lieder Singpraxis im 20.
Jahrhundert war die Gründung des „Offenen Singen“ durch Willi Gohl 1954. In der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts öffnete sich das Schweizer Liedgut den Gospelsongs, fremdländischen Liedern
und Variationen des Volksliedes.

Leider gibt es fast keine Forschung über den Wandel des Volksliedgutes und der Praxis des Lieder
Singens. Lieder in Büchern widerspiegeln zwar nicht die Praxis, aber sie geben einen Einblick in
den „Zeitgeist“. Herausgeber bemühen sich, Lieder auszuwählen, die sie als attraktiv und
wünschenswert für Schule und Erziehung einschätzen. Einen exemplarischen Einblick in

16
Niessen Anne: „Die Lieder waren die eigentlichen Verführer!“ Mädchen und Musik im Nationalsozialismus. Mainz,
1999.
17
Vgl. Boresch (wie Anm. 6).
18
Küntzel Gottfried: Musikmachen – der vokale Bereich. In: Willi Gundlach (Hg.), Handbuch Musikunterricht
Grundschule. Düssseldorf, 1984.
19
Z.B. Segler Helmut: Macht Singen dumm? (wie Anm. 12) S. 138-142.
20
Siehe Küntzel (wie Anm. 18), S. 40-41.
21
Käfer (wie Anm. 9).
22
Burckhardt-Seebass Christine: Musizieren im Verein: Das Chor- und Blasmusikwesen. In: Gesellschaft für die
Volksmusik in der Schweiz (Hg.): Volksmusik in der Schweiz. Zürich, 1985.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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thematische Schwerpunkte und die Veränderungen zeigt die folgende Tabelle. Diese Übersicht
bezieht sich auf vier Liederbücher: Ringe, ringe, Rose (1914), Schweizer Singbuch (1938), s
Liederköfferli (1987) und Musik auf der Oberstufe (1993). Wichtig zu beachten ist, dass einzelne
Lieder mehreren Themen zugeordnet werden können. Da das Buch von 1914 keine Einteilung in
thematische Gruppen enthält, habe ich die Themen der Lieder den Bereichen der anderen
Herausgeber zugeordnet. Diese Analyse ist nicht repräsentativ, sondern zielt darauf ab, einen
Einblick in die grossen Linien des Wandels zu bekommen.

Tabelle 1: Themen in vier Liederbüchern.

1914 1938 1987 1993


x Lob der Musik Musik O Musika
x Zum Lobe Gottes - -
- Besinnliches Besinnliches Besinnung
x Heimatlieder - -
x Morgen und Abend Morgen und Abend Morgen – Abend
x Jahreszeiten Jahreszeiten Jahreskreis
x Natur Natur -
- Wandern - -
x Ständelieder Arbeit und Beruf -
x Scherz und Spott Spass Humor – Geselligkeit
x Weihnacht Weihnacht Festkreis
x Jahreswechsel - -
x - Spiel und Tanz Spiel und Tanz
- - Mit anderen Menschen zusammen Lied der Völker
x - Regio Historie
- - Schule und Freizeit -
x - Tiere -
- - Geschichten und Sagen -
- - Verkehr und Technik -
- - - Liebe
Soldatenlieder - - -

Diese Tabelle zeigt, dass es wiederkehrende, einmalige sowie allmählich verschwindende Themen
gibt. Wiederkehrend sind Lieder zu den Tages- und den Jahreszeiten. Unter den einmaligen Themen
fallen besonders auf: „Liebe“ und „Soldatenlieder“. Da Liebeslieder stets zum Volksliedgut
gehören, kann es keine neue Kategorie sein. Vielmehr wurde sie in diesem Liederbuch, das sich an
Jugendliche richtet, besonders hervorgehoben. Anders steht es um die Kategorie „Soldatenlieder“
im Liederbuch von 1914. Obwohl nicht explizit von Soldatenliedern die Rede ist, sind die Titel der
Lieder eindeutig: Soldatilis, Pumm pummedi pumm! Der General Bumbum, Ein kleiner Rekrut,
Soldatenlied, Die kleinen Soldaten, Der gute Kamerad, Ein scheckiges Pferd (1914, 46-55). In der
heutigen Zeit ist es verwunderlich, in einem Buch, auf dessen erster Seite steht: „186 Kinderlieder
für Mütter und Lehrer“, Soldatenlieder zu finden. Sie gehörten damals zum traditionellen Liedgut,
aber heute entsprechen sie nicht mehr den Wertvorstellungen und dem Empfinden in Schule und
Erziehung. Zwar mag es heute noch die handlichen Soldaten-Liederbüchlein für das Militär geben,
wie sie im Schweizer Volksliedarchiv in Basel aufbewahrt werden. Aber diese Gattung, noch zu
Beginn des 20. Jahrhunderts im Volk verbreitet, gehört zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr
zum traditionellen Liedgut. Ebenfalls deutlich abgenommen hat die Anzahl der geistlichen Lieder
und der Heimat- und Vaterlandslieder.

Wir betrachten nun den Wandel mit Bezug zu den Heimat- und Vaterlandsliedern etwas genauer.
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Zu diesem Thema finden sich im Schweizer Singbuch von 1938 32 Titel, was 12% aller Lieder in
diesem Buch sind. In Tabelle 2 sind die Titel angeführt. Die Tabelle zeigt zudem, welche dieser
Lieder in sechs später erschienenen Liederbüchern aufgenommen wurden.

Tabelle 2: Schwund der Heimatlieder 1938 bis 198723

1938 1964 1965 1968 1971 1979 1987


Trittst im Morgenrot daher - x - x x -
Von ferne sei herzlich gegrüsset - - - x x -
Wo Berge sich erheben - - - x x -
Vo Luzern of Weggis zue - - - x x -
Lasst hören aus alter Zeit - - - x x -
`s wott aber e luschtige Summer gäh - - - x x -
Min Vater ischt en Appenzeller - x - - - -
Zu Strassburg auf der Schanz - x - - - -
Ich bin ein Schweizer Knabe - - - x - -
`s Schwizerländli ist nu chli - - - x - -
Rufst du mein Vaterland - - - x - -
Mit dem Pfeil dem Bogen - - - x - -
O mein Heimatland - - - x - -
Unsere Berge lugen - - - x - -
Im schönsten Wiesegrunde - - - - - -
Wenn weit in den Landen - - - - - -
Wenn alles wieder sich belebet - - - - - -
Freiheit, die ich meine - - - - - -
Mys Hüsli stoht deheime - - - - - -
Traute Heimat meiner Lieben - - - - - -
Es gfallt mer nu deheime - - - - - -
Freier Sinn und freier Mut - - - - - -
Eidgenossen, schirmt das Haus - - - - - -
O Vaterland , wie lieb ich dich - - - - - -
Goldener Morgensonnenschein - - - - - -
I bi en luschtige Schwizerbueb - - - - - -
Auf deinen Höhn - - - - - -
O glücklich lebt, wer - - - - - -
Es geht bei gedämpfter Trommel Klang - - - - - -
In der Heimat ist es schön - - - - - -
Nimm deine schönsten Melodien - - - - - -
Vaterland, ruh‘ in Gottes Hand - - - - - -

Viele dieser Lied-Titel erscheinen heute altmodisch. Dieses allgemeine ästhetische Urteil bedeutet,
dass wir heute nicht mehr bereit sind, uns mit den in den Liedern vermittelten Werten und
Botschaften zu identifizieren. Das Verhältnis vom Individuum zur Nation hat sich im Verlauf des
20. Jahrhunderts stark verändert, und diese Entwicklung lässt sich nur durch die Rekonstruktion der
Nationalisierung in Europa im 19. Jahrhundert verstehen.24 Das allmähliche Verschwinden von
bestimmten Themen ist ein eindrückliches Zeugnis für den Wandel in den kollektiven Angeboten
zur Identifizierung und damit einher gehend von Werten.

23
1964: Der Singkreis (W. Gohl); 1971: Unser Singbuch, Einsiedeln; 1965, 1968, 1979: Schweizer Singbuch, St.
Gallen; 1987: s Liederköfferli.
24
Elias Norbert: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert.
Frankfurt, 1994.
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Während in der Schweiz trotz allmählichem Verschwinden noch hier und dort in den Liederbüchern
ein Vaterlandslied zu finden ist, habe ich diese Gattung in keinem der gängigen deutschen
Liederbücher gefunden. Nach 1945 entsprach es in keiner Weise dem deutschen Empfinden, die
Heimat, das Vaterland oder die Nation zu besingen. Die nationale Identität Deutschlands ist
angeschlagen. Nach Norbert Elias (sozio-kulturellen „Studien über die Deutschen“) ist die
Kernfrage, „wie sich das Schicksal eines Volkes im Lauf der Jahrhunderte im Habitus seiner
einzelnen Angehörigen niederschlägt.“25 Die Praxis des Lieder Singens ist eines der Beispiele,
welche charakteristische Aspekte des Habitus‘ symbolisiert. Vaterlandslieder oder nationale Lieder
pflegt heute in Deutschland vor allem die rechte Szene der deutschen Neonazis.26

Neben den Veränderungen in den Inhalten des Gesungenen zeichnet sich im gesamten deutsch-
sprachigen Raum ein Wandel ab, auch was die Anlässe des Singens betrifft. Noch 1985 schrieb der
Schweizer Musikethnologe Max Peter Baumann: „Das Singen in Schullagern, auf Wanderungen
oder auch beim Seniorenausflug gehört zu den spontansten, lebendigsten Formen des Musizierens
und wird den Wandel musikalischer wie textiler Moden überdauern.“27 Wenn wir den
nachfolgenden Berichten glauben, stimmt diese Aussage heute nicht mehr. Ich habe zur Situation
des Singens Indizien gesammelt:

1. „Die Mundorgel“, das in Deutschland am weitesten verbreitete Liederbüchlein, wurde im Jahre


2003 50 Jahre alt. In guten Zeiten, so 1975, stand es sogar auf Platz fünf der Jahresbestsellerliste.
Seit den 80er Jahren ist ein Auflagenrückgang zu verzeichnen. Man lasse singen, heisst es, und
singe nicht mehr selbst.28

2. In der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT war am 11. Dezember 2003 (S. 52) zu lesen: „Alle
Jahre wieder. Stimmung kommt von Stimme, doch gesungen wird kaum noch.“ Der Autor, Michael
Allmaier, schreibt, dass in früheren Zeiten das Leben wie ein Musical war. „Da sangen die Leute
andauernd: beim Wandern, während der Arbeit, in der Kirche, auf Feiern, und das ganz ohne
Belohnung, einfach aus Herzensfreude.“ Er fährt fort, dass heute die Mehrheit der Deutschen wohl
nur noch an Weihnachten singe. Das mag auch für die Schweizerinnen und Schweizer zutreffen.
Der Journalist zitiert eine unlängst an den Deutschen Bundestag eingereichte Petition, worin steht:
„Mit dem Versinken der Singstimme und des Singens verlieren wir leibseelische Kräfte. Wir
verlieren Kräfte des Gemüts, das gesunde Selbstgefühl, die gesangliche Hochstimmung, die
Religiosität des naturhaften Menschen.“

3. Die Musikpädagogik-Professorin Mechtild von Schoenebeck29 stellt fest, dass im öffentlichen


Bewusstsein die musikalische Tradition erheblich an Wert verloren hat. Sie plädiert dafür, „dem
rapiden Verfall kultureller Werte fachlich fundierten Widerstand entgegenzusetzen.“

4. Die Situation in der Öffentlichkeit ist vielseitig: Noch nie gab es so viel Musik wie in unseren
heutigen Tagen. Noch nie war Musik für so viele Menschen in unserer Gesellschaft fast überall, fast
jederzeit und in riesiger Auswahl zugänglich.

5. In der deutschsprachigen Schweiz gibt es ein Liederbuch, das bis 2003 fast 500'000 Mal verkauft
wurde. Der Titel ist: „Chömet Chinde, mir wänd singe“, auch bekannt als das Maggi-Liederbuch.
Es ist ein Beispiel für meisterhafte Produktewerbung. Erschienen nach Kriegsende 1946, konnte es
durch Sammeln von Punkten von Produkten (z.B. Haferflocken) der herausgebenden Firma Maggi
günstig erworben werden. Von Anfang an war es populär, und kaum ein Verlag wagt es, das
Liederbuch mit etwas Ähnlichem zu konkurrenzieren. Das traditionelle Liedgut und die niedlichen

25
Elias (wie Anm. 24), S. 27.
26
Vgl. z.B. den Film von Käfer (wie Anm. 9).
27
Baumann Max Peter: Volkslied und Volksgesang (wie Anm. 22), S. 116.
28
Vgl. DIE ZEIT, 28, S. 51, 2003.
29
von Schoenebek Mechthild: Zum Geleit (wie Anm. 2), S. 13.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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Bilder wecken in Generationen von Eltern und Grosseltern intensive Erinnerungen an vergangene
Zeiten, die sie gerne für ihre Kinder und Enkelkinder aufleben lassen. Der preiswerte Erwerb dieses
Liederbuches zeigt eine weitere Dimension auf, welche den Markt, die Werbung und dadurch die
Singpraxis regulieren.

Dies sind ein paar Erfahrungsberichte. Selbst ohne systematische Beobachtungen lässt sich heute
sagen, dass im Bereich der Singkultur in den letzten Jahrzehnten ein rasanter Wandel statt gefunden
hat. Er führte weg von einer aktiven Singkultur zu einer Songkultur, in der das Hören und der
Konsum vorherrschen. Beispielsweise entnehme ich einer Tageszeitung:30 „Apple hat den iPod zur
Grösse einer Kreditkarte geschrumpft ... Aufsehen erregte darüber hinaus das Programm ‚Garage
Band‘, das auf einfache Art und Weise das Aufnehmen und Produzieren von Musik ermöglicht. ...
Der Mini-iPod ... arbeitet mit einer Festplatte, die auf vier Gigabytes Platz für etwa 1000 Songs
bietet. ... Bereits sieben Prozent Umsatz macht Apple mit dem kleinen Player.“ Die Leute geben
Geld aus, um Songs - und dieses Wort wurde immer wieder verwendet -, in möglichst grosser Zahl
und in bester Qualität zu speichern und abzuspielen, und zwar individuell mit Kopfhörer.

Lassen sich diese Indizien dahin interpretieren, dass Tradition und kulturelle Werte verloren gehen,
und dass die Orte schwinden, an welchen sich Menschen früher gerne gesellig und singend
zusammen fanden? Vielleicht. Die historischen Hintergründe, die ich eingangs angedeutet habe,
verbieten es, nostalgisch zu werden und so genannt schönen alten Zeiten nachzutrauern. Eines steht
fest: Lieder sind ein symbolisches Mittel. Wie Seismographen widerspiegeln sie gesellschaftlichen
Wandel. In unserer heutigen Kultur sind nicht mehr Verbote und Gebote aktuell, sondern eine
gewisse Verstummung und - vor lauter kultureller Vielfalt - eine Orientierungslosigkeit. Es gibt
immer weniger Lieder, die über Generationen oder Subgruppen hinweg gemeinsam gesungen
werden können. Die Formen des Zusammenlebens sind verändert, beispielweise sank die Anzahl
Personen pro Wohnung. Und Stichworte wie Individualisierung, Säkularisierung und
Multikulturalität charakterisieren seit mehreren Jahren eine gesellschaftliche Entwicklung, welche
sich in allen kulturellen Bereichen manifestiert. Zumindest für den deutschsprachigen Raum
Europas lässt sich vermuten, dass die Krise, die das hohe Ausmass an kollektivem Singen vor und
während des Dritten Reiches in der Nachkriegszeit auslöste, über Generationen subtil nachwirkt
und zur Entwicklung des heutigen Zustands beigetragen hat. Mit dem Wandel von Normen und
Werten, welcher teilweise in den Inhalten der Lieder widergespiegelt ist, geht vermutlich auch eine
Zunahme an Selbstzwängen in Richtung Scham und Blösse einher, geschürt durch hohe Ideale, wie
sie durch technische Mittel und CDs erreicht werden, oder geschürt durch Unsicherheit bezüglich
der sozialen Ordnung, ihrer Symbole und Werte.

Der Kulturphilosoph Hans Saner schreibt zu diesem Wandel:31 „Unter einer ‚Nation‘ haben wir
früher ein Volk von gemeinsamer Herkunft verstanden – ‚natio‘ heisst ‚Geburt‘ -, das durch eine
gemeinsame Kultur, in der Organisation eines Staates und auf einem gemeinsamen Gebiet vereint
ist. Die Bejahung der Zugehörigkeit zu diesem Volk war unsere nationale Identität, durch die wir in
unserem Selbstgefühl und nicht bloss im Rechtsbewusstsein Deutsche oder Italiener oder Franzosen
waren. Mit dieser nationalen Identität konnten sich regionale und transnationale verbinden. Jemand
konnte zugleich ein Identitätsgefühl als Münchner, Bayer, Deutscher und Europäer haben und noch
viele andere unter anderen Gesichtspunkten. Heute ist aus dem Volk eine Bevölkerung ohne
gemeinsame Herkunft geworden und aus der gemeinsamen Kultur eine multikulturelle Vielfalt von
Ethno-, Gruppen- und Individualkulturen.“

Während früher in den Strassen, an Festen, in der Schule und vor allem in der Kirche gemeinsam
und Generationen übergreifend gesungen wurde, so bleiben heute fast nur noch die Schule, die
Fasnacht und vielleicht die Kirche als öffentliche Orte übrig. Abgesehen von den Kinderliedern im

30
Basler Zeitung, 15.1.2004. Auslassungen von S.S.E.
31
Saner Hans: Die erwünschte Globalisierung. Basler Zeitung Magazin; 24. 5. 2003, 21, S. 8-9.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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Maggi-Liederbuch, einigen Weihnachtsliedern und vielleicht der Nationalhymne32 gibt es heute
kaum mehr ein gemeinsames, kollektives Liedgut.33 Nur selten etablieren sich sogenannte
„Gassenhauer“.34

Die Erforschung der Praxis des Volksgesangs würde einige Einsichten liefern in die Dynamik, mit
welcher symbolische Formen gepflegt werden, wie neue entstehen und wieder verschwinden, und
bei welchen Anlässen diese Formen gefördert, verhindert oder sogar verboten werden. Lieder
wurden aus religiösen, sittlichen oder politischen Gründen verboten, letzteres etwa, wenn das
Liedgut nicht obrigkeitsfreundlich oder zeitkritisch war. Dem standen oft Gebote gegenüber, etwa
die Pflege von idealisierenden Volksliedern.35

Funktionen des Singens


Lied-Gattungen deuten einige Funktionen an: Soldaten-, Heimat- und Vaterlandslieder, Schlaf- und
Wiegenlieder, Spiel-, Arbeits-, Liebes-, Spott-, Klagelieder, geistliche Lieder usw. Warum singen
Menschen Lieder, wenn sie den Inhalt doch auch sprechend mitteilen könnten? Und warum machen
sie den Aufwand, den Tonhöhenumfang zu erhöhen, die Atmung zu intensivieren und mehrfach
dasselbe zu wiederholen – alles Eigenschaften, welche das Singen gegenüber dem Sprechen als
unvernünftig auszeichnet? Unvernünftig ist auch das Spiel. Doch ist es gemäss Huizinga36 gerade
das Spiel, auf welchem die wesentlichen kulturellen Errungenschaften der Menschen beruhen. Das
Singen, Musizieren, Tanzen usw. charakterisieren den Menschen nicht als Vernunftswesen, als
animal rationale, sondern als Wesen mit der Fähigkeit, der sinnlichen Wahrnehmung und den
Tätigkeiten symbolische Bedeutungen zu verleihen, gemäss dem Kulturphilosophen Ernst Cassirer,
als animal symbolicum.37 Das Spiel und die Symboltätigkeit sind die wichtigsten
kulturphilosophischen Begründungen für das Singen. Damit zusammenhängend lassen sich
psychologische Gründe nennen:38

• Singen ist ein Ausdruck von Vitalität. Es kann eine intensive Erfahrung von Selbstwirksamkeit
sein, sowohl mit Bezug auf sich selbst, auf andere oder mit anderen gemeinsam. Diese Tätigkeit
kann die Aufmerksamkeit optimal konzentrieren.39 Sie kann lustvoll und mit körperlichem
Wohlbefinden verbunden sein. Die gleichzeitigen und gemeinsamen Lautäusserungen beim
Singen lassen eine intensive soziale Erfahrung entstehen. Alle tun gleichzeitig dasselbe und
erleben denselben Zustand von kollektiv geteilten Emotionen oder Stimmungen. Strukturell
gesehen ist vor allem die Metrisierung des sprach-musikalischen Materials wirkungsvoll: Die
eigentümliche zeitliche Organisation (gleichzeitige Ausführung, regelmässiger Puls, periodische
Akzente, Reime, Wiederholungen von Teilen oder des Ganzen) unterscheidet sich vom
dialogischen Sprechen. Die zeitliche Organisation, die Melodie und die Wiederholungen
begünstigen die Entstehung von Ritualen und damit von symbolischen Formen, die kollektive
Erfahrungen und emotionale Zustände repräsentieren. Das Singen ist daher in anderer Weise als
das Sprechen geeignet, Gefühle der Gemeinschaft, des Verschmolzen-Seins in einem Einklang
zu fördern. Es entstehen Zustände von Trance, von Einordnung und Unterordnung in das soziale

32
Neuerdings wird diskutiert, die Nationalhymne, den Schweizerpsalm von 1841, durch eine moderne Nationalhymne
zu ersetzen, vgl. z.B. Basler Zeitung, 11. 3. 2004, S 37.
33
An einem Weltjugendtreffen 1997 in Paris suchte man nach gemeinsamen Liedern. Und was haben diese Leute in der
Kirche gesungen? Kinderlieder. DIE ZEIT, 29.8.1997
34
Der letzte, den ich beobachten konnte, war „Macarena“, ein Sing-Tanz-Schlager, den Kinder 1996 in der Romandie
wie auch in der Deutschschweiz auf den Spielplätzen und auf Spielstrassen praktizierten. Im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts haben sich im Deutsch-Schweizer Liedgut Lieder von Mani Matter und einige der Beatles integriert.
35
Lichtenhahn Ernst: Gedanken über Volksmusik und Geschichte (wie Anm. 22).
36
Huizinga Johann: Homo ludens. Reinbek, 1994.
37
Cassirer Ernst: Versuch über den Menschen. Hamburg, 1996.
38
Auführlicher: Stadler Elmer Stefanie: Kinder singen Lieder. Über den Prozess der Kultivierung des vokalen
Ausdrucks. Berlin, 2002.
39
Vgl. den bekannten Begriff „Flow“. Csikszentmihalyi Michael: Das flow-Erlebnis. Stuttgart, 1985.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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Geschehen und Gefüge. Individuelle Verantwortungsgefühle schwinden, die Zugehörigkeit zu
dieser Erfahrung verbindet und will aufrechterhalten oder wiederholt werden. Gleichzeitige
Lautäusserungen im sozialen Verband durch Sprechgesang, Skandieren und Beten können
ähnliche Zustände von kollektiv geteilten Emotionen auslösen. Die individuellen und sozialen
Ebenen sind meist vermischt, denn selbst das individuelle Singen ist sozial vermittelt und
verweist auf soziale Gefühle.
• Als vitaler Ausdruck muss Singen stets im Zusammenhang mit Emotionsregulierung gesehen
werden. Kleine Kinder singen spontan nur, wenn sie sich wohl fühlen. Das traditionelle Liedgut
enthält viele Formen, z.B. Trostlieder, Schlaflieder, Bewegungslieder, um die Emotionen und
Stimmungen von Kindern gezielt positiv zu beeinflussen. Dasselbe gilt für Erwachsene, mit
dem Unterschied, dass Erwachsene diese Mittel reflektiert und gezielt für sich oder für andere
einzusetzen wissen und dass sie meist den Symbolgehalt eines Liedes verstehen und ihn
ästhetisch bewerten. Das ästhetische Urteil zeigt das Empfinden, ob oder inwiefern sich eine
Person mit einem symbolischen Ausdruck zu identifizieren bereit ist oder nicht.
• Der Spruch „Wess‘ Geld ich krieg, dess‘ Lied ich sing“ kann auch umgedreht werden zu
„Wess‘ Lied ich sing, dess‘ Werte (Geld) ich nehm“. Bei ersterem lässt sich der Mensch in
seinem Tun vom Geld leiten, bei letzterem moralisch durch ein symbolisches Mittel, nämlich
Lieder. Die Umkehrung ist deshalb berechtigt, weil das Mitsingen die Bereitschaft erhöht, sich
zugehörig zu fühlen. Soziale Zugehörigkeit ist ein Grundbedürfnis von Menschen, und ein Teil
der Macht von Lieder Singen erklärt sich daraus, dass eine Teilnahme geringe Anforderungen
stellt. Mitsingen ist einfach, weil die zeitliche Struktur von Liedern Regelmässigkeiten aufweist,
an denen sich selbst kleine Kinder mühelos orientieren. Im Gegensatz zum Sprechen sind es
diese zeitlichen Regelmässigkeiten und Wiederholungen, die dem Singen oder Sprechgesang
rituellen Charakter verleihen. Rituale sind kollektiv geregelte Tätigkeiten oder Ereignisse. Als
soziale Akte schliessen sie alle Teilnehmenden ein und grenzen alle anderen aus. Soziale
Ausgrenzung bei rituellen Vorgängen entsteht, wenn einer Person das nötige Können oder
Wissen fehlt, zum Beispiel durch eine andere kulturelle Herkunft, oder wenn sich jemand
bewusst, freiwillig oder unfreiwillig von kollektiven Handlungen oder Ritualen und deren
Werten und Symbolen distanziert.
• Lieder und auch Musikstücke können stark an kollektive und individuelle Erfahrungen
anknüpfen und Erinnerungen beleben. Die Musik vermittelt dann die Erfahrung, als ob eine
vergangene Zeit oder ein vergangener Zustand wieder vergegenwärtigt und auch in Zukunft
wieder hergestellt werden könnte. Es ist eine eigenartige Erfahrung von Zeit, die dem Wunsch
entgegen kommt, der Vergänglichkeit auszuweichen und einer unbestimmten Zukunft eine
Orientierung zu geben. Dies geschieht gemäss Jaan Valsiner dadurch, dass affektive Zustände
als „semiotic organizer“ verallgemeinert werden und dadurch den Erfahrungen eine
Beständigkeit im Wandel geben.40 Eine soziale Gruppe kann auf die kollektiven Erinnerungen
und Symbole gemeinsamer Erfahrungen zurück greifen, sie wiederum aktualisieren oder auch
verdrängen. Zudem können mit sprach-musikalischen Mitteln Ideen, Werte, Wünsche,
Phantasien und Erfahrungen repräsentiert werden, wie dies in keiner anderen Form möglich ist.

Die hier angeführten Funktionen des Singens sind keineswegs erschöpfend dargestellt. Vieles ist
noch ungeklärt, rätselhaft und mit sprachlichen Begriffen noch nicht fassbar.

Personale und kollektive Identität


Die kurze Abhandlung über Funktionen des Singens hat gezeigt, dass diese alte Kulturtechnik vitale
Aspekte von sozialen Erfahrungen auf einer kollektiven und individuellen Ebene repräsentiert. Das
Mitmachen oder hörende Teilnehmen impliziert Emotionen, und zwar meist positive, so dass eine
Identifizierung mit der Gruppe gefördert wird. Sich zugehörig fühlen, heisst sich identifizieren, und
zwar zunächst unreflektiert und aufgrund einer betont emotionalen Erfahrung. Menschen schaffen
40
Valsiner Jaan: Cultural developmental psychology of affective processes. Invited Lecture at the 15. Tagung der
Fachgruppe Entwicklungspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Potsdam, September 5, 2001.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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für sich und für andere durch kulturelle Leistungen (Theater, Literatur, Architektur, Sport usw.) auf
verschiedene Weisen symbolische Identifikationsangebote. Die Singkultur und das Liedgut sind auf
besondere Art wirkungsvoll, unter anderem, weil viele Menschen durch Hören oder Mitsingen
teilnehmen können und emotional angesprochen werden.

Der Begriff „Identität“ ist seit mehreren Jahrzehnten ein Modewort, sowohl in der Sozial- und
Persönlichkeitspsychologie wie auch in der Soziologie. Das Rätselhafte an diesem Begriff lässt sich
von der Kernfrage her verstehen,41 welche lautet: „Wer bin ich, und wer möchte ich sein?“ Bei
diesem Thema geschieht leicht der Fehler, das Individuum als losgelöst von seiner prägenden
Gesellschaft und der Entwicklung zu denken. Daher sind der klassischen Frage aus
entwicklungspsychologischer und kulturhistorischer Sicht folgende zuzufügen: „Woher komme ich,
wie kann ich wissen, wie und wer ich geworden bin?“ Und schliesslich: „Wer sind wir, wer
möchten wir sein?“ Alle drei Perspektiven auf Individuum und Gesellschaft und deren Identität
beziehen sich darauf, wie Symbole oder Bedeutungen entstehen, und wie sie im sozio-kulturellen
Rahmen Beständigkeit erlangen oder sich verändern.

Das Liedgut einer Person gibt Einblick in die sozialen Gruppen, zu denen sie sich in der
Vergangenheit zugehörig fühlte oder mit denen sie sich in der Gegenwart identifiziert. Wie die
Muttersprache oder Erstsprache sind es die aktiv gesungenen Lieder der Kindheit und Jugend,
welche die Herkunft einer Person verraten. Die Lieder deuten an, durch welche Traditionen und
Moden die kulturelle Identität einer Person beeinflusst ist. Beispielsweise können Heimatlieder und
Vaterlandslieder, wenn zufällig in der Fremde vernommen, starke Emotionen auslösen. Es sind dies
erinnerte Erfahrungen der kulturellen oder kollektiven Zusammengehörigkeit, die in der Fremde so
selten möglich sind und die deshalb eine besondere Bedeutung bekommen.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist mit Bezug auf das Singen bemerkenswert, dass es sich
sehr früh entwickelt. Das heisst, schon während des ersten Lebensjahres beginnen sich die
Voraussetzungen zu entwickeln, mit der Stimme an der sozio-kulturellen Praxis teilnehmen zu
können. Die musikalischen Elemente in der frühen Eltern-Kind-Interaktion sind eine wichtige
Grundlage der ersten Kommunikation und sind für den Säugling die ersten Schritte, sich der
Sprache und Musik - dem Sprechen und Singen – der umgebenden Kultur anzupassen. Das Singen
geht dem Sprechen voraus, weil es viel einfacher ist, Melodien zu reproduzieren als Sprachlaute.42
Bereits im zweiten Lebensjahr sind Kinder fähig, erkennbare Melodien oder Liedfragmente zu
singen. Mit Identitätsbildung hat dies zu tun, weil die Kinder in der Anpassung ihres stimmlichen
Ausdrucks und der damit verbundenen emotionalen Kommunikation mit den Bezugspersonen ihre
grundlegenden Erfahrungen von personaler und kultureller Identität machen. Für den Säugling und
das Kleinkind sind das anbahnende Singen und Sprechen die ersten Formen, sich mit potenziell
symbolischen Mittel an der kulturellen Praxis seiner Umgebung zu beteiligen. Diese Sicht auf die
frühe Kindheit und die Entwicklung des vokalen Ausdrucks entspricht der im Kontext von
„Identität“ oft zitierten These von William James aus dem Jahr 1890,43 welche besagt, dass das
Bewusstsein seiner selbst aus Erfahrungen hervorgehe, die man mit sich selbst im Umgang mit
sozialen und materiellen Gegenständen macht.

Dass die frühen Jahre den vokalen Ausdruck am meisten prägen, zeigt sich deutlich in der
Muttersprache: Wenn in späteren Lebensphasen eine weitere Sprache erworben wird, so geschieht
dies auf der Grundlage der Erstsprache. Nicht nur hilft die Erstsprache das Denken und Handeln zu
strukturieren, sondern sie prägt auch die Art und Weise des Hörens und der Aussprache. Analog gilt
dies auch für das Singen. Lieder der Kindheit und Jugend und dabei vor allem ihre Stimmungen
41
Straub Jürgen: Identität als psychologisches Deutungskonzept. In Werner Greve (Hg.), Psychologie des Selbst (S.
279-301). Weinheim, 2000, S. 279.
42
Stadler Elmer Stefanie: Preverbal and premusical communication - pathways into music and language. Paper
presented in the symposium on 'Vocal play and the development of music and language' at the European Conference on
Developmental Psychology, Milano, August, 27–31 2003.
43
James Williams: The Principles of Psychology. (Vol. 1 & 2). New York, 1890.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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sind leicht zu erinnern; sie führten in die poetische Sprache ein, in die Rituale der Kultur (z.B.
Jahreszeiten), und sie prägten auf kaum dem Bewusstsein zugängliche Weise die Gefühle der
Herkunft, „Heimat“ oder kulturellen Identität. Besonders durch den emotionalen und physischen
Zustand, der bereits mit frühem Singen verbunden ist, hat das Singen als kulturelle Form einen
starken Einfluss. Die Verbindung zwischen Singen und (ursprünglich) positiv besetzten Emotionen
begünstigt einen Zustand der Akzeptanz und Offenheit gegenüber dem sozialen Gegenüber und den
sozio-kulturellen Angeboten der Partizipation und Identifizierung. Die Wirkungen der frühen
musikalischen Erfahrungen gelangen kaum ins Bewusstsein und sind auch schwierig zu beobachten
und zu ermitteln. „Was nicht zum Bewusstsein kommt, ist zwar, als ob es nicht wäre; aber ist
dennoch und wirkt vielleicht umso nachhaltiger.“ schreibt Hans Saner44 im Zusammenhang mit der
Wirkung von Symbolen.

Ludwig Harig, deutscher Schriftsteller, hat sich in seinen Romanen stark mit seiner Kindheit
während der Nazi-Zeit beschäftigt. Er sagte45, dass er bei Kriegsende, 1945, sich von den Symbolen
und Ritualen des Nationalsozialismus befreien konnte, z.B. von der Fahne, der Trommel. Aber das
Nachhaltigste für ihn waren die Lieder. Er sagte: „Es ist schwer, von den Liedern, die über das
Gefühl so viel Stimmung und mit der Stimmung Inhalte transportieren, loszukommen.“

Aus der Entwicklung der Kinder wissen wir, dass sie während der prä-konventionellen Phase
erstaunlich gut das Hören und die Stimme koordinieren können.46 Sie hören und imitieren Gehörtes
mit der Stimme oft mit einer Genauigkeit, welche wir Erwachsenen nicht mehr erreichen. Während
dieser Zeit lernen sie problemlos fremdsprachige Lieder, ohne die Sprache zu verstehen,
desgleichen singen sie muttersprachliche Lieder, ohne dass sie den Inhalt in der Bedeutung
verstehen, wie dies für Erwachsene gilt. Was wir bei den Liedern erinnern, ist nicht so sehr der
Inhalt des Textes, sondern der Gesamtklang, die Stimmung und die Gefühlszustände. Erst später im
Jugend- oder Erwachsenenalter werden die Texte von Liedern kritisch reflektiert.

Bei der Entwicklung der personalen Identität spielen Erfahrungen, bei denen sich das Kind von früh
aktiv beteiligen kann, wie dies beim Singen und Tanzen meist der Fall ist, eine wichtige Rolle. Das
Kind erlebt, wie alltägliche und jahreszeitliche Rituale des Lieder Singens die Zeit strukturieren und
wiederkehrende und vertraute Ordnungen ergeben. Die frühkindlichen Vokalisationen ermöglichen
erste Unterscheidungen der Selbstwirksamkeit, nämlich zwischen eigenen Vokalisationen und jenen
von anderen, und die Angleichung aneinander durch gegenseitige Imitation. Was von der frühen
Kindheit an als Teil des Selbst erkannt wird, wird durch die Erfahrungen von ähnlichen,
verschiedenen und gemeinsamen Verlautbarungen mit der Bezugsperson gemacht.47 Das Eigene,
das Fremde und das Gemeinsame sind daher Unterscheidungen, die der vokale Erfahrungsbereich
von früh an ermöglicht. Sie sind grundlegend für die Herausbildung der personalen und sozialen
oder kulturellen Identität. Dass mit solchen identitätstiftenden Erfahrungen auch die
Verinnerlichung von Werten zusammenhängt, formuliert Graumann so: „Sich mit jemand oder mit
etwas zu identifizieren ist immer wertbezogen, und damit auch eine Identifikation mit der
Gemeinschaft, für die diese Werte verbindlich sind. In dem Masse also, in dem soziale Identität
durch Identifikation konstituiert wird, ist es legitim, sie auch als kulturelle Identität zu
interpretieren.“48

Die vereinnahmende und identitätstiftende Macht des Singens oder der Musik hat eine bereits zuvor
angedeutete Kehrseite: Die Wirkung ist nicht immer Attraktion, in den Bann gezogen sein,
Identifizierungsangebot und Verführung, sondern auch Abneigung oder Abscheu. Gewisse Musik
44
Saner Hans: Macht und Ohnmacht der Symbole. Basel, 1993, S. 260.
45
Harig Ludwig in Käfer (wie Anm. 9).
46
Stadler Elmer Stefanie (wie Anm. 37) und: Spiel und Nachahmung. Über die Entwicklung der elementaren
musikalischen Aktivitäten. Aarau, 2000.
47
Mead Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M., 1968.
48
Graumann Carl Friedrich: Soziale Identitäten. In Reinhold Viehoff & Rien T. Segers (Hg.), Kultur, Identität, Europa
(S. 59-74). Frankfurt a. M., 1999, S. 64.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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stösst ab und wirkt aufdringlich oder befremdlich. Besonders Gesang kann starke Abneigung
hervorrufen. Jemand verkörpert mit seiner Stimme und mit seinem Singen etwas, womit man sich
identifizieren möchte, wie dies bei Idolen, Stars und sonstig Erfolgreichen der Fall ist. Mit gewissen
Formen des stimmlichen Ausdrucks möchte man sich aber nicht identifizieren, sondern ausweichen
und nicht konfrontiert sein. Mit ästhetischen Urteilen negativer oder positiver Art sind meist soziale
Erfahrungen verbunden, die emotional prägend waren, aber vielleicht der Reflexion nicht
zugänglich sind. Von früher Kindheit an sind musikalische Erfahrungen möglich, nämlich mit den
Sinnen und der Motorik. Diese senso-motorischen Erfahrungen werden bewertet, und diese
Bewertung ist nichts anderes als Emotion. John Dewey49 bringt derartige Emotionen oder Gefühle
in Verbindung mit Ästhetik und sieht sie als Grundlage der Kunst.

Schlussfolgerungen
Ich komme auf die Ausgangsfrage zurück: Macht Musik intelligent, tolerant und fördert sie die
soziale Kompetenz, oder wie mit dem Eingangslied angedeutet, stellt das Singen oder Musizieren
gar die Abwesenheit des Bösen sicher? Der historische Rückblick, die Erläuterung von Funktionen
des Singens als der einfachsten Form des Musizierens und die Rolle von kultureller Prägung in der
Entwicklung von personaler und kollektiver Identität zeigen Richtungen an, welche zur Klärung der
Ausgangsfrage beitragen. Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte hervorheben:

• Singen und Musizieren sind seit Urzeiten menschliche Tätigkeiten und soziale Ereignisse,
welche eng mit der Erzeugung positiver Emotionen und Stimmungen im Zusammenhang
stehen. Musik kann emotionale Zustände bewirken, in welchen die Menschen leicht
beeinflussbar werden. Botschaften lassen sich leicht und eindringlich vermitteln. Die
Eindringlichkeit ist in moralischer oder ethischer Hinsicht nicht festgelegt. Durch die
symbolischen Mittel sind stets Werte gesetzt, auch wenn sie oft schwierig oder nicht in Sprache
zu fassen sind. Diktatoren haben schon immer um die Macht der Musik gewusst und sie zu
kontrollieren versucht.
• Singen oder Musizieren kann zweckfrei oder auch an Zwecke gebunden sein. In beiden Fällen
geht es in erster Linie um die Regulierung von Emotionen. Das wichtigste Einflusspotenzial
liegt in den musikalischen Mitteln, welche die Menschen auf einer physischen und emotionalen
Ebene erreichen. Das Vernehmen und Annehmen von direkten oder indirekten Weisungen (z.B.
Text) geschieht auf einer ausserhalb der Vernunft liegenden Ebene. Die eigenständige und
kritische Reflexion des Geschehens und des Inhaltes ist ein langwieriger Prozess, der in der
individuellen Entwicklung erst spät – wenn überhaupt - aufgrund einer breiten Erfahrung, sozio-
kulturellen Wissens und Selbstbewusstseins möglich wird.
• Dem Liedgut einer Kultur ist zu entnehmen, welches die national oder kollektiv angestrebten
Ideale der Gemeinschaft oder der zivilen Gesellschaft sind. Im Liedgut und der Singpraxis
widerspiegelt sich auch der starke gesellschaftliche Wandel, wie er sich seit Jahrzehnten in
Richtung Multikulturalität, Globalisierung, Säkularisierung und Individualisierung bewegt.
• Soziale Zugehörigkeit und Vergemeinschaftung herzustellen und aufrecht zu erhalten ist für
Menschen existenziell und zugleich eine Grundlage ziviler Gesellschaft. Die Stimme und die
stimmlichen Möglichkeiten des Singens wurden wahrscheinlich seit dem Übergang zum Homo
sapiens zur Erzeugung von Stimmungen, von Gemeinschaft und von Identität verwendet. Das
Lieder Singen ist eine besondere Art, personale und kulturelle Identität aufzubauen und zu
bekunden. Die Lieder aus der Kindheit und Jugend sind emotionale und sinnliche Prägungen,
welche die Grundlagen für den Aufbau einer personalen Identität vor dem Hintergrund der
Herkunftskultur, Nation, Szene, Gruppe, Familie oder Schule bilden.

Das vielleicht wichtigste Argument in dieser Diskussion ist die Einsicht, dass Musizieren und
Singen zwar zweckfrei wie auch zweckgebunden sein können, jedoch keine wertneutralen

49
Dewey John: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a.M., 1998.
Stadler Elmer, S. (2004). "`Wo man singt, da lass dich ruhig nieder..."' Erziehung und Verführung durch Lieder. In: K.
Schärer (Hrsg.), Königswege, Labyrinthe, Sackgassen (S. 215 - 233). Zürich: Chronos Verlag.
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Handlungen sind. Man vergisst leicht, dass selbst Singen und Musizieren aus blosser Freude einen
Wert bedeutet und dass dabei Symbolisierungen zum Ausdruck kommen. Und man vergisst, dass
das Reden über das Musizieren nur beschränkt möglich ist, und dass symbolischer Gehalt im
Bereich der Kunst vor allem auf den Sinnesebenen und zusammen mit bereits konstruierten
symbolischen Erfahrungen wirkt. Selbst einfache musikalische Tätigkeiten wie das Singen sind
stets in einen kulturellen Rahmen eingebunden, der Werte vermittelt. Der Symbolgehalt entsteht
durch die Personen, die sich durch die gemeinsame Tätigkeit einander zugehörig fühlen und sich
somit identifizieren, und auch durch den Text, der sagt, was gut und was böse ist, wer die Freunde
und wer die Feinde sind, welches die Handlungen oder Prinzipien sind, nach denen sich alle
Mitglieder richten sollten. Weil das Lieder Singen ein einflussreiches Mittel sein kann, geht es
darum, sich der emotionalen und symbolischen Wirkungen bewusst zu sein und zu erkennen oder
zu entdecken, welches die Botschaften sind, die mit den sprachlichen, musikalischen und mit
anderen symbolischen Mittel den Teilnehmenden überbracht werden. Um diese zu ermitteln, lasse
man sich ruhig nieder, wo Menschen singen. Welche Werte sie vertreten und welche Zwecke sie
verfolgen, ob sie gut oder böse sind, muss stets von Neuem beobachtet, aufgedeckt und mit
Einbezug historischen und kulturellen Wissens gedeutet werden.50

50
Hans Saner und Dorothea Baumann verdanke ich interessante Diskussionen und wertvolle Anregungen zu diesem
Themenbereich.

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