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Zehntes Kapitel - Das Tonhaltepedal

Als mein Sohn Carl Emilio neun Jahre


alt war, habe ich ihm das Tonhaltepedal
an einer Stelle der Klavierfassung von
"The Pink Panther“ beigebracht. Das
tiefe H sollte, wörtlich kurz, nur als
Viertelnote gespielt werden. Weil seine
Hand noch zu klein war, konnte er dabei
die Quinte darüber, die ganzen Noten e
und h, nicht festhalten. Deshalb hielt er
die Quinte, sobald er rechts das Staccato-
e losgelassen hatte, mit dem Tonhalte-
pedal (TP) fest (Beispiel 234).
Aber auch für Hände, die noch keine
Oktave greifen können, ist das Tonhalte-
pedal in Beispiel 234 natürlich keine
Notwendigkeit, Ich hatte nur, anhand von
„The Pink Panther“, die Gelegenheit
ergriffen, meinem Sohn das Tonhalte-
pedal bzw. das dritte Pedal zu zeigen,
nachdem er mich gefragt hatte, wozu
"der Hebel da unten in der Mitte“
gebraucht werde.
Beispiel 234

TP

Das Tonhaltepedal, genannt auch mittleres Pedal, drittes Pedal oder Sostenuto-Pedal,
ist ein Steinway-Patent aus dem Jahre 1875. Liszt hat diese Erfindung sehr begrüßt.
Auch ein großer Künstler wie Ferruccio Busoni hat erkannt, wie sehr das mittlere
Pedal die klanglichen Möglichkeiten des Flügels erweitert. Viele Pianisten aber
meiden es, viele können nicht damit umgehen, viele halten es für überflüssig, viele
lehnen es ab. In Czeslaw Mareks profunder, mit Theorie überfrachteten "Lehre des
Klavierspiels" ist es nicht einmal erwähnt.
Die Tatsache, dass die meisten Pianisten das Tonhaltepedal nicht oder nur spärlich
einsetzen, ist kein Nachweis seiner Entbehrlichkeit. Aber es muss zu denken geben,
dass oft auch sehr bekannte Pianisten das dritte Pedal nur sehr zurückhaltend oder
überhaupt nicht nutzen, ja es sieht beinahe so aus, als ob die Neigung, das dritte Pedal
in das Spiel mit einzubeziehen, mit wachsender Reputation abnähme.
Am Ende des Kapitels werde ich erklären, was, nach meiner Ansicht, die Gründe
dafür sind. Einen Grund, wenn auch nicht den wichtigsten, nenne ich vorab, und er
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betrifft in erster Linie Pianisten, die für meine Generation maßgeblich waren, Serkin,
Rubinstein, Richter, Gilels, Arrau, Gulda usw. Das Tonhaltepedal hat bei Steinway-
Flügeln, die vor dem Jahr 1976 gebaut wurden, nur sehr unzuverlässig funktioniert,
oft gar nicht, und die Behebung des Fehlers war, wie mir Herr Hartwig Kalb, der
Steinway-Kundendienstleiter, am 27. Mai 2014 erklärt hat, jedes Mal mit großem
Zeitaufwand verbunden ("geringe Service-Freundlichkeit"). Bei jedem Yamaha- oder
Kawai-Flügel arbeitete das Tonhaltepedal stets einwandfrei, berühmte Künstler aber
erwarten für gewöhnlich einen Steinway und bekommen ihn gestellt. Eine Ausnahme
war Swjatoslaw Richter, der auch auf Yamaha-Flügeln spielte (was er sich von
Yamaha gut bezahlen ließ). Erst Mitte der 1970er-Jahre, nach 100 Jahren, konnte
Steinway sich dazu durchringen, das störanfällige System von 1875 zu verbessern,
sprich: das mittlere Pedal der Funktionsweise japanischer Modelle anzupassen.

Für diese Abhandlung ist nur wichtig, wann und unter welchen Bedingungen das
mittlere Pedal eingesetzt werden kann. Wenn Sie darüber hinaus wissen möchten,
was dabei in der Flügel-Mechanik passiert, lesen Sie bitte in "The Pianist's Guide to
Pedaling" von Joseph Banowetz das Kapitel "The middle Pedal". Dort sind auch die
entsprechenden Teile der Mechanik abgebildet und in ihrer Funktion bezeichnet.
Oder Sie fragen Ihren Klavierstimmer.
Dennoch: Wer das dritte Pedal genau kennenlernen möchte, sollte in Banowetz' Buch
mehr als nur einen flüchtigen Blick werfen. Banowetz schätzt das Tonhaltepedal sehr
hoch und befasst sich liebevoll auch mit "special effects", die riskant, umständlich
und für die Kunstausübung ohne Belang sind.
So beschreibt er ein trickreiches Verfahren ("only for the very advanced pianist"), mit
dem man Töne im Tonhaltepedal festhalten, dabei aber, gleichzeitig, mit dem rechten
Pedal andere Töne binden kann ("... it is possible to catch notes with the sostenuto-
pedal at the same time other notes are sounding on while the damper pedal is being
used."). Das Verfahren macht sich den Umstand zunutze, dass das Tonhaltepedal
nicht erst einrastet, wenn die Dämpfer vollständig gehoben sind, sondern schon etwas
früher. Sie können das überprüfen: Drücken Sie eine Taste leicht nieder. Auf der
ersten Hälfte des Tastenweges lässt sich der Dämpfer noch nicht mit dem dritten
Pedal arretieren, dies gelingt ab dem Moment, an dem Sie auf den Widerstand des
Auslösepunktes stoßen ... aber lesen Sie das, genau beschrieben, bei Banowetz auf
den Seiten 105 bis 106. Lesen sollten Sie auch, der interessanten Beispiele wegen, die
paar Seiten über das Tonhaltepedal in Günter Philipps Buch "Klavier, Klavierspiel,
Improvisation".

Bedingungen für den Einsatz des Tonhaltepedals sind:


- Das Tonhaltepedal kann keine Dämpfer anheben, sondern nur die Dämpfer, die
durch den Anschlag gehobenen sind, in gehobenem Zustand festhalten. "Es muss
also stets nach dem Anschlag getreten werden, da es nur die Töne nieder-
-
gedrückter Tasten erfasst!" (Günter Philipp).
- Im dem Moment, in dem man das Tonhaltepedal betätigt, darf das rechte Pedal
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nicht getreten sein, kann danach aber sofort wieder eingreifen.
- Das Tonhaltepedal wird, meistens, mit dem linken Fuß bedient.
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Der Einsatz des Tonhaltepedals ist in diesem Buch mit diesem Zeichen angezeigt:

Schon in den vorausgegangenen Kapiteln habe ich bei etlichen


Beispielen auf die Möglichkeit hingewiesen, das dritte Pedal zu
benutzen, von seiner Verwendung dann aber, meist, abgeraten. TP

In diesem Kapitel sollen in erster Linie die vielen evidenten Vorteile des Tonhalte-
pedals aufgezeigt werden, vorher aber möchte ich noch einmal auf die schon an
früherer Stelle erwähnten Einwände zu sprechen kommen und will mich im weiteren
Verlauf des Kapitels an der oben angekündigten Erklärung versuchen, warum das
Tonhaltepedal wenig genutzt, unterschätzt oder wenig geschätzt wird.

Die Einwände gegen das Tonhaltepedal sind:


1) Mit dem dritten Pedal arretierte Bässe dröhnen oft zu plakativ durch, sind einer
danach womöglich erwünschten Beeinflussung mittels kleiner Viertel- oder Halb-
pedalwechsel nicht mehr zugänglich.
2) Mit dem dritten Pedal arretierte Bässe verleiten dazu, darüber liegende Harmonie-
folgen selbst dann sauber mit dem rechten Pedal zu wechseln, wenn die Musik
eher nach einer gewissen Verschleierung verlangt, oder danach, dass Reibungen
unaufgelöst, unerlöst bleiben.
3) Wenn man das mittlere Pedal nimmt, kann man das linke Pedal nicht oder nur mit
Erschwernissen nutzen, die ein hohes Maß an steuernder Aufmerksamkeit auf sich
ziehen und vom eigentlichen Musizieren ablenken.

Für alle drei Einwände finden Sie in diesem Kapitel zahlreiche geeignete Beispiele.

DIE GLEICHZEITIGE BEDIENUNG DES LINKEN UND DES MITTLEREN PEDALS


MIT DEM LINKEN FUẞ

Punkt 3) der oben genannten Einwände betreffend berichte ich von einer Begebenheit
an meiner ersten Hochschulstelle, der an der Musikhochschule Freiburg. Dort fand
am 25. Oktober 1988 einer meiner ersten Klassenabende statt. Mein Student Nicolas
de Haën (heute auch ein gesuchter software-Entwickler) spielte an jenem Abend
"Pour le piano" von Debussy. Im Prélude setzt ab dem sechsten Takt ein langer, sich
über viele Takte erstreckender Orgelpunkt ein, das Kontra-A (Beispiel 235).
Ich hatte de Haën dazu angehalten, vor Beginn das tiefe A stumm niederzudrücken
und mit dem dritten Pedal festzuhalten, aber nicht das Kontra-A des Orgelpunktes
selbst, sondern noch das Sub-Kontra-A darunter, die tiefste Taste der Klaviatur.
Die indirekte Wirkung mit dem Sub-Kontra-A über die Anregung der Töne der
Obertonreihe ist diskreter, nobler und deshalb atmosphärisch besser, und ich werde in
diesem Kapitel noch mehrere Beispiele für dieses Verfahren vorstellen, bei dem man
nicht angeschlagene, sondern stumm gedrückte Töne ins Tonhaltepedal nimmt.
Das Publikum wunderte sich über die Schuhe, in denen Nicolas de Haën auf die
Bühne kam. Er hatte sich, nur am linken Fuß, einen Stiefel mit breiten Sohlen ange-
zogen, um neben dem mittleren gleichzeitig auch das linke Pedal bequem nieder-
halten zu können.
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Beispiel 235

8
TP

Takt 6

Beispiel 235: vor Spielbeginn nicht das Orgelpunkt-Kontra-A aus Takt 6 selbst, sondern,
besser, das Sub-Kontra-A darunter (die tiefste Taste der Klaviatur) stumm ins 3. Pedal nehmen!

Die Möglichkeit, Töne vor Spielbeginn stumm zu drücken und mit dem dritten Pedal
zu fixieren, ergibt sich häufig. Die fixierten Töne schwingen dann entweder direkt
ausgelöst mit oder indirekt mit ihren Obertönen, so wie im Prélude aus "Pour le
piano“ durch das vorab fixierte Sub-Kontra-A. Wenn genug Zeit zur Verfügung ist,
also vor Spielbeginn oder während einer (längeren) Pause, kann man sich mit dem
linken Fuß auch auf zwei Pedalen gleichzeitig einrichten. Dies ist dann auch mit
einem normalen Schuh gut ausführbar. Der Schuh wird diagonal fest auf die beiden
Pedale gesetzt. Der Fuß hat allerdings während eines langen Orgelpunktes (wie bei
Beispiel 235) einen kontinuierlichen und spürbaren Muskeldruck aufrechtzuerhalten.

Viel besser ist Roland Kellers Lösung.

Keller, Schüler Ludwig Hoffmanns, nutzte das Tonhaltepedal von Anfang an sehr
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ausgiebig. Um dabei nicht in der Bedienung des linken Pedals behindert zu sein, hatte
er gegen Ende der 70er-Jahre den Einfall, sich von einem Schlosser einen schmalen
Metallschuh anfertigen zu lassen, der als Verlängerung auf das mittlere Pedal auf-
gesteckt und mittels zweier Stellschrauben fixiert wird. Die Vorrichtung ermöglicht
es, das dritte Pedal mit der Ferse zu treten, während das linke, nach Bedarf, mit dem
Fußballen bedient wird.
Unter der Bezeichnung "Verlängerung des mittleren Pedals bei Flügeln und anderen
Tasteninstrumenten" meldete Keller seine Idee zum Patent an, das am 26. Juni 1984
erteilt wurde. Für eine Herstellung in Serie hat keine Klavierfirma Interesse gezeigt.
Keller selbst ließ etliche Exemplare anfertigen, gab diese zum Selbstkostenpreis an
seine Studenten ab. Trotz des erwiesenen Nutzens sind er und eine Handvoll seiner
ehemaligen Studenten die Einzigen geblieben, die diese intelligente Vorrichtung im
Konzert einsetzen.
Ich kenne Roland Kellers Pedalverlängerung seit über 35 Jahren. Aber erst jetzt, im
Mai 2014, während ich an diesem Kapitel schreibe, habe ich bei ihm ein Exemplar
seiner Pedalverlängerung bestellt und bekam es, als Geschenk, von ihm aus Wien
zugeschickt. Er habe, sagte er, noch ein paar Exemplare zuhause liegen.

Joseph Banowetz, der beim Verfassen seines Buches Kellers Verlängerung des
mittleren Pedals kaum gekannt haben dürfte, hält die gleichzeitige Bedienung des
mittleren und linken Pedals mit dem linken Fuß für sehr wichtig und beruft sich dabei
auf den zu seiner Zeit sehr bekannten US-amerikanischen Pianisten Percy Graigner
(1882-1961), dessen fortschrittliche Ideen zur Pedalisierung, nach wie vor, weg-
weisend seien ("... whose ideas on pedaling still prove to be extremely advanced.").
In seinem Kapitel "The Left Pedal" beschreibt Banowetz auf den Seiten 119 - 120,
wie der linke Fuß zwischen beiden Pedalen zu gleiten habe, um ein Ziel zu erreichen,
das folgendermaßen gesteckt ist: Der Spieler müsse jederzeit in der Lage sein, bei
gehaltenem mittleren Pedal das linke Pedal zu treten und loszulassen, und, umge-
kehrt, bei gehaltenem linken Pedal das mittlere zu nehmen und wieder loszulassen.
Damit zitiert Banowetz eine Forderung des Pianisten Percy Graigner: "The player
must be freely able to take and release the soft pedal while holding the sustaining
pedal, to take and release the sustaining pedal while holding the soft pedal."
Graigner hielt die "Doppelpedaltechnik" für eine absolute Notwendigkeit moderner
Pianistik: "... to master this double-pedal-technic is an absolute necessity to modern
pianism." Aber warum macht es dann niemand!?

Bei den Übungen, die Banowetz zum Erwerben dieser Gleittechnik vorstellt, ist die
linke Fußspitze bisweilen, bei nach außen gedrehter Ferse, steil - und, wie ich mir
kommentierend zu ergänzen erlaube, in gleichsam spastischer Verrenkung - auf die
Innenseite des rechten Fußes gerichtet.

In den Zeilen, oben, habe ich diese gleichzeitige Bedienung zweier Pedale nur mit
dem linken Fuß eher boshaft-ironisch kommentiert, gerechterweise aber muss gesagt
werden, dass es durchaus funktioniert. In den Tagen, an denen ich diese Zeilen
schreibe, habe ich es geübt, und es geht. Es ist gar nicht so schwer. Es geht, natürlich
geht es, aber es kommt nicht darauf an, dass etwas geht. Worauf es ankommt ist
bekanntlich, dass sich die richtigen Bewegungen beim Pedalisieren als von Ohr
gesteuerte Reflexe ausbilden und unbewusst, beinahe automatisch ablaufen können.
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Meine außergewöhnlich begabte Studentin Solvejg Henkhaus hatte nicht den An-
spruch, das "shifting" zwischen mittlerem und linkem Pedal virtuos zu beherrschen,
aber sie wollte, im April 2014, an einer Stelle in Debussys "La danse de Puck"
(Beispiel 236) zusätzlich zum Tonhaltepedal auch das linke benutzen. Dies geht
relativ einfach: Der nach innen quer gestellte linke Fuß drückt beide Pedale gleich-
zeitig herunter. Dennoch besteht die Gefahr, dass das dritte Pedal nicht einrastet,
weshalb man den Fuß im Niederdrücken gleichzeitig etwas nach vorne kippen muss.
Das dritte Pedal wird dann, de facto, nur mit dem großen Zeh niederhalten. Barfuß
ginge alles viel leichter. Barfuß aber sollten Sie nicht auftreten.
Meine Schülerin hat die Operation eine Zeit lang geübt und ist dann davon abge-
kommen. Sie habe es, sagte sie, als unangenehm empfunden, über eine so lange
Dauer - der Orgelpunkt geht noch weit über die abgebildeten Takte hinaus - beide
Pedale gleichermaßen gedrückt zu halten, ohne dass eines entwischte, außerdem
werde wegen des quer gestellten Fußes die Sitzhaltung instabil.
Beispiel 236

5 2 3 3

Takt 65
1 1
5 ( )
2
0 2 3 1 3 1
3 1 3 1 3 1 3
nur das untere B ins TP! 5
3 4 5 2 3 4 TP 5 2
5
2 3 1
1 1
1

3 1 3 1 3 1 3 sempre
Kommentar zu Beispiel 236: Das tiefe B in Takt 65 kann man ins 3. Pedal nehmen, sollte dabei
aber darauf achten, dass nur das tiefe B und nicht auch das klein gestochene b darüber erfasst
wird. Deshalb sollte man die beiden B auseinanderziehen und auch durch den Fingersatz trennen
(zweimal 5. Finger)! Das tiefe B wird dann deutlich vorausgenommen und kann so für einen
ruhigen Einsatz des 3. Pedals vom ritardando (Cédez - - -) profitieren.
Der Vorteil des 3. Pedals ist hier, dass häufigere Wechsel mit dem rechten Pedal möglich
werden, die verhindern, dass sich der Klang in sehr langen Pedalfeldern zu sehr aufbläht, denn:
Die Schwierigkeit der Passage besteht einzig darin, in der linken Hand ein pp zu wahren.
Nur diesem Zweck dient die im Beispiel vorgeschlagene Verteilung. Wenn die Tenorstimme nach
rechts wandert, kann die linke Hand das 32stel-Tremolo mit einem günstigen Fingersatz und mit
geschlossener Haltung in der Taste, von Auslösepunkt aus, spielen, was aber nicht möglich ist,
wenn die Hand, wegen der zusätzlich zu spielenden Tenortöne, durchwegs gestreckt bleibt.

Die gleichzeitige Bedienung zweier Pedale mit einem Fuß ist ein kompliziertes, stets
unfallträchtiges Verfahren (Abrutschen); es muss planvoll und vorsichtig eingesetzt
werden, zieht in jedem Fall viel steuernde Aufmerksamkeit an sich. Man kann darin,
eine große Fertigkeit erlangen, nur halte ich es für ausgeschlossen, dass sich diese
Fertigkeit je als reflexhaft richtiges Agieren im Gehirn verankern ließe.
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Das mittlere Pedal alleine zu bedienen, ist viel einfacher, dennoch wird auch ihm
entgegengehalten, es stelle sich dem natürlichen Spielfluss hemmend in den Weg,
weil, wie oben erwähnt, sein Einsatz stets von einer Verstandesdirektive abhängig
sei. Diese Empfindung einer Störung im Ablauf aber beruht zu einem guten Teil auf
einer mangelnden Vertrautheit im Umgang mit dem dritten Pedal und, nicht zuletzt,
auf einer Unterschätzung seiner Möglichkeiten. Ende der 70er-Jahre habe ich das
dritte Pedal, aus Freude über seine Entdeckung, inflationär genutzt, auch, unter
Ludwig Hoffmanns Einfluss, an den unsinnigsten Stellen (siehe Beispiel 270);
immerhin aber habe ich dadurch eine große Gewandtheit erlangt, so dass ich es nicht
als Behinderung des Spielflusses erlebe, das dritte Pedal zu nehmen.

In den Monaten der Arbeit an diesem Kapitel stand ich in Verbindung mit dem
Pianisten Josef Bulva. Herr Bulva, geboren 1943 in Brno (Brünn), seit langem
luxemburgischer Staatsbürger, ist ein eleganter, liebenswürdiger Herr von vollende-
ten Manieren, der als eine der Hauptpersonen der Münchner Hautevolée der Schönen
und Reichen größere Berühmtheit erlangt hat als durch seine Tätigkeit als Pianist.
Er war häufig Gegenstand Münchner Klatschkolumnen und habe, hieß es über ihm,
als einziger Mensch die Fähigkeit, gleichzeitig auf drei Partys zu erscheinen.
Josef Bulva nutzt das Tonhaltepedal ausgiebig, sieht sich, wohl zu Recht, als den
Experten schlechthin für das mittlere Pedal, das seit langem selbstverständlicher Teil
seines Spiels geworden ist, und ebenfalls selbstverständlich geworden sei ihm, sagt
er, das gleichzeitige Bedienen des linken und mittleren Pedals mit dem linken Fuß
(weshalb er häufig Abschürfungen und blaue Flecken am linken Fußknöchel habe).
Zweimal habe ich mit Josef Bulva in einem Münchner Edellokal über das dritte Pedal
und den Entwurf dieses Kapitels geplaudert, den ich ihm vorher hatte zukommen
lassen. Es stellte sich heraus, dass er nur mir einer Anwendung des Tonhaltepedals
vertraut war, dem Festhalten angeschlagener Töne.
Am 31. Mai 2014, sagte er mir bei einem Telephonat, bei ihm seien die agierenden
Finger und das mittlere Pedal in der nämlichen natürlichen und musikalischen
Verschmelzung miteinander verbunden, wie sie gewöhnlich nur zwischen den
Fingern und dem rechten Pedal bestehe. Aber - Herr Bulva möge verzeihen - das
glaube ich nicht. Denn zwischen dem rechten und dem mittleren Pedal gibt es einen
wesentlichen Unterschied:
Der Einsatz des mittleren Pedals muss immer geplant werden
Dabei darf nicht vergessen werden: Nach dem Einsatz des mittleren Pedals muss das
danach hinzutretende rechte Pedal oft ganz anders bedient werden, als wenn man die
Stelle ohne das mittlere spielte. Klingen Töne mit dem Tonhaltepedal durch, kann
man manchmal längere Strecken sogar ganz ohne das rechte Pedal spielen, z. B. um
die Artikulation hervorzuheben. Grundsätzlich hat das Tonhaltepedal starken Einfluss
darauf, wann, wo, ob und wie wir das rechte Pedal wechseln, ob wir vollständige
Pedalwechsel machen oder unvollständige.

In Brahms' Klaviertrio H-Dur, op. 8, spiele ich den abgebildeten Abschnitt ab


Takt 197 aus dem Mittelteil des Scherzos mit dem dritten Pedal, weil es mir gefällt,
wenn das Klopfmotiv des Scherzos unter dem einschmeichelnden dolce-Gesang in
einem wörtlichen leisen Staccato pocht (Beispiel 237). Dieser interpretatorische
Wunsch hat Einfluss auf die Bedienung des rechten Pedals (siehe Kommentar)
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Beispiel 237

Takt 196

TP

TP TP

Beispiel 237: Der Einsatz des 3.Pedals verändert die Anwendung des rechten: An Stelle einfacher
Pedalwechsel jeweils auf der ersten Zählzeit treten pedallose Abschnitte von genau festzulegen-
der Länge, während derer das pochende Bass-Motiv in einem tatsächlichen Staccato erklingt.
Die gekennzeichneten Töne h ( ) sollten nicht angeschlagen werden, weil sie schon im TH
festgehalten sind und aufdringlich hervorträten, wenn sie erneut angeschlagen würden.

Zu Beispiel 237 ist ergänzend zu sagen: Wenn der dolce- Gesang einige Takte später
in orchestralem ff auftritt, ist die Benutzung des 3. Pedals ausgeschlossen, ja wäre
sogar lächerlich.

Da der Einsatz des mittleren Pedals immer geplant werden muss, kann das Spiel mit
ihm nie den hohen Grad unbewusst richtigen Agierens erreichen, wie das beim Spiel
nur mit dem rechten Pedal möglich ist. Aber das ist kein Grund, sich den reichen
Möglichkeiten des Tonhaltepedals zu verschließen; denn das Spiel ohne Tonhalte-
pedal läuft schließlich auch nicht nur unbewusst ab, sondern bedeutet ebenfalls in
hohem Maße: kontrollieren, disponieren, aufpassen.

Ist jemand einmal mit einer bestimmten Art und Weise, eine Aufgabe zu bewältigen,
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gut zurechtgekommen, dann schwindet schnell, oft schon bald nach Vollendung des
zwanzigsten Lebensjahres, die Bereitschaft, sich neuen, besseren Möglichkeiten zu
öffnen.
Dieses sehr menschliche Verhalten gilt, natürlich, auch für bekannte Künstler, ja für
diese vielleicht noch mehr. Was die Reserviertheit gegenüber dem Tonhaltepedal
angeht, sprach ich, oben, von den Pianisten, die für meine Generation maßgeblich
waren (Rubinstein, Richter, Serkin etc..). Als diese großen Künstler noch jung waren
und ihr Metier gelernt haben, war es nicht üblich, dass Flügel mit einem Sostenuto-
Pedal ausgestattet waren, ohne das heute kein Yamaha- oder Kawai-Stutzfügel mehr
die Fabrik verlässt. Als Steinway noch nicht die große Dominanz besaß, standen auf
den Konzertbühnen oft Bechstein-Flügel; diese wurden erst ab 1960 serienmäßig, und
dies auch nur bei den großen Modellen, mit dem Sostenuto-Pedal ausgestattet. Nicht
zuletzt haben auch Steinways Patentrechte verhindert, dass das Tonhaltepedal in
andere Flügelfabrikate eingebaut wurde.
Seit ca. 40 Jahren werden alle Flügelmarken mit Tonhaltepedal geliefert, Bechstein
baute es ab 1986 auch in die kleineren Flügelmodelle ein, Blüthner verwendete es
serienmäßig ab 1953.

Die angesprochenen Künstler haben in ihrer Jugend womöglich das Sostenuto-Pedal


nicht kennen gelernt bzw. wurden von ihren Lehren nicht damit vertraut gemacht,
später sahen sie keinen Grund mehr, es hinzuzunehmen, nachdem sie, aufgrund ihres
Talents, schon früh die Erfahrung gemacht hatten, dass das, was sie machten, gut war
und Anerkennung fand. Jetzt ist das Tonhaltepedal allgemein verfügbar, und die
heute bekannten Künstler nützen es ausgiebiger. Am Freitag, dem 23. März 2012
konnte ich, in der Münchner Philharmonie in der ersten Reihe sitzend, beobachten,
wie Jewgenij Kissin das Tonhaltepedal in Samuel Barbers Klaviersonate op. 26 oft
eingesetzt hat (in welcher Sonate es allerdings vom Komponisten selbst öfters
angezeigt ist).

DIE WIRKUNG DES TONHALTEPEDALS WIRD OFT ÜBERSCHÄTZT

Bevor ich über die Gelegenheiten spreche, an denen es unsinnig, möglich, sinnvoll
oder künstlerisch unverzichtbar ist, das mittlere Pedal zu nutzen, ist etwas Grund-
sätzliches zu seiner Wirkung anzumerken.
Schon an anderer Stelle habe ich von der verbreiteten Täuschung gesprochen, die
darin besteht, unsere Gedanken und Ideen beim Spielen mit den Gedanken und Ideen
gleich zu setzen, die unser Spiel beim Publikum auslöst. Das, was wir uns ausdenken,
kommt beim Publikum keineswegs immer so an, wie wir es uns ausgedacht haben,
oder um es, zugunsten des Künstlers, freundlicher zu formulieren:
Das Ohr des Zuhörers ist gröber als die Raffinesse des tüftelnden Künstlers.
Das gilt, natürlich, auch für die Ideen und Pläne, die das Tonhaltepedal betreffen,
dessen Wirkung auf das Publikum keineswegs immer so ist, wie es der erlebt, der
sich die reizvolle Wirkung ausgedacht hat und anwendet.

Ich kehre deshalb noch einmal zurück zu Beispiel 236, Debussys „La danse de Puck".
Dort scheint der Unterschied in der Wirkung zwischen der Ausführung mit und ohne
mittleres Pedal sehr groß zu sein: Mit Tonhaltepedal klingt der Orgelpunkt angenehm
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diskret über die ganze Strecke durch, ohne Tonhaltepedal bricht er bald ab und der
Klang verliert seine harmonisch richtige Basis, denn selbst die feinste Flatter-Pedal-
Technik kann das tiefe B nicht über die lange Strecke retten.
Ich habe das, einschließlich der Handverteilung, unter Beispiel 236 genau begründet,
ja bin beinahe verliebt in die Schlüssigkeit meiner Argumentation. Die Erfahrung
aber zeigt, dass der Hörer zwischen der Ausführung mit dem dritten Pedal und der
üblichen Ausführung ohne das dritte keinen so großen Unterschied bemerkt, wie der
glaubt, der sich das so schön ausgedacht hat.

Dies trifft auch zu auf das Beispiel 238 aus Brahms' Ballade op. 10, Nr. 2 und auf
Beispiel 239, die Schlusstakte des ersten Satzes aus Schubert Sonate A-Dur, D 959.

Ich empfinde die Stellen, ganz klavier-unabhängig, als instrumental, und mir ist es
wichtig, dass links die Achtel unter den Legato-Akkorden in einem konsequenten
pizzicato pochen. Deshalb nehme ich an den Stellen das mittlere Pedal, und zwar,
hier, mit dem rechten Fuß, weil der linke Fuß durchwegs das linke Pedal nieder-
gedrückt halten soll.
Ohne Tonhaltepedal wird das jeweils letzte Achtel eines Taktes fast unvermeidlich
vom notwendigen Legato-Pedal erfasst und ungewollt verlängert, was mich oft gar
nicht, an Stellen wie in den Beispielen 238 und 239 aber ungemein stört. Es wirkt auf
mich, als spielte ein Violoncello die letzte Note einer pizzicato-Folge plötzlich und
unverständlicherweise con arco als lange Note.

Es ist daher legitim, ja notwendig, dass ich die Passagen so ausführe, wie sie für mich
klingen müssen, nur darf ich dabei nicht erwarten, dass dem Publikum die aparte
Lösung erstaunt als etwas ganz Besonderes auffällt, und selbst Eingeweihte dürften
nicht ohne weiteres das bis zum Taktende konsequent gewahrte pizzicato bewusst
wahrnehmen.
Beispiel 238
b

TP TP

Beispiel 239
5
b 4 3 2 3
1
1
Takt 344

TP TP TP
zu den Beispielen 238 und 239: Das Tonhaltepedal kommt den sehr individuellen Wünschen
derjenigen Interpreten entgegen, die die Passagen instrumental begreifen und deshalb Wert
darauf legen, dass unter dem Legato der rechten Hand die Staccato-Bewegungen links als
konsequente Orchester-Pizzicati hörbar werden.
Ohne Tonhaltepedal ist es in Beispiel 238 wegen des Tempos unmöglich und in Beispiel 239
zumindest
Somit etwas
findet dasschwierig, die Akkorde
dritte Pedal gut zu binden, ohne
seine Rechtfertigung dass,zuletzt
nicht links, das jeweils
durch dieletzte
FreudeAchtel
des
eines Taktes vom Legato-Pedal erfasst und unerwünscht verlängert wird.
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So findet das Tonhaltepedal seine Rechtfertigung auch in der Freude über die eigene
Findigkeit, rechtfertigt sich dadurch, dass es dem Bedürfnis des Interpreten nach
besonderer Genauigkeit und Deutlichkeit entgegenkommt. Und es bezieht seine gute
Wirkung, wiederum indirekt, nicht zuletzt auch aus der Selbstsicherheit, die dem
Interpreten dadurch zuwächst, dass er das Werk so hört, wie es für ihn klingen muss.
Es sind auch solche Gründe, die die etwas kapriziöse Entscheidung legitimieren, das
Beispiel 239 mit dem dritten Pedal zu spielen.
Bei meiner Aufnahme dieser Sonate für den Bayerischen Rundfunk im April 2003
habe ich pedalisiert, wie oben angezeigt, im Konzert habe ich die Stelle manchmal
auch ohne Tonhaltepedal gespielt.

VÖLLIG SAUBERE BÄSSE SIND OFT NUR MIT DEM TONHALTEPEDAL MÖGLICH

Das Tonhaltepedal ist oft die einzige Möglichkeit, Klänge/ Bässe absolut sauber zu
bekommen, also so, dass keine Tonreste des vorherigen Klanges mehr im neuen
Klang mitschwingen. Das betrifft vor allem Bässe, die manuell nicht festgehalten
werden können, Bässe also, die man schnell loslassen muss und deshalb keine völlig
sauberen Pedalwechsel zulassen.
Diese Eigenschaft des Tonhaltepedals jedoch, vollkommen saubere Bässe/Klänge zu
garantieren, hat künstlerisch keine allzu große Bedeutung; denn ein absolut sauberes
Pedal ist künstlerisch keineswegs immer notwendig, ja sehr oft ist das gar nicht
wünschenswert.
Unversehens befinden wir uns auf einer Exkursion zurück ins erste Kapitel.
Unter einem sauberen Pedalwechsel, hieß es dort, sei eher selten ein Klang zu
verstehen, bei dem überhaupt keine Tonreste vom vorhergehenden Klang mehr
mitschwingen. Sprechen wir - ich zitiere aus dem ersten Kapitel - von sauberem
Pedal, dann ist damit in den meisten Fällen gemeint: Die mitschwingenden Tonreste
des gelöschten Klanges sind so gering, dass der neue Klang in seiner harmonischen
Eigenart gut erkennbar bleibt.

Vollkommen saubere oder fast vollkommen saubere Klänge sind nur wichtig an
Zielpunkten, am Ende einer "Entwicklung", von Kaskaden, langen Figurationen,
Phrasen, bei Schlüssen. An solchen Zielpunkten lässt sich diese Sauberkeit fast
immer mit den schon beschriebenen Mitteln erreichen, also mit dem langen Fest-
halten des Zieltons bzw. Zielgriffs plus einer, nötigenfalls, davor gesetzten Pedal-
Lücke oder manuellen Lücke.
Das erste Kapitel ist überreichlich bestückt mit Beispielen dafür, wie solche musika-
lischen Zielpunkte sauber zu bekommen sind. Mir ist kein Fall bekannt, wo es nur
mit Hilfe des Tonhaltepedals möglich wäre, einen sauberen Schlusspunkt zu setzen.

Zur Verdeutlichung transportiere ich noch einmal Beispiel 23 (Scherzo aus Chopins
b-moll-Sonate, op. 35) und das Beispiel 24 (Chopins b-moll-Scherzo, op. 31) aus
dem ersten Kapitel hierher. Tatsächlich ist in beiden Fällen, sowohl auf der
Cis-Oktave in Beispiel 23 als auch auf der Des-Oktave in Beispiel 24, nur mit dem
Tonhaltepedal ein vollkommen sauberer Pedalwechsel möglich.
Auch wenn Sie, einschließlich der notwendigen Pedal-Lücke, alles richtig machen,
lässt sich ohne Tonhaltepedal nicht verhindern, dass noch Tonreste der vorausgehen-
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den Bässe in den langen Bässen, Cis (Beispiel 23) bzw. Des (Beispiel 24), mit-
klingen. Aber das muss auch gar nicht verhindert werden! In dem Moment, in dem
die langen Bässe angeschlagen werden, ist der Aufgewühltheit des Geschehens eine
gewisse Trübung angemessener als klinische Sauberkeit.

In Kapitel 1 (Pedalverschmierungen) habe ich erläutert, wie an solchen Stellen ohne


Tonhaltepedal ein gutes Ergebnis zustande kommt: Entscheidend ist, was nach dem
Pedalwechsel auf der Cis- bzw. der Des-Oktave passiert: Ein guter Pianist hält dann
keineswegs über die ganze Harmonie hinweg den Fuß gedrückt, er wird vielmehr
noch mehrere kleine Pedalwechsel vollführen: in Beispiel 23 einen gleich nach der
Cis-Oktave (wegen des Neuaufbaus, angezeigt durch die sich öffnende crescendo-
Gabel) und im weiteren Verlauf des Aufgangs vielleicht noch ein, zwei weitere
flüchtige Wechsel. Auch in Beispiel 24 wird ein verständiger Künstler nach der
Des-Oktave den Fuß auf dem Pedal noch ein paar Mal flattern lassen. Diese zusätzli-
chen kleinen Pedalwechsel beseitigen die anfängliche Trübung, lichten den Klang auf
und nehmen den mächtigen Bässen ihre dröhnende Zudringlichkeit.

Dies ist mit Sicherheit auch im Sinne von Chopins Pedalvorschrift - in Beispiel 23
ein Pedal über zwei Takte - , denn die zusätzlichen unvollständigen Pedalwechsel
berücksichtigen das unterschiedliche Resonanzverhalten von Flügeln aus Chopins
Zeit und eines heutigen Konzertflügels (wobei das, was heute „moderner Konzert-
flügel“ genannt wird, in allen wesentlichen Bauteilen weit über 100 Jahre alt ist).

Beispiel 23 (aus Kapitel 1)

?
TP

Beispiel 24 (aus Kapitel 1)

( )
Hier ist ein zusätzlicher flüchtiger Pedal-
wechsel erforderlich, um die erdrückende
TP
? Wucht der Des-Bass-Oktave zu mildern

Weder für Beispiel 23 noch für Beispiel 24 ist das Tonhaltepedal zu empfehlen. Die
es hier verwenden, versprechen sich zu viel davon. Die Lösung ohne Tonhaltepedal
ist künstlerisch besser, weil der markierte Bass noch beeinflussbar bleibt, nicht
unbeeinflussbar durchdröhnt. Der Bass ist nicht sofort mit dem Anschlag sauber, wird
es erst mit den nachfolgenden Flatterpedalen.
- 224 -
So ist auch Josef Banowetz' Idee recht unglücklich, am Anfang von Brahms' Sonate
f-moll, op. 5 die als Vorschlagsbässe notierte C-Oktave in Takt 5 ins Tonhaltepedal
zu nehmen (Beispiel 240).

Gerade an dieser Stelle allerdings wird oft sehr schlecht Pedal gewechselt: Die
Vorschlagsbässe in Takt 5 werden im hastigen Flug nach oben nur flüchtig gestreift
und somit vom Pedaltritt nicht hinreichend erfasst, genauer: Die Hand, die sich im
Flug schnell nach innen dreht, lässt den 5. Finger so früh los, dass das Kontra-C oft
überhaupt nicht vom Pedal erfasst wird. Als Folge wirken die dissonierenden
Des-Bässe davor nicht nur viel stärker, als es erträglich wäre, in den Takt 5 hinein,
sondern sind dort geradezu dominant.

Dies aber ist weniger ein Plädoyer für das Tonhaltepedal als dafür, es mit der linken
Hand und dem rechten Fuß richtig anzustellen (siehe Kommentar).

Beispiel 240

Takt 5

?
TP

Takt 6

Kommentar zu Beispiel 240: In Takt 5 kommt es darauf an, die klein gestochene Bass-Oktave C
mit dem Pedal satt zu erfassen. Dies misslingt häufig, weil die gebrochene Oktave, in einem
unruhigen Hinauf-Hasten zum f-moll-Akkord, oft nur flüchtig angerissen wird.
Um die arpeggierte C-Oktave gut zu erfassen, ist es wichtig, dass beide Töne C für einen
Moment in den Tasten "ruhen", denn eine sich im Anschlag sofort nach innen drehende Hand
lässt die untere der beiden C-Tasten so schnell los, dass der Ton dem Pedaltritt entwischt.
Ist die C-Oktave gut vom Pedal erfasst, empfehlen sich anschließend noch drei flüchtige Pedal-
wechsel: der erste nach der Ankunft oben bei den f-moll-Akkorden, etwa auf der zweiten Zählzeit
vor den beiden Achtel-Akkorden (f-moll-Akkorde manuell festhalten!), der zweite und dritte
jeweils auf den beiden Tutti-Schlägen (auf deren zweiten Brahms selbst einen Pedalwechsel
vermerkt hat).
Bitte machen Sie dann den bekannten Test: Drücken Sie, sobald Sie bei der Generalpause in
Takt 6 angekommen sind, die C-Oktave aus Takt 5 bei noch gehaltenen Pedal stumm nieder,
nehmen Sie dann das Pedal weg: Es ist eine Freude zu hören, wie nach drei Pedalwechseln die
tiefe C-Oktave noch in schöner voller Sonorität klingt.

Auch in Beispiel 240 ist also das Tonhaltepedal unnötig, genauer: Es ist nicht nötig,
die Stelle mit einem Bass zu versehen, der dann über die zwei Takte hinweg kaum
abnimmt und zu dominant bleibt. Viel schöner ist die Lösung, bei der sich der reine
C-Dur-Klang erst nach einer anfänglich dramatischen Trübung herausschält.
- 225 -
An einer anderen Stelle dieses ersten Satzes, gegen Ende, nehme ich das Ton-
haltepedal gerne (Beispiel 241). Die als mächtige Blöcke nebeneinander gesetzten
Harmonien müssen - für mich - ganz rein klingen. Dieser Wunsch lässt sich nur mit
Hilfe des Tonhaltepedals erfüllen, weil für ganz saubere Wechsel mit dem rechten
Pedal allein die Finger nicht lange genug in den Tasten verweilen können.
Beispiel 241

TP TP

An vielen Stellen von Liszts Franziskus-Legende II (Beispiel 242) veranlasst mich


das Bedürfnis nach klaren Bässen, diese in das Tonhaltepedal zu nehmen.
Beispiel 242

TP TP TP TP TP TP TP
TP
Beispiel 242: Nur das Tonhaltepedal gewährleistet klare Bässe. Mit dem rechten Pedal allein
bleiben die Bässe zu unsauber, weil der 5. Finger diese nicht hinreichend lange festhalten kann.

DAS TONHALTEPEDAL ALS SICHERUNGSANKER

Neben der Funktion, ganz saubere Bässe zu erreichen, ist eine weitere Funktion des
Tonhaltepedals die eines Sicherungsankers. Es kommt häufig vor, dass über einem
liegenden Bass die dazugehörige Harmonie in Figurationen emporsteigt, sich nach
oben schraubt oder sich herabbewegt. Wird der liegende Bass - so der Gedanke -
mit dem dritten Pedal gesichert, dann kann der Spieler, wenn ihm falsche Töne
unterlaufen, diese mit Pedalwechseln löschen, ohne dass dabei das Bass-Fundament
verloren geht.
Es gibt viele solcher Stellen in der Literatur: Liszt, im Es-Dur Konzert die Doppel-
Oktave B nach dem Einsatzakkord in Takt 5 oder in der Tarantella aus "Venezia e
Napoli" auf der letzten Seite der As-Dur-Akkord mit Fermate vor der Schlusskadenz
oder Brahms, Capriccio fis-moll, op. 76, Nr.1, das tiefe Cis in Takt 9 usw..

Sinnvoll ist der Einsatz des Tonhaltepedals am Schluss von Liszts großartigem
Naturgemälde "Vallée d`Obermann" (Beispiel 243). Oft werden aus Angst vor
falschen Tönen die emporstürmenden Oktaven nur vorsichtig-bedächtig ausgeführt.
- 226 -

Beispiel 243

Im Ausklingen das gis 'rausnehmen!

Beispiel 243: Es empfiehlt sich, die Bass-Oktave E mit dem mittleren Pedal
TP zu sichern, weil immer die Gefahr besteht, im Aufstieg daneben zu greifen.

DAS TONHALTEPEDAL ALS TECHNISCHE HILFE

Es gibt Stellen in der Literatur, die sich nur mit Hilfe des mittleren Pedals technisch
zufriedenstellend ausführen lassen. Für diese Funktion des Tonhaltepedals möchte
ich Ihnen zwei Beispiele vorstellen, ein recht raffiniertes und wenig bekanntes
(Beispiel 244) und ein einfaches und bekanntes (Beispiel 245).

Die Doppelgriffe in Takt 74 in Debussys "La puerta del vino", einer Habanera,
(Beispiel 244), können, wenn man sie spielt wie notiert, nur andeutungsweise aus-
geführt werden. In Reclams Klaviermusikführer heißt es zu der Stelle: "Für die
schwierigen Doppelgriffe der rechten Hand gibt es allerdings keine Erleichterung."
Von wegen!
Das Tonhaltepedal ermöglicht eine saubere Ausführung dieser Doppelgriffe. Das war
zu Debussys Zeit vermutlich nicht so wichtig, heute aber hat Genauigkeit einen
hohen Rang - zu Recht. Undeutlichkeit als interpretatorischer Wert ist nicht an-
nehmbar, und dem flüchtig-hurtigen Charakter der Passage tut es keinen Abbruch,
wenn die Doppelgriffe sauber kommen.
Das Tonhaltepedal drängt sich als Lösungsweg für die Stelle geradezu auf; denn ohne
es bricht in Takt 74 der Tritonus f - h ab, weil niemand den gestaltlosen Brei eines
über den ganzen Takt 74 durchgehaltenen Pedals in Kauf nehmen will. Die Lösung
erfordert allerdings Einiges an tüftelnder Überlegung.

Es geht darum, das Intervall f - h mit dem Tonhaltepedal festzuhalten, wozu in


Takt 74 selbst keine Gelegenheit ist; diese bietet sich ein paar Takte zuvor in Takt 70
oder 71 während der Achtelpause im oberen Notensystem (siehe Kommentar).
- 227 -
Beispiel 244

Takt 70

5
4 1 5 4 TP (bis Takt 74
2 1 2 3 5 Mitte)
1

2
4

Takt 74 ohne rechtes Pedal!

5!
Beispiel 244, die Ausführung von Takt 74:
- In Takt 70 oder 71 den Griff f - h des mittleren Notensystems während der Achtelpause ins
Tonhaltepedal nehmen. Den Basston Des davor, ausnahmsweise, kurz spielen, damit nur das
Intervall f - h vom Tonhaltepedal erfasst wird, weil ein mit-eingefangener Basston Des bei
jedem Wiederanschlag aufdringlich hervorträte
- Den Sechzehntel-Basston as in Takt 74, links, als Startimpuls für die Doppelgriffstelle
begreifen und mit dem 5. Finger spielen, damit der Weg der übergreifenden linken Hand
hinauf zu der Quarte as1 - des2 möglichst kurz wird.
- Rechts die ersten beiden Terzen der Doppelgriff-Figur, f1 - as1 und g1 - h1, noch nicht schnell
spielen, sondern anlaufen lassen, damit der linken Hand Zeit für das Übergreifen bleibt. Nur
die letzten drei Doppelgriffe werden sehr schnell gespielt, was aber den Eindruck einer insge-
samt sehr schnell gespielten Figur hinterlässt (Horowitz-Trick).
- Die linke Hand muss bei ihrer Rückkehr von der oben gegriffenen Quarte as1 - des2 darauf
achten, dass sie nicht laut auf den Basston Des aufschlägt.
- Die 64stel-Septuole am Taktende ganz klar, ohne rechtes Pedal spielen und dabei links die
Basstöne Des und as manuell festhalten.

Den weiten Ges-Dur-Akkord am Schluss des Scherzos aus Chopins b-moll-Sonate


sollte man in jedem Fall auf beide Hände verteilen, selbst wenn man über die unge-
wöhnlich große Spannweite verfügen sollte, ihn nur mit der rechten Hand zu spielen.
Eine gespreizte Hand erschwert die Klangkontrolle (Beispiel 245).
Beispiel 245

TP
Beispiel 245: Den Ges-Dur-Akkord (in jedem Fall) auf beide Hände aufteilen, ins dritte Pedal
nehmen, die Bass-Oktaven, mit kleinen kurzen Pedalstößen versehen, als weiche pizzicati
spielen, zum Ausklingen wieder das rechte Pedal treten.
- 228 -
Das Beispiel 245 ist der Henle-Urtext-Ausgabe entnommen, wo für die fünf
Schlusstakte ein Pedalfeld anzeigt ist (Pedalzeichen beim Akkord, Auflösesternchen
am Ende). In der Paderewski-Ausgabe, ebenfalls Urtext, findet sich diese eigenartige
Pedalvorschrift nicht. Wörtlich genommen ergäbe dieses Pedal im Ausklingen einen
Klang, der als tiefsten Ton nicht den Grundton Ges, sondern den Quintton Des hat.
Ich glaube nicht, dass Chopin einen Quartsextakkord als Schlussakkord wollte.

Die naheliegende Erklärung ist die, die für die meisten langen Pedalfelder gilt: Ein
langes Pedalfeld bedeutet nicht, dass der Fuß über die ganze Strecke niedergedrückt
bleibt. Oder Chopin nahm von vorneherein an, der weite Griff könne nicht gegriffen
und festgehalten werden, eine Annahme, die auf den ersten Blick für Chopins Zeit
noch verständlicher erscheint als heute, da im 19. Jahrhundert die Menschen durch-
schnittlich 10 cm kleiner waren; andererseits waren die Tastatur-Mensuren damals
auch ein wenig kleiner, die Intervalle lagen näher aneinander.
Am Montag, 14. Juli 2014, teilte mir der stellvertretende Cheflektor des Henle-
Verlages, Herrn Dr. Norbert Müllemann, per E-Post mit, in der französischen Erst-
ausgabe stehe gar nicht der sehr weite Griff ges - des - ges1 - b1, sondern der bequem
zu nehmende b - des - ges1 - b1.
Bleibt das Eingeständnis, dass ich etliche Pedalangaben Chopins nicht verstehe.

DAS TONHALEPEDAL FÖRDERT DIE KLARHEIT VON


ARTIKULATION UND STIMMFÜHRUNG

Eine weit bedeutendere Aufgabe des Tonhaltepedals aber ist, den anderen Stimmen
und den Harmonien zu größerer Klarheit und Kontur zu verhelfen.

In dieser Passage des zweiten Satzes aus Schumanns Fantasie C-Dur, op. 17 ist das
Tonhaltepedal einer prägnanteren Artikulation von großem Nutzen (Beispiel 246).
Beispiel 246
Das TP erst nach dem Loslassen des b treten!

Takt 78 Takt 80

Das TP erst nach dem Loslassen des c1 treten! c1 also sehr kurz spielen!
TP

Takt 82

TP
Beispiel 246: Das Tonhaltepedal in den Takten 80 und 82 erlaubt, für den Rest des Taktes (und
auch noch am Anfang des folgenden) ganz auf das rechte Pedal zu verzichten. Dadurch tritt die
Energie
Dies der Punktierung
zeigt sich schönvielandeutlicher zutage,aus
dieser Stelle als wenn sie insverteufelt
Busonis Pedal getaucht würde;"Kammer-
schwerer außerdem
wird so vermieden, dass die verdoppelten kleinen Sekundschritte d-es (Takt 80) und e-f (Takt 82)
Fantasie" über Bizets Carmen (Beispiel 246), wo mich auch die Hinweise dolce und
ineinander klingen, was in dieser sonoren Lage stören und die Harmonie verfremden würde.
- 229 -
Der Einsatz des Tonhaltepedals ist in dem eben besprochenen Beispiel 246 sehr
sinnvoll, aber für den wenig Geübten auch unfallträchtig, da in den Takten 80 und 82
nur die Bassoktave (Des bzw. Es), nicht aber die Achtel darüber (b bzw. c1) mit in
das dritte Pedal gelangen dürfen. Es erfordert etwas Erfahrung und Übung, das
Tonhaltepedal sofort nach dem Loslassen des darüber liegenden Achtels zu treten.

In Rachmaninoffs Etude tableau op. 33, Nr. 5 (Beispiel 247) ist zumindest in Takt 37
das Tonhaltepedal unverzichtbar. Das Beispiel findet sich, aber nur auf Takt 37
bezogen, auch bei Banowetz, der dazu sehr einleuchtend anmerkt: " ... there is no
way to make the pianissimo chords sound staccato if the rolled chord before is held
with the damper pedal. Since the sixteenth-note motif has occurred throughout the
piece and has usually been played with an unpedaled staccato touch, there seems
non-musical reason to change the sound to a pedaled blur."
(Anmerkung: damper pedal ist der englische Terminus für das rechte Pedal).

Beispiel 247

Takt 34 Takt 37

TP
TP

Takt 39

TP

zu Beispiel 247
a) Takte 37 - 39: Das rechte Pedal kann zum mittleren diskret hinzutreten, mit dem rechten
Pedal allein aber ist Staccato-Artikulation, die für das Sechzehntel-Motiv so charakteristisch
ist, auch nicht andeutungsweise hervorzubringen.
b) Versucht man in Takt 36 mit kleinen Flatterpedal-Bewegungen zu vermeiden, das die
Sechzehntel zur Konturlosigkeit verschwimmen, führt dies, unvermeidlich, dazu, dass der
g-moll-Akkord seine ganze Sonorität einbüßt, zumindest das wichtige b im Tenor bricht dabei
ab. Deshalb ist auch hier das Tonhaltepedal notwendig; das rechte Pedal sollte, etwa in der
Art wie eingezeichnet, hinzutreten.
c) Takt 40: Von Ludwig Hoffmann stammt die hübsche Idee, das a1 im Sopran mit dem dritten
Pedal festzuhalten. Nun kann man das a1 loslassen, und die Hand hat alle fünf Finger für das
Sechzehntel-Thema frei. Es klingt reizvoll, wenn die Sechzehntel unter einem stark markierten
Sopran-a1 in einem sehr leisen und pedallosen Staccato pochen.

Der Wunsch nach deutlicher Artikulation erstreckt sich auch auf Klangflächen; jeder
Klang hat seine Motorik, die sich in allen nur erdenklichen Figurationen äußern kann.

Nicht nur der Klang-Teppich interessiert, wir wollen auch das Stichmuster
erkennen, nach dem er genäht wurde.
- 230 -
Motorik hat ihren eigenen Ausdruckswert. Ein üppiger Pedalgebrauch kann Linie in
Fläche verwandeln und so die Energie der Bewegung schwächen.

Je sparsamer das rechtes Pedal eingesetzt wird, desto mehr tritt die Motorik gegen-
über dem Klang hervor. Ist der Bass vom Tonhaltepedal gesichert, kann eine gewisse
Trockenheit der Figurationen besonders dann sehr wirkungsvoll sein, wenn andere,
zusätzliche Stimmen, auch Stimmen anderer Instrumente die fehlende harmonische
Fülle kompensieren.
Dies trifft ganz besonders zu auf diese Stelle des ersten Satzes von Brahms' Klavier-
quartett c-moll, op. 60, wo die Sechzehntel mehr sind als nur begleitender Harmonie-
hintergrund (Beispiel 248). Die sich ablösenden Sechzehntelgruppen besitzen die
Lebendigkeit zweier im Sturzflug einander jagender Schwalben, eine Lebendigkeit,
die ich nicht mit einem flächigen Pedal aufweichen will.
Beispiel 248

Takt 194

nur das untere Ais ins TP! TP (über zwei Takte)

TP (über zwei Takte) TP (über vier Takte)

Beispiel 248: Pedalstoß nur auf das jeweils erste Takt-Viertel! In Takt 194 darf nur das untere
ais der ais-Oktave ins Tonhaltepedal gelangen, weil das obere ais später im Takt erneut auftritt
und dann als vom Tonhaltepedal schon festgehaltener Ton störend hervorträte.
- 231 -
In Beispiel 248 nehme ich das Tonhaltepedal wegen meines Wunsches nach voll-
kommener Klarheit der sich jagenden Sechzehntelgruppen; darüber hinaus will ich
vermeiden, dass die Sechzehntel nur zu einem Begleitrauschen hinter dem Streicher-
satz werden. Jedoch liegt der Einsatz des Tonhaltepedal an der besprochenen Passage
aus dem c-moll-Klavierquartett keineswegs auf der Hand; nur wenige Pianisten
dürften auf die Idee kommen, es bei dieser Passage zu nehmen, womöglich bin ich
der einzige. Aber gerade deshalb stelle ich dieses Beispiel vor, um das Individuelle
und ganz Persönliche bei der Nutzung des Tonhaltepedals hervorzuheben.

In anderen Fragen der Pedalisierung, etwa bei Verschmierungen und unvollständig


erfassten weiten Griffen, können wir von objektiven Kunstfehlern sprechen, können
mit Kriterien wie falsch und richtig operieren. Solche Merkmale gibt es bei der
Anwendung des Tonhaltepedals selten. Dessen Anwendung ist fast immer eine ganz
persönliche Entscheidung. Deshalb ist in diesem Kapitel die Ich-Form häufiger als in
den anderen Kapiteln.

An dieser Stelle aus Busonis verteufelt schwerer "Kammer-Fantasie" über Bizets


Carmen können mich auch die Hinweise dolce und Ped. ten. nicht dazu bewegen, das
prägnante Hornsignal ganz unter Pedal zu setzen (Beispiel 249).
Beispiel 249

TP
Das Tonhaltepedal ermöglicht eine klare Artikulation der Hornsignal-Stöße

In Beispiel 249 sollte man auch in den beiden Takten, die auf die Hornstöße folgen,
auf das rechte Pedal verzichten und nur das Bass-H festhalten. Auf diese
Weise wird die flinke Motorik der 32stel-Bewegung hörbar, die viel reizvoller ist als
ein gerade in dieser tiefen Lage gestaltloses Pedalfeld.

Aber ich will Ihnen ein besonders apartes Beispiel zeigen, den Anfang von Ferruccio
Busonis Sonatina seconda. Dort kann eine bewusst trocken gehaltene Motorik vor
dem Hintergrund eines von Obertönen erfüllten Klangraumes eine eindringliche
Atmosphäre geisterhafter Unwirklichkeit hervorrufen (Beispiel 250).

Ferruccio Busonis Sonatina seconda, komponiert 1910, ist eine der ersten atonalen
Kompositionen. Der Titel ist doppeldeutig: Zum einen ist die Sonatine die zweite der
Sonatinen Busonis, zum anderen wird in dem Werk das Intervall der Sekunde abge-
handelt. Vor der Eingangszeile sehen Sie ein Sternchen, das auf eine Fußnote ver-
weist, in der Busoni mitteilt: "Die Versetzungszeichen gelten nur für die Noten, vor
der sie stehen, so dass Auflösungszeichen nicht zur Anwendung kommen."
Diese Anweisung ist im Reclams Klaviermusikführer so kommentiert: "Das ist von
der Notierung her ein radikaler Schritt zur Gleichstellung der zwölf Halbtöne, den
nicht einmal Schönberg gewagt hat."
- 232 -
Beispiel 250
f

5
stumm
ins 3. Ped
TP nach dem Anschlag des g das c zusätzlich stumm drücken

12 3

321

. Beispiel 250, Ausführung: Verfahren Sie wie folgt:


- Nehmen Sie vor Spielbeginn die Kontra-Oktave C stumm ins dritte Pedal. Die tiefen Töne
der Eingangsimprovisation (H - Cis - H usw.) lösen keine störende Resonanz aus, da sie mit
der Obertonreihe von C nichts zu tun haben.
- Drücken Sie gegen Ende der Eingangszeile, und zwar nach dem übergehaltenen Ton g,
zusätzlich das darunterliegende c stumm und halten es mit dem 5. Finger fest.
- Spielen Sie den Schlusston der Tonfolge, das eingestrichene C, mit großem Ton ( f ).
- Vollführen Sie nun einen schnellen Pedalwechsel. Mit diesem Pedalwechsel ist plötzlich, wie
aus dem Nichts, ein von Obertönen erfüllter Klangraum da von höchster suggestiver Wir-
kung. Es ist, als wäre jemand aus seinem Schrebergarten ins All tele-portiert worden.
- Geben Sie dem Publikum Gelegenheit, sich lange ( ) in diesem Klangraum aufzuhalten.
- Lassen Sie dieses c nach dem Anschlag los, wobei aber das darunterliegende, soeben
1

stumm gedrückte c noch niedergedrückt bleiben muss.


- Spielen Sie nun, wie leises Knattern, die zweite Zeile ganz trocken ohne rechtes Pedal.
- Nehmen Sie in der dritten Zeile, wenn die Anfangs-Tonfolge im Sopran erscheint, das rechte
Pedal wieder hinzu. Da das Tonhaltepedal getreten ist, können Sie dabei öfter Pedal wech-
seln als von Busoni angezeigt.
- Nehmen Sie am Ende der Zeile, nach dem letzten Achtel, dem ges, das Tonhaltepedal weg.

Das Tonhaltepedal dient nicht nur der Klarheit der Artikulation der Stimmen, sondern
der Klarheit der Stimmen selbst. Es vermag eine Komposition vielschichtiger zu
machen, weil es eine zusätzliche klangliche Ebene herstellt, die von der Gestaltung
und der Pedalisierung der anderen Stimmen unabhängig ist. Deshalb ist das Ton-
haltepedal z. B. auch dann besonders vorteilhaft, wenn man Orchesterauszüge spielen
muss. Der Gewinn an Deutlichkeit, Mehrschichtigkeit und Durchsichtigkeit kann
bedeutsam sein, besonders in den zahlreichen Fällen von liegenden Stimmen bei
- 233 -
gleichzeitiger Vielstimmigkeit anderer Stimmen. Bau und Stimmenverläufe einer
Komposition werden dann oft erst mit Hilfe des Tonhaltepedals erkennbar.

Evident wird dies in Beispiel 251, ebenfalls, wie Beispiel 250, aus Busonis Sonatina
seconda. Ohne Tonhaltepedal bleibt nur die Wahl, entweder den Bass verloren zu
geben oder die Polyphonie zu Suppe zerfließen zu lassen. An Stellen wie dieser ist
die Notwendigkeit des Tonhaltepedals unwiderlegbar.

Beispiel 251

Dieses c vor dem Tritt des Tonhaltepedals loslassen; es darf nicht


mit in das TP gelangen, weil es noch einmal gespielt wird ( )
TP und dann als unerwünscht langer Ton durchklingt.

Am Ende der mächtigen Fuge a-moll, wohltemp. Klavier, Bd. I kann der musikalisch
unverzichtbare Orgelpunkt nur mit dem Tonhaltepedal gehalten werden. Die Lücke,
um den Orgelpunkt (plus den oktavierten Bass!) zu sichern, bietet sich fünf Takte vor
Schluss in Takt 83 (Beispiel 252).
Den A-Dur-Akkord zeitig loslassen, damit er
nicht mit in das Tonhaltepedal gelangt.
Beispiel 252

Takt 83 1
1 1

hinzufügen TP
Das a sehr kurz spielen, damit es nicht vom
Tonhaltepedal miterfasst wird.

Den Orgelpunkt sichern: In Takt 83 vom unteren System das obere der beiden Töne a mit der
rechten Hand spielen, dafür dem a im Bass das Kontra-A hinzufügen und diese tiefe A-Oktave
exakt zwischen den letzten beiden Takt-Achteln als Orgelpunkt ins Tonhaltepedal nehmen.
- 234 -
Die a-moll-Fuge (Beispiel 252) hat den Rahmen eines ein-manualigen Tasten-
instruments verlassen, der Gedanke an die Orgel stellt sich beinahe von selbst ein.
Die Fuge zeigt erneut: Bach dachte an sein kunstvolles Stimmengewebe, keineswegs
aber immer an eine feste Zuordnung zu einem bestimmten Instrument. Am Flügel
kann/darf man nach meiner Überzeugung diese Fuge gar nicht ohne Tonhaltepedal
spielen, weil ohne es der Orgelpunkt, der in Weseneinheit zum Fugenschluss gehört,
nicht klingend gehalten werden kann. Und: Es ist ein Orgelpunkt J. S. Bachs, keiner
der vielen ideellen Orgelpunkte, wie sie bei Debussy oder Rachmaninoff zu finden
sind und ohne große Einbußen für den Gesamteindruck oft vorzeitig abbrechen.
Das davor besprochene Beispiel 251 aus Busonis Sonatina seconda sowie etliche
Stellen aus Liszts Transkriptionen Bachscher Orgelwerke gehören ebenfalls zu den
eher seltenen Literaturstellen, bei denen man von einer objektiv künstlerischen
Notwendigkeit sprechen kann, das Tonhaltepedal einzusetzen.

PLATZIERUNG DES TONHALTEPEDALS ZWISCHEN KURZE NOTENWERTE

Entsprechend dem soeben Gesagten war Hermann Keller der Ansicht, die Fuge in
a-moll (Beispiel 252) gehöre nicht in das wohltemperierte Klavier, sie sei ein Orgel-
stück, der Orgelpunkt ab Takt 83 sei manualiter auf dem Klavier nicht ausführbar und
könne beim Klaviervortrag allenfalls von einem zweiten Spieler übernommen
werden. Aber Hermann Keller war Musikwissenschaftler und Kirchenmusiker, er war
kein Pianist.
Tatsächlich ist es nicht ganz leicht, in Takt 83 das Tonhaltepedal für den Orgelpunkt
zu platzieren, es muss rasch zwischen zwei kurz gespielte Noten gesetzt werden, eine
Aufgabe, die sich schon in Beispiel 246, einer Passage aus dem zweiten Satz von
Robert Schumanns C-Dur-Fantasie, gestellt hatte.
Für die Operation braucht es Geschick und Erfahrung, aber es bedarf keiner lang-
wierigen Übung, um damit vertraut zu werden. Jeder kann das leicht lernen.
Die Schwierigkeit hängt vom Tempo ab: Je langsamer die kurzen Töne aufeinander
folgen, desto leichter wird es, zwischen ihnen ein Tonhaltepedal unterzubringen.
Ein schnelles Tempo setzt dem Verfahren eine Grenze.
Zur Pedalkunst gehört, unabdingbar, auch die Fertigkeit, zwischen zwei kurz
klingende Töne entweder das rechte Pedal oder das Tonhaltepedal so zu setzen,
dass keiner der kurzen Töne vom Pedaltritt erfasst wird.
Das Thema wurde schon in Kapitel 7 angesprochen,
Deshalb bilde ich, rechts, das Beispiel 180 (Beethoven,
Sonate D-Dur, op. 28) aus Kapitel 7 noch einmal ab.
Die Stelle eignet sich hervorragend, um zu lernen, wie
man das Tonhaltepedal zwischen kurze Töne setzt.

Im Épilogue der Valses nobles & sentimentales von TP TP


Maurice Ravel gibt es eine Passage, wo man das Tonhaltepedal mit großem Vorteil
für die Artikulation zwischen zwei kurze Notenwerte platzieren kann (Beispiel 253).
Die Stelle ist die Erinnerung an den übermütig lärmenden Eingangs-Walzer, dessen
prononcierte Artikulation ebenfalls in die angewehte Erinnerung einfließen muss: als
sanftes, wörtliches (aber nicht zu streng konsequentes) Staccato-Pochen.
- 235 -

Beispiel 253 (Ravels Tempoangabe: Lento)

(pp) ( . . .) ( . . .) 2
Takt 43 4 hier event. rechtes Pedal hinzu

TP 1 5

Pedalfeld geht in den nächsten Takt hinein

Bei Liszts Klavierübertragung der Orgel-Fuge C-Dur von J. S. Bach, BWV 547
(Beispiel 254a) liegt, wie in Beispiel 252, der Fall vor, dass nur der Orgelpunkt ins
Tonhaltepedal gelangen darf, nicht aber andere Töne, die gleichzeitig mit dem
Orgelbass angeschlagen werden. In Takt 66 des Beispiels 254 a darf der über dem
Orgelbass liegende C-Dur-Akkord e1 - g1 - c2 nicht mit ins Tonhaltepedal gelangen.
Beispiel 254 a, Klavierfassung

Takt 63
Takt 66
( )

TP

zu Beispiel 254a: Vorgehen, um das Tonhaltepedal in Takt 66 unfallfrei einzusetzen:


- Lassen Sie sich rhythmisch ein wenig Zeit, da der Pedaltritt erst erfolgen darf, nachdem Sie
den C-Dur-Akkord darüber (e1-g1-c2) losgelassen haben; denn dieser Akkord muss zwar kurz
gespielt werden, darf aber nicht abgerissen klingen.
- Nehmen Sie das eingestrichene C (unter der Achtel-Pause) rechts mit dem Daumen, damit
Sie mit der linken Hand etwas länger in der Taste verweilen können und mehr Ruhe haben,
den Bass mit dem Tonhaltepedal sicher zu fixieren.
- Nehmen Sie, im Dienste einer luziden Stimmführung, nur das untere C der C-Oktave ins
Tonhaltepedal; Sie müssen also den linken Daumen, genau wie den C Dur-Akkord im oberen
System, gleich nach dem Anschlag und noch vor dem Treten des Tonhaltepedals loslassen.
- Wenn Sie beide Oktavtöne ins Tonhaltepedal nehmen, dürfen Sie das obere Oktav-c, das in
Liszts Klavierfassung bis zum Schluss noch mehrere Male vorkommt, nicht mehr anschlagen,
weil es sonst, da der Dämpfer frei liegt, mit jedem neuen Anschlag aufdringlich hervorträte.
- 236 -
Die Notwendigkeit, auch in Beispiel 254a das Tonhaltepedal einzusetzen, ist nach
meiner Überzeugung unabweisbar; andererseits müssen wir den Notentext aus der
Sicht Liszts lesen, der, als er diese Klaviertransskription schuf, das Tonhaltepedal
nicht gekannt hat.
Auf der Orgel bleibt das tiefe C bis zum Schluss in voller (und gleichbleibender!)
Lautstärke erhalten, dem Bearbeiter Liszt aber war bewusst, dass auf dem Klavier der
C-Orgelpunkt nur ein ideeller Orgelpunkt ist, der in Wirklichkeit rasch - schon nach
einem Takt! - abbricht. Deshalb lässt Liszt, um eine Erinnerung an den eigentlichen,
den verlorenen Orgelpunkt soll, irgendwie, wachzuhalten, ab Takt 66 das obere c der
Bass-Oktave, das in der Orgelversion gar nicht mehr auftritt, bis zum Schluss immer
wieder anschlagen, und statt des einfachen Basses der originalen Orgelversion setzt
er eine Bass-Oktave. Das sind notwendige Hinzufügungen für eine Klavier-
übertragung, mit dem Tonhaltepedal werden diese Hinzufügungen entbehrlich.
In Beispiel 254 b sehen Sie, zum Vergleich, den Text der originalen Orgelversion.
Das tiefe Orgelpunkt-C geht selbstverständlich bis zum Schluss durch.
Beispiel 254 b, originale Orgelversion (Breitkopf & Härtel, 1867)

Takt 66

WENN ES NICHT MÖGLICH IST, UNPASSENDE TÖNE


AUS DEM TONHALTEPEDAL HERAUSZUHALTEN

Die leicht erkennbaren, offenkundigen Fälle sind die, bei denen der Ton / Klang, der
ins Tonhaltepedal genommen werden soll, alleine steht. Meist ist das ein Basston.
Oft aber sollen Töne / Klänge in das Tonhaltepedal kommen, die von Tönen um-
geben sind, die, ihrerseits, nicht vom Tonhaltepedal erfasst werden sollen.
Die letzten drei Seiten brachten Beispiele für die nicht seltenen Fälle, in denen von
mehreren, gleichzeitig angeschlagenen Tönen nur bestimmte, erwünschte Töne vom
Tonhaltepedal erfasst werden sollen. Dies geschieht, um es noch einmal zusammen-
zufassen, so, dass das Tonhaltepedal in die kurze Leere zwischen zwei Tönen gesetzt
wird, von denen zumindest der erste Ton wörtlich kurz klingen muss. Voraussetzung
für das Gelingen der Operation ist ein nicht zu rasches Tempo.
- 237 -
In anderen, ebenfalls nicht seltenen Fällen aber ist es nicht möglich, unerwünschte
Töne aus dem Tonhaltpedal herauszuhalten; unvermeidbar gelangen sie mit in den
fortklingenden Bass. Ein unfreiwillig miterfasster Ton aber muss nicht stören, selbst
wenn er zur Bassharmonie unpassend dissonant ist. Der Ton stört nicht, wenn er sich
in schon relativ hoher Lage befindet oder wenn die Klänge, die auf den arretierten
Bass folgen, eine gewisse Dichtigkeit und Masse aufweisen, die den unpassenden
Ton absorbieren.
Dafür habe ich aus dem Andante caloroso (warmherzig) der Sonate Nr. 7, op. 83, von
Sergej Prokofjew einige Stellen ausgewählt (Beispiele 255 - 258), an denen das
Tonhaltepedal nicht nur sinnvoll ist, sondern, nach meiner Überzeugung, auch
künstlerisch notwendig.

Zuerst eine Stelle (Beispiel 255), an der die festzuhaltenden Klänge noch freistehen.
Die beiden Takte lassen besonders schön hörbar werden, wie mit dem Tonhaltepedal
voneinander unabhängige Klangebenen entstehen können: mächtige Blechbläser-
klänge in einem dichten, nur vom Tonhaltepedal besorgten Legato und energisch
dazwischenfahrende Kontrabass- und Cello-Einwürfe. Durch das Spiel ganz ohne
rechtes Pedal entstehen zwischen den Basseinwürfen und den Akkorden jeweils
kleine Lücken, während derer, überaus wirkungsvoll, die Blechbläserklänge alleine,
ganz für sich stehend zu hören sind.
Beispiel 255

Takt 53

. . . . .
. TP
. TP
TP TP TP
zu Beispiel 255: Die Blechbläser-Akkorde in dichtem Legato, das allein vom
Tonhaltepedal besorgt wird. Die dazwischenfahrenden Cello- und Kontrabass-
einwürfe in bedeutungsschwerem Portato und ganz ohne rechtes Pedal.

In den nächsten drei Beispielen könnte man die Soprantöne durch einen spitzen
Staccato- Anschlag vom Tonhaltepedal fernhalten, aber das klänge unmusikalisch, ja
lächerlich.
In Takt 44 von Beispiel 256 gehört die Bass-Oktave G in das Tonhaltepedal, das cis2
im Sopran wird dabei miterfasst.
Beispiel 256

Takt 43

TP
Beispiel 256: Das mitklingende cis2 wird ohne Störung von der dichten Harmonik aufgesogen.
- 238 -
Zwischen Takt 10 und 23 (Beispiel 257) sorgt das Tonhaltepedal an mehreren Stellen
für Luzidität und klare Stimmführung. Die unvermeidbar miterfassten Soprantöne
stören nicht, fügen sich gut in den Klang.

Beispiel 257 nachhorchen!

Takt 10

nachhorchen!
TP
TP

1 1
3 2 2
4 4
nachhorchen!
TP

Takt 20

1 1
3 2 2
4 4
TP
Beispiel 257: Schlagen Sie die mit dem mittleren Pedal festzuhaltenden Bässe diskret an, damit
sie nicht den ganzen Takt über dominant bleiben. Danach können (und sollen!) Sie mit jedem
Achtel Pedal wechseln. Die hinzugefügten Fermaten sind eine Aufforderung, einen Moment dem
aparten Klang nachzulauschen, der sich an diesen Stellen beim Pedalwechsel ergibt.

Etwas aufpassen muss man in Takt 51 (Beispiel 258). Dort stört es nicht, wenn das
fis2 des Soprans mit ins Tonhaltepedal gelangt, sehr wohl aber würde ein mit-
klingendes f1 der darunterliegenden Altstimme stören.

Beispiel 258

Takt 51
Takt 50

1 2 1 2 1 2
3 4 3 4
TP 5 5 5 5

Beispiel 258: Nehmen Sie sich in Takt 51 zwischen dem ersten und zweiten Sechzehntel
(f1 - fis1) etwas Zeit und spielen Sie das erste Sechzehntel, das f1, kurz, so dass nur das
darüber liegende fis2 des Soprans vom Tonhaltepedal miterfasst wird.
- 239 -
BEKANNTE KOMPONISTEN DES 20. JAHRHUNDERTS
UND DAS TONHALTEPEDAL

Die bekannten Komponisten der "Klassischen Moderne", Bartok, Prokofjew, der


Spätromantiker Rachmaninoff, alle ausgewiesene Pianisten, haben natürlich das Ton-
haltepedal gekannt. Obwohl sich in den Werken dieser Komponisten für das Ton-
haltepedal geeignete Stellen in großer Zahl bieten, gibt es dafür nur bei Bartok einige
Hinweise, von denen nur einer eindeutig ist.
Mehr als nur Spekulation ist: Diese Pianisten-Komponisten haben vielleicht an das
Tonhaltepedal gedacht, haben es aber dem Gespür der Pianisten-Kollegen überlassen,
selbst die dafür geeigneten Stellen zu finden, vergleichbar der lapidaren Bemerkung,
die Franz Liszt seiner Transkription der Tannhäuser-Ouvertüre vorangestellt hat:
"Verständiger Pedalgebrauch wird vorausgesetzt.“

Bartoks drittes Klavierkonzert habe ich 1990 einige Male gespielt und dabei die
As-Oktave in Takt 75 des ersten Satzes ins Tonhaltepedal genommen, das bei den
espressiven Vorhaltstönen h und d unbedenkliche Pedalwechsel möglich macht
(Beispiel 259). Der Eintrag "sustain pedal", notiert in der Ausgabe von Boosey und
Hawkes, stammt sehr wahrscheinlich von Bartoks Freund und Schüler Tibor Serly,
der das bei Bartoks Tod noch unvollendete Werk fertiggeschrieben und mit Spiel-
anweisungen versehen hat.
Beispiel 259

Takt 75

TP "Sustain pedal" nur in der Ausgabe von Boosey & Hawkes vermerkt.

Am Ende des zweiten Satzes desselben Konzertes steht vier Mal das Zeichen [sost].
Es kann einfach sostenuto (zurückhaltend, gehalten, getragen) bedeuten, oft wird es
als Sostenuto-Pedal interpretiert. Ich bin nicht davon überzeugt, dass das Zeichen
eine Aufforderung zum Einsatz des Tonhaltepedals ist (siehe Kommentar).
Beispiel 260

Beispiel 260: [sost.] ist kein sicherer Hinweis auf das Sostenuto-Pedal: In den ersten zwei Takten
des Beispiels reißt es, jeweils nach der ersten Zählzeit, unvermeidliche Löcher in die Melodie-
Oktaven. In den restlichen beiden Takten des Beispiels ist das Tonhaltepedal brauchbar.
- 240 -
Am Schluss der dritten Nummer aus Bartoks Suite op.14 (Beispiel 261) scheint das
Tonhaltepedal auf den ersten Blick unverzichtbar (siehe Kommentar).

Beispiel 261

TP
Beispiel 261: Das Tonhaltepedal ist im Schlusstakt eine Option, aber keine zwingende. Auch mit
dem rechten Pedal allein wird ein schönes Ausschwingen des vollständigen Klanges erreicht; denn
der auf der Schlussfermate notwendige Pedalwechsel lässt die ff-Bass-Oktave D selbst dann noch
hinreichend stark weiterklingen, wenn er relativ gründlich ausgeführt wurde.

Die einzige verbürgt von Bartok stammende Spielanweisung für das Tonhaltepedal
(prol. - Prolongations-Pedal) findet sich in Mikrokosmos, Band IV in "Auf der
Insel Bali" (Beispiel 262). Das Stück ist ohne Tonhaltepedal nicht ausführbar.
Beispiel 262

Sprechen wir über das Tonhaltepedal, müssen wir von Ferruccio Busoni sprechen,
dem Intellektuellen unter den bedeutenden Komponisten des 20. Jahrhunderts. Allein
dieses Kapitel brachte bis jetzt drei Passagen aus Busonis Klavierwerken als Bei-
spiele einer sinnvollen Anwendung des Tonhaltepedals.
Busoni hat sich als Einziger systematisch, forschend mit dem Tonhaltepedal befasst.
Im Jahre 1923 schrieb er für seine "Klavierübung", 9. Buch ("Sieben kurze Stücke zur
Pflege des polyphonen Spiels"), eine Studie für das Tonhaltepedal, "Ecercice pour
l'emploi de la troisième Pédale".
Die Uraufführung fand erst 1990 statt, in Bozen, und in recht ungewöhnlicher Form:
als Pflichtstück des 42. Busoni Klavierwettbewerbes. Wer sich mit dem Tonhalte-
pedal vertraut machen will, dem würde ich diese geistreiche Studie sehr empfehlen.
- 241 -
Soeben war noch die Rede von dem Gewinn an klanglicher Mehrschichtigkeit, erzielt
dadurch, dass sich mit dem Tonhaltepedal eine eigene, von den übrigen Stimmen
unabhängige Klangebene herstellen lässt. Eben dieser Vorteil tritt in Busonis Studie
zu Tage - auch äußerlich (Beispiel 263).
Er notiert die im Sostenuto-Pedal zu haltenden Klänge in einem eigenen Noten-
system. Im Verlauf der Studie gibt Busoni dezidiert an, wo das Tonhaltepedal mit
dem linken und wo es mit dem rechten Fuß zu nehmen ist.
Beispiel 263 a (Breitkopf & Härtel, 1925)

Beispiel 263 b (Manuskript)

Abbildung mit liebenswürdiger Genehmigung von Steinway & sons

Herr Dr. Andreas Sopart, Hüter des Archivs des Verlages Breitkopf & Härtel, teilte
mir am 16. 9. 2014 per E-Post mit, nach dem Erstdruck im Jahre 1925 habe es keine
Neuauflage der Studie gegeben und in die späteren Ausgaben der "Klavierübung" sei
die Studie nicht mehr aufgenommen worden.

Mehr als die Klavierwerke anderer Komponisten legen die von Claude Debussy die
Anwendung des Tonhaltepedals nahe. Dabei kannte Debussy das Tonhaltepedal
allenfalls von Hörensagen.
Herr Dr. Christian Blüthner-Haessler gab mir am 16. Juni 2014 Auskunft über
Debussys Blüthner-Flügel: Er war Baujahr 1884 und 190 cm lang. Auf ihm hat
Debussy sein gesamtes Klavierwerk komponiert. Seine langen Orgelpunkt-Bässe sind
somit als ideelle Orgelpunkte zu verstehen. Hätte Debussy das dritte Pedal gekannt
- 242 -
oder zur Verfügung gehabt, wäre es ihm vielleicht eine Freude gewesen, seine
ideellen Orgelpunkte in tatsächlich durchklingende Bässe verwandelt zu erleben.
Ich zitiere die Musikwissenschaftlerin Dr. Regina Back:
"Ob Debussy das Tonhaltepedal kannte, ist nicht bekannt. Als sein Erfinder gilt Jean
Louis Boisselot, der 1844 einen damit versehenen Flügel in Paris vorstellte und das
Patent für die Erfindung erwarb. Weitere, jedoch zögerliche Verbreitung fand es
allerdings erst durch die von Albert Steinway ab 1875 in New York produzierten
Instrumente. Debussys Blüthner-Flügel indes war nicht mit einem Tonhaltepedal
ausgestattet, und Debussy selbst hat es in seinen Klavierwerken nirgends explizit
vorgeschrieben, gleichwohl drängt sich seine Verwendung in Passagen mit liegenden
Stimmen und Orgelpunkten förmlich auf."

Und in einem Vortrag über das Tonhaltepedal, gehalten von Prof. Peter Roggenkamp
im Jahr 2000 in Leipzig, heißt es zu Debussy: "... bietet sein Schaffen eine Fülle von
Beispielen, die das Tonhaltepedal unumgänglich machen, ist er doch ein Meister der
Arbeit mit Liegestimmen und wunderbaren, gongartigen Orgelpunkten."

Eine der bekanntesten Literaturstellen für die Anwendung des Tonhaltepedals ist
Debussys "La Cathédrale engloutie“ aus den Préludes (Beispiel 264)

Beispiel 264

Takt 1 Takt 3

? ? TP
TP

Takt 5

zu Beispiel 264: TP
a) Das Tonhaltepedal in den Takten 1 und 3 ist überflüssig: Die aufwärtssteigenden Klänge
blubbern spannungslos ohne Strebetendenz dahin und passen problemlos auf ein Pedal.
Voraussetzung ist, wie immer, die angemessene Klangmischung: rechts der 5. Finger hell
hervortretend, die Doppelgriffe links so leise wie möglich.
b) In Takt 5 dagegen ist es sehr reizvoll, das Tonhaltepedal zu nehmen. Der Reiz besteht
darin, dass oben, am Ende des Aufgangs, die drei Spitzentöne e1, e2, e3, ohne die Klänge
dazwischen, zusammen mit den drei Basstönen zu hören sind.

In Beispiel 265 ist man im Hauptschiff der versunkenen Kirche angelangt, die Musik
schreitet in weihevollem Aplomb einher, der Einsatz des Tonhaltepedal wird jetzt
nicht nur sinnvoll, sondern notwendig.
- 243 -

Beispiel 265

Takt 28

TP

Vorschläge zur Anwendung des Tonhaltepedals bei Debussy finden Sie in dem Skript
des soeben erwähnten Vortrages von Prof. Peter Roggenkamp; das Skript hat den
Titel „Anmerkungen zum Tonhaltepedal" und kann über die EPTA bezogen werden.

DIE HAUPTFUNKTION: SAUBERE WECHSEL ÜBER LIEGENDEN BÄSSEN

Die bedeutendste der bisher vorgestellten Funktionen des Tonhaltepedals war der
Gewinn an Deutlichkeit für Artikulation und Stimmführung. Seine bekannteste
Eigenschaft aber ist sicherlich, dass es saubere Pedalwechsel von Harmonien und
Melodietönen über liegenden Bässen erlaubt.

Eine dafür sehr bekannte Literaturstelle ist die vierte Nummer aus Robert Schumanns
„Faschingsschwank aus Wien", op. 26 (Beispiel 266).
Beispiel 266

TP
Das Tonhaltepedal ermöglicht Pedalwechsel auf den Tenor-Tönen ohne Verlust des tiefen Es.
- 244 -
Sergei Rachmaninoffs Prélude cis-moll, op. 3, Nr. 2 (Beispiel 267) ist das ideale
Einstiegs-Stück für die, die das Tonhaltepedal nicht kennen und damit vertraut
werden wollen. Der Bedienung des Tonhaltepedals ist hier sehr angenehm, weil alle
zu arretierenden Bass-Noten frei liegen und für den Pedaltritt stets viel Zeit bleibt.
Beispiel 267

TP
* TP

TP
TP * * TP
Beispiel 265: Das Stück ist ideal als Einstieg für diejenigen, die mit dem Tonhaltepedal noch nicht
vertraut sind. Und ein Neuling sollte es auch bei jeder halben und ganzen Bass-Note, später bei
den vollen Akkorden, unbekümmert nehmen, obwohl auch bei diesem Stück das Tonhaltepedal
keineswegs bei jedem freistehenden Bass angebracht ist.

Diese Funktion, saubere Pedalwechsel über liegenden Stimmen, spielte bei den
meisten der bisher behandelten Beispiele ebenfalls eine selbstverständliche, wenn
auch nicht eigens erwähnte Rolle. Ein gesonderter Blick darauf aber ist notwendig,
weil sich aus einer unbekümmerten Anwendung des Tonhaltepedals große künstleri-
sche Nachteile ergeben können. Es wird zur Marotte, wenn es eingesetzt wird, wo
immer ein freiliegender Bass in Sicht ist. Gerade weil das Tonhaltepedal immer
saubere Harmoniewechsel ermöglicht, ist Umsicht erforderlich.
Wenn Harmonien über liegende Bässe hinweg ziehen, müssen wir jedes Mal, für
jeden einzelnen Fall, neu entscheiden, ob das Tonhaltepedal künstlerische
Vorteile bringt.
Drei Beispiele, 268, 269 und 270, sollen zeigen, welche Nachteile ein gedankenloser
Einsatz des Tonhaltepedals nach sich ziehen kann.
Beispiel 268 aus der Schlussfuge von Brahms’ Händel-Variationen, op. 24 bezieht
sich auf den eingangs des Kapitels erwähnten Einwand, dass von Tonhaltepedal
erfasste Bässe auf Halb- und Viertelpedalwechsel nicht ansprechen und deshalb oft
zu sehr hervorstechen. Eben deshalb habe ich - siehe Beispiel 240 - Josef Banowetz’
Vorschlag kritisiert, in Takt 5 des ersten Satzes in Brahms’ f-moll-Sonate die Kontra-
Oktave C ins Tonhaltepedal zu nehmen. Aber Banowetz‘ Vorschlag ist immer noch
eine gangbare Lösung, da ja auch ins Tonhaltepedal genommene Bässe diminuieren.
An der zitierten Stelle der Händelvariationen aber wird die unseligerweise ins Ton-
haltepedal genommene Bass-Oktave F danach noch oft hintereinander angeschlagen.
- 245 -
Das Beispiel mit den Händelvariationen kommt aus der Erinnerung an eine Diplom-
prüfung vom Juni 2008 an der Hochschule Würzburg. Im Takt 332 der festlichen
Schlussfuge hatte eine japanische Studentin auf Anraten ihrer Lehrerin, einer Hoch-
schul-Kollegin, den Bass-Orgelpunkt F ins Tonhaltepedal genommen.
Dies erfordert ein wenig Geschick, gelingt aber leicht nach einiger Übung: Man muss
- siehe auch Beispiel 252, Takt 83 - den mit dem Bass gleichzeitig angeschlagenen
arpeggierten F-Dur-Akkord kurz vor dem Treten des Tonhaltepedals loslassen und
darauf achten, dass das rechte Pedal nicht getreten ist.

Die F-Oktave kommt neun Mal hintereinander, der durchwegs dröhnende, durch
kleine Pedalwechsel nicht zähmbare Orgelpunkt verdunkelte die hellen Gänge der
darüber liegenden Stimmen fast vollständig; zudem schlug die Pianistin die Bass-
Oktave jedes Mal mit der heftigster Markierung an. Ich war in der Jury und dachte:
Warum legt sie ständig Briketts nach, wenn der Ofen schon am Überglühen ist!?
Beispiel 268
.

Takt 332

??
TP
zu Beispiel 268: Es ist unsinnig, in Takt 332 die Bass-Oktave ins Tonhaltepedal zu nehmen, da der
Orgelpunkt zu keinem Moment abbricht. Zwischen den neun Mal wiederholten Anschlägen wird
die Wucht der Bass-Oktave durch die dazwischen erfolgenden kleinen Pedalwechsel jeweils ein
klein wenig geschwächt, aber eben diese Schwächung ist im Sinne der Musik. Das Diminuieren
des Basses zwischen seinen Wiederholungen verhindert, dass er zu dominant wird und die hellen
Gänge der Oberstimmen verdunkelt.

Beispiel 269 aus Brahms’ Intermezzo b-moll, op. 117, Nr. 2 bezieht sich auf einen
anderen der zu Beginn des Kapitels erwähnten Einwände, nämlich den, dass das
Tonhaltepedal zu Pedalwechseln verführt, wo diese künstlerisch unangebracht sind.
In seinem Skript über das Tonhaltepedal empfiehlt ein Kollege, in Takt 73 den
B-Dur-Quartsextakkord bzw. in Takt 75 den Des-Sextakkord ins Tonhaltepedal zu
nehmen, um so die schmerzlichen Vorhalte e2 in Takt 73 und g2 in Takt 75 auszu-
filtern. Gerade deren Verbleib im Pedalfeld aber verleiht dem Klang erst seinen
unerhörten Reiz süßer Wehmut. Die Vorhalte zu eliminieren ist eine Empfehlung,
wie sie unglücklicher nicht sein könnte.
Beispiel 269

dolce
Takt 75
Takt 73

TP
TP
?? ??
- 246 -
ZWEI BESONDERHEITEN DES TONHALTEPEDALS

Zwei Seiten zuvor waren drei Beispiele angekündigt, die die Nachteile der kritiklosen
Anwendung des Tonhaltepedals offenlegen. Beispiel 270 aus Listzs Mazeppa-Etüde,
das dritte dieser Beispiele, berührt zwei Besonderheiten des Tonhaltepedals, über die
bisher nicht gesprochen wurde.

Was die erste Besonderheit angeht, erinnere ich an die Experimente im sechsten
Kapitel in dem Abschnitt „Modifikation des Pedalgebrauchs im forte-Spiel“, wo das
unterschiedliche Klang- und Verkling-Verhalten von Akkorden gezeigt wurde, je
nachdem ob sie mit oder ohne (rechtes) Pedal gespielt werden.
Wenn Sie einen grundtongestützten Akkord in mächtigem forte anschlagen und dann,
vielleicht nach einer Sekunde, das Pedal wechseln oder wegnehmen, werden Sie fest-
stellen, dass die Bässe hervortreten und die hohen Töne stark zurücktreten. Um einem
Akkord Glanz, Weite, orchestrale Fülle und, vor allem, einen tragfähigen Diskant zu
verleihen, braucht er sofort die Unterstützung des rechten Pedals, ein später hinzu-
tretendes rechtes Pedal kann die Einbuße an Glanz, Fülle, Weite, Sonorität nicht
wettmachen. Und bekanntlich ruht das rechte Pedal in dem Moment, in dem ein
Akkord in das mittlere genommen wird.
Töne, die angeschlagen und mit dem Tonhaltepedal festgehalten werden, sind
klanglich identisch mit Tönen, die ohne rechtes Pedal angeschlagen und mit den
Fingern festgehalten werden.

Die zweite Besonderheit ist ein Verzögerungsmoment technischer Natur.


Um einen Griff zuverlässig ins Tonhaltepedal zu bekommen, dauert es ein wenig
länger, als wenn er nur vom rechten Pedal erfasst würde; die Finger müssen, damit
das Tonhaltepedal sicher einrastet, eine Winzigkeit länger in den Tasten verweilen,
mit dem dritten Pedal kommen die Finger nicht so schnell aus den Startlöchern.
Hinzuzurechnen ist der kleine Moment, in dem, um das mittlere Pedal einzusetzen,
das rechte weggenommen werden muss. Die Verzögerungen machen nur Sekunden-
bruchteile aus, eben diese aber können, z. B. bei schnell aufeinander folgenden
Positionswechseln, ohnehin Schweres in die Region der Unspielbarkeit bringen.

Die geschilderten Besonderheiten kamen bei einem künstlerisch-biographischen


Unfall zum Tragen, vom dem ich berichten möchte.
Bald nach der Absolvierung der Meisterklasse hatte ich einen Schallplattenvertrag bei
EMI, der damals weltweit bedeutendsten Plattenfirma, bekommen. Die erste Platte,
eine LP mit Werken Franz Liszts, erlangte ziemlich viel Aufmerksamkeit, weil sie
Kompositionen aus dem genialen und bis dahin beinahe noch völlig unbekannten
Spätwerk enthielt, mit dem Franz Liszt, wie kein Zweiter, die Musikentwicklung bis
weit hinein ins 20. Jahrhundert geprägt und vorweggenommen hat.
Aber ich wollte auf der Platte auch Werke aus Liszts Zeit der ungebrochenen Freude
an Klang und Virtuosität zeigen. Dabei galt mein besonderer Ehrgeiz der Etüde
Mazeppa. Ein Jahr zuvor hatte ich die Etüde um jeden Preis lernen wollen, ohne sie
überhaupt zu kennen - nur aus einem Grund: Ich hatte erfahren, dass Mazeppa als
eines der technisch schwersten Werke der Klavierliteratur gilt, das einzige Werk, vor
dem sich, nach eigenem Bekunden, sogar Claudio Arrau gefürchtet hat.
- 247 -
Bei der Aufnahme folgte ich dem Rat Ludwig Hoffmanns, die Etüde mit dem Ton-
haltepedal zu spielen. Hoffmann hat viele gute Ratschläge gegeben, einen dümmeren
aber als den, die Mazeppa-Etüde mit dem mittleren Pedal zu spielen, hätte er nicht
geben können. Und dumm ist, der dem Rat folgt. Aber ich hatte keinerlei Erfahrung.
Werde das Thema, so die Idee, ins mittlere Pedal genommen, könne man das rechte
sparsam verwenden und das Martellato der Terzen trete prägnanter hervor.
Das Knattern der Terzen aber wird auch mit dem rechten Pedal gut hörbar, weil es
mit ständigen kleinen Wechselbewegungen bedient wird und selbstverständlich nicht
durchgehend über die Terzengänge hinweg niedergedrückt bleibt.
Entscheidend aber ist: Durch die Pedal-Askese im Moment des Anschlags geht die
orchestrale Wucht verloren, die Soprantöne des Themas verlieren ihre Leuchtkraft
und werden nur als Punkte gehört.
Beispiel 270

4 5 4 5
2 1 2 1
2 1

2 1
2 1
5 3 2 1 4 3 2 1
5 3 4 3

TP ?? TP ??

?? ??
TP TP

zu Beispiel 270: Viele weichen den enormen Schwierigkeiten mit Hilfe einer rhythmischen
Verzerrung aus: Die Terzen werden „gestaucht“, das heiß, sie werden rhythmisch schneller
gespielt, um so für die 32stel-Sprünge Zeit zu gewinnen, die dann zu breit und oft sogar noch
langsamer geraten als die Sechzehntel-Notenwerte davor.

Auf die Ausführung mit Tonhaltepedal hatte ich mich erst kurz vor der Aufnahme
umgestellt - und war damit überfordert. Die Etüde verschlang die Hälfte der gesamten
Aufnahmezeit. In vielen, am Ende nur noch klein portionierten Versuchen wurden
meine Finger müde. Trotz der Schneidekunst von Johann-Nikolaus Matthes, des
Tonmeisters (siehe Ende Kapitel 4), war dem Ergebnis immer Bemühtheit anzuhören.

Einige Jahre später, 1985, habe ich, für den NDR Hannover, die Mazeppa-Etüde noch
einmal aufgenommen und konnte dabei den bemühten Eindruck der EMI-Produktion
mit einer Aufnahme revidieren, mit der ich noch heute zufrieden bin.
- 248 -
Anmerkung: Dem Exkurs zu Liszts Mazeppa-Etüde fehlt eine Anmerkung zu dem von Liszt
stammenden Fingersatz, der fordert, die sich ablösenden Terzen durchgehend mit dem Fingersatz
2 - 4 bzw. 4 - 2 zu stoßen. Zu Liszts Zeit hatten Flügel eine geringere Tastentiefe, deshalb war
dieser Fingersatz damals - vielleicht! - möglich, aber selbst mit dieser Erleichterung halte ich es
für ausgeschlossen, mit dem Originalfingersatz auf ein Tempo zu kommen, das, soll die Etüde
furios klingen, etwa mit ein Viertel = 108 anzusetzen wäre. Es ist undenkbar, dass der erfahrene
Praktiker Franz Liszt sich dessen nicht bewusst gewesen sein sollte. Sein Fingersatz ist somit keine
Aufforderung zu wörtlicher Befolgung (und damit zu faktischer Unausführbarkeit), vielmehr ist er
ein interpretatorischer Hinweis, ein Hinweis auf strenge Fingertrennung, auf knatterndes Martellato
oder, der poetischen Vorlage folgend, auf den rasenden Galopp des Pferdes beim Todesritt des
Kosakenführers Jan Mazeppa.
Chopins zeitraubende Fingersätze im Mittelteil der Oktaven-Etüde op. 25, Nr. 10 sind ebenfalls in
erster Linie interpretatorische Hinweise, sind eine mit vielen stummen Fingerwechseln sichtbar
gemachte Ermahnung zu einem dichten verschmelzenden Legato (siehe Beispiel 78, Kapitel 4).

DER ÈPILOGUE AUS DEN VALSES NOBLES ET SENTIMENTALES

Das Für und Wider des Tonhaltepedals lässt sich sehr gut am Épilogue der Valses
nobles & sentimentales von Ravel erörtern, wo die Themen der vorausgegangenen
Walzer wie aus einer ferner Erinnerung angeweht kommen (Beispiele 271 - 274).
Eine Stelle daraus, an der der Einsatz des Tonhaltepedals günstig ist, wurde mit dem
Beispiel 253 schon vorgestellt. Der Épilogue stellt höchste Anforderung an die
Pedalkunst und ist, wie die Valses nobles & sentimentales selbst, ein Prüfstein
klanglicher Raffinesse.

Zu Beginn des Épilogue (Beispiel 271) wähle ich, statt das Tonhaltepedal zu nehmen,
lieber eine Handaufteilung, mit der sich das a im Bass manuell festzuhalten lässt.

Beispiel 271

( )

Wie gut ein Pedalfeld verschiedene Harmonien verträgt, hängt von drei Faktoren ab:
der Tonhöhe, der Klangmischung und dem Tempo. Dissonierende Harmonien in sehr
hoher Lage werden leicht absorbiert, in sonorer Lage passen sie in ein Pedalfeld
dann, wenn sie sehr leise und nicht zu schnell hintereinander gespielt werden.
Sie verklumpen, wenn sie schnell und laut gespielt werden, sie bleiben unterscheid-
bar, wenn sie leise gespielt werden und nicht zu schnell aufeinander folgen.

Schon erwähnt wurde: Das mittlere Pedal hat großen Einfluss darauf, wie wir das
rechte bedienen. Da mit dem Tonhaltepedal Bässe garantiert erhalten bleiben, ver-
führt es dazu, mit dem rechten Pedal sorgloser, gröber umzugehen. Ein unbekümmert
angewandtes Tonhaltepedal kann - dies ist meine feste Überzeugung - zu einer
Einbuße an klanglicher Finesse führen. Und diese Gefahr ist oft gerade dort gegeben,
wo sich das Tonhaltepedal wie selbstverständlich anbietet (Beispiel 272).
- 249 -
Beispiel 272 Oberstimme „ff "

Takt 25
T. 29

TP ? pp
TP
*
Oberstimme "ff "

Takt 30 Takt 32 Takt 33

( ) TP ? pp
( ) TP

T. 35 Takt 36 Takt 37 Takt 39

TP
* 1 5
( )

(ritard.)
Takt 40 Takt 42

Kontra-G stumm nachgreifen!

Beispiel 272, Anwendung des Tonhaltepedals:


- Takt 25-26: Das Tonhaltepedal ist sinnvoll; da hier obendrein für dessen Einsatz viel Zeit
bleibt, kann man mit dem linken Fuß zusätzlich zum mittleren auch das linke Pedal treten.
- Takt 29-30: Das Tonhaltepedal ist entbehrlich. Zwar ist auf der Eins von Takt 30 ein flüchti-
ger Pedalwechsel notwendig, den aber überlebt das Kontra-E leicht, wenn es zuvor mit einer
gewissen Bedeutung angeschlagen wurde. Das Kontra-E ist dann nicht mehr bewusst wahr-
nehmbar, dennoch bleibt es wirksam. Bei einem zusätzlichen Pedalwechsel auf dem dritten
Viertel von Takt 30 erlischt der Bass kurz vor dem Ende seines Notenwertes. Und wenn schon!
- Takt 31-32: Hier ist das Tonhaltepedal zu empfehlen: Die Klänge sind entschiedener,
gegenwärtiger, lauter, sollten individueller hervortreten, sich deutlicher unterscheiden. Die
Pedalwechsel sind deshalb gründlicher und das E im Bass bleibt erhalten und präsent.
- Takt 33: Das Tonhaltepedal ist nicht nötig. Auf dem letzten Viertel von Takt 34 ist ein
Pedalwechsel erforderlich, wodurch möglicherweise das Bass-Cis für die Dauer eines Viertels
verloren geht, was nicht stört, weil das Cis in Takt 35 sofort wieder aufgenommen wird.
- Takt 36: Der Akkord in halben Noten hat Bedeutungsschwere; der dort erforderliche Pedal-
wechsel unterbricht das Bass-Cis für den Moment eines Viertels.
- Takt 37: Das Kontra-Fis wegen der chromatischen Tenorlinie ins Tonhaltepedal nehmen.
- Takt 40: Das Kontra-G vor dem Pedalwechsel auf dem dritten Viertel stumm nachgreifen!
- 250 -
Die Takte 57 und 58 sind im Épilogue die Momente größter Eindringlichkeit, das
Tonhaltepedal bietet sich als vernünftige Lösung an, dennoch widerstrebt es meinem
Gefühl, das Kontra-G (oder auch beide Oktavtöne G) ins Tonhaltepedal zu nehmen.
Der Grund ist vermutlich: Die beiden Takte in ein Pedalfeld zu bekommen, ist eine
Herausforderung an die Pedalkunst und die Fähigkeit zur Klangmischung. Mit dem
Tonhaltepedal fällt die Herausforderung weg (Beispiel 273, siehe Kommentar).
Beispiel 273
„ff“

Takt 57

TP ?
„ff“

42
1 Takt 60
Takt 58

Bis zum Taktende ohne


Pedal, nur die beiden
Basstöne G festhalten.
. Kommentar zu Beispiel 273:
- Takt 57-58: Das Tonhaltepedal ist entbehrlich. In dem langsameren und weiter langsamer
werdenden Tempo können die Klänge nicht verklumpen und mit der richtigen Klangmischung,
Oberstimmen gleißend hell („ff“) Mittel - und Unterstimmen sehr diskret, passen beide Takte
auf ein Pedalfeld; erst auf dem letzten Achtel von Takt 58 ist ein kleiner Pedalwechsel nötig.
- In Takt 58 muss man auch in den Akkorden der linken Hand die Oberstimme hervorheben.
- Takt 60 wird am besten ganz ohne (rechtes) Pedal gespielt, damit die pochende Artikulation
der zweiten Takthälfte (Zitat des Eingangswalzers) hörbar wird (siehe auch Beispiel 253), die
liegenbleibenden Oktavtöne im Bass, Kontra-G und g, fungieren als „Fingerpedal“.

In Takt 62 ist das Tonhaltepedal gut brauchbar (Beispiel 274), aber auch ohne
Tonhaltepedal überlebt das Kontra-G einen Halb-Pedalwechsel in Takt 63, wenn es
mit einer gewissen Bedeutung angeschlagen wurde.

Beispiel 274

Takt 61 Takt 63

TP
( )
Beispiel 274: Voraussetzungen einer guten Ausführung ohne Tonhaltepedal sind große Laut-
stärkenunterschiede zwischen den Akkorden links („ppp“) und einer sehr hellen Oberstimme der
Akkorde rechts („f“). Mit dem Tonhaltepedal werden diese Voraussetzungen weniger streng.
- 251 -
DIREKTE UND INDIREKTE WIRKUNG DES TONHALTEPEDALS

Die Vorteile und Nachteile des Tonhaltepedals wurde bisher an Beispielen erörtert,
bei denen Töne klingend angeschlagen und ins Tonhaltepedal genommen werden.
Nur bei zwei Beispielen, dem Anfang von Debussys „Pour le piano“ (Beispiel 235)
und Busonis „Sonatina seconda“ (Beispiel 250), wurden nicht angeschlagene Tasten,
sondern vor Spielbeginn stumm gedrückte ins Tonhaltepedal genommen. Und in
beiden Fällen waren die arretierten Töne sehr tiefe Basstöne, die in den Takten nach
Spielbeginn nicht mehr als anzuschlagende Töne vorkamen. Das Tonhaltepedal
entfaltet so seine Wirkung indirekt über die mitschwingenden Obertöne des stumm
gedrückten und mit dem Tonhaltepedal fixierten Basstones, so wie in Beispiel 235
durch das vorab fixierte Sub-Kontra-A im Prélude aus "Pour le piano“.
Gelegenheiten, das Tonhaltepedal auf diese Weise einzusetzen, bieten sich nicht oft,
gleichwohl entfaltet es, so eingesetzt, seine schönste und berückendste Wirkung.
Angenehm unaufdringlich, nobel zurückhaltend operierend ist der Effekt dennoch
groß: Der Gesamtklang gewinnt sofort an Weite, gleichzeitig wird er luzider, ohne
dass selbst Kenner die Ursache dafür registrierten.

Auch in Rachmaninoffs Prélude c-moll, op. 23, Nr. 7 (Beispiel 275) ist es günstiger
(und klanglich viel reizvoller!), vor Spielbeginn statt des notierten C das Kontra-C ins
Tonhaltepedal zu nehmen: Wer das notierte Bass-C ins Tonhaltepedal nimmt, muss
es in Takt 13 wieder loslassen und hat, wenn man ab Takt 17 den durchgehenden
Orgelpunkt eben brauchte, keinen mehr zur Verfügung; mit dem gehaltenen Kontra-C
aber kann das Tonhaltepedal bis Takt 29 getreten bleiben.
Beispiel 275

8 vor Spielbeginn statt des notierten C (sf) besser das Kontra-C stumm ins Tonhaltepedal nehmen!
TP

Takt 3

Beispiel 275 (Fortsetzung)

Takt 6
- 252 -

Takt 9

Takt 13

Takt 16

Takt 18

Takt 21

Takt 24
- 253 -

Takt 27
Takt 29

erst hier das Tonhaltepedal mit dem stumm


festgehaltenen Kontra-C wegnehmen.
Beispiel 275: Das Kontra-C, vor Spielbeginn mit dem Tonhaltepedal arretiert, wird direkt
erstmals in Takt 17 angeschlagen. Davor wirkt es nur mittelbar und diskret über die Oberton-
resonanz und kann während der Takte 13 bis 16, die sich harmonisch mit dem Orgelpunkt C nicht
vertragen, ohne weiteres beibehalten werden. Erst in Takt 29 muss man dann das Tonhaltepedal
loslassen und der Orgelpunkt kann bis dahin wirksam bleiben. Nimmt man das notierte Bass-C
vor Spielbeginn stumm ins Tonhaltepedal, muss man den Orgelpunkt schon in Takt 13 aufgeben.

Natürlich muss das Tonhaltepedal seine Wirkung nicht nur indirekt und in nobler
Zurückhaltung ausüben, es soll, wenn es angemessen ist, auch selbstbewusst und
plakativ aufzeigend eingesetzt werden.

In der Einleitung, Prélude, zu Bachs sechster Englischen Suite (Beispiel 276) bietet
es sich an, den Orgelpunkt d nach unten mit einer Doppeloktave zu ergänzen. Das
kann auf zwei Arten geschehen: Einmal kann man vor Spielbeginn die tiefe Oktave
stumm ins Tonhaltepedal nehmen (Beispiel 276 a).
Beispiel 276 a

TP stumm ins Tonhaltepedal?

Diese Lösung klingt atmosphärisch sehr schön, ist aber in diesem Fall die etwas
langweiligere, zu zurückhaltende, zu vorsichtige Lösung. Denn diesem Anfang liegt
die Idee einer mächtigen Orgeleinleitung zugrunde, was dazu berechtigt, die Doppel-
oktave unter dem notierten d mit vollem forte-Anschlag ins Tonhaltepedal zu nehmen
und seine mächtige Wirkung selbstbewusst aufzuzeigen. Auch Musikhistorisch ist
dieses Verfahren völlig legitim. Prof. Klemens Schnorr, mein ehemaliger Orgel-
Kollege an der Freiburger Musikhochschule, sagte mir, er würde, spielte er diese
Suite auf der Orgel, die tiefe Doppeloktave D mit den Fußtasten mitklingen lassen.
Die Idee einer großen Orgeleinleitung erhellt sich aus Text und Charakter des Werks.
Diese Einleitung, Prélude, erscheint nur auf den ersten Blick als lichter Klaviersatz.
Ein genauerer Blick, etwa auf die zweite Zeile von Beispiel 276 c, lässt erkennen,
dass Bach eine dichte und dramatische Harmonik hörte: Beflissen verlängert er
beinahe jeden Ton mit zusätzlichen Hälsen, Punkten und mit Bögen, die von den
Noten wegführen. Ihm schwebte ein Weiterklingen der Töne, sprich: eine Pedal-
wirkung vor, die er, da er das Pedal nicht kannte, als „Finger-Pedal“ niedergelegt hat.
Sie können an dieser Stelle kurz zum dritten Kapitel zurückgehen, wo anhand der
Beispiele 60, 61 und 62 das Pedal bei J. S. Bach erörtert ist.
- 254 -
Zusätzlich lohnt der Blick auf die ganze sechste Englische Suite. Sie ist die längste,
leidenschaftlichste, technisch anspruchsvollste (Gigue), ach was! die tollste aller
Bach-Suiten, und die ersten zwei Seiten, denen die Beispiele 276 a - c entnommen
sind, leiten das Werk mit großer Geste ein, das danach attacca mit einer langen und
virtuosen da-capo-Fuge stürmisch fortfährt.
Beispiel 276 b

„ff“
“ TP (halten bis Takt 6)

Takt 6

Geradezu überwältigend tritt der Charakter der großen Orgeleinleitung hervor, wenn
in Takt 19 im Bass neben dem notierten a auch das Kontra-A und das Sub-Kontra-A,
der tiefste Ton der Klaviatur, angeschlagen werden und als gewaltige Orgelpunkte
mitschwingen (Beispiel 276 c).
Beispiel 276 c

145 21 T. 19

Kontra-und Sub-Kontra-A hinzu!


TP (halten bis T. 24)

Takt 24

Mit der Gavotte II, einer Musette, ebenfalls aus Bachs sechster Englischen Suite
(Beispiel 277), möchte ich wiederum einen indirekten Orgelpunkt vorstellen, der, nie
direkt angeschlagen, nur über seine Obertöne eine wahrhaft berückende Wirkung
ausübt. Edwin Fischer sagte über diese Musette: "Das d des Basses muss zart durch
das ganze Stück summen."
Die zauberhafte Orgelpunktwirkung hat einen kleinen operativen Aufwand verdient:
Es gilt, im Übergang von Gavotte I zu Gavotte II das stumm gedrückte Kontra-D
ohne die beiden notierten Töne D und d2, zumindest ohne das D im Bass, ins Ton-
haltepedal zu bekommen, und zwar mit dem rechten (!) Fuß (siehe Kommentar).
- 255 -

Beispiel 277
( )

Takt
33

Das Kontra-D (rasch) stumm greifen und mit dem rechten (!) Fuß ins mittlere Pedal nehmen
Das linke und das mittlere Pedal bleiben während der Gavotte II durchwegs niedergedrückt. TP

Beispiel 277:
- Lassen Sie im letzten Takt der Gavotte I (Takt 33) die beiden Töne D und d2 gleich im
Anschlag los und drücken Sie, noch in der Loslassbewegung, das Kontra-D stumm nieder.
Die beiden losgelassenen Töne klingen wegen des noch getretenen rechten Pedals weiter.
- Treten Sie nun das mittlere Pedal mit dem rechten (!) Fuß. Dadurch dass der rechte Fuß vom
rechten Pedal weggezogen wird, entsteht von selbst die Pedal-Lücke, die für den Einsatz des
mittleren Pedals Bedingung ist.
- Die kleine Klanglücke, die im Übergang zur Gavotte II (Musette) durch das kurze Wegnehmen
des rechten Pedals entsteht, nimmt das Ohr nicht als störende Unterbrechung wahr, weil die
beiden losgelassenen Töne D und d2 als gut vernehmliche Obertöne des stumm genommenen
Kontra-D weiter vibrieren.
- Die Operation macht, selbst wenn sie geschickt ausgeführt wird, eine kleine rhythmische
Verzögerung unumgänglich; diese aber ist an dieser Übergangsstelle im Sinne der Musik.
Beispiel 277, Ausführung
Die Gavotte II sollte dann völlig ausdruckslos, beinahe spieldosenhaft gleichgültig in
einem nuancenlosen pp gespielt werden. Das linke Pedal und das mittlere Pedal
bleiben durchgehend niedergedrückt. Allein der sich von selbst weit ausbreitende
Klang ist der Ausdruck. Kaum bei einem anderen Stück ist mir so wie bei dieser
Gavotte II aufgegangen, dass der angemessene Ausdruck manchmal gerade in der
Ausdruckslosigkeit, im Nichts-Machen, im Absolut-nichts-Machen bestehen kann.
- 256 -
Die Einleitung und die Gavotte II der sechsten Englischen Suite habe ich immer in
der soeben beschriebenen Weise ausgeführt, auch 1979 bei meiner Rundfunk-
einspielung der Suite für den damaligen Sender RIAS Berlin. Nach meinem Klavier-
abend vom 8. November 1979 in der Stadthalle Bayreuth, in dem die Suite ein
gewichtiger Programmteil war, wurde mir die Kritik eines Besuchers hinterbracht,
ich spielte einen "katholischen Bach", eine Kritik, die ich eher als Kompliment nahm:
sinnliche Musik zu sinnlicher Religion.

PARTIELLES TONHALTEPEDAL

„Partielles Tonhaltepedal“ bedeutet, dass von mehreren gleichzeitig angeschlagenen


Tönen nur einer oder einige ins Tonhaltepedal gelangen. Bis jetzt wurde das Thema
in zwei Beispielen angesprochen, in Bachs a-moll-Fuge (Beispiel 252) und in Franz
Liszts Klavierfassung der Orgelfuge C-Dur ebenfalls von J. S. Bach (Beispiel 254 a).
Der zugrundeliegende Wunsch ist stets, keine Töne ins Tonhaltepedal zu lassen, die,
solange es getreten bleibt, erneut angeschlagen werden: Da der Dämpfer eines von
Tonhaltepedal erfassten Tones gehoben bleibt, träte dieser beim erneuten Anschlag
gegenüber den nicht vom Tonhaltepedal erfassten Tönen aufdringlich hervor.

In Kapitel 7 ("Was zusammenklingen soll und was nicht") habe ich die Transkription
Liszts von Schuberts "Meeres Stille" bis Takt 20 behandelt (Beispiele 194 a - d) und
habe angekündigt, bei der Besprechung des Tonhaltepedals noch einmal darauf
zurückzukommen (Beispiele 278 a, b, c). Ab Takt 21 empfiehlt Emil von Sauer, der
Herausgeber, für die linke Hand einen Fesselungsfingersatz, der die Hand in der
agogischen Freiheit beengt, die für die chromatischen Gänge nötig ist. Die klein
gestochenen Noten sind sicher nicht als streng metrisch auszuführende Sechzehntel
aufzufassen.
Beispiel 278 a (entspricht Beispiel 194 d aus Kapitel 7)

Takt 20
Takt 21 Takt 22

TP * TP *
Beispiel 278 a:
Takt 21: Das Arpeggio der beiden oberen Systeme volltönend spielen - bei gehaltenem Pedal
die beiden untersten Töne Cis und Fis loslassen, kurz das rechte Pedal wegnehmen, die festge-
haltenen Töne rasch ins mittlere Pedal nehmen und mit dem chromatischen Gang beginnen - bei
der Rückkehr zum Ausgangston Cis diesen ins Pedal nehmen und das mittlere Pedal loslassen.
Takt 22: Das Arpeggio volltönend spielen - bei gehaltenem Pedal das tiefe H loslassen, die
übrigen Töne festhalten - dann weiter verfahren wie bei Takt 21.

In Beispiel 278 a ist die Lösung mit Tonhaltepedal viel besser als die mit gefesselten
Fingern und in Beispiel 278 b ist es sogar ausgeschlossen, mit gefesselten Fingern in
Takt 24 ein sich ins pp verlierendes Tremolo (perdendosi) hervorzubringen.
- 257 -
Beispiel 278 b

Takt 23 Takt 24

4 3 2 1 2 3 4 1 2 3 31313131 ...
TP
* TP *
Beispiel 278 b:
Takt 23: Das Arpeggio der oberen zwei Systeme volltönend spielen - bei gehaltenem Pedal die
beiden untersten Töne Ais und E loslassen, kurz das rechte Pedal wegnehmen, rasch die festge-
haltenen Töne in das mittlere Pedal nehmen und mit dem chromatischen Gang beginnen - bei der
Rückkehr zum Ausgangston Ais diesen ins Pedal nehmen und das mittlere Pedal wegnehmen.
Takt 24: Wie bei Takt 23: Die tiefen Bass-Töne H und Dis müssen nach dem Arpeggio ausgeson-
dert werden, dürfen nicht ins Tonhaltepedal gelangen; das Bass-Dis mit den starken Obertönen
Fisis (G) und Ais würde die Schönheit des ausschwingenden H-Dur-Klanges empfindlich stören.

Für den Lied-Schluss (Beispiel 278 c) gebe ich im Kommentar allgemeine Hinweise.
Wer das Buch bis hierher gelesen hat, muss in der Lage sein, selbst herauszufinden,
wie in Takt 31 in einem Zusammenwirken von rechtem, mittlerem Pedal, Loslassen,
Greifen und Nachgreifen zu verfahren ist.
Beispiel 278 c

Takt 30 Takt 31

Die tiefe Terz, das Kontra-H, im Ausklingen aus dem Klang nehmen!

1 2 3 2 1 3 2 12 3 1 3 1 3 1
TP
* TP * TP *
Hinweise zu Beispiel 278 c
Takt 30: Die tiefen Töne C und E dürfen nicht mit in das Tonhaltepedal gelangen, man muss sie
ganz kurz vor dem Treten des Tonhaltepedals loslassen (siehe die Zeichen für Loslassen ).
Takt 31: Der tiefe Grundton G wird gespielt, darf aber nicht mit ins Tonhaltepedal gelangen.
Die tiefe Terz H im zweiten Akkord des Taktes, unteres System, sollte am Ende der Sechzehntel-
Bewegung aus dem Klang genommen werden (siehe Hinweis, Pfeil, in den Noten).
Takt 32: Klingen im Schlussakkord alle notierten Töne aus, entsteht ein ins beinahe Unkenntliche
verzerrter C-Dur-Klang. Zumindest die tiefe Terz, das Kontra-E, muss ausgefiltert werden.

In den Kommentaren der Beispiele 278 a und b ist beschrieben, wie beim partiellen
Tonhaltepedal vorzugehen ist: Die Töne, die nicht ins Tonhaltepedal gelangen
dürfen, muss man ganz kurz vor dem Tritt des mittleren Pedals loslassen, wobei
gleichzeitig auch das rechte Pedal gehoben sein muss. Es ist eine rein mechanische
Geschicklichkeit, sie hat mit Begabung nichts zu tun, jeder kann das leicht lernen.
- 258 -
ZÖGERLICHE VERBREITUNG

Eingangs des Kapitels hatte ich Gründe genannt, wenn auch nicht die wichtigsten,
warum das Tonhaltepedal, ungeachtet seines erwiesenen Nutzens, wenig Verbreitung
gefunden hat. Als nicht zutreffend hat sich meine am Anfang des Kapitels geäußerte
Äußerung erwiesen, das Patentrecht der Firma Steinway habe den Einbau des Ton-
haltepedals in andere Fabrikate lange verhindert.
Bei meinen Erkundigungen zu den Patentrechten erhielt ich am 27. 1. 2015 von
Steinway per E-Post die folgende Antwort:
„Sehr geehrter Herr Prof. Betz, bei der Bombardierung Hamburgs 1943 haben wir
unsere erste Steinway Fabrik verloren, die seit 1880 in Betrieb war. Dabei ist auch
das gesamte Archiv vernichtet worden, welches auch die Unterlagen von Theodor
Steinway hatte, der die meisten Patente zugesprochen bekommen hatte. Deshalb
haben wir so gut wie keinerlei Unterlagen mehr aus den Jahrzehnten vor dem zweiten
Weltkrieg. Auch in New York ist wenig zu finden, da haben wir schon viel recher-
chiert. Es tut uns leid, dass wir nicht mehr helfen können.
Freundliche Grüße, Hartwig Kalb, Manager Product Services“
Konkretere Auskunft bekam ich per E-Post, ebenfalls am 27. 1. 2015, vom Deutschen
Patentamt-und Markenamt/ München:
"Das Kaiserliche Patentamt, dessen Nachfolger das Deutsche Patent-und Markenamt
ist, wurde am 1. Juli 1877 eröffnet. Ab diesem Datum konnten Patente für maxi-
mal 15 Jahre geschützt werden, vorausgesetzt die Gebühr für die Aufrechterhaltung
wurde rechtzeitig entrichtet. Wie lange das genannte Patent Gültigkeit hatte, lässt
sich heute nicht mehr feststellen, da es keine Registerunterlagen aus dieser Zeit gibt.
Patente vor Juli 1877 wurden bei den Bezirksregierungen hinterlegt.
Auf das Unternehmen Steinway & sons konnte im Zeitraum von 1875 und 1877 ein
preußisches Patent nicht ermittelt werden."
Tags darauf teilte mir die Auskunftsstelle des Deutschen Patent- und Markenamtes/
Berlin mit, das Steinway-Patent sei kein deutsches, sondern ein U.S.-amerikanisches
Patent gewesen (Patent No.170645, vom 30. November 1875). Für 50 Cent pro Seite,
hieß es, könne ich eine Kopie der Patentschrift erhalten; für den Zweck dieses
Kapitels aber ist die geschichtliche Seite hinreichend dargestellt.
Patentrechte haben also kaum eine Rolle gespielt. Der bedeutendste Grund für die
zögerlichen Verbreitung des Tonhaltepedals ist: Es konnte sich keine gewachsene
Tradition entwickeln. Diese Tradition hat Franz Liszt geprägt, die berühmteste
Künstlerpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Er hat, wie kein Zweiter, die Musik-
entwicklung bis weit hinein ins 20. Jahrhundert geprägt und vorweggenommen und
ein kühner Neuerer wie er hätte dem Tonhaltepedal mit Sicherheit eine gewichtige
Rolle zugewiesen. Doch das Tonhaltepedal kam für Franz Liszt zu spät. Als er es
1883, drei Jahre vor seinem Tod, kennenlernte, war sein Klavierwerk weitgehend
abgeschlossen.
So wurden, über viele Generationen hinweg, Schüler von Lehrern unterrichtet, die
das Tonhaltepedal nicht oder nur vom Hörensagen kannten und es oft nur deshalb
ablehnten, weil sie es nicht kannten, da sie, ihrerseits, von ihren Lehrern nie damit
vertraut gemacht worden waren.
- 259 -
Selbst der kleinste japanische Stutzflügel ist heute mit einem Tonhaltepedal aus-
gestattet. Wegen seiner allgemeinen Verfügbarkeit wird es auch häufiger benutzt.

Lehrern wie Ludwig Hoffmann und Roland Keller gebührt großer Verdienst darin,
dass die Anwendung des Tonhaltepedals selbstverständlicher und allgemeiner wurde,
und vielleicht darf auch ich mich zu denen zählen, die im Laufe einer langen Hoch-
schultätigkeit vielen jungen Damen und Herren nahe gebracht haben, wie nützlich
diese Vorrichtung für die Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten des Flügels ist.
Obwohl sich Traditionen nur sehr langsam bilden bzw. zäh zurückbilden, wird das
Tonhaltepedal immer mehr zu einem normalen Bestandteil der Klavierkunst werden.
Günstig für die dessen Verbreitung ist die zeitgenössische Klaviermusik, wo das
Tonhaltepedal oft verbindlich vorgeschrieben ist. Oliver Messiaen, 1992 gestorben,
zählt für Leute über 30 durchaus zu den zeitgenössischen Komponisten, sein Werk ist
allgemeines und anerkanntes Repertoire. In seinem monumentalen Opus Catalogue
d’oiseaux schreibt er oft das Tonhaltepedal vor, für das er ein eigenes Zeichen
benutzt, wie Messiaen überhaupt äußerst penible Pedalvorschriften niedergelegt hat.
Luciano Berios "Sequenza IV" verlangt ebenfalls das Tonhaltepedal. Anfang der 70er
Jahre, nachdem ich gerade mit dem Tonhaltepedal bekannt geworden war, habe ich
Helmut Lachenmanns "Echo Andante" gelernt, das er 1961 für Flügel mit obligatem
Tonhaltepedal geschrieben hat.
Aber ich wollte keine Stellen aus zeitgenössischen Werken vorstellen, wo das Ton-
haltepedal ohnehin angezeigt ist. Mir ging es darum, den Blick für einen vorteilhaften
Einsatz des Tonhaltepedals an Stellen zu schulen, an denen es nicht angezeigt ist.
Und das trifft fast auf die ganze riesige Klavierliteratur zu.

DER EIGENTLICHE UNTERSCHIED ZWISCHEN DEM TONHALTEPEDAL


UND DEN ANDEREN BEIDEN PEDALEN

Am Ende dieses langen Kapitels komme ich noch einmal auf den grundlegenden
Unterschied zurück zwischen dem rechten und dem linken Pedal auf der einen und
dem mittleren auf der anderen Seite.

Die Bedienung des rechten und des linken Pedals erfolgt größtenteils unbewusst,
beim rechten etwas mehr, beim linken etwas weniger. Erfolgt diese Bedienung nicht
nur unbewusst, sondern - siehe Wilhelm Kempff - auch unbewusst-richtig, ist dies
ein Zeichen hoher Musikalität und eines besonderen Klangsinns. Die Arbeit mit dem
rechten Pedal ist nuancenreich. Es bleibt, wie an zahlreichen Beispielen dargestellt,
eher selten über ein ganzes Pedalfeld hinweg niedergedrückt, meistens erfährt es
während seiner Wirkungsdauer zusätzliche kleine Wechselbewegungen, die im
Wesentlichen reflexhaft erfolgen und sich einer Beschreibung entziehen.
Auch das linke Pedal - siehe das nächste Kapitel - darf, selbstverständlich, nicht
flächig angewandt werden, z. B. überall dort, wo p steht, sondern muss sich, instink-
tiv, in Abhängigkeit von Höhe und Intensität angeschlagener Töne heben und senken.
Das Tonhaltepedal dagegen erfordert zwar bisweilen eine schnelle Reaktion, etwa
wenn es während einer kleinen Pedal-Lücke rasch zwischen zwei Töne platziert
werden soll, der Hebel selbst aber arbeitet grob: Der Fuß bleibt, solange der er-
wünschte Effekt anhalten soll, nur fest darauf niedergedrückt.
- 260 -
Die Bedienung des Tonhaltepedals ist kein Zeichen musikalischen Talents,
sondern eine Fertigkeit, die jeder erlernen kann.
Die Bedienung des linken und des rechten Pedals ist eine unmittelbare aus der
Musikalität erwachsende Kunstäußerung, die, größtenteils, autonom reflexhaft an die
Tätigkeit der Finger gekoppelt ist, wobei es, natürlich, falsch erlernte Reflexe gibt.
Ich erinnere an die Definition im ersten Kapitel: „Pedalfehler sind falsch erlernte
Reflexe“. Das Tonhaltepedal aber, stets geplant eingesetzt, ist deshalb eine von
Emotionen weitgehend unabhängige Fertigkeit. Die Bedienung des Tonhaltepedals ist
daher eine künstlerische Sekundär-Tugend. Hochbegabte Künstler können sich auf
ihre Reflexe verlassen, das Tonhaltepedal aber kann man nicht „aus dem Bauch
heraus“ einsetzen, und genau dies ist der eigentliche, der tiefere Grund, warum sich
Pianisten vom Tonhaltepedal "gestört" fühlen, es wenig nutzen oder weglassen.
Die anderen genannten Gründe: Flügel mit Tonhaltepedal waren selten, in der Jugend
ergab sich keine Gelegenheit, es kennenzulernen usw., diese Gründe sind nicht
wirklich ausschlaggebend, denn: Wäre das Spiel mit dem Tonhaltepedal eine urei-
gene pianistische Kunstäußerung, dann hätten große Künstler von sich aus stürmisch
danach verlangt und wären, zumindest ab einem bestimmten Grad des Ruhmes, auch
immer an einen Steinway-D-Flügel herangekommen.

Weiter vorne habe ich in den Beispielen 255 bis 258 Stellen aus dem langsamen Satz
von Prokofjews siebenter Klavier-Sonate vorgestellt, an denen, nach meiner Ansicht,
das Tonhaltepedal geradezu unverzichtbar ist, dass ohne es die Stimmführung nicht
hörbar gemacht werden könne. Der aber, der die Sonate am 18. Januar 1943, und
sicher sehr gut, in Moskau uraufgeführt hat, hat zeitlebens das Tonhaltepedal nicht
benutzt. Jedoch muss es auch bei einem großen Künstler wie Swjatoslaw Richter
erlaubt sein zu fragen, ob es dem Werk nicht dennoch gutgetan hätte, das Tonhalte-
pedal nicht zu verschmähen.
Anmerkung: Meine Quelle, dass Swjatoslaw Richter kein Tonhaltepedal benutzte, ist Josef Bulva.
Richter hat, wenn er sich in München aufhielt, in der damaligen Wohnung Josef Bulvas, einer
Wohnung von den Ausmaßen eines Kirchenschiffs, geübt. Schon sehr berühmt, trat Richter in
Deutschland erst seit Beginn der 70er Jahre auf, in München erstmals am 25. Februar 1975 im
Herkules-Saal mit einem Beethoven-Abend (für den ich mit großem Glück zum Studenten-Tarif
von 5 Mark einen Platz in der ersten Reihe bekommen hatte); Richter und Josef Bulva aber kannten
sich schon lange davor aus Begegnungen in Osteuropa.
Josef Bulva erzählte mir von seinen Gesprächen mit Richter, der z. B. seine Einspielung der beiden
Liszt-Konzerte als das Beste bezeichnete, was ihm je bei Aufnahmen geglückt sei. Bulva hat
Richter auf etliche Stellen im A-Dur-Konzert hingewiesen, wo sich das Tonhaltepedal sehr
vorteilhaft einsetzen lasse; Richter habe dies mit Interesse registriert, ja es habe ihm sogar einge-
leuchtet, sagte aber, er wolle sich dennoch das Spiel mit Tonhaltepedal nicht aneignen.

Am Ende des vierten Kapitels hieß es, dass bei Hochbegabungen die Unterschiede
zwischen Üben und Spielen ineinanderfließen; ein eigener Arbeitsgang „Fingersätze
erstellen“ wäre danneine störende Unterbrechung des musikalischen Flusses.
Der Fingersatz aber, so hieß es weiter im vierten Kapitel, der sich in einer Einheit von
Hören, Greifen und Be-Greifen dem ungewöhnlich Begabten sofort erschließe, sei
nicht zwangsläufig auch der beste Fingersatz, und selbst bei den prominentesten
Pianisten sei zuweilen hörbar, dass es sich gelohnt hätte, zuvor auf den Fingersatz
einige Überlegung zu verwenden.
- 261 -
Dies ist durchaus auf das Tonhaltepedal übertragbar: Wird ein Werk, bei dem an
etlichen Stellen das Tonhaltepedal vorteilhaft ist, ohne Tonhaltepedal vorgetragen,
dann klingt es unter den Händen eines großen Künstlers dennoch sehr gut. Aber
womöglich wäre die Interpretation mit den Vorzügen, die das Tonhaltepedal bietet,
noch eindrucksvoller, noch genauer gewesen.
Es geht auch ohne Tonhaltepedal - irgendwie.

Zum Schluss will ich Ihnen ein schönes Literaturbeispiel zeigen, das ich thematisch
nicht mehr korrekt einfügen kann, ohne den mühsam erarbeiteten Umbruch durch-
einanderzubringen. So erhalten Sie einen aparten, aber sehr wirkungsvollen Einsatz
des Tonhaltepedals am Ende von Chopins f-moll-Ballade gleichsam als Postskriptum
(Beispiel 279).
Der stürmische Aufgang in Takt 223 verträgt viele dissonierende Töne. Damit diese
gut vom Pedalfeld aufgenommen werden, muss am Taktanfang die harmonische
Basis F-Dur sauber sein. Deshalb darf der starke Terzvorhalt gis nicht in das Pedal-
feld des Aufgangs gelangen, muss vor Beginn des Aufgangs unbedingt ausgefiltert
werden. Der Aufgang klingt besonders schön, wenn dann die sonore und saubere
F-Dur-Basis mit Hilfe des mittleren Pedals durchklingend gehalten wird (siehe
Kommentar).
Beispiel 279

2 3 1 3 2 1 0 1 2 3

Takt 223

( )
TP
*
Beispiel 279, Ausführung:
a) Lassen Sie sich, wenn Sie zu Taktbeginn den F-Dur-Klang (f-c-a-f1) ins Tonhaltepedal
nehmen, Zeit, um sich für einen Moment hörend zu vergewissern, dass das sonore gis nicht
(ja nicht!) mit eingefangen wurde.
b) Für den Aufgang selbst empfehlen sich noch zwei oder drei rasche Pedalwechsel, etwa ab
der Taktmitte aber sollen alle Töne im Pedalfeld bleiben. Das rechte und das mittlere Pedal
beim Einsatz der herabstürzenden Oktaven wegnehmen, nicht vorher.
c) Bei einer Ausführung ohne drittes Pedal ist sehr wichtig, dass vor Beginn des Aufgangs der
reine F-Dur-ff-Akkord, ohne den Vorhaltston gis, für einen Moment deutlich hörbar wird.
(Samstag, 7. Februar 2015, Neubearbeitung November / Dezember 2019)

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