Sie sind auf Seite 1von 16

- 69 -

Viertes Kapitel - Fingerlegato als Dogma, Fingersätze

In den beiden vorherigen Kapiteln wurde der Zusammenhang zwischen Fingersatz


und Pedalarbeit erörtert (eine wechselseitige Abhängigkeit, die im siebenten Kapitel
noch viel ausgeprägter zutage treten wird). Die natürlichste Entsprechung zwischen
Musik und Hand bietet derjenige Fingersatz, der die Hand das Fortschreiten von Ton
zu Ton miterleben lässt, der Fingersatz also, der ein Fingerlegato ermöglicht. Das
Fingerlegato ist am Klavier das bedeutsamste Gestaltungsmittel, um eine Einheit von
körperlicher und musikalischer Spannung spürbar werden zu lassen. Bekanntlich aber
ist in der Literatur ein Fingerlegato sehr oft nicht nur nicht möglich, in vielen Fällen
kann es sogar ratsam sein, auf ein Fingerlegato selbst dann zu verzichten, wenn es
noch gut möglich wäre: entweder, wie im zweiten Kapitel dargestellt, aus Gründen
der Pedalsauberkeit oder, wie im dritten Kapitel dargestellt, aus spieltechnischen
Gründen. Zwischen den beiden Polen eines leicht ausführbaren und eines gerade
noch ausführbaren Fingerlegatos gibt es viele Zwischenstufen. Alle Pianisten,
ausnahmslos, verzichten bisweilen, wenn auch oft unbewusst, auf ein noch mögliches
Fingerlegato; sie tun dies an unterschiedlichen Punkten der Strecke zwischen leicht
ausführbar und nur noch mühsam ausführbar, diese Unterschiede aber sind graduell
und nicht grundsätzlicher Natur.

Man kann am Klavier zwei Töne eines weiten Intervalls völlig beziehungslos und
ohne jede innere Spannung nebeneinander hinsetzen: einen Ton hier, einen da.
Streicher, Bläser oder Sänger aber können ohne körperliche Spannung einen Ton
weder erzeugen noch halten. Auch das Verbinden von Tönen geschieht bei ihnen nie
ohne körperliche Spannung, weshalb z. B. Sänger ein Intervall stets mit einem
Portamento, also einem gewissen Hingleiten zum nächsten Ton ausführen, und sei es
noch so diskret. Und weil Sänger, Streicher und Bläser die Intervallspannung und die
Tonerzeugung immer in Verbindung mit körperlicher Spannung (Bogendruck,
Vibrato, Luftsäule) erleben, brauchen sie, um einen Ton in den anderen hinein-
zutragen, auch nicht die Hilfe der Suggestion. Denn wenn ihre Spannung nachlässt,
bekommen sie sofort ein Signal, einfach dadurch, dass der Ton abbricht.
Der Pianist, der nach dem Anschlag seinen Ton „vergisst“, innerlich fallen lässt,
erhält ein solches (Warn-)Signal nicht. Er muss das Legato sehr oft dem Pedal
überlassen, kann lange Töne nicht festhalten, muss sie, wegen Aufgaben an anderer
Stelle der Tastatur, loslassen und vor allem kann er den Ton nach dem Anschlag nicht
mehr beeinflussen. Die Suggestion des vollkommenen Legatos aber muss sich in
gleicher Weise auch dann einstellen, wenn die Taste nicht festgehalten, das Intervall
manuell nicht gebunden werden kann. Deshalb sind Pianisten, viel mehr als andere
Instrumentalisten, auf Suggestion angewiesen, auf die Fiktion des „Als-ob“, z. B. die
Fiktion, als ob ein langer Ton nach dem Anschlag crescendierte.
Zu diesem Thema hat sich auch Carl A. Martienssen geäußert, weit ausholend in
seinem Buch „Die individuelle Klaviertechnik auf der Grundlage des schöpferischen
Klangwillens“. Darin befasst er sich auch sehr eingehend mit Hans Vaihingers
„Philosophie des Als Ob“. Als Résumé genügt:

Künstlerisches Klavierspiel heißt, eine vollendete Legatowirkung zu erzielen,


unabhängig davon, ob das Legato tatsächlich manuell ausgeführt wird.
- 70 -
Auf das Beispiel 75, das Seitenthema des ersten Satzes in Beethovens Sonate op. 28,
habe ich schon im Voraus, im zweiten Kapitel, hingewiesen: Das verschmelzende
Legato der Außenstimmen kann nur mit den beiden fünften Fingern dargestellt
werden und muss dabei die gleiche gesangliche Dichte aufweisen, als stünde dem
Interpreten eine bequeme manuelle Bindung zur Verfügung.
Diese Stelle aus der Pastoral-Sonate ist ein künstlerischer Prüfstein sondergleichen:
Punktartig angestoßene Viertelnoten auf der dritten Zählzeit entlarven regelmäßig die
Pianisten, denen Gespür und Wille zu eindringlicher und gesanglicher Gestaltung der
Melodie- und der Basslinie fehlen.
Beispiel 75

zu Beispiel 75: Obwohl die Außenstimmen nur mit dem fünften Finger gespielt werden
können, ist ein schönes gesangliches Legato durchaus möglich. Die Stelle ist, gut
ausgeführt, ein Beweis dafür, dass das Pedal ein Fingerlegato vollwertig ersetzen kann.

Die Wahl des Fingersatzes ist eine individuelle Entscheidung, da, andererseits, alle
Hände dieselbe Anatomie haben, ist es gerechtfertigt, von objektiv schlechten Finger-
sätzen zu sprechen. Schlechte Fingersätze sind, zum einen, die, welche die von Natur
aus unterschiedlichen Stärken und Fähigkeiten der Finger außer Acht lassen; weiter
sind solche Fingersätze als objektiv schlecht zu bezeichnen, die die Beweglichkeit
der Finger einschränken, sie in beengende Positionen zwischen die schwarzen Tasten
nahe am Tastendeckel zwingen und dadurch die Klangkontrolle und eine saubere
Ausführung erschweren. Nur solche Überlegungen dürfen bei der Suche nach einem
geeigneten Fingersatz eine Rolle spielen; unsinnig dagegen ist die Idee einer quasi
moralischen Hierarchie, in der das Fingerlegato über dem Legato steht, das nur mit
Hilfe des Pedals möglich ist.

STUMME FINGERWECHSEL

Der Wunsch, ein Fingerlegato über pianistische Widrigkeiten hinweg so lange wie
irgend möglich aufrecht zu erhalten, findet seinen Niederschlag vor allem in vielen
stummen Fingerwechseln. Die folgenden Beispiele spiegeln diese Haltung wider.
- 71 -
Die Fingersätze der Beispiele 76 und 77 aus Chopins b-moll-Sonate bzw. der
f-moll-Ballade wirken wie am grünen Tisch gemacht, offenbaren eine unbegreifliche
Praxisferne. Kaum ein Pianist dürfte die aktionistischen und umständlichen stummen
Wechsel auch nur in Erwägung ziehen.
Beispiel 76

12

? wenn stummer Wechsel, dann besser so!

zu Beispiel 76: Die vielen stummen Wechsel der Begleitstimme geben sich erzieherisch (Nur ein
Fingerlegato ist ein gutes Legato.). Die meisten sind umständlich und kosten Zeit: Die Hand
wird zu lange am Ort festgehalten, erreicht den obersten Ton der Begleitfigur erst sehr spät und
kann so den Anschlag des obersten Tones nicht vorbereiten. Dies erschwert die Klangkontrolle.
Die meisten stummen Wechsel des Beispiels behindern nur, was künstlerisch unabdingbar ist:
Die weiten Schritte der Akordbrechungen flüssig, gleichmäßig und sehr leise auszuführen.

Der Fingersatzverfasser des Beispiels 76 ist derselbe, der auch in der f-moll-Ballade
in Takt 61 (Beispiel 77) einen kaum noch ausführbaren stummen Wechsel empfiehlt.
Beispiel 77

Takt 61

zu Beispiel 77: Kein konzertierender Pianist dürfte diesen zeitraubenden stummen Wechsel
tatsächlich machen, der offenbar dem Viertelnotenhals auf dem Es Genüge tun soll. Die beiden
Basistöne Es aber klingen ohnehin durch, denn der zusätzliche rasche Pedalwechsel auf der zweiten
Zählzeit, der sich zur Auflichtung empfiehlt, bringt diese Basistöne keineswegs zum Verstummen.

FINGERSÄTZE ALS INTERPRETATORISCHE HINWEISE

In ein Dilemma aber gerät man, wenn die kritisierten Fingersätze von einem großen
Komponisten stammen, der obendrein ein berühmter Pianist war. Für die vielen
stummen Wechsel im Mittelteil von Chopins Etüde op. 25, Nr. 10 (Beispiel 78) gilt,
was zu Beispiel 76 gesagt wurde: Die stummen Wechsel kosten zu viel Zeit. Die
Hand wird zu lange am alten Ort festgehalten, kann nicht rasch zur nächsten Taste
gleiten und erreicht diese, wegen des zeitraubenden stummen Wechsels, erst im
letzten Moment, wodurch die Tonkontrolle sehr erschwert wird.
- 72 -

Beispiel 78

Als Fingersatzverfasser ist in einer Urtext-Ausgabe ein angesehener Musik-


wissenschaftler und Kirchenmusiker genannt. Über ihn aber sollte man sich nicht
mokieren, denn der Revisionsbericht klärt darüber auf: Die Fingersätze sind von
Chopins eigener Hand.
Zu Chopins Zeit hatten die Instrumente eine geringere Tastentiefe. Deshalb waren
stumme Wechsel (und z. B. auch Oktaven-Glissandi) leichter und geschmeidiger
auszuführen als auf heutigen Instrumenten. Dieses Argument aber ist nicht stark
genug, um aus der Verlegenheit zu befreien, in die man sich mit der Kritik an einem
so berühmten Pianisten und Komponisten gebracht sieht. Stärkere Gründe sind:
Spielanweisungen jeder Art eines Komponisten: Bögen, Staccato-Punkte, Fingersätze
usw. sind nicht unbedingt Aufforderungen zu einer wörtlichen Ausführung; In vielen
Fällen sind es eher interpretatorische Hinweise:
- So muss bekanntlich ein Staccato-Punkt - siehe erstes Kapitel - keineswegs
bedeuten, dass der Ton real kurz klingen muss; in den meisten Fällen ist er eine
interpretatorische Aufforderung zu einem pulsierenden, federnden Ton, statt eines
schweren, lastenden.
- Auch ein langer Phrasierungsbogen beinhaltet keineswegs immer die Pflicht zu
durchgehend manueller Bindung; in erster Linie zeigt ein langer Bogen eine
Sinneinheit an, einen gedanklichen Zusammenhang, einen langen Atem.
- In seiner Mazeppa-Etüde - siehe im zehnten Kapitel die Erläuterung im zweiten
Absatz nach dem Beispiel 274 - verlangt Liszt, die schnellen Terz-Gänge der
Mittelstimmen durchwegs mit 2 - 4 bzw. mit 4 - 2 zu spielen. Selbst wenn man die
geringere Tastentiefe damaliger Instrumente berücksichtigt, ist nicht vorstellbar,
dass ein so erfahrener Praktiker wie Franz Liszt nicht gewusst haben sollte, wie
unrealistisch dieses Verlangen ist. Liszts Fingersatz ist somit keine Aufforderung
zu wörtlicher Befolgung (und damit zu faktischer Unausführbarkeit), sondern
ebenfalls ein interpretatorischer Hinweis, eine Aufforderung zu Finger-Trennung
und einem knatternden Martellato-Spiel.

So ist es berechtigt, auch Chopins Fingersatz im Mittelteil seiner Etüde op. 25, Nr. 10
als Interpretationshinweis zu sehen, als eine in vielen stummen Wechseln sichtbar
gemachte Ermahnung zu einem dichten verschmelzenden Legato. Ich bin überzeugt,
dass Chopin selbst seine Fingersätze in diesem Sinne verstanden hat, als didaktischen
Fingerzeig. Unter den Pianisten, die öffentlich Chopin-Etüden vortragen, dürfte sich
kaum einer finden, der die zeitraubenden stummen Wechsel befolgt. Ich habe wegen
dieser Stelle viel unter Kollegen herumgefragt. Der zuletzt Befragte war Wolfgang
Manz, einer der wenigen, die alle Chopin-Etüden beherrschen und öffentlich spielen.
Er sagte mir, er mache die stummen Wechsel nicht, die Passage benötige manuelle
Freiheit für die Gestaltung der Oberstimme.
- 73 -
Stumme Fingerwechsel haben selbstverständlich ihre Berechtigung und Vorzüge:
Durch ein gewisses Kneten der Taste, das der stumme Wechsel mit sich bringt,
unterstützt er, einem Vibrato ähnlich, das bewusste Fühlen des Tons, trägt zur Einheit
zwischen musikalischer und körperlicher Spannung bei.
In den Fugen J. S. Bachs wird das Pedal als Legato-Hilfe nur sehr zurückhaltend
eingesetzt und oft ist es nur mit stummen Wechseln möglich, Notenwerte in der
erforderlichen Länge auszuhalten und die genaue Stimmführung zu gewährleisten.
Stumme Wechsel lassen so Polyphonie gleichsam körperlich erlebbar werden.
Marguerite Long hat in ihrem Unterricht ausdrücklich auf den stummen Wechsel, auf
die „Substitution“, bestanden. Sie war überzeugt, ein so intensiviertes Legato sei auch
als qualitativ besseres Legato hörbar. Pianistisch betrachtet aber bedeuten stumme
Wechsel, zum einen, eine oft unterschätzte Mehrbelastung des Gedächtnisses, vor
allem bedeuten sie, gerade bei einem raschen Tempo, einen Zeitverlust.

Stumme Wechsel betreffend möchte ich zwei Empfehlungen geben, die in den
meisten Situationen auf der Tastatur Gültigkeit haben:

- Mache stumme Wechsel nur, wenn dafür genügend Zeit ist.


- Vermeide stumme Wechsel nach Möglichkeit dann, wenn durch sie die
übrigen Finger in eine unbequeme Position zwischen den schwarzen Tasten
oder in eine unnatürliche Beugehaltung nahe am Tastendeckel gezwungen
werden.

Die zweite der soeben genannten Empfehlungen macht auf einen Gesichtspunkt
aufmerksam, der beim Fingersatz immer berücksichtigt werden sollte. Es geht darum,
an welchem Punkt der Finger die Taste trifft. Die Finger sollten die schwarzen Tasten
möglichst an ihrem vorderen Rand treffen, die weißen vor einer gedachten Linie, die
von den Stirnkanten der schwarzen Tasten gebildet wird. An diesem Punkt ist die
Übersetzung des Tastenhebels und damit die Klangkontrolle am besten. Der sichtbare
Teil der Taste eines Flügels macht weniger als ein Drittel der Länge der Taste aus,
die im Ganzen beinahe einen halben Meter misst.

Diesen vorderen, günstigen Punkt hat Ludwig Hoffmann als das „Herz der Taste"
bezeichnet („Triff die Taste stets ins Herz!“). Die Finger sollten also nicht nahe am
Tastendeckel und nicht zwischen den schwarzen Tasten spielen, wozu der zweite
Finger noch am ehesten, der dritte und vierte Finger aber weit weniger geeignet ist.
Daraus leitet sich die bekannte, hauptsächlich Tonleiterfiguren betreffende Regel ab,
auf schwarzen Tasten den fünften Finger und - weniger streng - den Daumen zu
vermeiden. Die ideale Position der Hand ist demnach die, in der die beiden Außen-
finger auf weiß, die drei Innenfinger auf schwarz zu liegen kommen. Deshalb hat
Frédéric Chopin bei allen Schülerinnen den ersten Unterricht mit Übungen in dem
Fünf-Ton-Raum E - Fis - Gis - Ais - C begonnen.

Schuberts Impromptu Ges-Dur, op. 90, Nr. 3, D 899 ist besonders aufschlussreich
(Beispiel 79). In dem Wunsch, die Bindung der Melodiestimme wo irgend möglich
den Fingern, nicht aber allein dem Pedal zu überlassen, nehmen die Fingersätze in der
Ausgabe eines angesehenen Verlages alle nur erdenklichen pianistischen Nachteile in
extremer Weise in Kauf. Die Fingersätze zeigen sehr anschaulich den Widerspruch
- 74 -
zwischen dem Anspruch auf ein Fingerlegato und den pianistischen Aufgaben, die
mit diesem strengen Anspruch kollidieren.

An dieser Stelle denke ich auch an die vielen Amateur-Pianisten. Stücke wie der
Trauermarsch aus Chopins b-moll-Sonate (Beispiel 76) und das Ges-Dur-Impromptu
von Schubert sind bei ihnen sehr beliebt. Für Berufspianisten wären vorgegebene
Fingersätze unnötig. Klavieramateure brauchen diese Hilfestellung, und sie, die
musikalischen Laien, nicht die Berufsmusiker stellen, wie mir der Leiter des Henle-
Verlags, Dr. Wolf-Dieter Seiffert, sagte, den mit Abstand größten Kundenstamm der
Notenverlage. In Laufe der Jahre haben sich immer wieder klavierspielende Freunde
und Bekannte, die das Ges-Dur-Impromptu lernen wollten, ratsuchend an mich
gewandt. Die Fingersätze der Ausgabe hatten es ihnen unmöglich gemacht hatten, das
Werk zu spielen.

Warum es schwierig ist, dieses Werk gut vorzutragen, liegt hauptsächlich an den
Begleitfiguren. Diese Begleit-Sextolen müssen so gleichmäßig und leise sein, dass
der Zuhörer sie gar nicht mehr bewusst wahrnimmt und seine Aufmerksamkeit
zwingend auf den Strom der Melodie gezogen wird.

Die Fingersätze der Beispiele 79a bis 79e geben sich, wiederum, erzieherisch; die aus
ihnen sprechende Ideologie, eine melodieführende Taste erst loszulassen, wenn dies
völlig unumgänglich geworden ist, verleiht dem Wort legato (= gefesselt) die nach-
teilige Seite seiner Bedeutung. Die negativen Folgen zeigen sich vor allem bei den
Begleitfiguren, ganz besonders dort, wo der auf einer schwarzen Taste gehaltene
fünfte Finger den benachbarten vierten oder dritten Finger nötigt, sehr nahe am
Tastendeckel zu agieren, also an einem für die Klangkontrolle sehr ungünstigen
Hebelpunkt der Taste.

Einige Stellen möchte ich besprechen:

Beispiel 79 a ? ?

Takt 3

Kommentar zu Beispiel 79 a
- Der stumme Wechsel 5 - 4 im zweiten Takt des Beispiels kann erst im allerletzen
Moment erfolgen, wenn die Begleitfigur darunter fast schon wieder zum Ausgangston
ges zurückgekehrt ist. Die Gefahr ist groß, dass die Sextole hastig verkürzt wird und auf
dem letzten Ton einen ungewollten Akzent abbekommt.
- Verzichtet man auch auf dem Melodieton as1 in Takt 4 auf den stummen Wechsel
und spielt das As gleich mit dem 5. Finger, kann die Hand, zu ihrem Vorteil, schon im
Moment des Anschlags die Position der darauffolgenden Begleitfigur eingenommen
haben. Der zeitraubende stumme Wechsel bringt die Hand um diesen Vorteil.
- 75 -

Beispiel 79 b
?? ?
5 5 4 5
5 5

Takt 7

Kommentar zu Beispiel 79 b
Der aktionistische doppelte stumme Wechsel auf dem Es in Takt 7 ist in hohem Maße
unruhestiftend und nachteilig für die ruhige Gleichmäßigkeit der darunterliegenden Begleit-
figur. Dabei kann der stumme Wechsel wieder zurück zum 4. Finger erst im allerletzten
Moment ausgeführt werden, wenn die Begleitfigur schon wieder zu ihrem Ausgangston
zurückgekehrt ist. In der zweiten Takthälfte zwingt der gedruckte Fingersatz den 4. und den
3. Finger in eine ungünstige Position direkt am Tastendeckel. Der stumme Wechsel im
folgenden Takt 8 auf dem Ges verhindert, dass die Finger rechtzeitig die beste Position zur
Ausführung der darunterliegenden Begleitfigur einnehmen können.
In jeder Hinsicht besser ist der kursive (bzw. der von Hand) hinzugefügte) Fingersatz.
Beispiel 79 c ?

Takt 31

Kommentar zu Beispiel 79 c
Der stumme Wechsel im zweiten Takt dieses Beispiels bringt die gleichen Nachteile wie in den
Beispielen 79 a und b. Der 5. Finger muss auf dem Ges warten, bis die Achtelgruppe darunter
´´
vollständig absolviert ist, bevor er, erst im allerletzten Moment, den stummen Wechsel ausführen
kann. Erneut entsteht die Gefahr, dass die Begleitfigur aus ihrer ruhigen Gleichmäßigkeit
gebracht, hastig verkürzt oder mit ungewollten Akzenten versehen wird.

besser, viel besser!


5 5 5
Beispiel 79 d 5 5

Takt 15

Kommentar zu Beispiel 79 d:
Die Melodieviertel, die in Takt 15 die Phrase beenden, belassen, wenn durchweg vom 5. Finger
(kursiver Fingersatz) gespielt, die Hand in einer ruhigen Lage und günstigen Position. Das ist
für ein schönes Legato ungleich vorteilhafter ist als der gedruckte aktionistische Fingersatz.
- 76 -
Gerade für die Klangkontrolle gilt das Prinzip des Rechtzeitig-da-Seins (siehe drittes
Kapitel): Wird die Hand ruhig gehalten und nicht durch häufige stumme Wechsel zu
andauernden Drehbewegungen gezwungen, dann kann sie in dem Moment, in dem
der 5. Finger einen neuen Melodieton anschlägt, schon die Position der darunter-
liegenden Sextole eingenommen haben.

In Beispiel 79 e sehen Sie, im zweiten Takt, einen ausschließlich von pianistischem


Denken geleiteten Fingersatz, den vor vielen Jahren Roland Keller empfohlen hat.

Hier ein nur vom pianistischen Denken geleiteter


Fingersatz: As loslassen, nur innerlich festhalten!
Beispiel 79 e

Takt 7

Kommentar zu Beispiel 79 e:
Der Melodieton as1 in Takt 8 wird zwar breit angeschlagen, jedoch gleich nach dem Anschlag
losgelassen und sozusagen nur innerlich festgehalten. Die Hand kann so die Spitze des Hügels
der Begleitfigur, das f 1, mit dem 5. Finger in einer sehr günstigen Anschlagsposition vor den
schwarzen Tasten spielen. Der 2. Finger auf dem letzten Ces der Begleitfigur trägt den Daumen
von selbst frühzeitig vorbereitend in die Position über dem ges der nächsten Achtelgruppe.

Mit dem Fingersatz des Beispiels 79 e ist es am leichtesten, die Begleit-Achtel ruhig
und gleichmäßig zu spielen; für ihn sprechen also einleuchtende Vernunftgründe.
Dennoch haben die meisten, auch ich, Vorbehalte gegen einen solch rein rationalen
Fingersatz. Es widerstrebt dem Empfinden, einen langen espressiven Melodieton so
früh zu verlassen. Den nachteiligen stummen Wechsel auf dem folgenden ges1 aber
möchte man trotzdem vermeiden; deshalb lassen die meisten Pianisten den langen
Melodieton as1 zwar vorzeitig los, aber erst etwa drei Achtel vor dem Ges.

Ein Argument für die Beibehaltung eines womöglich auch unbequemen Fingerlegatos
ist die leichtere Memorisierung. Eine mit Fingerlegato gespielte Linie prägt sich
besser ein. Was ich körperlich festhalte, kann ich auch geistig besser festhalten. Bei
vier Tonschritten aufwärts ist der musikalisch analoge Fingersatz 1-2-3-4-5 auch der
für das Gedächtnis beste, aber er ist nicht automatisch auch der günstigste Fingersatz
für die Hand. Der Fingersatz stellt uns oft vor die Wahl zwischen „besser für den
Kopf“ und „besser für die Hand“. Besonders häufig vor eine solche Wahl gestellt
sind wir bei Sequenzen, wo die immer gleiche musikalische Figur den stets gleichen,
die von Sequenz zu Sequenz sich ändernde Tastensituation einen wechselnden
Fingersatz nahelegt.
Erkennbar wird dies bei den vielen langen Klaviersoli in Mozarts Klavier-Konzert
B-Dur, KV 450, hier bei einem Solo aus dem ersten Satz (Beispiel 80, aus dem
Klavierauszug), und bei incalzando (= bedrängend) in der Liszt-Sonate (Beispiel 81).
- 77 -
Beispiel 80

Der Fingersatz der Ausgabe (Klavierauszug) führt hier zu einer spürbaren Beengung der Hand.

zu Beispiel 80: Die stets gleiche musikalische Figur legt den stets gleichen, die
von Sequenz zu Sequenz sich ändernde Situation für die Finger auf der Tastatur
legt einen wechselnden Fingersatz nahe.

Anders ist die Situation bei dieser Passage aus der h-moll-Sonate (Beispiel 81). Hier
ist es unklug, von dem musikalisch analogen Fingersatz 1 - 2 - 3 - 4 abzuweichen, der
der Memorisierung so sehr entgegenkommt. Ein rein pianistisch ausgerichteter
Fingersatz, je nach Tastensituation von Sequenz zu Sequenz verschieden, wäre eine
nicht unerhebliche Mehrbelastung für das Gedächtnis.
Beispiel 81

zu Beispiel 81: Nur der von Sequenz zu Sequenz stets gleiche Fingersatz 1 2 3 4 ist
empfehlenswert. Die pianistische Beengung, die sich dabei an der gestrichelt umringten
Stelle ergibt, ist zu gering, als dass man deshalb von einem durchgehend musikalisch
analogen Fingersatz abweichen müsste, der der Memorisierung so überaus vorteilhaft
entgegenkommt.

Legato ist (wie in den Beispielen 75 bis 79 dargestellt) in erster Linie eine Idee, eine
innere Haltung. Im Idealfall gestalten wir das Legato nicht nur mit dem Pedal,
sondern auch mit den Fingern, machen es so körperlich erlebbar. Das Bedürfnis,
- 78 -
Legato immer mit Fingerlegato gleichzusetzen, aber kann wie eine Sperre wirken, die
das Finden pianistisch vorteilhafter Lösungen vereitelt. Auch die Notation führt, wie
im dritten Kapitel gezeigt, zu solchen Denkblockaden, dann etwa, wenn musikalische
Gruppierung (Balkierungen, Bögen) automatisch mit pianistischer Gruppierung
gleichgesetzt wird. Wie nachteilig es werden kann, wenn man inneres und äußeres
Festhalten automatisch gleichsetzt, belegen die nächsten beiden Literaturstellen.

Im Thema des ersten Satzes von Beethovens Sonate As-dur, op. 26 produzieren viele
Pianisten holprige Triller, weil sie nicht auf die Idee kommen, die unter der Triller-
note d2 liegende Terz f1 – as1 während des Trillers loszulassen (Beispiel 82). Das
manuelle Festhalten dieser Terz zwingt zu einem gefesselten Triller mit dem sehr
ungünstigen Fingersatz 4 - 5 in äußerster Beengung an einer ungünstigen Position
nahe am Tastendeckel. Aber das Festhalten der Terz ist sinnlos, denn sie kann mit der
folgenden Terz es1 - g1 nicht mit Fingerlegato verbunden werden, muss ohnehin
vorzeitig losgelassen werden.
zu Beispiel 82: In Takt 23 zeigt der mit gefesselten Fingern ausgeführte Triller den Finger-
satz des Nicht-Praktikers (Pfeil plus Fragezeichen). Dem Fingersatz liegt die Vorstellung
zugrunde: „Ich muss die unter dem Triller liegende Terz so lange wie möglich festhalten!“
Eine pianistisch ungleich bessere Ausführung des Trillers besteht darin, den Akkord nach
dem Anschlag sofort loszulassen und im Loslassen die Hand über den 5. Finger so nach
außen zu drehen, dass der 3. Finger über dem oberen Trillerton es2 zu liegen kommt.
Der mit dem 5. Finger auf dem D „angestochene“ Triller kann nun entweder mit dem 3. und
dem 2. Finger oder mit dem 3. Finger und dem Daumen fortgesetzt werden. Der ruhig und
melodiös zu spielende Triller-Nachschlag wird mit 1 - 4 bzw. mit 3 - 4 ausgeführt.
Der Triller sollte, damit er pianistisch nicht verlegen klingt, aus sieben Tönen bestehen.

die wohl etwas günstigere Fingersatzvariante 5 3232 14


51 23131
3 34
?
Beispiel 82

Takt 23

Die Terz beim Triller loslassen!

Das Nicht-los-lassen-Wollen erinnert an Verhaltensweisen auch außerhalb der Musik.


So nennt die Verhaltensforschung einen wesentlichen Grund, warum Treppenstürze
oft mit schweren Verletzungen einhergehen: Statt zur eigenen Rettung sofort alles
fahren zu lassen und einen Halt zu suchen, z. B. an einem Geländer, versucht der
Strauchelnde zuerst, gehaltene bzw. balancierte Objekte, etwa das bekannte Tablett
mit Geschirr, vor dem Herunterfallen zu bewahren.
Eine weniger dramatische Assoziation führt zu der schlauen Art und Weise, wie ein
afrikanischer Volksstamm Paviane fängt: Hinter eine enge Maueröffnung, in die der
Affe die gestreckte, nicht aber die geschlossene Hand hineinstecken kann, wird ein
- 79 -
Köder, Datteln oder Feigen, gelegt. Sobald der Pavian den Köder gegriffen hat, kann
man ihn leicht fangen; denn auf das Naheliegende kommt er nicht: die Faust zu
öffnen, die Beute loszulassen und zu fliehen. Er will die Früchte unbedingt festhalten
und kann die Hand nicht mehr aus der Maueröffnung ziehen.

Anmerkung: Den Vergleich mit dem Affen verwendet auch Leo Tolstoi. In „Krieg und Frieden“,
Kap. XXVI, heißt es: „Wie der Affe, der die Hand in den engen Hals eines Kruges gesteckt und so
viele Nüsse, wie er greifen konnte, gepackt hat und nun die Faust nicht aufmachen will, um das Er-
wischte nicht fahrenlassen zu müssen, und damit sein Schicksal besiegelt, so mussten die Franzosen
beim Abmarsch von Moskau (1812) zugrunde gehen, weil sie das Geraubte mit sich schleppten,
allein sich ebensowenig von dem Geraubten trennen konnten, wie der Affe es über sich gewinnt,
sich von seinen Nüssen zu trennen.“ Ergänzende Information: Der erwähnte afrikanische Volks-
stamm fängt die Paviane nicht, um sie zu töten: Der Pavian wird für ein paar Stunden an einen
Pflock gebunden und erhält einen Salzstein, den er sehr schätzt. Auf diese Weise durstig gemacht,
weist er dem Jäger, sobald er freigelassen ist, den Weg zu versteckten Wasserstellen.

Meine langjährige Studentin und Meisterschülerin Claudia Hölbling, eine wahre


Klavierkünstlerin, zeigte einmal, sozusagen, das Verhalten des genarrten Pavians.
In Mozarts „Andante für eine Walze in eine kleine Orgel“, KV 616, das ich schon
öfter als Beispiel herangezogen habe, spielte sie den Triller in Takt 75 als einfachen
Praller (Beispiel 83). Nachdem ich sie aufgefordert hatte, den Triller reicher, mit
sieben oder mit wenigstens fünf Trillertönen auszuführen, bemerkte ich erst beim
genauen Hinsehen, warum sie sich damit schwertat. Sie spielte den Triller sehr
beengt, weil sie, zunächst, nicht auf die Idee kam, das c3 unter der Trillernote gleich
zu Beginn des Trillers loszulassen.
Damit die Hand ohne Fesselung trillern kann, den zweiten
Finger auf c3 gleich nach dem Anschlag loslassen! 353532
Beispiel 83

Takt 75

Zu Beispiel 83: Wenn das zuvor losgelassene c3 bei einem zusätzlichen Pedalwechsel
verloren geht, ist das musikalisch kein Nachteil: Durch das C in der Unterstimme bleibt die
harmonische Vollständigkeit gewahrt; überdies klingt das losgelassene hohe c3 als Oberton
des c1 der Unterstimme weiter. Der zusätzliche Pedalwechsel kann jedoch wegen der hohen
Lage der Sopranstimme auch unterbleiben. Die ineinanderklingenden Töne des Diskants
stören vielleicht in einem Zimmer, nicht aber in einem Saal.

Fälle wie in den Beispielen 82 und 83 sind sehr häufig. Verzierungen und Triller sind
ohne die Fesselung benachbarter Finger genauer, leichter, besser auszuführen (siehe
auch die Beispiele 69 und 70 im dritten Kapitel). Das bewusste Loslassen stellt die
grundsätzliche Bedeutung des Fingerlegatos nicht in Frage. Oft aber ist ein Legato-
spiel auch dann eingeschränkt, wenn ein stimmiger Legato-Fingersatz zur Verfügung
steht. Legato-Fingersatz bedeutet nicht zwangsläufig auch Finger-Legato.

Pianisten verwenden, durchaus sinnvoll, sehr oft einen Legato-Fingersatz als


technische und geistige Schiene, ohne tatsächlich ein Fingerlegato auszuführen.
- 80 -
So in dieser furiosen Passage in Liszts Dante-Fantasie (Beispiel 84).
Beispiel 84

zu Beispiel 84: Die herabstürzenden Oktaven werden in beiden Händen mit einem Legato-
Fingersatz der drei Außenfinger gespielt. Die Finger aber spielen kein echtes Finger-Legato,
sondern schweben zwischen den Anschlägen knapp über den Tasten. Dennoch ist der Legato-
Fingersatz eine große technische Hilfe und eine wirksame Unterstützung der Memorisierung.

Auch in Chopins Etüde op. 10, Nr. 1 (Beispiel 85) existiert ein geschlossenes Finger-
legato nur als Idee, ein konsequent durchgehaltenes Fingerlegato ist nicht ausführbar.
Beispiel 85

An der Nahtstelle e1 - c1 hielte eine strenge Bindung die Hand zu lange geschlossen und würde
sie darin behindern, sich mit dem 2. Finger zeitig zum G zu orientieren, ganz abgesehen davon,
dass ein reales Fingerlegato die Hand an dieser Nahtstelle geradezu spastisch verkrümmt
aussehen ließe. Zwar schließt sich im Nachrücken die Hand zwischen dem 5. Finger und dem
Daumen andeutungsweise wie zu einem tatsächlichen Fingerlegato, noch bevor aber der
Daumen das C anschlägt, hat der 5. Finger das E schon verlassen, und die Hand ist wieder in
der Streckbewegung nach oben begriffen. Für den Abstieg gilt entsprechend das Gleiche.
Die Etüde wäre mit einem wörtlich genommenen strengen Fingerlegato nicht ausführbar.

WIE BILDEN SICH FINGERSÄTZE BEI BERÜHMTEN PIANISTEN?

Ich komme noch einmal zurück auf die anhand des bekannten Impromptus Ges-Dur so
ausführlich diskutierte Beispielreihe 79 a - e. Die Fingersätze des Beispiels, die ich so
geschmäht habe, haben eine Besonderheit. Unter anderem habe ich die Fingersätze
als praxisfern, idealistisch und dogmatisch kritisiert. Ihr Verfasser aber war ein sehr
erfahrener Praktiker. Ich will versuchen, mich aus dieser Verlegenheit herauszuwinden:
- 81 -
Walter Giesekings Hand hatte eine besonders günstige Beschaffenheit. Sie besaß,
neben einer besonders großen Spannweite gerade auch zwischen den inneren drei
Fingern, vor allem einen ungewöhnlich langen fünften Finger, der beinahe so lang
war wie der vierte. Gieseking konnte daher stumme Wechsel in den Außenstimmen
geschmeidig und schnell und ohne Nachteile für die Gleichmäßigkeit von Begleit-
stimmen, die der Hand gleichzeitig anvertraut sind, ausführen. Und: wenn er mit dem
fünften Finger auf schwarzen Tasten spielte, wurde, wegen dessen ungewöhnlicher
Länge, der benachbarte vierte bzw. der dritte Finger nicht in eine beengende und
ungünstige Anschlagsposition nahe am Tastendeckel gezwungen. Die Informationen
über die besondere Beschaffenheit von Giesekings Hand verdanke ich dem Kollegen
Prof. Klaus Schilde.
Dennoch bezweifle ich, dass Gieseking sich als Pianist an die von ihm verfassten
Fingersätze gehalten hat, wie ich überhaupt - außer bei Arrau - oft daran zweifle,
dass Pianisten die von ihnen in Editionen erschienenen Fingersätze selbst verwendet
haben. Gegenüber Fingersätzen ist Skepsis selbst dann angebracht, wenn bekannte
Pianisten sie verfasst haben. Oft sind es Künstler, die sich aufgrund ihrer hervor-
ragenden Begabung um einen Fingersatz nie Gedanken machen mussten, denen die
Fingersätze gleichsam in die Hände fielen. Im Sinne des von Carl A. Martienssen
beschriebenen „Wunderkindkomplexes“ gruppieren sich bei diesen Künstlern die
Finger in einer Einheit von Hören und (Be-)greifen von selbst und sofort in einer
geeigneten Weise auf der Tastatur. Werden solche Künstler von Verlagen gebeten,
Fingersätze für ihre Editionen zu verfassen, müssen sie sich oft zum ersten Mal
Gedanken darüber machen und sich einer Mühe unterziehen, derer sie für das eigene
Spiel nie bedurften. Heraus kommen dann bisweilen idealistische, „ritterliche“
Fingersätze mit einem allgemeinen erzieherischen Anspruch und nicht die von der
pianistischen Praxis geleiteten spannenden und individuellen Lösungen, die die
Künstler selbst anwenden bzw. angewandt haben.
Max Strub (1900 – 1966), Geiger und Professor an der Musikhochschule Detmold,
sagte, es gebe drei Sorten von Fingersätzen, erstens die, die man am Schreibtisch
macht, zweitens die, die man unterrichtet, und drittens die, die man auf dem Podium
spielt.
Nach wenigen Durchgängen vom Blatt, schreibt Arthur Rubinstein, habe er die
beiden Chopin-Sonaten beherrscht. Gerhard Oppitz hat das monströse Konzert in
f-moll von Max Reger, das er im März 1983 mit dem Bayerischen Staatsorchester
unter Wolfgang Sawallisch aufführte, in einer knappen Woche gelernt, bei zwei
Arbeitsstunden pro Tag, also in weniger als fünfzehn Stunden, wobei er sich ärgerte,
dass die Einstudierung so lange gedauert hatte.
In den Noten solcher Künstler fänden Sie keine Fingersatzeinträge. Wo die Unter-
schiede zwischen Üben und Spielen verschwinden, wäre ein eigener Arbeitsgang
„Fingersätze erstellen“ geradezu eine Belästigung des musikalischen Flusses, wie
auch das Auswendiglernen eines Werkes bei diesen Künstlern von selbst geschieht
und, selbstverständlich, kein eigener Arbeitsgang ist. Ich selbst tüftle gerne Finger-
sätze aus; es bleibt mir auch nichts anderes übrig, denn ich lerne langsam und von
einer Einheit von Üben und Spielen bin ich weit entfernt. Fingersätze zu machen
erwies sich für mich als gute Methode, Werke kennenzulernen, die ich unterrichtet
habe, selbst aber nicht gespielt hatte. Meine Studenten haben davon profitiert. Auch
außerhalb des Unterrichts konnten sie mich bei heiklen Stellen immer um Rat fragen
und bekamen von mir, per Fax, praktikable Fingersätze geliefert, meist postwendend.
- 82 -
Beispiel 86 zeigt eine schwierige Akkordpassage aus der fünften Sonate, op. 53 von
Alexander Skrjabin. Bei solchen Passagen kommt es darauf an, dass auch in schneller
Abfolge noch jeder Akkord prägnant gegriffen und nicht nur im Vorübergehen
angetippt wird. Das ist in an der Stelle wegen des schnellen Tempos schwierig.

Beispiel 86

Eine koreanische Studentin meiner Klasse konnte die Akkordfolgen in der notierten
Form nicht zufriedenstellend ausführen. Deshalb habe ich mir für sie die im Beispiel
eingetragene Handverteilung ausgedacht, die vielleicht beanspruchen darf, die
spieltechnisch beste Lösung zu sein (wobei ich nicht behaupte, es sei auch der
Fingersatz, der der Memorisierung am meisten entgegenkommt).
Auch mein Hochschulkollege Bernd Glemser gehört zu den Pianisten, die schnell
lernen und auch in seinen Noten würden Sie vergebens nach Fingersatzeinträgen
suchen. Ich habe ihn gefragt, wie er diese Stelle aus Skrjabins fünfter Sonate spiele.
„So wie es dasteht“, war seine Antwort, und er fügte hinzu, es gebe sicherlich, mit
einer geschickten Handaufteilung, pianistisch bessere Lösungen als die gedruckte
Fassung, sich damit zu beschäftigen aber koste ihn, „so mitten im Spielen“, zu viel
Zeit, bringe ihn aus dem Fluss. In der Zeit, die er brauchte, sich etwas Raffiniertes
auszudenken, habe er die Stelle schon so gelernt, wie sie gedruckt ist.

WENN DIE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN SPIELEN UND ÜBEN VERSCHWINDEN

In diesem Zusammenhang ist es lehrreich und sogar unterhaltsam, etwas über die
Arbeitsweise Daniel Barenboims zu erfahren, der sowohl als Pianist wie auch als
Dirigent Weltruhm genießt. Meine zweifellos vertrauenswürdige Quelle ist der am
8. Januar 2012 verstorbene Prof. Johann-Nikolaus Matthes. Dieser beispiellos fähige
Mann war bis in die 80er Jahre Tonmeister der seinerzeit weltweit bedeutendsten
Plattenfirma EMI. Johann-Nikolaus Matthes hat mit dem Alban Berg Quartett, mit
Barenboim, Fischer-Dieskau, Swjatoslaw Richter und vielen anderen weltberühmten
Künstlern Platteneinspielungen gemacht, und er hat über seine Arbeit und Erlebnisse
mit den Künstlern penibel Tagebuch geführt. 1978 und 1979 habe ich mit Herrn
Matthes im damaligen Aufnahmestudio der EMI in Berlin-Zehlendorf Platten-
aufnahmen gemacht. Was ich nachfolgend über Barenboims Tätigkeit in Berlin
berichte, hat mir Herr Matthes an den Abenden nach den Aufnahmesitzungen erzählt.

Es kam Daniel Barenboim darauf an, die Zeit seines Aufenthaltes in einer Stadt
umfassend zu nutzen. So setzte er, als Pianist, in Berlin Plattenaufnahmen für die
Tage an, an denen er, als Dirigent, bei den Philharmonikern verpflichtet war.
Im Dezember 1971 dirigierte er an drei aufeinander folgenden Abenden in der
Philharmonie ein Programm mit, unter anderem, Schuberts großer C-Dur-Symphonie
- 83 -
und dem Violinkonzert von Bruch - Solist: Pinchas Zukerman. Gleichsam nebenher,
zwischen Orchesterproben und Konzerten, besorgte er mit Pinchas Zukerman im
EMI-Studio in Berlin-Zehlendorf die Gesamteinspielung der Sonaten für Klavier und
Violine von Beethoven. Nach einer langen Aufnahmesitzung, die sich vom Morgen
bis in den Nachmittag hinein erstreckt hatte, fuhr er mit Zukerman und Herrn Matthes
unter höchstem Zeitdruck im Taxi vom Zehlendorfer Aufnahmestudio zur Probe in
die Philharmonie. Dort angekommen begrüßte er vom Dirigentenpult das Orchester
mit den Worten, man wolle nun gemeinsam dieses große Werk, Schuberts
C-Dur-Symphonie, im Geiste Furtwänglers erarbeiten. Dessen alte Aufnahme der
Symphonie aus dem Jahr 1951 habe er sich soeben noch im Hotel angehört.
Selbstverständlich kam Barenboim stets unvorbereitet ins Studio. Aber was heißt
„unvorbereitet“! Er konnte immer alles sofort spielen. Üben als eigenen, vom Spielen
unterschiedenen Arbeitsgang, Üben als häufiges Wiederholen schwieriger Passagen,
das - er sagte es selbst in einem Fernsehinterview - kenne er nicht. Unvorbereitet
war er in dem Sinne gewesen, dass er keine Zeit hatte einplanen können, um die
Werke vorher wenigstens ein paar Mal durchzuspielen; und selbst wenn er das
gewollt hätte, wäre es ihm, angesichts eines vollen Kalenders mit über die ganze Welt
verstreuten Terminen, wahrscheinlich nicht möglich gewesen.
Für eine Produktion aller Mozart-Klaviersonaten waren in Berlin im Januar 1976
einige zusammenhängende Tage anberaumt worden, allerdings mit einem Tag
Unterbrechung, an dem Barenboim eine Probe der New Yorker Philharmoniker zu
leiten hatte. Damit er rechtzeitig zu dieser Probe gelangte, hatte die Agentur den
durch die unterschiedlichen Zeitzonen bedingten Zeitgewinn mit einplanen müssen.
Natürlich kannte Barenboim alle Werke von Jugend an und konnte sie bei den
Aufnahmen sehr gut vom Blatt spielen - aber mit Fehlern. Unterlief ihm ein Fehler,
unterbrach er nicht, sondern sprang, nahtlos weiterspielend, einige Takte zurück,
wenn nötig mehrere Male, bis die Stelle sauber bewältigt war. Auf diese Weise
spielte er den ganzen Satz durch. Diese Art aufzunehmen ist für den Tonmeister
überaus anstrengend: Da er nicht weiß, wie viele Takte der Künstler nach Fehlern
zurückspringt, ist er stets in Gefahr, den Anschluss zu verlieren, und es bleibt ihm
kaum Zeit, seine Notizen in die Noten zu setzen. In nur vier Vormittagen waren alle
Mozart-Sonaten eingespielt.
Die meisten Pianisten wollen ein Werk oft auf dem Konzertpodium erproben, bevor
sie damit in ein Aufnahmestudio gehen; bei Daniel Barenboim ist es umgekehrt:
Durch das Wiederholen, Durchspielen und Probieren von Passagen während der
Aufnahme lernt er die Werke für die Konzert-Tour. Das Programm des Chopin-
Abends, unter anderem mit sehr schludrig gespielten Préludes op. 28, das ich im
November 1976 von ihm in München im Kongress-Saal des deutschen Museums
gehört habe, hatte er zuvor „geübt“, indem er es in Berlin auf Schallplatte einspielte.
Daniel Barenboims Spiel hat bisweilen, auch auf Schallplatten, z. B. auf seiner
bekannten Gesamtaufnahme der Klavierkonzerte Mozarts, den Charakter von
al fresco, und viele sagen, wie vollendet würde dieser mit musikalischen Gaben so
verschwenderisch beschenkte Künstler spielen, wenn er nur übte. Aber das ist der
Punkt: Barenboim kann nicht „üben“. Beflissenes Üben in vielen Wiederholungen,
Feilen an heiklen Passagen, das Herauslösen des Einzelnen aus dem Gesamten
widerspricht seinem Wesen. Aber eben diese Art zu musizieren ist es, die den Unter-
schied ausmacht zur künstlerischen Güte beispielsweise eines Dinu Lipatti.
- 84 -
Was den Umgang mit Fehlern betrifft, können junge und noch unerfahrene Pianisten
gerade von Daniel Barenboim etwas sehr Wichtiges lernen. Es geht um die bekannte
Frage, warum wenige falsche Töne des einen Pianisten sofort peinlich berühren,
während viele falsche Töne des anderen kaum stören.
Am Sonntag, 27. Juli 1986, vier Tage vor Liszts hundertstem Todestag, hörte ich
Daniel Barenboim im Rahmen der Opernfestspiele im Münchner Nationaltheater in
einer Matinée mit Werken Franz Liszts. Dabei spielte er bisweilen, etwa in der
Dante-Fantasie, so massiv falsch, dass es einen schüttelte, und wie es sich - was
nicht unerwähnt bleiben soll - ein noch unbekannter Künstler niemals erlauben
dürfte. Aber er zeigte sich von den Fehlern völlig unbeeindruckt und setzte sein Spiel
ohne jede Einbuße an Konzentration und Gestaltungskraft fort. Fehler hatten nie
Auswirkungen auf das Folgende, und nachdem er andere Programmpunkte, z. B. die
Rigoletto-Paraphrase, gespielt hatte, wie sie schöner nicht hätte sein können, waren
die Patzer vergessen.
Bei dem noch unerfahrenen Pianisten kündigt sich der Fehler oft schon an und
konditioniert alles, was folgt. Rings um den Fehler ist „verbrannte Erde“, und deshalb
bleibt er beim Hörer haften. Bei einem erfahrenen Künstler bleiben Fehler, selbst
wenn sie zahlreich sind, isolierte Punkte. Sie strahlen nicht aus und sind deshalb
schnell vergessen. Überdies zeigen viele Bühnenneulinge, wenn ihnen Fehler unter-
laufen, auf dem Podium ein sehr törichtes Verhalten, das beinahe schlimmer ist als
der Fehler selbst: Durch eine verdrießliche und entschuldigende Mimik verraten sie
dem Publikum ihre Unzufriedenheit mit dem eigenen Spiel. Viele Zuhörer werden
dadurch erst auf Unsicherheiten aufmerksam, die ihnen sonst womöglich gar nicht
aufgefallen wären.
Für mich hatte der Pianistenberuf stets etwas Grüblerisches und war verknüpft mit
Mühe, mit einem Sich-Erkämpfen und großen Auftrittsängsten. So schaue ich in
Bewunderung auf Pianisten, die ohne Kampf und Mühe schön spielen und mit dem
Beruf Leichtigkeit verbinden, ohne dass ihr Spiel dadurch oberflächlich geriete.
Wenn ich, manchmal, denke, meine eigenen Aufnahmen seien, wenigstens stellen-
weise, feiner ausgearbeitet, harmonisch genauer und besser ausgeleuchtet, dann nicht,
weil ich mir etwa die Gaben eines Daniel Barenboim zuspräche, sondern weil ich für
jeden einzelnen Takt unendlich viel mehr an Zeit und akribischer Sorgfalt aufwende,
aufwenden muss, bis es so weit ist, dass andere und vor allem ich selbst mein Spiel
vielleicht als sehr gut bezeichnen können. Das soeben Gesagte ist vielleicht eine
Täuschung, aber, so sie eine ist, muss ich sie aufrechterhalten, sonst könnte ich
resigniert alles hinwerfen. Denn es gibt, zweifellos, auch die andere Seite (und hier
komme ich noch einmal auf Fingersätze zurück): Selbst bei prominentesten Pianisten
ist bisweilen unüberhörbar, dass vieles genauer und besser hätte herauskommen
können, wäre zuvor auf den Fingersatz einige Überlegung verwendet worden.

Der Fingersatz, der sich in der Einheit von Hören, Greifen und Be-greifen dem
ungewöhnlich Begabten sofort erschließt, ist nicht zwangsläufig auch der beste.

Arturo Benedetti Michelangeli gehörte zu den großen Pianisten, und sicher zu den
perfektesten. Er hat sich seine Fingersätze genau und lange überlegt und penibel in
die Noten eingetragen. Von einer Überzeugung bin ich nicht abzubringen: Auch das
geniale Unbewusste findet irgendwo seine Grenze, und das schnelle und geniale
Erfassen des Ganzen kann nicht ohne Verluste für die Einzelheiten gelingen.

Das könnte Ihnen auch gefallen