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KOPFSCHMERZEN

Nach traditionell medizinischem Verständnis wird Kopfweh als eine abnorme Erregungsbildung
im Hirnstammbereich betrachtet, spontan auftretend oder durch Reize ausgelöst. In 90 % der
Fälle wird Kopfweh multifaktoriell verursacht, wobei genetische, mechanische, biochemische,
vaskuläre und psychologische Faktoren eine Rolle spielen können. 5 % der Bevölkerung leiden
unter Kopfweh, Frauen sind mehr betroffen als Männer. Menschen mit nicht manuellen Berufen
sind drei mal häufiger betroffen als manuell Tätige. 10 % des Gesamtmedikamentenumsatzes
wird für Kopfwehmedikamente ausgegeben.

Vom Gesamtkrankengut entfallen 25 % auf die (anfallmässige) Migräne, 50 % auf die Cepha-
lea (den dumpfen Dauerkopfschmerz), den Rest machen verschiedene Kopfwehformen aus,
Mischformen sind häufig. Die Tatsache, dass Kopfschmerzen als übertragene Schmerzen aus
muskulären Triggerpunkten entstehen können, ist im heutigen medizinischen Alltag noch zu
wenig bekannt.

Die unspezifischen Cephalea-Schmerzen werden allerdings oft auch als Spannungskopfschmerzen


bezeichnet. Hier lassen sich muskuläre Spannungen gut subsummieren, wenngleich psychische
Spannungen hier eher betont werden. In unserer Sicht liegt in weit mehr als der Hälfte aller
Kopfschmerzen ein myofasziales Geschehen vor, dessen Schmerzursache in Triggerpunkten
der Nacken-, Hals- und Kopfmuskeln besteht, welche Schmerzursachen oft weit vom eigentli-
chen Schmerzort entfernt zu suchen sind. Wir halten es für möglich, dass neben den dumpfen
Kopfschmerzen auch migräneartige Kopfschmerzen durch myofasziale Prozesse mitverursacht
werden.

Die Migräne ist bei 1/3 der Fälle doppelseitig, sie hat eine genetische Grundlage, sie manifestiert
sich aber oft mittels eines Auslösers (Traumata der HWS, Veränderungen im weiblichen Hor-
monhaushalt, Föhn, in 8 % durch Nahrungsmittel, in einem seltenen Fall auch einmal durch einen
impaktierten Weisheitszahn). Die anfallsweise auftretenden pulsierenden Migräneschmerzen
sind oft von Erbrechen begleitet und bei 30 % der Patienten von optischen Sensationen. Die
Dreiphasentheorie der Migräne (Vasokonstriktion, Dilatation und Oedem) muss dahingehend
ergänzt werden, dass es sich dabei um einen Prozess handelt, der sich langsam über verschiedene
Hirnregionen ausbreitet. Cerebrovaskuläre Dauerschäden der Anfälle sind selten und haben
meist einen günstigen Verlauf. Zu warnen ist vor der Trias Migräne, Antikonzeptiva und Rauchen,
welche Kombination auffallend häufig zu Schlaganfällen führt.

In 10 % der Fälle werden Kopfschmerzen monokausal verursacht. Sind sie akut und betreffen sie
ältere Menschen, liegen oft gefährliche Ursachen vor: eine Subarachnoidalblutung, ein subdurales
Hämatom, ein Tumor, eine Sinusitis oder ein Glaukom. Wenn diagnostisch keine Eindeutigkeit
besteht, ist eine Lumbalpunktion und ein CT oder MRI obligatorisch.
Bei malignen Geschwülsten ist im übrigen nur in 1 % der Fälle Kopfweh das alleinige Symptom.
Selten sind die blitzartig einschiessenden Gesichtsneuralgien, die manchmal durch postzosterische
Vernarbungen an Nerven verursacht werden und durch ein operatives Prozedere angegangen
werden können. Die Hypertonie macht selten Kopfweh, wohl aber die labile Hypotonie.
THEORIE 8
Die Riesenzellarteritis ist oft von Kopfschmerzen begleitet. Sie ist von einem schweren Krank-
heitsgefühl geprägt, hat eine hohe Senkung und spricht schlagartig auf Steroide an.
Bei Kindern ist die Kopfwehinzidenz ebenfalls 4 %, bei der Hälfte tritt eine Spontanheilung ein.
An monokausalen Kopfwehursachen kommt latentes Schielen vor. Eine Migraine accompagnée
bei einem Kind soll immer mit einem MRI abgeklärt werden. Psychogenie ist im Kindesalter von
untergeordneter Bedeutung, Imitation ist eine Rarität.

In 1/4 der Kopfwehfälle spielt als Teilursache (über die Senkung der Schmerzschwelle) eine
Depression mit, dies vor allem bei Frauen in höherem Alter und nach Traumata. Von den kör-
perlichen Symptomen einer Depression steht Kopfweh mit 50 % weit an der Spitze.

Oft sind Kopfschmerzen Folgen von Schädel – oder indirekten HWS-Traumata. Die Schwere
des Unfalles korreliert nicht mit der Stärke der Folgeschmerzen. Bei Entschädigungsansprüchen
sind Kopfschmerzen drei mal häufiger als bei Selbstverschulden des Unfalles. Oft leiden allerdings
Berentete weiterhin an Kopfweh. Bei diesen traumatisch bedingten Kopfschmerzen spielen my-
ofasziale Befunde nach unserer Erfahrung die Hauptrolle. Wenn bei Kopfschmerzen einmal eine
monokausale Ursache wie oben angeführt ausgeschlossen ist, sollte vorerst eine Behandlung
mit manueller Triggerpunkttherapie und Dry Needling versucht werden. Wichtig ist eine vor-
gängige Abklärung durch einen in der Beurteilung myofaszialer Probleme geschulten Arzt oder
Physiotherapeuten. Schwere Kopfschmerzen sollten immer medikamentös behandelt werden,
bevor man mit einer Triggerpunkttherapie beginnt. Die Behandlung Kopfweh verursachender
Triggerpunkte kann die Kopfschmerzen manchmal vorübergehend verstärken. Solche Kopfweh-
schübe sprechen gut auf Kälte an, sei es durch eine Cryojet-Behandlung mit verdampfendem
Stickstoff oder durch Auflegen von tiefgekühlten Kältebeuteln.
(Literatur: Barolin G.S. 1994: Kopfschmerzen-multifaktoriell. Enke, Stuttgart.)

Dr. med. Beat Dejung

THEORIE 9
SCHMERZCHRONIFIZIERUNG UND
FIBROMYALGIE

Chronisch sind nach allgemeiner Übereinkunft Schmerzen, die länger als 6 Monate andauern.
Während akute Schmerzen eine biologisch sinnvolle Warnfunktion haben, sind chronische
Schmerzen nutzlos, zerstörerisch und lebensfeindlich. Alle Schmerzen, die nicht innerhalb nützli-
cher Frist behandelt und beseitigt werden, führen zu einem chronifizierten, oft therapieresistenten
Zustand. Ein „point of no return“ kann dabei schon nach wenigen Monaten überschritten werden,
manchmal sind aber auch jahrelang anhaltende Schmerzen noch behandelbar. Nach unserer
Erfahrung, die allerdings wissenschaftlich noch nicht gesichert ist, sind persistierende myofasziale
Triggerpunkte die Hauptursache für die Entstehung von Schmerzchronifizierungsprozessen.

Chronifizierungsvorgänge finden in der Peripherie, im Rückenmark und im Gehirn statt. In der


Peripherie werden die Nozizeptoren durch eine Veränderung der Kinetik von Ionenkanälen
sensibilisiert. Die Zahl der Nozizeptoren vermehrt sich, in Tierversuchen wurde eine Verdop-
pelung schon nach zwei Wochen festgestellt. Im Hinterhorn wird bei nozizeptivem Einstrom die
Erregbarkeit der Synapsen schon nach Stunden gesteigert.Wahrscheinlich durch die Überflutung
des Hinterhorns mit Neurotransmittern (Substanz P und andere) beginnen inaktive Synapsen
zu funktionieren. Dies führt zu einer Vergrösserung der nozizeptiven rezeptiven Felder in der
Peripherie. Die Reaktionsfähigkeit des zweiten Neurons kann sich bis zur spontanen Reizbil-
dung verändern. Über Sensibilisierungsvorgänge im Gehirn sind nur Bruchstücke bekannt. Bei
chronischen Schmerzpatienten findet offenbar im Thalamus eine Senkung des Metabolismus
statt und die schmerzhemmenden deszendierenden Einflüsse aus dem Thalamus gehen damit
verloren. Es gibt auch Hinweise darauf, das chronische Schmerzpatienten ein Schmerzgedächtnis
entwickeln, dass auch bei Verschwinden der peripheren Nozizeption fortwirkt.

Bei gewissen Patienten können an verschiedenen Orten des Nervensystems Koppelungen


zwischen sympathischen Efferenzen und nozizeptiven Afferenzen entstehen. Die Ursachen da-
für sind nicht bekannt. Es entstehen Zustände, die man als Morbus Sudeck, als Algodystrophie,
sympathische Reflexdystrophie oder als komplexes regionales Schmerzsyndrom bezeichnet.
Meistens, aber nicht immer sind Verletzungen für eine solche Entwicklung ursächlich. Die Krank-
heit durchläuft verschiedene Stadien. Sie beginnt mit Überwärmung, lokaler Rötung, mit einem
Oedem und mit Hyperhydrosis. Später wird die Haut kühl und livide, neben einem vermehrtem
Haarwachstum findet man im Röntgenbild eine kleinfleckige Demineralisierung. Schliesslich
finden Haut- und Muskelatrophien statt, es entstehen Kontrakturen und das Röntgenbild zeigt
eine grosswabige Osteoporose.
Die Therapie der Wahl ist heute Calcitonin. Wärmeapplikation ist ein Kunstfehler.

Ein eigenes Krankheitsbild ist die Fibromyalgie. Sie ist definiert als ausgedehntes Schmerzsyn-
drom in mind. 3 Körperregionen seit mehr als 3 Monaten und bei Empfindlichwerden von mind.
11 von 18 definierten Schmerzpunkten, die als Tenderpoints bezeichnet werden. Während

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chronische Schmerzen bei Männern und Frauen im gleichen Ausmasse auftreten, beträgt das
Geschlechterverhältnis bei der Fibromyalgie 5:1 zugunsten der Frauen. Die Krankheit ist oft von
Schlafstörungen, Spannungskopfweh, funktionellen Herz- und Magenbeschwerden und depres-
siven Verstimmungen begleitet. Interessanterweise tritt Fibromyalgie häufiger auf bei Patienten,
die erhöhtem psychosozialen Stress ausgesetzt sind. Man hält heute die Fibromyalgie für eine
Neurotransmitterstörung. Anzeichen dafür sind ein erhöhter Liquorspiegel von Substanz P und
ein tiefer Serumspiegel von Serotonin. Auf dieser Tatsache basiert die einzige bis heute bekannte
wirksame Therapie, die intravenöse Applikation von Tropisetron (Navoban), eines Serotonin-
Wiederaufnahme-Hemmers. Bei etwa der Hälfte der Fibromyalgiepatienten lassen sich die
Schmerzen damit mildern. Die meisten Fibromyalgiepatienten haben myofasziale Triggerpunkte
in grosser Zahl. Deren Behandlung mit unseren Methoden führt aber nicht zu einer Besserung.
Die Patienten geben im Gegenteil nach der Behandlung oft stärkere Schmerzen an.

Dr. med. Beat Dejung

THEORIE 11
KIEFERGELENK UND KAUMUSKULATUR

Schmerzen und Funktionseinschränkungen im Bereich des Kiefergelenks und der Kaumuskula-


tur sind eine häufige Ursache für Kopf-, Kiefergelenks-, Gesichts- und Nackenschmerzen.

Am besten umschreibt der Begriff „Myoarthropatie des Kausystems“ (MAP) die Beschwer-
deproblematik. Es handelt sich dabei um eine Störung und Problematik des Kausystems, die
ihren Ursprung in der Kaumuskulatur, der Kiefergelenke oder auch beidem hat. MAP werden
als häufigste Ursache von nicht zahnbedingten Kopf-, Kiefer- und Gesichtsschmerzen eingestuft.
MAP ist in der Bevölkerung weit verbreitet:
3-10% Männer, 6-15% Frauen und 1-4% Kinder (7-17 Jährige) . (Palla)

Die 3 wichtigsten Leitsymptome sind:


• Bewegungseinschränkungen des Unterkiefers, resp. der Kiefergelenke
• Schmerzen und Druckempfindlichkeit der Kaumuskulatur
• Schmerzen und/oder Geräusche im Kiefergelenk während Bewegungen

Zusätzlich liegen häufig Begleitsymptome unterschiedlicher Ausprägung vor: Zahnschmerzen,


Kopf- und Gesichtsschmerzen, Ohrschmerzen/Ohrgeräusche, Nackenschmerzen, Schwindel,
Tränen-/Nasenfluss, Taubheitsgefühl, andere Körperschmerzen usw.

Die Ursache von Myoarthropathien sind vielfältig und zum Teil auch noch unbekannt. Oft spie-
len tendomyopathische Veränderungen der Kaumuskulatur eine wichtige Rolle, weniger oft sind
degenerative entzündliche Veränderungen, mechanisch bedingte Irritationen (zum Beispiel eine
Diskopathie) oder Zahnfehlstellungen am Geschehen beteiligt.

THEORIE 12
Eine wichtige ätiologische Rolle spielt die Überlastung der Strukturen des Kausystems durch
Parafunktionen, d.h. Zähnepressen und/oder Zähneknirschen (okklusale Parafunktion), Beissen
auf Gegenstände, Lippen, Fingernägel sowie das Halten des Unterkiefers in einer abnormen
posturalen Position. Unterschieden wird zwischen Parafunktionen nachts im Schlaf und derjeni-
gen tagsüber, da beide verschiedene Ätiologie haben. Zu diesen Parafunktionen kommt es eher
in Folge einer nicht adäquaten Stressbewältigung oder einem daraus resultierenden Habitus,
und weniger durch Malokklusion der Zähne (Okklusion: jeglicher Zahnkontakt von Zähnen des
Ober- und Unterkiefers). Durch die enge Verknüpfung mit dem Limbischen System zeigt die
Kaumuskulatur als erste einen erhöhen Tonus unter Einfluss von Stressoren.

Zu den Risikofaktoren gehören:


• Okklusale Parafunktionen
• Alter
• weibliches Geschlecht
• Depressionen
• Physische und emotionale Traumen
• okklusale Störungen
Zur klinischen Untersuchung gehören folgende Zeichen:
• schmerzhafte Mundöffnung und/oder Unterkieferbewegung nach lateral
• Druckempfindlichkeit der Kaumuskulatur
• Druckempfindlichkeit des Kiefergelenks

Patienten mit primärer Gelenksymptomatik zeigen mit einem Finger auf das Schmerzgebiet
bzw. Gelenk, während Patienten mit überwiegender muskulärer Ursache mit der Hand auf das
schmerzhafte Gebiet zeigen.

Ein sehr wichtiger Aspekt sind auch die Referred Pain-Gebiete der Triggerpunkte der Kaumus-
kulatur. Oft werden Ausstrahlungen in die Zähne, in den Kopf, ins Ohr, in das Kiefergelenk oder
in die Mundhöhle nicht als Ausstrahlungen von Triggerpunkten der Kaumuskulatur erkannt und
so auch sehr oft fehlinterpretiert. Dadurch wird ein wichtiger Teil der Ursache verpasst und
nicht korrekt behandelt.

Knacken und Krepitationen des Kiefergelenks bei der Mundöffnung oder des Mundschlusses
sind eigentlich Zeichen einer möglichen Beteiligung des Kiefergelenks; Gelenksgeräusche kön-
nen aber auch symptomfrei sein und können genauso gut wieder verschwinden.

Bei der Palpation ist der arthrogene Schmerz gut im Kiefergelenk lokalisierbar und korreliert
sehr oft mit Unterkieferbewegungen, wobei beim myogenen Schmerz die myofaszialen Trigger-
punkte der Kaumuskulatur meist aktiv sind und das Gelenk selbst schmerzfrei ist.

Therapie:

Bis vor rund 15-20 Jahren wurden die Myoarthropathien hauptsächlich mit zahnmedizinischer
Therapie behandelt. Es zeigte sich jedoch, dass myoarthropathische Schmerzen durch eine
lokalisierte muskuloskelettale Störung ausgelöst werden und dass okklusale Fehler eine, wenn
überhaupt, untergeordnete ätiologische Rolle spielen.

Für die Therapie myoarthropathischer Schmerzen gelten grundsätzlich die gleichen pharma-
THEORIE 13
kologischen Prinzipen wie für die Therapie anderer muskuloskelettaler Störungen. Es wird
zwischen der Behandlung aktivierter und nicht aktivierter d.h. nicht entzündlicher Zustände
unterschieden.

Ziel der Behandlung ist die Schmerzlinderung und die Wiederherstellung der Funktion. Die
wichtigste Komponente der initialen Therapie ist die Patientenaufklärung.

Zuerst ist es sehr wichtig, den Hypertonus der Kaumuskulatur zu behandeln, wobei hier die
myofasziale Triggerpunkttherapie erste Wahl ist. Wesentlich dabei ist es, die oftmals unbewuss-
ten Parafunktionen (Zähneknirschen, Pressen, Zungenlage etc.) und oralen Gewohnheiten
(Kaugummi, Nägel beissen) bewusst zu machen und zu vermeiden. Sowie mittels Selbstbeob-
achtung, Wahrnehmungsschulung und -übungen, und verschiedenen Entspannungsübungen zu
behandeln. Ebenso wichtig ist es, im Alltag eine korrekte, entspannte Kieferstellung zu erlernen
(kein Zahnkontakt).

Arthrose resp. Diskuspathologien sind auch mit gelenkspezifischen, manuellen Techniken am


Kiefergelenk zu behandeln.

Wenn die Mundöffnung eingeschränkt ist oder auf eine Seite abweicht, ist es sehr wichtig, die
Mundöffnung zu verbessern resp. eine gerade Mundöffnung zu üben.

Eine Schienentherapie ist je nach Situation bei Bruxismus und/oder Malokklusion indiziert.

Ein Heimprogramm und die Mitarbeit der Patienten sind für eine gute Prognose und
den Erfolg der Therapie unerlässlich.

Alexander Gürtler / Regula Koller

THEORIE 14
ENTRAPMENTS

Wenn ein Nerv zwischen verspannten Faserbündeln oder zwischen Hartspann und Knochen
verläuft, kann der anhaltende Druck eine auf den komprimierten Abschnitt beschränkte Neura-
praxie bewirken. Gelegentlich wird im EKG zusätzlich zur Neurapraxie eine Neurotmesis nach-
gewiesen (Travell u. Simons 2002).

Periphere Nervenläsionen

Mumenthaler (2001) hat die peripheren Nervenläsionen in folgende Kategorien eingeteilt:

Neurapraxie: Die Neurapraxie ist die Funktionsstörung eines peripheren Nervs ohne Kon-
tinuitätsunterbrechung seiner leitenden Elemente. Die Sensibilität ist meist nur im Sinne von
Dysästhesien gestört.

Axonotmesis: Bei der Axonotmesis sind die Axone unterbrochen, die Hüllstrukturen aber
intakt. Wohl kommt es zum Vollbild einer peripheren Nervenlähmung mit Parese, Atrophie
und Sensibilitätsausfall. Die Regeneration spielt sich aber nur unter optimalen anatomischen
Voraussetzungen ab und die Restitution ist in der Regel vollständig, sofern nicht eine allzu lange
dauernde chronische Kompression zu einer irreversiblen Fibrosierung der perineuralen Struk-
turen geführt hat. Eine Axonotmesis liegt z.B. beim Karpaltunnelsyndrom vor.

Neurotmesis: Bei der Neurotmesis sind sowohl Axone wie Hüllgewebe unterbrochen. Die
regenerierenden Axone finden keine geeigneten Leitgebilde vor, und es entsteht ein Neurom.
Ein chirurgisches Vorgehen ist erforderlich. Diese Läsionsform findet sich bei scharfen Durch-
trennungen oder Zerreissungen peripherer Nerven.

Durchblutung der Nerven

Das Nervengewebe ist das am besten durchblutete Gewebe unseres Körpers. Es ist sehr stark
von einer ständigen Lieferung mit Sauerstoff und Nährstoffen abhängig. Das Nervengewebe
macht nur 2% des gesamten Körpergewichts aus, erhält aber ca. 20% des im Körper zirkulie-
renden Bluts (van den Berg 1999).

Die Gefässe ausserhalb des Nervengewebes verlaufen parallel zu den Nerven und verbinden
sich mit den Gefässen innerhalb des Epineuriums. Diese anastomisieren mit den Gefässen des
Perineuriums und letztlich mit den Gefässen des Endoneuriums mittels transversaler Gefässe.
Druck auf den Nerv hat sehr schnell negative Folgen für die Durchblutung. Bereits ein Druck
von 20 bis 30 mmHg hemmt den venösen Rückfluss. Durch die daraufhin entstehende venöse
Stauung kommt es zu einer verminderten Durchblutung der endoneuralen Gefässe. Die
Epithelzellen dieser Gefässe erhalten in der Folge weniger Sauerstoff, was zu einer Anoxie führt.
Als Reaktion auf die Anoxie entsteht eine erhöhte Permeabilität der Gefässe und es bilden sich
endoneurale Ödeme. Durch die Ödembildung wird der Druck im Nerv weiter erhöht. Die
daraufhin entstehende venöse Stauung führt letztlich zu einer gesenkten Durchblutung der
endoneuralen Gefässe. Es können in der Folge Störungen in der Impulsübertragung an den
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peripheren Synapsen entstehen, weil nicht genügend Neurotransmitter vorhanden sind. Erfolgt
dies über einen längeren Zeitraum, wird der Druck noch höher und die Nervenzelle wird über
den behinderten retrograden Transport geschädigt. Vermehrter Druck kann die Demyelinisie-
rung der Schwann- Zellen nach sich ziehen (van den Berg 1999).

Neurapraxien können ohne bleibende Schäden wieder regenerieren, wenn sich der Druck
verringert, das Ödem abnimmt, die Durchblutung normalisiert und die Myelinschicht wieder
aufgebaut wird. Es ist also sinnvoll, den Metabolismus im kritischen Bereich zu verbessern.
Gelegentlich schwächen sich die Anzeichen und Symptome der Neurapraxie innerhalb von
Minuten ab, nachdem die verantwortlichen myofaszialen Triggerpunkte inaktiviert wurden und
sich der Druck, der durch die verspannten Faserbündel verursacht wurde, löst. Bei schwer-
wiegenderen Kompressionsfolgen kann die Wiederherstellung Wochen oder Monate dauern
(Travell u. Simons 2002).

Der axoplasmatische Transport

Der erhöhte Druck hat auch einen negativen Einfluss auf den Flüssigkeitstransport im Axon
selber. Innerhalb des Zytoplasma einer jeden Zelle werden Materialien und Substanzen bewegt.
Darin unterscheidet sich das Zytoplasma der Neurone (Axoplasma) nicht von den anderen
Zellen. Jedoch erfordert die grosse Länge der Axone, die im Bein einen Meter messen kann,
spezielle Transportsysteme. Dies umso mehr, als es sich bei der Flüssigkeit im Axon um eine
zähflüssige, sirupartige Substanz handelt, deren Konsistenz fünfmal dickflüssiger ist als Wasser.
Im Hinterwurzelganglion werden fortwährend die molekularen Bausteine synthetisiert und mit
dem axoplasmatischen Fluss zum Zielgewebe befördert. Der axoplasmatische Fluss ist kom-
plex. Folgende drei Transportsysteme sind bis jetzt bekannt: ein schneller und ein langsamer
anterograder Fluss sowie ein langsamer retrograder Fluss.

Vom Zellkörper zu den Zielgeweben

Im schnellen Transport wird Material ca. 400 mm pro Tag befördert. Die entsprechenden Sub-
stanzen wie Enzyme, Glykoproteine, Neurotransmitter und Transmitterbläschen werden beim
Übertragen von Impulsen an der Synapse verbraucht.

Im langsamen Transport, 1 - 6 mm pro Tag, wird zytoskeletales Material transportiert, wie


Mikrotubuli und Neurofilamente. Dieser Transport dient vor allem zur Erhaltung und Regene-
ration der Axonstruktur.

Vom Zielgewebe zurück zum Zellkörper

Der retrograde Transport bewegt sich mit 200 mm pro Tag und transportiert auf seinem
Rücktransport in den Kreisprozess zurückgekehrte Transmitterbläschen und extrazelluläre Ma-
terialien wie z.B. wachstumsanregende Substanzen für den Nerv. Dieser Transport vermittelt
wichtige Informationen über die Situation im und um den Nerv.
Diese Transportvorgänge verbrauchen Energie und sind deshalb auch von der Durchblutung
innerhalb des Nervs abhängig.

Überall dort, wo der Nerv eingeengt wird von seinen Berührungsflächen, wird der axoplasma-
tische Fluss gebremst. Hierfür genügt bereits ein Druck von 30- 50 mmHg.
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Durch die Einschränkung der Durchblutung des Nervs und des axoplasmatischen Flusses ent-
stehen Störungen in der Impulsweiterleitung über den Nerv. Man spricht in diesem Fall von
einer lokalen metabolen Leitungsblockade (Gautschi 2005).

Um Druck und Zug aufzufangen, ist der Nerv im Bereich der Gelenke speziell ausgestattet.
Seine Faszikel sind mehrfach gebündelt und an diesen Stellen ist mehr Fett und Bindegewebe
vorhanden, damit sich der Druck besser verteilen kann. In der Muskulatur sind diese speziellen
Verhältnisse nicht zu finden, folglich wirkt sich Druckbelastung auf den Nerv durch einen ver-
spannten Muskel gravierender aus (Butler 1998).

Im Wissen darum, dass der Nervus Radialis beispielsweise durch ein arthrotisch verändertes,
beengtes Foramen intervertebrale, danach unter dem Caput laterale des Triceps, durch den
Brachialis hindurchtreten muss und distaler mit dem tiefen Ast den Supinator durchquert,
um letztendlich im Bereich des Daumens zu enden, wird klar, warum der Zustand des Nervs
abhängig ist vom Zustand seiner Berührungsflächen ist. Mit der Detonisierung des Muskelhart-
spanns und der manuellen Behandlung des Bindegewebes haben wir ein wichtiges Instrument
in der Hand, sowohl die Durchblutung des Nervs, als auch den axoplasmatischen Fluss nicht
nur bei den Durchtrittsstellen aus der Wirbelsäule, sondern entlang des Nervs auf seinem gan-
zen Weg in die Peripherie zu verbessern.
Möglicherweise kann der Nerv mit einer Einengung noch zurechtkommen, wird der Fluss aber
doppelt oder mehrfach gebremst, kommt es zum double- oder multiple crash, wie er erstmals
von Upton und Mc Comas (1973) beschrieben wurde. Diese Autoren hatten beschrieben,
dass von 115 Patienten mit Karpaltunnelsyndrom 81 Patienten klinische Zeichen einer Schädi-
gung im Nackenbereich zeigten (zit. nach Butler 1998).
Alle mechanischen Vorgänge im Nervensystem beruhen auf drei Funktionen:
Spannung widerstehen, im Nervenbett gleiten, Anpassung an Kompression. Kompression von
Nerven ist Teil der menschlichen Bewegung. Normale Bewegungen verursachen daher keine
Kompression und Einschränkung der Nervenfunktion. Muss ein Nerv jedoch bereits andere
Reize wie ungenügendes Gleiten kompensieren, können auch kleinere Druckveränderungen
ausreichen, um neuropathische Symptome auszulösen (Shacklock 2008).

Neurodynamik nach Butler

Das Nervensystem bildet ein Kontinuum vom Hirn bis zu den Fingern und Zehen. Um die
Funktion des Nervensystems zu gewährleisten, braucht das Nervensystem genügend Mobilität.
Auch unter diesem Aspekt ist der Einengung durch die Muskulatur und den Verklebungen des
Bindegewebes grosse Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Mobilität der neuralen Strukturen im Bereich der Extremitäten und der Wirbelsäule ist
unter Zuhilfenahme einiger spezifischer Mobilitätstests ermittelbar. Die bekanntesten Mobili-
tätsteste sind:

„Straight Leg Raise“ Anheben des gestreckten Beines, SLR


„Passive Neck Flexion“ Passive Nackenflexion, PNF
„Prone Knee Bend” Passive Knieflexion in Bauchlage PKB
„Slump” WS-Flexion, Nackenflexion, Knieextension, SLUMP
“Upper Limb Neurodynamic Test“ Teste für die obere Extremität, ULNT 1 und 2
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Folgende Vorsichtsmassnahmen und Kontraindikationen für Neuromobiltätstests sind zu be-
achten:
- Kürzliches Auftreten oder Verschlimmern neurologischer Zeichen, bei welchen es wahr-
scheinlich zu rapiden neurologischen Defiziten führen könnte (akutes Kompartiment
syndrom);
- Ausgeprägte Verletzungen oder Anomalien in Interface-Geweben (z.B. Instabilität, Osteo
porose);
- Entzündliche und infektiöse Zustände (z.B. Guillan-Barré-Syndrom, Abszesse);
- Heftige Schmerzen bei der Untersuchung (Butler 1998).

Im Rahmen der klassischen technisch apparativen Untersuchungsmethoden wird die Ner-


venleitgeschwindigkeit üblicherweise als klare Aussage über ein Nervenpathologie angesehen.
Häufig jedoch sind Nervenleitungsteste negativ, doch die neurodynamischen Untersuchungen
von Butler zeigen positive Resultate. Gründe dafür können folgende sein:

- Die pathologischen Veränderungen finden sich im Bindegewebe des Nervs und nicht in den
leitenden Anteilen;
- Die Neuropathie befindet sich in einem bestimmten Faszikel, der
- Nervenleitungstest könnte einen intakten Faszikel daneben testen;
- Doppelte oder mehrfache Neuropathien werden nicht berücksichtigt. (Butler 1998).

Die Teste liefern wichtige Informationen über den Zustand des Nervs und seiner Berührungs-
flächen. Mit Hilfe von sensibilisierenden Bewegungen kann eine Diffrentialdiagnose durchge-
führt werden. Dazu benötigen wir präzise Kenntnisse über die Topografie der Nerven und der
Muskeln.
In der Triggerpunkt-Therapie werden die Tests vor allem dann eingesetzt, wenn der Therapeut
Aufschluss darüber erhalten will, ob seine Technik Einfluss hat auf Probleme neurogener Art. Es
empfiehlt sich, diese Tests vor und nach der Behandlung durchzuführen, um brauchbare Aus-
sagen darüber zu erhalten, ob bei einem Problem neurale Beteiligung vorliegt und wie dieses
Problem mit der Behandlung der Muskulatur und des Bindegewebes beeinflusst werden kann.
Zudem benötigen wir reproduzierbare Befundparameter und aussagekräftige Verlaufszeichen.
Die Behandlungsintensität kann progressiv erfolgen indem, wie von der NOI (Neuro Orthopa-
edic Institute) empfohlen, folgende Steigerung angewendet wird:

1. Behandlung des Interface: Muskulatur und Bindegewebe.


2. Sliders: Spannungsaufbau des Nervensystems von einem Ende
(z. B. mit Nackenflexion) und Entspannung vom anderen Ende (z.B.
Knieflexion).
3. Behandlung des Interface unter neuraler Vorspannung.
4. Tensioner: Spannung des Nervensystems von zwei Seiten (z.B. von distal
und proximal).

Wird der Spannungsaufbau eher von distal aufgebaut und anschliessend ein SLR gemacht, wer-
den eher die distalen Gewebe getestet.
Wird die Spannung eher von proximal aufgebaut, (z.B. bei der Nackenflexion) und anschlies-
send distal Spannung erzeugt (z.B. mit Hand- und Fingerextension), werden eher die proxima-
len Strukturen getestet. (Shacklock zit. nach Butler 1998)

THEORIE 18
Nach der Behandlung mit unseren manuellen Techniken (Dejung 2003) sollten die Patienten
Mobilitätsübungen für das Nervensystem erlernen, um die Durchblutung anzuregen, die Ver-
schieblichkeit der Bindegewebsschichten innerhalb des Nervs und diejenige der Grenzflächen
zu erhalten. Butler (2005) zeigt eine ganze Reihe solcher Übungen auf, die für Patienten einfach
zu erlernen sind.

Mit unseren Techniken und den Therapiemöglichkeiten für verbesserte Neuromobilität eröff-
nen sich Behandlungsmöglichkeiten, die es erlauben, komplexe Probleme differenziert anzu-
gehen. Neuromobiltätsteste geben Auskunft darüber, ob und wie sich Symptome durch die
Behandlung der Muskulatur und des Bindegewebe beeinflussen lassen und bilden so wichtige
Grundlagen für den Clinical Reasoning Prozess.

Myofaszialer Schmerz und Entrapments

Bei Engpässen, welche durch die Muskulatur verursacht werden, klagt der Patient meist über
dumpfe Schmerzen, wie sie von Triggerpunkten im betroffenen Muskel weitergeleitet werden.
Zusätzlich bemerkt der Patient aber auch Hyperästhesie, Hypästhesie, Kribbeln oder Taubheits-
gefühl, welche typische Nervenkompressionsfolgen darstellen. Patienten mit Nervenengpässen
empfinden Kühlung der schmerzhaften Region meist als angenehm. Bei vorwiegend myofaszi-
alen Schmerzen steigert Kälte das Unbehagen und die Patienten empfinden eher Schmerzer-
leichterung durch Wärmeanwendungen (Travell u. Simons 2002).

Heidi Tanno

Literatur

van den Berg F. Angewandte Physiologie: Band 1, Das Bindegewebe des Bewegungsapparates verstehen und
beeinflussen. Stuttgart: Thieme; 1999.

Butler DS. Mobilisation des Nervensystems. Berlin Heidelberg: Springer; 1998.

Butler DS. The Neurodynamic Techniques: A definitive guide from the


Noigroup team. Noigroup Publications, Adelaide South Australia; 2005.

Dejung B., Triggerpunkttherapie: Die Behandlung akuter und chronischer Schmerzen im Bewegungsapparat mit
manueller Triggerpunkt-Therapie und Dry Needling. Bern: Hans Huber; 2009.

Gautschi R., Triggerpunkt-Therapie. In: van den Berg F. et al. Angewandte Physiologie: Schmerz. Stuttgart: Thieme;
2008.

Mumenthaler M., Neurologie. Stuttgart: Thieme; 2001.

Shacklock M., Angewandte Neurodynamik. Neuromuskuloskeletale Strukturen verstehen und behandeln. Mün-
chen, Jena: Elsevier Urban Fischer; 2008

Travell JG, Simons DG. Handbuch der Muskel- Triggerpunkte: Obere


Extremität, Kopf und Rumpf. 2. Auflage. München: Urban & Fischer; 2002.

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