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Freitag, 26.01.

18 — 20 Uhr
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal
CARLOS MIGUEL PRIETO Konzert für Harfe und Orchester op. 25
Dirigent Entstehung: 1956 – 65; revidiert 1968 | Urauff ührung: Philadelphia, 18. Februar 1965 | Dauer: ca. 23 Min.
X AVIER DE M AISTRE I. Allegro giusto
Harfe II. Molto moderato
III. Liberamente capriccioso – Vivace

Pause

Estudios sinfónicos op. 35


(Sinfonische Studien)
(Europäische Erstaufführung)
Entstehung: 1967, revidiert ca. 1970 | Urauff ührung: Vancouver, 31. März 1968 | Dauer: ca. 22 Min.
I. Para el modo festivo
(Dem festlichen Modus)
II. Para los movimientos alígeros
NDR ELBPHILHARMONIE (Der beflügelten Bewegung)
ORCHESTER III. Para las densidades
(Den Densitäten)
IV. Para una sola nota
(Einer einzelnen Note)
V. Para los microtonos y las sonoridades insólitas
(Den Mikrotönen und ungewöhnlichen Klängen)
VI. Para el virtuosismo orquestal
(Der orchestralen Virtuosität)

Tänze aus dem Ballett „Estancia“ op. 8a


Entstehung:1941 | Urauff ührung: Buenos Aires, 12. Mai 1943 | Dauer: ca. 12 Min.
I. Los trajabadores agrícolas (Die Landarbeiter)
A L B E R TO G I N AS TE R A (1916 – 1983) II. Danza del trigo (Weizentanz)
Glosses sobre temes de Pau Casals op. 48 III. Los peones de hacienda (Die Viehtreiber)
(Variationen über Themen von Pablo Casals) IV. Danza final: Malambo
Entstehung: 1977 | Urauff ührung: Washington D. C., 24. Januar 1978 | Dauer: ca. 18 Min.
I. Introducció Ende des Konzerts gegen  Uhr
II. Romanç
III. Sardanes
In Kooperation mit NDR das neue werk
IV. Cant
V. Conclusió delirant Das Konzert wird am 19.03.18 um 20 Uhr auf NDR Kultur gesendet.
ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA

Argentiniens
Nationalkomponist

In Lateinamerika, dessen Staaten erst Anfang des I D E N T I TÄT S S U C H E

19. Jahrhunderts entstanden, war der Hang zur natio-


nalen Selbstdefinition per Kunst zunächst unterent- Argentinien erkämpfte seine
wickelt. Mexikanische, brasilianische oder argentini- Unabhängigkeit von Spanien
sche Tonschulen bildeten sich erst im 20. Jahrhundert. in den Jahren 1810 bis 1816.
Ein nationales Bewusstsein war
Die Bemühungen um einen nationalen Stil nahmen lange Zeit nicht vorhanden.
dann schnell schrille Formen an. Doch lassen die Noch Jorge Luis Borges konnte
größten Komponisten dieser drei führenden Musik- sagen, die Argentinier seien
Italiener, die Spanisch sprächen
kulturen auch erstaunliche kosmopolitische Tenden- und am liebsten Engländer
zen erkennen: Carlos Chávez schrieb am Ende seines wären. Das 19. Jahrhundert
Lebens in einem „polyglotten“, neoklassischen Stil, brachte keine eigenständige
Musikkultur hervor, der Ein-
Heitor Villa-Lobos verwendete fast nie folkloristische fluss spanischer Tanz- und
Elemente, Alberto Ginastera bezog sich vorwiegend Salonmusik war übermächtig.
auf die Musik der Gauchos und auf präkolumbianische Im 1857 eröffneten Teatro
Colón spielte man ausschließ-
Überlieferungen, wobei er zunehmend Techniken lich italienisches Repertoire.
der europäischen Avantgarde anwandte. Wer Komposition studieren
wollte, ging nach Paris.

G L O S S E S S O B R E T E M E S D E PA U C A S A L S O P. 4 8

Ginasteras phänomenale Vielseitigkeit zeigt sich auch


darin, dass er sowohl populäre wie elitäre Idiome
pflegte – gelegentlich sogar in ein und demselben Werk.
Die „Glosses sobre temes de Pau Casals“ gehören
eindeutig der volkstümlichen Richtung an, allerdings
nicht der national-argentinischen, sondern der spa­ Bild links:
nischen. Ginastera bezog sich hier gleich mehrfach auf Alberto Ginastera (um 1960)

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ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA

A U S A R G E N T I N I E N  . . . einen europäischen Hintergrund: familiär, persönlich, Titel ebenfalls genannten Themen Casals’ gehen auf
landschaftlich und kulturell. Die „Glosses“ entstanden Werke des Cellisten zurück, vorwiegend folkloristische
Alberto Ginastera gehörte zu 1976 als Auftragswerk des Festivals Casals in Puerto Arrangements. Der Gesang eines Nachtwächters, durch
einer Bevölkerungsminderheit: Rico, wo Pablo (oder Pau) Casals die letzten Jahrzehnte ein recht modern klingendes Feuerwerk unterbrochen,
Schon seine Eltern waren in seines Lebens verbracht hatte. Mit dem seinerzeit bildet die „Introducció“; in der „Romanç“ hören wir
Argentinien geboren. Sie lebten
in Barracas, einem Stadtviertel, weltweit bekanntesten Cellisten fühlte sich der nicht eine Liebeserklärung aus Casals Liederzyklus „Tres
aus dem die namensgebenden annähernd so bekannte Argentinier auf verschiedene estrofas de amor“; mehrere Versionen des katalani-
Barracken größtenteils ver- Weise verbunden. Casals kam aus Katalonien wie schen Nationaltanzes sind in „Sardanes“ vereint; der
schwunden waren und der Han­
del blühte. Ginasteras Vater Ginasteras Vorfahren, Casals hatte Aurora Nátola un- 4. Satz „Cant“ paraphrasiert mit „El cants dels ocells“
Pablo (Pau) Casals in
war durch ein Wollgeschäft terrichtet, Ginasteras zweite Ehefrau, und Casals Casals bekanntestes Arrangement, das Gesänge fabel­ Buenos Aires
zu bescheidenem Wohlstand stellte sich immer wieder gegen autoritäre Regime, ob hafter Vögel in einer nächtlichen, fantastischen Um-
gekommen. Bescheiden waren
auch die geistigen und künst- sie nun in Russland oder Deutschland oder Spanien gebung wiedergibt; und das Finale „Conclusió delirant“ RICHTIGE AUSSPRACHE

lerischen Ansprüche der Fa- herrschten. Das Opus 48 besitzt jedoch keine politische bietet erneut eine Sardana. Ginastera wollte hier die
milie Ginastera. Von musika- Botschaft. Es ist eine persönliche Huldigung an den Farben der katalanischen Flagge in Töne übersetzen,
lisch begabten Vorfahren ist Ginastera wünschte seinen
nichts bekannt. 1973 verstorbenen Musiker. Nur sehr subtil klingt das den vom Blut getränkten, roten Boden und die von Familiennamen mit weichem
Thema „Exil“ an, wenn Ginastera sein Bild von Casals Ginster überwachsene, goldgelb glänzende Felsen- Konsonanten ausgesprochen,
wie man „ginestra“ bzw.
beschwört: „Ich sehe noch in meiner Erinnerung, mit küste. Es sind bekanntlich auch die Farben Spaniens. „ginesta“ (Ginster) in Italien
. . .  I N S A U S L A N D
beinahe fotografischer Klarheit, wie er am Strand von und Katalonien artikuliert.
Don Juan sitzt unter seinem unvermeidlichen Sonnen­ H A R F E N K O N Z E R T O P. 2 5 In Argentinien hingegen hat
Alberto Ginastera war zwar nie sich bis heute die spanische
schirm, das Meer hinter dem Horizont betrachtend, Aussprache erhalten, also mit
offiziell Exilant, verbrachte
aber viele Jahre seines Lebens als wollte er mit den Augen die andere Küste des Oze- Nur Ginasteras „Malambo“ aus dem Ballett „Estancia“ rachalem Anlaut. Die Beto-
im Ausland, zunächst in den ans erreichen. Ein schwaches Lächeln, halb geheim- wird häufiger gespielt als sein Harfenkonzert. Der nung seiner katalanisch-lom-
USA und ab 1971 in Genf, wo er bardischen Wurzeln resultierte
nisvoll, halb schelmisch, halb poetisch, halb pikant, Ruhm ist wohlbegründet: Wer Ginasteras Opus 25 zum bei Ginastera aus einem lan-
auch begraben ist. Wie viele
argentinische Intellektuelle erleuchtete für Augenblicke sein Gesicht, und ich künstlerisch wertvollsten und originellsten Werk der destypischen Spleen, nämlich
empfand er für Juan Perón erriet, dass er mit seinen Gedanken weit weg war, gesamten Gattung erklärt, greift sicher nicht zu hoch. der Geringschätzung des
einen unbändigen Hass. eigenen Volkes, die sich merk-
dahinten, in seinem heimatlichen Katalonien.“ Die Verzahnung von orchestraler, stark perkussiver würdigerweise stets bestens
Späteren Diktatoren gegenüber
legte er eine merkwürdige und solistischer Stimme ist schlichtweg vollkommen, mit nationaler Selbstüber-
Naivität an den Tag, und am Dieses Erinnerungsbild findet einen sinnfälligen die auf engem Raum vereinte Ausdrucksvielfalt – def- schätzung paarte.
Ende seines Lebens löste der Ausdruck in der Instrumentation. Das getrennt vom tige rhythmische Verve, funkelndes Astrallicht – sucht
Krieg um die Malwinen (Falk-
landinseln) bei ihm Anfälle Streichorchester zu platzierende Streichquintett nicht nur im Harfenrepertoire ihresgleichen. Harmo-
von glühendem Patriotismus symbolisiert Casals geografische Entfernung von der nisch geht das Werk kaum über die Bartók-Tradition
aus. Ginastera starb, ohne die Heimat. Sie ist jedoch eher marginal zu bewerten, hinaus, auch formal hält sich Ginastera mit Experi-
demokratische Wende in
Argentinien erlebt zu haben. denn substantiell oder gedanklich stehen iberische menten zurück; aus dem Rahmen fällt nur, dass die
Beziehungen im Mittelpunkt. Der Begriff „Glosa“ ist Kadenz des Solisten nicht im Kopfsatz erscheint,
in der spanischen Instrumentalmusik des 16. Jahr- sondern als Einleitung des Finales. Dieses Finale, ein
hunderts häufig anzutreffen und meint die freie Vari- fünfteiliges Rondo im 3/8-Metrum, folgt der gauches-
ation über eine allgemein bekannte Melodie; die im ken Tradition, zu der man auch das Soloinstrument als

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ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA

S E LT E N E G AT T U N G konzertanten Stellvertreter der Gitarre zählen muss. Neuerungen, wozu ihm Ernest Ansermets Konzerte im
Der erste Satz, weitgehend in Sonatenform, kontrastiert Teatro Colón ausführlich Gelegenheit boten. Durch
Die größten Komponisten ein atemloses, wie von Peitschen vorangetriebenes die Freundschaft mit dem seit 1936 in südamerikani-
haben Harfenkonzerte grund- Tempo mit träumerisch entrückten Passagen des So- schem Exil lebenden Erich Kleiber, dem Uraufführungs-
sätzlich gemieden. Mozart listen. Der Mittelsatz ist das kontemplative Zentrum dirigenten des „Wozzeck“, kam er in näheren Kontakt
beschäftigte sich einmal mit
der Gattung, kombinierte aber des Werkes, ein Kanon von unwiderstehlicher Poesie. zur hochexpressiven Musik Alban Bergs; die melodi-
Harfe und Flöte. Im 18. Jahr- Er gehört zu jenen Stücken Ginasteras, die den über- sche Verwendung von Zwölftonreihen wurde zeitweilig
hundert hießen die führenden wältigenden Sternenhimmel über der argentinischen Ginasteras bevorzugte Methode. Das Jahr 1959 brachte
Vertreter dieser Gattung
Johann Ludwig Dussek und Pampa in Töne fassen. Der Komponist berichtete gern eine noch weitergehende Hinwendung zur Avantgarde.
Argentinischer „Gaucho cantor“
Jean-Baptiste Krumpholtz. von seinem Militärdienst in den 30er-Jahren, wobei er Sie resultierte aus der offenbar traumatischen Erfah- mit Gitarre (Illustration aus dem
Den schönsten Beitrag des besonders seine völlige Untauglichkeit zur Kavallerie rung einer Rom-Reise. Nach dem Besuch des 33. Festi- 19. Jahrhundert)
19. Jahrhunderts lieferte Carl
Reinecke, und aus dem herausstrich sowie die nächtlichen Erlebnisse unter vals der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik
20. Jahrhundert stammen die dem Firmament des Südens. schrieb Ginastera seinem mexikanischen Kollegen M I T U N D O H N E G I TA R R E
Harfenkonzerte von Ernst von Carlos Chávez: „Während des Festivals und meiner
Dohnányi, Reinhold Glière,
Ernst Krenek, Ildebrando Diese Erlebnisse waren derart prägend und die roman­ anschließenden Reise durch Italien und Frankreich, Ginastera schrieb in seiner
Pizzetti, Joaquín Rodrigo, tischen Rückblicke derart verlockend, dass Ginastera wo ich in Kontakt mit vielen Musikorganisationen und Jugend eine von ihm schon
Joseph Jongen, André Jolivet, mitten in seiner progressivsten Phase ein Werk wie europäischen Komponisten kam, konnte ich feststel- bald zurückgezogene Harfen-
Darius Milhaud und Heitor Sonatine. Erst vier Jahrzehnte
Villa-Lobos. Doch keines das Harfenkonzert schreiben musste. Es kostete ihn len, wie wenig sie dort von uns wissen. Generell sind später widmete er sich erst-
dieser Konzerte erfreut sich – allerdings erhebliche Mühe: Geschlagene zehn Jahre dort, mit Ausnahme ganz weniger Namen, die Musiker mals der Gitarre (Sonate op. 47).
wie auch die Zahl der Ton­ arbeitete der von seinen akademischen Ämtern völlig Lateinamerikas vollkommen unbekannt.“ Trotzdem ist das Instrument
aufzeichnungen belegt – der Gauchos in zahlreichen
bei Musikern und Hörern in Anspruch genommene Komponist daran. Das Auf- Werken Ginasteras klangsym-
ähn­licher Beliebtheit wie tragswerk für Edna Phillips, Solo-Harfenistin des Phi- Die Zweite Welt drohte musikalisch auf den Status der bolisch präsent, nämlich durch
Ginasteras Beitrag. ladelphia Orchestra, wollte partout nicht fertig werden. Dritten Welt herabzusinken. Ginastera beschloss, die Töne E-A-d-g-h-e1 der Stan-
dardstimmung, wie sie auf den
Frau Phillips befand sich schon in Rente, als es dann das nicht zuzulassen, und integrierte nunmehr auch offenen Saiten der Gitarre er-
1965 doch gelang, und zwar aufgrund einer Interven­ aleatorische und spatiale Techniken in seine Werke, klingt. Dieses „Signatur-Motiv“
tion Nicanor Zabaletas. Der baskische Star-Harfenist das heißt Zufalls- und Raummusik. Allerdings brachte und das 6/8-Metrum des ar-
gentinischen Nationaltanzes
bestritt auch die Uraufführung, zusammen mit Eugene ihm diese Morphose überhaupt nicht mehr internatio­ „Malambo“ sind die beiden
Ormandy, einem großen Förderer Ginasteras. nale Aufmerksamkeit. Seine besten modernen Werke, hervorstechenden Stilmerk-
allen voran die drei Opern, sind bis heute in Europa male im Œuvre Ginasteras.
Daneben findet sich eine Fülle
E S T U D I O S S I N F Ó N I C O S O P. 3 5 nahezu unbekannt. So verhält es sich auch mit seinen „indianischer“ Merkmale, ins-
Orchesterwerken jener Phase. Es spricht Bände, dass besondere melodische und
Strawinsky, Bartók und Alban Berg hießen die von die europäische Erstaufführung der „Estudios sinfó­ instrumentale Charakteristika
aus der Musikkultur der Inka.
Ginastera am meisten bewunderten Vorbilder. nicos“ erst am heutigen Tage in Hamburg stattfindet,
Ins­besondere Bartóks Stellung zwischen volkstüm- fünfzig Jahre nach ihrer Premiere in Vancouver.
lich-ruraler Tradition und radikal erweiterter Har­
monik faszinierte den Argentinier nachhaltig. Er ver- Doch trägt auch der Komponist eine gewisse Verant-
folgte seit Jugendtagen die von Europa ausgehenden wortung für das Schicksal der Sinfonischen Studien

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ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA

Opus 35. Sein Versuch, ein klingendes Kompendium phischer Klarheit; im 4. Teil wird eine „einzelne Note“ MODERNER ROMANTIKER

aktueller Kompositionsverfahren zu schaffen, befrie- zelebriert: es ist der Ton d, der am Ende nur noch vom
digte ihn letzten Endes selbst nicht. Das Werk blieb Vibraphon gehalten wird; im 5. Satz, „Mikrotönen und Ginastera war eine Art amphi-
Fragment. Der Verleger W. Stuart Pope berichtete von ungewöhnlichen Klängen“ gewidmet, spielt die Hälfte bischer Komponist: Er konnte
den Schwierigkeiten, die sich aus der Zusammenarbeit der in 30 Stimmen aufgefächerten Streicher einen im romantischen wie im avant­
gardistischen Biotop leben.
ergaben: „Alberto war ein Tüftler; er mochte nie sein Viertelton höher als ihre Kollegen, außerdem tragen Zu seinen großartigsten mo-
endgültiges Ja zu einer Partitur geben. Zwar änderte häufige Glissandi, also Gleittöne, zu dem seltsamen dernen Werken, die zeitgenös-
er selten eine Note, aber er überdachte ständig die Klangbild bei; das Finale gestattet dem „virtuosen sische Techniken mit faszi­
nierender Klanglichkeit und
Dynamik und die Transposition der Oktaven, manch- Orchester“ eine rasante Jagd im 12/8-Metrum, die nur hoher Expression verbinden,
Alberto Ginastera beim
Komponieren mal auch die Instrumentation. Meine ständigen Bitten, kurz ein gesangliches „Intermezzo molto appassiona- gehören die „Cantata para
die Kopien eines Werkes freizugeben, wurden mit Be- to“ unterbricht. Der „aleatorische Satz“ erweist sich América mágica“ (1960), das
Erste Klavierkonzert (1961),
GINASTER A AL S PÄDAGOGE merkungen wie ‚Ich bin nicht Mozart‘ quittiert. Daran als entbehrlich, da in der gesamten Partitur unzähli- das Concerto per corde (1965)
lag es, dass zum Zeitpunkt seines Todes viele bekann- ge improvisatorische Stellen bezeichnet sind, die den und die „Milena“-Kantate
te und regelmäßig aufgeführte Werke von ihm noch Musikern beliebige Tonhöhen und -längen freistellen. (1971). Eine rein orchestrale
Ginastera ist nicht nur Argen- Vertonung der Maya-Kosmo-
tiniens bedeutendster Kom­po­ immer nicht gedruckt und im Handel erhältlich waren.“ Neben dem strikt metrischen Tempo gibt es ein alea- gonie „Popol Vuh“ ist Frag-
nist, er war auch dessen wich- torisches Tempo – dies alles aber nicht als abstrakt- ment geblieben; Ginastera
tigster Hochschullehrer. Schon konnte den letzten, achten
in jungen Jahren berief man ihn Und daran lag es eben auch, dass Ginastera die ur- akademische Übung, sondern als lebendiges Hörereig-
Satz nicht mehr vollenden.
als Professor ans hauptstädti- sprünglich neun Sätze umfassende Version auf sieben nis. Ginastera blieb auch in seinem progressivsten
sche Conservatorio Nacional. Sätze kürzte und der Verlag posthum eine sechssätzige Werk dem Ideal der Allgemeinverständlichkeit treu.
Obwohl mehrmals von den
Peronisten seiner Ämter ent- Fassung veröffentlichte. Es war bezeichnenderweise ZWEI PORTEÑOS

hoben, kehrte er immer wieder eine Aufführung, die ihn zum Eingriff in die Urgestalt TÄ N Z E A U S D E M B A L L E T T „ E S TA N C I A“ O P. 8 A
zurück, wirkte als Grün­dungs­ des Werkes veranlasste. Die aleatorische Studie machte Astor Piazzolla war Ginasteras
direktor des Konservato­r iums erster Privatschüler. Er erwarb
in La Plata, der Musikfakultät im Konzertsaal keinen Sinn, statt des kontrollierten Während seine argentinischen Kollegen dem Tango-
bei dem nur fünf Jahre älteren
an der Universidad Católica Zufalls erlebte Ginastera den reinen Zerfall. Da sich für Taumel verfielen, schlug der junge Ginastera konträre Kollegen die Grundkenntnisse
Argentina sowie des experimen­ ihn Musikverständnis, auch prononciert moderner Richtungen ein: er wanderte im Geiste rückwärts und in Harmonik, Komposition und
tellen Studios CLAEM am Instrumentation. Ginastera
Instituto Di Tella; er gehörte Musik, nur über das Gehör ergeben konnte, strich er nach Nordwesten, in die Anden. Eines seiner ersten
hingegen lernte von Piazzolla
außerdem zu den Gründern der diesen Abschnitt der Studien. So blieben zum Schluss Stücke waren die 1934 für Flöte und Streichquartett nichts; er verhielt sich dem
argentinischen Liga de Com- sechs Sätze, von denen ein jeder mustergültig und geschriebenen „Impresiones de la Puna“, eine Evoka- Tango gegenüber stets sehr re-
positores, war Mitglied in der serviert. Die beiden Porteños –
Academia Nacional de Bellas relativ leicht nachvollziehbar vorführt, wie sich ein tion jener peruanisch-bolivianischen Hochebene,
also aus Buenos Aires gebür­
Artes und des Musikrates der kompositorisches Konzept in Klang verwandeln lässt. auf der die Nachfahren der Inka ein dürftiges Leben tigen – Komponisten pflegten
UNESCO. Ginasteras stark Der 1. Satz demonstriert mittels crescendierender fristeten. Ginastera hat das Werk zurückgezogen, eine eher distanzierte Freund-
ausgeprägtes Verantwortungs- schaft. Ginastera fühlte sich
gefühl gegenüber Musikern Fanfaren der Blechbläser einen „festlichen Modus“; aber es überlebte glücklicherweise und erfreut sich
Heitor Villa-Lobos viel enger
der jüngeren Generation ist der 2. Satz vollzieht „beflügelte Bewegungen“, erzeugt noch heute bei Kammerensembles einer gewissen verbunden.
einer der Gründe, warum sein den Eindruck von fragiler Leichtigkeit, die Ginastera Beliebtheit. Als sein offizielles Opus 1 ließ Ginastera
Œuvre nur aus 55 Werken
besteht. Der andere Grund ist an den Bildern Paul Klees so liebte; der 3. Satz beschäf­ das Ballett „Panambí“ veröffentlichen, basierend
die filigran ausgearbeitete tigt sich mit „dichten“ Strukturen, aber die Notation auf einer Legende der an den Ufern des Paraná und
Struktur seiner Partituren. ist auch hier, wie immer bei Ginastera, von kalligra- Iguazú lebenden Guaraní-Indios.

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ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA ZU DEN WERKEN VON ALBERTO GINASTERA

Zugleich weckten auch argentinische Sujets seine ist eine bukolische Fantasie, wiederum im 6/8-Metrum, GINASTERA HEUTE

Inspiration. Mit „Estancia“ gelang ihm 1941 das popu- aber extrem verlangsamt; Flöte und Violine treten
lärste Werk seines Lebens. Es ist eine dramaturgisch solistisch auf, Hörner und Streicher sorgen für stim- Die editorische Situation ist
misslungene und verharmlosende Umsetzung des mungsvolle Impressionen. In „Los peones de hacienda“ 35 Jahre nach Ginasteras Tod
literarischen Klassikers Argentiniens, nämlich des (so viel wie: „Die Viehtreiber“) nähern sich uns ziem- selbstverständlich eine andere
als noch zu seinen Lebzeiten,
„Martín Fierro“ von José Hernández. Der Autor singt lich ungeschlachte Burschen, was der fortgeschrittene als nur einzelne Werke im
laut eigenem Bekunden „das tief empfundene Klage- Hörer möglicherweise den krude wechselnden Metren Druck vorlagen. Der Verlag
lied von einem, der unter Qualen geboren wurde, auf- entnehmen kann; das Schlagwerk und die Blechblä- Boosey & Hawkes hat inzwi-
schen sämtliche Werke ge-
wächst, lebt und stirbt“, doch eignet sich die epische ser mit ihrem primitiven Signal beherrschen die Sze- druckt, darunter auch das wun­
Gauchos mit Viehherde in den
Pampas bei Buenos Aires (1957) Breite und Radikalität dieses Buches weder für roman­ nerie, bevor sich im letzten Satz der Malambo endgül- dervolle, von Ginastera leider
tische Arien noch für mitreißende Tänze. Ginasteras tig die ihm zustehende Geltung verschafft, diesmal nicht geduldete „Concierto
argentino“ für Klavier und Or-
Wann immer ich die erstes Ballett, ausgestattet mit Sprech- und Gesangs- als furios übersteigerter Sturmlauf. Ginastera hand- chester. Vermisst werden allein
partien, konnte sich daher nicht auf der Bühne halten. habt Rhythmik, Melodik und Orchestrierung äußerst die beiden Sinfonien, die er
Pampas durchquert nach den ersten Aufführungen
Die vierteilige Tanz-Suite hielt sich dafür umso besser, differenziert, geradezu artistisch – er war ja auch
ebenfalls zurückzog. Auf dem
habe, wurde mein der „Malambo“ avancierte zu einem der bekanntesten kein wilder Gaucho, sondern ein braver Bürgersohn Tonträgermarkt sieht es sehr
argentinischen Stücke überhaupt. aus Buenos Aires. erfreulich aus; dort sind seine
Geist von der Vielfalt Orchester-, Vokal- und Kammer­
musikwerke, seine Klavierstü-
der Eindrücke über­ Man muss die deprimierende Geschichte des elenden, Volker Tarnow cke und Opern (mit Ausnahme
verbrecherischen und ausgegrenzten Viehtreibers von „Beatrix Cenci“) in diver-
flutet, einmal freu­ sen Interpretationen greifbar.
Martín Fierro nicht kennen, um „Estancia“ zu verste-
dig, dann melancho­ hen. Die Musik vermittelt Tonbilder vom Leben auf
einer argentinischen Rinderfarm. Wer sich zum Ex-
lisch, einmal voller
perten für gaucheske Rhythmik ausbilden will, findet
Euphorie und dann sogleich in „Los trabajadores agrícolas“ („Die Land­
arbeiter“) die ideale Gelegenheit: Obwohl das 6/8-
voll tiefgründiger
Me­trum relativ einfach ist, bereitet es aufgrund von
Ruhe, was auf der Tempo und Motorik dem mitteleuropäischen Ohr
einige Schwierigkeiten. Sie werden durch die variante
unendlichen Weite
Rhythmik nicht unbedingt leichter, besteht ein Takt
und den Wand­lun­ doch in der Regel aus drei Achteltönen, einem Viertel
und einer Achtelpause oder alternativ aus drei Vier-
gen, welche die
teln, was zu Stockungen im Ablauf führt. Rasantes
Land­schaft inner­ 6/8-Metrum und rhythmische Stauung sind typische
Kennzeichen des Nationaltanzes Malambo. Harmo-
halb eines Tages
nisch benutzt Ginastera wie so oft dissonante Sekund-,
erfährt, beruht. Quart- und Septakkorde, ohne den Hörer in ein tonales
Chaos zu führen. Die „Danza del trigo“ („Weizentanz“)
Alberto Ginastera

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DIRIGENT

Carlos Miguel Prieto


Carlos Miguel Prieto wurde in eine Musikerfamilie
spanischer und französischer Abstammung in Mexiko-
Stadt geboren. Der charismatische Dirigent ist in ganz
Nordamerika und Europa gefragt. Regelmäßig gastiert
er etwa beim Cleveland, Dallas, Toronto und Houston
Symphony Orchestra; eine enge Zusammenarbeit
verbindet ihn mit dem Chicago Symphony Orchestra.
Als führender mexikanischer Dirigent seiner Genera-
tion ist Prieto Music Director des Orquesta Sinfónica
Nacional de México (seit 2007) und des Orquesta H Ö H E P U N K T E 2 017/2 01 8

Sinfónica de Minería (seit 2008). Als Music Director des


Louisiana Philharmonic Orchestra seit 2005 hat er • Debüts beim London Phil-
die kulturelle Wiederauferstehung von New Orleans harmonic Orchestra und
nach dem Hurrikane entscheidend mitgestaltet. In der bei der Los Angeles New
Music Group
letzten Saison feierte Prieto sein überragendes London- • Rückkehr zum Royal Liver-
Debüt mit dem National Youth Orchestra of Great pool Philharmonic Orchestra,
Britain und debütierte beim Minnesota Orchestra. Bournemouth Symphony
Orchestra, Orchestre Phil-
Außerdem führte er das Orquesta Sinfónica Nacional harmonique de Strasbourg,
de México auf eine erfolgreiche Europa-Tournee. Seit Auckland Philharmonia,
2002 dirigiert er regelmäßig auch das Youth Orchestra Hallé Orchestra, HR-Sinfonie-
orchester und Royal Scottish
of the Americas, dessen Music Director er seit 2011 ist. National Symphony Orchestra
Prieto ist für seinen großen Einsatz für lateinamerika­ • Fortsetzung der regelmäßigen
nische Musik bekannt und hat über 100 Werke mexi- Zusammenarbeit mit Orches-
tern in Spanien, u. a. beim
kanischer oder amerikanischer Komponisten urauf- RTVE Symphony Orchestra,
geführt. Seine umfangreiche Diskografie enthält u. a. Bilbao Orkestra Sinfonikoa,
eine für zwei Grammys nominierte Aufnahme des Orquesta de Valencia und
Orquesta del Principado
Violinkonzerts von Korngold mit Philippe Quint sowie de Asturias
eine 12-DVD-Box mit Live-Aufnahmen aller Mahler-
Sinfonien mit dem Orquesta Sinfónica de Minería.
Als Geiger hat Prieto weltweit konzertiert und im
Cuarteto Prieto eine lange Familientradition fortge-
setzt. Er ist Absolvent der Universitäten von Princeton
und Harvard und hat bei Jorge Mester, Enrique
Diemecke, Charles Bruck und Michael Jinbo studiert.

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HARFE IMPRESSUM

Xavier de Maistre Herausgegeben vom


NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK
Programmdirektion Hörfunk
Xavier de Maistre gehört zu jener Elite von Solokünst- Orchester, Chor und Konzerte
lern, denen es gelingt, die Grenzen des auf ihrem Rothenbaumchaussee 132
Instrument Möglichen immer wieder neu zu definie- 20149 Hamburg
ren. Neben Auftragskompositionen namhafter Zeit­ Leitung: Achim Dobschall
genossen präsentiert er meisterhafte Arrangements.
Dank der Qualität seiner Interpretationen und der NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER
Vielfalt seiner Konzertprojekte gilt er als einer der kre­­ Management: Sonja Epping
ativsten und eindrucksvollsten Musiker seiner Gene-
ration. Er konzertiert weltweit in den bedeutendsten Redaktion des Programmheftes
H Ö H E P U N K T E 2 017/2 01 8 Konzerthäusern und bei internationalen Festivals und Julius Heile
tritt mit führenden Orchestern und Dirigenten auf.
• Drei nationale Erstauffüh- Solorezitale, Duoabende und Kammermusik mit nam­ Der Einführungstext von Volker Tarnow
rungen des für ihn von Kaija haften Musikerkollegen komplettieren sein künstle­ ist ein Originalbeitrag für den NDR.
Saariaho komponierten risches Schaffen. In seiner Diskografie finden sich
Harfenkonzerts „Trans“ mit
dem HR-Sinfonieorchester, Veröffentlichungen wie „Notte Veneziana“ mit dem Fotos
Swedish Radio Symphony Or- Orchester l’arte del mondo, eine Mozart-CD mit dem Culture-Images/Lebrecht (S. 4, 7, 10)
chestra und City of Birming- Mozarteumorchester Salzburg, eine DVD mit Diana AKG / North Wind Picture Archives (S. 9)
ham Symphony Orchestra
• Konzerte mit dem Orchestre Damrau oder die CD „Moldau“ mit slawischem Reper- AKG-Images / Mondadori Portfolio / Mario De Biasi (S. 12)
de la Suisse Romande, toire für Harfe solo. 2016 erschien „La Harpe Reine“ mit Benjamin Ealovega (S. 15)
Orquesta Sinfónica de Galicia, Les Arts Florissants und William Christie. In Toulon Gregor Hohenberg | Sony Classical (S. 16)
Turku Philharmonic Orches-
tra, Münchner Kammer- geboren, begann de Maistre mit neun Jahren Harfe zu
orchester, Zürcher Kammer- spielen. Zunächst am Konservatorium in Toulon ausge- NDR Markendesign
orchester, Moscow Virtuosi, bildet, vervollständigte er seine Studien bei Jacqueline Design: Factor, Realisation: Klasse 3b
Shanghai Symphony Orches-
tra und China Philharmonic Borot und Catherine Michel in Paris. 1998 gewann er Druck: Nehr & Co. GmbH
Orchestra den US International Harp Competition in Blooming- Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co.
• Rezitale mit der spanisch- ton. Mit nur 24 Jahren und als erster französischer
mexikanischen Flamenco-
Legende Lucero Tena Musiker wurde er Mitglied der Wiener Philharmoniker. Nachdruck, auch auszugsweise,
(Kastagnetten) u. a. in der 2010 verließ er das Orchester wieder, um sich aus- nur mit Genehmigung des NDR gestattet.
Stuttgarter Liederhalle, der schließlich seiner Solokarriere zu widmen. Seit 2001
Elbphilharmonie Hamburg,
im Pierre Boulez Saal Berlin, ist de Maistre Professor an der Musikhochschule
in der Düsseldorfer Tonhalle Hamburg. Er gibt regelmäßig Meisterkurse an der
und beim NDR in Hannover Juilliard School New York, der Toho University Tokyo
• Veröffentlichung einer neuen
Solo-CD mit spanischem und dem Trinity College London. Der Künstler spielt
Repertoire eine Harfe von Lyon & Healy.

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ndr.de/elbphilharmonieorchester
facebook.com/NDRElbphilharmonieOrchester
youtube.com/NDRKlassik

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