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Geschichte der

Vokalmusik

Emilia Pelliccia, BA MA
pelliccia@mdw.ac.at

Mo, 17:00–18:30
MDW, Institut für Gesang und Musiktheater
Lehrsaal 1
Zusammenfassung der letzten Einheit

• Epochendefinition „Romantik“ bzw. „langes 19. Jahrhundert“


• Entwicklung der italienischen Oper zu Beginn des Jhdts
• Gioacchino Rossini
• Gesangsästhetischer Wandel  der Mythos des „hohen c“
Nationale Tendenzen
Gesangsschulen
• Bis Ende 18. Jhdt: Gesangsschulen überwiegend italienischer Prägung,
auch wenn von Nicht-Italienern verfasst (Bsp. Agricola, Hiller)
• Ab 19. Jhdt  nach und nach nationale Spezialisierungen
• Frankreich: nach frz. Revolution entwickelt sich das Konzept nationaler
Institutionen zur Ausbildung von Musiker*innen (Pariser Conservatoire)
 Ausbildung einer Pariser Gesangsschule, basierend auf ital. Ideal
• Deutschland: ab 1850ern vermehrte Auseinandersetzung der
Gesangstheoretiker mit Besonderheiten der deutschen Sprache (Bsp.
Friedrich Schmitt, Große Gesangsschule für Deutschland, 1854);
enthalten u.a. aufführungspraktische Hinweise
„Nationale“ Operngattungen
• Italien: ab Jahrhundertmitte dominiert Opernschaffen G. Verdis  politische
Konnotation einiger seiner frühen Opern (Ernani, Nabucco, I Lombardi alla prima
crociata, etc.); endgültiger Durchbruch mit triologia popolare
• Frankreich: Entwicklung durch ausländische Komponisten beeinflusst (v.a. Gluck,
Cherubini, Spontini)
Grand Opéra: Stilmischung, Vorliebe für Massenszenen!, politisierende Themen, Tanz
(Vetreter: G. Meyerbeer, J-F. Halévy, D. Auber, H. Berlioz)
Opéra comique: kein bloßes ‚komisches‘ Genre; bürgerliche Themen; teils gesprochene
Dialoge (Höhepunkt: Bizets Carmen: https://www.youtube.com/watch?v=6fZRssq7UlM)
• Deutschland: erste Gehversuche der deutschen romantischen Oper (F. Schubert, R.
Schumann, F. Flotow, C. Weber); Melodram (m. gesprochenen Texten)
 Wagner: frühe Opern, Entwicklung des Musikdramas, theoretische
Schriften(Die Kunst und die Revolution (1849); Das Kunstwerk der Zukunft (1849); Oper und
Drama (1851) u.a.  offenkundig antisemitische Inhalte!)
Giuseppe Verdi und seine „Politisierung“
• Nummern-Oper als Ausgangspunkt (Arien, Rezitative, Ensembles und Chöre)
• Orchester ordnet sich (v.a. in den frühen Opern) der Gesangsstimme unter, wie oft von
Kritikern polemisch angemerkt wurde
• v.a. frühes Opernschaffen (Ernani, La battaglia di Legnano, I lombardi alla prima crociata,
etc.) wurde und wird mit Risorgimento-Bewegung in Italien in Verbindung gebracht 
Nationalstaatsgründung Italiens; teilweise Mythenbildung und Selbstinszenierung Verdis!
• Verdis Opernschaffen dominiert die zentralen Jahrzehnte des 19. Jhdts (v.a. in Italien);
triologia popolare (1851–1853): Rigoletto , La traviata, Il trovatore  subtile
Charakterstudien!
• Spätphase: Don Carlo, Aida, Falstaff, Otello  Instrumentation wird farbenreicher und
gewichtiger; Nummern rücken zu einem Gesamtkomplex zusammen; Vorlage Schillers
wird zugunsten der Darstellung der menschlichen Verstrickungen modifiziert
Bsp: Großinquisitorszene aus Don Carlo (1867): https://www.youtube.com/watch?v=7pNxU4ck8BI
Bedeutung Richard Wagners (1813–
1883)
• Deutschsprachige Gesangsdidaktik konzentrierte sich
Ende des 19. Jhdts stark auf Wagners Opernschaffen
• Deutscher Gesangs-Unterricht (1882–86, Julian Hey) 
zahlreiche Notenbeispiele aus Wagners Opern; messa di
voce als unerlässliches Prinzip für deren Interpretation
• Starke Beeinflussung Wagners von italienischer
Gesangskunst und deren Vertreter*innen (v.a. M.
R. Wagner, Götterdämmerung (1874),
Malibran oder G.B. Rubini) „Mannenchor“
• Trotz vermeintlicher Ablehnung der ital. Oper, dürfte
Bayreuther Festspiele 1958, Hagen:
Wagner deren Gesangskunst sehr geschätzt haben Josef Greindl (1912–1993)
• Schrift: Über Schauspieler und Sänger (1872)
Neue Anforderungen an die
(Opern-)Sänger*innen
Das „Gewicht“ des Orchesters
„Seit Jommelli hat man diesen Teil der Oper (=das Orchester) auf eine
unglaubliche Weise anwachsen lassen. Die Zahl der Violinen ist
übermäßig gestiegen, die lärmendsten Instrumente finden Platz im
Orchester, und das ist umso schlimmer, als es ohne Rücksicht auf das
Verhältnis der Instrumente untereinander und gegen die Natur des
darzustellenden Gegenstands ist. (…) Beim Gerassel der sich
überschlagenden Klänge, unter den Millionen Noten, welche die Anzahl
und die Vielfalt an Stimmen verlangen, welcher Sänger könnte sich
dabei mit seiner Stimme durchsetzen?“

zit. Esteban Arteaga: Le rivoluzioni del teatro musicale italiano dalla suo origine fino al presente,
Bologna 1785 (Reprint Bologna 1969), dt. Übersetzung von Johann Nikolaus Forkel, S. 49
Improvisation „vs.“ Partiturtreue

• „sängerische Mitautorschaft“ als Erbe des 18. Jahrhunderts bleibt


zum Großteil noch im 19. Jhdt erhalten; v.a. bis Rossini!
• Veränderung des Notentextes spielt bis in die 1840er-Jahre noch eine
große Rolle (v.a. in langsamen Ariensätzen und in Rezitativen)  den
Sänger*innen oblag die Verzierung der Melodie; v.a. bei
Wiederholungen ein- und derselben Melodie
• Tendenz geht hin zur Verschriftlichung der Verzierungen (Bsp.
Aufkommen der „instruktiven“ (=praktischen) Ausgaben, die den
Unterschied zwischen Notiertem und Klingendem betonen)
Improvisation „vs.“ Partiturtreue
• „Revolution rossiniène“ ? (Stendhal, Vie de Rossini, 1823): Verschriftlichung der
Verzierung als Angriff auf die Autonomie der Sänger:innen gesehen und kritisiert
• Dieser ‚Umbruch‘ wird fälschlicherweise auf Rossinis Opernschaffen
zurückgeführt (s. Stendhal); entspricht nicht den Tatsachen; Rossini (selbst
sängerisch ausgebildet) noch stark in der Tradition des 18. Jhdts verwurzelt
• Während der ersten Hälfte des 19. Jhdts Tendenz zur Partiturtreue;
Sänger:innen sollten sich verstärkt an den Notentext halten
• Diese neue Tendenz wird kritisch hinterfragt
• Vorstellung des Komponisten wird maßgeblich (Originalitätsanspruch,
Autorschaft!)
• „realisieren“ statt „verändern“: setzt sich erst in den letzten Jahrzehnten des 19.
Jhdts durch und wird im folgenden Jahrhundert maßgeblich
Das „zweite Jahrhundert“ der Gesangsschulen

• Weniger sängerische Improvisation  Auswirkung auf


sängerische Ausbildung
• Improvisatorisches (bzw. kompositorisches) Handwerkzeug
der Ausführenden rückt in den Hintergrund
• Mehr Fokus auf Gesangstechnik möglich (v.a. Volumen)
• Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über den
menschlichen Stimmapparat  wird in Didaktik
aufgenommen (s. Garcìa)
• Verstärkte Publikation von „Solfeggi“ (=untextierte
Stimmetüden)
• „Manieren“ der vorigen Jhdt. werden jedoch weiterhin
ausgeführt und geraten nicht gänzlich in Vergessenheit
Manuel Garcìa: Traité complet de l‘art du chant
(2 Bde, 1840/47)
• Bedeutendste Gesangsschule des 19. Jhdts; befindet sich zwischen den beiden Polen
„texte“ und „exécution“
• Pädagogischer Anspruch! Deutlicher Gegensatz zu Gesangsschulen des 18. Jhdts
• Physiologisches Wissen Garcìas (!): Erfindung des Laryngoskops
• Wird binnen weniger Jahre in viele Sprachen übersetzt und verbreitet sich weltweit 
starke Diffusion und Rezeption seiner Methoden
• Fokus auf Gesangstechnik, v.a. Agilität  Seitenweise Notenbeispiele mit
anspruchsvollen melodischen (und komplett ausnotierten!) Progressionen , die die
Geläufigkeit der Stimme trainieren sollen
• Unterschied zwischen Geschriebenem und Klingendem  steht noch in der Tradition
des vorigen Jhdts
Volltext als Digitalisat verfügbar: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b52502455v.image
Gesangsästhetik nach Rossini
• Koloraturgesang verlor langsam an Bedeutung
• Es etablierte sich deklamierter Gesangs und „canto di forza“ (neue Technik der
Stimmerzeugung nach Duprez)
• “do di petto“  Mythos: wesentliche gesangstechnische Änderung war der
Gebrauch der „voix sombrée“
• voix claire – voix sombrée: Tiefstellung und Kippen des Kehlkopfs, Anhebung des
Gaumensegels  mit Auswirkung auf Formanten
• voix sombrée beeinträchtigt die Artikulation, daher Wechsel zwischen voix claire
und sombrée, ja nach Affekt
• Verfall der Gesangskunst? Neuerung war nicht unumstritten und wurde diskutiert
• Italienischer „Belcanto“ (?): unscharfer Terminus und auf unterschiedliches
Repertoire angewendet  Vorsicht mit diesem Begriff
Ornamentik
• „Belcanto“: zu diesem in der ital. Operntradition verorteten Grundprinzip
gehört im 19. Jhdt auch die Ornamentierung und Veränderung melodischer
Passagen (bei wiederholtem Auftreten); s. Garcìa, 2. Teil, S. 36.  Tradition
des 18. Jhdts
• Interpolierte Ornamente oder Substitutionen: Gilt ausnahmslos für Rossini,
zum Teil auch für V. Bellini und G. Donizetti und gelegentlich für G. Verdi
• Nicht nur in Arien, sondern auch in Rezitativen angewendet
• Teilweise schrieben Komponisten verzierte Wiederholungen selbst aus, z.B.
Donizetti (s. folgendes Beispiel, Folie 16)
• Auch Verzierungen von Interpret:innen werden schriftlich festgehalten (vgl.
Beispiel Maria Malibran, Folie 17)
G. Donizetti, Anna Bolena (1830), Aria Anna, „Coppia iniqua“ (Akt II)
V. Bellini, La sonnambula (1831), Aria Amina
„Ah non credea mirarti“

nach M. Garcìa, 1847, 2. Teil, S. 37 (Ausführung nach Maria Malibran), zit. nach Livio Marcaletti, Art. „Italienische
Oper“, in Thomas Seedorf (Hrsg.): Handbuch Sologesang, 2019, S. 302.
Portamento
• frz. Synonym „port de voix“ (vgl. Garcìa, Teil 2, S. 28ff.)
• wichtiges Element der sängerischen Verzierung!
• Zwei Töne sollen durch stufenloses Gleiten miteinander verbunden werden
(ähnlich einem glissando)
• Oft bei weiten Sprüngen angewendet, da diese genug Zeit für Ausführung
bieten
• Soll an Stellen eingesetzt werden, die energischer oder zärtlicher Affekte
bedürfen; wie oft es eingesetzt werden soll wird nicht spezifiziert
• Oft an formalen Übergängen (Bsp. zwischen cavatina und cabaletta) eingesetzt
• Beeinflusst auch nicht-italienische Komponisten (R. Wagner schreibt es
teilweise vor!)
Stimmkategorien
Typisierung von Stimmen im Lehrdiskurs: das
„Fach“
• Weitere Differenzierung nach Stimmumfang, aber auch nach
darstellerischem Können: Bsp. basso profondo serio, basso buffo
parlante, tenore baritono, tenore eroico di forza, tenore di agilità,
contralto, mezzo soprano, soprano sfogato di forza, soprano acuto di
agilità, etc.
• Teilweise werden in Traktaten des 19. Jhdts diese Bezeichnungen auch
mit bestimmten Rollen verknüpft (Bsp. Donna Anna in Mozarts Don
Giovanni ist ein soprano di agilità  Stimmkategorien erst wesentlich
später zugeteilt!)
Contralti – das Erbe der Kastraten?
• Mit dem Ende von Rossinis Opernschaffen verblasst auch der Ruf der Kastraten
(bleiben in Kirchenmusik bestehen!)
• Zu Rossinis Zeit wurden Kastraten mit enormem Stimmumfang beschrieben, die
„in diverse voci“ sangen (Bsp. Giambattista Velluti, 1780–1861)  getrennte
Stimmregister waren hörbar
• Dreiteilung der Stimme: resonante Tiefe, starke Mitte, flexible Höhe
• Mit Kastratengesang assoziierte stimmliche Merkmale fanden dich zu Beginn des
19. Jhdts in Alt- und Mezzopartien wieder („contralto musico“)  sangen oft
Hauptrollen
• Altistinnen oder Mezzosopranistinnen oft von Kastraten ausgebildet: Isabella
Colbran (1785–1845), Giuditta Pasta (1797–1865), später Maria Malibran (1808–
1836)

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