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Hochachtungsvoll

Prof. Dr. Peter Jarchow


Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Inhalt

Der Wunsch zu musizieren ...................................................................... 9

Was ist Improvisation? .......................................................................... 12

Der Instrumentalunterricht ..................................................................... 14

Jonathans Entdeckung .......................................................................... 17

Jonathan kommt in die Musikschule ........................................................ 20

Warum Improvisation für die Instrumentalausbildung? .............................. 24

Ein Improvisationsansatz für den Instrumentalunterricht ........................... 26

Jonathan macht Fortschritte................................................................... 31

Auf der Grundlage der Improvisation einen Unterricht gestalten ................ 33

Der Umgang mit Fehlern und ein generelles Prinzip der Improvisation ....... 37

Besuch bei einem Improvisationsunterricht .............................................. 43

Unterrichtsanalyse ................................................................................ 44

Ein Improvisationsverständnis ................................................................ 47

Improvisation in der Geschichte der Instrumentalpädagogik ...................... 50

Das Sätzchen- und Passagenspiel im 18. Jahrhundert .............................. 54

Die Ausbildung zum ‚Kunstwerkinterpreten’ ............................................. 59

Die Etüde als Nachfolger des Sätzchenspiels .......................................... 65

Die Etüde und ihr Bezug zur Improvisation .............................................. 67

Analyse der Etüden von Fryderyk Chopin ................................................ 68

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Die Etüden Opus 10 von Fryderyk Chopin ............................................... 70

Analyse der Etüde Opus 25 Nr. 6 in gis-Moll ............................................ 76

Eine Geschichte mit Umwegen ............................................................... 92

Improvisation als Impulsgeber für das Leben ........................................... 97

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Der Wunsch zu musizieren

„Ich möchte gern die Mondschein sona te spielen“ – mit diesem Wunsch

kommen Schüler zum ersten Klavierun terricht 1. Ein hochgestecktes Ziel.

Nur wie kommt man dorthin? Und sollte das der Grund sein, um sich mit

Musik aktiv zu beschäftigen?

Selten hört man von einem Schüler in seiner ersten Englischstunde:

„Ich möchte einen William Shakespea re Monolog sprechen“. Wenn der

Schüler solch faszin ierende künstle rische Werke innerhalb seiner

Ausbildung erlernt, ist es bewundernswert, aber gibt es nicht noch mehr

zu erleben? Der musikalische Unte rricht geht oftmals einen sehr

ökonomischen Weg: Man erarbeitet zielstrebig Literatur, sp ielt aber

nicht mit dem Instrument. Das Wort Instrument besagt ja, dass es ein

Mittel ist, um sich musikalisch auszudrücken vergleichbar mit e iner

Sprache.

1
Auf der Suche nach einer Bezeichnun g für den Musikunterricht am

Instrument oder den Gesangsunterricht, musste ich festste llen, dass es

keinen Überbegriff gibt. Meine Be trachtungen beziehe ich exemplarisch

auf den Klavierunterricht. Mit geringen Ausnahmen sind die


Ausführungen auf andere Instrumente und den Gesang möglich.

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Im Sprachunterricht muss man schon früh beginnen, auch mit wenigen

Vokabeln zu sprechen und eigene Sätze zu bilden. Das entspricht der

Improvisation in der Musik. Das regelmäßige Erweitern des

Wortschatzes und die Verbesseru ng der Grammatik hingegen

entsprechen dem Üben in der Musik. Dies beides sind auch für mich die

wichtigsten Standpfeiler auf dem Au sbildungsweg.

Improvisation bedeutet, sich auf uner wartete Situationen ein zulassen -

‚Aus dem Stegreif spielen ’; das Übe n wird verschiedentlich gedeutet,

sagt etwas über Wiederholung und Regelmäßigkeit der Beschäftigung

am Instrument aus.

Die Improvisation ist nicht zu hundert Prozent reproduzierbar, man kann

allerdings nach der Vorgabe, die den Rahmen der Improvisation

absteckt, eine erneute Improvisation beginnen. Die regelmäßige

Beschäftigung ist dringend notwen dig, um die Kunstfertigkeit zu

verbessern. Das Wort ‚Üben‘ ist für Improvisationen nicht üblich. Aber

es ist möglich, eine Verbindung üb er das improvisatorische Üben

herzustellen. Leider ist durch die zune hmende Spezialisierung im Laufe

der Musikgeschichte das ökonomisch e und zielstrebige Erarbeiten vo n

musikalischer Literatur Mittelpunkt der Ausbildung. Dass aber die

Beschäftigung über Umwege we itaus spannender und lehrreicher sein

kann, will ich versuchen, in d iesem Buch nahezubringen. Weiterhin

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zeige ich, dass diese Arbeitsweise keine neue Erfindung ist. Allerdings

wird Improvisation heute als separa tes Feld des Instrumentalspiels

angesehen. Oder sie wird im Zusammenhang von negativen Vorfälle n

gebraucht, wo man den „Erste-Hilfe-Koffer“ namens Improvisation

benötigt, um fortfahren zu können. In verschiedenen Schriften und auch

im Notenmaterial kann man allerdings sehen, dass in der Vergangenheit

die Bedeutung von Improvisation stär ker und deren Einbindung in den

Instrumentalunterricht elementar war. Jeder Musiker wird mehr oder

weniger in seiner Arbeit improvisier en müssen – etwas, dass jeder

Mensch alltäglich ohne auch nur darüber nachzudenken tut. Obwohl die

Gedanken in einem Gespräch auch im provisatorisch entwickelt werden,

ist man sich bei einem Dialog im Alltag der Improvisation nicht bewusst.

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Was ist Improvisation?

Improvisation ist ein umfassender Begriff; er wird beständig in anderen

Zusammenhängen verwendet. Eine eindeutige Definition zu finden ist

nicht möglich.

Befragt man zehn improvisation serfahrene Künstler, so wird man zeh n

verschiedene Ansichten zu hören bekommen, darüber, was

Improvisation ist. Improvisation wird in dividuell bewertet, wodurch auch

eine Zusammenarbeit zwischen den Künstlern erschwert wird. Eine

generell allumfassende Defin ition ist da nur schwer zu treffen. Im New

Groove Dictionary of Music and Musicians 2nd edition findet man eine

detaillierte Defin ition, in der Improvisa tion folgendermaßen beschrieben

wird:

“The creation of a musical work, or the final form of a musical work, as

it is be ing performed. It may invo lve t he work´s immediate composit ion

by its performers, or the elaboration or adjustment of an existin g

framework, or anything in between. To some extent every performance

involves elements of improvisation , although its degree varies

according to period and place, and to some extent every improvisation

rests on a series of conventions or implicit rules. The term


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‘extemporization’ is used more or less interchangeably wit h

‘improvisation’. By its very nature – in that improvisation is essentially

evanescent – it is one of the subje cts least amenable to historical

research.” 2

Improvisation umfasst viele Darstellu ngsformen und ist als Komplex

nicht greifbar. Sie ste llt eine Kunstform dar, die nur schwer von

anderen Aufführungsformen abzugrenzen ist. Beschreibt man sie als

Musikform, in welcher die Auf führenden lediglich starken Einfluss auf

ein Kunstwerk haben (wie die Interpretation eines Kunstwerkes), reicht

diese Definition nicht aus. Der Auff ührende schafft im Moment des

Spielens Kunst.

2
Stanley Sadie (Hsg.): Dictionary of M usic and Musicians 2 n d edition,
London 2001, Vol. 12, page 94

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Der Instrumentalunterricht

Mit welcher Ambition kommen Schüler in den Instrumentalunterricht?

Meist sind es die Eltern, die das Kind an Musik heranführen wollen, weil

sie erfahren haben, wie förderlich das aktive Musizieren für die

Entwick lung und Bildung des Kindes sein kann 3.

Dies ist ein erster Ansat z. Nun ist de r Lehrende in der Verpflichtung,

das Vertrauen der Eltern und, viel wichtiger noch, das Vertrauen des

Kindes nicht zu enttäuschen.

An dieser Stelle steht die Motivation für den Unterricht im Blickpunkt:

die Eltern möchten den Unterricht of tmals als Zubrot für die Ent wicklun g

ihres Kindes, erhoffen sich vielle icht auch das ein oder andere

Ständchen zu Omas Geburtstag, um stolz auf ihr Kind sein zu können.

Der Lehrende verdient damit sein G eld und ist auch bemüht, einen

Schüler innerhalb der Musikschule zu haben, der schon möglichst bald

die eine oder andere Mozart- oder Haydn-Sonate spielen kann. Hinzu

kommt, dass durch den ökonomische n Druck in den Musikschulen mit

Unterrichtsstunden von 20 Minuten od er Gruppenunterricht das Lehrer-

3
Hans Günther Bastian: Musikerziehun g und ihre Wirkung. Eine
Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz 2000

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Schüler-Verhältnis ungünstig beeinflu sst wird. Der Lehrer ist dabei oft

überfordert.

Und die Motivation de s Kindes? Da gibt es die Idee: eine ha lbe Stund e

üben gegen eine halbe Stunde Fernsehen oder Computerspiel. Damit

haben alle drei beteiligten Partner früher oder später verloren, denn

musizieren wird zu einem Muss erklärt und verläuft oftmals im Sande,

wenn die Eltern-Kind-Bindung sich in d er Pubertät verändert.

Wie oft begegne ich Erwachsenen, die sich nach Musikunterricht

erkundigen und dabei bis heute ein Schuldgefühl ihren Eltern

gegenüber haben, weil sie mit d em Musikunterricht irgendwann

aufgehört haben. Sie sagen dann: „Hä tte ich das doch we itergemacht“,

da sie jetzt merken, wie viel Musik zu geben hat. Dann sind es auch

wiederum die Eltern, d ie ihre eigenen unerfüllten Wünsche auf das Kin d

projizieren und das Kind zur Musikschule führen. Aber diese s

Schuldgefühl ist demotivierend für jed e weitere Arbeit und belastet nur

unnötig den Unterricht. Da der Me nsch assoziativ denkt, wird der

Unterricht am Instrument immer mit Schuld und negativen Gefüh len

verbunden sein.

Da Kinder und Jugendliche auf das Arbeitsleben vorbereitet werden

sollen, sucht man nach Motivationsgrü nden, die für einen Er wachsenen

Geldmangel und Zeitnot darstellen. So zieht sich das System der

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Zensuren bis hin zum Examen an ein er Universität und te ilweise sogar

darüber hinaus. Dieses bewährte Syst em ist richtungsweisend für jeden

Heranwachsenden, birgt aber auch Gef ahren.

Selten steht die Frage nach der Eig enmotivation im Raum, aber der

Sinn, warum sich jemand mit e iner komplizierten Mathematikaufgabe

oder einem Deutschdiktat beschäftigen soll, könnte mehr Potential

wecken als nur der Anreiz einer guten Note. Ebenso ist es im

Musikunterricht: Solange der Schüler n eben dem Interesse seiner Eltern

kein eigenes Interesse am Spiel entdeckt, bleibt es beim bloßen

Erfüllen der Aufgabe und nach 30 Minuten wird das Instrument „in den

Schrank“ gestellt. Es so llte Anreiz sein, das Instrument zu spie len:

„Wenn du abgewaschen hast, darfst d u Musik spielen.“ Es he ißt ja auch

ein Instrument spielen , nicht ein Instrument müssen . So sollte der

Lehrer auch nicht den Anstoß dazu g eben, dass man sich am Vortag

wenigstens einmal mit dem Instrument beschäftigt, sondern dem

Schüler eine neue Herausforderung m it auf den Weg geben, mit der er

sein Spiel verbessern und erweitern ka nn.

Für das Erlernen von musika lische m Handwerk ist vor allem d ie

regelmäßige Beschäftigung not wendig. So g laube auch ich nicht an

einen „unmusikalischen“ Schüler, son dern nur an einen, der für Musik

nicht sensibilisiert wurde, was eine der wichtigsten Aufgaben des

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Lehrers ist. Und warum nutzt man nicht die Spielfreude der Kinder? Das

Spiel von Kindern hat ebenfalls Rege ln und Gesetze, die man gut und

gern auf das Spiel am Instrument übertragen kann. Dieses Spiel kann

und muss dann zunehmend erweitert werden. Dazu die Geschichte von

Jonathan.

Jonathans Entdeckung

Es ist still. Fast schon erdrückend still. Die Eltern sind nicht zu

Hause. Jonathan langweilt sich. Er schaut sich das Zimmer an. Er

sucht in den Schränken der Eltern nach Spielzeug b zw. nach Dingen,

mit denen er spielen kann. Er sieht a ber nur Bücher, Zeitungen oder

Geschirr; nichts zum Spielen. Beim Ö ffnen eines Schrankes, dessen

Tür merkwürdigerweise nach oben aufgeht, sieht er nichts weiter als

weiße Flächen, die sich mit kleineren schwarzen abwechseln. Was ist

das? Kein Schrank, das erkennt Jon athan. Aber er hat bisher nie

gesehen, dass die Eltern die Klappe je mals geöffnet hätten. Er drückt

auf eine dieser Flächen. Als die Fläche nicht tiefer geht, kommt ein

Laut vom Inneren des Schrankes. Er ist überrascht. Dasselbe noch

einmal, wieder ein Laut, bei den anderen Flächen passiert es auch,

aber immer anders. Eine ganze Weile versucht er nun mehrmals,

diese Laute zu erzeugen. Er merkt, dass der Laut solange anhält, wie

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er selbst diese Fläche gedrückt hält. Die Töne faszinieren ihn. Er will

versuchen, zu hören, wie es passieren kann, dass der Laut

unterschiedlich ist. Wie anders klingen die verschiedenen Flächen?

Was das Kind an dieser Stelle tut, ka nn man als erstmalig unbewusst e

Annäherung an das Instrument Klavie r bezeichnen. Der Junge betreibt

seine ersten Erkundungen an diesem Instrument und weiß nicht, was

man mit den schwarzen und weißen Tasten anfängt. Die Neugierde des

Jungen führt ihn zum Klavierspiel. Es ist ein Erlebnis für ihn, sich mit

dem Instrument zu beschäftigen.

Nach einiger Zeit hat er den "Schrank" erkundet. Er kann

verschiedene Flächen drücken und diese ergeben hohe und tiefe

Laute. Er kommt auf eine Idee: Er redet und die Flächen unterhalten

sich mit ihm. Nun ist er nicht mehr allein, denn sein neuer

Spielgefährte kann ihm immer laut und leise antworten, immer so, wie

er es will.

Der Junge spie lt mit dem Instrument. Er hat eine Spie lidee und betritt

damit unbewusst das Gebiet der Imp rovisation. Man muss nun schon

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von Improvisation sprechen, denn se in Spie l ist geprägt von Regeln

(Rede – Gegenrede). Ebenfalls fängt hier schon die Erkundung des

musikalischen Handwerks an: er kann die Qualität der Töne

beeinflussen bzw. steuern. Das He rantasten wird auch durch die

Beschaffenheit des Instruments best immt: Im Gegensatz zu einem

Klavier, wo man durch das Drücken der Tasten schon sehr schnell

befriedigende Ergebnisse erzie len ka nn, muss man zum Beispie l bei

einer Violine erst einmal den Bezug von Instrument und Bogen

herstellen, und danach benötigt man viel Zeit und Geduld, eh man das

Instrument zum Klingen bringt. Hätte Jonathan eine Violine gefunden,

könnte solch ein erster Kontakt für die Vio line zunächst gefährlich

werden.

Jonathan ist sich bei se inem Klaviersp iel nicht bewusst über techn ische

Vorgänge, wie Fingersätze oder Art ikulation. Er überträgt das ihm

Bekannte (die Sprache) auf das In strument und folgt seiner Intuition ,

seiner Spielfreude und seiner Neug ierde.

Es ließe sich der Vergleich zwischen eben solch einer Annäherung an

das Instrument Klavier und dem früh en Ursprung unserer Musikkultur

ziehen, da anfangs der Reiz de s Kla nges die Menschen berührte und

sie dadurch auf vielfältige We ise mu sizierten. Die Musiker bedienten

sich dann der überlieferten Formen und Regeln ihrer Vorfahren und

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entwickelten daraus das musikalische Spiel. Dass sich dabei die

Überlieferungen von Generation zu Generation veränderten, kann man

am deutlichsten bei Volksliedern sehen, die noch heute in

unterschiedlichen Var ianten gesungen werden.

Jonathan kommt in die Musikschule

Jonathans Eltern haben gemerkt, wie viel Zeit ihr Sohn mit dem

Klavier verbringt. Sie möchten die Beschäftigung des Jungen fördern.

Da sie selbst aber nicht wissen, in welcher Weise sie den Jungen

unterstützen können, gehen sie zu einer Musikschule, um dort

Unterricht für den Jungen zu bekommen.

Als Jonathan dem Lehrer das erste Mal begegnet, weiß er nicht, wa s

ihn erwartet. Er zeigt ihm, wie schön er mit seinem neuen

Spielgefährten spielt .

Der Lehrer merkt, wie sehr sich der Junge mit dem Instrument

beschäftigt hat. Wie kann er nun versuchen, das Interesse des Jungen

auf die Vie lfalt der Musik zu lenken, ihm Kompositionen vorzu stellen,

ihn so umfassend wie möglich zu unter richten?

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Der Lehrer ist gefordert, einen geeign eten Ansatz für den Unterricht z u

finden. Dass Jonathan zu Hause immer mit dem Instrument spielt, ist

eine gute Voraussetzung für den Un terricht. Eine mögliche Methode

wäre, zusammen mit dem Jungen in das Spiel einzuste igen und das

Erlernen von Noten und Literatur in das Spiel mit einzubeziehen, also

keinen Bruch zum bisherigen Spiel des Jungen zu riskieren.

Der Lehrer könnte aber auch der Meinung sein, dass sich der Junge, ob

mit oder ohne seine Hilfe, weiter in sein Spie l vertiefen wird. Dabei

würde er versuchen, ein Pendant zu m bisherigen Instrumentalspiel zu

entwickeln, und dem Jungen e inen and eren Umgang mit dem Instrument

vorzustellen. In dem Fall könnte sich der Lehrer nun auf das Vermitteln

von Noten, Spieltechn iken und Liter atur konzentrieren. Dabei kann

allerdings der Junge den Bezug zu seinem Sp iel mit dem Klavier

verlieren und daran kein Interesse ze igen. Wenn der Lehrer mit Hilfe

der Improvisation versucht, die für das Klavierspiel not wendigen

Fähigkeiten zu vermitte ln, kann jede s Element, ob musikalisch oder

technisch-handwerklich a ls Erwe iterung verstanden werden. Auch für

das Erlernen musikalischer Literatur kann die Vielfalt dieses Gebiete s

äußerst hilfreich sein. „Improvisation ist – zumindest im Unterricht mit

Kindern – ein Lernfeld, dessen p sychologische und methodisch e

Bedeutung kaum überschätzt werden kann. [...] Und was Improvisatio n

methodisch bereithält – a ls Lernmeth ode für Techniken, Musiktheorie,

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Ausdrucksschulung und Zusammensp iel –, ist noch nicht annähernd

ausgeschöpft.“ 4

Ein weiterer Aspekt der Nutzung von I mprovisation ist die Verwendung

der Frequenzbereiche. Ebenso wie in der allgemeinbildenden Schu le

das Wissen über Sprache vermittelt wird, konzentriert man sich meist in

den ersten Klavierstunden auf den Sprachfrequenzbereich (ca. 200Hz-

8 kHz). Aber die Schulung der Sinne, vor allem des Hörsinns kann über

Assoziat ionen mit der vorhandenen Umwelt schnell konkret und

sinnstiftend größere Bereiche nut zen. Warum bedient man sich nicht

von vornherein den Frequenzbereiche, die durch Körperschall den

Körper ansprechen (niedrig e Frequenzen)? Dieser

Körperfrequenzbereich ist die Basis vo n jeder Diskothek: man spürt den

Klang. Er kann Angst hervorrufen, wie bei einem Gewitter oder das

Grummeln einer Untergrundbahn. Wenn man aber am Instrument diese

Töne selbst spielt, kann das die Ang st nehmen und sogar ein Gefühl

von Stärke erzeugen. Frequenzen oberhalb des

Sprachfrequenzbereiches können in sensibel verwendeter We ise

Kreativität fördern und Den kprozesse anstoßen. Andererseits können

4
Anselm Ernst: Lehren und Lernen im I nstrumentalunterricht , Mainz
1991, S. 50

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laute hochfrequente Töne schmerzen, weil der Re iz für das Gehirn zu

stark ist. Grundlage dafür können Assoziat ionen sein. So können

Assoziat ionen von Regen oder zart em Vogelgezwitscher sensiblere

Klangvorstellungen hervorrufen als Assoziationen von künstlichen

Klangquellen, wie das Quietschen eine r Straßenbahn.

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Warum Improvisation für die Instrumentalausbildung?

Bei der Erarbeitung einer Kompo sition wird der Schüler zum

ökonomischen Üben angehalten. Das Werk und oftmals die

Beherrschung der technischen Schwierigkeiten stehen im Mittelpunkt ;

Spielereien, die abse its vom Werk stattfinden, sind nicht erwünsch t.

Diese Auffassung b ildet die Grundla ge der meisten Klavierstunden.

Dabei geht aber Wesentliches verlo ren, was nicht direkt mit dem

Notentext zusammenhängt, aber trotzdem für die Aufführung des

Werkes von großer Bedeutung ist. Wenn man als Künstler täglich auf

der Bühne steht, bedarf es nicht nur der perfekten Beherrschung der

Komposition, sondern auch e iner Wahrnehmung der gegenwärtigen

Situation. Für den Künstler ist es unerlässlich, im Augenblick ganz da

zu sein und sich auf augenblickliche Situationen und unerwartete

Gegebenheiten einzustellen.

Was is t das Ziel de s Unterricht s? Ein Konzert auf dem Podium? Steht

die Aufführung auf der Bühne im Vor dergrund? Vergleicht man e s nun

wieder mit dem Erlernen einer Fremdsprache, ist dort d ie

Kommunikation sinnstiftend. So kann das gemeinsame Musizieren die

Freude und den Ehrgeiz im Unterricht unterstützen. Leider ist da s

gemeinsame Computerspielen bei Kin dern und Jugendlichen populärer,

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ein Spie l, das sich soweit mir bekannt auf technische Abläufe reduziert,

die auf die Möglichkeiten der Masch ine Computer begrenzt sind.

Aber ebenso ist der Computer ein Instrument. Doch in der Musik soll

die Beschäftigung dem Musikinstr ument Leben einhauchen; die

Komplexität der Maschine bzw. der technischen Abläufe sollen s o

unscheinbar und leicht wie nur mög lich überwunden werden. Hinzu

kommt, dass eine musikalische Komposition nur zum Teil notierbar ist.

Das Leben des Stückes ist nicht notie rbar; man kann nur in den Note n

danach suchen und versuchen, die Hin weise darauf zu entschlüsseln.

Dem Schüler ist der Grundgedanke einer Komposition zu Beginn

oftmals nicht g leich ersichtlich . Die se Anforderung – die sem Nicht-

Wissen – muss er sich bei jedem Werk neu ste llen. Mit dem

Improvisationsspiel kann man musikalische Zusammenhänge von

vornherein selbst bestimmen. Ein Sch üler kann seinem Alter gemäß die

Länge des musikalischen Atems festlegen. Das Gespür wird geschult,

welches für den musikalischen Ge stu s nötig ist. Die Entwicklung einer

Improvisation erscheint dem Spieler sinnvoll. Und er kann es genießen,

sich innerhalb des Improvisationsspie ls von der Musik tragen zu lassen.

Dies s ind entscheidende Punkte, die auch für e ine Komposition

vonnöten sind. Aus die sem Grunde lobt man eine Interpretation, bei

welcher das Auditorium das Gefühl hatte, der Musiker hätte soeben das

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Werk improvisiert. Aber we lche Weg e gibt es, sich mit Improvisat ion

auseinanderzusetzen und vor allem es in Zusammenhang mit dem

Instrumentalunterricht zu ste llen? Aus der Vielzahl von möglichen

Ansätzen muss man zunächst e inen auswählen.

Ein Improvisationsansatz für den Instrumentalunterricht

Eine Möglichke it, die sich meines Era chtens für einen Ansat z innerhalb

der musikalischen Ausb ildung am besten eignet, ist die freie

Improvisation 5 mit Regeln. Die Kreativität des Schülers kann sich a m

meisten entfalten, wenn dem Spie l eng e Grenzen gesetzt werden. Wenn

ich die Geschichte von Jonathan anse he, so stoße ich auf eine wicht ige

Tatsache: Improvisation war für den Jungen ein Spiel, sich mit dem

Instrument zu unterhalten. Es ist jedoch wesentlich festzuste llen, "dass

Improvisation nicht Spie lerei ist, wenn es auch als Spiel beginnen darf,

und dass Improvisieren n icht lediglich um seiner selb st willen geüb t

5
Die Beze ichnung 'freie Improvisation' wird unterschiedlich verwendet.

Das Hauptmerkmal des hier verwendet en Begriffes richtet sich


vordergründig auf die Ausgrenzung stilistischer Bindung.

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wird." 6 Es ist die Aufgabe des Lehrenden, dem Schüler unterschiedlich e

Herangehensweisen zu zeigen.

Dazu ein Beispiel:

"Erste Möglichkeit: Kadenzkenntnis als Voraussetzung und

Ausgangspunkt. Beg innend also mit de r Stufenharmonik, dann

weiter, möglichst der musikgeschichtlichen Entwicklung folgend

über die Auflösung der Kadenz zur neueren Musik gelangend.

Zweite Möglichkeit: Von der Pentatonik ausgehend über weitere

Tonskalen den Zwölftonraum erreichend. Dann erst durch eigenes

Experimentieren und Entdecken d ie Ka denzgesetze finden. Die

Kadenz ist dabei nur Teilziel neben an deren Zielen.

Dritte Möglichkeit: Von ‚Neuen Klangwelten‘ ausgehend zu Neuen

Klangwelten gelangend. Beginnend mit Spielbewegungen wie

6
Peter Heilbut: Improvisation im Klavie runterricht, Wilhelmshaven 1988,
S.10

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Gleiten, Rollen, Hüpfen , Zupfen u.s.w. den Intentionen Cage und

Kagels folgend, die Weg und Ziel zugleich sind." 7

Wenn man von der Erarbeitung einer Komposition ausgeht, so können

Ausschnitte daraus ebenfalls als Ansat z für eine Improvisation geeignet

sein. Und in gleicher Weise können auch außermusikalische Ereignisse,

Situationen oder Be schreibungen die Vorgabe einer Improvisation

bestimmen.

Für die Entwicklung einer Improvisation gibt es vier Möglichkeiten: die

Wiederholung (Ostinato), die Veränd erung (Variation), der Gegensatz

(Kontrast) und die Fortspinnung. Inner halb dieser Bereiche bewegt sich

die Improvisation. 8

Unter verschiedenen Aspekten beleuchtet, gibt es innerhalb von

Gegensätzen eine große Var iabilität, z. B. langsam - schnell, weit e

Lage - enge Lage, laut - leise, hell - d unkel, weich - hart u. v. m.

7
Peter Heilbut a. a. O ., S. 22

8
Prof. Dr. Peter Jarchow: Improvisation smethodik an der Hochschule
für Musik und Theater "Felix Mendelsohn Bartholdy" Leipzig, 2000

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Diese Möglich keiten können e inzeln be trachtet werden oder miteinander

verschmelzen.

Wenn man sich mit der vorhandenen Literatur auf dem Gebiet der

Improvisationspädagogik befasst – allgemein und musikspezifisch –, ist

festzustellen, dass die Auffa ssungen unterschiedlich sind. So findet

man Lehrwerke zur Improvisation

· als Modell- oder Projektcharakter

· als Sammlung von Sp ielen

· als Form des darstellenden Spieles

· mit interdisziplinärem Ansatz

· mit experimentell-forschenden Charakt er der neuen Klangwelten

· in Form des voraussetzungslosen Improvisierens, d.h. die

Ordnung alles Hörbaren, Verzicht auf konservatives

Instrumentarium zugunsten unkonventioneller Klangerzeugung mit

alltäglichen Mitte ln und Medien

Das deutet auf eine große Vielfalt h in . Verbindlich für alle Bereiche ist

in der Regel der soziale Asp ekt: Man bedient sich der

Gruppenimprovisation, deren Hauptint eresse das gemeinsame Spie l zur

29
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Förderung von musikalischer Komm unikation ist. Wenn jedoch der

Erlebnischarakter zum alleinigen Maßstab genommen wird, wird die

Qualität dieser Improvisat ion leicht vernachlässigt. Ein solche s Sp iel

wird schnell zur "Spielerei" 9 und gleitet allzu leicht in einen unendlichen

Kreislauf ohne Ent wicklung ab. Es fehlt die Fortspinnung der

Improvisation.

9
Peter Heilput a. a. O ., S. 10

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Jonathan macht Fortschritte

Als Jonathan zusammen mit anderen Schülern in e iner Klassenstunde

spielen soll, ist er natürlich sehr aufgeregt. Von seinem Lehrer hat er

eine Komposition bekommen, die er g eübt hat. Er hat nun schon fünf

Jahre bei ihm Unterricht. Seine Eltern und viele Freunde sind

gekommen, um ihm zuzuhören. Ob er das Stück sicher auswendig

spielt?

Das Konzert beginnt. Der Lehrer spricht ein paar Worte zu dem

vergangenen Unterrichtsjahr und schon spielt der erste Schü ler. Nach

ihm soll nun Jonathan vorspie len. Er geht nach vorn, verbeugt sich

und beginnt. Nach der Hälfte seines Spiels ist er so unsicher, dass er

mehrere Töne vergisst, aber er spielt weiter, denn er we iß, wie der

musikalische Verlauf des Stücke s ist. Er improvisiert und findet einen

Abschluss. Na ch der Klassenstunde lobt ihn der Lehrer und meint,

dass er den Charakter de s Stü ckes be griffen hätte, an allem anderen

könne man arbeiten.

Der Erfolg des Jungen hängt mit sein er bisherigen Beschäftigung und

Erfahrung mit dem Instrument zusammen. Der improvisatorische

Umgang ermöglicht es ihm, bei Textproblemen weiter im Gestus des

Werkes zu musizieren und/ oder wied er zum Stück zurückzufinden. Er

lernt beim Improvisieren zu strukturieren und erfährt den Unterschied

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zwischen Gravitat ionsstellen und Episoden. Mit Hilfe der Improvisatio n

wird grundsätzlich musikalisches Ve rständnis vermittelt. Auch ein e

differenzierte persönliche Ausdrucksf ähigkeit kann e in Ergebnis des

freieren Umgangs mit dem Instrument sein. Leider wird der Erfolg meist

nach richtigen oder falschen Tönen bewertet. Nun stellt sich die Frage,

ob eine richtige Tonfolge ohne musikalischen Zusammenhang ein

künstlerisch zufriedenstellendes Erge bnis sein kann. Das Verständnis

des musikalischen Bogens einer Komposition kann zudem auc h

erleichtert werden, indem der Schüler die Gedankengänge de s

Komponisten mindestens einmal nach- gedacht hat.

In folgendem Abschnitt gehe ich auf d as Buch " Von der unerträglichen

Leichtigkeit des Instrumentalsp iels" von Volker Biesenbaender ein.

Darin beschreibt er eine Lehrweise, d ie zwar für das Instrumentalspiel

notwendige Fertigkeiten lehrt, sich aber von bisherigen

Unterrichtsformen unterscheidet.

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Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Auf der Grundlage der Improvisation einen Unterricht gestalten

Wenn man die Improvisation nich t als ein Neben-Lernfeld des

Instrumentalunterrichts versteht sondern als den grundlegenden

Ausbildungsgedanken, so be schreibt man Wege der

Instrumentalpädagogik, um auf schein bar ganz „untraditionelle“ Weise

die Fähigkeiten für das Instrumentalspiel auszubilden. Die heute weit

verbreitete Auffassung der Musikpädagogik, die so genannte klassisch e

Lehrweise, die Biesenbaender in sein er Schrift „Von der unerträglichen

Leichtigkeit de s Instrumentalspie ls“ kritisiert, geht von der Trennung

von Technik und Ausdruck aus, was jedoch nicht ursprünglich dem

Instrumentalspiel eigen war. Denn t echnische Präzision steht dem

musikalischen Ausdruck gegenüber, erst beide zusammen ergeben die

Qualität des Sp iels, so Biesenbaender 10.

Die Einhe it des Spiels ist Grundlage des neuen/ alten Ansatzes. Am

Vorbild von Musikern anderer Ku ltur en kann diese Einheit sichtbar

werden. 11 Im Gegensatz dazu steht unsere Kultur das Geistige im Wege .

„Hier das immer zögernde, nach-den kende intelle ktuelle Bewusstsein,

10
Volker Biesenbaender: Von der unerträglichen Leichtigke it des

Instrumentalspiels, Aarau 1992, S. 19

11
ebd., S. 23, 24

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Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

welches das Objekt se ines Denken s und Handelns fast sofort in

ängstliche Distanz von sich bringt, um es erst e inmal beobachten,

begreifen, verarbeiten zu können.“ 12

Um einen ganzheitlichen Bezug zum Instrument herzustellen, soll so

Biesenbaender die erste Annäherung zum Instrument die Improvisation

sein. Biesenbaender möchte dabei nicht „einem traditionellen Stud ium

noch das Fach Improvisation aufpfropfen [...]. Es geht nicht um das

‚Fach Improvisation‘, sondern um einen elementar improvisatorischen

Zugang zu allem musikalischen Lernen! “ 13 Hier gesteht Biesenbaende r

der Improvisation jedoch keine ästh etische Eigenständ igkeit zu und

unterstützt nicht die gesonderte, nur der Improvisation dienende

Unterrichtsweise. Allerdings kann gerade bei der fortgeschrittenen

Arbeit am Instrument ein eigen ständig er Improvisationsunterricht eine

Eigendynamik entwickeln, die eine spezielle künst lerische Qualität in

sich birgt.

Das Erlernen der technischen Fähigkeiten, die zum Spiel notwendig

sind, können laut Biesenbaender durch das praktische Spiel erreicht

und müssen nicht gesondert gelehrt werden. Die Hingabe an das

12
ebd., S. 24

13
ebd., S. 47

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Instrument führe den Schüler über steinige Wege, die mit sehr viel

Fehlern behaftet seien; nicht die Tricks und Kniffe des Lehrenden

brächten den Schüler wahrhaft weiter. Andererseits bedürfe die

Hingabe an das Instrument auch eines Gefühls von Sicherheit, we lches

zu gewinnen wäre durch den intensive n Kontakt zum Instrument.

Der Lehrer übernimmt dabei die Rolle eines Gärtners, der den

Entwick lungsprozess hegt und pflegt wie ein Pflänzchen, aber das

Wachsen selbst dem Schü ler überlässt. Daraus result iert eine andere

Zielsetzung als im „klassischen“ Unte rrichtsmodell: hier geht es auch

um Instinkt, Gespür, Sinn für Fo lgerichtigkeit und musikalische

Strukturen.

„Man wird dann mehr oder weniger davon ausgehen, dass Sp ieler,

Instrument und Musik so etwas wie T eile eines umfassenden Systems

sind, die analogen Gesetzen gehorchen, die aufeinander abgestimmt

sind, miteinander ‚räson ieren‘ und kom munizieren - ein Prozess, in dem

sich alle Akt ionen des Spielers au s dem sachgemäßen Eingehen,

Eintauchen, Einfühlen in den ‚Willen‘ von Musik und Instrument

ergeben.“ 14

14
ebd., S. 51

35
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Bei Biesenbaender bleibt die Notwen digkeit musikge schichtlicher und

theoretischer Grundkenntnisse unerwähnt. Ist daraus zu schließen,

dass dies se iner Ansicht nach für eine musikalische Ausb ildung nicht

vonnöten sei? Seine Bezugnahme auf afrikanische und asiatische

Kulturen unterstützt diese Annahme, da die dortigen Musiker einzig und

allein Unterricht am Instrument haben. Aber jeder Schüler wird früher

oder später mit Musik in Kontakt trete n, deren Gestus er aufgrund einer

Distanz, be ispielsweise e iner zeitlich en, räumlichen oder kulturellen,

nicht ohne helfende Kenntnisse bewältigen kann. Die einfachste Form

von Bildung in dieser Hinsicht ist das Erlernen der Notenschrift, deren

Notwendigkeit für mich unumstrit ten ist .

Biesenbaender kritisiert den kontrollie renden und bewusst machenden

Aspekt der üblichen Unterrichtsmeth oden 15


. Ich denke, dass beid e

Elemente - Bewu sstsein und In stinkt - für eine künstlerische Ausbildung

notwendig sind. Der Schüler muss in der Lage sein, seine gesammelten

Erfahrungen anwenden und auf neu e Werke übertragen zu können.

Hierbei ist es für den Musiker wichtig, sich Spielabläufe bewusst zu

machen.

15
ebd., S. 24

36
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Der Umgang mit Fehlern 16 und ein generelles Prinzip der

Improvisation

Ein undifferenzierter Umgang mit de m Begriff ‚Fehler’ hat zur Folge ,

dass nicht zwischen dem Resultat falscher Entscheidungen einerseit s

und der Nichtbewält igung von Schwierig keiten andererseits

unterschieden wird. Dabei ist ein Fehler, der die Folge einer falschen

Entscheidung darste llt ein tatsächlicher Irrtum, den man als fa lsch

bezeichnen sollte. Hingegen ste llt ein Fehler, der aus dem

Nichtbewält igen von Schwierigkeiten rührt, zwar für den Moment ein

falsches Ergebnis dar, kann aber inn erhalb des Arbeitsprozesses von

wichtiger Bedeutung se in. So ist ein falscher Ton innerhalb e iner

Komposition das Resultat einer falschen Entscheidung, dagegen ist

beispielswe ise das zu geringe Tempo des Stückes eine Folge dessen,

dass der Schüler das Stück noch nicht beherrscht. Der Schüler wird das

Tempo im Laufe des Arbeitsprozesses sicherlich erhöhen.

Über diesen Unterschied sollte sich der Lehrende im Rahmen des

Unterrichts bewusst sein. Denn diese Nichtbewält igung von

16
Der Begriff 'Fehler' wird hier allgemein verwendet; als Beispiel

werden die Fehler innerhalb des Improvisationsunterrichts a ls


methodisch ästhetisches Prinzip be leuchtet

37
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Schwierigke iten kann auch Impulse für neue Arbeitswege geben. In der

Improvisation kann der Lehrende sehr genau auf diese Unfertigkeiten

eingehen und sie zum Inha lt des we iteren Unterrichts machen, denn

hierbei ist ablesbar, was vom Schüler nicht „begriffen“ wurde.

Mut zum Improvisieren heißt auch, die Angst zu überwinden, „Fehler“ zu

machen. Aus d iesem Grunde sind G edanken über Fehler und deren

Konsequenzen daraus nützlich.

Mit Fehlern kann man Erfahrungen sa mmeln, die kein Lehrer vermitteln

kann, durch Fehler gelernte Dinge p rägen sich bei einem Menschen

sehr bewusst ein. Bie senbaender geht in seinem Buch noch weiter: Der

Schüler „soll hautnah mit vollziehen können, dass lernen überhaupt

darin besteht , Fehler zu machen.“ 17

Um kreativ zu se in, sind Fehler vonnöt en, denn der Mut, Fehler machen

zu wollen, führt zur Kreativität. „Man produziert natürlich unheimlich

viele Fehler, wenn man versucht, kreativ zu sein. [...] Man sollte zu

Fehlern ein natürlicheres Verhältnis bekommen und einfach wissen, wie

notwendig sie sind. Für mich ist das nur eine Aufklärungsfrage. [...]

Unser verkrampftes Umgehen mit Fehlern hängt sicherlich mit unserer

17
ebd., S.68

38
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Erziehung oder Ausbildung zusamm en und lässt sich eher als ein

kollektives Phänomen beschreiben.“ 18

In der Schulausbildung werden F ehler nicht als Notwend igkeit

verstanden, im Streben nach Richtigkeit werden sie led iglich wie

Unkraut getilgt. Dies steht in engem Bezug zu den Regeln und

Vorlagen, denen wir im Unterricht folg en sollen. So kann man aber mit

dem Gegenteil besser einen tatsä chlichen Inhalt auf der Bühne

darstellen. Wenn man so zum Beispie l ‚Faulheit’ darstellen möchte, so

kann es nur über das Gegenteil, wie zum Beispie l ‚Nicht-fleißig-sein-

spielen’ zum Au sdruck kommen.

Nur: Die Ausdrucksfäh igkeit des Menschen ist ja nicht im Blickfeld der

Schulausbildung. Diese konzentriert sich in der Regel ausschließlich

auf das Vermitteln von Wissen.

Wo kann nun der Mensch d iese Fähigkeit erlernen, mit Fehlern

umzugehen? Im Leben stößt man regelmäßig auf Probleme, die mehr

oder minder lösbar erscheinen. Eine Chance bietet sich im

Instrumentalunterricht, in welchem sich der Schüler freiwillig mit Musik

beschäftigt. Hier soll ja nicht nur Wissen und Können vermitte lt,

sondern auch Ausdrucksfähigkeit entwickelt werden. Oftmals ist die

18
Gerd Binnig: Au s dem Nichts, Münche n 1989, S.62 f.

39
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Einschüchterung, die Angst, Fehler zu machen, so hemmend, dass der

Schüler auch im schöpferischen Unte rricht nicht mit Fehlern umgehen

kann.

Nach dem Motto:

„Walter »Wie fang ich nach der Regel an?«

Hans Sachs »Ihr ste llt sie selbst und f olgt ihr dann«“ 19

kann eine Improvisat ion verlaufen, wobei der Schüler selbst d ie

Richtlin ie für das Kommende festlegt. Fehler sind da unausweichlich, ja

geradezu erwünscht, denn sie bestimmen unter anderem den weiteren

Verlauf der Stunde. Man hat hier die Chance aus Unfä llen Einfälle zu

machen, in dem man den eigentlichen Unfall besonders hervorhebt oder

wiederholt, so dass er vom Aud itorium als Einfa ll angenommen wird.

Im Übrigen bilden Fehler die Gradwanderung zwischen dem

Ausdruckswillen und den tatsächliche n Fähigkeiten. Damit fördern sie

die Ausbildung.

19
Richard Wagner: Die Meistersinger vo n Nürnberg, Dritter Aufzug,
Zweiter Auftritt

40
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Mit Lampenfieber oder Podiumsangst - eine Steigerung der Angst vor

den Fehlern - kann man keine Improvisation auf die Bühne bringen, es

wäre unmöglich.

„Wenn man sich immer nur von der Angst leiten lä sst, dass man sic h

vielleicht blamieren könnte oder dass irgendetwas danebengehen

könnte, dann passiert auch nichts Neues. Aber wenn man erst einmal

den Ruf ruiniert hat und anfängt, ungeniert zu denken, dann kann man

auch kreativ sein.“ 20

Es bleibt die Frage, was denn die Grenze sei, wieweit ein Fehler noch

korrigiert werden muss. In dieser Frage ist große Behutsamkeit gefragt,

äußerste Selbstbeobachtung und genaue Beobachtung des

Sachverhalts. Denn es gibt keine Sicherheit, egal ob man Angst oder

keine Angst vor Fehlern hat. Deshalb ist es g leich, wie viele Fehler wir

uns trauen , sie werden passieren. Man sollte aber auch nicht

vergessen, wie entmutigend es ist, sich vor anderen einen Fehler

eingestehen zu müssen. Desha lb ist es in unserer Gesellschaft woh l

auch so schwer, mit Fehlern umzugehen.

In jedem Falle ist es notwend ig, sich von der Angst vor Fehlern zu

befreien, denn Fehler sind der notwendige Faktor um zu lernen, sich

20
Gerd Binnig a. a. O., S. 135

41
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

künstlerisch au szudrücken und/oder kreativ zu sein. Das he ißt: wir

kommen mit Hilfe der Fehler zu entscheidenden Erkenntnissen, was ja

die Erfahrung ausmacht. Damit sind die Fehler ein unabdingbarer Ante il
für die Entwicklung von Schüler und Le hrer.

42
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Besuch bei einem Improvisationsunterricht

Meine Erfahrungen auf dem Gebiet der Improvisation sammelte ich bei

Prof. Dr. Peter Jarchow, dessen Improvisationsverständnis aus der

deutschen Tradition von Robert Köbler (Leipzig) und von Palucca

(Dresden) stammt.

Um seine Lehrmethode erläutern zu können, bedarf es einerseits einer

Unterrichtsanalyse und andererseits Erläuterungen zu seiner Method ik.

Zuvor muss gesagt sein, dass der Unterricht jedes Mal mit anderem

Material stattfindet. Die Methodik ent wickelten Prof. Dr. Peter Jarcho w

und Tilo Augsten an der Hochschu le für Musik und Theater "Felix

Mendelssohn Bartholdy" Leipzig. Dort wird sie im Fachgebiet

Improvisation gelehrt. Grundlage die ser Methodik ist die Definit ion:

Improvisationen sind Handlungen, die in ihrem Vo llzug unvorhersehbar

erscheinen. 21

21
zitiert nach Rudolf Frisius: Improvisation im 20. Jahrhundert, Kassel
1996, MGG, Sachteil Bd. 4, S. 585

43
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Unterrichtsanalyse

Der Unterricht beginnt mit einer sehr leicht ausführbaren Vorgabe, d ie

von rhythmischer, melodischer oder harmonischer Art sein kann. Die

Hemmschwelle, sich ohne Noten an das Instrument heranzuwagen,

muss am Anfang des Unterrichts abgebaut werden. Der Lehrende

verbalisiert die Vorgabe, daher ist der Schüler nicht durch eine

Klangvorgabe beeinflusst. Die Verbalisierung nutzt ein anderes Mediu m

– die Sprache –, woraus der Schüler seine Klangvorstellung ent wickeln

muss. Da man nicht eindeutig von einem Medium in das andere

übersetzen kann, hat der Schüler die Möglichkeit, schon am Anfang die

Art und Weise der Ausführung zu bestimmen. Die Regeln, die die

Vorgabe bestimmen, werden im Verla uf des Unterricht s vom Lehrer je

nach Notwendigkeit verändert, in Abhängigkeit von musikalisc h

strukturellen oder technischen Fertigkeiten des Schülers. So gestaltet

sich die Ausführung zum Beispiel mitt els Verdich tung, Kombinat ion von

Motiven oder Austausch von Noten un d Pausen zunehmend schwieriger.

Der Lehrer arbeitet aber auch musikalisch an dieser Figur, wodurch

einerseits ein musikalischer Gestus er zeugt und andererseits au ch von

der technischen Kompliziertheit abgelenkt wird. Wenn sich der Schü ler

bemüht, die entstandenen Motive und Phrasen als musikalische Geste

44
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

zu verstehen, und sie auch so ausführt, fallen ihm die komplizierten

Abläufe nicht mehr auf. Es ist manch mal erstaunlich, wieweit dadurch

die technischen Komplexe leicht von der Hand gehen. Der Schü ler is t

dann auch bereit, Schwierigkeiten zu bewältigen, die er separat als

komplizierte Hürde erachtet hätte.

Der Sinn einer Handlung begründet sich nicht allein im Hande ln,

sondern verfolgt auch noch andere Zie le oder anders gesagt: der Zwec k

heiligt die Mittel – d.h. wenn der Schü ler sich mit solchem Eifer an der

Struktur reibt, dass er seinen Ehrgeiz daran setzt, die Struktur exakt

nach der Vorgabe zu bauen, so darf das als Erfolg des Lehrenden

bezeichnet werden, der den Schüler zur Selbständigkeit geführt und

bewirkt hat, dass der Schüler den Augenblick seiner eigenen

Ausführung mit wachen Ohren und klarem Kopf verfolgt (Wachheit für

den Moment der Entstehung, keine Re produktion).

Für den Lehrer ist es unerlässlich, über die gesamte Zeit des

Unterrichts unablässig eine hohe Ko nzentration aufzubringen. Es is t

nicht immer leicht, die Dramaturgie des Unterrichts zu gestalten, da d ie

Schwierigke it der Anfangsfigur auf keinen Fall zu hoch, eher zu gering

sein darf. Eine Falschein schätzung de r Fähigkeiten des Schülers kann

für den Fortgang des Unterrichts negative Konsequenzen haben. Eine

45
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

anfängliche Überforderung des Schülers kann zu Frustration führen und

den Fortgang des Unterrichts hemmen.

Der Schüler lernt in diesem Auge nblick verschiedene Dinge. Der

Lernvorgang läuft nicht immer über das Bewusstse in, die Situation is t

nur im Nachh inein zu beschreiben. Eine Vertiefung in die ‚Arbeit ’

erlaubt nur bedingt die simultane Refle xion.

Aber kommen wir zurück zum Improvisationsunterricht. Wenn der

Schüler im Verlauf des Unterricht s an seine Grenzen stößt, wird die

Vorgabe je nach der auftretenden Schwierigkeit modif iziert.

Unfertigkeiten sind dabei die wichtigst en Ansatzpunkte, denn sie zeige n

dem Lehrer, woran er mit seinem Sch üler besonders arbeiten muss. Ist

die Aufgabe zu schwer, ist Zuspruch und Vertrauen nötig, so dass der

Schüler entlastet wird.

Fällt die Vorgabe dem Schüler zu le icht und macht sich Langeweile

bemerkbar, so muss das Niveau der Aufgabe in Differenzierung und

Präzision gehoben werden, dass einer seits ind ividuelle s Spiel ent steht,

den Fähigkeiten und Notwendigke ite n des Schülers angepasst, dass

andererseits auch eine produktive und kreative Entwicklung von

musikalischen und techn ischen Fertigkeiten herausgefordert wird.

46
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Nachdem im Laufe der Unterrichtsstunde verschiedene ‚Variationen’ der

Anfangsvorgabe entwickelt wurden, wird am Ende des Unterrichts mit

diesen Möglichkeiten ein Stück im provisiert, wobei dem Schüler

ermöglicht wird zu entdecken, wie wenig Material er benötigt, um zu

improvisieren. Er lernt die Vielfalt d es Einfachen, was allgemein für

künstlerische Arbe it bedeutend ist.

Ein Improvisationsverständnis

Dieses Improvisationsverständnis ba ut auf einfachen Motiven und

Phrasen auf und entwickelt daraus eine immer größere und

differenziertere Struktur. In welcher Weise sich diese Motive und

Phrasen entwickeln, kann sehr unte rschiedlich sein. In jedem Fall

bedarf es einer Entscheidung, die dann den Fortlauf bestimmt. Ebenso

wie es im Schauspiel Drehpunkte gibt, muss es auch in der

Improvisation Impulse geben, wodur ch eine Veränderung eingeleitet

wird. Aus der Vielfalt der bis dah in entwickelten Mot ive und Phrasen

entscheidet sich der Musiker für ein M otiv, welche s die Vorgabe für den

weiteren Verlauf bildet. So kann man eine so lche Improvisat ion mit

einem physikalischen Interferenzverf ahren vergleichen, in dem die

Wellen s ich an e inem Spa lt brechen. Nur eine We lle gelangt direkt a n

den Spalt und bildet som it den Ausgan gspunkt einer neuen Interferenz.

47
B lo ß n ic h t im p r o v is ie r e n ! B lo ß n ic h t!

Das Anfangsmotiv kann im Zuge der Modifikation einer vollkommen

neuen Struktur am Ende gegenüberstehen. Der Reiz dieser Art des

Fortschreitens erzwingt die immerwährende Gegenwärtigkeit de s

Spielers. So lch eine Improvisationsfo rm kann aufgrund der ständigen

Entscheidungen für neue Impulse unen dlich fortgeführt werden.

Das ist au ch der Unterschied zwische n Improvisation und Komposition:

Eine Komposition ist „zusammengestellt“, und hat deshalb einen klaren

Zeitrahmen; die Improvisation h in gegen ist fortlaufend in ihrer

Entwick lung, so dass auch ein Ende nicht vorhersehbar ist. Oftmals

ergibt sich aber aus den musikalischen Konventionen oder kulturellen

48
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Hörgewohnheiten der Ablauf einer Improvisation, zumindest falls der

Musiker nicht will, dass se ine Zuhörer den Raum vorzeitig verlassen.

In einer anderen Kultur, in der d ie gefühlte Zeit nicht der unseren

entspricht (z.B. asiat ischer Ku lturraum), kann eine Improvisation von

anderthalb Stunden gerade mal als Ou vertüre verstanden werden.

49
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Die Bedeutung der Improvisation in der Geschichte der

Instrumentalpädagogik

Improvisation ist als musikalischer Be griff ein alter und weitreichender.

In jeder Kultur gibt es Musik und musikalische Improvisation. Im

Gegensatz dazu findet man n icht überall Komposition und

Interpretation. So ist die Improvisation skultur in Europa teilweise Opfer

der Industrialisierung geworden. Denn mit der Entwicklung von

Drucktechniken einerseits und dem musikalischen Verständnis im

Übergang der Klassik zur Romantik a ndererseits verlor diese Form des

Musizierens an Bedeutung. Zu de n strengen Kompositionsformen

(Sonate, Symphonie, Solokonzert) ka men freiere Formen wie Fantasie,

Intermezzo oder Impromptu hinzu, in denen verstärkt Emotionen und

Gefühle musikalisch zum Au sdruck kamen, die bis dahin Inhalt von

Improvisationen waren.

In den Vordergrund rückten die Komp osition und damit verbunden die

Interpretation. Das geschaffene Beken ntniswerk (mit seiner Blütezeit im

19. Jahrhundert) verdrängt zunehmend den spielerischen Umgang mit

dem Instrument.

Die Improvisation in der Musikgeschichte detailliert zu betrachten fällt

schwer, denn gerade der Reiz des I mprovisierens – das Flüchtige –

50
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

besagt auch, dass es ke ine Zeugnisse gibt. Daher ist d ie Improvisat ion

ein Gebiet, das sich nur sehr bedin gt für wissenschaftliche Zwecke

eignet. Allerdings wird von namenhaf ten Komponisten stets berichtet ,

dass ihre Improvisationen lebendiger und frischer sind als deren

Kompositionen.

Im 18. Jahrhundert war die Improvisa tion noch Ausgangspunkt für das

Erlernen eines Instrumentes. Improvisation transportierte

grundlegendes Wissen für künstlerische Fertigkeiten. Dadurch ergab

sich eine weitreichende Verschrä nkung von Komposition und

Improvisation. Das Erarbeiten von Werken, die anschließend in fester

Form einem Auditorium präsentie rt wurden, war im heut igen

Verständnis nicht das Ziel eines Musikers. Im Gegenteil: das Auszieren

der Melodieführung und die harmonische Ausarbeitung machten die

Kunst eines Musikers au s. Extemporieren und Improvisieren gehörten

zum alltäglichen Konzertgeschehen.

Auf dem Gebiet der Improvisation u nterschied man im Zeitalter des

Barock zwischen dem Präludieren (kurze Einleitung) und Phantasieren

(komplexe Form des Improvisierens) 22.

22
Rudolf Frisius: Artikel " Improvisat ion im 20. Jahrhundert", Kassel
1996, MGG, Sachteil Bd. 4, S. 585

51
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Häufig versetzten Musiker das Publikum in Erstaunen, wenn sie ohne

jegliche Vorbereitung musikalisch „phantasierten“. So ist in den

„Berlinischen Na chrichten“ von 11.05.1 747 zu lesen:

„Aus Potsdam vernimmt man, dass d aselbst verwichenen Sonntag der

berühmte Kapellmeister aus Leipzig, Herr Bach [ gemeint ist Johann

Sebastian Bach – D. B.], eingetroffen ist, in der Absicht, das Vergnügen

zu geniessen, d ie dasige vortrefflich e Königl. Music zu hören. De s

Abends, gegen die Zeit, da die gewöhnliche Cammer- Music in den

Königl. Apartements anzugehen pfle gt, ward Sr. Majestät berichtet,

dass der Capellmeister Bach in Potsd am angelanget sey, und dass er

sich itzt in Dero Vor Cammer aufhalte, allwo er Dero allergnädigst e

Erlaubnis erwarte, der Music zu hö ren zu dürfen. Höchstdiese lben

ereilten sogleich Befehl, ihn herein kommen zu lassen, und giengen bey

dessen Eintritt an das sogenannte F orte und Piano, geruheten auch,

ohne einige Vorbereitung in eigner hö chster Person dem Capellmeister

Bach ein Thema vorzuspielen, welches er in einer Fuga ausführen

sollte. Es geschahe dieses vom gemeldeten Capellmeister so glücklich,

dass nicht nur Se. Majestät Dero allergnädigstes Wohlgefallen darüber

52
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

zu bezeigen beliebten, sondern auch sämtliche Anwesenden in

Verwunderung gesetzt wurden.“ 23

Dieser Episode ist zu entnehmen, dass man es als besondere

musikalische Kunstfert igkeit betracht ete, Themen improvisatorisch zu

bearbeiten. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Pianisten wie z.B. Franz

Liszt oder Fryderyk Chopin für ih re interpretatorische Virtuosität

gefeiert wurden, war es zurze it vo n Johann Seba stian Bach d ie

improvisatorische Virtuosität.

23
zitiert nach Uli Molsen: Die Geschicht e des Klaviersp iels in
historischen Zitaten, Ba lingen-Endinge n 1982, S. 18

53
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Das Sätzchen- und Passagenspiel im 18. Jahrhundert

Im 18. Jahrhunderts waren besonder s Sätzchen- und Passagensp iel 24

Unterrichtsinhalt. Durch kurze Sinnein heiten von vier oder acht Takten

konnte der Schüler technische Fertigkeiten und ein Spektrum an

musikalischem Gestus erlernen. Dabei wurde darauf geachtet, dass

nicht nur die technische Ausführung im Vordergrund stand, sondern

gleichfalls der musikalische Au sdruck vom Schüler Beachtung erhält.

Dies war nicht a llein Grundlage für d en Klavierunterricht, nein auch in

anderen Instrumentalschulen der Zeit konnte man solche Inhalte finden .

So schrieb Leopold Mozart in seine r ‚Gründlichen Vio linschule ’ von

1756 : „Es ist nicht genug, dass ma n dergleichen Figuren nach der

angezeigten Streichart p latt wegspie lt; man muss sie so vortragen, dass

die Veränderung gleich in die Ohren fä llt [...] warum soll man denn nicht

bey guter Gelegenheit auch etwas vom guten Geschmack mitnehmen,

und den Schüler an einen singbaren Vortrag gewöhnen? Ein Anfänger

24
zitiert nach Martin Gellrich: Üben mit Lis(z)t, Frauenfeld 1992, S. 17

54
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

wird dadurch geschickter die Regeln des Geschmacks seiner Zeit

besser einsehen.“ 25

So gab der Lehrer dem Schüler solch kleine Sätzchen auf, d ie das

Material für den Unterricht b ildeten. Der Schüler übte die Sätzchen in

verschiedenen Variationen und eignet e sich dabei ein Repertoire von

Möglichkeiten zur Ausführung an. Da bei war es notwendig, dass auch

der Schüler kreativ im Unterricht mita rbeitete und selbst nach eigenen

Möglichkeiten suchte. Die Improvisation hatte für den Unterricht eine

große Bedeutung, da beständig nach immer neuen Varianten gesucht

wurde. So ließen selb st die notierte n Werke dem Ausführenden viel

Spielraum für eigene Ideen, die so die Kunstfertigkeit des Spieler s

zeigten. Carl Philipp Emanuel Bach schrieb über den Vortrag: „

Besonders aber kan der Claviriste vorzüglich auf allerley Art sich der

Gemüther seiner Zuhörer durch Fantasien aus dem Kopf bemeistern.“ 26

So findet man zum Beispie l in den Englischen Suiten von Johann

Sebastian Bach, wie im folgenden die Suite in g-Moll (BWV 808) neben

der konventionellen Sarabande eine ausgezierte Version der Sarabande

25
Leopold Mozart: Gründliche Vio linsch ule, 1756/ 1968, Reprint der 3.
Auflage von 1789, Leipzig 1968, S. 13 5

26
Carl Philipp Emanuel Bach: Versu ch ü ber die wahre Art das Clavier zu
spielen, Das Dr itte Hauptstück. Vom Vortrage, 1753, S. 122

55
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

„Les agréments de la même Sarabande“, die man als

Aufführungsvorschlag des Komponiste n sehen kann.

Kehren wir zurück zum Unterricht, wo der Schüler mit dem

Sätzchenspiel einerseits und dem G eneralbassspiel andererseits die

wichtigsten Fähigke iten für seine m usikalische Arbeit erlernt. Nach

F. Couperins Ansicht sollten sog ar die ersten zwei bis dre i

Unterrichtsjahre ausschließlich mit dem Spiel von musikalisch-

56
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

technischen Übungen ausgefüllt werd en, bevor sich der Schüler dem

Generalbassspiel zuwenden dürfe. 27

Auch im Klavierunterricht von Joh ann Sebastian Bach hat te das

Sätzchenspiel e ine herausragende Stellung. Wie eben beschrieben,

mussten die Schüler vorgegebene Sätzchen üben und na ch

verschiedenen Varianten suchen. We nn Bach aber merkte, dass die

Ausführung keine Entwicklung findet, so schrieb er zusammenhängende

Stücke, in denen diese Übungen vorkamen. „Von dieser Art sind

6 kleine Präludien für Anfänger, und noch mehr die 15 zweystimmigen

Inventionen. Beyde schrieb er in den Stunden des Unterrichts selbst

nieder, und nahm dabey bloß auf das gegenwärtige Bedürfnis des

Schülers Rücksicht. In der Folge hat er sie in schöne, ausdrucksvolle

kleine Kunst werke umgeschaffen.“ 28

Demnach kann man die Inventionen von Johann Sebastian Bach als

Zeugnis seines Un terrichts ansehen. Doch waren sie an und für sich für

Schüler gedacht, die weniger flexibel mit dem Sätzchenspie l umgehen

27
nach Martin Gellrich, a.a.O. , S.121

28
Johann Nikolaus Forkel: Ueber Johan n Sebastian Ba chs Leben, Kunst
und Kunstwerk. Leipzig 1802, Reprint. Kassel 1925, S. 93

57
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

konnten. Die helfende Hand des Lehrers war dafür da, um die

Fertigkeiten der Schüler abermals vora nzutreiben.

58
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Die Ausbildung zum ‚Kunstwerkinterpreten’ 29

In zunehmenden Maße entstand im 19. Jahrhundert der Typus des

Kunstwerkinterpreten, der Werke repr oduzieren konnte, aber den freien

Umgang oder Abweichungen von musikalischen Sätzchen oder

kleineren Stücken nicht mehr beherrschte. Die Entwicklung von

Übungen und Etüden bzw. die d amit verbundene Notation und

Veröffentlichung derer war für Sp ieler gedacht, die Anregungen auf dem

Gebiet benötigten. Ob durch diese Entwicklung womöglich e igene

Gedanken und kreatives Suchen nach möglichen Übungen etc.

gehemmt wurden, bleibt Spekulation.

Das Klavier errang eine exponierte St ellung im 19. Jahrhundert, da es

aufgrund der harmonischen Fülle als I nstrument für Hausmusik und zur

Unterhaltung eine große Verbreitung fand. Betrachtet man d ie in der

Zeit erschienenen Instrumentalkompositionen, so war der Anteil der rein

pianistischen Werke 1817 37 Prozent, im Jahre 1868 hingegen bereits

52,1Prozent 30
. Die zunehmende Veröffentlichung von theoretisch e n

29
nach Martin Gellrich, a.a.O., S. 157

30
Adolph Hofmeister: Handbu ch der musikalischen L iteratur oder

allgemeines systematisch geordnetes Verzeichnis der in Deutschland

59
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Schriften und Lehrwerken wie Klavierschu len hängt mit der

zunehmenden Klavierproduktion eng zusammen. Während man im Jahre

1827 in Wien noch 50 Klaviere baute , wurden um 1850 jährlich 2.700

Klaviere in Wien gebaut. 31 Für die musikalische Erarbeitung von Werke n

wurden Vorübungen entwickelt, d ie d er technischen Bewältigung des

Klavierwerks dienten. „Technisch schwierige Stellen klassischer

Kompositionen dürfen nicht dazu benutzt werden, eine gewisse

Schwierigke it erst an ihnen zu erlernen, wenn nicht die ganze Frische

und Unmittelbarkeit der Komposit ion dabei verloren gehen soll. Es

müssen vielmehr entsprechende Vorübungen erfunden werden, nach

deren gründlicher Ueberwindung die Einstudierung solcher Stellen nur

verhältnismässig kurze Zeit in Anspruch nehmen darf.“ 32

Aus dieser Sicht war e in Werk, beispielswe ise von Ludwig van

Beethoven ein abgestecktes Ziel, auf das der Pian ist zwar zuarbeitete,

dessen perfekter Darbietung er je doch mittels davon getrennten

und in angrenzenden Ländern gedruckten Musikalien, 3.


Ergänzungsband Leipzig 1868, S. 75

31
nach Michael Huber, Desmond Mark, Elena Ostle itner, Alfred Smudits

(Hrg.): Das Klavier in Geschichte(n) un d Gegenwart, Strasshof 2001,

S.13

32
zitiert nach Martin Gellrich, a.a.O., S. 143

60
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Vorübungen näher kam. Diese Interpretationskunst steht im Kontrast

zur Musikkultur des 18. Jahrhunderts, wo das Sätzchenspiel und die

daraus entwickelten komplexeren Werke Inhalt waren.

Die Improvisationskunst schöpfte im 19. Jahrhundert aus dem Üben

komponierter Werke. „Zwischen dem improvisatorischen Üben und der

freien Improvisation als eigen ständig er Kunstgattung bestand insofern

ein sehr großer Zusammenhang, als letztere eigentlich nur unmittelbare

Fortsetzung des ersteren war. In jedem der drei Arbeitsbereiche

(Passagen-, Sätzchen- und Etüdensp iel), und man muss als vierten

Bereich das Generalbassspiel unbedingt noch hineinnehmen, wurde

eine der zur freien Improvisation n otwendigen Fertigkeiten separat

angeeignet.“ 33

Die Verbreitung von Etüden und Übungen war weitaus größer als von

Sonaten und anderen klassischen Kom positionsformen.

Es entstand im 19. Jahrhundert e in Typus von Interpreten, der sich auf

die Wiedergabe von Kompositionen spezialisierte, um damit Weltruhm

zu erlangen. Nur schien es für diese Interpretationskultur nicht

notwendig, im Sinne von Improvisation kreativ zu sein.

33
Martin Gellrich a.a.O., S. 121

61
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Es entwickelte sich eine eigene Kultur von Interpreten, die im

20. Jahrhundert durch die Verbreitung durch Radio und Tonträger

nochmals Aufschwung erhie lt.

Einzig d ie Orgelimprovisat ion erhielt neue Impulse durch Künst ler wie

Anton Bruckner oder Max Reger. Mit der weiteren Entwicklung der

Kunst des Interpretierens geriet die Improvisation in zunehmendem

Maße in die Vergessenheit. „Pianisten, die den größten Teil der Übezeit

auf die techn isch-mechanische Ausbildung verwendeten, waren

zunehmend weniger in der Lage, tatsächlich zu improvisieren, das

heißt, die Musiksprache so wie die Mut tersprache zu sprechen.“ 34

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand aufgrund der

bislang beschriebenen Entwicklung eine Gegenbewegung, welche die

Avantgarde in ihren Grundzügen mitgestaltet hat. Die Improvisatio n

entwickelte sich als neue Form, d ie entstandene „Tradition“ der

technisch-mechanischen Au sbildung sollte überwunden werden. 35

34
Martin Gellrich, a.a.O., S.128

35
Im Jazz ist eine ähnliche Ent wicklung festzustellen, allerdings

reduzierte sich die Musik in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf
„pattern“ oder „riffs“ (Strukturmodelle).

62
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

In den ´50er und ´60er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden neue

musikalische Formen in Verbindung mit Improvisation (John Cage ,

Karlheinz Stockhausen). Eine neue Definition des Begriffes

Improvisation war notwendig, da sich neue Möglichkeiten der

technischen Reproduzierbarkeit von Musik entwickelt hatten. So

bezeichnete man Improvisation nun „a ls Handlung (oder Ergebnis einer

Handlung), die im Moment ihres Vollzugs (bzw. der Wahrnehmung ihres

Ergebnisses) unvorhersehbar bzw. unerwartet oder unvoraussagbar

erscheint“ 36
. Das Unvorhersehbare st eht im Mittelpunkt des neu e n

Verständnisses, wobei be i einer so lchen Handlung Unvorhersehbares

und Vorhersehbares miteinander verwoben sein kann.

Karlheinz Sto ckhausen ließ in se inen Kompositionen den Interpreten

Freiheit für Improvisation, was dazu führte, dass sich die Musiker in

immer stärkerem Maße von der Komposition lösten und zum Ärger des

Komponisten die Regie der Werke selbst in die Hand nahmen. 37 Daran

lässt sich erkennen, dass der Musiker mit der Improvisation aus der

36
Rudolf Frisius: Improvisat ion im 20. Jahrhundert, MGG, Sachteil Bd.
4, Bärenreiter/ Metzler, Kasse l 1996, S. 585

37
nach Dr. Christoph Sramek: Vorlesun g Musikgeschichte Spezialkurs

20. Jahrhundert an der Hochschule für Musik und Theater „Felix


Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig 1999/ 2000

63
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Rolle des Au sführenden heraustritt u nd sich selbst als schöpferisch

versteht.

Da sich die Entwicklung der Musikpädagogik im 19. Jahrhundert

zunehmend auf das Er lernen de r vorhandenen Kompositionen

beschränkte, entwickelten sich Ge genströme zur Förderung der

Improvisation im Instrumentalunterricht. So entstanden Lehrwerke von

Peter Heilbut (1976), Klaus Runze (1 973) und Harald Bojé (1982), die

grundlegende Anstöße zum Er lernen musikalischer Fähig keiten mit Hilf e

der Improvisation geben.

Improvisation hielt in versch iedenen Klavierschulen Einzug. Wieweit

diese gefördert werden soll, ist in die Hände des Lehrenden gelegt.

Leider ist aber festzustellen, dass I mprovisation als Lernfeld für die

Instrumentalausbildung nur eine Nebe nrolle spielt. Dies mag oft an der

Unwissenheit und dem Unvermögen der Lehrer liegen, sich auf diesem

Gebiet zu be wegen. Da auch die Ausbildung an den Musikhochschulen

die Improvisation nicht im e benbürtigen Verhältnis zum

Interpretationsspiel lehrt, muss man sich autodidaktisch mit

Improvisation beschäft igen oder Sekundärliteratur zu diesem Thema

lesen, um Impulse an seine Schüler weiterzugeben.

64
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

„In fortschrittlichen Musikschulen wir d die Improvisation als eine Art

‚zusätzliche ‘ Spezia lfertigkeit zur willkommenen Abrundung einer

Instrumentalausbildung gelehrt.“ 38

Die aufführungspraktische Ro lle einer seits und die musikpädagogische

Rolle der Improvisation andererseits sind die zwei entscheidenden

Aspekte dieser Kunstform, denen man sich im 20. Jahrhundert

vorrangig widmete.

Die Etüde als Nachfolger des Sätzchenspiels

Zurück zum 18. Jahrhundert: Das Sätzchenspiel war Grundlage für das

Erlernen der wichtigsten Fertigkeiten eines Musikers in der damaligen

Zeit. Mit zunehmender Interpretation skultur und der Verbreitung des

Klaviers als beliebtes Instrument für Hausmusik entwicke lte sich eine

andere Unterrichtsform, um den an gehenden Interpreten mit dem

notwendigen Rüstzeug für seine Arbeit auszustatten. Man übte nicht die

Werke an sich, sondern lehrte Möglichkeiten des Übens anhand von

Etüden und Übungen für die Werke. Somit kann man d ie Etüde a ls

Nachfolger des Sätzchenspie ls betrachten. Sie eröffnet dem Betrachter

nicht nur Einblick in eine Unterrichtsstunde, sondern zeigt auch den

38
Volker Biesenbaender a.a.O., S.46

65
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

spielerischen Ansatz, der bislang mit Sätzchen- und Passagensp iel für

den Unterricht unentbehrlich war.

Im New Groove Dictionary of Music and Musicians 2nd edition findet

man folgende Erläuterung:

“Study. An intrumental piece, u sually of some difficult y and most ofte n

for a stringed keyboard instrument, designed primarily to exploit and

perfect a chosen facet of performing technique, but the better for

having some musical interest. [. ..]“ 39

Die Notwend igkeit von Etüden für d ie Ausbildung eines Musikers wird

heutzutage niemand in Frage ste llen. Nur, wie auch der Artikel sagt,

sind es nur die „besseren“ Etüden, die ein musikalisches Interess e

verfolgen. Allerdings kann man daran die Entwicklung des Übens

nachvollziehen. Aus den von mir a usgewählten Be ispielen notierter

Werke versuche ich, Schlüsse auf die Übvorgänge der damaligen Zeit

zu ziehen. Dazu werde ich Improvisationsmodelle vorstellen und

Rückschlüsse und Zusammenhänge zu Etüden ziehen.

39
Standley Sad ie (Hsg.): Dictionary of Music and Musicians 2 n d edition,
London 2001, Vol. 24, page 622

66
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Die Etüde und ihr Bezug zur Improvisation

„Die Etüde entwickelt sich unmittelb ar aus [...] dem Probierspiel mit

einer besonders spröden, aber auch interessanten Spielf igur. Dieses

Spiel funkt ioniert zunächst gan z ohn e Notenpapier. Um eine spröde

Figur gefügig zu machen, wurde sie zunächst stereotyp wiederholt.

Nachdem sie gut in der Hand lag , wurde sie transponiert, dann

zunächst leicht, später mehr verändert und allmählich erschwert.

Schließlich wurde d ie Schwierigke it bis an die Grenze des Ausführbaren

gesteigert. Erst als das Spiel eigent lich schon vorbei war, begann der

Virtuose ein Protokoll darüber anzufert igen.“ 40

Die Etüde ist somit die Verbindung eines Spiels, das sich in e iner

improvisatorischen Weise entwickelt e und dem Erarbeiten virtuoser

Techniken, die für Kompositionen ben ötigt werden. Die Etüde erscheint

als Brücke von Improvisation zur Komposition, da sie als

Improvisationsprotokoll not iert wurde. Das Sp iel mit den technischen

Problematiken führt zur Struktur einer Komposition.

40
Martin Gellrich a.a.O., S. 101

67
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Analyse der Etüden von Fryderyk Chopin hinsichtlich des

technischen Ansatzes

Fryderyk Chopin erhielt nur geringfü gig Elementarunterweisung durch

Wojciech Zywny und Klavierunterricht bei Joseph Xaver Elsner am

Warschauer Konservatorium.

Autodidaktisch eignete er sich seine virtuose Klaviertechnik im Laufe

seiner Jugend an 41. So gelangte er zu spielerischem Umgang mit dem

Klavier und begann für den eigenen Gebrauch Etüden zu komponieren,

die in der damaligen Zeit als neuartig und unkonventionell galten. Die

bisherigen Etüden anderer Komponiste n stellte er „we it in den Schatten,

wenn er bereits in seinem Opus 10 die zweckdienliche Studie einzelner

technischer Probleme mit e iner Klangpoesie und musikalischen

Eigendramaturgie verbindet.“ 42

Chopins Etüden sind in ihrem Aufbau und der Konzentration auf e ine

technische Problematik e inmalig in der Geschichte der Klaviermusik

und gelten als Standardwerk innerhalb der Klavierliteratur.

41
Christoph Rueger (Hsg.): Harenberg Klaviermusikführer, Dortmund

1998, S. 257

42
Christoph Rueger (Hsg.), a.a.O., S. 2 57

68
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

So wie ich im vorausgehenden Abschnitt Dr. Martin Gellrich zitierte

(siehe Seite 15/ 16), kann man an den Etüden von Fryderyk Chopin die

spielerische Entwicklung nach vollziehen. Nachdem eine Problematik

erfasst und in vielfä ltiger Weise verarbeitet wurde, verwendet Fryderyk

Chopin oftmals die Liedform – e ine ko nventionelle Kompositionsform –,

um diese „musikalischen Spie le“ in ein e Komposition zu verwandeln. So

kann man an jeder Etüde eine Problematik ausmachen, die die

Grundlage dieser Etüde bildet. Ich habe die Etüden Opus 10

dahingehend untersucht.

69
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Die Etüden Opus 10 von Fryderyk Chopin

Bei der Untersuchung der Etüde n ist jewe ils e in musikalisch

technisches Problem zu entdecken, welches den Kern der Etüde bilde t

und auf spielerische Weise entwickelt wurde. Die Probleme stelle ich

anhand von Notenbeispielen dar.

Opus 10 Nr. 1

Beschreibung des technischen Problems: unregelmäßige gebrochene

Akkorde in der rechten Hand

70
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Opus 10 Nr. 2

Beschreibung des technischen Prob lems: Chromatische Skalen mit

3.,4.,5. Finger der rechten Hand in Ver bindung mit Zweiklängen

Opus 10 Nr. 3

Beschreibung des technischen Prob lems: Mehrstimmigkeit in einer

Hand mit Melodie und Begle itstimme; Zweiklänge legato (im Mittelte il)

71
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Opus 10 Nr. 4

Beschreibung des technischen Proble ms: diatonisch umspielte Skalen

Opus 10 Nr. 5

Beschreibung des technischen Prob lems: Gebrochene Akkorde auf

schwarzen Tasten in der rechten Hand

72
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Opus 10 Nr. 6

Beschreibung des technischen Problems: Legatomelodien mit einer

bewegten Mittelstimme

Opus 10 Nr. 7

Beschreibung des te chnischen Problems: Wechsel von Terzen auf

Sexten und später Wechse l von Seku nden und Quarten auf Sexten in

der rechten Hand

73
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Opus 10 Nr. 8

Beschreibung des technischen Proble ms: Skalen in untersch iedlichen

Intervallabständen

Opus 10 Nr. 9

Beschreibung des technischen Proble ms: große Intervalle in der linke

Hand in Legatobewegung

74
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Opus 10 Nr. 10

Beschreibung des technischen Problems: Melodieführung von Sexte n

und Primen (dem Daumen) im Wechsel in der rechten Hand; Problem

linke Hand siehe Opus 10 Nr. 9

Opus 10 Nr. 11

Beschreibung des technischen Proble ms: Arpeggien in beiden Händen

75
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Opus 10 Nr. 12

Beschreibung des technischen Proble ms: Läufe in sehr großen und sehr

kleinen Intervallen in be iden Händen

Analyse der Etüde Opus 25 Nr. 6 in gis-Moll

Die Etüde Opus 25 Nr. 6 von Fryderyk Chopin erhielt im Na chhinein de n

Titel „Terzenetüde“; ebenso haben auch andere seiner Etüden

nachträglich, meist vom Verleger aus Gründen der Attraktivität, Titel

bekommen (z.B. Revolut ionsetüde – O pus 10 Nr.12, „Schwarze-Tasten-

Etüde“ – Opus 10 Nr. 5, „Schmetterling setüde“ - Opus 25 Nr. 9).

76
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Über die Etüde Opus 25 Nr. 6 schrie b Edwin Fischer: “ Hörst Du die

Terzenetüde – das feine Klingeln der Troika über den tiefen Schnee,

das Schnaufen der Pferde – und wie malt die Linke das

herzzerbrechende Gefühl der Menschen, die in die Gefangenschaft

gebracht wurden.“ 43

Fischer beschreibt, dass diese Etüde eben nicht nur ein rein

technisches Übungswerk ist, sondern auch eine musikalische Au ssage

und Qualität besitzt. Sie ist e in Charakterstück und ist in ihrem

kompositorischen Gehalt einmalig.

Die Etüde Opus 25 Nr. 6 befasst sich mit der Problematik von

Legatophrasen mit Terzen. Sie entspricht in ihrer Form dem klassischen

Rondo. Dadurch entsteht auf natürliche Weise eine Wiederholung, die

neue technische Schwierigke iten mit schon vorhandenem Können

kombiniert. Mit der Ein leitung von zwei Terzfiguren, die im

Sekundabstand miteinander pendeln, wird das leichte Schwirren des

Stückes angelegt.

Die folgende Basslinie von aufsteige nden, unregelmäßig gebrochenen

Akkordtönen gibt dem Stück zu seiner bisherigen Leichtigkeit e ine

schwermütige und melancholische Stimmung. Diese Linie wechselt

43
zitiert nach Christoph Rueger (Hsg) a.a.O., S. 257

77
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

während des gesamten Stückes nur zwischen den aufsteigenden

Akkordbrechungen und den absteigenden Dreiklängen in seufzenden

Zweierbindungen.

Das erste Terzenmotiv der rechten Hand entwickelt sich erst von der

Sekundbewegung zu e iner Umspielu ng und anschließend zu e iner

aufsteigenden chromatischen Linie, die crescendierend nach obe n

verschwindet.

Mit den in den ersten sechs Takte n angelegten Motiven wird nun

„gespielt“: Sekundbewegung, Umspielung und chromatische Linie auf-

bzw. abwärts. Hin zu kommt eine diato nische Skala ab wärts in cis-Moll.

Wenn im Takt 19 das Anfangsmotiv wiederkehrt, wird zudem ein neuer

Horizont eröffnet. Die Wiederholung e rfolgt nicht wie zu Anfang in der

Dominante, sondern in einem v7 übe r gis und moduliert nach a-moll.

Das ist notwendig , um die neue schwierige Technik in einer Tonart ohne

schwarze Tasten zu spielen. Die Te rzen springen im Wechsel eine

Quinte abwärts und eine Quarte wiede r aufwärts. Dazu schreibt Chopin

‚leggierissimo’, was die Ausführung n icht gerade einfa ch macht. Ein e

Wiederholung in B-Dur soll auf den Hö hepunkt des Stückes vorbereiten:

Beide Hände spielen wechselnd diese Figur chromatisch abwärts. Mit

78
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

dem wiederkehrenden Anfangsmotiv kommt das Stück wieder zur Ruhe.

Weitere harmonische Raff inessen, wie z.B. die Varianttonart, machen

feine Farbtupfer aus und bringen technische Veränderungen hinzu.

Durch diatonische Skalen werden ve rstärkt konventionelle Skalen in

Terzen geübt. Nach einer langen cis-Moll ‚Übung’ folgt eine

Abwärtsskala in A-Dur, einer Tonart die das erste Mal im Stüc k

erscheint. Aber es geht bald zurück zum Anfangsmotiv und zur

Reminiszenz des mehrfach Wiederholten: der chromatischen Skalen .

Diese Skalen werden nun nochmals erschwert, indem sie zu einer

langen Abwärtsskala über vier Oktaven verbunden werden. Nach so

vielen Terzen bilden zwei Dominant-Tonika-Akkordverbindungen das

Ende der Etüde.

Listet man die versch iedenen Terzverbindungen auf, kommt man zu

folgendem Ergebnis:

Seite 1

Takt 1
Pendelbewegung in kleinen Seku ndabständen

(Gruppierung von unten)

Takt 4 Umspielung chromatisch

79
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Takt 5 chromatische Skala auf wärts

Seite2

Takt 11
diatonische Ska la abwärts

Takt 12 Pendelbewegung in kleinen Seku ndabständen

(Gruppierung von oben)

Takt 12 Pendelbewegung in großen Sekundabständen

(Gruppierung von unten)

Takt 12 Pendelbewegung in großen Sekundabständen

(Gruppierung von oben)

Takt 15 Umspielung diatonisch

Takt 17 chromatische Skala abwärts

Seite 3

Takt 23
Pendeln mit aussch ließlich we ißen Tasten

80
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Takt 27 Terzsprung - Quinte abwärts, Quarte aufwärts

diatonisch

Takt 31 Terzsprung - Quinte abwärts, Quarte aufwärts

chromatisch

Es wird sichtbar, dass Chopin außer einer diatonischen Aufwärtsskala

alle denkbaren Varianten von Terzverbindungen verwendet hat. Die

fehlende diatonischen Auf wärtsskala ist meines Erachtens e in Verzicht

zu Gunsten des Charakters des Stückes. Der Charakter des Stücke s

steht im Vordergrund und Chopin verzichtet dafür auf Vollständigke it

der technischen Möglich keiten. Im Übrigen wird die linke Hand nicht

berücksichtigt, konsequent verfolgt Chopin das Training der rechten

Hand.

Nicht zu vergessen sind d ie unterschiedlichen Farben, die nicht allein

durch die versch iedenen Terzverbindu ngen zustande kommen, sondern

mittels verschiedener Tonskalen gestaltet werden.

Wenn man die verwendeten Ska le n untersucht, kommt man zu

folgendem Ergebnis:

81
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Verwendete Tonskalen im Ab lauf:

gis-Moll

cis-Moll

H-Dur

v7 über gis

a-Moll

B-Dur

Gis-Dur

E-Dur

A-Dur

Die Vielfa lt zeigt, dass die „Terzenetüde“ eine große Bandbreite an

Möglichkeiten der Terzkombinationen in den verschiedenen Tonarten

aufweist. Nicht alle in die Tatsache dieses Spektrums technischer

Möglichkeiten zeichnet d ie Etüde Op us 25 Nr. 6 aus, sondern eben

auch, dass sie einen musikalischen G estus transportiert, der aus einem
82
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Übungsstück (=Etüde) ein konzertreif es Werk macht im Gegensatz zu

anderen Etüden und Übungen, die sich mit Terzen befassen, die jedoch

kaum von solch musikalischem Gehalt sind.

Vom technischen Anspruch her ist diese Etüde von Fryderyk Chop in

seiner Zeit weit voraus. Im Vergleich dazu sind in den „51 Übungen für

Klavier“ von Johannes Brahms n ur rein diatonische Übunge n

vorhanden. In den Übungen 2a, 2b, 3 sind für die damalige Zeit

konventionelle Terzverbindungen in Skalen zu finden. Anders als bei

Chopin wird in der Übung 22 von Brahms in der linken Hand e ine

Terzumspielung geübt. Und in den Üb ungen 23a und 23b stellt er sich

dem Problem der Fesselung durch einen Finger einerseits und

diatonischen Zweierbindungen in Terzen andererseits.

In den praktischen Fingerübungen für Piano Solo Opus 802 Heft II

behandelt Carl Czerny ebenfalls diato nische Skalen in Dreierbindungen

(Übung 30), woraus er am Ende eine abschließend chromatische Linie

entwickelt. In den Übungen 31 und 32 beschränkt er sich auf eine C-Du r

Skale über eine bzw. zwei O ktaven. Vom musikalischen Geha lt die ser

Übungen sollte man lieber nicht sprech en.

Es gab zu der Zeit auch die Ansicht, dass die Etüde einzig und allein

dem Training der Hand d ienen möge, und weniger zur Aufführung. So

schrieb der Pädagoge Peter Lichtentha l: „Die Etüden sind nur zur Arbeit

83
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

im Studierzimmer bestimmt und um den Schüler mit allen Arten von

Schwierigke iten vertraut zu machen, die ihm im folgenden in den

Sonaten und Konzerten berühmter Meisten begegnen. Man schreibt

ihnen nichts Angenehmes für die Ohre n zu“ 44

Was diese Ansich t über die Etüde völlig ignoriert, ist der musikalisch e

Gestus, den man als angehender Musiker ebenfalls erlernen muss. Dies

ist ein Grund, warum die Etüden von Fryderyk Chopin in der

Klavierliteratur eine so herausragende Stellung haben: An ihnen übt

man technische wie musikalische Pro bleme gleichzeitig. Sie erfordern

eine starke Konzentration auf die beh andelnde Thematik und stellen so

ein Konditionstrain ing für den Pian iste n dar.

44
Peter Lichtenthal: Dictionaire de Musique, Paris 1839, S. 315

84
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B lo ß n ic h t im p r o v is ie r e n ! B lo ß n ic h t!

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B lo ß n ic h t im p r o v is ie r e n ! B lo ß n ic h t!

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91
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Eine Geschichte mit Umwegen

Betrachtet man rückblickend den Unterricht im 18. Jahrhundert, so ist

zu sehen, dass das Sätzchenspie l Grundlage für die Aneignung

musikalischer und techn ischer Fertigkeiten war. Kleine Motive und

Phrasen bildeten die Basis für die Unterrichtsstunde, woraus dann

Sätzchen und kleine musikalische Werke entstanden. Im

19. Jahrhundert änderte sich die Hera ngehensweise: Etüden waren d ie

Grundlage des Unterrichts. Um die klassischen Kompositione n

ausführen zu können, wurden Etüden und Übungen entwickelt, mit

deren Hilfe sich der Schüler musika lische und technische Fertigkeiten

aneignete.

Betrachtet man nun den gegenwärtigen Improvisationsunterricht am

Beispiel von Prof. Dr. Peter Jarchow, so werden wie im 18. Jahrhundert

aus kleinen Vorgaben (Motiven oder Phrasen) Strukturen entwickelt, die

den Sätzchen der damaligen Zeit entsprechen können. Vergleicht man

die Entstehung einer Etüde am Beispiel der Etüde Opus 25 Nr. 6 mit

eben erwähnten Unterricht, so ist der Inhalt in beiden Fällen die Suche

nach verschiedenen Fortspinnungsmöglichkeiten des Anfangsmot ivs

oder Anfangsproblems.

92
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Man kann sich nun Gedanken machen um die Nachfolge der

Unterrichtstradition. Im In teresse a ller Unterrichtsformen lag die

Ausbildung von Musikern. Doch schließlich ist der

Improvisationsunterricht, im Gege nsatz zur Au sbildung vo n

Kunstwerkinterpreten, die Weiterführung der Tradition von Johann

Sebastian Ba ch, Ludwig van Beethove n und Fryderyk Chopin.

Das Üben als Mittel zur Erarbeitung vo n musikalischen und te chnischen

Fertigkeiten ist ebenfa lls im Laufe der Jahre sehr unterschied lich

bewertet und definiert worden. Betrachtet man Üben im

18. Jahrhundert, so beinhaltet es das Wiederholen und Variieren der

Sätzchen und Passagen, die Inha lt des Unterrichts waren. Im

19. Jahrhundert übte man vorrangig mechanisch. Die Finger führten

ohne musikalischen Sinn schwierigste Techniken aus, wodurch die

Virtuosität verbessert werden sollte . Ob diese Art de s Studiums

demotivierend für den Musiker gewesen sein mag, bleibt Spekulat ion,

denn es kann auch die technische Herausforderung für einen Musiker

spannend sein, ebenso wie die Auf führung eines Kunststücks im Zirku s

ein erstrebenswertes Ziel sein kann un d auch seine Bewunderer findet.

Im 20. Jahrhundert wurde weiterhin das technisch orientierte Übe n

gelehrt, jedoch entwickelten sich, he rausgelöst aus dem klassischen

Unterricht an Schulen und Ho chschulen, auch andererseits alternative

93
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Unterrichtsformen, die eine separate Bewertung fanden. Das Üben von

musikalischen Formen und Gestus a nhand von Motiven und kleinen

Phrasen führt durch die Improvisat ion zu e inem stark individuell

geprägten Unterricht, der auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des

Schülers eingeht. Diese Unterrichtsform steht in ihrer Art in der

Tradition der vergangenen Jahrhunderte und erzieht im Gegensatz zum

klassisch bezeichneten Unterricht nicht Kunstwerkinterpreten, sondern

bemüht sich um die Ausbildung von M usikern, die sich ihre Fertigke iten

nicht aussch ließlich für die Au sf ührung fremder Kompositionen

erarbeiten, sondern nach den Notwendigkeiten ihrer eigenen

musikalischen Entwicklung gehen. So kann man sagen, dass diesen

Musikern nicht „die Hände vor dem Kopf laufen“, sondern technische

und musikalische Fertigkeit e ine Einhe it bilden.

Im Titel des Buches „Bloß nicht impro visieren! Bloß nicht!“ gehe ich auf

die immer noch vorherrschende Meinung ein, dass zwische n

Improvisation und dem Instrumentalunterricht unterschieden wird und

es separat gelehrt wird. Es gibt an Schulen und Hochschulen

Lehrende, die selbst keine Improvisation innerhalb ihrer Ausbildun g

erfahren haben und demnach auch na ch bestem Wissen und Gewissen

„nur“ nach zielstrebig ökonomischen Grundsätzen unterrichten. So is t

es nicht verwunderlich, dass ein Lehre nder an einer Hochschule seinem

94
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Studenten sagte: „Hör auf zu improvisieren, übe lieber. Schau mich an:

ich hab es auch nicht gebraucht und bin Professor geworden“.

Und auch der Druck des Kollegiu ms und die Notwendigkeit nach

schnellen Re sultaten lassen dem L ehrenden wenig Spielraum zum

Improvisieren. Denn das Ausbildungsziel ist nach wie vor, möglichs t

schnell eine fremde Kompositio n zu erlernen; somit zum

Kunsthandwerker befähigt zu sein. Ab er wenn man Künst ler ausbilden

will, die das Handwerk beherrschen, sich musikalisch auszudrücken,

muss man nicht auch Umwege riskieren, um künstlerische

Ausdrucksfähigke it zu schulen? Aber wenn bereits das Ausbildungsziel

eine falsche Richtung vorgibt, kann man es damit vergleichen,

jahrelang einen fa lschen Ton zu spielen üben, an den man sic h

irgendwann auch gewöhnt.

Improvisation ist zudem auch ein Überbegriff; den individuellen Stil

muss sich jeder selbst erarbeiten. Daher kann es schwierig und

mühsam erscheinen, Möglichkeiten zur Improvisation zu sehen.

Da die vorrangige Lehrweise über den Verstand geht, traut man oftmals

der Intuition (Impulsgeber für die Improvisation) nicht und verstrickt

sich in abstrakten Denkkonstruktionen . Aber ebenso wie jeder Mensc h

Intuition besitzt, kann auch jeder improvisieren, wenn er nur dafür

sensibilisiert ist. Die Schulung der Sinne und das Vertrauen, seiner

95
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

eigenen Intuition zu fo lgen, werd en sich nicht allein auf die

Ausbildungsze it beschränken, sonder n erfordern eine immer währende

Wachheit und Selbstdisziplin. In meiner künstlerischen Arbeit ist dies e

Schulung ebenso wichtig wie die tägliche Arbeit am Instrument. Dafür

bedarf es einer Se lbstmotivation, die bereits in den Anfängen der

musikalischen Bildung se ine Wurzeln finden muss.

96
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Improvisation als Impulsgeber für das Leben

Das Streben nach Sicherheit, einen festen Platz in einem Orchester

oder einer Musikschule zu haben, ist menschlich nachvollziehbar, aber

zunehmend unrealistisch. Die Arbe it eines Musikers ist innerhalb der

darstellenden Künste mit der gering sten Flexibilität und Kreativität

möglich. Für Schauspiel oder Tanz ist Improvisation eine Notwendigkeit

für die künstlerische Arbeit. Hingeg en kann ein Musiker erfolgreich

arbeiten, obwohl er sich nicht mit Improvisation beschäftigt. Die

Musiker sind an einem Theater die am besten organisierte

Berufsgruppe mit einer starken Gewe rkschaft. Allerdings erfordert der

Alltag be wusste Entscheidungen, die auch von einem Musiker

Flexibilität erwarten.

Es bleibt für mich fraglich, ob die Schlussfolgerungen der Studie 45 von

Hans Günther Bastian, dass Musik f ür die Entwicklung e ines Kinde s

förderlich ist, in der Weise verallgem einert werden kann. Eher ist die

Frage wichtig, in welcher Weise der Unterricht stattfindet.

So möchte ich die Geschichte Jona thans gern weiter verfolgen: er

erlebt den Instrumentalunterricht als eine Art Spiel, das sich immer

45
Hans Günther Bastian a. a. O.

97
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

weiterentwickelt, indem er einerseit s sich besserer Fähigkeiten für se in

Spiel bedienen kann, andererseits immer neue Literatur kennenlernt

und somit die Komplexität der Musikwelt in ihrer Vielfalt wahrnimmt.

Dabei bleibt er nicht beim Erfüllen von Regeln stehen, sondern er steigt

selbst in die Schuhe des Schaffenden und baut sich seine eigene We lt

mittels der Improvisation. Das Instrumentalspiel bildet ein e

geschlossene Welt für ihn.

Herausgetrennt aus dem Feld der Musik ist Improvisation e ine der

entscheidenden Lebenshilfen unserer Zeit. Die Schulung des Ge spürs,

in der Lage zu sein, auf Situationen zu reagieren, ist für uns wichtiger

als das Wissen um den Sachverhalt. So kann diese

Improvisationsausbildung innerhalb de r Musikpädagogik für den Jungen

eine Lebenshilfe sein.

„Wir haben oft sehr komplexe Entsch eidungen zu treffen, die wir n icht

nach logischen Gesichtspunkten klären können. Sie sind zu komplex ,

als dass wir die Probleme mit unserem Verstand lösen könnten. Ich

würde sagen, das Be wusstsein ist in einer gewissen Art und Weise

überfordert.“ 46

46
Gerd Binnig a.a. O, S. 63

98
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Aus dieser Sicht heraus ist die Intuit io n ein notwendiger Mechanismus,

mit dem wir, ohne die Rea lität exakt einschätzen zu können, wichtige

Entscheidungen fällen.

Das Wissen um die Evolution der G esetzmäßigkeiten gehört zu den

bedeutendsten Erkenntnissen unserer Zeit. Eine Feststellung, die vor

einiger Zeit noch wahre Bedeutung hatte, kann heute schon eine ganz

andere Bedeutung haben. Danach sind auch die Naturgesetze im

Wandel, sozusagen in der Evolution 47.

Das Sicherheitsbedürfnis des Menschen richtet sich aber gegen

Veränderungen, so gering sie au ch se in mögen. Der Instinkt kann e ine

wichtige Ro lle spie len, trotzdem d en alltäglichen Veränderungen

gewachsen zu sein. Vielle icht ist das die lebendigste Form, Situationen

im Alltag zu begegnen und sich Proble men zu stellen.

Ständig gibt es im Leben eines Menschen Einschnitte, d ie ihn zum

Reagieren zwingen. Der Schock über das Problem ist aber oftmals

primär und man fällt in alte Muster zurück wie Panik, Starre oder

Flucht. In der Improvisation kann man lernen, an dieser Stelle

Möglichkeiten zum Handeln zu finden und die bestmöglich e

Entscheidung zu treffen. Dann ergibt sich eine neue Konstellation, die

47
zitiert nach Gerd Binn ig a.a.O., S. 181

99
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

sich nicht unbedingt auf das vo rhergehende Beschäftigungsfeld

beziehen muss. Das könnte man mit d er Interferenz vergleichen, wie ic h

sie in einen der vorhergehenden Kapit el beschrieben habe.

Das Unvorhersehbare wird in den Alltag einbezogen, man kann die

Angst davor bewältigen und mit ihr leben. Improvisation kann als ein

elementares Lebensprinzip verstanden werden, mit dessen Hilfe wir in

der heutigen Informationsgesellschaft aus der Flut der Eindrücke filtern

können, um dann in der Lage zu sein, bewusste Entscheidungen zu

treffen.

100
Bloß nicht improvisieren! Bloß nicht!

Die Fortführung der Geschichte von Jonathan ist ebenfalls von seinen

bewussten Entscheidungen abhängig, die auch durch unvorhersehbare

Ereignisse ausgelö st werden. Hier kön nen Sie als Leser d ie Geschicht e

weiterschreiben.

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