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Tema

Swantje Ehlers
Gießen
Entwicklung von Lesekompetenz in
der Fremdsprache

Vengono descritte dapprima le Einleitung leichter erkannt als unvertraute und


abilità parziali che costituiscono Das Konzept der Kompetenz spielt in morphologisch einfache Wörter leich-
la competenza di lettura nella L1, der gegenwärtigen bildungspoliti- ter als morphologisch komplex auf-
cioè i processi di percezione schen Debatte um Mindeststandards gebaute Wörter. Nachdem die Wörter
primari (riconoscimento visivo und Integration von Risikogruppen, erkannt sind, müssen die Begriffe in
delle parole), sui quali si fondano die nicht über ausreichende Lese- eine inhaltliche Beziehung gebracht
i processi di comprensione di fähigkeiten verfügen, um eine erfolg- werden; dabei übernimmt die Syntax
livello più alto, che implicano le reiche Schulkarriere und Berufsaus- eine Hilfsfunktion. Das Ziel besteht
capacità di selezione e astrazione bildung machen zu können, eine zen- darin, den Aussageinhalt eines Satzes
e la capacità inferenziale. In che trale Rolle. Gegenüber diesen neue- zu erfassen. Da die Sätze nicht isoliert
misura questi processi sono ren Debatten fokussiert die moderne stehen, sondern in einem textuellen
trasferibili dalla L1 alla L2? Pare empirische Leseforschung seit den Zusammenhang, müssen die Verbin-
assodato che la capacità di 1960er Jahren den Lesekompetenz- dungen zwischen den Sätzen und ihre
lettura, una volta acquisita in una begriff. Sie geht davon aus, dass Le- Integration in einen Textzusammen-
lingua, sia trasferibile ad altre sen eine komplexe Fähigkeit ist, die hang z. B. durch anaphorische und
lingue, ma che sia importante in einzelne Teilfähigkeiten unterglie- kataphorische Beziehungen (Vor- und
anche il livello di competenza dert werden kann. Für die Lesedidaktik Rückwärtsverweise) hergestellt wer-
nella lingua straniera, per quanto bietet diese Zerlegung in Teilkompe- den, bis eine Textkohärenz erreicht
riguarda l’automazione delle tenzen eine Basis, um ein Lesecurricu- ist. Kohärenz bezeichnet die zugrun-
abilità di base e le operazioni lum entwickeln, mögliche Lesever- de liegenden Zusammenhänge eines
cognitive. La didattica dovrà ständnisprobleme identifizieren und Textes; dazu gehören auch Zeit- und
concentrasi quindi sullo sviluppo entsprechende Fördermaßnahmen er- Kausalitätsbeziehungen, die nicht un-
delle abilità di selezione, fonda- greifen zu können. Was aber ist Le- bedingt in einem Text versprachlicht
mento delle abilità inferenziali. sen, was sind die Teilkomponenten werden müssen. Der Leser braucht
L’esemplificazione delle strategie von Lesefähigkeit? die entsprechenden Konzepte (Begrif-
avviene mediante testi narrativi: fe) über Zeit, Raum oder Kausalität,
contraria all’insegnamento um Kohärenz herstellen zu können.
tradizionale fondato sui quesiti Diese einzelnen Verarbeitungsschritte
sul testo, i quali impediscono un Was ist Lesen? verlaufen nicht nur im zeitlichen Nach-
approccio creativo ad esso, Lesen ist ein Vorgang, der mit primä- einander, sondern parallel. In einem
l’autrice propone in alternativa ren Wahrnehmungsprozessen beginnt. Zeitmoment muss der Leser viele In-
una serie di strategie facili da Deren Ergebnis ist die Buchstaben-/ formationen aufnehmen, bewerten,
apprendere e atte a sviluppare Silben-Erkennung. Er verläuft weiter filtern, ordnen und vor allem auch mit
l’autonomia nella lettura, ma über die Zuordnung von Gesproche- dem verbinden, was er zuvor gelesen
sottolinea che queste strategie, se nem und Gedrucktem (= phonologi- hat und an Wissen und Erfahrungen
non accompagnate dallo sviluppo sches Rekodieren) bis zur Identifika- mitbringt. Für ein erfolgreiches Le-
della consapevolezza della loro tion von Wörtern und dem Erfassen sen muss der Leser das Gelesene mit
utilità e dei loro effetti, risultano von Wortbedeutungen. Mit Wörtern Wissen über beschriebene Sachver-
sterili e non trasferibili ad altre sind bestimmte Eigenschaften verbun- halte oder Ereignisse verknüpfen.
letture. L’ultimo paragrafo è den, wie Schreibweise, Aussprache, Fehlt z. B. ein Konzept, dann kann der
dedicato a strategie metacognitive morphologische Eigenschaften und Leser möglicherweise das Sprachzei-
di monitoraggio e pianificazione thematische Funktionen, für die es chen dekodieren, aber es bleibt ohne
del proprio processo di lettura. einen Eintrag in unserem mentalen Sinn. Konzepte sind in unserem Ge-
(red.) Lexikon gibt. Dieses Wissen muss dächtnis nicht isoliert gespeichert,
zugänglich sein, um Wörter erkennen sondern sie sind mit anderen zu Sche-
zu können. Frequente Wörter werden mata verknüpft, die unser Wissen über

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typische Zusammenhänge in einem laufend über das Gedruckte hinaus- Lesen in der Zweit-/Fremdsprache
Realitätsbereich enthalten. geht und mehr liest, als in einem Text Die oben genannten Teilfähigkeiten
Um diese Anforderungen an den Le- geschrieben steht. Er liest zwischen sind grundlegend für den kognitiven
ser, die auch Gedächtnisleistungen den Zeilen, überlegt, was Figuren in Prozess des Lesens. Was aber unter-
von ihm verlangen, ökonomisch zu einer Geschichte denken oder emp- scheidet das Lesen in der Mutterspra-
handhaben, müssen die grundlegen- finden oder was einer Situation vor- che (L1) vom Lesen in der Fremd-
den Teilfertigkeiten (visuelle Analy- aus- oder vorangehen könnte. Solche sprache (L2)1?
se bis zur Worterkennung) automati- konstruktiven Leistungen des Lesers
siert werden. Automatismen sind eine nennt man Inferieren. Es bedeutet 1. Fremdsprachenkenntnisse: Da Le-
wichtige Voraussetzung für flüssiges zweierlei: Zum einen steuert der Le- sen auf mündlichen Fertigkeiten auf-
Lesen und sie setzen Ressourcen frei ser Informationen bei, um sinnvolle baut, haben Sprachkenntnisse in der
für höherstufige Verstehensprozesse, Zusammenhänge bilden zu können L2 – darunter werden vor allem Wort-
die langsamer verlaufen und Aufmerk- und damit zu einem Verständnis zu schatz und Grammatik verstanden –
samkeit vom Leser erfordern. Ein we- gelangen, zum anderen stellt der Le- einen entscheidenden Einfluss auf den
sentlicher Kern für die Lesegeschwin- ser Beziehungen zwischen Textteilen Leseerwerb in der Fremdsprache. Ein
digkeit ist eine schnelle und kontext- her. Inferenzen kommen überall dort zu geringer Wortschatz und mangeln-
freie Worterkennung, die Verknüp- ins Spiel, wo die Texte an der Ober- de Grammatikkenntnisse schränken
fung von Altem und Neuem und die fläche lückenhaft sind und vieles nicht die Lesefähigkeit ein.
Gleichzeitigkeit, mit der der Leser explizit machen, was zum Verständ-
von verschiedenen Wissensquellen nis erforderlich ist. Man unterschei- 2. Erstsprachige Lesefähigkeit: Von
Gebrauch machen kann, wie sprach-, det zwischen lokalen Schlussfolge- Einfluss auf den Fremdsprachener-
text- oder weltbezogenes Wissen. rungen, die sich auf Prozesse unter- werbsprozess ist das Verhältnis von
Das Lesen zeichnet sich durch selek- halb der Satzebene beziehen und z. B. Mutter- und Fremdsprache. Diese In-
tive, abstrahierende und inferentielle Satzteile verknüpfen oder das Bezugs- terdependenz wird vor allem an der
Prozesse aus. Der Leser muss in der wort für ein Pronomen identifizieren, Lesefähigkeit festgemacht. Nach der
Lage sein, wichtige und unwichtige und globalen Schlussfolgerungen, z. prominenten Interdependenzhypothe-
Informationen voneinander zu tren- B. das Thema eines Textes oder erzäh- se, die im Rahmen der Bilingualismus-
nen (Selektivität). Die Filterung von lerische Intentionen ableiten. Inferie- forschung entwickelt wurde2, werden
wichtig/unwichtig ist insbesondere ren ist eine Aktivität des Lesers, die Lesefähigkeiten nur einmal grund-
beim Lesen längerer Erzählungen oder einerseits auf dem Text beruht und ständig in einer Sprache erworben
Romane bedeutsam, damit wir flüssig andererseits auf seinem Wissen. Er und transferieren somit von der Spra-
und verstehend, Nebensächliches au- kann flach lesen, wenige Schlussfol- che, in der sie zuerst erworben wur-
ßer Acht lassend, über einen Text gerungen ziehen und damit eine arme den, auf eine zweite. In der fremd-
gleiten können. Wonach jedoch ent- Bedeutungsstruktur erzeugen, oder sprachlichen Leseforschung hat es
scheidet der Leser, was wichtig ist? tiefergehend lesen, indem er inferen- eine lange Diskussion gegeben, ob
Es ist in erster Linie das Thema eines tiell reiche Bedeutungsstrukturen er- und inwieweit die Fremdsprachen-
Textes, an dem sich der Leser orien- zeugt. Geht ein Leser weit über einen kompetenz oder die zuerst in einer
tiert. Er wählt aus, was thematisch Text hinaus und verknüpft die Inhalte Sprache erworbenen Lesefähigkeiten
wichtig ist. Über dieses objektive mit seinen subjektiven Erfahrungen, das Lesenlernen in der L2 bestim-
Kriterium hinaus spielen jedoch auch Assoziationen und Vorstellungen, so men. Beide haben einen Einfluss, aber
subjektive Faktoren eine Rolle. Die spricht man von Elaborationen. offensichtlich sind Leseprobleme
Interessen, Neigungen, Emotionen Lesen hat somit eine sprach- und lese- beim beginnenden Lesen eher auf
und Identifikationen des Lesers len- spezifische und eine allgemein kog- mangelnde Fremdsprachenkenntnisse
ken seine Aufmerksamkeit, so dass nitive Komponente. Zur ersten gehö- zurückzuführen (Alderson 1984).
von Leser zu Leser unterschiedliche ren u. a. Wortschatz- und Grammatik-
Textverständnisse entstehen. kenntnisse; das eigentlich Lesespe- 3. Leseflüssigkeit: Typisch für das
Der Leser muss zudem von vielen De- zifische sind die schriftzeichenbasier- fremdsprachige Lesen ist die verrin-
tailinformationen abstrahieren kön- ten Prozesse; zur allgemein kogniti- gerte Leseflüssigkeit gegenüber dem
nen und übergeordnete Kategorien/ ven Komponente gehören vor allem muttersprachigen Lesen und die kür-
Einheiten bilden, sonst würde er sein Schlussfolgerungen und Problem- zere Lesezeitspanne, die Fähigkeit
Gedächtnis überlasten und das Lese- lösevorgänge. also, textuelle Informationen im Kurz-
system würde zusammen brechen. zeitgedächtnis zu behalten. Eine zu
Hinzu kommt, dass der Leser fort- geringe Lesegeschwindigkeit kann das

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Leseverstehen insgesamt beeinträch- Schulung selektiver Fähigkeiten Schlussfolgerungen ziehen
tigen. Eine Ursache für eine verlang- Das erste Ziel des Lesens eines litera- Eine Voraussetzung für Inferenzen in
samte Lesegeschwindigkeit liegt in rischen Textes besteht im Erfassen der L2 sind selektive Fähigkeiten und
eingeschränkten Wortschatzkenntnis- des Hauptgedankens. Damit ist ein damit das Erkennen von wichtigen
sen und in der mangelnden Automati- literarischer Text in der Regel nicht Wörtern, Konzepten und Aussagen
sierung von Grundfertigkeiten. erfasst, aber es ist die primäre Ver- sowie das Beherrschen von Grund-
ständnisebene, auf der vertiefendes fertigkeiten. Eine weitere Bedingung,
4. Wissen: Im Unterschied zum mut- Verstehen aufbaut. Um dahin zu kom- um verborgene zeitliche, motivatio-
tersprachigen Lesen reicht häufig das men, muss der Leser Wichtiges von nale oder kausale Zusammenhänge
Hintergrundwissen für ein verstehen- Unwichtigem trennen. Zu den in der ableiten zu können, sind Wissens-
des Lesen nicht aus; die Konzepte Fremdsprachendidaktik bekannten voraussetzungen (Sprach- und Welt-
sind entweder gar nicht verfügbar oder Verfahren der Schulung selektiver wissen). Die experimentelle Psycho-
aber nicht differenziert genug. Mit Fähigkeiten gehören: die Schlüssel- logie hat in Bezug auf erzählende
Hintergrundwissen ist das weltbezo- wortmethode, bei der die Wörter/Phra- Texte eine Typologie von Inferenzen
gene Wissen gemeint, das je nach sen, die die Kerninformationen tra- entwickelt (Graesser 1994), die in di-
Thema eines Textes spezifiziert wer- gen, unterstrichen oder herausgelöst daktischer Perspektive eine Grundla-
den kann in: Wissen über Gegenstän- werden. Ein Hauptkriterium für den ge für eine gezielte Schulung von
de, Handlungen, Institutionen mit den Leser, um zu entscheiden, was Schlüs- Schlussfolgerungsfähigkeiten in der
dort geltenden Normen und Vorschrif- selwörter sind, ist das Thema oder der L2 und für die Diagnose von Lese-
ten, über gesellschaftliche Konven- rote Faden eines Textes. Je nach Text- problemen bietet. Diese Typologie
tionen, Traditionen und Geschichte. sorte kann das Thema im Titel schon bezieht sich auf die Ereignisstruktur
Wörter in einem Text aktivieren er- benannt sein und bietet damit dem von Narrativen, d. h. auf die Ketten
forderliches Hintergrundwissen bei Leser eine Orientierung. Oftmals gibt von Ereignissen (Handlungen, Ge-
einem Leser. Daher ist Wortschatz- der erste Satz von Abschnitten (topic schehnisse), die erzählten Geschich-
arbeit so bedeutsam für die Entwick- sentence) das Thema an. Wenn es z. ten zugrunde liegen und die zeitlich
lung von Lesefähigkeit und die kon- B. im Rapunzel-Märchen heißt und kausal miteinander verknüpft
krete Texterschließung. „Rapunzel ward das schönste Kind sind. Zum Handlungsaufbau gehören
unter der Sonne.“, dann ist Rapunzel bestimmte Konflikte, die zumeist den
5. Inferierfähigkeit: Eine weitere das Thema des Abschnitts, alle weite- Kern von Geschichten ausmachen,
Differenz zwischen dem L1- und L2- ren Aussagen sind auf sie bezogen und eine Lösung, auf die die Geschich-
Leser besteht in der Inferierfähigkeit. und müssen in ein Gesamtkonzept der te hinsteuert. Zu Handlungen gehören
Oft ist der L2-Leser eng an der sprach- Figur integriert werden. Weiterhin ist wiederum Figuren als Handlungs-
lichen Basis orientiert und erzeugt zu es hilfreich für den Leser, Kontext- träger. Des weiteren sind Handlungen
wenig Inferenzen, um sich ein Bild informationen (z. B. Titel, Bild) zu dadurch gekennzeichnet, dass sie ziel-
von der beschriebenen Situation ma- nutzen. Folgende Übungen sind ge- orientiert sind und in raum-zeitlichen
chen zu können. Dies beruht auch eignet, um Selektivität und die Fähig- Verhältnissen stattfinden. Figuren
darauf, dass bei L2-Lesern wichtige keit, den Hauptinhalt eines Textes zu haben wiederum bestimmte Motive,
und unwichtige Bedeutungen oft glei- erfassen, zu schulen: die ihr Handeln leiten und sie stehen
chermassen aktiv bleiben. Deshalb in Beziehung zu anderen Figuren.
sollten selektive Fähigkeiten speziell
geschult werden. Übungen zum Erfassen des Hauptgedankens eines Textes:
Im Folgenden richte ich das Augen-
1. Schlüsselwortmethode
merk nicht auf die Grundfertigkeiten, 2. Zusammenfassen
sondern auf höherstufige Lesefähig- 3. Themen ableiten
keiten (Selektivität, Inferenzen) und 4. einzelnen Passagen Titel zuordnen
werde deren Fördermöglichkeiten an 5. Fragen zum Text formulieren
konkreten Beispielen aufzeigen3. Ich 6. nach Antworten auf Fragen suchen
beschränke mich dabei auf literari- 7. w-Fragen als Hilfestellung: wer – was – wann – wo - warum
sche Texte. 8. Mind-Mapping, d.h. Kernbegriffe suchen und ihre Beziehung optisch visuell
veranschaulichen
9. Flussdiagramm erstellen (funktioniert vor allem bei Texten, die einen
Handlungsablauf darstellen)
10. Zuordnen von Text und Bild

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Typischerweise werden die Ziele von
1. Ziel: Welches Ziel verfolgt die Figur?
Figuren, ihre Motive, Gefühle und 2. Motive: Was sind die Motive der Figur?
Beziehungen zu anderen Figuren nicht 3. Folgen: Welche Folgen hat ein Ereignis?
direkt im Text mitgeteilt, sondern 4. Reaktion: Wie reagiert eine Figur innerlich auf ein Ereignis
müssen vom Leser aus äußerem Ver- (Gefühle)
halten von Figuren erschlossen wer- 5. Eigenschaften: Welche Charaktereigenschaften besitzt die Figur?
den. Folgende Typen von Inferenzen 6. Thema: Was ist das Thema der Geschichte? Worum geht es
lassen sich unterscheiden: eigentlich?
7. Hypothesen: Was könnte als nächstes geschehen?
Auch das Erkennen, worauf sich ein
Pronomen bezieht, ist eine Inferenz
und oft für Fremdsprachenleser schwie- Fragen Typen von Inferenzen
rig zu erkennen. Um Inferenzen, die
1. Worauf bezieht sich „die“ und „Sie“? Herstellen von referentieller Identität
für das Textverstehen notwendig sind,
zu identifizieren, ist es hilfreich für 2. Warum beachten „die“ die Ich- Motive
Erzählerin nicht?
den Lehrer und seine Planung, wenn
er einer Geschichte Fragen zuordnet, 3. Warum heißt sie in der Schule „Ursu- Ursachen und Gründe
wie in dem folgenden Beispiel das la“ und nicht „Ulla“?
sich auf den Text S. 35 bezieht. Die 4. Wie reagiert Ursula darauf? Folgen von Ereignissen
Antworten sind die Schlussfolgerun- 5. Wie fühlt sich Ursula? innere Reaktion/Gefühle
gen des Lesers. 6. Was möchte Ursula? Ziel
7. Warum/wozu übt Ursula im Bus „Hal- Absichten
Eine Variante zu diesen Fragen, die lo Conny“ zu sprechen?
der Lehrer, aber besser der Schüler
8. Worum geht es in dem Text? Thema
stellt, besteht darin, Antwortalterna-
tiven vorzugeben und das Richtige
ankreuzen zu lassen; auch in diesen
Fällen setzen die Antworten schluss- 1. Worauf bezieht sich „die“? o auf die anderen Schulmädchen
folgernde Aktivitäten voraus. o auf Ursula
o auf Leute im Bus
Die Frage ist zwar immer wieder der 2. Warum beachten sie o Sie sind mit sich beschäftigt.
Kernausgangspunkt für Kohärenz bil- Ursula nicht? o Sie haben Ursula nicht gesehen.
dende Prozesse, aber ein fragegeleite- o Ursula ist ihnen fremd.
ter Unterricht wäre zu einseitig. Für 3. Wie reagiert Ursula darauf? o Sie macht sich nichts daraus.
eine größere methodische Vielfalt und o Sie fühlt sich abgelehnt.
zur Motivationssteigerung bieten sich o Sie ärgert sich.
eine Reihe von kreativen Aufgaben- 4. Was möchte Ursula? o Sie möchte angenommen werden.
stellungen an, die ebenfalls die Funk- o Sie möchte, dass die anderen auch mit ihr sprechen.
tion haben können, beim Lerner o Sie möchte ihre Ruhe haben.
Schlussfolgerungsprozesse auszulö- 5. Warum übt sie im Bus o Sie will Conny ansprechen.
sen. (cf. Tabelle S. 35) „Hallo Conny“ zu sagen? o Sie imitiert Conny.
o Sie langweilt sich im Bus.
In Bezug auf den Text von M. Pressler
(s. S. 35) könnte man die Perspektive
der Figur Ursula einnehmen und ihre ben; oder die Zahl der Sätze für die Lesestrategien
Gedanken und Gefühle formulieren Beantwortung der Frage vorgeben, Lesen kann als eine komplexe Aufga-
lassen. Da das Lesen und die Texter- nummerieren und möglicherweise be betrachtet werden, die sich in ein-
arbeitung im DaF-Unterricht in münd- satzverknüpfende Mittel (Konnekti- zelne Teilaufgaben untergliedern lässt,
liche und schriftliche Kommunika- ven), wie und dann, während, da- wie z. B. wichtige Informationen aus-
tionsformen eingebettet sind, empfiehlt nach, eintragen. wählen und unwichtige übergehen.
es sich für schriftliche Aufgaben- Da diese Aufgaben hierarchisch ge-
stellungen, Stützgerüste zu geben, wie ordnet sind, braucht der Leser Pläne,
z. B. den ersten Satz/Teilsatz vorge- in welcher Weise, in welchen Hand-

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rungsprozesse muss der Leser Text-
informationen und sein Wissen nut-
zen und bei der Bildung von Themen-
einheiten Schlüsselwörter. Suche nach
relevantem Hintergrundwissen, Aus-
schließen, was nicht mit einem ange-
wandten Wissensschema oder mit
Textinformationen übereinstimmt,
sind weitere Strategien. Zu bestimm-
ten Zeitpunkten des Lesens trifft der
Leser Vorhersagen über künftige Mit-
teilungen und Geschehnisse im Text,
die er im weiteren Verlauf überprüft.
Das Antizipieren ist motivationsför-
dernd, sollte aber nicht an beliebigen
Textstellen erfolgen, sondern mög-
lichst an Schnittstellen, wo sich Hand-
lungsalternativen öffnen und das wei-
tere Geschehen in diese oder jene
Richtung verlaufen könnte, wie bei
dem „Ursula-Text“, wo am Ende of-
fen ist, was sie nun tun wird. Das
Gliedern eines Textes ist ebenfalls
eine Strategie; sie hat die Funktion,
Lerner für Gliederungssignale zu
sensibilisieren, damit er Erzähl- und
Themeneinheiten erkennt. Darunter
werden zum einen sprachliche Signa-
Leseeinheiten Aufgaben Funktion le verstanden (jedoch, indessen, nach
vielen Jahren, einst), zum anderen
Vor der Lektüre Titel, Bild Erzeugen von Fragen, Hypothesen und
vor allem bei erzählenden Texten
Erwartungen
räumliche, zeitliche und thematische
Während der Personenporträt Selektion von Wichtigem, Integration Signale, die eine Geschichte unter-
Lektüre erstellen in einen Zusammenhang, Ableiten von
gliedern. Der Wechsel von Zeit, Raum
Eigenschaften, Ableiten der Gefühle,
Gedanken einer Figur und Thema strukturiert eine Geschich-
te und ist ein Hinweis für den Leser,
Tagebuch, Brief Schluss antizipieren Hypothesen bilden, Alternativen durch-
was zusammengehört und damit eine
spielen
Einheit bildet.
Nach der Lektüre eine Vorgeschichte einen plausiblen Zusammenhang zu Da Lesen und einzelne Aktivitäten
erfinden einer Ausgangssituation rekonstruie-
immer auch von den Zielen des Le-
ren
sers, der gesamten Lesesituation, der
aus der Perspektive Beziehungen zwischen Figuren her- Textsorte und den Anforderungen des
einer anderen Figur stellen und Inneres ableiten
Textes abhängen, besteht ein weiteres
erzählen
strategisches Verhalten in der Anpas-
sung des Lesers an die Erfordernisse
lungsschritten und in welcher Abfolge liche Wege in der Durchführung von einer Situation, der Aufgabe und des
er Aufgaben durchführt. Für die je- Aufgaben durchlaufen werden mit Textes (kognitive Flexibilität). Diese
weiligen Ziele, die mit einzelnen Lese- dem Ergebnis divergierender Textver- Flexibilisierung des Leseverhaltens
aufgaben verbunden sind, entwickelt ständnisse. wird durch Einüben von Leseformen
er Strategien, um zu einer optimalen Das Zerlegen von Aufgaben korreliert entwickelt. Die bekannten Lesefor-
Lösung zu gelangen. Jeder Leser wen- mit Teilkompetenzen, die der Leser men sind: das selegierende Lesen, bei
det wiederum eigene Strategien an, so für die Bewältigung von Leseaufgaben dem gezielt nach einer Information
dass von Leser zu Leser unterschied- erbringen muss. Für Schlussfolge- gesucht wird, detailliertes Lesen, bei

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dem jede Einzelheit betrachtet wird, Strategien Aufgaben/Fragen
das überfliegende Lesen, das dem
Erfassen des wesentlichen Inhaltes Nutzen von Titel- Was könnte der Titel „Nachtvogel“ bedeuten? Worum geht
gilt, und das orientierende Lesen, bei informationen es wohl in der Geschichte?
dem sich der Leser einen Überblick
Selektivität Unterstreiche die wichtigsten Wörter (maximal 10-12). Z.B.:
verschaffen möchte4.
ein Junge - Angst - nachts - allein - Nachtvogel - Schnabel
- Scheibe - Blumenvase - schleuderte - Eltern - verstanden
Zusammengefasst gibt es folgende nicht - vertrieben.
Lesestrategien, die sich im Unterricht Alternativ können Schlüsselwörter vorher auf einer Karte
einzeln oder in Kombination einüben notiert werden und die Schüler müssen sie in eine Reihenfol-
lassen: ge bringen. Als Test kann eine Zusammenfassung erstellt
werden.
Lesestrategien Inferenzen
1. Selektion von wichtig/nebensäch- Innere Gefühle Wie fühlt sich der Junge?
lich Warum hat der Junge Angst?
Ursachen
2. Bilden übergeordneter Kategorien;
Zusammenfassen eines Textes Innere Reaktion Wie reagiert der Junge auf seine Situation und seine Angst?
3. Nutzen von Bild-/Titelinformatio- Motive Warum wirft der Junge die Blumenvase gegen die Scheibe?
nen Folgen eines Warum kommt der Vogel nicht wieder?
4. Antizipieren Ereignisses Was bedeutet das für den Jungen?
5. Inferenzen ziehen (lokal-global)
Ursachen Warum hat der Junge am Ende keine Angst mehr?
6. Hintergrundwissen einbringen
7. Gliedern eines Textes in funktionale Reaktionen Wie verhalten sich die Eltern gegenüber der Angst des
Einheiten Jungen?
8. Kognitive Flexibilität Thema Worum geht es in der Geschichte?
Hintergrundwissen
Zur Veranschaulichung werde ich jetzt Wo sind die Eltern? Warum lassen sie den Jungen allein?
Kenntnisse über El-
an einem einfachen Text die Anwen- tern und ihr Verhal-
dung und mögliche Kombination von ten, abends auszu-
Lesestrategien aufzeigen: Der Nacht- gehen und Kinder al-
vogel von Ursula Wölffel (s. Anlage leine zu Hause zu las-
1)5. sen (ein kulturspezi-
fisches Verhalten),
Um einem Missverständnis vorzubeu- einbringen.
gen: Diese Strategien und Aufgaben
sind als Abbild von inneren kogniti-
sind folgende Anweisungen: (Brown et al. 1981), da die Strategien
ven Vorgängen und Teilkompetenzen
Schau dir Titel und Illustration genau nicht bewusst gemacht und in ihrer
und somit als Grundlage für die Un- an. Worum könnte es in der Geschichte Funktion erklärt werden. Um Trans-
terrichtsplanung zu verstehen, nicht gehen? ferleistungen zu ermöglichen, müss-
jedoch als Entwurf für unterrichtli-
ten Lesestrategien nicht nur einge-
ches Vorgehen. Wie die Teilkompe- Oder die folgende Anweisung, die führt und geübt werden, sondern in
tenzen aufgebaut und entwickelt wer- der Identifikation von gleichen Refe- ihrer Wirkungsweise und ihrem Nut-
den können, ist eine methodische Fra- renzen dient: zen für die Bewältigung von Aufga-
ge, für die gilt, was oben schon in Lies den Text. Unterstreiche alle Wör- ben erklärt werden, z. B.:
Bezug auf den Text von M. Pressler ter, die sich auf dieselbe Person bezie- Titel und Illustration eines Romans/
gesagt wurde, dass auch kreative Ver- hen. einer Geschichte geben dir Hinweise
fahren geeignet sind. darauf, worum es in einem Roman ge-
Seit der Entdeckung der Bedeutung Derartiges Üben von Lesestrategien hen könnte. Dadurch wird ein Ver-
von Lesefähigkeit und Lese-/Lern- ist zwar im ersten Moment erfolg- ständnishorizont geschaffen, der das
strategien im Fremdsprachenunter- reich, jedoch findet kein automati- Verstehen erleichtert.
richt in den 1980er Jahren haben eine scher Transfer von Strategien auf an-
Reihe von Lesestrategien Eingang in dere Leseaufgaben und Texte statt. Es Indem Strategien in ihrem Wozu und
die Lehrmaterialien gefunden. Typisch handelt sich um ein blindes Training Weshalb erklärt werden, erhält der

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Leser Einblick in sein eigenes Lesen mittelt werden. Der Andere (Schüler den und systematisch strukturierten
und erkennt Gründe und Bedingun- oder Lehrer) ist die Instanz, die bei Leseunterricht zu entwickeln. Das Er-
gen seines jeweils verschiedenen Verstehensproblemen kritisch zurück- arbeiten von Texten erfolgt dabei stets
Leseverhaltens. Er wird in Distanz zu fragt, so dass ein Lerner seine Deu- in enger Verbindung zur Spracharbeit,
seinem Lesen gebracht und zu einer tungshypothese zu einem Text oder muss jedoch auch eingebettet werden
Reflexion über den eigenen Lesepro- seine Zusammenfassung korrigieren in weiterführende mündliche wie
zess veranlasst. Das Wissen über das muss. Ein ergänzendes Verfahren be- schriftliche Interaktionen. Das eigent-
eigene Lesen und Verstehen kann wie- steht darin, explizit metakognitive liche Ziel bleibt letztendlich, fremd-
derum produktiv für die Verbesse- Strategien bereitzustellen und auch sprachige Texte verstehen zu lernen
rung von Lesefähigkeiten genutzt deren Anwendung in Kooperation mit und damit einen Verstehenszugang
werden. Dabei geht der Leser von der anderen Lernern zu erproben: zu einer anderen Welt zu öffnen.
primären Ebene des Lesens auf eine
metakognitive Ebene – ein Schritt,
Wie lerne ich lesen?
den ich abschließend erläutern werde.
1. Planen Leseziel: Was will ich wissen?
Schritte überlegen, wie man zum Ziel gelangt.
2. Kontrolle Das eigene Verstehen überprüfen. Habe ich verstanden oder nicht?
Metakognitive Strategien Wenn nicht, dann wähle ich eine andere Lesestrategie aus.
Während kognitive Lesestrategien di- 3. Steuerung Worin besteht die Aufgabe? Wie kann ich meine Lesetätigkeit an
rekt am Lernmaterial Anwendung fin- die Anforderung der Aufgabe anpassen? Wie viel Zeit brauche ich
den, dienen metakognitive Strategien und wie intensiv muss ich den Text lesen?
der bewussten Kontrolle und Steue- 4. Überprüfen Ich bewerte das Endergebnis und überprüfe, ob mein bisheriges
rung von kognitiven Prozessen. Zu den Leseverhalten effektiv war.
Strategien, die den eigenen Lese-/Ver-
stehensprozess regulieren, gehören:
• Ziel bestimmen; Solche Strategien und Eigenbeobach- Anmerkungen
1
• Planen, wie und durch welche Hilfs- tungen gehören in den Bereich der Im angelsächsischen Sprachgebrauch hat sich
die Abkürzung L1 für first language und L2 für
mittel ein Ziel erreicht werden kann; Lernen-zu-Lernen-Fähigkeiten, die second language durchgesetzt, bei der nicht
• Konzentration auf Hauptgedanken, vor allem in Lern- und Studiersitua- zwischen Zweit- und Fremdsprache unterschie-
außer Acht lassen von Nebensäch- tionen gebraucht werden. Im schuli- den wird. Aus Gründen der Einfachheit ver-
lichem; schen Kontext sind sie hilfreich als wende ich diese Abkürzung hier, beziehe mich
bei L2 jedoch stets auf das Lesen in der Fremd-
• Prüfen, ob bisher alles verstanden Teil eines Leseförderprogramms für sprache.
wurde; leseschwache Schüler, jedoch sollten Beim Lesen in der Zweitsprache, insbesondere
• Gegebenenfalls zurückgehen, die sie nicht isoliert trainiert werden. Vor- bei Migrantenschülern, werden verstärkt so-
kritische Stelle noch einmal lesen; rang hat immer die Auseinanderset- ziale, pädagogische und ökonomische Kompo-
nenten wirksam. Wie Lesen und Sozialfaktoren
• Oder weiter lesen und versuchen, zung mit den Gegenständen selbst, und zusammenhängen, ist ein äußerst komplexes
aus dem Späteren heraus die Stelle nur in Kombination mit ihnen ma- Thema und kann daher im Rahmen dieser Aus-
zu interpretieren; chen metakognitive Aktivitäten Sinn. führungen nicht behandelt werden.
2
• Identifizieren von Verständnispro- Abschließend möchte ich noch einmal J. Cummins (1979) hat diese These vor allem
entwickelt.
blemen; betonen, dass die Zerlegung einer über- 3
Diese Schwerpunktsetzung hängt damit zu-
• Innehalten, bestimmen, was man greifenden fremdsprachlichen Lese- sammen, dass ich als Zielgruppe nicht den
weiß und wissen möchte; kompetenz in Teilkompetenzen ein beginnenden Lerner vor Augen habe und dass
• Fragen stellen zum Text; Instrumentarium für den Lehrer dar- Schlussfolgerungen in der fremdsprachlichen
Lesedidaktik zu wenig Beachtung gefunden
• Prüfen, ob aus dem Text Antworten stellt, um gezielt Lesefördermaßnah- haben, so dass kaum Operationalisierungen
zu gewinnen sind; men ergreifen zu können. Die Lei- vorliegen. Eine Ausnahme bildet die frühe Ar-
• Prüfen, ob Vermutungen zutreffen; stung des Lehrers besteht darin, geeig- beit von F. Grellet (1981).
4
In der Fachliteratur gibt es eine unter-
• Bei falschen Hypothesen prüfen, nete Texte zu finden, um fremdspra- schiedliche Terminologie für das Leseverhalten.
wo der Fehler liegt. chige Lesekompetenzen aufzubauen, Ich lege die hier genannte zugrunde.
Lesefreude zu vermitteln, der Subjekti- 5
Die Geschichte von U. Wölffel wird in der
Solche Prozesse der Planung und Über- vität des Lerners Raum zu geben, ohne Fremdsprachendidaktik häufig eingesetzt. Ich
greife auf diesen Text zurück, da es hier um
wachung des eigenen Leseverstehens wiederum das Verstehen in Beliebig- eine exemplarische Analyse der Anwendung
können im Unterricht durch dialogi- keit zerfallen zu lassen, und eine me- von Lesestrategien und der Entwicklung von
sche und kooperative Lernformen ver- thodische Vielfalt für einen anregen- einzelnen Kompetenzen geht.

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Anlage 1

Der Nachtvogel
Ein Junge hatte immer große Angst, wenn er nachts allein in der Wohnung
sein mußte. Seine Eltern gingen oft am Abend fort.
Dann konnte der Junge vor Angst nicht einschlafen. Er hörte etwas rau-
schen, und das war, als ob jemand im Zimmer atmete.
Er hörte ein Rascheln und ein Knacken, und das war, als ob sich etwas unter
seinem Bett bewegte.
Aber viel schlimmer war der Nachtvogel.
Der Junge sah ihn immer ganz still draußen auf der Fensterbank sitzen, und Mary Cassatt, Nurse reading to a little girl.
wenn unten ein Auto vorüberfuhr, schlug der Vogel mit den Flügeln, und der
Junge sah den riesigen Schatten von den Flügeln an der Zimmerdecke.
Der Junge erzählte seinen Eltern von der Angst. Primarliteratur
Aber die sagten nur: „Stell dich doch nicht an! Du bildest dir das alles nur ein.“ PRESSLER, Mirjam (1989): Ursula und Conny
Und sie gingen immer wieder am Abend fort, wenn sie den Vogel nicht sehen ist ein Auszug aus der Geschichte „Samt und
Steine“, in: WESTHOFF, H. (Hrsg.): Die
konnten, weil sie das alles nicht glaubten. schönsten Freundschaftsgeschichten. Ravens-
Einmal war der Junge wieder allein, und es schellte an der Wohnungstür. burg, Maier.
Der Junge wurde steif vor Angst. WÖLFEL, Ursula (1993): Der Nachtvogel, in:
Die grauen und die grünen Felder. Ravensburg,
Wieder schellte es. Maier.
Es schellte und schellte.
Dann war es still, lange Zeit war es ganz still. Dann kratzte etwas an der Sekundärliteratur
Hauswand. Das war der Vogel! Jetzt kletterte er mit seinen Krallen an der ALDERSON, J. Ch.(1984): Reading in a For-
Mauer hoch. Jetzt war er an der Fensterbank. Und jetzt schlug er mit seinem eign Language: A Reading Problem or a Lan-
Schnabel an die Scheibe! Einmal, zweimal, immer wieder, immer lauter, und guage Problem? in: ALDERSON, J. Ch./
URQUHART, A. H. (eds.): Reading in a For-
gleich würde das Glas zerbrechen, gleich würde der Vogel ins Zimmer eign Language. London/New York, Longman.
springen! BROWN, A./CAMPIONE, J. C./DAY, J. D.
Der Junge packte die Blumenvase vom Tisch neben dem Bett. Er schleuderte (1981): Learning to learn: On training students
sie zum Fenster. to learn from texts. in: Educational Researcher
10, p. 14-21.
Das Glas zersplitterte. Wind fuhr ins Zimmer, daß der Vorhang hoch an die CUMMINS, J. (1979): Linguistic interdepend-
Wand schlug. Und der Vogel war fort. ence and the educational development of bilin-
Auf der Straße unten hörte der Junge seine Eltern rufen. gual children. in: Review of Educational Re-
search 49, p. 222-251.
Er rannte auf den Flur, er fand im Dunkeln sofort den Lichtschalter und den EHLERS, S. (1998): Lesetheorie und fremd-
Knopf vom Türöffner. Er riß die Wohnungstür auf und lief den Eltern sprachliche Lesepraxis aus der Perspektive
entgegen. des Deutschen als Fremdsprache. Tübingen,
Er lachte, so froh war er, daß sie da waren. Aber sie schimpften. Ihre schönen Narr.
EHLERS, S. (2001): Übungen zum Lese-
Ausgehkleider waren naß vom Blumenwasser. verstehen. in: BAUSCH, R. et al. (Hrsg.): Hand-
„Was soll den das wieder heißen?“ fragte der Vater. „Jetzt ist die Scheibe buch des Fremdsprachenunterrichts. Berlin,
kaputt!“ de Gruyter, p. 286-292.
GRAESSER, A.C./SINGER, M./TRABASSO,
„Und mein Mantel! Sieh dir das an!“ rief die Mutter. „Der Nachtvogel war T. (1994): Constructing inferences during nar-
am Fenster“, sagte der Junge. „Der Nachtvogel hat mit seinem Schnabel ans rative text comprehension. in: Psychological
Fenster gepickt.“ – „Unsinn!“ sagte der Vater. „Wir hatten den Schlüssel Review 101, p. 371-395.
vergessen, und du hast das Schellen nicht gehört. Darum haben wir mit einer GRELLET, F. (1981): Developing Reading
Skills. A practical guide to reading comprehen-
Stange vom Bauplatz an dein Fenster geklopft.“ sion exercises. Cambridge, CUP.
„Es war der Nachtvogel, wirklich!“ sagte der Junge. „Der Nachtvogel war es!“
Aber die Eltern verstanden das nicht. Sie gingen immer wieder am Abend
fort und ließen den Jungen allein.
Er hatte immer noch Angst, er hörte immer noch das Rauschen und Rascheln Swantje Ehlers
und Knacken. Aber das war nicht so schlimm. ist Professorin für Didaktik der deutschen Spra-
Denn der Nachtvogel kam nie mehr wieder, den hatte er vertrieben. Er che und Literatur an der JLU-Gießen. Zu ihren
Forschungsschwerpunkten gehören: Lesen in
selbst hatte ihn vertrieben, er ganz allein. der Erst-/Zweitsprache, Mehrsprachigkeit,
(Ursula Wölfel)
Lesebuch, Literaturdidaktik.

38 Babylonia 3-4/06 www.babylonia.ch

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