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sprachigkeit 62).
Die Ursachen für die genannten begriffli-
chen Unklarheiten liegen mit Blick auf den
1. Problemaufriss: allgemein genuinen Wirklichkeitsbereich des Lehrens
Formen der Zwei- und Mehrsprachigkeit und Lernens fremder Sprachen in der Kom-
prägen in unseren modernen Gesellschaften plexität der Sache selbst, wobei die folgenden
die „lebensweltliche“ (Gogolin 2004), die in- Aspekte besonders relevant sind:
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60. Formen von Zwei- und Mehrsprachigkeit
b) die maximalen Zwei- und Mehrsprachig- tive und qualitative Defizite aufweisen, so
keitsformen, die sich auf Individuen bezie- dass in der Regel nur rudimentäre, auf
hen, die eine oder mehrere Fremdspra- den alltäglichen Lebensbedarf abgestellte
che(n) native like ,beherrschen‘ und wohl Kommunikationsabläufe stattfinden kön-
eher als idealisierte Zielgrößen denn als nen; die jeweiligen Defizite können nicht
Regelfall verstanden werden müssen. Dies nur alle Sprachebenen (v. a. jedoch Lexi-
gilt insbesondere für Fremdsprachenlern- kon und Morphosyntax), sondern auch die
kontexte, wenngleich sich Curricula und pragmatischen, affektiven und psycholin-
Lehrpläne häufig über den Lernzielbegriff guistischen Planungs- und Realisierungs-
der near nativeness an diese Idealisierung prozeduren betreffen.
anzunähern versuchen;
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c) die ausgewogenen oder symmetrischen Es ist evident, dass sich die aufgeführten Ty-
Zwei- und Mehrsprachigkeitsformen, mit pen nur unter Zugrundelegung eines Konti-
denen Individuen beschrieben werden, die nuums gegeneinander abgrenzen lassen; da-
z. B. für zwei Sprachen, bezogen auf alle bei ist festzuhalten, dass bisher lediglich die
möglichen Kommunikationstexte, einen ausgewogene bzw. symmetrische Zweispra-
(ungefähr) gleichgewichtigen Sprachstand chigkeit intensiver diskutiert worden ist, wo-
erlangt haben und die zusätzlich in der bei v. a. in den 1970er Jahren die Existenz
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Lage sind, diesen ambilingualen bzw. äqui- von tatsächlich ausgewogenen bilingualen
lingualen Sprachfertigkeitsgrad über einen Individuen bezweifelt wird, die ihre beiden
längeren Zeitraum in etwa konstant zu Sprachen in einer Vielzahl von Situationen
halten. Dieses Phänomen ist insbesondere gleichermaßen kompetent einsetzen können.
bei Kleinkindern zu beobachten, die in sog. Vielmehr wird es – ausgehend von empirisch
bilingualen Lebensgemeinschaften nach ermittelten Befunden – für realistisch gehal-
den Prinzipien des doppelten Erstspra- ten, dass die bilingualen Sprachfähigkeiten je
chenerwerbs erzogen werden; nach kommunikativer Intention bzw. Funk-
d) die dominanten oder asymmetrischen tion unterschiedliche Perfektionsstufen und
Zwei- und Mehrsprachigkeitsformen, mit Merkmale aufweisen und dass gleichzeitig
denen Individuen beschrieben werden, die jede der beiden individuellen Sprachkompe-
eine oder mehrere Fremdsprachen ,be- tenzen für sich genommen durch kontinu-
herrschen‘ und bei denen abwechselnd die ierliche Instabilität gekennzeichnet ist.
kommunikative Reichweite einer einzel- In einer zweiten Gruppierung werden Ty-
nen Sprache gegenüber der bzw. den an- pen zusammengefasst, die sich, je nach sozio-
deren größer oder kleiner wird; dabei kann kulturellem Kontext, sowohl auf Erwerbssi-
sich der Dominanzgrad häufig durch sozial tuationen als auch auf Fremdsprachenlern-
oder geographisch bedingte Mobilität ver- kontexte beziehen können, freilich auch auf
ändern. Diese Formen finden sich insbe- wechselseitig funktionierende Mischkontex-
sondere bei Migrantenpopulationen, die te; dabei gilt, dass der Leitbegriff der globalen
einzelne Sprachen erwerben und andere Sprachfertigkeit nunmehr durch sog. indivi-
simultan lernen; dualspezifische Orientierungskriterien (Lern-
e) die Semilingualismusformen, mit denen bzw. Erwerbsumfeld, kommunikative Ab-
Individuen beschrieben werden, die in al- sichten bzw. Ziele, Kommunikationspartner,
len ihren Sprachen – gemessen an jeweils gewählte Sprachenfolge etc.) ersetzt wird, so
monolingual kompetenten Personen – dass sich von hier aus die wichtigsten Typen
über längere Zeiträume hinweg quantita- wie folgt bestimmen lassen:
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a) die funktionalen Zwei- und Mehrspra- – der kombinierte Zwei- bzw. Mehrspra-
chigkeitsformen, die sich zum einen von chigkeitstyp, dessen Hauptmerkmal darin
den individuellen Kommunikationsinten- liegt, dass für eine gemeinsame Bedeu-
tionen (mit wem, mit welcher Absicht, tungsebene (compound level) zwei verschie-
wann, wo, mit welcher Sprache?) und zum dene sprachliche Kodierungssysteme men-
anderen von den einzusetzenden Sprach- tal gespeichert werden; als Standardtyp
produktions- und -rezeptionsverfahren hierfür wird im Allgemeinen das Lernen
her (welche Teilkompetenzen setze ich von Fremdsprachen in schulischen Situa-
z. B. in welcher Situation, einem bestimm- tionen, und zwar auf der Basis des jewei-
ten Adressaten gegenüber ein?) bestimmen ligen erst- bzw. muttersprachlichen Um-
lassen. Konzepte der funktional ausgeleg- felds angesetzt;
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ten Zwei- und Mehrsprachigkeit haben in – der koordinierte Zwei- bzw. Mehrspra-
der Vergangenheit das Lehren und Lernen chigkeitstyp, dessen Hauptmerkmal darin
fremder Sprachen im Kontext der sog. besteht, dass die jeweiligen Sprachen in ih-
fertigkeitsorientierten Kursentwicklungen rer Gesamtheit völlig voneinander ge-
v. a. im nordamerikanischen Raum erheb- trennt als sog. coordinate systems mental ge-
lich beeinflusst. Hierbei spielt die nach wie speichert sind; die Palette der hierfür in
vor kontrovers geführte Auseinanderset- Frage kommenden Erwerbs- und Lern-
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zung über Vor- und Nachteile der Ausbil- kontexte ist hierbei sehr viel breiter ausge-
dung von funktionalen, kulturellen und legt als beim kombinierten Typus. In jedem
v. a. kritischen Lese- und Schreibfertigkei- Fall wird jedoch davon ausgegangen, dass
ten, d. h. also von biliteracies, eine beson- dieses Bilingualitätskonzept dem sog. true
dere Rolle; dies trifft insbesondere auf den bilingual zugrunde liegt, der z. B. in der
allgemeinen schulischen Fremdsprachen- Lage ist, die eine Sprache (z. B. Türkisch)
unterricht zu. Zusätzlich gehört in diesen mit seinen Eltern und die andere (z. B.
Kontext die für das Lehren und Lernen Deutsch) funktional getrennt im berufli-
fremder Sprachen generell wichtige und chen Umfeld zu benutzen.
unmittelbar einschlägige Diskussion über
c) Zwei- und Mehrsprachigkeitsformen, die
produktive Zwei- bzw. Mehrsprachig-
sich ausgehend vom Faktor Alter ausdif-
keitsformen einerseits, bei denen alle Teil-
ferenzieren lassen (vgl. allgemein zum Fak-
kompetenzen in ausgewogener Weise aus-
tor Alter Art. 52). Hierher gehören insbe-
gebildet sind, und über rezeptive Formen
sondere die folgenden Typen:
andererseits, bei denen die Sprachfähigkeit
– die frühkindlichen Bilingualismusformen ,
bewusst und gezielt auf das Hör- und/oder
bei denen in der Regel nach dem ganzheit-
Leseverstehen eingegrenzt wird.
lich ausgelegten Erziehungsprinzip „une
b) Zwei- und Mehrsprachigkeitsformen, die personne – une langue ” ein doppelter Erst-
sich von der Art ihrer mentalen Repräsen- sprachenerwerb aufgebaut wird (hierzu
tation, d. h. von der Art ihrer Speicherung exemplarisch Kielhöfer & Jonekeit 1998);
im Gehirn des bi- bzw. multilingualen In- – die konsekutiv-additiven oder sukzessiven
dividuums, her bestimmen lassen. Hierher Zwei- und Mehrsprachigkeitsformen, die
gehören insbesondere die beiden folgen- insbesondere für monokulturelle Erwerbs-
den klassischen Typen, die jedoch lediglich und Lernkontexte die Regel darstellen und
als abstrakte Konstrukte zu betrachten in denen, bedingt durch ministeriell vorge-
sind: gebene Sprachenfolgeregelungen für die
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Ingelore Oomen-Welke
zieht und deren genuines Ziel auf die Ausbil- Landesinstitut für Schule und Weiterbildung,
dung von ,echten‘ Mehrsprachigkeitsprofilen Hrsg. (1997/1998/1999): Wege zur Mehrspra-
gerichtet wird (vgl. Meißner & Reinfried chigkeit, Informationen zu Projekten des sprach-
1998; Landesinstitut für Schule und Weiter- lichen und interkulturellen Lernens 1–4. Soest.
bildung 1998; Bausch 2001; Hu 2003; Marti- Landesinstitut für Schule und Weiterbildung,
nez 2015). Hrsg. (1998): Auf der Suche nach dem Sprach-
lernabenteuer. Neue Wege beim Lehren und Ler-
nen der dritten Fremdsprache. Bönen.
Literatur Martinez, H. (2015): Mehrsprachigkeitsdidak-
tik: Aufgaben, Potenziale,und Herausforde-
Bahr, A. / Bausch, K.-R. / Helbig, B. / Kleppin, rungen. Fremdsprachen Lehren und Lernen
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