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2 Komposition 127
Weitere Transpositionsarten des Substantivs (wie Käse > Käserei) werden bei
den einzelnen Suffixen behandelt (¢ 2.3).
2.2 Komposition
2.2.1 Grundsätzliches
1) ,agentiv‘
,A tut B‘: Ärztetagung, Zugabfahrt.
A bezeichnet den Handlungsträger des Geschehens in B.
2) ,thematisch‘
,A wird von B hervorgebracht bzw. ist von der Handlung in B betrof-
fen‘: Obstverkäufer, Kohleabbau, Friedenssehnsucht
A bezeichnet den vom Geschehen erzeugten oder betroffenen Gegen-
stand, das „Thema“ von B. Syntaktisch entspricht A einem akkusativi-
schen oder präpositionalen Komplement: etwas verkaufen, abbauen;
Sehnsucht nach etwas haben.
3) ,zugehörig‘
A besetzt eine semantische Leerstelle, die B eröffnet: Professorensohn,
Fußballfan.
1) ,lokal‘
1.1) ,B befindet sich in A‘: Bankguthaben, Gartenbeet
1.2) ,B vollzieht sich in A‘: Büroarbeit
1.3) ,B stammt von A‘: Land-, Seewind
1.4) ,B führt zu A‘: Kellertreppe
2) ,temporal‘
,A ist Zeitpunkt/Zeitraum, an dem B stattfindet/für den B gilt‘: Morgen-
frühstück, Monatsplan, Tagesfahrt
3) ,final‘
,A gibt an, wofür B geeignet/bestimmt ist‘: Strandanzug, Fensterglas,
Damenkleid
4) ,kausal‘
4.1) ,B verursacht A‘: Tränengas
4.2) ,A gibt Ursache/Herkunft vonB an‘: Schmerzensschrei, Bienenhonig
5) ,komparativ‘ (¢ 2.2.2.3.2)
5.1) ,B gleicht/ist wie A‘: Patchworkfamilie
5.2) ,A gleicht/ist wie B‘: Beifallssturm
6) ,possessiv‘
,A ist Besitzer von B‘: Gemeindewald
142 2 Wortbildung des Substantivs
7) ,partitiv‘/,adhäsiv‘,
7.1) ,A hat B‘: Buchrücken, Vereinsmitglied
7.2) ,B hat A‘: Henkelkorb, Rahmenerzählung
8) ,instrumental‘
,B funktioniert mithilfe von A‘: Handbremse
9) ,material‘
,B besteht aus A‘: Lederschuh
10) ,konstitutional‘ (DWb 4, 128)
,A ist Bestandteil von B‘: Blumenstrauß
11) ,graduierend‘
,A graduiert (vergrößert bzw. verkleinert) B‘: Riesenskandal, Zwerghuhn
12) ,explikativ‘
B bezeichnet den Oberbegriff zu A:
,B ist A‘: Auswertungsverfahren, Erziehungsprozess (¢ 2.2.2.3.4[6]).
Wegen des hohen Abstraktionsgrades von B „nähern sich diese Bildun-
gen in unterschiedlichem Maße der Derivation mittels Suffixen an.“
(Eichinger 2000, 77).
2.2.2.3.2 Metaphern
Komposita mit metaphorischen Erscheinungen, „Komposit(ions)meta-
phern“, sind differenziert zu betrachten (vgl. auch Käge 1980, 39ff.; DWb 4,
194ff.). Wir unterscheiden folgende Typen.
1) Komposita wie Augenblick ,Moment‘ und Fuchsschwanz ,Handsäge‘,
Geldsack ,reicher, geiziger Mann‘ sind als Ganzes metaphorisiert („kompa-
rativ-exozentrisch“, Ortner/Ortner 1984, 158ff.) und in dieser Hinsicht me-
taphorischen Simplizia gleichgestellt. Im Unterschied zu diesen bietet die
komplexe Formativstruktur der Wortbildung aber spezielle Möglichkeiten
der Remotivation (¢ 1.5.4.1), vgl. den Titel einer Keramik-Ausstellung Au-
gen-Blick (PDW 2005).
2) In Komposita wie Informationsflut, Kostenlawine, Reisewelle („kompa-
rativ-endozentrisch“, Ortner/Ortner 1984, 58; ¢ 2.2.2.3.1[5]) oder okkasi-
onell Insolvenz-Tsunami (in der Wirtschaft, LVZ 2010), Tomatenzwerge (Wer-
bung 2010) ist das Erstglied der Bildempfänger, das Zweitglied der Bildspen-
der. Das Zweitglied nennt eine Vergleichsgröße, die jedoch nicht die
Bezugsgröße darstellt (deshalb „endozentrisch“). Das Erstglied kann – dann
ohne metaphorisch-expressive Charakteristik – für das Ganze stehen, was für
Determinativkomposita bekanntlich ungewöhnlich ist. Wenn entsprechen-
de Komposita lexikalisiert sind, tendieren die metaphorischen Zweitglieder
zu starker Kompositionsaktivität (Ausgaben-, Brief-, Verpackungsflut; An-
2.2 Komposition 143
2.2.2.3.3 Augmentation
Mit den Metaphern berühren sich Modelle mit Riesen-, Heiden-, Spitzen-
u.a., die verstärkenden Präfixderivaten mit ur-, erz-, hyper- usw. nahekom-
men. Von unserer früheren Auffassung abweichend, ordnen wir diese Mo-
delle nunmehr in die Komposition ein.
Augmentativa charakterisieren ihre Referenten als (in Bezug auf einen
Standard) besonders groß, riesig bzw. wichtig, oft verbunden mit einer po-
144 2 Wortbildung des Substantivs
2.2.2.5 Kopulativkompositum
Kopulativkomposita (vgl. Paul 1920, § 7; Henzen 1965, 75ff.) unterscheiden
sich von Determinativkomposita dadurch, dass beide unmittelbaren Kon-
stituenten in einem koordinierenden Verhältnis stehen (¢ 1.8.1.1). Damit
hängen weitere Merkmale zusammen:
Die unmittelbaren Konstituenten sind ohne prinzipielle semantische Ver-
änderung umstellbar, auch wenn das nicht in jedem Fall sprachüblich ist,
weil die Reihenfolge konventionalisiert ist: Pulloverjacke – Jackenpullover,
Strumpfhose – *Hosenstrumpf.
150 2 Wortbildung des Substantivs
2.2.3.1 Formativstrukturen
Die Kombinationen mit adjektivischem Erstglied sind stärker beschränkt
(nach Wellmann 1998, 488 machen entsprechende Komposita im Innsbru-
cker Korpus weniger als 10 % aus).
1) Üblicherweise wird ein adjektivisches Simplex verwendet: Hochbahn,
Kleinreparatur, Leerkilometer. Adjektive mit fakultativer -e-Endung (blöd/e,
mürb/e, öd/e) bevorzugen meist die Kompositionstammform ohne -e: Blöd-
mann, Mürbfleisch (aber Mürbeteig), Ödland.
Die Kompositionsaktivität der einzelnen Adjektive ist sehr unterschied-
lich. So finden sich im GWDS keine substantivischen Komposita mit adjek-
tivischen Erstgliedern wie albern, barsch, behände, brav, drall, dreist, feil, flink,
flott, forsch, klug, knapp, krank, krass u.v.a. Dies bedeutet allerdings keine
2.2 Komposition 153
Dass Komposita mit heikel, eitel, simpel, düster, finster, hager, heiser, heiter,
lauter, munter, sicher, teuer offensichtlich ungeläufig sind, hat demnach eher
Gründe, die in der Semantik und in mangelnder begrifflicher Relevanz,
nicht dagegen in der prosodischen Struktur liegen.
3) Morphologisch begründet ist wohl die Seltenheit von Komposita mit
adjektivischem Derivat als Erstglied, soweit es sich um Adjektive mit indi-
genem Derivationssuffix (-bar, -ig, -isch, -lich usw.) handelt. Bei der Bildung
einschlägiger substantivischer Komposita wird gewöhnlich auf die substan-
tivische Basis dieser adjektivischen Derivate zurückgegriffen: pflanzliche
Kost – Pflanzenkost, nicht *Pflanzlichkost, menschliches Herz – Menschenherz,
farbiger Druck – Farbdruck, eiserne Truhe – Eisentruhe, schulische Angelegen-
heiten – Schulangelegenheiten; zu Vater – väterlich vgl. Benzing 1968; vgl.
auch Kurzfrist-Analysen (statt kurzfristige Analysen, Der Spiegel 1989). Ent-
sprechend sind Komposita aus Teil- und Nomina Actionis als Zweitglied
meist durch adjektivisches teilweise + Substantiv paraphrasierbar (Teilauto-
matisierung – nach teilweiser Automatisierung; nicht aber Teilaspekt, -menge).
Eine Ausnahme bilden – neben Einzelfällen wie Chemischreinigung – die
Derivate von Volks- bzw. Ländernamen wie Englischhorn, Französischlehrer,
Russischunterricht (vgl. Wilmanns 1899, 514) – wobei allerdings das Erst-
glied meist als substantiviertes Adjektiv aufzufassen ist –, ferner Farbbe-
zeichnungen wie ein schönes Rötlichblond (auch als Konversion interpretier-
bar) und schließlich Fachausdrücke, besonders mit Adjektiven auf -ig:
Billigflug, -produkt, -tarif, -ware; Fertigarzneimittel, -beton, -gericht, -haus,
-produkt; Flüssiggas, -dünger, -gut; Niedriglohnländer, -empfänger, Niedrig-
wasser; vgl. auch Endlosband, -formular, -moräne, -bauweise.
Bei Verwendung des Bindestrichs ist eine großzügigere Koppelung zu
finden: Farbig-Grafik wäre wohl möglich.
Substantivische Konversionen von flektierten Adjektiven auf -ig, -lich
u.Ä. sind als Erstglieder in der Kompositionsstammform auf -n durchaus
üblich, vgl. Freiwilligenarbeit, -jahr, -projekt (Internet 2010), Sachverständi-
gengutachten.
Sehr geläufig sind als Erstglieder adjektivische Derivate mit einigen
Fremdsuffixen wie -al (Kapitalverbrechen, Kolossalgemälde), -ar/-är (Elemen-
tarunterricht, Sekundärrohstoff), -at (Privatbesitz, Separatdruck) und -iv
(Exklusivbeitrag, Intensivkurs). Dies gilt dagegen nicht für Adjektive auf
-abel/-ibel (komfortabel, disponibel), -ant/-ent (amüsant, konsequent), -esk
(grotesk), -os/-ös (rigoros, skandalös). Auch das Adjektiv modern ist als Erst-
glied nicht kompositionsaktiv (wohl aber derivationsaktiv: Modernität, mo-
dernisieren). Mit Adjektiven auf -it gibt es einzelne geläufige Fachwörter wie
Indefinitpronomen, Infinitkonstruktion.
2.2 Komposition 155
2) Ein besonderes Problem stellt die bereits erwähnte enge Berührung von
Substantiv- und Verbstamm dar. Sie besteht zunächst darin, dass in nicht
wenigen Komposita formal wie semantisch sowohl ein substantivisches als
auch ein verbales Erstglied vorliegen kann, in diesem Sinn Doppelmotiva-
tion gegeben ist: Reisezeit – Zeit für Reisen oder Zeit, in der jmd. reist. Die
gleiche Form kann in einem Kompositum als Verbstamm, in einem anderen
als Substantivstamm aufzufassen sein: Mietausfall, -preis (Miete) – Mietauto,
-wagen (mieten), Kochmütze (Koch) – Kochrezept, -salz (kochen). In Kien-
pointners Korpus von 6500 Wortbildungen ist das Verhältnis derartiger
Doppelmotivationen zu den eindeutig verbal motivierten immerhin – je
nach den unterschiedlichen semantischen Modellen – 1 : 3, 1 : 2 oder gar
1 : 1 (Kienpointner 1985, 193).
Die Möglichkeit der Doppelmotivation ist in den folgenden Beispielen
daher nicht immer auszuschließen. Maßgebend bleibt, dass die Beispiele
nach dem allgemeinen Strukturmodell Verbstamm + Substantiv gebildet
werden (bzw. worden sein) können. Die Feststellung der Doppelmotivation
ist eine Sache der Analyse, der Interpretation.
Die Berührung von substantivischem und verbalem Erstglied zeigt sich
auch noch in anderer Weise. Erstglieder der gleichen Wortfamilie können als
deverbaler Substantivstamm wie auch als Verbstamm nebeneinander fun-
gieren: Zugvogel – Ziehkind, Schussfeld – Schießplatz, Bandeisen – Bundpfahl
,verbindender Pfahl‘ – Bindfaden, Griffloch ,Flötenloch‘ – Greifvogel. Die
morphologisch unterschiedlichen Erstglieder können z.T. sogar mit dem
gleichen Zweitglied ohne wesentlichen Bedeutungsunterschied kombiniert
werden: Schiebkarre – Schubkarre, Treibrad – Triebrad, Ziehbrücke – Zug-
brücke.
Die grammatische Differenzierung zwischen Substantiv und Verb ist für
die Erstgliedposition in der Komposition irrelevant; maßgebend ist die se-
mantische Nähe der Stämme (vgl. auch Fundmunition ,gefundene Muniti-
on‘, was semantisch eher an das Verb anzuschließen ist).
In ähnlicher Weise kann der Verbstamm teilweise mit deverbalen -ung-
Derivaten als Erstglied konkurrieren, vgl. Heilprozess – Heilungsprozess, Ab-
schreck(ungs)maßnahme, Misch(ungs)verhältnis, Überhol(ungs)möglichkeit,
Bedien(ungs)komfort, -anleitung. In der Geläufigkeit des einen oder anderen
Typs sind historische Verschiebungen möglich. Bis ins 18. und 19. Jh. begeg-
nen noch Ankleidungszimmer, Bewegungsgrund, Deutungskraft (Paul 1920,
§ 18, Anm. 1).
2.2 Komposition 161
2.2.4.2 Formativstrukturen
Steht die Erweiterung vor dem Verbstamm, liegt als erste unmittelbare Kon-
stituente ein Syntagma vor (¢ 2.2.9.2): Leisesprech telefon, Lasthebe magnet,
Brötchenback linie, Schrotthole dienst, Spritspar- Auto u.a. Steht die Erwei-
terung nach dem Verbstamm, handelt es sich dagegen um ein Kompositum
aus zwei Substantiven: Fahrschein verkauf.
Wortbildungen wie Beton mischmaschine, Qualitäts trinkmilch sind zu er-
klären als Kompositum aus zwei Substantiven; erst die zweite unmittelbare
Konstituente enthält als Erstglied einen Verbstamm.
5) In manchen Fällen ist das simplizische verbale Erstglied auf ein kom-
plexes, meist linkserweitertes Verb mit einer spezifischen (gekürzten) Kom-
positionsstammform zurückzuführen: Lösegeld zu auslösen, Rieselfeld zu be-
rieseln, Flammpunkt zu entflammen, Zerrbild zu verzerren. In ähnlicher
Weise sind wohl manche Wortbildungen mit Schad- an (be)schädigen anzu-
schließen: Schadfraß, -holz.
Menschen gegeben ist, der das „Instrument“ handhabt, bedient, ohne ex-
plizit genannt zu sein (zur Differenzierung und möglichen „Überlappun-
gen“ vgl. auch Kienpointner 1985, 56 f).
3) ,passivisch‘
3.1) ,A wird mit B getan‘, meist ,habituell‘: Ausbringmenge, Ein-
schreib(e)brief, Leihverpackung, Umhäng(e)tasche. – Der Unterschied zu 1)
besteht darin, dass B nicht das Mittel der Handlung bezeichnet, sondern das
affizierte (von der Handlung betroffene) Objekt.
3.2) ,A ist mit B getan worden‘ (,präterital-passivisch‘): Bratapfel, -hering,
-kartoffeln, Mischgemüse, Räucheraal, Setzei, Spritzkuchen, Strickmütze, Well-
fleisch (wellen ,zum Wallen bringen, aufkochen‘), Spargeld; sowohl 3.1) als
auch 3.2) Reibekäse, Schlagsahne.
4) ,referenziell‘ (DWb 4, 132)
,A ist thematischer Bezugspunkt von B‘: Bohrkapazität, Durchhaltefilm, Er-
zähl-, Maltalent, Sehvermögen.
5) ,lokal‘
,B ist Ort/Raum für A‘: Anlegeplatz, Bastelraum, Impfstelle, Kochecke, Plansch-
becken, Schaltzentrale, Verladestation. Eine „direktionale“ Komponente er-
scheint in seltenen Fällen wie Fliehburg (Kienpointner 1985, 116).
6) ,explikativ‘ (Kienpointner 1985, 160ff.; auch: ,verdeutlichend‘, DWb 4,
174)
,A expliziert B‘: Ausweichmanöver (,Manöver, das darin besteht, dass jmd.
ausweicht‘), Absperrmaßnahme, Kletterpartie, Lesewut, Nachholbedarf, Ra-
tespiel, Schießübung, Schmelzprozess, Suchaktion. – Es bestehen Berührungen
mit 4), z. B. bei Dichtkunst und auch mit explikativen Substantiv-Substantiv-
Komposita wie Bildungsprozess (¢ 2.2.2.3.1).
7) ,temporal‘
,B gibt Zeitpunkt/-raum für A an‘: Backtag, Bedenkzeit, Sendetermin, Ver-
weildauer, Sterbestunde.
8) ,kausal‘
8.1) ,A erzeugt/verursacht B‘: Auffahrunfall, Denkfalte, Kratzwunde, Spritz-
eisbahn, Weinkrampf; doppelmotiviert: Schussverletzung.
8.2) ,B verursacht A‘: Lachreiz, Niespulver.
Als „Negationsform“ von ,kausal‘ bezeichnet Kienpointner (1985, 135) den
Typ Beißkorb ,B ist Ursache für Nicht-A‘, wozu auch Gleitschutz, Scheuklappe
(bei Ortner/Ortner 1984, 146 als „prohibitiv“ gesondert gestellt); mit Erwei-
terung durch Anti-: Antiklopfmittel, Antirutschmaterial, Antitropfautomatik.
9) ,modal‘
,B hat A als Modus‘: Laufschritt, Polterabend, Stehbankett.
164 2 Wortbildung des Substantivs
Dass sich nicht alle Wortbildungen ohne Weiteres den genannten Modell-
bedeutungen zuordnen lassen, muss ebenso in Kauf genommen werden wie
das Auftreten potenzieller Mehrfachzuordnungen.
2.2.7.1 Grundsätzliches
Im Vordergrund stehen hier die Wortbildungen mit präpositionalem Erst-
glied, die „systematisch ausgebaut“ sind (Wellmann 1998, 493), insbeson-
dere in antonymischen Paaren lokaler bzw. temporaler Bedeutung (vgl.
Henzen 1969). Angeschlossen werden Komposita mit adverbialem Erst-
glied. Unberücksichtigt bleiben solche mit Konjunktion (Dass-Satz), Inter-
jektion (Aha-Erlebnis, Pfuiruf) und Satzäquivalent (Jawort).
Zu Buchstaben als Erstglied ¢ 1.8.1.1.
2.2 Komposition 167
Zum Begriff ,Konfix‘ ¢ 1.6.3; zur Bestimmung der Konfixbildungen als Kom-
posita ¢ 1.8.1.1; zu Strukturtypen der Konfixkomposita ¢ 1.9.3.1. – Das Bild
ist hier nach mehreren Richtungen zu vervollständigen.
1) Einige exogene Konfixe treten reihenweise als positionsfeste Erstglieder
komplexer Substantive auf, vielfach auch mit indigenem Zweitglied. Es sind
vorwiegend solche aus lateinischem oder griechischem Material, z.T. über
das Englische ins Deutsche übernommen.
Das gilt beispielsweise für mikro- und makro- (,klein‘, ,groß‘). Erstge-
nanntes ist vor allem in Verbindung mit exogenen Substantiven, aber in-
zwischen auch mit indigenen weit verbreitet: Mikrochemie, -computer, -elek-
tronik, -film, -klima, -kosmos, -organismus; Mikroanlageplan (Finanzwesen),
-kühlanwendungen; Mikroschlaf (bei Autofahrern), -schaltung, -sender,
-welle. Das Gegenstück makro- begegnet seltener: Makrobereich, -ebene,
-klima, -kultur, -molekül.
Ein antonymisches Paar bilden auch mono- ,einzig, allein‘ und poly- ,viel,
mehr‘; mono- nicht nur in Verbindung mit Fremdwörtern (Monokultur,
-theismus) oder Konfixen (Monolog neben Dialog, Monopol), sondern auch
mit indigenen Wörtern wie in Monoempfänger (gegenüber Stereo-), -sen-
dung, -zelle. Poly- scheint dagegen auf die Verbindung mit fremden Zweit-
gliedern beschränkt zu sein: Polykultur, -phonie, -technikum; das GWDS ver-
zeichnet keine Komposita mit indigenem Zweitglied.
Mit poly- konkurriert lat. multi- ,viel, mehrfach‘: Multimillionär, -Effekt,
-Musikant.
Pseudo- ,scheinbar, vorgetäuscht‘ verbindet sich nicht nur mit Fremd-
wörtern (Pseudosouveränität, -synonymie, -kritik), sondern auch mit indi-
genen Wörtern (Pseudosinnlichkeit, -wissenschaft). Demgegenüber wird mit
proto- (griech. ,der Erste, Höchste‘) das Echte, Vorbildliche bezeichnet (Pro-
totyp); stets in Verbindung mit exogenem Zweitglied.
Auf die Verbindung mit Fremdwörtern weitgehend beschränkt (in Fach-
terminologie allerdings z.T. sehr verbreitet) sind auto- ,selbst, eigen‘ (Auto-
biografie, -pilot, -suggestion, -didakt gegenüber selbstständigem Didaktiker),
2.2 Komposition 173
Das GWDS kodifiziert die Form mini auch als freies Substantiv (der/das
Mini) in den Bedeutungen ,Mode, Kleid, Rock‘. Als Substantiv fungiert Mini
außerdem noch als Markenname für Autos (Mini Cooper) und Computer
(Mac Mini). Die antonymische Entsprechung maxi (daneben noch seltener
midi-) ist in etwas geringerem Maße kompositionsaktiv geworden (Maxi-CD,
-kleid, -mode, -rock); auch diese Form wird im GWDS als Adjektiv (nur in
Bezug auf Bekleidung: der Mantel ist maxi) und Substantiv (der/die/das
Maxi) verzeichnet, sodass auch hier Lexematisierung zu konstatieren ist.
Ebenfalls nicht als Konfix zu behandeln ist extra (in Extraangebot, -aus-
gabe, -klasse, -tour, -wurst, konkurrierend mit Sonder-), denn es ist als frei
gebrauchtes Adverb üblich (extra bezahlen, extra starker Kaffee) und begeg-
net außerdem als Substantiv das Extra. In der Bedeutung der lat. Präposition
,außer(halb)‘ erscheint extra nur in Fachwortschätzen (Extraordinarius
u.a.).
Quasi ist ebenfalls als freies Adverb kodifziert (,sozusagen, gewisserma-
ßen, so gut wie‘), sodass Wortbildungen wie Quasisouveränität als Kompo-
sita mit adverbialem Erstglied zu betrachten sind.
Die in der vorherigen Auflage in diesem Abschnitt genannten Beispiele Toplessbedie-
nung, -nachtklub, Openend-Klavierabend können ebenfalls nicht mehr als Konfixkom-
posita angeführt werden, da inzwischen sowohl topless als Adjektiv in der Bedeutung
,mit unbedecktem Busen, busenfrei‘ (GWDS) als auch open end ,das Ende (der ange-
kündigten Veranstaltung) ist nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt festgesetzt‘
(GWDS) frei vorkommen; vgl. auch die Entwicklung des Präfixes ex- zum Lexem der/die
Ex in der Bedeutung ,ehemalige/r Partner/in‘ (¢ 1.4.2.1).
Ein Syntagma als Erstglied liegt dann vor, wenn die erste unmittelbare Kon-
stituente nicht an einen Wortstamm außerhalb des Kompositums anzu-
schließen ist, sondern an eine syntaktische Wortverbindung (auch: Phrase;
2.2 Komposition 175
2.2.9.4 Sätze
Am geläufigsten und am ehesten lexikalisiert sind Komposita mit dem Im-
perativ eines komplexen oder reflexiven Verbs als Erstglied: Stehaufmänn-
chen, Trimm-dich-Pfad.
Andere erweiterte Imperative sind Rühr-mich-nicht-an-Lächeln, Sei-mein-
guter-Sohn-Blick, „Verbessern-Sie-Ihre-Rente“-Idee (diese und die folgenden
Beispiele bei Lawrenz 2006a, 155 ff.); mit fremdsprachlichem Erstglied Do-
it-yourself-Methode.
Auch Aussage-, Frage- und Ausrufesätze kommen als Erstglieder vor:
Wir-sind-für-Sie-da-Kundendienst, Wie-werde-ich-noch-schöner-Software,
Es-gibt-ihn-also-wirklich-Miene.
Derartige Komposita können prinzipiell gebildet werden, sind aber in
ihrer Verwendung weitgehend auf belletristische, publizistische und kon-
ventionell werbende Texte beschränkt. Sie wirken mehr oder weniger stark
expressiv und bleiben textgebunden. Die einzelnen Wörter des satzwertigen
Erstgliedes behalten ihre Selbstständigkeit in Flexion und Differenzierung
von Groß- und Kleinschreibung, werden aber mit Durchkopplungsbinde-
strich verbunden. Bis auf – gelegentlich verwendete – Anführungs-, Ausrufe-
und eventuell Fragezeichen fehlen weitere Interpunktionselemente (verein-
zelt Belege mit Komma: Ortner/Ortner 1984, 113; mit Anführungszeichen:
Hoffmann 2008; zu orthografischen Besonderheiten phrasaler Wortbildung
insgesamt Lawrenz 2006a, 167 ff.).
178 2 Wortbildung des Substantivs
Wie eine materialreiche Untersuchung Schmidts zeigt, sind es nicht beliebige freie
Syntagmen, die in hochkomplexe Komposita eingehen, sondern vorzugweise „stabile
funktionale Syntagmen, Allgemeinplätze, Trivialerfahrungen, Lebensweisheiten und
tradierte Zitate“, vgl. Wir-packen-es-an-Stimmung, Ach-das-wäre-doch-wirklich-nicht-
nötig-gewesen-Effekt, Wer-gut-schmiert-der-gut-fährt-Affäre (Schmidt 2000, 151ff.),
Rund-um-die-Uhr-Bewachung, Kaum-zu-glauben-Preise (Werbung 2000); vgl. auch
Hoffmann (2008, 208) über rededarstellende Sätze als Erstglied wie „Bestell-mich-so-
fort!“-Katalog.
Insbesondere Determinativkomposita mit solchen Erstgliedern, aber auch Konver-
sionen (das In-den-April-Schicken), nehmen nach diesen Erhebungen gegenwärtig
nicht nur in der Sprache der Medien, sondern auch im Alltag als eine modische Er-
scheinung deutlich zu. Eine plausible Erklärung für die Beliebtheit der unhandlichen
Bildungen scheint zu sein, dass die eingesetzten „Formulierungsstereotype“ […] „das
schnelle Verständnis hochkomplexer Bildungen sehr erleichtern“ (Schmidt 2000, 151).
Auch der meist „salopp-umgangssprachliche […] Stilwert“ der Bildungen (DWb 4,
400) mag dazu beitragen. Erheblicher Einfluss wird außerdem dem Englischen zuge-
sprochen (Lawrenz 2006b).
2.2.10 Possessivkompositum
2.2.11.1 Grundsätzliches
Im Folgenden werden kompositionelle Strukturen behandelt, an denen Ei-
gennamen beteiligt sind, und zwar vorzugsweise Personennamen und geo-
grafische Namen. Onymische Komposita sind Eigennamen; deonymische
Komposita sind Appellativa mit einem Eigennamen als unmittelbarer Kon-
stituente. Die onymische und deonymische Derivation wird gesondert be-
handelt (¢ 2.3.4; vgl. auch Harnisch/Nübling 2004, 1906ff.). Wir können hier
keine onomastische Spezialdarstellung vorlegen, sondern konzentrieren uns
auf einige geläufige Modelle. Es soll deutlich werden, dass der Eigenname
innerhalb des Wortschatzes eine Sonderstellung einnimmt und sich daraus
auch Spezifika für die Wortbildung ergeben. Beschreibende semantische
Elemente können einen komplexen Namen stärker einem Appellativum
annähern; vgl. Erzgebirge gegenüber dem Simplex Alpen. Ein großer Teil der
formalen Besonderheiten des Namenschatzes erklärt sich durch das Be-
streben, die störende Homonymie zwischen Eigennamen und Appellativum
zu mindern.
Eigennamen sind an das System einer Einzelsprache durch gegebenenfalls
vorhandene semantische Elemente gebunden, ferner durch onymische De-
rivations- und Kompositionsmodelle sowie durch morphosyntaktische und
morphonologische Phänomene. Eine besondere Rolle spielen dabei die
Wechselprozesse der Onymisierung und Deonymisierung, der Verflechtung
von Eigennamen und Appellativa auch in der Wortbildung.
180 2 Wortbildung des Substantivs
2.2.12.1 Grundsätzliches
2.2.12.2.3 Funktionen
Forschungen zum Gebrauch der Fugenelemente im Deutschen haben in den
letzten Jahren zwar zu wichtigen Entdeckungen geführt (DWb 4; Fuhrhop
1996, 1998; Gallmann 1998, Wellmann 1998; Wegener 2003; Eisenberg 2006;
Nübling/Szczepaniak 2009); noch immer gilt jedoch, dass nicht alle Er-
scheinungsweisen regelhaft erklärbar sind. Die Ursachen dafür liegen v. a.
darin, dass sich die verschiedenen Fugenelemente distributionell und funk-
tional unterschiedlich verhalten, und auch darin, dass die historische Ent-
wicklung des Auftretens von Fugenelementen bislang nur unzureichend
untersucht ist (zur Geschichte des Fugenelements zuletzt Demske 2001,
37ff.). Nicht in jedem Fall ist eine eindeutige Voraussagbarkeit der Fugen-
gestaltung gegeben, was aber nicht bedeutet, dass Fugenelemente willkürlich
gesetzt werden können.
Wenngleich keine auf alle Fugenelemente gleichermaßen zutreffende
Funktion feststellbar ist, was besonders angesichts des hohen Anteils an
unverfugten Komposita plausibel erscheint, besteht weitgehend Konsens in
Bezug auf die folgenden Funktionen 1) bis 4), die entweder interagieren
oder sich auch separat nachweisen lassen.
1) Fugenelemente dienen in Komposita der „rhythmischen Optimierung
des Erstglieds“ (Nübling/Szczepaniak 2009, 203).
Für die Erklärung der Optimierungsthese ist zu unterscheiden zwischen
silbischen und unsilbischen Fugenelementen (Fuhrhop 1998, 188f.; Wege-
ner 2003, 446). Die silbischen Fugenelemente -en-, -er-, -es-, -ens- sorgen
dafür, dass ein einsilbiges Erstglied eine trochäische Struktur bekommt und
damit über die im Deutschen bevorzugte phonologische Struktur verfügt:
Bett en zahl, Kind er fest, Land es haushalt, Herz ens lust. „Unsilbische Ele-
mente [-n-, -ns-] bewahren bereits bestehende Trochäen“, vgl. Blume n topf,
Wille ns bekundung (Nübling/Szczepaniak 2009, 203).
2) Fugenelemente können eine morphologische Gliederungsfunktion
übernehmen. Sie kennzeichnen in mehrgliedrigen Komposita die Haupt-
fuge.
190 2 Wortbildung des Substantivs
Kienpointner 1985, 23ff. auf der Grundlage von ca. 6500 Stichwörtern).
Allerdings ist hier ebenfalls mit der für die Fugenelemente charakteristi-
schen Streuung zu rechnen. Nach Kienpointner fassen wir die Verteilung
folgendermaßen zusammen.
1) Das Fugenelement wird nicht gesetzt nach vokalischem Auslaut sowie
nach [p], [pf], [s], [r]; das gilt auch mit nur wenigen Ausnahmen für [m]
(Räumkommando, aber: Aufräumefrau), für [l] (Malkasten, aber: Einhol(e)ta-
sche), [x] (Lachmuskel, aber: Reinemach(e)frau), [ts] (Reizhusten, aber: Pres-
tige-Anheize-Kampagne), [∫] (Naschkatze, aber: Haschespiel), [k] (Lenkrad,
aber: Hinkebein). Auch verbale Erstglieder, deren Stämme auf -el, -er und -ier
enden, schließen ohne Fugenelement an das Zweitglied an (Bastelbuch, Kle-
ckerbetrag, Rangierbahnhof).
2) -e- begegnet demnach fast nur nach den stimmhaften Verschlusslauten
b, d, g, nach [z] sowie [t]; Komposita ohne Fugenelement sind jedoch ebenso
belegt. Am stärksten überwiegt -e- nach -d (Badestrand – schweiz. Badzim-
mer); es folgen -g (Vorbeugehaft – Schlagader), -ng (Hängelampe – Sing-
vogel), -s (Lösegeld – Blasinstrument), -b (Reib(e)käse – Reibfläche) und -t
(Ratespiel – Leithammel).
3) Die Verbstämme von rechnen, trocknen, zeichnen erscheinen als Erst-
glieder in den Formen Rechen-, Trocken-, Zeichen-. Ähnlich strukturierte
Verben wie ebnen, leugnen, ordnen, regnen, segnen, eignen lassen sich als
Erstglieder an homonyme Substantive anschließen (Regen-, Segen-) oder es
wird das deverbale -ung-Derivat als Kompositionsstammform verwendet
(Eignungstest, Ordnungsdienst).
4) In einer Reihe von Fällen sind verbales und substantivisches Erstglied
desselben Grundmorphems durch die Fugengestaltung zu unterscheiden:
Badeanzug – Badfenster, Rollschuh, -treppe – Rollenfach, Pfeifkonzert – Pfei-
fenkopf, Blasmusik – Blasenbildung, Pressluft, -stroh – Pressekonferenz (noch
Bismarck 1878: Preßthätigkeit); ¢ 2.2.12.2.3(3); vgl. auch Wellmann/Reindl/
Fahrmaier 1974, 371.
2.2.12.5.1 Bindestrich
Als Ursache für die zunehmende Verwendung von „Gliederungs- und Ver-
ständnishilfen“ im Kompositum seit dem 18. Jh. (einschließlich der Binde-
strichschreibung) macht Erben (2007, 118) unter diachronem Blickwinkel
u.a. „die Tendenz, umfangreiche, polymorphemische Wörter als komplexe
Nominationseinheiten aufzubauen,“ geltend. Als Ursachen für die deutliche
Ausbreitung dieser Schreibweisen in der Gegenwart werden die seit den
1980er-Jahren belegte Schreibung von Personenbezeichnungen mit dem
Großbuchstaben I im Wortinnern (LeserInnen) sowie der Einfluss des Eng-
lischen, insbesondere durch originalsprachlich getrennt geschriebene Ent-
lehnungen (Soft Drug), genannt (Stein 1999, 264 f.).
Ein weiterer Grund könnte sein, dass der Bindestrich als Mittel der Her-
vorhebung von Konstituenten heute an Wirkung verloren hat und deshalb,
vor allem in der Werbung, durch auffälligere grafische Abweichungen er-
setzt wird. Er wird unter Beibehaltung des Spatiums getilgt oder auf beides –
Bindestrich und Spatium – wird verzichtet. Stattdessen schreibt man die
Komposita zusammen und wählt die Majuskel für das Zweitglied; zu wei-
teren möglichen Ursachen vgl. Dürscheid 2000.
Die abweichenden Schreibweisen stehen vornehmlich im Dienst von
Werbefunktionen: Aufmerksamkeit hervorrufen, Originalität signalisieren
und Einprägsamkeit unterstützen; ausführlich dazu Stein 1999.
2.3 Suffixderivation 195
2.3 Suffixderivation
2.3.1 Grundsätzliches
2.3.2.1 Suffix -e
Fraglich ist, ob das -e in Fällen wie Katze, Kerze, Linde, Pfütze, Steppe, Wiese als Mor-
phem zu segmentieren ist oder ob die betreffenden Wörter als monomorphemisch
anzusehen sind. Für unsere Behandlung des Derivationssuffixes -e ist diese Frage al-
lerdings von untergeordneter Bedeutung, denn die genannten Lexeme können nicht als
Derivate interpretiert werden; zur Diskussion dieses Phänomens vgl. Eisenberg 2006,
217, der die Kategorie „mophologischer Rest“ einführt.
1.3) Aus Wortbildungen wie in 1.2) ist vereinzelt -elei als Suffixvariante
zur Bildung desubstantivischer Derivate mit pejorativer Konnotation re-
analysiert worden: Eifersüchtelei, Eigenbrötelei, Fremdwörtelei. Es bestehen
assoziative Beziehungen zu pejorativem -ler (Eigenbrötler, daher auch die
Variante Eigenbrötlerei) und zu den Verben mit -el(n)/-l(n) wie basteln, grü-
beln, werkeln.
1.4) Aus Derivaten wie in 1) hat sich auch die Suffixvariante -erei (zur
Geschichte Öhmann 1973) entwickelt, ebenfalls vorwiegend mit pejorativer
Konnotation: Dieberei, Lumperei, Schlafmützerei, Vielweiberei. Sie ist aller-
dings wesentlich produktiver als -elei.
Die pejorative Konnotation der Modelle 1.3) und 1.4) wird z.B. von
Campe (1813) genutzt zur Differenzierung indigener Äquivalente für die
entsprechenden Fremdwörter: Patriotismus – Vaterlandsliebe/Vaterländerei
(vgl. Dieckmann 1964, 138).
Nicht pejorativ, sondern an Derivate mit lokaler Bedeutung anzuschlie-
ßen sind Käserei, Mosterei, Molkerei (seit dem 19. Jh. zu Molke ,Käsewas-
ser‘). Anders Kokerei, wozu auch koken ,Koks herstellen‘ (so noch Fachwort
1984, 170) und Koker ,Koksarbeiter‘ geläufig waren.
2) Verbale Basis, in der Regel pejorative Nomina Actionis; bei Basen auf
-el(n), -er(n) erscheint -ei (Meckerei), sonst -erei: Brüllerei, Heulerei, Esserei;
neben pejorativem Bügelei steht als neutrales Nomen Loci Büglerei; gelegent-
lich im Plural: gliederschlenkernde Tanzereien (B. Reimann).
Neben simplizischer auch komplexe Basis (Aufschneiderei, Nachäfferei)
und – z.T. phrasemische – Syntagmen: Augenauswischerei/Augenwischerei,
Rechthaberei, Schaumschlägerei. – Bisweilen ist jedoch von einer komplexen
substantivischen Basis auszugehen: Drückebergerei.
2.1) Verbale Basis auf -el(n)/-l(n); ebenfalls pejorative Nomina Actionis,
z. T. mit sekundärer Prägung als Nomina Acti: Blödelei, Faselei, Liebäugelei
(PDW 2005), Liebelei, Heuchelei, Witzelei; Menschendünstelei (P. Süskind);
weniger pejorativ, sondern eher salopp-scherzhaft: die Rätselei um das Ge-
baren von H. Sch.… (PDW 2005).
Die deverbalen Substantive auf -ei/-erei konkurrieren mit den Deverba-
tiva auf ge-…-e (¢ 2.5).
2.2) Konkrete Sachbezeichnungen als sekundäre Prägungen sind z. B. Hä-
kelei, Stickerei, (Holz-)Schnitzerei; vielfach sind beide Lesarten (,Prozess‘ und
,durch den Prozess entstandene Sache‘) aktualisierbar, vgl. z.B. noch Rei-
merei, Schmiererei, Schreiberei (Ähnliches auch bei ge-…-e und -ung
¢ 2.3.2.18; ¢2.5).
Der Unterschied zwischen Nomina Loci und Nomina Actionis kann bis-
weilen durch Umlautdifferenzierung gekennzeichnet werden: Bäckerei (auf
Bäcker bezogen) – Backerei (auf backen bezogen), Wäscherei – Wascherei.
200 2 Wortbildung des Substantivs
in den seltensten Fällen hat das konvertierte Partizip I einen ähnlichen se-
mantischen Charakter: der Vorsitzende (woneben auch Vorsitzer), Reisende,
Streikende (woneben keine -er-Derivate).
Die Bildung der -er-Derivate unterliegt stärkeren Beschränkungen als die universal
bildbaren Konversionen zum Partizip I. Von bestimmten verbalen Basen werden im
Allgemeinen keine -er-Derivate erzeugt. Das betrifft nullwertige Verben wie schneien,
dämmern, dunkeln, tauen, ziehen ,als Luftzug zu verspüren‘; DWb 2, 342), Modalverben
(aber Könner), Zustandsverben wie sich befinden, liegen, stehen, umgeben, wohnen (aber
Steher – im Radsport), zahlreiche Verben der Wahrnehmung und des Wissens wie
empfinden, sich freuen, glauben, vermissen, verstehen, wissen (aber Kenner, Denker); zur
Diskussion weiterer Beschränkungen, auch hinsichtlich des Outputs der Modelle vgl.
Scherer 2005, 91ff.
Doch sind auch okkasionelle -er-Derivate zu beachten wie die Bestimmer (bezogen
auf Eltern und Lehrer gegenüber Jugendlichen, Sonntag 1988), die Sitzer (über Leute,
die das Sitzen in Sitzungen wirklich verstehen, Weltbühne 1980); (¢ 1.4.2).
Fachsprachlich sind noch Wortbildungen üblich, die in der Allgemeinsprache selten
oder ganz unüblich geworden sind, z.B. Geber, Nehmer, Schenker als juristische Ter-
mini; vgl. auch Geber- und Nehmersprache in der Linguistik.
Drückt die Semantik des Verbs eine nur auf Menschen beziehbare
Verhaltensweise aus, ist eindeutig eine Personenbezeichnung gegeben: Flun-
kerer, Stolperer, Stotterer.
Im Unterschied zur Personenbezeichnung ist die Geräte- bzw. Sachbe-
zeichnung nicht selten passivisch zu verstehen. Diese Bedeutung rechtfertigt
die Zuordnung der Bildungen zu den Nomina Acti (¢ 2.1.3.2): Untersetzer
,wird untergesetzt‘ – Übersetzer ,übersetzt‘, ferner Aufkleber ,aufklebbarer
Papierstreifen‘, Aufsteller ,aufstellbares Werbeelement‘, Senker ,abgetrenn-
ter Trieb von Pflanzen‘, Hefter.
1.4) Nahe stehen Bezeichnungen von Tieren, vorzugsweise Vögeln:
Laubsänger, Seetaucher, Strandläufer, Würger, Zaunschlüpfer. Zu Puter,
Tauber ¢ 2.3.2.22(7).
1.5) Basis wie 1.1); in der Regel simplizisch. Wortbildungsbedeutung:
Nomina Actionis, in einer Wortbildungsreihe ,menschliche Äußerung‘: Äch-
zer, Jauchzer, Jodler, Rülpser, Schluchzer, Schnarcher (Th. Storm; vgl. Paul
1920, 60), Nieser (H. Jobst).
Im Unterschied zu Gejodle, Jodlerei bezeichnet -er die Einzeläußerung.
Mündliche Äußerung als Tadel bezeichnen umgangssprachlich Anran-
zer/Anraunzer, Ansauser, Anschnauzer.
Manche Bildungen lassen daneben auch die Beziehung auf eine Person
zu, z.B. Lacher ,ein kurzes Lachen‘oder Ich bin Lacher (H. Böll).
Bewegungsformen, vor allem Tänze, bezeichnen Hopser, Plumpser, Dre-
her, Walzer, fehlerhafte Handlungen Abrutscher, Aufsitzer ,Reinfall‘, Fehler,
Patzer, Versager; vgl. ferner Abstecher, Stupser, Tupfer (im bunten Festpro-
gramm); Rempler; Strauchler (U. Saeger).
2) Substantivische Basis
Die desubstantivische -er-Derivation wird bisweilen als nicht mehr pro-
duktiv angesehen (vgl. Wilmanns 1899, 289; Henzen 1965, 161); doch diese
Annahmen sind inzwischen widerlegt (Scherer 2005, 151).
2.1) Hochproduktiv sind Personenbezeichnungen von exogenen Substan-
tiven auf -ik. Wortbildungsbedeutung: ,Zugehörigkeit‘ in einem weiten Sinn
– Anhänger bzw. Vertreter einer Richtung, Wissenschaftsdisziplin, z.T. auch
Berufsbezeichnung – vgl. Ethiker, Komiker, Musiker, Kritiker.
Aus solchen Derivaten hat sich die Suffixvariante -iker entwickelt, die an
Stämme (Alkoholiker, Asthmatiker, Phlegmatiker – mit den Derivations-
stammformen asthmat-, phlegmat-) und auch an Konfixe (Fanatiker, Zyni-
ker) tritt.
2.2) In diesen Zusammenhang sind heute die von Orts- und Länderna-
men, teilweise auch anderen geografischen Namen, abgeleiteten Bewohner-
bezeichnungen auf -er zu stellen. Hier liegt etymologisch allerdings nicht lat.
2.3 Suffixderivation 205
neuere getreten wie Grenzer, Metaller, eventuell Texter (hier auch Derivation
von texten möglich, beides 20. Jh.), okkasionell Textiler (,am Textilstrand
Badender‘ im Gegensatz zu FKKler ,Anhänger der Freikörperkultur‘).
Aus dem Englischen kommen gegenwärtig zahlreiche Derivate von Sim-
plizia wie Surfer, Skater, Jobber, die entweder entlehnt oder – wenn das
entsprechende Verb bereits übernommen wurde – im Deutschen gebildet
sein können.
In wenigen Fällen stehen semantisch differenzierte Derivate mit Konver-
sionen wie Ritt, Schnitt, Schloss als Derivationsbasis neben denen mit Infi-
nitivstamm als Basis: Reiter – Ritter, Schneider – Schnitter, Schließer – Schlos-
ser.
Das Prinzip sekundärer Motivation („Verdeutlichung“; ¢ 1.5.4.1) liegt zu-
grunde, wenn teilweise noch bis ins 19. Jh -er an Fremdwörter angefügt
wird, die bereits als fertige Personenbezeichnungen ins Deutsche entlehnt
wurden (Belege nach Paul 1920, 62): Juwelierer, Officirer (Grimmelshausen),
Barbierer, Rentenirer (Nicolai), Rebeller (Hebel), Jesuiter.
Sachbezeichnungen erscheinen – bisweilen umgangssprachlich mar-
kiert – als eine Art Kurzform vor allem von Bezeichnungen für Fahrzeuge
u.Ä. (vgl. Lehnert 1986, 71ff.): Dampfschiff > Dampfer, Bomber, Frachter,
Laster; vgl. auch Münzer ,Münzfernsprecher‘ (nicht Fortsetzung von mhd.
münzer ,Münzarbeiter‘).
2.5) Stärker produktiv ist das Modell mit einem substantivischen Syntag-
ma als Basis. Wortbildungsbedeutung: ,Bezeichnung von Personen und
Tieren nach äußeren Merkmalen‘, vgl. Links-, Rechtshänder, Paarhufer,
Zehn-, Zwölfender.
An einen Teil der unter 2.4) genannten Fälle anzuschließen sind Bezeich-
nungen für Fahrzeuge wie Einachser, Zweimaster, Vier-, Fünfsitzer, Sechston-
ner.
Semantisch-onomasiologisch vereinzelt bleiben Ein-, Zweireiher (An-
zug), Vierzeiler (Gedicht), Zwölf-, Sechzehngeschosser (Wohnhochhaus).
3) Numerale als Basis
Die Basis bilden ausschließlich Kardinalzahlen. Die Wortbildungsbedeu-
tung ist unterschiedlich.
3.1) Einer, Zweier, Fünfer usw. können in bestimmten Kontexten für die
jeweilige Zahl stehen, meist mit umgangssprachlicher Markierung: ein
Fünfer im Zahlenlotto ,fünf Zahlen richtig‘, ein Zweier ,eine Zwei‘ auf dem
Zeugnis (besonders obd.).
Münzen und Geldscheine werden gekürzt nach der ihrem Wert entspre-
chenden Zahl benannt: Fünfer (in Berlin Sechser), Zehner, Zwanziger.
2.3 Suffixderivation 207
Vierer, Achter usw. sind Kurzformen für Vier-, Achtriemer, die ihrerseits
schon Kurzformen für ,Boot mit vier bzw. acht Riemen (Ruderern)‘ sind,
vgl. oben 2.5).
3.2) Die höheren Zahlen bezeichnen einen Menschen nach seinem unge-
fähren Alter: ein Dreißiger; mit Syntagma als Basis: eine Endzwanzigerin, ein
Mittvierziger.
4) Adjektivische Basis
Das Modell ist heute unproduktiv. Üblich ist allenfalls noch Gläubiger (seit
dem 15. Jh.); anders der Gläubige – ein Gläubiger (¢ 2.6.2.2).
vgl. die Konnotationen durch das Element -l- in der Verbindung -elei
(¢ 2.3.2.2[1.4]) und teilweise ironisierend bei den Verben auf -el(n)/-l(n)
(¢ 5.4.2). Der pejorative Charakter zeigt sich nicht nur in Fällen, in denen er
bereits der Bedeutung der Basis eigen ist (Halb-, Hinterwäldler), sondern
auch dort, wo er der Basis fehlt: vgl. Versöhnler unter 2).
1.5) In einzelnen Fällen steht -er neben -ler bei gleicher Basis mit semanti-
scher oder regionaler Differenzierung: Wirtschafterin – Wirtschaftlerin, Wis-
senschafter (österr., schweiz.) – Wissenschaftler. Variation ohne semantische
Differenzierung zeigen Zelter (Basis wohl zelten) – Zeltler (Basis Zelt).
1.6) Die Entfaltung des Suffixes -ler hat ihre Ursache zunächst sicherlich
nicht in dem Bestreben, von -er zu differenzieren. Es liegen andere Gründe
vor: Von Bedeutung ist, dass die substantivische Basis bei Verwendung von
-ler als Sprechsilbe erhalten bleibt, vgl. Sport ler, während bei Gebrauch von
-er abzuteilen wäre *Spor-ter. Auffällig ist ferner, dass die meisten Derivate
auf -ler eine Basis haben, die auf dentalen Verschlusslaut (-d, -t) auslautet.
Schließlich spielt natürlich auch die größere Eindeutigkeit gegenüber dem
stark polyfunktionalen -er (dies z.B. auch als Pluralsuffix) eine Rolle (vgl.
Müller 1953, 199).
2) Verbale Basis
Im Unterschied zu der dominierenden Rolle verbaler Basen bei -er tritt bei
-ler die verbale Basis, d.h. ohne -l- des Verbstamms, weitgehend zurück; nur
wenige Bildungen sind belegt, vgl. Abweichler, Ausweichler (Ch. Wolf), Ver-
söhnler. Eher auf substantivische als auf verbale Basis ist wohl zu beziehen
Umstürzler. Dieses Modell zeigt durchgehend pejorative Konnotation.
Das Suffix -ner wird in manchen Arbeiten als Allomorph von -er bestimmt. Es lasse
„weder eine Spezialisierung noch Neubildungen erkennen, sodass es nicht als eigen-
ständiges Morphem betrachtet werden“ könne (Scherer 2005, 53 mit Bezug auf Eisen-
berg 1992 und Fuhrhop 1998).
Unter diachronem Aspekt nennt Erben (2006, 152) -ler und -ner „Erweiterungsfor-
men“ von -er. Er weist darauf hin, dass beide Einheiten im Unterschied zu -er fast
ausschließlich mit substantivischen Basen vorkommen. Bei Motsch (2004, 363 f.) ist
-ner einerseits Suffix an substantivischen Basiswörtern, die „einen Gegenstand“ be-
zeichnen, „mit dem sich Personen befassen“ oder über den sie verfügen (Pförtner,
Rentner), andererseits ein Allomorph zu -er an Basen auf -a, die „eine Gruppe oder
spezieller eine regionale Einheit“ bezeichnen (Primaner, Amerikaner).
keit), viuhtec ,feucht‘, niuwec ,neu‘. Obrigkeit ist im 16. Jh. aus älterem ober-
keit (so bei Luther; vgl. auch mhd. innerkeit ,Innerlichkeit‘, ūzerkeit ,Äu-
ßerlichkeit‘) entstanden (Wilmanns 1899, 387).
1.2) Die Distribution der drei Varianten zeigt – bei gewissen Überlappun-
gen – doch recht klare Verhältnisse; sie wird durch die Formativstruktur der
Basis in Verbindung mit verschiedenen Akzentmustern bestimmt (detail-
liert dazu Kolb 1985).
Am deutlichsten zeigt dies -keit; zu dessen „Wesen gehörig“ sei es (so
schon Wilmanns 1899, 386), „dass ihm eine unbetonte Silbe voranging“.
Daher steht -keit in Verbindung mit suffigierten Basen auf -bar (Unaustilg-
barkeit), -ig (Schäbigkeit), -lich (Erblichkeit), -sam (Betriebsamkeit).
Das Modell mit einer Basis auf -isch wird – entgegen unserer früheren
Annahme – gegenwärtig wohl nicht ausgebaut. Mater (1970) verzeichnet
lediglich Bäurisch-, Linkischkeit; doch vgl. weiter Selbstisch-, Herrisch-, Welt-
männischkeit (Schlaefer 1977, 82), Spielerischkeit (Kann 1972, 290), Jüdisch-
keit (Sonntag 1988); ferner die von Kolb (1985, 162) genannten Bildungen
Mürrisch-, Störrischkeit sowie: „jene Wildheit, Unvernunft, Tierischkeit“
(Ch. Wolf); Läppischkeiten (F. Fühmann). Statt Kindischheit (W. v. Hum-
boldt) ist heute Kindischkeit zu erwarten (vgl. Eichinger 1982, 173).
Oberle (1990, 137 f.) begründet die schwache Aktivität der Adjektive auf -isch in diesem
Modell mit deren syntaktischen Eigenschaften. Nur zu prädikativ verwendbaren wer-
tenden Adjektiven werden Nomina Qualitatis gebildet, nicht aber zu Zugehörigkeits-
adjektiven (wie etwa städtisch ,zur Stadt gehörend‘ in städtische Bäder). Fuhrhop (1998,
219) nennt allerdings Städtischkeit als Übersetzung von Urbanität.
seltenen Wortpaare mit der Konkurrenz von -heit und -igkeit bei gleicher
Basis, z.T. ohne stärkere semantische Differenzierung (Mattheit/Mattigkeit,
Seichtheit/Seichtigkeit), z.T. aber mit deutlicher semantischer Differenzie-
rung (Kleinheit – Kleinigkeit, Neuheit –Neuigkeit).
Nicht hierher gehören Paare wie Einheit (Basis ein) und Einigkeit (Basis
einig). Zu differenzieren sind auch Paare wie Reinheit – Reinlichkeit, Vertraut-
heit – Vertraulichkeit: hier wird Vertrautheit zu sehr durch demonstrative Ver-
traulichkeiten ersetzt (Sonntag 1987).
Doppelbildungen mit -heit/-keit bei gleicher Basis existieren dagegen so
gut wie nicht (Ausnahme: Düsterheit/-keit; Kolb 1985, 160).
Am kompliziertesten zeigt sich die Distribution der Variante -heit. Diese
Derivate können dem einen wie auch dem anderen Akzentmuster folgen
(vgl. Kolb 1985, 160ff.).
a. Die Silbenfolge betont – unbetont gilt für zahlreiche Derivate mit ein-
silbiger Basis: Barsch-, Derb-, Feig-, Frech-, Hohl-, Klar-, Schlau-, Zartheit.
Das gilt auch für präfixale und kompositionale Weiterbildungen mit
diesen Adjektiven (wobei sich ja die Akzentverhältnisse verschieben): Su-
perklug-, Ungleichheit; Taubstumm-, Tollkühnheit; Schreibfaulheit; Lebens-
fremd-, Mannstoll-, Nachtblindheit.
b. Dem genannten Akzentmuster folgen auch die Derivate mit mehrsil-
biger Basis, aber Endbetonung (indigene wie exogene): Gesamt-, Gesund-,
Gewissheit; Adäquat-, Affektiert-, Borniert-, Exakt-, Korrekt-, Grandios-, Gro-
tesk-, Porös-, Saloppheit.
Mit Ausnahme der Basen auf -t werden die entsprechenden Substantive
von exogener Basis allerdings vorwiegend mit -ität gebildet (Universalität;
¢ 2.3.3.1[13]). Ob zwischen -heit/-keit/-igkeit und -ität Allomorphie ange-
nommen werden kann (so Fuhrhop 1998, 17), ist distributionell und se-
mantisch noch zu prüfen.
c. Mehrsilbige simplizische Basen, die auf Schwasilben enden, verbinden
sich hauptsächlich mit -heit: vorwiegend solche auf -en (Eigen-, Offen-, Sel-
ten-, Trockenheit), -ern (Albern-, Lüstern-, Nüchtern-, Schüchternheit), einige
auf -el (Einzel-, Dunkelheit; zur sprachgeschichtlichen Erklärung dieser „Ir-
regularität“ Kolb 1985, 161, Fn. 6) und -er (Locker-, Sicherheit). An solchen
Basen kommt aber auch -keit vor, s.o. (Sauberkeit, Eitelkeit).
Derivate von adjektivischen Basen mit den Suffixen -en/-ern/-n und -icht
werden relativ selten verwendet. Ganz ausgeschlossen von der Derivation
mit -heit, wie Oberle (1990, 277) vermutet (sie nennt als einziges Beispiel
Gläsernheit, ebd.), sind sie nicht, vgl. buddenbrookhafte Bleiernheit der Möbel
(sueddeutsche.de 2009), die Pracht funkelnder Silbernheit (Internet 2010).
Zum Adjektiv töricht findet sich gelegentlich Törichtheit.
212 2 Wortbildung des Substantivs
2) Substantivische Basis
2.1) Die Variante -keit entfällt hier; es kommt fast ausschließlich -heit
infrage. Das Modell ist nur schwach produktiv und im Wortschatz mit we-
nigen Einheiten vertreten; zur historischen Entwicklung vgl. Wells 1964;
Oberle 1990, 314 ff.
Wortbildungsbedeutung: ,Kollektivum, bezogen auf Menschen‘ – Chris-
ten-, Juden-, Menschheit; Hexenheit (Goethe). Stärker produktiv ist in dieser
Bedeutung -schaft.
Daneben stehen einzelne semantisch abweichende Derivate wie Gott-,
Kind-, Narr-, Torheit. Wie Gottheit ,göttliches Wesen‘ war Menschheit im
18. Jh. noch als ,menschliches Wesen‘ üblich. Während sich hier nur die
kollektive Bedeutung erhalten hat, ist bei Gemeinheit – wohl im Zusam-
menhang mit der Bedeutungsveränderung des Adjektivs gemein (worauf die
Bildung bezogen wurde statt auf Gemeine) – die Bedeutung ,Gemeinde,
Rechtsverband‘ aufgegeben worden (vgl. Paul 1920, 85).
2.2) In wenigen Fällen sind synchron auch Derivate mit -igkeit auf ein
Substantiv beziehbar: Streit – Streitigkeit (mhd. strı̄tec ,streitsüchtig‘), Zwist
– Zwistigkeit, wobei die Derivate vor allem für den Plural zur Verfügung
stehen.
2.3) Auf andere Weise kommen Paare zustande wie Biss – Bissigkeit. Die
adjektivische Basis des substantivischen Derivats ist ihrerseits ein desub-
stantivisches Derivat: Geist > geistig > Geistigkeit. Die semantischen Bezie-
hungen zwischen den beiden Substantivtypen sind unterschiedlich.
a. Das primäre Substantiv (z.T. Konversion) bezeichnet eine einmalige
Handlung, einen bestimmten Vorgang, während das Derivat auf -keit/-
igkeit die Wiederholung oder das Potenzielle, die Anlage, Fähigkeit be-
zeichnet: Biss – Bissigkeit, Anfall – Anfälligkeit, Straffall – Straffälligkeit, Tat
– Tätigkeit.
b. Das primäre Substantiv steht als Sachbezeichnung (soweit nicht meta-
phorischer Gebrauch vorliegt) dem -keit-Derivat gegenüber: Farbe – Far-
bigkeit, Zopf – Zopfigkeit, Gift – Giftigkeit, Saft – Saftigkeit.
c. Nur geringer semantischer Unterschied besteht bei Paaren wie Eifer –
Eifrigkeit, Zufall – Zufälligkeit, Anmut – Anmutigkeit, Allmacht – Allmäch-
tigkeit. Bei mangelnder semantischer Differenzierung haben sich die
-keit-Derivate in der neuhochdeutschen Norm vielfach nicht gehalten:
Mutigkeit (Goethe, Arndt) nicht neben Mut, Neugierigkeit (Lessing, Wie-
land) nicht neben Neugier (und Neugierde) u. a. (vgl. Paul 1920, 87f.).
3) Numerale als Basis erscheint nur in vereinzelten Fällen, die immerhin
analogische Neubildungen zulassen: Ein-, Zwei-, Dreiheit; daneben das In-
definitpronomen viel in Vielheit.
214 2 Wortbildung des Substantivs
2.3.2.8 Suffix -i
Derivationsmodelle mit dem Suffix -i zur Bildung von Personenbezeich-
nungen (Gruft > Grufti) sind derzeit hochproduktiv, v.a. in Substandard-
schichten, seltener werden Sachbezeichnungen wie Kuli, Brummi, Trabi/
Trabbi gebildet (zur Produktivität der -i-Derivation ausführlich Glück/Sauer
1997, 69ff.). Das seit dem Ahd. nachweisbare Suffix (zur Geschichte Henzen
1965, 143ff.) diente zunächst bevorzugt zur Bildung hypokoristischer
2.3 Suffixderivation 215
Ein Fachwort ist deverbales Feilicht ,Abfall beim Feilen, Feilspäne‘ (im
GWDS veraltet). Außerdem begegnen expressive Okkasionalismen wie Wort-
spülicht (A. Ehrenstein), Wurmicht (F. Nietzsche).
Die Modelle sind nur noch schwach produktiv, aber die lexikalisierten
Bildungen analysierbar.
Historisch liegt ahd. -ahi, mhd. -ach, -ech vor, das sich seit dem 16. Jh. mit
dem -i-Vokal auch anderer Suffixe (-in, -ig, -isch) und mit euphonischem -t
(wie Axt, Obst) durchgesetzt hat. Das heute homonyme Adjektivsuffix -icht
(nur noch in töricht) hat andere historische Ausgangsformen.
2.3.2.12 Suffix -s
Über die Produktivität der Modelle mit -s lassen sich nur schwer Aussagen
machen, doch ist es mit Blick auf die Verbreitung in einzelnen Dialektge-
bieten (vgl. z.B. Werner 1963/64) und die semantische Durchschaubarkeit
lexikalisierter Wortbildungen wohl nicht angebracht, den Modellen eine –
wenn auch im Standard nur schwach ausgeprägte – Produktivität gänzlich
abzusprechen. Ein Teil der Derivate ist allerdings deutlich umgangssprach-
lich markiert.
1) Es handelt sich in erster Linie um deverbale Maskulina. Substantive wie
Klecks und Taps neben den Verben klecken – klecksen und tappen – tapsen
sind entweder als Konversionen von dem durch -s- suffigierten Verb (nur so,
wo das Verb ohne -s- fehlt: fipsen ,mit Daumen und Zeigefinger schnippen‘
> Fips ,kleiner unscheinbarer Mensch‘, vgl. GWDS) oder als -s-Derivate von
dem -s-losen Verb zu erklären (z.T. anders interpretiert bei Simmler 1998,
508f.). Beide Modelle sind produktiv.
Die Bildungen sind in der Regel Nomina Actionis oder Nomina Acti:
knacken > Knacks, knicken > Knicks, merken > Merks ,Gedächtnis‘ (nach
GWDS landschaftl., besonders ostmitteldt.), mucken > Mucks, klappen >
Klaps, piepen > Pieps, schnieben (landschaftliche Nebenform zu schnauben)
> Schniebs, mitteldt. schuppen ,(an)stoßen‘ > Schubs, mundartl. schwippen
,wippen, schwappen‘ (GWDS) > Schwips ,leichter Rausch‘, mitteldt. stuppen
,stoßen‘ > Stups, vgl. Stupsnase.
Die Verben sind vielfach Schallnachahmungen; in manchen Fällen kann
daher auch von einer Interjektion bzw. dem entsprechenden Substantiv
auszugehen sein: Plumps > plumpsen, Pup/Pups ,Blähung‘ > pup(s)en.
Vereinzelt ist die Personenbezeichnung Taps ,unbeholfener Mensch‘.
Semantische Weiterentwicklung zur Sachbezeichnung zeigen mitteldt.
kloppen ,klopfen‘ > Klops, niederdt. mopen ,den Mund aufreißen‘ > Mops,
schnappen > Schnaps.
2) Vereinzelte Derivate von substantivischer Basis sind Dings (in allen drei
Genera verwendbar) ,unbestimmte Person bzw. unbestimmter Gegen-
stand‘ und das Neutrum Zeugs, ugs. abwertend für Gegenstände und Ge-
schwätz (GWDS). Ähnlich wohl auch nicht kodifiziertes Schriebs zu Schrieb
(dies als ,Schreiben, Brief‘ nach GWDS ugs., oft abwertend) und Flaps ,un-
geschliffener junger Mensch‘, wohl zu niederdt. Flappe ,schiefer, verzerrter
Mund‘ (so GWDS).
2.3 Suffixderivation 221
Die sich mit der Bedeutung des Nomen Acti ergebende Beziehung zwi-
schen -ung-Derivat und Partizip II (die gute Übersetzung des Romans – der
Roman ist gut übersetzt) ermöglicht Synonymie zwischen -ung-Derivat und
departizipialem -heit-Derivat: Aufregung – Aufgeregtheit, Verstimmung –
Verstimmtheit. Diese Tendenz ist umso stärker, je mehr die als Basis der
-heit-Derivate dienenden Partizipien adjektivischen Charakter haben (des-
halb nicht: *Übersetztheit u.Ä.; vgl. Schäublin 1972, 49 ff.). Hier bietet sich
auch ein Ausweg aus der starken Polysemie der -ung-Derivate.
Weitere Möglichkeiten der Differenzierung liegen in der substantivieren-
den Konversion infinitivischer Syntagmen: statt Auslieferung – das vollkom-
mene Ausgeliefertsein bzw. das Ausgeliefertwerden.
d. Nomina Acti: eine Sammlung von Briefmarken, verwertbare Erfindung,
Erfrischung, Lenkung ,Lenkvorrichtung‘, Kupplung u.v.a.
In Abhängigkeit von der Semantik des Basisverbs (insbesondere bei ver-
balen Ornativa) hat sich ein Modell der Bildung von Kollektiva entwickelt
(vgl. DWb 2, 181 f., dort Hinweis auf Fachwortschätze): Bekleidung ,Ge-
samtheit der Kleidungsstücke‘, Dielung ,Gesamtheit der Dielen‘, ähnlich
Bebilderung, Bestuhlung, Bewölkung, Bezifferung ,Gesamtheit der Ziffern‘,
Schaltung, Täfelung, Takelung u.a.
Das -ung-Derivat tritt hier auch als verdeckte Personenbezeichnung auf,
meist ebenfalls als Kollektivum, z.T. aber auch auf Einzelpersonen bezogen,
vgl. Abteilung, Bedienung, Führung, Leitung, Regierung, Vereinigung, Vermitt-
lung, Vertretung, Begleitung. Ein Teil dieser Derivate hat eine lokale seman-
tische Komponente: Die Abteilung (,Stelle‘) ist heute geschlossen; vgl. auch
Ansiedlung ,Ort‘, Niederlassung, Wohnung, Mündung.
Angesichts der großen Zahl der polysemen Bildungen lässt sich u.E. nicht
von mehr oder weniger gelegentlichen Bezeichnungsübertragungen der fer-
tigen Derivate sprechen, sondern es liegen jeweils spezifische Bildungsmo-
delle der -ung-Derivation vor. In Fällen wie Kupplung und Täfelung ist der
Weg über eine Vorgangs- bzw. Handlungsbezeichnung zudem zweifelhaft.
2) Substantivische Basis begegnet in einem allenfalls noch schwach pro-
duktiven Modell als Kollektivum, vgl. Holzung, Satzung, Stallung, Waldung,
Wandung. Demotiviert ist Zeitung. Die Basis bilden ausschließlich Simplizia.
3) Adjektivische Basis – ein unproduktives Modell – ist in synchroner
Sicht anzusetzen bei Dickung, Niederung, vielleicht auch Wüstung (wüst statt
Wüste ?).
4) Nicht wenige -ung-Bildungen sind heute völlig demotiviert und die
Herstellung der Motivationsbeziehungen des Grundmorphems macht
Schwierigkeiten. Entweder ist das als Basis dienende Wort (meist ein Verb)
230 2 Wortbildung des Substantivs
im freien Gebrauch nicht mehr üblich oder es handelt sich um eine jüngere
Entlehnung. Vgl. Innung zu mhd. innen ,in einen Verband aufnehmen‘,
Losung ,Erkennungswort‘ zu mhd. lōzen ,ein Los ziehen‘, Schöpfung zu mhd.
schepfen ,(er)schaffen‘ (wozu Schöpfer, schöpferisch), Böschung zu aleman-
nisch Bosch ,Strauch‘, Dünung ,Seegang nach Sturm‘ zu niederdt. dūnen
,auf und nieder wogen‘ (vgl. Dudenband 7, 2007, 364, 494, 736, 107, 161).
ierendes -el („potenziert“) wie Buch > Büchel > Büchelchen, erscheint
schließlich auch in anderen Fällen: Blümelchen, Sächelchen (Goethe), Schlän-
gelchen (A. Seghers), Fenstervorhängelchen (M. W. Schulz), Schlägelchen
,leichter Schlaganfall‘, Löchel-, Wägelchen u.a. Dieses Modell ist für Mittel-
deutschland schon im 14./15. Jh. nachweisbar (Kluge 1925, 30).
-erchen (wie in Prösterchen) entstand in Anlehnung an
a. Fälle wie Äckerchen, Hämmerchen (-er = Basisauslaut);
b. Derivate von Pluralformen wie Dinger-, Kinderchen (Wörterchen bei Her-
der);
c. deverbale Derivate auf -er (Rülpserchen).
Damit ist die Möglichkeit diminuierender Derivation von verbaler Basis
geschaffen (Schmeckerchen, s.u.).
4) Zum meist hypokoristischen Suffix -i ¢ 2.3.2.8.
5) Die übrigen Diminutivsuffixe spielen – wie angedeutet – in der Stan-
dardsprache nur eine geringe Rolle; sie sind an bestimmte Lexeme gebun-
den.
So erscheint -el in Bündel, Büschel (Gras-, Haar-), Krümel, Ränzel (< Ran-
zen), Stadtsäckel (vereinzeltes Maskulinum; ebenso landschaftlich der Han-
sel); nur in Komposita z.B. Bänkelsänger (,der von einer Bank aus seine
Moritaten vortrug‘), Heinzelmännchen (zum Personennamen Heinz), Rös-
selsprung.
Okkasionell werden expressivitätssteigernd einzelne oberdeutsche Bil-
dungen auf -le in Publizistik und Belletristik verwendet: Heimat. Zuhause-
sein […] Häusle und Ländle (Sonntag 1989); usuell geworden sind Häusl-
bauer/Häuslebauer. Ländle verzeichnet Dudenband 1 (2009, 670) als
„landsch[aftliche] Bez[eichnung] für Baden-Württemberg od[er] Vorarl-
berg“.
Niederdeutschen Ursprungs ist -ke (vgl. Familiennamen wie Hartke), z.T.
diminuierend in Appellativa wie Steppke (¢ 2.3.4.4).
Von den Fremdsuffixen haben z.T. diminuierende Funktion (nur in Ver-
bindung mit Fremdwörtern, meist Feminina) -ine (Sonate – Sonatine, Viola
– Violine), -ette (Oper – Operette, Zigarre – Zigarette, Statue – Statuette),
vereinzelt -it (Meteor-it, Maskulinum). Die Basis von Bildungen auf -elle ist
im Deutschen synchron unanalysierbar, doch ist diminuierende Bedeutung
erkennbar in Fällen wie Novelle ,kleine Erzählung‘ (seit 1523), Bagatelle
,Kleinigkeit‘ (1688), Frikadelle ,kleiner Fleischkloß‘ (1692) u.a.
6) Wie bereits erwähnt, können substantivierende Diminutivsuffixe bis-
weilen auch an eine Basis anderer Wortart treten, vor allem an Adjektive:
Frühchen ,Frühgeborenes‘, Dumm(er)chen, Grauchen ,Esel‘, Bräunchen
2.3 Suffixderivation 235
,Mädchen mit braunem Haar‘ (Goethe), so ein Kleinchen (Th. Mann), Groß-
chen ,Großmutter‘ (regional in Hessen), vgl. auch den Märchentitel „Schnee-
weißchen und Rosenrot“ (niederdt. Schneewittchen); ferner über substanti-
viertes Adjektiv Alterchen, Dickerchen, mein Besterchen (M. W. Schulz).
Deverbale Diminutivbildung ermöglicht -erchen: Nickerchen (zu ein-
nicken ,einschlafen‘), Schmeckerchen ,Leckerbissen‘.
Substantiviertes Pronomen als Basis: Ichlein (Erben 1976a, 230).
7) Die Wortbildungsbedeutung der Diminutiva ist nicht nur ,Verkleine-
rung‘, sondern die Derivate (und zwar nicht nur Personenbezeichnungen
und sonstige Konkreta, sondern auch Abstrakta) erhalten in Verbindung
damit eine emotionale Konnotation, vgl. Städtchen gegenüber kleine Stadt,
Kleinstadt (Dressler/Barbaresi 1994). Unter diesem Gesichtspunkt sind auch
Rieslein und Zwerglein möglich (vgl. Plank 1981, 94). Die Konnotation kann
emotional-positiv (Mütterchen, Küsschen, Händchen, Kätzchen, ein Wein-
chen!) oder emotional-negativ, pejorativ sein: Muttersöhnchen (dazu Vater-
söhnchen, Th. Mann), Bürschchen, Freundchen, Jüngelchen, du Kavalierlein
(E. Strittmatter), sein persönliches Rühmlein (L. Feuchtwanger). Welcher Art
die ausgedrückte Konnotation in der Verwendung ist, hängt ganz wesentlich
vom Kontext ab (Wolf 1997, 395 f.).
Die emotionale Konnotation behalten die Diminutiva auch bei adjekti-
vischer und verbaler Basis, nicht jedoch als Termini wie Elementarteilchen,
Blutkörperchen.
Hervorhebenswert ist die besondere Rolle des Diminutivsuffixes (in der
Regel -chen) bei Stoffbezeichnungen; es bewirkt hier eine Abgrenzung, Ver-
einzelung: Stäubchen ,Einzelteil von Staub‘, Lüftchen ,kleiner Luftzug‘, Zu-
ckerchen ,kleines Stück Zucker‘. Sie werden damit auch pluralfähig. In Hölz-
chen ,kleines Stück Holz‘, Gläschen ,kleines Trinkgefäß aus Glas‘ hat bereits
die polyseme Basis entsprechende Bedeutung.
Wie die meisten Diminutiva auf -el (s.o.) ist auch ein Teil derjenigen auf
-chen und -lein demotiviert: Veilchen und andere Pflanzenbezeichnungen,
Eichhörnchen, Frettchen und andere Tierbezeichnungen, Ohrläppchen, Kaf-
feekränzchen, Ständchen, Flittchen ,leichtlebiges Mädchen‘, Zipperlein (zu
mhd. zipfen ,trippeln‘) ,Gicht‘, Tötlein ,Totgeburt‘ (M. W. Schulz), Tödlein
(G. Keller), schon mittelniederdt. dödeken.
Nicht selten bilden Diminutiva eine stabile Komponente von Phrasemen;
-chen und -lein sind dann nicht austauschbar: aus dem Häuschen sein, sich ins
Fäustchen lachen, jmdm. ein Schnippchen schlagen.
236 2 Wortbildung des Substantivs
2.3.2.22 Movierung
2.3.3.1 Feminina
9) -ie (lat. -ia, französ. -ie) bildet mit exogenen Basen Kollektiva (Aristo-
kratie, Bourgeoisie, Bürokratie), Bezeichnungen für Wissenschaftszweige
(Ökonomie, Philosophie) und für Regierungs- bzw. Staatsformen (Demokra-
tie, Monarchie). In Bezeichnungen mit -log- (Geolog-, Philolog-) ist von einer
Konfixkombination auszugehen, von der die Personenbezeichnung mit -e,
die Wissenschaftsbezeichnung mit -ie und das entsprechende Adjektiv auf
-isch gebildet werden. – Nebeneinander stehen auch auf ein Konfix zu be-
ziehendes Substantiv auf -ie und Adjektiv auf -isch in Bildungen wie Apathie
– apathisch, Ironie, Hierarchie, Dynastie, Empirie u.a.; ohne Adjektiv neben
sich, aber mit Verb: (Müll-)Deponie, deponieren.
Zur Bildung von Personenbezeichnungen zu Substantiven auf -ie Fuhr-
hop 1998, 124ff.
10) -iere (französ. -ière): Die Bildungen lassen sich semantisch nicht zu-
sammenfassen. Motiviert sind Garderobiere durch Garderobe, Sauciere
durch Sauce; die übrigen Bildungen sind unanalysierbar. Portiere lässt sich
nicht auf Portier, Premiere (frz. premier ,erster‘) nicht auf Premier(minister)
beziehen.
11) -ik (griech.-lat. -ica, französ. -ique): Derivate von abstrakten Substan-
tivstämmen bzw. Konfixen sind Kollektiva: Motivik, Symbolik; z.T. mit
besonderen Derivationsstammformen: Gestik, Methodik, Rhythmik, Meta-
phorik; Problematik Programmatik, Thematik, Dramatik; zu Personenbe-
zeichnungen auf -ist: Germanistik, Publizistik, Realistik (konkurriert mit Re-
alismus). – Nebeneinander stehen, auf ein Konfix zu beziehen, Substantiv
auf -ik und Adjektiv auf -isch: Drastik – drastisch, Logik, Politik, Hektik,
Polemik, Spezifik, Kritik, Komik (vgl. DWb 2, 271ff.; Plank 1981, 217).
12) -ion (lat. -iō)/-tion/-ation bildet vorwiegend Verbalsubstantive zu
Verben auf -ieren; die Basis verfügt nicht selten über zwei Derivations-
stammformen: Explos ion – explod ieren, ferner Kollision, Division, Dekla-
mation, Delegation, Demonstration, Gestikulation, Variation, Kombination,
Konzentration.
Einige Wortbildungen sind den genannten Beispielen mit Beziehung auf
eine Verbalbasis anzuschließen, doch steht daneben auch noch ein Substan-
tiv oder Adjektiv: produzieren – Produktion – Produkt, abstrahieren – Ab-
straktion – abstrakt.
Die Überschneidung von -ion/-tion/-ation mit -ung (¢ 2.3.2.18[1.3]) – as-
similieren – Assimilation – Assimilierung – ist nur partiell; es gibt Verben auf
-ieren ohne Derivat auf -ion (nuancieren, plombieren u.a.), andererseits
solche ohne Derivat auf -ierung (vorwiegend intransitive Verben wie appel-
lieren, desertieren), und schließlich steht nicht neben allen Substantiven auf
2.3 Suffixderivation 243
-ion ein Verb auf -ieren (z.B. Resolution, Translation). Derivate auf -ion zu
Verben auf -ieren fehlen vor allem dann, wenn eine andere Ableitung ge-
bräuchlich ist: assistieren – Assistenz, bombardieren – Bombardement, kolpor-
tieren – Kolportage.
Mit den semantischen Unterschieden von -ion und -ung hängen syntak-
tische zusammen: Präzision des Ausdrucks (Genitivus subjectivus als Attri-
but) – aber Präzisierung der Aufgabe (die Aufgabe präzisieren – Genitivus
objectivus als Attribut); vgl. dazu Schäublin 1972, 81 f.
Eine Sondergruppe stellen -ion-Bildungen dar, die sich synchron nicht
auf ein Verb zurückführen lassen, ihrerseits aber zur Basis für Verben auf
-ieren (mit weiterer Derivation auf -ierung) geworden sind: Fusion – fusi-
onieren – Fusionierung, weiter Revolution, Subvention u.a.
Desubstantivische Derivate (selten) bezeichnen Vorgänge (Exkursion, Se-
kretion), z. T. einen höheren Grad der Abstraktheit als die Basis: Institut –
Institution.
Deadjektivische Derivate bezeichnen Eigenschaften bzw. Zustände von
Menschen: diskret – Diskretion, Desparation, Devotion; sie konkurrieren mit
Derivaten auf -heit ähnlich wie die Derivate auf -esse, vgl. Diskretheit. Die
Reihe ist nur schwach ausgebaut.
13) -ität (lat. -itās, -itātis, französ. -ité) ist nach -ion und -ie am stärksten
an der Bildung femininer Substantive beteiligt (zur Entwicklung der Lautge-
stalt von -teit über -tet zu -tät vgl. Öhmann 1967). Deadjektivische Wortbil-
dungen, meist Bezeichnungen von Eigenschaften und Zuständen, bilden die
größte Gruppe; bevorzugt werden (zum Folgenden DWb 2, 275 f.) Adjektive
auf -abel/-ibel (Respektabilität, Disponibilität), auf -al und -il (Banalität,
Stabilität), -ell (aber mit Ersatz von -ell durch -al: individuell – Individualität,
ferner Aktualität, Provinzialität, Sexualität; ¢3.3.3[5]), -os (Burschikosität,
Grandiosität), -iv (Naivität, Objektivität); Basen anderer Lautstruktur haben
Absurdität, Humanität, Frivolität, Solidität. Basisvariation zeigen u.a. antik
> Antiquität, integer > Integrität, nervös > Nervosität, porös > Porosität (re-
gelmäßiger Wechsel von -ös zu -os bei Derivaten auf -ität). Konfixbasis
haben Substantive auf -izität (vgl. lat. simplicitas), dazu Adjektive auf -isch
Authentizität – authentisch, Elastizität – elastisch; Elektrizität – elektrisch;
Klassizität – klassizistisch und wenige andere.
Eine Wortbildungsreihe von Sachbezeichnungen ist etwas schwächer aus-
gebildet: Extremität, Lokalität, Rarität, Spezialität u.a.
Desubstantivische Bildungen bleiben vereinzelt: Moralität, Quantität (zu
Quantum).
Zu -ität mit indigener Basis ¢ 1.9.3.2.2.
244 2 Wortbildung des Substantivs
Das Suffix -ität konkurriert mit -heit/-keit/-igkeit, allerdings selten bei der
gleichen Basis (Absurdität, -heit, Naivität, -heit), andererseits mit entspre-
chender Fremdbasis gegenüber indigener Basis von -heit (Illegalität – Unge-
setzlichkeit, Stabilität – Festigkeit, Effektivität – Wirksamkeit). Wie beim Ne-
beneinander von -ion und -ung ist auch hier zu bemerken, dass die Distri-
bution des exogenen Suffixes stärker eingeschränkt ist als die des indigenen.
Die Form -tät ohne -i- findet sich fast ausschließlich in Bildungen, die im
Deutschen unanalysierbar sind: Fakultät, Majestät, Pietät, Pubertät.
14) -itis (griech. Adjektivsuffix zur Bezeichnung der Zugehörigkeit) bildet
medizinische Termini mit den Merkmalen ,krankhaft‘, ,entzündlich‘,
,akut‘ (Nortmeyer 1987, 395), vgl. Bronchie ,gegabelter Teil der Luftröhre in
der Lunge‘ – Bronchitis. In nichtterminologischer Verwendung bedeuten
-itis-Derivate ,etwas, was als zu oft, zu viel benutzt, getan angesehen wird‘
(GWDS), vgl. ugs. scherzhaft Telefonitis, Rederitis ,Sucht, dauernd zu tele-
fonieren, zu reden‘; zu Weiterem, insbesondere zur steigenden Produktiviät
des Modells vgl. DWb 2, 241; Feine 2003; Müller 2005, 35f.
15) -ose (griech. -iōsis) bildet ebenfalls medizinische Termini als Krank-
heitsbezeichnung, im Unterschied zu -itis aber mit den Merkmalen ,dege-
nerativ, chronisch‘ bzw. ,Vergiftung‘ (vgl. Nortmeyer 1987, 394). Die Bil-
dungen sind teilweise weiter verbreitet; vgl. desubstantivisch: Furunkel –
Furunkulose, Tuberkel – Tuberkulose; Psyche – Psychose. Auf eine Konfixbasis
sind Verb und Substantiv zu beziehen in: Diagnose – diagnostizieren, Hypnose
– hypnotisieren. Von nicht dem medizinischen Sachbereich zugehörigen Bil-
dungen ist geläufiger Zellulose, daneben Zellstoff.
16) -ur (lat. ūra), -üre (französ. -ure), z.T. mit Allomorph -atur, bildet
Verbalsubstantive, vielfach zur Sachbezeichnung weiterentwickelt: broschie-
ren – Broschur, Broschüre; frisieren – Frisur, ferner Glasur, Lasur, Reparatur.
Desubstantivische Wortbildungen sind z.T. Kollektiva (Klaviatur, Line-
atur, Muskulatur, Tabulatur, Tastatur), z.T. zeigen sie eine breitere seman-
tische Fächerung: Agentur, Architektur, Kommandantur, Literatur.
2.3.3.2 Maskulina
2.3.3.5 Neutra
Suffixe, die ausschließlich Neutra bilden, sind außerordentlich selten. Wir
nennen die folgenden.
1) -ament (lat. -mentum) mit der Lautform [ment] wie in Fundament bzw.
-ement (französ. -ment) mit der Lautform [mã:] wie in Bombardement.
Beide Varianten bilden Verbalsubstantive zu Verben auf -ieren. Die erste
Variante ist seltener, die Derivate haben sich zur Sachbezeichnung entwi-
ckelt: Fundament < fundieren), Postament, Traktament. Die – häufigeren –
mit der zweiten Variante gebildeten Derivate sind teilweise Nomina Actio-
nis, teilweise beziehen sie sich mit auf das Ergebnis der Handlung: Abonne-
ment < abonnieren, Avancement, Arrangement, Bombardement, Engagement,
Räsonnement. – Raffinement ist durch die adjektivische Partizipialform raf-
finiert motiviert, die sich semantisch vom Verb raffinieren gelöst hat.
2) -arium (lat.) bildet desubstantivische Nomina Loci, vorwiegend für
künstlich geschaffene Anlagen: Delphinarium, Insektarium (auch Insekten-
garten), Planetarium, Rosarium, Troparium (Warmhaus für Tropenpflan-
zen).
3) -ing kommt zunehmend mit englischen Wörtern ins Deutsche, die all-
mählich einzelne analysierbare Wortfamilien konstituieren: Camping –
Camp – Camper – campen, Leasing – leasen, Shopping – shoppen – Shop,
Trekking/Trecking zu Treck, trekken/trecken. An indigenen Basen ist -ing im
Standard noch selten (Mieting), in Substandardschichten dagegen wird es
für scherzhafte Bildungen (Nomina Actionis) relativ unrestringiert verwen-
det (kitchen hin und her laufing; Titel eines Amateurvideos, Internet 2010;
¢ 2.3.2.10).
2.3 Suffixderivation 249
slawischen Ortsnamen stammenden Elemente -in, -itz und -ow; sie finden
sich auch in sekundären (detoponymischen) Personennamen. Entspre-
chend der fremdsprachlichen Herkunft dieser Elemente lässt sich die Basis
nur in einem Teil der Fälle mit einem deutschen Appellativum oder Perso-
nennamen in Verbindung bringen (unabhängig davon, wie die heutigen
Formen historisch entstanden sind): Albertitz, Bahnitz, Bornitz, in der mit
-w- erweiterten Form: Bellwitz, Bockwitz, Kalkwitz, Ihlewitz; zu -ow, Laut-
form [o:]: Bornow, Lindow, Ihlow.
Das Element -en begegnet nur noch selten. Es wird als Flexionssuffix im
appellativischen Wortschatz stark beansprucht, auch in der Verbalflexion,
dient als Derivationssuffix der Stoffadjektive und ist deshalb meist durch das
weniger belastete und eindeutigere -ien ersetzt worden. Man vgl. etwa noch
Norwegen, Polen, Schweden, Jemen, Libyen; ferner Hessen, Sachsen, Preußen.
Hierbei wird deutlich, dass es sich ursprünglich um die Bezeichnung der
Stämme handelte, die auf deren Territorium übertragen wurde.
2.3 Suffixderivation 253
Es kann nicht Aufgabe dieser Darstellung sein, auf die unproduktiven Suf-
fixe in aller Ausführlichkeit einzugehen. Doch entsprechend dem unter 1.1.3
und 1.7.1 Gesagten können sie nicht völlig ausgeschlossen werden. Wir
werden die Problematik am Suffix -t näher erörtern und danach einige
weitere Wortbildungsmodelle kurz skizzieren.
1) Paare wie fahren – Fahrt, nähen – Naht lassen den Motivationszusam-
menhang zwischen verbaler Basis und Verbalsubstantiv formal und seman-
tisch deutlich erkennen. Weniger deutlich, aber doch nachvollziehbar ist er
in tragen – Tracht, schlagen – Schlacht, fliehen – Flucht, ziehen – Zucht, schrei-
ben – Schrift, treiben – Trift und wohl auch in sehen – Sicht. Die formal gering
differenzierten Basen von Verb und Substantiv sind Stammvarianten. Die
Variante mit auslautendem Reibelaut tritt nur in Verbindung mit dem Sub-
stantivsuffix -t auf. Wortbildungen wie Abfahrt, Einsicht sind also deverbale
Derivate komplexer Verben, keine Komposita.
In Paaren wie pflegen – Pflicht, biegen – Bucht, drehen – Draht ist der
semantische Zusammenhang verdunkelt, sodass auf synchroner Ebene die
Substantive nicht mehr auf die Verben bezogen werden können, sondern als
Simplizia zu betrachten sind. Grenzfälle dürften vorliegen in graben – Gruft,
siechen – Sucht; doch liegt u.E. ihre Auffassung als Simplex näher.
Etwas anders sind die nicht seltenen Bildungen mit -kunft zu beurteilen,
vgl. An-, Ein-, Unter-, Zukunft. Sie lassen einen deutlichen semantischen
Zusammenhang mit den Partikelverben ankommen usw. erkennen, vgl. die
okkasionelle Kontamination Vergegenkunft („eine vierte Zeit“, G. Grass), die
durchaus verständlich ist. Im Unterschied zu -sicht, -sucht usw. existiert
-kunft nicht als freies Substantiv, jedenfalls nicht im allgemeinen Gebrauch.
Die Wortbildungen sind also wie das Modell abschreiben > Abschrif t zu
erklären: ankommen > ankunf t, wobei ankunf eine Variante von ankomm in
Verbindung mit -t darstellt. – In einigen Fällen stehen daneben deutlicher
motivierte Derivate mit -ung, teilweise semantisch differenziert: Abschrift –
Abschreibung, Vorsicht – Vorsehung.
2.4 Präfixderivation 255
2) Prinzipiell auf gleiche Weise sind die Wortbildungen auf -de zu behan-
deln (zur Geschichte vgl. Wilmanns 1899, 339 ff.). Allerdings ist ihre Zahl
heute kleiner, und sie sind auch weniger frequentiert. Motivationsbeziehung
zu einem Verb ist noch erkennbar in sich beschweren – Beschwerde, sich
freuen – Freude, zieren – Zierde, ferner bei einigen Zirkumfixen mit ge-…-e
(¢ 2.5). Isoliert sind dagegen Fehde (mhd. vēhen ,feindlich behandeln‘), Be-
hörde (mhd. behœren ,zugehören, zukommen‘) u.a. Teilweise konkurrieren
Wörter ohne -de wie Zier/de, Neugier/de, Begier/de (so nicht selten schon
mhd.: Wilmanns 1899, § 260 Anm. 1).
Mit adjektivischer Basis waren die -de-Derivate besonders zahlreich
(mhd. ermede ,Armut‘, dünnede ,Dünnheit‘); davon sind heute nur mund-
artliche Wortbildungen wie Dickde ,Dicke‘, Längde, Wärmde erhalten.
3) Repräsentanten weiterer, heute unproduktiver Wortbildungsmodelle
im nhd. Wortschatz sind u.a.: arm – Armut, Heim – Heimat, Zierrat (ahd.
-ōti), freien – Freite ,Brautschau‘, vorwiegend im Phrasem auf die Freite
gehen (vgl. Wilmanns 1899, 348), blühen – Blüte, jagen – Jagd, mähen – Mahd.
2.4 Präfixderivation
2.4.1 Grundsätzliches
Es bedeutet ,von Grund auf in Bezug auf das in der Basis Genannte; das
Genannte ganz und gar verkörpernd‘ (Dudenband 10, 2002, 343) und wirkt
emotional verstärkend (Erzmusikant, Erzrivale).
Die Basissubstantive sind hauptsächlich entweder pejorative Personen-
bezeichnungen (Erzbösewicht, -feind, -gauner, -halunke, -lügner, -lump,
-schurke, -spitzbube) oder Bezeichnungen für Personen nach ihrer religiösen
oder politischen Überzeugung (Erzdemokrat, -faschist, -kapitalist, -katholik,
-kommunist, -protestant). Okkasionelle Bildungen kommen vor, bleiben
allerdings selten: rechte Erzlustigmacher (J. J. Bodmer), Erz-Ästheten
(Th. Mann), Erz-Gegner, Erz-Islamist, Erz-Konkurrent, Erz-Mime, Erz-Non-
konformist (alle PDW 2005; in nicht regelgerechter Bindestrichschreibung
belegt).
Unproduktiv ist das Präfix heute in der ursprünglichen Bedeutung mit
Wörtern wie Erzkanzler, -herzog u.Ä.
In Verbindung mit Sachbezeichnungen tritt das Präfix nicht auf; mit Ab-
strakta nur vereinzelt: Erzdummheit, -feindschaft, -übel.
Zu gelegentlicher Konkurrenz mit ur- ¢ 2.4.2.6.
hebt das Wesentliche hervor, das einer Sache „zugrunde“ liegt (daher pa-
raphrasierbar durch Syntagmen mit zugrunde liegend, grundsätzlich), haupt-
hebt hervor, was als wichtig angesehen wird (daher paraphrasierbar durch
Syntagmen mit hauptsächlich). So kommt es zu semantischen Differenzen:
Grundbegriff – Hauptbegriff, Grundkenntnisse – Hauptkenntnisse.
In Ansätzen konkurrieren noch andere kompositionelle Erstglieder, z.B.
Kern- (Kern-, Haupt-, Grundproblem), Schwerpunkt- (Haupt-, Schwerpunkt-
aufgabe).
Nahe stehen sich un- und miss- in Un-, Missmut, Un-, Missbehagen, Un-,
Missetat; Fehl-/Missgriff; antonymisch z.T. Wohl- (¢ 2.6.2.3.1).
Das Präfix wird mit simplizischem (Unart, -dank, -fall) oder komplexem
Substantiv (Untiefe, -dichte) sowie mit Präfixbildungen (Unursprünglichkeit)
verbunden. Die nicht seltenen Wortbildungen Unabhängigkeit, Unbeschei-
denheit, Unsicherheit u.Ä. können als Präfixbildung mit Substantiv als Basis
(Un abhängigkeit) oder als -heit/-keit-Derivat mit Adjektiv als Basis (Unab-
hängig keit) aufgefasst werden. Zahlreiche un-Substantive lassen sich nur als
Derivate mit dem Suffix -keit interpretieren: Unbändigkeit, -begreiflichkeit,
-nahbarkeit, -wirtlichkeit u.a.
Die Wortbildungsbedeutung zeigt auch hier – wie bei miss- – eine Ver-
flechtung von Negation und Wertungsumkehrung, vgl. z.B. „Da ich zwar
kein Widerkrist, kein Unkrist, aber doch ein dezidierter Nichtkrist bin …“
(Goethe an Lavater, zit. nach Weiß 1960, 336f.). Daher tendiert un- zur
Verbindung mit Substantiven, die sich auf positiv bewertete Begriffe bezie-
hen, deren Negation zugleich negative Wertung impliziert: Unaufrichtigkeit,
-anständigkeit, -geduld, -gehorsam, -ordnung, -ruhe u.v.a. Die umgekehrten
Fälle, Verbindung mit Wörtern für negativ bewertete Begriffe, ist viel selte-
ner: Unschuld, -missverständlichkeit; Letzteres allerdings auch als Suffixde-
rivat interpretierbar.
In einigen Fällen unterscheiden sich negierende un-Bildungen grammatisch von ihren
Basen, und zwar hinsichtlich des Zulassens von Komplementen: Dank für die Hilfe –
*Undank für die Hilfe; Lust zu einem Ausflug – *Unlust zu einem Ausflug; vgl. hierzu
detailliert Lenz 1995, 80ff.
,wenn das nicht der Fall ist‘, Meusebach an J. Grimm), Unkraut, Unsitte,
Untempus (Bezeichnung für das deutsche Präsens), Untier, Unwetter,
Unwort, zur Unzeit; „das Unbild dieser unausführbaren Gefräßigkeit“
(Th. Mann); hierher auch schweizerdeutsche abwertende Wortbildungen
wie Unkuh, -schaf. Zu den Motivationsbeziehungen in Wortbildungen wie
Unstern zu Stern ,glücklicher Zufall, Umstand‘, Unmensch zu Mensch ,be-
stimmte moralische Normen beachtende Person‘ vgl. Schnerrer (1982, 49).
Abgesehen von den genannten Unmensch sowie Unperson (nach engl.
unperson), werden Personenbezeichnungen selten durch un- präfigiert; vgl.
etwa noch: „Scher dich in die Küche, Unweib…“ (H. Baierl); Helden und
Unhelden (E. Strittmatter); Unsportler (PDW 2006), Unfrau, Untochter
(belegt bei Lenz 1995, 18f.) Eine scheinbare Ausnahme machen zahlreiche
substantivierte Adjektive bzw. Partizipien: der Untätige, Unwissende, Unbe-
kannte. Hier sind jedoch in der Regel eher Konversionen adjektivischer bzw.
partizipialer Präfixbildungen anzunehmen (untätig > ein Untätiger).
In der Verflechtung von Negation und Wertungsumkehrung kann Letz-
tere auch zurücktreten, sodass zwischen Nicht- und un- kaum noch ein
Unterschied besteht. Das ist besonders in Texten der Wissenschaft der Fall,
vgl. z. B. Unparallelität – Nichtparallelität, Unschuld – Nichtschuld (Rechts-
sprache); ferner: bei der Nichterkennbarkeit und Unveränderbarkeit der Welt
(Weltbühne 1981). Dennoch bleibt die Konkurrenz selten.
In einer weiteren Wortbildungsreihe ist die Negation bei Zahlbegriffen als
,nicht bis zu Ende zählbar, nicht überschaubar‘ aufzufassen, woraus sich un-
bei Mengenbezeichnungen als Verstärkungs-, Steigerungspräfix entwickelt
hat: Unmasse ,ungeheuer große Masse‘, Unmenge, -summe, -zahl. Auch Un-
kosten als ,unvorhergesehene, neben den normalen Ausgaben entstehende
Kosten, zusätzlich‘ (vgl. auch älteres Ungeld ,Abgabe‘) ließen sich hierher-
stellen und die Doppeldeutigkeit von Untiefe, eigentlich ,nicht tiefe Stelle‘,
aber schon seit dem 18. Jh. auch als ,besonders tiefe Stelle‘ aufgefasst, rührt
hierher.
In einer Reihe von Un-Präfigierungen kommt die Basis als freies Simplex
nicht mehr vor (vgl. Schnerrer 1982, 49; Lenz 1995, 97ff.; ¢ 1.6.5): Unflat
(mhd. vlāt ,Zierlichkeit, Schönheit‘); Ungeziefer (ahd. zebar ,Opfertier‘); z.T.
sind es unikale Komponenten von Phrasemen (mit Fug und Recht, dazu
Unfug).
1) Die Negationspräfixe sind bei den Adjektiven stärker entwickelt als bei
den Substantiven. Hier begegnen selten a-, vor Vokalen an- (Analphabet),
ferner in- (Invariante), bisweilen auch in einer durch Assimilation an den
folgenden Konsonanten entstandenen Variante (Illegalität, Irregularität, hier
2.4 Präfixderivation 263
Rothstein (2009, 455) fasst ex-, alt-, noch- und jetzt- als „Wortbildungselemente mit
zeitlicher Bedeutung“ zusammen, die Basissubstantive temporal modifizieren, vgl.
unser Ex-Rentenstaatssekretär, Ex-IWF-Direktor und Jetzt-Bundespräsident (PDW 2006).
4) Das Präfix ko- (kon-, kol-, auch co-, lat. ,zusammen mit‘) entspricht
indigenem bei- oder mit-, vorwiegend bei Personenbezeichnungen wie Ko-
pilot/Copilot, Kollaborateur, Koregisseur, Kovorsitzender, Koautor. Ist die
Basis keine Personenbezeichnung, sind im Allgemeinen andere indigene
Entsprechungen üblich: Koexistenz ,(friedliches) Nebeneinanderleben‘, Ko-
edukation ,Gemeinschaftserziehung‘; Kontext ,Textzusammenhang‘, Koope-
ration ,Zusammenarbeit‘. Indigene Basen haben stattdessen bevorzugt mit-:
Miterbe, -häftling, -mensch (aber gelegentlich auch mit- an Fremdbasis: Mit-
autor). Okkasionell finden sich zahlreiche Belege für Wortbildungen mit co-
an indigener bzw. „gemischter“ Basis: Co-Besetzung, -Verwaltung, Co-Bun-
destrainer, Co-Aufsichtsratschef (PDW 2006); meist mit Bindestrich.
5) Das Präfix prä- (lat. ,vor‘) ist in analysierbaren Wortbildungen des All-
gemeinwortschatzes nur gering vertreten; es handelt sich meist um einzelne
2.4 Präfixderivation 265
1) Das Präfix mhd. aber- ,wieder, entgegen‘ (vgl. Wilmanns 1899, 575)
entwickelte die Bedeutung der Verstärkung, nhd. noch in Aberhundert(e),
-tausend(e), sowie die Bedeutung des Verkehrten, Falschen, nhd. noch in
Aberglaube, -witz ,Unsinnigkeit‘.
2) Das Präfix after-, homonym mit dem Substantiv der After und auch
etymologisch identisch damit, ist nhd. vertreten in analysierbaren Wortbil-
dungen wie Afterglaube ,Irrglaube‘, -lehre, -rede, -weisheit, vom GWDS als
veraltend kodifiziert, jedoch – im Unterschied zu den obengenannten Wort-
bildungen mit aber- – im Sprachgebrauch nicht mehr lebendig. Das ältere
Neuhochdeutsche kennt eine weit größere Zahl entsprechender Bildungen
(vgl. Kluge 1925, § 74); sie sind wegen des störenden semantischen Einflus-
ses von After durch andere ersetzt worden.