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2.

2 Komposition 127

Weitere Transpositionsarten des Substantivs (wie Käse > Käserei) werden bei
den einzelnen Suffixen behandelt (¢ 2.3).

2.2 Komposition

2.2.1 Grundsätzliches

2.2.1.1 Stabilität der Wortstruktur


Das typische substantivische Kompositum ist binär gegliedert (¢ 1.7.1.1) und
prinzipiell durch die Stabilität der Wortstruktur gekennzeichnet. Es ist ex-
pansionsfest, die Konstituenten werden zusammengeschrieben und sind
morphologisch und syntaktisch untrennbar. Der Hauptakzent liegt auf der
ersten unmittelbaren Konstituente (vgl. des Mòndes Lı́cht – Móndlı̀cht,
frèmde Spráche – Frémdspràche). Die Reihenfolge der unmittelbaren Kon-
stituenten des Kompositums ist grammatisch relevant (¢ 1.8.1.1). Zum Ver-
hältnis von Kompositum und Syntagma ¢ 1.2.2.
Die genannten prinzipiellen Strukturregeln gelten nicht ohne Ausnah-
men:
1) Die Zusammenschreibung ist nicht für alle Kompositionsarten obliga-
torisch. Komplexe Entlehnungen aus dem Englischen, bestehend aus Ad-
jektiv + Substantiv, sind z.T. auch in Getrenntschreibung zulässig (Soft
Drink, Hot Pants). Erstgliedbetonung sowie Unflektiertheit des Adjektivs als
dominante Kompositionsmerkmale sichern dennoch die Wahrnehmung
der Bildungen als ein Wort. Auch die Konstituenten mehrgliedriger kom-
positioneller Eigennamen stehen oft unverbunden nebeneinander, vgl. Erich
Schmidt Verlag, Ernst Klett Verlag.
Zu weiteren Lockerungen der Stabilität des Kompositums ¢ 2.2.1.2.
2) Wortinterne Flexion ist nicht gänzlich ausgeschlossen; sie tritt bei Phra-
senkomposita mit einem Erstglied aus Adjektiv und Substantiv auf, vgl. der
Roten-Kreuz-Schwester (woneben auch der Rotkreuzschwester u.a., vgl. Du-
denband 1, 2009, 912), aus der Kalten-Kriegs-Zeit (Lawrenz 2006, 71ff.;
¢ 2.2.9).
128 2 Wortbildung des Substantivs

Adjektivische Erstglieder können regulär mit superlativischem -st- ver-


wendet werden: Höchstleistung, Klein-/Kleinstminen, Reinstmetall.
Von der noch bis 1991 regelgerechten wortinternen Flexion in die Lang-
weile/Langeweile, der Lang(e)weile und Langenweile, ebenso in das Hohelied/
des Hohenliedes (Dudenband 1, 1991, 432, 342) sieht man heute ab. Die
Verbindungen werden bei flektiertem Erstglied jetzt als Syntagmen aufge-
fasst (das Ende der langen Weile, aus langer Weile; Hohes Lied, des Hohen
Liedes, dem Hohen Lied; Dudenband 1, 2009, 670, 547).
3) Ein abweichendes Akzentmuster haben
– einzelne Kopulativkomposita (Schlèswig-Hólstein, Bàden-Wűrttemberg);
– Konfixkomposita mit Fremdelementen wie Dı̀skothék (¢ 1.9.3.1);
– Komposita mit Durchkopplungsbindestrich (¢ 2.2.9; ¢2.2.12.5), unabhän-
gig davon, wie komplex das Erstglied ist (Èbbe-Flút-Wı̀rkung, Hàls-Nà-
sen-Óhren-Àrzt);
– sonstige polymorphemische Komposita (Dudenband 4, 2009, 50).
Bei Letztgenannten hat der Sprechrhythmus stärkeren Einfluss auf die
Akzentuierung (differenzierte Übersicht bei Stötzer 1977; zum Grundsätz-
lichen der Akzentuierung vgl. auch Wurzel 1980, 309 ff.).
4) Nicht als Komposita gelten Wortbildungen wie ein Fußbreit, (nicht) um
ein Haarbreit, ein Maßvoll, eine Handvoll, eine Zeitlang, einen Mundvoll
Dampf herauspuffen (A. Seghers). Sie werden hier der Konversion zuge-
ordnet, weil das Zweitglied keine Kopffunktion übernimmt.
Dass sich unter den Komposita mit -mut nicht nur die zu erwartenden
Maskulina (der Hoch-, Gleichmut), sondern auch Feminina (die Groß-, Weh-
mut) finden, erklärt sich aus dem doppelten Genus des alten muot; deshalb
tritt es auch heute noch in Männer- wie Frauennamen als Zweitglied auf
(Hartmut – Almut).
Über die besonderen Verhältnisse bei den Kopulativkomposita und ihnen
nahe stehenden Wortbildungen ¢ 2.2.2.5; ¢ 2.2.2.6; zum interlingualen Ver-
gleich der Komposition Olsen 2000; Donalies 2003.

2.2.1.2 Lockerung der Stabilität


Lockerungserscheinungen in der Stabilität der kompositionellen Wortstruk-
tur sind in der Regel textgebunden, d.h. okkasionell. Sie können bis zur
Reduktion oder sogar zum Verlust des Kompositumscharakters führen.
Eine Lockerung der Wortstruktur stellt die sog. strukturelle Destruktion
bzw. Destabilisierung dar (vgl. Abramov 1970). Sie dient der Vermeidung
von störender ausdrucksseitiger Redundanz, indem das gleiche Komposi-
tionsglied in Reihen von Lexemen eliminiert und durch den Ergänzungs-
2.2 Komposition 129

bindestrich ersetzt wird: Haus- und Gewerbemüllentsorgung, Kanalreinigung


und -sanierung. Die separierten Teile müssen nicht Wortgrenzen entspre-
chen, vgl. Wasserab- und Überlaufventil, Be- und Entladerampe. In der Regel
treten keine Verstehensprobleme auf, auch nicht bei mehr als einer Auslas-
sung derselben Konstituente wie in Kommunal- sowie Bundes- und Landes-
politiker (LVZ 2010). Wenn allerdings die Komplexität der Komposita zu-
nimmt und in beiden der verbundenen Lexeme ein Segment eliminiert wird,
kann die Verständlichkeit des Ausdrucks beeinträchtigt sein wie in Selbsthil-
fekontakt- und -informationsstelle < Selbsthilfekontaktstelle und Selbsthilfe-
informationsstelle. Auch Derivate werden auf diese Weise koordiniert (Klar-
und Schlankheit, LVZ 2010).
Noch weiter geht die Destruktion, wenn die durch den Ergänzungsbin-
destrich ersetzte Konstituente mit adjektivischem Attribut durch und ange-
reiht wird: in der Berg- und metallurgischen Industrie. Bildet das attributive
Syntagma den ersten Bestandteil der Reihe, so entfällt das Substantiv und
das Adjektiv ist auf das Zweitglied des Kompositums zu beziehen: in poli-
tischen und Fernsehdiskussionen, keramische und Glasindustrie (weitere Bei-
spiele für diese „Verschränkungen von Wortbildungs- und syntaktischer
Determination“ bei Bär 2007, 325).
Um eine semantische Destabilisierung handelt es sich bei der Verlagerung
der Gesamtbedeutung eines Kompositums auf die erste oder die zweite un-
mittelbare Konstituente, die dann anstelle des Kompositums als eine Art
Kurzform gebraucht wird: Anwalt für Rechtsanwalt und Platte für Schall-
platte oder Plattenbau (¢ 1.3.3; ¢2.7.1).
Als Lockerung der Wortstruktur ist ferner die sog. Remotivation zu be-
trachten (Hoch-Zeit, ¢ 1.5.4.1).
Verschiebungen vom Kompositum zum Simplex ergeben sich über längere historische
Zeiträume durch Substanzreduktion un- oder schwachbetonter Glieder, vgl. z.B. Nach-
bar, mhd. nāchgebūre, Grum(me)t, mhd. gruonmāt ,zweite Mahd des Grases‘, Welt, ahd.
weralt ,Zeit-, Mannesalter‘. Die historische Wortbildungsforschung spricht von ver-
dunkelten Zusammensetzungen; die synchrone Beschreibung der Gegenwartssprache
hat derartige Wörter als Simplizia zu behandeln.

2.2.1.3 Semantische Eigenschaften


Der formativstrukturellen Stabilität des substantivischen Kompositums ent-
sprechen bestimmte semantische Eigenschaften.
Dabei unterscheiden wir konstruktionsexterne Beziehungen der Kom-
posita innerhalb von Satz und Text, wie beispielsweise die pronominale
Bezugnahme auf Komposita oder deren Attribuierung (¢ 1.2.2; ¢ 1.4;
¢ 1.8.1.1) sowie konstruktionsinterne Beziehungen zwischen den unmittel-
baren Konstituenten. Letztgenannte zeigen folgende Charakteristika:
130 2 Wortbildung des Substantivs

1) Die semantischen Beziehungen zwischen den unmittelbaren Konstitu-


enten des Kompositums (die Wortbildungsbedeutungen, ¢ 1.5.4.2) sind in
geringerem Maße explizit als in Syntagma und Satz. Auch im Syntagma
können dem gleichen Strukturmodell unterschiedliche Beziehungen zu-
grunde liegen, aber es besteht grundsätzlich die Möglichkeit der Verdeutli-
chung (z.B. durch Einschub lexikalischer Elemente) auf der gleichen Ebene.
Das ist beim Kompositum nicht der Fall. Die spezielle semantische Bezie-
hung zwischen den unmittelbaren Konstituenten kann nur durch Para-
phrasierung (¢ 1.1.4), d.h. durch den Übergang auf die Ebene des Syntagmas
bzw. Satzes explizit gemacht werden: Sonnenschutz – Schutz gegen die Sonne,
Kopfschutz – Schutz für den/am Kopf, Arbeitsschutz – Schutz (gegen Unfälle)
bei der Arbeit, Versicherungsschutz – Schutz durch eine Versicherung; vgl. auch
Minderheiten-, Mund-, Natur-, Quellen-, Schall-, Selbstschutz usw.
Damit werden die weitgehenden, nahezu unbegrenzten semantischen
Möglichkeiten der kompositionellen Verbindung von Wörtern deutlich.
Dennoch ist für unkonnotierte Neubildungen üblicherweise eine gewisse
semantische Nähe der Konstituenten erforderlich, vgl. z.B. die sich aus der
in wörtlicher Bedeutung unerwartete Verbindung ergebende Expressivität
von Komposita wie Pflanzenhölle (M. Mosebach), Mondwein (Ch. Wolf),
Sommerlügen (B. Schlink). Hier werden konzeptuell normalerweise nicht
miteinander in Beziehung stehende Begriffe zu einem neuen Begriff zusam-
mengefügt, den der Rezipient nicht allein mithilfe der Motivationsbedeu-
tung erschließen kann. Er muss bei der Rezeption nichtstandardisierte kon-
zeptuelle Verbindungen herstellen, sodass die Wortrezeption, vom Schreiber
beabsichtigt, bewusst erfolgt und entsprechende Wortneubildungen stilbil-
dend wirken (¢ 1.4.2.1).
2) Das Erstglied eines Kompositums verfügt nicht mehr ohne Weiteres
über die doppelten Möglichkeiten der Beziehung entweder auf eine Klasse
von Gegenständen oder einen bestimmten Einzelgegenstand, die einem Ap-
pellativum außerhalb von Wortbildungen gegeben sind: der Brief ,Klasse der
Briefe‘ oder ,dieser hier liegende Brief‘. In dem Kompositum Briefumschlag
ist die individualisierende Komponente eingeschränkt, es dominiert die ge-
nerelle Klassenbeziehung: ,Umschlag für die Klasse von Gegenständen
Brief‘. Dies gilt auf jeden Fall für lexikalisierte Bildungen. Für okkasionelle
Komposita können sich Ausnahmen ergeben (vgl. Ortner/Ortner 1984, 38).
3) Kompositionsglieder tendieren zur Reduzierung oder Beseitigung der
Polysemie. Im Kompositum Zugkraft ist nur eine der mehr als 10 Lesarten
von Zug und nur eine der 4 Lesarten von Kraft aktualisiert (Lesarten nach
GWDS). Andererseits ist die Polysemie teilweise bewahrt in Zugführer
2.2 Komposition 131

,Führer einer kleinen Truppeneinheit‘ oder ,verantwortlicher Begleitschaff-


ner eines Eisenbahnzuges‘. Schließlich kann das Zweitglied eines Kompo-
situms eine Lesart haben, die beim freien Substantiv fehlt, vgl. Reichstag,
Bundestag ,Parlament‘. Nach Schu (2005, 261) liegen in solchen Fällen
„morphologisch gebundene Grundwörter“ vor, vgl. auch -land ,Vergnü-
gungspark‘ in Legoland, Spielzeugland; -mobil ,Fahrzeug‘ in Elektro-, Kult-,
Luxusmobil (PDW 2005), Reise-, Spaß-, Wohnmobil; -telefon ,Beratungs-
stelle‘ in Krisen-, Kummer-, Nottelefon.
Bei lexikalisierten metaphorischen Komposita wie Hamsterkauf ,Einkauf
von [weit] über den unmittelbaren Bedarf hinausgehenden Mengen von
Waren zur Schaffung eines Vorrats‘ (GWDS); Hamsterpreis ,(durch Hams-
terkäufe) überhöhter Preis von bestimmten Waren‘ (GWDS) dominiert
meist die metaphorische Lesart; eine wörtliche Lesart ist im Text jedoch
unter Umständen aktualisierbar: Hamsterkauf scherzhaft ,der Kauf von
Hamstern‘ (hier mit Umdeutung des Erstgliedes vom Verb hamstern zum
Substantiv Hamster).

2.2.1.4 Kompositum und Syntagma


Die Genese substantivischer Komposita vollzieht sich in unterschiedlichen
Bildungsprozessen, gesteuert von unterschiedlichen kommunikativen und
kognitiven Bedürfnissen. Nicht in jedem Fall handelt es sich um die Uni-
verbierung eines bereits mehr oder weniger üblichen Syntagmas, und auch
wo dies zutrifft, müssen die Prozesse nicht gleichgeartet sein. Auf diese
Fragen kann hier nur kurz hingewiesen werden.
1) Die Univerbierung eines Syntagmas als „sachlicher“ Bezeichnung eines
Gegenstandes entspricht in der Regel den Bedürfnissen nach handlicher
Kürzung für den Alltagsgebrauch: acht Stunden währender Arbeitstag – acht-
stündiger Arbeitstag – Achtstundentag.
2) Etwas anders als bei der Bezeichnung von Gegenständen verhält es sich
bei einem Phänomen, das mit der Suche nach einer fixierenden sprachlichen
Bezeichnung erst an begrifflichen Konturen gewinnt: Der Prägung des Ro-
mantitels Kindheitsmuster durch Ch. Wolf (1976) gingen Umschreibungen
voraus wie „Verhaltensmuster […], die Kindheit und Jugend bestimmten“
(1974), „Reaktions- und Verhaltensweisen, die, in der Kindheit einge-
schleust, die Struktur der Beziehungen eines Charakters zu seiner Umwelt
weiter bestimmen“ (1974) sowie Komposita wie Erlebnismuster (1972),
Kindheitslandschaft (1974).
3) Entsprechend der syntaktischen Funktion der Wortbildung (¢ 1.2.2)
dient die kompositionelle Univerbierung auch der zusammenfassenden
132 2 Wortbildung des Substantivs

Wiederaufnahme des vorangehenden Satzinhalts in Folgesätzen: „Bisher gab


es keine Möglichkeiten, das Grundwasseralter direkt zu bestimmen […]. Die
Methoden der Grundwasser-Altersbestimmung können […]“ (TZ 1977).
4) Das substantivische Kompositum mit einem Adjektiv bietet die Mög-
lichkeit, ein weiteres adjektivisches bzw. partizipiales Attribut deutlich ab-
zusetzen: die folgenden Spätwirkungen sind noch nicht abzusehen (TZ 1978).
Die dem Verständnis der unterschiedlichen Gewichtung beider Attribute
u.U. hinderliche lineare Aufreihung (folgenden späten) wird so vermieden.
5) Im Dienste stilistischer Ausdrucksverbesserung – hier durch Vermei-
dung einer Attributdoppelung – steht die kompositionelle Univerbierung
des Syntagmas Neugründungen von Haushalten in der Rückgang von Haus-
haltsneugründungen (LVZ 2010) – und nicht: Rückgang von Neugründungen
von Haushalten; vgl. auch eine Überarbeitung des Konzepts des Winterdienstes
vs. eine Überarbeitung des Winterdienstkonzepts (LVZ 2010).
6) Modellbildungen ohne den Umweg über ein Syntagma sind für die
nominative Funktion der Wortbildung charakteristisch, vgl. das Komposi-
tionsmodell aus Verbstamm + Substantiv mit finaler Wortbildungsbedeu-
tung (Bohr-, Kehr-, Näh-, Suchmaschine).
7) Auch die Produkte analog-holistischer Wortbildung (¢ 1.7.2.1) sind
nicht als Univerbierung eines Syntagmas anzusehen; vgl. Kindergeld – El-
terngeld – Partnergeld; „Der Fahrstuhl im Landgericht ist ein Standstuhl“
(Beispiel in Poethe 2002, 25); sein Ohrenmerk auf etw. richten ,aufmerksam
zuhören‘ zu sein Augenmerk auf etwas richten.
8) Unmittelbare kompositionelle Bezeichnungen sind ferner metonymi-
sche und metaphorische Wortbildungen wie Bürgertelefon, Hoffnungsschim-
mer, Impfpistole, Fahrstuhlmannschaft ,Mannschaft, die häufig von einer
Spielklasse in die nächsthöhere aufsteigt und in der nächsten Saison wieder
absteigt‘ (GWDS) u. Ä.
9) Das prinzipielle Nebeneinander von zwei Bezeichnungsstrukturen
(Syntagma – Kompositum) führt nicht zu einer prinzipiellen praktischen
Koexistenz äquivalenter Nominationseinheiten in allen Fällen, obwohl auch
dies eintritt (soziale Leistungen – Sozialleistungen). Die Gebrauchsdifferen-
zen liegen dann auf textstruktureller bzw. stilistischer Ebene. Wie aus obigen
Darlegungen ersichtlich, vgl. besonders 6), 7), 8), ist als Nominationseinheit
aber vielfach nur das Kompositum verwendbar (Sozialminister, -partner).
Nur das Syntagma ist dagegen z.B. konventionalisiert in Bezeichnungen von
Kriegen nach ihrer Dauer (Dreißigjähriger Krieg) sowie in Fällen wie soziale
Frage/Schicht/Marktwirtschaft u.Ä. (¢ 2.2.11.3[5.2]).
2.2 Komposition 133

10) Bei aller Vielfalt möglicher Wortbildungsbedeutungen im Einzelnen


kommt es in manchen Fällen doch auch zur Herausbildung von Gruppen
mit dem gleichen Typ semantischer Differenzierung zwischen Kompositum
und Syntagma, vgl. z.B. Heuwagen – Wagen mit Heu, Bierglas – Glas (mit)
Bier, Schreibtisch – Tisch zum Schreiben. Mit den Komposita wird – ent-
sprechend dem unter 2.2.1.3(2) Gesagten – die dem Gegenstand als dauern-
des begriffliches Merkmal anhaftende Qualität, mit den Syntagmen die au-
genblickliche Verwendung angegeben. Syntagmen mit einer Negation ver-
mögen die Zuordnung eines Gegenstandes zu einem vorhandenen Begriff zu
negieren, Komposita mit nicht- dagegen konstituieren einen neuen Begriff:
Er ist kein Fachmann – Er ist (ein) Nichtfachmann, Nichtschwimmer, -raucher
(¢ 2.2.7.3).
2.2.1.5 Zur Kompositionsaktivität
Über die einleitenden allgemeinen Ausführungen zur Wortbildungsaktivität
des Substantivs hinaus (¢ 2.1.2) sollen im Folgenden einige ergänzende Be-
merkungen speziell zur substantivischen Kompositionsaktivität gemacht
werden. Es geht zum einen um ausgeprägte Tendenzen der Bildung von
Wortbildungsreihen (¢ 1.8.2.2), zum anderen um ein unterschiedliches
Kompositionsverhalten von Synonymen.
2.2.1.5.1 Reihenbildung
Sowohl Erst- als auch Zweitglieder können stark reihenbildend auftreten,
ohne deshalb zum Affix zu werden (zur Begründung ¢ 1.6.2.4). Zu Fällen wie
Riesen- u.Ä. ¢ 2.2.2.3.3, zu reihenbildenden Konfixen ¢ 2.2.8, zu Zweitglie-
dern wie -material ¢ 2.2.2.3.4(6).
Zweitglieder, die schon als frei vorkommende Wörter eine sehr allge-
meine Bedeutung und daher die Fähigkeit weiter semantischer Distribution
besitzen, sind z. B. Gut, Stelle und Zeug. Dennoch halten wir die semantische
und funktionale Spezifizierung nicht für ausreichend, um ihnen den Status
von Suffixen zuzuerkennen (was mit Bezug auf -gut und -zeug bei Fleischer
1983c, 175 ff. noch geschieht).
Das Zweitglied Gut bezeichnet in Verbindung mit verbalem Erstglied das
Material, den Stoff für einen bestimmten Arbeitsprozess (Back-, Mahl-,
Pflanz-, Röst-, Streu-, Walzgut) und in Verbindung mit abstrakten Substan-
tiven Komplexe ideeller Natur (Bildungs-, Gedanken-, Ideen-, Lied-, Wissens-
gut). Beide Reihen – in der Bedeutung von Kollektiva – lassen sich an Be-
deutungen des freien Substantivs anschließen (wobei allerdings ,Stoff, der
verarbeitet wird‘ im GWDS als veraltet bezeichnet wird); vgl. auch Ernte-,
Töpfer-, Saat-, Steingut sowie Beute-, Diebes-, Strandgut. Als Erstglied wird
Gut in dieser Bedeutung nicht verwendet.
134 2 Wortbildung des Substantivs

Stelle hat als Zweitglied allgemeine lokale Bedeutung (vereinzelt mit


einem Suffix konkurrierend: Auskunftsstelle – Auskunftei); es bezeichnet
– ein Amt, eine Behörde (Dienst-, Leit-, Melde-, Zollstelle);
– eine Örtlichkeit (abgeschlossen oder im Freien), wo bestimmte techni-
sche Tätigkeiten ausgeübt werden (Fernsprech-, Funk-, Tank-, Zapfstelle);
– eine Örtlichkeit im Freien, wo sich ein bestimmtes Ereignis zugetragen
hat (Absturz-, Fund-, Unglücksstelle);
– eine eng begrenzte Lokalität eines Körpers (Biss-, Bruch-, Schweiß-, Stoß-
stelle);
– eine berufliche Position (Assistenten-, Aufwarte-, Direktorenstelle, dazu
Planstelle und Stellenplan, Freistelle), teilweise synonym mit Posten (Ver-
trauensposten);
– ein Geschäft, eine Dienstleistungseinrichtung (Verkaufsstelle, Zweigstelle
für ,Filiale‘).
Ein konkretes Gerät, eine konkrete Vorrichtung bezeichnet Stelle nur ganz
selten (Bettstelle für Bettgestell). So stehen sich etwa in einer kompositio-
nellen Reihe gegenüber Stelle als Bezeichnung allgemein der Lokalität und
Anlage (auch Gerät) als Bezeichnung der dort in Tätigkeit befindlichen Ap-
paratur o.Ä.; vgl. Sende-, Funkstelle – Sende-, Funkanlage, Bohrstelle – Bohr-
anlage, Signalstelle – Signalanlage. Ganz anders dagegen Parkstelle ,Park-
platz‘ und Parkanlage.
In manchen Fällen hat -stelle älteres -statt verdrängt: Hofstatt – Hofstelle,
Freistatt – Freistelle, Lagerstatt – Lagerstelle. Werkstatt ist demotiviert, ebenso
Walstatt; hier ist -stelle nicht mehr eingedrungen.
Auch Zeug lässt sich als Zweitglied an die Bedeutung des freien Substan-
tivs ,Menge von Gegenständen, Sachen‘ anschließen, allerdings nicht mit
der pejorativen Konnotation: Hebezeug, Fahrzeug ,womit man hebt, fährt‘,
ferner Ess-, Näh-, Rasier-, Reiß-, Schlag-, Schleif-, Strick-, Werk-, Wickelzeug;
teilweise konkurriert -mittel (Verbandsmittel, -zeug); zu diesem ¢ 2.2.2.3.4(6).
Es gibt nur wenige Wortbildungen, in denen als Erstglied kein Verbstamm
bzw. kein deverbales Abstraktum erscheint, so Pferde-, Sattel-, Tafel-, Tisch-,
Bettzeug (auch hier ,Gerät bzw. Mittel für Pferd‘ usw.).
Pejorative Konnotation ist nur in wenigen Bildungen mit substantivi-
schem Erstglied vorhanden, z.B. Dreck/s-, Papier-, Viehzeug, die gegenüber
den Simplizia Dreck, Papier usw. nur eine geringe semantische Differenzie-
rung ausdrücken. Hier ergeben sich synonymische Berührungen mit -kram,
das allerdings stärker beschränkt ist (Papierkram, Trödelkram, -zeug).
Die Einheiten -werk und -wesen (Homonyme der Substantive Werk und
Wesen) werden als Suffixe behandelt.
2.2 Komposition 135

2.2.1.5.2 Unterschiede in der Kompositionsaktivität


Auf gegensätzliche Tendenzen in der Derivations- bzw. Kompositionsakti-
vität komplexer Wörter ist bereits hingewiesen worden (¢ 1.7.3). Zu beob-
achten ist ferner, dass polyseme Wörter (¢ 1.5.4.3) lesartenabhängige
Unterschiede in der Kompositionsaktivität und in der Verwendung als Erst-
bzw. Zweitglied aufweisen (vgl. -gut/Gut-). Im Folgenden sollen einige Be-
merkungen über auffällige Unterschiede im Kompositionsverhalten syno-
nymer Substantive gemacht werden, und zwar am Beispiel von die See – das
Meer. See in der entsprechenden Bedeutung ist nur als Erstglied stark kom-
positionsaktiv. Das WDG verzeichnet knapp 80 Komposita mit See-, mit
Meer- bzw. Meeres- dagegen nur 33. Ganz selten sind Konkurrenzbildungen
mit gleichem Zweitglied kodifiziert, z.B. Meer-, Seeaal, Meeres-, Seeklima,
aber nur Seefahrt, Meersalz, -wasser. Umgekehrt ist das Verhältnis bei der
Verwendung als Zweitglied; derartige Komposita sind zwar insgesamt weit
seltener und es handelt sich dabei meist um Eigennamen (Eis-, Mittelmeer,
Nord-, Ost-, Südsee). Aber während mit -see als nichtonymische Wortbil-
dung nur Übersee kodifiziert ist, finden sich mit -meer immerhin Binnen-,
Nebel-, Neben-, Rand-, Wattenmeer. Die Bedeutung von der See ,Binnen-
gewässer‘ und die übertragene Bedeutung von Meer (Blütenmeer) bleiben
dabei natürlich außer Betracht. Doch das unterschiedliche Kompositions-
verhalten ist zweifellos durch die unterschiedliche Bedeutungsstruktur mit-
bedingt.
Ein auffälliger Unterschied zeigt sich auch in der Kompositionsaktivität
der beiden Synonyme Anfang und Beginn. Als Zweitglieder begegnen beide
nebeneinander in einer stattlichen Zahl von Komposita (Arbeitsbeginn, -an-
fang, Herbstbeginn, -anfang, geläufiger allerdings -beginn in Bau-, Kriegs-,
Spielbeginn). Mit Beginn als Erstglied ist jedoch kein kodifiziertes Kompo-
situm zu finden, während das GWDS mit Anfangs- 21 Komposita verzeichnet
(Anfangsbuchstabe, -drittel, -erfolg, -gehalt, -verdacht usw.).
In metaphorischen Komposita sind die bildspendenden Konstituenten in
der Regel auf die Erstglied- oder die Zweitgliedposition festgelegt: Daten-,
Devisen-, Infoautobahn, aber Autobahndaten nur in nichtmetaphorischer
Bedeutung von Autobahn. Selbst wenn die metaphorische Zweitkonstitu-
ente auch frei in ebendieser Bedeutung vorkommt, vgl. Nachrichtenlawine –
Lawine von Nachrichten, kann die Erstgliedposition für diese Bedeutung
blockiert sein (Lawinennachricht – ,Nachricht über eine/die Lawine‘). In
beiden Positionen ist dagegen Killer in der Bedeutung ,eine Sache, eine
Substanz o.Ä., die etw. zerstört, beseitigt, für etw. schädlich ist‘ belegt
(GWDS): Killeralge, -spiel, -satellit, -virus, -zelle; Bakterien-, Job-, Lack-,
Staubkiller.
136 2 Wortbildung des Substantivs

2.2.2 Substantiv als Erstglied

2.2.2.1 Formativstrukturen des Determinativkompositums


Als Erst- und als Zweitglied treten sowohl einfache als auch komplexe
Stämme auf. Komplexe Stämme sind Komposita, Derivate oder Konversi-
onen. Liegen Komposita als Konstituenten vor, unterscheidet man je nach
Position der komplexen Stämme links-, rechts- oder beidseitig verzweigte
Konstituenten. Folgende Strukturen kommen vor.
1) Beide unmittelbaren Konstituenten sind Simplizia: Stadt bahn, Lie-
bes lied, Herden trieb.
2) Die erste oder/und zweite unmittelbare Konstituente ist ein Komposi-
tum; mit Linksverzweigung Großstadt kind, Vorstadt kino; mit Rechtsver-
zweigung Stadt autobahn, die Kosten der Not bargeldversorgung (LVZ 2010);
mit beidseitiger Verzweigung Gewandhaus kapellmeister, Autobahn tank-
stelle (¢ 2.2.2.2).
3) Das Erst- oder das Zweitglied ist ein Suffixderivat, das jeweils andere ein
Simplex oder Kompositum: Arbeiter vorstadt, Fremdsprachen lehrer, Frei-
heits kampf, Wirtschaftlichkeits reserve. Wortbildungen nach dem Modell
von Gerede fehlen als Erstglied.
4) Beide Glieder sind Suffixderivate: Lehrer bildung, Bildungs möglichkeit.
Als gleiches Suffix bei Erst- und Zweitglied erscheinen vor allem -er und
-ung, vgl. Lehrer ausbilder, Regierungs erklärung. Für die übrigen Suffixe
lassen sich kaum derartige Belege beibringen (aber Nachbarschaftsfeindschaft,
Internet 2010).
5) Die seit Wilmanns (1899, 514) wiederholt zu findenden Bemerkungen
(vgl. auch Henzen 1965, 48) über die Ungeläufigkeit eines Erstgliedes mit
Diminutivsuffix treffen heute nicht mehr zu. Es gibt nicht nur Fälle mit
demotivierten Diminutiva wie Mädchen schule, Kaninchen fell und Termini
wie Teilchen strahlung, -strom, sondern weitere wie Häschen gesicht, -kostüm,
-witz, Klötzchen firma Lego, -geschäft (PDW 2005), Hütchen pralinen, Löck-
chen haar (E. Strittmatter), Väterchen liebe (M. W. Schulz).
Dagegen scheint die Koppelung zweier diminuierter Konstituenten einer
Beschränkung zu unterliegen: *Häuschen türchen.
6) Auch Erstglieder mit Movierungssuffix -in, früher kaum üblich (Köni-
gin witwe, -mutter sind anders zu beurteilen), begegnen heute in großer
Zahl. Allerdings stets mit Fugenelement -en-, also -innen-: Kindergärtnerin-
nen schule, Käuferinnen schicht, Raucherinnen kinder, Studentinnen wohn-
heim, Wissenschaftlerinnen- Aussprache; ferner Göttinnen gewimmel
(Ch. Wolf), Kanzlerinnen gipfel.
2.2 Komposition 137

7) Die erste oder zweite unmittelbare Konstituente ist ein Präfixwort:


Urwald grenze, Reise unkosten. Komposita aus zwei Präfixwörtern bleiben
ungewöhnlich: Urwald unruhe, Unschulds urzustand, Mißerfolgs urerlebnis.
Doch die Modelle sind produktiv.
8) Erstglieder in der Form des Infinitivs sind in der Regel als Substantive
aufzufassen (Könnens entwicklung), lassen sich teilweise aber auch verbal
paraphrasieren: Überlebens methode – Methode des Überlebens oder Methode,
zu überleben; Näheres ¢ 2.2.4.1. Auch Adjektive und Partizipien sind zu Sub-
stantiven konvertiert in Studierenden vertretung, Promovierendenrat ,Inter-
essenvertretung von Doktoranden und Doktorandinnen‘, Angestellten ver-
trag.
9) Noch stärker ist die Berührung zwischen Verb- und Substantivstamm
in Fällen wie Schussfeld – Schießplatz; ¢ 2.2.4.1.
10) Wortbildungen mit substantiviertem Infinitiv als Zweitglied entstehen
nach zwei Modellen, als Kompositum, vgl. das Herbstabfischen (TZ 1974) –
Abfischen im Herbst oder als Konversion eines verbalen Syntagmas, vgl. das
Kopfzerbrechen aus dem verbalen Phrasem sich den Kopf zerbrechen. Die
Interpretation des Einzelfalles muss vielfach beide Möglichkeiten offenlas-
sen.
11) Konversion und Komposition konkurrieren auch bei der Erzeugung
von Wortbildungen mit substantiviertem Adjektiv; vgl. Erwerbsunfähiger
als substantivische Konversion des adjektivischen Kompositums erwerbsun-
fähig einerseits und Betriebsangehöriger – Angehöriger des/eines Betriebes als
Kompositum andererseits.
12) Wortbildungen, die ein substantivisches Derivat als Zweitglied enthal-
ten, entstehen nach drei Modellen: als Derivat eines Kompositums (Schul-
politik > Schulpolitiker), als Kompositum mit einem Suffixderivat als Zweit-
glied (Lehrer für Deutsch > Deutschlehrer) und als Suffixderivat von einem
Syntagma (Gepäck tragen > Gepäckträger).
Zu Doppelmotivationen in Fällen wie Film-, Musik-, Literaturkritiker vgl.
Ortner/Ortner 1984, 48.
13) Fremdelemente bilden untereinander und mit indigenen Grundmor-
phemen bzw. Morphemkomplexen prinzipiell in der gleichen Weise Kom-
posita (zu speziellen Erscheinungen ¢ 1.9). Auch hier herrschen die Bildun-
gen aus zwei, allenfalls drei Grundmorphemen vor: Kolportage literatur,
Virus infektion, Aggressions phänomen, Revolutions tribunal, Dixieland jazz,
Brutto sozialprodukt.
In Kombination mit einem indigenen Wort kann das Fremdelement als
Erst- wie auch als Zweitglied fungieren: Kontakt linse, Körper kontakt, Cock-
tail kleid; Begrüßungs cocktail, Haar spray, Spray dose.
138 2 Wortbildung des Substantivs

14) Über Eigennamen als Erstglied (Elbe-Radweg) ¢ 2.2.11.4.1.


15) Das Binaritätsprinzip der Komposition und das Streben nach Erleich-
terungsreduktion stimulieren eine gewisse Tendenz der Meidung bzw. Til-
gung eines dritten Grundmorphems in bestimmten Fällen. So entfällt die
Doppelung identischer Konstituenten in (Wasser-)Leitungswasser, (Zucker-)
Rohrzucker, (Sport-)Hallensport, S-(Bahn-)Bahnhof, wohingegen allerdings
Reisebüro reise. Das determinierende Erstglied eines Kompositums tendiert
zur Tilgung, wenn das Kompositum als Ganzes zum Erstglied eines erwei-
terten Kompositums wird: (Eisen-)Bahndamm, -körper, -polizei, -post u.v.a.
In diesen Zusammenhang sind auch textgebundene sog. Klammerformen
zu stellen (¢ 2.2.3.2). Sie entstehen bei dem Bemühen um ökonomischen
Ausdruck, etwa bei der Formulierung von Überschriften: Atomenergiebe-
hörde > Atombehörde, Ärztekammerpräsident > Ärztepräsident (Färber 2006,
78). Auch explikative Komposita mit verallgemeinernder Zweitkonstituente
(¢ 2.2.2.3.4[6]) wie Aktenmaterial werden so verkürzt, wenn sie in Komposita
eingehen, statt *Aktenmaterialaufbewahrung also Aktenaufbewahrung.

2.2.2.2 Polymorphemisches Kompositum


Als polymorphemische Komposita bezeichnen wir verzweigte Komposita
mit vier und mehr Grundmorphemen. Diese Entscheidung stützt sich auf
eine Reihe qualitativer Faktoren, die mit der quantitativen Differenzierung
zusammenhängen, ist aber natürlich nicht als absolute Grenzziehung anzu-
sehen. Derartige Komposita sind eine jüngere Erscheinung (keine Belege
„aus unserer alten Sprache“ bei Grimm 1878, 911, doch zunehmend seit
dem 16. Jh.). Am häufigsten sind heute die Bildungen aus vier Grundmor-
phemen, von denen eines bisweilen ein Adjektiv- oder Verbstamm, das
Erstglied insgesamt aber ein Substantiv ist: Autobahn raststätte, Braunkoh-
len tagebau; Roggen vollkornbrot, Welt- Tierärztegesellschaft, Waffenstill-
stands verhandlungen, Wohngebietsgestaltungs konzeption, Straßenverkehrs-
Zulassungs- Ordnung.
Über die Koppelung von vier Grundmorphemen hinaus werden die
Komposita zunehmend seltener (vgl. Muhamed-Aliewa 1986), z.B. Ab-
fallwirtschaftsgebührenänderungs satzung, Sonderpostwertzeichen heft, Haus-
halt(s) tiefkühlschrank, Haushaltgroßgeräte mechaniker, 1200-kW-Elektro-
nenstrahl -Mehrkammerofen.
Auch die polymorphemischen Komposita unterliegen dem Binaritäts-
prinzip, doch weisen sie gegenüber der Masse der zwei- und dreimorphe-
mischen Substantivkomposita eine Reihe von Besonderheiten auf. Diese
betreffen zunächst Formativcharakteristika, und zwar vor allem:
2.2 Komposition 139

– die Akzentsetzung (Dudenband 4, 2009, 50);


– die spezielle Handhabung des Bindestrichs (¢ 2.2.12.4);
– die Kompositionsfuge (¢ 2.2.12);
– die Tendenz zur Verkürzung, besonders die Initialkürzung: Straßenver-
kehrs-Zulassungs-Ordnung > StVZO (¢ 2.7.1).
Die polymorphemischen Komposita sind vorwiegend eine Erscheinung
geschriebener Sprache und ein erheblicher Teil davon ist als Terminus in
Fachwortschätzen fixiert (Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz, Le-
bensmittelfarbstoffzulassungsverordnung, PDW 2004). Doch ihre Bildung
und Verwendung sind keineswegs darauf beschränkt; auch im nichtfach-
gebundenen Gebrauch wächst ihre Zahl: Fernsehdauerkonsum, Feuerleiter-
Hinterhof-Milieu, Sonnabendnachmittagsbehaglichkeit u.a.

2.2.2.3 Zur Semantik


Im Folgenden werden exemplarisch zentrale Wortbildungsbedeutungen
substantivischer Determinativkomposita beschrieben. Die Darstellung er-
folgt informell (¢ 1.1.5; ¢1.7.1.2). Zum Kopulativkompositum ¢ 2.2.2.5.
Nach ihrer Wortbildungsbedeutung werden die Komposita in drei Grup-
pen geordnet, von denen sich nur a. und b. systematisch erfassen lassen.
a. Komposita mit Wortbildungsbedeutungen, die sich relativ sicher aus va-
lenzbedingten und semantischen Eigenschaften der zweiten unmittelba-
ren Konstituente erschließen lassen;
b. Komposita, zwischen deren Konstituenten „semantische Grundrelati-
onen“ bestehen (Fandrych/Thurmair 1994, 39);
c. Komposita, deren Wortbildungsbedeutung singulär ist („Kontextkom-
posita“, Motsch 2004, 393).
Mit der Gliederung von a. und b. wird der Unterschied zwischen vieldeut-
baren Komposita wie Fischfrau und Holzkiste einerseits und relativ eindeu-
tigen wie Kindererziehung und Beamtensohn andererseits hervorgehoben.
Letztere sind Rektionskomposita sowie Komposita mit relationalem, d.h.
mit „semantisch ergänzungsbedürftigem“ oder (aufgrund von Sachwissen)
ergänzungsfähigem Zweitglied wie Sohn, Tochter, Fan (Fandrych/Thurmair
1994, 45). Rektionskomposita werden Determinativkomposita mit einem
deverbalen Zweitglied genannt, das eine valenzgrammatisch bedingte se-
mantische Leerstelle (Argumentstelle) vom Verb mitbringt, vgl. Romanleser
– Leser eines Romans – einen Roman lesen. Die vom Verb eröffnete und vom
abgeleiteten Substantiv „ererbte“ Valenzstelle wird im Kompositum vom
Erstglied ausgefüllt. Als Rektionskompositum lässt Romanleser nur diese
eine Lesart zu. Dasselbe Zweitglied kann allerdings auch in Komposita
nichtrektionaler Art auftreten (Durchschnittsleser, Zufallsleser), sodass die
140 2 Wortbildung des Substantivs

Rektionslesart für Komposita mit deverbalen Zweitgliedern nicht als obli-


gatorisch gelten kann.
„Der Unterschied zwischen Rektions- und Nichtrektionslesart liegt darin, daß bei den
Rektionskomposita die Relationalität durch die grammatisch charakterisierbare Rek-
tion eines der Glieder gegeben ist, während sie bei den Nichtrektionskomposita nicht
grammatischer Art ist und daher durch den Sprecher erst aus einem der Kompositi-
onsglieder erschlossen werden muß.“ (Olsen 1986a, 66). Wir fassen dagegen nur die
Rektion des Zweitgliedes als relevant für die Erklärung der Wortbildungsbedeutung
auf. Eichinger (2000, 128) begründet den Begriff Rektionskompositum ebenfalls mit
den grammatischen Eigenschaften des Zweitgliedes (nicht beider Glieder), fasst ihn
aber weiter: Rektionskomposita sind demnach „Bildungen, bei denen das Determi-
natum strukturelle Anknüpfungspunkte für das determinierende Element vorgibt oder
anbietet. Wir wollen hierbei nicht nur die strikt rektionalen Beziehungen gelten lassen,
sondern auch andere vom Kern der Szene eröffnete Abhängigkeiten.“

Bei den Komposita mit semantischen Grundrelationen besteht ein breiterer


Interpretationsspielraum in Bezug auf die Wortbildungsbedeutung
(¢ 1.5.4.2). In gewisser Weise entspricht dieser Offenheit diejenige der de-
substantivischen verbalen Konversionen (köpfen, salzen usw.; ¢ 5.5.2). Das
heißt, in Einzelfällen lassen sich Mehrfachinterpretationen von Beispielen
und folglich Überschneidungen bei deren Zuordnung zu den Modifikati-
onsarten nicht ganz ausschließen, wenngleich bei lexikalisierten Komposita
meist eine bestimmte Lesart dominiert: Schulbesuch ,das pflichtgemäße Be-
suchen der Schule‘ und nicht, was auch denkbar wäre, ,Besuch aus der
Schule‘.
Zur Problematik der Ermittlung von Wortbildungsbedeutungen vgl. auch
Heringer 1984; Fandrych/Thurmair 1994; Donalies 2005b, 155 ff.
In diesem Sinne werden in der folgenden Darstellung Haupttypen der
Wortbildungsbedeutung exemplarisch analysiert, sozusagen als „Prototy-
pen“, ohne die mehrdeutigen Grenzfälle allzu sehr zu strapazieren.
In der Übersicht wird mittels einer verallgemeinernden Erläuterung aus-
gedrückt, in welcher Weise das Erstglied A das Zweitglied B modifiziert. Die
verkürzten Formulierungen sind folgendermaßen zu lesen, vgl. den ersten
Untertyp in a. ,agentiv‘: ,A bezeichnet die Person oder Sache (Ärzte, Zug),
die das in B bezeichnete Geschehen/die bezeichnete Handlung (Tagung,
Abfahrt) ausführt‘.
2.2 Komposition 141

2.2.2.3.1 Wortbildungsbedeutungen der Komposition

a. Rektionskomposita sowie Komposita mit relationalem Zweitglied:

1) ,agentiv‘
,A tut B‘: Ärztetagung, Zugabfahrt.
A bezeichnet den Handlungsträger des Geschehens in B.
2) ,thematisch‘
,A wird von B hervorgebracht bzw. ist von der Handlung in B betrof-
fen‘: Obstverkäufer, Kohleabbau, Friedenssehnsucht
A bezeichnet den vom Geschehen erzeugten oder betroffenen Gegen-
stand, das „Thema“ von B. Syntaktisch entspricht A einem akkusativi-
schen oder präpositionalen Komplement: etwas verkaufen, abbauen;
Sehnsucht nach etwas haben.
3) ,zugehörig‘
A besetzt eine semantische Leerstelle, die B eröffnet: Professorensohn,
Fußballfan.

b. Komposita mit semantischen Grundrelationen:

1) ,lokal‘
1.1) ,B befindet sich in A‘: Bankguthaben, Gartenbeet
1.2) ,B vollzieht sich in A‘: Büroarbeit
1.3) ,B stammt von A‘: Land-, Seewind
1.4) ,B führt zu A‘: Kellertreppe
2) ,temporal‘
,A ist Zeitpunkt/Zeitraum, an dem B stattfindet/für den B gilt‘: Morgen-
frühstück, Monatsplan, Tagesfahrt
3) ,final‘
,A gibt an, wofür B geeignet/bestimmt ist‘: Strandanzug, Fensterglas,
Damenkleid
4) ,kausal‘
4.1) ,B verursacht A‘: Tränengas
4.2) ,A gibt Ursache/Herkunft vonB an‘: Schmerzensschrei, Bienenhonig
5) ,komparativ‘ (¢ 2.2.2.3.2)
5.1) ,B gleicht/ist wie A‘: Patchworkfamilie
5.2) ,A gleicht/ist wie B‘: Beifallssturm
6) ,possessiv‘
,A ist Besitzer von B‘: Gemeindewald
142 2 Wortbildung des Substantivs

7) ,partitiv‘/,adhäsiv‘,
7.1) ,A hat B‘: Buchrücken, Vereinsmitglied
7.2) ,B hat A‘: Henkelkorb, Rahmenerzählung
8) ,instrumental‘
,B funktioniert mithilfe von A‘: Handbremse
9) ,material‘
,B besteht aus A‘: Lederschuh
10) ,konstitutional‘ (DWb 4, 128)
,A ist Bestandteil von B‘: Blumenstrauß
11) ,graduierend‘
,A graduiert (vergrößert bzw. verkleinert) B‘: Riesenskandal, Zwerghuhn
12) ,explikativ‘
B bezeichnet den Oberbegriff zu A:
,B ist A‘: Auswertungsverfahren, Erziehungsprozess (¢ 2.2.2.3.4[6]).
Wegen des hohen Abstraktionsgrades von B „nähern sich diese Bildun-
gen in unterschiedlichem Maße der Derivation mittels Suffixen an.“
(Eichinger 2000, 77).

2.2.2.3.2 Metaphern
Komposita mit metaphorischen Erscheinungen, „Komposit(ions)meta-
phern“, sind differenziert zu betrachten (vgl. auch Käge 1980, 39ff.; DWb 4,
194ff.). Wir unterscheiden folgende Typen.
1) Komposita wie Augenblick ,Moment‘ und Fuchsschwanz ,Handsäge‘,
Geldsack ,reicher, geiziger Mann‘ sind als Ganzes metaphorisiert („kompa-
rativ-exozentrisch“, Ortner/Ortner 1984, 158ff.) und in dieser Hinsicht me-
taphorischen Simplizia gleichgestellt. Im Unterschied zu diesen bietet die
komplexe Formativstruktur der Wortbildung aber spezielle Möglichkeiten
der Remotivation (¢ 1.5.4.1), vgl. den Titel einer Keramik-Ausstellung Au-
gen-Blick (PDW 2005).
2) In Komposita wie Informationsflut, Kostenlawine, Reisewelle („kompa-
rativ-endozentrisch“, Ortner/Ortner 1984, 58; ¢ 2.2.2.3.1[5]) oder okkasi-
onell Insolvenz-Tsunami (in der Wirtschaft, LVZ 2010), Tomatenzwerge (Wer-
bung 2010) ist das Erstglied der Bildempfänger, das Zweitglied der Bildspen-
der. Das Zweitglied nennt eine Vergleichsgröße, die jedoch nicht die
Bezugsgröße darstellt (deshalb „endozentrisch“). Das Erstglied kann – dann
ohne metaphorisch-expressive Charakteristik – für das Ganze stehen, was für
Determinativkomposita bekanntlich ungewöhnlich ist. Wenn entsprechen-
de Komposita lexikalisiert sind, tendieren die metaphorischen Zweitglieder
zu starker Kompositionsaktivität (Ausgaben-, Brief-, Verpackungsflut; An-
2.2 Komposition 143

trags-, Preis-, Prozesslawine; Angriffs-, Hitze-, Streikwelle) und auch zum


freien Gebrauch in der metaphorischen Lesart (eine Flut von Anträgen, eine
Lawine von Zuschriften, eine Welle von Protesten; ¢ 1.5.2). Weitere in meta-
phorischer Lesart kompositionsaktive Substantive sind Fieber (Premierenfie-
ber), Front (Heiratsfront), Landschaft (Presselandschaft), Marathon (Sitzungs-
marathon), Paket (Sozialpaket), Schiene (Medienschiene), Stau (Karrierestau).
3) In Komposita wie Etuikleid, Kopfbahnhof, Salamitaktik, Salamispieltage
(im Fußball: ,Spiele eines Spieltags mit vielen unterschiedlichen Anstoßzei-
ten‘) ist umgekehrt das Erstglied der Bildspender und das Zweitglied der
Bildempfänger. Hier kann, wie im Determinativkompositum üblich, das
Zweitglied für das Ganze stehen, das Erstglied hingegen nicht.
Nur wenige Wörter werden sowohl als Erstglied wie auch Zweitglied als
Bildspender genutzt: Marathonprozess – Verhandlungsmarathon, Killervirus
– Staubkiller.
4) Ein Sonderfall metaphorischer Komposita sind Lexeme wie Ölpest. Hier
ist zwar auch das Zweitglied der Bildspender, aber im Unterschied zu Typ 2 ist
das Erstglied nicht ohne Weiteres mit dem Bildempfänger gleichzusetzen:
Ölpest „ist“ nicht in dem Sinne ,Öl‘, wie Informationsflut ,Information‘ „ist“.
Das Erstglied ist hier nicht – wie in 2) – „motivationssemantisch irregulär
dominierend“ (Käge 1980, 60), wenngleich es zur Motivation der Wortbil-
dung beiträgt: Es handelt sich um eine durch (Roh-)Öl verursachte pestähn-
liche Katastrophe (,Verschmutzung von Stränden, Küstengewässern und
dgl.‘). Weder Erst- noch Zweitglied können allein das Kompositum vertreten.
5) In diesen Zusammenhang stellen wir auch expressive Personenbezeich-
nungen mit metaphorischen Tier- oder Sachbezeichnungen als Zweitglied
(Bücherwurm, Pech-, Spaßvogel, Dreck-, Schmutzfink, Unglücksrabe; Jam-
merlappen, Ulknudel). Auch hier ist eine Teilmotivation durch das Erstglied
gegeben. Jedoch kann weder das Erst- noch das Zweitglied für das Ganze
stehen. Derartige Wortbildungen ersetzen im Deutschen weitgehend die in
anderen Sprachen, z.B. dem Russischen, zahlreicher vorhandenen Möglich-
keiten expressiver Nuancierung von Personenbezeichnungen durch Suffixe.

2.2.2.3.3 Augmentation
Mit den Metaphern berühren sich Modelle mit Riesen-, Heiden-, Spitzen-
u.a., die verstärkenden Präfixderivaten mit ur-, erz-, hyper- usw. nahekom-
men. Von unserer früheren Auffassung abweichend, ordnen wir diese Mo-
delle nunmehr in die Komposition ein.
Augmentativa charakterisieren ihre Referenten als (in Bezug auf einen
Standard) besonders groß, riesig bzw. wichtig, oft verbunden mit einer po-
144 2 Wortbildung des Substantivs

sitiven oder negativen Wertung. Im Deutschen fehlen die Augmentativsuf-


fixe mancher anderer, wie beispielsweise der romanischen Sprachen (Well-
mann 1998, 506) als Pendant zu den Diminutivsuffixen; die entsprechenden
Aufgaben übernehmen kompositionelle Erstglieder. Wir heben unter funk-
tional-semantischem Gesichtspunkt die folgenden heraus (vgl. auch Peter-
mann 1971; Ruf 1996, 53 ff.; Wiegand 2001).
Hochproduktiv ist das Modell mit Riesen- ,sehr groß‘; über Bildungen, die
einen expliziten Vergleich nachvollziehen lassen, wie Riesenmaß der Leiber
(Schiller), hinausgehend: Riesen-Geist (1764, vgl. Itkonen 1971, 216), Riesen-
fortschritt, -freude, -skandal, weiter mit komplexem Zweitglied Riesenakten-
stapel, -blumenbeet, -neuigkeit.
Damit kommt Riesen- dem Status eines Präfixes relativ nahe. Das Lexem
Riese lässt sich in gleicher Funktion metaphorisch verwenden (,großer, kräf-
tiger Mensch‘) und die Wortbildungen mit Riesen- sind durch semantisch
äquivalente Syntagmen mit dem Adjektiv riesig zu ersetzen: Riesenbahn-
hof – riesiger Bahnhof. Wo die Vergleichsparaphrase mit wie möglich ist,
kann die Reihenfolge der unmittelbaren Konstituenten z.T. auch variieren
(¢ 2.2.2.3.2): Riesenmaschine, -schlepper – Maschinen-Riese, Schlepper-Riese
(TZ 1966); vgl. ferner Riesensupermarkt – Supermarktriese (PDW 2005),
Kraftwerksriese. Die Wortbildungsbedeutung nähert sich derjenigen im Ko-
pulativkompositum: ,Maschine als Riese‘, ,Maschine und zugleich Riese‘
(¢ 2.2.2.5). Doch nicht alle Komposita mit -riese lassen sich so variieren.
Anders verhalten sich Touristikriese (Touristikunternehmen), Hochspan-
nungsriese (1,5-Millionen-Volt-Wechselspannungsprüfanlage), Energieriese,
Einzelhandelsriese – hier ist zu paraphrasieren Riese in Bezug auf Hochspan-
nung, Energie usw. Weitere kompositionelle Zweitglieder, die die durch das
Erstglied bezeichnete Größe als in hohem Maße vorhanden kennzeichnen,
sind z. B. -berg, -flut, -lawine, -sturm, vgl. Schuldenberg, Protestflut, Prozess-
lawine, Begeisterungssturm (¢ 2.2.2.3.2).
Antonymisch zu Riesen- bezeichnet Zwerg(en)- die Kleinheit: Zwergpudel,
Zwergtomate; Zwergenbörsengang, Zwergentastatur (PDW 2006), auch als
Zweitglied wie in Chip-, Fußballzwerg.
Für die Augmentation steht eine Fülle weiterer Erstglieder zur Verfügung,
deren Reihen allerdings meist weniger stark ausgebaut sind. Es handelt sich
dabei zunächst um konnotierte Substantive (meist in spezifischen Kompo-
sitionsstammformen) wie Bomben-, Heiden-, Höllen-, Mords- und Toten-
sowie um Tierbezeichnungen wie Affen-, Bullen-, Hunde- und Sau- (durch
ihre Verwendung als Schimpfwörter emotionalisiert): Bombenerfolg, -gehalt,
-geschäft, -reklame, -rolle, Heidenangst, -krach, Höllendurst, -tempo, Bullen-
hitze, Hundekälte, Saukälte, -wut; neuerdings auch Hammer-, vgl. DFB-Team
2.2 Komposition 145

droht Hammergruppe (LVZ 2007), Hammergegner, -restprogramm (im


Sport); Hammerwinter, ,sehr kalter Winter‘. Dazu treten – ebenfalls salopp
markierte – Modelle mit Dreck(s)- (-arbeit, -kerl, -loch ,schlechte Wohnung,
Zimmer‘, -nest ,Dorf‘, -wetter), Mist- (-kerl, -stück, -wetter), Scheiß- (-arbeit,
-kram, -musik). Auch auf Präfixmodelle (miss-, un-) ist zu verweisen.
Die Modelle sind umgangssprachlich bzw. salopp markiert; die entspre-
chenden Wortbildungen werden bevorzugt in affektbetonter Sprache ge-
braucht. Im Unterschied zum nichtkonnotierten Determinativkompositum
ist die Akzentuierung beider Konstituenten ausgewogen, „schwebend“:
Bómben wı́rkung ,große, starke Wirkung‘ – Bómben wı̀rkung ,Wirkung einer
Bombe‘, Tóten stı́lle ,große Stille‘ – Tóten stàrre ,Leichenstarre‘.
Weniger stark emotionalisiert und daher auch universeller verwendbar
sind kompositionelle Augmentativa mit metaphorisch gebrauchten Erst-
gliedern wie Herzens- (-angst, -bedürfnis, -freude, -güte, -lust), Jahrhundert-
(Das Jahrhundertwerk Deutsche Einheit – es droht zugleich als Jahrhundert-
Abzocke in die Geschichtsbücher einzugehen, PDW 2005), Mammutausschrei-
bung, -behörde, -prozess; Rekordernte, -tiefstand.
Das Erstglied Spitzen- hat ausgehend von der Bedeutung ,Höchstmaß‘
einen Superlativ positiver Wertung entwickelt, vgl. die Lesarten von Spitzen-
zeit: ,Zeit stärksten Verkehrs‘, ,Zeit maximaler Inanspruchnahme von Elek-
troenergie‘, ,Bestzeit von Sportlern‘. Vgl. auch Spitzenniveau (,Weltniveau,
-spitze‘), Spitzenbier, -film ,Bier, Film von höchster Qualität‘, Spitzenarbeits-
kräfte (PDW 2005). Teilweise konkurrieren Wortbildungen mit Höchst- wie
Höchst-/Spitzengeschwindigkeit. Zu Akzentverhältnissen in Wortbildungen
mit Spitzen- vgl. Grzega 2004, 324ff.
Positiv wertend sind ferner u. a. die Erstglieder Bilderbuch- (-landung,
-karriere), Glanz- (-leistung, -rolle), Klasse- (-fußball, -frau, dies ohne -n-,
vgl. Klassezimmer ,hervorragendes Zimmer‘ gegenüber Klassenzimmer
,Zimmer einer Schulklasse‘), Lieblings- (-dichter, -essen, -lied, -thema),
Luxus- (-ausgabe, -auto, -wohnung), Meister- (-detektiv, -leistung), Pracht-
(-exemplar, -junge, -weib), Traum- (-beruf, -frau, -note, -villa), Qualitäts-
(-arbeit, -möbel), Star- (-anwalt, -dirigent, -besetzung). Das gleiche Erstglied
kann neutral sein (Schulbeispiel ,typisches klassisches Beispiel‘) wie auch
negativ werten (Schulweisheit ,nur angelerntes Wissen‘). Stärker umgangs-
sprachlich markiert sind entsprechende Bildungen mit Pfunds- (-idee, -kerl,
-stimmung).
Eine Übersicht über augmentative Erstglieder geben Ruf 1996, 55f.; Wellmann 1998,
506ff. sowie Wiegand, der die Buchung augmentativer Erstglieder (123 Einheiten) in
einsprachigen Wörterbüchern diskutiert (2001, 109 ff.).
146 2 Wortbildung des Substantivs

2.2.2.3.4 Verdeutlichendes Kompositum


Die sogenannten „verdeutlichenden“ Komposita zeigen eine Art determi-
natives Verhältnis insofern, als eine der unmittelbaren Konstituenten für das
Ganze gebraucht werden kann – in manchen Fällen auch jede von beiden;
insofern stehen beide in einer subordinierenden (keiner koordinierenden)
Beziehung zueinander. Die Strukturtypen sind allerdings verschiedenartig
und nicht in jedem Falle hat das „determinierende“ Erstglied spezifizierende
Bedeutung (vgl. DWb 4, 174ff.).
1) Produktiv ist das Modell der Verdeutlichung von Fremdwörtern durch
Hinzufügung eines indigenen Kompositionsgliedes (¢ 1.9.3.1) entweder als
Erst- (Einzelindividuum) oder als Zweitglied (Containerbehälter). Dadurch
wird für das im Deutschen unmotivierte Fremdwort eine – zumindest par-
tielle – Motivation geschaffen (¢ 1.5.4 sowie Käge 1980, 114 ff. über „Pseu-
domotivation“), die seine Vernetzung in Wortfamilien ermöglicht. Mit
Bezug auf – noch? – problematisch erscheinende Fälle wie Angebotsofferten
(immerhin 650 Belege bei Google, Januar 2010), Anwendungsapplikation
(EDV) u.Ä. artikulieren sich immer wieder Bedenken sprachbewusster
Menschen, doch ein beträchtlicher Teil derartiger Bildungen setzt sich
schließlich durch, da sie das legitime Bedürfnis des Durchschnittssprechers
nach Motivation befriedigen, vgl. ABM-Maßnahme, ¢ 2.7.2.
2) Eine ähnliche Tendenz wirkt bei indigenen (bzw. heute als indigen zu
betrachtenden) Wörtern, allerdings nicht so offensichtlich und erst über
längere Zeiträume. Sie hat zu Komposita wie Farnkraut und Kieselstein ge-
führt; hier bezeichnet das Zweitglied verdeutlichend einen Oberbegriff, der
bereits mit dem Erstglied gegeben ist: Farn und Kiesel haben die gleiche
Bedeutung wie jeweils das Kompositum. Damit kann das Erstglied für das
Ganze stehen.
In Tragbahre „wiederholt“ das Erstglied semantische Merkmale, die be-
reits das Zweitglied enthält (ahd. beran ,tragen‘); heute sind neben dem
Kompositum beide Glieder für sich mit teilweise gleichem Denotatsbezug
verwendbar: Bahre und Trage.
3) Fälle wie Rückgrat (ahd. grāt ,Rückgrat‘, mhd. grāt ,Bergrücken‘) und
Turteltaube (ahd. turtura ,Turteltaube‘) sind von 2) abzusetzen, da das ver-
deutlichte Element heute nicht mehr (bzw. wie -grat nicht mehr in der
entsprechenden Bedeutung) frei gebräuchlich ist.
4) Völlig demotiviert ist schließlich Lindwurm (ahd. lind ,Schlange‘), das
sich mit seinem zweiten Bestandteil zwar formal neben Regenwurm u.Ä.
stellen lässt, wo jedoch keine entsprechende semantische Beziehung mehr zu
erkennen ist.
2.2 Komposition 147

5) Als verdeutlichende Bildung ist auch Schwiegermutter entstanden; doch


das Element Schwieger- ist als Konfix reihenbildend geworden (¢ 2.2.8[3]).
6) Keine historisch zu erklärenden Relikte, sondern Repräsentanten
höchst produktiver Modelle stellen die beiden folgenden Teilgruppen mit
der Wortbildungsbedeutung ,explikativ‘ dar (vgl. auch Wellmann 1998, 487
zu „explikativen Zusammensetzungen, die eine sein-Prädikation ausdrü-
cken“ wie Verlustgeschäft; ¢ 2.2.2.3.1).
6.1) Bei Komposita wie Auswertungsverfahren, Übungsgeschehen, Wider-
spiegelungsprozess handelt es sich zwar in gewisser Hinsicht auch um eine
Verdeutlichung durch das Zweitglied, aber nicht weil das Erstglied sprach-
lich isoliert und etymologisch verdunkelt wäre, sondern weil die deverbalen
Erstglieder polysem sind, ,Prozess‘ wie ,Resultat‘ bezeichnen und z.T. noch
weitere Lesarten haben können. Durch die Zweitglieder wird ,Prozess‘ ak-
zentuiert. Insofern ließe sich auch das Zweitglied als übergeordnet ansehen,
obwohl – im Unterschied zu den meisten anderen Determinativkomposita
– hier wie in 2) das Erstglied für das Ganze stehen kann.
6.2) Das genannte Modell ist mit einem weiteren verbunden, mit dem es
die Tendenz zur Bezeichnung eines verallgemeinernden Oberbegriffs (dort
also ,Prozess‘) teilt: dem Kompositionsmodell mit einer verallgemeinernden
Bezeichnung für ,Stoff, Material‘ als Zweitglied: Aroma-, Gift-, Tatsachenstoff,
Arznei-, Beweis-, Futter-, Nahrungs-, Spendenmittel. In der Fixierung des
verallgemeinernden Oberbegriffs, die einem Kommunikations- und wohl
auch einem Kognitionsbedürfnis in Wissenschaft und Verwaltung ent-
spricht, lässt sich auch eine Art Verdeutlichung sehen. Döring (1975a, dort
die genannten und weitere Beispiele) hat sich eingehender mit dem Zweit-
glied -material beschäftigt und rechtfertigt den zunehmenden Gebrauch
dieser Bildungen als zweckmäßig, auch wenn das Anstoßnehmen an Ein-
zelbildungen berechtigt sein mag. Als Erstglied erscheinen vor allem Sub-
stantive (Akten-, Bild-, Prospekt-, Wortmaterial) und Verbstämme (Binde-,
Besohl-, Lehr-, Schreibmaterial), kaum dagegen Adjektive.
Als verallgemeinernde Bezeichnung für Personen dient -kräfte (Arbeits-
kräfte) in Kontroll-, Montage-, Servierkräfte, für Organisationseinheiten ent-
sprechend -einrichtung, vgl. Behandlungs-, Dienstleistungs-, Kur-, Vorschul-
einrichtung u.a.
Über -ebene und -zwecke in ähnlicher Funktion vgl. Döring (1975b).
Zu -gut, das sich auch in diesen Zusammenhang stellen ließe, ¢ 2.2.1.5.
7) Wortbildungen wie Hirschkuh, Rehkalb, Schafbock sind wohl am besten
doch nicht kopulativ (so noch Fleischer 1983c, 102 und Ortner/Ortner 1984,
53), sondern determinativ zu interpretieren – das Zweitglied als eine Art
148 2 Wortbildung des Substantivs

Movierungselement: ,Hirsch‘ + ,weiblich‘, ,Schaf‘ + ,männlich‘, ,Reh‘ +


,Junges‘. Allerdings können sowohl die Komposita als auch jedes der beiden
Einzelglieder für das Ganze stehen: Ein Schafbock ist ein Schaf und auch ein
Bock. Von den endozentrischen Kopulativkomposita (¢ 2.2.2.5[2]) ist dieser
Typ durch das semantische Ungleichgewicht zwischen den beiden Gliedern
unterschieden; -kuh, -bock und -kalb sind als stärker verallgemeinernd über-
geordnet.
In den Komposita Mutterhündin, -schwein u.Ä. (noch 1519 in Dresden
hundemutter) ist die Reihenfolge umgekehrt (vgl. auch Benzing 1968, 62f.),
möglicherweise weil das Zweitglied -mutter den Bezug auf den Menschen
fixiert.
8) Als tautologisch könnte man nur solche Komposita bezeichnen, die aus
zwei auch frei noch geläufigen Synonymen bestehen (Trödelkram). Sie
werden offensichtlich gemieden. Haderlump (österr. pejorativ ,liederlicher
Mensch‘) und Schalksnarr (veralt. ,Hofnarr‘) sind dafür keine überzeugen-
den Beispiele.
2.2.2.4 Semantisch bedingte Bildungsrestriktionen
Bei der Komposition zweier Substantive scheint es hinsichtlich deren Aus-
wahl kaum semantische Beschränkungen zu geben, vgl. Auffälligkeitspool,
Menschenwürdekern (Wortwarte 2010); Waldwelt (B. Schlink); Schneeasche
(J. Franck). Die Beziehungen zwischen den unmittelbaren Konstituenten
sind potenziell so unendlich vielfältig wie denkbare Relationen zwischen
Begriffen. Allerdings ist der Ausdruck der Negation ausgeschlossen: Holz-
haus *,Haus, das nicht aus Holz ist‘ (vgl. Heringer 1984, 8 zu dem entspre-
chenden Hinweis von Motsch).
Bei genauerer Überprüfung hat sich herausgestellt, dass unter bestimm-
ten Bedingungen Komposita „mit sich selbst“, sog. „Selbstkomposita“,
möglich sind wie Bücherbuch ,Buch über (bestimmte) Bücher‘ (vgl. Günther
1981, 270), neben geläufigen Bildungen wie Kindeskind. Man wird also mit
absoluten Aussagen über Restriktionen zurückhaltend bleiben müssen. Al-
lerdings darf der Unterschied zwischen „unauffälligen“, ohne Weiteres als
üblich akzeptierten Bildungen einerseits und „auffälligen“, expressiven Bil-
dungen (oft textgebunden, meist in Verbindung mit zusätzlichen Mitteln
der Akzeptabilitätsförderung gebraucht) andererseits nicht übersehen wer-
den.
Die wenigen Beschränkungen (¢ 1.7.2.2) erscheinen vorwiegend als mehr
oder weniger ausgeprägte Tendenzen der Meidung entsprechender Kom-
posita, nicht als deren absolutes „Verbot“. Werden solche Wortbildungen
gebraucht, wirken sie in der Regel expressiv und eignen sich nicht für jede
Textsorte.
2.2 Komposition 149

1) Weitgehend gemieden wird die Kombination von Synonymen


(¢ 2.2.2.3.4), also nicht *Ursachengrund, *Dreckschmutz. Da bei polysemen
Lexemen die synonymische Beziehung in der Regel nicht für alle Lesarten
gilt, können sich allerdings Komposita ergeben wie Almosenspende, Folter-
qual, Grundursache. Nicht hierher gehören Koppelungen verschiedenspra-
chiger Eigennamen für das gleiche Objekt (z.B. Malvinas-Falklands bei Ort-
ner/Ortner 1984, 56 f.). Antonyme werden dagegen gelegentlich durchaus
miteinander verbunden (Hassliebe, Freundfeind).
2) Üblicherweise sind Komposita ausgeschlossen (wenn auch unter be-
stimmten textlichen und situativen Bedingungen denkbar), deren substan-
tivisches Erstglied einen Oberbegriff zum Zweitglied bezeichnet (vgl. Brekle
1970, 142 ff.), also nicht *Pflanzengras, *Tiervogel u.Ä.
3) In der kompositionellen Verbindung zweier Personenbezeichnungen
besteht offensichtlich eine gewisse Zurückhaltung; ungewöhnlich sind
*Vatermitarbeiter ,Mitarbeiter des Vaters‘, *Schwesterreisegefährte ,Reise-
gefährte der Schwester‘. Doch man vgl. – mit Verwandtschaftsbezeichnung
als Erst- oder Zweitglied – Enkelfreund, Patenkind; Werkleiterschwiegersohn
(Ch. Wolf), Komposita aus zwei Verwandtschaftsbezeichnungen wie Enkel-
kind, -sohn, -tochter sowie Rektionskomposita (¢ 2.2.2.3.1) wie Lehrlingsaus-
bilder.
Ist das Erstglied die Bezeichnung einer Menschengruppe, sind entspre-
chende Komposita ganz geläufig: Vereinsmitglied, Parteifreund, Familien-
schützling.
4) Stark eingeschränkt ist die Bildung eines Kompositums als Äquivalent
zu einem substantivischen Phrasem; vgl. Auge des Gesetzes – *Gesetzesauge
,Polizei‘, Ei des Kolumbus, Ernst des Lebens, Stein des Anstoßes, Rad der Ge-
schichte u.Ä. Diese Phraseme lassen eine Univerbierung zum Kompositum
kaum zu. Doch gewisse Ausnahmen von dieser Grundregel sind anzutreffen:
Abend des Lebens – Lebensabend, Faden der Ariadne – Ariadnefaden.

2.2.2.5 Kopulativkompositum
Kopulativkomposita (vgl. Paul 1920, § 7; Henzen 1965, 75ff.) unterscheiden
sich von Determinativkomposita dadurch, dass beide unmittelbaren Kon-
stituenten in einem koordinierenden Verhältnis stehen (¢ 1.8.1.1). Damit
hängen weitere Merkmale zusammen:
Die unmittelbaren Konstituenten sind ohne prinzipielle semantische Ver-
änderung umstellbar, auch wenn das nicht in jedem Fall sprachüblich ist,
weil die Reihenfolge konventionalisiert ist: Pulloverjacke – Jackenpullover,
Strumpfhose – *Hosenstrumpf.
150 2 Wortbildung des Substantivs

Die unmittelbaren Konstituenten gehören der gleichen Wortart an, sind


bei einem substantivischen Kompositum also beide Substantive. Wie bei
den Determinativkomposita fungiert das Zweitglied als Kopf.
Das Kompositum als Ganzes kann keiner anderen semantischen Gruppe
angehören als seine beiden Konstituenten, die ihrerseits der gleichen se-
mantischen Klassifizierung unterliegen (dem gleichen „lexikalischen Para-
digma“ angehören: Neuß 1981, 43ff.). Durch dieses semantische Charakte-
ristikum ist die Determination „neutralisiert“ (vgl. Neuß 1981, 46ff., 62).
Manche Bildungen lassen doppelte Interpretation zu: Mannweib in älterer
Sprache kopulativ ,Mann und Weib, d. h. Zwitter‘ (vgl. auch Werwolf ,Mann
und Wolf‘); heute dagegen in der Regel wohl determinativ ,männlich wir-
kende Frau‘ (vgl. Neuß 1981, 50). Die genannten Merkmale gelten für zwei
Teilgruppen, die sich durch ein weiteres Merkmal unterscheiden (über ent-
sprechende Eigennamen ¢ 2.2.11.2).
1) Exozentrische Kopulativkomposita (Ortner/Ortner 1984, 66) sind sol-
che, bei denen weder das Erst- noch das Zweitglied das ganze Kompositum
semantisch repräsentieren kann: Eine Strumpfhose hat zwar „etwas“ von
einem Strumpf und von einer Hose, ist aber weder Strumpf noch Hose.
Komposita dieser Art bezeichnen vorzugsweise Kleidungsstücke; vgl. Klei-
derschürze – Schürzenkleid, Blusenjacke – Jackenbluse. Ein seltener Fall ist die
Bezeichnung Schafziege für eine Kreuzung aus Ziege und Schaf (auch kon-
taminiert zu Schiege; zur Kontamination ¢ 1.8.1.7).
2) Eine andere – stärker ausgebaute – Gruppe bilden die endozentrischen
oder konjunktiven Kopulativkomposita, deren unmittelbare Konstituenten
in einem additiven Verhältnis stehen und zwei Seiten eines Denotats be-
zeichnen. Gewöhnlich handelt es sich um Personenbezeichnungen. Das
Modell ist schon alt, vgl. pfaffenvürste (13. Jh.), Prinzregent, Dichterkompo-
nist, Waisenkind, -knabe (Kluge 1925, 65).
Neuere, mehr oder weniger geläufige Bildungen dieser Art sind Ingeni-
eurphilologe, Künstler-Kämpfer, Sänger-Darsteller (zugleich Sänger und
Schauspieler), Arbeiter-Schauspieler, Spielertrainer, Dichter-Präsident (für
V. Havel).
Die Gleichstellung beider Konstituenten kann so weit gehen, dass – zu-
mindest bei okkasionellen Bildungen – bei Flexion des Zweitgliedes auch das
Erstglied flektiert wird: dem Journalisten-Wissenschaftler (J. Brězan).
Koppelung von mehr als zwei Wörtern begegnet selten: der Berliner Au-
tor-Redakteur-Verleger (TZ 1983 mit Bezug auf Ch. F. Nicolai, 1733–1811),
Entdecker-Abenteurer-Freibeuter wie Raleigh (TZ 1981).
2.2 Komposition 151

Sachbezeichnungen sind nur vereinzelt vertreten, vgl. z. B. Strichpunkt,


Kinocafé; hierher auch Termini wie Schwefelwasserstoff (Neuß 1981, 58).
Okkasionelle spielerische Vertauschung der unmittelbaren Konstituenten
kann mit semantischen Nuancierungen verbunden sein, wobei das kopu-
lative Verhältnis fraglich wird, vgl. den Buchtitel Heitere Rätsel-Reime –
Reim-Rätsel (H. Topf, 1988); ferner: „Glanz und Elend dieser Methodenkom-
bination (oder dieser Kombinationsmethode)“ (Deutsche Literaturzeitung
1973.

2.2.2.6 Übergangsbereich zwischen Determinativ- und Kopulativkompositum


Bei den meisten Kopulativkomposita lässt sich auch eine Interpretation als
Determinativkompositum rechtfertigen (Breindl/Thurmair 1992; Motsch
2004, 377), wobei die adäquate Bedeutung jeweils aus dem Kontext abzulei-
ten ist.
Umgekehrt stehen einige Arten der Determinativkomposition an der Pe-
ripherie zu kopulativen Komposita; sie nähern sich der Kopulativkompo-
sition, ohne dass die oben genannten Merkmale aber ganz zutreffen. Beide
unmittelbaren Konstituenten sind ebenfalls Substantive. Das Erstglied hat
einerseits die Funktion eines attributiv gebrauchten Adjektivs (was ein de-
terminatives Verhältnis kennzeichnet), kann aber gleichzeitig auch – wie
beim Kopulativkompositum – als dem Zweitglied nebengeordnet aufgefasst
werden (vgl. den „appositionellen“ Typ girl friend bei Marchand 1969, 41).
Es gibt mehrere Untergruppen.
1) Das Erstglied ist eine Personenbezeichnung; das Verhältnis der unmit-
telbaren Konstituenten ist noch eher determinativ. Bevorzugt werden Wort-
bildungen mit Bruder- (18./19. Jh. auch Brüder-; Benzing 1968, 20): Bruder-
bund, -krieg, -volk und Schwester-: Schwesterstadt (1848), „ein Schwesterwerk
[…] zu den Rechtsaltertümern“ (Hübner über Grimm 1940), Schwesterdia-
lekte, -planet, -wissenschaften (der Namenkunde), -schiff, -firma. Das se-
mantische Hauptgewicht liegt auf dem Zweitglied: Ein Schwesterschiff ist ein
,Schiff gleicher Bauart‘; eine Vertauschung der Reihenfolge der unmittel-
baren Konstituenten ist nicht üblich. Dennoch ist auch die appositionelle
Deutung ,Schiff als Schwester‘ nicht völlig abwegig (vgl. auch Benzing 1968,
22, 50). Die Verteilung von Bruder- und Schwester- richtet sich nicht nach
dem Genus des Zweitgliedes (dazu auch Benzing 1968, 63f.); eher scheint
Bruder- bei politisch bedeutungsvolleren Bezeichnungen bevorzugt zu wer-
den.
Beliebtes Zweitglied auch in Verbindung mit anderen Personenbezeich-
nungen sind -land, -staat: Ausgräberländer, Erbauerländer, Gastgeber-, Nach-
152 2 Wortbildung des Substantivs

barland, Anlieger-, Stellvertreter-, Sieger-, Unterzeichnerstaat; vgl. ferner Part-


nerstadt, Herstellerfirma, Wirtsorganismus.
2) Erst- und Zweitglied sind Personenbezeichnungen. Auch hier liegt das
semantische Hauptgewicht auf dem Zweitglied: Mördergeneral ist ein Gene-
ral, der zugleich als Mörder bezeichnet wird; General(s)mörder wäre der
,Mörder eines Generals‘. Das determinative Verhältnis ist demnach ebenfalls
dominierend, wenngleich das appositionelle nicht ganz auszuschließen ist
(,General als Mörder‘). Vgl. ferner – mit im Einzelnen unterschiedlicher
Gewichtung des determinativen bzw. appositionellen Verhältnisses – Ama-
teurfotograf, Laienforscher, -leser, Lehrerforscher, Schülerlotse (Schüler als
Lotse für kleinere Schüler), Gaststudent, -dirigent, -dozent, Handwerkerbrü-
der (,Brüder, die Handwerker sind‘, Ch. Wolf), Studenten-Urlauber
(Ch. Wolf), Freundbauer ,befreundeter Bauer‘ (E. Strittmatter), Frauenauto-
ren ,weibliche Autoren‘ (M. Jurgensen).
In einer anderen Teilgruppe scheint das semantische Gewicht eher auf
dem Erstglied zu liegen: Anwalts-, Fischer-, Schriftsteller-, Journalistenkollege,
Ministerfreund (,befreundeter Minister‘).
3) Wortbildungen dieser Art ohne Beteiligung von Personenbezeichnun-
gen begegnen seltener, doch auch dieses Modell ist produktiv: Flugzeugfackel
(TZ 1967) ,brennend abstürzendes Flugzeug‘, Hochhaushotel, Inselstaat
(Haiti); mit Vertauschungsmöglichkeit bei z.T. unterschiedlicher semanti-
scher Nuancierung: Telegrammantwort – Antworttelegramm, Schaumstahl –
Stahlschaum, Stabeisen – Eisenstab, Blitzlicht – Lichtblitz, Stoffrest – Reststoff.

2.2.3 Adjektiv als Erstglied

2.2.3.1 Formativstrukturen
Die Kombinationen mit adjektivischem Erstglied sind stärker beschränkt
(nach Wellmann 1998, 488 machen entsprechende Komposita im Innsbru-
cker Korpus weniger als 10 % aus).
1) Üblicherweise wird ein adjektivisches Simplex verwendet: Hochbahn,
Kleinreparatur, Leerkilometer. Adjektive mit fakultativer -e-Endung (blöd/e,
mürb/e, öd/e) bevorzugen meist die Kompositionstammform ohne -e: Blöd-
mann, Mürbfleisch (aber Mürbeteig), Ödland.
Die Kompositionsaktivität der einzelnen Adjektive ist sehr unterschied-
lich. So finden sich im GWDS keine substantivischen Komposita mit adjek-
tivischen Erstgliedern wie albern, barsch, behände, brav, drall, dreist, feil, flink,
flott, forsch, klug, knapp, krank, krass u.v.a. Dies bedeutet allerdings keine
2.2 Komposition 153

absolute Blockierung, vgl. mögliche Bildungen wie Drallweib oder Fach-


wörter wie Flottholz ,leichtes Holz als Schwimmkörper an Fangnetzen‘ (Fi-
schereiwesen).
Die Kompositionsaktivität wird auch durch die semantische Klasse der
substantivischen Zweitglieder mitbestimmt. So sind Verbindungen mit ein-
facher Personenbezeichnung wie -dame, -frau, -mann stark eingeschränkt.
Komposita wie *Gutkollege (aber Gutmensch, üblich seit Mitte der 1990er-
Jahre, vgl. Herberg/Kinne/Steffens 2004, 148), *Jungmensch, *Jungmann
(aber Jungtier), *Altmann, *Schönherr sind ungebräuchlich (die drei letzt-
genannten dagegen typische Personennamenstrukturen). Ein Kompositum
wie Dickweib (E. Strittmatter) wirkt daher expressiv. Mit semantisch spezi-
elleren Zweitgliedern sind dagegen zahlreiche Bildungen lexikalisiert: Jung-
lehrer, -unternehmer, -wähler; Altachtundsechziger, -kanzler.
Ein besonderes Problem stellen die Verbindungen von Adjektiven mit
Bezeichnungen der menschlichen Körperteile dar: Komposita wie Blauauge,
Blondkopf, Kurzhals werden gewöhnlich auf die ganze Person bezogen
(¢ 2.2.10), während das attributive Syntagma verwendet wird, wenn wirklich
nur der Körperteil gemeint ist: blaues Auge usw.
Bisweilen sind adjektivische und substantivische Erstglieder formal iden-
tisch und erst mithilfe von Paraphrasen differenzierbar. So liegt in Kom-
posita mit Fern- vielfach nicht das Adjektiv, sondern das Substantiv die Ferne
vor: Fernblick – Blick in die Ferne, ähnlich Fernfahrt, -leitung, -schuss, -sicht;
wohl auch Fernstudium, -student (Gegensatz: Direkt-).
Von substantivischen Komposita mit adjektivischem Erstglied wie Groß-
angriff sind die folgenden Strukturen zu unterscheiden:
– Frühaufsteher (-er-Derivat von verbalem Syntagma früh aufstehen);
– Feinnervigkeit (-keit-Derivat von komplexem Adjektiv feinnervig);
– Freilassung (-ung-Derivat von komplexem Verb freilassen);
– Kahlfraß (Konversion von komplexem Verb kahlfressen).
Manche Wortbildungen können doppelmotiviert sein, z.B. Feinbearbei-
tung: Fein bearbeitung oder Feinbearbeit ung (¢ 1.7.1.1).
2) Auch wenn einsilbige Adjektive als Erstglieder bevorzugt werden, sind
doch auch zweisilbige mit einer Schwa-Silbe üblich, vgl. die z.T. zahlreichen
lexikalisierten Wortbildungen mit Doppel- (-achse, -agent, -axt, -ehe, -erfolg,
-mitgliedschaft, -sieg, -spitze), Dunkel- (-kammer, -zelle, -ziffer), Edel- (-gas,
-holz, -kitsch, -obst), Einzel- (-aktion, -handel, -haus), Mittel- (-bau, -betrieb,
-feld), Eigen- (-art, -bau, -bedarf, -geschwindigkeit, -wille), Offenstall, Trocken-
(-anlage, -dock, -element, -masse, -rasierer, -spiritus), Bitter- (-klee, -salz,
-wasser), Bieder- (-mann, -sinn), Mager- (-milch, -quark, -sucht), Sauer-
(-braten, -brunnen, -gras, -kirsche, -kraut, -milch, -stoff, -teig) u. v.a.; dazu die
Komposita mit ober-, unter-, hinter-, vorder-.
154 2 Wortbildung des Substantivs

Dass Komposita mit heikel, eitel, simpel, düster, finster, hager, heiser, heiter,
lauter, munter, sicher, teuer offensichtlich ungeläufig sind, hat demnach eher
Gründe, die in der Semantik und in mangelnder begrifflicher Relevanz,
nicht dagegen in der prosodischen Struktur liegen.
3) Morphologisch begründet ist wohl die Seltenheit von Komposita mit
adjektivischem Derivat als Erstglied, soweit es sich um Adjektive mit indi-
genem Derivationssuffix (-bar, -ig, -isch, -lich usw.) handelt. Bei der Bildung
einschlägiger substantivischer Komposita wird gewöhnlich auf die substan-
tivische Basis dieser adjektivischen Derivate zurückgegriffen: pflanzliche
Kost – Pflanzenkost, nicht *Pflanzlichkost, menschliches Herz – Menschenherz,
farbiger Druck – Farbdruck, eiserne Truhe – Eisentruhe, schulische Angelegen-
heiten – Schulangelegenheiten; zu Vater – väterlich vgl. Benzing 1968; vgl.
auch Kurzfrist-Analysen (statt kurzfristige Analysen, Der Spiegel 1989). Ent-
sprechend sind Komposita aus Teil- und Nomina Actionis als Zweitglied
meist durch adjektivisches teilweise + Substantiv paraphrasierbar (Teilauto-
matisierung – nach teilweiser Automatisierung; nicht aber Teilaspekt, -menge).
Eine Ausnahme bilden – neben Einzelfällen wie Chemischreinigung – die
Derivate von Volks- bzw. Ländernamen wie Englischhorn, Französischlehrer,
Russischunterricht (vgl. Wilmanns 1899, 514) – wobei allerdings das Erst-
glied meist als substantiviertes Adjektiv aufzufassen ist –, ferner Farbbe-
zeichnungen wie ein schönes Rötlichblond (auch als Konversion interpretier-
bar) und schließlich Fachausdrücke, besonders mit Adjektiven auf -ig:
Billigflug, -produkt, -tarif, -ware; Fertigarzneimittel, -beton, -gericht, -haus,
-produkt; Flüssiggas, -dünger, -gut; Niedriglohnländer, -empfänger, Niedrig-
wasser; vgl. auch Endlosband, -formular, -moräne, -bauweise.
Bei Verwendung des Bindestrichs ist eine großzügigere Koppelung zu
finden: Farbig-Grafik wäre wohl möglich.
Substantivische Konversionen von flektierten Adjektiven auf -ig, -lich
u.Ä. sind als Erstglieder in der Kompositionsstammform auf -n durchaus
üblich, vgl. Freiwilligenarbeit, -jahr, -projekt (Internet 2010), Sachverständi-
gengutachten.
Sehr geläufig sind als Erstglieder adjektivische Derivate mit einigen
Fremdsuffixen wie -al (Kapitalverbrechen, Kolossalgemälde), -ar/-är (Elemen-
tarunterricht, Sekundärrohstoff), -at (Privatbesitz, Separatdruck) und -iv
(Exklusivbeitrag, Intensivkurs). Dies gilt dagegen nicht für Adjektive auf
-abel/-ibel (komfortabel, disponibel), -ant/-ent (amüsant, konsequent), -esk
(grotesk), -os/-ös (rigoros, skandalös). Auch das Adjektiv modern ist als Erst-
glied nicht kompositionsaktiv (wohl aber derivationsaktiv: Modernität, mo-
dernisieren). Mit Adjektiven auf -it gibt es einzelne geläufige Fachwörter wie
Indefinitpronomen, Infinitkonstruktion.
2.2 Komposition 155

4) Kompositionsinaktiv als Erstglied substantivischer Komposita sind


auch die Adjektive mit den Präfixen erz-, miss-, un-, ur-. Das GWDS kodi-
fiziert z.B. zahlreiche Adjektive mit un-, jedoch keinen einzigen Fall, der sich
eindeutig als substantivisches Kompositum mit dem un-Adjektiv als Erst-
glied auffassen ließe: Ungleichgewicht, Unpaarhufer sind Präfigierungen der
komplexen Substantive Gleichgewicht und Paarhufer; Unkenntlichmachung
und Unwohlsein sind Derivate bzw. Konversionen entsprechender verbaler
Syntagmen. Für unendlich- in dieser Position steht endlos- (s.o.).
Gleiches gilt für Adjektive mit den Präfixen erz- und miss-. Mit uralt sind
jedoch einige Komposita kodifiziert: Uraltauto, -mitglied, -schlager; Uralt-
guthaben ist dagegen als Präfigierung von Altguthaben zu interpretieren.
5) Über spezifische Kompositions- und auch Derivationsstammformen
verfügen besonder- (Sonderbedeutung, -druck, -regelung), doppelt (Doppel-,
s. o.), einzeln (Einzel-, s.o.); zu Derivaten wie Einzelheit, in Sonderheit
¢ 2.3.2.7.
6) Verbindungen mit zwei oder gar drei Adjektiven als Erstglied sind äu-
ßerst selten, vgl. etwa Schwarzweißmalerei, Helldunkel-Wirkung, Schwarz-
Rot-Gold-Bedeutung. Komposita wie Vollschlankfigur statt vollschlanke Figur
sind modellgerecht gebildet, aber nicht sehr üblich. Ähnliches gilt für Kom-
posita mit zwei Adjektiven, von denen das zweite Bestandteil des substan-
tivischen Zweitgliedes ist, wie Hart schwarzbrot statt hartes Schwarzbrot,
Alt großstadt. Dagegen sind komplexe substantivische Erstglieder, die ihrer-
seits ein Adjektiv als Erstglied enthalten, sehr geläufig: Doppelstock wagen,
Edelpilz käse, Mittelfeld spieler, Hartplatz turnier. Nach DWb (4, 10) handelt
es sich hierbei „um besonders moderne Bildungen“.
7) Wie Adjektive erscheinen – allerdings sehr selten – auch Partizipialfor-
men (ebenfalls unflektiert und nicht mehrere gekoppelt) als Erstglied, am
ehesten das Partizip II: Belebtschlamm, Gebrauchtwaren, -wagen, Gemischt-
waren, Vergriffenmeldung, Bewegtbildangebot der DB (DB Bahn mobil 2010);
vgl. auch Branntwein, mhd. gebranter wı̄n, mit getilgtem Verbalpräfix, im
18. Jh. gelegentlich noch Brandtenwein mit Flexion.
Das Partizip I als Erstglied ist noch ungeläufiger; vgl. Fachausdrücke wie
Liegendwässer ,Grundwässer im Liegenden von Lagerstätten, bes. Braun-
kohle‘, Lebendgewicht, -masse, -vieh. Formen wie Geltendmachung sind als
Derivat eines verbalen Syntagmas zu erklären.
8) Superlativformen adjektivischer Erstglieder sind heute relativ geläufig:
Dünnstbatterie, Kleinstminen, in Kürzestfassung (G. Kunert), Reinststoffe
(auch: ultrareine Stoffe), Schwerstarbeit, Tiefstbohrung. In manchen Fällen
sind die entsprechenden Komposita mit dem Positiv nicht üblich: Höchst-
156 2 Wortbildung des Substantivs

preis, -strafe, -temperatur, nicht *Hochpreis (aber hochpreisige, hochpreisliche


Waren; Hochpreissegment, -strategie).
Von den superlativischen Suppletivformen sind best- (von gut) und min-
dest- (von wenig; nicht dagegen wenigst-!) als Erstglieder sehr üblich: Best-
besetzung, -form, -marke; Mindestalter, -betrag, -geschwindigkeit, -lohn, -stra-
fe. Der Superlativ meist- tritt nur vereinzelt auf (Meistbegünstigung, -gebot).
Von den entsprechenden Komparativformen ist vor allem mehr sehr aktiv
(vgl. dabei auch das konvertierte Substantiv das Mehr): Mehrarbeit, -auf-
wand, -bedarf, -einnahme, -wert; in geringerem Maße minder-: Minderein-
nahme, -gebot, -zahl. Ältermann ,Zunftvorsteher‘, Ältermutter, -vater ,Ur-
ahn, Vorfahr‘ sind veraltet. Im Übrigen sind Komparativformen kaum aktiv.
Begegnen entsprechende komplexe Substantive, so handelt es sich in der
Regel um Konversionen oder Suffixderivate verbaler Syntagmen: das Rei-
cherwerden (Internet 2010), Besserverdienende, Besserverdiener, Höherstu-
fung.

2.2.3.2 Zur Semantik


Die Wortbildungsbedeutungen der Adjektiv-Substantiv-Komposita sind
weniger vielfältig als die der Substantiv-Substantiv-Komposita (vgl. DWb 4,
126ff., 692). Bei den produktiven Modellen lassen sich zwei Hauptgruppen
unterscheiden: zum einen die Determination des Substantivs nach einer
herausragenden Eigenschaft des bezeichneten Gegenstandes, zum anderen
ganz allgemein ,Verstärkung, Intensivierung‘ bzw. ,Minderung der Intensi-
tät‘; dazu treten zwei weniger bedeutsame Nebengruppen (vgl. auch Fahim
1977, 151 ff.).
1) In der ersten Gruppe besteht der Unterschied zum adjektivisch-attribu-
tiven Syntagma in der Tendenz zu mehr oder weniger ausgeprägter Demo-
tivation (¢ 1.5.4.1). Die Eigenschaftsbezeichnungen beziehen sich vorwie-
gend auf die äußere Form (Breitbild, -schädel, -wand, Flachküste, Kraushaar,
Langzeile, Rundbau, -beet, -turm, Schmalfilm, -wand, Spitzbogen, Steilküste),
geben die Farbe (Blaulicht, Grünanlage, Schwarzerde), eine lokale (Hoch-
ebene, Nahkampf, -verkehr, -ziel) oder zeitliche Beziehung (Frühbarock,
-nebel, -sommer, Spätherbst, -winter) oder den Geschmack an (Bittersalz,
Sauerkraut, Süßkirsche); auf die innere Beschaffenheit beziehen sich schließ-
lich Derbholz, Dünnbier, Faulschlamm, Freibezirk, -staat, Frischfleisch, Kalt-
asphalt, -leim, Klarapfel, Magerkäse, Roheisen, -zucker.
Bisweilen sind die Wortbildungsbedeutungen durch ein ausgelassenes
bzw. getilgtes Zwischenelement vermittelt: Feinbäckerei (Herstellung von
feinem Gebäck), Frisch(gemüse/obst)markt, Grün(pflanzen)düngung, Kalt(ei-
sen)meißel. Zu ergänzen wäre, wie die Beispiele zeigen, meist der zweite Teil
2.2 Komposition 157

eines komplexen ersten Kompositionsgliedes (Wellmann 1998, 423). Bei


solchen lexikalisierten Komposita von einem besonderen Kompositions-
typ „Klammerform“ zu sprechen, wie es weithin üblich ist, erscheint uns
allerdings nicht erforderlich, v. a. deshalb nicht, weil die Motivationsbedeu-
tungen von Komposita grundsätzlich die lexikalische Bedeutung nicht „voll-
ständig“ ausdrücken und die jeweiligen syntaktischen Paraphrasen lexika-
lische Ergänzungen erfordern (vgl. Feinkeramik – feinporige Keramik u.Ä.).
Das betrifft auch entsprechende Verb-Substantiv- und Substantiv-Substan-
tiv-Komposita wie Lösch(wasser)teich, Bier(glas)deckel, die man als Beispiele
für „Klammerformen“ findet (dagegen trotz vergleichbarer „Ungenauigkeit“
keine „Klammerformen“: Löscharbeit, -boot, -einsatz, -fahrzeug, -gerät, -zug).
Sind kürzere und längere bedeutungsgleiche Komposita allerdings glei-
chermaßen lexikalisiert wie beispielsweise Fernstraße/Fernverkehrsstraße, ist
der Terminus Klammerform für die Bezeichnung der kürzeren Form eher
angebracht. Auch bei bestimmten Bezeichnungsvariationen in Texten
könnte man von Klammerformen sprechen, wie etwa bei der Wahl eines
kürzeren Kompositums in der Textüberschrift, wenn das getilgte Element in
einem längeren Kompositum im Text genannt und folglich eindeutig er-
kennbar ist, vgl. Hochwassergebiet – Hochwasserschutzgebiet, Kugel-Trio –
Kugelstoßer-Trio, Visa-Problem – Visavergabe-Problem (Färber 2006, 88).
Gegen eine pauschale Verwendung des Terminus Klammerform spricht außerdem,
dass die fraglichen Komposita nicht zwingend aus einem komplexeren Kompositum
entstanden sein müssen. Zwar besteht z.B. in Frischmarkt, Feinbäckerei zwischen frisch
und Markt (*frischer Markt) bzw. fein und Bäckerei tatsächlich keine der üblichen
„Kollokationsgewohnheiten“ (DWb 4, 668f.; feine Bäckerei allenfalls in anderer Bedeu-
tung), die Verbindung von Adjektiv und Substantiv in Frischmarkt, Feinbäckerei ist
allerdings semantisch kaum vager als die anderer Komposita, die nicht zu den Klam-
merformen gezählt werden, vgl. z.B. Bleichsucht, Magersucht. Hier „wird das Adjektiv
nicht auf das Nomen bezogen, sondern auf implizit vorauszusetzende Lebewesen“
(Motsch 2004, 387). Es liegt demnach ein bestimmtes Modell der Adjektiv-Substantiv-
Komposition vor, kein „Sonderfall“. Zu weiteren Argumenten gegen die Klammerform
als Erklärungsmodell vgl. Donalies 2005b, 64 ff.

Zu den am häufigsten verwendeten adjektivischen Erstgliedern zählen alt,


edel, fein, flach, frei, frisch, früh, hart, hohl, jung, kalt, klein, kurz, lang, neu,
roh, sauer, schnell, süß, wild (vgl. die Aufstellung bei Fahim 1977, 32 f.) sowie
die Farbadjektive blau, braun, gelb, grau, grün, rot, schwarz, weiß; Letztge-
nannte insbesondere bei Pflanzen- und Tierbezeichnungen: Blaufuchs,
-meise, -tanne, Braunbär, Gelbbeere, -schnabel, Grauschimmel, Grünfink,
-kohl, -specht, Rotdorn, -schimmel, Weißfuchs, -buche.
158 2 Wortbildung des Substantivs

2) Die Gruppe mit adjektivischem Erstglied in ,verstärkender‘ bzw. ,ab-


schwächender‘ Bedeutung ist zu untergliedern.
Es handelt sich zunächst um Augmentativbildungen, vorwiegend mit
Groß- (-aktion, -alarm, -angriff, -aufnahme, -behälter, -betrieb, -brand,
-garage u.v.a.) und Hoch- (-achtung, -betrieb, -form, -glanz, -genuss, -kon-
junktur, -stimmung, -rüstung; terminologisch sind u.a. Hochdruck, -format,
-wild; zur weiteren Differenzierung vgl. Ortner/Ortner 1984, 85ff.); neuer-
dings auch Super- (-held, -model, -preis; -Ausgangsposition, -Bildbearbeitungs-
programm).
An der Ausprägung dieser Wortbildungsbedeutung ist auch Voll- betei-
ligt, wenngleich hier wenigstens drei verschiedene Lesarten zu unterschei-
den sind:
– ,vollständig‘ in Vollmitglied, Vollverpflegung, -beschäftigung (Gegensatz
Teil-), Vollwaise (gegenüber Halb-); synonymisch auch Ganz- (Ganzleder-
band, -massage);
– ,in höchstem Grade‘ in Volldampf, -gas, -kraft (vgl. auch Hoch-/Höchst-);
– ,positiv wertend‘ in Volldünger, -gefühl.
In einigen Fällen werden auch negativ bewertete Begriff verstärkt: Vollidiot.
Wie mit der Augmentation kann die positive Wertung auch mit anderen
Bedeutungen zusammengehen. So bezeichnet Fein- (Gegensatz vielfach
Grob-) als ,hochwertig‘ das Sorgfalt Erfordernde, bis ins Kleinste Differen-
zierte, einen hohen Grad an Reinheit Aufweisende (Feinarbeit, -mechanik,
-struktur; -blech, -brot, -gehalt, -keramik; -gold, -silber; übertragen schließlich
Feingefühl). Eine ähnliche Entwicklung zeigt Edel- (-metall, -stein; ,aufwer-
tend‘ in Edelkitsch, -marzipan, -nutte, -schnulze); stärker ironisierend ist
Nobel- (Nobelgegend, -herberge, -nachthemd, Ortner/Ortner 1984, 80).
Vereinzelt ist verstärkendes Heiß- in Heißhunger.
Den Diminutiva semantisch nahe stehen – z.T. negativ wertende – Kom-
posita mit Klein-/Kleinst- (-garten, -holz, -kram), Kurz- (-ausbildung, -fas-
sung, -meldung, -kommentar), mit geringer Reihenbildung auch Schmal-,
insbesondere Weiterbildungen mit Schmalspur- (-akademiker im Unter-
schied zu Voll-) und Schwach- (-kopf, -sinn, -strom).
Eine Sonderstellung nimmt Halb- ein. Es wird in hohem Maße zur Bil-
dung von Termini in den verschiedensten Bereichen genutzt; vgl. Halbedel-
stein, -fabrikat, -kreis, -leiter, -metall, -wertszeit, -zeug ,Halbfabrikat‘. Da-
neben hat sich mit der Bedeutung ,unvollständig, unvollkommen‘ eine
pejorative Konnotation ausgebildet in Halbbildung, -wahrheit, -wissen, -welt
(Lehnübersetzung von französ. demi monde), vgl. auch die deadjektivische
Konversion ein Halbstarker.
2.2 Komposition 159

Halb- kann im Gegensatz stehen zu Voll- (-blut), Ganz- (-ledereinband),


Fertig- (-fabrikat).
3) Eine Reihe adjektivischer Erstglieder ist für die Bezeichnung von Rang
und Titel wichtig geworden. Ein großer Teil dieser Komposita ist heute mehr
oder weniger veraltet (Edelmann, Freiherr, Großadmiral, -fürst, -herzog).
Produktiv sind noch die Modelle mit Alt- (-bundeskanzler, -präsident), Ober-
(-arzt, -aufseher, -bürgermeister, -inspektor, -landesgericht), weniger ausge-
bildet Unter- (-leutnant, -offizier).
4) Unter den Verwandtschaftsbezeichnungen ist neben den Konfixen
Schwieger-, Stief- (¢ 2.2.8[3]) und dem Präfix ur- vor allem das adjektivische
Erstglied Groß- von Bedeutung, vgl. Großeltern, -mutter, -vater, -onkel,
-tante, -cousin. Zu nennen ist hier auch Halb- (-bruder, -schwester).

2.2.4 Verbstamm als Erstglied


2.2.4.1 Grundsätzliches

1) Die Wortbildungsaktivität des Verbs ist formativstrukturell (ausdrucks-


seitig) dadurch gekennzeichnet, dass das Verb meist in verschiedenen
Kompositionsstammformen vorkommt: mit Fugenelement oder ohne (Le-
bewesen, Lebtag, Legehenne/Leghenne), mit Vokalveränderung oder ohne
(Fährmann, Fuhrunternehmen, Fahrschule; ¢ 1.6.1).
Am geläufigsten ist der Infinitivstamm (Bindfaden); die entsprechenden
Modelle stehen im Mittelpunkt dieses Abschnitts.
Die volle Form des Infinitivs ist unter den substantivischen Erstgliedern
behandelt worden (¢ 2.2.2). Konkurrenzen treten selten auf, vgl. Essenszeit –
Esszeit, Lebenszeit – (zu) Lebzeiten (mit Gebrauchsunterschieden); statt
Schaffenslust (analog zu -freude) wäre auch möglich Schafflust wie Kauflust
(wofür *Kaufenslust nicht üblich).
Kommt ein Präterital- oder Partizipialstamm als Substantiv vor (Band,
Bund), betrachten wir das entsprechende Erstglied als Substantiv- und nicht
als Verbstamm. Konvertierte Partizipien sind ebenfalls substantivische
Stämme (Angestelltentarif). Die Partizipialstämme wurden unter den adjek-
tivischen Erstgliedern mit behandelt (¢ 2.2.3).
Finite Verbformen sind als Kompositionsstammform außerordentlich selten; sie exis-
tieren dann zunächst als Substantiv und gehen als solche entsprechende Verbindungen
ein: Iststärke, Sollstärke. Anders Fälle wie Kannbestimmung, wo das Erstglied die un-
mittelbare Beziehung zum Verb bewahrt hat: ,eine Bestimmung, die berücksichtigt
werden kann, nicht muss‘; Kannkind ,ein Kind, das schon eingeschult werden kann,
aber noch nicht muss‘.
160 2 Wortbildung des Substantivs

Über Wortbildungen mit Satz- oder Syntagmenkonstituenten wie ihr Das-darf-


doch-nicht-wahr-sein-Gesicht Donalies 2005b, 73; ¢ 2.2.9.
„Satznamen“ wie Störenfried, Taugenichts werden als Konversion komplexer syntak-
tischer Einheiten gesondert betrachtet (¢ 2.6.2.3.2).

2) Ein besonderes Problem stellt die bereits erwähnte enge Berührung von
Substantiv- und Verbstamm dar. Sie besteht zunächst darin, dass in nicht
wenigen Komposita formal wie semantisch sowohl ein substantivisches als
auch ein verbales Erstglied vorliegen kann, in diesem Sinn Doppelmotiva-
tion gegeben ist: Reisezeit – Zeit für Reisen oder Zeit, in der jmd. reist. Die
gleiche Form kann in einem Kompositum als Verbstamm, in einem anderen
als Substantivstamm aufzufassen sein: Mietausfall, -preis (Miete) – Mietauto,
-wagen (mieten), Kochmütze (Koch) – Kochrezept, -salz (kochen). In Kien-
pointners Korpus von 6500 Wortbildungen ist das Verhältnis derartiger
Doppelmotivationen zu den eindeutig verbal motivierten immerhin – je
nach den unterschiedlichen semantischen Modellen – 1 : 3, 1 : 2 oder gar
1 : 1 (Kienpointner 1985, 193).
Die Möglichkeit der Doppelmotivation ist in den folgenden Beispielen
daher nicht immer auszuschließen. Maßgebend bleibt, dass die Beispiele
nach dem allgemeinen Strukturmodell Verbstamm + Substantiv gebildet
werden (bzw. worden sein) können. Die Feststellung der Doppelmotivation
ist eine Sache der Analyse, der Interpretation.
Die Berührung von substantivischem und verbalem Erstglied zeigt sich
auch noch in anderer Weise. Erstglieder der gleichen Wortfamilie können als
deverbaler Substantivstamm wie auch als Verbstamm nebeneinander fun-
gieren: Zugvogel – Ziehkind, Schussfeld – Schießplatz, Bandeisen – Bundpfahl
,verbindender Pfahl‘ – Bindfaden, Griffloch ,Flötenloch‘ – Greifvogel. Die
morphologisch unterschiedlichen Erstglieder können z.T. sogar mit dem
gleichen Zweitglied ohne wesentlichen Bedeutungsunterschied kombiniert
werden: Schiebkarre – Schubkarre, Treibrad – Triebrad, Ziehbrücke – Zug-
brücke.
Die grammatische Differenzierung zwischen Substantiv und Verb ist für
die Erstgliedposition in der Komposition irrelevant; maßgebend ist die se-
mantische Nähe der Stämme (vgl. auch Fundmunition ,gefundene Muniti-
on‘, was semantisch eher an das Verb anzuschließen ist).
In ähnlicher Weise kann der Verbstamm teilweise mit deverbalen -ung-
Derivaten als Erstglied konkurrieren, vgl. Heilprozess – Heilungsprozess, Ab-
schreck(ungs)maßnahme, Misch(ungs)verhältnis, Überhol(ungs)möglichkeit,
Bedien(ungs)komfort, -anleitung. In der Geläufigkeit des einen oder anderen
Typs sind historische Verschiebungen möglich. Bis ins 18. und 19. Jh. begeg-
nen noch Ankleidungszimmer, Bewegungsgrund, Deutungskraft (Paul 1920,
§ 18, Anm. 1).
2.2 Komposition 161

Ungeachtet der genannten Berührungen zwischen substantivischem und


verbalem Erstglied werden im folgenden Abschnitt lediglich die Modelle mit
verbalem Erstglied zugrunde gelegt.

2.2.4.2 Formativstrukturen

1) In der Regel werden simplizische, präfigierte Verbstämme oder Parti-


kelverbstämme als Erstglieder verwendet: Backofen, Streichgarn, Bestellnum-
mer, Entladerampe, Verwirrspiel, Anschnallpflicht, Umhängetasche; Musik in
Mitklatschqualität (LVZ 2009). Zu Fugenelement -e- ¢ 2.2.12.3.
Zu den besonders häufig auftretenden Erstgliedern dieser Art gehören im
Material von Kienpointner (1985, 390ff.) u.a. Abbau-, Abhör-, Back-, Bade-,
Bau-, Bohr-, Denk-, Dreh-, Druck-, Fahr-, Flimmer-, Förder-, Gefrier-, Heil-,
Heiz-, Koch-, Les(e)-, Leucht-, Reit-, Sammel-, Schreib-, Schwimm-, Sprech-,
Sterb(e)-, Stink(e)-, Wander-, Wasch-, Werbe-.
Die substantivischen Zweitglieder können neben Simplizia auch Wort-
bildungen sein: Abziehbildchen, Abwehrbereitschaft, Einsteigebahnhof, Koch-
anweisung.
Auch hier kann Doppelmotivation auftreten: Schreibfaulheit ist auch als
-heit-Derivat des adjektivischen Kompositums schreibfaul erklärbar.
Verben auf -ig(en) werden nicht als Erstglied verwendet; in den entspre-
chenden Fällen erscheint das substantivische Derivat mit -ung: Beglaubi-
gungsschreiben, Befähigungsnachweis, Verunreinigungsgefahr. Über Schad- zu
schädigen s. u.
2) Exogene Verbstämme sind prinzipiell möglich (vgl. Boxkampf, -ring,
Charterflugzeug, Mixbecher, -rezept), doch treten Verben dieser Art als Erst-
glied wenig in Erscheinung, abgesehen von der großen Zahl der Verben auf
-ier(en): Chiffrierschlüssel, Exerzierfeld, Experimentierfreude, Fabulierkunst,
Kopiergerät, Passierschein, Rasierapparat, Renommiersucht, Servierwagen, Ta-
peziernagel, Visierobjekt.
3) Koppelungen mehrerer Verbstämme als Erstglied sind sehr selten; sie
finden sich – von poetisch-expressiven Wortbildungen abgesehen – allen-
falls in der Terminologie der Technik: Mischsortier verfahren, Streckspinn ver-
fahren. Auch Kienpointner (1985, 195 f.) findet nur ganz vereinzelte Fälle
wie Lese-Rechtschreib- Schwäche, Kühl-Gefrier- Bosch. – Nicht hierher ge-
hören Wortbildungen wie Schluck impfstoff, in denen der zweite Verbstamm
Bestandteil des Zweitgliedes ist.
4) Häufiger treten dagegen Erstglieder auf, in denen der Verbstamm mit
einem Substantiv oder Adjektiv (Adverb) gekoppelt ist (vgl. Kienpointner
1985, 196ff., wo diese „Erweiterungen“ ca. 4 % des Materials ausmachen).
162 2 Wortbildung des Substantivs

Steht die Erweiterung vor dem Verbstamm, liegt als erste unmittelbare Kon-
stituente ein Syntagma vor (¢ 2.2.9.2): Leisesprech telefon, Lasthebe magnet,
Brötchenback linie, Schrotthole dienst, Spritspar- Auto u.a. Steht die Erwei-
terung nach dem Verbstamm, handelt es sich dagegen um ein Kompositum
aus zwei Substantiven: Fahrschein verkauf.
Wortbildungen wie Beton mischmaschine, Qualitäts trinkmilch sind zu er-
klären als Kompositum aus zwei Substantiven; erst die zweite unmittelbare
Konstituente enthält als Erstglied einen Verbstamm.
5) In manchen Fällen ist das simplizische verbale Erstglied auf ein kom-
plexes, meist linkserweitertes Verb mit einer spezifischen (gekürzten) Kom-
positionsstammform zurückzuführen: Lösegeld zu auslösen, Rieselfeld zu be-
rieseln, Flammpunkt zu entflammen, Zerrbild zu verzerren. In ähnlicher
Weise sind wohl manche Wortbildungen mit Schad- an (be)schädigen anzu-
schließen: Schadfraß, -holz.

2.2.4.3 Zur Semantik

2.2.4.3.1 Übersicht über die Wortbildungsbedeutungen


Unter Berücksichtigung von Ortner/Ortner (1984) und Kienpointner (1985)
geben wir im Folgenden eine Übersicht über die wichtigsten Wortbildungs-
bedeutungen der Determinativkomposita mit verbaler Erstkonstituente.
Dabei greifen wir – soweit angängig – auf die Übersicht der substantivischen
Erstglieder (¢ 2.2.2.3.1) zurück. Einige der dort auftretenden Wortbildungs-
bedeutungen finden sich auch hier, allerdings in wortartspezifischer Aus-
richtung und in anderen Proportionen. Am stärksten ausgebaut sind ,fi-
nal‘, ,aktivisch‘, ,passivisch‘, ,lokal‘, ,thematisch‘.
Auch hier steht A für das Erst- und B für das Zweitglied.
1) ,final‘
,B ist geeignet/bestimmt für A‘: Einweckgummi, Haltevorrichtung, Kläranlage,
Merkblatt, Riechorgan, Rasier-, Strickapparat, auch bei Abstrakta: Anspar-
Rate.
2) ,aktivisch‘
,B tut A‘: Hier findet sich ein großer Anteil von Personen-, Personengrup-
pen- und Tierbezeichnungen unter den Zweitgliedern, vgl. Putzfrau, Liefer-
betrieb, Löschkommando, Glühwürmchen, Lachtaube, Säugetier, Kletterrose,
Stechpalme, Suchtrupp (anders bei Substantiv-Substantiv-Komposita, dort
,A tut B‘; ¢ 2.2.2.3.1). – Der Unterschied zwischen hierher zu stellenden Ge-
rätebezeichnungen wie Fließband, Haftschale, Platzpatrone und zu 1) ge-
hörenden wie Kehrbesen besteht darin, dass bei Gruppe 1) eine Relation zum
2.2 Komposition 163

Menschen gegeben ist, der das „Instrument“ handhabt, bedient, ohne ex-
plizit genannt zu sein (zur Differenzierung und möglichen „Überlappun-
gen“ vgl. auch Kienpointner 1985, 56 f).
3) ,passivisch‘
3.1) ,A wird mit B getan‘, meist ,habituell‘: Ausbringmenge, Ein-
schreib(e)brief, Leihverpackung, Umhäng(e)tasche. – Der Unterschied zu 1)
besteht darin, dass B nicht das Mittel der Handlung bezeichnet, sondern das
affizierte (von der Handlung betroffene) Objekt.
3.2) ,A ist mit B getan worden‘ (,präterital-passivisch‘): Bratapfel, -hering,
-kartoffeln, Mischgemüse, Räucheraal, Setzei, Spritzkuchen, Strickmütze, Well-
fleisch (wellen ,zum Wallen bringen, aufkochen‘), Spargeld; sowohl 3.1) als
auch 3.2) Reibekäse, Schlagsahne.
4) ,referenziell‘ (DWb 4, 132)
,A ist thematischer Bezugspunkt von B‘: Bohrkapazität, Durchhaltefilm, Er-
zähl-, Maltalent, Sehvermögen.
5) ,lokal‘
,B ist Ort/Raum für A‘: Anlegeplatz, Bastelraum, Impfstelle, Kochecke, Plansch-
becken, Schaltzentrale, Verladestation. Eine „direktionale“ Komponente er-
scheint in seltenen Fällen wie Fliehburg (Kienpointner 1985, 116).
6) ,explikativ‘ (Kienpointner 1985, 160ff.; auch: ,verdeutlichend‘, DWb 4,
174)
,A expliziert B‘: Ausweichmanöver (,Manöver, das darin besteht, dass jmd.
ausweicht‘), Absperrmaßnahme, Kletterpartie, Lesewut, Nachholbedarf, Ra-
tespiel, Schießübung, Schmelzprozess, Suchaktion. – Es bestehen Berührungen
mit 4), z. B. bei Dichtkunst und auch mit explikativen Substantiv-Substantiv-
Komposita wie Bildungsprozess (¢ 2.2.2.3.1).
7) ,temporal‘
,B gibt Zeitpunkt/-raum für A an‘: Backtag, Bedenkzeit, Sendetermin, Ver-
weildauer, Sterbestunde.
8) ,kausal‘
8.1) ,A erzeugt/verursacht B‘: Auffahrunfall, Denkfalte, Kratzwunde, Spritz-
eisbahn, Weinkrampf; doppelmotiviert: Schussverletzung.
8.2) ,B verursacht A‘: Lachreiz, Niespulver.
Als „Negationsform“ von ,kausal‘ bezeichnet Kienpointner (1985, 135) den
Typ Beißkorb ,B ist Ursache für Nicht-A‘, wozu auch Gleitschutz, Scheuklappe
(bei Ortner/Ortner 1984, 146 als „prohibitiv“ gesondert gestellt); mit Erwei-
terung durch Anti-: Antiklopfmittel, Antirutschmaterial, Antitropfautomatik.
9) ,modal‘
,B hat A als Modus‘: Laufschritt, Polterabend, Stehbankett.
164 2 Wortbildung des Substantivs

Dass sich nicht alle Wortbildungen ohne Weiteres den genannten Modell-
bedeutungen zuordnen lassen, muss ebenso in Kauf genommen werden wie
das Auftreten potenzieller Mehrfachzuordnungen.

2.2.4.3.2 Komposita mit Fehl-


Die zahlreichen Komposita mit Fehl- sind am ehesten an den Verbstamm
fehl- ,nicht treffen, verfehlen; etwas Unrechtes tun‘ anzuschließen, nicht an
das Adverb fehl (als unikale phrasemische Komponente in fehl am Platz/Ort
sein) oder das Substantiv Fehl (als unikale phrasemische Komponente in
ohne Fehl und Tadel), vgl. Fehleinschätzung, -entscheidung, -planung; vielfach
mit Fremdwörtern wie -diagnose, -disposition, -interpretation, -konstruktion,
-spekulation, -start. In einer Reihe von Wortbildungen liegt der semantische
Akzent stärker auf ,Abweichung vom Normalen‘ (Fehlgeburt, -jahr ,Jahr mit
Missernte‘, Fehlbildung), wozu synonymisch teilweise auch Miss-; anders
Fehlmeldung ,Meldung über nicht Vorhandenes, Geschehenes‘, Fehlschicht,
-stunde. – Als deverbale Konversion ist Fehlgriff aus fehlgreifen zu erklären
(¢ 2.6).

2.2.5 Pronomen als Erstglied

Pronomina sind sehr selten Erstglied substantivischer Komposita und


zudem auf bestimmte Teilklassen bzw. Einzelfälle beschränkt. In der Über-
sicht über die semantischen „Typen der Substantivkomposition“ bei Ortner/
Ortner (1984, 142ff.) tauchen entsprechende Fälle nicht auf (doch vgl. die
Hinweise ebd., 118, 172). Im Korpus von DWb 4 beträgt ihr Anteil weniger
als 1 %.
1) Von den Personalpronomina erscheinen am ehesten ich und wir in
dieser Funktion: Ich-, Wirgefühl, Ichform, Wirbewusstsein.
2) Als sprachwissenschaftliche Termini sind teilweise noch gebräuchlich
Wer-, Wes-, Wem-, Wenfall für die vier Kasus – mit dem Fragepronomen als
Erstglied, weil man die entsprechenden Kasusformen so „erfragt“.
3) Okkasionell bleiben Fälle mit dem Possessivpronomen wie der Dein-
Tag und der Mein-Tag (Ortner/Ortner 1984, 118), sie sind nur textgebunden
verständlich.
4) Demonstrativpronomina treten nicht auf; das Diesseits/Jenseits sind
deadverbiale Konversionen.
5) Die Indefinitpronomina stehen den Substantiven bzw. Adjektiven
nahe. Daher sind manche von ihnen als Erstglieder nicht völlig ungeläufig.
2.2 Komposition 165

Unterschiedlich zu erklären sind die Wortbildungen mit All-, als substan-


tivisches Kompositum am ehesten Allheilmittel. Allmacht, -tag gehen als
Rückbildungen (¢ 1.8.1.6) auf allmächtig, -täglich zurück (vgl. Erben 1976,
231), ähnlich Allgegenwart. Allesfresser, -kleber, -könner sind -er-Derivate
von verbalen Syntagmen. Allstrom ist gekürzt aus Allstromgerät wie Allerhei-
ligen aus Allerheiligentag. Der vollen Form liegen Syntagmen als Erstglied
zugrunde wie in Allwetterjäger, -kleidung, Allerweltsgesicht, -kerl.
Wortbildungen mit Viel- wie Vieleck, -flach (so im GWDS, auch -flächner)
,Polyeder‘, Vielfuß (Insekt mit vielen Füßen) können als Possessivkomposita
(vgl. auch Vielfalt) oder als deadjektivische Rückbildungen aufgefasst
werden (schon mhd. vilecket ,vieleckig‘). Analog gebildet ist Vielzahl ,große
Zahl‘.
Substantivische Syntagmen liegen dem Erstglied zugrunde in den Wort-
bildungen Vielvölkerstaat, Vielzwecktuch, Vielzeller, Vielgötterei, -weiberei,
-staaterei; verbale Syntagmen in Vielschreiber, -wisser, -fraß. – Derivate ver-
baler Syntagmen sind auch Nichtskönner, -tuer.
Vereinzelt begegnen weitere Indefinitpronomina in Anderkonto ,Konto,
über das nicht der Vermögensbesitzer, sondern ein Treuhänder verfügt‘,
Jedermannfunk ,Sprechfunk, für den keine Lizenz benötigt wird‘ (beide im
GWDS), Niemandsland.
Die Gründe für die geringe Kompositionsaktivität der Pronomina wer-
den in ihren „situationsbestimmten Funktionswerten“ gesehen, womit sie
in dieser Hinsicht den „situationsvariablen grammatischen Kategorien
Tempus und Modus“ entsprechen (vgl. Erben 1976, 232).
6) Eine besondere Rolle als Erstglied spielt lediglich Selbst-, schon mhd.
selp-gewalt ,eigenmächtige Selbsthilfe‘ u. a. Der Komposition förderlich war
in jüngerer Zeit wohl auch die Entwicklung des Substantivs Selbst (1696 das
selbs); vgl. Selbstbekenntnis, -kritik, -mord, -studium, -zweck, -zweifel u.a.
sowie okkasionelle Wortbildungen wie Selbstbehaglichkeit, -misstrauen, -ver-
lorenheit (Ch. Wolf), Selbstgefühl, -ruin (W. Hildesheimer). Daneben stehen
vielfach Derivate von – reflexiven – verbalen Syntagmen: Selbstbefragung,
-bedienung, -darstellung, -entblößung, -inszenierung, -zurschaustellung.
Teilweise konkurriert das Adjektiv Eigen- (Selbst-/Eigenlob, -sucht, -tor);
doch andere Lesarten von eigen ,für jmdn. charakteristisch, merkwürdig‘
setzen der Konkurrenz Grenzen (semantisch differenziert Selbst-/Eigenstän-
digkeit; nur Eigenheim, -leistung, -leben).
Die Konkurrenz des Fremdelements auto- ist sehr beschränkt, da dieses
sich nur mit fremdsprachlicher Basis verbindet, die ihrerseits allerdings
mitunter mit selbst- ebenfalls kombinierbar ist: Auto-/Selbstbiografie, Auto-/
Selbsthypnose, Auto-/Selbstporträt.
166 2 Wortbildung des Substantivs

2.2.6 Numerale als Erstglied

1) Es erscheinen vorwiegend die Grundzahlen unter zehn. Nicht hierher


gehören die Modelle Zweibeiner (-er-Derivat von einem Syntagma; ¢ 2.3.2.4),
Einauge (Possessivkompositum; ¢ 2.2.10), Zweitaktmotor (Syntagma als
Erstglied). Es bleiben Fälle wie Einbaum, -ehe, Zweikampf (älter ist zwie-:
Zwielicht, -tracht, -back), Dreibund, -klang, Viergespann, Fünfkampf, Sieben-
gestirn u.a. Dabei bezieht sich die Zahl in der Regel nicht unmittelbar auf das
Zweitglied: Zweikampf nicht ,zwei Kämpfe‘, sondern ,Kampf zwischen zwei
Personen‘, Viergespann ,Gespann mit vier Pferden‘.
Formal abzusetzen sind: Achterbahn ,Berg- und Talbahn mit Doppel-
schleifen ähnlich einer liegenden Acht‘, Zweier-, Dreier-, Viererreihe.
In diesem Zusammenhang verweisen wir auch auf die Wortbildung Jahr-
hundert (für lat. saeculum seit 16./17. Jh.), wonach Jahrzehnt, -tausend u.Ä.
gebildet sind. Auszugehen ist hier wohl von einer Univerbierung zweier
Substantive: das Hundert von Jahren. Ausführlicher zum Verhältnis von
Kompositum und Syntagma Wellmann 1993, 147 ff.; ¢ 2.2.1.4.
2) Mit Ordnungszahlen ergeben sich Wortbildungen wie Erstaufführung,
-ausgabe, -geburt, -wähler, Zweitfrisur ,Perücke‘, -wagen, -wohnung.
3) Eine Sonderstellung hat die Kardinalzahl Null. Sie bezieht sich entwe-
der auf den Wert ,Null‘ auf einer Skala (Nullpunkt, -stellung) oder drückt
eine Negation aus (Nullwachstum ,Nicht-, kein Wachstum‘; Nullschneepro-
gnose, TZ 1988; Nulllösung ,Null-Raketen-Lösung‘, Nulldiät ,Null-Nah-
rung-Diät‘, Nullrunde ,Lohnrunde ohne Lohnerhöhung‘).
4) Geläufig sind Wiederholungszahlwörter: Dreifach-Sieg, Vierfach-Imp-
fung, Mehrfachimpfstoff, -visum.

2.2.7 Flexionsloses Wort als Erstglied

2.2.7.1 Grundsätzliches
Im Vordergrund stehen hier die Wortbildungen mit präpositionalem Erst-
glied, die „systematisch ausgebaut“ sind (Wellmann 1998, 493), insbeson-
dere in antonymischen Paaren lokaler bzw. temporaler Bedeutung (vgl.
Henzen 1969). Angeschlossen werden Komposita mit adverbialem Erst-
glied. Unberücksichtigt bleiben solche mit Konjunktion (Dass-Satz), Inter-
jektion (Aha-Erlebnis, Pfuiruf) und Satzäquivalent (Jawort).
Zu Buchstaben als Erstglied ¢ 1.8.1.1.
2.2 Komposition 167

Von den hier behandelten Komposita sind zu unterscheiden Derivate von


einem komplexen Verb (Anhebung aus anheben) und einem verbalen Syn-
tagma (Vorneverteidigung aus vorne verteidigen). Außerdem sind abzuhe-
ben:
– Konversionsprodukte von einem komplexen Verb oder einem verbalen
Syntagma (das Dasein, Hierbleiben), ¢ 2.6.2.3;
– Phrasenkomposita mit substantivischem Syntagma als Erstglied (Hinter-
glasmalerei), ¢ 2.2.9.1;
– Komposita mit adjektivischem Erstglied wie Hinterachse ,hintere Achse‘.
Die meisten Komposita mit Hinter-, Nieder- und ein großer Teil derje-
nigen mit Unter- sind auf das gleichlautende Adjektiv zurückzuführen
(Niederholz, Unterarm); anders aber Untertasse (¢ 2.2.7.2 [13.1]).
Früher als Präfixbildungen qualifizierte Bildungen mit Ab-, An- usw. (Ab-
grund, Aufwind; vgl. Fleischer 1983c, 223 ff.) werden hier als Komposita
behandelt. Auf die Schwierigkeiten der Abgrenzung wurde seinerzeit bereits
hingewiesen. Die Bedeutung der Erstglieder bleibt in den meisten Fällen
lokal und temporal bestimmt; nur vereinzelt sind kompliziertere semanti-
sche Strukturen entwickelt worden, und auch diese im Rahmen des seman-
tischen Potenzials der frei gebrauchten Präpositionen. So erscheint es nicht
gerechtfertigt, ihnen den Status von Präfixen zuzuerkennen, zumal sie auch
eine sehr unterschiedliche Reihenbildung aufweisen. Beim Verb sind die
Verhältnisse grundlegend anders.

2.2.7.2 Präposition als Erstglied


Nur ein Teil der Präpositionen ist als Erstglied geläufig; es sind vor allem
solche, die auch als Adverbien gebraucht werden und gleichlautende Verb-
partikeln neben sich haben. Es fehlen also fast ganz Erstglieder wie Bis-, Für-
(doch Fürwort, -bitte), In-, Ohne- (anders: Oben-ohne-Badeanzug, Ohne-
mich-Standpunkt), Von-, Wegen-; ebenso fehlt die Masse der komplexen
Präpositionen wie abzüglich, außer-/innerhalb, entlang, inmitten und dgl.
Danach verbleiben im Wesentlichen die im Folgenden behandelten Erst-
glieder (vgl. auch Morciniec 1964, 80 ff., wo sie als „Fügemorpheme“ be-
zeichnet werden).
1) Ab-
1.1) ,lokal, nach unten‘ (Gegensatz: Auf-): Abgrund, -wind
1.2) ,als Abfall nicht Verwertbares‘: Abdampf, -gas, -lauge, -produkt,
-wasser
1.3) im Zusammenhang mit 1.2) ,pejorativ‘: Abgott, -schaum, -scheu; teil-
weise synonymisch Un-, Miss-, Fehl-
168 2 Wortbildung des Substantivs

2) An- (nicht zu verwechseln mit dem negierenden Fremdpräfix An-,


s. d.): ,räumliche Berührung‘ in Ankreis, -kathete;
Komposita ohne stärkere semantische Differenzierung gegenüber dem
Zweitglied: Anhöhe ,Höhe‘, -recht, -verwandter, -zeichen.
3) Auf-
3.1) ,lokal, nach oben‘: Aufwind, -strom
3.2) ,lokal, oben befindlich‘: Aufglasur
3.3) ,zusätzlich‘: Aufgeld, -preis
3.4) ,Beginn‘: Aufgalopp, -takt
4) Aus-
4.1) ,lokal, außerhalb‘: Ausland
4.2) übertragen ,aus – heraus‘: Ausweg
4.3) ,von der Norm abweichend‘: Ausgeburt (übertragen)
5) Bei-
5.1) ,lokale/temporale Zuordnung‘: Beiblatt, -heft, -wagen
5.2) ,Unter-, Nebenordnung‘: Beikoch, -film, -kost, -werk; teilweise syn-
onymisch Neben-, mitunter antonymisch Haupt- (Hauptfilm)
5.3) ,unerwünscht nebensächlich Vorhandenes‘: Beigeschmack
6) Binnen-
Als freie Präposition nur temporal ,innerhalb‘, als Kompositionsglied nur
lokal ,innerhalb‘: Binnenfischerei, -gewässer, -hafen, -handel, -markt, -see,
-währung; vgl. auch Innen-, Inner- (¢ 2.2.7.3); Binnen- und Außengliederung
(TZ 1987)
7) Gegen-
7.1) ,lokal, entgegen, dynamisch‘: Gegenlicht, -verkehr, -wind
7.2) ,lokal, entgegen, statisch‘: Gegenpol, -wand
7.3) ,entgegengerichtet, mehr oder weniger feindlich‘: Gegenaktion, -ar-
gument, -beispiel, -demonstration, -gift, -kandidat, -kraft, -partei, -re-
formation, -revolution
7.4) ,ausgleichende Reaktion‘: Gegendienst, -geschenk, -gewicht, -gruß,
-wert, -liebe
8) Mit-
8.1) In Verbindung mit Personenbezeichnung Soziativbildung (,Gefähr-
te, Partner‘; „nur ganz vereinzelt“ – so Wellmann 1998, 508 – trifft
nicht zu): Mitbesitzer, -eigentümer; -gast (E. Agricola), -häftling; -le-
bewesen (Weltbühne 1979), -lehrling, -mensch, -reisender, Mitausge-
stoßener, Mitleidender, -verfasser, -verursacher. Vielfach auch mit exo-
genem Zweitglied: Mitautor, -passagier; -contrahent (Bismarck 1885),
2.2 Komposition 169

-initiator, -konkurrent; -literat (H. Mayer), -produzent; hierbei syno-


nymisch Ko-.
8.2) In Verbindung mit Nichtpersonenbezeichnung ,anteilig, teilweise‘:
Mitbesitz, -entscheidung, -hilfe; -reue (A. Seghers), -schuld; -ursache,
-verantwortung; synonymisch gelegentlich Teil-, antonymisch Allein-.
8.3) ,Parallelität, Gleichzeitigkeit‘: Vor- und Mitzeit Luthers (J. Erben),
seine Mit- und Nachwelt.

Als Suffixderivate bzw. Konversionen komplexer Verben bzw. verbaler Syn-


tagmen sind dagegen eher Fälle zu behandeln wie Mitbegründer, -denker,
-gestalter; -raucher (Sprachpflege 1979, 144), -streiter, ein aktives Mithan-
deln, konzeptionelles Mitwirken, schöpferisches Mitarbeiten.
9) Nach-
9.1) ,lokale/temporale Abfolge‘: Nachsilbe, -trupp, -welt
9.2) exozentrisch: Nachmittag ,Zeit nach dem Mittag‘, ähnlich Nachsom-
mer, -saison
10) Neben-
10.1) ,lokal, benachbart‘: Nebenhaus, -höhle, -mann, -zimmer
10.2) ,weniger wichtig‘ (Gegensatz: Haupt-): Nebenakzent, -bahn, -fach,
-figur, -gleis, -satz, -stelle, -straße
10.3) ,zusätzlich‘: Nebenabrede, -absicht, -beschäftigung, -effekt, -geräusch,
-produkt
11) Über-
11.1) ,lokal, über etwas befindlich‘: Übergardine, -schuh
11.2) ,von der Norm nach oben abweichend‘: Überangebot, -eifer, -gewicht,
-reife; Angst…Überangst…Überbesorgnis (Ch. Wolf);
exozentrisch: Übersee (vgl. Nachmittag)
12) Um-
12.1) ,lokal, um – herum, statisch‘: Umblatt, -feld, -karton ,zusätzliche Ver-
packung‘, -kreis, -land, -welt (mit Weiterbildungen wie Umweltmord,
-schutz, -waffen)
12.2) ,um – herum, dynamisch, z. T. in einer Art Kreislauf‘: Umluft ,Luft
klimatisierter Räume, die abgesaugt und zurückgeleitet wird‘, Um-
frage, -schicht ,Schichtwechsel‘, -trunk
12.3) ,nicht direkt‘: Umweg
13) Unter-
13.1) ,lokal, unter etwas befindlich, exozentrisch‘: Untergrund ,unter der
Erdoberfläche liegende Bodenschicht‘, -tasse ,unter der Tasse befind-
licher Teller‘
170 2 Wortbildung des Substantivs

13.2) ,einen Normwert nicht erreichend‘: Unterbilanz, -druck, -gewicht,


-temperatur
Antonymisch zu 13.1 und 13.2: Über-
13.3) ,zusätzlich, konkomitant‘: Unterton, -miete(r); dazu vgl. Neben-.
Adjektivisches Unter- (antonymisch: Ober-) liegt vor in Untergrenze, -kiefer,
-körper (,unterer Teil von etwas‘) sowie in der durch gegensätzliches Ober-
/Unter- ausgedrückten hierarchischen Begriffsgliederung (Unterklasse, -be-
griff, -gruppe); zu Titeln ¢ 2.2.3.2(3).
Unterglasurfarbe, Unterseeboot sind mit dem Erstglied an präpositionale
Syntagmen anzuschließen (¢ 2.2.9.1[2]).
14) Vor-
14.1) ,lokal bzw. temporal vor einer anderen Größe befindlich‘: Vorabend
,Abend vor einem Ereignis‘; -garten ,Garten vor dem Haus‘, -freude,
-gefühl, -geschmack, -strafe; antonymisch Hinter-, Nach-
14.2) ,lokal-temporale Vorzeitigkeit mit Wertung als vorläufig‘: Vorarbeit,
-gespräch, -trupp, -vertrag; antonymisch: Haupt-; Wertung als Vor-
bild, voranstehend: Vorarbeiter (vgl. Henzen 1969, 51 ff.)
14.3) exozentrisch: Vormittag ,Zeit vor dem Mittag‘ (vgl. Nachmittag, Über-
see)
14.4) ,vorderer Teil‘: Vordeck, -schiff, -arm; über Vor- und Vorder- vgl.
Henzen 1969, 86ff.
15) Wider-
Kaum noch produktiv, beschränkt auftretend mit einigen Substantiven in
der Bedeutung ,gegen‘ (vgl. gegen- in 7), die Komposita mehr oder weniger
demotiviert: Widerhaken, -lager ,Auflagefläche für Bogen, Gewölbe, Trä-
ger‘, -part, -sacher, -see ,rückläufige Brandung‘, -sinn, -wille
16) Zu-
,zusätzlich‘: Zubrot, -erwerb, -kost, -name (vgl. Bei-, Neben-)
17) Zwischen-
17.1) ,lokale oder temporaleBeziehung zwischen zwei Größen‘: Zwischenakt,
-deck, -kiefer, -raum, -zeit
17.2) ,vorläufig‘: Zwischenabrechnung, -bescheid, -ergebnis
17.3) ,nicht eindeutig festlegbar‘: Zwischending, -farbe

2.2.7.3 Adverb als Erstglied


Die Kompositionsaktivität der Adverbien ist je nach Subklasse unterschied-
lich ausgeprägt. Im GWDS sind z.B. mit folgenden adverbialen Erstgliedern
keine substantivischen Komposita kodifiziert: dann, dort, gestern, heute, hier,
hinten, morgen,nie, nun, oft, so, sonst, weg u.v.a. Manche Adverbien sind nur
2.2 Komposition 171

in vereinzelten Wortbildungen vertreten bzw. in ihrer Distribution be-


schränkt. So verzeichnet z.B. das GWDS Noch- als Strichlemma nur in Ver-
bindung mit Personenbezeichnungen in der Bedeutung ,einen bestimmten
Rang, Status o.Ä. nicht mehr lange innehabend‘, z.B. Nochintendant, -ober-
ligist, -vorsitzende. Belegt ist auch fachsprachlicher Gebrauch des Modells:
Nochgeschäft (Börsenwesen).
Die fehlende Kodifikation ist allerdings kein Indiz für eine Blockierung
der Modelle; vgl. etwa die in den letzten Monaten der DDR in großer Zahl
belegten Komposita wie Noch-DDR, -Minister, -NVA, beide deutsche Noch-
Staaten. Auch sonst begegnen textgebundene Okkasionalismen in großer
Zahl: ein Irgendwie-Verständnis von Wörtern (O. Reichmann), intuitives Vor-
wegwissen (H. Steger), Keineswegs-Selbstverständlichkeiten (TZ 1982), die
Dagegen-Republik (Der Spiegel 2010).
In DWb 4, 693ff. werden entsprechende Komposita als „Bildungen mit
Null-Relation“ erfasst, z.B. Beinahe-Katastrophe, Fast-Komposita, Quasisy-
nonyme, Schlechthinchirurg, Nur-Hörfunkteilnehmer, da „die Relation im
Kompositum […] um nichts weniger explizit [ist] als die einer äquivalenten
syntaktischen Wortgruppe zwischen A- und B-Konstituente“ (DWb 4, 669).
Die Reihenbildung ist, wie schon bei Noch- gezeigt, auch bei diesen Mo-
dellen deutlich ausgeprägt, so z. B. – wie angenommen wird, nach englischen
Vorbildern (Lehnert 1986, 66) – Sofort- in Soforthilfe (schon seit 1944),
-aktion, -einsatz, -maßnahme, -rente; ähnlich auch Beinahe-Unfall, -Kollision,
-Verlobter, Fast-Nulltarif, -Weltmeister, -Präsident; außerdem Reihen mit
Quasi-, Nur-, Auch-, Als-ob-, De-facto-. Die Modelle gelten als „sehr pro-
duktiv“ (DWb 4, 696), auch wenn nur wenige Bildungen lexikalisiert sind.
Vgl. ferner Wortbildungen wie Auswärtsatmosphäre (beim Fußballspiel),
Heim-, Her-, Hinweg, Jetztzeit, -mensch, Rundumleuchte.
Hochproduktiv ist auch das Modell mit Nicht- (Nichtfachmann, -krieg,
-leiter, -metall, -nahrungsmittel, -schwarzerdezone), z.T. auf verbale Fü-
gungen zurückgehend: nicht rauchen/schwimmen/trinken > Nichtraucher,
-schwimmer, -trinker; in diesen Fällen eher Derivat von einem Syntagma als
substantivisches Kompositum. Mit dem verbalen Infinitiv geht nicht keine
festen Verbindungen ein; Konversionen von Syntagmen sind allerdings
möglich (das Nichterscheinen, Nichtzustandekommen); Weiteres vgl. Wilss
1994, 5.
Über das Verhältnis zu un- ¢ 2.4.2.5.
Während in Fällen wie hinten, oben, unten die Funktion als Erstglied
substantivischer Komposita von den Formen Hinter- usw. (s.o.) übernom-
men wird, werden außen und innen üblicherweise als Kompositionsglied
gebraucht: Außen-, Innenantenne, -beleuchtung, -dienst, -temperatur. Inner-
172 2 Wortbildung des Substantivs

dagegen nur bei geografischen Namen (aber nicht Außer-): Innerafrika,


-asien; anders inner-, außer- beim Adjektiv; zu binnen- ¢ 2.2.7.2.
Für zurück (vgl. Öhmann 1944) erscheint gewöhnlich Rück- (-fahrkarte,
-weg); beim Verb meist zurück- (¢ 5.3.2.2[2.3]).

2.2.8 Konfix als Erstglied

Zum Begriff ,Konfix‘ ¢ 1.6.3; zur Bestimmung der Konfixbildungen als Kom-
posita ¢ 1.8.1.1; zu Strukturtypen der Konfixkomposita ¢ 1.9.3.1. – Das Bild
ist hier nach mehreren Richtungen zu vervollständigen.
1) Einige exogene Konfixe treten reihenweise als positionsfeste Erstglieder
komplexer Substantive auf, vielfach auch mit indigenem Zweitglied. Es sind
vorwiegend solche aus lateinischem oder griechischem Material, z.T. über
das Englische ins Deutsche übernommen.
Das gilt beispielsweise für mikro- und makro- (,klein‘, ,groß‘). Erstge-
nanntes ist vor allem in Verbindung mit exogenen Substantiven, aber in-
zwischen auch mit indigenen weit verbreitet: Mikrochemie, -computer, -elek-
tronik, -film, -klima, -kosmos, -organismus; Mikroanlageplan (Finanzwesen),
-kühlanwendungen; Mikroschlaf (bei Autofahrern), -schaltung, -sender,
-welle. Das Gegenstück makro- begegnet seltener: Makrobereich, -ebene,
-klima, -kultur, -molekül.
Ein antonymisches Paar bilden auch mono- ,einzig, allein‘ und poly- ,viel,
mehr‘; mono- nicht nur in Verbindung mit Fremdwörtern (Monokultur,
-theismus) oder Konfixen (Monolog neben Dialog, Monopol), sondern auch
mit indigenen Wörtern wie in Monoempfänger (gegenüber Stereo-), -sen-
dung, -zelle. Poly- scheint dagegen auf die Verbindung mit fremden Zweit-
gliedern beschränkt zu sein: Polykultur, -phonie, -technikum; das GWDS ver-
zeichnet keine Komposita mit indigenem Zweitglied.
Mit poly- konkurriert lat. multi- ,viel, mehrfach‘: Multimillionär, -Effekt,
-Musikant.
Pseudo- ,scheinbar, vorgetäuscht‘ verbindet sich nicht nur mit Fremd-
wörtern (Pseudosouveränität, -synonymie, -kritik), sondern auch mit indi-
genen Wörtern (Pseudosinnlichkeit, -wissenschaft). Demgegenüber wird mit
proto- (griech. ,der Erste, Höchste‘) das Echte, Vorbildliche bezeichnet (Pro-
totyp); stets in Verbindung mit exogenem Zweitglied.
Auf die Verbindung mit Fremdwörtern weitgehend beschränkt (in Fach-
terminologie allerdings z.T. sehr verbreitet) sind auto- ,selbst, eigen‘ (Auto-
biografie, -pilot, -suggestion, -didakt gegenüber selbstständigem Didaktiker),
2.2 Komposition 173

nano- ,ein Milliardstel einer Einheit‘ (Nanometer, -sekunde, -technologie;


auch aktiv mit indigenen Zweitgliedern: Nanoforscher, -wunder; PDW 2006),
neo- ,neu‘ (Neofaschismus, -kolonialismus, -positivismus; massenweise seit
dem 19. Jh., vgl. Dreizehnter 1981), post- ,hinter, nach‘ (Postkommunion
,Schlussgebet der Messe‘, Postszenium ,Raum hinter der Bühne‘), semi-
,halb‘ (Semifinale bei Sportwettkämpfen, Semi-Dokumentarfilm, PDW
2006), vize- ,stellvertretend‘ (nur mit Personenbezeichnungen: Vizekanzler,
-kulturminister, -präsident, -direktor), umgangssprachlich auch als Lexem
Vize/Vizin ,Stellvertreter/in‘.
Auch fremdsprachliche Elemente aus modernen Sprachen wie dem Eng-
lischen, die im deutschen Satz nicht frei beweglich sind, können in Kom-
posita integriert werden wie allround ,vielseitig‘ in Allroundathlet, -musiker,
-sportler.
2) Entlehnte, allgemeinsprachlich verbreitete Konfixe tendieren stark zur
„Lexematisierung“ (Müller 2005, 26 ff.), d.h. zur Entwicklung zum Wort-
stamm.
Das im Deutschen zunächst nur gebunden gebrauchte top- ,Höchst-,
Spitzen-‘ wie in Topform, -leistung, -manager, -mannschaft (bei Schmidt
1990 noch als Präfix beschrieben) ist inzwischen auch als Substantiv (das Top
,ärmelloses Oberteil‘) und Adjektiv (er ist immer top gekleidet ,von höchster
Güte, hochmodern‘, Dudenband 1, 2009, 1066) geläufig, sodass Topform,
Topleistung usw. nicht mehr als Konfixkomposita gelten können, sondern in
den Lesarten ,Bestform‘, ,Spitzenleistung‘ als Kompositum aus Adjektiv und
Substantiv.
Gleiches gilt für mini ,sehr klein‘ (vgl. Minimum, Miniatur-; dazu Lehnert
1986, 70), das im Deutschen zunächst nur gebunden vorkam, jetzt aber auch
frei gebraucht wird. Als Adjektiv bedeutet es ,oberhalb des Knies endend‘
(der Rock ist mini) bzw. ,sehr klein‘ (Das Bild ist mini, dafür aber ziemlich
scharf, PDW 2006). Insbesondere umgangssprachlich hat es sich stark aus-
gebreitet.
Das GWDS verzeichnet 14 Komposita (nicht mehr nur auf Bekleidung zu
beziehen wie Minibikini, -kleid, -mode, -rock, sondern auch Miniauto, -bar,
-golf, -gruppe, -pille, -spion ,kleines Abhörgerät‘ u. a.). Damit wird die starke
Verbreitung von mini nur unvollkommen widergespiegelt; es verbindet sich
völlig unbeschränkt mit den strukturell und semantisch unterschiedlichsten
Zweitgliedern vgl. Minihafen, -meer (für ein Aquarium), -kampfgefährten,
-kickerturnier, -kino, -kirche, oft auch mit Bindestrich Mini-Abbild, -Abend-
kleid, -Abhörsender, -Abitur, -Abo, -Achterbahn, -Hackfleischbällchen, -Herz-
Lungen-Maschine, -Konsum-Boom u.v.a. (PDW 2005 ff.). Die Wortbildun-
gen sind ebenfalls als Komposita aus Adjektiv und Substantiv zu interpre-
tieren.
174 2 Wortbildung des Substantivs

Das GWDS kodifiziert die Form mini auch als freies Substantiv (der/das
Mini) in den Bedeutungen ,Mode, Kleid, Rock‘. Als Substantiv fungiert Mini
außerdem noch als Markenname für Autos (Mini Cooper) und Computer
(Mac Mini). Die antonymische Entsprechung maxi (daneben noch seltener
midi-) ist in etwas geringerem Maße kompositionsaktiv geworden (Maxi-CD,
-kleid, -mode, -rock); auch diese Form wird im GWDS als Adjektiv (nur in
Bezug auf Bekleidung: der Mantel ist maxi) und Substantiv (der/die/das
Maxi) verzeichnet, sodass auch hier Lexematisierung zu konstatieren ist.
Ebenfalls nicht als Konfix zu behandeln ist extra (in Extraangebot, -aus-
gabe, -klasse, -tour, -wurst, konkurrierend mit Sonder-), denn es ist als frei
gebrauchtes Adverb üblich (extra bezahlen, extra starker Kaffee) und begeg-
net außerdem als Substantiv das Extra. In der Bedeutung der lat. Präposition
,außer(halb)‘ erscheint extra nur in Fachwortschätzen (Extraordinarius
u.a.).
Quasi ist ebenfalls als freies Adverb kodifziert (,sozusagen, gewisserma-
ßen, so gut wie‘), sodass Wortbildungen wie Quasisouveränität als Kompo-
sita mit adverbialem Erstglied zu betrachten sind.
Die in der vorherigen Auflage in diesem Abschnitt genannten Beispiele Toplessbedie-
nung, -nachtklub, Openend-Klavierabend können ebenfalls nicht mehr als Konfixkom-
posita angeführt werden, da inzwischen sowohl topless als Adjektiv in der Bedeutung
,mit unbedecktem Busen, busenfrei‘ (GWDS) als auch open end ,das Ende (der ange-
kündigten Veranstaltung) ist nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt festgesetzt‘
(GWDS) frei vorkommen; vgl. auch die Entwicklung des Präfixes ex- zum Lexem der/die
Ex in der Bedeutung ,ehemalige/r Partner/in‘ (¢ 1.4.2.1).

3) Als Konfixe sind einige indigene gebundene Einheiten zu qualifizieren,


die in mehr als einer Wortbildung mit gleicher Bedeutung gebraucht werden
(¢ 1.9.2.2.3). Positionsfeste Erstglieder sind Schwieger- (mhd. swiger
,Schwiegermutter‘, so noch in manchen mittel- und oberdeutschen Mund-
arten) in -mutter, -vater, -eltern, -tochter, -sohn (seit dem 16. Jh.) und – mit
den gleichen Kombinationen – Stief- (altnord. stjúpr ,Stiefsohn‘, vgl. ahd.
ar-, bi-stiufan ,der Kinder oder Eltern berauben‘). Zu -wart und weiteren
Bespielen ¢ 1.6.3.

2.2.9 Syntagma und Satz als Erstglied

Ein Syntagma als Erstglied liegt dann vor, wenn die erste unmittelbare Kon-
stituente nicht an einen Wortstamm außerhalb des Kompositums anzu-
schließen ist, sondern an eine syntaktische Wortverbindung (auch: Phrase;
2.2 Komposition 175

deshalb auch „Phrasenkomposition“, Lawrenz 2006a, 7; Meibauer 2007).


Dabei handelt es sich in der Regel um nichtsatzwertige Syntagmen, aller-
dings begegnen zunehmend auch Sätze. Syntagmen dienen außerdem als
Derivationsbasis (zur „Phrasenderivation“ ebd. 8 f.); entsprechende Kon-
struktionen werden unter den einzelnen Suffixen (-er, -ung u.a.) behandelt;
¢ 1.8.1.1. – Zu einem aus einem Syntagma gekürzten Buchstabenkurzwort als
Erstglied ¢ 2.7.1; zur Phrasenkonversion ¢ 2.6.2.3.
2.2.9.1 Substantivisches Syntagma
Auch wenn es keine Beschränkungen zu geben scheint und „alle Phrasen-
typen als Erstglieder von nominalen Komposita auftreten können“ (La-
wrenz 2006a, 14), überwiegen in dieser Position substantivische Syntagmen.
1) Syntagmen aus Substantiv mit verschiedenen Arten von Attributen.
1.1) Fügungen aus adjektivischem Attribut + Substantiv, die als Kompo-
situm weniger problematisch sind denn als Syntagma (Typ heißer Wasser-
speicher – Heißwasserspeicher, detailliert zur Akzeptabilität entsprechender
Syntagmen im Vergleich zu den Komposita Bergmann 1980, 248 ff.): Altfrau-
engesicht, Freilichtbühne, -museum, -veranstaltung, Freiluftbehandlung, -café,
Großmannssucht (nicht *Großmann als Kompositum), Rundtischkonferenz;
mit bewahrter Flexion (dann Durchkopplungsbindestrich): Frische-Luft-
Spaziergang; Kleine-Leute-Viertel (L. Frank), eine Erste-Liebe-Geschichte, der
Faule-Eier-Duft; ¢ 2.2.1.1(1); zu Komposita mit All- ¢ 2.2.5(5).
Hierher sind auch entsprechende Wortbildungen mit Kardinalzahl zu
stellen: Eintagsfliege, Zweitaktmotor, Zweiklassengesellschaft, Dreikant-
schlüssel, Drei-Gänge-Menü, Vierradbremse, Viermächtekonferenz, Sechsta-
gerennen, Siebenmonatskind, Achtstundentag; komplexere Bildungen sind
Vierfarbenkugelschreiber, Fünftage-Intensivkurs, Zweieinhalbstundenanstren-
gung, 290-Millionen-Dollar-Kredit.
1.2) Fügungen aus Substantiv + Genitiv- oder Präpositionalattribut: Re-
portage-vor-Ort-Übung (Weltbühne 1979), Kunst-am-Bau-Variante (Welt-
bühne 1982), ein Platz-an-der-Sonne-Haus (ARD 2010), eine Kauf-ohne-
Risiko-Garantie (Lawrenz 2006a, 14).
2) Substantivische Präpositionalphrasen als Erstglied haben Außer-Haus-
Kunden, -Lieferung, Unterwassermassage, Vorweihnachtszeit, Nach-Tokio-
Tage ,Tage nach den Olympischen Spielen in Tokio‘, Hinter-dem-Ohr-Hör-
gerät (Weiteres ¢ 2.2.7.2). Neben exogenen Präpositionen, die auch in freien
Fügungen vorkommen (Verbrauch pro Kopf > Pro-Kopf-Verbrauch), stehen
Fälle wie die feste Verbindung ad hoc in Ad-hoc-Bildung, -Entscheidung. Das
Phrasem unter vier Augen erscheint mit Tilgung der Präposition in Vierau-
gengespräch.
176 2 Wortbildung des Substantivs

3) Reihungen von Substantiven mit Durchkopplungsbindestrich zeigen


vorwiegend zwei syntaktisch unverbundene Substantive als Erstglied. (In-
sofern ist das Erstglied streng genommen kein Syntagma): Export-Import-
Quote, Flug-Schiffs-Reise, Herz-Lungen-Maschine, Inhalt-Form-Dialektik;
Magen-Darm-Entzündung, Nähe-Distanz-Problematik, Bild-Wort-Vergleich,
Erbe-Umwelt-Frage (Wilss 1993b, 24). Komposita dieser Art können durch-
aus als feste Nominationseinheit lexikalisiert werden.
Nach Wilss (1993b, 23) handelt es sich bei diesen Bildungen um ein relativ junges,
sowohl allgemeinsprachlich wie auch fachsprachlich gleichermaßen viel genutztes
Kompositionsmodell mit relativ „vage[n] semantische[n] Konturen“, das nicht nur im
Deutschen, sondern auch in der englischen Gegenwartssprache hochproduktiv ist (Leh-
rer/Lerner-Konflikt – teacher-learner-conflict).

Komplexere polymorphemische Konstruktionen sind Hochdruck-Heiß-


wasser-Waschanlage, Kraftstoff-Luft-Gemisch; im textgebundenen Extrem-
fall: ohne den einschläfernden Ursachen-Folgen-Lehren-Ermahnungen-Rhyth-
mus (Sonntag 1988). Wechsel von Schräg- und Bindestrich (dieser zur
Kennzeichnung der Hauptfuge) zeigt: der als Militär/Zivilist-Zwitter geklei-
dete Oberst (TZ 1989); zum Gebrauch der Virgel vgl. auch Ortner/Ortner
1984, 111; Wilss 1993b, 23f.
Selbst längere fremdsprachliche Syntagmen können mit einem indigenen
Zweitglied gekoppelt werden: Double-income-no-children-Paare (Sonntag
1988 in einer Reportage über New York).
4) In jüngerer Zeit vermehren sich die Komposita mit expliziter Verknüp-
fung zweier Substantive durch und innerhalb der ersten unmittelbaren Kon-
stituente: Fang-und-Verarbeitungs-Schiff (Fang allerdings auch verbal inter-
pretierbar).
Mehr oder weniger stabile Wortpaare bilden das Erstglied in Berg-und-Tal-
Bahn, Katz-und-Maus-Spiel (nicht: Katze-), Nacht-und-Nebel-Aktion; zu-
sammengeschrieben Tagundnachtgleiche (die Gleiche ,Gleichheit‘, vgl.
GWDS) ,Äquinoktium‘.
Pejorativ (,durchschnittlich‘) ist das komplexe Erstglied Feld-Wald-und-
Wiesen- in Verbindungen mit -Ansprache, -Dichter, -Erkältung u.Ä.
5) Sehr selten sind Verbindungen aus Adverb und Substantiv als Erstglied:
Niefrostboden.

2.2.9.2 Verbales Syntagma


Zu verbalen Syntagmen als Erstglied substantivischer Komposita ¢ 2.2.4.2(4).
Komplexere Komposita dieser Art sind z.B. Frühwarnradaranlage, Luftrein-
haltepolitik, Schnellschnapp-Festsitzschraube (Muhamed-Aliewa 1986, 40),
2.2 Komposition 177

Schnell-Abnehm-Produkte, Länger-leben-Diät, Aus-dem-Fenster-guck-Kissen


(Lawrenz 2006a, 63).
Es besteht nur eine geringe Affinität zur Lexikalisierung, doch die Kom-
posita sind – wie die Beispiele zeigen – im alltäglichen Sprachgebrauch kei-
neswegs vereinzelt.

2.2.9.3 Sonstige Syntagmen


Hierbei handelt es sich vor allem um Kombinationen von Präpositionen
und Konjunktionen als Erstglied: Oben-ohne-Bedienung, Von-bis-Spanne,
Hin-und-her-Gerede ,Gerede in Form planlos wechselnder Meinungs- bzw.
Gesprächsäußerungen‘, Hin-und-her-Gezerre (GWDS), Ja-aber-Demokraten
(Die Zeit 2002), Als-ob-Persönlichkeit (Die Zeit 2002), aber auch Numeralia
kommen vor: Vier-drei-drei-System (im Fußball).
Zu weiteren Arten phrasaler Kompositionserstglieder wie eine Knapp-
vorbei-Antwort; DSL zum Immergünstigpreis (Werbung 2010) sowie zu Fle-
xionsregeln für die Binnenflexion (der Deutsche-Bank-Sprecher/ein Deut-
scher-Bank-Sprecher) vgl. Lawrenz 2006a, 7, 32.

2.2.9.4 Sätze
Am geläufigsten und am ehesten lexikalisiert sind Komposita mit dem Im-
perativ eines komplexen oder reflexiven Verbs als Erstglied: Stehaufmänn-
chen, Trimm-dich-Pfad.
Andere erweiterte Imperative sind Rühr-mich-nicht-an-Lächeln, Sei-mein-
guter-Sohn-Blick, „Verbessern-Sie-Ihre-Rente“-Idee (diese und die folgenden
Beispiele bei Lawrenz 2006a, 155 ff.); mit fremdsprachlichem Erstglied Do-
it-yourself-Methode.
Auch Aussage-, Frage- und Ausrufesätze kommen als Erstglieder vor:
Wir-sind-für-Sie-da-Kundendienst, Wie-werde-ich-noch-schöner-Software,
Es-gibt-ihn-also-wirklich-Miene.
Derartige Komposita können prinzipiell gebildet werden, sind aber in
ihrer Verwendung weitgehend auf belletristische, publizistische und kon-
ventionell werbende Texte beschränkt. Sie wirken mehr oder weniger stark
expressiv und bleiben textgebunden. Die einzelnen Wörter des satzwertigen
Erstgliedes behalten ihre Selbstständigkeit in Flexion und Differenzierung
von Groß- und Kleinschreibung, werden aber mit Durchkopplungsbinde-
strich verbunden. Bis auf – gelegentlich verwendete – Anführungs-, Ausrufe-
und eventuell Fragezeichen fehlen weitere Interpunktionselemente (verein-
zelt Belege mit Komma: Ortner/Ortner 1984, 113; mit Anführungszeichen:
Hoffmann 2008; zu orthografischen Besonderheiten phrasaler Wortbildung
insgesamt Lawrenz 2006a, 167 ff.).
178 2 Wortbildung des Substantivs

Wie eine materialreiche Untersuchung Schmidts zeigt, sind es nicht beliebige freie
Syntagmen, die in hochkomplexe Komposita eingehen, sondern vorzugweise „stabile
funktionale Syntagmen, Allgemeinplätze, Trivialerfahrungen, Lebensweisheiten und
tradierte Zitate“, vgl. Wir-packen-es-an-Stimmung, Ach-das-wäre-doch-wirklich-nicht-
nötig-gewesen-Effekt, Wer-gut-schmiert-der-gut-fährt-Affäre (Schmidt 2000, 151ff.),
Rund-um-die-Uhr-Bewachung, Kaum-zu-glauben-Preise (Werbung 2000); vgl. auch
Hoffmann (2008, 208) über rededarstellende Sätze als Erstglied wie „Bestell-mich-so-
fort!“-Katalog.
Insbesondere Determinativkomposita mit solchen Erstgliedern, aber auch Konver-
sionen (das In-den-April-Schicken), nehmen nach diesen Erhebungen gegenwärtig
nicht nur in der Sprache der Medien, sondern auch im Alltag als eine modische Er-
scheinung deutlich zu. Eine plausible Erklärung für die Beliebtheit der unhandlichen
Bildungen scheint zu sein, dass die eingesetzten „Formulierungsstereotype“ […] „das
schnelle Verständnis hochkomplexer Bildungen sehr erleichtern“ (Schmidt 2000, 151).
Auch der meist „salopp-umgangssprachliche […] Stilwert“ der Bildungen (DWb 4,
400) mag dazu beitragen. Erheblicher Einfluss wird außerdem dem Englischen zuge-
sprochen (Lawrenz 2006b).

2.2.10 Possessivkompositum

Possessivkomposita (auch Bahuvrihi: Paul 1920 §§ 25f.; Žepic" 1970, 116ff.)


sind Komposita mit determinativem (nicht kopulativem) Verhältnis der
unmittelbaren Konstituenten, doch bezeichnet das Zweitglied keinen Ober-
begriff, unter den sich das Denotat einordnen lässt: Langbein ist nicht
,Bein‘ wie Holzhaus ein ,Haus‘, sondern eine Person, die lange Beine „be-
sitzt“; die Bezeichnung für ,Person‘ ist nicht unmittelbar innerhalb des
Kompositums gegeben, sondern „außerhalb“ zu ergänzen, daher der Ter-
minus exozentrisches (gegenüber endozentrischem) Kompositum (vgl. z.B.
Morciniec 1964, 110 ff.; dagegen Coseriu 1977, 50). Die determinative Bezie-
hung zwischen den unmittelbaren Konstituenten kann auch figurativ zu
deuten sein: Dickkopf.
Es handelt sich vorwiegend um Personen-, Pflanzen- und Tierbezeich-
nungen, wobei das Zweitglied meist einen Körperteil bezeichnet: Graukopf,
Lästerzunge, Grünschnabel, Spitzbauch; Hahnenfuß, Löwenzahn; Blauschwanz,
Neunauge, Rotkehlchen, Silbermund ,Schnecke‘. – Nicht in diese Gruppen
gehören vor allem einige Wortbildungen mit einem Numerale als Erstglied
(¢ 2.2.6) wie Dreizack ,Gerät mit drei Zacken‘, Achtzylinder ,Motor mit acht
Zylindern‘.
Manche Possessivkomposita sind heute durch Derivate auf -er bzw. -ler
ersetzt: Dickhäuter, -schnäbler, Tausendfüßler. Doch kann das Modell kaum
als unproduktiv bezeichnet werden.
2.2 Komposition 179

Ist – endozentrisch – der entsprechende Körperteil gemeint, muss in


manchen Fällen das attributive Syntagma verwendet werden: Rotbart be-
zieht sich nur auf den Träger, der rote Bart auf den Bart. In anderen Fällen
sind beide Beziehungen möglich: Er ist ein/hat einen Spitzbauch.
Auch Determinativkomposita, die üblicherweise keinen exozentrischen
Denotatsbezug aufweisen, können textgebunden so verwendet werden: „Die
Verkäuferin sprach […] mit einem Mann, der einen Lodenmantel trug […]
Der Lodenmantel sog an seiner Zigarre […]“ (J. R. Becher).
Beim Adjektiv ist das Possessivkompositum heute kein produktives
Modell mehr (¢ 3.1.1).

2.2.11 Onymische und deonymische Komposition

2.2.11.1 Grundsätzliches
Im Folgenden werden kompositionelle Strukturen behandelt, an denen Ei-
gennamen beteiligt sind, und zwar vorzugsweise Personennamen und geo-
grafische Namen. Onymische Komposita sind Eigennamen; deonymische
Komposita sind Appellativa mit einem Eigennamen als unmittelbarer Kon-
stituente. Die onymische und deonymische Derivation wird gesondert be-
handelt (¢ 2.3.4; vgl. auch Harnisch/Nübling 2004, 1906ff.). Wir können hier
keine onomastische Spezialdarstellung vorlegen, sondern konzentrieren uns
auf einige geläufige Modelle. Es soll deutlich werden, dass der Eigenname
innerhalb des Wortschatzes eine Sonderstellung einnimmt und sich daraus
auch Spezifika für die Wortbildung ergeben. Beschreibende semantische
Elemente können einen komplexen Namen stärker einem Appellativum
annähern; vgl. Erzgebirge gegenüber dem Simplex Alpen. Ein großer Teil der
formalen Besonderheiten des Namenschatzes erklärt sich durch das Be-
streben, die störende Homonymie zwischen Eigennamen und Appellativum
zu mindern.
Eigennamen sind an das System einer Einzelsprache durch gegebenenfalls
vorhandene semantische Elemente gebunden, ferner durch onymische De-
rivations- und Kompositionsmodelle sowie durch morphosyntaktische und
morphonologische Phänomene. Eine besondere Rolle spielen dabei die
Wechselprozesse der Onymisierung und Deonymisierung, der Verflechtung
von Eigennamen und Appellativa auch in der Wortbildung.
180 2 Wortbildung des Substantivs

2.2.11.2 Onymische Kompositionsmodelle


Hier geht es um die Komposition von mindestens zwei Eigennamen unter-
einander (vgl. auch Neuß 1981, 51 ff.).
1) Koppelung von Vornamen. Es handelt sich um eine Art kopulativer
(additiver) Verbindung von Vornamen, entweder in Zusammenschreibung
oder durch Bindestrich: Hans-Gert, Hans-Christoph, Anne-Dore; Hans-
werner, Hansjoachim, Hannelore, Annegret, Annemarie. Den Vornamen Hans
in der Reihe der Doppelnamen als „Halbpräfix“ zu betrachten (Harnisch/
Nübling 2004, 1908) erscheint nicht zweckmäßig, da der Name auch separat
als Vorname für den betreffenden Namensträger fungieren kann.
2) Koppelung von Familiennamen – ebenfalls kopulativ-additiv – begeg-
net, wenn Verheiratete den Namen des Ehepartners mit ihrem eigenen ver-
binden, Doppelnamen wie Elly Beinhorn-Rosemeyer (die Fliegerin Elly Bein-
horn, nachdem sie den Rennfahrer Bernd Rosemeyer geheiratet hatte). Zum
gegenwärtigen Familiennamenrecht in Deutschland, Österreich und der
Schweiz vgl. im Überblick Koß 2002, 85f.
3) Die Koppelung von Familien- und Ortsnamen (Geburts-, Wohnort) ist
im Unterschied zu 1) und 2) determinativ, wobei das Erstglied (der Fami-
lienname) das determinierte ist: Hermann Schulze-Delitzsch (H. Sch. aus
Delitzsch).
4) Die Koppelung von Ortsnamen kann determinativ wie auch kopulativ
sein. Sehr häufig ist der determinative Typ Leipzig-Grünau, Berlin-Pankow,
Rostock-Lütten Klein. Auch hier ist das Erstglied, in der Regel der Name einer
größeren Stadt, das determinierte. Die determinierende Zweitkonstituente
ist der Name eines ehemals selbstständigen, in der großen Stadt aufgegan-
genen Ortes. Das Kompositum als Ganzes bezeichnet einen Stadtteil: Berlin-
Pankow ist derjenige Teil von Berlin, der früher unter dem Namen Pankow
ein selbstständiger Ort war.
Kopulative Verbindung liegt dagegen vor, wenn die Namen zweier ur-
sprünglich getrennter Orte bei Vereinigung dieser Orte verschmolzen wer-
den: Ribnitz-Damgarten, Garmisch-Partenkirchen.
Ähnliches begegnet bei Ländernamen: Schleswig-Holstein.
5) Die Koppelung von Orts- mit Flussnamen ist nicht sehr häufig. Sie
dient im Syntagma einerseits der Differenzierung gleichnamiger Orte wie im
Falle Frankfurt an der Oder und Frankfurt am Main. Andererseits finden
sich expressive metaphorische Komposita wie Elbflorenz für Dresden und
Spree-Athen für Berlin. Hier ist das Zweitglied determiniert.
2.2 Komposition 181

2.2.11.3 Onymische Komposita mit appellativischen Elementen


Weit geläufiger sind die Verbindungen von Eigennamen mit Appellativen.
Sie werden ohne und auch mit Bindestrich geschrieben (Bachkantate, Mo-
zart-Konzertabend; Dudenband 1, 2009, 85). Bindestrich-Schreibung wird
zur Hervorhebung des Eigennamens gewählt oder bei komplexem Zweit-
glied.
Koppelungen wie Dieselmotor, Röntgenstrahlen gehören nicht hierher, da
die Eigennamen zu Appellativen geworden sind. Zu Fällen wie Heulsuse
¢ 2.2.11.4.2.
Wir behandeln hier nur die Fälle, die trotz Verbindung mit einem Ap-
pellativum als Ganzes Eigennamen geblieben sind.
1) Personennamen, vorwiegend Familiennamen, erhalten ein differenzie-
rendes Erstglied: Füllhalter-Stirl ,Mann namens Stirl, der mit Füllhaltern
handelt‘, Uhren-Schulze, Werbe-Rudolf. Doch haben diese Formen einen
etwas saloppen Charakter. Es ist das gleiche Modell, wie es auch in Spitz-
namen anzutreffen ist: In einem sächsischen Dorf wurden vier verschiedene
Familien namens Claus unterschieden als Goldzahn-Claus, Kiesgruben-Claus,
Leichenwagen-Claus, Sauf-Claus. – Heinrich Zille war bekannt als der Pin-
selheinrich.
2) Als eine Art hypokoristische Form finden sich seltener Vornamenkop-
pelungen wie „das Helgakind hier, meine Großnichte“ (E. Agricola, ähnlich
mein Gerdamädchen und dgl.)
3) Bei Differenzierung von Ortsnamen durch Adjektive steht gewöhnlich
der Bindestrich: Alt-Leipzig, Groß-Berlin. Bei Flussnamen ist Zusammen-
schreibung üblicher: Mittelelbe, Unterweser, Oberrhein. Geläufig sind solche
Komposita aber nur mit den Namen größerer Flüsse. Formen wie *Ober-
saale, *Untersaale machen einen auffälligen Eindruck, wohingegen die ent-
sprechenden Syntagmen obere/untere Saale durchaus gängig sind.
4) Die Koppelungen von Ortsnamen mit den substantivischen Bezeich-
nungen der Himmelsrichtungen treten in zwei Strukturtypen auf: mit
Nachstellung der Himmelsrichtung (Dresden-Nord, Dresden Nord) und mit
Voranstellung (Norddresden, Nord-Dresden). In beiden Fällen werden die
Bezeichnungen für die Himmelsrichtung ohne das im freien Gebrauch üb-
liche -en verwendet. Der Hauptakzent liegt im ersten Fall auf dem Zweitglied
(entgegen der bei Determinativkomposita sonst üblichen Akzentuierung);
im zweiten Fall schwankt er stärker. In beiden Fällen kann ein Bindestrich
gesetzt werden (Dudenband 1, 2009, 87).
Koppelungen mit Nachstellung von Adjektiven wie *Berlin-Alt sind nicht
üblich. Doch finden sich Koppelungen wie Dresden-Neustadt mit nachge-
stelltem determinierendem Substantiv, das auch den Hauptakzent trägt.
182 2 Wortbildung des Substantivs

5) Eigennamen mit einem Personennamen als Erst- und einem Appella-


tivum als Zweitglied erscheinen vor allem in zwei Modellen.
5.1) Das eine Modell gibt ein Rechts-(Besitz- u. ä.)Verhältnis an, so beson-
ders in alten Orts- und Flurnamen (Hempelsbusch, Wernersbach, Süßmilch-
garten); neu auch in Namen von Industriebetrieben u.Ä. (Klöckner-Werke).
In diesem Zusammenhang entstehende Markennamen sind eher als Ap-
pellativa anzusehen (Zeissglas).
5.2) Das zweite Modell ist die ehrende Bezeichnung. Es ist vertreten u. a. in
den modernen Straßennamen (Goethestraße, Willy-Brandt-Platz), durch
Namen von Institutionen, Betrieben, Universitäten u.Ä. wie z.B. Friedrich-
Schiller-Universität, Leibnizschule, Carl-Zeiss-Stiftung. Die Syntagmen sind
in diesen Fällen nicht verwendbar (*Universität Friedrich Schiller). Hierher
gehören auch Städtenamen wie Lutherstadt Wittenberg, Gellert-Stadt Hai-
nichen.
Historischer Ausgangspunkt dieser ehrenden Bezeichnungen ist der
Gebrauch von Heiligennamen in Ortsnamen (Maria-Zell, Benediktbeuren)
und von Namen landesherrlicher Universitätsgründer (Ruprecht-Karls-Uni-
versität Heidelberg). Abgesehen von den Universitätsnamen dieser Art, wird
in den ehrenden Bezeichnungen sonst kein Fugen-s gebraucht.
6) Für sich stehen die verdeutlichenden Bildungen (¢ 2.2.2.3.4) unter den
Namen, meist Flurnamen und vielfach Flussnamen. Fremdsprachliche
Namen werden mit indigener Entsprechung versehen (Horkenberg zu alt-
sorb. *gora ,Berg‘) oder erhalten ein Zweitglied, das in eine allgemeinere
Begriffsklasse einordnet (Daubenberg zu altsorb. dub ,Eiche‘, Lockwitzbach).
Der Name der Weißeritz (linker Nebenfluß der Elbe bei Dresden), zu alt-
sorb. *Bystrica ,die Schnelle, Wilde‘, erscheint 1573 als weisseriz Fluß, 1738
Weiseritz Bach, 1754 Der-Weißritz-Strom, noch 1926 in einem amtlichen
Bericht als Weißeritzfluß. In der Alltagskommunikation sind nur die Formen
ohne Verdeutlichung gebräuchlich; die unmittelbare Objektkenntnis macht
die Zusätze überflüssig. Ähnlich verfährt heute die Presse bei Namen aus
fremden Ländern, die nicht ohne Weiteres erkennen lassen, um welche Art
von Objekt es sich handelt: Bab-el-Mandeb-Straße (am südlichen Eingang
des Roten Meeres), Phu-Cu-Pass (Vietnam).
2.2 Komposition 183

2.2.11.4 Deonymische Komposita

2.2.11.4.1 Deonymisierung durch appellativisches Zweitglied


Die Deonymisierung wird durch das appellativische Zweitglied bewirkt.
1) Es überwiegen in der semantischen Vielfalt die Personennamen als
Erstglied. In der Fuge steht meist kein Fugenelement.
1.1) Das Kompositum ist bezogen auf den Familiennamen einer histori-
schen (oder fiktiven) Persönlichkeit, bezeichnet ein Werk von ihr oder über
sie, eine Eigenart oder eine allgemeinere Beziehung: Bach-Konzert, Shaw-
Aufführung, Wallenstein-Trilogie.
1.2) Das Kompositum ist bezogen auf den Namen eines Firmeninhabers
und bezeichnet ein Erzeugnis (Jacobs-Kaffee), einen Mitarbeiter (BMW-Fi-
nanzchef) oder drückt eine allgemeinere Beziehung aus (Opel-Erfolge).
1.3) Das Kompositum mit Familiennamen bezeichnet die genealogische
Zusammengehörigkeit (Somoza-Dynastie).
1.4) Das Kompositum mit dem Familiennamen einer historischen Per-
sönlichkeit fungiert als ehrende Bezeichnung für eine Auszeichnung (Büch-
ner-, Lessingpreis).
1.5) Das Kompositum ist ein Terminus, insbesondere innerhalb techni-
scher Fachwortschätze (Bunsen-Element, Seebeck-Effekt, Meißner-Schaltung).
1.6) Die okkasionelle Koppelung von Vor- und Familiennamen einer his-
torischen Persönlichkeit mit einem Appellativum wird benutzt, um mit dem
Namen verbundene Assoziationen zu wecken: Nun komme keiner auf die
Idee, die Insassen gucken den ganzen Tag zum Fenster hinaus und haben Cas-
par-David-Friedrich-Gefühle (Weltbühne 1979).
1.7) In ähnlicher Weise können die Namen von Märchengestalten, litera-
rischen Figuren u.Ä. gebraucht werden: „Mitleid … die Aschenputtel-Schwes-
ter der Liebe?“ (Ch. Wolf); vgl. ferner Adamskostüm, Evastochter, Dornrös-
chenschlaf.
2) Komposita mit Ortsnamen als Erstglied bringen meist eine lokale (Ber-
lin-Reise ,Reise nach Berlin‘) oder thematische Beziehung (Hamburg-Repor-
tage ,Reportage über Hamburg‘) zum Ausdruck, können aber auch kom-
pliziertere Beziehungen raffen: Helsinki-Prozess (bezogen auf Helsinki als
den Ort der Abschlusssitzung der ersten Konferenz für Sicherheit und Zu-
sammenarbeit in Europa 1975), Kyoto-Protokoll (Klimaschutzabkommen
1997, benannt nach dem japanischen Tagungsort Kyoto); auch ohne Bin-
destrich: Romfahrt (GWDS).
3) Bei den Komposita mit Flussnamen überwiegt Zusammenschreibung
ohne Bindestrich: Elbmündung, Rheindampfer, Donauwellen, Weserland-
184 2 Wortbildung des Substantivs

schaft, Saalequelle. Die Flussnamen stehen offensichtlich dem Appellativum


näher.
Bei Koppelung mehrerer Flussnamen als Erstglied steht allerdings der
Durchkopplungsbindestrich: Elbe-Saale-Gebiet.
4) Staats- und Landschaftsnamen werden mit und ohne Bindestrich ge-
koppelt; es überwiegt die lokale Beziehung (,nach, aus, in‘): Amerika-Gast-
spiel, Frankreich-Export, Vogtlandstadt, Sibirtiger (mit Tilgung von -ien). –
Onymische Syntagmen werden als Erstglied in Form des Buchstabenkurz-
wortes gebraucht (MDR-Programm; ¢ 2.7.3).

2.2.11.4.2 Deonymisierung des onymischen Zweitgliedes


Die Deonymisierung wird durch semantische Verallgemeinerung des ony-
mischen Zweitgliedes bewirkt. Das Modell ist ebenfalls produktiv. Neben
schon länger gebräuchlichen Wortbildungen wie Prahlhans, Heulsuse, Sup-
penkaspar, Zappelphilipp erscheinen – z. T. okkasionell – jüngere Bildungen
wie Film-, Fernseh-, Arbeitsschutzfritze, Pfeifenheini ,dummer Kerl, schlech-
ter Schiedsrichter‘. Das Modell mit Vornamen als Zweitglied wird heute
stärker genutzt als das entsprechende mit Familiennamen wie Drücke-,
Schlauberger, Kraftmeier.
Der deonymisierte Vorname enthält lediglich die Merkmale ,Person‘ und
,männlich‘ bzw. ,weiblich‘; außerdem ist eine mehr oder weniger starke
pejorative Konnotation (z.T. salopp) damit verbunden. Die Zahl der hierzu
verwendeten Vornamen ist relativ gering; sie sind z.T. auch als Lexeme in
deonymischer Bedeutung verwendbar und entsprechend kodifiziert, z.B.
Heini ,Dummkopf‘, Suse und Trine ,wenig geschickte‘ bzw. ,liederliche weib-
liche Person‘ (nach GWDS). In Wortbildungen sind die Vornamen weitge-
hend austauschbar. Aus den genannten Gründen ist der Status von Suffixen
nicht gegeben.
In diesem Zusammenhang sind auch Verwandtschaftsbezeichnungen zu nennen in
Komposita wie Klatschbase, Kaffeetante (woneben auch Klatschfritze, -trine), Hamster-,
Radau-, Zechbruder (woneben auch Radauheini) u.Ä. Zu weiteren – meist abwerten-
den – metaphorischen Personenbezeichnungen ¢ 2.2.2.3.2(5).
Deonymische Elemente wie -bold und -ian sind unter den Suffixen zu finden
(¢ 2.3.4.4).
2.2 Komposition 185

2.2.12 Form der Kompositionsfuge

2.2.12.1 Grundsätzliches

1) Die Nahtstelle zwischen den Konstituenten einer komplexen Wortbil-


dung wird als Fuge bezeichnet (¢ 1.6.6). Je nach der Wortbildungsart werden
Kompositions- und Derivationsfugen unterschieden. Sie sind durch ver-
schiedene morphonologische bzw. graphemische Erscheinungen gekenn-
zeichnet.
Die Fugengestaltung in Derivaten wird im Zusammenhang mit den ein-
zelnen Affixen behandelt, in Komposita bei den Wortarten Substantiv und
Adjektiv.
Im Folgenden geht es also um die Kompositionsfuge bei Determinativ-
und Kopulativkomposita des Substantivs in Verbindung mit verschiedenen
Erstgliedern. Sie ist unterschiedlich gestaltet, und zwar
– ohne Fugenelement („Nullfuge“): Stahl schrank,
– subtraktiv, d. h. mit Tilgung des Schwalautes im Auslaut des Erstgliedes:
Erd öl; dabei selten Ersatz von -e- durch -s- (Gebirg s zug),
– mit Fugenelement: Abfahrt s zeit.
Auch grafische Mittel wie Bindestrich, Binnenmajuskel und Spatium
spielen eine Rolle (vgl. Grube 1976, 208; Gallmann 1989; Stein 1999;
¢ 2.2.12.5).
Die meisten Substantivkomposita haben kein Fugenelement. Im Korpus
des Innsbrucker Projektes sind es knapp 72,8 %; mit Fugenelement werden
26,5 % gezählt. Die Menge der subtraktiven Fugen wird nicht angegeben; sie
ist in dieser Zählung Teil von 0,7 % „Sonstige“ (DWb 4, 54).
2) Die Fugenelemente sind im Großen und Ganzen auf Substantiv- oder
Verbstämme als Erstglieder beschränkt (von Konfixen hier abgesehen). Das
hängt mit ihrer Genese zusammen, worauf hier nur kurz hingewiesen
werden kann. Die Fugenelemente bei substantivischem Erstglied sind aus
einstigen Flexionssuffixen hervorgegangen, und zwar in sog. „uneigentli-
chen“ („unechten“) Komposita, die „für das erste Compositionsglied die
Form“ verlangen, „welche seinem syntaktischen Verhältnis zu dem folgen-
den Gliede entspricht“ (Wilmanns 1899, 518f.): ahd. der gotes poto (wone-
ben auch der poto gotes) wird zum „uneigentlichen“ Kompositum Gottesbote.
Daneben stand die Möglichkeit der „eigentlichen“ Komposition mit dem
ersten Substantiv „in reiner Stammform“ (ebd.): ahd. slagifedera ,Schlag-
feder‘ (mit -i- als Themavokal eines -i-Stammes). So erklären sich historisch
noch vereinzelte nhd. Paare wie Tagedieb, -lohn – Tageslicht (ahd. noch
tagalioht).
186 2 Wortbildung des Substantivs

Die weitere historische Entwicklung der Fugengestaltung ist durch zahl-


reiche Verschiebungen (infolge Reduktion der Mittelvokale, Wechsels der
Flexionsklassen u. a.), durch analogische Ausbreitung des -s- (auf feminine
Erstglieder und andere Strukturtypen) sowie durch Wechsel zwischen Til-
gung und Einschub von Fugenelementen gekennzeichnet (vgl. z.B. die Zu-
sammenstellungen bei Grimm 1878, 916ff., Wilmanns 1899, 521ff., Paul
1920, 8ff.). Daher kann sich die synchrone Beschreibung des heutigen Stan-
des nicht mehr an der Unterscheidung von „eigentlichen“ und „uneigent-
lichen“ Komposita orientieren; sie muss von den heutigen Möglichkeiten
der Fugengestaltung ausgehen.

2.2.12.2 Substantivisches Erstglied

2.2.12.2.1 Definition und Inventar


Unter einem Fugenelement wird das Element verstanden, über das ein
Kompositions- oder Derivationserstglied über seine Form im Nominativ
Singular hinaus verfügt.
Folgende Fugenelemente kommen vor: -e- (Hund e hütte), -s- (Krank-
heit s bild), -es- (Land es grenze), -n- (Kunde n service), -en- (Kandidat en vor-
stellung), -er- (Kind er garten), -ens- (Herz ens angelegenheit), -ns- (Na-
me ns tag). Bei verbalem Erstglied ist das an den Verbstamm angefügte -e-
das einzige mögliche Fugenelement (Bad e anzug). Zu den Fugenelementen
-i- und -o- in Konfixkomposita ¢ 1.9.2.3; in Derivaten ¢ 2.3.2.20.
Morphologisch gehört das Fugenelement zum Erstglied der Kompositi-
on, wie sich u.a. an der Koordination von Komposita mit Ergänzungsbin-
destrich zeigt: Sicherheits- und Geschwindigkeitskontrolle, Kandidatenvorstel-
lung und -wahl (Fuhrhop 1998, 187). Zusammen mit dem entsprechenden
Wortstamm bildet das Fugenelement die Kompositionsstammform (zur
Bildung von Derivationsstammformen ¢ 1.6.1). Ein und derselbe Wort-
stamm kann mehr als eine Kompositionsstammform aufweisen: Kindbett,
Kinderarzt, Kindesalter, Kindskopf.
Undeklinierbare Erstglieder (Vordach, Vorwärtsstrategie) verfügen nur
über jeweils eine Kompositionsstammform.
Insgesamt sind unterschiedliche Kompositionsstammformen eines Stammes relativ
selten. Von 4025 Substantiven findet Augst (1975, 134) nur 390 (= 9,3 %) mit zwei, 31
(= 0,7 %) mit drei und nur acht vereinzelte mit vier Formen.

Fugenelemente sind semantisch leer. Auch wenn Paraphrasen von Kom-


posita mitunter eine Genitiv- oder Pluralinterpretation der Fugenelemente
zulassen (Tagesform – Form des Tages; Frauenhaus – Haus für Frauen), gilt
2.2 Komposition 187

dennoch grundsätzlich, dass hier keine Flexionsfunktion vorliegt. Die Masse


der Gegenbeispiele ohne eine solche Interpretationsmöglichkeit und auch
die fehlende Binnenflexion in Komposita widerlegen den Status des Fugen-
elements als Flexionselement: Freundeskreis – Kreis der Freunde, Zahnrad –
Rad mit Zähnen. Hinzu kommt, dass Fugenelemente auch an solche Erst-
glieder treten, in deren Flexionsparadigma die entsprechenden Flexionssuf-
fixe nicht vorkommen, wie etwa -s- bei Feminina (Arbeitsanzug).
Komparativ- und Superlativendungen bei Adjektiven (Höchst grenze;
¢ 2.2.3.1[8]) sind keine Fugenelemente, sie haben Zeichencharakter.
2.2.12.2.2 Distribution
Da die Fugenelemente zum Erstglied des Kompositums gehören, sind die
Determinanten für ihre Distribution prinzipiell an das Erstglied gebunden;
das gilt für Determinativ- wie für Kopulativkomposita. Flexionsklasse, pho-
nologische und morphologische Struktur (Abhängigkeit vom Auslaut: be-
stimmte Suffixe und dgl.) sowie Komplexitätsgrad des Erstgliedes beein-
flussen den Gebrauch der Fugenelemente.
Die Beziehungen zwischen flexionsmorphologischen Eigenschaften des
Erstgliedes und dem jeweiligen Fugenelement werden erfasst mit der Un-
terscheidung von paradigmischen und unparadigmischen Fugenelementen
(Fuhrhop 1996, 528 nach Wellmann/Reindl/Fahrmaier 1974, 366).
Von paradigmischen Fugenelementen ist auszugehen, wenn es im Flexi-
onsparadigma des jeweiligen Stammes eine homophone Form gibt
(Tag es anfang – Anfang des Tages), von unparadigmischen, wenn das nicht
der Fall ist (Schwan en hals – Hals des Schwan[e]s; Geburt s stunde – Stunde
der Geburt). Als paradigmische Fugenelemente treten auf: -e-, -en-, -n-, -s-,
-es-, -ens-, -ns- und -er- in Komposita wie Wert e skala, Held en epos, Do-
se n pfand, Aufstieg s chance, Land es grenze, Herz ens angelegenheit, Na-
me ns vetter, Kind er stuhl.
Im Einzelnen bestehen folgende Gebrauchstendenzen hinsichtlich der
Beziehungen zur Morphologie des Erstgliedes.
Die Fugenelemente -en- und -n- erscheinen paradigmisch bei schwach
flektierenden Maskulina (Mensch en kette, Löwe n käfig), außerdem bei ei-
nigen Feminina (Frau en haus, Pute n braten) sowie bei Maskulina und
Neutra, die den Genitiv Singular auf -s/-es und den Nominativ Plural auf -en
bilden (Staat en gemeinschaft, Bett en mangel, Professor en titel, Motor en ge-
räusch). Gegenbeispiele mit einem anderen bzw. ohne Fugenelement
kommen vor (Staat s geheimnis, Bett gestell, Rektor rede, Autor referat, Mo-
tor boot). Auch deadjektivische und departizipiale Konversionen haben in
Erstgliedposition regelmäßig ein Fugenelement (Kranke n haus, Angestell-
te n verhältnis).
188 2 Wortbildung des Substantivs

Das paradigmische Fugen-s tritt homophon zum Genitiv-s der Maskulina


und Neutra auf (regelmäßig nach -ling und -tum: Frühling s fest, Alter-
tum s forschung), außerdem bei komplexen deverbalen Konversionen (An-
trieb s system) sowie bei substantivierten Infinitiven als Erstglied, markiert
bei Letzteren also die Wortart Substantiv (Vertrauen s krise). Substantive, die
ihren Plural auf -s bilden, haben in der Erstgliedposition niemals ein Fugen-s
(Test ergebnis, Auto haus).
Das Fugenelement -er- (bei umlautfähigem Vokal im Stamm mit Umlaut)
ist gebunden an Substantive mit dem entsprechenden Pluralzeichen
(Hühn er ei), wird jedoch nicht selten auch bei diesen Substantiven nicht
gesetzt: Büch er stube – Buch handlung, Bild er buch – Bild band, Räd er ge-
triebe – Rad kranz.
Relativ selten ist -e-: Schwein e fleisch, Pferd e markt; ohne Umlaut in
Hund e hütte, Maus e falle, Tag e buch; bei Pluralformen mit Umlaut ist
auch das Fugenelement meist mit Umlaut verbunden in Gäns e leber,
Frücht e brot, Gäst e haus (aber auch Gasthaus).
Bei Herz- steht -ens- (entsprechend dem Gen. Sing.) sowie in einigen
Koppelungen mit Mensch-, Frau-, Schmerz-, konkurriert aber in allen Fällen
mit anderer Fugengestaltung: Herzensangelegenheit – Herzschmerzen, Frau-
ensperson – Frauengestalt, Schmerzensschrei – Schmerztablette.
Das einzige auch in Wortneubildungen belegte unparadigmische Fugen-
element ist -s-. Es erscheint regelmäßig nach Suffixen, die feminine Sub-
stantive bilden (-heit/-keit/-igkeit, -schaft, -ung, -ion, -ität) und bei mehrsil-
bigen femininen Substantiven mit dem Auslaut -t (Aufsicht s person); nach
den genannten Suffixen mitunter auch dann, wenn das entsprechende Sub-
stantiv Teil eines Syntagmas ist, vgl. Versicherung s nehmer (aber s.u. Füh-
lung nahme).
Um synchron unparadigmische Fugenelemente, aber historisch paradig-
mische handelt es sich bei -en- in Hahn en schrei, Schwan en hals u.a. Die
Substantive gehörten früher zu den schwach flektierenden (mhd. der han,
des hanen), folgen aber heute dem Muster der starken Deklination (der
Hahn, des Hahnes; ebenso der Schwan).
Außerdem gilt: Personen- und Ortsnamen stehen prinzipiell ohne Fu-
genelement (¢ 2.2.11); Pluraliatantum in ihrer pluralischen Nominativform
(Alpenvorland, Ferienpass, Möbelhandlung, Trümmerfrau). Ohne Fugenele-
ment schließen auch Erstglieder auf -chen und -en an das Zweitglied an
(Mädchen ranzen, Wagen rad; dagegen stets mit -s- bei substantiviertem In-
finitiv wie in Vertrauen s vorschuss), des Weiteren -ei/-elei/-erei, -er, -ler, -ner,
ge-…-e, -i, -ich(t), -ig, -lein, -nis, -rich.
2.2 Komposition 189

Von den Komposita mit substantivischem Erstglied sind schließlich de-


phrasale Derivate zu unterscheiden (¢ 2.2.2.1[12]). Die Konstruktionen
können einander ähneln, zeigen aber nicht durchweg die gleichen Fugenei-
genschaften; so fehlt das -s nach -ung in Fühlungnahme sowie bei Konver-
sion eines Syntagmas: beim Zeitunglesen, das Arbeitsuchen (Wellmann/
Reindl/Fahrmaier 1974, 367).

2.2.12.2.3 Funktionen
Forschungen zum Gebrauch der Fugenelemente im Deutschen haben in den
letzten Jahren zwar zu wichtigen Entdeckungen geführt (DWb 4; Fuhrhop
1996, 1998; Gallmann 1998, Wellmann 1998; Wegener 2003; Eisenberg 2006;
Nübling/Szczepaniak 2009); noch immer gilt jedoch, dass nicht alle Er-
scheinungsweisen regelhaft erklärbar sind. Die Ursachen dafür liegen v. a.
darin, dass sich die verschiedenen Fugenelemente distributionell und funk-
tional unterschiedlich verhalten, und auch darin, dass die historische Ent-
wicklung des Auftretens von Fugenelementen bislang nur unzureichend
untersucht ist (zur Geschichte des Fugenelements zuletzt Demske 2001,
37ff.). Nicht in jedem Fall ist eine eindeutige Voraussagbarkeit der Fugen-
gestaltung gegeben, was aber nicht bedeutet, dass Fugenelemente willkürlich
gesetzt werden können.
Wenngleich keine auf alle Fugenelemente gleichermaßen zutreffende
Funktion feststellbar ist, was besonders angesichts des hohen Anteils an
unverfugten Komposita plausibel erscheint, besteht weitgehend Konsens in
Bezug auf die folgenden Funktionen 1) bis 4), die entweder interagieren
oder sich auch separat nachweisen lassen.
1) Fugenelemente dienen in Komposita der „rhythmischen Optimierung
des Erstglieds“ (Nübling/Szczepaniak 2009, 203).
Für die Erklärung der Optimierungsthese ist zu unterscheiden zwischen
silbischen und unsilbischen Fugenelementen (Fuhrhop 1998, 188f.; Wege-
ner 2003, 446). Die silbischen Fugenelemente -en-, -er-, -es-, -ens- sorgen
dafür, dass ein einsilbiges Erstglied eine trochäische Struktur bekommt und
damit über die im Deutschen bevorzugte phonologische Struktur verfügt:
Bett en zahl, Kind er fest, Land es haushalt, Herz ens lust. „Unsilbische Ele-
mente [-n-, -ns-] bewahren bereits bestehende Trochäen“, vgl. Blume n topf,
Wille ns bekundung (Nübling/Szczepaniak 2009, 203).
2) Fugenelemente können eine morphologische Gliederungsfunktion
übernehmen. Sie kennzeichnen in mehrgliedrigen Komposita die Haupt-
fuge.
190 2 Wortbildung des Substantivs

Die Gliederungsfunktion lässt sich vor allem an Wortpaaren mit unter-


schiedlich komplexen Erstgliedern nachweisen: Hof mauer – Friedhof s mau-
er, Sicht weise – Vorsicht s maßnahme. Dabei begünstigen wohl v.a. kom-
plexe Derivate und Konversionen als Erstglied die Wahl des Fugen-s,
weniger kompositionelle Erstglieder (vgl. Nübling/Szczepaniak 2009, 205
unter Berufung auf Kürschner). In einigen entsprechenden Paaren
(Kauf preis – Verkauf s erfolg) lässt sich das simplizische Erstglied auch als
Verbstamm (und nicht als Substantiv) deuten, sodass hier die Wortart des
Erstgliedes die Erklärung für das Fehlen des Fugen-s liefert.
3) Fugenelemente kennzeichnen die Wortartzugehörigkeit des Erstgliedes.
Deadjektivische und departizipiale Konversionen als Erstglied in Kom-
posita weisen grundsätzlich das Fugenelement -n- auf und sind dadurch als
Substantive ausgewiesen (Sachverständige n gutachten, Studierende n vertre-
tung). Die konvertierten Infinitive haben das Fugenelement -s- (Verhal-
ten s auffälligkeit, Versagen s angst).
Eine Unterscheidung zwischen Verb und Substantiv ist durch -e- gegeben:
Land klima, -luft (,Nicht-Stadt‘) – Land e bahn, -platz (Verbstamm).
4) In wenigen Fällen dienen Fugenelemente einer semantischen Differen-
zierung von Erstgliedern oder geben einen Hinweis auf die Wortbildungsart.
Wenn im Erstglied eine Vielheit kontrastierend zu anderen Komposita
mit gleichem Erstglied ohne diese Bedeutung ausgedrückt werden soll,
können unterschiedliche Kompositionsstammformen gewählt werden (Min-
derheit s regierung – Minderheit en schutz; Geburt s tag – Geburt en kontrolle,
Staat s betrieb – Staat en bund, Stimmlage – Stimme n gewirr, Strahl triebwerk
– Strahl en bündel, Bett decke – Bett en zahl, Last gewicht – Last en aufzug
(weitere Beispiele bei Wurzel 1970, 99f.).
Bei manchen Erstgliedern indiziert die Fugengestaltung Homonymen-
differenzierung und bisweilen auch idiosynkratische semantische Differen-
zen: Gut s hof, -verwalter (,landwirtschaftlicher Großbetrieb‘) – Güt er ab fer-
tigung, -austausch (,Waren‘) – Güte klasse – Gut punkt (Adjektiv gut);
Heide kraut – Heide n angst, Klasse zimmer – Klasse n zimmer (¢ 2.2.2.3.3),
Stab hochsprung – Stab s offizier, Hilfe ruf – Hilf s arbeiter, Geist es gegenwart
– Geist er stunde, Sonn tag – Sonn en tag u.a.

2.2.12.3 Verbales Erstglied


Bei verbalem Erstglied geht es um die Distribution des Fugenelements -e-. Es
überwiegen auch hier Komposita ohne Fugenelement. Dass der Auslaut des
Verbstamms für die Fugengestaltung maßgebend ist (vgl. Fleischer 1969b,
120), ist detailliert dargestellt worden (vgl. Žepic" 1970, 67ff., insbesondere
2.2 Komposition 191

Kienpointner 1985, 23ff. auf der Grundlage von ca. 6500 Stichwörtern).
Allerdings ist hier ebenfalls mit der für die Fugenelemente charakteristi-
schen Streuung zu rechnen. Nach Kienpointner fassen wir die Verteilung
folgendermaßen zusammen.
1) Das Fugenelement wird nicht gesetzt nach vokalischem Auslaut sowie
nach [p], [pf], [s], [r]; das gilt auch mit nur wenigen Ausnahmen für [m]
(Räumkommando, aber: Aufräumefrau), für [l] (Malkasten, aber: Einhol(e)ta-
sche), [x] (Lachmuskel, aber: Reinemach(e)frau), [ts] (Reizhusten, aber: Pres-
tige-Anheize-Kampagne), [∫] (Naschkatze, aber: Haschespiel), [k] (Lenkrad,
aber: Hinkebein). Auch verbale Erstglieder, deren Stämme auf -el, -er und -ier
enden, schließen ohne Fugenelement an das Zweitglied an (Bastelbuch, Kle-
ckerbetrag, Rangierbahnhof).
2) -e- begegnet demnach fast nur nach den stimmhaften Verschlusslauten
b, d, g, nach [z] sowie [t]; Komposita ohne Fugenelement sind jedoch ebenso
belegt. Am stärksten überwiegt -e- nach -d (Badestrand – schweiz. Badzim-
mer); es folgen -g (Vorbeugehaft – Schlagader), -ng (Hängelampe – Sing-
vogel), -s (Lösegeld – Blasinstrument), -b (Reib(e)käse – Reibfläche) und -t
(Ratespiel – Leithammel).
3) Die Verbstämme von rechnen, trocknen, zeichnen erscheinen als Erst-
glieder in den Formen Rechen-, Trocken-, Zeichen-. Ähnlich strukturierte
Verben wie ebnen, leugnen, ordnen, regnen, segnen, eignen lassen sich als
Erstglieder an homonyme Substantive anschließen (Regen-, Segen-) oder es
wird das deverbale -ung-Derivat als Kompositionsstammform verwendet
(Eignungstest, Ordnungsdienst).
4) In einer Reihe von Fällen sind verbales und substantivisches Erstglied
desselben Grundmorphems durch die Fugengestaltung zu unterscheiden:
Badeanzug – Badfenster, Rollschuh, -treppe – Rollenfach, Pfeifkonzert – Pfei-
fenkopf, Blasmusik – Blasenbildung, Pressluft, -stroh – Pressekonferenz (noch
Bismarck 1878: Preßthätigkeit); ¢ 2.2.12.2.3(3); vgl. auch Wellmann/Reindl/
Fahrmaier 1974, 371.

2.2.12.4 Schwankungen bei der Fugengestaltung


Unter Schwankungen im Gebrauch von Fugenelementen werden unter-
schiedliche Kompositionsstammformen eines Stammes in Verbindung mit
ein und demselben Zweitglied verstanden, vgl. Advent(s)zeit, Haus-
halt(s)sperre. Unterschiedliche Kompositionsstammformen desselben
Stammes in Verbindung mit unterschiedlichen Zweitgliedern wie Haus-
freund, Häusermeer werden nicht zu den Schwankungen gezählt, da sie dis-
tributionell jeweils fest sind (Nübling/Szczepaniak 2009, 217ff.).
192 2 Wortbildung des Substantivs

Unterschiede in der Fugengestaltung können national bzw. regional,


fachsprachlich oder stilistisch bedingt sein; sie können aber auch fakultativ
auftreten.
1) Österreich (z.T. auch Süddeutschland) und die Schweiz gehen in man-
chen Fällen eigene Wege (zum Folgenden Ammon 1995, 173, 277; Well-
mann 1998, 500f.); vgl. ohne Fugenelement österr. Adventkranz, Gansbraten,
Tagblatt, Toilettespiegel, -tisch, -frau; schweiz. Abfahrtzeit, Beileidkarte; Bad-
anstalt, Wartsaal, Zeigfinger.
-s- steht in österr. Fabriksarbeiter, Gepäcksträger, Gesangsbuch, Schweins-
braten, Werksangehöriger, Zugsabteil. In Aufnahmsprüfung, Ausnahmserschei-
nung u.a. wird -e-substituiert durch -s-.
-en- steht in schweiz. Krebsenmahl, Frachtenbahnhof, Stierenhalter, Hengs-
tendepot; ohne -e- werden Blasbalg, Fegfeuer, Mausfalle, Mausloch, Sägmehl
gebraucht; österr. schwankt hier der Gebrauch von -e-.
Tilgung von -e- findet sich in schweiz. Baustellbesichtigung, Tannast. Mit
Subtraktionsfuge erscheinen auch schweiz. Adressänderung, Adresskartei,
Sonnseite.
2) Fachsprachliche Unterschiede finden sich v.a. beim Vergleich juristi-
scher mit allgemeinsprachlichen Lexemen mit -steuer als Zweitglied, vgl.
Einkommen(s)-, Grunderwerb(s)-, Vermögen(s)steuer. In der Fachsprache
werden die Varianten ohne -s- gebraucht. Bei Schaden(s)ersatz entspricht
dagegen die Form mit -s- der fachsprachlichen Norm.
Weitere fachsprachliche Varianten sind Pflichtteilsberechtigter, Schulderlass,
Haltverbot (vs. allgemeinsprachl. Pflichtteilberechtigter, Schuldenerlass, Hal-
teverbot).
3) Die Möglichkeit stilistischer Differenzierung wird durch das Nebenein-
ander älterer und jüngerer Fugen-Formen genutzt, vgl. Mond schein/
Mond en schein, Mai nacht/Mai en nacht, Wald rand/Wald es rand (DWb 4,
78, 87f.).
4) Fakultative Varianten finden sich u.a. bei Haushalt(s)ausgleich, -aus-
schuss, -buch, -debatte, -defizit, -kasse, Rechtsanwalt(s)büro, -kammer, -kanzlei
(aber nur: Anwaltskammer, -kanzlei); Verband(s)kasten, -material, -päckchen,
-platz, -zimmer; Verfall(s)datum, -tag, -zeit; Vorort(s)verkehr, -zug u.v.a.

2.2.12.5 Grafische Besonderheiten


Als Erscheinungen in der Kompositionsfuge sind noch der Bindestrich und
– erst in jüngster Zeit verstärkt auftretend – die sog. Binnenmajuskel sowie
das Spatium als Grenzsignale zu erwähnen.
2.2 Komposition 193

2.2.12.5.1 Bindestrich

1) Der Erläuterungsbindestrich (zum Ergänzungsbindestrich ¢ 2.2.1.2)


kann in normalerweise zusammengeschriebenen Komposita verwendet
werden, wenn eine unmittelbare Konstituente hervorgehoben (in der Wer-
bung: Damen-Schuhe) oder wenn ein Kompositum remotiviert werden soll
(aus Anzeigen von Tierversuchsgegnern: Zucht-Haus, Schmerz-Haft; zitiert
bei Stein 1999, 269).
Er ist obligatorisch bei Buchstabenkurzwörtern und Buchstaben als Erst-
oder Zweitglied von Komposita: US-Dollar, E-Lok, Eisschnellauf-WM
(¢ 2.7.2).
2) Er wird bevorzugt bei Personennamen als Erstglied; geläufigere Kom-
posita werden jedoch auch ohne Bindestrich zusammengeschrieben; das gilt
auch für Orts- und besonders Flussnamen (¢ 2.2.11).
Für Komposita, bei denen drei gleiche Vokalbuchstaben zusammentref-
fen, wird ebenfalls Bindestrichschreibung empfohlen: Schnee-Eule, Tee-
Ernte; bei drei gleichen Konsonanten gilt dagegen Zusammenschreibung als
Vorzugsvariante (Sauerstoffflasche, vgl. Dudenband 1, 2009).
3) Der Bindestrich wird zunehmend in Konfixkomposita verwendet, vor-
nehmlich in Pressetexten (Multi-Erfahrung, PDW 2005), doch sieht die amt-
liche Rechtschreibregelung hier Zusammenschreibung vor.
4) Ein Durchkopplungsbindestrich steht im Allgemeinen bei Syntagmen
und Sätzen als Erstglied (Erste-Hilfe-Lehrgang; ¢ 2.2.9), ist jedoch nicht
durchweg obligatorisch, vgl. Armeleuteessen, Tagundnachtgleiche.
5) In polymorphemischen Komposita wird gewöhnlich einmal der Erläu-
terungsbindestrich gesetzt, und zwar als Leseerleichterung in der Regel
zwischen den unmittelbaren Konstituenten: Herzinfarkt-Rehabilitations-
zentrum, Holzwolle-Leichtbauplatte, Ski-Freifahrtag (LVZ 2010).
6) Eine Kombination von Ergänzungs- und Erläuterungsbindestrich
zeigen Fälle wie Umwelt- und Technik-Erfordernisse (TZ 1989), Rechtschreib-
reform-Befürworter und -Kritiker (Dudenband 1, 2009, 40).
7) Der Bindestrich dient der Rezeptionserleichterung auch in Fällen, in
denen strukturbedingte semantische Konflikte auftreten können: Drucker-
Zeugnis – Druck-Erzeugnis, Wach-Stube – Wachs-Tube; Gipsschwefelsäure-
fabrik ,Fabrik, in der Schwefelsäure aus Gips hergestellt wird‘ – Gips-Schwe-
felsäure-Fabrik ,Fabrik, in der Gips und Schwefelsäure hergestellt werden‘
(mit entsprechenden Akzentunterschieden).
8) Der Bindestrich wird außerdem zur Remotivation lexikalisierter Wort-
bildungen genutzt (¢ 1.5.4.1).
194 2 Wortbildung des Substantivs

2.2.12.5.2 Binnenmajuskel und Spatium


Binnenmajuskel und Spatium werden gegenwärtig v.a. in komplexen
Namen für Firmen, Dienstleistungen und Produkte als Fugenmarkierungen
verwendet. Entsprechende Beispiele stammen vornehmlich aus Werbetex-
ten: BahnShop, BahnCard, EuroEyes (Klinikgruppe), ReiseCenter; Tomaten
Ketchup, Boden Service, Wüstenrot Bausparen. Beide Grenzmarkierungen
kennzeichnen meist die unmittelbaren Konstituenten von Komposita,
treten aber auch mehrfachim Wort –sogar kombiniert – auf: InterCityExpress,
SuperHaftCreme, BahnCard Kreditkarte. Auch Kurzwörter mit Binnenma-
juskel kommen vor: ElBa – Eltern-Baby-Programm, SeMi – Verein für Seni-
oren, Migranten und Familien (LVZ 2010).
Diese Schreibungen sind nicht neu. Seit der zweiten Hälfte des 16. und dann v.a. im 17.
Jh. werden Komposita zwar immer öfter zusammengeschrieben, aber daneben auch
noch getrennt (Rechts Sachen, Beispiel bei Demske 2001, 311) bzw. mit doppeltem
Bindestrich oder mit Binnenmajuskel (Rechts=Anmerckungen, HaubtSprache), um si-
multan „Einheit und Gegliedertheit“ der Komposita zu signalisieren (Pavlov 1995, 119;
vgl. auch Erben 2007). Noch bis ins 18. Jh. kommt die Binnenmajuskel gelegentlich vor;
möglicherweise eher für Ad-hoc-Bildungen als für lexikalisierte: IdeenMaße, TotalEin-
druck, ZwitterArt (Schiller 1794 in Briefen an Goethe).

Als Ursache für die zunehmende Verwendung von „Gliederungs- und Ver-
ständnishilfen“ im Kompositum seit dem 18. Jh. (einschließlich der Binde-
strichschreibung) macht Erben (2007, 118) unter diachronem Blickwinkel
u.a. „die Tendenz, umfangreiche, polymorphemische Wörter als komplexe
Nominationseinheiten aufzubauen,“ geltend. Als Ursachen für die deutliche
Ausbreitung dieser Schreibweisen in der Gegenwart werden die seit den
1980er-Jahren belegte Schreibung von Personenbezeichnungen mit dem
Großbuchstaben I im Wortinnern (LeserInnen) sowie der Einfluss des Eng-
lischen, insbesondere durch originalsprachlich getrennt geschriebene Ent-
lehnungen (Soft Drug), genannt (Stein 1999, 264 f.).
Ein weiterer Grund könnte sein, dass der Bindestrich als Mittel der Her-
vorhebung von Konstituenten heute an Wirkung verloren hat und deshalb,
vor allem in der Werbung, durch auffälligere grafische Abweichungen er-
setzt wird. Er wird unter Beibehaltung des Spatiums getilgt oder auf beides –
Bindestrich und Spatium – wird verzichtet. Stattdessen schreibt man die
Komposita zusammen und wählt die Majuskel für das Zweitglied; zu wei-
teren möglichen Ursachen vgl. Dürscheid 2000.
Die abweichenden Schreibweisen stehen vornehmlich im Dienst von
Werbefunktionen: Aufmerksamkeit hervorrufen, Originalität signalisieren
und Einprägsamkeit unterstützen; ausführlich dazu Stein 1999.
2.3 Suffixderivation 195

2.3 Suffixderivation

2.3.1 Grundsätzliches

Es werden zunächst die produktiven indigenen Suffixe (worunter auch


-ei/-erei, -er; zu ihrer Herkunft ¢ 2.3.2.2; ¢2.3.2.4) in alphabetischer Reihen-
folge (mit gewissen Ausnahmen: Diminuierung und Movierung werden
zusammenfassend beschrieben, -ler und -ner im Anschluss an -er) behan-
delt; anschließend Fremdsuffixe, onymische (darunter auch die deonymi-
schen -bold, -ian/-jan, -ke, -rich) sowie unproduktive, soweit noch in Wort-
bildungsmodellen (¢ 1.7.1) vertreten. Die Wortbildungsbedeutungen der
jeweiligen Modelle werden entsprechend den in 2.1.3.1 und 2.1.3.2 aufge-
listeten Modifikations- und Transpositionsarten geordnet; gelegentlich auch
subklassifiziert bzw. um Unterarten erweitert.
Die alphabetische Anordnung nach dem Formativ der Affixe, eine seit
Langem kontrovers diskutierte Frage (vgl. z.B. Paul 1895, 82; Kramer 1962,
408; v. Polenz 1968b, bes. 10ff., 25 ff.; Gawełko 1982) wird beibehalten (zur
Begründung ¢ 1.1.4).

2.3.2 Indigene Suffixe

2.3.2.1 Suffix -e

1) Verbale Basis; Feminina; Umlaut nur selten


1.1) Infinitivstamm, schwache und starke Verben, simplizische und kom-
plexe Basis. Nicht von Verben auf -ier(en), doch anprobieren > Anprobe.
Wortbildungsbedeutungen:
a. Nomina Loci – Bleiche, Bleibe, Durchreiche, Kippe, Schwemme, Tanke
,Tankstelle‘, Umkleide;
b. Nomina Instrumenti – Binde, Bremse, Fähre, Klatsche, Liege, Pfeife, Picke,
Rinne, Stampfe, Wiege; darunter speziell Bezeichnungen für Küchenteile
und Haushaltgeräte wie Anrichte, Hänge, Plätte, Reibe, Spüle;
c. Nomina Actionis – Denke ,Denkart‘, Hetze, Pflege, Schalte ,Schaltung‘,
Suche, Absage, Abhorche, Anmache, Ansage, Aus-, Einreise, Verlade, Vorher-
sage, Nachfrage.
Zahlreiche Derivate sind als Zweitglied stark kompositionsaktiv: Buchstaben-,
Ideen-, Reihen-, Spielfolge; Farben-, Formen-, Harmonie-, Mengenlehre u.v.a.
196 2 Wortbildung des Substantivs

1.2) Verbale Syntagmen als Basis; Wortbildungsbedeutungen wie unter


1.1): Pferdeschwemme, Vogelscheuche, Schneeschmelze.
1.3) Abgelauteter Verbstamm (Präteritalstamm) als Basis; Strukturen und
Wortbildungsbedeutungen prinzipiell wie unter 1.1). Nomina Loci und In-
strumenti vorwiegend bei simplizischer Basis (gießen > Gosse, Grube, Stiege);
Nomina Actionis vorwiegend bei komplexer Basis (Ab-, Ein-, Entnahme,
Aus-, Vergabe, Vorwegnahme); verbales Syntagma als Basis oft phrasemisch:
Inbetrieb-, Inanspruch-, Inbesitz-, Inangriff-, Bezugnahme.
Zu sekundären Prägungen wie z.B. Ausgabe, Einnahme ,ausgegebenes/
eingenommenes Geld‘ ¢ 1.5.4.3.
Anders als Stellungnahme (zum Syntagma Stellung nehmen, so ursprüng-
lich auch Preis geben > Preisgabe zu entlehntem Preis ,Beute, Prise‘) sind
Wortbildungen wie Ehrengabe als Kompositum zu betrachten.
1.4) Die Derivation schwacher Maskulina als Nomina Agentis von ver-
baler Basis ist heute unproduktiv; vgl. schenken > der Schenk/Schenke (noch
in Mundschenk), bieten > Bote (Prät. bot), schießen > Schütze (Verhältnis von
-tz- und -ß- wie bei heiß > Hitze; siehe unter 2); ferner Nach-, Vorfahr(e),
Nachkomme.
2) Adjektivische Basis
In der Regel mit Umlaut (da ahd. -ı̄, -i, suozı̄ ,Süße‘), Feminina; Wort-
bildungsbedeutung: Nomina Qualitatis – Blässe, Bläue, zur Gänze (nur mit
Präposition), Güte, Frische, Nähe, Schnelle (meist mit Präposition: in/mit
größerer/auf die Schnelle; in Komposita: Blitzes-, Gedanken-, Sekundenschnel-
le), Schwäche, Stärke. Bei den Derivaten von Dimensionsadjektiven kon-
statiert Wurzel (1987, 504) eine „morphologische Einheitlichkeit der Plus-
polnominalisierung“ (Größe, Länge, Breite, Dicke …).
Historisch auch Hitze < heiß (Wechsel von -tz- und -ß- für lautverscho-
benes -t[t]-).
Sekundäre Prägung: Sachbezeichnung für einen Gegenstand, der die
durch das Adjektiv bezeichnete Eigenschaft besitzt: Fläche, Höhle, Sänfte (im
16. Jh. aus dem Abstraktum ,Sanftheit‘ für den Tragsessel), Säure, Weiche
(aus dem Abstraktum ,Weichheit‘ für den weichen Körperteil zwischen
Brustkorb und Becken; anders [aus]weichen > Weiche ,verstellbares Paar von
Schienen‘).
Neben dem genannten Modell stehen zwei Konversionsmodelle mit
Wortbildungen ohne Umlaut; das eine bildet nur Neutra (das Tief, Gut), das
andere Wortbildungen, die in allen drei Genera verwendbar sind (der/die/das
Gute); Näheres ¢ 2.6.2.2(1, 2).
Die -e-Derivate sind teilweise zugunsten von Derivaten auf -heit/-keit/
-igkeit (¢ 2.3.2.7) eingeschränkt worden; bisweilen stehen beide noch – meist
2.3 Suffixderivation 197

semantisch differenziert – nebeneinander: Höhe – Hoheit, Schwäche –


Schwachheit, Süße – Süßigkeit. Die Finster(e) ,Finsternis‘, die Wilde ,Wild-
nis‘ noch bei Schiller (vgl. Paul 1920, 68 f.).
Nicht üblich sind -e-Derivate von Adjektiven mit auslautendem Stamm
auf -e (bange, böse, feige, müde u.a.) sowie von zahlreichen Adjektiven, deren
substantivische Derivation durch -heit/-keit/-igkeit erfolgt (barsch, bieder,
bitter, blind, brav, derb, dumpf, echt, gesund, klug u.v.a.) oder zu denen auf
andere Weise gebildete Abstrakta gehören, wie alt – das Alter, arm – Armut,
jung – Jugend, reich – Reichtum, schwanger – Schwangerschaft.
Das Adjektiv öd(e) (ahd. ōdi) steht neben dem Substantiv Öde.
Im fachsprachlichen Gebrauch sind jedoch nicht selten Wortbildungen
üblich, die für den Allgemeinwortschatz als unzulässig oder ungewöhnlich
gelten, z.B. die Feste neben Festigkeit, die Hopfenbittere, die (Koch-)Kläre
(vgl. Fachwort 1984, 101, 53, 164).
3) Substantivische Basis
3.1) Maskuline Personenbezeichnungen, Zugehörigkeit zu einer Wissen-
schaftsdisziplin o. Ä. auf -(o)logie (unter Tilgung des -ie), vgl. Archäologie –
Archäologe, Biologe, Soziologe u.a. (DWb 2, 412). Das -e fehlt jedoch bei
entsprechenden Bezeichnungen auf -grafie, -onomie, -sophie, -urgie (Geograf,
Agronom, Philosoph, Chirurg).
3.2) Deonymische Bewohnerbezeichnungen zu Ländernamen auf -en, -ien
(zur Konkurrenz mit -er ¢ 2.3.2.4) sowie auf -ei (hier ist -e die Regel): Schwe-
de, Franke, Bulgare, Mongole.
Zahlreiche Ländernamen bilden spezifische Derivationsstammformen
auf -es-: Sudan > Sudanes e, Vietnames e; auch mit Tilgung des Basisauslau-
tes: Chines e.
Zum Nebeneinander von Ir e und Isländ er ¢ 2.3.2.4(2.2).
4) Adverbiale Basis
Nur Einzelfälle, nicht produktiv: bald > in Bälde, genug > zur Genüge. Die
Wortbildungen sind phrasemisch gebunden.
5) Zur Zirkumfigierung mit ge-…-e ¢ 2.5.
6) Zu -e zur Bildung movierter Feminina ¢ 2.3.2.22.
7) Abgesehen von den wenigen movierten Personenbezeichnungen mit -e
(Cousin > Cousine) gibt es substantivische Paare des gleichen Stammes mit
und ohne -e, wo -e nicht als Derivationsaffix, sondern eher als flexionsmor-
phologisches Element anzusehen ist (genusbestimmend, z.T. semantisch
nuancierend): das Eck – die Ecke, Idyll – Idylle, Rohr – Röhre; Muff – Muffe,
Tann – Tanne, Trupp – Truppe, Typ – Type, Zweck – Zwecke. Wegen der
Genusunterschiede und einer mitunter deutlichen semantischen Differen-
zierung ist von Homonymen auszugehen.
198 2 Wortbildung des Substantivs

Fraglich ist, ob das -e in Fällen wie Katze, Kerze, Linde, Pfütze, Steppe, Wiese als Mor-
phem zu segmentieren ist oder ob die betreffenden Wörter als monomorphemisch
anzusehen sind. Für unsere Behandlung des Derivationssuffixes -e ist diese Frage al-
lerdings von untergeordneter Bedeutung, denn die genannten Lexeme können nicht als
Derivate interpretiert werden; zur Diskussion dieses Phänomens vgl. Eisenberg 2006,
217, der die Kategorie „mophologischer Rest“ einführt.

2.3.2.2 Suffix -ei/-erei


Das Suffix -ei/-erei, mhd. -ı̄e, stets mit Hauptakzent, stammt aus mittellatei-
nischen Entlehnungen (abbateia schon im 10. Jh.) und ist durch französi-
sche Entlehnungen wie vilanı̄e ,bäurisches Benehmen‘ „entscheidend be-
einflusst und weitergeführt worden“ (Öhmann 1966; vgl. auch Kluge 1925,
21). In Einzelfällen ist auch die Form -elei reanalysiert worden. – Die Deri-
vate sind Feminina.
1) Substantivische Basis, simplizisch, Kartei, Pfarrei (Tilgung von -e), Kan-
torei, Ziegelei; komplex Auskunftei; Detektei (Tilgung von -iv, nicht vor Ende
des 19. Jh.).
Wortbildungsbedeutung: Nomina Loci.
Mit Fugenelement -n- zur Füllung des Hiats (Zusammentreffen zweier
Vokale): Wüstenei, schon mhd. wüestenı̄e.
Aus der lokalen Bedeutung hat sich -ei als toponymisches Suffix entwi-
ckelt (¢ 2.3.4.3).
Am häufigsten begegnet -ei in dieser Bedeutung heute in Verbindung mit
einer Basis in der Formativstruktur von Nomina Agentis; semantisch ist die
Wortbildung aber in einem Teil dieser Fälle eher unmittelbar an das letzten
Endes zugrunde liegende Verb anzuschließen: Bäckerei, Brauerei, Druckerei,
Färberei, Gießerei, Lackiererei, Wäscherei; „bei der Abschlepperei setzte M. ihn
ab“ (F. J. Degenhardt). Kein verbaler Bezug: Försterei, Gärtnerei, Reederei,
Konditorei.
1.1) Substantivische Basis als Personen- bzw. auf Personen übertragene
Tierbezeichnung.
Wortbildungsbedeutung: ,Art und Weise des Verhaltens (auch Ergebnis
solchen Verhaltens); wie die durch das Substantiv bezeichnete Person‘, in
der Regel pejorativ, wobei meist schon die Basis pejorativ konnotiert ist:
Eselei, Ferkelei, Flegelei, Kumpelei, Teufelei; auch mit komplexer Basis: Amts-
schimmelei, Eulenspiegelei.
1.2) Substantivische Basis als Sachbezeichnung ergibt einen selteneren Typ
von Kollektiva: Staffelei, Titelei. Er begegnet auch mit Personenbezeichnung
als Basis: von Karin K. und dieser ganzen Gangsterei (F. J. Degenhardt); hier-
her auch deonymische Kollektiva wie: die ganze Felgentreuerei/Treibelei
(Th. Fontane).
2.3 Suffixderivation 199

1.3) Aus Wortbildungen wie in 1.2) ist vereinzelt -elei als Suffixvariante
zur Bildung desubstantivischer Derivate mit pejorativer Konnotation re-
analysiert worden: Eifersüchtelei, Eigenbrötelei, Fremdwörtelei. Es bestehen
assoziative Beziehungen zu pejorativem -ler (Eigenbrötler, daher auch die
Variante Eigenbrötlerei) und zu den Verben mit -el(n)/-l(n) wie basteln, grü-
beln, werkeln.
1.4) Aus Derivaten wie in 1) hat sich auch die Suffixvariante -erei (zur
Geschichte Öhmann 1973) entwickelt, ebenfalls vorwiegend mit pejorativer
Konnotation: Dieberei, Lumperei, Schlafmützerei, Vielweiberei. Sie ist aller-
dings wesentlich produktiver als -elei.
Die pejorative Konnotation der Modelle 1.3) und 1.4) wird z.B. von
Campe (1813) genutzt zur Differenzierung indigener Äquivalente für die
entsprechenden Fremdwörter: Patriotismus – Vaterlandsliebe/Vaterländerei
(vgl. Dieckmann 1964, 138).
Nicht pejorativ, sondern an Derivate mit lokaler Bedeutung anzuschlie-
ßen sind Käserei, Mosterei, Molkerei (seit dem 19. Jh. zu Molke ,Käsewas-
ser‘). Anders Kokerei, wozu auch koken ,Koks herstellen‘ (so noch Fachwort
1984, 170) und Koker ,Koksarbeiter‘ geläufig waren.
2) Verbale Basis, in der Regel pejorative Nomina Actionis; bei Basen auf
-el(n), -er(n) erscheint -ei (Meckerei), sonst -erei: Brüllerei, Heulerei, Esserei;
neben pejorativem Bügelei steht als neutrales Nomen Loci Büglerei; gelegent-
lich im Plural: gliederschlenkernde Tanzereien (B. Reimann).
Neben simplizischer auch komplexe Basis (Aufschneiderei, Nachäfferei)
und – z.T. phrasemische – Syntagmen: Augenauswischerei/Augenwischerei,
Rechthaberei, Schaumschlägerei. – Bisweilen ist jedoch von einer komplexen
substantivischen Basis auszugehen: Drückebergerei.
2.1) Verbale Basis auf -el(n)/-l(n); ebenfalls pejorative Nomina Actionis,
z. T. mit sekundärer Prägung als Nomina Acti: Blödelei, Faselei, Liebäugelei
(PDW 2005), Liebelei, Heuchelei, Witzelei; Menschendünstelei (P. Süskind);
weniger pejorativ, sondern eher salopp-scherzhaft: die Rätselei um das Ge-
baren von H. Sch.… (PDW 2005).
Die deverbalen Substantive auf -ei/-erei konkurrieren mit den Deverba-
tiva auf ge-…-e (¢ 2.5).
2.2) Konkrete Sachbezeichnungen als sekundäre Prägungen sind z. B. Hä-
kelei, Stickerei, (Holz-)Schnitzerei; vielfach sind beide Lesarten (,Prozess‘ und
,durch den Prozess entstandene Sache‘) aktualisierbar, vgl. z.B. noch Rei-
merei, Schmiererei, Schreiberei (Ähnliches auch bei ge-…-e und -ung
¢ 2.3.2.18; ¢2.5).
Der Unterschied zwischen Nomina Loci und Nomina Actionis kann bis-
weilen durch Umlautdifferenzierung gekennzeichnet werden: Bäckerei (auf
Bäcker bezogen) – Backerei (auf backen bezogen), Wäscherei – Wascherei.
200 2 Wortbildung des Substantivs

2.3.2.3 Suffix -el


Im Unterschied zum Diminutivsuffix -el (¢ 2.3.2.21) ist das hier zu behan-
delnde -el allenfalls schwach produktiv. Doch sind entsprechende Bildungen
im Wortschatz noch reihenhaft vertreten. Die Derivate sind Maskulina;
einige wenige Feminina sind demotiviert (Spindel, Windel, Fuchtel; Henzen
1965, 157).
1) Verbale Basis
1.1) Wortbildungsbedeutung: Nomina Instrumenti – decken > Deckel;
Hebel, Schlägel (auch: Schlegel), von stechen sowohl Stichel als auch Stachel;
Stößel.
Nicht hierher Klingel (seit 17. Jh.), dies als Konversion zu klingeln, mhd.
klingelen; Wickel (Haar-, Kraut-) ist als Diminutivum auf mhd. wicke ,Fa-
serbündel, Docht‘ zurückzuführen.
Auch Fälle wie Flügel, Griffel, Zügel sind – über die entsprechenden Ver-
balsubstantive Flug, Griff, Zug – semantisch auf ein Verb zu beziehen. Einige
dieser Wortbildungen sind heute völlig demotiviert: Meißel (ahd. meizan
,schneiden‘), Löffel (ahd. laffan ,lecken‘), Wirbel (ahd. werban ,sich drehen‘)
u.a. (Wilmanns 1899, 263).
Die Zurückdrängung der -el-Derivate zugunsten von Nomina Instru-
menti auf -er (¢ 2.3.2.4) zeigt ein Vergleich mit dem Reimlexikon des Pe-
regrinus Syntax (1826). Dort werden z.B. noch 23 Wortbildungen mit -schlä-
gel verzeichnet (Ball-, Trommelschlägel u.a.). Muthmann (2001) dagegen
führt nur noch Schlägel auf, aber -schläger in Komposita wie Federball-, Golf-,
Pingpong-, Schnee-, Trommelschläger (vgl. auch Goodloe 1929 mit dem Ver-
such einer semantischen Differenzierung zwischen -el- und -er-Derivaten).
1.2) Die deverbalen Nomina Agentis sind nur in wenigen isolierten Lexe-
men erhalten geblieben (Büttel, ahd. butil zu biotan ,bieten‘), in den meisten
Fällen ebenfalls durch -er-Derivate ersetzt worden: ahd. tregil – nhd. Träger,
tribil – Treiber, mhd. kempfel – nhd. Kämpfer (vgl. Wilmanns 1899, 262 f.).
Süffel ,Trinker‘ (lt. GWDS landschaftl. ugs. scherzh.) ist über das Verbal-
abstraktum Suff an saufen anzuschließen, wenn nicht – weniger wahrschein-
lich – Konversion vom Verb süffeln wie Klingel zu klingeln (s.o.); vgl. auch
Süffler, Süffling (GWDS).
2) Substantivische Basis
Heute unproduktiv. Das Modell mit der Wortbildungsbedeutung ,Zuge-
hörigkeit‘ ist noch in Einzelfällen vertreten wie Ärmel zu Arm, Eichel (als
seltenes Femininum) zu Eiche, Mündel (mit dem Neutrum der Diminutiva)
zu ahd./mhd. munt (vgl. Vormund).
Zu Derivaten wie Büschel zu Busch ¢ 2.3.2.21(5).
2.3 Suffixderivation 201

2.3.2.4 Suffix -er


Das Suffix -er ist an mehreren Modellen mit hoher Produktivität beteiligt,
einschließlich der – heute zu eigenständigen Suffixen gewordenen – einsti-
gen Suffixerweiterungen -ler und -ner. Es bildet ausschließlich Maskulina.
Das Suffix wird aus lat. -ārius hergeleitet (Wilmanns 1899, 263), woraus sich
der Umlaut der Derivationsbasis erklärt. Der Umlaut ist jedoch schon in
alter Zeit – in Abhängigkeit von umlauthemmenden Folgekonsonanten und
in regionaler Differenzierung – nicht konsequent eingetreten und durch
spätere umlautlose Neubildungen sind die Verhältnisse weiter kompliziert
worden. Verallgemeinerbare Umlautregeln lassen sich heute daher nicht
aufstellen. In wenigen Fällen zeigt Umlautdifferenzierung heute semanti-
sche Unterschiede an: Hocker ,Sitzmöbel ohne Lehne‘ – Höcker ,Wölbung
auf dem Körper von Mensch und Tier‘, Schlager – Schläger; anders Drucker
(zu drucken) – Drücker (zu drücken); vgl. ferner Bürger – Habs-, Luxemburger,
Häscher – Effekthascher (vgl. auch DWb 2, 37). – Abweichungen vom heu-
tigen Gebrauch finden sich bis ins 19. Jh.: Rauber (Gryphius), Abläder (Goe-
the), Täucher (J. Paul), Widersächer (Wieland), vgl. Paul 1920, 62.
1) Verbale Basis
1.1) Nur Infinitivstamm, starke und schwache Verben; vorwiegend sim-
plizische, gelegentlich auch komplexe Basis.
Wortbildungsbedeutung: Nomen Agentis; dabei lassen sich – allerdings
mit unscharfen Grenzen und nicht ohne Beispiele mit Neutralisierung
dieser Differenzierung – im Großen und Ganzen drei semantische Unter-
gruppen in Bezug auf den Status dieser Tätigkeit unterscheiden (vgl. Shin
1976, 23):
– ,professionell‘: Dreher, Gießer, Lehrer, Schneider, Verkäufer, Lackierer;
– ,habituell‘: Anlieger, Denker, Herumtreiber, Raucher;
– ,gelegentlich‘: Finder, Gewinner, Überbringer, Verlierer.
Derivate von Partikelverben mit adjektivischer oder adverbialer Verbpar-
tikel (bzw. von entsprechenden verbalen Syntagmen) sind auffallend selten
usuell (Beiseiteschieber, Bloßsteller, Entgegenführer; wir Wegschauer und Weg-
hörer [V. Mann]); stattdessen wird meist substantiviertes Partizip I verwen-
det (der/die Asylsuchende, Alleinerziehende; aber österr. Alleinerzieher).
Auch sonst konkurriert die Konversion des Partizips I. Der semantische
Unterschied zwischen beiden Bildungsweisen liegt vor allem darin, dass das
-er-Derivat in stärkerem Maße zur Bezeichnung eines Personenbegriffs mit
festen Merkmalen tendiert (vgl. die Untergruppen ,professionell‘, ,habi-
tuell‘), womit auch eine Demotivation verbunden sein kann: der Denkende –
der Denker, der Schiebende – der Schieber, der Kriechende – der Kriecher. Nur
202 2 Wortbildung des Substantivs

in den seltensten Fällen hat das konvertierte Partizip I einen ähnlichen se-
mantischen Charakter: der Vorsitzende (woneben auch Vorsitzer), Reisende,
Streikende (woneben keine -er-Derivate).
Die Bildung der -er-Derivate unterliegt stärkeren Beschränkungen als die universal
bildbaren Konversionen zum Partizip I. Von bestimmten verbalen Basen werden im
Allgemeinen keine -er-Derivate erzeugt. Das betrifft nullwertige Verben wie schneien,
dämmern, dunkeln, tauen, ziehen ,als Luftzug zu verspüren‘; DWb 2, 342), Modalverben
(aber Könner), Zustandsverben wie sich befinden, liegen, stehen, umgeben, wohnen (aber
Steher – im Radsport), zahlreiche Verben der Wahrnehmung und des Wissens wie
empfinden, sich freuen, glauben, vermissen, verstehen, wissen (aber Kenner, Denker); zur
Diskussion weiterer Beschränkungen, auch hinsichtlich des Outputs der Modelle vgl.
Scherer 2005, 91ff.
Doch sind auch okkasionelle -er-Derivate zu beachten wie die Bestimmer (bezogen
auf Eltern und Lehrer gegenüber Jugendlichen, Sonntag 1988), die Sitzer (über Leute,
die das Sitzen in Sitzungen wirklich verstehen, Weltbühne 1980); (¢ 1.4.2).
Fachsprachlich sind noch Wortbildungen üblich, die in der Allgemeinsprache selten
oder ganz unüblich geworden sind, z.B. Geber, Nehmer, Schenker als juristische Ter-
mini; vgl. auch Geber- und Nehmersprache in der Linguistik.

1.2) Verbales Syntagma als Basis, vor allem mit Akkusativkomplement.


Die Univerbierung des Syntagmas fordert in der Regel das -er-Derivat, das
Partizip I wird seltener genutzt (Impulsgeber, Jobsucher, aber auch Jobsu-
chender);
Wortbildungsbedeutung wie unter 1.1): Buchbinder, Dachdecker, Filmvor-
führer, Hoteltester, Orgelbauer, Uhrmacher (zu entsprechenden Bildungen
im Frnhd. Meibauer 1998). – Außerhalb der Berufsbezeichnungen sind be-
sonders beliebt Syntagmen mit den Verben geben und nehmen, z.T. phra-
semisch; die substantivische Komponente ist entweder simplizisch oder
komplex, vgl. Auftrag-, Kredit-, Stundengeber, Versicherungs-, Vorschussneh-
mer; zu Geber, Nehmer vgl. 1.1).
Das Modell ist hochproduktiv; für die Basissyntagmen scheinen weder
semantische noch syntaktische Beschränkungen zu gelten. Auch Verben, die
normalerweise keine -er-Derivate bilden, können im Syntagma wortbil-
dungsaktiv werden, vgl. scherzhafteDerivate wie Sockenfalter, Klamotten-am-
Vortag-Rausleger, Vorabend-Einchecker, In-die-Hand-Huster, Überraschungs-
ei-Schüttler, Bei-Mami-Wäscher (Der Spiegel 2000).
Am vielfältigsten sind heute die Wortbildungen auf -macher (nach Leh-
nert 1986, 72f. unter englischem Einfluss). Da Macher gelegentlich selbst-
ständig begegnet, ist bei manchen Bildungen auch die Erklärung als Kom-
positum möglich, doch das Modell mit Syntagma ist hochproduktiv (über
100 Lemmata im GWDS). So sind neben den älteren Berufsbezeichnungen
2.3 Suffixderivation 203

wie Uhrmacher entsprechende Bezeichnungen für Künstler mehr und mehr


üblich geworden: Bildermacher (für einen Maler, TZ 1987), Filmemacher,
Liedermacher. Im Unterschied zu den älteren Wortbildungen steht die sub-
stantivische Komponente in Pluralform (schon Wieland Balladen-Macher
u.a.; Itkonen 1971, 99).
Weiterhin bildet -macher Personenbezeichnungen, die sich auf Verhal-
tensweisen und Charaktereigenschaften beziehen: Angst-, Pläne-, Radau-,
Schuldenmacher; sie sind vielfach pejorativ; vgl. auch Kanzler-, Meinungs-
macher. Bisweilen konkurriert damit eine andere Bildungsweise: Spaßmacher
– Spaßvogel, Karrieremacher – Karrierist. – Fachsprachlich ist Schrittmacher
(Radsport), metaphorisch (Herz)Schrittmacher (Medizin). Die substantivi-
sche Komponente des zugrunde liegenden Syntagmas kann auch präposi-
tional angeschlossen sein: in die Sterne gucken – Sterngucker (ohne -e).
Zu Wortbildungen mit nicht ¢2.2.7.3.
Verbale Syntagmen mit Adjektiv bzw. Adverb verbinden sich bevorzugt
mit tun: Groß-, Wichtig-, Nichtstuer; ferner Langschläfer, Schwarzseher
(schon bei Wieland auch Ausfindigmacher; Itkonen 1971, 97), okkasionell
Vorwärtseinparker (Der Spiegel 2000).
1.3) Basis wie 1.1) bzw. 1.2), aber Wortbildungsbedeutung: Nomen In-
strumenti und Nomen Acti (hier keine Konkurrenz mit substantiviertem
Partizip I wie unter 1.1), vgl. Blinker, Drücker, Kocher, Kühler, Schalter, Sum-
mer; Ausklopfer, Behälter, Entsafter, Verdampfer, Zubringer. Auch für eine
Chemikalie: (dem Zementbeton zugesetzter) Verflüssiger.
Verbales Syntagma als Basis: Feuerlöscher, Fleck(en)entferner, Staubsauger,
Gabelstapler, Wasserenthärter (auch als Kompositum deutbar); okkasionell
Duschkabinenabzieher, Haarwachstumsverzögerer (Werbung LVZ 2010). Be-
sonders aktiv sind Basen mit den Verben geben, halten, tragen: Blink-, Fun-
ken-, Signalgeber; Ärmel-, Büsten-, Hüft-, Sockenhalter; Balken-, Brücken-,
Hosenträger. Zur Berührung mit der substantivischen Komposition ¢ 1.8.1.2.
In Abhängigkeit von der Semantik des Verbs gibt es zahlreiche Wortbil-
dungen, die sowohl Personen als auch Geräte bezeichnen, sodass erst der
Kontext entscheidet: Bohrer, Heizer, Rechner, Schreiber, Verteiler u.a. Bis-
weilen ist eine der beiden Bedeutungen in höherem Grade usualisiert, teil-
weise im Zusammenwirken mit einem Kompositionsglied: Fahrschein-
drucker (Gerät) – Buchdrucker (Person), Scheibenwischer – Fensterputzer,
Plattenspieler – Kartenspieler. Bei Rechner hat sich in den letzten Jahrzehnten
eine Verschiebung in der Gewichtung der Lesarten vollzogen. Während das
WDG neben der Lesart ,Person‘ die Lesart ,Computer‘ an zweiter Stelle als
Neubedeutung markiert, verzeichnet Dudenband 10, 2002 nur noch die
Lesart ,Computer‘.
204 2 Wortbildung des Substantivs

Drückt die Semantik des Verbs eine nur auf Menschen beziehbare
Verhaltensweise aus, ist eindeutig eine Personenbezeichnung gegeben: Flun-
kerer, Stolperer, Stotterer.
Im Unterschied zur Personenbezeichnung ist die Geräte- bzw. Sachbe-
zeichnung nicht selten passivisch zu verstehen. Diese Bedeutung rechtfertigt
die Zuordnung der Bildungen zu den Nomina Acti (¢ 2.1.3.2): Untersetzer
,wird untergesetzt‘ – Übersetzer ,übersetzt‘, ferner Aufkleber ,aufklebbarer
Papierstreifen‘, Aufsteller ,aufstellbares Werbeelement‘, Senker ,abgetrenn-
ter Trieb von Pflanzen‘, Hefter.
1.4) Nahe stehen Bezeichnungen von Tieren, vorzugsweise Vögeln:
Laubsänger, Seetaucher, Strandläufer, Würger, Zaunschlüpfer. Zu Puter,
Tauber ¢ 2.3.2.22(7).
1.5) Basis wie 1.1); in der Regel simplizisch. Wortbildungsbedeutung:
Nomina Actionis, in einer Wortbildungsreihe ,menschliche Äußerung‘: Äch-
zer, Jauchzer, Jodler, Rülpser, Schluchzer, Schnarcher (Th. Storm; vgl. Paul
1920, 60), Nieser (H. Jobst).
Im Unterschied zu Gejodle, Jodlerei bezeichnet -er die Einzeläußerung.
Mündliche Äußerung als Tadel bezeichnen umgangssprachlich Anran-
zer/Anraunzer, Ansauser, Anschnauzer.
Manche Bildungen lassen daneben auch die Beziehung auf eine Person
zu, z.B. Lacher ,ein kurzes Lachen‘oder Ich bin Lacher (H. Böll).
Bewegungsformen, vor allem Tänze, bezeichnen Hopser, Plumpser, Dre-
her, Walzer, fehlerhafte Handlungen Abrutscher, Aufsitzer ,Reinfall‘, Fehler,
Patzer, Versager; vgl. ferner Abstecher, Stupser, Tupfer (im bunten Festpro-
gramm); Rempler; Strauchler (U. Saeger).
2) Substantivische Basis
Die desubstantivische -er-Derivation wird bisweilen als nicht mehr pro-
duktiv angesehen (vgl. Wilmanns 1899, 289; Henzen 1965, 161); doch diese
Annahmen sind inzwischen widerlegt (Scherer 2005, 151).
2.1) Hochproduktiv sind Personenbezeichnungen von exogenen Substan-
tiven auf -ik. Wortbildungsbedeutung: ,Zugehörigkeit‘ in einem weiten Sinn
– Anhänger bzw. Vertreter einer Richtung, Wissenschaftsdisziplin, z.T. auch
Berufsbezeichnung – vgl. Ethiker, Komiker, Musiker, Kritiker.
Aus solchen Derivaten hat sich die Suffixvariante -iker entwickelt, die an
Stämme (Alkoholiker, Asthmatiker, Phlegmatiker – mit den Derivations-
stammformen asthmat-, phlegmat-) und auch an Konfixe (Fanatiker, Zyni-
ker) tritt.
2.2) In diesen Zusammenhang sind heute die von Orts- und Länderna-
men, teilweise auch anderen geografischen Namen, abgeleiteten Bewohner-
bezeichnungen auf -er zu stellen. Hier liegt etymologisch allerdings nicht lat.
2.3 Suffixderivation 205

-ārius zugrunde, sondern ein germanisches Bildungselement -warja- (lat.


-uarii), das ,Gruppen, die vermutlich zu einem Herrschafts-, Verteidigungs-
oder Kultmittelpunkt gehörten‘, bezeichnete (vgl. Erben 2006, 154): Berliner,
Hamburger, Neustädter (mit Umlaut in Analogie zum Substantiv Städter);
Italiener, Österreicher, Schweizer, Kapverder.
Von Ländernamen auf -land lautet die Bewohnerbezeichnung entweder
-länder (Eng-, Isländer) oder -e (unter Tilgung von -land), vgl. Irland – Ire,
Russland – Russe (zu -e ¢ 2.3.2.1). Ländernamen auf -en, deren Bewohner-
bezeichnungen ebenfalls auf -e oder -er gebildet werden (Polen – Pole, Nor-
wegen – Norweger), tilgen das -en. Ländernamen auf -ien bilden die Bewoh-
nerbezeichnungen meist auf -er (unter Tilgung von -n): Argentinien – Ar-
gentinier, Äthiopier, Spanier, Sardinier; aber: Bulgare.
Bei deutschen Städtenamen auf -en, sofern mehr als zweisilbig, entfällt in
der Regel das -en (abgesehen von denen auf -hafen und -kirchen): Donau-
eschinger, Burghauser, Frankenhäuser, Solinger; aber Euskirchener, Friedrichs-
hafener. Bei der Mehrheit der zweisilbigen bleibt das -en erhalten: Dresdener,
Gießener, aber Bremer.
Weitere spezifische Derivationsstammformen von Onymen hängen mit
deren Lautgestalt bzw. mit fremdsprachlichen Einflüssen zusammen. Endet
die Kompositionsstammform auf einen Vokal (wie in Tokio-Reise), so wird
in der Regel der Hiat (das Aufeinandertreffen zweier Vokale) vermieden,
indem ein Konsonant eingeschoben oder das Allomorph -ner/-aner gewählt
wird: Tokio t er, Afrika ner (lat. africanus), Amerikaner, Mexikaner (aber
auch Europäer). Bei den auf -er auslautenden Städtenamen stört die Dop-
pelung -er-er; deshalb nicht *Münsterer u.Ä., sondern Münsteran er, Han-
noveran er; vgl. auch Brasilien – Brasilianer. – Andere Variationen zeigen
Damaskus – Damaszener, Florenz – Florentiner, Anhaltiner, Montenegrin er;
Verona – Veroneser, Malta – Malteser, Genua – Genueser u.a. Der Hauptak-
zent liegt auf der letzten Stammsilbe (vgl. dazu Gumirova 1981, 154ff.;
Fuhrhop 1998, 143ff.).
2.3) Produktiv ist auch das Modell mit komplexer Basis (meist Kompo-
situm), die Zugehörigkeit von Personen zu einem Betrieb o.Ä. bezeichnend:
Eisenbahner, Büromaschinenwerker, Stahlwerker, Walzwerker; Hochöfner.
Das Suffix -er ersetzt hier die Konstituente -arbeiter und verkürzt die Wort-
bildung.
Personen nach der Zugehörigkeit bezeichnen auch Gesellschafter, Gewerk-
schafter (etwas anders: Eigentümer).
2.4) Simplizische Basis für die Bildung von Personenbezeichnungen ist
heute selten. Neben älteren Bildungen wie Bürger, Krämer, Schäfer, Schüler,
Schlosser, Städter, Täter, Türmer, Reeder (16. Jh. aus Nd.) sind nur wenige
206 2 Wortbildung des Substantivs

neuere getreten wie Grenzer, Metaller, eventuell Texter (hier auch Derivation
von texten möglich, beides 20. Jh.), okkasionell Textiler (,am Textilstrand
Badender‘ im Gegensatz zu FKKler ,Anhänger der Freikörperkultur‘).
Aus dem Englischen kommen gegenwärtig zahlreiche Derivate von Sim-
plizia wie Surfer, Skater, Jobber, die entweder entlehnt oder – wenn das
entsprechende Verb bereits übernommen wurde – im Deutschen gebildet
sein können.
In wenigen Fällen stehen semantisch differenzierte Derivate mit Konver-
sionen wie Ritt, Schnitt, Schloss als Derivationsbasis neben denen mit Infi-
nitivstamm als Basis: Reiter – Ritter, Schneider – Schnitter, Schließer – Schlos-
ser.
Das Prinzip sekundärer Motivation („Verdeutlichung“; ¢ 1.5.4.1) liegt zu-
grunde, wenn teilweise noch bis ins 19. Jh -er an Fremdwörter angefügt
wird, die bereits als fertige Personenbezeichnungen ins Deutsche entlehnt
wurden (Belege nach Paul 1920, 62): Juwelierer, Officirer (Grimmelshausen),
Barbierer, Rentenirer (Nicolai), Rebeller (Hebel), Jesuiter.
Sachbezeichnungen erscheinen – bisweilen umgangssprachlich mar-
kiert – als eine Art Kurzform vor allem von Bezeichnungen für Fahrzeuge
u.Ä. (vgl. Lehnert 1986, 71ff.): Dampfschiff > Dampfer, Bomber, Frachter,
Laster; vgl. auch Münzer ,Münzfernsprecher‘ (nicht Fortsetzung von mhd.
münzer ,Münzarbeiter‘).
2.5) Stärker produktiv ist das Modell mit einem substantivischen Syntag-
ma als Basis. Wortbildungsbedeutung: ,Bezeichnung von Personen und
Tieren nach äußeren Merkmalen‘, vgl. Links-, Rechtshänder, Paarhufer,
Zehn-, Zwölfender.
An einen Teil der unter 2.4) genannten Fälle anzuschließen sind Bezeich-
nungen für Fahrzeuge wie Einachser, Zweimaster, Vier-, Fünfsitzer, Sechston-
ner.
Semantisch-onomasiologisch vereinzelt bleiben Ein-, Zweireiher (An-
zug), Vierzeiler (Gedicht), Zwölf-, Sechzehngeschosser (Wohnhochhaus).
3) Numerale als Basis
Die Basis bilden ausschließlich Kardinalzahlen. Die Wortbildungsbedeu-
tung ist unterschiedlich.
3.1) Einer, Zweier, Fünfer usw. können in bestimmten Kontexten für die
jeweilige Zahl stehen, meist mit umgangssprachlicher Markierung: ein
Fünfer im Zahlenlotto ,fünf Zahlen richtig‘, ein Zweier ,eine Zwei‘ auf dem
Zeugnis (besonders obd.).
Münzen und Geldscheine werden gekürzt nach der ihrem Wert entspre-
chenden Zahl benannt: Fünfer (in Berlin Sechser), Zehner, Zwanziger.
2.3 Suffixderivation 207

Vierer, Achter usw. sind Kurzformen für Vier-, Achtriemer, die ihrerseits
schon Kurzformen für ,Boot mit vier bzw. acht Riemen (Ruderern)‘ sind,
vgl. oben 2.5).
3.2) Die höheren Zahlen bezeichnen einen Menschen nach seinem unge-
fähren Alter: ein Dreißiger; mit Syntagma als Basis: eine Endzwanzigerin, ein
Mittvierziger.
4) Adjektivische Basis
Das Modell ist heute unproduktiv. Üblich ist allenfalls noch Gläubiger (seit
dem 15. Jh.); anders der Gläubige – ein Gläubiger (¢ 2.6.2.2).

2.3.2.5 Suffix -ler


Das Element -l- gehörte ursprünglich zur substantivischen Basis; mhd. be-
tel er (vom Substantiv betel ,das Betteln‘), satel er ergeben nach Ausfall des
unbetonten -e- der Mittelsilbe (Reanalyse, ¢ 1.6.2.4) nhd. Bett ler, Satt ler mit
Verschiebung der Sprechsilbengrenze. Daraus hat sich ein eigenes Suffix
entwickelt.
1) Substantivische Basis
1.1) Simplizische Basis ist selten, vgl. Dörfler, Häusler, Künstler, Sportler;
umgangssprachlich Postler ,Postangestellter‘, Protestler.
Es überwiegt bei weitem komplexe Basis (Kompositum oder Derivat):
Anrechtler, Ausflügler, Sommerfrischler, Erzgebirgler, Kunstgewerbler, Schwer-
gewichtler, Rohköstler; Ehrenamtler (LVZ 2010), Arbeits-, Bürger-, Völkerrecht-
ler, -kundler.
Wenig üblich sind z. B. Unzüchtler (F. Dürrenmatt), Ballungsgebietler
(E. Loest), Wortbrüchler, Winkelzügler (beide L. Feuchtwanger), Frühschopp-
ler (Weltbühne 1977), Nachtschichtler (Sonntag 1988).
1.2) Syntagma als Basis ist seltener als bei -er (¢ 2.3.2.4[2.5]), vgl. Altsprach-
ler, Dickbäuchler (Sonntag 1989), Doppelzüngler, Freiberufler, Einsilbler
neben Einsilber.
1.3) Auch Buchstabenkurzwort als Bezeichnung von Institutionen, Or-
ganisationen u. Ä. dient als Basis, begegnet allerdings relativ selten: ABMler;
¢ 2.7.3.
1.4) Als Wortbildungsbedeutung überwiegt ,Personenbezeichnung nach
Beruf oder sonstiger Tätigkeit, nach Wohnort, bestimmten Eigenschaften
oder anderer Zugehörigkeitsbeziehung‘. Einige Bildungen sind Pflanzen-
oder Tierbezeichnungen (Korbblütler, Tausendfüßler).
Die Bedeutung des Modells ist durch eine Neigung zu pejorativer Kon-
notation beeinflusst (was von Müller 1953 wohl zu stark verabsolutiert
wird); andererseits ist dies keine „irrtümliche Annahme“ (DWb 2, 377). Man
208 2 Wortbildung des Substantivs

vgl. die Konnotationen durch das Element -l- in der Verbindung -elei
(¢ 2.3.2.2[1.4]) und teilweise ironisierend bei den Verben auf -el(n)/-l(n)
(¢ 5.4.2). Der pejorative Charakter zeigt sich nicht nur in Fällen, in denen er
bereits der Bedeutung der Basis eigen ist (Halb-, Hinterwäldler), sondern
auch dort, wo er der Basis fehlt: vgl. Versöhnler unter 2).
1.5) In einzelnen Fällen steht -er neben -ler bei gleicher Basis mit semanti-
scher oder regionaler Differenzierung: Wirtschafterin – Wirtschaftlerin, Wis-
senschafter (österr., schweiz.) – Wissenschaftler. Variation ohne semantische
Differenzierung zeigen Zelter (Basis wohl zelten) – Zeltler (Basis Zelt).
1.6) Die Entfaltung des Suffixes -ler hat ihre Ursache zunächst sicherlich
nicht in dem Bestreben, von -er zu differenzieren. Es liegen andere Gründe
vor: Von Bedeutung ist, dass die substantivische Basis bei Verwendung von
-ler als Sprechsilbe erhalten bleibt, vgl. Sport ler, während bei Gebrauch von
-er abzuteilen wäre *Spor-ter. Auffällig ist ferner, dass die meisten Derivate
auf -ler eine Basis haben, die auf dentalen Verschlusslaut (-d, -t) auslautet.
Schließlich spielt natürlich auch die größere Eindeutigkeit gegenüber dem
stark polyfunktionalen -er (dies z.B. auch als Pluralsuffix) eine Rolle (vgl.
Müller 1953, 199).
2) Verbale Basis
Im Unterschied zu der dominierenden Rolle verbaler Basen bei -er tritt bei
-ler die verbale Basis, d.h. ohne -l- des Verbstamms, weitgehend zurück; nur
wenige Bildungen sind belegt, vgl. Abweichler, Ausweichler (Ch. Wolf), Ver-
söhnler. Eher auf substantivische als auf verbale Basis ist wohl zu beziehen
Umstürzler. Dieses Modell zeigt durchgehend pejorative Konnotation.

2.3.2.6 Suffix -ner


Zur Entstehung durch Verschiebung der Silbengrenze aus substantivischen
Basen auf -en (mhd. wagener > Wagner) vgl. das unter -ler Gesagte (¢ 2.3.2.5).
Das Modell ist nicht mehr produktiv. Die substantivische Basis ist in der
Regel ein Simplex, vgl. Brückner, Glöckner, Pförtner, Rentner, Söldner, Schuld-
ner, Täschner (Basis fast ausschließlich mit Plural auf -en; vgl. DWb 3, 399f.);
Büttner landschaftlich veraltet ,Böttcher‘ zu Bütte ,großes Gefäß‘.
Komplexe Basis haben Bühnenbildner; Flitterwöchner (J. Paul). Verbale
Basis und Syntagma als Basis fehlen.
Partner steht heute neben Part ,Anteil‘, sodass beide aufeinander zu be-
ziehen sind. Doch ist Part (vgl. auch halbpart seit dem 17. Jh. und Widerpart,
schon mhd.) bereits mhd. über das Französische entlehnt worden, während
Partner erst Anfang des 19. Jh. als fertige Bildung aus dem Englischen über-
nommen wurde (Paul 1992, 640).
2.3 Suffixderivation 209

Das Suffix -ner wird in manchen Arbeiten als Allomorph von -er bestimmt. Es lasse
„weder eine Spezialisierung noch Neubildungen erkennen, sodass es nicht als eigen-
ständiges Morphem betrachtet werden“ könne (Scherer 2005, 53 mit Bezug auf Eisen-
berg 1992 und Fuhrhop 1998).
Unter diachronem Aspekt nennt Erben (2006, 152) -ler und -ner „Erweiterungsfor-
men“ von -er. Er weist darauf hin, dass beide Einheiten im Unterschied zu -er fast
ausschließlich mit substantivischen Basen vorkommen. Bei Motsch (2004, 363 f.) ist
-ner einerseits Suffix an substantivischen Basiswörtern, die „einen Gegenstand“ be-
zeichnen, „mit dem sich Personen befassen“ oder über den sie verfügen (Pförtner,
Rentner), andererseits ein Allomorph zu -er an Basen auf -a, die „eine Gruppe oder
spezieller eine regionale Einheit“ bezeichnen (Primaner, Amerikaner).

2.3.2.7 Suffix -heit/-keit/-igkeit


Das Suffix -heit geht zurück auf das Substantiv mhd. heit (mask. und fem.;
Henzen 1965, 188) ,Art und Weise, Beschaffenheit, Eigenschaft, Person,
Stand‘. Es bildet feminine Substantive. Zur Geschichte des Suffixes und zur
Herausbildung der Varianten vgl. Oberle 1990, 77ff.
Nach Fuhrhop (1998, 16ff.) ist „zu fast jedem Adjektiv eine Ableitung mit
dem Suffix -heit bzw. mit seinen Varianten möglich, weitgehend ausgenom-
men sind Adjektive auf -voll, Partizipien I (*Lebendheit, aber Zutreffendheit,
Herbermann 1981, 233; Umfassendheit, Fandrych 1993, 4) sowie Partizipien
II, die nicht attributiv gebraucht werden (*Geregnetheit).
1) Adjektivische Basis
1.1) Bei adjektivischer Basis erscheint das Suffix in den drei kombinatori-
schen Varianten -heit/-keit/-igkeit. Endet die Basis auf -e (fade, müde), wird
das -e getilgt.
Die Form -keit ist aus der Verschmelzung der beiden Elemente mhd. -ec
und mhd. -heit in Derivaten wie güetecheit, trūrecheit u.Ä. entstanden (vgl.
Wilmanns 1899, 385 f.; Vordringen von -keit im Hochdeutschen seit dem
12. Jh.; Kluge 1925, 20).
Die Form -igkeit entstand als „Verdeutlichung“ von -ekeit (mhd. trūre-
keit > trūrecheit) mit Ausrichtung auf das jeweilige -ig-Adjektiv (traurig),
sodass sich eine klare Explizierung des Derivationsverhältnisses ergab. Die
Verdeutlichungsform dehnte sich auch auf Derivate aus, deren Basis kein
Adjektiv auf -ig, sondern ein Simplex ist: genau > Genauigkeit, leicht > Leich-
tigkeit. Schon in mhd. Zeit stand neben miltecheit, miltekeit ,Fülle, Reich-
tum‘ kein Adjektiv miltec, sondern milte (vgl. Paul 1920, 86; Mitte des 15. Jh.
bereits parmherzigkeit, gerechtigkeit u.a.; Kluge 1925, 20). Andere Fälle „sind
erst durch den Untergang des Adjectivums auf -ec isoliert“ (Wilmanns 1899,
387); so existieren noch die Adjektive mhd. vrümec ,tüchtig‘ (nhd. Frömmig-
210 2 Wortbildung des Substantivs

keit), viuhtec ,feucht‘, niuwec ,neu‘. Obrigkeit ist im 16. Jh. aus älterem ober-
keit (so bei Luther; vgl. auch mhd. innerkeit ,Innerlichkeit‘, ūzerkeit ,Äu-
ßerlichkeit‘) entstanden (Wilmanns 1899, 387).
1.2) Die Distribution der drei Varianten zeigt – bei gewissen Überlappun-
gen – doch recht klare Verhältnisse; sie wird durch die Formativstruktur der
Basis in Verbindung mit verschiedenen Akzentmustern bestimmt (detail-
liert dazu Kolb 1985).
Am deutlichsten zeigt dies -keit; zu dessen „Wesen gehörig“ sei es (so
schon Wilmanns 1899, 386), „dass ihm eine unbetonte Silbe voranging“.
Daher steht -keit in Verbindung mit suffigierten Basen auf -bar (Unaustilg-
barkeit), -ig (Schäbigkeit), -lich (Erblichkeit), -sam (Betriebsamkeit).
Das Modell mit einer Basis auf -isch wird – entgegen unserer früheren
Annahme – gegenwärtig wohl nicht ausgebaut. Mater (1970) verzeichnet
lediglich Bäurisch-, Linkischkeit; doch vgl. weiter Selbstisch-, Herrisch-, Welt-
männischkeit (Schlaefer 1977, 82), Spielerischkeit (Kann 1972, 290), Jüdisch-
keit (Sonntag 1988); ferner die von Kolb (1985, 162) genannten Bildungen
Mürrisch-, Störrischkeit sowie: „jene Wildheit, Unvernunft, Tierischkeit“
(Ch. Wolf); Läppischkeiten (F. Fühmann). Statt Kindischheit (W. v. Hum-
boldt) ist heute Kindischkeit zu erwarten (vgl. Eichinger 1982, 173).

Oberle (1990, 137 f.) begründet die schwache Aktivität der Adjektive auf -isch in diesem
Modell mit deren syntaktischen Eigenschaften. Nur zu prädikativ verwendbaren wer-
tenden Adjektiven werden Nomina Qualitatis gebildet, nicht aber zu Zugehörigkeits-
adjektiven (wie etwa städtisch ,zur Stadt gehörend‘ in städtische Bäder). Fuhrhop (1998,
219) nennt allerdings Städtischkeit als Übersetzung von Urbanität.

Das genannte Akzentmuster mit -keit zeigen ferner mehrsilbige simplizische


Basen vor allem auf -er (Bieder-, Bitter-, Hager-, Heiser-, Heiter-, Mager-,
Lauter-, Sauber-, Tapferkeit) und vereinzelte Fälle auf -el (Eitel-, Übelkeit).
Adjektivische Basen mit den Suffixen -en/-ern/-n und -icht verbinden sich
nicht mit -keit.
Die Variante -igkeit tritt weiter an Basen auf -haft (Ernst-, Fehler-, Glaub-
haftigkeit) und -los (Arglos-, Haltlos-, Interesselosigkeit; Weibslosigkeit bei
E. Strittmatter). Außerdem erscheint -igkeit in Verbindung mit zahlreichen
Adjektiven, die auf -e auslauten (behände > Behändigkeit, Müdigkeit, Sprö-
digkeit) oder auslauteten (Festigkeit, Süßigkeit, Dreistigkeit, Geschwindigkeit,
Leichtigkeit). Das heißt: Die Stelle des nebentonigen -e, das bei der Suffigie-
rung getilgt wird, wird durch ein anderes nebentoniges Element, eben -ig-,
besetzt, sodass vor -keit wieder eine unbetonte Silbe steht (¢ 1.7.2.2).
Wird auslautendes -e getilgt und nicht ersetzt, kommt als Suffix nur -heit
infrage (Blöd-, Fad-, Schönheit). So erklären sich weitgehend die nicht ganz
2.3 Suffixderivation 211

seltenen Wortpaare mit der Konkurrenz von -heit und -igkeit bei gleicher
Basis, z.T. ohne stärkere semantische Differenzierung (Mattheit/Mattigkeit,
Seichtheit/Seichtigkeit), z.T. aber mit deutlicher semantischer Differenzie-
rung (Kleinheit – Kleinigkeit, Neuheit –Neuigkeit).
Nicht hierher gehören Paare wie Einheit (Basis ein) und Einigkeit (Basis
einig). Zu differenzieren sind auch Paare wie Reinheit – Reinlichkeit, Vertraut-
heit – Vertraulichkeit: hier wird Vertrautheit zu sehr durch demonstrative Ver-
traulichkeiten ersetzt (Sonntag 1987).
Doppelbildungen mit -heit/-keit bei gleicher Basis existieren dagegen so
gut wie nicht (Ausnahme: Düsterheit/-keit; Kolb 1985, 160).
Am kompliziertesten zeigt sich die Distribution der Variante -heit. Diese
Derivate können dem einen wie auch dem anderen Akzentmuster folgen
(vgl. Kolb 1985, 160ff.).
a. Die Silbenfolge betont – unbetont gilt für zahlreiche Derivate mit ein-
silbiger Basis: Barsch-, Derb-, Feig-, Frech-, Hohl-, Klar-, Schlau-, Zartheit.
Das gilt auch für präfixale und kompositionale Weiterbildungen mit
diesen Adjektiven (wobei sich ja die Akzentverhältnisse verschieben): Su-
perklug-, Ungleichheit; Taubstumm-, Tollkühnheit; Schreibfaulheit; Lebens-
fremd-, Mannstoll-, Nachtblindheit.
b. Dem genannten Akzentmuster folgen auch die Derivate mit mehrsil-
biger Basis, aber Endbetonung (indigene wie exogene): Gesamt-, Gesund-,
Gewissheit; Adäquat-, Affektiert-, Borniert-, Exakt-, Korrekt-, Grandios-, Gro-
tesk-, Porös-, Saloppheit.
Mit Ausnahme der Basen auf -t werden die entsprechenden Substantive
von exogener Basis allerdings vorwiegend mit -ität gebildet (Universalität;
¢ 2.3.3.1[13]). Ob zwischen -heit/-keit/-igkeit und -ität Allomorphie ange-
nommen werden kann (so Fuhrhop 1998, 17), ist distributionell und se-
mantisch noch zu prüfen.
c. Mehrsilbige simplizische Basen, die auf Schwasilben enden, verbinden
sich hauptsächlich mit -heit: vorwiegend solche auf -en (Eigen-, Offen-, Sel-
ten-, Trockenheit), -ern (Albern-, Lüstern-, Nüchtern-, Schüchternheit), einige
auf -el (Einzel-, Dunkelheit; zur sprachgeschichtlichen Erklärung dieser „Ir-
regularität“ Kolb 1985, 161, Fn. 6) und -er (Locker-, Sicherheit). An solchen
Basen kommt aber auch -keit vor, s.o. (Sauberkeit, Eitelkeit).
Derivate von adjektivischen Basen mit den Suffixen -en/-ern/-n und -icht
werden relativ selten verwendet. Ganz ausgeschlossen von der Derivation
mit -heit, wie Oberle (1990, 277) vermutet (sie nennt als einziges Beispiel
Gläsernheit, ebd.), sind sie nicht, vgl. buddenbrookhafte Bleiernheit der Möbel
(sueddeutsche.de 2009), die Pracht funkelnder Silbernheit (Internet 2010).
Zum Adjektiv töricht findet sich gelegentlich Törichtheit.
212 2 Wortbildung des Substantivs

d. Unabhängig vom Akzentmuster wird das Partizip II (von einfachen wie


komplexen, indigenen wie exogenen Verben) stets mit -heit verbunden: Ge-
legen-, Gegeben-, Geneigt-, Gepflegt-, Gereizt-, Geschlossen-, Geübtheit; Be-
nommen-, Entschlossen-, Ergebenheit; Aufgeregt-, Ausgeglichen-, Ausgelassen-,
Übertriebenheit; Belebt-, Beliebt-, Erregt-, Verblüfft-, Zerknirschtheit; Herun-
tergekommen-, Zurückgezogenheit; Informiert-, Kompliziertheit; vgl. auch
„feudale Stehengebliebenheiten“ (I. v. Wangenheim).
e. Für sich stehen die Derivate von den Komparativformen Mehr-, Min-
derheit.
In Fällen wie Dienstbeflissenheit, Pflichtvergessenheit, Weltabgewandtheit
ist die erste Konstituente ein adjektivisches Kompositum. Zu fließenden
Grenzen zwischen Partizip und Adjektiv ¢ 3.6.2.2.
In Abwesen-, Anwesenheit sind synchron die Adjektive ab-, anwesend als
Basis zu anzusehen; sie erscheinen in der Verbindung mit -heit ohne -d;
ähnlich Zuvorkommen-, Unwissenheit.
Einige Derivate auf -keit/-igkeit sind sehr aktiv als kompositionelles
Zweitglied: -geschwindigkeit (GWDS hat 64 Komposita wie Fließ-, Durch-
schnittsgeschwindigkeit), ferner -tätigkeit (Darm-, Lehr-), -möglichkeit (Bil-
dungs-, Lebens-). Die über 150 im GWDS verzeichneten Bildungen auf -fä-
higkeit sind aber ausschließlich Derivate von Adjektiven auf -fähig (so teil-
weise auch die Bildungen auf -tätigkeit, -möglichkeit von Adjektiven auf
-tätig, -möglich): Aufnahme-, Ausdrucks-, Wandlungsfähigkeit.
1.3) In der semantischen Charakteristik der Modelle treten zwischen den
Formvarianten keine Unterschiede auf; -heit steht hier zusammenfassend
für alle drei.
Wortbildungsbedeutung: Nomen Qualitatis (z.T. in Konkurrenz mit sol-
chen auf -e bzw. diese ersetzend (¢ 2.3.2.1[2]). Eigenschaften von Menschen:
Ehrlich-, Wachsam-, Standhaftigkeit, Benommen-, Verlegen-, Zuvorkommen-
heit, Kühnheit; von Gegenständen: Belebtheit, Dunkelheit, Echtheit.
Als sekundäre Prägung (Plural möglich) Bezeichnung von Verhaltens-
weisen, Handlungen: Derb-, Frechheit, Anzüglichkeit, Schludrigkeit; ferner
von Personen: „Der Schlupf ist schon belegt, anscheinend von einer Weiblich-
keit“ (M. W. Schulz); von Gegenständen: Flüssigkeit, Köstlich-, Kostbarkeit,
Seltenheit; vgl. auch in kollektiver Bedeutung Öffentlichkeit ,Bevölkerung
außerhalb privater Sphäre‘, Obrigkeit, Geistlichkeit (nach DWb 2, 176 aller-
dings desubstantivisch von der Konversion Geistliche).
-heit ist weniger restriktiv als -e; es gibt nur wenige indigene Adjektive,
von denen weder mit -e noch mit -heit eine Substantivbildung üblich ist.
Nga (1989, 79) erwähnt rank.
2.3 Suffixderivation 213

2) Substantivische Basis
2.1) Die Variante -keit entfällt hier; es kommt fast ausschließlich -heit
infrage. Das Modell ist nur schwach produktiv und im Wortschatz mit we-
nigen Einheiten vertreten; zur historischen Entwicklung vgl. Wells 1964;
Oberle 1990, 314 ff.
Wortbildungsbedeutung: ,Kollektivum, bezogen auf Menschen‘ – Chris-
ten-, Juden-, Menschheit; Hexenheit (Goethe). Stärker produktiv ist in dieser
Bedeutung -schaft.
Daneben stehen einzelne semantisch abweichende Derivate wie Gott-,
Kind-, Narr-, Torheit. Wie Gottheit ,göttliches Wesen‘ war Menschheit im
18. Jh. noch als ,menschliches Wesen‘ üblich. Während sich hier nur die
kollektive Bedeutung erhalten hat, ist bei Gemeinheit – wohl im Zusam-
menhang mit der Bedeutungsveränderung des Adjektivs gemein (worauf die
Bildung bezogen wurde statt auf Gemeine) – die Bedeutung ,Gemeinde,
Rechtsverband‘ aufgegeben worden (vgl. Paul 1920, 85).
2.2) In wenigen Fällen sind synchron auch Derivate mit -igkeit auf ein
Substantiv beziehbar: Streit – Streitigkeit (mhd. strı̄tec ,streitsüchtig‘), Zwist
– Zwistigkeit, wobei die Derivate vor allem für den Plural zur Verfügung
stehen.
2.3) Auf andere Weise kommen Paare zustande wie Biss – Bissigkeit. Die
adjektivische Basis des substantivischen Derivats ist ihrerseits ein desub-
stantivisches Derivat: Geist > geistig > Geistigkeit. Die semantischen Bezie-
hungen zwischen den beiden Substantivtypen sind unterschiedlich.
a. Das primäre Substantiv (z.T. Konversion) bezeichnet eine einmalige
Handlung, einen bestimmten Vorgang, während das Derivat auf -keit/-
igkeit die Wiederholung oder das Potenzielle, die Anlage, Fähigkeit be-
zeichnet: Biss – Bissigkeit, Anfall – Anfälligkeit, Straffall – Straffälligkeit, Tat
– Tätigkeit.
b. Das primäre Substantiv steht als Sachbezeichnung (soweit nicht meta-
phorischer Gebrauch vorliegt) dem -keit-Derivat gegenüber: Farbe – Far-
bigkeit, Zopf – Zopfigkeit, Gift – Giftigkeit, Saft – Saftigkeit.
c. Nur geringer semantischer Unterschied besteht bei Paaren wie Eifer –
Eifrigkeit, Zufall – Zufälligkeit, Anmut – Anmutigkeit, Allmacht – Allmäch-
tigkeit. Bei mangelnder semantischer Differenzierung haben sich die
-keit-Derivate in der neuhochdeutschen Norm vielfach nicht gehalten:
Mutigkeit (Goethe, Arndt) nicht neben Mut, Neugierigkeit (Lessing, Wie-
land) nicht neben Neugier (und Neugierde) u. a. (vgl. Paul 1920, 87f.).
3) Numerale als Basis erscheint nur in vereinzelten Fällen, die immerhin
analogische Neubildungen zulassen: Ein-, Zwei-, Dreiheit; daneben das In-
definitpronomen viel in Vielheit.
214 2 Wortbildung des Substantivs

Übersicht 20: Distribution der Suffixvarianten -heit/-keit/-igkeit


(Beispiele in Klammern bedeuten seltenere Fälle; (-e) bedeutet historisches
-e, das heute abgefallen ist.)
Basis Adjektiv -heit -keit -igkeit
Simplex, einsilbig Derbheit
Simplex auf -e bzw. Müdigkeit,
(-e) Süßigkeit
Simplex auf -el (Dunkelheit) Eitelkeit
Simplex auf -en, -ern Trockenheit,
Nüchternheit
Simplex auf -er (Sicherheit) Sauberkeit
Kompositum mit Sim- Schreibfaulheit
plex
sonstige mehrsilbige Gesundheit, Sa-
Adjektive mit Endak- loppheit
zent
auf -bar Ehrbarkeit
auf -haft Lebhaftigkeit
auf -ig Flüssigkeit
auf -isch Störrischkeit
auf -lich Lieblichkeit
auf -los Kraftlosigkeit
auf -mäßig Gesetzmäßigkeit
auf -sam Furchtsamkeit
Partizip II Besonnenheit,
Gereiztheit, Ver-
zagtheit

2.3.2.8 Suffix -i
Derivationsmodelle mit dem Suffix -i zur Bildung von Personenbezeich-
nungen (Gruft > Grufti) sind derzeit hochproduktiv, v.a. in Substandard-
schichten, seltener werden Sachbezeichnungen wie Kuli, Brummi, Trabi/
Trabbi gebildet (zur Produktivität der -i-Derivation ausführlich Glück/Sauer
1997, 69ff.). Das seit dem Ahd. nachweisbare Suffix (zur Geschichte Henzen
1965, 143ff.) diente zunächst bevorzugt zur Bildung hypokoristischer
2.3 Suffixderivation 215

Formen von Personennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen (Hansi,


Hanni, Opi, Mutti; ¢ 2.3.4.1), hat sich inzwischen jedoch zu einem Suffix
außerhalb der Onomastik entwickelt, meist mit ironisch-scherzhafter, aber
auch hypokoristischer Bedeutung der Derivate (Letzteres insbesondere
beim Sprechen mit Kindern, Dressler/Barbaresi 1994, 108). Basen sind ein-
silbige bzw. auf eine Silbe reduzierte Substantive (Knasti, Schatzi, Studi <
Student, Ersti < Erstsemester, Fundi < Fundamentalist; ¢ 2.7.3), Adjektive
(Blödi, Dummi) und Verben (Schlucki, Schnaufi). Die umgangssprachliche,
teils verächtliche, teils vertraulich-wohlwollende Konnotation beschränkt
den Gebrauch der Bildungen weitgehend auf familiäre Situationen.
Köpcke (2002, 300) erklärt die gegenwärtige Beliebtheit des Modells v.a. mit phono-
logischen Eigenschaften des Outputs. Es entstehen Lexeme mit trochäischer Struktur,
was einer „phonologischen Optimierung“ gleichkomme. Gestützt werden die -i-Mo-
delle zusätzlich durch eine große Zahl zweisilbiger auf -ie oder -y endender Entleh-
nungen aus dem Englischen wie Baby, Girlie, Junkie, Hippie. Gelegentlich variiert dem-
entsprechend die Schreibung (Softi/Softie, Dummi/Dummie).
Abweichend von der Genushomogenität, über die typischerweise Suffixde-
rivate mit demselben Suffix verfügen, weist das Suffix -i seinen Outputs
unterschiedliche Genera zu. Während die modifizierten Namen und Ver-
wandtschaftsbezeichnungen das Genus der Basis übernehmen (die Rosi <
Rosemarie, Mutti, Omi; der Rolfi, Vati, Gorbi < Gorbatschow), entstehen
durch die Transpositionsmodelle in der Regel Maskulina. Wird allerdings
das grammatische Genus bei Personenbezeichnungen als Widerspruch zum
natürlichen Geschlecht der bezeichneten Person empfunden, sind zwei
Genera üblich. Der Dudenband 1, 2009 verzeichnet der/die Knacki, der/die
Ossi, der/dieWessi, aber nur der Hippie (dazu Hippiemädchen), der Junkie.
Zu -i als onymischem Suffix ¢ 2.3.4.1; zu -i beim Kurzwort ¢ 2.7.3.

2.3.2.9 Suffix -icht


Das Suffix bildet neutrale Substantive als Kollektiva:
1) von substantivischer Basis unter Tilgung des auslautenden -e, meist
Pflanzenbezeichnungen: Röhricht, Tännicht/Tannicht, Weidicht ,Ort, wo es
Rohr (Schilf) usw. gibt‘, Kräuticht veralt. von Kraut ,Abfall bei der Ernte‘
(GWDS); in Flurnamen noch Birkicht, Erlicht, Fichticht u.a.;
2) von verbaler Basis (Kehricht; Spülicht ,Menge dessen, was weggekehrt,
weggespült worden ist‘; Spülicht nach GWDS veraltend).
3) Ein Sonderfall ist Dickicht mit adjektivischer Basis dick ,dicht‘ als ,dick
bewachsene Stelle‘ (seit dem 17. Jh.), heute unterschieden von Dickung
,dicht geschlossener Jungbaumbestand‘ (15. Jh., Paul 1992, 173).
216 2 Wortbildung des Substantivs

Ein Fachwort ist deverbales Feilicht ,Abfall beim Feilen, Feilspäne‘ (im
GWDS veraltet). Außerdem begegnen expressive Okkasionalismen wie Wort-
spülicht (A. Ehrenstein), Wurmicht (F. Nietzsche).
Die Modelle sind nur noch schwach produktiv, aber die lexikalisierten
Bildungen analysierbar.
Historisch liegt ahd. -ahi, mhd. -ach, -ech vor, das sich seit dem 16. Jh. mit
dem -i-Vokal auch anderer Suffixe (-in, -ig, -isch) und mit euphonischem -t
(wie Axt, Obst) durchgesetzt hat. Das heute homonyme Adjektivsuffix -icht
(nur noch in töricht) hat andere historische Ausgangsformen.

2.3.2.10 Suffix -ling


Das Suffix -ling bildet Maskulina. Es hat sich ähnlich wie -ler (¢ 2.3.2.5) aus
Derivaten auf -ing entwickelt, deren Basis auf -l auslautete (ahd. ediling
,Edelmann‘ zu edili ,von adliger Abkunft‘; vgl. Wilmanns 1899, 372; aus-
führlich Munske 1964). Während aber -ling neben -ler und -er heute noch
produktiv ist, ist -ing im Deutschen unproduktiv geworden.
Ein anderes Suffix ist -ing in Entlehnungen aus dem Englischen. Es kennzeichnet Ver-
balabstrakta wie in Banking, Doping, Leasing u.Ä.; ¢ 2.3.3.5(3), fungiert allerdings in
deutschen Eigenbildungen im Standard bislang kaum als Suffix, von scherzhaft salop-
penBildungenmit indigenenBasenwie z.B. EM-Gruppen-Fußball-Gucking-und-Saufing
(Internet 2004) abgesehen.

1) Verbale Basis; simplizisch oder – seltener – präfigiert, gewöhnlich mit


Umlaut.
1.1) Wortbildungsbedeutung:
a. Nomen Acti; antonymisch in vielen Fällen -er: Findling – Finder, Lehrling
– Lehrer, Pflegling – Pfleger, Prüfling – Prüfer (vgl. Wellmann 1969). Als
Gegenstück zu Impfling, Liebling, Anlernling (,derjenige, der geimpft usw.
wird‘) dient das substantivierte Partizip I: der Impfende usw.
b. Nomen Acti als Sachbezeichnung: Setzling, Steckling als besondere Art
von Jungpflanzen (dazu -er nicht antonymisch, sondern synonymisch,
vgl. Senker), Pressling (ausgelaugte Rübenschnitzel), Einsprengling (in
Mineralien), Wirkling ,gewirkte Teigmenge‘ (für die Brötchenherstel-
lung).
1.2) Wortbildungsbedeutung: Nomen Agentis, vorwiegend von intransi-
tiven Verben, komplementär zu -er, das hier weitgehend fehlt; im Unter-
schied zu 1.1) synonymisch zum substantivierten Partizip I: Ankömmling –
der Ankommende (noch Kömmling bei Goethe), Eindringling, Schädling,
„Haltestellen hochdeutscher Vordringlinge“ (Th. Frings); z.T. mit pejorati-
ver Konnotation (Emporkömmling). Von reflexiven Verben: „[…] hieß der
2.3 Suffixderivation 217

Badehosenkumpel [mit der Badehose im Duschraum] Schämling“ (M. v.d.


Grün).
Eine seltene Vorgangsbezeichnung ist Bückling von bücken ,Verbeu-
gung‘ (nach GWDS ugs. scherzh.).
1.3) Ein Sonderfall mit Präteritalstamm als Basis ist Zögling, nach 1.1)
antonymisch dazu Erzieher.
2) Substantivische Basis, in der Regel simplizisch.
2.1) Wortbildungsbedeutung: ,Person nach besonderer Beziehung zu der
im Substantiv ausgedrückten Größe‘, Däumling (,klein wie der Daumen‘,
Märchengestalt), Lüst-, Genüssling (,nach Lust bzw. Genuss Strebender‘),
Söldling (dafür heute Söldner). Die Bildungen sind in der Mehrzahl pejorativ
konnotiert, vgl. Dichter-, Schreiberling.
2.2) Tier- und Pflanzenbezeichnung (meist Fische, Pilze), vgl. Gründ-,
Stich-, Strömling; Pfiffer-, Röhrling u.a. In einigen davon muss die Basis
heute als unikales Morphem betrachtet werden, wenn man nicht überhaupt
das Ganze als Simplex ansieht, vgl. Enger-, Sper-, Saibling (lachsartiger
Fisch); Ries-, Schier-, Spilling.
Ähnliches gilt für die Münzenbezeichnung Schilling (germ. *skilding
,eine Art Schild‘), während Silberling und heute nicht mehr geläufiges Kup-
ferling noch analysierbar sind.
2.3) Sachbezeichnung nach der Zugehörigkeit: Ärmling ,Ärmelschoner‘,
Fingerling ,was zum Finger gehört‘ (Schutzhülle für einen verletzten Finger),
Beinling ,Teil eines Kleidungsstückes, der die Beine bedeckt‘, Fäustling, Füß-
ling.
3) Adjektivische Basis, simplizisch.
3.1) ,Person mit durch das Adjektiv bezeichneter Eigenschaft, fast aus-
schließlich pejorativ‘, z.T. bereits im Basisadjektiv angelegt: Arglinge (Welt-
bühne 1982), Bösling (Weltbühne 1983), Dümm-, Feig-, Frech-, Primitiv-,
Rohling. Auch in dieser Hinsicht neutrale Adjektive bilden die Grundlage für
pejorative Derivate: Hübsch-, Schön-, Süß-, Zärtling; etwas anders wohl Wild-
ling. Stärker davon abzusetzen sind nur wenige Fälle wie etwa Erstling (auch
als Sachbezeichnung gebräuchlich: ,künstlerisches oder wissenschaftliches
Werk‘), Fremd-, Neuling. Dagegen wird heute Jüngling in Lesart 2) ebenfalls
mehr oder weniger pejorativ verwendet: 1) (geh.) ,noch nicht ganz erwach-
sener junger Mann‘; 2) (meist abwertend, ironisch) ,unreifer, unfertiger
junger Mann, Heranwachsender‘ (GWDS); ähnlich Naivling (GWDS ugs.
abwertend); okkasionell Unterling ,Untergebener‘ (LVZ 2010).
3.2) Bei Tier- und Pflanzenbezeichnungen fehlt die pejorative Konnota-
tion: Grünling, Gelbling (Goldammer), Frischling, Säuerling ,Saueramp-
fer‘.
218 2 Wortbildung des Substantivs

3.3) Nicht auf Lebendiges zu beziehende Derivate sind selten: Frühling


(bei Luther noch für ein im Frühjahr geborenes Lamm), Rundling (Dorf mit
kreisförmiger Anlage), Rohling (nicht nur zu [3.1]), sondern auch ,Erzeug-
nis im Rohzustand, Halbfertigprodukt‘.
3.4) Die Formativstruktur der Basis ist fast durchweg simplizisch. Adjek-
tivische Derivate werden als Basis von -ling-Derivaten durch Tilgung ihres
Suffixes „simplifiziert“ (vgl. Erben 1975, 304; Plank 1981, 136): winzig >
Winzling, zimperlich > Zimperling, ferner Jämmer-, Kümmer-, Sonder-, Wi-
derling. Kohlweißling gehört nicht hierher, sondern zu den Komposita.
4) Numerale als Basis. Mit Kardinalzahl Personenbezeichnung: Zwilling
(ahd. zwiniling zu zwinal ,doppelt‘), wobei heute die Basis als Variante von
zwei zu betrachten ist, Drilling, Vier-, Fünfling. Übertragung auf andere
Denotatgruppen zeigt Drilling ,Jagdgewehr mit drei Läufen‘.
2.3.2.11 Suffix -nis
Das Suffix -nis bildet feminine oder neutrale Abstrakta, in sekundärer Prä-
gung z. T. Sachbezeichnungen. Es erscheint in älterer Zeit mit sehr variablem
Vokalismus: ahd. -nassi (nur in manchen der ältesten Quellen), -nessi, -nissi,
-nussi mit neutralem und ahd. -nissa, -nissı̄, -nussa mit femininem Genus;
mhd. vor allem -nisse, z. T. auch -nusse (-nüsse); Weiteres zur Genese bei
Wilmanns (1899, 356ff., über den Umlaut 362); Paul (1920, 69f.).
Die Form -nis ist zunächst mittel-, die Form -nus oberdeutsch. Doch seit
dem 15. Jh. erscheint -nus „auch mitteldeutsch als Leitgraphie“ (Grammatik
des Frühneuhochdeutschen 1978, 3, 53), vgl. noch im 18. Jh. Betrübnüß
(Goethe) u.Ä. (Paul 1920, § 53). Die Genusvariation hat sich bis heute ge-
halten (von der nhd. Norm abweichende Formen bis ins 19. Jh.: die Bedürf-
nis [Lessing], die Zerwürfnis [Grillparzer], vgl. Paul ebd.), doch überwiegt
das Neutrum. Zu den Feminina gehören u. a. noch Besorgnis, Bewandtnis,
Finsternis, Wildnis. Versäumnis, für das Pekrun (1934) auch noch das Fe-
mininum kodifiziert, wird heute nur als Neutrum gebraucht. Im Falle von
Erkenntnis ist die Genusdifferenzierung mit einer semantischen Unter-
scheidung verbunden: die Erkenntnis ,Einsicht‘, das Erkenntnis ,richterli-
ches Urteil‘ (nach GWDS österr., schweiz., sonst veraltet). Umlaut tritt bei
neutralem Genus weit häufiger auf (zu 80 %) als bei femininem (zu 30 %),
vgl. DWb 2, 39).
1) Verbale Basis ist am häufigsten, besonders präfigierte; Infinitivstamm:
Bedürf-, Befug-, Begräb-, Ereig-, Ergeb-, Erlaub-, Erleb-, Verlöbnis; daneben
auch simplizische Basis: Hemm-, Hinder-, Wag-, Zeugnis; hier ist z. T. auch
eine Motivationsbeziehung auf ein Adjektiv (Fäul-, Gleichnis) oder Substan-
tiv (Schrecknis) möglich.
2.3 Suffixderivation 219

Neben dem Infinitivstamm erscheint als Basis auch der Partizipialstamm,


vor allem von starken (Begäng-, Gefäng-, Geständnis), aber auch von schwa-
chen Verben (Gedächt-, Vermächtnis). In manchen Derivaten ist das -t der
schwachen Partizipform geschwunden, sodass die Basen synchron unter
dem Infinitivstamm einzuordnen sind: für Betrübnis ist älter Betrübtnis und
Paul (1920, § 53, Anm. 2) vermutet auch ein Befugtnis. Die historisch eben-
falls aus dem Partizip hervorgegangenen Derivationsbasen von Bekennt-,
Erkenntnis sind synchron auf die Personalformen mit -t (3. Pers. Sing.,
2. Pers. Plur.) zu beziehen, ebenso das ihnen nachgebildete Kenntnis (Paul
ebd.).
Auf den Präteritalstamm des Plurals (mhd. wurfen) geht zurück Zerwürfnis.
Wortbildungsbedeutung: Nomen Actionis oder Nomen Acti mit passi-
vischer oder aktivischer Verbbeziehung; aktivisch: Gleichnis, Hemmnis,
Schrecknis ,was hemmt, gleicht usw.‘; passivisch: Erlebnis, Gelöbnis, Geständ-
nis ,was erlebt, gelobt usw. wird bzw. worden ist‘; reflexivisch: Ereig-, Besäuf-
nis.
Als sekundäre Prägung auch Sachbezeichnungen: Erzeug-, Gefäng-, Ver-
zeich-, Zeugnis.
Etwas anders sind die semantischen Beziehungen in Fällen wie Bedürfnis
,der Zustand des Bedürfens‘, Begräbnis ,der Vorgang des Begrabens, Zu-
grabetragens‘. Okkasionelle Neubildung möglicherweise: die Widernisse des
Tages (U. Saeger), zu widern ,entgegen sein, sich sträuben‘ (nach GWDS
veraltet).
Bisweilen steht daneben ein -ung-Derivat, das meist den Prozesscharakter
als Abstraktum stärker zum Ausdruck bringt: Erzeugung – Erzeugnis, Hem-
mung – Hemmnis, Ersparung – Ersparnis(se). Dieser Unterschied zeigt sich
auch darin, dass die -nis-Derivate, auch wenn sie von einem transitiven Verb
abgeleitet sind, keinen objektiven Genitiv an sich binden können (vgl.
Schippan 1967, 80): die Verdammung seines Sohnes durch ihn, aber nicht: *die
Verdammnis seines Sohnes durch ihn.
Semantisch stärker differenziert sind Paare wie Gleichung – Gleichnis,
Zeugung – Zeugnis. Synonymisch sind Verlobung – Verlöbnis, wobei aber
auch das Erstgenannte stärker den Akt, das Letztgenannte eher den Zustand
akzentuiert.
2) Substantivische Basis ist selten und wohl nicht mehr produktiv. Es
findet sich nur simplizische Basis mit geringer semantischer Differenzierung
zwischen Basis und Derivat: Bild-, Bünd-, Kümmernis.
3) Adjektivische Basis ist ebenfalls selten; vgl. die semantische Differenzie-
rung zwischen Bitternis – Bitterkeit, Wildnis – Wildheit; ferner Finster-, Ge-
heimnis.
220 2 Wortbildung des Substantivs

2.3.2.12 Suffix -s
Über die Produktivität der Modelle mit -s lassen sich nur schwer Aussagen
machen, doch ist es mit Blick auf die Verbreitung in einzelnen Dialektge-
bieten (vgl. z.B. Werner 1963/64) und die semantische Durchschaubarkeit
lexikalisierter Wortbildungen wohl nicht angebracht, den Modellen eine –
wenn auch im Standard nur schwach ausgeprägte – Produktivität gänzlich
abzusprechen. Ein Teil der Derivate ist allerdings deutlich umgangssprach-
lich markiert.
1) Es handelt sich in erster Linie um deverbale Maskulina. Substantive wie
Klecks und Taps neben den Verben klecken – klecksen und tappen – tapsen
sind entweder als Konversionen von dem durch -s- suffigierten Verb (nur so,
wo das Verb ohne -s- fehlt: fipsen ,mit Daumen und Zeigefinger schnippen‘
> Fips ,kleiner unscheinbarer Mensch‘, vgl. GWDS) oder als -s-Derivate von
dem -s-losen Verb zu erklären (z.T. anders interpretiert bei Simmler 1998,
508f.). Beide Modelle sind produktiv.
Die Bildungen sind in der Regel Nomina Actionis oder Nomina Acti:
knacken > Knacks, knicken > Knicks, merken > Merks ,Gedächtnis‘ (nach
GWDS landschaftl., besonders ostmitteldt.), mucken > Mucks, klappen >
Klaps, piepen > Pieps, schnieben (landschaftliche Nebenform zu schnauben)
> Schniebs, mitteldt. schuppen ,(an)stoßen‘ > Schubs, mundartl. schwippen
,wippen, schwappen‘ (GWDS) > Schwips ,leichter Rausch‘, mitteldt. stuppen
,stoßen‘ > Stups, vgl. Stupsnase.
Die Verben sind vielfach Schallnachahmungen; in manchen Fällen kann
daher auch von einer Interjektion bzw. dem entsprechenden Substantiv
auszugehen sein: Plumps > plumpsen, Pup/Pups ,Blähung‘ > pup(s)en.
Vereinzelt ist die Personenbezeichnung Taps ,unbeholfener Mensch‘.
Semantische Weiterentwicklung zur Sachbezeichnung zeigen mitteldt.
kloppen ,klopfen‘ > Klops, niederdt. mopen ,den Mund aufreißen‘ > Mops,
schnappen > Schnaps.
2) Vereinzelte Derivate von substantivischer Basis sind Dings (in allen drei
Genera verwendbar) ,unbestimmte Person bzw. unbestimmter Gegen-
stand‘ und das Neutrum Zeugs, ugs. abwertend für Gegenstände und Ge-
schwätz (GWDS). Ähnlich wohl auch nicht kodifiziertes Schriebs zu Schrieb
(dies als ,Schreiben, Brief‘ nach GWDS ugs., oft abwertend) und Flaps ,un-
geschliffener junger Mensch‘, wohl zu niederdt. Flappe ,schiefer, verzerrter
Mund‘ (so GWDS).
2.3 Suffixderivation 221

2.3.2.13 Suffix -sal


Das Suffix -sal, mhd. -sal (Weiteres zur Genese bei Wilmanns 1899, 275f.;
Henzen 1965, 182) erscheint heute nur in wenigen femininen oder neutra-
len Substantiven (ähnlich genusvariabel wie -nis), vor allem mit verbaler
(stets simplizischer) Basis; neutrales Genus: Lab-, Rinn-, Schick-, Wirrsal.
Substantivische, ebenfalls simplizische Basis haben die Feminina Drang-,
Mühsal; deadjektivisch ist das Femininum Trübsal. Die Modelle sind kaum
noch produktiv.

2.3.2.14 Suffix -schaft


Das Suffix -schaft gehört etymologisch zu schaffen, ahd. scaffan, dazu scaf
,Art und Weise‘, spätahd. -scaft (vgl. Wilmanns 1899, 389; Kluge 1926, 86).
Es bildet Feminina.
1) Substantivische Basis
1.1) Basis Personenbezeichnung (jedoch nicht Diminutiva), in der Regel
mit Fugenelement (¢ 2.3.2.20) bzw. Tilgung von auslautendem -e (Botschaft,
Sippschaft); simplizische oder komplexe Basis; in jüngerer Zeit auch movier-
te Feminina, z.T. mit Binnenmajuskel, als Basis (Lehrerinnen-, StudentInnen-
schaft).
Wortbildungsbedeutung: ,Kollektivum‘, vgl. Ärzte-, Bauern-, Beamten-,
Kollegen-, Nachkommen-, Studentenschaft. Fälle wie Bruder-, Mann-, Nach-
barschaft sind – mit anderer Derivationsstammform – Ausnahmen und
zudem stärker demotiviert.
1.2) Basis ebenfalls Personenbezeichnung, aber Wortbildungsbedeutung:
,Zustand, innere Beziehung‘; vgl. Freund-, Feindschaft ,Verhaltensweise, Be-
ziehung als Freund, Feind‘; vgl. weiter Autorschaft (ohne Fugenelement),
aber die Mentorenschaft über das Barockcollegium (TZ 1989), Kamerad-, Meis-
ter-, Mitwisser-, Staatsbürger-, Urheber-, Vater-, Patenschaft.
Demotiviert sind Botschaft (sowohl ,was ein Bote überbringt‘ als auch
,Vertretung in einem fremden Staat‘), Gesell-, Herr-, Wirtschaft. Wortbil-
dungsbedeutung sowohl nach 1.1) als auch nach 1.2) in Eltern-, Teilhaber-
schaft.
Formale wie semantische Differenzierung in Mitgliederschaft ,Gesamt-
heit der Mitglieder‘ – Mitgliedschaft (nach 1.2).
1.3) Substantive, die keine Personenbezeichnungen sind, erscheinen als
Basis nur vereinzelt; das Modell ist unproduktiv: Dorfschaft (schweiz.), Ort-,
Landschaft, Briefschaften (nur Plural), Gerätschaften (hier meist Plural).
Hierher bei synchroner Betrachtung auch Gewerkschaft, zu beziehen auf
Gewerk ,Handwerkszweig, besonders im Baugewerbe‘; historisch jedoch zu
222 2 Wortbildung des Substantivs

mhd. gewerke ,Handwerks-, Zunftgenosse‘ (Dudenband 7, 2007, 924). Vgl.


auch die verdeckte Personenbezeichnung Körperschaft ,Vereinigung von
Personen mit den Rechten einer juristischen Person‘.
2) Vorwiegend Partizip II als Basis. Wortbildungsbedeutung: Nomen Acti,
vgl. Errungenschaft ,was errungen worden ist‘, ähnlich Hinterlassenschaft;
stärker den Zustand akzentuierend: Gefangenschaft ,das Gefangensein‘; Be-
kannt-, Verwandtschaft; daneben auch Kollektiva.
Infinitiv als Basis: Leiden-, Liegen-, Machen-, Rechen-, Wissenschaft; alle
mehr oder weniger demotiviert.
Deverbale Wortbildungen, die sich unmittelbar an den Infinitivstamm
anschließen lassen, bleiben vereinzelt, z. B. das Kollektivum Belegschaft (ur-
sprünglich ein Ausdruck der Bergmannssprache).
Desubstantivisch oder deverbal können aufgefasst werden Bürg-, Erb-,
Liebschaft.
3) Adjektivische Basis nur noch vereinzelt; unproduktiv; bei Wilmanns
(1899, 391f.) mehr geläufige ahd. und mhd. Derivate. Heute vgl. z.B. Bar-
schaft ,bares Geld‘, Eigenschaft ,das einem Menschen oder Ding Eigene‘,
ferner Bereitschaft ,das Bereitsein‘, Schwangerschaft ,das Schwangersein‘; de-
motiviert Gemeinschaft.
4) Semantisch berühren sich mit -schaft z. T. -heit und -tum: wie 1.1)
Christen-, Menschheit, wie 1.2) Heldentum. Jedoch gibt es nur wenige Fälle,
in denen sich alle drei Suffixe mit der gleichen Basis verbinden, dann in
unterschiedlichem Maße demotiviert: Eigentum, -schaft, -heit, Mannestum,
Mannschaft, -heit. Mehrfach konkurrieren hingegen -tum und -schaft bei
gleicher Basis: Beamtentum, -schaft, Bürgertum, -schaft, Bauerntum, -schaft,
Künstlertum, -schaft, Witwentum, -schaft. Diese Konkurrenzen erstrecken
sich nur auf Derivate mit einer Personenbezeichnung als Basis. Eine gewisse
semantische Differenzierung tendiert dahin, dass die Derivate auf -tum
mehr das innere Wesen, die auf -schaft mehr den äußeren Zustand zum
Ausdruck bringen, sofern sie nicht überhaupt nur als Kollektiva gebraucht
werden. GWDS verzeichnet unter Beamtentum. ,Stand der Beamten‘ und
,Beamtenschaft‘ unter Beamtenschaft ,Gesamtheit der Beamten‘. Doch
solche Differenzierungen sind nicht bei allen Derivaten in gleicher Weise
ausgeprägt; vgl. z. B. synonymisch Jungferntum, -schaft.
Die Zahl der Derivate auf -schaft ist geringer als die der Derivate auf -heit,
und die auf -tum sind noch seltener.
2.3 Suffixderivation 223

2.3.2.15 Suffix -sel


Das Suffix -sel, historisch z.T. aus -sal entwickelt, z.T. möglicherweise aus
dem Niederdeutschen in die nhd. Literatursprache eingedrungen (so Wil-
manns 1899, 274), ist stärker produktiv als -sal. Es bildet Neutra, wo möglich
mit Umlaut. Maskulina sind als Ausnahme die – wahrscheinlich durch die
maskulinen -el-Derivate beeinflussten – Sachbezeichnungen hacken > Häck-
sel und stopfen, stoppen > Stöpsel, hier möglicherweise auch Einfluss der
Synonyme Kork, Pfropfen.
Basis sind ausschließlich Verbstämme; simplizische seltener (Rätsel, Füll-
sel), komplexe häufiger: Anhängsel, Ab-, Einsprengsel, Mitbringsel (danach:
Mitgebsel ,kleines Geschenk für Gäste beim Kindergeburtstag‘); Nachlebsel
der niedrigsten Volkssprache (Th. Frings), Überbleibsel.
Wortbildungsbedeutung: Nomina Acti – Füllsel ,was füllt‘, Mitbringsel
,was mitgebracht wird‘. Überbleibsel ist standardsprachlich, die Basis über-
bleiben aber umgangssprachlich; im Standard dafür übrigbleiben, wozu kein
entsprechendes Derivat belegt ist. Die entsprechenden -ung-Derivate haben
ausgeprägteren Prozesscharakter, vgl. Absprengung – Absprengsel.
Die Tendenz zu diminuierend-pejorativer Konnotation (Überbleibsel) ist
besonders ausgeprägt bei Zirkumfixderivation mit ge- und -sel (Geschreibsel).
Nicht so Gerinnsel, wo ge- zur verbalen Basis (gerinnen) gehört.

2.3.2.16 Suffix -tel


Das Suffix -tel hat sich durch Reduktion aus Komposita mit -teil entwickelt
(mhd. virteil ,Viertel‘). Es bildet nach produktivem Modell Neutra mit Kar-
dinalzahl als Basis, von 20 ab mit der Variante -stel (Zwanzigstel, Hundertstel).
Wortbildungsbedeutung: ,Bruchzahl‘. Kompositionsaktiv ist Viertel als
Erstglied in Bildungen wie Vierteldrehung, -finale, -jahr, -pause, -stunde; als
Zweitglied demotiviert (,Stadtteil‘) in Geschäfts-, Stadt-, Rotlicht-, Wohnvier-
tel.

2.3.2.17 Suffix -tum


Das Suffix -tum hat sich aus mhd. tuom ,Herrschaft, Urteil, Satzung, Ruhm,
Besitz, Lebensverhältnisse‘ entwickelt (vgl. Tschentscher 1958). Es bildet
Neutra (außer den Maskulina Irr-, Reichtum, zur Genusvariation vgl. auch
-nis und -sal, ferner Paul 1920, § 61, Anm. 1) nach relativ schwach ausge-
bauten Modellen.
1) Substantivische Basis
1.1) Basis ist Personenbezeichnung, in der Regel (wie bei -schaft, -wesen)
mit Fugenelement (¢ 2.3.2.20): Banditen-, Piraten- Mannestum; daneben
224 2 Wortbildung des Substantivs

auch ohne Fugenelement: Herzog-, König-, Mucker-, Schmarotzer-, Sektierer-,


Strebertum, Unternehmer-, Versöhnlertum; Mönch[s]tum.
Wortbildungsbedeutung: ,Art des Verhaltens entsprechend dem durch
das Basissubstantiv bezeichneten Begriff‘, z.T. mit kollektiver Komponente,
dann Berührung mit -schaft (¢ 2.3.2.14), z.B. Beamtentum. Die Basissub-
stantive beziehen sich oft auf negativ bewertete Begriffe wie Bürokraten-,
Denunzianten-, Epigonen-, Ignorantentum; Söldnertum (Buchtitel; B. Feld-
kircher); seltenere Fälle sind Bauern-, Menschen-, Soldatentum, vgl. auch:
„[…] Lessings Dichtertum oder Nichtdichtertum […], Dichtertum und
Schriftstellertum“ (Th. Mann).
Ist die Basis die Bezeichnung eines Herrschers oder ein ähnlicher Titel, so
kann sich das Derivat auf das Herrschaftsgebiet beziehen: Fürsten-, Herzog-
tum; anders aber Kaiser-, Königtum gegenüber Kaiser-, Königreich.
Deonymische Derivate sind – seltener – unmittelbar von einem Perso-
nennamen abgeleitet (Luthertum) oder mittelbar über die Bezeichnung für
Anhänger (Hegelianer-, Kantianertum). Häufiger begegnen Derivate von
Völkernamen: Hellenen-, Germanen-, Griechen-, Judentum mit der Bedeu-
tung: ,philosophische, religiöse oder andere ideologische Richtung‘. – Über
Deutschtum s. u. 2).
1.2) Nicht-Personenbezeichnungen als Basis sind selten. Die Derivate sind
demotiviert, das Modell ist kaum noch produktiv: Altertum (bis ins 17. Jh.
,das Altsein‘, vgl. Paul 1920, § 61), heute ,die alte Zeit‘, Altertümer auch
konkret ,Gegenstände, Realien aus der alten Zeit‘; Besitztum (synonymisch
zu Besitz wie das unter -schaft genannte Ortschaft zu Ort); Brauchtum
,Komplex von Sitten und Gebräuchen‘; Schrifttum (bei Heine 1827 als Schrif-
tenthum) vielfach „Ersatzwort“ für Literatur.
2) Adjektivische Basis begegnet nur vereinzelt; es konkurriert z.T. -heit,
das hier insgesamt weit überwiegt: Siechtum – Krankheit, Reichtum – Karg-
heit; vgl. ferner Heilig-, Eigentum. – Ein Sonderfall ist Deutschtum, seman-
tisch entsprechend den obengenannten deonymischen Derivaten ,Gesamt-
heit der für die Deutschen typischen Lebensäußerungen; deutsche Wesens-
art‘, außerdem ,Zugehörigkeit zum deutschen Volk‘ und ,Gesamtheit der
deutschen Volksgruppen im Ausland‘ (nach GWDS).
3) An verbale Basis – jedoch ohne produktives Modell – sind heute anzu-
schließen Irr-, Wachstum, spätmhd. wahstuom, möglicherweise zu einem
Substantiv ahd. mhd. wahst ,Wuchs, Wachstum‘ (Wilmanns 1899, 393); vgl.
auch okkasionell Wandertum (DWb 2, 240).
2.3 Suffixderivation 225

2.3.2.18 Suffix -ung


Das Suffix -ung, mhd. -unge (zur Formgeschichte Wilmanns 1899, 369ff.)
gehört zu den produktivsten substantivbildenden Suffixen der deutschen
Gegenwartssprache. Das Suffix bildet Feminina, weit überwiegend von ver-
baler Basis. Die vielfältigen Konkurrenzen bestimmter Wortbildungsreihen
der -ung-Derivate mit anderen Wortbildungsmodellen und auch mit syn-
taktischen Konstruktionen lassen die -ung-Derivation als eine semantisch
offene und wenig festgelegte Bildungsweise erscheinen. Sie bildet „eine Syn-
these der Wortarten ,Verb‘ und ,Substantiv‘ mit wechselnder Dominanz der
verbalen und der substantivischen Eigenschaften“ (Schippan 1967, 63).
1) Verbale Basis
1.1) Formativstrukturen der Basis
Simplex, transitiv: Bind-, Duld-, Glätt-, Röst-, Spaltung; intransitiv: Atm-,
End-, Fahnd-, Gleich-, Schwank-, Zuckung; reflexiv (seltener): Ball-, Gabe-
lung.
Präfix- bzw. Partikelverb, transitiv: Ablös-, Aufheb-, Beleb-, Einführ-, Ent-
lüft-, Erreg-, Überrasch-, Verbindung; intransitiv: Abdank-, Einwirk-, Entsag-,
Erstark-, Verrohung;reflexiv: Aneign-, Auswirk-, Bemüh-, Einbild-, Entschließ-,
Erkält-, Verbeugung. Die Modelle mit Präfix- und Partikelverb werden stär-
ker ausgenutzt als die mit Simplizia, vgl. 1.2).
Komplexere verbale Basen: Abberuf-, Anerkenn-, Auserwähl-, Einverleib-,
Verabred-, Vorenthaltung. Da die Anzahl entsprechender Verben geringer ist,
sind auch die -ung-Derivate nicht so zahlreich.
Suffigiertes Verb (meist -ig[en], -ier/-isier/-ifizier[en]): Ängstig-, Festig-,
Huldig-, Peinigung; Blockier-, Lackier-, Profilierung; Katalogisier-, Normali-
sier-, Periodisierung; Elektrifizier-, Klassifizier-, Qualifizierung.
Desubstantivisches und deadjektivisches Verb: Entsittlich-, Verstaatlich-,
Verwirklichung. Die Derivate können noch komplizierter sein; mit vier
Ebenen hat man es zu tun bei Sinnbild > sinnbildlich > versinnbildlichen >
Versinnbildlichung.
Partikelverb mit adverbialer Verbpartikel Aneinanderkoppel-, Entgegen-
stell-, Hintereinanderschalt-, Übereinstimm-; Zurückverweisung.
Verbale Basissyntagmen sind vielfach phrasemisch. Am häufigsten begeg-
net wohl Verb + Akkusativ- oder Präpositionalkomplement, vgl. Farbgeb-,
Grundsteinleg-, Indienststell-, Zugrundelegung; mit komplexem Basisverb:
Bauausführ-, Berichterstatt-, Farbzerstreu-, Wasserverdrängung.
Zwischen Komposita mit einem Derivat auf -ung als Zweitglied und
Derivaten von Syntagmen ist von gleitenden Übergängen auszugehen
(¢ 1.8.1.2). Verzichtleistung wird man eher auf das Syntagma Verzicht leisten
226 2 Wortbildung des Substantivs

als Basis zurückführen; Durchschnittsleistung dagegen eher als Kompositum


aus Durchschnitt und Leistung ansehen. Maßgebend dafür sind Geläufigkeit
und Bedeutung der Konstituenten sowie ihr Verhältnis zur Bedeutung der
Wortbildung.
Das erste Element des Syntagmas kann auch ein Partizip II, ein Adverb,
Pronomen oder Adjektiv sein, vgl. Bekanntmachung, Kenntlichmach-, Selbst-
verstümmel-, Unschädlichmachung. Damit berühren sich die Derivate von
Partikelverben wie Freistellung.
1.2) Nicht alle genannten Formativstrukturen werden in gleicher Weise
genutzt. Es gibt Vorzugsbildungen und bestimmte Einschränkungen (vgl.
Schippan 1967, 62ff.). Meier (1964) verzeichnet 1167 -ung-Derivate als
mindestens zehnmal belegt; dabei sind okkasionelle Bildungen ausgeschlos-
sen. Von diesen 1167 Derivaten hat fast die Hälfte der geläufigen -ung-De-
rivate ein Präfix- oder Partikelverb als Basis.
Demgegenüber ist in vielen Fällen das Derivat von einem verbalen Sim-
plex nicht geläufig: Anhörung – *Hörung, Besprechung – *Sprechung, Ausrau-
bung – *Raubung, Vernehmung – *Nehmung. Offenbar werden Simplizia
„mit durativer Bedeutung“ seltener als Basis verwendet (DWb 2, 213). Doch
auch die Präfix- und Partikelverben sind nicht gleichmäßig derivationsaktiv.
Vielfach fehlt das -ung-Derivat dort, wo nach einem anderen Modell gebil-
dete semantisch ähnliche Lexeme bzw. entsprechende Simplizia geläufig
sind (vgl. Wilmanns 1899, 388; Paul 1920, § 55; Schippan 1967, 62ff.):
Abgabe – *Abgebung, Verrat – *Verratung, Aussage – *Aussagung. Doch sind
durchaus auch entsprechende Parallelbildungen gebräuchlich: Auslage –
Auslegung u.a. Dabei ist mit historischen Verschiebungen zu rechnen, vgl. in
der Dresdener Geschäftssprache des 16. Jh.: mit Nehmung (,Wegnahme‘) der
Maltz; eynnen pawer (,Bauern‘) beschedigt mit Wundung (Stadtarchiv Dres-
den. Gerichtsbuch 385, 46a, 4b). Auch fachsprachlich können entsprechen-
de Derivate – entgegen dem Allgemeinwortschatz – geläufig sein: vgl. bei der
Findung des Urteils (GWDS).
Derivationsinaktiv in Bezug auf -ung sind die modalen Hilfsverben sowie
komplexe Verben aus zwei Verbstämmen (rührbraten, saugbohnern).
Was suffigierte Verben betrifft, so sind -ung-Derivate von Verben auf
-ig(en) durchgängig möglich, weitgehend auch von Verben auf -ier(en).
Weniger einheitlich verhalten sich Verben auf -el(n)/-l(n). Offensichtlich
haben zahlreiche Verben mit diminuierender oder diminuierend-iterativer
Bedeutung eine geringe Derivationsaktivität, vgl. lächeln, sticheln, tröpfeln,
hüsteln, kränkeln u.a. (doch Partikel- und Präfixverben: Einträufelung, Ver-
ästelung). Blockiert ist die Derivation auch bei Verben onomatopoetischen
Charakters wie lispeln, murmeln u.Ä.
2.3 Suffixderivation 227

1.3) Die Wortbildungsbedeutung der -ung-Derivate ist durch die Ausbil-


dung verschiedener Wortbildungsreihen gekennzeichnet. Vielfach ist ein
und dasselbe Derivat mehrdeutig. Die Derivate müssen allerdings nicht alle
Lesarten des Basisverbs aufnehmen (¢ 1.5.4.3). Das Derivat Deckung über-
nimmt vom Basisverb decken die Lesarten ,Nachfrage befriedigen‘ (Deckung
des Bedarfs), ,Schutz gewähren‘ (Deckung des Rückzugs), ,für etwas aufkom-
men, Sicherheit gewähren‘ (Deckung des Wechsels), nicht jedoch ,etwas deckt
sich mit etwas‘ (*Deckung der Dreiecke).
a. Wortbildungsbedeutung: Nomina Actionis mit den vom Verb ererbten
Merkmalen der Transitivität und der Temporalität. Die Basis bilden transi-
tive Verben. Das Akkusativkomplement des Verbs erscheint beim -ung-De-
rivat als Genitivattribut, das Agens wird mit durch angeschlossen. Die mög-
liche Verbindung mit einer Temporalpräposition weist auf die bewahrte
Zeitlichkeit: Der Lehrer behandelte dieses Problem – während der Behandlung
dieses Problems durch den Lehrer; ähnlich während der Ausarbeitung der Vor-
tragskonzeption, der feierlichen Auszeichnung der Absolventen u.v.a.
Beschränkungen bzw. Modifikationen in der „Argumentvererbung“
(Olsen 1986a, 78ff.) zeigen sich z.B. auch bei transitiven Verben darin, dass
sich ihr Akkusativobjekt dem -ung-Derivat nicht als Genitivattribut anfügen
lässt: Er hat gute Arbeit geleistet – *seine Leistung guter Arbeit (wohl aber: seine
gute Arbeitsleistung); vgl. ferner Bekanntmachung, Bemerkung, Fälschung,
Meldung, Verfügung u.Ä. Hier überwiegt offenbar die Bedeutung als Nomen
Acti (s.u.).
Die gleiche Wortbildungsbedeutung prägen aus – z.T. mit demselben
Basisverb –: Derivate auf -e, deverbale Konversionen sowie Derivate auf
-ion/-tion/-ation; dazu kommen Derivate auf -t (Fahrt), Bildungen nach
einem heute unproduktiven Modell.
Die Derivate auf -e neben denen auf -ung (Eingabe – Eingebung, Niederlage
– Niederlegung) haben sich teilweise zu Nomina Acti weiterentwickelt oder
sind demotiviert.
Die Derivate auf -ion/-tion/-ation sind an Verben auf -ier(en) gebunden:
Assimilierung – Assimilation, Proklamierung – Proklamation. Die konkurrie-
renden -ion/-tion/-ation-Derivate tendieren stärker zur Ausbildung der
zweiten Lesart als Nomina Acti: Klassifikation ist das Ergebnis der Klassifizie-
rung usw.; Delegierung (nur Prozess) – Delegation (Prozess und Ergebnis,
Nomen Actionis und Nomen Acti). Bei indigener Basis übernimmt -ung
beide Lesarten: Abordnung u.Ä. Weiteres dazu s.u.
Bei den Paaren Konversion einerseits und -ung-Derivat andererseits ten-
dieren die -ung-Derivate stärker zur Ausbildung von Nomina Acti: Erwerb
,Prozess des Erwerbens‘ – Erwerbung ,was erworben wurde‘. Steht neben der
228 2 Wortbildung des Substantivs

Konversion kein paralleles -ung-Derivat, kann auch den Erstgenannten die


Bedeutung als Nomen Acti zukommen: Ertrag, Vertrag. Bisweilen sind die
unterschiedlichen Bildungsweisen an verschiedene Lesarten des Basisverbs
gebunden: Vertreibung (,forttreiben‘, bezogen auf Lebewesen) – Vertrieb
(,verkaufen‘, bezogen auf Waren);¢ 1.5.4.3.
Kombinationsbeschränkungen von Infinitivkonversionen bzw. -ung-De-
rivaten zugunsten des jeweils anderen Modells finden sich in Funktions-
verbgefügen: eine Untersuchung vornehmen, ins Schwanken kommen. Au-
ßerhalb von Funktionsverbgefügen kommt es allerdings nicht selten zu syn-
onymischem Nebeneinander: während intensiven Untersuchens/intensiver
Untersuchung (vgl. Schäublin 1972, 40ff.).
b. Wortbildungsbedeutung: Nomina Actionis. Die Basis bilden intransi-
tive (z. T. reflexive) Verben; die Möglichkeit der Temporalpräposition ist
gegeben. Das Agens wird nicht mit durch, sondern als Genitivattribut (bzw.
ersatzweise mit von) angeschlossen: Das Flugzeug landet – während der Lan-
dung des Flugzeugs; vgl. Entstehung von Schwierigkeiten, Herausbildung der
Nationalsprache. Auch hier sind syntaktische Modifikationen zu beachten:
Präpositionale Rektion wird in der Regel vom Derivat in gleicher Weise
übernommen: Er bewirbt sich um die Stelle – seine Bewerbung um die Stelle.
Anders aber bei Dativkomplementen: Er entfremdet sich seinen Eltern – seine
Entfremdung von seinen Eltern.
Die Konkurrenz anderer Bildungsweisen ist hier weniger ausgeprägt, vor
allem ist auf die Infinitivkonversion hinzuweisen: bei der Entstehung/dem
Entstehen von Schwierigkeiten, während der Schwankung/des Schwankens der
Stromspannung. Die -ung-Derivate fassen im Unterschied zu den Infinitiv-
konversionen den Vorgang profilierter; er lässt sich vereinzeln und in vielen
Fällen lässt sich dann durch den Plural die Wiederholung mehrerer Einzel-
akte ausdrücken (Landungen, Schwankungen), während der substantivierte
Infinitiv in diesen Fällen nur ein ständiges Kontinuum auszudrücken ver-
mag. Das komplementäre Verhältnis beider Bildungsweisen zeigt sich auch
in unterschiedlichem Kompositionsverhalten: bei Erscheinen des Buches,
aber: Erscheinungsort, -jahr (nicht *Erscheinensort), Neuerscheinung.
In einem ähnlichen Verhältnis stehen auch die Paare von Verbstamm-
und Infinitivkonversion: der Ruf – das Rufen, der Zerfall – das Zerfallen.
c. In vielen Fällen findet sich eine ausgeprägte Verflechtung von Nomen
Actionis und Nomen Acti in der Bedeutungsstruktur eines Derivats: Schwä-
chung des Körpers, Verfeinerung der Sitten, ferner Abdichtung, Entblößung,
Rettung, Sättigung, Stärkung u.a. Der Gebrauch einer Temporalpräposition
ist an die Bedeutung Nomen Actionis gebunden.
2.3 Suffixderivation 229

Die sich mit der Bedeutung des Nomen Acti ergebende Beziehung zwi-
schen -ung-Derivat und Partizip II (die gute Übersetzung des Romans – der
Roman ist gut übersetzt) ermöglicht Synonymie zwischen -ung-Derivat und
departizipialem -heit-Derivat: Aufregung – Aufgeregtheit, Verstimmung –
Verstimmtheit. Diese Tendenz ist umso stärker, je mehr die als Basis der
-heit-Derivate dienenden Partizipien adjektivischen Charakter haben (des-
halb nicht: *Übersetztheit u.Ä.; vgl. Schäublin 1972, 49 ff.). Hier bietet sich
auch ein Ausweg aus der starken Polysemie der -ung-Derivate.
Weitere Möglichkeiten der Differenzierung liegen in der substantivieren-
den Konversion infinitivischer Syntagmen: statt Auslieferung – das vollkom-
mene Ausgeliefertsein bzw. das Ausgeliefertwerden.
d. Nomina Acti: eine Sammlung von Briefmarken, verwertbare Erfindung,
Erfrischung, Lenkung ,Lenkvorrichtung‘, Kupplung u.v.a.
In Abhängigkeit von der Semantik des Basisverbs (insbesondere bei ver-
balen Ornativa) hat sich ein Modell der Bildung von Kollektiva entwickelt
(vgl. DWb 2, 181 f., dort Hinweis auf Fachwortschätze): Bekleidung ,Ge-
samtheit der Kleidungsstücke‘, Dielung ,Gesamtheit der Dielen‘, ähnlich
Bebilderung, Bestuhlung, Bewölkung, Bezifferung ,Gesamtheit der Ziffern‘,
Schaltung, Täfelung, Takelung u.a.
Das -ung-Derivat tritt hier auch als verdeckte Personenbezeichnung auf,
meist ebenfalls als Kollektivum, z.T. aber auch auf Einzelpersonen bezogen,
vgl. Abteilung, Bedienung, Führung, Leitung, Regierung, Vereinigung, Vermitt-
lung, Vertretung, Begleitung. Ein Teil dieser Derivate hat eine lokale seman-
tische Komponente: Die Abteilung (,Stelle‘) ist heute geschlossen; vgl. auch
Ansiedlung ,Ort‘, Niederlassung, Wohnung, Mündung.
Angesichts der großen Zahl der polysemen Bildungen lässt sich u.E. nicht
von mehr oder weniger gelegentlichen Bezeichnungsübertragungen der fer-
tigen Derivate sprechen, sondern es liegen jeweils spezifische Bildungsmo-
delle der -ung-Derivation vor. In Fällen wie Kupplung und Täfelung ist der
Weg über eine Vorgangs- bzw. Handlungsbezeichnung zudem zweifelhaft.
2) Substantivische Basis begegnet in einem allenfalls noch schwach pro-
duktiven Modell als Kollektivum, vgl. Holzung, Satzung, Stallung, Waldung,
Wandung. Demotiviert ist Zeitung. Die Basis bilden ausschließlich Simplizia.
3) Adjektivische Basis – ein unproduktives Modell – ist in synchroner
Sicht anzusetzen bei Dickung, Niederung, vielleicht auch Wüstung (wüst statt
Wüste ?).
4) Nicht wenige -ung-Bildungen sind heute völlig demotiviert und die
Herstellung der Motivationsbeziehungen des Grundmorphems macht
Schwierigkeiten. Entweder ist das als Basis dienende Wort (meist ein Verb)
230 2 Wortbildung des Substantivs

im freien Gebrauch nicht mehr üblich oder es handelt sich um eine jüngere
Entlehnung. Vgl. Innung zu mhd. innen ,in einen Verband aufnehmen‘,
Losung ,Erkennungswort‘ zu mhd. lōzen ,ein Los ziehen‘, Schöpfung zu mhd.
schepfen ,(er)schaffen‘ (wozu Schöpfer, schöpferisch), Böschung zu aleman-
nisch Bosch ,Strauch‘, Dünung ,Seegang nach Sturm‘ zu niederdt. dūnen
,auf und nieder wogen‘ (vgl. Dudenband 7, 2007, 364, 494, 736, 107, 161).

2.3.2.19 Suffix -werk


Im Unterschied zu Zweitgliedern wie -gut und -zeug (¢ 2.2.1.5.1) betrachten
wir -werk (ebenso -wesen; ¢ 2.3.2.20) auch weiterhin (vgl. Fleischer 1969b,
162) als Suffix. In den Wortbildungsreihen mit dem Suffix -werk (neben
dem als Homonym das Substantiv Werk als Zweitglied in Komposita wie
Chemiewerk fungiert) hat sich dies so weit vom Bedeutungskomplex des
Substantivs Werk ,Schaffen, Handlung, Tat, Geschaffenes, Fabrik‘ gelöst
(dazu bereits Wilmanns 1899, 555 f.), dass der Status eines Suffixes anzu-
nehmen ist. Das Element -werk kann in diesen Fällen nicht mehr die ganze
Wortbildung vertreten, was bei den Determinativkomposita die Regel ist.
Die Derivate haben wie die Komposita neutrales Genus.
1) Substantivische Basis, Wortbildungsbedeutung: ,Kollektivum‘.
Als Basis werden bevorzugt Bezeichnungen von Pflanzen und Pflanzenteilen
(Ast-, Blatt-, Blätter-, Busch-, Kraut-, Kräuter-, Laubwerk) und von Stoffen
(Leder-, Pelz-, Zuckerwerk) benutzt, die nicht unmittelbar auf menschliche
Tätigkeit Bezug nehmen (wie dies für das freie Substantiv Werk gilt). Da-
neben stehen allerdings auch Fälle wie Balken-, Dach-, Gitter-, Mauer-,
Schuhwerk (dies neben -zeug). Personen- und Tierbezeichnungen fehlen als
Basis; seltener sind Abstrakta wie in Formel-, Regelwerk.
Die Textfrequenz derartiger Derivate wird als gering bezeichnet (DWb 2,
165).
2) Verbale Basis, Wortbildungsbedeutung: Nomen Acti, auch konkrete
Sachbezeichnung: Bauwerk ,was gebaut worden ist‘, ebenso Back-, Schnitz-,
Strickwerk. Synonymisch dazu Derivate auf -ei/-erei wie Schnitzerei, bei dem
allerdings die Bedeutung als Nomen Actionis dominiert.
In manchen Fällen (Bild-, Dichtwerk) ist die Abgrenzung zwischen Kom-
positionsglied und Suffix problematisch. Das gilt insbesondere für Bildun-
gen mit Verbstamm oder Verbalsubstantiv als Erstglied, die eine Gesamtheit
funktionierender Maschinenteile bezeichnen: Gang-, Lauf-, Schlag-, Schöpf-,
Triebwerk. Dabei besteht partiell eine komplementäre semantische Relation
zu -gut: Mahlwerk ,was mahlt‘ – Mahlgut ,was zum Mahlen bestimmt ist/
gemahlen wird‘, ähnlich Rührwerk – Rührgut.
2.3 Suffixderivation 231

2.3.2.20 Suffix -wesen


Das Suffix -wesen hat sich aus dem kompositionell gebrauchten substanti-
vierten Infinitiv des Verbs sein, ahd. wesan, entwickelt: mhd. wesen ,Aufent-
haltsort, Art zu sein‘. Es bildet Neutra. Fugenelemente treten auf wie bei
Komposita (¢ 2.2.12), was aber auch bei anderen Suffixen gilt (-schaft, -tum).
Basissubstantive auf -e haben meist -n (Hütten-, Rentenwesen). Hat das Sub-
stantiv keinen Plural, fehlt ein Fugenelement (Fürsorgewesen). Substantive
mit Pluralzeichen -e haben ebenfalls -e in der Fuge, gegebenenfalls mit
Umlaut (Städte-, Ständewesen). Von dem frei gebrauchten Substantiv das
Wesen ,kennzeichnende Eigenschaft einer Person, Erscheinung oder Sache,
lebendes Individuum‘ ist das Suffix -wesen semantisch stark differenziert
(vgl. Fleischer 1969b, 163 f. mit Hinweis auf entsprechende Abstufung von
-gut, -zeug, -werk).
Das Derivationsmodell mit -wesen fungiert in der Regel mit simplizischer
oder komplexer substantivischer Basis, vorwiegend Abstrakta, seltener Per-
sonen- und Sachbezeichnungen.
Wortbildungsbedeutung: ,Kollektivum‘, ,Gesamtheit der Einrichtungen
oder Vorgänge, die zu einem Oberbegriff gehören‘, vgl. Film-, Flug-, Kredit-,
Rechts-, Schulwesen; Bibliotheks-, Bildungs-, Erziehungs-, Gesundheits-, Kran-
kenhaus-, Gießerei-, Rechnungs-; Hochschul-, Sozialversicherungs-, Wortbil-
dungswesen (v. d. Gabelentz), Privilegienwesen (Der Spiegel 1989).
Verbale Basis liegt vor in Melde-, Werbewesen. Adjektivische Basis fehlt.
Die Derivate sind Wörter der Verwaltung. Sie bezeichnen vor allem Teil-
bereiche des Organisationsapparats – nicht selten auch dort, wo die Basis
allein dazu auch ausreichte: Bildung, Sozialversicherung, Verwaltung. Die
Derivate auf -wesen sind allerdings stärker monosem als die Basisabstrakta.
Das Modell „ist um 1800 schon recht produktiv“, reicht aber noch weiter
zurück (DWb 2, 183).
2.3.2.21 Diminutivsuffixe

1) Diminuierung und Augmentation entsprechen einander als Verkleine-


rungs- bzw. Vergrößerungsbildung. Im Unterschied aber z.B. zu den ro-
manischen und den slawischen Sprachen kennt das Deutsche ein ausgebau-
tes System spezieller Wortbildungsaffixe nur für die Diminuierung. Die
Augmentation wird – wie die Diminuierung noch zusätzlich – im Wesent-
lichen durch das Kompositionsprinzip geleistet (¢ 2.2.2.3.3), wobei auch exo-
gene Konfixe beteiligt sind (¢ 2.2.8); des Weiteren sind bestimmte Wort-
bildungsreihen einzelner Präfixe (un-, erz-) zu nennen. Zum Vergleich von
Diminuierung und Augmentation in verschiedenen europäischen Sprachen
vgl. Würstle 1992, Dressler/Barbaresi 1994; Donalies 2005a.
232 2 Wortbildung des Substantivs

Diminutivsuffixe begegnen – mit semantischen Abschattungen – auch


beim Adjektiv (,graduierend‘ bläulich), beim Verb (,diminutiv-iterativ‘ hüs-
teln) sowie bei Grußpartikeln (ugs., v.a. in gesprochener Sprache, hallöchen;
vgl. Wiese 2006). Hier geht es jedoch zunächst nur um die Diminutivsuffixe
des Substantivs.
In ihrer Masse vertreten die Diminutiva die Wortbildungsart der sub-
stantivischen Derivation; die Basis ist ein Substantiv und das Derivat eben-
falls. Jedoch auch die Transposition mit Wortartwechsel (vor allem Adjektiv
> Substantiv wie Dummchen) fehlt nicht völlig.
Nicht nur in den Dialekten, von denen manche über eine Fülle von Di-
minutivsuffixen verfügen, sondern auch in der Standardsprache stehen
mehrere Suffixe zur Verfügung. Die wichtigsten sind -chen und -lein; eine
gewisse Rolle spielen auch -el, -le und -ke sowie einige Fremdsuffixe. Abge-
sehen von den Fremdsuffixen bilden die Diminutivsuffixe Neutra. Generelle
Beschränkungen für die Diminuierung gelten für die meisten Derivate
(außer -el und -er, dazu s.u.). Diminuierbar sind auch manche Pluraliatan-
tum (Geschwisterchen, Leutchen).
Das Suffix -chen, mhd. -chı̄n, ist entstanden durch Erweiterung des Suf-
fixes -ı̄n mit -ch-, niederdt. unverschoben -k-; es ist nicht diphthongiert zu
-chein, da -ı̄ gekürzt und dann zu -e- abgeschwächt wurde.
Das Suffix -lein, mhd. -lı̄n, ist entstanden durch Erweiterung von -ı̄n mit
-l- und anschließender Diphthongierung. So stehen nebeneinander Häus-
chen – Häuslein, Briefchen – Brieflein.
2) Die Verwendung von -chen und -lein zeigt phonologisch bedingte sowie
diatopische und wohl auch textsortenbedingte Unterschiede (prinzipiell zu
diesen Fragen Ettinger 1980; DWb 2, 127ff.).
Phonologische Unterschiede (zu phonologischen Bedingungen für Affix-
variation vgl. Plank 1981, 41; Würstle 1992, 57): An Substantive auf -l/-le
tritt -chen (sofern nicht -el den Auslaut bildet wie in Vogel, dazu s.u.), vgl.
Keul-, Röll-, Seel-, Spielchen. An Substantive auf -ch, -g und -ng tritt in der
Regel -lein: Bäch-, Ring-, Tüch-, Zweiglein; Flüchlein (LVZ 2010). Das Zu-
sammentreffen von -sch mit -ch stört dagegen nicht in Bröschchen (F. J.
Degenhardt), Fläschchen, Täschchen (doch Menschlein). Substantive auf -el
lassen -chen wie -lein zu (ausführlich dazu aus der Sicht einer „resultatsori-
entierten Beschreibung“ Plank 1981, 155 ff.), bei Verwendung von -lein wird
der unbetonte Zwischenvokal -e- in der Regel (seltener: Engelein u.Ä.) ge-
tilgt: Englein – Engelchen, Mäntlein – Mäntelchen, Spieglein – Spiegelchen
(aber: Eselein, dazu Plank 1981, 157); doch Decklein – Deckchen zu Decke,
Deckelchen (nicht: Decklein) zu Deckel.
2.3 Suffixderivation 233

Substantive auf -e oder -en tilgen diesen Auslaut: Kiste – Kistchen,


Zapfen – Zäpfchen; Auge – Äuglein, Wagen – Wäglein.
Umlaut des Stammvokals der Basis tritt in Verbindung mit -lein stets ein,
unterbleibt dagegen in Verbindung mit -chen in bestimmten Fällen, z.B. in
einer Reihe von Rufnamen und ihnen nahe stehenden Personenbezeich-
nungen (Karlchen, Kurtchen, Dorchen, Trudchen, Muttchen, Onkelchen, Frau-
chen, aber Männchen, Fräulein). Auch bei Fremdwörtern steht in Verbin-
dung mit -chen vielfach Umlaut: Histörchen; Romänchen (V. Ebersbach), des
Bastärdchens (Th. Mann).
Geografische Differenzierung (zu Geografie und Geschichte vgl. Tiefen-
bach 1987): -lein ist vor allem oberdeutsch beliebt; die oberdeutschen
Mundarten kennen eine ganze Reihe von Varianten des -l-Diminutivums
(Rössel, Messerle, Raderl ,Rädchen‘, Blättli u.a.). Standardsprachlich ist
heute -chen am weitesten verbreitet, aber oberdeutsche Schriftsteller zeigen
bisweilen einen stärkeren Anteil von -lein-Bildungen. So verwendet H. Hes-
se in einem seiner frühen Romane („Gertrud“ 1910) 11 Wortbildungen mit
-lein (z.B. Bahnhöf-, Zimmerlein) neben 10 mit -chen. In späteren Werken ist
Hesses Sprache weniger oberdeutsch gebunden; „Narziß und Goldmund“
(1930): -chen : -lein = 61 : 14, „Das Glasperlenspiel“ (1943): 48 : 3.
Textsortenbedingte Differenzierung: Größere Textkorpora verschiedener
Textsorten lassen insgesamt ein Verhältnis -chen : -lein = 4 : 1 (im WDG,
Buchstaben A–H = 3 : 1) erkennen. Was Unterschiede nach bestimmten
Textsorten betrifft, so sinkt die Frequenz von -lein „von Märchen und Bal-
lade über die Erzählung und den Roman bis zu Dramatik und Lyrik“ (DWb
2, 131, 133). In einer Ausgabe von Grimms Märchen findet Scheidweiler
unter 508 -chen- und -lein-Bildungen 52,2 % mit -lein und in einer Samm-
lung luxemburgischer Kinderlieder unter 85 Diminutivbildungen sogar
73 % mit -lein, woraus er – zumindest für diese Sprachlandschaft – den
Schluss zieht (gestützt noch durch eine Reihe von Tests), dass dem Suffix
-lein eine Konnotation ,poetisch‘ und ,märchenhaft‘ zuzusprechen sei
(Scheidweiler 1984/85, 78 f.).
Semantische Differenzierung besteht zwischen -chen und -lein nur in ei-
nigen Fällen unterschiedlich starker Demotivation: Männchen und Weibchen
beziehen sich auch auf Tiere, Männlein und Weiblein nur auf Menschen; vgl.
ferner Frauchen – Fräulein, Fähnchen – Fähnlein ,Truppeneinheit‘ (histo-
risch).
3) Das Diminutivsuffix -chen tritt auch erweitert als -elchen und -erchen
auf.
-elchen, entstanden im Anschluss an Bildungen wie Vögelchen, wo -el zur
Basis gehört, sowie wohl auch durch Anfügung an landschaftlich diminu-
234 2 Wortbildung des Substantivs

ierendes -el („potenziert“) wie Buch > Büchel > Büchelchen, erscheint
schließlich auch in anderen Fällen: Blümelchen, Sächelchen (Goethe), Schlän-
gelchen (A. Seghers), Fenstervorhängelchen (M. W. Schulz), Schlägelchen
,leichter Schlaganfall‘, Löchel-, Wägelchen u.a. Dieses Modell ist für Mittel-
deutschland schon im 14./15. Jh. nachweisbar (Kluge 1925, 30).
-erchen (wie in Prösterchen) entstand in Anlehnung an
a. Fälle wie Äckerchen, Hämmerchen (-er = Basisauslaut);
b. Derivate von Pluralformen wie Dinger-, Kinderchen (Wörterchen bei Her-
der);
c. deverbale Derivate auf -er (Rülpserchen).
Damit ist die Möglichkeit diminuierender Derivation von verbaler Basis
geschaffen (Schmeckerchen, s.u.).
4) Zum meist hypokoristischen Suffix -i ¢ 2.3.2.8.
5) Die übrigen Diminutivsuffixe spielen – wie angedeutet – in der Stan-
dardsprache nur eine geringe Rolle; sie sind an bestimmte Lexeme gebun-
den.
So erscheint -el in Bündel, Büschel (Gras-, Haar-), Krümel, Ränzel (< Ran-
zen), Stadtsäckel (vereinzeltes Maskulinum; ebenso landschaftlich der Han-
sel); nur in Komposita z.B. Bänkelsänger (,der von einer Bank aus seine
Moritaten vortrug‘), Heinzelmännchen (zum Personennamen Heinz), Rös-
selsprung.
Okkasionell werden expressivitätssteigernd einzelne oberdeutsche Bil-
dungen auf -le in Publizistik und Belletristik verwendet: Heimat. Zuhause-
sein […] Häusle und Ländle (Sonntag 1989); usuell geworden sind Häusl-
bauer/Häuslebauer. Ländle verzeichnet Dudenband 1 (2009, 670) als
„landsch[aftliche] Bez[eichnung] für Baden-Württemberg od[er] Vorarl-
berg“.
Niederdeutschen Ursprungs ist -ke (vgl. Familiennamen wie Hartke), z.T.
diminuierend in Appellativa wie Steppke (¢ 2.3.4.4).
Von den Fremdsuffixen haben z.T. diminuierende Funktion (nur in Ver-
bindung mit Fremdwörtern, meist Feminina) -ine (Sonate – Sonatine, Viola
– Violine), -ette (Oper – Operette, Zigarre – Zigarette, Statue – Statuette),
vereinzelt -it (Meteor-it, Maskulinum). Die Basis von Bildungen auf -elle ist
im Deutschen synchron unanalysierbar, doch ist diminuierende Bedeutung
erkennbar in Fällen wie Novelle ,kleine Erzählung‘ (seit 1523), Bagatelle
,Kleinigkeit‘ (1688), Frikadelle ,kleiner Fleischkloß‘ (1692) u.a.
6) Wie bereits erwähnt, können substantivierende Diminutivsuffixe bis-
weilen auch an eine Basis anderer Wortart treten, vor allem an Adjektive:
Frühchen ,Frühgeborenes‘, Dumm(er)chen, Grauchen ,Esel‘, Bräunchen
2.3 Suffixderivation 235

,Mädchen mit braunem Haar‘ (Goethe), so ein Kleinchen (Th. Mann), Groß-
chen ,Großmutter‘ (regional in Hessen), vgl. auch den Märchentitel „Schnee-
weißchen und Rosenrot“ (niederdt. Schneewittchen); ferner über substanti-
viertes Adjektiv Alterchen, Dickerchen, mein Besterchen (M. W. Schulz).
Deverbale Diminutivbildung ermöglicht -erchen: Nickerchen (zu ein-
nicken ,einschlafen‘), Schmeckerchen ,Leckerbissen‘.
Substantiviertes Pronomen als Basis: Ichlein (Erben 1976a, 230).
7) Die Wortbildungsbedeutung der Diminutiva ist nicht nur ,Verkleine-
rung‘, sondern die Derivate (und zwar nicht nur Personenbezeichnungen
und sonstige Konkreta, sondern auch Abstrakta) erhalten in Verbindung
damit eine emotionale Konnotation, vgl. Städtchen gegenüber kleine Stadt,
Kleinstadt (Dressler/Barbaresi 1994). Unter diesem Gesichtspunkt sind auch
Rieslein und Zwerglein möglich (vgl. Plank 1981, 94). Die Konnotation kann
emotional-positiv (Mütterchen, Küsschen, Händchen, Kätzchen, ein Wein-
chen!) oder emotional-negativ, pejorativ sein: Muttersöhnchen (dazu Vater-
söhnchen, Th. Mann), Bürschchen, Freundchen, Jüngelchen, du Kavalierlein
(E. Strittmatter), sein persönliches Rühmlein (L. Feuchtwanger). Welcher Art
die ausgedrückte Konnotation in der Verwendung ist, hängt ganz wesentlich
vom Kontext ab (Wolf 1997, 395 f.).
Die emotionale Konnotation behalten die Diminutiva auch bei adjekti-
vischer und verbaler Basis, nicht jedoch als Termini wie Elementarteilchen,
Blutkörperchen.
Hervorhebenswert ist die besondere Rolle des Diminutivsuffixes (in der
Regel -chen) bei Stoffbezeichnungen; es bewirkt hier eine Abgrenzung, Ver-
einzelung: Stäubchen ,Einzelteil von Staub‘, Lüftchen ,kleiner Luftzug‘, Zu-
ckerchen ,kleines Stück Zucker‘. Sie werden damit auch pluralfähig. In Hölz-
chen ,kleines Stück Holz‘, Gläschen ,kleines Trinkgefäß aus Glas‘ hat bereits
die polyseme Basis entsprechende Bedeutung.
Wie die meisten Diminutiva auf -el (s.o.) ist auch ein Teil derjenigen auf
-chen und -lein demotiviert: Veilchen und andere Pflanzenbezeichnungen,
Eichhörnchen, Frettchen und andere Tierbezeichnungen, Ohrläppchen, Kaf-
feekränzchen, Ständchen, Flittchen ,leichtlebiges Mädchen‘, Zipperlein (zu
mhd. zipfen ,trippeln‘) ,Gicht‘, Tötlein ,Totgeburt‘ (M. W. Schulz), Tödlein
(G. Keller), schon mittelniederdt. dödeken.
Nicht selten bilden Diminutiva eine stabile Komponente von Phrasemen;
-chen und -lein sind dann nicht austauschbar: aus dem Häuschen sein, sich ins
Fäustchen lachen, jmdm. ein Schnippchen schlagen.
236 2 Wortbildung des Substantivs

2.3.2.22 Movierung

1) Als Movierung oder Motion werden folgende Derivationsprozesse be-


zeichnet:
1.1) Bildung der femininen Entsprechung zu einem maskulinen Substan-
tiv (Arzt > Ärztin, Headhunter > Headhunterin);
1.2) Bildung eines als ,weiblich‘ (Sexus) markierten Substantivs zu einem
sexusneutralen Substantiv mit maskulinem oder femininem Genus (der
Storch > die Störchin, die Giraffe > die Giraffin);
1.3) Bildung eines als ,männlich‘ (Sexus) markierten Substantivs zu einem
als ,weiblich‘ (Sexus) markierten Substantiv (die Hexe > der Hexerich, Hexer);
1.4) Bildung eines als ,männlich‘ (Sexus) markierten Substantivs zu einem
sexusneutralen Substantiv mit femininem Genus (die Ente > der Enterich).
Die Movierung erfasst in der Regel Personen- und – seltener – auch Tier-
bezeichnungen; andere Fälle sind okkasionell-expressiv: die Glockentönin,
Schenkelinnen (Ljungerud 1973, 146).
Das dominierende Movierungssuffix ist heute -in, mhd. -ı̄n neben -inne
(zur Geschichte Wilmanns 1899, 311 ff.); über weitere s.u.
Neben der „funktionellen“ Movierung (Ärztin ,weiblicher Arzt‘) spielt die
„matrimonielle“ (Generalin ,Ehefrau eines Generals‘) im heutigen Deut-
schen kaum noch eine Rolle (vgl. Plank 1981, 116ff.); doch vgl. die Namen
historischer Frauengestalten wie die Karschin, die Neuberin. In Substandard-
schichten werden diese Formen in Verbindung mit dem Familiennamen
z. T. heute noch gebraucht, meist mit zu -en/-n reduziertem -in: die Müllern,
Schulzen.
Ältere Bildungen mit -in zeigen meist Umlaut: Bäuerin, Köchin; Äffin,
Störchin. Der Umlaut unterbleibt gewöhnlich, wenn die Basis ein zweisil-
biges Wort mit unbetontem -e- in der zweiten Silbe ist (Kanzlerin, Malerin,
Stanzerin) sowie in den meisten wenig assimilierten Fremdwörtern und
anderen jungen Bildungen (Baronin, Bulgarin [aber Französin], Kameradin,
Pilotin, Sklavin; Soldatin, Botin, Gattin; Umlaut dagegen in „Die Päpstin“,
Titel von A. W. Cross).
Zeigt die Basis eine Folge von -erer im Auslaut, so wird bei Anfügung des
Movierungssuffixes -in ein -er getilgt (Haplologie): Hamsterer – Hamsterin,
Zauberin; Zögerin (LVZ 2010); über eine generelle „Tendenz der Gleichklang-
vermeidung“ vgl. Plank 1981, 153.
2) Das Movierungssuffix -in unterliegt verschiedenen Beschränkungen
(zur Suffixabfolge und entsprechenden Beschränkungen im Deutschen
grundsätzlich Eisenberg/Sayatz 2002, 144ff.).
2.3 Suffixderivation 237

2.1) Grammatisch-strukturell: Mit indigenen Derivaten wird -in nicht


kombiniert (*Raufboldin), ausgenommen mit solchen auf -er, wo es ganz
geläufig ist (Raucherin), und zunehmend auch auf -ling, obwohl hier eher
den Charakter des Okkasionellen tragend: Ankömmlingin, Flüchtlingin,
Günstlingin u.a. bei Ljungerud (1973, 150). Mehr als 1000 Google-Treffer
erreichen immerhin Fremdlingin, Lieblingin, Neulingin, mehr als 100 Feiglin-
gin, Flüchtlingin, Schreiberlingin, Zöglingin (20.07.2010). Eisenberg/Sayatz
halten solche Bildungen noch für ausgeschlossen; ebd., 152).
Für Fremdsuffixe gilt die Kombinationsbeschränkung nicht: Professorin,
Dekorateurin, Musikantin, Traktoristin. – Die deadjektivischen und depar-
tizipialen Konversionen werden ebenfalls nicht durch -in moviert (Ausnah-
men: Gesandtin, Freiin, Oberin); hier übernimmt der Artikel die entspre-
chende Funktion (der/die Alte, Angestellte, Vorsitzende).
2.2) Semantisch: Die Opposition ,männlich‘ – ,weiblich‘ kann durch gänz-
lich verschiedene Wörter ausgedrückt werden; dann fehlt gewöhnlich das
movierte Femininum: Mutter – Vater (*Vaterin), Hengst – Stute u.a.; hierzu
für die synchrone Beschreibung auch Hahn – Henne (ahd. hano – hennin,
henna; vgl. Wilmanns 1899, 309 ff.). Fachsprachlich stehen gelegentlich
beide Ausdrucksmöglichkeiten nebeneinander: Fuchs – Füchsin neben
(Fuchs-)Rüde – (Fuchs-)Fähe.
2.3) Pragmatisch: Bei Tierbezeichnungen ist kein moviertes Femininum
üblich, wenn der Unterschied männlich – weiblich für den Menschen irre-
levant erscheint; vgl. Epicöna (undifferenzierte Bezeichnung für beide Ge-
schlechter) wie Aal, Floh, Wanze (*Wanzin), Specht u.a. Die Movierung er-
streckt sich also vorrangig auf „menschennahe Tiere, insbesondere bei Mut-
tertier-Jungtier- und Paarungs-Interaktionen“ (Plank 1981, 101). Hieraus
können sich fachsprachliche Spezifika in der Gebräuchlichkeit movierter
Feminina und auch andere spezielle Bildungen (vor allem in der Belletristik)
ergeben, vgl. den Roman „Die Rättin“ von G. Grass (allerdings feminine
Basis die Ratte) sowie Kalbin, Uhuin u.Ä. bei Ljungerud (1973, 148).
3) Unter den Personenbezeichnungen stellen die Berufsbezeichnungen
ein besonderes Problem dar. Zunächst steht nicht jeder weiblichen Berufs-
bezeichnung auf -in ein geläufiges männliches Gegenstück zur Seite, weil die
betreffenden Berufe eine Domäne von Frauen sind wie z.B. Kosmetikerin.
Doch die männlichen Gegenstücke ohne -in sind modellgerecht und stehen
bei Bedarf zur Verfügung.
Seit der ersten Auflage des vorliegenden Buches von 1992 hat sich in diesem Bereich
eine schnelle Entwicklung vollzogen. Zu den seinerzeit als Movierung ohne maskuline
Entsprechung genannten Beispielen Kindergärtnerin, Hortnerin, Stenotypistin sind
heute Kindergärtner, Hortner, Stenotypist durchaus üblich (Dudenband 1, 2009).
238 2 Wortbildung des Substantivs

Andererseits hat die männliche Form zwei Bedeutungen: Sie bezeichnet


erstens die Angehörigen eines Berufs mit dem zusätzlichen Merkmal
,männlich‘ und sie bezeichnet zweitens die Angehörigen eines Berufs unter
Neutralisierung der Opposition ,männlich‘ vs. ,weiblich‘ (was die Form auf
-in grundsätzlich nie kann): Minister, Monteur, Wissenschaftler. Die movier-
ten Formen sind heute uneingeschränkt üblich, da immer mehr Frauen
auch in traditionellen Männerberufen tätig sind (Bäckerin, Bundeskanzlerin,
Matrosin, Ministerin, Soldatin; auch Boxerin, Skispringerin). Sie werden vor
allem dann verwendet, wenn nicht der Allgemeinbegriff im Vordergrund
steht, sondern die „Berufsausübung durch eine Frau hervorgehoben wer-
den“ soll (Grundzüge 1981, 575).
Dass der Zunahme movierter Formen auch ein Schwund gegenübersteht,
zeigen Formen wie mhd. gestinne, heute okkasionell Gastin (L. Feuchtwan-
ger, vgl. Ljungerud 1973, 150), Gästin (Eva Strittmatter), frühnhd. knechtin
(Kluge 1925, 37), heute als ,Magd auf dem Lande‘ „wohl nur noch süd-
deutsch“ (Ljungerud 1973, 154).
4) Die Opposition ,männlich‘ vs. ,weiblich‘ kann auch noch auf andere
Weise ausgedrückt werden, insbesondere durch Komposita mit -mann, -frau
(Fachmann, -frau), durch Attribuierung mit den Adjektiven männlich, weib-
lich (männlicher/weiblicher Lehrling) sowie bei Tieren mit -männchen, -weib-
chen. Neben lange Zeit allein üblichen Komposita mit -mann treten bei
Bezug auf eine Frau immer mehr solche mit -frau: Business-, Fähr-, Feuer-
wehr-, Front-, Gefolgsfrau (des amerikanischen Präsidenten, PDW 2006), Ka-
mera-, Kauf-, Stroh-, Vertrauensfrau; im Sport: Schlag-, Schluss-, Steuer-,
Torfrau. Vereinzelt und stark expressiv dürfte dagegen noch sein Hinter-
frauen, Vorderfrauen statt Hintermänner, Vordermänner (immerhin über
3000 Treffer bei Google 2010 für Hinterfrauen, meist in der Verbindung
Hintermänner und Hinterfrauen). – Movierte Formen wie Landsmännin,
Namensvetterin stellen Ausnahmen dar. Neben -frau werden auch -dame
(Bar-, Vorführ-), -mädchen (Haus-, Stubenmädchen) und -schwester (Kran-
ken-, Säuglings-) verwendet. Partiell stehen Komposita mit -frau auch mehr
oder weniger synonymisch neben movierten Formen auf -in: Bauersfrau –
Bäuerin. Zum Teil haben die Komposita mit -frau stärker matrimonielle
Bedeutung: Arzt-, Gastwirtsfrau.
5) Im Sprachgebrauch der modernen Verwaltung lässt sich eine Tendenz
erkennen, den Sexus-Unterschied bei Berufsbezeichnungen in bestimmten
Fällen zurücktreten zu lassen; so entwickeln sich sexusneutrale Komposita
mit -hilfe (Büro-, Haushalts-, Küchen-, Reinigungshilfe) und -kraft (Lehr-,
Fach-, Schreib-, Reinigungs-). Ortner (1999, 338) verweist in dem Zusam-
menhang auf die Verwendung der „Schmeichelwörter“ Persönlichkeit, Profi,
2.3 Suffixderivation 239

Talent in österreichischen Zeitungen der 1990er-Jahre: Manager-, Unterneh-


merpersönlichkeit; Immobilien-, Kommunikations-, Werbeprofi; Führungs-,
Sekretariats-, Verkaufstalent.
6) Andere Movierungssuffixe treten gegenüber -in quantitativ zurück. Das
– vor allem matrimonielle – -sche ist auf die norddeutsche Umgangssprache
beschränkt (Bäckersche ,Bäckersfrau‘, vgl. DWb 2, 117ff.). An einzelne
Lexeme gebunden sind die Fremdsuffixe -ess/-esse/-isse (Stewardess, Clowness
,professionelle Clownin‘ (Internet 2010), Baronesse, Diakonisse), -euse (Fri-
seuse, Masseuse – daneben auch Friseurin, Masseurin), -ine (Cousin > Cou-
sine, blond > Blondine, ugs. scherzh. Azubine, obwohl Azubi bereits beide
Genera hat, vgl. Dudenband 1, 2009, 241), -ice (Direktrice, semantisch un-
terschieden von Direktorin).
Zu movierten Personenbezeichnungen, insbesondere zu Basen auf -eurin,
bildet -euse ironisch-scherzhafte Okkasionalismen: Kommandeurin – Kom-
mandeuse, Provokateuse (beide PDW 2005), Regisseuse (welt.de 2006). Auch
Nichtpersonenbezeichnungen können die Basis sein: Pedaleuse (,Radsport-
lerin‘), Serveuse (,Kellnerin‘; beide PDW 2005).
Zu -hans, -suse ¢ 2.2.11.4.2; zu -esse in Nomina Qualitatis ¢ 2.3.3.1(8).
7) Movierte Maskulina sind relativ selten und werden fast ausschließlich
zu Tierbezeichnungen gebildet, meist mit -rich/-erich: Ente > Enterich, ahd.
anutrehho (sekundär an -rı̄ch angelehnt), Gans > Gänserich, Täuberich, Mäu-
serich; okkasionelle Bildungen sind Bienerich, Schildkröterich (PDW 2006),
weitere Beispiele bei Ljungerud (1973, 147f.). Auch -er fungiert in Fällen wie
Hexe > Hexer (selten auch Hexerich), Witwe > Witwer; Puter, Tauber, Gan-
ser/Ganter als Movierungssuffix. Weiteres zur Maskulinmovierung durch
das Suffix -er bei Scherer 2005, 73 ff.

2.3.3 Exogene Suffixe

Exogene Suffixe verbinden sich nur in Ausnahmefällen mit indigener Basis


(¢ 1.9.3.2.2), sodass kaum Integrationstendenzen auszumachen sind. Daher
erscheint der Übersichtscharakter der folgenden Darstellung gerechtfertigt.
Einheiten, die auf spezielle Fachwortschätze begrenzt sind, werden hier
nicht behandelt.
Analysiert werden motivierte komplexe Fremdwörter, deren Zweitglied
ein Suffix ist. Da es sich hierbei sowohl um Entlehnungen als auch um
Bildungen im Deutschen handelt, sind nicht alle Bildungsmodelle im ge-
genwärtigen Deutsch gleichermaßen häufig vertreten. Ebenso sind nicht alle
240 2 Wortbildung des Substantivs

Modelle im Deutschen produktiv geworden. Nach Munske (2009, 240ff.)


entstehen seit dem 18. bzw. 19. Jh. neue substantivische Derivate v.a. durch
die Suffixe -ant/-ent, -ie, -ik, -ion/-tion/-ation, -ität, -ur, -itis, -ose, -eur, -ist
und -ismus, Lezteres „am produktivsten“ bei der Derivation von Substan-
tiven seit dem 18. Jh. (ebd., 242).
Nicht immer lässt sich bei exogenen Wortbildungen, die ihrer Struktur
nach Derivate sind, angeben, von welcher Basis sie abgeleitet sind. In Fällen,
bei denen die Motivationsbeziehungen nicht eindeutig gerichtet sind, ist
gegenseitige Motiviertheit anzunehmen. Substantive auf -anz/-enz stehen
z. B. oft neben Verben auf -ieren und Adjektiven auf -ant/-ent (Toleranz,
tolerieren, tolerant; Existenz, existieren, existent). Wir gehen hier von Suf-
fixsubstitution aus und bestimmen die Basen (toler-, exist-) als Konfixe.
Wenn das Suffix an einen im Deutschen geläufigen Stamm tritt (human >
Humanität), liegt dagegen Suffixaddition vor.
Damit im Zusammenhang steht das Verhältnis von Grundstammform
und Derivationsstammform, das bislang nicht in allen Einzelheiten geklärt
ist (grundsätzlich zur Bildung von „Stammparadigmen“ Fuhrhop 1998,
22 ff.).
Neben der Grundstammform verfügen viele Fremdwörter über eine oder
mehrere spezifische Derivationsstammformen: Problem > Problemat ik, pro-
blemat isieren, problemat isch; qualifiz ieren, Qualifik ation, qualifikator isch;
konzip ieren, Konzep tion; revid ieren, Revis ion. Problematisch ist in diesem
Zusammenhang auch die Segmentierung komplexer Fremdwörter (Deri-
vationsstammform vs. Suffixvariante: Konzept ion vs. Konzep tion). Sie er-
folgt hier weitgehend danach, wie Suffix bzw. Suffixformen einander in den
jeweiligen Wortfamilien ersetzen.
Wir ordnen die Darstellung nach den Genera und beginnen mit dem
Femininum, da der weitaus größte Teil der infrage kommenden Suffixe
feminine Substantive bildet. Übersicht 21 bietet eine nach Bezeichnungs-
klassen geordnete Zusammenfassung (S. 249).

2.3.3.1 Feminina

1) -ade/-iade: Sachbezeichnungen auf -ade stehen neben Verben auf -ieren


wie Marinade ,was zum Marinieren dient‘ – marinieren, Promenade ,wo man
promenieren kann‘. Desubstantivische Geschehensbezeichnung ist Kano-
nade < Kanone). Nicht hierher Parade (> paradieren). Robinsonade seman-
tisch zum Folgenden. – Das Allomorph -iade, gelöst aus Fällen wie Olympia
> Olympiade, tritt vorwiegend an Eigennamen und bildet Bezeichnungen
für sportliche oder künstlerische Wettbewerbe (Pamir-Alpiniade, Asiade
2.3 Suffixderivation 241

,Asienspiele‘, Schubertiade, Kaspariade ,Bühnenstück mit Kasperfigur‘ und


für Handlungen bzw. Verhaltensweisen (Chapliniade; I. Goll), meist gestal-
tet als Film, Theaterstück oder in Buchform (Boccacciade, Hanswurstiade,
Münchhausiade, Sibiriade (Filmtitel); vgl. auch Spartakiade, Universiade; his-
torische Galoppiade für einen historischen Abenteuerfilm; Köpenickiade
,Streich, Täuschungsmanöver, das durch das Obrigkeitsdenken der Men-
schen ermöglicht wird‘ (GWDS).
2) -age: Nomina Actionis stehen neben Verben auf -ieren wie Massage –
massieren, Passage, Sabotage, Spionage (z.T. mit Weiterentwicklung zur
Sachbezeichnung); eher Nomen Actionis ist Blamage; ggf. auch auf Sub-
stantive zu beziehen sind Sachbezeichnungen in der Art von Kollektiva Kar-
tonage, Trikotagen; zu Stellage ¢ 1.9.3.2.2.
3) -aille: Das Suffix ist reanalysiert aus Kanaille (seit Anfang des 17. Jh. aus
französ. canaille ,Hundepack‘ und wie dies auf Einzelpersonen anwendbar).
Okkasionell zur Bildung pejorativer Bezeichnungen von Personengruppen:
Diplomaille, Intellectuaille (E. Dühring), Generaille und Journaille
(K. Kraus).
4) -alien (aus lat. -ālia, vgl. Öhmann 1975) bildet Kollektiva, meist aus-
schließlich im Plural gebraucht: Archivalien, Formalien, Musikalien, Natu-
ralien, Personalien u.a.
5) -ante/-ente (aus lat. Partizipialformen wie -ans, -antis) bildet zu Verben
auf -ieren eine Art Nomina Agentis: Determinante ,was determiniert‘, Kon-
stituente, Tangente.
6) -anz/-enz (lat. -antia, -entia, französ. -ance, -ence) bildet Verbalsub-
stantive von Verben auf -ieren mit breiter semantischer Fächerung: Existenz,
Konferenz, Konkurrenz, Korrespondenz, Residenz, Tendenz. – Eine zweite
Reihe bilden die Eigenschafts- bzw. Zustandsbezeichnungen zu Adjektiven
auf -ant (dann -anz) oder -ent (dann -enz): Arroganz, Effizienz, Kompetenz,
Konsequenz; Sachbezeichnung ist Ambulanz (vgl. DWb 2, 272f.).
7) -erie (nach französ. -erie) bildet desubstantivische Bezeichnungen für
Verhaltensweisen (Clownerie, Scharlatanerie); in ähnlicher Weise von adjek-
tivischer Basis: Bigotterie, Galanterie, Koketterie. – Von Substantiven, die
keine Personenbezeichnungen sind, werden Kollektiva (z.T. mit Entwick-
lung lokaler Bedeutung) gebildet: Hotellerie, Maschinerie, Drogerie, Parfü-
merie, Szenerie.
8) -esse (französ. -esse, italien. -ezza) bildet vor allem deadjektivische Ei-
genschaftsbezeichnungen und konkurriert teilweise mit -heit: Akkuratesse –
Akkuratheit, Delikatesse, Noblesse.
Zu -esse als Movierungssuffix ¢ 2.3.2.22(6).
242 2 Wortbildung des Substantivs

9) -ie (lat. -ia, französ. -ie) bildet mit exogenen Basen Kollektiva (Aristo-
kratie, Bourgeoisie, Bürokratie), Bezeichnungen für Wissenschaftszweige
(Ökonomie, Philosophie) und für Regierungs- bzw. Staatsformen (Demokra-
tie, Monarchie). In Bezeichnungen mit -log- (Geolog-, Philolog-) ist von einer
Konfixkombination auszugehen, von der die Personenbezeichnung mit -e,
die Wissenschaftsbezeichnung mit -ie und das entsprechende Adjektiv auf
-isch gebildet werden. – Nebeneinander stehen auch auf ein Konfix zu be-
ziehendes Substantiv auf -ie und Adjektiv auf -isch in Bildungen wie Apathie
– apathisch, Ironie, Hierarchie, Dynastie, Empirie u.a.; ohne Adjektiv neben
sich, aber mit Verb: (Müll-)Deponie, deponieren.
Zur Bildung von Personenbezeichnungen zu Substantiven auf -ie Fuhr-
hop 1998, 124ff.
10) -iere (französ. -ière): Die Bildungen lassen sich semantisch nicht zu-
sammenfassen. Motiviert sind Garderobiere durch Garderobe, Sauciere
durch Sauce; die übrigen Bildungen sind unanalysierbar. Portiere lässt sich
nicht auf Portier, Premiere (frz. premier ,erster‘) nicht auf Premier(minister)
beziehen.
11) -ik (griech.-lat. -ica, französ. -ique): Derivate von abstrakten Substan-
tivstämmen bzw. Konfixen sind Kollektiva: Motivik, Symbolik; z.T. mit
besonderen Derivationsstammformen: Gestik, Methodik, Rhythmik, Meta-
phorik; Problematik Programmatik, Thematik, Dramatik; zu Personenbe-
zeichnungen auf -ist: Germanistik, Publizistik, Realistik (konkurriert mit Re-
alismus). – Nebeneinander stehen, auf ein Konfix zu beziehen, Substantiv
auf -ik und Adjektiv auf -isch: Drastik – drastisch, Logik, Politik, Hektik,
Polemik, Spezifik, Kritik, Komik (vgl. DWb 2, 271ff.; Plank 1981, 217).
12) -ion (lat. -iō)/-tion/-ation bildet vorwiegend Verbalsubstantive zu
Verben auf -ieren; die Basis verfügt nicht selten über zwei Derivations-
stammformen: Explos ion – explod ieren, ferner Kollision, Division, Dekla-
mation, Delegation, Demonstration, Gestikulation, Variation, Kombination,
Konzentration.
Einige Wortbildungen sind den genannten Beispielen mit Beziehung auf
eine Verbalbasis anzuschließen, doch steht daneben auch noch ein Substan-
tiv oder Adjektiv: produzieren – Produktion – Produkt, abstrahieren – Ab-
straktion – abstrakt.
Die Überschneidung von -ion/-tion/-ation mit -ung (¢ 2.3.2.18[1.3]) – as-
similieren – Assimilation – Assimilierung – ist nur partiell; es gibt Verben auf
-ieren ohne Derivat auf -ion (nuancieren, plombieren u.a.), andererseits
solche ohne Derivat auf -ierung (vorwiegend intransitive Verben wie appel-
lieren, desertieren), und schließlich steht nicht neben allen Substantiven auf
2.3 Suffixderivation 243

-ion ein Verb auf -ieren (z.B. Resolution, Translation). Derivate auf -ion zu
Verben auf -ieren fehlen vor allem dann, wenn eine andere Ableitung ge-
bräuchlich ist: assistieren – Assistenz, bombardieren – Bombardement, kolpor-
tieren – Kolportage.
Mit den semantischen Unterschieden von -ion und -ung hängen syntak-
tische zusammen: Präzision des Ausdrucks (Genitivus subjectivus als Attri-
but) – aber Präzisierung der Aufgabe (die Aufgabe präzisieren – Genitivus
objectivus als Attribut); vgl. dazu Schäublin 1972, 81 f.
Eine Sondergruppe stellen -ion-Bildungen dar, die sich synchron nicht
auf ein Verb zurückführen lassen, ihrerseits aber zur Basis für Verben auf
-ieren (mit weiterer Derivation auf -ierung) geworden sind: Fusion – fusi-
onieren – Fusionierung, weiter Revolution, Subvention u.a.
Desubstantivische Derivate (selten) bezeichnen Vorgänge (Exkursion, Se-
kretion), z. T. einen höheren Grad der Abstraktheit als die Basis: Institut –
Institution.
Deadjektivische Derivate bezeichnen Eigenschaften bzw. Zustände von
Menschen: diskret – Diskretion, Desparation, Devotion; sie konkurrieren mit
Derivaten auf -heit ähnlich wie die Derivate auf -esse, vgl. Diskretheit. Die
Reihe ist nur schwach ausgebaut.
13) -ität (lat. -itās, -itātis, französ. -ité) ist nach -ion und -ie am stärksten
an der Bildung femininer Substantive beteiligt (zur Entwicklung der Lautge-
stalt von -teit über -tet zu -tät vgl. Öhmann 1967). Deadjektivische Wortbil-
dungen, meist Bezeichnungen von Eigenschaften und Zuständen, bilden die
größte Gruppe; bevorzugt werden (zum Folgenden DWb 2, 275 f.) Adjektive
auf -abel/-ibel (Respektabilität, Disponibilität), auf -al und -il (Banalität,
Stabilität), -ell (aber mit Ersatz von -ell durch -al: individuell – Individualität,
ferner Aktualität, Provinzialität, Sexualität; ¢3.3.3[5]), -os (Burschikosität,
Grandiosität), -iv (Naivität, Objektivität); Basen anderer Lautstruktur haben
Absurdität, Humanität, Frivolität, Solidität. Basisvariation zeigen u.a. antik
> Antiquität, integer > Integrität, nervös > Nervosität, porös > Porosität (re-
gelmäßiger Wechsel von -ös zu -os bei Derivaten auf -ität). Konfixbasis
haben Substantive auf -izität (vgl. lat. simplicitas), dazu Adjektive auf -isch
Authentizität – authentisch, Elastizität – elastisch; Elektrizität – elektrisch;
Klassizität – klassizistisch und wenige andere.
Eine Wortbildungsreihe von Sachbezeichnungen ist etwas schwächer aus-
gebildet: Extremität, Lokalität, Rarität, Spezialität u.a.
Desubstantivische Bildungen bleiben vereinzelt: Moralität, Quantität (zu
Quantum).
Zu -ität mit indigener Basis ¢ 1.9.3.2.2.
244 2 Wortbildung des Substantivs

Das Suffix -ität konkurriert mit -heit/-keit/-igkeit, allerdings selten bei der
gleichen Basis (Absurdität, -heit, Naivität, -heit), andererseits mit entspre-
chender Fremdbasis gegenüber indigener Basis von -heit (Illegalität – Unge-
setzlichkeit, Stabilität – Festigkeit, Effektivität – Wirksamkeit). Wie beim Ne-
beneinander von -ion und -ung ist auch hier zu bemerken, dass die Distri-
bution des exogenen Suffixes stärker eingeschränkt ist als die des indigenen.
Die Form -tät ohne -i- findet sich fast ausschließlich in Bildungen, die im
Deutschen unanalysierbar sind: Fakultät, Majestät, Pietät, Pubertät.
14) -itis (griech. Adjektivsuffix zur Bezeichnung der Zugehörigkeit) bildet
medizinische Termini mit den Merkmalen ,krankhaft‘, ,entzündlich‘,
,akut‘ (Nortmeyer 1987, 395), vgl. Bronchie ,gegabelter Teil der Luftröhre in
der Lunge‘ – Bronchitis. In nichtterminologischer Verwendung bedeuten
-itis-Derivate ,etwas, was als zu oft, zu viel benutzt, getan angesehen wird‘
(GWDS), vgl. ugs. scherzhaft Telefonitis, Rederitis ,Sucht, dauernd zu tele-
fonieren, zu reden‘; zu Weiterem, insbesondere zur steigenden Produktiviät
des Modells vgl. DWb 2, 241; Feine 2003; Müller 2005, 35f.
15) -ose (griech. -iōsis) bildet ebenfalls medizinische Termini als Krank-
heitsbezeichnung, im Unterschied zu -itis aber mit den Merkmalen ,dege-
nerativ, chronisch‘ bzw. ,Vergiftung‘ (vgl. Nortmeyer 1987, 394). Die Bil-
dungen sind teilweise weiter verbreitet; vgl. desubstantivisch: Furunkel –
Furunkulose, Tuberkel – Tuberkulose; Psyche – Psychose. Auf eine Konfixbasis
sind Verb und Substantiv zu beziehen in: Diagnose – diagnostizieren, Hypnose
– hypnotisieren. Von nicht dem medizinischen Sachbereich zugehörigen Bil-
dungen ist geläufiger Zellulose, daneben Zellstoff.
16) -ur (lat. ūra), -üre (französ. -ure), z.T. mit Allomorph -atur, bildet
Verbalsubstantive, vielfach zur Sachbezeichnung weiterentwickelt: broschie-
ren – Broschur, Broschüre; frisieren – Frisur, ferner Glasur, Lasur, Reparatur.
Desubstantivische Wortbildungen sind z.T. Kollektiva (Klaviatur, Line-
atur, Muskulatur, Tabulatur, Tastatur), z.T. zeigen sie eine breitere seman-
tische Fächerung: Agentur, Architektur, Kommandantur, Literatur.

2.3.3.2 Maskulina

1) -an (lat. ānus, Adjektivsuffix der Zugehörigkeit) begegnet nur in weni-


gen analysierbaren Personenbezeichnungen mit substantivischer Basis: Kas-
tellan ,Aufsichtsbeamter in Schlössern und dgl.‘ zu Kastell ,Burg, Schloss‘,
ähnlich Kapellan zu Kapelle; Galan ,vornehmer (schön gekleideter) Lieb-
haber‘ zu Gala ,Festkleidung‘. Dekan, Kumpan (neben Kumpel) im Deut-
schen unanalysierbar.
2.3 Suffixderivation 245

2) -and (lat. Gerundivum -ndus) bildet Nomina Patientis im Umkreis der


akademischen Ausbildung: Diplomand ,ein zu Diplomierender‘, Habilitand
,ein zu Habilitierender‘, ähnlich Doktorand, Examinand; im kirchlichen
Leben: Konfirmand.
3) -ant/-ent (lat. -ans, -antis, -ens, -entis) bildet vorwiegend Nomina Agen-
tis zu Verben auf -ieren: dirigieren > Dirigent, ferner Dozent, Konsument,
Konkurrent, Intrigant, Simulant, Querulant (querulieren ,nörgeln‘). Es kon-
kurrieren Konversionen des Partizips I: Gratulant – der Gratulierende, Kor-
respondent – der Korrespondierende; Derivate auf -er sind in diesen Fällen
ungewöhnlich. – Substantivische Basis ist seltener: Asylant, Diversant (zu
Diversion ,Sabotage o.Ä. gegen den Staat‘), Laborant, Musikant.
Sachbezeichnungen sind im Deutschen demotiviert oder völlig unanaly-
sierbar: Konsonant, Kontinent.
4) -är (lat. -ārius, französ. -aire) bildet von substantivischer Basis Perso-
nenbezeichnungen: Aktionär, Funktionär, Illusionär, Legionär, Pensionär,
Revolutionär, Millionär.
5) -ast (griech. -astēs) bildet Personenbezeichnungen; in den meisten
Fällen ist die Basis ein Konfix: Gymnasiast, Fantast, Enthusiast.
6) -eur (französ. -eur, eingedeutscht vereinzelt -ör) bildet Nomina Agentis
zu Verben auf -ieren (gewöhnlich in komplementärer Verteilung mit -ant
und -ator): Deserteur, Kontrolleur, Hypnotiseur; Berufsbezeichnungen wie
Friseur/Frisör, Masseur, Monteur, Graveur u.a.
Eher auf substantivische Basis zu beziehen sind Inspekteur (zu Inspektion),
Konstrukteur, Redakteur, Requisiteur, Bankrotteur.
7) -ier (lat. -ārius, französ. -ier) bildet Personenbezeichnungen, in der
Regel von substantivischer Basis, und zwar in dreierlei Lautform:
– in der dem Französischen entsprechenden Form [-ı̄e:], wie Bankier, Ho-
telier, Rentier (dazu deadjektivisch Privatier);
– in der Lautform [i:r], wie Kanonier und Brigadier (auch [je:]) ,Befehls-
haber einer Brigade‘;
– mit der Derivationsstammform auf -ar wie in Parlamentarier und Kon-
fixderivaten wie Proletarier, Vegetarier. Proletarier auf Prolet als Basis zu
beziehen erscheint aus semantischen Gründen weniger plausibel; Prolet
gilt als Rückbildung (GWDS).
Nicht hierher gehören Bewohnerbezeichnungen auf -ier; dazu ¢ 2.3.2.4(2.2).
Neutra wie Brevier, Pläsier sind im Deutschen unanalysierbar.
8) -ismus/-asmus (griech. -ismos, Nomina Actionis bildend) hat sich im
Deutschen – in anderen europäischen Sprachen z. T. schon eher – seit dem
18. Jh. (zunächst vorwiegend in Entlehnungen aus dem Englischen und
246 2 Wortbildung des Substantivs

Französischen, daher vielfach -ism, -isme) zu einem hochproduktiven Suffix


entwickelt. Mater (1970) registriert 350 entsprechende Wortbildungen (aus-
führlich Werner 1980); doch die Gebrauchsfrequenz ist – abgesehen von
Texten in Wissenschaft und Presse, wo sie hoch ist – insgesamt relativ nied-
rig (DWb 2, 279).
Die Basis bilden entweder Substantive oder Adjektive. Die Derivate be-
zeichnen politische und ökonomische, philosophische und religiöse Theo-
rien und Richtungen sowie damit zusammenhängende Verhaltensweisen,
Richtungen in Kunst und Literatur sowie in der Wissenschaft, „Epochen-
bezeichnungen“, „sprachliche […] Eigentümlichkeiten“, „Krankheiten
bzw. krankhafte Neigungen“ u.Ä. (Werner 1980, 489).
In vielen Fällen ist die Basis eine Personenbezeichnung oder ein Perso-
nenname: Barbarismus, Despotismus, Idiotismus, Patriotismus, Pedantismus,
Zarismus; Bonapartismus, Darwinismus, Epikurismus, Trotzkismus, Kalvinis-
mus, Buddhismus; mit spezifischer Derivationsstammform Hegelianismus,
Kantianismus (vgl. Bezeichnung für die Anhänger: Hegelianer).
Substantive anderer semantischer Klassen erscheinen als Basis in Bildun-
gen wie Fetischismus, Illusionismus, Kapitalismus, Protektionismus, Reformis-
mus, Revisionismus, Terrorismus, Vulkanismus.
Vielfach ist die Basis ein Konfix, auf das neben dem Derivat auf -ismus
weitere Derivate zu beziehen sind: mechan isch, Mechan ik, Mechan ismus,
mechan istisch; Optim ist, optim istisch, Optim ismus.
Wie bei exogenen Einheiten nicht selten anzutreffen, treten vokalisch und
konsonantisch differierende Derivationsstammformen auf: Militär – Milita-
rismus, Klassik – Klassizismus, Dogma – Dogmatismus u.a.
Die Masse der Derivate wird von Adjektiven auf -al gebildet: Feudalismus,
Idealismus, Klerikalismus, Liberalismus, Nationalismus; häufig auch von Ad-
jektiven auf -iv: Aktivismus, Positivismus, Relativismus; andere sind seltener:
Absolutismus, Humanismus, Separatismus.
Semantisch für sich stehen einzelne kollektive Sachbezeichnungen: Me-
chanismus, Organismus.
9) -ist (griech. -istēs, lat. -ista) bildet desubstantivische Personenbezeich-
nungen. Eine große Gruppe stellen Personenbezeichnungen zu den oben
genannten Derivaten auf -ismus dar: Terrorist – Terrorismus. Doch nicht
jedem -ismus-Derivat lässt sich ein solches auf -ist zuordnen; es fehlen z.B.
*Dogmatist (dafür Dogmatiker), *Patriotist (dafür Patriot) u.a. Umgekehrt
steht nicht bei jedem -ist-Derivat ein solches auf -ismus: Kontorist, Humorist,
Prokurist.
Den Spieler eines Musikinstruments bezeichnen Cellist, Pianist, Violinist;
zu indigenen Basen hierbei ¢ 1.9.3.2.2.
2.3 Suffixderivation 247

Konfixbasen sind seltener: komponieren – Komponist, Publizist.


10) -or/-ator/-itor (lat. -or) bildet deverbale Nomina Agentis bzw. Instru-
menti: Agitator zu agitieren, Illustrator, Mechanisator, Expeditor; Generator,
Isolator, Ventilator; ohne Verb: Aggressor, Inquisitor.

2.3.3.3 Maskulina und Neutra


Wenige Suffixe legen das Genus nicht fest; sie bilden vor allem Maskulina
(darunter sämtliche Personenbezeichnungen) und Neutra.
1) -al (lat. ālis) erscheint in einigen neutralen desubstantivischen Kollek-
tiva (Personal, Material zu Materie) und in dem Maskulinum Choral (zu
Chor).
2) -ar (lat. -ārius, -ārium) bildet Personenbezeichnungen von substanti-
vischer Basis (Bibliothekar, Missionar) sowie neutrale Kollektiva (Mobiliar,
Vokabular). Zu Verben gebildet sind die Sachbezeichnungen Kommentar
(Maskulinum) und Formular (Neutrum).
3) -at (lat. -ātus) bildet Neutra mit einer Personenbezeichnung als Basis
(in der Regel Amts-, Berufsbezeichnung); die Derivate bezeichnen Ort bzw.
Institution, z. T. mit Derivationsstammform auf -i-: Konsulat, Rektorat;
Kommissariat, Notariat. – Derivate mit Stamm- oder Konfix-Basis bezeich-
nen vielfach Vorgang und Ergebnis (Diktat, Telefonat, Testat), z. T. nur das
Ergebnis (Filtrat, Konzentrat). – Kollektiva sind Prekariat, Proletariat; ver-
einzelt deadjektivisches Internat.
Vereinzelt auch maskuline Personenbezeichnungen (Stipendiat).
4) -it (griech. -itos, -itēs, lat. -itus) ist in der Allgemeinsprache selten. Per-
sonenbezeichnungen sind Bandit, Kosmopolit; deonymisch Hussit, Jemenit,
Jesuit. – Neutra sind meist fachsprachlich, z.B. Bezeichnungen für Minerale
(Balkanit, gefunden im Balkan). Allgemeiner ist Kolorit zu kolorieren. Zu -it
als Diminutivsuffix ¢ 2.3.2.21(5).

2.3.3.4 Feminina und Neutra


Das Suffix -ee (französ. -é, -ée) bildet vorwiegend mit Konfixbasis Nomina
Acti als Neutra (Gelee zu gelieren, Haschee, Renommee, Resümee). Seltener
sind Feminina wie Armee (armieren) und deonymisches Odyssee; unanaly-
sierbar im Deutschen die Feminina Livree, Tournee.
248 2 Wortbildung des Substantivs

2.3.3.5 Neutra
Suffixe, die ausschließlich Neutra bilden, sind außerordentlich selten. Wir
nennen die folgenden.
1) -ament (lat. -mentum) mit der Lautform [ment] wie in Fundament bzw.
-ement (französ. -ment) mit der Lautform [mã:] wie in Bombardement.
Beide Varianten bilden Verbalsubstantive zu Verben auf -ieren. Die erste
Variante ist seltener, die Derivate haben sich zur Sachbezeichnung entwi-
ckelt: Fundament < fundieren), Postament, Traktament. Die – häufigeren –
mit der zweiten Variante gebildeten Derivate sind teilweise Nomina Actio-
nis, teilweise beziehen sie sich mit auf das Ergebnis der Handlung: Abonne-
ment < abonnieren, Avancement, Arrangement, Bombardement, Engagement,
Räsonnement. – Raffinement ist durch die adjektivische Partizipialform raf-
finiert motiviert, die sich semantisch vom Verb raffinieren gelöst hat.
2) -arium (lat.) bildet desubstantivische Nomina Loci, vorwiegend für
künstlich geschaffene Anlagen: Delphinarium, Insektarium (auch Insekten-
garten), Planetarium, Rosarium, Troparium (Warmhaus für Tropenpflan-
zen).
3) -ing kommt zunehmend mit englischen Wörtern ins Deutsche, die all-
mählich einzelne analysierbare Wortfamilien konstituieren: Camping –
Camp – Camper – campen, Leasing – leasen, Shopping – shoppen – Shop,
Trekking/Trecking zu Treck, trekken/trecken. An indigenen Basen ist -ing im
Standard noch selten (Mieting), in Substandardschichten dagegen wird es
für scherzhafte Bildungen (Nomina Actionis) relativ unrestringiert verwen-
det (kitchen hin und her laufing; Titel eines Amateurvideos, Internet 2010;
¢ 2.3.2.10).
2.3 Suffixderivation 249

Übersicht 21: Wortbildungsbedeutungen exogener Derivate

Wortbildungsbedeutungen Suffixe Beispiele

Nomina Agentis -an Kastellan


-ant/-ent Fabrikant, Dirigent
-ast Fantast
-ar/-är Bibliothekar, Legionär
-arier Proletarier
-ator Reformator
-and Diplomand
-eur Masseur
-ist Komponist
-ier Bankier
Nomina Instrumenti -ator Generator
Nomina Loci -ade Promenade
-arium Rosarium
-at/-iat Konsulat, Antiquariat
-erie Drogerie
-enz Residenz
-ität Lokalität
-ur Kommandantur
Sonstige Sachbezeichnungen -ade Marinade
-ar Formular
-ee Gelee
-esse Delikatesse
-ment Fundament
-ur Frisur
Kollektiva -age Kartonage
-aille Generaille
-al Personal
-alien Musikalien
-ar/-iar Glossar, Mobiliar
-atur Muskulatur
-erie Maschinerie
-iat Proletariat
-ie Bürokratie
-ik Motivik
-ismus Mechanismus
250 2 Wortbildung des Substantivs

Wortbildungsbedeutungen Suffixe Beispiele

Nomina Actionis und Acti -age Massage


-atur Reparatur
-enz Konferenz
-erie Clownerie
-ion Explosion
-ismus Vulkanismus
-ment Bombardement
Nomina Qualitatis -esse Akkuratesse
-ion Diskretion
-ismus Patriotismus
-ität Naivität
-ment Raffinement

2.3.4 Onymische und deonymische Suffixe

Zum Grundsätzlichen ¢ 2.2.11.1.


Unter onymischen Suffixen werden solche verstanden, die speziell der
Bildung von Eigennamen dienen, unter deonymischen solche, die im Be-
reich der Eigennamen entstanden sind, heute aber auch zur Bildung von
appellativischen Lexemen verwendet werden.
Einen Überblick über Grundfragen der „onymischen Morphologie“ geben Harnisch/
Nübling 2004, 1902 ff.

2.3.4.1 Onymische Suffixe von Personennamen


Die Personennamen sind morphologisch am wenigsten strukturiert. Die
Familiennamen sind – sofern nicht aus Rufnamen abgeleitet – größtenteils
aus Appellativen entstanden und zeigen, wenn sie überhaupt noch analy-
sierbar sind, im Allgemeinen die Suffixe der appellativischen Personenbe-
zeichnungen.
Der Bildung von Familiennamen aus Rufnamen dienen die Suffixe -s und
-sen (reduziert aus -sohn), vgl. Heinrichs, Dietrichs; Detlevsen, Petersen;
ferner -el (Hänsel, Künzel) und das Kompositionsglied -mann (Kindermann,
Petermann). Von Ortsnamen werden Familiennamen gewöhnlich mit dem
Suffix -er (¢ 2.3.2.4[2.2]) gebildet (Wiener).
2.3 Suffixderivation 251

Movierte Vornamen bilden -i(e) in Fritzi, Maxi, Stefanie (¢ 2.3.2.8) sowie


-a in Paula, Roberta, auch in Namen fremder Herkunft wie Alexandra, Clau-
dia (< Claudius), Julia, Martina.
Der Bildung hypokoristischer Namenformen dienen die Suffigierung mit
-i (Hans > Hansi) und verschiedene Arten von Kürzungen. Gekürzt werden
Vornamen bevorzugt auf zweisilbige Formen mit vokalischem Auslaut: Lie-
selotte > Lilo, Gabriele > Gabi, Johannes > Jojo (mit Reduplikation); Weiteres
hierzu bei Harnisch/Nübling 2004, 1909.

2.3.4.2 Onymische Suffixe von Ortsnamen


Die Ortsnamen sind vielfältig strukturiert. Die Komposita mit Zweitglie-
dern wie -bach, -berg, -dorf usw., auf die hier nicht näher eingegangen
werden kann, entsprechen in der morphologischen Struktur grundsätzlich
appellativischen Wortbildungen. Manche dieser Namenkonstituenten
kommen als appellativische Substantive allerdings nur noch stark einge-
schränkt vor, z.B. -hain (Dorf-, Grünhain).
Als onymische Derivationselemente in einem engeren Sinne sind solche
anzusehen, die im freien appellativischen Gebrauch überhaupt nicht mehr
begegnen, z.B. -hagen, -hausen, -reuth, -stedt. Diese Gruppe lässt noch einen
gewissen Zusammenhang mit appellativischen Grundmorphemen erken-
nen, ist jedoch formal mehr oder weniger davon differenziert. Sie sind ihrer
Funktion nach bereits onymische (und im engeren Sinne toponymische)
Suffixe; Wortbildungen wie *A-hagen, *B-hausen usw. werden ohne Weite-
res als Ortsnamen (bzw. sekundäre Familiennamen) aufgefasst.
Zum engeren Kernbestand der Suffixe gehört eine dritte Gruppe, die
keinen Zusammenhang zu appellativischen Grundmorphemen (insbeson-
dere Substantiven) erkennen lässt. So hat das Bestreben, die Homonymie
mit Appellativen wie Buche, Eiche, Heide, Weide zu vermeiden, zu einer
Ausbreitung des Elements -a in Ortsnamen wie Bucha, Eicha, Heyda, Weida
geführt. Darüber hinaus tritt -a als namenbildendes Suffix auch an Substan-
tive ohne auslautenden Vokal -e, vgl. Ortsnamen wie Borna, Schilfa, Steina;
seltener auch an Adjektive wie Schöna. Weiterhin ist zu verweisen auf die
toponymischen Suffixe -wang(en), -ach und -ingen/-ungen (verbreitet vor
allem im Westen und Südwesten des deutschen Sprachgebiets). Die Basis für
-ingen/-ungen sind Personennamen wie auch Appellativa: Bischofingen, Sig-
maringen, Birkungen, Salzungen, seltener Adjektive: Breitungen. Die Form
-ingen ist ein alter Dativ Plural von Namen auf -ing (-ung), das seit alters die
Zugehörigkeit ausdrückt (vgl. -ling).
Onymische Fremdsuffixe sind aus fremdsprachlichen Ortsnamen reana-
lysiert, die an das Deutsche assimiliert worden sind. Wir nennen hier die aus
252 2 Wortbildung des Substantivs

slawischen Ortsnamen stammenden Elemente -in, -itz und -ow; sie finden
sich auch in sekundären (detoponymischen) Personennamen. Entspre-
chend der fremdsprachlichen Herkunft dieser Elemente lässt sich die Basis
nur in einem Teil der Fälle mit einem deutschen Appellativum oder Perso-
nennamen in Verbindung bringen (unabhängig davon, wie die heutigen
Formen historisch entstanden sind): Albertitz, Bahnitz, Bornitz, in der mit
-w- erweiterten Form: Bellwitz, Bockwitz, Kalkwitz, Ihlewitz; zu -ow, Laut-
form [o:]: Bornow, Lindow, Ihlow.

2.3.4.3 Onymische Suffixe von Länder- und Landschaftsnamen


Ländernamen sind in noch höherem Maße morphologisch strukturiert als
die Ortsnamen, soweit es sich nicht um die Namen außereuropäischer Ge-
biete handelt, die erst in jüngerer Zeit in die deutsche Sprache Eingang
gefunden haben (z.B. Ghana, Chile).
Ein großer Teil dieser Namen wird durch Komposita mit Zweitgliedern
wie -land (Finnland), -mark (Dänemark), -reich (Frankreich) gebildet.
Von den eigentlichen Suffixen ist am häufigsten -ien, entstanden aus Län-
dernamen mit lat. -ia, mhd. -ı̌e. Sie schließen sich nicht dem romanischen -ı̄e
> -ei der Appellativa an (¢ 2.3.2.2), sondern den Ländernamen auf -en (Nor-
wegen), wodurch sich -ien ergibt; vgl. z.B. Persen neben Persia ,Persien‘ in
der Bibel von 1529; Sicilienland schon im 12. Jh. (vgl. Eremätsä 1956).
Neben offiziellen Staatsbezeichnungen wie Äthiopien, Brasilien, Bolivien,
Großbritannien, Italien stehen Namen von Inseln (Sizilien, Tasmanien nach
dem Seefahrer Tasman) und den verschiedensten Landschaften, z.B. Ana-
tolien, Andalusien, Dalmatien, Sibirien, Skandinavien, Thessalien; ferner die
Namen von Kontinenten Asien, Australien. – Von der gleichen Basis wird
mit -(i)er die Bewohnerbezeichnung, mit -isch das Zugehörigkeitsadjektiv
gebildet.
Eine umfangreiche Liste mit „Bezeichnungen für Länder und ihre Einwohner“ mit den
dazugehörigen Adjektiven hat Fuhrhop (1998, 233ff.) zusammengestellt (Karelien –
Karelier – karelisch; Sizilien – Sizilianer – sizilianisch).

Das Element -en begegnet nur noch selten. Es wird als Flexionssuffix im
appellativischen Wortschatz stark beansprucht, auch in der Verbalflexion,
dient als Derivationssuffix der Stoffadjektive und ist deshalb meist durch das
weniger belastete und eindeutigere -ien ersetzt worden. Man vgl. etwa noch
Norwegen, Polen, Schweden, Jemen, Libyen; ferner Hessen, Sachsen, Preußen.
Hierbei wird deutlich, dass es sich ursprünglich um die Bezeichnung der
Stämme handelte, die auf deren Territorium übertragen wurde.
2.3 Suffixderivation 253

Auch -ei (zur appellativischen Funktion ¢ 2.3.2.2) ist als toponymisches


Suffix weniger häufig als -ien, vgl. Lombardei, Mongolei, Slowakei, Türkei,
Walachei.

2.3.4.4 Deonymische Suffixe


Zu Eigennamen als kompositionelle Zweitglieder in deonymischer Funkti-
on wie -fritze, -heini ¢ 2.2.11.4.2.
Hier ist ergänzend auf entsprechende Suffixe zu verweisen. Die Modelle
sind unterschiedlich – im Allgemeinen nur schwach – produktiv. Sie bilden
in der Regel maskuline (auch dem Sexus nach) Personenbezeichnungen.
1) -bold, gelöst aus Namen wie Dietbold, tritt sowohl an substantivische
(Tugend-, Witz-, Lügenbold; Dünkelbold [Th. Mann], Spaßbold [PDW
2005]) als auch an verbale Basis (Rauf-, Sauf-, Trunkenbold). Scherzbold lässt
sich doppelt beziehen; vgl. auch Neid-, Schimpf-, Schmückebold (Kluge 1925,
34). Fast alle Bildungen sind umgangssprachlich und pejorativ konnotiert.
2) Das Element -ian/-jan kann verschiedene Quellen haben. In Dumm-
rian/Dummerjan, Liedrian/Liederjan wird der Vorname Jan (< Johannes)
anzunehmen sein (vgl. Dudenband 7, 1989, 140, 420); danach auch – mit
dem aus der Entstehung zu erklärenden -r- vor -ian/-jan – die deverbalen
Wortbildungen Poltrian, Schmierian, Stänkrian, Stolprian. Ob in Schlendrian
von einem frühnhd. jan ,Arbeitsgang‘ auszugehen ist (Dudenband 7, 2007,
724), erscheint uns fraglich; ursprünglich ,nachlässiger Kerl‘, seit dem 17. Jh.
,überalterter, nachlässiger Brauch‘. In Blödian, Grobian (seit dem 15. Jh.)
kann an das -ian von Heiligennamen wie Damian angeschlossen werden
(ohne -r); danach auch grober Jan, Grobhans (16. Jh.), vgl. Wilmanns 1899,
297.
3) -rich/-erich, gelöst aus Namen wie Fried(e)rich, bildet movierte Mas-
kulina (¢ 2.3.2.22[7]) sowie deverbale Personenbezeichnungen mit pejora-
tiver Konnotation: Lächerich ,lachsüchtiger Mensch‘ (Kluge 1925, 34),
Würgerich (M. W. Schulz). – Keine Personenbezeichnungen sind heute
Schlenk(e)rich ,Hieb mit den Händen‘, zu spätmhd. slenkern ,schleudern‘
und Tatterich ,Zittern der Hände‘, wozu tatterig ,zitternd‘. – Desubstanti-
visch sind Fähnrich (zu Fahne) und scherzhaft-okkasionell Postrich ,Post-
angestellter‘ (Weltbühne 1979), Politesserich ,männliche Politesse‘.
4) -ke hat sich als niederdeutsches Diminutiv- und Zugehörigkeitssuffix
(¢ 2.3.2.21[5]) in Familiennamen wie Steinke ausgebreitet, hat aber auch ein
– schwach produktives, landschaftlich-umgangssprachlich beschränktes –
Modell zur Bildung von Personenbezeichnungen, meist mit pejorativer
Konnotation, entwickelt: Raffke ,raffgieriger Mensch‘ < raffen, Steppke
254 2 Wortbildung des Substantivs

,kleiner Kerl‘ (wohl zur mitteldt.-niederdt. unverschobenen Form von Stop-


fen ,Korken‘, vgl. Dudenband 7, 2007, 817), Fatzke ,arroganter Mann‘ (zu
fatzen ,verspotten‘, Dudenband 7, 2007, 207).
Zu -i, das von hypokoristischen Namenformen wie Rudi aus zu einem
Suffix appellativischer Derivate geworden ist, ¢ 2.3.2.8.

2.3.5 Unproduktive Suffixe

Es kann nicht Aufgabe dieser Darstellung sein, auf die unproduktiven Suf-
fixe in aller Ausführlichkeit einzugehen. Doch entsprechend dem unter 1.1.3
und 1.7.1 Gesagten können sie nicht völlig ausgeschlossen werden. Wir
werden die Problematik am Suffix -t näher erörtern und danach einige
weitere Wortbildungsmodelle kurz skizzieren.
1) Paare wie fahren – Fahrt, nähen – Naht lassen den Motivationszusam-
menhang zwischen verbaler Basis und Verbalsubstantiv formal und seman-
tisch deutlich erkennen. Weniger deutlich, aber doch nachvollziehbar ist er
in tragen – Tracht, schlagen – Schlacht, fliehen – Flucht, ziehen – Zucht, schrei-
ben – Schrift, treiben – Trift und wohl auch in sehen – Sicht. Die formal gering
differenzierten Basen von Verb und Substantiv sind Stammvarianten. Die
Variante mit auslautendem Reibelaut tritt nur in Verbindung mit dem Sub-
stantivsuffix -t auf. Wortbildungen wie Abfahrt, Einsicht sind also deverbale
Derivate komplexer Verben, keine Komposita.
In Paaren wie pflegen – Pflicht, biegen – Bucht, drehen – Draht ist der
semantische Zusammenhang verdunkelt, sodass auf synchroner Ebene die
Substantive nicht mehr auf die Verben bezogen werden können, sondern als
Simplizia zu betrachten sind. Grenzfälle dürften vorliegen in graben – Gruft,
siechen – Sucht; doch liegt u.E. ihre Auffassung als Simplex näher.
Etwas anders sind die nicht seltenen Bildungen mit -kunft zu beurteilen,
vgl. An-, Ein-, Unter-, Zukunft. Sie lassen einen deutlichen semantischen
Zusammenhang mit den Partikelverben ankommen usw. erkennen, vgl. die
okkasionelle Kontamination Vergegenkunft („eine vierte Zeit“, G. Grass), die
durchaus verständlich ist. Im Unterschied zu -sicht, -sucht usw. existiert
-kunft nicht als freies Substantiv, jedenfalls nicht im allgemeinen Gebrauch.
Die Wortbildungen sind also wie das Modell abschreiben > Abschrif t zu
erklären: ankommen > ankunf t, wobei ankunf eine Variante von ankomm in
Verbindung mit -t darstellt. – In einigen Fällen stehen daneben deutlicher
motivierte Derivate mit -ung, teilweise semantisch differenziert: Abschrift –
Abschreibung, Vorsicht – Vorsehung.
2.4 Präfixderivation 255

2) Prinzipiell auf gleiche Weise sind die Wortbildungen auf -de zu behan-
deln (zur Geschichte vgl. Wilmanns 1899, 339 ff.). Allerdings ist ihre Zahl
heute kleiner, und sie sind auch weniger frequentiert. Motivationsbeziehung
zu einem Verb ist noch erkennbar in sich beschweren – Beschwerde, sich
freuen – Freude, zieren – Zierde, ferner bei einigen Zirkumfixen mit ge-…-e
(¢ 2.5). Isoliert sind dagegen Fehde (mhd. vēhen ,feindlich behandeln‘), Be-
hörde (mhd. behœren ,zugehören, zukommen‘) u.a. Teilweise konkurrieren
Wörter ohne -de wie Zier/de, Neugier/de, Begier/de (so nicht selten schon
mhd.: Wilmanns 1899, § 260 Anm. 1).
Mit adjektivischer Basis waren die -de-Derivate besonders zahlreich
(mhd. ermede ,Armut‘, dünnede ,Dünnheit‘); davon sind heute nur mund-
artliche Wortbildungen wie Dickde ,Dicke‘, Längde, Wärmde erhalten.
3) Repräsentanten weiterer, heute unproduktiver Wortbildungsmodelle
im nhd. Wortschatz sind u.a.: arm – Armut, Heim – Heimat, Zierrat (ahd.
-ōti), freien – Freite ,Brautschau‘, vorwiegend im Phrasem auf die Freite
gehen (vgl. Wilmanns 1899, 348), blühen – Blüte, jagen – Jagd, mähen – Mahd.

2.4 Präfixderivation

2.4.1 Grundsätzliches

Zur Qualifizierung der Präfigierung als Derivation ¢ 1.8.1.2; zur Charakte-


risierung des Präfixes als Wortbildungseinheit ¢ 1.6.2.2.
Die meisten Modelle sind produktiv; auf einige unproduktive wird hin-
gewiesen. Indigene und exogene Präfixe werden gesondert dargestellt. Ony-
mische Präfixe – entsprechend den unter ¢ 2.3.4 behandelten Suffixen – gibt
es im Deutschen nicht.
Die indigenen Präfixe tragen den Wortakzent des komplexen Substantivs;
lediglich ge- weicht davon ab, es bleibt unbetont.

2.4.2 Indigene Präfixe

2.4.2.1 Präfix erz-


Das Präfix erz-, homonym mit dem Substantiv Erz, aber anderen Ursprungs
(griech. archi- ,der Erste, Oberste‘, zunächst in Wortbildungen wie ahd.
erzibischof im Deutschen geläufig; vgl. Kluge 1925, § 78a), tritt vorwiegend
an Personenbezeichnungen.
256 2 Wortbildung des Substantivs

Es bedeutet ,von Grund auf in Bezug auf das in der Basis Genannte; das
Genannte ganz und gar verkörpernd‘ (Dudenband 10, 2002, 343) und wirkt
emotional verstärkend (Erzmusikant, Erzrivale).
Die Basissubstantive sind hauptsächlich entweder pejorative Personen-
bezeichnungen (Erzbösewicht, -feind, -gauner, -halunke, -lügner, -lump,
-schurke, -spitzbube) oder Bezeichnungen für Personen nach ihrer religiösen
oder politischen Überzeugung (Erzdemokrat, -faschist, -kapitalist, -katholik,
-kommunist, -protestant). Okkasionelle Bildungen kommen vor, bleiben
allerdings selten: rechte Erzlustigmacher (J. J. Bodmer), Erz-Ästheten
(Th. Mann), Erz-Gegner, Erz-Islamist, Erz-Konkurrent, Erz-Mime, Erz-Non-
konformist (alle PDW 2005; in nicht regelgerechter Bindestrichschreibung
belegt).
Unproduktiv ist das Präfix heute in der ursprünglichen Bedeutung mit
Wörtern wie Erzkanzler, -herzog u.Ä.
In Verbindung mit Sachbezeichnungen tritt das Präfix nicht auf; mit Ab-
strakta nur vereinzelt: Erzdummheit, -feindschaft, -übel.
Zu gelegentlicher Konkurrenz mit ur- ¢ 2.4.2.6.

2.4.2.2 Präfix ge-


Das Präfix ge- ist zu unterscheiden vom Zirkumfix ge-…-e, das an anderer
Stelle behandelt wird und dessen Allomorph ebenfalls ge- lautet (¢ 2.5).
Die Präfixmodelle haben eine substantivische Basis und sind unproduk-
tiv. Fast alle Bildungen sind Kollektiva, vorwiegend Sachbezeichnungen:
Geäst, Gebälk, Gebüsch, Gedärm, Gehörn, Gemäuer, Gestein, Gesträuch, Ge-
täfel, Gewölk; Getier. Mit ihnen konkurrieren z.T. (schon mhd. schuohwerc –
geschüehe) die Derivate auf -werk (¢ 2.3.2.19): Buschwerk, Mauerwerk u.a.
(Wilmanns 1899, 555). Historisch war die Präfigierung mit einem -j-Suffix
gekoppelt (insofern historisch Zirkumfigierung), weswegen auch stets Um-
laut eintritt, vgl. ahd. gibirgi, gifildi ,Gefilde‘ (vgl. Wilmanns 1899, 242ff.).
Das -j-Suffix ist jedoch (bis auf den Umlautreflex) geschwunden, sodass
synchron von Präfixwörtern auszugehen ist. Einzelne, meist demotivierte
Bildungen mit dem Zirkumfix ge-…-e wie Gebirge zu Berg, Gemüse zu Mus,
des Weiteren Gehäuse, Gelände sind für das gegenwartssprachliche System
nicht bestimmend. Anders als bei deverbalen Bildungen mit dem Zirkumfix
ge-…-e konkurrieren bei den desubstantvischen Bildungen Zirkumfix und
Allomorph ohne -e in der Regel nicht an derselben Basis, vgl. Gemüse –
*Gemüs, aber Gebelle – Gebell (¢ 2.5); ein Sonderfall: Gesell (veraltet, zu Saal)
– Geselle.
Bei einer Reihe von Präfixderivaten ist der kollektive Charakter verloren
gegangen; zwischen Simplex und Derivat bestehen nur noch geringe oder
2.4 Präfixderivation 257

keine semantischen Unterschiede: Stern – Gestirn, Wasser – Gewässer, Sims –


Gesims, Trank – Getränk. Völlig demotiviert sind Bildungen wie Gefäß, Ge-
länder, Genick, Geweih, Gewitter, die, da sie nur noch strukturell als Wort-
bildungen gelten könnten, als Simplizia anzusehen sind.
Personenbezeichnungen des Typs sind selten (Ausnahme: Gebrüder, Ge-
schwister) und in der Regel ebenfalls demotiviert (Gefährte, Gesell[e], Gesin-
de).

2.4.2.3 Präfix haupt-


Das Präfix haupt-, homonym mit dem Substantiv Haupt und etymologisch
damit identisch, ist funktional davon zu sondern. Es hat sich schon im Mhd.
von den Lesarten des Substantivs (,Kopf‘, ,wichtigste Person‘, nach GWDS
geh.) gelöst und ist stark reihenbildend geworden (mhd. schon houbetlist
,große Klugheit‘ u.Ä.; Wilmanns 1899, 559; vgl. auch Klein/Solms/Wegera
2009, 158).
Dass der Entwicklung des Präfixes eine starke Einschränkung im Ge-
brauch des freien Substantivs parallel läuft, zeigt Mater (1970). Dort ist
-haupt als kompositionelles Zweitglied 19-mal aufgeführt (darunter aller-
dings so wenig geläufige wie Gorgonenhaupt), während sich -kopf in dieser
Funktion 171-mal findet. Andererseits wird auf die starke Produktivität des
Präfixmodells hingewiesen (über 200 Wortbildungen im GWDS, wenig text-
sortengebunden, vgl. DWb 2, 156f.).
Wortbildungsbedeutung: ,aus mehreren gleichgearteten Größen die
wichtigste herausgreifend‘, vgl. Hauptarbeit, -düse, -film, -instrument, -pro-
blem, -weg; mit komplexen Basen in Hauptbahnhof, -aufmerksamkeit, -eisen-
bahnlinie, -kettenglied, -produktionsrichtung, -umschlagplatz. Auch Perso-
nenbezeichnungen sind damit verbindbar: Hauptabnehmer, -angeklagter,
-autor, -darsteller, -erbe, -person, -störenfried, -verbündeter, -zeuge. In Ver-
bindung mit bestimmten Berufsbezeichnungen dienen die Wortbildungen
mit haupt- als terminologisierte Bezeichnung für Inhaber höherer Dienst-
stellungen: Hauptabteilungsleiter, -buchhalter, -kassierer, -referent u.a.
Antonymisch dazu vielfach Neben- (Haupt-/Nebeneingang, -linie, -ge-
bäude, -person), seltener Bei- (Haupt-/Beikoch, -film) und Vor- (Haupt-/
Vorkampf, -saison, -verhandlung).
Synonymisch dazu teilweise Komposita mit Grund- (¢ 2.2.2.3.3): Haupt-/
Grundfrage, -gedanke, -nahrungsmittel, -widerspruch. Doch es bestehen auch
distributionelle Unterschiede. Haupt- tendiert zum Gebrauch mit Personen-
und Sachbezeichnungen, Grund- wird dagegen bevorzugt mit Abstrakta
kombiniert. Grundneigung, -eindruck, -gedanke, -idee, -trieb gehören schon
zum Wortschatz des deutschen Pietismus (vgl. Langen 1954, 170). Grund-
258 2 Wortbildung des Substantivs

hebt das Wesentliche hervor, das einer Sache „zugrunde“ liegt (daher pa-
raphrasierbar durch Syntagmen mit zugrunde liegend, grundsätzlich), haupt-
hebt hervor, was als wichtig angesehen wird (daher paraphrasierbar durch
Syntagmen mit hauptsächlich). So kommt es zu semantischen Differenzen:
Grundbegriff – Hauptbegriff, Grundkenntnisse – Hauptkenntnisse.
In Ansätzen konkurrieren noch andere kompositionelle Erstglieder, z.B.
Kern- (Kern-, Haupt-, Grundproblem), Schwerpunkt- (Haupt-, Schwerpunkt-
aufgabe).

2.4.2.4 Präfix miss-


Das Präfix miss-, als ahd. missa-, missi- das Verkehrte, Verfehlte eines Tuns
bezeichnend (zur Geschichte Richter 1963), erscheint in Substantiven
(sowie Adjektiven und Verben) unterschiedlicher Struktur: Missbilligung ist
deverbales Derivat von missbilligen; Missliebigkeit ist deadjektivisches Deri-
vat, so auch Misshelligkeit. Präfixbildungen im eigentlichen Sinne sind da-
gegen Wortbildungen wie Missbild, -farbe, -heirat. Auch Suffixderivate be-
gegnen als Basis: Missverhältnis, -stimmung; ferner Infinitivkonversionen
wie Missbehagen, -vergnügen. Anders dagegen Missfallen (nicht Präfixbil-
dung mit dem substantivierten Infinitiv, sondern Konversionsprodukt des
Präfixverbs). Missbrauch könnte vom Verb missbrauchen als Konversions-
produkt abgeleitet sein wie auch als substantivische Präfixderivation be-
trachtet werden. In Missgriff und Misserfolg kommt nur die letzte Möglich-
keit infrage, da es wohl die Verben greifen, erfolgen, nicht aber *missgreifen,
-erfolgen gibt.
Komposita sind als Basis nicht geläufig, ebensowenig Substantive, die
schon ein anderes Substantivpräfix aufweisen (Ausnahme: ge- wie in Miss-
geschick).
Die Präfixvariante Misse- erscheint nur in Missetat (-täter).
Als Bedeutung des Modells ist anzusetzen: ,vom Normalen, zu Erwarten-
den zum Negativen hin als unzulänglich (vgl. Ros 1980, 125f.) abwei-
chend‘, vgl. Missernte, -geburt, -heirat, -laune, Missbeurtheilung (R. Haym).
Bloße Negation drückt miss- nicht aus, es ist stets mit einer aktiven Wer-
tungsumkehrung (vgl. Ros, ebd.) verbunden: Missachtung ist mehr als Nicht-
achtung, Missgunst impliziert aktive menschliche Negativemotionen im Un-
terschied zu Ungunst (der Verhältnisse, eher objektiv) und Misstrauen ist als
,Argwohn‘ mehr als ,mangelndes Vertrauen‘; vgl. auch: „Die Missidee, die
ihn ritt, war zu […] einer Verfolgungsmanie geworden“ (Th. Mann); „Wie
viel Missverständnis und Misskenntnis […] jeden trifft, der in die Öffentlich-
keit geht“ (Ch. Wolf).
2.4 Präfixderivation 259

Nahe stehen sich un- und miss- in Un-, Missmut, Un-, Missbehagen, Un-,
Missetat; Fehl-/Missgriff; antonymisch z.T. Wohl- (¢ 2.6.2.3.1).

2.4.2.5 Präfix un-


Das Präfix un-, im Ablautverhältnis zu ahd. mhd. ne, ni ,nicht‘ stehend,
begegnet nur bei Substantiven, Adjektiven und wenigen Adverbien, nicht –
wie miss- – auch bei Verben; es zeigt, gerade umgekehrt wie miss-, starke
Beschränkungen in der Verbindung mit Verbalsubstantiven. Beim substan-
tivierten Infinitiv fehlt es fast völlig (Ausnahme: Unvermögen); dafür wird
nicht- verwendet (vgl. Wilmanns 1899, 569; Wilss 1994): Nichterscheinen,
-bestehen, -duldung (aber: Unbildung).
Weiteres zu un- im Verhältnis zu anderen indigenen und exogenen Negationsaffixen
vgl. Lenz 1995, 126ff.; Klosa 1996, 86ff.

Das Präfix wird mit simplizischem (Unart, -dank, -fall) oder komplexem
Substantiv (Untiefe, -dichte) sowie mit Präfixbildungen (Unursprünglichkeit)
verbunden. Die nicht seltenen Wortbildungen Unabhängigkeit, Unbeschei-
denheit, Unsicherheit u.Ä. können als Präfixbildung mit Substantiv als Basis
(Un abhängigkeit) oder als -heit/-keit-Derivat mit Adjektiv als Basis (Unab-
hängig keit) aufgefasst werden. Zahlreiche un-Substantive lassen sich nur als
Derivate mit dem Suffix -keit interpretieren: Unbändigkeit, -begreiflichkeit,
-nahbarkeit, -wirtlichkeit u.a.
Die Wortbildungsbedeutung zeigt auch hier – wie bei miss- – eine Ver-
flechtung von Negation und Wertungsumkehrung, vgl. z.B. „Da ich zwar
kein Widerkrist, kein Unkrist, aber doch ein dezidierter Nichtkrist bin …“
(Goethe an Lavater, zit. nach Weiß 1960, 336f.). Daher tendiert un- zur
Verbindung mit Substantiven, die sich auf positiv bewertete Begriffe bezie-
hen, deren Negation zugleich negative Wertung impliziert: Unaufrichtigkeit,
-anständigkeit, -geduld, -gehorsam, -ordnung, -ruhe u.v.a. Die umgekehrten
Fälle, Verbindung mit Wörtern für negativ bewertete Begriffe, ist viel selte-
ner: Unschuld, -missverständlichkeit; Letzteres allerdings auch als Suffixde-
rivat interpretierbar.
In einigen Fällen unterscheiden sich negierende un-Bildungen grammatisch von ihren
Basen, und zwar hinsichtlich des Zulassens von Komplementen: Dank für die Hilfe –
*Undank für die Hilfe; Lust zu einem Ausflug – *Unlust zu einem Ausflug; vgl. hierzu
detailliert Lenz 1995, 80ff.

In einer zweiten Wortbildungsreihe liegt keine Negation mehr vor, es do-


miniert die Wertung ,vom Normalen abweichend, unzulänglich‘ (vgl. miss-):
Unfall (älter auch Missfall, mhd. nōtval; ganz anders dagegen: im Nichtfall
260 2 Wortbildung des Substantivs

,wenn das nicht der Fall ist‘, Meusebach an J. Grimm), Unkraut, Unsitte,
Untempus (Bezeichnung für das deutsche Präsens), Untier, Unwetter,
Unwort, zur Unzeit; „das Unbild dieser unausführbaren Gefräßigkeit“
(Th. Mann); hierher auch schweizerdeutsche abwertende Wortbildungen
wie Unkuh, -schaf. Zu den Motivationsbeziehungen in Wortbildungen wie
Unstern zu Stern ,glücklicher Zufall, Umstand‘, Unmensch zu Mensch ,be-
stimmte moralische Normen beachtende Person‘ vgl. Schnerrer (1982, 49).
Abgesehen von den genannten Unmensch sowie Unperson (nach engl.
unperson), werden Personenbezeichnungen selten durch un- präfigiert; vgl.
etwa noch: „Scher dich in die Küche, Unweib…“ (H. Baierl); Helden und
Unhelden (E. Strittmatter); Unsportler (PDW 2006), Unfrau, Untochter
(belegt bei Lenz 1995, 18f.) Eine scheinbare Ausnahme machen zahlreiche
substantivierte Adjektive bzw. Partizipien: der Untätige, Unwissende, Unbe-
kannte. Hier sind jedoch in der Regel eher Konversionen adjektivischer bzw.
partizipialer Präfixbildungen anzunehmen (untätig > ein Untätiger).
In der Verflechtung von Negation und Wertungsumkehrung kann Letz-
tere auch zurücktreten, sodass zwischen Nicht- und un- kaum noch ein
Unterschied besteht. Das ist besonders in Texten der Wissenschaft der Fall,
vgl. z. B. Unparallelität – Nichtparallelität, Unschuld – Nichtschuld (Rechts-
sprache); ferner: bei der Nichterkennbarkeit und Unveränderbarkeit der Welt
(Weltbühne 1981). Dennoch bleibt die Konkurrenz selten.
In einer weiteren Wortbildungsreihe ist die Negation bei Zahlbegriffen als
,nicht bis zu Ende zählbar, nicht überschaubar‘ aufzufassen, woraus sich un-
bei Mengenbezeichnungen als Verstärkungs-, Steigerungspräfix entwickelt
hat: Unmasse ,ungeheuer große Masse‘, Unmenge, -summe, -zahl. Auch Un-
kosten als ,unvorhergesehene, neben den normalen Ausgaben entstehende
Kosten, zusätzlich‘ (vgl. auch älteres Ungeld ,Abgabe‘) ließen sich hierher-
stellen und die Doppeldeutigkeit von Untiefe, eigentlich ,nicht tiefe Stelle‘,
aber schon seit dem 18. Jh. auch als ,besonders tiefe Stelle‘ aufgefasst, rührt
hierher.
In einer Reihe von Un-Präfigierungen kommt die Basis als freies Simplex
nicht mehr vor (vgl. Schnerrer 1982, 49; Lenz 1995, 97ff.; ¢ 1.6.5): Unflat
(mhd. vlāt ,Zierlichkeit, Schönheit‘); Ungeziefer (ahd. zebar ,Opfertier‘); z.T.
sind es unikale Komponenten von Phrasemen (mit Fug und Recht, dazu
Unfug).

2.4.2.6 Präfix ur-


Das Präfix ur-, etymologisch von dem homonymen Substantiv Ur ,Auer-
ochse‘ zu trennen, erscheint noch als freie Präposition ahd. ur ,aus – her-
aus‘. Es verbindet sich heute mit substantivischen Simplizia und mit Deri-
2.4 Präfixderivation 261

vaten in einer dominierenden Wortbildungsreihe mit der Wortbildungsbe-


deutung „des Ursprünglichen, Anfänglichen und chronologisch Vorherge-
henden“ (Kluge 1925, § 76): Urmensch, Urelefant, Ur-Lokomotive (,erste Lo-
komotive‘), Urwald, Urzeit, Urbrennstoff (Weltbühne 1979), Ursagen der
Welt (J. G. Herder), Ureinheit der Dinge und Künste (H. Hesse); weniger
chronologisch als vielmehr psychisch tiefliegend: Urangst vor der Wissen-
schaft (Weltbühne 1989), Urgefühl (Ch. Wolf), Urerlebnis, Urschrei. Chro-
nologisch dagegen: den Ur-Mitgliedern der Sektion (Sinn und Form 1975). –
Antonymisch z.T. Ab-, vgl. Ur-, Abschrift; Ur-, Abbild.
Einige Wortbildungen sind terminologisiert: Uraufführung ,allererste
Aufführung eines Werkes‘ – Erstaufführung ,erste Aufführung einer be-
stimmten Inszenierung an einem bestimmten Ort‘, vgl. auch Urgeschichte –
Frühgeschichte, Urabstimmung ,unmittelbare Abstimmung (nicht über
Wahlmänner)‘, Urfaust, Urmeister ,Urfassung des „Wilhelm Meister“‘,
Urtierchen ,einzelliges Tier‘.
In den Bezeichnungen für die direkte Verwandtschaft beziehen sich die
Wortbildungen mit ur- immer auf eine Generation weiter zurück: Großvater
– Urgroßvater – Ururgroßvater, ferner Urenkel, -ahn usw.; vgl. auch Ururahn;
unsere Ur-Urvorfahren.
Verstärkend wirkt ur- vor allem bei Adjektiven (¢ 3.4.2.4); es erscheint
dann auch in deadjektivischen Substantiven wie Urgemütlichkeit und in sub-
stantivischen Präfixderivaten wie Urmusikanten neben Erzmusikanten (im
gleichen Text, TZ 1962); hierher auch Urgewalt.
Die ältere privative Bedeutung von ur- ,Heraussein aus einem Zustand‘
(Paul 1992, 667) ist heute noch in dem Historismus Urfehde, eigentlich
,Fehdelosigkeit‘, später ,Beendigung der Fehde‘ erkennbar; vgl. auch mhd.
ursage ,Aufkündigung der Freundschaft‘ (Wilmanns 1899, 566f.).
Die Wortbildungen mit ur- sind z. T. in der Lyrik sehr beliebt (vgl. DWb 2,
158); im Verhältnis zu haupt- und Grund- zeigen die Wörter mit ur- insge-
samt allerdings (vgl. Haupt-, Grund-, Urbegriff) die geringste Frequenz
(ebd., 158f.).

Übersicht 22: Augmentation und Diminuierung


Augmentation des Substantivs
1 Komposition
1.1 Substantiv als Erstglied (¢ 2.2.2.3.3)
Jahrhundert-, Mammut-, Monster-, Rekord-, Riesen-;
Grund-, Herzens-, Kern-, Schwerpunkt-, Spitzen-;
Affen-, Bullen-, Hunde-, Sau-, Bären-;
262 2 Wortbildung des Substantivs

1.2 Substantiv als Zweitglied (¢ 2.2.2.3.2)


-flut, -lawine, -riese, -sturm;
1.3 Adjektiv als Erstglied (¢ 2.2.3.2[2])
Groß-, Hoch- (Höchst-), Super-, Voll-;
1.4 Präposition als Erstglied (¢ 2.2.7.2[11])
Über-;
1.5 Konfix als Erstglied (¢ 2.2.8)
Makro-, Multi-, Poly-

2 Präfixderivation (Suffixderivation fehlt):


2.1 Erz- (¢ 2.4.2.1)
2.2 Haupt- (¢ 2.4.2.3)
2.3 Hyper- (¢ 2.4.3.1)
2.4 Un- (¢ 2.4.2.5)
2.5 Ur- (¢ 2.4.2.6)

Diminuierung des Substantivs


1 Komposition
1.1 Substantiv als Erstglied (¢ 2.2.2.3.3)
Teil-, Zwerg(en)-;
1.2 Substantiv als Zweitglied (¢ 2.2.2.3.2)
-zwerg;
1.3 Adjektiv als Erstglied (¢ 2.2.3.2[2])
Klein- (Kleinst-), Mini-, Schmal-, Schwach-, Halb-;
1.4 Konfix als Erstglied (¢ 2.2.8)
Mikro-, Nano-

2 Suffixderivation (Präfixderivation fehlt):


2.1 Diminutivsuffixe -chen, -el, -le, -lein, -ette, -ine (¢ 2.3.2.21)
2.2 Weitere Suffixe: -ling (¢ 2.3.2.10), -sel (¢ 2.3.2.15)

2.4.3 Exogene Präfixe

2.4.3.1 Negation und Augmentation

1) Die Negationspräfixe sind bei den Adjektiven stärker entwickelt als bei
den Substantiven. Hier begegnen selten a-, vor Vokalen an- (Analphabet),
ferner in- (Invariante), bisweilen auch in einer durch Assimilation an den
folgenden Konsonanten entstandenen Variante (Illegalität, Irregularität, hier
2.4 Präfixderivation 263

auch deadjektivisches Derivat möglich); weiter non- (lat. ,nicht‘) in Nonkon-


formismus. Weitere von Klosa (1996, 377) als exogene Präfixe bestimmte
Elemente ordnen wir den Konfixen (pseudo-, semi-) bzw. freien Lexemen
(contra, extra, quasi) zu.
Verflechtung von Negation und Wertungsumkehrung ähnlich wie miss-
zeigt dis- (lat. ,auseinander‘): Disproportion – Missverhältnis, Disharmonie,
Dissonanz, Disqualifikation.
2) Der Augmentation (vor allem als Verstärkung, Hervorhebung) dient
hyper- (griech. ,über‘), meist mit einer Tendenz emotional-negativer Wer-
tung: Hyperkultur ,Überfeinerung‘, Hyper-Intellektuelle (E. Strittmatter);
vgl. schon Hyperkritik gegenüber Superkraft bei Campe 1813 (vgl. Kluge
1925, § 78d). Präfixderivate mit hyper- finden sich v. a. in Fachsprachen,
dann ohne Wertungskomponente, vgl. Hyperfunktion, -ventilation (Medi-
zin), Hypermeter (Verslehre), Hyperschall (Physik).

2.4.3.2 Sonstige Präfixe

1) Das Element anti- (griech. ,gegen‘) entspricht weitgehend indigenem


gegen- und wider-, vgl. Antithese – Gegenthese; doch solche Dubletten sind
selten (zu einer differenzierten Darstellung unter Berücksichtigung auch
fachsprachlicher Entwicklungen von anti- vgl. Hoppe 1987); vgl. Antifaschis-
mus, Antialkoholiker, Antiheld, Antikörper, Antikritik; Anti-Resignation
(Ch. Wolf).
Einen charakteristischen Strukturtyp repräsentieren Wortbildungen wie
Antikriegs demonstration, Antiguerilla kampf, Antikrisen maßnahme, Antiha-
varie trainer, Anti-AKW- Demonstration. Das Erstglied ist nicht das Präfix,
sondern ein Syntagma anti- + Substantiv: anti- + Krieg ,gegen den Krieg‘,
anti + Guerilla ,gegen die Guerilla‘ usw. Doch frei kommt anti- in derartigen
Wortgruppen nicht vor; es wäre stets durch gegen zu ersetzen. – Sonderfall ist
die Doppelung Anti-Anti-Kommunisten (Weltbühne 1981), nicht als ver-
stärkende Doppelung, sondern in der Bedeutung ,Gegen-Antikommunis-
ten‘.
2) Das Präfix ex- (lat. ,aus – heraus‘) verbindet sich in der Regel mit – auch
indigenen – Personenbezeichnungen und bedeutet ,ehemals, gewesen‘ (seit
Ende 18. Jh. „nach dem Muster von lat. exconsul und französ. exministre“:
Kluge 1925, § 78d; Hoppe 1999): Expräsident, -weltmeister, Ex-Kolonial-
soldaten, Ex-Liebhaber, Ex-Theaterchefin; vgl. auch den Gedichttitel von
H. Heine Der Ex-Nachtwächter. – Bei Basen, die amtliche Titel bezeichnen,
konkurriert Alt- (-präsident, -magnifizenz).
264 2 Wortbildung des Substantivs

Rothstein (2009, 455) fasst ex-, alt-, noch- und jetzt- als „Wortbildungselemente mit
zeitlicher Bedeutung“ zusammen, die Basissubstantive temporal modifizieren, vgl.
unser Ex-Rentenstaatssekretär, Ex-IWF-Direktor und Jetzt-Bundespräsident (PDW 2006).

Fachsprachlich ist Ex- auch Kurzform für Explosions-: Exschutz (Fachwort


1984, 93); zu Ex ,ehemaliger Partner‘ ¢ 1.4.2.1; Hoppe 1999.
3) Das Präfix inter- (lat. ,zwischen‘) bedeutet ,zwischen‘ (vgl. etwa den
medizinischen Fachausdruck Intersex ,Einzelwesen, das Merkmale beider
Geschlechter aufweist‘), auch Interregnum ,Zwischenregierung‘, Interaktion.
Produktiv geworden ist es im Allgemeinwortschatz jedoch in der zweiten
Lesart ,international‘, gelöst aus dem Adjektiv international, insbesondere
im DDR-Wortschatz: Intertank, Interkosmonaut ,an internationalem Welt-
raumunternehmen beteiligter Kosmonaut‘, Interhotel, Intervision. Heute
sind Wortbildungen mit Inter- als Bezeichnung für internationale Unter-
nehmen, Veranstaltungen und dgl. verbreitet: Interbank; Intercamping, Inter-
Continental, Interpol, -regiozug, -werbung.
Wilss charakterisiert die hohe Produktivität der inter-Bildungen als „Allgegenwart“ des
Modells. An den Beispielen Interaktion, -disziplinarität, -nationalität und Mensch-Ma-
schine-Interaktion veranschaulicht er, „wie sich inter gegenwärtig zu einem Epochen-
begriff entwickelt“ (Wilss 1999, 126). Die Bildungen stünden für „Weltoffenheit und
Weitläufigkeit“, für „Modernität und Fortschritt“, wobei oft Vagheit des Ausdrucks
gegenüber semantischer Präzision überwiege. Es dominiere eine „ungefähre Vorstel-
lung vom jeweils Gemeinten“ (ebd., 128).
Einen Bedeutungswandel hat Intershop erfahren: DDR-geprägt bezeichnete Intershop
eine Einzelhandelskette, deren Waren nur mit konvertierbaren Währungen bezahlt
werden konnten; gegenwärtig kommt Intershop häufig in Namen von Kommuni-
kations- und anderen Unternehmen vor, vgl. Intershop Communications AG, Jena.

4) Das Präfix ko- (kon-, kol-, auch co-, lat. ,zusammen mit‘) entspricht
indigenem bei- oder mit-, vorwiegend bei Personenbezeichnungen wie Ko-
pilot/Copilot, Kollaborateur, Koregisseur, Kovorsitzender, Koautor. Ist die
Basis keine Personenbezeichnung, sind im Allgemeinen andere indigene
Entsprechungen üblich: Koexistenz ,(friedliches) Nebeneinanderleben‘, Ko-
edukation ,Gemeinschaftserziehung‘; Kontext ,Textzusammenhang‘, Koope-
ration ,Zusammenarbeit‘. Indigene Basen haben stattdessen bevorzugt mit-:
Miterbe, -häftling, -mensch (aber gelegentlich auch mit- an Fremdbasis: Mit-
autor). Okkasionell finden sich zahlreiche Belege für Wortbildungen mit co-
an indigener bzw. „gemischter“ Basis: Co-Besetzung, -Verwaltung, Co-Bun-
destrainer, Co-Aufsichtsratschef (PDW 2006); meist mit Bindestrich.
5) Das Präfix prä- (lat. ,vor‘) ist in analysierbaren Wortbildungen des All-
gemeinwortschatzes nur gering vertreten; es handelt sich meist um einzelne
2.4 Präfixderivation 265

Wörter aus Fachwortschätzen, stets mit exogener Basis: Prädisposition ,vor-


gegebene Disponiertheit‘, Prähistorie ,Vorgeschichte‘, Präexistenz, Präforma-
tion.
6) Das Präfix pro- (lat. ,vor, für, anstatt‘) bezeichnet in Prorektor, -dekan
den Stellvertreter, in Proseminar (gegenüber Haupt-, Spezialseminar) ein
Seminar für Studienanfänger. Syntagmen mit pro als Präposition bilden das
Erstglied in Wortbildungen wie Pro-forma-Rechnung, Pro-Kopf-Verbrauch.
7) Das Präfix re- (lat. ,zurück, wieder, entgegen‘) entspricht meist indi-
genem wieder: Reexport ,Wiederexport‘, Reinfektion ,Wiederansteckung‘, Re-
transfusion. Vielfach handelt es sich um deverbale Derivate von ausschließ-
lich exogener Basis.
8) Das Präfix trans- (lat. ,über – hin[aus], jenseits‘) tritt fast ausschließlich
in deverbalen Derivaten auf (Transformation), weiter in Fachwörtern wie
Transsexualismus, Transuran, in geografischen Namen wie Transjordanien
(östlich des Jordan), -kaukasien (südlich des Großen Kaukasus), -baikalien
(östlich des Baikals) sowie in Syntagmen (ähnlich pro-) wie Trans-Amerika-,
Trans-Europ-Express.
9) Das Präfix ultra- (lat. ,über – hinaus, jenseits‘) gibt in allgemeiner ver-
breiteten Fachwörtern (besonders der Physik) die Überschreitung bestimm-
ter Grenzwerte an und wird dabei auch mit heimischer Basis verbunden:
Ultrakurzwelle, -schall. Nach Wortbildungen wie ultrarechts, Ultrarechter,
-linker ist heute bereits ein Substantiv der Ultra ,Rechts-, Linksradikaler‘
gebräuchlich geworden.

2.4.4 Unproduktive Präfixe

1) Das Präfix mhd. aber- ,wieder, entgegen‘ (vgl. Wilmanns 1899, 575)
entwickelte die Bedeutung der Verstärkung, nhd. noch in Aberhundert(e),
-tausend(e), sowie die Bedeutung des Verkehrten, Falschen, nhd. noch in
Aberglaube, -witz ,Unsinnigkeit‘.
2) Das Präfix after-, homonym mit dem Substantiv der After und auch
etymologisch identisch damit, ist nhd. vertreten in analysierbaren Wortbil-
dungen wie Afterglaube ,Irrglaube‘, -lehre, -rede, -weisheit, vom GWDS als
veraltend kodifiziert, jedoch – im Unterschied zu den obengenannten Wort-
bildungen mit aber- – im Sprachgebrauch nicht mehr lebendig. Das ältere
Neuhochdeutsche kennt eine weit größere Zahl entsprechender Bildungen
(vgl. Kluge 1925, § 74); sie sind wegen des störenden semantischen Einflus-
ses von After durch andere ersetzt worden.

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