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Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?

Chris SCHANER-WOLLES

Korrespondenz an:
Institut für Sprachwissenschaft
Universität Wien
Berggasse 11/2/3
1090 Wien

Email: chris.schaner-wolles@univie.ac.at

Erschienen in:
„Sprachliche Förderung von Kindern im Jahr vor dem Schuleintritt.“
Tool Box 1. Herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft
und Kultur. Wien, August 2005. S. 19-30.

© Copyright bei Chris Schaner-Wolles, Wien 2005


© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 1

Beobachtet man Kleinkinder bei ihrer Erstsprachentwicklung,1 so stellt man schnell fest, dass
sich die Sprache des Kindes in vielerlei Hinsicht von der Erwachsenensprache unterscheidet:
• Kinder bezeichnen Dinge oft „falsch“, weil sie anfangs erst wenige Wörter kennen.
• Bereits gelernte Wörter haben für Kinder häufig noch nicht die gleiche Bedeutung, die
sie für Erwachsenen haben.
• Fehlt den Kindern das passende Wort, so „erfinden“ sie einfach ein neues, eigenes
Wort.
• Kinder lassen ganze Teile von Wörtern aus; sie beherrschen bestimmte Laute noch nicht
und ersetzen sie mitunter durch andere.
• Kinder produzieren zuerst noch keine vollständigen Sätze, sondern nur einzelne Wörter
oder Wortfolgen.
• Auch später lassen sie ganz bestimmte Wörter im Satz noch aus.
• Kinder verwenden anfangs noch gar keine Endungen, später auch falsche Endungen
(z.B. bei Zeitwörtern, um die Mehrzahlform von Hauptwörtern zu bilden oder um den
richtigen Fall zu markieren).
• Und, was oft nicht bedacht wird: Sie lernen die Sprache ohne konsequente Korrekturen,
denn wir betrachten ja die „Fehler“ als kindgemäß.
Diese Eigenarten der Sprache des Kindes sind bloß aus der Warte des Erwachsenen Fehler.
Für die sprachliche Entwicklung des Kindes sind sie typisch und unvermeidlich. Und wir
finden sie bei allen Kindern in gleicher Weise. Manche dieser Phänomene zeigen, wie kreativ
Kinder mit Sprache umgehen. Andere sind Beweis dafür, dass Kinder selbständig Regeln
entdecken: „ich gehe - er geht, ich stehe - er steht, ich singe - er singt, ...“. Scheint ja alles
klar und „kinderleicht“! Aber da macht die Sprache einem doch glatt einen Strich durch die
Rechnung. Sagen Kinder dann „er willt“, so meinen alle, das sei falsch und „er will“ sei
richtig. Tatsache ist jedoch, dass die korrekte Form „will“ eine Abweichung von der Regel ist,
und damit dem Kind gleichsam ein Bein gestellt wird.
Da das Kleinkind bestimmte Regeln der Erwachsenensprache noch nicht beherrscht, spricht
es noch anders als der Erwachsene. Doch relativ schnell gleicht sich seine Sprache immer
mehr an das sprachliche Vorbild seiner Umgebung an. Allmählich erwirbt das Kind seine
Erstsprache vollständig. Das Kind braucht dazu keine besondere Hilfe oder Schulung. Mit
ähnlicher Leichtigkeit kann es unter geeigneten Bedingungen sogar gleichzeitig problemlos
zwei oder mehr Erstsprachen lernen (z.B. die Muttersprache und eine andere Vatersprache,
oder die Sprache der Eltern und eine andere Sprache der Umgebung, siehe dazu auch den
Abschnitt „Zwei- und Mehrsprachigkeit im Kindesalter“ in meinem Beitrag 2.1 in diesem
Band).
Wie außergewöhnlich der kindliche Spracherwerb ist und wie viel Faszination davon ausgeht,
zeigt sich nicht nur in der einschlägigen Forschungstätigkeit der jüngsten Zeit. Schon im 7.
Jahrhundert v. Chr. hat sich ein ägyptischer Pharao der 26. Dynastie, Psammetichus I., dafür
interessiert – so berichtet der griechische Geschichtsschreiber Herodot in seinen Historien.
Psammetichus wollte herausfinden, was die Ursprache der Menschen gewesen war. Dazu
veranlasste er folgendes Experiment, dass seiner Meinung nach diese Ursprache ans Licht
bringen sollte: Zwei Kleinkinder sollten isoliert ohne Sprachangebot in einer Berghütte
aufwachsen. Dem Diener, der sie versorgte, war es nicht gestattet, ein einziges Wort mit ihnen
zu reden. Der Pharao glaubte, dass die Sprache, welche die Kinder unter solchen Umständen
von sich aus produzieren würden, die Ursprache der Menschheit sein musste. Das erste Wort,
das die Kinder sagten, klang wie „bekos“. Nach einiger Suche stellte sich heraus, dass dies

1
Der Terminus Erstsprache hat sich immer mehr anstatt der so genannten „Muttersprache“ durchgesetzt, da es
sich dabei eventuell auch um die Sprache des Vaters handeln kann.
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 2

das Wort für 'Brot' im Phrygischen war, einer inzwischen ausgestorbenen Sprache, die damals
im mächtigen Reich im Nordwesten der heutigen Türkei gesprochen wurde.
Die Problematik eines Experiments dieser Art – sowohl in ethischer Hinsicht als auch in
seiner Aussagekraft – steht heute selbstverständlich außer Frage. Interessanter als der
überlieferte Ausgang des Experiments ist aus heutiger Sicht allerdings die Tatsache, dass der
Pharao angenommen hat, Sprache – ja sogar der Wortschatz – sei den Kindern angeboren und
würde sich auch ohne Angebot aus der Umgebung von selber entwickeln. Das nimmt wohl in
dieser extremen Form längst niemand mehr an.
Noch immer diskutiert wird heute jedoch, welche angeborenen Fähigkeiten für welche
Aspekte des Spracherwerbs verantwortlich sind und welche Rolle dem sprachlichen Angebot
aus der Umwelt dabei zukommt. Im Laufe dieses Beitrags wird dieses Thema noch wiederholt
angesprochen.

Aus der Geschichte der Erstspracherwerbsforschung

Erste Tagebuchstudien
Die Erforschung des kindlichen Spracherwerbs ist ein relativ junges Anliegen jener
Wissenschaft, die sich mit Sprache in all ihren Facetten beschäftigt, nämlich der
Sprachwissenschaft oder Linguistik.
Im ausgehenden 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Sprache des Kindes und
ihrer Entwicklung allerdings von der Psychologie, Pädagogik, Philosophie und Medizin
Interesse entgegengebracht. Aus dieser Zeit liegt zu unterschiedlichen Sprachen eine Reihe
von Tagebüchern vor, in denen von Nicht-Sprachwissenschaftlern Beobachtungen zur
Sprache der eigenen Kinder festgehalten worden sind. Einen Höhepunkt der psychologisch
orientierten Kindersprachforschung jener Zeit bildet die Arbeit des Ehepaars Clara und
William Stern. Ihre 1907 erschienene Monographie Kindersprache. Eine psychologische und
sprachtheoretische Untersuchung (3.Auflage 1922) basiert auf ausführlichen
Tagebuchaufzeichnungen ihrer Kinder Hilde und Günther vom ersten bis zum sechsten bzw.
fünften Lebensjahr. In theoretischer Hinsicht war William Stern (1871-1938) seiner Zeit weit
voraus. Die damals bereits heftige Kontroverse darüber, ob Kinder ihre Sprache einzig durch
Nachahmung der Umgebung erlernen oder aber dabei eigene Spontaneität zeigen,
betrachtete er bereits als grundsätzlich verfehlt. In seiner Konvergenztheorie spricht er sich
für eine Synthese der beiden Meinungen aus, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht:
„Das eigentliche Problem lautet also gar nicht, ob Nachahmung oder Spontaneität,
sondern inwiefern sich bei der Übernahme, Auswahl und Verarbeitung der von
außen gebotenen Formen und Bedeutungen innere Tendenzen und Kräfte betätigen.“
(zitiert aus Stern / Stern 19223: 122).
Für die Sterns beruht die Sprache des Kindes vielmehr „auf dem fortwährenden
Zusammenwirken von äußeren Eindrücken mit inneren meist unbewußt wirkenden
Anlagen“ (zitiert aus Stern / Stern 19223: 123).

Ähnliche Überlegungen finden in die Linguistik erst 50 Jahre später Eingang mit den Arbeiten
von Noam Chomsky. Mit dem Erscheinen seiner ersten Publikationen Ende der fünfziger
Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hatte die Geburtsstunde einer kognitionswissenschaft-
lich orientierten Sprachwissenschaft geschlagen und damit auch die einer dezidierten
Hinwendung auf die Erforschung des kindlichen Spracherwerbs. Nicht Sprache als
Kulturtechnik, als Medium der Kommunikation oder als Teil sozialen Handelns, sondern als
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 3

eine spezifisch kognitive Fähigkeit steht im Mittelpunkt des Interesses einer kognitiv
orientierten Linguistik. Gegenstand des Interesses dieser Richtung ist die menschliche
Sprachfähigkeit als spezifische Leistung der menschlichen Kognition und damit des
menschlichen Gehirns. In diesem Zusammenhang erhalten Fragestellungen wie die
nachfolgenden selbstverständlich zentrale Bedeutung:
• Wie wird das Sprachsystem erworben?
• Wie entwickelt sich Sprache beim Kleinkind?
• Wie ist die Beziehung zwischen sprachlicher und nicht-sprachlicher kognitiver
Entwicklung?
• Wie, wann und wo manifestieren sich Sprachentwicklungsauffälligkeiten?
• Wie ist unser sprachliches Wissenssystem in unserem Gehirn verankert? Was spielt sich
beim Produzieren bzw. beim Verstehen von Sprache im Gehirn ab?
• Wie, wann und wo bewirken Schädigungen des Gehirns einen Verlust von erworbenen
Sprachfähigkeiten - beispielsweise infolge von einem Schlaganfall, einem Schädel-
Hirn-Trauma, einem Hirntumor, oder von degenerativen Erkrankungen des Gehirns wie
Demenz?
An dieser Stelle ist ein kurzer Blick auf das menschliche Gehirn und seiner Entwicklung
angebracht. Damit soll Einsicht in die neurologischen Grundlagen des Spracherwerbs-
prozesses und der Sprachentwicklung beim Kleinkind geboten werden. Diese sind speziell für
das Verständnis von Sprachentwicklungsverzögerungen und -störungen bedeutend.

Sprache und Gehirn

Das menschliche Gehirn besteht aus Milliarden von Nervenzellen (Neuronen), die sich im
Laufe der Entwicklung zu informationsverarbeitenden Schaltkreisen zusammenschließen.
Eine Nervenzelle hat normalerweise an ihrem Zellkörper, der den Zellkern enthält, einen
längeren Ausläufer, der Information von der Zelle weg leitet (das Axon mit einer Länge von
wenigen Tausendstel eines Millimeters bis zu 2 Metern – die längsten verbinden das
Rückenmark mit den Händen und Füßen), und ein verästeltes System von kurzen Ausläufern,
die neurale Impulse von anderen Neuronen empfangen (Dendriten). Siehe dazu Abbildung 1.
Innerhalb einer Nervenzelle wird die Information in Form von kurzen elektrischen Impulsen
(Aktionspotentialen) weitergeleitet. Damit solche Impulse am Ende eines Axons zur nächsten
Nervenzelle gelangen können, müssen sie einen Spalt oder Schaltstelle (Synapse) überwinden.
Die Übertragung über den synaptischen Spalt vollzieht sich auf biochemischen Weg mittels
chemischer Botenstoffe (Neurotransmitter).
Um einen Teil der Axonen bildet sich im Laufe der Entwicklung eine Fettschicht, die
Myelinscheide. Sie ist vergleichbar mit der Isolationsummantelung bei Elektroleitungen: Sie
verhindert Interferenzen oder „Kurzschlüsse“ bei der Informationsübertragung und
bescheunigt die Übertragung.
Das Erwachsenenhirn ist das komplexe Produkt des Zusammenwirkens genetischer und
umweltbedingter Faktoren. Um die Mitte der Schwangerschaft ist die Bildung von Neuronen
bereits weitgehend abgeschlossen, und sämtliche wichtigen Hirnstrukturen sind angelegt.
Damit die hunderten Milliarden Neuronen eines menschlichen Gehirns sich in nur knapp vier
Monaten entwickeln können, müssen in der ersten Schwangerschaftshälfte pro Minute mehr
als eine halbe Million produziert werden, rechnet die Entwicklungsbiologin Lise Eliot in
ihrem Buch Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebens-
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 4

jahren (Eliot, 2001: 40). Die Neuronen sind zwar da, aber erst Keimlinge mit einem kurzen
Axon, ganz wenigen Dendriten und kaum synaptischen Verbindungen unter einander.

Die Bildung von solchen Schaltstellen (Synapsen) macht die Hauptarbeit der
Gehirnentwicklung aus und dauert die gesamte Schwangerschaft bis ins zweite Lebensjahr
nach der Geburt. „In der Spitzenzeit werden an jedem Neuron des Kortex2 an die 15000
Synapsen erzeugt; das entspricht einer Geschwindigkeit von 1,8 Millionen neuer Synapsen
pro Sekunde“ (Eliot, 2001: 41). Die Unterschiede in der Anzahl der Synapsen bei einem
neugeborenen, einem dreimonatigen und einem zweijährigen Kind sind in Abbildung 2
schematisch dargestellt.
Tatsächlich werden in dieser Zeit etwa doppelt so viele Synapsen produziert, wie dann
schließlich gebraucht werden. Das Gehirn eines Zweijährigen hat doppelt soviel Schaltstellen
wie das eines Erwachsenen. Warum dies so ist, erklärt Eliot damit, dass anfangs vorwiegend
die Gene für die Verschaltung des Gehirns verantwortlich sind. Sie steuern das Wachstum
von Axonen und Dendriten und sind dafür verantwortlich, dass im Säuglingsalter und in der
frühen Kindheit – wahllos und ziemlich ungeordnet – massenweise Synapsen gebildet
werden. Solange ein Überschuss an Synapsen vorhanden ist, herrscht eine sensible oder
kritische Phase mit größtmöglichem Lernpotential (siehe zu kritischen Phasen in der
kindlichen Sprachentwicklung auch Schaner-Wolles unter 2.1 in diesem Band). Während
dieser Zeit ist das Gehirn noch im höchsten Maße formbar und kann sich noch in
unterschiedliche Richtungen entwickeln.
Hier spielt jetzt der Einfluss und das Angebot aus der Umgebung hinein. Gene und Umwelt
sind beide wichtig und bestimmend für die Entwicklung (der Beitrag von Schaner-Wolles
unter 2.1 in diesem Band geht darauf für den kindlichen Spracherwerb näher ein). Die

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Kortex oder Großhirnrinde, siehe später in diesem Abschnitt für Details.
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 5

Umwelt beeinflusst die Struktur und damit letztlich die Funktion eines Gehirns. Das Gehirn
wiederum bestimmt das Verhalten, aber auch umgekehrt bestimmt das Verhalten das Gehirn.
Diese gegenseitigen Zusammenhänge lassen sich schematisch wie folgt darstellen:

Gene

Struktur ↔ Funktion ↔ Verhalten

Umwelt

Alle Erfahrungen, die ein Kind macht, bewirken die Aktivierung gewisser Synapsen und
sichern damit die Überlebenschancen dieser Synapsen. „Synapsen hingegen, die selten
aktiviert werden – ob wegen nie gehörter Sprachen, nie gespielter Musik, nie ausgeübter
Sportarten, nie gesehener Berge oder nie empfundener Liebe –, verkümmern und sterben ab.“,
schreibt Eliot (2001: 49).
So büßt das Kind täglich etwa zwanzig Milliarden Synapsen ein. Sobald der Überschuss
abgebaut ist, ist die sensible Phase vorbei, und das Gehirn muss mit seinen vorhandenen
Schaltkreisen auskommen. Zwar ist auch das Erwachsenenhirn noch imstande, neue Synapsen
zu bilden, und behält damit noch eine gewisse Plastizität (Lernen ist auch später noch
möglich, und nach einer erworbenen Hirnschädigung ist sogar ein „Umlernen“ bis zu einem
gewissen Grad möglich), aber so flexibel und formbar wie im Kindesalter ist es nicht mehr.
Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Gehirns ist die oben bereits
angesprochene Myelinbildung. Diese beginnt zwar schon kurz vor der Geburt, vollzieht sich
allerdings in den verschiedenen Hirnregionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und
unterschiedlich schnell. Die Reihenfolge der Myelinbildung in den verschiedenen
Gehirnregionen ist weitgehend genetisch gesteuert. Dieser Zeitplan erklärt auch, warum sich
alle gesunden Babys und Kleinkinder der Welt auf sehr ähnlicher Weise entwickeln und
bestimmte Meilensteine nach eben diesem Zeitplan erreichen. Beispielsweise lernen alle etwa
um den gleichen Zeitpunkt herum und auf ähnliche Weise laufen; auch in ihrer sprachlichen
Entwicklung zeigen sich bei allen Kindern (gleichgültig welche Sprache sie von ihrer
Umgebung erwerben) erstaunliche Parallelitäten, worauf im nächsten Abschnitt und auch in
meinem Beitrag unter 2.1 in diesem Band näher eingegangen wird.
Das Gehirn besteht aus mehreren anatomisch voneinander abgegrenzten Teilen. Der größte
Teil ist das Großhirn, das aus einer linken und einer rechten Hälfte (Großhirnhemisphäre)
besteht. Die beiden Großhirnhälften sind durch den Balken (Corpus callosum) im inneren des
Kopfes miteinander verbunden: Als dicker Nervenfaserstrang sichert er den Informations-
austausch zwischen beiden Großhirnhälften.
Die Großhirnrinde (Kortex) ist die dünne Oberflächenschicht des Großhirns – 1,5 bis 4,5
Millimeter dick –, in der sich die Nervenzellkörper (vgl. Abbildung 1) befinden. In dieser so
genannten grauen Substanz sind höhere Hirnfunktionen wie Sprache angesiedelt. Der Kortex
ist in Windungen und Furchen gefaltet, wodurch seine Gesamtoberfläche und dadurch auch
seine Leistungsfähigkeit stark vergrößert sind. In der darunterliegenden so genannten weißen
Substanz liegen die Axonen (vgl. Abbildung 1), welche unterschiedliche Regionen der
Hirnrinde miteinander verbinden. Die Fettschicht um die Axonen, die Myelinscheide, ergibt
die blasse Färbung.
Jede der beiden Großhirnhälften hat ihre eigene Rolle. Bei manchen Funktionen übernimmt
eine der beiden die Führung, indem sie stärker oder fast ausschließlich für die betreffende
Funktion zuständig ist. Man spricht hier von der „Dominanz“ einer Hirnhälfte in Bezug auf
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 6

die betreffende Funktion. Bei fast allen Rechtshändern (rund 98%) und bei einem Großteil
(etwa 70%) der Linkshänder ist die linke Hemisphäre dominant für Sprache.
Dementsprechend können Hirnschädigungen in der linken Großhirnhälfte bei den meisten
Menschen zu Sprachstörungen (Aphasien) führen. Bereits ab der 29. Schwangerschaftswoche
lassen sich in jenen Teilen des Gehirns, die für Sprache relevant sind, strukturelle
Unterschiede feststellen: Ein bestimmter Bereich des Schläfenlappens (das Planum
temporale) wächst in der linken Hemisphäre stärker als in der rechten. Diese frühe
Spezialisierung spricht sehr für eine genetische Grundlage des Sprachvermögens. Während
der sensiblen Phase für den Spracherwerb im frühen Kindesalter schreitet diese
Spezialisierung der linken Großhirnhälfte für Sprache immer weiter fort. Man nennt diesen
Prozess die Lateralisation.
Wie anfangs bereits erwähnt, weist das Gehirn in den ersten Lebensjahren eine große
Plastizität auf. Dadurch ist es in diesen frühen Phasen sogar noch möglich, dass die rechte
Hirnhälfte die Funktionen der linken übernimmt und sich zur sprachdominante entwickelt,
auch wenn die Sprachstrukturen vor der Geburt in der linken Hirnhälfte angelegt wurden.
Hirnschädigungen, die bei Erwachsenen eine dauerhafte Sprachstörung (Aphasie)
verursachen, beeinträchtigen Kinder in ihrer Sprachentwicklung eventuell gar nicht. Kinder,
denen in den ersten vier bis fünf Lebensjahren sogar die gesamte linke Großhirnhälfte entfernt
wurde – bei schweren Formen von Epilepsie manchmal die einzige Therapie –, stellen sich
nahezu wieder vollständig her. Abbildung 3 zeigt das Gehirn eines siebenjährigen Mädchens,
dem mit drei Jahren die sprachdominante linke Hirnhälfte entfernt werden musste – auf dem
Bild zeigt sich dafür rechts nur ein schwarzer leerer Fleck.
Abgesehen von leichten Spasmen im rechten Arm und Bein, sowie einem partiell
eingeschränkten Gesichtfeld führt das Kind ein völlig normales Leben. Besonders
faszinierend ist die Zweisprachigkeit dieses Mädchens. Auch ohne linke Hirnhälfte erwarb es
problemlos Niederländisch und Türkisch – das Erlernen der Sprachen wurde von der rechten
Hirnhälfte übernommen. Wird eine solche Operation erst einige Jahre später nach Abschluss
der kritischen Phase durchgeführt, so geht die Sprachfähigkeit komplett verloren.

Abbildung 3: „Sprachlich unauffällig mit einem


halben Hirn“ – die Aufnahme zeigt das Gehirn
eines zweisprachigen Mädchens, dem die linke,
sprachdominante Gehirnhälfte entfernt werden
musste.
(Aus: Borgstein, Johannes & Caroline
Grootendorst, Clinical Picture. Half a Brain. In:
The Lancet, Vol.359, Feb.9. 2002, 473.)

Moderne Langzeitfallstudien: Ihre Bedeutung und Problematik

Eine bevorzugte Methode in der Erstspracherwerbsforschung ist nach wie vor die
Langzeitfallstudie. Heutzutage werden dazu allerdings nicht mehr bloß Tagebuchaufzeich-
nungen gemacht, sondern die Sprache einzelner Kinder wird – während Spiel- und
Alltagstätigkeiten, meistens im Dialog mit einem Elternteil – über größere Zeiträume,
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 7

regelmäßig auf Ton- oder Videoband aufgezeichnet. Diese werden anschließend verschriftet,
analysiert, ausgewertet und interpretiert.
Um zu allgemeinen Erkenntnissen über die kindliche Sprachentwicklung und zu einer
gesicherten Theorie über den Spracherwerb zu gelangen, sind ausreichende und repräsentative
Daten von möglichst vielen Kindern notwendig. Denn nur durch den Vergleich von mehreren
Langzeitfallstudien lässt sich feststellen:
• welche Merkmale invariant sind und für alle Kinder Gültigkeit haben,
• welche Merkmale individuell variieren, und
• welche Bandbreite der individuellen Variation es gibt.
Schließlich werden Erkenntnisse dieser Art aus unterschiedlichen Sprachen miteinander
verglichen, um sprachspezifische Eigenheiten, Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen
Sprachen und allgemein gültige Merkmale herauszufinden.
Ergebnisse und Erkenntnisse aus Spracherwerbsstudien dieser Art haben nicht nur Bedeutung
für die Sprachwissenschaft. Sie sind darüber hinaus wichtig für entsprechende angewandte
Bereiche. Beispielsweise lassen sich kindliche Sprachentwicklungsauffälligkeiten - wie
Verzögerungen oder Störungen – nur nach einem Vergleich mit Zielnormen und Zielverläufen
der unauffälligen Entwicklung eindeutig bestimmen und bewerten. Letztere sind in solchen
Fällen selbstverständlich auch bedeutend und richtungweisend für Sprachförderung oder
Sprachtherapie.

Einige grundlegende Beobachtungen zum Erstspracherwerb

Der Spracherwerb ist artspezifisch


Nur der Mensch erwirbt Sprache. Kommunikationssysteme, die bei Tieren bekannt sind (z.B.
bei Bienen, Walen, Vögeln, etc.), unterscheiden sich grundlegend von der menschlichen
Sprache. Sie sind in ihrem jeweiligen Repertoire sehr eingeschränkt und erlauben bloß eine
begrenzte Anzahl von fixen „Mitteilungen“. Ihnen fehlt jene Grammatik, durch die die
menschliche Sprache ausgezeichnet ist. Denn schließlich ist es diese Grammatik, die uns
anhand einer begrenzten Anzahl von Formen und Regeln die Möglichkeit bietet, eine
gleichsam unendliche Anzahl von stets neuen Sätzen zu produzieren und zu verstehen.
Die zahlreichen, intensiven Versuche, Menschenaffen Sprache beizubringen (sei es Laut- oder
Gebärdensprache oder eine graphische Symbolsprache) scheiterten. Auch wenn es einem Tier
gelingt, einen begrenzten Wortschatz zu erwerben, so bleibt ihm trotz intensiven Trainings
der Einstieg in die Grammatik, den ein Kind zwischen zwei und vier Jahren mühelos meistert,
eine unüberwindbare Hürde. Ob der Bonobo-Schimpanse Kanzi, der in den 80er Jahren am
Language Research Center der Georgia State University nahe Atlanta sprachlich trainiert
wurde, diese Hürde tatsächlich schaffen konnte, bleibt dahingestellt. Die Geschichte seines
sprachlichen Erfolgs schildern Sue Savage-Rumbaugh und Roger Lewin in ihrem 1995
erschienenen Buch „Kanzi“.

Der Erstspracherwerb erfolgt leicht und problemlos


Unter „normalen“ Umständen erwirbt jedes Kleinkind die Sprache(n) seiner Umgebung ganz
spontan, von sich aus – ohne spezielle Instruktion und ohne Unterricht. Später in der Schule
beherrscht es „seine“ Sprache längst, d.h. jene Variante seiner Familie und Umgebung, z.B.
eine bestimmte dialektale bzw. regionale Variante. Was ihm im Unterricht dann gelehrt
werden muss, sind die Eigenheiten der Normvariante seiner Sprache, der so genannten
Hochsprache oder Standardsprache. In Extremfällen kann die Standardsprache allerdings
sehr weit entfernt sein von jener Variante, die das Kind als Erstsprache erworben hat. Man
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 8

denke z.B. an schweizerdeutsche oder vorarlbergische Varianten des Deutschen. Hier


bedeutet der Erwerb der Standardsprache schon nahezu den Erwerb einer Zweitsprache.

Der Erstspracherwerb ist bei allen Kindern grundsätzlich gleichförmig


Unabhängig von der Sprache, die sie lernen, und vom sprachlichen Angebot aus der
Umgebung lassen sich bestimmte invariante Verlaufsmuster feststellen, die für alle Kinder in
allen Sprachen gelten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich alle Kinder vollkommen gleich
verhalten. Selbstverständlich lassen sich zwischen einzelnen Kindern auch Unterschiede
feststellen. Diese zeigen sich u.a. ganz offensichtlich in der Entwicklungsgeschwindigkeit.
Individuelle Unterschiede lassen sich auch in der Reihenfolge, in der einzelne Merkmale
erworben werden, beobachten. Allerdings werden sich solche Variationen nur in einem
vorhersagbaren Rahmen bewegen, sie werden sich bevorzugt in bestimmten Bereichen zeigen
und sich dann bloß innerhalb gewisser Bandbreiten abspielen.

Der Erstspracherwerb erfolgt sehr früh und relativ schnell


Der Erstspracherwerb erfolgt in einem Alter, in dem das Kind zu anderen vergleichbar
komplexen kognitiven Leistungen nicht in der Lage ist. Besonders auffallend ist, wie früh und
schnell Kinder die Grammatik ihrer Sprache erwerben. Schließlich ist die Grammatik einer
Sprache ein äußerst komplexes Regelsystem. Und dieses Regelsystem erwerben Kinder im
Normalfall größtenteils vor ihrem vierten Geburtstag. Ab dann bilden Kinder grammatisch
korrekte Sätze und verstehen auch bereits problemlos komplexere Sätze. Anders als beim
späteren bewussten Lernen von Grammatikregeln im Sprachunterricht erfolgt der
Grammatikerwerb der Erstsprache beim Kleinkind unbewusst. Dementsprechend kann das
Kleinkind die Regeln seiner Grammatik zwar anwenden aber selbstverständlich nicht
formulieren bzw. darüber reflektieren. Für den Erwerb einer Sprache sind solche Fähigkeiten
auch gar nicht notwendig. Um Fähigkeiten dieser Art zu erlangen, ist eine bewusste
Auseinandersetzung mit den komplexen, abstrakten Zusammenhängen, wie sie in einer
Grammatik gegeben sind, gefragt. Und eine kognitive Leistung dieser Komplexität ist vor
einem Alter von zehn, zwölf Jahren nicht erfolgreich möglich (deshalb wird man Kinder mit
anderen formalen Regelsystemen, wie sie z.B. in der Mathematik gegeben sind, im Unterricht
auch erst ab diesem Alter konfrontieren).

Für den Erstspracherwerb gibt es kritische, sensible Perioden


Kennzeichnend für Leistungen, die durch angeborene Fähigkeiten ermöglicht werden, ist der
Umstand, dass sie mit einer bestimmten zeitlichen Periode der Entwicklung gekoppelt sind.
Der Erwerb der fraglichen Leistung muss während dieses Entwicklungsfensters angestoßen
werden. Zu einem späteren Zeitpunkt ist die Ansprechbarkeit oder Aufnahmebereitschaft
entweder gar nicht mehr oder nicht mehr im gleichen Maße möglich. Dies gilt auch für den
Spracherwerb. Der Erstspracherwerb ist nur während einer bestimmten sensiblen Periode
problemlos möglich. Dies beweisen die zwar seltenen aber tragischen Fälle von verwahrlosten
Kindern, die – ähnlich den Kindern, die der Pharao einsperren ließ – jahrelang in Isolation
vegetieren mussten. Näheres dazu auch noch im nächsten Abschnitt.

Theorien des Erstspracherwerbs

Behaviorismus versus Nativismus


In Anlehnung an den Behaviorismus wurde von psychologischer Seite lange Zeit die Ansicht
vertreten, der Spracherwerb ließe sich in seiner ganzen Komplexität auf die einfachsten
Prinzipien des Konditionierens zurückführen. Die sprachlichen Lernprozesse wurden auf
Erfahren, Nachahmung und selektive Verstärkung zurückgeführt.
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 9

Sprachwissenschaftliche Untersuchungen konnten jedoch nachweisen, dass die Imitation im


Spracherwerbsprozess eine untergeordnete Rolle spielt und speziell den Erwerb der
Grammatik nicht erklären kann:
• Die meisten Äußerungen des Kindes sind spontan.
• Imitierte Äußerungen unterscheiden sich weder in ihrer Länge noch in ihrer Struktur
von spontanen Produktionen des Kindes.
• Beim Erwerb ihrer Grammatik lassen sich zwischen den einzelnen Kindern erstaunliche
Parallelitäten feststellen – unabhängig vom konkreten sprachlichen Input, den die
einzelnen Kleinkinder von ihrer jeweiligen Umgebung bekommen.
• Kinder verwenden überdies Formen, die sie von Erwachsenen nie gehört haben (z.B.
Hemder, Mannen, Luftballöne für Hemden, Männer bzw. Luftballons oder kommte statt
kam, gegeht statt gegangen, Mama Kaffee trinken für Mama trinkt Kaffee).
• Auch solche Kinder, die nicht imstande sind nachzusprechen, weil sie beispielsweise
aus neuromuskulären Gründen nicht sprechen lernen konnten, können sehr wohl ein
ausgezeichnetes Sprachverständnis entwickeln.
Innerhalb der sprachwissenschaftlich orientierten Spracherwerbsforschung findet der
nativistische Ansatz als Erklärungsmodell für den Grammatikerwerb regen Anklang. Dabei
werden spezifische, angeborene Fähigkeiten und spezifische Erwerbsmechanismen als
Grundlage für den kindlichen Grammatikerwerb angenommen. Dementsprechend wird der
kindliche Grammatikerwerb nicht als Erwerb von Gewohnheiten, sondern als Entfaltung
dieser angeborenen Erwerbsfähigkeiten verstanden. In diesem Prozess hat die Umgebung
lediglich eine auslösende Funktion. Zwar braucht das Kind zur Entfaltung seiner angeborenen
Spracherwerbsfähigkeiten kein besonderes Training, doch braucht es dazu sehr wohl das
sprachliche Angebot aus seiner Umgebung, wie die Sprachentwicklungsprobleme von
gehörlosen Kindern zeigen oder die Sprachlosigkeit von Kindern, die außerhalb der
Gesellschaft ohne sprachliches Angebot bzw. mit ungenügendem Angebot heranwachsen.
Gemeint sind nicht nur Fälle von so genannten Wolfskindern wie Kaspar Hauser, sondern
leider auch heutige Fälle von Kindesmisshandlung, wie jener in den siebziger Jahren in Los
Angeles aufgedeckte Fall eines zwölfjährigen Mädchens namens Genie, das während der
kritischen Periode keine Sprache erworben hatte und auch anschließend nicht mehr erwerben
konnte, nachdem es von seinen Eltern bis dahin eingesperrt worden war und kein sprachliches
Angebot bekommen hatte.
Anregend für die Sprachentwicklung des Kindes ist allerdings nur jenes sprachliche Angebot,
das direkt an das Kind gerichtet ist (und nicht etwa das, was im Hintergrund aus Radio oder
Fernsehapparat ans Ohr des Kindes dringt). In diesen an kleine Kinder gerichteten
Äußerungen modifiziert der Erwachsene oder auch das ältere Kind seine Sprache in
spezifischer Weise und passt sie dem noch beschränkten sprachlichen Niveau des Kleinkindes
an. Diese modifizierte Sprachform des Erwachsenen bezeichnete man früher als Ammen-
sprache, heute eher als Babysprache aber auch als das Mutterische (vom Englischen
Motherese) oder genauer die Elternsprache. Auf die Merkmale dieser an Kleinkinder
gerichtete Sprachform wird in Schaner-Wolles (2005) detailliert eingegangen.

Kognitionshypothese versus Autonomiehypothese


Die Frage nach der Beziehung zwischen der Entwicklung der allgemeinen geistigen
Leistungen (Kognition) und den Leistungen beim Spracherwerb ist auch heute noch
Gegenstand von Kontroversen. Zwei Lehrmeinungen stehen in Konkurrenz, auf der einen
Seite die Kognitionshypothese und auf der anderen die Autonomiehypothese. Die
Kognitionshypothese ist aus der Entwicklungspsychologie hervorgegangen und wurde
speziell durch die Arbeiten von Jean Piaget gestärkt. Die Autonomiehypothese hat sich
© Schaner-Wolles (2005) „Wie kommt ein Kind zu seiner Sprache ?“ 10

innerhalb der Linguistik entwickelt und ist unmittelbar mit den Überlegungen von Noam
Chomsky zum Erwerb der Grammatik verbunden. Die grundsätzlichen Standpunkte der zwei
Positionen lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen:
Kognitionshypothese:
• Der Spracherwerb ist Produkt der allgemeinen (nicht- sprachlichen) kognitiven
Entwicklung.
• Er ist eine mit der allgemeinen menschlichen Intelligenz zu bewältigende Aufgabe.
• Die Sprache wird durch die Form des Denkens bestimmt. Dementsprechend werden die
Stufen des Spracherwerbs durch die der nicht- sprachlichen kognitiven Entwicklung
bestimmt.
Autonomiehypothese:
• Grammatikerwerb ist der Erwerb einer autonomen kognitiven Fähigkeit.
• Er wird durch ein artspezifisches Verhaltensprogramm gesteuert.
• Allgemein kognitive Fähigkeiten spielen beim Grammatikerwerb bloß eine unter-
geordnete Rolle. Sie bilden lediglich den Hintergrund für ein selbstständiges Sprach-
erwerbsprogramm, das sich nach eigenen Gesetzen entfaltet.
• Dieses Programm ist die so genannte Universalgrammatik. „Universal“ deshalb, weil
das Kleinkind anhand dieses Programms in der Lage sein muss, die Grammatik einer
beliebigen Sprache als Erstsprache zu erwerben.
• Der Erwerbsverlauf der Grammatik wird demnach nicht direkt von der allgemein
kognitiven Entwicklung bestimmt.
Für kognitive Autonomie sprechen jene Fallbeispiele, bei denen die allgemein kognitive
Entwicklung und die sprachliche Entwicklung stark auseinanderklaffen. Aus der Literatur
sind mehrere solcher Dissoziationsfälle bekannt, bei denen eine mittel- bis schwergradige
geistige Retardierung vorliegt aber keine entsprechende Auffälligkeiten in der Sprach-
entwicklung auftreten.
Auf solche Dissoziationen zwischen sprachlicher und nicht-sprachlicher Entwicklung geht
mein Beitrag über Sprachentwicklungsauffälligkeiten näher ein. 3

Literatur:
Butzkamm, Wolfgang & Jürgen (1999). „Wie Kinder sprechen lernen. Kindliche Entwicklung und die
Sprachlichkeit des Menschen“. Tübingen: Francke Verlag.
Crystal, David (1995). „Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache“. Frankfurt/Main: Campus Verlag.
Eliot, Lise (2001). „Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf
Lebensjahren. Berlin: Berlin Verlag.
Gopnik, Alison & Patricia Kuhl & Andrew Meltzoff (2000). „Forschergeist in Windeln – Wie Ihr
Kind die Welt begreift“. München: Ariston Verlag.
Savage-Rumbaugh, Sue & Roger Lewin (1995). „Kanzi. Der sprechende Schimpanse. Was
den tierischen vom menschlichen Verstand unterscheidet. München: Droemer Knaur.
Schaner-Wolles, Chris (2005). Sprachliche Entwicklung beim Kind. In: „Sprachliche
Förderung von Kindern im Jahr vor dem Schuleintritt“. Toolbox 1. Herausgegeben vom
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Wien August 2005, S. 49-63.

3
Hier wird verwiesen auf Schaner-Wolles, Chris (2005) „Sprachentwicklungsauffälligkeiten: Sprachentwick-
lungsverzögerungen bzw. -störungen“. In: Sprachliche Förderung von Kindern im Jahr vor dem Schuleintritt.
Toolbox 1. Herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Wien August 2005,
S.78-90.

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