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Originalarbeit

Die Personalsituation
in der ambulanten Pflege
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000881 - Thursday, December 07, 2023 5:19:05 AM - Universitätsbibliothek Heidelberg IP Address:147.142.245.16

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Edito e
c
Eine qualitative Studie zu aktuellen und Choi
zukünftigen Herausforderungen
Andreas Büscher , Dorit Schröder , Eva Maria Gruber

Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Hochschule Osnabrück, Deutschland

Zusammenfassung: Hintergrund: In Deutschland mehren sich Anzeichen eines Personalmangels in der ambulanten Pflege.
Die Anzahl offener Stellen steigt und der Bedarf pflegebedürftiger Menschen kann nicht gedeckt werden. Es gibt nur wenige
Ansätze zur Personalbemessung und -bedarfsplanung. Ziel: Das Ziel bestand in der Gewinnung von Erkenntnissen über die
bestehende Praxis des Personaleinsatzes und der -bedarfsplanung in ambulanten Pflegediensten sowie der Prüfung von
Möglichkeiten zur Entwicklung eines Personalbemessungsverfahrens. Methoden: Es wurden qualitative, leitfadengestützte
Interviews mit Expert_innen (N = 33), bestehend aus Vertreter_innen von Pflegedienstleitungen und Verbänden, Berater_­
innen von Pflegediensten und Expert_innen des Personalmanagements geführt und mittels Inhaltsanalyse ausgewertet.
­Ergebnisse: Aus Sicht der Expert_innen können ambulante Dienste aufgrund der angespannten Personalsituation die Versor-
gung Pflegebedürftiger nicht mehr vollständig gewährleisten. Die Einsatzplanung, Rekrutierung und Bindung von Personal
stellt eine zunehmende Herausforderung dar. Die Personalplanung erfolgt vor dem Hintergrund rahmenvertraglicher Vorgaben
und Refinanzierungsbedingungen, weniger bedarfsgesteuert. Auch die Betriebsgröße ist von der Personalgewinnung und
-fluktuation abhängig. Schlussfolgerung: Die Personalsituation in der ambulanten Pflege und die damit verbundene Sicher-
stellung der pflegerischen Versorgung wird auf absehbare Zeit eine Herausforderung bleiben. Ansätze, die über eine rein erlös­
orientierte Personalplanung hinausgehen, können dabei wichtige Impulse liefern.
Schlüsselwörter: Ambulante Pflegedienste, Personalkapazität und -planung, Pflegeversicherung, qualitative Forschung

Staffing situation in home-care services: A qualitative study on current and future challenges
Abstract: Background: There are increasing signs of staff shortages in home-care nursing in Germany. Home care providers
have an increasing number of vacancies and the provision of care for people in need of care is a challenge. There are only a few
approaches to planning personnel requirements in home care and the existing ones are rather complex. Aim and research
question: The objective of this study was to gain insights into how staff deployment and staff planning currently take place in
German home care services and to evaluate options for the development of staffing measures in home care. Methods: Qualita-
tive, guideline-based expert interviews (N = 33) were conducted and analyzed. Experts were representatives of home care
service providers, advisors of home care service providers and experts in the field of human resources management. Data
analysis was performed by using content analysis. Results: From the experts' point of view home care services cannot ensure
sufficient provision of home care services as needed by care-recipients due to staff shortages. Staff planning as well as re-
cruitment and retention of staff pose an increasing challenge. Staff planning is mainly determined by contractual require-
ments and the reimbursement system. It is less determined by individual care-recipients' needs. The company size of home
care providers depends on staff recruitment and turnover. Conclusions: The staffing situation will be a remaining challenge in
the foreseeable future. It will go along with the task to ensure an adequate home care supply. Approaches that go beyond reim-
bursement driven personnel planning can contribute valuable hints for the future.
Keywords: Home Care Services, Personnel Staffing and Scheduling, Long-Term Care Insurance, Qualitative research

Einleitung nahme ambulanter Pflege geführt (Rothgang, Müller et


al., 2020). Zwischen 1999 und 2019 stieg die Anzahl der
Die ambulante Pflege ist ein zentraler Baustein der pfle­ zusammen mit oder ausschließlich durch ambulante Pfle­
gerischen Versorgung. Insbesondere der demografische gedienste versorgten Personen um rund 567 000, was ei­
Wandel, der seit 2017 erweiterte Begriff der Pflegebe­ ner Zunahme von 136,6 % entspricht (Statistisches Bun­
dürftigkeit und die Leistungsausweitungen im Rahmen desamt, 2001, 2020). Die Anzahl der von Angehörigen
des Pflegeneuausrichtungsgesetzes haben zu einer stetig versorgten Personen ist im gleichen Zeitraum von 1,03 auf
wachsenden Nachfrage und Steigerung der Inanspruch­ 2,17 Millionen gestiegen. Gestiegen ist auch die Zahl der

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zur Rekrutierung und Bindung sowie zur Einsatzplanung


Was ist zu dieser Thematik schon bekannt?
Die Personalsituation in der ambulanten Pflege ist ange- und Bemessung von Personal für die ambulante Pflege un­
spannt, Grundlagen zur Personalbemessung sind kaum bestritten, sie unterliegt jedoch sehr komplexen Bedin­
verfügbar. gungen und vielfältigen Einflussfaktoren, wie z. B. der ho­
hen Variabilität der Versorgungssituation Pflegebedürftiger
Welchen Erkenntniszugewinn leistet die Studie? durch ungeplante Krankenhausaufenthalte (Hurst, 2006).
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Personalplanung erfolgt nicht primär bedarfsabhängig, Hurst (2006) geht aufgrund zunehmender Variablen sogar
sondern aufgrund der vertraglichen und finanziellen Rah-
von einer Steigerung der Komplexität der Personalpla­
menbedingungen. Es bedarf einer eingehenderen Betrach-
tung. nung in der ambulanten Pflege aus. Jackson et al. (2015a)
sehen die Frage als entscheidend an, wie man die Pflege­
fachpersonen in Zeiten des Wandels positiv und progres­
Beschäftigten in der ambulanten Pflege: Während die siv unterstützt und weiterbildet, um der Nachfrage gerecht
Zahl der Pflegedienste um 30 % gestiegen ist, hat sich zu werden, da die Bevölkerung insgesamt älter wird, län­
die Zahl der Beschäftigten zwischen 1999 und 2019 von ger lebt und immer komplexere Komorbiditäten aufweist.
183 782 auf 421 550 mehr als verdoppelt (Statistisches Leider werden viele dieser Aspekte jedoch in Instrumen­
Bundesamt, 2001, 2020). ten zur Planung und Bemessung des Personals in der am­
In den letzten Jahren wurde ein weiteres Wachstum der bulanten Pflege (Brady et al., 2007; Reid et al., 2008;
Kapazitäten in der ambulanten Pflege durch einen zuneh­ ­Roberson, 2016) nur unzureichend berücksichtigt. Statt­
menden Personalmangel erschwert. Parallel verlaufende dessen wird häusliche Pflege darin eher als eine lineare
Bedarfssteigerungen pflegerischer Versorgung in teil- und Abfolge von Aufgaben betrachtet, wodurch es zu einer
vollstationären Pflegeeinrichtungen führten dabei zu ­einer ­Vereinfachung der Pflegetätigkeiten und ihrer Erfassung
zusätzlichen Verknappung des Personals (Heger, 2021). kommen kann (Jackson et al., 2015b). In Deutschland
Laut Ergebnissen des Pflegethermometers ist je nach steht die Diskussion um eine angemessene Personalbe­
­Modellvariante der Berechnung von 21 230 bis 37 200 messung in der ambulanten Pflege noch am Anfang. An­
­offenen und nicht zu besetzenden Stellen Vollzeitäquiva­ gesichts fehlender internationaler Instrumente ist diese
lente) für dreijährig qualifizierte Pflegefachpersonen in Diskussion angewiesen auf eigene Konzepte und Über­
der ambulanten Pflege auszugehen (Isfort et al., 2016). legungen. Vor diesem Hintergrund hat die vorliegende
Nach einer Hochrechnung des Zentrums für Qualität in Untersuchung explorativen Charakter.
der Pflege sind etwa 16 000 Stellen für Pflegefachperso­ Sie ist Teil einer übergeordneten Studie zur Erarbeitung
nen für mindestens drei Monate unbesetzt (Zentrum für von Empfehlungen zur Entwicklung von personellen Vor­
Qualität in der Pflege, 2019). Die entstandene Diskrepanz gaben für Pflegeeinrichtungen im Rahmen der Entwick­
zwischen Angebot und Nachfrage führt dazu, dass ambu­ lung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur
lante Pflegedienste keine neuen Haushalte mehr aufneh­ ­einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflege­
men können und bestehende Verträge kündigen müssen einrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maß­
(Zentrum für Qualität in der Pflege, 2019). Zudem steht in stäben gemäß § 113c SGB XI, die als Unterauftrag der Un­
den nächsten Jahren dem voraussichtlich weiter steigen­ tersuchung für die Personalbemessung in der stationären
den Bedarf der Bevölkerung eine Zunahme des altersbe­ Pflege (Rothgang, Görres et al., 2020) durchgeführt wur­
dingten Ausscheidens von Pflegefachpersonen gegenüber de. Die Darstellung dieser Teilstudie orientiert sich am
(­Isfort et al., 2016). Standard zur Berichterstattung qualitativer Forschungen
Geht es um die zukünftige Sicherstellung der pflegeri­ (SRQR) (O'Brien et al., 2014).
schen Versorgung, spielt neben der generellen Frage der
Gewinnung von jungen Menschen für den Pflegeberuf
auch die Entwicklung von Personalbemessungsinstru­ Ziele und Fragestellungen
menten eine wichtige Rolle. Hierbei können als Personal­
bemessungsinstrumente Verfahren bezeichnet werden, Die Zielsetzung der hier beschriebenen Untersuchung be­
„… mit denen der quantitative Personalbedarf bei vorge­ stand in der Gewinnung von Erkenntnissen, wie Fragen
gebener Qualifikation zu einem bestimmten Zeitpunkt des Personaleinsatzes und der Personalbedarfsplanung
in bestimmten Organisationseinheiten ermittelt wird“ derzeit in ambulanten Pflegediensten in Deutschland ent­
(­Bokranz & Kasten, 2003, S. 454). Für die stationäre Lang­ schieden werden. Die Erkenntnisse wurden in der Ge­
zeitpflege wird das Modell von Rothgang, Görres et al. samtstudie genutzt, um Möglichkeiten zur Entwicklung
(2020) diskutiert und ist in Teilen bereits gesetzlich veran­ eines Personalbemessungsverfahrens für die ambulante
kert. Für die Pflege im Krankenhaus wird neben Personal­ Pflege zu prüfen. Trotz des Fehlens entsprechender Instru­
mindestmengen für bestimmte Bereiche auch die Ent­ mente betreiben ambulante Pflegedienste täglich Perso­
wicklung eines auf der alten Pflege-Personal-Regelung naleinsatzplanung und müssen sich der Frage einer sinn­
(PPR) basierenden Personalbemessungsinstruments dis­ vollen und finanzierbaren Personalbemessung stellen.
kutiert (DKG et al., 2020). Für die ambulante Pflege ste­ Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die aktuelle Situation
hen entsprechende Entwicklungen, auch auf internationa­ zu beschreiben, Strategien offenzulegen, die ambulante
ler Ebene, noch aus. Zwar ist die Bedeutung von Konzepten Pflegedienste nutzen, und Ansatzpunkte für die zukünfti­

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A. Büscher et al., Personalsituation in der ambulanten Pflege271

ge Diskussion zu Personalfragen in der ambulanten Pflege wurden zudem Personen, die in früheren Forschungspro­
herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund bestanden die jekten zur ambulanten pflegerischen Versorgung beteiligt
Forschungsfragen darin, wie Pflegedienste aktuell ihre waren. Sie haben weitere Expert_innen aus den Verbänden
Personalbedarfs- und Einsatzplanung vornehmen, mit der Leistungserbringer_innen oder dem Kreis der Unter­
welchen Problemen und Herausforderungen sie im Hin­ nehmensberater_innen vermittelt oder waren selber für
blick auf die Personalsituation konfrontiert sind und wel­ ein Interview bereit. Anhand dieser Kriterien erfolgte die
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che Maßnahmen sie als wichtig erachten, um die Situation Rekrutierung als absichtsvolles Sampling. Die Stichpro­
zu verbessern. bengröße ergibt sich dabei aus der anzustrebenden, größt­
möglichen Varianz bezüglich der relevanten Merkmale
im Sinne einer theoretischen Sättigung (Flick, 2007). Es
­wurden mit 33 Teilnehmenden Interviews in der Zeit von
Methode ­Oktober 2018 bis Februar 2019 geführt (siehe Tab. 1). Die
größte Gruppe (n = 23) stellten Pflegedienstleiter_innen
Angesichts fehlender internationaler oder nationaler kon­ und Mitglieder von Verbänden dar. Sieben Personen wa­
zeptioneller Grundlagen wurde ein qualitativer For­ ren der Gruppe der Berater_innen und drei der Gruppe der
schungsansatz gewählt und in Form von Experteninter­ Expert_innen im Personalmanagement zuzuordnen. Die
views umgesetzt. Das Ziel bestand in der Gewinnung von Anzahl der Pflegedienste, für die die Expert_innen zustän­
Erkenntnissen, die über eine Analyse vorhandener Litera­ dig sind oder mit denen sie zusammenarbeiten, reicht von
tur und andere Formen der empirischen Untersuchung einem bis zu mehreren hundert Diensten. Insgesamt kann
nicht gewonnen werden können. Der Status der Expert_in­ davon ausgegangen werden, dass Erfahrungen aus der Be­
nen wird abhängig von der Fragestellung und dem Hand­ gleitung und Beratung sowie der unmittelbaren Praxis von
lungsfeld durch die Forschenden verliehen (Helfferich, deutlich mehr als 1 000 Pflegediensten eingeflossen sind.
2009). Dabei fungiert die Person als Repräsentant_in ei­ Geografisch weisen die Expert_innen Bezüge zu Pflege­
ner Gruppe und als In­formationsquelle über Fachwissen, diensten in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Berlin,
das den Forschenden a ­ nders nicht zugänglich ist (Helffe­ Sachsen, Thüringen, Bremen, Bayern, Sachsen-Anhalt,
rich, 2009). Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Rheinland-
Pfalz auf. Als Vertreter_innen spezialisierter Pflegedienste
waren Geschäftsführer_innen von zwei Kinderkranken­
Feldzugang und Sample pflegediensten sowie eines ambulanten psychiatrischen
Pflegedienstes beteiligt.
Zur Gewinnung von Informationen sollten Personen ein­
bezogen werden, die über Erfahrungen in der Personal
(-bedarfs-)planung, insbesondere in der ambulanten Pfle­ Datenerhebung und -analyse
ge, verfügen. Das Ziel bestand darin, Expert_innen einzu­
schließen, die in einzelnen Pflegediensten, bei den frei­ Die Experteninterviews wurden als teilstrukturierte, leit­
gemeinnützigen oder privaten Verbänden der Leistungs­ fadengestützte Interviews geführt. Der Interviewleitfaden
erbringer_innen oder als Unternehmensberater_innen mit wurde vor dem Hintergrund der im Projekt durchgeführ­
Fragen des Personalmanagements in der ambulanten ten und im Problemhintergrund dargelegten Literatur-
Pflege befasst sind oder die über eine Expertise zu Fragen und ­Materialrecherche erstellt (Helfferich, 2009) und be­
des Personalmanagements in anderen Bereichen verfü­ inhaltete die Themenbereiche: Personalrekrutierung,
gen. Um die Expert_innen identifizieren und kontaktieren Personal­knappheit, Personalbedarfsplanung, Umgang mit
zu können, wurde eine Recherche durchgeführt, wer zu flexiblen Anforderungen, Touren- und Einsatzplanung,
strukturellen und Personalfragen in der ambulanten Pfle­ Vernetzung, Personalfluktuation, Vergütung und Rah­
ge in Fachzeitschriften publiziert hat. Direkt angesprochen menbedingungen, Vernetzung mit anderen Diensten und

Tabelle 1. Charakteristika der Expert_innen

Geschlecht Bundesland Charakteristika der Expert_innen


m w
Expertengruppe 10 13 Bremen, Niedersachsen, Bayern, Private Trägerschaft (n = 10)
­Pflegedienstleiter_­innen ­Nordrhein-­Westfalen, Schleswig-Holstein, Berufsverband als Trägerverband
und ­Verbände ­Baden-Württemberg, ­Sachsen-Anhalt, Sachsen, ­privater ­Pflegedienste (n = 2)
­Thüringen, Berlin Freigemeinnützige Trägerschaft (n = 11)

Expertengruppe Berater_innen 5 2 Bremen, Berlin, NRW u. a. Unternehmensberater_innen,


­Gewerkschaftsvertreter_innen
Expertengruppe 0 3 Niedersachsen u. a. Professor_innen aus Bereichen
­Personalmanagement wie P­ ersonalmanagement und BWL

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Personalknappheit
Verhältnis Pflegefachpersonen ‐ Pflegebedürftige
Konkurrenz um Personal zwischen ambulanten und Personalrekrutierung u.a.
stationären Einrichtungen Zielgruppenspezifisches Marketing
Fehlende Qualifikationen Mund‐zu‐Mund Propaganda
Fehlender Nachwuchs Wertschätzung der Mitarbeitenden
Umgang mit / Konsequenzen der Personalknappheit Positive Außendarstellung
Personalentwicklung

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Rolle der Führungsperson
Personalfluktuation Pflegepersonen aus dem Ausland rekrutieren
Kündigung in der Probezeit Monetäre Anreize und Extraleistungen
Vergütung und Rahmenbedingungen der
ambulanten Pflege
Personalbedarfsplanung Vergütungssystem
Betriebsgröße Ökonomisierung der Pflege / Unterfinanzierung
Quantitativer Personalbedarf Vergütungsverhandlungen
Qualitativer Personalbedarf / Personal‐ Qualifikationsmix Vergütung der Wegezeiten
Entwicklung Personalbemessungsinstrument Sicherstellung der Versorgung
Vergleichbare Branchen Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff
Bürokratie/Dokumentation

Touren‐ und Einsatzplanung


Wirtschaftlichkeit
Wegezeit
Umgang mit flexiblen Anforderungen
Einsatzzeit beim pflegebedürftigen Menschen
Beschäftigungsumfang
Qualifikation der Mitarbeiter
Ungeplante Veränderungen der Touren
Wünsche der pflegebedürftigen Menschen
Spontaner Ausfall der Mitarbeiter_innen
Wünsche der Mitarbeiter_innen
Flexibilität des Personals
Bezugspflege/hohe Versorgungskontinuität
Verantwortlichkeit für die Tourenplanung
Inhaltliche Gestaltung der Touren

Sichtweisen zur Zukunft der ambulanten Pflege und Personalfragen


Umstrukturierung des Finanzierungssystems
Leistungsgerechte Vergütung der Mitarbeiter_innen
Mehr Eigenverantwortung für Pflegende
Mehr Wertschätzung für die ambulante Pflege
Umstrukturierung der pflegerischen Aus‐, Fort‐ und Weiterbildung
Digitalisierung

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A. Büscher et al., Personalsituation in der ambulanten Pflege

Abbildung 1. Kategoriensystem „Personalsituation in der ambulanten Pflege“.


A. Büscher et al., Personalsituation in der ambulanten Pflege273

Sichtweisen zur Zukunft. Die Interviews wurden persön­ Betroffen sind alle Qualifizierungen in der Pflege, insbe­
lich (13) oder telefonisch (19) durchgeführt und nach er­ sondere aber Pflegefachpersonen. Bei der Rekrutierung
folgter Zustimmung der Teilnehmenden mit einem Ton­ von Fachpersonal konkurrieren die ambulanten Pflege­
bandgerät aufgezeichnet. In einem Fall erfolgte eine dienste nicht nur untereinander, sondern zunehmend
schriftliche Rückmeldung zu den Themenkomplexen des auch mit der stationären A ­ ltenpflege und den Kranken­
Leitfadens. Die Dauer der Interviews variierte zwischen häusern. Aufgrund großer ­Gehaltsunterschiede und politi­
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27 und 113 Minuten und lag durchschnittlich bei 60 Minu­ scher Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in den
ten. Die Interviews wurden in Anlehnung an die Tran­ Krankenhäusern wird ein ­Sogeffekt befürchtet, der sich
skriptionsregeln nach Dresing und Pehl (2018) verschrift­ nachteilig auf die Personal­situation in der ambulanten
licht und mittels Inhaltsanalyse nach ­ Mayring (2015) Pflege auswirken kann. Bei den geringer qualifizierten
ausgewertet. Als Basis wurden der Analyse ­einem dedukti­ Mitarbeitenden konkurrieren die ­ ambulanten Pflege­
ven Verfahren entsprechend die Themen­ bereiche des dienste mit Unternehmen aus anderen Branchen, die bes­
Leitfadens als Kategorien zugrunde gelegt. Innerhalb die­ sere Löhne zahlen können. Erschwerend stellt sich in
ser Themenbereiche wurden aus dem Inter­viewmaterial ­vielen Diensten die Situation aufgrund des h ­ ohen Durch­
Unterkategorien gebildet (siehe Abb. 1). Zum Themenbe­ schnittsalters der Belegschaft dar.
reich „Vernetzung mit anderen Diensten“ gab es kaum Als Reaktion auf die Knappheit entwickeln ­Pflegedienste
Aussagen, sodass dieser Aspekt im Verlauf der Ergebnis­ verschiedene Strategien, wie zum Beispiel den Ausbau des
darstellung keine Berücksichtigung findet. Im Sinne der Anteils an Hilfspersonal oder die eigene Verkleinerung,
Herstellung von Intersubjektivität bei der Datenanalyse z. B. durch die Reduzierung des eigenen Auftrags­radius.
fand ein peer-debriefing der Forschenden während der Alle Befragten berichteten von der regelmäßigen Ableh­
Datenanalyse statt. Die Forschenden verfügen über Erfah­ nung neuer Kund_innen und einige von der Beendigung
rungen bei der Durchführung qualitativer Forschung im der Einsätze in einzelnen Pflegehaushalten.
Setting der ambulanten Pflege durch vorherige Projekte. Die Personalfluktuation variiert sehr stark zwischen den
Eine persönliche Beziehung zu den Teilnehmenden be­ Pflegediensten. Sie ist jederzeit mit Schäden im Betriebs­
stand nicht. klima (u. a. mangelnde Kontinuität mit Einfluss auf die
Teambildung und fehlendes Vertrauen) und auch hohen
Kosten für die Suche nach neuen Mitarbeitenden und de­
Ethische Aspekte ren Einarbeitung verbunden. Zum Teil wird die Situation
durch ungeeignete Bewerber_innen verschärft. Auf der an­
Alle Teilnehmenden haben vor der Befragung ein Informa­ deren Seite wird in diesem Zusammenhang jedoch auch
tionsschreiben und eine Einwilligungserklärung erhalten. gefordert, mehr Zeit in die Einarbeitung zu investieren
Eine informierte Zustimmung wurde vor dem Interview und diese an die Bewerber_innen anzupassen.
eingeholt. Ein ethisches Clearing erfolgte durch die Ethik­
kommission der Hochschule Osnabrück.
Personalplanung

Die angespannte Personalsituation hat einen großen Ein­


Ergebnisse fluss auf die Personalplanung. Die Pflegedienste können
häufig nicht mittel- und langfristig planen, da sie davon
Durch die Interviews konnte ein sehr umfassendes Bild zu abhängig sind, welches Personal verfügbar ist. Somit wird
Personalfragen in der ambulanten Pflege gewonnen wer­ die Betriebsgröße ambulanter Pflegedienste maßgeblich
den. Nachfolgend werden die Ergebnisse zu den Aspekten über das verfügbare Personal bestimmt. „Ich würde auch
Personalsituation und -fluktuation, Personalplanung, Tou­ Personal auf Vorrat einstellen. Muss ich ehrlich sagen.
ren- und Einsatzplanung, Einfluss der Vergütungsstruktu­ Ich habe noch nie zu viel Personal gehabt. Nicht in den
ren und Rahmenbedingungen sowie Sichtweisen zur Zu­ letzten 5 Jahren sagen wir mal so ….“ [Interview 8; Posi­tion:
kunft der ambulanten Pflege zusammenfassend dargelegt. 12 – 12, Expert_innengruppe Pflegedienstleiter_innen und
Eine umfangreiche Darstellung dieser Aspekte kann dem Verbände].
Kategoriensystem in Abbildung 1 entnommen werden. Vor diesem Hintergrund richtet sich die Planung vor
­allem danach, wie viele Pflegehaushalte mit dem verfüg­
baren Personal versorgt werden können. Die Anzahl wird
Personalsituation und -fluktuation oftmals über die Kalkulation der produktiven Arbeitszeit
bestimmt. Die produktive Arbeitszeit umfasst die Zeit,
Die Personalsituation in der ambulanten Pflege stellt sich in der Erlöse erzielt werden können. Sie entspricht der
regional und zwischen einzelnen Diensten sehr unter­ ­gesamten Arbeitszeit abzüglich der Nichtpflegezeiten, zu
schiedlich dar. Beispielsweise besteht in städtischen Ge­ ­denen neben Urlaub und Krankheit auch Sitzungen, We­
bieten eine höhere Konkurrenz um Pflegefachpersonen. gezeiten, Koordinations- und Organisationszeiten gehö­
Die Situation wird jedoch übergreifend als problematisch ren. Anhand dieser Informationen können dann die zur
beschrieben und nimmt zum Teil drastische Ausmaße an. Kostendeckung notwendigen Stundensätze ermittelt und

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die Einsätze geplant werden. Umsatz und Wirtschaftlich­ beschäftigt. Somit kann bei Änderungen der Bedarfs­
keit sind somit für die Pflegedienste die zentrale Planungs­ situation pflegebedürftiger Menschen bei mehr Mitar­
grundlage. Die produktive Arbeitszeit variiert stark zwi­ beitenden ein spontanes Einspringen angefragt werden.
schen den Pflegediensten und ist u. a. abhängig von den ­Einige Dienste verfügen auch über ­Modelle, um Vollzeit­
Bedarfslagen pflegebedürftiger Menschen und der dafür beschäftigung zu ermöglichen. Auf spontane Änderungen
vorgesehenen Refinanzierung sowie den Organisations­ wird mit Überstundenauf- oder -abbau reagiert. Krank­
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strukturen der Dienste. Die Personalplanung wird darüber heitsbedingte Ausfälle von Mitarbeitenden sind ein weit
hinaus durch weitere Faktoren bestimmt. Aufgrund wech­ verbreitetes Problem. Betriebe entwickeln verschiedene
selnder Haushalte und Bedarfslagen sind häufige Anpas­ Strategien über die Selbststeuerung und Vertretung in
sungen erforderlich und Werte aus der Vergangenheit ­festen Teams bis zu einem Ausfallmanagement mit dem
bilden lediglich Orientierungswerte. Zudem bestehen
­ Einsatz von Springer_innen oder Bereitschaftsdiensten.
Vorgaben hinsichtlich der Betriebsgröße und der erforder­
lichen Qualifikationen des Personals durch die geltenden
Rahmenverträge in den Bundesländern. Die Planungs­ Einfluss der Vergütungsstrukturen
möglichkeiten sind durch die Personalknappheit begrenzt. und Rahmenbedingungen
Viele Dienste reagieren darauf mit Strategien wie dem
Ausbau des Anteils an Hilfspersonal. Andere setzen wei­ Aus Sicht der Expert_innen sind viele Aspekte der Perso­
terhin auf eine hohe Fachpersonalquote. Zudem haben nalsituation eng mit allgemeinen Rahmenbedingungen
auch die Bedarfslagen der pflegebedürftigen Menschen und der Vergütungs- bzw. Finanzierungssystematik der
eine Auswirkung auf die erforderliche Qualifikation. Von Pflege verknüpft. Demnach „[haben wir] seit Einführung
Seiten der Expert_innen wird insgesamt davor gewarnt, der Pflegeversicherung … eine so massive Zunahme der
den erforderlichen Anteil von Pflegefachpersonen grund­ Ökonomisierung von Pflege“ [Interview 10; Position: 5 – 7,
sätzlich zu niedrig anzusetzen, da die Pflegequalität nur Expertengruppe Pflegedienstleiter_innen und Verbände].
durch einen gewissen Personalmix gewährleistet werden Die stetige Frage nach den Kosten habe zu einer hohen
könne. Darüber hinaus wurde angemerkt, dass eine Perso­ Arbeitsverdichtung in der ambulanten Pflege geführt.
nalbedarfsplanung im ambulanten Bereich kompliziert ­Aufgrund der knappen Vergütung wurden die Einsatzzei­
sei und somit anders als im stationären Setting man nicht ten bei den Pflegebedürftigen zunehmend gekürzt, um
­sagen kann „… ein Pflegebedürftiger braucht X Mitar­ finanziell auskömmlich zu sein. Die Unterfinanzierung
­
beiter um ihn zu betreuen, sondern das hängt davon ab, der Leistungen schränkt auch den Handlungsspielraum
welchen Auftrag ich habe“ [Interview 4; Position: 35 – 35, der Leistungserbringung stark ein. Eine Problematik wird
Expertengruppe Pflegedienstleiter_innen und Verbände]. ­zudem in der restriktiven Bewertung der einzelnen Leis­
Die Entwicklung eines Personalbemessungsinstruments tungskomplexe (Punktwerte), unzureichender Berücksich­
für die ambulante Pflege wurde in vielen Interviews als tigung einer Wegepauschale sowie der nicht ausreichen­
sehr schwierig angesehen. Zudem wird die Entwicklung den Berücksichtigung bestimmter Leistungen wie dem
eines solchen Instruments nicht als Kernaufgabe zur Be­ Erstellen und Evaluieren von Pflegeplanungen, Dokumen­
wältigung der Personalfragen angesehen. tationszeiten u. a. gesehen. Eine entsprechende Anpas­
sung der Punktwerte wurde im Laufe der Jahre trotz stei­
gender Anforderungen nicht oder kaum vorgenommen.
Touren- und Einsatzplanung Der Preiswettbewerb und die Unterfinanzierung führten
neben der Arbeitsverdichtung auch zu einem massiven
Die Personalbedarfsplanung steht in einem engen Zusam­ Druck auf die Löhne. Eine teilnehmende Person fasst die
menhang mit der Tourenplanung. Ein zentraler Planungs­ Situation wie folgt zusammen: „Der Wettbewerb in der
parameter sind die Referenzwerte für die Einsatzzeit in Pflege ist ein Wettbewerb um den Preis und nicht um die
den Pflegehaushalten, da sich aus diesen die produktive Qualität, der faktisch auf dem Rücken der Pflegefach­
Arbeitszeit ergibt. Diese Zeiten können aufgrund der personen durch Lohndumping, extreme Arbeitsverdich­
­vielen Einflussfaktoren zwischen den Diensten variieren. tung und geteilte Dienste ausgetragen wird“ [Interview 27;
­Einige Dienste nutzen Referenzwerte, die von den priva­ ­Position: 40 – 42; Expert_innengruppe Pflegedienstleiter_
ten oder freigemeinnützigen Verbänden zur Verfügung innen und Verbände].
­gestellt werden, andere leiten Zeiten aus der Vergütung Es bestehen große Unterschiede in den Vergütungen
ab und wieder andere nehmen von Referenz­werten eher ­zwischen den Bundesländern und auch zwischen einzelnen
Abstand und sagen ihren Mitarbeitenden deutlich, dass es Pflegediensten, die teilweise von „Willkür und Unsinn“
sich dabei lediglich um Anhaltswerte handelt. Neben der [­ Interview 4; Position: 85 – 85; Expertengruppe Berater_­
Einsatzzeit ist die Fahrtzeit ein zentraler Faktor bei der innen] geprägt sind. In Vergütungsverhandlungen bekom­
Tourenplanung. Weitere Faktoren sind die Qualifikation men Pflegedienste ihre Forderungen häufig nicht durch­
der Mitarbeitenden, medizinisch-pflegerische Notwendig­ gesetzt. Nach Einschätzung einiger der Befragten kann ein
keiten sowie Wünsche der Pflegebedürftigen. Um den Tarifvertrag die Verhandlungsmacht vergrößern.
­flexiblen Anforderungen in einem ambulanten Dienst zu Auch die Vergütung der Wegezeiten ist ein zentrales
begegnen, ist der Großteil der Mitarbeitenden in Teilzeit Thema. Wenn die ambulanten Pflegedienste für die We­

Pflege (2022), 35 (5), 269–277 © 2022 Hogrefe


A. Büscher et al., Personalsituation in der ambulanten Pflege275

gezeiten eine Pauschale erhalten, die nicht kostendeckend Pflegedienstleiter_innen und Verbände]. Berücksichtigung
ist, müssen die Wegekosten aus den Leistungsentgelten sollten zudem sektorübergreifende Aspekte und eine stär­
mitfinanziert werden. Viele Dienste versuchen daher be­ kere Beteiligung der pflegerischen Berufsgruppe bei der
reits, ihre Fahrtstrecken so kurz wie möglich zu halten. Festlegung von Rahmenbedingungen finden. Hervorgeho­
Dies kann jedoch zu Unterversorgung von Pflegebedürf­ ben wurden neben der Notwendigkeit einer leistungsge­
tigen führen, die sehr ländlich wohnen. Die Gefährdung rechten Vergütung von Pflegenden deren Eigenverant­
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der Sicherstellung der Versorgung durch aktuelle Fehlan­ wortung sowie Umstrukturierungen in der Aus-, Fort- und
reize in der Vergütung wird auch bei verschiedenen Leis­ Weiterbildung. Bezogen auf die Vergütung wird ein Tarif­
tungen wie aufwändigen Wundversorgungen gesehen. vertrag als hilfreich genannt, wobei Uneinigkeit besteht,
In Deutschland werden die Leistungen ambulanter ob es eines Branchentarifvertrags für die Pflege bedarf,
Pflegedienste größtenteils über Leistungskomplexe ver­ der vergleichbare Löhne für die Pflege festschreiben und
gütet, in einigen Bundesländern besteht zudem die Mög­ als Grundlage für Verhandlungen genutzt werden kann
lichkeit einer Vergütung nach Zeit. Hinsichtlich einer prä­ oder ein solcher Vertrag nicht erforderlich ist, weil ange­
ferierten Vergütung herrschte keine Einigkeit unter den sichts landesspezifischer und heterogener Trägerstruk­
befragten Expert_innen. So gab es sowohl Befürwortende turen der individuelle Verhandlungsspielraum dadurch
der Leistungskomplexe als auch der Zeitvergütung. In eingeschränkt würde. Einigkeit bestand darin, dass die At­
dem aktuellen System der Leistungskomplexe besteht traktivität des Pflegeberufs nicht nur von der Höhe der Ver­
„ein Solidarsystem im Solidarsystem“ [Interview 24; Posi­ gütung abhängig ist, sondern auch die Stärkung der Eigen­
tion: 56 – 56; Expertengruppe Pflegedienstleiter_innen und verantwortung und Freiheiten der Pflegenden umfassen
Verbände]. Aufwändigere Pflegebedürftige können da­ muss. Die bisher bestehenden Richtlinien hinsichtlich der
durch zu gleichen Preisen mitversorgt werden, weil bei Qualifikationsanforderungen sind zwischen und zum Teil
­anderen Pflegebedürftigen Zeit eingespart wird. Anderer­ sogar innerhalb der Bundesländer unterschiedlich und
seits haben diese weniger aufwändigen Pflegebedürftigen sollten bundesweit einheitlich definiert werden. Aus Sicht
unter Umständen andere, nicht so sichtbare Bedarfe, für der ­Expert_innen sind bundesweite Unterschiede hinsicht­
die dann die Zeit fehlt oder nicht verwendet werden kann. lich der Qualifikationsanforderungen bei der Durchfüh­
In anderen Interviews wurde ausgeführt, dass Leistungs­ rung ­bestimmter pflegerischer Maßnahmen nicht nach­
komplexe nicht mit dem heutigen Pflegeverständnis ver­ vollziehbar. Schließlich sollte die Qualität der Aus-,
einbar sind und zu einer verrichtungsorientierten Pflege Fort- und Weiterbildung erhöht werden, damit Pflegende
führen. Auf der anderen Seite bieten Leistungskomplexe den hohen ­Anforderungen in der ambulanten Pflege ge­
eine gute Planbarkeit für Pflegedienste und eine feste Ver­ recht zu werden vermögen.
einbarung über die auszuführende Leistung. Häufig wer­
den jedoch auch heimliche Leistungen zusätzlich zu den
vereinbarten Leistungen erbracht, also Leistungen, die
Pflegende durchführen, ohne dass hierfür eine Vertrags­ Diskussion
vereinbarung besteht (z. B. Zeitung hereinbringen).
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ist mit einer Aus­ Die Interviews haben eine Vielzahl von vertiefenden Ein­
weitung der anspruchsberechtigten Menschen und einem sichten zu verschiedenen Fragen der Personalsituation und
größeren Leistungsangebot einhergegangen. Insbesonde­ -planung in der ambulanten Pflege hervorgebracht. Beson­
re die niedrigschwelligen Leistungen wie Betreuung und ders hervorgehoben wurde die Gefährdungssitua­tion der
Hauswirtschaft werden stark nachgefragt. Häufig steht der Versorgungssicherheit pflegebedürftiger Menschen auf­
Nachfrage aber kein entsprechendes Angebot gegenüber, grund von Aufnahmestopps neuer Pflegehaushalte oder
sodass Leistungen verfallen. Als Gründe werden fehlende die Kündigung bestehender Versorgungsverträge bedingt
professionelle Kapazitäten sowie eine nicht auskömmliche durch fehlende Kapazitäten. Bestätigt wird diese Einschät­
Finanzierung dieser Dienste genannt. zung durch eine Befragung von Pflegediensten (n = 535)
des Zentrums für Qualität in der Pflege. Demnach äußern
80 % der Dienste, in den letzten drei Monaten Anfragen
Sichtweisen zur Zukunft abgelehnt zu haben, weil sie die Versorgung nicht hätten
der ambulanten Pflege sicherstellen können, 13 % geben an, im gleichen Zeitraum
Klient_innen gekündigt zu haben (Zentrum für Qualität in
Im Hinblick auf Personalfragen in der ambulanten Pflege der Pflege, 2019).
sind nach Ansicht der Befragten verschiedene Veränderun­ Hinsichtlich der Personalbedarfsplanung besteht Einig­
gen erforderlich und wünschenswert. Genannt wurden Än­ keit darüber, dass diese in der Praxis häufig weniger
derungen des Finanzierungssystems und im Leistungs­ ­geplant erfolgt, sondern aus vertraglichen Rahmenbedin­
spektrum ambulanter Pflegedienste. So sei es notwendig, gungen, Möglichkeiten der Refinanzierung sowie dem
dass die „Grundlage der Leistungserbringung … inhaltlich verfügbaren Personal resultiert. Aus Sicht der Expert_in­
um den Pflegebedürftigkeitsbegriff definiert / beschrie­ nen besteht eine Notwendigkeit von bundeseinheitlichen
ben … und wirtschaftlich auskömmlich bewertet / finan­ Vorgaben der bisher sehr heterogenen Vergütungsverein­
ziert“ wird [Interview 27; Position: 89 – 89; Expertengruppe barungen für die ambulante Pflege. Heiber und Nett

© 2022 HogrefePflege (2022), 35 (5), 269–277


276 A. Büscher et al., Personalsituation in der ambulanten Pflege

(2018a, 2018b) können aufzeigen, dass es erhebliche Un­ Literatur


terschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich der
Bokranz, R. & Kasten, L. (2003) Organisations-Management in
Preise für gleiche Leistungen, der Wegepauschalen und Dienstleistung und Verwaltung. Gestaltungsfelder, Instrumente
anderer Aspekte gibt. Sie ­legen dar, dass zum Teil 28 un­ und Konzepte (4., überarb. Aufl.). Wiesbaden: Gabler Verlag.
terschiedliche Preise für gleiche Leistungen in Deutsch­ Brady, A.‑M., Byrne, G., Horan, P., Griffiths, C., Macgregor, C. &
land bestehen. Angesichts eines bundesgesetzlich vorge­ ­Begley, C. (2007). Measuring the workload of community nurses
in Ireland: A review of workload measurement systems. Journal
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000881 - Thursday, December 07, 2023 5:19:05 AM - Universitätsbibliothek Heidelberg IP Address:147.142.245.16

sehenen Sachleistungsspektrums nach § 36 SGB XI ist of Nursing Management, 15(5), 481 – 489.
diese Variabilität weder nachvollziehbar noch zu rechtfer­ Bröckermann, R. (2016). Personalwirtschaft: Lehr- und Übungsbuch
tigen (Heiber & Nett, 2018a, 2018b). für Human Resource Management (7., überarb. Aufl.). Stuttgart:
Die Expert_innen beschreiben eine Vielzahl von Ein­ Schäffer-Poeschel Verlag.
Buchan, J. & Seccombe, I. (2012). RCN Labour Market Review: Over-
flussfaktoren auf die Personalbedarfsplanung, die auch in stretched. Under-resourced. The UK nursing labour market r­ eview
der Literatur (Royal College of Nursing, 2010; Buchan & 2012. Available from https://eresearch.qmu.ac.uk/­ bitstream/
Seccombe, 2012; Francis, 2013) beschrieben sind. Insge­ handle/20.500.12289/3127/eResearch_3127.pdf?sequence
samt kann die Vorgehensweise als vertrags- oder monetär =1&isAllowed=y [28.07.2021].
DKG, DPR & ver.di. (2020). PPR 2.0. Ein Instrument zur Bemessung
(Bröckermann, 2016) gesteuert bezeichnet werden. Dabei
des Pflegepersonalbedarfs im Krankenhaus als Interimslösung.
entsteht in einigen Pflegehaushalten ein Spannungsfeld, Verfügbar unter https://deutscher-pflegerat.de/wp-content/
wenn die vorliegenden Bedarfslagen über die Rahmenbe­ uploads/2021/04/2020-02-03-PPR-2.0.pdf [28.07.2021].
dingungen nicht ausreichend abgebildet werden können. Dresing, T. & Pehl, T. (2018). Praxisbuch Interview, Transkription &
Analyse. Anleitungen und Regelsysteme für qualitativ Forschen-
Möglichkeiten, um bei unveränderten Preisen wirtschaft­
de (8. Aufl.). Marburg: Eigenverlag.
licher zu werden, sind beispielsweise eine niedrigere Qua­ Flick, U. (2007). Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung (10.
lifikation der Mitarbeitenden anzusetzen oder die Versor­ Aufl.). Hamburg: Rowohlt.
gungszeiten zu kürzen. Francis, R. (2013). Report of the Mid Staffordshire NHS Foundation
Trust Public Inquiry − Executive Summary. Available from
­https://www.gov.uk/government/publications/report-of-the-
mid-staffordshire-nhs-foundation-trust-public-inquiry
Limitationen [28.07.2021].
Heger, D. (2021). Wachstumsmarkt Pflege. In K. Jacobs, A. Kuhlmey,
S. Greß, J. Klauber & A. Schwinger (Hrsg.), Pflege-Report 2021.
Das gewählte methodische Vorgehen kann für die Beant­
Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstruktu-
wortung der Fragestellung als geeignet bezeichnet wer­ ren (S. 145 – 156). Berlin, Heidelberg: Springer.
den. Besonders die hohe Heterogenität der Expert_innen Heiber, A. & Nett, G. (2018a). Chaos statt System. Die Vergütung in
trägt zum Erkenntnisgewinn bei. Gleichzeitig erfordert sie den einzelnen Bundesländern. Teil 2 des Beitrages. Häusliche
Pflege, 9, 40 – 45.
einen hohen Abstraktionsgrad in der Ergebnisdarstellung,
Heiber, A. & Nett, G. (2018b). Föderales Stückwerk. Die Vergütung
sodass nicht alle Ergebnisse grundsätzlich auf alle ambu­ in den einzelnen Bundesländern. Häusliche Pflege, 8, 18 – 24.
lanten Pflegedienste zutreffen. In der Gesamtheit besteht Helfferich, C. (2009). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die
jedoch die Einschätzung, dass die Ergebnisse generalisier­ Durchführung qualitativer Interviews (3., überarb. Aufl.). Wies-
baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
bar sind. Nicht berücksichtigt wurden die unterschied­
Hurst, K. (2006). Primary and community care workforce planning
lichen regionalen vertraglichen Grundlagen der beteilig­ and development. Journal of Advanced Nursing, 55(6), 757 – 769.
ten Pflegedienste. Diese Problematik wurde grundsätzlich Isfort, M., Weidner, F., Rottländer, R., Gehlen, D., Hylla, J. & Tucman,
beleuchtet, jedoch nicht in ihren Einzelheiten. Für eine D. (2016). Pflege-Thermometer 2016. Eine bundesweite Befra-
regionale Betrachtung oder die vertiefte Analyse der Situ­ gung von Leitungskräften zur Situation der Pflege und Patienten-
versorgung in der ambulanten Pflege. Verfügbar unter ­https://
ation in einzelnen Pflegediensten wäre dies erforderlich. www.dip.de/fileadmin/data/pdf/projekte/Endbericht_Pflege-
Thermometer_2016-MI-2.pdf [28.07.2021].
Jackson, C., Leadbetter, T., Martin, A., Wright, T. & Manley, K.
(2015a). Making the complexity of community nursing visible:
The Cassandra project. British Journal of Community Nursing,
Schlussfolgerungen 20(3), 126, 128 – 133.
Jackson, C., Leary, A., Wright, T., Leadbetter, T., Martin, A. & Manley,
Die derzeitige monetäre Steuerung der Personalplanung K. (2015b). The Cassandra Project: Recognising the multidimen-
wurde als Hauptargument dafür genannt, dass ein Perso­ sional complexity of community nursing for workforce develop-
ment. Canterbury: England Centre for Practice Development,
nalbemessungsverfahren für die ambulante Pflege als nicht Canterbury Christ Church University. Available from https://­
sinnvoll, als nicht realisierbar oder als überflüssig bezeich­ repository.canterbury.ac.uk/download/2eb1c310c0b9e40c5be1
net wurde. Stattdessen wird eine Verständigung auf geeig­ 94684f4fb49e60668bdfbe75dfb5e2cf1a3f60d09476/6362248/
nete pflegerische Maßnahmen zur Unterstützung der häus­ CNWDP%20 report%20FINAL%2016 th%20April.pdf
[28.07.2021].
lichen Pflege angeregt, der dann eine Einschätzung des Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und
dafür notwendigen Personalaufwands und dafür angemes­ Techniken (12., überarb. Aufl.). Weinheim: Beltz.
sener Preise folgen sollte. Für die Empfänger_innen von O'Brien, B. C., Harris, I. B., Beckman, T. J., Reed, D. A. & Cook, D. A.
ambulanter Pflege wäre es zudem wünschenswert und (2014). Standards for reporting qualitative research: a synthe-
sis of recommendations. Academic medicine, 89(9), 1245 – 1251.
­erforderlich, dass nicht nur monetäre Erwägungen, ­sondern Reid, B., Kane, K. & Curran, C. (2008). District nursing workforce
vor allem Bedarfsaspekte darüber entscheiden, welche planning: A review of the methods. British Journal of Community
Leistungen zu welchen Bedingungen verfügbar sind. Nursing, 13(11), 525 – 530.

Pflege (2022), 35 (5), 269–277 © 2022 Hogrefe


A. Büscher et al., Personalsituation in der ambulanten Pflege277

Roberson, C. (2016). Caseload management methods for use with- Förderung


in district nursing teams: A literature review. British Journal of Die Untersuchung wurde als Unterauftrag für die Universität Bre-
Community Nursing, 21(5), 248 – 255. men im Rahmen eines größeren Projekts durchgeführt, das vom
Rothgang, H., Görres, S., Darmann-Finck, I., Wolf-Ostermann, K., Qualitätsausschuss Pflege e. V. finanziert wurde.
Becke, G. & Brannath, W. (2020). Abschlussbericht im Projekt
„Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur Danksagung
einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrich- Die Autor_innen bedanken sich bei den Expertinnen
tungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben gemäß und E
­ xperten, die sich zu einem Interview bereit erklärt haben.
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1012-5302/a000881 - Thursday, December 07, 2023 5:19:05 AM - Universitätsbibliothek Heidelberg IP Address:147.142.245.16

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pflege.de/wp-content/uploads/2020/09/Abschlussbericht_ ORCID
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Rothgang, H., Müller, R. & Preuß, B. (2020). BARMER Pflegereport https://orcid.org/ 0000-0002-6909-7379
2020. Belastungen der Pflegekräfte und ihre Folgen. Schriftreihe Dorit Schröder
zur Gesundheitsanalyse − Band 26. Berlin: Barmer. https://orcid.org/ 0000-0002-2114-2660
Royal College of Nursing. (2010). Guidance on safe nurse staffing Eva Maria Gruber
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Zentrum für Qualität in der Pflege. (2019). Fachpersonenmangel in Albrechtstr. 30
der ambulanten Pflege: Ergebnisse einer ZQP-Befragung, Sep- 49009 Osnabrück
tember 2019. Verfügbar unter https://www.zqp.de/wp-content/ Deutschland
uploads/ZQP-Kurzbericht-Personalmagel-Ambulant.pdf eva.gruber@hs-osnabrueck.de
[28.07.2021].

Historie
Manuskripteingang: 28.07.2021
Manuskript angenommen: 13.03.2022 Was war die größte Herausforderung bei Ihrer Studie?
Onlineveröffentlichung: 22.04.2022 Die sehr differenzierten Aussagen der Teilnehmenden
zu generalisieren.
Autorenschaft
Was wünschen Sie sich bezüglich der Thematik für die Zukunft?
Substanzieller Beitrag zu Konzeption oder Design der Arbeit:
Um eine bedarfsgerechte Versorgung Pflegebedürftiger in ihrer
AB, DS, EMG
Häuslichkeit zu sichern, ist eine intensivere Forschung und eine
Substanzieller Beitrag zur Erfassung, Analyse oder Interpretation
stärkere politische Auseinandersetzung notwendig.
der Daten:
Manuskripterstellung: AB, DS, EMG Was empfehlen Sie zum Weiterlesen / Vertiefen?
Einschlägige kritische Überarbeitung des Manuskripts: Nolan, M., Davies, S. & Grant, G. (2001). Working with older people
AB, DS, EMG and their families. Key issues in policy and practice.
Genehmigung der letzten Version des Manuskripts: AB, DS, EMG ­Buckingham: Open University Press.
Übernahme der Verantwortung für das gesamte Manuskript:
AB, DS, EMG

© 2022 HogrefePflege (2022), 35 (5), 269–277

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