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PZ Pforzheim vom 23.09.

2017
42 SAMSTAG, 23. SEPTEMBER 2017 GE S CHICH T EN AUS DER R E GION  $ #" ! UND VON DAH EIM PFORZHEIMER ZEITUNG NUMMER 221

DAS GESPRÄCH FÜHRTE


DENNIS KRIVEC Jonas Deichmann

B
. . . wurde in Stuttgart geboren. Mit acht
ei diesen Zahlen fiel selbst Jahren zog der heute 30-Jährige mit seiner
den Radsportbegeisterten Familie nach Grunbach, wo er die örtliche
in der Redaktion die Kinn- Grundschule besuchte, später ging es
lade herunter: 14 321 Kilo- nach Pforzheim. Die Schulbank drückte er
meter, 110 000 Höhenmeter für einige Jahre auf dem Reuchlin Gymna-
in etwas mehr als 64 Tagen – und das sium in der Goldstadt und auf dem Fritz-
Ganze auf dem Rennrad. Jonas Deich- Erler-Gymnasium, das er 2008 mit dem
mann hat auf seinem Weg vom portu- Abitur verließ. In dieser Zeit fuhr er für den
giesischen Cabo da Roca an der Atlan- Sportverein Schwalbe Ellmendingen auch
tikküste über den Ural und durch Sibiri- zwei Jahre lang Radrennen. Deichmann
en bis nach Wladiwostok im äußersten studierte im schwedischen Jönköping In-
Osten Russlands genau dies geschafft – ternational Management, später im Mas-
und dabei zwei Weltrekorde aufgestellt. ter dann International Business in Kopen-
Der 30-Jährige, der in Grunbach und hagen. Heute lebt er in München und ar-
Pforzheim aufgewachsen ist, hat auf sei- beitet in der bayerischen Landeshaupt-
nem Fahrrad als erster Mensch Eurasien stadt bei der IT-Firma Benify. Deichmann
durchquert – und ist am schnellsten war mit dem Fahrrad schon viel unter-
durch Europa geradelt. Im Interview mit wegs. Der 30-Jährige ist über die Alpen
der PZ erzählt Deichmann von seinem und zum Nordkap geradelt, war in Brasili-
Alltag im Sattel, von der Gastfreund- en, den USA und den meisten asiatischen
schaft und Weite in Sibirien und dem Ländern im Sattel. In Europa war er bis auf
Tiefpunkt seiner Tour im Nirgendwo. Estland in jedem Land unterwegs. Afrika
fehle ihm noch, so Deichmann. Auf seiner
PZ: Sie waren mehr als zwei Monate Facebookseite teilt der Wahl-Münchner
und über 14 000 Kilometer ohne ei- seine Abenteuer: www.facebook.com/
nen Tag Ruhepause im Sattel. Das JonasDeichmannAdventures. kri
schreit doch nach Urlaub.
Jonas Deichmann: Urlaub habe ich Für den guten Zweck
vier, fünf Tage nach der Tour in Wladi-
wostok gemacht. Aber für mich ist das Mit seiner Tour durch Eurasien hat Jonas
auch Erholung, wenn ich draußen in Deichmann nicht nur zwei Weltrekorde
der Natur bin und Fahrrad fahren kann. Nach 25 Tage erreicht Jonas Deichmann Ufa und hat damit seinen ersten Weltrekord in der Tasche: die schnellste Durchquerung Europas auf dem aufgestellt, sondern auch Spenden für die
Fahrrad. Im Durchschnitt hat er 230 Kilometer am Tag zurückgelegt, 340 Tageskilometer war die längste Distanz. FOTOS: PRIVAT TDA-Foundation gesammelt. Diese rüstet
Wie sind Sie auf die Idee zu dieser Hilfsorganisationen in Afrika und Indien
Tour gekommen? mit Fahrrädern aus. „Dadurch haben bei-

„Ich habe schon Ideen


Ich habe vor vier Jahren eine Weltum- spielsweise Ärzte und Entwicklungshelfer
rundung mit dem Fahrrad mit über eine bessere Reichweite in ländlichen
60 000 Kilometern gemacht – aber eben Regionen“, sagt Deichmann. kri
auch relativ langsam in eineinhalb Jah-

für den nächsten Weltrekord“


ren. Da habe ich den Traum gehabt, ei-
nen Weltrekord aufzustellen. Ich wollte
eine Langdistanz mit Abenteuer in der
Wildnis verbinden. Da ist die Strecke Sind Sie einer, der von Tag zu Tag
durch Eurasien natürlich perfekt. denkt oder jemand der das große Ziel
PZ-INTERVIEW mit Jonas Deichmann, der in 64 Tagen vom äußersten Westen
vor Augen hat?
Wie haben Sie sich auf die Tour vor- Kontinentaleuropas nach Wladiwostok geradelt ist und dabei zwei Weltrekorde aufgestellt hat Bei langen Distanzen muss man mit klei-
bereitet? nen Zielen arbeiten. Wenn man sich
Insgesamt habe ich zehn Monate trai- denkt, ich habe jetzt noch 10 000 Kilome-
niert. Im Winter bin ich über 100 Kilo- ter vor mir und alles tut weh, ist das nicht
meter die Woche gejoggt und bin so viel gerade gut für die Motivation. Am Anfang
Fahrrad gefahren wie möglich. Ab Früh- habe ich auf den Europarekord hingear-
jahr bin ich dann 1000 bis 1500 Kilome- beitet. Dann hat man den ersten Erfolg in
ter die Woche im Sattel gesessen, teils der Tasche. Danach habe ich mich auf das
auch mal 400 Kilometer am Tag, um Uralgebirge und den Baikalsee gefreut.
mich an die langen Distanzen zu gewöh- Man muss sich die Dinge ein bisschen
nen. Da kamen auch die sozialen Kon- schön reden, was die nächsten Tage auf
takte etwas zu kurz. Zusätzlich habe ich einen wartet.
meine Ernährung umgestellt.
Gab’s mit dem Rennrad keine Schwie-
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das rigkeiten?
Ortsschild von Wladiwostok passiert Die Straßen in Russland waren ein gro-
haben? ßes Problem. Der Trans-Sibirian High-
Natürlich sensationell. Ich habe lange da- way ist zwar in der Theorie durchgängig
rauf hingearbeitet. Und die letzten zwei asphaltiert, allerdings in teilweise sehr
Wochen im Dauerregen und der Wildnis miserablem Zustand. Ich bin durch ins-
waren das Allerhärteste. Dann anzukom- gesamt 2000 Kilometer Baustelle gefah-
men war ein traumhaftes Gefühl. ren. Heißt: ganz üble Schotterpiste. Ich
habe mich trotzdem fürs Rennrad ent-
Wie sahen die 64 Tage im Sattel durch- schieden, weil es schneller ist, habe
schnittlich aus? In Sibirien hat der Wahl-Münchner und ehemalige Grunbacher und Pforz- Geschafft: 65 Tage, zwei Stunden und 25 Minuten nachdem Deichmann am dementsprechend aber auch viele De-
Normalerweise bin ich um 5 Uhr aufge- heimer mit schlechten Straßen und der endlosen Weite zu kämpfen. Atlantik in Portugal gestartet ist, steht er am Pazifik in Wladiwostok. fekte gehabt. Beispielsweise einen Rah-
standen. Ich habe im Zelt gefrühstückt menbruch. Glücklicherweise war das
und mich in der Morgendämmerung di- aber noch in Tschechien, wo ich noch
rekt aufs Rad geschwungen. Bis es wieder Ersatz bekommen habe. Wenn das in
DIE STRECKE
dunkel wurde, bin ich dann Fahrrad ge- Russland passiert wäre, wäre es vorbei
fahren. Zum Mittagessen bin ich meist in gewesen.
ein Restaurant. Zwischendurch bin ich Nordsee Ufa
auch mal in einen Fluss gesprungen, aber Moskau Sie hatten kaum Gepäck dabei. Was hat
Erster Russland
das war meist auf zehn Minuten begrenzt. Deutschland Weltrekord Ihnen denn am meisten gefehlt in den
Polen
Abends habe ich dann das Zelt aufgebaut Kiew 64 Tagen?
Zürich Österreich Ukraine Kasachstan
und etwas gekocht. Frankreich Mein Gepäck wog rund viereinhalb Kilo-
Schweiz Mongolei
Wladiwostok gramm: Kochsachen, Zelt, Schlafsack,
Sie haben immer wild gezeltet? Ziel Zweiter Ausrüstung, Kleidung. In Europa hat
Portugal Weltrekord
Ja, in Europa habe ich sogar bis auf eine Spanien Nordkorea
mir nichts gefehlt, in Sibirien das Essen.
Start
Nacht immer im Schlafsack und mit Iso- Lissabon
Mittelmeer
China Ich bin nur etwa einmal die Woche am
Südkorea
matte biwakiert. In Russland waren aber 2 0 0 km Japan Supermarkt vorbeigekommen. Und in
so viele Moskitos, dass ich immer ins Zelt QUELLE: BENIFY.DE KARTE: MAPS4 NEWS.COM/ NAVTEQ
den Restaurants dort habe ich auch
musste. nicht alles gegessen, weil ich eine Le-
bensmittelvergiftung vermeiden wollte.
Rauscht bei 230 Kilometern Tages- In der Regel habe ich mich von trocke-
durchschnitt nicht alles an einem vor- nen Nudeln und Riegeln ernährt. Da
bei? Schneesturm geraten. Das war die ultima- vergleicht, ist das gar nichts. In Ostruss- auch mal mit Tiefpunkten zu kämp- vermisst man dann schon gutes Essen.
Da stimme ich nicht ganz zu. Zwischen tive Herausforderung und kam zum un- land fährt man Tausende Kilometer gera- fen, wo Sie gesagt haben „So, jetzt
den Alpen und Sibirien gibt es einen gro- günstigsten Zeitpunkt, da der nächste Ort deaus und es gibt einfach nichts. reicht es“? Wann liest man von Ihnen im Guin-
ßen Unterschied. Dort passiert manchmal 2100 Kilometer entfernt war. Ich habe Nein, so weit war ich nie. Nach etwa sechs ness-Buch der Rekorde?
tagelang überhaupt nichts. Wenn ich ei- kein Gefühl mehr in den Füßen gehabt. Wie haben die Menschen auf Sie Tagen hatte ich in Frankreich im Zentral- Ich habe den Antrag schon abgeschickt.
nen Platz super schön fand, bin ich da Da hieß es schnell weiterfahren, um mich reagiert? massiv zu kämpfen. Danach lief es aber Die Verifizierung braucht etwa sechs bis
schon mal zwei Stunden lang geblieben. warm zu halten. In Europa fast gar nicht. Da fällt man lange relativ problemlos. Etwa 1000 Kilo- acht Wochen, dann gibt es auch einen
Das war schon drin. Und abends wurde nicht unbedingt auf. Es sei denn, sie meter nach dem Baikalsee bin ich dann Eintrag.
ich auch manchmal von Einheimischen Was hat Sie auf dem Weg an den Pazi- wussten, was man vor hat. Dann waren krank geworden und habe angefangen die
eingeladen. Es ist wenig Zeit, aber es ist fik am meisten überrascht und beein- sie total begeistert. Das waren die Leute Strapazen zu merken. Dann kam der Welchen Weltrekord jagen Sie als
auch nicht so, dass man an allem vorbei- druckt? auch in Sibirien – und vor allem neugie- Dauerregen dazu. Da war ich bei meinem nächstes?
fährt. Die Gastfreundschaft in Russland, gerade rig. Ich wurde häufig eingeladen. Da kom- absoluten Tiefpunkt und habe mich Ich habe ein paar Ideen. Ende des Jahres
in Ostsibirien. Dort waren super nette men nicht viele Ausländer vorbei und total miserabel gefühlt. Ich habe überlegt, werde ich dann bekanntgeben, was ich
Welche Situation fällt Ihnen spontan Leute. Beeindruckt hat mich die unendli- schon gar nicht auf dem Fahrrad. einen Ruhetag einzulegen, aber mei- 2018 mache. Es wird auf jeden Fall auf
zu Ihrem Abenteuer ein? che Weite. Ich bin schon in Schweden ge- nen großen Traum wollte ich nicht auf- dem Fahrrad sein und mindestens einen
In Sibirien bin ich in den Bergen in einen fahren. Aber wenn man das mit Sibirien Das hört sich alles toll an. Hatten Sie geben. Kontinent will ich durchqueren.

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