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Wahrscheinlich hört
wieder keiner zu –
Adorno und die Paradoxien
der Avantgarde-Musik

Im Spiegel vom 11. November 1968, also kurz vor sei-


nem Tod, veröffentlichte Theodor W. Adorno einen

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langen Essay mit dem Titel Orpheus in der Unterwelt.
Er kreist um die Unterscheidung von E- und U-Musik
und reflektiert die irritierende Erfahrung, dass diese
Unterscheidung nicht zuletzt durch die Bestseller-Pro-
dukte der Schallplatten-Industrie erodiert. In diesem
Essay heißt es: „Während der Anspruch ernster Musik
gewahrt bleibt, sind zahlreiche der best seller-Platten
gehobene Unterhaltung, aus einer Kategorie, für die
man in Amerika, ohne alle Ironie, das unübertreffliche
Wort semi-classical gebraucht. Sie bezeugen einen ideo-
logischen Kompromiß. Auf der einen Seite will man
kulturelle Prätentionen nicht opfern; die Liebhaber
der gehobenen Unterhaltung dürften sich denen der
U-Musik, der Schlager und nun des beat geistig und
sozial überlegen dünken. Andererseits paßt das Reper-
toire des semi-classical den Hörern so willfährig sich an
wie die U-Musik. Sie können sich an leicht faßlichen
Oberstimmenmelodien, einfachsten rhythmischen
Schemata, eingeschliffenen Gefühlsgesten erfreuen.
Die verwaltungsübliche Scheidung von E und U führt
sich ad absurdum. Viele der best sellers, die nach den
akzeptierten Standards als E klassifiziert werden, sind
A D O R N O U N D D I E PA R A D O X I E N D E R AVA N T G A R D E - M U S I K

der eigenen Beschaffenheit nach U, oder wenigstens


durch ungezählte Wiederholungen abgenutzt und ba-
nalisiert: was E war, kann U werden. Überdies arbeitet
die Aufführungspraxis, wie die best sellers sie verewigen,
häufig auf eine Akkomodation von E an U hin. Der
Verdinglichung der reinlich getrennten Musikbereiche
wird ihre Schuld heimgezahlt. Was an sich solcher Ver-
dinglichung entgegen ist, wird von ihr schon vermöge
der Scheidung ereilt.“9
Damit nimmt Adorno eine Überlegung vom Anfang
der 60-er Jahre wieder auf. Im Kapitel Leichte Musik sei-
ner 1962 erschienenen Einleitung in die Musiksoziologie
hatte Adorno über das Wechselverhältnis von leichter
und ernster Musik nachgedacht und erstere keineswegs
per se für zu leicht befunden. Vielmehr kommt er zu
dem Schluss: „Vollends Haydn, der Mozart der Zauber-
flöte und Beethoven wären ohne die Wechselwirkung
zwischen den bereits getrennten Sphären nicht vorzu-
stellen. Das letzte Mal, daß sie sich wie auf schmalem
Grat, in äußerster Stilisierung versöhnten, war Mozarts

9 Theodor W. Adorno: Orpheus in der Unterwelt; in: Gesammelte


Schriften Bd. 19. Ffm 1984, S. 548.

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