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1 Von der Literaturwissenschaft des Faches in Folgendem begründet: Erstens hat Deutsch
Deutsch als Fremdsprache zur Reflexion als Fremdsprache als Fach, „in dessen Mittel-
auf Literarizität im Rahmen eines punkt die Theorie und Praxis des Erwerbens/
Konzepts funktionalisierter Literatur Lernens und Lehrens der Fremdsprache
Hat Altmayer die Frage, ob es eine Literatur- Deutsch steht“ (Götze/Suchsland 1996: 67),
wissenschaft des Faches Deutsch als Fremd- kein spezifisches Interesse an der Erkenntnis
sprache gebe, 1997 immerhin noch so beant- des literarischen Gegenstandes als solchen
wortet, dass die Literaturwissenschaft ein (und eben darin besteht im Kern Literatur-
„eigenständiger Teilbereich des Faches“ (Alt- wissenschaft2). Der literarische Text ist im
mayer 1997: 200) sei, der freilich noch der the- Rahmen von DaF nicht Ziel der Erkenntnis,
oretischen Grundlegung und der Konkreti sondern er interessiert in seiner Eigenschaft
sierung seiner Ziele und Perspektiven bedürfe, als Medium: Er wird entweder als Mittel des
ist Grub 2003 schon deutlich skeptischer, wie Spracherwerbs (vgl. Grub 2003: 138) oder als
bereits der Titel seines Aufsatzes „Deutsch Mittel zum Kulturlernen (als Träger bzw.
als Fremdsprache und Literaturwissenschaft“ Reflex ionsmedium von Diskursen) (vgl. Alt-
(Grub 2003) andeutet: Die Nebenordnung von mayer 1997: 199) thematisiert. Eben deshalb
DaF und Literaturwissenschaft lässt sich stellt beispielsweise Ehlers (2004; 1998) das
durchaus als die Konstatierung einer Distanz Lesen von Literatur und nicht etwa den litera-
zwischen beiden lesen.1 rischen Text in den Mittelpunkt. Um es zu
Leider umkreist Grub in seinem informati- pointieren: Während im Fach Deutsch als
ven Aufsatz diese Distanz mehr, als dass er sie Fremdsprache der literarische Text für den
analytisch auf den Punkt bringt. Ich sehe sie Erwerb von Lese- und Verstehenskompetenz
funktionalisiert ist, ist es in der Literaturwis-
senschaft genau umgekehrt: Der Erwerb von
Lese- und Verstehenskompetenz ist funktio-
1
Grubs „Ausblick“ (Grub 2003: 150f.) fällt entsprechend nalisiert für die Erkenntnis des literarischen
zurückhaltend, ja resigniert aus: „Eine eigene Textes.
Literaturdidaktik des Deutschen als Fremdsprache gibt Zweitens kann dort, wo wie in der sog. „in-
es nach wie vor nicht […] Eine Verschiebung der Ak-
zente hin zur Kulturwissenschaft ist mancherorts be-
terkulturellen Germanistik“, die den ersten
reits zu beobachten. Auch deshalb mag zumindest zum (vgl. Wierlacher 1992: 2), bis heute ambitio-
jetzigen Zeitpunkt eine genuine Literaturwissenschaft niertesten und zugleich wirkmächtigsten An-
des Faches Deutsch als Fremdsprache weniger von Nö- lauf zu einer Literaturwissenschaft DaF un-
ten sein“ (151).
2
Vgl. Stierles Definition der Literaturwissenschaft als ei-
ternommen hat, unter dem Stichwort der
nes „ m e t h o d i s c h r e f l e k t i e r t e [ n ] Zugang[s] zum „Außensicht“ (Wierlacher 1992: 4) doch Inte-
literarischen Werk“ (Stierle 1996: 1172; Herv. i. Orig.). resse am literarischen Text als solchem geltend
21
gemacht wird,1 daraus kein eigenständiger li- sens war (und sich organisatorisch in der
teraturwissenschaftlicher Zugang des Faches fast überall realisierten Zuordnung der Litera-
Deutsch als Fremdsprache abgeleitet werden, tur zum Arbeitsbereich Landeskunde halb-
weil die Unterscheidung zwischen Innensicht wegs schlüssig niedergeschlagen hat) – dass
und Außensicht und damit verknüpft dieje- Literatur im Kontext von DaF nicht Gegen-
nige zwischen „Fremdem und Eigenem“ stand einer Literaturwissenschaft und auch
(Wierlacher 1992: 2) in Bezug auf die Lektüre nicht einer Literaturdidaktik ist – insofern,
literarischer Texte schlicht in die Irre führt: als auch das Interesse der Literaturdidaktik
Seit Schleiermacher wissen wir, dass auch der auf die literarischen Texte selbst gerichtet ist
vermeintlich „eigenkulturelle“ literarische (vgl. Korte/Bogdal 2006: 13) –, sondern dass
Text immer schon ein fremder Text ist, dessen sie in wechselnden Konstellationen von Lin-
Verständlichkeit nicht vorausgesetzt werden guistik, (Sprach-)Didaktik und Kulturwissen-
kann (vgl. Frank 1989: 123; 2 Hunfeld (vgl. schaft und folglich aus wechselnden Per
2004: 373) spricht in diesem Sinne daher auch spektiven mit Blick auf ihre Funktionalisier-
– in Aufnahme einer Formulierung von Adolf
Muschg – von der „Fremdsprache Literatur“).
Diese Einsicht hat im Übrigen Konsequenzen
auch für die Unterscheidung zwischen dem
Lesen fremdsprachlicher und muttersprachli 1
Wierlacher trat 1980 an mit dem programmatischen An
cher Literatur, auf der Ehlers in ihren Publi- spruch, die „[d]eutsche Literatur als fremdkulturelle
kationen so insistiert: 3 Ihre Relevanz scheint Literatur“ (Wierlacher 1980: 146) zu profilieren.
mir durchaus fraglich zu sein (vgl. dazu auch 2
Zwar heißt es auch bei Wierlacher (1980: 146) in diesem
Müller-Peisert 2006: 277). Sinne: „[F]remd ist jedem Leser ein poetischer Text“;
dennoch operiert er in Bezug auf die Lektüre von litera-
Das bedeutet nicht, dass Untersuchungen rischen Texten mit der Unterscheidung zwischen „Ei-
zu literarischen Texten, die sich auf die Fra- genkultur“ und „Fremdkultur“. Demgegenüber betont
gen der in ihnen verhandelten oder durch sie Bachmann-Medick (2004a: 9), dass „literar ische Texte
vermittelten Fremdheitserfahrung bzw. des […] je spezifische Fremdheitsprobleme auf[werfen] –
dies nicht erst bei Kafka – und […] auch auf kulturin-
Fremdverstehens konzentrieren, für das Fach terne Brüche und Fremdheiten aufmerksam“ machen.
Deutsch als Fremdsprache nicht sinnvoll und Zu den problematischen Voraussetz ungen und Implika-
interessant sein könnten – sie bieten nur tionen der Wierlacher’schen Idee von der hermeneuti-
keine Basis, um darauf eine eigenständige Li schen Relevanz einer kulturellen „Außensicht“ vgl. auch
Ickler (1994).
teraturwissenschaft DaF zu gründen. Denn 3
Ehlers betont „die Eigengesetzlichkeit des fremdsprach
wo DaF solche Untersuchungen unternimmt, lichen Leseprozesses“ (1998: 12). So nachvollziehbar
sieht es sich unweigerlich auf die Ansätze, Me- ihre Argumentation im Einzelnen auch ist – die Prob-
thoden und Instrumente der – mittlerweile leme, die sie fremdsprachlichen Lesern attestiert (vgl.
183), ließen sich mit einiger Sicherheit auch bei mutter-
kulturwissenschaftlich erweiterten – Philolo- sprachlichen, aber literaturunerfahrenen Lesern fest-
gien verwiesen, denen es nichts Substanzielles stellen, wenn sie beispielsweise mit moderner Prosa,
hinzuzufügen hat. Insofern ist es tatsächlich von moderner Lyrik ganz zu schweigen, konfrontiert
nur konsequent, wenn sich eine eigenständige würden. Umgekehrt zeigt die Erfahrung, dass literatur-
kompetente Leser mit fremdsprachlicher Literatur im
Literaturwissenschaft des Faches Deutsch als Prinzip besser zurechtkommen als literaturinkompe-
Fremdsprache nie hat entwickeln geschweige tente, und zwar (weitgehend, wenn auch natürl ich nicht
denn etablieren können – abgesehen von dem völlig) unabhängig vom Stand ihrer fremdsprachlichen
Sonderfall der interkulturellen Germanistik, Fähigkeiten. Dies legt die Vermutung nahe, dass die
vorgängige Vertrautheit mit Literatur und ihren Verfah-
die sich aber im Zuge ihrer Erweiterung zu ren – also mit Literarizität – ein entscheidendes, bislang
„einer Kulturwissenschaft mit Eigenschaften viel zu gering gewichtetes Kriterium für den Erfolg des
einer vergleichenden Kulturanthropologie“ (literarischen) Lesens (auch) in der Fremdsprache ist;
(Wierlacher 2003a: XI) sowohl aus dem DaF- eben dieses Kriterium spielt bei Ehlers aber keine
Rolle.
Diskurs als auch aus dem Diskurs der Li 4
Die Entfremdung zwischen DaF und interkultureller
teraturwissenschaften weitestgehend verab- Germanistik erhellt aus nichts so deutlich wie aus der
schiedet hat.4 Tatsache, dass im HSK-Band „Deutsch als Fremdspra-
Die Schlussfolgerung kann nur lauten, das che“ (Helbig/Götze/Henrici/Krumm (Hg.) 2001) die
interkulturelle Germanistik nicht vertreten ist, diese
Projekt der Etablierung einer eigenständigen sich vielmehr 2003 mit einem eigenen „Handbuch inter-
Literaturwissenschaft DaF aufzugeben und kulturelle Germanistik“ der Öffentlichkeit präsentierte
anzuerkennen, was implizit immer schon Kon- (Bogner/Wierlacher (Hg.) 2003).
22
barkeit für Prozesse des Spracherwerbs und herzustellen (vgl. Weinrich 1988: 239), laufen
des Kulturlernens bzw. -(ver)mittelns fokus- für ihn letzten Endes die „Intentionen der
siert wird. Didaktik denen der Ästhetik zuwider“ (239).
Wenn auf diese Weise die Arbeit mit Lite- Weinrich benennt mit diesem Widerspruch
ratur im Rahmen von DaF der Verfügung ei- ohne Zweifel das zentrale Problem eines je-
ner eigenständigen Literaturwissenschaft den Versuchs, der Literatur (und damit der
DaF entzogen und in die jeweiligen Teilberei- Literaturwissenschaft) einen Ort in Deutsch
che des Faches verlagert wird (meine erste als Fremdsprache zuzuweisen. Der kulturelle
These), heißt dies jedoch nicht, dass damit und gesellschaftliche Wandel der letzten
das genuin literaturwissenschaftliche Wissen Jahre und Jahrzehnte – der über den Umweg
und die spezifischen literaturwissenschaftli- der diesen Wandel reflektierenden Kulturwis
chen Kompetenzen gleichermaßen entbehr- senschaften und Fremdsprachendidaktiken
lich würden. Denn auch eine für die Zwecke zu der doppelten Einsicht geführt hat, dass
des Spracherwerbs und des Kulturlernens einerseits die vormals vermeintlich klar gezo-
funktionalisierte Literatur bleibt doch Litera- gene Grenze zwischen dem sogenannten
tur, deren Potenzial sich für die genannten „Fremden“ und dem sogenannten „Eigenen“
Zwecke nur über eine Reflexion auf das, was unübersichtlich und problematisch geworden
sie auszeichnet – das spezifisch Literarische (vgl. Ackermann 2004), dass andererseits
nämlich –, bestimmen, begreifen und – vor Fremdverstehen von einem selbstverständlich
allem – zur Entfaltung bringen lässt: Dies ist gegebenen Ziel zu einem immer wieder neu
meine zweite These. Dabei will ich gerne zu- zu reflektierenden, nie zu Ende kommenden
gestehen, dass das Fach Deutsch als Fremd Prozess geworden ist (vgl. auch Hunfeld 2004:
sprache die Literarizität der Literatur – ihre 402f.) – hat jedoch die Gültigkeit des
„spezifische Ästhetik“ (Altmayer 1997: 199) Weinrich’schen Verdikts wenn nicht außer
– nie völlig aus den Augen verloren hat.1 Mit Kraft gesetzt, so doch im Kern erschüttert
Weinrich besaß es dereinst sogar einen Ver und damit Spielräume für eine Neuprofilie-
treter, der den Unterricht in Deutsch als rung des Arbeitsbereichs Literatur im Fach
Fremdsprache „mit Notwendigkeit der ästhe- DaF geschaffen, die es zu nutzen gilt. Als Ba-
tischen Funktion der Sprache entgegen[laufen] sis für diese Neuprofilierung, die an ältere
und […] selber eine ästhetische Dimension“ Positionen anknüpfen kann, über diese aber
(1988: 236) ausbilden sah. Dass Weinrich auch deutlich hinausgehen muss, schlage ich
diese bemerkenswerte Ansicht nicht zu einem meine beiden Thesen vor:
umfassenden und eigenständigen Ansatz für
die Arbeit mit Literatur im Rahmen von DaF 1. Literatur in Deutsch als Fremdsprache ist
weiterentwickelt hat, führe ich darauf zurück, eine für Sprach- und Kulturlernzwecke
dass er bei allem Enthusiasmus für die „Lite- funktionalisierte Literatur.
ratur im Fremdsprachenunterricht“ aus ihrer 2. Ausgangs- und Bezugspunkt der Arbeit mit
notwendigen Funktionalisierung im Rahmen Literatur in DaF-Kontexten ist die Refle-
von DaF den Schluss zog, dass das Setzen auf xion auf ihre Literarizität.
sie und ihre Literarizität nur vorübergehend
möglich und gerechtfertigt sei; weil es dem Bevor ich das mit diesen Thesen verknüpfte
Fremdsprachenunterricht im Kern darum Konzept näher entfalte und begründe, möchte
gehe, Fremdheit aufzuheben und Verstehen ich erläutern, was ich unter Literarizität ver-
stehe.
2 Literarizität als Suspension von
Bedeutung und Referenz
1
So enthält beispielsweise die Fernstudieneinheit „Lesen
Nach der berühmten Definition von Jakobson
und Verstehen“ ein Kapitel zur „Ästhetische[n] ist Literarizität ein Merkmal, das an eine be-
Wahrnehmung“ (Ehlers 2004: 42). Ob Ehlers der spezi- stimmte Einstellung des Rezipienten bzw. des
fischen Literarizität der Literatur damit schon ausrei- Produzenten eines Textes gebunden ist: an die
chend Rechnung trägt, wäre allerdings noch zu disku-
tieren. Dass in der alltäglichen DaF-Unterrichtspraxis
„E i n s t el lu n g auf die Na c h r i c ht als solche,
Literarizität so gut wie keine Rolle spielt, betont Hon- die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer
nef-Becker (vgl. 1993: 439). selbst willen“ (Jakobson 1972: 108; Herv.
23
i. Orig.).1 Die Nachricht – das sprachliche Zei- nannten Gegenstände im Raum basiert und die
chen: das Wort bzw. den Text – in diesem „poe- – in der Wirklichkeit wie auf dem Papier (denn
tischen“ Sinne zu fokussieren, heißt nach Ja- sie bildet sich in der graphischen Anordnung
kobson, die Aufmerksamkeit von den der Worte ab) – eine Bewegung von oben nach
Äquivalenzen bei der Auswahl der Worte weg- unten vollzieht: vom Gebirge über die Baum-
und auf Äquivalenzen bei der Verkettung der kronen zum Vogel und schließlich zum Men-
Worte hinzulenken. In der Formulierung von schen. Diese Bewegung gewinnt vor dem Hin-
Eagleton (1997: 77): „Wir reihen Wörter anei- tergrund der ersten Äquivalenzreihe bzw. im
nander, die semantisch, rhythmisch, phone- Kontrast zu ihr selbst Bedeutung: Zusammen
tisch oder auf eine andere Weise äquivalent mit dem „Balde ruhest du auch“, das die funda-
sind.“ Jakobson selbst illustriert seine These mentale Gemeinsamkeit alles Seienden betont
mit dem folgenden (Alltags-)Beispiel: („auch“), stellt sie das zuvor implizit postulierte
A girl used to talk about ‘the horrible Harry.’ humane Selbstbew usstsein des Menschen wie-
‘Why horrible?’ ‘Because I hate him.’ ‘But why der in Frage, inszeniert sie die Demütigung die-
not dreadful, terrible, frightful, disgusting?’ ‘I ses Selbstbew usstseins, allerdings ebenfalls,
don’t know why, but horrible fits him better.’ ohne diesen Widerruf ausdrücklich zu machen.
Without realizing it, she clung to the poetic de- In dieser Erschütterung und partiellen Auflö-
vice of paronomasia. (Jakobson 1966: 357) sung der vermeintlich festgefügten vertikalen
An diesem Beispiel zeigt sich bereits der zent- Struktur des sprachlichen Zeichens durch sein
rale Effekt poetischer Sprachverwendung: Einlassen in horizontal organisierte Geflechte
Durch sie lockert sich, indem sie ein sachfrem- – Texte – (also – wie der Poststrukturalismus
des Kriterium für die Konstruktion von Wort- sagt – durch die Trennung des Zeichens von
folgen einführt, die vermeintlich enge Verbin- sich selbst; vgl. Frank 1984a: 95ff.; Eagleton
dung von Ausdruck und Bedeutung bzw. 1997: 111), wodurch vielschichtige, bisweilen
Referenz (vgl. Frank 1984b: 598). widersprüchliche, im Extremfall sogar „unsag
Wie sich die Literatur diesen Effekt zunutze bare“, also unentscheidbare Bedeutungen er-
macht, zeigt beispielhaft das folgende Goethe- zeugt werden – manifestiert sich Literarizität. 2
Gedicht „Ein Gleiches“; es illustriert dabei Derrida bezeichnet sie in einer intrikaten For
insbesondere die zitierte Auffassung Eagle mulierung als „ s u s p e n d e d relation to mean-
tons, dass die Äquivalenzbeziehungen nicht ing and reference“. 3 „Suspended“ bedeutet da-
auf die lautliche Ebene beschränkt sein müs- bei gerade nicht, dass Literatur Referenzialität,
sen, sondern alle möglichen Aspekte des Zei- Bedeutung und pragmatische Wirkung der
chens erfassen (können): Sprache außer Kraft, wohl aber, dass sie sie
Über allen Gipfeln
gleichsam in Anführungszeichen setzt. Paul
Ist Ruh‘, Valéry nennt Literatur in diesem Sinne ein
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
1
Die Vögelein schweigen im Walde. „The s e t (= Einstellung – M. D.) toward the m e s s a g e
Warte nur! Balde as such, focus on the message for its own sake, is the po-
Ruhest du auch. etic function of language.“ (Jakobson 1966: 356; Herv.
i. Orig.) Jakobson benutzt den Begriff „Poetizität“, ich
(Goethe 1998: 65) ziehe den Begriff „Literarizität“ vor, um deutlich zu
In diesem Gedicht konstituieren die Wörter machen, dass es mir nicht um „Dichtung“ im engeren,
sondern um „Literatur“ im weiteren Sinne geht (vgl.
„Gipfel“, „Wipfel“, „Vögelein“ und „du“ eine dazu auch Peer 2003: 111). Zur Kritik an Jakobson vgl.
semantische Äquivalenzreihe durch ihre Zuge- Weinr ich (1988: 236) und Begemann (1991: 16ff.). Mit
hörigkeit zu einem Kontinuum, das von der un- der Rede von der „Einstellung“ ist m. E. bereits impli-
belebten Natur über die Flora und die Fauna ziert, dass Literarizität kein textinhärentes Merkmal ist,
sondern von der Rezeption abhängt.
zum Menschen reicht und so eine Aufwärtsbe- 2
„Wenn wir die Bedeutung von Zeichen als das Sagbare
wegung inszeniert, die man als Ausdruck des definieren, so können wir ihre spezifische – von keinem
geläufigen Selbstbewusstseins des humanen Bezeichnungssystem der Welt ersetzbare – Poetizität
Subjekts lesen könnte, Krone der Schöpfung zu das Unsagbare nennen“ (Frank 1984b: 594f.).
3
„There is no literature without a s u s p e n d e d relation
sein. Die Pointe des Textes ergibt sich daraus, to meaning and reference. S u s p e n d e d means s u s
dass mit dieser Äquivalenzreihe eine zweite p e n s e , but also d e p e n d e n c e , condition, conditiona
konstrastiert, die auf der Lokalisierung der ge- lity.“ (Derrida 1992: 48)
24
„Zaudern zwischen Klang und Sinn“ (zit. nach – die partielle Suspendierung der referenziel-
Jakobson 1972: 122).1 Ihr werden in letzter len Funktion und die Verweisung des Lesers
Konsequenz alle sprachlichen Funktionen, alle auf die horizontale Verwebung des Textmate-
semantischen Ebenen zum „Spielmaterial“ rials –, lässt sich auch als die Voraussetzung
(Jahraus 2004: 102). der bereits vielfach konstatierten besonderen
Lesbarkeit von Literatur identifizieren, die zu
3 Implikationen, Konsequenzen und ihrer spezifischen Unlesbarkeit – ihrer prinzi-
Perspektiven einer Umstellung auf piellen Un(aus)deutbarkeit – nur vordergrün-
Literarizitätsreflexion in DaF dig im Widerspruch steht, denn beides ver
Dafür, den Umgang mit Literatur im Fach dankt sich ihrer Literarizität. Indem literari-
Deutsch als Fremdsprache von einer Refle- sche Texte ihre Kontexte bis zu einem gewissen
xion auf eine so verstandene Literarizität her Grade selbst mitbringen (insofern sie nicht auf
zu konzipieren, lässt sich ein ganzes Bündel Wirklichkeit, sondern auf sich selbst bzw. –
von Gründen anführen. So würde eine solche durch Zitate, intertextuelle Verweise, Gat-
Umstellung endlich der Tatsache angemessen tungszugehörigkeiten usw. – auf andere Zei-
Rechnung tragen, dass die besondere Eignung chen verweisen) oder – anders formuliert – ihre
von literarischen Texten speziell für den An- Kontexte vom Leser selbst erzeugen lassen
fängerunterricht einzig und allein ihrer Lite- (vgl. Bredella 1996: 141ff.; Krusche 1989: 6),
rarizität geschuldet ist: Es ist der von Jahraus erleichtern sie ihm auf einer grundsätzlichen
hervorgehobene Spiel- und zugleich Rätsel- Ebene die Orientierung und das Verständnis,
charakter der Literatur, wie er bei laut die bei einem sprachlich vergleichbar kom
malerischen Gedichten, bei Unsinns- und bei plizierten Zeitungstext längst blockiert wor-
konkreter Poesie oder auch bei einfachen Lie- den wären (vgl. auch Krusche 1989: 6; Belke
dern besonders prominent hervortritt, der sie 2007). Voraussetzung ist allerdings, dass sich
für Lerner insbesondere auf Anfängerniveau Leser und Leserin auf Literatur und ihre
attraktiv macht; denn diese Texte müssen oder Verfahrensweisen – also ihre Literarizität –
können gar nicht in der gleichen referenziellen grundsätzlich verstehen und sich auf sie einzu-
Weise verstanden werden wie ein Ausschnitt lassen bereit sind. Und darum muss wiederum
aus der Zeitung; zugleich laden sie zu einer wissen, wer mit Literatur im Sprachunterricht
sinnlichen, das Sprachmaterial genießenden erfolgreich arbeiten möchte.
Begegnung mit der (fremden) Sprache ein. Literarizität ist aber nicht nur unverzicht-
Das, was für diese Effekte verantwortlich ist bare Basiskategorie jeder Arbeit mit literari-
schen Texten im Sprachlernkontexten. Ge-
nauso zentral ist sie für den Umgang mit
Literatur aus landeskundlicher Perspektive.
1
Im englischen Original heißt es: „hesitation between
Allzu oft – ich verweise auf die in Anm. 1
the sound and the sense“ (Jakobson 1966: 367). Das S. 23 erwähnte Kritik von Honnef-Becker –
„Warte nur! Balde“ im Goethe’schen Text könnte man werden literarische Texte für landeskundliche
als selbstreflexive Inszenierung dieser „suspended rela- Zwecke funktionalisiert o h n e ausreichende
tion“ lesen: Der Text als Sprachgebilde („Hauch“) kann
die Grenze zu der von ihm selbst angekündigten Ruhe
Berücksichtigung ihrer konstitutiven Literari-
nie überschreiten, ohne sich selbst auszulöschen; er bil- zität. 2 Hier bedarf es dringend einer Umorien-
det damit performativ den Widerspruch – die Unruhe tierung. Anregungen dazu könnten aus den
der sich nie endgültig einstellenden Bedeutung – ab, den Kulturwissenschaften kommen, in denen der
man vielleicht als seinen – ebenso anthropologischen
wie poetologischen – Gegenstand identifizieren könnte.
Stellenwert von Literarizität schon länger dis-
In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass die kutiert wird (vgl. etwa Bachmann-Medick
Forschung lange Zeit in der Darstellung und Herstel- 2004b: 317ff.). Nicht zufällig beginnt sich dort
lung von Ruhe Thema und Ziel des Gedichts sah (vgl. allmählich die Auffassung durchzusetzen,
Martyn 1992: 673).
2
Insbesondere die Fernstudieneinheit „Landeskunde
dass das „Projekt Kulturwissenschaft“ auf die
und Literaturdidaktik“ (Bischof/Kessling/Krechel spezifisch „philologische Kompetenz“ (Bach-
1999) kann hier als Negativbeispiel dienen. Die Wider- mann-Medick 2004: 328) dringend angewie-
sprüche und Unklarheiten, auf die Altmayer (2001) in sen ist: „Sie könnte nutzbar gemacht werden,
seiner Rezension hingewiesen hat, lassen sich samt und
sonders darauf zur ückführen, dass es dem Werk an ei-
um zu erkennen, wie kulturelle Bedeutungen
ner konsequenten Ref lexion auf die Literarizität von mit Textualität verknüpft sind, d. h. mit Fiktio-
Literatur mangelt. nalität, mit wirkungsästhetischen und rhetori-
25
schen Strategien sowie mit kreativen sprach- menten ausstatten, die dem Komplexitätsni-
lich-ästhetischen Brechungen in literarischen veau unserer multikulturellen Realität ange-
Texten“ (328), wie also diese Bedeutungen messen sind. Solche Verstehens- und Lektüre-
durch Literarizität immer auch subvertiert
und ins Zwielicht gerückt werden. Sich dessen
bewusst zu sein, kann kulturwissenschaftliche 1
Wie die Rezeption auf literarische Texte und deren
Lektüre möglicherweise davor bewahren, ih- Strateg ien hereinfallen kann, führt exemplarisch Mar-
tyn (1992) an dem oben besprochenen Goethe-Gedicht
ren literarischen Gegenständen – in der Über- vor. Ich selbst (Dobstadt 2004) habe versucht, die ambi-
zeugung, sie aus sicherer Distanz und von ei- guierenden Effekte literarischen Schreibens an Texten
nem vermeintlich festen Standort aus zu des österreichischen Autors Erich Hackl nachzuweisen,
analysieren – auf den Leim zu gehen und ihrer der aufgrund seiner Interessen und Themen zum Reprä-
sentanten einer Literatur der Vergegenwärtigung von
Bodenlosigkeit zum Opfer zu fallen.1 Ein kla- Vergangenheit erklärt worden ist, über deren Literarizi-
res Bewusstein für die prinzipielle Unaus tät man sich folglich keine Gedanken machen muss.
rechenbarkeit, d. h. für die Literarizität litera- 2
Dieser Aspekt wird m. E. auch von den Gießener Ver-
rischer Texte, 2 schließt kulturwissenschaftlich tretern des Konzepts eines Fremdverstehens mit litera-
rischen Texten noch deutlich unterschätzt; abgesehen
interessierte Zugriffe auf sie dabei gerade davon gehört ihr Konzept – vgl. etwa Nünning (2001)
nicht aus, wie etwa die Untersuchung der und Bredella (2002) – zum Elaboriertesten, was derzeit
literarischen Kriegsdarstellung in Grimmels- auf dem Markt ist.
hausens „Simplicissimus“ zeigt, die Merzhäu- 3
Vgl. Merzhäuser (2002: 96). Ihren zentralen Ansatz-
und Bezugspunkt hat eine kulturwissenschaftlich ver-
ser kürzlich vorgelegt hat: Sie führt aus, dass fahrende Literaturwissenschaft indes in der vieldeuti-
die historisch neue, „unsagbare“ Erfahrung gen Metapher von der „Kultur als Text“. Zu den
des modernen Krieges, die in anderen, nichtli- „Grenzen und Herausforderungen“ (Bachmann-Me-
terarischen Diskursen der Epoche (noch) 4
dick 2004b: 298) dieser „Leitmetapher“ (302) vgl. dort.
Der Titel der an der Rezeptionsästhetik orientierten
nicht angemessen zur Sprache kommen Fernstudieneinheit von Ehlers (2004) ist in diesem
konnte, im und durch den literarischen Text Sinne Prog ramm, bei aller Differenzierung im Einzel
erstmals artikulierbar wurde. 3 nen, durch die sie der Mehrdeutigkeit von literarischen
Mit dem Hinweis auf die Unausrechenbar- Texten Rechnung zu tragen versucht. Mit Blick auf Eh-
lers (1998) wäre hinz uzufügen: Literarisches Lesen geht
keit des literarischen Textes ist eine wichtige auch nicht im „Beherrschen eines narrativen Codes“
Implikation des hier entwickelten Vorschlags (13) auf. Wenn sie schreibt: „Die Zuordnung von Be-
ins Spiel gebracht: die Kritik an den über deutungen (Signifikanten) erfolgt auf der Basis von ge-
kommenen Deutungskonzepten. Ein auf Lite- sellschaftlichen Konventionen, die innerhalb einer Kul-
tur und zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten“ (210),
rarizität fokussierter Umgang mit Literatur im dann ist dies zwar nicht falsch, aber doch insofern ver-
Rahmen von DaF schließt die Verabschiedung kürzt, als dabei u. a. unber ücksichtigt bleibt, dass litera-
von der Fixierung auf traditionell-herme rische Texte mit Deutungskonventionen nicht bruchlos
neutische und die Öffnung für avanciertere harmonieren, sondern diese nicht selten subvertieren
und zur Disposition stellen. Die Begriffe des „narrati-
neohermeneutische bzw. poststrukturalisti- ven“ und des „kulturellen Kodes“ erweisen sich vor die-
sche Interpretations- oder – besser – Lektüre- sem Hintergrund als unzureichend, ja als irreführend.
konzepte ein. Lesen geht eben nicht in Verste- 5
Das markiert auch – grob gesagt – die Differenz zwischen
hen auf, wie es uns die Vertreter der für DaF der – hermeneutischen – Rezeptionsästhetik und dem –
antihermeneutischen – Poststrukturalismus: Während
bislang hauptsächlich maßgeblichen, in der Letzterer davon ausgeht, dass die Mehrdeutigkeit des
Hermeneutik wurzelnden Rezeptionsästhetik Textes in seiner prozessual verfassten, vom unabschließ-
haben glauben machen wollen,4 sondern pro- baren Bedeutungsaufschub geprägten Textualität be-
zessiert immer auch etwas, was sich dem Ver- gründet liegt, erklärt Erstere – als Spielart „jener libera-
len Hermeneutik, die die Vieldeutigkeit von Texten
stehen entzieht oder es sogar in Frage stellt anerkennt“ (Frank 1984b: 587) – die Mehrdeutigkeit zu
(vgl. dazu Frank 1984b: 587); 5 dafür stehen einem Effekt des je individuellen Zusammenspiels von
Begriffe wie „Unlesbarkeit“ (vgl. Martyn Textstruktur und Leser, der dem „Appell“ des Textes
1992: 671), „Unsagbarkeit“ und „Unentscheid- folgt und die vom Text angebotenen Unbestimmtheits-
stellen auf seine Weise füllt, dabei aber vom Text in päd-
barkeit“ (vgl. Frank 1984a: 565), die wiederum agogischer Absicht raffiniert „konditioniert“ (Iser 1988:
Effekte von Literarizität bezeichnen (vgl. das 248) wird; Iser spricht denn auch in einer verräterischen
Zitat von Frank in Anm. 2 S. 24). Mit einer Formulierung von der „Leserlenkung“ (240). Letztlich
Öffnung für differenziertere Verstehens- bzw. ist die von Iser so emphatisch beschworene Freiheit der
Rezeption Schein. Vgl. auch die kritischen Ein
Lektürekonzepte würde DaF nicht nur diesen schätzungen der Rezeptionsästhetik als eines letztlich
Phänomenen endlich Rechnung tragen, es sinnabschließenden Verfahrens der Bedeutungszuwei-
würde vor allem auch die Lerner mit Instru- sung bei Müller-Peisert (2006: 21) und Culler (1988: 39).
26
konzepte lassen sich nämlich als Teil jener Text als Studiengegenstand entschieden ha-
spezifischen „symbolic competence“ begrei- ben. Das soll nun aber wiederum nicht bedeu-
fen, die nach Kramsch zur Bewältigung dieser ten, genuin literaturwissenschaftliche Themen
Realität benötigt wird;1 und es ist daher nur (wie etwa die vielschichtige Beziehung zwi-
konsequent und keineswegs zufällig, dass sich schen Literatur und Kultur/Gesellschaft) und
ihr zufolge diese „symbolic competence“ am literaturdidaktische Themen (wie beispiels-
ehesten in der Auseinandersetzung mit Litera- weise die Kanonproblematik) aus dem DaF-
tur entwickeln lässt (vgl. Kramsch 2006: 251). Studium gänzlich herauszuhalten und sich
Die Gründe, die für eine Neuorientierung ausschließlich auf den Aufbau von Literarizi-
des Umgangs mit Literatur in DaF und für täts-Kompetenz zu beschränken. Das Gegen-
eine mit dieser Neuorientierung korrespon- teil ist richtig: Diese Kompetenz wird, wenn
dierende Neuaufstellung des Arbeitsbereichs sie einmal erworben ist, die an jedem DaF-
Literatur in DaF im skizzierten Sinne spre- Institut individuell zu konfigurierende Integ-
chen, sind damit jedoch noch nicht erschöpft. ration weitergehender literaturwissenschaftli-
Mein Vorschlag reflektiert auch und nicht zu- cher und literaturdidaktischer Inhalte in die
letzt auf die Anforderungen, die in bestimm- jeweiligen Curricula und Studienprofile ganz
ten Arbeitskontexten an die DaF-Absolventen erheblich erleichtern; wo aber solche Ergän-
gestellt werden. So erleichtert das Wissen um zungen aus welchen Gründen auch immer
und die Erfahrung mit Literarizität die Ausei- nicht möglich sind, wird sie den Studierenden
nandersetzung mit genuin literaturwissen- wenigstens das Notwendige an Kenntnissen
schaftlichen Diskursen, die DaF-Absolventen und Fähigkeiten sichern, das sie für den Um-
zwar nicht alle überschauen müssen, in denen gang mit literarischen Texten in den unter-
sie sich aber im Falle des Falles zurechtfinden schiedlichsten beruflichen Umgebungen brau-
können sollten, weil sie in ihrer beruflichen chen.
Praxis etwa auf DAAD-Lektoraten unweiger- Aber nicht nur die Studierenden, auch das
lich mit solchen Diskursen in Berührung kom- Fach Deutsch als Fremdsprache selbst würde
men werden. Gerade mit Blick auf die berufli- davon profitieren, wenn die Beschäftigung mit
che Perspektive einer Auslandstätigkeit – sei Literatur im Rahmen von DaF in Zukunft in
es als Sprachassistent/in, sei es als Lektor/in, der Beschäftigung mit Literarizität ihren zent-
die nach meiner Beobachtung für DaF-Absol- ralen Bezugspunkt hätte. Denn auf diese
venten immer selbstverständlicher wird – er- Weise würde der instrumentelle, auf Referenz
weist sich der Erwerb von Literarizitäts-Kom und Bedeutung fixierte Sprachbegriff in Frage
petenz als schlicht unverzichtbar. Sich darauf gestellt, den das Fach von seiner Aufgaben-
im Rahmen eines DaF-Studiums zu konzent- stellung her gleichsam gezwungen ist immer
rieren, wird auch dadurch nahegelegt, dass ei- wieder neu zu privilegieren. Auf die Kritik
nerseits die Beschäftigung mit Literatur und eben dieses Sprachverständnisses aus der Per
Literaturwissenschaft in einem solchen Stu- spektive von Literarizität zielt die folgende –
dium prinzipiell nicht den Umfang der Be- nicht zufällig selbst literarische – Reflexion
schäftigung mit Literatur in einem Philologie- von Novalis (1978: 438): „Gerade das Eigen
Studium wie der Germanistik erreichen kann; thümliche der Sprache, daß sie sich blos um
und dass andererseits bei DaF-Studierenden sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist
ein Grundverständnis von literarischer Textu- sie ein so wunderbares und fruchtbares Ge-
alität noch weniger vorausgesetzt werden kann heimniß, – daß wenn einer blos spricht, um zu
als bei Philologie-Studierenden, die sich doch sprechen, er gerade die herrlichsten, origi
immerhin ganz bewusst für den literarischen nellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber
von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn
die launige Sprache das lächerlichste und ver-
kehrteste Zeug sagen.“
1
„We could call the competence that collegiate students Es ist eine frühromantische, dann vom Post-
need nowadays a symbolic competence. Symbolic com strukturalismus wieder aufgegriffene Idee,
petence does not do away with the ability to express, in dass Sprache im Kern literarisch funktioniert,
terpret, and negotiate meanings in dialogue with others,
but enriches it and embeds it into the ability to produce
weil – in Umkehrung dessen, was man geläufi
and exchange symbolic goods in the complex global con gerweise annimmt – die poetische Funktion
text in which we live today.“ (Kramsch 2006: 251) der Sprache ihre – verdrängte – Grundfunk-
27
tion ist (vgl. Frank 1984b: 601; Bossinade 2000: ten, sie wird schlussendlich immer zugunsten
XII). Ein Wegbereiter solcher – „zu Unrecht der Didaktik aufgelöst werden müssen; und
als schwärmerisch verlachten“ (Frank 1984b: dies gilt selbst dann, wenn es sich als im Sinne
601) – Positionen war übrigens kein Geringerer der Didaktik erweisen sollte, der Ästhetik brei-
als der Namensgeber des Herder-Institutes sel- teren Raum als bisher einzuräumen. Diejeni-
ber, der 1767 in seinen Fragmenten „Über die gen, die die Perspektive der Literaturwissen-
neuere deutsche Literatur“ dem heutigen schaft in DaF vertreten, muss diese Einsicht
prosaischen Sprechen historisch eine „poeti- aber nicht betrüben, im Gegenteil: Es spricht
sche Periode“ (Herder 1982: 15) vorausgehen viel dafür, dass die Literatur ihre Fähigkeit zur
ließ. Jahraus (2004: 104) bringt diese Überle- Subversion gerade aufgrund dieser konstituti-
gungen folgendermaßen auf den Punkt: „Was ven Randständigkeit umso wirkungsvoller
Sprache überhaupt ist, kann man daher an der ausspielen kann. Nicht, indem sie das alltägli-
Sprache der Literatur feststellen.“1 Eine solche che, unreflektierte, nichtliterarische, instru-
Auffassung sollte das Fach Deutsch als Fremd- mentelle Sprachverständnis explizit in Frage
sprache umso aufmerksamer zur Kenntnis stellt – das wird im „normalen“ Sprachunter-
nehmen, als der oben skizzierte Ansatz von richt weder immer möglich noch auch wün-
Kramsch, den Fremdsprachenunterricht auf schenswert sein –, sondern indem sie es punk-
die Entwicklung einer erweiterten „symbolic tuell immer wieder unterminiert, um auf diese
competence“ auszurichten, auf eben diesem li Weise die Lerner auf jenes vielschichtigere
terarisch aufgeklärten Sprachverständnis auf- Verständnis von Sprache hinzulenken, über
setzt: „Through literature, they [the learners] das zu verfügen – es ist nicht schwer, das
can learn the full meaning making potential of vorauszusagen – in einer sich weiter globalisie-
language.“ (Kramsch 2006: 251) Diese auf die renden und „hybridisierenden“ Welt von im-
Überprüfung und Revision des kurrenten mer größerer Bedeutung sein wird. Die Litera-
Sprachverständnisses zielenden Überlegungen tur in diesem Sinne für DaF fruchtbar zu
liefern damit zusätzliche und – wie ich meine – machen, ihr Potenzial in diesem Sinne nicht
gewichtige Argumente für den hier vorge nur für den DaF-Unterricht im engeren Sinne,
schlagenen Ansatz, den Umgang mit Literatur sondern für das Fach insgesamt zu entfalten,
im Fach Deutsch als Fremdsprache konsequent wird in Zukunft eine der zentralen Aufgaben
von der Reflexion auf Literarizität her zu kon- des Arbeitsbereiches Literatur im Fach
zipieren. Ein solcher Umgang würde das Fach Deutsch als Fremdsprache sein. 2
daran erinnern, dass es seine Aufgaben –
Nicht-Muttersprachlern Handeln auf Deutsch 1
So auch Frank (1984a): „Diese Eigenschaft jedes Spre
und Verstehen von deutschsprachigen Texten chens, im Gebrauch […] von Termen deren Sinn
zu ermöglichen – nur dann erfüllen kann, wenn unabsehbar zu verschieben, tritt in der poetisch bear-
es die literarische Dimension von Sprache nicht beiteten Sprache als solche in den Blick.“ (545) „Offen-
aus den Augen verliert. Dies ist freilich weder bar demonstriert die semantische Unausdeutbarkeit von
Kunstwerken im Extrem einen Charakter, der jedem –
als Plädoyer für eine Literarisierung des Fa- auch dem alltagssprachlichen – Sprechen eigentümlich
ches noch als Versuch zu verstehen, die Litera- ist: die Nichtreduzierbarkeit auf die Grammatik und auf
tur gleichsam durch die Hintertür doch noch den Standard des sogenannten normalen Wortge-
als seinen zentralen Gegenstand oder als sein 2
brauchs.“ (562)
Ein Abschn. 4, in dem das Konzept an dem Lied „Me
zentrales Medium zu etablieren. Die von Wein- gustas tú“ des hispano-französischen Liedermachers
rich eingangs konstatierte Spannung zwischen Manu Chao exemplarisch durchgespielt wird, entfällt
Ästhetik und Didaktik bleibt nicht nur erhal- aus Platzgründen.
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