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I

III

Herausgegeben
von Oliver Jahraus, Luhmann-
Armin Nassehi,
Mario Grizelj,
Irmhild Saake,
Handbuch
Christian Kirchmeier Leben – Werk – Wirkung
und Julian Müller

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
IV

Die Herausgeber
Oliver Jahraus ist Professor für Literatur- und
Medienwissenschaft an der LMU München;
Dr. Mario Grizelj und Christian Kirchmeier
arbeiten am Institut für Deutsche Philologie der
LMU München.
Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der
LMU München; Dr. Irmhild Saake und Julian Müller
arbeiten am Institut für Soziologie der LMU
München.

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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Urspr nglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
ISBN 978-3-476-02368-1 und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2012
ISBN 978-3-476-05271-1 (eBook) www.metzlerverlag.de
DOI 10.1007/978-3-476-05271-1 info@metzlerverlag.de

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V

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX 6. Erwartung (Katharina Seßler) . . . . . . . . . . . . 79


7. Evolution (Katja Mellmann) . . . . . . . . . . . . . . 81
8. Funktionale Analyse (Armin Nassehi) . . . . 83
I. Zur Biographie 9. Geschlossenheit / Offenheit
1. Niklas Luhmann: Der Werdegang (Katharina Mayr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
(Dirk Baecker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 10. Inklusion / Exklusion (Sina Farzin) . . . . . . 87
2. Sphinx ohne Geheimnis – 11. Interaktion / Organisation / Gesellschaft
Zur Unkenntlichkeitsbiographie Niklas (Gina Atzeni) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Luhmanns (Peter Fuchs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 12. Kommunikation (Peter Fuchs). . . . . . . . . . . . 90
3. Luhmanns Zettelkasten und seine 13. Komplexität (Klaus Mainzer) . . . . . . . . . . . . . 92
Publikationen (Johannes F. K. Schmidt) . . 7 14. Kultur (Irmhild Saake) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
15. Macht (Barbara Kuchler). . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
16. Medien (Mario Grizelj) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
II. Grundlagen 17. Mensch / Person (Peter Fuchs) . . . . . . . . . . . . 101
18. Moderne (Martin Stempfhuber) . . . . . . . . . . 103
1. Luhmann und Husserl (Armin Nassehi) . . 13 19. Moral (Christian Kirchmeier) . . . . . . . . . . . . . 105
2. Luhmann und Parsons (Richard Münch) . 19 20. Operation / Beobachtung
3. Luhmann und die Organisations- (Mario Grizelj) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
soziologie (Günther Ortmann) . . . . . . . . . . . 23 21. Paradoxie (Armin Nassehi). . . . . . . . . . . . . . . . 110
4. Luhmann, die Kybernetik und die Allge- 22. Psychisches System (Oliver Jahraus) . . . . . . 111
meine Systemtheorie (Mario Grizelj) . . . . . 29 23. Selbstbeschreibung (Andreas Göbel). . . . . . 113
5. Luhmann und Spencer-Brown 24. Semantik (Christian Kirchmeier) . . . . . . . . . 115
(Tatjana Schönwälder-Kuntze) . . . . . . . . . . . . 34 25. Sinn (Christian Kirchmeier). . . . . . . . . . . . . . . 117
26. Struktur (Victoria von Groddeck) . . . . . . . . . 119
III. Theoriestränge 27. Strukturelle Kopplung (Oliver Jahraus) . . 121
28. System / Umwelt (Jasmin Siri) . . . . . . . . . . . . 123
1. Systemtheorie als Differenzierungs- 29. Welt (Tobias Werron). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
theorie (Irmhild Saake) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 30. Zeit (Armin Nassehi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
2. Systemtheorie als Evolutionstheorie
(Armin Nassehi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3. Systemtheorie als Kommunikations- V. Werke und Werkgruppen
theorie (Dirk Baecker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Funktionen und Folgen formaler
4. Systemtheorie als Medientheorie Organisation (1964) (André Kieserling) . . 129
(Julian Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Zweckbegriff und Systemrationalität.
5. Systemtheorie als Gesellschaftstheorie Über die Funktion von Zwecken
(Armin Nassehi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 in sozialen Systemen (1968)
(André Kieserling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
IV. Begriffe 3. Vertrauen. Ein Mechanismus der
Reduktion sozialer Komplexität (1968)
1. Autopoiesis (Iryna Klymenko). . . . . . . . . . . . . 69 (André Kieserling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
2. Code / Programm (Florian Süssenguth) . . 71 4. Legitimation durch Verfahren (1969)
3. Differenz, Differenzierung (André Kieserling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
(Julian Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5. Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
4. Doppelte Kontingenz (Sven Opitz). . . . . . . . 75 technologie – Was leistet die System-
5. Erleben / Handeln (Irmhild Saake) . . . . . . . 77 forschung? (1971) (Elmar Koenen) . . . . . . . 150
VI Inhaltsverzeichnis

6. Liebe als Passion. Zur Codierung von 4. Ernst Cassirer (1874–1945)


Intimität (1982)(Niels Werber) . . . . . . . . . . . 157 (Julian Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
7. Soziale Systeme. Grundriß einer 5. Martin Heidegger (1889–1976)
allgemeinen Theorie (1984) (Oliver Jahraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
(Armin Nassehi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6. Gotthard Günther (1900–1984)
8. Ökologische Kommunikation. Kann die (Nina Ort) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
moderne Gesellschaft sich auf ökologische 7. Michel Foucault (1926–1984)
Gefährdungen einstellen? (1986) (Tanja Prokić) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
(Reiner Grundmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 8. Jürgen Habermas (* 1929) und die
9. Soziologie des Risikos (1991) Kritische Theorie (Hauke Brunkhorst) . . . 288
(Klaus P. Japp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 9. Harrison White (* 1930) (Jan Fuhse) . . . . . 296
10. Beobachtungen der Moderne (1992) 10. Jacques Derrida (1930–2004)
(Andreas Göbel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (Thomas Khurana) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
11. Die Realität der Massenmedien (1995) 11. Pierre Bourdieu (1930–2002)
(Natalie Binczek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (Irmhild Saake) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
12. Protest. Systemtheorie und soziale 12. Ernesto Laclau (* 1935) und Chantal
Bewegungen (1996) (Boris Holzer) . . . . . . . 193 Mouffe (* 1943) (Urs Stäheli) . . . . . . . . . . . . . 309
13. Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) 13. Semiotik (Frank Habermann) . . . . . . . . . . . . . 313
(Armin Nassehi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 14. Wissenssoziologie
14. Organisation und Entscheidung (2000) (Christian Kirchmeier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
(Niels Åkerstrøm Andersen) . . . . . . . . . . . . . . . 202 15. Die ›Leipziger Schule‹ (Patrick Wöhrle /
15. Soziologische Aufklärung. 6 Bände Karl-Siegbert Rehberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
(1970–1995) (Armin Nassehi) . . . . . . . . . . . . 210 16. Konstruktivismus (Bernd Scheffer). . . . . . . . 327
16. Gesellschaftsstruktur und Semantik.
4 Bände (1980–1995) (Urs Stäheli) . . . . . . 214
17. Theorie der Gesellschaft (1988–2002) . . . . . 219 VII. Rezeption
17.1 Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988) 1. Erziehungswissenschaft
(Dirk Baecker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 (Heinz-Elmar Tenorth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
17.2 Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990) 2. Ethik (Detlef Horster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
(Werner Vogd) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Gender Studies (Mario Grizelj). . . . . . . . . . . . 340
17.3 Das Recht der Gesellschaft (1993) 4. Geschichtswissenschaft (Frank Becker) . . . 347
(Alfons Bora) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 5. Kommunikationswissenschaft
17.4 Die Kunst der Gesellschaft (1995) (Manuel Wendelin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
(Oliver Jahraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 6. Kulturwissenschaft (Mario Grizelj) . . . . . . . 357
17.5 Die Politik der Gesellschaft (2000) 7. Kunstwissenschaft (Hans Dieter Huber) . . 364
(Kai-Uwe Hellmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 8. Literatur- und Medienwissenschaft
17.6 Die Religion der Gesellschaft (2000) (Oliver Jahraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
(Peter Fuchs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 9. Organisationstheorie, Management und
17.7 Das Erziehungssystem der Gesellschaft Beratung (Rudolf Wimmer) . . . . . . . . . . . . . . . 373
(2002) (Michael Geiss / Jürgen Oelkers) . . 253 10. Philosophie (Tatjana Schönwälder-
Kuntze / Philip Göldner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
VI. Verbindungen, Bezüge, 11. Politikwissenschaft (Edwin Czerwick). . . . . 384
12. Psychologie (Fritz B. Simon) . . . . . . . . . . . . . . 389
Differenzen 13. Rechtswissenschaft
1. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Bijan Fateh-Moghadam) . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
(1770–1831) 14. Soziologie (Armin Nassehi). . . . . . . . . . . . . . . . 399
(Tatjana Schönwälder-Kuntze) . . . . . . . . . . . 261 15. Theologie (Isolde Karle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
2. Gabriel Tarde (1843–1904) 16. Wirtschaftswissenschaft
(Julian Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 (Birger P. Priddat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
3. George Herbert Mead (1863–1931)
(Armin Nassehi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
VII

VIII. Diskussionen IX. Anhang


1. Theorie ohne Subjekt? (Armin Nassehi) . . 419 1. Zeittafel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
2. Theorie ohne Empirie? (Armin Nassehi). . 424 2. Siglen der Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
3. Theorie ohne Kritik? (Elke Wagner) . . . . . . 428 3. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
4. Supertheorie? (Oliver Jahraus) . . . . . . . . . . . . 432 4. Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 465
5. Eine ›deutsche‹ grand theory? 5. Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
(William Rasch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
IX

Vorwort

Niklas Luhmanns Soziologie gehört zumindest im dern zur Hälfte aus Philologen besteht, die den Blick
deutschen Sprachraum zu den prominentesten, zu- auf Luhmanns Systemtheorie und ihre Wirkung
gleich aber auch zu den fremdesten Theorien. Als noch einmal erweitert haben.
fremd wird wohl empfunden, dass sich die Theorie Im Falle der Soziologie wird wohl am sperrigsten
nicht in ›natürlicher Sprache‹ den ›natürlichen Pro- empfunden, dass Luhmann anders als die meisten
blemen‹ widmet, die andere als soziologische Selbst- bedeutenden Autoren des 20. Jahrhunderts nicht für
beschreibungen der Gesellschaft anbieten. Wenn es bestimmte gesellschaftliche Probleme oder für die
stimmt, dass der Erfolg soziologischen Wirkens darin Symbolisierung einer weit über die Theorie hinaus
besteht, gesellschaftliche Probleme auf den Begriff zu strahlenden Aura steht. Ein Adorno-Handbuch lässt
bringen, gewissermaßen am Puls der Zeit die Gesell- sich mit dem Pathos verfassen, das dem öffentlichen
schaft mit den und über die Themen aufzuklären, die Phänomen Adorno und seiner auratischen Erschei-
sie selbst beschäftigen, dann muss der Erfolg von nung gerecht wird; ein Habermas-Handbuch ist zu-
Luhmanns Theorie eine andere Quelle haben. Nicht, gleich ein Handbuch, das den Denker der Bundesre-
dass es der luhmannschen Theorie nicht um gesell- publik in den Kontext großer öffentlicher Debatten
schaftliche Probleme geht. Es geht ihr letztlich um stellt; ein Foucault-Handbuch lebt geradezu von der
nichts anderes. Aber sie bemüht sich, als Theorie der Pariser intellektuellen Position dieses Denkers; und
Gesellschaft gesellschaftliche Probleme als wissen- ein Derrida-Handbuch wäre ein Ereignis, das sich
schaftliche Probleme zu reformulieren, das heißt: Sie selbst als unmöglich betrachten würde und darin sei-
möchte die Formulierung der zu lösenden Probleme ne Ausstrahlung hätte. Und ein Luhmann-Hand-
nicht der Gesellschaft bzw. anderen gesellschaftli- buch? Weder die Person noch die Theorie taugt dazu,
chen Reflexionsinstanzen überlassen, sondern auf eines der angedeuteten Narrative zu erreichen. So
selbst erzeugte Probleme reagieren. Selbst erzeugte streng Luhmann stets Problemgenese als Theoriege-
Probleme wären solche, die sich eben nicht den do- nese und Theoriegenese als Problemgenese begriffen
minanten Themen der Gesellschaft verdanken, son- hat, so trocken ist auch der Zugang zu seinem Werk.
dern dem Zuschnitt ihrer wissenschaftlichen Be- Kann man bei den erwähnten Fällen bisweilen den
schreibbarkeit. Insofern betreibt die luhmannsche Weltgeist wenigstens von Ferne erahnen – hier ist es
Theorie selbst das, was sie in ihrem Gegenstand vor- nur eine Bielefelder Werkstatt, in der sich ein Denker
findet: Sie hat einen sehr perspektivischen, einen auf daran gemacht hat, dabei zuzusehen, was im Großen
die eigene Beobachterposition beschränkten Blick passiert, wenn man kleine Begriffsumstellungen
auf ihren Gegenstand, der radikal an die eigenen macht. Ein Luhmann-Handbuch muss deshalb mit
Operationen gebunden ist. Als lösenswertes Problem solcher Detailarbeit fertig werden. Es kann sich we-
werden ausschließlich Probleme behandelt, die sich niger im Gestus der Bedeutung und der Erhabenheit
aus theoretischen Begriffsentscheidungen ergeben, der Debatten zeigen, sondern muss vielmehr klein-
deren Folgen sich dann in Lösungen niederschlagen, teilig das Handwerkszeug bereitstellen, mit dem sich
die man ohne ihre eigene Problemstellung gar nicht dann arbeiten lässt. Wenn Luhmanns Theorie also
bräuchte. gesellschaftliche Probleme nur als Begriffsprobleme
Dass die Soziologie mit diesem ihrem prominen- der eigenen Performanz behandeln kann und will,
ten Autor fremdelt und dieser mit ihr, ist kein Zufall, dann muss ein Luhmann-Handbuch dieser besonde-
sondern hat in erster Linie soziologische Gründe, auf ren Zugangsweise Rechnung tragen.
die es hier ankommt. Diese merkwürdige wechselsei- Dieses Handbuch führt Intellektualität vor, aber
tige Fremdheit macht die Theorie Luhmanns ohne keinen Intellektuellen im klassischen Sinne. Viel-
Zweifel sperrig – übrigens oftmals sperriger für Luh- leicht kann man die Figur des Intellektuellen analog
manns eigenes Fach als für andere Fächer, die pro- zu dem des klassischen Professionellen verstehen.
duktiv an Luhmann angeschlossen haben. Insofern Der klassische Professionelle – Arzt, Jurist, Priester –
ist es durchaus Programm, dass das Team der He- zeichnete sich dadurch aus, dass er nicht nur Sach-
rausgeber nicht nur aus der Soziologie kommt, son- kenntnis und spezifische Fertigkeiten besaß. Der
X Vorwort

klassische Professionelle war mit einem Habitus aus- im Augenblick und muss dann in die zweite Reihe zu-
gestattet, der ihn mehr sagen ließ, als ihm sachlich rücktreten.
zustand – so etwa der Arzt, ausgestattet mit einem Wenn dieses Handbuch also eine intellektuelle
Habitus des Unnahbaren und des Schamanen, der es Theorie darstellt, aber nicht einen Intellektuellen,
ihm erlaubte, Fragen der Lebensführung und der Or- dann trägt es der dahinter stehenden Person durch-
ganisation, der moralischen Richtigkeit und der äs- aus Rechnung, wie wir meinen. Und deshalb spielen
thetischen Urteilskraft zu beantworten. Noch die auch biographische Fragen keine Hauptrolle in die-
Professionssoziologie Talcott Parsons feierte die Ge- sem Handbuch. Umso glücklicher fügt es sich, dass
meinwohlorientierung der Professionen. Die Figur wir zwei Biographen gefunden haben, die je auf ihre
des Intellektuellen ist ähnlich gebaut – auch wenn sie Weise sensibel mit der Biographie Luhmanns umge-
weniger an den existentiellen Problemen des Lebens gangen sind – und das Zurücktreten der Person nicht
und des Körpers, des Seelenheils und der Gerechtig- ihrerseits zu einer großen Narration aufgerundet ha-
keit interessiert ist. Dafür kann sie der Welt oder der ben. Man könnte fast sagen: Sie haben ein Gespür für
Gesellschaft als Ganzer einen kommunikativen Aus- Takt gezeigt – der Person Luhmann gegenüber, aber
druck verleihen und sie in sozialmoralischen Begrif- auch einer Öffentlichkeit gegenüber, die mehr wissen
fen erfassen. will, als für die Erschließung der Theorie nötig ist.
Was das angeht, so hat sich Luhmann nicht als In- Der Schwerpunkt dieses Handbuchs liegt folge-
tellektueller stilisiert. Kam Jürgen Habermas etwa richtig auf den theoriekonstruktiven Fragen. Es ist
auf die Frage nach seiner Grundintuition auf jüdi- ein Manual, eine Toolbox, ein Begriffsregister. Es
sche Mystiker, auf Friedrich Schelling und auf das nimmt den luhmannschen Ausgangspunkt tatsäch-
Problem der Versöhnung von Autonomie und lich ernst, dass es auf die Arbeit des Begriffs an-
Zwang, so beschreibt Luhmann in einem Interview kommt und dass Begriffsentscheidungen Folgen
seine Grundintuition auf Nachfrage in unmittelbarer haben. Es weiß wohl auch um die Aura der Theorie,
Kontrastierung zu Habermas so: »Ich weiß nicht, ob um den Charme dieser strengen, darin aber oft iro-
ich es auf eine Formel bringen kann. Aber wenn, nischen, auch – wie Luhmann in seiner Abschieds-
dann ist es jedenfalls eine sehr viel begrifflichere oder vorlesung formulierte – parodistischen Form. Es
theoretischere Option. Ich halte es zum Beispiel für weiß auch um das Faszinierende des Autors der
fruchtbarer, Theorien nicht mit Einheit anzufangen, Theorie, dessen Performanz tatsächlich eine Wahl-
sondern mit Differenz, und auch nicht bei Einheit verwandtschaft zu seiner Theorie aufweist. Aber all
(im Sinne von Versöhnung) enden zu lassen, son- das soll gemäß der Theorie und seinem Autor der Sa-
dern bei einer, wie soll ich es sagen, besseren Diffe- che selbst nachgeordnet werden. Das Werk gruppiert
renz. Deswegen ist zum Beispiel das Verhältnis von sich nicht um die Biographie des Autors und seine
Systemen und Umwelt für mich wichtig, und auch Person, sondern orientiert sich an sich selbst – und
der Funktionalismus, weil er immer bedeutet, daß daran will sich auch das Handbuch halten.
man Verschiedenes miteinander vergleichen kann. Das Handbuch soll den Begriffs- und Theorieap-
Wenn ich also eine grundlegende Intuition angeben parat transparent darstellen, immanent entwickeln
kann, würde ich nicht notwendigerweise gerade auf und von außen beobachtbar machen. Wir haben uns
die eben geschilderte, aber auf etwas dieser Art ab- deshalb entschlossen, den Band sehr kleinteilig zu
stellen« (Luhmann: Archimedes und wir. Berlin 1987, gliedern. Der Schwerpunkt liegt auf kürzeren Beiträ-
127). gen, die einen Eindruck davon vermitteln sollen, wie
Dies nicht für eine Selbststilisierung zu halten, Begriffe und Theorieteile zu verstehen sind. Im Ein-
wäre naiv. Aber es ist eine, bei der sich Luhmann im zelnen geht es um Folgendes:
Hintergrund hält, eine, die die Form ›Person‹ in An- Nach bio-bibliographischen Hinweisen folgt im
spruch nimmt, um die Person hinter der Form ver- zweiten Kapitel eine Rekonstruktion jener Grundla-
schwinden zu lassen. Luhmann entscheidet sich in gen, die Luhmann selbst als Vorläufer seiner Theorie
seiner Theorie für die System/Umwelt-Differenz und ausgewiesen hat, namentlich Husserl, Parsons, die
andere Unterscheidungen, nicht für Versöhnung Organisationsforschung, die Kybernetik und allge-
oder gelungenes Leben. Vielleicht passt das zur Per- meine Systemtheorie sowie das spencer-brownsche
son – zu einer Person, die immer wieder auf eine ethi- Formenkalkül.
sche Maxime abstellt: Takt als Distanzmedium, das Das dritte Kapitel stellt die unterschiedlichen
die Distanz allenfalls ironisch aufzuheben vermag – Theoriekomponenten von Luhmanns Systemtheorie
wobei Ironie ein Gegenwartsmedium ist. Sie verfliegt vor. Denn das, was man zusammenfassend seine ›Sys-
Vorwort XI

temtheorie‹ nennt, speist sich aus differenzierungs- salitätsansprüchen, wird immer wieder betont – und
theoretischen, evolutionstheoretischen, kommuni- hier ausführlich diskutiert.
kationstheoretischen, medientheoretischen und ge- Das Handbuch wird durch einen technischen An-
sellschaftstheoretischen Elementen. Diese unter- hang abgerundet.
schiedlichen Theorien sind es, die die Gesamttheorie Wir hoffen, dass sich die Arbeit am Begriff gelohnt
von Luhmann ausmachen. hat. Gelungen wäre das Handbuch dann, wenn es
Das vierte Kapitel präsentiert in sehr kurzen Arti- dem Kenner die Möglichkeit gibt, sich in den Be-
keln die wichtigsten Grundbegriffe des luhmann- griffsbezügen und Theorieteilen genauer zu orientie-
schen Werkes und leitet sie genau her. Dieses ren und vielleicht sogar neue Verbindungen zu
Begriffskapitel zielt nicht einfach auf kanonisierte entdecken, und wenn es dem Anfänger die Chance
Definitionen, sondern zeigt auf, welche theorietech- für eine erste Orientierung bietet. Für uns selbst je-
nische Bedeutung die Begriffe haben und was sie in denfalls war bereits die Arbeit an der Arbeit am Be-
Luhmanns Theorie bewerkstelligen. griff eine Möglichkeit, den Formenreichtum der
Im fünften Kapitel werden Luhmanns wichtigste Theorie neu zu ermessen und festzustellen, dass es
Werke sowohl historisch als auch systematisch und immer wieder etwas zu lernen gibt, wenn man sich
theoretisch eingeordnet, so dass ein zwar selektiver, der Arbeit des Begriffs widmet.
aber repräsentativer Überblick über das Gesamtwerk Die Herausgeber, eingeschlossen die Herausgebe-
entsteht. rin, danken sich je gegenseitig, weil sie wirklich gut
Im sechsten Kapitel tragen wir Verbindungen, Be- zusammengearbeitet und dabei Komplexitätsproble-
züge und Differenzen zu anderen Theorien zusam- me bewältigt haben, die vorher nicht unbedingt zu
men, auch solche, die Luhmann selbst nicht thema- erwarten waren. Da Komplexität insbesondere durch
tisiert hat. Wir versprechen uns davon, das Werk Zeit gemildert wird, hat es etwas länger gedauert als
Luhmanns, das manchen in einem ersten Zugang geplant. Dass uns auch das noch zugestanden wurde,
womöglich monolithisch erscheint, im interdiszipli- ist der ebenso kompetenten wie strengen Betreuung
nären Raum der Kultur- und Sozialwissenschaften zu von Verlagsseite zu verdanken. Und ohne die redak-
relationieren und einzuordnen. tionelle Unterstützung von Melanie Atzesberger und
Das siebte Kapitel dann präsentiert die Rezeption Tanja Robnik wären wir immer noch weit vom Ab-
Luhmanns in unterschiedlichen wissenschaftlichen schluss dieses Buches entfernt. Am meisten haben
Disziplinen. Es ist uns gelungen, jeweils Autorinnen wir natürlich unseren Autorinnen und Autoren zu
und Autoren aus diesen Disziplinen zu gewinnen, die danken, an denen wir v. a. schätzen, dass sie die Vor-
aus ihrer Binnenperspektive die Wirkung Luhmanns gabe, Arbeit am Begriff zu betreiben und die Arbeit
auf ihr Fach diskutieren. Bei einigen Fächern, in de- des Begriffs vorzuführen, wirklich ernstgenommen
nen Luhmanns Theorie auf den ersten Blick kaum haben. Sie haben weder hagiographisch den Meister
wahrgenommen wird, waren wir überrascht, wie vie- verehrt, noch sich in exegetischer Geste um dessen
le Rezeptionslinien die Autoren dann doch nachwei- wahre Intentionen gekümmert, sondern das ge-
sen konnten. Vielleicht ist auch das ein Indiz dafür, macht, was diese Theorie will: die Folgen von Be-
dass die Rezeption Luhmanns in vielen Fächern ge- griffskonstellationen und -umstellungen wissen-
rade erst beginnt. schaftlich ernstnehmen.
Im achten Kapitel schließlich widmen wir uns,
wenn wir so formulieren dürfen, den wissenschaftli- München, im Juni 2012
chen Sprichwörtern über Luhmann. Dass es eine Oliver Jahraus, Armin Nassehi, Mario Grizelj,
Theorie ohne Subjekt, ohne Empirie und Kritik sei Irmhild Saake, Christian Kirchmeier
oder eine Supertheorie mit unangemessenen Univer- und Julian Müller
1

I. Zur Biographie

1. Niklas Luhmann: an der er jedoch »das Interesse verliert« (Luhmann


2004, 25), liest Hölderlin, Descartes, Malinowski,
Der Werdegang Radcliffe-Brown und Husserl und legt einen ersten
Zettelkasten an, der dem zweiten vorausgeht, mit
Niklas Luhmanns Abneigung gegen Biographien ist dem er bis an sein Lebensende arbeitet.
bekannt. Dennoch gibt es mindestens drei Inter- 1960 heiratet Luhmann Ursula von Walter. Mit ihr
views, in denen er sich zu biographischen Themen hat er drei Kinder, Jörg, Clemens und Veronika. 1977
befragen ließ (Luhmann 1987; 1997; 2004). Der Titel stirbt seine Frau. Luhmann zieht mit den Kindern
der folgenden kurzen Darstellung sowie einige Daten nach Oerlinghausen, wo er bis zu seinem Tod lebt.
orientieren sich an dem Blatt »Angaben zum wissen- 1960/61 geht Luhmann mit einem Stipendium der
schaftlichen Werdegang«, das Luhmann in seinem amerikanischen Regierung, das deutsche Verwal-
Büro für Interessenten bereithielt. Persönliche Erin- tungsbeamte zur Weiterbildung in die Vereinigten
nerungen an Luhmann finden sich in dem Band Staaten einlädt, an die School of Government der
»Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?« Erinnerun- Harvard University. Er sucht den Kontakt zu Talcott
gen an Niklas Luhmann (Bardmann/Baecker 1999). Parsons und diskutiert mit ihm seinen Funktionsbe-
Niklas Luhmann wird am 8. Dezember 1927 in griff.
Lüneburg geboren. Der Vater betreibt eine Brauerei Nach seiner Rückkehr arbeitet Luhmann von 1962
und Mälzerei, die Mutter stammt aus einer Hoteliers- bis 1965 als Referent am Forschungsinstitut der
familie in Bern, der Großvater ist in Lüneburg Sena- Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Spey-
tor. Luhmann hat zwei jüngere Brüder. Von 1937 bis er. 1965 wird er von Helmut Schelsky zum Abtei-
1946 besucht er das Gymnasium Johanneum in Lü- lungsleiter an der Sozialforschungsstelle der Univer-
neburg. Ab 1943 wird er als Luftwaffenhelfer ausge- sität Münster mit Sitz in Dortmund ernannt und
bildet und Ende 1944 zum Kriegsdienst eingezogen. 1966 wird er in einem annus mirabilis (zwei Qualifi-
Mit dem Kriegsende gerät er in amerikanische Ge- kationsarbeiten in einem Jahr) von der Rechts- und
fangenschaft (zu diesen frühen Jahren vgl. Nitsche Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität
2011). Münster zum Doktor der Sozialwissenschaften pro-
Luhmann studiert von 1946 bis 1949 Rechtswis- moviert und für das Fach Soziologie habilitiert.
senschaften in Freiburg im Breisgau. Nachdem sich 1964 erscheint Luhmanns Buch Funktionen und
sein Wunsch, bei der Lufthansa zu arbeiten, um dort Folgen formaler Organisation, 1968 Zweckbegriff und
Syndikus für Luftrecht und Völkerrecht zu werden, Systemrationalität: Über die Funktion von Zwecken in
nicht erfüllt, arbeitet er zunächst als Referendar und sozialen Systemen. Beide Bücher tragen dazu bei, dass
Assistent des Präsidenten des Oberverwaltungsge- man ihn in der soziologischen Zunft primär als Ver-
richts in Lüneburg, beauftragt mit dem Aufbau einer waltungs- und Organisationssoziologen rezipiert.
Bibliothek nichtveröffentlichter Entscheidungen, Seine Antrittsvorlesung an der Universität Müns-
und 1956 bis 1962 als Referent im Niedersächsischen ter 1967 unter dem Titel »Soziologische Aufklärung«
Kultusministerium. Dort ist er unter anderem für markiert den Anfang eines Forschungsprojekts, an
Fragen der Wiedergutmachung des nationalsozialis- dem Luhmann bis zu seinem Tod festhält (SA1–6):
tischen Unrechts zuständig, zuletzt als Oberregie- die Gesellschaft mit Beobachtungsperspektiven zu
rungsrat. versorgen, die inkongruent zu ihrer Selbstbeschrei-
Während seines Studiums lernt Luhmann Fried- bung sind und ihr damit einen anderen Blick auf ihre
rich Rudolf Hohl kennen, mit dem ihn bis zu dessen Komplexität und auf deren Reduktionen ermöglicht.
Tod 1979 eine intensive Freundschaft verbindet. 1968 wird er Professor für Soziologie an der neu ge-
Hohl schreibt Gedichte, die durch Luhmanns Theo- gründeten Universität Bielefeld, wo er bis zu seiner
rie angeregt sind (Hohl 2012). Emeritierung im Jahr 1993 lehrt und forscht. Etliche
Parallel zu seinem Referendariat arbeitet Luh- Interessen anderer Universitäten, ihn zu berufen
mann an einer Dissertation über Beratungsorgane, (unter anderem nach Edmonton, Kanada, und an
2 Zur Biographie

das Europäische Hochschulinstitut in Florenz), lehnt übernimmt er die Theodor-Heuss-Professur an der


er bereits im Vorstadium mit dem Argument ab, er New School for Social Research in New York.
könne es nicht riskieren, seinen Zettelkasten bei ei- Ende der 1970er Jahre berät Luhmann die Christ-
nem Unfall mit dem Auto, Schiff, Zug oder Flugzeug lich Demokratische Union in Fragen der Zukunft des
zu verlieren. Wohlfahrtsstaats (Luhmann 1981). Als ihm die Auf-
Pläne, mit Jürgen Habermas um 1970 die Leitung traggeber mitteilen, sie müssten den Wählern sagen
des Max-Planck-Instituts für die Erforschung der Le- können, wer die Guten und wer die Bösen sind, ver-
bensbedingungen in der wissenschaftlich-techni- liert er das Interesse an weiterer Beratung. Im August
schen Welt in Starnberg zu übernehmen, zerschlagen und September 1980 ist er Gastprofessor am Depart-
sich rasch wieder. ment of Sociology der Universität Edmonton in Ka-
Im Wintersemester 1968/69 vertritt Luhmann nada.
Theodor W. Adornos Lehrstuhl an der Universität in 1980 erscheint der erste von vier Bänden unter
Frankfurt am Main mit einem Seminar über System- dem Titel Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien
theorie und die Soziologie der Liebe. Die Vertretung zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, mit
war auf Vermittlung Ludwig von Friedeburgs zustan- denen Luhmann seine jahrelange Arbeit unter ande-
degekommen. Einen Text, der als Seminarvorlage rem in der Bibliothèque Nationale in Paris (in den
dient, Liebe: Eine Übung (Luhmann 2008), hat André Semesterferien) an einer historischen Analyse der
Kieserling aus dem Nachlass herausgegeben. Alexan- Verschiebungen der Semantik der Selbstbeschrei-
der Kluge hat die vermutlich persönlich nie stattge- bung der Gesellschaft im Übergang von der stratifi-
fundene Begegnung Luhmanns mit Adorno in zierten Adelsgesellschaft zur modernen Buchdruck-
dessen Todesjahr fiktional verarbeitet (Kluge 2009, gesellschaft vorlegt (GS1–4 1980–1995).
481 ff.). Klaus Lichtblau hat herausgearbeitet, wie 1980 lernt Luhmann Raffaele De Giorgi kennen,
ähnlich sich Luhmann und Adorno darin sind, auf mit dem er an der Universität von Lecce ein Centro di
die Möglichkeit einer Arbeit am Begriff der Gesell- Studi sul Rischio gründet, das vor allem aus einem
schaft zu vertrauen (Lichtblau 2012, 183 ff.). Raum mit Schreibmaschine in einem Olivenhain be-
Ein Satz aus einem Aufsatz von 1969 über »Kom- steht, in dem Luhmann eine Zwischenfassung seiner
plexität und Demokratie« verhilft Luhmann zu einer Gesellschaftstheorie »für italienische Universitäts-
Bekanntheit über die Fachgrenzen hinaus: »Alles zwecke« schreibt (Luhmann 1992).
könnte anders sein – und fast nichts kann ich än- In Wien trifft er 1983 auf Vermittlung von Stefan
dern.« Die erste Einführung in Luhmanns Denken, Titscher mit systemischen Organisationsberatern
geschrieben von dem protestantischen Theologen verschiedener Beratungsgesellschaften zusammen.
und Gemeindepfarrer Frithard Scholz (1982), In den folgenden Jahren tauscht Luhmann mit den
nimmt ihren Ausgangspunkt von diesem Satz. Beratern Theoriezumutungen und Fallerfahrungen
1971 erscheint das Buch Theorie der Gesellschaft aus.
oder Sozialtechnologie: Was leistet die Systemfor- 1984 erhält Luhmann seinen ersten Ehrendoktor
schung? mit Beiträgen von Jürgen Habermas und Ni- (Dr. iur. h.c.) an der Universität Gent, dem Ehren-
klas Luhmann im Suhrkamp Verlag. Die Rollen promotionen an den Universitäten Macerata, Bolo-
waren eindeutig verteilt: »Theorie der Gesellschaft« gna, Recife und Lecce folgen.
war Habermas’ Part, »Sozialtechnologie« – wenn Im Wintersemester 1986/87 ist Humberto R. Ma-
auch gegen dessen eigene Intention (vgl. GG, 11) – turana als Gastprofessor an der Universität Bielefeld
Luhmanns Part. Die Kontroverse macht Luhmann und bietet zusammen mit Luhmann ein Seminar an.
schlagartig bekannt. Ein Interesse der Columbia Uni- Maturana ist einer der Vordenker, an denen Luh-
versity Press, das Buch ins Englische zu übersetzen, mann die eigene Theoriearbeit orientiert. Husserl
wird von Habermas abschlägig beschieden. spielt diese Rolle in den 1950er und Parsons in den
1970 bis 1973 wird Luhmann unter anderem mit 1960er Jahren, Maturana mit Heinz von Foerster und
Renate Mayntz Mitglied einer Kommission für die Gotthard Günther in den 1970er und 1980er Jahren
Reform des Öffentlichen Dienstes. und schließlich George Spencer-Brown in den
Ab 1976 gibt Luhmann mit Jürgen Habermas, 1990er Jahren (wenn eine so grobe Einteilung erlaubt
Dieter Henrich und Hans Blumenberg bei Suhrkamp ist).
die Reihe »Theorie« heraus. 1984 erscheint der ursprünglich als Einleitungska-
Seit 1974 ist er Mitglied der Rheinisch-Westfäli- pitel in die Theorie der Gesellschaft geplante Band
schen Akademie der Wissenschaften und 1975/76 Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie,
Niklas Luhmann: Der Werdegang 3

dem 1988, 1990 und 1995 einzelne Bände über die sich mit den Nachwirkungen dieser Publikation be-
Funktionssysteme folgen: Die Wirtschaft der Gesell- schäftigt (Baecker u. a. 2007).
schaft, Die Wissenschaft der Gesellschaft und Die 2005 richtet die Universität Bielefeld mit der Spar-
Kunst der Gesellschaft. Gekrönt wird Luhmanns Ge- kasse Bielefeld eine Niklas-Luhmann-Gastprofessur
sellschaftstheorie schließlich 1997 in zwei Bänden ein, die bislang Harrison C. White, John W. Meyer,
von dem Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft, mit Nils Brunsson, Alois Hahn, Ulrich Oevermann und
dem Projektvermerk im Vorwort: »Laufzeit: 30 Jahre; Saskia Sassen innehatten. 2012 ist die Professur va-
Kosten: keine« (GG, 11). kant.
1986, im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, er-
scheint das Buch Ökologische Kommunikation: Kann
die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefähr- Literatur
dungen einstellen?, mit dem Luhmann im Rahmen ei- Baecker, Dirk: »Niklas Luhmann (1927–1998)«. In: http://
ner Kurzdarstellung seiner Theorie der Gesellschaft projects.isss.org/Main/NiklasLuhmannByDirkBaecker
den Versuch macht, die Partei DIE GRÜNEN auf die (29.6.2012).
Tendenz hinzuweisen, dass die moderne Gesellschaft – u. a. (Hg.): Zehn Jahre danach: Niklas Luhmanns »Die
Gesellschaft der Gesellschaft«. Stuttgart 2007.
mit sowohl zu viel als auch zu wenig Resonanz auf Bardmann, Theodor M./Baecker, Dirk (Hg.): »Gibt es ei-
ökologische Gefahren reagiert: Die Massenmedien gentlich den Berliner Zoo noch?« Erinnerungen an Ni-
und die Moral reagieren alarmistisch, die Funktions- klas Luhmann. Konstanz 1999.
systeme abwiegelnd. Das Buch Soziologie des Risikos Hohl, Friedrich Rudolf: Poesie als Passion: Gedichte aus
(1991) ergänzt diese Darstellung durch eine Perspek- Luhmanns Welt. Hg. von Clemens Luhmann. Paderborn
2012.
tive auf Organisationen, die in Wirtschaft, Politik, Kluge, Alexander: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft: 166
Erziehung, Wissenschaft, Recht und Religion mit ris- Liebesgeschichten. Frankfurt a. M. 2009.
kanten Entscheidungen überlastet sind. Lichtblau, Klaus: »Theodor W. Adornos ›Theorie der Ge-
1988 erhält Luhmann den Hegel-Preis der Stadt sellschaft‹: Ein uneingelöstes Versprechen der Frankfur-
Stuttgart. ter Schule der Soziologie«. In: Soziologie 41. Jg., 2 (2012),
177–199.
Gastprofessuren nimmt Luhmann an der Law Luhmann, Niklas: »Komplexität und Demokratie«. In: Po-
School der Northwestern University in Chicago litische Vierteljahresschrift 10. Jg. (1969), 314–325.
(1989), als Jacob Burns Scholar an der Cardozo –: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München 1981.
School of Law der Yeshiva University in New York –: »Biographie, Attitüden, Zettelkasten« [Interview von
(1992), am Commonwealth Center der University of Rainer Erd und Andrea Maihofer]. In: Ders.: Archimedes
und wir. Hg. von Dirk Baecker/Georg Stanitzek. Berlin
Virginia (1993) und an weiteren Universitäten wahr.
1987, 125–166.
Zum Gedenken an Husserls Vorlesungen aus dem –: Teoria della società. Mailand 1992.
Jahr 1935 hält Luhmann die Wiener Rathausvorle- –: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomeno-
sung 1995 und verknüpft sein frühes Interesse an der logie. Wien 1996.
Phänomenologie mit seiner späteren Arbeit an einer –: »Biographie im Interview« [Interview von Detlef Hors-
ter]. In: Detlef Horster: Niklas Luhmann. München
»Theorie unzuverlässiger Systeme« (Luhmann
1997, 25–47.
1996). –: »Es gibt keine Biografie« [Interview von Wolfgang Ha-
Am 6. November 1998 stirbt Luhmann. Er wird in gen]. In: Wolfgang Hagen (Hg.): Warum haben Sie kei-
Oerlinghausen begraben. Bis 2012 erscheinen zahl- nen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit
reiche Publikationen aus dem Nachlass und immer Niklas Luhmann. Berlin 2004, 13–47.
noch sind viele Texte unpubliziert. Wichtige post- –: Liebe: Eine Übung. Hg. von André Kieserling. Frankfurt
a. M. 2008.
hume Veröffentlichungen sind beispielsweise Orga- Nitsche, Lilli: Backsteingiebel und Systemtheorie: Niklas
nisation und Entscheidung (2000) sowie, herausgege- Luhmann – Wissenschaftler aus Lüneburg. Gifkendorf-
ben von André Kieserling, Die Politik der Gesellschaft Vastorf 2011.
(2000) und Die Religion der Gesellschaft (2000), und Scholz, Frithard: Freiheit als Indifferenz: Alteuropäische
im Jahr 2002, herausgegeben von Dieter Lenzen, Das Probleme mit der Systemtheorie Luhmanns. Frankfurt
a. M. 1982.
Erziehungssystem der Gesellschaft. Dirk Baecker
Zum zehnten Jahr des Erscheinens von Die Gesell-
schaft der Gesellschaft findet 2007 an der Universität
Luzern in der Schweiz unter der Gastgeberschaft von
Rudolf Stichweh eine internationale Tagung statt, die
4 Zur Biographie

2. Sphinx ohne Geheimnis – von Menschen, die ersichtlich maßlos viel an seltsa-
men Dingen arbeiten, ohne dazu gezwungen zu sein.
Zur Unkenntlichkeits- Ich meine jetzt die Tradition, in der von Käuzen, von
biographie Niklas Luhmanns Sonderlingen, von Besessenen die Rede ist.
Sie wird, wenn es um Luhmann geht, einerseits auf
Seit Niklas Luhmanns Tod im Jahr 1998 ist eine Bio- Mephistophelisch-Luziferisches umgesetzt (wozu
graphie dieses Soziologen ein vielfach bekundetes auch sein Name Anlass gegegeben hat, in dem laut
Bedürfnis. Die Frage ist immer: Was und wer steckte Schwanitz die Lohe, das flammenhafte Licht im
hinter seinem immensen Lebens- und Denkwerk? ›Luh‹, spielt); andererseits wird die Sphinx heranzi-
Luhmann hätte – fern von allen Pathosformeln – ge- tiert: »Als ich aufblickte, sah ich Luhmann mir gegen-
antwortet: ›Nichts steckt dahinter!‹ und damit viel- über sitzen. Er lächelte wie eine Sphinx, als ob er
leicht gemeint: nichts Nennenswertes, nichts, wo- schon ewig dort gesessen hätte. Nach und nach wur-
durch mehr befriedigt werden könnte als ›human de auch den anderen Anwesenden bewußt, daß Luh-
interest‹, nichts, was sein Werk erklären oder sein mann längst da war, obwohl offenbar niemand ihn
Verständnis gar bereichern würde. »[W]enn jemand hatte eintreten sehen« (Schwanitz 1999, 50).
das braucht, um zu verstehen, was ich geschrieben In all diesen Fällen geht es um Mystifizierungen,
habe, dann habe ich schlecht geschrieben« (Luh- die Luhmann vermutlich nicht geschätzt hätte. Ich
mann 1987, 19). erinnere mich eines Gespräches mit ihm, in dem er
Das Interesse an dem, der als Autor gilt, konnte er sagte, dass die Attribution ›Sphinx‹ von ihm nur in
soziologisch nachvollziehen, kaum aber theoretisch einer Wendung von Oscar Wilde akzeptiert werde:
billigen, denn dieses ›Wer?‹ signiert eine Ontologie Die Frau sei eine Sphinx ohne Geheimnis. Wenn das
des ›Ich‹, des ›Selbst‹, eine Instanz innerer Über- auch für ihn als Mann zutraf, lassen sich tatsächlich
schau, eine interne Supervision und Subjekthaftig- über Luhmann nur Geschichten erzählen, aber keine
keit, eine Idee also, gegen die Luhmann sich in klassische Biographie, die einen Zusammenhang von
seinem Werk abweisend verhalten hat, oder besser: Leben, Werk und Wirkung widerspiegeln könnte.
gegen die sich das Werk, das Luhmann zugeschrieben Ihm selbst hätte wohl eine einfache Liste genügt, die
wird, idiosynkratisch verhält. den Vorteil hat, auf Klischees verzichten zu können.
Biographien, auch Autobiographien sind allemal,
wie das Wort sagt: Geschriebenheiten, mithin immer
strikt selektiv, für kommunikative Zwecke eingerich- Der Biographieverzicht
tet, eingebettet in die semantischen und strukturel-
len Bedingungen der Zeit, in der sie entstehen, hier Vielleicht sollte ich sagen, dass ich einige Jahre mit
einer Zeit, in der Nachrichten über Individuelles im- Niklas Luhmann zusammengearbeitet habe, zu-
mer auf Interesse stoßen, obschon oder gerade weil nächst als studentische Hilfskraft, dann als Ko-Autor
nichts so sehr fraglich geworden ist wie die Möglich- des Buches Reden und Schreiben. Das heißt, wir hat-
keit von Individualität unter dividualen Weltbeob- ten viele Gespräche, in denen das, was ich erwartet
achtungsbedingungen. habe, nicht geschah: der Aufbau einer Nähe, die für
Eine Biographie zu verfassen, das ist ersichtlich: längere Bekanntschaften typisch ist. Er erzählte
eine mögliche unter anders möglichen Biographien nichts aus seinem Leben und verhinderte damit, dass
zu schreiben. Das Genre des Biographischen ist eben ich aus dem meinen hätte erzählen können. Er be-
deshalb nicht selten schwach komplex unterwegs; es richtete von Tagungen, Diskussionen, Reisen, aber
ist eher legendär, eher anekdotisch, eher romanhaft. immer in Hochkonzentration auf das, was dabei the-
Wenn man sich wie Luhmann nicht auf dieses Genre matisch verhandelt worden war und (nicht ohne iro-
einlässt, muss man damit rechnen, dass das Anekdo- nische Einschläge) von dem, was dabei systematisch
tische, das Sentenzenhafte, das Skurrile die Führung ausgeblendet wurde.
der dann doch applizierten biographischen Anstren- Jenes ›Aufleben‹, das sonst durch Nähe erzeugt
gungen übernimmt. Und tatsächlich sind zahlreiche wird, stieß ihm zu, wenn es um die Sache, also fast
Anekdoten über Luhmann im Umlauf. immer: um Hochabstraktionen ging, die das, was
Das ist aber nicht so ärgerlich wie die Übernahme man bisher zu einem Problem dachte, in ein anderes,
tradierter Muster, die sich auf die Einschätzung von ein überraschendes Licht tauchten. Er konnte sich bei
Menschen beziehen, die unbeirrbar Plänen nachge- solchen Gelegenheiten, wenn ich das so sagen darf,
hen, die sozial nicht ohne Weiteres plausibel sind, ›spitzbübisch‹ freuen. Wenn ich in sein Büro kam
Sphinx ohne Geheimnis – Zur Unkenntlichkeitsbiographie Niklas Luhmanns 5

und mir der obligate Hagebuttentee kredenzt wurde, schaft war, hat er mitunter gesprochen. Er muss
startete er schon während des Einschenkens mit un- Furchtbares gesehen und erlebt haben, aber er gab
serem jeweiligen Thema. Und: Er wirkte marode, dem, was er erzählte, eine lakonische Wendung: Er
wenn das Gespräch umsetzte auf das, was auch an habe bei diesen Ereignissen Kontingenz und soziale
Alltäglichem zu besprechen war. Unordnung kennengelernt. Die Rede bezog sich
Ich dachte damals oft an Robert Musils Mann ohne nicht auf durchschlagende, existentielle Erfahrun-
Eigenschaften und erfuhr später zu meinem stillen gen.
Vergnügen, dass dieser Roman auch zu seinen Lieb- Seine Erzählungen über diese Zeit waren pathos-
lingslektüren gehörte. Wenn mich nicht alles täuscht, frei, die Stimme bebte nicht und: Diese Erzählungen
kommt in ihm sinngemäß der Satz vor, das Interesse schienen nicht wirklich privat zu sein, sondern waren
sei die stärkste Macht, durch die Menschen be- lehrreich, Beispiele in Vorlesungen und Seminaren,
herrscht werden könnten. Offenbar fand das Biogra- wenn es um die Frage nach der Bedingung der Not-
phische im Blick auf ihn selbst nicht Luhmanns wendigkeit sozialer Ordnung ging. Sie blieben trotz
Interesse. Es wäre dagegen sofort angesprungen, oder gerade wegen ihrer Trockenheit nachdrücklich
wenn man etwa über die Form des Biographischen im Gedächtnis. ›Guter Geist ist trocken‹ – das war
gesprochen hätte, deren Erfolg mit der Umstellung eine seiner ihn selbst beschreibenden Sentenzen, ein
der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Satz, der zu einem Meister der Lakonie passt wie sei-
Differenzierung koinzidiert, kaum aber, wenn es um ne markant spartanische Lebensführung.
Details seiner Biographie gegangen wäre, die in sei- Ein Beispiel für diese Lakonie aus einem Brief an
ner Sprache nur ›kontingent‹, also weder notwendig mich (16.10.89), in dem Luhmann anfragt, ob ich be-
noch unmöglich sein konnte: ein Arrangement aus reit sei, am Buch über ›Weltkunst‹ mitzuarbeiten:
den Selbst- und Fremdbeschreibungen, mit denen »Gedacht ist an ein kleines Büchlein, an dem eventu-
man im Laufe eines Lebens konfrontiert wird, ein Ar- ell auch ein Künstler mitwirkt – aber wie, weiß ich
rangement, das sich so einrichten lässt, dass es sozial noch nicht. Ich hatte einmal kurzen Kontakt mit Fre-
Anklang findet. derick Bunsen, ganz dichte durch Mißverständnisse
Anders gesagt: Biographien wie Autobiographien erleichterte Kommunikation und denke jetzt an diese
sind rahmendatengestützte Interpretationen, in Möglichkeit.«
Luhmanns Diktion: ›Deuteleien‹, die das Bedürfnis
nach ›Menschlichkeit‹ befriedigen. Für ihn, so stelle
ich es mir vor, waren sie Zeitverschwendungen, Denklineaturen
Nichtnützlichkeitsinformationen, mithin: Verzicht-
barkeiten. Luhmann verkörperte das Bild des hochkonzentrier-
ten, distanzierten, unablässig denkenden Denkers,
dem man sich annähern kann, wenn man zufällige
Die Pflege der Unkenntlichkeit und prägende, lebensgeschichtlich induzierte Ein-
flüsse imaginiert, durch die er Kontur und Wiederer-
Für etliche Leute, die ich kenne und die häufigeren kennbarkeit gewonnen hat. Sieht man von seiner
Kontakt mit ihm hatten, trat wie für mich auch die frühen familiären Sozialisation ab, über die man
Frage auf, ob der Biographieverzicht dezidierter Ver- kaum etwas weiß, wird man an seine Schulzeit auf ei-
zicht war oder ein Beiläufigkeitsphänomen, das bei nem altsprachlichen Gymnasium erinnern müssen,
Luhmanns Arbeitsleistung nicht unter seiner Kon- also an den Kontakt mit einer Bildungswelt, in deren
trolle stand. Mein Eindruck war, dass er, um es para- Zentrum die Antike, der Humanismus standen, da-
dox zu formulieren, den Habitus der Unnahbarkeit, mit auch Sprachen wie Latein und Griechisch, die
jene Unkenntlichkeit pflegte, die – vom Topos her ge- Befasstheit mit Dichtung von Homer bis zu Goethe,
sehen – für Ironiker bezeichnend ist. Man könnte mit der Philosophie, deren Leitgestalten Kant und
von einer perfekt zelebrierten Distanz sprechen, die Hegel waren – eine Bildungswelt, die im Zusammen-
dann als ›Vorführung‹ imponierte, wenn Luhmann – bruch des ›Dritten Reiches‹ unglaubhaft wurde, bei
ganz selten – Distanzbrüche zuließ. Luhmann aber immer einen paramount seiner Arbeit
Das war etwa dann der Fall, wenn er krank war darstellte, in einer Melange von Ironie und Wehmut
und lange über die Krankheit und ihre Bewandtnisse indiziert als die Welt Alteuropas, der er sich verbun-
redete, wie es sonst nur Hypochonder tun. Auch über den fühlte, obwohl sich wenige Wissenschaftler so
die Zeit, als er Flakhelfer und später in Gefangen- weit von ihr entfernt haben.
6 Zur Biographie

Zu diesem Hintergrund passt, was man Luh- im Blick auf das, was sich über die Moderne der Ge-
manns ›Sammelwut‹ nennen könnte. Schon 1951 be- sellschaft noch verantwortlich denken lässt.
gann er, an seinem berühmten ›Zettelkasten‹ zu
arbeiten, der am Ende seines Lebens mit ca. 90.000
Zetteln und einer die Verlinkungsmöglichkeiten des Liebhabereien
Internet präludierenden Verweis- und Kompilier-
technik eine geradezu optisch monströse Form ange- Niklas Luhmann reiste viel in der Welt herum, ein
nommen hatte, wovon man sich in Bielefeld leicht Jetsetter par excellence. Wenn man ihn fragte, warum
überzeugen kann. er sich das antue, pflegte er zu sagen, es gehe um Dif-
In ebendieser Zeit setzte er sich intensiv mit Ed- ferenzerfahrung. Was dabei mitunter herauskam,
mund Husserl auseinander und gewann ihm ent- waren Äußerungen wie die folgende, die sich in dem
scheidende Denkfiguren ab: Sinn, Horizont, Selekti- Brief an mich vom 16. Oktober 1989 ebenfalls findet:
on. Ein weiteres Schlüsselerlebnis war seine Begeg- »Chicago war in vielen Hinsichten lohnend, vor al-
nung mit Talcott Parsons an der Harvard University lem wegen einer guten Bibliothek im Bereich des
im Jahr 1960. Er sah sich mit einer soziologischen common law. Das hat den Anstoß gegeben für ein
Systemtheorie konfrontiert, für die ein ›universalisti- weiteres Buch über ›Das Recht der Gesellschaft‹. Im
scher‹ Geltungsgrad behauptet wurde. Der Ansatz übrigen bin ich immer wieder beeindruckt von der
war analytisch und – theorieästhetisch gesehen – sehr intellektuellen Isolierung Amerikas – mit wenigen
schematisch. In Gegenbewegung dazu begann Luh- Ausnahmen wie Derrida, die dann überdurch-
mann, das System als System/Umwelt-Differenz zu schnittliche Effekte erzeugen. Natürlich können die
bestimmen und in einer naturalen Epistemologie da- Amerikaner nicht wissen, daß sie 1992, wie man
von auszugehen: Es gibt Systeme. hofft, Europa entdecken werden.«
Das Denken jener Differenz verlangte dann mehr Er liebte vor allem die Sonne, arbeitete gern auf
und mehr nach anderen logischen Bordmitteln, die der Terrasse und hielt sich regelmäßig in Italien auf,
Luhmann in den 1980er Jahren in George Spencer- in einem Land, in dem die Rezeption seiner Theorie
Browns Laws of Form fand. Von da an datiert eine ful- schon sehr früh beachtliche Ausmaße annahm. Ein
minante Um- und Weiterentwicklung der Theorie, wichtiger Ort war Lecce in Calabrien, wohin er flüch-
bezeichnet durch Begriffe wie ›Referenz‹, ›Beobach- tete, als er nach seiner Emeritierung (absurde) Pro-
tungsebene erster Ordnung‹ und ›zweiter Ordnung‹. bleme mit der Weiterarbeit seiner Lehrstuhlsekretä-
Zuvor adoptierte er von Humberto Maturana den rin bekam – zur Zeit, als er an der Gesellschaft der
Ausdruck ›Autopoiesis‹ für Systeme, die sich selbst Gesellschaft schrieb. Deswegen ist die Erstausgabe
durch sich selbst auf der Basis ihrer jeweils originä- dieses Buches italienisch.
ren, zeitflüchtigen Elemente reproduzieren, ein Lecce, so hörte ich es von ihm, war vor allem nach
Theoriestück, mit dem sich die Logik Spencer- der Installation eines ›Luhmann-Institutes‹ an der
Browns bruchlos verbinden ließ. dortigen Universität der Ort, wo er gern seinen Le-
Ein anderes Thema wurde ihm lebensgeschicht- bensabend verbracht hätte. Dazu ist es nicht mehr
lich ›zugeflaggt‹ durch die Kontroverse mit Jürgen gekommen.
Habermas, die 1968, im Jahr der Berufung Luh-
manns nach Bielefeld, startete und seine spätere
Wahrnehmung durch die intellektuelle Öffentlich- Literatur
keit massiv bestimmte. Die Debatte fand in den, was Luhmann, Niklas: Archimedes und wir. Hg. von Dirk Bae-
Gesellschaftskritik angeht, hochhysterisierten Acht- cker/Georg Stanitzek. Berlin 1987.
undsechzigern statt. Habermas optierte für Kritik, Schwanitz, Dietrich: »Niklas Luhmann. Artifex mundi«. In:
Luhmann weder gegen sie noch für sie. Er legte den Rudolf Stichweh (Hg.): Niklas Luhmann. Wirkungen ei-
nes Theoretikers. Gedenkcolloquium der Universität
Akzent beharrlich auf Theorie, Nüchternheit, auf die Bielefeld am 8. Dezember 1998. Bielefeld 1999, 49–59.
wissenschaftliche Analyse der Bedingung der Mög-
lichkeit von Gesellschaft, unaufgeregt, glasklar. Seit- Peter Fuchs
dem gilt er vielen als Konservativer, als Systembestä-
tiger, als jemand, der für sich die richtige (rechte)
Meinung vertritt: eben eine ›Orthodoxia‹ – ein son-
derbares Urteil angesichts des unübersehbaren Um-
standes, dass seine Theorie explosive Folgen zeitigte
7

3. Luhmanns Zettelkasten schauen (ebd., 222). Die Differenz von Aufzeich-


nungssystem und Nutzer kann allerdings erst deshalb
und seine Publikationen produktiv werden, weil die interne Struktur der Zet-
telsammlung ganz verschiedene Kombinationen
Geist im Kasten? mehrerer Zettel zu einzelnen Fragestellungen ermög-
licht, so dass der Zettelkasten selbst zu einem inno-
Niklas Luhmann war ein in vielerlei Hinsicht heraus- vationsgenerierenden Mechanismus wird, der zwar
ragender Soziologe des 20. Jahrhunderts. Dies gilt immer der Anfrage durch den Nutzer bedarf, diesen
auch für seine Produktivität als wissenschaftlicher aber selbst dann, wenn er auch der Ersteller der Zettel
Autor: Seit Ende der 1960er Jahre erschienen jedes ist, mit seinen Antworten überrascht: »Ohne die Zet-
Jahr mindestens eine Monographie und mehr als tel, also allein durch Nachdenken, würde ich auf sol-
zehn Aufsätze, so dass seine Veröffentlichungsliste che Ideen nicht kommen. Natürlich ist mein Kopf
schon zu Lebzeiten ca. 500 Publikationen umfasste erforderlich, um die Einfälle zu notieren, aber er
(vgl. Luhmann 1998). Posthum wurden mittlerweile kann nicht allein dafür verantwortlich gemacht wer-
eine ganze Reihe neuerer Monographien und Aufsät- den« (Luhmann 1987, 144).
ze publiziert, und im Nachlass befinden sich weitere, Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden die
bislang unveröffentlichte Manuskripte insbesondere Struktur des Zettelkastens näher beleuchtet und da-
aus den 1960er und 1970er Jahren, so dass man von mit die Grundlage des Verhältnisses von Zettelkasten
insgesamt über 50 Monographien und 500 Aufsätzen und Luhmanns wissenschaftlicher Produktivität
ausgehen muss, die in Luhmanns knapp vierzigjäh- skizziert werden. Dies geschieht auf der Basis einer
riger Theoriewerkstatt entstanden sind. Auf die in ei- ersten Sichtung der 2011 von der Universität Biele-
nem Interview geäußerte Frage, wie diese beispiello- feld mit Unterstützung der Krupp-Stiftung sowie des
se Publikationsleistung zu erklären sei, antwortete Stifterverbandes erworbenen Sammlung, die die ei-
Luhmann mit dem für ihn charakteristischen Under- gentliche wissenschaftliche Erschließung vorbereitet
statement: »Ich denke ja nicht alles allein, sondern hat. Deren Ziel ist es, die Zettel digital zu archivieren
das geschieht weitgehend im Zettelkasten. […] Mei- und anschließend die Digitalisate in eine internetba-
ne Produktivität ist im wesentlichen aus dem Zettel- sierte Datenbank zu überführen, die die von Luh-
kasten-System zu erklären« (Luhmann 1987, 142). mann angelegte Funktionalität des Zettelkastens
Auch aufgrund solcher Äußerungen wurde der reproduziert, um so eine allgemeine Zugänglichkeit
Zettelkasten zunehmend zu einem Mythos, obwohl des Zettelkastens für die Forschung sicherzustellen.
Luhmann selbst kein Geheimnis um den Gegenstand
machte, sondern Interessierten und sogar den Mas-
senmedien den Kasten durchaus vorführte. Zugleich Der Zettelkasten
stand er der Verklärung der Zettelsammlung aber in
der für ihn typischen Ironie distanziert gegenüber. So Der Zettelkasten umfasst ca. 90.000 Zettel und be-
gibt es im Zettelkasten eine kleine Abteilung, in der steht aus zwei weitgehend autonomen Zettelsamm-
Luhmann über den Zettelkasten selbst reflektiert; lungen: (1) eine frühe Sammlung (ca. 1951–1962;
dort findet man unter der Überschrift »Geist im Kas- sporadische Einträge noch bis ca. 1973), die primär
ten?« folgende Notiz: »Zuschauer kommen. Sie be- auf verwaltungs- bzw. staatswissenschaftlicher, phi-
kommen alles zu sehen, und nichts als das – wie beim losophischer, organisationstheoretischer und (weni-
Pornofilm. Und entsprechend ist die Enttäuschung« ger) soziologischer Lektüre Luhmanns aus der Zeit
(Zettel 9/8,3). seiner Tätigkeit als Rechtsreferendar in Lüneburg
Diese Enttäuschung resultierte wohl weniger aus bzw. Oberregierungsrat im Kultusministerium in
dem unscheinbaren Äußeren der Zettelsammlung als Niedersachsen beruht. Die Sammlung besteht aus ca.
vielmehr aus der Tatsache, dass – trotz der von Luh- 24.000 Zetteln, einer Bibliographie mit ca. 1800 Ti-
mann gerne gebrauchten Formulierung der sich na- teln und einem Schlagwortverzeichnis mit ca. 1250
hezu selbstschreibenden Texte – der Zettelkasten als Einträgen, wobei für jedes Schlagwort (nur) auf ein
»Zweitgedächtnis« (Luhmann 1981, 225) natürlich bis drei Zettel verwiesen wird; (2) eine spätere
zwingend auf eine Kooperation (also: Differenz!) Sammlung (ca. 1963–1996), die im Zuge der auch in-
zum ›Erstgedächtnis‹ angewiesen war: Der Zettelkas- stitutionellen Hinwendung Luhmanns zur Soziolo-
ten ist Partner in einem Kommunikationsprozess, in gie entsteht, nun auch durch einen eindeutig
dem sich die Teilnehmer wechselseitig nicht durch- soziologischen Zugriff gekennzeichnet ist und den
8 Zur Biographie

Großteil der luhmannschen Publikationsperiode ab- Die Struktur der Sammlung


deckt. Diese Sammlung besteht aus ca. 66.000 Zetteln
und enthält neben den Notizen auch einen umfang- In seinen Äußerungen über den Zettelkasten hat
reicheren, aber nicht vollständigen bibliographi- Luhmann (1981, 224 f.) immer wieder auf die beson-
schen Apparat mit ca. 16.000 Einträgen, ein ca. 3200 dere Struktur der Zettelsammlung abgestellt, die erst
Einträge umfassendes Schlagwortverzeichnis sowie die besondere Produktivität als ›Schreibmaschine‹
ein Personenverzeichnis mit ca. 300 Namen. Luh- erklären würde. Der Zettelkasten sei »ein kyberneti-
mann selbst gab keine Auskunft darüber, warum er sches System«, eine »Kombination von Unordnung
Anfang der 1960er Jahre eine zweite Sammlung an- und Ordnung, von Klumpenbildung und unvorher-
legte, die die erste zunächst offensichtlich weitge- sehbarer, im ad hoc Zugriff realisierter Kombinati-
hend ersetzen sollte, wie man aufgrund der Tatsache, on« (Zettel 9/8).
dass die Nummerierung der Zettel wieder bei 1 be- Auch wenn Luhmann betont, dass die Zettel-
ginnt, vermuten darf. Beide Sammlungen sind nur sammlung keine systematische Gliederung und in-
lose miteinander gekoppelt, d. h. es gibt – verglichen haltliche Ordnung aufweise, findet man (natürlich)
mit der internen Verweisungsdichte, die erstaunlich keine chaotische Ansammlung von Notizen, sondern
hoch ist (s. u.) – relativ wenige Verweise zwischen den eine Aggregation einer Vielzahl von Zetteln zu be-
beiden Sammlungen, selbst dann, wenn sie dieselben stimmten Begriffen und Einzelthemen, die sich auch
Begrifflichkeiten behandeln. (Eine Ausnahme stellen in der ersten (durch einen Schrägstrich bzw. ein
die Notizen zur Weltgesellschaft dar, bei denen es Komma von der eigentlichen Nummerierung des je-
nicht nur systematische Querverweise gibt, sondern weiligen Zettels getrennten) Zahl des Notationssys-
die auch noch bis in die 1970er Jahre hinein in die tems niederschlägt. So weist die zweite Zettelsamm-
erste Sammlung integriert wurden.) lung folgende Ordnungsstruktur auf: ›1 Organisati-
Auf den DIN-A-6-großen Notizzetteln notierte onstheorie‹, ›2 Funktionalismus‹, ›3 Entscheidungs-
Luhmann primär Lektüreergebnisse, aber auch eige- theorie‹, ›4 Amt‹, ›5 Formale/informale Ordnung‹,
ne Thesen oder noch zu klärende Fragen. Luhmann ›6 Souveränität/Staat‹, ›7 Einzelbegriffe/Einzelpro-
erstellte bei der Lektüre von Texten zwar (in der Regel bleme‹, ›8 Wirtschaft‹, ›9 Ad hoc Notizen‹, ›10 Ar-
sehr knappe) Exzerpte, die man z. T. auch auf den chaische Gesellschaften‹, ›11 Hochkulturen‹. In den
Rückseiten der bibliographischen Angaben der zwei- genannten Bereichen schließen sich an die themati-
ten Sammlung findet, nahm aber erst im Anschluss sche Erstentscheidung zunächst weitere thematische
daran in einem zweiten Arbeitsschritt eine Verzette- Blöcke mit bis zu vierstelligen Eingangsnummern an,
lung dieser Exzerpte vor, wobei er sich dann insbe- die mit den eingangs genannten Themen zumindest
sondere an den bereits vorliegenden Einträgen in lose gekoppelt sind (z. B. im Bereich ›3 Entschei-
dem Zettelkasten orientierte: Entscheidend war für dungstheorie‹: ›31 Handlungsbegriff‹, ›32 Entschei-
Luhmann, »was für welche bereits geschriebenen dungsmodelle‹, ›33 Konstruktionstypen für Ent-
Zettel wie auswertbar ist. Ich lese also immer mit scheidungsmodelle‹, ›331 Zweckmodelle‹, ›332 Opti-
Blick auf die Verzettelungsfähigkeit von Büchern« malmodelle‹, ›333 Brauchbarkeitsmodelle‹, ›34 Ent-
(Luhmann 1987, 150). Das Prinzip des Eintrags in scheidungsvereinfachung‹ usw.).
den Zettelkasten selbst orientierte sich nicht an einer Wie die Auflistung der Grobstruktur aber auch
letzten Durchdachtheit eines Gedankens, sondern an schon deutlich macht, handelt es sich bei dieser Ord-
der Annahme, dass über die Sinnhaftigkeit einer No- nungsstruktur nicht um eine Systematik im strengen
tiz erst später, nämlich durch die Relationierung mit Sinne (wie etwa bei einer Buchgliederung), die Plat-
anderen Notizen, entschieden werden kann (die zierung thematischer Blöcke wie auch der Stellplatz
Analogie zur luhmannschen Konzeption des Kom- einzelner Zettel in der Sammlung sind vielmehr ei-
munikationsbegriffs drängt sich hier unübersehbar nerseits das historische Produkt der Forschungs- und
auf). Luhmann bezeichnet in einer entsprechenden Lektüreinteressen Luhmanns und andererseits eine
Notiz den Zettelkasten als »Klärgrube« (Zettel 9/ Folge der Schwierigkeit, eine Fragestellung eindeutig
8a2): »Alle arbiträren Einfälle, alle Zufälle der Lektü- einem und nur einem (Ober-)Thema zuzuordnen.
ren können eingebracht werden. Es entscheidet dann So findet man auf der einen Seite z. B. umfangreiche
die interne Anschlussfähigkeit« (Zettel 9/8i). wirtschaftsbezogene Notizen zu Geld und Eigentum
nicht nur in der entsprechenden Abteilung zur Wirt-
schaft, sondern auch in der Abteilung ›3 Entschei-
dungstheorie‹ im Block ›352 Kommunikationstheo-
Luhmanns Zettelkasten und seine Publikationen 9

rie‹ während auf der anderen Seite z. B. die zum dann wiederum monothematisch 1b angeschlossen
Funktionssystem ›Wirtschaft‹ äquivalenten Notizen werden oder aber auch eine weitere Verzettelung fol-
zu ›Recht‹ nicht auch in einer eigenen Oberabteilung gen, wobei dieser Zettel dann mit 1a1 bezeichnet und
stehen, sondern in der Abteilung ›3 Entscheidungs- zwischen 1a und 1b eingeschoben wird. Im Extrem-
theorie‹ im Block 34 zur Entscheidungsvereinfa- fall erhält man dann Zettel mit bis zu dreizehn-
chung unter der Bezeichnung ›3414 Rechtsordnung‹. stelligen Zahlen-/Buchstabenkombinationen, z. B.
Im Unterschied dazu sind die Notizen zu ›Wissen- ›21/3a1p 5c4fB1a Vertraulichkeit‹ im Rahmen des ur-
schaft‹ größtenteils im Block ›Wahrheit‹ abgelegt sprünglichen Themas ›21 Funktionsbegriff‹. Durch
worden, der sich aber wiederum nicht im Ab- diese Ablagetechnik wird die zunächst vorhandene
schnitt 352 zu den Kommunikationsmedien (für die Ordnung der Zettelsammlung innerhalb der thema-
es im Übrigen unter ›32 Entscheidungsmodelle‹ tischen Blöcke also weitestgehend aufgebrochen.
noch eine zweite Systemstelle gibt) befindet, sondern Die Zettelkastensammlung weist so eine ganz ei-
in der Abteilung ›7 Einzelbegriffe/Einzelprobleme‹ gene Tiefenstruktur auf – Luhmann nennt das eine
unter der Nummer 7/25 – zwischen ›7/24 Rausch‹ »innere Verzweigungsfähigkeit« (1981, 224) –, wobei
und ›7/26 Energie‹. die Platzierung eines Themas innerhalb dieser Ord-
Darüber hinaus führt innerhalb der genannten nungsstruktur dann gerade nicht zwingend etwas
Großblöcke ein spezifisches Ordnungsprinzip dazu, über die theoretische Prominenz des Begriffs aussagt,
dass die thematische Erstentscheidung Luhmanns was man z. B. schon daran erkennt, dass die Notizen
nicht eine monothematische Reihung der dort zu zum Autopoiesisbegriff unter der Nummer 21/
findenden Zettel zur Folge hat. Vielmehr gibt es eine 3d26g1i ff. abgelegt sind. Entsprechend findet man
Strategie der Verzettelung, die diese ursprüngliche umgekehrt Notizen zu einem Thema bzw. Begriff an
Ordnung aufbricht: Findet sich in einer Notiz ein in- mehreren Stellen in der Sammlung, z. B. in der zwei-
teressanter Nebengedanke, so wird dieser (später) ten Sammlung zu ›Reflexion‹ (in chronologischer
weiterverfolgt. Diese zusätzlichen Einträge werden Reihenfolge) in einem Abschnitt zur funktionalen
auf einen an dieser Stelle dann einzuschiebenden Differenzierung, prominent in einem Block zum
Zettel notiert (es können auch mehrere Punkte auf Funktionalismus, zur Kunst, zur Religion, zum Indi-
einem zunächst erstellten Zettel sein, die dann zu vidualismus, zur Ideologie, zum Recht, zur Ethik, zu
mehreren eingeschobenen Zetteln führen), wie auch den Massenmedien, zur Evolutionstheorie, wieder-
dieses Verfahren wiederum auf den eingeschobenen um prominent zur Wahrheit, zur Soziologie, zur
Zettel selbst angewandt werden kann, so dass man Ökologie, zum Wohlfahrtsstaat, zur sozialen Gleich-
eine Zettelreihung erhält, die von dem ursprüngli- heit, zur Wirtschaft und zu Reflexionstheorien. Luh-
chen Thema immer weiter wegführt (z. B. findet sich mann rekurrierte in diesem Zusammenhang auf das
unter ›2 Funktionalismus‹ folgende Reihung: ›Funk- Prinzip des »›Multiple Storage‹ als Notwendigkeit
tionsbegriff‹ – ›Bezugseinheit der funktionalen Ana- der Speicherung von komplexen (komplex auszu-
lyse‹ – ›Begriff der Bestandsvoraussetzung‹ – ›Begriff wertenden) Informationen« (Zettel 9/8b2) und be-
des funktionalen Problems‹ – ›Erwartungsbegriff‹ – tonte in einem Interview: »In der Entscheidung, was
›Soziale Identität‹ – ›Aufrichtigkeit‹ – ›Geheimnis‹), ich an welcher Stelle in den Zettelkasten hineintue,
wodurch sich zwischen zwei ursprünglich einmal di- kann […] viel Belieben herrschen, sofern ich nur die
rekt hintereinanderstehenden, thematisch zusam- anderen Möglichkeiten durch Verweisung verknüp-
mengehörenden Zetteln schließlich mehrere hundert fe« (Luhmann 1987, 143).
später eingeschobene Zettel befinden können. Dem Verweisungssystem kommt deshalb eine ent-
Die skizzierte Ablagetechnik folgt also nicht pri- scheidende Bedeutung bei der Produktivität des Zet-
mär der Idee einer Sachordnung, sondern der einer telkastens zu. Insgesamt kann man von ca. 19.000
festen Stellordnung, die auch das besondere Notati- Verweisen in der ersten und ca. 27.000 Verweisen in
onssystem Luhmanns begründet: Jeder Zettel be- der zweiten Zettelsammlung ausgehen. Hierbei las-
kommt eine Nummer (so dass er für Verweise sen sich drei Fälle unterscheiden:
adressierbar wird) und damit einen festen Standort, (1) Einzelverweise: Auf einem Zettel findet sich ein
der im weiteren Verlauf nicht mehr verändert wird: Verweis auf einen anderen Zettel in der Sammlung,
auf 1 (bzw. 1/1) folgt 2 (bzw. 1/2) usw.; später einge- der für das behandelte Thema ebenfalls relevant ist.
schobene Zettel werden durch eine entsprechende Neben der durch die oben skizzierte Stellordnung be-
Nummerierung gekennzeichnet: 1a – der dann zwi- reits implizierten Verweisungsstruktur auf räumlich
schen den Zettel 1 und 2 eingestellt wird; daran kann nahestehende Zettel findet man Einzelverweise auf
10 Zur Biographie

andere Zettel, die für das auf dem Ausgangszettel be- Material selektiv wegziehen« (Zettel 9/8b1) und da-
handelte Thema bzw. den Begriff von Interesse sind, mit eine andere Lesart und Kontextierung der Noti-
die sich aber an einer ganz anderen Stelle des Kastens zen ermöglichen, als bei der Notierung und Einstel-
und damit dann häufig auch in einem ganz anderen lung in die Ordnungsstruktur selbst impliziert war.
Diskussionskontext wiederfinden. Der Verweisfall (2) und zum Teil auch (3) ist darüber
(2) Sammelverweise: Über solche Einzelverweise hinaus von Interesse, weil es sich bei diesen Zetteln
hinausgehend gibt es am Beginn eines thematischen um sogenannte ›hubs‹ handelt, also Zettel, die über-
Blocks häufiger einen Zettel, auf dem auf mehrere durchschnittlich viele Verbindungen zu anderen Zet-
andere Zettel in der Sammlung verwiesen wird, die in teln aufweisen und deshalb von einem Punkt aus
einem (unterschiedlichen) inhaltlichen Zusammen- einen großen Bereich der Sammlung erschließen.
hang mit dem in der Folge behandelten Thema bzw. Konstitutiv für die Sammlung sind also gerade nicht
Begriff stehen; auf einem solchen Zettel können bis (nur) die ursprünglichen Lese- und Notizwege Luh-
zu 25 Verweise aufgeführt werden. Die Verweise kön- manns, sondern die einerseits durch die spezielle Ab-
nen sich auf thematisch und räumlich nahestehende lagetechnik, andererseits durch die Verweistechnik
Zettel beziehen, aber auch auf weit entfernte Bereiche hergestellten (selektiven) Relationen zwischen den
der Sammlung. Notizen, die im Rahmen einer späteren Abfrage
(3) Verweise im Rahmen einer (systematischen) mehr auf einmal verfügbar machen, als bei der ur-
Gliederungsstruktur innerhalb eines Themenblocks: sprünglichen Notation intendiert war, wie Luhmann
Hier notiert Luhmann am Beginn eines Gedanken- auch selbst (1981, 227) notiert hat; insofern kann
gangs auf einem Zettel mehrere zu behandelnde man der Sammlung aufgrund ihrer Verweisungs-
Aspekte und markiert diese mit jeweils einem Groß- struktur eine eigene ›Kreativität‹ unterstellen.
buchstaben, der auf eine entsprechend nummerierte
Zettelfolge verweist, die zumindest in relativer räum-
licher Nähe zu dem Gliederungszettel steht. Diese Das Verhältnis von Zettelkasten
Struktur kommt der einer konventionellen Buchglie- und Publikationen
derung am nächsten.
Generell nimmt die skizzierte Verweisungsform Wie hat man sich nun vor diesem Hintergrund den
Luhmanns die für das Zeitalter des Computers gän- Zusammenhang von Zettelkasten und Publikationen
gige Technik der Hyperlinks (des Hypertexts) vor- zu denken? Luhmann selbst beschreibt die Entste-
weg, wobei die analoge Form des Kastens diese hung seiner Texte mittels des Rückgriffs auf den Zet-
Möglichkeiten technisch allerdings nur ansatzweise telkasten am Beispiel des Vortrags »Wie kann die
umsetzen konnte, da es statt eines einfachen Maus- moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefähr-
klicks immer des weitaus aufwendigeren physischen dungen einstellen?« (1985) als eine Art Collagetech-
Nachschlagens und Herausnehmens des entspre- nik, bei der er die für ein Thema relevanten
chenden Zettels bedurfte. Luhmann selbst nennt die Themenblöcke miteinander kombiniert (1987, 144).
Verweisungsstruktur ein »spinnenförmiges System« Zur Erstellung dieses Textes – so Luhmann – bedürfe
(1987, 143). An diese Metapher anschließend liegt es es (nur) der Kombination der Einträge zu den Begrif-
nahe, die Zettelsammlung als ein ›aristokratisches fen ›funktionale Differenzierung‹, ›selbstreferentielle
Netzwerk‹ zu interpretieren, also als ein Netzwerk, Systeme‹ und ›Binarität‹ (wobei die Frage unbeant-
dessen Knoten nicht alle eine ähnliche Zahl von Ver- wortet bleibt, ob bereits diese Idee der Relationierung
bindungen zu anderen Knoten aufweisen (zu diesem spezifischer Begriffe ein Produkt der Wechselwir-
Netzwerkmodell vgl. Watts 2004): Für die Produkti- kung von Zettelkasten und Autor ist). Ein Vergleich
vität des Zettelkastens ist im Fall von (1) und (2) ins- der entsprechenden, teilweise recht umfangreichen
besondere die Möglichkeit eines short cut von Textblöcke des Zettelkastens mit dem fraglichen Auf-
Bedeutung, also die Tatsache, dass ein Verweis in eine satz zeigt allerdings relativ schnell, dass sich die Kom-
ganz andere, auf den ersten Blick weit entfernte Re- plexität, die der Zettelkasten zu den genannten
gion des Netzwerks (Zettelkastens) führt. Diesen, die Begriffen aufbaut, in dem 14-seitigen Vortrag (logi-
erste Ordnungsstruktur der Sammlung unterlaufen- scherweise) nicht ansatzweise wiederfindet. Dieser
den Sachverhalt hatte auch schon Luhmann notiert: beschränkt sich fast ausschließlich auf eher kurze Be-
»die Verweisungen dürfen nicht […] die Leitge- merkungen zu funktionaler Differenzierung, wobei
sichtspunkte aggregierende[n] Sammelbegriffe er- sich in der entsprechenden Abteilung selbst dann
fassen, sondern müssen das unter ihnen gesammelte mehrere Zettel befinden, die ganz offensichtlich erst
Luhmanns Zettelkasten und seine Publikationen 11

im Rahmen der Vortragsvorbereitung erstellt wor- nikation‹ zurückzukommen: Eine Relationierung


den sind (und auch der o. g. Selbstreflexionsblock der genannten Themenbereiche (und weiterer wie
über den Zettelkasten dürfte wohl im Zuge der Er- etwa ›Resonanz‹, ›Beobachtung‹, ›Evolution‹) findet
stellung des Aufsatzes über den Zettelkasten von dann erst in der auf dem Vortrag aufbauenden Buch-
1981 entstanden sein). Diese Wechselwirkung von publikation Ökologische Kommunikation. Kann die
Publikationen und Zettelkasten legen den Schluss moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdun-
nahe, dass nicht der Zettelkasten allein schon das ky- gen einstellen? (1986) statt, die drei Monate nach dem
bernetische System ist, sondern erst die Differenz von Vortrag fertiggestellt wurde. Deutlich wird dabei,
Zettelkasten und Publikationen, da der Zettelkasten dass die Frage, welche Themenbereiche letztlich rela-
zumindest seit Mitte der 1960er Jahre kein reines Ar- tioniert werden, neben der Präferenz Luhmanns für
chiv ist, sondern zunehmend ein Arbeitsinstrument, das Inbeziehungsetzen von Heterogenem insbeson-
das im Zuge von Publikationsvorhaben nicht nur be- dere auch Ausfluss der durch die Verweisungsstruk-
fragt, sondern gleichzeitig auch (wieder) befüllt tur generierten Binnenkomplexität des Zettelkastens
wird. Dabei dokumentiert der Zettelkasten Gedan- ist. Allerdings reduziert selbst das Buch die im Zet-
ken- und Theorieentwicklungen, die im Zuge von telkasten zu den genannten Themen vorhandene
Publikationen entstehen – weshalb auch Zettel mit Komplexität wieder um ein Erhebliches, was u. a. an
Gedanken, die Luhmann später revidierte, von ihm der Begrenztheit des Platzes und der notwendigen Li-
nicht aus dem Kasten entfernt, sondern durch einen nearität der Darstellung liegt. Positiv formuliert,
entsprechenden (korrigierenden) Zettel ergänzt könnte man auch sagen, dass erst die Publikations-
wurden. form die im Zettelkasten vorhandene Komplexität
So kann man für eine Vielzahl von Publikationen verfügbar macht, indem sie sie vermindert. Denn den
ab Mitte der 1960er Jahre entsprechende Eintrags- vorhandenen Verweisungen kann letztlich wiederum
blöcke im Zettelkasten identifizieren, die man den nur selektiv nachgegangen werden, während der Zet-
einschlägigen Publikationen zuordnen kann, ohne telkasten selbst dafür gerade keine Stoppregel liefert
dass die Veröffentlichungen dann einfache Kopien – ganz im Gegenteil: Folgt man im Detail der im Kas-
dieser Abteilungen sind, da die entsprechenden No- ten angelegten Verweisungsstruktur, so eröffnen sich
tizen nicht linear erstellt wurden sowie die Verwei- ständig neue Themenpfade, über deren Nachverfol-
sungsstruktur die Anfrage immer über die jeweiligen gen bzw. Ignorieren letztlich nur eine konkrete Fra-
Abschnitte hinausführt und die Zettel in einen von gestellung und deren zeitlich befristete Beantwor-
ihrer Erstellung differierenden Kontext platzieren: tung im Rahmen eines Publikationsprojekts zu
»Der Zettelkasten gibt aus gegebenen Anlässen kom- entscheiden erlaubt, da man sich ansonsten in den
binatorische Möglichkeiten her, die so nie geplant, Tiefen der Zettelsammlung zu verlieren droht.
nie vorgedacht, nie konzipiert worden waren« (Luh-
mann 1981, 226). Der Zettelkasten war also nicht nur
ein Überraschungen generierendes Ablagesystem,
Literatur
sondern auch ein Denkwerkzeug Luhmanns. Eine
entsprechende Notiz findet man wiederum in der Luhmann, Niklas: »Kommunikation mit Zettelkästen. Ein
Selbstreflexion: »Ohne zu schreiben, kann man nicht Erfahrungsbericht«. In: Horst Baier/Hans Matthias
denken – jedenfalls nicht in anspruchsvollem selek- Kepplinger/Kurt Reumann (Hg.): Öffentliche Meinung
und sozialer Wandel. Für Elisabeth Noelle-Neumann.
tivem Zugriff aufs Gedächtnis« (Zettel 9/8g). Diese Wiesbaden 1981, 222–228.
Disziplinierung des Denkens durch Verschriftli- –: »Wie kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische
chung gilt bereits für die frühen Einträge aus den Gefährdungen einstellen?« Vorträge G 278 der Rhei-
1960er Jahren, die aber noch deutlicher die Spuren nisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Op-
einer Erarbeitung eines Sachstands und eine geringe- laden 1985.
–: Archimedes und wir. Interviews. Herausgegeben von
re Autonomie der Notizen vom Gelesenen aufweisen Dirk Baecker und Georg Stanitzek. Berlin 1987.
als die späteren Einträge, die eindeutiger problemori- –: »Schriftenverzeichnis«. In: Soziale Systeme 4. Jg. (1998),
entiert sind – und dabei auch deutlich stärker auf den 233–263.
Zettelkasten und seine bereits vorliegenden Einträge Watts, Duncan: »The ›New‹ Science of Networks«. In: An-
hin orientiert, also anschlussbezogen sind. nual Review of Sociology 30. Jg. (2004), 243–270.
Um auf das Beispiel der ›Ökologischen Kommu- Johannes F. K. Schmidt
13

II. Grundlagen

1. Luhmann und Husserl theoretische Motiv der selbstreferentiellen Erzeu-


gung von Sinn angeschlossen. In dem programmati-
schen Aufsatz »Sinn als Grundbegriff der Soziologie«
Edmund Husserls (1859–1938) Programm Zu den aus dem Debattenband mit Jürgen Habermas
Sachen selbst bezeichnet den erkenntniskritischen schreibt Luhmann: Am Rückgriff auf die Phänome-
Versuch, alles Seiende nach seiner ursprünglichen nologie, »die manchen eher eine Krankheit zu sein
Gegebenheitsweise hin zu befragen: als Phänomen. scheint als eine Methode«, befremde »just der ent-
Dieser Ausgangspunkt gibt Husserls Verfahren sei- scheidende Punkt: die Unklarheit des Verhältnisses
nen Namen. Die Phänomenologie hat davon auszu- von Sinn und System. Dieses Verhältnis bezeichnen
gehen, dass die unterstellte wirkliche Welt »kein wir als Konstitution […]. Gemeint ist der in näheren
phänomenologisches Datum ist« (Husserl 1980, Analysen aufzuhellende Befund: daß Sinn immer in
369), mithin also nur nach den Dingen in der subjek- abgrenzbaren Zusammenhängen auftritt und daß er
tiven Erfahrung und ihren Möglichkeits- und Kon- zugleich über den Zusammenhang, dem er angehört,
stitutionsbedingungen zu fragen ist. »Was die Dinge hinausverweist: andere Möglichkeiten vorstellbar
sind, […] sind sie als Dinge der Erfahrung«, wobei macht. Eine rein kontextuelle Sinntheorie wird die-
die Dinghaftigkeit der Dinge, d. h. ihre Bewusstseins- sem Problem nicht gerecht, eher schon Husserls The-
transzendenz, nirgendwoher zu schöpfen sei, »es sei se von der bewußtseinsimmanenten Transzendenz«
denn aus dem eigenen Wesensgehalte der Wahrneh- (TGS, 30).
mung, bzw. der bestimmt gearteten Zusammenhän- Luhmann nimmt also hier die konstitutionstheo-
ge, die wir ausweisende Erfahrung nennen« (Husserl retische Figur der Phänomenologie auf, um Sinn als
1950, 111). Es geht Husserl also um die Selbstausle- »Ordnungsform menschlichen Erlebens« (TGS, 31),
gung des Ego als Subjekt jeder möglichen Erkenntnis. nicht als spezielle Seinsregion zu fassen, macht aber
»Dieser Idealismus ist nicht ein Gebilde spielerischer an anderer Stelle kritisch auf das bei Husserl unge-
Argumentationen, im dialektischen Streit mit ›Rea- klärte Verhältnis von Weltbegriff und Horizontbe-
lismen‹ als Siegespreis zu gewinnen. Es ist die an je- griff aufmerksam (TGS, 301, Anm. 15). Er spielt
dem mir, dem Ego, je erdenklichen Typus von damit letztlich auf das gescheiterte Vorhaben von
Seiendem in wirklicher Arbeit durchgeführte Sinn- Husserl an, Welt und Horizont in »monadologischer
auslegung […]. Dasselbe aber sagt: systematische Intersubjektivität« (Husserl 1977, 91) zu versöhnen.
Enthüllung der konstituierenden Intentionalität Husserls halbherziger Versuch, das Intersubjektivi-
selbst« (Husserl 1977, 88 f.). tätsproblem phänomenologisch lösen zu wollen und
am Ende doch nur so etwas wie Kopräsenz ausma-
chen zu können (vgl. Nassehi 2008, 86 ff.), verweist
Operativität auf das, was für Luhmann an Husserl zugleich attrak-
tiv und nicht anschlussfähig war. Attraktiv für die
Entscheidend für die luhmannsche Systemtheorie ist, Systemtheorie ist der husserlsche Aufweis der Sinn-
dass Husserl jene Intentionalität als ein operatives form als einer Verweisungsform, die in selbstreferen-
Phänomen beschreibt, mithin also gegenwartsba- tiellen, noetisch-intentionalen Akten systemrelativ
siert. Ich möchte behaupten, dass diese operative erfolgt und in ihrer geschlossenen Operationsweise
Theorieanlage Husserls für Luhmann stilbildend ge- Offenheit ermöglicht.
wesen ist – womöglich stilbildender als der vielleicht Nicht anschlussfähig war für Luhmann dagegen
ungewöhnlichere und deshalb auffälligere Rekurs auf Husserls Versuch, die operative Theorieanlage dann
die biologische Autopoiesistheorie. Die operative doch zugunsten traditioneller Lösungen des Welt-
Theorieanlage spielt für Luhmann v. a. im Hinblick problems fahren zu lassen. Erst die Systemtheorie
auf die Temporalisierung seiner Systemtheorie nach weiß mit Kopräsenz umzugehen – eben weil sie mit
der sog. ›autopoietischen Wende‹ eine Rolle. Aber der konstituierenden Differenz von System und Um-
bereits vorher hat Luhmann an das konstitutions- welt auch den Weltbegriff systemrelativ ansetzen
14 Grundlagen

kann, als Horizontbegriff und damit als nicht negier- gen der Zeit ausschalten. Diese »wirkliche Welt« mit
bares Korrelat. In Soziale Systeme formuliert Luh- ihrem Verständnis »zeitlicher Objektivität« ist für
mann folgerichtig: »Wir gehen deshalb von einer Husserl kein »phänomenologisches Datum«. Er
phänomenologischen Beschreibung der Sinnerfah- schließt keineswegs aus, dass man sich mit der Frage
rung und des Sinn/Welt-Konstitutionszusammen- objektiver zeitlicher Extensionen, mit der Distributi-
hanges aus, gründen diese Beschreibung aber nicht on von Zeitintervallen, mit der »wirklichen objekti-
auf die ihr vorausliegende Existenz eines extramun- ven Zeit« beschäftigen könne: »Aber das sind keine
danen Subjekts (von dem jeder in sich selbst weiß, Aufgaben der Phänomenologie« (alle Zitate aus Hus-
daß es als Bewußtsein existiert), sondern fassen sie als serl 1966, 4). Sie hat es vielmehr mit der Frage zu tun,
Selbstbeschreibung der Welt in der Welt« (SS, 105). wie sich denn Bewusstseinsakte als immanente Zeit-
Damit erweist sich übrigens die systemtheoretische objekte konstituieren.
Soziologie Luhmanns als eine phänomenologischere Verbürgt wird die Einheit des Bewusstseins außer-
Soziologie als diejenige, die als phänomenologische dem durch die Umstellung von Erlebnis auf Erlebnis-
Soziologie diesen Titel in ihrer Selbstbezeichnung strom. Es geht also um das Verfließen der Zeit in der
führt, denn die phänomenologische Soziologie inte- selbstkonstituierten Dauer des Bewusstseins, d. h.
ressiert sich nur für das die soziale Welt erlebende um die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und
Subjekt. Sie hat dagegen keine Möglichkeit, die sozia- Zukunft im sich selbst erlebenden Subjekt. Um dies
le, im Sinne Luhmanns also in kommunikativer zu verdeutlichen, entwickelt Husserl in einem zwei-
Selbstreferenz und Sinnverweisung erzeugte Sinn- ten Schritt die Theorie der Retention und Protention.
form auf den Begriff zu bringen (vgl. Nassehi 2011, Denn wenn die im ersten Schritt ausgeschaltete Ob-
82). jektivität einer realen Zeit ausfällt, um eine tempora-
Husserl beschreibt Sinnkonstitution ausschließ- le Kontinuität von Erscheinungen zu sichern, muss
lich mit der Systemreferenz auf das Bewusstsein. Was jene Kontinuierungsfunktion phänomenologisch im
an intentionalen Akten in einem Bewusstsein ge- Bewusstsein selbst aufgewiesen werden. Husserl
schieht, geschieht je in einer Gegenwart und erzeugt plausibilisiert dies am Beispiel des Hörens einer Me-
dadurch einen Wandel der Perspektiven. Ein solcher lodie: »Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir
Wandel impliziert, will er als Wandel wahrgenom- hören die Melodie, d. h. wir nehmen sie wahr, denn
men werden, dass »fortgilt als noch Behaltenes, was Hören ist ja Wahrnehmen. Indessen, der erste Ton er-
nicht mehr erscheint, und in der die einen kontinu- klingt, dann kommt der zweite, dann der dritte usw.
ierlichen Ablauf antizipierende Vormeinung, die Müssen wir nicht sagen: wenn der zweite Ton er-
Vorerwartung des ›Kommenden‹, sich zugleich er- klingt, so höre ich ihn, aber ich höre den ersten nicht
füllt und näher bestimmt« (Husserl 1962, 161). Es mehr usw.? Ich höre also in Wahrheit nicht die Me-
geht hier um die zeittheoretische Frage, wie sich Zeit lodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton.
als einheitsstiftende Perspektive trotz Wechsels der Daß das abgelaufene Stück der Melodie für mich ge-
Gegenwarten erhalten kann (vgl. Nassehi 2008, genständlich ist, verdanke ich – so wird man geneigt
39 ff.). sein zu sagen – der Erinnerung; und daß ich, bei dem
jeweiligen Ton angekommen, nicht voraussetze, daß
das alles sei, verdanke ich der vorblickenden Erwar-
Temporalisierung tung. Bei dieser Erklärung können wir uns aber nicht
beruhigen, denn alles Besagte überträgt sich auch auf
Husserl stellt zur Erklärung dieses Sachverhaltes vom den einzelnen Ton. Jeder Ton hat selbst eine zeitliche
Begriff des Bewusstseins auf den Begriff Bewusst- Extension, beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt,
seinsstrom um, der es erlaubt, »den ganzen Erlebnis- beim Forttönen hat er aber ein immer neues Jetzt,
strom als Bewusstseinsstrom und als Einheit eines und das jeweilig vorausgehende wandelt sich in ein
Bewusstseins zu bezeichnen« (Husserl 1950, 203). Vergangen. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Pha-
Die erste phänomenologische Reduktion in der Ana- se des Tones, und die Objektivität des ganzen dau-
lyse des Zeitbewusstseins besteht für Husserl in der ernden Tones konstituiert sich in einem Aktkontinu-
Ausschaltung der objektiven Zeit. Streng nach dem Er- um, das zu einem Teil Erinnerung, zu einem
fordernis der Phänomenreduktion auf das phäno- kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu ei-
menal Gegebene, d. h. auf das im und vom Bewusst- nem weiteren Teil Erwartung ist« (Husserl 1966, 23).
sein selbst Konstituierte, muss Husserl zunächst alle Der entscheidende ontologische Ausgangspunkt
uns in natürlicher Einstellung evidenten Vorstellun- für Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbe-
Luhmann und Husserl 15

wusstseins aber ist die Gegenwärtigkeit der Operati- schreckt – eine Paradoxie, die sich dem Umstand ver-
onsweise. Man muss sich das Bewusstsein in diesem dankt, dass Husserl die operativen Aspekte retentio-
Sinne als einen Operator vorstellen, der gewisserma- naler und protentionaler Akte, die das innere
ßen von seiner eigenen Gegenwärtigkeit überrascht Zeitbewusstsein konstituieren, an eine weitere tem-
wird. Die klassische Bewusstseinsphilosophie hatte porale Bestimmung rückbindet, nämlich an die Ge-
das Regressproblem des Aufweises des erkennenden genwart urimpressionaler Akte – und modern
Ichs hinter dem Ich, das vorausgesetzt werden muss, gesprochen: an Ereignisse. Und hier schließt nun die
um das Ich widerspruchsfrei begründen zu können, Theorie ereignisbasierter Systeme an.
in der Sachdimension gelöst – um es in den luhmann- Für die Autopoiesistheorie Luhmanns steht Hus-
schen Begriffen der Sinndimensionen zu formulie- serls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins
ren (vgl. SS, 112 ff.). Hinter dem Ich muss ein Pate. Husserls Analyse der Konstitution des Bewusst-
weiteres Ich lauern, und gelöst werden kann dies nur seinsstromes als das retentional und protentional
dadurch, dass man auf der Sachebene die Suche nach aufeinander bezogene Nacheinander von Bewusst-
weiteren empirischen ›Ichen‹ abbricht und ein tran- seinsereignissen beschreibt einen selbstreferentiellen
szendentales Ich postuliert. Husserl verfährt anders. Prozess von Ereignissen. Und indem Husserls Phä-
Er löst das Problem in der Zeitdimension, nämlich nomenologie die »wirkliche Welt« als »phänomeno-
durch Postulierung eines Dauerzerfalls von Ereignis- logisches Datum« zugunsten des unhintergehbaren
sen, d. h. dadurch, dass auf ein konkretes Jetzt stets Bewusstseins der Welt, also seiner kognitiven Reprä-
ein neues intentionales Jetzt folgt, in dem sich das sentanz ausschließt, ist bereits der Gedanke vorge-
Nacheinander von Ereignissen buchstäblich ereignet. dacht, dass Kognition nicht als asymptotische
Das Bezugsproblem dieses Denkens ist die Frage Annäherung an die Welt aufgefasst werden darf.
der operativen Herstellung von Einheit trotz des Nicht obwohl, sondern weil wir keinen unmittelbaren
Wandels der Perspektiven. Husserls Phänomenolo- Zugang zur Welt haben, müssen wir sie wahrneh-
gie laboriert am Problem der Differenz und strebt men, erkennen, sehen, abbilden, denken etc. Bei
nach Einheit – hier: temporale Differenz des Nachei- Husserl lässt sich am Beispiel des Bewusstseins in der
nanders gegen die Einheit des Bewusstseinsstroms Tat bereits jene Figur des selbstreferentiellen Systems
und damit des Subjekts. Es ist dem phänomenologi- finden, das nicht in seiner Umwelt operieren kann
schen Denken keineswegs nur darum zu tun, die und seine Selbstreferenz durch permanenten Dauer-
sachliche Ebene der Repräsentation der Welt als Phä- zerfall von Ereignissen – also: in der und durch die
nomen zu beschreiben. Also nicht nur eine, heute Zeit – sichert. Das System existiert demnach ontolo-
würde man sagen: kognitivistische Theorieanlage in gisch je nur in seiner operativen Gegenwart und
der Sachdimension ist das Entscheidende. Dies findet muss sich somit je neu – nichts anderes heißt ›auto-
sich letztlich in der gesamten Bewusstseinsphiloso- poietisch‹ – erzeugen. In dem angedeuteten Sinne
phie seit Descartes. Das Besondere an Husserl ist die schließt Luhmann unmittelbar an Husserls Phäno-
Verschiebung des Problems in die Zeitdimension. menologie an.
Hatte die klassische Bewusstseinsphilosophie die Pa- Analog konzipiert Luhmann autopoietische als
radoxie der Selbstkonstitution des Subjekts sachlich temporalisierte Systeme. Zunächst bindet er den Ele-
aufgelöst, geschieht dies hier temporal. Indem die ment-/Ereignisbegriff – gemäß dem konstruktivisti-
eine Urimpression sich selbst intransparent bleibt, schen Theorem der operativen Geschlossenheit – an
wird sie durch die nächste reflexiv wahrgenommen – die Operationen des Systems. Element ist hier nicht
und erzeugt damit eine neue Urimpression und so als unveränderlicher Baustein des Seienden oder als
weiter. Husserls Phänomenologie ist eine Reflexions- invarianter Bestandteil dynamischer Systeme zu ver-
philosophie. Zu sich selbst kommt das Bewusstsein stehen. Im Gegensatz dazu stellt Luhmann von ei-
nur durch Reflexion – durch die nachträgliche Beob- nem den Systemoperationen vorgeordneten Ele-
achtung von Ereignissen, die in der konkreten urim- mentbegriff auf einen systemrelativen Elementbe-
pressionalen Gegenwart nichts von sich wissen griff um. Mit dieser Umstellung beabsichtigt er, »die
können. Dieses revolutionäre Modell ist sehr modern Vorstellung eines letztlich substantiellen, ontologi-
in dem Sinne, dass es die gesamte Operativität späte- schen Charakters der Elemente« in der Weise zu re-
rer systemtheoretischer und operativer Kognitions- vidieren, als deren »Einheit erst durch das System
theorien vorwegnimmt. konstituiert [wird], das ein Element als Element für
Bei der Bestimmung von Zeit ergibt sich deshalb Relationierungen in Anspruch nimmt« (SS, 42). In-
eine Paradoxie, vor der Husserl freilich nicht zurück- dem ein Element als Ereignis wieder verschwindet
16 Grundlagen

und ein neues Ereignis die Autopoiesis fortsetzt, ent- das System an einer Zeitstelle, zugleich ist es mehr als
steht jener Ereignisstrom, der durch Rekurs auf min- es selbst, denn Ereignisse konstituieren sich immer in
destens das vorherige Ereignis Zeit konstituiert, die Relationierungen zu anderen Ereignissen, die sie ge-
einem Beobachter (!) als Zeitstrom erscheint. Dies ist rade nicht sind. Die Paradoxie besteht in einer
jedoch nur eine Metapher, die den Umstand ver- »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (SA5, 100),
deckt, dass der Strom der Zeit letztlich nur durch das da Vergangenheit und Zukunft immer nur gleichzei-
ermöglicht wird, was bei Whitehead oder auch bei tig bestehen, nämlich als Horizonte eines gegenwär-
Aristoteles Zeitschnitt genannt wird und bei Husserl tigen Ereignisses. Die Paradoxie der Zeit besteht also
die Differenz der Jetztpunkte meint; es geht also um in der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten.
eine Differenz, die operativ gehandhabt werden muss Doch dieses Problem löst sich damit auf, dass es
und damit erst die Zeit konstituiert, und nicht um durchaus einen Unterschied macht, zwischen Ereig-
eine vorgängige Einheit des Zeitstroms. Dieser kann nis und System zu unterscheiden. Viel gravierender
nur als Einheit der Differenz von vorher und nachher ist ein anderes Problem, das sich im Zusammenhang
gedacht werden (vgl. SA5, 98). mit Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbe-
Diese Einheit der Differenz als Akt bzw. als Sich- wusstseins stellt, aber im Lichte der Ereignistheorie
Ereignen lässt sich auch im systemtheoretischen und womöglich ganz anders diskutiert werden muss. Ho-
konstruktivistischen Paradigma mit Husserls Theo- listische Modelle von Selbstbewusstsein scheinen ei-
rie der Retention und Protention beschreiben. Luh- nem logischen Kategorienfehler zu unterliegen. Stellt
mann bezeichnet das als »basale Selbstreferenz«, der man von der Auffassung einer Seelensubstanz oder
»die Unterscheidung von Element und Relation zu funktionaler Äquivalente auf empirische Ereignisse
Grunde liegt« (SS, 600). Eine solche Mindestform um, bekommt man Folgendes in den Blick: Selbstre-
von Selbstreferenz bildet die Grundbedingung auto- ferentielle Operationen nehmen notwendigerweise
poietischer Verläufe: Ein Element schließt an ein an- die Form eines Paradoxons an. »Die Referenz verwen-
deres Element an, identifiziert sich durch diese det dann genau die Operation, die das Selbst konsti-
Relationierung als Element des Systems und wird tuiert, und wird unter dieser Bedingung entweder
nach seinem Verschwinden selbst Relatum einer Re- überflüssig oder paradox« (SS, 59). Die Paradoxie be-
lationierung, die wiederum eine neue Gegenwart steht darin, dass die bezeichnende Operation zum
konstituiert. Dadurch wird Zeit schon auf der Ebene Bezeichneten gehört und damit einen Zirkel verur-
der Autopoiesis erzeugt, was nicht weiter erklärungs- sacht, ähnlich dem Reflexionszirkel der Bewusst-
bedürftig zu sein scheint, da diese operative Konsti- seinsphilosophie. Löst man den Zirkel aber dahinge-
tutionstheorie der Zeit bereits von Husserl her hend auf, dass die je gegenwärtige Operation eine –
vorbereitet ist. Da Zeit schon auf der elementaren wie auch immer begründete – ursprüngliche Selbst-
Ebene autopoietischer Operationen durch das Auf- beziehung besitzt, unterstellt man einem operieren-
treten und Verschwinden von Ereignissen konstitu- den System eine invariante Substanz jenseits seiner
iert wird, kann man hier von Ereignistemporalitäten Operationen. Hält man dagegen wie Luhmann am
sprechen. Ereignisbegriff fest, muss das Problem der Referenz
Die Unterscheidung vorher/nachher, die den be- aufs Selbst wiederum mit Hilfe einer Unterscheidung
sagten Zeitschnitt schneidet, kann als grundlegende, beobachtet werden.
»nichteliminierbare Unterscheidung der Zeit« (RuS, Eine solche Unterscheidung ist die zwischen Beob-
106 f.) gelten, ohne die keine Zeithandhabung aus- achtung und Operation (vgl. SA5, 114 ff.; EaK, 222 f.).
kommen kann. Die Handhabung dieser Unterschei- Jede Beobachtung, also das Handhaben einer Unter-
dung ist, genau genommen, mit jedem Ereignis neu scheidung, ist selbst eine Operation des Systems. Die
gegeben, denn Ereignisse treten niemals im »freien explizite Referenz aufs Selbst liegt dann in der Form
Raum« auf, sondern werden durch die Systemauto- einer Selbstbeobachtung vor, d. h. in der Anwendung
poiesis erst konstituiert. Ein Ereignis ist sozusagen der System/Umwelt-Differenz auf sich selbst, die
zugleich constituens und constitutum: Es wird durch ebenfalls eine Operation des Systems ist (SS, 245).
einen autopoietischen Ereigniszusammenhang er- Die Paradoxie der Selbstbezüglichkeit tritt in auto-
möglicht, und es ermöglicht die Fortsetzung dieses poietischen Systemen dann auf, wenn das System die
Geschehens. Während der Ereignisgegenwart ist ein Unterscheidung von System und Umwelt auf sich an-
solches temporalisiertes Element sozusagen das Sys- wendet und sich damit – traditionell formuliert –
tem, was letztlich auf eine bekannte Paradoxie hi- Selbstbewusstsein bescheinigt (vgl. Esposito 1991;
nausläuft. Das Ereignis ist zwar, gegenwartsbasiert, Glanville 1988). Damit ist aber ausgeschlossen, dass
Luhmann und Husserl 17

die selbstbeobachtende Operation selbst in der Beob- ben und deshalb je nur in ein äußerliches Verhältnis,
achtung enthalten ist, denn eine Beobachtung kann in eine letztlich unüberwindbare Differenz zu ande-
nicht in der Lage sein, sich selbst zu beobachten. Luh- ren Systemen treten. Es war diese Tradition, die etwa
mann betont, »daß die Operation des Beobachtens aus der Perspektive von Jürgen Habermas’ Rekon-
sich in ihrem Vollzug nicht selbst […] bezeichnen struktion des Philosophischen Diskurses der Moderne
kann, sondern daß dies voraussetzt, daß nun diese Luhmann als »Nachfolger einer verabschiedeten
Beobachtung ihrerseits beobachtet wird« (WissG, Philosophie« (ebd.) erscheinen lässt, die allenfalls
85). Ein System ist sich sozusagen immer schon vor- die »Selbstbehauptung selbstbezüglicher Systeme«
weg, da es sich nie in seiner Gänze beobachten kann. (ebd., 430) postulieren kann. Vom normativen Hori-
Wir werden letztlich in unserem Bewusstsein von uns zont einer vernünftigen Identität für moderne Ge-
selbst überrascht, weil wir den operativen Akten un- sellschaften sei diese Denkungsart nicht nur weit,
seres Bewusstseins unhintergehbar ausgesetzt sind. sondern sogar kategorial entfernt. Freilich macht
Habermas mit dieser Rekonstruktion aus der Not
eine Untugend. Aus der – wenn man so will – sub-
Eine Theorie der Unentrinnbarkeit jektphilosophischen/systemtheoretischen Beschrei-
bung der Not der Systeme, aus ihrer operativen
Was die Systemtheorie von der Phänomenologie ge- Geschlossenheit nicht ausbrechen zu können, macht
lernt hat, ist die Einsicht in die Radikalität der Gegen- Habermas die Untugend des Vorwurfs, die System-
wartsbasiertheit operativer Theorieformen. Das Be- theorie interessiere sich nur für die funktionalen Be-
sondere bei Husserl ist die radikale Temporalisie- dingungen von Selbsterhaltungsimperativen. Darum
rung, die auf eine Praxis verweist, die für sich selbst geht es der Systemtheorie luhmannscher Prägung
weitgehend unhintergehbar ist, die eben keine Refle- aber gerade nicht, sondern nur um die Frage, wie
xivität hinter den Ereignissen mehr kennt, sondern operativ geschlossene Sozialsysteme sich wechselsei-
nur noch die strenge Immanenz allen Geschehens. tig irritieren, wie sie sich wechselseitig beobachten.
Soziologisch ist das insofern bedeutsam, als sich da- Es interessiert hier, wie Wechselseitigkeit und Koor-
mit eine Theorie der Unentrinnbarkeit zeichnen lässt. dination ohne das quasi-transzendentale Postulat ei-
Es gibt keine Möglichkeit, aus der eigenen Praxis aus- nes Dritten, einer kommunikativen Vernunft oder
zusteigen – was nicht nur die Lust an der theoreti- verständigungsorientierter Potentiale beschreibbar
schen Paradoxie befördern sollte, die man dann und denkbar gemacht werden können.
dekonstruieren kann. Viel interessanter ist die gewis- Luhmanns Antwort könnte lauten: durch Zeit. Die
sermaßen protosoziologische Einsicht, dass sich sozia- Beschreibung der unhintergehbaren Gleichzeitigkeit
le Ereignisketten, das Nacheinander von Handlun- von System und Umwelt und der unhintergehbaren
gen und Kommunikationen, die Anschlussfähigkeit Gegenwärtigkeit von Operationen lässt das Problem
von Ereignissen, praktisch ereignen und an ihre ope- der wechselseitigen Gegebenheit von Systemen unter
rativen Gegenwarten gebunden sind. Die empiri- anderem als Zeitproblem erscheinen. Das nachhalti-
schen Konsequenzen dieser Einsicht sollten nicht ge und empirisch evidente Problem der Unmöglich-
unterschätzt werden: Es sind in der Tat so etwas wie keit der Hervorbringung kausaler Wirkungen in
urimpressionale Gegenwarten, in denen sich Akteure anderen Systemen zwingt ja gerade dazu, den Kon-
vorfinden und durch die sie zu Akteuren konstituiert takt von Systemen untereinander in zeitlichen Ter-
werden. In diesem Sinne ist die Theorie autopoieti- mini zu beschreiben. Wenn es stimmt, dass das
scher Systeme eine phänomenologische Theorie, weil grundlegende Zeitproblem der modernen Gesell-
sie keine Referenz außerhalb der eigenen Praxis und schaft die Synchronisation von Systemprozessen sei
Konstitutionsweise zulässt. (vgl. Nassehi 2008, 299 ff.), dann meint das nicht nur
Luhmanns Theorie autopoietischer Sozialsysteme (eher banale) Probleme der Terminkoordinierung
nimmt in der Tat die »subjektphilosophische Erb- oder etwa der Just-in-time-Produktion. Das Syn-
masse« der Tradition auf, wie Habermas kritisch for- chronisationsproblem verweist vielmehr darauf, dass
muliert hat (Habermas 1985, 426), und zwar in Koordination von Systemgeschichten ohne ein terti-
zweifacher Hinsicht. Zum einen konzipiert sie Syste- um auskommen muss, dass sich soziale Systeme in
me nach dem Reflexionsmodell der Tradition als der Unmittelbarkeit ihrer Gleichzeitigkeit gegeben
operativ geschlossene Einheiten, die je selbst das sub- sind und dass sich deshalb die Moderne als Gesell-
iectum ihrer Welt sind; zum anderen konzipiert sie schaft ohne Spitze und Zentrum darstellt. In diesem
Systeme, die in dieser Geschlossenheit gefangen blei- Sinne rekonstruiert Luhmann in der Tat Figuren der
18 Grundlagen

Tradition. Und diese Tradition gebietet: Wie sich mit Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu
Husserls Phänomenologie allenfalls die Kopräsenz einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden 22008.
–: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der
von Bewusstseinen denken lässt, aber Intersubjekti-
modernen Gesellschaft II. Berlin 2011.
vität (trotz aller Versuche Husserls) unbestimmbar Paul, Axel T.: »Organizing Husserl: On the Phenomenolo-
bleibt, so kann auch Luhmann, wenn man so will, gical Foundations of Luhmann’s Systems Theory«. In:
nur die Kopräsenz sozialer Systeme denken, nicht Journal of Classical Sociology 1. Jg., 3 (2001), 371–394.
aber so etwas wie Intersystemizität. So etwas scheint Armin Nassehi
Habermas ja vorzuschweben, wenn er Luhmann vor-
wirft, soziale Systeme seien dem Modell des erfolgs-
orientierten isolierten Subjekts nachempfunden.
Und exakt das ist es auch, was Luhmanns System-
theorie als Theoriemodell anbietet. Die Frage lautet:
Wie ist soziale Ordnung möglich, wenn soziale Sys-
teme keine andere Operationsweise kennen als dieje-
nige, die ihnen als je systemrelative Operationsweise
zur Verfügung steht? Die Antwort auf diese Frage
vermeidet die – letztlich gescheiterten – husserlschen
Versuche, Intersubjektivität subjektphilosophisch zu
begründen.
Luhmanns Antwort ist gesellschaftstheoretisch.
Die Differenz sozialer Systeme – etwa von Funktions-
systemen, Organisationen oder Interaktionen – fin-
det selbst innerhalb eines sozialen Systems statt, des
Gesellschaftssystems nämlich, dem nichts anderes
übrig bleibt, als die Kopräsenz von Unterschiedli-
chem mit Bordmitteln zu bewältigen. Andere stehen
nicht zur Verfügung. Und am Ende ist gerade das
dann doch wieder eine husserlsche Lösung.

Literatur
Esposito, Elena: »Paradoxien als Unterscheidung von Un-
terscheidungen«. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Lud-
wig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusam-
menbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frank-
furt a. M. 1991, 35–57.
Glanville, Ranulph: Objekte. Berlin 1988.
Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moder-
ne. Frankfurt a. M. 1985.
Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: All-
gemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Hus-
serliana III. Den Haag 1950.
–: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die
phänomenologische Philosophie. Husserliana VI. Den
Haag 1962.
–: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins
(1893–1917). Husserliana X. Den Haag 1966.
–: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phi-
losophie. Hg von Elisabeth Ströker. Hamburg 1977.
–: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbe-
wußtseins [1928]. Tübingen 21980.
Luhmann, Niklas: »Gleichzeitigkeit und Synchronisation«.
In: SA5, 95–130.
19

2. Luhmann und Parsons ziell die Unterscheidung System/Umwelt, und die


Wiederholung der Unterscheidung in Systemen als
Systemdifferenzierung sind die entscheidenden Ant-
Vergleiche zwischen Niklas Luhmann und Talcott worten auf das Problem der Weltkomplexität, da sie
Parsons beginnen immer mit Luhmanns Diktum, die Reduktion von Komplexität ermöglichen. Kurz:
dass die von Parsons vertretene strukturell-funktio- Unterscheidungen, Systeme und Differenzierungen
nale Systemtheorie durch eine funktional-struktu- sind da, weil sie Komplexität reduzieren. Das legt
relle zu ersetzen sei, um über Beschränkungen des nahe, in allem Gegebenen eine Unterscheidung zu
Theoriebaus hinauszugelangen. Statt den Struktur- sehen, die da ist, weil sie Komplexität reduziert. Sie
begriff dem Funktionsbegriff voranzustellen, sei der existiert so lange, wie sie diese Funktion erfüllt und
Funktionsbegriff dem Strukturbegriff vorzuordnen, nicht durch eine andere Unterscheidung abgelöst
so Luhmann in dem zuerst 1967 in der Kölner Zeit- wird, die dieselbe Funktion in anderer Weise erfüllt.
schrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschiene- Die interne Unterscheidung von Systemfunktionen
nen Aufsatz »Soziologie als Theorie sozialer Systeme« bzw. Bestandsproblemen – etwa nach dem Modell
(SA1, 113 f.). In der Luhmann-Rezeption wird dieses von Parsons’ AGIL-Schema die Unterscheidung von
Diktum in der Regel als ein Befreiungsakt betrachtet. Adaptation, Goal Attainment, Integration und La-
Es liegt allerdings ganz auf der Linie von Luhmanns tent Pattern Maintenance – lässt sich dann elegant als
Denken, darauf aufmerksam zu machen, dass ein sol- Unterproblem des übergeordneten Problems der Re-
cher Befreiungsakt auf einer Entscheidung bzw. Un- duktion von Weltkomplexität in den eigenen Theo-
terscheidung beruht, die andere Möglichkeiten des riebau inkorporieren, ohne sich aber darauf festlegen
Theoretisierens ausschließt. Genau auf diese aus der zu müssen. Vielmehr kann das dem alltäglichen Pro-
weiteren Theoriearbeit exkludierte Seite soll im Fol- zess des Unterscheidens bzw. dem Selektionsprozess
genden die Aufmerksamkeit gelenkt werden. der Evolution überlassen werden. In einem Aufsatz
zu Parsons’ AGIL-Schema mit dem Titel »Warum
AGIL?« (1988) schreibt Luhmann deshalb, dass sich
Weltkomplexität als Problem das AGIL-Schema in dem Maße als Analyseinstru-
ment bewährt, in dem sich die Systemdifferenzie-
Luhmann (SA1, 114–116) entscheidet sich dafür, die rung nach dem AGIL-Schema rekursiv im System/
Komplexität der Welt als Problem schlechthin zum Umwelt-Verhältnis herausbildet, sich also als Ant-
Ausgangspunkt der Theoriebildung zu machen. Mit wort auf Weltkomplexität bzw. spezifischer auf Um-
der Einführung der Welt als Bezugspunkt der Theo- weltkomplexität bewährt.
riebildung schließt er an Edmund Husserls Phäno-
menologie und seine Annahme an, dass ›Welt‹
sowohl auf das Unendliche der Möglichkeiten wie Das Problem der Ordnung
auch auf den jeweils nur endlichen Horizont des Er-
lebens verweise (SA1, 115, 131, Fn. 5). Ebenso greift Wie folgenreich Luhmanns Entscheidung für das
er auf Arnold Gehlens philosophische Anthropologie Problem der Weltkomplexität war und wie funda-
zurück. Seine Annahme, dass die Welt sich als Welt- mental ihn diese Entscheidung von Parsons unter-
komplexität und in dieser Hinsicht als Problem dar- schieden hat, kommt sehr klar in der jeweiligen
stelle, für das Systembildung – bzw. in seiner späteren Behandlung des Problems der sozialen Ordnung
Sprache: die Unterscheidung von System und Um- zum Ausdruck, das von beiden auch als Problem der
welt – die Lösung sei, reformuliert – wie Luhmann doppelten Kontingenz beschrieben wird (Parsons
(SA1, 113, Fn. 9) selbst feststellt – Gehlens Erklärung 1968b, 89–94; 1968a; Parsons/Shils 1951a; 1951b).
von sozialen Institutionen durch die Entlastungs- Doppelte Kontingenz heißt, dass Egos Wahl einer
funktion, die sie für den Menschen angesichts seiner Handlung von Alters Wahl abhängt und umgekehrt
mangelnden Instinktsteuerung und Weltoffenheit Alters Wahl von Egos Wahl. Infolgedessen können
erfüllen. beide nur in dem Maße die Erfolgschancen ihres
Luhmanns weitere Theoriearbeit lässt sich besser Handelns berechnen, in dem sie die Wahl des ande-
verstehen, wenn man sich seine Entscheidung für ren kennen. Da diese Kenntnis an die Grenzen der je-
diesen Ausgangspunkt klar vor Augen hält. Das gilt weils eigenen Psyche von Ego und Alter stößt, beide
gerade auch für seine Unterscheidung von Parsons’ als Personen füreinander eine Black Box darstellen,
Theoriebau. Das Treffen von Unterscheidungen, spe- besteht stets die Möglichkeit, dass Ego und Alter fal-
20 Grundlagen

sche Erwartungen übereinander hegen, sich gegen- Qualität zu erfassen. Das bedeutet dann beispielswei-
seitig im Weg stehen, in Konflikt geraten, sich nicht se, die Instabilität einer Ordnung dadurch zu erklä-
verständigen können. Für Parsons ist diese Situation ren, dass sie in eine Kultur mit einem fundamentalen
der Ausgangpunkt für seine normative Lösung des Wertkonflikt, etwa zwischen Freiheit und Gleichheit,
Ordnungsproblems (Münch 1988, 31–44). Das eingebettet ist und es nicht gelungen ist, eine norma-
heißt, dass Ego und Alter nur dann Frustration, Kon- tiv verbindliche Vermittlung zwischen diesen beiden
flikt und Missverstehen in der gegenseitigen Begeg- Werten zu schaffen, die festlegt, wie weit die Wah-
nung überwinden können, wenn sie auf eine rung von Gleichheit die Entfaltung von Freiheit mit
gemeinsame Sprache zur Verständigung zurückgrei- ungleichem Erfolg einschränken soll (vgl. Parsons
fen können, Verteilungsregeln im Konflikt um knap- 1977).
pe Güter und Konventionen im alltäglichen Umgang Luhmann folgt in seiner Auseinandersetzung mit
miteinander finden. Parsons’ ›normativer‹ Lösung des Ordnungspro-
Die Parsons-Folklore hat diesen Bedingungssatz blems nicht der Parsons-Folklore. Ihm ist klar, dass
in eine empirische Aussage umgewandelt, um Par- diese Lösung den Charakter eines Bedingungssatzes
sons vorzuhalten, dass in der Realität oft nur die hat und keineswegs die Behauptung beinhaltet, dass
Macht von Ego über Alter, Interessenkonstellationen, faktisch bestehende Ordnungen immer auf normati-
Belohnung und Bestrafung oder gegenseitiges in- vem Konsens beruhen, und auch nicht, dass Macht
strumentelles Lernen über das Verhalten des anderen und Interessenkonstellationen an der faktischen Ge-
eine Ordnung ohne normative Grundlage entstehen staltung von Ordnungen nicht beteiligt seien. Aber
lassen. Das ist von Parsons allerdings überhaupt auch Luhmann meint, dass man einen Schritt weiter
nicht bestritten worden. Er hat dafür den Begriff der zurückgehen müsse, um zu erklären, wie es über-
faktischen Ordnung verwendet und davon den Be- haupt zur Bewältigung des Problems der doppelten
griff der normativen Ordnung ausdrücklich abge- Kontingenz komme, wobei der Konsens über Nor-
grenzt (Parsons 1937/1968, 91 u. 346 f. u. 753). men für ihn eine mögliche Variante darstellt. Aber
Er meinte aber in der Tat, dass eine rein faktische auch dann, wenn diese Variante auftritt, müsse man
Ordnung auf Dauer nur schwer zu erhalten sein wird, erklären, wie es dazu komme. Luhmann trifft bei die-
weil sie entweder in eine Spirale von Gewalt und Ge- ser Fragestellung 1984 in Soziale Systeme wieder auf
gengewalt oder in eine Spirale des Vertrauensverlus- das Ausgangsproblem von 1967 in »Soziologie als
tes durch Enttäuschung gerät. De facto befinden sich Theorie sozialer Systeme«. ›Doppelte Kontingenz‹
aber auch Ordnungen der Gewalt und des Misstrau- steht jetzt für ›Weltkomplexität‹ und die Antwort auf
ens nicht in einem normativen Vakuum. Sie sind im- das Problem der doppelten Kontingenz ist dieselbe
mer in einen kulturellen Kontext eingebettet, aus wie die Antwort auf das Problem der Weltkomplexi-
dem heraus de facto die Frage der Legitimität gestellt tät, nämlich Systembildung, also das Treffen einer
wird. Die Antwort auf diese Frage kann prinzipiell Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Luh-
wieder in symbolischer Gewalt oder in symboli- mann bezieht sich dabei sehr konkret auf Arbeiten
schem Lernen bestehen. Auch dabei würde man sich von Parsons (1968a, 436; 1968b, 89–94) sowie Par-
auf das beziehen, was Parsons als faktische Ordnung sons und Shils (1951a, 16; 1951b), und er profiliert
bezeichnet hat. darüber sein eigenes Argument, demzufolge es dem
Gewiss sind Legitimationsprozesse nicht frei von Zufall überlassen ist, ob und wie die Unterscheidung
Machtanwendung, Nutzenerwägungen und Lernen zwischen System und Umwelt getroffen wird. Er ge-
durch Belohnung und Bestrafung. Mit Parsons muss steht aber zu, dass doppelte Kontingenz ein »state of
man jedoch daran festhalten, dass Legitimationspro- conditional readiness« (SS, 172) sei, aus dem heraus
zesse nicht zureichend verstanden und erklärt wer- das Unwahrscheinliche wahrscheinlich werde, näm-
den, wenn sie nur auf Macht, Interessen und lich die Systembildung. Hier ist es die Emergenz eines
instrumentelles Lernen zurückgeführt werden. sozialen Systems aus der Interpenetration bzw. wech-
Wenn man Parsons richtig verstehen will, dann muss selseitigen Störung der beiden psychischen Systeme
man betonen, dass bei der Legitimation von Ord- von Ego und Alter. Er wird sogar so konkret, dass er
nungen deren Rückführung auf Normen und Werte sagt, die doppelte Kontingenz werde von Ego und Al-
und eben gerade auch die konflikthafte Auseinander- ter als »unbestimmbar, instabil, unerträglich« erfah-
setzung mit Werten und Normen im Vordergrund ren (ebd.). Deshalb greifen sie nach jedem Strohhalm
steht, es deshalb für die soziologische Analyse darauf der Anschlussmöglichkeit, woraus ein Kommunika-
ankommt, die normative Dimension in ihrer eigenen tionsprozess entsteht, der ein soziales System konsti-
Luhmann und Parsons 21

tuiert. Das muss nicht heißen, dass beide zum Aussichten auf Erfolg geltend machen kann, ist eine
Konsens gelangen. Es genügt, dass sie in Streit gera- Angelegenheit des Rechtssystems« (GG, 630).
ten und auf diese Weise ihre Handlungen und Erwar- Dabei werden leicht Akkumulationseffekte in
tungen aufeinander beziehen. Was im nächsten Gang gesetzt, die systemintern nicht korrigiert wer-
Moment passiert, wird schon dadurch eher wechsel- den können und systemextern nur entweder in ande-
seitig erwartbar als im Zustand der vollkommenen ren Funktionssystemen bearbeitet werden oder ganz
Beliebigkeit. unbearbeitet bleiben und als Irritation, Lärm bzw.
unbewältigter, systemisch nicht bearbeitbarer Rest
mitgeführt werden (GG, 631). Auf der Linie von
Inklusion und Exklusion funktionaler Differenzierung gedacht, könnte daraus
ein Bedarf für die Ausdifferenzierung eines Funkti-
Wie sehr sich genau an diesem Punkt Parsons und onssystems entstehen, das die durch funktionale Dif-
Luhmann unterscheiden, ist sehr klar zu erkennen, ferenzierung erzeugten Exklusionen bearbeitet. Luh-
wenn man Luhmanns Behandlung des Problems von mann (GG, 633 f.) sieht dafür Ansätze in der
Inklusion und Exklusion in seinem 1997 erschiene- Entwicklungshilfe und in der Sozialpolitik, ist sich
nen Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft (GG, aber angesichts der großen Ressourcenabhängigkeit
618–634) mit Parsons’ Analyse von Gleichheit und eines solchen Funktionssystems nicht sicher, ob es so
Ungleichheit in dem zuerst 1970 in Sociological In- weit kommen wird.
quiry veröffentlichten, dann 1977 in Social Systems Ganz anders sieht die Bearbeitung der Problema-
and the Evolution of Action Theory wieder abgedruck- tik von Inklusion und Exklusion bei Parsons (1977)
ten Aufsatz »Equality and Inequality in Modern So- aus. Er hält daran fest, dass die Gesellschaft ein Zen-
ciety, or Social Stratification Revisited« vergleicht trum hat, in dem ihre Ordnung verankert ist, auf das
(Parsons 1977). Für Luhmann bestimmt die auf ei- ihre funktionale Differenzierung rückbezogen bleibt
ner jeweiligen Stufe der Evolution vorherrschende und durch das sie in ihrer Entfaltung auch kontrol-
Form der Differenzierung auch den Modus der In- liert wird. Das kann allerdings wieder nicht als Fak-
klusion und deren – in seinen Augen von Parsons tizität verstanden werden, sondern nur als eine
vernachlässigten – Kehrseite, der Exklusion (vgl. Bedingung dafür, dass das Faktische auch als legitim
auch Stichweh 2005). In segmentär differenzierten gilt. Parsons übernimmt von Thomas H. Marshall
Gesellschaften sind es Familie und Verwandtschaft, (1964) die Beschreibung des schrittweisen Ausbaus
in ständisch differenzierten Gesellschaften ist es der der Inklusion der Bevölkerung in die Gesellschaft in
Stand, in funktional differenzierten Gesellschaften Großbritannien durch zivile Rechte, politische Rech-
sind es die Funktionssysteme. Während Familie/Ver- te und soziale Rechte. Parallel dazu haben die indus-
wandtschaft und Stand für eine Vollinklusion bzw. trielle Revolution, die demokratische Revolution
für eine Exklusion derjenigen gesorgt haben, die von und die Bildungsrevolution eine wachsende Teilhabe
Familie und Verwandtschaft verstoßen wurden oder der Bürger an der Gesellschaft ermöglicht. Und er
keinem Stand angehörten, ist die Inklusion der Indi- sieht Ansätze für eine expressive Revolution in den
viduen in die funktional differenzierte Gesellschaft 1970er Jahren. Man könnte aus heutiger Sicht die
auf die einzelnen Funktionssysteme aufgeteilt. Es Kämpfe um die Anerkennung von Minderheitenkul-
gibt zwar eine Akkumulation von Inklusionsvortei- turen und der damit verbundenen Lebensstile dieser
len und -nachteilen über die einzelnen Funktionssys- expressiven Revolution zurechnen. Durchweg han-
teme hinweg. Daraus leitet sich aber weder ein delt es sich dabei genau um diejenige normative Ent-
Anspruch auf Führung in der Spitze noch ein An- wicklung der Gesellschaft, die er in den Fokus seiner
spruch auf Ausgleich am unteren Ende ab. Es handelt Lösung des Ordnungsproblems gerückt hat. Der
sich dabei nur noch um Koinzidenzen und nicht Schlüsselbegriff dafür ist die gesellschaftliche Ge-
mehr um formative Strukturen einer funktional dif- meinschaft, exemplarisch dargestellt am für ihn am
ferenzierten Gesellschaft. Und weil die Funktionssys- weitesten fortgeschrittenen Beispiel der USA. Darauf
teme allein nach funktionsspezifischem Code und bezieht sich auch seine Studie American Society
Programm inkludieren, wird automatisch alles ex- (2007), die posthum erst im Jahre 2007 publiziert
kludiert, was nicht funktionsspezifisch artikuliert wurde. In seiner Monographie The System of Modern
werden kann: »Ob und wieviel Geld dem Einzelnen Societies kommt der gesellschaftlichen Gemeinschaft
zur Verfügung steht, wird im Wirtschaftssystem ent- eine zentrale Bedeutung zu (Parsons 1971), ebenso in
schieden. Welche Rechtsansprüche man mit welchen dem erwähnten Aufsatz über »Equality and Inequa-
22 Grundlagen

lity in Modern Society« (Parsons 1977). Das Leitbild zelten Ordnung der funktional differenzierten Ge-
dafür ist die nationale, demokratisch verfasste Ge- sellschaft findet eine Grenze in der funktional diffe-
sellschaft von Staatsbürgern, die gleiche Rechte ge- renzierten Weltgesellschaft, in der sich die Funkti-
nießen und in der Aufrechterhaltung dieser Rechte onssysteme nicht mehr in räumliche Grenzen
eine grundlegende solidarische Einheit bilden. In zwingen lassen, so dass gehäuft Exklusion entsteht,
sich ist diese gesellschaftliche Gemeinschaft durch ohne dass es dagegen ausreichende Gegenkräfte
ein hohes Maß des Pluralismus von Gruppenmit- gibt. Das liegt daran, dass die nationalen gesell-
gliedschaften, Werthaltungen und Lebensstilen diffe- schaftlichen Gemeinschaften die räumlich entgrenz-
renziert. Die Integration dieser gesellschaftlichen ten Funktionssysteme nicht mehr unter Kontrolle
Gemeinschaft wird durch sich überschneidende Mit- halten können, eine weltgesellschaftliche Gemein-
gliedschaften in freiwilligen Vereinigungen, durch schaft aber nur schemenhaft erkennbar wird, etwa
Institutionen und Rituale der Staatsbürgerschaft und in den Aktivitäten von Internationalen Nichtregie-
durch ein darauf eingeschworenes Rechtssystem ge- rungsorganisationen (INGOs). Luhmann erkennt ja
währleistet. Eine gemeinsame Sprache erleichtert die selbst, dass die funktionale Differenzierung auf dem
Verständigung untereinander. Niveau der Weltgesellschaft ein Maß an Exklusions-
Die normativ begründete und durch eine vitale problemen erzeugt, das die Frage nach ihrer Lösung
gesellschaftliche Gemeinschaft gepflegte Gleichheit aufwirft. Auf der Linie seines Theorieentwurfs ist
der Staatsbürger steht dabei in einem grundsätzli- das nur durch die weltgesellschaftliche Ausdifferen-
chen Spannungsverhältnis zu den funktionalen Im- zierung eines dafür zuständigen neuen Funktions-
perativen der Wirtschaft, der Politik und der systems denkbar. Er war allerdings selbst skeptisch
professionellen Treuhänderschaft für die Kultur, ins- im Hinblick auf die Chancen eines solchen evolu-
besondere die Wissenschaft. Der Markt fördert wirt- tionären Schritts.
schaftliche Effizienz, erzeugt aber auch Einkom- Für die von Parsons angelegte Theorie stellt sich
mensungleichheit. Die Delegation von Macht an die Frage anders. Es geht für sie um Legitimations-
politische Repräsentanten und Verwaltungen ge- kämpfe im Kontext der modernen westlichen Kultur,
währleistet politische Effektivität, impliziert aber zu- ihres universalistischen Anspruchs und ihrer Kon-
gleich Machtungleichheit. Innerhalb der gesell- frontation mit nichtwestlichen Kulturtraditionen so-
schaftlichen Gemeinschaft ergibt sich aus ungleichen wie um die Rekonstruktion von Solidaritäten im
Beiträgen zum Gemeinwohl ein unterschiedlicher Kontext der Weltgesellschaft. Letzteres bedeutet, dass
Einfluss auf die Konsensbildung, der in einer Rang- erstens nationale Solidaritäten im Kontext der sich
ordnung nach Prestige fixiert wird und in einer Ge- herausbildenden weltgesellschaftlichen Gemein-
meinschaft von an sich Gleichen ein gewisses Maß an schaft und ihres gesteigerten Pluralismus relativiert
zulässiger Ungleichheit mit sich bringt. Grundsätz- werden und dass es zweitens zu einer Neujustierung
lich ergibt sich auch hier als sekundäres Ordnungs- von Binnen- und Außenmoral kommt (Münch 2001;
problem die Ausbalancierung von prinzipieller 2009). Es geht dabei nicht nur um die funktionale
Gleichheit und funktional erforderlicher Ungleich- Differenzierung der Weltgesellschaft, sondern auch
heit. Gelingt es, dann ist das an der Existenz einer le- um den Wandel von Solidarität und Gerechtigkeit
gitimen Ordnung zu erkennen, die Konflikte in und ihre Ausbalancierung mit den funktionalen Im-
normativ geregelte Bahnen lenkt. Gelingt es nicht, perativen. Dieser Wandel und die entsprechenden
dann sind normativ nicht geregelte Konflikte an der symbolischen Kämpfe um die Legitimation der welt-
Tagesordnung. gesellschaftlichen Ordnung sind ja auch tatsächlich
zu beobachten. Das kann mit den begrifflichen In-
strumenten von Parsons’ Gesellschaftstheorie in den
Weltgesellschaft Blick genommen werden, während es in der Perspek-
tive von Luhmanns Systemtheorie aus dem Blick ge-
Man könnte nun in Parsons’ Festhalten an der na- rät. Das spricht dafür, dass sich Luhmann zwar für
tionalen gesellschaftlichen Gemeinschaft als Zen- ein fundamental anderes Theorieprogramm als Par-
trum der funktional differenzierten Gesellschaft sons entschieden hat, damit aber nicht mehr sieht als
und Luhmanns Beobachtung wachsender, unbewäl- Parsons, sondern eben nur anderes. Offensichtlich
tigter Exklusion zwei Seiten ein und derselben Me- kann er etwas nicht sehen, das Relevanz besitzt, wenn
daille sehen. Das parsonssche Modell einer in der man mit Parsons auf der Linie des alteuropäischen
nationalen gesellschaftlichen Gemeinschaft verwur- Denkens bleibt. Zumindest steht eine entsprechende
Luhmann und die Organisationssoziologie 23

Lesart der luhmannschen Texte im Hinblick auf diese 3. Luhmann und die
Fragen noch aus.
Organisationssoziologie
Literatur
Anfänge, Vorläufer, Einflüsse
Luhmann, Niklas: »Soziologie als Theorie sozialer Systeme«
[1960]. In: SA1, 113–136. Luhmann hat wissenschaftlich – nach seiner Zeit als
–: »Talcott Parsons – Zur Zukunft eines Theoriepro- Verwaltungsjurist und einem Zweitstudium der So-
gramms«. In: Zeitschrift für Soziologie 1. Jg., 9 (1980), ziologie u. a. bei Talcott Parsons – als Organisations-
5–17.
–: »Warum AGIL?« In: Kölner Zeitschrift für Soziologie soziologe begonnen. Erste Aufsätze hatten die
und Sozialpsychologie 40. Jg. (1988), 127–139. Administration zum Thema, damals noch beinahe
Marshall, Thomas H.: Class, Citizenship and Social Deve- ein Synonym für Organisation. Auf dem Feld der Or-
lopment. New York 1964. ganisationssoziologie lagen dann auch Luhmanns
Münch, Richard: Theorie des Handelns. Zur Rekonstrukti- erste große Arbeiten, besonders Funktionen und Fol-
on der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim
und Max Weber [1982]. Frankfurt a. M. 1988.
gen formaler Organisation (1964) und Zweckbegriff
–: Offene Räume. Soziale Integration diesseits und jenseits und Systemrationalität (1968).
des Nationalstaats. Frankfurt a. M. 2001. Organisationen, besonders Verwaltungsorganisa-
–: Das Regime des liberalen Kapitalismus. Inklusion und tionen, waren also der Gegenstand, an dem Luh-
Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat. Frankfurt a. M./ mann früh seine von Parsons übernommene Über-
New York 2009.
Parsons, Talcott: »Interaction: Social Interaction«. In: Da-
zeugung ausgearbeitet hat, das Soziale sei ohne einen
vid L. Sills (Hg.): International Encyclopedia of the So- scharfen Blick für Systeme und ihre Funktionserfor-
cial Sciences. Bd. 7. New York 1968a, 429–441. dernisse nicht angemessen zu studieren. Der erste
–: The Structure of Social Action [1937]. New York 1968b. große Organisationstheoretiker, der diese Weichen-
–: The System of Modern Societies. Englewood Cliffs, NJ stellung vornahm, war der von Parsons beeinflusste
1971.
Chester Barnard (1938). Er hatte vorgeschlagen, Or-
–: »Equality and Inequality in Modern Society, or Social
Stratification Revisited« [1970]. In: Ders.: Social Systems ganisationen als kooperative action systems aufzufas-
and the Evolution of Action Theory. New York 1977, sen, und dies schon mit der Konsequenz, für die
321–380. später immer Luhmann in Anspruch genommen
–: American Society: A Theory of the Societal Community. wurde: dass Menschen für die Organisation Umwelt
Hg. von Giuseppe Sciortino. Boulder, CO 2007.
seien. Organisationstheoretisch war Luhmann inso-
– /Shils, Edward A. (Hg.): Toward a General Theory of
Action. Cambridge, MA 1951a. fern zuallererst ein Nachfahre Barnards. Zweitens
– /–: »Values, Motives, and Systems of Action«. In: Parsons/ war er ein Erbe Herbert A. Simons (1945), dessen
Shils 1951a, 45–275 (= 1951b). Rückgriff auf die Systemperspektive – in der üblichen
Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Simon-Rezeption eher unterbetont – von Prewo, Rit-
Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005. sert und Stracke herausgearbeitet wurde (1973; darin
Wenzel, Harald: Die Ordnung des Handelns. Talcott Par-
sons’ Theorie des allgemeinen Handlungssystems. eine instruktive Parsons- und eine frühe Luhmann-
Frankfurt a. M. 1991. Kritik). Von Simon hat Luhmann nicht zuletzt die
Richard Münch Konzepte der Entscheidungsprämissen und -pro-
gramme bezogen. Drittens schließlich hat er viel von
Karl E. Weick gelernt (deutsch 1985), auf den er gern
für rationalitätskritische Einsichten zurückgegriffen
hat, besonders aber, um den Prozesscharakter und
die Zeitverhältnisse von Entscheidungen in Organi-
sationen herauszuarbeiten (ein Stichwort: ›retro-
spective sensemaking‹, vgl. z. B. OuE, 169 u. passim;
PolG, 154).
Bereits das erste Kapitel von Funktionen und Fol-
gen formaler Organisation heißt »Soziale Systeme«
und enthält neben der Insistenz auf dem Funktions-
begriff die Berufung auf Parsons und Barnard. In
Zweckbegriff und Systemrationalität (ZuS, 171 ff.) fin-
den sich sodann erhebliche Anleihen an die moder-
24 Grundlagen

ne, damals unter dem Einfluss von Ludwig von entlastet sind, die Mitglieder zu motivieren (ZuS,
Bertalanffy stark ausgebaute und von der Kybernetik 128 ff.), ist von Gehlen inspiriert. Ohne Edmund
geprägte Systemtheorie (vgl. etwa ZuS, 157 ff.). Eine Husserls Sinnbegriff ist der luhmannsche – mitsamt
›General Systems Theory‹ (Bertalanffy; Boulding) den Konzepten der Verweisungsstruktur und des
schien damals in Reichweite. Organisationstheore- Horizonts – nicht denkbar (vgl. z. B. ZuS, 29, 49,
tisch folgenreich und anschlussfähig war die bereits 176 f. u. 304). Erst von daher werden die Eingrenzung
in Funktionen und Folgen vorgenommene Umstel- des Sozialen auf Kommunikation und die Besonder-
lung des Systemkonzepts vom Ganzes/Teil-Schema heiten so zentraler Konzepte wie ›Kommunikation‹,
auf die Innen/Außen-Differenz und die Differenz ›Erwartung‹ und ›Entscheidung‹ voll verständlich. Es
zwischen System – hier: Organisation – und Umwelt, gab da stets eine Nähe zur Phänomenologie, die
die in Zweckbegriff und Systemrationalität weiterge- manch einem (z. B. Berger 1996) zu weit ging. Luh-
trieben wird (ZuS, 171 ff.). mann diskutiert die Wertimplikationen des Han-
In der in Abbildung 1 wiedergegebenen Übersicht delns (ZuS, 46), aber auch das Phänomen des
von Walter-Busch würde man heute, wenn man im Entscheidens in Organisationen – Stichworte: Zu-
Rahmen der Organisationssoziologie bleibt und sich rechnung, Konstruktion, Entscheidungsfiktionen
auf das Wichtigste beschränkt, die Namen James G. und -mystifikationen (vgl. z. B. OuE, 135; PolG,
March (OuE, passim) und Karl Weick ergänzen, au- 140 ff.) – unter Rekurs auf die Figuren der phänome-
ßerdem die Systemtheorie Ludwig von Bertalanffys nologischen Neutralisierung bzw. Reduktion (zur
und Kenneth E. Bouldings, sodann die Einflüsse Epoché des Entscheidens vgl. etwa SA3, 354). Der
Humberto Maturanas, Francisco J. Varelas und ›Eulenblick‹ Luhmanns auf seine Gegenstände, dis-
Heinz von Foersters auf die konstruktivistische sowie tanziert, staunend, an Indifferenz grenzend, rührt
George Spencer-Browns auf die unterscheidungs- wohl, soweit nicht biografisch bedingt, daher.
und beobachtungstheoretische Auslegung (vgl. nur Luhmann ist mit seiner einschlägigen Rezeptions-
OuE, 123 ff., 227, 304) der luhmannschen Organisa- leistung und der großen, bis zu seinem Tod nicht er-
tionstheorie. lahmten Aufmerksamkeit für Organisationen, diese
so wichtigen und mächtigen Systeme der Moderne,
P. Janet M. Weber E. Durkheim V. Pareto
C. G. Jung
S. Freud abgesehen von James Coleman die Ausnahme unter
M. P. Follet den Autoren großer Theorie.
W. Donham
E. Mayo L. J. Henderson C. Barnard

Die wichtigsten organisationssoziologischen


T. Parsons H. A. Simon Arbeiten
Die organisationssoziologischen Arbeiten Luh-
N. Luhmann
manns lassen sich hier noch nicht einmal erschöp-
Abb. 1: Parsons, Luhmann, Harvards Organisations- fend aufzählen, geschweige denn würdigen. Viele
theoretiker und die Traditionen ›großer sozialwissen- wichtige kleinere Arbeiten, etwa »Der Funktionsbe-
schaftlicher Theorie‹ (Quelle: Walter-Busch 1996, 209) griff in der Verwaltungswissenschaft« (1958) oder
zum »Lob der Routine« (1964), müssen außer Be-
Ferner sollten zumindest zwei Denker nicht außer tracht bleiben, ebenso organisationstheoretisch
Acht bleiben, deren Einfluss auf die Organisations- durchaus relevante Bücher, etwa Macht (1975) und
theorie Luhmanns zwar nicht auf den ersten Blick ins Vertrauen (1989), ferner die Passagen zu Organisa-
Auge springt, aber immer stark geblieben ist: Gehlen tionen in Soziale Systeme (1984), Die Wirtschaft der
und Husserl. Arnold Gehlens Denkfigur der Entlas- Gesellschaft (1988), Das Recht der Gesellschaft (1993),
tung durch Institutionen erlebt ihre systemtheoreti- Die Politik der Gesellschaft (2000), Die Gesellschaft der
sche Wiederkehr und erhebliche Differenzierung in Gesellschaft (1997) u. a.
Luhmanns Formel ›Reduktion von Komplexität‹ Das organisationstheoretische Werk Niklas Luh-
(vgl. etwa ZuS, 184, 349), organisationstheoretisch manns wird aber maßgeblich markiert durch folgen-
u. a. ausbuchstabiert in Gestalt der Unsicherheitsab- de Arbeiten:
sorption als zentraler Funktion von Organisation • Funktionen und Folgen formaler Organisation
(OuE, 183–221). Auch die These der Beitragsmotiva- (1964),
tion, wonach die Zwecke in Organisationen davon • Theorie der Verwaltungswissenschaft (1966),
Luhmann und die Organisationssoziologie 25

• Zweckbegriff und Systemrationalität (1968, Neu- gesamte Band durchzogen von einer Simon-, March-
druck 1973), und Cyert-Rezeption, die besonders aus Simons
• Legitimation durch Verfahren (1969; Neuauflage Konzept der bounded rationality rationalitätskriti-
1975; 4. Auflage mit neuem Epilog 1985), sche Konsequenzen zieht.
• eine Reihe von Aufsätzen zum Komplex ›Organi- Legitimation durch Verfahren ist keine organisati-
sation, Gesellschaft und Entscheidung‹ aus den onssoziologische Arbeit, hat aber mit dem Konzept
Jahren 1975 bis 1984, des Verfahrens eine organisationstheoretische Grun-
• den Aufsatz »Organisation« (1988) und dierung und enthält – nach zwei zentralen Teilen
• das Buch Organisation und Entscheidung (2000). über Gerichts- und über Gesetzgebungsverfahren –
Funktionen und Folgen und Theorie der Verwaltungs- ein kleines Kapitel über »Entscheidungsprozesse in
wissenschaft etablieren bereits die systemtheoreti- der Verwaltung«. Die entscheidende Weichenstel-
sche, entschieden funktionalistische Ausrichtung der lung dieses Werks ist: Verfahren stiften Legitimation
Organisationstheorie, insbesondere die Frage nach nicht, weil sie für gute Gründe, sondern weil sie für
Funktionen und funktionalen Äquivalenten. Das Akzeptanz sorgen. Sie entmutigen und isolieren Wi-
erstgenannte Werk enthält schon für Luhmann zen- derspruch nach der Entscheidung. Sie sind der Lü-
trale Konzepte: generalisierte Verhaltenserwartun- ckenbüßer für gute Gründe, nach denen zu suchen
gen, Erwartungsstruktur, Systemvertrauen, Tren- Luhmann für illusorisch hält. Sie erzeugen einen not-
nung von Teilnahme- und Leistungsmotivation, um wendigen Schein: eben den der Richtigkeit der Ent-
nur einige zu nennen. Beide Bände zeigen Luhmann scheidung. Der Gegensatz zu Habermas (vgl. dessen
als Meister der Verknüpfung von Theorie mit immer triftige Kritik 1994, 573 ff.) könnte deutlicher nicht
wieder überraschenden praxisnahen Einsichten – sein. Noch eher als für Gerichts- und Gesetzgebungs-
etwa in die Funktion des Klatsches oder ›brauchbarer verfahren könnte Luhmanns wiederum extrem kühle
Illegalität‹ in Organisationen. Analyse für Entscheidungsverfahren in Organisatio-
Trotzdem war es erst der Text Zweckbegriff und nen Bedeutung erlangen. Merkwürdigerweise hat
Systemrationalität, zumal seit dessen Neudruck 1973, Luhmann diesen Weg in dem Kapitel über Entschei-
der außerhalb eines engeren Kreises verwaltungs- dungsprozesse in der Verwaltung aber nicht konse-
und organisationssoziologischer Fachleute Aufsehen quent beschritten, sondern postuliert, dass jedenfalls
erregte – zweifellos begünstigt durch die Habermas- »der ausführenden Verwaltung nicht zugleich Funk-
Luhmann-Kontroverse, die seit 1971 das Thema der tionen der Legitimation […] aufgetragen werden
sozialwissenschaftlichen Intelligenz in Deutschland sollten« (LdV, 211; Hervorh. durch den Verf.). Jedoch
geworden war. Das für viele damals Atemberaubende hat Luhmann die für die Legitimationsfrage so ein-
war die radikale, überraschende Frage nach der schlägige neo-institutionalistische Organisationsfor-
Funktion von Zwecken und die daraus resultierende schung mit ihren Konzepten der Rationalitätsmy-
Entthronung (nicht: Abschaffung!) des Zweck- then und -fassaden und der ›Organisation von
begriffs als Grundbegriff der Organisationstheorie. Scheinheiligkeit‹ (Brunsson) gut gekannt und seiner
Das Buch enthält zum Beispiel eine Rezeption der Theorie gern einverleibt.
betriebswirtschaftlichen Organisations-, Entschei- Die organisations- und entscheidungstheoreti-
dungs- und Zielforschung (ZuS, 55 ff. und besonders schen Aufsätze aus den Jahren 1975 bis 1984 (v. a.
106–128, ferner 251 f., 257 u. 322 ff.), die selbst inner- SA3, 335 ff. u. 390 ff.; Luhmann 1984) enthalten Aus-
halb der Betriebswirtschaftslehre bis heute ihresglei- arbeitungen, von denen hier nur die in Soziale Syste-
chen sucht. Das Kapitel über die Theorien der me weiter radikalisierte energische Bindung des
Beitragsmotivation verfolgt radikal den Gedanken Entscheidungs- an den Erwartungsbegriff (SS,
der Trennung von Motivationsstruktur und Ratio- 399 ff.; Luhmann 1984) und die stark forcierte Idee
nalstruktur und interpretiert diese als Mobilitäts- einer Fiktionalität des Phänomens von Entscheidun-
schub für Organisationen, die nun nicht länger an die gen in Organisationen hervorgehoben seien: »Orga-
Motivation ihrer Mitglieder durch Zwecke gebunden nisationen sind insofern soziale Systeme, die sich
sind. Um die Radikalität dieses Gedankens anzudeu- erlauben, menschliches Verhalten so zu behandeln, als
ten: Bei Marx heißt das, was Luhmann hier begrüßt, ob es ein Entscheiden wäre« (SA3, 354; ferner PolG,
›Entfremdung‹. Kühl analysiert Luhmann auch eine 140 ff.; kritisch zur allzu starken Forcierung vgl. Ort-
der Funktionen von Zwecken: Wertneutralisierung mann 2006).
(ZuS, 47). »Der Zweck soll die Mittel heiligen […]. Der Aufsatz »Organisation« hat insofern einen be-
Das ist seine Funktion« (ZuS, 46). Im Übrigen ist der sonderen Stellenwert, als Luhmann darin die inzwi-
26 Grundlagen

schen erfolgte autopoietische Wende erstmals für Organisationen und gesellschaftliche


seine Organisationstheorie fruchtbar macht. Organi- Teilsysteme
sationen bestimmt er nun als autopoietisch geschlos-
sene »Systeme, die aus Entscheidungen bestehen und Eine der Stärken der Organisationssoziologie Luh-
die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, durch die manns ist es, dass sie integraler Bestandteil einer
Entscheidungen, aus denen sie bestehen, selbst anferti- Theorie der Gesellschaft ist, genauer: einer Theorie
gen« (Luhmann 1988, 166): Entscheidungen, ver- des sozialen Systems ›Gesellschaft‹ und näherhin ei-
standen »nicht als ein psychischer Vorgang […], ner Theorie gesellschaftlicher Evolution und Diffe-
sondern als Kommunikation« (ebd.). Um die Steuer- renzierung, die für die Moderne mit der Unterschei-
barkeit von Organisationen ist es daher schlecht be- dung ausdifferenzierter funktionaler Teilsysteme
stellt. Der Begriff der Systemrationalität terminiert in rechnet. Diese Teilsysteme – besonders Wirtschaft,
diesem Beitrag in einer »Laviermaxime« (ebd., 182): Recht, Politik, Wissenschaft, Religion, Erziehung
in der laufenden Justierung des Verhältnisses des Sys- und Gesundheit – sind sämtlich auf Organisati-
tems zu seiner Umwelt durch »Führungswechsel zwi- on(en) angewiesen, ohne dass sich ihre Grenzen mit
schen Redundanz und Varietät« (ebd.), zu dem die den jeweiligen Organisationsgrenzen deckten: Orga-
Organisation befähigt sein müsse. nisationen sind in ihrer Kommunikation nicht wie
Das posthum erschienene Buch Organisation und die Teilsysteme auf ein Kommunikationsmedium –
Entscheidung (2000) muss als summa der lebenslan- Geld oder Macht oder Recht oder Wahrheit etc. – be-
gen Bemühungen Luhmanns um eine seinen hohen schränkt. Aus Luhmanns überaus komplexen Be-
Ansprüchen genügende Organisationstheorie gelten. stimmungen des Verhältnisses von Organisation und
Darin hat die Unterscheidungs- und Beobachtungs- Gesellschaft seien nur diese erwähnt (für Näheres
theorie Spencer-Browns Eingang gefunden. Vieles – vgl. Martens 1997; Lieckweg/Wehrsig 2001; Tacke
etwa der Problemkreis ›Mitgliedschaft und Motivati- 2001; Drepper 2003): Erstens, Organisation sowie die
on‹, auch die von Simon entlehnten Konzepte der erwähnte Trennung von Organisationszwecken und
Entscheidungsprämissen und -programme – findet Mitgliedermotivation betrachtet er als enorme evo-
sich hier in elaborierter Form wieder, in je eigenen lutionäre Schübe. Zweitens, Organisationen und
Kapiteln. So auch das Thema »Unsicherheitsabsorp- Teilsysteme stehen zueinander im Verhältnis rekursi-
tion« und nunmehr eine ausführliche Ausarbeitung ver Konstitution und gegenseitiger Forcierung – und
der »Organisation als autopoietisches System«. Ein im Übrigen struktureller Kopplung. Drittens, weder
Kapitel über dia- und synchronische »Zeitverhältnis- die Gesellschaft noch ihre funktionalen Teilsysteme
se« versammelt die subtilen Reflexionen Luhmanns sind organisierbar, und Organisationen leiden um-
über Gleichzeitigkeit, Zeitbindung, Prozessualität gekehrt an einem Reflexionsdefizit hinsichtlich ge-
und die Rolle des Gedächtnisses. Mit seinen Reflexio- samtgesellschaftlicher und auch teilsystemspezifi-
nen des Phänomens und des Begriffs der Entschei- scher Funktionen.
dung steht er bei aller Entscheidungsorientierung in
der Organisationstheorie, der Politologie, den Wirt-
schaftswissenschaften, besonders auch der Betriebs- Niklas Luhmann: ein kontingenzbewusster
wirtschaftslehre nahezu allein da. Diese Reflexionen Skeptiker
sind immer stärker auf die »Paradoxie des Entschei-
dens« zugelaufen, der nun auch ein eigenes Kapitel Stark war immer Luhmanns Sinn für – und Sorge vor
gewidmet ist. Luhmanns Angebote dazu lauten: Os- – Kontingenz als dem »Midas-Gold der Moderne«
zillation, Paradoxieentfaltung und -verschiebung, (BdM, 94), zumal in der von Parsons übernomme-
Mystifikation. Das ist erfrischend, verglichen mit ra- nen Konstellation doppelter Kontingenz (»Zwei
tionalitätsgläubigen Theorien jedweder Provenienz. black boxes bekommen es […] miteinander zu tun«,
Der Begriff der Systemrationalität ist im Zuge dessen SS, 156). Das radikale Durchdenken der Kontingenz
allerdings immer abstrakter geraten. Postuliert wer- von Entscheidungen (vgl. auch PolG, 140 ff.) mündet
den »eine Temporalisierung von Komplexität«, eine in das Postulat ihrer Paradoxie – wenn sie nötig sind,
»redescription der vorangegangen Entscheidungen« sind sie immer auch anders möglich, aber Entschei-
zwecks Wahrung des Spielraums für eigene Kontin- den als Transformation von Kontingenz bedeutet ein
genz (OuE, 465 f.) sowie eine Oszillationsfähigkeit So-und-nicht-anders. Entscheidend ist insofern Pa-
des Systems. radoxieentfaltung. Im Lichte der Kontingenz, Kom-
plexität, Überfülle der Möglichkeiten und Intranspa-
Luhmann und die Organisationssoziologie 27

renz der Zukunft haben Organisationen vor allem rung zielendes Erkenntnisinteresse schlechte Nach-
diese Funktion: »Die Prämisse von Organisationen richten hat, zumal in Sachen Steuerung und Manage-
ist das Unbekanntsein der Zukunft und der Erfolg ment. Entsprechendes gilt für die Botschaft an
von Organisationen liegt in der Behandlung dieser Juristen: Legitimation durch Verfahren als Entmuti-
Ungewissheit« (OuE, 10). gung von Widerrede, das war vielleicht zu viel an
Mit Skepsis hat er auf den Common Sense ge- Desillusionierung. Im Übrigen mag eine gewisse
blickt, wo immer er ihn antraf: in der verbreiteten Hermetik des luhmannschen Theoriesystems einer
Rationalitätsgläubigkeit, in Entscheidungsmystifika- breiteren Rezeption bisher hinderlich gewesen sein.
tionen, im Vertrauen auf Konsens als sozialwissen- Auf dem engeren Felde der Organisationstheorie
schaftliches Passepartout, auf die Wahrscheinlichkeit weitergeführt wurde Luhmanns Ansatz u. a. von Dirk
gelingender Kommunikation, auf die Möglichkeit Baecker (z. B. 1999), von Thomas Drepper (2003),
der Steuerung komplexer – und autopoietisch ge- von Veronika Tacke (2001) mit dem Sammelband
schlossener! – sozialer Systeme, auf Moral und Werte, über Organisation und gesellschaftliche Differenzie-
ja sogar – man kann die Skepsis auch übertreiben – rung und von Helmut Willke (z. B. 1994), ferner von
auf Alarmsignale wie zum Beispiel »sagenhafte Wil Martens (u. a. 1997; zuletzt 2010, mit Anti-Kritik
Ozonlöcher« (WissG, 654). an Luhmanns Aversion gegen den Handlungsbe-
griff). Roswita Königswieser, Stefan Kühl, Fritz B. Si-
mon und Rudolf Wimmer haben Luhmanns Ansatz
Kritik besonders für eine systemische Organisationsbera-
tung fruchtbar gemacht. In der betriebswirtschaftli-
Als die vier wichtigsten Theorieeigenschaften, an die chen Organisations- und Managementforschung
sich Kritik geheftet hat, nennen Martens und Ort- sind vor allem Georg Schreyögg (schon 1984), Wer-
mann (2006, 455 ff.; Näheres dort): (1) Funktionalis- ner Kirsch (1992) und David Seidl (2005) zu nennen.
mus, Dezisionismus, moralischer Zynismus, (2) das
Postulat der autopoietischen Geschlossenheit von
Organisationen, (3) das Fehlen von Akteuren und Kompakte Einführungen und eine
Praxis und (4) die Fehlanzeige bei der Steuerung und
systematische Darstellung
Kontrolle der Organisationen.
Besonders die Bestimmung, nicht Handlungen, Kompakte Einführungen in Luhmanns Organisati-
sondern Kommunikationen und näherhin Entschei- onstheorie sind die von Martens (1997) und Mar-
dungen (aufgefasst als Kommunikationen) seien die tens/Ortmann (2006). Die Zeitschrift Organization
Elemente von Organisationen, war eine folgenreiche hat ein Sonderheft zu Luhmann mit einer Einfüh-
theoretische Weichenstellung. Die recht spät (explizit rung von Seidl und Becker (2006) publiziert, in der
dann in Luhmann 1988) vorgenommene Zuspitzung sie die unterscheidungstheoretische Auffassung von
des gesamten Organisationsgeschehens auf Entschei- Organisationen betonen. Der von diesen beiden
dungskommunikationen erlaubte überraschende (2005) herausgegebene englischsprachige Sammel-
Einsichten – für die Luhmann indes mit der Ab- oder band enthält eine Einführung von Seidl (21–53), die
Ausblendung der Dimension der Praxis einen hohen sich auf die autopoietische Zuspitzung der Theorie
Preis bezahlt hat. konzentriert.
Sehr lesenswert ist der anlässlich seines Todes von
Bardmann und Baecker (1999) herausgegebene
Rezeption und weiterführende Arbeiten Sammelband mit »Erinnerungen an Niklas Luh-
mann«; darin eine kleine kritische Hommage an den
Man kann nicht sagen, dass Luhmanns Organisati- Organisationssoziologen Luhmann von Ortmann.
onstheorie eine Rezeption seitens der nicht-luh- Eine umfassende, systematische Darstellung gibt
mannianischen organisationswissenschaftlichen Fach- Drepper (2003).
welt erfahren hat, die ihrer Raffinesse, Elaboriertheit,
literarischen Umsicht und gesellschaftstheoretischen
Fundiertheit gerecht geworden wäre. Das ist für die Literatur
betriebswirtschaftliche Organisationsforschung in- Baecker, Dirk: Organisation als System. Aufsätze. Frankfurt
sofern nachvollziehbar, als Luhmann für deren pra- a. M. 1999.
xeologisches, auf Effizienz, im Idealfall auf Optimie- Bardmann, Theodor M./Baecker, Dirk (Hg.): »Gibt es ei-
28 Grundlagen

gentlich den Berliner Zoo noch?« Erinnerungen an Ni- – /Becker, Kai Helge (Hg.): Niklas Luhmann and Organi-
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29

4. Luhmann, die Kybernetik und dieser Problemlage sind u.a Kybernetik, Mathematik,
Biologie, Chaos-, Spiel-, Komplexitäts-, Kommuni-
die Allgemeine Systemtheorie kations- und Automatentheorien, Informatik oder
die Evolutionstheorie beteiligt. Hierzu gehört auch
Niklas Luhmanns Soziologie zielt darauf ab, alle so- das im engeren Rahmen als ›Allgemeine Systemtheo-
zial beobachtbaren Phänomene – also auch sich rie‹ zu bezeichnende Forschungsprogramm des Zoo-
selbst als Theorie – mithilfe eines konsistenten Be- logen Ludwig von Bertalanffy aus den Jahren
griffsapparates beschreiben zu können. Dieser super- zwischen 1930 und 1960. Seine maßgebliche Aufsatz-
theoretische Universalismus ist indes nicht unbe- sammlung General System Theory erschien 1968 und
dingt Kennzeichen der akademischen Soziologie, die sollte prägend werden für die Systemtheorie im All-
sich eher auf empirische Sozialforschung oder dort, gemeinen und für Luhmanns soziologische System-
wo es doch um Theorie geht, auf die Exegese klassi- theorie im Besonderen.
scher Texte konzentriert (SS, 7). Luhmann beklagt Im Zuge der Frage nach Ordnung, Verhalten und
denn auch, dass die Soziologie in einer »Theoriekri- Umweltkontakt musste zuerst grundsätzlich geklärt
se« stecke (ebd.), der er mit seinem »Grundriß einer werden, was denn als eine geordnete Einheit zu be-
allgemeinen Theorie« (so der Untertitel seines theo- schreiben ist. Bertalanffy sah sich als Zoologe mit der
retischen Hauptwerks Soziale Systeme (1984)) begeg- Schwierigkeit konfrontiert, dass die Physik analy-
nen möchte. Wenn alles beobachtet werden soll, tisch Einzelelemente isolierte und deduktiv deren je-
braucht es eine allgemeine Theorie, die von konkre- weilige Besonderheiten beschrieb sowie von einem
tistischen Spezialdiskursen, ausgewählten Themen linearen Kausalitätsprinzip ausging, dass es jedoch
und der Heterogenität ihres Phänomenbereichs ab- gleichzeitig auch Phänomene gab, die sich eben nicht
sieht. Bei den Klassikern der Soziologie findet Luh- solchermaßen analysieren, also teilen ließen. Orga-
mann diesbezüglich wenig Vorarbeiten (nur bei Max nismen (Biologie) und andere »hochgradig interak-
Weber und Talcott Parsons) und so wendet er sich tive Kollektive« (de Zeeuw 2005, 146) wie beispiels-
Ideen zu, die nicht explizit soziologisch orientiert weise Gesellschaften (Soziologie) waren zu komplex
sind, die aber mit ihrem allgemeinen und transdis- für derartige analytische Beschreibungen: »Im Un-
ziplinären Theoriedesign abstrakt und formal genug terschied zu Erdnussbutter kann man Kühe nicht in
sind, um »der Soziologie das Fundament einer dis- Teile schneiden, die selbst (kleine) Kühe sind« (ebd.,
ziplinenweiten allgemeinen Theorie« geben zu kön- 150). Diese Schwierigkeit führte dazu, dass Berta-
nen (Kneer/Nassehi 2000, 9). Luhmann versucht lanffy seinen Blick abwandte von der Untersuchung
also, eine transdisziplinäre und zugleich »fachein- isolierter Elemente hin zur Erforschung des Zusam-
heitliche[] Theorie« der Soziologie (SS, 7) mithilfe menhangs der Elemente untereinander. Komplexe
fachfremder Theoriekonzepte zu formulieren. Zu Phänomene wie Organismen und Gesellschaften
diesen Theoriekonzepten zählen vor allem die hus- werden als Verbünde verstanden, die sich durch die
serlsche Phänomenologie, der Formenkalkül Spen- Relation ihrer Elemente konstituieren und diese
cer-Browns, die Allgemeine Systemtheorie und die Nichtisolierbarkeit der Elemente wird mit dem Be-
Kybernetik. griff ›System‹ belegt. Das Forschungsziel ist hierbei,
den »Paradigmenwechsel vom Einzelphänomen zum
System« zu vollziehen und »also zur Vernetzung von
Allgemeine Systemtheorie: Relation, Muster, Einzelphänomenen« zu gelangen (Kneer/Nassehi
Differenz 2000, 19).
Von ›System‹ ist dann die Rede, wenn Elemente
In einem größeren Rahmen wird mit ›Systemtheorie‹ geordnet zusammengestellt sind, es gibt somit keine
ein seit den 1930er Jahren prominentes Problem be- ungeordneten Systeme. In einem weiteren Schritt
zeichnet: Wie sind Einheiten – Maschinen, Organis- baut diese Systemordnung auf Wechselbeziehungen,
men, Nervensysteme, Menschen, Personen, Interak- also auf »reziproken Vernetzungsbedingungen« auf
tionen, Gedanken, Betriebe, Gesellschaften – geord- (ebd., 21; Bertalanffy 1968, 38), sie ist also nicht line-
net und wie verhalten sie sich im Kontakt mit einer ar kausal, sondern rekursiv kausal. Die Reziprozität
Umwelt, »die ihrerseits nicht determiniert, welche der Elementrelationen ist dabei keine materielle oder
Ordnung möglich ist, sondern Probleme stellt, die inhaltliche, sondern ausschließlich eine »strukturelle
[…] immer wieder neu, prekär und vorläufig zu lö- Gemeinsamkeit« der Systeme (Kneer/Nassehi 2000,
sen sind« (Baecker 2005b, 9). An der Beschreibung 20). Im Hinblick auf den für die Systemtheorie wich-
30 Grundlagen

tigen Begriff der ›Komplexität‹ lässt sich ein System kommt zu keinen Input-Output-Verhältnissen (Ber-
als ›organisierte Komplexität‹ (Bertalanffy 1956) und talanffy 1951, 122). Ein ›offenes System‹ ist hingegen
damit als Ergebnis einer »doppelte[n] Negation« zeitabhängig, es nimmt Zustände vorübergehend
(Willke 2005, 307, vgl. 314 f.) bestimmen: Es unter- ein, erreicht also »einen stationären Zustand der Ho-
scheidet sich sowohl von (reiner) Entropie als auch möostase« (Kneer/Nassehi 2000, 22) und verändert
von einem Zustand der Hyperordnung. Ein System sich dann wieder. Damit ist es dynamisch und um-
ist weder über- noch unterkomplex. weltoffen; es kommt zu Input-Output-Konstellatio-
Um der in diesem Systembegriff lauernden Gefahr nen, die die Struktur des Systems verändern.
des »Elementarismus« (Clam 2005, 260), also einer Änderungen der Elementrelationen durch Aus-
»Bauklötzchenwelt mit sich identischer und dann tausch, Wegfall und Neukonstituierung von Elemen-
nur noch zu addierender und miteinander zu inte- ten werden von offenen Systemen genutzt, um sich
grierender Elemente« zu entgehen (Baecker 2005b, von der Umwelt zu unterscheiden und damit zu er-
13), wird des Weiteren ein System nicht schlicht als halten. Bertalanffy spricht hier von einem »Fließ-
»die bloße Relation eines Elementes mit einem ande- gleichgewicht« (Bertalanffy 1951, 122). Im Zuge der
ren […], sondern […] als Gesamtheit der wechsel- Austauschprozesse mit der Umwelt kommt es zur
seitigen Relationen« (Kneer/Nassehi 2000, 20) defi- Etablierung einer das System fortifizierenden eigen-
niert. Es geht um eine Architektur bzw. Logik der logischen Struktur. Input-Output-Verhältnisse wer-
Vernetzung, in der die »Organisationsform« (ebd., den schon sehr früh von der Allgemeinen System-
21) des Relationierens im Mittelpunkt steht. Solcher- theorie nicht als Determinationsverhältnisse ge-
maßen kommen die »Muster ihrer funktionellen dacht. Nicht die Umwelt bestimmt, wie sich das
Koppelung« (Simon 2007, 16), also emergente Ord- System zu verhalten habe, vielmehr wird davon aus-
nungen in den Blick. Das System lässt sich nicht auf gegangen, dass es zwar einen Umweltinput in das
die Eigenschaften seiner Elemente zurückführen, es System gibt (noise), dass aber das System diesen In-
ist immer mehr und immer etwas anderes als die put auf der Grundlage seiner internen Organisation
Summe seiner Teile. Es lässt sich daher auch nicht strikt eigenlogisch verarbeitet und selbstkonditio-
mehr in einzelne Teile, die addierbar sind, dekompo- nierte Strukturen (order) ausbildet (›Order-from-
nieren, weil das System nicht aus Teilen, sondern aus noise-Prinzip‹ und ›Selbstorganisation‹). Diese spe-
Relationierungsmustern besteht. zifische Konzipierung des Input-Output-Verhältnis-
Schon vor der Orientierung am spencer- ses führte zur Einführung des Begriffs ›Black Box‹:
brownschen Formenkalkül wurde mithilfe der Un- »Man kann sehen, was in ein offenes System als Input
terscheidung System/Umwelt differenztheoretisches eingeht, man kann sehen, was das offene System als
Denken systemtheoretisch grundlegend. Ein System Output entläßt, man kann aber nicht sehen, wie es
kann zwar als geordnetes Netzwerk von Wechselbe- das Verhältnis von Input und Output organisiert.
ziehungen seiner Elemente definiert werden, aller- […] Man muß dann konzedieren, daß es nicht der
dings nur, wenn es sich im Zuge dessen von etwas Input ist, der den Output eindeutig determiniert,
unterscheidet, was es nicht ist. Dies bedeutet somit: sondern daß sich das System, hier die Black Box,
»Abgrenzung […] erfolgt über Ordnung« (Krieger selbst determiniert« (Kneer/Nassehi 2000, 22 f.). Das
1998, 12) und ebenso: Ordnung erfolgt über Abgren- entscheidende Problem ist dann, das dynamische
zung. Und die wichtige Frage lautet dann: Wie muss und instabile Verhältnis von Stabilität qua Selbstkon-
ein System geordnet sein, damit es seine Grenzen zu ditionierung einerseits und Veränderung qua Um-
dem, was es nicht ist, aufrechterhalten und stabilisie- welteinfluss andererseits zu beschreiben. Um dieses
ren kann, wie muss es geordnet sein, damit es sich Problem handhaben zu können, sind neben dem Be-
nicht in seiner Umwelt auflöst (Baecker 2005b, 10)? griff ›Black Box‹ weitere Konzepte formuliert wor-
Bertalanffy hat u. a. mit der Unterscheidung offe- den: u. a. ›Selbstorganisation‹, ›Autopoiesis‹, ›opera-
ne/geschlossene Systeme gearbeitet, um diesen Pro- tive Schließung‹, ›strukturelle Kopplung‹.
blemkomplex bewältigen zu können. Ein ›geschlos-
senes System‹ erreicht einen dauerhaften gleichge-
wichtigen Zustand. Es ist »homöostatisch, also Kybernetik: Abstraktion, Form, Beobachtung
binnenstabil« (Kneer/Nassehi 2000, 21) und damit
zeitunabhängig und völlig selbstgenügsam. Die Um- Der zweite große Anlehnungsdiskurs Luhmanns im
welt kann auf das System keinerlei Einfluss ausüben, Zuge der Entwicklung einer allgemeinen Theorie ist
das geschlossene System ist undurchlässig und es die Kybernetik. Sie entwickelte sich seit den späten
Luhmann, die Kybernetik und die Allgemeine Systemtheorie 31

1940er Jahren durch die Arbeiten ihrer Pioniere Nor- des Fragens implementiert, sie verschiebt die Form
bert Wiener und W. Ross Ashby und vor allem im des Argumentierens von der Ontologie auf die Onto-
Zuge der legendären Macy-Konferenzen (1949–55) genetik als der Frage nach dem »Entstehen[] von Sei-
in New York, auf denen das »Verständnis zirkulär ge- endem« (Baecker 2005b, 13 f.; 2005c, 55). Der
schlossener und rückgekoppelter Mechanismen in Kybernetik geht es nicht darum, was ein Ding ist,
lebenden, neuronalen und sozialen Systemen« im sondern darum, was es tut und wie es dies tut. Es geht
Mittelpunkt stand (Baecker 1993, 17; Pias 2003). Bis »nicht um Gegenstände, sondern um Verhaltenswei-
in die frühen 1980er Jahre hinein blieb sie ein ein sen« (Ashby 1974, 15). Es geht also darum, die Rela-
wichtiger wissenschaftstheoretischer Diskurs. tion von möglichem und tatsächlichem Verhalten zu
Die Kybernetik war an der Etablierung einer koordinieren, ohne wissen zu müssen, wie die Welt
transdisziplinären und allgemeinen Theorie sowie tatsächlich beschaffen ist (Baecker 2005d, 27). Die
systemischen Epistemologie beteiligt und als formale Kybernetik fragt also, wie sich Systeme (Selbstrefe-
Theorie ›zirkulär geschlossener und rückgekoppelter renz) im Umweltkontakt (Fremdreferenz) selbst re-
Mechanismen‹ ist sie das Produkt eines multidiszi- gulieren, wie sie sich selbst reproduzieren, wie sie
plinären Zusammenschlusses von Ingenieurswissen- selbstkonditionierte Strukturen entwickeln, wie sie
schaften, Mathematik, Informatik, Neurowissen- dabei lernen und Informationen generieren, wie sie
schaften, Psychiatrie, Physik, Biologie, Ethnographie evoluieren und wie sie dabei ihre Identität behalten
und Kommunikationswissenschaften. In diesem (Pask 1961). Damit impliziert die ontogenetische
Kontext etablierte sich die Kybernetik als Versuch, Fragestellung auch, dass Stabilität und Identität dy-
eine wissenschaftlich neutrale Sprache zu finden, die namisch und prozessual gedacht werden müssen; sie
jenseits der festgefahrenen Grenzen von Natur-, In- beruhen auf permanenten Veränderungen. Wie et-
genieurs- und Geisteswissenschaften vor einseitigen was inmitten von unentwegtem Wandel stabil und
ideologischen Instrumentalisierungen sowie diszi- identisch bleiben und dennoch evoluieren kann, ist
plinären Vereinnahmungen sicher sein sollte. Solch denn auch eine der wichtigsten kybernetischen Fra-
eine neutrale Sprache musste alles beschreiben kön- gen.
nen. Dies konnte sie nur, indem sie zum einen for- Auch die Kybernetik arbeitet mit der Unterschei-
malisiert wurde und indem sie zum anderen ein dung von Element und Relation, bedient sich eben-
transdisziplinär gültiges Set an übergreifenden Be- falls einer Konzeption von Netzwerk und zirkulärer
griffen und Konzepten entwickelte: Information, Kausalität und platziert in die Position ihres Beob-
Kontrolle, Steuerung, Regelung, Relation und Kom- achtungsobjekts ein solchermaßen konstituiertes
munikation. Mit seiner Hilfe war es möglich, hetero- System. Alle systemischen Prinzipien finden sich so-
gene Systeme − Maschinen, Organismen, soziale und mit auf der Objektebene. Der Beobachter und sein
psychische Systeme − auf Analogien hin zu untersu- Beobachtungsobjekt stehen sich analog zur klassi-
chen. Indem sie von den spezifischen Eigenschaften schen Subjekt-Objekt-Konstellation kategorial ge-
und Inhalten der jeweiligen Systeme, ihrer stofflich- genüber, d. h., dass »Aussagen über einen zu beob-
materiell-energetischen Verschiedenheit und Mor- achtenden Gegenstand […] unabhängig vom kon-
phologie abstrahiert – »[d]ie Art der Materie ist […] kreten Beobachter und seinen Bedingungen sein
irrelevant« (Ashby 1974, 16; Wiener 1961) –, richtet [sollen]. […] Der Gegenstand wird isoliert, nur dass
die Kybernetik ihren Fokus auf gemeinsame Schema- nun das ›Objekt‹ der Erkenntnis ein ›System‹ ist« (Si-
ta und die Isomorphie von Bauplänen (Wiener 1961, mon 2007, 41). Die Kybernetik hat diese nichtsyste-
15), wobei Zirkularität, Feed-Back und Rekursion als mische Betrachtung von Systemen selbstkritisch
maßgebliche Vergleichsgrößen sichtbar werden. Im hinterfragt und eine eminent wichtige Neubeschrei-
Zuge einer »Abstrahierung vom Konkreten« sollte bung des Verhältnisses von Objekt- und Metaebene
Vergleichbarkeit trotz Differenzialität sichergestellt geliefert: Ein System ist die Gesamtheit der wechsel-
werden (Hagner 2008, 55; Wiener 1961, 14; Ashby seitigen Relationen in einem Netzwerk zu dem auch
1974). Es geht letztlich darum, eine für heterogene der Beobachter dieses Netzwerks gehört. System und
Systeme »gleichermaßen gültige Theorie der Struk- Beobachter bilden zusammen das System, das beob-
turbildung[,] […] Selbststeuerung«, Selbstorganisa- achtet wird. Für diese explizite Involvierung des Be-
tion und Selbstkonditionierung zu entwerfen (Ell- obachters zeichnet epistemologisch elaboriert die
rich 2009, 29; vgl. Grizelj 2011). Kybernetik zweiter Ordnung (Foerster, Glanville)
Entscheidend ist, dass die Kybernetik, im Ver- verantwortlich (auch wenn sich erste Umrisse bereits
gleich zur klassischen Philosophie, eine andere Art bei Ashby und seiner Konzipierung der Black Box
32 Grundlagen

(Ashby 1974, 165) abzeichnen). Im Rahmen dieser Welt« (ebd., 296) und damit ist nicht die Realität der
Neubeschreibung geht es um die Entdeckung des Be- Welt, sondern die »Reflexivität der Beobachtung«
obachtens und nicht um die Entdeckungen des Beob- (ebd., 293) relevant. Diese epistemologische Position
achters, also nicht um das, was er entdeckt/ bindet die Kybernetik zweiter Ordnung sehr eng an
konstruiert hat: »Die Erforschung der Steuerung und die Epistemologie des Konstruktivismus (Foerster ist
Regelung des Verhaltens von Systemen, die von ihrer in diesem Sinne beides, Kybernetiker und Konstruk-
Umwelt und vom Beobachter isoliert sind, wurde tivist (Foerster 1981, 1993b u. 2003)).
von Norbert Wiener (1948) auf den Namen ›Kyber-
netik‹ getauft. Die Erforschung der Steuerung und
Regelung des Verhaltens in den übergeordneten Sys- Abstraktionsgewinne: Luhmann
temen, die entstehen, wenn man den Beobachter mit
einschließt (d. h. der Systeme, die aus beobachtetem Allgemeine Systemtheorie und Kybernetik haben in
System plus Beobachter bestehen), wurde analog der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Im-
dazu von Heinz von Foerster (1974) mit dem Namen pulse geliefert und eine Vielzahl von wichtigen Pro-
›Kybernetik der Kybernetik‹ versehen« (Simon 2007, blemstellungen, Begriffsbildungen, Konzepten, Me-
41). thoden- und Theoriefragen interdisziplinär zur
Der Übergang von der Kybernetik erster Ordnung Verfügung gestellt. Sie befanden sich von Beginn an
zur Kybernetik zweiter Ordnung wird am mittlerwei- in einem engen Dialog. Probleme der Reproduktion,
le berühmten Thermostat-Beispiel sichtbar. Die Ky- der Verhaltenskoordination, der Struktur und Orga-
bernetik zweiter Ordnung argumentiert, dass sich nisation, der Funktion und Differenzierung, der Evo-
hier Kontrolliertes (Heizung) und Kontrolleur lution und Adaption, der Stabilität und Dynamik,
(Thermostat) wechselseitig kontrollieren und dass der Prozessualität und Identität, der Kommunikati-
durch diese wechselseitige Kontrolle die klare Unter- on und Information, der Freiheit und Beschränkung
scheidung zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem wurden von der Allgemeinen Systemtheorie und der
unmöglich wird. An die Stelle der klaren Unterschei- Kybernetik in wechselseitiger Inbezugnahme kon-
dung tritt eine »Kontrolle der Kontrolle« (Esposito trovers und produktiv diskutiert. Luhmann hat an
2005, 295). Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass diesem Diskurs mit seiner soziologischen System-
sowohl die Etablierung als auch die Dekonstruktion theorie intensiv partizipiert und direkt Modelle,
der Unterscheidung Kontrolliertes/Kontrolleur Zu- Konzepte und Begriffe übernommen und variiert:
schreibungsphänomene sind. Ein Beobachter beob- Code, Information, Kommunikation, Komplexität,
achtet ein Verhalten und markiert dann retroaktiv Ordnung, Struktur, Stabilität, Veränderung, Prozes-
eine Position als Kontrolliertes und die andere als sualität, Rekursion, Rückkopplung, Emergenz,
Kontrolleur (Glanville 1988, 205); somit ist auch das Selbstreferenz, Autopoiesis, Element/Relation, ope-
Konzept der ›Kontrolle der Kontrolle‹ ein Epiphäno- rative Geschlossenheit, strukturelle Kopplung und
men des Beobachtungsprozesses und die sich daraus Beobachtung sind maßgebliche Konzepte der luh-
ergebenden »Bindungen sind keine a priori gegebe- mannschen Systemtheorie. Auch Luhmann ging es
nen Daten, sondern a posteriori [von einem Beob- um die für die Allgemeine Systemtheorie und Kyber-
achter] erschlossene Folgen« (Esposito 2005, 295). netik entscheidende Frage, wie Konditionierungen
Mit der Kybernetik zweiter Ordnung wird »Beob- nicht-beliebige Zusammenhänge festlegen, wie sich
achtung […] als Letzt- oder Leitbegriff, der immer so Strukturen ausbilden und wie es zu beschränkten
vorausgesetzt ist«, verstanden (Fuchs 2004, 11) und Spielräumen und beschränkten Kombinationsmög-
so lässt sich von einer Super-Epistemität des Beobach- lichkeiten und dabei dennoch zu Variation und Ver-
tungsbegriffs sprechen. Die beiden Grundformeln änderung kommt (GG, 230). Als ein entscheidendes
lauten: »Alles, was gesagt wird, wird von einem Be- Konzept übernimmt Luhmann von der Kybernetik
obachter gesagt« (Maturana 2002, 24) und: »Alles die ›Prozessualität‹, weil ein System als stabile Insta-
Gesagte wird zu einem Beobachter gesagt« (Foerster bilität bzw. als dynamische Stabilität bezeichnet wer-
1993a, 85). Alle Qualitäten und Eigenschaften der den kann, die sich permanent ereignishaft von
Dinge, Objekte, Systeme usw. sind somit nicht die Moment zu Moment reproduzieren, also identifizie-
Qualitäten und Eigenschaften der Dinge, Objekte ren und verändern muss.
und Systeme, sondern diejenigen ihrer Beschreibung Luhmann greift von der Allgemeinen Systemtheo-
durch den sie beobachtenden Beobachter (Esposito rie und der Kybernetik (auch in seiner Auseinander-
2005, 298), radikaler gefasst: »Der Beobachter ist die setzung mit Talcott Parsons) den Systembegriff auf.
Luhmann, die Kybernetik und die Allgemeine Systemtheorie 33

Entscheidend ist, dass er dabei auch deren interne 13). Luhmann geht es vielmehr darum, durch Ab-
Paradigmenwechsel mitvollzieht. So konzipiert er in straktion potentiell alle tatsächlich und empirisch in
Auseinandersetzung mit Bertalanffy (soziale) Syste- der Welt stattfindende Operationen beschreibbar
me nicht als offene, sondern als autopoietische, ope- machen zu können. Abstraktion wird nicht zuguns-
rativ geschlossene, rekursiv selbstreferentielle Syste- ten der Theorie, sondern zugunsten der Beobach-
me (Maturana, Varela): »Die (inzwischen klassische) tung der Welt, in der es auch Theorie gibt, eingesetzt.
Unterscheidung von ›geschlossenen‹ und ›offenen‹
Systemen wird ersetzt durch die Frage, wie selbstre-
ferentielle Geschlossenheit Offenheit erzeugen kön-
Literatur
ne« (SS, 25). Ebenso übernimmt er die kyberneti-
schen Konzepte Element/Relation, Kontrolle und Ashby, W. Ross: Einführung in die Kybernetik. Frankfurt
Steuerung (Wiener, Ashby), überführt sie aber im a. M. 1974 (engl. 1956).
Zuge der Kybernetik zweiter Ordnung (Foerster, Baecker, Dirk: »Kybernetik zweiter Ordnung«. In: Foerster
1993b, 17–23.
Glanville) in eine Logik der prozessual rekursiven – (Hg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie. Wiesbaden
Selbststeuerung der Systeme, die statt auf »Design 2005a.
und Kontrolle« auf »Autonomie und Umweltsensibi- –: »Einleitung«. In: Baecker 2005a, 9–19 (= 2005b).
lität«, statt auf »Planung« auf »Evolution« und statt –: »Die Umwelt als Element des Systems«. In: Baecker
auf »strukturelle« auf »dynamische Stabilität« ausge- 2005a, 55–63 (= 2005c).
–: Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt a. M.
richtet ist (SS, 27). Dies führt dazu, dass Luhmann äl- 2005d.
tere Systemkonzepte, vor allem das prominente Bertalanffy, Ludwig von: »Zu einer allgemeinen Systemleh-
Konzept von Ganzheiten und Teilen, aber auch das re«. In: Biologia Generalis. Archiv für die allgemeinen
von Zentrum und Peripherie, zugunsten der nun Fragen der Lebensforschung 19. Jg. (1951), 114–129.
maßgeblichen Unterscheidung System/Umwelt ver- –: »General System Theory«. In: Ders./Anatol Rapoport
(Hg.): General Systems. Yearbook of the Society for the
abschiedet. Diese Verabschiedung geht auch mit ei- Advancement of General Systems Theory. Bd. 1. Ann Ar-
nem grundsätzlichen epistemologischen und theore- bor, MI 1956, 1–10.
tischen Umbau einher: »Für die Ausarbeitung einer –: General System Theory. Foundations, Development, Ap-
Theorie selbstreferentieller Systeme, die die System/ plications. New York 1968.
Umwelt-Theorie in sich aufnimmt, ist eine neue Leit- Clam, Jean: »Die Zentralität des Paradoxen«. In: Baecker
2005a, 253–265.
differenz, also ein neues Paradigma erforderlich.
Ellrich, Lutz: »Die Ideologie der Kybernetik«. In: Hans Es-
Hierfür bietet sich die Differenz von Identität und Dif- selborn (Hg.): Ordnung und Kontingenz. Das kyberne-
ferenz an. Denn Selbstreferenz kann in den aktuellen tische Modell in den Künsten. Würzburg 2009, 28–42.
Operationen des Systems nur realisiert werden, wenn Esposito, Elena: »Die Beobachtung der Kybernetik«. In:
ein Selbst (sei es als Element, als Prozeß oder als Sys- Baecker 2005a, 291–302.
Foerster, Heinz von (Hg.): Cybernetics of Cybernetics or
tem) durch es selbst identifiziert und gegen anderes
The Control of Control and The Communication of
different gesetzt werden kann. […] Reproduktion ist Communication. Urbana, IL 1974.
das Handhaben dieser Differenz« (SS, 26 f.). Diese –: Observing Systems. Seaside, CA 1981.
differenztheoretische Wendung der Systemtheorie –: KybernEthik. Berlin 1993a.
bleibt bestimmend bis hin zu Luhmanns letzten Ar- –: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Hg. von
beiten und ist kompatibel mit der intensiven Ausei- Siegfried J. Schmidt. Frankfurt a. M. 1993b.
–: Understanding Understanding. Essays on Cybernetics
nandersetzung mit dem Formenkalkül George Spen- and Cognition. New York 2003.
cer-Browns. Auch die Überführung der Epistemolo- Fuchs, Peter: Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Unter-
gie des Beobachteten in eine konstruktivistisch- suchungen. Weilerswist 2004.
kybernetische Epistemologie des Beobachtens (sensu Glanville, Ranulph: Objekte. Hg. und übers. von Dirk Bae-
Foerster) ist ein Grundpfeiler des luhmannschen cker. Berlin 1988.
Grizelj, Mario: »(Fehl)Lektüren der Kybernetik«. In: Ders./
Denkens. Oliver Jahraus (Hg.): Theorietheorie. Wider die Theorie-
Luhmann baut also auf »Abstraktionsgewinne[n] müdigkeit in den Geisteswissenschaften. München 2011,
und Begriffsbildungerfahrungen« der Allgemeinen 111–134.
Systemtheorie und Kybernetik auf (SS, 28), jedoch Hagner, Michael: »Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als
nicht, um sich einem Formalismus zu verschreiben, Universalwissenschaft«. In: Ders./Erich Hörl (Hg.): Die
Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturge-
denn »Abstraktion darf […] weder als reine Artistik schichte der Kybernetik. Frankfurt a. M. 2008, 38–71.
noch als Rückzug auf eine ›nur analytisch‹ relevante, Kneer, Georg/Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie
formale Wissenschaft mißverstanden werden« (SS, sozialer Systeme. München 42000.
34 Grundlagen

Krieger, David J.: Einführung in die Allgemeine System-


theorie. München 21998.
5. Luhmann und Spencer-Brown
Maturana, Humberto R./Pörksen, Bernhard: Vom Sein
zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens.
Heidelberg 2002. »Als Niklas Luhmann mit Spencer-Browns Laws of
Pask, Gordon: An Approach to Cybernetics. London 1961. Form ankam, dachten wir zuerst alle: den hat er jetzt
Pias, Claus (Hg.): Cybernetics. The Macy-Conferences erfunden«. So schildert eine Bielefelder Mitarbeite-
1946–1953. Zürich u. a. 2003. rin Luhmanns die Situation in den frühen 1980er
Simon, Fritz B.: Einführung in Systemtheorie und Kon- Jahren. Ob es nun so war oder nicht – in jedem Fall
struktivismus. Heidelberg 22007.
Wiener, Norbert: Cybernetics or Control and Communica- erschien einiges aus den Laws of Form (1969) für
tion in the Animal and the Machine [1948]. Cambridge, Luhmanns systemtheoretisches Denken so adapti-
MA 21961. onsfähig, dass es zunächst kaum jemanden gewun-
Willke, Helmut: »Komplexität als Formprinzip«. In: Bae- dert hätte, wenn er sie sich selbst ausgedacht hätte.
cker 2005a, 303–323. Das bedeutet aber auch, dass die beiden von Spencer-
Zeeuw, Gerard de: »Auf der Suche nach Wissen«. In: Bae-
cker 2005a, 145–171. Brown (*1923) stammenden (Denk-)Figuren ›Form
Mario Grizelj der Unterscheidung‹ und ›Re-entry‹ im eigentlichen
Sinne keine ›Quellen‹ seines systemtheoretischen
Denkens darstellen, sondern vielmehr später hinzu-
gekommene Ausdrucksmittel. Die ›Form der Unter-
scheidung‹ ist das Resultat eines Unterscheidungs-
prozesses, das Bezeichnungen zulässt, und das ›Re-
entry‹ meint den selbstreferentiellen Eintritt in die
eigene Unterscheidungsform, der von Luhmann zum
paradoxalen Gründungsakt schlechthin erhoben
wird. Nachdem Luhmann diese Denkfiguren bei
Spencer-Brown entdeckt hatte, rekurrierte er unauf-
hörlich auf sie, um sie in plausibilisierender, legiti-
mierender Funktion für die Konstruktion seiner
Systemtheorie zu nutzen.
Wollte man beide Denker einer philosophischen
Richtung zuordnen, müsste man sie trotz aller Diffe-
renzen zu den Denkern rechnen, die seit Hegel ein
anti-substantialistisches, de-ontologisierendes bzw.
post-ontologisches Programm verfolgen (GG, 46 f.,
1147 f.; Clam 2002). In diesem Sinne verbindet sie
eine grundlegende Frage, die Heidegger nach Leibniz
gestellt hat, und die umformuliert lauten könnte:
Warum, aber vor allem wie, ist überhaupt Etwas (und
nicht vielmehr Nichts)? In Bezug auf den ersten Teil
des Satzes stimmen beide überein: Es geht darum zu
fragen, wie etwas überhaupt zu einem identifizierba-
ren Etwas werden konnte. Wie lässt sich dieser konsti-
tutive Prozess beschreiben? Sie identifizieren ihn als
das Treffen einer Unterscheidung (distinction). Des
Weiteren interessieren sie v. a. die Stabilisierungspro-
zesse, die dazu führen, dass ein erzeugtes Etwas dau-
erhaft verfügbar bleibt: Das geschieht durch den
wiederholten Gebrauch von Hinweisen oder Zeichen
(indications) auf das durch die Unterscheidung er-
zeugte, unterschiedene Resultat. Damit ist immer
auch die Wiederholung der Unterscheidung (mit
Luhmann: Beobachtung) impliziert und zugleich die
Frage nach Auflösungsprozessen gestellt.
Luhmann und Spencer-Brown 35

Der zweite Teil der Frage – warum nicht vielmehr werden kann. Beide Vorgänge werden im 12. und
Nichts ist – deutet auf eine grundlegende Differenz in letzten Kapitel als wesentliche Eigenschaften jedes
den Antworten beider Denker hin, wenn es darum Zeichens herausgestellt. Weil aber eine Unterschei-
geht, ob es gewissermaßen logisch vor der ersten Un- dung nicht nur das ›Etwas‹ hervorbringt, sondern
terscheidung schon irgendetwas gibt oder nicht. nach Spencer-Brown immer zugleich (s)eine Form
Luhmann geht hier von einer Art undifferenzierter der Unterscheidung mitkonstituiert, verweist jedes
Realität aus, die dann erst durch den Beobachter zu Zeichen nicht nur rekursiv auf sich selbst als Resultat
einer unterschiedenen »System/Umwelt«-Differenz einer Unterscheidung, sondern auch auf das, wovon
(ZaF, 48 f.) gemacht wird. Spencer-Brown hingegen es unterschieden wurde. Die Laws of Form stellen ins-
geht von Nichts aus, so dass die erste Unterscheidung gesamt betrachtet verschiedene Operationsmöglich-
einer creatio ex nihilo gleichkommt. Dennoch sind keiten mit einem Zeichen, Gleichungen und später
sich beide darin einig, dass ein adäquates Denken ar- Variablen dar, durch die auf die unterschiedenen Sei-
ché-ologisch – im griechischen Wortsinn als Denken ten einer Form der Unterscheidung – ›Etwas‹ und
eines ordnenden Anfangs – von gegebenen Identitä- das, was es nicht ist – hingewiesen werden kann.
ten auf zu vollziehende Differenzen als konstitutive Spencer-Brown beginnt die Laws of Form mit der
Prozesse umstellen muss (GG, 60). Das Erzeugen von Idee der Unterscheidung (distinction) und der Idee
Identitäten und ihr ›Gegebensein‹ erklären sie durch des Hinweisens (indication). Dabei bedarf der Hin-
die stabilisierende Wiederholung von Differenzie- weis notwendig der Unterscheidung, so dass die
rungsakten und von Hinweisen auf Differenzen. Form der Unterscheidung zugleich als die Form fest-
Ein weiterer Unterschied liegt in der Zielsetzung gelegt wird. Dass er hier Idee und Form synonym ver-
ihrer Theorien: Spencer-Brown ist um eine logische wendet, kann auf die ursprüngliche Bedeutung von
Grundlegung der Mathematik bemüht, indem er der ›idea‹ als Denkform zurückgeführt werden. Die
Logik selbst eine protologische Formtheorie als de- (Form der) Unterscheidung wird im Anschluss wie
ren Möglichkeitsbedingung voranstellt (Varga von folgt definiert: »Definition: Distinction is perfect con-
Kibéd/Matzka 1993). Sie stellt zugleich eine Zeichen- tinence« (Spencer-Brown 1994, 1). Aus dem gegebe-
entstehungs- und -verwendungstheorie dar. Demge- nen Beispiel – ein Kreis auf einem planen Unter-
genüber sucht Luhmann nach einer Möglichkeit, grund – wird ersichtlich, welche zugleich entstehen-
eine der Komplexität der Moderne angemessene den Aspekte eine Form der Unterscheidung ausma-
Theorie der Gesellschaft zu entwerfen. Die gesuchte chen: Die bereits erwähnten zwei Unterschiedenen,
Gesellschaftstheorie darf freilich die Frage nach einer die Grenze zwischen ihnen und ein Kontext, in dem
epistemologischen Grundlegung nicht scheuen, ge- die Unterscheidung einen Unterschied im Sinne
rade und obwohl sie zum einen rekursiv argumen- Spencer-Browns macht. Ist die Unterscheidung voll-
tiert und zum anderen trotz konstruktivistischer zogen oder die Form der Unterscheidung aufge-
Ausrichtung den Vorwurf postmoderner Beliebigkeit spannt, kann auf sie bzw. auf eine ihrer Seiten
abzuweisen vermag (WissG, 72). Auch dafür dient hingewiesen werden, indem ein Name genannt wird.
Luhmann der Rekurs auf die Laws of Form, die im Die beiden Axiome, die die Gesetze (laws) der
Folgenden kurz vorgestellt werden (kritisch zur Re- Form beschreiben, legen fest, auf welche verschiede-
zeption durch Luhmann vgl. Schulte 1993; Wagner nen Weisen auf die unterschiedenen Seiten hingewie-
1994; Hennig 2000; Hölscher 2009). Dieser Beitrag sen werden kann: durch Nennung eines Namens
beschränkt sich auf die Aspekte, an die Luhmann (Axiom 1. Law of calling), oder durch Überschreitung
hauptsächlich anschließt – er ist daher keinesfalls als der Grenze, die zwischen den beiden Seiten gezogen
vollständige Rekonstruktion aufzufassen, auch weil wurde (Axiom 2. Law of crossing). Durch die wieder-
sie die Entstehung des Kalküls stark verkürzt darstellt holte Verwendung der jeweiligen Hinweisart kann die
(Bergler 1999; Lau 2008; Schönwälder-Kuntze u. a. getroffene Unterscheidung entweder stabilisiert oder
2009). wieder aufgelöst werden. Da die Iteration verschiede-
ne Hinweise (indications) generiert, ergeben sich aus
den Axiomen vier unterschiedliche Arten, auf die
Die Form der Unterscheidung Seiten der Unterscheidungsform hinzuweisen: (1)
Durch einfache Nennung, (2) durch zweifache Nen-
Spencer-Brown beschreibt in den Laws of Form die nung des Namens und (3) durch einfache Über-
konstitutive Unterscheidung von und das Hinweisen schreitung der Grenze wird auf die eine, benannte
auf ›Etwas‹, das durch Wiederholung stabil gehalten Seite (marked space) bzw. auf ihre Form der Unter-
36 Grundlagen

scheidung hingewiesen; (4) durch eine zweifache nander geschriebene Haken bzw. durch: Nichts oder
Überschreitung der Grenze im Sinne einer Rück- Leere. = . Die Ersetzung der zweifachen Auffor-
überschreitung wird auf die andere, nicht benannte derung durch Nichts nennt Spencer-Brown ›form of
Seite (unmarked space) bzw. auf gar nichts mehr cancellation‹, also Form der Aufhebung oder Lö-
(void) hingewiesen. schung; die mögliche Ersetzung einer leeren Stelle
durch einen Doppelhaken ›form of compensation‹.
Unter Absehung zahlreicher Differenzierungen,
Die Darstellung der Form der Unterscheidung die im Laufe der Kalkülbildungen her- und darge-
stellt werden, lässt sich allgemein sagen, dass in bei-
Im weiteren Verlauf entwickelt Spencer-Brown an- den Kalkülen unterschiedlichste Hinweisformen,
hand eines einzigen Zeichens – des Hakens –, das Zeichenketten oder Gleichungen generiert werden,
ikonographisch nicht nur die Unterscheidungsform deren zunehmende Komplexität immer mehr Diffe-
nachzeichnet (2. Kapitel), sondern zunächst noch auf renzierungen erlaubt, die wiederum bezeichnet,
die ganze Form der Unterscheidung und auf eine ih- kondensiert, affirmiert, aufgehoben und ersetzt wer-
rer unterschiedenen Seiten hinweist, zwei Kalküle: ei- den können. Die so entstehenden, spezifischen Hin-
nen arithmetischen, den »calculus of indications« weisformen indizieren dabei nie etwas anderes als je
(3.–5. Kapitel), und einen algebraischen Kalkül eine der beiden Seiten der ersten (Form der) Unter-
(6.–10. Kapitel), in dem auch Variablen als Zeichen scheidung. Betrachtet man nur die beiden entstande-
zulässig sind. ›Generieren‹ heißt, dass unter Rekurs nen Kalküle, dann lesen sich die Laws of Form als eine
auf die beiden (Wiederholungs-)Axiome aus der Beobachtung der Möglichkeiten, die sich aus der
Verwendung der Zeichen Zusammenhänge entste- wiederholten Verwendung unterschiedlicher Hin-
hen und sichtbar werden, die ihrerseits benannt wer- weise ergeben, seien es namenhafte Zeichen oder
den und als Basis für weitere Operationen verwendet grenzüberschreitende Prozesse. Die Stabilisierung
werden können. eines ›Etwas‹ in (s)einer Form der Unterscheidung
So kann beispielsweise das erste der Axiome als erfolgt so über wiederholtes Unterscheiden und
Gleichung formalisiert werden, weil es festlegt, dass Hinweisen – in Form von Zeichen, Prozessen oder
eine wiederholte Nennung auf nichts anderes hin- Gleichungen, die gewissermaßen als Aussagen über
weist als auf die durch das Zeichen markierte Seite Stabilisierungsprozesse gelesen werden können.
der Unterscheidung. Wenn aber zwei Haken als
Symbolisierung der Wiederholung auf das Gleiche
hinweisen wie einer allein (form of confirmation), Die Generierung von Zeit oder der Eintritt
dann kann die Gleichung selbst als Aufforderung zur in die eigene Form
Generierung weiterer gleichbedeutender Zeichen ge-
lesen werden. Im Umkehrschluss: Wenn beliebig vie- Das 11. Kapitel schließt nicht etwa an den zweiten, al-
le produzierte Kopien des Hakens immer nur das gebraischen, sondern wie dieser, aber in anderer Wei-
Gleiche bezeichnen, lässt sich das, worauf sie hinwei- se, an den ersten arithmetischen Kalkül an. Zwar geht
sen, auch mit nur einem Haken bezeichnen. Das auch hier der eindeutige Charakter der Hinweisfor-
nennt Spencer-Brown die ›form of condensation‹, men verloren, allerdings aus anderen Gründen: In
weil die Vielzahl der Haken in ihrer Funktion auf die der Arithmetik ist festgelegt worden, dass entspre-
Bedeutung oder das ›Etwas‹ hinzuweisen, eben ohne chend den Grundgleichungen, die mit den vier oben
Funktionsverlust zu einem Einzigen kondensiert genannten forms bezeichnet wurden, unbegrenzt vie-
werden kann. Formal lässt sich das anhand einer le, aber eine dennoch abzählbare, d. h. endliche An-
Gleichung darstellen, wobei diese in beide Richtun- zahl von Tauschprozessen äquivalenter Hinweise
gen gelesen werden kann: Zwei (oder mehr) Zeichen stattfinden kann. Mit dieser Regel wird im 11. Kapitel
bezeichnen das gleiche, wie nur ein einziges und vice gebrochen, weil dort auf die endliche Abzählbarkeit
versa, weshalb sie äquivalent genannt werden kön- verzichtet wird. Daraus ergibt sich das Problem, dass
nen: = die Eindeutigkeit nicht nur materialiter – wie in der
Das zweite Axiom bezeichnet die je andere, un- Algebra –, sondern auch formaliter preisgegeben
markierte Seite oder das Nichts (void) vor der ersten wird: Die erzeugte Gleichung, E1, hat bei einer be-
Unterscheidung durch die zweifache (wiederholte) stimmten Variablenbelegung zwei Lösungen, so dass
Aufforderung zur Überschreitung der unterschei- eine Hinweisform generiert wurde, die zugleich beide
denden Grenze – formal dargestellt durch zwei inei- Seiten der ersten Unterscheidung bezeichnet. Den
Luhmann und Spencer-Brown 37

Verlust der Eindeutigkeit deutet Spencer-Brown scheidung. Die Experimente im letzten Kapitel »Re-
selbst als einen Wissensverlust »of where we are in the entry into the form« führen dies anhand eines ande-
form« (Spencer-Brown 1994, 58). Er lasse sich aber ren Notationssystems vor.
überwinden, indem ein Weg gefunden werde, die
beiden zugleich in einer Gleichung, d. h. in einem
Hinweis angezeigten Aufenthaltsorte als neue, gleich- Anschlüsse durch Luhmann
sam dritte ›Seite‹ – zusätzlich zum Etwas und zu sei-
ner anderen Seite – der Form der Unterscheidung zu Bereits 1974 finden sich erste Hinweise von Luh-
deuten. mann auf die Laws of Form (Luhmann 1974), aber
Dieses Dritte interpretiert Spencer-Brown als die seit Anfang der 1980er Jahre mit den beiden pro-
Zeit, die entsteht und vergeht, um die beiden Lösun- grammatischen Aufsätzen »Talcott Parsons – Zur Zu-
gen der Gleichung zu sehen oder zu denken. Da dies kunft eines Theorieprogramms« (Luhmann 1980)
nur sukzessive bzw. sequentiell möglich ist, so wie und »Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Sys-
man ein Licht nicht zugleich, sondern nur nachei- teme« (SA3, 11–24) fehlen sie in keiner Publikation.
nander an- und ausschalten kann, generiert so eine Darüber hinaus finden sich auch zahlreiche Verweise
Gleichung mit zwei einander ausschließenden Lö- auf Only Two can play this game (1972) und auf Pro-
sungen, wenn sie gedacht wird, Zeit. Der Prozess zur bability and Scientific Inference (1957). In Die Gesell-
Herstellung von spezifischen und unspezifischen schaft der Gesellschaft geht Luhmann von der
Hinweisen auf die beiden Seiten der Form der Unter- historisch erfolgten Umstellung wissenschaftlicher
scheidung wird von Spencer-Brown demnach so weit Beobachtung von Objekten auf Unterscheidungen
getrieben, dass eine Gleichung entsteht, die auf beide aus. Sein Interesse gilt dabei weniger den gegebenen,
Seiten zugleich hinweisen kann. Das wird aber nicht entdeckbaren Unterschieden als dem Unterscheiden
als zu vermeidender Widerspruch gedeutet, sondern selbst, durch das Beobachtung allererst ermöglicht
es wird nach einer denkbaren Lösung gesucht, die wird. Er nennt dies die »am tiefsten eingreifende
den Widerspruch gleichsam produktiv werden lässt Umstellung« (GG, 60) in der jüngsten intellektuellen
und nutzbar macht. Zeit wird so als produktiver Um- Entwicklung. Sie lasse sich mit Spencer-Browns
gang mit paradoxalen Widersprüchen bestimmt. Zeit Formbegriff am besten verdeutlichen.
löst den vorhandenen Widerspruch nicht auf, aber Die unterschiedlichen Aspekte des Formbegriffs
sie entzerrt ihn, indem sie die logische Gleichzeitig- dienen Luhmann erstens zur Definition seines Beob-
keit des widersprüchlichen Hinweises in einen Pro- achtungsbegriffes, denn Beobachten ist »ein unter-
zess umwandelt. scheidendes Bezeichnen […] der einen […] Seite der
Dass die Aufhebung der Abzählbarkeit der Unterscheidung« (SA5, 22). Der Unterscheidungspro-
Tauschschritte an bestimmten Stellen als eine Funk- zess und die dadurch ermöglichten Hinweise durch
tionsgleichung dargestellt werden kann, die sich re- Zeichen oder weitere ›Operationen‹ stellen für Luh-
kursiv selbst zum Input macht, ist gleichsam ein mann das Modell für (s)ein Beobachtungsschema
Nebenprodukt der Argumentation – wenngleich auf erster Ordnung dar, weil jedes unmittelbare Beob-
diese Weise deutlich wird, dass die Kalküle der Form achten von etwas die Unterscheidung dieses Etwas
eben auch diese wesentliche Eigenschaft eines Zei- von seiner Umwelt impliziert und weil eine Unter-
chens zur Darstellung zu bringen vermögen: dass es scheidung nur durch Benennung einer Seite stabili-
zugleich auf sich selbst und seine Form der Unter- siert werden kann (P, 110).
scheidung hinweist, d. h. auch auf das, was es nicht Da die soziologische Beobachtung eine Beobach-
unmittelbar anzeigt und ist. Zudem verweist ein Zei- tung von Beobachtung, mithin eine Beobachtung
chen nicht nur auf das Resultat einer beliebigen Un- zweiter Ordnung ist, stellt sich die Frage, wie kom-
terscheidung, es ist auch selbst nur als Resultat einer plex die theoretische Grundfigur der Beschreibung
Unterscheidung denkbar. Jedes Zeichen weist so auf (der Gesellschaft) sein muss, um diese angemessen
wenigstens fünf unterschiedliche Aspekte hin: (1) auf beschreiben zu können. Damit kommt die andere
sich als Zeichen (und damit immer auch auf die fol- Grundfigur der Laws of Form ins Spiel: der Eintritt in
genden vier Aspekte, aber in Bezug auf sich selbst als die eigene Form – Luhmann übersetzt den spencer-
Zeichen), (2) auf die vollzogene Unterscheidung, (3) brownschen Neologismus ›Re-entry‹ mit Wiederein-
auf das, wofür es ein Zeichen ist, d. h. auf die Seite, die tritt, womit suggeriert wird, es gäbe irgendeinen
es markiert, (4) auf die andere, unmarkierte Seite so- Standpunkt außerhalb der Form; semantisch pas-
wie (5) auf die mit aufgespannte Form der Unter- send wäre wohl ›Rückwendung‹. Somit dienen ihm
38 Grundlagen

die Laws of Form zweitens dazu, das darzustellen, was blind bleiben, oder aber den Standpunktverlust hin-
er auf der Ebene der selbstreferentiellen Beobach- nehmen muss, indem sie Zeit generierend zwischen
tung zweiter Ordnung die ›Paradoxie der Form‹ der beobachtenden und der beobachteten Seite hin
nennt. Luhmann sieht den selbstreferentiellen Ein- und her pendelt. Für Luhmann ist das »Problem […]
tritt implizit in der durch den simplen Unterschei- schon am Anfang [der Laws of Form] präsent und be-
dungsprozess entstandenen Form der Unterschei- kommt am Ende seine eigene Form, […] einen Na-
dung bereits gegeben. Das paradoxe ›Re-entry‹ men, eine Bezeichnung« (PdF, 200). An der Beant-
expliziere nur den verdeckten, immer schon parado- wortung der Frage, ob die reflexive Betrachtung der
xalen Anfang. Diese Explizierung werde durch das Form bloß potentiell oder schon aktual im 1. Kapitel
Prozessieren von Zeit ›entparadoxiert‹, was das am- der Laws of Form angelegt ist – und damit tatsächlich
bigue Verweisungsproblem nicht löst, aber handhab- ein Anfangsparadox gedacht werden muss –, schei-
bar macht. den sich die Geister der Interpreten (Wagner 1994;
Zwei weitere Umgangsweisen mit der Anfangspa- Hölscher 2009). Sie lässt sich dahingehend beant-
radoxie sieht er in der Aufforderung zu unterschei- worten, dass Luhmann dann Recht hat, wenn man
den sowie in der Bildung eines Beobachtungssys- die durch die Unterscheidung aufgespannte Form
tems sui generis, d. h. durch Kommunikation (PdF, der Unterscheidung bereits als Zeichen betrachtet.
204). Damit findet drittens auch der exponierte Dann und nur dann ignoriert Spencer-Brown das
Kommunikationsbegriff seine Grundlegung in den Anfangsparadox (GG, 58).
spencer-brownschen Grundfiguren. Viertens helfen Beide Momente der Form dienen also Luhmann
ihm die Laws of Form, den Universalitätsanspruch nicht nur als heuristisches Instrumentarium, mit
seines theoretischen Zugriffs zu untermauern: »Der dem sich beispielsweise Theorieentscheidungen an-
Abstraktionsgrad dieses Ansatzes erlaubt es schließ- schlussfähig und explizit machen lassen (SS, 230). Sie
lich, und vor allem deshalb greifen wir auf Spencer- dienen auch und vor allem zur Klärung der eigenen
Brown zurück, zu erkennen, daß auch Logik und Grundlagen bzw. des eigenen (system-)theoretischen
Mathematik Kondensate und Regulative sozialer Standpunktes, der sich innerhalb der scientific com-
Operationen sind« (WissG, 75). Fünftens schließ- munity und auf dem Boden historisch gewachsener
lich findet Luhmann dort auch den Beobachter Ansprüche und Begrifflichkeiten behaupten können
selbst. muss. Daher stehen sie auch im Mittelpunkt der Aus-
Die oben beschriebene rekursive wie ambivalente einandersetzung Luhmanns mit den philosophi-
Eigenschaft jedes Zeichens wird schon von Spencer- schen Fragen der Moderne nach der Möglichkeit von
Brown in seinen Selbstkommentierungen (»notes«, Wissen und Wissenschaft, indem sie ihm das er-
Spencer-Brown 1994, 77–106) auf uns selbst als Be- kenntnistheoretische Problem des (begründenden)
obachter der Welt übertragen: Die Welt differenziert Anfangs und die ontologische Frage nach der Stabi-
sich aus und bedient sich gleichsam unser, die wir je lität von Etwas darzustellen und zu lösen helfen (SA5,
einen bestimmten Standort markieren, um sich passim). In diesem Sinne geht Luhmann so weit zu
selbst zu beobachten. Als solche sind wir zunächst konstatieren, die Welt lasse sich nur mit George
unmittelbare Beobachter unserer anderen (Welt-) Spencer-Browns Logik erfassen (WissG, 93) bzw.: Es
Seite in unserer eigenen Form der Unterscheidung. lasse sich nur so zugleich verstehen, dass die Welt,
Um uns als Beobachter und die Welt als von uns Be- »kein Gegenstand des Wissens« (GS4, 177) sein
obachtete reflektieren, also beide Seiten in den Blick kann.
nehmen zu können, müssen wir Zeit generieren, da Man kann sagen, dass sich Luhmann zu den Laws
wir nicht simultan uns selbst und die Welt beobach- of Form zunehmend offener verhielt, wodurch er ih-
ten können. Insofern kann Luhmann sagen: »daß die nen auch mehr gerecht wurde. Seine Formulierun-
Paradoxie der Form überhaupt nur dadurch entsteht, gen dazu, was Differenz, Unterscheidung und Form
daß ein Beobachter versucht, Einheit und Unter- in den Laws of Form bedeuten, verlieren an apodikti-
schiedenheit zugleich zu beobachten« (PdF, 204) scher Schärfe. Was damit gemeint ist, lässt sich bei-
bzw. dass »jede Beobachtung […] eine Unterschei- spielhaft an der Definition der ›Beobachtung‹ zeigen.
dung voraus[setzt], deren Einheit nur paradox be- Während er in Soziale Systeme formuliert, »Diskri-
zeichnet werden kann« (PdF, 211). minierung [sei] für den Grundvorgang zu halten und
Die Paradoxie, die durch den rekursiv generierten Integrieren und Beobachten [seien] als Varianten
Hinweis auf das Ganze entsteht, führt dazu, dass die dieses Grundvorgangs anzusehen, wenn nicht mit
Welt entweder einer Seite ihrer selbst gegenüber ihm zu identifizieren« (SS, 650), nennt er in Die Wis-
Luhmann und Spencer-Brown 39

senschaft der Gesellschaft die Beobachtung nur noch Hennig, Boris: »Luhmann und die formale Mathematik«.
eine »Sonderform« (WissG, 82) der spencer- In: Merz-Benz/Wagner 2000, 157–198.
Hölscher, Thomas: »Niklas Luhmanns Systemtheorie«. In:
brownschen Grundoperationen Unterscheiden und
Schönwälder-Kuntze u. a. 22009, 257–272.
Bezeichnen. Die System/Umwelt-Differenz wird Lau, Felix: Die Form der Paradoxie. Eine Einführung in die
zum »Anwendungs«- bzw. »Sonderfall« (GG, 62), Mathematik und Philosophie der Laws of Form von
eine Beobachtungsform bzw. ein Beobachtungssche- George Spencer Brown [2004]. Heidelberg 32008.
ma, das sie von anderem unterscheidet (GG, 64). In Luhmann, Niklas: »Symbiotische Mechanismen«. In: Ott-
jedem Fall gilt es aber nach Luhmann zur adäquaten hein Rammstedt (Hg.): Gewaltverhältnisse und die Ohn-
macht der Kritik. Frankfurt a. M. 1974, 107–131.
Theoriebildung einen differenz-logischen Ausgangs- –: »Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme«.
punkt zu wählen, wenn nicht als notwendig zu ak- In: SA3, 11–24.
zeptieren, soll eine Theorie der Gesellschaft entwor- –: »Identität – was oder wie?« In: SA5, 14–30.
fen werden, die ihren Namen verdient. Sie ist für –: »Die Soziologie des Wissens: Probleme ihrer theoreti-
Luhmann nur durch die Einsicht in die operativen schen Konstruktion«. In: GS4, 151–180.
–: »Zur Zukunft eines Theorieprogramms«. In: Zeitschrift
Instrumente zu haben: (Selbst-)Differenzierung, für Soziologie 9. Jg., 1 (1980), 5–17.
Stabilisierung und Wiederauflösung durch Wieder- Merz-Benz, Peter-Ulrich/Wagner, Gerhard (Hg.): Die Lo-
holungen, die Handhabung von paradoxalen Wider- gik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen So-
sprüchen und ihre Prozessierung durch Zeit. ziologie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000.
Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Wille, Katrin/Hölscher, Tho-
mas: George Spencer Brown. Eine Einführung in die
Literatur Laws of Form [2004]. Wiesbaden 22009.
Schulte, Günter: Der blinde Fleck in Luhmanns System-
Baecker, Dirk (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt a. M. theorie. Frankfurt a. M. 1993.
1993a. Spencer-Brown, George: Probability and Scientific Infe-
– (Hg.): Probleme der Form. Frankfurt a. M. 1993b. rence. London 1957 (dt. 1996).
Bergler, Andreas: Kommunikation als systemtheoretische – (alias James Keys): Only Two Can Play This Game. New
und dialektische Operation. München 1999. York 1972 (dt. 1994).
Clam, Jean: Was heißt, sich an Differenz statt an Identität –: Laws of Form [1969]. Portland, OR 41994 (dt. 2004).
orientieren? Zur De-ontologisierung in Philosophie und Varga von Kibéd, Matthias/Matzka, Rudolf: »Motive und
Sozialwissenschaft. Konstanz 2002. Grundgedanken der ›Gesetze der Form‹«. In: Baecker
Esposito, Elena: »Paradoxien als Unterscheidungen von Un- 1993a, 58–85.
terscheidungen«. In: Gumbrecht/Pfeiffer 1991, 35–57. Wagner, Gerhard: »Am Ende der systemtheoretischen So-
Fuchs, Peter: Niklas Luhmann – beobachtet. Wiesbaden ziologie«. In: Zeitschrift für Soziologie 23. Jg., 4 (1994),
2004. 275–291.
Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hg.): Para- Tatjana Schönwälder-Kuntze
doxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen of-
fener Epistemologie. Frankfurt a. M. 1991.
41

III. Theoriestränge

1. Systemtheorie als klären zu können, dass sie nur unterscheiden können


und dass erst durch die Wiederholung von Differen-
Differenzierungstheorie zen Identitäten entstehen.
Um diese Abstraktionsebene zu erreichen,
Differenzierungstheorien interessieren sich für Un- schließt die luhmannsche Theorie nicht einfach an
terschiede und transportieren immer mit, dass man die Tradition an, und sie findet auch nicht in enger
eigentlich Gemeinsamkeiten erwartet hätte. Die Auseinandersetzung mit anderen theoretischen An-
Klassiker der soziologischen Differenzierungstheo- geboten statt, um nicht die Schwächen der Tradition,
rie, Auguste Comte, Herbert Spencer, Émile Durk- die kognitiven Restriktionen ihrer Vorgänger zu
heim, Max Weber, Talcott Parsons, zeigen sich beerben. Sie ist gedacht als ein Versuch, das zu benen-
überrascht davon, dass Gesellschaften radikal unter- nen, was tatsächlich beobachtbar ist: das Unterschei-
schiedliche Lösungen für das gleiche Problem ausbil- den.
den können. Sie beobachten zumeist unterschiedli- Im Unterschied zu anderen Theorien ist dies eine
che Status- oder Berufsgruppen und sind erstaunt, Grundlage, die nicht historisch gefasst ist, die also
dass von der einen Gruppe erwartet wird, was für die nicht in früheren Gesellschaften Aufklärung über das
andere Gruppe verboten ist. Ganz folgerichtig sind Funktionieren der modernen Gesellschaft sucht. Die
ihre Theorien vor allem dafür gemacht, diese Unter- Differenz als Charakteristikum des Sozialen findet
schiede miteinander zu versöhnen. Wie stark dabei sich am Beginn der Evolution genauso wie heute, in
aber auch das Erstaunen über radikale Differenzen den Anwendungsgebieten der Soziologie genauso
die Theoriearbeit geprägt hat, wird sichtbar, wenn wie in der Theorie, im Sprechen genauso wie in den
man die systemtheoretische Differenzierungstheorie über Sprache hinausgehenden Medien (Schrift, Geld,
in diese Tradition stellt. Luhmann beginnt seine Macht etc.). Sie stellt einen Anfang dar, mit dem man
Überlegungen mit der Frage danach, wie Gemein- überall anfangen kann, der keine Position privilegiert
samkeiten, Wiederholungen, Identitäten, Konsens und insofern auch keine moralischen Präferenzen
möglich sind – wo doch zunächst in einer Gesell- entfalten kann.
schaft erkennbar das Gegenteil passiert, nämlich Dif- Der Gewinn, der mit diesem spektakulären Neu-
ferenzen stabilisiert werden. anfang verbunden ist, besteht in kleinen Details einer
Unter dem Etikett ›System/Umwelt-Differenz‹ Korrektur der historischen Beschreibung von unter-
fasst Luhmann drei Befunde zusammen: (1) Alles Be- schiedlichen Phänomenen wie der veränderten Stel-
nennen, alles Bezeichnen erfolgt immer in Abgren- lung des Adels in einer funktional differenzierten
zung von anderem, als Unterscheidung, und bewährt Gesellschaft und der historisch erst relativ späten
sich also als Differenz; (2) alles Unterscheiden be- Entstehung von Herrschaft im Sinne einer systema-
währt sich als Unterscheidung von vorherigen Unter- tischen politischen Organisation. All dies präsentiert
scheidungen – rekursiv – und schafft so ein System; Luhmann jedoch nur als beiläufige Einsichten, die
(3) es gibt nicht die eine Umwelt, die eine Wirklich- ganz dem theoretischen Interesse untergeordnet
keit, auf die sich alles Unterscheiden bezieht – dann werden. Sie dienen nicht als (vielleicht konservative)
müsste es Seiendes geben, das für alle Systeme glei- Begründung für die Berechtigung dieser radikalen
chermaßen verbindlich ist –, es gibt viele Umwelten, Theorieumstellung – haben aber doch Folgen für das
die jeweils von den Systemen miterzeugt werden. Geschäft einer an Emanzipation interessierten Sozio-
Hiermit ist eine Abstraktionsebene gewonnen, die logie.
nur noch relationierbare Elemente kennt, für die – Um den Gewinn dieser Theorieentscheidung
dies ist nun der entscheidende Satz – »es in der Um- sichtbar zu machen, soll im Folgenden doch wieder-
welt des Systems keinerlei Entsprechung gibt« (GG, um auf die Tradition der klassischen Differenzie-
66). So frei, ohne jeden Außenhalt, ohne jede Kondi- rungstheorie zurückgegriffen werden. Erst im Ver-
tionierung durch eine schon vorhandene Umwelt gleich hierzu zeigt sich, wie folgenreich für die
muss man sich Kommunikationen vorstellen, um er- Theorie der Soziologie ein guter Anfang ist.
42 Theoriestränge

Ordnung ohne Moral einander übergingen, dass sie sich also nur reprodu-
zieren können, wenn ihre Autopoiesis erhalten bleibt
Am produktivsten lässt sich die luhmannsche Sys- (GG, 601).
temtheorie mit der durkheimschen Differenzie- Im Gegensatz zu Differenzierungstheorien, die
rungstheorie in Beziehung setzen. Bei Durkheim zunächst den Kontrast zwischen den einzelnen Teilen
wird die soziale Form der Differenzierung besonders sehr stark machen und die dann die Notwendigkeit
stark gemacht, wenn er sich fragt, wie die soziale der Integration des Verschiedenen als Problem erle-
Ordnung einer arbeitsteiligen Gesellschaft entsteht. ben, aber auch im Gegensatz zu Theorien, die sich
Die Lösung sieht er in einer Zunahme von (rechtli- vor allem für die Verschränkung und den Einfluss der
chen) Kontakten zwischen den Berufsgruppen, und Teile aufeinander interessieren und die die Stabilität
er unterstellt im gleichen Schritt, dass diese Kontakte der Trennung dabei vernachlässigen, versucht Luh-
Solidarität erzeugen. In einem Vorwort zur deut- mann, einen Mittelweg zu gehen: Er konzipiert die
schen Übersetzung von Durkheims Über soziale Ar- einzelnen Teile als über jeweils eigene Operationen
beitsteilung (1893/1999) setzt sich Luhmann grund- geschlossen und damit unhintergehbar nur an die je-
sätzlich mit Fragen einer differenzierungstheoreti- weils eigene Logik gebunden, dabei aber auch struk-
schen Theoriearchitektur auseinander (Luhmann turell über Sprache – und nicht über Operationen –
1999). Das gesamte Theorieprogramm Luhmanns an die Differenzen ihrer jeweiligen Umwelt gekop-
lässt sich aus dieser Perspektive als der Versuch re- pelt. Die älteren Klassiker konnten sich nicht vorstel-
konstruieren, ein Verhältnis unterschiedlicher Teile len, dass Unterschiede deshalb stabil sind, weil sie
zueinander als geordnet, gleichwohl aber nicht als Unterschiede sind. Unterschiede wurden stattdessen
moralisch geordnet zu beschreiben. Mit Blick auf immer als Hinweis auf ihre Versöhnungsbedürftig-
Durkheims Theorie verdeutlicht er, dass eine gute keit gelesen und Spezialisierungen nur als Teil eines
Theorie der Differenzierung auch die faktische Ent- Ganzen gesehen.
stehung sowohl nichtsolidarischer als auch mora- Luhmann spricht im Unterschied zu nur meta-
lisch neutralisierter Elemente der Gesellschaft erklä- phorischen theoretischen Verdichtungen, bei denen
ren können muss, und deshalb die soziale Differen- das eine schon rein sprachlich das andere bedingt,
zierung der Arbeitsteilung um eine sachliche Diffe- von ›operativen Verknüpfungen‹. Er meint damit Re-
renzierung anhand von Funktionen erweitert werden kursionen, also einen stetigen Rückbezug der ausdif-
muss. Nicht der Mensch und das Ausmaß seiner In- ferenzierten Systeme nur auf sich selbst mit Hilfe
dividualität kann Maßstab einer solchen Theorie spezialisierter Kommunikationen. In diesem »Ma-
sein; es muss um Operationen gehen, die gleicher- gnetfeld der Systeme« (GG, 605) entstehen erst die
maßen Interaktionen wie auch medienvermittelte Si- Freiheitsgrade, für die sich Modernisierungstheorien
tuationen umfassen, und das heißt: um Kommuni- interessieren, wenn sie die radikalen Unterschiede
kationen. der Moderne beschreiben. Die Kunst der Differenzie-
Wie funktioniert nun die Herauslösung morali- rungstheorie besteht Luhmann zufolge darin, ein
scher Implikationen aus dem gesamten Theorieap- adäquates Bild der Unabhängigkeit der Systeme von-
parat? Die Frage nach der Bedeutung von Moral einander zu entwerfen. Evolution ist demzufolge ein
entsteht auf gesellschaftstheoretischer Ebene als Fra- stetiger Abbau von Umweltabhängigkeiten und eine
ge nach dem Verhältnis der Teile zueinander und zunehmende Abhängigkeit von nur noch internen
zum Ganzen. Üblicherweise wird dieser Zusammen- Dispositionen (GG, 617).
hang moralisch gedacht, als Notwendigkeit von Nor-
men, die eine Einschränkung der Teile zugunsten des
Ganzen fordern. In dieser Argumentation gibt es also Systemdifferenzierung
ein transzendierendes Prinzip (Vernunft, Rationali-
sierung, Konsens), das den Kontakt der einzelnen ›Systemdifferenzierung‹ ist ein Kontrastbegriff zum
Teile untereinander ermöglicht, weil es sich zugleich klassischen Konzept einer sozialen Differenzierung
in allen Teilen wiederfindet. Luhmann möchte aber in Rollen oder Berufsgruppen. Sie umfasst den allge-
etwas ganz anderes beschreiben, dass nämlich in ei- meinen Fall der Differenzierung von Systemen und
ner wie auch immer differenzierten Gesellschaft die den speziellen Fall der Differenzierung von gesell-
einzelnen Teile zueinander Kontakt haben, dass aber schaftlichen Teilsystemen, und sie stellt im Gesamt
diese Teile sich in ihrer Selbständigkeit auflösen wür- der luhmannschen Systemtheorie doch nur einen
den, wenn sie – wie viel oder wenig auch immer – in- Teilaspekt einer Theorieentwicklung dar – neben ei-
Systemtheorie als Differenzierungstheorie 43

ner Medientheorie, einer Evolutionstheorie und ei- rum jeweils systemspezifische Operationen und
ner Gesellschaftstheorie. Der Begriff des Systems nicht Kommunikationen oder Sprache oder Hand-
wird von Luhmann folgendermaßen definiert: »Er lungen die Grundlage eines Systems bilden. »Wie bei
steht für die Einheit (oder für die Herstellung der allen autopoietischen Systemen so ziehen auch hier
Einheit) des Differenten« (GG, 595). Damit entwi- die Operationen die Grenzen des Systems. Indem sie
ckelt Luhmann ein Alternativkonzept zum Begriff geschehen, legen sie fest, was zum System, und da-
des Ganzen und seiner Teile. »Systemdifferenzierung mit, was zur Umwelt gehört. Da sie dies aber nur im
heißt gerade nicht, daß das Ganze in Teile zerlegt rekursiven Netzwerk früherer und möglicher späte-
wird und, auf dieser Ebene gesehen, dann nur noch rer Operationen desselben Systems tun können,
aus den Teilen und den ›Beziehungen‹ zwischen den müssen sie zugleich das System an Hand der Diffe-
Teilen besteht. Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsys- renz von System und Umwelt beobachten. Sie legen
tem das umfassende System, dem es angehört und sich selbst fest – und das geschieht nur so, wie es ge-
das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspe- schieht –, und benötigen dafür aber für die Beobach-
zifische) Differenz von System und Umwelt« (GG, tung dieser Festlegung die Unterscheidung von
598). Das luhmannsche Konzept der Differenzierung Selbstreferenz und Fremdreferenz« (GG, 754). Der
meint also nicht, dass das Ganze den Rahmen einer Begriff der Operation öffnet auf diese Weise den so-
Vielzahl von Teilen darstellt, sondern dass das Ganze ziologischen Blick für einerseits beliebige Anschluss-
(als Differenz von System und Umwelt) in jedem Teil möglichkeiten, die andererseits in ihrer Form darü-
neu entworfen wird und damit eine Vielzahl neuer ber festgelegt sind, dass sie die Differenz eines
Perspektiven (als Differenz von System und Umwelt) Systems in einer spezifischen Umwelt wiederholen.
geschaffen wird. Jedes System stabilisiert sich in der Damit wird eine Beschreibung ermöglicht, die der
Differenz zu seiner Umwelt und schafft sich damit Tatsache Rechnung trägt, dass in Systemen jeweils
eine jeweils eigene Vorstellung des Ganzen. Spezialisierungen entstehen, die nur auf das jeweili-
Wenn man im Unterschied dazu Differenzierung ge System verweisen und nicht für andere Systeme
als Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen denkt, plausibel sind. Es gibt Zusammenhänge zwischen
dann wären auch die kleinsten Teile noch bezogen der gesellschaftlichen »Ausdifferenzierung [eines
auf das Ganze. Dann aber wird zum Problem, dass Teilsystems, I.S.] und der internen Differenzierung
sich z. B. Bürokratien nach eigenen Regeln verselb- eines Systems, denn die interne Differenzierung
ständigen. Das erscheint absurd aus der Perspektive wählt Formen, für die es in der Umwelt keine Ent-
des Ganzen, für das die Bürokratie keinen erkennba- sprechung gibt. Funktionale Differenzierung ist die
ren Nutzen hat – es sei denn, man vermutet dahinter radikalste Form, in der diese Regel sich auswirkt, da
wie Max Weber einen allgemeinen Rationalisie- in der Umwelt natürlich keine Einteilungen vorkom-
rungsprozess, der dann aber seinerseits begründet men, die auf die Funktionen des Systems abge-
werden müsste. Die Frage danach, welchen Bezug stimmt sind« (GG, 744). Damit ist gemeint, dass die
diese Systeme zum Ganzen haben, ist also entschei- interne Differenzierung keine Probleme löst, die auf
dend. Mit Luhmann würde man nicht mehr von In- eine externe Umwelt verweisen, sondern nur solche,
tegration ausgehen, sondern von der operativen die sich auf eine systemintern erzeugte Umwelt be-
Unabhängigkeit der eben nicht integrierten Teile, die ziehen. Hier wiederholt sich, was bereits zu Beginn
sich ihren Blick aufs Ganze jeweils selbst ermöglichen des Textes betont wurde: Es gibt keine »Außenhalte«
und gerade deshalb leistungsfähig sind. (GG, 14) dessen, was die Systeme als Realität schaf-
Ein entscheidender Effekt dieser Figur der System- fen.
differenzierung ist, dass jedwede Änderung in der Um es noch einmal zusammenzufassen: Es geht
Umwelt eines Systems gleichzeitig auch für andere mit dieser Theorieumstellung nun um die Beschrei-
Systeme Bedeutung haben kann, aber aufgrund der bung von sich selbst stabilisierenden Kontexten, die
Perspektivendifferenz eine jeweils andere – »obwohl jeweils nur auf sich und nicht auf das Ganze der Ge-
es für alle Systeme dasselbe Ereignis ist« (GG, 599). sellschaft verweisen und die deshalb so leistungsfähig
Die Systeme selbst versuchen, sich dagegen durch sind. Die Weise, in der dies erfolgt, ist die Systemdif-
»Schwellen der Indifferenz zu schützen« (ebd.), was ferenzierung, also die Selbstanwendung des System-
wiederum zu mehr Abhängigkeiten und jeweils sys- begriffs auf seine Resultate. Systeme sind demzufolge
temspezifisch definierten Unabhängigkeiten führt. keine festen Einheiten, sondern rekursive Wiederho-
Die Form der systemischen Stabilisierung bezeichnet lungen des jeweiligen Systems, aus dem sie sich aus-
Luhmann als rekursiv und verdeutlicht damit, wa- differenziert haben. »Das Ergebnis rekursiver Sys-
44 Theoriestränge

tembildung ist ein Muster der Verschiedenheit ten wiederum von Schichten, und es entsteht eine
Desselben« (Fuchs 1992, 69). »Bestimmbarkeit anderer Teilsysteme durch eine
Unterscheidung, die sich dann ihrerseits in die Welt
des sonst noch Vorhandenen einkerbt« (GG, 610).
Differenzierungsformen Auf diese Weise verliert der Teilsystembegriff nun et-
was von seiner Abstraktheit. Er ist jedoch bewusst so
Wenn man sich in dieser Weise für die Stabilisierung allgemein formuliert, damit er Teile sowohl einer seg-
von eigenständigen Einheiten interessiert, dann ent- mentär differenzierten Gesellschaft (Clans, Dörfer)
steht auch die Frage danach, wie eine adäquate Be- als auch einer funktional differenzierten Gesellschaft
schreibung der modernen Gesellschaft bzw. von (Funktionssysteme) beschreiben kann.
historisch früheren Gesellschaften aussieht. Luh- Statt von einer einfachen Zunahme der Differen-
mann schlägt vor, von unterschiedlichen Differenzie- zierung, wie sie beispielsweise noch Durkheim ange-
rungsformen auszugehen, die jeweils den Differen- nommen hatte, geht Luhmann von einer Umstellung
zierungsstil einer ganzen Gesellschaft prägen. Er der Differenzierungsform mit der Weiterentwick-
unterscheidet zwischen segmentärer Differenzierung lung der Gesellschaft aus. Der Clou dieses Gedanken-
in gleiche Teile, der Zentrum-Peripherie-Differen- gangs besteht darin, dass sich mit einer Umstellung
zierung in ungleiche Segmente, der Stratifikation als des Differenzierungsprimats auch die gesamte Form
ranggeordneter Form der Ungleichheit und der der Verarbeitung von Komplexität ändert, ohne dass
funktionalen Differenzierung, deren Teilsysteme in dies auch automatisch zu einer Steigerung oder Op-
ihrer Ungleichheit gleich sind (GG, 613). timierung führt. Die Form der Differenzierung än-
Da für alle Systeme gilt, dass sie die Elemente, aus dert sich zunächst nur, weil sich die Gelegenheit für
denen sie bestehen, selbst erzeugen, bedeutet dies für die Stabilisierung von neuen Formen ergibt. Dass an-
die Beschreibung vormoderner Gesellschaften, dass dere Formen der Komplexität denkbar sind, also z. B.
die Orientierung an Menschen, Familien, Kasten und eine segmentär differenzierte Gesellschaft ›bessere
Ständen nur als systemspezifische Konstruktion gel- Familien‹ unterscheidet oder eine stratifizierte Ge-
ten kann. Das ist in Bezug auf Kasten und Stände un- sellschaft Erfahrungen mit Geld und seiner Funktion
ter der Bedingung von Modernität evident, aber es als »radikaler Leveller« macht, der »alle Unterschiede
betrifft auch die Orientierung an Menschen und Fa- aus[löscht]« (Marx 1988, 146), ergibt sich nicht au-
milien, die nicht als vorsoziale Einheiten vorausge- tomatisch aus der Form selbst, wird aber auf der
setzt werden dürfen. Grundlage einer bestimmten Differenzierungsform
Dies gilt zunächst für gesellschaftliche Teilsysteme wahrscheinlicher.
(Segmente, Schichten, Funktionssysteme), aber auch Für den Blick auf segmentär differenzierte Gesell-
für die Ausdifferenzierungen neuer Systeme in Teil- schaften bedeutet dies, dass sie vom Mythos der qua
systemen. Da Systemdifferenzierung rekursiv ist, Interaktion besonders gut integrierten einfachen Ge-
schließen die weiteren Differenzierungen im Teilsys- sellschaft befreit werden. Laut Luhmann ist für diese
tem als interne Differenzierungen auch an die Diffe- Gesellschaften nicht eine kulturelle Integration ty-
renzierung des Teilsystems wieder an und bestätigen pisch, wie sie Friedrich H. Tenbruck noch vorsieht
oder ›rekonstruieren‹ sie. Wie sich soziale Formen und dann als Norm der modernen Gesellschaft ge-
der Gleichheit, Ungleichheit und Rangordnung in genüberstellt (1972, 58). Nicht der Konsens einer So-
konkreten historischen Kontexten über unterschied- lidaritätsgemeinschaft prägt den Clan oder den
liche Situationen hinweg stabilisieren, würde man Stamm, sondern ein Alltag, in dem man schlicht mit
demzufolge nicht über Herrschaftsapparate, sondern Gleichen rechnet und davon profitiert zu wissen, wie
über schlichte Unterscheidungsroutinen erklären. man sich zueinander verhalten muss (GG, 642).
Dies gilt für moderne Funktionssysteme genauso wie Ein weiterer Unterschied ergibt sich im Hinblick
für vormoderne Dörfer und Kasten. Die Unterschei- auf die Frage danach, wie Herrschaft entsteht. Dies ist
dung in Dörfer und Kasten bleibt unangetastet, wenn für die luhmannsche Differenzierungstheorie keine
weitere dorfinterne oder kasteninterne Spezialisie- Frage nach der Entstehung von Ungleichheiten. Um-
rungen entstehen. gekehrt: Die Entstehung von Ungleichheiten wird er-
Teilsysteme sind also einfach nur selbständige Ein- wartbar, wenn zunächst das entscheidende Differen-
heiten (GG, 613 ff.), die beobachten können, dass sie zierungsprinzip das der Gleichheit ist. Auch da gibt
von gleichen oder ungleichen Teilsystemen umgeben es die Ungleichheit der ganz Anderen, aber die sind in
sind. So sind Clans von Clans umgeben und Schich- segmentär differenzierten Gesellschaften noch über
Systemtheorie als Differenzierungstheorie 45

die Bedingung der Herkunftsfamilie und des Territo- meinschaft angehöriger Partner« (GG, 784). Und
riums benennbar. Nach und nach lösen sich Diffe- erst jetzt entstehen Instrumente einer systematischen
renzierungsprozesse von diesem zentralen Prinzip politischen Verwaltung. Wenn man dies verallgemei-
der Herkunftsfamilie und des Territoriums, die nert, dann könnte man sagen, dass politische Herr-
schon in segmentär differenzierten Gesellschaften schaft und Kapitalismus zunächst ganz einfach
nicht einfach eine natürliche Kategorie darstellten, Folgen der Auflösung der Sippe sind, insofern da-
sondern Rituale brauchten, um als solche zu gelten. durch gesellschaftliche Kommunikationsmöglich-
Wenn Ungleichheit sich jedoch als zentrales Unter- keiten von den Begrenztheiten gleicher oder unglei-
scheidungsmerkmal stabilisiert, dann löst sich die cher Menschen mit »feste[n] Plätze[n] ›in‹ der
Ordnungsform der Gesellschaft noch einmal einen Gesellschaft« (GG, 745) befreit wurden.
weiteren Schritt von der Bedeutung der Herkunftsfa- Gleichheit findet sich als zentrales Strukturmerk-
milie. Bessere Familien und dann Adelige sind nur als mal der nur noch aus Kommunikationen bestehen-
Ungleiche, was sie sind. Nicht der Wohnort und auch den Teilsysteme der modernen Gesellschaft. Als
nicht die Geburt schaffen diese Ungleichheit, son- dezentrierte Gesellschaft kennt die moderne Gesell-
dern nur die Beachtung einer Tradition der bereits schaft verschiedene Logiken, deren Vergleichbarkeit
bestehenden Ungleichheit. Nur bestimmte Familien nun zu dem interessantesten Phänomen wird. Dass
einer Stadt sind dementsprechend ausgewiesen, und Funktionssysteme in ihrem Aufbau und ihrer Funk-
auch verarmter Adel ist immer noch Adel, aber durch tionsweise Ähnlichkeiten aufweisen, ist ein Merkmal
eine falsche Heirat, also eine Nichtbeachtung der der radikal gewordenen Befreiung von jeglichem Au-
Differenz selbst, kann man diesen Status verlieren. ßenhalt einer externen Umwelt. Von Systemen redet
Keine Rolle spielen dagegen mehr die bis dahin zen- Luhmann auch in Bezug auf Stämme oder Clans und
tralen Kategorien der familiären Abstammung und Schichten. Unter der Bedingung der funktionalen
des Territoriums. Differenzierung sind Systeme jedoch befreit von der
Die Ungleichheit, die damit entsteht, wird von Zumutung, sich an Menschen orientieren zu müs-
Luhmann nicht als politische Herrschaft beschrie- sen. Auch vorher waren sie schon Kommunikations-
ben. »In der älteren Ordnung erscheint politische systeme, insofern auch die Voraussetzung von
Herrschaft als die Ordnung der Gesellschaft selbst. miteinander verwandten Menschen eine soziale Kon-
Die Alternative zu ihr wäre Chaos« (GG, 714). Die struktion ist. Aber nun müssen Kommunikationen
Idee einer Herrschaft der Ranghöheren über die sich nicht mehr an dem Ausmaß der möglichen Zu-
Rangniederen ist mit dem zentralen Differenzie- mutbarkeit von Differenzen in Bezug auf eine Person
rungsprinzip der Gesellschaft selbst schon gegeben, bewähren. Sie orientieren sich nur noch an sich selbst
liegt also in der Unterscheidung der beiden Teile als und dem, was möglich ist.
ungleich begründet. Die Entstehung von Formen der Mit Hilfe von Codes und symbolisch generalisier-
politischen Verwaltung verdankt sich stattdessen ei- ten Kommunikationsmedien entsteht auf diese Wei-
nem ganz anderen Bezugsproblem, nämlich der se eine enorme Ausweitung der Kommunikations-
noch weitergehenden Auflösung der Zuordnung von möglichkeiten. »Immer geht es letztlich darum,
Personen zu festen Gruppierungen. Während sich Kommunikation durch hinzugesetzte Annahme-
für Jürgen Habermas und Max Weber im Amt eine chancen zu ermutigen, ja zu ermöglichen, und damit
erste Form der staatlich organisierten Herrschaft ein Terrain für Gesellschaft zu gewinnen, das ande-
zeigt, findet Luhmann hier nur die Vorbereitung ei- renfalls infolge natürlicher Unfruchtbarkeit unbe-
ner Loslösung von noch multifunktionalen Rollen zu ackert bliebe« (GG, 320). Während die allgemeinen
reinen Funktionsbeziehungen. Die immer weiterge- Codes die Anschlussfähigkeit ausweiten, erhöhen die
hende Auflösung von Familienverbänden setzt sich symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
fort mit der sozusagen radikalsten Form der Diffe- die Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikati-
renzierung, nämlich der funktionalen Differenzie- on und schaffen die Bedingung für eine »zwangswei-
rung. Die Entstehung von symbolisch generalisierten se (das heißt unter anderem: situationsunabhän-
Kommunikationsmedien ermöglicht eine komplette gig[e])« (WirtG, 16) Umrechnung z. B. von allem,
Loslösung vom Abstammungs- und Territorialprin- was als Ware gelten kann, durch das Medium Geld.
zip. »Erst die rechtliche Freigabe und Konditionie- Wenn auf diese Weise an die Stelle von Qualitäts-
rung von Eigentum und Vertrag ermöglicht jene begriffen wie ›Gerechtigkeit‹ und ›Vernunft‹ der
gewaltige Expansion der Wirtschaft durch Einbezie- selbstbezügliche Bedingungszusammenhang von
hung völlig unbekannter, nicht derselben Lebensge- Selbst- (Geld) und Fremdreferenz (Ware) tritt, wird
46 Theoriestränge

deutlich, dass funktionale Differenzierung als Form Als Differenzierungstheorie rekonstruiert die luh-
der Differenzierung einer immer stärkeren Entkopp- mannsche Systemtheorie auf diese Weise eine Situa-
lung von Systemen untereinander entspricht, die erst tion, in der sich Kommunikationen immer stärker
dadurch ihre Leistungsfähigkeit erhalten. Aber auch von konkreten Individuen entkoppeln und eine Leis-
die strukturelle Vergleichbarkeit der Funktionssyste- tungsfähigkeit ermöglichen, die historisch einmalig
me untereinander ergibt sich exakt hierüber und da- ist. Wenn man sich Individuen vorstellt, die daran ge-
mit die Möglichkeit einer nur strukturellen, aber wöhnt sind, als personale Adressen in eine Vielzahl
nicht operativen Kopplung. »Die alte Bindung gesell- von modernen Organisationen eingebunden zu sein,
schaftlicher Funktionen an Familienhaushalte und dann kann man sich kaum noch vorstellen, dass die
an die soziale Schichtung dieser Familien muss gelöst normative Idee einer »Assoziation von Freien und
und ersetzt werden durch neue Formen struktureller Gleichen« (Habermas 1997, 642) über das semanti-
Kopplung, die die Funktionssysteme untereinander sche Potential von Protestbewegungen hinaus struk-
verbinden« (GG, 779). Abgaben und Steuern kop- turelle Konsequenzen haben kann. Anschlüsse wären
peln Wirtschaft und Politik aneinander, die Verfas- jedenfalls nur als katastrophische Formen der Eineb-
sung verbindet Politik und Recht, Eigentum und Ver- nung von Komplexität denkbar. Und gerade davor,
trag beziehen rechtliche und wirtschaftliche Opera- die Komplexität einer modernen Gesellschaft nur als
tionen aufeinander, Universitäten tun das gleiche für Irrtum und Übertreibung misszuverstehen, warnt
Wissenschaft und Erziehung, wissenschaftliche Ex- die luhmannsche Gesellschaftstheorie. Die moderne
perten beraten Politiker, schulische Zeugnisse die Gesellschaft ist laut Luhmann ein hochfragiles Gebil-
Wirtschaft (GG 780 ff.). Armin Nassehi hat hierfür de mit unüberschaubaren Abhängigkeiten und ver-
das Bild einer »Gesellschaft der Gegenwarten« (Nas- langt gerade deshalb nach einer leistungsfähigen
sehi 2003, 81; 2011) verwendet, um zu verdeutlichen, Theorie.
wie von Moment zu Moment Lösungen für Vermitt-
lungsprobleme in einer so komplex gewordenen Ge-
sellschaft gefunden werden. Literatur
All dies muss sich »einspielen«, entsteht also »ohne Alexander, Jeffrey C.: Soziale Differenzierung und kulturel-
Konsens« (GG, 604) und ist in dieser Abstraktion von ler Wandel. Essays zur neofunktionalistischen Gesell-
konkreten Individuen dann doch nur eine Variante schaftstheorie. Frankfurt a. M. 1993.
Baecker, Dirk: »Die Theorieform des Systems«. In: Soziale
der unterschiedlichen Formen der Systemdifferen-
Systeme 6. Jg., 2 (2000), 213–236.
zierung. Gleichwohl ist ein zeitdiagnostischer Rück- Berger, Johannes: »Neuerliche Anfragen an die Theorie
griff z. B. auf Ungleichheitsbegriffe einer stratifizier- funktionaler Differenzierung«. In: Hans-Joachim Giegel/
ten Gesellschaft damit unmöglich geworden. Die jede Uwe Schimank (Hg.): Beobachter der Moderne. Beiträge
Kommunikation mitbestimmende Ungleichheit ei- zu Niklas Luhmanns »Die Gesellschaft der Gesellschaft«.
Frankfurt a. M. 2003, 207–230.
ner stratifizierten Gesellschaft gibt es unter der Be-
Chernilo, Daniel: »The Theorization of Social Co-Ordina-
dingung von funktionaler Differenzierung nicht tions in Differentiated Societies: The Theory of Generali-
mehr, wohl aber Beispiele für Schichtung, die jedoch zed Symbolic Media in Parsons, Luhmann and Haber-
nicht mehr die entscheidende Differenz einer rekur- mas«. In: British Journal of Sociology 53. Jg., 3 (2002),
siven Systembildung darstellen. In seiner eigenen 431–449.
Einschätzung der Situation gelangt Luhmann – darin Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung [1893].
Frankfurt a. M. 1999.
Habermas ganz ähnlich – am Ende seiner Ausführun- Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Kon-
gen zur Differenzierungstheorie in Gesellschaft der struktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit.
Gesellschaft zu der Beobachtung, dass Protestbewe- Frankfurt a. M. 1992.
gungen etwas Neues in der Gesellschaft darstellen. Sie Habermas, Jürgen: »Staatsbürgerschaft und nationale Iden-
entwickeln aus sich heraus Motive, die Organisatio- tität«. In: Ders.: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M.
1997, 632–661.
nen nur schwer erzeugen können, und binden The- Luhmann, Niklas: »Arbeitsteilung und Moral. Durkheims
men in einer Weise wieder an Individuen, wie man es Theorie«. In: Durkheim 1999, 19–38.
eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hatte. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie.
Luhmann rechnet damit, dass sich parallel zu allen Bd. 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals (MEW 23).
Funktionssystemen soziale Bewegungen entwickeln Berlin 1988.
Nassehi, Armin: Differenzierungsfolgen. Beiträge zur So-
(vgl. GG, 859), die sozusagen den Widerstand gegen ziologie der Moderne. Opladen 1999.
»negative Begleiterscheinungen« (GG, 865) der je- –: Geschlossenheit und Offenheit. Studien zu einer Theorie
weiligen Funktionssysteme institutionalisieren. der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2003.
Systemtheorie als Evolutionstheorie 47

–: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der


modernen Gesellschaft II. Berlin 2011.
2. Systemtheorie als
Schimank, Uwe: Theorien gesellschaftlicher Differenzie- Evolutionstheorie
rung. Opladen 1996.
Schwinn, Thomas: Differenzierung ohne Gesellschaft. Um-
stellung eines soziologischen Konzepts. Weilerswist Wenn in der Soziologie der Evolutionsbegriff ver-
2001. wendet wird, ist zumeist von gesellschaftlicher Evo-
Tenbruck, Friedrich H.: »Gesellschaft und Gesellschaften: lution die Rede, also nur von der Evolution des
Gesellschaftstypen«. In: Alfred Bellebaum (Hg.): Die Gesellschaftssystems, nicht aber von Evolution als ei-
moderne Gesellschaft. Freiburg 1972, 54–71.
Tyrell, Hartmann: »Anfragen an die Theorie der gesell- nem grundlegenden Mechanismus sozialer Systeme.
schaftlichen Differenzierung«. In: Zeitschrift für Soziolo- Evolutionstheorie ist regelmäßiger Bestandteil mo-
gie 7. Jg., 2 (1978), 175–193. dernisierungstheoretischer Bemühungen, aber letzt-
–: »Zur Diversität der Differenzierungstheorie. Soziologie- lich wurde dieses Theoriestück nicht wirklich syste-
historische Anmerkungen«. In: Soziale Systeme 4. Jg., matisch verfolgt. Im Umkreis differenzierungstheo-
1 (1998), 119–149.
–: Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze retischer Ansätze von Herbert Spencer, Émile Durk-
zur soziologischen Theorie. Wiesbaden 2008. heim über Talcott Parsons bis Jeffrey Alexander und
Richard Münch spielten evolutionstheoretische Mo-
Irmhild Saake
tive zwar sehr wohl eine Rolle, ging es hier doch stets
um die Frage der Variation und Selektion einer Neu-
formierung gesellschaftsinterner Grenzlinien, also
darum, wie sich gesellschaftliche Handlungseinhei-
ten zuschneiden, ordnen und zueinander verhalten.
Aber eine ausgearbeitete Theorie sozialer Evolution
lag hier nirgendwo vor.
Was Luhmanns Perspektive von diesen Angeboten
unterscheidet, ist nicht nur eine tiefenscharfe Ausar-
beitung einer evolutionstheoretischen Perspektive
auf soziale Systeme, sondern v. a. die systematische
Entkopplung von Evolutionstheorie und Gesell-
schaftstheorie. Die folgende, eher kursorische Annä-
herung an die luhmannsche Evolutionstheorie wird
sich auf die theorietechnische Bedeutung der Evolu-
tionstheorie beschränken und keineswegs Evoluti-
onsprozesse empirisch nachzeichnen. Am Ende wird
das Ergebnis stehen, dass eine operativ gebaute
Theorie gar nicht anders kann, als evolutionstheore-
tisch zu denken.

Evolution und Komplexität


Es geht in der Systemtheorie nicht nur um die Evolu-
tion von gesamten Gesellschaften, sondern, wie Luh-
mann schreibt, um die Analyse der »Paradoxie der
Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen« (GG,
413). Es ist letztlich das Problem der Komplexität,
das hier bearbeitet wird – komplex ist ein System
dann, wenn es mehrere Anschlüsse an ein konkretes
Ereignis geben kann. Empirisch liegen also stets Si-
tuationen strukturierter oder organisierter Komple-
xität vor, d. h. es werden nur wenige Möglichkeiten
realisiert. Gemäß seinem Paradigma ereignisbasier-
ter, also temporalisierter Systeme geht es Luhmann
48 Theoriestränge

nicht nur um Komplexität oder komplexe Zustände. nachträglichen Modifikationen gehen so lange wei-
Es geht also nicht um Resultate, aus denen zu dedu- ter, wie ein autopoietisches System operiert.
zieren wäre, was sonst noch möglich gewesen wäre. Die Auflösung des Zirkels der Reflexion stellt in
Luhmann ist es vielmehr darum zu tun, die »Mor- der Theorie autopoietischer Systeme von Substanz
phogenese von Komplexität« (GG, 415) in den Blick auf Zeit um. Sobald ein neues Ereignis auftritt, ge-
zu nehmen, also die sukzessive Selektion eines Sys- hört die Beobachtung, die durch gleichzeitige Zuge-
tems aus mehreren Möglichkeiten. hörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum System eine
Temporalisierte Systeme sind nach Luhmann ›au- Paradoxie verursacht hat, nun eindeutig zum System.
topoietische‹ Systeme. Er versteht darunter Systeme, Doch auch dies kann nur eine neue Beobachtung se-
die sukzessiv auf eigene Zustände reagieren. Ganz hen, die damit eine neue Paradoxie produziert. In
ähnlich wie in Husserls Modell des durch Retentio- diesem Sinne bemerkt Luhmann: »Eine erste Unter-
nen und Protentionen auf die urimpressionale Ge- scheidung kann nur operativ eingeführt, nicht ihrer-
genwart fixierten Bewusstseins (vgl. Husserl 1966, seits beobachtet (unterschieden) werden. Alles Un-
23 ff.) konzipiert Luhmann soziale Systeme als ereig- terscheiden von Unterscheidungen setzt diese ja
nisbasierte Systeme, die mit ihrem eigenen Fort- voraus, kann nur nachher erfolgen, erfordert also
schreiten selektiv Möglichkeiten eingrenzen und sich Zeit bzw., in anderen Worten, ein in Operation be-
so durch Variation und Selektion stabilisieren oder findliches autopoietisches System. Und alle Rationa-
verändern können. Luhmann dockt damit die Evolu- lisierung ist deshalb Postrationalisierung« (WG, 80).
tionstheorie an die Grundfesten seiner Systemtheo- Man könnte also sagen, dass die Aufhebung der Pa-
rie an. Letztlich evoluiert ein System stets, wenn es radoxie der Selbstbezüglichkeit durch die Zeit nur
operiert. Lapidar schreibt Luhmann: »Evolution ist zeitweise erfolgen kann, nämlich von Ereignis zu Er-
immer und überall« (GG, 431). eignis.
Allein die Variation von Ereignissen kann einem
System noch keinen Halt geben, keine Gestalt. Erst
Evolutionstheorie und Systemtheorie Selektionen, die auf Dauer gestellt werden können,
führen zu Strukturen. Entscheidend ist aber, dass all
Luhmanns Systemtheorie ist per se Evolutionstheo- dies stets und immer nur je in einer Gegenwart erfol-
rie. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikations- gen kann. Wenn es stimmt, dass sich Systeme letztlich
ereignissen, die letztlich durch nichts weiter festge- nur in ihren und durch ihre Ereignisgegenwarten re-
legt sind als durch ihr eigenes Operieren. Die produzieren, besteht der Funktionssinn von Evolu-
›Elemente‹ in der Theorie autopoietischer psy- tion keineswegs bloß darin, dass es weiter geht,
chischer und sozialer Systeme werden folgerichtig als sondern dass es strukturiert weiter geht. Evolution
›Ereignisse‹ geführt, also als temporalisierte Elemente, schränkt Möglichkeiten ein, indem sie Strukturen
die nur in Kurzzuständen das System je gegenwärtig hervorbringt. All dies verweist darauf, dass sich die
sind. Damit eine Beobachtung eines Systems von ei- Sukzession von Ereignissen, v. a. aber die Selektion
ner zweiten Beobachtung desselben (!) Systems be- von Strukturen nur evolutionstheoretisch erklären
obachtet werden kann, bedarf es demnach keiner lässt.
Systemsubstanz, keines Systemgrundes und keiner Das Eigentümliche an Luhmanns Theorie sozialer
invarianten Elementstruktur des Systems, sondern Systeme ist seine Umkehrung einer Denkrichtung,
nur der Unterscheidung von Vorher und Nachher, die in der Soziologie zumeist die Geschäftsgrundlage
d. h. der Zeit. Wenn ein System sich beobachtet, tritt darstellt. Der übliche Blick richtet sich auf das Ein-
die Paradoxie auf, dass die Beobachtung zum Beob- zelereignis, etwa eine Handlung, deren Selektivität
achteten gehört. Im Moment der Beobachtung selbst aus vorgängigen, also strukturellen Vorgaben ermit-
kann das Ereignis dies aber nicht sehen. Die Beob- telt wird. Jemand handelt so, weil in ihm oder in einer
achtung ist selbst nicht in der Lage, den eigenen Voll- bestimmten Situation diese und jene äußeren und
zug zu beobachten. Sie tut, was sie tut, und kann inneren Faktoren kulminieren. Gegen diese Den-
demnach nicht einmal sehen, dass sie nicht sehen kungsart ist nichts zu sagen – sie muss aber letztlich
kann, was sie nicht sehen kann. Sobald das System den operativen Charakter des Strukturaufbaus und
sieht, dass die Beobachtung, die das System beobach- der Strukturgenese außer Acht lassen. Sie muss gewis-
tet, zum System gehört, ist diese Beobachtung bereits sermaßen das als unabhängige Variable behandeln,
eine nachträgliche Modifikation durch eine neue Be- was Luhmann als abhängige Variable behandelt – ab-
obachtung, die sich selbst nicht sehen kann. Diese je hängig vom strukturbildenden Evolutionsprozess.
Systemtheorie als Evolutionstheorie 49

Evolutionstheoretisches Denken wundert sich nicht flecht von Interaktionen in einer Gesellschaft, in
über die Abweichung, sondern darüber, dass es trotz der eine ungeheure Variationsbreite von Möglich-
der Gegenwartsbasiertheit von Ereignissen gelingen keiten aufscheint, von denen aber nur ein Bruch-
kann, dass es zu Stabilität, Struktur und Erwartbar- teil einen Strukturwert enthalten. Man denke etwa
keit kommt. Anders formuliert: Evolutionstheore- an ein Unternehmen, in dem neben der erwartba-
tisch gedacht wundert man sich nicht über Variation, ren Kommunikation permanent Abweichungen
sondern über Selektion. und Überraschungen passieren – in Meetings und
im Flurfunk, im Aufzug und in der Kantine, in E-
Mails und bisweilen sogar bei ganz offiziellen An-
Evolutionäre Mechanismen und lässen. Würde all das, was hier an Varietät auf-
Errungenschaften taucht, Strukturwert bekommen, würde die Orga-
nisation implodieren, in sich hineinfallen, weil sie
Als grundlegende evolutionäre Mechanismen gelten keinerlei selektive Struktur mehr hätte. Nichts
›Variation‹ und ›Selektion‹. Anschließend an den wäre entscheidbar, weil alles möglich wäre. Es sind
amerikanischen Psychologen und Sozialwissen- also nur wenige Variationen, die es auf die Ebene
schaftler Donald T. Campbell (1965), einen der Be- der Selektion schaffen.
gründer der ›evolutionären Erkenntnistheorie‹, er- • Die Möglichkeit zur Selektion entsteht vor allem
weitert Luhmann die evolutionären Mechanismen durch Wiederholung. Taucht eine Abweichung
um eine dritte Kategorie, die ›Restabilisierung‹ näm- immer wieder auf, bekommt sie einen Struktur-
lich. Campbell war es vor allem darum zu tun, neben wert, kann sich bewähren und wird erwartbar –
der Variation und Selektion auch den Mechanismus alle anderen Variationen verschwinden durch Ver-
der (Re-)Integration des Neuen in ein System be- gessen, durch Nicht-Anschlussfähigkeit. Man
schreibbar zu machen. Ein erfolgreicher Evolutions- kann dies in Diskussionen beobachten, wenn es ei-
schritt ist letztlich erst dann geschehen, wenn das nem nicht gelingt, Themen zu platzieren. Man er-
Neue so auf Dauer gestellt werden kann, dass seine wähnt etwas, und niemand geht darauf ein. In der
Struktur gesichert bleibt, etwa durch Institutionen Kommunikation kann dies dann keinen Struktur-
oder andere Formen der Stabilisierung von Erwar- wert bekommen, weil es nicht verstärkt wird, weil
tungen. Luhmanns angedeutetes Beispiel in diesem es keine Anschlusskommunikation daran gibt.
Zusammenhang ist etwa die durch Variation erfolg- Was man aber aus Debatten kennt, ist, dass sich
reiche Entdeckung der Landwirtschaft und ihre Redefiguren oder sogar Argumente wiederholen
durch Selektion erwartbar gemachte Strukturierung. und dadurch etablieren. Es wird für immer mehr
Variation und Selektion bringen also nicht nur eine Sprecher attraktiv, diese Figur zu verwenden, und
neue Technik hervor, sondern etablieren auch Mög- man wird durch erfolgreiche Verwendung einer
lichkeiten, diese Techniken weiter anzuwenden und solchen Sentenz geradezu in das Geschehen hi-
etwa von anderen Tätigkeiten zu unterscheiden. neingezogen. So bekommen bestimmte Partikel
Etabliert werden kann Landwirtschaft in einer sol- durch Selektion einen Strukturwert, weil regis-
chen Gesellschaft aber erst dann, wenn die nun mög- triert werden kann, dass es nun in dieser, nicht in
liche Selektion ihrerseits erwartungsstabil gemacht jener Weise weiter geht. All das geschieht aber per-
werden kann – durch Änderung von Routinen, durch manent, und es bedarf eines hohen Energieauf-
Ausdifferenzierung von Rollen oder was auch immer wandes, um eine solche Figur oder ein bestimmtes
denkbar ist. Evolutionäre Schritte ändern also nicht Argument auf Betriebstemperatur zu halten und
nur die Erwartungsstrukturen, sondern müssen sich für Weiterverwendung bereit zu halten.
in einem dritten Schritt flankierend in ein dauerhaf- • Hier entsteht nun das Bezugsproblem für den drit-
tes Verhältnis zur Systemstruktur setzen – und diese ten Mechanismus, die Restabilisierung. In einer In-
damit sowohl ändern als auch kontinuieren. teraktion mag dieser Mechanismus selten vorkom-
Um Luhmanns Konzeption der evolutionären men, weil Interaktionen unter Anwesenden ohne-
Mechanismen zusammenzufassen (vgl. dazu GG, hin wenig dauerhafte Strukturen ausbilden. Aber
454): geht man noch einmal auf das Beispiel der un-
• Auf der Ebene der Variation kommt es zu Abwei- strukturierten, dann strukturierter werdenden
chungen, zu neuen Elementen, man kann sagen: Kommunikationen in einem Unternehmen ein, so
zu Überraschungen. Variationen finden perma- ist etwa daran zu denken, dass das wiederholte
nent statt. Man denke etwa an das vibrierende Ge- Auftauchen eines Themas in einem bestimmten
50 Theoriestränge

Typus von Meetings dazu führt, dies restabilisie- Perspektive zu bezweifeln, negiert regelrecht den Zu-
rend zu etablieren – etwa durch Ankündigung auf schnitt evolutionstheoretischen Denkens. Evoluti-
der Mustertagesordnung, durch Ausdifferenzie- onstheoretisches Denken beginnt ja gerade gegen
rung einer zuständigen Stelle oder was auch im- geschichtsphilosophische Modelle damit, das Evolu-
mer einer solchen Organisation als Reaktionsform tionsgeschehen als ein ungeplantes, gleichsam für
zur Verfügung stehen könnte. sich selbst blindes, gegenwartsbasiertes Geschehen
Die Beispiele sind absichtlich eher einfach, ja ge- zu beschreiben – als ein Geschehen, das nicht inten-
radezu banal gewählt. Sie sollen aber verdeutlichen, tional gebaut ist und weder auf die Intention des
dass die Systemtheorie bis in ihre Grundfesten evo- Schöpfers einer creatio continua noch auf Intentiona-
lutionstheoretisch konzipiert ist – was im Übrigen lität im variierenden und selektiven Geschehen zu-
auch evolutionstheoretische Motive entdramatisiert. rückgeht.
Wenn es stimmt, was Luhmann sagt, wenn Evolution Ohne Zweifel kommen Intentionen und Motive in
tatsächlich immer und überall ist, dann muss sich der soziokulturellen Evolution vor, aber nicht als Vo-
dies eben auch an solch einfachen Beispielen ver- raussetzung, sondern als Ergebnis und Effekt der
deutlichen lassen. Und dann ergibt sich daraus auch Evolution – sowohl in ihrer kommunizierten Gestalt
ein deutlicher Hinweis auf die Theorieästhetik der als auch im Sinne der Ko-Evolution von sozialen und
Systemtheorie. Sie ist radikal ereignistheoretisch ge- psychischen Systemen. Was und wie Akteure denken
baut, operativ. Und sie nimmt die kybernetische Fi- und warum sie handeln, wie sie handeln, ist eben
gur der dynamischen Stabilität tatsächlich ernst. nicht Motor der Evolution, sondern Teil des Gesche-
Zunächst aber zurück zu den evolutionären Me- hens selbst. Wer in die Evolutionstheorie soziokultu-
chanismen. Der dritte Mechanismus sorgt dafür, dass reller Prozesse Motive als Movens einbauen will«
›Selektionsgewinne‹ auf Dauer gestellt werden. Da- macht aus dem Explanandum ein Explanans.
runter versteht Luhmann »evolutionäre Errungen- Womöglich wird der Funktionssinn evolutions-
schaften« (GG, 506), die nicht kausal und nicht theoretischen Denkens erst dort wirklich einsichtig,
notwendig entstehen, sondern Ergebnis evolutionär wo es gelingt, die Alltagsverkürzung sozialer Prozesse
kontingenter Prozesse sind – dann aber von hohem auf die Intentionen von Akteuren komplexer zu be-
Strukturwert und langer Strukturdauer sein können. schreiben. Erst dann wird man sehen können, wie
Man denke etwa an die Ausdifferenzierung von selbstreferentiell sich soziale Anschlüsse vollziehen
Funktionssystemen, also die Etablierung von symbo- und wie sehr sie einer Dynamik unterliegen, die Un-
lisch generalisierten Kommunikationsmedien, deren wahrscheinliches weniger unwahrscheinlich macht –
Wegdifferenzierung voneinander eine der evolutio- das dürfte doch eine der Erfahrungen gegenwärtiger
nären Errungenschaften der modernen Gesellschaft Modernität sein, bis in literarische Subjektkonzep-
ist. tionen hinein, die eben nicht mehr von der klassi-
schen bürgerlichen Idee des (kulturprotestantischen)
widerspruchsfreien oder wenigstens seine Wider-
Evolution und Intentionalität sprüche in sich aufhebenden, linear beschreibbaren,
biographisch gesättigten Individuums zehrt. Wo-
Ein strittiges Thema in den Debatten um soziokultu- möglich werden solche Selbstbeschreibungen selbst
relle Evolution ist die Bedeutung von Akteuren und inzwischen von der eigenen Variations- und Selekti-
ihren Intentionen für die Evolution. So wird – etwa onsgeschichte überrascht.
von Michael Schmid (Schmid 2003, vgl. auch
Hodgson 1988) – vorgetragen, die Evolutionstheorie
müsse intentionale Handlungen voraussetzen, um Evolution und Planung
das evolutive Geschehen sozialer Systeme beschrei-
ben zu können. Letztlich wird hier Variation und Se- Als letzter Punkt sei noch kurz das Verhältnis von
lektion nicht im kommunikativen Geschehen selbst Evolution und Planung angesprochen. Letztlich ist
lokalisiert, sondern in den Intentionen von Akteu- Planung als Versuch der bewussten Konditionierung
ren. Man kann natürlich trefflich darüber streiten, ob von Zukunft das explizite Gegenprogramm zur Evo-
eine Sozialtheorie möglich ist, die Intentionalität, lution, deren Grundcharakteristikum ja darin gese-
Motive und Subjektivität in der zweiten Reihe ihrer hen wird, ungeplant zu verlaufen. Auch Planung ist
Begrifflichkeiten platziert (Nassehi 2007; Saake/Nas- Teil der Evolution – ebenso wie Intentionen oder
sehi 2007). Dies aber aus evolutionstheoretischer Entscheidungen oder sonstige Zeitschnitte, die im
Systemtheorie als Evolutionstheorie 51

sozialen Leben aussehen, als änderten sie die Welt. umso eher lassen sich Variations- und Selektionspro-
Gerade aus evolutionstheoretischer Perspektive lässt zesse mitbeobachten. Es ist fast wie bei biologischen
sich viel über Planung lernen: Auch Planung findet Populationen mit extrem kurzen Generationszyklen
wie alles in einer Gegenwart statt, löst also, evoluti- (etwa bei Viren): Evolution scheint in der modernen
onstheoretisch gesprochen, Variations- und Selekti- Gesellschaft geradezu eine beobachtbar gewordene
onsprobleme in einer Gegenwart. Luhmann schlägt Erscheinung geworden zu sein. Das kommt jeden-
deshalb explizit vor, man sollte »Planungen nicht pri- falls der Selbsterfahrung der Bewohner moderner
mär danach beurteilen, ob sie ihre Ziele erreichen« Gesellschaften entgegen. Alles, was geschieht, ge-
(OuE, 356). Was fast wie ein augenzwinkerndes Bon- schieht in Gegenwarten, und stets müssen diese Ge-
mot klingt, ist eher eine soziologisch-methodische genwarten sich an und in ihrer jeweiligen Praxis neu
Regieanweisung. Gemeint ist Folgendes: Den Funk- bewähren. Diese Gesellschaft verändert sich stets kri-
tionssinn von Gegenwarten, in denen Zukünfte kon- senhaft, sie muss ihre Struktur gewissermaßen im-
ditioniert werden – also: Entscheidungen, Absichts- provisieren und kommt dennoch zu Selbststabilisie-
erklärungen, Planung –, wird man nur in diesen rungen, letztlich in einem permanenten Evolutions-
Gegenwarten selbst auffinden können. Dafür gibt es prozess, der sich immer weniger auf evolutionären
empirische Evidenzen. Wer plant, muss die Planung Errungenschaften ausruhen kann. Diese Gesellschaft
selbst, also den Akt der Planung, die Herstellung von ist fundamental eine Gesellschaft der Gegenwarten
Konsens oder Gefolgschaft, die Ressourcen für den (Nassehi 2003, 159 ff.; 2006, 359 ff.; 2011).
Planungsakt etc. in einer Gegenwart bereitstellen
und sich darin bewähren. Selbst die Antizipation von
Zukünften kann sich nur in Gegenwarten bewähren. Literatur
Campbell, Donald T.: »Variation and Selective Retention in
Socio-Cultural Evolution«. In: Herbert Barringer u. a.
(Hg.): Social Change in Developing Areas. Cambridge
Fazit 1965, 19–49.
Hodgson, Geoffrey: Economics and Evolution. Bringing
Die Rekonstruktion evolutionstheoretischer Motive Life Back into Economics. Cambridge/Oxford 1988.
in Luhmanns Systemtheorie zeigt: Gemeinsam ist all Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie des inneren Zeit-
den genannten Motiven die Konzentration auf Ge- bewußtseins (1893–1917). Husserliana X. Hg. von Ru-
genwarten. Darin liegt ein entscheidender Schlüssel dolf Boehm. Den Haag 1966.
für ein Verständnis der aktuellen gesellschaftlichen Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit. Studien
zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M.
Moderne. Ihre Komplexität und ihre Schnelllebig- 2003.
keit, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Logiken –: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.
und Kontexte sowie der permanente Wechsel von 2006.
Perspektiven lassen Situationen dieser Gesellschaft –: »The Person as an Effect of Communication«. In: Sabine
immer gegenwärtiger werden. Was geschieht, muss Maasen/Barbara Sutter (Hg.): On Willing Selves. Neoli-
beral Politics vis-à-vis the Neuroscientific Challenge.
sich in Gegenwarten bewähren – die Illusion langfris- Hampshire 2007, 100–120.
tiger Wirkmächtigkeit sowie ausgedehnter Gegen- –: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der
warten scheint ausgeträumt zu sein. Die Selbsterfah- modernen Gesellschaft II. Berlin 2011.
rung dieser Gesellschaft besteht darin, dass die Saake, Irmhild/Nassehi, Armin: »Warum Systeme? Metho-
Gesellschaft für sich selbst nicht erreichbar ist und dische Überlegungen zu einer sachlich, sozial und zeit-
lich verfassten Wirklichkeit«. In: Soziale Welt 58. Jg.
dass sie letztlich in unterschiedliche gleichzeitige Ge-
(2007).
genwarten zerfällt. Wir haben uns daran gewöhnt, Schmid, Michael: »Evolution. Bemerkungen zu einer Theo-
dass Zukünfte kaum konditionierbar sind und Pla- rie von Niklas Luhmann«. In: Hans-Joachim Giegel/Uwe
nungshorizonte den evolutionären Regeln von Varia- Schimank (Hg.): Beobachter der Moderne. Beiträge zu
tion und Selektion unterliegen. Restabilisierungen Niklas Luhmanns ›Gesellschaft der Gesellschaft‹. Frank-
furt a. M. 2003, 117–153.
scheinen immer unwahrscheinlicher oder wenigs-
Armin Nassehi
tens kurzfristiger zu werden.
Evolutionstheoretisches Denken im Sinne einer
gegenwartsbasierten Variation von Elementen und
Selektion von Strukturen muss heute nicht mehr mit
epochalen Maßstäben arbeiten. Je schneller und ge-
genwartsfixierter die moderne Gesellschaft wird,
52 Theoriestränge

3. Systemtheorie als Ordnung regelt die Beziehungen unter den Personen;


und die Beziehungen unter den Personen sind bereits
Kommunikationstheorie eine Beziehung zur sozialen Ordnung. Nichttrivial
und nichttautologisch ist dies nur deshalb, weil beide
Drei Impulse Beziehungen die Möglichkeit enthalten, die jeweils
andere Beziehung abzulehnen.
In ihrer Fassung als Kommunikationstheorie ist die In der Ausarbeitung dieser drei Impulse ist die
Systemtheorie eine Theorie der Reproduktion von Kommunikationstheorie seither eine Theorie selek-
Sinn unter den Bedingungen der Teilnahme unab- tiver Kontrolle der Beziehung zwischen Individuen,
hängiger Lebewesen, der Absicherung in flüchtigen die die Möglichkeit haben, die jeweils gefundene
Ereignissen und des Bezugs auf ein mitlaufendes Ordnung abzulehnen. Die Systemtheorie ist eine
Nichtwissen. Das System ist Kommunikation, indem Kommunikationstheorie, wenn es ihr gelingt, die
jede seiner Operationen Systemzustände mitteilt, de- Spezifika verschiedener Systeme als Formen der se-
ren Reproduktion unwahrscheinlich ist. Und die lektiven Kontrolle unter Negationsvorbehalt zu be-
Kommunikation ist System, indem sich jede Mittei- stimmen und zu beschreiben.
lung auf vorherige und nachfolgende Mitteilungen War der Kommunikationsbegriff zunächst allge-
bezieht, deren Adressen, Momente und Inhalte aus- mein genug gehalten, um dieses Programm für Lebe-
wechselbar sind. wesen, Bewusstsein und Kultur gleichermaßen in
Mindestens drei Impulse waren dafür verantwort- Angriff zu nehmen (Ruesch/Bateson 1995), so grenzt
lich, dass sich die Systemtheorie immer auch als Niklas Luhmann den Begriff auf die Beschreibung
Kommunikationstheorie verstand. Der erste Impuls sozialer Systeme ein (SS). Der Begriff des sozialen
stammt aus der mathematischen Kommunikations- Systems kann in jüngerer Zeit auch die Kommunika-
theorie (Shannon/Weaver 1949). Diese Theorie hat, tion mit Computern und möglicherweise auch mit
angeregt durch die statistische Physik, einen Infor- anderen hinreichend komplexen Einheiten einschlie-
mationsbegriff formuliert, der eine Information als ßen, doch konzentrierte sich die Ausarbeitung der
Selektion einer Nachricht aus einer Menge möglicher Systemtheorie als Kommunikationstheorie auf eine
anderer Nachrichten definiert. Ausgehend von dieser Kommunikation, an der sich nur Menschen, ausge-
Definition kann ein Korrekturmechanismus be- stattet mit unabhängigen Körpern und Bewusstsein,
stimmt werden, der durch Rauschen verzerrte Nach- beteiligen können.
richten wiederherstellt, indem unwahrscheinliche
Nachrichten durch wahrscheinliche ersetzt werden.
Der zweite Impuls, mit dem ersten eng verwandt, Kommunikation sichert Redundanz
stammt aus der Kybernetik (Wiener 1948). Hier geht
es darum, Prozesse der Rückkopplung oder Kontrol- Eine Kommunikationstheorie erkennt man daran,
le zu beschreiben, in denen Wahrscheinlichkeitsver- dass sie keine Aussagen über die kommunizierten
teilungen möglicher Nachrichten errechnet und Gegenstände, etwa Symbole, Worte oder Nachrich-
laufend korrigiert werden. Die Selektion und Kor- ten, enthält (Foerster 1993, 269 ff.). Denn das hieße,
rektur der Nachrichten wird als Operation und Pro- dass man Kommunikation tautologisch mithilfe von
zess eines Beobachters verstanden, der mit der Kommunikabilia nachweist, das heißt Kommunika-
Festlegung und Veränderung von Weltzuständen tion dann für möglich hält, wenn es etwas zu kom-
durch Information identisch ist. munizieren gibt. Stattdessen fragt eine Kommunika-
Der dritte Impuls stammt aus einem Verständnis tionstheorie nach der unwahrscheinlichen Repro-
von Soziologie, das dieser zwei miteinander verbun- duktion von Kommunikabilia unter der doppelten
dene Problemstellungen attestiert (GS2, 195 ff.). Die Bedingung erstens ihrer Unterscheidung und Ver-
erste Problemstellung fragt nach der Möglichkeit von knüpfung und zweitens der selbst gewählten Abhän-
Beziehungen zwischen Personen mit je eigenem Be- gigkeit unabhängiger Teilnehmer an dieser Kommu-
wusstsein; und die zweite nach Beziehungen zwi- nikation. Sie handelt also nicht von der Bedeutung
schen einem Individuum und einer sozialen Ord- der Symbole, vom Sinn der Worte oder vom Inhalt
nung. Die Kommunikationstheorie beantwortet bei- der Nachrichten, sondern davon, wie diese Bedeu-
de Problemstellungen, indem sie jeweils eines der tung, dieser Sinn und dieser Inhalt entstehen, unter-
beiden Probleme als die Lösung des anderen be- schieden und erhalten werden, wenn Kommunikati-
schreibt (Serres 1991). Die Beziehung zur sozialen on dafür auf eigene Bestimmungsleistungen ange-
Systemtheorie als Kommunikationstheorie 53

wiesen ist und die Teilnehmer an der Kommunikati- Weaver 1949) wird für soziale Systeme durch die An-
on jeweils erst gewonnen werden müssen. nahme der endogen mitlaufenden Konstruktion pas-
Die Annahme der Unwahrscheinlichkeit der sender Kontexte jeder Selektion ersetzt (Baecker
Kommunikation ist deshalb zentral. Sie erlaubt es, 2002 u. 2005). Auch das statistische Wahrscheinlich-
Kommunikation nicht als Problem, sondern als Lö- keitskalkül von Redundanz und Varietät muss dann
sung eines Problems zu beschreiben und den theore- intern, als implizit mitlaufendes Errechnen mögli-
tischen und empirischen Aufwand darauf zu verwen- cher und unmöglicher Erwartungen und Erwar-
den, nach den Formen dieser Lösung zu fragen. tungserwartungen vollzogen werden (SS).
Die erste Bedingung der Unterscheidung und Ver- Kommunikation im System ist daher, auf den ein-
knüpfung der Kommunikabilia teilt die Kommuni- fachsten Nenner gebracht, redundante Produktion
kationstheorie mit der Sprachtheorie seit Ferdinand minimaler Überraschungen (TGS, 42 f.), nämlich
de Saussure: »dans la langue il n’y a que des diffé- Markierung einer Selektion aus einem damit bestä-
rences sans termes positifs« (Saussure 1972, 166). Die tigten und variierten Auswahlbereich möglicher an-
zweite Bedingung der selbst gewählten Abhängigkeit derer Selektionen. Diese Kommunikation ist nur im
unabhängiger Teilnehmer an dieser Kommunikation System möglich, da man andernfalls keine Ver-
bringt die Kommunikationstheorie in die Nachbar- gleichsmöglichkeiten der Selektionen untereinander
schaft der Soziologie, auch wenn es Letzterer schwer hätte. Und sie ist nur in einem komplexen System
fällt, einen Begriff der Kommunikation unter ihre möglich, da andernfalls der Auswahlbereich endlich
Grundbegriffe mit aufzunehmen. Nur der Sozialbe- wäre. Die Komplexität wird ebenfalls doppelt garan-
haviorismus George Herbert Meads unterhält einen tiert, nämlich zum einen durch die Vielfalt der Ele-
Kommunikationsbegriff, der an differentiellen und mente und Relationen des Systems, unter denen die
rekursiven Prozessen einer Symbolisierung interes- Selektionen die Wahl haben, und zum anderen durch
siert ist, die als emergentes Produkt der Interaktion die Differenz von System und Umwelt im Allgemei-
von Organismen verstanden wird, die ihrerseits ihre nen sowie durch die Differenz von Kommunikation
Identität erst aus dieser Symbolisierung gewinnen und Bewusstsein im Besonderen.
(Mead 1973, 81 ff. u. 177 ff.). Sucht man nach Theo- Der Beitrag der Kommunikation zum System ist
rien oder Philosophien, die von beiden Bedingungen unter diesen Bedingungen erstens die sachliche Aus-
handeln, wird man nur in Ludwig Wittgensteins Phi- differenzierung des Systems, das man an seinen Se-
losophie der Sprachspiele und in Harvey Sacks Un- lektionen im Unterschied zu den Selektionen anderer
tersuchungen zur Sequentialisierung von Konversa- Systeme erkennt, zweitens die zeitliche Reproduktion
tionen fündig, die beide Fragen der Reproduktion des Systems, das in jeder seiner Selektionen auf frü-
des Sinns und Fragen der Rekrutierung von Teilneh- here und spätere Selektionen zurückgreift und vo-
mern unterscheiden und parallel führen (Wittgen- rausgreift, und drittens die soziale Konstitution des
stein 1980; Sacks 1992). Systems, das laufend auf Perspektiven der beteiligten
Erst die Verbindung von Kommunikationstheorie Teilnehmer an der Kommunikation verweist, die sich
und Systemtheorie liefert mit den beiden Begriffen untereinander schon deshalb unterscheiden, weil die
der Redundanz und der Varietät weitere Schlüssel zu Unabhängigkeit dieser Teilnehmer gewahrt, gepflegt
einer Untersuchung von Prozessen der Kommunika- und gesteigert werden muss, wenn die Ausdifferen-
tion, die beides zugleich sind: Prozesse der Sicherstel- zierung und die Reproduktion strukturell gesichert
lung und Erhöhung von Redundanz und Prozesse werden sollen. Die Systemtheorie vertritt einen nor-
der Suche nach und Integration von Varietät (Bate- mativen bias zugunsten von Differenz, Vielfalt und
son 1972, 405 ff.). Der Begriff des Systems bringt die- Rückkopplung.
se beiden Prozesse zusammen, indem jede Kommu-
nikation als eine Selektion verstanden wird, die
auswählt, was sie auswählt, und dafür Anhaltspunkte Die Sozialdimension des Sinns
unter den vorherigen und nachfolgenden Selektio-
nen benötigt. Außerdem wird jede dieser Selektionen Die Theorie sozialer Systeme in den soziologischen
als eine Selektion in einem komplexen System begrif- Fassungen von Talcott Parsons und Niklas Luhmann
fen, in dem mehr Möglichkeiten der Selektion mit- rückt die soziale Konstitution des Systems in das
laufen als je aktuell realisiert werden können. Die für Zentrum der Aufmerksamkeit (Parsons 1951; SS). Es
technische Systeme gültige Annahme der exogen de- gibt zwar keine grundsätzliche Priorität oder Domi-
finierten Anzahl möglicher Selektionen (Shannon/ nanz der Sozialdimension des Sinns gegenüber den
54 Theoriestränge

Sach- und Zeitdimensionen, doch wird die Sozial- genz bezieht daraus seine Brisanz, dass es sowohl sys-
dimension als eine Art Engpassfaktor verstanden, temtheoretisch als auch kommunikationstheoretisch
der vorsteuert, welche Sach- und Zeithorizonte einer formuliert ist. Es ist ein Problem der Kommunikati-
Gesellschaft sowohl erreichbar als auch zur Ord- on, insofern es aus der Unabhängigkeit der Beteilig-
nung der eigenen Komplexität erforderlich sind. Das ten und der Wechselseitigkeit der Zuschreibung der
ist eine der wissenssoziologischen und konstrukti- Möglichkeit der Wahl entsteht. Und es ist ein Pro-
vistischen Ausgangsentscheidungen der Theorie so- blem des Systems, da es nur innerhalb der Geschichte
zialer Systeme (vgl. auch Berger/Luckmann 1970). der Selektionen des Systems sowohl entsteht als auch
Dinge und Ereignisse sind Formen im Medium des gelöst werden kann. Erst Letzteres zwingt zu einer
Sozialen (Heider 1926/2005). Sie bewähren sich als umständlichen, weil umgangssprachlich nicht ge-
Konstrukte einer Kommunikation, die ihrerseits Sys- wohnten Formulierung des Problems aus der sozio-
tem ist. logischen Sicht auf das soziale System und nicht aus
Dieses Interesse an der Sozialdimension des Sinns der psychologischen Sicht auf die beteiligten Perso-
dokumentiert sich in einer Reihe von Theoremen, nen und ihre Motive, Absichten und Interessen. Mo-
die die Ausarbeitung der Systemtheorie als Kommu- tive, Absichten und Interessen ebenso wie die
nikationstheorie anleiten. Das erste und wichtigste Personen sind vielmehr aus der soziologischen Per-
dieser Theoreme ist das Theorem vom Problem der spektive bereits Konstruktionen eines sozialen Sys-
doppelten Kontingenz, das von der Kommunikation tems. Sie entstehen im Zuge einer Lösung des
gelöst werden muss, wenn es zur Ausdifferenzierung Problems der doppelten Kontingenz, die als diese Lö-
und Reproduktion eines Systems kommen soll. Das sung eine Kommunikation ermöglicht, die ihrerseits
Problem der doppelten Kontingenz besteht in der die Voraussetzung für die Entstehung des Problems
Möglichkeit einer Blockade der Kommunikation ist. Begrifflichkeit wie Wirklichkeit der Theorie so-
durch ihre wichtigste Eigenschaft, die Freiheit bezie- zialer Systeme sind in jedem ihrer Züge zirkulär. Das
hungsweise Kontingenz der Wahl der Anschlussse- Problem der doppelten Kontingenz wird als Kataly-
lektion (Parsons u. a. 1951; SS, 148 ff.). Solange alle sator der Emergenz eines sozialen Systems verstan-
Teilnehmer an einer Kommunikation darauf warten, den, das dieses Problem nicht etwa ein für alle Mal
dass ihr Gegenüber die Möglichkeit der Wahl wahr- löst, sondern seinen eigenen reproduktiven Umgang
nimmt und sich festlegt, passiert nichts. Dies ist mit ihm und einer bestimmten Menge an möglichen
möglicherweise auch eine psychologische, vor allem Lösungen pflegt.
jedoch eine soziologische Problemstellung. Das für Nur weniges individualisiert ein soziales System
die Konstitution des sozialen Systems entscheidende mehr als diese Pfadabhängigkeit von einmal gefun-
Problem besteht nicht darin, dass sich die Teilnehmer denen Lösungen des Problems der doppelten Kon-
an der Kommunikation aus Mangel an Instinkt oder tingenz. Deshalb ist dieses Theorem einer der
Reflexion nicht entscheiden können. Sondern es be- bewährten Einstiege in die empirische Analyse eines
steht darin, dass die Kommunikation eine Situation konkreten Systems.
erzeugt, in der alle Beteiligten entdecken, dass sie sich Ein zweites Theorem einer als Kommunikations-
nur festlegen können, wenn andere sich bereits fest- theorie verstandenen Systemtheorie ist das Theorem
gelegt haben. In dieser Situation, in der man kom- von der Ausdifferenzierung eines sozialen Systems
muniziert, ohne zu kommunizieren (denn: »Man im Medium des Sinns. Laut Luhmann haben soziale
kann nicht nicht kommunizieren«, so Watzlawick/ Systeme diese Ausdifferenzierung im Medium des
Beavin/Jackson 1969, 53), hilft nur die Intervention Sinns zwar mit Bewusstseinssystemen gemeinsam
einer Norm oder eines Zufalls. Parsons nahm an, dass (SS, 346 ff. und Luhmann 1985), doch ist für den So-
die Kommunikation in solchen Situationen auf kon- ziologen mit Ausnahme des Sinns seines je individu-
ventionalisierte Orientierungen ausweicht, die nor- ellen eigenen Bewusstseins nur der Sinn eines
mativ festhalten, welches Verhalten belohnt oder sozialen Systems im Medium der Beobachtung von
bestraft wird, während Luhmann sich auf die Exis- Beobachtern (= Kommunikation) zugänglich und
tenz solcher Normen nicht verlassen will und statt- beschreibbar. Wir beschränken uns hier auf die Be-
dessen beobachtet, dass ein Zufall genügt, um einen schreibung sozialen Sinns, halten jedoch fest, dass so-
der Beteiligten zu einer Geste zu veranlassen, die der zialer Sinn elementar dadurch gekennzeichnet ist,
andere als Festlegung interpretiert, an die ein An- dass in ihm eine Reflexion auf seine differentielle Be-
schluss riskiert werden kann (SS, 149 f.). arbeitung durch ein individuelles Bewusstsein im-
Das Theorem des Problems der doppelten Kontin- mer mitläuft. Sozialer Sinn ist Sinn, der von einem
Systemtheorie als Kommunikationstheorie 55

Individuum dank dessen Bewusstsein anders ver- (Bateson 1972, 459). Eine Mitteilung ist eine »Erre-
standen wird. gung« innerhalb des Systems, die den Zustand des
Sinn wird von Luhmann als Verweisungsmedium Systems ändert (SS, 194). Und das Verstehen ermög-
verstanden und beschrieben (TGS, 25 ff. und SS, licht die Kommunikation »von hinten her«, indem es
92 ff.). Sinn verdoppelt die Welt, indem er Dinge, Er- anhand der Unterscheidung von Information und
eignisse und Perspektiven zu markieren erlaubt, die Mitteilung Bezeichnungen und Erregungen sortiert,
untereinander und mit anderen Dingen, Ereignissen zuordnet und als sinnhaft bestätigt (SS, 198). Kom-
und Perspektiven in einer Beziehung stehen, die sich munikation ist Synthese dieser drei Selektionen, das
jedoch jeweils nicht von selbst ergibt, sondern ge- heißt nur als emergentes Phänomen möglich. Keine
wählt werden muss. Sie wird in und von einem Sys- Bezeichnung, keine Erregung und kein Verstehen be-
tem gewählt, das genau dann kommuniziert, wenn es gründet für sich bereits Kommunikation. Deutlicher
dies tut, und das jede seiner Kommunikationen als kann man nicht sagen, dass Kommunikation ein ver-
Selektion in einem Raum von Alternativen kommu- teiltes Phänomen und insofern System ist. Sie ist im-
niziert, der mitkommuniziert wird. Sinn ist daher mer zugleich sachliche Ausdifferenzierung, zeitliche
endogen unruhig. Jede seiner Selektionen muss sich Reproduktion und soziale Konstitution, die sich in
laufend im Vergleich mit Alternativen bewähren, de- jeder Kommunikation als Trinität von Information,
ren Attraktivität und Ablehnung ihrerseits gesellig, Mitteilung und Verstehen wiederholen.
moralisch, religiös, politisch, wirtschaftlich, pädago- Dieses dritte Theorem verknüpft die Kommuni-
gisch, wissenschaftlich oder ästhetisch motiviert sein kationstheorie der Systemtheorie mit der sozialpsy-
mag, insofern es diesen Sach-, Zeit- und Sozialmoti- chologischen Attributionsforschung, insofern diese
ven der Kommunikation gelungen ist, sich als Ver- die Bedingungen untersucht, unter denen Kommu-
gleichskriterien zu etablieren. nikationen dazu neigen, entweder personale oder si-
Luhmann schlägt die Leitunterscheidung Aktuali- tuative Zurechnungen zu wählen, das heißt in einer
tät/Potentialität für dieses Sinnmedium vor, um da- Anschlusskommunikation entweder die Mitteilung
rauf hinzuweisen, dass Kommunikation im Medium oder die Information, die »Beziehung« oder den »In-
Sinn nur möglich ist, wenn mindestens das, was je halt« (Watzlawick/Beavin/Jackson 1969), als Bezugs-
aktuell der Fall ist, von dem unterschieden wird, was punkt zu wählen (Heider 1958). Auch damit können
möglich, aber nicht wirklich ist (Whitehead 1979). beide Aspekte, die uns hier interessieren, unterstri-
Beides, das Aktuelle und das Potentielle, gibt es je- chen werden, der kommunikative Aspekt einer in je-
weils positiv, negativ und imaginär, das heißt im Zu- dem Moment gegebenen Wahlfreiheit des Anschlus-
stand der Annahme, im Zustand der Ablehnung und ses und der systemische Aspekt der Eingeschränkt-
im Zustand der Unbestimmtheit (genauer: der Un- heit der Entscheidung in Abhängigkeit von früheren
entschiedenheit und damit Offenheit für noch un- und späteren Entscheidungen. Man ist zwar frei in
bestimmte Bestimmungen). Hieraus ergeben sich der Wahl der Zurechnung, muss aber entweder per-
Ansatzpunkte für eine Modalisierung der Kommuni- sonal oder situativ zurechnen. Ausweichen kann man
kation, die vermutlich nur durch eine mehrwertige allenfalls in die Emotion und in die Poesie und dort
Logik abgebildet werden kann (Peirce 1868; Günther Verwechslungen von Personen und Situationen pfle-
1976; Deleuze 1993). Innerhalb dieses Verweisungs- gen (Baecker 2004).
reichtums von Sinn bewähren sich Paradoxien in ih- Nicht zuletzt könnte man aus diesem dritten
rer doppelten Funktion als Attraktoren von Auf- Theorem so etwas wie die Unschärferelation der Sys-
merksamkeit und als Aufforderung zu kreativem temtheorie ableiten, nach der es einem Beobachter
Entscheiden (PdF). Sie markieren die Bruchstellen, entweder möglich ist, die Person oder die Situation
an denen die Kommunikation unmöglich, also not- zu bestimmen, aber nie beides zugleich. Denn sobald
wendig wird, weil das System an diesen Stellen nicht die Person bestimmt ist, ist die Situation offen, weil
weiterkommt. die Person durch ihre Wahlfreiheit bestimmt ist. Und
Das dritte Theorem der Systemtheorie als Kom- sobald die Situation bestimmt ist, ist die Person un-
munikationstheorie, das hier zu nennen ist, ist das bestimmt, weil ihre Wahlfreiheit nicht mehr gegeben
Theorem von der Synthese der Kommunikation aus ist.
den drei Selektionen Information, Mitteilung und Drei weitere Theoreme seien hier nur der Voll-
Verstehen (SS, 191 ff. u. SA6, 113 ff.). Eine Informa- ständigkeit halber genannt. Das Theorem der Unter-
tion ist eine Bezeichnung von etwas im Kontext von scheidung von Interaktion, Organisation und Gesell-
etwas anderem, »a difference that makes a difference« schaft formuliert die Systemtheorie als Theorie der
56 Theoriestränge

Kommunikation jeweils unter Anwesenden, unter Schon deshalb ist die begriffliche Rekonstruktion
Mitgliedern und unter Abwesenden (GG, 813 ff. und der Systemtheorie als Kommunikationstheorie und
826 ff.). Das Theorem der Unterscheidung von The- umgekehrt der Kommunikationstheorie als System-
men und Funktionen formuliert die Systemtheorie theorie hilfreich. Sie stellt uns die Begriffe bereit, mit
als eine Theorie der Kommunikation entweder von deren Hilfe wir eine möglicherweise weitreichende
Beiträgen zu Themen oder der Lösung von Proble- Umstellung der Strukturen der Gesellschaft von der
men (GG, 77 f.), um im Anschluss daran entweder modernen auf die nächste Gesellschaft beobachten
statistische oder funktionale Analyse zu betreiben. können. Die Einsicht, dass eine Kommunikation im-
Und das Theorem der Kommunikation im Medium mer und grundsätzlich unter Negationsvorbehalt
von Verbreitungs-, Erfolgs- und Massenmedien for- steht, informiert uns vorab über mögliche neue Teil-
muliert die Systemtheorie als eine Theorie der Kom- nehmer und über unseren eigenen Spielraum.
munikation, die ihre Formen aus dem dauernden
Zerfall dieser Formen gewinnt (GG, 190 ff.).
Literatur
Baecker, Dirk: »Kommunikation im Medium der Informa-
Abschied vom Privileg des Menschen tion«. In: Ders.: Wozu Systeme? Berlin 2002, 111–125.
–: »Wozu Gefühle?« In: Soziale Systeme 10. Jg. (2004), 5–20.
Es ist nicht ohne Ironie, dass die Theorie sozialer Sys- –: Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt a. M.
2005.
teme in ihrem Selbstverständnis als Kommunikati- Bateson, Gregory: Steps to an Ecology of Mind [1972]. Chi-
onstheorie eine Nähe zum Menschen und seinem cago, MI 2000.
Bewusstsein als notwendig mitlaufender Umweltbe- Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche
dingung des sozialen Systems gesucht und gepflegt Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wis-
hat (GG, 103), die sie jetzt aufgeben muss, weil die senssoziologie. Frankfurt a. M. 1970 (engl. 1966).
Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Frankfurt a. M. 1993 (frz.
Präzision, mit der es ihr gelungen ist, das System als 1969).
Kommunikation zu beschreiben, darauf aufmerk- Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen: Versuch einer
sam macht, dass andere komplexe Einheiten in der Brücke. Hg. von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt a. M.
Umwelt eines sozialen Systems möglicherweise eben- 1993.
falls die Voraussetzungen bieten, sich an Kommuni- Günther, Gotthard: »Cybernetic Ontology and Trans-
junctional Operations«. In: Ders.: Beiträge zur Grundle-
kation zu beteiligen.
gung einer operationsfähigen Dialektik. Bd. 1. Hamburg
Die entsprechende Forschung läuft unter dem Be- 1976, 249–328.
griff der strukturellen Kopplung und betont, dass die Heider, Fritz: Ding und Medium [1926]. Berlin 2005.
sachliche Ausdifferenzierung, zeitliche Reproduktion –: The Psychology of Interpersonal Relations. London
und soziale Konstitution von Kommunikation immer 1958.
Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer
dann möglich ist, wenn die Strukturen der Kommu-
symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1998
nikation Verweise auf unabhängige Einheiten mit der (frz. 1994).
Fähigkeit zu eigenen Wahrnehmungen und einem ei- Luhmann, Niklas: »Sinn als Grundbegriff der Soziologie«.
genen Gedächtnis enthalten. Das gilt gegenwärtig nur In: TGS, 25–100.
für Menschen, galt aber vor der modernen Gesell- –: »Wie ist soziale Ordnung möglich?« In: GS2, 195–285.
schaft auch für Geister, Götter und Tiere und könnte –: »Die Autopoiesis des Bewußtseins«. In: Soziale Welt
36. Jg. (1985), 402–446.
nach der modernen Gesellschaft für »Hybride« (La- –: »Was ist Kommunikation?« In: SA6, 113–124.
tour 1998) und für Computer gelten (GG, 117 f.). Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus
Nicht die Frage, ob Computer über ein Bewusst- der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a. M. 1973
sein verfügen, empfiehlt Luhmann daher im Auge zu (engl. 1934).
behalten, sondern die Frage, ob sie sich an Kommu- Parsons, Talcott: The Social System. New York 1951.
– u. a.: »Some Fundamental Categories of the Theory of
nikation beteiligen können (OuE, 376 f.). Denn nicht Action: A General Statement«. In: Talcott Parsons/Ed-
auszuschließen ist, dass eine strukturelle Kopplung ward A. Shils (Hg.): Toward a General Theory of Action.
der Kommunikation an Computer zur Ausbildung Cambridge, MA 1951, 3–29.
von Strukturen der Kommunikation führt, die wir Peirce, Charles Sanders: »On a New List of Categories«. In:
Menschen schon deshalb nicht wiedererkennen, weil Proceedings of the American Academy of Arts and Sci-
ences 7. Jg. (1868), 287–298.
ihr Tempo und ihr Verweisungsreichtum uns über- Ruesch, Jürgen/Bateson, Gregory: Kommunikation: Die so-
fordern. Das mag für Interaktion, Organisation und ziale Matrix der Psychiatrie. Heidelberg 1995 (engl.
Gesellschaft je unterschiedlich gelten. 1951).
Systemtheorie als Medientheorie 57

Sacks, Harvey: Lectures on Conversation. Hg. von Gail Jef-


ferson, eingel. von Emmanuel A. Schegloff. Oxford 1992.
4. Systemtheorie als Medien-
Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale. Hg. theorie
von Charles Bally/Albert Sechehaye, kritisch ediert von
Tullio de Mauro. Paris 1972.
Serres, Michel: »Die Kommunikation der Substanzen, more »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt,
mathematico bewiesen«. In: Ders.: Hermes I: Kommuni- in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Mas-
kation. Berlin 1991, 215–229 (frz. 1966). senmedien« (RdM, 9) – dieser Einleitungssatz aus
Shannon, Claude E./Weaver, Warren: The Mathematical Die Realität der Massenmedien ist gleichzeitig einer
Theory of Communication. Urbana, IL 1949.
Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D.: der erfolgreichsten und einer der problematischsten
Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Pa- Sätze Niklas Luhmanns. Erfolgreich, weil es sich da-
radoxien. Bern 1969 (engl. 1967). bei um einen bis in die nicht-akademische Öffent-
Whitehead, Alfred North: Process and Reality: An Essay in lichkeit vorgedrungenen Satz handelt; problema-
Cosmology. Hg. von David Ray Griffin/Donald W. Sher- tisch, weil er sich so gut dazu eignet, simplifiziert zu
burne. New York 1979.
Wiener, Norbert: Cybernetics, or Control and Communi- werden. Dass sich gerade ein Soziologe, der noch
cation in the Animal and the Machine [1948]. Cam- nicht einmal ein privates Fernsehgerät besaß, am
bridge, MA 21961. Ende seines Werkes ausgerechnet den modernen
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. In: Massenmedien zuwendet, ist ein viel geäußerter Vor-
Ders.: Schriften 1. Frankfurt a. M. 41980, 269–544. wurf. Dem kann man nur entgegnen, dass dieser Satz
Dirk Baecker am Ende eines soziologischen Vorhabens steht, das
von Beginn an darauf hingewiesen hat, dass man
über die Gesellschaft nichts erfährt, wenn man nicht
auch die Medienanordnungen im Blick hat, die Ge-
sellschaft organisieren.
Bevor man also damit beginnt, die Systemtheorie
als Medientheorie zu rekonstruieren, ist es notwen-
dig, darauf hinzuweisen, dass sich die Systemtheorie
überhaupt als Medientheorie rekonstruieren lässt.
Das ist bereits eine entscheidende Information. Denn
innerhalb der Soziologie ist Luhmann zweifelsohne
derjenige Theoretiker, der am konsequentesten die
Ausarbeitung einer soziologischen Medientheorie
vorangetrieben hat.
Zwar hat sich die Soziologie als akademisches Fach
bereits seit ihren Anfängen mit Medien als Untersu-
chungsgegenständen beschäftigt, so etwa mit dem
Geld (Simmel 1989), dem Pressewesen (Habermas
1990, 275–292), dem Fernsehen (Adorno 1963) oder
der Fotografie (Bourdieu u. a. 2006), aber das alleine
kennzeichnet noch kein medientheoretisches Vorha-
ben. Medientheorien leisten mehr, sie setzen funda-
mentaler am Begriff des Mediums an. In der
Systemtheorie stößt man daher nicht nur auf der
Ebene der Untersuchungsgegenstände auf Medien,
sondern auch auf der Ebene der Theorie selbst.
Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, inner-
halb der luhmannschen Theoriearchitektur einen
medientheoretischen ›Erzählstrang‹ herauszuarbei-
ten. Wiewohl es sich dabei um die vielleicht »diffu-
seste und inkonsistenteste Stelle innerhalb der
ganzen Theorie« (Esposito 2006, 55) handelt, eignet
sie sich gerade dazu, deutlich zu machen, dass das,
was unter dem Label ›Systemtheorie‹ firmiert, kei-
58 Theoriestränge

neswegs ein monolithischer Theorieblock ist, son- breitungsmedien‹ versteht Luhmann Schrift, aber
dern ganz unterschiedliche Theoriemotive versam- auch Buchdruck, Massenmedien und elektronische
melt (Medientheorie, Kommunikationstheorie, Dif- Medien, die es ermöglichen, die räumlich-zeitliche
ferenzierungstheorie, Evolutionstheorie, Gesell- Distanz zwischen Mitteilung und Verstehen zu ver-
schaftstheorie). Gerade an der Medientheorie kann größern. Verbreitungsmedien lösen die Kommuni-
man studieren, wie elegant diese verschiedenen Er- kation aus dem Rahmen unmittelbarer Anwesenheit,
zählstränge miteinander verwoben sind. steigern die Anzahl an Empfängern und tendieren
dazu, die Geschwindigkeit immer stärker zu erhö-
hen.
Medientheorie / Kommunikationstheorie Bereits hieran wird deutlich, dass Luhmanns
Kommunikationstheorie ohne Anbindung an den
Die Frage nach den Medien taucht bei Luhmann zu- Medienbegriff nicht zu haben ist. Auch sollte deut-
nächst im Rahmen der Ausarbeitung einer system- lich geworden sein, dass für Luhmann Kommunika-
theoretischen Kommunikationstheorie auf. Luh- tion und Sprache nicht einfach zusammenfallen (vgl.
mann stellt, wie Jürgen Habermas zur selben Zeit Luhmann 1987). Als Medium reagiert die Sprache
auch, vom Begriff der Handlung auf den Begriff der ebenso wie die Schrift oder das Telefon auf dasselbe
Kommunikation als Grundbegriff seiner Soziologie Bezugsproblem: die Unwahrscheinlichkeit von Kom-
um. Anders als Habermas aber will er den »Einbau munikation. Für eine normative oder theoretische
von Rationalitätsprätentionen« (GG, 200) in den Be- Privilegierung der Sprache sieht Luhmann daher
griff der Kommunikation strikt vermeiden. Zwar ist auch keinen Anlass.
Kommunikation für Luhmann die basale soziale Von vornherein ist Luhmanns Konzept von Kom-
Operationsweise, das heißt aber nicht, dass sich in ihr munikation gegen ein Übertragungsmodell der
auch eine emphatische Idee von Verständigung reali- Kommunikation gerichtet (vgl. SS, 193), es interes-
sieren muss. Luhmann fragt vielmehr danach, wie es siert sich für Kommunikation nicht auf der Ebene
überhaupt zu Kommunikation kommt. Denn sein von Bedeutungen, sondern auf der Ebene ihrer Ope-
theoretischer Ausgangspunkt ist es, Kommunikation rativität. Mit fast allen medientheoretischen Ansät-
zunächst für unwahrscheinlich zu halten (vgl. SA3, zen teilt seine Kommunikationstheorie daher auch
29–40). Genau an dieser Stelle kommen Medien ins einen dezidiert hermeneutikkritischen Impuls (vgl.
Spiel. Für Luhmann sind sie diejenigen evolutionä- Krämer 1998, 569; ähnlich auch Baecker 2008, 135).
ren Errungenschaften, die das Problem der Unwahr- Es geht ihm nicht um die kommunikative Übermitt-
scheinlichkeit von Kommunikation bearbeiten und lung von Bedeutung, sondern vielmehr um deren
denen es gelingt, »Unwahrscheinliches in Wahr- kommunikative Herstellung. Dass Medien dabei
scheinliches zu transformieren« (SS, 220). nicht einfach nur neutrale Mittler von Informatio-
Die erste Unwahrscheinlichkeit betrifft das Verste- nen sind, sondern in ihrer Medialität Effekte – vor al-
hen der Kommunikation: Zunächst einmal ist es un- lem auch soziale Effekte – haben, hat in der
wahrscheinlich, dass A versteht, was B meint. Soziologie niemand so deutlich herausgestellt wie
›Verstehen‹ wird hier nicht in einem starken, herme- Luhmann: »Medien […] veränder[n] auch die Art
neutischen Sinn, sondern in einem ganz praktischen und Weise der Kommunikation selbst« (SS, 223). Er
Sinn gebraucht. Es meint nichts anderes als das Wei- führt aus, dass durch Schrift zwar die Verbreitung
ter-Operieren, was auch Missverstehen, Rückfragen von Kommunikation gewährleistet wird, dass Schrift
und Widerspruch einschließen kann. Dasjenige Me- aber in ihrer medialen Struktur (nicht also das Ge-
dium, das die Wahrscheinlichkeit des Verstehens er- schriebene selbst) gleichzeitig auch das Risiko von
höht, ist die Sprache. Ihr gelingt es, Wahrnehmungen Nein-Stellungnahmen erhöht. Wird Kommunikati-
zu generalisieren und so erwartungsstabil für Kom- on vermehrt aus interaktiven Zusammenhängen he-
munikationen zur Verfügung zu stellen. rausgelöst, nimmt zwar die Fähigkeit zur Abstrakti-
Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf on zu, aber gleichzeitig auch die Möglichkeit von
das Erreichen der Kommunikation: Dass Kommuni- Kritik, Dissens und Ablehnung, die in Interaktionen
kation nicht nur anwesende Personen erreicht, son- noch durch körperliche Anwesenheit aufgefangen
dern auch unmittelbar Abwesende, ist zunächst werden konnte (SA2, 216).
höchst unwahrscheinlich. Es ist das Verdienst von Aus diesem Grund weist Luhmann noch auf eine
Verbreitungsmedien, den Resonanzraum von Kom- dritte Unwahrscheinlichkeit hin: die Unwahrschein-
munikation immer weiter auszudehnen. Unter ›Ver- lichkeit des Erfolgs von Kommunikation. Warum
Systemtheorie als Medientheorie 59

sollte ein Kommunikationsangebot überhaupt ange- tionen ausstatten (vgl. GG, 203) und somit auf ein
nommen werden? Warum werden die meisten Kom- Ordnungsproblem reagieren, das in vormodernen
munikationen nicht einfach abgelehnt? Luhmanns Gesellschaften durch den Rückgriff auf normative
Antwort darauf lautet ganz einfach: weil es bestimm- Bedingungen, auf Autorität oder Schichtung gelöst
te Medien gibt, die den Erfolg von Kommunikatio- war. In der modernen, funktional differenzierten Ge-
nen wahrscheinlich machen. Solche ›Erfolgsmedien‹ sellschaft wird dieses Problem durch symbolisch ge-
nennt Luhmann auch symbolisch generalisierte neralisierte Kommunikationsmedien gelöst. Macht,
Kommunikationsmedien (vgl. GG, 316–396; SA2, Geld, Recht oder Liebe gelingt es (zwar je auf unter-
212–240), wie etwa Geld innerhalb der Wirtschaft, schiedliche Art und Weise, aber doch vergleichbar),
Macht innerhalb der Politik, Wahrheit innerhalb der soziale Situationen zu konditionieren und Motiva-
Wissenschaft, Liebe innerhalb von Intimbeziehun- tionen zu motivieren. Luhmann hat betont, dass die
gen oder Kunst innerhalb des Kunstsystems. Das Me- Mehrzahl an Kommunikationen in der modernen
dium ›Geld‹ ist sicherlich das anschaulichste Beispiel, Gesellschaft durch symbolisch generalisierte Kom-
um diesen Gedanken zu illustrieren. Wer in ein Kauf- munikationsmedien vermittelt ist. Diese sind des-
haus geht, bekommt etwas, nur weil er dafür zahlt. halb so erfolgreich, weil sie es ermöglichen, in einer
Mehr ist nicht notwendig, keine Sympathie, keine gegebenen Situation von fast allem anderen abzuse-
Überzeugungskraft, keine habituelle Nähe zu dem hen. Insofern sind sie zugleich symbolisch, weil sie
Verkäufer und auch keine Gewalt. Aus einer Situati- auf Sozialität abzielen, und diabolisch, weil sie per-
on, in der vieles möglich und denkbar wäre, wird eine manent neue Differenzen erzeugen (vgl. GG, 320).
Situation mit prinzipiell nur zwei Möglichkeiten: die Im Medium des Geldes geht es eben nicht um Moral,
Zahlung erfolgt oder die Zahlung erfolgt nicht: nicht um Recht und auch nicht um Schönheit.
»[E]ine ›analoge‹ Situation [wird] in eine ›digitale‹ Mit seinen Ausführungen zu den symbolisch ge-
Situation transformiert« (GG, 360). Dass die Zah- neralisierten Kommunikationsmedien schließt Luh-
lung nicht erfolgt, ist übrigens schon empirisch sehr mann unmittelbar an Parsons’ Konzept der »Symbo-
unwahrscheinlich, weshalb Luhmann in einer für ihn lic Media of Interchange« an (vgl. Parsons 1977,
untypisch unsachlichen Art formuliert hat, dass 204 ff.), distanziert sich aber auch gleichzeitig davon.
symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Während Parsons Medien aus einer bereits stattge-
»auf wunderbare Weise« (GG, 320) Nein-Wahr- fundenen gesellschaftlichen Differenzierung ableitet
scheinlichkeiten in Ja-Wahrscheinlichkeiten über- (vgl. SA2, 225), sieht Luhmann in ihnen gerade auch
führen. »Katalysatoren […] für die Ausdifferenzierung von
Luhmann wäre nicht der erste Soziologe gewesen, Funktionssystemen der Gesellschaft« (GG, 358).
der auf die Bedeutung der Sprache, der Schrift oder Funktionale Differenzierung im luhmannschen Sin-
der Massenmedien für die Gesellschaft hingewiesen ne meint so gesehen die evolutionäre Etablierung un-
hätte, aber indem er sein Medienkonzept um den Ty- terschiedlicher medialer Anordnungen. Die Ökono-
pus der symbolisch generalisierten Kommunikati- mie, das Recht, die Kunst, die Politik oder die
onsmedien erweitert, geht er einen entscheidenden Wissenschaft sind nicht einfach nur unterschiedliche
Schritt weiter als die meisten sprach- oder medienso- Zuständigkeitsbereiche in der Gesellschaft mit festen
ziologischen Ansätze. Er schlägt damit den Bogen zu Aufgaben und formulierbaren Zwecken. Es handelt
seinem differenzierungstheoretischen Programm. sich vielmehr um unterschiedliche Medienanord-
nungen, die je unterschiedlich auf Welt Bezug neh-
men. Jedes symbolisch generalisierte Kommunikati-
Medientheorie / Differenzierungstheorie onsmedium ist daher »ein Medium der Weltkon-
struktion« (GG, 339).
Mithilfe des Konzepts symbolisch generalisierter Für eine derartige Verknüpfung medientheoreti-
Kommunikationsmedien ist Luhmann imstande, scher mit differenzierungstheoretischen Argumen-
nicht nur auf die Verbreitung von Kommunikation ten gibt es im Übrigen ein vergleichbares Beispiel
abzustellen, sondern ausdrücklich auch auf den Er- außerhalb der Soziologie: Ernst Cassirers groß ange-
folg von Kommunikation. Er kann somit etwas ver- legtes Projekt einer Philosophie der symbolischen For-
handeln, was die Soziologie üblicherweise unter dem men (1923–1929). Darin unternimmt Cassirer den
Schlagwort ›soziale Ordnung‹ diskutiert. Die Er- Versuch, die moderne Kultur vor dem Hintergrund
folgsmedien übernehmen selbst eine Ordnungsfunk- einer Pluralisierung von Sinnordnungen in den Blick
tion, indem sie Handlungen erwartbar mit Motiva- zu nehmen. Er spricht an dieser Stelle von ›symboli-
60 Theoriestränge

schen Formen‹ und interessiert sich für unterschied- lungen ist, Raum und Zeit zu überbrücken (vgl. Innis
liche und nicht konvertierbare Arten des Weltzu- 1997; 1972). In der Nachfolge konnte sich ein For-
gangs, etwa durch Sprache, wissenschaftliche Er- schungsprogramm etablieren, das vor allem histori-
kenntnis, Mythos, Kunst, Technik oder Religion. sche Medienumbrüche und -innovationen in den
Sowohl Cassirer mit seinem Konzept der symboli- Blick genommen hat, etwa die Entstehung des Al-
schen Formen als auch Luhmann mit seinem Kon- phabets (Havelock 1963) oder den Übergang von auf
zept der symbolisch generalisierten Kommunikati- Oralität basierenden hin zu auf Literalität basieren-
onsmedien weisen somit auf Zweierlei hin: auf die den Kulturen (Goody/Watt 1981; Ong 1982).
Pluralität von Medienanordnungen und auf den Die berühmte These des ›Innis-Schülers‹ Marshall
welterzeugenden Charakter dieser unterschiedlichen McLuhan, wonach das Medium selbst als Botschaft
Medienanordnungen (vgl. hierzu Krämer 1998, zu betrachten ist, wurde zum vielbeschworenen Dik-
564). tum eines Forschungsprogramms, das sich weniger
für die Inhalte von Medien als für deren technische
Anordnung zu interessieren begann. Seine pronon-
Eine gesellschaftstheoretische Variante cierteste und radikalste Fassung hat dieses Pro-
von Medientheorie gramm im Werk von Friedrich Kittler erhalten, der
Kulturgeschichte dann konsequent und ausschließ-
In Luhmanns spätem Hauptwerk Die Gesellschaft der lich als Medien- und Technikgeschichte rekonstru-
Gesellschaft (1997) lässt sich eine systematische und iert hat. Für Kittler gilt es, in den Blick zu nehmen,
ausführliche Darstellung seiner medientheoreti- mithilfe welcher Techniken und Institutionen es Kul-
schen Überlegungen finden. Nicht nur fasst er hier turen gelingt, Informationen zu adressieren, zu spei-
die Ergebnisse einer Theorie der Kommunikations- chern und zu verarbeiten (vgl. Kittler 1985, 501),
medien zusammen, er liefert auch eine historische wobei es wichtig ist zu betonen, dass ›Information‹
Übersicht über die verschiedenen Medienepochen für ihn ein ausschließlich »technisches und kein phi-
der Gesellschaft (GG, 813–846; vgl. Baecker 2007, losophisches Konzept« (Kittler 2012, 118) ist. Kittler
14 ff.). Seine Unterscheidung einer oralen Stammes- denkt kulturelle Evolution einzig als Resultat me-
gesellschaft, einer literalen aristokratischen Gesell- dientechnischer Veränderungen und hat dieses Ar-
schaft, einer auf Buchdruck und Lektüre basierenden gument immer wieder auch sehr materialreich
funktional differenzierten Gesellschaft und einer sich durchgespielt, etwa an der Erfindung von Grammo-
andeutenden Computergesellschaft erinnert stark an phon und Schreibmaschine (1986), an der Erfindung
die Befunde einer »historischen Medienwissen- optischer Medien wie Fotografie und Film (2002)
schaft« (Kittler 2003, 169) und doch unterscheidet oder an der Erfindung des Vokalalphabets (2007; vgl.
sie sich davon eklatant. Es ist wichtig, diesen Unter- auch Powell 1991, 236 f.).
schied herauszuarbeiten, um deutlich zu machen, Auf den ersten Blick scheint dieses kittlersche In-
worin der Mehrwert von Luhmanns gesellschafts- sistieren auf die medialen Bedingungen kultureller,
theoretisch fundierter Medientheorie liegt. d. h. sozialer Evolution dem luhmannschen Vorha-
Einen der frühesten und großartigsten Versuche ben sehr ähnlich zu sein. Und doch gibt es einen Un-
einer umfassenden Mediengenealogie verdanken wir terschied, der diese beiden Konzeptionen nur schwer
den am Imperial College in London gehaltenen Vor- vereinbar macht. Denn obwohl auch Luhmann in
lesungen von Harold A. Innis. Bereits in seiner frü- Die Gesellschaft der Gesellschaft verschiedene Gesell-
hen Studie zum kanadischen Eisenbahnnetz (Innis schaftsformen verschiedenen sie bestimmenden Me-
1923) hatte der Wirtschaftshistoriker Innis festge- dien zuordnet, vermeidet er jegliche Form medien-
stellt, dass Eisenbahnen nicht nur ein entscheidender theoretischer Kausalannahmen und geht somit auch
Wirtschaftsfaktor für großflächige Länder wie Kana- unausgesprochen auf Distanz zu jenem rigorosen
da sind, sondern im Grunde als Medien beschrieben Technizismus kittlerscher Prägung. Vielmehr stellt er
werden müssen, und zwar sowohl als Transportme- die These auf, dass Gesellschaften bereits auf Kultur-
dien als auch als Kommunikationsmedien, die Güter formen zurückgreifen können müssen, um mit dem
und Menschen, aber auch Informationen transpor- »Verweisungsüberschuß von Sinn« (GG, 409) umge-
tieren. Konsequent hat er fortan wirtschaftshistori- hen zu können, der mit der Entwicklung neuer Me-
sche in medienhistorische Fragen überführt und sich dien einhergeht (vgl. hierzu ausführlich Baecker
vermehrt dafür zu interessieren begonnen, mithilfe 2007, 14 ff.). Erklären lässt sich damit, dass Medien-
welcher Medien es unterschiedlichen Kulturen ge- technologien nicht kausal auf Gesellschaften eingrei-
Systemtheorie als Medientheorie 61

fen und diese formieren oder besser: formatieren, schließen lässt (vgl. Baecker 2002; Esposito 2006),
sondern dass diese selbst schon in sozial-kulturelle markiert die Einführung der Medium/Form-Unter-
Rückkopplungseffekte eingelassen sein müssen. Im scheidung den konsequenten Abschluss aller me-
Grunde wendet Luhmann damit das kittlersche Ar- dientheoretischen Bemühungen Luhmanns.
gument soziologisch und gibt der Medientheorie so Man begegnet dem Medienbegriff im Rahmen der
eine gesellschaftstheoretische Fundierung. Systemtheorie somit nicht nur auf der Ebene der Un-
tersuchungsgegenstände – Sprache, Schrift, Geld,
Massenmedien, Liebe – und auf der Ebene der Theo-
Medientheorie und Formtheorie riebegriffe – ›Verbreitungsmedien‹, ›symbolisch ge-
neralisierte Kommunikationsmedien‹ –, sondern
Abschließend soll an dieser Stelle noch etwas zur Me- bereits vor der Theorie selbst. Luhmann spricht
dium/Form-Unterscheidung gesagt werden, die in daher von der Medium/Form-Unterscheidung als ei-
den späteren Schriften Luhmanns eine immer wich- ner »gleichsam präsystemtheoretischen Unterschei-
tigere Rolle einnimmt (vgl. etwa SKL, 123–138; GG, dung« (ES, 227). Und genau das ist der Grund,
195 ff.). Mit dieser Unterscheidung greift Luhmann weshalb es sich lohnt, die luhmannsche Medientheo-
auf einen Vorschlag des Wahrnehmungspsychologen rie als eigenständigen und konstitutiven ›Erzähl-
Fritz Heider zurück, der in einem Aufsatz von 1926 strang‹ seiner Systemtheorie in den Blick zu nehmen.
von »Ding und Medium« gesprochen hat (Heider
2005). Heider geht davon aus, dass Medien Dinge zur
Literatur
Darstellung bringen, dabei selbst aber unsichtbar,
leer, »Nichts« (ebd., 66) bleiben. Wir können etwa im Adorno, Theodor W.: »Prolog zum Fernsehen«. In: Ders.:
Falle akustischer Wahrnehmung mithilfe von Luft Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt a. M. 1963,
Töne hören, aber wir hören Töne und nicht die Luft 69–80.
Baecker, Dirk: »Beobachtung mit Medien«. In: Claudia Lie-
selbst. Wir können im Falle optischer Wahrnehmung brand/Irmela Schneider: Medien in Medien. Köln 2002,
mithilfe von Licht Dinge sehen, aber wir sehen Dinge 12–24.
und nicht das Licht selbst. –: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2007.
Heider hat seinen Medienbegriff noch streng an –: »Medienforschung«. In: Stefan Münker/Alexander Roes-
die menschliche Wahrnehmung geknüpft. An dieses ler (Hg.): Was ist ein Medium? Frankfurt a. M. 2008,
131–143.
Konzept schließt Luhmann an, er erweitert es aber
Bourdieu, Pierre u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen
und spricht statt von ›Medium und Ding‹ von ›Me- Gebrauchsweisen der Fotographie. Hamburg 2006 (frz.
dium und Form‹. So gelingt es ihm, etwa auch die 1965).
Sprache in den Blick zu nehmen, die als Medium Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Ers-
selbst nicht wahrnehmbar ist und nur auf der Ebene ter Teil: Die Sprache. ECW Bd. 11 [1923]. Hamburg 2001.
–: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das
der Formen, also konkreter Wörter oder Sätze, wahr-
mythische Denken. ECW Bd. 12 [1925]. Hamburg 2002.
genommen werden kann. Da konkrete Sätze zwar –: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phä-
schnell gebildet werden können, aber auch schnell nomenologie der Erkenntnis. ECW Bd. 13 [1929]. Ham-
wieder verklingen, die Sprache als Medium jedoch burg 2003.
nicht verbraucht, also jederzeit (in immer neuen For- Esposito, Elena: »Was man von den unsichtbaren Medien
men) weiterbenutzt werden kann, dreht Luhmann sehen kann«. In: Soziale Systeme 12. Jg., 1 (2006), 54–78.
Fuchs, Peter: Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Unter-
das Verhältnis von Medium und Form einfach um – suchungen. Weilerswist 2004.
und somit auch 2000 Jahre Philosophiegeschichte Goody, Jack/Watt, Ian: »Konsequenzen der Literalität«. In:
auf den Kopf. Denn während ›Formen‹ oder ›Dinge‹ Dies. (Hg.): Literalität in traditionalen Gesellschaften.
üblicherweise als stabil, zeitlos und mit sich identisch Frankfurt a. M. 1981, 45–104 (engl. 1968).
vorgestellt werden, weist Luhmann gerade darauf Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit
[1962]. Frankfurt a. M. 1990.
hin, dass es Formen nur in Medien geben kann, was Havelock, Eric A.: Preface to Plato. Cambridge, MA 1963.
auch heißt, dass das Medium selbst stabiler ist als die Heider, Fritz: Ding und Medium [1926]. Hg. von Dirk Bae-
Formbildung. So gesehen ist Luhmanns Medien- cker. Berlin 2005.
theorie auch eine »Formtheorie« (Fuchs 2004, 25), Innis, Harold A.: A History of the Canadian Pacific Rail-
interessiert sie sich doch in erster Linie für die Kon- road. London/Toronto 1923.
–: Empire and Communications. Toronto 1972.
stitution von Formen. Wiewohl sich diese Medien- –: »Das Problem des Raumes«. In: Karlheinz Barck (Hg.):
konzeption nicht ohne weiteres und problemlos an Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation.
Luhmanns Theorie der Kommunikationsmedien an- Wien/New York 1997, 147–181.
62 Theoriestränge

Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. Mün-


chen 1985.
5. Systemtheorie als
–: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. Gesellschaftstheorie
–: Optische Medien. Berliner Vorlesungen 1999. Berlin
2002.
–: »Geschichte der Kommunikationsmedien«. In: Jörg Hu- Eines der großen Missverständnisse in der Rezeption
ber/Alois Martin Müller (Hg.): Raum und Verfahren. Ba- der soziologischen Systemtheorie Luhmanns besteht
sel/Frankfurt a. M. 2003, 169–188. darin, sie für eine Makrotheorie zu halten oder Sys-
–: »Mousa oder Litteratura«. In: Ders./Ana Ofak (Hg.): Me- temtheorie und Gesellschaftstheorie gleichzusetzen.
dien vor den Medien. München 2007, 17–29.
–: »Aufschreibesysteme 1800/1900. Vorwort«. In: Zeit- Würde dies zutreffen, könnte die Systemtheorie
schrift für Medienwissenschaft 6 (2012), 117–126. schon ihren universalistischen Anspruch, also jegli-
Krämer, Sybille: »Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir che Form sozialer Ordnung beschreiben zu können,
mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und nicht erfüllen. Das angedeutete Rezeptionsproblem
Form?«. In: Rechtshistorisches Journal 17. Jg. (1998), verwundert insofern, als Luhmann den Gesell-
558–573.
Luhmann, Niklas: »Einführende Bemerkungen zu einer schaftsbegriff explizit von Interaktion und Organisa-
Theorie symbolisch generalisierter Kommunikations- tion unterscheidet. Basieren Interaktionssysteme auf
medien« [1974]. In: SA2, 212–240. Anwesenheit und wechselseitiger Wahrnehmbarkeit
–: »Sprache und Kommunikationsmedien. Ein schief lau- (vgl. GG, 812 ff.) und reproduzieren sich Organisati-
fender Vergleich«. In: Zeitschrift für Soziologie 16. Jg., onssysteme durch Entscheidungen und Mitglied-
6 (1987), 467–468.
–: »Das Medium der Kunst« [1986]. In: SKL, 123–138. schaftsbedingungen (vgl. GG, 826 ff.), ist das Gesell-
–: »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation«. In: schaftssystem dasjenige soziale System, das alle
SA3, 29–40. sozialen Ereignisse umfasst. Gesellschaft bildet, so
Ong, Walter J.: Orality and Literacy. The Technologizing of Luhmann bereits zu Beginn der 1970er Jahre, »ein
the Word. New York 1982. System höherer Ordnung, ein System anderen Typs«
Parsons, Talcott: Social Systems and the Evolution of Action
Theory. New York 1977.
(SA2, 11), das die beiden anderen Systemtypen mit
Powell, Barry B.: Homer and the Origin of the Greek Alpha- umfasst, aber weder ein Interaktions- noch ein Orga-
bet. Cambridge 1991. nisationssystem ist. Zugleich ist zu betonen, dass der
Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900]. Frankfurt Systemtyp ›Gesellschaft‹ kein ›Makro‹-Phänomen
a. M. 1989. ist, das sich irgendwie emergent aus Interaktionen
Julian Müller
hervorbringt, sondern ein Sozialsystem eigener Ord-
nung. Insofern ist die luhmannsche Systemtheorie
nicht in jedem Falle Gesellschaftstheorie, sondern
auch Interaktions- oder Organisationstheorie, aber
eben auch Gesellschaftstheorie.

Gesellschaft als soziales System


Luhmann betont ausdrücklich, dass er Gesellschaft
als Aggregatbegriff behandelt, nicht als Horizontbe-
griff, dem als Korrelat die Welt entspricht (vgl. GG,
153 f.). Gesellschaft ist nicht die Welt in ihrer un-
strukturierten Unendlichkeit. Gesellschaft, so Luh-
mann, habe eindeutige Grenzen, operative Grenzen
nämlich, außerhalb derer eben keine Kommunikati-
on mehr vorkommt, während der Weltbegriff die
Einheit aller System/Umwelt-Relationen bezeichne –
und gerade deshalb als grenzenloser Horizont er-
scheint. Luhmann lässt keinen Zweifel daran, Gesell-
schaft als soziales System zu konzipieren und nicht
einfach als »Korrelat der in ihr stattfindenden Ope-
rationen« (ebd.). Freilich gehört es zum Aggregatzu-
stand der Gesellschaft, Gesellschaft eben nicht als
Systemtheorie als Gesellschaftstheorie 63

gewissermaßen subjekthaft operationsfähige, son- schaft stiftender Kategorien – in erster Linie Religion
dern ausschließlich als operative Einheit beschreiben –, die das Problem der Koordination von Unter-
zu können. Wenn Luhmann selbst ausdrücklich den schiedlichem hervorbrachte. Denkt man nur an
operativen Charakter der Gesellschaft betont (GG, Durkheims Problematisierung der Arbeitsteilung als
70), ergibt sich schon daraus der nicht teleologische, Problem einer Koordination von Unterschiedlichem,
der echtzeitliche Charakter der Gesellschaft. das mit seiner Unterschiedlichkeit rechnet (vgl.
Gemeint ist damit die Beobachtung, dass in der Durkheim 1988), denkt man an Max Webers Stilisie-
modernen, funktional differenzierten Gesellschaft rung der Pluralität der Moderne als einen »Kampf
unterschiedliche funktionale Kontexte gleichzeitig der Götter« (vgl. Weber 1994) oder an Simmels Vor-
ablaufen und sich damit sowohl der gegenseitigen stellung einer Entkoppelung und Kreuzung »sozialer
Steuerbarkeit als auch der Koordination von gemein- Kreise« (vgl. Simmel 1992, 456 ff.), wird deutlich,
samen Zukünften entziehen. Das soziologische wie dass das Bezugsproblem der Soziologie offensichtlich
das ›gesellschaftliche‹ Konzept ›Gesellschaft‹ scheint darin besteht, die Ungeordnetheit des Unterschiedli-
ja gerade dafür entwickelt worden zu sein, das Be- chen mit der Ordnung ihrer Beziehung zusammen-
zugsproblem einer Gleichzeitigkeit von Unterschiedli- zubringen. Ein elaborierter soziologischer Gesell-
chem zu bearbeiten. Als Gesellschaft erscheint die schaftsbegriff hat also exakt dieses (Bezugs-)Problem
Welt dann, wenn sich die Koordination von Hand- zu lösen: Wie gerinnt die Entkoppelung von sozialen
lungen nicht mehr nur der Unmittelbarkeit des Un- Prozessen und Bezugsproblemen zu einer Form, in
mittelbaren, etwa interaktionsnaher Kommunikati- der die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem als
on in einfachen Gesellschaften oder der einförmigen eine Einheit erscheint? Insofern ist der Begriff der
Indizierung aller Kommunikation durch Schichtung Gesellschaft bereits per se – hält er nicht als Metapher
und räumliche Verdichtung in Hochkulturen ver- an der Idee der Gemeinschaft aller Handelnden fest –
dankt. Auch hier gibt es stets unterschiedliche Kon- ein Differenzierungsbegriff, denn das Problem der
texte – aber nicht Kontexte, mit denen gleichzeitig zu Gesellschaft entsteht nur dort, wo sich die Koordina-
rechnen ist. tion des Unterschiedlichen nicht von selbst ergibt.
Erst mit dem Übergang zur funktional differen- Die Idee der Gesellschaft als der Gleichzeitigkeit
zierten Gesellschaft differenzieren sich Gleichzeitig- von Unterschiedlichem hat zur Konsequenz, dass
keiten voneinander weg, die je mit sich rechnen Gesellschaft gerade im systemtheoretischen Kontext
müssen. Die Semantik der ›Gesellschaft‹, wie wir sie nicht als »Subjekt-Aktant« erscheint, wie etwa Peter
etwa als die ›bürgerliche Gesellschaft‹ bei Hegel ken- V. Zima (2000, 333 f.) an die Adresse Luhmanns for-
nen, reagiert letztlich auf Unterschiedliches, das auf- muliert. Vielmehr gehört es offensichtlich zum Auf-
einander bezogen ist, dessen Interdependenzen aber bau von sozialen Systemen des Typs ›Gesellschaft‹,
nicht eineindeutig geregelt sind. Insofern ist es kein sich für sich selbst stets nur in Horizonten aufs Ganze
Zufall, dass Hegel den Begriff der bürgerlichen Ge- gegeben zu sein. Die Einheit der Gesellschaft ist dann
sellschaft wirtschaftsnah gebaut hat – bezogen auf nur jene subjektlose Einheit, die sich aus den empiri-
unterschiedliche Interessen an dem gleichen Gut und schen Anschlussfähigkeiten kontextualisierter Kom-
bezogen auf Arbeit, die auf unterschiedliche Tätigkei- munikationen ergibt, deren Gesamtform sich als
ten verweist. Waren die alte koinonía politiké ebenso solche nur einem Beobachter zeigt, der sich wie die
wie die societas civilis noch schlicht Gemeinschafts- systemtheoretische Soziologie für die Form der Dif-
begriffe, deren Bezugsproblem eher die Chiffrierung ferenzierung interessiert oder der sich in der Form ei-
des Gemeinsamen, des Einheitlichen war, ist das Be- nes ökonomischen, politischen oder religiösen Beob-
zugsproblem der bürgerlichen Gesellschaft gerade das achters auf ganz andere Formen kapriziert. Als
Gegenteil: die Gleichzeitigkeit von Unterschiedli- Gesellschaftstheorie nimmt Luhmanns Systemtheo-
chem in dem Sinne, dass das Gesellschaftliche sich rie deshalb die Form der Differenzierungstheorie an.
gerade den widerstreitenden Interessen verdankt, das Die Rede vom Gesellschaftssystem dispensiert also
nach einer ökonomischen Interessensdomestizie- nicht davon, Gesellschaft gerade nicht als operieren-
rung oder einer sittlichen Domestizierung der priva- de Einheit zu beschreiben, sondern als unerreichba-
ten und politischen Aspirationen verlangt. Gerade ren Zusammenhang von Kommunikationen, dessen
diese Divergenz der Perspektiven machte die Seman- System/Umwelt-Differenz ausschließlich durch seine
tik des Gesellschaftlichen gesellschaftlich plausibel. kommunikative Geschlossenheit gestiftet wird. Die
Für die frühe Soziologie schließlich war es gerade Form ihrer Einheit erscheint einem Beobachter dann
diese Erfahrung der Auflösung früherer Gemein- als eine Form, die die Einheit der unterschiedlichen
64 Theoriestränge

Horizonte in den Blick nimmt und in ihr jene Struk- Jenseits von Mikro und Makro
tur entdeckt, die die Unterschiedlichkeit des Diffe-
renten hervorbringt. Vielleicht liegt darin auch eine Die Systemtheorie in dem hier angedeuteten Sinne ist
Erklärung dafür, dass Luhmanns Theorie der Gesell- keine Theorie, die man als Strukturtheorie einer
schaft vor allem aus einer historischen Perspektive Handlungstheorie gegenüberstellen könnte. Es ist
argumentiert, von der her sich die Einheit der Ope- ein folgenreiches Missverständnis, die operative Sys-
rationen einer Gesellschaft, namentlich der Über- temtheorie für eine makrosoziologische Theorie zu
gang von einer stratifizierten zu einer funktional halten (so etwa Esser 2003). Letztlich entzieht sie sich
differenzierten Struktur, beobachtend erfassen lässt, sogar der Unterscheidung von mikro- und makro-
während eine tiefenscharfe Beobachtung der gesell- theoretischen Perspektiven, weil sie als ›operative‹
schaftlichen Gegenwart womöglich viel zu wenig Theorieform Systembildung als das Ergebnis der
Distanz aufbauen kann, um die Gleichzeitigkeit des Verkettung von Einzelereignissen und der rekursiven
Unterschiedlichen erfassen zu können. Damit taucht Rückwirkung von deren Strukturbildung auf dieje-
die Figur des Horizonts wieder auf – nun nicht als nigen Bedingungen auffasst, unter denen neue Ope-
Welthorizont, aber als interner Horizont der Gesell- rationen möglich sind – und weil sie den Begriff der
schaft, die aus je unterschiedlichen Teilsystemen je Gesellschaft zwar für das umfassendste Sozialsystem
unterschiedliche Horizonte ihrer selbst erzeugt. So ansetzt, aber das Bezugsproblem des Gesellschaftli-
vollzieht jedes Teilsystem Gesellschaft aus ihrer je ei- chen gerade darin sieht, dass es nicht um eine Ebe-
genen, nicht substituierbaren Perspektive. nendifferenzierung geht, sondern um den Vollzug
Luhmann hat diese operative Theorieanlage be- der Gesellschaft in konkreten Operationen. Anders
reits lange vor der sogenannten ›autopoietischen also als in emergenztheoretischen Handlungstheo-
Wende‹ auf den Begriff gebracht. Das Bezugspro- rien, etwa der Rational-Choice-Theorie, geht es der
blem des Gesellschaftlichen besteht darin, mit ande- Systemtheorie nicht allein um die Emergenz von
ren, aber gleichzeitigen Kontexten zu rechnen, die Mustern aufgrund der Kumulation von Handlungen,
sich dem unmittelbaren Zugriff der je konkreten die zwar auf Motive und Präferenzen zurückgeführt
Operation entziehen. Der Begriff der Gesellschaft werden, die aber dann selbst wiederum über Brü-
müsse »in der Lage sein, auch die möglichen Kom- ckenhypothesen an ihre strukturellen Antezedenzbe-
munikationen unter jeweils Anwesenden oder mit je- dingungen gebunden werden und »systemische«
weils Abwesenden mitzusystematisieren«, schreibt Strukturen entfalten (vgl. Coleman 1991, 6). Rudolf
Luhmann (SA2, 11), Gesellschaft sei »das umfassen- Stichweh (1995, 403 f.) hat darauf hingewiesen, die
de Sozialsystem aller kommunikativ füreinander er- Systemtheorie ersetze das Problem der Mikro-Ma-
reichbaren Handlungen«. Entscheidend an diesen kro-Unterscheidung durch die Unterscheidung von
Formulierungen ist der Hinweis auf mögliche Kom- Interaktions-, Organisations- und Funktions- bzw.
munikationen und auf die Potentialität ihrer wech- Gesellschaftssystem. Stichweh macht dabei das Argu-
selseitigen Erreichbarkeit. Es geht gerade nicht ment stark, dass die eigentlich interessante Frage
darum, dass sie faktisch geschehen, auch nicht darum, nicht die einer Ebenenhierarchie zwischen den ge-
dass sie sich tatsächlich erreichen. Das Problem der nannten Systemtypen ist, sondern wie sich innerhalb
Gesellschaft wird präzisiert als die Frage, wie sich (in von Sozialsystemen Ebenenübergänge darstellen, die
dieser Werkphase noch) Handlungen in den Kontext weder als Vorrang einer Mikro- noch als Vorrang ei-
möglicher anderer Handlungen stellen, die aus der ner Makroebene verstanden werden können – dann
Perspektive ihrer selbst nicht zugänglich sind, aber aber lässt sich das, was in der Soziologie üblicherwei-
prinzipiell als erreichbar gelten. Das Besondere des se als Mikro-Makro-Problem diskutiert wird, nicht
Gesellschaftssystems – im Vergleich zu Interaktionen über die Unterscheidung von Interaktion, Organisa-
und Organisationen – besteht darin, dass Handlun- tion und Gesellschaft klären.
gen weder über Anwesenheit kontrolliert werden, Für das Gesellschaftssystem lässt sich dieses Pro-
noch durch Mitgliedschaftsregeln und entsprechen- blem des Ebenenübergangs über die Theorie der
de Einschränkungen als vorstrukturiert gelten. Das symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
Sozialsystem Gesellschaft ist als umfassendstes Sozi- bearbeiten, die jene Kriterien angibt, nach denen in-
alsystem zugleich dasjenige, das intern auf Perspekti- nerhalb einer Gesellschaft in Form ihrer Funktions-
ven, d. h. auf unterschiedliche Perspektiven abstellt – systeme Selektionskriterien für Kommunikation
eben im Sinne einer internen Differenzierung von über unterschiedliche Ebenen eines Systems hinweg
Horizonten und Perspektiven. vermittelt werden, ohne damit so etwas wie eine pro-
Systemtheorie als Gesellschaftstheorie 65

grammatische, normative oder kognitive Einheit vo- innergesellschaftliche Umwelt nur als Ansammlung
raussetzen zu müssen (vgl. GG, 316 ff.). Was bleibt, von gleichen oder ähnlichen Systemen. Das Gesamt-
ist wieder nur dies: die Einheit der Operationsweise, system kann dadurch eine geringe Komplexität von
die sich in der unerreichbaren Gleichzeitigkeit von Handlungsmöglichkeiten nicht überschreiten« (GS1,
Unterschiedlichem gegeben ist. 25). Diese Limitation von Handlungsmöglichkeiten
resultiert daher, dass segmentär differenzierte Gesell-
schaften sich in solche Teilsysteme ausdifferenzieren,
Differenzierungsformen die ihre Grenzen in Lokalitäten und konkreten
Handlungssituationen finden. Als wesentliches Kri-
Die Theorie sozialer Systeme stellt darauf ab, nicht terium für die Zugehörigkeit zum (Teil-)System fun-
nur den wie auch immer gearteten Differenzierungs- giert demnach die Anwesenheit von Personen, die
grad von Gesellschaften als zentralen Indikator für letztlich alle am gleichen Problem arbeiten (vgl. SA2,
die Charakterisierung von Gesellschaftstypen zu füh- 22).
ren, sondern vor allem die Form der Differenzierung. Auf diese Differenzierungsform folgt die stratifi-
Eine solche Perspektive liegt für einen systemtheore- katorische Differenzierung. Kommt es zu Komplexi-
tischen Ansatz schon deshalb nahe, weil, wenn Ge- tätssteigerungen, können nicht mehr alle am glei-
sellschaften als Systeme behandelt werden, gesell- chen Problem arbeiten. Darauf reagiert die Gesell-
schaftliche Differenzierung nur als Systemdifferen- schaft, indem sie Teilsysteme ausdifferenziert, die
zierung verstanden werden kann: »Systemdifferen- nicht mehr gleiche Segmente darstellen, sondern die
zierung ist nichts weiter als Wiederholung der ungleich sind. Wären sie gleich, wäre bezüglich des
Systembildung in Systemen« (SS, 37). Damit bilden funktionalen Erfordernisses der Verteilung von Kom-
differenzierte Systeme innerhalb ihrer selbst wieder- plexität nichts gewonnen, denn es soll ja gerade er-
um System/Umwelt-Differenzen aus, was für soziale reicht werden, die Limitationen, die eine Kombinati-
Systeme zur Folge hat, dass durch Teilsystembildung on von nun notwendiger Ungleichheit in der Sach-
das Gesamtsystem »für jedes Teilsystem auf je ver- dimension und Gleichheit in der Sozialdimension
schiedene Weise« (ebd., 262) erscheint und rekon- notwendig implizieren, zu umgehen. Logischerweise
struiert werden kann. Es liegt auf der Hand, dass eine bietet sich dazu eine Verschiebung des Problems in
solche theoretische Perspektive sich nicht allein mit die Sozialdimension an: Die Gesellschaft reagiert auf
der ohne Zweifel durch Systemdifferenzierung und die komplexitätssteigernde Notwendigkeit von Un-
Teilsystembildung bewirkten Komplexitätssteige- gleichheit in der Sachdimension durch die Ermögli-
rung zufriedengeben kann. Von entscheidender Be- chung von Ungleichheit in der Sozialdimension. Sie
deutung ist vielmehr, auf welche Weise die Differen- differenziert sich also in Teilsysteme aus, die ihren
zen der verschiedenen teilsystemrelativen Rekon- Mitgliedern unterschiedliche soziale Positionen und
struktionen des Gesamtsystems zusammenspielen – damit unterschiedliche Tätigkeitsbereiche, Rollen,
oder eben nicht zusammenspielen. Funktionen und v. a. unterschiedliche Status zuwei-
Die Hauptthese der systemtheoretischen Gesell- sen. Insbesondere Letzteres verweist auf die gesamt-
schaftstheorie luhmannscher Provenienz lautet, dass gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die zwischen
die moderne Gesellschaft primär durch Differenzie- den ungleichen Teilsystemen bestehen. Es ist dies ein
rung in verschiedene Teilsysteme geprägt ist. Diese Kräfteverhältnis der Hierarchie zwischen relativ ge-
Differenzierungsform hat frühere Differenzierungs- schlossenen Ständen und Schichten. Diese Differen-
formen evolutionär abgelöst, die segmentäre und die zierungsform ist charakteristisch für Hochkulturen
stratifikatorische Differenzierungsform nämlich. wie etwa die frühen Reiche Südamerikas, die antiken
Im Rahmen der evolutionären Typen gesellschaft- Gesellschaften Ägyptens, Griechenlands und Roms
licher Differenzierungsformen bildet die segmentäre oder auch des europäischen Mittelalters.
Differenzierung das einfachste Differenzierungsprin- Die eindeutige Anordnung der Teilsysteme in
zip. Sie ist einfachen Sozialsystemen, etwa archai- hierarchischen Differenzen birgt eine entscheidende
schen Gesellschaften, zuzuordnen. Das segmentie- Konsequenz für die Einheit des Gesellschaftssystems.
rende Differenzierungsprinzip teilt ein Sozialsystem Betrachtet man eine hierarchische Rangfolge und
in gleiche Teile, etwa Familien, Stämme, Dörfer etc. versetzt man sich nacheinander in unterschiedliche
Das Bezugsproblem des jeweiligen Handelns ist hier Positionen innerhalb dieser Rangfolge, fällt auf, dass
die unhintergehbare und alternativlose Gemeinsam- die rigide, unhintergehbare Leitdifferenz oben/unten
keit der sozialen Gruppe. »Jedes Teilsystem sieht die es erlaubt, Positionen innerhalb der Gesellschaft ein-
66 Theoriestränge

deutig auszumachen, unabhängig davon, von wo aus wahrer (und unwahrer) Beobachtungen, die der Ge-
man beobachtet. Die Schematik der Hierarchie bleibt sellschaft zur Verfügung gestellt werden, aber dort of-
notwendigerweise die gleiche, aus welcher Perspekti- fenbar ganz anders ankommen als sie ›gemeint‹
ve man sie auch immer beobachtet. Beobachtungen waren; Erziehung hat die Planung und Begleitung
des Systems konvergieren deshalb in der Bestim- von Sozialisationsprozessen im Blick; Religion sieht
mung der Einheit des Differenten, der »unitas multi- immer noch Schöpfung im ganzen, leidet aber laut
plex. Die Differenz hält gewissermaßen das Differen- an ihrem marginalisiertem Kommunikationsanteil
te auch zusammen; es ist eben different, und nicht an gesellschaftlicher Gesamtkommunikation, die im
indifferent« (SS, 38). Im Falle der hierarchischen Dif- Hinblick auf Erlösungsversprechen als defizient er-
ferenzierung ist – wie gesagt – die Beobachtung, Be- lebt wird.
schreibung und Bestimmung des Systems relativ Die moderne Gesellschaft zeichnet sich insbeson-
einfach (vgl. ebd., 39), und zwar einfach im quanti- dere dadurch aus, dass ihre innere, horizontale Dif-
tativen Sinne. Es gibt nur eine Leitdifferenz, mit der ferenzierungsform ein Zentrum ausschließt, von
sich fast alles, was geschieht, topologisch bestimmen dem her die Einheit der Gesellschaft für alle verbind-
lässt: die Differenz von oben und unten. lich repräsentiert werden könnte. Die Moderne muss
Auf Komplexitätsdruck reagiert das Gesellschafts- also mit der Kontingenz leben, dass teilsystemrelative
system wiederum durch Umstellung der Differenzie- Perspektiven zugleich unersetzbar und ersetzbar
rungsform. Je stärker sich nun Sachprobleme (etwa: sind: Sie sind, was ihre Funktion angeht, unersetzbar.
wissenschaftliche, ökonomische oder politische) da- Es gibt keine Zahlungen außerhalb der Wirtschaft
von emanzipieren, wer sie löst, und es vermehrt da- und keine wissenschaftliche Wahrheit außerhalb des
rum geht, wie sie gelöst werden, stellt sich strikte Wissenschaftssystems. Es ist entscheidend, diese Teil-
Stratifikation als Hindernis heraus. Das ermöglicht systeme nicht im Sinne der Summe von Handlungs-
die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen als trägern – Investoren/Kapitaleigner oder Wissen-
Teilsystemen des Gesellschaftssystems. schaftler – oder als Organisationen – Betriebe/
Es handelt sich bei diesen um soziale Systeme, die Konzerne oder Universitäten/Forschungsinstitute –
sich um eine je eigene binäre Grundcodierung aus- zu verstehen. Die Unersetzbarkeit der Funktion er-
differenziert haben und die Welt nur durch Anwen- schließt sich erst, wenn man die Teilsysteme als An-
dung der durch die eigene Grundcodierung ermög- schlusszusammenhänge von Kommunikationen
lichten Leitdifferenzen beobachten können: Zahlen/ denkt, die etwa den wirtschaftlichen oder wissen-
Nicht-Zahlen in der Wirtschaft, Regierung/Opposi- schaftlichen Code benutzen. Die Unersetzbarkeit der
tion in der Politik, wahr/unwahr in der Wissenschaft, Perspektive resultiert aus der Unersetzbarkeit der je-
Recht/Unrecht im Recht usw. Die so ausdifferenzier- weiligen Funktion.
ten Teilsysteme erreichen ihre Leistungsfähigkeit vor Was jedoch ihre Beobachtungskapazität angeht,
allem dadurch, dass sie exklusiv und konkurrenzlos sind teilsystemrelative Perspektiven sehr wohl ersetz-
auf ihre Funktion beschränkt sind. Sie erhöhen ihre bar. Etwas in der Welt kann auch immer anders gese-
Kapazität der Bewältigung von Komplexität durch hen werden, nämlich zumindest aus der Perspektive
Limitierung von operativen Anschlüssen an andere eines anderen Teilsystems. Die moderne Gesellschaft
Teilsysteme. Sie können diese nur im Hinblick auf baut also die Kontingenz ihrer Kommunikationen als
den eigenen Code beobachten und sehen deshalb je Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung als
etwas eigenes, wenn sie die Welt beobachten: Wirt- Voraussetzung ihrer Differenzierung grundlegend in
schaft sieht in der Welt nur ein Anlageobjekt zur Ma- ihre eigene Differenzierungsform ein: Jede Perspek-
ximierung von Geldgewinn und zur Herstellung und tive kann und muss beobachten, dass das, was sie
Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit; Politik sieht, durch die eigene Beobachtung miterzeugt wird
macht die Welt als ein widerständiges Objekt aus, das (vgl. Luhmann 1992, 104 ff.). Die Ersetzbarkeit der
Entscheidungen und Steuerungskapazität einfordert jeweiligen Perspektive resultiert folgerichtig aus dem
und sich doch immer wieder der politischen Intenti- Umstand, dass die moderne Gesellschaft kein funk-
on versperrt und in dem, wenn schon nicht die Welt tionales Steuerungszentrum kennt, das als tertium
gesteuert werden kann, zumindest die eigene Macht comparationis eine synoptische Einheit der Differen-
gesichert werden muss; Recht sieht einen Konflikt- zen repräsentieren könnte.
und Geltungsbereich von Normen, deren Durchset-
zung unter Einhaltung prozessualer Regeln gesichert
werden muss; Wissenschaft stößt auf das Problem
Systemtheorie als Gesellschaftstheorie 67

Literatur (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Frankfurt


a. M. 1992, 371–386.
Coleman, James S.: Grundlagen der Sozialtheorie, Hand- Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die For-
lungen und Handlungssysteme. Bd. 1. München 1991. men der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. 11.
Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über Frankfurt a. M. 1992.
die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt a. M. Stichweh, Rudolf: »Systemtheorie und Rational Choice
1988. Theorie«. In: Zeitschrift für Soziologie 24. Jg. (1995),
Esser, Hartmut: »Wohin, zum Teufel, mit der Soziologie?« 395–406.
In: Soziologie 32. Jg., 2 (2003), 72–82. Weber, Max: »Wissenschaft als Beruf«. In: Ders.: Studien-
Luhmann, Niklas: »Interaktion, Organisation, Gesellschaft. ausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe. Bd. I/17. Tü-
Anwendungen der Systemtheorie«. In: SA2, 9–20. bingen 1994, 1–23.
–: »Einfache Sozialsysteme«. In: SA2, 21–38. Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und
–: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«. Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübin-
In: GS1, 9–71. gen/Basel 2000.
–: »Stellungnahme«. In: Werner Krawietz/Michael Welker Armin Nassehi
69

IV. Begriffe

1. Autopoiesis seiner Organisation zugrunde liegen und die in ei-


nem Netzwerk interagierender Bestandteile so inte-
Bereits in den frühen 1980er Jahren nimmt Niklas griert sind, dass sie durch ihre Operationen ständig
Luhmann Bezug auf wissenschaftliche Innovationen, dieses Netzwerk erzeugen, wodurch sie wiederum
die im Wesentlichen auf biologischen und neurophy- selbst erzeugt werden. So ist jede Zelle das Ergebnis
siologischen Forschungen basieren, aber zu dieser des Netzwerks interner Operationen eines Systems,
Zeit noch keinen Eingang in die Soziologie gefunden dessen Bestandteil sie ist. Sie ist nicht das unmittel-
hatten. Hierbei handelt es sich vor allem um zwei ra- bare Ergebnis einer Intervention von außen, denn
dikale Veränderungen traditioneller systemtheoreti- autopoietische Systeme reagieren stets auf Eigenzu-
scher Ansichten über die Natur komplexer Einheiten. stände. Sie erzeugen – wie sich am Beispiel einer Zelle
So werden Systeme primär nicht mehr als ein aus Tei- zeigen lässt – sich selber und stellen nicht nur ihre ei-
len bestehendes Ganzes aufgefasst; vielmehr geht es genen Elemente und Strukturen her, sondern sind
nun um die Beschreibung von Differenzen zwischen auch auf der operationalen Ebene autonom.
System und Umwelt. Als Folge dieses Paradigmen- Niklas Luhmann nimmt das Konzept der Auto-
wechsels rückt die Frage, ob und wie eine bestehende poiesis in seine soziologische Theorie auf und erwei-
Einheit erhalten werden kann, zugunsten der wissen- tert seinen Bezugsrahmen, indem er auch soziale und
schaftlichen Beschreibung des Entstehens und der psychische Systeme, die durch ihre jeweiligen spezi-
Reproduktion von Differenzen in den Hintergrund. fischen Operationen gekennzeichnet sind, als selbst-
Systeme werden nunmehr hinsichtlich ihrer selbstre- referentiell und autopoietisch zu beschreiben sucht.
ferentiellen Konstitution untersucht, wobei Selbstre- Dennoch handelt es sich dabei nicht um eine rein
ferenz hierbei nicht mehr im Sinne von Reflexion technische Übernahme dieses im Rahmen der biolo-
oder Reflexivität eines Subjekts, sondern als das ope- gischen Forschung entwickelten Begriffs. Geprägt
rative Selbstverhältnis eines Systems definiert ist. durch sein spezifisch soziologisches Interesse sieht
Diese zunächst außerhalb soziologischer Forschun- Luhmann in der Generalisierung der Idee der Auto-
gen entwickelten systemtheoretischen Revisionen, poiesis zunächst eine Anregung, um nach selbständi-
die vor allem durch den Begriff ›Autopoiesis‹ eine gen Formen der Reproduktion der Einheit eines
wichtige Ergänzung erfahren haben, legt Niklas Luh- Systems in der sozialen Welt zu suchen. Er trennt sich
mann der Entwicklung eines neuen Typs von Gesell- dabei von der biologischen Theorie der Erkenntnis,
schaftstheorie zugrunde (SS) und macht so »der indem er verschiedene Systemarten streng an ihre je-
Soziologie den Vorschlag, den Begriff der Autopoie- weils eigenen Operationen bindet: »Sie müssen […]
sis zu übernehmen und damit eine tiefgreifende, ihre spezifische Operationsweise definieren oder
auch elementare Operationen einbeziehende Theo- über Reflexion ihre Identität bestimmen, um regeln
rie selbstreferentieller Systeme zu gewinnen« (Luh- zu können, welche Sinneinheiten intern die Selbstre-
mann 2001, 137). produktion des Systems ermöglichen, also immer
Das Konzept der Autopoiesis wurde in den 1970er wieder zu reproduzieren sind« (SS, 61). Der Begriff
Jahren von dem chilenischen Biologen Humberto der Autopoiesis verweist daher immer auf einen Her-
Maturana zur Beschreibung der spezifischen Organi- stellungsprozess. Während in der philosophischen
sationsform von Lebewesen entwickelt. Laut seiner Tradition seit Aristoteles mit dem Begriff práxis eine
Definition ist für ein lebendes System charakteris- selbstsuffiziente Tätigkeit beschrieben wurde, be-
tisch, dass es seine eigenen Operationen nur durch zeichnete der Begriff poiésis eine Tätigkeit, durch die
das Netzwerk eben dieser Operationen erzeugt. Die etwas anderes bewirkt oder hergestellt wird. Mit dem
Einheit solcher Systeme ist demnach ein Netzwerk Kompositum ›Autopoiesis‹ nimmt Luhmann also ei-
dieser internen Reproduktion von Elementen und nen Selbst-Herstellungsprozess in den Blick.
Operationen (Maturana 1981). Eine Zelle etwa bildet Die luhmannsche Theorie interessiert sich an die-
ein autopoietisches System, das auf molekularer Ebe- ser Stelle für sinnhaft operierende Systeme, die zu-
ne Elemente hervorbringt, die der Aufrechterhaltung nächst auf der Ebene der Selbstherstellung und
70 Begriffe

Selbsterhaltung auf sich selbst sowie auf die rekursive system par excellence. Gesellschaft betreibt Kommu-
Vernetzung von eigenen spezifischen Operationen nikation, und was immer Kommunikation betreibt,
angewiesen sind und in diesem Sinne autonom agie- ist Gesellschaft. Die Gesellschaft konstituiert die ele-
ren: »Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeich- mentaren Einheiten (Kommunikationen), aus denen
nen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch sie besteht, und was immer so konstituiert wird, wird
die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produ- Gesellschaft, wird Moment des Konstitutionsprozes-
zieren und reproduzieren. Alles, was solche Systeme ses selbst« (SS, 555).
als Einheit verwenden, ihre Elemente, ihre Prozesse, Innerhalb des Gesellschaftssystems können wie-
ihre Strukturen und sich selbst, wird durch eben sol- derum neue Differenzen von Teilsystemen und Teil-
che Einheiten im System erst bestimmt« (SA6, 56). systemumwelten entstehen, wenn eine spezifische
Operationen, die die Reproduktion der Einheit eines Kommunikationsweise zustande kommt, die nur in
Systems und seiner Elemente bewirken, entstehen dem jeweiligen Teilsystem auftritt. Die moderne Ge-
kontinuierlich als Konsequenz früherer Operationen sellschaft ist laut Luhmann durch Ausdifferenzierung
des jeweiligen Systems und sind zugleich Vorausset- von zahlreichen Funktionssystemen wie etwa Wis-
zung für anschließende Operationen, die wiederum senschaft, Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst, Religion
Folgeoperationen hervorbringen. Folgt man Luh- gekennzeichnet, deren jeweils spezifische Kommuni-
manns Sichtweise, so repräsentieren soziale Systeme kationsweise sich von anderen gesellschaftlichen
nichts anderes als autopoietische Zusammenhänge Kommunikationen unterscheidet. Auch diese Funk-
von Kommunikationen. Kommunikationen sind tionssysteme lassen sich analog zu dem sie umfassen-
jene Operationen, die ausschließlich aufgrund ande- den Gesellschaftssystem als autopoietisch beschrei-
rer Kommunikationen erzeugt werden. Solange jede ben. Sie reproduzieren sich selbst und bestimmen
Kommunikation von vorheriger Kommunikation im ihre jeweiligen Umweltgrenzen durch die jeweiligen
System bestimmt wird und zugleich eine eigene spezifischen Operationen, die sie systemintern im
Nachfolgekommunikation in diesem System erzeugt, Bezug auf andere eigene Operationen vollziehen, wie
kann das jeweilige soziale System als Einheit beste- beispielsweise Zahlungen im Falle des Wirtschafts-
hen: »Bei sozialen Systemen handelt es sich immer systems oder kollektiv bindende Entscheidungen im
und nur um anschließbare Kommunikation« (SS, Rahmen des politischen Systems.
509). Außerdem generiert autopoietische Reproduk- Luhmann verwendet das Konzept der Autopoiesis
tion nicht nur die Einheit eines Systems mit all seinen nicht als eine Analogie, nicht im Sinne eines nur me-
Elementen und Operationen, sondern auch Grenzen taphorischen Sprachgebrauchs, nicht als eine nur
zur Umwelt, also zu allem, was nicht mehr zum Sys- linguistische Notlösung. Vielmehr bildet Autopoiesis
tem gehört und sich vom System unterscheidet. Ge- die Denkvoraussetzung seiner ganzen Theoriearchi-
rade diese systeminterne Erzeugung von Differenz tektur. Mit der soziologischen Reformulierung dieses
zwischen System und Umwelt ist für Systembildung Begriffs und seiner Übertragung auf den Bereich des
konstitutiv und für das System selbst identitätsstif- Sozialen wird das Interesse für sinnhaft operierende
tend. Autopoiesis besagt nicht, dass die Einheit eines selbstreferentielle Systeme nunmehr ins Zentrum der
Systems in Form einer bestimmten Gestalt produ- Erforschung sozialer Prozesse gestellt. Luhmann ver-
ziert wird. Vielmehr handelt es sich um die Fähigkeit, lässt damit vor allem jene subjektzentrierte soziolo-
durch ständige interne Reproduktion von Operatio- gische und philosophische Denktradition, die das
nen eine Abgrenzung zur Umwelt aufrechtzuerhalten soziale Geschehen auf das Bewusstsein der beteilig-
und sich von ihr zu unterscheiden. Nur solange diese ten Akteure zurückzuführen sucht. Dies markiert
systeminterne Abgrenzung gelingt, existiert das Sys- unter anderem den theoretischen Verzicht auf, »für
tem als Einheit weiter. die Soziologie wohl am schmerzlichsten, jede katego-
Das Konzept der Autopoiesis ermöglicht auf diese riale […] Verwendung des Handlungsbegriffs, die
Weise eine Gesellschaftstheorie, die die Gesellschaft nach üblichem Verständnis zwangsläufig auf ein
nicht als schon immer bestehende und auf Integrati- sinngebendes Subjekt verweist« (Luhmann 2001,
on beruhende Einheit voraussetzt, sondern zunächst 139 f.).
von der Frage nach der Entstehung von Differenzen Die theoretische Figur der Autopoiesis, die zur
ausgeht und Einheit nur als »Verknüpfungsweise des Zeit ihrer Entstehung und in dieser Anspruchslage
Systems« (SS, 240) fasst. Die selbstreferentielle Re- noch kaum konkurrierende Theorieangebote kann-
produktion der Gesellschaft erfolgt über Kommuni- te, wird auch heute noch von einer handlungsorien-
kationen: »Gesellschaft ist das autopoietische Sozial- tierten Soziologie scharf kritisiert (vgl. Greshoff
Code / Programm 71

2008; Schwinn 2001). Größere Akzeptanz findet die- gleichbarkeit über die einzelnen Funktionssysteme
se Figur in den Nachbardisziplinen Germanistik und hinweg.
Rechtswissenschaft, die mit ihrer Hilfe erklären, dass Luhmann optiert von Anfang an nicht für einen
semiotische und rechtliche Strukturen wiederum auf sprachwissenschaftlich, sondern für einen biogene-
sich selbst verweisen und sich nicht außerhalb von tisch inspirierten Codebegriff. Er fasst ihn als eine
semiotischen und rechtlichen Kommunikationen Duplikationsregel, die für jedes beobachtbare Ereig-
begründen lassen (Jahraus 2003; Teubner 1989). nis in der Welt – soziologisch: in der Gesellschaft –
zwei einander ausschließende Ausprägungen zur
Wahl stellt (SA3, 246). Bereits die Ja/Nein-Form, also
Literatur die in der Sprache angelegte Möglichkeit der Negati-
Greshoff, Rainer: »Ohne Akteure geht es nicht! Oder: Wa- on, stellt somit einen binären Code dar. Die weitere
rum die Fundamente der Luhmannschen Sozialtheorie Ausarbeitung dieses Arguments bezieht Luhmann je-
nicht tragen«. In: Zeitschrift für Soziologie 39. Jg., doch auf jene binären Codes, die kommunikative
6 (2008), 450–469. Anschlussfähigkeit in Form von Funktionssystemen
Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution
und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kom- bereitstellen. Luhmanns erste Studien zum Thema
munikation. Weilerswist 2003. beziehen sich auf die Codierbarkeit von Kunst (SA3,
Luhmann, Niklas: »Autopoiesis als soziologischer Begriff«. 245–266) und Politik (SA3, 267–286). Mit der ›auto-
In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, 137–158. poietischen Wende‹ rückt dieses Theorieelement in
–: »Gesellschaftliche Differenzierung«. In: SA4, 13–69. das Zentrum der Erklärung funktionaler Differenzie-
–: »Die Autopoiesis des Bewußtseins«. In: SA6, 55–108.
Maturana, Humberto R.: »Autopoiesis«. In: Milan Zeleny
rung: »Die grundlegende Struktur, die durch Opera-
(Hg.): Autopoiesis: A Theory of Living Organisations. tionen des Systems produziert und reproduziert
New York 1981, 21–32. wird, nennen wir im typischen Fall der Funktionssys-
– /Varela, Francisco J.: »Autopoietische Systeme: eine Be- teme einen Code« (KunstG, 301 f.).
stimmung der lebendigen Organisation«. In: Humberto Codes sind somit besondere Formen von einge-
Maturana (Hg.): Erkennen: Die Organisation und Ver-
körperung von Wirklichkeit [1982]. Braunschweig/
spielten Unterscheidungen, deren zwei Werte derart
Wiesbaden 1985, 170–236. aufeinander bezogen sind, dass eine Negation des ei-
Schwinn, Thomas: »Differenzierung und soziale Integrati- nen Werts genau den Gegenwert ergibt. So führt eine
on. Wider eine systemtheoretisch halbierte Soziologie«. Negation von Recht zu Unrecht, die Negation der
In: Hans Joachim Giegel/Uwe Schimank (Hg.): Beobach- Unwahrheit zur Wahrheit und nicht etwa zu Schön-
ter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns »Die
heit oder Macht. Der Wechsel von einem Wert zum
Gesellschaft der Gesellschaft«. Frankfurt a. M. 2001,
231–260. anderen ist in dem Maße von Uneindeutigkeit be-
Teubner, Gunther: Recht als autopoietisches System. Frank- freit, dass Luhmann für die resultierende Leichtigkeit
furt a. M. 1989. des operativen Kreuzens von einer zur anderen Seite
Iryna Klymenko den Begriff der Technisierung wählt (WissG, 197).
Die Konsequenz dieser Technisierung besteht da-
rin, dass das theoretisch immer mögliche Optieren
für dritte Werte in einem hohen Maße unwahr-
2. Code / Programm scheinlich wird (GG, 359 ff.). Sie sind durch die Ent-
faltung und/oder Invisibilisierung der paradoxen
Praktiken der Rechtsprechung, des Herrschens oder Form ihrer Selbstbezüglichkeit auf keine höheren
auch der Formulierung von Wahrheit gab es lange Werte angewiesen, als die durch sie selbst formulierte
vor der historischen Umstellung der Gesellschafts- Leitdifferenz (GG, 369).
struktur auf primär funktionale Differenzierung. Die Frage danach, wie ein je spezifischer Code ent-
Das Novum der Moderne ist für Luhmann die Radi- steht, lässt sich nur im Rahmen der empirischen
kalität, mit der sich diese Bereiche auseinander diffe- Nachzeichnung dieses Prozesses beantworten. Ihre
renzieren und dabei Formen der Selbststeuerung evolutionäre Unwahrscheinlichkeit relativiert sich
etablieren, die nicht mehr über eine ständische Ge- jedoch insofern, als die weitere Evolution von Funk-
sellschaftsordnung eingehegt werden können. Mit tionssystemen darauf angewiesen ist, die Frage der
den Begriffen ›Code‹ und ›Programm‹ gelingt es ihm Annahme oder Ablehnung von Kommunikationen
zu erklären, wie sich diese Eigenlogiken zugleich sta- auf die Frage der Wahl zwischen zwei Codewerten zu
bilisieren (Code), aber auch dynamisch anpassen reduzieren. Die Kriterien dafür koppeln sich dabei
(Programme). Darüber hinaus schaffen sie eine Ver- weitgehend von alltäglichen Erwartungen ab und
72 Begriffe

spezifizieren sich so (SA3, 246). Fallen Schicht- ßende Sekundärcodierungen ist in vielen Fällen – so
schranken, Glaubensunterschiede oder ästhetische konkret in Bezug auf Liebe und Kunst – umstritten.
Präferenzen als Kriterien für die Wahl von Investiti- Immer aber stellt die binäre Codierung der Funkti-
onspartnern aus, herrscht keineswegs Ratlosigkeit, onssysteme das Oszillieren zwischen den Codewer-
sondern es entstehen Rationalitäten des Handelns, ten und damit die permanente Reproduktion der
die sich am jeweiligen Code (in diesem Beispiel: zah- Leitdifferenz sicher (GG, 749).
len/nicht zahlen) entlang entfalten und durch diesen Im Unterschied zum Code ermöglichen Program-
gleichzeitig in ihrer Reichweite begrenzt werden. me eine größere Flexibilität. Die Form der binären
Die Codes selbst sind amoralisch, denn kein Wert Codes ist zeitlich invariant und garantiert so die
kann eine eindeutige und universale moralische Identität des Systems. Jede Kommunikation, die sich
Überlegenheit über den anderen reklamieren (GG, nach der Unterscheidung von Wahrheit und Un-
751 f.). So kann man z. B. sein Geld den Waisen spen- wahrheit strukturiert, ordnet sich dem Wissen-
den oder damit Blutdiamanten kaufen. Und Politiker schaftssystem zu, jede Inanspruchnahme von Recht/
sind nicht allein durch ihre Platzierung in der Oppo- Unrecht verweist auf das Rechtssystem. Codes bieten
sition den Regierungsmitgliedern moralisch über- dem System aber keine Möglichkeit der Anpassung
oder gar unterlegen. an seine Umwelt und enthalten in sich noch keine
Es ist also nicht die Moral, sondern diese operative Anleitung zur richtigen Zuweisung der jeweiligen
Systemform, die die symmetrischen Codes re-asym- Codewerte. Diese Aufgabe erfüllen Programme
metrisiert und sie damit zu sogenannten Präferenz- (RechtG, 187 ff.).
codes macht: »Die Asymmetrie der Systemform »Programme sind Strukturen, die es ermöglichen,
sichert die Geschlossenheit des Systems auch bei Ori- richtiges und unrichtiges (oder brauchbares und un-
entierung seiner Operationen an der Umwelt. Die brauchbares) Verhalten zu unterscheiden – zum Bei-
Symmetrie des Codes sichert das ständige Kreuzen spiel Theorien im Bereich der Wissenschaft« (P, 55).
der Grenze, die den Code markiert. Das System kann, Funktionssysteme statten sich über Programme mit
wenn es Unrecht feststellt, das Unrecht nicht einfach Kriterien aus, aufgrund derer Codewerte zugewiesen
sich selbst überlassen, sondern muß Möglichkeiten werden können. Programme sind somit evolutionär
finden, mit Unrecht rechtmäßig umzugehen« entstandene und durch wiederholte Selektion eta-
(RechtG, 175). blierte Zusatzsemantiken, die erwartungskanalisie-
Für die Autopoiesis eines Funktionssystems sind rende Routinen, Suchstrategien und Klassifikations-
damit immer beide Seiten des Codes nutzbar und schemata zur Verfügung stellen. Luhmann betont,
notwendig. Der positive Designationswert stellt die dass Programme mit dieser Ordnungsfunktion nicht
Anschlussfähigkeit für zukünftige Operationen des als Trivialmaschinen missverstanden werden dürfen.
Systems bereit; so kann z. B. auf eine wissenschaftli- Deswegen rückt er sie in die Nähe des Strategiebe-
che Wahrheit bei künftigen Forschungen zurückge- griffs und schafft damit auch Distanz zum klassi-
griffen werden. Auch die Falsifikation einer Theorie schen starren Begriff der sozialen Rolle (SS, 432).
ist eine wahre Kommunikation und damit anschluss- Um noch einmal zusammenzufassen: In einem
fähig. Die widerlegte Theorie informiert zugleich als System kann es gleichzeitig mehrere konfligierende
explizit unwahre Kommunikation zukünftige Ope- Programme geben, aber nur einen Code. Programme
rationen des Systems, denn sie blockiert jene For- können sich im Laufe der Zeit ändern, ohne die Iden-
schungsvorhaben, die ihre Wahrheit voraussetzen tität des Systems selbst in Frage zu stellen (Kieserling
müssten. Der negative Wert – auch Reflexionswert 2004, 251). Neue Theorien und Methoden beispiels-
genannt – ist so ebenfalls ein Teil des Funktionssys- weise beziehen sich weiterhin auf den Code der Wis-
tems und liegt keineswegs außerhalb: Er konditio- senschaft. Und nach einer Revolution wird auch in
niert zukünftige Operationen des Systems und stellt der neuen Regierungsform über die Zuweisung von
Wege bereit, Operationen ins Anschlussfähige zu- Macht und Machtlosigkeit entschieden.
rückzuführen. Das System der Medizin stellt hier Luhmann unterscheidet hier idealtypisch zwi-
eine bemerkenswerte Ausnahme dar, eine »perverse schen Konditionalprogrammen und Zweckpro-
Vertauschung der Werte« (SA5, 187) findet statt, da grammen. Konditionalprogramme legen das korrekte
die erstrebte Gesundheit den negativen Wert, die zu Vorgehen bei angebbaren Rahmenbedingungen fest
bekämpfende Krankheit den positiven Wert darstellt. (Gerichtsverfahren) und sind damit ergebnisoffen.
Der empirisch geführte Beweis über neu entste- Zweckprogramme dagegen geben ein Ziel vor (Profit-
hende Codierungen, aber auch über sich anschlie- maximierung in Wirtschaftsorganisationen) (hierzu
Differenz, Differenzierung 73

ausführlich RechtG, 195 ff.), an dem sich das weitere 3. Differenz, Differenzierung
Prozessieren orientiert. In beiden Fällen läuft jedoch
die Orientierung an der Leitdifferenz mit und garan- Sein Hauptwerk Soziale Systeme beginnt Luhmann
tiert so die Autopoiesis des Systems. Erst das Zusam- gleich mit einem Seitenhieb auf die Dialektik. Als
menspiel von Code und Programmierung erlaubt »neues Paradigma« (SS, 26) innerhalb der Wissen-
den Funktionssystemen, operativ eine konditionierte schaften biete sich aus seiner Sicht die Differenz von
Form dynamischer Stabilität zu erreichen (GG, 493). Identität und Differenz an. Ohne nun bereits wissen
So ist die Rezeption der Figuren ›Code‹ und ›Pro- zu müssen, was damit genau gemeint ist: Dass die
gramm‹ dann auch untrennbar mit der Frage der In- Systemtheorie Luhmanns von Beginn an die Umstel-
tegration der Gesellschaft verknüpft. Die strikte lung von Einheit auf Differenz betont und auch prak-
operative Geschlossenheit und Heterarchie der tiziert hat, wird bereits demjenigen auffallen, der sich
Funktionssysteme wird dabei entweder als Quelle zum ersten Mal an die Lektüre Luhmanns wagt. Eine
(Brunkhorst 2009) oder aber gerade als die Lösung Vielzahl seiner Grundbegriffe nimmt die Gestalt von
(Nassehi 2003) des Integrationsproblems konzipiert. Unterscheidungen an. Egal ob von Operation/Beob-
Die Beschreibung der Codes und Programme weite- achtung, von Medium/Form oder von Aktualität/Po-
rer möglicher Funktionssysteme (exemplarisch für tentialität die Rede ist, der Schrägstrich ist als
›Terror‹ als Funktionssystem vgl. Fuchs 2004; für ›so- Sonderzeichen aus den Schriften Luhmanns schlicht-
ziale Hilfe‹ vgl. Baecker 2007a) stellt einen zweiten weg nicht wegzudenken. Er soll auf eine gleicherma-
prominenten Diskursstrang dar. In jüngster Zeit ßen schlichte wie voraussetzungsreiche Problematik
deutet sich eine Annäherung gesellschaftheoretischer aufmerksam machen, nämlich darauf, dass grund-
und empirischer Perspektiven an: Dirk Baecker son- sätzlich mitgesehen werden muss, wovon etwas un-
diert in seinen »Studien zur nächsten Gesellschaft« terschieden wird.
(Baecker 2007b) eine mögliche Ablösung des Primats Das gilt im Übrigen für Untersuchungsgegenstän-
funktionaler Differenzierung durch den Siegeszug de genauso wie für Begriffsentscheidungen in der
des Computers. Armin Nassehi vertritt eine Empiri- Theorie. So lässt sich etwa an Luhmanns Soziologie
sierung der Systemtheorie, die am operativen Praxis- des Risikos studieren, dass es einen Unterschied
vollzug nachzeichnet, wie an sich inkommensurable macht, ob man ›Risiko‹ als Gegenbegriff zu ›Gefahr‹
Codes und Programme dort aufeinandertreffen und oder als Gegenbegriff zu ›Sicherheit‹ einführt. In
miteinander punktuell vermittelt werden (Nassehi beiden Fällen hat man es mit verschiedenen Phäno-
2004). menen zu tun; und das kann nicht am Begriff
›Risiko‹ liegen, es liegt allein an der Unterschei-
dung. Diese Sensibilität für die Unterschiede von
Literatur Unterscheidungen geht u. a. auf Luhmanns Kontakt
Baecker, Dirk: »Soziale Hilfe als Funktionssystem der Ge- mit dem differentialistischen Formenkalkül George
sellschaft«. In: Ders. (Hg.): Wozu Gesellschaft? Berlin Spencer-Browns (1969) zurück. So startet die luh-
2007a. mannsche Systemtheorie auch gar nicht bei einem
–: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2007b. Grundbegriff, sondern bei einer Differenz. »Als Aus-
Brunkhorst, Hauke: »There Will Be Blood. Konstitutionali-
sierung ohne Demokratie?« In: Ders. (Hg.): Demokratie gangspunkt jeder systemtheoretischen Analyse hat,
in der Weltgesellschaft. Baden-Baden 2009, 99–123. darüber besteht heute wohl fachlicher Konsens, die
Fuchs, Peter: Das System »Terror«. Bielefeld 2004. Differenz von System und Umwelt zu dienen« (SS, 35).
Kieserling, André: Selbstbeschreibung und Fremdbeschrei- Ein System wird von Luhmann als die Differenz
bung. Frankfurt a. M. 2004. von System und Umwelt definiert; eine Definition,
Luhmann, Niklas: »Ist Kunst codierbar?« In: SA3, 245–266.
–: »Der politische Code ›konservativ‹ und ›progressiv‹ in
die zugegebenermaßen paradox gebaut ist, taucht
systemtheoretischer Sicht«. In: SA3, 267–286. das System doch sowohl auf der Seite des Definiens
–: »Der medizinische Code«. In: SA5, 176–188. als auch auf der Seite des Definiendums auf. Diese
Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit. Studien paradoxale Struktur soll darauf verweisen, dass
zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. Systeme nicht als Objekte, als Dinge oder als Ein-
2003.
heiten konzipiert werden, sondern ausschließlich
–: »Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont
ihrer Kritik«. In: Zeitschrift für Soziologie 33. Jg., 2 als Differenzen. So erstaunlich es klingen mag, ein
(2004), 98–118. System ist immer auch durch das bestimmt, was es
Florian Süssenguth nicht ist.
Hierin liegt der antiessentialistische Kern der Sys-
74 Begriffe

temtheorie. Die Identität eines Systems kann nicht scheidet Luhmann daher folgende Formen der
dadurch erklärt werden, dass ein System mit sich Differenzierung:
selbst identisch ist, sondern nur dadurch, dass es von • Segmentäre Differenzierung in verschiedene, aber
etwas anderem unterschieden ist. Systeme haben da- gleichartige Teilsysteme wie Stämme, Clans oder
her auch kein Wesen und keine Substanz, sondern Familien,
sind das Resultat einer Abgrenzung, die im System • Differenzierung in ungleiche, nach Zentrum und
selbst mit systemeigenen Mitteln hergestellt werden Peripherie organisierte Teilsysteme,
muss. »In diesem Sinne ist Grenzerhaltung Systemer- • Stratifizierte Differenzierung in ungleiche, hierar-
haltung« (SS, 35). Was hier als ›Grenze‹ bezeichnet chisierbare Teilsysteme wie Schichten, Stände oder
wird, darf allerdings nicht stabil oder fixierbar ge- Klassen sowie
dacht werden, vielmehr haben es Systeme mit der Re- • Funktionale Differenzierung in eigenständige
produktion dieser Grenze, d. h. der permanenten Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht,
Reaktualisierung der Differenz von System und Um- Wissenschaft oder Kunst.
welt zu tun. Der Begriff ›Reaktualisierung‹ sollte als Die moderne Gesellschaft kann für Luhmann in ers-
Hinweis darauf gelesen werden, dass Systemerhal- ter Linie dadurch gekennzeichnet werden, dass es zu
tung Wiederholungen voraussetzt und daher immer einem Primat funktionaler Differenzierung kommt.
auch Zeit in Anspruch nimmt. In der Soziologie ist er damit keineswegs der erste,
Der luhmannsche Systembegriff ist also konse- der die Gesellschaft vor dem Hintergrund gesell-
quent prozesshaft, d. h. operativ, gedacht; in seiner schaftlicher Differenzierungs- und Trennungspro-
Verknüpfung von Differentialität und Temporalität zesse beschreibt, vielmehr markiert die Diagnose
liegen Nähen zu poststrukturalistischen Theoriean- gesellschaftlicher Differenzierung so etwas wie den
geboten, etwa zu Gilles Deleuze’ Differenz und Wie- Ausgangspunkt soziologischen Denkens und auch
derholung (1997) oder zu Jacques Derridas Figur der den Ausgangspunkt der Soziologie als akademische
différance (1988), die zum Teil von Luhmann selbst Disziplin. Ob bei Max Weber, Émile Durkheim und
kritisch diskutiert (Luhmann 1995) und auch nach Georg Simmel, ob in der Nachfolge bei Talcott Par-
Luhmanns Tod vermehrt zum Gegenstand der For- sons, Jürgen Habermas oder Pierre Bourdieu, die So-
schung wurden (Stäheli 2000; Binczek 2000; Jahraus ziologie entdeckt in Differenzierung so etwas wie die
2001). Signatur moderner Gesellschaften. Sie hat dies als
Welche soziologischen Konsequenzen sich aus Arbeitsteilung beschrieben, als Entkopplung von
dieser Umstellung von Einheit auf Differenz ergeben, System und Lebenswelt, als das Nebeneinander un-
lässt sich vielleicht am deutlichsten an der luhmann- terschiedlicher Wertsphären, sozialer Kreise oder
schen Differenzierungstheorie veranschaulichen. Felder, und doch unterscheidet sich Luhmanns Dif-
Diese lässt sich nur dann in vollem Umfang begrei- ferenzierungstheorie davon radikal. Wo auch immer
fen, wenn man ihre differenztheoretische Fundie- die Soziologie bislang Differenzierungsprozesse in
rung mitberücksichtigt. Dabei muss allerdings be- den Blick genommen hat, hat sie Gesellschaft als ein
tont werden, dass ›Differenz‹ und ›Differenzierung‹ Ganzes, als Einheit vorausgesetzt und Differenzie-
zwei unterschiedliche Begriffe sind und auch auf un- rung als die Teilung dieser Einheit beschrieben (vgl.
terschiedlichen Ebenen innerhalb der Theorie liegen. dazu Nassehi 2004). In Gesellschaft der Gesellschaft
Während ›Differenz‹ ein metatheoretischer Begriff macht Luhmann deutlich, warum dieses Schema
ist, ist ›Differenzierung‹ ein Grundbegriff der Theo- Teil/Ganzes aus seiner Sicht nicht überzeugen kann:
rie. »Es geht nicht um eine Dekomposition eines ›Gan-
Unter ›Differenzierung‹ versteht man, dass es in- zen‹ in ›Teile‹, und zwar weder im begrifflichen Sinne
nerhalb eines Systems zur Ausbildung weiterer Sys- (divisio) noch im Sinne einer Realteilung (partitio).
tem/Umwelt-Differenzen kommen kann. In diesem […] Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das um-
Fall spricht man von Systemdifferenzierung. »Durch fassende System, dem es angehört und das es mitvoll-
Systemdifferenzierung multipliziert sich gewisser- zieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Dif-
maßen das System in sich selbst durch immer neue ferenz von System und Umwelt« (GG, 598).
Unterscheidungen von Systemen und Umwelt im ›Funktionale Differenzierung‹ meint daher kei-
System« (GG, 598), wobei die Beziehungen zwischen neswegs die Unterteilung der Gesellschaft in unter-
System und Umwelt durch unterschiedliche Diffe- schiedliche abgeschlossene Zuständigkeitsbereiche,
renzierungsformen jeweils unterschiedlich arran- wie etwa Politik, Wirtschaft oder Kunst. ›Funktionale
giert werden. Bezogen auf die Gesellschaft unter- Differenzierung‹ meint die Ausdifferenzierung im-
Doppelte Kontingenz 75

mer neuer Differenzen. Hier zeigt sich deutlich, wie met, entstammt der Theorie Talcott Parsons’. Bei
stark die luhmannsche Differenzierungstheorie die Parsons bezeichnet er den Umstand, dass Egos Selek-
soziologische Weiterführung eines differenztheoreti- tionen kontingent sind und sich Alters Selektionen
schen Arguments ist. Denn mit der Politik differen- wiederum kontingent in Bezug auf Egos Selektionen
ziert sich gleichzeitig auch eine politikinterne Um- verhalten (Parsons/Shils 1951, 3 ff.). Damit verweist
welt aus, mit der Wirtschaft eine wirtschaftsinterne, der Begriff auf eine Art »Ursituation des Sozialen«
mit der Kunst eine kunstinterne usw. Die Konse- (Baecker 2007, 93): Der eine wie der andere könnte
quenz dieses Differenzierungsprozesses ist, dass es sich immer auch anders verhalten. Das dadurch um-
unmöglich wird, die Teile wieder zu einem Ganzen rissene Problem gewinnt seine besondere Schärfe
zusammenzufügen, denn »[j]ede Änderung eines aufgrund der Reflexivität der angezeigten Situation.
Teilsystems ist zugleich eine Änderung der Umwelt Nicht nur, dass jeder Interaktionsteilnehmer sowohl
anderer Teilsysteme« (GG, 599). die eigene Handlung als auch die Handlung des an-
Luhmann hat seine Differenzierungstheorie daher deren als kontingent erfährt – er weiß außerdem
absichtlich jenseits der Notwendigkeit gesellschaftli- noch, dass der andere das gleiche tut.
cher Integration ausformuliert. Die Frage, was die Die Kategorie der Kontingenz stellt zweifellos ei-
Gesellschaft im Inneren zusammenhält, kann für nen Leitbegriff moderner Sozialtheorie dar (Holzin-
Luhmann nicht durch Rückgriff auf Moral (wie bei ger 2007). Sie bringt zum Ausdruck, dass Sachverhal-
Durkheim), auf gesellschaftliche Gemeinschaft (wie te weder notwendig noch unmöglich, sondern
bei Parsons) oder auf Lebenswelt (wie bei Habermas) vielmehr auch anders möglich sind: »Der Begriff be-
zufriedenstellend beantwortet werden. Die Frage zeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes,
wäre aus seiner Sicht aber auch falsch gestellt. Denn Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches
so wenig eine Differenzierungstheorie bei Einheit be- Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont
ginnen muss, so wenig muss sie mit Einheit enden. möglicher Abwandlungen« (SS, 152). Schon bevor
die Kontingenzerfahrung zum herausragenden
Merkmal der Moderne werden sollte, bildet sie ein
Literatur Grenzproblem der Ontologie. Kontingent ist schließ-
Berg, Henk de/Prangel, Matthias (Hg.): Differenzen. Sys- lich ein Sein, das sein und gleichzeitig nicht sein
temtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstrukti- kann. Während Aristoteles die Kontingenz alleine für
vismus. Tübingen/Basel 1995. zukünftige Sachverhalte gelten ließ, sah der Scholas-
Binczek, Natalie: Im Medium der Schrift. Zum dekonstruk- tiker Duns Scotus einen Akt dann als kontingent an,
tiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns.
München 2000. wenn dessen Gegenteil im Moment seines Stattfin-
Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München dens hätte geschehen können (Agamben 1998, 50 ff.).
1997 (frz. 1968). Luhmann radikalisiert das Denken der Kontingenz,
Derrida, Jacques: »Die différance«. In: Ders.: Randgänge indem er ausnahmslos jede soziale Operation als ei-
der Philosophie. Wien 1988, 29–52 (frz. 1968). nen kontingenten, also auch anders möglichen Be-
Jahraus, Oliver: Theorieschleife. Systemtheorie, Dekon-
struktion und Medientheorie. Wien 2001.
zeichnungsakt auffasst. Dabei führt Luhmann zufol-
Luhmann, Niklas: »Dekonstruktion als Beobachtung zwei- ge jede Markierung im Sinnmedium einen Über-
ter Ordnung«. In: Berg/Prangel 1995, 9–35. schuss an Verweisungen immer schon mit sich, jede
Nassehi, Armin: »Die Theorie funktionaler Differenzierung Aktualisierung potenzialisiert folglich weitere Mög-
im Horizont ihrer Kritik«. In: Zeitschrift für Soziologie lichkeiten. Vor dem Hintergrund dieser theoreti-
33. Jg., 2 (2004), 98–118.
Spencer-Brown, George: Laws of Form. London 1969.
schen Disposition erkennt man, dass der Sonderfall
Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive der doppelten Kontingenz die Unwahrscheinlichkeit
Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers- des Sozialen deutlich hervortreten lässt. Das soziale
wist 2000. Spiel erscheint als hochgradig unberechenbar, jeder
Julian Müller Akt als riskant. Aber wie ist dann soziale Ordnung
möglich?
Die Systemtheorie hält an dieser Theoriestelle eine
faszinierende Wendung bereit, indem sie im Problem
4. Doppelte Kontingenz doppelter Kontingenz selbst die Lösung dieser für die
Soziologie grundlegenden Frage erkennt. Es ist näm-
Der Begriff der doppelten Kontingenz, dem Luh- lich die radikale Unbestimmtheit einer entsprechen-
mann ein Kapitel in Soziale Systeme (SS 1984) wid- den Situation, die den Aktionsdruck ihrer Bestim-
76 Begriffe

mung erzeugt. Luhmann imaginiert den ›Naturzu- tifiziert wird, dem begegnet man nur ausnahmsweise
stand‹ der doppelten Kontingenz folgendermaßen: mit Fragen nach der politischen Gesinnung. Damit
»Alter bestimmt in einer noch unklaren Situation aber bringt jeder Auftritt einer sozialen Person das
sein Verhalten versuchsweise zuerst. Er beginnt mit Problem der doppelten Kontingenz im Moment sei-
einem freundlichen Blick, einer Geste, einem Ge- ner Abarbeitung hervor. Das Problem tritt also para-
schenk – und wartet ab, ob und wie Ego die vorge- doxerweise dann zutage, wenn der erste Schritt zu
schlagene Situationsdefinition annimmt« (SS, 150). seiner Lösung bereits vollzogen ist.
Egal wie Alter und Ego sich konkret verhalten, aus je- Insgesamt weist Luhmanns Theorie tiefgreifende
der ihrer kontingenten Aktionen wird das emergie- Unterschiede gegenüber konkurrierenden Angebo-
rende System einen kontingenzreduzierenden Effekt ten auf. Zunächst steht die Systemtheorie all jenen
ziehen. So führt die anfängliche Offenheit für Belie- Ansätzen diametral entgegen, die mit der Feststel-
biges dazu, dass selbst kleinste Zufälle oder bloße Ge- lung von Notwendigkeiten oder Unmöglichkeiten
bärden genutzt werden, um unstrukturierte in starten und Kontingenz lediglich als sekundäres Phä-
strukturierte Komplexität zu überführen. In Alltags- nomen ansehen. Denn die Theorie geht gerade von
situationen dienen darüber hinaus Semantiken und einem Primat der Kontingenz aus, auf deren Basis
Themen zur Einhegung der doppelten Kontingenz. sich nur mehr dynamische Stabilitäten einstellen.
Man denke an einfache Höflichkeitsformeln oder an Damit unterscheidet sich die Systemtheorie auch von
Pauschalthemen wie das Wetter. Aller Anfang er- Ansätzen, die das Problem der doppelten Kontingenz
scheint da leicht. zwar mehr oder weniger klar herausarbeiten, zur Lö-
Nicht selten wird die Figur der doppelten Kontin- sung aber auf »Letztrückversicherungskonzepte«
genz dann auch als Szene der Begegnung zweier Per- (SS, 172) setzen. Statt bei dritten Instanzen wie dem
sonen vorgestellt, die füreinander black boxes bleiben. Staat (Hobbes), der Erziehung (Rousseau) oder der
Entsprechend erklärt sich die Entstehung des Sozial- Vernunft (Kant) Zuflucht zu suchen, gründet Luh-
systems aus dem Umstand, dass Alter und Ego einan- mann soziale Systeme auf den Umgang mit der ihnen
der auf der Grundlage ihrer prinzipiellen Indetermi- inhärenten Kontingenz. Als konstitutives und ende-
niertheit Determinierbarkeit unterstellen: Man kann misches Problem ist die doppelte Kontingenz dem
den anderen nicht vollständig berechnen, durchaus System zudem permanent gegeben. Hier liegt
aber aus der Umwelt zu beeinflussen versuchen. Um schließlich ein wesentlicher Unterschied zur Theorie
den an dieser Theoriestelle aufscheinenden bewusst- Parsons’, die als Problemlösung einen kulturell prä-
seinsphilosophischen und handlungstheoretischen figurierten Wertekonsens unterstellt. Während Par-
Bias zu kontrollieren, gilt es jedoch, die ›doppelte sons die Lösung somit in der Vergangenheit der
Kontingenz‹ strikt als eine »dem Sozialsystem inhä- Sozialdimension vorzufinden glaubt, wird das Pro-
rente Dualität« (Fuchs 2004, 37) zu begreifen. Daraus blem der doppelten Kontingenz Luhmann zufolge
ergeben sich tiefgreifende Konsequenzen vor allem primär in der Zeitdimension abgearbeitet – und zwar
für das Verständnis dessen, was eine soziale Person ohne dass das Problem im Zuge seiner ›Lösung‹ auf-
ist. So gehen Personen dem Kommunikationsgesche- gehoben würde. Die doppelte Kontingenz ermög-
hen gerade nicht als Wesen aus Fleisch und Blut vo- licht demnach die kontinuierliche Autokatalyse des
raus, sondern entstehen erst im Zuge systemrelativer Sozialsystems, gerade weil sie selbst nicht verbraucht
Attributionsprozesse. Die Verleihung des Personen- oder gar eliminiert wird. Deshalb liegt doppelte Kon-
titels fungiert auf der einen Seite als Marker für tingenz auch niemals im Reinzustand, sondern im-
Handlungsfähigkeit: Wer als Person adressiert wird, mer in artikulierter Form vor.
dem wird das Vermögen zugeschrieben, eine freie Begreift man Systeme unter dem Gesichtspunkt
Wahl zu treffen und somit Kontingenz zu aktualisie- der Artikulation von doppelter Kontingenz, dann er-
ren. Auf der anderen Seite zieht jede Person Erwar- scheint nicht zuletzt die Engführung der Theoriefi-
tungen auf sich und strukturiert dadurch die soziale gur auf Interaktionssituationen als zu kurz gegriffen.
Situation. Luhmann zufolge bilden Personen als so- Sicherlich: Mit der Erosion der stratifizierten Ord-
ziale Formen »Erwartungskollagen« (SS, 178), die nung bedarf die Kommunikation unter Anwesenden
immer schon dazu beitragen, den Zustand der Er- neuer Anhaltspunkte. Hier springen ab dem 17. Jahr-
wartungslosigkeit zu überwinden. Als im autopoieti- hundert etwa Konversationsregeln und vor allem die
schen Spiel zirkulierende Identitätsmarken verknap- Mode ein (Esposito 2004). In der gleichen histori-
pen sie die Möglichkeiten der Relationierung von schen Situation übernimmt jedoch die Kommunika-
Anschlüssen. Wer etwa als potentieller Käufer iden- tion unter Abwesenden gesamtgesellschaftlich die
Erleben / Handeln 77

Führung. Die dabei zu bewältigende doppelte Kon- auf, von denen sich die eine wissenssoziologisch für
tingenz wird durch symbolisch generalisierte Medien die verstehende Deutung der Welt und das Erleben
wie Geld, Macht oder Wahrheit artikuliert. Insbe- von sozialen Unterschieden (Scheler, Mannheim),
sondere das Recht nimmt hier eine Schlüsselstellung die andere für Akteure und die Erklärung ihres Han-
ein. Indem es bestimmte Erwartung normativ absi- delns (Weber) interessiert (SA3, 67). Während Jür-
chert, eröffnet es die Möglichkeit, sich auf eine per se gen Habermas beide Theoriestränge in sehr präg-
ungewisse Zukunft einzulassen. Umgekehrt markiert nanter Form im Begriff des kommunikativen Han-
die hochmoderne Prominenz der Risikokommuni- delns aufeinander bezieht und das gegenseitige
kation eine Krise der Kontingenzbewältigung. Zu- Verstehen bzw. sogar den Konsens zum Ideal gelun-
mindest erscheint die Akzeptanz der kontingenten genen Handelns erhebt, entwirft Luhmann mit dem
Entscheidung des anderen dort höchst fraglich, wo Konzept der ›Zurechnungspraxis‹ ein Bild, bei dem
sie für einen selbst Gefahren bergen könnte. Noch ra- alle Formen des Aufeinanderbezogenseins von Erle-
dikaler tritt das Problem der doppelten Kontingenz ben und Handeln gleichermaßen auf ihre Leistungs-
angesichts von Exklusionsbereichen hervor, in denen fähigkeit hin überprüft werden.
sich die Relevanz von der sozialen Person auf ihre Dass Handlungen nicht außerhalb einer soziolo-
Körperlichkeit verlagert (SA6, 145 f.; Opitz 2008). gischen Beobachtung schon immer vorliegen, son-
Wo symbolisch generalisierte Medien nicht greifen, dern dass Kommunikationen als Handlungen »aus-
dort herrscht Erwartungsunsicherheit. Folglich er- geflaggt« (SS, 226) werden müssen, damit sie als
scheint die präventive Vermeidung von Kontakten solche erscheinen, erklärt sich über den systemtheo-
oder der schnelle Rückgriff auf Gewalt als probates retischen Kommunikationsbegriff. Erst wenn Kom-
Mittel, um die sprachimmanente Alternative zwi- munikationen auf ein Motiv zugerechnet werden
schen Annahme oder Ablehnung der Verhandlung und damit die webersche Form einer Erklärung über
zu entziehen. Die weltgesellschaftlichen Exklusions- Kausalitäten erhalten, nehmen sie die Form von
bereiche bilden mithin den Grenzfall der Sozialtheo- Handlungen an. Gleichzeitig entsteht damit auch ein
rie, insofern das Problem der doppelten Kontingenz Rahmen der Handlung mit, der motivlos erscheint
hier nur in äußerst beschränktem Maß autokataly- und so behandelt wird, als läge er als Weltgeschehen
tisch zum Aufbau komplexer Systeme motiviert. einfach vor. Luhmann erläutert diesen Zusammen-
hang von Handlungen in einer Welt in einem frühen
Text unter dem Titel »Erleben und Handeln« (1978/
Literatur 1981), aber auch viel später noch einmal, wenn es in
Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz. Berlin Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) um die Sche-
1998. matisierung von Kommunikation durch symbolisch
Baecker, Dirk: Form und Formen der Kommunikation. generalisierte Kommunikationsmedien geht. »Wenn
Frankfurt a. M. 2007. eine Selektion (von wem immer) dem System selbst
Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden:
Paradoxien der Mode. Frankfurt a. M. 2004. zugerechnet wird, wollen wir von Handlung spre-
Fuchs, Peter: Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Unter- chen, wird sie der Umwelt zugerechnet, von Erleben.
suchungen. Weilerswist 2004. Entsprechend unterscheiden sich die symbolisch ge-
Holzinger, Markus: Kontingenz in der Gegenwartsgesell- neralisierten Kommunikationsmedien danach, ob
schaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozial- sie die beiden sozialen Positionen Ego und Alter als
theorie. Bielefeld 2007.
Luhmann, Niklas: »Die Form ›Person‹«. In: SA6, 142–154.
erlebend oder als handelnd voraussetzen« (GG, 335).
Opitz, Sven: »Die Materialität der Exklusion: Vom ausge- Mit der stärkeren Zuspitzung der Differenzie-
schlossenen Körper zum Körper des Ausgeschlossenen«. rungstheorie über die Unterscheidung von symbo-
In: Soziale Systeme 17. Jg. (2008), 229–253. lisch generalisierten Kommunikationsmedien rü-
Parsons, Talcott/Shils, Edward (Hg.): Towards a General cken Zurechnungspraxen als Verstärkung von An-
Theory of Action. Cambridge, MA 1951.
nahmewahrscheinlichkeiten in den Mittelpunkt. Aus
Sven Opitz
der Unterscheidung einer immer schon vorausge-
setzten gemeinsam erlebten Welt und einem han-
delnden Selbst resultiert, »daß die Systemzurech-
5. Erleben / Handeln nung als Handeln Ungleichheit, die Weltzurechnung
als Erleben dagegen Gleichheit impliziert. Mit der
Luhmann greift mit der Unterscheidung von Erleben Zurechnung als Handeln konstituiert der Zurech-
und Handeln zwei soziologische Theorietraditionen nende für sich selbst und für andere die Freiheit, an-
78 Begriffe

ders zu handeln. Mit der Zurechnung als Erleben rade aufgrund ihrer Partikularität. Die Kommunika-
setzt der Zurechnende sich selbst und andere unter tion orientiert sich dann an der Besonderheit des
die Erwartung, gleich zu erleben« (SA3, 74). anderen und schafft auf diese Weise zumindest ein
Handeln und Erleben schaffen also zwei unter- Ego, das aus Liebe handelt. So wird eine Situation sta-
schiedliche Weltzugänge, die von symbolisch genera- bilisiert, in der sich maximal zwei Personen gegensei-
lisierten Kommunikationsmedien wie Geld, Wahr- tig als Horizont ihres Handelns erleben. Ego nimmt
heit, Liebe, Macht und Recht ganz unterschiedlich in seinem Handeln das Erleben von Alter vorweg. In
genutzt werden. Es entstehen dabei jeweils Zurech- exakt dieser Figur liegt die Entstehung von vorausset-
nungspraxen, die sich nur in der sehr vorausset- zungsreichen Formen der Individualität und ihrer
zungsreichen Form der soziologischen Beobachtung Selbstdarstellung in den entsprechenden Semantiken
auseinanderhalten lassen. Luhmann unterscheidet begründet (vgl. LaP).
sie »artifiziell« (GG, 334) in einer Vier-Felder-Tabel- (3) Ökonomie und Kunst stellen den umgekehr-
le, die die vier Formen der Kombination von Ego/Al- ten Fall auf Dauer: Ego erlebt, dass Alter handelt. Das
ter und Erleben/Handeln variiert: Kommunikationsmedium Geld fördert die Annah-
(1) Dass Alters Erleben an das Erleben von Ego an- mewahrscheinlichkeit von wirtschaftlicher Kommu-
schließt, trifft für den Fall der wissenschaftlichen nikation, insofern es Kaufen als Handlung Alter
Kommunikation zu. Für Wahrheit als symbolisch ge- zurechenbar macht, daraus aber keine Handlungs-
neralisiertes Kommunikationsmedium der Wissen- notwendigkeit für Ego ableitet. Jeder kann kaufen,
schaft ist typisch, dass sie ein gemeinsames Erleben was er will, sofern er Geld dafür hat. Diese spezielle
von Ego und Alter voraussetzt. »Der Wahrheitsgehalt Zurechnungskonstellation stabilisiert eine friedliche
einer Aussage kann deshalb nicht auf den Willen oder Aneignung von knappen Gütern. Wirtschaft er-
das Interesse eines der Beteiligten zurückgeführt wer- scheint nun als voraussetzungsreiche Form der Kon-
den, denn das hieße, daß er für die anderen nicht ver- fliktvermeidung. Auch Kunst positioniert Ego in der
bindlich ist« (GG, 339 f.). Eine wissenschaftliche Situation des Erlebenden, in dessen Umwelt jemand,
Wahrheit kann sich als solche nur dann plausibilisie- der Künstler, handelt. Bei diesen beiden Fällen kann
ren, wenn sie nicht als Handlung erscheint, wenn sie man sehen, dass es nicht um die Kaufhandlung selbst
nicht auf eine Handlung, auf ein Motiv eines Han- geht oder das Kunstschaffen, sondern um einen
delnden zurückgeführt werden kann. Andernfalls Kommunikationsstil, der Handelnde und Erlebende
könnte man durch bestimmte Handlungen Wahrhei- auseinanderhält. Die moderne Ökonomie schafft
ten sozusagen erzeugen. Was empirisch als Wissen- demzufolge zunächst einmal einen Konsumenten,
schaftssystem entstanden ist, verdankt sich Metho- der beobachtet, wie andere kaufen, was er selbst ger-
den (Experimenten), die das Erleben von Ego im ne hätte. Auch für die Kunst ist entscheidend, dass et-
Erleben von Alter bestätigen (Stichweh 1987, 452 f.) was einem Künstler zugerechnet werden kann, um
und die auf diese Weise eine gemeinsam erlebte Welt zwischen Kunst und Steckdose zu unterscheiden und
schaffen. Der Blick auf den historischen Verlauf ver- eine entsprechende künstlerische Virtuosität zu
deutlicht, wie diese spezielle Art von Zurechnungs- schaffen.
praxis als Konditionierung von Annahmewahr- (4) Im Fall von Macht und Recht liegt der »Keim
scheinlichkeiten der Kommunikation nach und nach für die Entfaltung unwahrscheinlicher Möglichkei-
entsteht. Eine hochunwahrscheinliche Form der ten« (GG, 355) in der Kombination von Handlun-
Kommunikation, das gemeinsame Erleben von gen: Ego handelt so, weil Alter dies will. Beide
Wahrheit, wird in wissenschaftlicher Kommunikati- verstehen sich als Handelnde, die mit Motiven ausge-
on erwartbar gemacht. Eine ähnliche symmetrische stattet sind. Die Durchsetzungsmöglichkeiten für
Konstellation findet sich bei der Kommunikation machtförmige Kommunikation werden rechtlich
von Werten, die eine für beide Seiten verbindliche konkretisiert.
Betroffenheit von ihrer Bedeutung einfach unterstel- Diese anspruchsvolle Typologie von Zurech-
len und auf Begründungen verzichten können. nungspraxen kann verdeutlichen, wie in der Kopp-
(2) Die Liebeskommunikation ist der Fall einer lung von Erleben und Handeln Kommunikationen
speziellen Kombination von Erleben und Handeln. jeweils unterschiedlich eingeschränkt werden. Sie
Wer liebt, der passt sich in seinem Handeln dem Er- verdeutlicht jedoch auch, dass sich all diese Praxen als
leben des anderen an. Das Besondere und Unwahr- Konditionierungen verstehen lassen und dass sich
scheinliche einer Liebesbeziehung besteht in der die an Konsens orientierte Produktion von Wahrheit
Akzeptanz der Perspektive des anderen, und zwar ge- ebenso sozialen Zwängen verdankt wie die Erzwin-
Erwartung 79

gung von zurechenbarem Handeln durch Macht und mann diesem Begriff hier einräumt, lässt sich leicht
Recht. an folgender Formulierung ablesen: »Immer wenn
Es lassen sich nur wenige Anschlüsse an diese sehr man Handlungen oder Handlungssysteme als pro-
voraussetzungsreichen Theoriefiguren finden. Ar- blematisch ansieht – und das ist der Ansatzpunkt für
min Nassehi entfaltet auf der Grundlage der Unter- eine funktionale Analyse –, muß man auf ihren Sinn,
scheidung von Erleben und Handeln eine Typologie d. h. auf eine bestimmte Ordnung von Erwartungen
biographischer Selbstbeschreibungen und überwin- zurückgreifen. […] Alle Systemprobleme lassen sich
det damit eine rein handlungstheoretisch fixierte letztlich auf Probleme der Erwartungsstabilisierung
Biographieforschung (Nassehi 1995). Irmhild Saake zurückführen« (FuF, 26 f.). Der Begriff der Erwar-
arbeitet diese Typologie weiter aus und rekonstruiert tung nimmt in der Theorie sozialer Systeme eine
unterschiedliche Formen der Selbst- und Weltbe- konstitutive Rolle ein, insofern mit ihm die Struktu-
schreibungen (Lebenswelt, asymmetrische Gesell- ren sozialer (und psychischer) Systeme beschrieben
schaft, Markt) (Saake 2006). Gerd Nollmann rekon- werden. Auf einer abstrakten Ebene fasst Luhmann
struiert auf der Basis der Unterscheidung von damit eine Tradition neu, die – zumeist vermittelt
Erleben und Handeln eine Soziologie der Ungleich- über den Rollenbegriff – zwischen konkreten Hand-
heit, die er als »sozial geregelte, sinnhafte Zurech- lungen und allgemeineren Erwartungen, formalen
nungspraxis« (Nollmann 2004) verstehen möchte, Normen und diffuseren Symbolen unterschieden
um auf dieser Grundlage Individualisierungs- mit hatte, um dann vor allem den Normen eine erwar-
Ungleichheitstheorie zu versöhnen. Soziale Unter- tungsstabilisierende Funktion zuzuschreiben (FuF,
schiede scheinen sich demzufolge durch eine verän- 19). Der Begriff der Funktion rückt dabei alternative
derte Zurechnungspraxis aufzulösen, bei der nun als Formen der Erwartungsstabilisierung in den Vorder-
Handeln zugerechnet wird, was früher nur erlebt grund, wie z. B. auch Konflikte oder an den Moment
wurde (Geschlechterunterschiede, Standesunter- gebundene Variationen, und rechtfertigt die allge-
schiede). meinere Formulierung, dass Erwartungen als (mit-
unter auf Dauer gestellte) Sinnverweisungen zu
verstehen sind.
Literatur Von Sinnverweisungen spricht Luhmann, um zu
Luhmann, Niklas: »Erleben und Handeln« [1978]. In: SA3, verdeutlichen, dass System und Welt stets mehr Mög-
67–80. lichkeiten bereithalten als jeweils aktualisiert werden
Nassehi, Armin: »Die Deportation als biographisches Ereig- können. Um operieren zu können, muss das System
nis. Eine biographieanalytische Untersuchung«. In: Ge- Komplexität reduzieren, indem es voraussetzungslos
org Weber u. a.: Die Deportation von Siebenbürger
Sachsen in die Sowjetunion 1945–49. Band 2. Köln/Wien für jede Situation bestimmte Erwartungen vor-
1995, 5–412. nimmt, also ein Bündel von Möglichkeiten selektiert.
Nollmann, Gerd: »Luhmann, Bourdieu und die Soziologie Was in einer Situation möglich und was unmöglich
des Sinnverstehens. Zur Theorie und Empirie geregelten ist, was als wahrscheinlich und was als unwahr-
Verstehens«. In: Armin Nassehi/Ders. (Hg.): Bourdieu scheinlich erscheint, entspricht dabei dem system-
und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Frankfurt a. M.
2004, 118–155.
eigenen Blick auf die Welt, auf Situationen, Objekte,
Saake, Irmhild: »Selbstbeschreibungen als Weltbeschrei- Begriffe und Personen. Mit zunehmender Erfah-
bungen. Die Homologie-Annahme revisited«. In: Socio- rungsaufschichtung modifizieren und konkretisie-
logia Internationalis 44. Jg., 1–2 (2006), 99–140. ren sich Erwartungen, indem bestimmte Anschlüsse
Stichweh, Rudolf: »Die Autopoiesis der Wissenschaft«. In: Erwartungen enttäuschen oder bestätigen (SS, 363).
Dirk Baecker/Jürgen Markowitz/Ders. (Hg.): Theorie als
Das System kann sich so erinnern und eine Zukunft
Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt
a. M. 1987, 447–481. projizieren.
Irmhild Saake Es sind somit nicht in erster Linie voraussetzungs-
reiche und den konkreten sozialen Zusammenhän-
gen vorgängige Normen, die Situationen unproble-
matisch bearbeitbar machen. Sehr viel niedrig-
6. Erwartung schwelliger sichern Erwartungen und insbesondere
Erwartungen von Erwartungen die Anschlussfähig-
In Funktionen und Folgen formaler Organisation (FuF keit und die Reproduktion von Systemereignissen.
1964) wird der Begriff der Erwartung ausführlich Als Generalisierungen von Sinn werden Erwar-
eingeführt und dargelegt. Der Stellenwert, den Luh- tungen beschrieben, die über den Zeitpunkt konkre-
80 Begriffe

ter Ereignisse bzw. Operationen hinaus Stabilität Bereitstellung von Bearbeitungsmechanismen für
erhalten. Sie sind gegenüber einzelnen Abweichun- den Enttäuschungsfall. Je nachdem, welche Reaktion
gen oder Störungen immun und können immer wie- auf Erwartungsenttäuschungen folgt, kann man ana-
der in Anspruch genommen werden (FuF, 56). lytisch zwischen kognitiven und normativen Erwar-
Generalisierungen lassen sich im Hinblick auf die tungen unterscheiden (Luhmann 2008, 42 f.). Erstere
Zeit-, die Sach- und die Sozialdimension unterschei- sind dabei solche, für die im Fall der Enttäuschung
den. Erwartungen stabilisieren Systeme so gegen eine Anpassung der Erwartung an die Wirklichkeit,
künftige Enttäuschungen (zeitlich), Zusammen- also ein Lernen erfolgt. Vertrauen wird bei Enttäu-
hangslosigkeit oder Widerspruch (sachlich) und schungen in der Regel entzogen (V, 87) und wissen-
möglichen Dissens (sozial), wobei die Generalisie- schaftliche Hypothesen werden, sollten sie sich als
rung in den einzelnen Dimensionen nicht demselben falsch herausstellen, verworfen oder modifiziert (vgl.
Grad entsprechen muss. So kann Konsens oft nur er- hierzu WissG, 136; Luhmann 2008, 42 f.). Normative
reicht werden, wenn entweder der sachliche Bezug, Erwartungen werden hingegen auch im Enttäu-
die zeitliche Geltung oder die Zahl der betroffenen schungsfall, also kontrafaktisch stabilisiert, indem
Personen extrem beschränkt werden (FuF, 59). die Berechtigung der Erwartung besonders betont
Für die Gewährleistung von Erwartungssicherheit und gegebenenfalls der Normverstoß durch Sanktio-
lassen sich verschiedene (kontextabhängige) Mecha- nen geheilt wird. Das Rechtssystem reagiert bei-
nismen ausmachen: (1) Vertrauen in Personen, Si- spielsweise mit Strafe auf rechtliche Verstöße, aber
tuationen, Ereignisse, (2) formale Organisation als auch für nicht im Recht kodifizierte Normverstöße
Kopplung bestimmter Erwartungen an Mitglied- sind Folgen wie etwa Missachtung zu erwarten.
schaftsrollen, (3) Formulierung von mitunter als Mischformen beider Enttäuschungsreaktionen sind
Recht kodifizierten Normen als Sollens-Erwartun- selbstverständlich denkbar und sogar die Regel.
gen und (4) Formulierung von (wissenschaftlichen) Der Begriff der Erwartung, mit dem eine Lösung
Hypothesen und Theorien als begründetes In-Bezie- für Anschlussprobleme beschrieben werden soll,
hung-Setzen von Tatsachen-Erwartungen. zeichnet sich rückblickend durch seine offenkundig
Eine besondere Problemlage in der Theoriekon- mangelnde Anschlussfähigkeit aus. Die eingangs als
struktion ergibt sich für Erwartungen, die sich auf konstitutiv beschriebene Rolle des Erwartungsbe-
andere Personen beziehen. Wenn es um den Topos griffs muss im Nachhinein relativiert werden, da der
der Verhaltenserwartung (und mitgemeint sind hier Begriff insbesondere in den späteren Texten Luh-
auch Einstellungen, Eigenschaften, Vorlieben) geht, manns nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit genießt.
findet sich in anderen Theorien der Begriff der sozia- Während er in den früheren Schriften oder etwa in
len Rolle. Dieser wird in der luhmannschen Theorie Texten zur Rechtssoziologie noch an prominenter
jedoch nicht systematisch eingeführt, gleichwohl Stelle in Erscheinung tritt, finden sich in den späteren
aber im Sinne allgemeiner Theoriediskussionen auf- großen Werken wie Soziale Systeme (1984) oder Die
gegriffen (vgl. etwa FuF, 57 f.). Luhmann setzt später Gesellschaft der Gesellschaft (1997) weder Kapitel, die
an die Stelle des Rollenbegriffs seine Konzeption der mit ›Erwartung‹ überschrieben sind, noch erregt der
Form ›Person‹, bestimmt als »individuell attribuierte Begriff überhaupt durch nennenswert häufige Ver-
Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten« (SA6, wendung Aufmerksamkeit. Andere Begriffe wie
148). Personen kondensieren demzufolge als Neben- ›Code« ›Selbst- und Fremdreflexion‹, ›Akzeptabili-
produkt der Lösung des Problems doppelter Kontin- tätsbedingungen‹ oder ›symbolisch generalisierte
genz in sozialen Situationen (FuF, 143). Ego hat Kommunikationsmedien‹ treten im späteren Werk
Erwartungen an Alter, und Alter hat Erwartungen an zunehmend an seine Stelle. Aktuellere Texte, sowohl
Ego. Ego muss einerseits zusätzlich die Erwartungen solche von Luhmann selbst, als auch in Reaktion auf
Alters miterwarten und zudem noch erwarten, dass ihn, die sich dezidiert mit der terminologischen Kon-
Alter ebenfalls miterwartet, dass Ego ihm Erwartun- zeption des Erwartungsbegriffs auseinandersetzen,
gen entgegenbringt (für Alter gilt dies gleicherma- sind praktisch nicht zu finden. Gleichwohl lässt sich
ßen). der Begriff für alle Beschreibungen sozialer Zusam-
Wie bereits angedeutet, muss bei all dem stets die menhänge rekonstruieren, wenn es darum geht, die
Möglichkeit der Erwartungsenttäuschung mitgese- zeitlichen, sachlichen und sozialen Ausrichtungen
hen werden. Die Stabilisierung von Strukturen be- von Situationen zu analysieren. Exemplarisch kann
schränkt sich daher nicht nur auf eine Auswahl von auf Alois Hahn verwiesen werden, der mit seiner Un-
Möglichkeiten, sondern bedeutet auch immer die tersuchung junger Ehen gezeigt hat, dass eine Stabi-
81

lisierung von Erwartungen nicht von ihrer expliziten liege lediglich in der Systemreferenz. Luhmann sieht
Übereinstimmung mit dem Partner abhängt, son- in der Weiterentwicklung des Darwinismus in der
dern vielmehr von der Aufrechterhaltung latenter Theoretischen Biologie des 20. Jahrhunderts eine
Konsensfiktionen (Hahn 1983). Weitere Anschlüsse konsequent systemtheoretische Reformulierung der
ergeben sich beispielsweise im Hinblick auf die Dis- Evolutionstheorie (GG, 431) und somit jene allge-
kussion über die (Un-)Verzichtbarkeit von Normen meine Geschichtstheorie, die in Kombination mit
in modernen Gesellschaften (vgl. hierzu die von Wil- Kommunikationstheorie auch eine angemessene
liam Rasch herausgegebene Ausgabe von Soziale Sys- Theorie gesellschaftlichen Wandels – der Evolution
teme (14. Jg., Heft 1): »Tragic Choices«: Luhmann on von Kommunikationssystemen – bereithält.
Law and States of Exception). Eine vertiefte Auseinan- Der darwinsche Begriff ›Evolution‹ bezeichnet
dersetzung mit der Problematik der Konstruktion entgegen seiner wörtlichen Bedeutung ›Auswick-
von Vergangenheit(en) und Zukunft/Zukünften lie- lung‹, ›Entfaltung‹ nicht den entelechischen Ent-
fert Armin Nassehi in Die Zeit der Gesellschaft (2008), wicklungsprozess einer Sache (Ontogenese), son-
und hier insbesondere in den Ausführungen im An- dern den erst retrospektiv beobachtbaren Wandel
schluss an George Herbert Mead und Alfred North einer polymorphen Menge von Sachen (Phylogene-
Whitehead zum Begriff der Sozialität (Nassehi 2008, se), der sich auf die Kontinuität (und gegebenenfalls
130 ff.). Selbst wenn man also feststellen muss, dass Vervielfältigung) passender Varianten und die Dis-
der Erwartungsbegriff mit zunehmender Verfeine- kontinuität (und geringere Vervielfältigung) nicht
rung in der Theoriekonzeption seinen Stellenwert passender Varianten zurückführen lässt. Evolutionä-
zugunsten anderer Begrifflichkeiten eingebüßt hat, rer Wandel vollzieht sich also zielblind und nichtno-
so nimmt dies der Funktion, die mit ihm beschrieben mologisch. Zwar arbeitet die Rekonstruktion einzel-
wurde, nichts von ihrer Prominenz und ihrer konsti- ner Variationen, Selektionen oder Restabilisierungen
tutiven Rolle im Werk Niklas Luhmanns. durchaus mit Kausalannahmen, doch lassen sich aus
dem je einmaligen Verlauf evolutiver Prozesse keine
übergreifenden ›Entwicklungsgesetze‹ oder inhären-
Literatur ten Entwicklungsziele abstrahieren. Als »eine Theo-
Hahn, Alois: »Konsensfiktion in Kleingruppen. Dargestellt rie, die zu erklären versucht, wie Unvorhersehbares
am Beispiel von jungen Ehen«. In: Friedhelm Neidhardt entsteht« (GS1, 41), geht die Evolutionstheorie ent-
(Hg.): Gruppensoziologie. Köln 1983, 210–232. sprechend in Luhmanns historisch sensible Gesell-
Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge schaftstheorie ein (GG, 575 f.). ›Variation‹ wird
zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Frankfurt a. M.
1999. definiert als Ereignis auf der Ebene der Systemele-
–: »Die Form ›Person‹«. In: SA6, 137–148. mente, d. h. der einzelnen Kommunikationen. Varia-
–: Rechtssoziologie. Wiesbaden 42008. tion geschieht, wenn eine Kommunikation vom
Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu Erwartbaren abweicht. Die Selektion vollzieht sich
einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden 22008. auf der Ebene eben dieser Erwartungen, d. h. der Sys-
Rasch, William (Hg.): »Tragic Choices«: Luhmann on Law
and States of Exception. Sonderheft von Soziale Systeme
temstrukturen. Eine positive Selektion nimmt die
14. Jg., 1 (2008). Abweichung in das Erwartbare auf, vollzieht also eine
Katharina Seßler Strukturänderung; bei negativer Selektion ver-
schwindet die Variation wieder und alles bleibt, wie
es ist. Den Evolutionsmechanismus der Restabilisie-
rung schließlich verortet Luhmann auf Systemebene:
7. Evolution Hier wird die Strukturänderung in die Einheit des
Systems integriert oder gegebenenfalls Anlass zu ei-
Im Unterschied zu den meisten früheren Versuchen, ner Systemdifferenzierung. Variation, Selektion und
Darwins Evolutionstheorie auch auf Gesellschafts-, Restabilisierung sind somit ständiger und unver-
Kultur- und Ideengeschichte anzuwenden (vgl. meidlicher Nebeneffekt der normalen Selbstrepro-
Schmidt-Wellenburg 2005, 13–51; Hodgson 2010), duktion des Gesellschaftssystems.
konzipiert Luhmann soziokulturelle Evolution nicht Ein evoluierendes System ist in dieser Konzeption
in Analogie zur biologischen Evolution, sondern geht immer ein existentes System und Angepasstheit so-
von einer allgemeinen Evolutionstheorie aus, die sich mit immer schon Voraussetzung (statt Wirkung) von
zur Beschreibung biologischer und nichtbiologischer Evolution. An nicht mehr existenten (weil nicht aus-
Evolutionen gleichermaßen eignet. Der Unterschied reichend angepassten) Systemen zeigt sich Luh-
82 Begriffe

manns Evolutionstheorie wenig interessiert. Selekti- hin entworfen werden, aber Evolution vollzieht sich
on entscheidet in seinem Modell nicht über Aufbau niemals zwingend, sondern höchstens eben ›zufällig‹
und Zerstörung von Systemen, sondern von System- solchen intentionalen Planungen gemäß.
strukturen; Systembildung ereignet sich stattdessen Die Verbindung von Evolutions- und Systemtheo-
als Vorgang der Restabilisierung, nämlich als opera- rie ermöglicht es außerdem, verschiedene eigenstän-
tive Schließung eines sich ausdifferenzierenden Teil- dige Evolutionen zu unterscheiden und auf diese
systems. Die Konzeption von Anpassungsdruck und Weise u. a. das Verhältnis von biologischer und sozio-
dazu funktionaler Strukturänderung (und damit kultureller Evolution präzise zu bestimmen. Geht
auch die Methode funktionaler Analyse) greift erst man davon aus, dass menschliche Kultur sich in den
auf der Ebene dessen, was Luhmann ›evolutionäre Effekten phänotypisch-manifesten Verhaltens bio-
Errungenschaften‹ nennt. Evolutionäre Errungen- logisch evolvierter Lebewesen (vgl. Voland 2007;
schaften sind Konsolidierungen von Strukturände- Zwierlein 2008) noch nicht erschöpft, sondern eine
rungen, die sich daraus ergeben, dass bestimmte für die menschliche Spezies charakteristische Eigen-
Strukturen sich durch wiederholtes Durchlaufen der dynamik entfaltet, dann wird man zu ihrer Beschrei-
Sequenz von Variation, Selektion und Restabilisie- bung von der Systemreferenz »lebendes System« auf
rung optimal ›abschleifen‹ und so in die System- »kommunizierendes System« umstellen müssen
struktur eingebaut werden, dass sie ohne größere (GG, 436 f., 452 f.; Stichweh 2007, 536). Das Verhält-
Folgen für das Funktionieren des Systems nicht mehr nis der gesellschaftlichen zur biologischen Evolution
entfernt werden können. Als Beispiele nennt Luh- lässt sich aus dieser Perspektive als Ausdifferenzie-
mann Landwirtschaft, Geld, Telekommunikation, rung fassen, die wesentlich durch die Entwicklung
überhaupt Technik (GG, 517–536) und – als Beispie- von Sprache ermöglicht wurde und Kommunikation
le aus der biologischen Evolution – das Auge oder als selbstreflexives System erst hervorgebracht hat
den beweglichen Daumen, die ebenfalls nicht auf (SS, 210 f.; GG, 440–443). Luhmann hat außerdem
eine einzige Mutation, sondern auf mehrere Hun- die Möglichkeit einer zweiten einschneidenden Aus-
derttausend minutiöser Strukturänderungen zu- differenzierung in Erwägung gezogen: die Ausdiffe-
rückgehen. Erst auf dieser Konsolidierungsstufe lässt renzierung einer eigenständigen Ideenevolution.
sich sinnvoll von funktionalen Adaptationen oder Eine zunehmend eigendynamische Entwicklung von
evolutionären ›Problemlösungen‹ sprechen. Semantik könnte durch die Erfindung von Schrift
Adaptationen in diesem Sinne sind folglich auch und schließlich Druck befördert worden sein und zur
nicht als direkte Anpassungen an einen externen Um- separaten (Co-)Evolution von einerseits Systemdiffe-
weltdruck zu erklären, sondern als systeminterne An- renzierungs- und andererseits semantischen Struk-
passungen. Die Umwelt hat evolutiv überhaupt nur turen geführt haben (GG, 536–556; GS1, 9–71).
Relevanz, soweit sie durch systemeigene Strukturen Mit dieser Unterscheidung von Gesellschafts-
als Irritationsfaktor vorgesehen, d. h. strukturell ge- struktur und Semantik in der modernen Gesellschaft
koppelt ist. Eine besondere Rolle spielt hier die struk- und seinen wissenssoziologischen Beispielstudien
turelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunika- (GS1–4) hat Luhmann ein avanciertes Modell für
tion. Denn einerseits kann Umwelt überhaupt nur ideen- und wissensgeschichtliche Fragestellungen in
über Bewusstsein Kommunikation irritieren, ande- unterschiedlichen Disziplinen bereitgestellt, das
rerseits ist Bewusstsein (als psychisches System) für ohne schiefe Analogien zur biologischen Evolution
Kommunikation (als soziales System) immer Um- (wie z. B. Tradition als kulturelle ›Vererbung‹, das
welt. Das hat als Problem der Intentionalität in Ent- Mem (Richard Dawkins) als kultureller Replikator,
würfen soziokultureller Evolution immer wieder Variation als ›Kopierfehler‹) auskommt und durch
Schwierigkeiten bereitet. In Luhmanns Modell wer- seine Zweigliedrigkeit zudem eine wechselseitige Er-
den Intentionen als Zufälle gefasst, wobei Zufall hier klärungsmöglichkeit offenhält. Innerhalb der Sozio-
die Unkoordiniertheit (und Unkoordinierbarkeit) logie aber liegt der Forschungsschwerpunkt auf der
eines Prozesses durch systemeigene Strukturen be- Gesellschaftsstruktur. Die Evolutionstheorie dient
zeichnet. Intentionen und Motive als Phänomene ei- hier vor allem als Theorie über die »Morphogenese
nes psychischen Systems sind somit immer Umwelt von Komplexität« (GG, 415), d. h. als Beschreibungs-
(und nicht Teil) des als evoluierende Einheit ins Auge modell für Systemdifferenzierungsprozesse und die
gefassten Sozialsystems. Mit dieser Definition wird damit verbundene Transformation »geringe[r] Ent-
nicht ausgeschlossen, dass Planung vorkommt, d. h. stehungswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungs-
dass bestimmte Variationen bewusst auf Selektion wahrscheinlichkeit« (GG, 414). Speziell im Übergang
Funktionale Analyse 83

zur funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung sieht phone Welt und Claude Lévi-Strauss für die franko-
Luhmann erneut einen Ausdifferenzierungsprozess, phone Welt bildeten dabei diejenigen Figuren, an
der zu eigenständigen Teilsystemevolutionen führt denen sich die soziologische Kritik des Funktionalis-
und deshalb im Unterschied zu früheren Formen ge- mus entzündete. Es war die Vorstellung einer Ganz-
sellschaftlicher Differenzierung irreversibel ist. heit, die man voraussetzen musste, um einen Bezug
zu funktionalen bzw. dysfunktionalen Lösungen her-
stellen zu können – ob man diese Ganzheit nun eher
Literatur anthropologisch oder eher soziologisch bestimmt.
Hodgson, Geoffrey M.: »Learning from Early Attempts to Insbesondere am Grundproblem der Bestandserhal-
Generalize Darwinian Principles to Social Evolution«. In: tung, wie es von Parsons formuliert wurde, hat sich
Journal of Evolutionary Psychology 8. Jg. (2010), die soziologische Debatte entzündet. Man unterstell-
153–167. te dem Sozialen gewissermaßen eine teleologische
Luhmann, Niklas: »Gesellschaftliche Struktur und seman-
tische Tradition«. In: GS1, 9–71. Struktur (als Beleg für Viele vgl. Giddens 1988, 350).
Müller, Stephan S. W.: Theorien sozialer Evolution. Zur Dass Parsons’ Orientierung an der Bestandserhal-
Plausibilität darwinistischer Erklärungen sozialen Wan- tung als oberstem Bezugsproblem eine teleologische
dels. Bielefeld 2010. Struktur zur Folge haben muss, darf bezweifelt wer-
Richter, Dirk: »Das Scheitern der Biologisierung der Sozio- den – aber exakt dies ist die herrschende Meinung in
logie. Zum Stand der Diskussion um die Soziobiologie
und anderer evolutionstheoretischer Ansätze«. In: Köl-
der Soziologie, deren unterschiedliche theoretische
ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Innovationen sich seit den 1960er Jahren vor allem
57. Jg., 3 (2005), 523–542. an Parsons abgearbeitet haben.
Schmidt-Wellenburg, Christian: Evolution und sozialer Luhmanns systemtheoretischer Funktionalismus
Wandel. Neodarwinistische Mechanismen bei W. G. schließt ähnlich wie der parsonssche an der Relatio-
Runciman und N. Luhmann. Opladen 2005.
Stichweh, Rudolf: »Evolutionary Theory and the Theory of
nierung von Problem und Problemlösung an, setzt
World Society«. In: Soziale Systeme 13. Jg. (2007), aber andere Akzente. Schon in der Frühphase seines
528–542. Werkes betont Luhmann einen Vorrang der Funkti-
Voland, Eckart: »Seine Kultur ist des Menschen Natur«. In: on vor der Struktur (SA1, 114), was damals bedeuten
Karl Eibl/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hg.): Im sollte, dass Funktionen nicht einfach als Entfaltung
Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, 11–30.
von Strukturen angesehen werden dürfen. Luhmann
Wortmann, Hendrik: Zum Desiderat einer Evolutionstheo-
rie des Sozialen. Darwinistische Konzepte in den Sozial- betont vielmehr, dass er sich empirisch für funktio-
wissenschaften. Konstanz 2010. nale Lösungen interessiert, die auf Strukturen ver-
Zwierlein, Cornel: »Diachrone Diskontinuitäten in der weisen. In Soziale Systeme (1984) präzisiert Luh-
frühneuzeitlichen Informationskommunikation und das mann dann: »Die funktionale Analyse benutzt
Problem von Modellen ›kultureller Evolution‹«. In:
Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als
Arndt Brendecke/Susanne Friedrich/Markus Friedrich
(Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Be- kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar
stände, Strategien. Münster 2008, 423–453. zu erfassen« (SS, 83). Der systemtheoretische Blick
reagiert damit auf die Herausforderung, alles, was ge-
Katja Mellmann
schieht, als kontingent, aber keineswegs als beliebig
anzusehen. Die systemtheoretische Methode sieht
sich also ihren Gegenstand als eine Lösung an, be-
8. Funktionale Analyse zieht diese Lösung auf systemrelative Probleme und
entdeckt dabei Alternativen auf beiden Seiten. Diese
Der Funktionalismus hat in der Soziologie keine gute Relationierung ermöglicht es dem Beobachter, Ein-
Presse. Funktionalismus steht für stabile Strukturen, zelereignisse als Systemereignisse aufzufassen.
für holistische Strukturen, für Top-Down-Logiken. Es geht der funktionalen Methode also um die Be-
Der Funktionalismus – in der Tradition Alfred Rad- ziehung von Problem und Problemlösung. Eine ein-
cliffe-Browns und Bronislaw Malinowskis stehend – fache Relationierung von Problem und Problemlö-
stattete sich mit einem zentralen oder obersten Be- sung wäre entweder Kausalität oder der Rekurs auf
zugsproblem aus, das zu lösen den Funktionssinn al- Motive. Giddens’ Kritik der funktionalen Methode
ler sozialen Operationen darstellt. Im Falle Radcliffe- sieht insbesondere in Motiven von Akteuren jenen
Browns war das die normative Erhaltung der sozialen Angriffspunkt, an dem man das angeblich Teleologi-
Ordnung, im Falle Malinowskis die Kategorie der Be- sche der funktionalen Methode überwinden könnte
dürfnisbefriedigung. Talcott Parsons für die anglo- (vgl. Giddens 1988, 350 f.). Luhmanns Funktionalis-
84 Begriffe

mus schließt dabei den Rekurs auf Motive nicht aus, Welches Problem löst die funktionale Analyse? Sie
nur lässt sich im Sinne von Giddens’ Kritik dann die löst das grundlegende Forschungsproblem, das Vor-
Funktion von Motiven nicht mehr bestimmen, wenn wissen des Forschers und die Offenheit für mögliche
Motive und Intentionen als einzige Problemlöser äquivalente Ergebnisse methodisch handhabbar zu
herhalten müssen. An diesem Beispiel lässt sich der machen. Was in der interpretativen Soziologie als
Äquivalenzfunktionalismus gut nachvollziehen. »hermeneutischer Zirkel« auftritt und letztlich selbst
Denn ohne Zweifel ist der Rekurs auf Motive von Ak- ein Relationierungsproblem von Beobachter und Be-
teuren eine funktionale Lösung für Systemprobleme obachtung ist, erweist sich hier als »funktionalisti-
– aber eben nicht die einzig mögliche und auch nicht scher Zirkel«, an dem sich lernen lässt, was sich
die faktisch einzig praktizierte Lösung. soziologisch über den Gegenstand der Forschung sa-
Mit dieser Multiplizierung von Problemlösungs- gen lässt (vgl. Nassehi 2011, 65). Damit verbürgt die
möglichkeiten fällt auch Kausalität als Problemlö- funktionale Methode, dass die Systemtheorie am
sungstool aus. Luhmann schreibt: »Allerdings be- stärksten gegen die Gefahr gefeit sein müsste, sozio-
steht die funktionale Methode nicht einfach im logische Theoriebildung ausschließlich als Rekon-
Aufdecken von Kausalgesetzlichkeiten mit dem Ziele, struktion theoretischer Texte in philologischer und
bei Vorliegen bestimmter Ursachen bestimmte Wir- historisierender Absicht zu betreiben. Mit der funk-
kungen als notwendig (bzw. ausreichend wahr- tionalen Methode implodiert nämlich die Unter-
scheinlich) erklären zu können. Der Erkenntnisge- scheidung von theoretischer und empirischer Per-
winn liegt gleichsam quer zu den Kausalitäten, er spektive zugunsten der Unterscheidung von Problem
besteht in ihrem Vergleich« (SS, 84). Dieser Vergleich und Lösung. Diese Unterscheidung verbürgt zu-
ist es, der die eigentliche empirische Arbeit funktio- gleich die Möglichkeit, unterschiedliche Problem/
naler Analysen darstellt, denn erst die Ermittlung Lösung-Konstellationen am selben Gegenstand zu
möglicher Problemgesichtspunkte und ihrer Lö- testen. Das ermöglicht es der funktionalen Methode,
sung(en) ermöglicht die »Ausschaltung […] von Alternativen abzuwägen und damit auch, Theorien
funktionalen Äquivalenten« (SS, 85). miteinander zu vergleichen. Der Funktionalismus
Die funktionale Analyse Luhmanns lässt sich for- könnte damit Überzeugungen und idiosynkratische
mal so darstellen: Wenn y = f(x), also wenn y eine Theoriepräferenzen durch den Vergleich von Plausi-
Funktion von x ist, dann ist nicht nur y, sondern auch bilitäten ersetzen.
x kontingent zu setzen – und das verbietet es, den
Fehler des ›alten‹ Funktionalismus zu machen, nur
eine der beiden Seiten kontingent zu setzen, etwa Literatur
ausschließlich das Bestandsproblem. Dieses Bezugs- Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft.
problem bleibt übrigens auch bei Luhmann erhalten, Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt
allerdings nur noch als die Frage der autopoietischen a. M./New York 1988.
Kontinuierung sozialer Systeme, die nicht selbst die Luhmann, Niklas: »Soziologie als Theorie sozialer Syste-
me«. In: SA1, 113–136.
Problemlösung darstellt, sondern nur Bedingung ih- Nassehi, Armin: Der soziologische Diskurs der Moderne.
rer Möglichkeit ist. Frankfurt a. M. 2006.
Luhmann gibt eine methodische Anweisung für –: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der
die empirische Arbeit mit der Theorie sozialer Syste- modernen Gesellschaft II. Berlin 2011.
me. Er betont, »die eigentliche Theorieleistung, die – /Saake, Irmhild: »Kontingenz: Methodisch verhindert
oder beobachtet? Ein Beitrag zur Methodologie der qua-
den Einsatz funktionaler Analysen vorbereitet, liegt litativen Sozialforschung«. In: Zeitschrift für Soziologie
demnach in der Problemkonstruktion« (SS, 86). Luh- 31. Jg., 1 (2002), 66–86.
mann setzt also gerade das, was der klassische Funk- Armin Nassehi
tionalismus vorausgesetzt hatte – als oberstes Bezugs-
problem – kontingent und macht damit die operative 9. Geschlossenheit / Offenheit
Theorieanlage empiriefähig. Letztlich kann diese me-
thodische Festlegung als ein interpretatives Verfahren ›Geschlossenheit‹ und ›Offenheit‹ sind zentrale Be-
rekonstruiert werden (vgl. Nassehi 2011, 65 f.; 2006, griffe für das Verständnis von Luhmanns Konzeption
449 ff.), das seine Verstehensleistungen nicht mehr von Systemen und funktionaler Differenzierung. Die
auf Motive und Kulturbedeutungen beschränkt, son- Gegenüberstellung dieser beiden Begriffe als Gegen-
dern auf den grundlegenden Mechanismus der »Be- satzpaar verführt zu Missverständnissen, denn Ge-
wältigung von Kontingenz« (Nassehi/Saake 2002). schlossenheit und Offenheit als Eigenschaften von
Geschlossenheit / Offenheit 85

Systemen in Bezug auf ihre Umwelt schließen sich chen und so können etwa Organisationen auch nicht
keineswegs aus, sondern sind in einer paradoxen Art aufhören zu entscheiden, außer sie entscheiden da-
und Weise aufeinander verwiesen. Eine systemtheo- rüber (OuE, 71).
retische Tradition, wie sie noch Talcott Parsons Ar- Der Begriff der Geschlossenheit bezieht sich also
beiten kennzeichnet, hatte soziale Systeme als offene, auf die spezifische Weise der Reproduktion des Sys-
adaptive, sich an ihrer Umwelt orientierende Entitä- tems. Als Konsequenz ihrer operativen Geschlossen-
ten im Blick, die aus ihrer Offenheit die Fähigkeit zur heit sind soziale Systeme auf Selbstorganisation
Selbststabilisierung in einer sich verändernden Um- verwiesen, d. h. Strukturbildung erfolgt nur auf Basis
welt gewinnen. In Abgrenzung zu dieser Tradition der eigenen Operationen, und die systemeigene Um-
und im Anschluss an kybernetische Überlegungen welt muss selbst hergestellt werden, denn jedes
konzipiert Luhmann soziale Systeme explizit als ge- selbstreferentielle System hat nur den Umweltkon-
schlossene Systeme, die keinen direkten Zugriff auf takt, den es sich selbst ermöglicht und keine Umwelt
die Welt haben und daher auf Selbstorganisation ver- an sich (SS, 146). Gerade weil soziale Systeme nicht
wiesen sind (GG, 92 f.). Dennoch betont er, dass au- durch ihre Umwelt determiniert sind, müssen sie sich
topoietische Systeme in Bezug auf ihre Umwelt selbst um ihre Umwelt kümmern. Im operativen
»zugleich geschlossen und offen sind« (SS, 558). Mit Vollzug reproduziert die Kommunikation die Ge-
›Geschlossenheit‹ ist auch mitnichten Isolierung, schlossenheit des Systems: Es entsteht ein System, das
Kontaktlosigkeit, kausale Abgeschlossenheit oder aufgrund seiner Geschlossenheit umweltoffen ope-
Autarkie gemeint (SA6, 15; OuE, 70) – zweifelsohne riert, weil seine basale Operation auf Beobachtung
sind Systeme auf Ressourcen außerhalb ihrer Selbst eingestellt ist (GG, 97). Soziale Systeme sind also
verwiesen und unterhalten vielfältige Interdepen- nicht umweltoffen, obwohl sie geschlossen sind, son-
denzen (GG, 96), allerdings sind sie geschlossen auf dern gerade weil sie geschlossen operieren müssen,
der Ebene ihrer Operationen. ermöglicht ihnen das einen spezifischen, weil selekti-
Luhmann geht es also um operative Geschlossen- ven Blick auf die Umwelt (SS, 359 f.; OuE, 54, 70 f.).
heit, worunter er den ständigen Rückbezug der Ele- Damit verlieren operativ geschlossene Systeme Of-
mente des Systems auf die Elemente des Systems fenheit für Beliebiges, gewinnen aber Sensibilität für
versteht (GG, 94). Aus einer allgemeinen Theorie au- Bestimmtes (SS, 185). Erst Geschlossenheit ermög-
topoietischer Systeme folgert er, dass dieser Modus licht Offenheit, da nur operativ geschlossene Systeme
des Operierens nicht nur für lebende Systeme, son- hinreichend Eigenkomplexität aufbauen können, die
dern ebenso für Bewusstseinssysteme (GG, 95) wie dann dazu dient, die Hinsichten zu spezifizieren, in
für alle soziale Systemarten gelten muss; für Interak- denen das System auf seine Umwelt reagiert, wäh-
tionssysteme, organisierte Sozialsysteme, Funktions- rend es sich in allen anderen Hinsichten Indifferenz
systeme und ebenso für Gesellschaft als umfassends- leisten kann (GG, 68). Der geschlossene Charakter
tes Sozialsystem. Ein operativ geschlossenes System und die Fähigkeit unter systeminternen Bedingun-
kann den Modus des eigenen Operierens nicht ver- gen auf die Umwelt zuzugreifen, erlauben eine maxi-
lassen; so erzeugt Gesellschaft als umweltempfindli- male Offenheit gegenüber der Komplexität der
ches, aber operativ geschlossenes System Kommuni- Umwelt (ES, 100 ff.).
kation durch Kommunikation, ohne die Möglich- Besonders augenscheinlich werden die Konse-
keit, in seiner Umwelt zu operieren und direkten quenzen operativer Geschlossenheit an der Operati-
Einfluss auf die Welt zu nehmen (SA6, 16 ff.): »Man onsweise von Funktionssystemen. Diese operieren
kann die Dinge nicht zurecht reden, so wenig wie auf der Basis binärer Codes, also zweiwertiger Unter-
man sie wegdenken oder umdenken kann« (GG, 95). scheidungen wie wahr/unwahr, Recht/Unrecht, zah-
Umgekehrt hat operative Geschlossenheit grund- len/nicht zahlen usw. Funktionssysteme bearbeiten
sätzlich zur Konsequenz, dass eigene Strukturen nur in der Gesellschaft je unterschiedliche Problemberei-
durch eigene Operationen aufgebaut und geändert che und können einander nicht ersetzen, weil opera-
werden können, Kommunikation kann nur durch tiv geschlossene Systeme schlicht nur die Möglichkeit
Kommunikation reguliert werden (ÖK, 63) und haben, sich intern an internen Problemen zu orien-
nicht unmittelbar durch Feuer, Erdbeben oder Wahr- tieren. ›Funktionale Differenzierung‹ bedeutet also
nehmungsleistungen des Einzelbewusstseins, wes- vor allem auch die operative Geschlossenheit der
halb Systeme lediglich mit »der Illusion eines Funktionssysteme: Ökonomisch kann man aus dem
Umweltkontaktes« operieren (GG,93). Kommunika- Zeichenuniversum des Geldes nicht ausbrechen,
tiv kann man nicht aus der Kommunikation ausbre- während Wahrheitsfragen sich gerade nicht auf der
86 Begriffe

Basis von Zahlungen entscheiden lassen. Die Codes was erkenntnistheoretische Folgen hat. Die Annah-
sorgen für die Geschlossenheit des Systems, die da- me operativer Geschlossenheit zieht eine Beobach-
durch erst spezifische Formen der Offenheit erlau- tungstheorie nach sich, die jede Beobachtung als
ben: »In bezug auf seinen Code operiert das System interne Aktivität mit Hilfe eigener Unterscheidungen
als geschlossenes System, indem jede Wertung wie ausweist (GG, 92). Nach Luhmann steht das aller-
wahr/unwahr immer nur auf den jeweils entgegenge- dings keinesfalls im Widerspruch zu den Bedingun-
setzten Wert desselben Codes und nie auf andere, ex- gen der Möglichkeit von Erkenntnis; das Gegenteil
terne Werte verweist. Zugleich aber ermöglicht die trifft zu (SA6, 24). Erst die Beschränkung auf eine
Programmierung des Systems, externe Gegebenhei- spezifische Perspektive erzeugt eine ordnende Selek-
ten in Betracht zu ziehen, das heißt, die Bedingungen tivität, die dann wiederum spezifische Einsichten zu-
zu fixieren, unter denen der eine oder andere Wert lässt (ES, 93).
gesetzt wird« (ÖK, 83). Die Differenzierung von Co- Wie schon angedeutet, verändert sich mit der Idee
dierung und Programmierung ermöglicht damit die operativer Geschlossenheit der Charakter des Sys-
Behandlung des Problems des eingeschlossenen tembegriffs. Die Einheit des Systems erscheint als
Dritten: »Keine Wissenschaft kann menschliches durch die eigenen Operationen selbst produzierte
Leid als dritten Wert neben Wahrheit und Unwahr- Einheit. Operative Geschlossenheit ersetzt im Theo-
heit einsetzen; aber man kann Forschungsprogram- riegerüst Existenzaussagen und sorgt für eine Dyna-
me entwerfen, die sich mit den Formen und misierung des Begriffes der Existenz (SA6, 28 f.).
Ursachen menschlichen Leidens befassen. […] Kein Solch einen dynamisierten, temporalisierten System-
monetär integriertes Wirtschaftssystem kann die Co- begriff macht auch Armin Nassehi (2011, 2003;
dierung seiner Operationen als Zahlen/Nichtzahlen Nassehi/Saake/Mayr 2008) stark, wenn er gemäß
von Geldsummen durch einen dritten Wert, etwa der Formel ›Offenheit durch Geschlossenheit‹ ein
den ›eigentlichen‹ Wert der Waren ergänzen; aber die Forschungsprogramm formuliert, welches sich exakt
Wertschätzungen können in Zahlungsprogrammen, dafür interessiert, wie Ordnung als Resultat der
in fluktuierenden Preisen zum Ausdruck kommen« Offenheit geschlossener Dynamiken entsteht, wie
(SA4, 210). Die Resonanz- oder Reaktionsfähigkeit sich trotz der selbsttragenden Konstruktion allen Be-
eines Funktionssystems basiert damit auf der Diffe- obachtens Eindeutigkeiten, Wiederholbarkeiten und
renzierung von Codierung und Programmierung Strukturen über die Zeit hinweg stabilisieren lassen.
(ÖK, 75ff).
Konsequenzen operationaler Schließung in Form
von funktionaler Differenzierung beschreibt Luh- Literatur
mann in »Theoretische und praktische Probleme der Baecker, Dirk: Wozu Systeme. Berlin 2002.
anwendungsbezogenen Sozialwissenschaften« (Luh- Luhmann, Niklas: »Theoretische und praktische Probleme
mann 1977). Zwar ist dieser Aufsatz noch vor der so- der anwendungsbezogenen Sozialwissenschaften: Zur
genannten autopoietischen Wende entstanden, aller- Einführung«. In: Wissenschaftszentrum Berlin (Hg.): In-
teraktion von Wissenschaft und Politik. Frankfurt a. M./
dings steht schon hier die Autonomie als Selbstbe- New York 1977.
schränkung der Funktionssysteme im Zentrum der –: »Zwischen Gesellschaft und Organisation. Zur Situation
Argumentation. Unter ›Autonomie‹ ist hier zu ver- der Universitäten«. In: SA4, 202–211.
stehen, dass verschiedene Funktionssysteme nach je –: »Probleme mit operativer Schließung«. In: SA6, 12–24.
eigenen Regeln verfahren. Demnach werden wissen- Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit. Studien
zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M.
schaftliche Wahrheiten im Rahmen der Anwendung 2003.
nach nicht-wissenschaftlichen Maßgaben verarbei- –: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der
tet, auf die die Wissenschaft selbst keinen direkten modernen Gesellschaft II. Berlin 2011.
Einfluss hat. Dieser Befund wendet sich gegen instru- – /Saake, Irmhild/Mayr, Katharina: »Healthcare Ethics Co-
mentalistische, technokratische Konzepte. mitees without Function? Locations and Forms of Ethi-
cal Speech in a ›Society of Presents‹«. In: Advances of
›Operative Geschlossenheit‹ verweist also darauf,
Medical Sociology 1. Jg. (2008), 131–151.
dass alles Operieren nur die Probleme lösen kann, die
es sich selbst zumutet, wobei aus dieser Geschlossen- Katharina Mayr
heit eine eigene, spezifische Offenheit generiert wird.
Aus Geschlossenheit, Selbstreferenz und der Not-
wendigkeit der Selbstorganisation resultiert die sys-
teminterne Konstruktion einer systemexternen Welt,
87

10. Inklusion / Exklusion Funktionskontexte für alle Teilnehmer des gesell-


schaftlichen Lebens zugänglich gemacht werden«
Die Unterscheidung ›Inklusion/Exklusion‹ verwen- (SA2, 160). Ein solcher Prozess lässt sich beispiels-
det Niklas Luhmann, um die Beziehung von psy- weise für das politische System an der Entwicklung
chischen und sozialen Systemen zu beschreiben. des Wahlrechts nachvollziehen: Zunächst nur einer
Dabei verschiebt er die zentralen Begriffsaspekte, je kleinen Gruppe bürgerlicher Männer zugesprochen,
nachdem auf welche Seite der Unterscheidung sich weitet es sich in der Moderne zunehmend aus und
sein Interesse richtet und auf welcher theoretischen umfasst schließlich die gesamte Staatsbürgerschaft,
Ebene er argumentiert. Eine gesellschaftstheoreti- unabhängig von Geschlecht, sozialer oder ethnischer
sche Fassung des Inklusionsbegriffs übernimmt er Herkunft (SA2, 160). Der Ausschluss von solchen
bereits in den 1970er Jahren von Talcott Parsons, eine universalisierten Teilhaberechten kann dann in der
allgemeine systemtheoretische Bestimmung reagiert Moderne nur noch funktional legitimiert werden
Mitte der 1980er Jahre auf die sogenannte autopoie- (etwa im Fall des Wahlrechts durch Altersgrenzen
tische Wende. In beiden Fällen steht zunächst die In- oder formale Zugehörigkeitsregeln wie Staatsbürger-
klusionsseite der Unterscheidung differenzlos im schaft) und wird dort, wo das nicht geschieht, zum
Mittelpunkt. Eine ausführliche Auseinandersetzung Skandal und somit wieder zum Inklusionsmotor.
mit der Exklusionsseite findet hingegen erst im Spät- Diese stark modernisierungsoptimistische Fas-
werk Luhmanns statt. Besonders der hier zur Be- sung sozialer Inklusion behält Luhmann bis in die
schreibung extremer sozialer Ausgrenzungs- und 1990er Jahre bei. In dieser Zeit wird ›Exklusion‹ nicht
Ungleichheitslagen verwendete Exklusionsbegriff als Negationsbegriff verwendet, der auf fehlende
hat ab Mitte der 1990er Jahre zu einer intensiven so- oder scheiternde Inklusion zielt, sondern zur Be-
ziologischen Debatte geführt. schreibung des spezifisch modernen Konzept des In-
Systemtheoretisch ist ›Inklusion‹ auf die sozial- dividuums verwandt. Die beschriebene universale
theoretischen Konsequenzen des autopoietischen Öffnung der Funktionssysteme resultiert in eine ex-
Systemverständnisses für das Verhältnis von sozialen plosionsartige Steigerung sozialer Komplexität für
Systemen und Bewusstseinssystemen bezogen. Unter die beteiligten psychischen Systeme. Sie werden nicht
der Annahme der operativen Geschlossenheit beider mehr in nur einem Teilsystem als ganze Person reprä-
Systemtypen erarbeitet Luhmann eine Fassung des sentiert, sondern über die soziale Form der Rolle par-
Inklusionsbegriffs, die auf seiner Konzeption von tiell jeweils unterschiedlich adressiert. Man ist nicht
Sinn basiert, um die co-evolutive Verbindung dieser mehr nur König, Bauer oder Bettelmann, sondern
Systemtypen bei gleichzeitiger radikaler Unterschie- Konsument, Rechtsperson, Vereinsmitglied, Studen-
denheit zu betonen. ›Inklusion‹ bezeichnet dann den tin und vieles mehr zugleich sowie in veränderbaren
Aufbau sozialer Systeme durch den Rückgriff auf Konstellationen. Diese polykontexturalen Inklusi-
psychische Systeme, die hierfür ein gewisses Maß an onsoptionen werden an keiner Stelle in der Gesell-
Ressourcen wie etwa Aufmerksamkeit bereitstellen schaft als Einheit repräsentiert. Die daraus entste-
müssen (GS3, 162). In diesem Kontext wird kein ex- hende Erwartungsunsicherheit wird durch die mo-
pliziter Negationsbegriff etabliert, ›Exklusion‹ wird derne Erfindung des Individuums aufgefangen: Die
eher nebenbei zur Beschreibung der strikten Tren- Konstruktion der Einheit der verschiedenen Rollen
nung psychischer und sozialer Operationen erwähnt wird in den außergesellschaftlichen Bereich verlagert
(SS, 297 f.). und ist sozial nicht zugänglich, sie wird zur Exklu-
Gesellschaftstheoretisch wird mit beiden Begriffen sionsindividualität. »Das Individuum kann nicht
näher bestimmt, in welcher Form soziale Systeme die mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Ex-
psychischen Systeme in ihrer Umwelt als Person klusion definiert werden« (GS3, 158).
adressieren und wie diese Form sich in den unter- Ab Mitte der 1990er Jahre unterzieht Luhmann
schiedlichen Differenzierungstypen wandelt. Der die Bestimmung der Unterscheidung ›Inklusion/Ex-
Schwerpunkt liegt dabei auf der modernen Form der klusion‹ einer weitreichenden Umdeutung. Diese be-
funktionalen Differenzierung. Luhmann beschreibt trifft vor allem den Exklusionsbegriff. In mehreren
›Inklusion‹ bereits 1975 in Evolution und Geschichte Aufsätzen und Passagen der späten Schriften wird
als den Vorgang der zunehmenden Universalisierung ›Exklusion‹ als Schattenbegriff oder Gegenbegriff
aller gesellschaftlichen Teilsysteme und ihrer damit zum implizit modernisierungsoptimistischen In-
einhergehenden Öffnung gegenüber allen Gesell- klusionskonzept etabliert (GS4, 138–150; SA6,
schaftsmitgliedern. »Inklusion bedeutet, daß alle 237–264). Exklusion wird jetzt beschrieben als dau-
88 Begriffe

erhafter und sich über Systemgrenzen hinweg ver- Organisationen für die gesellschaftliche Inklusions-/
stärkender Ausschluss von Personen aus funktionaler Exklusionsordnung (Nassehi 2004; Stichweh 2005).
Kommunikation. Solche Verkettungen – keine Bil- Über die systemtheoretische Diskussion hinaus wirkt
dung, keine Arbeit, kein fester Wohnsitz, kein Zu- das Exklusionskonzept Luhmanns auch in eine die
gang zu Rechtsschutz etc. – vollziehen sich ungeach- Soziologie, Sozialpolitik und Öffentlichkeit umgrei-
tet der Autopoiesis der Funktionssysteme und fende Debatte zur Verschärfung sozialer Ungleich-
determinieren den gesamten Zugang zu funktions- heiten in der Spätmoderne hinein (Bude/Willisch
systemischer Kommunikation. Sie münden schließ- 2008). Die Hinwendung Luhmanns zu Fragen sozia-
lich in Bereiche sozialer Exklusion, die auch räumlich ler Exklusion wird hier als Möglichkeit der Verbin-
von den Sphären der funktionalen Inklusions-/Ex- dung ungleichheitssoziologischer und systemtheore-
klusionsordnung getrennt sind und in denen Perso- tischer Perspektiven begrüßt. Das Konzept wird
nen auf ihre körperliche Existenz reduziert zu sein seitdem sowohl theoretisch diskutiert als auch empi-
scheinen (GS4, 147). Paradigmatische Orte solcher risch angewendet, wobei durchaus Kritik am er-
Exklusionsbereiche sind für Luhmann etwa südame- kenntniserweiternden Potential gegenüber den tra-
rikanische favelas oder Slums in indischen Großstäd- dierten Konzepten der Ungleichheitsforschung be-
ten, die er immer wieder für dramatische Schilderun- steht (Stichweh/Windolf 2009; Kronauer 2010,
gen heranzieht (gemessen an dem ansonsten für ihn 233 ff.).
eher prägenden Tonfall ironischer Distanziertheit,
vgl. Farzin 2011). Diese Phänomene sieht Luhmann
nun nicht mehr als Übergangserscheinungen fort- Literatur
schreitender funktionaler Differenzierung. Vielmehr Bude, Heinz/Willisch, Andreas (Hg.): Exklusion. Die De-
warnt er vor einer neuen Supercodierung der Welt- batte über die »Überflüssigen«. Frankfurt a. M. 2008.
gesellschaft durch Inklusion/Exklusion, also vor Be- Farzin, Sina: Die Rhetorik der Exklusion. Zum Zusammen-
reichen funktionaler Differenzierung und davon hang von Exklusionsthematik und Sozialtheorie. Wei-
lerswist 2011.
ausgeschlossenen Zonen weitreichender Exklusion –: Inklusion/Exklusion. Entwicklungen und Probleme ei-
(SA6, 260). ner systemtheoretischen Unterscheidung. Bielefeld 2005.
Es ist besonders diese letzte Verschiebung in Luh- Kronauer, Martin: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen
manns Inklusions-/Exklusions-Konzept, die zu um- im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a. M.
22010.
fassenden Debatten geführt hat. In der systemtheo-
Luhmann, Niklas: »Evolution und Geschichte«. In: SA2,
retischen Diskussion werden dabei vor allem die 150–169.
Widersprüche thematisiert, die eine solche Fassung –: »Individuum, Individualität, Individualismus«. In: GS3,
sozialer Exklusion innerhalb des übergeordneten 149–258.
Rahmens einer Theorie funktionaler Differenzie- –: »Jenseits von Barbarei«. In: GS4, 138–150.
rung erzeugt. Unklar ist etwa das Verhältnis von Kon- –: »Inklusion und Exklusion«. In: SA6, 237–264.
Nassehi, Armin: »Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine
zepten wie ›Körper‹ oder ›Raum‹ zur konstruktivis- kleine theoretische Skizze«. In: Thomas Schwinn (Hg.):
tischen Perspektive der Systemtheorie und deren Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei So-
Axiom der rein kommunikativen Verfasstheit alles ziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M. 2004,
Sozialen. Auch wird in Luhmanns Beschreibungen 323–352.
nicht deutlich, wie es unter der Annahme autopoie- Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Bielefeld 2005.
– /Windolf, Paul (Hg.): Inklusion und Exklusion. Analysen
tischer Geschlossenheit zu den geschilderten Verket-
zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden
tungen von Exklusionen kommen kann. Und 2009.
schließlich wird darauf verwiesen, dass gerade in ei- Sina Farzin
ner explizit a-normativen Theorie nicht jede sozial
problematische Form von Inklusion (etwa Armut
oder Bildungsdefizite) als Exklusion beschrieben
werden kann. Systemtheoretisch orientierte Autoren
lehnen vor diesem Hintergrund Luhmanns Vorstel- 11. Interaktion / Organisation /
lung von Zonen totaler Exklusion zumeist ab. Sie Gesellschaft
sprechen vielmehr von gesellschaftlichen Zuschrei-
bungsprozessen, die im Inklusionsbereich der Ge- Im 1975 erschienenen zweiten Band der Soziologi-
sellschaft Exklusionserfahrungen generieren und schen Aufklärung (SA2) führt Luhmann die Begriffs-
fokussieren anders als Luhmann u. a. die Rolle von trias ›Interaktion‹, ›Organisation‹ und ›Gesellschaft‹
Interaktion / Organisation / Gesellschaft 89

ein, um »den Gesellschaftsbegriff nicht nur, wie frü- steht, weil die Bewusstseinssysteme sich zwar wech-
her vorherrschend, gegen Individuen abzugrenzen, selseitig wahrnehmen, aber füreinander intranspa-
sondern zusätzlich gegen andere Typen sozialer Sys- rent bleiben. »Praktisch gilt: daß man in Interakti-
teme, nämlich Interaktion und Organisation« (SA2, onssystemen nicht nicht kommunizieren kann; man
5). Damit wendet er sich einerseits gegen die gängi- muß Abwesenheit wählen, wenn man Kommunika-
gen soziologischen Unterscheidungen von Individu- tion vermeiden will« (SS, 562). Dieser Typus sozialer
um/Gesellschaft und Mikro-/Makroebene; anderer- Systeme ist aufgrund seiner strukturellen Orientie-
seits verweist er auf die theoretische Notwendigkeit, rung an Anwesenheit in seiner Entstehung kaum an
die Ebene der Gesellschaftstheorie von der einer all- Voraussetzungen geknüpft, gerade dadurch jedoch
gemeinen Theorie sozialer Systeme zu unterschei- auch extrem instabil. Interaktionssysteme zerfallen,
den. sobald die Bedingung echtzeitlicher Kommunikation
Während Luhmann gesellschaftstheoretisch spe- unter Anwesenden entfällt. Auch thematisch sind sie
ziell die Besonderheiten der modernen, funktional durch die Basiertheit auf Anwesenheit und Echtzeit
differenzierten Gesellschaft (im Unterschied zu an- beschränkt. Gerade mit Blick auf die zeitliche und
deren historischen Gesellschaftsformen) im Blick thematische Begrenztheit wird die Differenz von In-
hat, interessiert ihn auf der Ebene der allgemeinen teraktionsystemen und Gesellschaft offenkundig.
Theorie sozialer Systeme zunächst schlicht, wie so- Gesellschaft ist für Luhmann nicht einfach die
ziale Systeme, indem sie Möglichkeiten einschrän- Summe aller Interaktionen. Die Entstehung von
ken, Weltkomplexität reduzieren und so auf je Strukturen auf Gesellschaftsebene erfolgt gerade
unterschiedliche Weise soziale Ordnung generieren. nicht exklusiv über Anwesenheit, sondern allgemein
Auf dieser Ebene unterscheiden sich Interaktions-, über kommunikative Erreichbarkeit. Gesellschaft als
Organisations- und Gesellschaftssysteme, die diese das soziale System, das alle potentiell erreichbare
Komplexitätsreduktion auf je verschiedene Weise Kommunikation umfasst, also gerade auch die Kom-
vollziehen. Gemeinsam ist den drei Typen sozialer munikation unter/mit Abwesenden, ist nicht durch
Systeme, dass sie sich durch ihre Kommunikations- die aktuell oder historisch realisierte Menge an Kom-
basiertheit von allem unterscheiden, was nicht Kom- munikation begrenzt: »Ihre eigenen Grenzen sind die
munikation ist. So sind etwa Körper, psychische Grenzen möglicher und sinnvoller Kommunikation,
Systeme, Gegenstände, wie alles Nicht-Kommunika- vor allem Grenzen der Erreichbarkeit und der Ver-
tive, nicht Bestandteil sozialer Systeme, sondern ständlichkeit. Sie sind viel abstrakter und […] sehr
deren Umwelt. Während also Kommunikation als viel unschärfer definiert als die Grenzen von Interak-
Grenze der System/Umwelt-Unterscheidung sozialer tionssystemen« (SA2, 12). Die Formen und Bedeu-
Systeme fungiert und alles ausschließt, was nicht-so- tungen aller drei Systemtypen, nicht nur der
zial ist, bezeichnet die Unterscheidung von Gesell- Gesellschaft, unterliegen historischen Wandlungs-
schaft, Interaktion und Organisation verschiedene prozessen, wie Luhmann explizit betont.
Modi sozialer Ordnungsbildung. »Soziale Systeme Für Organisationssysteme, die nicht in allen histo-
können sich auf verschiedene Weise bilden je nach rischen Gesellschaftsformen vorkommen und deren
dem [sic!], unter welchen Voraussetzungen der Pro- Betrachtung Luhmann deshalb in seinem theoreti-
zess der Selbstselektion und Grenzziehung abläuft. schen Hauptwerk Soziale Systeme (SS 1984) auch
Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich Interaktions- ausklammert (SS, 551, Fn. 1), gilt dies besonders.
systeme, Organisationssysteme und Gesellschaftssyste- Während die Differenz von Interaktion und Gesell-
me unterscheiden« (SA2, 10). schaft historisch immer schon vorkommt, ist die
Interaktionssysteme entstehen dort, wo Anwesen- dritte Form sozialer Systembildung, die Ausbildung
de sich wechselseitig wahrnehmen. »Gesetzt den Fall, von Organisationssystemen, erst in komplexeren Ge-
zwei oder mehr Personen geraten einander ins Feld sellschaften zu beobachten. »Dabei stützt sich die
wechselseitiger Wahrnehmung, dann führt allein die Einrichtung von Organisationen auf Entwicklungen
Tatsache schon zwangsläufig zur Systembildung« im Wirtschaftssystem und im Erziehungssystem. Die
(SA2, 26). Diese Beschreibung der Konstitutionsbe- Ausdifferenzierung dieser Funktionssysteme schafft
dingungen widerspricht keineswegs der oben ge- die Voraussetzung für die Ausdifferenzierung von
nannten Prämisse, wonach nichts Nicht-Kommuni- Organisationen« (OuE, 381). In der Wirtschaft wer-
katives zu sozialen Systemen gehört. Die Bewusst- den durch Etablierung geldvergüteter Arbeit Anreize
seinssysteme der Beteiligten bleiben radikal vom zum Gelderwerb jenseits reiner Bedarfsdeckung ge-
Interaktionssystem getrennt, das gerade deshalb ent- schaffen, Erziehung bietet die Möglichkeit, bei der
90 Begriffe

Besetzung von bestimmten Positionen vom sozialen ne Ermöglichungsbedingungen und Beschränkun-


Status abzusehen und Qualifikation als Auswahlkri- gen in sozialen Situationen wirksam sind und die
terium zu installieren. So erhalten Organisationen Differenz von Interaktion, Organisation und Gesell-
die Ressourcen, die es ermöglichen, hochgradig un- schaft als Differenz einen Unterschied macht.
wahrscheinliche Verhaltensmuster auf Dauer zu stel-
len.
Organisationssysteme strukturieren sich dadurch, Literatur
dass sie ihre Organisationsmitglieder von einem Pu- Baecker, Dirk: Organisation als System. Frankfurt a. M.
blikum unterscheiden. Im Gegensatz zum Gesell- 1999.
schaftssystem unterscheiden sie also zwischen Kom- Kieserling, André: Kommunikation unter Anwesenden.
munikation, die zum System gehört und solcher, die Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt a. M. 1999.
Luhmann, Niklas: »Vorwort«. In: SA2, 5.
nicht zum System gehört. Kommunikation in Orga- –: »Interaktion, Organisation, Gesellschaft«. In: SA2, 9–20.
nisationssystemen nimmt dabei die Form von Ent- –: »Einfache Sozialsysteme«. In: SA2, 21–38.
scheidungen an. Man kann Organisationen »als Nassehi, Armin: Der soziologische Diskurs der Moderne.
autopoietische Systeme auf der operativen Basis der Frankfurt a. M. 2006.
Kommunikation von Entscheidungen charakterisie- Gina Atzeni
ren. Sie produzieren Entscheidungen aus Entschei-
dungen und sind in diesem Sinne operativ geschlos-
sene Systeme« (GG, 830). Dass der Ankerpunkt für
die Fortsetzung von systemkonstitutiver Kommuni- 12. Kommunikation
kation und somit das Fortbestehen des Systems hier
nicht wechselseitige Wahrnehmung, sondern das Man nähert sich dem systemtheoretischen Begriff
Prozessieren von Entscheidungen ist, macht Organi- der Kommunikation am besten dadurch an, dass
sationen zeitlich aber auch hinsichtlich thematischer man das Problem rekonstruiert, das Niklas Luhmann
Änderungen deutlich stabiler und flexibler als Inter- mit diesem Begriff zu lösen versucht. Im Prinzip geht
aktionssysteme. es darum, in einer universalen Theorie des Sozialen
Jenseits der einzelnen Anwendung und Ausarbei- das Genuine der Sozialität und damit auch der Sozio-
tung der Begrifflichkeiten (zu Interaktion vgl. Kieser- logie neu zu begründen – durch Rekurs auf eine ele-
ling 1999; zu Organisation vgl. Baecker 1999) erlaubt mentare Einheit sozialer Systeme, die nichts Psy-
die Unterscheidung sozialer Systeme in verschiedene chisches enthält und nicht wie ›Handeln‹ auf
Ebenen sozialen Strukturaufbaus davon abzusehen, Menschen zurückführt, die soziale Systeme ›ma-
sich entweder für soziale Phänomene auf der Mikro- chen‹. Deswegen war es einerseits erforderlich, eine
oder auf der Makroebene zu interessieren. Der ei- Auto-Reproduktivität solcher Systeme zu modellie-
gentliche Clou dieser Theoriekonstruktion liegt ren (Autopoiesis), andererseits das, was operativ die-
möglicherweise darin, Interaktionen nicht zu be- se Reproduktion leistet, so zu fixieren, dass die
trachten, als handle es sich bei ihnen um ein niedri- ›Münchhausiade‹ einer Eigenreproduktion plausibel
geres Niveau des Sozialen als bei Organisationen oder wird, die mit ihren Elementen immer nur Elemente
gar der Gesellschaft (Nassehi 2006). Es geht nicht da- derselben Form reproduziert. Genau in diese Funk-
rum, in Interaktionen den Nukleus von Gesellschaft tionsstelle tritt Kommunikation ein, die dann nicht
zu erkennen, nicht darum, Organisationen als die mehr eine Art verbindender Tätigkeit ist, die von
entscheidenden Instanzen der Generierung sozialer Menschen zwischen Menschen betrieben wird. Die
Ordnung auszumachen und auch nicht darum, aus zentrale These, die auf Anhieb kontraintuitiv wirkt,
gesellschaftstheoretischer Perspektive auf die Deter- lässt sich bündeln in der Formulierung: Niemand
mination aller sozialen Praxis zu schließen. Stattdes- ›tut‹ kommunizieren; Kommunikation kommuni-
sen ermöglicht die Unterscheidung von Interaktion, ziert, nichts sonst. Das bedeutet, »[…] daß in sozia-
Organisation und Gesellschaft, die Eigenlogik kon- len Systemen, die durch Kommunikation gebildet
kreter sozialer Situationen aus ihren je unterschied- werden, nur Kommunikation als Mittel der Auflö-
lichen Verweisungszusammenhängen zu erklären. sung von Elementen zur Verfügung steht. Man kann
Die Beobachtung der unterschiedlichen Arten der Aussagen analysieren, in zeitliche, sachliche und so-
Strukturierung sozialen Sinns auf der Ebene von In- ziale Sinnbezüge weiterverfolgen, kann im Detail im-
teraktionen bzw. Organisationen und auf der Gesell- mer kleinere Sinneinheiten bilden bis in die endlose
schaftsebene erlaubt die Einsicht, dass je verschiede- Tiefe des Innenhorizontes hinein – aber all dies im-
Kommunikation 91

mer nur durch Kommunikation, also in sehr zeitauf- rem darin, dass genau diese Theorieentscheidung,
wendiger und sozial anspruchsvoller Weise. Dem die Kommunikation unbeobachtbar stellt, dazu
sozialen System steht keine andere Weise der Zerle- führt, dass die Frage nach der ›Phänomenalisierung‹
gung zur Verfügung, es kann nicht auf chemische, einer Unbeobachtbarkeit aufgeworfen werden kann.
nicht auf neurophysiologische, nicht auf mentale Die Antwort ist das Konzept der Selbstsimplifikation
Prozesse zurückgreifen (obwohl all diese existieren von Kommunikation, die Annahme, dass sich Kom-
und mitwirken)« (SS, 226). munikation beobachtbar macht in einer Verkürzung,
Wenn man so optiert, wird es notwendig, den Be- in der die Mitteilung als Mitteilungshandeln er-
griff der Kommunikation nicht traditionslos, aber in scheint, als zeitstellenfixierbare Reduktion der Kom-
einigen Hinsichten radikal anders zu präparieren, als plexität ihrer eigenen Operativität, als, wie man
es die eingeschliffene Gewohnheit des ›Kommunizie- sagen könnte, Verkettung von Äußerungen, die getan
ren mit […]‹ suggeriert. In einem ersten Schritt wer- werden, mit Äußerungen, die getan werden – zu ei-
den Information, Mitteilung und Verstehen als die nem ›lesbaren‹ Sinnzusammenhang; lesbar für sinn-
Komponenten (Selektionen) begriffen, die in der deutungsfähige psychische Systeme, strukturbildend
Operation der Kommunikation synthetisiert wer- für soziale Systeme, die ohne jene Reduktion schwer-
den. ›Information‹ bezeichnet dabei den fremdrefe- lich ordnungsfähig wären.
rentiellen Aspekt der Operation, die quidditas, das Kommunikationen – als Ereignisse begriffen –
Was, worum es jeweils geht; die ›Mitteilung‹ ist der werden entlang jener Simplifikationen geordnet. Die
Ausdruck für die Selbstreferentialität der Kommuni- einschlägigen Begriffe sind Struktur und Prozess.
kation, also für dasjenige, woran sich erkennen lässt, Strukturen werden durch die Möglichkeit geschaf-
dass Kommunikation stattfindet und sich nicht ir- fen, dass sich in den Anschlüssen passende und
gendein beliebiges Verhalten abspult; das ›Verstehen« nichtpassende Ereignisse diskriminieren lassen.
ist dann die Beobachtung der Differenz von Mittei- Strukturen sind demnach anders als herkömmlich in
lung und Information, im Kern demnach der An- dieser Theorie nicht auf Festigkeit angelegt, sondern
schluss, der darüber befindet, ob eher an Selbstrefe- auf Spielräumigkeit. Anders ausgedrückt: Sie sind als
renz oder eher an Fremdreferenz angeschlossen Abweichungsdetektoren beschreibbar, die viele Er-
wurde. eignisse als kompatibel oder kompossibel mit gerade
Diese Synthetik ist freilich noch sehr dicht an psy- laufenden Geschehnissen behandeln können, aber
chischen Systemen angesiedelt. Man kann leicht den davon dasjenige, was ganz und gar nicht geht, unter-
Eindruck gewinnen, dass Informieren, Mitteilen, scheiden. Sie werden anhand von Irritationen er-
Verstehen psychische Operationen sind: Jemand teilt rechnet, die zu Korrekturen nötigen. Prozesse
etwas mit, das jemand anderer versteht. Das theore- dagegen sind selektivitätsverstärkende Strukturen, in
tische Erfordernis einer genuin sozialen Operation denen Ereignisse in ihrer Selektivität intensiviert
wird deswegen erst dann erfüllt, wenn Kommunika- werden – bis hin zur ›Unbeweglichkeit‹ im Blick auf
tion vom sozialen Verstehen her aufgezäumt wird. noch mögliche Veränderungen. Konflikte sind dafür
›Verstehen‹ meint dabei nichts weiter als den An- ein gutes Beispiel.
schluss, der im Nachtrag (in Gegenrichtung zur Nor- Eine zentrale Schwierigkeit für das Verständnis
malzeit) die Differenz von Selbst- und Fremdrefe- dieser Theorie bestand und besteht wohl noch darin,
renz, also Mitteilung und Information erzeugt. dass sich sinndeutende, sinnlesende und in diesem
Dieser Anschluss erfolgt aber genau nicht in einem Verständnis hermeneutische Operationen psychisch
abschließenden Sinne, sondern er ist selbst darauf leicht vorstellen lassen, aber es prima vista unmög-
angewiesen, dass ein Anschluss folgt, der den voran- lich scheint, die Reproduktion von Sinnzusammen-
gegangenen Nachtrag seinerseits als jene Differenz hängen an soziale Operationen zu knüpfen, die nicht
aufnimmt und so weiter und so fort. über Wahrnehmung, nicht über Körper, nicht über
Mit dieser temporalen Drehung werden Kommu- irgendein minimales Sensorium für Sinn verfügen.
nikationen zu Ereignissen, die sich nicht beobachten Darauf bezieht sich zunächst das Theoriestück der
lassen, da die Leistung der Synthetik immer zukünf- strukturellen Kopplung. Es hält daran fest, dass psy-
tig geschieht, oder (in Anlehnung an ein Diktum von chische und soziale Systeme jeweils autonom operie-
Paul Valéry): da die Kommunikation sich nicht im rende Einheiten sind, die ihre ereignishaften Elemen-
Blick auf ihre Synthese zuvorkommen kann. Es gibt te nicht untereinander austauschen können. Sie
sie nicht als ›beschaubare‹ Singularität. Die Raffines- kennen keine Überlappungen, Überschneidungen,
se dieser Konstruktion findet sich dann unter ande- keine Transitivität. Gleichwohl stehen sie in einem
92 Begriffe

reziproken Irritationsverhältnis. Sie offerieren einan- Operativität. Damit werden Zonen der Vergleichbar-
der nicht Durchgriffs-, sondern Auslösekausalität. keit geöffnet, die noch nicht ausgeschöpft und
Sie sind in dieser Hinsicht so verschränkt, dass sie durchbestimmt sind. Vor allem gewinnen Theoreme
sich wechselseitig ermöglichen. Ohne die hermeneu- konditionierter Koproduktion an Gewicht, die das
tische Kapazität psychischer Sinnsysteme gäbe es kei- Ausfällen, das Disseminieren von Sinn nicht mehr
ne Kommunikation; ohne Kommunikation gäbe es unbedingt nur an psychische Systeme und deren Ak-
keine durch Sinn in-formierte psychische Wahrneh- tivitäten binden müssen, sondern in einer eigentüm-
mungsverarbeitung. Soziale und psychische Systeme lichen Dramatik zeigen, wie sehr psychische Ereig-
stehen in der Relation konditionierter Ko-Originati- nisse formatiert sind durch Kontakte mit der Welt
on, damit auch in dem Verhältnis der Ko-Evolution. der Kommunikation.
Ein zweiter Theoriestrang, der das Problem bear-
beitet, dass Kommunikationen keine Sinnlese-Mög-
lichkeiten haben, eröffnet das Spiel einer weitrei- Literatur
chenden Abstraktion. Unter Rückgriff auf George Fuchs, Peter: Moderne Kommunikation. Zur Theorie des
Spencer-Browns Laws of Form (1969) entwickelt operativen Displacements. Frankfurt a. M. 1993.
Luhmann einen allgemeinen Begriff für sinnförmige –: »›Das ›Ich‹ ist jenseits der Kommunikation ein lärmen-
Operationen: ›Beobachtung‹. Dieser Begriff ist so an- der Kasper‹. Ein Gespräch mit Peter Fuchs«. In: Theodor
M. Bardmann (Hg.): Zirkuläre Positionen. Bd. 2: Die
gelegt, dass er psychische und soziale Systeme über- Konstruktion der Medien. Opladen 1998, 171–198.
greift. Psychischen Systemen können Beobachtun- –: »Die Form der autopoietischen Reproduktion am Bei-
gen zugerechnet werden, aber auch – und das ist ein spiel von Kommunikation und Bewußtsein«. In: Soziale
revolutionärer Schritt –: sozialen Systemen. Der Be- Systeme 8. Jg (2002), 333–351.
griff geht davon aus, dass Beobachten im Spiel ist, –: »Die Zeit der Kommunikation«. In: Helmut Richter/H.
Walter Schmitz (Hg.): Kommunikation – ein Schlüssel-
wenn Unterscheidungen aufgeblendet (beobachtet) begriff der Humanwissenschaften? Münster 2003,
werden, in deren Rahmen die eine oder andere Seite 321–329.
der je eingesetzten Unterscheidungen bezeichnet Luhmann, Niklas: »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommu-
und zur weiteren Informationsverarbeitung selegiert nikation«. In: SA3, 25–34.
ist. Diese Selektion findet statt, wenn sie stattfindet. –: »Was ist Kommunikation?« In: Fritz B. Simon (Hg.): Le-
bende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der sys-
Sie muss nicht die Wahl eines bewussten Operateurs temischen Therapie. Berlin u. a. 1988, 10–18.
sein; sie ist als Form erfüllt, wenn durch ein Ereignis, –: »Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?« In:
das fällt, Vorereignisse als Unterscheidungsverwen- Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Ma-
dungen aufgenommen werden. terialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988,
Wenn Kommunikation eine Operation ist, die 884–905.
Spencer-Brown, George: Laws of Form. London 1969.
durch Anschluss (Verstehen) Selbst- und Fremdrefe-
renz (Mitteilung und Information) in eine ansonsten Peter Fuchs
superkompakte Realität einschreibt, entspricht sie
der allgemeinen Form der Beobachtung. Kommu-
nikationen sind immer referierend-beobachtende
Ereigniskonstellationen. Jene oben beschriebene 13. Komplexität
Selbstsimplifikation der Kommunikation in Verket-
tungen von Mitteilungshandeln wird unter anderem Der Begriff ›Komplexität‹ und die Frage, wie Systeme
dadurch erzwungen, dass die Zurechnung auf Beob- Komplexität reduzieren, sind für die luhmannsche
achten den Beobachter ›heranzitiert‹ und ihn als Be- Systemtheorie von zentraler Bedeutung. Um zu ver-
obachtung ›tuende‹ Einheit stilisiert, im Normalfall stehen, was damit gemeint ist, lohnt ein Blick darauf,
als psychisches System, dem zugetraut wird, dass es wie Komplexität in den letzten Jahrzehnten erforscht
in seiner uneinsehbaren Innenwelt Unterscheidun- wurde. Als eigenständiger Wissenschaftsbereich
gen und Bezeichnungen lesen und operativ einsetzen führt die Komplexitätsforschung unterschiedliche
kann. Denkansätze zusammen, die aus den verschiedenen
Eine spannende Pointe dieser Überlegungen ist, Wissenschaften gewonnen werden. Einerseits sind
dass die allgemeine Form der Operation auch der die Wissenschaften heute hoch ausdifferenziert und
psychischen Operativität eignet. Sie ist als Kombina- in einer komplexen Vielfalt von Einzeldisziplinen
tion von Fremd- und Selbstreferenz durch An- spezialisiert. Andererseits haben es Wissenschaften
schlussmanagement isomorph mit kommunikativer selber in Natur und Gesellschaft mit hochkomplexen
Komplexität 93

Systemen zu tun – von komplexen atomaren, mole- als Soziologen wichtig ist. Denn traditionell ist hier
kularen und zellulären Systemen in der Natur bis zu das Feld von Juristen, Ökonomen, Sozial- und Geis-
komplexen sozialen und wirtschaftlichen Systemen teswissenschaftlern, während Mathematikern und
in der Gesellschaft. Komplexitätsforschung beschäf- Physikern Systeme der Gesellschaft mit ihren unge-
tigt sich fachübergreifend mit der Frage, wie durch heuer vielen Freiheitsgraden handelnder Personen
die Wechselwirkung vieler Elemente eines komple- viel zu kompliziert sind, um sich damit zu beschäf-
xen Systems (z. B. Moleküle in Materialien, Zellen in tigten – auch wenn inzwischen Methoden der Physik
Organismen oder Menschen in Märkten und Orga- aus dem Forschungsgebiet nichtlinearer Dynamik
nisationen) Ordnungen und Strukturen entstehen und komplexer Systeme auf soziale und ökonomi-
können, aber auch Chaos und Zusammenbrüche. sche Systeme angewendet werden.
Das Ziel der Komplexitätsforschung besteht darin, Alle Erfahrungen zeigen uns, dass Entscheidungs-
Chaos, Spannungen und Konflikte in komplexen verhalten in politischen und wirtschaftlichen Syste-
Systemen zu erkennen und ihre Ursachen zu verste- men letztlich auf einer tiefer liegenden Schicht
hen, um daraus Einsichten für neue Gestaltungspo- beruht: Menschen entscheiden und handeln bewusst
tentiale der Systeme zu gewinnen. oder unbewusst auf der Grundlage rechtlicher, kul-
›Komplexität‹ bestimmt die Wissenschaft des tureller und religiöser Wertvorstellungen, die seit
21. Jahrhunderts. Die Expansion des Universums, die Jahrhunderten weltweit in unterschiedlichen Tradi-
Evolution des Lebens und die Globalisierung von tionen gewachsen sind und sie prägen. Man kann
Wirtschaft, Gesellschaft und Kulturen führen zu diese Wertvorstellungen als Ordnungsparameter
Phasenübergängen komplexer dynamischer Syste- rechtlicher, kultureller und religiöser Dynamik auf-
me. Die sich abzeichnenden Schlüsselthemen dieses fassen. Kulturelle und religiöse Symbole treten an die
Jahrhunderts haben mit Komplexität zu tun. Globale Stelle mathematischer Zeichen von Modellen nicht-
Klimaveränderungen, Erdbeben und Tsunamis wer- linearer Dynamik. Es ist eine globale Herausforde-
den in Computermodellen komplexer dynamischer rung, friedliche Koexistenz und kulturelle Balance zu
Systeme untersucht. Die Nanotechnologie entwickelt fördern, um den Crash der Kulturen und Religionen
neue Materialien aus komplexen molekularen Struk- in ihrer komplexen nichtlinearen Dynamik zu ver-
turen. Die Gentechnologie analysiert DNA-Informa- hindern.
tion, die komplexe zelluläre Organismen wachsen Vom Standpunkt der nichtlinearen Dynamik aus
lässt. Die life sciences beschäftigen sich mit der Kom- betrachtet, geht es darum, gemeinsame ›Ordnungs-
plexität des Lebens. Artificial life simuliert die kom- parameter‹ zu schaffen, um die globale Regierbarkeit
plexe Selbstorganisation des Lebens in geeigneten (global governance) dieses Planeten zu sichern, Kon-
Computermodellen. flikte zu minimieren und Komplexität zu reduzieren.
Fasst man den Menschen als komplexen Organis- Wir müssen geeignete Impulse und Signale auslösen,
mus auf, so kann Komplexitätsforschung dabei hel- damit diese Integration wachsen und sich entwickeln
fen, Gräben zwischen Natur-, Geistes- und Sozial- kann. Verordnen und programmieren lässt sie sich
wissenschaften zu überwinden. Vom Standpunkt der nicht. Auch diese Einsicht vermittelt Komplexitäts-
Naturwissenschaften haben wir es beim Menschen forschung.
zunächst mit einem konkreten komplexen System zu Luhmanns Systemtheorie schließt hier an und er-
tun, dem aus Milliarden von Nervenzellen bestehen- weist sich terminologisch als kompatibel mit der mo-
den Gehirn. Dieses komplexe System zeigt uns, wie dernen mathematischen und empirischen Komple-
aus der Integration und den vielfältigen Wechselwir- xitätsforschung. Auch in Luhmanns Komplexitäts-
kungen seiner Elemente Ordnung und Struktur ent- konzept stehen die Unterscheidung von Element und
stehen kann: der menschliche Geist mit seinen Relation, damit die selektive Verknüpfbarkeit der
vielfältigen Fähigkeiten und Begabungen, aber auch Elemente und damit das Problem der Ordnungsbil-
mit seiner Gefährdung von Chaos, Desorientierung dung qua Wechselwirkungen im Mittelpunkt. Kom-
und Krankheit. plexität entsteht dann, wenn nicht alle Elemente
Menschen agieren in komplexen Organisationen zugleich miteinander in Relation treten können,
und Gesellschaften. Mit der menschlichen Gesell- wenn »nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem
schaft ist aber das komplexeste System genannt, das anderen verknüpft sein kann« (SS, 46), wenn also se-
wir derzeit überhaupt kennen. Wie ist Denken, Han- legiert werden muss und aufgrund dessen mehr
deln und Entscheiden in solchen komplexen Syste- Möglichkeiten entstehen als gerade aktualisiert wer-
men möglich? Dies ist eine Frage, die für Luhmann den (SS, 45 ff.; GG, 134–144; SA2, 204–220). Ent-
94 Begriffe

scheidend ist dabei, dass Elemente im Sinne Luh- immer dann, wenn ein System die Unterscheidung
manns nicht als Bauklötzchen missverstanden wer- von System und Umwelt trifft und dabei ein Komple-
den dürfen. Es geht nicht um die Elemente, sondern xitätsgefälle beobachten kann. Die Umwelt ist dabei
um ihre Relationierbarkeit, um die »Gesamtheit der immer komplexer als das System, da das System qua
wechselseitigen Relationen« (Kneer/Nassehi 2004, Selektionen interne Beschränkungen einbaut, um die
20) und die »Architekturen der Ordnung eines Sys- Relationierung von Relationen im System und in der
tems« (Willke 2005, 316). Alle Selektionen und Ak- Umwelt handhaben zu können (SS, 47 f.). Komplexi-
tualisierungen vollziehen sich sequentiell, weshalb tät kann nie endgültig bestimmt werden, da auf-
auch von einer dynamischen Komplexität gespro- grund der Rekursivität der Operationen und auf-
chen werden kann. grund der Unmöglichkeit der kompletten Verknüpf-
Gerade die Unterscheidung zwischen Systemele- barkeit der Elemente immer andere Selektionen von
menten und Systemrelationen ermöglicht es Luh- Möglichkeiten getroffen werden (GG, 142 f.). Daher
mann, die Eigenkomplexität von Systemen zu müssen Systeme auf die »Reduktion von Komplexi-
beschreiben. Eine wichtige Folge von Systemkomple- tät« (SS, 48) zurückgreifen, um ihre Umwelt zu mo-
xität ist die Entstehung von Emergenz, d. h. die Ent- dellieren. Diese Komplexitätsreduktion lässt sich von
wicklung von neuen Eigenschaften, die nicht auf die außen nicht direkt beobachten. Vielmehr müssen die
einzelnen Systemelemente zurückführbar sind, son- eigenen Beobachtungen eines Systems mit den Beob-
dern durch ihre Wechselwirkung (Relationen) er- achtungen anderer verglichen werden. Zudem muss
klärbar werden. Anschaulich eröffnet Luhmanns man die Beobachter des Systems beobachten (Beob-
Systemtheorie damit die Möglichkeit, bekannte so- achtung zweiter Ordnung), um so die von Beobach-
ziale Phänomene wie z. B. die Eigenkomplexität in tern abhängige Komplexität eines Systems sehen zu
Verwaltungen (›Wasserköpfe‹) oder in Märkten können. Daraus folgt für Luhmann schließlich, dass
(›Blasen‹) zu verstehen. Komplexität und Komplexitätsreduktion keine onto-
Es zeigen sich aber auch methodische Unterschie- logischen Größen sind, sondern systemrelativ auf-
de zur Komplexitätsforschung: Soziale Systeme sind tauchen. Somit sind auch die Umwelt und ihre
Luhmann zufolge autopoietisch, operativ geschlos- Komplexität systeminterne Größen, es gibt sie nur
sen, sinnverarbeitend und auf Kommunikationen dann, wenn ein System sie beobachtet (GG, 136):
basierend. ›Autopoiesis‹ bedeutet nach dem Biologen »Ohne Beobachter gibt es keine Komplexität« (GG,
Humberto R. Maturana zunächst Selbstreprodukti- 144), weder im System noch in der Umwelt.
on, d. h. ein System erzeugt seine eigenen Elemente Angetrieben wird die Komplexität durch die Evo-
unter Verwendung der Interaktion mit eigenen Ele- lution sozialer Systeme. Im Anschluss an Herbert
menten. Naturwissenschaftliche Beispiele sind die Spencer spricht Luhmann von einer ›Morphogenese‹
chemische Autokatalyse oder zelluläre Selbstrepro- der Komplexität. Als Folge von Selektion ist Kontin-
duktion. Maturana erweitert Autopoiesis schließlich genz (das »›auch anders möglich sein‹« (SS, 47); z. B.
auf Organismen, die sich aufgrund ihrer Nervensys- biologische Mutationen) ein wichtiger Faktor, um
teme selbst organisieren und damit von ihrer Umwelt Vielfalt zu ermöglichen. Leben entstand unter un-
abgrenzen. Dieser Mechanismus wird von Luhmann wahrscheinlichen Bedingungen, wurde dann aber,
auf soziale Systeme übertragen: Wie Organismen wie Luhmann sich ausdrückt, in hohe Erhaltungs-
sind soziale Systeme aufgrund ihrer Umweltwahr- wahrscheinlichkeit transformiert; heute hat Leben
nehmung offen, zugleich aber operativ geschlossen auf der Erde also weite Verbreitung gefunden und ist
(GG, 92–120), da sie mit ihren systemeigenen Ope- hoch wahrscheinlich. Selektion, Variation und Resta-
rationen die Abgrenzung gegenüber der Umwelt und bilisierung werden auf soziale Systeme übertragen.
den Fortbestand des Systems garantieren. Typisch Steigerung und Reduktion von Komplexität müssen
sind dabei Rekursionen, die immer wieder auf vorher in einem geeigneten Verhältnis stehen, »sie wider-
erzeugte Elemente zurückgreifen. Psychische und so- sprechen sich nicht, sondern setzen sich gegenseitig
ziale Systeme sind zudem sinnverarbeitende Systeme, voraus« (Baraldi/Corsi/Esposito 1997, 96), um evo-
da sie sich durch Selbstreferenz ein Bild (Modell) von lutionär vorteilhafte Entwicklungen von sozialen
sich selbst und durch Fremdreferenz ein Modell von Systemen zu erzeugen. In Luhmanns Beispiel eines
ihrer Umwelt verschaffen. Da dabei verschiedene Verkehrsnetzes heißt das: »So reduziert ein Straßen-
Möglichkeiten auftreten können, muss das System netz die Bewegungsmöglichkeiten, um leichtere und
Auswahlen treffen. schnellere Bewegung zu ermöglichen und damit die
Komplexität entsteht in autopoietischen Systemen Bewegungschancen zu vergrößern, aus denen man
Kultur 95

konkret auswählen kann. Steigerung durch Redukti- –: Symmetry and Complexity. The Spirit and Beauty of
on von Komplexität: evolutionäre Errungenschaften Nonlinear Science. Singapore 2005.
–: Thinking in Complexity. The Computational Dynamics
wählen Reduktionen so, daß sie mit höherer Kom-
of Matter, Mind, and Mankind. Berlin 2007a.
plexität kompatibel sind, ja sie oft erst (und oft erst –: Der kreative Zufall. Wie das Neue in die Welt kommt.
sehr allmählich) ermöglichen« (GG, 507). Reduktion München 2007b.
und Steigerung von Komplexität hängen eng mit der –: Komplexität. Paderborn 2008.
Systemstruktur zusammen, die das mögliche Kom- – (Hg.): Complexity. Themenheft der Zeitschrift European
plexitätsniveau eines Systems bestimmt. Gleichzeitig Review 17. Jg., 2 (2009), 219–452.
–: Leben als Maschine? Von der Systembiologie zur Robotik
führt die Evolution des Systems zu Strukturänderun- und Künstlichen Intelligenz. Paderborn 2010.
gen qua Komplexitätsreduktion und -steigerung. So- Mandelbrot, Benoit B.: Die fraktale Geometrie der Natur.
mit sind Komplexität und Gesellschaftstruktur eng Basel 1987.
miteinander gekoppelt: Wenn eine Struktur (bei- – /Hudson, Richard L.: The (Mis)Behavior of Markets.
spielsweise die Stratifikation) ihr tolerables Komple- A Fractal View of Risk, Ruin and Reward. New York 2004.
Mantegna, Rosario N./Stanley, H. Eugene: An Introduction
xitätsniveau erreicht hat und die anfallenden Proble- to Econophysics. Correlations and Complexity in Fi-
me mithilfe dieser Struktur nicht (mehr) lösen kann, nance. Cambridge 2000.
kommt es zur Strukturänderung (funktionale Diffe- McCauley, Joseph L.: Dynamics of Markets. Econophysics
renzierung), die ihrerseits Beschränkungen und ein and Finance. Cambridge 2004.
eigenes Komplexitätsniveau etabliert. Nicolis, Grégoire/Prigogine, Ilya: Die Erforschung des
Komplexen. München 1987.
Trotz der Kompatibilität mit mathematischen, Rescher, Nicholas: Complexity. A Philosophical Overview.
empirischen und soziologischen Komplexitätstheo- New Brunswick 1998.
rien bleibt ›Komplexität‹ bei Luhmann ein ambiva- Richter, Klaus/Rost, Jan-Michael: Komplexe Systeme.
lenter und offener Begriff zur Beschreibung von Frankfurt a. M. 22004.
sozialen Systemen, der von Beobachtern und Beob- Weidlich, Wolfgang: Sociodynamics. A Systematic Ap-
proach to Mathematical Modelling in the Social Sciences.
achtern von Beobachtern abhängt. Darin zeigt sich London 2002.
die Stärke und zugleich die Schwäche seines Ansat- Willke, Helmut: »Komplexität als Formprinzip. Über Niklas
zes: Offenheit und terminologische Anschlussfähig- Luhmann ›Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen
keit an viele soziale Anwendungsgebiete, aber zu- Theorie‹ (1984)«. In: Dirk Baecker (Hg.): Schlüsselwerke
gleich fehlende Quantifizierbarkeit, um mess- und der Systemtheorie. Wiesbaden 2005, 303–323.
überprüfbare Modelle abzuleiten. Klaus Mainzer

Literatur
14. Kultur
Arthur, W. Brian/Durlauf, Steven N./Lane, David A. (Hg.):
The Economy as an Evolving Complex System II. Rea-
ding, MA 1997. Am Kulturbegriff der luhmannschen Systemtheorie
Baraldi, Claudio/Corsi, Giancarlo/Esposito, Elena: GLU. ist überraschend, dass Niklas Luhmann ihm den Sta-
Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. tus als Grundbegriff entschieden verweigert. Wäh-
Frankfurt a. M. 1997. rend Kulturwissenschaftler/innen und Kultursozio-
Ebeling, Werner/Freund, Jan/Schweitzer, Frank: Komplexe log/innen mit diesem Begriff zumeist sehr allgemein
Strukturen: Entropie und Information. Leipzig 1998.
Haken, Hermann: Synergetik. Eine Einführung. Berlin und unscharf das Phänomen einer gesellschaftlichen
31990. Ordnung des Gebrauchs von Symbolen beschreiben,
Kneer, Georg/Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie interessiert Luhmann sich dafür, warum überhaupt
sozialer Systeme. Eine Einführung. München 42004. eine Gesellschaft als Kultur beschrieben wird. Ihm
Lorenz, Hans-W.: Nonlinear Dynamical Economics and erscheint der Kulturbegriff als einer der »schlimms-
Chaotic Motion. Berlin 1989.
Luhmann, Niklas: »Komplexität«. In: SA2, 204–220. ten Begriffe, die je gebildet worden sind« (KunstG,
Mainzer, Klaus: Computernetze und virtuelle Realität. Le- 397 f.; vgl. Esposito 2004, 97; Baecker 2004, 60 f.), da
ben in der Wissensgesellschaft. Berlin 1999a. er immer auch die Idee der Vollkommenheit und
–: Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik in Natur Überlegenheit einer Kultur im Vergleich zu anderen
und Gesellschaft. Komplexitätsforschung in Deutsch- Kulturen mittransportiere. »Verheerend« seien darü-
land auf dem Weg ins nächste Jahrhundert. Berlin 1999b.
–: Computerphilosophie. Hamburg 2003a. ber hinaus die Folgen einer Umwandlung von Kunst
–: KI – Künstliche Intelligenz. Grundlagen intelligenter und Religion in Kultur, da sie den Verlust einer nai-
Systeme. Darmstadt 2003b. ven Praxis des Bestaunens und Genießens mit sich
96 Begriffe

führten (KunstG, 341 f.). Eine zusammenfassende zweiter Ordnung: »Daß im Verschiedenen irgendet-
und systematische Auseinandersetzung mit dem Be- was Dasselbe sein müsse, regt zur Reflexion an, so-
griff der Kultur findet sich in dem 1995 erschienenen dann, wenn man darin geübt ist, zur immer
Artikel »Kultur als historischer Begriff«, in dem Luh- weitergehenden Abstraktion und schließlich zur An-
mann den Kulturbegriff auf seine – historisch erst erkennung der unvermeidbaren Kontingenz der Ver-
mit der Moderne entstehende – Funktion des Ver- gleichsgesichtspunkte. Vergleichsgesichtspunkte ste-
gleichbarmachens und Relativierens festlegt. hen bereits für einen Beobachter, der auch ein
Luhmann entfaltet in diesem Text eine Argumen- anderer sein könnte« (GS4, 38; vgl. RdM, 154).
tation, die dem im Allgemeinen so diffusen Begriff Dass aus dem Vergleichen nun wiederum Ord-
eine viel speziellere Bedeutung einräumt, als dies üb- nung, Erwartbarkeit und stabile Muster entstehen,
licherweise gesehen wird. Dass gesellschaftliche wird von Luhmann über die Gedächtnisfunktion
Selbstbeschreibungen entstehen, in denen etwas als der Kultur erklärt. An die Stelle der Idee des einen
›Kultur‹ beschrieben wird, ist demzufolge ein empi- Wissensvorrats treten in der modernen Gesellschaft
risch an die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ge- viele Gedächtnisse (u. a. Massenmedien: Buchdruck,
knüpftes Phänomen. Industrialisierung, Französi- Fernsehen), mit deren Hilfe sich Kommunikationen
sche Revolution und die Entstehung einer sich selbst bestätigen und wiedererkennen. »Das Ge-
autonomisierenden Kunstszene, in der ambitionierte dächtnis legt, indem es bestimmte Sinnkondensate
Meinungen produziert werden, verortet Luhmann favorisiert und wiederholt, sich auf einen bestimm-
als historisch folgenreiche Ereignisse, die eine – viel- ten Charakter fest. Damit ist zugleich, mit welchen
leicht eher konservative – Praxis der Distanzierung Problemlagen immer, gewährleistet, daß das System
von den ambivalenten Folgen eben dieser Ereignisse aus seiner Umwelt als identisches beobachtet und be-
erzeugen. Hilfreich hierfür ist die bereits eingeführte handelt werden kann, was dann seinerseits die einge-
Technologie Buchdruck und der Kommunikations- übten Formen konfirmiert« (GS4, 46).
stil der systematisch gepflegten Reflexion. Auf diese Eine ähnliche Funktion wie die im 18. Jahrhun-
Weise wird das Ende der alteuropäischen Tradition dert mit dem Buchdruck an vielen Orten entstehen-
der Metaphysik eingeläutet. Sprache und Schrift wer- den kulturellen Gedächtnisse übernimmt die Stabili-
den von nun an als mögliche Bedeutungen, als Sym- sierung einer speziellen Form der Kommunikation:
bole und Zeichen verstanden und auf Perspektiven der Reflexion. Auch sie trägt dazu bei, die vormals
zurückgeführt, die sich unterschiedlichen Stand- hierarchische Konzeption von ›Sein‹ und ›Wahrheit‹
punkten verdanken. Die Orte, an denen gesellschaft- einer in metaphysischen Kategorien begriffenen Welt
liche Selbstbeschreibungen entstehen, vervielfältigen aufzuheben. Die Reflexion übergreift Zeit und Raum
sich und rechnen mit dem Blick des jeweils anderen. und ermöglicht auf diese Weise Vergleiche, die sehr
»Was jetzt zusammengestellt, gesichtet, kritisch ge- weitreichend sein können. Man kann hier und jetzt
prüft und geordnet wird, geht über das weit hinaus, etwas thematisieren, was einmal war oder noch nicht
was für öffentliche oder für handwerkliche Rollen be- ist, und braucht dazu eigentlich vor allem eine Viel-
nötigt wird. Es wird für den Buchdruck produziert. zahl an Abstraktionsanlässen, die zu neuen Genera-
Es wird als Kultur sichtbar gemacht« (GS4, 36). lisierungen stimulieren.
Strukturiert wird dieser neue Bedarf für Selbstver- Die luhmannsche Verortung des Kulturbegriffs in
ständigung jedoch im Unterschied zu vorherigen on- der europäischen Moderne ist entscheidend für den
tologisierenden Ordnungsversuchen in der heterar- Umgang mit den ›schlimmen‹ Seiten dieses Begriffs.
chischen, an vielen Orten gleichzeitig entstehenden Eine ›europäische Kultur‹, die sich als Schöpferin von
Form des kulturellen ›Gedächtnisses‹. Die Etikettie- Menschenrechten, Staat und Demokratie selbst aus-
rung als Kultur erfolgt gerade nicht mit dem An- zeichnet, gilt Luhmann als typisches Produkt einer
spruch auf eine hierarchisch bessere Beobachtungs- Perspektive, die den kulturellen Standpunkt des Be-
position, sondern beschreibt einen eigenständigen obachters verallgemeinert und damit den Beobach-
Mechanismus, der Beliebiges miteinander in Bezie- tungsprozess unsichtbar macht. Sie ist aber Resultat
hung setzen kann, der alles vergleichbar macht, der eines Beobachtungsprozesses und damit auch einer
aus sich heraus immer wieder neue Abstraktionsleis- Relativierung von dem Moment an, als sie sich als
tungen ermöglicht, die nebeneinander existieren Kultur von anderen unterscheidet. Diesen »Geburts-
und sich gegenseitig ablösen. Indem auf Kultur ge- fehler der Kontingenz« (GS4, 48) und die Unwahr-
schlossen wird, entsteht Kontingenzbewusstsein scheinlichkeit solcher Konzepte wie die der europäi-
bzw. eine Einübung in die Form der Beobachtung schen Moderne gilt es stattdessen zu berücksichtigen.
Macht 97

»Demnach überzieht die Semantik der Kultur alles, Literatur


was kommuniziert werden kann, mit Kontingenz. Sie
Baecker, Dirk: »Kulturelle Orientierung«. In: Burkart/Run-
befreit von jeder Art notwendigem Sinn – und auch kel 2004, 58–90.
das erklärt, daß Kultur erst in der modernen Gesell- Burkart, Günter/Runkel, Gunter (Hg.): Luhmann und die
schaft möglich wird, die sich erstmals als strukturell Kulturtheorie. Frankfurt a. M. 2004.
kontingent und zugleich nur noch so reflektieren Esposito, Elena: »Kulturbezug und Problembezug«. In:
kann« (GS4, 51). Wer von Kultur redet, hat bereits Burkart/Runkel 2004, 91–101.
Lentz, Carola: »Der Kampf um die Kultur. Zur Ent- und Re-
verglichen, und spannend ist es dann, mit zu beob- Soziologisierung eines ethnologischen Konzepts«. In:
achten, in Bezug worauf verglichen wurde. Die euro- Soziale Welt 60. Jg., 3 (2009), 305–324.
päische Moderne ist aus dieser Perspektive keine Luhmann, Niklas: »Kultur als historischer Begriff«. In: GS4,
eigenständige Kultur, sondern sie wird als solche – in 31–54.
je unterschiedlichen Konfigurationen – sichtbar ge- –: »Religion als Kultur«. In: Otto Kallscheuer (Hg.): Das
Europa der Religionen: Ein Kontinent zwischen Säkula-
macht, indem andere ›Kulturen‹ als Maßstab ver-
risierung und Fundamentalismus. Frankfurt a. M. 1996,
wendet werden. Die Konkretisierung des allgemei- 291–315.
nen Kulturbegriffs über seine spezielle Funktion des Nassehi, Armin: »Die Paradoxie der Sichtbarkeit und die
Vergleichbarmachens und Relativierens macht aus ›Kultur‹ der Kulturwissenschaften«. In: Ders.: Geschlos-
ihm einen leistungsfähigen Begriff der Kultursozio- senheit und Offenheit. Frankfurt a. M. 2003, 231–257.
Reckwitz, Andreas: »(Ent-)Kulturalisierungen und (Ent-)
logie, deren Aufgabe jedoch »gerade nicht darin be-
Soziologisierungen: Das Soziale, das Kulturelle und die
steht, Sicherheit zu vermitteln und die Ordnung der Macht«. In: Soziale Welt 60. Jg., 4 (2009), 411–419.
Welt darzustellen und zu beschreiben, sondern im Saake, Irmhild/Nassehi, Armin: »Die Kulturalisierung der
Gegenteil: eingelebte Sicherheiten aufzubrechen und Ethik. Eine zeitdiagnostische Anwendung des Luhmann-
Ordnung als Folge, nicht als Voraussetzung von Kul- schen Kulturbegriffs«. In: Burkart/Runkel 2004,
tur und Gesellschaft zu entlarven« (Nassehi 2003, 102–135.
Irmhild Saake
233).
Weiterführende Debatten zum Kulturbegriff las-
sen sich in Dirk Baeckers Organisationsstudien fin-
den. Er platziert den aktuellen Bedarf nach Organi- 15. Macht
sationskulturen in einer Gesellschaft turbulenter
Märkte und sieht ihn als »Antwort einer Organisati- In der modernen Gesellschaft gibt es »mehr Macht
on, die nach wie vor hierarchisch strukturiert ist, auf […], als ein Machthaber ausüben kann […]. Ketten-
die Zumutung, sich heterarchisch zu strukturieren« bildung ermöglicht […] Machtsteigerungen, die
(Baecker 2004, 87). Auch seine kultursoziologischen über die Selektionskapazität des einzelnen Machtha-
Studien profilieren eine Einübung in die Beobach- bers hinausreichen« (M, 41 f., Hervorhebung BK).
tung zweiter Ordnung und verstehen ›Kultur‹ als Das Problem der Macht hat Luhmann von frühen
Einwand gegen die naive Unterstellung des Soseins. Texten an – Macht (1975) sowie die posthum publi-
Irmhild Saake und Armin Nassehi entwickeln den zierten Werke Politische Soziologie (2010) und Macht
systemtheoretischen Kulturbegriff weiter im Hin- im System (2012) – bis zum Spätwerk Die Politik der
blick auf Folgen einer zunehmenden Kulturalisie- Gesellschaft (2000) verfolgt. Es gibt zwei Ansatzpunk-
rung. Sie versuchen zu zeigen, dass die moderne te für seine Theorie der Macht: zum einen die Defi-
Institutionalisierung des kulturellen Vergleichs nicht nition von Macht als Drohmacht, zum anderen die
nur Relativierungen erzeugt, sondern auch einen Frage, wie Macht zu großen, komplexen Systemzu-
ständigen Emanzipationsbedarf im Hinblick auf sammenhängen ausgebaut und als Medium des po-
neue Identitäten, der zu einer Inflation von kulturel- litischen Systems verwendet werden kann.
len Sprechern führt (Saake/Nassehi 2004). Als Kritik In einem ganz allgemeinen Sinn liegt Macht über-
des inflationären Gebrauchs des Kulturbegriffs im all dort vor, wo jemand einem anderen mit unange-
oben kritisierten Sinne lässt sich auch die Debatte nehmer Behandlung – einer Negativsanktion – droht
über die Kulturalisierung des Gesellschaftsbegriffs und gestützt auf diese Drohung bestimmte Handlun-
neu führen. Carola Lentz und Andreas Reckwitz ver- gen verlangt (M, 19 ff.). Es kann sich dabei um einen
suchen in diesem Sinne ethnologische und soziologi- Raubüberfall handeln: ›Du gibst mir dein Geld oder
sche Perspektiven aufeinander zu beziehen (vgl. ich erschieße dich‹, um einen Fall von Eltern-Kind-
Lentz 2009; Reckwitz 2009). Kommunikation: ›Du räumst dein Zimmer auf oder
es gibt kein Taschengeld‹, oder um eine (explizite
98 Begriffe

oder implizite) Verständigung zwischen Arbeitgeber Polizei- und/oder Militärapparates. Darüber hinaus
und Arbeitnehmer: ›Du machst Überstunden oder muss eine komplexe Ordnung von Stellen bzw. Äm-
du wirst entlassen‹. Einzige Voraussetzung dafür ist, tern aufgebaut werden, die über allgemein als legitim
dass einer der Beteiligten eine Handlungsoption bzw. betrachtete Macht verfügen (PS, 95 ff.) und in geord-
Sanktion – von Luhmann auch ›Vermeidungsalter- neter Weise Macht übereinander ausüben können, so
native‹ genannt – in der Hand hat, die für den ande- dass der Selektionseffekt und die Reichweite von
ren unangenehmer ist als für ihn selbst und mit der er Macht sich verstärken (Luhmann 2012, 88 ff.). Die
daher drohen kann. Der Einsatz von Macht kann da- Macht, die ein einzelner Machthaber ausüben kann,
mit einen Teil des Selektionsproblems und Selekti- bleibt immer eng begrenzt; um viel Macht zu bilden –
onsübertragungsproblems übernehmen, das mit der so viel, wie das moderne Politiksystem aufgebaut
allgemeinen Vermehrung von Möglichkeiten mit zu- hat –, muss sie auf viele Beteiligte und komplexe Pro-
nehmender sozialer Komplexität entsteht und auf zesse verteilt werden. Man darf sich Macht dann
das sich in anderer Weise auch die anderen Kommu- nicht mehr als etwas vorstellen, das eine Einzelperson
nikationsmedien wie Wahrheit, Geld oder Liebe be- oder eine begrenzte Gruppe von Machthabern ›hat‹;
ziehen. vielmehr ist Macht ein zirkulierendes Medium und
Drohmacht in diesem Sinn kann auch als ›Roh- Attribut eines Systems. Damit schreibt Luhmann sei-
macht‹ bezeichnet werden, bzw. als Macht »im Roh- ne Machttheorie implizit auch gegen ›machtkriti-
zustand« (M, 34). Drohungen können in allen sche‹ Sichtweisen, die auf Machtkonzentration in
möglichen sozialen Situationen, zwischen ganz ver- den Händen weniger abstellen und dabei die Macht-
schiedenen Beteiligten und mit ganz verschiedenen haber oder Macht als solche für irgendwie ›böse‹, ei-
Aktionsrichtungen vorkommen, und Macht kann gennützig und schädlich für die Gesellschaft im
deshalb auch nie auf das politische System be- Übrigen halten.
schränkt und von ihm monopolisiert werden, son- Im politischen System ist Macht nicht an einer
dern kommt überall in der Gesellschaft vor (SA4, Stelle konzentriert, sondern fließt in einem Macht-
117–125). Allerdings kommt man mit Rohmacht in kreislauf vom Volk bzw. politischen Publikum an die
diesem Sinn nicht sehr weit, denn solche Macht politischen Parteien, die gewählt oder abgewählt
bleibt situationsgebunden, erreicht meist nur wenige werden, von der Regierung weiter an den Staatsappa-
Adressaten und verschwindet schnell wieder, wenn rat bzw. die Verwaltung, die auf dem Weg von Gesetz-
die Vermeidungsalternative sich auflöst oder dem gebung programmiert werden, und von dort wieder
Bedrohten als nicht mehr so wichtig erscheint. Damit zum Publikum, das die aus den Programmen gene-
auf der Basis von Macht Systeme ausdifferenziert rierten Einzelentscheidungen zugestellt bekommt
werden können und Macht zum Kommunikations- (SA4, 142–151; PS, v. a. 130 ff.). Zusätzlich zu dieser
medium des politischen Systems (und evtl. auch zur ohnehin schon verteilten ›offiziellen‹ Machtstruktur
Operationsgrundlage von Organisationen; vgl. dazu identifiziert Luhmann aber auch noch einen gegen-
Luhmann 2012) werden kann, muss sie generalisiert läufigen, inoffiziellen Macht- oder Einflusskreislauf,
werden: sozial generalisiert in dem Sinn, dass alle Per- der weniger sichtbar und weniger gut darstellbar,
sonen für Macht ansprechbar sind, sachlich generali- aber nicht weniger wichtig ist: Macht fließt auch von
siert in dem Sinn, dass eine Vielzahl von Handlungen den Parteien ans Publikum, dem die richtige Wahl-
mit Macht durchgesetzt werden können, und zeitlich entscheidung eingeflüstert wird, vom Publikum –
generalisiert in dem Sinn, dass eine dauerhafte, er- insbesondere von seinem organisierten Teil – an die
wartbare Machtordnung mit eindeutig machtüberle- Verwaltung, die sich in ihren Entscheidungen von
genen und machtunterlegenen Stellen vorausgesetzt den Betroffenen mitsteuern lässt, und von der Ver-
werden kann. Dafür müssen zwei Dinge gegeben waltung an die Politiker und Parteien, die in ihrer
sein: erstens eine generalisierungsgünstige Macht- Willensbildung durch das administrativ Machbare
quelle (d. h. Quelle von Drohmöglichkeiten) und eingeschränkt werden.
zweitens strukturelle Arrangements, die die Vertei- Ähnlich beschreibt Luhmann im Übrigen auch
lung von Macht über viele Stellen und das Fließen von Organisationen als in zwei Richtungen laufende
Macht zwischen den Stellen ermöglichen (M, 4 ff. u. Macht- und Einflussordnung: Die Vorgesetzten
31 ff.). Als besonders gut generalisierbare Macht- üben, gestützt auf die Verfügung über Entlassungen
quelle bietet sich physische Gewalt an, und der Staat und Karrieren, Macht über die Untergebenen aus,
als Kern des politischen Systems verfügt deshalb über aber ebenso können die Untergebenen, gestützt vor
ein Gewaltmonopol in Form eines funktionierenden allem auf das Problem der Komplexitätsüberlastung,
Medien 99

ihre Vorgesetzten ›unterwachen‹ und steuern (vgl. Sonderform eines sozialen Systems, das alle Kommu-
auch FuF). Allerdings haben die gegenläufigen, von nikationen einschließt.
unten nach oben laufenden Prozesse – und dies gilt Luhmanns Medienkonzeption ist eingelagert in
sowohl für das politische System als auch für Orga- die funktionalistische Perspektive, »Theorien zu su-
nisationen – nicht immer die strenge Form von chen, denen es gelingt, Normales für unwahrschein-
Drohmacht. Der Untergebene kann seinem Chef lich zu erklären« (SS, 162). In diesem Rahmen wird
schlecht drohen, sondern wird eher subtilere, weni- auch die allenthalben stattfindende Kommunikation
ger brachiale Strategien der Beeinflussung einsetzen; als unwahrscheinlich beobachtet. In seinem Aufsatz
und ebenso werden im politischen System in der in- »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation«
offiziellen Einflussrichtung eher ›weichere‹ Einfluss- (1981) markiert Luhmann drei Unwahrscheinlich-
mittel eingesetzt, die sich nicht auf die explizite keiten: Erstens ist es »unwahrscheinlich, daß einer
Drohung mit einer Vermeidungsalternative stützen, überhaupt versteht, was der andere meint« (SA3, 26).
sondern auf die allgemeine Komplexitätsüberlastung Zweitens: »Es ist unwahrscheinlich, daß eine Kom-
und die dankbare Entgegennahme von Selektionshil- munikation mehr Personen erreicht, als in einer kon-
fen. Macht vermischt sich also, wenn sie zu großen kreten Situation anwesend sind« (SA3, 26); und
Systemzusammenhängen ausgebaut wird, immer drittens ist der Erfolg unwahrscheinlich, da trotz Ver-
mit weicheren Formen der Selektionssteuerung und stehen und Erreichen nicht gewährleistet ist, dass die
Einflussnahme. »Wenn es überhaupt eine Einzelur- Kommunikation »auch angenommen wird« (SA3,
sache der Macht gibt, so liegt sie in dieser geringen 26). Medien werden als die Instanzen betrachtet, die
Fähigkeit zur Informationsverarbeitung, in dem Be- »funktionsgenau dazu dienen, Unwahrscheinliches
dürfnis nach ›Entlastung‹, und nicht etwa in einem in Wahrscheinliches zu transformieren« (SS, 220).
›Machtbetrieb‹« (Luhmann 2012, 51). Medien sind somit in der Systemtheorie Luhmanns
strikt als Kommunikationsmedien relevant und damit
immer auf die Lösung des grundlegenden Kommu-
Literatur nikationsproblems und auf die Bildung von sozialen
Luhmann, Niklas: »Gesellschaftliche Grundlagen der Systemen bezogen.
Macht: Steigerung und Verteilung« [1981]. In: SA4, Indem Kommunikation qua Medien wahrschein-
117–125. lich gemacht wird, verschwinden die Unwahrschein-
–: »Machtkreislauf und Recht in Demokratien« [1981]. In: lichkeiten jedoch nicht, vielmehr kommt es zu
SA4, 142–151.
–: Macht im System. Frankfurt a. M. 2012. einer »Routinisierung von Unwahrscheinlichkeiten«
(Luhmann 1987, 468) mithilfe dreier Medienkonzep-
Barbara Kuchler tionen, die genau den drei Unwahrscheinlichkeiten
entsprechen: Sprache, Verbreitungsmedien und sym-
bolisch generalisierte Kommunikationsmedien (auch
›Erfolgsmedien‹ genannt). Diese drei Medien sind
16. Medien aufeinander bezogen, indem sie sich »wechselseitig
ermöglichen, limitieren und mit Folgeproblemen be-
Medien werden von Luhmann im Kontext seiner so- lasten« (SS, 220).
ziologischen Theorie ausschließlich im Hinblick auf Sprache ist für Luhmann das »grundlegende Kom-
ihre Funktion bei der Etablierung und Fortsetzung munikationsmedium« (GG, 205), das die Funktion
von Kommunikation sowie der Beteiligung an der hat, zu gewährleisten, dass jemand jemand anderen
Systemdifferenzierung beobachtet. Luhmann liefert im Hinblick auf die Unterscheidung von Informati-
somit eine »rein funktionale Neufassung« (SS, 220, on und Mitteilung verstehen kann. Indem Sprache
Fn. 43) des Medienbegriffs und bettet diesen in seine die Differenz von Information und Mitteilung regu-
Theorie sozialer Systeme und seine Theorie der Gesell- liert, steigert sie das »Verstehen von Kommunikation
schaft ein. Das Bindeglied zwischen diesen beiden weit über das Wahrnehmbare hinaus« (SS, 220). Da-
Theoriekonzeptualisierungen ist der Begriff der mit wird es mithilfe von Sprache möglich, erstens et-
Kommunikation. Soziale Systeme bestehen in der was zu sagen, »was noch nie gesagt worden ist« (GG,
spezifisch luhmannschen Ausformulierung der Sys- 215) und damit auch nahezu alles als Information er-
temtheorie ausschließlich aus Kommunikationen, scheinen zu lassen und Kommunikation »ins prak-
die aneinander anschließen, und Gesellschaft ist die tisch Unendliche auszuweiten« (SS, 220), und
100 Begriffe

zweitens über Abwesendes, Fiktives und nur Mögli- nikation unwahrscheinlicher. Erfolgsmedien haben
ches zu sprechen (Krämer 2001, 162). die Funktion, die grundsätzliche und durch die Ver-
Verbreitungsmedien sind Schrift, Buchdruck und breitungsmedien radikalisierte Unwahrscheinlich-
elektronische Medien (Funk und Computer). Diese keit der Annahme in eine Ermutigung zur Kommu-
Medien interessieren Luhmann nicht als technische nikation umzuformen (GG, 316). Sie ermöglichen
Apparate oder als Dispositive, sondern ebenfalls als es, dass Ego den Selektionsvorschlag Alters befolgt
problemlösende Kommunikationsmedien. Das Pro- und als Anlass für das eigene Erleben und Handeln
blem, das hier gelöst wird, ist das der begrenz- annimmt (GG, 332–338). Erfolgsmedien sind Wahr-
ten Reichweite von Interaktionen und damit von heit, Liebe, Eigentum/Geld, Macht, Kunst, religiöser
Face-to-Face-Kommunikationen. Verbreitungsme- Glaube und Werte (SS, 222 u. GG, 339–358).
dien entbinden die Kommunikation von den Bedin- Wenn beispielsweise Marcel Duchamp sein be-
gungen von Mündlichkeit, Anwesenheit und Ge- rühmtes Pissoir ausstellt, so übernimmt Ego diese
dächtnisbindung (SS, 221). Dadurch wird die extravagante Selektion als Prämisse seines eigenen
Reichweite der Kommunikation beträchtlich erwei- Mitteilungsverhaltens, indem er es nicht als Abort
tert; es handelt sich hierbei um Telekommunikation, benutzt, sondern das Pissoir als Kunst beobachtet.
da nun räumlich und zeitlich Abwesende erreicht Das Erfolgsmedium ist symbolisch, weil Ego mit Du-
werden können. Indem somit Information, Mittei- champ darin übereinstimmt, dass es sich bei seinem
lung und Verstehen zeitlich und räumlich auseinan- Pissoir um Kunst und eben nicht um eine Toilette
dertreten, wird der Empfängerkreis vergrößert und handelt. Generalisierung markiert, dass die Überein-
gleichzeitig anonymisiert. Diese Loslösung von der stimmung nicht nur für Ego und Duchamp gilt, son-
Interaktion – beispielsweise durch einen schriftli- dern auch dann, »wenn die zugrundegelegte Ge-
chen, gedruckten und damit zirkulierbaren Text – meinsamkeit für mehr als nur eine Situation Bestand
lässt Dissens und Abweichung an die Stelle von Ein- haben soll« (GG, 318). So entsteht Übereinstim-
heits- und Einigungssemantiken treten. Dadurch mung, die auch zu anderen Zeiten, in anderen Räu-
wird Semantik »›modalisiert‹ [und] [d]ie Realität men und mit anderen Kommunikationspartnern
[…] auf Basis ihrer Möglichkeiten gesehen« (GG, gilt. Ebenso wie die Verbreitungsmedien korrelieren
277). Dies führt schließlich dazu, dass die Gesell- die Erfolgsmedien direkt mit der funktionalen Diffe-
schaft auf die Etablierung höherer Beobachtungsord- renzierung. Indem durch Verbreitungsmedien An-
nungen umstellen muss und nun nicht mehr nur die nahmeunwahrscheinlichkeiten und Kontingenz er-
Beobachtung der Dinge und der Verhaltensweisen höht werden und im Zuge dessen die soziale Bindung
wichtig ist (Beobachtung erster Ordnung), sondern und die Einheit der Gesellschaft auch nicht mehr
vor allem die Beobachtung von Beobachtungen (Be- durch Moral gewährleistet werden können, etablie-
obachtung zweiter Ordnung). Die Verbreitungsme- ren sich Erfolgsmedien als deren funktionales Äqui-
dien sind somit direkt an der Umformatierung der valent (Krämer 2001, 165). Die Gesellschaft reagiert
Gesellschaftsstruktur beteiligt, da mit ihrer Hilfe die auf erhöhte Unwahrscheinlichkeit und Kontingenz
Funktionssysteme der modernen Gesellschaft entste- mit Systemdifferenzierung und den korrelativen Er-
hen (GG, 279). Verbreitungsmedien und Systemdif- folgsmedien (GG, 205).
ferenzierung sind folglich ko-evolutiv als wechselsei- Ab Mitte der 1980er Jahre beginnt Luhmann in
tige Bedingungsfaktoren aufeinander bezogen. Anlehnung an Fritz Heider (1926) ein nicht nur so-
Erfolgsmedien werden von Luhmann in seinen ziologisch funktionalisiertes, sondern auch ein epis-
»Einführende[n] Bemerkungen zu einer Theorie temologisch und theoretisch basales Medienkonzept
symbolisch generalisierter Kommunikationsme- vorzulegen. Hierzu wird die Unterscheidung Medi-
dien« (1975) in Anlehnung an und Abgrenzung von um/Form (bei Heider hieß es noch Medium/Ding)
Talcott Parsons konzipiert (SA2, 170–192; GG, eingeführt. Das Medium ist dabei gekennzeichnet
316–396). Sprache und Verbreitungsmedien bear- durch lose, die Form durch feste Kopplung der Ele-
beiten erfolgreich die Unwahrscheinlichkeiten des mente. Wenn beispielsweise Sprache als Medium be-
Verstehens und des Erreichens, steigern aber gleich- obachtet wird, so können Sätze als Form beobachtet
zeitig die Unwahrscheinlichkeit der Annahme. Wäh- werden. Medien sind dabei latent und unsichtbar, sie
rend die Verbreitungsmedien Dissens, Interpretati- können erst wahrgenommen werden, wenn sie sich
onsspielräume und die Informationsfülle multipli- zu Formen verdichten. Wir sehen nicht das Licht
zieren und auf die Beobachtung zweiter Ordnung (Medium) oder die Sprache (Medium), sondern die
umstellen, wird dadurch die Annahme der Kommu- Gegenstände (Formen) oder die Sätze (Formen).
Mensch / Person 101

Entscheidend ist dabei, dass es sich bei der Medium- Heider, Fritz: »Ding und Medium«. In: Symposion. Philo-
Form-Unterscheidung um eine Unterscheidung des- sophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache
1. Jg., 2 (1926), 109–157.
selben in demselben handelt (Fuchs 2002, 81; 2004,
Junge, Kay: »Medien als Selbstreferenzunterbrecher«. In:
28). Zwischen Sprache (Medium) und Sätzen (Form) Dirk Baecker (Hg.): Kalküle der Form. Frankfurt a. M.
oder zwischen dem Sand (Medium) und der Fußspur 1993, 112–151.
(Form) gibt es nur einen Unterschied im Hinblick Krämer, Sybille: Sprache. Sprechakt, Kommunikation.
auf lose und feste Kopplung gleichartiger Elemente, Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts.
aber keinen Unterschied im Hinblick auf Qualität Frankfurt a. M. 2001.
Luhmann, Niklas: »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommu-
oder Material. Dies bedeutet, dass Medium und nikation«. In: SA3, 25–34.
Form strikt relationale Begriffe sind, die sich wech- –: »Sprache und Kommunikationsmedien. Ein schief lau-
selseitig bestimmen: »Weder gibt es ein Medium fender Vergleich«. In: Zeitschrift für Soziologie 16. Jg.,
ohne Form, noch eine Form ohne Medium« (SKL, 7 (1987), 467–468.
125; GG, 199). Und es bedeutet weiter, dass es vom Mario Grizelj
Beobachter abhängt, dass etwas überhaupt als Medi-
um und Form und was als Medium und was als Form
bezeichnet wird. Medium und Form besitzen somit 17. Mensch / Person
keine objektive Wirklichkeit. So ist es möglich, die
Sprache als Medium und Sätze als Form zu bezeich- Der schiefe Strich, die barre oblique, die im Titel die-
nen, ebenso aber Laute als Medium und Sprache als ses Textes zwischen ›Mensch‹ und ›Person‹ steht, si-
Form oder Sätze als Medium und Texte als Form usw. gnalisiert als Zeichen der Differenz, dass Mensch und
Damit ist die Medium/Form-Unterscheidung ein Person nicht dasselbe sind. Dennoch werden diese
»komplett de-ontologisierendes Schema« (Fuchs Ausdrücke durch die Differenz zugleich als zusam-
2004, 25) und mit Luhmanns konstruktivistischer mengehörig gekennzeichnet. Menschen sind dann
Beobachtungstheorie korreliert: Die Unterscheidung nicht einfach biologische Gegebenheiten; sie werden
Medium/Form dient dazu, »die Unterscheidung aufgefasst als ausgestattet mit einem Surplus, näm-
Substanz/Akzidenz oder Ding/Eigenschaften zu er- lich der okkulten Qualität des Person-Seins, der Per-
setzen« (KunstG, 166) und damit das »dingonto- sonalität, der Persönlichkeit. Niklas Luhmann löst
logische Konzept […] überflüssig [zu] machen« das damit verknüpfte Grübelproblem auf für ihn ty-
(KunstG, 166). pische, also auf gordische Art und Weise: Der
Die Medium/Form-Unterscheidung ist zwar als ›Mensch‹ (schon gar nicht: die ›Menschen‹) ist
medientheoretische Basisunterscheidung konzipiert, schlicht kein Theoriebegriff, er ist als Wort nicht sa-
allerdings besitzt sie keinen theoretischen Selbst- tisfaktions-, also begriffsfähig im Rahmen einer Sys-
zweck im Rahmen von Luhmanns soziologischer temtheorie, für die ›Mensch‹ kein System bezeichnet,
Systemtheorie. Sie dient vor allem dazu, den phäno- weil man ja nicht einmal zu sagen wüsste, welche
menologischen Sinnbegriff medientheoretisch ein- Operationen menschlich sind, welche nicht, und wie
zuholen. So ist es nun möglich, die Form des Sinns man sich seine Grenzen (Häute mit Löchern?) vor-
(potentiell/aktuell) mit loser und fester Kopplung zu stellen sollte. Dieses Verdikt schließt nicht aus, den
analogisieren. Dies bedeutet, dass es für Beobachter Menschen als semantisches Syndrom zu behandeln,
immer nur Welt-in-einem-Medium geben kann und als Konvolut mannigfacher Konstrukte, die sozial fol-
dieses »Universalmedium« (GG, 51) ist Sinn. Es gibt genreich fungieren, aber eben: Es unterbindet die Su-
keine Welt ohne Medium, heißt, es gibt keine Welt che nach dem Begriff des Menschen im Sinne einer
ohne Sinn. Medientheorie wird solchermaßen zu ei- konzisen Unterscheidung, die sich in die Limitatio-
ner »Phänomenologie der Welt« (GG, 49) bzw.: Eine nalität theoretischer Weltbeschreibungen konsistent
Phänomenologie der Welt ist ohne Medien nicht zu einordnen ließe. Dennoch: Für soziale Systeme sind
haben. Menschen unverzichtbar. Sie sind »auf Sensoren an-
gewiesen, die ihr die Umwelt vermitteln. Diese Sen-
Literatur soren sind die Menschen im Vollsinne ihrer Interpe-
netration: als psychische und körperliche Systeme«
Fuchs, Peter: »Die Beobachtung der Medium/Form-Unter- (SS, 558).
scheidung«. In: Jörg Brauns (Hg): Form und Medium.
Weimar 2002, 71–83. Es ist deswegen bemerkenswert, dass nicht das
–: Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Untersuchun- Wort ›Mensch‹, aber das scheinbar so verwandte
gen. Weilerswist 2004. Wort ›Person‹ gegen Ende der persönlichen Theorie-
102 Begriffe

entwicklung Luhmanns zunehmend an begrifflicher (als Bündel der Attribution von individuellen Ver-
Kontur gewinnt – allerdings als embedded distinction, haltenseinschränkungen), und nicht auf den ›Pa-
die eingefügt ist in das Theoriestück der sozialen thoskomplex‹ des üblichen Wortgebrauches. Statt-
Adressabilität. Es ist nicht der Bezeichnung, aber der dessen schimmert durch die Differenzseite der
Sache nach soziologisch vertraut: Adressen sind so- Unperson die alte Bedeutung des personare, einer
ziale Strukturen, die regulieren, wie ein s’adresser, ein durch Masken hindurchtönenden ›Eigentlichkeit‹.
Sich-Wenden-an-Leute oder leute-äquivalente Ein- Der Gedanke ist, dass mit jeder sozialen Adresse
heiten wie Organisationen typisch zu geschehen hat. ein Paket von Sinnzumutungen verbunden ist. Bezo-
Paradigmatisch steht dafür die Rollentheorie ein, die gen auf die Rolle, bestehen diese Zumutungen er-
– in kanonischer Formulierung – Rollen als standar- sichtlich darin, so genau wie möglich einem Rollen-
disierte Erwartungscollagen begreift, die sich an so- skript folgen zu müssen, um negative soziale
zial vorgegebenen Positionen orientieren, an Positio- Sanktionen zu vermeiden; bezogen auf die Person,
nen wie Polizist, Arzt, Mutter, Sohn, Frau, Mann, wird einem Menschen angesonnen, ein je Bestimmter
etc., die jeweils ›angemessenes‹, passendes Verhalten (Bestimmbarer) sein zu sollen, jemand ›Identitärer‹,
so nahelegen, dass es positiv sanktioniert bzw. im Ab- ein Ansinnen, das nicht nur, aber besonders in Le-
weichungsfall negativ sanktioniert werden kann. Die bensnahkontexten (Familie, Peergroup, Freund-
Position offeriert, wenn man so will, das Skript, das schaft, Bekanntschaft etc.) existentielle Bedeutung
durch die Rolle aus- und aufgeführt wird. annimmt, Kontexten mithin, in denen zentrale
Diesem soziale Ordnung erklärenden und weitge- Adressabilitäts- und damit Inklusionschancen auf
hend schematisierten Adressentyp stellt Luhmann dem Spiel stehen, wenn jemand nicht nur aus der
die Adresse der Person zur Seite. Wie die Rolle ist sie Rolle fällt, sondern aus der Person ›springt‹.
vor allem soziale Struktur, also keine Eigenschaft psy- An diese Überlegung schließt dann eine faszinie-
chischer Systeme. Niemand ist Person, so wenig, wie rende Bifurkation an. Sie beginnt damit, dass die so-
irgendjemand eine Rolle ist. Es geht, klassisch ausge- zialen Sinnzumutungen der Adresse ›Person‹ tat-
drückt, erneut um eine Erwartungscollage, die jetzt sächlich sozial sind und deswegen betroffenen
aber definiert ist als Konvolut von Verhaltensrestrik- psychischen Systemen die Chance zu internen Absetz-
tionen, die individuell zugerechnet werden (SA6, bewegungen eröffnen. Es ist psychisch möglich, ›nach
142 ff.). ›Person‹ ist aus dieser Sicht eine individuali- außen‹ der Erwartung zu genügen, dass man als ge-
sierende Adresse, die, wie man sagen könnte, an Ei- lassener, friedfertiger, konsens-seliger Mensch gilt,
gennamen eingeklinkt wird. Sie ist eine individuell aber intern zu wissen (oder zu glauben), dass man –
spezifizierende Sozialstruktur, sie schreibt nicht typi- uneinsehbar – eigentlich ein kochender Vulkan sei,
sche Rollenmerkmale vor, sondern attribuiert Indi- oder der Erwartung zu entsprechen, dass man ein
viduen für sie typische Abweichungen von einer langweiliger, weil weitgehend lasterfreier, aber des-
allgemeinen Typologie der Rollenskripte. Person ist wegen zuverlässiger Mensch sei, und wiederum in
dasjenige, woran sozial erkannt wird, dass die Leute der Lautlosigkeit der Psyche zu wissen, wie lasterhaft
nicht ›herumlaufende‹ Schemata sind, sondern sozial man sein könnte oder ist, wonach man sich tatsäch-
und ganz alltäglich traktierbar sind als: Menschen lich sehnt und wie oft man heimlich bestimmten Las-
mit mehr oder weniger prägnanten Eigenschaften, tern frönt. In konventioneller Sprache: Auf der
durch die sie unterscheidbar werden. Innenseite des Psychischen wird im Wege der Devi-
Allerdings: Um dies formulieren zu können, hätte anz der Eindruck, wenn man so sagen darf, faktisch
es der Systemtheorie nicht bedurft. Im Konzept der individueller Individualität erzeugt und fortwährend
Rollenidentität ist dergleichen vielfach und fruchtbar bestätigt; durch die Außenseite des Sozialen wird er-
diskutiert worden. Der systemtheoretische Kick zwungen, im Sinne Goffmans Stigmatisierung zu
kommt ins Spiel, wenn ›Person‹ nicht mehr essentiell vermeiden oder Stigmamanagement zu betreiben
definiert wird, sondern als eine eigentümliche Unter- (vgl. Goffman 1974), damit die ›Unperson‹ nicht in
scheidung. Sie ist nicht Einheit, sondern Differenz, die dann adressenschädigende Zone der sozialen Re-
von Luhmann markiert als: Person/Unperson. Der gistrierbarkeit gerät.
Ausdruck ›Unperson‹ ist, um es vorweg festzuhalten, Es versteht sich dann für Soziologen von selbst,
nicht pejorativ gemeint, wenn er auch unglücklicher- diesen grundlegenden Mechanismus nicht auf eine
weise solche Assoziationen wie zwangsläufig heran- Art anthropologischer Konstante zu reduzieren, son-
führt. Das ›Un‹ als deutsches Alpha privativum dern ihn als soziohistorisch konditioniert aufzufas-
bezieht sich auf die ›Person‹, wie sie hier definiert ist sen. Das die Moderne kennzeichnende Beispiel geht
Moderne 103

von der Umstellung der Gesellschaft von stratifizier- Literatur


ter (geschichteter) Sozialordnung auf funktionale
Fuchs, Peter: Der Eigensinn des Bewusstseins. Die Person,
Differenzierung aus. Gemeint ist, dass die dringli- die Psyche, die Signatur. Bielefeld 2003.
chen Funktionen der Lebensbewältigung nicht mehr –: Das Maß aller Dinge. Eine Abhandlung zur Metaphysik
lokal, nicht mehr schichtförmig bedient werden, des Menschen. Weilerswist 2007.
sondern gleichsam verteilt werden auf Funktionssys- – /Göbel, Andreas (Hg.): Der Mensch – das Medium der
teme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Kunst, Religion Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1994.
Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung
etc. Einer der Bei-Effekte dieser Transformation er- beschädigter Identität. Frankfurt a. M. 1974.
gibt sich daraus, dass Menschen, deren Lebenszu- Hahn, Alois: »Der Mensch in der deutschen Systemtheo-
schnitt an die Schicht gekoppelt war, sich weder rie«. In: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann
individualisieren noch das Bedürfnis entwickeln (Hg.): Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegrif-
konnten, als anders als die anderen zu gelten. Devi- fe der Moderne. München 2004, 279–290.
Lehmann, Maren: Inklusion. Beobachtungen einer sozialen
anz (im Sinne eines ›de via‹, eines ›Vom-Wege-Abge-
Form am Beispiel von Religion und Kirche. Frankfurt
hens‹) war hochriskant, insofern die Exklusion aus a. M. 2002.
der jeweiligen Schicht drohte, und dies bedeutete: aus –: Mit Individualität rechnen: Karriere als Organisations-
der sozialen Welt zu fallen – hinunter, hinaus in die problem. Weilerswist 2011.
Bezirke, wo es weder Heimstatt noch Herd gab. In der Luhmann, Niklas: »Die Form ›Person‹«. In: SA6, 142–154.
–: »Die Soziologie und der Mensch«. In: SA6, 265–274.
Terminologie, die wir oben benutzt haben, bot die
Schichtordnung kaum Chancen der Personalisie- Peter Fuchs
rung. Man lebte im genauesten Sinne: typisch oder
bei höher getriebenen Ansprüchen: legendär.
Mit der funktionalen Differenzierung wird die
›Einschweißung‹ in die Schicht gesprengt. Individua- 18. Moderne
lisierung wird möglich durch die Allokation von Zu-
griffsmöglichkeiten auf zentrale Funktionsbewandt- Ganz selbstverständlich spezifiziert Luhmann seine
nisse, durch die sich evolutionär einmendelnde zahlreichen Analysen zur Gesellschaftsstruktur und
Erschwingbarkeit individueller Karrieren. Jener Bei- Semantik (1980–1995) im Untertitel als Studien zur
Effekt ist, dass im Zuge dieser Individualisierung, ge- Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Noch
ballt formuliert, die Mensch/Person-Differenz auf in den letzten Sätzen seiner Arbeit zur Gesellschaft der
der Seite der Person ausgearbeitet wird. Auffällig ist Gesellschaft (1997) betont er, dass er seine Theorie als
dabei, dass sich mehr und mehr ›Anteile‹ der Unper- einen Beitrag zu einer Neubeschreibung der moder-
son als kommunikabel erweisen. Von der Psychoana- nen Gesellschaft verstanden wissen will. Und doch
lyse über die Psychotherapie bis zum massenmedia- findet sich in seinem Werk explizit kein ausgearbei-
len (das WWW einschließenden) Über/Unterschrei- teter Versuch einer Theorie der Moderne. Was kann
ten von Peinlichkeits- und Schamschwellen wird die man aber dann mit Luhmann beobachten, wenn
Unperson zur Signatur der Individualität. Eine span- man die Moderne beobachten will?
nende Anschlussfrage wäre dann, wie und ob dieser Luhmann beginnt seine Analysen der »Moderni-
Steigerung von Kontingenz, die als soziale Entdiszi- tät« oder des »Moderne[n] der modernen Gesell-
plinierung lesbar ist, evolutionär mit Strukturen und schaft« in Beobachtungen der Moderne (BdM 1992,
Prozessen der sozialen Re-Disziplinierung begegnet 11) unter Voraussetzung einer schon angedeuteten
wird. zentralen Unterscheidung: Er unterscheidet die Sozi-
Diese Frage ist hier aus Platzgründen nicht mehr alstruktur einer Gesellschaft von ihrer Semantik. Im-
diskutierbar. Mein Eindruck ist, dass das Schema mer wieder vermerkt Luhmann, dass die Diskussio-
Person/Unperson im Augenblick noch so etwas ist nen über die Moderne hauptsächlich auf der
wie ein mächtiges heuristisches Versprechen, das im semantischen Ebene geführt werden. Modern ist eine
Blick auf sachhaltige Analysen gegenwärtig kaum ge- Gesellschaft schlicht dann, wenn sie sich selbst als
nutzt wird, obwohl es gestattet, emphatisch ge- ›modern‹ beschreibt. An ausformulierten Theorien
stimmte und – so gesehen – anachronistische der Moderne bemängelt Luhmann in dieser Hin-
Individualisierungskonzepte zu ernüchtern. sicht, dass sie sich damit begnügen, lediglich Mo-
mente dieser semantischen Selbstbeschreibungen
einer Gesellschaft zu sammeln und unter dem Stich-
wort der Moderne zu verbuchen. Was dabei fehlt, ist
104 Begriffe

aber eine »adäquate strukturelle Beschreibung von sches Projekt, dessen Entwicklungsgesetze in ihm
Modernitätsmerkmalen« (BdM, 12). Genau hier will selbst liegen; sie ist aber auch nicht der ideologische
Luhmann ansetzen. Ein spezifisch soziologischer Ausdruck einer für sie unsichtbaren Strukturent-
Beitrag zur Theorie der Moderne als einer Theorie wicklung. Luhmann deutet vielmehr die Paradoxien,
der modernen Gesellschaft ist für Luhmann nur die er sich mit einer solchen Unterscheidung einhan-
dann möglich, wenn die semantische Ebene einer delt, als Charakteristik der modernen Gesellschaft.
Gesellschaft, die sich selbst als modern beschreibt, Die Beobachtung der Sozialstruktur ist nur seman-
mit sozialstrukturellen Entwicklungen korreliert tisch zu haben; auch in diesem Sinne sind alle »Beob-
wird. Luhmann liest die Semantik der Moderne also achtungen der modernen Gesellschaft« Beobachtun-
symptomatisch; er fasst die »Beobachtungen der Mo- gen »durch die moderne Gesellschaft« (BdM, 8). Das
derne« (Genitivus obiectivus) als die semantische verweist aber schon auf eine typische Einsicht der
Bearbeitung eines Problems auf, das ihnen sozial- modernen Gesellschaft: Es gibt keinen externen
strukturell dadurch gestellt ist, dass sie nur Beobach- Standpunkt, keinen archimedischen Punkt, keine
tungen in der modernen Gesellschaft – »Beobach- privilegierte Beobachterposition, von der aus eine
tungen der Moderne« (Genitivus subiectivus) – sein universell gültige Beschreibung der Moderne ange-
können. fertigt werden könnte. Das gilt schließlich auch noch
Luhmanns Vorschlag ist dabei, dass sich die mo- für die (wissenschaftliche) Beschreibung der moder-
derne Gesellschaft auf struktureller Ebene durch ihre nen Gesellschaft, die Luhmann selbst anzubieten hat.
Differenzierungsform bestimmen lässt: begreifen Als eine Beobachtung zweiter Ordnung, einer
lässt sich »die moderne Gesellschaft als funktional (modernen) Beobachtung von Beobachtungen (der
differenzierte Gesellschaft« (GG, 743). Die Moderne Moderne) zeichnet die luhmannsche Perspektive al-
beginnt für Luhmann letztlich da, wo die gesell- lerdings aus, dass sie die paradoxe Beziehung von
schaftlichen Selbstbeschreibungen (!) sich auf den einzelnen semantischen Motiven zu ihrem gesell-
Umstand einstellen müssen, dass sie in einer Gesell- schaftsstrukturellen Bezugsproblem thematisiert. So
schaft statthaben, deren primärer Differenzierungs- bestreitet Luhmann nicht, dass beispielsweise den
modus nach funktionalen Gesichtspunkten verläuft. Beobachtungen der modernen Kunst Einsichten
Damit ist die Grunderfahrung einer modernen Ge- über die Moderne zu entnehmen sind – die moderne
sellschaft eine Zuspitzung von Perspektivendifferen- Kunst ist »das Paradigma der modernen Gesell-
zen. Für die Wirtschaft nimmt sich die Moderne schaft«. Er liest ihre Eigenarten, etwa »Pluralismus,
anders aus als für die Kunst, für die Politik anders als Relativismus, Historismus«, aber als Vollzug der mo-
für die Liebe, für die Wissenschaft anders als für das dernen Gesellschaft – »all das sind nur verschiedene
Recht. Charakteristisch und typisch für die Moderne Anschnitte dieses Strukturschicksals der Moderne«
ist also paradoxerweise, dass sie in unterschiedlichen (KunstG, 499). Letztlich offenbart sich dann »die ge-
Teilsystemen unterschiedlich darauf reagiert, dass sellschaftliche Modernität der Kunst ebenso wie an-
sich diese zunehmend verselbständigen. Lediglich derer Funktionssysteme in ihrer Systemautonomie,
unter dem Gesichtspunkt ihrer Verschiedenheit las- die dann zum Thema der Selbstbeschreibung wird«
sen sich die einzelnen Funktionssysteme vergleichen. (KunstG, 471).
»Dies kann nur dadurch erklärt werden, daß es sich Konsequent hat Luhmann dieses Grundmotiv in
um Subsysteme eines Gesellschaftssystems handelt, Studien zu den einzelnen Funktionssystemen
die durch dessen Differenzierungsform ihre eigene (WirtG; WissG; RechtG; PolG; RelG) ausbuchsta-
Form erhalten. Wir können daraus also auf eine biert. Seine materialreichen Semantikanalysen
durchgehende Eigenart der modernen Gesellschaft (GS1–4) konzentrieren sich vor allem auf den Über-
schließen – auch wenn, und gerade weil, diese Eigen- gang von der primär stratifikatorisch differenzierten
art nur an den Funktionssystemen nachweisbar ist« Gesellschaft zur modernen, primär funktional diffe-
(BdM, 41). Wenn sich die Moderne also für Luh- renzierten Gesellschaft. Mit ausreichender histori-
mann als eine Einheit beschreiben lässt, dann nur scher Distanz lässt sich für Luhmann gerade in
noch als die Einheit einer Differenz. Umbruchszeiten an den semantischen Reaktionen
Man mag hier schon erkennen, dass Luhmann die Charakteristik einer modernen Gesellschaft
nichts ferner liegt, als die Unterscheidung von Gesell- nachzeichnen. Luhmann kann beobachten, wie sich
schaftsstruktur und Semantik als eine Version einer eine moderne Gesellschaft von ›alteuropäischen‹ se-
Vulgärunterscheidung von Basis und Überbau anzu- mantischen Traditionslasten befreien muss. Hier ge-
bieten. Die Moderne ist kein unvollendetes semanti- rät ihm die Moderne dann doch zur Bezeichnung
Moral 105

einer Epoche – einer Epoche, die wir aus seiner Per- von Luhmanns Beobachtungen in Auseinanderset-
spektive nicht hinter uns gelassen haben. Die Rede zung mit anderen prominenten Beobachtern der
von der »sogenannten Postmoderne« (GG, 1143), die Moderne (und Postmoderne) wie Jürgen Habermas,
er fast ausschließlich in Anführungszeichen setzt, Jean-François Lyotard, Jacques Derrida und Chantal
wird von ihm dabei gleichzeitig verworfen und be- Mouffe stark zu machen. Luhmanns abgeklärte In-
grüßt. Sie wird als Epochenzäsur verworfen, weil er terventionen in die Debatte um die Modernität der
in ihr letztlich ein semantisches Phänomen vermutet, Moderne wollen letztlich nur soziologisch vorfüh-
das sich nicht mit grundlegenden sozialstrukturellen ren, worauf sich eine Gesellschaft einlässt, die sich ih-
Umbrüchen korrelieren lässt: »Unsere Analysen ha- rer konstitutiven Modernität nicht verweigern kann.
ben keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, […] ei-
nen Übergang von einer modernen in eine postmo-
derne Gesellschaft zu behaupten« (GG, 1143). Sie Literatur
wird als Diskurszäsur begrüßt, weil sich in Auseinan- Gumbrecht, Hans-Ulrich: »Modern, Modernität, Moder-
dersetzung mit ihr zentrale Momente der Beobach- ne«. In: Reinhart Koselleck u. a. (Hg.): Geschichtliche
tung der Moderne noch einmal klarer herausstellen Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch zur politisch-
lassen. Luhmann weist vor allem darauf hin, wie sich sozialen Sprache. Bd. 4. Stuttgart 1978, 93–131.
Habermas, Jürgen: »Die Moderne – ein unvollendetes Pro-
die als ›postmodern‹ gefeierten Phänomene schon als jekt«. In: Ders.: Kleine Politische Schriften I-IV. Frank-
Problemformeln der modernen Gesellschaft aufge- furt a. M. 1981, 444–464.
drängt haben. Auch die Moderne hat sich über ein –: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt
Zeitschema selbst bezeichnet: »Wenn die moderne a. M. 1985.
Gesellschaft sich selbst als ›modern‹ tituliert, identi- Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Wien
1999 (frz. 1979).
fiziert sie also sich selbst mit Hilfe eines Differenzver- Piepmeier, Rainer: »Modern, die Moderne«. In: Joachim
hältnisses zur Vergangenheit« (BdM, 14). Auch die Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philoso-
Moderne hat sich auf Kontingenz einstellen müssen, phie. Bd. 6. Basel 1984, 54–62.
hat die »Kontingenz als Eigenwert der modernen Ge- Rasch, William: Niklas Luhmann’s Modernity. The Parado-
sellschaft« entdeckt (BdM, 93). Auch die Moderne xes of Differentiation. Stanford, CA, 2000.
hat sich auf unausweichliche Perspektivenvielfalt, Martin Stempfhuber
Polykontexturalität, das Fehlen eines verbindlichen
Zentrums einstellen müssen. Auch die Moderne hat
sich schon mit den Konsequenzen der »Weltgesell-
schaft« auseinandersetzen müssen (GG, 1084). Auch 19. Moral
die Moderne hat sich damit abfinden müssen, dass
ihre Beobachtungen letztlich selbsterzeugte Beobach- Luhmanns Moralbegriff geht von einer theoretischen
tungen sind. Die »sogenannte Postmoderne« zieht Vorentscheidung aus. Moral ist für ihn kein Grund-
daraus lediglich unterschiedliche semantische Kon- begriff der Systemtheorie, sondern ein thematischer
sequenzen. Begriff. Diesen Unterschied exemplifiziert Luhmann
Insofern ist auch der zeitdiagnostische Beitrag in Abgrenzung zu Durkheim: Während Durkheim
Luhmanns zu einer Theorie der modernen Gesell- Moral als ein »Regulativ« (MdG, 16) begreift, das die
schaft einzigartig. Weder teilt er den Fortschritts- Gesellschaft gewissermaßen ›im Innersten zusam-
glauben einer Modernisierungstheorie, die sich als menhält‹, betrachtet Luhmann Moral als ein soziales
Erfüllungsgehilfin des unvollendeten Projekts der Phänomen (wie z. B. Liebe, Macht und Individuali-
Moderne (Habermas) versteht. Noch geht es ihm um tät). Er bezeichnet sie als »eine besondere Art von
die Entlarvung einer dunklen Seite der Moderne, die Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder
entweder ihre Entzweiung, ihr Auseinanderdriften Mißachtung mitführt« (MdG, 256). Die Systemtheo-
oder ihren verborgenen Totalitarismus zur Zielschei- rie versteht sich nicht als moralische (oder unmora-
be der Kritik erklärt. Schließlich geht es ihm auch lische) Theorie und stellt sich nicht auf die Seite des
nicht um eine Überwindung der Moderne, die auf moralisch Guten (oder Schlechten). Sie geht viel-
die postmoderne Überwindung Großer Erzählungen mehr davon aus, dass eine wertfreie Theorie der Ge-
(Lyotard) und den Pluralismus unterschiedlicher sellschaft möglich ist, ja mehr noch: dass eine solche
(kultureller) Sprachspiele setzt. Im anglo-amerikani- Theorie die Gesellschaft besser beschreiben kann.
schen Kontext hat sich insbesondere William Rasch Das muss man berücksichtigen, um zu verstehen,
(2000) darum verdient gemacht, die Besonderheit warum Konzepte wie die Selbsterhaltung von Syste-
106 Begriffe

men oder die funktionale Differenzierung keine ver- stimmte Anschlussfragen nahe, die sich in den
steckten ›Supernormen‹ sind, sondern lediglich meisten moralphilosophischen Ansätzen nicht oder
soziale Tatsachen beschreiben sollen. zumindest nicht in dieser systematischen Klarheit
Der Anfang von Luhmanns moralsoziologischen stellen. Die drei wichtigsten dieser Themen sind (1)
Überlegungen datiert in das Jahr 1975, als er mit Ste- das Problem von Inklusion/Exklusion, (2) die Kon-
phan H. Pfürtner ein Seminar zu dem Thema durch- fliktnähe moralischer Kommunikation und (3) die
führte. Daraus entstand die Abhandlung »Soziologie funktionalen Äquivalente zur Moral.
der Moral« (MdG, 56–162), in der es um eine moral- (1) Weil sich Achtung und Missachtung im luh-
freie Begriffsklärung des Gegenstands ›Moral‹ geht. mannschen Verständnis auf die ganze Person bezie-
Luhmann setzt seine Überlegungen an dem Problem hen und direkt an dem Problem ansetzen, wie
doppelter Kontingenz an, also an der heuristischen Gesellschaft ermöglicht wird, schwingt in morali-
Frage, wie es den Beteiligten in einer sozialen Situa- scher Kommunikation immer die Frage mit, wie in
tion gelingt, die Rolle des anderen einzunehmen und die Gesellschaft inkludiert oder aus ihr exkludiert
wechselseitige Erwartungen aufzubauen. Seine Idee wird. Während aber in frühen Stammesgesellschaf-
lautet, dass es einen Indikator gibt, der anzeigt, ob ten eine Totalexklusion durch den Ausschluss aus
Ego und Alter ihre Rollen abstimmen können oder dem Stamm noch möglich war, gibt es in der Weltge-
nicht, d. h. ob sie sich erwartungsgemäß verhalten sellschaft kein Außen mehr, in das man Personen
oder einander als unberechenbar erscheinen. Dieser ohne jeden Kontakt zu anderen abschieben könnte
Indikator ist die Zuteilung von Achtung bzw. Miss- (Stichweh 2005). Auch Gefängnisse und psychiatri-
achtung. Mit anderen Worten: Achtung und Miss- sche Anstalten befinden sich im Sinne der System-
achtung liefern Hinweise darauf, ob man es riskieren theorie innerhalb der Gesellschaft. Moralische Kom-
kann, mit einer Person zu interagieren, oder ob man munikation kann daher in einer funktional differen-
den sozialen Kontakt mit ihr meiden sollte. Luh- zierten Gesellschaft Exklusion nur signalisieren,
mann argumentiert, dass sich Achtung und Missach- nicht aber vollziehen – solange nicht aus moralischen
tung immer an die ganze Person richten und nicht Gründen getötet wird.
auf ein spezifisches Verhalten beschränken. Wer bei- (2) Luhmann nimmt nicht an, dass es in der Ge-
spielsweise als Wissenschaftler eines Plagiats über- sellschaft einen Konsens über moralische Werte gibt,
führt wurde, muss auch in seinem alltäglichen Leben sondern dass faktisch mehrere Moralen nebeneinan-
außerhalb der Wissenschaft mit Konsequenzen rech- der bestehen, die sich widersprechen können. Des-
nen. wegen würden moralische Kommunikationen zu
Moral entsteht Luhmann zufolge dann, wenn man Streit tendieren. Er spricht in diesem Zusammen-
sich darüber verständigt, unter welchen Bedingun- hang mit einem von Julien Freund entlehnten Begriff
gen Achtung und Missachtung verteilt werden. In von einem ›polemogenen‹ Zug der Moral. In der For-
dieser Konzeption verbirgt sich ein wichtiger Unter- schung wurde untersucht, welche Kulturtechniken
schied zu gängigen Moraltheorien: ›Moral‹ meint sich entwickelt haben, die moralische Auseinander-
hier keine geschlossene Menge moralisch gültiger setzungen verhindern. Beispielsweise findet die mo-
Sätze, sondern eine bestimmte Form von Kommuni- ralische Kommunikation zumeist nicht unmittelbar
kation, in der es um die Konditionierung von Ach- zwischen den Betroffenen statt, sondern geht den
tung und Missachtung geht. Moralische Kommuni- Umweg über Dritte, vor allem in Form des Klatsches
kationen sind in dieser Argumentation letztlich der über Abwesende (Kieserling 1998); zudem kann man
Versuch, das Problem der doppelten Kontingenz Luhmann zufolge seit der Frühen Neuzeit im gesell-
dauerhaft zu lösen. Luhmann konstatiert: »Moral ist schaftlichen Umgang taktvolles Verhalten einfor-
[…] ein Codierprozeß mit der spezifischen Funkti- dern, das offene Moralisierungen vermeidet. Insbe-
on, über Achtungsbedingungen Achtungskommuni- sondere wegen des Streitpotentials von Moral hat
kation und damit ein laufendes Abgleichen von Ego/ Luhmann darauf hingewiesen, dass Moral ein ris-
Alter-Synthesen zu steuern« (MdG, 107). Der Code kantes Unterfangen ist (MdG, 368–371), und es da-
der Moral (gut/schlecht bzw. gut/böse) erlaubt es da- her die Aufgabe der Ethik wäre, die Risiken der Moral
bei, die komplexen zugrundeliegenden Mechanis- zu reflektieren. Ob auch das Gegenteil gilt, ob also
men in einer einfachen Unterscheidung zu bündeln auch ein Verzicht auf Moral riskant ist, wurde in der
(Luhmann 1993) und so kommunikative Komplexi- Forschung diskutiert (Giegel 1997), von Luhmann
tät zu reduzieren. selbst jedoch nicht berücksichtigt.
Luhmanns soziologische Moraltheorie legt be- (3) In Luhmanns Theorie kommt Moral die Funk-
Operation / Beobachtung 107

tion zu, die Herstellung von Ego-Alter-Synthesen zu der Interaktion unter Anwesenden«. In: Soziale Systeme
erleichtern und damit die Wahrscheinlichkeit zu stei- 4. Jg. (1998), 387–411.
Kirchmeier, Christian: »Am Anfang war der Teufel ein En-
gern, dass es überhaupt zu Kommunikation kommt.
gel. Moral in systemtheoretischer Perspektive«. In: Franz
Moral ist aber nicht die einzige Lösung des Problems Fromholzer/Michael Preis/Bettina Wisiorek (Hg.): Noch
doppelter Kontingenz. In der funktional differen- nie war das Böse so gut. Die Aktualität einer alten Diffe-
zierten Gesellschaft sind es vor allem symbolisch ge- renz. Heidelberg 2011, 141–156.
neralisierte Kommunikationsmedien, die ebenfalls Krohn, Wolfgang: »Funktionen der Moralkommunikati-
die Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikati- on«. In: Soziale Systeme 5. Jg. (1999), 313–338.
Luhmann, Niklas: »The Code of the Moral«. In: Cardozo
on erhöhen und dabei nicht auf Moral rekurrieren. Law Review 14. Jg. (1993), 995–1009.
Im Sinne der Differenzierungstheorie lässt sich die – /Pfürtner, Stephan H. (Hg.): Theorietechnik und Moral.
Moderne nicht über die kompakte Einheit der Kalo- Frankfurt a. M. 1978.
kagathie, des Schönen, Guten und Wahren, beschrei- Martin, Dirk: »Moralische Kommunikation in der funktio-
ben. Was wahr oder schön ist, wer regiert, Eigentum nal differenzierten Gesellschaft. Zur Kritik der Soziologie
der Moral von Niklas Luhmann«. In: Alex Demirovic
besitzt oder in einem Gerichtsprozess gewinnt, muss (Hg.): Komplexität und Emanzipation. Kritische Gesell-
nicht moralisch gut sein – und was unwahr oder schaftstheorie und die Herausforderung der Systemtheo-
hässlich ist, wer zur Opposition gehört, nicht zahlen rie Niklas Luhmanns. Münster 2001, 177–195.
kann oder vor Gericht unterliegt, ist nicht schon des- Nassehi, Armin: »Religion und Moral. Zur Säkularisierung
wegen moralisch schlecht (MdG, 259 f., 332 f.). der Moral und der Moralisierung der Religion in der mo-
dernen Gesellschaft«. In: Gert Pickel/Michael Krüggeler
Es ist eine besondere Leistung von Luhmanns de- (Hg.): Religion und Moral. Entkoppelt oder Verknüpft?
skriptiver Moraltheorie, dass sie eine gesellschaftshis- Opladen 2001, 21–38.
torische Beschreibung moralischer Kommunikation Neckel, Sighard/Wolf, Jürgen: »The Fascination of Amora-
ermöglicht. Luhmann selbst hat sich vor allem mit lity. Luhmann’s Theory of Morality and its Resonances
der Geschichte der Ethik beschäftigt (MdG, among German Intellectuals«. In: Theory, Culture & So-
ciety 11. Jg., 2 (1994), 69–99.
270–347), seine Äußerungen zur Geschichte der Mo- Stichweh, Rudolf: »Inklusion/Exklusion, funktionale Diffe-
ral sind vergleichsweise spärlich. Die Überlegungen renzierung und die Theorie der Weltgesellschaft«. In:
kreisen vor allem um die Beobachtung, dass sich kein Ders.: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesell-
moralisches Funktionssystem ausgebildet hat. Den schaftstheorie. Bielefeld 2005, 45–63.
Grund dafür vermutet Luhmann in dem verhältnis- Christian Kirchmeier
mäßig unspezifischen Problembezug der Moral. Was
heute als spezifisch politische, wirtschaftliche oder
pädagogische Frage erscheint, konnte demzufolge in
früheren Gesellschaften als moralische Frage behan- 20. Operation / Beobachtung
delt werden. Und vieles von dem, was früher als mo-
ralischer Konflikt ausgetragen wurde, wird in der Mithilfe der Unterscheidung Operation/Beobach-
Moderne im ›moralisch unterkühlten‹ Rechtssystem tung werden vor allem drei Aspekte beschrieben: die
prozessiert (MdG, 128). Ohne eigenen Funktionsbe- Operationsweise autopoietischer Sinnsysteme, die
reich bleibt der Moral dann nur übrig, mit anderen Handhabung von Paradoxien und Luhmanns opera-
Funktionssystemen wie der Politik (MdG, 163–174, tiver Konstruktivismus.
175–195) oder der Religion (Nassehi 2001) zu inter- Eine Operation ist ein singulärer, momenthafter
ferieren, während sich umgekehrt die Codes der Vollzug und somit ein Ereignis. Ereignisse besitzen
Funktionssysteme vom Code der Moral distanzieren. keine Dauer, sie sind punktuell und damit zeitlich
Die Frage, wie sich diese historische Analyse mit Luh- nicht dehnbar und lösen sich quasi in ihrem Vollzug
manns systematischem Moralbegriff vereinbaren auf. Ereignishaftigkeit ist nun der Modus, in dem sich
lässt, wurde zu einem Ansatzpunkt für grundlegende die Elemente von sinnprozessierenden autopoieti-
Kritiken an der Systemtheorie (Neckel/Wolf 1994; schen (also von sozialen und psychischen) Systemen
Martin 2001). vollziehen. Mit ›Autopoiesis‹ ist ein allgemeines Or-
ganisationsprinzip gemeint, bei dem Systeme die
Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemen-
Literatur te, aus denen sie bestehen, selbst reproduzieren. Au-
Giegel, Hans-Joachim: »Moral und funktionale Differen- topoietische Systeme sind operativ geschlossen, da
zierung«. In: Soziale Systeme 3. Jg. (1997), 327–350. sie ausschließlich ihre eigenen Operationen rekursiv
Kieserling, André: »Klatsch. Die Moral der Gesellschaft in für ihr weiteres Prozessieren verwenden. Mit Auto-
108 Begriffe

poiesis, Operation und Ereignis wird unabhängig Wiederholungen vorgenommen, können teleologi-
von Inhalten die Identität des Reproduzierens und sche Momente zugeschrieben, können Paradoxien,
nicht die Identität eines dinghaften Systems bezeich- Irritationen oder Störungen registriert oder Zeitver-
net. In diesem strikt prozessualen Modus vollziehen hältnisse (vorher/nachher, Vergangenheit/Zukunft)
sich Operationen nicht reflexiv, sondern blind und markiert werden. Während bloße Operationen für
naiv (WissG, 85). Konkret beobachtet Luhmann – als die Schließung des Systems zuständig sind, sind Be-
Soziologe – in erster Linie Operationen der Kommu- obachtungen für die Öffnung des Systems verant-
nikation und hierbei nicht das, worum es geht (Kom- wortlich (Stäheli 2000, 30–41). Wenn man nun bloße
munikabilien), sondern den Modus des Operierens, Operationen beobachtet, beobachtet man ›nur‹, dass
der Kommunikabilien (Inhalte, Zeichen, Symbole, sich etwas vollzieht, dass beispielsweise kommuni-
Informationen) zuallererst ermöglicht. ziert wird. Wenn man Beobachtungen beobachtet,
Unter einer Beobachtung versteht Luhmann in An- beobachtet man, was sich wie vollzieht, also worüber
lehnung an das Formenkalkül von George Spencer- kommuniziert wird (Kneer/Nassehi 2000, 98, Fn.
Brown das Treffen einer Unterscheidung qua gleich- 29).
zeitiger Bezeichnung der einen Seite der Unterschei- Operationen vollziehen sich blind, Beobachtun-
dung (und nicht der anderen) (KunstG, 99; WissG, gen reflexiv; weil aber Beobachtungen per definitio-
84 und insges. 68–121). Bezeichnen und Unterschei- nem in einem Augenblick immer nur eine Seite einer
den vollziehen sich in einem Zug, es gibt das eine Unterscheidung und nicht beide Seiten zugleich be-
nicht ohne das andere, und Beobachtung ist somit zeichnen können (dies-und-nicht-das, Frau-und-
die Einheit der Unterscheidung von Bezeichnen und nicht-Mann), können sie sich im Moment der Beob-
Unterscheiden (WissG, 81; KunstG, 100). Obwohl in achtung nicht selbst beobachten: »Jede Beobachtung
einem Moment nur die eine Seite der Unterschei- ist in ihrer Unterscheidungsabhängigkeit sich selbst
dung bezeichnet werden kann und nicht auch noch latent« (WissG, 91) und verwendet ihre gerade ein-
die andere, ist die andere Seite immer kopräsent, »so gesetzte Unterscheidung als blinden Fleck. Die Unter-
daß das Bezeichnen der einen Seite für das operieren- scheidung von Operation und Beobachtung – die
de System zur Information wird nach dem allgemei- nur analytisch zu ziehen ist, da jede Beobachtung
nen Muster: dies-und-nicht-etwas-anderes; dies- auch eine Operation ist –, hat nun die Funktion, die
und-nicht-das« (KunstG, 99). Dieser Beobachtungs- Paradoxie aufzufangen, dass sich das System im Be-
begriff ist extrem formalisiert und abstrakt (WissG, obachten nicht (vollständig) selbst beobachten kann,
73), da er vom Sehen und vom Menschen als wahr- da es ja nicht zugleich die Unterscheidung beobach-
nehmender Instanz absieht und sich strikt auf ein ten kann, die es gerade verwendet. Da Beobachtun-
differenztheoretisches Kalkül bezieht. gen instantan Operationen und Beobachtungen
Beobachtungen sind nun ihrerseits Operationen sind, können paradoxe Strukturen in einen fortlau-
im geschilderten Sinne und als solche reale und em- fenden Prozess aufgelöst werden. Paradoxien fungie-
pirische Ereignisse (WissG, 82); das Unterscheiden ren dann als Prozessantreiber und nicht als blockie-
von Operation und Beobachtung ist selbst eine »be- render circulus vitiosus. Für Luhmanns Soziologie ist
obachtende Operation« (PdF, 244). Das heißt, dass die Figur der Paradoxie so zentral, weil sie keine Aus-
sich auf beiden Seiten der Unterscheidung Operati- nahme markiert, sondern weil »alles, was überhaupt
on/Beobachtung Operationen finden: »bloße Opera- beobachtet oder nicht beobachtet wird, auf eine Pa-
tion […] auf der einen und eine beobachtende radoxie gegründet« ist (PdF, 244). Jedes soziale Sys-
Operation auf der anderen Seite« (KunstG, 70). Und tem, jede Interaktion, jede Kommunikation, damit
weiter: »Beim Beobachten (im Unterschied zum ein- die gesamte Gesellschaft und damit auch die System-
fachen Operieren) werden Unterscheiden und Be- theorie selbst gründen auf Paradoxien und ihrer Auf-
zeichnen zugleich (und nicht nacheinander im Sinne lösung (qua Operation ›Beobachtung‹).
von: erst Wahl einer Unterscheidung, dann Bezeich- Zur weiteren Entfaltung der Selbstblindheitspara-
nung) durchgeführt« (KunstG, 99 f.; vgl. hierzu auch doxie wird von Luhmann eine Staffelung zweier Be-
Fuchs 1993, 63 f.). Dies bedeutet, dass die Welt der obachterordnungen eingeführt. Die an ihrem blin-
bloßen Operationen eine nichtreflexiv-monolithi- den Fleck haftende Beobachtung wird von Luhmann
sche Welt ist, während die Welt der Beobachtungen als Beobachtung erster Ordnung bezeichnet. Ihr blin-
eine reflexiv-polyvalente Welt ist; mithilfe von Beob- der Fleck kann zu einem späteren Zeitpunkt mithilfe
achtungen kann die Umwelt spezifiziert werden, einer anderen Unterscheidung von einer weiteren
können Kausalbeziehungen angenommen, können Beobachtung beobachtet werden. Diese Beobachtung
Operation / Beobachtung 109

zweiter Ordnung beobachtet, dass ein Beobachter ers- auch dann reibungslos funktioniert, wenn es auf der
ter Ordnung sein eigenes Beobachten nicht beobach- Beobachtungsebene zu Schwierigkeiten in Form von
ten kann, was ein Beobachter erster Ordnung Irritationen oder Störungen kommt (Stäheli 2000,
aufgrund seines blinden Fleckes nicht beobachten 51 f.).
kann und beobachtet, wie beobachtet wird (WissG, Fuchs (1993 u. 1995), Stäheli (2000) und Grizelj
95). Jede Beobachtung zweiter Ordnung ist an die ei- (2008) hinterfragen diese lineare Konzeption und
gene Unterscheidung gebunden und besitzt nun führen eine retroaktive Logik ein. Mithilfe von Begrif-
selbst einen blinden Fleck, den eine weitere Beobach- fen wie ›Nachursprünglichkeit‹ (Fuchs), ›konstituti-
tung beobachten kann usw. Damit ist impliziert, dass ve Nachträglichkeit‹ (Stäheli) und ›De-Präsentation‹
die Beobachtung zweiter Ordnung nicht besser be- (Grizelj) wird nicht davon ausgegangen, dass Beob-
obachten kann; zwischen den Beobachtungsordnun- achtungen einfach komplexitätssteigernd zu Opera-
gen besteht kein hierarchisches Verhältnis. tionen hinzutreten, vielmehr sind es die Beobach-
Allerdings sind mit der Beobachtung der Beob- tungen, die retro-aktiv die Operativität und reale
achtung radikale Konsequenzen verbunden. Wäh- Faktizität von Operationen konstitutiv errichten:
rend die Beobachtung erster Ordnung an den »Die Operationen emergenter Sinn-Systeme sind
beobachteten Dingen und Ereignissen haftet, einen entsubstantiierte Operationen, sie haben keine Jetzt-
unmittelbaren Weltkontakt hat und die Welt nicht stellen ohne eine Beobachtung, die keine Jetztstelle
hinterfragt, modalisiert die Beobachtung zweiter ist, weil sie auch einer Beobachtung bedarf, für die
Ordnung die Welt: Es hätte auch anders kommen dasselbe gilt.« Das ›Sein‹ von Operationen ist »Kon-
können. »Die Beobachtung zweiter Ordnung verän- struktion post festum« (Fuchs 1995, 21 u. 23). Ope-
dert alles. Sie verwandelt auch das, was die Beobach- rationen kann es somit nicht unabhängig vor den
tung erster Ordnung beobachtet. Sie modalisiert Beobachtungen geben (Binczek 2000).
alles, was gegeben zu sein scheint, und verleiht ihm Diese Überlegungen berühren wichtige epistemo-
die Form der Kontingenz, des Auch-anders-möglich- logische und soziologische Fragestellungen. Episte-
Seins« (KunstG, 112). Luhmann spitzt diese These mologisch wird mit dieser retro-aktiven Logik eine
zu: »Das Beobachten zweiter Ordnung hat, auf seine »Auflösung oder Subversion einer Metaphysik der
Wirkungen hin beobachtet, offenbar toxische Quali- Präsenz« (Fuchs 1995, 18) geleistet, was Luhmanns
tät. Es verändert den unmittelbaren Weltkontakt« Konstruktivismus sowohl mit Derridas Dekonstruk-
(KunstG, 156). Dies hat die epistemologische Konse- tion korrelierbar macht als auch die heideggersche
quenz zur Folge, dass die Welt der Effekt von Unter- Frage nach der Ontologie des Seins neu diskutierbar
scheidungen und deren Beobachtungsbeobachtun- werden lässt (Khurana 2011). Soziologisch kann dis-
gen ist und dass für den operativen Konstruktivismus kutiert werden, was es bedeutet, wenn Operation/Be-
Luhmanns Beobachtung eine unhintergehbare obachtung mit Sozialstruktur/Semantik paralleli-
Letztkategorie ist. siert wird (Stäheli 2000, 209). Setzen Semantiken als
Mit der Unterscheidung Operation/Beobachtung Beobachtungen logisch die Sozialstruktur voraus, die
werden die traditionellen Unterscheidungen empi- sie nachträglich beschreiben oder ist an eine wechsel-
risch/transzendental und subjektiv/objektiv ersetzt, seitige rekursive Konstitution zu denken (GG, 539)?
weil nun jede Beobachtung (als Operation) real ist Womöglich erzeugen Operationen nicht nur evolu-
und eine »empirische[] Faktizität« besitzt (WissG, tionär wirksame Strukturen (Sozialstruktur), son-
77), jedoch nicht objektiv ist. Eine Beobachtung »ver- dern Beobachtungen (Semantik) werden auch
ändert die Welt, in der beobachtet wird« (WissG, 75); »durch ihre retroaktiven Effekte zum evolutionär be-
es gibt keine Welt jenseits und unabhängig von Be- deutsamen Faktor, indem sie die autopoietische Ope-
obachtungen und damit fällt die »Beobachtung der rativität des Systems miterzeugen« (Stäheli 2000,
Realität mit der Realität des Beobachters zusammen« 217).
(Jahraus 2003, 192; vgl. auch WissG, 75–79).
Die bisher geschilderte Relationierung von Opera-
tion und Beobachtung läuft darauf hinaus, dass Ope- Literatur
rationen logisch und zeitlich den Beobachtungen
vorgeordnet sind. Indem Operation, Ereignis und Binczek, Natalie: Im Medium der Schrift. Zum dekonstruk-
tiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns.
Autopoiesis isomorph gedacht werden, etablieren München 2000.
Operationen eine reale autonome Ebene, die unab- Fuchs, Peter: Moderne Kommunikation. Zur Theorie des
hängig ist von den folgenden Beobachtungen und operativen Displacements. Frankfurt a. M. 1993.
110 Begriffe

–: Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Stu- me trotz dieser Fragilität zu stabilen, zeitfesten Struk-
dien: »Japanische Kommunikation« und »Autismus«. turen kommen und eben nicht vor der Paradoxie
Frankfurt a. M. 1995.
erstarren, sondern weiter operieren. Wie kann ein
Grizelj, Mario: »Ich habe Angst vor dem Erzählen.« Eine
Systemtheorie experimenteller Prosa. Würzburg 2008. sich selbst beobachtendes System, also ein Beobach-
Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution ter zweiter Ordnung, die Einheit des Systems herstel-
und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kom- len, wenn die Beobachtung selbst Teil dieser Einheit
munikation. Weilerswist 2003. ist? Aus rein logischen Gründen ist das unmöglich –
Khurana, Thomas: »Ontologie und Autonomie. Zur refle- was ein Hinweis darauf ist, dass man mit Logik nicht
xiven Vertiefung von Ontologie nach Heidegger und
Brandom«. In: Mario Grizelj/Oliver Jahraus (Hg.): weiter kommt, zumindest nicht mit einer allzu bewe-
Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den gungsfrei gedachten Logik. Worum es geht, ist viel-
Geisteswissenschaften. München 2011, 399–417. mehr eine Logik des Operierens selbst, und diese
Kneer, Georg/Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie Logik verweist auf eine Einheit des Systems, die nicht
sozialer Systeme. München 42000. immer schon vorausgesetzt wird, sondern die opera-
Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive
Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers- tiv erzeugt werden muss. Diese Einheit des Systems
wist 2000. »ist Einheit aufgrund der im System selbst produzier-
Mario Grizelj ten Anschlußfähigkeit der systemeigenen Operatio-
nen. Sie ist das, was sich ergibt, wenn das System
rekursiv operiert« (ebd., 130). Was sich ergibt, heißt:
diese Einheit entsteht in der Zeit und ist nicht prä-
21. Paradoxie operativ immer schon da. Dies ist ein Hinweis auf die
besondere Bedeutung der Zeit für das Verständnis
Autopoietische Systeme, so Luhmann, unterliegen von Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme –
der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit, die sie sowohl ein Aspekt, der sich aus dem Problem der Anschluss-
operativ bearbeiten als auch unsichtbar machen fähigkeit des Systems ergibt. Es sind die nacheinander
müssen, um weiter operieren zu können. Was ist da- geschehenden Anschlüsse, die ein System stabilisie-
mit gemeint? ren. Wenn man so will: Stabilität durch Dynamik,
Es geht Luhmann dabei nicht um eine abstrakt- durch Tätigkeit: »Die Erzeugung von Geschlossen-
theoretische Figur, sondern um die theoretische heit ist der operative Vollzug der Erzeugung von Ge-
Deutung einer empirischen Erfahrung. Es sind stets schlossenheit, und nicht etwas, was man als Grund
gegenwärtige Operationen, Tätigkeiten, Ereignisse, vorfinden könnte« (ebd., 132 f.). Das verweist auf
Handlungen, die ein System je gegenwärtig kontinu- den temporalisierten Charakter sich selbst beobach-
ieren. Dieser Gedanke erlaubt es, die spezifischen In- tender Systeme.
visibilisierungstechniken zu beobachten, die Systeme Luhmann geht es also nicht um die Entlarvung ei-
anwenden, um sich zu kontinuieren und gegen die ner widerlogischen Struktur, sondern um die empi-
Erstarrung anzugehen, die bei der Selbstbeobach- rische Erfahrung, dass man in einer modernen
tung stets droht. Ob es um die Frage geht, wie ein Gesellschaft gar nicht anders kann, als darauf gesto-
Wirtschaftssystem den fragilen und paradoxen Wert ßen zu werden, dass man unterschiedlich beobachten
des Geldes unsichtbar macht oder wie eine Organi- kann/muss. Die ›Lösung‹ liegt also weder in der Ideo-
sation damit umgeht, dass ihre einzige Realitätsga- logisierung bestimmter Beobachtungen noch im
rantie darin besteht, die Sicherheit und das Kalkül Spott über ihre Unmöglichkeit. »Vielleicht lässt sich
von Abläufen gegen eine unsichere und unkalkulier- also das Problem auf eine Mehrheit von vernetzten
bare Welt zu behaupten; stets geht es um die Frage, Beobachtern verteilen. Jeder Beobachter beobachtet,
wie sich ein System per Selbstbeobachtung in die was er beobachten kann, aufgrund seiner für ihn un-
Lage versetzt, sich zu kontinuieren und dabei rekur- sichtbaren Paradoxie, aufgrund einer Unterschei-
sive Strukturen entstehen zu lassen. dung, deren Einheit sich seiner Beobachtung ent-
Luhmanns empirische Frage lautet, »wie Systeme, zieht« (ebd., 132). Auch der Beobachter zweiter
die sich selbst beobachten können, die dabei auftre- Ordnung ist also im Moment des Beobachtens ein
tenden Paradoxien ›invisibilisieren‹« (Luhmann Beobachter erster Ordnung, weil er zunächst einmal
1990, 122). Es geht also hier nicht um die Betonung, tut, was er tut.
wie fragil alle Perspektiven und Möglichkeiten aus Unterscheidungen/Bezeichnungen bringen asym-
logischen Gründen immer schon sind, sondern es metrische Verhältnisse hervor. Wenn etwas unter-
geht um die Frage, wie soziale und psychische Syste- schieden wird, wird eine bezeichnete Seite und eine
Psychisches System 111

nicht bezeichnete Seite erzeugt, eine Innenseite und zu wecken, die dann doch so stabile Welten hervor-
eine Außenseite: jemand ist Mann und nicht Frau. Es bringt. Es ist in der soziologischen Fachdiskussion
wird die Innenseite (›Mann‹) bezeichnet, indem sie immer wieder ein (erstaunlich uninformiertes)
von der Außenseite (›Frau‹) unterschieden wird. Missverständnis, in dem, was in der Soziologie ›Kon-
Würde es dann nicht ausreichen, ausschließlich die struktivismus‹ heißt, zwar die gesellschaftliche Kon-
eine Seite zu bezeichnen, wenn man die andere Seite struktion der Wirklichkeit in den Blick zu nehmen,
gar nicht braucht? Reicht es nicht, ›Mann‹ zu be- nicht aber die Wirklichkeit gesellschaftlicher Konstruk-
zeichnen, ohne ihn von ›Frau‹ zu unterscheiden? tionen. Luhmanns operative Systemtheorie enthält
Diese Frage ließe sich mit ›Ja‹ beantworten, wenn den Schlüssel für beides, denn die Operationsweise
›Mann‹ ein ontologisches Faktum wäre, dessen Sein von Systemen ist einerseits eine Chiffre für einen of-
bereits unabänderlich von allem anderen, also auch fenen Horizont von Möglichkeiten, andererseits aber
von ›Frau‹ unterschieden wäre, wenn Bezeichnungen eben auch ein Instrument zur Beobachtung selbster-
also bloße Abbilder von Seiendem wären. Vergegen- zeugter Restriktionen und Strukturen. Der Beobach-
wärtigt man sich aber, dass ›Mann‹ auch anders un- ter sieht nur, was er sieht, und er sieht nicht, dass er
terschieden/bezeichnet werden kann: Mann und nicht sieht, was er nicht sieht.
nicht Kind, Mann und nicht Schlappschwanz, Mann
und nicht Lebensgefährte, Mann und nicht Mensch,
sieht man, dass das ›Ja‹ offenbar voreilig war. Auch Literatur
diese Unterscheidungen bezeichnen. Und obwohl sie Luhmann, Niklas: »Sthenographie«. In: Ders. u. a. (Hg.):
das Gleiche unterscheiden, bezeichnen sie Unter- Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien? Mün-
schiedliches. Wie man (Mann? – nein: man) an die- chen 1990, 119–137.
sen Beispielen erkennen kann, hängt eine Bezeich- Armin Nassehi
nung offenbar unmittelbar damit zusammen, wovon
das Bezeichnete unterschieden wird. Wenn ich
Mann, aber keine Frau bin, werde ich nach meinem 22. Psychisches System
biologischen Geschlecht oder nach meiner Ge-
schlechtsrolle bezeichnet; wenn ich Mann, aber kein Würde man den Begriff des psychischen Systems le-
Kind bin, wird mein Lebensalter bezeichnet, das diglich als den systemtheoretischen Terminus für den
mich schon zum Mann gemacht hat; wenn ich ein Begriff des Bewusstseins verstehen, so hätte man
Mann, aber kein Schlappschwanz bin, werde ich nach zwar eine wesentliche Dimension erkannt, aber nicht
normativen Mustern maskuliner Stärke bezeichnet; die Problemkonstellation, die sich damit ergibt, im
wenn ich Mann, aber nicht Lebensgefährte bin, wird vollen Umfang umrissen. Zwei Aspekte sind zu be-
auf meinen juristischen Status im Hinblick auf eine achten: Zum einen ist zu fragen, welche Bedeutung
Frau (!) abgestellt; wenn ich als Mann, aber nicht als die Konzeption des psychischen Systems innerhalb
Mensch bezeichnet werde, wird auf den Vorrang des der Systemtheorie besitzt. Auch wenn sich die luh-
Geschlechts vor der Gattung hingewiesen. mannsche Systemtheorie vorrangig als Theorie so-
Übrigens kann man nicht sehen, was denn nun die zialer Systeme versteht, so führt der Begriff des
›richtige‹ oder ›wirkliche‹ Unterscheidung war, denn psychischen Systems doch ins Zentrum ihrer Theo-
das kann wiederum nur ein Beobachter sehen, der riearchitektur. Zum anderen aber ist zu fragen, in-
selbst wiederum nur von seiner eigenen Beobachter- wiefern sich dann die systemtheoretische Vorstellung
perspektive konditioniert wird. Das Beispiel sollte le- vom Bewusstsein, wie sie mit diesem Begriff benannt
diglich verdeutlichen, wie polykontextural die mo- wird, in das Feld von vor allem philosophischen und
derne Welt gebaut ist und welche empirischen nicht zuletzt transzendentalphilosophischen Be-
Möglichkeiten Luhmanns Beobachtungstheorie an- wusstseinstheorien einfügt.
bietet, etwas über die Selbststabilisierung von Sys- Zunächst legt die systemische Beobachtung des
temoperationen zu erfahren. Wie beobachtet wird, Bewusstseins die Rekonzeptualisierung als psy-
hängt allein von Anschlussfähigkeiten ab – und diese chisches System nahe. Damit wäre schon allein auf
von der jeweiligen Beobachterposition. Luhmanns der Ebene der Begriffsbildung eine Parallelität zum
›Zivilisierung‹ der Paradoxien dient also dazu, den Begriff des sozialen Systems gegeben. So wie Kom-
Umgang, in der Sprache der Kybernetik: die Entfal- munikationen dem sozialen System zugeschrieben
tung von Paradoxien in den Blick zu nehmen und da- werden, so Bewusstsein dem psychischen System. In
mit ein Verständnis für jene merkwürdige Fragilität beiden Fällen macht die Begrifflichkeit darauf auf-
112 Begriffe

merksam, dass die Systeme nicht in ihrem ontologi- er Bewusstsein in seiner traditionellen Definition als
schen Gegebensein, sondern in ihrer Prozessualität Instanz des Wissens in den Blick nimmt. Dass Wissen
und Operativität von der Systemtheorie beobachtet auf Bewusstsein zugerechnet wird, ist eine der
und konzipiert werden. Diese Parallelität der Be- Hauptthesen der Transzendentalphilosophie, na-
griffsbildung kann auf dieser Basis jedoch als Aus- mentlich von Fichtes groß angelegtem Projekt einer
druck einer grundsätzlichen prozessualen Ver- Wissenschaftslehre (maßgeblich hier die Wissen-
schränkung der Operationen der beiden Systemty- schaftslehre aus dem Jahre 1805). Wenn Habermas
pen angesehen werden, die als strukturelle Kopplung von der »Aneignung der subjektphilosophischen
beschrieben wird. Psychisches und soziales System Erbmasse« und vom »Übergang vom Subjekt zum
sind demzufolge operativ notwendige Komplemen- System« bzw. von der »Umstellung vom Subjekt aufs
te; keines kann ohne das Operieren des jeweils ande- System« (Habermas 1988, 426 u. 431 u. 433) spricht,
ren Systems selbst operieren. so kritisiert er damit auch die Idee, die Geschlossen-
Insofern macht dieser Begriff in besonderer Weise heit der Gesellschaft mit der Intransparenz des Be-
darauf aufmerksam, dass Bewusstsein zwar in diesem wusstseins zu parallelisieren. Im Begriff des psy-
Sinne selbst psychisch ist, aber natürlich sozial beob- chischen Systems wird die transzendentalphiloso-
achtet oder zumindest unterstellt werden kann. Das phische Vorstellung vom Bewusstsein als Selbstbe-
psychische System ist ebenso System wie jedes andere gründungsinstanz des Subjekts als Autopoiesis re-
System, das psychische Moment ist lediglich eine be- konzeptualisiert. Wenn also die Systemtheorie, wie
stimmte Auszeichnung, die Luhmann nicht qualita- Habermas schreibt, »die Grundbegriffe und Pro-
tiv versteht, sondern zunächst als Zuschreibung einer blemstellungen der Subjektphilosophie beerben und
Beobachtung. Wenn Bewusstsein im Sinne der Sys- zugleich deren Problemlösungskapazität überbie-
temtheorie beobachtet wird, in allererster und direk- ten« will (Habermas 1988, 426), so wird dies vor al-
tester Linie durch sich selbst, erscheint es als lem durch die Konzeption des psychischen Systems
psychisches System. So wird dieser Begriff zur Ab- erreicht. Um diesen Gedanken schematisch zu ver-
kürzung einer komplexen Rekonzeptualisierung des deutlichen: Während Hegel die Vernunft dem Be-
Bewusstseins: Auch Bewusstsein muss, wie Kommu- wusstsein attribuiert, würde sie Luhmann im kom-
nikation, absolut prozessual gedacht werden, es exis- munikativen Prozess verorten. Indem er so die
tiert aufgrund seiner Operationsweise, dem Denken, Aporien eines für sich selbst intransparenten Be-
und insofern nur in seinen Operationen, den Gedan- wusstseins vermeidet, kann er gerade diese Intrans-
ken – so wie soziale Systeme nur aus den Operationen parenz als Konstituente des Bewusstseins in der Idee
der Kommunikation existieren. Luhmann konzipiert des psychischen Systems sogar noch radikalisieren:
das Bewusstsein wie die sozialen Systeme als auto- Im Unterschied zu transzendentalphilosophischen
poietische (Luhmann 1987; SA6), und dafür steht der Bewusstseinsmodellen, die dann in die Aporie gelan-
Name des psychischen Systems. Autopoiesis wird zur gen, wenn sie versuchen, die Prozessualität des Be-
konstitutiven Voraussetzung von Bewusstsein; und wusstseins als Gegenstand des Selbst-Bewusstseins
Autopoiesis setzt den systematischen Charakter un- zu begreifen, kann Luhmann diese Intransparenz so-
abdingbar voraus: »Eben deshalb muss Bewußtsein, gar zum Motor der Operationen des psychischen Sys-
um sein zu können, System sein« (SA6, 62). tems machen. Nur weil das Bewusstsein sich in seiner
Allerdings wird dieser Begriff nicht konsequent Prozessualität nicht selbst transparent werden kann,
verwendet. Gerade wo es um das systemische Zusam- prozessiert es überhaupt – als psychisches System.
menspiel von sozialem und psychischem System Gerade die systemische Konzeptualisierung des
geht, spricht Luhmann auch von ›Bewusstsein‹ und Bewusstseins sollte aber nicht zu dem Missverständ-
›Kommunikation‹ so z. B. im ersten Kapitel seines nis führen, als würde mit dem Zusammenspiel von
Buches zur Wissenschaft der Gesellschaft (1990). Hier sozialem und psychischem System die traditionelle
wird die bewusstseinstheoretische und transzenden- Differenz von Gesellschaft und Individuum wieder
talphilosophische Herleitung der Vorstellung von eingeführt. Das psychische System darf nicht als in-
Bewusstsein entfaltet – mit der radikalsten Umdeu- dividuelles Bewusstsein missverstanden werden.
tung und gleichzeitig der radikalsten Überbietung Vielmehr ist die Konzeption eine Abstraktion jeder
traditioneller Bewusstseinsvorstellungen. Wenn möglichen empirischen und individuellen Aus-
Luhmann gerade in seiner Monographie über die drucksform von personalem und persönlichem Be-
Wissenschaft das Zusammenspiel von Bewusstsein wusstsein. Das psychische System ist eben nicht die
und Kommunikation thematisiert, so deswegen, weil Person. Vielmehr ist die Person für Luhmann nur
Selbstbeschreibung 113

eine soziale Adresse für Kommunikation (vgl. SA6, 23. Selbstbeschreibung


142–154). Insofern kann Luhmann hier ein Problem
umgehen, das im transzendentalphilosophischen Der Begriff der Selbstbeschreibung konturiert sich zu
Kontext, aber zum Beispiel auch noch bei Foucault einem eigenständigen Theoriebegriff erst im Laufe
virulent war, denn für Luhmann »liegt es nahe, auf der Entwicklung der soziologischen Systemtheorie.
die Unterscheidung von empirisch und transzenden- Auffällig ist zumindest, dass ab Die Wissenschaft der
tal ganz zu verzichten« (WissG, 13). Aus der Perspek- Gesellschaft (1990) fast alle funktionssystemspezifi-
tive der luhmannschen Konzeptualisierung ist also schen Monographien ein Kapitel über Selbstbe-
eine gewisse Skepsis angebracht gegenüber jenen schreibung enthalten und auch Die Gesellschaft der
Versuchen, das psychische System entweder zu indi- Gesellschaft (1997) diesem Begriff ein eigenes großes
vidualisieren oder aber – genau umgekehrt – voll- Kapitel widmet. Die auffällige Parallelstellung zu
ständig als sozialisiert zu betrachten. Beide Tenden- ›Kommunikationsmedien‹, ›Evolution‹ und ›Diffe-
zen finden sich beispielsweise in den Überlegungen renzierung‹ – der klassischen luhmannschen Trias
von Peter Fuchs (2010), der vom Eigensinn des Be- eines gesellschaftstheoretischen Integrationspro-
wusstseins und vom System ›Selbst‹ spricht. Seine gramms vormals disperser Theoriestücke – indiziert,
Überlegungen setzen ein mit der Differenz von Be- dass ›Selbstbeschreibung‹ ein Grundbegriff von
wusstsein und psychischem System, indem sie Be- höchster Relevanz vor allem für das gesellschafts-
wusstsein als System im Zustand der Bewusstheit theoretische Kernprogramm der luhmannschen
definieren. Ist aber erst einmal diese Differenz ge- Theorie ist. Und dies in einer doppelten Hinsicht:
setzt, so ist damit stillschweigend die Differenz von zum einen mit Blick auf die These, dass die historisch
transzendentalem und empirischem Bewusstsein ausdifferenzierten Sinnkomplexe der ›Funktionssys-
mit impliziert, was letztlich dazu führen muss, die teme‹ neben vielen anderen Grenzziehungsmecha-
systemtheoretische, luhmannsche Pointe aus dem nismen auch über eine spezifische Form der Selbst-
Blick zu verlieren, die darin besteht, die Vorstellung bezugnahme in Gestalt einer Beschreibung ihrer
von der absoluten, von ihm selbst schlechterdings selbst verfügen, zum anderen mit der wichtigen Im-
und konstitutiv unhintergehbaren Prozessualität des plikation, dass eine Theorie der modernen Gesell-
Bewusstseins im Begriff des psychischen Systems zu schaft selbst Teil des von ihr Beschriebenen ist und
fassen. deshalb – mit allen theoretischen Konsequenzen – als
eine Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft
qualifiziert werden kann: als eine Gesellschaft der Ge-
Literatur sellschaft.
Fuchs, Peter: Das System SELBST. Eine Studie zur Frage: Korrelat des Begriffs der Semantik ist der Sinnbe-
Wer liebt wen, wenn jemand sagt: »Ich liebe dich!«? Wei- griff. Korrelat des Begriffs der Selbstbeschreibung da-
lerswist 2010. gegen ist der Systembegriff. Das rechtfertigt es, beide
–: Die Psyche. Studien zur Innenwelt der Außenwelt der In- Ebenen separat zu verhandeln. Denn während das
nenwelt. Weilerswist 2005.
Konzept einer Semantik sehr allgemein auf die Typi-
–: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins. Die Person, die Psyche,
die Signatur. Bielefeld 2003. sierungserfordernisse des Sinnprozessierens über-
Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moder- haupt hin orientiert ist, bezieht sich der Begriff der
ne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988. Selbstbeschreibung auf die Einheit des Zusammen-
Jahraus, Oliver: »Bewußtsein und Kommunikation. Zur hangs eines Systems. Selbstbeschreibung ist in diesem
Konzeption der strukturellen Kopplung«. In: Ders./Nina Kontext die abstrakte Bezeichnung für die Art und
Ort (Hg.): Bewußtsein – Kommunikation – Zeichen. Tü-
bingen 2001, 23–47. Weise, in der ein soziales System die Einheit seines
–: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekter- operativen Zusammenhangs in die Identität dieses
fahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Zusammenhangs transformiert. Man könnte deshalb
Weilerswist 2003. auch sagen, dass das Konzept der Selbstbeschreibung
Luhmann, Niklas: »Autopoiesis als soziologischer Begriff«. Ausdruck einer Systemidentitätstheorie ist.
In: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.): Sinn, Kom-
munikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Semantiken sind dagegen keine Selbstbeschrei-
Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. bungen. Sie sind keine begrifflich-deskriptiven Be-
1987, 307–324. zugnahmen eines Systemkomplexes auf sich selbst,
–: »Die Autopoiesis des Bewußtseins«. In: SA6, 55–112. sondern Implikationen der Strukturiertheit in der
–: »Die Form ›Person‹«. In: SA6, 142–154. Bezugnahme einzelner Operationen/Ereignisse auf-
Oliver Jahraus einander. Anders formuliert: Semantiken beschrei-
114 Begriffe

ben nicht. Selbstbeschreibung dagegen ist eine wäre etwa an wahrheitsförmige Kommunikationen
identitätslogische Figur. Mit ihr geht es darum, dass im Wissenschaftssystem, die sich als diesem System
ein vorgängig etablierter (und ›bewusstloser‹) Sinn- zugehörige qualifizieren müssen. Dieser Mechanis-
zusammenhang (also: ein System) sich in sich auf mus bleibt aber in gewisser Weise ›intransparent‹, er
sich selbst bezieht und also Re-flexion in einem sehr ist lediglich eine ›mitlaufende‹ Selbstbeobachtung.
genauen Sinne darstellt. Das kann man von Seman- Davon unterscheidet Luhmann Selbstbeschreibun-
tiken generell nicht behaupten. gen in Gestalt vor allem von Texten. In und mit ihnen
Der begrifflichen Arbeit an diesem Systemidenti- bezieht sich ein System auf sich selbst als Ganzes –
tätskonzept der Selbstbeschreibung gehen andere be- und keine ›normale‹ singuläre Operation, die als wei-
griffliche Intuitionen Luhmanns voraus. Früh schon terer Anschluss in einem operativen Gefüge mitlau-
schärft sich die Einsicht, dass semantische Großkom- fend ›selbstbeobachtet‹ wird, tut dies. Selbstbeschrei-
plexe wie die societas-civilis-Konzeption oder die bungen sind in dieser Form »Texte besonderer Art,
Formel der commercial society sich als Varianten ei- die sich, zunächst phänomenal, dadurch auszeich-
ner »Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems« nen, dass sie sich auf das System als Einheit aller sei-
(SA2, 72 ff.) qualifizieren lassen, als (textförmig re- ner Operationen […] beziehen« (OuE, 419). Als
produzierte) Prämissen also, die ein nicht hintergeh- Selbstbeschreibungen können sie gelten, weil sie
bares Selbstverständigungsniveau markieren, das selbst Operationen im System sind. Obwohl also »das
sich freilich unter den Vorzeichen funktionaler Dif- System zum Satzsubjekt von Prädikaten« (ebd.)
ferenzierung als nicht mehr gültig erweist und zu wird, vollzieht sich dies im System und als eine wei-
dem eine systemtheoretisch angeleitete Gesell- tere Operation im System. Das macht sie paradoxie-
schaftstheorie eine moderne Alternative darzustellen trächtig in mehreren Hinsichten.
beansprucht. Selbstbeschreibungen sind notwendig Selbstsim-
Unter speziellen differenzierungstheoretischen plifikationen. Kein System ist in der Lage, die Kom-
Vorzeichen kommt dann der Trias von Funktion, plexität seiner Einheit auf den Begriff zu bringen.
Leistung und Reflexion als den Ebenen der mögli- Eine Selbstbeschreibung ist nicht die Fülle des Seins
chen Bezugnahme eines Funktionssystems eine wei- (eines Systems), sondern eine Verdichtungs- und
tere wichtige Vorläuferfunktion zu. Während ›Leis- Konzentrationsformel. Der Bedarf dazu ergibt sich –
tung‹ eine Bezugnahme auf ko-existente Funktions- und insofern sind Selbstbeschreibungen (nicht etwa
systeme ist und ›Funktion‹ die Relation zur Gesamt- Semantiken!) konstitutiv nachträglich (anders: Stä-
gesellschaft beschreibt, ist ›Reflexion‹ eine vor allem heli 1998; 2000) – ab einer bestimmten Komplexitäts-
in Gestalt von Theorien sich realisierende Form der stufe eines Systems und als eine weitere Verdichtung
Selbstbezugnahme. Die Überlegung ist hier noch, mitlaufender Selbstbeobachtung. Alle Elemente ei-
dass vor allem ein Überhandnehmen der Leistungs- nes Systems müssen als dem System zugehörige Ele-
kategorie zu einem Fragilwerden des Funktionsbe- mente fortlaufend qualifiziert werden. Die Einheit,
zugs führt, das dann wiederum Reflexionsanstren- als deren Elemente sie fungieren, bleibt dabei ›blind‹.
gungen provoziert. So wird z. B. einer wohlfahrts- »Das erfordert eine Operation, die wir gelegentlich
staatlichen Politik mit ihrer Vielzahl an Leistungsbe- schon als Selbstsimplifikation bezeichnet haben. Um
zügen ihre eigentliche gesamtgesellschaftliche Funk- als Einheit des Systems im System erscheinen zu kön-
tion – die Herstellung kollektiv verbindlicher Ent- nen, muß die Komplexität reduziert und dann sinn-
scheidungen – problematisch; das führt zu Reflexi- haft re-generalisiert werden. Die dafür angefertigte
onsbemühungen. So etwa mag man sich die ›Funkti- Semantik ist nicht das Ganze, aber sie referiert auf das
on‹ der Reflexion eines Funktionssystems vorstellen. Ganze als Einheit und stellt diese als einen immer mit-
Selbstbeschreibungen sind Operationen eines Sys- zubenutzenden Verweisungsstrang allen Operatio-
tems, die sich auf die Einheit dieses Systems beziehen, nen zur Verfügung« (SS, 624). Insofern strukturieren
also die Gesamtheit aller Operationen eines Systems Selbstbeschreibungen die Einheit eines Systems, in-
unter dem Gesichtspunkt der Einheit dieses Systems dem sie eine Zweitfassung dieser Einheit als Identität
zur Geltung bringen. Das unterscheidet sie von einer zur Verfügung stellen. »Die Funktion von Selbstbe-
Variante der Selbstbezugnahme, die unter dem Stich- schreibungstexten scheint […] darin zu liegen, die
wort der »mitlaufenden Selbstreferenz« (SS, 604) fir- fortlaufend anfallenden Selbstreferenzen zu raffen,
miert und mit der ein Mechanismus bezeichnet ist, zu bündeln, zu zentrieren, um damit deutlich zu ma-
der fortlaufende Kommunikationen als systemzuge- chen, dass es immer um dasselbe ›Selbst‹, immer um
hörige Kommunikationen qualifiziert. Zu denken ein mit sich identisches System geht« (OuE, 421).
Semantik 115

Selbstbeschreibungen sind notwendig paradoxe 24. Semantik


Unterfangen. Die luhmannsche Theorie sondiert
dies auf mehreren Ebenen. Paradox sind sie insofern, ›Semantik‹ ist der zentrale Begriff in Luhmanns his-
als sie sich selbst als Moment dessen, was sie beschrei- torisch-empirischer Forschung. Luhmann versteht
ben, auch mit beschreiben müssten. Und paradox darunter einen kulturellen Vorrat von Konzeptionen,
sind sie auch insofern, als sie als Prätention der Dar- den man untersuchen kann, um zu sehen, wie Gesell-
stellung der Einheit eines Zusammenhangs einen dif- schaften organisiert sind. Ursprünglich bezeichnet
ferenzerzeugenden Charakter haben. der Begriff einen Teilbereich der Linguistik, in dem es
Für die spätere luhmannsche Theorie insgesamt um die Bedeutung von Zeichen geht. Ausgelöst
ist dann eigentümlich, dass ihre paradoxe und nicht durch den Theorieexport des linguistic turn entwi-
aufzuhebende Grundfiguration im Rahmen einer ckelte sich in der Geschichtswissenschaft das Para-
Selbstbeschreibungsgeschichte der einzelnen Funkti- digma einer historischen Semantik, in dem der
onssysteme in eine Geschichte der jeweiligen Invisi- Bedeutungswandel von Begriffen erforscht wird, um
bilisierungen dieser Grundparadoxie transformiert Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur zu er-
wird. Die Grundparadoxie wird dabei invisibilisiert kennen. Der prominenteste Vertreter im Bereich der
durch eine jeweils historisch für einen bestimmten historischen Semantik ist Reinhart Koselleck, auf den
Zeitraum einleuchtende und als plausibel erschei- sich Luhmann explizit bezieht (GS1, 19, Fn. 13). Be-
nende andere Paradoxie. Für die Selbstbeschrei- trachtet man Luhmanns semantische Studien, etwa
bungsgeschichte des sich ausdifferenzierenden poli- zu Liebe (LaP), Individualität (GS3, 149–258) oder
tischen Systems kann man dann etwa das Repräsen- Natur und Kultur (GS4, 9–54), dann lassen sich in
tationsparadox vom Souveränitätsparadox und vom anderen Theorien Konzepte finden, die – bei allen
Herrschaftsparadox unterscheiden (vgl. PolG, Differenzen – eine gewisse Ähnlichkeit zum Begriff
323 ff.). der Semantik aufweisen. Die Forschung hat bei-
spielsweise auf Parallelen zum Diskursbegriff im Sin-
ne Michel Foucaults (Stäheli 2004), zum Begriff der
Literatur Idee in der jüngeren Ideengeschichtsschreibung
Göbel, Andreas: Theoriegenese als Problemgenese. Eine (Stollberg-Rilinger 2010, 36–40), zum Wissensbe-
problemgeschichtliche Rekonstruktion der soziologi- griff der klassischen Wissenssoziologie (GS1, 11–21;
schen Systemtheorie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000. GS4, 151–180), zum Kulturbegriff in den Kulturwis-
–: »Die Selbstbeschreibungen des politischen Systems. Eine senschaften (Burkart 2004, 14–20) sowie zum Begriff
systemtheoretische Perspektive auf die Ideengeschichte«.
In: Kai-Uwe Hellmann/Karsten Fischer/Harald Bluhm des sozialen Gedächtnisses in der Gedächtnistheorie
(Hg.): Das System der Politik. Niklas Luhmanns politi- (Holl 2003) hingewiesen.
sche Theorie. Wiesbaden 2003, 213–235. Im luhmannschen Theoriedesign kommt dem Be-
Kieserling, André: Selbstbeschreibung und Fremdbeschrei- griff ›Semantik‹ eine Schlüsselposition zu, weil er
bung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens. zwei unterschiedliche Aspekte verbindet, wie Gesell-
Frankfurt a. M. 2004.
Luhmann, Niklas: »Selbst-Thematisierungen des Gesell-
schaft konzipiert werden kann: als System und als
schaftssystems«. In: SA2, 72–102. Struktur. Als System besteht die Gesellschaft Luh-
Stäheli, Urs: »Die Nachträglichkeit der Semantik«. In: So- mann zufolge aus Kommunikationen, die aneinan-
ziale Systeme 4. Jg., 2 (1998), 315–340. der anschließen. Damit ist nicht nur gemeint, dass
–: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von sich die Gesellschaft permanent verändert, sondern
Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilerswist 2000.
dass sie als operativ geschlossenes System nichts an-
Andreas Göbel deres als diese Veränderung ist. Der Strukturbegriff
zielt hingegen auf relativ stabile, dauerhafte Ord-
nungsmuster ab, die sich in einer Gesellschaft ausbil-
den. Dazu zählen insbesondere die drei Typen
segmentärer, stratifikatorischer und funktionaler
Differenzierung. In der Auseinandersetzung mit dem
Strukturbegriff stellt sich für die Systemtheorie die
Frage, wie sich die beiden Vorstellungen von Prozes-
sualität und Stabilität der Gesellschaft verbinden las-
sen.
Diese Frage beantwortet Luhmann in dem Aufsatz
116 Begriffe

»Gesellschaftliche Struktur und semantische Traditi- Unzahl alltäglicher Kommunikationen: »Hier zählt
on« (GS1, 9–71) ausgehend vom Sinnbegriff, der jeder Fluch der Ruderer in den Galeeren« (GS1, 19).
grundlegend für die Konzeption von Gesellschaft als Das spezifische Quellenmaterial, mit dem sich se-
System ist: Sinn könne nur im Prozessieren von mantische Untersuchungen befassen, nennt Luh-
Kommunikationen erfahren werden und sei deswe- mann ›gepflegte Semantik‹. Damit meint er einen
gen immer gegenwärtig und ereignishaft. Um aber in verhältnismäßig kleinen Anteil an Ideen, der in einer
einer sozialen Situation zu wissen, wie an eine Kom- Gesellschaft für einen längeren Zeitraum erhalten
munikation angeschlossen werden kann, was dabei bleibt. Das wichtigste Erkennungsmerkmal der ge-
zu erwarten ist und was nicht, müsse es ein zeitlich, pflegten Semantik ist die Medialität der Kommuni-
sozial und sachlich generalisiertes Wissen darüber kation, durch die sie vor dem Vergessen bewahrt
geben, was in vergangenen Situationen von anderen wird. Stammesgesellschaften speichern die gepflegte
Kommunikationsteilnehmern getan wurde, als es Semantik beispielsweise im Medium von Ritualen;
um etwas Ähnliches ging. Nur weil man auf typisier- seit den frühen Hochkulturen wird sie aber primär
ten Sinn zurückgreifen könne, bilde sich ein Netz von als schriftlicher Text konserviert. Die Abgrenzung ei-
sozialen Erwartungen und damit eine strukturelle nes Kommunikationsbereiches für gepflegte Seman-
Ordnung aus. Zwar gibt es Luhmann zufolge auch tik ist für Luhmanns Ansatz methodologisch folgen-
völlig überraschende Kommunikationen, doch diese reich, weil er sich damit auf publizierte Texte
würden sogleich mit schon Bekanntem verglichen, beschränken kann: In den Verbreitungsmedien des
damit überhaupt verständlich ist, was gerade ge- Buches oder der Zeitschrift können neue, abwei-
schieht. Die Gesamtheit des in einer Gesellschaft ver- chende Ideen formuliert werden, die auch entfernte
fügbaren typisierten Sinns nennt Luhmann Seman- Leser erreichen und dann, wenn sie plausibel erschei-
tik: »Unter Semantik verstehen wir […] einen nen, als stabile Dogmen in das Ideengut einer Kultur
höherstufig generalisierten, relativ situationsunab- übernommen werden. Damit hat sich Luhmann zu-
hängig verfügbaren Sinn« (GS1, 19; vgl. Luhmann folge ein eigenständiger Raum für die Evolution von
1996, 60). Ideen gebildet (GS1, 45–53; GG, 536–556; I, 55–61).
Wenn man nun mit Luhmann ›Semantik‹ als ei- Diese Ideenevolution habe sich mit der Erfindung
nen typisierten Sinnvorrat begreift, so lässt sie sich des Buchdrucks stark beschleunigt, weil dadurch in
nicht mehr eindeutig der Gesellschaft als System oder immer schnellerer Abfolge und größerer Variation
als Struktur zuordnen. Einerseits können Semanti- Ideen verschriftlicht wurden. Präzisierend müsste
ken nur beobachtet werden, weil sie im Gesellschafts- man im Sinne Luhmanns seit der Frühen Neuzeit al-
system kommuniziert werden, andererseits handelt lerdings von Ideenevolutionen im Plural sprechen,
es sich um eine besondere Art von Kommunikatio- weil sich Ideen in den verschiedenen Funktionssyste-
nen, die Erwartungen strukturieren. Diesen hybri- men unterschiedlich entwickeln (GS1, 44 f.; SA4,
den Charakter von Semantik präzisiert Luhmann in 13–31).
Die Gesellschaft der Gesellschaft anhand der Referen- In der jüngeren Forschung wurde diskutiert, wie
zen von Kommunikationen (GG, 537–539 u. die Verbindung von Gesellschaftsstruktur und Se-
879–893). Demnach lässt sich unterscheiden, ob der mantik zu denken ist (Stäheli 2000, 196–218; Stich-
Inhalt einer Kommunikation die Umwelt der Gesell- weh 2006, 162–169). Luhmann selbst ging davon aus,
schaft betrifft, dann handelt es sich um eine Fremd- dass sich Semantiken ohne Gesellschaftsbezug gar
referenz, oder ob es in der Kommunikation um die nicht stabilisieren könnten und schon deswegen Ide-
Gesellschaft selbst – und das heißt: um Kommunika- en und Gesellschaftsstruktur einem gemeinsamen
tion – geht, dann ist sie selbstreferentiell. Wenn man Evolutionsprozess unterlägen. Wenn Semantiken als
sich darüber verständigen will, was in bestimmten Si- Beobachtungen von Kommunikationen konzipiert
tuationen zu erwarten ist, muss man über Kommu- werden, setzen sie logisch eine Gesellschaftsstruktur
nikationen kommunizieren. Folglich ermöglichen voraus, die sie nachträglich beschreiben. Anderer-
nur selbstreferentielle Kommunikationen den Ver- seits weist Luhmann aber auch darauf hin, dass erst
gleich von sozialen Situationen, können Sinn typisie- durch die Semantik Kommunikation ermöglicht
ren und so eine Semantik bilden. Insofern sie selbst werde. Der späte Luhmann hat deswegen argumen-
Kommunikationen sind, sind sie Teil der Gesell- tiert, dass Sozialstruktur und Semantik doppelt
schaft; weil sie aber andere Kommunikationen beob- durch Latenzen getrennt sind: Die Semantik be-
achten, formen sie Strukturen. schreibt Veränderungen der Sozialstruktur erst,
Semantik bildet sich Luhmann zufolge aus einer wenn sie gefestigt sind, und die Sozialstruktur setzt
117

zeitlich eine Semantik voraus, auf die sie sich bezie- Stollberg-Rilinger, Barbara: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.):
hen kann (GG, 539). In Hinsicht auf den Handlungs- Ideengeschichte. Stuttgart 2010, 7–42.
begriff könnte man formulieren, dass Semantiken Christian Kirchmeier
Handlungen voraussetzen, die sie beschreiben kön-
nen, aber auch umgekehrt Handlungen Semantiken
voraussetzen, nach denen sie sich richten können.
Daher hat sich in der Forschung ein Modell etabliert, 25. Sinn
wonach sich Gesellschaftsstruktur und Semantik
wechselseitig konstituieren. ›Sinn‹ ist einer der wichtigsten Begriffe in der luh-
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurden mannschen Systemtheorie; in Soziale Systeme wid-
Zweifel laut, ob eine von Luhmann ausgehende Wis- met ihm Luhmann das gesamte zweite Kapitel (SS,
senssoziologie seiner einseitigen Bevorzugung der 92–147). Er ist aber zugleich einer der schwierigsten
gepflegten Semantik folgen soll (Stäheli 2000, Begriffe: Luhmanns Definition, »Sinnprozessieren«
218–223; Stichweh 2006, 160). Denn mit diesem Be- sei ein »ständiges Neuformieren der sinnkonstituti-
griff verbindet sich eine Selbsteinschränkung des ven Differenz von Aktualität und Möglichkeit« (SS,
Blicks auf schriftliche Texte, die zumindest einem mi- 100), lässt sich nur im Kontext der gesamten System-
nimalen Kanonisierungsprozess unterworfen waren, theorie verstehen. In erster Annäherung meint der
wohingegen Formen alltäglicher, privater Kommu- luhmannsche Sinnbegriff aber einfach den Verweis
nikation – beispielsweise Tagebücher, Briefkorres- auf etwas anderes: Der Sinn eines Wortes oder Satzes
pondenzen oder Verhörprotokolle sowie alle Formen ist das, was mit dem Wort oder Satz gemeint ist.
nichtschriftlicher Kommunikation – kaum beachtet Edmund Husserl, auf den sich Luhmann bezieht,
werden. Gerade die kulturwissenschaftliche For- hat diesen Sinnbegriff eng mit dem Bewusstsein in
schung hat aber zeigen können, wie ergiebig diese Verbindung gebracht. Er spricht von einem ›inten-
Textgattungen sind. tionalen Bewusstsein‹, also davon, dass Bewusst-
seinsakte immer auf einen Gegenstand gerichtet
Literatur sind. Luhmanns Idee ist nun, dass sich nicht nur das
Bewusstsein, sondern auch die Kommunikation
Burkart, Günter: »Niklas Luhmann: Ein Theoretiker der durch diesen sinnhaften Gegenstandsbezug aus-
Kultur?« In: Ders./Gunter Runkel (Hg.): Luhmann und
zeichnet (dagegen Schülein 1982, 654). Bewusstsein
die Kulturtheorie. Frankfurt a. M. 2004, 11–39.
Holl, Mirjam-Kerstin: Semantik und soziales Gedächtnis. ist immer Bewusstsein von etwas, genauso wie Kom-
Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Gedächt- munikation immer Kommunikation über etwas ist.
nistheorie von Aleida und Jan Assmann. Würzburg 2003. Psychische Systeme (die Luhmann zufolge Bewusst-
Luhmann, Niklas: »Gesellschaftliche Struktur und seman- seinsakte prozessieren) und soziale Systeme (die
tische Tradition«. In: GS1, 9–71.
Luhmann zufolge Kommunikationen prozessieren)
–: »›Distinctions directrices‹. Über Codierung von Seman-
tiken und Systemen«. In: SA4, 13–31. hätten insofern eine Sonderstellung, als sie die einzi-
–: »Individuum, Individualität, Individualismus«. In: GS3, gen Systeme sind, die Sinn verwenden.
149–258. Schon in dem frühen, programmatischen Aufsatz
–: »Über Natur«. In: GS4, 9–30. »Sinn als Grundbegriff der Soziologie« (TGS,
–: »Kultur als historischer Begriff«. In: GS4, 31–54. 25–100) nimmt Luhmann noch einen zweiten Ge-
–: »Die Soziologie des Wissens: Probleme ihrer theoreti-
schen Konstruktion«. In: GS4, 151–180. danken Husserls auf, der über einen bloß statischen
–: »Complexity, Structural Contingencies and Value Con- Sinnbegriff als Referenz hinausführt. Luhmann ar-
flicts«. In: Paul Heelas/Scott Lash/Paul Morris (Hg.): De- gumentiert, dass sich Sinn zwar immer auf etwas Be-
traditionalization. Critical Reflections on Authority and stimmtes bezieht, aber dabei anderes, was gerade
Identity. Cambridge, MA/Oxford 1996, 59–71. nicht Thema ist, als Möglichkeiten mit sich führt.
Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive
Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers- Der nächste Bewusstseinsakt oder die nächste Kom-
wist 2000. munikation kann dann eine dieser Möglichkeiten
–: »Semantik und/oder Diskurs. ›Updating‹ Luhmann mit auswählen, die so zum nächsten Sinnbezug wird und
Foucault?« In: kultuRRevolution Nr. 47 (2004), 14–19. ihrerseits wieder neue Möglichkeiten mitführt usw.
Stichweh, Rudolf: »Semantik und Sozialstruktur. Zur Logik Sinn stellt in diesem Verständnis nicht nur eine aktu-
einer systemtheoretischen Unterscheidung«. In: Dirk
Tänzler/Hubert Knoblauch/Hans-Georg Soeffner (Hg.): elle Referenz her, sondern ist auch dafür verantwort-
Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz lich, dass in einem permanenten Prozess Bewusstsein
2006, 157–171. an Bewusstsein und Kommunikation an Kommuni-
118 Begriffe

kation anschließt. Das expliziert Luhmann an einem temtheorie auch eine Negation von Sinn konzipiert
Beispiel: »Eine Rose ist eine Rose – aber nicht nur werden müsste (Hahn 1987; Lohmann 1987; Balke
eine Rose, sondern eine Rose in meinem Garten, die 1999, 144–148; Stäheli 2000, 64–92).
von Unkraut bedroht ist, das man chemisch bekämp- Die für den Sinnbegriff zentrale Unterscheidung
fen müßte, was man aber neuerdings wiederum nicht verläuft in der luhmannschen Systemtheorie demzu-
soll, weil die Umwelt geschont werden muß, usw. Die folge nicht zwischen Sinn und Nicht-Sinn, sondern
Selbstverweisung garantiert den jeweils aktuellen zwischen »Aktualität und Möglichkeit« (SS, 100),
Sinn als Platzhalter für eine Vielzahl von weiteren also zwischen der aktuell selektierten Information,
Verweisungen, weiteren Möglichkeiten des Erlebens auf die sich ein bestimmter Sinn bezieht, und den
und der Kommunikation, die jeweils neuen Aus- Möglichkeiten für weitere Anschlüsse, die der Sinn
gangssinn aktualisieren mit jeweils neuen Möglich- als Verweisungshorizont mit sich führt. Die zentrale
keiten der Selbstverweisung und des rekursiven evolutionäre Errungenschaft sinnverarbeitender Sys-
Wiederaktualisierens dessen, wovon man ausgegan- teme sieht Luhmann in der Reduktion von Weltkom-
gen war« (I, 13). plexität, weil Sinn immer einen aktuellen Verweis
Dieses Zitat führt zu einem weiteren Aspekt von selektiert und alles andere in einen Möglichkeitsho-
Luhmanns Sinnbegriff. Bewusstseinsakte und Kom- rizont aufschiebt (Luhmann 1990). Damit ein Sys-
munikationen verweisen demzufolge nicht nur auf tem Sinn verarbeiten und die Komplexität der
einen bestimmten Sachverhalt, sondern außerdem Sinnerfahrung reduzieren kann, muss Sinn typisiert
auf sich selbst, nämlich auf den aktuellen Bewusst- werden (SS, 122–141). Nur so kann bei einer Sinner-
seinsakt oder die aktuelle Kommunikation, sowie auf fahrung, die aus einer hohen Datenmenge besteht,
die ganze Welt, die als möglicher Sinnbezug den Ho- auch dann ein bestimmter Gegenstand identifiziert
rizont des je aktuellen Sinninhalts bildet. Das erklärt werden, wenn die Wahrnehmung von einer Idealvor-
auch, warum sich Luhmann explizit dagegen aus- stellung abweicht. Außerdem wird Luhmann zufolge
spricht, Sinn als Zeichen zu definieren. Zeichen jeder Sinnerfahrung eine bestimmte Dauer zuge-
könnten zwar einen Sinnbezug auf ein bestimmtes sprochen und davon ausgegangen, dass auch andere
Signifikat herstellen, sie seien aber nicht in der Lage, dieselbe Erfahrung machen könnten.
darüber hinaus zugleich sich selbst und die Univer- Luhmann argumentiert, dass die Typisierungen
salität der Welt zu bezeichnen (SS, 107). entlang dreier Differenzen erfolgen, die als Sinn-
In seinem Spätwerk setzt Luhmann den Sinnbe- dimensionen Bestandteil jeden Sinns sind (SS,
griff in Beziehung zur Medium/Form-Unterschei- 112–122): Unter Sachdimension versteht Luhmann,
dung. Einerseits sei jeder Sinn, der sich in einem dass Sinn immer aktuell auf einen bestimmten Ge-
Bewusstseinsakt oder einer Kommunikation ereig- genstand oder ein bestimmtes Thema bezogen ist.
net, eine Form, weil er aktuell auf etwas Bestimmtes Der Sachdimension liegt die Unterscheidung zwi-
bezogen ist. Wenn es in einer Kommunikation um schen ›Dieses‹ und ›Anderes‹ zugrunde. Damit
eine Rose geht, hat dieser Sinnbezug eine andere lässt sich entscheiden, ob verschiedene Bewusst-
›Form‹ als eine Kommunikation über den Dollar- seinsakte bzw. Kommunikationen noch innerhalb
kurs. Zugleich handle es sich bei Sinn aber um ein desselben Gegenstandsbereiches bzw. desselben
»Universalmedium« (GG, 51), weil es keine Kommu- Themas liegen, oder ob es um Verschiedenes geht.
nikation und keinen Bewusstseinsakt gibt, die/der Die Zeitdimension, die auf der Unterscheidung
nicht Sinn verarbeiten würde. Psychische und soziale zwischen Vorher und Nachher beruht, führt nicht
Systeme operieren demzufolge im Medium ›Sinn‹ – nur dazu, dass der bloße operationale Anschluss
und nie anders. Luhmann spricht von ›Sinn‹ auch als von Sinn an Sinn gesehen wird, sondern dass Sys-
einem ›differenzlosen‹, d. h. nicht-negierbaren Be- teme eine eigene Zeitsemantik von Vergangenheit,
griff (SS, 96 f.). Denn die Negation von Sinn ist für Gegenwart und Zukunft ausbilden. Als dritte Sinn-
soziale und psychische Systeme nur möglich, wenn differenz gibt Luhmann die Ego/Alter-Unterschei-
sie sich (auf der Metaebene) sinnhaft darauf bezie- dung an, die er der Sozialdimension zuschreibt.
hen. Über Sinnlosigkeit lässt sich definitionsgemäß Damit meint er allerdings nicht, dass sich Sinn auf
nur sinnhaft kommunizieren. Als Phänomen besteht eine Person bezieht, wie es beispielsweise der Fall
Sinnlosigkeit dann lediglich »in einer Verwirrung wäre, wenn man über jemanden kommuniziert –
von Zeichen« (SS, 96). Diese Äußerung ist in der For- denn ein solcher Bezug wäre der Sachdimension
schung auf Widerstand gestoßen, und es wurde zugeordnet. Die Sozialdimension bezieht sich viel-
mehrfach argumentiert, dass im Rahmen der Sys- mehr auf die Frage, ob eine Sinnerfahrung auch
Struktur 119

für andere gleichermaßen möglich wäre, ob sie 26. Struktur


also konsensfähig ist.
Die Sinndimensionen sind einer der wenigen Niklas Luhmann möchte seine Theorie nicht als
Theoriebausteine Luhmanns, die auf einer additiven ›strukturalistisch‹ verstanden wissen (SS, 377–382).
Ansammlung dreier Komponenten beruhen. Wäh- Gleichzeitig formuliert er: »Kein Systemtheoretiker
rend Luhmann beispielsweise begründet, warum wird leugnen, daß komplexe Systeme Strukturen
›Verstehen‹ als dritter Bestandteil von Kommunika- ausbilden und ohne Strukturen nicht existieren kön-
tion durch die Differenzierung von Information und nen« (SS, 382). Der Strukturbegriff hat in der Sys-
Mitteilung gebildet wird, bleibt in seinem Theorie- temtheorie auf den ersten Blick eine nachgeordnete
design unklar, warum es genau drei Sinndimensio- Position. Statt von einer Vorstellung strukturdeter-
nen geben sollte. In der Forschung wurde daher minierter Gesellschaft auszugehen, ordnet Luhmann
diskutiert, ob nicht eine vierte Sinndimension mög- den Strukturbegriff in die temporalisiert gedachte
lich wäre, beispielsweise als Dimension der Referenz, Theorie autopoietischer Systembildung ein. Struktu-
die auf der Unterscheidung Selbst-/Fremdreferenz ren werden genauso wie die Elemente des Systems im
beruht (Schützeichel 2003, 47 f.), oder als Raumdi- System produziert, aktualisiert, verändert oder stabil
mension, in der zwischen Ferne und Nähe unter- gehalten. Gerade diese Konzeption des Strukturbe-
schieden wird (Stichweh 2000, 187). Die Frage nach griffs führt dazu, die Eigendynamiken von Systemen
dem theorietechnischen Status der Sinndimensionen als eigenständige Realität analytisch nachvollziehen
ist bisher nicht befriedigend beantwortet. und beschreiben zu können. Der Strukturbegriff
wird somit insbesondere für den (wissenschaftli-
chen) Beobachter zu einer »unentbehrlichen Hilfe«
Literatur (SS, 382).
Luhmann nutzt den Strukturbegriff bereits in sei-
Balke, Friedrich: »Dichter, Denker und Niklas Luhmann.
Über den Sinnzwang in der Systemtheorie«. In: Albrecht
nen frühen organisationssoziologischen Studien,
Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.): Widerstände der ohne ihn dort jedoch systematisch als Grundbegriff
Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk seiner Theorie zu verwenden (FuF, 29). Erst in Soziale
von Niklas Luhmann. Berlin 1999, 135–157. Systeme widmet er sich in einem gesonderten Kapitel,
Hahn, Alois: »Sinn und Sinnlosigkeit«. In: Hans Hafer- »Struktur und Zeit«, einer theoretischen Ausarbei-
kamp/Michael Schmid (Hg.): Sinn, Kommunikation
tung des Strukturbegriffs und nimmt deutliche Ab-
und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns
Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. 1987, 155–164. grenzungen zu strukturalistischen und struktur-
Lohmann, Georg: »Autopoiesis und die Unmöglichkeit von funktionalistischen Theorien vor. Insbesondere di-
Sinnverlust. Ein marginaler Zugang zu Niklas Luhmanns stanziert er sich vom Strukturalismus Claude Lévi-
Theorie ›Soziale Systeme‹«. In: Hans Haferkamp/Micha- Strauss’ und dem Strukturfunktionalismus Talcott
el Schmid (Hg.): Sinn, Kommunikation und soziale Dif-
Parsons’. Das Problem am Strukturalismus sieht Luh-
ferenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer
Systeme. Frankfurt a. M. 1987, 165–184. mann darin, dass Sinn nur modellhaft über die Iden-
Luhmann, Niklas: »Sinn als Grundbegriff der Soziologie«. tifikation von stabilen Beziehungen zwischen Ele-
In: TGS, 25–100. menten rekonstruiert wird. Lévi-Strauss wirft er
–: »Complexity and Meaning«. In: Ders.: Essays on Self-Re- stellvertretend vor, dass der Strukturbegriff sich le-
ference. New York 1990, 80–85. diglich auf theoretische Modellabstraktionen empi-
–: »Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution«. In:
I, 7–71. rischer Realität bezieht und somit die Strukturmo-
Ort, Nina: »Sinn als Medium und Form. Ein Beitrag zur Be- delle, die die Realität selbst hervorbringt, nicht mehr
griffsklärung in Luhmanns Theoriedesign«. In: Soziale von der eigenen Analyse unterschieden werden kön-
Systeme 4. Jg. (1998), 207–218. nen (SS, 377–382). An der Gesellschaftstheorie Par-
Schülein, Johann: »Zur Konzeptionalisierung des Sinnbe- sons’ kritisiert er, dass sie von bestimmten Struktur-
griffs«. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial-
psychologie 34. Jg. (1982), 649–664. vorgaben ausgeht, ohne diese zu problematisieren. Er
Schützeichel, Rainer: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luh- distanziert sich somit von der strukturfunktionalisti-
mann. Frankfurt a. M./New York 2003. schen Perspektive, die Handlungen nur in Hinblick
Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive auf bestimmte vorher festgelegte Funktionen unter-
Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers- sucht, um zeigen zu können, wie sich soziale Struk-
wist 2000.
Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft. Soziologische Ana-
turen erhalten (ES, 18–40).
lysen. Frankfurt a. M. 2000. Grundsätzlich definiert Luhmann ›Struktur‹ als
Christian Kirchmeier »Einschränkung der im System zugelassenen Relatio-
120 Begriffe

nen« (SS, 384). Mit dieser Definition bricht Luh- begriff zu ›Varianz‹ zu verstehen sind. Aus der Per-
mann sowohl mit dem strukturalistischen als auch spektive der operativen Logik der Systemtheorie und
mit dem strukturfunktionalistischen Strukturbe- dem damit zusammenhängenden Zeitbegriff kön-
griff. Strukturen werden demzufolge nicht als etwas nen Strukturen dies gar nicht leisten, da auch sie im-
begriffen, das bestimmte Elemente in Beziehung mer nur in der Gegenwart fungieren können
setzt. Vielmehr geht es darum, grundsätzlich sowohl (Nassehi 2008, 182–210). So schreibt Luhmann:
von Strukturen als auch von Elementen auszugehen, »Strukturen gibt es nur als jeweils gegenwärtige; sie
die in einem dynamischen Verhältnis zueinander ste- durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Ge-
hen. Die jeweils aktuelle Beziehung konstituiert da- genwart, die gegenwärtige Zukunft mit der gegen-
bei die sinnhafte Qualität der Elemente des Systems. wärtigen Vergangenheit integrierend« (SS, 399).
Der Strukturbegriff erhält seine theoretische Leis- Strukturen stellen so – da sie selbst als Selektion mög-
tungsfähigkeit dadurch, dass Strukturen nicht an licher Relationen zu verstehen sind – einen je gegen-
konkrete Elemente bzw. Ereignisse gebunden wer- wärtigen Möglichkeitsspielraum dar, der einerseits
den, sondern Sinn darüber konstituiert wird, dass die ereignishaften Elemente miteinander verknüpft,
Strukturen Einschränkungen darstellen, die von un- anderseits jedoch nicht bestimmen kann, was im
terschiedlichen Elementen realisiert werden können. konkreten Moment, in der konkreten Praxis passiert.
Strukturwert gewinnen die Relationen von Elemen- Die Struktur eines Hochschulseminars schränkt so-
ten nur dadurch, »daß die jeweils realisierten Relatio- mit die Praxis einer Seminarsitzung ein, indem be-
nen eine Auswahl aus einer Vielzahl von kombinatori- stimmte Formen – wie Wortmeldungen, Referate,
schen Möglichkeiten darstellen und damit die Vortei- Diskussionen – wahrscheinlicher sind als andere.
le, aber auch die Risiken einer selektiven Reduktion Strukturen geben hierbei nicht vor, was konkret pas-
einbringen. Und nur diese Auswahl kann beim Aus- siert. Gleichzeitig ermöglichen sie jedoch die gegen-
wechseln der Elemente konstant gehalten werden, das wärtige Verknüpfung der Ereignisse in der Zeit. Man
heißt mit neuen Elementen reproduziert werden« kann z. B. an die Diskussion der letzten Sitzung erin-
(SS, 383 f.). Strukturen begrenzen das, was in kon- nern und Texte als gelesen voraussetzen.
kreten Praxen möglich ist. Strukturen leisten so »die Hier lässt sich sehen, dass das Konzept der Struk-
Überführung unstrukturierter in strukturierte Kom- tur in sozialen und psychischen Systemen immer die
plexität« (SS, 383). Ohne die Einschränkung von Form von Erwartungsstrukturen annimmt. Wenn
Möglichkeiten wären sinnvolle Anschlüsse ausge- Strukturen als Erwartungsstrukturen verstanden
schlossen und – bezogen auf soziale Systeme – keine werden, wird klar, dass Strukturen nicht als ein
Kommunikation verstehbar. Ein Gruß wäre nicht als Apriori der konkreten Praxis verstanden werden dür-
Gruß zu entschlüsseln, ein Streit nicht als Streit, fen, sondern immer als gegenwärtig aktualisierte
Handlung nicht als Handlung und Kommunikation Einschränkungen von Möglichkeiten in der konkre-
nicht als Kommunikation. Struktur ist der Autopoie- ten Situation (Bora 1999). Erwartungen führen dabei
sis von Systemen insofern vorausgesetzt, als sie die immer auch die Möglichkeit der Enttäuschung einer
Elemente eines Systems überhaupt erst als sinnhaft Erwartung mit, indem Abweichendes, Überraschen-
qualifiziert. Gleichzeitig ist Struktur aber nicht die des, Neues und Zufälliges registriert wird. Durch die-
Ursache von Autopoiesis, sondern immer nur die je se Konzeption des Strukturbegriffs wird deutlich,
aktuelle Einschränkung der Verknüpfbarkeit von dass in der systemtheoretischen Lesart Strukturen
Elementen. nicht für zeitstabile Invarianz stehen, da auch sie nur
Die theoretische Verbindung der Begriffe der Au- gegenwärtig zu haben sind und sich somit immer
topoiesis und der Struktur führt dazu, den Struktur- auch als veränderbar darstellen. Sie strukturieren in
begriff konsequent als einen temporalen Begriff zu der Gegenwart permanent Abweichendes, Überra-
fassen. Aus systemtheoretischer Sicht wird immer schendes, Neues und Zufälliges und verunsichern
schon von einer temporalisierten Komplexität ausge- und verändern sich dabei selbst. Wandel wird des-
gangen; Elemente sind demnach schlicht Ereignisse, halb systemtheoretisch konsequent als evolutionärer
die im Augenblick ihres Auftretens schon wieder ver- Prozess gedacht.
schwinden. Strukturen stellen die Anschlussfähigkeit Strukturen tragen dennoch und trotz ihrer Gegen-
von Ereignis zu Ereignis ›in der Zeit‹ sicher und wir- wartsabhängigkeit dazu bei, dass Systeme hohe Kom-
ken somit dem permanent drohenden Zerfall von plexität aufbauen können, da sie in ihrer Funktion
Systemen entgegen. Damit ist nicht gemeint, dass sie der Zeitvermittlung auf sich selbst zurückgreifen
als Garanten für Stabilität und damit als ein Gegen- können und so Strukturaufbau »im Nacheinander
Strukturelle Kopplung 121

geschieht« (SA6, 74). Der systemtheoretische Struk- ner Interaktion zwischen zwei geschlossenen, auto-
turbegriff ist somit konsequent in eine poststruktu- poietischen Systemen (wie z. B. Zellen), die sich
ralistische Theorietradition einzuordnen, die sich für durch diese Interaktion jeweils wechselseitig zu
Strukturaufbau in der Praxis interessiert (Stäheli Strukturveränderungen anregen, ohne diese deter-
2000). Der Strukturbegriff ist deshalb gerade für die minieren zu können.
empirisch ausgerichtete systemtheoretische For- In Rahmen der luhmannschen Systemtheorie
schung unerlässlich. Durch die Rekonstruktion von wird der Begriff auf soziale Systeme bezogen und da-
Strukturen kann sozialer Ordnungsaufbau und des- durch gegenüber der Verwendungsweise von Matu-
sen Veränderung nachgezeichnet werden (Schneider rana spezifiziert. Davon muss man jedoch den
2000; Groddeck 2011). Bei der Beobachtung von Begriff der Interpenetration abheben, der gerade in
konkreten Praxen gelingt es dann zu verstehen, wie früheren Überlegungen Luhmanns bisweilen syno-
Strukturen bestimmte sinnhafte Anschlüsse wahr- nym mit dem der strukturellen Kopplung verwendet
scheinlich und andere unwahrscheinlich machen. wird. Der Begriff der Interpenetration evoziert dabei
Dabei geht es insbesondere auch darum, die Aktua- die Vorstellung einer wechselseitigen Durchdringung
lisierung von Strukturen zu verstehen, die über die und wird insofern definiert als reziproke Inan-
konkrete Praxis ›hinausreichen‹, wie Erwartungen an spruchnahme operativer Momente eines Systems für
Personen, die hierarchischen Strukturen in Organi- die Operationen des anderen Systems. Eine solche
sation, gesellschaftliche Werte und Semantiken oder Definition hebt nicht zuletzt auf das Zusammenspiel
spezifische Sinnformen funktionaler Logiken. Nur funktional ausdifferenzierter Sozialsysteme ab.
die Rekonstruktion von Strukturen informiert einer- Luhmann bezieht sich mit dem Begriff der struk-
seits über konkrete Einschränkungen von Möglich- turellen Kopplung sehr viel stärker auf die Idee der
keiten in sozialen Praxen, verweist aber andererseits operativen Schließung eines Systems in der Art und
auf ihre zeitlichen, sachlichen und sozialen Kontexte. Weise, wie es prozessiert, und er stellt ihn in engen
Der Strukturbegriff ist somit die ›unentbehrliche Zusammenhang mit der Autopoiesis als System-
Hilfe‹ des Beobachters. eigenschaft. Gegenüber dem Begriff der Interpene-
tration ermöglicht er eine Präzisierung und Radikali-
sierung. Wo ›Interpenetration‹ definiert wird als
Literatur Inanspruchnahme fremder Komplexität zum Auf-
Bora, Alfons: Differenzierung und Inklusion. Partizipative bau eigener Komplexität in einem System, betont das
Öffentlichkeit im Rechtssystem moderner Gesellschaf- Konzept der strukturellen Kopplung, dass die Inan-
ten. Baden-Baden 1999. spruchnahme selbst wiederum prozessual vonstatten
Groddeck, Victoria von: Organisation und Werte. Formen, gehen muss. Interpenetration ist daher sowohl der
Funktionen, Folgen. Wiesbaden 2011.
Luhmann, Niklas: »Die Autopoiesis des Bewußtseins«. In: frühere Begriff als auch das allgemeinere Konzept.
SA6, 55–112. Insofern gewinnt der Begriff der strukturellen Kopp-
Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu lung in dem Maße an Bedeutung, in dem auch die
einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit ei- Konzeption der Autopoiesis an Bedeutung für die
nem Beitrag »Gegenwarten«. Wiesbaden 2008. Systemtheorie gewinnt. Denn mit der Konzeption
Schneider, Wolfgang Ludwig: »The Sequential Production
of Social Acts in Conversation«. In: Human Studies
der strukturellen Kopplung erklärt die Systemtheo-
23. Jg., 2 (2000), 123–144. rie, wie autopoietische Systeme trotz (oder vielmehr
Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche: Eine dekonstruktive wegen) ihrer operativen Schließung einander beein-
Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers- flussen können.
wist 2000. Aus der Konzeption der strukturellen Kopplung
Victoria von Groddeck
lassen sich spezifische Systembedingungen ableiten.
Strukturell gekoppelt können erstens nur Systeme
sein, nicht aber andere Entitäten, Gegenstände oder
Zustände. Und zweitens müssen diese Systeme zeit-
27. Strukturelle Kopplung abhängig und mithin ereignisbasiert sein. Es müssen
also prozessierende Systeme sein; Systeme, die nicht
Der Begriff der strukturellen Kopplung stammt ur- nur Operationen vollführen, sondern die aus ihren
sprünglich von Humberto Maturana und wurde im Operationen bestehen. Strukturell gekoppelt sind
Kontext seines biologischen Konstruktivismus ent- mithin nur Systeme, die sich ausschließlich selbst re-
wickelt. Er meint dort die stabile, rekursive Form ei- produzieren und in diesem Selbstvollzug operativ ge-
122 Begriffe

schlossen sind, somit überschneidungsfrei operieren, beobachtet werden können, können psychisches und
also kurz gesagt: autopoietische Systeme. Autopoie- soziales System nur als strukturell gekoppelte beob-
sis, operative Schließung und strukturelle Kopplung achtet werden – oder gar nicht. Luhmann setzt sich
sind notwendigerweise miteinander korreliert. insofern von Maturana ab, indem er die Konzeption
Strukturell gekoppelt sind in diesem Sinne Syste- der strukturellen Kopplung nur noch für soziale und
me, die – im Grunde genommen eine tautologische psychische Systeme in Anschlag bringt.
Formulierung – die Operativität des anderen Systems Das lässt nun den Schluss zu: Bewusstsein und
unabdingbar für ihre eigene Operativität vorausset- Kommunikation stellen eine ausgezeichnete struktu-
zen. Von struktureller Kopplung kann gesprochen relle Kopplung dar. Selbstverständlich räumt Luh-
werden, wenn ein Beobachter drei Sachverhalte be- mann ein, dass es kein Bewusstsein und keine
obachtet: erstens, wie in einem System Ereignisse im Kommunikation ohne Lebewesen gibt, denen Be-
Prozess der Selbstreproduktion so produziert wer- wusstsein und Kommunikation unterstellt werden
den, dass diese im anderen System wiederum jeweils kann. Aber dies gilt nicht umgekehrt; die Autopoiesis
systemspezifisch ko-produziert werden; sodann, dass von Lebewesen lässt sich durchaus ohne Bewusstsein
diese Ko-Produktion wiederum im anderen System und/oder Kommunikation denken, während Be-
als Eigenproduktion abläuft; und schließlich, dass wusstsein und Kommunikation notwendig, unab-
Produktion und Ko-Produktion jeweils wechselseitig dingbar und konstitutiv miteinander strukturell
austauschbar sind. Strukturelle Kopplung ist, wo sie gekoppelt sind!
auftritt, für die gekoppelten Systeme notwendig und Strukturelle Kopplung lautet also die Antwort auf
konstitutiv. Deswegen definiert sie den Prozesscha- den Titel eines der berühmtesten Aufsätze Luh-
rakter der jeweiligen Systeme und damit die Systeme manns: »Wie ist Bewußtsein an Kommunikation be-
selbst. Strukturell gekoppelt zu sein ist keine akziden- teiligt?« (SA6, 37–54). Nur in struktureller Kopplung
telle, sondern eine substantielle Systemeigenschaft, sind »Bewußtseinssysteme fähig, kommunikative
eine Conditio sine qua non der gekoppelten Systeme. Systeme zu beobachten, aber auch umgekehrt: kom-
Auch wenn alle Systeme, die diese Bedingungen munikative Systeme fähig, Bewußtseinssysteme zu
erfüllen, für strukturelle Kopplung in Frage kommen beobachten« (SA6, 47).
und damit automatisch als strukturell gekoppelte in Damit aber kann die Konzeption der strukturellen
Erscheinung treten, also beobachtbar sind, so werden Kopplung die in ihr zusammengefassten Konzeptio-
theoretisch zunächst einmal nur jene drei Systeme nen des Bewusstseins und der Kommunikation (des
interessant, die paradigmatisch Autopoiesis konsti- psychischen und des sozialen Systems) verändern,
tuieren und realisieren: das organische System (der und sogar ein anderes Licht auf die Theoriearchitek-
Körper eines Lebewesens), das psychische System tur der Systemtheorie insgesamt werfen. Insbesonde-
(Bewusstsein) und das soziale System (Gesellschaft re Peter Fuchs hat darauf aufmerksam gemacht, dass
als Kommunikationssystem). Doch schon allein auf- Kommunikation und Bewusstsein absolut nicht in-
grund der unterschiedlichen Autopoiesis-Konzepte, dividualistisch oder subjektiv verstanden werden
die für Lebewesen und ihre Organismen einerseits müssen. Vielmehr kann mit Hilfe der Konzeption der
(so wie dieses Konzept ursprünglich von Varela und strukturellen Kopplung der Systemcharakter der be-
Maturana im biologischen Kontext entwickelt wur- teiligten Systeme deutlich gemacht und mithin Be-
de) und für psychische bzw. soziale Systeme anderer- wusstsein und Kommunikation radikal parallelisiert
seits (wie es durch eine deutliche Redefinition durch werden. In die Operationsweise beider Systeme wird
Luhmann im systemtheoretischen Kontext ausgear- die in der strukturellen Kopplung operativ vollzoge-
beitet wurde) in Anschlag gebracht werden, kann ne Differenz über ein Re-entry im Prozess wieder
man erkennen, dass die strukturelle Kopplung mit hineinkopiert, so dass beide Systeme nicht nur struk-
Organismen von anderer Qualität ist als diejenige turell gekoppelt sind, sondern sich auch jeweils selbst
zwischen Bewusstsein und Kommunikation. Wäh- durch diese strukturelle Kopplung prozessual konsti-
rend sich lebende, organische Systeme materiell re- tuieren: Sowohl psychische als auch soziale Systeme
produzieren, existieren psychische und soziale Syste- müssen intern und je für sich zwischen Bewusstsein
me in ihrer Autopoiesis ausschließlich als der und Kommunikation unterscheiden. Damit über-
Prozess, in dessen Verlauf sie sich selbst reproduzie- nimmt diese Konzeption in der Theoriearchitektur
ren. Während also organische Systeme (z. B. Zellen) eine fundierende und konstitutive Funktion; man
zwar notwendigerweise strukturell gekoppelt sind, könnte sogar überlegen, ob die strukturelle Kopp-
aber dennoch auch ohne die strukturelle Kopplung lung, die so konzipierte Differenz von Bewusstsein
System / Umwelt 123

und Kommunikation, für die Systemtheorie nicht gleich hin vergleichbar sind« (SS, 16). Systemtheorie
noch grundlegender wäre als die System-Umwelt- ist also keine Theorie, die in der Welt auffindbare Sys-
Differenz. Sie bekäme eine transzendentale Dimen- teme und Teilsysteme identifiziert, sondern eine
sion, weil alles, was beobachtet werden kann, nur be- Theorie, die davon ausgeht, dass man durch die ana-
obachtet werden kann, weil Kommunikation und lytische Nutzung der Unterscheidung System/Um-
Bewusstsein strukturell gekoppelt sind. welt etwas über die Gesellschaft herausfinden kann.
Es gibt kein systemtheoretisches Argument, das
ohne die Nutzung der System/Umwelt-Unterschei-
Literatur dung auskommt. Die Unterscheidung ist keine klas-
Baecker, Dirk: »Die Unterscheidung zwischen Kommuni- sische soziologische Figur, sondern ein Hinweis
kation und Bewußtsein«. In: Wolfgang Krohn/Günter darauf, dass sich Luhmann durch naturwissenschaft-
Küppers (Hg.): Emergenz. Die Entstehung von Ord- liche, vor allem biologische Forschungen hat inspi-
nung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt a. M. rieren lassen. Seine Systemtheorie reagiert auf
1992, 217–268.
Fuchs, Peter: Moderne Kommunikation. Zur Theorie des revolutionäre Veränderungen in der (Selbst-)Be-
operativen Displacements. Frankfurt a. M. 1993. schreibung von Natur- und Geisteswissenschaften,
Jahraus, Oliver: »Bewußtsein und Kommunikation. Zur die spätestens in den 1930er Jahren virulent werden.
Konzeption der strukturellen Kopplung«. In: Oliver Jahr- So wird das newtonsche Weltbild durch Forschungen
aus/Nina Ort (Hg.): Bewußtsein – Kommunikation – in der Physik – man denke an die Heisenbergsche
Zeichen. Tübingen 2001, 23–47.
Luhmann, Niklas: »Wie ist Bewußtsein an Kommunikation
Unschärferelation oder Albert Einsteins Relativitäts-
beteiligt?« In: SA6, 37–54. theorie – infrage gestellt. Zellforscher und Ingenieure
Maturana, Humberto R.: Erkennen. Die Organisation und zweifeln angesichts ihrer Forschungsergebnisse an
Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Aufsätze der kausalen Wirkung absoluter Gesetzmäßigkeiten
zur biologischen Epistemologie. Braunschweig 1982. auf alle chemischen und physikalischen Elemente
– /Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die bio-
und der Gleichmäßigkeit von Raum und Zeit. Auch
logischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Mün-
chen 1987. der Systembegriff – ein aus der Antike stammender
Oliver Jahraus Begriff, der in der Neuzeit von Philosophen zur Be-
schreibung einer aus Elementen bestehenden Ganz-
heit genutzt wird – wird zur Umschreibung dieses
neuen Bewusstseins herangezogen. Um 1950 be-
28. System / Umwelt gründet Norbert Wiener die Kybernetik. Gleichzeitig
entwirft Ludwig von Bertalanffy die ›General Sys-
»Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß tems Theory‹, welche die »wichtigsten Vorarbeiten«
es Systeme gibt.« Dieser Satz, mit dem Luhmann das (SS, 12) für Luhmanns Werk enthält. Ausgehend von
erste Kapitel von Soziale Systeme eröffnet, ist einer biologischen Studien formuliert Bertalanffy die Er-
der wichtigsten aber auch missverständlichsten Sät- fahrung, dass die Wissenschaftstheorie seiner Zeit
ze, die das Buch zu bieten hat (SS, 30). Missverstan- defizitär sei und sie die Ergebnisse aktueller biologi-
den ist der Satz, wenn man liest: »Es gibt Systeme« scher Forschung nicht mehr angemessen einordnen
und dabei überliest, dass die folgenden Überlegungen könne. Zum Beispiel werde die Frage vernachlässigt,
davon ausgehen, es gäbe sie. Die erste Lesart ontolo- wie sich der lebendige Organismus selbst organisiere.
gisiert Systeme und riskiert damit den Mehrwert ei- Bertalanffy plädiert daher für eine interdisziplinäre
ner Theorie, die doch eigentlich mit Ontologie – der Theorie allgemeiner Systeme, die die Wechselwir-
Idee, dass die Dinge einfach ›da sind‹ – aufräumen kungen von Elementen als organisierte Komplexität
will. Luhmann argumentiert, dass außerhalb der Be- beobachtet, statt sie als linear miteinander gekoppelt
obachtung von Beobachtern nichts existiert. Er geht zu beschreiben. Hierzu führte er die Unterscheidung
daher auch nicht davon aus, dass die Welt wirklich geschlossener und offener Systeme ein (Bertalanffy
aus Systemen besteht: »Die Aussage ›es gibt Systeme‹ 1951).
besagt […] nur, daß es Forschungsgegenstände gibt, Soziale Systeme – und hier steigen wir mit Berta-
die Merkmale aufweisen, die es rechtfertigen, den lanffy in Luhmanns Theorie ein – sind im Gegensatz
Systembegriff anzuwenden; so wie umgekehrt dieser zu Maschinen mit Input-Output-Charakter ›offene‹
Begriff dazu dient, Sachverhalte herauszuabstrahie- Systeme, die sich aus eigener Kraft eine Vorstellung
ren, die unter diesem Gesichtspunkt miteinander von einer sie umgebenden, komplexeren Umwelt
und mit andersartigen Sachverhalten auf gleich/un- machen. Die wichtigste theoretische Darlegung der
124 Begriffe

Unterscheidung von System und Umwelt erfolgt der etwas als Moment des Systems oder als Moment
1984 mit Soziale Systeme. Durch die Aufnahme ky- seiner Umwelt bestimmt ist« (SS, 243). Die Unter-
bernetischer und biologischer Figuren in die Theorie scheidung von System und Umwelt wird, wie wir
sozialer Systeme – auch bekannt als ›autopoietische über den Umweg über die Biologie gesehen haben,
Wende‹ – emanzipiert sich Luhmann von seinem quasi ›vorsoziologisch‹ in die Theorie eingebaut.
Lehrer Talcott Parsons, der sich Systeme als Bestands- Und dennoch bildet sie das Fundament für die Sys-
systeme vorstellte, die spezifische Bedürfnisse hätten temtheorie Luhmanns, indem sie als Begriff der Dif-
und im Falle der Nichtbefriedigung kollabieren wür- ferenzierung wiederholt wird: »Systemdifferenzie-
den (Parsons 1951). Luhmann hingegen beschreibt rung ist nichts anderes als die Wiederholung der
Systeme als operativ geschlossen, autopoietisch und Differenz von System und Umwelt innerhalb von
selbstreferentiell. Das bedeutet, dass sich Systeme an- Systemen. Das Gesamtsystem benutzt dabei sich
hand ihrer eigenen Operationen (Kommunikatio- selbst als Umwelt für eigene Teilsystembildungen
nen) selbst herstellen. Die Geschlossenheit der Selbst- […]« (SS, 22). Mit der Formulierung des Differenz-
organisation ist also Voraussetzung für Offenheit begriffs tritt die Theorie in die Beschreibung der Ge-
gegenüber der Umwelt. Sowohl das Selbstverhältnis sellschaft ein. Hier schließen zahlreiche empirische
des Systems als auch das Verhältnis zur Umwelt wer- Untersuchungen Luhmanns zu Funktions-, Interak-
den ausschließlich im System selbst hergestellt. tions- und Organisationssystemen an.
Der Systembegriff Luhmanns lässt sich daher Dem Problem einer dem Systembegriff inhären-
nicht in räumliche Bilder übersetzen, auch wenn er ten Provokation, sich Systeme und Umwelt(en) sta-
auf den ersten Blick dazu einzuladen scheint. Syste- tisch und räumlich vorzustellen, lässt sich durch die
me setzen sich zur Umwelt mittels selbstgesteuerter Betonung der Gegenwärtigkeit, also der Echtzeitlich-
Selektionsleistungen in Beziehung. Die Umwelt ist keit operativer Praxen begegnen. Soziale Systeme be-
also weder übergeordnete Struktur des Systems, sitzen eine »systemeigene Zeit, die aber gleichwohl in
noch darf sie »als eine Art Restkategorie mißverstan- die Weltzeit passen muß« (SS, 253). »Es bleibt zwar
den werden« (SS, 242). »Umwelt ist ein systemrelati- richtig, daß interpenetrierende Systeme in einzelnen
ver Sachverhalt. Jedes System nimmt nur sich aus Elementen konvergieren, nämlich dieselben Elemen-
seiner Umwelt aus. […] ›Die‹ Umwelt ist nur ein Ne- te benutzen, aber sie geben ihnen jeweils unterschied-
gativkorrelat des Systems. Sie ist keine operationsfä- liche Selektivitäten und unterschiedliche Anschlußfä-
hige Einheit, sie kann das System nicht wahrnehmen, higkeit, unterschiedliche Vergangenheiten und unter-
nicht behandeln, nicht beeinflussen. Man kann des- schiedliche Zukünfte« (SS, 293). Für die Anfertigung
halb auch sagen, daß durch Bezug auf und Unbe- funktionaler Analysen und für jede empirische For-
stimmtlassen von Umwelt das System sich selbst schung mit Luhmanns Theorie bedeutet dies: Soziale
totalisiert. Die Umwelt ist einfach ›alles andere‹« (SS, Systeme stehen nie still. Im Falle des Stillstandes – so
249). Das bedeutet, dass jedes System sich eine eigene weit man sich das vorstellen mag – wären soziale Sys-
Umwelt vorstellt. Umwelten ›gibt‹ es also nur in Sys- teme für den wissenschaftlichen Beobachter unsicht-
temen (vgl. auch SS, 293), die sich diese immer kom- bar.
plexer vorstellen als sich selbst (SS, 249). Die Umwelt Was lässt sich aus der Unterscheidung von System
symbolisiert im System die Komplexität der Welt. und Umwelt für soziologische Analysen gewinnen?
Allen räumlichen Vorstellungen von Systemen Empirische Analysen können daraufhin befragt wer-
und in diesen aufgehobenen Teilsystemen (zum Bei- den, wie sie die Operativität und Echtzeitlichkeit so-
spiel des Systems der Politik mit darin aufgehobenen zialer Systeme in der Anordnung des Materials
Regierungen, Verwaltungen oder Parteiorganisatio- abbilden und in der Analyse berücksichtigen. Die Be-
nen) erklärt Luhmann eine klare Absage und ent- tonung der Zeitlichkeit moderner Gesellschaft lenkt
täuscht damit gezielt jede Hoffnung, mit seiner den Blick auf Studien, die die Gleichzeitigkeit des
Theorie die Welt als eine Welt der Systeme und Um- Ungleichzeitigen in der Moderne (Stichweh 2000)
welten (im Sinne eines Setzkastens) zu fixieren: »Al- oder die Gegenwärtigkeit sozialer Praxis (Nassehi
les, was vorkommt, ist immer zugleich zugehörig zu 2006) und ihre sozialtheoretische Rückbindung
einem System (oder zu mehreren Systemen) und zu- (Nassehi 2008) betonen. Die Handhabung der Un-
gehörig zur Umwelt anderer Systeme. Jede Bestimmt- terscheidung von System und Umwelt erzeugt also
heit setzt Reduktionsvollzug voraus, und jedes nicht automatisch einen soziologischen Mehrwert.
Beobachten, Beschreiben, Begreifen von Bestimmt- Dieser entsteht erst durch die Konsequenz, mit wel-
heit erfordert die Angabe einer Systemreferenz, in cher die Unterscheidung im Sinne Luhmanns als
Welt 125

echtzeitlich, operativ und abseits räumlicher Bilder wobei die Übertragung auf soziale Systeme in dieser
des Ganzen und seiner Teile gedacht wird. Werkphase noch durch den Handlungsbegriff ver-
mittelt wird: »Die systemeigene Handlung verweist
mit ihrem Kontext auf Umwelt, und Umweltereignis-
Literatur se eröffnen dem System Zugang zu sich selbst. Inso-
Bertalanffy, Ludwig von: »Zu einer allgemeinen Systemleh- fern kann man sagen: durch den Gebrauch von Sinn
re«. In: Biologia Generalis. Archiv für die allgemeinen wird Welt konstituiert als derjenige Gesamthorizont,
Fragen der Lebensforschung 19. Jg. (1951), 114–129. in dem das System sich selbst auf seine Umwelt und
Nassehi, Armin: Der soziologische Diskurs der Moderne. seine Umwelt auf sich selbst bezieht« (FdR, 22).
Frankfurt a. M. 2006.
–: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziolo- Dieser Begriffskern bleibt in der weiteren Theorie-
gischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag entwicklung erhalten. Im Zuge des Austauschs des
»Gegenwarten«. Wiesbaden 2008. Operationstyps sozialer Systeme (Kommunikation
Parsons, Talcott: The Social System. London 1951. statt Handlung) sowie des Vordringens differenz-
Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft. Soziologische Ana- und beobachtertheoretischer Denkfiguren seit An-
lysen. Frankfurt a. M. 2000.
Jasmin Siri
fang der 1980er Jahre kommt es jedoch auch zu Prä-
zisierungsversuchen und Neuakzentuierungen: (1)
Neben der Horizontförmigkeit betont Luhmann nun
deutlicher auch die Unbeobachtbarkeit und paradoxe
Konstitution der Welt: »Die Einheit der Welt ist […]
29. Welt das Paradox eines Weltbeobachters, der sich in der
Welt aufhält, aber sich selbst im Beobachten nicht be-
›Welt‹ bezeichnet in Luhmanns Theorie die Einheit obachten kann« (GG, 154). Begrifflich manifestiert
der Differenz von System und Umwelt. Der Begriff sich dies auch in einer Adaption von George Spencer-
zählt neben den Begriffen ›Sinn‹ und ›Realität‹ zu den Browns Begriff des unmarked space, den Luhmann in
differenzlosen Begriffen. Damit meint Luhmann, zwei unterschiedlichen, die paradoxe Konstitution
dass Welt nur in der Welt negiert werden kann, da von Welt illustrierenden Bedeutungen aufnimmt
alles, was geschieht, in der Welt geschieht. Differenz- (KunstG, 51 f.): als »unterscheidungslosen Weltzu-
lose Begriffe schließen auf diese Weise ihre eigene stand«, den jede Unterscheidung voraussetze, ohne
Negation ein. Welt ist stets sinnhaft, Sinn stets welt- ihn je erreichen zu können (»unmarked state«); und
haft konstituiert. Während Sinn jedoch die Differenz als unbezeichnete Seite einer Unterscheidung, wie sie
zwischen gewählten und potentiellen Beobachtungs- durch jede Bezeichnung unvermeidlich mitprodu-
möglichkeiten akzentuiert, betont der Weltbegriff ziert werde (»unmarked space«). (2) Luhmann führt
die Einheit der Möglichkeiten und erfasst sie in der die Unterscheidung zwischen Beobachtung erster
Metapher des Horizonts. Die zirkuläre Geschlossen- und zweiter Ordnung ein und nutzt sie u. a., um
heit aller Sinnverweisungen »erscheint in ihrer Ein- Transformationen des Weltbegriffes in der Moderne zu
heit als Letzthorizont alles Sinnes: der Welt« (SS, erklären: »in dem Maße, in dem sich in der neuzeit-
105). Welt ist demnach stets systemrelativ und sinn- lichen Gesellschaft das Beobachten zweiter Ordnung
haft gegeben; sie kontinuiert und wandelt sich, in allen Funktionssystemen ausbreitet […], muß die
wächst und schrumpft mit dem Sinnhorizont eines Welt […] als ein Horizont begriffen werden, der sich
Systems. Ein systemunabhängiger Zugriff auf die mit allen Operationen verschiebt, ohne je erreichbar
Welt ist damit ausgeschlossen; es gibt so viele Welten zu sein oder gar etwas außerhalb der Welt Befindli-
wie es Systeme gibt, und jedes System richtet sich in ches in Aussicht zu stellen« (KunstG, 151; für eine be-
einer eigenen Welt ein. griffsgeschichtliche Einordnung dieser Position vgl.
Erste Fassungen des Begriffes finden sich in den Braun 1992, 506 f.).
Schriften der 1970er Jahre in Zusammenhang mit Damit ist bereits angedeutet, dass Luhmann, so-
Luhmanns Versuch, Husserls Phänomenologie des weit er seinen Weltbegriff empirisch fruchtbar zu
Bewusstseins in einen allgemeinen, auch auf soziale machen versucht, dies primär in seinen gesellschafts-
Systeme anwendbaren Sinnbegriff zu überführen theoretischen Schriften unternimmt und nicht auch
(TGS, 25–100). Welt wird dabei als Gesamthorizont an anderen Systemtypen, insbesondere nicht an Or-
oder Letzthorizont von Sinn eingeführt, der sich als ganisationen oder Interaktionssystemen, erprobt.
Aktkorrelat von Systemereignissen konstituiere und Zwei Schwerpunkte der gesellschaftstheoretischen
die Differenz von System und Umwelt übergreife, Anwendung des Weltbegriffes lassen sich unterschei-
126 Begriffe

den, solche mit Bezug auf das Gesellschaftssystem im nach einer historischen Untersuchung von Weltse-
Ganzen (Weltgesellschaft) und solche mit Bezug auf mantiken und der Globalisierungsgeschichten ein-
einzelne Funktionssysteme (Weltkunst, Weltreligion zelner Funktionssysteme eine zentrale Rolle spielt
usw.): (1) Bereits Anfang der 1970er Jahre postuliert (z. B. Stichweh 2000). Zugleich erweitert Stichweh
Luhmann die Existenz einer Weltgesellschaft sowie die Analysepotentiale des Weltbegriffes auf andere,
die Obsoletheit nationaler und territorial bestimm- von ihm ›globale Strukturmuster‹ genannte Struk-
ter Gesellschaftsbegriffe (SA2, 51–71). Dabei ermög- turformen (etwa ›Weltereignisse‹, Stichweh 2008).
licht ihm sein phänomenologischer Weltbegriff, Hier öffnet sich ein noch weitgehend unbearbeitetes
Weltgesellschaft als Folge des Zusammenspiels phä- Feld für gesellschaftstheoretische Studien, die Luh-
nomenologischer und struktureller – auf weltweite manns kommunikationstheoretischen Weltbegriff
Vernetzung abstellender – Mechanismen zu skizzie- mit empirischer Globalisierungsforschung und his-
ren: »Im Unterschied zu älteren Gesellschaften kon- torischem Material in Kontakt bringen (für Versuche
stituiert die Weltgesellschaft nicht nur eine projektive dieser Art vgl. Mersch 2005; Werron 2010).
(eigene Systembedürfnisse widerspiegelnde), son- In anderen Auseinandersetzungen mit Luhmanns
dern eine reale Einheit des Welthorizonts für alle. Weltbegriff geht es weniger um gesellschaftstheoreti-
Oder auch umgekehrt: die Weltgesellschaft ist da- sche Anknüpfung denn um eine direkte Kritik oder
durch entstanden, daß die Welt durch die Prämissen Verfeinerung des Begriffes: (1) Thomas (1992) dia-
weltweiten Verkehrs vereinheitlicht worden ist« gnostiziert eine Spannung zwischen systemrelativem
(SA2, 55). Entsprechend zählt Luhmann territorial und Horizontbegriff der Welt und kritisiert an Luh-
oder politisch bestimmte Gesellschaftsbegriffe später mann die Tendenz, die von ihm verabschiedete inter-
zu den (vier) Erkenntnisblockaden, die Fortschritte subjektive Zugänglichkeit der Welt in der Vorstellung
in der Formulierung einer Theorie der modernen einer »selbstreferentiellen Einheit des universellen
Gesellschaft behinderten (GG, 24 ff.). (2) Seine Vor- Sinngeschehens« wach zu halten (Thomas 1992, 352;
stellung einer faktischen Vereinheitlichung des Welt- hier gegen Pfeiffer 1998, 59 f.). Luhmann entgegnete
horizontes in der Weltgesellschaft stützt sich auf die auf diesen Einwand mit dem erneuten Hinweis auf
Annahme einer je eigenständigen Differenzierungs- den oben bereits zitierten historischen Zusammen-
und Expansionsdynamik einzelner Funktionssyste- hang zwischen soziologischem Weltbegriff einerseits
me: »In dem Maße, als sich Funktionsbereiche wie und der Differenzierungsform und -dynamik der
Religion, Wirtschaft, Erziehung, Forschung, Politik, modernen Gesellschaft andererseits. Damit betonte
Intimbeziehungen, Erholungstourismus, Massen- er implizit die Systemrelativität auch seines Weltbe-
kommunikation zu hoher Eigenständigkeit entfal- griffes (Luhmann 1992, 383 f.; näher GG, 147 f.). (2)
ten, sprengen sie die für alle gemeinsam geltenden Auf einen anderen problematischen Aspekt des Welt-
territorialen Gesellschaftsgrenzen« (Luhmann 1987, begriffes, empirisch möglicherweise nicht gedeckte glo-
334). bale Einheitssuggestionen, zielt ein Einwand, den Urs
Die in diesen frühen Thesen angelegten histori- Stäheli formuliert hat: Soweit der Weltbegriff die
schen Fragen zur faktischen Vereinheitlichung des Existenz einer Weltgesellschaft begründen solle, nei-
Welthorizonts der Weltgesellschaft oder zur Verein- ge er wie andere Begriffe des Globalen dazu, der
heitlichung der Welthorizonte einzelner Funktions- »Sehnsucht nach einer perfekten und allumfassen-
systeme hat Luhmann kaum weiter verfolgt. Wenn er den Einheit« Ausdruck zu geben sowie eine geheim-
später selbst von den Welten einzelner Funktionsbe- nisvolle »Kraft des Globalen jenseits der lokalen
reiche spricht (Weltkunst, Weltreligion, Weltrecht Orte« zu unterstellen (Stäheli 2008, 49, 53). Berück-
usw.), dann unter dem Gesichtspunkt des projektiven sichtigt man, dass Luhmanns zweite Prämisse der
Weltbezuges jener Systeme, kaum unter dem der modernen Weltgesellschaft – die faktische (nicht nur
faktischen Vereinheitlichung ihrer Welthorizonte projektive) Vereinheitlichung der Welthorizonte –
(KunstG; RelG). Seinen Grund mag dies auch da- noch kaum begrifflich konkretisiert und empirisch
rin haben, dass Luhmann kaum noch Gelegenheit überprüft worden ist, verdient dieser Einwand sicher
hatte, seine Theorieentwicklung mit der erst Ende ernstgenommen zu werden. Eine pragmatische Re-
der 1980er Jahre Dynamik gewinnenden neueren aktion auf solche Einwände könnte sein, nicht ohne
Globalisierungsforschung abzustimmen. Diese For- Vorbehalt davon auszugehen, ›die Weltgesellschaft‹
schungslücke ist eine der Anregungsquellen von Ru- habe sich bereits als System mit vereinheitlichtem
dolf Stichwehs programmatischen Beiträgen zu einer Welthorizont konstituiert, und sich umso mehr für
Theorie der Weltgesellschaft, in denen die Forderung den faktischen Gebrauch von Weltsemantiken (län-
Zeit 127

dervergleichende Statistiken, ökonomische Theorien Zeit bezeichnet auch nicht nur eine der drei Sinndi-
usw.) zu interessieren, die man im Verdacht haben mensionen, die eine »Interpretation der Realität im
kann, zur weltweiten Vereinheitlichung von Beob- Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und
achtungs- und Vergleichshorizonten beizutragen. In- Zukunft« (SS, 116) ermöglicht. Zeit ist für Luhmann
sofern kann – beim heutigen Stand der Forschung – letztlich auch ein soziologischer Grundbegriff, denn
ein gewisses Unbehagen an Luhmanns Weltbegriff als autopoietische Systeme sind temporalisierte Syste-
Bedingung seiner fruchtbaren Verwendung gelten. me. Sie bearbeiten Komplexität in der Zeit, indem sie
durch ein Nacheinander von Ereignissen die Selekti-
vität ihrer Aktualität bestimmen. »Temporalisierung
Literatur der Komplexität führt zu einer selektiven Ordnung
Braun, Hermann: »Welt«. In: Otto Brunner/Werner Conze/ der Verknüpfung der Elemente im zeitlichen Nachei-
Reinhart Koselleck (Hg): Geschichtliche Grundbegriffe. nander« (SS, 77).
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Die klassische Theorie der Temporalisierung von
Deutschland. Bd. 7. Stuttgart 1992, 433–510. Komplexität ist Husserls Phänomenologie des inneren
Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie [1972]. Opladen 21987.
–: »Die Weltgesellschaft«. In: SA2, 51–71. Zeitbewusstseins (1980), die für Luhmanns Auto-
–: »Stellungnahme«. In: Werner Krawietz/Michael Welker poiesistheorie Pate steht. Husserls Beschreibung der
(Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinander- Konstitution des Bewusstseinsstromes als das reten-
setzungen mit Luhmanns Hauptwerk. Frankfurt a. M. tional und protentional aufeinander bezogene Nach-
1992, 371–386. einander von Bewusstseinsereignissen beschreibt
Mersch, Christian: »Die Welt der Patente. Eine soziologi-
sche Analyse des Weltpatentsystems«. In: Bettina Heintz/
einen selbstreferentiellen Prozess von Ereignissen.
Richard Münch/Hartmann Tyrell (Hg.): Weltgesell- Und indem Husserls Phänomenologie die ›wirkliche
schaft. Theoretische Zugänge und empirische Problem- Welt‹ als ›phänomenologisches Datum‹ zugunsten
lagen. Sonderband der Zeitschrift für Soziologie. Stutt- des unhintergehbaren Bewusstseins der Welt, also sei-
gart 2005, 239–259. ner kognitiven Repräsentanz ausschließt, ist bereits
Pfeiffer, Ricarda: Philosophie und Systemtheorie. Die Ar-
chitektonik der Luhmannschen Theorie. Wiesbaden
der Gedanke vorgedacht, dass Kognition nicht als
1998. asymptotische Annäherung an die Welt aufgefasst
Stäheli, Urs: »Die Dekonstruktion des Globalen«. In: Ulf werden darf. Nicht obwohl, sondern weil wir keinen
Reichardt (Hg.): Die Vermessung der Globalisierung. unmittelbaren Zugang zur Welt haben, müssen wir
Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Heidelberg 2008, sie wahrnehmen, erkennen, sehen, abbilden, denken
49–61.
etc. Bei Husserl lässt sich am Beispiel des Bewusst-
Stichweh, Rudolf: »Zur Genese der Weltgesellschaft – Inno-
vationen und Mechanismen«. In: Ders.: Die Weltgesell- seins in der Tat bereits jene Figur des selbstreferen-
schaft. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M. 2000, tiellen Systems finden, das nicht in seiner Umwelt
245–267. operieren kann und seine Selbstreferenz durch per-
–: »Zur Soziologie des Weltereignisses«. In: Stefan Nacke/ manenten Dauerzerfall von Ereignissen – also: in der
René Unkelbach/Tobias Werron (Hg.): Weltereignisse.
und durch die Zeit – sichert. Das System existiert
Theoretische und empirische Perspektiven. Wiesbaden
2008, 17–40. demnach ontologisch je nur in seiner operativen Ge-
Thomas, Günter: »Welt als relative Einheit oder als Letztho- genwart und muss sich somit je neu – nichts anderes
rizont? Zur Azentrizität des Weltbegriffs«. In: Werner heißt: autopoietisch – erzeugen. In dem angedeute-
Krawietz/Michael Welker (Hg.): Kritik der Theorie so- ten Sinne schließt Luhmann unmittelbar an Husserls
zialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Phänomenologie an.
Hauptwerk. Frankfurt a. M. 1992, 327–354.
Werron, Tobias: Der Weltsport und sein Publikum. Weilers- Analog konzipiert Luhmann autopoietische als
wist 2010. temporalisierte Systeme. Zunächst bindet er den Ele-
Tobias Werron ment-/Ereignisbegriff – gemäß dem konstruktivisti-
schen Theorem der operativen Geschlossenheit – an
die Operationen des Systems. Element ist hier nicht
als unveränderlicher Baustein des Seienden oder als
30. Zeit invarianter Bestandteil dynamischer Systeme zu ver-
stehen. Im Gegenteil stellt Luhmann von einem den
Zeit ist für die Theorie sozialer Systeme nicht nur ein Systemoperationen vorgeordneten Elementbegriff
Gegenstandsbegriff im Sinne von zeitlichen Seman- auf einen systemrelativen Elementbegriff um. Mit
tiken, die in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Dif- dieser Umstellung beabsichtigt er, »die Vorstellung
ferenzierungsformen entstehen (vgl. SA3, 102 ff.). eines letztlich substantiellen, ontologischen Charak-
128 Begriffe

ters der Elemente« in der Weise zu revidieren, dass es selbst, denn Ereignisse konstituieren sich immer in
deren »Einheit erst durch das System konstituiert Relationierungen zu anderen Ereignissen, die sie ge-
[wird], das ein Element als Element für Relationie- rade nicht sind. Die Paradoxie besteht in einer
rungen in Anspruch nimmt« (SS, 42). Indem ein Ele- »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (SA5, 100),
ment als Ereignis wieder verschwindet und ein neues da Vergangenheit und Zukunft immer nur gleichzei-
Ereignis die Autopoiesis fortsetzt, entsteht jener Er- tig bestehen, nämlich als Horizonte eines gegenwär-
eignisstrom, der durch Rekurs auf mindestens das tigen Ereignisses. Die Paradoxie der Zeit besteht also
vorherige Ereignis Zeit konstituiert, die einem Beob- in der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten, die
achter (!) als Zeitstrom erscheint. Dies ist jedoch nur in der Zeit entparadoxiert wird.
eine Metapher, die den Umstand verdeckt, dass der Erst durch die Einführung des Zeitbegriffs als
Strom der Zeit letztlich nur durch das ermöglicht Grundbegriff wird die operative Bedeutung des Ge-
wird, was bei Whitehead oder auch bei Aristoteles genwärtigen für Luhmanns Systemtheorie plausibel
Zeitschnitt genannt wird und bei Husserl die Diffe- (vgl. Nassehi 2008, 24 ff.). Man kann von einer Ent-
renz der Jetztpunkte meint; es geht also um eine Dif- paradoxierung der Zeit durch die Zeit sprechen. Das
ferenz, die operativ gehandhabt werden muss und Argument operiert folgendermaßen: Die Auflösung
damit erst die Zeit konstituiert, und nicht um eine des Zirkels der Reflexion in der Theorie autopoieti-
vorgängige Einheit des Zeitstroms. Dieser kann nur scher Systeme stellt von Substanz auf Zeit um. Wäh-
als Einheit der Differenz von vorher und nachher ge- rend traditionelle Lösungen des Problems sich durch
dacht werden (vgl. SA5, 98). Annahme einer invarianten Substanz entparadoxie-
Die Einheit der Differenz als Akt bzw. als Sich-Er- ren, die den Akt der Selbstbeobachtung immer schon
eignen lässt sich auch im systemtheoretischen und enthält, entparadoxieren sich ereignisbasierte, auto-
konstruktivistischen Paradigma mit Husserls Theo- poietische Systeme durch Zeit. Sobald ein neues Ereig-
rie der Retention und Protention beschreiben. Die- nis auftritt, gehört die Beobachtung, die durch
sen Sachverhalt bezeichnet Luhmann als »basale gleichzeitige Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit
Selbstreferenz«, der »die Unterscheidung von Ele- zum System eine Paradoxie verursacht hat, nun ein-
ment und Relation zu Grunde liegt« (SS, 600). Jene deutig zum System, wie eine neue Beobachtung se-
»Mindestform von Selbstreferenz« bildet die Grund- hen kann, die aber selbst auch eine neue Paradoxie
bedingung autopoietischer Verläufe: Ein Element produziert. In diesem Sinne bemerkt Luhmann:
schließt an ein anderes Element an, identifiziert sich »Eine erste Unterscheidung kann nur operativ einge-
durch diese Relationierung als Element des Systems führt, nicht ihrerseits beobachtet (unterschieden)
und wird nach seinem Verschwinden selbst Relatum werden. Alles Unterscheiden von Unterscheidungen
einer Relationierung, die wiederum eine neue Ge- setzt diese ja voraus, kann nur nachher erfolgen, er-
genwart konstituiert. Dadurch wird Zeit schon auf fordert also Zeit bzw., in anderen Worten, ein in Ope-
der Ebene der Autopoiesis konstituiert. ration befindliches autopoietisches System. Und alle
Die Unterscheidung vorher/nachher, die den be- Rationalisierung ist deshalb Postrationalisierung«
sagten Zeitschnitt schneidet, kann als grundlegende, (WissG, 80). Die logische Aufhebung der Paradoxie
»nichteliminierbare Unterscheidung der Zeit« (RuS, der Selbstbezüglichkeit erfolgt demnach durch die
106 f.) gelten, ohne die keine Zeithandhabung aus- Zeit, d. h. zeitweise, nämlich von Ereignis zu Ereignis
kommen kann. Die Handhabung dieser Unterschei- – ihre praktische auch, denn wenn es weiter geht, geht
dung ist, genaugenommen, mit jedem Ereignis neu es weiter.
gegeben, denn Ereignisse treten niemals im ›freien
Raum‹ auf, sondern werden durch die Systemauto-
Literatur
poiesis erst konstituiert. Ein Ereignis ist sozusagen
zugleich constituens und constitutum: Es wird durch Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des
einen autopoietischen Ereigniszusammenhang er- inneren Zeitbewußtseins [1928]. Hg. von Martin Hei-
möglicht, und es ermöglicht die Fortsetzung dieses degger. Tübingen ²1980.
Geschehens. Während der Ereignisgegenwart ist ein Luhmann, Niklas: »Zeit und Handlung. Eine vergessene
Theorie«. In: SA3, 101–125.
solches temporalisiertes Element sozusagen das Sys- –: »Gleichzeitigkeit und Synchronisation«. In: SA5, 95–130.
tem, was letztlich auf eine bekannte Paradoxie hi- Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu
nausläuft. Das Ereignis ist zwar, gegenwartsbasiert, einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden 22008.
das System an einer Zeitstelle, zugleich ist es mehr als Armin Nassehi
129

V. Werke und Werkgruppen

1. Funktionen und Folgen schaftsweit sinnvollen, universell zumutbaren Ver-


haltenserwartungen nicht die Form von Zwecken
formaler Organisation (1964) oder von andersartigen Handlungsprogrammen an-
nehmen, bei denen man feststellen könnte, ob Fehler
Es gibt mindestens drei Merkmale, die auch ein so- bei der Anwendung gemacht wurden.
ziologisch ungeschulter Beobachter intuitiv mit einer Klassische Theorien der Organisation hatten ver-
Organisation verbindet. Zum einen kann man der sucht, jene Dreiheit von Merkmalen im Ausgang von
Organisation eigene Zwecke zuordnen, die sie mit der Zweckbindung der Organisation zu verstehen.
den vereinten und dadurch potenzierten Kräften ih- Das lief auf eine instrumentelle Deutung sowohl des
rer Mitglieder verfolgt. Unter diesem Aspekt hat man Mitgliederbestandes als auch der Hierarchie hinaus.
Organisationen auch als Perfektionsformen sozialer Personen würden als Mittel für die Zwecke oder Un-
Kooperation beschrieben. Ferner fällt auf, dass es in terzwecke der Organisation rekrutiert, und die Hie-
allen Organisationen eine transitive Rangordnung rarchie sei notwendig, um die arbeitsteilig erbrach-
von Ämtern oder Stellen gibt, die man innehaben ten Beiträge zu koordinieren. In letzter Konsequenz
oder nicht innehaben, anstreben oder nicht anstre- gilt dieser instrumentellen Auffassung auch das so-
ben kann: angefangen von den Spitzenpositionen, ziale System der Organisation selbst nur als Mittel ih-
die das System leiten und es der Umwelt gegenüber res Zweckes. Der Zweck muss dann ein ihr gegenüber
repräsentieren, über mittlere Positionen für Zwi- selbständiges Datum sein, das von Umweltsystemen
schenvorgesetzte bis zu konsistent untergeordneten gesetzt wurde: dem Eigentümer im Falle des Produk-
Positionen. Bemerkenswert ist schließlich, dass die tionsbetriebs und den politischen Zentralen im Falle
Organisation keine geborenen Mitglieder kennt, der öffentlichen Verwaltung. Diese Auffassung hat
sondern nur solche, die per Entscheidung aufgenom- das Einsetzen von Organisationssoziologie nicht
men wurden. Entscheidungsabhängig sind freilich überstanden. In ihrer Ablehnung sind sich die sozio-
auch die anderen beiden Merkmale: Noch die obers- logischen Theorien einig. Freilich ergibt die bloße
ten Zwecke sind positiv gesetzt und damit im Prinzip Ablehnung der einen Theorie noch keine andere.
änderbar, und auch die Stellenhierarchie ist keine Eine solche Alternativtheorie entwickelt Luhmanns
Kopie anderer gesellschaftlicher Hierarchien, auch Buch, indem es nicht von den Zwecken der Organi-
nicht der Schichtungsstruktur, sondern ihr gegen- sation, sondern von den Besonderheiten der Mit-
über verselbständigt. gliedschaft in ihnen ausgeht.
Alle drei Merkmale fallen an den Organisationen Luhmanns Ausgangspunkt (FuF, 34 ff.) ist die pro-
auch darum sogleich auf, weil die moderne Gesell- blematische Beziehung zwischen zwei Leistungen der
schaft in all diesen Hinsichten anders gebaut ist. Ihre Systembildung: Jedes Sozialsystem muss für die An-
Mitglieder sind geborene Mitglieder, und dies gilt erkennung bestimmter Verhaltenserwartungen sor-
auch dann, wenn man von der Gesamtgesellschaft zu gen und an diesen Erwartungen festhalten, auch
ihren Teilsystemen übergeht (auch ihre Rechtsfähig- wenn gelegentlich gegen sie verstoßen wird, und je-
keit oder ihre Staatsbürgerschaft verdanken die Per- des Sozialsystem muss eigene Grenzen identifizieren,
sonen den leicht erkennbaren Umständen ihrer also zugehörige Personen gegen andere Personen
Geburt). Außerdem werden diese Teilsysteme nicht (oder im Falle der Gesellschaften: gegen kommuni-
länger in der Form sozialer Schichten, sondern mit kativ unerreichbare Wesen) differenzieren. Nun zeigt
Hinblick auf spezifische Funktionen wie Wirtschaft, aber jeder Blick auf Sozialsysteme mit geborenen
Politik, Wissenschaft und Religion gebildet, zwischen Mitgliedern, dass diese beiden Leistungen der Sys-
denen es keine zugleich dauerhafte und transitive tembildung in ihren Ergebnissen keineswegs harmo-
Rangordnung gibt. Durch diesen Verzicht auf Hie- nieren müssen. So müssen Familien ebenso wie
rarchie erreicht die moderne Gesellschaft eine sehr komplette Gesellschaften darauf eingestellt sein, dass
viel größere Komplexität, als es für Organisationen sie Mitglieder haben und behalten müssen, die sys-
möglich wäre, und daher können auch die gesell- temeigene Verhaltenserwartungen ablehnen. Der
130 Werke und Werkgruppen

Heranwachsende, der seine Identität im Protest ge- also in beiden Hinsichten: als Handelnder und als Be-
gen die Eltern finden und festigen will, kann von die- obachter der anderen Mitglieder verpflichtet, und
sen nicht einfach aus der Familie verbannt werden, erst diese Doppelung ergibt den vollen Ertrag, weil
und auch die Gesellschaft kann ihre Verbrecher nicht damit nicht nur das Handeln einzelner Mitglieder,
aus dem eigenen System, sondern nur aus gewissen sondern auch das Erwarten aller anderen zuverlässig
Kontaktchancen im System ausschließen, und auch dirigiert und umdirigiert werden kann. Eine Organi-
dies nur zeitweise und nur mit Aussichten auf Rück- sation, die eine Funktionsrolle festlegt oder ändert,
kehr in eine normale Lebensführung. verpflichtet also nicht nur den Träger dieser Rollen,
Für die Organisation als Systemtyp ist eine andere sondern auch alle anderen Mitglieder. Auch unbe-
Konstellation charakteristisch. Sie erreicht für einen kannte Mitglieder sind dann gehalten, ihn nach
kritischen Teil der für sie wichtigen Verhaltenserwar- Maßgabe seiner Funktionsrolle zu erwarten und ihm
tungen, dass er von allen Mitgliedern eindeutig aner- gegebenenfalls bei deren Erfüllung behilflich zu sein,
kannt wird, und sie hat außerdem völlig eindeutige selbst wenn es sich dabei um Misstrauensrollen für
Vorstellungen darüber, wer Mitglied ist und wer Kontrolleure oder um Dominanzrollen für Vorge-
nicht. Halbe Mitgliedschaften oder unklare Misch- setzte handelt. Der gleichsam natürliche Widerstand
formen zwischen Geltung und Nichtgeltung einer gegen solche Rollentypen, der ohne Organisations-
Verhaltenserwartung sind nicht vorgesehen. Diese vermittlung sofort spürbar wäre, ist unter den Mit-
artifizielle Eindeutigkeit in beiden Bereichen wird gliedern des Systems also ausgeräumt.
nach Luhmann dadurch erzielt, dass man sie aufei- Schon die eigentümliche Reichweite dieses Bin-
nander bezieht: Organisationen bilden soziale Syste- dungseffektes lässt erkennen, dass bei Auswahl sol-
me dadurch, dass sie die Mitgliedschaft an die cher systemeinheitlich geltenden Erwartungen be-
Anerkennung bestimmter Verhaltenserwartungen sondere Vorkehrungen beachtet werden müssen. Der
binden, also Inklusion in das System an Konformität Kollege, der mir bei meinen Aufgaben helfen soll,
mit dessen Erwartungen knüpfen. Wer Mitglied ei- muss das tun können, ohne eigenen Aufgaben ent-
ner Organisation sein und bleiben will, der ist in der fremdet zu werden, und wenn dies für alle Kollegen
Frage, welche Verhaltenserwartungen er anerkennt, gelten soll, dann müssen die Aufgaben so bestimmt
nicht mehr frei, sondern muss im System geltende werden, dass sie mindestens optisch widerspruchs-
Erwartungen anerkennen. Erlischt die Bereitschaft frei wirken. Folglich kann man den Prozess der Auf-
dazu und wird dies bemerkt oder mitgeteilt, muss er gabenbestimmung nicht der Gewohnheitsbildung in
das System verlassen. Erwartungen, die in dieser Wei- jenen kleinen, interaktionsnahen Arbeitsgruppen
se als konstitutiv für Mitgliedschaft gelten, heißen in überlassen, aus denen die Organisation letztlich be-
der Terminologie von Luhmann formale Erwartun- steht, denn dann wären Widersprüche zwischen den
gen, und den Entscheidungsvorgang, der sie in diese Erwartungen verschiedener Gruppen wahrschein-
prominente Stellung bringt und vor anderen Verhal- lich. Um dies zu verhindern, wird mit der Vorgesetz-
tenserwartungen, auch solchen der Organisation tenhierarchie ein Mechanismus für die verbindliche
selbst, auszeichnet, nennt Luhmann Formalisierung. Auswahl der formalen Erwartungen geschaffen, von
Den tragenden Mechanismus, der diese Bindung dem anzunehmen ist, dass er in seinen Resultaten ei-
von Inklusion an konformes Erwarten herstellt, sieht nigermaßen konsistent operiert, da etwaige Wider-
er darin, dass die Systemmitgliedschaft zu einer iso- sprüche zwischen den Erwartungen gleichrangiger
liert disponiblen Rolle verselbständigt wird. Das Vorgesetzter durch Entscheidungen höherer Instan-
macht es möglich, den Zugang zu dieser Rolle zu zen aufgelöst werden können.
konditionieren. Die Mitgliedschaftsrolle geht über Dies gelingt freilich nur dann, wenn die Anerken-
den Verpflichtungsgehalt der je eigenen Funktions- nung der Vorgesetztenhierarchie und ihrer Entschei-
rolle (als Pförtner, Sachbearbeiter, Leiter der Produk- dungen ihrerseits zu den Dienstpflichten gehört.
tionsabteilung usw.) weit hinaus. Zur Rolle des Mithilfe des Formalisierungsbegriffes, der sich zu-
Systemmitglieds gehört nicht nur, dass man bereit nächst nur auf den Inklusionsmodus der Mitglied-
ist, die spezifisch an einen selbst adressierten Erwar- schaft bezieht, kann man also auch das zweite der
tungen anzuerkennen und dementsprechend zu oben genannten Merkmale von Organisationen gut
handeln, sondern auch, dass man alle anderen Er- rekonstruieren: Auch die organisationseigene Hie-
wartungen unterstützt, die im Namen des Systems rarchie ist formalisiert. Und nichts anderes gilt
kommuniziert werden, gleichviel an wen sie sich schließlich für das dritte jener Merkmale, also für die
richten und was sie verlangen. Jedes Mitglied wird Zwecke und Unterzwecke der Organisation, die
Funktionen und Folgen formaler Organisation (1964) 131

gleichfalls nicht offen abgelehnt werden können, und näheren Bestimmung der formalen Erwartun-
ohne die Mitgliedschaft zu gefährden. Zwecke und gen zu bedenken, dass sie nicht nur systemweite Gel-
Hierarchien sind demnach nichts weiter als Themen tung beanspruchen und folglich untereinander nicht
für Formalisierungsprozesse. inkonsistent sein dürfen, sondern dass sie auch bei
etwaiger Anwesenheit oder etwaigem Nachfragen
von Nichtmitgliedern eine legitime Handlungs-
Grenzen der Formalisierung grundlage abgeben sollen, also auf mögliche Publizi-
tät eingestellt sein müssen. Dass nur ein gesellschaft-
An der Definition der formalen Erwartung durch ih- lich legales Verhalten auch formalisiert werden kann,
ren Bezug zur Mitgliedschaftsfrage fällt zunächst auf, ist eine weitere Einschränkung, die nicht erst aus der
dass sie inhaltlich ganz unbestimmt bleibt. Das mag arbeitsrechtlichen Relevanz der formalen Struktu-
den Eindruck erwecken, eine Organisation könne ren, sondern schon aus jenem Erfordernis der breiten
beliebige Erwartungen jederzeit zur Mitgliedschafts- Zugänglichkeit auch für Außenstehende und Unbe-
pflicht erklären, könne also auch beliebige System- teiligte resultiert. Schließlich unterscheiden sich for-
probleme jederzeit durch Formalisierung lösen oder male Erwartungen von anderen Systemstrukturen
doch in eine gut lösbare Form bringen. Sie müsse nur dadurch, dass sie so lange gelten, bis sie ausdrücklich
dafür sorgen, dass die Mitgliedschaft ausreichend at- geändert werden, womit eine allmähliche Anpassung
traktiv bleibt, also ihrerseits zahlungsfähig bleiben, an sich ändernde Umweltbedingungen, auch wo sie
und dann könne sie ihre Mitglieder zu allen gesell- sinnvoll wäre, ausgeschlossen ist. Formale Struktu-
schaftlich erlaubten Handlungen verpflichten, von ren sind demnach Musterbeispiele für manifeste
denen sie sich abhängig weiß. Strukturen.
Die kürzeste Charakterisierung des Buches von In der Perspektive einer rationalistischen Organi-
Luhmann würde besagen, dass es der Widerlegung sationstheorie liegt es nahe, in solchen Merkmalen
dieser Auffassung dient. Sein Thema sind die imma- nur die Vorzüge zu sehen: nämlich gegenüber den
nenten Grenzen dessen, was man durch Formalisie- weithin unformulierten, für Außenstehende un-
rung von Verhaltenserwartungen erreichen kann. Es durchsichtigen, untereinander widerspruchvollen
geht also um die strukturelle Selektivität dieses Ver- und dabei zugleich unmerklich sich verschiebenden
fahrens der Strukturbildung – und nicht einfach nur Strukturvorstellungen andersartiger Sozialsysteme,
um die Nachteile dieser oder jener bestimmten For- wie man sie etwa aus ethnologischen Untersuchun-
malstruktur, die man ja jederzeit durch eine inhalt- gen einfacher Gesellschaften, aber auch aus der
lich geänderte Struktur gleichen Typs würde ersetzen Kleingruppentheorie oder aus der soziologischen Er-
können. Luhmann zufolge wirkt der Systembezug, forschung elementarer Kontakte des täglichen Le-
der dadurch hergestellt wird, dass eine Erwartung bens kennt. Und natürlich werden auch bei Luh-
formale Verbindlichkeit beansprucht, hochgradig se- mann die Rationalitätsvorteile deutlich gesehen. Der
lektiv. Nicht jede Handlung, die positive Funktionen zweite der insgesamt vier Teile des Buches (FuF,
für die Organisation trägt, kann auch zur Mitglied- 54–156) dient primär dazu, sie herauszuarbeiten.
schaftspflicht erklärt werden; nicht jede Erwartung, In einer systemtheoretischen Betrachtung fallen
auf die Mitglieder sich im Umgang miteinander ver- aber neben den Vorteilen auch Nachteile ins Ge-
lassen müssen, lässt sich auch formalisieren. Es gibt wicht. Hier nämlich ist zusätzlich zu beachten, dass
in jeder Organisation eine Reihe von Handlungen, an Systemstrukturen ein adäquates Verhältnis zur ho-
denen das lebhafteste Interesse besteht und die sich hen Komplexität des Systems und zur noch höheren
gleichwohl nicht in offizielle Dienstpflichten trans- Komplexität der Systemumwelt benötigen. Und an
formieren lassen. Aus dem Zusammenhang mit der der vorgeblichen Rationalität der formalen Struktur
Mitgliedschaftsfrage, der die Leistungsfähigkeit des fällt daher auf, dass lückenlose Konformität mit ihren
Formalisierungsmechanismus begründet, ergeben Vorgaben das Fassungsvermögen der Organisation
sich demnach zugleich auch erhebliche Einschrän- für Komplexität sehr stark beschneiden würde. Nicht
kungen dessen, was auf diese Weise erreicht werden alle Handlungen, die für ein komplexes und vielseitig
kann. interessiertes Sozialsystem sinnvoll sind, werden sich
Es muss sich zum Beispiel um vollständig expli- in Übereinstimmung mit Erwartungen bringen las-
zierte Erwartungen handeln, weil anders der Ver- sen, für die zugleich rechtlich einwandfreie Formu-
pflichtungsgehalt der Mitgliedschaftsrolle nicht ge- liertheit, schrankenlos mögliche Publizität, pragma-
klärt werden könnte. Außerdem ist bei der Auswahl tische Konsistenz, wenn nicht gar logische Wider-
132 Werke und Werkgruppen

spruchsfreiheit, und schließlich eindeutige Zeitgren- vertrauenerweckenden Eigenschaften mehr, als


zen für Geltung bzw. Nichtgeltung verlangt werden. durch Realitäten gedeckt ist. Es liegt auf der Hand,
Die soziologische Analyse von Organisationen dass mit der Aufgabe, solche unzutreffenden Darstel-
hatte immer schon betont, vor allem in ihren Fallstu- lungen herzustellen, eine zugleich notwendige und
dien, dass Konformität mit den formalen Strukturen gleichwohl nicht formalisierbare Funktion, also eine
offenbar nicht alle Probleme löst. Dabei war jedoch immanente Grenze des Formalisierungsprozesses
unklar geblieben, ob es an diesen bestimmten Struk- identifiziert ist. Man kann dem Pressechef nicht auf-
turen liegt, wenn die reine Programmtreue nicht aus- geben, für das System zu lügen, und man kann ihn
reicht, oder ob es sich um Folgeprobleme der für nicht entlassen, weil sein Verhältnis zur Wahrheit
Organisationen typischen Art der Strukturbildung nicht flexibel genug ist, obwohl es genau darum geht.
handelt, also um Folgeprobleme der Formalisierung Eine weitere Grenze, auf die der Formalisierungs-
schlechthin, die in anderer Weise auch bei geänder- mechanismus stößt, betrifft Rollen, die auf Kontakte
ten Formalstrukturen auftreten würden. Die ältere zu Nichtmitgliedern spezialisiert sind, zum Beispiel
Soziologie hatte eher der Lesart zugeneigt, dass es an Kellner oder Handelsvertreter. Für diese von Luh-
der inhaltlichen Spezifikation der Struktur liegt: mann (FuF, 220 ff.) so genannten ›Grenzstellen‹ ist es
Strukturwandel und Widerstand gegen Struktur- charakteristisch, dass sie einen direkten Zugang zu
wandel waren darum viel diskutierte Themen. Wenn der für das System relevanten Umwelt haben. Die
diese Themen bei Luhmann zurücktreten, dann des- Grenzrolle kann daher in die Lage geraten, beunru-
halb, weil er für die zweite und radikalere Antwort- higende Entwicklungen in der Systemumwelt zu be-
version eintritt. Sein Thema ist, wie schon gesagt, die merken, und zwar rascher als die Systemspitze, die
notwendige Selektivität der Strukturbildung durch auf solche Entwicklungen reagieren müsste. Daraus
Formalisierung schlechthin. Große Teile der Vertie- ergibt sich ein verändertes Verständnis der Hierar-
fungsthemen, an denen er seine Konzeption erläu- chie. Während nämlich die offizielle Beschreibung in
tert, sind daher so gewählt, dass man sie als Antwort der Hierarchie ein Instrument sieht, Informationen
auf eine Frage verstehen kann: Was wäre eine un- von oben, wo die Übersicht vermutet wird, nach un-
mögliche Mitgliedschaftspflicht? ten zu befördern, müsste man diese Perspektive ge-
radezu umkehren und fragen, wie die kritische
Information von unten nach oben gelangt. Die Be-
Zwei Modellanalysen: fürchtung ist weit verbreitet, dass schlechte Nach-
Systemdarstellung und Grenzrollen richten am Überbringer gerächt werden, vor allem
wenn er, wie für viele Grenzrollen typisch, an der Er-
Als ein leicht fassliches Paradigma dieser Fragestel- zeugung der Probleme nicht in jeder Hinsicht unbe-
lung eignet sich das achte Kapitel, das die Außendar- teiligt gewesen ist. Gerade das unschematische
stellung des Systems, seine Präsentation für Nicht- Sensorium einer Grenzrolle, ihre Fähigkeit, Ereignis-
mitglieder behandelt. Ausgangspunkt ist die Annah- se auch dann als beunruhigend zu erkennen, wenn
me, dass jede Organisation sich in den nach außen sie nicht in die Alarmkategorien ihres Programms
hin sichtbaren Handlungen ihrer Mitglieder als Sozi- fallen, ist für ihre Funktion wesentlich, und insofern
alsystem darstellt, und zwar einfach deshalb, weil Be- stößt man auch hier auf eine genuine Grenze der For-
obachter den Ausdruckswert solcher Handlungen malisierbarkeit.
zunächst einmal der Organisation zurechnen (und Die beiden Erträge dieser Modellanalysen über
nicht etwa: dem Mitglied als konkreter Person). Das Systemdarstellung und Grenzrollen lassen sich wie
gibt diesen Handlungen eine symbolische Tragweite, folgt resümieren: (1) Formale Erwartungen eignen
die über ihre unmittelbaren Anlässe und Themen hi- sich nicht, um Mitgliedschaftspflichten zu statuieren,
nausgeht. Kleine Darstellungsfehler können das ge- die den Test möglicher Publizität nicht bestehen wür-
samte System in Verruf bringen. Nach allem, was den, obwohl sicher ist, dass jedes System einige seiner
man soziologisch über das Innenleben von Organi- Handlungen besser im Geheimen vollzieht, da ihre
sationen weiß, muss man davon ausgehen, dass sich Sichtbarkeit für Nichtmitglieder seiner öffentlichen
eine überzeugende Außendarstellung nicht in bruch- Darstellung schaden würde, darunter nicht zuletzt
loser Kontinuität aus den internen Prozessen ergeben auch Handlungen, die der Herstellung und Pflege
kann, sondern sorgfältig hergestellt werden muss. eben dieser Darstellung dienen. Und (2): Formale Er-
Das System stellt sich nicht ganz dar, sondern nur wartungen eignen sich auch nicht, um die laufende
auszugsweise, und es betont dabei die positiven und Kritik dieser Erwartungen angesichts einer sich än-
Funktionen und Folgen formaler Organisation (1964) 133

dernden Umwelt anzuleiten, oder jedenfalls zeigen verselbständigen und sie dadurch für eine größere
sich deutliche Grenzen dieser Eignung, wenn der pri- Vielfalt von Phänomenen zu öffnen. An die Stelle der
vilegierte Träger einer derartigen Kritik auf einer un- Integration dieser organisationssoziologischen Teil-
tergeordneten Stelle sitzt. theorie durch den Gruppenbegriff tritt dabei die In-
tegration durch den hier betonten Gedanken, dass
jede Organisation auf zahllose Handlungen angewie-
Funktionen informaler Ordnungsbildung sen ist, die sie gleichwohl nicht formalisieren kann.
Von dem Reichtum der Analysen, die Luhmann
Wenn es aber richtig ist, dass nicht jedes Systembe- auf der Grundlage dieser Überlegungen vorlegt, kann
dürfnis auch formalisiert werden kann, dann kann eine knappe Übersicht keinen auch nur annähernd
die Formalstruktur einer Organisation auch nicht vollständigen Eindruck vermitteln. Schon mit dem
das soziologische Kriterium für die Beurteilung von Versuch, lediglich die Themen dieser Analysen auf-
Handlungen oder Erwartungen sein, die in ihrem zuzählen und zu erläutern, würde man Seite um Seite
System vorkommen. Eine Präferenz zugunsten von füllen können, ohne damit mehr zu erreichen als eine
Konformität mit der Formalstruktur wäre soziolo- angereicherte Version des Inhaltsverzeichnisses. Ich
gisch unbegründet. Auch formal freiwillige Hand- wähle daher nochmals die Form einer exemplari-
lungen mögen eine positive Funktion im System schen Erläuterung, und zwar anhand einer Frage, die
haben, und dasselbe gilt für Abweichungen von der bei Luhmann (FuF, 129, Anm. 12) nur gestreift wird:
Formalstruktur. Es ist diese Überlegung, die Luh- Welche Rolle spielt die soziale Form des Tausches
mann nutzt, um die Unterscheidung von formalen beim Aufbau von Führungsleistungen in Organisatio-
und informalen Erwartungen zu klären. nen? Ausgewählt habe ich die Frage nach der Tausch-
Dabei profitiert die Bestimmung des Informalen form, weil ihre Beantwortung auf weit entfernt
von der Sorgfalt, mit der zuvor über den Begriff des liegende Stellen des Buches zurückgreifen muss –
Formalen disponiert wurde: Informale Erwartungen und auf diese Weise die innere Einheit seiner Kon-
sind solche, denen der Zusammenhang mit der Mit- zeption vielleicht besser beleuchten kann, als dies bei
gliedschaftsfrage fehlt, die also nicht durch Aussich- größerer Treue zur Kapitelfolge möglich wäre. Das
ten auf Entlassung oder auf andere, mildere Typen Thema der Führung aber liegt nahe, weil informale
formal legitimer Sanktion unterstützt werden kön- Gruppenbildungen, die auch den direkt Vorgesetzten
nen. Gleichwohl gehören auch solche Erwartungen einschließen, als prekär gelten und selten sind. Die
zum System der Organisation selbst. Sie können Beziehung zum Vorgesetzten eignet sich darum bes-
nicht externalisiert, also nicht der Umwelt zugerech- ser als andere Beziehungen, die Unterscheidung von
net werden. Die Analyse des Formalisierungsmecha- Informalität und Gruppenbildung zu klären.
nismus hat gezeigt, dass man die Systemprobleme Elementare Formen von Führung, wie man sie
der Organisation nicht lückenlos in ihrer manifesten etwa in der Kleingruppenforschung untersucht hat,
Struktur wiedergeben kann. Genau das macht es werden tauschförmig aufgebaut. Und zwar ist es ge-
möglich, nun auch die latenten Strukturen mit ein- rade die Anerkennung des Führungsanspruches, die
zubeziehen, und zwar ohne Änderung der System- das eigentliche Tauschgut der Geführten bildet (Thi-
referenz. Informale Strukturen können formalen baut/Kelley 1959, 230 ff.). Es dient ihnen dazu, den
Strukturen auf vielfältige Weise widersprechen, zum Führer im System zu halten und ihn zugleich der
Beispiel in ihren Anforderungen an das Handeln der Gruppe selber gefügig zu machen. Er führt die Grup-
Mitglieder. Es handelt sich gleichwohl um Strukturen pe dann nach Art eines Fremdenführers: Zielen ent-
der Organisation selbst – und nicht etwa um persön- gegen, zu denen sie auch von sich aus tendiert. Eine
liche Liebes- oder Freundschaftsbeziehungen unter ernsthafte Entfremdung zwischen Führern und Ge-
den Mitgliedern, die sich in einer für die Organisati- führten kann es unter diesen Umständen kaum ge-
on zufälligen Weise ergeben. ben. Das ist die eigentümliche Humanität dieser Art
Die ältere Theorie hatte informale Erwartungen von Führung. Aber dieser freundliche Zug limitiert
nur als Struktur ungeplant entstandener Kleingrup- auch die Ziele, die man auf diese Weise erreichen
pen thematisiert, wie man sie vor allem an Produkti- kann. Würde der Führer nämlich versuchen, die
onsbetrieben studiert hatte, und sie dabei nur als Gruppe in den Dienst eines Zieles zu stellen, das in
Lösung von deren eigenen Systemproblemen behan- der lokalen Perspektive der Geführten nicht ein-
delt. Luhmann gelingt es, die Theorie der informalen leuchtet, da es von einem Makrosystem aus konzi-
Erwartungen gegenüber dem Gruppenkonzept zu piert wurde und nur als dessen Systemstrategie
134 Werke und Werkgruppen

überhaupt sinnvoll ist, würde er seinen Führungsan- Luhmanns erstes Buch über Organisationen er-
spruch gefährden. Gibt es nur diese Art von Führung, schien bereits 1964. In der Rezeption seines Werkes
dann kann die Verselbständigung des Makrosystems spielt es fünfzig Jahre später immer noch nicht die
gegenüber der Logik von Kleingruppen nicht sehr Rolle, die ihm gebührt. In den Jahren nach seiner Pu-
weit getrieben werden. Beim Aufbau solcher Makro- blikation blieb es relativ unbemerkt, da sein Autor
systeme muss diese elementare Führungstechnik da- seit der wenig später geführten Kontroverse mit Ha-
her ersetzt werden. bermas eher als Gesellschaftstheoretiker denn als Or-
Organisationen gelingt dies dadurch, dass sie die ganisationssoziologe rezipiert wurde. Der unterdes-
Anerkennung des Vorgesetzten durch seine Unterge- sen erfolgten Korrektur dieses Urteils lagen andere
benen formalisieren. Dadurch wird zweierlei er- Formulierungen und neuere Fassungen der Organi-
reicht: Die Anerkennung seiner Weisungsberechti- sationstheorie zugrunde (so vor allem OuE). Es gibt
gung ist eine immer schon bezahlte Mitgliedschafts- nicht viele Soziologen, die an Funktionen und Folgen
pflicht, so dass der Vorgesetzte sich seinen formalen formaler Organisation anschließen (vgl. aber Kieser-
Status nicht durch besonderes Entgegenkommen bei ling 1994; 1999, 335 ff.; sowie für eine Lehrbuchdar-
den Untergebenen erst noch verdienen muss. Es han- stellung Kühl 2011). Den Leistungen dieses frühen
delt sich vielmehr um einen stabilen Aspekt seiner Organisationsbuchs wird diese Wirkungsgeschichte
Rolle, den er zusammen mit dieser von seinem Vor- durchaus nicht gerecht. Es bietet nicht nur eine Or-
gänger übernimmt. Eben deshalb kann er sich, und ganisationssoziologie, die an ihren eigenen Themen
das ist der zweite und eigentlich entscheidende bis heute nicht übertroffen wurde, es zeigt auch deut-
Punkt, in der Auswahl seiner Führungsziele an fer- licher als jeder andere Text seines Autors, wie jene
nerstehenden Bezugsgruppen orientieren. Er kann nicht mehr strukturalistische Version des sozialwis-
diese Ziele sich von den eigenen Vorgesetzten und senschaftlichen Funktionalismus aussehen könnte,
letztlich von der Systemleitung vorgeben lassen. Die- die Luhmann in den programmatischen Aufsätzen
se wiederum gewinnt in Beziehungen zu wichtigen jener Zeit projektiert hatte (vgl. etwa SA1, 9–30).
Umweltpartnern des Systems an Beweglichkeit, weil Auch darum kann man Uwe Schimank nur zustim-
sie sicher sein kann, extern gemachte Zusagen auch men, der schon vor Jahren notierte, dass Funktionen
intern durchziehen zu können, ohne an der eigen- und Folgen formaler Organisation in Luhmanns an
tümlichen Geschichtsbindung und Unlenkbarkeit guten und sehr guten Büchern so reichem Lebens-
autonom gebildeter Kleingruppen zu scheitern. werk einen zweiten und gleichrangigen Gipfelpunkt
Freilich hat diese Substitution der elementaren neben Soziale Systeme (1984) bildet.
und tauschförmig konstituierten Führung durch
eine technisch potentere Lösung auch ihre Nachteile.
Der vielleicht wichtigste davon: Der Vorgesetzte Literatur
kann kraft seines formalen Status nur solche Anwei-
Bensman, Joseph/Gerver, Israel: »Crime and Punishment in
sungen geben, die ihrerseits formal einwandfrei sind the Factory: The Function of Deviancy in Maintaining
und entsprechende Prüfungen, etwa mit Hinblick the Social System«. In: American Sociological Review
auf mögliche Publizität, jederzeit überstehen wür- 28. Jg., 4 (1963), 588–598.
den. Im Rahmen der von Luhmann vorgeschlagenen Kieserling, André: »Interaktion in Organisationen«. In:
Konzeption muss man es als normal ansehen, dass Klaus Dammann/Dieter Grunow/Klaus P. Japp (Hg.):
Die Verwaltung des politischen Systems. Neue system-
der Vorgesetzte sich von Leistungen seiner Unterge- theoretische Zugriffe auf ein altes Thema. Opladen 1994,
benen abhängig weiß, die er formal nicht verlangen 168–182.
könnte. Er kann zum Beispiel nicht gesellschaftlich –: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Inter-
illegales Handeln anordnen, auch wenn sicher ist, aktionssysteme. Frankfurt a. M. 1999.
dass es der Organisation nützen würde (vgl. dazu die Kühl, Stefan: Organisationen. Eine sehr kurze Einführung.
Wiesbaden 2011.
Fallstudie von Bensman/Gerver 1963). In Situatio- Luhmann, Niklas: »Der neue Chef«. In: Verwaltungsarchiv
nen dieser Art liegt es nahe, sich tauschförmig zu ei- 53. Jg. (1962), 11–24.
nigen. Das wichtigste Tauschgut dessen, der alle –: »Funktion und Kausalität« [1962]. In: SA1, 9–30.
formalen Normen durchsetzen könnte, ist aber der –: »Spontane Ordnungsbildung«. In: Fritz Morstein Marx
partielle Verzicht darauf. Es ist daher eine Strategie (Hg.): Verwaltung. Eine einführende Darstellung. Berlin
1965, 163–183.
von Vorgesetzten, auf formal Durchsetzbares zu ver- Thibaut, John W./Kelley, Harold H. (Hg.): The Social Psy-
zichten, um im Austausch dafür etwas formal Nicht- chology of Groups. New York 1959.
durchsetzbares zu erhalten. André Kieserling
135

2. Zweckbegriff und erleichtert es, den Systemzweck zu ändern, wenn Än-


derungen in den Wünschen oder Empfindlichkeiten
Systemrationalität. Über die der Nichtmitglieder dies nahelegen.
Funktion von Zwecken in Solche Einsichten in die Bedeutung des Zweckes
sozialen Systemen (1968) für Selbstrationalisierung, Binnendifferenzierung,
Umweltanpassung (aber eben nicht auch: Mitglied-
schaftsmotivation) formal organisierter Sozialsyste-
Nicht alle, aber viele Sozialsysteme, und unter ihnen me sind nicht wirklich kontrovers. Von den entspre-
vor allem Organisationen, binden sich mit der Wahl chenden Tatsachen kann man sich leicht überzeugen,
ihrer Struktur an einen spezifischen Zweck und ver- und jede von ihnen hat sozialwissenschaftliche For-
suchen, das Handeln ihrer Mitglieder von dort aus zu schung auf sich gezogen. Die Frage ist freilich, wie sie
rationalisieren. In solchen zweckspezifisch struktu- in die Theorie eingehen. Auf diese Frage sucht das
rierten Systemen gilt ein Handeln als richtig, wenn es Buch von Niklas Luhmann eine neuartige Antwort,
den einmal angenommenen Systemzweck unter Be- indem es zunächst die klassische Theorie der Orga-
achtung gewisser Nebenbedingungen befördert, und nisation kritisch rekonstruiert, und zwar anhand der
es muss mit Rückfragen oder Kritik rechnen, wenn Unterscheidung zwischen Handlung und Hand-
dies nicht der Fall ist. lungssystem, um sodann eine alternative Theorie zu
In großen Organisationen wird der Zweck außer- skizzieren, die Schwächen der älteren Auffassung ver-
dem genutzt, um die strukturelle Differenzierung des meidet. Deren eigentlichen Fehler sieht Luhmann
Systems, also die Einrichtung von Untersystemen an- darin, dass sie von handlungstheoretischen Begrif-
zuleiten. Dazu wird der Zweck gedanklich in Mittel fen, nämlich von der Unterscheidung zwischen Zwe-
zerlegt, die zu seiner Erreichung kombiniert werden cken und Mitteln, einen systemtheoretischen Ge-
müssen, und jeder Abteilung der Organisation wird brauch gemacht hatte, ohne die Komplexitätsdiffe-
eines dieser Mittel in der Form eines verselbständig- renz zwischen der Einzelhandlung und ihrem System
ten Unterzwecks aufgetragen. Auf dieser Ebene kann zu würdigen (ZuS, 7 ff.). Die hier versuchte Darstel-
man also jeder Organisation mehrere Zwecke zuord- lung von Zweckbegriff und Systemrationalität (für ei-
nen, von denen aber angenommen wird, dass sie nen Aufsatz mit ähnlicher Thematik vgl. auch
nicht nur zum Gesamtzweck, sondern eben deshalb Luhmann 1971) konzentriert sich auf diesen Punkt,
auch untereinander in einem harmonischen Verhält- weil er nach meinem Verständnis des Buches der tra-
nis, in einer Beziehung sinnvoller Fortsetzung und gende ist.
Ergänzung stehen: Zwischen Planung, Herstellung
und Vertrieb sollte es keine unüberwindlichen Mei-
nungsverschiedenheiten geben, da es ja um Planung, Die Komplexitätsdifferenz von Handlung
Herstellung und Vertrieb desselben Produkts geht. und System
Wie wir noch sehen werden, ist es Luhmann zufolge
vor allem diese Prämisse, die man negieren muss, Gegen ein naheliegendes Missverständnis der Unter-
und zwar nicht nur mit Blick auf die faktischen scheidung von Handlung und System muss man sich
Frontlinien innerorganisatorischer Konflikte, son- zunächst klarmachen, dass Luhmann sie anders,
dern auch im Interesse an Systemrationalität. nämlich präziser verwendet als in der Soziologie üb-
Schließlich dient der Zweck auch dazu, das System lich. Dort verschmilzt diese Unterscheidung regel-
seiner Umwelt anzupassen, und zwar in der Regel ei- mäßig mit der zwischen personalen und sozialen
ner Umwelt von Nichtmitgliedern, die die im Zweck Einheiten: So gilt eine Erklärungsstrategie als ›hand-
bezeichnete Leistung schätzen und darum bereit lungstheoretisch‹, wenn sie bei den Individuen an-
sind, für ihren Empfang oder für ihre Bereitstellung setzt und diesen eine maßgebliche Bedeutung für das
zugunsten bzw. zulasten Dritter zu zahlen. Solche Verständnis sozialer Sachverhalte zuschreibt. Luh-
Tauschbeziehungen führen der Organisation diejeni- mann dagegen nimmt an, dass es eine Differenz zwi-
gen Finanzmittel zu, mit denen sie auch das persön- schen System und (systemeigener) Handlung gibt,
liche Interesse ihrer Mitglieder ansprechen und die sich an allen Systemen beobachten lässt, die Sinn-
binden kann. Deren Interesse an Erwerb und Erhalt beziehungen zwischen mehreren Handlungen ord-
der Systemmitgliedschaft wird dann durch regelmä- nen müssen, also auch an den Individuen selbst. So
ßige Geldzahlungen statt durch den Zweck selbst verstanden, bezeichnet die Differenz von System und
motiviert, und diese Abstraktheit der Interessenlage Handlung (oder mit einer anderen Formulierung:
136 Werke und Werkgruppen

von System und Entscheidung) nicht mehr verschie- teiligten, sondern auch durch ihre ungehemmte Ge-
denartige Systemtypen, die man gegeneinander aus- meinwohlorientierung ausgelöst werden. Die ge-
spielen könnte – so wie Individuum und Kollektiv. meinsame Orientierung der Handelnden reicht nicht
Sie wird vielmehr als Sonderfall der allgemeinen Un- aus, den Streit unter ihnen oder die wechselseitige
terscheidung von System und Systemelement einge- Behinderung ihrer Handlungen auszuschließen, und
führt und muss in dieser Form immer berücksichtigt zwar deshalb nicht, weil der einheitliche Bezugs-
werden, wenn man überhaupt ein Handlungssystem punkt dieser Orientierung dafür als System zu kom-
(oder Entscheidungssystem) analysieren will. Sie plex ist.
muss also auch dann verwendet werden, wenn man Soziale Systeme, die dieses Schicksal vermeiden
nur eine einzige Sorte solcher Systeme vor Augen hat. wollen, müssen die Handlungen nicht an der eigenen
In diesem Sinne bezieht sich das Buch von Luh- Komplexität, sondern an einer enger gefassten Sys-
mann ausschließlich auf soziale Systeme und insbe- temstruktur orientieren, die nur noch vergleichswei-
sondere auf Organisationen. Entsprechend sind die se wenige Handlungen zulässt, diese dafür aber mit
Handlungen, um die es ihm geht, Handlungen in der praktisch ausreichender Eindeutigkeit als richtig zu
Organisation. Die Frage nach den Beziehungen des qualifizieren und ohne unlösbare Konflikte mitei-
Sozialsystems zu den Individuen, die diese Handlun- nander zu kombinieren vermag. Diese Sicherheit ge-
gen durchführen sollen und also dazu motiviert wer- bende Leistung der Struktur wird freilich erkauft
den müssen, sich gleichsam als Agenten der Organi- durch das Risiko, dass sie systemeigenen Möglichkei-
sation zu verhalten, gehört nicht zu den Themen ten nur selektiv gerecht werden: Unter den ausge-
dieses Buches – auch wenn sie in einem Rückblick auf schiedenen Handlungen mag gerade die sein, die in
Theorien der Beitragsmotivation einmal berührt einer konkreten Situation voll adäquat wäre – in wel-
wird (ZuS, 128 ff.). Sie sind vielmehr Gegenstand ei- chem Falle, der keineswegs selten ist, dem System nur
ner zweiten, um wenige Jahre älteren Schrift (FuF unter Bruch seiner eigenen Regeln zu helfen ist. In-
1964). Wenn in Zweckbegriff und Systemrationalität sofern beruht jede als bindend angenommene Richt-
von Individuen die Rede ist, dann im Sinne eines in- linie für Handlungen, jede Maxime zu ihrer Bestim-
struktiven Vergleichsfalls: ebenfalls Handlungssyste- mung, jede Struktur eines Handlungssystems auf
me, kommen die Individuen in ihrem privaten Leben einer Täuschung, nämlich auf einer notwendigen
ohne irgendwelche Dauerbindungen an spezifische Selbsttäuschung des Handlungssystems über seine
Zwecke aus und legen so die Frage nahe, wie funktio- eigene Komplexität. Diese Einsicht bezeichnet für
nale Äquivalente zu den Zweckbindungen der Orga- Luhmann den Punkt, an dem alle handlungstheore-
nisationswelt aussehen könnten (s. u.). tischen Begriffe systemtheoretisch inadäquat wer-
Worauf aber bezieht sich die Formel von der Kom- den, und bildet damit die Grundlage sowohl für die
plexitätsdifferenz zwischen Handlung und System? Kritik, die er an der Auffassung von der Organisation
Die dieser Formel entsprechende Einsicht besagt: als Zweckverband übt, als auch für seinen Gegenent-
Komplexe Systeme eignen sich nicht als praktisches wurf.
Kriterium für die Wahl oder Beurteilung einer Hand- Denn auch Zwecke sind ja Systemstrukturen, die
lung. Man kann also nicht einfach ›im Sinne des Sys- ihre orientierende Funktion für die Auswahl und Ab-
tems‹ handeln, und entsprechend ist auch ›Systemer- stimmung von Handlungen nur erfüllen können,
haltung‹ kein möglicher Zweck. Denn infolge ihrer wenn sie von voller Berücksichtung der systemeige-
Komplexität gibt es in diesen Systemen immer sehr nen Möglichkeiten absehen. Zwecke sind nur dann
viel mehr Handlungen, die ›dem System dienen‹, als gut gewählt, wenn sie in relativ einfach strukturierten
miteinander vereinbar wären. Das gilt insbesondere Wahlsituationen etwas Bestimmtes besagen. Sie
dann, wenn sämtliche Arten von Systemdienlichkeit müssen also auf die geringe Komplexität solcher
– die direkte und die indirekte, die kurzfristige und Wahlsituationen (und letztlich: des wählenden Be-
die langfristige, die manifeste und die latente – glei- wusstseins bzw. der wählenden Kommunikation)
chermaßen zugelassen und möglich sind. Eine in die- eingestellt sein. Eben deshalb können sie die sehr viel
sem Sinne unmittelbare Systemorientierung würde höhere Komplexität der Organisation und ihrer Um-
den Handelnden daher in Widersprüche zu sich weltbeziehungen nicht einfach ›realistisch‹ wieder-
selbst verstricken oder zu Dauerkonflikten unter geben, sondern müssen sie reduzieren. In ihren
mehreren Handelnden führen. In komplexen Sozial- Zwecken und Unterzwecken ist die Organisation sich
systemen kann der Kampf aller gegen alle nämlich also nur teilweise zugänglich. Nicht der Inbegriff aller
nicht nur durch den ungehemmten Egoismus der Be- Systeminteressen, sondern nur eine Auswahl daraus
Zweckbegriff und Systemrationalität (1968) 137

lässt sich in einer Zweckformel einfangen, immer vo- scheidet es sich auch je nach dem Funktionskontext,
rausgesetzt, dass diese Formel handlungsnah und so in dem die Organisation agiert, und je nachdem, um
formuliert werden soll, dass beliebiges Handeln aus- welche Organisation es sich handelt. Aber es umfasst
geschlossen ist und etwaige Fehler erkennbar wer- doch in jedem Fall mehrere Werte, und auch gewinn-
den. orientiert arbeitende Produktionsbetriebe sind in
Wenn das aber so ist, dann sind Handlungszwecke diesem schwachen Sinne wertpluralistisch einge-
schon ihrer bloßen Form nach ganz ungeeignet, ei- stellt. Die dem entsprechenden Wertelisten bilden,
nen Aufschluss über die Einheit einer Organisation und zwar gerade dann, wenn die verschiedenen Wer-
oder sonst eines Systems zu geben. Dies vor allem te einfach nur nebeneinander stehen und jede tran-
spricht Luhmann zufolge gegen die Vorstellung, die sitive Rangordnung fehlt, einen bereits vereinfach-
Organisation sei Zweckverband. Wer ihr folgt, müss- ten, aber in seiner eigenen Komplexität und Wider-
te Handlungen, die dem Organisationszweck scha- sprüchlichkeit immer noch adäquaten Ausdruck der
den, und ebenso Handlungen, die von ihm aus Bestandsbedingungen des Systems. Sie kommen da-
neutral sind, aber organisationsinterne Kosten reprä- her einer systemtheoretischen, auf hohe Komplexität
sentieren, aus jener Einheit ausnehmen, ohne auch eingestellten Sicht der Dinge entgegen.
nur fragen zu können, ob nicht das unzweckmäßige Der komplementäre Nachteil liegt darin, dass ein
oder zweckschädliche Handeln, obwohl an der Zitieren der Systemwerte für die Bestimmungen kon-
Struktur gemessen ein Fehler, eine gleichwohl positi- kreter Handlungen wenig besagen würde. Achtet
ve Funktion im System trägt. Er könnte die unver- man nämlich unbefangen (und ohne sich den eigen-
meidliche Spannung zwischen Systemeinheit und tümlichen Sichtbeschränkungen eines Zweckes zu
Systemstruktur nur verdrängen, nicht austragen, fügen) auf die Folgen des Handelns, dann führt kein
und müsste darum alle strukturwidrigen Handlun- Weg an der Feststellung vorbei, dass diese Folgen im-
gen den privaten Motiven der beteiligten Personen, mer mehrere untereinander inkommensurable Sys-
also einer organisationsexternen Größe zur Last le- temwerte berühren, und zwar die einen positiv,
gen. Für eine Soziologie, die daran gewöhnt ist, nach indem sie sie fördern, die anderen negativ. Vergliche
den negativen Funktionen der Konformität ebenso man sie einfach nur mit ›den Systemwerten‹, dann
zu fragen wie nach den positiven der Abweichung, ist wäre jede Handlung zugleich richtig und falsch. Der
das keine tragfähige Grundlage. Daraus ergibt sich Preis für die hohe Komplexität und Systemadäquität
das Desiderat einer soziologischen Theorie, die auch dieser Orientierung an Werten liegt also darin, alles
den Bereich des vom Zweck her Unzugänglichen auf- Handeln in Tragik zu tauchen und alle Handelnden
schließen – und in ihren eigenen Begriff der Organi- zu verunsichern. Offensichtlich können die Werte ei-
sation einschließen kann. nes Systems die Wahl seiner Handlungen nicht anlei-
ten, nicht erwartbar machen, nicht rechtfertigen.
Diese Leistung muss vielmehr durch zusätzliche Ein-
Die Differenz von systemeigenen Werten schränkungen erbracht werden.
und Zwecken Vor diesem Hintergrund besteht die Funktion der
Zwecksetzung darin, positive und negative Wert-
Als rationales Modell einer solchen Theorie bietet aspekte der Folgen verschiedener Handlungen ver-
Luhmann die Differenz zwischen systemeigenen gleichbar und damit entscheidbar zu machen. Nach
Werten und systemeigenen Zwecken an (ZuS, 33 ff.). dieser Vereinfachung kann man sich vorstellen, dass
Unter den systemeigenen Werten mag man diejenige eine Handlung entweder überwiegend positive oder
Auswahl aus gesamtgesellschaftlichen Werten wie überwiegend negative Aspekte aufweist und dass sie
Rechtstreue oder Sparsamkeit, Gewinnmaximierung demgemäß entweder richtig oder falsch ist, nicht
oder Frauengleichstellung verstehen, zu denen man aber beides zugleich. Man muss sich immer erneut
sich innerhalb der Organisation jederzeit gefahrlos klarmachen, dass der Hinweis auf die Komplexität
bekennen kann, weil offensichtlich ist, dass das Sys- des Systems, und so auch der Hinweis auf die kom-
tem diese Werte nicht schlechthin negieren oder plexe Betroffenheit systemeigener Werte durch die
missachten kann, ohne sich ernsthafte Probleme, Folgen systemeigener Handlungen bei Luhmann vor
etwa in Umweltbeziehungen, einzuhandeln. Das allem dazu dient, diese scheinbar selbstverständliche
Werteberücksichtigungspotential einer Organisation Annahme eines tragikfreien (oder nach der späteren
ist deutlich geringer (und insofern: handlungsgüns- Formulierung: eines paradoxiefreien) Handelns zu
tiger) als das der Gesellschaft, und natürlich unter- problematisieren.
138 Werke und Werkgruppen

Von den Systemwerten her gesehen, stehen ver- Ausgleich dafür kann das Paar nach bestandener Prü-
schiedene Handlungen für verschiedene Folgenkom- fung eine gemeinsame Reise unternehmen, bei der
plexe, die unvergleichbar sind. Auch Zwecke können Fachbücher im Koffer verboten sind. Von Personen
ihre Vergleichbarkeit nur dadurch garantieren, dass wird die symbolische Einheit von Handlungszweck
sie den Werthorizont scharf einschränken. Der und Handlungssystem also gerade vermieden, und
Zweck konzentriert die wertende Analyse auf einige entsprechend müssten die meisten unter ihnen wohl
wenige Handlungsfolgen. Die Wertimplikationen al- passen, wenn man sie nach ›ihrem Zweck‹ im Singu-
ler anderen Handlungsfolgen können mehr oder lar fragen würde.
minder unberücksichtigt bleiben. Entweder werden Eine Organisation, die alle ihre Mitglieder lang-
sie externalisiert, also der Umwelt zugemutet; oder fristig auf einen einzigen Zweck oder auf eine einzige
sie tauchen als internalisierte Kosten der Mittel im Gruppe von Zwecken zu verpflichten versucht, um so
System selbst auf, werden dann aber um des Zweckes ihre Kooperation miteinander zu strukturieren und
willen in Kauf genommen. Die Gleichheit der Hand- Leistungserwartungen ihrer Umwelt zu binden, ver-
lungen bezieht sich ausschließlich auf ihr Verhältnis zichtet auf diese elastische Strategie des Alltags. Sie
zu den bezweckten Folgen, und sie besteht nur, wenn kann daher das Risiko jeder Zwecksetzung – nämlich
man von den Wertaspekten anderer Folgen absieht. eine im Verhältnis zur Systemumwelt zu starke Limi-
Unter den dadurch ausgeblendeten Folgen kön- tierung ihres Werteberücksichtigungspotentials –
nen aber durchaus solche sein, die anderen System- nur tragbar machen, wenn sie funktionale Äquivalen-
werten als den im Zweck fixierten schaden. Für te für den Opportunismus der Lebenswelt findet.
komplexe, vielseitig interessierte Systeme muss man Die naheliegende Ersatzlösung, die in der Ver-
es geradezu als den Normalfall ansehen, dass um der pflichtung auf eine zugleich transitive und zeitab-
Vereinfachung willen ein Zweck akzeptiert wird, der strakt geltende Ordnung zwischen verschiedenen
zahlreiche Wertgesichtspunkte ausblendet, über die Werten besteht, scheidet aus. Sie könnte zwar Ent-
sich ein komplexes Handlungssystem nicht dauer- scheidungsregeln für jeden nur denkbaren Wertkon-
haft und nicht konsistent hinwegsetzen kann. Zu den flikt garantieren, aber nur um den Preis eines
Problemen jeder Zwecksetzung gehört mithin ihre vollständigen Verzichts auf Anpassungsfähigkeit an
gewagte Einseitigkeit. Sie passt zwar zur geringen unvorhersehbar wechselnde Situationen. Eine feste
Komplexität der Einzelhandlung, wird aber der viel Rangordnung unter den Werten A, B und C müsste
höheren Komplexität des Systems und seiner Um- sich ganz unabhängig von Erfüllungstand und Be-
weltbeziehungen nicht gerecht. Was gut ist für die friedigungschance dieser Einzelwerte durchhalten
Einzelhandlung, kann schlecht sein für das System, lassen. Eine derart starre Ordnung wäre aber nur für
und eben deshalb können Zwecke nicht in beiden Systeme in überraschungsfreien Umwelten, nicht
Perspektiven zugleich überzeugen, eben deshalb las- aber für Organisationen empfehlenswert.
sen sie sich nicht aus der Handlungstheorie in die Ein weiteres Äquivalent, nämlich die Geldrech-
Systemtheorie übertragen. nung (ZuS, 109 ff.), teilt mit dem Transitivitätsprin-
zip das Merkmal, mehrere Werte berücksichtigen zu
können, sofern sie sich nämlich in Preisen ausdrü-
Opportunismus und funktionale Äquivalente cken lassen, und gleichwohl anpassungsfähig zu blei-
ben, nämlich Preisänderungen folgen zu können.
Im organisationsfernen Alltag der Individuen wird Hier liegt das Problem darin, dass nur quantitative,
dieses Problem durch Opportunismus gelöst: Man nicht aber qualitative Differenzen zwischen den Wer-
verfolgt einmal diesen und dann wieder einen ande- ten beachtet werden. Arbeitskosten und Maschinen-
ren Zweck je nachdem, welches Bedürfnis gerade als kosten werden gegeneinander verrechnet, obwohl
besonders vordringlich erscheint (ZuS, 47 f.). Das Menschen in einem ganz anderen Sinne arbeiten als
Werteberücksichtigungspotential wird durch Aus- Maschinen. Immerhin sind die Chancen, diese Ori-
weichen in die Zeitdimension erhöht. Künftige entierung auch auf Systemebene zu verwenden, bes-
Handlungen, die geänderten Zwecken dienen, kön- ser als im Falle der Transitivität. Auch sie kann
nen den Wert fördern, über den gegenwärtige Zwe- freilich nur in einem durch Zwecksetzung bereits ver-
cke sich hinwegsetzen: Die konzentrierte Arbeit an einfachten Folgenhorizont praktiziert werden.
einer akademischen Qualifikationsschrift geht auf Luhmann kombiniert daher systemtheoretische
Kosten einer Liebesbeziehung, die der Arbeitende mit entscheidungstheoretischen Denkmitteln, um
neben seiner Karriere ebenfalls schätzt, aber zum nach weiteren Äquivalenten zu suchen. Dadurch ent-
Zweckbegriff und Systemrationalität (1968) 139

steht eine Perspektive, die vor allem die scheinbaren immer ein Theoriekombinat. So kombiniert seine
Pathologien der Organisation in veränderter Be- Gesellschaftstheorie, wie allseits bekannt, drei Theo-
leuchtung erscheinen lässt. Häufig wird zum Beispiel rien, die nach Maßgabe der Sinndimensionen unter-
darüber geklagt, dass nach Zerlegung des Gesamt- schieden werden, und ordnet die Systemtheorie der
zweckes in Unterzwecke Konflikte zwischen den da- Sachdimension zu. Die soziologische Organisations-
rauf angesetzten Abteilungen der Organisation auf- theorie, die in dem hier zu referierenden Buch vorge-
treten. Schon Herbert Simon hatte dies auf unver- stellt wird, unterscheidet die von ihr kombinierten
meidliche Wertwidersprüche zurückgeführt. Für Teiltheorien dagegen nach der Komplexität ihrer Ge-
Luhmann sind solche Konflikte im Prinzip sogar be- genstände. Sie ordnet der Systemtheorie einen Ge-
grüßenswert. Sie sprengen die evaluative Scheinhar- genstand von hoher Komplexität, der komplementär
monie des ›einen Zweckes‹ und machen einen Teil angelegten Handlungs- bzw. Entscheidungstheorie
der ursprünglichen Wertkomplexität innerhalb des dagegen einen Gegenstand von geringer Komplexität
Systems wieder zugänglich. Ein wichtiges Äquivalent zu. Mit den Ausführungen über Werte und Zwecke
für den Opportunismus liegt für zweckspezifisch ist die Pointe dieser Theoriedifferenzierung bereits
strukturierte Systeme also in der Systemdifferenzie- angedeutet: Sie liegt darin, dass beide Theorien auf
rung durch Zweckzerlegung. Der Umstand, dass die denselben Typ von System angesetzt werden, näm-
Sprecher der Teilzwecke auch den Gesamtzweck der lich auf formal organisierte Sozialsysteme.
Organisation in einer je eigenen Optik erfassen, Um das Innovative an dieser Theoriekombinato-
bringt die Kritik an dessen Einseitigkeit in die Reich- rik zu erkennen, die übrigens bis heute nicht einmal
weite systemeigener Prozesse der Konfliktentschei- ansatzweise rezipiert wurde, hilft ein kurzer Blick in
dung. Die »Kritik der instrumentellen Vernunft« die Wissenschaftsgeschichte. Die Vorstellung, dass
muss dann nicht Außenstehenden überlassen wer- man je nach Komplexitätsgrad des zu erforschenden
den, sondern kann im System selbst artikuliert wer- Gegenstandes andere Arten von wissenschaftlicher
den. Und erst diese Artikulation erfüllt den Begriff Theorie benötigt, wurde im 19. Jahrhundert verwen-
der Systemrationalität (ZuS, 276 ff.). Eine ähnliche det, um Typdifferenzen zwischen verschiedenen
Funktion kann – mit einer anderen Konstellation von Wissenschaften in Komplexitätsdifferenzen ihrer je-
Folgeproblemen – auch durch Widersprüchlichkeit weiligen Gegenstände rückzuversichern. Biologen
oder Unbestimmtheit der Zwecksetzung, aber bei- brauchen demnach nicht nur andere Theorien, sie
spielsweise auch durch Systemkrisen erfüllt werden. brauchen andere Sorten von Theorien als Physiker,
und zwar deshalb, weil lebende Systeme komplexer
sind als physische Systeme. Nach dieser Auffassung,
Soziologische Anschlüsse die von Comte bis Elias auch für die Soziologie und
für die von ihr erforschten Sozialsysteme vertreten
Luhmanns Buch kombiniert eine schon rationali- wurde, wird der Wechsel des Theorietyps nur bei ei-
tätsskeptisch gewordene Entscheidungstheorie vom nem Wechsel des Systemtyps erforderlich. Die Tren-
Typus Herbert Simon mit dem seinerzeit fortge- nung der Theorien durch logische Diskontinuität
schrittensten Stand einer umweltbezogen argumen- entspricht also der Disziplinendifferenzierung. In-
tierenden Systemtheorie. Es ist darin ohne Nachfolge nerhalb einer Disziplin sind logische Kontinuität
geblieben. Eine niveaugleiche Alternative zeichnet und theoretische Einheit vorgesehen. Auch die übli-
sich erst mit dem neuerlichen Paradigmawechsel in chen Emergenzthesen, die ja nur das Sachkorrelat
der Systemtheorie selbst ab, also erst mit dem Begriff dieser logischen Diskontinuität im Gegenstandsbe-
der operativen Geschlossenheit. Dessen Implikatio- reich sind, trennen nur zwischen physischen und le-
nen für den Rationalitätsbegriff sind freilich noch benden, psychischen und sozialen Systemen. Schwel-
längst nicht geklärt. len und Diskontinuitäten innerhalb desselben Sys-
Zum Schluss dieser knappen Übersicht soll noch temtyps oder gar Brüche und Unableitbarkeiten
eine Bemerkung zur Theorieform ergänzt werden. innerhalb des Einzelsystems sind bei dieser Lage der
Luhmann hat seine Systemtheorie eigentlich stets als Dinge nicht vorgesehen. Noch heute wird die sozio-
eine von mehreren Theorien behandelt und dabei logische Diskussion über Emergenz unter diesen ver-
immer auch selber an den jeweiligen Komplementär- gleichsweise einfachen Prämissen geführt.
theorien gearbeitet. Theoriedifferenzierung heißt Auch dies könnte ein Grund sein, ein insgesamt
dabei vor allem: logische Diskontinuität. Was man wenig diskutiertes Buch (Mayntz 1971; Obermeyer
›seine Theorie‹ im Singular nennt, das ist insofern 1988; Stichweh 1990), das an diesem Punkt anders
140 Werke und Werkgruppen

optiert, nicht einfach der Fachgeschichte zu überlas- 3. Vertrauen. Ein Mechanismus


sen: Organisationen werden, so wie Sinnsysteme
schlechthin, zugleich als Gegenstände von hoher und
der Reduktion sozialer Kom-
als Gegenstände von geringer Komplexität begriffen. plexität (1968)
Damit steht man vor der Frage, wie man sich die Ein-
heit oder den Zusammenhang von hoher und gerin- Es gibt Bücher von Niklas Luhmann, die soziologisch
ger, von unbestimmter und von bestimmter Komple- naheliegende Themen aufgreifen, und es gibt andere
xität eigentlich vorzustellen habe. Wie kann eine Publikationen, mit denen er auf aktuelle Interessen
Organisation zugleich von geringerer bzw. von höhe- einer breiteren Öffentlichkeit reagiert. Das Buch über
rer Komplexität sein als sie selbst? Es ist diese Diffe- Vertrauen, das erstmals im Jahr 1968 erschien, gehört
renz, die eine Differenz des Sozialsystems zu sich in keine der beiden Rubriken. Wäre der Text damals
selbst bezeichnet, auf die sich die Unterscheidung nicht publiziert worden, so hätte ihn wohl niemand
von Handlung und System bei Luhmann bezieht. vermisst: weder in der Soziologie, die das Vertrauens-
thema erst später entdecken wird, noch in der Welt
der Massenmedien, in der man seinerzeit andere Fra-
Literatur gen vordringlich fand. Man darf daher annehmen,
Luhmann, Niklas: »Zweck – Herrschaft – System: Grundbe- dass die Themenwahl in erster Linie theorieimma-
griffe und Prämissen Max Webers«. In: Ders.: Politische nent motiviert war.
Planung. Opladen 1971, 90–113. Das Buch beginnt mit sehr allgemein gehaltenen
Mayntz, Renate: »Besprechung von: Niklas Luhmann, Überlegungen, die, wie für Luhmann in dieser Zeit
Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion
von Zwecken in sozialen Systemen, Tübingen 1968«. In: typisch, phänomenologische mit systemtheoreti-
Schmollers Jahrbuch 91. Jg., 1 (1971), 57–63. schen Denkmitteln zusammenfügen. Gegen den ob-
Obermeier, Otto-Peter: Zweck – Funktion – System. Kri- jektiven Zeitbegriff der neuzeitlichen Wissenschaf-
tisch konstruktive Untersuchung zu Niklas Luhmanns ten, der sich auf Mengen datierter Ereignisse bezieht,
Theoriekonzeptionen. Freiburg 1988. macht Luhmann geltend, dass die von dort aus gese-
Stichweh, Rudolf: »Besprechung von: Otto-Peter Obermei-
er, Zweck – Funktion – System«. In: Soziologische Revue
hen nur subjektive Einstufung dieser Ereignisse als
13. Jg. (1990), 174–176. künftig bzw. gegenwärtig bzw. vergangen im Bezug-
André Kieserling rahmen einer soziologischen Theorie nicht einfach
ausgeblendet oder neutralisiert werden darf. Für die
Ordnung sozialer Kontakte seien diese Zeitmodi
nämlich keineswegs als symmetrisch anzusehen;
vielmehr gebe es eine Sonderstellung der sinnkonsti-
tuierenden Gegenwart, in der allein kommuniziert
werden kann, gegenüber der Vergangenheit und ge-
genüber der Zukunft, die beide nur als Horizonte
dieser beständigen, wenn auch ereignisabhängig sich
bewegenden Gegenwart zählten.
Diesen Analysen entnimmt Luhmann (V, 8 ff.) die
These, dass der Zeitbezug des Vertrauens nur aufge-
klärt werden kann, wenn man es als Vergegenwärti-
gung einer offen bleibenden Zukunft begreift.
Vertrauen beruht nicht darauf, dass das künftige
Handeln anderer Menschen jetzt schon ganz sicher
wäre. Es setzt keine effektive Verhaltenskontrolle vo-
raus. Die Freiheit des anderen Menschen wird also
nicht negiert, indem ich ihm vertraue. Ihre beunru-
higenden Aspekte nehmen nur eine Form an, die es
erleichtert, sich ihnen in der Gegenwart zu stellen.
Begriffe wie ›Symbol‹, ›Generalisierung‹, ›Erwar-
tung‹, die alle den Sinn einer ›Appräsentation‹ (Hus-
serl) von etwas nicht voll Gegenwärtigem haben, sind
Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (1968) 141

daher auch für die Theorie des Vertrauens von tra- dem. Vertrauen und Misstrauen hängen also in der
gender Bedeutung. Form einer Alternative miteinander zusammen, und
zwar nicht nur im Augenblick der Entscheidung,
sondern dauerhaft und so, dass auch das einmal er-
Der Umgang mit Enttäuschungsgefahren wiesene Vertrauen sich den Umschlag in Misstrauen
vorbehält und sich mit kritischen Sensibilitäten für
Von solchen Prämissen ausgehend, behandelt das diesen Ernstfall umgibt (78 ff.). Vertrauen kann zu
Buch dann schwerpunktmäßig ein Thema, nämlich Misstrauen werden, und das weiß und berücksichtigt
die Gewähr und den Gewinn persönlichen Vertrauens auch der, dem es gilt.
(V, 40 ff.), und zwar unter Abgrenzung gegen zwei Ganz abstrakt gesehen, bezieht sich der Begriff des
andere Tatbestände: gegen die lokale Vertrautheit mit persönlichen Vertrauens auf Lagen, in denen die all-
gewissen Dingen, Menschen, typischen Situationen gemeinen Vorteile einer sozialen Ordnung, nämlich
(17 ff.), und gegen das mehr oder minder unaus- die Erweiterung des Bereichs erwartbarer Handlun-
weichliche Systemvertrauen in die anonymen Institu- gen, nur dadurch zustande kommen können, dass ei-
tionenkomplexe der Wirtschaft, der Wissenschaft ner der Beteiligten sich mit eigenem Handeln
und der Politik sowie in die sie fundierenden Kom- vorwagt, auch wenn er noch nicht weiß, wie der an-
munikationsmedien des Geldes, der Wahrheit, der dere darauf reagieren wird. Situationen dieser Art
Macht (50 ff.). In allen drei Fällen verlässt man sich fallen massenhaft an, und noch die trivialste Bitte um
auf Verhaltenserwartungen, die letztlich nur von für- etwas Nichtselbstverständliches wäre ein Beispiel da-
einander unberechenbaren Menschen erfüllt – und für. Zu einem besonderen Vertrauensproblem
die eben darum auch in jedem Fall enttäuscht werden kommt es nur dort, wo jene erste Festlegung beson-
können. Der Unterschied liegt zum einen in der Fra- ders riskant ist, zum Beispiel weil sie einer unvertrau-
ge, ob man sich den projektiven Charakter der Er- ten Person gegenüber erfolgt und diese zugleich in
wartung bewusst macht, die Enttäuschungsgefahr die Lage versetzt, nicht nur wenig hilfreich zu sein,
also überhaupt sieht und nicht vielmehr verdrängt, sondern übergroßen Schaden anzurichten (23 ff.).
und er liegt zum anderen darin, ob man diese Gefahr Übergroß ist ein Schaden immer dann, wenn er nicht
auch als Risiko, nämlich auch als Folge einer eigenen einfach zu den notwendigen Unkosten gezählt wer-
Entscheidung erlebt. Im Bereich der Vertrautheit den kann, sondern dazu zwingen würde, dass man
fehlt es schon an der Möglichkeit, die Erwartung von das eigene Engagement im Rückblick bereut. So ver-
ihrem Thema zu unterscheiden und sich ihre Subjek- hält es sich zum Beispiel, wenn man einmal nicht die
tivität bzw. Systemrelativität klarzumachen: Der ver- eigene Schwester, sondern einen Unbekannten da-
traute Mensch ist einfach so, wie man ihn kennenge- rum bittet, einen Abend lang auf das Kind aufzupas-
lernt hat. Im Bereich des Systemvertrauens sieht man sen – und ihn so erst dazu befähigt, richtig gefährlich
zusammen mit dem Erwartungscharakter einer Zu- zu werden. Oder wenn man im Zugabteil einen Mit-
kunftsprojektion auch die Enttäuschungsgefahren, reisenden fragt, ob er das eigene Gepäck beaufsichti-
hat aber keine Möglichkeit, ihnen durch eigenes Ent- gen kann – und ihn so darüber informiert, dass dies
scheiden auszuweichen. Man weiß zum Beispiel, dass der richtige Zeitpunkt für einen unbemerkt bleiben-
die Wirtschaft von periodischen Krisen und Geldent- den Diebstahl wäre. Oder wenn man einem Kollegen
wertungen heimgesucht wird, zieht aber nicht ernst- anvertraut, dass man den Vorgesetzten für hoff-
haft in Betracht, sein Leben von der Geldwirtschaft nungslos inkompetent hält – und ihm so die Gele-
abzukoppeln und kann daher auch die etwaige Be- genheit bietet, die Indiskretion zu begehen.
troffenheit von solchen Krisen nicht als Folge eigener Die Alternative zum Vertrauen wäre in all diesen
Entscheidungen, also nicht als Risiko, sondern nur Fällen, nur solche Möglichkeiten in Betracht zu zie-
als Gefahr sehen. hen, als deren Bedingung man selbst fungiert. Man
Nur im Bereich des persönlichen Vertrauens ist müsste sich dann mit einem dementsprechend enge-
das anders. Hier wird die Enttäuschungsgefahr als ren Handlungsradius abfinden: ohne Vertrauen in
Folge einer eigenen Entscheidung – und damit auch den Babysitter kein Kinoabend mit Freunden, ohne
Gegenstand möglicher Reue gesehen: Man sieht den Vertrauen in Mitreisende keine Möglichkeit, den
möglichen Sinn, nämlich die mögliche Schutzfunk- Speisewagen ohne Gepäck aufzusuchen, ohne Ver-
tion einer misstrauischen Einstellung gegenüber trauen in Kollegen keine Teilnahme an informaler
dem anderen Menschen – und vertraut ihm um der Kommunikation usw. Das ist die Strategie des Miss-
nur so zu erreichenden Vorteile willen dann trotz- trauischen, die Luhmann in einer doppelten Per-
142 Werke und Werkgruppen

spektive behandelt: einmal als individuelle Strategie siert natürlich auch das darin gelegene Risiko, und
mit stark projektiven Zügen (78 ff.) und danach auch genau das mag ein vertrauensvolles Engagement er-
als mögliches Thema einer sozialen Regulierung, die schweren.
dann etwa zu erhöhtem Misstrauen gegenüber Frem- Das führt zu der Frage, die vielleicht am direktes-
den oder Unbekannten rät (94 ff.) und nur unter be- ten mit dem Normthema zusammenhängt, nämlich
sonderen Vorkehrungen, wie sie etwa in Organisatio- auf welche Weise die Verteilung der rechtlich gesi-
nen gegeben sind, auch Misstrauen gegenüber den cherten Sanktionsmöglichkeiten die Vertrauensge-
›eigenen Leuten‹ zu legitimieren vermag. währ erleichtern kann (33 ff.). Es ist keine neue
Die Strategie des Vertrauens hat demgegenüber soziologische These, dass Vertrauen in Unbekannte
den Vorzug, den eigenen Handlungsradius zu erwei- leichter fällt, wenn man davon ausgehen kann, dass
tern, wenn auch nur unter Übernahme und Innen- dem anderen im Falle eines Vertrauensbruchs eine
absicherung eines Risikos (27 ff.). Mit Innenabsiche- harte Strafe droht. Die eigentlich interessante These
rung meint Luhmann, dass der Vertrauende sich auf besagt nun, dass ein solches Rechnen mit Sanktions-
eine subjektive Sicht des anderen festlegt, nämlich möglichkeiten dem expressiven Stil des Vertrauens
diesen für vertrauenswürdig hält, und dann die Risi- zuwider ist, und zwar einfach deswegen, weil es Miss-
ken dieser Optik an bestimmten objektiven Anhalts- trauen bezeugt. Die Annahme, der andere könne nur
punkten im Verhalten des anderen laufend kontrol- durch Sanktionen davon abgehalten werden, mich zu
liert. Kontrolliert wird also nicht die Vertrauensper- betrügen, kann ihm gegenüber nicht kommuniziert
son – wenn man das könnte, wäre Vertrauen werden, ohne ihn offen als Gegner zu definieren.
überflüssig bzw. mit Misstrauen identisch –, sondern Folglich wird eine solche Überlegung am besten still-
kontrolliert wird die eigene Einstellung zum ande- schweigend vollzogen. Hier liegt im Übrigen auch
ren, und dafür reicht es aus, die vertrauenskritischen eine Erklärung dafür, warum eine explizite Einigung
Aspekte seines Verhaltens einschätzen zu können. auf Verträge auch und gerade im Wirtschaftsleben
Eben wegen dieser symptomatischen Bedeutung vielfach vermieden wird (Macauley 1963). Der darin
können auch kleine Unebenheiten eine große sym- gelegene Vorgriff auf einen Rechtsstreit bringt die Be-
bolische Tragweite gewinnen – ein typischer Sachver- ziehung in ein vertrauensungünstiges Klima.
halt angesichts generalisierter Erwartungen.
Beziehungen, die auf persönlichem Vertrauen be-
ruhen, müssen ihren Halt an sich selbst finden. Sie Der selbsttragende Charakter des Vertrauens
können von der Gesellschaft nicht vorgeschrieben,
sondern allenfalls erleichtert werden. Das ergibt sich Einmal erwiesenes Vertrauen wirkt selbstverstär-
nicht zuletzt aus ihrer Funktion, den normativen Ap- kend. Es fällt schwer, es zu enttäuschen (V, 66 ff.). Das
parat der Gesellschaft zu entlasten. Luhmanns Di- ist nicht nur eine Folge der moralischen Missbilli-
stanz zu einer normativen Sicht auf das Vertrauens- gung. Es folgt vor allem aus der Überforderung, die
thema, so wie sie von Parsons her naheläge, wird an dann eintreten würde. Wer das in ihn gesetzte Ver-
verschiedenen Stellen deutlich. So wird der Einsatz trauen enttäuschen will, muss zwei Identitäten
des Vertrauenden nicht als Pflichterfüllung, sondern gleichzeitig kontrollieren: die Identität, auf die der
als ›supererogatorisches‹ Handeln gesehen, also als andere kontinuierlich, aber keineswegs unkritisch
eine Handlung, die normativ nicht erwartet werden vertraut, und die im Vertrauensbruch sich konstitu-
kann, wohl aber Achtung einträgt, wenn sie trotzdem ierende Identität. Das überfordert die normale Leis-
vorkommt. Dem Fehlen einer gesellschaftlichen Vor- tungsfähigkeit all derjenigen, die keine Ausbildung
zeichnung entspricht es, dass solche Beziehungen auf zum Geheimagenten durchlaufen haben und sich
dem bindenden Charakter gerade des frei gewählten keiner kompetenten Unterstützung ihres Doppelle-
Handelns beruhen. Sie setzen unerwartete Initiativen bens durch große Organisationen erfreuen. Leichter
voraus, die nach Themen- und Partnerwahl persön- fällt der Missbrauch erwiesenen Vertrauens, so die
lich zurechenbar sind – und die gerade deshalb auch These Luhmanns, wenn weitere Kontakte zum Betro-
den so Angesprochenen nicht einfach verpflichten genen vermieden werden können. Der Umstand,
können, sondern ihn nur zu eigenen Entscheidungen dass diese Bedingung beim Liebesbetrug am Ehe-
provozieren. Mehr als durch bloße Pflichterfüllung partner nicht erfüllt werden kann, macht Seiten-
kann man daher in solchen unverlangbaren Aktio- sprünge zu einer bekannt strapaziösen Angelegen-
nen als Individuum sichtbar werden. Das ist ein heit, die, wie Luhmann zu bedenken gibt, »selten
wichtiges Motiv für Vertrauen – aber es individuali- abgewogener Überlegung entspringen« (70).
Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (1968) 143

Nicht die untadelige Gesinnung, sondern die an- vermeintlich vertrauensfrei vorliegenden Tatbestand
dernfalls drohende Komplexitätsüberlastung lehrt auf etwas richtet, das selber schon durch Vertrauen
also die Treue zum vertrauenden Partner. Darin liegt konstituiert ist (72 ff.). So beruht das Vertrauen in
auch eine Erklärung dafür, warum stabile Vertrau- Geld, ohne dass es seinen Verwendern immer ganz
ensbeziehungen sehr wohl mit nur vorgetäuschter klar wäre oder sein müsste, letztlich nur darauf, dass
Vertrauenswürdigkeit anfangen können. Wer sie auch andere in Geld vertrauen – und nicht etwa auf
fortsetzen will, der muss auch jene zunächst nur fin- einer Deckung durch irgendwelche Sachäquivalente.
gierte Identität fortsetzen, und auch das fällt leichter, Aber nicht nur dem Vertrauen Dritter, sondern auch
wenn man die Wirklichkeit der Fiktion anpasst und dem Vertrauen, das der andere mir erweist, und nicht
zu demjenigen wird, der zu sein man vormals nur si- zuletzt meinem eigenen Vertrauen in einen anderen
muliert hatte. Am Schicksal des routinierten Verfüh- kann ich mit reflexivem Vertrauen begegnen – in die-
rers, der am Ende dann ernsthaft lieben muss, kennt sem letztgenannten Fall dadurch, dass ich mir klar-
man dieses Motiv auch aus der Romanliteratur. mache, dass mein Vertrauen den anderen nicht nur
Die konventionelle Ethik des Vertrauens (man sol- binden und verpflichten, sondern auch bessern kann
le nur dann vertrauen, wenn der andere es auch wirk- – und mir selbst dadurch ein weiteres Vertrauensmo-
lich verdient) gibt Luhmann so wieder: Man solle nur tiv verschaffen.
dann vertrauen, wenn es eigentlich nicht nötig ist. Einen ähnlichen Sachverhalt erläutert Luhmann
Das Problem sei aber nicht das gerechtfertigte Ver- an der Institution des durchschauenden Taktes. Takt
trauen, sondern das ungerechtfertigte, »das sich heißt ja zunächst, dass man die Selbstdarstellung des
selbst rechtfertigt und dadurch schöpferisch wird« anderen schont, auch wenn man ihre Bruchstellen
(86). Es geht also nicht um die in objektiven Merk- erkannt hat und bloßlegen könnte. Man weiß etwa,
malen des anderen bereits reduzierte Komplexität, dass der andere sich besser darstellt, als er ist, aber
die man nur zutreffend zu erkennen hätte, sondern man verzichtet darauf, den schönen Schein zu zerstö-
um eine Komplexitätsreduktion, die der sozialen Be- ren. Vielleicht möchte man einfach die Interaktion
ziehung als Eigenleistung zurechenbar ist. Der Um- ungestört fortsetzen, und als bloße Interaktionstech-
stand, dass erwiesenes Vertrauen erziehen, also seine nik wurde der Takt ja zunächst auch erfunden. Diese
Bezugspersonen verändern kann, ist für diesen ›kon- Art von Takt steht freilich, wie alles höfliche Verhal-
struktivistischen Effekt‹ des Vertrauens nur ein Bei- ten, unter dem Vorbehalt, dass ihr Adressat sie nicht
spiel neben anderen. ernst nehmen darf. Es ist aber auch möglich, sich zu
Solche Einsichten in den teilweise selbsttragenden überlegen, dass die idealisierende Selbstdarstellung
Charakter eines Vertrauens, das den Mangel an ob- den anderen dazu verpflichten wird, bei ihr zu blei-
jektiven Gründen durch eigene Leistungen kompen- ben, und damit gewinnt man ein zusätzliches Motiv,
siert, sind zunächst ein Stück soziologischer Theorie, sie zu schonen, das dann auch ernsthaft und mit Aus-
entwickelt für die Zwecke der Wissenschaft und also sicht auf Fortgeltung in anderen Situationen darge-
ohne Rücksicht darauf, ob man diese Theorie oder stellt werden kann.
ein ihr entsprechendes Sozialwissen auch den Betei- In reflexiven Einstellungen und Verhaltensmus-
ligten würde zumuten können, oder ob eine genauere tern dieses Typs, die freilich anspruchsvoll sind und
Kenntnis der Funktionsweise des Vertrauens es un- nicht in beliebigen Situationen erwartet werden kön-
tergraben würde. Ist nicht eine Ethik, die dem Han- nen, sieht Luhmann gewisse Anzeichen dafür, dass
delnden weismacht, es gäbe vertrauensunabhängig eine Art von postontologischem Vertrauen möglich
feststellbare Merkmale, die sein Vertrauen rechtferti- ist und auch bereits praktiziert wird, das den anderen
gen, gerade in ihrer eigentümlichen Schlichtheit ein Menschen schon von sich aus als System in einer Um-
seinerseits notwendiger Beitrag zum Reduktionsge- welt sieht, in der der Vertrauende seinerseits wieder
schehen, den eine komplexer ansetzende Theorie nur vorkommt, statt nur als Objekt mit bestimmten Ei-
beschreiben, aber nicht ersetzen kann? genschaften. Ein solches Vertrauen ist auch durch so-
ziologische Analysen nicht zu verunsichern.
Im vorletzten Kapitel vertritt Luhmann die These,
Das Reflexivwerden des Vertrauens dass dieses reflexive Vertrauen auch andere Grundla-
gen in den Personen voraussetzt, die es aufbringen
Um diese Frage zu beantworten, bildet Luhmann ei- sollen (85 ff.). An die Stelle einer unbeweglichen Ge-
nen Begriff für das Reflexivwerden des Vertrauen, fühlsbindung an den anderen, die den möglichen
also für den Sachverhalt, dass es sich statt auf einen Vertrauensbruch einfach verdrängt und darum über-
144 Werke und Werkgruppen

fordert wird, wenn es dazu kommt, tritt eine beweg- Friends: Interpersonal Relations and the Structure of
lichere Einstellung, die im Wesentlichen darauf Trust in Society. Cambridge 1984.
Gambetta, Diego (Hg.): Making and Breaking of Coopera-
beruht, dass man der eigenen Fähigkeit zur adaptiven
tive Relations. New York 1988.
Selbstdarstellung sowie der Bereitschaft der anderen, Giddens, Anthony: The Consequences of Modernity. Stan-
sie taktvoll zu interpretieren, vertraut – und zwar ford, CA 1990.
auch und gerade für den besonders kritischen Fall, Hartmann, Martin/Offe, Claus (Hg.): Vertrauen. Die
dass man irgendwann einmal als Opfer eines Ver- Grundlage des sozialen Zusammenhalts. Frankfurt a. M.
trauensbruchs dasteht. 2001.
Luhmann, Niklas: Trust and Power. Chichester 1979.
–: »Familiarity, Confidence, Trust: Problems and Alterna-
tives«. In: Gambetta 1988, 94–109.
Macauley, Steward: »Non-Contractual Relations in Busi-
Soziologische Anschlüsse ness«. In: American Sociological Review 28. Jg., 1 (1963),
55–67.
Eine soziologische Diskussion über Vertrauen, die André Kieserling
den Begriff nicht einfach mit Solidarität gleichsetzt –
so die Kritik von Luhmann (1988, 94) an Eisenstadt
(1984) –, kommt eigentlich erst zu Beginn der 1980er
Jahre in Gang. Zu diesem Zeitpunkt gibt es Luh-
manns Buch bereits in einer englischen Übersetzung
(vgl. Luhmann 1979), und Autoren wie Bernard Bar-
ber (1983), Diego Gambetta (1988), später sehr deut-
lich auch Anthony Giddens (1990) können darauf
verweisen. Der Sammelband von Hartmann und
Offe (2001) dokumentiert Teile dieses Sachstandes
für das deutsche Publikum. Das Buch gehört also zu
den wenigen Publikationen Luhmanns, die auch au-
ßerhalb des deutschen Sprachraums gelesen werden.
In der Werkgeschichte seines Autors bildet der
Text dagegen einen vergleichsweise isolierten Kom-
plex. Während andere Themen immer erneut behan-
delt werden, gibt es für das Vertrauensthema nur eine
ergiebige Stelle, die älter ist als das Vertrauensbuch
(FuF, 71 ff.), und nur wenige Einlassungen jüngeren
Datums. Die Sozialen Systeme (1984) resümieren die
Argumentation des Buches auf wenigen Seiten (SS,
179 ff.); ein wenige Jahre später publizierter Aufsatz
in englischer Sprache fügt den bekannten Thesen
über Systemvertrauen lediglich einige Überlegungen
hinzu, die sich bereits am Formenkalkül von George
Spencer-Brown orientieren (Luhmann 1988), und
das Buch über Risiko (SdR, 132 ff.) hält schließlich
fest, dass persönliches Vertrauen durch eine Perso-
nalunion von Entscheidungsrisiko und Betroffenheit
charakterisiert ist, während die eigentlichen Risiko-
themen ihre Brisanz dadurch haben, dass man sich
durch die riskanten Entscheidungen anderer betrof-
fen, nämlich gefährdet sieht.

Literatur
Barber, Bernard: The Logic and Limits of Trust. New Bruns-
wick, NJ 1983.
Eisenstadt, Shmuel N./Roniger, Luis: Patrons, Clients and
145

4. Legitimation durch Verfahren Gerichtsverfahren


(1969) Unter der Legitimation einer Entscheidung versteht
Luhmann ihre faktische Hinnahme, und zwar auch
Die Idee einer Legitimation durch Verfahren gehört durch diejenigen, die sich durch eigenes Handeln be-
in den liberalen, das alteuropäische Denken ablösen- reits auf die Erwartung des Gegenteils festgelegt hat-
den Vorstellungskreis. Ihren Grundgedanken mag ten. Wie man sich an der sozialen und biographi-
man in einem Tausch von allgemeinem Einfluss ge- schen Lage dessen klarmachen kann, der ein
gen Anerkennung sehen: Wenn man die Leute nur Gerichtsverfahren verloren hat, möglicherweise nach
anhört, ihre Wünsche ernstnimmt, ihre Stimmen jahrelangem Rechtsstreit, heißt ›Hinnahme‹ hier,
zählt, akzeptieren sie im Einzelfall auch Entscheidun- dass man in einem sehr anspruchsvollen Sinne zu ler-
gen, die ihnen nicht zusagen. Es geht also um eine nen bereit sein muss. Der Prozessverlierer kann nicht
Generalisierung der Motive des Entscheidungsemp- einfach dadurch lernen, dass er einem schon vorhan-
fängers, um eine Mobilisierung seiner Folgebereit- denen Wissensbestand etwas Neues hinzufügt, er
schaft gegenüber seinen handfesten Interessen. Grob muss vielmehr zusammen mit seiner Rechtsauffas-
mag man sich das in Analogie zu Sport und Gesell- sung auf mehr oder minder zentrale Aspekte einer
schaftsspiel vorstellen: der Bürger als guter Verlierer vor anderen bereits dargestellten Identität verzich-
eines fair ausgetragenen Wettkampfes. ten. Er muss, um es ganz deutlich zu sagen, ein ande-
Die hohe Affinität dieser Idee zu einer interessen- rer Mensch werden.
pluralistischen Gesellschaft liegt auf der Hand. In ei- Es gehört zum gesicherten Wissen der Soziologie,
ner solchen Gesellschaft ist es nämlich völlig normal, dass existentielle Lernprozesse dieses Typs durch so-
dass politische Entscheidungen differenzierte Inte- ziale Unterstützung wesentlich erleichtert werden
ressen ungleich treffen, also Gewinner und Verlierer können. Sie werden in diesem speziellen Fall zum
erzeugen. Ein Bedürfnis nach Möglichkeiten, Verlie- Beispiel dadurch erleichtert, dass unbeteiligte Dritte
rer zu beruhigen und zu befrieden, ist in einer sol- die geforderte Lernleistung als objektive Konsequenz
chen Gesellschaft strukturell angelegt, und Verfahren der richterlichen Entscheidung ansehen, sie also
sind eine Art, es zu erfüllen. nicht persönlich zurechnen und nicht als Ausdruck
Jener Zusammenhang zwischen Verfahrensbetei- von Feigheit oder Faulheit, Wankelmut oder Willens-
ligung und Folgebereitschaft war zunächst als mögli- schwäche erleben und vorwerfen. Der Verlierer ver-
cher Gegenstand des Bewusstseins und damit als liert nicht das Vertrauen seiner Mitmenschen, wenn
motivfähig gedacht: Auch die Unzufriedenen können er das Urteil akzeptiert, er stellt sich vielmehr gerade
ihn einsehen und fügen sich eben deshalb. Nachdem in dieser Lernleistung als vertrauenswürdig, nämlich
die Idee des wohlinformierten und mündigen Bür- als ›vernünftig‹ und ›realitätsangepasst‹ dar. Im Un-
gers, die man dabei voraussetzen musste, der empi- terschied zum Normfall kann hier also gerade der
rischen Forschung nicht standgehalten hat, scheint Umbau einer Persönlichkeit auf sozial unauffällige
eine Revision der Verfahrensidee angebracht. Eine Weise geschehen, und auffällig wird nur, wer ihn ver-
solche Revision schlägt Luhmann in seinem Buch vor. weigert. Solche institutionellen Erleichterungen, in
Auch bei ihm wird das Verfahren als generalisierender denen sich die allgemeine Legitimität einer Rechts-
Mechanismus begriffen, aber er nutzt soziologische ordnung niederschlägt, werden von Luhmann deut-
und insbesondere systemtheoretische Denkmöglich- lich gewürdigt (LdV, 27 ff., 107 ff.). Seine Hauptfrage
keiten, um auch latente Funktionen zu berücksichti- lautet indessen, ob nicht auch die Beteiligung an In-
gen, die nicht voraussetzen, dass die Generalisie- teraktionen, nämlich am Gerichtsverfahren, zusätz-
rungsleistung, und damit der eigentlich legitimieren- liche Lernhilfen erzeugen kann.
de Vorgang, als solche gewusst und gewollt wird. Ihrer offiziellen Beschreibung zufolge sind Verfah-
Luhmann führt das für die drei Verfahrenstypen ren keine therapeutischen Einrichtungen. Sie dienen
der Rechtsprechung, der politischen Wahl und der nicht dazu, unwahrscheinliche Änderungen von Per-
parlamentarischen Gesetzgebung vor. Zur Ergän- sönlichkeitsstrukturen in die Wege zu leiten. Sie sol-
zung enthält das Buch außerdem noch ein Kapitel len vielmehr, gebunden an feste Programme, ver-
über die Entscheidungsprozesse der Verwaltung, die bindliche Streitentscheidungen anfertigen. Die vor-
in der Regel ohne Bürgerbeteiligung ablaufen und je- gesehene Beteiligung der davon Betroffenen in
denfalls nicht als Vorstufe zum Verwaltungsgerichts- verfahrenseigenen Rollen dient ihrerseits nur dazu,
verfahren angelegt sein müssen. die Qualität dieses Entscheidungsprozesses zu si-
146 Werke und Werkgruppen

chern und zu verbessern. Im Idealfall gelangt der durch bestätigt. Der Beitrag des Richters zum
Prozess zu Entscheidungen, die in einem erkenntnis- sozialen System des Verfahrens aber besteht darin,
analog begriffenen Sinne ihrer Sache entsprechen, die Offenheit des Entscheidungsprozesses darzustel-
also wahr oder gerecht sind – und die aufgrund dieser len, und zwar auch und gerade dann, wenn diese
Qualität auch von den Beteiligten akzeptiert werden, Darstellung fiktiv ist, weil der erfahrene Jurist bereits
und zwar unabhängig davon, ob die Entscheidung weiß oder ahnt, wer den Prozess am Ende verlieren
nun mit ihren vormaligen Ansprüchen und Projek- wird. Denn die Offenheit des Ausgangs ist für die
tionen harmoniert oder nicht. Diese Theorie unter- Verfahrensbeteiligung wesentlich. Nur weil noch
scheidet also nicht systematisch zwischen Gewinner nicht feststeht, wie das Gericht entscheiden wird, ha-
und Verlierer – so wenig wie die Urteilsbegründung, ben beide Parteien ein Motiv für eigene Teilnahme.
die ja für beide Parteien dieselbe ist. Die einzige Lern- Aus dieser ›Offenheitsdarstellung‹ des Richters
hilfe liegt ihr zufolge darin, dass beide Parteien sich wiederum ergibt sich ein Druck in Richtung auf
von der Richtigkeit (Wahrheit, Gerechtigkeit) der komplementäres Verhalten der anderen Prozessbe-
Entscheidung überzeugen können. Zu einer fakti- teiligten. Jede Partei würde sich schaden, wollte sie
schen Hinnahme unrichtiger oder sonstwie unvoll- dem Richter gegenüber darauf bestehen, dass ja wohl
kommener Entscheidungen kann das Verfahren nur sie und nicht auch der Gegner im Recht sein kön-
demnach nichts beitragen. Für Luhmann ist dies eine ne. Auch hier gilt wieder: Psychologisch mögen sie es
Auffassung, die nur die manifeste Funktion des Ver- so sehen, aber kommunikativ müssen sie mindestens
fahrens trifft – und die als Theorie über die Motivlage so tun, als könnten sie sich vorstellen, dass die Mei-
des Verlierers offenbar unzutreffend ist. nung des Prozessgegners die juristisch überlegene ist.
Nach Luhmanns Auffassung, die er am deutlichs- So werden sie dazu gebracht, eine Lernfähigkeit dar-
ten in einem Vorwort zur zweiten Auflage des Buches zustellen, die möglicherweise gar nicht vorhanden
formuliert, ist das Verfahren ein soziales System, das ist. Muss am Ende dann wirklich gelernt werden, ver-
mit jenem Entscheidungsprozess nur teilweise iden- fügt auch der, den dies trifft, über eine Darstellungs-
tisch ist. Es kann daher auch nicht ausschließlich von geschichte, in der dieses Lernen auch Fortsetzung ist.
jenem Prozess her, also nicht ausschließlich als ko- Und umgekehrt: Seine Freiheit, das Verfahren für ein
operative Anwendung von Rechtsprogrammen zum abgekartetes Spiel und den Richter für eine Mario-
Zwecke der Herstellung eines Urteils begriffen wer- nette mächtiger Hintergrundfiguren zu halten, hat er
den. Es dient nicht nur dazu, dem Richter zu Ent- durch die symbolischen Implikationen der eigenen
scheidungsgesichtspunkten zu verhelfen, die er für Mitwirkung am Verfahren verspielt, und den Weg
die Auswahl und Begründung des Urteils benötigt, es dahin zurück anzutreten, würde nun seinerseits als
hat auch noch eine latente Funktion. Diese sieht Luh- Bruch wirken.
mann darin, dass beide Streitparteien im Verfahren Die begrifflichen Mittel, mit denen Luhmann die-
dazu gebracht werden, sich als lernfähig darzustellen, se These bestreitet, waren damals neuartig und sind
und zwar als lernfähig auch im Bereich eigener bis heute nicht so geläufig, dass man sich ihre Erläu-
Normprojektionen und Ansprüche, und dass diese terung sparen könnte. Der wichtigste Punkt ist ver-
Darstellung es dann speziell dem Verlierer erleich- mutlich die Soziologie der Freiheit, die er hier
tert, die allseits erwartete Lernleistung auch wirklich voraussetzt. ›Freiheit‹ wird von ihm nicht als Ursa-
zu vollbringen. Die Zumutung, sich von einem nor- chelosigkeit, sondern als Institutionalisierung eines
mativen Anspruch zu lösen, trifft ihn am Ende eines Bereiches von Handlungen verstanden, die persön-
Verfahrens nicht völlig unvorbereitet, nachdem ihm lich zurechenbar sind. Das soziale Interesse an Hand-
schon das Verfahren selbst eine Lockerung seiner lungen dieser Art besteht darin, dass sie, anders als
Identifikation mit dem Anspruch abverlangt hat. Handlungen, die sozialer Fremdbestimmung unter-
Um zu verstehen, wie es zu dieser Darstellung von liegen, die individuelle Selbstdarstellung des Han-
Lernfähigkeit kommt, mag man von der sozialen delnden binden und ihn auf diese Weise zur
Rolle des Richters ausgehen. Die Rollen der Parteien Fortsetzung verpflichten. Frei gewählte Handlungen
und der Parteienvertreter können dann als Komple- stehen also für selbsterzeugte Beschränkungen im
mentärrollen analysiert werden, in denen man stra- Handlungspotential einer Person. Der Handelnde
tegisch gut beraten ist, wenn man eigenes Verhalten hat eigene Möglichkeiten selbst negiert und steht da-
so wählt, dass es die dominierende Rollenauffassung her als Person für die Kontinuität dieser Negations-
und Situationsdefinition des Richters nicht diskredi- leistung gerade. Andere können sich darauf verlas-
tiert, sondern symbolisch zurückspiegelt und da- sen, wenn sie eigene Erwartungen bilden und eigene
Legitimation durch Verfahren (1969) 147

Handlungen wählen. Die Sanktionsform für Abwei- die Entscheidungssituationen von höherer Komple-
chungen von Erwartungen, an deren Aufbau man in xität ordnen sollen. An ihnen stößt man auf ganz an-
dieser Weise beteiligt war, besteht darin, dass man die dere Arten von Mitwirkungsmöglichkeit, die den
elementare Reputation als ernstzunehmender Kom- Modellcharakter des Gerichtsverfahrens aufheben.
munikationsteilnehmer riskiert. Freies Handeln hat Im Gesetzgebungsverfahren ist die Mitwirkung des
also so gut wie zwangsläufig strukturelle Effekte, die Laienpublikums aufs Zuschauen reduziert, während
auch psychisch abgesichert sind, stellt also die Bin- die aktiv Beteiligten in Rollen für hauptberufliche
dungsfähigkeit externer Systeme in den Dienst der Arbeit (Juristen und Berufspolitiker) mitwirken. Das
Sozialordnung. Eben deshalb ist die Institutionalisie- Verfahren der politischen Wahl wiederum ordnet
rung von Freiheit so aufschlussreich für ein genuin zwar ein Handeln in Publikumsrollen, ist aber ande-
soziales Ordnungsinteresse. rerseits so angelegt, dass eine persönliche Zurech-
Diese These über die sozialen Funktionen der nung dieser Handlungen gerade blockiert wird: als
Freiheit wird besser verständlich, sobald man sie mit geheimes Handeln aus jeder sozialen Kontrolle ent-
dem Gegenfall des erkennbar unfreien Handelns ver- lassen, muss die Stimmabgabe als eigenes Handeln
gleicht. Was eine Person unter Zwang oder auf Befehl nicht einmal dargestellt werden. Man kann zutref-
anderer tat, kann ihr nicht zugerechnet werden. Al- fend mitteilen, wie man gewählt hat, aber man muss
lenfalls das soziale System, in dessen Name der Befehl es nicht. Die Bindung kommt nur durch Entschei-
erging, kann die Kontinuität des Sinnes solcher dung des Wählers und nicht, wie im Gerichtsverfah-
Handlungen garantieren. Gebunden wird das soziale ren, als unausweichliche Selbstverstrickung zustan-
System, während die ausführenden Individuen, die de. Außerdem lassen sich, während jedes Gerichts-
hier als Funktionäre des Sozialsystems agieren, als verfahren mit einer einzigen Entscheidung endet,
Personen ganz unverpflichtet bleiben. jeder politischen Wahl so viele und so verschiedenar-
Gerade das freie Handeln ist also ein Mechanis- tige Anschlussentscheidungen zuordnen, dass die
mus der Reduktion sozialer Komplexität – ein Bei- Vorstellung fiktiv wird, an jede einzelne davon fühle
trag zur Lösung des Problems doppelter Kontingenz. sich der Bürger schon darum gebunden, weil man
Das erklärt ganz gut, warum gerade Systeme von ho- ihm einmal die Gelegenheit bot, zwischen konkur-
her Komplexität nicht nur mehr Reduktionsmecha- rierenden Führungsgruppen zu wählen.
nismen unpersönlicher Art, sondern auch mehr freie Das bedeutet nach Luhmann durchaus nicht, dass
Reduktionen benötigen – und deshalb anfangen, die moderne Politik chronisch unterlegitimiert wäre.
auch kulturell in das Individuum zu investieren. Das Wohl aber bedeutet es, dass man den Legitimations-
Gerichtsverfahren ist ein schönes Beispiel für diese begriff von seinem anschaulichen Interaktionsmo-
Kombination. dell ablösen und neu bestimmen muss. Luhmanns
Thesen über das Verfahren der politischen Wahl und
über das Gesetzgebungsverfahren setzen diese Neu-
Gesetzgebung und politische Wahl bestimmung voraus.
Systemtheoretisch rekonstruiert, liegt das eigent-
Die Vorstellung einer motivstarken Verfahrensbetei- liche Problem der Legitimation in der Nichtidentität
ligung liest Luhmann an der sozialen Situation der zweier Systemreferenzen: Das politische System, das
Rechtsprechung ab. Ihm schwebt damit ein kleines die Entscheidungen trifft, ist nur ein Teilsystem der
Interaktionssystem vor, das in die letzte Phase eines Gesellschaft, das sie respektieren soll. In dieser Sys-
langen Entscheidungsprozesses gehört, in der es eine temdifferenzierung liegt die Gefahr, dass Entschei-
vergleichsweise übersichtliche Situation vorfindet, in dungen getroffen, aber nicht respektiert werden, und
der es noch wenig zu entscheiden gibt. Vor Gericht ein politisches System, das nur noch solche Entschei-
geht es nur noch um Einzelfälle, und nur wenige Tat- dungen treffen könnte, wäre nicht legitim. System-
bestände und wenige Normen werden dafür über- theoretisch gesehen, ist Legitimation also eine
haupt relevant. Unter diesen Umständen ist es Formel für die Überbrückung jener Systemdifferenz.
durchaus sinnvoll, den Adressaten der Entscheidung Die Formel bezeichnet den gesellschaftlichen Erfolg
in einer aktiven Publikumsrolle zu beteiligen, die des politischen Teilsystems.
ihm eigenes Handeln abverlangt und damit seine In einfacheren Gesellschaften war es möglich, dem
Persönlichkeit engagiert. politischen System die Bedingungen solcher Erfolge
Denkt man dagegen an frühere Phasen desselben von außen her vorzugeben. Politische Legitimität
Prozesses, treten andersartige Verfahren in den Blick, wurde auf dem Wege der Anpassung an die Natur, an
148 Werke und Werkgruppen

die Vernunft, an die Ratschlüsse der öffentlichen angleichen, und zwar in Richtung auf höhere Unbe-
Meinung gesucht. Die moderne Gesellschaft hat die- stimmtheit ihrer gefälligen Programme, und dass
se Möglichkeit hinter sich gelassen. Die Komplexität dem Wähler dadurch die Möglichkeit genommen
ihres eigenen Systems muss als politisch unbestimm- wird, über die programmatische Ausrichtung der
te Größe gedacht werden. Damit wird der gesell- künftigen Politik zu entscheiden. Er kann eine Um-
schaftliche Erfolg der Politik von der Komplexität besetzung der Ämter, aber er kann keinen Kurswech-
ihres eigenen Systems abhängig. Der politische Ent- sel herbeiführen. In der klassischen Konzeption
scheidungsprozess muss so viele Alternativen erfas- dieses Verfahrens würde dies bedeuten, dass die Ge-
sen und ordnen können, dass er dem Konfliktpoten- sellschaft an Einfluss auf die Politik verliert. Nach
tial und dem davon abhängigen Entscheidungsbe- Luhmann bedeutet es, dass die beiden Verfahren der
darf einer differenzierten Gesellschaft gerecht wird. politischen Wahl und der politischen Gesetzgebung
Die eigentlich legitimierenden Einrichtungen sind deutlicher gegeneinander differenziert werden: Der
folglich solche, die dem politischen System das Erfas- Ausgang der Wahl legt den siegreichen Politiker nicht
sen und Reduzieren hoher Komplexität gestatten. auf diese oder jene Gesetzgebung fest. Durch keinen
In Anwendung auf das Verfahrensthema hat diese irgend greifbaren ›Wählerauftrag‹ gebunden, hat er
Rekonstruktion des Legitimationsproblems zwei den Interessenten wie auch der Verwaltung gegen-
Konsequenzen. Sie macht zum einen erkennbar, dass über (die ja beide an der Gesetzgebung teilnehmen,
institutionalisierte Mitwirkungsmöglichkeiten nur wenn auch in sehr verschiedener Weise) die Möglich-
eine Form der Problemlösung neben anderen sind. keit, ja oder nein zu sagen (Luhmann 1971).
In den sozialistisch regierten Entwicklungsländern Verglichen mit der programmatischen Anglei-
gab es anstelle der Wahldemokratie eine Gesell- chung der Parteien läge die größere Gefahr darin,
schaftsideologie, die hohe Komplexität durch das dass sie die politische Unterstützung ihrer Wähler
analytische System ihrer eigenen Grundbegriffe zu durch konkrete Entscheidungszusagen, letztlich also
erfassen und durch dessen laufende Interpretation zu tauschförmig, zu gewinnen versuchen, denn eben
reduzieren versuchte. Der Vergleich mit anderen damit wären sie im Falle eines Wahlerfolges auch für
Entwicklungsländern zwingt nicht zu dem Urteil, die Gesetzgebung schon gebunden, und diese verlöre
dies sei schlechthin inadäquat gewesen. Ähnlich mag den Charakter eines zweiten Verfahrens. Dieses Pro-
es nur eine Frage der Zeit sein, bis man im bürokra- blem war so lange auch in der Bundesrepublik aktu-
tisch regierten Europa aufhört, sich für politische ell, wie ökologische Parteien noch die Züge einer
Wahlen zu interessieren. Eine solche Entwicklung monothematischen Unternehmung trugen. Ihrer
wäre nicht deshalb beklagenswert, weil sie nach neu- Klientel gegenüber auf ein einziges Thema fixiert,
ester Modeterminologie ›postdemokratisch‹ wäre, hatten sie nicht diejenige Bewegungsfreiheit, die der
sondern allenfalls deshalb, weil sie das Wertberück- größere und opportunistisch agierende Koalitions-
sichtigungspotential des politischen Prozesses zu partner ihnen abverlangte.
stark limitiert. Die Systemtheorie ist also nicht unkri- Gelingt es dagegen, die politische Wahl und die
tisch, wie man ihr manchmal nachsagt, sie verzichtet Gesetzgebung zu differenzieren, muss man im Ge-
nur darauf, sich an Partizipationsideologien zu ket- setzgebungsverfahren mit hoher und unstrukturier-
ten. ter Komplexität rechnen. Die Entscheidungslasten
Eine zweite Konsequenz ergibt sich daraus, dass liegen dementsprechend hoch, und jedes Ja impli-
man über Sinn und Funktion von politischer Wahl ziert viele Neins. Dieser Rahmenbedingung ist es an-
und politischer Gesetzgebung anders urteilen muss, gemessen, dass die aktive Beteiligung an diesem
wenn man sie im Kontext der Erfassung und Bestim- Verfahren eine Beteiligung an Rollen für hauptberuf-
mung hoher politischer Komplexität sieht. Luhmann liche Arbeit ist. In solchen Rollen ist man verfahrens-
betont unter diesem Aspekt vor allem die Komplexi- unspezifisch, also nicht durch die Themen der
tätsvorteile, die sich durch strukturelle Differenzie- jeweiligen Entscheidung motiviert, so dass es schon
rung dieser beiden Verfahren gewinnen lassen – also darum leichter fällt, sich auch mit unbefriedigenden
dadurch, dass die politische Wahl nur die Personen in Entscheidungen abzufinden. Außerdem sind die Be-
die Ämter bringt, aber nicht auch die Gesetze festlegt, ziehungen der Abgeordneten zu den Verwaltungsbe-
die sie dort machen werden. amten und zu den Interessenvertretern häufig als
Man kann sich die Implikationen dieser Auffas- langfristige Beziehungen angelegt. Sie müssen nicht
sung am Beispiel der politischen Wahl klar machen: nur für die Dauer eines einzelnen Verfahrens halten,
Es wird oft notiert, dass die Parteien sich inhaltlich sondern nehmen die Form eines eigenen Kontaktsys-
Legitimation durch Verfahren (1969) 149

tems der ›guten Beziehungen‹ an. Auch dadurch wird der klassischen Theorie der Gesetzgebung möglich
ein kampfloses Nachgeben im Einzelverfahren er- war.
leichtert, denn Intransigenz könnte die Beziehung als Entscheidend für diese Einschätzung ist dabei,
solche vergiften. dass alle diese sozialen Konstellationen innerhalb des
Vor allem aber führt diese Rahmenbedingung ho- Gesetzgebungsverfahrens auch miteinander vernetzt
her und unstrukturierter Komplexität dazu, dass ge- sind, dass sie nämlich füreinander Beschränkungen
läufige Vorstellungen über Rationalität revidiert setzen. Dadurch wird verhindert, dass das Verfahren
werden müssen. Auch diese Vorstellungen kleben von einer einzigen Gruppe von Teilnehmern be-
Luhmann zufolge, ähnlich wie die über soziale Betei- herrscht wird, also ihr gegenüber seine Autonomie
ligung, am Vorbild einfacher Interaktionssysteme. verliert. Den Interessenten gegenüber kann der Poli-
Sie messen das Gerichtsverfahren an einem Rational- tiker in überzeugender Weise darauf verweisen, dass
modell, das nur für Entscheidungssituationen von auch großzügige Parteispenden kein Grund für Steu-
sehr geringer Komplexität passt, und finden darum erbefreiungen sind, den die universalistisch arbeiten-
keinen Zugang zu der Frage, warum die Realität die- de Verwaltung anerkennen würde, gegenüber der
sem Modell nicht entspricht. Verwaltung kann er geltend machen, dass seine Wäh-
So wurde die parlamentarische Arbeit als ergeb- ler oder die seiner Koalitionspartner eine solche Re-
nisoffene Diskussion unter sozial ungebundenen gelung nicht akzeptieren würden, und außerdem
Teilnehmern modelliert. Dieser Konzeption musste stehen diese beiden Arten von nicht-öffentlichen Si-
daher unverständlich bleiben, warum solche Diskus- tuationen unter der Zumutung, dass mindestens die
sionen aus sich heraus Parteien erzeugen, die vorge- Entscheidungen, zu denen sie führen, mindestens
tragene Argumente partikularistisch würdigen, sich also die Gesetze selbst, auch durch den Filter einer öf-
also durch sozial Fernstehende und insbesondere fentlichen Darstellung hindurchmüssen. Die Rolle
durch den politischen Gegner nicht mehr umstim- des Bürgers im Gesetzgebungsverfahren ist die eines
men lassen, und warum man infolgedessen garan- Zuschauers, der dafür sorgt, dass der Zensureffekt ei-
tierte Möglichkeiten der Überstimmung, also zuver- ner öffentlichen Präsentation auch wirklich zustande
lässige Parlamentsmehrheiten braucht, um zur Ent- kommt. Und auch auf mangelnde Darstellbarkeit
scheidung zu kommen. Die öffentlichen Phasen des kann sich der Politiker berufen, etwa wenn er Wün-
Gesetzgebungsverfahrens werden vom Sozialmodell sche von Interessenten ablehnen will.
der Diskussion, das keine strukturelle Trennung von Luhmanns Buch über Verfahren ist oft kritisiert,
Kooperation und Konflikt kennt, auf reine Konflikte aber selten genau gelesen worden. So hatte selbst Jür-
zwischen nur noch intern kooperierenden Gruppen gen Habermas es durchgängig im Sinne des älteren
umgestellt (Kieserling 2010). Luhmann sieht in die- Rechtspositivismus verstanden, also im Sinne einer
sem Übergang von universalistischer zu partikularis- Legitimation durch Verfahrensrecht. Andere Kritiker,
tischer Themenbehandlung in erster Linie eine mit denen Luhmann im Vorwort zur zweiten Auflage
Entscheidungsvereinfachung durch soziale Gegner- des Buches diskutiert, hatten die Nichtidentität von
schaft, die angesichts hoher Komplexität schwer zu Verfahren und Entscheidungsprozess übersehen und
ersetzten ist. ihm vorgehalten, den Entscheidungsprozessen des
Diese Umstellung ist aber nur eine der Abwei- Richters nicht gerecht zu werden. An beiden Linien
chungen vom Modell parlamentarischer Arbeit, die der Kritik fällt auf, dass sie sich auf die Soziologie des
Luhmann kommentiert, und zwar diejenige, an die Gerichtsverfahrens beschränken. Einer der Gründe
man sich unterdessen gewöhnt hat. Daneben behan- für diese Mischung aus Missverständnis und Miss-
delt er auch noch zwei Umstellungen im Bereich der verhältnis dürfte sein, dass die politische Soziologie,
nicht-öffentlichen Episoden des Gesetzgebungsver- an der Luhmann neben dem Verfahrensbuch arbei-
fahrens, die nach wie vor Ablehnung und Kritik auf tete und in deren Konzeption es sich als eine ihrer
sich ziehen: den Rückzug der sachbezogenen Arbeit Anwendungen einfügen sollte, seinerzeit ungedruckt
aus den Plenarsitzungen in die Ausschüsse, in denen blieb. Inzwischen kann man auch diesen Hinter-
die offizielle Parteienkonkurrenz unterdrückt ist und grundtext lesen (PS). Man möchte sich wünschen,
die Verwaltung aufgrund ihres überlegen Sachver- dass er dem Verfahrensbuch eine zweite Generation
stands dominiert, und die inoffizielle Beteiligung der von kritischen Lesern zuführt, die es sachgerechter
Interessenverbände an der legislativen Arbeit. Auch einschätzen kann.
diese Abweichungen sieht Luhmann positiver, als es
150 Werke und Werkgruppen

Literatur 5. Theorie der Gesellschaft


Kieserling, André: »Simmels Formen in Luhmanns Verfah- oder Sozialtechnologie –
ren«. In: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer
(Hg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Was leistet die System-
Berlin 2010, 109–129. forschung? (1971; mit Jürgen
Luhmann, Niklas: »Komplexität und Demokratie«. In:
Ders.: Politische Planung. Opladen 1971, 35–46. Habermas)
André Kieserling
Zur Entstehung – Take off in der Frankfurter
Fremde
»Ich habe erfahren«, notiert der Suhrkamp-Verleger
Siegfried Unseld im Frühjahr 1968, »daß auf dem So-
ziologentag sich als Einziger der junge und noch re-
lativ unbekannte Professor Dr. Niklas Luhmann (aus
Speyer) in den Vordergrund gerückt hat. Er hat ein
Buch über Vertrauen geschrieben und soll jetzt als
Professor für Soziologie an die neue Universität Bie-
lefeld gerufen werden. Er wäre der Mann, der für die
Reihe THEORIE 2 eine Theorie der Intuition [sic, In-
stitution? E.K.] also eine Systemtheorie der Gesamt-
gesellschaft schreiben könnte« (Aktennotiz, abge-
druckt in Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 22/
2010, 4).
Diese wenigen Sätze markieren den Beginn der
Vorgeschichte von Luhmanns öffentlicher Sichtbar-
keit weit über seine engeren Fachkontexte hinaus; sie
ist eng mit dem Kontakt zum Suhrkamp-Verlag und
zu Jürgen Habermas verknüpft. Bereits drei Jahre
nach Unselds Notiz erscheint 1971 der Diskussions-
band mit Habermas über Theorie der Gesellschaft
oder Sozialtechnologie. Trotz der nicht unerheblichen
Schwierigkeiten, die der Band auch einer professio-
nellen Lektüre bietet, zeigte sich schon bald, dass er
zu einem verlegerischen Erfolg werden sollte: Etwa
6000 Exemplare wurden in den ersten drei Jahren
verkauft, 1990 werden es ca. 50.000 gewesen sein.
Spätestens seit Luhmann 1976, fünf Jahre nach Er-
scheinen des Diskussionsbands, neben Habermas
und Dieter Henrich als wissenschaftlicher Beirat der
Reihe »Suhrkamp Theorie« fungierte, war er im Kreis
der bestimmenden Intellektuellen der späteren Bun-
desrepublik etabliert.
Der Diskussionsband, der eine frühe Stufe der
Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ Sozial-
philosophie repräsentiert, nimmt in Luhmanns
Werk in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung
ein. Er gehört zu den wenigen Veröffentlichungen,
die Luhmanns direkte Auseinandersetzung mit ver-
gleichbar anspruchsvollen Theorieansätzen doku-
mentieren. Der Band spiegelt zugleich gesellschafts-
theoretische Diskussionen der späten 1960er Jahre,
Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (1971) 151

in denen Luhmann mit seinen Arbeiten, nicht zuletzt lich übliches und notwendiges Vor- oder Nachwort
mit dem Diskussionsband, einer größeren, interes- verzichten. Auch fehlt eine hinführende Einleitung
sierten Öffentlichkeit bekannt wurde. Im Rückblick der Autoren. Stattdessen beginnt der Band mit Luh-
lassen sich die Kontroverse und die darauf reagieren- manns berühmtem Programm »Moderne System-
den Diskussionen als Höhepunkt und vorläufiges theorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse«,
Ende einer Entzweiungsgeschichte der Sozialtheorie das er 1968 auf dem Frankfurter Soziologentag vor-
lesen, die zunächst als ›Werturteilsstreit‹ aufgetreten gestellt hatte. Daran schließt Luhmanns erwähnter
war und sich später als ›Positivismusstreit‹ fortsetzte. Text »Sinn als Grundbegriff der Soziologie« aus dem
Der besondere Status und die Struktur des Bandes gleichen Jahr an. In dieser Zeit sind offenbar auch
werden schon in seiner Vorgeschichte deutlich. Habermas’ im Band nachfolgende »Vorbereitende
Luhmann hat Habermas – nach seinem viel be- Bemerkungen zur Theorie der kommunikativen
achteten Auftritt auf dem Soziologentag 1968 in Kompetenz« entstanden. Den Hauptteil des Bandes
Frankfurt – spätestens im Zusammenhang einer bilden dann zwei umfangreiche, gegliederte Abhand-
Lehrstuhlvertretung für den beurlaubten Theodor lungen, von denen die habermassche ca. 150, die luh-
W. Adorno kennengelernt (zur folgenden Darstel- mannsche ca. 110 Seiten umfasst.
lung vgl. v. a. Rammstedt 1999, 16 ff.). Im Rahmen ei- Von Anfang an war klar, dass es in diesem Band
nes Seminars im Sommersemester 1969, zu dem nicht um ›Sozialtechnologie‹ gehen würde, weil keine
Habermas Luhmann eingeladen hatte, entstand bei Seite damit angemessen bezeichnet gewesen wäre.
›linken‹ Studierenden – neben ihrem grundsätzli- Unverständlich bleibt, warum Luhmann, dessen An-
chen politischen Misstrauen gegenüber Luhmann – satz diese Zuschreibung galt, den Titel akzeptiert hat.
ein wachsendes Interesse an dem Kritikpotential sei- Sein späterer nicht-ironischer Kommentar: »Die Iro-
ner Theorie gegenüber dem ›reformistischen‹ haber- nie dieses Titels lag darin, daß keiner der Autoren
masschen Diskursansatz. sich für Sozialtechnologie stark machen wollte, aber
Bei den Seminardiskussionen zum Sinnbegriff be- Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden, wie
zog sich Luhmann auf einen thematisch einschlägi- eine Theorie der Gesellschaft auszusehen habe; und
gen Aufsatz, den er gerade fertiggestellt hatte und den es hat symptomatische Bedeutung, daß der Platz ei-
er Habermas auf dessen Nachfrage zur Kenntnis gab ner Theorie der Gesellschaft in der öffentlichen
(»Sinn als Grundbegriff der Soziologie«, TGS, 25 ff.). Wahrnehmung zunächst nicht durch eine Theorie,
Habermas plante daraufhin, diesen Text zusammen sondern durch eine Kontroverse eingenommen wur-
mit seiner Kritik »Meaning of Meaning oder: Ist de« (GG, 11; vgl. dazu z. B. Kneer/Moebius 2010;
›Sinn‹ eine sprachunabhängige Kategorie?« (171 ff.) Koenen 2005).
und einem Gegenentwurf, den »Vorbereitende[n]
Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen
Kompetenz« (101 ff.) bei Suhrkamp zu veröffentli- Luhmanns Programm: Von der ›Komplexität‹
chen. Luhmann, der befürchtete, dass damit sein Text zur ›Sozialen Kontingenz‹
»Sinn als Grundbegriff der Soziologie« fälschlicher-
weise als Kern seiner Theorie wahrgenommen wer- Der erste Text des Bandes, »Moderne Systemtheorien
den könnte, stimmte nur unter der dann zugestande- als Form gesellschaftlicher Analyse«, versucht die Be-
nen Bedingung zu, dass er nach Habermas’ Kritik an hauptung zu begründen, dass moderne Gesellschaf-
seinem Sinn-Text noch einmal replizieren dürfe. Aus ten als Systeme angemessen begriffen werden kön-
diesem Motiv entstanden später die »Systemtheore- nen. Um das zu zeigen, rekonstruiert Luhmann zwei
tische[n] Argumentationen. Eine Entgegnung auf theoretische Entwicklungslinien – die der Gesell-
Jürgen Habermas« (291 ff.). schaftsphilosophie und die der Systemtheorie –, um
sie am Ende zu verknüpfen.
Die Gesellschaftsphilosophie, die in der aristoteli-
Die erratische Struktur des Bandes schen Tradition mit Fragen des ›guten Lebens‹ und
des ›gerechten Herrschers‹, also solchen der ›politi-
Der Entstehungskontext macht die Struktur des Ban- schen Kontingenz‹ begonnen hat, sei spätestens seit
des etwas verständlicher: Zunächst fällt auf, dass so- Husserl mit ungelösten – und mit ihren eigenen Mit-
wohl die beiden Autoren als auch der renommierte teln unlösbaren – Problemen konfrontiert. Immer
Redakteur der »Theorie-Diskussion«-Reihe, Karl weniger könne sie ›moderne‹ gesellschaftliche Wirk-
Markus Michel, auf ein in einem solchen Fall eigent- lichkeiten und ihren ›Sinn‹ als Resultate intersubjek-
152 Werke und Werkgruppen

tiver Leistungen Einzelner verständlich machen. weiß, dass es damit zugleich unbestimmt viele andere
Ohne angemessenes begriffliches Instrumentarium Erlebnismöglichkeiten ›negieren‹ muss. Eine Zusage
stünden die Vertreter dieser Denktradition vor den setzt viele Absagen voraus, ein ›Ja‹ impliziert unzäh-
von der Gesellschaft selbst erzeugten, dabei grund- lige ›Neins‹. »Unausweichlich bleibt daher das Pro-
legend neuartigen ›modernen‹ gesellschaftlichen blem, die Aktualität des Erlebens mit der Transzen-
Möglichkeiten. Sie sehen sich Luhmann zufolge mit denz seiner anderen Möglichkeiten zu integrieren,
einer ›sozialen Kontingenz‹ konfrontiert, die die Ge- und unausweichlich auch die Form der Erlebnisver-
sellschaft als Ganze nicht länger durch intersubjekti- arbeitung, die dies leistet. Sie nennen wir Sinn«
ven Sinn bestimmbar noch durch interaktive Akteure (ebd.). Indem diese Form der Erlebnisverarbeitung
steuerbar erscheinen lässt. dauernd auf andere sinnhafte Möglichkeiten des Er-
Unabhängig von dieser Theorietradition entwi- lebens verweist, zeigt sie, dass ihre Fokussierung auf
ckelt die Systemtheorie, so Luhmann weiter, nach ih- jeweils nur ein bestimmtes Erleben andere Möglich-
ren Anfängen als Beschreibung des Verhältnisses von keiten nicht ›vernichtet‹, sondern nur aktuell inakti-
Ganzheiten zu ihren Teilen zunächst die Vorstellung viert. Sie bleiben wie eine Ressource oder wie
grenzerhaltender Systeme, deren Grenzen als Kom- Optionen für zukünftiges Erleben aufgehoben. Die
plexitätsgefälle zu ihren Umwelten konzipiert sind. Operation des sinnhaften Erlebens besteht damit im
Prinzipiell gelten damit alle Systemleistungen als Negieren nicht aktuellen, nicht präferierten, mo-
funktional beziehbar auf das Problem der Grenzer- mentan nicht anschlussfähigen Erlebens. Es geht da-
haltung durch das asymmetrische Verhältnis von sys- rum, aus der Fülle von Möglichkeiten auszuwählen,
teminterner und (höherer) systemexterner Komple- z. B. die komplexe Gleichzeitigkeit von Erlebnisange-
xität. boten in das Nacheinander einer zeitlichen Ordnung
Die gesellschaftsphilosophische und die system- umzuwandeln.
theoretische Entwicklung schaffen, so Luhmanns Be- Im Rückblick kann man den Sinn-Text auch als
hauptung, Voraussetzungen, die es der Systemtheo- eine der Vorstudien zu Luhmanns späterer kommu-
rie ermöglichen, sich mit dem »Problem der sozialen nikationstheoretischer Neufundierung seiner Theo-
Kontingenz der Welt« zu befassen (TGS, 11). Dazu rie lesen. Nach einem längeren Abschnitt über
muss sie »Kontingenz« nur noch in eine bearbeitbare ›Kommunikation‹ scheint es ihm zwar fraglich, »ob
und funktional rekonstruierbare »Komplexität« um- man in der sprachlichen Kommunikation das Hand-
deuten (ebd.). Die soziale Kontingenz sinnhaften Er- lungsmodell schlechthin sehen kann« (TGS, 44),
lebens erscheint demnach als Umweltkomplexität, aber »[d]as Verlockende dieses Gedankens sei […]
die durch grenzerhaltende Systembildung reduziert eingeräumt: Handlung einmal nicht von ihrer ein-
wahrgenommen werden kann. fachsten, sondern von ihrer komplexesten Form her
zu begreifen« (ebd., Anm. 19). Dieser ›Verlockung‹
wird er später mit dem Buch Soziale Systeme (1984)
Luhmanns Sinn fürs Negieren nachgeben.

Der anschließende Text »Sinn als Grundbegriff der


Soziologie« fungiert im Diskussionskontext des Ban- Habermas’ Vorbereitungen auf seine
des als Luhmanns spezielles Theorieangebot an Ha- ›Kommunikation‹
bermas; zumindest thematisch scheint er die größte
Anschlussfähigkeit an dessen Denken aufzuweisen. Mit den »Vorbereitende[n] Bemerkungen zu einer
Allerdings macht Luhmann sofort klar, dass er mit Theorie der kommunikativen Kompetenz«, die sich,
dem sozialphilosophischen Mainstream bricht, der scheinbar anspruchslos, als »Vorlage für Zwecke ei-
›Sinn‹ an die ›Subjektivität‹ von Individuen bindet. ner Seminardiskussion« ankündigen, betritt Haber-
Luhmann fasst ›Sinn‹ dagegen nur mehr als »Ord- mas in seinem ersten Beitrag ein thematisch völlig
nungsform menschlichen Erlebens« (TGS, 31). Als andersartiges Gelände (TGS, 101 ff.). Dort auf dem
Form verstanden, kann Sinn keine bestimmten In- soziolinguistischen Themenfeld legt er die Grundla-
halte bezeichnen, die als sinnvoll oder sinnlos er- gen für seine Gegenposition. Die Argumentation
scheinen. Indem Luhmann ›Sinn‹ hier zugleich auf führt zu der abschließenden These, dass Sprechakte
›menschliches Erleben‹ bezieht, entwickelt er die ideale Sprechsituationen vorwegnehmen: »Die ideale
Vorstellung von einem Bewusstsein, das immer auf Sprechsituation schließt systematische Verzerrung
nur ein bestimmtes Erleben fokussiert ist, während es der Kommunikation aus. Nur dann herrscht aus-
Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (1971) 153

schließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des der von Luhmann behaupteten, vorsprachlichen
besseren Argumentes, der die methodische Überprü- Konstitution von ›Sinn‹ durch entsprechende Nega-
fung von Behauptungen sachverständig zum Zuge tionen (s. o.) sieht er sich in seinem Sinnkonzept be-
kommen läßt und die Entscheidung praktischer Fra- stätigt: »Der Sinn des Sinnes besteht zunächst darin,
gen rational motivieren kann« (137). daß er intersubjektiv geteilt werden, daß er für eine
Die kontrafaktische Unterstellung einer idealen Gemeinschaft von Sprechern und Handelnden iden-
Sprechsituation in der alltäglichen Kommunikation tisch sein kann. Identität der Bedeutung verweist
macht Habermas zum normativen Ausgangspunkt nicht auf Negation, sondern auf die Bürgschaft inter-
einer Kritischen Theorie der Gesellschaft. Es geht subjektiver Geltung. Diese Fragestellung bleibt Luh-
ihm um die Begründung ihres normativen Potenti- mann verschlossen« (188).
als, um die Möglichkeit, die Notwendigkeit und den Im Mittelteil des Aufsatzes führt Habermas seine
Willen zur Verständigung. Der Nachweis seiner Her- Kritik an der Unterscheidung von Sprache und Ar-
kunft aus den allgemeinen Grundbedingungen beit sowie an den Begriffen ›Wahrheit‹ und ›Ideolo-
sprachlicher Praxis begründet den Geltungsan- gie‹ fort: In Kapitel III begründet er die für ihn – seit
spruch der kommunikativen Normen und ihre Re- seiner frühen Theorieentscheidung, ›Arbeit‹ und ›In-
produzierbarkeit in der Lebenswelt. teraktion‹ kategorial zu trennen – zentrale Differenz
zwischen »Konstitution der Erfahrungswelt und
sprachliche[r] Kommunikation« (202 ff.), die er bei
Habermas antwortet der ›Systemtheorie‹ Luhmann vermisst. Das vierte Kapitel kritisiert den
funktionalistisch begründeten »systemtheoreti-
Habermas’ »Auseinandersetzung mit Niklas Luh- sche[n] Begriff der Wahrheit«, weil er eine »falsche
mann« – so der Untertitel des Beitrags (TGS, 142 ff.) Einheit von Theorie und Praxis« nach sich ziehe
– beginnt mit der Frage, ob Luhmann eine »System- (221 ff.). Im fünften Kapitel (239 ff.) verdächtigt Ha-
theorie der Gesellschaft« oder doch eher eine »So- bermas Luhmanns Rechtfertigungsfigur ›Legitimati-
zialkybernetik« vorlege (146). In seiner Antwort on durch Verfahren‹ der Ideologie, räumt allerdings
bestätigt Habermas zwar zunächst den systemtheo- ein, dass »das motivlose Akzeptieren amtlicher Ent-
retischen Anspruch; dann aber formuliert er zwei, scheidungen ›zur Sache vorwurfsloser Routine‹ ge-
wie er meint, unlösbare Grundprobleme. worden ist« (264), während der Legitimationsbedarf
Zum einen scheitere Luhmanns Konzept der Sys- weiter zunehme.
temerhaltung durch Reduktion von Umweltkomple- Kapitel VI, »Luhmanns Beitrag zu einer Theorie
xität daran, dass er die Weltkomplexität einfach der gesellschaftlichen Evolution« (270 ff.), enthält
voraussetzen müsse, damit sie für ein System zu ei- jene Gesichtspunkte, unter denen Habermas Luh-
nem Problem werden könne. Problembezüge seien manns Systemtheorie der Gesellschaft ›lehrreich‹ fin-
aber – der Kybernetik zufolge – ohne Systeme nicht det. Der Systembegriff selbst sei für die weitere
denkbar, sie seien grundsätzlich nicht objektivierbar soziologische Debatte hilfreich, insofern er »über-
und müssten stattdessen auf eine Lebenspraxis in ei- subjektive Lernprozesse« (271) beschreibe, die je-
nem System zurückgeführt werden. Zum anderen er- doch – so sein Einwand – nur als umgangssprachli-
hebt Habermas Luhmann gegenüber einen Pragma- che Kommunikation angemessen rekonstruiert wer-
tismusvorwurf: Die Umdeutung von Systembe- den können. Habermas schließt hier seine von Marx’
standsproblemen (z. B. Überkomplexität) in Bezugs- frühen Schriften inspirierten Reformulierungen sei-
probleme (z. B. Informationsüberschuss), die ihrer- ner kritisch-theoretischen Überlegungen an.
seits nur an Folgeproblemen abgelesen werden
können (z. B. gesellschaftliche Desorientierung),
habe einen pragmatischen, am Status quo orientier- Luhmann vergleicht Habermas mit Luhmann
ten Dezisionismus zur Folge.
Das zweite Kapitel reagiert auf Luhmanns Sinn- Die etwa 110 Seiten umfassende Replik Luhmanns
Text mit der Frage, ob ›Sinn‹ eine sprachunabhängige gliedert sich in sechs Abschnitte. Zunächst rekon-
Kategorie ist. Habermas verneint die Frage. Während struiert er seine Auseinandersetzung um »Das Pro-
er selbst ›Sinn‹ in den »Zusammenhang einer Theo- blem der Komplexität« (292 ff.) als Kontroverse über
rie der umgangssprachlichen Kommunikation« ein- das Verhältnis von »Praxis« und »Technik« (294).
führen möchte, wolle Luhmann »ihn der System- Weder die verengte Zweckrationalität der ›Sozial-
theorie einverleiben« (180). Durch seine Kritik an technologie‹ noch die kritisch-theoretisch inspirier-
154 Werke und Werkgruppen

ten ›praktischen Diskurse‹ sieht Luhmann in der Macht – ein. Die spezifische Leistung von ›Wahrheit‹
Lage, dem Komplexitätsproblem gerecht zu werden, liegt für Luhmann nicht in ihrem Gehalt, sondern in
das er (damals noch) als zentral ansieht. Luhmann einer extrem gesteigerten Möglichkeit zur kommuni-
erkennt daher keinen sozialtheoretischen Sinn darin, kativen ›Übertragung‹ von Selektionsleistungen. Da-
sich vor dieser Alternative für eine Seite zu entschei- bei motiviert die spezifische Selektionsform ›Wahr-
den, wie z. B. Habermas, der für »ein Handeln ande- heit‹ die Kommunikationspartner zur Annahme der
ren Stils, nämlich Praxis« optiere (297). Er dagegen entsprechenden Selektionen.
sucht nach einer »Ausdehnung des Begreifbaren In Abschnitt IV zur »Gesellschaftliche[n] Evoluti-
durch Überschreiten der Systeme auf die Welt hin« on« (361 ff.) bezieht sich Luhmann auf Vorgaben aus
(ebd.). In Abgrenzung zu philosophischen Weltbe- Habermas’ »Exkurs über Grundannahmen des His-
griffen meint er »die Weltbeziehung aller wirklichen torischen Materialismus« (285 ff.). Der »Reprodukti-
Systeme«, und möchte daher »einen weltkorrelativen on der Produktivkräfte und Produktionsverhältnis-
Systembegriff festhalten« (298). – Daran, so vermu- se« stellt er eine »›Reproduktion von Komplexität‹«
tet Luhmann, »scheint sich Habermas zu stoßen« gegenüber (363). Die evolutionären Veränderungen
(ebd.). erscheinen im Rahmen der System/Umwelt-Theorie
Die für Luhmann wie für Habermas zentrale sozi- als Veränderungen des Verhältnisses von bestimmba-
altheoretische Frage besteht darin, ob und wie es rer System- und unbestimmbarer Umweltkomplexi-
möglich ist, »nicht nur Maschinen und Organismen, tät. Jedes neuartige systeminterne Ereignis, jede
sondern auch sinnkonstituierende Systeme in eine bestimmte Systemveränderung bedeutet für alle an-
allgemeine Systemtheorie einzubeziehen« (299). deren Systeme eine Veränderung ihrer Umwelten.
Luhmann vermutet, dass es ausreicht, einen neuarti- Darauf müssen alle diese Systeme u. a. mit ihren evo-
gen, mit dem organischer Systeme nicht vergleichba- lutionären Mechanismen (Variation, Selektion, Sta-
ren Selektionsstil zu rekonstruieren, der Möglichkei- bilisierung) reagieren. Bezogen auf Gesellschaftssys-
ten zum Negieren und Virtualisieren enthält »und teme ordnet Luhmann den Mechanismus der Varia-
mit dem Begriff des ›Bestimmens‹ bezeichnet werden tion primär der Sprache zu, den der Selektion primär
könnte« (300). den symbolisch generalisierten Kommunikations-
Das zweite Kapitel »Diskussion als System« medien und den der Stabilisierung primär den Sys-
(316 ff.) ist »der Versuch, Habermas zum Vergleich tembildungen der Gesellschaft.
das Systemkonzept anzubieten« (316). Dabei geht es Im folgenden, fünften Abschnitt zur »Universali-
um die Leistungsfähigkeit der habermasschen Dis- tät und Begründbarkeit der Systemtheorie« versucht
kurstheorie im Gegensatz zu Luhmanns Ansatz, der Luhmann, den universalen Geltungsanspruch der
soziale und psychische Systeme unterscheidet. Im Systemtheorie mit der Realität des Theoriepluralis-
Zentrum von Luhmanns Kritik steht die von Haber- mus kompatibel zu machen (378 ff.). Nach weitläufi-
mas’ Theorie generell unterstellte Möglichkeit, im gen, hochabstrahierenden Überlegungen zu Welt
Diskurs jederzeit kritisierbare Begründungen einzu- und System, Handeln und Erleben, Reflexivität der
fordern. Diese Möglichkeit sei aber beispielsweise Wissenschaft, Geltung als Kontingenzausschaltung,
weder im Fall der Liebe noch im Fall des Streites ge- Reflexivität der Systemtheorie sowie der Selbststeue-
geben. Luhmann folgert, dass sich Situationen auch rung von Wissenschaft und ihrer Fremdsteuerung
ohne einen begründeten Konsens stabilisieren und durch Werte, skizziert Luhmann abschließend drei
ein »operativer Konsens« ausreichend sei (321). verschiedene Deutungen davon, wie die veränderte
Beim Thema »Wahrheit als Kommunikationsme- Lage des Gesellschaftssystems die Bedingungen von
dium« (Kapitel III, 342 ff.) besteht eine grundsätz- Wahrheit und Wissenschaft ändern: eine im parso-
liche Übereinstimmung zwischen Luhmann und nianischen System rekonstruierte Variante, die eine
Habermas. Beide beziehen Wahrheit auf Intersubjek- Entdifferenzierung von sozialem und kulturellem
tivität (statt auf ›Entsprechungen‹). Doch ist ihr Ver- System sichtbar macht, ohne die ›Wahrheit‹ von Wis-
ständnis von ›Intersubjektivität‹ völlig unterschied- senschaft innerhalb ihrer Theorie lokalisieren zu
lich. Während Habermas ›Wahrheit‹ als idealisieren- können; eine habermasianische Variante, die die Fol-
den Ausdruck einer Intersubjektivität versteht, der es geprobleme eines doppelten Wahrheitsbegriffs nur
ermöglicht, praktische Geltungsansprüche zu be- im ›Diskurs‹ auffangen könne; und schließlich Luh-
haupten, reiht Luhmann ›Wahrheit‹ in die (an Par- manns eigene Deutung, die das Komplexitätsgefälle
sons angelehnte) Reihe der ›symbolisch generalisier- zwischen (dem System) Wissenschaft und ihrer Um-
ten Kommunikationsmedien‹ – wie Geld, Liebe oder welt »in die Norm adäquater Begrifflichkeit transfor-
Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? (1971) 155

miert« (TGS, 398; vgl. Koenen/Steinbacher 1974, ke allein an die für Luhmanns Theorieentwicklung
92). Wissenschaftliches »Wissen [ist] nicht deshalb folgenreichen Kontakte zur Palo-Alto-Schule (Gre-
wahr, weil es die Welt getreulich abbildet, sondern gory Bateson, Paul Watzlawick, Heinz von Foerster).
weil es entsprechende Komplexität hat und deshalb Der 1971 erschienene Diskussionsband ist zehn
übertragbar ist« (TGS, 398). Mal, zuletzt 1990, aufgelegt worden; heute (2012) ist
Der letzte kurze Abschnitt »Kritik oder Apologie – er nur noch antiquarisch greifbar oder in Bibliothe-
oder die Unsicherheit der Gesellschaftstheorie« skiz- ken zugänglich. In englischer Übersetzung liegen die
ziert zunächst einen gesellschaftspolitischen Hori- von Luhmann verfassten Teile vor, verschiedene Aus-
zont, in dem (für Luhmann bereits Ende der 1960er wahlen auch auf Italienisch, Spanisch und Japanisch.
Jahre!) alle Positionen und Optionen durcheinan- Der Redakteur der »Theorie«-Reihe Karl Markus
dergeraten sind (398 ff.). Konservative sind zu Op- Michel hatte darüber hinaus eine zwanglose Folge
portunisten geworden, ›Linke‹ zu Konservativen von »Theorie-Diskussions«-Heften geplant, zu de-
usw. Vor diesem Hintergrund erstaunt Luhmann, nen auch die Leser beitragen sollten (TGS, 407). Es
dass es Habermas zu gelingen scheint, eine deutliche erschienen in den folgenden Jahren zwei von Franz
politische Trennlinie zu finden und sich daran zu ori- Maciejewski herausgegebene Supplement-Bände mit
entieren. Das aber ist Luhmann zufolge nur möglich zwölf Aufsätzen zur Kontroverse (Maciejewski 1973;
um den Preis starker Vereinfachungen, einer proble- 1974), sowie noch ein Jahr danach, als dritter Supple-
matischen, internen Politisierung der Wissenschaft ment-Band, eine längere Studie von Hans-Joachim
und einer Kritik von ›Herrschaft‹, deren Begriff in Giegel mit dem Titel System und Krise. Kritik der Luh-
hochentwickelten Gesellschaften »eine zu unbe- mannschen Gesellschaftstheorie (1975). Giegel misst
stimmte, für analytische wie für kritische Zwecke un- den luhmannschen Ansatz am Maßstab unabhängi-
geeignete Kategorie« geworden ist (399). Damit ger Gegenstandskonstitution und diagnostiziert bei
versucht er, den politischen Vorwurf an die System- ihm ein vorgängiges Interesse an der Steuerung einer
theorie zurückzuweisen, herrschaftsstabilisierende naturwüchsigen gesellschaftlichen Entwicklung, de-
Funktionen zu erfüllen. ren Krisen und Widersprüche damit unverstanden
bleiben. Damit formuliert Giegel eine linksorthodo-
xe Luhmann-Kritik, freilich ohne sich auf die Seite
Folgen und Funktionen von Habermas zu stellen.
Das gilt auch für die meisten der zwölf Beiträge
Bei so vielen Verschiedenheiten im Einzelnen geht aus den ersten beiden Supplement-Bänden: »Daß die
leicht die Aufmerksamkeit für die Ähnlichkeiten der Diskussion nicht auf der Stelle tritt, zeigt sich etwa in
beiden Universaltheorien im Grundsätzlichen verlo- der Schwierigkeit, die Dialogrollen der sich hier zu
ren. Das gemeinsame Festhalten am Begriff der Ge- Wort meldenden Autoren zu definieren. Weder han-
sellschaft, die Zentralität von – wie immer unter- delt es sich um enthaltsame Sekundanten, die kurz
schiedlich gefasster – ›Kommunikation‹, ›Legitimi- und bündig einer der beiden Seiten zugeschlagen
tät‹ und ›Verfahren‹ können als Beispiele gelten. werden könnten, noch um eilfertige Schlichter, die
Bemerkenswert ist außerdem, wie viel beide den Streit mit dem Siegel der Gemeinsamkeit be-
Theoretiker, trotz divergenter politischer Intentio- schließen möchten. […] Das bedeutet freilich nicht,
nen, voneinander gelernt haben. Habermas hat das, daß schon Markiertes seinen Orientierungswert
im Unterschied zu Luhmann, immer wieder betont. verlöre« (Maciejewski 1973, 7 f.). So lassen sich die
Auf der Hand liegt zum Beispiel seine Übernahme Beiträge von Klaus Eder, Bernard Willms, Karl-Her-
des Systembegriffs in den Grundriss seines 1981 er- mann Tjaden und Wolf-Dieter Narr/Dieter H. Runze
schienenen Hauptwerks Theorie des kommunikativen zwanglos als marxsche bzw. linksorthodoxe Kritiken
Handelns. Umgekehrt ist Luhmanns Entscheidung, an Luhmann, z. T. auch an Habermas und ihrer Dis-
Anfang der 1980er Jahre das grundlegende Bezugs- kussion lesen. Andere thematisieren einzelne wichti-
problem seiner Theorie, ›Komplexität‹ und die Pro- ge Aspekte ohne Bezug auf den ursprünglichen
bleme ihrer ›Reduktion‹, gegen eine letztlich ans Frontverlauf (Harald Weinrich zum Diskurs; Hart-
Verstehen gebundene ›Kommunikation‹ auszutau- mut von Hentig zu Komplexität; Elmar Koenen/Karl
schen, ohne die Auseinandersetzung mit Habermas’ Steinbacher zu Evolution und Wahrheit). Einige nut-
Kommunikationstheorie, aber auch ohne die damals zen die Diskussion als Anlass für eigenständige Theo-
sich abzeichnende Konjunktur von ›Kommunikati- rieansätze (Wolf-Dieter Narr/Dieter H. Runze zur
on‹ in der Sozialtheorie kaum vorstellbar – man den- ›Politischen Systemanalyse‹; Bernhard Heidtmann/
156 Werke und Werkgruppen

Peter Hejl zu einer ›polyadischen Grundkonzeption Giegel, Hans-Joachim: System und Krise. Kritik der Luh-
der Systemtheorie‹; Wolfgang Lipp zu einem ›initia- mannschen Gesellschaftstheorie. Beitrag zur Habermas-
Luhmann-Diskussion. Frankfurt a. M. 1975.
tiven Begriff von Geschichte‹). An solchen themati-
Kneer, Georg/Moebius, Stephan (Hg.): Soziologische Kon-
schen und disziplinären Differenzierungen werden troversen. Frankfurt a. M. 2010.
einige der Folgen sichtbar, die der Diskussionsband Koenen, Elmar: Ȇber die fast leere Mitte der Disziplin. So-
v. a. in der Politikwissenschaft, in der Pädagogik und ziologInnen über Funktionen und Eigenwerte sozialwis-
der Linguistik ausgelöst hat. senschaftlicher Zeitschriften«. In: Soziale Systeme 11. Jg.,
Die längerfristigen Auswirkungen der damaligen 1 (2005), 83–103.
– /Steinbacher, Karl: »Die Wahrheitsfähigkeit von Evoluti-
Kontroverse reichen bis in die Gegenwart. Anlässlich onstheorien und die Evolutionsabhängigkeit von Wahr-
der Berichte zur Schlichtung der Konflikte über den heit«. In: Maciejewski 1974, 92–129.
Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs im Novem- Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard: Reflexionspro-
ber 2010 hat der Autor und Journalist Nikolaus von bleme im Erziehungssystem. Stuttgart 1979.
Festenberg in einem SPIEGEL-Essay (48/2010) an Maciejewski, Franz (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder So-
zialtechnologie: Beiträge zur Habermas-Luhmann-Dis-
den Diskussionsband erinnert: »Das Wort Diskurs kussion von: Klaus Eder, Bernard Willms, Karl Hermann
liegt lange schon als graue verdrängte Theorie im Be- Tjaden, Karl Otto Hondrich, Hartmut von Hentig, Ha-
wusstseinskeller der Soziologie. 1971 war bei Suhr- rald von Weinreich und Wolfgang Lipp. Frankfurt a. M.
kamp ein Band erschienen, den der Philosophiepro- 1973.
fessor Jürgen Habermas und der Systemtheoretiker – (Hg.): Neue Beiträge zur Habermas-Luhmann-Diskussi-
on von: Wolf-Dieter Narr/Dieter H. Runze, Elmar Koe-
Niklas Luhmann zusammengestellt hatten: ›Theorie nen/Karl Steinbacher, Lothar Eley, Bernd Heidtmann/
der Gesellschaft oder Sozialtechnologie‹. Wer den Peter Hejl. Frankfurt a. M. 1974.
408-Seiten-Ziegel heute hervorholt, entdeckt Unter- Neves, Marcelo: »Systemtheorie«. In: Hauke Brunkhorst/
streichungen, angesichts deren man sich fragt: Das Regina Kreide/Cristina Lafont (Hg.): Habermas-Hand-
abstrakte Zeug soll ich mal begriffen haben?« (Fes- buch. Stuttgart/Weimar 2009, 61–65.
Rammstedt, Otthein: »In Memoriam: Niklas Luhmann«.
tenberg 2010, 174). Danach referiert der Autor noch In: Theodor M. Bardmann/Dirk Baecker (Hg.): »Gibt es
kurz die Grundzüge der Habermas/Luhmann-Kon- eigentlich den Berliner Zoo noch?« Erinnerungen an Ni-
troverse. Vor diesem Hintergrund äußert er schließ- klas Luhmann. Konstanz 1999, 16–20.
lich die Vermutung, dass Heiner Geißlers erfolgrei- Scholz, Frithard: Freiheit als Indifferenz. Alteuropäische
ches deeskalierendes Konfliktmanagement vielleicht Probleme mit der Systemtheorie. Frankfurt a. M. 1982.
Seibt, Gustav: »Sensationen aus dem Archiv«. In: SZ-Maga-
den Beginn einer ›Diskursrepublik‹ bedeuten könn- zin 22 (2010).
te. Unseld, Siegfried: »Aktennotiz«. In: Seibt 2010.
Ob Beginn oder Ende einer ›Diskursrepublik‹ –
Elmar Koenen
mit den Auswirkungen des Diskussionsbandes hätte
beides nichts zu tun. Bedeutung hatte der Band ei-
nerseits für die beiden Autoren als Beschreibung ei-
ner Demarkationslinie im Reich der Gesellschafts-
theorie, andererseits als Medium, in dem interessier-
te Sozialtheoretiker eine Zeit lang ihre Bemühungen
um eine anspruchsvolle disziplinäre Identität spie-
geln konnten.

Literatur
Beavin, Janet H./Jackson, Don D./Watzlawick, Paul:
Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Pa-
radoxien. Bern 1969.
Breuer, Stefan: »Adorno/Luhmann: Die moderne Gesell-
schaft zwischen Selbstreferenz und Selbstdestruktion«.
In: Ders.: Die Gesellschaft des Verschwindens. München/
Wien 1992, 65–102.
Festenberg, Nikolaus von: »Der Umzug der Käfer«. In: DER
SPIEGEL 48. Jg (2010).
Füllsack, Manfred: »Die Habermas-Luhmann-Debatte.« In:
Kneer/Moebius 2010, 154–181.
157

6. Liebe als Passion. lassen. Gottesbeweise, Wahlversprechen und Liebes-


schwüre – auch wenn dort von Wahrheit die Rede
Zur Codierung von Intimität sein mag – sind keine Sache des Wissenschaftssys-
(1982) tems. Differenzierung und Spezialisierung gehen
hier Hand in Hand. Was wahr oder falsch ist, ent-
Von der stratifikatorischen zur funktionalen scheiden Methoden. Was gute oder schlechte Politik
Differenzierung ist, entscheidet dagegen nicht die Politologie, son-
dern der Wähler.
Die Monographie trägt den einnehmenden Titel Lie- In dieser Differenzierung von Funktionssystemen
be als Passion und den vergleichsweise unverständli- und entsprechenden Personenrollen (Wähler, For-
chen Untertitel Zur Codierung von Intimität. Der Text scher, Ehemann, Christ usw.) besteht im historischen
bestätigt diesen ambivalenten Eindruck mit gut les- Rückblick auch die Herausforderung der Liebe als ei-
baren Passagen zur europäischen Liebesliteratur und ner sozialen Einrichtung, die Paarbindungen wahr-
abstrakten Skizzen systemtheoretischer Grundan- scheinlich macht. Denn auch im Falle der Liebe setzt
nahmen. Der Band gehört zu Luhmanns For- ein Differenzierungs- und Spezialisierungsschub ein,
schungsprojekt zum Thema ›Gesellschaftsstruktur der letztlich dazu führt, dass »für die Liebe nur die
und Semantik‹, aus dem zwischen 1980 und 1995 Liebe zählt« (177). In derartigen Tautologien (174 f.)
insgesamt vier Bände mit Aufsätzen hervorgegangen findet Luhmann einen Ausweis von Autonomie und
sind. Allesamt gehen sie von der »These aus, daß der Reflexivität; zugleich besteht in dieser »selbstreferen-
Umbau des Gesellschaftssystems von stratifikatori- tiellen Geschlossenheit« auch das Problem des »Me-
scher in funktionale Systemdifferenzierung tiefgrei- diums Liebe« (178). Denn die Liebenden müssen ja
fende Veränderungen des Ideenguts der Semantik irgendwie motiviert werden, und externe Gründe
erzeugt, mit dem die Gesellschaft die Kontinuität kommen nicht in Betracht. Reichtum und Stand ge-
ihrer eigenen Reproduktion, des Anschließens von nügen nicht, um eine Dienstmagd wie Pamela zu ver-
Handlung an Handlung ermöglicht« (LaP, 9). Funk- führen, wie Samuel Richardsons Mr. B zur Kenntnis
tionale statt stratifikatorischer Systemdifferenzierung nehmen muss, der von Pamela so lange auf Distanz
meint, dass die Anschlussfähigkeit und der Erfolg gehalten wird, bis er seine Dienstmagd schließlich
von Kommunikationsofferten nicht länger vor allem heiratet. Sie kann nun glauben, dass er sie nicht nur
vom Rang desjenigen abhängen, der kommuniziert, »unsittlich zu berühren« wünscht, sondern sie liebt
sondern primär von den Erfolgsbedingungen, die ein (SKL, 312).
bestimmtes Funktionssystem für ganz bestimmte Seine Überlegungen zum Zusammenhang von
Problemlösungen zur Verfügung stellt, also etwa po- funktionaler Ausdifferenzierung der Gesellschaft
sitives Recht und Verfahrensregeln im Bereich der und der Codierung von Liebe als eines Kommunika-
Justiz oder Mehrheitsentscheidungen im System der tionsmediums koppelt Luhmann mit Beobachtun-
Politik. »Standesdifferenzen« (59) fungierten in Alt- gen der historischen Semantik und ihres Umbaus
europa als Filter und Barrieren, und es kam weniger (LaP 108; vgl. GS1–4). Zum Befund seiner Lektüren
auf den Sachgehalt einer Kommunikation an als auf zählt die Beobachtung, dass die Menschen im 17.
den Rang ihres Absenders, um etwa Recht, Macht, oder 18. Jahrhundert auch in den unteren Schichten
Seligkeit oder auch eine Frau zu bekommen. ein Problemgefühl für die (Art der) Wahl des Part-
Sobald dagegen Funktionssysteme wie Recht, Po- ners und die Formen des Eingehens aufeinander ent-
litik oder Liebe autonom operieren, hilft es nicht wickeln, das historisch gesehen neu ist (Luhmann
viel, auf vornehme Geburt zu pochen, um einen 1987, 61 f.). Im Verlauf des 18. Jahrhunderts findet
Prozess, Wahlen oder einen Lebenspartner zu ge- Europa dann zu der weltweit ungewöhnlichen und
winnen. Stattdessen muss man jene Kommunikati- unwahrscheinlichen Vorstellung, dass nur die Liebe
onsregeln der Systeme beherrschen, die Luhmann über die Ehe entscheiden sollte. Erst jetzt neutrali-
als ›Codes‹ bezeichnet hat (22 f.). Alle Funktionssys- siert das Prinzip der Liebesheirat, zumindest der Idee
teme sind mit je eigentümlich codierten »Kommuni- nach, das Primat der sozialen Schichtung (GG, 731).
kationsanweisungen« (22) ausgestattet, wahr/falsch Die freiere gesellschaftliche Stellung der Frau und
etwa oder recht/unrecht oder schön/hässlich, die aus ihre Möglichkeit zu eigener Entscheidung ermög-
dem Meer der Kommunikationen jene herausfi- licht eine Form der Liebe, die auf sich selbst, ihrer ei-
schen, die sich in die Wissenschaft, dem Rechtssys- genen Geschichte beruht – und nicht Paarbindungen
tem oder der Kunst einspeisen und verarbeiten allein auf Stand, Vermögen oder andere äußere Be-
158 Werke und Werkgruppen

dingungen gründet (LaP, 59). Im 18. Jahrhundert Liebe selbst liegen.« Das Medium steuert sich nun
und in Europa – und also nicht in einer andere Epo- selbst, es wird autonom (36).
che oder einem anderen Kulturraum – löst sich die Der Verweis auf eine Mitgift, den Einfluss der Fa-
Paarbindung von externen Vorgaben; und diese neue milien, die Maximierung der politischen oder öko-
Freiheit der Liebe führt zu dem Problem, wie und wer nomischen Chancen reicht daher bei einer Kontakt-
zu lieben sei. Luhmann denkt dieses Problem evolu- anbahnung keineswegs mehr aus, ja er würde
tionstheoretisch, also in Wahrscheinlichkeiten: Wie schaden. Aus dem angeborenen »sozialen Status«
lässt sich gerade das eine Individuum, für das man (16) der Person ist – wie vor Gericht, wie bei einer
sich entscheidet, gegen die Bedeutungslosigkeit Prüfung, wie beim Sport oder auf der Börse – auch
schützen, nur eines von Milliarden zu sein (GG, mit Blick auf die Intimkommunikation nicht mehr
1027)? Auf die Problematik einer aus der ständi- viel abzuleiten. Dies führt wieder zur zentralen These
schen, familiären und religiösen Bevormundung des Forschungsprogramms: Die Bedeutung der Stra-
entlassenen Liebe gibt die Ausdifferenzierung ei- tifikation tritt zurück, und wer lieben will, muss auch
nes Codes zur intimen Kommunikation eine Ant- in diesem Fall den Notwendigkeiten eines Funktions-
wort. Der Code der Liebe – das ist die kulturelle systems genügen. Diese Entwicklung macht die Aus-
Vorschrift dafür, was man sich dabei vorzustellen hat, differenzierung der Liebe vergleichbar mit anderen
wie man eine Liebe anzufangen hat, was man zu Differenzierungsgeschichten, etwa denen der Wis-
erwarten hat, was man verlangen kann (Luhmann senschaft, der Wirtschaft oder der Politik (11). Da-
1987, 61). von ging Luhmann seit langem aus (vgl. SA1, 127). In
Der Aufbau von Intimbeziehungen wird im Zuge Liebe als Passion wird jedoch, wie in den anderen Bei-
des Umbaus der Gesellschaftsstruktur einerseits ent- trägen zu Gesellschaftsstruktur und Semantik, der Fo-
lastet: Denn es hängt nicht mehr das Schicksal des kus erweitert um eine historische Betrachtung des
Reiches von der Zahl der Prinzessinnen ab, die ver- »Ideenguts«, der »Wortkleider, Floskeln, Weisheiten
heiratet werden können, sondern nur noch das eige- und Erfahrungssätze«, die nicht nur im Zuge des
ne Glück. Michel Foucault hatte die Einheit politi- Umbaus der Gesellschaftsstruktur ihren Sinn än-
scher, ökonomischer, religiöser und familiärer Inte- dern, sondern ihrerseits »tiefgreifende Veränderun-
ressen bei der Aushandlung von Ehen »Allianzdis- gen in den Sozialstrukturen vorbereiten, begleiten
positiv« genannt (Foucault 1983, 128 f.). All diese und hinreichend rasch plausibilisieren« (LaP, 9).
Faktoren, die berücksichtigt werden mussten, um ein »Der Begriff der Passion zeigt an«, erläutert Luh-
match zu arrangieren, können dagegen dann igno- mann 1968 auf dem Soziologentag, »daß die Gesell-
riert werden, wenn die Partner sich bei der Begrün- schaft auf soziale Kontrolle verzichtet. Liebe kann
dung ihrer Wahl allein auf ihre Liebe verlassen. Darin daher nicht als gesellschaftliche Basis einer einheit-
liegt die Entlastung. Anderseits stellt genau diese Ent- lichen Weltauslegung gelten, sondern allenfalls als
wicklung den Code der Intimität vor hohe Anforde- Basis für individuell verschieden erlebte konkrete
rungen, denn er muss nun allein selbsttragende Nahwelten« (TGS, 17). 1971 ging es nur um ein »Bei-
Begründungen dafür liefern, warum aus Tausenden spiel« für systemspezifische »Reduktionsleistungen«:
von Interaktionskontakten gerade dieser eine für »Wahrheit, Recht und Liebe haben je andere Thema-
eine höchstpersönliche Beziehung ausgesucht wor- tiken und je andere Grenzen der Verbindlichkeit«
den ist. Diese Unwahrscheinlichkeit abzubauen, (TGS, 17). Auch Liebe als Passion ist insofern eine
macht die zentrale Funktion der Liebessemantik aus. exemplarische Studie, als sie in monographischer
Sie kann gerade an der Individualität des Anderen Breite diese These der funktionssystemspezifischen
ansetzen, die ein ›Passen‹ eigentlich unwahrschein- Reduktion von Komplexität ausführt und als Prozess
lich macht, um diese Besonderheit dann zur Einzig- modelliert. Doch ist sie mehr als das, denn sie lässt sich
artigkeit zu steigern: Geliebt wird der andere nicht ein auf die Problemstellung einer Fülle literarischer
aufgrund von Eigenschaften (›gut‹, ›schön‹, ›edel‹, und philosophischer Texte, vor allem aber von Ro-
›reich‹), die auch andere vorweisen können (LaP, manen. Im Vorwort bekennt Luhmann seine Bewun-
175), sondern weil Alter es Ego ermöglicht, auch sich derung für die »sprachliche Eleganz der Formulie-
selbst als »einzigartiges Individuum« zu sehen (135). rung«, die seine »Zitatauswahl« orientiert habe, und
Die Entwicklung eines eigenen Codes für intime eine »persönliche Verliebtheit in den Stoff« (LaP, 12).
Kommunikation im Kontext weiterer Ausdifferen- Dies mag einen Grund für die Beliebtheit gerade die-
zierungen »erzwingt eine zunehmende Neutralisie- ser Monographie bei Kultur- und Literaturwissen-
rung aller Voraussetzungen für Liebe, die nicht in der schaftlern geben.
Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1982) 159

Foucault hat im ersten Band von Sexualität und oder auf »Latrinenwänden«, die das Individuum
Wahrheit (1983) den Übergang vom Allianzdisposi- nicht ausschlagen darf, wenn es seine Chancen bei
tiv zum Sexualitätsdispositiv beschrieben; Luhmann der Kontaktanbahnung nicht riskieren will (Luh-
macht in dieser Zeit drei sich abwechselnde Typen mann 2008, 73). Als Vorstudie zu Liebe als Passion,
aus: die vernünftige Liebe, die galante Liebe und die die erst ein Dutzend Jahre später erscheint (1982),
romantische Liebe. Die Ausdifferenzierung verläuft ist diese Übung von Interesse, weil man hier beobach-
in Etappen. Reflektiert wird dieser Prozess nach Luh- ten kann, wie Luhmann das Phänomen der Intim-
manns Ansicht vor allem auch in literarischen Tex- kommunikation schon zu Beginn seiner universi-
ten. Man könnte vermuten, dass die von unmittelba- tären Arbeit in den Zusammenhang einer Theorie
ren sozialen Auswirkungen entlastete Literatur als der Gesellschaft stellt (ebd., 10). Diese Theorie aber
Experimentierfeld unterschiedlicher Konzeptionen ›vereist‹ ihr Thema. Von freier Liebe spricht Luh-
der Liebe dient und schließlich ein Konzept aus die- mann nicht wie einer, den es angesichts befreiungs-
sen Experimenten hervorgeht: die ›bürgerliche‹ Lie- bereiter Körper bei seiner Ehefrau nicht mehr hält,
be als Einheit von Sexualität, Liebe und Freundschaft sondern im Vergleich zu freier Kunst, freier Wissen-
in der Ehe. schaft, freier politischer Willensbildung oder freier
Wirtschaft.
Die Methode, die hier zur Anwendung kommt, ist
Funktionale Vergleiche die des funktionalen Vergleichs. »Liebe wird dabei
nicht in der konkreten Einzigartigkeit des Phäno-
Niklas Luhmann hat in Frankfurt den Lehrstuhl von mens auf sich selbst isoliert, sondern als Problemlö-
Adorno vertreten und für ein Seminar des Winterse- sung behandelt, die von Systemstrukturen abhängt
mesters 1968/69 das Thema ›Liebe‹ gewählt. In sei- und anderen Problemlösungen vergleichbar ist«
nem kurzen und konzisen Text, den Luhmann im (ebd., 10). Im Falle der Liebe meint ›frei‹: frei zur
März 1969 an der Dortmunder Sozialforschungsstel- Ausbildung eigener Regeln und frei von externen
le der Universität Münster abschließt, ist denn auch, Dirigismen (ebd., 36). Die Eltern mögen ihre Töch-
passend zum Umfeld, von »freier« Liebe die Rede, ter zur Heirat zwingen können, aber nicht zur Liebe.
von Sex als Basis der Liebe, von Selbstverwirklichung So wie das Gegenteil von Planwirtschaft nicht die
und Selbstbefriedigung, von wechselnden Partner- Marktanarchie ist, besteht die Alternative zur
schaften, von Pornographie und Prostitution (Luh- Zwangsheirat nicht in einer Orgie im Darkroom.
mann 2008, 36 u. 45 ff. u. 74 f.). Aber auch in diesen Partner- und Preisbindung folgen selbstgesetzten Re-
Fällen wird Liebe als funktional ausdifferenziertes, geln – und nicht politischen Dekreten oder morali-
symbolisch generalisiertes »Kommunikationsmedi- schen Ansprüchen. Darin besteht ihre Autonomie.
um« konzipiert, dessen Codierungsvorschlägen sich Funktionale Ausdifferenzierung besagt im Kern: Wer
die »Gefühlslagen« der Akteure anpassen (ebd., 11). liebt, liebt – nichts anderes. »Liebe um Liebe«, for-
Von »amour passion« ist hier die Rede, freilich im muliert Jean Paul selbstbezüglich, das Zitat reüssiert
Sinne eines »Deutungsschemas« für Kommunikati- bei Luhmann zum locus classicus (ebd., 40).
onsofferten (ebd., 31). Passion ist gleichsam ein se- Setzten sich noch im 17. Jahrhundert die Notare
mantischer Trick, eine paradoxe Interaktion, die der Familien zusammen, um einen Ehevertrag aus-
»leidenschaftliches Handeln« erlaubt, weil der zuhandeln, geht es in der modernen Liebe um Indi-
Grund dafür einem Erleiden: der Passion zugerech- vidualität. Vermögen lässt sich vergleichen, der
net wird. Auch sozial unpassende Kontaktanbahnun- besondere Andere ist unvergleichlich. Liebe bedeute,
gen können so legitimiert werden, denn der Han- »den Unterschied zwischen einer Frau und anderen
delnde ist ja seiner Passion unterworfen. Liebe als Frauen zu übertreiben«, zitiert Luhmann Bernard
Passion wird so »zum Prinzip der Aktivität, und daß Shaw (ebd., 51). Eine komplizierte Semantik regt die
dieses Prinzip Passion genannt wird, bedeutet nur Liebenden zum Aufbau eines Sonderhorizontes an, in
noch, daß man sein Aktivsein nicht erklären, nicht dem alle noch so kleinen Dinge deshalb Bedeutung
begründen, nicht entschuldigen muß« (LaP, 75). bekommen, weil sie dem anderen wichtig oder eigen-
Auch die Passion wird so zu einem semantischen tümlich sind (LaP, 178). Der Liebescode ermöglicht
Wegbereiter der Ausdifferenzierung der Liebe. es, dem anderen bereits dadurch etwas zu geben, dass
Die Semantik der Liebe, so mussten die Frankfur- man so ist, wie man ist. Doch überzeugt die Ehe als
ter Studierenden zur Kenntnis nehmen, stellt »Lern- das Institut, das der Liebe Dauer verleihen soll, 1969
möglichkeiten« zur Verfügung, auch in »Filmen« nicht mehr jeden; und Luhmann erwägt mit ge-
160 Werke und Werkgruppen

wohnter Kühle die Möglichkeit, ob die in der Form Person und virtuell »alle Eigenschaften einer indivi-
episodischer Verabredungen zum unverbindlichen duellen Person bedeutsam werden« (LaP, 14). Sie
Sex betriebene Intimkommunikation als Funktions- verlangt und ermöglicht, dass man allen möglichen
äquivalent zu Parties, Fernsehen oder Sport gesehen Idiosynkrasien in der Kommunikation Rechnung
werden müsse (Luhmann 2008, 65). Das 18. Jahrhun- trägt (GG, 345). Ego liebt also dann, wenn es sein
dert hatte Romane, das 19. Bordelle und das 20. »Handeln darauf einstellt, was Alter erlebt, und insbe-
Wohngemeinschaften. Nach aller Abkühlung wird es sondere natürlich: wie Alter Ego erlebt« (GG, 344,
heiß, wenn Luhmann ein »voreheliches Testen sexu- Hervorh. durch den Verf.). Liebe schafft eine Sphäre,
eller Kompatibilität« begrüßt (ebd., 75). Näher ist er in der sich der eine auf die Andersheit des anderen
den 68ern wohl nie gekommen. einlässt, um sie, »wenn nicht zu ›genießen‹, so doch
Es sei nicht ungewöhnlich, sexuelle Beziehungen zu bestätigen ohne Absicht auf Angleichung, Umer-
ohne Liebe aufzunehmen, einfach so (Luhmann ziehung, Besserung« (GG, 346).
1987, 71). Liebe und Sexualität müssen deshalb un- Nicht mit jedem Kollegen oder Klienten, Beamten
terschieden werden. Liebe ist für Luhmann der sozia- oder Verkäufer muss ich privat werden. Die moderne
le Rahmen, in dem man aus Intimbeziehungen etwas Welt lässt jedem bei Personenkontakten die Wahl
machen kann. ›Liebe‹ ist der kulturelle Begriff dafür, zwischen unpersönlichen und persönlichen Bezie-
dass Intimbeziehungen etwas Höchstpersönliches hungen, und das Potential für persönliche Beziehun-
bedeuten und dass das, was sie einem selbst bedeutet, gen ist von engen Grenzen umgeben (Luhmann
gleichzeitig auch dem anderen etwas bedeutet (Luh- 1987, 68). Ein besonderer Code für Liebe bildet sich
mann 1987, 73). Wie dies zu kommunizieren ist, da- dann aus, wenn alle Informationen dupliziert wer-
für gibt der Code der Liebe Anhaltspunkte (ebd.). den im Hinblick auf das, was in der allgemeinen,
Seit dem 17. Jahrhundert ist dies in gedruckten lite- anonym konstituierten Welt, und das, was sie für
rarischen Texten nachzulesen, und man kann zu- Dich, für uns, für unsere Welt bedeuten (LaP, 25).
gleich voraussetzen, dass der andere auch die Dies fällt oft erst im Rückblick auf, etwa wenn Pamela
einschlägigen Romane rezipiert hat und den gängi- ihr Tagebuch liest und entdeckt, dass sie sich selbst
gen Code daher kennt (LaP, 37). Heute mögen Soaps längst mit den Augen von Mr. B sieht. In der anony-
und Filme, Songs oder soziale Netzwerke eine ähnli- men Welt der Wahrheiten und Werte wird so ein
che Rolle spielen. Sonderhorizont ausdifferenziert, in der die eigene
Liebe hat nichts mit Interessen zu tun, nichts mit Weltsicht Zustimmung und Unterstützung findet,
Geld, nicht einmal mit gutem Aussehen. Wenn Mo- nicht weil sie wahr oder gut begründet ist, sondern
tive den Ausschlag geben, handelt es sich eben nicht weil es die Weltsicht desjenigen ist, der geliebt wird
um Liebe. Genau diese Ausdifferenzierung macht (GG, 345). Personen senken also in diesem Sonder-
Liebe zum Medium einer Weltkonstruktion, die mit fall intimer Kommunikation »im Verhältnis zuei-
den Augen des anderen sieht und hier – ähnlich wie nander die Relevanzschwelle mit der Folge, daß das,
die Kunst im Genie oder das Recht im Urheber – un- was für den einen relevant ist, fast immer auch für
vergleichbare Originalität findet (GG, 347). In der den anderen relevant ist« (LaP, 200).
Literatur laufen diese Semantiken daher gerne paral-
lel (Werber 2003): Werther setzt in allen sozialen Be-
reichen auf Singularität und stößt entsprechend auf Liebe ist kein Gefühl – Liebe ist ein
das Problem der Inkommunikabilität von Indivi- Kommunikationscode
dualität. Die Semantik folgt eher dem Rat Alberts
und achtet auf Kompatibilität: »Die Verlobte des Relevanz zu kommunizieren, ist kein psychisches,
Studenten darf es nicht als Vernachlässigung emp- sondern ein soziales Problem (GG, 45). Es wird
finden, wenn seine Passion aussetzt, während er sich durch die Ausdifferenzierung eines Sets von Kom-
aufs Examen vorbereitet« (Luhmann 2008, 67). Alle munikationsanweisungen gelöst (LaP, 22). Der Be-
»Maßlosigkeit«, und das war Lottes Vorwurf gegen zugspunkt ›Gesellschaft‹ ist nach dieser Auffassung
Werther, sei »auf das gesellschaftlich Mögliche zu- Luhmanns also allein ausschlaggebend, das heißt, es
rückzuschneiden« (ebd., 67). Dennoch ermöglicht geht überhaupt nicht darum, was Einzelpersonen
gerade Liebe in einer ansonsten aus unpersönlichen fühlen oder denken, wenn sie sich verlieben, sondern
Beziehungen (Rollen) beruhenden modernen Ge- darum, wie man diese Sachverhalte kommuniziert.
sellschaft soziale Beziehungen, in denen mehr und Ohne Kommunikation bleibt auch der Verliebteste
mehr individuelle, einzigartige Eigenschaften der allein, oder genauer: Er wüsste nicht einmal, was das
Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1982) 161

sein könnte. Denn Liebe ist kein Gefühl, das es im- tiefe Zweifel, ob Aufrichtigkeit überhaupt kommuni-
mer und überall schon gab und immer und überall zierbar ist (Luhmann 1987, 64 f.). Weil Liebe ein
geben wird. Liebe ist ein Kommunikationscode, nach Code ist, kann sie simuliert und dissimuliert werden.
dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, si- Dies öffnet der Literatur ein weites Feld, da sie dank
mulieren, anderen unterstellen oder leugnen kann ihrer verschiedenen Fokalisierungsmöglichkeiten
(23). Alles, was als Liebe kommuniziert wird, ist der- verschiedene Perspektiven auf die Kommunikation,
art codiert (53). Sie stellt die historisch wechselnden, das Bewusstsein und selbst das Unbewusste ihrer
dann aber recht verbindlichen kulturellen Leitvor- Protagonisten eröffnen und so Simulationen, Dissi-
schriften und Bilder zur Verfügung, in deren Rahmen mulationen, ihre Motive und Folgen beobachtbar
das einzelne Paar dann etwas daraus machen kann. machen kann.
Die Funktionen und Effekte dieses Codes lassen sich
nicht auf der »Ebene faktischer Qualitäten, Gefühle,
Ursächlichkeiten erfassen, sondern diese sind immer Liebeskommunikation ist kontingent
schon sozial vermittelt durch eine Verständigung
über Möglichkeiten der Kommunikation« (23). Kommunikation generell teilt Informationen mit.
Ohne Code keine Liebe, und nur weil man den Code Sowohl bei der Information als auch bei der Art der
der Liebe schon kennt, fällt das Fehlen eines beson- Mitteilung handelt es sich um Selektionen. Die Kom-
deren Partners für eine intime Sonderwelt auf. Nur munikation könnte also immer auch anders ausfal-
deshalb fühlen sich Singles so allein. len. Auch in der Form der Liebeskommunikation ist
»Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu Kommunikation kontingent. Sie balanciert auf ei-
bilden und zu kommunizieren« (9). Es genügt ein nem Grat zwischen Unmöglichkeit und Notwendig-
Zufall (180), um die Kommunikation in Gang zu keit. Diese Kontingenz gibt der Liebe die Freiheit,
bringen. Man erhält eine unbedeutende Einladung, einen Partner für Intimbeziehungen selber zu finden,
holt noch jemanden ab, plaudert ein wenig – und ist mit dem man dann zu regeln (zu entscheiden) hat,
bereits gefangen von den Regeln intimer Kommuni- welche Form für diese Beziehung gefunden wird
kation. Auch kann man seit dem 17. Jahrhundert wis- (Luhmann 1987, 68). Die Form der Liebe hängt nicht
sen, dass auch die Welt der körperlichen Zeichen vom Schicksal, sondern von den eigenen Entschei-
vom Erröten bis zu den Tränen zum Register der dungen ab, denn die Paarbindung ist von der Gesell-
»Sprachen der Verstellung« gehört und ihre Authen- schaft »heute« für individuelle Behandlung freigege-
tizität in Zweifel steht (Geitner 1992). Auch dies hat ben: »Es kommt darauf an, was man daraus macht«
seinen Grund in der Codierung der Liebe, die Kom- (Luhmann 1987, 70). Die von Verpflichtungen (ge-
munikationsanweisungen unabhängig davon liefert, genüber Familien, Klans, Vermögensverhältnissen,
ob Gefühle vorliegen oder nicht (LaP, 22 f.). Damit Stand, Religion, Zünfte usw.) weitgehend freigestellte
stellt sich das Problem der Inkommunikabilität von Liebe begründet aber zugleich ein Risiko, das man
Authentizität (54). Denn das Wissen um die Codie- eingeht, wenn man sich selbst für den einen und
rung der Anbahnung und Erhaltung von Liebesver- nicht den anderen Partner entscheidet (SdR). Man
hältnissen führt dazu, die Intimkommunikation für kann sich entscheiden, etwa ob man Kinder haben
tendenziell unaufrichtig zu halten (131). will oder nicht, ob man eine Familie gründet oder ein
Seit dem 18. Jahrhundert verlangt die autonom ›Single zu zweit‹ bleiben möchte, in welcher Weise
gewordene Liebe nach Individualität. Nun wird die man Sexualität einbaut, ob man einen Versorgungs-
schematisch wiederholte Geste zur Floskel (53) und ausgleich dranhängt (Luhmann 1987, 72 f.), ob man
die vorhersehbare Rhetorik zur unerträglichen Pe- dem Studenten im Examensstress für die Zukunft
danterie (62). Die Beobachtung von aus Büchern co- eine Chance gibt oder ahnt, dass nach den Prüfungen
pierten Formen der Kommunikation führt zum andere Ablenkungen von der Passion folgen werden
Problem der Unterscheidung zwischen aufrichtiger etc. All diese Entscheidungen begründen die Auto-
und unaufrichtiger Liebe (159). Wenn jemand liebt nomie der Liebe wie ihre Risiken, ihre Freiheit wie ihr
und also kommuniziert ›wie ein Buch‹, dann fehlt es Scheitern. Die Risiken der Bindung können kalku-
an Individualität oder an Glaubwürdigkeit. Doch liert werden – aber die Entscheidung trifft man
wer bei seiner Variation des Codes auf forcierte Indi- selbst.
vidualität setzt, der riskiert Verständnismöglichkei- Die andere Seite der Entscheidung ist ihre Kontin-
ten. In diesem selbstgestrickten Netz verfängt sich genz. Wird dies registriert, fällt auf, dass vieles mög-
die Kommunikation. Das 18. Jahrhundert entwickelt lich, aber nichts zwingend ist. Wie soll man lieben,
162 Werke und Werkgruppen

wenn die Kommunikation von Intimität kontingent Literatur


ist und andere Formen der Liebe möglich sind? Wa-
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und
rum so – und nicht anders? Warum diese(n) – und Wahrheit 1 [1977]. Frankfurt a. M. 1983.
niemanden anderen? Eine solche Beobachtung des Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum
Codes kann (selbst-)zerstörerische Folgen haben (SS, rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und
459). Kontingenzen werden daher mit Latenzschutz 18. Jahrhundert. Tübingen 1992.
ausgestattet. Man schaut nicht hin. Die Semantik Luhmann, Niklas: »Soziologie als Theorie sozialer Systeme«
[1967]. In: JA1, 113–136.
kompensiert ihre eigene Kontingenz mit einer Meta- –: »Darum Liebe«. In: Dirk Baecker/Georg Stanitzek (Hg.):
phorik, die das Gegenteil behauptet. Es war dann Archimedes und wir. Berlin 1987, 61–73.
kein Zufall, dass man sich in der Disco oder beim –: »Die Welt der Kunst« [1991]. JKL, 299–315.
Ball, im Zug oder der Postkutsche getroffen hat, son- –: Liebe. Eine Übung. Frankfurt a. M. 2008.
dern Schicksal. ›Liebe auf den ersten Blick‹, ›jeman- Werber, Niels: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer
und literarischer Kommunikation. München 2003.
dem verfallen‹, ›füreinander Bestimmtsein‹, ›auf den
Richtigen gewartet haben‹ sind Beispiele für For- Niels Werber
meln, welche die Unwahrscheinlichkeit abblenden,
gerade diesen Menschen der großen Gruppe aller üb-
rigen vorzuziehen. Auch die Liebe als Passion zeich-
net sich durch eine semantische Operation aus, die
das wie immer motivierte Interesse Egos an Alter aus
dem Verantwortungsbereich Egos auslagert: Es sei
Alter gewesen, der eine unwiderstehliche Passion er-
weckt habe, die Ego wie eine Krankheit erdulde, de-
ren einzige Arznei wiederum Alter bieten könne.
»Aktivität wird als Passivität, Freiheit als Zwang ge-
tarnt« (LaP, 73). Diese Umattribution, die für einen
Vicomte de Valmont nur ein rhetorisches Instrument
der Eroberung ist, erlebt Werther als unausweichli-
ches Schicksal. Wer dagegen die in der Intimkommu-
nikation latent gehaltene Kontingenz thematisiert
und etwa nach besseren Gründen sucht, riskiert das
Ende der Liebe. Deshalb heiraten Reiche und Be-
rühmte lieber unter sich.
Die Einsicht in die Kontingenz der Form erzeugt
Distanz: Um 1800 tritt sie auf als romantische Ironie.
Alles ist nur ein Code, und man weiß, dass die Liebe
ein literarisch präformiertes, geradezu vorgeschrie-
benes Gefühl ist (LaP, 53). Die Beobachtung des In-
timcodes aus einer Beobachterposition, die jede
Liebesgeschichte in einen kontingenten Fall verwan-
delt, verhindert Liebe aber nicht, sondern macht sie
reflexiv. Statt ein Objekt zu lieben, von dem man
weiß, es könnte ein anderes sein, wird das »Lieben
des Liebens« geliebt (LaP, 174). ›Liebe um Liebe‹ wird
daher zur Kontingenzformel der Romantik. Aus die-
ser Selbstreflexivität folgt aber auch: Die Liebe berei-
tet sich alles Glück und Unglück, was sie erfährt,
selbst (SS, 621).
163

7. Soziale Systeme. Grundriß erhoben. Universalität meint in diesem Zusammen-


hang nicht eine Aspiration auf universale Geltung
einer allgemeinen Theorie oder Wahrheit, sondern den Anspruch, »den gesam-
(1984) ten Gegenstandsbereich der Soziologie zu erfassen
und in diesem Sinne universelle soziologische Theo-
In einem Interview aus dem Jahr 1985, also ein Jahr rie zu sein« (ebd.). Ein »Selektionsprinzip« sei ein
nach Erscheinen von Soziale Systeme, nennt Luh- solcher Anspruch, also keine Universalität im Sinne
mann dieses Buch seine erste »richtige Publikation« – von Vollständigkeit oder Allgültigkeit, sondern nur
nachdem von ihm bereits etwa 30 Bücher und über in dem Sinne, eine Theorie des Sozialen schlechthin
100 Aufsätze vorlagen: »Ich habe bei Büchern und sein zu wollen.
Aufsätzen keine Perfektions-Vorstellung, so wie Ausgangspunkt der systemtheoretischen Fundie-
manche, die meinen, bereits bei dem ersten Buch ein rung soziologischer Theorie ist ein von Luhmann
endgültiges Werk schreiben zu müssen. Was ich bis- diagnostizierter »Paradigmawechsel in der System-
her geschrieben habe, ist alles noch Null-Serie der theorie« (15 ff.) von der Vorstellung offener Systeme,
Theorieproduktion – mit Ausnahme vielleicht des die Austauschprozesse mit ihrer Umwelt unterhalten,
zuletzt erschienen Buches ›Soziale Systeme‹« (Luh- zur Konzeption von geschlossenen, selbstreferentiel-
mann 1987, 142). len Systemen. »Die Theorie selbstreferentieller Syste-
Im Werk von Luhmann markiert dieses Buch je- me behauptet, daß eine Ausdifferenzierung von
nen Punkt, an dem die Theorie selbstreferentiellen Systemen nur durch Selbstreferenz zustandekom-
Operierens, wie sie in der allgemeinen Systemtheorie men kann, das heißt dadurch, daß die Systeme in der
und in der von Luhmann dann adaptierten Theorie Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren
der Autopoiesis vorbereitet worden ist, auf eine Operationen auf sich selbst […] Bezug nehmen«
Theorie sozialer Systeme appliziert werden sollte. (25). Solche Systeme erwerben ihren Umweltkontakt
Gemäß einer Selbstauskunft im Vorwort seines spä- insbesondere durch Selbstkontakt, d. h. die Aufnah-
ten Hauptwerkes Die Gesellschaft der Gesellschaft von me von Umweltreizen wird ausschließlich als inter-
1997 hatte Luhmann vor, eine Theorie der Gesell- nes Geschehen verstanden. Keineswegs sind selbstre-
schaft zu verfassen, die aus drei Kapiteln bestehen ferentielle Systeme von ihrer Umwelt isoliert oder gar
sollte: aus »einem systemtheoretischen Einleitungs- umweltunabhängig, die Geschlossenheit ihrer Ope-
kapitel, einer Darstellung des Gesellschaftssystems rationsweise freilich zwingt solche Systeme dazu, sich
und einem dritten Teil mit einer Darstellung der selektiv, und zwar: selbstselektiv auf ihre Umwelt zu
wichtigsten Funktionssysteme der Gesellschaft« beziehen. »Die (inzwischen klassische) Unterschei-
(GG, 11). An diesem Plan hat Luhmann tatsächlich dung von ›geschlossenen‹ und ›offenen‹ Systemen
festgehalten, aber die Publikationsstrategie geändert, wird ersetzt durch die Frage, wie selbstreferentielle
da all das nicht zwischen zwei Buchdeckel passte. Die Geschlossenheit Offenheit erzeugen könne« (25).
Darstellung des Gesellschaftssystems war dann be- Die operative Geschlossenheit selbstreferentieller
sagtes Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft, und die Systeme macht sie zu autopoietischen Systemen. Ein
Darstellungen der Funktionssysteme hat Luhmann System operiert dann autopoietisch, wenn »die Ele-
dann als Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Die mente, aus denen das System besteht, durch das Sys-
Wissenschaft der Gesellschaft (1990) usw. in einzelnen tem selbst als Einheiten konstituiert werden« (61).
Monografien vorgelegt. Als das so genannte »Einlei- Luhmann folgt damit einem Begriffsvorschlag von
tungskapitel« schließlich bezeichnet Luhmann in je- Humberto R. Maturana (1982), schließt aber auch an
nem Vorwort das 1984 publizierte Buch Soziale ältere Theoriefiguren der Bewusstseinsphilosophie
Systeme. an, die letztlich auch schon mit der Frage zu tun hat-
te, wie ein allein auf seinen eigenen Operationen ba-
sierendes System so viel Stabilität aus sich selbst
Eine universalistische Theorieanlage heraus entwickeln kann, dass es ein Level geordneter
Komplexität und damit Anschlussfähigkeit an sich
Luhmann gibt zwei entscheidende Referenzpunkte selbst erreichen kann. Die sich daraus ergebenden
seiner Theorie an: Zum einen orientiert sich die Paradoxien der Selbstreferenz werden in Soziale Sys-
Theorie sozialer Systeme an einer allgemeinen Sys- teme nur gestreift, von Luhmann aber in späteren
temtheorie als interdisziplinärem Paradigma. Zum Arbeiten ausführlich behandelt. Unter dem Titel
anderen werden »Universalitätsansprüche« (SS, 33) »Konsequenzen für Erkenntnistheorie« freilich
164 Werke und Werkgruppen

macht Luhmann im Schlusskapitel auf einen Um- len, dann stellt sich die Frage nach den für ein soziales
stand aufmerksam, den man letztlich als die beson- System nicht weiter dekomponierbaren Letztele-
dere ästhetische Verfassung seiner Theorie bezeich- menten, die Luhmann im Falle sozialer Systeme als
nen könnte. Er betont, dass Erkenntnistheorie, also ›Kommunikationen‹ bezeichnet. Soziales Geschehen
die Reflexion über den Erkenntnisprozess, selbst mit ist demnach ein selbstreferentieller Prozess der Er-
den Mitteln der Erkenntnis arbeite. Erkenntnistheo- zeugung von Kommunikation durch Kommunikati-
rien »sind selbst auch ein Moment selbstreferentiel- on. Damit verabschiedet sich Luhmann vom Kon-
ler Autopoiesis« (647). Um dennoch einen quasi- zept der Handlungssysteme, ohne dabei den Hand-
objektivierbaren Standpunkt einnehmen zu können, lungsbegriff fahren zu lassen. Er schreibt: »Der
könnte man auf transzendentale oder metaphysische elementare, Soziales als besondere Realität konstitu-
Positionen zurückgreifen – einfach so zu tun, als ierende Prozeß ist ein Kommunikationsprozeß. Die-
könne man einen unmittelbaren Zugang zur Wirk- ser Prozeß muß aber, um sich selbst steuern zu
lichkeit durch geeignete Methoden garantieren, wür- können, auf Handlungen reduziert, in Handlungen
de den Reflexionsstand der Erkenntnistheorie unter- dekomponiert werden« (193). Der Handlungsbegriff
schreiten. tritt damit in die zweite Reihe zurück. Handlungen
Luhmann wählt nun weder einen transzendenta- lassen sich nach diesem Verständnis nur als beson-
len noch einen realistischen Ausweg, sondern einen ders beobachtete Teile eines Kommunikationspro-
schlicht empirischen, denn für alle Erkenntnistheo- zesses auffassen. Kommunikation ist hier demnach
rien gilt: »Sie betreiben, was sie beschreiben, selbst« nicht als idealisierende Übertragung von Informati-
(647). Soziologisch bedeutet dieses empirische Argu- on von einem zu einem anderen Kommunikanden
ment, dass die Theorie sozialer Systeme selbst als zu verstehen, sondern als das Geschehen, das Infor-
Kommunikation fungiert und dass eine Theorie der mation durch den Anschluss und die Anschlussbe-
Gesellschaft in jener Gesellschaft statthat, in der sie dingungen kommunikativer Abläufe erzeugt und
geschrieben wird. »Eine Theorie der Kommunikati- stabilisiert. Damit schließt Luhmann an mathemati-
on ist selbst nichts anderes als eine Anweisung für sche Kommunikationstheorien von Norbert Wiener
Kommunikation, und sie muß auch als Anweisung oder Claude Shannon an (einführend dazu vgl. Bae-
noch kommunizierbar sein. Sie muß sich also vorse- cker 2005, 15 ff.).
hen, jedenfalls: umsehen: Sie kann über ihren Gegen- ›Kommunikation‹ entwickelt Luhmann in Soziale
stand nichts behaupten, was sie nicht als Aussage Systeme dementsprechend als dreistellige Selektion
über sich selbst hinzunehmen bereit ist« (651). Dies aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede In-
ist alles andere als eine logische Spielerei oder Spitz- formation ist eine Selektion aus einem Horizont von
findigkeit, sondern verweist auf den Grundzug einer Möglichkeiten, was kommuniziert werden kann, und
Theorie sozialer Systeme, die nichts Soziales kennt, es stehen mehrere Mitteilungsmöglichkeiten zur Ver-
das außerhalb sozialer Systeme und außerhalb des fügung, wie eine Information kommuniziert wird.
Gesellschaftssystems situiert wäre. Damit dürfte Entscheidend ist freilich die dritte Selektion, das Ver-
noch deutlicher werden, dass das Selektionskrite- stehen. Wäre Kommunikation ausschließlich Mittei-
rium einer »universalistischen« Theorieanlage zu- lung einer Information, läge ein Kommunikations-
gleich eine einschränkende Bedingung ist – ein- modell im Sinne einer Übertragung von Informatio-
schränkend, weil die theoretische Beobachtung selbst nen durch das Medium der Mitteilung zugrunde.
Gegenstand und Teil der theoretischen Beobachtung Um Kommunikation aber als selbstreferentiellen Er-
ist. eigniszusammenhang beschreiben zu können, führt
Luhmann das Verstehen als Anschlussselektion ein.
Kommunikation ist erst dann vollzogen, wenn an
Operative Geschlossenheit eine mitgeteilte Information wiederum kommunika-
tiv angeschlossen wird. Entscheidend ist, dass alle
Die Adaption der Theorie selbstreferentieller, auto- drei Selektionen, auch das Verstehen, ausschließlich
poietischer Systeme auf die Soziologie erfolgt mit als Selektionen der Kommunikation angesehen wer-
dem Ziel, auch soziale Systeme als operativ geschlos- den. Was die beteiligten Menschen/Bewusstseine ver-
sene, autopoietische Einheiten zu konzipieren, die stehen, ist vom Kommunikationsgeschehen zwar
ihren Umwelt- und Realitätskontakt in erster Linie nicht unabhängig, aber doch operativ getrennt. In
über Selbstkontakt herstellen. Wenn soziale Systeme diesem Sinne kann nur die Kommunikation kom-
als autopoietische Einheiten beschrieben werden sol- munizieren, nicht der Mensch (vgl. WissG, 31). Das
Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (1984) 165

verweist auf das Verhältnis von sozialen und psy- sondern durch die Emergenz eines dritten Systems
chischen Systemen. ermöglicht wird. Anders als Parsons löst Luhmann
»Wir gehen davon aus, daß die sozialen Systeme dies nicht durch das funktionale Erfordernis gemein-
nicht aus psychischen Systemen, geschweige denn samer (sic!) Normen oder Konventionen, sondern
aus leibhaftigen Menschen bestehen. Demnach ge- operativ, gewissermaßen durch trial and error. »Ein
hören die psychischen Systeme zur Umwelt sozialer soziales System baut nicht darauf auf und ist auch
Systeme« (SS, 346). Wie soziale Systeme ausschließ- nicht darauf angewiesen, daß diejenigen Systeme, die
lich aus dem operativ geschlossenen Nacheinander in doppelter Kontingenz stehen, sich wechselseitig
von kommunikativen Ereignissen bestehen, so sind durchschauen und prognostizieren können. Das so-
auch psychische Systeme operativ geschlossen, d. h. ziale System ist gerade deshalb System, weil es keine
kein Bewusstsein kann aus dem autopoietischen Er- basale Zustandsgewißheit und keine darauf aufbau-
eigniszusammenhang seiner Gedanken operativ aus- enden Verhaltensvorhersagen gibt. Kontrolliert wer-
brechen. Dass Bewusstsein und Kommunikation den nur die daraus folgenden Ungewißheiten in
freilich als überschneidungsfreie Systeme gedacht Bezug auf das eigene Verhalten der Teilnehmer«
werden, bedeutet keineswegs eine wechselseitige Un- (157).
abhängigkeit. Explizit schreibt Luhmann: »Denn die Die einzige unterstellte Gemeinsamkeit psy-
Auffassung, daß soziale Systeme nicht aus Individuen chischer und sozialer Systeme liegt in der Operati-
bestehen und auch nicht durch körperliche oder psy- onsweise. Sowohl psychische als auch soziale Systeme
chische Prozesse erzeugt werden könnten, besagt na- operieren, wiewohl operativ getrennt, sinnförmig. Je-
türlich nicht, daß es in der Welt sozialer Systeme der Sinn, so Luhmann, »reformuliert […] den in aller
keine Individuen gäbe. Im Gegenteil: eine Theorie Komplexität implizierten Selektionszwang, und je-
selbstreferentieller autopoietischer Sozialsysteme der bestimmte Sinn qualifiziert sich dadurch, daß er
provoziert geradezu die Frage nach der selbstreferen- bestimmte Anschlußmöglichkeiten nahelegt und an-
tiellen Autopoiesis psychischer Systeme und mit ihr dere unwahrscheinlich oder schwierig oder weitläu-
die Frage, wie psychische Systeme ihre Selbstrepro- fig macht oder (vorläufig) ausschließt. Sinn ist […] –
duktion von Moment zu Moment, den ›Strom‹ ihres der Form, nicht dem Inhalt nach – Wiedergabe von
›Bewußtseinslebens‹, so einrichten können, daß ihre Komplexität« (94). Sinn ordnet gewissermaßen die
Geschlossenheit mit einer Umwelt sozialer Systeme Welt – aber dies nicht vor der Systembildung, son-
kompatibel ist« (347 f.). Ohne die Beteiligung von dern stets als Systemoperation. Der Sinnbegriff in So-
psychischen Systemen kann es keine Kommunikati- ziale Systeme unterscheidet nicht sinnvolle von
on geben, und ebensowenig können psychische Sys- sinnlosen Möglichkeiten (vgl. Hahn 1987), sondern
teme, die füreinander intransparent sind, miteinan- verweist darauf, wie in sozialen und psychischen Sys-
der Kontakt aufnehmen, ohne dass Kommunikation temen die Weltkomplexität so geordnet wird, dass
als emergente Ebene entsteht. Luhmann versucht Anschlussmöglichkeiten nicht unstrukturiert, nicht
also nicht, Bedingungen anzugeben, unter denen haltlos und nicht beliebig, aber eben auch nicht not-
Kommunikation möglich ist, obwohl Bewusstseine – wendig oder gar festgelegt erscheinen. Sinn verweist,
wenn man so will: Menschen – füreinander intrans- als Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit,
parent sind, sondern er versucht zu zeigen, dass stets auf andere Möglichkeiten, weist also jeden Zu-
Kommunikation als operativ eigenständige, emer- griff auf die Welt als Selektion aus. Sinn kann nach
gente Ebene entsteht, weil Bewusstseinssysteme für- diesem Verständnis nicht verfehlt werden, sondern
einander irreduzibel intransparent sind und es in der ist die unvermeidliche Operationsgrundlage psy-
Kommunikation auch bleiben. chischer und sozialer Systeme. Als evolutionär er-
folgreichstes, aber keineswegs einziges Verweisungs-
system und damit als Sinnspeicher fungiert Sprache
Doppelte Kontingenz (SS, 137).

Um dies zu verdeutlichen, bedient sich Luhmann des


von Talcott Parsons stammenden Modells der ›dop- Gegen die Unterscheidung von Mikro- und
pelten Kontingenz‹ – also des Gegenübers zweier für- Makroebenen
einander intransparenter, ihr Verhalten jeweils von
Alter Ego abhängig machender Entitäten, deren Gemäß der Anlage als »Einleitungskapitel« zu einer
wechselseitiger Kontakt nicht durch Verschmelzung, geplanten Theorie der Gesellschaft spielt die Unter-
166 Werke und Werkgruppen

scheidung unterschiedlicher Systemtypen – nament- Operativität als Verzeitlichung


lich Interaktion, Organisation und Gesellschaft – in
Soziale Systeme keine systematische Rolle. Erst im Mit dem Buch Soziale Systeme und der Adaption der
Anschluss an dieses Buch veröffentlicht Luhmann allgemeinen Theorie selbstreferentieller Systeme auf
eine Reihe von Büchern über einzelne Funktionssys- die Soziologie gelingt Luhmann aber vor allem dies:
teme mit der Systemreferenz ›Gesellschaft‹. Die Wie- die Etablierung einer Theorie des Operativen in der
deraufnahme seiner frühen organisationssoziologi- Soziologie. Das Buch ist insofern ein wirklich radika-
schen Arbeiten mit Verwendung der neuen Theorie- les Buch, als es das selbstreferentielle Geschehen au-
anlage erfolgt dann noch später, und die Conclusio topoietischer Systeme radikal verzeitlicht. Autopoie-
findet sich, wie schon erwähnt, erst 1997 mit Die Ge- tische Systeme sind dann ereignisbasierte Systeme,
sellschaft der Gesellschaft. An einer Stelle aber nimmt und Strukturen sind der Ereignishaftigkeit nicht vor-
Luhmann auch in Soziale Systeme schon die Frage der geordnet, sondern werden im Sich-Ereignen erst er-
Systemreferenz auf, in dem Kapitel »Gesellschaft und zeugt. »Jedes Ereignis vollzieht in diesem Sinne eine
Interaktion« nämlich. In diesem Kapitel geht es um Gesamtmodifikation der Zeit. Die zeitliche Punktua-
die Frage der Ebenendifferenzierung – oder besser: lisierung der Elemente als Ereignisse ist nur in der
um die Vermeidung von Ebenendifferenzierung. Üb- Zeit und nur Dank der Zeit möglich; aber sie realisiert
licherweise wird in der Soziologie zwischen Mikro-, durch Verschwinden und durch Gesamtmodifikati-
Meso- und Makroebenen unterschieden, wobei es on ein Maximum an Freiheit gegenüber der Zeit. Die-
sich hierbei lediglich um Kumulationsebenen unter- ser Freiheitsgewinn muß durch Strukturbildung
schiedlicher Allgemeinheitsgrade handelt. Aus- bezahlt werden; denn es wird daraufhin nötig, die
gangspunkt sind stets interaktionsnahe oder hand- Reproduktion der Ereignisse durch Ereignisse zu re-
lungsnah gebaute Operationen. Hier treffen sich der gulieren« (SS, 390). Strukturbildung ist also nichts
symbolische Interaktionismus eines George Herbert den Ereignissen Äußerliches, sondern Strukturbil-
Mead durchaus mit Theorien, die die Mikrofundiert- dung erfolgt durch die erwartungsgestützte Repro-
heit aller Makrophänomene zum Ausgangspunkt ih- duktion von Ereignissen. In aller Radikalität formu-
rer Überlegungen machen, so etwa in James Cole- liert Luhmann: »Strukturen gibt es nur als jeweils
mans berühmtem »Badewannenmodell«, in dem gegenwärtige; sie durchgreifen die Zeit nur im Zeit-
Makrophänomene gewissermaßen als Summe von horizont der Gegenwart, die gegenwärtige Zukunft
Mikrophänomenen behandelt werden (vgl. Coleman mit der gegenwärtigen Vergangenheit integrierend«
1981, 10 ff.). Eine solche soziologische Theorie ließe (399). Diese Integration, zu der sowohl die erwar-
sich aber nicht auf solche sozialen Prozesse anwen- tungskonforme Kontinuität gehört als auch die
den, die nicht auf die Anwesenheit von Handelnden Überraschung, die selektive Abweichung und der
angewiesen sind – exakt deshalb sind solche Theo- Bruch, kann immer nur je gegenwärtig erfolgen und
rien der Ebenendifferenzierung stets Handlungs- ist gerade deshalb dem System nicht vorgeordnet und
theorien, weil sie Selbstreferenz an die Sichtbarkeit insofern dem System auch nicht transparent in dem
Alter Egos binden müssen, dann aber alle über An- Sinne, dass es eine Identität seiner selbst voraussetzen
wesenheit hinausgehende Sozialität nur noch im Sin- müsste, um kontinuieren zu können (vgl. Nassehi
ne normativer Integration, durch Unterstellung eines 2008, 182 ff.).
generalisierten Anderen oder als Kultur erklären Aus dieser Theorieanlage ergeben sich erhebliche
können. Konsequenzen für den Struktur- und den Prozessbe-
Mit der Unterscheidung von Interaktion und Ge- griff – und noch größer sind die Konsequenzen da-
sellschaft kann es Luhmann aber gelingen, Sozialfor- für, was eine systemtheoretische Soziologie im Sinne
men, die nicht auf Anwesenheit setzen, nicht einfach Luhmanns eigentlich meint. Letztlich ist das Buch
als Kollektivphänomene oder als eine allgemeinere nicht nur ein Meilenstein in der Geschichte soziolo-
Ebene zu fassen, sondern als Ordnungsebene eigenen gischer Theoriebildung, sondern leistet auch dem
Rechts. Gesellschaft und Organisation sind nicht ein- Missverständnis Vorschub, dass es sich bei der Sys-
fach allgemeinere Sozialsysteme, sondern Sozialsys- temtheorie um eine Theorie handle, die Einzelereig-
teme anderen Typs als Interaktionen. nisse stets nur als das Ergebnis von Systembildung
betrachte. Der semantische Gehalt des Begriffs ›Sys-
tem‹ besteht üblicherweise immer noch im Verständ-
nis einer stabilen, reifizierten Einheit, gewisserma-
ßen einer ›Top-Down-Struktur‹, die das individuelle
Ökologische Kommunikation (1986) 167

Ereignis eben nicht ernst nimmt, sondern nur als 8. Ökologische Kommunikation.
Ausdruck einer Systemlogik oder eines Systemimpe-
rativs. Exakt das Gegenteil ist gemeint: Systeme wer-
Kann die moderne Gesell-
den durch Einzelereignisse erst strukturiert, sie sind schaft sich auf ökologische
die letzten, nicht dekomponierbaren Elemente, auf Gefährdungen einstellen?
deren Basis Systembildung erfolgt.
Dies ist in der Rezeption des Buches kaum explizit
(1986)
gesehen worden – und womöglich besteht die Tragik
des Buches darin, dass es mit der Begriffsentschei- 1986 war das Jahr, in dem Ökologische Kommunika-
dung für Systemtheorie gerade die Adaption tempo- tion veröffentlicht wurde. Es war auch ein Jahr von
ralisierter Systemtheorien auf die Soziologie schwie- akuten Umweltproblemen: Das Ozonloch wurde
riger macht. Wollte man die Wirkung des Buches entdeckt, der Kernreaktor in Tschernobyl explodier-
innerhalb der Soziologie auf eine Formel bringen, so te, das Waldsterben war in vollem Gang und am
könnte man womöglich von der Überforderung ei- Rhein ereigneten sich Chemieunfälle. Die Semantik
ner Disziplin sprechen, die sich in ihren Begriffsrou- der Massenmedien fügte der ›Umweltkatastrophe‹
tinen allzu eindeutig eingerichtet hat. Genau besehen eine ›Klimakatastrophe‹ hinzu, die auf dem Titelblatt
aber dekonstruiert Soziale Systeme die Lieblingsun- des Nachrichtenmagazins Der Spiegel ikonischen
terscheidungen des Faches: Es bietet weder eine Ma- Ausdruck fand. Nicht nur Luhmanns Buch erschien
kro-, noch eine Mikrosoziologie, es ist weder eine damit zu einem ›günstigen‹ Zeitpunkt, ganz so, als ob
subjektivistische noch eine objektivistische Theorie- die Krisen nach einer kompetenten Erklärung ver-
anlage. Nicht einmal, ob sie eher kritisch oder affir- langten. Ulrich Becks Risikogesellschaft erschien im
mativ sei, wird klar entscheiden – eben weil dieses selben Jahr. Seitdem werden beide Bücher oft in ei-
»Einleitungskapitel« sich diesen fach- und lehrbuch- nem Zug erwähnt und nicht nur als Seminarliteratur
konstituierenden Unterscheidungen des Faches ent- empfohlen. Sie fanden ihren Weg in breite Debatten
ziehen wollte und Ausgangspunkt einer Systemtheo- über die moderne Gesellschaft und ihre selbstge-
rie ist, die dem Systembegriff all jene Assoziationen machten Umweltkrisen. Die Stunde der Risikosozio-
auszutreiben angetreten ist, die im Fach seit Parsons logie hatte geschlagen, zumindest in Deutschland.
gelten. Die Rezeption beider Werke durch die akademische
Literatur zeigt, dass Luhmanns Wirkung vor allem
im deutschen Sprachraum erfolgt, während Becks
Literatur Studie insbesondere im angelsächsischen Raum
Baecker, Dirk: Form und Formen der Kommunikation. deutlich stärker rezipiert wird.
Frankfurt a. M. 2005. Das Buch Ökologische Kommunikation ist kein ge-
Coleman, James: Grundlagen der Sozialtheorie. Band 1. wöhnliches Luhmann-Buch. Es erschien nur zwei
München 1981. Jahre nach dem bahnbrechenden Werk Soziale Syste-
Hahn, Alois: »Sinn und Sinnlosigkeit«. In: Hans Hafer-
kamp/Michael Schmid (Hg.): Sinn, Kommunikation me (1984), noch bevor Luhmann Darstellungen der
und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns anderen Teilsysteme veröffentlichte (v. a. Das Recht
Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. 1987, 155–164. der Gesellschaft, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Die
Luhmann, Niklas: Archimedes und wir. Berlin 1987. Wissenschaft der Gesellschaft und Die Gesellschaft der
Maturana, Humberto R.: Erkennen. Die Organisation und Gesellschaft). Seine Auseinandersetzung mit dem
Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten
zur biologischen Epistemologie. Braunschweig 1982.
Thema ›Ökologie‹ gleicht eher den zeitdiagnosti-
Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu schen Büchern Realität der Massenmedien (1995)
einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden 22008. und Beobachtungen der Moderne (1992), die, wie
Armin Nassehi
Ökologische Kommunikation, ebenfalls außerhalb des
Suhrkamp Verlages erschienen. Wahrscheinlich hätte
Luhmann ähnliche Diagnosen zum Terrorismus und
zur Finanzkrise geschrieben. Aber zu jener Zeit war
die ›Umweltkrise‹ in aller Munde und die grünen
Protestbewegungen schafften es, die Grünen als Par-
tei im deutschen Bundestag zu etablieren. Luhmann
sah das Thema als Herausforderung, da es sich so of-
fensichtlich quer stellte zu den funktionalen Scheide-
168 Werke und Werkgruppen

wänden der modernen Gesellschaft. In gewisser In weiten Teilen des Buches finden sich denn auch
Weise schien die ökologische Problematik nicht nur Ausführungen, die das Programm der autopoieti-
die herkömmliche Politik hinter sich zu lassen, son- schen Systemtheorie ausbuchstabieren. Einzelne Ka-
dern auch die Gesellschaftstheorie. In diesem Beitrag pitel zu Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik,
soll es deshalb nicht nur um eine theorieimmanente Religion und Erziehung leisten dies. Andere Zentral-
Würdigung eines nun schon klassischen Textes gehen aspekte wie Beobachtung zweiter Ordnung, Codie-
(Baecker 2006). Vielmehr sollen auch Luhmanns rung und Programmierung sowie funktionale Diffe-
Thesen zum Problembereich ›Ökologie‹ kritisch dis- renzierung kommen hinzu. Eingerahmt wird das
kutiert werden. Ganze jedoch von einem Begriff, der sonst nicht so
»Was wir über die Stratosphäre wissen, gleicht prominent aus Luhmanns Werk herausragt, dem Be-
dem, was Platon über Atlantis weiß: Man hat davon griff der Resonanz. Dieser Begriff wird metaphorisch
gehört« (RdM, 9), schreibt Niklas Luhmann neun eingeführt und erfüllt seinen Zweck in der Argumen-
Jahre nach der Veröffentlichung von Ökologische tation sehr effektiv. Man kann sich vorstellen, wie
Kommunikation, nachdem das Montreal-Protokoll verschiedene soziale ›Sphären‹ oder ›Körper‹ auf ein
zum Schutz der Ozonschicht unterzeichnet wurde Geräusch ansprechen und unterschiedlich mit-
und als die internationalen Verhandlungen zum Kli- schwingen. Das kann zu einem musikalischen Wohl-
maschutz in eine kritische Phase traten. Luhmann klang führen oder zur Kakophonie. Man hat in
fügte dem obigen Bonmot bekanntlich ein anderes, diesem Zusammenhang auch von zerspringenden
etwas enigmatischeres, hinzu: »Oder wie Horatio es Gläsern gehört oder von einstürzenden Brücken. In-
ausdrückt: So I have heard, and do in part believe it« dem Luhmann dieses Bild evoziert, impliziert er, dass
(RdM, 9). Man kennt bestimmte Dinge also vom Hö- auch gesellschaftliche Subsysteme durch Geräusche
rensagen und glaubt teilweise daran. Das Misstrauen aus der Umwelt in Schwingung versetzt werden. Luh-
gegen die Massenmedien ist von den Massenmedien mann meint, es kann zu wenig und zu viel Resonanz
nicht wegzudenken. Doch interessanterweise wid- geben. Im ersten Fall hat die Gesellschaft keine Mög-
met Luhmann den Massenmedien kein eigenes Kapi- lichkeit auf reale Gefahren zu reagieren, weil die
tel in Ökologische Kommunikation und geht auch Kommunikation nicht ankommt. Im zweiten Fall
sonst nicht auf sie ein. kommt die Kommunikation an, führt aber zu Panik.
Beide Fälle sind eine Bedrohung für den Fortbestand
der Gesellschaft. Freilich verlässt sich Luhmann nicht
Ökologische Kommunikation: auf die Metapher allein. Die Selbstgefährdung der
Subsysteme, Resonanz und Redundanz Gesellschaft wird auch theorieimmanent abgeleitet:
»Die ökologische Selbstgefährdung liegt […] durch-
Zunächst führt er die Thematik der Beziehung zwi- aus im Rahmen der Möglichkeiten von Evolution.
schen Gesellschaft und Umwelt ein durch einen Ver- Bedrohliche Lagen entstehen nicht nur dadurch, daß
weis auf die historische Entwicklung der klassischen ein hoher Grad an Spezialisierung sich bei Verände-
Soziologie, die sich ja bekanntlich (zumindest seit rungen der Umwelt als Fehlspezialisierung erweist.
Weber und Durkheim) auf die Binnenverhältnisse Man muß mindestens auch mit der Möglichkeit
der Gesellschaft konzentriert hatte. Die Neuheit der rechnen, daß ein System so auf seine Umwelt ein-
Problematik erforderte ein Umdenken, das für die wirkt, daß es später in dieser Umwelt nicht mehr
Ebene der Gesellschaftstheorie radikal sein musste. existieren kann. Die primäre Zielsetzung autopoieti-
Theorien, die auf der Höhe der Zeit sein wollten, scher Systeme ist immer die Fortsetzung der Auto-
konnten kaum in die alten Denktraditionen des Um- poiesis ohne Rücksicht auf Umwelt, und dabei wird
weltdeterminismus zurückfallen. Auch fiel die Op- der nächste Schritt typisch wichtiger sein als die Rück-
tion weg, die Beziehung zwischen Gesellschaft und sicht auf Zukunft, die ja gar nicht erreichbar ist, wenn
Natur im Rahmen einer marxschen Dialektik zu in- die Autopoiesis nicht fortgesetzt wird« (ÖK, 38).
terpretieren (Grundmann 1991), obwohl Luhmanns Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch
Bemerkungen zu Marx in Ökologische Kommunikati- aus, dass sie hoch spezialisierte Funktionssysteme
on durchweg positiv ausfallen. Wie radikal die Um- ausgebildet haben. Dadurch kommt es im Vergleich
orientierung der Gesellschaftstheorie sein musste, zu vormodernen Gesellschaften zu einem Verlust von
hatte Luhmann ja einige Jahre zuvor verdeutlicht, als Redundanz. Einfacher gebaute Gesellschaften waren
er der soziologischen Systemtheorie eine autopoieti- Multifunktionssysteme, d. h. ein System konnte für
sche Wende gab. ein anderes einspringen. Das war durchaus ein Vor-
Ökologische Kommunikation (1986) 169

teil, wie Luhmann ausführt: »Daraus wäre zu folgern, Luhmann geht davon aus, dass vor allem das poli-
daß ein funktional differenziertes System sich weni- tische System mit Erwartungen konfrontiert wird,
ger gut auf Umweltveränderungen einstellen kann als ›etwas zu ändern‹. Da die Politik aber nicht als Ein-
einfacher gebaute Systeme, obwohl es zugleich in heit der Gesellschaft auftreten kann, erzeugt sie die
verstärktem Maße Umweltveränderungen auslöst« Illusion, etwas verändern zu können. »Nichts hindert
(210). den Politiker, […] eine ökologische Anpassung der
Luhmann ist jedoch optimistischer, was die Reak- Wirtschaft zu fordern […]; er ist ja nicht gehalten,
tionsfähigkeit funktional differenzierter Gesellschaf- wirtschaftlich zu denken und zu handeln, operiert
ten angeht. Er schreibt, dass funktionale Differenzie- also gar nicht innerhalb desjenigen Systems, das seine
rung »durch die abstrakte Codierung und funktiona- Forderung letztlich scheitern lassen wird« (225). Es
le Spezifikation der Teilsysteme auf dieser Ebene ein besteht die Gefahr, dass das politische System zu viel
höheres Maß an Sensibilität und Lernfähigkeit« Resonanz erzeugt, es sogar zu einer Steigerung von
(ebd.) ermöglicht. Resonanz in anderen Subsystemen kommt. Luh-
Auch an dieser Stelle rekurriert Luhmann auf die mann denkt, dass dies langfristig nicht gut gehen
Resonanzmetapher. In einer Analogie zur Ausdiffe- kann.
renzierung des biologischen Organismus führt er Deutschland hat nun seit den 1980er Jahren Er-
aus, dass »Augen, Ohren, Nervensysteme und Im- fahrung mit Politik, die sich als ökologisch ausgibt.
munsysteme nur in engen, aber evolutionär erprob- Hier ist nicht der Ort, eine empirische Überprüfung
ten Frequenzbereichen resonanzfähig sind. Diese der in Ökologische Kommunikation vorgestellten
Reduktionen können dann durch organisierte Lern- Thesen anzustellen. Überhaupt ist es ein schwieriges
fähigkeit ausgeglichen werden« (218). Leider wird Unterfangen, die theoretischen Arbeiten Luhmanns
dieser Gedanke im Folgenden nicht wieder aufgegrif- auf konkrete empirische Beispiele (›Gesellschaften‹)
fen. Luhmann deutet darauf hin, dass Organisatio- anzuwenden. Einer der Hauptgründe dürfte darin
nen lernen können (OuE; Wiesenthal 1995), ob aber liegen, dass es nach Luhmann ja nur eine Weltgesell-
auch Gesellschaften lernen können, ist eine andere, schaft geben kann und ein nationaler/komparativer
sehr viel schwieriger zu beantwortende Frage. Wie Ansatz wahrscheinlich als Versuch der unzulässigen
sich zeigen wird, vermeidet es Luhmann, diese Frage Fragmentierung erscheint (vgl. GG; Luhmann 1971;
a priori negativ zu beantworten. Hasse/Krucken 2005; Willke 2006; Wobbe 2000;
Moderne Gesellschaften lassen sich Luhmann zu- Mayntz/Scharpf 2005; Neves/Voigt 2007). Dennoch
folge nicht steuern, es gibt kein Zentrum und keine ist eine knappe Bemerkung vonnöten. Tatsächlich
Spitze, von wo aus dies versucht werden könnte. hat sich die deutsche Politik weltweit wahrscheinlich
»Man sucht mithin vergeblich, wenn man die Einheit am weitesten in Richtung ökologischer Politik vorge-
der modernen Gesellschaft in der Organisation eines wagt, nicht zuletzt durch die Präsenz der Grünen in
Netzwerkes von Kommunikationsbahnen, von Parlament und (zeitweise) Regierung. Die Frage ist,
Steuerungszentren und Impulsempfängern begreift« wieweit sich die Kommunikation in Richtung Angst-
(ÖK, 203). Da solche Ideen keine Entsprechung in kommunikation (s. u.) aufgeschaukelt hat, mit de-
der Realität haben, so Luhmann, wird man »dann struktiven Folgen für die Gesellschaft. Im Länderver-
rasch zu dem Eindruck gelangen, daß die guten Ab- gleich lässt sich beobachten, wie verschiedene
sichten sich nicht realisieren lassen, weil irgendwo ir- nationale Gesellschaftssysteme in unterschiedlicher
gendetwas gegensteuert, und man endet bei eher Weise das Thema ›Ökologie‹ prozessieren. Tatsäch-
mythologischen Erklärungen dieses Sachverhalts lich ist die Spannung zwischen Ökonomie und Öko-
durch Kapitalismus, Bürokratie oder Komplexität« logie ein Dauerthema in verschiedenen Ländern, egal
(203 f.). wie viel Angstkommunikation stattfindet und wie
Man bemerke, dass Luhmann die Komplexität als weit sie sich zu ökologischen Programmen (und Illu-
solche nicht gelten lässt für ein Scheitern von Steue- sionen) bekennen.
rungsversuchen. Das Problem sitzt tiefer. Steue- Ein anderer Aspekt verdient in diesem Zusam-
rungsversuche von Seiten der Politik führen dazu, menhang Aufmerksamkeit. Das Thema ›Ökologie‹
dass die Einheit der Gesellschaft aus dieser Perspek- gibt es nicht mehr in dieser Form. Es hat sich seit der
tive, nämlich der der Politik, konstruiert wird. Ande- Veröffentlichung von Ökologische Kommunikation
re Subsysteme verfahren genauso, mit der Folge, dass breit aufgefächert, wobei der Klimawandel in vieler
jedes Teilsystem für sich beansprucht, die Gesell- Hinsicht zum Hauptthema der ökologischen Diskus-
schaft zu sein. sion wurde (Mike Hulme nennt ihn »the mother of
170 Werke und Werkgruppen

all issues«, Hulme 2009). Insofern hat sich die Pro- Kausaldeterminismus für verfehlt. Dennoch bildet
blemlage ausdifferenziert. Die Politik hat damit rea- diese Herangehensweise nach wie vor die Grundvo-
giert, dass sie Klimapolitik entwickelt, woran die raussetzung und geteilte Überzeugung der meisten
Wissenschaft (in Gestalt der Klimawissenschaft) Akteure in einigen Bereichen der Umweltpolitik. Um
maßgeblichen Anteil hat (vgl. Hansen 2009; Schnei- auf das Beispiel der Ozonpolitik zurückzukommen:
der 2009). Die Wirtschaft ist auf der Suche nach pro- Hier waren es wissenschaftliche Theorien und Be-
fitablen, klimaneutralen Technologien, und es ist obachtungen, die Kausalbeziehungen aufstellten
umstritten, wie stark klimapolitische Ziele technolo- (FCKW zerstören die Ozonschicht) und Schuldzu-
gisch machbar und ökonomisch profitabel sind. Er- weisungen vornahmen (FCKW-Produzenten). Die
neuerbare Energien konnten in gewissem Umfang vereinbarten Regulierungen waren im Wesentlichen
Fuß fassen, allerdings nur auf Basis großzügiger Sub- Verbote (Produktionsverbote), die (notfalls) durch
ventionen. Wie es scheint, sind manche Technolo- »adaptiertes Polizeirecht« durchgesetzt werden.
gien profitabler als andere – wobei ausgerechnet die Wendet man diese Logik aber auf die Problematik
Reduktion von Kohlendioxid kostspielig erscheint. des Klimawandels an, so zeigt sich die Aktualität
Pielke (2010) spricht in dieser Hinsicht von einem Luhmanns. Hier versagt eine einfache Kausalzurech-
›eisernen Gesetz‹, wonach die Ökonomie im Kon- nung und Schuldzuweisung, da die Ursachen des Kli-
fliktfall de facto immer Vorrang vor klimapolitischen mawandels vielfältig sind. Selbst wenn man sich auf
Zielsetzungen hat, und bestätigt damit eine luh- CO2 als Hauptursache einigte, wäre die Schuldzuwei-
mannsche Vermutung. sung wenig produktiv, tragen doch alle Erdbewohner
Als Zwischenbilanz ließe sich sagen, dass die Hy- zu seiner Produktion bei. In der Folge bliebe auch ein
pothese der destruktiven Folgen von ›zu viel Reso- neues Polizeirecht wirkungslos.
nanz‹ in der Gesellschaft nicht zutrifft. Wo es
Zielkonflikte gibt, etwa zwischen Arbeitsplatzsiche-
rung und Unternehmensfreiheit auf der einen und Angst, Moral und Theorie
Klimapolitik auf der anderen Seite, hat die deutsche
Gesellschaft in gewohnter Kompromissmanier rea- Luhmann sieht die Angstkommunikation als natür-
giert. Als Kontrastbeispiel können die USA gelten, lichen Modus der sozialen Bewegungen an, insofern
wo eine klimaskeptische Bewegung anspruchsvolle diese Entwicklungen blockieren wollen. Richtig pro-
Klimapolitik aus ökonomischen Gründen strikt ab- phezeit er der grünen Partei, dass sie ein breiteres
lehnt, eine Vorgabe, die von US-Regierungen unter- Programm anbieten müsse, wenn sie Regierungsver-
schiedlicher Couleur befolgt wird. antwortung übernehmen will. Allgemeiner gespro-
Kann man also das Scheitern der Klimapolitik chen, hat Angst spezifische Auswirkungen auf
durch die Autonomie der Subsysteme und deren Ei- gesellschaftliche Kommunikation, insbesondere
genlogik erklären? Wenn dem so wäre, dürfte es gar macht sie den rationalistischen Versuch zunichte,
keine erfolgreiche Umweltpolitik (oder Wirtschafts- durch mehr Aufklärung und Kommunikation Angst
politik) geben. Es gibt allerdings solche erfolgreichen zu verringern: »Versuche, die komplizierte Struktur
Beispiele, etwa die Politik zum Schutz der Ozon- von Risiko- und Sicherheitsproblemen unter wissen-
schicht (Grundmann 1999). Wie lässt sich dies mit schaftlicher Verantwortung aufzuklären, liefern der
der Theorie vereinbaren? Ein Ansatz dazu findet sich Angst nur neue Nahrung und Argumente« (ÖK,
in Luhmanns Ausführungen zu Kausalität und Zu- 238). Es gibt zahllose Beispiele dafür, dass eine solche
rechnung von Verantwortlichkeit, die er für veraltete Strategie scheitert, von der Atomkraft bis zu Impf-
Methoden der Problembewältigung hält. Luhmanns programmen. Nichtsdestotrotz scheint es die Stan-
Spott ist deutlich: »[S]o kann man vorgehen, wenn dardreaktion von Experten und Entscheidungsträ-
man sieht, daß ein Chemiewerk giftige Stoffe auf gern zu sein. »Angst widersteht jeder Kritik der
Müllhalden kippt oder Abwässer in Flüsse leitet mit reinen Vernunft […]. Sie ist das Prinzip, das nicht
der Folge, daß Fische sterben und die Wasserversor- versagt, wenn alle Prinzipien versagen« (240).
gung gefährdet wird. Für solche Probleme reicht ein Man kann die Gültigkeit dieser Aussagen sehr ge-
adaptiertes Polizeirecht aus« (ÖK, 26). Als Begrün- nau am Beispiel der Klimadebatte überprüfen, wo
dung für die Unangemessenheit eines solchen Ansat- sich seit etwa der Jahrtausendwende eine Tendenz ge-
zes führt er zweierlei an, die Neuartigkeit der zeigt hat, durch Warnungen (und damit durch Er-
Probleme und die systemtheoretische Betrachtungs- zeugung von Angst) politische Entscheidungen
weise. Er hält Schuldzurechnungen auf Basis eines herbeizuführen, bislang allerdings mit wenig Erfolg
Ökologische Kommunikation (1986) 171

(Grundmann/Stehr 2011; Prins/Rayner 2007; Prins in erster Linie als jemand, der Beobachtungen (d. h.
u. a. 2010; Pielke 2010; Hulme 2007; O’Neill/Nichol- Beschreibungen) anfertigt und nicht weiß, wie es
son-Cole 2009). besser gemacht werden sollte. Dennoch sieht er eine
Doch Luhmanns Einsicht von 1986 – »Ein Glück Herausforderung für die Theorie darin, dass die Fra-
nur, daß die Rhetorik der Angst wahrscheinlich nicht ge nach der Rationalität ökologischer Kommunika-
in der Lage ist, wirkliche Angst zu erzeugen« (ÖK, tion gestellt und beantwortet werden muss. Die
240) – verhallte ungehört bei den Politikern, Wissen- Ausdifferenzierung in Funktionssysteme macht es
schaftlern und NGOs, die im Modus der Angstkom- unmöglich, von einem Bezug ›des Systems‹ zu seiner
munikation operieren. Angst ist gesellschaftsfähig Umwelt zu sprechen, denn es ist nicht klar, wie die
geworden, kann sogar den Anspruch erheben, volon- Einheit des Systems hergestellt werden kann. Folgt
té générale zu sein. Die Kehrseite ist freilich, dass man daraus, dass der Begriff der Systemrationalität aufge-
nicht weiß, wie ernst das Bekenntnis gemeint ist: geben werden muss? Luhmann verneint dies. Das ist
»Meinungsumfragen können deshalb ohne Schwie- überraschend und vielleicht der Grund, warum er
rigkeiten Zunahme von Angst registrieren und ihre ein Buch über Umweltprobleme geschrieben hat.
Ergebnisse in die Öffentliche Kommunikation zu- Denn Luhmann sieht sich der ›Reizfrage‹ ausge-
rückleiten« (ÖK, 241). Es kostet nichts, Angst vor setzt, »worin eigentlich die Einheit der Leitdifferenz
Zukunftsentwicklungen zu bekunden, im Gegenteil: solcher Codes und worin eigentlich die Rationalität
Es gibt eine gewisse gesellschaftliche Erwartung, dies einer Unterscheidung besteht. Was immer in einem
zu tun; ein Bekenntnis zur Nicht-Angst würde wahr- solchen System als ›richtig‹ erscheint, ist auf vorco-
scheinlich als abnormal angesehen. Demnach wäre dierte Informationsgewinnung und Informations-
mit einer ›frei flottierenden Angst‹ zu rechnen, die verarbeitung bezogen und hat seinen Sinn im Bezug
sich an beliebige Themen der Kommunikation an- auf die dadurch eröffnete und strukturierte Kontin-
heftet und diese damit zu politischen Themen macht. genz« (ÖK, 253). Daraus folgt, dass der herkömmli-
Sogar wenn eine solche gesellschaftliche Konvention che Rationalitätsbegriff, als Selbstreferenz der Ver-
der Angstkommunikation authentisch ist, kann sie nunft, oder nach Habermas, als diskursiv vermittelte
nicht wirkungsvoll mit Mitteln der Vernunft be- Selbstreferenz der Vernunft, uns nicht weiterhilft.
kämpft werden. Jeder Versuch, dies zu tun, verstärkt Wie der Begriff der Rationalität doch noch gerettet
die Angst nur. Diese Paradoxien sind aus anderen werden kann, führt Luhmann nur auf knappen zwei
Kontexten bekannt, etwa dort, wo ein der Lüge Ver- Seiten aus (264 ff.).
dächtigter seine Ehrlichkeit beteuert. Solche Versu- Das Problem ist, dass wir keinen übergreifenden
che laufen ständig in Paradoxien und sind dadurch Begriff davon haben (können), was ›richtig‹ ist jen-
kontraproduktiv. seits der systemisch festgelegten Codes und Program-
Luhmann ist sich bewusst, dass die Systemtheorie me. Ein anderer Ausdruck dafür ist, dass wir die
keine überzeugende Alternative zur Angstkommuni- Einheit der Differenz nicht operational einführen
kation darstellt, nicht zuletzt deshalb, da sie gegen können, ohne neue Paradoxien zu erzeugen. Und es
Angst keine Rezepte anzubieten hat, auch keine sozi- bleibt das Problem, dass verschiedene Rationalitäten
altherapeutischen. Dennoch hofft er auf einen kom- miteinander in Konflikt geraten. Doch Luhmann
munikativen Austausch dieser grundverschiedenen spricht plötzlich von einem Konflikt zwischen Sys-
Ansätze. Es ist interessant zu sehen, dass genau diese temrationalität und Welt- bzw. Gesellschaftsrationa-
Forderung im Klimadiskurs aktuell wird, wo Prota- lität: »In dem Maße, als Systemrationalität realisierba-
gonisten der Angstkommunikation den Skeptikern rer erscheint, ist sie zugleich weniger weltrational und
gegenüberstehen und in der Mitte eine Position sich auch weniger gesellschaftsrational« (257). Luhmann
zu etablieren versucht, die der gesellschaftlichen belässt es bei dieser enigmatischen Anmerkung und
Selbstbeobachtung verpflichtet ist (Hulme 2009; führt die Begriffe ›weltrational‹ und ›gesellschaftsra-
Pielke 2007; Storch u. a. 2011). tional‹ nicht weiter aus. Wir können vermuten, dass er
diese in Analogie zu Webers prozeduraler und mate-
rieller Rationalität ansetzt, zumal dies der Kontext sei-
Die Rationalität ökologischer Kommunikation ner Bemerkung ist. Damit geht er zurück auf
grundlegende soziologische Unterscheidungen, die
Unter dem Stichwort der Rationalität knüpft Luh- der autopoietischen Systemtheorie vorausgehen.
mann an die Frage an, wie eine Kritik der bestehen- Was Luhmann dann auch als Lösung anbietet, ist
den Verhältnisse denkbar sei. Er sieht sich natürlich die generelle Regel, standortfrei »von Bezugsproble-
172 Werke und Werkgruppen

men auszugehen und nach funktional äquivalenten mit der Richtungsangabe Umweltethik falsch diri-
Möglichkeiten ihrer Behandlung Ausschau zu hal- giert« (265).
ten« (255), also nach einem verallgemeinerungsfähi- Abschließend lässt sich sagen, dass Luhmann die
gen Prinzip zu suchen, das Einheit nur als Problem ökologische Problematik als Herausforderung so-
sieht, sie also nur um der damit erzeugbaren Diffe- wohl für moderne Gesellschaften als auch für die
renz willen akzeptiert. Luhmann plädiert dafür, diese Gesellschaftstheorie betrachtet. Er gesteht ein, dass
Orientierung in anderen Funktionssytemen »ohne auch und gerade die Systemtheorie gefordert ist,
wissenschaftliche Absicherung zu praktizieren« und zeigt auf, wie schwierig es ist, mit adäquaten
(ebd.). Gewiss, dies sind tastende Schritte, und nur Antworten aufzuwarten. Wer sich deshalb auf theo-
knappe Ausführungen. Was daran überzeugt, ist die retischer Ebene enttäuscht sieht, sollte nicht verges-
Betonung der Herausforderungen, die die Umwelt- sen, welche Einsichten Luhmann uns en passant
problematik für die moderne Gesellschaft und die vermittelt, und wie hochaktuell diese geblieben
gesellschaftliche Reflexion bedeutet. Trotz der Er- sind.
nüchterung über seine bescheidenen Schlussfolge-
rungen aus der Systemtheorie, bleibt die pragmati-
Literatur
sche Orientierung überzeugend, die hier durch-
scheint. Sie ist allemal attraktiver als Moralisierung, Baecker, Dirk: »Zu viel Kausalität, zu wenig Resonanz?
Angstkommunikation oder eine generelle Verharm- Becks Risikogesellschaft und Luhmanns Ökologische
Kommunikation«. In: politische oekologie 100 (2006),
losung der Umweltprobleme. 41–45.
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine ande-
re Moderne. Frankfurt a. M. 1986.
Grundmann, Reiner: Marxism and Ecology. Oxford 1991.
Umweltethik –: Transnationale Umweltpolitik zum Schutz der Ozon-
schicht: USA und Deutschland im Vergleich. Frankfurt
Luhmann zufolge wird von Umweltethik zu viel er- a. M./New York 1999.
wartet. Man traut ihr Lösungen zu, die unmöglich in – /Stehr, Nico: Die Macht der Erkenntnis. Berlin 2011.
ihrer Reichweite liegen. Er fügt an, Umweltethik Hansen, James: Storms of My Grandchildren: The Truth
brauche einen »Pansen für Paradoxien« (265). Das About the Coming Climate Catastrophe and Our Last
Thema der Paradoxien durchzieht sein Buch und Chance to Save Humanity. London 2009.
Hasse, Raimund/Krücken, Georg: »Der Stellenwert von Or-
kommt vor allem zum Schluss nochmals zum Vor-
ganisationen in Theorien der Weltgesellschaft. Eine kri-
schein, wo es um die Frage geht, wie man gesell- tische Weiterentwicklung systemtheoretischer und neo-
schaftliche Rationalität definieren könne. Was aber institutionalistischer Forschungsperspektiven«. In: Bet-
ist mit der Formulierung vom »Pansen für Parado- tina Heintz/Richard Münch/Hartmann Tyrell: Weltge-
xien« gemeint? Ein Pansen ist bei Wiederkäuern ein sellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Pro-
blemlagen. Zeitschrift für Soziologie, Sonderband. Stutt-
Teil des Verdauungstrakts, der der Vorverdauung
gart 2005, 186–204.
dient. Damit deutet Luhmann gewissermaßen an, Hulme, Mike: »Newspaper Scare Headlines Can Be Coun-
dass Paradoxien der modernen Gesellschaft nicht di- ter-productive«. In: Nature 445 (2007), 818.
rekt bekömmlich sind, sondern erst einmal eingelegt –: Why We Disagree About Climate Change: Understan-
werden müssen, bevor man sich ihnen aussetzen ding Controversy, Inaction and Opportunity. Cambridge
kann. Umweltethik sollte hier eine Aufgabe bekom- 2009.
Luhmann, Niklas: »Die Weltgesellschaft«. In: Archiv für
men, indem sie vorsortiert und die Debatten begriff- Rechts- und Sozialphilosophie 57. Jg. (1971), 1–35.
lich vorbereitet. Die Aufgabenstellung des ›Einla- Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz W.: »Politische Steuerung –
gerns von Paradoxien‹ unterscheidet sich radikal von Heute?« In: Zeitschrift für Soziologie 34. Jg., 3 (2005),
der landläufigen Auffassung, wonach Umweltethik 236–243.
synonym zur Moral gesetzt wird und die Lösung von Neves, Marcelo/Voigt, Rüdiger: Die Staaten der Weltgesell-
schaft: Niklas Luhmanns Staatsverständnis. Baden-Ba-
Umweltproblemen von der Einsicht und Einübung den 2007.
in richtiges Verhalten erwartet wird. O’Neill, Saffron/Nicholson-Cole, Sophie: »›Fear Won’t Do
Es ist bezeichnend, dass Luhmann sein Buch mit It‹: Promoting Positive Engagement With Climate
einer starken Warnung vor Moralisierung beendet, ja Change Through Visual and Iconic Representations«. In:
dies geradezu als Hauptaufgabe einer Umweltethik Science Communication 30. Jg., 3 (2009), 355–379.
Pielke, Roger A. Jr.: The Honest Broker. Making Sense of
ansieht: »Jedenfalls wird die ökologische Kommuni- Science in Policy and Politics. Cambridge 2007.
kation, solange es eine solche Ethik nicht gibt, selbst –: The Climate Fix: What Scientists and Politicians Won’t
auf Distanz zur Moral achten müssen. Sie ist heute Tell You About Global Warming. New York 2010.
Soziologie des Risikos (1991) 173

Prins, Gwyn/Rayner, Steve: »Time to Ditch Kyoto«. In: Na-


ture 449 (2007), 973–975.
9. Soziologie des Risikos (1991)
Prins, Gwyn u. a.: The Hartwell Paper: A New Direction for
Climate Policy After the Crash of 2009. London 2010.
Schneider, Stephen H.: Science as a Contact Sport: Inside In allen Arbeiten, die Niklas Luhmann neben den
the Battle to Save Earth’s Climate. Washington 2009. großen Monographien zu den Funktionssystemen
Storch, Hans von u. a.: »Regional Climate Services Illustra- der Gesellschaft als Beiträge zu speziellen Soziologien
ted With Experiences From Northern Europe«. In: Zeit- verfasst hat (Konflikt, Moral, Organisation, Protest,
schrift für Umweltpolitik und Umweltrecht 34 Jg., 1 Risiko), wird immer der Bezug auf die systemtheore-
(2011), 1–15.
Wiesenthal, Helmut: »Konventionelles und unkonventio- tischen Grundbegriffe gewahrt. So ist es auch mit der
nelles Organisationslernen: Literaturreport und Ergän- Soziologie des Risikos (SdR) aus dem Jahr 1991. Der
zungsvorschlag«. In: Zeitschrift für Soziologie 24. Jg., 2 Mainstream der sich entwickelnden Risikosoziologie
(1995), 137–155. (Beck 1997; Douglas 1992; Perrow 1987; Wildavsky
Willke, Helmut: Global Governance. Bielefeld 2006. 1988; Wynne 1987 u. a.) verwendet einen Risikobe-
Wobbe, Theresa: Weltgesellschaft. Bielefeld 2000.
griff, der die Alltagsintuition des Gefährlichen und
Reiner Grundmann Ungewissen (exponiert Beck 1988; unverändert
1997/2007) mit der Expertenformel von Eintritts-
wahrscheinlichkeit und Schadensausmaß kontras-
tiert.
Während jener Mainstream der Risikosoziolo-
gie sich zu einem amerikanischen constructivism
(Clarke/Short 1993) entwickelt, der akteurstheore-
tisch beschränkt bleibt, rekurriert Luhmann auf die
Unterscheidung von Risiko und Gefahr (SdR, 30 ff.).
Diese resultiert aus der Unterscheidung von Selbst-
und Fremdreferenz und diese wiederum aus der von
System und Umwelt: Risiken ergeben sich aus der Zu-
rechnung von Nachteilen auf die eigene Entschei-
dung, Gefahren ergeben sich aus der Zurechnung
von Nachteilen auf fremde Entscheidungen, von de-
ren Folgen man betroffen ist. Dass dies keine
Begriffsakrobatik ist, kann man daran erkennen, dass
Entscheider tatsächlich so zurechnen, um überhaupt
das Problem der Risikokalkulation mit ihrer in der
aktuellen Gegenwart unerreichbaren zukünftigen
Gegenwart und den für sie selbst relevanten Ent-
scheidungsfolgen in Verbindung bringen zu können.
Und man erkennt es daran, dass von den Entschei-
dungen Anderer Betroffene tatsächlich fremdzurech-
nen, um protestieren zu können. Man befindet sich
hier gleichsam im Zentrum der luhmannschen Risi-
kosoziologie, denn mit dieser Unterscheidung hängt
einerseits die Distanz zum Mainstream zusammen
(vgl. MacCrimmon/Wehrung 1988), der sich mit der
(alltagstauglichen) Unterscheidung von Risiko und
Sicherheit (neben der von Risiko und Unsicherheit:
Knight 1921) zufrieden gibt, und andererseits orga-
nisiert Luhmann von hier aus seine zentralen Folge-
unterscheidungen für die Zeitdimension (SdR, 41 ff.)
und für die Sozialdimension riskanten Entscheidens
(111 ff.).
174 Werke und Werkgruppen

Zeit Ordnung kann genau dies sehen: Dass die ›andere


Seite‹ des Risikos nicht Sicherheit, sondern Gefahr
In der Zeitdimension sozialen Sinns ist zunächst ist. Mit anderen Worten: Es mag Beobachter geben,
maßgeblich, dass sich soziale Systeme aufgrund ihrer die etwas als sicher bezeichnen. Aber es gibt keinen
operativen Geschlossenheit grundsätzlich nur an der objektiven Standpunkt für diese Bezeichnung, denn
eigenen unmittelbaren Vergangenheit in ihrer je ge- die ihr zugrundeliegende Unterscheidung von Hori-
gebenen Gegenwart orientieren können – die Zu- zonten der Vergangenheit und der Zukunft wird mit
kunft ist für sie operativ unerreichbar. Soziale jeder anderen Beobachtung eine andere sein. Also
Systeme bilden ein Gedächtnis aus, mittels dessen Kernkraftwerke vor und nach Tschernobyl (Krohn/
eine zeitliche Form der Ordnungsbildung ermöglicht Weingart 1985), Feuerdämmungsstoffe vor und nach
wird, die es erlaubt, dem Chaos der Gleichzeitigkeit Asbest oder Schmerzmittel während der Schwanger-
aller Operationen in der Gegenwart durch die Unter- schaft vor und nach Contergan. Aber auch ganz ohne
scheidung von Vergangenheit und Zukunft zu entge- spektakuläre Schadensereignisse – beispielsweise in
hen (SdR, 43 f.). Es gibt dann aktuelle und inaktuelle Gestalt entgangener Vorteile – sind Entscheidungen
Operationen, obwohl auch diese Unterscheidung immer riskant. Und selbst, wenn es gut geht, also kei-
nur in der Gegenwart genutzt werden kann. Die Ge- ne offensichtlichen Nachteile auftreten, hat man
genwart wird verkürzt zum ›Umschaltpunkt‹ zwi- doch die Möglichkeiten, die vor der Entscheidung
schen Vergangenheit und Zukunft, deren Unsicher- gegeben waren, verschenkt. Nach der Entscheidung
heit zur Beobachtungsform ›Risiko‹ zwingt. Diese kann man den vergebenen Möglichkeiten eben nur
operativ erzeugte Ordnungsform – die faktische noch nachtrauern (zu diesem konstitutiven Risiko-
Gleichzeitigkeit aller Ereignisse wäre als solche verständnis vgl. PolG, 235).
gleichbedeutend mit kompletter Unordnung – wird Das mag verblüffen, denn wie oft fahren oder ge-
gestützt durch die Primärrelevanz der Zeitdimensi- hen wir über Brücken, ohne uns unsicher zu fühlen,
on. Im Unterschied zur alten Welt gibt es in der funk- nehmen wir unbesorgt Schmerzmittel und glauben
tional differenzierten Gesellschaft eine strukturelle an die Sicherheit neuer Feuerdämmstoffe. Aber in
Differenz zwischen Neuem und Altem, und diese Er- solchen Situationen haben wir es eben nicht mit Ent-
fahrung ermöglicht erst die Unterscheidung von Ver- scheidungen zu tun! Wer vertraut, muss nicht ent-
gangenheit und Zukunft. Gleichwohl können ver- scheiden. Sobald eine Situation durch Alternativen
gangene Ereignisse nur in der Gegenwart erinnert gekennzeichnet ist, muss entschieden werden, gerade
und zukünftige Ereignisse nur in der aktuellen Ge- weil das Wissen für die ›richtige‹ Alternative fehlt.
genwart vergegenwärtigt werden. Gegenwärtige Ent- Und dann gilt, dass es zur »Riskanz des Risikos [ge-
scheidungen orientieren sich an einer Zukunft, die hört], dass [dessen] Einschätzung mit der Zeit vari-
wiederum von einer Gegenwart abhängt, in der über iert« (SdR, 51). Die Zukunft ist unsicher, aber gerade
mögliche Zukünfte entschieden wird. auch durch das Entscheiden selbst, durch das Auf-
Diese zirkuläre Konstellation lässt keine rationale spannen eines enttäuschungsanfälligen Erwartungs-
Kalkulation zu und führt dazu, dass ein Risiko in der horizonts wird die Zukunft unsicher. Man könnte
zukünftigen Gegenwart anders gesehen wird als in sagen: Die Entscheidung sorgt selbst dafür. Das ist ja
der dann vergangenen Gegenwart – allein schon weil auch ganz unvermeidlich, denn nur, wenn die Zu-
man entschieden hat. Man hat dann Anlass, die Ent- kunft nicht interessiert oder man nicht zu entschei-
scheidung zu bedauern, weil die Möglichkeit, anders den hat, ist die Zukunft unproblematisch gegeben.
zu entscheiden, verstrichen ist: Die Entscheidungs- Einerseits nutzen soziale Systeme diese, durch Ent-
theorie kennt das als post decisional regret (Harrison/ scheiden selbst erzeugte, Unbestimmtheit für die Su-
March 1984), die Theologie als Vertreibung aus dem che nach Chancen. Andererseits geschieht dies
Paradies. Wer aber seine frühere Entscheidung be- notwendig in der Form des Risikos. Vor der Entschei-
dauert, der beobachtet seine Zukunft als Risiko. Die dung und vor allem nach der Entscheidung ist der
Unterscheidung von Risiko und Sicherheit doku- Zeithorizont dann jeweils ein anderer. Mit der Zu-
mentiert sich damit als Beobachtung erster Ord- nahme von Situationen, in denen entschieden wer-
nung, die nicht sehen kann, dass (völlige) Sicherheit den muss, bzw. in denen erwartet wird, dass
nicht zu erreichen ist. Allerdings wird vom Ingenieur entschieden wird, wird es zugleich immer wichtiger,
nicht erwartet, dass er diese Perspektive auf Sicher- diese strukturelle Einschätzungsdifferenz latent zu
heit aufgibt, denn wer würde dann noch von ihm ge- halten: Dieser Ausfall der Möglichkeit, objektiv zu
baute Brücken betreten. Aber der Beobachter zweiter entscheiden, welche Einschätzung die richtige ist,
Soziologie des Risikos (1991) 175

wird dann zu einem zentralen Problem des ›Um- Sprengkraft auf der anderen Seite gerade durch die
gangs mit Unsicherheit‹ (Bonß 1995). durchschnittliche Akzeptanz von Rechtsnormen be-
Ein Beispiel für die Zukunft als Risiko und den be- grenzt wird.
gleitenden Normalisierungszwang kann man in der Ähnlich verhält es sich mit ›Knappheit‹ als zweiter
Liebe sehen (SdR, 53): Das Risiko der Partnerwahl Form von Zeitbindung. Knappheiten bedeuten für
wird abgefedert durch die Passion, die von der Lie- die einen Chancen, für die anderen Exklusion, wobei
bessemantik eingefordert wird, nicht zuletzt um der wieder die daraus entstehenden Konflikte (vom Klas-
Neutralisierung von Alternativen oder gar einer viel- senkampf bis zur geregelten Tarifauseinanderset-
leicht misslichen Zukunft willen. Ein anderes Medi- zung) in ihrer Riskanz durch die durchschnittliche –
um für diesen Zusammenhang von entscheidungs- sozialstaatlich gestützte – Akzeptanz ausgebremst
bedingter Unsicherheit und deren zu gewährleisten- werden. Recht und Eigentum erscheinen so als Ein-
der Latenz ist Professionalität. Ohne diese würden richtungen, die Risiken der sozialen Beziehungen ab-
viele, wenn nicht die allermeisten Aktivitäten (Rei- sorbieren. Man denke an Genehmigungsvorbehalte
sen, Zahnarztbesuche, Berufswahl, Wertpapierkäu- im Umweltrecht und an Kündigungsschutz gegen Ei-
fe) der modernen Gesellschaft zum Erliegen kom- gentümer. Die Risiken, die diese Einrichtungen in
men. Gleichwohl gilt: Es gibt kein risikofreies Gestalt gleichsam höherstufiger Konflikte selber her-
Entscheiden. Und wenn es nur die vergebenen Mög- vorbringen, werden durch breite (eben durchschnitt-
lichkeiten sind, die man bedauert: Wer entscheidet, liche) Akzeptanz, wenn auch nach langen Kämpfen,
der hat es mit Zukunft als Risiko zu tun. Ob es gra- eingedämmt. Und genau diese Selbstbegrenzungslo-
vierende Schäden sind oder ›nur‹ entgangene Vortei- gik der klassischen Zeitbindungen scheint im moder-
le (Opportunitätskosten), sachlich gesehen sind alle nen Fall des Risikos nicht mehr zu funktionieren.
Entscheidungen mit Unsicherheit belastet; es gibt Nach dem Erfolg einer »Ökologischen Kommuni-
keine absolute Sicherheit. Und alles Entscheiden re- kation« (vgl. ÖK 1986; Büscher/Japp 2010) in den
produziert die Differenz von Risiko und Gefahr. Man 1980er Jahren ist eine Situation entstanden, in der die
wird immer jemanden finden, der von den Entschei- Thematisierung von Risiken eine Dimension erreicht
dungen anderer betroffen ist, insbesondere, weil es hat, die durch Rechtsnormen (etwa ›Gefährdungs-
hier nicht um objektive Sachverhalte, sondern um haftung‹) und Knappheiten (etwa ›Emissionsrechte-
Zurechnungen geht. Deshalb kann Luhmann sagen, handel‹) nicht mehr aufgefangen werden kann.
dass Risikoprobleme sachlich beliebig generalisier- Risiko ist zu einer Form geworden, die alle sozialen
bar sind (SdR, 36) und dass somit das gesuchte Pro- Ereignisse in die Unterscheidung wahrscheinlich/un-
blem (riskanten Entscheidens) nicht in der Sachdi- wahrscheinlich presst (SdR, 81). Die Gesellschaft
mension, sondern im Verhältnis von Zeit- und verliert Sicherheiten, die durch rechtliche, wirt-
Sozialdimension liegen muss. schaftliche und natürlich politische Institutionalisie-
rungen einmal gegeben waren, gerade weil der für
diese Sicherheiten erforderliche überzogene Konsens
Zeit- und Sozialdimension im Risikofall nicht mehr gegeben ist. Und dies gilt
auch für die Kommunikation mit Experten, die ver-
Luhmann analysiert die Spannung im Verhältnis von geblich Sicherheit beschwören, wo vom Gefahren-
Zeit- und Sozialdimension unter den Titeln »Zeit- schema aus nur Unsicherheit gesehen wird. Auch
bindung« (SdR, 59 ff.) und »Entscheider und Betrof- Konsens – etwa in Fragen des Einsatzes von Gentech-
fene« (111 ff.). Zeitbindungen bestehen in Struktu- nik – ist dann nur noch mehr oder minder wahr-
ren, die kommunikative Ereignisse binden. In der scheinlich oder (wahrscheinlich!) unwahrscheinlich.
Geschichte Europas kann dies in der Ausdifferenzie- Risiko als Zeitbindungsform der gänzlich zu sich
rung von Recht und Wirtschaft gesehen werden. selbst gekommenen modernen Gesellschaft bringt in
Rechtsnormen, etwa das Wahlrecht im 19. Jahrhun- diese ein Moment an Unbeherrschbarkeit hinein, das
dert, aber auch Verbote besonders riskant erschei- für Recht und Wirtschaft einmal undenkbar war.
nender Technologien im 20. Jahrhundert, schränken
die Handlungsoptionen von diesen Normen Betrof-
fener ein, greifen also auf die Sozialdimension re- Protest
striktiv zu. Sie riskieren dadurch einerseits Konflikte
(etwa historische Kämpfe um das Wahlrecht oder Diese Unbeherrschbarkeit dokumentiert sich u. a. im
Widerstand gegen Beweislastregelungen), deren Konflikt zwischen Entscheidern und Betroffenen, die
176 Werke und Werkgruppen

sich nicht auf Gemeinsames einigen können, weil sie troffensein und Entscheiden, gibt Anlass zur Entfal-
Zurechnungen schematisieren, die sich wechselseitig tung von Protestbewegungen (SdR, 135 ff.; Japp
ausschließen. Obwohl Recht und Wirtschaft als Risi- 1996, 178 ff.). Wie sicher auch immer man Kern-
koregulative unentbehrlich sind, sind sie doch kraftwerke baut, wie sicher auch immer man Banken
machtlos, wenn es um Gefahren geht, etwa der nu- gegen Spekulationsverluste macht, die (unbestimm-
klearen Strahlung oder einfach einer Großbaustelle te) Gefahrenperspektive wird gerade in dieser An-
in der Innenstadt, die von den Entscheidern als ei- strengung sichtbar. Protestbewegungen erzeugen
genverantwortlich kontrollierte Risiken beobachtet eine Unterscheidung, mit der man trotz sachlicher
werden. Die Betroffenen rechnen auf die Umwelt zu, und sozialer Unbestimmtheit etwas anfangen kann:
möglicherweise auf dort lokalisierbare Entscheider, die Unterscheidung von Protest und Gegenseite. Weil
mit all den kommunikativen Anschlüssen, die aus es aber zunehmend schwierig ist, Entscheider zu
der Gefahrenperspektive als fremdbestimmt beob- identifizieren (s. Attac oder Frauenbewegung), pro-
achtet werden. Es geht nicht mehr nur um Technik filieren sich die Forderungen als ›Ansprüche an Poli-
oder Umwelt oder Gesundheit, es geht um Gesell- tik‹ (SdR, 155 ff.). Und das Neue an diesen Bewegun-
schaft (Japp 2000, 78 f.). Sogar das religiöse Bekennt- gen ist eben, dass sie sich nicht für Rechte und nicht
nis wird wieder riskant (Stichworte sind ›Migration‹ für Umverteilung interessieren, sondern dafür, dass
und ›Integration‹), wenn es als Entscheidung zuge- sie Opfer der riskanten Entscheidungen anderer sind
rechnet wird. oder werden können. Wie jene generalisierte Form
Aufs Ganze gesehen, kann man sagen: Das Risiko des Wahrscheinlichen/Unwahrscheinlichen es nahe-
des einen ist die Gefahr des anderen. Solange die Auf- legt, wird der Protest reproduziert durch laufende
merksamkeit der Gesellschaft im Hinblick auf Risi- Erneuerung von Dissens. Und es ist dieser gegen die
ken noch an Recht und Wirtschaft hing, war genau Gesellschaft hochprojizierte Dissens, der dazu nötigt,
dies nicht der Fall. Dass Frauen in den Entscheidun- die eigene Beobachterposition außerhalb der Gesell-
gen ›der Männer‹ eine Gefahr sehen, war bis weit ins schaft zu fingieren. Diese Positionierung erlaubt eine
20. Jahrhundert nicht bekannt und lässt sich weder Kritik der Gesellschaft, wie sie von den Funktionssys-
rechtlich noch wirtschaftlich regulieren. Es ist eine temen her nicht zu leisten wäre. Es werden also Be-
›soziale Frage‹, in deren Reichweite sich die Tiefe der obachtungen angeboten, die die Gesellschaft von der
gesellschaftlichen Sozialspaltung durch die Differenz Unterscheidung von Risiko und Gefahr aus beschrei-
von Risiko und Gefahr bzw. Entscheider und Betrof- ben, also eine der möglichen Selbstbeschreibungen
fene zeigt. Auch die Härte dieser Unterscheidung der Gesellschaft bilden. Das spiegelt sich in entspre-
frappiert. Die meisten Versuche, sie zu überbrücken, chenden Aufmerksamkeiten der Massenmedien (an
sind bislang gescheitert. Partizipation, Ethik und Ri- dramatischen Auftritten von Protestierern jeglicher
sikokommunikation (Otway/Wynne 1989) haben Couleur) und in der Bereitschaft, diese Beschreibun-
das Misstrauen derer, die Betroffenheit kommunizie- gen zum Thema der Wissenschaft zu machen (Beck
ren, nicht kompensieren können. Oft ist eher das Ge- 1997). Allerdings wird hier wie dort der Mangel an
genteil der Fall, insbesondere wenn die Entscheider Theorie zur Bedingung der Reproduktion von expli-
nur schwer zu identifizieren sind, also im Fall chemi- zitem (Bewegung) oder implizitem Protest (Wissen-
scher Großunfälle, ökologischer Katastrophen und schaft). Schärfere Einstellungen führen nicht zu
weltwirtschaftlicher Krisen. Betroffenheit äußert Protest, sondern zu dessen Beschreibung, und sie er-
sich dann eher diffus im bloßen Protest ohne genau- zeugen so immerhin Themen (wie »Ökologische
en Gegner und ist verfahrensmäßig schon gar nicht Kommunikation«, vgl. Büscher/Japp 2010; ÖK), die
mehr zu kontrollieren. Umgekehrt gilt dann, dass es ohne Protest vielleicht gar nicht oder jedenfalls
auch Betroffenheit in immer mehr Fällen weder ein- nicht auf Gesellschaft bezogen gäbe.
gegrenzt noch ausdifferenziert werden kann. Luh-
mann selbst hat Zweifeln an der Treffsicherheit der
Unterscheidung von Risiko und Gefahr für solche Tragic Choices
Fälle Nahrung gegeben (SdR, 131).
Aus all diesen Gründen scheint sich eine Art quasi- Aus all diesen Konditionen der ›Risikogesellschaft‹
transzendentale, nämlich generalisierte und auch ergeben sich laufend Situationen, in denen entschie-
noch wechselseitige Ablehnung zu konsolidieren. den werden muss, ohne dass dies mit Attributen wie
Genau diese generalisierte Ablehnung (inklusive Ex- Rationalität, Vernunft und dergleichen verknüpft
pertenrationalität), also die Unbestimmtheit von Be- werden könnte. Solche Verknüpfungen werden zwar
Soziologie des Risikos (1991) 177

behauptet, aber man kann sie durchschauen. Wegen Genehmigungen mit Vorbehalten ausstatten, werden
der basalen Unbekanntheit der Zukunft kann man sie zur Gefahr für ihre (investierende) Umwelt (SdR,
nicht einfach von Risikobereitschaft zu Risikoaversi- 211). Wenn Organisationen dagegen hohe (etwa fi-
on übergehen. Diese ist riskant wegen der möglicher- nanzwirtschaftliche) Risikobereitschaft zeigen und
weise entscheidend (!) wichtigen, aber ausgelassenen die Steuerzahler am Ende die Rettung der Banken be-
Möglichkeiten, etwa bei der Ablehnung von – für die zahlen, tritt derselbe Effekt aus entgegengesetzten
moderne Gesellschaft nicht wegzudenkenden – Gründen ein. Auch eine Art Gesamtrationalität hilft
›Hochtechnologien‹ (SdR, 93 ff.). Die Fälle häufen hier nicht wirklich weiter: Organisationen, die Erfolg
sich (Perrow 1987), die die Grenze zwischen kontrol- haben, setzen auf das Bewährte und müssen das be-
lierter Komplexität (eines Kernkraftwerkes, einer reuen, falls sich etwas ändert. Wenn sie dann den
Großchemieanlage usw.) und unkontrollierter Kom- Misserfolg als Anweisung zu übertriebener Risiko-
plexität (von unkalkulierbaren ›Nebenfolgen‹) durch neigung interpretieren, driften sie über eine solche
den zusätzlichen Einbau von Sicherheitssystemen »failure trap« (March/Olsen 1995, 183 ff.) aus den
unsicher machen. Letztlich ist dies durch die Para- Märkten heraus, deren Chancen sie ihrer Misser-
doxie bedingt, dass die zusätzlichen Sicherheitstech- folgsaversion opfern. Der Rationalitätsfall, ein ›aus-
nologien das System komplexer machen als die gewogenes‹ Verhältnis von Redundanz und Varietät
eigentliche Technologie. Perrow (1987) fokussiert (Luhmann 1988; March/Olsen 1995, 183 ff.), kann
diese Zusammenhänge auf Großtechnologien, die nicht entschieden werden. Er ergibt sich aus der Ku-
aufgrund von Mehrfachkomponenten nicht-linear mulation von tragic choices, wenn eine Organisation
bzw. komplex operieren und eng an Fehlerverkettun- diese überlebt – oder, was wahrscheinlicher ist: er er-
gen gekoppelt sind. Diese Risiken (eigentlich: Gefah- gibt sich nicht. Vielleicht muss man sich – günstigs-
ren) nicht-linearer Komplexitätssteigerungen und tenfalls – eine Art Oszillation um den Rationalitäts-
fester Kopplungen von Störungen im Falle von fall vorstellen, mit gelegentlichen Ausbrüchen ins
›Hochtechnologien‹ zu vermeiden, also auf ›Niedrig- Katastrophale. Und von der Wissenschaft kann in
technologien‹ umzuorientieren, würde zu einem dieser Situation keine Hilfe erwartet werden. Wie der
Rückbau von Sicherheiten im Hinblick auf Versor- Vertrauensverlust der Experten und die Praxis der
gung mit Energie, Medikamenten, Mobilitätschan- Gegengutachten zeigen, operiert sie selbst längst in
cen usw. führen. Zwar würde die Gesellschaft einer einem Bereich des unsicheren Wissens (bzw. des
Art folgenorientierter Verantwortungsethik gerecht Nichtwissens, vgl. Funtowicz/Ravetz 1992), der auch
(Beck 1988), aber niemand könnte sich daran beru- für die Produktion von wissenschaftlich gestütztem
higen, wenn zu viele Verlustrisiken an gesellschaftli- Risikowissen keine Position oberhalb der tragischen
cher Wohlfahrt die Risiken aus dem Betrieb der ›Dialektik‹ von Risikobereitschaft (Innovation) und
Hochtechnologien bei weitem übersteigen. Risikoaversion (Routine) mehr zulässt.
Man darf das jedenfalls annehmen, ausprobiert
hat es bezeichnenderweise – womöglich aus Grün-
den der Risikovermeidung – noch niemand. Die Po- Beobachten
litik verlegt sich auf talk (Brunsson 1989), um der
Tragik unentscheidbarer Entscheidungen zu entge- In ihrem den Forschungsstand der frühen 1990er
hen oder sie verschiebt die Probleme in andere Funk- Jahre resümierenden Überblicksartikel monieren
tionssysteme, um beispielsweise Grenzwerte oder Clarke und Short (1993), dass es keine unifying theo-
vorbehaltliche Genehmigungen festzulegen. Irgend- ry für die Spezialdisziplin ›Risikosoziologie‹ gäbe.
wann müssen sich Organisationen mit den aufgelau- Von da an bis heute hat sich in dieser Hinsicht nicht
fenen Problemen befassen. Und für diesen Fall viel getan. Gelegentliche, aber auch sehr zögerliche
besteht die Hoffnung, dass Organisationen den Um- Adaptionen des beckschen Werkes haben nicht zu ei-
gang mit Risiken lernen können. Aber genauso oft ner das Risikoproblem umfassenden Theorie geführt
wie diese Hoffnung erfüllt wird, wird sie auch ent- (vgl. Aradau/Munster 2007; Japp 2008). Wenn von
täuscht (Clarke/Short 1993). Sehr häufig neigen Or- einer wissenschaftlichen Theorie hohes Auflösever-
ganisationen zu einer Art Kleinformatisierung von mögen in Bezug auf Alltagskonzepte erwartet wird,
Risiken durch Bürokratisierung. Das betrifft vor al- dann greifen im Kontext einer unifying theory eigent-
lem – aber nicht nur – öffentliche Verwaltungen. lich nur systemtheoretische Konzepte. Nur diese lö-
Wenn diese aus Gründen der Risikoaversion Ent- sen (im Gegensatz zum Mainstream) den Risikobe-
scheidungswege verlängern (Planfeststellung) oder griff aus der Alltagsintuition des Schädlichen und
178 Werke und Werkgruppen

Gefährlichen heraus. Dies geschieht durch die Ver- Treibsand immer weiterer Unterscheidungen gerät,
knüpfung des Risikobegriffs mit dem Entschei- denn auch Unterscheidungen zweiter Ordnung sind
dungsbegriff und daran anschließend durch die intransparent im Hinblick auf die Unterscheidung,
basale Unterscheidung von Risiko und Gefahr. Diese die sie selbst benutzen, und müssen das durch weite-
Unterscheidung setzt eine Beobachtung zweiter Ord- res Unterscheiden kompensieren. Vor allem lassen
nung voraus, die Beobachter dabei beobachtet, wie sich Beobachtungen zweiter Ordnung, wegen ihrer je
sie zurechnen (extern/intern). eigenen und nicht auszuschaltenden ›Unvollkom-
Auch auf der sog. Mesoebene erlaubt der system- menheit‹ – die sich Beobachtungen erster Ordnung
theoretische Konstruktivismus, mehr zu sehen als durch ihren Objektbezug verbergen – nicht hierar-
der amerikanische constructivism, der sich z. B. damit chisieren (SdR, 243).
begnügt zu zeigen, dass es organisierte Akteure sind, Gegen die daraus resultierende Kommunikations-
die die relevanten Risikodefinitionen und deren überlast richten sich »Kommunikationsunterbre-
Kommunikation dominieren (Clarke/Short 1993). chungen« (244), die als solche nur von einer Theorie
Das wäre auch ohne einen constructivism möglich ge- gesehen werden können, die Beobachtung zweiter
wesen, der Halt macht bei der Einsicht, dass großen und erster Ordnung systematisch differenziert. Luh-
Organisationen Definitionsmacht zuzurechnen sei, mann beschreibt solche Kommunikationsunterbre-
und der insinuiert, dass damit von einer irgendwie chungen als ›Verständigungen‹, d. h. als Umgehung
doch wieder ›objektiven‹ Risikodefinition abgewi- oder auch Abbruch von Risikoreflexionen, die als
chen wird. Luhmann zeigt, dass es unter der Bedin- Beobachtungen zweiter Ordnung keine Stoppregeln
gung unsicherer Zukünfte keine objektiv richtigen bereit halten: konditionierte (insofern temporäre)
Risikomaße gibt. Und man kann sehen, dass Organi- Übereinkünfte zwischen Entscheidern und Betroffe-
sationen nicht nur um des Profites willen Risiken er- nen (MdG, 348–361) etwa um die Betriebstempera-
zeugen (Exxon Valdez) und Schuldzurechnungen auf tur von Müllverbrennungsanlagen, ohne deren Bau
betrunkene Kapitäne durchsetzen, sondern über all selbst in Frage zu stellen; motivstarke Ideologien
dies entscheiden müssen und insofern auch ihre Pro- (Brunsson 1985), die humanitäre Interventionen
bleme mit zirkulären, ausweglosen Risikostrukturen trotz hoher Unsicherheiten ermöglichen; temporär
haben. Rationalität von Organisationen besteht dann stabile, gewissermaßen verständige Verhandlungser-
nicht in der – ohnehin vergeblichen – Kontrolle von gebnisse etwa in Tarifverhandlungen (Hahn 1989),
Nebenfolgen (Clarke/Short 1993), sondern im be- die die Einkommensverteilung selbst nicht mehr in
standssichernden Zusammenspiel von Risikobereit- Frage stellen. In diesen Fällen setzen sich Verständi-
schaft und Risikoaversion, in der Vermeidung von gungen durch, schon um Handlungsfähigkeit trotz
Risiken bei Wahrung der Chancennutzung. Aber ge- Unsicherheit zurückzugewinnen, deren Resultate
nau dies würde als Entscheidungsproblem in den dann wieder Beobachtungen zweiter Ordnung aus-
Treibsand nicht beendbarer Beobachtungen von Be- gesetzt werden. Und auf dieser Ebene wird es dann
obachtungen führen. Man beobachtet nicht Objekte, wieder zwingend, das Erreichte und das Gewünschte
sondern Beobachter, zu denen man selbst zählen in die Unterscheidung von Redundanz (Risikoaver-
kann, daraufhin, wann Katastrophenschwellen er- sion) und Varietät (Risikobereitschaft) einzubauen.
reicht werden, was wahrscheinlich, was unwahr- Eine risikosoziologische, womöglich rationalitäts-
scheinlich ist, welche Kosten intern, welche extern verbürgende Abschlussformel gibt dieses komplexe
anfallen usw. Arrangement nicht her. Kein in die Beobachtung der
Diese Art zu beobachten verbindet die Makroebe- Zukunft als Risiko verwickelter Beobachter kann sich
ne der Theorie (Funktionssysteme) mit der Mikro- den tragic choices entziehen, die sich daraus ergeben,
und der Mesoebene, insofern auf allen drei Ebenen wie er selbst beobachtet – und beobachten muss.
Beobachtungen zweiter Ordnung eintrainiert wer-
den, was unter Bedingungen funktionaler Differen-
Literatur
zierung und hoher Systemkomplexität unausweich-
lich ist. Es ist nicht interessant, die eigene Beobach- Aradau, Claudia/Munster, Rens van: »Governing Terrorism
tung auf ein Objekt, Aktienwerte etwa, zu richten. Es Through Risk: Taking Precautions, (Un)Knowing the
kommt alles darauf an, wie andere dieses Phänomen Future«. In: European Journal of International Relations
13. Jg., 1 (2007), 89–115.
unterscheiden, also beobachten. Ein Problem ergibt Beck, Ulrich: Gegengifte. Frankfurt a. M. 1988.
sich aus dieser Art des Beobachtens von Beobachtun- –: Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale
gen, insofern sie – einmal angelaufen – in jenen Subpolitik. Wien 1997.
Soziologie des Risikos (1991) 179

–: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlore- Wildavsky, Aaron: Searching for Safety. New Brunswick/
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Bonß, Wolfgang: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewiß- Wynne, Brian: Risk Management and Hazardous Waste:
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Brunsson, Nils: The Irrational Organization. Chichester New York 1987.
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180 Werke und Werkgruppen

10. Beobachtungen der Moderne eine um begriffliche Homogenität bemühte neue


leitbegriffliche Gesamtorientierung der Theorie re-
(1992) konstruiert. Sie führt zu einer grundsätzlichen re-
description der eigenen Theorie, zu einem Umschrei-
Auf den ersten Blick ist Beobachtungen der Moderne ben bisheriger theoretischer Setzungen in (nicht ka-
eine Sammlung von ausgearbeiteten Vortragsnoti- tegoriale, aber doch partielle und um theoriebegriff-
zen. Ihr thematischer Anlass und Aufhänger ist die liche Homogenität bemühte) neue Optionen. In
postmoderne These des Endes der großen Erzählun- dieser Versuchsreihe steht auch der vorliegende Text.
gen. Den thematischen Fokus bildet der Versuch, die- Sein Hauptthema ist die Moderne und ihre Kontin-
se Diagnose mit den theoretischen Bordmitteln der genz. Damit greift Luhmann zwei schon vorher und
soziologischen Systemtheorie gesellschaftstheore- für die eigene Theorieentwicklung prominente Be-
tisch zu verfeinern. Dadurch rückt der Begriff der griffe auf und bemüht sich, diese beobachtungstheo-
Kontingenz in das begriffliche Zentrum des Buches. retisch neu zu formulieren. Zugleich freilich sind die
Denn Kontingenz – der Hinweis auf das Nicht-not- einzelnen Beiträge in unterschiedlicher Intensität
wendig-Sein und Nicht-zufällig-Sein, also das Auch- durchwoben von mehr oder weniger essayistischen
anders-möglich-Sein von Etwas (hier: der Struktur Randbemerkungen; eine Ebene des Kommentars zu
der modernen Gesellschaft) – bringt just das auf den einigen zeitgenössischen Phänomenen (etwa zum
Punkt, was der postmoderne Diskurs seit Jean-Fran- massenmedialen Palaver oder zu Formen der kata-
çois Lyotard ahnungsvoll umkreiste: die Abkehr von strophischen Geschwätzigkeit) lässt sich parallel
aller geschichtsphilosophischen Selbstbegründung durchaus auch beobachten.
der Moderne und der Hinweis darauf, dass es sich bei Das Buch versammelt fünf Beiträge: (1) »Das Mo-
den Versuchen, die der Postmoderne-Diskurs aufs derne der modernen Gesellschaft«, (2) »Europäische
Korn nimmt, um Selbstbeobachtungen (im Plural) Rationalität«, (3) »Kontingenz als Eigenwert der mo-
der modernen Gesellschaft handelt. Dabei werden dernen Gesellschaft«, (4) »Die Beschreibung der Zu-
diese Selbstbegründungsversuche, weil sie nichts an- kunft« und (5) »Ökologie des Nicht-Wissens«. Auf
deres als Kommunikationen sind, von Beobachtun- den ersten Blick ist über die einzelnen Themenprofile
gen solcher Beobachtungen dekonstruiert und so nicht immer nur Neues zu erfahren. Dass (1) die mo-
ihres (deshalb nur scheinbaren) Notwendigkeitscha- derne Gesellschaft vor allem über ihr Strukturprofil
rakters beraubt. »Beobachtungen der Moderne« ist funktionaler Differenzierung qualifiziert ist, dass (2)
mit Blick darauf ein mindestens doppeldeutiger Ti- sich im Verbund dieser Ausdifferenzierungsge-
tel, der sowohl als Genitivus subiectivus wie als Ge- schichte in Europa seit der Frühen Neuzeit eine sie
nitivus obiectivus gelesen werden kann: im Sinne begleitende Semantik ausgebildet hat, die diese Ge-
einer theoretischen Beobachtung davon, wie die mo- schichte zwar nicht einfach beschreibt, die aber his-
derne Gesellschaft sich selbst beobachtet, aber auch torisch-semantisch als eine sich für diese Transfor-
im Sinne einer Umstellung der Operationsform auf mation sensibilisierende Übergangssemantik unter
den Modus einer Beobachtung zweiter Ordnung. Die verschiedenen Aspekten (hier: dem der Rationalität)
»Beobachtungen der Moderne«: das sind Beobach- gelesen werden kann, dass (3) zu diesem neuen Be-
tungen zweiter Ordnung. wusstsein auch und zentral das Bewusstsein der Kon-
Vor einer Bündelung der wichtigsten Gedanken tingenz aller sozialen Phänomene gehört, dass (4) in
dieses Buches ist es wichtig, seinen Stellenwert im einem weiteren Verständnis auch das Bewusstsein ei-
Fortgang der luhmannschen Schriften zu markieren. ner unbekannten und offenen Zukunft und die da-
Beobachtungen der Moderne erscheint 1992. Voraus- raus resultierenden Folgeprobleme gehören und dass
gegangen ist das, was in der Sekundärliteratur gerne (5) schließlich auch Komplexe der Expertokratie mit
als die ›autopoietische Wende‹ der luhmannschen Blick auf eine ökologisch gefährdete Zukunft dieses
Theorie beschrieben wird. Ihr folgen später dann Problem nicht bewältigen, sondern es durch Dauer-
aber – prominent seit Die Wissenschaft der Gesell- kommunikation von Nichtwissen lediglich zum Aus-
schaft (1990) – weitere Überlegungen, die diese auto- druck bringen: Das alles sind nicht unbedingt neue
poietische Wende als eine eigentlich banale Wende Themen. Sie erscheinen aber im Lichte neuerer theo-
erscheinen lassen. Im Zentrum von Luhmanns Spät- retischer Ansätze nicht lediglich als zeitgeistige
werk steht ein generalisierter Begriff der Beobach- Randphänomene, sondern als typische ›Folgeproble-
tung als bezeichnendem Unterscheiden, und man me funktionaler Differenzierung‹. In diesem Ver-
wird nicht übertreiben, wenn man dessen Status als ständnis versorgt der Gesellschaftstheoretiker den
Beobachtungen der Moderne (1992) 181

Gegenwarts- und Diskursbeobachter mit Hinweisen ›Stil‹ moderner Wissenschaft Hinweise auf eine die
auf den Fall hinter dem Fall. Die einzelnen An- und Moderne kennzeichnende neue Beobachtungsform,
Aufsätze seien im Folgenden in ihren wesentlichen die nicht mehr auf ein ›Was‹ der Beobachtung, son-
Passagen rekonstruiert. dern – distanzierend – auf ihr ›Wie‹, auf eine Beob-
achtung von Beobachtungen rekurriert.
Hinzu kommt die (an Marx abgelesene und nach
»Das Moderne der modernen Gesellschaft« ihm generalisierbare) Einsicht in die Sozialkonstruk-
tivität nicht nur der modernen Wirtschaft, sondern
Die Diagnose ist klar: Auf Basis der Ausgangsunter- aller sozialen Zusammenhänge, die dergestalt nicht
scheidung von Sozialstruktur und Semantik – die als mehr als natürliche, sondern als soziale, sich selbst
eine erste, nicht selbst begründete, insofern kontin- begründende und validierende Kontexte begriffen
gente, insofern moderne Unterscheidung eingeführt werden. Alle (Fremd-)Referenzen der Wirtschaft
wird – profiliert sich die These, dass der Postmoder- (etwa auf natürliche Bedürfnisse der Individuen, auf
ne-Diskurs auf der semantischen Ebene als eine ›die‹ Natur) sind eben dies: Referenzen der Wirt-
Variante der Selbstbeschreibung der Moderne zu schaft. Alle Referenz auf extrasoziale Objektivitäten
platzieren ist. Nur ist eine Selbstbeschreibung oder bleibt eine soziale Referenz.
Zeitdiagnose noch keine Gesellschaftstheorie. Die Es ›gibt‹ also nicht die Wirtschaft und dazu ein
weitere Dynamik dieses Texts lässt sich als eine Suche komplementäres und objektivierbares Außen. Es
nach historischen Theoriemotiven für den Aufbau ›gibt‹ stattdessen nur unterschiedliche Formen des
einer solchen Gesellschaftstheorie begreifen. In ihr Referierens der Wirtschaft auf sich selbst oder auf ihr
konkretisiert sich, was an anderer Stelle als »Nach- Äußeres. Die Einheit dieser Differenz von Fremdre-
holbedarf« »auf semantischer Ebene« (BdM, 42) for- ferenz und Selbstreferenz – also der ›Ort‹, von dem
muliert wird. Leitmotivisch kommt dabei eine aus ein Selbst als ein Selbst, ein ›Fremd‹ als ein
Variante einer ›perspective by incongruity‹ (Kenneth ›Fremd‹ referierend erscheint – »wird als Einheit
Burke) zur Geltung: Es geht um »die Möglichkeit, operativ benutzt, ohne als Einheit beobachtbar zu
unbestrittene Sachverhalte mit variierten Theorie- sein« (27). Will man das theoretisch auf den Begriff
konzepten, mit anderen Unterscheidungen anders bringen, landet man wieder bei einer abstrakt anset-
zu beschreiben« (19). Die Hoffnung ist, dass sich zenden Theorie der Beobachtung von Beobachtun-
nur derart, mit distanzierendem Blick auf moderne gen. Prägnant heißt es: »Die Einheit der Unterschei-
Semantiken, ein »Herausdestillieren abstrakterer dung von Selbstreferenz und Fremdreferenz liegt
Merkmale von Modernität« (26) organisieren lässt. mithin in der Spezifik der Bedingungen der Möglich-
An den Theorien von Karl Marx und Edmund keit einer Beobachtung zweiter Ordnung« (30).
Husserl zum Beispiel wird – in inkongruenter Per- Dies alles, so Luhmann deutlich, diene der hoch
spektive – ein generalisierter Technikbegriff als ›Ab- abstrakten »Ausformulierung des Begriffs der Auto-
sehen von‹, als ›funktionierende Simplifikation‹ nomie funktionsspezifischer Teilsysteme« (ebd.). Die
sondiert. In der marxschen Beobachtung, wie ein theoretische Arbeit daran habe früher vor allem auf
komplexes Phänomen namens ›Arbeit‹ unter kapita- den Oszillationsraum referiert, der zwischen dem
listischen Gesichtspunkten auf einen Verrechnungs- positiven und dem negativen Codewert eines Funk-
wert reduziert wird, findet sich dasselbe Muster wie tionssystems aufgespannt ist und in dessen ›Imma-
in der husserlschen Kritik am galileischen Wissen- nenz‹ sich ein Verständnis der operativen Autonomie
schaftsstil, der Natur auf ein kontrolliert beobachtba- eines Funktionssystems konzentrieren ließ. Diese der
res Objekt reduziert. In beiden Fällen, auch wenn sie Kybernetik abgelesene Beschreibungssprache wird
theoretisch jeweils kritisiert werden, findet sich diese zwar nicht aufgegeben, aber durch Momente einer
Typik des ›Absehens von‹, findet sich ein Technisie- Kybernetik zweiter Ordnung, die den Hintergrund
rungseffekt, dessen zentrale Folge die Freisetzung des der neueren Beobachtungstheorie bildet, angerei-
singulären Individuums von solcher (die Moderne in chert.
ihrer Struktur kennzeichnenden) Technik ist. Vor al- Die weitere Arbeit gilt entsprechend einigen Hin-
lem aber eröffnet sich in ihnen damit die Chance, weisen auf die Unterscheidung von Referenz und Co-
sich selbst (beim Beobachten) zu beobachten. Unter dierung. Die Nicht-Identität der Differenzen von
diesem Gesichtspunkt liegen in den marxschen Ana- Selbstreferenz und Fremdreferenz einerseits, von po-
lysen der Formen kapitalistischer Reproduktion sitivem und negativem Codewert eines Funktions-
ebenso wie in den husserlschen Bemerkungen zum systems andererseits glaubt Luhmann an einigen
182 Werke und Werkgruppen

funktionssystemspezifischen Mechanismen genera- die mit dem Dual von Struktur und Semantik arbei-
lisierend nachzeichnen zu können. tet, rekonstruiert solche Beobachtungen als Seman-
Für den Fall des Wissenschaftssystems, dessen tiken und liefert dazu die alternative, weil struktur-
Einheit die Gesamtheit aller auf den Wahr/falsch- adäquate Beschreibung. Insofern ist die Beobach-
Code bezogenen Kommunikationen bildet, macht tung anderer Theorien als moderne Semantiken
Luhmann zunächst die Nicht-Identität dieses Codes respektive Selbstbeschreibungen der modernen Ge-
mit der in diesem System praktizierten Unterschei- sellschaft eine Beobachtung ihrer begrifflichen Pass-
dung von Selbst- und Fremdreferenz geltend. Letzte- genauigkeit mit Blick auf die Strukturen, die aus
re vermutet er in der wissenschaftstheoretischen einer soziologischen Perspektive auffallen.
Unterscheidung von Realismus und Konstruktivis-
mus. Die epistemologische Unterscheidung von Rea-
lismus und Konstruktivismus oder – mit Willard Van »Europäische Rationalität«
Orman Quine – von analytischen und synthetischen
Wahrheiten »muß […] aufgegeben werden« (32) Der zweite Text des Bandes variiert diese Beobach-
und kann ›aufgehoben‹ werden in die wissenschafts- tung von modernen Semantiken entlang einer vor-
systemspezifische Unterscheidung von Selbst- und sichtigen Rekonstruktion der Spezifik, mit der
Fremdreferenz. Beide Ebenen sind für beide Code- europäische Semantiken den Prozess der Bildung ei-
werte des Systems – wahr/falsch – zugänglich. Und nes Arrangements funktionaler Differenzierung be-
insgesamt, so Luhmann, führt dies zu einem Verzicht gleiten. Die Vermutung ist, dass diese europäische
auf »Verankerung« von Wahrheit »in präkonstrukti- Rationalität »sich von anderen vergleichbaren Se-
vistischen Sicherheiten«: »Wahrheit ist dann nichts mantiken durch ihren Umgang mit Unterscheidun-
anderes als der positive Wert […] eines Codes […]. gen« (BdM, 52) unterscheidet. Auch hier wiederholt
Die Eigentümlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis Luhmann den Gedanken, dass sich in der Ideenge-
besteht dann darin, alle Beobachtungen, die den An- schichte des europäischen Rationalismus Motive für
spruch erheben, Wissen zu vermitteln, einer Zweit- eine unbegriffene Umstellung auf die Form funktio-
beobachtung mit Hilfe eben dieses binären Codes zu naler Differenzierung als einer Form der Beobach-
unterwerfen« (34). Dadurch aber stellt sich insge- tung von Beobachtungen finden lassen.
samt das moderne Wissenschaftssystem auf den Mo- Diese These wird entfaltet über eine revueartige
dus der Beobachtung zweiter Ordnung um; es Rekonstruktion des abendländischen Rationalismus
distanziert sich von der Form seinsunmittelbarer seit der Spätscholastik und seit Descartes bis hin zu
Wahrheiten und beobachtet nunmehr andere Beob- »seiner Auslaufphase« (62) im 20. Jahrhundert. Die
achtungen. Alle Referenzen auf die ›Welt draußen‹, Geschichte dieses Rationalismus wird als eine »Ge-
über die Aussagen mit Wahrheitsanspruch formu- schichte der Auflösung eines Rationalitätskontinu-
liert werden, referieren ›nur‹ auf dieses Draußen, ums« gelesen, »das den Beobachter in der Welt mit
sind aber nicht das Draußen. Sie bleiben insofern sys- der Welt verbunden hatte« (53). Die damit verknüpf-
temeigene Referenzen. ten Prämissen der »Konvergenz von Denken und
In diesem Versuch, sich die Strukturlogik der Mo- Sein« (ebd.), der Annahme einer Welt der seienden
derne unter der Bedingung funktionaler Differenzie- Dinge (congregatio corporum), einer insgesamt eher
rung als eine Institutionalisierung der Form eines passiv akzentuierten Erkenntnistheorie, lösen sich
Beobachtens von Beobachtungen zu vergegenwärti- spätestens im 17. Jahrhundert auf. Der subjektive Ra-
gen, sieht Luhmann die begriffene Alternative zu ei- tionalismus, der dabei entsteht, ist aber nur der Start-
ner Semantik, die unbegriffen und nur ahnungsvoll – punkt einer Entwicklung, in der Rationalität zuneh-
hier unter dem Stichwort ›Postmoderne‹ – diese mend pluralisiert und spezialisiert verstanden wird,
Strukturform lediglich andeutet, aber nicht soziolo- in deren weiterem Verlauf auch ›das Andere der Ver-
gisch durchbuchstabiert. »Wenn man unter Postmo- nunft‹ in Gestalt von Irrationalitäten, »zum Beispiel
derne das Fehlen einer einheitlichen Weltbeschrei- Genuß, Phantasie, Imagination« (58), eine themati-
bung, einer für alle verbindlichen Vernunft oder sierungsfähige Gestalt erhält – bis hin zu Max Webers
auch nur einer gemeinsam-richtigen Einstellung zur Wert(sphären)-Rationalismus. Diese – sehr kurso-
Welt und zur Gesellschaft versteht, dann ist genau risch angesprochene – Geschichte liest Luhmann als
dies das Resultat der strukturellen Bedingungen, de- einen Hinweis auf die Unmöglichkeit, die eine Welt
nen die moderne Gesellschaft sich selbst ausliefert« und ihre Einheit vernunfttheoretisch einzuholen.
(42). Und eine soziologische Gesellschaftstheorie, Insgesamt, so die Quintessenz, wird »die Vorstellung
Beobachtungen der Moderne (1992) 183

einer Vernunft, die Einheit und Gewissheit der Welt- that we cannot make an indication without drawing a
sicht garantieren könnte« (59), ideenhistorisch syste- distinction« (zit.n. BdM, 72). Hier wäre vieles zu dis-
matisch dekonstruiert und untergraben. Weder der kutieren. Im vorliegenden Zusammenhang interes-
Transzendentalismus eines »extramundane[n] Sub- siert vor allem das Moment der Setzung, des »we take
jekt[s]« (ebd.) noch die Varianten einer »Philosophie as given«, das sich nicht vorab begründet, das also
der Unmittelbarkeit« (60), wie sie sich in Lebens-, grundlos eingesetzt wird und das erst im weiteren
Existenz- oder Zeichenphilosophie zur Geltung brin- Verlauf der Ausdifferenzierung dieses mathemati-
gen, ändern etwas daran. schen Kalküls mit der Figur des Re-entry aufgegriffen
Aus einer systemtheoretischen Perspektive heraus wird. Dieser Kalkül hat kein Anfang und kein Ende;
erscheint dies symptomatisch: »Historisch sieht man er ist grundlos – klassisch rationalitätstheoretisch
eine deutliche Entsprechung zwischen der traditio- müsste man sogar sagen: er ist vernunftlos. Genau
nellen Annahme einer ontologisch […] beschreibba- diese Form der »Selbstexplikation des Unterschei-
ren Welt und einem nur zweiwertigen logischen dens im Aufbau von Komplexität« (73) erscheint
Instrumentarium. Das setzt eine Gesellschaft voraus, aber systemtheoretisch interessant. Denn eine Unter-
in der Differenzen zwischen verschiedenen Welt- scheidungstheorie unterscheidet – hat also immer
und Gesellschaftsbeschreibungen nicht allzu groß schon das vollzogen, was sie expliziert. Sie expliziert,
werden und von unbestrittenen Standpunkten […] was sie vollzieht. Sie ist in diesem Sinne, wie Luh-
verbindlich entschieden werden können« (63). Es mann Spencer-Brown zitiert, »perfect continence«
setzt, so könnte man dann auch formulieren, eine (ebd.); sie enthält sich selbst und hat immer schon
Gesellschaft voraus, die sich mit dem Modus einer begonnen. Sie kennt kein Außerhalb zu ihrem Ge-
Beobachtung erster Ordnung begnügen kann. Diese genstand. Sie ist Subjekt und Objekt zugleich und da-
Gesellschaft ist freilich – strukturell gesehen – nicht mit weder Subjekt noch Objekt.
mehr die unsere. Und wo die frühe soziologische Sys- Genau diese Theorieform kann dann systemtheo-
temtheorie an dieser Stelle die Überlegungen Gott- retisch eingesetzt werden. Denn auch die System-
hard Günthers zur Möglichkeit einer mehrwertigen, theorie »beschreibt […] nicht bestimmte Objekte,
nicht-aristotelischen Logik als einem Schema-Pen- genannt Systeme, sondern orientiert ihre Beobach-
dant für die ›polykontexturale‹ Strukturform funk- tung der Welt an einer bestimmten (und keiner an-
tionaler Differenzierung platzierte, lautet der Hin- deren) Unterscheidung – eben der von System und
weis nun: Beobachtung von Beobachtungen, Kyber- Umwelt. Das zwingt zu durchgehend ›autologischen‹
netik zweiter Ordnung. Erst mit ihr sei die Auflösung Konzepten; denn auch der Beobachter selbst muß
überkommener Erkenntnisblockaden (obstacles épis- sich, sofern er Beobachtungen operativ durchführt
témologiques im Sinne von Gaston Bachelard) mög- und sie dabei rekursiv verknüpft, als System-in-ei-
lich. Die Figur, die diese Auflösungen beschleunigt ner-Umwelt erkennen. Der Erzähler kommt in dem,
bzw. an der entlang sich neue Einsichten langsam was er erzählt, selber vor. Er ist als Beobachter beob-
verfügbar machen, ist die des Kollapses zunächst ei- achtbar. Er konstituiert sich selbst in seinem eigenen
ner Unterscheidung und schließlich auch der Denk- Feld – und daher zwangsläufig im Modus der Kon-
möglichkeit des Wiedereintritts einer Unterschei- tingenz, also mit Seitenblick auf andere Möglichkei-
dung in sich selbst. Exemplifiziert an dem für das ten« (74). Derart führt die Beobachtungstheorie –
ontologische Denken charakteristischen Schema von gelesen als die Epistemologie der Moderne, als Alter-
Denken und Sein kann Luhmann zeigen, wie die Ein- native zum unvollständigen subjektiven Rationalis-
sicht, dass z. B. das Denken selbst ein Sein ist, zur mus der europäischen Moderne – wieder zu Kontin-
langsamen Erosion einer Leitunterscheidung führt, genz als Eigenwert der modernen Gesellschaft.
an deren Ende die von George Spencer-Brown aus-
gewiesene Figur des Re-entry steht. In dieser Figur
wird der Kern einer Beobachtungs- und Unterschei- »Kontingenz als Eigenwert der modernen
dungstheorie sichtbar, in der die luhmannsche Theo- Gesellschaft«
rie die Quintessenz einer strukturadäquaten Selbst-
beschreibung der modernen Gesellschaft vermutet. Der beobachtungstheoretischen re-description des
Im Zentrum einer solchen Beobachtungstheorie Kontingenzbegriffs gilt die dritte Studie dieses Ban-
steht ein Begriff des unterscheidenden Bezeichnens des. Sie wird eröffnet mit der Leitfrage: »Gibt es über-
und die vielfach zitierte Formel: »We take as given the haupt eine Theorie, die den Begriff der Kontingenz
idea of distinction and the idea of indication, and verwenden kann?« (BdM, 98) – eine durchaus unge-
184 Werke und Werkgruppen

wöhnliche Frage, wenn man bedenkt, dass der ne Welt semantisch vorzubereiten« (114). Ob, so die
Grundbegriff ›Sinn‹, auf den hin die luhmannsche anschließende Überlegung, die moderne Gesell-
Theorie sich früh orientiert hatte, gerade dessen schaft Kontingenz als Eigenwert institutionalisiert
Kontingenzsensibilität (und nicht etwa irgend eine hat, lässt sich also daran beobachten, inwieweit sich
Variante einer verstehenden Soziologie) zum Aus- in ihrem operativen Prozedere Momente einer Um-
gangspunkt der ›Wahl‹ dieses Grundbegriffs gemacht stellung auf die Beobachtung von Beobachtungen
hatte. beobachten (!) lassen.
Eben deshalb ist die beobachtungstheoretische Die Belege erscheinen schlagend und verweisen
Rekonstruktion dieses Begriffs offenbar doch eher auf »›Tiefenstrukturen‹ der modernen Gesellschaft«
theoretisch-begrifflichen Homogenisierungsbemü- (125), die sich in solchen Gemeinsamkeiten offenba-
hungen geschuldet. Diese organisieren sich im vor- ren. Die Wissenschaft ist nicht mehr »Verkündungs-
liegenden Fall über die Differenz von Beobachtungen autorität« (119), sondern operiert auf der Basis von
erster und zweiter Ordnung. Vor allem Letztere ha- Publikationen in ihrer spezifisch modernen Form,
ben – evidentermaßen – kontingenzsteigernde Effek- also so, dass beobachtbar wird, was und wie beobach-
te. Während Beobachtungen erster Ordnung nur tet wurde. Die moderne Kunst bewegt sich weg vom
sehen, was sie sehen, und das ›Was‹ der Beobachtung Selbstverständnis einer imitatio naturae und hin zur
in ihrem Vollzug nicht als kontingent erscheint, liegt »Betonung der im Kunstwerk verwirklichten Formen
die Sache bei Beobachtungen zweiter Ordnung an- (Unterscheidungen), die das herstellende bzw. be-
ders. Mit ihnen, also mit der Beobachtung von Beob- trachtende Beobachten koordinieren« (120). Moder-
achtungen, kommt Kontingenz ins Spiel. Ob es um ne Politik lässt sich nicht mehr ohne ihre Orientie-
Beobachtungen von anderen Beobachtern oder Be- rung an öffentlicher Meinung verstehen, also wieder:
obachtungen ›desselben‹ Beobachters zu einem spä- an einer Form, die beobachtet, wie andere (die Poli-
teren Zeitpunkt geht: Das ›Was‹ der Beobachtung tik) beobachten. Für die (kapitalistisch produzieren-
erster Ordnung, also seine Sachdimension, erscheint de) Wirtschaft ist die Ausdifferenzierung eines
als kontingent, »wenn die Sozialdimension und die modernen Marktverständnisses und die damit insti-
Zeitdimension Beobachtungen auseinanderziehen« tutionalisierte Beobachtung anderer Beobachter
(100). über den Mechanismus ›Preis‹ maßgeblich. Dass mo-
Im Effekt gilt dann: »[A]lles wird kontingent, dernes Recht positiv gesetztes, also änderbares, also
wenn das, was beobachtet wird, davon abhängt, wer kontingentes Recht ist, ist nicht neu. Beobachtungs-
beobachtet wird« (ebd.). Im Prozessieren von Beob- theoretisch kann man diesen Befund lesen als die
achtungen von Beobachtungen (die ja, weil dieselbe Umstellung auf die leitende Unterscheidung Verfas-
Form wie eine jede Beobachtung erster Ordnung be- sungsrecht vs. normales Recht (statt Naturrecht/po-
nutzend, in gleicher Weise als Operationen eines Sys- sitives Recht) und damit auf einen Mechanismus, für
tems fungieren) entsteht ein »Kontingenzzugeständ- den die Beobachtung leitend ist, »wie entschieden
nis« und mit ihm ein Eigenwert, dessen Quintessenz worden ist oder wie entschieden werden wird« (123).
»es kann auch anders sein« lautet (103). Weil auch Recht sich über die textförmige Interpre-
Der nun im Buch folgende historische Rekurs auf tation anderer Rechtstexte reproduziert, vermutet
Aristoteles’ De interpretatione und die mittelalterli- Luhmann auch hier Umstellung auf die Beobachtung
che Diskussion de futuris contingentibus sowie die Be- zweiter Ordnung. Ähnliches gilt sowohl für Liebe,
obachtung des christlichen Schöpfergottes als Beob- das Sozialsystem Familie und für die Autonomisie-
achter durch Nikolaus von Kues fungieren als Abriss rung eines ›Erziehungssystems der Gesellschaft‹, in
einer »soziologischen Studie über Genese und Be- dem die Erfindung des Kindes und mit ihm die Be-
deutung der Kontingenzsemantik der modernen Ge- obachtung, wie es (die äußere und soziale, zuneh-
sellschaft« (112), die ganz offenbar den Sinn hat, die mend auch seine eigene innere) Welt beobachtet,
Selbsterosionen erkenntnistheoretischer und theolo- institutionalisiert wird.
gischer Art als Vorläufertraditionen zu beobachten, Auch die Religion autonomisiert sich und be-
weil ansonsten die Transformation hin zu einem mo- schreibt dies sowie das Autonomwerden der anderen
dernen Kontingenzverständnis als zu abrupt und zu Sinnuniversen als Säkularisierung. Aber offenbar
unwahrscheinlich zum Vorschein kommen würde. greift hier die ›Tiefenstruktur‹ der Moderne nicht
»Rückblickend erscheint es […] so, als ob die Gesell- vorbehaltlos. Zumindest fällt auf, dass Luhmann sie
schaft am Gottesbegriff nur trainiert hätte mit dem nicht ohne Vorbehalte in diese Reihung aufnimmt.
ungeplanten Nebeneffekt, den Eintritt in die moder- Ohne weiteres lässt sich die Theoriesprache einer
Beobachtungen der Moderne (1992) 185

Umstellung auf zweite Beobachtungsordnungen auf »Ökologie des Nichtwissens«


die Religion nicht anwenden. Das könnte daran lie-
gen, dass die theologische Historie wohl den take off, Auch die den Band abschließende Studie kann als
die preadaptive advances, nicht aber die Strukturge- eine re-description älterer Überlegungen Luhmanns
gebenheit der Kontingenz im Modus der Beobach- gelesen werden. Der Aufsatz traktiert unter wieder-
tung zweiter Ordnung geliefert hat. Zumindest um beobachtungstheoretischen Vorzeichen – d. h.
reduziert Luhmann in diesem Zusammenhang Reli- mit dem Hinweis auf das Nicht-Sehen-Können der
gion zu dem Muster, auf dessen Basis allein das eige- Einheit der Unterscheidung, auf deren Basis man be-
ne Tun als gut (und damit: als nicht kontingent) zeichnet – Varianten ökologischer Kommunikation
erscheint. im Sinne des Hinweises auf eine mögliche ökologi-
sche Katastrophe. Die früheren Studien sowohl zum
Komplex ökologischer Kommunikation und dem
»Die Beschreibung der Zukunft« zentralen Folgeproblem funktionaler Differenzie-
rung – dass die Funktionssysteme der Moderne zu
»Die Beschreibung der Zukunft« kann als eine zeit- viel (weil vielfältige) und zu wenig (weil nicht zu syn-
dimensional enggeführte Ergänzung zu Soziologie des thetisierende) Resonanz zugleich erzeugen – wie zu
Risikos (1991), die ja vor allem eine Studie über das den Formen der Angstkommunikation sozialer Be-
Zeitverständnis im Umgang mit den Unsicherheiten wegungen werden hier beobachtungstheoretisch neu
einer ungewissen Zukunft ist, gelesen werden. Ihre aufgenommen. Die dabei leitende Vermutung ist,
Leitfragen sind: Wie beschreiben wir die Zukunft? dass sich in der Dauerkommunikation über solche
»Wie können wir wissen, was künftig der Fall sein Themen eine spezifische Form des Nichtwissens zur
wird? Und: Wie können wir in Bezug auf die Zu- Geltung bringt: »Daß man die Zukunft nicht kennen
kunft, die noch gar nicht greifbar ist, etwas Bestimm- kann, kommt in der Gegenwart als Kommunikation
tes wollen? Oder nochmals anders gefragt: In zum Ausdruck« (BdM, 154). Diese Kommunikation
welchen Formen präsentiert sich die Zukunft in der des Nichtwissens, die sich in Gestalten wie der Pro-
Gegenwart?« (129). babilistik, der Prognose und anderen Formen der
Auch hier gilt das Interesse entsprechend einem Kommunikation einer unbekannten Zukunft zeigt,
Hinweis auf die Differenz der Zeitverständnisse von offenbart sich als ein Wissen, das, weil beobachtbar,
vormoderner und moderner Gesellschaft. Während zugleich als ein Nichtwissen offenbart wird. Zu ei-
Zukunftsvorstellungen unter den Bedingungen eines nem gesellschaftstheoretischen Thema wird dies,
Essenzenkosmos auf Perfektion und Teleologie zie- weil an dieser Dauerkommunikation Erosionen von
len, lassen sich historisch-semantisch Erosionen die- Autorität (in Gestalt von unhinterfragtem Status,
ses Verständnisses ab dem 18. Jahrhundert beobach- Adel, Weisheit etc.) sichtbar werden, die der Gesell-
ten. Wenn nicht mehr Perfektion, sondern Perfekti- schaftstheoretiker mit der Strukturform funktiona-
bilität (ein rousseauscher Neologismus) zur neuen ler Differenzierung und dem systematischen Verlust
Leitformel wird, dann resultiert daraus ein begin- aller Repräsentation und Repräsentativität in Zu-
nender Historisierungseffekt, der zwar die Garantie sammenhang bringt.
einer auf Perfektion getrimmten Welt (wenn nicht
auf die Gegenwart, dann) auf die Zukunft zu proji- Man kann die Quintessenz des Buches in einem
zieren vermag, sich freilich auf die Dauer semantisch kurzen Zitat gegen Ende des letzten Beitrags finden.
aber nicht halten lässt. Hier vermutet der soziologische System- und Beob-
Prägnant formuliert Luhmann das neue, für die achtungstheoretiker, dass sich von verschiedenen
Moderne maßgebliche Zukunftsverständnis am be- Ausgangspositionen aus, ähnliche »Denkdispositio-
rühmten Seeschlachtbeispiel aus Aristoteles’ De in- nen« finden lassen, die allesamt indizieren, dass »die
terpretatione. »[O]b eine künftige Seeschlacht statt- ontologische Metaphysik der Tradition« sich auflöst.
finden werde oder nicht« (137), kann man nicht »Und die Vermutung des Soziologen ist dann, daß
wissen. Die aristotelische Konsequenz ist dann: »Ur- die moderne Gesellschaft begonnen hat, mit einem
teilsenthaltung. So als ob jetzt schon feststünde, daß für sie adäquaten Denken zu experimentieren«
die Seeschlacht stattfinden werde oder nicht, aber (212).
man es noch nicht wissen könne. Aber unser Pro- Die wichtigsten dieser Tendenzen sind: eine Theo-
blem wäre: ob wir eine Seeschlacht riskieren sollen rie operativ geschlossener Systeme, eine operative
oder nicht« (ebd.). Wendung der Systemtheorie hin zur Ereignisförmig-
186 Werke und Werkgruppen

keit der Elemente (sozialer und anderer) Systeme, der 11. Die Realität der Massen-
De-Ontologisierungseffekt einer Zeichentheorie, die
sich von der Differenz von Zeichen und Sache verab-
medien (1995)
schiedet und Zeichen als ein Differenzphänomen
deutet, George Spencer-Browns Laws of Form (1969) Die Realität der Massenmedien im Kontext
und mit ihr vor allem die anfangs- und endlose, über der systemtheoretischen Medientheorie
die Re-entry-Figur eingebaute, sich selbst enthalten-
de unterscheidende Bezeichnung von Unterschei- Bereits in seinem zuerst 1975 veröffentlichten Auf-
dung und Bezeichnung, sowie Jacques Derridas satz »Veränderungen im System gesellschaftlicher
Dekonstruktivismus, gelesen als Differenztheorie. Kommunikation und die Massenmedien« wendet
Die Ahnung der semantischen Spur, auf der sich die- sich Niklas Luhmann dezidiert den Massenmedien
se Ansätze bewegen, und die gesellschaftstheore- als »Verbreitungstechniken« zu (SA3, 312), die er
tisch-strukturelle Interpretation dieser Spur, das ist hinsichtlich ihrer Leistung, eine kommunikative In-
die soziologische Beobachtung der Moderne. tegration der Weltgesellschaft zu ermöglichen, analy-
siert. Knapp zwanzig Jahre später, nämlich 1995,
erscheint die erste, auf einen Vortrag an der Nord-
Literatur rhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften
Bachelard, Gaston: La formation scientifique. Paris 1947. zurückgehende Fassung der 1996 in erweiterter Form
Baecker, Dirk u. a. (Hg.): Zehn Jahre danach. Niklas Luh- publizierten Abhandlung Die Realität der Massenme-
manns ›Die Gesellschaft der Gesellschaft‹. Stuttgart 2007. dien, worin die Frage nach dem Stellenwert von Mas-
Blumenberg, Hans: »Kontingenz«. In: Die Religion in Ge- senmedien in der modernen Gesellschaft von Luh-
schichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie
und Religionswissenschaft. Bd. 3. Tübingen 1959, Sp. mann erneut aufgegriffen, gegenüber dem früheren
1793–1794. Text jedoch umfassender und systemisch erörtert
Burke, Kenneth: A Grammar of Motives. New York 1945. wird. Hier werden die Massenmedien in Bezug auf
Göbel, Andreas: Theoriegenese als Problemgenese. Eine ihre spezifische Systemfunktion, mithin im Rahmen
problemgeschichtliche Rekonstruktion der soziologi- der Ausdifferenzierung eines Systems der Massenme-
schen Systemtheorie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000.
Luhmann, Niklas: »Gesellschaftliche Struktur und seman-
dien beleuchtet.
tische Tradition«. In: GS1, 9–71. Es mag dabei mit der für Luhmann ungewohnten
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Wien Orientierung an den medientechnischen Vorausset-
52006 (frz. 1979).
zungen zusammenhängen, dass die von ihm in Die
Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit. Studien Realität der Massenmedien vorgenommenen Ausfüh-
zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M.
2003.
rungen im Vergleich zu seinen anderen Beschreibun-
Quine, Willard Van Orman: From a Logical Point of View. gen sozialer Teilsysteme markante Abweichungen
Cambridge, MA 1961. aufweisen. Entscheidend ist zudem der in stärkerem
Spencer-Brown, George: Laws of Form. London 1969. Maße als sonst betonte Versuchscharakter der Unter-
Andreas Göbel suchung. Wie schon an der Titelstruktur ablesbar, die
im Unterschied zu der symmetrisch angelegten Reihe
etwa der Wirtschaft (1988), Wissenschaft (1990) oder
Kunst der Gesellschaft (1995) den Systemstatus von
Massenmedien nicht programmatisch behauptet,
lässt die Abhandlung immer wieder die Unsicherheit
erkennen, ob und inwiefern sich ein selbstorganisier-
tes, autopoietisch bestimmtes Funktionssystem der
Massenmedien überhaupt rekonstruieren lasse.
Hervorgehoben wird im Titel die konstruktiv(is-
tisch)e Dimension. Zwar zieht Luhmann die Ausdif-
ferenzierung eines solchen Systems nicht explizit in
Zweifel, anhand der argumentativen Disposition des
Textes deutet sich allerdings an, dass diese These vor
allem als ein testend-experimenteller Ansatz zu ver-
stehen ist. Im Zuge ihrer Erprobung werden in Die
Realität der Massenmedien die zentralen Konzepte
Die Realität der Massenmedien (1995) 187

und Begriffe systemtheoretischer Analytik hinsicht- men wirksam sind. In diesem Sinn profitieren die
lich ihrer Effizienz geprüft, wobei mit besonderer übrigen Funktionssysteme davon, dass Massenme-
Dringlichkeit der Frage nach einer spezifischen binä- dien eine gesellschaftlich akzeptierte ›Realität‹ bereit-
ren Codierung sowie einer nur dem massenmedialen stellen. Damit einhergehend, deutet Luhmann auf
Teilsystem eigenen Funktion nachgegangen wird. die selbstreferentielle Dimension seiner Ausgangs-
Festzuhalten ist indes, dass obgleich die Vorausset- these hin, wenn er die Angewiesenheit auf massen-
zungsbedingungen einer funktional ausdifferenzier- medial verfügbar gemachte Informationen auch den
ten Systemeinheit gemäß den zentralen Kriterien als Soziologen bescheinigt, da diese »ihr Wissen nicht
erfüllt bestätigt werden, sie sich im Einzelnen gleich- mehr im Herumschlendern und auch nicht mit blo-
wohl als problematisch darstellen. ßen Augen und Ohren gewinnen können« (RdM, 9,
Zur wichtigen Plausibilisierungsleistung der Stu- Anm. 1). Insofern sich also eine Theorie der Massen-
die gehört, dass sie sich um Anschluss an etablierte, medien selbst auf massenmedial distribuierte Infor-
vorrangig konstruktivistisch orientierte kommuni- mationen stützt, unterhält sie – obgleich primär dem
kations- und medienwissenschaftliche Erkenntnisse Wissenschaftssystem zugehörig – immer auch eine
bemüht, was Luhmann die Kritik einbrachte, er grundlegende Beziehung zu den Massenmedien. Ne-
übersetze lediglich gut eingebürgertes Wissen in die ben dieser in Form einer strukturellen Kopplung be-
systemtheoretische Terminologie, ohne dabei inno- schreibbaren Interaktion sind Massenmedien über-
vative Einsichten in die Kultur der Massenmedien dies an der Herausbildung eines eigenen Funktions-
und ihrer Funktionsweise zu befördern. Bereits vor systems beteiligt. Vor allem in dieser Hinsicht sind sie
dem Erscheinen von Die Realität der Massenmedien für die Ausführungen in Luhmanns Studie bedeut-
hat es zudem Ansätze gegeben, welche die Publizistik sam. Grundsätzlich muss daher festgehalten werden,
– womit zumindest ein Bereich dessen, was Luh- dass im Rahmen der systemtheoretischen Anord-
mann den Massenmedien zurechnet, abgedeckt war nung die Massenmedien eine Doppelstellung ein-
– als ein autopoietisches System zu beschreiben vor- nehmen: Sie beziehen sich sowohl auf die Gesell-
schlugen (Marcinkowski 1993; Blöbaum 1994). Tat- schaft insgesamt als auch auf eine systemische
sächlich zeigt die Abhandlung, dort wo sie die Teilperspektive.
Strukturen der Nachrichtenproduktion und -selekti- Luhmanns Abhandlung liefert einen entscheiden-
on erklärt, Übereinstimmungen mit Überlegungen den Beitrag zur Erweiterung der systemtheoretischen
der publizistischen bzw. kommunikationswissen- Medienreflexion, die einen ebenso zentralen wie
schaftlichen Medienwissenschaft auf, ohne auf diese komplexen Bereich dieser Theorie darstellt. Denn
jedoch immer ausdrücklich zu referieren. Anknüp- zum einen wird Kommunikation immer wieder un-
fungspunkte an kulturwissenschaftliche Ansätze der ter Rekurs auf unterschiedliche mediale Vorausset-
Medienwissenschaft werden von Luhmann kaum zungen bzw. Einrichtungen erklärt, zum anderen
kenntlich gemacht, obschon sich solche in mehrfa- werden dementsprechend systemtheoretisch unter-
cher Hinsicht auch feststellen ließen. schiedliche Mediendefinitionen entworfen. Prinzi-
Insofern der funktionssystemischen Perspektive piell lassen sich dabei folgende, miteinander kombi-
verpflichtet, verfolgt Die Realität der Massenmedien nierbare Konzepte differenzieren: das symbolisch
das zentrale systemtheoretische Anliegen, autonome generalisierte Kommunikationsmedium, die Medi-
Teilsysteme der modernen Gesellschaft zu unter- um/Form-Unterscheidung sowie technische Appa-
scheiden und in ihrer jeweiligen Spezifik zu profilie- rate und Verbreitungsmedien. Die Massenmedien
ren. Wenn Luhmann jedoch mit dem viel zitierten werden zunächst hinsichtlich ihrer Distributionsleis-
Satz beginnt: »Was wir über Gesellschaft, ja über die tung als Verbreitungsmedien fokussiert, womit Luh-
Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die mann an eine bereits zuvor von ihm entwickelte
Massenmedien« (RdM, 9), formuliert er zunächst ei- Medienbestimmung andockt. Jedoch betont er hier
nen generalistischen Anspruch, mit dem die beson- ferner – womit ein neuer Aspekt der systemtheoreti-
dere Bestimmung der Massenmedien auch auf schen Erklärungsweise angesprochen ist – die sys-
andere Funktionssysteme und Bereiche der Gesell- temkonstitutierende Bedeutung von Medientechno-
schaft übergreift. Angesprochen ist nämlich der Um- logien. Zumindest als Auslöser einer systemischen
stand, dass unter den Bedingungen der Moderne Emergenz, also nicht nach dem Muster der Ursache-
massenmedial konstituierte Realitätsentwürfe und Wirkung-Struktur, werden von Luhmann technische
Kommunikationsprozesse in der gesamten Gesell- Apparate und ihre medialen Funktionen hier skiz-
schaft und daher auch in allen ihren Funktionssyste- ziert.
188 Werke und Werkgruppen

Unter Massenmedien versteht er »alle Einrichtun- akustisch zwar eine unmittelbare Interaktionsstruk-
gen der Gesellschaft […], die sich zur Verbreitung tur, eine Voice-to-voice-Kommunikation, suggeriert,
von Kommunikation technischer Mittel der Kom- technisch jedoch auch auf der Unterbrechung der
munikation bedienen« (RdM, 10). Ausdrücklich Anwesenheit von Kommunikationspartnern beruht.
nennt er Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, sofern Ungeachtet der Schwierigkeit, nicht immer ein-
sie »durch die Druckpresse hergestellt werden; aber deutig entscheiden zu können, ob es sich um unmit-
auch photographische oder elektronische Kopierver- telbaren Kontakt oder dessen Unterbrechung han-
fahren jeder Art« (ebd.). Erwähnt werden zudem die delt, ist ein weiteres Argument hervorzuheben.
Verbreitungsmedien Funk, Film und Diskette. Diese Luhmann hält nämlich fest, dass aufgrund der Un-
massenmedialen Erzeugnisse werden von der »Mas- terbrechung des Face-to-Face-Kontaktes ein Über-
senproduktion von Manuskripten nach Diktat wie in schuss an kommunikativen Möglichkeiten hervorge-
mittelalterlichen Schreibwerkstätten« ebenso wie rufen werde, der nur systemintern, d. h. durch
von Telefonkommunikation und »Vorträge[n], Selbstorganisation gesteuert werden kann. Während
Theateraufführungen, Ausstellungen, Konzerte[n]« in Situationen unmittelbaren Kontaktes, so die An-
(10 f.) als Reproduktions- und Distributionsverfah- nahme, Zeichen eindeutig festgelegt werden können,
ren abgegrenzt. Letztere gehören dem Bereich der lockert bzw. löst die maschinell reproduzierte oder
Massenmedien folglich nicht an. Das Kriterium zur vermittelte Kommunikation solche Eindeutigkeiten,
Kennzeichnung von Massenmedien besteht nicht um stattdessen vielfältige, über eine bestimmte Si-
primär in der Quantifizierung der Kommunikate, tuation hinausweisende Bedeutungspotentiale zu
sondern, wie Luhmann hervorhebt, in der »maschi- schaffen. Diese erst machen ein System notwendig,
nelle[n] Herstellung eines Produktes als Träger der das sie zu regulieren vermag: ein System der Massen-
Kommunikation« (11). Das bedeutet erstens, dass medien. Mit anderen Worten: Die massenmedial
Massenmedien auf maschinelle, man könnte auch prozessierte Kommunikation fällt nicht unter die
sagen, apparative Produktionsverhältnisse angewie- Kontrolle einzelner, unmittelbar an ihr beteiligter
sen sind, und dass sie zweitens zu Zwecken der Kom- Kommunikationsteilnehmer, insofern sie sich der
munikation genutzt werden. Dabei konzediert Luh- Reichweite ihrer Einflussnahme entzieht, sondern er-
mann durchaus selbst im Hinblick auf diese »Ab- fordert eine systemische Regelung. So wird die Emer-
grenzung«, sie »mag etwas willkürlich erscheinen« genz eines auf Selbstorganisation und Eigendetermi-
(ebd.). Betreffs der Quantifizierungsleistung sind nation angelegten Funktionssystems erklärt.
tatsächlich Fälle und Situationen vorstellbar, in wel- In seiner Studie widmet sich Luhmann gemäß die-
chen die Unterschiede zwischen maschineller und sem Fokus weniger der Erfassung von medientech-
manueller Reproduktion eines Kommunikats hin- nisch bedingten kommunikativen Strukturen, wie sie
sichtlich seiner Reproduktionshöhe und Distribu- etwa die Kommunikationsforschung (vgl. Maletzke
tionsweite etwa schwinden können. Wenn sich die 1991) interessiert, als vielmehr den Strategien, nach
Abgrenzung also nicht grundsätzlich in der Quanti- welchen das System der Massenmedien den erwähn-
fizierungsleistung spiegelt, wie lässt sie sich dann be- ten Überschuss an Kommunikationsmöglichkeiten
gründen? steuert und zur Reproduktion seines eigenen kom-
Zum entscheidenden Kriterium der massenmedi- munikativen Anschlusses nutzt.
al bedingten Kommunikation erklärt Luhmann die
Unterbrechung des unmittelbaren Kontaktes zwi-
schen Sender und Empfänger. Wenn er allerdings die Binäre Codierung
Voraussetzung der Entstehung eines Systems der
Massenmedien in der Unterbindung der Face-to- Zwar gilt Medientechnologie als unumgängliche Vo-
face-Interaktion verankert, dann setzt er die zuvor in raussetzung der Entstehung eines massenmedialen
Anschlag gebrachte Abgrenzung zwischen manueller Systems, dennoch gehört sie nicht zu dessen inter-
und maschineller Vervielfältigung in gewisser Weise nen, da ausschließlich in Form von kommunikativen
außer Kraft, da recht besehen auch ein handschrift- Beobachtungen realisierten Operationen. Insofern
lich abgeschriebenes Manuskript den unmittelbaren sie aber als und in dessen Umwelt wirksam ist, stimu-
Kontakt zwischen Sender, also Verfasser, und Emp- liert sie das System unentwegt über strukturelle
fänger, also Leser, unterbricht. Als problematisch er- Kopplungen. Wie jedes andere ist auch das System
weist sich das Kriterium weiterhin im Zusammen- der Massenmedien ohne seine Umwelt, in diesem
hang mit der Telefonkommunikation, da diese Fall insbesondere ohne seine medientechnische Um-
Die Realität der Massenmedien (1995) 189

welt, nicht überlebensfähig. Anders ausgedrückt: xive bzw. beobachtende Position einnimmt. Ohne
Technische Apparate sind zwar für die Hervorbrin- dass Luhmann dies explizit betonte, lässt sich aus sei-
gung einer massenmedialen Mitteilung von Infor- ner Darstellung für das System der Massenmedien
mationen unerlässlich, jedoch teilen sie sich selbst somit schlussfolgern, es veranschauliche, wenngleich
nicht mit. Nicht das Fernsehen als technische Appa- nur im Rahmen seiner systeminternen Funktions-
ratur kommuniziert, sondern mit seiner Hilfe wer- struktur, wie Informationen in allen gesellschaftli-
den etwa politische Nachrichten in einer Nachrich- chen Bereichen zustande kommen und verarbeitet
tensendung kommuniziert. Die (medientechnische) werden. Das System der Massenmedien hätte dem-
Umwelt tritt in die massenmediale Systemkommuni- nach gegenüber der kommunikativen Struktur der
kation ausschließlich referentiell, d. h. mit Hilfe der Gesamtgesellschaft, also auch gegenüber allen ande-
Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz ein. ren sozialen Teilsystemen, die Aufgabe, diesen ihre
So kann von einer Realitätsverdoppelung innerhalb Kommunikationsbedingungen vorzuführen. Zu fra-
des massenmedialen Systems gesprochen werden, in gen bleibt aber, ob eine solche Aufgabe sinnvoll im
deren Rahmen eine Referenz auch auf die techni- Rückgriff auf eine Systemeinheit zu beschreiben ist.
schen Bedingungen der Kommunikation als etwas, Für die vom System der Massenmedien prozes-
das als Umwelt auf das System einwirkt, stattfinden sierten Informationen stellt Luhmann zwei zentrale
kann. Entscheidend ist, dass diese Referenz eine in- Gesichtspunkte heraus. Zum einen seien die Infor-
nersystemische Konstruktion darstellt und daher als mationen stets an Programme gebunden. Dieser Be-
eine vom System selbst vollzogene Beobachtung auf- griff weist im hier verhandelten Zusammenhang eine
gefasst werden muss. Demnach ist jede Sendung über vielschichtige Bedeutung auf, impliziert er doch so-
das Fernsehen, die im Fernsehen läuft, stets auch das wohl die systemtheoretische Konzeption des Pro-
Ergebnis einer fernsehspezifischen Beobachtung, gramms als einer den kommunikativen Anschluss
also Produkt massenmedialer Kommunikation. sichernden und die systemischen Code-Differenzen
Grundsätzlich lässt sich daher resümieren, dass die begleitenden Zusatzeinrichtung. Überdies wird mit
Massenmedien auf ihre eigenen medientechnischen ihm auch die für massenmediale Kommunikation
Bedingungen ausschließlich aus der Perspektive ihres insgesamt, vorrangig aber für den Rundfunk kon-
eigendeterminierten Beobachtungsinteresses bzw. stitutive Ordnungskategorie angesprochen, welche
ihrer spezifischen Code-Differenz Bezug nehmen Luhmann in Die Realität der Massenmedien unter der
können. Perspektive der Programmbereiche eingehender be-
Die Unterscheidung von Information und Nicht- trachtet. Zum zweiten müsse die Ereignisdimension
information wird als Leitcode des Systems der Mas- der Information hervorgehoben werden, denn der
senmedien bezeichnet. Das bedeutet, dass das System Code Information/Nichtinformation ist in einer be-
alle von ihm vollzogenen Operationen gemäß der Be- sonderen Weise temporal determiniert. Danach kön-
obachtung organisiert, ob etwas informativ oder nen Informationen nicht wiederholt werden, sonst
nicht-informativ ist. Mit dieser Festlegung formu- werden sie zu Nichtinformationen (RdM, 41). Die
liert Luhmann einen Vorschlag, der dem System der Informationsproduktion steht mithin unter einem
Massenmedien zumindest unter der Hand einen ge- enormen Druck, unentwegt Neues, Aktuelles und
genüber allen anderen sozialen Funktionssystemen Überraschendes zu präsentieren. Repetitionen sind
herausgehobenen Status einräumt. Da nämlich alle hingegen in der Regel zu vermeiden, es sei denn, sie
Kommunikationsprozesse systemtheoretisch als selbst werden mit einem Informationswert belegt,
dreistellige Selektion der Komponenten Mitteilung, z. B. um einer Nachricht Nachdruck zu verleihen.
Information und Verstehen funktionieren, gilt die Wird ein solcher Effekt jedoch nicht angestrebt, so
Unterscheidung von Information und Nichtinfor- behält zwar eine zum zweiten Mal gebrachte Nach-
mation als eine basale, die Gesamtgesellschaft betref- richt ihren Sinn, sie verliert jedoch ihren Informati-
fende Selektionsleistung. Über die kommunikative onswert.
Komponente der Information ist das System der Zugleich bringt Luhmann in Anschlag, dass jeder
Massenmedien potentiell an jede Kommunikation Neuigkeitswert einer Information auch einen Bezug
angeschlossen. Indem es die Unterscheidung Infor- zum Bekannten aufweisen müsse, denn nur im Kon-
mation/Nichtinformation als seine grundlegende text des Vertrauten können neue Erkenntnisse ge-
Code-Differenz in Anspruch nimmt, kommt erneut wonnen werden. Was jeweils massenmedial als
zum Vorschein, dass es eine im Hinblick auf das aktuelle, neue Information Geltung erlangen kann,
Funktionieren der Kommunikation überhaupt refle- hängt deshalb davon ab, in welcher Weise und was
190 Werke und Werkgruppen

zuvor massenmedial als Information präsentiert Programmbereiche


worden ist. Deutlich wird damit, dass die Unterschei-
dung von Nachrichten, die der Informationsseite, Luhmann unterscheidet mehrere »Selektoren« (58),
und solchen, die der Nichtinformationsseite zuge- die die Aufmerksamkeit zu konzentrieren helfen und
rechnet werden, ausschließlich innersystemisch, also zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit beitragen, so
durch interne Bezüge erfolgt. Denn das System selbst dass sich massenmediale Kommunikation fortsetzt
selektiert die Informationen und unterzieht sie im und eine Nachricht als Information zur Kenntnis ge-
Zuge dessen einer zeitlichen Wertung, der zufolge es nommen wird. In diesem Zusammenhang werden
Mitteilungen mit Informationswert von Mitteilun- z. B. Quantitäten oder Lokalisierungen erwähnt.
gen ohne Informationswert diskriminiert. Alle Pro- Durch Hinzufügung von Zahlen oder Vergleichszah-
grammbereiche der Massenmedien unterliegen die- len könne der Informationswert gesteigert werden,
ser Dynamik, d. h. sie selektieren Informationen ebenso wie er durch eine lokale Festlegung – etwa die
nach Maßgabe des stets gegenwärtig bzw. aktuell ge- Angabe einer Region oder eines Ortes, an dem sich
gebenen Informationswertes vor dem Hintergrund die referierten Ereignisse zugetragen haben – pro-
nicht-gegenwärtiger, inaktueller Informationsereig- nonciert wird. Bedeutsam ist des Weiteren, dass Mas-
nisse. Aber auch die somit konstituierte Zeitdimen- senmedien Meldungen vorziehen, die als »Einzelfälle
sion muss als eine innersystemische Konstruktion – Vorfälle, Unfälle, Störfälle, Einfälle« (68) zu kenn-
verstanden werden. Sie wird nämlich nur vom Sys- zeichnen sind. Einen wichtigen Gesichtspunkt hebt
tem aus beobachtet. Jedoch führt Luhmann aus, dass Luhmann zudem in der Modellierung von Nachrich-
sich die Gesellschaft der vom System der Massenme- ten als Handlungen, d. h. als Ereignisse, die auf Per-
dien generierten Zeit anpasst. Besonderes Gewicht sonen bezogen sind, hervor. So weist er ihren
wird dabei dem Gegenwartsbezug verliehen, präfe- narrativen Charakter nach. Zu den Usancen der mas-
rieren und akzentuieren Massenmedien doch Aktua- senmedialen Nachrichtenproduktion gehört näm-
lität. Der Begriff der Gegenwart indiziert aber nur lich, dass sie Nachrichten als ›Einzelfälle‹ formen, die
einen Umbruchpunkt bzw. einen Beobachter, wel- zugleich mit einem Kontext versehen und nach Er-
cher die Gegenwart als die Differenz zwischen Zu- zählschemata vorgeführt werden, in deren Zentrum
kunft und Vergangenheit bestimmt. Personen stehen oder agieren. Charakteristisch ist
Luhmann unterscheidet drei Programmbereiche, schließlich die Verknüpfung von Realereignissen mit
nämlich Nachrichten und Berichte, Werbung sowie Meinungen, die sich nicht nur kommentierend auf
Unterhaltung, womit er eine moderne Spartendiffe- erstere beziehen, sondern auch selbst als Nachrichten
renzierung anspricht, insofern im 16. Jahrhundert behandelt werden können. Im Unterschied zu Nach-
etwa Nachrichten und Unterhaltung noch nicht richten, die als aktuelle, also in der unmittelbaren
trennscharf gegeneinander abgegrenzt wurden (54). Gegenwart sich zutragende Ereignisse zum Vor-
Vor allem innerhalb des ersten Programmbereiches schein kommen, bemisst sich der Informations- und
werden, so hebt er hervor, die Erarbeitung und Ver- damit Neuigkeitswert in Berichten eher danach, was
arbeitung von Informationen nachvollziehbar. Zum beim Rezipienten als bekannt vorausgesetzt werden
Tragen kommt hierin die Unwahrscheinlichkeit der kann. Entscheidend ist jedoch insgesamt, dass ob-
massenmedialen Erwartung, dass es stets genügend schon für den als ›Nachrichten und Berichte‹ betitel-
Mitteilungen mit (neuem) Informationswert geben ten Programmbereich die Bezugnahme auf Wahrheit
soll. Das System der Massenmedien baut folglich auf oder zumindest Wahrheitsvermutung verbindlich
der Unwahrscheinlichkeit der Unerschöpflichkeit ist, Massenmedien ihre Kommunikation nicht ge-
von Neuigkeiten auf. Dies manifestiert sich insbe- mäß dem für das Funktionssystem der Wissenschaft
sondere anhand des Programmbereiches ›Nachrich- konstitutiven wahr/unwahr-Code auswählen. Pri-
ten und Berichte‹, insofern dort zumindest heute mär für die Selektionsentscheidungen ist vielmehr
täglich, wenn nicht sogar stündlich, neue Informa- das Kriterium, inwiefern es sich bei einer Mitteilung
tionen verbreitet werden. In evolutionärer Perspek- um eine informative und das heißt neue Meldung
tive wird dabei deutlich, dass die Entstehung des handelt.
Berufsstandes Journalist, der an der Informationsbe- Der zweite in Die Realität der Massenmedien un-
schaffung als permanenter Produktion von Neuig- tersuchte Programmbereich ist die Werbung. Als Be-
keiten arbeitet, eine Möglichkeit bildet, auf diese standteil des Systems der Massenmedien prozessiert
Unwahrscheinlichkeit zu reagieren. auch sie mit Hilfe des Codes Information/Nichtin-
formation, wobei sie ihn, wie Luhmanns Erörterun-
Die Realität der Massenmedien (1995) 191

gen nahelegen, vorrangig unter dem Aspekt der det. Historisch leitet Luhmann die Unterhaltung
›Neuheit‹ reflektiert. Demzufolge bemühe sich die nämlich einerseits vom Bühnentheater des 16. Jahr-
Werbung um die Entstehung der Illusion, dass sie, hunderts, andererseits vom buchdrucktechnisch re-
obzwar sie dasselbe Produkt immer wieder in dersel- produzierten Roman her, womit er zwei Phänomene
ben Weise präsentiere, sich dennoch stets auf etwas in den Blick nimmt, in welchen sich die systemischen
Neues beziehe. Der Werbung im 20. Jahrhundert at- Zuordnungsschwierigkeiten verdichten. Deutlich
testiert Luhmann, dass sie zugunsten und mithilfe wird, in welchem Maße sich Kunst und Massenme-
schöner Form Information vernichte. Mit dieser dien gegenseitig bedingen und miteinander interfe-
Aussage erklärt er sie allerdings zu einem Grenzfall rieren. Für die Unterhaltung gilt jedoch, dass sie sich
der massenmedialen Kommunikation. Ein Eindruck, im Gegensatz zur Kunst nicht selbst als Unterhaltung
der dadurch noch verstärkt wird, dass sie, wie Luh- im Hinblick auf die sie erzeugenden Mechanismen
mann unterstreicht, keinen Anlass zu weiteren Kom- beobachtet (106), diesbezüglich also nicht selbstre-
munikationen biete und daher nicht an ihrer flexiv ist. Jedoch formuliert Luhmann hiermit eine
Reproduktion arbeite. Fraglich erscheint in Anbe- These, die sich aus aktueller medientheoretischer
tracht einer solchen Beschreibung, ob zumindest ak- und -analytischer Sicht als recht angreifbar darstellt.
tuelle Tendenzen der Werbung im Rahmen einer Insofern nämlich auch für den Unterhaltungsbereich
massenmedialen Systemanalyse noch sinnvoll be- geltend gemacht werden kann, dass er fiktionale Rea-
trachtet werden können. Mit dem Verweis auf die lität und reale Realität unterscheidet, wird er nicht
schöne Form rückt Luhmann die Werbung sogar in nur – darin mit Literatur vergleichbar – mittels des
unmittelbare Nähe zur Kunst des Ornaments (92), Spielbegriffs umschrieben, sondern zeigt auch selbst-
womit er einen Die Realität der Massenmedien in toto reflexive Züge auf. Unterhaltung macht dem Rezi-
betreffenden Problemzusammenhang anspricht, pienten das Angebot, immersiv in die Illusion der
nämlich deren Beziehung zum Kunstsystem. Dieser dargestellten Welt bzw. fiktionalen Realität des Spiels
Kontext ist bislang kaum erforscht. Wie komplex er einzutauchen. Obwohl Luhmann auch der Literatur
ist, lässt sich bereits an den Konsequenzen der ein- und dem Theater nicht nur in ihren historisch frühen
gangs vorgenommenen Definition der Massenme- Ausprägungen einen solchen Unterhaltungswert at-
dien als Einrichtungen, »die sich zur Verbreitung von testiert, sieht er ihn vorrangig in bestimmten Fern-
Kommunikation technischer Mittel der Kommuni- sehformaten – z. B. in Quizsendungen oder Übertra-
kation bedienen« (10), ablesen. Wird Literatur näm- gungen von Sportveranstaltungen – sowie in Spielfil-
lich, sofern sie unter modernen Bedingungen in der men umgesetzt.
Regel mit Hilfe des Buchdrucks distribuiert wird, von
dieser Bestimmung in weiten Teilen eingeschlossen,
so fällt die bildende Kunst hingegen nur dann in ih- Funktionale Spezifikation
ren Gegenstandsbereich, wenn sie sich etwa der Fo-
tografie oder anderer Medientechniken bedient. Massenmedien verfügen zum einen über Markierun-
Einen maßgeblichen und medienwissenschaftlich gen der Rahmung, die die Identität des jeweiligen
innovativen Ertrag bietet Luhmanns Studie im mitt- Programmbereiches ermöglichen, zum anderen gibt
leren Teil, wo sowohl die zwischen den Programmbe- es aber auch Formen der Rezeption – etwa das mehr
reichen erfolgenden Interaktionen als auch die oder weniger geplante Umschalten ›switching‹/›zap-
vielfältigen strukturellen Kopplungen des Systems ping‹ zwischen verschiedenen Fernsehprogrammen
der Massenmedien mit anderen Funktionssystemen –, die solche Rahmungen unterlaufen und entspre-
der Gesellschaft (z. B. der Werbung mit dem der chende Irritationen bezüglich der Programmbe-
Wirtschaft, der Unterhaltung mit dem des Sports reichzuordnung evozieren. Ungeachtet der zwischen
oder der Kunst sowie der Nachrichten mit dem der den Programmbereichen und ihren jeweiligen Kom-
Politik) in den Fokus rücken. Für die drei unterschie- munikationsmodi sowie den vielfältigen Rezeptions-
denen Programmbereiche muss zudem festgehalten weisen bestehenden Unterschiede sieht Luhmann –
werden, dass sie sich auch aneinander anlehnen kön- worin die konstruktivistische Dimension seines An-
nen. Diese Beobachtung ist etwa im Kontext des drit- satzes besonders deutlich zum Tragen kommt – die
ten Programmbereichs, der Unterhaltung, virulent, Funktion des Systems der Massenmedien in der Be-
wo häufig eine starke, in gewissen Fällen sogar unent- reitstellung einer Hintergrundrealität (120) bzw. ei-
scheidbare Affinität zur Kunst, präziser zur Literatur, nes Hintergrundwissens (121). Dieses lasse sich nicht
konstatiert wird, die sich auch evolutionär begrün- als die Gesamtheit von jeweils in unterschiedlichen
192 Werke und Werkgruppen

Medien aktualisierten Informationen auffassen, son- noch nicht vollständig ausgeschöpftes theoretisch-
dern werde mittels des massenmedial hergestellten deskriptives Potential.
Gedächtnisses stets aufs Neue hervorgerufen. Da die
Bestimmung eine gesamtgesellschaftliche Stoßrich-
tung impliziert, liegt die Funktion des Systems der Literatur
Massenmedien somit im »Dirigieren der Selbstbeob- Blöbaum, Bernd: Journalismus als soziales System. Ge-
achtung des Gesellschaftssystems« (173). Auf diese schichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung.
Weise wird ihm eine herausragende soziale Bedeu- Opladen 1994.
tung zugeschrieben. Alle Programmbereiche wirken Brill, Andreas: »›Lost at sea‹: Die Realität der Massenme-
dien«. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische
an dem im Hintergrund aller sozialen Kommunika- Theorie 2. Jg., 2 (1996), 419–428.
tionen operierenden Gedächtnis mit. Dieses ist nicht Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Formen und Medien
als ein Speichermedium zu verstehen, es ist vielmehr des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002.
eine Operation, welche unablässig zwischen Verges- –: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt
sen und Erinnern diskriminiert. Da die Konstruktion a. M. 2007.
Luhmann, Niklas: »Veränderungen im System gesellschaft-
eines Gegenwartsbezugs nur auf dem Hintergrund licher Kommunikation und die Massenmedien«. In: SA3,
der Unterscheidung von Vorher und Nachher bzw. 309–320.
Erinnern und Vergessen möglich ist, setzen Massen- Maletzke, Gerhard: Kommunikationswissenschaft im
medien ein Gedächtnis voraus, das sie zugleich in Überblick: Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Opla-
Form eines rekursiv verfahrenden Netzwerks kon- den 1991.
Marcinkowski, Frank: Publizistik als autopoietisches Sys-
struieren. tem. Opladen 1993.
Insofern sie also einerseits mittels der Code-Diffe- –: »Die Massenmedien der Gesellschaft als soziales Sys-
renz Information/Nichtinformation einen Gegen- tem?« In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische
wartsbezug ermöglichen, stellen Massenmedien an- Theorie 2. Jg., 2 (1996), 429–440.
dererseits ein Gedächtnis bereit, das eine Vielfalt Spangenberg, Peter. M.: »Stabilität und Entgrenzung von
Wirklichkeiten. Systemtheoretische Überlegungen zu
divergenter, aktueller und inaktueller Positionen ko-
Funktion und Leistung der Massenmedien«. In: Siegfried
ordiniert. Als eines der wichtigsten Strukturelemente J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheo-
der massenmedialen Kommunikation nennt Luh- rie. Opladen 1993, 66–100.
mann daher das Aufspannen einer auch aus der He- Weischenberg, Siegfried: »Luhmanns Realität der Massen-
terogenität der Positionen resultierenden, selbster- medien. Zu Theorie und Empirie eines aktuellen Objek-
tes der Systemtheorie«. In: Helga Gripp-Hagelstange
zeugten Ungewissheit. Obgleich Massenmedien die
(Hg.): Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre Ein-
Gesellschaft mit einer gleichsam verbindlichen, weil flüsse und Wirkungen. Konstanz 2000, 157–178.
bindenden Hintergrundrealität versehen, tun sie dies Witt, Jan Michael: Systemtheorie konkret. Zu Niklas Luh-
nicht auf der Grundlage einer konsensuellen Über- manns »Realität der Massenmedien«. Marburg 2010.
einstimmung. Indem er Anschlusskommunikation Natalie Binczek
provoziert, leistet gerade der massenmedial konstitu-
ierte Dissens einen wichtigen Beitrag zur Stabilität
der Gesellschaft, da diese nur über die Reproduktion
von Kommunikation gewährleistet werden kann.
Luhmanns Massenmedien-Studie gehört zu sei-
nen bekanntesten Veröffentlichungen, auch wenn
ihre Rezeption bislang zu vergleichsweise wenig sys-
tematisch-eingehender Forschungsliteratur geführt
hat. Stärker als an dem hier unternommenen syste-
mischen Ansatz hat sich eine systemtheoretisch, vor
allem aber kulturwissenschaftlich orientierte Me-
dienanalyse an das Medium/Form-Konzept ange-
lehnt. Indes bieten insbesondere die in Die Realität
der Massenmedien skizzierten strukturellen Kopp-
lungen zwischen den Massenmedien und dem Sys-
tem der Massenmedien sowie die Beziehung zwi-
schen diesem und anderen Funktionssystemen ein
193

12. Protest. Systemtheorie und Rhetorik der Angst und Theoriedefizit


soziale Bewegungen (1996) Am meisten Aufmerksamkeit widmet Luhmann dem
nachhaltigen Erfolg und den gesellschaftlichen Fol-
Der Band Protest. Systemtheorie und soziale Bewe- gen der Umweltbewegung; er kommt aber zunächst
gungen (P) versammelt Aufsätze und Interviews zum zu einem distanziert-skeptischen Fazit. Klassische
Thema soziale Bewegungen, mit dem sich Luhmann ebenso wie ›neue‹ soziale Bewegungen reagieren mit
seit Mitte der 1980er auseinandergesetzt hatte. Den ihrer Kritik auf die funktionale Differenzierung der
Anstoß hierzu gab offensichtlich die Umweltbewe- modernen Gesellschaft. Doch eben diese funktional
gung, die Luhmann insbesondere in Ökologische differenzierte Gesellschaft bietet keine »privilegier-
Kommunikation (1986) analysierte. Das Interesse am ten Positionen, von denen aus Normen oder Perfek-
Phänomen ›soziale Bewegungen‹ hatte zwar bereits tionsvorstellungen mit Verbindlichkeit für alle Funk-
in Soziale Systeme (1984) seinen Niederschlag gefun- tionssysteme kommuniziert werden könnten« (P,
den, dort jedoch unter dem allgemeineren Gesichts- 62). Was bleibt, so Luhmann, ist eine »Rhetorik der
punkt, inwiefern Widerspruch und Konflikt eine Art Angst«, die der Indifferenz und mangelnden Reso-
›Immunsystem‹ der Gesellschaft darstellen (SS, nanz der Funktionssysteme nur »Moralisierung und
546 ff.). Nur lose daran anknüpfend, setzt Luhmann Emotionalisierung« entgegensetzen könne. Diese
sich in seinem Vortrag »Kann die moderne Gesell- Diagnose beruht einerseits auf einer unverhohlenen
schaft sich auf ökologische Gefährdungen einstel- Distanz zu der Art und Weise, in der insbesondere die
len?«, der das später in Ökologische Kommunikation Ökologiebewegung ihre Anliegen politisch artiku-
ausgearbeitete Argument vorwegnimmt, erstmals liert: »Die Grünen haben also völlig recht, man kann
mit der Umweltbewegung auseinander (P, 46–63) ihnen nur nicht zuhören« (62). Andererseits ist es
und in einem längeren Aufsatz auch mit der Frauen- aber nicht nur die Form der Präsentation, die den so-
bewegung (107–155). Diese Arbeiten werden ergänzt ziologischen Beobachter irritiert, sondern dass sie
durch den Aufsatz »Tautologie und Paradoxie in den theorielos bleibt bzw. dass die angebotenen Theorien
Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft« »so billig und unzulänglich« sind (63; siehe auch ÖK,
(1987; P, 79–106), der die Gesellschaftskritik sozialer 234 ff.).
Bewegungen unter die Lupe nimmt, durch den Bei- Mit der Vorstellung, gerade die in der Form des
trag »Umweltrisiko und Politik« (1990; P, 160–174) Protests vorgebrachte Kritik der Gesellschaft sei Teil
sowie durch kürzere Stellungnahmen und Interviews der Selbstbeschreibung der Gesellschaft und diese
Luhmanns, darunter eines mit dem Herausgeber müsse sich an den verfügbaren Theorieressourcen
Kai-Uwe Hellmann zur Theorie der Protestbewe- der Soziologie messen lassen, wird den sozialen Be-
gungen (175–200). Den Abschluss bildet der Entwurf wegungen eine beträchtliche Fallhöhe zugeschrie-
zum Kapitel »Protestbewegungen« in Die Gesellschaft ben. Allenfalls dem marxistischen Theoriehinter-
der Gesellschaft (P, 201–215; vgl. GG, 847 ff.). Schon grund der Arbeitsbewegung gesteht Luhmann zu,
die zeitliche Spanne deutet an, dass Luhmann sich diesem Anspruch noch gerecht geworden zu sein
zwar über einen längeren Zeitraum, aber niemals (ÖK, 235). Im Vergleich dazu erscheint ihm das, was
ausführlich und systematisch mit dem Thema be- die Umweltbewegung anzubieten hat, als unzurei-
schäftigt hat. Vieles ist entwurfsweise formuliert, und chende Semantik und »blasierte moralische Selbstge-
Luhmann gibt in den Interviews deutlich zu erken- rechtigkeit« (ebd.). Dieses harte Urteil muss wohl auf
nen, dass er keine abschließende Formulierung ge- die Enttäuschung des soziologischen Beobachters
funden hat. Soziale Bewegungen gerieten eher rückgeführt werden, der im Vergleich der neuen so-
nebenbei, im Zusammenhang mit anderen Themen zialen Bewegungen mit ihren Vorläufern ein Verfeh-
in sein Blickfeld, waren aber im Gegensatz zu gesell- len der gesellschaftstheoretischen Aufgabenstellung
schaftlichen Teilsystemen oder klassischen Formen konstatiert: »Im Keime enthalten diese Bewegungen
sozialer Systembildung wie Interaktion und Organi- die Möglichkeiten zu einer radikalen Kritik der Ge-
sation lange kein eigenständiges Thema. sellschaft, die weit über das hinausgeht, was Marx
hätte sehen und wagen können« (P, 103). Doch dazu
wäre es nötig, vom Protestieren gegen die Moderne
und ihre Folgen zu einer Kritik funktionaler Diffe-
renzierung vorzustoßen. Ohne eine solche theoriege-
führte Kritik am Bestehenden, so Luhmann, bliebe
194 Werke und Werkgruppen

lediglich zu notieren, dass die Alternativen »gar keine grund rückt die Frage, ob man bei Protestbewegun-
Alternativen anzubieten haben« (P, 104). gen von sozialen Systemen sprechen kann. Präzisiert
Die Enttäuschung des Theoretikers über die unzu- wird der Begriff des Protests als eine Form der Kom-
reichende Selbstreflexion der Protestbewegungen munikation, die eine »andere Seite voraussetzt, die
und deren ambivalentes Verhältnis zur modernen, auf den Protest zu reagieren hat«; und auf der Grund-
funktional differenzierten Gesellschaft steht auch im lage dieser Unterscheidung kann Protest zum »Kata-
Vordergrund von Luhmanns Überlegungen zur lysator einer eigenen Systembildung« werden (SdR,
Frauenbewegung bzw. zur durch sie aufgeworfenen 136). Mithilfe variabler Themen gelingt es der ›Form‹
Gender-Frage. Im Text »Frauen, Männer und George Protest, sich von der Gesellschaft, gegen die und in
Spencer-Brown« (P, 107–155) versucht er zu zeigen, der protestiert wird, abzugrenzen. Dabei gehören
dass die Unterscheidung Mann/Frau erst im Zuge Protest und Thema zusammen: »Man kann ja nicht
funktionaler Differenzierung problematisch und da- protestieren, ohne zu sagen, wogegen oder weshalb,
mit zum Anlass von Protest wird. In der stratifizier- so daß sich aus der Orientierung an einem Protest
ten Gesellschaft konnte die Asymmetrie der Unter- immer die Notwendigkeit ergibt, ein Thema zu er-
scheidung noch Plausibilität beanspruchen, weil sie greifen« (P, 177). Der Protest und sein Thema kön-
mit unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau bei nen also – anders als etwa die Codes und Programme
der Repräsentation der gesellschaftlichen Ordnung der Funktionssysteme – nicht systematisch getrennt
korrelierte. Die Asymmetrie im Verhältnis zwischen werden.
Mann und Frau war mit der Differenzierungsform
abgestimmt und gewann in diesem Rahmen ihren
Sinn. Im Zuge der Durchsetzung funktionaler Diffe- Protest und Politik
renzierung verliert die Asymmetrie aber ihre Plausi-
bilität und wird vor dem Hintergrund von Gleich- Die Variabilität der Themen der ›neuen‹ Protestbe-
heitsnormen kritisiert. Gegen die Vorstellung, wegungen legt nahe, darin einen wichtigen Unter-
Gleichheit könne an die Stelle der asymmetrischen schied zu den klassischen sozialen Bewegungen zu
Differenz treten, wendet Luhmann ein, dass jede Un- sehen. In der Tat lassen sich ältere Protestformen zu-
terscheidung Asymmetrie voraussetzen muss. Folg- meist auf eine von zwei Konfliktkonstellationen zu-
lich zielt eine wichtige Strategie der Frauenbewegung rückführen: Es ging entweder um Fragen von Recht
auch nicht einfach auf Gleichheit ab, sondern viel- und Unrecht oder um soziale Ungleichheit (SdR,
mehr auf »Resymmetrisierung«, d. h. auf Formen der 139 ff.). Man kann dementsprechend unterscheiden
Bevorzugung der bislang Benachteiligten (P, 126 f.). zwischen Unruhen und Revolten in traditionellen
Gleichheit dient als Folie für die Formulierung von Gesellschaften, die sich in der Regel am unrechtmä-
Ansprüchen, die sich aus der Feststellung ungleicher ßigen Gebrauch von Herrschaft entzündeten, und
Verteilungen ableiten lassen. Die Gleichheitsidee ist der sozialistischen Bewegung, die sich primär an der
aber eine Konsequenz funktionaler Differenzierung, ungleichen Verteilung knapper Güter und damit an
die für die Unterscheidung Mann/Frau keinen gesell- Knappheitsfragen orientierte. Das ›Neue‹ der neuen
schaftlichen Platz vorsieht. Aus diesem Grund sieht sozialen Bewegungen liegt einerseits in der ver-
Luhmann die feministische Bewegung in der parado- gleichsweise hohen Mobilität der Protestthemen, die
xen Situation, angesichts der »Irrelevanz der Unter- sich jedoch zwei grundsätzlichen Formen der »The-
scheidung von Mann und Frau« immer wieder menerzeugung« verdankt: Es wird entweder die
betonen zu müssen, dass das Geschlecht keinen Un- »Sonde der internen Gleichheit« oder die »Sonde des
terschied machen dürfe. Weil die Unterscheidung externen Gleichgewichts« zur Identifikation und
von Männern und Frauen in den Funktionssystemen Produktion von Themen verwendet (P, 207). Im ers-
keine Relevanz habe, eigne sie sich nur noch dazu, so- ten Fall werden soziale Ungleichheiten sichtbar, im
ziale Bewegungen zu stimulieren, die Gleichheit zweiten das ökologische Ungleichgewicht der Gesell-
dann als Ideologie ohne Rücksicht auf die Codes der schaft. In der zunehmenden Bedeutung des zweiten,
Funktionssysteme postulieren müssten. auf Ökologie bezogenen Komplexes von Protestthe-
Im Kapitel »Protestbewegungen« und in einem men liegt der Kern einer neuen Form des Protests: die
Interview zum Thema »Systemtheorie und Protest- »Ablehnung von Situationen, in denen man das Op-
bewegungen« sowie in der Soziologie des Risikos (SdR fer des riskanten Verhaltens anderer werden könnte«
1991) wird diese Darstellung ein wenig modifiziert (SdR, 146). Protest bedient sich immer mehr des
und in wesentlichen Punkten ergänzt. In den Vorder- Schemas von Risiko und Gefahr und wird zum
Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen (1996) 195

Sprachrohr der Betroffenheit durch riskante Ent- dem Protestthemen in die mikropolitische Entschei-
scheidungen. dungspraxis von Organisationen und Familien Ein-
›Protest‹ wird demnach nicht mehr nur als mora- gang finden (und sie in diesem Sinne ›politisieren‹),
lisierende Irritation der modernen Gesellschaft, son- verstärken sie den Eindruck breiter gesellschaftlicher
dern als Ausdruck neuer Risikokonstellationen ver- Resonanz.
standen: Was Entscheider als Risiko einer Investition,
einer technischen Installation oder einer politischen
Festlegung auffassen, wird für Betroffene zu einer Massenmedien und gesellschaftliche
von ihnen selbst nicht kontrollierbaren Gefahr, und Selbstbeschreibung
ihr Protest richtet sich dementsprechend auf Gefähr-
dungen durch das riskante Entscheiden anderer. Die Über das Engagement ihrer Anhängerinnen und An-
Engführung mit dem Risikothema begründet, wa- hänger hinausgehende Wirkung entfalten Protestbe-
rum Luhmann von Protest statt von sozialen Bewe- wegungen nur mittels massenmedialer Aufmerk-
gungen spricht: Es geht nicht um den Gegensatz von samkeit. Der Protest richtet sich an andere, die
Stabilität und Wandel, sondern um öffentlich artiku- Missständen abhelfen sollen. Er muss deshalb Ein-
lierten, auf ein bestimmtes Thema bezogenen Wider- fluss auf die öffentliche Meinung nehmen, um auf
spruch. Der Protest ›bewegt‹ weder sich selbst noch diesem Weg politische und andere Entscheidungsträ-
die Gesellschaft. Er muss vielmehr »andere voraus- ger unter Druck setzen zu können. Nur wenn der
setzen, die das, was verlangt wird, ausführen« (P, Protest und seine Darstellungsformen in den Mas-
205). Diese können, müssen aber nicht im engeren senmedien vorkommen, kann er politische Entschei-
Sinne politische Adressaten sein. Denn hier liegt ein dungen informieren. Protestbewegungen sind also
weiterer wichtiger Unterschied zwischen neuen und abhängig von der Berichterstattung der Massenme-
klassischen Protestbewegungen: Während beispiels- dien. Die Abhängigkeit ist aber eine wechselseitige,
weise die Arbeiterbewegung darauf abzielte, die insofern auch die Massenmedien von Protestereig-
Staatsmacht zu beeinflussen oder sogar zu überneh- nissen, über die berichtet werden kann, profitieren.
men, nutzen die Ökologie- und die Frauenbewegung Luhmann spricht deshalb von einer »strukturellen
ihre Themen, um unterschiedlichste Teile der Gesell- Kopplung« zwischen Protestbewegungen und Mas-
schaft auf ihre Protestrelevanz hin abzutasten. senmedien (P, 211 f.). Sie drückt sich einerseits darin
Neben der Politik geraten dabei Organisationen aus, dass Protestbewegungen ihre Aktivitäten auf die
und insbesondere Wirtschaftsunternehmen unter Selektionskriterien der Massenmedien einstellen, an-
dem Gesichtspunkt ins Blickfeld, dass sie entweder dererseits darin, dass die Massenmedien über die da-
für Missstände verantwortlich gemacht werden oder durch produzierten und inszenierten Konflikte
man sich von ihnen Abhilfe erhofft. Doch auch die berichten.
Familie wird unter dem Einfluss des Emanzipations- Die Kopplung von Mikro- und Makropolitik so-
themas zu einem Gegenstand und Schauplatz von wie die Abhängigkeit von den Massenmedien weisen
Protesten. Das Motto »Das Private ist Politisch« wur- darauf hin, dass Protestbewegungen zur Peripherie
de zu einem Markenzeichen der Frauenbewegung, des politischen Systems gehören: Sie sind nicht direkt
gilt aber nicht minder für ökologische Belange. Zeit- an der Produktion kollektiv bindender Entscheidun-
diagnostische Beobachter fassen dies unter die Titel gen beteiligt, wie das für Parlamente und Verwaltun-
›Lebensstilpolitik‹ (Giddens 1991) bzw. ›Subpolitik‹ gen gilt, sondern liefern Themen und Probleme, die
(Beck 1993). Aus systemtheoretischer Perspektive dort bearbeitet werden können. Es griffe aber zu
lässt sich dies so interpretieren, dass es den Protest- kurz, die Rolle von Protestbewegungen allein darin
bewegungen gelingt, ihre ursprünglich ›makropoliti- zu sehen, Probleme zur politischen Entscheidung
schen‹ Themen in die ›Mikropolitik‹ anderer Sozial- vorzubereiten. Die großen Themen gerade der neuen
system einzuschleusen bzw. sie diesen aufzudrängen sozialen Bewegungen betreffen Probleme, »die die
(Kieserling 2003). Ein Vehikel hierfür sind die ver- Funktionssysteme strukturell nicht lösen können
schiedenen sozialen Rollen, in denen Anhänger von oder schlecht lösen« (190 f.). Sie fügen sich deshalb
Protestbewegungen ihr Thema artikulieren können, nicht in das Schema funktionaler Differenzierung,
insbesondere berufliche und familiäre. Die Mobili- sondern sind wesentlich mit der Kritik der Dysfunk-
sierung der eigenen Mitglieder, auch und gerade in tionen der Funktionssysteme beschäftigt. Ein wissen-
ihren nichtpolitischen Rollen, ist eine zentrale Res- schaftlicher Beobachter wie Luhmann mag daraus
source von Protestbewegungen (Holzer 2006). In- den Schluss ziehen, genau dies – die ›kritische‹
196 Werke und Werkgruppen

Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft – sei Kieserling, André: »Mikropolitik, Makropolitik, Politik
so etwas wie die Funktion von Protestbewegungen. der Protestbewegungen«. In: Armin Nassehi/Markus
Schroer (Hg.): Der Begriff des Politischen. Baden-Baden
Doch ähnlich wie in den Funktionssystemen ist nicht
2003, 419–439.
davon auszugehen, dass diese Funktion in den Pro- Boris Holzer
testbewegungen selbst eine wichtige Rolle spielen
würde. Bewegungen begreifen ihre Probleme und
Ziele handlungsnäher und strategischer. Dass dem so
ist und die dem Protest zuzurechnende Selbstbe-
schreibung der modernen Gesellschaft deshalb so-
ziologisch verkürzt bis naiv bleiben muss, wird die
Soziologie kaum überraschen. Erst vor dem Hinter-
grund einer derart anspruchsvollen Aufgabenbe-
schreibung wird jedoch verständlich, warum Luh-
manns Urteil über zeitgenössische soziale Bewegun-
gen so wenig schmeichelhaft ausfiel: Er hatte sich
offensichtlich mehr versprochen – oder zumindest
für möglich gehalten.

Literatur
Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theo-
rie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a. M. 1993.
Bonacker, Thorsten: »Die Ironie des Protests. Zur Rationa-
lität von Protestbewegungen«. In: Ders./André Brodocz/
Thomas Noetzel (Hg.): Ironie der Politik. Zur Konstruk-
tion politischer Wirklichkeiten. Frankfurt a. M./New
York 2003, 195–212.
Giddens, Anthony: Modernity and Self-Identity. Self and
Society in the Late Modern Age. Cambridge, MA 1991.
Hellmann, Kai-Uwe: Systemtheorie und neue soziale Bewe-
gungen. Identitätsprobleme in der Risikogesellschaft.
Opladen 1996.
–: »›… und ein größeres Stück Landschaft mit den erlo-
schenen Vulkanen des Marxismus.‹ Oder: Warum rezi-
piert die Bewegungsforschung Luhmann nicht?« In:
Henk de Berg/Johannes F. K. Schmidt (Hg.): Rezeption
und Reflexion: Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas
Luhmanns außerhalb Soziologie. Frankfurt a. M. 2000,
411–439.
– /Koopmans, Ruud (Hg.): Paradigmen der Bewegungs-
forschung. Entstehung und Entwicklung von neuen so-
zialen Bewegungen und Rechtsextremismus. Opladen/
Wiesbaden 1998.
Holzer, Boris: »Political Consumerism Between Individual
Choice and Collective Action: Social Movements, Role
Mobilization and Signalling«. In: International Journal
of Consumer Studies 30. Jg., 5 (2006), 406–415.
Japp, Klaus P.: »Neue soziale Bewegungen und die Konti-
nuität der Moderne«. In: Johannes Berger (Hg.): Die Mo-
derne – Kontinuitäten und Zäsuren. Göttingen 1986,
311–333.
–: »Die Form des Protests in den neuen sozialen Bewegun-
gen«. In: Dirk Baecker (Hg.): Probleme der Form. Frank-
furt a. M. 1993, 230–252.
–: Soziologische Risikotheorie. Funktionale Differenzie-
rung, Politisierung und Reflexion. Weinheim/München
1996.
197

13. Die Gesellschaft der Die Systemreferenz Gesellschaft


Gesellschaft (1997) Zunächst schließt Luhmann im ersten Kapitel gewis-
sermaßen an das 1984 publizierte »Einleitungskapi-
Die Gesellschaft der Gesellschaft (GG) ist der Ab- tel« an, rekonstruiert die kommunikationstheoreti-
schluss von Niklas Luhmanns Lebenswerk – wie 1969 sche Fassung der Theorie selbstreferentieller Sozial-
angekündigt, nach fast 30 Jahren vorgelegt und ein systeme und erläutert die Grundlagen der allgemei-
gutes Jahr vor seinem Tod erschienen. Das Vorwort nen Theorie sozialer Systeme im Hinblick auf die
weist aus, dass dieses gesellschaftstheoretische Buch, Systemreferenz ›Gesellschaft‹. Gesellschaft besteht in
das wegen seiner Stärke von 1164 Druckseiten in zwei diesem Sinne weder aus Menschen und ihren Bezie-
Halbbänden publiziert wurde, in unmittelbarer Kon- hungen, möglichem Konsens oder sonstigen Über-
tinuität zu Soziale Systeme von 1984 steht. Jener einstimmungen, noch sind die Außengrenzen von
»Grundriß einer allgemeinen Theorie« war ur- Gesellschaft regional oder territorial bestimmt
sprünglich als »Einleitungskapitel« (GG, 11) für die (24 f.). Gesellschaft ist im Sinne der Theorie sozialer
projektierte Gesellschaftstheorie geplant, die nach Systeme lediglich ein autopoietischer Kommunikati-
Fertigstellung des allgemeinen Theoriemodells je- onszusammenhang. Sie wird als »umfassendes Sozi-
doch noch 13 Jahre Zeit brauchte. In der Zwischen- alsystem« (78) konzipiert, außerhalb dessen keinerlei
zeit hatte Luhmann Studien zu einzelnen Funktions- Kommunikation mehr vorkommt, weil alles Kom-
systemen publiziert – Die Wirtschaft der Gesellschaft munizieren nur innerhalb der Gesellschaft möglich
(1988), Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Das ist. Mit dem Hinweis auf Gesellschaft als ›umfassen-
Recht der Gesellschaft (1993), Die Kunst der Gesell- des‹ Sozialsystem nimmt Luhmann ein aristoteli-
schaft (1995), sowie posthum publiziert Die Politik sches Motiv auf, nach dem die koinonía politiké die
der Gesellschaft (2000), Die Religion der Gesellschaft umfassendste Gemeinschaft sei, die alle anderen in
(2000) und Das Erziehungssystem der Gesellschaft sich vereinigt. »Wir schließen mithin an die alteuro-
(2002) –, denen der Grundgedanke der strukturellen päische Tradition an, sofern es um den Begriff der
Vergleichbarkeit der Funktionssysteme zugrunde Gesellschaft geht. Freilich werden alle Komponenten
lag. Erst mit Die Gesellschaft der Gesellschaft liegt eine der Definition (einschließlich des Begriffs des Einge-
systematische Ausarbeitung einer mit der Systemre- schlossenseins = periéchon, den wir mit dem Kon-
ferenz ›Gesellschaft‹ operierenden Theorie vor. zept der Differenzierung systemtheoretisch auflösen
Der auf den ersten Blick merkwürdige Titel des werden) anders aufgefaßt, denn es geht uns um eine
Werkes enthält letztlich das gesamte Programm der Theorie der modernen Gesellschaft für die moderne
vorgelegten Gesellschaftstheorie. Ausgehend von der Gesellschaft« (78 f.). Anders als die Tradition, so Luh-
kommunikationstheoretischen Fundierung der all- mann, wird diese Einheit des Eingeschlossenseins
gemeinen Theorie sozialer Systeme muss auch der nicht über Wesensmerkmale, auch nicht durch die
Text der vorgelegten Theorie der Gesellschaft als Emphase oder Ethisierung des Politischen wie bei
Kommunikation gelten – damit beschreibt er seinen Aristoteles hergestellt, sondern in einem radikalen
Gegenstand nicht von außen, sondern gewisserma- Sinne operativ. Das einzige Unterscheidungskriteri-
ßen von innen. Die Theorie der gesellschaftlichen um, das das Eingeschlossene ausschließlich ein-
Autopoiesis, also des Hervorbringens von Kommu- schließt, kann für Luhmann nur Kommunikation als
nikation durch Kommunikation, vollzieht diese Au- Letztelement aller sozialen Systeme sein. Luhmanns
topoiesis mit und befindet sich damit immer schon Gesellschaftstheorie ist also keine jener Theorien, die
in einem autologischen Bezug zu ihrem Gegenstand. als zeitdiagnostische Theorien an bestimmten empi-
»Wenn die Kommunikation einer Gesellschaftstheo- rischen Wesenheiten interessiert sind – so etwa an der
rie als Kommunikation gelingt, verändert sie die Be- Risikoorientierung einer Risikogesellschaft, an der
schreibung ihres Gegenstandes und damit den diese kapitalistischen Wirtschaftsweise der kapitalisti-
Beschreibung aufnehmenden Gegenstand. Um das schen Gesellschaft oder an der Bevorzugung von
von vornherein im Blick zu halten, heißt der Titel Männern in einer patriarchalischen Gesellschaft.
dieses Buches ›Die Gesellschaft der Gesellschaft‹« Solche Theorien können auf einen elaborierten Ge-
(GG, 15). sellschaftsbegriff verzichten – nein, sie müssen es so-
gar, weil sie sonst das wesensgebende Kriterium
universalisieren müssten.
Für Luhmann hat Gesellschaft kein Wesen. »Ihre
198 Werke und Werkgruppen

Einheit läßt sich nicht durch Reduktion aufs Essen- ein Kapitel über »Kommunikationsmedien« an. Das
tielle erschließen, mit der Folge, daß widersprechen- Bezugsproblem dieses Kapitels lautet, »daß der An-
de Auffassungen sich als Irrtum abweisen ließen schluß von Kommunikation an Kommunikation
(denn auch dies müßte ja in der Gesellschaft kom- nicht willkürlich, nicht zufällig geschehen kann,
muniziert werden und würde damit das ändern, wo- denn sonst wäre Kommunikation für Kommunikati-
von die Rede ist). Die Einheit des Gesellschaftssys- on nicht als Kommunikation erkennbar« (190), will
tems liegt also lediglich in der Abgrenzung nach heißen: Der autopoietische Anschlusszusammen-
außen, in der Form des Systems, in der operativ lau- hang von Kommunikation muss durch strukturge-
fend reproduzierten Differenz. Genau das ist der bende Wahrscheinlichkeit eingeschränkt werden, um
Punkt, auf den die ›redescription‹ der alteuropäi- nicht in der völligen Beliebigkeit von Anschlussselek-
schen Tradition Wert legen muss« (89 f.). Die Einheit tionen zu verschwinden. Letztlich geht es also um die
der Gesellschaft besteht für Luhmann ausschließlich Frage, wie der autopoietische Anschlusszusammen-
in der Tatsache, dass ihr autopoietischer Zusammen- hang gesellschaftlicher Kommunikation höhere
hang durch Kommunikationen gebildet wird. Diese Wahrscheinlichkeiten des Anschlusses in eine un-
niedrigschwellige Bedingung für das, was ›Gesell- wahrscheinliche Form von Ordnung einbaut.
schaft‹ genannt wird, ermöglicht es der luhmann- Mit Hilfe der Unterscheidung von Medium und
schen Gesellschaftstheorie, theoretisch und grund- Form zeigt Luhmann, dass Kommunikationsprozes-
begrifflich nicht schon über die Substanz, den se Formbildung durch den Gebrauch selbstgesetzter
Charakter oder die Diagnose der Gesellschaft zu ent- Medien erleichtern. »Die Unterscheidung von me-
scheiden. Insofern besteht die Gesellschaft schlicht dialem Substrat und Form dekomponiert das allge-
aus dem autopoietischem Zusammenhang aller meine Problem der strukturierten Komplexität mit
Kommunikationen. »›Alle Kommunikationen‹ be- Hilfe der weiteren Unterscheidung von lose und
sagt: Kommunikationen wirken autopoietisch inso- strikt gekoppelten Elementen. Diese Unterscheidung
fern, als ihr Unterschied keinen Unterschied macht. geht davon aus, dass nicht jedes Element mit jedem
Daß kommuniziert wird, ist in der Gesellschaft mit- anderen verknüpft werden kann« (196). Soziale Sys-
hin keine Überraschung, also auch keine Informati- teme binden gewissermaßen ihre eigenen Formen an
on. (Anders natürlich für psychische Systeme, die das eigene Medium, ohne dass das Medium dabei
unvermutet angesprochen werden.) Andererseits ist selbst sichtbar werden muss. Wie der Ton als Form
Kommunikation gerade das Aktualisieren von Infor- die Luft als Medium voraussetzt, ohne Luft zu ver-
mation. Mithin besteht die Gesellschaft aus dem Zu- brauchen, ohne Luft zu thematisieren, ohne von Luft
sammenhang derjenigen Operationen, die insofern explizit ausgehen zu müssen, so nutzt etwa sprach-
keinen Unterschied machen, als sie einen Unter- förmige Kommunikation das Medium Sprache, um
schied machen« (90 f.). Das hört sich womöglich zu sprachlichen Formen zu kommen. Sprache als
kryptisch an, meint aber lediglich, dass Gesellschaft Medium selbst wird dabei letztlich nicht weiter zum
nicht dadurch überrascht werden kann, dass kom- Thema, sondern lediglich in sprachliche Formen ge-
muniziert wird, sondern nur dadurch, was wann wie setzt. Und selbst dort, wo das sprachliche Medium
und von wem kommuniziert wird. Es geht also um sprachlich thematisiert wird, muss es unhintergeh-
Formenbildung jeglicher Art – und die abstrakte bar in sprachliche Formen gebracht werden. Neben
Theorieanlage soll nur dazu dienen, jegliche Art von Sprache (205 ff.) diskutiert Luhmann die Schrift
Konkretheit abbilden zu können. Letztlich sichert (249 ff.), den Buchdruck (291 ff.) und elektronische
Luhmann damit einen empirischen Zugang zur Ge- Medien (302 ff.) als Verbreitungsmedien.
sellschaft – empirisch deshalb, weil man eben exakt Diesen Verbreitungsmedien rechnet Luhmann
auf jene Formen achten muss, die solche Gesell- eine starke evolutionäre Bedeutung zu: »Wenn es in
schaftstheorien immer schon kennen, die wissen, der Evolution der Verbreitungsmedien durchgehen-
dass wir in einer Risiko-, einer kapitalistischen oder de Trends gibt, die mit der Erfindung der Schrift be-
säkularisierten Gesellschaft leben. ginnen und in den modernen elektronischen Medien
ihren Abschluß finden, dann sind es […] der Trend
von hierarchischer zu heterarchischer Ordnung und
Die Formen der Kommunikationsmedien der Verzicht auf räumliche Integration gesellschaftli-
cher Operationen« (312). Verbreitungsmedien sor-
An diese allgemeine kommunikationstheoretische gen dafür, dass so etwas wie ein Raum von
Grundlegung des Gesellschaftsbegriffs schließt sich Bedeutungen, von Sinn, von Verweisungen erschlos-
Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) 199

sen wird, der immer weniger auf die Anwesenheit dium lässt sich die Funktion von Medien darin sehen,
von Personen angewiesen ist. Die »heterarchische dass etwa Formen des Liebens nur deshalb jene Viel-
Ordnung«, von der Luhmann spricht, ist eine Ord- falt und Variationsbreite herausbilden können, weil
nung, in der gleichzeitig Unterschiedliches geschieht, sie in ihrer Unwahrscheinlichkeit durch das Medium
was dann in Spannung mit der hierarchischen Ord- Liebe gemildert und damit wahrscheinlicher werden.
nung der Gesellschaft tritt. Am Buchdruck lässt sich Zugleich ermöglicht es gerade die Konzentration auf
das gut studieren. Einerseits erzeugt der Buchdruck dieses Medium, zunächst (!) von rechtlichen, ökono-
eine Asymmetrie zwischen Experte und Laie, zwi- mischen, religiösen oder politischen Erwartungen
schen Autor und Leser, andererseits korrumpiert er abzusehen. Wie zuvor Moral für Annahme und Ab-
die konkrete Asymmetrie unter Anwesenden, weil er lehnung von Kommunikation zuständig war, dabei
Verweisungszusammenhänge verfügbar macht, die aber stets auf Vereinheitlichung setzen musste, er-
zuvor nicht abgerufen werden konnten und die die möglichen die symbolisch generalisierten Kommu-
klare Asymmetrie der Situation in Frage zu stellen in nikationsmedien die Diversifizierung von Annahme-
der Lage sind. Es sind dann gewissermaßen sachliche kriterien. »Sie bilden, in einem sehr abstrakten Sinne,
Differenzen, die in die soziale Differenz von Hierar- ein funktionales Äquivalent zur Moral. Sie konditio-
chien eindringen, was dann differenzierungstheore- nieren ihrerseits dann wieder die Annahme- bzw.
tisch auf die funktionale Differenzierung der moder- Ablehnungswahrscheinlichkeiten. Während aber die
nen Gesellschaft verweist. Moral wegen ihrer Streitnähe und Gefährlichkeit
Um diese sachlichen Differenzen zu ordnen, ent- präpariertes Terrain mit guten Plausibilitäten vo-
steht eine andere Art von Medien, nämlich symbo- raussetzt, werden symbolisch generalisierte Medien
lisch generalisierte Kommunikationsmedien, die – ausdifferenziert, um gegen die Plausibilität zu moti-
etwa als Geld, Wahrheit, Liebe, Recht oder Macht – vieren« (317). Ihre Technik ist, Plausibilitäten zu
ein »rekursives Netzwerk der Wiederverwendbarkeit multiplizieren und so Anschlussmöglichkeiten so-
desselben Mediums« (394) ermöglichen. Dass es sich wohl einzugrenzen als auch zu vervielfältigen. Inso-
um ein rekursives Netzwerk handelt, bedeutet, dass fern bilden symbolisch generalisierte Kommunikati-
etwa Zahlungen nur im Hinblick auf andere Zahlun- onsmedien wie Geld, Macht, Wissen, Recht und
gen oder Liebesbeweise nur im Kontext anderer oder Liebe und die sich mit ihnen etablierenden Codie-
anders möglicher Liebesbeweise so stabilisiert wer- rungen »Kristallisationskerne […] für die Ausdiffe-
den können, dass daraus eine symbolische Generali- renzierung entsprechender Funktionssysteme«, weil
sierung erwachsen kann. Diese Medien sind stark an sie in der Lage sind, »auf verschiedene Probleme ver-
Sprache gebunden, ohne freilich so etwas wie eine schieden« (393) zu reagieren.
Orientierung oder gar Sicherheit zu bieten. »Symbo-
lisch generalisierte Kommunikationsmedien dienen
nicht […] primär der Absicherung von Erwartungen Eine operative Evolutionstheorie
gegen Enttäuschungen. Sie sind eigenständige Me-
dien mit einem direkten Bezug zum Problem der Un- Eine derart sachliche Ausdifferenzierung von Funk-
wahrscheinlichkeit der Kommunikation. Sie setzen tionen ereignet sich in der Zeit, also durch Evolution.
jedoch die Ja/Nein-Codierung der Sprache voraus Das Bezugsproblem der Evolution ist »die Paradoxie
und übernehmen die Funktion, die Annahme einer der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen«
Kommunikation erwartbar zu machen in Fällen, in (413). Die evolutionstheoretische Fassung der luh-
denen die Ablehnung wahrscheinlich ist« (316). An- mannschen System- und Gesellschaftstheorie ent-
nahme einer Kommunikation heißt übrigens nicht, spricht ihrer operativen Anlage. »Die neueren
dass in der Ja/Nein-Codierung der Sprache nur auf Ja Evolutionstheorien erklären die Morphogenese von
gesetzt wird. Angenommen ist eine durch Geld me- Komplexität nicht durch ein entsprechendes Gesetz,
diatisierte Form der Kommunikation etwa auch, (das dann empirisch verifiziert werden kann) und
wenn man nicht zahlt oder sogar nicht zahlen kann, auch nicht durch Rationalitätsvorteile von Komplexi-
denn nicht zahlen kann ich nur, wenn ich mich be- tät, was eine zielstrebige, wenn nicht intentionale
reits innerhalb des Mediums Geld bewege. Ebenso Deutung von Evolution nahelegen würde. Vielmehr
setzt die Ablehnung einer Liebesofferte die Annahme nimmt man an, dass die Evolution sich rekursiv ver-
des Liebescodes voraus – sonst kommt es zu merk- hält, das heißt: dasselbe Verfahren iterativ auf die
würdigen Verstrickungen. eigenen Resultate anwendet« (415). Evolutionäre
Im Sinne der Unterscheidung von Form und Me- Entwicklungen bringen sich durch rekursive Selbst-
200 Werke und Werkgruppen

bezüglichkeiten hervor: »Die Evolution verdankt sich Die Differenzierungstheorie gehört zu den dienst-
der Evolution. Sie ermöglicht sich selbst, indem sie ältesten gesellschaftstheoretischen Figuren in der So-
die Bedingungen für die Differenzierung ihrer Me- ziologie. Differenzierungstheorie wurde dabei stets
chanismen aufbaut. Wie alles angefangen hat, müs- in Zusammenhang mit Integration gedacht – etwa als
sen wir dem ›Big Bang‹ oder ähnlichen Mythen normative Integration oder als Integration durch den
überlassen. Für alle späteren Einsatzpunkte der Evo- Primat eines Teilsystems. Die klassische Referenz
lution kann man immer schon System/Umwelt-Dif- dazu ist sicher das Postulat einer ›neuen Moral‹ für
ferenzen voraussetzen« (499 f.), was dann zugleich die moderne Gesellschaft durch Émile Durkheim.
bedeutet, den Grund des Geschehens »nicht mehr in Luhmann dagegen beginnt eben nicht mit der Ein-
den Anfang (arché, principium)« (500), sondern in heit der Integration, sondern mit der Differenz der
die je aktuelle Gegenwart von Variation und Selekti- Differenzierung, eben weil er stets von einer operati-
on zu setzen, die dann zu einer neuen Restabilisie- ven Theorieanlage aus denkt. Zu dieser operativen
rung führt – oder eben nicht. Solche Restabilisierun- Theorieanlage gehört die sehr einfache Beobach-
gen führen in der Systemreferenz ›Gesellschaft‹ dann tung, dass alles, was geschieht, in einer Gegenwart ge-
auf eine gesellschaftliche Strukturbildung, die in der schieht – was dann für differenzierte Systeme
Zeitdimension v. a. eine Differenzierung der Gesell- bedeutet, dass alles, was geschieht, gleichzeitig ge-
schaft in der Sachdimension mit sich bringt, funktio- schieht. »Die Konsequenz ist zunächst, daß gleichzei-
nale Differenzierung nämlich. tig Ereignisse einander wechselseitig nicht beeinflus-
sen und nicht kontrollieren können; denn Kausalität
erfordert eine Zeitdifferenz zwischen Ursachen und
Systemdifferenzierung als Wirkungen, also ein Überschreiten der Zeitgrenzen
Interdependenzunterbrechung des Gleichzeitig-Aktuellen« (605). Systemdifferen-
zierung besteht also stets in der Etablierung von In-
Der zweite Teilband von Gesellschaft der Gesellschaft terdependenzunterbrechungen – und im Hinblick
beginnt mit dem umfangreichsten und zentralen Ka- auf gesellschaftliche Differenzierung sind diese Inter-
pitel des Buches, nämlich mit dem Kapitel »Differen- dependenzunterbrechungen dann gleichbedeutend
zierung«. Hier führt Luhmann die drei vorherigen mit der Differenzierung in gesellschaftliche Teilsyste-
Perspektiven zusammen – erstens die systemtheoreti- me. Luhmann rekonstruiert dies als evolutionäres
sche Grundlegung des Gesellschaftsbegriffs als um- Geschehen, das von segmentär differenzierten Ge-
fassendem Sozialsystem, das alles einschließt, was sellschaften über die Differenzierung von Zentrum
Kommunikation ist, und einen möglichst niedrig- und Peripherie zu den stratifizierten Gesellschaften
schwelligen Begriff der Gesellschaft zur Folge hat; der Hochkulturen führt. In ihnen sind Teilsysteme
zweitens die Theorie der Kommunikationsmedien, mit Schichtenbildungen identisch. »Von Stratifikati-
die das Problem der Unwahrscheinlichkeit kommu- on wollen wir nur sprechen, wenn die Gesellschaft als
nikativer Anschlüsse und damit kommunikativer Rangordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne
Ordnung behandelt und mit der Theorie symbolisch Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist« (679).
generalisierter Kommunikationsmedien das diffe- Dabei geht es v. a. um die Rangordnung von Perso-
renzierungstheoretische Design der Gesellschafts- nen, Personengruppen, Schichten, aber stets auch
theorie kommunikationstheoretisch vorbeitet; drit- um den prinzipiell hierarchischen Aufbau von Ord-
tens die evolutionstheoretische Grundüberlegung, nung. Luhmann legt eindrucksvoll dar, dass dies
dass sich die Restabilisierung selegierter Variationen durchaus mit Mobilität zwischen den Schichten (v. a.
in der Strukturierung durch alternative Differenzie- Aufwärtsmobilität) kompatibel ist und freilich die
rungsordnungen auszeichnet. kommunikativen Systemdifferenzen nicht aufhebt,
Luhmann beschreibt Systemdifferenzierung als weil die Personen eben ihren Status wechseln, wenn
»eine rekursive Systembildung, die Anwendung von sie wechseln (vgl. 705).
Systembildung auf ihr eigenes Resultat. Dabei wird Wie es dann zum Wechsel von stratifikatorischer
das System, in dem weitere Systeme entstehen, re- zu funktionaler Differenzierung kam, lässt sich nicht
konstruiert durch eine weitere Unterscheidung von monokausal bestimmen, was auch dem evolutions-
Teilsystem und Umwelt. Vom Teilsystem aus gesehen, theoretischen Gedanken der operativen und un-
ist der Rest des umfassenden Systems jetzt Umwelt. wahrscheinlichen Genese von Ordnung widerspre-
[…] Die Systemdifferenzierung generiert […] sys- chen würde. Es handelt sich auch nicht um ein
teminterne Umwelten« (597). revolutionäres, eruptives Geschehen, und um ein in-
Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) 201

tendiertes schon gar nicht. »Es ist kaum denkbar, daß und ohne Spitze, was v. a. im Hinblick auf die gesell-
die Umstellung von einer Differenzierungsform auf schaftliche Reaktion auf selbstinduzierte Folgen zu
eine andere nach einem Plan vollzogen werden dem Problem führt, dass Gesellschaft nie als solche,
könnte. Ausdifferenzierungen beginnen in einer sie sondern stets gebrochen durch je teilsystemische Per-
begünstigenden gesellschaftlichen Umwelt« (710). spektiven jene Folgen beobachten und bearbeiten
Diese begünstigende Umwelt bestand in Europa ins- kann.
besondere in der semantischen Etablierung unter-
schiedlicher Formen wissenschaftlicher, ökonomi-
scher, politischer, auch rechtlicher Variationen und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft
Anschlussselektionen, die sich dadurch restabilisie-
ren konnten, dass ihre Annahmewahrscheinlichkei- Gesellschaft ist für sich selbst nicht erreichbar, zum
ten erleichtert werden konnten. Luhmann beschreibt einen weil sie keine zentrale Repräsentationsinstanz
dies etwa am Beispiel der Etablierung von unter- hat, zum anderen weil solche Repräsentationen selbst
schiedlichen Staats- und Rechtsordnungen nach glei- ihren Gegenstand gewissermaßen in Echtzeit mitver-
chem Muster. Solche Muster konnten immer weniger ändern – das gilt unverändert auch für die Theorie
durch alleinigen Rekurs auf Schichtung bzw. stratifi- der Gesellschaft selbst. Freilich sieht Luhmann »statt
zierte Ordnungsvariablen stabilisiert werden, wo- dessen imaginäre Konstruktionen der Einheit des
durch Schichtung nicht einfach verschwand, sondern Systems, die es ermöglichen, in der Gesellschaft zwar
sich selbst an die neuen Bedingungen anpassen nicht mit der Gesellschaft, aber über die Gesellschaft
musste. Die Potenz von Schichtung als Differenzie- zu kommunizieren. Wir werden solche Konstruktio-
rungskriterium bestand v. a. darin, dass sie ein ge- nen ›Selbstbeschreibungen‹ des Gesellschaftssystems
meinsames Differenzschema war – oben und unten nennen« (866 f.). Das fünfte und letzte Kapitel von
war von allen Positionen aus dasselbe, ob von oben Die Gesellschaft der Gesellschaft beschäftigt sich mit
oder von unten betrachtet. Das gab der Gesellschaft solchen Selbstbeschreibungen, die Luhmann nicht in
so etwas wie ein konkurrenzloses Ordnungsschema. dem Sinne rekonstruiert, ob sie zutreffende oder so-
»Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzie- ziologisch befriedigende Beschreibungen abgeben.
rung verzichtet die Gesellschaft darauf, den Teilsyste- Vielmehr handelt es sich um eine letztlich empirische
men ein gemeinsames Differenzierungsschema zu Analyse der Selbstthematisierung der modernen Ge-
oktroyieren. Während im Falle der Stratifikation je- sellschaft, mit der sie zunächst auf die Umstellung
des Teilsystem sich selbst durch eine Rangdifferenz von stratifikatorischer auf funktionale Differenzie-
zu anderen bestimmen mußte und nur so zu einer ei- rung reagiert, später dann auf die Eigenzustände
genen Identität gelangen konnte, bestimmt im Falle ihrer funktional differenzierten Verfassung. Diese
funktionaler Differenzierung jedes Funktionssystem Selbstbeschreibungen werden von Luhmann nicht
die eigene Identität selbst« (745). Damit erscheint die einfach soziologisch verworfen, sondern empirisch
Gesellschaft aus der Perspektive der Funktionssyste- ernst genommen – als Versuche der Gesellschaft, mit
me durchaus unterschiedlich, je nach Funktion und ihrer Operationsweise zurande zu kommen.
symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedi- Nach einer Rekonstruktion der zentralen Seman-
um. Das hat mindestens zwei erhebliche Konsequen- tiken Alteuropas macht Luhmann in der Entstehung
zen. Erstens lässt sich Gesellschaft aufgrund der von »Reflexionstheorien der Funktionssysteme« und
Ausdifferenzierung unterschiedlicher Perspektiven – dem damit einhergehenden Verzicht auf »feste Posi-
Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Politik, Kunst etc. – tionen für richtiges Beobachten« (958) erste moderne
nicht mehr konkurrenzfrei beschreiben, was den Selbstbeschreibungsformen des Gesellschaftssystems
Entscheidungsspielraum einzelner Perspektiven zu- aus. »Seit etwa 1600 entstehen bereichsspezifische
gleich erheblich steigert und einschränkt: Er wird ge- Reflexionstheorien, die mit Formeln wie Staatsräson
steigert, weil sich subsystemische Perspektiven nicht oder balance of trade Funktionslogiken ausarbeiten«
mehr wechselseitig einschränken, und er wird einge- (961). Wiewohl freilich diese auseinanderstrebenden
schränkt, da jedes Teilsystem in den Grenzen seines Momente der Moderne zunehmend an Persistenz ge-
Codes gefangen bleibt; zweitens schließt der Verzicht winnen, verzichtet die Gesellschaft keineswegs auf
auf ein gemeinsames Differenzschema die Möglich- Versuche von Einheitskonstruktionen. Luhmann
keit der Repräsentation des Ganzen im Ganzen kate- zeichnet diese im Schlusskapitel unter den Stichwor-
gorial aus. In diesem Sinne führt funktionale ten der ›Temporalisierung‹, der Erfindung des ›Sub-
Differenzierung zu einer Gesellschaft ohne Zentrum jekts‹, der ›Universalisierung der Moral‹, der Unter-
202 Werke und Werkgruppen

scheidung von ›Nationen‹, der ›Klassengesellschaft‹ 14. Organisation und


und des ›Risikos‹ nach. Er rekonstruiert diese Se-
mantiken nicht mit ideengeschichtlichem oder ge-
Entscheidung (2000)
nealogischem Interesse, sondern sieht in ihnen
Folgesemantiken der Umstellung auf funktionale »Was immer eine Entscheidung ›ist‹: innerhalb von
Differenzierung, die die einheitliche Beschreibung Organisationssystemen kommt sie nur als Kommu-
der Welt in einer Gesellschaft, die eine solche Einheit nikation zu Stande. Für uns ist demnach die Ent-
strukturell ausschließt, zugleich prekär und beson- scheidung ein kommunikatives Ereignis und nicht
ders wünschenswert erscheinen lassen. etwas, was im Kopf eines Individuums stattfindet«
Zugleich dient diese Rekonstruktion der Beobach- (OuE, 141 f.). Diese Aussage birgt bereits den Schlüs-
tung konkurrierender (soziologischer) Beschreibun- sel für ein Verständnis der Radikalität der Organisa-
gen der modernen Gesellschaft. Luhmanns Argu- tionstheorie Niklas Luhmanns. Entscheidungen wer-
mentation gipfelt in der Selbstanwendung des den dezidiert nicht als Akte individueller Wahl
Problems der Selbstbeschreibung. Erstens führt er konzipiert, sondern als basale Kommunikationsele-
den Beobachter in die Beobachtung ein, will heißen: mente, die die Autopoiesis der Organisation sichern.
Es sollen Semantiken als Semantiken, also bloß Be- Indem Luhmann Entscheidungen als Kommunika-
schreibungen decouvriert werden, die dann sehen tionen fasst, entwirft er eine Theorie der Organisati-
könnten, dass sie nicht schlicht wiedergeben, »was on, die in einem kontraintuitiven Verhältnis zur
der Fall ist oder doch sein sollte« (1110). Zweitens Alltagserfahrung in Organisationen steht. Er beginnt
wendet er dies als »reflektierte Autologie« auf seine damit, dass Entscheidungen immer einen paradoxen
Theorie der Gesellschaft an, die als Beobachter Charakter haben, da Unentscheidbarkeit die Voraus-
schlicht Beobachter beobachtet und nicht, was der setzung ist, damit Entscheidungen überhaupt getrof-
Fall ist. »Die moderne Gesellschaft beobachtet sich fen werden können. Aus dieser Perspektive lässt sich
als Beobachter, beschreibt sich als Beschreiber; und eine Organisation als eine Entscheidungsprämisse
erst das ist in einem logisch strengen Sinne Selbstbe- verstehen, die von der Organisation selbst entschie-
obachtung bzw. Selbstbeschreibung. Nun erst ist das den wurde. Die Organisationstheorie Luhmanns
›Selbst‹ der Beobachtung der Beobachter, das ›Selbst‹ könnte so als eine ›dekonstruktive‹ Organisations-
der Beschreibung der Beschreiber selbst« (1142). theorie beschrieben werden, die ins Zentrum rückt,
Aber: »Der Beobachter des Beobachters ist kein ›bes- dass die Möglichkeit organisationalen Handelns auf
serer‹ Beobachter, nur ein anderer. Er mag Wertfrei- der Unmöglichkeit von Entscheidungen beruht (vgl.
heit bewerten oder dem Vorurteil der Vorurteils- etwa Derrida 2003).
losigkeit folgen; er sollte dabei aber, wie diese Organisationen als autopoietische Systeme bilden
Formulierungen anzeigen, zumindest bemerken, sich, indem Entscheidungen an Entscheidungen an-
daß er autologisch operiert« (1142). knüpfen, d. h. Entscheidungen werden selbst von
Es ist wohl dies, ein anderer Beobachter zu sein, Entscheidungen entschieden. Es gibt kein ›Außen‹,
was das hohe Anregungspotential der luhmannschen das wie auch immer auf Entscheidungen einwirken
Gesellschaftstheorie ausmacht, nämlich die, dem so- kann. Selbst die Figur des Entscheiders muss durch
ziologisch-professionellen Erwartungsstil entgegen- eine Entscheidung des Systems hervorgebracht wer-
gesetzte Lesarten vorzulegen und verbreitete Bedürf- den, oder wie Luhmann es ausdrückt: »Der Entschei-
nisse nach Kritik, nach Lösung und Auflösung, nach der ist der Parasit seines Entscheidens« (OuE, 137).
Versöhnung oder auch nur Umsetzbarkeit und Pra- Eine Einführung in die Organisationstheorie Luh-
xisbezug schlicht nicht zu bedienen. Herausgekom- manns mit dem Konzept der Entscheidung beginnen
men ist ein Text von scheinbar neutraler Diktion und zu lassen, ist selbst eine Entscheidung, denn es gibt
verfremdender Erkenntnis, dessen Stil Luhmann auch andere plausible Möglichkeiten, zumal sich
selbst als »Reflexionsform der (romantischen) Iro- Luhmanns Organisationstheorie selbst im Lauf der
nie« andeutet, »die das Verwickeltsein in die Angele- Zeit radikal verändert und sich zu unterschiedlichen
genheiten malgré tout als Distanz zum Ausdruck Zeitpunkten ganz unterschiedlichen Aspekten ge-
bringt« (1129). Die Soziologie hat bis dato selbst eher widmet hat. Als Konstante lässt sich jedoch anführen,
Distanz zu diesem Text gepflegt – von romantischer dass Luhmann sich während seiner gesamten Wis-
Ironie freilich keine Spur. senschaftskarriere mit dem Phänomen der Organisa-
Armin Nassehi tion auseinandergesetzt hat. In vielerlei Hinsicht
kann man sogar argumentieren, dass seine frühen
Organisation und Entscheidung (2000) 203

systemtheoretischen Arbeiten aus der Beschäftigung In der zweiten Phase, die in den späten 1970er be-
mit Organisationstheorie entstanden sind. Dabei hat ginnt und bis zu den frühen 1980er Jahren andauert,
er sich eingehend mit internationalen organisations- widmet sich Luhmann parallel zur Ausarbeitung ei-
theoretischen Debatten und Theoretikern wie Ches- ner allgemeinen Theorie funktionaler Differenzie-
ter Barnard, Herbert A. Simon und James G. March rung einer Beschreibung der Evolution moderner
beschäftigt. Organisationen. Hier entstehen kleinere Artikel wie
Grob lassen sich Luhmanns organisationstheore- »Interaktion, Organisation und Gesellschaft« (1975)
tische Arbeiten in drei Phasen unterteilen. Die erste und »The Evolutionary Differentiation Between So-
Phase, die ungefähr in den 1960er Jahren beginnt ciety and Interaction« (1987).
und bis in die 1970er Jahre andauert, ist geprägt Die dritte Phase beginnt in den 1990er Jahren und
durch das Thema ›öffentliche Verwaltung‹ und die mündet abschließend in der (posthumen) Veröffent-
Beschreibung der Spannung, die sich aus einer juris- lichung seines organisationstheoretischen Haupt-
tischen Verwaltungsperspektive und einem sich neu werkes Organisation und Entscheidung (2000). Ande-
bildenden Planungs- und Zieldenken ergibt. In die- re wichtige Artikel, die die Argumentation des
ser Zeit entstehen Artikel wie »Kann die Verwaltung Buches vorbereiten, sind: »Die Paradoxie des Ent-
wirtschaftlich handeln?« (1960), »Theorie der Ver- scheidens« (1993) und »Membership and Motives in
waltungswissenschaft« (1966) und Buchpublikatio- Social Systems« (1996).
nen wie Politische Planung – Aufsätze zur Soziologie Organisation und Entscheidung kann als Äquiva-
von Politik und Verwaltung (1971) sowie Personal im lent zu Funktionen und Folgen formaler Organisation
öffentlichen Dienst (1973, gemeinsam mit Renate verstanden werden, denn hier verfasst Luhmann er-
Mayntz). Das Hauptwerk aus dieser Zeit ist Funktio- neut eine Systemtheorie der Organisation, die aber
nen und Folgen formaler Organisation von 1964. Die- stark auf das Konzept der Autopoiesis und den Form-
ses Buch ist Luhmanns erster Versuch, eine konsis- kalkül George Spencer-Browns rekurriert. Das Buch
tente Systemtheorie der formalen Organisation zu beinhaltet u. a. folgende Kapitel: »Mitgliedschaft und
formulieren. Es enthält Ausführungen zu theoreti- Motive«, »Die Paradoxie des Entscheidens«, »Zeit-
schen Grundbegriffen wie ›Mitgliedschaft‹, ›Grenz- verhältnisse«, »Selbstbeschreibung« und »Rationali-
ziehung‹ und ›Erwartungsstruktur‹ sowie Beschrei- tät«. Im Kapitel »Zeitverhältnisse« beispielsweise
bungen von Rang- und Hierarchiefragen und Aspek- zeigt Luhmann, dass die grundsätzliche Möglichkeit
ten der Personalpolitik. Er definiert in diesem Werk der Entstehung und Stabilhaltung von Organisatio-
die Grenzen der Organisation als eine Unterschei- nen und ihren Entscheidungen auf folgender Ein-
dung zwischen der Relevanz und Irrelevanz einer sicht beruht: »Als reine Differenz ist die Gegenwart
Entscheidung. Eine Organisation hört demnach dort aus sich selbst heraus undeterminiert. Das begründet
auf, wo ihre Entscheidungen als irrelevant beobach- die Möglichkeit des Entscheidens. Anders gesagt: Die
tet und Erwartungen durch diese nicht mehr stabili- Gegenwart ist in jedem Moment neu, in jedem Mo-
siert werden können (FuF, 58 f.). Die späteren ment der Beginn einer neuen Geschichte, und des-
Arbeiten dieser Phase widmen sich den Themen ›Pla- halb muss sie Information und Entscheidung wer-
nung‹ und ›Reform‹ als reflexive Mechanismen der den, um durch Bezeichnung ihrer Vergangenheit und
öffentlichen Verwaltung. Hier sind für Luhmann ihrer Zukunft für sich selbst Form zu gewinnen«
Entwicklungen von Interesse, die durch die Einfüh- (OuE, 156).
rung einer neuen Vorstellung von Planung und neuer Im Folgenden soll die Organisationstheorie Niklas
Reformvorhaben in der öffentlichen Verwaltung ent- Luhmanns anhand der wesentlichen Grundbegriffe
stehen. Er beschreibt ›Planung‹ als eine Entscheidung ›Entscheidung‹, ›Entscheidungsprämisse‹ und ›Or-
zweiter Ordnung (als Entscheidung über Prämissen ganisation‹ näher bestimmt werden. Dabei wird ins-
für weitere Entscheidungen) und Reformen als Re- besondere die Bedeutung des Operativen als Schlüs-
formen der Modi, wie öffentliche Verwaltungen Re- sel für die Organisationstheorie Luhmanns heraus-
formen durchführen, um so zeigen zu können, dass gearbeitet. Am Ende des Beitrags soll angedeutet
Planungs- und Reformvorhaben als Formen der werden, wie eine systemtheoretische Perspektive für
Komplexitätsreduktion zu verstehen sind, die jedoch die Analyse aktueller Themen der Organisationsfor-
zwangsläufig neue Komplexität produzieren. In die- schung genutzt werden kann.
sem Sinne sind seine Arbeiten als Kritik an den Hoff-
nungen in eindeutige und zielgerechte Steuerung
dieser Zeit zu verstehen.
204 Werke und Werkgruppen

Die Form der Entscheidung mit immer einen Unterschied zwischen fixierter und
offener Kontingenz in Hinblick auf Erwartungen
Luhmann schlägt vor, ›Organisation‹ als ein Kom- (Luhmann 1993).
munikationssystem zu begreifen, das mithilfe der Eine Entscheidung repräsentiert auf diese Weise
Operation ›Entscheidung‹ kommuniziert und sich die Einheit der Differenz von fixierter und offener
dadurch stabilisiert und verändert. Organisationen Kontingenz und als Einheit vereint eine Entschei-
bestehen dabei aus einem Netzwerk schon entschie- dung sowohl das, was die Welt in zwei Seiten teilt, als
dener Entscheidungsprämissen, die den Raum für auch das, was sie zusammenhält. Dies bedeutet, dass
weitere Entscheidungen eröffnen. jede Entscheidung nicht nur Erwartungen reguliert,
Entscheidungen determinieren nicht die Zukunft. sondern auch Unsicherheit produziert, weil die Ent-
Entscheidungen sind vielmehr Kommunikations- scheidung immer darauf hinweist, dass die Entschei-
formen, die einen Bewertungsrahmen für zeitliche, dung anders hätte ausfallen können. Soziale Kontin-
sachliche oder soziale Erwartungen, die in Interak- genz wird durch die Operativität von Entscheidun-
tionen entstehen, zur Verfügung stellen. Interaktio- gen sowohl fixiert als auch offengehalten, da fixierte
nen sind dabei nicht Teil der Organisation selbst, Erwartungen im Horizont anderer möglicher Regu-
sondern gehören ihrer Umwelt an. Eine Organisati- lierungen stehen. Deshalb entstehen neue Entschei-
on entsteht folglich als ein System, das Entscheidun- dungsmöglichkeiten in dem Moment, in dem eine
gen angesichts dieser interaktionalen Erwartungen Entscheidung getroffen wird. So produzieren Ent-
trifft. Dabei kann es sich um völlig unterschiedliche scheidungen immer auch weiteren Entscheidungsbe-
Erwartungen handeln, die auf Unterschiedliches darf.
verweisen. Durch Entscheidungskommunikation Die Form der Entscheidung birgt verschiedene Pa-
entsteht auf diese Weise ein Rahmen, anhand dessen radoxien. Die erste Paradoxie besteht darin, dass Ent-
bewertet werden kann, wie mit den vielen unter- scheidungen immer Erwartungen in Bezug auf die
schiedlichen oder sogar widersprüchlichen Erwar- Zukunft regulieren, aber retrospektiv getroffen werden.
tungen in der Organisation umgegangen werden Erst wenn eine Entscheidung getroffen wurde, ist es
soll. möglich festzustellen, ob eine Entscheidung vorliegt,
Eine Entscheidung trennt die Welt in ein ›Vorher‹ also ob Erwartungen reguliert und Kontingenz wirk-
und ein ›Nachher‹. Diese Unterscheidung ist dabei lich fixiert wurde, oder ob es sich nur um ›Talk‹ ge-
eine Unterscheidung innerhalb der Operation der handelt hat. Erst wenn eine Entscheidung als
Entscheidung. Wenn eine Entscheidung entscheidet, Entscheidungsprämisse für weitere Entscheidungen
zeigt sie an, dass die Entscheidung bereits getroffen behandelt wird, ist die Entscheidung entschieden.
wurde. Das Vorherige entsteht nur durch die Beob- Entscheidungskommunikation ist nicht lediglich
achtung der getroffenen Entscheidung. Aus der Per- Kommunikation in Form einer Entscheidung, son-
spektive der Entscheidung ist das Vorherige der dern auch immer eine Entscheidung über weitere
Entscheidung als ein Raum offener Kontingenz zu Entscheidungen (OuE, 222–256).
verstehen, der all die Erwartungen berücksichtigt, Eine zweite Paradoxie besteht darin, dass nur
nach denen sich die Organisation in Zukunft richten grundsätzlich unentscheidbare Sachverhalte entschie-
könnte. Das Vorherige der Entscheidung stellt sozu- den werden können (Foerster 1989; 1992; Luhmann
sagen unterschiedliche Lösungen für ein bestimmtes 1993; OuE, 132). Es gibt keine Möglichkeit, die einzig
Problem gleichwertig nebeneinander. Es ist eine Si- richtige Alternative der Entscheidung zu errechnen.
tuation, in der viel verändert werden kann. Nachdem Entscheidungen lenken den Blick immer auf alterna-
die Entscheidung getroffen wurde, liegen die Kontin- tive Entscheidungen und verweisen so auf die eigene
genz und die Offenheit unterschiedlicher Lösungen Unentschiedenheit. Nur wenn es möglich wäre, Ent-
in einer fixierten Form vor, die wiederum anzeigt, scheidungen zu errechnen oder abschließende Grün-
dass die Entscheidung auch anders hätte getroffen de anzuführen, könnten Entscheidungen Kontin-
werden können. Man hat sich für eine Lösung ent- genz so fixieren, dass sie keine weiteren Alternativen
schieden, während auch andere Lösungsmöglichkei- hervorrufen. Würden derartige sachliche Analysen
ten zur Verfügung gestanden und gleichermaßen gelingen, würde es sich gerade nicht um eine Ent-
hätten gewählt werden können. Das, was zu ändern scheidung, sondern nur um Kalkulation und Deduk-
war, ist jetzt determiniert. Man hätte viele andere tion handeln. Entscheidungen entstehen nur in
Dinge tun können, aber man hat sich für eine Sache einem Raum der Freiheit, der nicht weggerechnet
entschieden. Entscheidungsoperationen bilden so- werden kann.
Organisation und Entscheidung (2000) 205

Eine dritte Paradoxie besteht darin, dass das, was treibende Kraft der Autopoiesis von Organisations-
eine Entscheidung als Entscheidung kenntlich macht, systemen, die ständig dazu gezwungen werden,
nur in der Form einer Entscheidung markiert werden neue Entscheidungskommunikationen zu produ-
kann. In Organisationen kann nur über Entschei- zieren.
dungen selbst festgestellt werden, ob eine bestimmte Wenn Entscheidungen auf frühere Entscheidun-
Kommunikation als Entscheidung zu behandeln ist. gen Bezug nehmen, werden diese zu Entscheidungs-
Organisationen treffen permanent Entscheidungen prämissen für weitere Entscheidungen. Organisatio-
darüber, was eine Entscheidung zu einer Entschei- nen sind damit nichts anderes als eine Begleiterschei-
dung macht. Wer z. B. ist überhaupt dazu autorisiert, nung der permanenten Auflösungen von Entschei-
eine Entscheidung zu treffen? Die Frage, wann und dungsparadoxien. Organisationen und ihre Kristalli-
wie eine soziale Erwartung fixiert wird, ist nicht ein- sationspunkte, wie Arbeitsverhältnisse, Strukturen,
fach da. Entscheidungen müssen sich selbst entschei- Ziele, Strategien und Visionen usw., entstehen durch
den und lassen dabei immer einen Rest Unentscheid- Entscheidungskommunikationen; Entscheidungen
barkeit übrig. Die Form der Entscheidung kann provozieren weitere Entscheidungen und werden so
dabei als ein Re-entry der Unterscheidung von fixier- zu Entscheidungsprämissen. Was eine Organisation
ter und offener Kontingenz verstanden werden, der genau ist und aus was sie besteht, folgt daraus, wie
einen paradoxen Sachverhalt konstituiert und so Organisationen Entscheidungen entparadoxieren
grundlegend für die Autopoiesis jeder Organisation und wie diese in Entscheidungsprämissen umgewan-
ist: delt werden.
Die Entstehung und Entwicklung von Organisa-
Fixierte tionen lässt sich somit anhand ihrer Strategien zur
Kontingenz Entparadoxierung von Entscheidungen beobachten.
Die Entparadoxierung von Entscheidungskommu-
nikation gelingt also, indem Freiheit als Einschrän-
Fixierte Offene Offene kung behandelt wird.
Kontingenz Kontingenz Kontingenz Aus systemtheoretischer Perspektive bietet gera-
de die Beobachtung der unterschiedlichen Formen
der Entparadoxierung den Zugang zur empirischen
Entscheidung Untersuchung von organisationalen Phänomenen.
Indem man unterschiedliche Formen der Entpara-
Die Form der Entscheidung und die Paradoxie der doxierung identifiziert und dabei nachvollzieht, wie
Entscheidung die Verschiebungen der Semantiken des Organisie-
rens und des Managements die Bedingungen der
Entparadoxierung verändern, erhält man Einsich-
ten darüber, wie Organisationen entstehen, sich
Entparadoxierung und die Autopoiesis verändern und auch stabil halten. Dabei ist es von
der Organisation Bedeutung zu untersuchen, wie sich Entparadoxie-
rung auf sachlicher, zeitlicher und sozialer Ebene
Die autopoietische Maschinerie der Organisations- vollzieht.
systeme wird durch diese inhärenten Paradoxien, Bei sachlicher Entparadoxierung wird die Entschei-
die der Form der Entscheidung innewohnen, am dung als eine unvermeidbare Reaktion auf einen ›na-
Laufen gehalten. Denn Entscheidungen können nie turgegebenen Sachverhalt‹ behandelt. Indem die
endgültig und für immer getroffen werden, sondern Umwelt als gegeben und quasi naturalisiert verstan-
potenzieren permanent Alternativen und nähren den wird und Veränderungen in dieser als folgen-
ständig den Zweifel über die Richtigkeit und Ange- reich für die Organisation gewertet werden, wird die
messenheit von Entscheidungen. Daher ziehen Ent- Entscheidung zu einer zwangsläufigen Reaktion auf
scheidungen auch immer weitere Entscheidungen Umweltveränderungen. Der ›Markt‹, die ›Globalisie-
nach sich. Wegen dieser paradoxalen Ausgangslage rung‹ oder die ›Finanzkrise‹ werden von der Organi-
können Entscheidungen nie abschließend entschie- sation adressiert und so wird die Umwelt zu einem
den werden, vielmehr müssen die Paradoxien per- Referenzpunkt, der entscheidet, dass eine Entschei-
manent durch neue Entscheidungskaskaden ver- dung getroffen werden muss und der gleichzeitig
schoben und so aufgelöst werden. Dies ist die mitbestimmt, welche Alternative zu präferieren ist.
206 Werke und Werkgruppen

Die Unendlichkeit der Unentscheidbarkeit wird so seits Entscheidungsprämissen durch Entschei-


gestoppt. dungskommunikation entstehen und welche Kon-
Bei zeitlicher Entparadoxierung wird die Entschei- sequenzen andererseits der paradoxe Gehalt von
dung als eine unvermeidbare Reaktion auf einen be- Entscheidungen für diese Prämissen aufweist.
deutenden Moment behandelt. Entschieden werden Grundsätzlich geht es um die Absorption von Unsi-
kann nur dann, wenn es wirklich dringend ist und cherheit, um Erwartungsstabilisierung und um den
wenn kein weiterer Aufschub mehr zugelassen wer- Sachverhalt, dass Fixierung immer auch Kontingenz
den kann. Eine Entscheidung fixiert das Vorangegan- produziert. Luhmanns organisationstheoretische
gene, ›Talk‹ wird durch die Entscheidung unterbro- Ausführungen in diesem Buch sind stark von den
chen. Der Moment der Entscheidung ist immer ein Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre über
endgültiger und abrupter Moment, abgesehen davon Formalität und Informalität bzw. über Umweltan-
wie viel Zeit die Entscheidung in Anspruch nimmt. passung geprägt. Diese aus heutiger Perspektive et-
Die Entparadoxierung gelingt durch die Konstrukti- was altmodische Debatte könnte dazu führen, seine
on eines Zeitpunktes, an dem die Entscheidung nicht Organisationstheorie als ›veraltet‹ zu bewerten.
einmal mehr für einen Moment aufgeschoben wer- Luhmanns analytische Herangehensweise, Formen
den kann. Umgangssprachlich zeugen Phrasen wie der Entparadoxierung zu identifizieren und zu ana-
›Der Moment ist gekommen‹, ›Die Zeit ist reif‹ oder lysieren, lässt sich jedoch problemlos auf aktuelle
im umgekehrten Sinne ›Die Zeit ist noch nicht ge- organisationstheoretische Fragestellungen anwen-
kommen‹ davon, wie vertraut wir mit diesen Pro- den. Gerade angesichts aktueller Veränderungen
blem sind. von Organisationssemantiken liefert die Untersu-
Bei der sozialen Entparadoxierung wird die Ent- chung neuer Formen der Entparadoxierung pro-
scheidung so behandelt, als ob ihre Realisierung in duktive Einsichten.
Anbetracht politischer oder interessenorientierter In der europäischen Organisationsforschung las-
Gegebenheiten unausweichlich scheint. Indem man sen sich momentan deutliche Umbrüche beobach-
auf zentrale Figuren in der Umwelt verweist und ten, die zur Konsequenz haben, dass sich die
diesen Autorität, Präferenzen und Strategien zu- Vorstellung von Organisationen und die Bilder des-
schreibt, werden Entscheidungen zu sozialen Impe- sen, was als Organisieren bezeichnet wird, verän-
rativen. dern. Ich möchte kurz drei Entwicklungslinien
andeuten. Der affective turn beschreibt Entwicklun-
gen, die zunehmend die Bedeutung von Emotionen
Formen der Entscheidungsprämissen für das Management herausstellen. Dabei wird das
Konzept der ›Emotion‹ nicht allein auf Phänomene
Alle Entscheidungsprämissen einer Organisation der ›emotionalen Arbeit‹ wie etwa Dienstleistungen
sind Produkte der Entfaltung von Entscheidungspa- und Fürsorge bezogen (vgl. Fineman 1993), sondern
radoxien. Dabei ist die Frage grundsätzlich offen, wie als ein grundsätzlicher Zugang für die Analyse von
eine Entscheidung zu einer Entscheidungsprämisse Organisationen gewertet. Zweitens lässt sich ein An-
wird und welche Form eine Entscheidungsprämisse stieg der Literatur zum Thema ›Spiel und Manage-
annimmt. Es geht nicht darum festzustellen, was zu ment‹ beobachten. Spiele sollen die Innovationsfä-
einer Entscheidungsprämisse wird, sondern in wel- higkeit, die eigenständige Entwicklung von Mitarbei-
cher Form dies geschieht. Anhand der Formung von tern und Teambuilding-Prozesse fördern (vgl. Schra-
Entscheidungsprämissen kann die Autopoiesis der ge 2000). Eine dritte Entwicklungslinie nähert sich
Organisation nachvollzogen werden, und genau an Organisationsphänomenen aus ästhetischer bzw.
diesem Punkt wird die Systemtheorie für die Organi- kunsttheoretischer Perspektive, die beispielsweise
sationsforschung relevant, da sie eine Perspektive be- auf die Relevanz des storytellings in Organisationen
reit hält, anhand derer die Emergenz und Evolution aufmerksam macht. Diesen drei aktuellen Entwick-
des Organisierens analytisch untersucht werden lungen in der Organisationstheorie ist gemein, dass
kann. sie herkömmliche Organisationsbegriffe grundsätz-
In Organisation und Entscheidung diskutiert Luh- lich in Frage stellen. Oft scheint es sogar, dass in die-
mann unterschiedliche Formen von Entscheidungs- sen Diskursen das Konzept der Organisation kolla-
prämissen, beispielsweise Mitgliedschaft, Program- biert bzw. der Begriff der Organisation überflüssig
me, Personal, Selbstbeschreibungen und Technik. wird.
Ihm gelingt es in diesem Werk zu zeigen, wie einer- Luhmanns Systemtheorie macht es möglich, diese
Organisation und Entscheidung (2000) 207

Diskurse und die Phänomene, die sie beschreiben, ei-


nerseits in den Blick zu nehmen und anderseits einen Generalisierte Motive Person
starken Begriff der Organisation beizubehalten und
diesen für empirische Analysen produktiv zu nutzen.
Die Systemtheorie ist imstande, zu beobachten, was Generalisierte Person
sich in Organisationen vollzieht, die sich mit diesen Motive als Ent-
neuen Diskursen auseinandersetzen. Es geht dann scheidung zur
beispielsweise nicht darum zu untersuchen, wie Mit- Selbstmotivation
arbeiter sich mit den Gefühlen anderer auseinander-
setzen, sondern darum, aus einer Position der Selbstverpflichtende Mitgliedschaft
Beobachtung zweiter Ordnung die Kommunikatio- Mitgliedschaft
nen der Organisation zu untersuchen. Die For-
schungsfrage lautet dann: Was ereignet sich, wenn Verschiebung der Form der Mitgliedschaft
eine Organisation dazu übergeht, persönliche Ge-
fühle als Entscheidungsprämissen zu behandeln? Mit diesem Schaubild lässt sich zeigen, wie die Form
Die Systemtheorie ermöglicht es hier, die Verände- der Mitgliedschaft wieder in sich selbst eingeführt
rungen in und von modernen Organisationen zu be- wird (Re-entry). Die generalisierten Motive werden
schreiben und kann so auch als ein Instrument für dabei in die paradoxe Anforderung, sich selbst im
die Generierung von Zeitdiagnosen genutzt werden. Sinne der Organisation zu motivieren, überführt.
Dies soll anhand dreier Beispiele kurz skizziert wer- Das Re-entry der Unterscheidung der Mitgliedschaft
den. bedeutet auf der einen Seite, dass die Trennung von
Mitgliedschaft: Luhmann hat sich ausführlich mit generalisierten Motiven der Organisation und der
dem Thema der Mitgliedschaft beschäftigt. Er kon- Person aufrechterhalten wird. Auf der anderen Seite
struiert sie als ein Element, das die Organisation wird aber das generalisierte Motiv personalisiert. Es
grundsätzlich konstituiert (Luhmann 1982). Mit- wird die Entscheidung getroffen, dass das generali-
gliedschaft wird dabei als eine bestimmte Form von sierte Motiv selbstmotivierend für das Mitglied sein
Entscheidungsprämissen definiert, die die Einheit soll. Das generalisierte Motiv fällt nun mit der Erwar-
der Unterscheidung zwischen generalisierten Moti- tung zusammen, dass sich das Mitglied selbst im Sin-
ven und Personen repräsentiert. Eine Entscheidung ne der Organisation motivieren soll. Die Motive der
über Mitgliedschaft unterscheidet und verbindet die Person werden so mit den Motiven der Organisation
generellen Motive einer Organisation mit Personen identisch gesetzt.
und auch mit ihren Motiven. Mit anderen Worten: Aus dieser Verschiebung ergeben sich weitreichen-
Eine Entscheidung über Mitgliedschaft ist sowohl de Konsequenzen für die Kommunikation der Orga-
eine Entscheidung über generalisierte Motive einer nisation. Organisationen müssen sich nun mehr für
Organisation – oft in Form von funktionalen, typi- die Interessen und Motive der individuellen Perso-
sierten Arbeitsanweisungen ohne Berücksichtigung nen interessieren, um in der Lage zu sein, der Person
der situativen und persönlichen Bedingungen – als die Verantwortung für die Selbst-Inkludierung in die
auch eine Entscheidung, die einer spezifischen Per- Organisation zu überlassen.
son eine bestimmte Rolle zuweist, ohne die persönli- Vertrag: Aus der Perspektive eines Organisations-
chen Gründe und Motive der Person dabei zu systems ist ein Vertrag eine Entscheidung, durch die
berücksichtigen. sich die Organisation abhängig von einer anderen
Aktuell lässt sich in vielen Organisationen der Ein- Organisation in ihrer Umwelt macht. Luhmann be-
zug von Semantiken wie ›lebenslanges Lernen‹, ›per- schreibt einen Vertrag als Einheit der Unterschei-
sönliches Engagement‹, ›Selbstmanagement‹ und dung von Bindung und Freiheit (1981). Ein Vertrag
›ganzheitliche Mitarbeiteridentität‹ beobachten. ist darüber hinaus ein Element, das in mindestens
Diese Semantiken scheinen zunächst konträr zum zwei Systemen gleichzeitig produziert wird. Aus Sicht
Mitgliedschaftsbegriff bei Luhmann zu stehen. Es eines Organisationssystems bedeutet dies, dass die
lässt sich jedoch sehr gut gerade mit systemtheoreti- Beziehung zwischen Organisation und Vertrag im-
schen Mitteln untersuchen, wie diese neuen Diskurse mer eine interne Beziehung innerhalb der spezifi-
die Form der Mitgliedschaft beeinflussen (Andersen/ schen Organisation hinsichtlich der eigenen Ver-
Born 2008). Die Konsequenzen für Mitgliedschaft pflichtung repräsentiert, dabei aber auch immer die
ließen sich etwa so formalisieren: Beziehung von Organisation und Vertrag des ande-
208 Werke und Werkgruppen

ren Vertragspartners im Blick hat. Gunther Teubner nerschaften – als Verträge zweiter Ordnung – die Be-
nimmt diesen Gedanken auf, wenn er einen Vertrag dingungen des Entscheidens. Diese Verschiebung in
als vielfältig begreift, da eine vertragliche Bindung der Form des Vertrages kreiert eine Entscheidungs-
immer unterschiedliche ›Nachleben‹ in einem spezi- prämisse mit ambivalentem Charakter, da gleichzei-
fischen System produziert (Teubner 2000). Dieser tig entschieden und nicht entschieden wurde, sich
Sachverhalt kann folgendermaßen formalisiert wer- von einer anderen Organisation in der Umwelt ab-
den: hängig zu machen. Eine Partnerschaft stellt eine Ent-
scheidung dar, die offen lässt, ob sie als Entschei-
Bindung Freiheit dungsprämisse zu behandeln ist oder nicht.
Spielerische Entscheidungen: Das letzte Beispiel ist
Bindung Freiheit Bindung” die Form der Entscheidung selbst. Die Semantik
ständigen Wandels impliziert die Idee, dass sich auch
Organisationen permanent wandelfähig halten sol-
len. Dabei besteht der Anspruch nicht nur darin, im-
mer in der Lage zu sein, die Richtung zu ändern,
Vertrag in A’s Vertrag in B’s Vertrag sondern auch ein Sensorium dafür zu entwickeln,
Kommunikation Kommunikation dass sich bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten ge-
genseitig ausschließen und Pfadabhängigkeiten pro-
Die Vielfältigkeit des Vertrags duzieren. Auf diesen Sachverhalt reagiert die Be-
schreibung der post-bürokratischen Organisation.
Eine solche Organisation erkennt, dass ihre Praxis
Derzeit scheint gerade in Organisationen nichts so riskant ist, da ihre Operationen die Geschwindigkeit
präsent zu sein wie die Rede vom ständigen Wandel. des Wandels verlangsamen und somit die eigenen
In projektförmigen Arbeitszusammenhängen sollen Optionen einschränken. Vor diesem Hintergrund
Ziele, Erwartungen und Präferenzen in jeder Phase entwickeln Organisationen unterschiedliche Spiel-
flexibel und veränderbar gehalten werden. So kommt programme, z. B. Innovationsspiele, Teamspiele,
es, dass die Form des klassischen Vertrags angesichts Selbstentwicklungsspiele und Diversityspiele (Kane
von hoher Komplexität, von Turbulenz und Wandel 2004; Schrage 2000; Scannell/Newstrom/Nilson
für Organisationen zum Problem wird. Die zentrale 1998). Dirk Baecker weist darauf hin, dass »in play,
Herausforderung bei der Vertragsgestaltung lässt socialness is experienced as what it is, namely as con-
sich mit der folgenden Frage auf den Punkt bringen: tingent, roughly meaning that it is neither necessary
Wie sollen gegenseitige Erwartungen fixiert werden, nor impossible, or again, given yet changeable. Play
wenn man mit der Erwartung operiert, dass sich die in general reveals the form of the social by which the
Erwartungen permanent ändern? Dieser Sachverhalt play infects the world« (Baecker 1999, 103). In die-
führt dazu, dass Verträge vor allem so flexibel wie sem Sinne stellt das Spiel die Entscheidungskommu-
möglich gehalten werden sollen. Doch dies scheint nikation auf den Kopf, indem es Erwartungen nicht
nicht der einzige Anspruch zu sein. Vielmehr lässt fixiert, sondern öffnet (Andersen 2009). So stellen
sich empirisch beobachten, dass Verträge immer we- Spiele in Organisationen Entscheidungsprogramme
niger die Form eines Vertrages annehmen sollen. Es für zunehmende Unentscheidbarkeit dar. Sie sind
geht um die Realisierung nicht-bindender Bindun- Programme, die Entscheidungsprämissen auflösen.
gen. Dies führt dazu, dass Verträge zunehmend Eine der großen Herausforderungen für die Orga-
durch Partnerschaften als Verträge zweiter Ordnung nisationsforschung besteht aktuell darin, Beschrei-
ersetzt werden. Partnerschaften sind so als Verträge bungen zweiter Ordnung anzufertigen, die fassen
über zukünftige Verträge zu verstehen (Andersen können, wie sich die Bedingungen des Organisierens
2008); man verspricht sich lediglich, sich später etwas verändern. Im Kontext der Organisation entstehen
zu versprechen. Teil dieses Versprechens ist die Ab- momentan sehr viele neue Praxen und Management-
sichtserklärung, sich so zu entwickeln, dass man in tools, und neue Semantiken ziehen in die unter-
der Zukunft zu einem relevanten Partner wird. Eine schiedlichsten Bereiche des Organisierens ein. Orga-
Partnerschaft ist somit eine Form, um mit verscho- nisationen selbst reflektieren aber nur selten, wie sich
benen Bindungen zu arbeiten. Wenn ein klassischer diese Veränderungen auf die Autopoiesis des Organi-
Vertrag in einer Organisation als eine Entscheidung sationssystems auswirken. Viele, die diese neuen Pra-
für Abhängigkeit gelesen wird, dann verändern Part- xen, Tools und Semantiken in Anspruch nehmen,
Organisation und Entscheidung (2000) 209

tun so, als könnten sie Organisationen ohne Ein- –: »Interaktion, Organisation, Gesellschaft« [1975]. In:
schränkungen formen und strukturieren. Sie halten SA2, 9–20.
–: »Communication about Law in Interaction Systems«. In:
trotz post-bürokratischer Ansätze an einer klassi-
Karin Knorr-Cetina/Aaron Victor Cicourel (Hg.): Ad-
schen Organisationsvorstellung der intentionalen vances in Social Theory and Methodology. Toward an In-
Steuerbarkeit fest. Diese Spannung zwischen einer tegration of Micro- and Macro-Sociologies. London
klassischen Vorstellung von Steuerung und den 1981, 234–256.
selbstgestellten Ansprüchen im obigen Sinne gefähr- –: The Differentiation of Society. New York 1982.
det deren Realisierung. –: »The Evolutionary Differentiation between Society and
Interaction«. In: Jeffrey C. Alexander u. a. (Hg.): The Mi-
An diesem Punkt können systemtheoretische Be- cro-Macro Link. Berkeley 1987.
schreibungen des Organisierens einen großen Bei- –: »Die Paradoxie des Entscheidens«. In: Verwaltungsarchiv
trag leisten. Gerade die sehr präzisen – wenn auch 84. Jg., 3 (1993), 287–299.
durchaus komplexen – Begriffe der Entscheidung, –: »Membership and Motives in Social Systems«. In: System
der Entscheidungsprämisse und der Organisation, Research 13. Jg., 3 (1996), 341–348.
– /Mayntz, Renate: Personal im öffentlichen Dienst. Ein-
können genutzt werden, um kühle, nüchterne Beob- tritt und Karrieren. Baden-Baden 1973.
achtungen zweiter Ordnung dieser Entwicklungen Scannell, Edward/Newstrom, John/Nilson, Carolyn: The
anzufertigen. Mit systemtheoretischen Mitteln lässt Complete Games Trainers Play. Volume II. New York
sich beobachten, wie sich Organisationen beobach- 1998.
ten. Gerade dadurch gelingt es, sich empirisch offen Schrage, Michael: Serious Play. Boston 2000.
Teubner, Gunther: »Contracting Worlds: The Many Auto-
für unterschiedliche Formen der Emergenz und der nomies of Private Law«. In: Social and Legal Studies 9. Jg.,
Evolution von Organisationen zu halten. Die System- 3 (2000), 399–417.
theorie bietet eine deskriptive Plattform (die Form Niels Åkerstrøm Andersen
der Entscheidung), die es ermöglicht zu diagnostizie- (Aus dem Englischen von Victoria von Groddeck)
ren, was sich in der organisationalen Autopoiesis ver-
ändert, wenn neue Semantiken in die Organisation
eingeführt werden. Es gibt sicherlich einfachere Or-
ganisationstheorien, aber die Einsichten, die Luh-
manns systemtheoretische Beobachtungen zweiter
Ordnung ermöglichen, sind die Anstrengung wert.

Literatur
Andersen, Niels Åkerstrøm: Partnerships: Machines of Pos-
sibility. Bristol 2008.
–: Power at Play. The Relationships between Play, Work and
Governance. London 2009.
– /Born, Asmund: »The Employee in the Sign of Love«. In:
Culture and Organization 14. Jg., 4 (2008), 225–343.
Baecker, Dirk: »The Form Game«. In: Ders. (Hg.): Problems
of Form. Stanford 1999, 99–106.
Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit,
vom Ereignis zu sprechen. Berlin 2003.
Fineman, Stephen (Hg.): Emotion in Organizations. Lon-
don 1993.
Foerster, Heinz von: »Wahrnehmung«. In: Jean Baudrillard
u. a. (Hg.): Philosophien der neuen Technologie. Berlin
1989, 27–41.
–: »Ethics and Second-order Cybernetics«. In: Cyberne-
tics & Human Knowing 1. Jg., 1 (1992), 9–19.
Kane, Pat: The Play Ethic: A Manifesto for a Different Way
of Living. London 2004.
Luhmann, Niklas: »Kann die Verwaltung wirtschaftlich
handeln?«. In: Verwaltungsarchiv 51. Jg., 2 (1960),
97–115.
–: Theorie der Verwaltungswissenschaft. Berlin 1966.
–: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik
und Verwaltung. Opladen 1971.
210 Werke und Werkgruppen

15. Soziologische Aufklärung. In dem programmatischen Aufsatz »Soziologie als


Theorie sozialer Systeme« (1967) kritisiert Luhmann
6 Bände (1970–1995) die strukturfunktionalistische Theorie. Ihr Mangel
liege darin, »daß sie den Strukturbegriff dem Funk-
Von 1970 bis 1995 hat Luhmann sechs Bände unter tionsbegriff vorordnet« (SA1, 144). Letztlich finden
dem Titel Soziologische Aufklärung publiziert, die sich hier schon wichtige Hinweise auf die dann erst
teils bereits veröffentlichte Aufsätze, teils Originalar- später, in den 1980er Jahren entfaltete operative
beiten versammeln. Der erste Band ist 1970 erschie- Theorieanlage. Lesenswert dazu ist der Kopfaufsatz
nen, also kurz nach seiner Berufung als Professor für »Funktion und Kausalität« (1962), in dem Luhmann
Soziologie nach Bielefeld. Darf man der nachträgli- eine Kritik des »kausalwissenschaftliche[n] Funktio-
chen Absichtsbekundung Glauben schenken, ist dies nalismus« (SA1, 23) zugunsten eines Äquivalenz-
die Zeit, in der jener Plan Gestalt annahm, eine um- funktionalismus vorlegt, der sowohl Problem als
fassende Theorie der modernen Gesellschaft vorzu- auch Lösung kontingent ansetzt. In diesem ersten
legen, für die Luhmann 1969 eine dreißigjährige Band begründet Luhmann die Formel von der Erfas-
Laufzeit avisierte. »Kosten: keine. Die Schwierigkei- sung und Reduktion von Komplexität und gibt dem
ten des Projekts waren, was die Laufzeit angeht, rea- Problem eine systemtheoretische Wendung. Er
listisch eingeschätzt worden« (GG, 11), schreibt schreibt in dem Aufsatz »Soziologie als Theorie so-
Luhmann 1997 im Vorwort seines späten gesell- zialer Systeme«: »Mit steigender Eigenkomplexität
schaftstheoretischen Hauptwerks Die Gesellschaft der sind Systeme mehr und mehr in der Lage, eigene Pro-
Gesellschaft. Im Vorwort zum ersten Band von Sozio- bleme zu bilden. Das Problem der Weltkomplexität
logische Aufklärung beginnt Luhmann denn auch mit kann dadurch in Systemprobleme übersetzt und so in
der Problematisierung einer theoretischen Konsoli- eine Form gebracht werden, die nur noch systemre-
dierung der Soziologie, die er noch in weiter Ferne lativ gilt, dafür aber selektive Informationsverarbei-
sieht. Luhmann bescheinigt der Soziologie, letztlich tung anleiten kann. Es wird sozusagen auf das System
im Status der Vorläufigkeit zu verharren. »All ihren bezogen, von außen nach innen verschoben und da-
Beständen und jedem ihrer Einsätze fehlt die Gewiß- durch konkretisiert« (SA1, 117).
heit, dauerhafte Erkenntnis zu sein. Das gilt selbst für Es lohnt sich, nach der Lektüre des ersten Bandes
empirische Forschung, besonders aber für rein theo- den fünften von 1990 zur Hand zu nehmen. In dem
retische Überlegungen. In dieser Lage wäre ein Ver- Aufsatz »Das Erkenntnisprogramm des Konstrukti-
zicht auf zusammenfassende Theorie verhängnisvoll, vismus und die unbekannt bleibende Realität«
aber es empfiehlt sich, solche Theorie zunächst ein- nimmt Luhmann Bezug auf den, wie er meint, in je-
mal ins Unreine zu schreiben« (SA1, 5). Damit ist ner Zeit »mehr epidemisch als epistemisch« (SA5,
zweierlei umrissen – zum einen das Programm einer 31) expandierenden Konstruktivismus, den er wie-
theoretischen Konsolidierung der Soziologie, zum derum systemtheoretisch wendet. »Der Effekt dieser
anderen ein Publikationsprogramm, das zunächst Intervention von Systemtheorie kann als De-Ontolo-
ins Unreine experimentiert, das an sich selbst Thesen gisierung der Realität beschrieben werden. Das heißt
testet und Theorieentwicklung an konkreten Frage- nicht, daß die Realität geleugnet würde, denn sonst
stellungen ausprobiert. So kann man die sechs Bände gäbe es nichts, was operieren, nichts, was beobach-
gewissermaßen als Skizzenheft für die Theorieent- ten, und nichts was man mit Unterscheidungen grei-
wicklung lesen, die die Arbeit Luhmanns über 25 Jah- fen könnte. Bestritten wird nur die erkenntnistheo-
re bis 1995 begleiten. Ab der dritten Auflage von 1972 retische Relevanz einer ontologischen Darstellung
firmiert die erste Ausgabe von Soziologische Aufklä- der Realität« (SA5, 37). Diese Irrelevanz ergibt sich
rung übrigens als Band 1, dem dann erst 1975 der für Luhmann nicht bezüglich der Frage von Sein oder
zweite Band folgen sollte. Nicht-Sein bestimmter Sachverhalte/Erkenntnisse,
sondern es geht ihm um die schlichte Frage, warum
die Welt gerade so, gerade mit dieser Unterscheidung
Skizzenheft der Theoriebildung beobachtet/erzeugt wird. Statt dann freilich ontolo-
gische Fragen lösen zu wollen, »schlägt die System-
Liest man die Bände in dem angedeuteten Sinne als theorie die Unterscheidung von System und Umwelt
Skizzenheft, so beinhaltet der erste Band Aufsätze vor« (SA5, 37). Exakt das hatte Luhmann bereits im
Luhmanns zur Konsolidierung der funktional-struk- ersten Band angedacht, um den Funktionalismus
turellen Theorie als Weiterentwicklung von Parsons. von seinem gewissermaßen ontologischen Primat
Soziologische Aufklärung. 6 Bände (1970–1995) 211

bestimmter Bezugsprobleme zu befreien und um das Eigentumsordnung und ihre monetäre Integration
Verhältnis von Problem und Problemlösung als sys- selbstverständlich auf Recht beruhen. Unterschiedli-
temrelatives Geschehen zu beschreiben. Inzwischen, che Codes führen zu einer unterschiedlichen Quali-
20 Jahre später, operiert Luhmann mit einer Theorie fizierung von Informationen, weil sie den Informati-
temporalisierter autopoietischer Systeme. Aus der onswert der Information auf unterschiedliche Selek-
Entwicklung von Soziologische Aufklärung zwischen tionshorizonte beziehen« (SA4, 21). Unschwer ist
Band 1 und Band 5 kann man rekonstruieren, wie hier zu erkennen, wie Luhmann jene Analysen von
das Bezugsproblem beibehalten wurde, die Lösungen Funktionssystemen vorbereitet, die als Die Wirtschaft
sich aber weiterentwickelt haben. Was Luhmann als der Gesellschaft (1988), Die Wissenschaft der Gesell-
Äquivalenzfunktionalismus konzipiert hatte, wendet schaft (1990) etc. zur abschließenden Darstellung
er auf die eigene Theoriebildung an. Davon legt die von Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) führen.
Soziologische Aufklärung Zeugnis ab. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch
Auch zwischen Band 2 von 1975 und Band 4 von der Aufsatz »Einführende Bemerkungen zu einer
1987 lässt sich eine ähnliche Verbindung knüpfen. In Theorie symbolisch generalisierter Kommunikati-
beiden geht es um gesellschaftstheoretische Frage- onsmedien« (1974). Hier beschreibt Luhmann das
stellungen. Band 2 enthält wichtige Arbeiten über die Problem kommunikativen Erfolgs, d. h. der Sicher-
Unterscheidung von Interaktion, Organisation und stellung von Anschlussfähigkeit unter unwahr-
Gesellschaft (SA2, 9 ff.), einen folgenreichen Aufsatz scheinlichen Bedingungen. Er spricht von »Zusatz-
zur Weltgesellschaft (SA2, 51 ff.), in dem einerseits da- einrichtungen in der Form weiterer symbolischer
rauf hingewiesen wird, dass »die Vorstellung einer Codes, die die wirksame Übertragung reduzierter
Mehrheit menschlicher Gesellschaften« (SA2, 53) Komplexität steuern« (SA2, 173). Neben Sprache
unangemessen sei, da sich Grenzen, etwa nationale und Schrift in älteren Gesellschaftsformationen seien
oder kulturelle Grenzen, eben nicht als Systemgren- das nun Codierungen und symbolische Generalisie-
zen beschreiben lassen. Andererseits stellt sich dann rungen, die erst die Wahrscheinlichkeit der System-
aber die Frage nach der Umwelt des Gesellschaftssys- bildung und -kontinuierung für Funktionssysteme
tems, »nämlich die Frage, im Hinblick auf welche ermöglichen. En passant bereitet sich hier übrigens
Umwelt die Gesellschaft als ein soziales System ver- auch die Umstellung vom Handlungs- auf den Kom-
standen werden könne. Diese Frage kann nicht mehr munikationsbegriff vor, der dann in Soziale Systeme
konkret durch Hinweis auf andere Gesellschaften be- (1984) zum Abschluss kommt.
antwortet werden. Und sie wird zugleich dadurch Band 3 von 1981 nimmt eine Sonderstellung ein.
zum Schlüsselproblem, daß die moderne System- In ihm finden sich drei größere Kapitel, die als vor-
theorie Systeme durch die Unterscheidung von einer bereitende Studien einerseits für Soziale Systeme ge-
Umwelt bestimmt und alle Systemstrukturen auf lesen werden können, andererseits, ganz ähnlich wie
eine problematische Umwelt hin funktionalisiert« Band 4, als Vorbereitungen der Analysen von Funk-
(SA2, 64). Luhmanns Antwort auf diese Frage geht in tionssystemen und des Gesellschaftssystems. Hier
drei Richtungen: Zum einen zieht er Konsequenzen finden sich Arbeiten, in denen die Bedeutung des
für den Weltbegriff, zum anderen stößt er auf das Kommunikationsbegriffs immer wichtiger und eine
Problem nichtsozialer Umwelten sozialer Systeme, Integration von Kommunikations- und Systemtheo-
schließlich aber auf systeminterne Umwelten, was rie angestrebt wird. Luhmann entlastet den Kommu-
auf Differenzierungstheorie verweist. nikationsbegriff vom Problem der Übertragung und
Dies ist dann Thema des vierten Bandes, in dem ihrem Gelingen und schreibt: »Man kann aber auch
Luhmann das Verhältnis von gesellschaftlichen Teil- fragen, wie Kommunikation überhaupt möglich ist.
systemen und der Gesellschaft am Beispiel von Poli- Voraussetzen muß man ja ihrerseits hochkomplexe,
tik, Erziehung und Religion durchdekliniert. Der selbstreferentiell geschlossene Systeme, nämlich Sys-
Kopfaufsatz des Bandes beschäftigt sich mit gesell- teme, die Umweltkontakt nur durch komplex kondi-
schaftssysteminternen Differenzierungen von Sys- tionierten Selbstkontakt haben können. Sowohl als
temcodierungen. »Die Differenzierung setzt […] Sender als auch als Empfänger von Mitteilungen sind
nicht bei Einheiten an, sondern bei Differenzen. Sie solche Systeme stets überwiegend mit sich selbst be-
ergibt sich daraus, daß Operationen, die zwischen schäftigt. Der Kommunikationsprozeß hat daher
Recht und Unrecht wählen, sich von denen unter- stets sehr viel geringere Komplexität als die beteilig-
scheiden, die entscheiden, ob und wieviel man zah- ten Systeme selbst. Ist es unter solchen Umständen
len oder nichtzahlen will – und dies, obwohl die nicht ganz unwahrscheinlich, daß Kommunikation
212 Werke und Werkgruppen

schon auf der Ebene der Verständlichkeit, von Kon- Kopplung an Kommunikation, an institutionelle Ar-
sens ganz zu schweigen, überhaupt zustande- rangements und an Sozialisation etablieren. Die Auf-
kommt?« (SA3, 16). Die Antwort lautet ›Ja‹, und die klärung darüber aufzuklären, erfolgt so tatsächlich
Lösung des Problems besteht Luhmann zufolge in mit Hilfe der Differenz von System und Umwelt.
der Systembildung der Kommunikation selbst. Man Luhmann führt damit konsequent zu Ende, was er
kann hier – um das nur anzudeuten – letztlich die am Beginn seiner Arbeit vorbereitet hatte: System-
Theoriebildung in nuce mitbeobachten und an den theorie auf die Unterscheidung von System und Um-
Texten der Soziologischen Aufklärung sehen, was sich welt aufzubauen und stets auf die Systemreferenz zu
an der Theorie ändert, wenn man ihre Begriffe än- achten. Im sechsten Band hört sich das dann so an:
dert, und wie die Identität der Theorie damit erst »Als Soziologe hat man jetzt nur noch beschränkte
hergestellt wird. Wahlmöglichkeiten. Das ›In-dividuum‹ der Soziolo-
Schließlich enthält der Band eine längere Abhand- gie muß ein soziales System sein – und nicht eine le-
lung über »Organisation und Entscheidung« (1978), bende Zelle oder ein Gehirn oder ein Bewußtsein,
die nicht nur wegen der Äquivokation als Vorstudie denn das wären Systeme, die sich nicht durch soziale
zum gleichnamigen Buch von 2000 zu erkennen ist Operationen reproduzieren« (SA6, 166).
(vgl. OuE). Hier entwickelt Luhmann eine operative
Organisationstheorie. Organisationen sind danach
»soziale Systeme, die aus Entscheidungen bestehen Warum soziologische ›Aufklärung‹?
und Entscheidungen wechselseitig miteinander ver-
knüpfen« (SA3, 339 f.). Dieser letzte Gedanke führt zurück zum Anfang der
Der letzte Band schließlich, Band 6 von 1995, ver- sechs Bände und damit zur Frage des Titels. Warum
sammelt unter dem Untertitel »Die Soziologie und Soziologische Aufklärung? In Band 1 findet sich ein
der Mensch« Aufsätze, die sich mit der ›menschli- programmatischer Aufsatz gleichen Titels, der auf
chen‹ Umwelt sozialer Systeme beschäftigen. Heraus- Luhmanns Antrittsvorlesung nach seiner Habilitati-
zuheben sind die beiden Aufsätze »Die Tücke des on an der Universität Münster aus dem Jahr 1967 zu-
Subjekts und die Frage nach dem Menschen« (1994) rückgeht. »Die Formulierung soziologischer Aufklä-
sowie »Inklusion und Exklusion« (1994). In ersterem rung«, so Luhmann in seiner Antrittsvorlesung, sei
Aufsatz variiert Luhmann den Gedanken, der bereits »etwas Gewagtes, Einseitiges, Nichtselbstverständli-
in Band 1 als systemtheoretisches Grundmotiv der ches. Sie zieht zusammen, was zunächst als eine his-
Differenz von System und Umwelt stark gemacht torische Differenz bewußt ist. Wir sind es gewohnt,
wird: »wechselseitige Unkontrollierbarkeit« (SA6, die Unternehmungen des denkenden Menschen-
167) als konstitutives Verhältnis ›menschlicher‹ psy- tums, die wir mit Aufklärung und Soziologie bezeich-
chischer Systeme und sozialer Systeme. Ein ähnliches nen, verschiedenen Epochen zuzuordnen. Unter
Motiv behandelt der zweite Aufsatz, in dem Luh- Aufklärung verstehen wir das Streben, die menschli-
mann zeigt, dass die Inklusion von Personen in das chen Verhältnisse frei von allen Bindungen an Tradi-
Gesellschaftssystem keine Totalinklusion ist, sondern tion und Vorurteil aus der Vernunft neu zu
eine Multiinklusion in unterschiedliche Funktions- konstruieren – Bemühungen, die im 18. Jahrhundert
systeme, die »im Inklusionsbereich zu einer erhebli- ihren Höhepunkt hatten und danach rasch einer
chen Lockerung der Integration« (SA6, 259) führt, was skeptischen Abwertung verfielen« (SA1, 66). Zu die-
wiederum nur gesehen werden kann, wenn man ser Skepsis habe auch die Soziologie beigetragen, die
Menschen in der Umwelt sozialer Systeme verortet. letztlich gezeigt habe, dass es für die »gleiche Beteili-
Der vielleicht schönste Satz der sechs Bände ist eine gung aller Menschen an einer gemeinsamen Ver-
Selbstauskunft Luhmanns ganz in diesem Sinne: »Im nunft, die sie ohne weitere institutionelle Vermittlung
übrigen ist nicht einzusehen, weshalb der Platz in der besitzen« und für »erfolgssichere[n] Optimismus in
Umwelt des Gesellschaftssystems ein so schlechter bezug auf die Herstellbarkeit richtiger Zustände«
Platz sein sollte. Ich jedenfalls würde nicht tauschen (SA1, 84) keine empirischen Evidenzen geben könne.
wollen« (SA6, 167). Soziologische Aufklärung sei deshalb als »Abklärung
Diese Vorliebe Luhmanns ist übrigens zugleich die der Aufklärung« (SA1, 66) zu konzipieren. Damit
Grundbedingung aller Vernunftaufklärung, denn meint Luhmann, besser erkennen zu wollen, »was mit
nur weil der Mensch in der Umwelt sozialer Systeme dem geschichtlich zurückliegenden Versuch der Ver-
situiert ist, lässt sich eine Semantik der Unabhängig- nunftaufklärung eigentlich verfolgt wurde und wa-
keit des Menschen und seiner Vernunft von seiner rum dieser Versuch scheitern mußte« (SA1, 67).
Soziologische Aufklärung. 6 Bände (1970–1995) 213

Was Luhmann da vorhat, ist weder eine Demen- Zu Beginn seines Werks macht Luhmann damit
tierung der Aufklärung noch so etwas wie Anti- sogar die Einführung von Systemtheorien statt Fak-
aufklärung oder »Gegenaufklärung«, wie Helmut tortheorien zur aufklärerischen Geste: »Faktortheo-
Schelsky als sein Mentor es betrieben hat, sondern so- rien und streng kausalgesetzliche Methodologie
ziologische Aufklärung im engsten Sinne. Es soll da- würden die soziologische Forschung in ihrem Fas-
rum gehen, über jene Restriktionen aufzuklären, die sungsvermögen für Komplexität in unerträglicher
es einer womöglich unterkomplex gebliebenen nor- Weise beschneiden. Mit diesem Instrumentarium
mativen Idee einer allen gemeinsamen Vernunft könnte die Soziologie nicht einmal das Alltagsver-
nicht ermöglicht hat, die Gesellschaft zu verbessern ständnis von Situationen und Handlungszusam-
und ihre Ziele zu erreichen. »Die Soziologie wird, menhängen in seiner unklaren, aber vielschichtigen
wenn sie sich als Teil einer weltaufklärenden Wirk- Komplexität erreichen, geschweige denn übertreffen.
lichkeitswissenschaft begreifen will, das Problem der Sie bliebe den Handelnden selbst glatt unterlegen.
sozialen Komplexität in den Mittelpunkt rücken Von sinnvoller Aufklärung könnte unter diesen Um-
müssen« (SA1, 73). Das Problem der sozialen Kom- ständen keine Rede sein« (SA1, 71). Sinnvolle Aufklä-
plexität besteht etwa, um ein sehr einfaches Beispiel rung wäre aber nur die, die in der Lage ist, die
zu nennen, darin, dass das Verhältnis von guter Ab- Restriktionen, unter denen Handlungssysteme ste-
sicht und guter Wirkung eben nicht als Kausalver- hen, zu erkennen.
hältnis gedacht werden kann, sondern komplexer In diesem sehr frühen Text, seiner Antrittsvorle-
beschaffen ist. Daran aber habe »sich die Vernunft- sung, wird Luhmann ungewohnt deutlich. Hier fin-
aufklärung gehalten und die eigentümliche Proble- det sich eine der wenigen Stellen in seinem Werk, in
matik sozialer Komplexität, daß man der Überein- der er klar zu erkennen gibt, was er ›besser‹ findet,
stimmung im Erleben und Handeln mit anderen wie er sich Lösungen vorstellt, vielleicht ist es sogar
Menschen nie sicher sein kann, damit verharmlost« die Spur einer normativen Grundintuition. Er betont
(SA1, 74). zunächst, dass die Einsicht in die Differenz von Sys-
So betont Luhmann etwa, dass die Aufdeckung la- tem und Umwelt die Weltproblematik, also das Pro-
tenter Funktionen, also unsichtbar bleibender Be- blem der Komplexität, teilweise von außen nach
dingungen des Handelns, durchaus eine aufkläreri- innen verlagert. Dann schreibt er: »Die Art, wie das
sche Bedeutung hat – ohne dass durch dieser Art geschieht, bestimmt das Niveau der Aufklärung –
Aufklärung aber der Mechanismus selbst außer Kraft beim persönlichen (durch eine ›Persönlichkeit‹
gesetzt würde. »Wenn Latenzbedürfnisse wirklich strukturierten) Aktionssystem ebenso wie beim So-
systemstrukturell bedingt sind, wird ein bloßes Auf- zialsystem. Die Eigenkomplexität des Systems muß
decken des Verborgenen nicht helfen – es sei denn, in einem angemessenen Verhältnis zur Komplexität
daß es gelingt, die Funktion der Latenz anderweitig der Umwelt stehen. Je komplexer ein System selbst
zu erfüllen« (SA1, 70). Vielleicht wird an diesen Sät- strukturiert ist und je mehr Zustände es demzufolge
zen Luhmanns Grundintuition deutlich, eine Intui- annehmen kann, desto komplexer kann auch seine
tion, die man vielleicht mit dem Motiv der Unent- Welt sein, desto umweltadäquater, desto sinnvoller,
rinnbarkeit beschreiben kann (vgl. dazu Nassehi desto aufgeklärter kann es existieren, erleben und
2011, 77). Damit ist gemeint, dass es keine Möglich- handeln, desto weltgemäßer ist seine Subjektivität«
keit gibt, aus der eigenen Praxis, aus der eigenen (SA1, 76). Komplexität also ist die Lösung für Kom-
Operationsweise auszusteigen, dass alles, was ge- plexitätsprobleme, womit Luhmann selbst in den
schieht, an seine operative Gegenwart gebunden ist Strudel der Komplexität und ihrer möglichen Verar-
und dass man die Systemreferenz nicht einfach wech- beitung gerät. Interessant an dieser Einlassung ist je-
seln kann. Vielleicht passt auch der kybernetische Be- denfalls, dass Luhmann durchaus mit Kriterien der
griff der Zustandsdeterminiertheit (Ashby 1985), der Angemessenheit arbeitet, die sich dann aber mit fort-
darauf abstellt, dass nur innerhalb, nicht außerhalb schreitendem Werk selbst wegaufklären, denn das
von Systemen gehandelt werden kann. Luhmanns Komplexitätsproblem wird später durch das Pro-
aufklärerischer Impetus besteht darin, gerade die blem der ereignisbasierten Anschlusslogik ersetzt.
selbstreferentiellen Strukturbildungen von Systemen Deutlich sollte freilich geworden sein, dass Luh-
mitzubedenken, die den Eingriff in das System als manns soziologische Aufklärung die besondere Fä-
Teil des Systems behandeln und damit eben den ein- higkeit entwickelt, das, was sie selbst diagnostiziert,
fachen Kausalitäten und Durchgriffsmöglichkeiten auch auf sich selbst anzuwenden. Bereits in seiner
entziehen. Antrittsvorlesung mahnt Luhmann eine »Soziologie
214 Werke und Werkgruppen

der Soziologie« (SA1, 108) an – damit im Erbe der 16. Gesellschaftsstruktur


Aufklärung stehend, über die Bedingungen der eige-
nen Möglichkeit selbstreflexiv nachzudenken. Auch
und Semantik. 4 Bände
wenn sich die Begrifflichkeiten, die funktionalen Lö- (1980–1995)
sungen und die theoretischen Wege im Laufe der
Theorieentwicklung weiterentwickelt haben, an je- ›Gesellschaftsstruktur und Semantik‹ steht für Luh-
nem Programm der Soziologischen Aufklärung hat manns wissenssoziologisches Forschungsprogramm,
Luhmann auch semantisch festgehalten. In den Vor- das seiner vierbändigen Aufsatzsammlung (GS1–4)
worten zu den nachfolgenden Bänden wird dies im- den Titel gegeben hat. Eingeleitet wird dieses Pro-
mer wieder aufgenommen. So heißt es im Vorwort gramm mit dem Aufsatz »Gesellschaftliche Struktur
zum dritten Band, »daß die Soziologie es mit einem und semantische Tradition« (GS1, 9–72), der ein
Gegenstand zu tun hat, der mit der Fähigkeit zur theoretisches Modell entwirft, mit dem sich die Kor-
Selbstbeobachtung in Form der Kommunikation in relation und Kovariation von Gesellschaftsstruktur
sich selbst über sich selbst ausgestattet ist. In der neu- und Semantik denken lässt (GS1, 17). Im Gegensatz
zeitlichen Gesellschaft […] sind für diese Selbstbeob- zu klassischen wissenssoziologischen Positionen geht
achtung spezifische Formen ausgebildet worden – es nicht darum, Wissen auf die soziale Position von
und dies nicht zufällig in einer Epoche, die sich selbst Akteuren oder Gruppen zu beziehen, sondern auf die
unter den Anspruch der Aufklärung stellt« (SA3, 5). Differenzierungsform der Gesellschaft. Für viele der
Dies macht dann die interdisziplinäre Beschäftigung Studien zu einzelnen Semantiken (sei es zum Staat,
mit Reflexionstheorien anderer Funktionssysteme zu zur Liebe oder zur Individualität) ist der Umbruch
einem Erfordernis der soziologischen Aufklärung von der stratifizierten zur funktionalen Gesellschaft
(vgl. SA3, 6). privilegierter Ausgangspunkt, da sich in dieser histo-
Im Vorwort von Band 5 schließlich beschreibt rischen Phase der Umbau der Gesellschaftsstruktur
Luhmann die soziologische Aufklärung als »einheit- in der Semantik nachvollziehen lässt (vgl. neben
liches Programm […]. Es geht um Kritik des Wis- GS1–4 auch I) und sich in Folge der ganze semanti-
sens. Der Standpunkt, von dem aus eine solche Kritik sche Apparat (und nicht nur einzelne Begriffe) ver-
formuliert wird, ist jedoch nicht mehr derjenige der ändert. Diese Veränderung betrifft nicht nur die
Vernunftaufklärung, die, mit oder ohne fürstliches Bedeutung einzelner Begriffe, sondern auch die ge-
Wohlwollen, der Selbstgesetzgebung der Vernunft sellschaftliche Positionierung von Semantiken: Denn
zum Siege verhelfen wollte. Stattdessen gilt es vorzu- mit dem Beginn der funktionalen Differenzierung
führen, was man zu sehen bekommt, wenn man die gehen gesellschaftsweite Symboliken verloren; an de-
Welt mit Hilfe der Unterscheidung von System und ren Stelle treten funktionssystemspezifische Seman-
Umwelt beobachtet« (SA5, 7). Genau das ist das Pro- tiken.
gramm Soziologischer Aufklärung, deren Bände man
tatsächlich als Skizzenheft der Theorieentwicklung
ansehen kann. Semantik
Was aber ist mit dem Begriff der Semantik gemeint?
Literatur Die soziologische Verwendung dieses Begriffs ist si-
Ashby, W. Ross: Einführung in die Kybernetik. Frankfurt cherlich erläuterungsbedürftig (und insbesondere
a. M. 1985. für die englischsprachige Rezeption der Systemtheo-
Nassehi, Armin: Gesellschaft der Gegenwarten. Beiträge zur rie schwierig), da der Semantikbegriff zunächst auf
Theorie der modernen Gesellschaft II. Berlin 2011. die Linguistik verweist. Der linguistische Semantik-
Armin Nassehi begriff beschäftigt sich mit der wechselnden Bedeu-
tung von Worten. Luhmanns Semantikanalysen
beanspruchen aber, über einen linguistischen Ansatz
hinauszugehen, sollen doch nicht nur einzelne Wor-
te, sondern unterschiedliche Wissensformen der
Analyse als Strukturformen der Autopoiesis zugäng-
lich gemacht werden (WissG, 107 f.). Der Semantik-
begriff wird von Luhmann daher auch nicht unmit-
telbar der Linguistik entnommen, sondern schließt
Gesellschaftsstruktur und Semantik. 4 Bände (1980–1995) 215

in erster Linie an die historische Begriffsgeschichte identifiziert und analysiert werden können. Mehr
an – hier ist an das monumentale Projekt Geschichtli- noch, nicht jedes Beobachtungsschema ist für die
che Grundbegriffe (Brunner/Conze/Koselleck 1972– luhmannsche Analyse interessant, sondern nur ›ge-
1997) sowie an die Arbeiten von Reinhart Koselleck pflegte‹ Semantiken, die häufig selbst Bestandteil von
(1979) zu denken. Die Begriffsgeschichte geht davon Reflexionstheorien des jeweiligen Systems sind (so
aus, dass sich während der ›Sattelzeit‹ (1750–1850) z. B. Souveränität als Semantik, welche die politische
die Sozialstruktur Europas grundlegend verändert Philosophie als Reflexionstheorie der Politik nutzt).
hat – und dass diese Veränderungen sich in erster Li-
nie an Bedeutungsverschiebungen wichtiger politi-
scher Begriffe ablesen lassen. Luhmann schließt in ›Gepflegte Semantik‹
doppelter Weise an das begriffsgeschichtliche Projekt
an: Erstens werden für ihn Semantiken ebenfalls zu Gerade weil Semantiken auf unterschiedliche Weise
Markierungen wichtiger Veränderungen der Gesell- eingesetzt werden können, müssen sie wiederholbar
schaftsstruktur; und zweitens teilt er das Interesse an sein. Aus diesem Grunde interessiert sich Luhmann
der Sattelzeit, da in dieser der epochale Umbruch von in besonderem Maße für verschriftlichte, textförmige
der stratifizierten zur funktional differenzierten Ge- Semantiken (GG, 887; Kneer 2001, 308 f.), die sich
sellschaft stattgefunden habe. Im Gegensatz zur Be- durch die Wiederholung verändern und sich mit
griffsgeschichte wird Luhmann die Semantikanalyse Sinn anreichern (Kondensierung) oder auch seman-
jedoch entpolitisieren, da er semantische Verände- tisch verarmen mögen. Zentral für jede Semantik-
rungen nicht auf politische Kämpfe und Konflikte analyse ist dabei insbesondere die Frage, ob und wie
zurückführt, sondern im Rahmen seiner Evolutions- sich die Gegenbegriffe (Antonyme) eines Begriffs
theorie auf Veränderungen der Gesellschaftsstruktur auswechseln. Durch ihre Wiederholbarkeit überneh-
bezieht. men Semantiken die Funktion eines kulturellen Ge-
An Luhmanns Definition des Semantikbegriffs dächtnisses: Die Semantik einer Gesellschaft oder
wird deutlich, dass er den Begriff der Semantik über eines Funktionssystems sammelt ein Repertoire von
den klassischen Raum der Linguistik ausweitet: »Die Formen und Themen, die sich bewährt haben und
Gesamtheit der für diese Funktion [der Wiederho- die in der Folge auch aktiv gepflegt werden. Luh-
lung von Sinnerwartungen, US] benutzbaren For- mann spricht deshalb von »ernsthafter«, »bewah-
men einer Gesellschaft (im Unterschied zur Gesamt- renswerter« oder »gepflegter« Semantik, da nur
heit der Sinn aktualisierenden Ereignisse des Erlebens solche Formen die Funktion eines kulturellen Ge-
und Handelns) wollen wir die Semantik einer Gesell- dächtnisses übernehmen können (GS1, 19; GG,
schaft nennen, ihren semantischen Apparat, ihren 200).
Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln. Damit engt Luhmann seinen Semantikbegriff aber
Unter Semantik verstehen wir demnach einen höher- auch auf entscheidende Weise ein: In den Blick gera-
stufig generalisierten, relativ situationsunabhängi- ten nun vornehmlich jene Wissensformen, welche zu
gen Sinn« (GS1, 19). Semantiken sind also nicht bloß einer kulturellen Tradition gehören und durch wis-
bestimmte erfolgreiche Begriffe, sondern Typisie- senschaftliche und künstlerische Organisationen
rungen von Wissen sowie das Ensemble von Sinnver- (z. B. Museen, Akademien, Bibliotheken, Archive
arbeitungsregeln (also z. B. unterschiedliche Deu- etc.) gepflegt werden. Zwar betont Luhmann zu
tungsmuster und Themen), die in verschiedenen Recht, dass seine Semantikanalysen sich nicht mit
sozialen Kontexten benutzt werden können. dem kulturellen ›Höhenkamm‹ beschäftigen – dass
Um von Semantiken (wie etwa jener der Indivi- er sich also nicht auf den Kanon der klassischen Geis-
dualität oder Nation) sprechen zu können, muss also tes- und Ideengeschichte konzentrieren möchte.
ein Abstraktionsprozess eingesetzt haben, durch den Vielmehr werden für Luhmann zweit- und drittklas-
diese Formen von spezifischen Kontexten losgelöst, sige Autoren wichtig, stehen diese doch eher für weit
der unmittelbaren Handlungs-/Erlebenspragmatik verbreitete Semantiken als das Werk eines einsamen,
entzogen und auf diese Weise variabel einsetzbar genialischen Autors.
werden. Semantiken sind damit gleich mehrfach Dennoch behalten die luhmannschen Semantik-
vom ›alltäglichen‹ Funktionieren von Systemen los- analysen ihren Fokus auf gepflegte – also: ›kultivier-
gelöst, sind diese doch immer schon Beobachtungs- te‹ – Wissensformen bei. Dadurch schließen die
schemata, auf die zurückgegriffen werden kann, die Semantikanalysen zwei wichtige wissenssoziologi-
aber losgelöst von der je konkreten Verwendung sche Bereiche von vornherein aus: Populäre Seman-
216 Werke und Werkgruppen

tiken werden als minderwertig eingeschätzt, da in der Literatur werden zukünftige Wissensformen
diese weder über das Raffinement noch über die entworfen und ausprobiert. Durch diese Fähigkeit
Kultiviertheit ›ernsthafter‹ Semantiken verfügen. Es zur Variation kann es durchaus zu »preadaptive ad-
ist unschwer zu erkennen, dass Luhmanns Semantik- vances« kommen (GG, 512), also zur Semantik von
analysen an einem Wissens- und Kulturbegriff orien- Neuerungen, die noch keine sozialstrukturelle Ver-
tiert sind, der seine Stütze in der Hochkultur (wenn wirklichung gefunden haben (so ist z. B. die Seman-
auch nicht in der Höchstkultur) findet. Ausgeschlos- tik der leidenschaftlichen Liebe lange vor der
sen von der Semantikanalyse sind damit massenkul- Etablierung einer neuen Form des Intimsystems ent-
turelle Produkte und Genres (vom Melodrama, der standen). Diese ›Voranpassungen‹ können aber nur
Soap Opera über den Hollywoodfilm bis zur Ratge- dann überleben, wenn sie im obigen Sinne hinrei-
berliteratur) – ein großer Wissensbereich, der etwa chend plausibel sind, also wenn sie sich in Einklang
von den anglo-amerikanischen Cultural Studies zum mit der Gesellschaftsstruktur bringen lassen.
privilegierten Gegenstand gesellschaftlicher Sinn-
produktion gezählt wird (vgl. dazu Stäheli 1997;
Huck/Zorn 2007). Die erwähnten populärkulturel- Komplexität
len Beispiele machen aber auf eine weitere Ein-
schränkung des Semantikbegriffs aufmerksam: Ob- Trotz dieser Annahme eines Passungsverhältnisses
wohl der luhmannsche Sinn- und Kommunikations- handelt es sich hier nicht um eine bloße Widerspie-
begriff sich gerade nicht als sprachzentriert verste- gelung, sondern das Verhältnis von Gesellschafts-
hen, beziehen sich Semantiken bei Luhmann in der struktur und Semantik wird im Sinne einer Ermög-
Regel auf schriftliche Formen, womit das ganze Re- lichung konzipiert. Um dieses Verhältnis zu denken,
pertoire visueller, auditiver und materialer Semanti- führt Luhmann den Begriff der Komplexität als Ver-
ken unberücksichtigt bleibt. mittlungsbegriff ein: Semantiken reagieren auf die
Diese beiden Einschränkungen mögen sich einer- Komplexität, welche durch die Gesellschaftsstruktur
seits einer häufig eher impliziten kulturellen Vorliebe geschaffen wird. So geht Luhmann davon aus, »daß
verdanken; allerdings wird die Entscheidung für ge- es vor allem die Komplexität des Gesellschaftssys-
pflegte Semantiken auch theoretisch begründet. Nur tems und die Kontingenz seiner Operationen ist, de-
gepflegte Semantiken seien in der Lage, sozialstruk- ren Veränderungen mit Änderungen in der Semantik
turelle Veränderungen nachzuzeichnen oder diese beantwortet werden« (GS1, 15). Semantiken redu-
gar frühzeitig zu erkennen. Semantische Formen zieren Komplexität, indem sie Selektionsmodi und
werden denn auch nicht ihrer selbst Willen analy- -regeln bereitstellen.
siert, sondern als Mittel, mit Hilfe derer sich frühere Bezieht man die Semantikanalyse auf das Problem
Gesellschaften sowie heute einzelne Funktionssyste- der Komplexität, dann ergeben sich daraus auch me-
me beschreiben. Die Entwicklung von neuen Seman- thodische Konsequenzen, da es nun nicht um autor-
tiken wird daher immer zurückbezogen auf Vorga- zentrierte, also textnah interpretierende Verfahren
ben, welche durch die Gesellschaftsstruktur gegeben gehe, sondern um die Auswertung vielfältiger se-
werden. Mit der Gesellschaftsstruktur sind die mantischer Formen hinsichtlich ihres Umgangs mit
grundlegenden Differenzierungsformen einer Ge- Komplexität (GS1, 303). Gerade die Kritik am Autor
sellschaft gemeint (also die Trias der drei Differenzie- als Organisationsprinzip für wissensgeschichtliche
rungstypen: segmentäre, stratifikatorische und funk- Studien erinnert an Michel Foucaults Archäologie,
tionale Differenzierung). Semantiken müssen daher die sich vom Einheitsprinzip des Autors abwendet
an die Gesellschaftsstruktur angepasst sein, sie müs- (aber auch von dem des Themas, das für Luhmann
sen mit ihr kompatibel sein: »Plausibilität oder gar weiterhin eine wichtige Rolle spielt; vgl. Foucault
Evidenz lässt sich für semantische Strukturen nur ge- 1973). Der Komplexitätsbegriff eröffnet die Mög-
winnen, wenn hinreichend deutlich ist, auf welche lichkeit, die Entstehung und Veränderung von Ideen
Änderungen in der Sozialstruktur eine Änderung in evolutionstheoretisch anzulegen. Auf diese Weise
der Begrifflichkeit reagiert« (GG, 550). können sowohl Variationsprozesse (Ausprobieren
Dies heißt nicht, dass Semantiken über keine Frei- und Entwickeln neuer Semantiken), Selektionspro-
heitsgrade verfügen: Semantiken sind immer auch zesse und Stabilisierungsprozesse (etwa durch Dog-
Experimentierfelder, in denen neue Formen ausge- matisierung von Wissensbeständen) analysiert wer-
testet werden, ihnen obliegt schließlich auch die evo- den. Die Selektion erfolgt primär durch den Bezug
lutionstheoretische Aufgabe der Variation – gerade auf die Gesellschaftsstruktur, d. h. in der funktiona-
Gesellschaftsstruktur und Semantik. 4 Bände (1980–1995) 217

len Differenzierung in Bezug auf das jeweilige Funk- beteiligt. Damit unterscheidet sich die Semantikana-
tionssystem. lyse deutlich von poststrukturalistischen Diskurs-
Was Luhmann damit aber vernachlässigt, ist die theorien, welche gerade die Vorgängigkeit von
konflikthafte Genese von Semantiken, die etwa für Sozialstrukturen ablehnen und stattdessen davon
Koselleck geradezu charakteristisch für wichtige his- ausgehen, dass Diskurse performativ jene Einheiten
torische Semantiken war. Einher geht damit, dass im herstellen, welche sie darstellen (Stäheli 1998).
Rahmen der Analyse von Selbstbeschreibungen die Die Probleme, die sich in Luhmanns Programm
Konkurrenz unterschiedlicher Selbstbeschreibungen der frühen 1980er Jahre finden, lassen sich teilweise
gleichsam durch die Selektion aufgelöst wird. Wäh- auf ungeklärte grundbegriffliche Fragen zurückfüh-
rend für viele diskursanalytische Ansätze (z. B. La- ren. Zentrale Begriffe, die für die Systemtheorie seit
clau/Mouffe 1985) wichtig wird, auf welche Weise Soziale Systeme (1984) wichtig geworden sind, sind
Selbstbeschreibungen hegemonial werden und wel- zu diesem Zeitpunkt noch nicht (oder erst probewei-
che diskursiven Taktiken und Strategien dazu einge- se) entwickelt: sei dies der Begriff der Autopoiesis, sei
setzt werden, scheint für die luhmannschen Seman- es die Beobachtungstheorie oder sei es die konse-
tikanalysen das Problem der Hegemonie immer quente Umwandlung von Handlungs- in Kommuni-
schon gelöst durch die sozialstrukturelle Selektion kationstheorie. Manches bleibt also ungeklärt oder
›plausibler‹ Semantiken. wird vor dem Hintergrund der weiteren Theorieent-
wicklung problematisch. So ist der Semantikbegriff
etwa bereits kommunikationstheoretisch konzipiert,
Kausalität? wird aber mit einem Begriff der Gesellschaftsstruktur
in Verbindung gesetzt, der dem klassischen Differen-
Obwohl durch die Zwischenschaltung des Komplexi- zierungsmodellen der Soziologie entspringt (Schütz-
tätsbegriffs eine einfache und mechanische Wider- eichel 2003).
spiegelungstheorie (im Sinne eines Basis/Überbau- Luhmann versucht denn auch seit den 1990er Jah-
Modells) verhindert werden soll, scheinen viele sys- ren, die grundbegrifflich offenen Fragen im Rahmen
temtheoretische Semantikanalysen implizit kausal zu seiner Beobachtungstheorie anzugehen, aber leider
argumentieren. Vereinfachend lautet die Annahme: meist nur in kürzeren Passagen; eine neue program-
Veränderungen der Gesellschaftsstruktur bewirken matische Schrift zur beobachtungstheoretischen Se-
entsprechende Veränderungen im semantischen Ap- mantikanalyse fehlt, auch wenn Luhmann in jeder
parat. Luhmann ist sich der Gefahren dieses kausalen seiner Funktionssystemmonographien ausführliche
Denkens durchaus bewusst, hat er doch in einem an- Semantikstudien betreibt. Dennoch zeichnet sich ab,
deren Zusammenhang die Kategorie der Kausalität dass Luhmann, um begriffliche Konsistenz bemüht,
einer grundlegenden Kritik unterworfen und sie als die Unterscheidung zwischen Semantik und Gesell-
Attributionskategorie reformuliert: Um Kausalität schafsstruktur nun mit jener von Beobachtung und
bestimmen zu können, bedarf es stets eines Beobach- Operation parallelisiert: »Man muß deshalb, im An-
ters, der mit Kausalschemata arbeitet. Statt von Kau- schluß an die Unterscheidung zwischen Operation
salität spricht Luhmann daher lieber von »Kompati- und Beobachtung, die entsprechenden Strukturen
bilität, Grenzen der Kompatibilität, Korrelation« unterscheiden: die Strukturen der Systemdifferenzie-
(GS1, 17), um Einschränkung von Beliebigkeit den- rung und die semantischen Strukturen, die bewah-
ken zu können (kritisch zur Korrelationsthese vgl. renswerten Sinn identifizieren, festhalten, erinnern
Stichweh 2000; Stäheli 1998). oder dem Vergessen überlassen« (GG, 538 f.). Damit
Trotz dieser Vorsicht gegenüber dem Kausalsche- eröffnen sich aber schwierige Fragen zum Verhältnis
ma finden sich v. a. in konkreten historischen Seman- zwischen Operation und Beobachtung, ist doch jede
tikanalysen immer wieder Kausalitätsannahmen. Beobachtung ihrerseits wiederum eine Operation.
Dies hängt damit zusammen, dass es nicht um die Gerade dann ließe sich die Semantik nicht mehr als
Kompatibilität zwischen zwei gleichberechtigten reine Form, die sich jenseits des Operierens befindet,
Partnern geht: Die Semantik erfordert immer schon denken.
eine präexistente Gesellschaftsstruktur, die letztlich – Trotz dieses ›Updates‹ des begrifflichen Rahmen
zumindest theoretisch – unabhängig von ihrer Se- verändert sich auch die Annahme nicht, dass gesell-
mantik zu denken ist. Semantiken sind daher stets als schaftliche Strukturen des Operierens jenen der Be-
nachträgliche Effekte gedacht, sie sind nicht konsti- obachtung vorgängig sind. Jenseits dieser grundbe-
tutiv an der Herstellung von Gesellschaftsstrukturen grifflichen Schwierigkeiten weist die Einbettung in
218 Werke und Werkgruppen

die Beobachtungstheorie auf die zentrale Verwen- Literatur


dung von Semantiken hin: Semantiken als Struktur-
Andersen, Niels Åkerstrøm: Discursive Analytical Strate-
formen werden im Rahmen der Selbstbeschreibung gies. Understanding Foucault, Koselleck, Laclau, Luh-
von Funktionssystemen eingesetzt. Semantiken sind mann. Bristol 2003.
damit Hilfsmittel, welche die Selbstbeobachtung und Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.):
-reflexion ermöglichen sollen. Aber selbst bei diesem Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
Verständnis von Semantiken bleibt die Nachträglich- politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart
1972–1997.
keit von Semantiken unangetastet: Semantiken sind Burkart, Günter: »Niklas Luhmann: Ein Theoretiker der
»nie konstitutive, sondern immer nachträgliche Kultur?« In: Günter Burkart/Gunter Runkel (Hg.): Luh-
Operationen« (GG, 883). Daher ist das Kriterium für mann und die Kulturtheorie. Frankfurt a. M. 2004,
ihre Richtigkeit denn auch die Passung zu einer ihnen 11–39.
immer schon vorausgesetzten Gesellschaftsstruktur. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.
1973.
Die begrifflichen Probleme einer vorgelagerten Ge-
Huck, Christian/Zorn, Carsten (Hg.): Das Populäre der Ge-
sellschaftsstruktur haben zum Vorschlag geführt, das sellschaft. Wiesbaden 2007.
Verhältnis zwischen Gesellschaftsstruktur und Se- Kneer, Georg: »Reflexive Beobachtung zweiter Ordnung.
mantik selbst zu historisieren: Zu analysieren gelte es Zur Modernisierung gesellschaftlicher Selbstbeschrei-
dann, wie in unterschiedlichen Funktionssystemen bungen«. In: Hans-Joachim Giegel/Uwe Schimank
(Hg.): Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luh-
diese Unterscheidung für die Selbstbeobachtung ge-
manns »Die Gesellschaft der Gesellschaft«. Frankfurt
nutzt wird (Stäheli 1998; Stichweh 2000). a. M. 2003, 301–332.
Ungeachtet dieser grundbegrifflichen Schwierig- Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik ge-
keiten haben sich die Semantikanalysen als äußerst schichtlicher Zeit. Frankfurt a. M. 1979.
wichtiger und fruchtbarer Bereich systemtheoreti- Luhmann, Niklas: »Gesellschaftliche Struktur und seman-
scher Forschung erwiesen (vgl. etwa Andersen 2003). tische Tradition«. In: GS1, 9–72.
–: »Selbstreferenz und binäre Schematisierung«. In: GS1,
Die Semantikanalysen machen einen Großteil der 301–313.
systemtheoretischen Empirie aus; mehr noch, Luh- Schützeichel, Reiner: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luh-
mann setzt, etwa in seinen Monographien zu den mann. Frankfurt a. M. 2003.
einzelnen Funktionssystemen, die Semantikanalysen Stäheli, Urs: »Exorcizing the Popular Seriously. Luhmann’s
nicht nur als historische Begriffsgeschichte ein, son- Concept of Semantics«. In: International Review of So-
ciology 7. Jg., 1 (1997), 127–146.
dern nutzt diese zur Entwicklung neuer theoretischer –: »Die Nachträglichkeit der Semantik«. In: Soziale Systeme
Konzepte. 4. Jg., 2 (1998), 315–340.
Stichweh, Rudolf: »Semantik und Sozialstruktur. Zur Logik
einer systemtheoretischen Unterscheidung«. In: Soziale
Systeme 6. Jg., 2 (2000), 237–250.
Urs Stäheli
219

17. Theorie der Gesellschaft (1988–2002)

17.1 Die Wirtschaft der Gesellschaft 1990) als auch Talcott Parsons’ und Neil J. Smelsers
(1988) großer Syntheseversuch von soziologischer und öko-
nomischer Theorie (Parsons/Smelser 1984) bereits
Unter den Arbeiten zu den Funktionssystemen der lange hinter ihr lagen. Gerade erschienen war jedoch
Gesellschaft ist das Buch Die Wirtschaft der Gesell- Harrison C. Whites Aufsatz »Where Do Markets
schaft (WirtG) das einzige, das nicht als Monogra- Come From?« (White 1981), der zusammen mit
phie, sondern als Aufsatzsammlung entstanden ist. Mark Granovetters Wiederaufnahme der Frage nach
Das erschwert den Zugang ausgerechnet bei einem den sozialen Strukturen wirtschaftlichen Handelns
Thema, das auch sonst nicht zu den Schwerpunkt- (Granovetter 1985) eine der Initialzündungen für ein
themen der Forschung Niklas Luhmanns zählt. Im neues soziologisches Interesse an Phänomenen der
Unterschied zu den meisten anderen Themen seines Wirtschaft war und prägnanterweise ebenso wie
Werkes hat er sich im Fall der Wirtschaft auf eine kur- Luhmanns Theorie sozialer Systeme Strukturen des
sorische Kenntnis der einschlägigen Fachliteratur be- Marktes aus Formen der Beobachtung von Beobach-
schränkt. Die Aufsatzform kommt dem entgegen, tungen abzuleiten versuchte.
weil es dort eher als in einer Monographie möglich Damit war eines der großen Motive der soziologi-
ist, die eigenen Problemstellungen und Akzente in schen Wirtschaftsforschung wieder in das Zentrum
den Vordergrund zu stellen, ohne das Thema er- der Aufmerksamkeit gelangt, die Erforschung wirt-
schöpfend zu behandeln. schaftlichen Handelns als interaktionsfreien (das
So haben die Aufsätze, die in dieses Buch aufge- heißt für Soziologen: gewaltfreien) sozialen Han-
nommen und durchweg in den frühen 1980er Jahren delns. Diesen Aspekt einer indirekten Orientierung
geschrieben worden sind, alle den Charakter eines wirtschaftlichen Handelns hatte bereits Georg Sim-
Tests. Sie probieren etwas aus und sie verstehen sich mels Begriff der Konkurrenz auf den Punkt gebracht
als Anregung für weitere Forschung. Die Wirkung (Simmel 1983): Man konkurriert miteinander um
der von den Aufsätzen dieses Buches unternomme- die ›Gunst‹ eines Dritten, sei dieser nun der Kunde,
nen Tests beschränkt sich bislang auf einen kleinen der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer, der Investor oder
Kreis von Rezipienten, die je nach eigenen Schwer- der Spekulant. Die Wirtschaftssoziologie war und ist
punkten ihrer Forschung unterschiedliche Aspekte sich deshalb nie sicher, ob sie angesichts der Konkur-
der Aufsätze dieses Buches aufgenommen haben renz die zerstörerischen oder angesichts des Werbens
(Krauth 1984; Hahn 1987; Baecker 1988; 2008; Hut- um die Gunst eines Dritten die zivilisierenden
ter 1989; 1999; Ganßmann 1996; Berger 1999; Wie- Aspekte wirtschaftlichen Handelns hervorheben soll
land 1991; Pahl 2008; Hilliard 2010; vgl. Kaube (Schumpeter 1987, 134 ff.; Polanyi 1978; Hirschman
2000). Umso wichtiger ist es, hier noch einmal fest- 1982). Beides spielt eine Rolle und entscheidend ist,
zuhalten, worum es ging. dass die Konkurrenz kein direkter Kampf ist, sondern
dem Wettbewerber physisch unbehelligt die Chance
der Neuorientierung lässt. Umso interessanter wird
deshalb die Frage nach den strukturellen Einschrän-
Interaktionsfreies soziales Handeln?
kungen dieser Chance durch Ungleichheit, Herr-
Die Aufsätze testen erstens die Brauchbarkeit des Au- schaft und Korruption.
topoiesis-Begriffs und der Kybernetik zweiter Ord- Max Weber hat ein wirtschaftendes Handeln als
nung für eine soziologische Theorie der Wirtschaft »friedliche Ausübung von Verfügungsgewalt« defi-
(WirtG, 13 ff., 43 ff. u. 91 ff.). In Frage stand, ob die niert und damit die Ambivalenz einer Gewalt über
Ideen der operationalen Schließung und der Beob- Sachen und Menschen, die friedlich auftritt, indem
achtung zweiter Ordnung (Maturana/Varela 1980; sie Verzicht und Verfügung in den Dienst von Ge-
Foerster 1993) geeignet sind, einer Wirtschaftssozio- winn und Vermögen stellt, präzise zum Ausdruck ge-
logie auf die Beine zu helfen, die damals den Boom bracht (Weber 1990, 31; Weber 1991, 1 f.; vgl. Baecker
der sogenannten ›neuen Wirtschaftssoziologie‹ noch 2007). So wie dem Wirtschaftspartner die Wahl ge-
vor sich hatte (Swedberg 1993; Smelser/Swedberg lassen wird und so wie sich das Wirtschaftssubjekt
2005), während sowohl die Ansätze der Klassiker auch selber die Wahl lässt, ob man auf die Gewalt
(Durkheim 1988; Tarde 1902; Simmel 1989; Weber oder die Friedlichkeit des Verzichts zurechnet, so ist
220 Werke und Werkgruppen

sich auch der Wirtschaftssoziologe unsicher, ob und Hintergrund von Modellen positiver Abweichungs-
wie die Beschreibung des Sachverhalts ohne ihre verstärkung mit der Wahrscheinlichkeit unwahr-
Wertung möglich ist. Dass und wie die Autopoiesis scheinlicher (extremer) Entwicklungen rechnen
der Wirtschaft im Kontext der Beobachtung zweiter (Sornette 2003). Ob dies die Chancen eines Austau-
Ordnung zu Strukturen führt, die gesellschaftlich so sches ökonomischer und soziologischer Theorien er-
erwünscht (›Wohlfahrt‹) wie umstritten sind (›Aus- höht, ist unsicher. Zu groß ist die Versuchung, sich
beutung‹), ist daher ein Thema, das sich durch alle darauf zu beschränken, den neuen Datenreichtum,
Kapitel von Luhmanns Buch zieht, zumal jede Sozio- den die von Rechnern gestützte und protokollierte
logie in der immer mitlaufenden Auseinanderset- Kommunikation bereitstellt, mit den Möglichkeiten
zung mit Auguste Comtes Fortschrittsdiagnose, Karl statistischer Methoden zu analysieren, und zu groß
Marx’ Kapitalismusanalyse und Friedrich August die Ungeduld, sich auf weitere hermeneutische Spe-
von Hayeks Liberalismus ausgerechnet auf dem Feld kulationen in der Tradition der europäischen Sozio-
der Wirtschaftssoziologie herausfinden muss, ob logie einzulassen.
und wie eine ideologiefreie Analyse des Phänomens
möglich ist (Baecker 2006).
Lob der Knappheit

Kritik am Gleichgewicht Drittens testen die in Die Wirtschaft der Gesellschaft


gesammelten Aufsätze einen wissenssoziologischen
Die Aufsätze des Buches Die Wirtschaft der Gesell- Zugang zur Wirtschaftstheorie, der Luhmann in die-
schaft überprüfen zweitens die Möglichkeit, der da- ser Zeit auch in anderen Arbeiten zur Umstellung
mals aktuellen ökonomischen Theorie ein soziologi- von Struktur und Semantik der Gesellschaft in der
sches Gesprächsangebot zu machen. Ausgangspunkt frühen und späteren Neuzeit sehr beschäftigte. In
hierfür war nicht zuletzt die Kritik innerhalb der diesen Zusammenhang gehören insbesondere die
ökonomischen Theorie an einem allzu unrealisti- Arbeiten zur Struktur und Semantik von Kapital und
schen Gleichgewichtsbegriff, der die Chancen einer Arbeit, Knappheit und Geld. Hier geht es darum,
empirischen Erforschung von Märkten unterschätzt, auch und gerade die unbezweifelbarsten Fakten wirt-
weil er kein Interesse an einer Untersuchung der Be- schaftlichen Handelns als das Ergebnis und die
dingungen der Entstehung und Erhaltung von Un- Struktur einer gesellschaftlich ausgehandelten Ori-
gleichgewichten und damit keinen Blick für die entierung in der Welt und ihrer Wirklichkeit zu un-
Qualität gesellschaftlich bedingter Störungen und tersuchen.
für die Möglichkeit struktureller Trägheitsmotive Knappheit ist in diesem Sinne eine soziale Kon-
(Macht, Organisation, Ungleichheit, Politik) hat struktion, wie man spätestens dann erkennt, wenn
(Kornai 1971). Nicht auszuschließen war, dass die man die Spielräume untersucht, die jede Gesellschaft
Mathematik nichtlinearer Gleichungen und dynami- hat und ausnutzt, das eine für knapp und das andere
scher Systeme, die in diesen Jahren in der naturwis- für im Überfluss vorhanden zu halten (WirtG,
senschaftlichen Selbstorganisationsforschung ent- 177 ff.). Hierbei geht es Luhmann nicht nur darum,
stand (Prigogine 1976; Prigogine/Stengers 1979; die auch von Ökonomen vertretene anthropologi-
Prigogine/Allen 1982), auch in der Ökonomie auf In- sche Prämisse aufzulösen, der gemäß Knappheit für
teresse stieß und in diesem Fall einen Schnittpunkt einen Natursachverhalt und der wirtschaftende Um-
soziologischer und ökonomischer Theoriearbeit hät- gang mit ihr für eine Frage der Notwendigkeit gehal-
te bilden können. Tatsächlich blieb das Interesse in- ten wird. Mindestens so wichtig ist die Betonung der
nerhalb der ökonomischen Theorie an einer Kritik selektiven Konstruktion von Knappheit. Luhmann
der Gleichgewichtsmodelle jedoch lange Zeit margi- hat Wert darauf gelegt, eine ›Kommerzialisierung‹
nal und gegenüber der soziologischen Theorie im des Zugangs zu Dingen und Leistungen nicht nur zu
Allgemeinen und der Theorie sozialer Systeme im beklagen, wie es die Kritische Theorie im Rahmen ih-
Besonderen berührungsfrei (Mirowski 1989a, rer Kapitalismusanalyse tat, sondern diese immer
1989b). auch als pflegenden, weil wirtschaftenden Umgang
Erst in jüngerer Zeit erneuert sich im Zuge einer mit diesen Dingen und Leistungen zu würdigen. Da-
Kritik an der Unterstellung Gaußscher Normalver- bei leugnet er jedoch nicht, dass diese ›Kommerziali-
teilungen in ökonometrischen Modellen ein Inter- sierung‹ externe, nicht in ihren Preisen zum Aus-
esse an Ungleichgewichtsmodellen, die vor dem druck kommende Effekte in Kauf nimmt. Die
Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988) 221

Soziologie muss schon deshalb laufend in der Lage nikation ebenso wie die Möglichkeit der konfliktuel-
sein, zur sozialen Konstruktion von Knappheit Stel- len Zuspitzung möglicher Gegensätze (›Widersprü-
lung zu nehmen, damit sie sehen kann, dass die öko- che‹) durch die Semantik von Arbeit und Kapital zu
logische Debatte um solche positiven und negativen untersuchen und dabei nicht aus den Augen zu ver-
externen Effekte in einem Spannungsfeld steht: Auf lieren, dass es in der Wirtschaft der Gesellschaft im-
der einen Seite findet eine Vermarktung statt, die mer auch darum geht, politische Ansatzpunkte für
Preise setzt und Werte findet, auf der anderen Seite die Besteuerung von Handlung und Kommunikation
gibt es marktmächtige Unternehmensorganisatio- zu finden. Seine jahrelange Auseinandersetzung mit
nen, die möglicherweise monopolisieren, ausbeuten den marxistisch geprägten Kollegen an der Fakultät
und Dritte exkludieren. für Soziologie der Universität Bielefeld brachte Luh-
Auch das Geld muss gerade dann, wenn sowohl mann im März 1989 anlässlich einer von der Fakultät
symbolische als auch diabolische, sowohl Beziehun- ausgerichteten Feier zur Verabschiedung von Claus
gen stiftende als auch Beziehungen zerstörende Wir- Offe und Johannes Berger auf den Punkt, indem er zu
kungen an ihm auffallen, strukturell und semantisch bedenken gab, dass das Grundprogramm des Kapita-
mit dem Rest der Gesellschaft abgestimmt werden lismus nicht bei Marx zu finden sei, sondern »neo-
(WirtG, 230 ff.). Die Wissenssoziologie Luhmanns goethisch und postfaustisch« formuliert werden
fragt, wie dies gelingt. Mit welchen Argumenten wird müsse: »Wer immer strebend sich bemüht, den kön-
die Einführung und Verwendung von Geld gefördert, nen wir besteuern.«
mit welchen Argumenten kritisiert? Auf welche ge-
sellschaftlichen Strukturen lassen diese Argumente
schließen und welche evolutionäre Entwicklung set- Ein Unternehmen ist noch keine Wirtschaft
zen diese Argumente frei? Wie, auf welchen Märkten
und mithilfe welcher Organisationen gelingt die Be- Viertens testen die hier versammelten Aufsätze die
preisung von Gütern, Leistungen, Arbeit und Kapi- Möglichkeiten der Theorie sozialer Systeme, die Dif-
tal? Warum und für wen ist das eine käuflich, das ferenz von Unternehmensorganisation und Funkti-
andere nicht? Man weiß, dass Luhmann besonderen onssystem Wirtschaft ernster zu nehmen, als dies
Wert darauf gelegt hat, zu unterstreichen, dass die üblicherweise sowohl in der betriebswirtschaftlichen
Durchsetzung und Entfaltung der Geldwirtschaft als auch in der volkswirtschaftlichen Theorie der Fall
in der Gesellschaft nur möglich war, weil und nach- ist (WirtG, 272 ff. u. 302 ff.). Organisation und Funk-
dem in der Gesellschaft durchgesetzt werden konnte, tionssystem werden als zwei unterschiedliche opera-
dass Seelenheil (›Reformation‹), politische Ämter tional geschlossene Systeme verstanden, die ›ortho-
(›Kampf gegen Korruption‹) und Liebe (›Passion‹) gonal‹ zueinander stehen, d. h. in ihrer Logik nicht
nicht käuflich sind (194 f.), auch wenn man dann in aufeinander, geschweige denn auf ›die Wirtschaft‹,
Kauf nehmen musste, dass das moderne Individuum wie man umgangssprachlich gerne sagt, reduziert
es mit seinem eigenen Gewissen zu tun bekam, ein werden können. Umso interessanter wird die Unter-
bürokratischer Apparat von auf Lebenszeit angestell- suchung des Beitrags von Organisationen zum Wirt-
ten Beamten entstand, der von einem steuerfinan- schaftssystem (Entscheidungen) und der Wirtschaft
zierten Staat bezahlt wurde, und die Liebe unwägbar zur Unternehmensorganisation (Knappheit). Die
wurde. Komplexität der untersuchten Phänomene steigt
Erst recht ist es interessant, sich wissenssoziolo- durch die Berücksichtigung der Differenz Organisa-
gisch mit Kapital und Arbeit zu befassen, wird doch tion/Funktionssystem sprunghaft; und sie steigt ein
unter diesen beiden Termini und ihrer Differenz spä- weiteres Mal, wenn zusätzlich zu dieser Differenz
testens seit den Physiokraten und den Frühsozialis- auch mit der Unterscheidung von Programmierung
ten die Frage gesellschaftlich verhandelt, wer sich mit und Codierung gearbeitet wird, von der Luhmann
welchen Chancen an der Wirtschaft beteiligen kann, auch andernorts gezeigt hat, dass sie ältere Annah-
wieviel Zurichtung der individuellen Verfügbarkeit men eines Herrschaftsapparats oder auch eines in-
zumutbar ist (Zeit, Kompetenz und Kooperation) dustriellen Komplexes ersetzen kann und für die
und welche Möglichkeiten der Ansammlung und Si- empirische Forschung ergiebig ist (ÖK, 89 ff. u.
cherstellung des eigenen Vermögens akzeptabel sind 101 ff.; BdM, 11 ff.).
(Sachkapital, Geldkapital, Sozialkapital, Humanka-
pital) (WirtG, 177 ff.). Luhmann ist daran interes-
siert, die Mobilisierung von Handlung und Kommu-
222 Werke und Werkgruppen

Kontrolle von Instabilität durch Instabilität bilität überführt werden kann, so als käme es darauf
an, die Wirtschaft von außen unter Kontrolle zu be-
Trotz der unterschiedlichen Zielsetzungen und kommen, sondern auf der Frage, wie diese Instabili-
Adressaten dieser Tests schält sich in den Aufsätzen tät intern derart garantiert werden kann, dass sie in
dieses Buches ein Grundgedanke heraus, dessen Aus- der Lage ist, sich selbst zu kontrollieren. Deshalb
arbeitung und Variation es schließlich doch rechtfer- führt Luhmann die beiden Konzepte einer Autopoie-
tigt, von einer Monographie zu sprechen. Dieser sis der Wirtschaft und einer Beobachtung zweiter
Grundgedanke lautet: Kontrolle von Instabilität Ordnung in die Wirtschaftstheorie ein. Das Konzept
durch Instabilität (WirtG, 25). Preise sind nach oben der Autopoiesis erlaubt es, eine auf oszillierende
und unten beweglich, für jeden Moment jedoch fix. Fremdreferenzen angewiesene Selbstreferenz von
Sie markieren die Zustände des Systems, indem sie Zahlungen im Kontext von Nicht-Zahlungen zu be-
Fremdreferenzen auf Güter, Dienstleistungen und schreiben, die das System hellwach im Umgang mit
Wertpapiere enthalten, die im Moment als solche sich selbst und blind für all das macht, was nicht Ge-
käuflich zu erwerben sind, und indem sie selbstrefe- genstand dieser Fremdreferenz ist. Und das Konzept
rentiell auf Zahlungen verweisen, die im System im der Beobachtung zweiter Ordnung erlaubt es, eine
Zuge des Erwerbs dieser Güter, Dienstleistungen und nicht nur verteilte, sondern hochgradig alerte und
Wertpapiere entweder bereits bezahlt oder von be- prinzipiell inklusive Intelligenz zu beschreiben, die
stimmten Wirtschaftssubjekten erwartet werden. Im Produzenten, Konsumenten und Investoren mit di-
Medium dieser beweglichen Preise fertigt das Wirt- vergenten Interessen, heterogenen Zeithorizonten
schaftssystem laufend seine eigene Selbstbeschrei- und individuellen Kulturen dennoch aufeinander
bung an, die mit einem hohen Maß an Unruhe bezieht, miteinander vernetzt und untereinander
(Elastizität, Flexibilität und Volatilität) dennoch und austauschbar macht.
gerade deshalb hochgradig verlässlich ist, weil die Maßgebend für diese Beschreibung der Rolle von
Preise laufend untereinander verglichen werden. So- Instabilitäten ist demnach nicht nur die Untersu-
mit kann jederzeit kalkuliert werden, welche Ent- chung der Frage, wie diese Instabilitäten sozial einge-
scheidung sich im Kontext welcher Erwartungen richtet werden, sondern auch die Untersuchung
lohnt. Allerdings setzt dieses Kalkül Wirtschaftssub- dessen, was hier ›Kontrolle‹ heißt. Mit diesem kyber-
jekte voraus, die ihre selektive Perspektive nutzen, netischen Terminus wird nicht auf ›Herrschaft‹, son-
um Entscheidungen zu treffen, die im Medium der dern auf Selbstorganisation und zirkuläre Kontrolle
Beobachtung zweiter Ordnung für weitere Wirt- abgestellt (Ashby 1958). Das bedeutet für jeden Teil-
schaftssubjekte zu Anhaltspunkten für ihre Entschei- nehmer an der Wirtschaft, für produzierende Unter-
dungen werden. Eine instabile Wirtschaft kontrol- nehmen, in ihre Haushalte (›Familien‹) eingebunde-
liert instabile Organisationen – und umgekehrt. Das ne Konsumenten und Arbeitskräfte, spekulierende
ist die minimale Komplexität dessen, was wir Wirt- Investoren, kreditgebende Banken und besteuernde
schaft nennen. Die Ausformulierung dieses Theo- Staaten, dass sie letztlich nur ihre eigenen Bücher ha-
rems zur Beschreibung des Verhältnisses von Ent- ben, um zu überprüfen und sicherzustellen, ob und
scheidungen im Medium von Stellen und Zahlungen wie sie mit der Komplexität der Wirtschaft zurande
im Medium von Geld gehört zu jenen Kabinettstück- kommen.
chen der Arbeit Luhmanns (WirtG, 302 ff.), die nach Soziologen sind damit nicht aus der Verantwor-
wie vor auf ihre Fortsetzung in der soziologischen tung entlassen, in ihren eigenen Büchern (Texten
Forschung warten. und Statistiken) zu überprüfen, mit welchen struktu-
Instabile Preise werden innerhalb des Wirtschafts- rellen Trägheiten die Autopoiesis der Wirtschaft und
systems über instabile Erwartungen kontrolliert, au- das Spiel der Beobachtung zweiter Ordnung in kon-
ßerhalb des Systems über instabile Entscheidungen kreten historischen Situationen pfadabhängig jeweils
organisierter Systeme (›Unternehmen‹) sowie über belastet ist. Verlass ist jedoch nur auf die Komplexität
einen instabilen politischen, rechtlichen, technischen selber, das heißt auf die Empfindlichkeit jedes einzel-
und kulturellen Rahmen. Dabei wachsen ökologi- nen Preises für die Bewegung der anderen Preise. So
sche Rücksichten in dem Maße, in dem sie die Ge- durchschaubar damit zumindest für den System-
schäftsaussichten von Produzenten, Konsumenten theoretiker die Mechanismen, Institutionen und
und Investoren beeinflussen. Entscheidend an die- Formen der Wirtschaft werden, so undurchschaubar
sem Grundgedanken Luhmanns ist, dass der Akzent ist die von diesen generierte Komplexität und so un-
nicht mehr auf der Frage liegt, wie Instabilität in Sta- prognostizierbar nicht zuletzt wegen ihrer histori-
Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988) 223

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224 Werke und Werkgruppen

17.2 Die Wissenschaft der Gesellschaft Die Antwort auf diese Frage offenbart sich bei
(1990) Luhmann auch für die Wissenschaft durch die In-
struktion ›Beobachte den Beobachter‹, was wieder-
Innerhalb Luhmanns Gesamtwerk nimmt Die Wis- um für das System der Wissenschaft bedeutet zu
senschaft der Gesellschaft (WissG) eine Schlüsselposi- untersuchen, »wie sich aufgrund der Beobachtung
tion ein, da hier die Frage der soziologischen von Beobachtungen Systeme bilden« (WissG, 499).
Systemtheorie als Wissenschaft selbst verhandelt Als wesentliche Neuerung gegenüber den klassi-
wird. Sie gehört neben der Gesellschaft der Gesell- schen Erkenntnistheorien werden damit zirkuläre
schaft (1997) und den Sozialen Systemen (1984) zu Begründungsverhältnisse zugelassen. Im Sinne einer
den meistzitierten Werken Luhmanns. In ihrer Aus- »naturalisierte[n] Epistemologie« (14) wird jetzt er-
arbeitung zeigt sich eine besondere begriffliche Sorg- laubt, dass sich Annahmen über die Erkenntnisvo-
falt und Genauigkeit, die allerdings in den mit 720 raussetzungen durch die empirische Forschung
Seiten recht umfangreichen Ausführungen nur zum beeinflussen lassen. Die Prinzipien und Vorausset-
Preis von Redundanzen zu haben ist. zungen der Forschung werden dann durch die soziale
Die Wissenschaft der Gesellschaft behandelt die Praxis der Forschung konditioniert. Luhmann voll-
Frage, wie die Wissenschaft im Allgemeinen und die zieht hiermit eine radikale Transformation von phi-
soziologische Systemtheorie im Besonderen als ein losophisch begründeter Wissens- und Wissen-
autologisches Theorieprojekt funktionieren kann, schaftstheorie zu einer Soziologie der Wissenskom-
das als Gegenstand in sich selber vorkommt. Sie erör- munikation und beansprucht damit, die gesamte
tert darüber hinaus, was die hiermit eröffneten Refle- Tradition von der Antike über die Neuzeit bis zur Ge-
xionsverhältnisse für die gegenwärtige Gesellschaft genwart hinter sich zu lassen.
bedeuten. Der vorliegende Beitrag folgt den einzelnen Kapi-
Weil sie auf Selbstreferenz basiert, steht Luhmanns teln der Wissenschaft der Gesellschaft.
Wissenschaft der Gesellschaft vor der paradoxen Auf-
gabe, die Wissenschaft im Bodenlosen zu gründen,
aber eben gleichzeitig so, dass es weiterhin um Wahr- »Bewusstsein und Kommunikation«
heit geht. Theorien und Methoden, gebaut auf einer
sich vom Alltagswissen abhebenden Begriffsbildung, Das erste Kapitel behandelt zunächst die Frage der
bleiben dabei konstitutiv für die Wissenschaft. Sich Systemreferenz wissenschaftlichen Wissens. Entge-
damit deutlich von einem »anything goes« Feyer- gen dem Common Sense, dass es der Wissenschaftler
abends (1983) abgrenzend, ist hier in Bezug auf die sei, der etwas weiß, rechnet Luhmann wissenschaft-
Selbstidentifizierung der Wissenschaft zwar die liches Wissen – wie schon Popper (1972) – konse-
Strenge Poppers einzufordern. Doch im Rahmen ei- quent der Gesellschaft zu: Ein Forscher mag etwas für
ner konstruktivistischen Epistemologie kann dies wahr halten und die Evidenzen für offensichtlich se-
nicht mehr als allgemeingültige »Logik der For- hen, solange dies jedoch nicht in Kommunikation
schung« (Popper 1972) stattfinden, denn spätestens einfließt und dort validiert wird, erscheint es nicht als
mit Gödel hat sich gezeigt, dass der Versuch eines for- wissenschaftliches Wissen.
mallogischen Systems, sich selbst zu beweisen, Umgekehrt lässt sich erst auf diesem Wege die Rol-
grundsätzlich zu Widersprüchen führen muss (Hof- le bewusstseinsfähiger Akteure würdigen. Nur sie
stadter 1979). Die Logik zeigt sich sozusagen selbst können wahrnehmend in Resonanzbeziehungen zur
als unlogisch und kann entsprechend als Fundie- Umwelt treten. Kommunikation kann demgegen-
rungsprinzip für die Wissenschaft nicht mehr in Fra- über nur auf der Basis sinnhafter Anschlüsse operie-
ge kommen. ren. Sie kann weder sehen und hören noch fühlen
Da aber nun die Wissenschaft offensichtlich auch oder schmecken und ist deshalb auf die strukturelle
ohne den Nachweis einer logischen Konsistenz empi- Kopplung mit entsprechend konditionierten psy-
risch erfolgreich ist, kehrt sich für Luhmann die Fra- chischen Systemen angewiesen (die sich wiederum
ge ihrer Begründung um: Wie schafft es Wissen- durch entsprechende Sinnangebote wissenschaftli-
schaft, ihre Gegenstände und Wahrheiten – sowie cher Kommunikation anregen lassen).
Antworten auf die Frage nach ihren eigenen Erkennt- Der Schritt, Bewusstsein und Kommunikation als
nismöglichkeiten – zu generieren, auch wenn diese operativ getrennte Prozesse zu betrachten, eröffnet
nicht mehr transzendental und logisch begründbar in Hinblick auf die Frage, wie Wissenschaft arbeitet,
sind? eine Reihe von Perspektiven:
Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990) 225

• Man kann sich von der empirisch unbefriedigen- • Die Einheit einer Beobachtung, also das, was sie
den Annahme lösen, dass Wissenschaft vor allem gleichzeitig ein- und ausschließt, ist ihr blinder
auf intersubjektiv geteiltem Wissen bzw. auf Kon- Fleck. Sie lässt sich nicht beobachten, sondern nur
sens beruht. durch eine weitere Beobachtung bezeichnen, die
• Da Kommunikation die Welt nicht mitteilt, son- dann jedoch wiederum ihre eigene Selektivität
dern nur »in das« einteilt, was sie »mitteilt und was nicht in den Blick nehmen kann.
sie nicht mitteilt« (WissG, 27), ergibt sich über das • Beobachtungen zweiter Ordnung beobachten Be-
Primat der Kommunikation ein scharfer Blick auf obachter in Hinblick auf die Selektivität und die
die Selektivitäten und Paradigmenabhängigkeit Kontingenz ihrer Operationen. Sie führen damit
von Wissenschaft. ein Moment der Ungewissheit in die Welt ein. In
• Nicht zuletzt deutet sich an, dass in der Wissen- diesem Sinne kommt wissenschaftliches Beobach-
schaftssoziologie Kausalerklärungen nur begrenzt ten konstitutionell mit »selbsterzeugter Unsicher-
tragfähig sind, da strukturelle Kopplungen von heit« in Kontakt (103). Die Operationen eines
Umwelt/Bewusstsein/Kommunikation auf den Beobachters zweiter Ordnung erzeugen Ungewiss-
operativen Eigenlogiken der jeweils beteiligten heiten, die dann systemintern zirkulieren und ent-
Systeme beruhen, nicht aber auf dem Durchgriff sprechend bearbeitet werden müssen.
von Wirkbeziehungen. • Identitäten beruhen darauf, dass Abweichungen
und Verschiedenheiten abstrahierend eingeebnet
werden und über den doppelseitigen Prozess des
»Beobachten« ›Kondensierens‹ und ›Konfirmierens‹ in sich selbst
bestätigende Eigenwerte überführt werden (Se-
Das zweite Kapitel behandelt die Frage nach den ope- mantiken erscheinen nun als fixierte Beschreibun-
rativen Bedingungen des Beobachtens. Zunächst gen, die für wiederholte Anwendung bewahrt
stellt Luhmann fest, dass sich die ›Welt‹ nicht von au- werden).
ßen, sondern nur innerhalb ihrer selbst beobachten • Die Externalisierung von (wissenschaftlichen)
lässt – und zwar auf Basis physischer, physiologi- Objekten stellt zwar eine Konstruktion des beob-
scher, psychischer oder sozialer Prozesse. Das gene- achtenden Systems dar, kann aber von diesem im
ralisierende Modell für Beobachten stellt für Luh- operativen Gebrauch nicht als solche durchschaut
mann der Formkalkül von Spencer-Brown dar. werden.
Beobachten wird dort definiert als eine Einheit von
Bezeichnen und Unterscheiden, die durch ihren ope-
rativen Betrieb etwas markiert (und damit sichtbar »Wissen«
macht), aber nur indem sie eine Unterscheidung ein-
führt, die ihre jeweils eigene Selektivität (und das, Das dritte Kapitel fragt nach der Besonderheit wis-
was ausgeschlossen wird) zugleich verdeckt. senschaftlichen Wissens bzw. operativ gewendet da-
Beobachten erscheint damit als eine kontingente nach, wie Wissen zu wissenschaftlichem Wissen
und empirisch konditionierte Operation. Mit Blick wird.
auf die Systemreferenz ›Kommunikation‹ heißt dies, Die Herausbildung eines reflexiven Erkenntnis-
dass Wissen im Allgemeinen und wissenschaftliches stils, der deskriptiv vorgeht und entsprechend mora-
Wissen im Besonderen vor allem eine »soziale Tatsa- lisch indifferent beobachtet, stellt einen evolutionär
che« darstellt (68). Dies gilt selbstredend auch für die recht unwahrscheinlichen Vorgang dar, der zudem
»Logik und Mathematik«, die dann entsprechend als auch noch die »kommunikative Neutralisierung des
»Kondensate und Regulative sozialer Operationen« Eigenbeitrags psychischer Systeme« verlangt (143).
zu betrachten sind, »insofern es nur gelingt, den Be- Anders als das Alltagswissen, das sich auf bereits Be-
obachter als zeitbeständiges selbstreferentielles Sys- währtes kapriziert (und damit Sicherheiten schafft),
tem zu etablieren« (75). kultiviert das wissenschaftliche Wissen eine Sensiti-
Die Einführung des Beobachters bringt u. a. fol- vität für das Neue und Unwahrscheinliche. Dies setzt
gende Konsequenzen mit sich: einen bestimmten, zunächst recht unwahrschein-
• Der Beobachter kann sehen, dass ein Ereignis lichen Erwartungsstil voraus, nämlich einen hoch-
mehreren Systemen angehört und daher unter- selektiven Umgang mit Enttäuschungen. Luhmann
schiedliche, sich auch widersprechende Anschlüs- vermutet, dass sich die Erwartungsstile des Rechts
se zur Folge haben kann. und der Wissenschaft in gemeinsamer Koevolution
226 Werke und Werkgruppen

gegenüber den pragmatischen und situativ flexiblen anschlussfähig zu machen. Als kommunikativ gene-
Umgangsweisen des Alltags ausdifferenziert haben. rierter Wert kann Wahrheit keine außerhalb des Sys-
Entgegen dem normativen Erwartungsstil des tems existierenden Objekte repräsentieren. Sie kann
Rechts, der auch kontrafaktisch seine Normen auf- nur interne Anschlussmöglichkeiten und -potentiale
recht erhält, kultiviert Wissenschaft die Bereitschaft, organisieren, wie insbesondere am Paradigma der
kognitive Einstellungen gegenüber dem Gegenstand Mathematik deutlich wird. Mathematik ist »gerade
bzw. der Gegenstandskonstitution zu verändern. weil sie auf Übereinstimmung mit der Außenwelt
Wissenschaftliches Wissen beruht auf einer theo- und auch auf entsprechende Illusionen verzichtet, in
retisch koordinierten Begriffsbildung, die anders als der Lage, Anschlußfähigkeit zu organisieren« (201).
die Wörter der Alltagsprache nicht mehr auf den ak- Was Wahrheit ist, erschließt sich rein operativ, in-
tuellen Kontext der Kommunikation angewiesen ist. dem beobachtet wird, wie Beobachter mit der Unter-
Auf diesem Wege werden übergreifende Abstrakti- scheidung wahr/unwahr umgehen, um auf diese
onsleistungen und vom Common Sense abweichen- Weise im Wissen neue Rekombinationsmöglichkei-
de konzeptionelle Rekombinationen möglich. ten auszuprobieren. Der Umgang mit dieser Unter-
Eine wesentliche Rolle spielt hierfür die Entwick- scheidung kann entsprechend auch nicht mehr
lung von Schrift und Buchdruck. Erst das geschrie- durch Prinzipien oder allgemeingültige Kriterien be-
bene Wort erlaubt die Ablösung von den interaktiven gründet werden, sondern bedarf einer theoretischen
Zusammenhängen des rein mündlichen Sprachge- Fundierung, die jedoch ihrerseits als geschichtsab-
brauchs und eröffnet für das kommunikative Ge- hängig und damit kontingent beobachtet werden
dächtnis eine andere Selektions- und Zeitdynamik. kann. Der Erfolg der modernen Wissenschaften und
Diese kann sich die Wissenschaft zunutze machen, ihrer technischen Anwendungen kann entsprechend
indem sie Texte so aufbereitet, dass sie im »rechten nicht darauf beruhen, dass Natur oder Welt ›erkannt‹
Moment als Wissen fungieren können« (158). wird. Vielmehr ist er das Ergebnis von immer kom-
Die Möglichkeit wissenschaftlichen Wissens be- plexeren und raffinierteren Verknüpfungen und Re-
ruht somit in hohem Maße auf Eigenleistungen der lationierungen von Sinnformen und der Tatsache,
Gesellschaft, die diese im Rahmen ihrer Evolution dass die Welt die hieraus gezogenen Konsequenzen
erst hervorbringt (164 f.). Sie beruht auf hochspezifi- toleriert. »Nicht die Technik wird isomorph zur Na-
schen Kopplungen zwischen Bewusstsein, Gehirnen tur konstruiert, sondern die Natur in dem jeweils re-
und Außenwelt, auf deren Basis dann erst Wissen- levanten Kombinationsraum isomorph zu dem, was
schaft als eigener systemischer Zusammenhang man technisch ausprobieren kann« (263).
emergieren kann.

»Wissenschaft als System«


»Wahrheit«
In Kapitel 5 wird die Beschreibung von Wissenschaft
Kapitel 4 behandelt die für die Wissenschaft konsti- als ein operativ geschlossener systemischer Zusam-
tutive Unterscheidung von wahr/unwahr. Wir treffen menhang weiterentwickelt. Dieser kann Luhmann
hier auf eine Binarisierung der Welt, die erst mit der zufolge nur Zustände annehmen, die seiner eigenen
Möglichkeit der Sprache entsteht, Sinnangebote in Struktur entsprechen. Nur aufgrund seiner eigenen
Beobachtungen zweiter Ordnung mit einem ›Nein‹ internen Komplexität kann – durch Bewusstseinszu-
auszuzeichnen. In der Welt außerhalb der Sprache stände vermittelt – eine Resonanz zu bestimmten
gibt es demgegenüber keine Negation, sondern nur Aspekten der Umwelt hergestellt werden.
operative Vollzüge, die als Positivität eben deshalb Für das Verständnis von Wissenschaft bringt dies
sind, weil sie sind. Wahrheit gehört damit zur Sys- eine Reihe von Konsequenzen mit sich:
temreferenz ›Kommunikation‹ und kann aufgrund • Wissenschaft bildet weder Welt ab, noch korre-
ihres fehlenden Umweltkontaktes nicht aus sich spondieren ihre Modelle mit den Strukturen der
selbst heraus rational sein. Sie ist entsprechend auch Wirklichkeit.
nicht »durch Hinweis auf eine Quelle (etwa: Ver- • Kausalität hat nur noch aus einer systemrelativen
nunft) validierbar« (173). Wahrheit stellt vielmehr Perspektive Sinn, repräsentiert also keine Naturge-
ein symbolisches Medium dar, mit dem Wissen setze.
durch eine Operation im System ausgezeichnet wer- • Wissenschaft steigert durch ihre Ausdifferenzie-
den kann, um es für weitere Operationen im System rung mehr Unsicherheiten als Sicherheiten. Sie er-
Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990) 227

zeugt eine Reflexionskomplexität, die das Alltags- »keine Kriterien ihrer richtigen Zuteilung« beinhal-
handeln überfordert, und kann entsprechend nur ten (401) und andererseits Wissenschaft nicht Welt-
fern von »Alltagsrelevanz« operieren (325). ausschnitte oder Fragestellungen dogmatisch redu-
• Ausdifferenzierte Wissenschaft ist reflexiv, d. h. sie zieren kann (alles muss prinzipiell fraglich bzw.
ist in der Lage, die Angemessenheit ihres theoreti- befragbar bleiben), kann das System sich nur unter
schen und methodischen Zugangs (und hiermit der Voraussetzung programmieren, dass die ange-
auch den Verdacht wissenschaftsfremder Interes- wendeten Programme zu einem späterem Zeitpunkt
sen) zum wissenschaftlichen Untersuchungsge- selbst wieder zur Disposition stehen können. Ermög-
genstand zu machen. licht wird dies vor allem durch die »Binarisierung der
• Wissenschaft ist in Hinblick auf ihre Gegenstände Programme« mit der »Unterscheidung von Theorien
immer unterkomplex. Sie kommt nicht umhin, und Methoden« (403). Hierdurch ergibt sich die Op-
zahlreiche ungeprüfte (also nicht durch den Wahr- tion, jeweils die eine oder die andere Seite konstant
heitscode ausgezeichnete) Voraussetzungen mit- bzw. variant setzen zu können. Man kann eine theo-
laufen zu lassen und muss zudem über den retische Festlegung durch eine bestimmte Methode
»Reputationscode« auf »Rollenfilter« zurückgrei- befragen, um dann gegebenenfalls die Theorie zu
fen, um zu organisieren, welche Informationen verändern, oder man ändert Methoden aus theorie-
man dem Übersehen und Vergessen überantwor- geleiteten Überlegungen. »Das System findet in jeder
tet (352). praktischen Situation Anhalt in Limitierungen und
fällt nie ins Leere« und ist aber »trotzdem nicht an
dogmatische Setzungen oder ein für allemal akzep-
»Richtige Reduktionen« tierte limitative Bedingungen gebunden« (403 f.).
Methoden verwalten gewissermaßen die Differenz
Kapitel 6 kreist um die Frage, wie sich Wissenschaft in zwischen Beobachtungen erster und zweiter Ord-
angemessener Form selbst konditioniert, d. h. den ei- nung, indem sie festlegen, was jeweils als Datum ver-
genen Betrieb in Anbetracht überfordernder Kom- gegenständlicht und wie die Beziehung zwischen den
plexität programmiert. Wissenschaft kann hier nicht (selbstgenerierten) Daten durch die Theorie beob-
anders vorgehen, als zu simplifizieren. Entsprechend achtet wird.
generiert sie eine eigene, vereinfachende Welt aus All dies bedeutet, dass es die eine »Logik der For-
»selbstgemachten Daten« und Gegenständen, in der schung« (Popper 1972) nicht geben kann. Jede vor-
sich in den »zahllosen kombinatorischen Möglich- stellbare Letztbegründung methodologischer Zu-
keiten nach Ergebnissen« und Beziehungen suchen gänge verfängt sich auch hier im Zirkulären, d. h. wir
lässt, von denen sich dann einige halten lassen und begegnen »grundlosen Gründen«, die nur durch das
andere eben nicht (370). Begründen begründet werden können (WissG, 391).
Dies reicht aber noch nicht aus, um Wissenschaft Dies heißt jedoch nicht, dass Wissenschaft belie-
zu ertragsreichen, aneinander anschließenden Pro- big verlaufen kann. Aus evolutionärer Perspektive
jekten zu bündeln. Um dies zu leisten, muss eine wird sich hier eine bestimmte Verzahnung von Re-
funktionale Beziehung gestiftet werden, also eine Li- dundanz- und Varianzorientierung herausgebildet
mitationalität erzeugt werden, wodurch Einschrän- haben, um der Wissenschaft ein hinreichendes Auf-
kungen, die sich aus einer Untersuchung oder einem lösungs- und Rekombinationsvermögen zu ermögli-
Experiment ergeben, auch den Variationsbereich von chen. Wissenschaft muss sich einerseits in die Lage
anderen Untersuchungen einschränken, so dass bringen, Zufälle und Irritationen hinreichend nutzen
nicht immer von vorne angefangen werden muss und zu können, anderseits kann Offenheit eben nur
man aus vergangenen Erfahrungen lernen kann. durch Geschlossenheit erreicht werden, indem durch
Wie Wahrheit lässt sich Limitationalität nicht Theorie- und Begriffsbildung hinreichende Sensibi-
durch ein höheres Prinzip begründen. Vielmehr wer- litäten im System als Strukturen aufgebaut werden,
den auch hier die Kriterien der Einschränkungsbe- um überhaupt interessante ›Entdeckungen‹ generie-
ziehungen durch den eigenen Betrieb erzeugt. ren zu können (467).
Limitationalität beruht auf der Entfaltung einer Pa-
radoxie, nämlich auf der »unbegründeten Begrün-
dung der Unterscheidung von unbegründet und
begründet« (396).
Da aber einerseits die Codewerte wahr/unwahr
228 Werke und Werkgruppen

»Reflexion« der Wissenschaft weiter in Unruhe und Bewegung zu


halten (538).
Kapitel 7 behandelt die Frage der Reflexion, also der
wissenschaftlichen Selbstbeobachtung der Wissen-
schaft. Da die wissenschaftliche Beobachtung nicht »Evolution«
außerhalb ihrer selbst stehen kann, handelt sich die
Reflexion zwangsläufig Paradoxien ein. Entspre- In Kapitel 8 wird die Wissenschaft unter dem Blick-
chend kann sie nur alogisch vonstattengehen und winkel ihrer Evolution rekonstruiert. Entsprechend
sich auch nicht auf letztbegründbare Kriterien beru- einem anspruchsvolleren Verständnis von Evolution
fen. Die Reflexionstheorien der Wissenschafts- und wird dabei davon ausgegangen, dass die Kombina-
Erkenntnistheorien sind dadurch an »die Form der tion der Schritte von Variation, Selektion und Stabi-
historischen Semantik gebunden« (471) und können lisierung zwar »Strukturveränderungen« erklären
ihrerseits in Hinblick auf die damit verbundenen kann, aber eben »nichts weiter« (557, vgl. auch GG,
Kontingenzen und Weichenstellungen problemati- Kap. 3). Evolution hat weder eine langfristige Ent-
siert werden. Daraus ergibt sich jedoch die Frage, wicklungsrichtung (etwa: Fortschritt zu immer bes-
»wie unter diesen Umständen die Einheit des Kom- serem Wissen) noch garantiert sie der Gesellschaft
munikationsmediums Wahrheit gewahrt bleiben oder den Menschen Überlebensfähigkeit im Sinne
kann« (502). einer höheren Anpassungsfähigkeit. Vielmehr gilt:
Luhmanns Vorschlag lautet auch hier wieder im »Die Evolutionstheorie leistet, wenn gut gemacht, ge-
Einklang mit den Ergebnissen Gödels, die »Parado- rade die Erklärung von Unprognostizierbarkeit«
xie« als »Letztformel« der Wissenschaft zu akzeptie- (WissG, 611).
ren (520). Die Alternativen beständen nur darin, Für das gesellschaftliche Funktionssystem Wis-
einen außerwissenschaftlichen Beobachtungsstand- senschaft ist die Variation in den einzelnen kommu-
ort einzunehmen, etwa aus Perspektive des New Age nikativen Ereignissen zu lokalisieren. Sie ist damit
zu argumentieren oder gar auf die Unterscheidung angewiesen auf – wie auch hochgradig sensitiv für –
zwischen wahrheitscodierten wissenschaftlichen Be- die strukturelle Kopplung mit dem Bewusstsein. Die
richten und mehr oder weniger gelungenen Storys evolutionäre Selektion ergibt sich dann dadurch, dass
gänzlich zu verzichten. Die wissenschaftliche Reflexi- innerhalb der wissenschaftlichen Kommunikation
on wird hier mit der Frage soziologisiert, »welche »dem alten oder neuen Wissen die Symbole wahr bzw.
Formen der Entparadoxierung angeboten werden unwahr attachiert werden« (578). Dies geschieht üb-
können mit Rücksicht darauf, daß und wie das Wis- licherweise in Form der Annahme von Zeitschriften-
senschaftssystem faktisch arbeitet« (520). oder Kongressbeiträgen. Die Stabilisierung von Wis-
Luhmann vermutet, dass in Zukunft durchaus sen ergibt sich schließlich, wenn die Befunde weiter-
eine allgemeine Theorie des Erkennens entstehen hin für wahr gehalten werden und das hiermit
könnte, die dann allerdings den Beobachter ins Zen- ausgezeichnete Wissen in eine Form des Erinnerns
trum ihrer Überlegungen rücken müsste. Möglich gebracht wird, die sein Vergessen inhibiert (etwa in
wäre dies etwa, indem die Quantentheorie als physi- Form von Lehrbüchern und kanonischen Texten).
kalische Theorie des Beobachters in ein solches Pro- Die Differenzierung zwischen Selektion und Sta-
jekt integriert würde. Die »Indeterminiertheit der bilisierung ermöglicht es, das Medium ›Wahrheit‹
Materie«, die es dann aber nur in Form der »Zustän- flüssiger zirkulieren zu lassen, da man nun mit
de eines Beobachters« geben könne, würde dann den »Wahrheit und Unwahrheit leichtfertig umgehen«
Ausgangspunkt legen, um den »Beobachter als phy- kann (585). Ergebnisse können auch dann publiziert
sikalisches Phänomen« beschreiben zu können werden, wenn nicht alle Bedenken ausgeräumt sind.
(505 f.). Methoden erlauben die Bewertung von Tatsachenzu-
Wissenschaftliche Reflexion ist aus dieser Perspek- sammenhängen mit wahr/unwahr auch, wenn die
tive selbstverständlich nicht mehr in der Lage, Ratio- theoretischen Konsequenzen noch nicht geklärt sind.
nalität zu garantieren und Wahrheiten und Metho- Andererseits wiederum kann die Variation nicht nur
den zu rechtfertigen. Ihre diesbezügliche Funktion mit Zufall arbeiten, muss also vorselektieren, was sie
könnte unter den gegebenen Voraussetzungen viel- der Selektion anbietet, und ebenso ist die Selektion
mehr nur noch darin liegen, »Invarianzvorgaben – darauf angewiesen, jene »inviolate levels« zu beach-
sei es als unbestreitbare Wahrheiten, sei es als Metho- ten (580), welche die Stabilität der Wissenschaft ge-
denrechtfertigungen –« zu kritisieren, um das System fährden würden (z. B. die wichtige Abgrenzung
Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990) 229

gegenüber den Pseudo- und Parawissenschaften). Sobald Wissenschaft beginnt, Erkenntnis als Kon-
Variation, Selektion und Stabilisierung sind zugleich struktion zu rekonstruieren, wird der Gesellschaft
temporal und kausal voneinander entkoppelt als zugleich deutlich gemacht, »was ihr geschehen ist
auch über antizipierbare Erwartungshorizonte mit- und weiterhin geschieht, wenn sie sich ein für Wis-
einander verschränkt. senschaft ausdifferenziertes Funktionssystem leistet«
(WissG, 701). Die Folgen – so Luhmanns verstörende
Schlussfolgerung – sind weder ethisch noch rational
»Wissenschaft und Gesellschaft« zu bewältigen.

Das neunte Kapitel befasst sich mit dem Verhältnis


von Wissenschaft zur Gesellschaft. Dies geschieht vor
dem Hintergrund, dass sich ihr Projekt gegenwärtig, »Die Modernität der Wissenschaft«
wie Luhmann argumentiert, nur noch durch eine Abschließend stellt Luhmann die Frage, wie unter
differenztheoretische Epistemologie gründen lässt. diesen Bedingungen eine zeitgemäße Wissenschaft
Da die Steigerung der Beobachtungsfähigkeit der aussehen kann. Man weiß nun, dass Unterscheidun-
Wissenschaft nolens volens mit einer Fragmentierung gen die Welt real zerlegen und dadurch Dinge sicht-
und Ausblendung von Weltkomplexität einhergeht, bar, aber auch unsichtbar machen. Man weiß, dass
ist mit Blick auf die gesellschaftliche Relevanz von »Konsens« nur auf der Basis von »Reduktion zu ge-
Wissenschaft zunächst ein »Autoritätsverlust« bzw. winnen« ist, und die »Krisis der modernen Wissen-
ein »Autoritätsverzicht« von Wissenschaft zu bemer- schaft« zeigt sich heute als das »Sichtbarwerden ihrer
ken (627). Als deutliches Symptom hierfür zeigt sich Simplifikationen, ihrer Technizität, ihres Funktio-
das Fortbestehen »religiösen oder sonstigen esoteri- nierens ohne Welterkenntnis« (715).
schen Wissens«, das sich überall »dort einnisten Doch all dies muss – so Luhmann – nicht auf einen
kann, wo die Wissenschaft keine Auskunft gibt – und »Nihilismus hinauslaufen; denn das hätte nur in ei-
das heißt: fast überall« (655). nem ontologischen Bezugsschema Sinn, das seiner-
Technologisches Wissen mag zwar funktionieren seits die Unterscheidung von Sein und Nichtsein
und auch in anderer Form gibt Wissenschaft eine voraussetzt«. Die längst schon praktizierte Alternati-
Reihe von Leistungen an die Gesellschaft ab (etwa im ve besteht darin, sich in ›Welten ohne Grund‹ einzu-
Erziehungssystem). Doch »in älteren Gesellschaften richten. Und genau dies geschieht bereits in einer
ging es um mehr: um Autorität, die auch politisch, funktional differenzierten Gesellschaft, »die keine
auch erzieherisch nutzbar war; und davon kann heu- bindende, Autorität gebende Repräsentation der
te immer weniger die Rede sein« (633). Welt in der Welt, der Gesellschaft in der Gesellschaft
Zudem kann Wissenschaft heute nicht mehr über- mehr zulässt« (719).
zeugend versprechen, die durch ihre Simplifikatio-
nen erzeugten Folgen in den Griff zu bekommen. Die
Wissenschaft wirkt vielmehr »dämonisch«, indem sie Literatur
in wissenschaftsfremden Systemzusammenhängen
»Ungleichgewichte« und »unbeabsichtigte Neben- Baecker, Dirk: »Erziehung zur Wissenschaft«. In: Ders.
folgen« auslöst (686). Da Ethik und Moral zu grobe (Hg.): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt a. M.
2007, 116–146.
Mittel sind, um die damit verbundenen Probleme zu Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. Frankfurt
bearbeiten, ist die Gesellschaft als »Gesamtunterneh- a. M. 1983.
men Sinn« ihren eigenen Bemühungen um Erkennt- Heintz, Bettina: Die Innenwelt der Mathematik. Zur Kultur
nis wehrlos ausgeliefert (686). Die Wissenschaft und Praxis einer beweisenden Disziplin. Wien/New York
selbst kann hier nicht aushelfen, denn es hat sich ge- 2000.
Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach. An Eternal
zeigt, dass »ausgerechnet« die wissenschaftliche »Er- Golden Braid. Hassocks 1979.
kenntnis keine Operation ist, mit der man Kontakt John, René/Henkel, Anna/Rückert-John, Jana: Die Metho-
zur Realität gewinnen kann« (686). Die Gesellschaft dologie des Systems. Wie kommt man zum Fall und wie
begegnet diesem Problem zwar mit der Reflexion von dahinter? Wiesbaden 2010.
Risiken, doch die Orientierung an Risiken ist ebenso Leydesdorff, Loet: A Sociological Theory of Communicati-
on: The Self-Organization of the Knowledge-Based-So-
riskant und kann nicht ihrerseits durch ein höheres ciety. Parkland 2001.
Prinzip oder eine gesicherte Erkenntnis gedeckt wer- Luhmann, Niklas: »›Nomologische Hypothesen‹, funktio-
den (vgl. ÖK und SdR). nale Äquivalenz, Liminationalität: Zum wissenschafts-
230 Werke und Werkgruppen

theoretischen Verständnis des Funktionalismus«. In: 17.3 Das Recht der Gesellschaft (1993)
Soziale Systeme 16. Jg. (2010), 3–27.
Nassehi, Armin/Saake, Irmhild: »Kontingenz: Methodisch
Die 1993 erschienene Monographie Das Recht der
verhindert oder beobachtet? Ein Beitrag zur Methodolo-
gie der qualitativen Sozialforschung«. In: Zeitschrift für Gesellschaft (RechtG) ist einer der Bände, die in den
Soziologie 31. Jg. (2002), 66–86. beiden Jahrzehnten vor der Ausarbeitung der allge-
Popper, Karl R.: »Die Logik der Sozialwissenschaften«. In: meinen Theorie der Gesellschaft (GG) erschienen
Theodor W. Adorno (Hg.): Der Positivismusstreit in der sind und einzelne Funktionssysteme behandeln.
deutschen Soziologie. Darmstadt 1972, 103–124. Grundlage ist die seit den 1980er Jahren sich entwi-
Stichweh, Rudolf: Der frühmoderne Staat und die europäi-
sche Universität. Frankfurt a. M. 1991. ckelnde autopoietische und kommunikationstheore-
–: Wissenschaft, Universität, Professionen. Frankfurt a. M. tische Grundlegung der soziologischen Systemtheo-
1994. rie.
Vogd, Werner: Empirie oder Theorie? Systemtheoretische Luhmann kündigte das Erscheinen von Das Recht
Forschung jenseits einer vermeintlichen Alternative. In: der Gesellschaft in einem 1991 mit Pierre Guibentif
Soziale Welt 58. Jg. (2007), 295–321.
–: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung – geführten Interview als Teil einer Gesamtstrategie an,
eine Brücke. Opladen 22011. bei der es darum gehe, »eine Theorie über einzelne
Werner Vogd Funktionssysteme« zu schreiben, »aus einer gesell-
schaftstheoretischen Perspektive, […] mit möglichst
viel Eingehen auf das, worum es den Insassen, also
den Juristen […] selber geht« (Guibentif 2000, 238).
Diese zweifache Einbettung macht einerseits den
Reiz des Werkes aus, macht es aber gleichzeitig auch
einigermaßen schwer erschließbar. Die folgende
Darstellung geht zunächst im ersten Abschnitt auf
die gesellschaftstheoretische Perspektive ein und
stellt auf dieser Basis den Band in seinen Kompositi-
onsprinzipien und Kernaussagen vor. In einem zwei-
ten Abschnitt wird der Text in den Zusammenhang
der rechtssoziologischen Themen gestellt, denen sich
Luhmann seit den 1960er Jahren gewidmet hatte.
Den Abschluss bildet im dritten Abschnitt eine knap-
pe Darstellung der Rezeption der luhmannschen
Rechtssoziologie insgesamt.

Theorie des Funktionssystems Recht


Einleitend greift der Band die metatheoretischen Im-
plikationen eines interdisziplinären Gesprächs zwi-
schen Soziologie und Jurisprudenz auf, die sich als
Erfahrungswissenschaft auf der einen und als Norm-
wissenschaft auf der anderen Seite zunächst in theo-
retischer Hinsicht eher sprachlos gegenüberstehen.
Ein gemeinsames Interesse besteht jedoch in der Be-
stimmung des Gegenstandes selbst, die heute nur
noch als Frage nach den Grenzen des Rechts (RechtG,
15) einen Sinn ergibt. Wenn man sich darauf einigen
kann, dass der Gegenstand selbst, also das Recht, be-
stimmt, was zum Recht gehört und was nicht, so bie-
tet sich die systemtheoretische Beobachtung des
Rechts vor allem deshalb an, weil sie Innen- und Au-
ßenperspektiven sich selbst beschreibender Systeme
beobachten kann und damit eine »sachangemesse-
Das Recht der Gesellschaft (1993) 231

ne« (17) Perspektive anbietet. Deren Leistung besteht lich der Spezifikation von Rechtserwartungen sowie
im Knüpfen eines »Zusammenhangs von Rechts- der Aussicht auf Durchsetzung (118 ff.).
theorie und Gesellschaftstheorie, also in einer gesell- Mit dem Kapitel zur Funktion des Rechts begin-
schaftstheoretischen Reflexion des Rechts« (24). nen im engeren Sinne die rechtstheoretischen Über-
Diese Reflexion ist strikt nicht-normativ (31). Sie legungen. Die Funktion des Rechts wird, anders als
geht davon aus, dass bereits die Unterscheidung von beispielsweise Habermas in Faktizität und Geltung
Normen und Fakten eine rechtsinterne Unterschei- (1992) annimmt, nicht in der gesellschaftlichen Inte-
dung ist und deshalb von der Reflexionstheorie nicht gration, sondern in einer spezifischen Form der Zeit-
in Gebrauch genommen werden kann. bindung, nämlich der »Stabilisierung normativer
Der weitere Argumentationsgang wird mit einer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen,
umfangreichen Erörterung der operativen Geschlos- sachlichen und sozialen Generalisierung« (RechtG,
senheit des Rechtssystems vorbereitet. Dabei wird die 131) gesehen. Anders als vielfach angenommen, kön-
seit Soziale Systeme gebrauchte Begrifflichkeit relativ ne das Recht nicht nur soziale Konflikte zu lösen hel-
breit noch einmal vorgestellt und auf rechtliche Ge- fen; es verursache sie selbst auch (139). Es steht
gebenheiten bezogen. Im Einzelnen geht es um die Luhmann zufolge seinen »Benutzern« als in sich
Vorzüge einer System-Umwelt-Theorie (RechtG, wertfreies Unterscheidungsinstrument unabhängig
38–42), die Konzeption operativer Geschlossenheit von deren Motivlage zur Verfügung (149) und kann
(42–50), in diesem Zusammenhang auch um den Be- nur deshalb, weil es seine Funktion in dieser Weise
griff der Operation (50 f.), schließlich um informa- autoregulativ erfüllt, die Leistungen der Konfliktlö-
tionelle Offenheit auf der Basis operativer Schlie- sung und Verhaltenssteuerung überhaupt erbringen
ßung (55 ff. sowie 76–95), um funktionale Spezifizie- (157 ff.).
rung und binäre Codierung (60) sowie um den an Im Zusammenhang mit dem binären Code Recht/
operative Schließung anknüpfenden Autonomie-Be- Unrecht tauchen Paradoxieprobleme auf, sobald
griff (62 ff.). Alle diese Theoriebausteine sind jeden- nach dem Re-entry, der Selbstanwendungsfähigkeit
falls grundsätzlich zu dieser Zeit bereits andernorts der Unterscheidung gefragt wird. Wie alle sozialen
ausgearbeitet und werden hier auf das Recht bezogen Systeme besitzt auch das Recht Mechanismen für den
nochmals erläutert. Das Recht – und darin besteht si- Umgang mit Paradoxien, nämlich insbesondere die
cherlich eine der Provokationen des Textes für Juris- Unterscheidung von Code und Programm (190 ff.).
ten wie für viele Soziologen – wird als Kommunika- Rechtsprogramme, so Luhmann, »sind immer Kon-
tionszusammenhang eingeführt, der eine Zuord- ditionalprogramme« (195). Das ist sicherlich die am
nung der Bezeichnungen ›Recht‹ und ›Unrecht‹ meisten diskutierte These der luhmannschen Rechts-
vollzieht (66 ff.) und im Vollzug dieser Unterschei- soziologie, mit der er sich prägnant von der rechts-
dung keine Präferenz für eine der beiden Seiten des theoretischen ebenso wie der politikwissenschaftli-
binären Schematismus voraussetzt, auch wenn in der chen Diskussion absetzt. Einen zweiten Entparado-
externen Beobachtung des Rechts diese Präferenz xierungsmechanismus neben Programmen bilden
eine Rolle spielt. Damit verknüpft ist die – für viele si- die Verfahren des Rechtssystems (195–204).
cherlich ebenfalls provokante – Trennung von Recht Ein weiterer Mechanismus ist die Kontingenzfor-
einerseits sowie Ethik und Moral andererseits, die mel ›Gerechtigkeit‹, mit der das Rechtssystem die in
auch in Extremfällen (wie beispielsweise dem natio- der Letzteinheit des Unterscheidens von Recht und
nalsozialistischen Zugriff auf das Recht) noch dessen Unrecht mitlaufende Paradoxie auffängt (214 ff.).
an sich selbst orientiertes Operieren ausmacht, mit Gerechtigkeit markiert die »adäquate Komplexität«
der Folge, dass es viel eher auf »politische Wachsam- (225) des Systems, die hinreichend Konsistenz des
keit« ankomme als auf »rechtstheoretische Wach- Entscheidens (Stichwort »Gleichheit«, 233 ff.), aber
samkeit« (83, Fn. 76). Die Einheit des Rechts und auch Redundanz der Strukturen (vgl. auch 353 ff.)
seine Abgrenzung vor allem gegenüber der Politik anbietet, um das Komplexitätsgefälle in der System-
wird durch das Symbol der Rechtsgeltung erzeugt Umwelt-Beziehung handhaben zu können.
(98 ff.), wie Luhmann in Auseinandersetzung mit Diese Merkmale haben sich im Laufe der Evoluti-
Jürgen Habermas und Herbert L. A. Hart zeigt. Da- on des Rechts gebildet. Nach Erörterung der allge-
neben steht das Gleichheitsprinzip zur Verfügung, meinen Merkmale einer soziologischen Evolutions-
um operative Schließung zu vollziehen (110 ff.). Die theorie (239–244) sowie der Bedeutung von Schrift
operative Geschlossenheit des Rechts beruht aller- für die Evolution des Rechts (245–256) werden die
dings auf zwei strukturellen Voraussetzungen, näm- Ausbildung von rechtsförmigen Verfahren (263) so-
232 Werke und Werkgruppen

wie die Ausdifferenzierung besonderer Berufsrollen wird, wie Texte in Kommunikationen zu handhaben
(264) als strukturbildende Variationen beschrieben, sind (340). Dabei liegt nach Luhmanns Auffassung
die in den Kommunikationen der juristischen Fall- die Leistung der Argumentation nicht, wie Klaus
praxis selegiert werden. Zu ihnen trat später eine Günther (1988) annimmt, in der Angemessenheits-
Rechtsdogmatik, die als stabilisierendes Element die relation von Gründen. Vielmehr stellt sie eine
Evolution des Rechts befördert. Die Rechtsevolution »Selbstbeobachtung des Rechtssystems« dar, »die in
bleibt dabei auf die gleichzeitige Evolution des poli- ihrem rekursiv-autopoietischen Kontext auf vergan-
tischen Systems angewiesen, »das mit einer Art pri- gene bzw. antizipierte Meinungsverschiedenheiten
märer Enteignung der Gesellschaft die Disposition über die Zuordnung der Codewerte Recht bzw. Un-
über das Machtmittel physischer Gewalt entzieht recht reagiert« (RechtG, 351). Damit erzeugt sie Re-
und die eigene Macht auf dieser Grundlage konsoli- dundanz und Konsistenz im System (adequate
diert« (281). Daraus entsteht das faszinierende Para- complexity) und bringt diese in eine Beziehung zur
dox des gewaltsamen Ursprungs des Rechts, auf das systeminternen Varietät (requisite variety), um da-
Jacques Derrida (1991) hingewiesen hat. durch Umweltanpassungen zu ermöglichen (361).
Mit Verfahren und Berufsrollen waren Binnen- Diese Funktion kann mit der theoretischen Konzen-
strukturen des Rechtssystems bereits angesprochen tration auf ›gute Gründe‹ nicht erfasst werden, da
worden. Daneben sind insbesondere Gerichte als Or- Gründe immer »etwas verschweigen müssen, und
ganisationen des Rechts am Vollzug von dessen Au- zwar ihre Redundanz« (370). Gründe sind deshalb
topoiese beteiligt. In der Produktion von Rechtsent- sogar »Symbole für Redundanz« (373). An dieser
scheidungen schaffen sie selbst Recht. Der darin Stelle grenzt Luhmann sich erneut sehr pointiert von
liegende erneute Verweis auf die Basisparadoxie der Konzepten der Folgenorientierung im Recht ab
vom System benutzten Unterscheidung wird, so Luh- (379–384), die er, sofern sie sich nicht rechtsintern
manns Vermutung, durch systeminterne Zuständig- auf Rechtsfolgen, sondern rechtsextern auf Gesell-
keitsverteilung auf zwei Arten von Instanzen – schaftspolitik beziehen, als Verfallserscheinungen
Rechtsetzung und Rechtsanwendung – entschärft diagnostiziert (382). Sowohl Begriffs- als auch Inte-
(RechtG, 301). Aus der Perspektive der Reflexions- ressenjurisprudenz würden an einer befriedigenden
theorie ist die Beziehung zwischen Gesetzgebung Auffassung juristischer Argumentation scheitern, im
und Rechtsprechung anders als in der Selbstbeschrei- ersten Falle wegen einer Überforderung der quasi ›in-
bung des Systems »zirkulär als wechselseitige Ein- ternen‹ Anforderungen an juristische Begriffe, im
schränkung der Entscheidungsspielräume« aufzufas- letzteren wegen des soeben skizierten ›externen‹
sen (305). Das an die Gerichte adressierte Verbot der Scheiterns an der Differenz des Rechts zu seiner so-
Justizverweigerung resultiert aus der universellen zialen Umwelt. Erst aus der systemtheoretischen Be-
Zuständigkeit des Rechts für seine Funktion und aus obachtung, so Luhmann (393–400), ergibt sich ein
seiner Selbstbeschreibung als »entscheidungsfähig« angemessenes Verständnis von Fremd- und Selbstre-
(313). Gerichte müssten deshalb grundsätzlich alle ferenz des Rechts.
Fälle entscheiden (314 ff.). Dieser Entscheidungs- Selbst- und Fremdreferenz berühren die zentrale
zwang ist selbst nicht disponibel (319), er ist aller- und durchaus problematische Abgrenzung des
dings auch nur für das Zentrum des Systems – die Rechts zur Politik. In dieser Beziehung bereitet das
Gerichte – unausweichlich, während es in der Peri- Konzept der operativen Schließung des Rechts, wie
pherie durchaus »rechtsfreie Räume« im Sinne dis- Luhmann einräumt, gewisse Schwierigkeiten (407).
ponibler Verfügung über Recht geben kann Jedenfalls kulminieren die »großen Kodifikationen
(320–324): Räume, die erst die Möglichkeit für die des 18. und 19. Jahrhunderts« in einem »Zusammen-
Entwicklung evolutionär außerordentlich folgenrei- schluß von Politik und Recht« (411), dessen Motiv in
cher privater (vertraglicher) Rechtsgestaltung eröff- der oben bereits angesprochenen, grundsätzlich pa-
nen. Diese autonome Verfügung über den Rechts- radoxieverdächtigen Verflechtung von Recht und
code wird möglich dank der Entwicklung von Gewalt zu suchen sein dürfte, die in der umstrittenen
Organisationen, Professionen und Verfahren des Figur des Widerstandsrechts rechtstheoretischen
Rechts (328–333). Ausdruck gefunden hat (411). Gleichwohl, so Luh-
Die Verfügung über den Rechtscode sagt noch mann, sind die Vorstellungen eines einheitlichen
nichts über dessen Handhabung. Juristische Argu- »rechtlich-politischen« Systems niemals so weit ge-
mentation stellt eine systemeigene Beobachtung trieben worden, dass man Recht ausschließlich als
zweiter Ordnung dar, mit der die Frage beantwortet »politisches Trägheitsmoment« und die rechtlichen
Das Recht der Gesellschaft (1993) 233

Schranken politischen Handelns in »ausschließlich an beobachtete Veränderungen seiner Umwelt an-


politischen Gesichtspunkten« gesehen habe (417). passt (557 ff.). Für das System kommt es dabei darauf
Daher plädiert er dafür, beide Bereiche als operativ an, »Rechtsformen zu finden, die unter dem Ge-
geschlossene Systeme zu konzipieren, zwischen de- sichtspunkt von Risiko und Gefahr mit der Auto-
nen allerdings kausale Beziehungen denkbar sind poiesis des Rechtssystems, mit seiner spezifischen
(421). Entsprechend muss auch die vordergründig Funktion und mit der Eigenart seiner Codierung
gegen die Differenzierung der Systeme sprechende kompatibel sind« (562). Das Recht ist als Immunsys-
semantische Einheit der Institutionen (Bora 2003, tem der Gesellschaft darauf ausgerichtet, die offene
190) des Rechtsstaats (RechtG, 422 ff.) und der Ver- Zukunft der Gesellschaft durch Generalisierung nor-
waltung (426 ff.) nach je spezifischen Systembezügen mativen Erwartens zu binden und so das Fehlen von
hin aufgelöst werden. »requisite variety« zu kompensieren (566). Die Argu-
Auf dieser Basis können die Beziehungen zwi- mentation mündet in Ausblicke auf die hoch getrie-
schen den Funktionssystemen, aber auch diejenigen benen Erwartungen an Individualität und Selbstbe-
zu Organisationen und psychischen Systemen, mit stimmung, auf die weltgesellschaftliche Verflechtung
der Figur struktureller Kopplung beschrieben wer- aller Funktionssysteme und auf die zunehmende Be-
den, also mit dem wechselseitigen Zur-Verfügung- deutung der Unterscheidung von Inklusion und Ex-
Stellen strukturierter Komplexität (440 ff.). Für das klusion unter den beiden zuvor genannten Voraus-
Recht sind dabei vor allem die Wirtschaft – mit den setzungen. Der Band schließt mit der offenen und
Formen Eigentum und Vertrag – und erneut die Po- irritierenden Frage, ob das Recht in seiner heutigen
litik – mit den Kopplungsmechanismen Rechtsstaat Form unter diesen Umständen mehr ist als »eine eu-
und Verfassung – sowie psychische Systeme – mit der ropäische Anomalie, die sich in der Evolution einer
Form der subjektiven Rechte – von Bedeutung. Weltgesellschaft abschwächen wird« (586).
Diese ›externe‹, soziologische Konzeption des
Rechts ist allerdings nur vollständig, soweit sie das
Recht als ein sich selbst beschreibendes System fasst Rechtssoziologische Fragestellungen
(497). Die juridische Selbstbeschreibung lief seit Be-
ginn der Neuzeit auf Naturrecht hinaus (507). Nach Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass Das Recht
dessen Verabschiedung hat sie heute die Gestalt einer der Gesellschaft einerseits in eine Reihe gesellschafts-
differenzierten Quellenlehre, die so lange funktionie- theoretischer Einzelstudien eingebettet ist, anderer-
ren mag, wie man »nicht fragt, was vor der Quelle seits aber zugleich auch rechtstheoretisch und
liegt« (524). Wieder stößt man auf eine Kontingenz- rechtssoziologisch aktuelle Fragen aufgreift. Der
formel, mit der die Operationen des Systems durch zweite Aspekt, der in Luhmanns oben zitierter An-
Invisibilisierung paradoxieverdächtiger ›Anfänge‹ kündigung aus dem Jahr 1991 als die »Insassenper-
gesichert werden. »Selbstbeschreibung selbst ist ein spektive« des Rechts charakterisiert wurde, verweist
paradoxes Unterfangen« (545) und die Leistung der auf Luhmanns bis auf die 1960er Jahre zurückgehen-
Reflexionstheorie besteht darin, in den Operationen de intensive soziologische Auseinandersetzung mit
des Systems (547) differenzierte Antworten auf das Rechtstheorie und Rechtsdogmatik. Insofern steht
Problem der Unausweichlichkeit und der gleichzei- Das Recht der Gesellschaft in einer inhaltlichen Linie
tigen Unmöglichkeit paradoxer Begründungen zu rechtstheoretischer und rechtssoziologischer Schrif-
identifizieren. ten, die über zahlreiche, etwa in Ausdifferenzierung
Mit Blick auf die Gesellschaft und ihr Recht, so re- des Rechts (1981) versammelte Aufsätze, über Rechts-
sümiert Luhmann mit einem rückblickenden Ver- system und Rechtsdogmatik (1974) und Rechtssoziolo-
weis auf die Anfänge der Rechtssoziologie bei Eugen gie (1972) bis zu Legitimation durch Verfahren (LdV
Ehrlich, würde man heute gleichfalls von einer Diffe- 1969) und Grundrechte als Institutionen (1965) zu-
renz zwischen dem im Rechtssystem praktizierten rückreicht. Umgekehrt verweist dieser Aspekt auf
und dem »lebenden Recht« auszugehen haben (556), stark formtheoretisch geprägte Überlegungen, die
wobei letzteres in den vielfältigen (sub-)kulturellen vor allem in dem Aufsatz »Die Rückgabe des zwölften
Milieus gegenwärtiger Gesellschaft zu finden sei. Ob- Kamels« (2000) entwickelt wurden.
gleich auf temporale Stabilisierung von Erwartungen Die Leitgedanken und zentralen Themen lassen
ausgerichtet, erweist sich das Recht gleichzeitig in der sich über die Jahrzehnte von 1965 bis 1993 hinweg in
Lage, Normgeltung selbst zu temporalisieren, indem mindestens die folgenden vier Komplexe zusammen-
es seine stets mitlaufenden Realitätsunterstellungen fassen: Erstens ging es Luhmann immer – und in zen-
234 Werke und Werkgruppen

traler Hinsicht – um die Möglichkeit und die Einheit und Komplexität des Rechtssystems und er-
Konturen einer soziologischen Theorie des Rechts. füllen damit ihre zentrale Funktion, nämlich die Er-
Diese ist zunächst, lange vor der autopoietischen haltung der Ausdifferenzierung des Rechtssystems.
Wende, erst einmal Normtheorie und wird später ge- Dogmatik steuert das System des Rechts durch Er-
sellschaftstheoretisch ausgebaut, wobei das in der möglichung gleichmäßiger Handhabung differenzie-
zweiten Auflage der Rechtssoziologie von 1983 neu render Kategorien (ebd., 24 ff.). Man sieht, mit
hinzugefügte Schlusskapitel den Übergang markiert. anderen Worten, schon sehr deutlich in diesen frü-
Weiten Raum nahm in der Gesellschaftstheorie des hen Texten die später in Das Recht der Gesellschaft
Rechts dabei stets dessen Positivierung ein. Zweitens verarbeiteten Themen aufscheinen.
ging es in Auseinandersetzung mit rechtswissen- Die Rechtssoziologie von 1972 arbeitet Luhmanns
schaftlichen Positionen schon früh um eine soziolo- Position erstmals systematisch aus, in der Form ganz
gische Theorie der Gerechtigkeit, ein Anliegen, das an den, wenn man so will, ›klassischen‹ Argumenta-
neuerdings von Gunther Teubner (2008) wieder auf- tionsgang rechtssoziologischer Theorie angelehnt. In
gegriffen worden ist. Drittens hat Luhmann sich über Luhmanns Selbstbeschreibung wird das später als
die Jahre hinweg immer wieder kritisch mit der vor evolutionstheoretische Perspektive im Gegensatz zu
allem in der rechtstheoretischen Debatte prominen- einer systemtheoretischen bezeichnet (Guibentif
ten Figur der Folgenorientierung im Recht auseinan- 2000, 230). Die Normtheorie bildet die Grundlage,
dergesetzt, die ihm doch sehr im Widerspruch zur auf der Recht als Struktur der Gesellschaft beschrie-
oben geschilderten temporalen Funktion des Rechts ben werden kann. Im Kern der Argumentation ste-
zu stehen schien. Ein viertes Leitmotiv schließlich ist hen das positive Recht und dessen konditionale
in der Frage nach dem Umgang des Rechts mit seinen Programmierung als entwickelte Formen in der
Paradoxien und nach den daraus resultierenden funktional differenzierten Moderne. Schließlich wird
Strukturbildungsoptionen zu sehen. Diese Thematik bereits der Zusammenhang von positivem Recht und
wird erst spät, wohl im Zusammenhang mit form- sozialem Wandel thematisiert, und zwar in einer sehr
theoretischen Überlegungen, in der prägnanten Ge- grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der damals
stalt entwickelt, in der sie sich in besonderer Weise in die Krise geratenden Steuerungstheorie. Dabei
für das Verständnis von Strukturbildungsprozessen wird – ohne den Begriff zu verwenden – vieles von
sozialer Systeme als fruchtbar erwiesen hat. Angelegt dem schon vorweggenommen, was später von ande-
war der Gedanke jedenfalls in der Rechtssoziologie ren unter dem Begriff der ›Governance‹ diskutiert
schon sehr früh, beispielsweise in den Arbeiten zur wurde. Auch der frühe und später nicht mehr über-
juristischen Argumentation und Dogmatik. troffene Blick auf die Weltgesellschaft, die Funktion
Hervorgetreten ist Luhmann mit diesen Themen des Rechts in dieser und den prognostizierten Wan-
etwa seit 1970, als das erste Jahrbuch für Rechtssozio- del der Rolle des Rechts (Luhmann 1972, 340) stellen
logie und Rechtstheorie erschien, das zwei Luhmann- bemerkenswerte Züge an Luhmanns rechtssoziologi-
Aufsätze enthält. Der eine beschäftigt sich mit der Po- schem Denken jener Jahre dar.
sitivität des Rechts als Voraussetzung einer moder-
nen Gesellschaft. In dem anderen geht es um die
Funktion subjektiver Rechte. In dem 1974 erschiene- Die Rezeption der rechtssoziologischen
nen Band Rechtssystem und Rechtsdogmatik nimmt Schriften Luhmanns
Luhmann pointiert gegen eine Soziologisierung der
Jurisprudenz Stellung, die er immer als Entdifferen- Das Recht der Gesellschaft hat, wie alle rechtssoziolo-
zierung verstanden hat. Sie führe dazu, dass man gischen Schriften Luhmanns vor ihm auch, irritierte
»nur noch von Standpunkten aus argumentieren« Reaktionen hervorgerufen, die nicht zuletzt wohl
könne (Luhmann 1974, 7), und provoziere daher die durch Luhmanns Verfremdung des rechtswissen-
Gefahr der »Annäherung und Verständigung auf schaftlichen Blicks bedingt waren, die aus juristischer
dem für beide Seiten niedrigsten Niveau« (ebd., 9). Sicht immer als Provokation erschienen ist und die
Interessant mit Blick auf die spätere Figur der Para- Rezeption von Luhmanns Werk über diese Diszipli-
doxievermeidung sind dann vor allem die Thesen nengrenze hinweg deutlich erschwert hat.
über Dogmatiken (ebd., 15 ff.): Sie stellen Negations- Dazu hat sicherlich auch die von Luhmann gewiss
verbote bezüglich der Anfangspunkte von Argumen- nicht intendierte und in der Systematik des Werkes
tationsketten dar und steigern dadurch tragbare auch nicht angelegte Konzentration der allgemeinen
Unsicherheiten. Unter anderem integrieren sie auch Aufmerksamkeit auf Funktionssysteme beigetragen,
Das Recht der Gesellschaft (1993) 235

die häufig von weniger bewanderten Lesern hyposta- 1992) in Italien erwähnt. Als wichtiges Werk aus den
siert und als einzige Botschaft zur Kenntnis genom- Jahren um 2010 ist Pierre Guibentifs Foucault, Luh-
men wurde – und das auch dort, wo es eindeutig mann, Habermas, Bourdieu: une génération repense le
nicht um Gesellschaft, sondern um Interaktion oder droit (2010) deswegen ganz besonders hervorzuhe-
Organisation geht. In vergleichbarer Weise gilt dies ben, weil es einen ambitionierten Entwurf einer
auch für die später von Luhmann selbst beiläufig kri- rechtswissenschaftlich wie soziologisch gleicherma-
tisierte Überstilisierung des Autopoiese-Begriffs in ßen anschlussfähigen rechtssoziologischen Theorie
vielen Rezeptionen (Guibentif 2000, 233; als Beispiel unter anderem im Anschluss an Luhmann enthält. In
vgl. etwa Matthieu Deflem in seiner Einführung in diesem Buch wird eindrucksvoll sichtbar, wie außer-
die Rechtssoziologie 2008, 162–180). Der Aufsatz ordentlich fruchtbar Luhmanns rechtssoziologisches
»Kommunikation über Recht in Interaktionssyste- Denken, auch über eine gewisse zeitliche Distanz
men« (Luhmann 1981, 53–72) beispielsweise scheint hinweg, für eine neue Generation interdisziplinär
kaum rezipiert worden zu sein. Darüber hinaus ist und theoretisch interessierter Wissenschaftler ist. Die
Recht als Programm organisatorischer Entscheidun- Wirkung von Das Recht der Gesellschaft hat, wie die
gen bei Luhmann selbst kein prominentes Thema, Literatur der letzten Jahre zeigt, gerade erst begon-
obwohl es gerade für die Rechtssoziologie ein beson- nen.
ders interessanter Punkt sein dürfte (Bora 2001).
Mit Blick auf die internationale Debatte hat sich
die Ausgangslage seit Klaus A. Ziegerts Übersetzung Literatur
(Luhmann 2004) verbessert. Im englischsprachigen Bora, Alfons: Differenzierung und Inklusion. Partizipative
Raum ist Gunther Teubner schon seit langem mit ei- Öffentlichkeit im Rechtssystem moderner Gesellschaf-
ner großen Zahl von Publikationen präsent (z. B. ten. Baden-Baden 1999.
Teubner 1996; 2011; Perez/Teubner 2006).Viele sei- –: »Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik.
Zur Multireferentialität der Programmierung organisa-
ner Schriften sind überdies in romanische und asia- torischer Kommunikationen«. In: Veronika Tacke (Hg.):
tische Sprachen übersetzt worden. Dadurch entsteht Organisation und gesellschaftliche Differenzierung.
mittelbar auch eine Reaktion auf Luhmanns Werk. Es Wiesbaden 2001, 171–191.
waren insbesondere Michael King und Christopher –: »Recht und Politik. Krisen der Politik und die Leistungs-
Thornhill (2003, 2006), die Debatten zu Das Recht fähigkeit des Rechts«. In: Markus Schroer/Armin Nassehi
(Hg.): Der Begriff des Politischen. Baden-Baden 2003,
der Gesellschaft geführt haben.
189–216.
Die Rezeption der rechtssoziologischen Schriften – /Hausendorf, Heiko (Hg.): Democratic Transgressions of
in Deutschland hatte ihre Blütezeit sicherlich in den Law. Governing Technology Through Public Participa-
1970er und 1980er Jahren, als beispielsweise Teubner tion. Leiden/Boston 2010.
und Helmut Willke in der Zeitschrift für Rechtssozio- Deflem, Mathieu: Sociology of Law. Visions of a Scholarly
Tradition. Cambridge u. a. 2008.
logie eine Debatte über reflexives Recht anstießen. Zu
Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der
Beginn der 2010er Jahre engagieren sich Teubner und Autorität«. Frankfurt a. M. 1991.
eine Reihe junger Rechtstheoretiker, wie Per Zum- Febbrajo, Alberto/Teubner, Gunther: State, Law, and Eco-
bansen, Marc Amstutz oder Fatima Kastner stärker nomy as Autopoietic Systems. Regulation and Autonomy
in einer an Formtheorie und Gerechtigkeitstheorie in a New Perspective. Milan 1992.
orientierten Debatte. Daneben sind aber immer wie- Guibentif, Pierre: »Niklas Luhmann und die Rechtssoziolo-
gie. Gespräch mit Niklas Luhmann, Bielefeld, den 7. Ja-
der auch empirische rechtssoziologische Studien er- nuar 1991«. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 21. Jg., 1
schienen, die sich durch starke Theoriebezüge (2000), 217–245.
auszeichnen und die mit Blick auf ihre unterschied- –: Foucault, Luhmann, Habermas, Bourdieu. Une généra-
lichen Gegenstände Luhmanns rechtssoziologisches tion repense le droit. Paris 2010.
Denken teils empirisch nutzbar machen, teils weiter Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit. Anwen-
dungsdiskurse in Moral und Recht. Frankfurt a. M. 1988.
entwickeln (vgl. etwa Bora 1999; Bora/Hausendorf Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur
2010; Mölders 2011). Diese Arbeiten nähern sich Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
stärker von einer kommunikationstheoretischen Sei- Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992.
te her dem luhmannschen Werk. King, Michael/Thornhill, Christopher J.: Niklas Luhmann’s
Luhmanns Rechtstheorie wird überdies in vielen Theory of Politics and Law. Basingstoke 2003.
–/– (Hg.): Luhmann on Law and Politics. Critical Appraisals
romanischen Ländern schon länger intensiv rezi- and Applications. Oxford 2006.
piert. Als Beispiele seien Marcelo Neves (1992) in Lautmann, Rüdiger (Hg.): Die Funktion des Rechts in der
Brasilien oder Alberto Febbrajo (Febbrajo/Teubner modernen Gesellschaft. Bielefeld 1970.
236 Werke und Werkgruppen

Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institutionen. Ein Bei- 17.4 Die Kunst der Gesellschaft (1995)
trag zur politischen Soziologie. Berlin 1965.
–: Rechtssoziologie. Reinbek bei Hamburg 1972 (engl.
Die Kunst der Gesellschaft (KunstG) ist die vierte und
Übers.: A Sociological Theory of Law. Übers. von Eliza-
beth King/Martin Albrow. Boston 1985). gleichzeitig die letzte zu Lebzeiten publizierte Mono-
–: Rechtssystem und Rechtsdogmatik. Stuttgart u. a. 1974. graphie, die sich einem sozialen Subsystem der Ge-
–: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssozio- sellschaft widmet. Insofern lässt sich ihre Konzeption
logie und Rechtstheorie. Frankfurt a. M. 1981. in doppelter Weise perspektivieren, einmal systema-
–: »Die Rückgabe des zwölften Kamels. Zum Sinn einer so- tisch und einmal historisch, werkgeschichtlich. Die
ziologischen Analyse des Rechts«. In: Zeitschrift für
Rechtssoziologie 21. Jg., 1 (2000), 3–60. erste Perspektive wirft die Frage nach dem Verhältnis
–: Law as a Social System. Übers. von Klaus A. Ziegert. New vom allgemeinen Modell eines ausdifferenzierten
York 2004. Subsystems und einer spezifischen Ausprägung der
Mölders, Marc: Die Äquilibration der kommunikativen Kunst auf: Inwiefern ist die Kunst ein ausdifferenzier-
Strukturen. Studien zur soziologischen Lerntheorie. tes Subsystem wie die anderen auch, und inwiefern
Weilerswist 2011.
Neves, Marcelo: Verfassung und Positivität des Rechts in der ist Kunst gerade im Modell einer funktionalen Aus-
peripheren Moderne. Eine theoretische Betrachtung und differenzierung spezifisch zu konzeptualisieren (vgl.
Interpretation des Falls Brasilien. Berlin 1992. hierzu kritisch Nassehi 2011)? Damit ist die zweite
– /Voigt, Rüdiger (Hg.): Die Staaten der Weltgesellschaft: Perspektive verbunden. Denn besondere Formen der
Luhmanns Staatsverständnis. Baden-Baden 2007. Konzeptualisierung sind sowohl auf die Besonder-
Perez, Oren/Teubner, Gunther (Hg.): Paradoxes and Incon-
sistencies in the Law. Portland, OR 2006. heit des Gegenstandes ›Kunst‹ als auch auf interne
Philippopoulos-Mihalopoulos, Andreas: Niklas Luhmann. Entwicklungen der Systemtheorie selbst zurückzu-
Law, Justice, Society. New York 2010. führen. Es gilt also, ein Augenmerk darauf zu haben,
Rasch, William (Hg.): »›Tragic choices‹. Luhmann on Law wie die spezifischen Anforderungen des Phänomen-
and States of Exception«. Soziale Systeme 14. Jg., 1 (2008) bereichs dieses Subsystems zugleich die systemtheo-
(Schwerpunktheft).
Teubner, Gunther: Recht als autopoietisches System. Frank-
retischen Theoriebausteine modifizieren.
furt a. M. 1989. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, weiß, dass auch
– (Hg.): Global Law Without A State. Dartmouth/Alder- diese Monographie im Wesentlichen eine weitere
shot 1996. Entfaltung der Systemtheorie darstellt und keine ge-
–: »Im blinden Fleck der Systeme: Die Hybridisierung des nuine Kunsttheorie entwickelt. Luhmann macht da-
Vertrages«. In: Soziale Systeme 3. Jg. (1997), 313–326.
– (Hg.): Die Rückgabe des zwölften Kamels: Niklas Luh-
rauf geradezu salvatorisch schon in seiner Einleitung
mann in der Diskussion über Gerechtigkeit. Stuttgart aufmerksam: »Es geht also, was Kunst betrifft, nicht
2000 (jap. Übers. Kyoto 2006). um eine hilfreiche Theorie. […] Und daß überhaupt
– (Hg.): Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Zur von Kunst die Rede ist, liegt nicht an besonderen Nei-
(Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerech- gungen des Verfassers für diesen Gegenstand, son-
tigkeit. Stuttgart 2008.
dern an der Annahme, daß eine auf Universalität
–: »Constitutionalising Polycontexturality«. In: Social and
Legal Studies 20. Jg., 2 (2011), 210–229. abzielende Gesellschaftstheorie nicht ignorieren
Thornhill, Christopher J.: German Political Philosophy. kann, daß es Kunst gibt« (KunstG, 9 f.). Man muss
The Metaphysics of Law. London/New York 2007. daher Luhmann nicht den Vorwurf der Kunstferne
Alfons Bora oder des Dilettantismus machen, obschon dort, wo
seine Ausführungen bestimmte Ausprägungen von
Kunst, zumal in ihrer historischen Situierung und
kunsthistorischen Rekapitulation, behandeln, sie ih-
ren Eklektizismus nicht verschleiern können (und
auch nicht wollen).

Beobachtungen der Kunst


Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt, die sich ih-
rerseits wiederum zu drei Gruppen zusammenfassen
lassen. In den ersten drei Kapiteln geht es generell um
die Frage, wie Kunst spezifisch beobachtet und wie
diese Beobachtung wiederum beobachtet werden
Die Kunst der Gesellschaft (1995) 237

kann. Diese Gruppe umfasst die Kapitel, die sich mit temisches Korrelat von Kommunikation in struktu-
dem kunstspezifischen Zusammenhang von Wahr- reller Kopplung, sondern die systemische Form, wie
nehmung und Kommunikation beschäftigen und Bewusstsein (als Wahrnehmung) selbst Gegenstand
dabei zeigen, inwiefern Kunst Formen für Wahrneh- der Kommunikation wird. Kunst produziert For-
mungen produziert, die ihrerseits wiederum Kom- men, die als Formen so wahrgenommen werden,
munikation konstituieren. Die beiden folgenden dass aus dieser Wahrnehmung Kommunikation re-
Kapitel vertiefen diesen Gedanken, indem sie zu- sultiert. Wahrnehmung in dieser formbasierten Au-
gleich die entsprechenden Theoriebausteine entfal- toreflexion als Wahrnehmung der Wahrnehmung
ten und dabei weiterentwickeln, zunächst die Kon- wird zum Objekt der Kommunikation. Die Wahr-
zeption der Beobachtung zweiter Ordnung am nehmung eines Objekts als Kunst bedeutet somit
Beispiel von Kunst und sodann die Medium/Form- »ein Wahrnehmen des Wahrnehmens« (70). Da
Differenz. Wahrnehmung aber – als eine spezifische Form der
Das erste Kapitel dieser ersten Gruppe ragt in der Beobachtung – für sich selbst blind ist, kann die
Tat heraus, weil am Beispiel der Kunst ein Begriff Wahrnehmung der Wahrnehmung das Nicht-Wahr-
nunmehr große Bedeutung gewinnt, der bislang in nehmbare der Wahrnehmung zumindest zugänglich
der Systemtheorie eine eher untergeordnete Rolle ge- machen. Und daraus kann dann Luhmann die spezi-
spielt hat: der Begriff der Wahrnehmung. Dass nun fische Funktion der Kunst ableiten, wenn er schreibt,
Wahrnehmung so herausgestellt wird, kann man »daß die Kunst Wahrnehmung in Anspruch nehmen
schon am Argumentationsmuster der vorhergehen- muß und damit das Bewußtsein bei seiner Eigenleis-
den Monographie zur Wissenschaft der Gesellschaft tung, bei der Externalisierung packt. So gesehen,
(1990) transparent machen. In diesem Buch liefert wäre es die Funktion der Kunst, etwas prinzipiell In-
Luhmann im ersten Kapitel, das mit »Bewußtsein kommunikables, nämlich Wahrnehmung, in den
und Kommunikation« überschrieben ist, eine eigene Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft
systemtheoretische Bewusstseinstheorie. Er greift da- einzuspeisen« (227).
bei auf Vorarbeiten, z. B. auf seinen Aufsatz »Wie ist Daran lässt sich nahtlos anschließen, was Luh-
Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?« (SA6, mann schon früher als spezifische Funktion der
37–54) zurück. Die Kunst der Gesellschaft folgt nicht Kunst ausgegeben hatte: die »Konfrontierung der (je-
nur dem Muster der vorausgehenden Monographie, dermann geläufigen) Realität mit einer anderen Versi-
im ersten Kapitel Phänomene wie Bewusstsein dort on derselben Realität« (SKL, 144), bzw. »Formen für
und Wahrnehmung hier zu einem zentralen Theo- Welt anzubieten, die nicht übereinstimmen mit dem,
riebaustein auszuarbeiten, sondern setzt auch die was sowieso da ist« (Luhmann in Huber 1991, 127).
Konzeptualisierung des Bewusstseins fort, indem Und in der Kunst der Gesellschaft heißt es: »Offenbar
Wahrnehmung als »eine Spezialkompetenz des Be- sucht die Kunst ein anderes, nichtnormales, irritie-
wußtseins« (KunstG, 14) vor dem Hintergrund der rendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommu-
strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kom- nikation, und allein das wird kommuniziert«
munikation entfaltet wird. (KunstG, 42).
Kunst ist nun jenes System, das nicht nur wie jede Das Kunstwerk, das Objekt oder der Text, wird da-
Kommunikation auf Bewusstsein angewiesen ist, bei selbst als Kommunikation konstituiert (und sys-
sondern Bewusstsein mit seiner Spezialkompetenz temtheoretisch konzeptualisiert): Zwar ist ein »ein-
›Wahrnehmung‹ in ganz besonderer Weise in Dienst zelnes Kunstwerk […] noch kein Kommunikations-
nimmt. Kunst irritiert und disponiert Wahrnehmun- system Kunst« (89), aber es ist doch entweder eine
gen, sie löst Wahrnehmung aus einem reibungslosen »Kompaktkommunikation« oder ein »Programm für
Vollzug von Alltagssituationen heraus und macht sie zahllose Kommunikationen über Kunst« (SKL, 146).
damit selbst wahrnehmbar, indem sie Formen pro- Daher stellt Luhmann die Frage: »Wie gelangt man
duziert, deren Wahrnehmung selbst wiederum als über die im Einzelwerk verdichtete Kompaktkom-
Form wahrgenommen wird. Formen, die die Wahr- munikation hinaus?« (KunstG, 90) und schlägt als
nehmung systemisch und systematisch irritieren, die Antwort vor, dass Kunstwerke die Autopoiesis von
sie verzögern und dabei reflexivieren (vgl. 27) oder Kunst als System und als Kommunikation stabilisie-
zweckentfremden (41), können daher als eine Dispo- ren: »In der Kunst wird Kommunikation – fast könn-
sition von Kunst – im doppelten Sinne – wahrge- te man mit einem fragwürdigen Begriffe sagen:
nommen werden. Wahrnehmung ist damit nicht nur Selbstzweck« (90).
als eine Form des Vollzugs von Bewusstsein ein sys- Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang,
238 Werke und Werkgruppen

dass Luhmann vor allem auf bildende Kunst und auf lung, wie Luhmann es schon früher ausgeführt hat,
Literatur als Kunst eingeht, wobei er dort eher auf von der Objektkunst zur »Weltkunst« (Luhmann
den Werkcharakter und hier eher auf den Text (er 1990, Nachdruck in SKL).
spricht von Wortkunst und Textkunst) sowie die
Schrift abhebt, aber nicht auf performative Kunst,
auf das Drama oder insbesondere auf die Musik. Da- Kunst in der funktional differenzierten
bei hätte der prozessuale Werkcharakter oder sogar Gesellschaft
die Auflösung des Werk- und Objektcharakters in
Prozessualität der Frage nach dem Verhältnis von Die zweite Gruppe der Kapitel, die Kapitel 4 und 5,
Kompaktkommunikation und Kommunikationssys- umfasst den Prozess und den Mechanismus der
tem, von Ereignis und Prozess neue Perspektiven der funktionalen Ausdifferenzierung und die darauf be-
Modellierung vor allem im Hinblick auf die zeitliche ruhende Einbettung der Kunst in die Gesellschaft.
Dimension geboten (vgl. Fuchs 1987). Die Funktion der Kunst ergibt sich Luhmann zufolge
Da mit dieser Konzeption von Kunst die Form der aus ihrer Ausdifferenzierung. Es geht dabei um die
Form in den Blickpunkt rückt, vertiefen die beiden Frage, auf welcher systemischen Grundlage es zur
folgenden Kapitel in der ersten Gruppe die methodi- Ausdifferenzierung der Kunst kommt und welche
schen und theoretischen Fundierungen, zum ersten spezifische Funktion der Kunst dabei zukommt.
das Beobachtertheorem und zum zweiten die Medi- Dem geht die Frage voraus, wie sich die Gesellschaft
um/Form-Differenz. Die beiden Kapitel sind zu- funktional ausdifferenziert. Geht man davon aus,
nächst eine großangelegte Selbstexplikation der dass mit dieser Umstellung der Gesellschaftstypik die
Systemtheorie; die Applikation auf die Kunst tritt moderne Gesellschaft entsteht, so lässt sich damit
passagenweise in den Hintergrund. Die Funktion der auch moderne und vormoderne Kunst unterschei-
Kunst vor dem Hintergrund der funktionalen Aus- den.
differenzierung besteht darin, »spezifische Formen Moderne Kunst wäre demnach Kunst eines ausdif-
für ein Beobachten von Beobachtungen in die Welt ferenzierten Gesellschaftssystems. Das würde aber
zu setzen« (KunstG, 115). Daran lässt sich dann auch bedeuten, dass andere Bereiche der Gesellschaft wie
der Stellenwert des einzelnen Kunstwerks genauer z. B. Politik, Recht, Religion oder Wirtschaft nicht
ablesen. Es »leistet, unter diesem Gesichtspunkt ge- mehr dafür zuständig wären, Kunst zu initiieren, in
sehen, die strukturelle Kopplung des Beobachtens Auftrag zu geben, zu bewerten, zu finanzieren, zu-
erster und zweiter Ordnung für den Bereich der sammenfassend gesagt: zu definieren. Kunst muss
Kunst« (115). sich selbst definieren und daher sich selbst zuallererst
Die Frage ist allerdings berechtigt, ob Luhmann von dem unterscheiden, was nicht Kunst ist. Indem
hier nicht zu vorsichtig formuliert, denn eine solche sich Kunst von Nicht-Kunst unterscheidet und somit
Funktion erbringt das Kunstwerk nicht nur für die den Anspruch erhebt, eine spezifische Qualität von
Kunst in einer allzu engen Auslegung der operativen Kunst zu realisieren, die nicht mehr politisch oder
Geschlossenheit des Kunstsystems, sondern als Leis- wirtschaftlich definiert werden kann, wird Kunst
tung für die Gesellschaft ganz allgemein. Wenn also zum System.
die Evolution der Kunst als eine »Entwicklung immer Die immanente Beschreibung dieses Prozesses er-
neuer Medien-für-Formen« (SKL, 132) erscheint, folgt im fünften Kapitel unter dem Titel »Selbstorga-
liegt die Frage nahe, ob nicht Kunst eine Funktion nisation: Codierung und Programmierung«. Metho-
von Religion erbt, die diese unter den säkularen disch beschreibt die Systemtheorie diese Systembil-
Bedingungen einer ausdifferenzierten Gesellschaft dung als Konstitution einer System/Umwelt-Grenze,
nicht mehr in umfassender Form leisten kann, näm- die im System selbst noch einmal prozessiert wird, so
lich Unbeobachtbares beobachtbar, Inkommunika- dass jedes System intern zwischen sich und der Um-
bles kommunizierbar zu machen. Das Reflexivwer- welt unterscheiden kann. Genau dadurch entsteht
den von Wahrnehmung durch entsprechende For- aber die Differenz von Selbstreferenz und Fremdre-
men in der Kunst führt nicht nur zur Beobachtung ferenz und somit die Bedingung der Möglichkeit von
von Beobachtung, sondern damit auch zum Unbe- Autoreflexion und Autonomie. Damit ein System
obachtbaren. Zur Bezeichnung des Unbeobachtba- diese Differenzierungsleistung erbringen kann, da-
ren schlechthin greift Luhmann auf den Begriff der mit es zwischen sich und seiner Umwelt unterschei-
Welt zurück. Die Welt ist – systemisch gesehen – in- den kann, braucht es ein operatives und operatio-
kommunikabel. Kunst wird im Zuge dieser Umstel- nales Differenzkriterium, das es als Leitdifferenz
Die Kunst der Gesellschaft (1995) 239

handhaben kann. Diese Leitdifferenz nennt Luh- bißchen angestaubten Bezeichnungen [›schön‹ vs.
mann den Code des jeweiligen Systems. Er beruht auf ›häßlich‹; O.J.] nicht mehr will, wäre gegen eine Ab-
einem strengen Binarismus und einer Asymmetrisie- sage nichts einzuwenden – sofern ein Ersatz angebo-
rung zwischen einem positiven und einem negativen ten wird« (SKL, 224).
Wert. Die Diskussion und Kritik des Codes steht unter
So entscheidend der Code für die Selbstorganisa- der Fragestellung, welche spezifische Funktion der
tion eines Systems ist, so schwierig ist es, einen Code Kunst zuzusprechen ist. Sowohl Jäger als auch Wer-
für die Kunst anzugeben. Gerade aber am Beispiel ber und Plumpe kritisieren an Luhmann die man-
der Kunst stellt sich die Frage nach dem Code am gelnde Differenzierung zwischen Ästhetik und
dringlichsten. Lange vor der großen Monographie, Kunst. Bei Jäger heißt es: »Die Schönheit ist nicht das
schon 1976, hat Luhmann in einem programmati- Interaktionsmedium, sondern der zentrale Begriff
schen Aufsatz eine Konzeption des Kunst-Codes zu der Reflexionstheorie des bürgerlichen Sozialsystems
entwickeln versucht, dessen Titel noch vorsichtig die Literatur: der Ästhetik, die sich ab Mitte des 18. Jahr-
Frage aufwirft: »Ist Kunst codierbar?« (Nachdruck in hunderts als Selbstreflexion des Kunstsystems ausdif-
SA3). Er hat dabei Konzeptualisierungsrichtlinien ferenziert und in einem eigenen Diskurs institutio-
für die codebasierte funktionale Ausdifferenzierung nalisiert« (Jäger 1991, 226). Jäger zufolge ist die
der Kunst, aber auch am Beispiel der Kunst für jedes Selbstreflexion einer Aus-Differenzierung aus dem
andere Funktionssystem entworfen. Dass dies gerade Kunstsystem unterworfen. Deswegen kann Schön-
am Beispiel der Kunst geschieht, ist kein Zufall. Die heit nicht mehr Code des Kunstsystems selbst sein.
Schwierigkeit, einen Code für die Kunst anzugeben, Aus der anfänglichen Selbstbeschreibung wird nach
ist auf eigentümliche Weise mit den sehr markanten der Ausdifferenzierung eine Fremdbeschreibung.
Ausdifferenzierungsprozessen der Kunst verknüpft. Darauf insistiert auch Plumpe; so lehnt er die Auffas-
Luhmann formuliert einen weitreichenden Vor- sung ab: Ȁsthetik sei Reflexionstheorie der Kunst.
schlag: »Das System für Kunst artikuliert seine gesell- […] Denn eine genauere Betrachtung muß zu dem
schaftliche Funktion als Kommunikationsmedium Ergebnis kommen, dass die Ästhetik – dirigiert von
mit Hilfe der Codierung schön/häßlich« (SA3, 262). ihrem Code ›schön‹/›häßlich‹ – eine Fremdbeschrei-
Dieser Code garantiert Luhmann zufolge die Ausdif- bung und keine Selbstbeschreibung des Kunstsys-
ferenzierung, die Funktionalisierung und die Unter- tems ist« (Plumpe 1995, 96). Stattdessen geht er von
scheidung von Kunst und Nicht-Kunst, was der einer koevolutionären Entwicklung aus, in der sich
Kunst Autonomie garantiert: »Kunst kann als codier- eine philosophische Ästhetik einerseits und eine au-
ter Kommunikationsprozeß reflexiv werden und sich tonome Kunst andererseits gleichzeitig im 18. Jahr-
selbst als Disjunktion des Schönen und Häßlichen hundert herausbilden. Als Funktion der Kunst gibt er
zur Darstellung bringen. Reflexivität korreliert hier (auch zusammen mit Werber) daher die Unterhal-
wie bei anderen Kommunikationsmedien auch mit tung und als Code die Differenz von ›interessant‹ vs.
Autonomie« (SA3, 289). Man könnte hinzufügen: ›langweilig‹ an (Plumpe/Werber 1993, 27 ff.).
hier ganz besonders mit Autonomie. Denn in der Die Kritik ist insofern berechtigt, als Luhmann
Kunst kann die Autonomie zum Programm gemacht den Begriff der Schönheit in der Tat von der Ästhetik
werden (SA3, 289). unmittelbar auf die Kunst überträgt, so als ob es eine
An diesem Code ist mehrfach Kritik geübt wor- direkte Entsprechung zwischen Kunsttheorie und
den. So hat z. B. Georg Jäger vorgeschlagen, für das Kunstpraxis gäbe. Vor diesem Hintergrund wird ver-
Kunstsystem den Code ›mit‹ vs. ›ohne Geschmack‹ ständlich, wie Luhmann in der Kunst der Gesellschaft
anzusetzen (Jäger 1991, 225 f.), mit ›Geschmack‹ als argumentiert. Insbesondere verfolgt er zwei Strate-
Interaktionsmedium und ›Funktionslosigkeit‹ als gien: Zum einen wird der Code ›schön‹ vs. ›häßlich‹
Funktion der Kunst; Niels Werber und Gerhard problematisiert und zum anderen historisiert: »In
Plumpe haben hingegen den Code ›interessant‹ vs. der traditionellen Ästhetik hatte man die Codewerte
›langweilig‹ unter der Funktion ›Unterhaltung‹ vor- der Kunst als schön bzw. häßlich bezeichnet«
geschlagen (Werber 1992, 61–101; Plumpe/Werber (KunstG, 309). Das Problem einer entsprechenden
1993, 22–41). Diese systemtheoretisch orientierten Programmierung wird gleichermaßen als histori-
Untersuchungen zum Kunst- und Literatursystem sches Problem ausgegeben: »Der Begriff der Schön-
zeigen deutlich, wie eng Code und Funktion zusam- heit wurde also doppelsinnig (und insofern paradox)
menhängen. Luhmann selbst hat diese Kritik akzep- angewandt: als Gegensatz zum Häßlichen und als
tiert: »aber wenn man diese ehrwürdigen und ein Gesamturteil über das Verhältnis von schön und
240 Werke und Werkgruppen

häßlich […]. Deshalb konnte man auch nicht zwi- so zeigt es sich, dass sich diese Funktion nicht mehr
schen Codierung und Programm unterscheiden« bestimmen lässt. Schönheit fällt mit Funktionslosig-
(309). keit zusammen. Funktionslosigkeit wäre die Funkti-
on der Kunst im Kontext des Autonomiegedankens
(vgl. Jäger 1991, 227; Plumpe 1995, 98). Schönheit
Evolution und Selbstbeschreibung des bewirkt, dass die Funktion der Funktionslosigkeit
Kunstsystems zugleich die Funktion der Autoreflexivität ist. Und so
stiftet Schönheit den immanenten Zusammenhang
An diesem Punkt kann man zu den letzten beiden von Autonomie und Autoreflexion. Am Ende von
Kapiteln übergehen, die sich der Evolution und der Die Kunst der Gesellschaft macht Luhmann an zwei
Selbstbeschreibung des Kunstsystems widmen. Die Stellen auf ein Prinzip aufmerksam, das diese Diffe-
Frage nach der evolutionären Entwicklung des renz zwischen Autoreflexion durch die Kunst und
Kunstsystems im sechsten Kapitel wird so auf die Fra- Fremdreflexion durch die Ästhetik aushebeln kann,
ge nach der Autonomie als Kategorie der Selbstbe- nämlich wenn Kunst im Kunstwerk selbst diese äs-
schreibung der Kunst als System im siebten Kapitel thetische Reflexion leistet (KunstG, 495) und zur »ei-
enggeführt. Luhmann entwickelt dabei noch einmal gentlichen Philosophie der Kunst geworden ist«
seine Evolutionstheorie, die auf der Unterscheidung (497).
von Variation und Selektion beruht (360), die ihrer- Es ist daher nicht überraschend, dass Luhmann
seits wiederum von Stabilisierung unterschieden ein Konzept diskutiert, das in der Schwellenzeit der
werden. Gleichzeitig aber wird die Stabilisierung auf funktionalen Ausdifferenzierung in der idealisti-
die Autonomie bezogen: »Die Eigendynamik des Sys- schen Ästhetik bei Kant und bei Schiller entworfen
tems zwingt jetzt dazu, die Stabilität des Systems auf wurde und eine Antwort auf das Problem des Ver-
Autonomie zu gründen« (377). Dabei wird ein hältnisses von ästhetischer Autonomie und gesell-
grundsätzliches Problem offenbar: ›Schönheit‹ als schaftlicher Heteronomie der Kunst zu formulieren
Funktionsbegriff kann die operative Schließung des versucht, nämlich das Konzept der Heautonomie,
Systems garantieren, dasselbe Konzept von ›Schön- also der proto-autopoietischen Selbstgesetzgebung
heit‹, als Reflexionsbegriff verstanden, gefährdet ge- der Kunst durch die Kunst, an das sich Luhmann,
nau diesen systemischen Charakter der Kunst. Es ohne den Begriff zu nennen, anlehnt: »Autonomie ist
geht um die Frage, ob ›Schönheit‹ ein Kunstbegriff hier noch im wörtlichen Sinne zu verstehen als
oder ein ästhetischer Begriff ist, ob er Kunst autore- Selbstgesetzgebung, eventuell, wenn man den ent-
flexiv realisiert oder fremdreflexiv thematisiert. scheidenden Text, Kants ›Kritik der Urteilskraft‹, zu
Luhmann umkreist in der zweiten Hälfte des Bu- Rate zieht, als Selbstorganisation« (452). Operative
ches immer wieder die Frage, in welchem Verhältnis Schließung wird dabei als Autonomie interpretiert.
Schönheit als Kommunikationsmedium und Auto- Die unterschiedlichen Epochen der Kunst, nicht zu-
nomie als Autoreflexion stehen. Wenn Schönheit in letzt die avantgardistische Selbstinfragestellung der
besonderer Weise Autonomie ermöglichen kann, Kunst durch die Kunst kann daher Luhmann durch-
dann deswegen, weil Schönheit sich selbst in Kunst- aus eklektizistisch als immer neue Varianten der ope-
werken instanziiert und realisiert. Schönheit wird rativen Schließung ausweisen, um am Ende der
zum Programm, das den Code ›schön‹ vs. ›häßlich‹ Monographie die kunsttheoretische Frage, was denn
für die unabdingbare operative Schließung des Kunst sei, endgültig von der Soziologie an die Kunst
Kunstsystems einsetzt. Kunst ist nicht (nur) realisier- selbst zu delegieren, als letzte Bestätigung der in der
te Schönheit, Schönheit ist Konstitutionsprinzip von Monographie entfalteten Grundthese, wonach Kunst
Kunst überhaupt, von Kunst als System, mithin von ein Subsystem der Gesellschaft ist (505).
autonomer Kunst. Paradoxerweise – so muss man
annehmen – kann Schönheit diese Funktion der
Kunst garantieren, nicht obwohl, sondern weil sie Literatur
selbst kaum thematisch definierbar ist. Schönheit als
kunsthistorisches Prinzip wird zu einer rein forma- Fuchs, Peter: »Vom Zeitzauber der Musik. Eine Diskussi-
len Kategorie. Selbst im idealistischen Kontext in der onsanregung«. In: Dirk Baecker u. a. (Hg.): Theorie als
Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt
Ästhetik Kants wird Schönheit sowohl durch Interes- a. M. 1987, 214–237.
selosigkeit als auch durch Begriffslosigkeit definiert. Huber, Hans Dieter: »Interview mit Niklas Luhmann«. In:
Wird also Schönheit selbst als Funktion ausgegeben, Texte zur Kunst 1. Jg., 4 (1991), 127.
Die Politik der Gesellschaft (2000) 241

Jäger, Georg: »Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des 17.5 Die Politik der Gesellschaft (2000)
bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische
Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardisti-
Mit mehr als 70 Aufsätzen, Interviews, Zeitungsarti-
schen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese«.
In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen keln und sieben Monographien hat Niklas Luhmann
Strukturwandels. Tübingen 1991, 221–244. dem politischen System eine vergleichsweise große
Luhmann, Niklas: »Ist Kunst codierbar?« [1976]. In: SA3, Zahl von Veröffentlichungen gewidmet. Dabei er-
245–266. weist sich die politische Soziologie Luhmanns nahe-
–: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst« zu durchgängig als eine Soziologie des politischen
[1986]. In: SKL, 139–188.
–: »Das Medium der Kunst« [1986]. In: SKL, 123–138. Systems der modernen Gesellschaft.
–: »Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?« Den theoretischen Grundstein für seine politische
[1988]. In: SA6, 37–54. Soziologie legte Luhmann 1968, mit dem Aufsatz
–: »Weltkunst« [1990]. In: SKL, 189–245. »Soziologie des politischen Systems«. Darin beschäf-
Nassehi, Armin: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur tigt er sich in erster Linie mit der Ausdifferenzierung
Theorie der modernen Gesellschaft II. Berlin 2011.
Plumpe, Gerhard: Epochen literarischer Kommunikation. der Politik als autonomes System der modernen Ge-
Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995. sellschaft. Den Ausdifferenzierungsprozess selbst
– /Werber, Niels: »Literatur ist codierbar. Aspekte einer führt Luhmann noch auf Rollendifferenzierung zu-
systemtheoretischen Literaturwissenschaft«. In: Sieg- rück. In der Sache liegt sein Hauptaugenmerk jedoch
fried J. Schmidt (Hg.): Systemtheorie und Literaturwis- auf der Analyse rein sachlicher, nur systemimmanent
senschaft. Opladen 1993, 9–43.
Werber, Niels: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung zu verhandelnder Kriterien der Eignung und Leis-
literarischer Kommunikation. Opladen 1992. tungserbringung, die zur Besetzung und Bewertung
politischer Rollen herangezogen werden (Luhmann
Oliver Jahraus
1968).
Schaut man sich daraufhin die posthum publizier-
te Monographie Die Politik der Gesellschaft (PolG
2000) an, könnte man geneigt sein zu sagen: alter
Wein in neuen Schläuchen – freilich mit dem feinen
Unterschied, dass der Wein inzwischen sehr viel rei-
fer geworden ist. So blieb sich Luhmann darin treu,
den Begriff der Politik nicht mehr am Traditionssinn
der aristotelischen Terminologie festzumachen, weil
die politische Gesellschaft von Aristoteles nicht mehr
unsere Gesellschaft ist. Auch stößt man auf die glei-
che Abfolge von Ausdifferenzierung, Autonomie und
funktionaler Spezifikation, mit der sich Luhmann
schon seit 1968 dem politischen System angenähert
hatte. Sogar die Ausdifferenzierung des politischen
Systems qua Ämter, also über Rollendifferenzierung,
taucht wieder auf, und selbst bei der Bestimmung der
Autonomie des politischen Systems thematisiert
Luhmann erneut die Funktion des politischen Sys-
tems, kollektiv bindende Entscheidungen herzustel-
len. Zweifelsohne weist Luhmanns politische Sozio-
logie über all die Jahre hinweg gewisse Konstanten
auf.
Eine gegenüber 1968 bemerkenswerte »Neuerung
(oder vielleicht nur: Präzisierung)«, wie Luhmann
(PolG, 15) formulierte, kommt hingegen an dem
Punkt ins Spiel, wo er die Frage aufwirft, wie sich po-
litische Kommunikation erkennen lässt. Wie also er-
kennt das politische System die Zugehörigkeit
systemspezifischer Kommunikationen, wenn es in
der Gesellschaft doch zahllose andere Kommunika-
242 Werke und Werkgruppen

tionen gibt, die nicht politischer Natur sind? Luh- der doppelten Kontingenz zum Tragen, das ein spe-
mann nimmt damit zwar seine klassische Frage nach zifisches Koordinationsproblem zum Gegenstand
der Selbstbestimmung des politischen Systems wie- hat. Denn es stellt sich – setzt man der Einfachheit
der auf, also nach der systemspezifischen Fähigkeit, wegen nur zwei Personen, Alter und Ego, voraus – die
selektive Kriterien für den Verkehr mit der Umwelt Frage: Wie gelingt es Ego, Alter zu einer bestimmten
selbst zu setzen und nach Bedarf zu ändern. Auf- Handlung zu veranlassen, wenn Alter ebenso gut an-
grund der höheren Anforderungen, die Luhmann ders handeln könnte? Eine solche Situation erfordert
sich im Zuge der autopoietischen Wende selbst ge- Macht, damit die Absicht von Ego zur verbindlichen
setzt hatte, gerade wenn es um die operationsspezifi- Entscheidungs- und Handlungsvorgabe von Alter
sche (Selbst-)Identifizierung sozialer Systeme geht, wird. Luhmann nennt diese Art von Technologie,
bedurfte es nunmehr jedoch einer sehr viel genaue- durch welche die Handlungsvorgabe einer Person
ren Bestimmung dieser Kriterien, als dies zu Anfang das Verhalten einer anderen (mit-)bedingt, symbo-
noch nötig oder möglich schien. lisch generalisiertes Kommunikationsmedium.
Die Politik der Gesellschaft stellt nun die Summe all Symbolisch generalisierte Kommunikations-
dessen dar, was Luhmann in über 30 Jahren zur So- medien wie Macht, Geld, Wahrheit oder Liebe stel-
ziologie des politischen Systems beigetragen hat. Im len eine evolutionäre Errungenschaft dar (SA2,
Einzelnen umfasst das Buch elf Kapitel: 1. Die Politik 170–192). Voraussetzung ist ein gewisser Variations-
der Gesellschaft, 2. Das Medium Macht, 3. Die Aus- spielraum an Handlungsmöglichkeiten, so dass auf
differenzierung und operative Schließung des politi- bestimmte Handlungsvorgaben zugunsten von Al-
schen Systems, 4. Politisches Entscheiden, 5. Das ternativen mit Ablehnung reagiert werden kann. Be-
Gedächtnis der Politik, 6. Der Staat des politischen stehen solche Alternativen nicht, gibt es keinerlei
Systems, 7. Politische Organisationen, 8. Öffentliche Bedarf für Macht, weil eine Ablehnung höchst un-
Meinung, 9. Selbstbeschreibungen, 10. Strukturelle wahrscheinlich ist. Insofern kommt es zur Ausbil-
Kopplungen, 11. Politische Evolution. In Anbetracht dung des Mediums Macht erst, wenn sich innerhalb
der Raumknappheit kann nicht auf alle Aspekte ein- einer Gesellschaft Möglichkeiten der Ablehnbarkeit
gegangen werden. Zentral sind die Sachverhalte von Handlungsvorgaben aufgrund der Zunahme
Macht und Gewalt, Funktion und Entscheidung des von Möglichkeiten abzeichnen, auch anders handeln
politischen Systems sowie die politische Codierung zu können (M; Luhmann 2012). »Ein Bedarf für
›Regierung‹ und ›Opposition‹. Macht entwickelt sich nur dann, wenn Handlungen
als Entscheidungen kommuniziert werden, also als
Selektionen, die auch anders ausfallen könnten; und
Medium und symbiotischer Mechanismus wenn sie sich auf Handlungen eines anderen bezie-
hen, für die dasselbe gilt« (PolG, 59).
»Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozia- Dieses Kontingenzmoment führt dazu, dass Frei-
len Beziehung den eigenen Willen auch gegen Wider- heit zur unverzichtbaren Bezugsgröße von Macht
streben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chan- wird. Nur wo Freiheit herrscht, kommt Macht zum
ce beruht«, so Max Weber (1985, 28) in Wirtschaft Einsatz. »Macht setzt Freiheit voraus« (39). Deshalb
und Gesellschaft. Indes erscheint Webers Machtbe- ist es für das Medium Macht entscheidend, dass sie
griff eigentümlich amorph, weil er überall und jeder- diese Bedingung ihrer Möglichkeit nicht beschädigt.
zeit anwendbar ist. Ihm fehlt es an Konturiertheit, Aus diesem Grund ist Macht wesentlich Drohmacht:
an empirisch relevanter Begrenzung seiner Anwen- Alter und Ego tauschen jeweils Argumente aus, wes-
dungsmöglichkeiten, um soziologisch brauchbar zu halb sich die Übernahme einer Handlungsvorgabe
sein. empfiehlt oder nicht, und je nachdem, wer die besse-
Wendet man sich vor diesem Hintergrund dem ren Argumente vorbringt, die keineswegs bloß Ver-
Machtbegriff Luhmanns zu, erkennt man den Zuge- nünftigkeit für sich beanspruchen, gewinnt einer
winn an begrifflicher Präzision, weil Luhmann eine dieses Machtspiel. Beweggründe für das Nachgeben
exakte Definition der Situation mitliefert, innerhalb und Einlenken sind dabei oftmals negative Sanktio-
derer Macht zur Anwendung kommt. Nach Luh- nen, die angedroht werden, aber möglichst nicht
mann ist Macht nämlich eine soziale Technologie, die zum Einsatz kommen. Luhmann spricht deshalb
nur dann zum Einsatz kommt, wenn eine Situation auch von der Nullmethodik der Macht, da Möglich-
mehr als eine Handlungsmöglichkeit aufweist. Auf- keiten des Bestrafens bei Ablehnung der Handlungs-
grund dieser Wahlmöglichkeit kommt das Prinzip vorgabe, letztlich Gewaltanwendung, zwar ins Spiel
Die Politik der Gesellschaft (2000) 243

gebracht werden, ohne dass dieser Spielzug jedoch unverzichtbar sind, ganz und gar inakzeptabel wird.
tatsächlich vollzogen wird. Von daher braucht es für diese Angelegenheiten eine
Wenn man von Macht spricht, darf man von Ge- kollektiv verbindliche Regelung und die Möglichkeit
walt nicht schweigen. Denn Gewalt, genauer: physi- einer Androhung von Gewaltanwendung bei Zuwi-
sche Gewalt, ist dasjenige Drohmittel, auf das Macht derhandlung, um hinreichend durchsetzungsfähig
bei ihrer Anwendung als Ultima Ratio am häufigsten auftreten zu können, und damit die Ausdifferenzie-
Bezug nimmt. Dabei bezeichnet Luhmann (1974a) rung eines spezifisch politischen Systems, das die ex-
Gewalt als einen symbiotischen Mechanismus, der klusive Funktion hat, solche Fragen mittels Macht
auf den Körper der Personen gerichtet ist und damit kollektiv bindend zu entscheiden.
eine direkte Kontrolle der Umwelt des Gesellschafts- Diese Definition der Funktion des politischen Sys-
systems zu erreichen sucht. Kommunikation und tems, kollektiv bindende Entscheidungen herzustel-
Körper befinden sich gewissermaßen in einem Pro- len und durchzusetzen, ist vor allem Talcott Parsons
zess wechselseitiger Einwirkung (Interpenetration). (1969, 46) zu verdanken: »We define power as capa-
Zugleich fungiert Gewalt dadurch, dass allein das po- city to make – and make ›stick‹ – decisions which are
litische System das Recht zur legitimen Anwendung binding on the collectivity of reference and on its
von Gewalt, sprich: das Gewaltmonopol bean- member units in so far as their statuses carry obliga-
sprucht, als eine zentrale Bedingung der Ausdifferen- tions under the decisions.« Luhmann hat diese Funk-
zierung des politischen Systems. Letztlich ist das tionszuschreibung als Leitmotiv der Ausdifferenzie-
Gewaltmonopol aber nur Mittel zum Zweck, stellt rung des politischen Systems nahezu unverändert
dieses doch lediglich eine möglichst selten zur An- übernommen und bis zuletzt durchgehalten, wenn er
wendung kommende und deshalb im Hintergrund diesem System allein die Fähigkeit zuspricht, auf eine
bleibende Möglichkeit der Durchsetzung von Hand- ausreichende Kapazität für kollektiv bindende Ent-
lungsvorgaben dar (mit Verbindlichkeit für alle, die scheidungen zurückgreifen zu können. Der Exklusi-
bei Erfüllung gewisser Merkmale – in den Grenzen vitätsanspruch dieser Funktionszuschreibung legt
eines bestimmten Territoriums lebend – einer künst- dabei den Eindruck nahe, das politische System sei
lich konstituierten Einheit, nämlich dem Volk, zuge- das Steuerungszentrum der modernen Gesellschaft.
rechnet werden). Vielmehr geht es um das Monopol Dieser Eindruck trügt. Denn aufgrund der Tatsache,
der Möglichkeit von Entscheidungen darüber, wie dass nicht bloß das politische System, sondern alle
alle, die als Staatsbürger betrachtet werden, sich mit Subsysteme der modernen Gesellschaft autonom
Blick auf bestimmte Sachverhalte, die für alle als re- sind, würde eine direkte Steuerung der Prozesse an-
levant erachtet werden, auf verbindliche Art und derer Systeme durch die Politik darauf hinauslaufen,
Weise zu verhalten haben. Erst diese Konzentration, diese in ihrer Funktionsfähigkeit empfindlich zu stö-
ja Zentralisierung von Macht, soweit es die Regelung ren, gegebenenfalls zu zerstören. Insofern kann kol-
von Angelegenheiten betrifft, die alle angehen, kon- lektiv bindendes Entscheiden zunächst nur bedeu-
stituiert das politische System. ten, bestimmte Rahmenbedingungen zu setzen,
innerhalb derer sich die Aktivität der Systeme frei
entfalten darf (hierfür sind etwa die Grundrechte als
Funktion und Operation Institution gedacht), und ansonsten illegale Kon-
flikt- und Gewaltpotentiale durch Androhung staat-
Wie angesprochen, ist Macht eine evolutionäre Er- lich legitimer Gewaltanwendung zu unterbinden,
rungenschaft: Sie wird gesellschaftlich erst benötigt, während manifeste Konflikte und Gewalttaten, die
wenn die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung von dennoch geschehen, durch bestimmte negative
Handlungsaufforderungen ein gewisses Maß über- Sanktionen, schlimmstenfalls Freiheitsentzug durch
steigt. Dies mag im Einzelfall ohne Belang sein. Wenn Inhaftierung, bestraft werden.
solche Einzelfälle an Häufigkeit aber zunehmen, also Der entscheidende Punkt, auf den es hier an-
vermehrt kleine Sozialsysteme damit überlastet sind, kommt, wenn die Selbstbestimmung des politischen
solche Vorkommnisse rein intern zu regeln, und die Systems zur Diskussion steht, ist weder die Frage
daraus entstehenden Konflikte alsbald die Gesell- nach dem Kollektiv, die auf die Voraussetzung des
schaft als solche tangieren, stellt sich mit Bezug auf Volkes zielt, noch die Frage nach der Bindung dieses
das Ganze die Frage, in welchen Angelegenheiten Kollektivs (sei es die Art und Weise, der Grad oder die
eine Ablehnung bestimmter Handlungsaufforderun- Wirksamkeit dieser Bindung), sondern das Moment
gen, die für die Stabilisierung der sozialen Ordnung der Entscheidung. Denn damit wird ein klares Krite-
244 Werke und Werkgruppen

rium angegeben, das die Besonderheit des politi- Frage, wodurch man die spezifische Form von Kom-
schen Systems auszeichnet, indem nicht jede Kom- munikation der Politik als System in seiner ganzen
munikation, die einen politisch relevanten Sachver- Einheit identifizieren kann. Diese Frage leitet zur bi-
halt zum Gegenstand hat, geeignet erscheint, große nären Codierung des politischen Systems über.
Politik zu repräsentieren, sondern lediglich jene
Form von Kommunikation, die als Entscheidung
über solche Sachverhalte gelten kann oder damit be- Code und Referenz
fasst ist. So umfasst das politische System auch poli-
tisch intendierte Kommunikationen, die politische Um die zentrale Funktion binärer Codierungen für
Entscheidungen vorschlagen, vorbereiten, ankündi- die Frage nach der Elementaroperation des politi-
gen, bekanntgeben oder kommentieren. »Als ›Poli- schen Systems nachvollziehen zu können, ist zu-
tik‹ kann man jede Kommunikation bezeichnen, die nächst die Bedeutung des Begriffs der operationalen
dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen Geschlossenheit zu klären. Ausgangspunkt dafür ist,
durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen dass Luhmann seit der autopoietischen Wende den
vorzubereiten« (PolG, 254). Darüber hinaus macht Zeitfaktor viel stärker ins Spiel gebracht hat. Dem-
Luhmann deutlich, dass nicht alle politischen Opera- nach bestehen soziale Systeme nur in der Zeit, und
tionen der Handhabung und Reproduktion politi- zwar aus einer Vielzahl artgleicher Ereignisse, die von
scher Macht dienen. Für die Autopoiesis des einem Augenblick zum nächsten auftauchen und
politischen Systems kommt es gleichwohl nur auf wieder verschwinden. Von daher drängt sich die Fra-
kollektiv bindende Entscheidungen als zentraler ge auf, wie es einem sozialen System gelingt, sich an-
Operationsform an, die allein vom Staat, dem Zen- gesichts dieser Ereignishaftigkeit seiner Existenz
trum des politischen Systems, vollzogen wird. Hier selbst herzustellen und in der Zeitlinie Dauer zu ver-
wirkt die Frage der politischen Funktion gewisser- schaffen. Oder anders gefragt: Wie schafft es ein so-
maßen präjudizierend für die Frage der politischen ziales System, seine Identität von Ereignis zu Ereignis
Operation, und der Staat übernimmt die Repräsen- aufrechtzuerhalten? Denn wenn es ihm nicht gelingt,
tation des politischen Systems als Superorganisation nach dem Verschwinden des gerade gegenwärtigen
(SA4, 74–103). Ereignisses sogleich ein neues zu erzeugen, das den
Freilich ist in diesem Zusammenhang festzuhal- bereits gesponnenen ›Systemfaden‹ wieder auf-
ten, dass sich kein Funktionssystem allein als Orga- nimmt und fortsetzt, zerfällt das System sofort und
nisation beschreiben lässt, auch nicht das politische. hört auf zu existieren.
Der Staat besitzt zwar seit jeher den Vorzug, als Teil Operative Geschlossenheit bedeutet, dass jedes so-
für das Ganze genommen zu werden. Die Staatsfi- ziale System, das sich nicht bloß der Zuschreibung ei-
xiertheit bei der Politikbetrachtung hat quasi Tradi- nes externen Beobachters verdanken, sondern für
tion. Doch die Einheit des politischen Systems ergibt sich selbst bestehen soll, eine solche, nur ihm zuge-
sich keinesfalls aus der Einheit des Staates, und damit hörige Operationsform aufweisen muss, mit der es
kann die Elementaroperation des politischen Sys- ihm gelingt, sich in Abgrenzung zur Umwelt selbst zu
tems auch nicht politisches Entscheiden sein, das le- (re-)produzieren. Der eindeutigste Fall für operative
diglich als Elementaroperation von (politischen) Geschlossenheit ist hierbei die Gesellschaft als Sys-
Organisationen in Frage kommt. Sehr deutlich wird tem mit Kommunikation als der nur ihr zugehörigen
dies an der Stelle, wo Luhmann die Einheit des poli- Operationsform. Denn die Gesellschaft besteht laut
tischen Systems auf dessen Binnendifferenzierung Luhmann nur aus Kommunikationen. Andere Ereig-
nach Zentrum und Peripherie bezieht. Demnach nisse, die ebenso vorkommen, ständig und überall,
macht der Staat nur einen Teilbereich des politischen können demgegenüber nicht Teil der Gesellschaft
Systems aus, auch wenn es sich eingebürgert haben werden, sondern bleiben bloßes Rauschen, das allen-
sollte, »die Einheit des (politischen) Systems im Blick falls über die Irritation wenigstens eines Bewusst-
auf das Zentrum (Staat) zu beschreiben« (PolG, 252). seins der an der Gesellschaft beteiligten Personen zur
Doch die Peripherie gehört ebenso zum politischen Sprache kommen kann. Die für die Bildung der Ge-
System wie der gesamte ›Innenraum‹ zwischen dem sellschaft als System entscheidende Differenz ist da-
politischen Zentrum und der Peripherie der Politik bei beobachtbares Mitteilungsverhalten, also die
als System, und hier wird keineswegs bloß entschie- Differenz von Information und Mitteilung, die als
den, und wenn, dann ohne weitreichende Folgen für Differenz beobachtet werden muss, um Kommuni-
das politische Geschehen (vgl. P). Insofern bleibt die kation als Operation in Gang zu setzen, und dies wie-
Die Politik der Gesellschaft (2000) 245

derum in Differenz zu all den anderen Ereignissen, bezeichnet hatte, mit der das politische System sich
denen sich eine solche Differenz von Information und seine Umwelt selbstselektiv beobachtet, ohne
und Mitteilung nicht zurechnen lässt. Anders gesagt, dabei auf irgendeine Entsprechung in der Umwelt
geht es bei der Konstitution von Kommunikation als des Systems zurückzugreifen (Luhmann 1974b). In
Operation um die schlichte Möglichkeit der Zure- einem zweiten Schritt kam dann die Codierung Re-
chenbarkeit bestimmter Merkmale auf bestimmte gierung/Opposition hinzu, die Luhmann in den
Ereignisse, soweit diese sich dafür eignen, ihnen ge- 1980er Jahren ins Gespräch brachte, um die links/
nau diese Differenz von Information und Mitteilung rechts-Unterscheidung in ihrer Funktion als Leitdif-
zurechnen zu können. ferenz des politischen Systems schließlich ganz zu er-
Die Möglichkeit der Zurechenbarkeit bestimmter setzen und damit die Autonomie des politischen
Merkmale auf bestimmte Ereignisse konstituiert so- Systems im Namen der Demokratie zu vollenden
mit Kommunikation und damit das Gesellschaftssys- (Luhmann 1986; 1989). »Was wir ›Demokratie‹ nen-
tem, und nicht viel anders verhält es sich bei jeder nen und auf die Einrichtung politischer Wahlen zu-
Form von sozialem System – mit dem kleinen Unter- rückführen, ist demnach nichts anderes als die
schied, dass es jetzt nicht mehr bloß auf die Kommu- Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen
nikation als Operation, sondern als Struktur an- Systems. Das System gründet sich selbst auf Entschei-
kommt. Denn während es für die Existenz der dungen, die es selber eingerichtet hat« (PolG, 104 f.).
Gesellschaft als System völlig irrelevant ist, worüber Die Besonderheit der politischen Codierung Re-
kommuniziert wird, solange überhaupt kommuni- gierung/Opposition, die die (gespaltene) Spitze des
ziert wird, hängt die Existenz jedes einzelnen sozialen politischen Systems besetzt, besteht in ihrer evolutio-
Systems grundlegend davon ab, was Thema der när einzigartigen Leistungsfähigkeit. Denn während
Kommunikation ist. An nichts anderem macht sich die Regierung und die ihr nachgeordnete politische
der Unterschied sämtlicher sozialer Systeme sonst Verwaltung weiterhin die Funktion des kollektiv bin-
fest: an Sinndifferenzen, die sich durch ihre Themen- denden Entscheidens wahrnehmen, fungiert die Op-
orientierung unterscheiden (lassen). Insofern sucht position als »Pufferzone zwischen Regierung und
jedes soziale System seine innergesellschaftliche Um- Volk« (164) und erreicht damit eine ungleich höhere
welt unentwegt daraufhin ab, inwiefern sie Mittei- Einbeziehung der politischen Peripherie, als dies je
lungen aufweist, die sich mehr oder weniger direkt zuvor möglich war. Die Opposition sorgt gewisser-
dem jeweiligen Thema des Systems zurechnen lassen. maßen für eine Verminderung und Vermittlung des
Der Suchmodus sozialer Systeme lautet dementspre- Machtgefälles, das zwischen dem Zentrum und der
chend ›thematische Relevanz‹. Peripherie der Politik herrscht. Überdies trägt die
Die Besonderheit bei Funktionssystemen besteht schiere Möglichkeit der Integration in politische Ver-
nun darin, dass ihre Leitdifferenz binär codiert ist, fahren wesentlich zur Legitimation des politischen
also aus genau zwei Werten besteht, die einander lo- Systems bei, wie Luhmann schon 1969 gezeigt hat.
gisch ausschließen, wie Ja/Nein, Tag/Nacht, Person/ Formal logisch liegt dies daran, dass sich jedes Anlie-
Unperson. Mittels solcher binärer Codierungen ge- gen, das politisch entschieden werden soll, entweder
lingt eine vollständige Erfassung der Welt, weil alles, der Regierung oder der Opposition als zuständiger
was geschieht, entweder auf der einen oder anderen Adresse zurechnen lassen sollte. Denn was nicht von
Seite vorkommt, tertium non datur! Und ebenso ver- der Regierung berücksichtigt wird, landet automa-
hält es sich mit den binären Codes der Funktionssys- tisch bei der Opposition, und umgekehrt. Dies ist
teme. So lautet der Code des Wirtschaftssystems eine zwangsläufige Folge binärer Codierungen.
Zahlen/Nicht-Zahlen, der Code des Rechtssystems Überdies bewirkt die binäre Codierung Regierung/
Recht/Unrecht und der Code der Wissenschaftssys- Opposition die operative Schließung des politischen
tems Wahrheit/Unwahrheit. Wie stellt sich der Fall Systems. Die Annahme lautet somit, dass die elemen-
beim politischen System dar? tare Operation des politischen Systems in jeder Kom-
Im Laufe der Werkentwicklung boten sich Luh- munikation gesehen werden kann, die ein beliebiges
mann zwei Möglichkeiten der Bestimmung des poli- Anliegen thematisiert, sofern dies mit Bezug auf die
tischen Codes an. In einem ersten Schritt greift Unterscheidung von Regierung und Opposition ge-
Luhmann auf die aus der Französischen Revolution schieht, während alle anderen Formen von Kommu-
stammende Unterscheidung links/rechts (in moder- nikation, denen sich eine solche Bezugnahme nicht
nisierter Ausführung: progressiv/konservativ) zu- nachweisen lässt, in die innergesellschaftliche Um-
rück, die er schon 1974 als politische Codierung welt des politischen Systems gehören.
246 Werke und Werkgruppen

Was in diesem Zusammenhang unbedingt noch fried Unseld (Hg.): Politik ohne Projekt? Nachdenken
Erwähnung finden sollte, sind Luhmanns Beiträge über Deutschland. Frankfurt a. M. 1993, 43–53.
–: »Der Staat des politischen Systems«. In: Ulrich Beck
zur öffentlichen Meinung (Luhmann 1971; SA5,
(Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M.
170–182; 1991). Denn der öffentlichen Meinung 1998, 345–380.
kommt in der Vermittlung von Politik und innerge- –: Macht im System. Berlin 2012.
sellschaftlicher Umwelt die wesentliche Aufgabe der Parsons, Talcott: Politics and Social Structure. New York
Reduktion von Komplexität zu – anders würde das 1969.
politische System gar nicht fähig sein, seiner Funkti- Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der
verstehenden Soziologie. Tübingen 1985.
on nachzukommen. Obendrein unterstützen soziale
Bewegungen und politische Parteien diesen Selekti- Kai-Uwe Hellmann
ons- und Rationalisierungsprozess (Luhmann 1993;
P).
Ein letztes Wort noch zur Rezeption der politi-
schen Soziologie Luhmanns. Diese ist sehr begrenzt,
soweit es die theoretische Basis angeht, während Dif-
fusion und Integration der Semantik Luhmanns in-
zwischen große Fortschritte erzielen (Hellmann
2011).

Literatur
Hellmann, Kai-Uwe: »System«. In: Gerhard Göhler/Mat-
thias Iser/Ina Kerner (Hg.): Politische Theorie. 25 um-
kämpfte Begriffe zur Einführung. Wiesbaden 2011,
372–386.
Luhmann, Niklas: »Soziologie des politischen Systems«. In:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
20. Jg. (1968), 705–733.
–: »Öffentliche Meinung«. In: Niklas Luhmann: Politische
Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwal-
tung. Opladen 1971, 9–34.
–: »Symbiotische Mechanismen«. In: Otthein Rammstadt
(Hg.): Gewaltverhältnisse und die Ohnmacht der Kritik.
Frankfurt a. M. 1974a, 107–131.
–: »Der politische Code. ›Konservativ‹ und ›progressiv‹ in
systemtheoretischer Sicht«. In: Zeitschrift für Politik
21. Jg., 3 (1974b), 253–271.
–: »Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbo-
lisch generalisierter Kommunikationsmedien«. In: SA2,
170–192.
–: »Die Zukunft der Demokratie«. In: Joschka Fischer
(Hg.): Der Traum der Vernunft. Vom Elend der Aufklä-
rung. Eine Veranstaltungsreihe der Akademie der Künste
Berlin. Zweite Folge. Neuwied 1986, 207–217.
–: »Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung
politischer Systeme«. In: SA4, 74–103.
–: »Theorie der politischen Opposition«. In: Zeitschrift für
Politik 36. Jg., 1 (1989), 13–26.
–: »Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Mei-
nung«. In: SA5, 170–182.
–: »Selbstorganisation und Information im politischen Sys-
tem«. In: Uwe Niedersen/Ludwig Pohlmann (Hg.):
Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Na-
tur, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 2: Der
Mensch in Ordnung und Chaos. Berlin 1991, 11–26.
–: »Die Unbeliebtheit der politischen Parteien«. In: Sieg-
247

17.6 Die Religion der Gesellschaft (2000) interpretiert wird, setzt an der Fundamentalität des
Mediums ›Sinn‹ an. Dieses Medium ist Luhmann zu-
Die Titel der Bücher, die wesentlich Niklas Luh- folge universal und für Sinnsysteme nicht über-
manns Religionssoziologie enthalten, nämlich Funk- schreitbar. Sinn ist – in phänomenologischer Diktion
tion der Religion (FdR 1977) und Die Religion der – dann gegeben, wenn Ereignisse als Selektionen be-
Gesellschaft (RelG 2000), sind in gewisser Weise re- obachtet werden, für deren Verstehen der Horizont
spektlos. Der eine Titel spielt provokativ mit der der Auswahl kopräsent fungiert. Die Sinnform ent-
Funktion des Nicht-Funktionalisierbaren, der ande- spricht der Unterscheidung von Aktualität/Potentia-
re scheint die Religion der Gesellschaft zu subordi- lität, wobei Sinnoperationen (Kommunikationen,
nieren, indem er sie wie die Wirtschaft, die Politik, Kognitionen), jenseits derer das Sinnmedium keine
die Kunst, das Recht etc. auf der Ebene von Funkti- Existenz hat, die Aktualität fortwährend herstellen
onssystemen ansiedelt und sie aus ihrer weltbedeut- als eine, die sich konstituiert vor dem dadurch aufge-
samen Zentralität rückt, als sei sie, horribile dictu, spannten Projektionsschirm der Potentialität.
überhaupt als ein System begreifbar und noch dazu Der hier entscheidende Gesichtspunkt ist, dass
als eines, das verglichen werden könne mit jenen an- Sinnsysteme dieser Form, diesem Medium nicht ent-
deren, durch und durch säkularen bzw. profanen Sys- kommen können. Das Sinnlose ist nur sinnlos, wenn
temen. Dazu kommt, dass nicht von diesen oder es in der Sinnform als Sinn aufgegriffen wird, wenn
jenen religiösen Organisationen (Kirchen) der Reli- also auf Sinnlosigkeit referiert wird. Die Frage, die
gion die Rede ist, sondern von der Systemität, der damit stellbar wird, ist die nach der Selektivität von
Funktionalität, der Phänomenalität des Religiösen Selektivität überhaupt, bündig: nach dem Sinn von
schlechthin. Dass Organisationen soziologisch ana- Sinn, im Tonfall Heideggers: ›Warum ist Sinn und
lysiert werden können, ist nicht fraglich, aber dass nicht vielmehr: Nicht-Sinn?‹ Die psychische und so-
eine nicht-theologische Theorie der Religion auch ziale Brisanz oder Virulenz der Frage resultiert aus
nur in die Nähe dessen kommen könnte, was Religi- dem einfachen Umstand der Sterblichkeit: »Im Be-
on wirklich und ›geheimnisvoll‹ als Numinosum, greifen des Todes tritt das Medium Sinn in Wider-
Tremendum, als Mysterium ausmacht, ist in einem spruch zu sich selbst« (RelG, 51).
genauen Sinne nicht: glaubhaft. Jeder weiß, dass das furchtbare Diktum Octavians
Es ist ein glänzender Schachzug Luhmanns, dass ›Moriendum est …‹ (›Es ist zu sterben‹) ausnahmslos
er auch nicht vorgibt, dies zu können und zu wollen, gilt, dass also ein Ende von Sinn bevorsteht, dessen
aber gleichwohl ein Abstraktionsniveau wählt, in ›Danach‹ nicht oder eben wieder nur sinnförmig,
dem sich seine Beobachtung des Religiösen (und des mithin nur imaginiert werden kann. Luhmann be-
Religoiden) nicht als ›vergröbert‹, als über-schemati- antwortet nicht diese Sinnfrage, sondern fixiert ihre
siert beobachten lässt. Das zeigt sich schon am Start- Unbeantwortbarkeit für Sinnsysteme. Sie katalysiert
punkt seiner Überlegungen, der Rekonstruktion der vielfältige soziale Formen, die das Antworten den-
sozialen Funktion der Religion. noch übernehmen – durch Nichtantworten. Die Re-
plik der Religion, die das Arrangement dieser
Formen ist, besteht darin, ihre Narrationen und ihre
Die Funktion Rituale gegen Negation abzudichten, die Narratio-
nen durch die unantastbare Heiligkeit der grundle-
Zu erinnern ist hier daran, dass der Funktionsbegriff genden Bücher, die Rituale durch Verfahren, die
in Luhmanns Theorie ent-teleologisiert zum Einsatz verhindern, dass Rituale als kontingent beobachtet
kommt. Er bezeichnet nicht Zwecke, Ziele, die Aus- oder gar in actu negiert werden können. Die Bücher
richtung von Systemkausalitäten auf zu erreichende wie die Rituale werden sakrosankt gestellt.
Endpunkte, nicht einmal so etwas wie die Aufgabe Vorsichtshalber ist hinzuzufügen, dass diese Pro-
der Systemerhaltung, sondern eine Methode, bei der blemkonstruktion und das Problemlösungsschema
sich im Blick auf je interessierende Phänomene Pro- ›Religion‹ nicht als Praxis der Lüge entlarven, sie sind
bleme konstruieren lassen, als deren Lösung diese nicht Kritik im Duktus der Aufklärung. Ebendeswe-
Phänomene in einem Tableau vergleichbarer Lösun- gen war es wichtig, den Funktionsbegriff zu de-onto-
gen gedeutet werden. Der Funktionalismus Luh- logisieren in einer theoretisch grundierten Heuristik,
manns ist, spitz formuliert, eine Hermeneutik, die die – wenn die Funktion bestimmt ist – durchschließt
Deutbarkeiten inszeniert. auf ein Funktionssystem und so die Möglichkeit er-
Das Problem, von dem aus die Religion funktional öffnet, den für solche Systeme einschlägigen Krite-
248 Werke und Werkgruppen

rienkanon zu nutzen, der hier nur auszugsweise Instanzen rückzubinden (religere, religare) an die Im-
wiedergegeben und erprobt werden kann. manenz, an der sie dann interessiert erscheinen; an-
ders ließe sich kaum religiöses Verhalten motivieren.
Auf der Immanenzseite wird dadurch der Bedarf an
Die Codierung passenden Selektionen, an Konkretionen des Nicht-
Konkreten, an der Bestimmung des Unbestimmba-
Ein erstes Kriterium ist die sogenannte Codierung ren ausgelöst, die Welt der Programme, durch die
der Funktionssysteme. Ein Code ist, formal gesehen, sich Transzendenz immanent bearbeiten und wegen
eine strikt binäre Unterscheidung, mit der das Sys- ihres Interesses an Immanenz beeinflussen lässt. Man
tem sich für sich selbst kenntlich macht, oder genau- könnte auch sagen: Das Inkalkulable der Transzen-
er: mit der ein Beobachter die Weise kennzeichnet, in denz wird kalkülisiert.
der das Referenzsystem sich selbst von dem, was es
nicht ist, in sich selbst operativ unterscheidet. Es geht
also um die Beobachtung der Selbstbeobachtung von Das Kommunikationsmedium
Religion, um das Observieren der Art, wie sie in sich
zwischen Fremd- und Selbstreferenz so oszillieren Die symbolisch generalisierten Kommunikations-
kann, dass operative Anschlüsse als Anschlüsse im medien der Funktionssysteme sind Einrichtungen,
System gleichsam entzifferbar werden – als Dazuge- die sich auf die Unwahrscheinlichkeit der Akzeptanz
hörigkeiten im Unterschied zur Operativität von der von diesen Systemen kommunikativ prozessier-
Wirtschaft, Recht, Politik, Kunst etc. ten Sinnofferten beziehen. Im Zentrum steht die Er-
Hinter dem Code-Begriff steckt eine komplexe möglichung der sozialen Ratifikation von Zumutun-
Theorie, die sich hier nicht mitreferieren lässt. Im Er- gen, anders gewendet: eine Ökonomie der Verwahr-
gebnis kommt Luhmann nach sehr sorgsamen Ana- scheinlichung des Unwahrscheinlichen. Beispiele für
lysen von pre-adaptive advances im Blick auf den (mittlerweile gut durchbestimmte) Probabilisie-
Code der Religion zur Formulierung, dass seine evo- rungsmedien sind etwa Macht in der Politik, Geld in
lutionäre Hochform die Unterscheidung von Imma- der Wirtschaft, Wahrheit in der Wissenschaft. Zur
nenz/Transzendenz sei. Das heißt zunächst, dass sich Identifikation solcher Medien dient erneut eine Pro-
das Spiel der Religion spielt, wenn sich beobachten blemkonstruktion, die die gleichsam ursprüngliche
lässt, dass Immanenz operativ als Gegenwert von Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen rekon-
Transzendenz bezeichnet wird. Immanenz ist der struieren muss, da das Problem der Akzeptanz ja so-
Präferenzwert des Codes. Das bedeutet, dass An- zial schon gelöst ist. Geld, Macht, Wahrheit sind
schlüsse (Kommunikationen des Systems) imma- ersichtlich und erfolgreich im medialen Einsatz.
nent stattfinden und auch der Rekurs auf Transzen- Jene Problemrekonstruktion lässt sich im Fall der
denz immanent vollzogen wird. Religion summarisch kennzeichnen: Es ist unwahr-
Damit ist die Figur des re-entry angespielt, die scheinlich, dass für wahr gehalten und entsprechen-
Luhmann aus George Spencer-Browns Laws of Form den Anschluss findet, was sich via Transzendenz
(1969) importiert. Sie bezeichnet die Möglichkeit des jeglicher Realitätsprüfung entzieht. Als eine Art Kon-
Wiedereintritts einer Unterscheidung in sich selbst. trapunkt zum Medium der Wahrheit in der Wissen-
Im Falle binärer Codes besteht die Raffinesse darin, schaft, die mit ihrer Ausdifferenzierung das Unwahr-
dass der Code sich in seine beiden Seiten gleichsam scheinlichkeitsproblem religiös instrumentierter
hineindupliziert. Sowohl auf der Seite der Immanenz Kommunikationen verschärft, lässt sich deswegen
wird Immanenz/Transzendenz unterschieden als ›Glaube‹ in einem ersten Zugriff als symbolisch ge-
auch auf der Seite der Transzendenz. Ein Vorteil ist, neralisiertes Medium der Religion auffassen. Das ist
dass der Code nicht die Entscheidung für die eine prima facie plausibel, da sich religiöse Kommunika-
oder andere Seite erzwingen kann, denn mit jeder tion in gewisser Weise immer glaubensgestützt ab-
Markierung einer Seite wird die gesamte Unterschei- spielt.
dung mitindiziert. Sie ist deswegen wie die Leitdiffe- Das Problem ist allerdings, wie man sich vorstellen
renzen anderer Systeme welt-okkupierend und un- kann, dass der Glaube allein ein Motivationspotenti-
entrinnbar, sobald sie ›angewählt‹ wird. al zur Akzeptanz der Botschaften der Religion liefert,
Mit dem, sagen wir, doppelten re-entry verknüpft vor allem, wenn man daran denkt, dass mit der
ist, dass das Einkopieren des Codes in die Transzen- Auskopplung von Religion aus lokalen Interaktions-
denzseite wie automatisch dazu führt, transzendente kontexten und durch den Kontakt mit anderswo an-
Die Religion der Gesellschaft (2000) 249

deres glaubenden Leuten zunehmend (und im Notwendigkeiten fixieren. Beispiele wären in der
Rahmen funktionaler Differenzierung explosiv) Wirtschaft Knappheit, in der Politik Legitimität, in
Unüberzeugtheitsmöglichkeiten geschaffen werden. der Wissenschaft Limitationalität.
Mehr und mehr wird sichtbar, spürbar und schließ- Wenn man von Religion als einem gesellschafts-
lich auch thematisierbar, dass Glaube, der die An- weit operierenden Funktionssystem ausgeht, also die
nahme religiöser Sinnofferten verwahrscheinlichen einzelnen Weltreligionen übergreifend argumen-
soll, selbst eine subtile Unwahrscheinlichkeit repro- tiert, böte sich als Kontingenzformel Erlösung an, sei
duziert, die sich in einer Figura etymologica ausdrü- es wie im Buddhismus Erlösung aus der leidverschaf-
cken lässt: dass man nämlich auch an den Glauben fenden Differentialität der Immanenz in eine Welt
glauben muss, um etwas glauben zu können. Spitz der Unterscheidungslosigkeit hinein, sei es wie im
gesagt: Das Medium benötigt selbst ein motivieren- Christentum die Erlösung der Seelen von der Ver-
des Medium. derbnis durch die Ur- oder Erbsünde. Im Blick auf
Die evolutionäre Invention, die dieses Problem monotheistische Hochformen der Religion schlägt
löst, ist – um das christliche Beispiel zu diskutieren, Luhmann die Kontingenzformel Gott vor als den Al-
das die Frage erlaubt, wie andere Glaubenssysteme lesbeobachter, der im Laufe der Ausarbeitung der
diese Funktionsstelle besetzen – die Differenz von Formel als Person erscheint, die keine Begrenzung
Gott und den Seelen. Die Seele ist immanente Tran- hat: »Deus est sphaera cuius centrum ubique, cir-
szendenz, individualisiert durch Körperbindung, cumferentia nusquam«, formuliert das Mittelalter.
aber zugleich körperunabhängig, da sie nicht mit Die negative Theologie hält fest, dass sich über Gott
ihm das Schicksal der Sterblichkeit teilt. Sie löst das nichts sagen lässt, wovon sich nicht auch das Gegen-
Problem der Fortsetzung jedweden Sinns über den teil sagen ließe.
Tod hinaus und hat die Form des Versprechens eines Wenn man die Auffassung vertritt, dass die Kon-
Danach. Sie erlaubt die Imagination über den Tod hi- tingenzformel den Funktionsbezug des Systems
nausgeführter Autopoiesis, bezieht sich also genau symbolisiert, kann man mit Blick auf die soziokultu-
darauf, dass für psychische Sinnsysteme der ultima- relle Evolution sagen, dass sich Kontingenzformeln
tive Sinnabbruch nicht vorstellbar ist. unter Beibehaltung dieses Bezuges verändern kön-
Entscheidend ist, dass die Seelen nicht das Medi- nen bis hin zum Austausch der Formeln selbst. Die
um sind, sondern jene Differenz: Gott beobachtet die Vielfalt der religiösen (und religoiden) Formen un-
Seelen und befindet über den Grad ihrer Reinheit ter Modernitätsbedingungen lässt den Schluss zu,
bzw. Verdorbenheit. Daran schließen Zusatzcodes dass die Symbolarrangements für das, was im Sys-
wie Heil/Verdammnis und immanent einzuhaltende tem als unaustauschbar, also als Realität behandelt
Programme der sub specie aeternitatis richtigen Le- wird, mittlerweile auf Transzendenz selbst zulaufen,
bensführung an, wenn das unvermeidbare ›Überle- wie immer sie sich in konkreten Religionsverwen-
ben‹ der Seelen nicht in Heulen und Zähneknirschen dungsfällen dann auch programmatisch ausstatten
weitergehen soll. Gestützt wird diese Konstruktion lässt.
durch ein auch für Medien anderer Funktionssyste-
me typisches Selbstbefriedigungsverdikt, durch das
Verbot (die Unmöglichkeit) der Selbsterlösung. Die Symbiotik
Soziale Systeme sind nicht (und enthalten auch
Die Kontingenzformel nicht) Körper. Das Theoriestück der somatogenen
Symbole reagiert darauf, dass diese Systeme gleich-
Kontingenz ist in dieser Theorie der Ausdruck dafür, wohl und deswegen ihren Bezug zum Körper symbo-
dass etwas als weder notwendig noch unmöglich beob- lisieren müssen. Das kann auf vielfältige Weise
achtet wird, alltäglicher formuliert: dass etwas sein geschehen, nimmt aber in den Funktionssystemen
könnte, aber nicht sein muss. Es ist leicht einzusehen, der Gesellschaft eine besondere Form an, die Luh-
dass Funktionssysteme sich nicht auf absolute Kon- mann symbiotischer Mechanismus nennt. Im Zen-
tingenz einlassen, sich nicht auf ›durchgängig arbi- trum steht die Idee, dass ihre Körperreferenzen im
trär‹ stellen können. Sie müssen Strategien der Fall von Störungen aktiviert werden: als Krisenanzei-
Entbeliebigung fahren und Symbole und Arrange- ger, die das System dazu veranlassen, ihre Autopoiesis
ments von Symbolen finden, die im System be- über Krisenkommunikationen fortzusetzen. Ein be-
stimmte Nicht-Negierbarkeiten, also unverzichtbare kanntes Exempel ist die Gewalt in der Politik, ein an-
250 Werke und Werkgruppen

deres Wahrnehmung in der Wissenschaft, ein weite- Die Religion hat sehr früh Lösungen dieses Typs
res Sexualität in Intimsystemen. avant la lettre gefunden und erfolgreich praktiziert.
Nun ist es so, dass das Theoriestück der somato- Die christlichen Kirchen, insbesondere die Una Sanc-
genen Symbole und der Symbiotik von Luhmann für ta, mögen dafür paradigmatisch einstehen. Die Kir-
den Fall der Religion nur kärglich bearbeitet wurde. che, das war Religion. Das ändert sich im Verlauf der
In Die Religion der Gesellschaft sind diese Ausdrücke funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Reli-
im Register nicht einmal verzeichnet. Wir sind damit gion wird ein gesellschaftsweit operierendes Funkti-
angewiesen auf eine Interpretation derjenigen Stel- onssystem, und die Organisationen, durch die sie in
len, an denen der Körper im Kontext der luhmann- Anbindung an gleichsam lokale Glaubensbekennt-
schen Religionssoziologie nachdrücklich erscheint. nisse vertreten wird, unterliegen einem Funktions-
Es liegt nahe, wie oben schon angedeutet wurde, wechsel: Sie organisieren für die heterarche, poly-
den Symbolkomplex der Sterblichkeit heranzuziehen, kontexturale, hyperkomplexe Gesellschaft die Regu-
die für Religion typische Thanatosymbolik, die die lation der funktionssystemischen Kommunikations-
Sterblichkeit der Körper in drastischen Allegorien ströme. Damit wird ein doppeltes Problem einge-
vorführt, beeindruckend etwa in den mittelalterli- spielt:
chen Bildwerken zum furchtbaren Reigen des Todes, Religion wird anhand der ihr je zugeordneten Or-
dem Totentanz, dem danse macabre, der die Aus- ganisationen beobachtbar, obwohl sie nicht Organi-
nahmslosigkeit des Sterbenmüssens inszeniert über sation ist. Sie wird in ihren jeweiligen Subtexten
alle Schichtgrenzen hinweg. Das Besondere ist, dass (christlich, islamisch, buddhistisch etc.) via Organi-
die Sterblichkeit nicht vollständig ist, weil ein imma- sationsform historisiert und damit für Vergleichs-
nent Transzendentes, die Seele, (paradox formuliert) zwecke lesbar. Die Entscheidungsbasiertheit moder-
überlebt. Genau an dieser Stelle setzt dann der sym- ner Organisationen reduziert zwar Kontingenz,
biotische Mechanismus ein: Wenn religiöse Kommu- reproduziert sie aber durch denselben Vorgang: Ent-
nikation nicht ›ankommt‹, keinen Anschluss findet, scheidung ist – operativ gesehen – Entscheidung ge-
kann die sonst nur mitlaufende Thanatosymbolik wesen, wenn sich Alternativität projizieren lässt, der
thematisiert werden als Memento mori, ein Ausdruck, Spielraum des Anders-Möglichen, der durch und
der vermutlich eine hier instruktive Verkürzung ist: durch artifiziell (und eben darin beobachtbar) auf
Memento moriendum esse – Gedenke dessen, dass zu bestimmte Alternativen getrimmt wird. Organisatio-
sterben ist. Oder: dessen, dass Du sterben musst. nen sind, um Heinz von Foerster zu zitieren, Einrich-
tungen, die vorführen, dass nur das Unentscheidbare
entscheidbar ist und dass zu anderen Zeiten, in ande-
Die Organisation ren Kontexten, in anderer ›Kulturalität‹ anders ent-
schieden wurde und wird.
Wenn man Religion als Funktionssystem der moder- Moderne Organisationen ordnen, wie wir gesagt
nen Gesellschaft begreift, dann folgt daraus, dass sie haben, die ›anarchischen‹ Kommunikationsproduk-
wie die Gesellschaft und ihre primären Subsysteme tionen der Funktionssysteme. In dieser Funktion
nicht adressabel ist. Sie kann als Religion kommuni- sind sie nicht mehr soziale Systeme im Sinne einer
kativ nicht erreicht werden, sie kommt als Instanz, reinen Subsystemik, bezogen auf Funktionssysteme,
der Mitteilungen zurechenbar sind, nicht in Frage. keine eineindeutigen Zugehörigkeiten, sondern fun-
Niemand kann sich an die Religion wenden, sie ist gierende Cross-over-Einheiten, die multiplexe struk-
kein responsible being – so wenig wie die Wirtschaft, turelle Kopplungen ermöglichen, kanalisieren und
die Politik, das Recht, die Kunst, die Erziehung. Die verwalten. Organisationen de-heterarchisieren die
Religion sagt nichts und schon gar nicht Verbindli- gesellschaftliche Heterarchie. Sie führen die Gesell-
ches. Bezogen auf dieses Problem der Inadressabilität schaft damit aber auch in die Domäne des Religiösen
können Organisationen als evolutionäre Lösungen ein als Problem der Stabilisierbarkeit des Unstabili-
gedeutet werden. Sie ziehen via Autopoiesis von Ent- sierbaren. Sie de-zentrieren Religion. Das ist darin
scheidungen und auf der Basis nur in ihnen geltender erfahrbar, dass sich Religion vielleicht, nicht aber die
Hierarchien ›Identitäten‹ oder ›Selbstrepräsentatio- ihr zugerechneten Organisationen gegen Geld,
nen‹ auf, durch die sie als Mitteilungshandelnde sti- Macht, Recht, Erziehung etc. abschirmen können.
lisierbar werden. Kurz: An Organisationen kann man Das Proprium des Codes Immanenz/Transzendenz
schreiben und darf im Normalfall mit Antworten wird in diesen Organisationen (sozusagen via Statut)
rechnen. nicht ausgehebelt, aber nicht-ignorabel anders kon-
Die Religion der Gesellschaft (2000) 251

ditioniert: durch die Verwaltung streuender Effekte Erinnerung an meine Frau, der Religion mehr be-
der autonomen Eigendynamiken anderer Funktions- deutete, als alle Theorie zu sagen vermag«.
systeme. Demgegenüber ist das Funktionssystem der Reli-
gion unfassbar abstrakt. Es hat kein Sensorium für
das, was religiöse Kommunikationen für Menschen
Die Nullmethodologie bedeuten. Seine Operativität vollzieht sich in voll-
kommener Indifferenz, ob es um Terror, Hinrichtun-
Die Nullmethodologie ist ein von Luhmann erst spät gen, Hochzeiten oder was auch immer geht. In dieser
eingeführtes Moment des Kriterienkanons. Deswe- Hinsicht ist Religion isomorph zu der Gesellschaft
gen sind wir auch hier gezwungen, von ihm schon ge- und ihrer Indifferenz gegenüber je spezifisch prozes-
zogene Theorielinien in die Analyse der Religion sierten Sinn. Ob Menschen, ob Kühe, ob Waffen, ob
hineinzuverlängern. Die Theoriefigur der ›Null‹ be- Kraftwerke oder Behinderteneinrichtungen gesegnet
zieht sich darauf, dass Funktionssysteme damit kon- werden, macht keinen Unterschied für Religion, so-
frontiert werden, dass jeweils Uneinschließbares lange die Referenz auf Transzendenz Anschlüsse si-
auch geschieht und gleichwohl kommunikativ einge- chert und das Ritual des Segnens selbst als Anschluss
schlossen werden muss. So werden beispielsweise im System beobachtet wird.
Langfristlieben mit zahlreichen Routinisierungen Die zentrale Schwierigkeit einer Uneinschließbar-
(nicht selten eheförmig) überzogen, mit Inkrustatio- keit zeigt sich erst, wenn man noch einmal jenen dop-
nen, die die Beendigung des Intimsystems erzwän- pelten re-entry heranzieht, der den Wiedereintritt
gen, wenn es nicht gelänge, sie als routinisiert des Codes Immanenz/Transzendenz auf beiden Sei-
deutbares Verhalten so zu tolerieren, dass die Tole- ten der Unterscheidung bezeichnet. Sobald gesehen
ranz selbst als Liebesbeweis genommen wird, über werden kann, dass auf der Schemaseite der Transzen-
den sich die Autopoiesis des Systems weiterspult. denz Immanenz und Transzendenz noch einmal un-
Die Suche nach einer äquivalenten Methodologie terschieden werden, wird den Instanzen, die Tran-
der Religion muss erneut ein Problem(lösungs)sche- szendenz ›verkörpern‹, ein (positives oder negatives)
ma konstruieren. Den voranstehenden Skizzen lag Verhältnis zur Immanenz unterstellt. Sie sind deut-
zugrunde, dass sie Religion als soziales Funktionssys- lich an Immanenz interessierte Instanzen (oder In-
tem behandeln. Sie exerzieren eine Heuristik der Ein- stanzenzüge). Nur das begründet ein immanentes
schränkung, des Absehens davon, was Religion für Interesse an Praktiken des Umgangs mit Transzen-
psychische Systeme bedeutet. In dieser Abstinenz denz. Ausgeschlossen ist damit göttliches Desinteres-
wird Religion soziologisch fassbar als Gesamtheit se an der Welt der Immanenz. Die Idee der Indifferenz
von spezifischen Kommunikationen, als sinnzeitge- Gottes, wenn wir uns hier erneut paradigmatisch auf
stützte Verkettung von Operationen, die sich in das Christentum beziehen, höbe die ›Kernfestigkeit‹
Nachtragsoperationen derselben Art gleichsam ihren religiös stimmig praktizierbaren Verhaltens auf. Mit
Bezug auf das Schema Immanenz/Transzendenz be- ihr würde das Medium ›Glaube‹ kollabieren und we-
scheinigen. Es geht um die (selbst-)beobachtbare Be- der durch Erlösung noch durch die Referenz auf die
tätigung dieses Schemas in einer Ereigniszeit, in der Relation Gott/Seelen abgestützt werden können.
sich die unbeobachtbare, soziale Autopoiesis (die Dieses Problem wurde über Jahrtausende hin
Synthesis oder Syndosis der Kommunikation) als ein nicht als Indifferenzproblem behandelt, sondern als
Mitteilungshandeln phänomenalisieren muss, das die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts
mit Intentionen verknüpft ist. der ersichtlich entsetzlichen Aspekte einer im Prinzip
Auf dieser Ebene kommt Relevanz, kommen In- gut ›gemeinten‹ Schöpfung. Dieses Problem, das sich
klusion und Exklusion ins Spiel und auch das Feld in der jüdisch-christlichen Geschichte in der Erzäh-
der ›zwischenmenschlichen Interpenetration‹, ein Be- lung von Hiobs unverschuldetem Leiden exemplifi-
griff, durch den bezeichnet wird, wie Menschen für ziert, heißt seit Leibniz ›Theodizee‹. Es wird europa-
Menschen unter Einschluss ihrer Körper reziprok be- weit diskutiert nach dem Erdbeben von Lissabon,
deutsam werden. Dieses Feld scheint für die Nahwelt inzitiert durch Voltaire. Die Existenz Gottes scheint
des Alltags die religiöse Erfahrung zu bestimmen, da auf dem Spiel zu stehen, wenn man die christliche
hier der Blick auf den Umgang mit Sterblichkeit, Kontingenzformel ›Gott‹ ausfüllt mit der Vorstellung
Ewigkeit, Nächstenliebe, Barmherzigkeit etc. gerich- einer all-liebenden, all-gütigen und zugleich all-
tet ist. Luhmann hat dies vor Augen, wenn er in Funk- mächtigen Person, die offenbar nicht in der Lage ist,
tion der Religion folgende Widmung schreibt: »In die Welt in einer für Menschen zuträglichen Ord-
252 Werke und Werkgruppen

nung zu halten oder gar ohnmächtig ist im Blick auf ist da und dort, aber – leider Gottes – nicht allenthal-
den Diabolos, den Durcheinanderwerfer und sein ben der Fall.
böses Treiben. Von hier muss man die Transzendenz
als eine Sphäre begreifen, in der himmlische gegen
teuflische Heerscharen kämpfen. Dies alles ist – Literatur
mühsam, aber immerhin doch noch – verbindbar
Beyer, Peter: »The Modern Emergence of Religions and a
mit der Idee, dass die himmlischen und die teufli-
Global Social System for Religion«. In: International So-
schen Mächte interessiert sind an dem, wofür und ciology 13. Jg (1998), 151–172.
worin sie das Schauspiel eines kosmischen Kampfes Corti, Alessandra: »Religiöse Devianz und Ausdifferenzie-
inszenieren, an der Immanenz. rung der Religion«. In: Soziale Systeme 13. Jg. (2007),
Nicht mehr kompatibel mit Religion ist die Tran- 256–266.
szendenz als Indifferenz gegenüber der immanenten Fuchs, Peter: »Religion, Konfession, Konfusion. Zum Pro-
blem von Überzeugungsverlusten in der modernen Ge-
Welt. Der re-entry auf der Codeseite der Transzen- sellschaft«. In: Johannes Horstmann (Hg.): Katholisch,
denz würde gelöscht, es bliebe nur schiere Gleichgül- evangelisch oder nichts? Konfessionslose in Deutsch-
tigkeit. Damit würde die Funktion der Religion, die land. Schwerte 2000, 13–19.
sich rekonstruieren ließ als Reaktion auf die Frage Lehmann, Maren: »Leutemangel: Mitgliedschaft und Be-
nach dem Sinn von Sinn mit der darauf bezogenen gegnung als Formen der Kirche«. In: Jan Hermelink/Ger-
hard Wegner (Hg.): Paradoxien kirchlicher Organisati-
immanenten Praxis der Negationsblockaden, im ge- on. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die
nauesten Sinne: sinnlos. Genau dies wird unter den aktuelle Reform der evangelischen Kirche.
Indifferenzbedingungen der funktional differenzier- Würzburg 2008, 123–144.
ten Gesellschaft kommunikabel. Schlimmer als der Luhmann, Niklas: »Society, Meaning, Religion – Based on
Tod Gottes ist sein Schweigen – als Ausdruck eines Self-Reference«. In: Sociological Analysis 46. Jg. (1985),
5–20.
absoluten Desinteresses. Die heuristische Frage, die –: »Die Unterscheidung Gottes«. In: SA4, 236–253.
sich anschließen lässt, ist: Findet die Religion eine –: »Die Ausdifferenzierung der Religion«. In: GS3,
Nullmethodologie, die Gottes Indifferenz noch trak- 259–357.
tieren kann? –: »Religion und Gesellschaft«. In: Sociologia Internationa-
lis 29. Jg. (1991), 133–139.
–: »Die Sinnform Religion«. In: Soziale Systeme 2. Jg.
(1996), 3–33.
Coda –: »Das Medium der Religion. Eine soziologische Betrach-
tung über Gott und die Seelen«. In: Soziale Systeme 6. Jg.
Ein Handbuchartikel zu Luhmanns Religionssozio- (2000), 39–53.
logie kann nur die wichtigsten Themen skizzieren Nassehi, Armin: »Religion und Biographie. Zum Bezugs-
problem religiöser Kommunikation in der Moderne«. In:
angesichts des Strukturreichtums, den Luhmanns Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Biographie und Religion
Theorie der Religion anbietet – für die Wissenschaft zwischen Ritual und Selbstsuche. Frankfurt a. M./New
ohnehin, aber auch in der Form einer inkongruenten York 1995, 103–126.
Perspektivik, die in der Domäne der Religion und ih- –: »Religion und Moral. Zur Säkularisierung der Moral und
ren Reflexionsinstanzen (Theologien etc.) den Ge- der Moralisierung der Religion in der modernen Gesell-
schaft«. In: Michael Krüggeler/Gert Pickel (Hg.): Religi-
fahren kommunikativer und kognitiver Versteifun-
on und Moral. Opladen 2001, 21–38.
gen durch punktgenaue Irritationen begegnen könn- –: »Religiöse Kommunikation: Religionssoziologische Kon-
te, durch ›Störungen‹, die nicht arrogant sind, weil sequenzen einer qualitativen Untersuchung«. In: Bertels-
sie auf stupende Weise die Eigen-Intelligenz, die Au- mann Stiftung (Hg.): Was glaubt die Welt? Analysen und
tonomie des Systems der Religion ernstnehmen und Kommentare zum Religionsmonitor. Gütersloh 2009,
auch nur deswegen inkongruent auf eine fruchtbare 169–203.
– /Saake, Irmhild: »Die Religiosität religiöser Erfahrung.
Weise sind. Ein systemtheoretischer Kommentar zum religionsso-
Luhmann hat jedenfalls bei seinen Analysen die ziologischen Subjektivismus«. In: Pastoraltheologie
soziale Moderne der Religion auf gesellschaftstheore- 93. Jg. (2004) 64–81.
tischem, also hochkomplexem Niveau im Blick. Das Pollack, Detlef: »Möglichkeiten und Grenzen einer funktio-
bedeutet, dass die Rezeption nicht nur die Befunde, nalen Religionsanalyse: zum religionssoziologischen An-
satz Niklas Luhmanns«. In: Deutsche Zeitschrift für
die Beschreibungen zur Kenntnis nehmen kann, son- Philosophie 39. Jg. (1991), 957–975.
dern die Systemtheorie, die dieses Beobachten und –: »Probleme der funktionalen Religionstheorie Niklas
Beschreiben ermöglicht, mitrezipieren müsste. Das Luhmanns«. In: Soziale Systeme 7. Jg. (2001), 5–20.
Das Erziehungssystem der Gesellschaft (2002) 253

Spencer-Brown, George: Laws of Form [1969]. Leipzig


52009.
17.7 Das Erziehungssystem der
Tyrell, Hartmann/Krech, Volkhard/Knoblauch, Hubert
Gesellschaft (2002)
(Hg): Religion als Kommunikation. Würzburg 1998.
Vanderstraeten, Raf: »Säkularisierung als Inklusionspro- Zeitpunkt der Publikation
blem«. In: Soziale Systeme 13. Jg. (2007), 329–339.
Niklas Luhmanns Manuskript zum Erziehungssys-
Peter Fuchs
tem ist 2002 von Dieter Lenzen posthum herausge-
geben und kommentiert worden. Zu diesem Zeit-
punkt gehörte die Systemtheorie bereits zum Ge-
meingut der akademischen Pädagogik in Deutsch-
land. In der universitären Ausbildung wurde Luh-
mann an vielen Orten gelesen und diskutiert. Einige
der frühen Rezipienten hatten sich hingegen bereits
anderen theoretischen Ressourcen zugewandt. Und
in der breiteren Fachöffentlichkeit wurde zwar der
Mehrwert gerade dieses Buches durchaus hinter-
fragt; Grundsatzdebatten darüber, ob pädagogische
Themen mit dem systemtheoretischen Instrumenta-
rium überhaupt zu bearbeiten seien, entfachte die
Publikation jedoch nicht mehr.
Für die Rezeption der Systemtheorie waren die
fünf »Zwischen«-Bände mit den Fragen an die Päd-
agogik (1982 bis 1996) und die frühe Untersuchung
Reflexionsprobleme im Erziehungssystem (1979), die
Luhmann zusammen mit Karl Eberhard Schorr ge-
schrieben hatte, viel wichtiger. Damals ging es vor al-
lem um die Stellung der Kritischen Theorie in der
Pädagogik, die seit der Diskussion Luhmanns mit
Jürgen Habermas in Theorie der Gesellschaft oder So-
zialtechnologie (1971) zunehmend fraglich wurde
oder wenigstens Opposition erhielt. Die Systemtheo-
rie war eine »nützliche Provokation« (Oelkers/Ten-
orth 1987), nicht mehr und nicht weniger. Der Reiz
von Das Erziehungssystem der Gesellschaft (ErzG) lag
nun darin, dass es eine ähnlich grundlegende und
umfassende Darstellung wie Luhmanns Monogra-
phien zu Recht oder Wirtschaft zu sein versprach. In
vielem ist das Buch aber ein nicht fertiggestelltes Ma-
nuskript geblieben. Es greift unterschiedliche The-
men und Thesen zur Erziehung auf, die bereits in
früheren Aufsätzen zu finden sind, ohne jedoch im-
mer eine stringente Argumentation anzubieten.

Gegenstand der Untersuchung


Ausgangspunkt der Analyse ist nicht ein spezifisches
erziehungswissenschaftliches Problem, etwa die
Identifikation von ›Bildung‹ und ›Erziehung‹ als so-
ziale Phänomene, sondern die Überwindung des
Menschen als Bezugspunkt der Gesellschaftstheorie.
›Gesellschaft‹, so die bekannte These Luhmanns, be-
254 Werke und Werkgruppen

stehe nicht aus Menschen, sondern aus Kommunika- zifischen Verständnisse von Erziehung als historisch
tion, was eine Neuausrichtung der sozialwissen- bedingt. Seine theoretischen Reflexionen beziehen
schaftlichen Theoriebildung notwendig mache. Sie sich aber auf Erziehung in der Neuzeit. Mit den Sta-
soll sich nicht mehr anthropologisch begründen tionen Antike, Frühchristentum, Aufklärung und –
können, aber auch nicht historisch erklärt werden. vor allem – Neuhumanismus folgen die hinführen-
Die Frage, was – soziologisch gesehen – Erziehung den, knapp skizzierten Verortungen einem gängigen
sei, erscheint so in diesem Buch nur als abgeleitet von Narrativ der deutschen Historiographie. Der Fokus
einer allgemeinen gesellschaftstheoretischen Frage- liegt aber auch in diesen geistesgeschichtlichen Be-
stellung. Die Darstellung setzt auch nicht mit der trachtungen nicht auf den Bestimmungen des Ver-
Problematisierung pädagogischer Begrifflichkeiten hältnisses von Erziehung und Gesellschaft, Politik
ein, sondern beginnt mit einer Bestimmung der zen- oder Staat, sondern auf der Schwierigkeit einer em-
tralen systemtheoretischen Termini. Auf nur zwei pirischen Bestimmung des Menschen. An letzterem
Seiten werden die Konzepte der operativen Schlie- lasse sich die Funktion von Erziehung nicht ablesen.
ßung, des Kommunikationssystems Gesellschaft, der Auch ein »emphatischer« (19) Begriff des Individu-
funktionalen Differenzierung, der Unterscheidung ums sei in dieser Hinsicht nicht hilfreich gewesen.
von Fremd- und Selbstreferenz, der Intransparenz Das Problem der theoretischen Bestimmung der
der Systeme, der operativen und semantischen Erziehung stellt sich für Luhmann also als Problem
Selbstorganisation und der Sinngebundenheit aller der Bestimmung des Menschen. Angesichts neuer
Kommunikation der gesamten Arbeit vorangestellt empirischer Erkenntnisse und der konzeptionellen
und anschließend als bekannt vorausgesetzt; auf Er- Auflösung des Menschen (SA6) biete das begriffliche
ziehung geht Luhmann in diesen Vorbemerkungen Instrumentarium der Systemtheorie eine alternative
nur kurz ein. Zum einen klassifiziert er das Erzie- Reflexionsmöglichkeit der gesellschaftlichen Funkti-
hungssystem als ein Funktionssystem, das sich durch on von Erziehung. Pädagogische Gegenstände ließen
eine pädagogische Form der Kommunikation aus- sich mit den Konzepten der operativen Schließung
zeichne. Zum anderen verweist er darauf, dass die und der strukturellen Kopplung deutlicher konturie-
prinzipiell denkbaren Erziehungsweisen vielfältig ren als mit einer anthropozentrischen oder idealisti-
seien und somit andere, gegenwärtig nicht realisierte schen Ausrichtung. Erst unter Berücksichtigung
Formen immer möglich blieben. Das entspricht dem dieses Umwegs wird verständlich, warum Luhmann
frühen Theorem der ›funktionalen Äquivalenz‹. für die systemtheoretische Bestimmung von Erzie-
Erst jetzt widmet Luhmann sich einer Bestim- hung die Unterscheidung von ›Mensch‹ und ›Person‹
mung seines Gegenstandes und leitet Erziehung von einführt: »Menschen werden geboren. Personen ent-
der konventionellen Rede über Erziehung her: stehen durch Sozialisation und Erziehung« (ErzG,
»Wenn von Erziehung gesprochen wird, denkt man 38). Die Person sei im Gegensatz zum Menschen nur
zunächst an eine intentionale Tätigkeit, die sich da- innerhalb von Gesellschaft als einem Kommunikati-
rum bemüht, Fähigkeiten von Menschen zu entwi- onssystem denkbar, sie fungiere als ein »Verkehrs-
ckeln und in ihrer sozialen Anschlußfähigkeit zu symbol der sozialen Kommunikation« (39). Da die
fördern« (ErzG, 15). Ziel des Buches ist es, mit sys- beiden Sinnsysteme Bewusstsein und Gesellschaft
temtheoretischen Mitteln den tradierten Begriff der operativ geschlossen seien (WissG, 11 ff.), müsse ihre
Erziehung zu hinterfragen. Luhmann geht es hier strukturelle Kopplung über Personen sichergestellt
nicht um eine neue Theorie der Erziehung im Kon- werden. Jede Kommunikation muss Gedächtnisleis-
text gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse, son- tungen und einen gewissen Grad an Motivation vo-
dern um eine systemtheoretische Begründung als raussetzen, damit Anschlüsse wahrscheinlich blei-
bekannt vorausgesetzter Erziehungsvorstellungen ben. Die Form der Person stabilisiert also das
mit besonderem Fokus auf die Ausdifferenzierung ei- Kommunikationssystem Gesellschaft. Sporadisch
nes eigenen Funktionssystems. Die Referenz dieser streut Luhmann zur Illustration pädagogische Phä-
Erziehungsvorstellungen bleibt ungenannt. nomene ein. Kindliches Sprachenlernen oder Schul-
Die Untersuchung beansprucht, eine systemtheo- noten als Form des kommunikativen Gedächtnisses
retische Analyse des im Zuge funktionaler Differen- werden genannt, ohne dass sich in diesem Zusam-
zierung sich herausbildenden Erziehungssystems zu menhang schon ein Bild des Erziehungssystems ergä-
bieten. Und es gibt nur ein solches System. Zwar be. Luhmanns Frage bleibt auch hier, wie es
macht Luhmann auch einzelne Anmerkungen zu überhaupt möglich wird, dass eine Gesellschaft auf
vormodernen Gesellschaften und bezeichnet die spe- Personen rekurriert. Hierin liege die spezifische Leis-
Das Erziehungssystem der Gesellschaft (2002) 255

tung der Erziehung. Sie sorge dafür, dass die Person aber mit relativ stabilen Teilnehmern, strenger zeitli-
auch tatsächlich als ›Verkehrssymbol‹ fungieren cher Taktung, klarer und hierarchischer Rollendiffe-
kann. renzierung und nur wenig externen Ablenkungs-
Vor dem Hintergrund der Annahme einer opera- möglichkeiten ausgestattet wird, garantiere, dass die
tiven Schließung der Systeme Gesellschaft und Be- Schule das Verkehrssymbol ›Person‹ auch stabilisie-
wusstsein, die aber beide im Medium Sinn (SS, 92 ff.) ren kann. Eine eigentliche Herausforderung ist das
operieren, versucht die Analyse, zu einem deutlich weniger für die Schüler als für den Lehrer. Er muss
konturierten Begriff von Erziehung zu kommen. lernen, mit dem Wechselspiel von Routine und Zufall
Trotz der Ausbreitung des abstrakten systemtheore- umzugehen. Er hat es in der Regel mit Schülern zu
tischen Instrumentariums bleibt das Explanandum tun, die er sich nicht ausgesucht hat. Er steht unter
weiterhin eher konventionell bestimmt: Bei Erzie- ständiger Beobachtung und kann schon allein des-
hung gehe es »um ein Einwirken auf einzelne Men- halb nicht kontrollieren, was im Klassenzimmer vor
schen«, das Mittel dazu sei »Kommunikation« und sich geht. Trotzdem muss er seinem Vermittlungs-
ihr Erfolg lasse sich an der tatsächlichen Änderung auftrag nachkommen. Ob eine Lektion erfolgreich
des Zöglings ablesen. Angesichts der zuvor beschrie- sein wird oder nicht, ist kaum vorauszusehen. Nach-
benen Dekonstruktion des Menschen stelle sich nun träglich kann der Lehrer aber Erfolge sich selbst zu-
aber die Frage: »Wie ist dann Erziehung möglich?« rechnen und die Ursachen des Misserfolgs externali-
(ErzG, 42). sieren.
Unterricht bedeutet in diesem Zusammenhang
immer auch Selektion, da im Unterricht wie in jeder
Konzeptionalisierungen Erziehungsarbeit zwischen richtig und falsch unter-
schieden werden muss. Anders als Sozialisation erfol-
Luhmann löst das Problem der Möglichkeit von Er- ge Erziehung absichtsvoll: »Als Erziehung haben alle
ziehung zunächst begriffstechnisch, indem er »Ver- Kommunikationen zu gelten, die in der Absicht des
mittlung« (43) ins Zentrum des pädagogischen Erziehens in Interaktionen aktualisiert werden« (54).
Handelns rückt und seine Untersuchung somit auf Die pädagogische Absicht ist das kommunikative Si-
die kognitiven Aspekte von Erziehung und Bildung gnal, an dem sich Erziehung als Erziehung erkennen
beschränkt. So stehen nun die meisten Beispiele, die lässt. Dem Lehrer steht zudem anders als etwa den El-
die theoretischen Überlegungen veranschaulichen tern ein hochformalisiertes Instrument zur Verfü-
sollen, im Zusammenhang mit Unterricht und Schu- gung, um Selektionen zu organisieren: die Zensuren-
le, Lehrer und Schüler. Auch Familienerziehung wird gebung. Zensuren erzwingen Entscheidungen und
zumeist in Abgrenzung zur Schule gedacht. Die Un- geben dem Unterrichtssystem ein Gedächtnis. Sie
tersuchung bietet somit keineswegs eine Analyse des dienen weiterhin als Indikatoren innerhalb und au-
Erziehungssystems, sondern vielmehr des Unter- ßerhalb des Unterrichtssystems. Mit ihnen lassen
richtssystems der Gesellschaft. Dass Erziehung, ge- sich Übertritte von einer Schulstufe in die nächste or-
meint ist »Vermittlung«, möglich sei, illustriert ganisieren.
Luhmann mit einem Beispiel. Ein Schüler, der acht Mit Schelsky (1957/1967, 14 ff.) hebt Luhmann
Jahre Lateinunterricht genossen habe, sei danach außerdem hervor, dass Schule nunmehr zur »zentra-
besser in der Lage, lateinische Texte zu verstehen, als len Dirigierstelle für Chancen im späteren Leben«
einer, dem dies versagt geblieben sei. Diese Vermitt- (ErzG, 70) geworden sei, auch wenn für die tatsäch-
lungsleistungen würden in einem eigenen ›Interakti- liche spätere Karriere nicht Noten, sondern andere
onssystem‹ erzielt, dem des Unterrichts. Der Unter- Bedingungen viel wichtiger würden. Den Einstieg in
richt finde zumeist in geschlossenen Räumen statt, die berufliche Laufbahn organisiert aber die allge-
die Unterrichtskommunikation also unter Anwesen- meinbildende Schule. Schelsky hatte den Bedeu-
den im Rahmen dauerhafter wechselseitiger Beob- tungsverlust der Familie in der Stabilisierung gesell-
achtung. Dieses Interaktionssystem wird zwar von schaftlicher Verhältnisse noch beklagt und diese
Luhmann nur auf wenigen Seiten dargestellt, scheint zugleich zum einzig verbleibenden Ort wahrer Bil-
aber den Kern der Erklärung des systemtheoretisch dung stilisiert: »Auch in dieser Hinsicht führt eine
erklärungsbedürftigen Vorgangs einer Vermittlung echte ›Bildungs‹-Zielsetzung also völlig in den priva-
von Wissen darzustellen. ten Lebensraum des modernen Menschen« (Schelsky
Der hochkomplexe, bedeutungsüberladene und 1957/1967, 50). Bei Luhmann bleibt auch Bildung
unkontrollierbare Unterrichtszusammenhang, der kein konservatives Refugium mehr. Bildung bedeute,
256 Werke und Werkgruppen

dass ein »gespielter Konsens« erlernt werde: »Und liche Beschreibungen des Erziehungssystems. Auch
durch Erziehung (wir können jetzt auch sagen: Bil- die These von der Erziehung als Motor oder »Schritt-
dung) läßt sich erreichen, daß dies auch in nichtstan- macher« (111) gesellschaftlicher Veränderungspro-
dardisierten Situationen möglich wird, während zesse lässt sich mit diesen Vorannahmen nicht halten.
Sozialisation sehr stark an ihren Ursprungskontext Konstitutiv ist hier die Unterscheidung von Erzie-
gebunden bleibt« (ErzG, 81). Ähnlich hat Dietrich hung und Erziehungssystem. Familiale Erziehung
Schwanitz in seinem Beststeller Bildung. Alles, was wird als historischer Normalfall gesetzt, und institu-
man wissen muß (1999) diese als ein »Unterstellungs- tionelle Erziehungsformen werden deshalb erklä-
spiel« (Schwanitz 1999, 395) beschrieben. rungsbedürftig. Damit ein solches Funktionssystem
ausdifferenziert werde, müsse aber ein besonderer
»Anlaß« (111) vorhanden sein, wie Luhmann ihn mit
Bezugsrahmen der Entdeckung von Kindheit als Kindheit gegeben
sieht. Erst aber die Einrichtung von Schulen und die
Luhmann hätte ja auch über das Bildungssystem der Anstellung von professionell ausgebildeten Lehrern
Gesellschaft schreiben und sich damit der Verwir- habe den eigentlichen Take-off des Erziehungssys-
rung entziehen können, die der Begriff ›Erziehung‹ tems bedeutet.
stiftet. Seine Analyse zielt auch tatsächlich eher auf Auch hier bildet das Interaktionssystem ›Unter-
das, was gemeinhin Bildungssystem oder Bildungs- richt‹ in Luhmanns Argumentation den Kern des Er-
wesen genannt wird. Doch Bildung ist für Luhmann ziehungssystems. Dieses werde durchaus organisa-
nur eine der möglichen, zumal eine emphatisch ge- tional stabilisiert, bedeute selbst aber den »Einbau
ladene Form der Selbstbeschreibung des Erziehungs- struktureller Unbestimmtheit in das Erziehungssys-
systems. Sie ist, so eine viel zitierte Formulierung, die tem« (120) und sei die Ursache der Ausdifferenzie-
»Kontingenzformel« des Erziehungssystems, ein rung eines eigenen Funktionssystems. Das pädagogi-
»unbestreitbar schöne[r] Wortkörper« (ErzG, 187). sche Geschehen im Klassenzimmer unterscheide sich
Gerade dass der Begriff inhaltlich leer sei, mache ihn radikal von der familiären Erziehung. Diese werde
so attraktiv für die Fassung von Zukunft in der Form mehr und mehr auf eine bloße Begleitfunktion im
von großen Zielen. Das Erziehungssystem ist laut Erziehungsprozess reduziert. Für einen Soziologen
Luhmann anfällig für Formeln, die möglichst em- äußerst bemerkenswert, schließt Luhmann also alle
phatisch formuliert und mit vielen Bedeutungen zu Momente aus dem Erziehungssystem aus, die sich
füllen sind. Ein ganzes Kapitel der Darstellung wid- nicht als pädagogisch qualifizieren lassen. Eigentums-
met sich der »Semantik des unfertigen Kindes« (89) und Personalverwaltung werden in die Umwelt des
und des »Lebenslaufs« (92). Beide Sprechweisen be- Funktionssystems ausgelagert, irritieren also höchs-
handelt Luhmann als funktionale Äquivalente. Jedes tens das eigentliche Geschäft der Erziehung. Luh-
pädagogische Handeln ziele auf Bestimmtheit mann zeichnet hier das Bild unkontrollierbaren
(Form), agiere aber in einem intransparenten Feld Wachstums: Nur noch monetär, nicht aber pädago-
und sei deshalb auf möglichst unbestimmte Begriffe gisch ließen sich Grenzen der Ausweitung des Erzie-
(Medium) angewiesen. Das Kind sei solch ein Medi- hungssystems rechtfertigen (vgl. dazu auch Dekker
um, das ganz unterschiedliche Formbildungen als 2011).
möglich erscheinen lässt. Diese Funktion übernehme Mit der pädagogischen Bestimmung des Systems
im 20. Jahrhundert dann mehr und mehr der Lebens- und einer Externalisierung der materiellen und per-
lauf, der in der Form von »Wissen« Gestalt annehme sonellen Zusammenhänge von Bildung und Erzie-
(97). hung übernimmt Luhmann eine Selbstbeschreibung
Das »Erziehungssystem« selbst wird erst in der des Erziehungssystems, ohne diese als Selbstbe-
Mitte des Buches wirklich zum Thema und einer ein- schreibung auszuweisen. Doch in Schulen wird nicht
gehenderen Analyse unterzogen. Es ist für Luhmann nur unterrichtet (Geiss 2012), auch wenn die Ver-
ein Funktionssystem unter anderen. Erziehung er- mittlung von Wissen – und neuerdings von Kompe-
scheint also nicht als Grundlage von gesellschaftli- tenzen – gegenwärtig im Zentrum ihres gesellschaft-
cher Evolution. Sie treibt soziale Differenzierung lichen Auftrags steht. Es finden andere Formen der
nicht voran, sondern ist bloß eine ihrer Möglichkei- Sozialisation und auch der Erziehung statt, die mit
ten. Somit sind aus systemtheoretischer Perspektive dem Begriff ›Vermittlung‹ schwer gefasst werden
Transmissionstheorien, die eine generationale Tra- können. Außerdem sind das späte 19. Jahrhundert,
dierung kultureller Gehalte unterstellen, unzuläng- vor allem dann aber das 20. Jahrhundert bildungs-
Das Erziehungssystem der Gesellschaft (2002) 257

historisch gerade dadurch bestimmt, dass institutio- temtheoretische Analyse begleitet. Die Unsicherhei-
nelle Settings der Erziehung auch über das Unter- ten des Lehrberufs werden dabei mit Instrumenten
richtswesen hinaus expandieren. Diese werden in der aufgefangen, wie sie aus der Professionsforschung
Analyse so gut wie nicht berücksichtigt. Es geht ein- bekannt sind: Fachaufsicht, Beruf als Lebensberuf,
zig um Schule und eigentlich um eine sehr konven- autonome Berufspraxis, Ansehen und angemessenes
tionelle Form des Gymnasiums. Einkommen. Besonders ist die Tätigkeit der Lehrer
Dass Luhmann außerdem die spezifischen Markt- aber darin, dass sie – anders als etwa bei der Ärzte-
bedingungen der Didaktikindustrie im Wirtschafts- schaft – mit zunehmendem Alter der Klienten weni-
und nicht im Erziehungssystem ansiedelt, erscheint ger professionell erfolge, da das professionseigene
angesichts historischer Realitäten kaum nachvoll- Wissen weitergegeben werde. Nicht an die Schüler
ziehbar und ergibt sich wohl mehr aus den Unter- vermittelt wird hingegen die mühsam aufgebaute
scheidungszwängen der Systemtheorie selbst. Ähnli- Kompetenz der Lehrer, mit der eigenen ungewissen
ches gilt für die Besonderheiten baupolitischer Situation täglich umzugehen.
Vorhaben, wenn es um Schule geht. Die Planung ei- Daneben gibt es eine Reihe weiterer Instrumente,
nes öffentlichen Parkhauses unterscheidet sich auch die das Interaktionssystem ›Unterricht‹ stabilisieren
in der Form der Kommunikation beträchtlich von und durch die die Lehrer entlastet werden: Lehrpläne
der Planung eines Schulhauses, einfach weil andere können zwar nicht steuern, was tatsächlich vermittelt
Vorstellungen im Spiel sind. Erziehung hat immer wird, sie schränken aber die Möglichkeiten ein. Auch
mit gesellschaftlichen Überzeugungen zu tun, die aus dem Medium des Lebenslaufs oder der guten Ab-
sich nicht nach Systemen sortieren lassen. Oft sind sicht des Lehrers lassen sich noch keine Entscheidun-
diese Überzeugungen überschießend und nicht sel- gen ableiten. Konkreter ist da schon der Stunden-
ten haben sie auch einen utopischen Anstrich, der plan, obwohl dieser ebenfalls nicht vorhersagen
abgearbeitet werden muss (Tyack/Cuban 2003). Auf kann, was jeweils im Klassenzimmer geschieht. Da-
der anderen Seite zeigt sich, wie sehr die gesellschaft- rüber hinaus sind die Formen des Unterrichts allein
lichen Vorstellungen von dem, was eine Schule sein schon formal auf unterschiedliche Weise differen-
kann, dasjenige prägen, was sie dann tatsächlich ist. ziert. Es lassen sich Schultypen und Schulklassen un-
Mehr als etwa ein abstrakter Code wie ›vermittelbar‹/ terscheiden; letztere können nach Jahrgängen und
›nicht vermittelbar‹ bestimmen kulturelle Formen nach Unterrichtsfächern eingerichtet werden. Darü-
das pädagogische und bildungspolitische Reden und ber hinaus stehen Möglichkeiten der zeitlichen Tak-
Handeln. tung zur Verfügung, es können unterschiedliche
Eltern und andere Kommunikationssysteme sind Anforderungen gestellt und mögliche Karrieren
für Luhmann Umwelten des Erziehungssystems. Der prognostiziert werden. Wie aus der Bildungsfor-
Politik wird nur ein geringer Einfluss auf das Unter- schung bekannt, sind hier Begabungsvorstellungen
richtsgeschehen zugestanden; wissenschaftliches weiterhin zentral für die Wahrnehmung der Ent-
Wissen ist eine wichtige Referenz schulischer Ver- wicklungsmöglichkeiten einzelner Schülerinnen und
mittlung, aber selbst nicht lehrbar; die Selektionszu- Schüler.
mutungen des Systems müssen den Eltern über das Nur kurz widmet Luhmann sich der systemtheo-
Chancengleichheitspostulat vermittelt werden und retisch nicht uninteressanten Frage nach der Funkti-
einer zu engen Kopplung an wirtschaftspolitische Be- on von Bildungsreformen. Er unterscheidet hier
dürfnisse wird durch Generalisierung und Speziali- zwischen der historisch nachvollziehbaren Entste-
sierung der Ausbildungsformen entgegengewirkt. hung von Reformvorhaben und den dann unkon-
Schüler werden zwar sogar samt ihren Körpern in trollierbaren Nebenfolgen. Mit der Reform kann laut
den Unterrichtszusammenhang inkludiert, was für Luhmann nie unmittelbar auf den Unterricht gezielt
funktionale Differenzierung einen Spezialfall bedeu- werden, sondern es müsse immer der Umweg über
tet. Sie können sich demnach physisch nicht entzie- die Veränderung der Organisationsformen genom-
hen, unterlaufen aber psychisch, häufig auch kom- men werden. Die eine Reform bedinge meist schon
munikativ, die gut gemeinte Erziehungsabsicht. die nächste. Nur durch das systemeigene Vergessen
Als eigentliche Trägergruppe des pädagogischen seien neue bildungspolitische Projekte überhaupt
Codes führt Luhmann jedoch die Lehrer ein. Einmal möglich. Die Universität Bielefeld beheimatet bis
als ›Routiniers‹ des alltäglichen Geschäfts, einmal als heute eine der bekanntesten Reformschulen
tragikomische Figur ist der Lehrer das mitlaufende Deutschlands, die ›Laborschule‹, die 1974 unter der
und ständig neu erzeugte Bild, das die abstrakte sys- Leitung Hartmut von Hentigs eingerichtet worden
258 Werke und Werkgruppen

war und für den Soziologen somit einen unmittelbar gramm sagen würde. Ein nihilistisches Versprechen
benachbarten empirischen Untersuchungsgegen- kennzeichnete den Existenzialismus, und schon
stand bot. Ihre Ideale seien, hier greift Luhmann auf Rousseau war mit dem Versuch gescheitert, Erzie-
den dominanten Dualismus von Bildung und Ver- hung ohne Zukunft zu denken.
waltung zurück, seit »Anbeginn durch eine Kollision An keiner Stelle des Buches werden der Bezugs-
von Kultusbürokratie und an eigenen Ideen orien- punkt und Kontext der Untersuchung benannt. Luh-
tierten Studenten, Assistenten und Professoren ver- mann behauptet, eine gesellschaftstheoretische Ana-
hindert« (ErzG, 167) worden. Mit dieser Perspektive lyse des Erziehungssystems zu liefern. Damit ist aber
lässt sich die historische Entwicklung der Schule aber nur eine ungefähre zeitliche Einschränkung auf die
nicht erklären, an der gerade die staatliche »Kultus- historische Epoche funktionaler Differenzierung
bürokratie« ein Interesse gehabt hat, da sie im selben vorgenommen. Der eigentliche Bezug bleibt ver-
Zug den eigenen Ausbau legitimieren konnte. deckt. Anders als es die englischen und französischen
Literaturverweise im Text vermuten lassen, schreibt
Luhmann über das deutsche Bildungssystem und, so-
Pädagogische Programmatik der weit die Konkretisierungen reichen, auch nur über
Systemtheorie das. Das wird schon in seiner geistesgeschichtlichen
Herleitung mit dem zentralen Moment des Neuhu-
So ironisch Luhmann die Möglichkeiten der Pädago- manismus deutlich, aber auch in der Darstellung des
gik als Reflexionsinstanz des Erziehungssystems auch Lehrerstandes oder der empfindlichen Punkte bil-
taxiert hat, so pädagogisch sind seine eigenen Über- dungspolitischer Diskussionen. Diese sind weiterhin
legungen. Offenbar entgeht man den Fallstricken der vor allem von ihren nationalen oder sogar regionalen
pädagogischen Denkform nicht so leicht. Bereits im Traditionen geprägt. Zur Klärung des Verhältnisses
ersten Kapitel des Buches wagt Luhmann einen Vor- von Klassenzimmer, Elternschaft, Wirtschaftsorga-
schlag, wie sich auf der Grundlage systemtheoreti- nisationen, politischer Verfassung und Lehrerver-
scher Einsichten in die Komplexität pädagogischen bänden müssten diese historischen Zusammenhänge
Handelns eine Verbesserung der Lehrerbildung er- auch theoretisch eingefangen werden, was Luhmann
zielen ließe. Am Schluss des Bandes entwirft er sogar erst gar nicht versucht.
ein eigenes, dezisionistisches Bildungsprogramm, Es fehlt auch jeder Hinweis auf den politischen
das auf sehr paradoxe Weise ›Zukunft‹ thematisiert. Ort des Erziehungssystems, der seit Montesquieu ei-
Die Jugend müsse sich auf eine ihr radikal unbe- gentlich zur Theoriebedingung gehört. In einer De-
kannte Zukunft einstellen und dennoch unter Aus- mokratie kann Pädagogik jedenfalls weder als bloße
nutzung des eigenen Nichtwissens das Entscheiden Opposition noch als bloße Beobachtung konzipiert
lernen. Mit diesem inhaltlosen Formalismus ist Luh- werden, also weder als Gesellschaftskritik noch als
mann gar nicht so weit entfernt von großen Teilen Systemtheorie. Die Erziehung künftiger Bürgerinnen
der Pädagogik des späten 20. Jahrhunderts, die Bil- und Bürger ist damit ebenso wenig zu fassen wie die
dung nunmehr unter der Absehung von Inhalten zu Ausbildung zu Berufen, Ansprüche an lebenslanges
fassen versucht. Die Befürworter der Relevanz von Lernen oder öffentlich formulierte moralische Er-
Bildungsinhalten befinden sich spätestens seit dem wartungen, die quer zu allen Systemen verstanden
Ende eines akzeptierten Bildungskanons in der Min- werden müssen.
derheit. Sowohl der Kompetenzbegriff der Leistungs- Doch eigentlich geht es in dem Buch nicht um So-
messung als auch die weiterhin virulente reformpäd- zialisation, Erziehung oder Bildung. Es geht auch
agogische Kritik der Orientierung an Unterrichtsfä- nicht um ein sich historisch herausbildendes Erzie-
chern gingen und gehen in diese Richtung. Und es hungssystem, das von anderen Funktionssystemen
wird auch deutlich, wie unmöglich dieses Programm mehr und mehr unterscheidbar würde. Luhmann
ist. Jede Annäherung an eine Zukunft folgt einer Vor- spielt hier vielmehr – unter Verwendung früherer
stellung und setzt einen Wissenshorizont voraus. Einzelanalysen – das bereits voll ausgereifte system-
Entscheidungen finden in der Gegenwart statt, sie theoretische Instrumentarium noch einmal durch
mögen unbeabsichtigte Folgen haben, die aber nicht und nutzt die Beispiele aus dem pädagogischen All-
einfach dazu führen, Zukunft als ›kontingent‹ zu er- tag zur Illustration. Worin liegt dann aber die Leis-
warten. Luhmanns Zeittheorie kann nicht einfach tung der Systemtheorie für die Erziehungswissen-
auf die Erziehung übertragen werden, ohne sich zu schaft? Vielleicht genau darin, dass das Ziel der
fragen, was wohl die Jugend zu diesem Bildungspro- Untersuchung verfehlt wurde. Die Suche nach dem
Das Erziehungssystem der Gesellschaft (2002) 259

›Eigentlichen‹ der Erziehung hat in der deutschspra- Literatur


chigen Pädagogik den erfahrungsgesättigten Blick
Dekker, Jeroen: Educational Ambitions in History: Child-
auf ihren Gegenstand lange verstellt, auch wenn sie hood and Education in an Expanding Educational Space
sich als empirisch verstand. Hier bot der systemtheo- from the Seventeenth to the Twentieth Century. Frank-
retische Zugang, das zeigen Luhmanns erwähnte In- furt a. M. 2011.
vektiven gegen den Bildungsbegriff, genug Angriffs- Geiss, Michael: »Die Verwaltung der Dinge: Einige Überle-
fläche. Aber eine Alternative ist damit nicht gefun- gungen zur pädagogischen Geschichtsschreibung«. In:
Karin Priem/Gudrun M. König/Rita Casale (Hg.):
den. Luhmanns soziologische Summa kann der Die Materialität der Erziehung. Zur Kultur- und Sozial-
Wirklichkeit nur Begriffe überstülpen und verpasst geschichte pädagogischer Objekte. Weinheim 2012,
so gerade die systemischen Differenzen. 151–167.
Man kann sich mit Luhmanns Begriffsinstrumen- Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesell-
tarium den unterschiedlichen Erziehungswirklich- schaft oder Sozialtechnologie – was leistet die Systemfor-
schung? Frankfurt a. M. 1971.
keiten nähern. Doch was hat man davon? Das Luhmann, Niklas/Schorr, Karl Eberhard: Reflexionsproble-
Instrumentarium müsste sich irritieren lassen durch me im Erziehungssystem. Stuttgart 1979.
historische Uneindeutigkeiten, regionale, nationale –/– (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fra-
und globale Entwicklungen, ein Zerlegen der mitlau- gen an die Pädagogik. Frankfurt a. M. 1982.
fenden Historiographie und eine Kontextualisierung –/– (Hg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen
an die Pädagogik. Frankfurt a. M. 1986.
der eigenen Annahmen, aber dann wäre es un-
–/– (Hg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Päd-
brauchbar. Der Charme der Systemtheorie liegt in agogik. Frankfurt a. M. 1990.
der rigorosen Abstraktion; aber Systeme haben eige- –/– (Hg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pä-
ne Experten, die mit der Umcodierung ihres Gegen- dagogik. Frankfurt a. M. 1992.
stands wenig anzufangen wissen und eine analytisch –/– (Hg.): Zwischen System und Umwelt. Fragen an die Pä-
kaum in einem Begriff zu fassende Vielfalt des jewei- dagogik. Frankfurt a. M. 1996.
Oelkers, Jürgen/Tenorth, Heinz-Elmar: »Pädagogik, Erzie-
ligen Feldes ins Spiel bringen können. Wenn sich die hungswissenschaft und Systemtheorie. Eine nützliche
Systemtheorie tatsächlich für eine historische und Provokation«. In: Dies.: Pädagogik, Erziehungswissen-
empirische Durchdringung des Erziehungssystems schaft und Systemtheorie. Weinheim/Basel 1987, 13–54.
interessieren sollte, verliert sie als Theorie. Sie ist nur Schelsky, Helmut: Schule und Erziehung in der industriel-
haltbar, wenn sie das System nicht durchschaut. len Gesellschaft [1957]. Würzburg 61967.
Schwanitz, Dietrich: Bildung. Alles, was man wissen muß.
Frankfurt a. M. 1999.
Tyack, David/Cuban, Larry: Tinkering Toward Utopia.
A Century of Public School Reform. Cambridge/London
92003.

Michael Geiss und Jürgen Oelkers


261

VI. Verbindungen, Bezüge, Differenzen

1. Georg Wilhelm Friedrich digkeit, das Absolute durch einen einzigen Grund-
satz auszusprechen bzw. darzustellen. Dieser Grund-
Hegel (1770–1831) satz muss Identitäten und Differenzen der Gegen-
stände des Wissens als auch in summa die Identität
Anlässlich des Todes von Niklas Luhmann 1998 beti- der konkreten Veränderungen, des historischen Wer-
telte Der Spiegel seinen Nachruf »Hegel ohne Welt- dens und der allgegenwärtigen Gegensätze ausdrü-
geist« (47/1998, 276), in explizitem Anschluss an cken können.
die Verleihung des Stuttgarter Hegel-Preises 1988. Hegel beginnt mit der Frage, inwieweit philoso-
Robert Spaemann formulierte in seiner Laudatio: phische Systeme Ausdruck des Absoluten sein kön-
»wenn Luhmanns Systemtheorie mit irgendeiner Ge- nen, obwohl sie im Laufe der Geschichte unter-
stalt von Philosophie in einen Theorievergleich wird schiedliche Formen angenommen haben. Zugleich
eintreten müssen, kann es wohl nur die Hegelsche diagnostiziert er als Versäumnis seiner Gegenwart,
sein« (Pl, 62). Ist also der Soziologe Luhmann der dass die Philosophie ihrer Aufgabe, das Absolute dar-
Hegel des 20. Jahrhunderts? Und wenn ja: Inwieweit zustellen, nicht wirklich nachkomme. Zur Erklärung
und inwiefern kann von einer Hegel-Rezeption oder des Mankos unterscheidet Hegel zwei Aspekte des
einer Überbietung Hegels gesprochen werden? Im Denkaktes, Differenzieren und Identifizieren, und
hier gebotenen Rahmen können die Antworten auf analog dazu zwei Reflexionsarten: die ›verständige‹,
solche Fragen freilich nur darin bestehen, die Eck- d.i. die der Tätigkeit des Verstandes gemäße, die bloß
punkte eines umfassenderen Theorievergleichs zu auf die Resultate der Differenzierung sieht, und eine
setzen. Dies erfolgt erstens mithilfe einer Außen- und ›vernünftige‹, die den Differenzierungs- und Identi-
zweitens mithilfe einer Innenperspektive: Zunächst fizierungsakt selbst betrachtet. Er insistiert darauf,
werden wesentliche Gemeinsamkeiten und Unter- dass nur die vernünftige Reflexion dazu führen kön-
schiede in Bezug auf Intentionen, explizit erwähnte ne, das konstatierte Versäumnis zu beheben. Zusam-
Anlässe zur Theoriebildung, Gegenstände und mengefasst sucht er nach einer philosophischen
grundlegende Theoriebildungs- bzw. Werdensfigu- Denkweise, die damit umzugehen vermag, dass das
ren skizziert. Im Anschluss kommt Luhmann mit ei- Denken mit einem Akt zugleich zwei gegensätzliche
nigen seiner zahlreichen systemtheoretischen Selbst- Dinge tut, und dass sie selbst auf Differenzierungen
beobachtungen in Bezug auf Hegels Theorie selbst zu angewiesen ist, obwohl sie deren Resultate nicht on-
Wort. Auf diese Weise soll deutlich werden, wie sehr tologisierend als Identitäten, die unabänderlich ver-
Luhmann an den Vorschlag Hegels zur theoretischen schieden voneinander sind, festschreiben dürfe. Die
Erfassung der Moderne anschließt, gerade indem er Lösung des Hegel gegenwärtigen Problems ist zu-
sich von ihm absetzt. gleich die angemessene Lösung der Aufgabe der Phi-
losophie überhaupt und löst auch zugleich das
Historizitätsproblem. Denn wenn das Absolute an-
Fremdbeobachtung der Theorieprojekte: gemessen gedacht und zur Darstellung gebracht
Konstruktion des (gegenwärtigen) Absoluten wird, werden auch die Welt, der Weltenlauf und die
sozio-historischen Erscheinungen der philosophi-
Worüber dachten Hegel und Luhmann nach und zu schen Systeme in ihrer Differenz und Identität ad-
welchem Zweck haben sie theoretisiert? Pointiert fin- äquat verstehbar.
det man die Antwort Hegels in seiner ersten Veröf- Für die Darstellung dieses komplexen Zusammen-
fentlichung von 1801, der sogenannten Differenz- hanges fehlt nunmehr nur noch ein ›Grundsatz‹.
schrift (Hegel 1986a, 9–138). Dort ergeht an die Dieser muss antinomisch sein, also wörtlich gegen die
Philosophie die Aufforderung: »das Absolute soll fürs Gesetze (des Denkens oder Sprechens) verstoßen,
Bewußtsein konstruiert werden« (ebd., 25). Im zwei- weil er zwei widersprüchliche Sätze zugleich zu den-
ten Abschnitt, der seine Methode programmatisch ken und auszudrücken vermag: den Identitätssatz
diskutiert, geht es um die Möglichkeit und Notwen- oder die Synthese (A = A) und den Differenzsatz, Wi-
262 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

derspruch oder die Antithese (nicht-A = A). Der tes durch sich selbst ausgedrückt in der freien Ver-
gefundene antinomische Grundsatz – (A = A) ist nunft, auf deren Werden sich die philosophische
identisch mit (nicht-A = A) – drückt nach Hegel den Reflexion bezieht. Paraphrasiert man das Absolute
Zusammenhang von Subjektivität und Objektivität mit ›Gesamtheit möglichen Wissens‹, dann wird die
so aus, dass deren Identifikation und Differenzierung philosophische Theorie zur sprachlichen und denke-
als einander bedingende Prozesse aufgefasst werden rischen Ausdrucksform dieses absoluten, sich immer
müssen, weil der eine Prozess nicht ohne den ande- wieder verändernden Inhaltes.
ren stattfinden kann (ebd., 38 f.). Als formaler Aus- Mit diesem Ausblick kündigt Hegel nicht nur die
druck des Absoluten bewahrt der antinomische Phänomenologie des Geistes (1807) als prozessuale
Grundsatz den Unterschied zwischen Identifizieren Darstellung der Entwicklungen der Erscheinungen
und Differenzieren und hebt ihn zugleich auf. Weil des Geistes an, sondern treibt sie bereits über sich hi-
aber jede Identifikation Differenzierung voraussetzt, naus hin zur Wissenschaft der Logik (1812) als einer
kann es Identität – auch die des Absoluten – immer umfassenden Darstellung der Entwicklung der Kate-
nur aufgrund von Differenzierungen geben. Deshalb gorien, die das Wissen ermöglichen, bis zur Enzyklo-
kommt Hegel zu dem Schluss, dass der Widerspruch, pädie der philosophischen Wissenschaften I-III
sofern er auf die Identität bezogen bleibt, »der (1817–1830), d.i. zur Darstellung allen möglichen
höchstmögliche Ausdruck der Vernunft […], des Wissens, durch das das Absolute in seiner ganzen Er-
Wissens und der Wahrheit« (ebd., 39) und zugleich scheinung zur Darstellung gebracht wird. Knapp 20
»die rein formale Erscheinung des Absoluten« ist Jahre nach dem Erscheinen der Differenzschrift for-
(ebd., 41). muliert Hegel in den Grundlinien der Philosophie des
Der antinomische Grundsatz macht sowohl die je- Rechts (1821) erneut, »ihr Inhalt [sei] die begreifende
der Erkenntnis zugrundeliegende, permanent vollzo- Erkenntnis Gottes« (Hegel 1986d, 22), d. h. aber zu-
gene Praxis differenzierender Identifikation kommu- gleich »[d]as was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der
nikabel als auch deren letzten Bezugspunkt, weil er Philosophie, […] so ist auch die Philosophie ihre Zeit
sie sprachlich verfasst. Wahrheit dürfen die so er- [und nichts darüber Hinausgehendes!] in Gedanken
zeugten Erkenntnisse für sich beanspruchen, weil sie erfasst« (ebd., 26). Die erzeugten Erkenntnisse über
nicht willkürlich oder zufällig erzeugt werden, son- die historische Gegenwart sind aber nur dann wahre
dern weil sie einerseits ein(en) Moment und einen Erkenntnisse, wenn sie ihre konkreten Gegenstände
Teil des sich entwickelnden Ganzen, des Absoluten, gemäß der an sich unveränderbaren dialektischen
ausmachen, und weil sie andererseits dem notwendi- Werdensform erfassen. Mit diesem differenzlogi-
gen, inneren Gang der sie bestimmenden internen schen Instrumentarium zur Hand ist Hegel der erste,
Negation folgen (vgl. Hegel 1986b, 57). Diesen Gang der die Gesellschaft systematisch in ihrer modernen
nennt Hegel Dialektik: Der Widerspruch, der immer Ausdifferenzierung erfasst und ihr zugleich eine
zugleich auf die Identität verweist, wird zur in sich Wirkmächtigkeit in Bezug auf den Einzelnen zu-
identischen und stabilen Werdens- oder Prozessform schreibt (Hegel 1986b, 324–494; 1986d). So kann
erhoben, durch die alles als sich verändernde Prozes- auch der Theoretiker immer nur das reflektieren, was
se erscheinen kann (eben mit Ausnahme der Wer- sich bereits dialektisch entwickelt hat, und er hat im-
densform selbst!): »Das Wahre ist so der bacchanti- mer gerade nur die Reflexionskompetenz, die seine
sche Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist« Zeit, um nicht zu sagen: Gesellschaft, ihm ermög-
(ebd., 46). licht. Aber der Theoretiker weiß eben nach Hegel
Hegels Weise des Philosophierens vermag also, die auch, dass sich das Werden in immer gleicher Form
allgemeine Aufgabe zu lösen und gleichzeitig das ge- dialektisch vollzieht und dass diese Wahrheit als
genwärtige »Bedürfnis der Philosophie« (Hegel Form des konkreten Einzelwissens in der Summe das
1986a, 20) zu befriedigen. Dadurch erwachse aller- Absolute – je zu seiner Zeit – zu konstruieren vermag.
dings ein neues Bedürfnis: Da die Beziehung des Sei-
enden auf das Absolute mannigfaltig ist und das
Philosophieren gerade darin besteht, diese Vielfalt in Konstruktion einer selbstreferentiellen
Relation zueinander und zum Absoluten zu setzen, Theorie der modernen Gesellschaft
sei es erforderlich, ein System der Wissenschaft zu ent-
wickeln, das die Totalität des Wissens bzw. des Wiss- Mag die Problemstellung – Absolutes versus Gesell-
baren zu produzieren vermag. Dann sei Philosophie schaftstheorie – auf den ersten Blick sehr verschieden
wahre Selbsterkenntnis des sich entwickelnden Geis- sein, so macht doch schon der Universalitätsan-
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) 263

spruch beider Theoretiker deutlich, dass sie sich sicht: in Bezug auf den expliziten Zweck der Theorie-
nicht mit Einzeluntersuchungen zufriedengeben: bildung und in Bezug auf die Theoriebegründung,
Der Gegenstand der Theorie ist das ›Ganze‹, die Welt, was eng mit ersterem zusammenhängt. Dies betrifft
das Soziale, in seiner Gesamtheit, und das heißt in den Wahrheitsanspruch an die gewonnenen Er-
seinem historischen Gewordensein und der dadurch kenntnisse.
gegebenen Möglichkeit, es auch in seiner Funktiona- Luhmanns Theorie muss – ebenso wie Hegels
lität zu erkennen. So weisen zwar Luhmanns pro- wahrhafte Philosophie – einen Weg finden, die Wi-
grammatische Methodenschriften Soziale Systeme dersprüche produktiv werden zu lassen, die sich aus
(1984) und Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990) der Selbstreferentialität und der dadurch aufdeckba-
zunächst auf eine vollkommen andere Intention hin: ren Gleichzeitigkeit von Selbst- und Fremdverwei-
Geht es ihm doch darum, eine der modernen, funk- sung ergeben, so dass auch hier nochmals offensicht-
tional ausdifferenzierten Gesellschaft angemessene lich wird, wie sehr beide Theorien in Bezug auf die
komplexe Theorie der Gesellschaft zu entwerfen. Identifikation der Problemlösung und auf ihren An-
Eine Frage ist dabei allerdings, was passiert, wenn die spruch einander ähneln. Denn bei Luhmann wie bei
(u. a. wissenschaftlichen) Selbstbeschreibungen der Hegel geht es explizit immer auch darum, ein theo-
modernen Gesellschaft sich selbstreferentiell in ei- retisches Instrumentarium für den Umgang mit pa-
nem Metadiskurs vollziehen (SA5, 12). radoxalen Widersprüchen zur Verfügung zu stellen,
Die gesuchte Theorie hat also die Aufgabe, sich die immer dann auftauchen, wenn Selbstreferentiali-
wegen ihres Universalitätsanspruchs ihr eigenes tät mit Negation gepaart wird. Im Gegensatz zu He-
theoriebildendes Rüstzeug zur Verfügung zu stellen gel, der hier auf die Identität im Absoluten verweist,
und so für sich selbst sowohl Input wie Output zu sieht sich Luhmann aber auch gezwungen, den Vor-
sein: »Da die Forschung sich selbst als System in Be- wurf abzuwehren, aufgrund der zirkulären Selbstre-
trieb setzt, kommt nur eine zirkuläre Begründung in ferentialität nur willkürliche Erkenntnisse gewinnen
Betracht« (Luhmann 1988, 292 f.). Wegen des Uni- zu können, eben weil keine »unabhängige […] Bestä-
versalitätsanspruchs kommt sie aber auch »selbst als tigung (confirmation) des Wahrheitsanspruches der
ihr eigener Gegenstand vor« (SS, 9). Das bedeutet, Theorie« (SS, 9) besteht.
dass wir in beiden Theorien nicht nur Auseinander- Selbstreferenz war einmal in Form von cartesi-
setzungen mit dem Status der gewonnenen Erkennt- scher Selbstgewissheit die Lösung für das neuzeitli-
nisse, sondern auch mit den Möglichkeiten und che erkenntnistheoretische Problem, nicht mehr auf
Grenzen der Darstellbarkeit finden – bei Hegel wird extramundane oder transzendente Gewissheiten –
das unter der Differenz zwischen Konkretem und auf zweifelsfreie göttliche Wahrheit und Offenba-
Abstraktem abgehandelt; bei Luhmann immer dann, rung – zur Wahrheitsbegründung zurückgreifen zu
wenn es um Semantik, Kommunikation, angemes- können bzw. zu wollen. Die Moderne hat dann mit
sene Theoriebildung oder das Wissenschaftssystem Kant und Fichte, auch zur Theoriebegründung selbst,
geht. die Variation der transzendentalen Selbstreferenz
Selbst wenn es um den Anlass zur Theoriebildung erfunden, die auf die Möglichkeitsbedingungen des
geht, befinden sich beide in erstaunlichem Einklang: Auftauchens eines Gegenstandes, d. h. auch ihrer
Hegel beklagt das Fehlen einer wahren Philosophie, selbst, reflektiert (Siemek 1984). So spricht auch
Luhmann den Zustand der Soziologie, lautet doch Luhmann noch von der Notwendigkeit, dass eine
der erste Satz in Soziale Systeme: »Die Soziologie adäquate, d. h. auch die geforderte Theorie der Gesell-
steckt in einer Theoriekrise« (SS, 7). Diese ›Sinnkri- schaft begründende, Erkenntnistheorie die »Bedin-
se‹ oder ›Einheitskrise‹ resultiere daraus, dass sie gungen ihrer Möglichkeit reflektieren muß« (WG,
nicht mehr in der Lage sei, ihre Einheit begründen zu 7). D. h. für ihn, »die Erkenntnistheorie [ist] selbst zu
können. Es gäbe kein gemeinsames Paradigma, son- soziologisieren« (WissG, 71), weil auch sie ›bloß‹ ein
dern stattdessen einen endlosen Komplexitätsaufbau soziales Phänomen darstelle. Luhmann weist mit
durch immer feinere historische Selbstanalysen, die dieser Theoriebegründungsfigur den Vorwurf der
aber niemals zu einer neuen Grundlegungstheorie Beliebigkeit zurück, weil es nicht darum gehe, irgend-
führen könnten. welche Theorieentscheidungen zu treffen, sondern
Finden wir also in Bezug auf den Anlass und den vielmehr darum, die das Gesellschaftssystem und sei-
universell ausgerichteten Gegenstand der Theorie ne Subsysteme konstituierenden Unterscheidungen
nur Übereinstimmungen bei Hegel und Luhmann, sichtbar zu machen und mit ihnen die Theorie als ih-
so unterscheiden sie sich dennoch in zweierlei Hin- nen angemessen zu bestätigen (WissG, 99–103).
264 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

Hegel löst das Rechtfertigungs- oder Theoriebe- schiedliche Konkretisierungen erfahren. Das gilt
gründungsproblem mit Hinweis auf das Absolute, neben der Bedeutung der Einheit in Bezug auf ›Be-
das sich auf vielfache Weise ausdrückt: Im absoluten, griff‹ und ›Form‹ auch für die Funktion des Wider-
allumfassenden Wissen und in der Reflexion auf den spruchs. Eine »gewissenhafte Diskussion [des] Ver-
ewig gleichbleibenden dialektischen Werdensverlauf; hältnisses [der Systemtheorie] zu den großen Theo-
durch die im dialektischen Werden mit innerer Not- rieleistungen des 19. Jahrhunderts«, d.i. auch der
wendigkeit gesteuerten Veränderungen wie auch in Vergleich mit Hegel, müsse an der Funktion des Wi-
den äußerlichen Kontingenzen und in der Summe all derspruchs ansetzen, da »sie alle mit Differenz anfan-
dessen. Insofern besteht Hegels ›Coup‹ darin, das gen und nach Einheit suchen«, so Luhmann – auch
Absolute als äußerste Transzendenz in Form des ›Be- über Luhmann? Wäre hier der luhmannsche ›Sinn‹,
griffs‹ zugleich pantheistisch als dialektischen Wer- der keine Negation kennt, ein Analogon zur Figur des
densverlauf innerhalb des Ganzen vorkommen zu hegelschen Absoluten als letzte nicht von Außen ne-
lassen – eine Option, die Luhmann »zu riskant« (SS, gierbare Einheit?
606) erscheint. Deshalb steht Hegels Philosophie am Wie dem auch sei; bezogen auf den Widerspruch
Ende der sich bis dato auf je ihre Zeit beziehenden fordert Luhmann, man müsse seine ›dialektische
und aus ihr hervorgehenden Vernunftentwicklung, Funktion‹ durch eine ›evolutionstheoretische‹ erset-
wie er in den Vorlesungen über die Geschichte der Phi- zen (SS, 495). Das bedeutet in Bezug auf die Entwick-
losophie (1817) ausführt (Hegel 1986e, 48). Damit ist lungen in der Natur, statt auf die der Dialektik
auch Hegels Theorie ›autologisch‹, indem sie den inhärente Notwendigkeit (Hegel 1986c, 31 ff.) auf äu-
Anfang bildend in der dialektischen Rekonstruktion ßere Kontingenz ohne »Entwicklungslogik« zu set-
des reflexiven Wissens als deren Resultat wieder auf- zen. Der Widerspruch entspreche dann einer ›Unbe-
taucht. stimmtheit im System‹ und die Mutation dem
kontingenten Umgang mit ihr (SS, 492 ff.). Eine wei-
tere Ähnlichkeit entdeckt Luhmann auch zwischen
Selbstbeobachtungen Luhmanns dialektischen Figuren und seinem Rationalitätsbe-
in Bezug auf Hegels Philosophie griff, da der Begriff selbstreferentiell benutzt und auf
die Einheit der Differenz reflektiert werde (SS, 640).
Der hegelsche ›Begriff‹ als dialektische Werdensform Allerdings sieht er auch hier keine wirklich dialekti-
und Ausgestaltung hat nach Luhmann selbst insofern sche Figur, weil keine Bewegung gedacht werde, keine
Ähnlichkeit mit seinem Formbegriff, »als für beide Übergänge in Form von Negationen beansprucht
der Einschluss einer Unterscheidung konstitutiv ist« würden und weil ›Rationalität‹ keine teleologischen
(GG, 61). Damit entspricht er den Beobachtungsfor- Züge habe (SS, 640, Fn. 73; Pl). Als vierte von Luh-
men erster und zweiter Ordnung, die Luhmann je auf mann selbst angeführte Differenz soll hier bloß auf
einer anderen Ebene in Spencer-Browns Idee einer den die Systemtheorie beherrschenden Unterschied
›Form der Unterscheidung‹ modelliert sieht (Spen- von psychischen und sozialen Systemen verwiesen
cer-Brown 1969). Der hegelsche ›Begriff‹ löse aller- werden, denn »[d]as trennt uns von einer Konzepti-
dings im Gegensatz zur Form das Problem seiner on wie in Hegels Phänomenologie« (SS, 496; vgl.
Einheit selbst. Damit spricht Luhmann an, was er im- Bergler 1999, 68–86; Ellrich 2000, 87–105).
mer wieder als Unterschied benennt: dass Hegel Abschließend lässt sich festhalten, dass Luhmann
Identität und Differenz auf Identität, d. h. in Bezug trotz der aufgeführten Differenzen seine Theorie in
auf eine letzte Einheit hin thematisiere, während es die hegelsche Tradition stellt: So hätten alle Theo-
ihm um die Differenz von Identität und Differenz rien, »die Unterscheidungen unterscheiden können
gehe. Dadurch, dass die Form die Unterscheidung [, …] ihr Vorbild in Hegels Logik« (Pl, 47), weil sie
selbst sei, und dadurch, dass die Beobachtung nur die Unterscheidungen prozessieren im Hinblick auf das,
Bezeichnung einer Seite erzwinge, könne sie die eige- was identisch und different ist. Explizit, ebenso wie
ne Einheit gerade nicht realisieren – wie bei Hegel –, bei Hegel, werde seiner Theorie die Willkürlichkeit
sondern erscheine als das ausgeschlossene Dritte, das des Anfangs im Theorieaufbau genommen (SS, 11),
nicht beobachtet werden könne (GG, 61 f.). weil es sich um eine selbsttragende Konstruktion
Wenn es also ›ums Ganze geht‹, sieht Luhmann handle, die den Anfang ex post zu legitimieren ver-
Parallelen, aber auch Differenzen: Genauer könnte mag, und schließlich könne man seit Hegel wissen,
man sagen, dass er formal bestimmte Übereinstim- dass eine widerspruchsfreie Logik (auch im Sinne des
mungen sieht, die dann aber material doch unter- Logos als Sprache und Kommunikation?) das Soziale
Gabriel Tarde (1843–1904) 265

aus der Wissenschaft ausschließt (SS, 490). Wie also 2. Gabriel Tarde (1843–1904)
kann einer, der auszog, die moderne Gesellschaft und
sich selbst als ihren Beobachter zu beobachten, an-
ders verfahren, als an Hegel im besten Sinne anzu- »Ich weiß nicht, ob Ihnen Gabriel Tarde in den
schließen? Pflichtübungen zur Geschichte der Soziologie und zu
den Klassikern begegnet ist. Klassikerdarstellungen
sind bei uns hochselektive Verfahren; einige werden
Literatur für sehr bedeutend gehalten, andere werden entspre-
Bergler, Andreas: Kommunikation als systemtheoretische chend vernachlässigt oder unterschätzt. Gabriel Tar-
und dialektische Operation. Ein Beitrag zum Verhältnis de ist sowohl in Frankreich als auch in Deutschland
von Hegel und Luhmann. München 1999. nicht mehr sehr bekannt« (ES, 68).
Ellrich, Lutz: »Entgeistertes Beobachten. Desinformierende Als Luhmann im Wintersemester 1991/92 seine
Mitteilungen über Luhmanns allzu verständliche Kom-
munikation mit Hegel«. In: Peter-Ulrich Merz-Benz/ Einführungsvorlesung in die Systemtheorie hielt,
Gerhard Wagner 2000, 73–126. konnte Tarde tatsächlich noch als unterschätzter
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Differenz des Fichte- Klassiker gelten. Erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts
schen und Schellingschen Systems der Philosophie« hat die Soziologie mit Gabriel Tarde einen Klassiker
[1801]. In: Ders.: Jenaer Schriften 1801–1807. Werke wiederentdeckt, den es wohl nur als wiederentdeck-
Bd. 2. Frankfurt a. M. 1986a, 9–138.
–: Phänomenologie des Geistes [1807]. Werke Bd. 3. Frank-
ten Klassiker geben konnte. Seine Schriften wurden
furt a. M. 1986b. neu ins Deutsche übersetzt – Die Gesetze der Nachah-
–: Wissenschaft der Logik II [1812]. Werke Bd. 6. Frankfurt mung im Jahr 2003 (frz. 1890), Monadologie und So-
a. M. 1986c. ziologie im Jahr 2009 (frz. 1893) –, die Zeitschriften
–: Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821]. Werke Economy and Society (2007) und Distinktion (2005)
Bd. 7. Frankfurt a. M. 1986d.
–: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I
widmeten ihm ganze Themenhefte, man spricht von
[1817]. Werke Bd. 18. Frankfurt a. M. 1986e. einer regelrechten Tardomanie in den Sozialwissen-
»Hegel ohne Weltgeist«. In: Der Spiegel 47. Jg. (1998), 276. schaften (Mucchielli 2000), und so wird Tarde inzwi-
Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Wir- schen von ganz unterschiedlichen Seiten als Ahnherr
kung [2003]. Stuttgart 22010. in Anspruch genommen – von der Akteur-Netzwerk-
Luhmann, Niklas: »Neuere Entwicklungen in der System-
Theorie Bruno Latours (2007, 32 f.) ebenso wie
theorie«. In: Merkur 42. Jg., 4 (1988), 292–300.
–: »Vorwort«. In: SA5, 7–13. von poststrukturalistisch informierten Soziologien
Merz-Benz, Peter-Ulrich/Wagner, Gerhard (Hg.): Die Lo- (Moebius 2009).
gik der Systeme. Konstanz 2000. Dass es Tarde nur als wiederentdeckten Klassiker
Nassehi, Armin: »Das Identische ›ist‹ das Nicht-Identische«. geben konnte, liegt daran, dass er im Grunde das Ge-
In: Zeitschrift für Soziologie 22. Jg., 6 (1993), 477–481.
genprogramm zu einer Soziologie geschrieben hat,
Pippin, Robert: Die Verwirklichung der Freiheit. Frankfurt
a. M. 2005. die es zu seiner Zeit noch gar nicht wirklich gab; denn
Siemek, Marek: Die Idee des Transzendentalismus bei Fich- als institutionalisierte Disziplin verdankt die Sozio-
te und Kant. Hamburg 1984. logie ihre Entstehung seinem größten Kontrahenten,
Spencer-Brown, George: Laws of Form [1969]. Portland, dem 15 Jahre jüngeren Émile Durkheim. Aus dem
OR 41994. Zweikampf Tarde vs. Durkheim ging Durkheim als
Tatjana Schönwälder-Kuntze
klarer Sieger hervor, weil er es war, der das geeigne-
tere, da plakativere Programm formuliert hat, um
eine neue Wissenschaft zu konturieren und diese von
anderen Disziplinen wie der Psychologie, der Philo-
sophie oder der Ökonomie abzugrenzen. Während
Durkheim die »soziologischen Tatbestände wie Din-
ge« (Durkheim 1984, 115) betrachtet wissen wollte
und sich für das Soziale in seiner »gebieterischen
Macht« (ebd., 106) interessierte, führte Tarde die Ge-
sellschaft auf einen einzigen, denkbar einfachen und
zugleich doch merkwürdigen Grundbegriff zurück:
den Begriff der Nachahmung. Ob in den Moden, in
den Sprachen oder in technischen und medialen Ent-
wicklungen, ob in Wissenschaft, Politik oder Kunst,
266 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

ob in Kriminalstatistiken oder in Börsenkursen, Dinge, was ihnen zugleich völlig eigen und gemein-
überall stößt Tarde auf das Phänomen der Nachah- sam ist. Dies muss der Ausgangspunkt sein, und ent-
mung. Für ihn lassen sich so Ideen, körperliche Prak- schieden sollte man verteidigen, dass man alles durch
tiken, ja sogar Bedürfnisse ebenso als Nachahmun- ihn erklärt, auch die Identität, welche bisher fälschli-
gen beschreiben wie politische Entscheidungen, cherweise als Ausgangspunkt diente« (Tarde 2009a,
technische Objekte oder Kunstwerke. 72). Tarde geht es hier um nicht weniger als um die
grundlegende Frage danach, wo soziologisches Den-
ken eigentlich ansetzt. Wenn nicht Identität der Aus-
Differenztheoretische Ausgangslagen bei gang ist, sondern Differenz, dann ergeben sich
Tarde und Luhmann daraus weitreichende Konsequenzen für die Konzep-
tion des Sozialen. Für Tardes Soziologie – und das
Nach einer systematischen Auseinandersetzung mit lässt sich ebenso auch von der Soziologie Luhmanns
dieser Nachahmungstheorie sucht man in Luhmanns behaupten – ist das Soziale nicht etwa ein fester Ge-
Werk vergeblich. Tarde ist keineswegs ein Referenz- genstand; sie nimmt das Soziale daher nicht bereits
autor für seine Systemtheorie, die ohnehin sparsam schon als Erklärung in Anspruch, sondern hält es in
mit ihren Referenzautoren umgeht. Allerdings be- erster Linie für das zu Erklärende (Latour 2009). Die
tont Luhmann doch an einer ganz zentralen Stelle die durkheimschen Metaphern der Gesellschaft als Me-
Bedeutung Tardes, und zwar dort, wo er auf die dif- chanismus und als Organismus sind für ihn daher
ferenzialistische Ausgangslage seiner eigenen Theo- nichts weiter als der unzureichende Versuch einer
rie hinweist. Bekanntlich hat Luhmann von Beginn Reifizierung des Sozialen. Weder vermag das Soziale
an die radikale Umstellung von Identität auf Diffe- Zwang oder Macht auszuüben noch ist die Gesell-
renz betrieben (SS, 26). Der Ausgangspunkt der schaft eine politische oder gar moralische Veranstal-
Theorie ist daher auch kein Begriff, kein Objekt und tung; vielmehr zeichnet sich Gesellschaft durch eine
kein bestimmter Untersuchungsgegenstand, son- bestimmte Operationsweise aus. »Kurz gesagt, auf
dern eine Differenz: die Differenz von System/Um- die anfangs gestellte Frage, was die Gesellschaft sei,
welt. Für ein derartiges radikal differenztheoretisches haben wir geantwortet: Sie ist Nachahmung«,
Denken nennt Luhmann in der eingangs zitierten schreibt Tarde in seinem Hauptwerk Die Gesetze der
Vorlesung zwei entscheidende Vorläufer beim Na- Nachahmung (Tarde 2003, 98). Dieses Zitat gilt es mit
men: den Linguisten Ferdinand de Saussure und – er- Sorgfalt zu lesen. Tarde behauptet an dieser Stelle
staunlicherweise – Gabriel Tarde. So heißt es dort nicht, dass in der Gesellschaft so etwas wie Nachah-
über ihn: »[U]nter einem Gesichtspunkt ist er wich- mung stattfindet, nein: Gesellschaft ist Nachahmung.
tig. Er hat eine Theorie der Imitation, der Ausbrei- Hier liegt wohl die wichtigste Gemeinsamkeit zwi-
tung und Konsolidierung von Sozialität qua Imitati- schen Tarde und Luhmann, denn es ist ein Kennzei-
on vorgestellt und hat dabei auch nicht mit Einheit, chen beider Programme, den operativen Charakter
sondern mit Differenz angefangen. Denn wenn man des Sozialen zu betonen. Ebenso wie Tarde setzt Luh-
jemanden imitiert, muss zunächst einmal jemand mann die Gesellschaft als Einheit nicht schon voraus,
anderes da sein. Man kann sich nicht dauernd selbst sondern führt sie auf eine einzige Operationsweise
imitieren, obwohl manchen auch das gelingt« (ES, zurück. »Das Gesellschaftssystem wird demnach
68). nicht durch ein bestimmtes ›Wesen‹, geschweige
Luhmann nennt den Namen ›Tarde‹ hier und denn durch eine bestimmte Moral charakterisiert,
auch noch an anderer Stelle in der Gesellschaft der sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft
Gesellschaft (GG 1997) also mit gutem Grund. Mit produziert und reproduziert. Das ist Kommunikati-
Tarde hätte es nämlich durchaus »einen ganz anders- on« (GG, 70). Tardes Nachahmungstheorie und Luh-
artigen Ansatz« (GG, 603, Fn. 18) gegeben, Soziolo- manns Systemtheorie müssen daher als herausragen-
gie zu betreiben, im Sinne einer Soziologie, die sich de Entwürfe einer konsequent operativen Sozial-
nicht nur durch einen andersartigen Zugang zu ih- theorie angesehen werden.
rem Gegenstand auszeichnet, sondern darüber hi-
naus die Frage nach dem Sozialen ganz anders stellt,
weil sie konsequent mit Differenz beginnt.
»Existieren heißt differieren«, steht programma-
tisch in Tardes Monadologie und Soziologie (2009a),
»die Differenz ist in gewissem Sinn das Wesen der
Gabriel Tarde (1843–1904) 267

Die Operativität des Sozialen: xis. Und wenn hier von Reorganisation die Rede ist,
Differenzen und Wiederholungen dann werden dadurch ausdrücklich zwei unter-
schiedliche Momente angesprochen: zum einen Sta-
›Operativität‹ heißt im Falle Tardes, den Blick auf mi- bilisierung (durch Wiederholung) und zum anderen
nimale Nachahmungsoperationen zu richten. Seine Veränderung.
Verortung des Sozialen im Infinitesimalen und Mo- Für Tarde ist Nachahmung immer zugleich Wie-
lekularen wurde durchaus schon früh zur Kenntnis derholung und Veränderung, sie garantiert niemals –
genommen, ohne jedoch breite soziologische Reso- und das ist sicherlich die Pointe seiner Nachah-
nanz entfalten zu können. In einer Hommage haben mungstheorie – die Identität des Nachgeahmten. Es
Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihren Tausend verwundert daher nicht, dass es wiederum Gilles De-
Plateaus (2005) Tarde als Erfinder einer Mikro-So- leuze war, der sich 1968 in seinem ersten Hauptwerk
ziologie gefeiert (Deleuze/Guattari 2005, 298), was Differenz und Wiederholung für eine wissenschaftli-
zweifelsohne richtig ist, da Tarde das Soziale tatsäch- che Rehabilitation Tardes starkgemacht hat, da die-
lich »im unendlich Kleinen« (Tarde 2009a, 25) aus- ser doch bereits die zentrale Frage nach Differenz
findig zu machen versucht. Es ist aber wohl falsch, und Wiederholung vorweggenommen habe (Deleu-
sofern man unter Mikro-Soziologie so etwas wie eine ze 1997, 45). Diese Frage nach der theoretischen Be-
subjekt- oder akteurszentrierte Soziologie versteht. deutung von Wiederholung steht am Ausgangspunkt
Die fachübliche Unterscheidung von Mikro- und der Diskussion um den sogenannten Poststruktura-
Makrosoziologie wird sowohl von Tarde als auch von lismus und ist bis heute eines ihrer zentralen Motive.
Luhmann unterlaufen; man müsste beide Autoren Ob es Theorien gelingt, mit der Figur der Wiederho-
vielmehr als Praxistheoretiker rekonstruieren, die in lung produktiv umzugehen, stellt so etwas wie einen
Nachahmung und Kommunikation jeweils auf emer- Lackmustest für operative Theorieanlagen dar. Kann
gente Praxisformen stoßen, die nicht allein auf die Wiederholung nur im Sinne von Reproduktion und
beteiligten Akteure zurückgeführt werden können Repräsentation gedacht werden oder ist ein Denken
(Borch/Stäheli 2009, 10; Nassehi 2008, 26 f.). Dass ausgehend von der Wiederholung möglich?
nicht der Mensch, sondern nur die Kommunikation Man könnte hier etwa an Jacques Derridas Begriff
kommunizieren kann, halten nicht wenige bis heute der Iterabilität denken, an Judith Butlers Konzept
für den Witz eines Zynikers. Worum es Luhmann al- performativer Resignifizierungen oder an Ernesto
lerdings geht, ist zu zeigen, dass Kommunikationen Laclaus Konzeption des Sozialen als einer unab-
nicht auf die Motive oder Intentionen der einzelnen schließbaren artikulatorischen Praxis. All diese
Kommunikationsteilnehmer zurückgeführt werden Theorien haben die Frage nach dem Verhältnis von
können, sondern Praxisformen sui generis darstellen. Wiederholung und Veränderung produktiv aufge-
Es ist die Kommunikation, die sich informiert, es ist nommen und in den Mittelpunkt gerückt, und so ist
die Kommunikation, die sich mitteilt, und es ist auch es kein Zufall, dass in jüngster Zeit gerade hieran Be-
die Kommunikation, die versteht. Kommunikation züge sowohl zu Luhmann als auch zu Tarde heraus-
ist daher eine eigene, eine irreduzibel soziale Opera- gearbeitet wurden (Moebius 2009; Stäheli 2000,
tionsweise. 161–183). So lässt sich mit Tarde, mit Luhmann und
Ganz ähnlich konzipiert auch Tarde den Nachah- ebenso auch mit den Theoretikern des Poststruktu-
mungsprozess als einen Prozess, der zwar nicht jen- ralismus sehen, dass soziale Praxis keineswegs der
seits der Beteiligung von Akteuren stattfindet, aber Ort ist, an dem sich vorgängige Strukturen, Logiken,
doch jenseits der Intentionalität oder Rationalität Regeln oder Grammatiken wiederholen, sondern
dieser Akteure. Die Figur, an der er das plausibel zu dass es erst durch Wiederholungen zum praktischen
machen versucht, ist der Schlafwandler. »Die Gesell- Aufbau von Ordnung und Strukturen kommt. Kei-
schaft besteht aus Nachahmung und Nachahmung neswegs soll also Strukturaufbau geleugnet werden,
aus einer Art Somnambulismus« (Tarde 2003, 111). aber Strukturen sind nicht die Voraussetzung für
Diese Betonung des somnambulen Charakters von Praxis, sondern ihr Ergebnis. Darin liegt der ent-
Gesellschaft verfolgt ein theoretisches Ziel. In der tar- scheidende Unterschied. Strukturaufbau kann nicht
deschen Figur des Schlafwandlers artikuliert sich – anders als aus der Praxis, aus sich selbst wiederholen-
im Übrigen ähnlich wie in Luhmanns Implementie- den Operationen heraus erklärt werden; Luhmanns
rung der biologischen Figur der Autopoiesis auch – Interesse richtet sich hierbei auf kommunikative An-
die Vorstellung des Sozialen als einer nicht geplanten, schlusszusammenhänge, Tardes Interesse auf Prozes-
sich selbst verstärkenden und reorganisierenden Pra- se der Nachahmung; Kommunikation schließt an
268 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

Kommunikation an, Nachahmung an Nachahmung len formuliert hat, ist durchaus vergleichbar und
– immer wieder aufs Neue. Sowohl Tarde als auch auch ähnlich motiviert wie die Kritik Luhmanns an
Luhmann betonen hierbei gleichermaßen den ope- der »Hermetik« (ES, 40) des parsonsschen Theorie-
rativen Aspekt der Emergenz von Ordnung auf der designs.
Ebene temporaler, zeitflüchtiger Ereignisse (Balke Die Verbindungen zwischen Luhmann und Tarde
2009, 147). liegen nicht so sehr auf der Ebene der Begriffe oder
der Untersuchungsgegenstände; dort gäbe es sicher-
lich deutlichere Überschneidungen etwa zwischen
Praktische Stabilität(en) Luhmann und Durkheim. Die Verbindungen betref-
fen vielmehr einen gemeinsamen soziologischen
Noch eines verbindet Tarde und Luhmann: Beide Blick. Das lässt sich in erster Linie an der differenz-
sind Autoren, die ihre Leser dazu auffordern, sich theoretischen Disposition beider Theorien und ihrer
über Ordnung und Stabilität zu wundern. Der Sozio- Konzeption der Gesellschaft als eines ereignishaften
logie hat Tarde schon früh den Vorwurf gemacht, ihr und unabschließbaren Operationszusammenhangs
Augenmerk als Kind der Moderne zu stark auf Kri- zeigen. Tarde gilt gerade deshalb derzeit als »Kataly-
sen, Abweichung und Umbrüche gelegt und »jene sator für ein neues soziologisches Denken« (Borch/
enorme Regelmäßigkeit […], die auch in den beweg- Stäheli 2009, 7) und als Stichwortgeber für ein Fach,
testen Gesellschaften herrscht« (Tarde 2003, 33), ver- das an seinen eigenen Dichotomien laboriert. Tardes
nachlässigt zu haben. Dabei seien es doch gerade scheinbar einfache Nachahmungstheorie ermöglicht
soziale Regelmäßigkeiten, die aus soziologischer ein soziologisches Denken, das Unterscheidungen
Sicht interessant und aufschlussreich sind. Diese An- wie Mikro/Makro, Individuum/Gesellschaft und
sicht wurde auch von Luhmann geteilt, weshalb man Ordnung/Wandel konsequent misstraut und diese zu
ihm und seiner Theorie bisweilen den Vorwurf des überwinden versucht. Zu Recht wurde Tarde dafür
Konservativismus gemacht hat. Die Systemtheorie aus ganz unterschiedlichen Richtungen wiederent-
luhmannscher Prägung ist aber keineswegs eine kon- deckt und gefeiert. Im Zuge dieser bisweilen eupho-
servative Theorie oder gar eine Ordnungstheorie; rischen Tarde-Rezeption lohnt es sich, die luhmann-
denn anders als noch für seinen Lehrer Talcott Par- sche Systemtheorie auf vergleichbare Figuren und
sons ist Stabilität nicht die Bedingung für Systembil- Motive hin zu untersuchen; Motive, die bisweilen
dung, vielmehr haben es Systeme mit der prakti- noch immer überlesen werden. Von dort aus könnte
schen Erzeugung von Stabilität zu tun. Es war die es sich als gewinnbringend erweisen, auch nach bis-
große Leistung Luhmanns, den Systembegriff Par- lang kaum erforschten Verbindungen zwischen Luh-
sons’ von den Anforderungen nach Ultrastabilität mann und Neo-Tardianern wie Gilles Deleuze oder
und Homöostase zu entlasten und ihn zu dynamisie- Bruno Latour zu fragen.
ren. Die Frage nach Stabilität ist dann keine norma-
tive oder theorieleitende Frage mehr, sondern eine
empirische Frage. Ordnung kann nicht bereits schon Literatur
vorausgesetzt und auf Moral, ein Kollektivbewusst-
sein (Durkheim) oder eine gesellschaftliche Gemein- Balke, Friedrich: »Eine frühe Soziologie der Differenz: Ga-
schaft (Parsons) zurückgeführt werden; Ordnungs- briel Tarde«. In: Borch/Stäheli 2009, 135–163.
Borch, Christian/Stäheli, Urs (Hg.): Soziologie der Nachah-
bildung geschieht durch sich wiederholende und mung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde.
empirisch beobachtbare Operationen wie Kommu- Frankfurt a. M. 2009.
nikationen, Nachahmungsprozesse oder Handlun- –/–: »Einleitung – Tardes Soziologie der Nachahmung und
gen. Sie ergibt sich von unten und lässt sich auch nur des Begehrens«. In: Dies. 2009, 7–38.
von unten erklären. Für Tarde ist »[d]iese Auffassung Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München
1997 (frz. 1968).
[…], im ganzen genommen, fast das Gegenteil […] – /Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Berlin 2005 (frz.
von derjenigen Durkheims: […] anstatt so das Klei- 1980).
ne durch das Große, das Einzelne durch das Ganze zu Distinktion: Special issue on Gabriel Tarde. 2005.
erklären, erkläre ich die Gesamtgleichheiten durch Durkheim, Émile: Die Regeln der soziologischen Methode.
die Anhäufung kleiner elementarer Tatsachen, also Frankfurt a. M. 1984 (frz. 1895).
Economy and Society: Special issue on Gabriel Tarde. 2007.
das Große durch das Kleine, das Ganze durch das Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesell-
Einzelne« (Tarde 2009b, 24, Fn. 2). Die Kritik, die schaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie.
Tarde an der durkheimschen Konzeption des Sozia- Frankfurt a. M. 2007 (engl. 2005).
George Herbert Mead (1863–1931) 269

–: »Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen«. In: Borch/


Stäheli 2009, 39–61.
3. George Herbert Mead
Moebius, Stephan: »Imitation, differentielle Wiederholung (1863–1931)
und Iterabilität. Über einige Affinitäten zwischen Post-
strukturalistischen Sozialwissenschaften und den ›sozia-
len Gesetzen‹ von Gabriel Tarde«. In: Borch/Stäheli 2009, Auf George Herbert Mead und den symbolischen In-
255–279. teraktionismus nimmt Luhmann kaum Bezug. Und
Mucchielli, Laurent: »Tardomania? Réflexions sur les usages in den systematischen Darstellungen soziologischer
contemporains de Tarde«. In: Revue d’Histoire des Sci- Theorie sowie in ihren Lehrbüchern gehören die
ences Humaines 3. Jg. (2000), 161–184.
Nassehi, Armin: »Zur Neuauflage: Gegenwarten«. In: Ders.: Theorien Meads und Luhmanns völlig unterschied-
Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziolo- lichen Kategorien an – die Kategorien lauten ›Sys-
gischen Theorie der Zeit. Wiesbaden 2008, 11–34. temtheorie oder Handlungstheorie‹ bzw. ›Makro-
Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive oder Mikrotheorie‹. Mit diesen grobschlächtigen, die
Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers- Fachsystematik freilich durchaus genau repräsentie-
wist 2000.
Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt renden Kategorien geht allerdings eine subtile Ge-
a. M. 2003 (frz. 1890). meinsamkeit der beiden Theorien verloren, die
–: Monadologie und Soziologie. Frankfurt a. M. 2009a (frz. insofern von Interesse ist, als sich aus tatsächlich un-
1893). terschiedlichen Perspektiven ein theoretisches
–: Die sozialen Gesetze. Marburg 2009b (frz. 1898). Grundmotiv bei Luhmann womöglich besser verste-
Julian Müller hen lässt, wenn man es über den Umweg von George
Herbert Meads Problemstellung erschließt.

Ereignisse
Zumindest gibt es einen gemeinsamen Referenz-
punkt für Mead und Luhmann, nämlich Alfred
North Whiteheads Ereignisphilosophie. Bei der Dar-
stellung sozialer Systeme als ereignisbasierter Syste-
me nimmt Luhmann an zentraler Stelle in Soziale
Systeme auf Whitehead Bezug. Es geht hier um die
basale Selbstreferenz, der die Unterscheidung von Ele-
ment und Relation zugrunde liegt. Das ›Selbst‹, auf
das die Selbstreferenz referiert, ist dabei ein Ereignis,
an das das referierende Ereignis anschließt und so
eine Relation herstellt (vgl. SS, 600). Es handelt sich
um die Ebene reiner Autopoiesis, in der Ereignis an
Ereignis anschließt, und zwar vorreflexiv in dem Sin-
ne, dass Reflexion auf vorherige Ereignisse selbst er-
eignishaft stattfinden würde. Ereignishaftigkeit wäre
damit der letzte Grund allen Geschehens – und dies
ist das Erbe Whiteheads, das Luhmanns Theorie au-
topoietischer Systeme explizit aufgreift. Ausgehend
von der einsteinschen Erkenntnis, dass es keine
nichtrelative Zeit mehr gibt und damit die Natur kei-
ne gemeinsame Gegenwart kennt (vgl. Whitehead
1984, 143), sucht Whitehead nach einem letzten
Grund des Seienden. Dieser kann verständlicherwei-
se nicht mehr in einem All-Begriff des Seins gefun-
den werden, sondern lediglich in ereignishaften
Einzelwesen. Sein ontologisches Prinzip lautet, »daß
wirkliche Einzelwesen die einzigen Gründe sind; des-
halb ist die Suche nach einem Grund immer die Su-
270 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

che nach einem oder mehreren wirklichen Einzelwe- tuiert wird. Mead teilt die Handlung in vier Phasen
sen« (Whitehead 1987, 68). ein – Impuls, Wahrnehmung, Manipulation/Hem-
Solche Einzelwesen oder Ereignisse sind keine sta- mung, Vollendung (vgl. Mead 1969, 102 ff.), wobei
tischen Entitäten; ihr ontologischer Status zeichnet die dritte Phase, die Handlungshemmung, die ent-
sich vielmehr dadurch aus, dass sie stets Teile eines scheidende ist. An dieser Stelle ereignet sich die Dif-
Prozesses von Ereignissen sind. Whitehead spricht ferenz von Element und Relation – die Handlung
von einer »Vielheit von anderen Ereignissen, ohne ergibt sich nicht eineindeutig aus der vorherigen
die es nicht es selbst sein könnte« (Whitehead 1984, Handlung, sondern relationiert sich selbst zu ihr, in-
205). Ereignisse sind nur Ereignisse, weil sie andere dem sie von Reaktion auf Selektion umstellt. Meads
Ereignisse anderer Ereignisse sind, und diese Relati- oft zitierter Satz aus Geist, Identität und Gesellschaft,
on der Elemente ordnet sich zeitlich, da alles, was ge- Bewusstsein sei nicht Voraussetzung des Handelns,
schieht, in einer Gegenwart geschieht (vgl. dazu sondern das gesellschaftliche Handeln sei eine Vo-
ausführlich Nassehi 2008, 118 ff.). raussetzung für Bewusstsein (vgl. Mead 1988, 56), ist
Daran schließt Luhmann folgendermaßen an, nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Dahinter
wenn er den Ereignisbegriff als Komplementärbe- verbirgt sich nicht nur eine funktionalistische Theo-
griff des Strukturbegriffs einführt: »Bereits in der rie des Bewusstseins, sondern auch das Motiv, dass
Philosophie Alfred North Whiteheads hatte der Be- Handlungen nur aus vorherigen und antizipierten
griff des ›actual occasion‹ diese basale Stellung erhal- Handlungen entstehen können. Handlungen sind
ten, und war zugleich, denn nur so läßt sich jene Ereignisse, die nur andere Ereignisse anderer Er-
Verknüpfbarkeit gewährleisten, mit Selbstbezüglich- eignisse sein können. Die Theoriestelle, an der Mead
keit […] ausgestattet worden. Selbstreferenz wird hier die Handlungshemmung, also die Notwendig-
zum Wirklichkeitskriterium schlechthin, und das auf keit von Selektivität und Selektion ansetzt, wäre in
der Ebene von nicht weiter auflösbaren Elementen, der Sprache der Systemtheorie die Komponente des
weil nur so Kohärenz zu gewährleisten ist« (SS, 393). Verstehens, die die Selektivität des Anschlusses be-
Darin gründet der Gedanke einer operativen Theo- zeichnet. Letztlich bezeichnet das kommunikative
rieanlage, die die Selbstreferenz von Systemen als Be- Verstehen bei Luhmann jene Unterbrechung, die für
dingung ihrer Strukturbildung ansieht. requisite variety in kommunikativen Prozessen sorgt.
Gegeben, dies sei nicht nur der Ausgangspunkt Andernfalls wäre Kommunikation nur ein mechani-
von Luhmanns Systemtheorie, sondern auch ihre für sches Nacheinander von Ereignissen ohne Abwei-
die Soziologie bedeutsamste und leistungsfähigste chungsmöglichkeit.
Komponente, ist es durchaus von fachgeschichtli-
chem und -systematischem Interesse, dass auch
Mead an die ereignisphilosophische Dekonstruktion Handlungstheorie?
des Strukturbegriffs anschließt. Mead betont in sei-
ner Philosophie der Sozialität, deren Originaltitel tref- Die Handlungstheorie von Mead ist insofern für das
fender The Philosophy of the Present (1932) lautet, Verständnis der luhmannschen Soziologie von Inte-
»daß Realität in einer Gegenwart stattfindet« (Mead resse, als es Mead letztlich nicht gelingt, die Hand-
1969, 229) und somit alles Geschehen tatsächlich als lung vollständig handlungstheoretisch zu erklären.
das Nacheinander von temporalisierten Ereignissen Luhmann scheint dies selbst nicht gesehen zu haben.
verstanden werden muss. »[E]ine parmenideische In Soziale Systeme schreibt er über den ›symbolischen
Realität gibt es nicht. Existenz impliziert Nicht-Exis- Interaktionismus‹, er bearbeite das Problem nur ein-
tenz; sie findet statt. Die Welt ist eine Welt von Ereig- seitig. Er »behandelt sozusagen nur die halbierte
nissen« (ebd.). Diese Ereignisse bestimmt Mead für doppelte Kontingenz und bleibt damit Handlungs-
menschliche Populationen als Handlungen, wobei er theorie. Soziale Systeme entstehen jedoch dadurch
Handlungen nicht als das Ergebnis intentionaler (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kon-
Akte ansieht, sondern als das Resultat einer Anpas- tingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit ei-
sung eines Handelnden an seine Umwelt. ner solchen Situation für beide Partner jeder Aktivi-
Diese Anpassung ist keine passive Anpassung, also tät, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung
keine Reaktion. In Auseinandersetzung mit der klas- gibt. Das ist mit dem Grundbegriff der Handlung
sischen Reiz-Reaktions-Psychologie seiner Zeit zeigt nicht zu fassen.« (SS, 154) Erstaunlicherweise über-
Mead im Anschluss an John Dewey (1896), dass der sieht Luhmann hier den ereignistheoretischen Cha-
Handelnde erst durch den Handlungsprozess konsti- rakter von Meads Handlungstheorie. Er liest Mead
George Herbert Mead (1863–1931) 271

handlungstheoretischer, als es sein muss, denn Mead Es gibt in der Tat keine systematische Beziehung
geht es ja gerade nicht um die Präsenz des bewussten zwischen Mead und Luhmann – aber man sollte
Ereignisses (wie etwa Husserl), sondern darum, dass Meads theoretische Problemstellung vielleicht als ein
Handlungen als Handlungen aneinander anschlie- exercitium ansehen, aus dem sich das theoretische
ßen und somit so etwas wie soziale Systeme emergie- Bezugsproblem von Luhmanns Systemtheorie er-
ren lassen (vgl. auch Bergmann 1981). schließen lässt. Insofern ist es einerseits bedauerlich,
Selbst wenn Mead tatsächlich zumeist so gelesen dass in der soziologischen Fachsystematik Luhmann
wird, wie Luhmann es hier tut, sollte doch deutlich und Mead an entgegengesetzten Polen verortet wer-
geworden sein, dass mit Meads Handlungsbegriff den. Andererseits ist es auch ein Symptom für den
bereits eine ereignistheoretische Theorieform vor- Zustand der soziologischen Theoriebildung, die sich
liegt, an der sich das theoretische Grundproblem der in selbstbestätigenden Tribalisierungen eingerichtet
soziologischen Systemtheorie studieren lässt. Auf- hat und die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem
schlussreich dafür ist Luhmanns Rekurs auf Mead im als friedliche Koexistenz ausgibt.
ersten Kapitel von Die Gesellschaft der Gesellschaft.
Dort heißt es: »Seit den bahnbrechenden Analysen
von Mead weiß man, daß Kommunikation nicht Literatur
schon dadurch zustandekommt, daß ein Organis- Bergmann, Werner: »Zeit, Handlung und Sozialität bei
mus wahrnimmt, wie ein anderer sich verhält, und G. H. Mead«. In: Zeitschrift für Soziologie 10. Jg., 4
sich darauf einstellt; und auch nicht dadurch, daß er (1981), 351–363.
Gesten des anderen, etwa Drohgesten oder Spielges- Dewey, John: »The Reflex Arc Concept in Psychology«. In:
Psychological Review 3. Jg. (1896), 357–370.
ten, imitiert. […] Entscheidend ist vielmehr nach Mead, George Herbert: Philosophie der Sozialität. Aufsätze
Mead, daß Symbole entstehen, die es dem einzelnen zur Erkenntnisanthropologie. Frankfurt a. M. 1969
Organismus ermöglichen, sich in sich selbst mit dem (engl. 1932).
Verhalten anderer abzustimmen« (GG, 84). Luh- –: Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozi-
mann schließt aus, dass sich daraus eine Kommuni- albehaviorismus. Frankfurt a. M. 71988 (engl. 1934).
Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu
kationstheorie entwickeln lasse, weil alle Aussagen einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden 22008.
des symbolischen Interaktionismus über Kommuni- Whitehead, Alfred North: Wissenschaft und moderne Welt.
kation »Aussagen über das ›behavioral organism‹, Frankfurt a. M. 1984 (engl. 1925).
über das Nervensystem (biologisch) oder über das –: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frank-
Bewußtsein (psychologisch)« (GG, 85) bleiben. Das furt a. M. 1987 (engl. 1929).
Armin Nassehi
Bahnbrechende an Mead scheint mir freilich genau
darin zu liegen, dass sich anhand seines ereignistheo-
retischen Ausgangspunkts Handlungen eben nicht
biologisch oder psychologisch erklären lassen, weil
dies voraussetzen müsste, dass die Handlungsantrie-
be aus dem Organismus selbst kommen. Gerade das
lehnt Mead ab – und formuliert damit gewisserma-
ßen die Anfangsbedingung dafür, von Handlung auf
Kommunikation umzustellen. Dass ihm dafür nur
der Begriff des Symbols zur Verfügung stand, kann
wohl als Verlegenheitslösung angesehen werden – die
Verlegenheit besteht darin, das Verbindende von
Handlungen unterschiedlicher Handelnder als emer-
gente Ebene beschreiben zu wollen. Mead kann man
also durchaus so lesen, dass seine Theorieanlage es
geradezu erzwingt, den handlungstheoretischen
Pfad zu verlassen und kommunikations- bzw. sys-
temtheoretisch die Ereignisbasiertheit selbstreferen-
tieller Ordnungsgenese ernst zu nehmen. All das
steht noch nicht bei Mead. Aber es ergibt sich gera-
dezu logisch aus dem ereignistheoretischen Aus-
gangspunkt mit Whitehead.
272 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

4. Ernst Cassirer (1874–1945) der Funktionsbegriff ist, der Luhmann als Schlüssel
dient, eine eigene Systemtheorie auszuarbeiten und
sich vom Programm seines Lehrers Talcott Parsons
Ernst Cassirer ist noch immer ein nahezu unbekann- abzusetzen. Dass Luhmann dabei einer cassirerschen
ter Name innerhalb der Soziologie. Die Rezeption Wendung des Funktionsbegriffs folgt, kann gar nicht
seines Werkes ist überschaubar und mit Ausnahme stark genug betont werden.
von Pierre Bourdieu hat sich kaum einer der großen Cassirer hat den Funktionsbegriff von Beginn an
Klassiker des Fachs direkt auf ihn bezogen. Es ver- in den Mittelpunkt seiner Arbeiten gerückt; das gilt
wundert daher auch nicht, dass die theoretischen Be- bereits für die ersten beiden Bände seiner histori-
züge zwischen Luhmann und Cassirer weitgehend schen Arbeit Das Erkenntnisproblem in der Philoso-
unerforscht sind. Nur wenige Autoren haben bislang phie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906 f.), vor
auf Verbindungen hingewiesen (Rill 1995; Reese- allem aber für seine systematische Arbeit Substanz-
Schäfer 1999, 75; Horster 2005, 181 f.), wobei die begriff und Funktionsbegriff (1910). Auf dem Gebiet
Gründe hierfür sicherlich auch bei Luhmann selbst wissenschaftlicher Erkenntnis lässt sich seiner An-
zu suchen sind. Denn obwohl er in einem Interview sicht nach historisch der Übergang von einem Den-
die Lektüre von Cassirers Substanzbegriff und Funk- ken in Substanzbegriffen hin zu einem Denken in
tionsbegriff als frühes und prägendes Leseereignis be- Relationsbegriffen beobachten. Damit geht zum ei-
schrieben hat (Luhmann in Horster 1997, 41), nen die Absage an abbildrealistische und dingonto-
erstaunt doch, wie sparsam und vor allem wie beiläu- logische Positionen einher, zum anderen knüpft
fig er in seinen Schriften auf Cassirer verweist (SS, Cassirer daran das Postulat, die funktionale, also die
242; SA1, 72; BdM, 48; SA5, 12). So wenig dieser al- konstruktive Struktur des Denkens in den Blick zu
lerdings explizit im luhmannschen Werk auftaucht, nehmen. Cassirer betont, »daß die Einheit eines geis-
so sehr tut er es doch implizit. tigen Gebietes niemals vom Gegenstand her, sondern
Die folgende Gegenüberstellung zwischen Luh- nur von der Funktion her, die ihm zugrunde liegt, zu
mann und Cassirer nimmt drei zentrale Themen- bestimmen und zu sichern ist« (Cassirer 2003b, 78).
kreise in den Blick. Erstens soll gezeigt werden, Wissenschaftliche Begriffe sind für ihn daher auch
welche entscheidende Rolle der Funktionsbegriff in niemals Abbilder der Wirklichkeit, vielmehr sind Be-
beiden Theorien spielt und inwiefern beide Theorien griffe selbst Funktionen (Kreis 2010, 75–90), die ih-
als funktionalistische Theorien gelesen werden müs- ren Gegenstand gleichzeitig erschließen und gestal-
sen. Zweitens soll rekonstruiert werden, wie sowohl ten. Es ist also »die jeweilige Form der Verknüpfung
Cassirer als auch Luhmann auf ähnliche Weise diffe- […], die den Gegenstand […] nicht nachbildet, son-
renzierungstheoretische Argumente an medientheo- dern konstituiert« (Cassirer 2004, 270). Wer etwas
retische Argumente knüpfen. Und drittens sollen über die Welt erfahren möchte, wird das nicht jen-
beide als herausragende Vertreter eines operativen seits der Bezugnahme auf sie tun können. Es gilt da-
Denkens vorgestellt werden, das auf den prozesshaf- her, den Erkenntnisgegenstand als Funktion der
ten und sich selbst stabilisierenden Aspekt von Wirk- Erkenntnis, also in einem Funktionszusammenhang,
lichkeit abstellt. zu untersuchen.
Diese spezifisch cassirersche und an einer Diskus-
sion der Mathematik gewonnene Konzeption des
Funktionsbegriff und Funktionalismus Funktionsbegriffs, der Funktionen als »›Verflech-
tungszusammenhang‹ von Elementen« (Cassirer
Eine erste Annäherung von Cassirer und Luhmann 2000, 23) begreift, hatte ohne Zweifel Einfluss auf
muss am Begriff der Funktion ansetzen. Dieser Be- die luhmannsche Ausarbeitung einer Systemtheo-
griff bildet nicht nur das Fundament der cassirer- rie. Luhmann wird hieran anschließen und versu-
schen Philosophie, er ist auch der Ausgangspunkt für chen, den Funktionsbegriff von seiner Bedeutung im
das wissenschaftliche Werk Niklas Luhmanns. Fast »gemeineuropäischen Sprachgebrauch« (Luhmann
sämtliche frühen Schriften Luhmanns tragen den 1972a, 1142) zu lösen. ›Gemeineuropäisch‹ ist hier
Funktionsbegriff im Titel – darunter die beiden als Seitenhieb auf eine Soziologie zu verstehen, die
wichtigen methodischen Aufsätze »Funktion und von Herbert Spencer über Émile Durkheim und als
Kausalität« (1960; Nachdr. in SA1) und »Funktionale Export bis hin zu Talcott Parsons Funktionen aus-
Methode und Systemtheorie« (1964; Nachdr. in SA1) schließlich als Leistungen zur Erhaltung von Struk-
–, und es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass es turen und Ordnung begriffen hat. Parsons’ AGIL-
Ernst Cassirer (1874–1945) 273

Schema ist sicherlich der ehrgeizigste Versuch inner- gangs gleichermaßen konzediert werden – etwa für
halb der Soziologie, ein Set von Funktionen auszu- den Mythos, die Sprache, die Kunst, die Technik oder
machen, das zur Bestandserhaltung von Systemen, die Religion. Cassirer spricht an dieser Stelle von un-
etwa der Gesellschaft, notwendig ist. Luhmann ver- terschiedlichen ›symbolischen Formen‹. So unter-
abschiedet diese Auffassung eines Bestands- oder scheiden sich etwa mythische Rede und wissen-
Strukturfunktionalismus, der Funktionen als stabil schaftliche Erkenntnis nicht in erster Linie durch ihre
annimmt und quasi ontologisiert, zugunsten eines Inhalte, sondern durch die Form der Sinnprodukti-
Äquivalenzfunktionalismus, dem es darum geht, on. Die Formulierung ›symbolische Formen‹ dient
Unähnliches vergleichbar zu machen, also funktional Cassirer dazu, auf Zweierlei aufmerksam zu machen:
äquivalente Lösungen für bestimmte Bezugsproble- zum einen auf die Pluralität von Sinnordnungen,
me ausfindig zu machen. »Die Problemformel zum anderen auf die mediale Verfasstheit dieser plu-
scheint die Bestandsformel zu verdrängen« (SA1, ralen Sinnordnungen. Symbole sind nämlich nicht
33), schreibt er selbstbewusst gegen seinen Lehrer als Repräsentationen von Wirklichkeit zu verstehen,
Parsons. sondern als Medien der Wirklichkeitserzeugung. Sie
Wenn Luhmann seine funktionale Methode da- sind daher nicht selbst schon Träger von Sinn, viel-
durch kennzeichnet, »Relationen zwischen Relatio- mehr zeigt sich an ihnen die »›Sinnerfüllung‹ des
nen« (SS, 85) zu ermitteln, dann ist das durchaus im Sinnlichen« (Cassirer 2003a, 105). Religion, Wissen-
Geiste Cassirers formuliert. Luhmanns Behauptung schaft oder Kunst sind also nicht einfach verschiede-
des Primats der Funktion vor der Struktur und Cas- ne Ausschnitte einer Welt, es sind vielmehr unter-
sirers Behauptung des Primats der Funktion vor der schiedliche Symbolwelten.
Substanz sind keine Aussagen über Gegenstände; sie Cassirer ging es in dem groß angelegten Projekt
sind Kennzeichen eines gemeinsamen methodologi- der Philosophie der symbolischen Formen in erster Li-
schen Blicks, dem eine spezifische Idee von Funktio- nie darum, die Pluralität dieser Symbolwelten in ih-
nalismus zugrunde liegt, der sich vielleicht am besten rer Pluralität ernstzunehmen, ohne eine Hierarchie
als »operativer Funktionalismus« (Nassehi 2008, 97) oder eine Fortschrittsentwicklung der symbolischen
bezeichnen lässt. Formen zu behaupten. »Die Erkenntnis wie die Spra-
che, der Mythos und die Kunst: sie alle verhalten sich
nicht wie ein bloßer Spiegel, der die Bilder eines Ge-
Verknüpfung von Differenzierungstheorie gebenen […] einfach zurückwirft, sondern sie sind
und Medientheorie statt solcher indifferenter Medien vielmehr die ei-
gentlichen Lichtquellen, die Bedingungen des Sehens
Dieser Blick auf Funktionszusammenhänge be- wie die Ursprünge aller Gestaltung« (Cassirer 2001,
stimmt auch das unvollständig gebliebene opus ma- 24 f.).
gnum Ernst Cassirers, die Philosophie der symboli- Auch Luhmanns Soziologie geht von der radikalen
schen Formen (1923–1929). Hier unternimmt Cassi- Pluralität von Sinnformationen aus. Die moderne
rer den Versuch, die kantische Erkenntnistheorie in Gesellschaft wird von ihm als eine funktional dif-
eine allgemeine Kulturtheorie zu transformieren. ferenzierte Gesellschaft beschrieben, womit er auf
Die Frage nach dem Verhältnis von Erkenntnissub- etwas Ähnliches hinweisen will wie Cassirer mit
jekt und Erkenntnisobjekt übersteigt für Cassirer der Diagnose unterschiedlicher symbolischer For-
rein epistemologische Fragen. »Der Begriff der Ver- men. Die luhmannsche Differenzierungstheorie be-
nunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in schreibt nämlich nicht in erster Linie die Ausbildung
ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen« (Cassi- unterschiedlicher gesellschaftlicher Zuständigkeits-
rer 2007b, 51). Cassirer interessiert sich daher für un- bereiche mit festen Aufgaben (etwa Politik, Wissen-
terschiedliche Formen des Welterfassens und dafür, schaft oder Kunst), auch nicht die Ausbildung
wie Weltverstehen und Weltgestalten je unterschied- unterschiedlicher Rollenkonzepte (Politiker, Wissen-
lich miteinander verwoben sind. »Die Kritik der Ver- schaftler, Künstler) und auch nicht die Ausbildung
nunft wird damit zur Kritik der Kultur« (Cassirer unterschiedlicher Institutionen (Ministerien, Uni-
2001, 9), heißt es programmatisch im Einleitungska- versitäten, Galerien). Luhmanns Differenzierungs-
pitel des ersten Bandes. theorie geht es um mehr. Sie beschreibt die
Denn wenn für wissenschaftliche Begriffe gilt, Ausbildung unterschiedlicher medialer Anordnun-
dass durch sie der Erkenntnisgegenstand mitgestaltet gen. Luhmann spricht – und hier begegnen wir er-
wird, muss das doch für andere Arten des Weltzu- neut dem Symbolbegriff – von symbolisch generali-
274 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

sierten Kommunikationsmedien. Politik, Wissen- terschiedlichen Perspektiven sind vielmehr die Vo-
schaft und Kunst unterscheiden sich dadurch, dass raussetzungen für die jeweilige Art zu denken. Denn
sie mithilfe unterschiedlicher Medien unterschiedli- wenn unterschiedliche symbolische »Modi der Ver-
che kommunikative Anschlüsse ermöglichen und mittlung« das sind, was »uns Wirklichkeit in all ihren
somit auch auf unterschiedliche Art und Weise Be- verschiedenen Formen, Richtungen, Dimensionen
deutung herzustellen vermögen. Die Welt, auf die die zuerst zugänglich macht« (Cassirer 1995, 132), dann
Politik Bezug nimmt, ist daher eine andere Welt als muss man als Philosoph, Kulturwissenschaftler oder
die der Wissenschaft oder die der Kunst, weil sie mit- Soziologe den Blick auf eben jene Modi der Vermitt-
hilfe anderer Medien beobachtet wird. Es ist genau lung richten. Das ist es, was operatives Denken in ers-
dieser welterzeugende Charakter von Medien, auf ter Linie ausmacht: der Relation einen methodischen
den sowohl Luhmanns Konzeption symbolisch gene- Vorrang vor den Relata zuzusprechen. Das gilt nicht
ralisierter Kommunikationsmedien als auch Cassi- allein für einen theoretischen Zugang zur Welt, son-
rers Konzeption der symbolischen Formen abstellen dern prinzipiell für jede Form des Weltzugangs. Man
(Krämer 1998, 564). könnte Cassirer daher durchaus als Vorläufer dessen
beschreiben, was in der Soziologie derzeit unter dem
Schlagwort ›Praxistheorien‹ firmiert, betont seine
Operativität und operatives Denken Philosophie der symbolischen Formen doch gerade
den praktischen Aspekt der Wirklichkeitserzeugung.
Diese Verknüpfung differenzierungs- und medien- »Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet
theoretischer Argumente hat Cassirer und Luhmann vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Men-
durchaus Kritik eingebracht. Man hat beiden den schen die geistige Organisation der Wirklichkeit ih-
Vorwurf des Relativismus gemacht, denn wenn für ren Ausgang nimmt« (Cassirer 2002, 183). In diesem
sie Wirklichkeit aus je unterschiedlicher Perspektive Sinne werden die symbolischen Formen von Cassirer
je unterschiedlich erscheine, seien sie auch beide ausdrücklich als »produktiv« (Cassirer 2007a, 411)
selbst nicht imstande, Aussagen über die Wirklich- konzipiert, eben als ein Formen; man findet auch For-
keit zu treffen, geschweige denn, universalistische mulierungen wie ›Bilden‹, ›Wirken‹ oder ›Gestalten‹
Theorien über die moderne Kultur bzw. die moderne (vgl. Schwemmer 1997, 7–21). Aus diesem prakti-
Gesellschaft auszuarbeiten. schen Verhältnis zur Wirklichkeit gibt es für Cassirer
In der Tat ist es interessant, dass sowohl Cassirer kein Entkommen, außer eben wiederum praktisch.
als auch Luhmann auf der einen Seite die Beobach- Er betont, »daß alle diese Akte des Ausdrückens, des
terabhängigkeit und Pluralität von Sinnformationen Darstellens und des Bedeutens sich selber nicht un-
betont und auf der anderen Seite Theorien mit dem mittelbar gegenwärtig sind […]. Sie sind nur, indem
dezidierten Anspruch auf Universalität formuliert sie sich betätigen und indem sie in ihrer Tat von sich
haben (Cassirer 2007a, 376; SS, 9). Beide behaupten selbst Kunde geben« (Cassirer 2003a, 114).
damit aber nun gerade nicht, jeden Gegenstand auch Es macht sicherlich die Modernität des cassirer-
wirklich beschrieben zu haben; sie behaupten viel- schen Denkens aus, auf die Unhintergehbarkeit von
mehr, Theorien ausgearbeitet zu haben, die prinzi- Praxis abgestellt zu haben. Gerade das macht ihn zu
piell jeden Gegenstand zu erfassen imstande sind. einem interessanten Gesprächspartner für die Sys-
Universalität meint daher immer »Universalität der temtheorie. Denn dass auch Luhmanns Soziologie
Gegenstandserfassung« (SS, 9). Das gelingt deshalb, maßgeblich an dieser Denkfigur ansetzt, wird beson-
weil Cassirer und Luhmann von einem gegenständ- ders deutlich am Beobachtungsbegriff, den Luh-
lichen auf einen operativen Wirklichkeitsbegriff um- mann in Auseinandersetzung mit George Spencer-
gestellt haben. Wofür sich beide interessieren, das ist Brown (1969) konzipiert hat und der gerade in den
nicht die Wirklichkeit der Welt als ein »Sammelsuri- späten Schriften zum zentralen Begriff der Theorie
um der congregatio rerum« (SKL, 217), sondern die wurde. Mithilfe des Beobachtungsbegriffs löst Luh-
Wirklichkeit – und das heißt auch Wirkmächtigkeit – mann die Dualität von Erkenntnissubjekt und Er-
sinngenerierender Ereignisse. kenntnisobjekt auf und gibt so klassischen epistemo-
Weder Cassirer noch Luhmann leugnen, dass sich logischen Fragen eine operative Form.
Wirklichkeit je nach Bezugnahme unterschiedlich ›Beobachten‹ meint zunächst nichts anderes als
darstellt, doch folgt daraus für beide keineswegs die Handhabung einer Unterscheidung und die Be-
die Unmöglichkeit philosophischen, kulturwissen- zeichnung der einen Seite der Unterscheidung und
schaftlichen oder soziologischen Denkens. Die un- nicht der anderen. Jede Unterscheidung macht daher
Ernst Cassirer (1874–1945) 275

zugleich etwas sichtbar und etwas unsichtbar. Sicht- würde ich auf solche Ideen nicht kommen«, wobei es
bar wird die bezeichnete Seite, unsichtbar wird aller- in erster Linie die »Kombinationsmöglichkeiten der
dings die Unterscheidung selbst. Um diese Unter- Zettel« (Luhmann 1987, 144) waren, die Luhmann
scheidung sehen zu können, bräuchte es nämlich eine bei der Arbeit so schätzte. Und es waren eben auch
weitere Beobachtung. Doch auch diese nachträgliche die Kombinationsmöglichkeiten der Bücher, die Cas-
Beobachtung wäre im Moment des Operierens wie- sirer an der Privatbibliothek des Kunsthistorikers
derum für sich selbst blind oder mit Cassirer gespro- Aby Warburg mit ihren knapp 60.000 Büchern faszi-
chen: sich selbst nicht »unmittelbar gegenwärtig«. nierte: »daß es sich hier nicht um eine bloße Samm-
Luhmann will mit diesem abstrakten und formalen lung von Büchern, sondern um eine Sammlung von
Beobachtungsbegriff zum einen darauf hinweisen, Problemen handle. Nicht das Stoffgebiet der Biblio-
dass jede Beobachtung eine aktive Bezugnahme auf thek war es, das diesen Eindruck in mir erweckte;
Welt ist. Zum anderen möchte er damit betonen, dass sondern stärker als der bloße Stoff wirkte das Prinzip
es aus diesem operativen oder praktischen Weltver- ihres Aufbaus« (Cassirer 2003b, 75). Welchen Ein-
hältnis kein Ausbrechen gibt. Keine Beobachtung fluss die Bibliothek auf Cassirer ausgeübt hat, wurde
verfügt daher über so etwas wie eine Realdeckung – schon mehrfach kommentiert (so etwa Habermas
Realität ist immer die Realität der Beobachtung. So 1997), Hans Blumenberg ging sogar so weit, Cassi-
wenig es für Luhmann eine beobachterunabhängige rers Philosophie der symbolischen Formen als »Theo-
Realität gibt, so wenig ist für Cassirer Realität jenseits rie dieser Bibliothek« (Blumenberg 1999, 165) zu
ihrer symbolischen Vermittlung denkbar. Der luh- bezeichnen. So verwundert es auch nicht, dass wir
mannsche Begriff der Beobachtung und der cassirer- das Werk dieser beiden funktionalistischen Denker
sche Begriff der symbolischen Formen stellen beide Medienanordnungen verdanken, die Vergleiche, Ver-
auf den prozesshaften, dynamischen und sich selbst bindungen und Kontrastierungen nicht nur ermög-
stabilisierenden Charakter von Wirklichkeits- und licht, sondern geradezu provoziert haben.
Sinngenerierung ab (vgl. Rill 1995).
Literatur
Blumenberg, Hans: »Ernst Cassirer gedenkend«. In: Ders.:
Der Zettelkasten und die Bibliothek Warburg Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1999,
163–172.
Abschließend muss an dieser Stelle noch ein Wort zu
Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie
den Entstehungsbedingungen von Cassirers Philoso- und Wissenschaft der neueren Zeit [1906–1957]. Darm-
phie der symbolischen Formen und Luhmanns stadt 1994.
Theorie der Gesellschaft gesagt werden. Diese beiden –: Nachgelassene Manuskripte und Texte. Bd. 1: Zur Meta-
Großprojekte wären schlichtweg nicht realisierbar physik der symbolischen Formen. Hamburg 1995.
–: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen
gewesen ohne zwei – sagenumwobene und vieldisku-
über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Gesammelte
tierte – mnemotechnische Anordnungen im Hinter- Werke (ECW) Bd. 6 [1910]. Hamburg 2000.
grund. Im Falle Luhmanns war es sein berühmter –: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die
Zettelkasten, im Falle Cassirers die nicht minder be- Sprache. ECW Bd. 11 [1923]. Hamburg 2001.
rühmte Bibliothek Warburg. Die Fülle an Themen, –: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das
vor allem aber die immer wieder erstaunliche Ver- mythische Denken. ECW Bd. 12 [1925]. Hamburg 2002.
–: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phä-
knüpfung verschiedenster Themenbereiche ist auch nomenologie der Erkenntnis. ECW Bd. 13 [1929]. Ham-
ein Ergebnis dieser beiden Archive. Cassirer hat über burg 2003a.
Kant und Goethe ebenso geschrieben wie über die –: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geis-
Einsteinsche Relativitätstheorie oder die Religions- teswissenschaften«. In: Ders.: Aufsätze und kleine Schrif-
geschichte, Luhmann über Kunst und formale Orga- ten 1922–1926. ECW Bd. 16 [1923]. Hamburg 2003b,
75–104.
nisationen ebenso wie über Massenmedien und die –: »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der
Liebessemantik im 17. und 18. Jahrhundert. Der Zet- Philosophie«. In: Ders.: Aufsätze und kleine Schriften
telkasten war dabei genauso wenig eine normale An- 1927–1931. ECW Bd. 17 [1927]. Hamburg 2004,
sammlung von Exzerpten, wie die Bibliothek War- 253–282.
burg eine normale Bibliothek war. –: »Zur Logik der Kulturwissenschaften«. In: Ders.: Aufsät-
ze und kleine Schriften 1941–1946. ECW Bd. 24 [1942].
Luhmann hat die Bedeutung des Zettelkastens für Hamburg 2007a, 357–486.
seine Arbeit und sein Denken mehrfach betont. –: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philo-
»Ohne die Zettel, also allein durch Nachdenken, sophie der Kultur. Hamburg 2007b (engl. 1944).
276 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

Habermas, Jürgen: »Die befreiende Kraft der symbolischen


Formgebung«. In: Dorothea Frede/Reinold Schmücker
5. Martin Heidegger
(Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und (1889–1976)
Philosophie. Darmstadt 1997, 79–104.
Horster, Detlef: Niklas Luhmann. München 1997.
–: »Niklas Luhmann. Was unsere Gesellschaft im Innersten Fundamentalontologie und Systemtheorie
zusammenhält«. In: Jochem Hennigfeld/Heinz Jansohn
(Hg.): Philosophen der Gegenwart. Darmstadt 2005,
als Differenztheorien
179–197. Niklas Luhmann und Martin Heidegger sind die
Krämer, Sybille: »Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir
mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und beiden herausragenden Differenztheoretiker des 20.
Form?« In: Rechtshistorisches Journal 17. Jg. (1998), Jahrhunderts. Diese These muss sich zunächst mit
558–573. dem Befund auseinandersetzen, dass beide Denker
Kreis, Guido: Cassirer und die Formen des Geistes. Berlin wenig miteinander zu tun haben und es wenig sinn-
2010. voll erscheint, beide ins Verhältnis zu setzen. Denn
Luhmann, Niklas: »Funktion«. In: Ritter 1972, 1142–1143.
–: »Funktionalisierung«. In: Ritter 1972, 1143. Niklas Luhmann hat sich nicht systematisch mit der
–: »Biographie, Attitüden, Zettelkasten«. In: Ders.: Archi- Philosophie auseinandergesetzt; explizite Bezugnah-
medes und wir. Berlin 1987, 125–155. men sind rar und beschäftigen sich eher mit einzel-
–: »Funktion und Kausalität« [1960]. In: SA1, 9–30. nen thematischen Schwerpunkten. Es finden sich
–: »Funktionale Methode und Systemtheorie« [1964]. In: einige Hinweise auf Hegel, wo er sich mit dessen Sys-
SA1, 31–53.
–: »Soziologische Aufklärung«. In: SA1, 66–91. temdenken, und auf Husserl, wo er sich mit dessen
–: »Vorwort«. In: SA5, 7–13. Phänomenologie bzw. Bewusstseinstheorie (vgl.
–: »Weltkunst« [1990]. In: SKL, 189–245. hierzu Bredjak u. a. 2006) auseinandersetzt. Heideg-
Nassehi, Armin: »Rethinking Functionalism. Zur Empirie- ger hat – wie es mit Blick auf das veröffentlichte Werk
fähigkeit systemtheoretischer Soziologie«. In: Herbert scheint – für Luhmann keine Rolle gespielt. Es finden
Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.):
Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer For-
sich so gut wie keine Bezugnahmen in den großen
schung. Frankfurt a. M. 2008, 79–106. Monographien Luhmanns, geschweige denn eine
Reese-Schäfer, Walter: Niklas Luhmann zur Einführung. Heidegger gewidmete Auseinandersetzung. Einen
Hamburg 1999. Eintrag zu Luhmann wird man auch im Heidegger-
Rill, Ingo: Symbolische Identität: Dynamik und Stabilität Handbuch vergeblich suchen.
bei Ernst Cassirer und Niklas Luhmann. Würzburg 1995.
Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philo-
Insofern ist das Verhältnis zwischen Heidegger
sophie. Bd. 2. Basel 1972. und Luhmann wissenschaftlich ein wenig bearbeite-
Schwemmer, Oswald: »Die Vielfalt der symbolischen Wel- tes Terrain. Es stellt sich auch die Frage, welchen Nut-
ten und die Einheit des Geistes«. In: Dorothea Frede/Rei- zen es bringen kann, den Systemtheoretiker bzw.
nold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Gesellschaftstheoretiker auf der einen Seite und den
Wirkung. Kultur und Philosophie. Darmstadt 1997,
Fundamentalontologiker bzw. Metaphysikkritiker
1–57.
Spencer Brown, George: Laws of Form. London 1969. auf der anderen Seite miteinander ins Verhältnis zu
setzen. Dass es einzelne Fragestellungen und Themen
Julian Müller
geben kann, mag durchaus zugestanden sein, so z. B.
bei der Auseinandersetzung beider mit der Kunst
oder auch bei der Frage nach den Welt-Begriffen in
den beiden Theorien (Esterbauer 2006). Als Soziolo-
ge und als Philosoph haben sich Luhmann und Hei-
degger aber in der Tat wenig zu sagen. Dies kann
allerdings nicht darauf zurückgeführt werden, dass
eine Theorie der Gesellschaft für die Metaphysik und
ihre Kritik keine Rolle spielen würde.

Dasein und Gesellschaft


Gerade an diesem Beispiel kann man erkennen, auf
welcher Ebene es dann doch durchaus sinnvoll ist,
den Vergleich anzustellen. So hat Jürgen Habermas,
Martin Heidegger (1889–1976) 277

als er philosophische Gründe für Heideggers Verstri- wenn es um Totalitätskonzepte wie Gesellschaft hier
ckung in den Nationalsozialismus darlegen wollte, oder Sein dort geht. Insofern führt Dirk Baecker ein
insbesondere darauf abgehoben, dass Heidegger um soziologisches Interesse an Heidegger auch auf Hei-
1933 ›Dasein‹ nicht mehr als individuelles Dasein, deggers Vorschlag zurück, mit einer solchen leeren
sondern als »Existenzform eines Kollektivs« versteht, Selbstreferenz, wie sie am Begriff des Seins zutage
was nicht nur zu einer nationalsozialistischen Verein- tritt, umzugehen (Baecker 2009).
nahmung führe, sondern auch die Entwicklung eines
kritischen Gesellschaftsbegriffs ausschließe (Haber-
mas 1988a, 172). Identität und Differenz
Genau aber am Begriff des Daseins als zentralem
Begriff von Heideggers Sein und Zeit (1927) setzt Der Begriff des Letztbegriffs hat dabei eine logische
Dirk Baecker an. Er rekonstruiert Heideggers Ver- und – bei Heidegger – eine philosophiehistorische
such in Sein und Zeit, die Fundamentalontologie des Dimension, die allerdings seine Philosophie als Me-
Seins durch eine Daseins-Analytik durchzuführen. taphysikkritik in die Nähe der luhmannschen Kon-
Das »Ausmaß […], in dem sich die Welt in der Form zeption von Supertheorie rückt. Luhmanns Idee, der
des Man einmischt in die Art und Weise, wie sich das zufolge die Systemtheorie eine Supertheorie mit uni-
Dasein in der Welt bewegt«, würde »dann endgültig versalistischem Anspruch ist, die in ihrem eigenen
[…] ein[…] soziologische[s] Interesse« an Heideg- Gegenstandsbereich selbst wiederum auftritt (SS, 9,
ger begründen (Baecker 2009). Dieses Beispiel kann 33, 650, 660), lässt sich somit auch auf Heideggers
zeigen, dass es nicht darum gehen kann, gemeinsame Metaphysikkritik (wie er sie z. B. in den beiden Nietz-
thematische Schnittmengen, zum Beispiel in einem sche-Bänden übt; Heidegger 1989) zurückführen.
soziologisch interessanten oder uninteressanten Ge- Metaphysikkritik in diesem Sinne ist – gerade im
sellschaftsbegriff (ausgeführt oder versteckt in der Gestus ihrer Kritik der und in ihrer Absetzung von
Idee des ›Man‹) zu finden, sondern dass es vielmehr der Metaphysik – immer noch Metaphysik, die sich
darum geht, Strukturen des Denkens zu identifizie- selbst als solche durchschaut (ein Gedanke, den dann
ren, mit denen die beiden Denkweisen sich wechsel- Derrida noch stärker extrapoliert hat), so, wie eine
seitig erhellen lassen. So kann man die Überlegungen Supertheorie in ihrem eigenen Gegenstandsbereich
Dirk Baeckers ins Grundsätzliche heben und damit zugleich als Gegenstand vorkommt.
eine der zentralen Fragestellungen der Philosophie Insofern könnte man, wie dies z. B. Helga Gripp
Heideggers insgesamt aufgreifen, die schon für Sein unternimmt, fragen, inwieweit Luhmanns System-
und Zeit leitend ist; nämlich die Frage nach dem theorie sich ähnlich philosophisch situiert wie Hei-
(Sinn von) Sein und nach den philosophischen Mög- deggers Seinsdenken oder z. B. auch Adornos Nega-
lichkeiten, das Sein zu denken. Damit ist man aller- tivitätsdenken. Allerdings nimmt sie Luhmann von
dings bereits in einem differentialistischen Kontext, der Frage aus, ob seine Philosophie letzte Philosophie
weil das Sein als das Differenzlose gedacht, d. h. als sei, weil er gar nicht mehr versuche, das Absolute zu
solches bezeichnet und eben auch unterschieden denken (Gripp 1986, 175). Doch Luhmanns System-
werden muss. Das Sein ist nicht negierbar, mithin ein theorie stellt genau wie Heideggers Philosophie (vgl.
Letztbegriff und als solcher zumindest von der Be- z. B. Heidegger 1999) die Frage nach Identität und
griffslogik her mit jenen Begriffen aus Luhmanns Differenz, nach der Vorrangigkeit und nach dem An-
Systemtheorie zu vergleichen, die dieselben Bedin- fang des Denkens. Geradezu programmatisch heißt
gungen erfüllen, wie ›Sinn‹, ›Welt‹ oder ›Realität‹. es bei Luhmann: »Am Anfang steht nicht Identität,
Die direkteste Verbindung zwischen beiden Theorien sondern Differenz« (SS, 112) – ein Satz, den Heideg-
ist sicherlich mit dem Sinnbegriff gegeben, der nicht ger für die Beschreibung des Urgrundes der Meta-
nur das hermeneutische Fundament beider Theorien physik, aber auch notwendigerweise als Ausgangs-
– bei Heidegger stärker ausgeprägt als bei Luhmann punkt seines eigenen, fundamentalontologischen
(vgl. Kneer/Nassehi 1991) – anzeigt, sondern gleich- Denkens wohl akzeptiert hätte. So geht auch er davon
zeitig auf die autoreflexive Struktur, ja Konstitution aus, dass jede Bestimmung des Seins (des Ontischen)
beider Theorien aufmerksam macht. Sinn wird da- schon durch die Differenz des Seins und seiner Be-
mit für Luhmann zu einem Supermedium (KunstG, stimmung (des Ontologischen) gekennzeichnet ist.
173; Baecker 1992), in dem sich das Denken erst kon- Insofern ist die strukturelle Parallele durchaus plau-
stituieren kann, während es gleichzeitig versucht, sibel: An der Stelle der ontisch-ontologischen Diffe-
diese Konstitution selbst noch einmal einzuholen, renz bei Heidegger steht die Differenz von System
278 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

und Umwelt bei Luhmann. Da es sich um dieselbe kein Problem mehr. Wo die Metaphysik in die Aporie
Funktionsstelle innerhalb der theoretischen Archi- mündet, dort hat Luhmann ein Verfahren entwickelt,
tekturen handelt, muss es auch nicht verwundern, diese Unhintergehbarkeit in einem sich selbst wie-
dass das weitere Nachdenken auf diesem Fundament, derholenden Prozess aufzulösen. So sehr eine Funda-
die theoretische Operationalisierung dieser Diffe- mentalontologie sich gegen eine denkunabhängige
renz(en), auch bei beiden Denkern dieselbe Stoß- Gültigkeit logischer Formen sträubt, so wenig hat sie
richtung und dieselbe Auswirkung auf die Selbstbe- doch die Möglichkeit entwickelt, paradoxalen Apo-
schreibung der eigenen Theorie besitzt. rien zu entgehen. Heidegger spricht ja von der Über-
Beide Denker leiten aus dieser Differenz(ierung) windung und Verwindung der Metaphysik, während
ihr Unternehmen ab, die idealistische Subjekt-Ob- die Systemtheorie den »Explosivstoff Selbstreferenz
jekt-Differenz zu überwinden. Damit wird ein Kon- in sich aufgenommen« hat (SS, 656). Solche Mög-
text eröffnet, den Luhmann nicht nur mit Heidegger, lichkeiten der Philosophie sind, wenn überhaupt,
sondern auch mit anderen teilt, die Heideggers Idee nur um den Preis einer Aufgabe des theoretischen,
gleichermaßen verpflichtet sind, wie z. B. Derrida. sprich philosophischen Status zu haben, indem man
Und es wäre genauer zu bestimmen, inwiefern z. B. beispielsweise in die Kunst ausweicht oder die Gat-
Luhmanns Bezugnahme auf Hegel, Heideggers Ab- tungsgrenze zwischen Philosophie und Kunst nivel-
setzung von Hegel und Derridas Hegel- und Heideg- liert, wie dies Habermas (1988b, 219 ff.) Derrida
ger-Rezeption ein Feld aufspannen, in dem sich die vorgeworfen hat. Prägnant gesagt: Die Fundamen-
Überwindung eines idealistischen, identitären Sub- talontologie ist mit ihrem Status als Supertheorie
jektkonzepts zugunsten einer selbsttragenden Kon- eben gerade nicht versöhnt, während die System-
struktion der Differenzierung abzeichnet. Wie bei theorie diesen Status zu ihrer operativen Grundlage
Heidegger (und bei Derrida) bedeutet auch bei Luh- erklärt.
mann die Vorrangigkeit der Differenz vor der Identi-
tät die Verabschiedung eben dieses Subjektkonzepts.
Es ist geradezu bezeichnend, dass Luhmann deswe- Die ontisch/ontologische Differenz
gen denselben Vorwurf hat hinnehmen müssen wie und die Medium/Form-Differenz
Heidegger, nämlich den des Anti-Humanismus, und
zudem in derselben ungerechtfertigten Weise. Es fällt Das gelingt Luhmann mit dem Theorem des Beob-
auf, dass Luhmann – gerade in diesem Kontext, ohne achters, das er von dem englischen Logiker George
Heidegger zu nennen – auf heideggersche Begriffe Spencer-Brown übernimmt und adaptiert. Die Poin-
zurückgreift, um das identifikatorische Subjektden- te des Beobachtungsprozesses besteht darin, die
ken hinter sich zu lassen: »Wenn man das (transzen- Blindheit der Beobachtungsoperation für sich selbst
dentale) Subjekt so versteht, daß es nur von sich nicht als metaphysisches Problem zu werten, son-
selbst abhängt, transformiert man das Problem des dern eben prozessual aufzulösen. Denn die nächste
In-der-Welt-Seins in ein Problem des In-sich-selbst- Beobachtung kann die vorausgehende Beobachtung
Seins« (GG, 870). sehr wohl beobachten. Metaphysisch wird das Pro-
Die unterschiedlichen Kontextualisierungen – blem erst dort, wo man nach dem Anfang der Beob-
hier eine metaphysische Metaphysikkritik und dort achtung fragt und man dort anscheinend auf eine
eine Theorie sozialer Systeme als Grundlagentheorie unumgängliche Paradoxie trifft, nämlich dass jede
einer Theorie der Gesellschaft – lassen im Hinter- Operation ist und zugleich nicht ist, was sie ist.
grund dieser Vergleichbarkeiten einen markanten Genau vor demselben paradoxalen Problem steht
Unterschied zwischen Luhmann einerseits und Hei- auch Heidegger. Für ihn beginnt die Metaphysik mit
degger (und Derrida) andererseits deutlich werden. einer Unterscheidung des Seins in das ›Was‹ und in
Während Heidegger und Derrida das Problem der das ›Dass‹. Nimmt man diese Begriffe in ihrem Ab-
Identität, das nur durch Differenz zur Differenz zu straktionsgrad ernst, so ist es nicht der Inhalt der Un-
bestimmen ist, als Metaphysik bestimmen, ist dieser terscheidung, sondern die Tatsache, dass unterschie-
Kontext Luhmann völlig fremd. Für Heidegger und den wurde, die den Anfang markiert. Aber damit
Derrida bedeutet Metaphysik die Selbstverfehlung wiederholt sich auf der Ebene der Unterscheidung
des Denkens, wenn es unabdingbar in die Subjekt- dasselbe Prinzip, womit unterschieden wurde. Auch
Objekt-Struktur verfällt. Unabdingbar heißt: Die auf der Ebene der Unterscheidung wird zwischen
Differenz ist als Prinzip nicht mehr hintergehbar. Ge- ›Was‹ und ›Dass‹ unterschieden. Und das ist kein Zu-
nau diese Unabdingbarkeit ist für Luhmanns Denken fall, sondern offenbart ein Prinzip, das der Unter-
Martin Heidegger (1889–1976) 279

scheidung selbst zukommt und das demnach ein umzugehen, über den Versuch Heideggers, Diffe-
Prinzip des Unterscheidens selbst ist. renzlosigkeit zu denken, weit hinaus. Das hier ver-
Das paradoxale Problem besteht also darin, dass handelte Problem hängt damit zusammen, dass in
die Unterscheidung dasjenige verliert, das sie unter- der ontisch-ontologischen Differenz zwar Prozessua-
scheidet, bei Heidegger: dass die Metaphysik als Un- lität gedacht werden soll, aber nicht ausgedrückt wer-
terscheidung in ›Was‹ und ›Dass‹ das Sein verliert: den kann. Deswegen bietet es sich an – einer Idee
»Gesetzt aber, die Metaphysik begründe mit diesem Heideggers selbst folgend, wonach Interpretation
in seiner Herkunft dunklem Unterschied von Was- ›Übersetzung‹ bedeutet –, das Problem mit einer zen-
sein und Daß-sein ihr Wesen und gründe es darauf, tralen Differenz der Systemtheorie zu übersetzen
dann kann sie selbst von ihr selbst aus nie ein Wissen und dabei ein flexibleres Beschreibungsinstrument
dieser Unterscheidung aufbringen« (Heidegger 1989, für die ontisch-ontologische Differenz einzusetzen.
Bd. 2, 402). Folgerichtig findet sich auch die Unbeob- Es gilt also, eine vergleichbare Differenz heranzuzie-
achtbarkeit der Beobachtung für sich selbst als Ope- hen, die jedoch genau dieses Potenzial der Prozessua-
ration wieder: »Die Herkunft der Unterscheidung lität aktualisieren kann.
von essentia und existentia, vollends die Herkunft Die Systemtheorie luhmannscher Provenienz hat
des dergestalt unterschiedenen Seins, bleiben verbor- ein solches Theorem mit der Differenz von Medium
gen, griechisch gesagt: vergessen« (ebd.). Man könn- und Form zur Verfügung gestellt. Man kann diese
te systemtheoretisch hinzufügen: Sie bleiben unbe- Differenz heranziehen als Vorschlag, die ontisch-on-
obachtbar. Mit diesem Problem ist auch die System- tologische Differenz Heideggers zu reformulieren.
theorie konfrontiert, die daher konsequent von Was- Wenn die ontisch-ontologische Differenz erklären
Fragen auf Wie-Fragen umstellt (WissG, 95). Vor kann, inwiefern Sein und Seiendes eine Differenz bil-
diesem Hintergrund kann Luhmann aufzeigen, den, so kann die Medium/Form-Differenz erklären,
»welche Unterscheidung aus dieser Paradoxie he- warum es zu dieser Differenz dennoch eine Einheit
rausführt, nämlich die Unterscheidung von Opera- der Differenz gibt, warum also Sein zugleich Seiendes
tion und Beobachtung« (Luhmann 1993, 198). Als ist und doch nicht ist. Wo Heidegger auf die Figur der
Operation ist die Beobachtung nur von einer ande- Einheit einer Differenz nur ausweicht, weil Diffe-
ren, weiteren Beobachtung beobachtbar. renzlosigkeit dann doch nicht zu denken ist, gewinnt
Damit hat Niklas Luhmann auf der Basis des For- hier diese Einheit einer Differenz eine prozessuale
menkalküls von George Spencer-Brown ein Theo- und operative Dynamik. Bei der Medium/Form-Dif-
rem entwickelt, das diese Operativität einsetzt, um ferenz setzt Luhmann Elemente voraus, die einmal
die Paradoxien zu vermeiden, die aus der Unzugäng- lose, einmal rigider gekoppelt sein können. Im ersten
lichkeit einer Unterscheidung für sich selbst resultie- Fall spricht er vom Medium, im zweiten von Form.
ren. Dennoch bleibt die Frage, was vor der Unter- Die Spur im Sand ist ein einfaches Beispiel für eine
scheidung kommt. Luhmann hat vorgeschlagen, Form (Spur) im Medium (Sand). Auch die Sandspur
die unmarkierte Seite einer Unterscheidung als »un- besteht materiell aus nichts anderem als Sand (inso-
marked state« zu bezeichnen, den Raum jedoch vor fern kann man von Spur und Sand als einer Einheit
der Unterscheidung als »unmarked space« (KunstG, sprechen), und doch muss sie vom Sand unterschie-
52, Fn. 63). Gerade die Raummetaphorik für Opera- den werden, damit sie als Spur beobachtet werden
tionen in der Zeit, die sich auch bei Heidegger findet, kann (die Differenz von Spur und Sand). Die Form
erlaubt es, das heideggersche Sein und Luhmanns ist Medium und ist nicht Medium zugleich. Die Pa-
unmarked space als äquivalent im Hinblick auf ihre radoxie wird auflösbar und erlaubt den Einblick in
jeweilige Funktionsstelle in der Theoriearchitektur das Verhältnis von Sein und Seiendem. Was man mit
anzusetzen und Seinsvergessenheit als einen Namen der ontisch-ontologischen Differenz beschreibt, wird
für Unbeobachtbarkeit zu verstehen. Dann wird so als Einheit einer Differenz jenseits von Identität
auch deutlich, dass Luhmann ebenso wie Heidegger und Differenz durchschaubar, zumindest erahnbar.
die Zeit als konstitutiv für diesen Prozess der Beob- Sinn beispielsweise ließe sich als eine solche Medi-
achtungsoperationen ansieht (PdF, 199). um/Form-Differenz für beide Theorien konzeptuali-
Aber die Verwandtschaft ist noch enger: Heideg- sieren.
gersches Denken und Luhmanns Systemtheorie ste-
hen nicht nur im selben Kontext der Differenzphilo-
sophie. Gerade an diesem Punkt geht die System-
theorie mit ihrer Art, mit Differenzen operativ
280 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

Literatur 6. Gotthard Günther


Baecker, Dirk: »Die Unterscheidung zwischen Kommuni- (1900–1984)
kation und Bewußtsein«. In: Wolfgang Krohn/Günter
Küppers (Hg.): Emergenz. Die Entstehung von Ord-
nung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt a. M. Der Logiker und Philosoph Gotthard Günther emi-
1992, 217–268. grierte 1937 aus Deutschland in die USA. Dort arbei-
–: »Die Kybernetik unter den Menschen«. In: Peter Fuchs/ tete er mit den Kybernetikern Warren McCulloch
Andreas Göbel (Hg.): Der Mensch – das Medium der Ge-
sellschaft? Frankfurt a. M. 1994, 57–71.
und Heinz von Foerster am Biological Computer La-
–: »Kalkül des Seins« [2009]. In: http://www.dirkbae- boratory der Universität von Illinois in Urbana, wo er
cker.com/Sein.pdf (27.10.2011). von 1961 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1972
Bredjak, Jaromir u. a. (Hg.): Phänomenologie und System- eine Forschungsprofessur innehatte. In diesem Um-
theorie. Würzburg 2006. feld trifft Günther auf Forscher wie Gordon Pask, W.
Esterbauer, Reinhold: »Schweigen zwischen Heidegger und
Luhmann. Sprachphilosophische Bemerkungen zu den
Ross Ashby, Lars Löfgren und Humberto Maturana.
Weltbegriffen beider«. In: Bredjak 2006, 96–107. Günthers philosophische Herkunft ist der deutsche
Gripp, Helga: Jürgen Habermas. Und es gibt sie doch – Zur Idealismus, seine eigenen Überlegungen zu einer
kommunikationstheoretischen Begründung von Ver- polykontexturalen Logik treffen sich allerdings mit
nunft bei Jürgen Habermas. Paderborn u. a. 1984. denjenigen der Kybernetiker, die ebenso wie er nach
–: Theodor W. Adorno. Erkenntnisdimensionen negativer
Alternativen zur klassischen Logik suchen.
Dialektik. Paderborn u. a. 1986.
Gripp-Hagelstange, Helga: Niklas Luhmann. Eine erkennt- Gemeinsame Anknüpfungspunkte, die dann auch
nistheoretische Einführung. München 1995. Luhmann aufgreift, sind die Probleme der Darstel-
Habermas, Jürgen: »Ein Gespräch mit Jürgen Habermas. lung selbstreferentieller Systeme oder Organismen,
›Martin Heidegger? Nazi, sicher ein Nazi!‹« In: Jürg Alt- in denen der Beobachter in das von ihm Beobachtete
wegg (Hg.): Die Heidegger-Kontroverse. Frankfurt a. M. einbezogen ist, wie beispielsweise Rückkopplungs-
1988a, 172–175.
–: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorle- systeme oder autopoietische Systeme. Fachübergrei-
sungen. Frankfurt a. M. 1988b. fend zentral ist dabei die Frage nach Subjektivität.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. 15., durchges. Günthers philosophisches Anliegen ist es, Subjektivi-
Aufl. Tübingen 1984. tät zu untersuchen, um ihren ontologischen Status zu
–: Nietzsche I+II [1961]. Pfullingen 1989. definieren. Sein logisches Interesse gilt analog einem
–: Identität und Differenz [1957]. Stuttgart 1999.
Kneer, Georg/Nassehi, Armin: »Verstehen des Verstehens. Logikmodell, in dem Selbstreferentialität und Sub-
Eine systemtheoretische Revision der Hermeneutik«. In: jektivität formal dargestellt werden können.
Zeitschrift für Soziologie 20. Jg., 5 (1991), 341–356. Günther ist für Luhmann ein wichtiger Vorläufer,
Thornhill, Chris: »Systems Theory and Legal Theory: Luh- wo es ihm darum geht, gängige Subjekt-Objekt-
mann, Heidegger and the False Ends of Metaphysics«. In: Strukturen aufzulösen, an die Stelle von starren
Radical Philosophy 116. Jg. (2002), 7–20.
Strukturen Prozessualität und Operativität zu setzen
Oliver Jahraus und Probleme zu thematisieren, die sich aus einer
klassischen zweiwertigen Logik ergeben, wie sie die
aristotelische Tradition vorgegeben hatte. Insbeson-
dere in seiner Ablehnung der klassischen Ontologie
kann sich Luhmann auf Günther berufen.

Ontologie
Günther kritisiert die klassische Ontologie als mono-
thematisch. Damit meint er, dass Subjektivität in ihr
nur als ›Objekt‹ thematisiert werden kann, denn das
einzige Thema der klassischen Ontologie ist das
›Sein‹, also Objektivität. Soll Subjektivität selbstrefe-
rentiell als Subjektivität thematisiert werden, d. h. als
eigenständiges Thema, so würde man im Rahmen
des klassischen Erkenntnismodells Widersprüche
oder Paradoxien erzeugen. Die zentrale Idee Gün-
Gotthard Günther (1900–1984) 281

thers ist daher, einen erkenntnistheoretischen und punkten aus und unter verschiedenen Perspektiven.
logischen Rahmen zu entwickeln, innerhalb dessen Daher können ›Ich‹ und ›Du‹ nicht miteinander
Subjektivität als eigenständiges Thema wider- identifiziert werden. Auf diese Weise kann Subjekti-
spruchsfrei modelliert werden kann. vität auf beliebig viele Orte verteilt werden: »Jedes
Dass sich Subjektivität nicht restlos in Objektivität Einzelsubjekt begreift die Welt mit derselben Logik,
auflösen lässt, wie dies das klassische Erkenntnismo- aber es begreift sie von einer anderen Stelle im Sein.
dell behauptet, fasst Günther mit einer präzisen Be- Die Folge davon ist: insofern, als alle Subjekte die
obachtung zusammen: »Das Denken widerspricht gleiche Logik benutzen, sind ihre Resultate gleich, in-
sich nämlich selbst, wenn es versucht, seine eigene sofern aber, als die Anwendung von unterschiedli-
[sic!] Reflexionsprozesse als etwas objektiv vom Den- chen ontologischen Stellen her geschieht, sind ihre
ken Unabhängiges zu thematisieren« (Günther 1991, Resultate verschieden« (Günther 1980, 87).
254). Es geht Günther also darum, das Denken nicht Dieses Konzept von ›Ich‹ und ›Du‹ zeigt außerdem
nur als Gedachtes, also als Quasi-Objekt, sondern als deutlich, wie Günther die Leerstellensysteme model-
subjektiven Reflexionsprozess zu thematisieren. Sub- liert, denn ›Ich‹ und ›Du‹ müssen zunächst als reine
jektivität ist als Subjektivität im dualistischen Er- Platzhalter gedacht werden: Jedes ›Du‹ ist für sich
kenntnismodell nicht thematisierbar, denn in diesem selbst ein ›Ich‹, die verschiedenen Rollen werden je-
gelten Isomorphieverhältnisse: Die Negation der doch de-identifikatorisch offen gehalten. Die Distri-
Subjektivität führt notwendigerweise zur Objektivi- butionsmöglichkeiten von ›Ich‹ und ›Du‹ zeigen im
tät. Günther hingegen versucht, Subjektivität als Grunde also das Leerstellensystem an, in dem – je
selbstreferentiellem Prozess einen ontologischen Sta- nach Stelle – jeder Ausdruck einen anderen Wert an-
tus zu verleihen und entwickelt hierzu eine zweite nehmen kann.
Form der Negativität, die in keinem totalen Um- Ergänzend zu den Subjektivitätsthematiken ›Ich‹
tauschverhältnis zum Thema ›Sein‹ steht. und ›Du‹ bezeichnet Günther das irreflexive ›Sein‹,
Wird nun davon ausgegangen, dass das Denken also das Objektive, als ›Es‹. Da das ›Du‹ für das ›Ich‹
dasselbe Denken ist, wenn es sich auf sich selbst be- in gewisser Weise auch als ›Es‹, also als Objekt fun-
zieht, dann ist es zugleich Operator und Operand. In giert, überträgt sich durch das ›Du‹ auf das ›Es‹
einem klassischen System führt das zu einem Wider- gleichfalls Subjektivität. ›Ich‹, ›Du‹ und ›Es‹ bilden
spruch. Günther löst das Problem, indem er in seiner drei genuine Realitätsthematiken; sie können unter-
Theorie das Denken als Subjektivität auf mehrere einander aber auch Paare bilden. Jedes Paar stellt eine
Stellen oder Distributionsorte verteilt. Damit verab- Totalalternative dar, also ein isomorphes Umtausch-
schiedet er das logische Axiom des Satzes der Identi- verhältnis, wie im klassischen Erkenntnismodell das
tät, denn er behauptet, dass Subjektivität nicht mit ausschließliche Paar von ›Sein‹ und ›Reflexion‹. Jedes
sich selbst identisch ist. Die Rollen der Subjektivität Relatum eines Paares ist also die Negation des ande-
als Operator oder Operand sind in den verteilten ren Relatum. Solche Paare bezeichnet Günther als
Orten noch nicht festgelegt, weshalb auf diese Weise ›Kontexturen‹. Eine Kontextur ist eine zweiwertige
Widersprüche vermieden werden können. Diese Wertalternative. Innerhalb jeder Kontextur behalten
Vorgehensweise wird als Wertabstraktion bezeich- somit das klassische Erkenntnismodell und die klas-
net. Subjektivität als eigenständige Realitätsthematik sische Logik ihre völlige Gültigkeit.
kann auf diese Weise nicht objektiviert, also identifi- Analog fasst Günther die klassische Ontologie
ziert werden und unterliegt daher auch keinem selbst als Kontextur auf, d. h. als ein Umtauschver-
Wahrheitskriterium. hältnis mit zwei Werten, wobei sich die klassische
Günther geht somit von der Immanenz der Sub- Ontologie dadurch auszeichnet, dass der eine Wert,
jektivität aus, was aus der Perspektive des dualisti- Subjektivität, kein eigenständiges Thema darstellt.
schen Erkenntnismodells per definitionem undenk- Deswegen bezeichnet sie Günther als ›monothema-
bar ist. Eine anschauliche Darstellung dieses Kon- tisch‹. Das klassische Erkenntnismodell kennt diese
zepts liefert Günther mit der Distribution von asymmetrischen Wertalternativen beispielsweise als
Subjektivität auf ›Ich‹ und ›Du‹, eine Darstellung des Objektivität und Subjektivität, Position und Negati-
Kalküls, an die Luhmanns Ego-Alter-Differenz an- on, wahr und falsch etc. Diese klassischen Wertalter-
schließt. Das ›Ich‹ befindet sich in einer anderen Um- nativen werden durch die Axiomatik der klassischen
welt als das ›Du‹, denn für das ›Ich‹ gehört ›Du‹ zu Logik festgestellt, insbesondere durch den Dritten-
seiner Umwelt, für ›Du‹ jedoch gehört ›Ich‹ zu seiner satz: tertium non datur.
Umwelt, und zwar von jeweils verschiedenen Stand- Es ergeben sich in Günthers Modell somit zu-
282 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

nächst drei Kontexturen, nämlich die von ›Ich und als sie mehrere Kontexturen aufeinander bezieht,
Es‹, ›Ich und Du‹ und ›Du und Es‹. Jeder Wert kann weil sie nicht nur eine Kontextur mit zwei Werten,
hierbei an zwei Kontexturen beteiligt sein, ›Ich‹ kann sondern beliebig viele Kontexturen mit noch nicht
sowohl mit ›Du‹ als auch mit ›Es‹ eine Kontextur bil- festgelegten Werten aufeinander beziehen kann. Das
den. Da es jedoch beliebig viele Subjektivitätszentren hat vor allem Folgen für die Negation: Während in
gibt – »Jedes Einzelsubjekt begreift die Welt mit der- der klassischen Logik jede wiederholte Negation zur
selben Logik, aber es begreift sie von einer anderen ursprünglichen Position zurückführt, da sie nur über
Stelle im Sein« (Günther 1980, 87) –, können ausge- zwei Werte verfügt, gibt es in der transklassischen Lo-
hend von dieser triadischen Konstellation beliebig gik eine zweite Form der Negation. Günther bezeich-
komplexe Verbundkontexturen gebildet werden. net sie als Rejektion. Die Rejektion ist nicht einfach
Die Distribution von Subjektivität über mehrere Negation eines Wertes, sondern sie verwirft eine
Orte bewirkt die Asymmetrisierung zwischen onto- Wertalternative, also eine Kontextur insgesamt, d. h.
logischen Orten und Werten. Während im klassi- sie verwirft einen Negationsprozess. Weil dabei keine
schen Modell einem Ort ein Wert entspricht – außer Position negiert wird, handelt es sich bei der Rejekti-
in Paradoxien und Widersprüchen, in denen eine de- on auch nicht mehr um eine identitätslogische Nega-
finitive Wertbesetzung eben nicht möglich ist, und tion, sondern um eine Reflexion, die den Sinn der
die deshalb aus dem klassischen Modell verbannt Wertalternative insgesamt reflektiert. In diesem Sin-
werden –, müssen Werte anders verteilt werden kön- ne adaptiert Luhmann den Begriff der Rejektion zur
nen, wenn es mehr als zwei Orte gibt, die mit Werten Spezifizierung der Codierung von Funktionsberei-
besetzt werden können. Doch gerade in seinem Um- chen (beispielsweise in SA5, 17; GG, 751). Somit geht
gang mit Paradoxien wurde Luhmann vorgeworfen, es hier auch nicht mehr um eine ›wahr/falsch‹-Alter-
Günther falsch gedeutet zu haben (Bühl 2000). Es native, sondern um den Sinn eines Umtauschverhält-
scheint zumindest fraglich, ob Luhmanns Vorliebe nisses oder einer Kontextur. Wird also nach dem Sinn
für Paradoxien nicht doch eher dem Modell der klas- oder der Bedeutung einer Kontextur gefragt, sind
sischen Logik als demjenigen Günthers verpflichtet Prädikate wie ›wahr‹ oder ›falsch‹ irrelevant: es wäre
ist. unsinnig, danach zu fragen, ob eine Wertalternative,
beispielsweise die von ›Sein und Reflexion‹ oder eben
die von ›wahr und falsch‹, wahr oder falsch sei.
Logik Durch wiederholte Negation gelangt man nicht
abwechselnd zu Position und Negation, sondern Ne-
Um die Bedeutung der ontologischen Distribution gativität reichert sich an. Diese ansteigende Negativi-
von Subjektivität genauer zu erfassen, ist es notwen- tät bezeichnet Günther als Akkretion von Negativi-
dig, die transklassische Logik zu betrachten, die Gün- tät. Durchläuft ein Wert einen Negationsprozess, so
ther entwirft, denn Ontologie und Logik sind bei erwirbt er also eine Reflexionsgeschichte, seine Kom-
Günther stets eng aufeinander bezogen. Günther plexität wird gesteigert. Günther spricht dabei von
versucht analog zu den drei ontologischen Werten ›Multinegationalität‹.
eine entsprechend umfassendere Logik zu entwerfen, Es gibt in Günthers Logik beliebig viele Kontextu-
in der die Axiome der klassischen Logik, also auch ren; die Weise, sie untereinander in Beziehung zu set-
das tertium non datur, nicht gelten. zen ist, die Rejektion: ein dritter Wert negiert eine
So wie die klassische Ontologie monothematisch Wertalternative (Kontextur) und bildet ›nach außen‹
ist, kennt die klassische Logik nur zwei Wahrheits- eine neue Kontextur mit akkretivem Negationspo-
werte; das besagt das Bivalenzprinzip. Die transklas- tential. Kontexturen sind also Reflexionsverhältnisse
sische Logik enthält sich der Wertbesetzung; nur in verschiedenen Reflexionstiefen. Der dritte Wert
innerhalb einzelner Kontexturen gilt die zweiwertige kann entweder mit einem der beiden anderen Werte
Logik, insofern ist die zweiwertige Logik ein Sonder- eine Kontextur bilden (Ich – Du), oder mit der Wer-
fall, sie nimmt innerhalb der sie umschließenden, talternative ((Ich – Es) – Du). Entsprechend der auf
umfangreicheren transklassischen Logik einen streng beliebig viele Subjektzentren distribuierten Subjekti-
limitierten Raum ein. vität können auf diese Weise beliebig komplexe, mul-
Die polykontexturale Logik – ein Begriff, den tinegationale Verbundkontexturen modelliert wer-
dann Luhmann für die Beschreibung funktionaler den.
Ausdifferenzierung übernimmt (z. B. WissG, 666; Polykontexturale Verbundstrukturen sind heter-
KunstG, 303; GG, 36 f.) – ist insofern umfassender, archisch und selbstreferentiell, wohingegen klassi-
Gotthard Günther (1900–1984) 283

sche Umtauschrelationen insofern hierarchisch sind, wechselseitigen Gefüge und als subjektive Praxis, als
als in ihnen dem einen der beiden Werte der Vorzug Prozessualität formal dargestellt werden können, um
gegeben wird: Das Sein wird dem Nichts bevorzugt, somit zu adäquateren Darstellungen moderner
das Wahre dem Falschen etc. menschlicher Praxis zu gelangen. Eine solche Be-
Diese Bestimmungen einer polykontexturalen Lo- schreibung erfordert die Aufgabe einer egologischen
gik implizieren die Auflösung aller vier Axiome der Perspektive zugunsten einer Theorie, die die Distri-
klassischen Logik: Der Satz der Identität wird sus- bution von Subjektivität thematisieren kann. Diese
pendiert, da in der polykontexturalen Logik die Po- Orientierung am Pragmatismus beruht auf Günthers
sitionen gewechselt werden können (die Leerstellen Erfahrungen als Emigrant in Amerika und insbeson-
sind nicht per se besetzt), der Satz des Widerspruchs dere auf der Zusammenarbeit mit den Kybernetikern
wird suspendiert, da Kontexturen durchaus einander am Biological Computer Laboratory. Günther be-
widersprechen können (Rejektion), das tertium non greift den Menschen der modernen Gesellschaft
datur wird durch die explizite Einführung des Drit- nicht mehr als der Welt gegenüberstehend, sondern
ten aufgehoben, und der Satz vom Grund wird durch involviert in eine Welt, die Produkt und Prozess
die heterarchische Anordnung der polykontextura- menschlicher Praxis und objektivierter Willensent-
len Logik suspendiert. Da die polykontexturale Logik scheidung ist. Umwelt ist nicht nur objektive Welt,
selbst selbstreferentiell angelegt ist, gibt es auch in ihr sondern Ergebnis menschlicher Handlung. Dies
keinen hierarchischen Aufbau, sondern heterar- schafft völlig neue Bedingungen für Reflexion, die
chische, wechselseitige Konstitutionsgefüge. nun nicht mehr nur ›Dinge‹, sondern die Ergebnisse
Die entsprechende transklassische Axiomatik ihrer eigenen Denkvorgänge reflektiert.
stellt jedoch keine Lockerung der klassischen dar.
Ganz im Gegenteil entwirft Günther sie, weil er die
klassische Axiomatik als unzureichend empfindet, Literatur
als nicht formal genug. Er will die Formalisierung vo- Bühl, Walter L.: »Luhmanns Flucht in die Paradoxie«. In:
rantreiben und die Restriktionen der klassischen Peter-Ulrich Merz-Benz/Gerhard Wagner (Hg): Die Lo-
Axiomatik aufheben, die darin bestehen, dass diese gik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen So-
nur auf zwei Wahrheitswerten beruht und somit ziologie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000, 225–256.
Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Kon-
nicht alle Reflexionsformen bestimmen kann, son- struktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit.
dern stets an den Wert ›wahr‹, an das ›Sein‹ gebunden Frankfurt a. M. 1992.
bleibt. Günther, Gotthard: Das Bewußtsein der Maschinen. Eine
Luhmann war als Soziologen daran gelegen, die Metaphysik der Kybernetik [1957]. Krefeld/Baden Baden
32002.
Theorie der Polykontexturalität auf eine Beschrei-
–: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik
bung der Gesellschaft anzuwenden. Wenn er die mo- [1959]. Hamburg 31991.
derne abendländische Gesellschaft als ›polykontex- –: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dia-
tural‹ bezeichnet, dann bringt er den güntherschen lektik. 3 Bde. Hamburg 1976, 1979, 1980.
Begriff in die Nähe seines Konzeptes der Beobach- Klagenfurt, Kurt: Technologische Zivilisation und trans-
tung (Fuchs 1992, 54–58). Damit will Luhmann aus- klassische Logik. Eine Einführung in die Technikphiloso-
phie Gotthard Günthers. Frankfurt a. M. 1995.
drücken, dass es in der modernen Gesellschaft keine Köpf, David: »Mit dem Weltgeist rechnen«. In: Dirk Bae-
hervorgehobene, ›richtige‹ Beobachtungsposition cker (Hg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie. Wiesba-
mehr gibt, sondern durch eine Beobachtung zweiter den 2005, 225–242.
Ordnung immer der jeweilige Standpunkt sichtbar Ort, Nina: Reflexionslogische Semiotik. Zu einer nicht-
gemacht werden kann, von dem aus eine Beobach- klassischen und reflexionslogisch erweiterten Semiotik
im Ausgang von Gotthard Günther und Charles S. Peirce.
tung erster Ordnung angestellt wird. Insbesondere
Weilerswist 2007.
sind es für Luhmann die Funktionssysteme, die nach Nina Ort
je eigenen Maßgaben die Welt beschreiben; dabei
gibt es keine objektive Position, von der aus sich ent-
scheiden ließe, ob eine dieser Beschreibungen zutref-
fender als die anderen wäre.
Als Technikphilosoph interessiert Günther hinge-
gen die Möglichkeit, den erkenntnistheoretischen
Dualismus und die zweiwertige Logik dahingehend
zu erweitern, dass Mensch und Maschine in einem
284 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

7. Michel Foucault (1926–1984) weder nötig noch unmöglich ist« (BdM, 96). Das
Subjekt wird in seiner gesellschaftlichen Genese zur
kommunikativen Adresse der Gesellschaft bzw. in
Einer Äußerung Niklas Luhmanns bezüglich Michel seiner historischen Genese zum Effekt diskursiver
Foucaults Verfahren der Literaturnachweise – »mich Praxis erklärt. So trifft beide Ansätze dieselbe Kritik
ärgert eine Schreibweise wie etwa die von Foucault, eines Antihumanismus (Habermas), der radikal von
wo man genau weiß, daß riesige Materialsammlun- den Belangen und Pflichten des Subjekts absehe. Da-
gen vorhanden sind, die aber nicht in Literaturanga- mit stehen die normativen Grundlagen jedes Theo-
ben eindringen« (Luhmann in Hagen 2009, 111 f.) – rieprojekts in Frage und führen auf beiden Seiten zu
gibt Anlass zu der Annahme, dass auf Seiten Luh- dem Problem, die Kontingenz des eigenen Denkens
manns eine Rezeption von Foucaults Werk stattge- systematisch in die eigenen Prämissen einzubauen
funden hat. Während Luhmanns Auseinanderset- (Gebhard 2005, 271).
zung mit Foucault dennoch – bis auf einige Entgegen einer intentionalen Steuerung der Sub-
Quellenangaben (SA6, 242; LaP, 34) – folgenlos jekte setzen beide Ansätze auf die Eigendynamik der
bleibt, nimmt Foucault hingegen gar keine Notiz von Systeme bzw. der Diskurspraxis. Sowohl Foucaults
Luhmann. Trotz dieser zeitgenössischen Indifferenz Methodenkomplex als auch Luhmanns Systemtheo-
der beiden Autoren werden beide Ansätze durch die rie zeichnet eine autoreflexive Wendung aus: Luh-
theoretische und praktisch orientierte Rezeption auf mann erblickt in der funktional ausdifferenzierten
Grund ihrer punktuellen Affinitäten immer stärker Gesellschaft die Bedingung der Möglichkeit für die
miteinander in Verbindung gebracht. Konzeption einer Theorie der Gesellschaft, wie er sie
Während Luhmann seine Systemtheorie als sozio- entwickelt hat. »Die Erkenntnis der Evolution ist
logische Gesellschaftstheorie konzipiert, weigert sich selbst ein Resultat der Evolution und hat genau darin
Foucault, seinen Methodenkomplex als Theorie aus- die Begründung ihrer eigenen Regeln zu finden«
zuweisen sowie einer einzigen Disziplin zuzurech- (SA3, 181). Foucaults Archäologie des Wissens ent-
nen. Dennoch kann behauptet werden, dass auch deckt mit der Konturierung ihrer Methode den his-
Foucault einen gesellschaftstheoretischen Zugang zu torischen Boden, auf dem sie ruht (Foucault 1981,
seinen Problemkonstellationen sucht. Gesellschaft 28). Während Luhmann die Autoreflexivität seiner
wird bei Foucault nicht als gegebene Basisqualität an- Theorie operationalisiert, also mitlaufend themati-
genommen, sondern in ihrer durchaus variablen siert und anwendet, bleibt es bei Foucault wesentlich
Materialität als Effekt historischer Praktiken verstan- bei einer Informiertheit über die Bedingungen der
den. Im Gegensatz zu Luhmann verfolgt er jedoch Möglichkeit seiner eigenen Beobachtungen. Fou-
keine umfassende Gesellschaftstheorie, sondern legt caults Arbeiten verstehen sich als diskursimmanentes
seinen Fokus auf partikulare Einzeluntersuchungen Geschehen, ebenso wie Luhmann seine Theorie als
(Krankenhaus, Gefängnis, Sexualität etc.), die auf ih- »Teilbereich ihres Gegenstandes« (MdG, 59) ver-
ren spezifischen Macht-Wissen-Komplex hin analy- steht.
siert werden. Trotz dieser dem Anspruch nach Trotz ihrer strikten Abkehr von Letztbegründun-
systematischen Unvergleichbarkeit ergeben sich Ver- gen wird den beiden Ansätzen immer wieder ein on-
gleichsmöglichkeiten, die nicht zuletzt auf Affinitä- tologischer Theorieauftakt vorgeworfen: »Die fol-
ten beider Ansätze in ihren Problemstellungen genden Überlegungen gehen davon aus, daß es
zurückzuführen sind. Als folgenreich für die An- Systeme gibt« (SS, 30) auf der einen Seite und auf der
schlussdiskussionen gilt die produktive Auseinan- anderen Seite: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesell-
dersetzung um die Frage nach der Kompatibilität von schaft die Produktion des Diskurses zugleich kon-
Systemtheorie und Diskursanalyse in der Zeitschrift trolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird«
Kulturrevolution (45/46 sowie 47). (Foucault 2003b, 11). Beide Autoren schließen so
eine Ontologie kategorisch aus: Luhmann initiali-
siert seine Theorie durch einen prädikativen Redeakt
Entsubjektivierung und Selbstreferenz und eben nicht durch eine ontologische Prämisse.
Foucault stellt seine Untersuchungen unter die Vo-
Beide Seiten zeichnet eine nachhaltige Skepsis gegen- raussetzung, dass er nicht über Phänomene an sich
über Letztbegründungen aller Art aus. So gerät die spricht, sondern über Diskurse, die über Phänomene
Entdeckung der Souveränität des Subjekts zu einer sprechen.
historischen Kontingenz: »Kontingent ist alles, was
Michel Foucault (1926–1984) 285

Diskurs und Semantik wendig als »relativ situationsunabhängig verfügba-


re[r] Sinn« (GS1, 19) von den Ereignissen des
Wie Elke Reinhardt-Becker festhält, lässt sich eine Erlebens und Handelns. Sie verschiebt sich hin zu ei-
Nähe zwischen Diskurs- und Semantikbegriff fest- nem »Vorrat möglicher Themen, der für Kommuni-
stellen, »die den Grundstein für jede vergleichende kation aufbewahrt« wird (SS, 224) und erzeugt so
Betrachtung beider Theorien« (Reinhardt-Becker gewissermaßen eine Weltstruktur (SS, 382). Seman-
2004, 8) legt. Semantik- wie Diskursbegriff werden tik ermöglicht so, wie der Diskursbegriff bei Fou-
radikal entsubjektiviert und von der hermeneuti- cault, die Selbstbeobachtung und Selbstbeschrei-
schen Teilnehmerperspektive des Sinnverstehens los- bung von Gesellschaft, weil sie Beobachtungsopera-
gelöst, was eine Verselbständigung konstruktiver tionen erst mit Unterscheidungen versorgt (GG,
Prozesse, die nicht in eine vermeintliche Einheit und 538 f.), auf deren Basis Ereignisse des Erlebens und
Kontinuität von Gesellschaft mündet, zu denken er- Handelns kommunikativ verfügbar werden.
möglicht. Ähnlich wie für Foucaults Diskurskonzep- Obwohl Luhmann die konstitutive Funktion der
tion als vorrangig sprachlich strukturierter »histo- Semantik (Ideenevolutionen; preadaptive advances)
risch-spezifischer Sagbarkeits- und Wißbarkeits- sowie Kovariation durch semantische Anstöße nicht
raum« (Link 2003, 60) lässt sich auch für den ausschließt, gilt die Kritik vorrangig seiner Konzep-
Semantikbegriff ein Regelwerk in Anschlag bringen, tion von Semantik als bloßem Ausdruckswert für die
durch das Aussagen (Kommunikationen) hervorge- Gesellschaftsstruktur. »Evidenz wird dann durch den
bracht werden; sie müssen sich unter den Kriterien Ausdruckswert von semantischen Formen gewonnen
der Evidenz und Plausibilität (SS, 548) bewähren. und nicht durch die innere Struktur und Organisati-
Ebenso wie selbstreferentiell geschlossene Systeme on der Semantik« (Stäheli 2000, 200). Vor allem dem
bedürfen auch Diskurse keiner operativen Ebene au- Vorwurf, dass nach Umstellung auf den Modus funk-
ßerhalb ihrer selbst und begründen sich ausschließ- tionaler Differenzierung zwischen dem 16. und dem
lich aus sich selbst heraus; sie stehen in keinem 19. Jahrhundert durch das systemtheoretische In-
einfachen Abbildungsverhältnis zur Realität. Auf strumentarium keine maßgeblichen strukturellen
beiden Seiten konzentriert sich die Beobachtung auf Veränderungen der Gesellschaft mehr auszumachen
das Wissen in Form von Semantik bzw. Diskurs, seien, sowie der Vorwurf der erschwerten Trennbar-
das Gesellschaft von sich selbst hat, um Gesellschaft keit der korrelativ gedachten Beziehung zwischen Se-
jenseits einer normativen Begrifflichkeit aus sich mantik und Gesellschaftsstruktur geben Anlass für
selbst heraus beschreibbar zu machen. Jene Wissens- Bemühungen, über den Diskursbegriff wirklich-
formen unterliegen jedoch einer stetigen und unbe- keitskonstituierende Rückkopplungseffekte und Be-
merkten Veränderung, weshalb sich weder über das schleunigungseffekte der Semantik fassen zu kön-
Wissen noch über den Diskurs Aussagen von allge- nen. Umgekehrt macht die Kritik am Diskursbegriff
meiner Gültigkeit treffen lassen. Foucault richtet sei- aus systemtheoretischer Perspektive gerade auf den
ne Analyse von Diskursen deshalb an Methoden aus, Umstand aufmerksam, dass dieser Zwänge der Sozi-
die weder auf einem transzendentalen Gerüst fußen alstruktur auf Diskurse nicht zu erklären vermag und
noch ein einheitliches Beschreibungsinstrumentari- somit die Erfolgsbedingungen für bestimmte Dis-
um suchen; im Unterschied zu Luhmanns System- kurse unbeobachtet bleiben.
theorie handelt es sich nicht um eine Supertheorie.
Die Instrumente der Methode verschieben sich mit
dem zu untersuchenden Diskurs und bleiben nicht Macht
mit sich identisch; die Methode ist lediglich Diskurs
über Diskurse (Foucault 1981, 292). Mit dem Phänomen der Macht zeigt sich ein weiteres
Bezieht man Foucaults Überlegungen zum Archiv, zentrales Feld, in welchem die Rezeption wechselsei-
welches das Auftreten und das Verschwinden von tig Anleihen erprobt. In Überwachen und Strafen
Aussagen in einer Kultur verwaltet (Foucault 2001, (1975) ersetzt Foucault ein Modell von Macht, das
902), in den Diskursbegriff mit ein, so liegt die Nähe auf Zwang, Gesetz und Unterdrückung beruht,
zu Luhmanns Konzeption von Semantik auf der durch einen technologischen Machtbegriff, der die
Hand: Unter Semantik versteht er die Formen, die produktive Komponente sozialer Machtkonstellatio-
sich in einer Gesellschaft entwickeln, um Ereignisse nen in den Blick nimmt. »Man muss aufhören die
des Erlebens und Handelns (GS1, 19) beschreibbar Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben
zu machen. Damit entfernt sich die Semantik not- […]. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie
286 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstands- 249 f.). Luhmann hingegen warnt vor einer Über-
bereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und schätzung der Reichweite von Macht. »As systems are
seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion« autopoietically organized, one system cannot inter-
(Foucault 1976, 250). fere in another system’s internal operations. Luh-
Die zentrale Fragestellung Foucaults konvergiert mann thus offers a sociological perspective that,
mit Luhmanns Perspektive, insofern beide nach der more clearly and profoundly than Foucault, explains
Funktion von Macht fragen (Foucault 2003a, 347) why the exercise of power often contains a strangely
und sich von Macht als einem »Bewirken von Wir- utopian element« (Borch 2005, 164).
kungen gegen möglichen Widerstand, sozusagen
Kausalität unter ungünstigen Umständen« (M, 2)
verabschieden. Auch Luhmann konzentriert sich auf Kritik und Aufklärung
die produktive Seite der Macht, wenn er konstatiert,
dass die Funktion der Macht in der »Regulierung von Bereits in seiner Antrittsvorlesung »Soziologische
Kontingenz« (M, 12) besteht und durch sie »die Aufklärung« (SA1, 66–91) setzt Luhmann Aufklä-
Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahr- rung und Soziologie ins Verhältnis. Das Geschäft der
scheinlicher Selektionszusammenhänge« (M, 12) ge- Aufklärung entdeckt das Ausmaß der sozialen Deter-
steigert wird. Auch für Foucault versteht sich Macht mination und darüber hinaus die Kontingenz der
nicht als ein Substrat. Beide verabschieden sich also Welt. Aufgabe ›großer Theorie‹ kann fortan nur noch
von einer europäischen Denktradition, die Macht im die »Abklärung der Aufklärung« als »Durchblick auf
Modus der Kausalität begreift. Grenzen der Aufklärung« (SA1, 68) sein. System-
Foucault geht jedoch so weit, Macht aus dem po- theoretische Soziologie hält insofern an dem Aufklä-
litischen System zu lösen und ihre Verbindung zum rungsgedanken fest, als ihre Funktion darin besteht,
Wissen zu thematisieren. Er vermutet, dass Macht »soziale Systeme im Hinblick auf ihre Möglichkeit,
Wissen hervorbringt und umgekehrt, dass Wissen ihr Potential für Erfassung und Reduktion von Kom-
Macht legitimiert. Charakteristisch für diese Macht- plexität zu steigern« (SA1, 86).
beziehungen ist, dass sie gleichzeitig intentional und Foucault schätzt seine Geschichte(n) verschiede-
nicht-subjektiv sind. Macht kann als dezentriertes, ner Rationalitätsformen als wirksamere Erschütte-
substratloses Operieren umschrieben werden, als rung »unsere[r] Gewissheiten und Dogmatismen
dessen Oberfläche zentralisierende Strukturierungs- […] als abstrakte Kritik« (Foucault 2005, 196) ein.
leistungen erscheinen, unter der die Macht verdeckt Sein Schaffen ist durch den wiederholten Rekurs
operiert. »Die Macht hat kein Wesen, sie ist operativ. (Foucault 2005, 687–707) auf Kants Zeitungsartikel
Sie ist kein Attribut, sondern ein Verhältnis: das »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«
Machtverhältnis ist die Gesamtheit der Kräftever- (1784) gekennzeichnet. So knüpft er zwar an Kant an,
hältnisse, die ebenso durch die beherrschten wie setzt sich jedoch durch eine Verkehrung der Verhält-
durch die herrschenden Kräfte hindurchgeht, die alle nisse von ihm ab: Im Gegensatz zu Kant stehen für
beide Singularitäten bilden« (Deleuze 1995, 42 f.). Foucault nicht die Grenzen der Erkenntnis im Mit-
Luhmann hingegen konzipiert Macht als symbolisch telpunkt der Kritik, sondern die Frage der Macht und
generalisiertes Kommunikationsmedium (M, 13): der Herrschaftsverhältnisse. Es geht ihm darum,
»Macht ›ist‹ eine codegesteuerte Kommunikation« anhand der Kritik als stets zu aktualisierende Praxis
(M, 15). Sie ist somit weder als Eigenschaft noch als die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, Not-
Fähigkeit zuschreibbar. wendigkeiten oder Unveränderlichkeiten gegebener
Gegenüber Luhmanns Konzeption hat Foucaults Identitäten zu befragen. Zu diesem Zweck ist es die
Machtbegriff den Nachtteil, dass er an Schärfe ver- Aufgabe der Kritik, die Akzeptabilitätsbedingungen
liert und gleichermaßen alles und nichts beschreiben zu verfolgen, durch welche Diskurse sich verfestigen
kann: »man muss sie [die Macht] als ein produktives und ablösen sowie die Akzeptanz(schwierigkeiten)
Netz ansehen, das weit stärker durch den ganzen Ge- zu beobachten, die sie auslösen. »Kritik heißt nicht,
sellschaftskörper hindurchgeht als eine negative In- dass man lediglich sagt, die Dinge seien nicht gut so,
stanz, die die Funktion hat zu unterdrücken« wie sie sind. Kritik heißt herausfinden, auf welchen
(Foucault 2003a, 197). In diesem Konzept durch- Erkenntnissen, Gewohnheiten und erworbenen,
dringt die Macht die Individuen und bringt diese aber nicht reflektierten Denkweisen die akzeptierte
gleichsam erst mit ihren Regungen, Begierden und Praxis beruht« (Foucault 2005, 221).
Kräften hervor (Foucault 2003a, 50, 749; 1977, Auch Luhmann gibt den Kritikbegriff nicht ganz
Michel Foucault (1926–1984) 287

auf, indem er sein Interesse auf die »Verlagerung von Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2001/2002/2003a/
Aufmerksamkeiten und Empfindlichkeiten in der 2005 (frz. 1994).
–: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. 92003b (frz.
Gesellschaft« (GG, 1119) fokussiert. Eine »kritische
1972).
Soziologie« erfolgt dabei im Sinne einer operativen Gebhard, Gunther u. a.: »Kritik der Gesellschaft? Anschlüs-
Theorie aus der Position eines Beobachters zweiter se bei Luhmann und Foucault«. In: Zeitschrift für Sozio-
Ordnung, der Latenzen, Ideologien, blinde Flecke logie 35. Jg., 4 (2006), 269–285.
der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung beobachtet Hagen, Wolfgang (Hg.): Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte
und nach äquivalenten Funktionen fragt. Während Gespräche mit Niklas Luhmann. Berlin 2009.
Kneer, Georg: Rationalisierung, Disziplinierung und Diffe-
Foucault seinen Blick auf das Außerhalb der Grenzen renzierung. Zum Zusammenhang von Sozialtheorie und
des Möglichen richtet, und nach der Differenz zu ei- Zeitdiagnose bei Jürgen Habermas, Michel Foucault und
ner vergangenen Ordnung fragt, um die Spezifik der Niklas Luhmann, Opladen 1996.
aktualen Denkordnung zu verstehen und zu modifi- Link, Jürgen: »Wieweit sind (foucaultsche) Diskurs- und
zieren, konzentriert sich Luhmann auf die latenten (luhmannsche) Systemtheorie kompatibel? Vorläufige
Skizzen einiger Analogien und Differenzen«. In: Kultur-
Strukturen und Funktionen im »Inneren« der Gesell- revolution 46. Jg. (2003), 58–62.
schaft. Beide Seiten sind implizit von produktiven Luhmann, Niklas: »Soziologische Aufklärung«. In: SA1,
Rückkopplungseffekten ihrer Ansätze überzeugt: 66–91.
»Wenn die Kommunikation einer Gesellschaftstheo- –: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«.
rie gelingt, verändert sie die Beschreibung ihres Ge- In: GS1, 9–71.
–: »Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller
genstandes und damit den diese Beschreibung Evolution«. In: SA3, 178–197.
aufnehmenden Gegenstand« (GG, 15). Und Fou- –: »Inklusion und Exklusion«. In: SA6, 237–264.
cault geht es darum, »zu zeigen, daß Sprechen etwas Reinhard-Becker, Elke: »(Luhmannsche) Systemtheorie –
tun heißt« bzw. »zu zeigen, daß eine Veränderung in (foucaultsche) Diskurstheorie. Analogien und Differen-
der Ordnung des Diskurses nicht ›neue Ideen‹, ein zen. Eine Erwiderung«. In: Kulturrevolution 47. Jg.
(2004), 8–13.
wenig Erfindungskraft und Kreativität, eine andere –: »Niklas Luhmann«. In: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ul-
Mentalität, sondern Transformation in eine Praxis« rich Schneider (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk
(Foucault 1981, 298) voraussetzt. – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2008, 213–218.
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Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von
288 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

8. Jürgen Habermas (*1929) liche Wissenschaft und den alteuropäischen Dualis-


mus der Metaphysik (Brunkhorst 1985). Habermas
und die Kritische Theorie hat zwar den längst nicht mehr aktuellen Gegensatz
von kritischer und bürgerlicher Wissenschaft fallen
Einleitung: Supertheorien gelassen, wohl aber den von kritischer und traditio-
neller (oder mit Luhmann: alteuropäischer) Theorie
Das Forschungsprogramm einer kritischen Theorie beibehalten und das neomarxistische Programm
der Gesellschaft geht auf den Neo-Marxismus der fortgesetzt und weiterentwickelt.
1920er Jahre zurück. Es ist stark durch die Synthese Auf die Verwandtschaft der frühen Kritischen
aus Hegel, Marx und Weber geprägt, die in Georg Lu- Theorie mit Luhmanns Systemtheorie ist häufiger
kács’ Frühwerk Geschichte und Klassenbewußtsein hingewiesen worden (Breuer 1995; Brunkhorst 1983;
(1923) paradigmatisch vorlag. Die intellektuellen Fi- 1988). Adornos Diagnose einer negativen Totalität,
guren, die dann im Frankfurter Institut für Sozialfor- wonach die moderne Gesellschaft alle Kritik und alle
schung seit Ende der 1920er unter Leitung Max Negation verschlinge, um sie in eigene Antriebsener-
Horkheimers arbeiteten (Marcuse, Fromm, Adorno, gie zu verwandeln, gleicht Luhmanns stoischem Bild
Löwenthal, Neumann, Pollock u. a.) und die Selbst- dieser Gesellschaft, in der sich alles ändert und der
bezeichnung ›Kritische Theorie‹ im amerikanischen Einzelne nichts ändern kann. Es ist fast dasselbe Bild,
Exil als Decknamen für den dort beargwöhnten Mar- aber mit verschiedenem Vorzeichen. Sprengt bei
xismus einführten, waren jedoch ganz unabhängig Luhmann die Kontingenz unbeherrschbarer Kom-
von Lukács und dessen Nähe zur Kommunistischen plexität die selbstreferentielle Schließung des sozia-
Partei. Sie haben damals nicht nur im Anschluss an len Systems, so ist es bei Adorno das Nichtidentische,
Lukács Marx mit Weber auf den Stand soziologischer das sich dem machthabenden Begriff entwindet, der
Theoriebildung gebracht, sondern auch Marx mit wie bei Luhmann durch Reflexion (oder identifizie-
Freud an den Stand psychologischer Forschung an- rende Selbstbezüglichkeit) das System schließt. Wäh-
geschlossen – im Institut und in der Zeitschrift für So- rend Adornos Theorie ihre kritische Stellung zur
zialforschung, die Philosophie, Psychologie, Sozial-, bestehenden Gesellschaft allein der bestimmten Ne-
Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften auf gan- gation der alteuropäischen Begrifflichkeit verdankt,
zer Breite rezipiert und zu einem einheitlichen For- hat Luhmann den alten Begriffspanzer entschlossen
schungsprogramm zu integrieren versucht. Die abgeschüttelt und durch eine neue, nicht mehr alteu-
Kritische Theorie ist eine eklektische Mixtur einer ropäische Begrifflichkeit substituiert.
starken normativen Idee, die sie dem alteuropäischen Das verbindet ihn mit Habermas, der seinerseits
Erbe entlehnt, mit je aktuellen, sozialwissenschaftli- die Systemtheorie seinem, an die Frankfurter Schule
chen Forschungsprogrammen (Brunkhorst 2009). anschließenden Forschungsprogramm einverleibt
Darin ist die Kritische Theorie, sieht man vom mar- und zeitgleich mit Luhmann eine eigene kommuni-
xistischen Hintergrund ab, der funktionalistischen kationstheoretische Wende der Soziologie vollzogen
Soziologie, die Talcott Parsons zur selben Zeit in hat. Systemtheorie und jüngere Kritische Theorie
Amerika entwickelt hat, verwandt. gleichen sich aber nicht nur im Gestus der radikalen
Die Bezeichnung ›Frankfurter Schule‹ bürgerte Überwindung der Substanzmetaphysik, sie schließen
sich erst nach Rückkehr von Horkheimer und Ador- in mindestens einem Punkt auch an die alteuropäi-
no aus dem erzwungenen Exil ein. Habermas hat das sche Tradition an. Während jedoch Habermas den
integrative, transdisziplinäre Programm der Schule normativen Universalismus dieser Tradition in die
später im Starnberger Max-Planck-Institut der postmetaphysischen Zeiten und Programme hinü-
1970er Jahre aufgegriffen und aktualisiert. Eines der berziehen möchte, verpflanzt Luhmann den kognitiv
wichtigsten Produkte dieser Synthese, zu der Philo- neutralisierten Systembegriff der Totalität in das
sophen wie Ernst Tugendhat und Karl-Otto Apel, So- technische Vokabular der Evolutionstheorie.
ziologen wie Klaus Eder, Rainer Döbert und Claus Im Fall der alten wie der neuen Kritischen Theorie
Offe ebenso beigetragen haben wie etwa die Entwick- Frankfurter Bauart handelt es sich wie bei der Sys-
lungspsychologin Gertrud Nunner-Winkler, war sei- temtheorie um »Supertheorien«, die sich selbst »als
ne Theorie des kommunikativen Handelns (1981). Teilbereich ihres Gegenstands«, also der Gesellschaft,
Horkheimer hatte dem Marxismus unter der Be- begreifen. Sie orientieren »ihre eigenen Lernprozesse
zeichnung ›kritische‹ Theorie die ›traditionelle‹ ent- nicht an der Natur, sondern am Gegner« (Luhmann
gegengesetzt und damit beides gemeint: die bürger- 1978, 23). Sie erklären sich selbst (ebd., 11 f.), »re-
Jürgen Habermas (*1929) und die Kritische Theorie 289

konstruieren […] mit eigenen Begriffen sogar ihren Beide Subsumptionen hat Marx aufgehoben. Er
Gegner und machen verständlich, weshalb er oppo- hat (1) den Geist durch Gesellschaft substituiert und
niert« (ebd., 18; vgl. SS, 19 f.; Habermas 1981b, damit den Weg freigemacht für ein soziologisches
590–592). Das war schon das Programm von Georg Verständnis von Staat, Recht, Familie, Religion, Wis-
Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein, und es senschaft und Kunst als Staat der Gesellschaft, Kunst
war die Methode von Hegel und Marx. Häufig finden der Gesellschaft, Familie der Gesellschaft, Wissen-
totalisierende Supertheorien »für den Gegner einen schaft der Gesellschaft usw. Dabei ist jedoch keines-
berechtigten Platz im eigenen theoretischen Rah- wegs der hegelsche Grundgedanke, Vernunft und
men« (Luhmann 1978, 18). Sie verhalten sich rau- Gesellschaft als negativ prozessierende Totalität zu
bend und plündernd zu allem, was ihnen in der begreifen, verlorengegangen (Marcuse 1941). (2) Aus
Theorielandschaft begegnet. Wie Hedgefonds der Geschichtsphilosophie des absoluten Geistes wird
schneiden sie sich die Filetstücke aus einer Vielzahl bei Marx (wie bei Spencer und Durkheim) endgültig
von Forschungsprogrammen heraus und rekombi- eine Theorie der sozialen Evolution, die ihrerseits ent-
nieren die Stücke unter Abstraktions- und Komple- weder an kognitiven oder normativen Entwicklungs-
xitätsgewinn im Medium der eigenen Theorie. logiken orientiert ist und durchaus (wie etwa bei
Habermas) ohne Rückgriff auf alteuropäische Sub-
stanzmetaphysik mit dem evolutionär dezentrierten
Vom Geist zur Gesellschaft Absoluten bzw. Unbedingten kommunikativer Gel-
tungsansprüche verbunden werden kann.
Frankfurter Schule und funktionalistische Soziolo-
gie, Habermas ebenso wie Luhmann schließen zu-
nächst an die Wende der Philosophie zur Gesell- Kommunikative Wende
schaftstheorie an, wie sie Klassiker der Soziologie
(Marx und Spencer, Durkheim und Weber, Parsons Anders als Marx und Lukács, Weber und Parsons,
und Mead) vollzogen haben. Schon Hegel hatte den Adorno und Mead gehen Habermas und Luhmann
alteuropäischen Begriff der Gesellschaft als societas nicht mehr vom Grundbegriff des subjektiven oder
civilis (= Polis oder res publica) in seine Bestandteile intersubjektiven Handelns aus, sondern – ähnlich wie
aufgelöst, den Begriff der Gesellschaft entpolitisiert der späte Wittgenstein – vom Begriff sprachlich expli-
und auf den Funktionszusammenhang aus Wirt- zierbarer Kommunikation. Sie vollziehen fast zeit-
schaft, positivem Recht, Verwaltung und Organisati- gleich, unabhängig voneinander und aus unter-
on eingeschränkt. Gleichzeitig hat er jedoch (1) die schiedlichen Motiven die kommunikative Wende der
Gesellschaft dem Begriff des objektiven Geistes als Soziologie. Und sie vollziehen diese Wende in zufälli-
eine seiner Sphären untergeordnet, was ihn zur De- ger Gemeinsamkeit auf ganzer Breite, da Habermas
sozialisierung von Staat und Familie, aber auch Reli- sie normativ, Luhmann sie kognitiv ausbuchstabiert.
gion, Kunst und Wissenschaft genötigt hat. Obwohl Beide legen das hoffnungslos unterkomplexe Rohr-
Hegel den Geist als systemische Totalität versteht, die postmodell der behavioristischen Informations- und
sich nur im Prozess negativer Operationen fortent- Spieltheorien der Kommunikation ad acta und ori-
wickeln kann, und damit die Wende von der Ge- entieren sich stattdessen am Alphabet des dreistrah-
schichtsphilosophie zur Theorie sozialer Evolution ligen Kommunikationsschemas, das auf Peirce,
vorbereitet, hat er (2) die Negationen prozessieren- Morris und Bühler zurückgeht (vgl. dazu Apel 1970;
den Systeme doch wieder der alteuropäischen Hie- 2011, 92–137).
rarchie der Vernunft subsumiert und die Vernunft Zwar hält Habermas mit der Anthropologie und
des Staates dem bloßen Verstand von Gesellschaft Subjektphilosophie bis zum Beginn der 1970er Jahre
und Menschenrechten vorgeordnet. Durch die Hie- am vor-evolutionären Begriff der menschlichen
rarchisierung von Verstand und Vernunft zugunsten ›Gattungsgeschichte‹ fest, ersetzt aber schon früh – in
der letzteren liefert Hegel Negativität, Kontingenz enger Kooperation mit Apel (1973) – die Reflexivität
und Freiheit der herrschaftlichen Kontrolle durch des Subjekts durch die Reflexivität der Umgangsspra-
das (damit doch wieder der Geschichte entrissene) che und verankert so die Vernunft des technischen,
Absolute aus. Indem die ›listenreiche‹ Vernunft praktischen und emanzipatorischen Wissens im Ra-
durch ihre List der rationalen Freiheit die Möglich- tionalitätskontinuum der kommunikativen Alltags-
keit des Scheiterns nimmt, vernichtet Hegel sie am praxis. Die kommunikativ gebrauchte Sprache wird
Ende als Freiheit. damit zum Medium einer eigenständigen, von der
290 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

biologischen und psychischen Entwicklung des Men- des Systems auf Kollisionskurs gehen. Dabei hat die
schen nicht mehr determinierten Evolution der Ge- Spontaneität informeller Kommunikation die Funk-
sellschaft. Diese Konsequenz zieht Habermas zwar tion, die Grenzen des Systems umweltadäquat varia-
erst im Verlauf der 1970er Jahre. Doch schon in Er- bel zu gestalten und ein flexibles und situationsange-
kenntnis und Interesse (1968) spannt er die Vergesell- passtes Umschalten von starr vertikaler auf elastisch
schaftung des Individuums zwischen die Pole herr- horizontale Formalisierung und vice versa zu ermög-
schaftsfreier und herrschaftlich verzerrter Kommu- lichen. Zwar geht der frühe Luhmann in den 1960er
nikation, während die marxistisch inspirierte Ideolo- Jahren noch von einem technischen Sender-Empfän-
giekritik sich am normativen Kriterium einverstän- ger-Modell der Kommunikation aus, das er später in
dig-einsichtiger Aufhebung verzerrter Kommunika- Anlehnung an Bühler, Apel und Habermas aufgibt
tion messen lassen muss. (SS; ES), er sieht aber bereits, dass sich die Funktion
Auch Luhmann stößt schon früh auf die soziale der Kommunikation für Systembildung und -erhal-
Bedeutung des Kommunikationsbegriffs. Freilich tung nicht in der »Hilfsfunktion« des bloßen »Trans-
geht es ihm weniger um die epistemische und eman- ports von Nachrichten« erschöpft, sondern die
zipatorische Rolle kommunikativer Verständigung Übertragungsleistung der Sendung mit der autono-
für die Reproduktion der Gesellschaft, sondern um men Sinnverarbeitung durch den Empfänger so ver-
die Rolle der Kommunikation an den Schnittstellen schränkt ist, dass Informationen akzeptiert, geprüft,
zwischen formaler und informaler Organisation. Der zurückgewiesen oder innovativ interpretiert werden
Kommunikationsbegriff ist für Luhmann am Ende können (FuF, 191 f.). Kommunikation und Funktion
ebenso zentral wie für Habermas (siehe nur die bei- sind nicht erst seit der autopoietischen Wende der
den Hauptwerke Soziale Systeme und Die Gesellschaft 1980er Jahre gleichursprünglich.
der Gesellschaft). Die Funktion der Post, so ein pole- Während für Luhmann die Gleichursprünglich-
misches Bonmot Luhmanns, ist nicht die Emanzipa- keit von Kommunikation und Funktion aber bereits
tion der Postler, sondern die Beförderung von der Schlüssel zur Überwindung der alteuropäischen
Briefen, und wie schon für Lenin ist die Post für Luh- Ontologie ist, macht Habermas die Überwindung
mann, der aus der Verwaltung kommt, ein Paradig- dieser Ontologie von der komplementären Gleichur-
ma der modernen Gesellschaft. sprünglichkeit von Kommunikation und Begründung
Aber auch die Post ist nicht einfach ein technischer abhängig. Statt die ontologische »Vernunft des Ver-
Apparat (wie noch bei Weber oder Lenin), sondern nehmens« durch die funktionale »Vernunft des Ver-
ein Kommunikationssystem. »Soziale Systeme kön- gleichs« (Luhmann 1965, 8) zu substituieren, ersetzt
nen sich nur«, so schreibt Luhmann schon 1964, Habermas sie durch die kommunikative Vernunft
»durch Kommunikationen« »bilden und erhalten«, der Verständigung (Habermas 1981a; 1981b). Seit
weil sie aus Sinn verarbeitenden Kommunikationen den frühen 1970er Jahren hat Habermas sich endgül-
»bestehen« (FuF, 190). Auf die Kraft der Kommuni- tig von seinen anthropologischen und subjektphilo-
kation zur Sinnverarbeitung kommt es an. Während sophischen Anfängen gelöst und energisch die
formale Organisation durch eine Reduktion der Um- kommunikationstheoretische Wende der Gesell-
welt komplexer Handlungen auf ein Netzwerk verba- schaftstheorie vollzogen. Damit wurde der Weg frei
ler, transparenter und hoch strukturierter Mitteilun- für einen fundamentalen Paradigmenwechsel. Er be-
gen entsteht, so dass die manifeste Funktion, gann 1971 mit »Vorbereitenden Bemerkungen zu ei-
Kommunikationschancen ungleich zu verteilen, er- ner Theorie des kommunikativen Handelns« (TGS,
füllt werden kann, können die latenten Funktionen 101 ff.). Im Lauf der Jahre hat Habermas diese Theo-
systemischer Selbsterhaltung in einer sich ständig än- rie zu einer Theorie der kommunikativen Rationali-
dernden Umwelt nur durch die »informellen Zwi- tät ausgearbeitet, die er dann seinem soziologischen
schenspiele« (FuF, 193) versteckter, abweichender, Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handeln
opponierender, fehlerhafter, illegaler und innovati- (Habermas 1981a; 1981b) in den Einleitungskapiteln
ver Kommunikationen erfüllt werden. und der ersten Zwischenbetrachtung zugrunde legt.
Formalisierte Kommunikationsnetze und Luhmann hat die Bedeutung der kommunikati-
schwach strukturierte, informelle Kommunikatio- onstheoretischen Wende sofort erkannt und sie in
nen bilden in Organisationen – ganz ähnlich wie im »Einleitende Bemerkungen zu einer Theorie symbo-
politischen System durchlegalisierte Macht und sub- lisch generalisierter Kommunikationsmedien« (SA2,
legale Gegenmacht (SA4, 142–151; Neves 2000) – 170–192, vgl. auch seine Rezension der Theorie des
zwei unabhängige Kreisläufe, die erst an der Grenze kommunikativen Handelns: Luhmann 1982, 372) in
Jürgen Habermas (*1929) und die Kritische Theorie 291

funktionalistische Bahnen gelenkt. Generalisierte Willensäußerungen eines politisch zwar zentrierten,


und in Medien wie Geld, Macht, Liebe, Wahrheit/Re- aber nicht auf Politik spezialisierten Publikums sind
putation, Recht, Schönheit etc. oder auch in Print- – so die These – wahrheitsfähig und wahrheitsabhän-
medien, elektronischen Medien etc. vergegenständ- gig. »Eine ›post-truth-democracy‹ wäre keine Demo-
lichte Kommunikation hat Luhmann zufolge die kratie mehr« (Habermas 2005, 150 f.). Von der
Funktion, die ansonsten unwahrscheinliche Annah- Einlösung der Geltungsansprüche explizit performa-
me von Kommunikationsangeboten durch Kondi- tiver Sprechakte hängt die Änderung unserer Hinter-
tionalprogramme wahrscheinlich zu machen. Der grundsüberzeugungen ebenso ab wie die demokrati-
funktionale Sinn der Annahme von Sprechaktange- sche Willensbildung.
boten ist aus systemtheoretischer Perspektive ganz Die soziologische These dazu ist ebenso simpel
unabhängig davon, ob eine Behauptung auch tat- wie provokativ: Werden die Kanäle wahrheitsfunk-
sächlich wahr ist oder ein Befehl wirklich berechtigt tionaler Kommunikation durch die äußere Einwir-
war. Daran ändert auch die strukturelle Kopplung kung der Macht der Polizei oder des Kapitals
von Macht und Recht im Verfassungsstaat nichts verstopft oder durch diskursive Hegemonie in unauf-
(Luhmann 1990). Zwar wird die Macht – anders als fällige ›Diskurs-Macht‹ (Foucault) verwandelt, so
bei Hobbes, Austin oder Schmitt – dem Recht und rächt sich die beleidigte kommunikative Vernunft
die Änderung des Rechts demokratischen Entschei- des Volkes durch Loyalitätsentzug, politische Apa-
dungsverfahren unterworfen, aber die Legitimität thie, eruptive Gewalt, irrationalen Aktionismus, po-
solcher Willensbildung tritt ebenso wie die Richtig- pulistischen Voluntarismus, Fanatismus oder auch
keit des Rechts in den Schatten der Koordinations- durch Protestbewegungen und politische Revolutio-
funktion der Verfassung, die Grenzen und Interpene- nen (Habermas 1981b, 345 u. 350). Der nicht spezia-
tration der Funktionssysteme Recht und Politik zu lisierbare Eigensinn wahrheitsfunktionaler Diskurse
gewährleisten. besteht darin, dass seine Verletzung zu Störungen
Habermas versucht hingegen zu zeigen, dass noch und Irritationen der Selbstproduktion (oder Auto-
die Erfüllung hoch spezialisierter Funktionen von poiesis) der Funktionssysteme führen muss, die sich
den umgangssprachlich vermittelten Begründungs- in ökonomischen Krisen, Rationalitätskrisen, Legiti-
leistungen der handelnden Akteure abhängig bleibt. mationskrisen oder Motivationskrisen und massiven
Die Begründungsansprüche und -leistungen alltägli- Sozialpathologien äußern und empirisch erforscht
cher Verständigung sind zwar zu Spezialdiskursen werden können (Habermas 1973; 1981b). Anders als
des Rechts, der Moral, der Wissenschaft oder der in der subjektphilosophischen Tradition muss sich
Kunst wahrheitsfunktional ausdifferenziert. Aber die die Richtigkeit der Kernthese von der Unvermeid-
Wahrheit von wissenschaftlichen Aussagen ist ebenso lichkeit und kontrafaktischen Wirkung normativer
wie die Richtigkeit moralischer Urteile nicht nur des- Geltungsansprüche an der sozialen Faktizität des
halb in der globalen Gesellschaft und nicht nur im je- Normativen erweisen.
weiligen Funktionssystem akzeptabel, weil sie für
akzeptabel gehalten wird und deshalb die erhaltungs-
funktonale ›Anschlussfähigkeit‹ (Luhmann) der Das dreidimensionale Schema
Kommunikationen zu gewährleisten vermag. Sie ist der Kommunikation
vielmehr deshalb akzeptabel – so der Grundgedanke
von Habermas – weil sie (bis auf weiteres) wahr bzw. Der Kommunikationsbegriff von Luhmann und Ha-
richtig ist. bermas hat dieselbe Struktur. Ganz analog zum drei-
Da die wahrheitsfunktionalen Diskurse der Mo- dimensionalen Modell von Habermas aus Sprechakt-
ral, des Rechts oder der Wissenschaft (als höchst ei- modus (Behaupten, Befehlen, Fragen, Vorschlagen,
gensinnige soziale Systeme) in die unspezialisierte Taufen, Warnen, Erklären, Bitten usw.), propositio-
Alltagskommunikation und die öffentlich-politische nalem Gehalt (der Sachverhalt, den ein Satz darstellt
Willenbildung eines bürgerschaftlichen Publikums und der durch den nachgestellten ›dass‹-Teil eines
zurückfließen und zu ihrer Fortsetzung ständig auf Behauptungssatzes explizit gemacht wird: ›Ich be-
umgangssprachliche Rückgriffe und alltagsprakti- haupte, dass p‹) und der im Verstehen begründeten
sche Evidenzen angewiesen sind, bilden sie mit der Ja/Nein-Stellungnahme von Alter-Ego, unterschei-
unspezialisierten Alltagskommunikation ein Ratio- det Luhmann Mitteilung (= Modus), Information (=
nalitätskontinuum. Auch die diffusen Hintergrund- propositionaler Gehalt) und Verstehen, das in Ja/
überzeugungen der Alltagskommunikation und die Nein-Stellungnahmen kommuniziert wird und so
292 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

die jeweilige kommunikative Operation an die Husserls Scheitern


nächste anschließt. In beiden Fällen fängt die Kom-
munikation mit Alter-Ego an, ist doch das kommu- Luhmann hat wiederholt die Fünfte Cartesianische
nikative Elementarereignis nichts anderes als »die Meditation Edmund Husserls als die logische Linie
kleinste negierbare Einheit« (SS, 212). Mit Wittgen- bezeichnet, von der aus die Wende vom Subjekt zum
stein gilt vom Kommunikationsbegriff der Kriti- System verständlich wird (Luhmann 1995, 158). Un-
schen Theorie ebenso wie der Systemtheorie, dass abhängig davon aber ist die Fünfte Cartesianische Me-
Ego nur deshalb eine Meinung (etwas zu meinen, ditation nicht nur ein entwicklungslogischer Schlüs-
eine kommunikative Intention) hat, weil der andere sel zu Werk und Werkentwicklung von Luhmann,
etwas zu verstehen hat (Savigny 1996, 125). sondern kann ebenso als logischer Ausgangspunkt
Philosophen wie Apel, Habermas oder Tugendhat des Denkweges von Habermas dienen.
würden daraus jedoch – anders als Luhmann – den In den Cartesianischen Meditationen von 1928
Schluss ziehen, dass die kommunikativen Operatio- hatte Husserl den Versuch unternommen, das tran-
nen des Negierens (Hegels ›prozessierende Negativi- szendentale Subjekt gegen die damals überwältigen-
tät‹) nicht auf bloße Erwartungsenttäuschungen den Einwände von Positivismus, Hermeneutik und
reduziert werden können (SS, 160 u. 203). Sie müs- Historismus zu verteidigen. Mit Hilfe der phäno-
sen darüber hinaus (und aus der Teilnehmerperspek- menlogischen Methode (Reduktion und Appräsen-
tive) als Antworten Alters verstanden werden, die tation) hat er versucht, die lebensweltliche Struktur
dem zeitlich vorausgegangenen Sprechakt Egos den und das Sinnesfundament des transzendentalen Ego
Wahrheitsgehalt bestreiten (oder je nach Modus die zu erschließen, um auf diesem Weg dem nach wie vor
Aufrichtigkeit oder die normative Richtigkeit abspre- monadologisch konstruierten Subjekt die Intersub-
chen, die Autorität des Befehls in Zweifel ziehen jektivität seiner Erkenntnisleistungen zu sichern und
usw.), indem sie sich auf ein und denselben proposi- damit die alteuropäischen Begriffe der Wahrheit,
tionalen Gehalt beziehen (Tugendhat 1976, 244). Objektivität und Vernunft zu retten (vgl. Husserl
Für Luhmann sind kommunikative Operationen 1976).
hingegen normativ neutralisierte Techniken der ex- Aus der Perspektive von Habermas und Luhmann
tern, durch reziproke Beobachtung gesteuerten Ko- ist dieser letzte Versuch, das transzendentale Subjekt
ordination von Freiheitserwartungen (SS, 159 f.). Bei zu retten, hoffnungslos gescheitert (zum Scheitern
dieser Form der kommunikativen Reproduktion der vgl. Theunissen 1977, 140 ff.). Am Ende bleibt auch
»Freiheit«, unter »wechselnden Konditionierungen« das zur universellen moralischen Monadengemein-
eine Mitteilung »anzunehmen oder abzulehnen« (SS, schaft reflexiv dezentrierte Subjekt mit sich allein zu
205 f.), soll Verständigungsbedarf gar nicht erst ent- Haus. Aus dem Scheitern des gleichsam letzten Ver-
stehen. Der Anschluss einer Kommunikation an die suchs, die Intersubjektivität objektiver Wahrheit und
nächste verdankt sich aus funktionalistischer Sicht das transzendentale Subjekt durch phänomenologi-
nicht dem wahrheitsorientierten Telos der Verständi- sche Reduktion aus dem Dschungel der menschli-
gung, sondern wird faktisch durch »den binären chen Lebenswelt zu retten, haben Habermas und
Code« der »Ja/Nein-Bifurkation« »garantiert« (GG, Luhmann diametral entgegengesetzte Schlüsse gezo-
229). Indem Alter durch Annahme oder Ablehnung gen.
der Mittelung kommuniziert, wie er Egos Äußerung
verstanden hat, lässt er der informativen Selektion
Egos eine weitere folgen, durch die die Information Alternative Auswege
redupliziert und, da keine Reduplikation exakt der
andern gleicht, variiert wird. Durch das über Varia- ›Vergesst die Intersubjektivität und begrabt ihre Kin-
tion und Selektion fortlaufende, binäre Entscheiden der, Wahrheit, Objektivität und Vernunft‹, sagt Luh-
wird ständig »Freiheit in Freiheit« umgeformt (SS, mann. Wer sich stattdessen an die vom deutschen
206). Dadurch lernt das einfache Kommunikations- Idealismus aufgedeckte, selbstbezügliche Geschlos-
system kognitiv, sich den wechselnden Konditionie- senheit des Subjekts hält, einen Blick über den huma-
rungen seiner Umwelt anzupassen, deren Komplexi- nistisch verengten Horizont der Philosophen und
tät zu reduzieren und so viel Eigenkomplexität Sozialphilosophen wagt und überdies Cassirers alten
aufzubauen, wie nötig ist, um die Erwartungssicher- Rat, von der Substanz zur Funktion fortzuschreiten
heit von Ego und Alter, zu wissen, wo es lang geht, zu (Cassirer 1910), beherzigt, dem verspricht Luhmann
stabilisieren. eine großartige Entdeckung: Die Strukturen reflexiv
Jürgen Habermas (*1929) und die Kritische Theorie 293

prozessierender Negativität gibt es überall. Jede non- können muss, substituiert Luhmann im Fall psy-
triviale Maschine funktioniert nach dem Muster des chischer Systeme eben durch die Vorstellung selbst,
»›Ich denke‹, [das] alle meine Vorstellungen beglei- also durch die ›Imagination der anderen Seite‹, die
ten können« muss (Kant 1968, 108), auch ohne Ich alle meine Vorstellungen begleiten können muss.
und ohne Vorstellungsvermögen. Jedes Gehirn ist ein Sonst würde der Bewusstseinsstrom abreißen, das
gedankenlos reflektierendes Subjekt. Jeder Mikroor- psychische System am Ende abstürzen und die soziale
ganismus kann sich, wie Fichtes Ich, nur durch Ope- Kommunikation würde ihre Anschlusszüge verpas-
rationen, die Operationen erzeugen, die Welt außer- sen. Entsprechend konstituiert sich das soziale Sys-
halb der Operationen zu eigen machen. Und selbst in tem als Kommunikation, die alle Kommunikation
der weltlosen Welt der Kristalle und Elementarteil- des Systems begleiten können muss.
chen scheint es ähnlich zuzugehen. Am Ende sieht Lässt man die Intersubjektivität weg, kann man
man, dass sich auch die Evolution selbst nur durch Husserl Wort für Wort in die Sprache der System-
reflexive Mechanismen der Selbsterzeugung von theorie übersetzen. Wie Husserls Monade ist Luh-
Evolution durch Evolution eine Welt nach der an- manns Funktionssystem durch die »thematische
dern erschließen konnte (GG, 499 f.). Warum dann Ausschaltung« der »Wirklichkeit des Fremden für«
aber noch das ganze ›Subjekt‹ nennen, wo doch alle das System konstituiert. Durch selbstreferentielle
Welt, kaum war die Kritik der reinen Vernunft 1781 Schließung »konstituiert sich ein« System (bei Hus-
erschienen, das Subjekt als Menschen oder mensch- serl: ein »Ego«) »nicht als« System selbst (bei Husserl:
liche Person verstanden oder missverstanden hat? »ich-selbst«) auf der Stufe seiner einfachen Operatio-
Also nennt Luhmann die selbstbezüglich prozessie- nen, »sondern als sich in« seinen eigene Operationen
rende Negativität, die unaufhörlich grenzerhaltende (bei Husserl: »meinem eigenen Ich, meiner ›Mona-
Komplexität durch Reduktion von Komplexität er- de‹«) reflexiv »spiegelndes« System (Husserl 1987,
zeugt, mit einem besser passenden, in einer breit an- § 44). Das System ist für sich in seiner Selbstbeschrei-
gelegten Theoriesprache seit dem 17./18. Jahrhun- bung dann »das letzte transzendentale Ego«, das »in
dert verfügbaren Begriff, der alle möglichen Fälle sich […] das Universum« durch beobachtende
abdecken soll ›System‹ (Luhmann 2010). Fremdbeschreibung »konstituiert«, so dass ihm »die
Dementsprechend bestehen soziale Systeme nicht Scheidung seines gesamten transzendentalen Erfah-
aus Menschen oder Menschenansammlungen, son- rungsfeldes« in System (bei Husserl: »die Sphäre sei-
dern aus Kommunikationen. Menschen gibt es, wie ner Eigenheit«) und Umwelt (bei Husserl: »die
jeder Politiker weiß, nur ›draußen im Lande‹, im Sys- Sphäre des Fremden«) »unmittelbar« »zugehört«
tem politischer Kommunikation haben sie nichts zu (Husserl 1987, § 45).
suchen. Sie gehören zur Umwelt des politischen Sys- Husserl verzweifelt daran, dass sich »Alter Ego« im
tems. Ihre Seelen und Körper sind mit dem System »Originalitätsbereich der primordialen Sphäre« (das
lediglich strukturell gekoppelt, so wie die Beweglich- ist die des transzendentalen Subjekts) »nie als sich
keit des Knies mit der Schwerkraft strukturell gekop- selbst zeigen kann« (ebd., § 52). Genau dieser Gedan-
pelt ist (ohne dass deshalb die Schwerkraft aus Knien ke wird von Luhmann affirmativ gewendet und uni-
bestehen würde). Das Bewusstsein ist sprachlich ver- versalisiert. Ganz so wie Alter-Ego »immer nur
fasst, kann aber nicht kommunizieren. Die Sprache, appräsentativ in meiner Monade eine andere« »konsti-
aber nicht die Kommunikation, ist das Medium der tuiert« (ebd.), ist das personale System Alters niemals
strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Gesell- dem personalen System Egos direkt gegeben, son-
schaft. Systeme beobachten Systeme und sichern als dern kann von Ego immer nur durch interne Diffe-
psychische Systeme den Fluss des Bewusstseins- renzierung von System und Umwelt konstruiert
stroms und als soziale Systeme den der Kommunika- werden. Das ist letztlich der Grund, warum das Telos
tion, ohne dass intersystemische Kommunikation der Verständigung für Luhmann eine alteuropäische
oder intersystemisches Bewusstsein hier vonnöten Illusion ist und notwendig scheitern muss. Kein Weg
wären. Die Kommunikation geht weiter, weil und so- führt, weder vom »zentrierten Selbst« Husserls noch
lange Ego und Alter die von ihnen ausgehenden von Luhmanns ›System‹, dem »identischen Ich-
Kommunikationen wechselseitig beobachten und sie selbst«, zum Anderen, sondern ein jeder endet im-
aus dieser monadologischen Position jeweils für sich mer bei dessen »Modifikat«: »Zu allem Fremden ge-
konstruieren, um das Fortleben der Kommunikation hört […] ein appräsentiertes Ich, das ich selbst nicht
durch Zufuhr neuer Informationen zu sichern. Das bin, sondern mein Modifikat, anderes Ich« (ebd.).
›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen begleiten Wie immer man es wendet, wie immer man es dreht,
294 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

man kommt nie weiter als bis zum Spiegelbild Alter- Bewusstsein und Subjekt. Während bei Luhmann die
Egos, konstruiert aus dem »Zentrum einer um mich Philosophie mit Husserls Fünfter Cartesianischer Me-
orientierten primordialen Welt« (ebd., § 54) – dem Be- ditation beendet ist, fängt sie bei Habermas danach
obachter zweiter Ordnung. Die Systeme bleiben wie überhaupt erst wieder an.
Husserls Monaden »durch einen Abgrund getrennt, Der Andere ist uns in unserem »In-der-Welt-Sein«
über den ich nicht wirklich hinüber kann« (ebd., »immer schon« gegeben (Heidegger 1977, § 28), und
§ 55), ganz so wie in dem oben zitierten Satz von Luh- ebenso ursprünglich ist die alltägliche Erfahrung
mann: ›The other side cannot be reached, it can only kommunizierender Akteure, dass sie sich ohne den
be imagined‹ – obwohl doch weder sinnvoll geleug- Umweg über reflexiv aufgestufte Beobachterposten
net werden kann, dass es Systeme gibt, noch »daß immer schon verständigt haben und in einem Netz-
wirklich der sinnlich gesehene Körper ohne weiteres werk von Schlussfolgerungen gefangen sind, die sie
als der des Anderen erfahren ist und nicht bloß eine wechselseitig auf die Folgen ihrer jeweiligen Sprech-
Anzeige für den Anderen«, oder ein »bloßes Analo- handlungen festlegen (Brandom 1994). Nur aus der
gon« bzw. »Abbild« des Anderen ist (Husserl 1987, jeweils zurechenbaren Teilnehmerperspektive kön-
§ 55). Doch unerbittlich »schreibt« das transzenden- nen dann auch die universellen Präsuppositionen
tale »Faktum ›Ich bin‹ […] vor, ob und welche ande- (Geltungsansprüche) rekonstruiert werden, durch
ren Monaden für mich sind«. Also muss ich einsehen, die jeder und jede, die eine Frage stellt, etwas behaup-
»daß jede Monade, die als konkrete Möglichkeit Gel- tet oder einen Rat gibt, sich – ob sie will oder nicht –
tung hat, ein kompossibles Universum, eine ge- dem eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren
schlossene ›Monadenwelt‹ vorzeichnet« (ebd.). No Arguments (Habermas 1981a, 52 f.) unterwerfen
way out. Die fragmentierte Vielzahl der Subjekte/ muss. Nur dann nämlich funktioniert eine Behaup-
Systeme vervielfältigt sich in sich zu einer Vielzahl je tung als Behauptung, ein Rat als Rat, eine Warnung
individueller Monadengemeinschaften. als Warnung – was die stets mitlaufende (›postmo-
derne‹) Möglichkeit der ironischen Sabotage nicht
ausschließt, wohl aber daran bindet, dass im Falle ih-
Ende oder Anfang der Philosophie? rer Aktualisierung die Behauptung als Behauptung
scheitert.
Geht man, wie Habermas mit dem frühen Marx, dem Kurz: Habermas ersetzt im ersten Schritt das
amerikanischen Pragmatismus, dem frühen Heideg- transzendentale Subjekt durch Heideggers ›In-der-
ger und dem späten Wittgenstein jedoch davon aus, Welt-Sein‹ des menschlichen Lebens (Heideggers
dass es genau deshalb überhaupt kein theoretisches ›Dasein‹). Im zweiten Schritt wird dann die immer
oder kognitives Problem der Fremderkenntnis gibt, noch egozentrische Perspektive je meines Daseins mit
weil die objektive Welt und die des Anderen uns im der linguistisch-pragmatisch-hermeneutischen und
normativ geregelten, kommunikativen Sprachge- dialogischen Wende der Philosophie und Soziologie
brauch immer schon erschlossen und gegeben sind, (Humboldt, Peirce, Mead, Gadamer, später Wittgen-
verschwindet die Erblast des Subjekts mit diesem, stein, Dialogphilosophien, Sprechakttheorien, Apel
und mit ihm die der Systemtheorie geläufigen Para- usw.) kommunikativ dezentriert und im dritten
doxien reflexiver Selbstaufstufung. Diesem Vorteil Schritt der Theorie sozialer Evolution integriert.
der Kritischen Theorie steht freilich die geringere
Eleganz und Geschlossenheit eines zweistufigen
Theorieaufbaus, das Lebenswelt und System ver- Literatur
schränkt, entgegen.
Während Luhmann sagt: ›Vergesst die Intersub- Apel, Karl-Otto: »Peirces Denkweg vom Pragmatismus
jektivität und generalisiert das Subjekt zum System!‹, zum Pragmatizismus«. In: Ders. (Hg.): Charles Sanders
Peirce, Schriften II. Frankfurt a. M. 1970, 11–211.
sagt Habermas: ›Vergesst das Subjekt, klammert –: Transformation der Philosophie. 2 Bände. Frankfurt
Euch an die offene Struktur der Intersubjektivität a. M. 1973.
und bleibt beim einheimischen Begriff der sozialen –: Paradigmen der Ersten Philosophie. Frankfurt a. M.
Lebenswelt!‹ Dieser Schluss aus dem Scheitern des 2011.
husserlschen Projekts, beides zu retten, das Subjekt Brandom, Robert: Making it Explicit. Cambridge, MA
1994.
und die Intersubjektivität, hält mit Husserl am nor- Breuer, Stefan: »Adorno/Luhmann: Die moderne Gesell-
mativen Begriff der alteuropäischen Vernunft fest, schaft zwischen Selbstreferenz und Selbstdestruktion«.
verzichtet aber auf Substanzenkosmos, Ontologie, In: Ders.: Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der
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296 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

9. Harrison White (*1930) ren ›Identität‹ im Netzwerk erst narrativ-relational


definiert wird. Auf diese Weise konzipiert White
Netzwerke als Sinnstrukturen (»phenomenological
Harrison White liefert mit seinem Hauptwerk Iden- realities«; White 1992, 65), in denen Identitäten aus-
tity and Control (1992) eine der vielschichtigsten so- gehandelt werden.
ziologischen Theorien der Gegenwart. Ihr Schwer- In späteren Arbeiten betont White die Rolle von
punkt liegt auf der sinnhaften Konstruktion und kommunikativen Ereignissen für die Entstehung und
Veränderung von sozialen Netzwerkstrukturen. Stabilisierung solcher Relationierungen. Er spricht
Whites Theorie weist vor allem in der vollständig neu hier von »Switchings«, mit denen zwischen Netz-
bearbeiteten zweiten Auflage von Identity and Con- werkkontexten gewechselt wird – entweder indem in
trol (2008; vgl. White u. a. 2007) eine Reihe von Be- einem Gespräch das Thema gewechselt wird, oder in-
zügen zu Niklas Luhmanns Systemtheorie auf. Eine dem Identitäten mit unterschiedlichen anderen
Vielzahl von Autoren formuliert inzwischen Verbin- Identitäten in Kontakt treten (White 1995; Mische/
dungen zwischen beiden Theorien, um (1) zu einer White 1998). Mit solchen Switchings entstehen neue
system- und kommunikationstheoretisch informier- Bedeutungen, die dann in den Geschichten narrativ
ten Modellierung sozialer Netzwerke zu gelangen, miteinander verknüpft werden und auf diese Weise
oder um (2) Netzwerkstrukturen in einer Gesell- für eine beständige Dynamik von Netzwerken sor-
schaftstheorie zu platzieren. gen.
Während Netzwerke relativ fragile Formen der so-
zialen Ordnungsbildung darstellen, sieht White auch
Theorie Verhärtungen bzw. »Molekül«-Bildungen im Sozia-
len. Diese fasst er mit dem von ihm ausführlich dis-
Whites primärer Bezugspunkt liegt im Strukturalis- kutierten Disciplines-Konzept (White 1992, 22 ff.).
mus der soziologischen Netzwerkforschung. Als jun- Disziplinen markieren relativ dauerhafte Relationie-
ger Assistant Professor an der Harvard University rungen von Identitäten, die um gemeinsame Aufga-
legte er Analysen zur Netzwerklogik von Verwandt- ben herum kristallisieren. Whites Disziplinen-Theo-
schaftssystemen, zu Stellen und Karriereverläufen rie zielt auf eine Klassifikation von typischen,
von Arbeitnehmern (vacancy chains) und zur Rolle strukturell vorgegebenen Akteurskonstellationen.
von Netzwerken in der Entwicklung der Kunst vor. In Sie hat allerdings – auch aufgrund ihrer Komplexität
den 1970er Jahren entwickelte White mit Kollegen – bisher deutlich weniger Anschluss gefunden als
die Blockmodellanalyse (White/Boorman/Breiger Whites Überlegungen zur sinnhaften Konstitution
1976; Boorman/White 1976). Dieses formal-analyti- von Netzwerken. Diese sind inzwischen in einer in-
sche Verfahren zur induktiven Rekonstruktion von novativen Strömung der amerikanischen Netzwerk-
Rollenstrukturen in sozialen Beziehungsnetzen wird forschung aufgenommen worden, die eine Fülle von
heute als entscheidender Durchbruch in der Ent- empirischen Studien hervorgebracht hat (Fuhse/
wicklung der Netzwerkanalyse gefeiert. Im Gegen- Mützel 2010; Pachucki/Breiger 2010). Die Wirkung
satz zu den damals in Harvard vorherrschenden von Whites Theorie liegt damit weniger in der syste-
gesellschaftstheoretischen Arbeiten von und um Tal- matischen Begriffsentwicklung als in der Befruch-
cott Parsons schafft der promovierte Physiker White tung von empirischer Forschung.
mit der formal-mathematischen Analyse sozialer
Strukturen einen starken Bezug zu empirischer For-
schung. Parallelen und Bezüge zu Luhmann
Mit Identity and Control nimmt White die sinn-
hafte Konstitution von sozialen Netzwerken stärker Schon in der frühen Version von 1992 weist die Theo-
in den Blick. Diese konzipiert er als relativ fragile rie Whites eine Reihe von Parallelen zur Systemtheo-
Ordnungsbildungen zwischen miteinander um Kon- rie Luhmanns auf. So sieht White (wie auch
trolle ringenden Identitäten. Netzwerke selbst beste- Luhmann, aber zuvor schon Georg Simmel und Tal-
hen laut White aus Geschichten (stories), über die cott Parsons) die Emergenz sozialer Ordnung als ein
diese Identitäten zueinander in Beziehung gesetzt Erfordernis der Strukturierung sozialer Kontingen-
werden. Der Grundbegriff der Identität steht dabei zen. Die Kontrollversuche von Identitäten (etwa auf
einerseits für die Einheiten, die in Netzwerken mitei- einem Kinderspielplatz) bilden so relativ stabile Ord-
nander in Kontakt treten, andererseits dafür, dass de- nungen (Netzwerke, Institutionen bis hin zu Diszi-
Harrison White (*1930) 297

plinen), an denen sich neue Kontrollversuche orien- ge markieren diese beiden Theoriebausteine, das
tieren, die aber diese immer auch wieder zu einem Story-Konzept und die »Switchings«, jeweils eine
gewissen Grad infrage stellen können (White 1992, »kommunikative Wende« der Netzwerkforschung.
5 ff.). Dabei unterscheidet White Kontingenzen auf Bei White führt das zu einer Sichtweise, in der analog
der sozialen Ebene (Ambage) von solchen auf der zu Luhmann kommunikative Ereignisse als die Ele-
kulturellen (Ambiguität; ebd., 102 ff.), auf die je spe- mentarereignisse in Aufbau, Reproduktion und Ver-
zifische Ordnungsbildungen reagieren. White zeich- änderung von sozialen Netzwerken fungieren. In
net damit die Sozial- und die Sachdimension des dieser Hinsicht sind die Arbeiten von Whites Schüler
Sinns bei Luhmann nach, sieht aber auch die (sozia- David Gibson wegweisend (2005). Gibson rekon-
le) Zeit als sinnhaft konstituiert und in spezifischen struiert quantitativ die Prägung von Kommunikati-
Netzwerkkonstellationen verankert (ebd., 77 f.). Im onsprozessen (hinsichtlich von turn-takings und
Mittelpunkt von Whites Theorie stehen aber Relatio- wechselseitigen Bezugnahmen) in Besprechungen
nierungen von Akteuren in der Sozialdimension, von Managern durch deren formale Rollen und in-
während Luhmann mit seinen als ›primär‹ erachte- formale Netzwerke.
ten Funktionssystemen vor allem Strukturbildungen Unter dem Einfluss von Gibson, aber auch von
in der Sachdimension im Blick hat. Dirk Baecker und anderen hat sich White seit 2000
Eine weitere Parallele besteht in der ablehnenden direkt mit den Arbeiten Luhmanns auseinanderge-
Haltung gegenüber individualistisch argumentieren- setzt. Die neue Auflage von Identity and Control weist
den Theorien (insbesondere der Rational-Choice- direkte Referenzen zu Luhmanns Konzept gesell-
Theorie). White kritisiert hier den Startpunkt des schaftlicher Funktionssysteme auf, die bei White als
»myth of the person as some preexisting entity« Kontroll-Regime bezeichnet werden (White 2008,
(ebd., 8). Dabei werde insbesondere die Einbettung 177 ff. u. 237 ff.). In einem später entstandenen Arti-
von Identitäten in soziale Kontexte unterbelichtet kel setzt sich White auch mit den Grundbegriffen
(ebenso wie die Tatsache, dass die Identität selbst Luhmanns auseinander und bezeichnet insbesonde-
wesentlich Ergebnis dieser Kontextualisierung ist; re den Kommunikations- und den Sinnbegriff als di-
White 2008, 135 ff.). Während Luhmann eine klare rekt kompatibel mit seiner Theorie (White u. a.
Unterscheidung zwischen dem vor- oder nur teilwei- 2007). Dabei konzipiert er Netzwerke als Ergebnisse
se sozialen ›Menschen‹ und dessen sozialer Kon- von überpersönlichen Kommunikationsprozessen,
struktion als ›Person‹ vornimmt, bleiben die diesbe- die auf der Ebene des sozialen Sinns (nicht des sub-
züglichen Ausführungen von White etwas unklar: jektiven wie bei Weber oder Schütz) liegen. Zugleich
Der Begriff ›Identität‹ steht hier einerseits für die moniert White, dass Luhmann sich zu sehr an der
Einheiten, die im Sozialen miteinander in Kontakt dyadischen Konstellation doppelter Kontingenz ori-
treten. Andererseits wird nur deren soziale Konstruk- entiere. Soziale Ordnungsbildungen (etwa in Form
tion als durch Stories relationierte Identität (in Netz- von Netzwerken) relationierten immer mehrere
werken) sozial relevant. Hier stehen mehrere, teilwei- Identitäten und wären insofern eine Antwort auf
se inkompatible Begriffsbestimmungen nebeneinan- »multiple Kontingenz« (ebd., 546).
der (White 2008, 9 ff.), die auch zu einigen Fehlinter- Diese Überlegungen bleiben aber noch tentativ
pretationen von White als Handlungstheoretiker und sind nicht kohärent ausgearbeitet. Trotzdem
geführt haben (etwa bei Azarian 2005). Ungeachtet wird hier das Bemühen einer konstruktiven Ausei-
dieser Schwierigkeiten ist aber die Konzeption von nandersetzung und Verbindung mit Luhmanns
Identitäten als Produkt sozialer Konstruktionen im Theoriearchitektur deutlich. Einerseits nutzt White
Rahmen von Narrativen vereinbar mit Luhmanns die Begriffe Luhmanns, um offene Fragen in der ei-
Systemtheorie. genen Theorie zu bearbeiten. Andererseits insistiert
Auch bei Whites Modellierung der basalen Prozes- er bei aller Sympathie für die Systemtheorie auf eine
se der Konstruktion und Konstitution von Netzwer- stärkere Orientierung an der Brauchbarkeit von
ken ergeben sich Ähnlichkeiten mit Luhmann. Wie Konzepten und theoretischen Überlegungen für die
Marco Schmitt festgestellt hat, weist schon das Story- empirische Forschung.
Konzept in Richtung einer Dynamisierung von Netz-
werkstrukturen (Schmitt 2009, 255 ff.). Whites Ar-
beiten aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre lenken
dann den Blick auf kommunikative Elementarereig-
nisse – die »Switchings« (ebd., 271 ff.). Schmitt zufol-
298 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

Verbindungen der beiden Theorien von Stephan Fuchs (2001) formulieren eine allgemei-
nere Verbindung der beiden Theorien. Fuchs zufolge
Wegen der theoretischen Gemeinsamkeiten sind sind Interaktionssysteme, aber auch wissenschaftli-
Whites Arbeiten schon früh in der Systemtheorie re- che Begriffe in Netzwerken relationiert. Netzwerke
zipiert worden, etwa in Baeckers Rezension von Iden- bilden laut Fuchs die Grundstruktur von Kultur und
tity and Control in der Zeitschrift Soziale Systeme Gesellschaft, wobei sie sich graduell zu Systemen (wie
(1996). Die verschiedenen Versuche, die beiden z. B. Gruppen oder wissenschaftlichen Schulen) ver-
Theorien zu verbinden, zielen vor allem auf eine dichten können. Dies geschieht durch die Grenzzie-
grundbegriffliche Modellierung von sozialen Netz- hung zwischen Innen und Außen und die Entwick-
werken, die mit der Systemtheorie kompatibel ist lung einer eigenen Identität (im Gegensatz zu
und auch eine Einpassung von Netzwerken in die Ar- anderen Identitäten). Diese Überlegungen wendet
chitektur der Systemtheorie ermöglicht. Jan Fuhse auf kollektive Identitätsphänomene an
So sieht Baecker Netzwerke wie auch soziale Sys- (wie z. B. Straßengangs; Fuhse 2003). Deren Netz-
teme oder Personen als eine der Grundformen von werke entwickeln sich mittels Grenzziehung und der
Kommunikation (Baecker 2005, 79 f. u. 226 ff.). Als Konstruktion kollektiver Identität graduell zu selbst-
Formen (im Sinne von George Spencer-Brown) un- referentiellen Kommunikationssystemen.
terscheiden Netzwerke zwischen Identitäten und de- Den Grundbaustein von Netzwerken bilden bei
ren Kontrollprojekten – und genau dadurch sind Fuhse wie auch bei Boris Holzer Sozialbeziehungen
beide (Identität und Kontrolle) im Netzwerk mitei- als dyadische Kommunikationssysteme. Holzer be-
nander verbunden. Baecker konzipiert also einen tont die Eigenständigkeit von Sozialbeziehungen ge-
weiteren Rahmen mit den Grundbegriffen ›Kommu- genüber Interaktions-, Organisations- und Funkti-
nikation‹ und ›Form‹, in dem Systeme und Netzwer- onssystemen (und auch die Bedingung der Bildung
ke als zwei mögliche Kommunikationsformen von Sozialbeziehungen auf diesen Ebenen durch-
gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Gegenwärtig spielt; Holzer 2006, 79 ff.; 2010). Bei Fuhse entstehen
– so seine These – gewinnen Netzwerke sogar gegen- Netzwerke aus den sinnhaften Relationierungen von
über Systemen an Bedeutung. Damit deute sich ein Identitäten im Kommunikationsprozess (Fuhse
Übergang zur durch Netzwerke geprägten »nächsten 2009). Dabei wird Kommunikation immer wieder
Gesellschaft« an (Baecker 2007, 21 ff.). Auch Athana- Identitäten zugerechnet, die damit als Akteure mit
sios Karafillidis sieht Netzwerke als Formen des spezifischen Dispositionen und Relationen zu ande-
Kommunikationsprozesses, betont aber dabei die ren Identitäten konstruiert werden. Marco Schmitt
›andere Seite‹ der Form Netzwerk (Karafillidis 2010). sieht die auf diese Weise entstandenen Identitäten
Die These von Karafillidis ist, dass Netzwerke immer und Netzwerke analog zu Systemen als ›Gedächtnis‹
auch Grenzen implizieren, indem einerseits die rela- des Kommunikationsprozesses (Schmitt 2009). Die-
tionierten Identitäten voneinander abgegrenzt wer- se Überlegungen können insbesondere zu einer bes-
den und andererseits die zugehörigen Identitäten seren theoretischen Fundierung der Netzwerkfor-
von den nicht dazugehörenden. schung durch Luhmanns Kommunikationstheorie
Maren Lehmann schließt in ihren organisations- führen.
soziologischen Studien an die frühen Arbeiten Damit fassen Schmitt und Fuhse wie auch Baecker
Whites zu den vacancy chains an. Ihr zufolge bau- Netzwerke neben Systemen als gleichberechtigte
en Stellenbesetzungen in Unternehmen wesentlich Strukturen des Sozialen auf (wobei sich Netzwerke
auf der Konstruktion von Individualität im Sinne graduell zu Systemen schließen können wie bei
von Whites Identitätstheorie auf (Lehmann 2007, Fuchs). Beide entstehen im Kommunikationsprozess
476 ff.). Michael Hutter greift dagegen eher die und steuern ihn in der Folge. Die Kommunikations-
Disziplinen-Theorie auf (Hutter 2007). Er begreift theorie wird dabei zur allgemeinen Grundlegung für
Whites Disziplinen als ›Wertungssysteme‹ im Sinne System- und Netzwerktheorie. Demgegenüber be-
eines allgemeinen Typs sozialer Systeme, wo Perfor- handeln Holzer und die meisten anderen System-
mances von Publika mit (unterschiedlichen Formen theoretiker (etwa im Band von Bommes/Tacke 2010)
von) Applaus bedacht werden. In diesem Sinne wer- Netzwerke als nachgeordnete soziale Phänomene.
den dann etwa Märkte und soziale Bewegungen ver- Diese müssten immer von sozialen Systemen und
gleichbar als soziale Systeme des Bewertens und insbesondere von Funktionssystemen als der gegen-
Vergleichens von Performances durch Publika. wärtig ›primären‹ gesellschaftlichen Differenzierung
Die wissens- und kultursoziologischen Arbeiten abgeleitet werden. Auf diese Weise führt die Ausei-
Harrison White (*1930) 299

nandersetzung mit der Netzwerktheorie Whites ent- Multiple Networks. I. Blockmodels of Roles and Posi-
weder zu einer Erweiterung der Systemtheorie um tions«. In: American Journal of Sociology 81. Jg. (1976),
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300 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

10. Jacques Derrida (1930–2004) 23–94). Diese neue Konzeption erfordert eine Infra-
gestellung des Primats des Subjekts, ein neues Ver-
ständnis der irreduziblen Zeitlichkeit und Differen-
Schon seit Beginn der 1980er Jahre finden sich in den tialität des Sinns und eine andere Konzeption seiner
Werken Luhmanns Verweise auf die Arbeiten Derri- Offenheit und Geschlossenheit. Der Versuch, Sinn als
das (LaP, 107; SS, 201–203, 356, 368). In den 1990er Ausdruck des Subjekts, als Präsenz, als Identität, als
Jahren nehmen diese Bezüge in einem Ausmaß zu, Durchgriff auf einen zeichenunabhängigen Referen-
dass Kommentatoren den Eindruck gewinnen, die ten zu bestimmen, wird zurückgewiesen, weil in die-
Dekonstruktion ersetze die habermassche Theorie sen Bestimmungen die tatsächlichen und bereits
des kommunikativen Handelns (1981) in ihrer Rolle durch die Tradition implizit zugestandenen Bedin-
als Konkurrenzunternehmen, das Luhmann zur Pro- gungen der Möglichkeit des Sinns nicht ausreichend
filierung der eigenen Theorieentscheidungen dient in Rechnung gestellt werden. Derrida zufolge sind
(Stanitzek 1997, 23 ff.; Stäheli 2000, 14). Die derrida- die Bedingungen der Möglichkeit des Sinns dabei –
sche Dekonstruktion figuriert in den verschiedenen und darin liegt die Radikalität der Dekonstruktion –
Bezugnahmen Luhmanns in drei verknüpften Rol- zugleich Bedingungen der Unmöglichkeit des Sinns
len: Erstens erscheint die Dekonstruktion (genauer: (oder wenigstens: Bedingungen der Unmöglichkeit
der ›Dekonstruktivismus‹) als ein Symptom der seiner strikten Reinheit) (Derrida 1999, 349). Die
›postmodernen‹ Semantik der Gegenwart, die sich Dekonstruktion schlägt in diesem Sinne nicht ein-
von der Semantik Alteuropas absetzt, dabei aber die fach neue Begriffe vor, die frühere Vorschläge erset-
operativen Realitäten der modernen Gesellschaft zen sollen, sondern vielmehr eine neue Form der
nicht hinreichend zur Kenntnis nimmt und so keine Bestimmung des Sinns: eine Bestimmung durch un-
adäquaten Mittel zu ihrer Beschreibung gewinnt terliegende »Infrastrukturen«, anhand derer der apo-
(Luhmann 1995d; GG, 548, 555 f. u. 1135 ff.; GS4, retische Charakter sinnhafter Praktiken aufgewiesen
29 f.). Zweitens fungiert die Dekonstruktion als Res- wird (Gasché 1986, 142 ff.). Diese neue Form der Be-
source für deskriptive Mittel und Theoriestücke, die stimmung der Natur des Sinns wird dabei nicht als
Luhmann in der eigenen Theoriekonstruktion teils freie Theoriekonstruktion, sondern in enger Ausei-
beiläufig, teils mit genauer Aufmerksamkeit verwen- nandersetzung mit der Tradition – als Lektüre der
det. Drittens schließlich figuriert die Dekonstruktion metaphysischen Tradition – entfaltet.
als ein theoretisches Parallelunternehmen, das ent- Wenn man in Derridas Texten auf die Neubestim-
scheidende Grundeinstellungen der luhmannschen mung der Form des Sinns abstellt, dann tritt ihre
Theorie teilt (sie operiert differenztheoretisch, ist mögliche Attraktivität für Luhmann unmittelbar
subjektkritisch eingestellt, problematisiert die Se- hervor: Luhmann versteht ›Sinn‹ als Grundbegriff
mantik Alteuropas und kompliziert ihr Gegen- der Soziologie und bestimmt diesen – wie Derrida –
stands- und Selbstverhältnis im Sinne von Beobach- in Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenolo-
tungen zweiter und dritter Ordnung), dabei aber eine gie (TGS, 25 ff.; SS, 92 ff.; GG, 44 ff.). Luhmann geht
grundlegend andere Richtung einschlägt. Die folgen- dabei in ähnlicher Weise davon aus, dass sich ein an-
de Darstellung konzentriert sich auf die beiden letzt- gemessener Begriff des Sinns nicht im Rahmen eines
genannten Rollen. subjektzentrierten, präsenzfixierten oder identitären
Denkens gewinnen lässt. So liegt es für Luhmann
nahe – trotz der disziplinären Differenz von Soziolo-
Dekonstruktion als Theorieressource gie und Philosophie und trotz der deutlich abwei-
chenden Theorieform von Systemtheorie und De-
Derridas Arbeiten, die sich aus einer komplexen Aus- konstruktion –, derridasche Terme in die eigene
einandersetzung mit der abendländischen Metaphy- Theorie aufzunehmen. Einige Grundbegriffe, in de-
sik ergeben, stellen entscheidende Grundstrukturen ren Explikation Luhmann wiederholt auf dekon-
der alteuropäischen Semantik in Frage und bieten struktive Figuren Bezug nimmt, seien hier angezeigt:
sich so als mögliche Ressource für Luhmanns Theo- (1) Kommunikation: Die basale Operation sozialer
riekonstruktion an. Ein wesentlicher Strang der Phi- Systeme – Kommunikation – bestimmt Luhmann als
losophie Derridas gilt dabei dem Versuch, im Synthese dreier Selektionen (Information, Mittei-
kritischen Ausgang von Phänomenologie und Struk- lung, Verstehen) und mithin als eine Operation, die
turalismus eine neue Bestimmung der grundlegen- über mehrere Instanzen verteilt und konstitutiv
den Verfasstheit von Sinn zu geben (Khurana 2007, nachträglich zustande kommt. Kommunikation lässt
Jacques Derrida (1930–2004) 301

sich so weder auf die Intention des mitteilenden Sub- rativ verwendeten Formen: Es handelt sich um Un-
jekts noch auf den Geisteszustand des verstehenden terscheidungen, die zur Bezeichnung der einen (und
Subjekts reduzieren, sondern konstituiert sich nur in nicht der anderen Seite) verwendet werden. Das in
einem sozial und zeitlich sich differenzierenden und Anschluss an Spencer-Brown artikulierte Verständ-
aufschiebenden Anschlusszusammenhang, dessen nis von Unterscheidung und Bezeichnung erläutert
Merkmale sich mit Derridas Begriff der Schrift und Luhmann dabei wiederholt durch Seitenverweise auf
der différance pointieren lassen (Derrida 1999, 31 ff., Derridas Auffassung des differentiellen Charakters
325 ff.; KunstG, 123; GG, 75 ff.; SS, 202 f.; vgl. auch von Zeichen, den Begriff der Spur und seine Kritik
Fuchs 1995, 32 ff.; 2001, 224 ff.). Diese Auffassung des metaphysischen Formbegriffs (Derrida 1983,
der Kommunikation ist, wie Luhmann unterstreicht, 81 ff.; 1999, 31 ff., 177 ff.). Eine Bezeichnung hat ih-
mit einer ›Dekonstruktion‹ des Primats des Subjekts ren Sinn nur im Rahmen einer Unterscheidung, wo-
verbunden (Luhmann 1993, 255; WissG, 111 ff.; SA6, bei die andere Seite sowie die Einheit der Differenz
169 ff.). Insofern die Kommunikation sich als die nicht zugleich markierbar sind und sich mithin ent-
markierte Einheit einer Differenz (von Information ziehen. Der Verweis auf Derridas Spurbegriff dient
und Mitteilung) realisiert, weist sie dabei zudem eine Luhmann hier wesentlich dazu, zu verdeutlichen,
innere Gegenläufigkeit auf. Die Tatsache, dass eine dass auch sein Formbegriff notwendig durch ein ir-
Information durch die Weise ihres Mitgeteiltwerdens reduzibel Abwesendes und eine Form von Latenz
immer auch in Frage gestellt werden kann, begreift (oder mit de Man: Blindheit) gekennzeichnet ist.
Luhmann mit Bezug auf Paul de Man und Derrida als Dieses Verständnis differentieller Bezeichnung führt
unvermeidliche innere Spannung zwischen dem dann notwendig auf die Vorstellung eines temporali-
konstativen und dem performativen Aspekt von sierten Zusammenhangs (Luhmann 1993, 250 u.
Kommunikation und als Grundlage der basalen De- 258; BdM, 217; KunstG, 60 ff., 96 u. 103; GG, 182 f.;
konstruierbarkeit von kommunikativen Sinnvor- GS4, 169; SA5, 18; PdF, 197 ff.; WissG 189 f.).
schlägen (GG, 1135 f.; GS4, 105 ff.; OuE, 142 ff.; PolG, (4) Schließung: Auch mit Blick auf die Charakteri-
197; Derrida 2000; 2007, 7 ff.). Diese Spannung kehrt sierung von Formen selbstreferentieller Schließung
auf verallgemeinerte Weise im Verhältnis von Opera- hat Luhmann sich auf derridasche Figuren – wie die
tion und Beobachtung wieder, welches Luhmann er- des Rahmens (Derrida 1992) und des Supplements
neut mit dekonstruktiven Pointen verknüpft (WissG, (Derrida 1983, 244 ff.; 1999, 195 ff.) – bezogen. Psy-
75 ff.). chische und soziale Prozesse realisieren sich in Ge-
(2) Identität: Identitäten können in operativen stalt von selbstbezüglich geschlossenen Systemen, die
Sinnsystemen nicht als Gegebenheit begriffen, son- sich selbst als Differenz zu ihrer Umwelt vollziehen
dern müssen durch wiederholenden Unterschei- und Offenheit und Geschlossenheit auf spezifische
dungsgebrauch hervorgebracht werden. Dabei hat Weise vereinen. Systeme liegen nicht einfach als En-
jede sinnhafte Wiederholung einen Doppelcharak- titäten vor, die sich äußerlich unterscheiden lassen,
ter, den man mit Spencer-Brown (2009, 8) als Kon- sie differenzieren sich vielmehr selbst aus, indem sie
densierung und Konfirmierung bestimmen kann sich von ihrer Umwelt operativ unterscheiden. Das
(SA5, 21 ff.; WissG, 108 ff.): Durch die Wiederholung System vollzieht sich in diesem Sinne als Differenz
kondensiert einerseits eine Identität, die dabei aber von System und Umwelt und ist mithin durch einen
zugleich in verschiedenen Kontexten konfirmiert basalen Re-entry der Unterscheidung von System
und mit Andersheit aufgeladen wird. Pointiert ge- und Umwelt in das System gekennzeichnet. Derrida
sagt, bilden sich »Identitäten« nur unter der Bedin- hat unter anderem am Fall des Rahmens verfolgt,
gung heraus, dass »sie nicht im Vollsinne mit sich welche Implikationen es hat, wenn ein Zusammen-
selbst identisch sind« (PolG, 321). Zur Verdeutli- hang sich derart selbstbezüglich schließt, dass er den
chung dieser Konzeption von Wiederholung, in der Ausschluss seines Äußeren einschließen muss (Luh-
Identität und Andersheit, Einheit und Selbst-Diffe- mann 1995c, 52 f.; KunstG, 353; RdM, 98; RelG, 336;
renz miteinander verschränkt sind, verweist Luh- Derrida 1992, 56 ff.; 1994).
mann zu Recht wiederholt auf Derridas Konzept der In all diesen Fällen grundbegrifflicher Bezugnah-
Iterabilität (KunstG, 253; PolG, 66 f., 321; RechtG, me gilt, dass die anzitierten derridaschen Beschrei-
350; RelG, 73; Derrida 2001; 2003, 69 ff.). bungen den prekären Charakter der zu fassenden
(3) Zwei-Seiten-Form: Die sinnhaften Vollzüge, in Ordnungs- oder Konstitutionsleistungen noch stär-
denen sich soziale Geschehnisse artikulieren, haben ker hervorheben, als dies schon bei Luhmann selbst
in Luhmanns Bestimmung den Charakter von ope- der Fall ist. Dies ist auf verschiedene Weise gedeutet
302 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

worden: Man kann in der Akzentuierung des apore- Kalb« (Luhmann 1995a, 14; vgl. auch Luhmann
tischen Charakters eine Radikalisierung von bei Luh- 1991, 63: »postmoderner Erstarrungstanz«) entgeht,
mann bereits angedeuteten Einsichten erkennen und zielt die Systemtheorie darauf, die Paradoxien pro-
dies zum Anlass einer Vertiefung der dekonstrukti- duktiv zu wenden und durch neue Unterscheidun-
ven Implikationen der luhmannschen Bestimmun- gen zu entfalten. Die Dekonstruktion beschränkt
gen (vgl. etwa Fuchs 1995; 2001; Khurana 2007) oder sich nach dieser Auffassung auf »Sthenographie«
einer dekonstruktiven Lektüre der Systemtheorie (eine in der negativ-theologischen Tradition stehen-
nehmen (Binczek 2000; Stäheli 2000). Des Weiteren de Form von Schrift, die ihre eigene Dekonstruktion
ist vorgeschlagen worden, in der Dekonstruktion vorführt und allein der Manifestation der Paradoxie
eine der Systemtheorie komplementäre Perspektive gilt), während die Systemtheorie auf »Euryalistik«
auszumachen, die genau im blinden Fleck der sys- zielt (eine in der rhetorischen Tradition stehende
temtheoretischen Perspektive situiert ist und sie da- Form kreativer Entfaltung von Paradoxien) (vgl.
rum auf besondere Weise supplementieren kann (als Luhmann 1991; 1995b; RechtG, 546; SA5, 48 ff.; SA6,
Vorschlag einer ›negativen Theoriesymbiose‹ vgl. 235 f.).
Teubner 1997, 320; 1999). Schließlich mag man in Was man von Luhmanns polemischer Beschrei-
dieser Betonung der Aporien des Sinns einen Hin- bung der Dekonstruktion als einer bloßen Feier des
weis darauf erkennen, dass die Dekonstruktion ei- Paradoxes, als »verschwommener Verbalakustik«, die
nem grundlegend anderen Bewegungsgesetz folgt ihre eigenen Voraussetzungen verdunkelt (Luhmann
und der Systemtheorie eher konkurrierend als radi- 1995a, 17), zu halten hat, ist naturgemäß umstritten.
kalisierend oder ergänzend gegenübersteht: Die De- Zutreffend scheint zunächst Luhmanns Ausgangs-
konstruktion scheint in den Augen vieler Kommen- punkt, dass Dekonstruktion wie Systemtheorie beide
tatoren einen wesentlich negativen Charakter zu sinnhafte Ordnungen als wesentlich paradoxal oder
besitzen und darauf zu zielen, die schiere Unmög- aporetisch bestimmen. Sie teilen dabei auch ein
lichkeit jeder Ordnungsbildung oder Konstitutions- grundlegend ähnliches Verständnis von Paradoxie:
leistung aufzuweisen, während Luhmanns System- ›Paradoxie‹ bezeichnet für Systemtheorie wie für die
theorie demgegenüber gerade zu zeigen versucht, wie Dekonstruktion nicht einfach einen Widerspruch,
Ordnung trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit dennoch sondern eine Konstellation, in der die Bedingung der
möglich und wirklich wird (Stäheli 2000, 21). Luh- Möglichkeit einer Leistung zugleich die Bedingung
manns eigene explizite Positionierungen zur Dekon- ihrer Unmöglichkeit darstellt (ÖK, 268; Luhmann
struktion sind von diesem Verdacht getragen. 1995c, 46). Während Luhmann jedoch die Paradoxa-
lität sinnhafter Ordnung letztlich aus der Paradoxa-
lität ihrer basalen Operation (der paradoxen und in
Sthenographie und Euryalistik sich wieder vorkommenden Einheit von Unterschei-
dung und Bezeichnung) ableitet und diese Auffas-
In einer Serie von Aufsätzen (insbes. Luhmann 1991, sung gerade der Dekonstruktion selbst zuschreibt,
1995a, 1995b) versucht Luhmann, das Verhältnis der die gezeigt haben soll, dass sich jede Unterscheidung
eigenen Theorie zum Unternehmen der Dekonstruk- unterschiedslos dekonstruieren lasse (KunstG, 160;
tion zu verorten, indem er beide als eine Form der WissG, 93), macht die Dekonstruktion ihre Diagno-
Beobachtung zweiter Ordnung auffasst, die jeweils sen von Aporien in je spezifischen Lektüren be-
auf fundierende Paradoxien führt. Während er das stimmter Zusammenhänge fest. (Es liegt so betrach-
Bestreben der eigenen Theorie aber darin sieht, nicht tet eine gewisse Ironie darin, dass Luhmann der
nur fundierende Paradoxien, sondern zugleich die Dekonstruktion – nachdem er sie selbst in abstrakte
historischen Formen der Paradoxieentfaltung zu be- und schematische Form gebracht hat – vorwirft, un-
obachten (SA6, 235 f.), erscheint ihm die Dekon- spezifisch und zu allgemein zu argumentieren (GS4,
struktion zumeist als eine Form des bloßen Zelebrie- 107).) Entscheidender noch ist aber ein zweiter Di-
rens von Paradoxien (Luhmann 1991, 59). Luhmann vergenzpunkt: Während Luhmann zu der Auffas-
fasst dies in das prägnante Bild, dass Dekonstruktion sung gelangt, dass die Dekonstruktion in der
wie Systemtheorie sich den unsterblichen Gorgonen Exposition von Paradoxien wesentlich eine negative
Stheno und Euryale gegenübersehen, und von diesen Absicht verfolgt, liegt es im Selbstverständnis der De-
mit der für Paradoxien typischen Paralyse bedroht konstruktion, sich als ein letztlich affirmatives und
werden; während die Dekonstruktion der Versteine- nicht bloß kritisches Unterfangen aufzufassen: In der
rung aber nur durch eine Art »Tanz ums goldene Exposition aporetischer Infrastrukturen geht es der
Jacques Derrida (1930–2004) 303

Dekonstruktion nicht um die bloße Destruktion der doxal sind, drängt sich die Frage auf, ob in
Metaphysik, sondern um die Affirmation von Vo- Anbetracht dieser Einsicht nicht die durch die Para-
raussetzungen, die in sinnhaften Praktiken auf ver- doxien provozierten Unterscheidungen einen neuen
deckte Weise tragend sind. Die Dekonstruktion zielt Charakter annehmen müssen und ob es nicht ›Iden-
darauf, den aporetischen Bedingungen des Sinns auf titäten‹ anderer Art braucht, um Paradoxien tatsäch-
eine weiterreichende Weise Rechnung zu tragen und lich zu entfalten, statt bloß notdürftig zu cachieren.
gerade dadurch andere Formen sinnhafter Operatio- Wenn man die Dekonstruktion nicht als bloße Feier
nen zu ermöglichen. des Paradoxes auffasst, sondern als Versuch, einen
Unabhängig davon, wie man die Dekonstruktion anderen Umgang mit den konstitutiven Aporien des
in dieser Hinsicht einschätzt – die für die System- Sinns zu gewinnen, könnte die Dekonstruktion An-
theorie selbst bedeutendste Frage dürfte sein, wie regungen geben, wie diese Unterscheidungen ande-
überzeugend angesichts der von Luhmann selbst rer Art (Unterscheidungen, die reflexiv auf das in
konzedierten Paradoxalität und Dekonstruierbarkeit ihnen entfaltete Paradox bezogen bleiben) zu verste-
allen Sinns seine Konzeption der ›Entfaltung‹ oder hen sind (vgl. auch die Charakterisierung einer de-
›Invisibilisierung‹ von Paradoxien ist, die er der blo- konstruktiven »Politik der Entparadoxierung« in
ßen Feier des Paradoxes entgegenhält. Aus dekon- Stäheli 2000, 271 ff.).
struktiver Perspektive liegt der Verdacht nahe, dass
Luhmann die von ihm selbst behauptete Paradoxali-
tät des Sinns im Interesse der Erklärung des Ord- Ausblick
nungsaufbaus zugleich wieder relativiert: (1) Zum
einen scheint Luhmann an einigen Stellen die Strate- Sowohl Luhmanns grundbegriffliche Bezüge als auch
gie zu verfolgen, die aufgewiesenen Paradoxien als seine theoriestrategische Selbstverortung mit Blick
bloßes Beobachterproblem darzustellen, und zu be- auf die Dekonstruktion sind vielfach kommentiert
tonen, dass die Operationen als solche, in ihrer schie- worden. Neben Theorievergleichen (Benjamin/Jahr-
ren Positivität als Realprozesse, »paradoxiefrei« aus 1997), Reartikulationen der Dekonstruktionskri-
ablaufen (SA6, 71 ff.; vgl. auch SS, 491 ff.; WissG, tik (z. B. Nassehi 1995; Teubner 1996), Vertiefungen
95 ff.). Das aber steht in eigentümlicher Spannung der Bezugnahme auf Derrida (Fuchs 1995, 2001),
dazu, dass die fraglichen Operationen sinnhafter Sys- Versuchen, die Systemtheorie mit Hilfe der Dekon-
teme nichts anderes sein können als Beobachtungs- struktion zu kritisieren (Cornell 1992; Hahn 1996)
operationen, die Luhmann selbst als operativ para- oder in einer dekonstruktiven Lektüre zu transfor-
dox charakterisiert hatte (WissG, 95). Beobach- mieren (z. B. Stäheli 2000), finden sich auch eine Rei-
tungsprobleme betreffen die Autopoiesis sinnkonsti- he von systemtheoretischen Arbeiten, die sich über
tuierender Systeme mithin nicht sekundär, sondern Luhmann hinausgehend in der Sache auf Derrida be-
konstitutiv und auf ihrer elementarsten Ebene (Stä- ziehen. Das gilt insbesondere für Arbeiten zu Kunst
heli 2000, 208 ff.). (2) Zum anderen wendet sich Luh- und Literatur, zum Recht der Gesellschaft (Teubner
mann Formen der Entfaltung oder Verdeckung von 2008), zu Medien und Technik wie zum Problem des
Paradoxien zu, die er wiederholt so charakterisiert, Politischen und der Organisation (Ortmann 2007).
dass hier die Paradoxien durch »unterscheidbare Gerade Texte des späten Derrida – wie Gesetzeskraft
Identitäten ersetzt und verdrängt« werden (SA6, 235; (engl./frz. 1990, dt. 1991), Marx’ Gespenster (frz.
vgl. auch Luhmann 1995b, 224). Dabei unterstreicht 1993, dt. 1995), Politik der Freundschaft (frz. 1994, dt.
Luhmann jedoch an anderer Stelle selbst, dass Entfal- 2000), Schurken (frz./dt. 2003) –, die bei Luhmann
tung gerade nicht durch die Ersetzung durch stabile selbst noch keine Berücksichtigung finden (konnten)
Entitäten geschehen könne (Luhmann 1995a, 20) und die explizit mit Formen des Sozialen befasst sind,
und die so ins Auge gefassten Auflösungen immer unterstreichen Luhmanns Verdacht, dass in der De-
nur temporär befriedigen können. Vor diesem Hin- konstruktion eine »versteckte Gesellschaftstheorie«
tergrund stellt sich die Frage, ob Luhmanns Konzep- (OuE, 144) liegen mag, die noch unausgeschöpfte
tion der Entfaltung von Paradoxien nicht auf eine Potentiale für die systemtheoretische Theorieent-
endlose Kette immer bloß illusionärer Auflösungen wicklung enthält.
oder Verdeckungen und mithin eine ›schlechte Un-
endlichkeit‹ hinausläuft.
Gerade wenn man daran festhalten will, dass sinn-
hafte Ordnungen irreduzibel und konstitutiv para-
304 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

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305

11. Pierre Bourdieu (1930–2002) Die Entdeckung des Beobachterstandpunktes

In seinen empirischen Studien zu den unterschied-


Pierre Bourdieu selbst hat die Frage danach, ob es Pa- lichen Feldern der Gesellschaft stößt Bourdieu auf
rallelen zwischen seinem Werk und dem von Niklas Beschreibungen dieser ›Mikrokosmen‹ (Bourdieu
Luhmann gäbe, explizit verneint. Ihm zufolge sind 1999, 289), die je nach Standpunkt des Beobachters
beide Theorien »radikal verschieden« (Bourdieu/ ganz unterschiedlich aussehen. Mit Hilfe des Funkti-
Wacquant 2006, 134). Niklas Luhmann seinerseits onsbegriffs entdeckt er dabei Bezugsprobleme von
schließt an keiner Stelle seiner theoretischen Argu- Beobachtern, die er in weberscher Manier auf deren
mentation inhaltlich an die bourdieusche Theorie an Interessen zurückführt. Die Glaubenssätze des reli-
und hat in wenigen Kommentaren eigentlich nur kri- giösen Feldes entsprechen Bourdieu zufolge vor al-
tisiert, dass Bourdieu den Begriff der Macht geradezu lem den Interessen derjenigen, die sie hervorbringen,
inflationär verwendet (PolG, 13 f.). Während sich und statten deren Autorität als Herrschende mit Le-
Bourdieu in herrschaftskritischer Absicht für Dis- gitimität aus (Bourdieu 2000, 63). Sichtbar werden
tinktionspraktiken der Eliten interessiert, rekonstru- dabei jedoch auch nichtorthodoxe religiöse Perspek-
iert Luhmann das gleiche Phänomen ›konservativ‹ tiven der Laien, was Bourdieu dazu motiviert, alle
als Hinweis auf geschmackliche Unsicherheiten einer Perspektiven in ihrer Gesamtheit darzustellen und
Oberschicht, die ihrer Vorbildfunktion nicht mehr auf ihren Entstehungsort zurückzuführen. Es geht
gerecht werden kann (GG, 774, 1104 f.; vgl. KunstG, ihm darum, die »Wahrheit verschiedener Stellungen
35). Beide Theorien sind in erkennbar großer Di- [zu] […] verstehen« (Bourdieu 1998, 40) und eine
stanz zueinander entstanden. »systematische Perspektivierung jener perspektivi-
Trotz dieser großen Distanz gibt es jedoch starke schen Repräsentationen« (ebd., 42) zu leisten. Dies
Parallelen in der Theoriearchitektur. Wenn man Ge- klingt bereits sehr nach Luhmanns Beobachtungs-
sellschaftstheorie als Differenzierungstheorie ver- theorie und diese Ähnlichkeit setzt sich auch in den
steht, findet man in beiden Theorien den Blick auf Methodologien fort. Beide Theorien verweigern sich
eine Gesellschaft, die aus verschiedenen Teilberei- einer beobachterunabhängigen, sozialphänomeno-
chen besteht. Im Unterschied zu früheren Differen- logischen Analyse, in der Akteure und ihre Motive
zierungstheorien, die aus der Differenz den Bedarf der alleinige Ausgangspunkt sind. Am ›Subjekt‹ inte-
einer Versöhnung ableiten (Parsons, Durkheim, We- ressiert sie vor allem der Standpunkt, von dem aus
ber), sehen Luhmann und Bourdieu jedoch gerade in sich die Differenzen der Perspektiven rekonstruieren
der Radikalisierung der Unterschiede das entschei- lassen (Bourdieu 1993, 365 ff.; vgl. Saake 2004). Indi-
dende Charakteristikum der modernen Gesellschaft. viduelle Motive erscheinen auf dieser Grundlage nur
Diese Gemeinsamkeit, die sich – wenn man das theo- mehr als Produkt einer feld- bzw. systemspezifischen
retische Instrumentarium genauer betrachtet – fast Praxis.
unfreiwillig ergibt, ist zunächst vor allem ein starkes Dass beide Theoretiker die Standortabhängigkeit
Argument für die Plausibilität eines differenzie- von Beobachtungen betonen, schafft unübersehbar
rungstheoretischen Zugangs zum Gesellschaftsbe- eine große Parallele zwischen diesen in anderen Hin-
griff. Sie bietet aber auch eine gute Gelegenheit, um sichten sehr unterschiedlichen Theorien. Dass sie da-
Gründe für feine Unterschiede in der Theorietechnik raus auch die Standortabhängigkeit von soziologi-
genauer zu beleuchten. schen Beobachtungen ableiten und im Rahmen einer
Der Vergleich beider Theorien orientiert sich des- Soziologie der Soziologie theoretische Überlegen-
halb im Folgenden zunächst an den differenzierungs- heitsansprüche einklammern (Bourdieu 1985, Luh-
theoretischen Grundlagen beider Theorien, um im mann 1992), markiert die zweite große Parallele und
Anschluss daran zu zeigen, wie unterschiedlich die lenkt den Blick umso stärker auf die von ihnen un-
soziologischen Bezugsprobleme sind. Ähnlichkeiten tersuchten Felder bzw. Systeme.
im differenzierungstheoretischen Zugang finden sich
im Hinblick auf drei Aspekte: die Entdeckung des Be-
obachterstandpunktes, die Autonomie der Teilberei- Autonome Teilbereiche: Felder und Systeme
che und deren empirische Rekonstruktion.
Auf die Frage von Loïc J. D. Wacquant nach dem Un-
terschied zwischen dem bourdieuschen Feld und
dem luhmannschen System räumt Bourdieu ledig-
306 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

lich »oberflächliche Ähnlichkeiten« ein (Bourdieu/ spezifisch begründeten souveränen Perspektive. Ge-
Wacquant 2006, 134). Seine Begründung benennt radezu prototypisch hat er dies in der Literatur der
sehr exakt die Gemeinsamkeiten und die Unterschie- zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefunden, in ei-
de und verdeutlicht dabei auch, dass sich Bourdieu ner Phase der politischen Restauration, in der eine
mit der luhmannschen Systemtheorie auseinander- Szene aus Künstlern, Literaten und Intellektuellen
gesetzt hat. »Die Begriffe ›Selbstreferenz‹ oder entstanden ist, die sich von allen bürgerlichen Wer-
›Selbstorganisation‹ ließen sich leicht in das zurück- ten abwenden und Kunst im Sinne des l’art pour l’art
übersetzen, was ich mit dem Begriff Autonomie fasse: begründen. Im Unterschied zu anderen Akteuren er-
In beiden Fällen spielt ja der Differenzierungs- und langen dabei Gustave Flaubert und Charles Baude-
Verselbständigungsprozess eine zentrale Rolle« laire als Hommes de Lettres politischen Einfluss, weil
(ebd.). Was jedoch in einem Feld passiere, so Bour- sich ihr Erfolg unabhängig von politischen, religiö-
dieu weiter, sei einerseits »ein System von Unter- sen und ökonomischen Einflüssen nur der ›reinen‹
schieden, von distinktiven, antagonistischen Eigen- künstlerischen Leistung und ihrer Anerkennung
schaften«, das sich aber andererseits »nicht gemäß durch eine künstlerische Szene verdankt. Das ›Reine‹
seiner eigenen internen Dynamik entwickelt (wie das der künstlerischen, der intellektuellen, der wissen-
Prinzip der Selbstreferenz impliziert), sondern durch schaftlichen Arbeit besteht darin, »eine freie Rede zu
interne Konflikte im Feld der Produktion. Das Feld führen, keine andere Grenze anerkennend als die
ist ein Ort von Kräfte- und nicht von Sinnverhältnis- Zwänge und Kontrollen, denen jeder Schriftsteller
sen und von Kämpfen um die Veränderung dieser und jeder Wissenschaftler, gestützt auf die Errungen-
Verhältnisse, und folglich ein Ort permanenten schaften seiner Vorgänger, sich selbst und die ande-
Wandels« (ebd., 135). Was man beobachten könne, ren unterwirft« (Bourdieu 1999, 524). Von nun an –
sei demzufolge »ein Produkt von Konflikt und Kon- so Bourdieu – sind die ästhetischen Kriterien der
kurrenz und kein Produkt irgendeiner immanenten Kunst solche der Kunst selbst.
Eigenentwicklung der Struktur« (ebd.). Bourdieu nimmt hier die Idee der Autonomie
Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen, ernster, als es Luhmann tut, der sich nur dafür inte-
und gleichzeitig lässt sich doch sehen, dass Bourdieu ressiert, wie sich eine Semantik selbst stabilisiert,
in dieser Kritik an der Systemtheorie – neben dem aber nicht dafür, ob sie von ›richtigen‹ Künstlern,
Aspekt des Kampfes – einen emphatischen Begriff ›richtigen‹ Wissenschaftlern oder ›richtigen‹ Politi-
von Verselbständigungsprozessen verwendet, wie ihn kern ohne Einmischung anderer geführt wird. Luh-
die Systemtheorie nicht kennt. Bourdieu interessiert mann beschränkt sich auf die Frage, ob etwas
sich für die »reine« Wissenschaft (Bourdieu 1998, künstlerisch, wissenschaftlich oder politisch an-
30), die »reine« Kunst (Bourdieu 1999, 135) und für schlussfähig ist. Bourdieu hingegen interessiert sich
die Ökonomie als radikal durchgesetzten Markt ohne nicht für die Stabilisierung eines Sinnzusammen-
Monopolisten (Bourdieu u. a. 1998). Wenn er diese hangs, sondern für den Ort, »darin alles möglich sei«
Felder empirisch untersucht, entdeckt er jedoch den (ebd., 100) – eben auch die Emanzipation der Künst-
Einfluss von nichtwissenschaftlichen, außerkünstle- ler von bürgerlichen Herrschaftsverhältnissen.
rischen, machtpolitischen Akteuren, die zum Teil Im Vergleich mit der luhmannschen Differenzie-
ungebrochen durch die Strukturen der Selbstrepro- rungstheorie erscheint Bourdieus Theorie theore-
duktion des jeweiligen Feldes intervenieren. Das, was tisch unreflektiert und »wenig elaboriert« (Schwingel
man Bourdieu vorwirft, nämlich eine Politisierung 2003, 100 f.), weil sie mit einer Handvoll theoreti-
der Wissenschaft zu betreiben, ist aus dieser Perspek- scher Begrifflichkeiten auskommt. Dies ist jedoch ge-
tive ein kurioser Vorwurf, denn mit seinen Analysen wollt und liegt an der praxistheoretischen Argumen-
versucht Bourdieu gerade aufzudecken, wie politi- tation, die die Perspektivendifferenz der Felder
siert alle Felder bereits sind, wenn in ihnen feldfrem- ernstnehmen will. Ein großer Teil der differenzie-
de Statusgruppen Macht ausüben. rungstheoretischen Argumentation findet sich dem-
Besonders deutlich wird diese feldfremde Macht- entsprechend in den empirischen Analysen und
ausübung, wenn Bourdieu in Die Regeln der Kunst entzieht sich so manchmal dem Blick des theoretisch
(1992) den Autonomisierungsprozess des literari- interessierten Lesers.
schen Feldes analysiert. Wie in allen empirischen
Studien Bourdieus ist auch hier das zentrale Element
die Suche nach dem historischen Beginn einer Auto-
nomisierung durch die Entstehung einer rein feld-
Pierre Bourdieu (1930–2002) 307

Theorien der Empirie Theorien die vom Fach geforderte Unterscheidung


von soziologischer Theorie und Empirie unterlau-
Bourdieus Auseinandersetzung mit den Feldern er- fen. Und beide Theoretiker handeln sich damit ent-
folgt auf eine ganz ähnliche Weise wie Luhmanns Ar- sprechende Verständnisprobleme ein.
beiten zu den Funktionssystemen. Er legt material-
reiche Studien vor, in denen er empirisch rekonstru-
iert, wie der jeweilige feldspezifische Prozess der Emanzipationstheorie oder Emanzipation
Autonomisierung verläuft. Auch Luhmann versteht der Theorie
die Frage nach der Entstehung von Systemen als Fra-
ge nach der empirischen Verselbständigung von Ein entscheidender Unterschied besteht schließlich
Kommunikationsstrukturen. Am Beispiel von Bour- darin, dass Niklas Luhmann eine theoretische Per-
dieus Auseinandersetzung mit dem Begriff des Ritu- spektive entwickelt, die die Erklärung sozialer Kom-
als lässt sich zeigen, warum Bourdieus Theorie mit plexität als Herausforderung an die logischen
Empirie beginnt. Grundlagen einer Theorie begreift. Bourdieus theo-
In einem Rückblick auf die ersten Schritte seiner retisches Interesse verschreibt sich hingegen dem An-
Feldforschung in der algerischen Kabylei berichtet er, liegen, gesellschaftliche Gewaltverhältnisse und ihre
wie er am strukturalistischen Instrumentarium Lévi- Überwindungsmöglichkeiten sichtbar zu machen.
Strauss’ gescheitert ist. Seine Aufgabe bestand in der Dieser Blick ist stark geprägt von Max Webers Be-
Interpretation von ethnographisch gewonnenen Da- schreibung gesellschaftlicher Ordnung und deren Le-
ten zu den vielfältigen Ritualen der agrarischen kaby- gitimation durch entsprechende Statusgruppen. Ein
lischen Gesellschaft. Es war sein Wunsch, den solches an herrschenden und beherrschten Akteuren
beschämten Opfern des französischen Algerienkrie- orientiertes Forschungsprogramm unterscheidet
ges ihre Würde zurückzugeben (Bourdieu 1980, 11), sich ganz grundsätzlich von einer systemtheoreti-
und das bedeutete für ihn, ihr Leben nicht als vormo- schen Perspektive. Letztlich geht es Bourdieu dann
dern zu disqualifizieren. Bourdieu wollte also die ra- doch nicht um den schlichten Befund einer kontin-
tionale Struktur ihrer Rituale herausstellen, indem er genten Produktion von Wahrheiten, sondern um die
diese im Sinne einer Grammatik zu entschlüsseln Beobachtung, dass es immer spezielle Statusgruppen
versuchte, was ihm jedoch auch nach ausdauerndem sind, die eine gesellschaftliche Ordnung der Herr-
Sammeln und Vergleichen nicht gelang. Das Problem schenden und Beherrschten legitimieren.
der offenbaren Kontingenz dieser Rituale wird von Bourdieu sympathisiert mit den Literaten des
Bourdieu nun genauso wie von Luhmann gelöst. 19. Jahrhunderts, denen es gelungen ist, einer bürger-
Bourdieu kommt zu dem Ergebnis, dass sich allge- lichen Opposition die Stirn zu bieten. Sie haben es
meine einschränkende Strukturen nicht finden las- geschafft, selbst zur Legitimationsinstanz ihres Tuns
sen, dass sich die Praxis selbst aber doch erkennbar zu werden, und sie repräsentieren auf diese Weise ei-
immer wieder begrenzt. Anstatt neue Methoden zur nen ganz besonderen Ort, an dem der Kampf um
Einschränkung dieser Kontingenz zu suchen, wendet eine Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft einmal
er sich direkt dem Problem der Kontingenz zu (vgl. gewonnen wurde. Dieser Befund einer gelungenen
hierzu auch Nassehi/Saake 2002). Im Mittelpunkt Autonomisierung lässt sich jedoch in den anderen
seiner Forschung steht nun eine Theorie der Praxis Feldern nicht reproduzieren. Dort findet Bourdieu
bzw. eine empirische Theorie. zwar auch Verselbständigungen, aber sie erscheinen
Auf die gleiche Weise wie sich Bourdieu von Lévi- ihm als illegitim: etwa bei orthodoxen Priestern, die
Strauss distanziert, emanzipiert sich Luhmann vom den Laien den berechtigten Zugang zu ihrem Volks-
parsonsschen Strukturalismus, wenn er die Idee im- glauben versperren wollen, – warum dürfen die
mer schon vorgegebener Strukturen verwirft und Priester nicht als legitime Instanzen einer religiösen
sich für ein operatives Theoriedesign entscheidet Verselbständigung gelten? – oder bei Politikern, die
(vgl. Nassehi 2004). Das – im Vergleich zu Bourdieu – sich gegen die Einmischung des Soziologen Bourdieu
Zuviel an theoretischer Argumentation ergibt sich in ihr Tagesgeschäft wehren, – doch warum ist diese
bei Luhmann aus dem gleichen Grund wie bei Bour- Zurückweisung einer Einmischung nicht gerechtfer-
dieu die Kritik an theoretischer Unschärfe: Die Theo- tigt? – oder bei Fernsehschaffenden, die den wissen-
rie soll erklären, warum es nur um empirische schaftlichen Anspruch auf lange Argumente mit
Anschlussfähigkeit gehen kann. einer 7-Sekunden-Regel durchbrechen, – doch wa-
Und so ergibt sich als weitere Parallele, dass beide rum sollen die Regeln des Mediums Fernsehen nicht
308 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

als legitim gelten? Autonomisierungen eines Feldes – /Nollmann, Gerd (Hg.): Bourdieu und Luhmann. Ein
erscheinen bei Bourdieu nur dann als legitim, wenn Theorienvergleich. Frankfurt a. M. 2004.
– /Saake, Irmhild: »Kontingenz: Methodisch verhindert
sie sich gegen eine mit politischer und ökonomischer
oder beobachtet? Ein Beitrag zur Methodologie der qua-
Macht ausgestattete Elite wenden. Dass diese Rech- litativen Sozialforschung«. In: Zeitschrift für Soziologie
nung zum Schluss so einfach ist, obwohl die theore- 31. Jg., 1 (2002), 66–86.
tische Argumentation vorher doch so komplex war, Saake, Irmhild: »Theorien der Empirie. Zur Spiegelbildlich-
enttäuscht ein wenig. Gleichzeitig rückt es jedoch keit der Bourdieuschen Theorie der Praxis und der Luh-
auch ganz grundsätzlich die emanzipative Funktion mannschen Systemtheorie«. In: Nassehi/Nollmann 2004,
85–117.
eigengesetzlicher Logiken in den Blickpunkt. Die Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu zur Einführung. Ham-
luhmannsche und die bourdieusche Differenzie- burg 2003.
rungstheorie könnten ja tatsächlich mit ihrem Blick Wacquant, Loïc J. D.: »Auf dem Weg zu einer Sozialpraxeo-
auf autonome Logiken – jenseits von Geld und logie. Struktur und Logik der Soziologie Pierre Bour-
Macht – eine neue Antwort liefern auf die für die So- dieus«. In: Pierre Bourdieu/Ders. (Hg.): Reflexive An-
thropologie. Frankfurt a. M. 2006, 17–94.
ziologie seit ihrer Entstehung so charakteristische Weber, Max: »Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Ver-
Frage nach dem Ort, an dem alles anders sein kann. gleichende religionssoziologische Versuche. Einleitung«.
In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie l
[1922]. Tübingen 1988, 237–275.
Literatur Irmhild Saake

Bohn, Cornelia: Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag


zur Sozialtheorie Bourdieus. Opladen 1991.
Bongaerts, Gregor: Verdrängungen des Ökonomischen.
Bourdieus Theorie der Moderne. Bielefeld 2008.
Bourdieu, Pierre: »Vorwort«. In: Ders.: Sozialer Sinn.
Frankfurt a. M. 1980, 7–46.
–: »Leçon sur la leçon«. In: Ders.: Sozialer Raum und ›Klas-
sen‹ – 2 Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985, 47–81.
–: »Narzisstische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexi-
vität«. In: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, so-
ziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen
Repräsentation. Frankfurt a. M. 1993, 365–374.
–: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische So-
ziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz 1998.
–: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literari-
schen Feldes. Frankfurt a. M. 1999 (frz. 1992).
–: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgesche-
hens [1971]. Frankfurt a. M. 2000.
–: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft.
Konstanz 2001.
– /Wacquant, Loïc J. D.: »Die Ziele der reflexiven Soziolo-
gie«. In: Dies. (Hg.): Reflexive Anthropologie. Frankfurt
a. M. 2006, 95–250.
– u. a.: Der Einzige und sein Eigenheim. Konstanz 1998.
Fischer, Joachim: »Bourdieu und Luhmann: Soziologische
Doppelbeobachtung der ›bürgerlichen Gesellschaft‹
nach ihrer Kontingenzerfahrung«. In: Karl Siegbert Reh-
berg (Hg.): Soziale Ungleichheit – Kulturelle Unterschie-
de. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie in München 2004. Frankfurt
a. M. u. a. 2006, 2850–2858.
Kuchler, Barbara: »Bourdieu und Luhmann über den Wohl-
fahrtsstaat«. In: Zeitschrift für Soziologie 35. Jg., 1
(2006), 5–23.
Luhmann, Niklas: »Die Selbstbeschreibung der Gesellschaft
und die Soziologie«. In: Ders. (Hg.): Universität als Mi-
lieu. Bielefeld 1992, 137–146.
Nassehi, Armin: »Sozialer Sinn«. In: Nassehi/Nollmann
2004, 155–188.
309

12. Ernesto Laclau (*1935) dung zwischen System und Umwelt verfügen,
bestimmen sich bei Laclau/Mouffe Diskurse eben-
und Chantal Mouffe (*1943) falls über die Abgrenzung von einem »konstitutiven«
Außen (Laclau 1990, 17). Und in beiden Fällen führt
Die Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und die Umstellung von Identität auf Differenz zu weit-
Chantal Mouffe ist weit mehr als ein Versuch, den reichenden Konsequenzen, wird doch so jede Be-
Hegemoniebegriff für die politische Theorie zu ak- standsgarantie, jede Verankerung in einem vordis-
tualisieren (Laclau/Mouffe 1991; Laclau 1990; 1996; kursiven Außen aufgegeben – und damit ein prekäres
2005). Vielmehr entwickeln Laclau/Mouffe eine Geschehen freigesetzt.
poststrukturalistische Theorie des Sozialen und des Für Laclau/Mouffe ist also der Begriff des Diskur-
Politischen; eine Theorie, die − geprägt sowohl vom ses ein theoretischer Grundbegriff: Gesellschaft
linguistic turn wie aber auch von einer dekonstrukti- funktioniert als Diskurs – und zwar ausschließlich als
ven Kritik des Zeichenbegriffs – das Soziale ohne die Diskurs. Bei der Fassung ihres Diskursbegriffes flie-
Voraussetzung von Fundamenten zu denken ver- ßen Elemente von Michel Foucaults Archäologie des
sucht. Das Soziale wird nun konsequent als diskursi- Wissens (1974), Jacques Derridas Kritik des Zeichens
ves Geschehen konzipiert, d. h. dass auf die Annahme (Derrida 1972) und eine an Jacques Lacan angelehnte
einer prädiskursiven Instanz (sei diese materieller, Theorie der Identifikation zusammen. Diskurse sind
biologischer oder rationaler Natur) verzichtet wird. hier nun nicht (wie bei Foucault) bloße Streuungs-
Es ist gerade dieser postfoundationalism, der die verhältnisse, sondern durch eine Grenze definiert –
Theoriehaltung von Laclau/Mouffe mit jener von eine Grenze, die erst einen Diskurs konstituiert.
Luhmann verbindet, obgleich die Ausgangspunkte Durch diese konstitutive Grenzziehung wird das ›In-
der beiden Theorieprojekte unterschiedlicher fast nen‹ eines Diskurses geschaffen, das in Anlehnung an
nicht sein könnten: Während die laclau/mouffesche die Semiotik als Differenzsystem bezeichnet wird:
Hegemonietheorie auf das Problem einer zuneh- Ganz im Sinne strukturalistischer Modelle bestim-
mend handlungsunfähigen Linken, die gefangen in men sich die Momente eines Diskurses durch ein re-
überkommenen Klassenvorstellungen ist, antwortet, lationales Gefüge wechselseitiger Abgrenzung.
bezieht die Systemtheorie ihr Ausgangsproblem in Dieses Differenzsystem wird als sinngenerierend
der überwältigenden Komplexität moderner Gesell- verstanden. Nur innerhalb eines Diskurses kann et-
schaften. Unterschiedlich sind denn auch die theo- was sinnhaft werden: Selbst Naturkatastrophen müs-
retischen Referenzpunkte: Verorten sich Laclau/ sen diskursiviert werden, um eine Bedeutung zu
Mouffe auf kritische Weise in den Traditionen erhalten. Ein derartiges Differenzsystem setzt sich
des Marxismus und in unterschiedlichen Spielarten nicht nur aus sprachlichen Elementen zusammen,
poststrukturalistischer Theoriebildung, so findet sondern umfasst auch visuelle Elemente ebenso wie
Luhmann in Parsons’ Systemtheorie (lange Zeit als soziale und kulturelle Praktiken. Der Diskursbegriff
privilegierter Gegner marxistischer Theorie angese- wird also (ganz ähnlich wie bei Luhmann der Kom-
hen), unterschiedlichen kybernetischen Modellen munikationsbegriff) von seiner linguistischen
und der husserlschen Phänomenologie seine Hei- Grundlage abstrahiert und verallgemeinert. Freilich
mat. bleibt die der Semiotik entliehene Grundannahme
bestehen, dass ein Diskurs als Differenzsystem zu
denken ist, was wiederum voraussetzt, dass sich ab-
Diskurstheorie grenzbare Zeichen (bzw. bei Laclau ›Momente‹)
identifizieren lassen.
Theoriegeschichtlich spricht daher wenig für eine
Begegnung von System- und Diskurstheorie; mehr
noch, sie ist höchst unwahrscheinlich. Umso interes- Konstitutiver Antagonismus
santer ist es aber, dass die beiden Projekte in ihrer
Theoriearchitektur über erstaunliche Parallelen ver- Diese diskursiven Differenzsysteme werden durch
fügen. Was die beiden Ansätze verbindet, ist ihr eine übergreifende Unterscheidung ermöglicht: die
»Postfoundationalism« (Marchart 2007), der beide Unterscheidung zwischen dem Diskurs und seinem
Male zu einer differenztheoretischen Anlage der Außen. Wie Luhmann bemühen sich auch Laclau/
Theorie führt. Während in der Systemtheorie Syste- Mouffe hier um eine Abgrenzung von einer dialekti-
me über kein anderes Fundament als die Unterschei- schen Position: Das Außen ist nicht als bloße Negati-
310 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

on des Innen zu denken (bei Luhmann ist es die ziert; und, zweitens, destabilisiert die Äquivalenzlo-
unmarkierte und eben nicht negierte andere Seite der gik den differentiell fixierten Sinn innerhalb eines
Unterscheidung), sondern als eine ›radikale Negati- Systems, indem Unterschiedliches gleichgesetzt
vität‹, die über keinerlei Kontinuität mit dem Innen wird. Jeder Diskurs benötigt beide Logiken: Eine rei-
verfügt. Diese Negativität bedroht das Innen; sie ver- ne Differenzlogik würde zur absoluten Fixierung
unmöglicht die Herausbildung eines stabilen Dis- von Sinn führen, würde aber auch grenzenlos wer-
kurses und einer vollständigen Identität. den, da ein derartiges System sich nicht mehr von ei-
Radikal ist diese Negativität, weil sie sich nicht nem Außen abgrenzen würde; eine reine Äquiva-
aufheben, integrieren oder meistern lässt. Die Bedro- lenzlogik würde nur noch aus Gleichsetzungen
hung durch das ›Außen‹ ist eine ontologische Set- bestehen, wobei dann die einzelnen Elemente ihre
zung: Kein Diskurs ist ohne diese ›ursprüngliche‹ Bedeutungsreste verlieren würden. Man sieht
Bedrohung zu denken. Genau an dieser Stelle werden schnell, dass die hypothetische Vereinseitigung je-
die Unterschiede zwischen den beiden differenztheo- weils zum Verlust des Diskursbegriffs führen würde.
retischen Projekten besonders deutlich. Die Annah- Die Spezifik von Diskursen zeigt sich denn auch in
me, dass die Umwelt ein System bedroht, wäre für der jeweils spezifischen Konfiguration dieser beiden
Luhmann die bloße Zuschreibung eines Beobachters. Logiken: Ein populistischer politischer Diskurs
Für Laclau/Mouffe dagegen muss von einer notwen- zeichnet sich z. B. durch die Vorherrschaft der äqui-
dig antagonistischen Konstitution eines jeden Dis- valentiellen Logik, ein technokratischer Wohlfahrts-
kurses ausgegangen werden. Ihre Sozialtheorie ver- staatdiskurs durch die Vorherrschaft der differentiel-
ankert sich auf diese Weise in einer Theorie des len Logik aus.
Politischen: Das Primat des Politischen zeigt sich hier
in der Vorgängigkeit eines immer schon bestehenden
Antagonismus. Leere Signifikanten
Durch den Antagonismus wird also jener diskur-
sive Raum eröffnet, in dem sich ein diskursives Dif- Diese theoretische Anlage hat Konsequenzen hin-
ferenzsystem entfalten kann. Es wäre allerdings sichtlich der wichtigen Frage, wie die Einheit eines
verkürzt, von einer einfachen Topographie des Innen Diskurses gedacht wird – und gerade dieser Punkt ist
und Außen eines Diskurses auszugehen. Der Antago- auch für die luhmannsche Systemtheorie von Bedeu-
nismus konstituiert nicht nur das Innen eines Dis- tung. Diskurse erhalten ihre Einheit durch einen
kurses, sondern strukturiert gleichzeitig auch das »leeren Signifikanten« (Laclau 1996; vgl. Žižek 1989).
Differenzsystem. Laclau/Mouffe sprechen hier von Ein Signifikant eines Diskurses wird so weit von sei-
zwei unterschiedlichen Logiken: Einer »Logik der ner partikularen (d. h. differentiell erzeugten) Be-
Differenz« und einer »Logik der Äquivalenz« (La- deutung entleert, dass er für die Gesamtheit des
clau/Mouffe 1991, 186). Die Logik der Differenz ist Diskurses steht. Gesamtheit kann hier nur bedeuten,
genau die bereits beschriebene relationale Logik, dass dieser Signifikant für die Äquivalenz selbst steht
welche die einzelnen Momente eines Diskurses zuei- – gerade deshalb muss er auch entleert sein. Leere
nander in Beziehung setzt. Durch sie wird Sinn er- Signifikanten wie z. B. ›Demokratie‹ oder ›Freiheit‹
zeugt und stabilisiert – sie entspricht weitgehend werden auf diese Weise zu Projektionsflächen für
strukturalistischen Modellen. Die Logik der Äquiva- ganz unterschiedliche Vorstellungen.
lenz setzt alle Differenzen hinsichtlich einer zentra- Eine vollständige Entleerung ist empirisch un-
len Tatsache gleich: Sie sind alle Teil des gleichen möglich, Bedeutungsreste bleiben immer am leeren
Diskurses. Es geht hier also um eine metaphorisch Signifikanten hängen. Der leere Signifikant ist damit
arbeitende Logik der Substitution. ein Stellvertreter für die unmögliche Einheit eines
Was hier zunächst nur als eine logische Notwen- Systems – eine Einheit, die sich nicht darstellen lässt.
digkeit erscheinen mag, verbinden Laclau/Mouffe Diskurse sind also mit einem unhintergehbaren Re-
mit dem Konzept des Antagonismus: Denn die präsentationsproblem belastet: Der leere Signifikant
Gleichsetzung des Verschiedenen wird nur dadurch ist die Antwort auf die ›Unmöglichkeit der Gesell-
möglich, dass man sich gemeinsam gegenüber ei- schaft‹, bzw. die Unmöglichkeit einer jeden vollstän-
nem bedrohlichen Außen abgrenzt. Damit produ- digen Identität. Damit ist aber jede Einheitsreprä-
ziert die Logik der Äquivalenz zweierlei Effekte: Sie sentation immer nur provisorisch, sie verfügt über
geht, erstens, aus der antagonistischen Grenzzie- kein letztes Fundament, und es gibt keinen Maß-
hung des Diskurses hervor, die sie selbst reprodu- stab, mit Hilfe dessen richtige von falschen Einheits-
Ernesto Laclau (*1935) und Chantal Mouffe (*1943) 311

repräsentationen sich unterscheiden ließen. Wäh- durch den Prozess der Universalisierung ersetzt wird
rend die Systemtheorie von der Passung von – also durch einen beständigen, nie an sein Ende ge-
Selbstbeschreibungen zur Sozialstruktur spricht langenden Prozess.
(GS1), gibt es für Laclau keine vorgängige Einheit,
an die sich die Einheitsdarstellung eines Diskurses
anpassen muss. Differenztheorie
Eine derartige Diskurskonzeption eröffnet eine
andere Sichtweise auf das systemtheoretische Kon- Eine derartige Diskurstheorie radikalisiert das diffe-
zept der Selbstbeschreibungen in dreierlei Hinsicht: renztheoretische Potential, von dem auch die Sys-
Erstens sind Einheitsrepräsentationen durch einen temtheorie durch ihre Umstellung von Identität auf
leeren Signifikanten konstitutiv für den entsprechen- Differenz zehrt. Während der Systemtheorie nicht zu
den Diskurs. Luhmann geht dieses Problem ›empiri- Unrecht vorgeworfen worden ist, trotz des prokla-
scher‹ an, indem er Selbstbeschreibungen eine mierten Bruchs mit Alteuropa überraschend unver-
Orientierungsfunktion zuschreibt, die gerade in der mittelt an die phänomenologische Bewusstseinsphi-
Moderne immer wichtiger werden. Gleichzeitig aber losophie angeschlossen zu haben (Schmid 2000;
können Systeme durchaus auch ohne oder jenseits Wagner 1994), schließen Laclau/Mouffe an die post-
ihrer Selbstbeschreibung operieren. strukturalistische Kritik des Identitätsdenkens an.
Zweitens führt der leere Signifikant ein spezifi- Damit verzichten sie auf Letztbegriffe wie jenen des
sches Moment der Subversion in einen Diskurs ein. Sinns, auf dem Luhmanns Systemtheorie fußt und
Denn der leere Signifikant deutet gleichzeitig darauf der dort auch für weitreichende Kontinuitätsannah-
hin, dass die Form des Zeichens sich selbst ruiniert: men sorgt (Stäheli 2000).
Ein Signifikant (Bezeichnendes) ohne Signifikat (Be- Gleichzeitig führen Laclau/Mouffe aber auch
zeichnetes) ist kein vollständiges Zeichen mehr. Der weitreichende ontologische Annahmen ein: so wird
leere Signifikant führt also einen »Sinnzusammen- von einem notwendigen Drang zur Totalisierung
bruch« (Stäheli 2000) in das System ein, weil letztlich und Identifizierung von Diskursen ausgegangen.
die bedeutungsproduzierenden und -tragenden Ein- Identifizierung wird zwar als stets scheiternder Pro-
heiten ruiniert werden. Die Systemtheorie geht zwar zess verstanden, bleibt aber dennoch (im Sinne der
ebenfalls davon aus, dass sich die Fundierungspara- lacanschen Psychoanalyse) gesetzt als eine unab-
doxie nicht auflösen lässt und dass Selbstbeschrei- wendbare Notwendigkeit. Hinzu tritt eine zweite
bungen mit einer permanenten Verschiebung und zentrale Annahme, die mit dem Primat des Politi-
Invisibilisierung von Paradoxien beschäftigt sind. schen einher geht: Diskurse sind für Laclau immer
Diese prekäre Fundierung eines Systems in Parado- schon antagonistisch verfasst – eine andere Weise der
xien gefährdet für Luhmann aber niemals das Super- Unterscheidungsbildung ist bereits grundbegrifflich
medium Sinn, das allen Kommunikationen zugrun- ausgeschlossen. Dagegen wurde eingewandt, konse-
de liegt. Bei Laclau findet sich dagegen eine quenter zwischen dem Begriff der Dislokation und
Verschärfung der Problematik: Mit dem leeren Signi- jenem des Antagonismus zu unterscheiden, um auf
fikanten wird ein – notwendiges! – Element in den diese Weise die Beobachterabhängigkeit von Antago-
Diskurs eingeführt, das gleichzeitig die Grenzen des nismen erfassen zu können (Stäheli 2004; Laclau
Sinns exponiert. 2004, 318–320).
Drittens wird die Artikulation von Selbstbeschrei- Die Positionen von Laclau und Luhmann befin-
bungen als Prozess der Hegemoniebildung und da- den sich sowohl in großer Nähe durch den Versuch,
mit als genuin politischer Prozess gefasst. Die eine differenztheoretische Konzeption des Sozialen
Herstellung von Hegemonie bedeutet denn gerade zu entwickeln wie jedoch auch in großer Distanz. Aus
auch, dass eine Entleerung stattfindet, welche zur einer laclauschen Perspektive normalisiert die Sys-
Einschreibefläche für unterschiedliche Forderungen temtheorie den Sprengsatz des differenztheoreti-
und Wünsche wird. Im Gegensatz also zur system- schen Denkens; aus einer luhmannschen Perspektive
theoretischen Annahme, dass mit den Strukturen der ist die Diskurstheorie überpolitisiert. Trotz (oder ge-
funktional differenzierten Gesellschaft Universalis- rade auch wegen) dieser Differenzen stehen sich die
mus zu deren semantischem Korrelat wird, wird bei beiden Theorien nicht unversöhnlich gegenüber. Der
Laclau/Mouffe die Herstellung von Universalismen laclausche Begriff des Politischen wurde für die Sys-
selbst zum politischen Prozess. Dies bedeutet auch, temtheorie im Sinne einer »Politik der Entparadoxie-
dass der Universalismus keine Konstante ist, sondern rung« fruchtbar gemacht (Stäheli 2000), bzw. wird
312 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

das Verhältnis von der Politik und dem Politischen Wagner, Gerhard: »Am Ende der systemtheoretischen So-
diskutiert (Rasch/Wolfe 2000). Insbesondere in Be- ziologie«. In: Zeitschrift für Soziologie 23. Jg., 4 (1994),
275–291.
zug auf das Rechtssystem sind fruchtbare Anleihen
Žižek, Slavoj: The Sublime Object of Ideology. London
an der Diskurs- und Hegemonietheorie gemacht 1989.
worden, um die Umkämpftheit von Recht im Recht Urs Stäheli
(Fischer-Lescano/Christensen 2005) sowie die Gren-
zen des Rechts (Opitz 2012) denken zu können. Me-
thodisch werden zunehmend Verbindungen zwi-
schen Diskursanalyse, Begriffsgeschichte und luh-
mannscher Beobachtungstheorie diskutiert (Ander-
sen 2003). Trotz der erwähnten Spannungen der
beiden theoretischen Perspektiven zeichnen sich da-
mit ertragreiche – wenn auch nicht konfliktfreie –
Artikulationen ab.

Literatur
Andersen, Niels Åkerstrøm: Discursive Analytical Strate-
gies. Understanding Foucault, Koselleck, Laclau, Luh-
mann. Bristol 2003.
Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt
a. M. 1972.
Fischer-Lescano, Andreas/Christensen, Ralph: »Auctorita-
tis interpositio. Die Dekonstruktion des Dezisionismus
durch die Systemtheorie«. In: Der Staat. Zeitschrift für
Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und
europäisches öffentliches Recht 44. Jg., 2 (2005),
213–242.
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1974.
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Marchart (Hg.): Laclau. A Critical Reader. Oxon/New
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– /Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie.
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litical Difference in Nancy, Lefort, Badiou and Laclau.
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Opitz, Sven: An der Grenze des Rechts. Inklusion/Exklusion
im Zeichen der Sicherheit. Weilerswist 2012.
Rasch, William/Wolfe, Cary. »Introduction: Systems Theo-
ry and the Politics of Postmodernity«. In: Dies. (Hg.):
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nity. Minneapolis 2000, 1–34.
Schmid, Hans Bernhard: Subjekt, System, Diskurs. Dor-
drecht 2000.
Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive
Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers-
wist 2000.
–: »Competing Figures of the Limit«. In: Simon Critchley/
Oliver Marchart (Hg.): Laclau. A Critical Reader. Oxon/
New York 2004, 226–240.
313

13. Semiotik Systemtheorie und Semiotik

Die Systemtheorie ist keine dezidierte Zeichentheo-


Semiotik ist die Lehre, Wissenschaft und allgemeine rie. Weder ist ihr theoriesyntaktisches Design semio-
Theorie von den Zeichen. Sie untersucht Strukturen tisch begründet (Jahraus 2003, 342) noch nimmt der
und Funktionen von Zeichen und Zeichenprozessen Zeichenbegriff in ihr eine theoretisch grundlegende
in allen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten. Stellung ein (Stäheli 2000, 137). Luhmann bezieht,
Mithin fallen unter ihr Objektfeld auch soziale Ver- wie Werner Scheibmayr argumentiert, die Semiotik
stehens-, Interpretations- und Kommunikationspro- ›nur am Rande‹ in das systemtheoretische Theorie-
zesse, die sich zeichentheoretisch analysieren und design ein (Scheibmayr 2004, 2). Seine systemati-
systematisieren lassen. Dies ist das Arbeitsfeld der schen Überlegungen zum Zeichenbegriff und dessen
Soziosemiotik, die aufgrund spezifischer Wechsel- differenztheoretische Rekonstruktion beschränkt
verhältnisse von Zeichenstrukturen und sozialen Luhmann neben vereinzelten Hinweisen in den gro-
Strukturen eine enge Beziehung zwischen Soziologie ßen Monographien auf die Aufsätze »Zeichen als
und Semiotik betont: »Gesellschaft ist ohne Zeichen- Form« (ZaF 1993) und »Zeichen der Freiheit – oder
prozesse nicht zu denken« (Alkemeyer 2003, 2821). Freiheit der Zeichen?« (1992). Sieht man aber von
Konstituieren sich alle wissenschaftlichen Diszi- der direkten Thematisierung des Zeichens ab, lassen
plinen durch sprachliche und schriftlich-fixierte Zei- sich in der Systemtheorie vielfältige Bezüge zur Se-
chenprozesse als Wissenschaften, dann nimmt die miotik ausmachen. System und Kommunikation
Semiotik diesen gegenüber eine metawissenschaftli- sind beispielsweise nicht nur zwei Schlüsselbegriffe
che Position ein. Als Universaltheorie ist die theore- der Systemtheorie, sondern auch der Semiotik (Nöth
tische Semiotik als Zeichensystem aber stets auch ihr 2000, 208 u. 235). Viele weitere Grundbegriffe der
eigener Gegenstand und bildet selbstreferentielle Ar- Systemtheorie wie Sinn, Code/Codierung, Struktur,
gumentationsstrategien aus. Form, Medium, Sprache, Symbol etc. sind ebenfalls
Luhmanns Rezeption und Adaption der Semiotik Grundbegriffe der Semiotik und semiotisch fundier-
ist durch ein eigentümliches Spannungsverhältnis ter Disziplinen.
zwischen Systemtheorie und Zeichentheorie charak- Luhmann selbst spricht auch die eher theorielo-
terisiert. Er ordnet die Semiotik einerseits seiner gistisch bedingte Nähe zwischen Systemtheorie und
Theorie operativ geschlossener Systeme unter (ZaF, Semiotik an. So handle es sich beispielsweise bei bei-
49) und erkennt sie andererseits als gleichwertig an: den um eine »autologisch konstituierte Wissen-
»Ich beginne mit der Unterscheidung zwischen Sys- schaft« (ZaF, 60), und dem semiotischen ›Problem‹
tem und Umwelt – und nicht mit der Unterscheidung der Referenz entspreche in der Systemtheorie die Fra-
zwischen Signifikant und Signifikat« (Luhmann ge nach der Referenz von Systemen (Luhmann 1992,
1993, 349). Das Spannungsverhältnis zwischen Sys- 76, Fn. 14). Um Systemtheorie mit Semiotik zu ›fu-
temtheorie und Semiotik resultiert aus der Polarisie- sionieren‹, so Luhmann in einer Vorlesung, müsse
rung zweier Supertheorien mit dem Anspruch man auf höhere Abstraktionsebenen zurückgehen
universalistischer Reichweite und Luhmanns Ver- (ES, 286). Anknüpfungspunkte für ein solches Pro-
such, die Semiotik gerade nicht als Supertheorie in jekt ergeben sich z. B. über die Prozessualität von
die Systemtheorie zu integrieren. Kommunikationen bzw. Zeichen oder die grundle-
Die systemtheoretische Rekonstruktion und Inte- gende Ausrichtung an Differenzen – beispielsweise
gration der Semiotik wird hinsichtlich dieser Polari- System/Umwelt und Signifikant/Signifikat – statt an
sierung der beiden Supertheorien nun in drei Identitäten (vgl. Jahraus/Ort 2001; Brier 2008). Mit
Schritten nachgezeichnet. Zunächst werden kurz ›zeichentheoretischer Nachrüstung‹ (Jahraus 2003,
theoretisch ähnliche Konstellationen von Semiotik 359) haben etwa Scheibmayr ein dynamisches Zei-
und Systemtheorie skizziert. Anschließend wird im chensystem aus systemtheoretischen und zeichen-
Kontext der zumeist kritischen Rezeption von Luh- theoretischen Elementen (Scheibmayr 2004) oder
manns »differenztheoretische[r] Klarstellung des Helmut Willke in der Form einer ›sozialen Semiotik‹
Grundbegriffs der Semiotik« (ZaF, 66) das system- eine soziologische Theorie symbolischer Systeme
theoretische Zeichenkonzept vorgestellt und in Be- konzipiert (Willke 2005, 31 u. 23).
zug auf die Zeichenkonzepte seiner beiden Primär- In seiner Formanalyse des Zeichenbegriffs be-
quellen – der Semiologie Ferdinand de Saussures und schränkt sich Luhmann auf eine differenztheoreti-
der Semiotik Charles S. Peirce’ – diskutiert. sche Rekonstruktion (ZaF). In diesem Sinne konsta-
314 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

tiert er in Die Kunst der Gesellschaft: »Die Struktur (Stäheli 2000, 70) die Rede sein kann, ist fraglich
des Zeichens bleibt […] dualistisch. Die Form des (Krieger 1996, 61).
Zeichens ist die einer Differenz« (KunstG, 284). Das
Zeichen als Form sei nicht das operative Element so-
zialer und psychischer Systeme, sondern werde viel- Luhmann und Saussure
mehr von den Operationen dieser Systeme benutzt.
Zeichen seien »Strukturen für (wiederholbare) Ope- Gehört zu Luhmanns semiotischen Referenzen in So-
rationen« des Systems (GG, 208). Die Systemumwelt ziale Systeme noch Husserls Differenz zwischen An-
enthalte hingegen keine Zeichen (ZaF, 48). zeichen und Ausdruck (SS, 201), so dominieren in
Die für Luhmann eingeschränkte Bedeutung des der Formanalyse des Zeichens die semiotischen bzw.
Semiotischen wird insbesondere an seiner Konzepti- semiologischen Ausführungen von Peirce bzw. von
on von Sinn deutlich. Zwar könnten Systeme, »die im Saussure. Luhmann rezipiert die Semiologie des Lin-
Medium Sinn operieren […,] als Zeichen-prozessie- guisten Saussure in dem wissenschaftsgeschichtlich
rende Systeme« (ZaF, 65) beschrieben werden, aber wirkungsreichen Cours de linguistique générale (dt.
Sinn sei kein Zeichen, sondern die Voraussetzung Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft).
von Zeichen. Bereits in Soziale Systeme (SS 1984) de- Darin kennzeichnet Saussure die Sprachwissenschaft
finiert Luhmann ›Sinn‹ als präsemiotischen Kontext als Teil der Semiologie, der Wissenschaft, die die Ge-
für alle Zeichenprozesse und als Bedingung dafür, setze und »das Leben der Zeichen im Rahmen des so-
dass Zeichen ihrer Funktion entsprechend auf etwas zialen Lebens untersucht« (Saussure 2001, 19). Die
Bestimmtes verweisen können. Als Zeichen, so Luh- Gesamtheit menschlicher Rede unterscheidet Saus-
mann, würde Sinn nur für sich selbst stehen und da- sure in Sprache (langue) und gesprochene Rede (pa-
mit gerade nicht die Funktion eines Zeichens erfüllen role), wobei er sich im Cours hauptsächlich auf die
(SS, 107). Diese Auffassung revidiert er allerdings Bestimmung der Sprache als immaterielles und vir-
später zu einem gewissen Grad selbst, als er den Be- tuelles System von Zeichen begrenzt. In der Sprache,
griff des Symbols in seine Theorie aufnimmt. Denn die im Gegensatz zum individuellen Sprechen eine
als ›Symbol‹ definiert er genau diejenigen Zeichen, soziale Einrichtung sei, würden die Zeichen ein Sys-
die sich selbst bezeichnen (ZaF, 66–69; Krieger 1996, tem aus Differenzen ausbilden. Luhmann konzipiert
71 f.). Sprache hingegen ausdrücklich nicht als System
Eine basale Selbstbezüglichkeit hält Luhmann für (WissG, 51), da sie keine eigene Operationsweise
ein allgemeines Merkmal des Zeichenbegriffs: »Das habe (ES, 279). Sie könne auch nicht als ›Vernetzung
Zeichen ›Zeichen‹ ist selbst ein Zeichen« (ZaF, 60), von Zeichen‹ begriffen werden, weil die Sprache
oder differenztheoretisch formuliert: ›Zeichen‹ ist nicht nur eine bezeichnende Funktion habe (SS,
die Unterscheidung zwischen Zeichen (oder präziser: 137). In Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) ist
Bezeichnendem) und Bezeichneten. Darin ähnelt der Sprache schließlich das grundlegende Kommunika-
Zeichenbegriff dem Sinnbegriff, den Luhmann als tionsmedium und daher unabdingbar für die Auto-
Unterscheidung zwischen aktualisiertem Sinn und poiesis eines sozialen Systems (GG, 205 f.). Die
potentiellen Sinnverweisungen konzipiert. Luhmann Unterscheidung zwischen langue und parole über-
selbst weist aufgrund dieser formalen Ähnlichkeit trägt Luhmann nicht explizit in die Systemtheorie.
darauf hin, dass sich aus semiotischer Perspektive die Allerdings wurde kritisiert, dass er sein Zeichenkon-
von ihm beschriebenen sinnprozessierende Systeme zept zwar am Zeichenbegriff des statischen Sprach-
auch als zeichenprozessierende Systeme beschreiben systems (langue) Saussures entwickle, seine operative
ließen (ZaF, 65). Peter Fuchs schließt hieran an und Kommunikationstheorie aber den Bereich der parole
wertet insbesondere in seinen Studien zum Bewusst- abdecke (Stäheli 2000, 136; Scheibmayr 2004, 135).
sein die Funktion des Zeichens für die Systemtheorie Diesbezüglich haben Michael Giesecke und Helmut
auf. Er geht nicht nur davon aus, dass Bewusstsein Willke versucht, im Anschluss an Saussure die
ohne Zeichengebrauch unmöglich sei, sondern dass menschliche Rede insgesamt systemisch zu reformu-
›zeichenfreie‹ Systeme prinzipiell keine Sinnsysteme lieren (Giesecke 1987) bzw. sowohl langue als auch
sein könnten und schließlich, »daß die Inanspruch- parole in eine Theorie der Symbolsysteme zu inte-
nahme der Sinnform in Sinnsystemen Zeichenge- grieren (Willke 2005).
brauch voraussetzt« (Fuchs 2003, 65; Fuchs 2004, 87 Saussure begründet seine Überlegungen zum
u. 124). Ob mit diesen Thesen noch von einem ›theo- Sprachzeichen auf der arbiträren Verbindung von
retischen und logischen Vorrang der Sinnkategorie‹ Lautbild bzw. Signifikant und Vorstellung bzw. Si-
Semiotik 315

gnifikat. Beide Bestandteile des Zeichens seien rein Zeichenmittel, dem Objekt und dem Interpretanten.
›psychisch‹, das Sprachzeichen würde also nicht zwi- Das Repräsentamen steht dabei in einer Relation zu
schen verba und res vermitteln, weil das Signifikat einem Objekt und bestimmt den Interpretanten, in
kein ›wirklicher‹ Referent sei. Signifikant und Signi- die gleiche Relation zum Objekt zu treten, in der es
fikat seien für sich genommen »lediglich differentiell selbst steht. Zugleich kann aber auch die Relation
und negativ«, allein ihre Verbindung, das Zeichen von Repräsentamen und Objekt zum neuen Objekt
selbst, stelle ein positives Faktum dar. Das ›In-Bezie- für den Interpretanten werden, der dann die Funkti-
hung-setzen‹ von differentiellen Signifikanten mit onsstelle des Repräsentamens einnimmt und selbst
differentiellen Signifikaten erzeuge schließlich ein wiederum einen neuen Interpretanten bestimmt etc.
System von Werten, welche sich durch ihre Verschie- (Peirce 1998, 272 f.). Über diese Transformierbarkeit
denheit von anderen Werten bestimmen ließen des Interpretanten ist der Anschluss der Zeichen in
(Saussure 2001, 144). der Semiose als Zeichenprozess gewährleistet.
Aufgrund der fehlenden Referenz des ›psy- Aus der relationenlogischen Semiotik von Peirce
chischen‹ Zeichens zu einer empirischen Realität übernimmt Luhmann für seine differenztheoretische
sieht Luhmann in Saussures Zeichenmodell kon- Zeichenkonzeption den Begriff des Interpretanten
struktivistische Tendenzen verwirklicht (ES, 282 f.), und bezeichnet damit das Zeichen als Drittes, als Ein-
die es anschlussfähig für die Systemtheorie machen. heit der Differenz von Bezeichnendem und Bezeich-
In Luhmanns Rekonstruktion des Zeichens werden netem. Entgegen Peirce ist Luhmann der Ansicht, die
diese epistemologischen Überlegungen Saussures ge- triadische Struktur des Zeichens differenztheoretisch
wahrt: der Konstruktionscharakter und die Differen- »mithilfe der Überlegungen über Unterscheidungen,
zialität des Zeichens. Das Zeichen entspricht bei Formen und reentry« reformulieren zu können (ES,
Luhmann einer Zwei-Seiten-Form. Es ist mithin »die 284). So ersetzt Luhmann den Interpretanten durch
Form der Unterscheidung von Bezeichnendem und den Beobachter, der mit der Form des Zeichens die
Bezeichnetem« (ZaF, 49), wobei das Bezeichnete Unterscheidung zwischen Bezeichnendem und Be-
(Signifikat) auf ›ewig unzugänglich‹ und nur die Sei- zeichnetem trifft (Glanville 1988). Da weder die Ein-
te des Bezeichnenden (Signifikant) für Operationen heit der Differenz ein genuin drittes Element einer
anschlussfähig sei (Luhmann 1992, 66). Sind bei Triade darstellt (Ort 2001, 231) noch Luhmann die
Saussure Signifikant und Signifikat Teile eines Gan- logischen, erkenntnistheoretischen und pansemioti-
zen, des Zeichens (Saussure 2001, 79), so ist bei Luh- schen Prämissen von Peirce integriert (Ort/Peter
mann das Zeichen als Einheit der Differenz zwischen 1999), muss sein Bezug auf Peirce als sehr einge-
Signifikant und Signifikat eine Paradoxie (vgl. Ort/ schränkt bewertet werden. Er ist größtenteils der
Peter 1999, 42 f.), die es gerade im operativen Ge- Notwendigkeit geschuldet, eine theoretische Schnitt-
brauch zu entfalten gilt. stelle zum Problem des ausgeschlossen-eingeschlos-
senen Dritten zu etablieren.

Luhmann und Peirce


Resümee
Das Zeichen als Paradoxie zeigt die Schwierigkeit des
systemtheoretischen Unternehmens, ein binäres Zei- Luhmanns systemtheoretische Adaption der saussu-
chenmodell prozessual zu konzipieren. Braucht Luh- reschen und peirceschen Semiotik bleibt hinter dem
mann für die Formanalyse des Zeichens drei Begriffe theoretischen Anspruch seiner Quellen zurück. Die
– Signifikant, Signifikat und Zeichen – dann ist das sich daraus ergebenden terminologischen Inkonsis-
Zeichen selbst auch theoriesyntaktisch etwas ›Drit- tenzen wurden in der Rezeption der Systemtheorie
tes‹ (ZaF, 52), nämlich »das ominöse ›Dritte‹ der tria- insbesondere mit Bezug auf Peirce breit kritisiert
dischen Semiologie« (Luhmann 1992, 65). Mit (Ort/Peter 1999; Kastner 2001; Scheibmayr 2004).
diesem Dritten bezieht sich Luhmann auf das peirce- Dies lässt sich allerdings auch als theoriepolitisches
sche Zeichenmodell. Kalkül deuten: Als Supertheorie muss die System-
Anders als Saussure bestimmt Peirce das Zeichen theorie auch die Semiotik integrieren. Indem sie das
als eine triadische Relation, welche durch Kombina- jedoch tut, funktionalisiert sie die Supertheorie Se-
tionen von dyadischen Relationen nicht ersetzbar sei. miotik zu einem differenztheoretischen Instrument.
Mit Peirce setzt sich das Zeichen aus drei Zeichen- Denn würde sie es nicht tun, wäre die Semiotik letzt-
komponenten zusammen: dem Repräsentamen als lich nicht bloß ein Teil der Systemtheorie, »sondern
316 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

ihr Konstituens« (Jahraus 2001, 249) bzw. System- –: The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings.
theorie »a semiotic process in itself« (Ort/Peter 1999, Bd. 2 (1893–1913). Hg. von The Peirce Edition Project.
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Brier, Søren: Cybersemiotics. Why Information Is Not Willke, Helmut: Symbolische Systeme. Grundriss einer so-
Enough! Toronto/Buffalo/London 2008. ziologischen Theorie. Weilerswist 2005.
–: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins. Die Person, die Psyche,
die Signatur. Bielefeld 2003. Frank Habermann
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Sprachwissenschaft‹ und die alternativen Antworten ei-
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Baecker u. a. (Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann
zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1987, 269–297.
Glanville, Ranulph: »Distinguierte und exakte Lügen«. In:
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175–194.
Jahraus, Oliver: »Wie verhalten sich Luhmannsche System-
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gen und Antworten an Barbara Kastner und Werner
Scheibmayr«. In: Jahraus/Ort 2001, 243–250.
–: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekter-
fahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation.
Weilerswist 2003.
– /Ort, Nina (Hg.): Bewußtsein – Kommunikation – Zei-
chen. Wechselwirkungen zwischen Luhmannscher Sys-
temtheorie und Peircescher Zeichentheorie. Tübingen
2001.
Kastner, Barbara: »Autopoiese = Semiose oder Kommuni-
kation als mediengestützer [sic] Zeichenprozeß. Kon-
struktivistische Anmerkungen zur Luhmannschen Ge-
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Krieger, David J.: Einführung in die allgemeine Systemtheo-
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Luhmann, Niklas: »Zeichen der Freiheit – oder Freiheit der
Zeichen?« In: Zeichen der Freiheit [Vorträge im Kunst-
museum Bern 1991 anlässlich der 21. Kunstausstellung
des Europarates »Zeichen der Freiheit«]. Bern 1992,
55–77.
–: »Die Form der Schrift«. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl
Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift. München 1993, 349–366.
Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart/Weimar
22000.

Ort, Nina: »Tertium datur – Über hierarchische Dreiwertig-


keit und heterarchische Triaden«. In: Jahraus/Ort 2001,
227–242.
– /Peter, Markus: »Niklas Luhmann: ›Sign as Form‹ –
A comment«. In: Cybernetics & Human Knowing 6. Jg.,
3 (1999), 39–46.
Peirce, Charles S.: Semiotische Schriften. Bd. 1. Hg. und
übers. von Christian Kloesel/Helmut Pape. Frankfurt
a. M. 1986.
317

14. Wissenssoziologie jektive Situation gebunden ist? Was kann Wissen-


schaft leisten, wenn es immer weniger transhistorisch
gültige Wahrheiten gibt? Dies ist das Referenzpro-
Luhmanns Haltung zur Wissenssoziologie war zu- blem, das Karl Mannheim mit der von ihm begrün-
tiefst gespalten. Einerseits stand er den Theorieent- deten Wissenssoziologie lösen will (Laube 2004). In
würfen der wissenssoziologischen Tradition ableh- seinem Hauptwerk Ideologie und Utopie (1929) un-
nend gegenüber und distanzierte sich vom dort tersucht er daher das praktische menschliche Denken
gebräuchlichen Wissensbegriff. Andererseits ist die im Gegensatz zum formalen Denken der Logik und
Wissenssoziologie für seine Forschung von grundle- Philosophie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist
gender Bedeutung. Das gilt nicht nur für die wissens- der Ideologiebegriff, den er als Standortgebunden-
soziologischen Schriften im engeren Sinne, also heit jeden Denkens versteht. Er grenzt sich damit von
für Liebe als Passion (1982) und die vier Bände Ge- einem älteren Ideologiebegriff ab, der lediglich das
sellschaftsstruktur und Semantik (GS 1–4 1980/1981/ Denken des Gegners bezeichnet habe, während die
1989/1995), die im Untertitel explizit Studien zur eigene Position stets als ideologiefrei aufgefasst wor-
Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft genannt den sei. In seiner Neukonzeption geht es Mannheim
werden; vielmehr ist die Wissenssoziologie in allen um eine ›allgemeine Fassung des totalen Ideologiebe-
historischen und empirischen Analysen die maßgeb- griffes‹, mit der auch das eigene Denken als ideolo-
liche Methode der Systemtheorie. Sie ist gewisserma- gisch betrachtet und so die Kontingenz des eigenen
ßen – um eine Metapher Luhmanns aufzugreifen – Standpunktes reflektiert werden kann. Damit wird
im systemtheoretischen »Flug […] über den Wol- der Ideologiebegriff autologisch gewendet: Ideolo-
ken« (SS, 13) der Blick nach unten. Deswegen han- gien im Sinne Mannheims können nicht objektiv als
delt es sich bei ihr nicht nur um eine Variante der ›falsches Bewusstsein‹ gedacht werden, sondern sind
›Bindestrich-Soziologien‹, die den Gegenstand der nur von Standpunkten aus zu sehen, die ihrerseits als
Untersuchung angeben (wie beispielsweise eine ideologisch aufgefasst werden müssen. Diese Idee sti-
Wirtschafts-, Religions- oder Risikosoziologie), son- lisiert er zur Geburtsstunde der Wissenssoziologie:
dern Luhmann untersucht mithilfe der Wissensso- »Mit dem Auftauchen der allgemeinen Fassung des
ziologie ein je spezifisch historisches Wissen über totalen Ideologiebegriffes entsteht aus der bloßen
Wirtschaft, Religion oder Risiko. Ideologienlehre die Wissenssoziologie« (Mannheim
Die Bezüge zwischen Luhmann und der Wissens- 1978, 70 f.).
soziologie sollen anhand dreier Fragen aufgezeigt Die Vorstellung, dass jedes Denken an einen
werden. Erstens: Welche impliziten Verbindungen Standort gebunden ist, bildet einen Grundpfeiler der
und Differenzen lassen sich zwischen der wissensso- luhmannschen Systemtheorie. Im Theorem der Be-
ziologischen Tradition und der luhmannschen Sys- obachtung findet es sich sogar radikalisiert wieder:
temtheorie erkennen? Zweitens: Wie äußert sich Beobachtungen sind Luhmann zufolge nicht nur Ko-
Luhmann explizit zur wissenssoziologischen Traditi- gnitionen, sondern alle Operationen, in denen ein
on? Und drittens: Wodurch zeichnet sich Luhmanns System etwas unterscheidet und bezeichnet. Folglich
eigener wissenssoziologischer Ansatz aus? sind in Luhmanns Theorie alle Beobachtungen sys-
temspezifisch. Die Systemreferenz der Beobachtung,
metaphorisch gesprochen: der Beobachterstand-
Implizite Verbindungen und Differenzen punkt, ist selbst nur als Beobachtung von Beobach-
tern sichtbar – wie auch die Ideologie in Mannheims
Die Wissenssoziologie entstand aus einer geistesge- Verständnis nur vor dem Hintergrund einer anderen
schichtlichen Konstellation nach Ende des Ersten Ideologie erfasst werden kann. Die erkenntnistheore-
Weltkrieges, die sich mit Ernst Troeltsch als »Krisis tischen Implikationen des Beobachtungsbegriffes
des Historismus« (Troeltsch 2002, 437) bezeichnen führen bei Luhmann noch konsequenter als bei
lässt. Dabei handelt es sich um eine Grundlagenkrise Mannheim zu einem Konstruktivismus, weil Luh-
der Moderne, die zunächst als historischer Relativis- mann die Möglichkeit beobachtungsunabhängiger
mus aufgetreten ist, dann aber zu einer fundamenta- ontologischer Gewissheiten prinzipiell bestreitet
len erkenntnistheoretischen Frage geführt hat: Wie (EaK). Zwar erscheint der Beobachtungsgegenstand
ist objektives Wissen möglich, wenn die Geschichte einem Beobachter erster Ordnung als ontologisch
sogar das Denken selbst durchsetzt und deswegen real, aber der Beobachter zweiter Ordnung sieht, dass
jede Erkenntnis an eine spezifische historisch-sub- diese Gewissheit immer an eine bestimmte Beobach-
318 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

tungsposition gebunden ist. Er stellt also die Frage wartbaren Mustern ablaufen zu lassen. Luhmann
nach dem Beobachterstandpunkt – ganz so, wie schließt sich Schütz/Luckmann an, wenn er Seman-
Mannheims Wissenssoziologie nach dem ideologi- tik zunächst im Sinne eines Alltagsgebrauchs ver-
schen Standort des Denkens fragt. steht; der Hauptunterschied besteht darin, dass
Mannheims Argumentation, die jedes Denken als Schütz/Luckmann Typisierungen nur als Bewusst-
›seinsgebunden‹ ausweist und die Möglichkeit einer seinsoperationen begreifen, während Luhmann die
›seinstranszendenten‹ Erkenntnis ausschließt, führte Typisierung von Sinn auf Kommunikationssysteme
zu der größten Kontroverse in den Sozialwissen- bezieht. Typisierungen sind demnach bei Luhmann
schaften zur Zeit der Weimarer Republik (Meja/Stehr nicht nur kognitive, sondern auch soziale Vorgänge.
1982): Man warf Mannheim vor, er würde unter dem Im Anschluss an Schütz haben Peter L. Berger und
Deckmantel der Wissenssoziologie einen erkenntnis- Thomas Luckmann mit The Social Construction of
theoretischen Relativismus propagieren. In seinen Reality (1966) eine wissenssoziologische Arbeit ver-
Arbeiten verteidigte er sich dadurch, dass er an einer öffentlicht, die verschiedene Aspekte der phänome-
Möglichkeit objektiver Erkenntnis festhält, die durch nologischen Wissenssoziologie mit der klassischen
Synthesen verschiedener Ideologien möglich sein deutschen Wissenssoziologie so prägnant verband,
soll. Genau dieser Kompromiss brachte ihm später dass sie einen großen Einfluss weit über die Soziolo-
die Kritik von entgegengesetzter Seite ein, die nun ge- gie hinaus hatte. Es sind vor allem zwei Gedanken,
rade einen epistemologischen Relativismus voraus- für die Berger/Luckmann wegweisend waren: Erstens
setzt und der sich auch Luhmann anschließt (GS1, lösen sie den Wissensbegriff von dem Anspruch auf
12): Wenn nämlich – so der Vorwurf – tatsächlich je- objektive Wahrheit, wie ihn ältere Korrespondenz-
des Denken ideologisch ist, dann würde auch der theorien der Wahrheit formuliert haben. Berger/
Versuch, eine Synthese aller Standpunkte herzustel- Luckmann führen – mit Mannheim formuliert – das
len, immer nur von einem bestimmten Standpunkt Wissen auf seine ideologische Seinsgebundenheit zu-
aus möglich sein. Aber dann müsste man auch die rück und können damit beobachten, wie in verschie-
Synthese aller standortgebundenen Synthesen bilden denen Gesellschaften jeweils unterschiedliches Wis-
und könnte doch nie einen objektiven Standpunkt sen als allgemeingültig aufgefasst wird. Was in
erreichen. Luhmann lehnt daher – letztlich im Sinne Mannheims Ideologiebegriff bereits angelegt ist,
Mannheims eigener Theoriearchitektur – die Mög- führt nun zu einer für die Wissenssoziologie charak-
lichkeit einer standortunabhängigen, objektiven Er- teristischen Problematisierung des Wahrheitsbe-
kenntnis ab. griffs. Denn in der einen Gesellschaft kann ein
Ein zweiter Wissenssoziologe, der Luhmann be- bestimmtes Wissen als ›objektiv‹ wahr gelten, das in
einflusst hat, ist Alfred Schütz. Die Lektüre seiner einer anderen Gesellschaft als ›objektiv‹ falsch ange-
Werke war vor allem für den frühen Luhmann als sehen wird. Die Wissenssoziologie interessiert sich
Bindeglied zwischen der Phänomenologie Husserls deswegen nicht für die Frage, ob ein bestimmtes Wis-
und der Soziologie prägend. Luhmann greift die von sen tatsächlich wahr ist, sondern warum es in einer
Schütz und Thomas Luckmann begründete, phäno- bestimmten sozialen und historischen Konstellation
menologisch orientierte Wissenssoziologie auf, in- für plausibel gehalten wird. Wissen ist in dieser Per-
dem er den Begriff der Typisierung übernimmt. Für spektive ein Untersuchungsgegenstand, der Rück-
Schütz/Luckmann ist die Operation der Typisierung schlüsse auf die Gesellschaft zulässt, in der das
zentral, weil sie damit erklären, wie Handeln in neu- Wissen als wahr gilt. Zweitens formulieren Berger/
en Situationen überhaupt möglich ist. Dazu sei es Luckmann einen sozialkonstruktivistischen Begriff
nämlich notwendig, die gegenwärtige Situation mit der Wirklichkeit, wonach diese erst durch das Wissen
älteren Situationen zu vergleichen, mithin die neue in der Gesellschaft konstruiert wird. Wenn aber die
Erfahrung mit bereits bekannten Typen in Beziehung soziale Wirklichkeit durch Wissen erzeugt wird, dann
zu setzen. Wissen stellt Schütz/Luckmann zufolge ei- ist jede Soziologie, die sich mit sozialen Wirklichkei-
nen Vorrat solcher Typen bereit (Schütz/Luckmann ten beschäftigt, Wissenssoziologie.
1979, 180–185 u. 277–290). In Luhmanns Theorie Beide Gedanken finden sich bei Luhmann wieder.
findet sich der Begriff der Typisierung an einer ähn- Wenn er historische Semantiken untersucht, geht es
lichen Stelle seiner wissenssoziologischen Argumen- ihm nicht darum, ›falsche‹ Ideologien zu entlarven.
tation. Denn Luhmann erklärt den Begriff der Denn anders als (zumindest der alltägliche) Wissens-
Semantik als einen »Typenschatz« (GS1, 19), der es begriff, der einen Anspruch auf Wahrheit konnotiert,
ermöglicht, Erleben und Handeln nach sozial er- können Semantiken weder richtig noch falsch sein
Wissenssoziologie 319

(Stichweh 2006, 167). Das wissenssoziologische Er- hat« (GS4, 151). Ob sich die Implikation dieser Frage
kenntnisinteresse begrenzt sich daher auch bei Luh- – gerade angesichts jüngerer Entwicklungen in der
mann nicht auf die Frage, ob historische Semantiken Wissenssoziologie – noch aufrechterhalten lässt, ist
zutreffende Beschreibungen sind, sondern bezieht zweifelhaft. Denn viele prominente Forschungsrich-
sich darauf, welche Rückschlüsse sich aus der Seman- tungen wie beispielsweise die Diskursanalyse (Keller
tik für die Strukturen gesellschaftlicher Differenzie- 2005) oder die »Poetologie des Wissens« (Vogl 1997)
rung gewinnen lassen. Zweitens greift Luhmann lassen sich durchaus als wissenssoziologische Ansät-
auch den sozialkonstruktivistischen Ansatz auf, den ze verstehen. Ein Scheitern der Wissenssoziologie
er nicht nur auf die Gesellschaft bezieht, sondern auf lässt sich vordergründig nur für die Disziplin im en-
alle sinnprozessierende Systeme, die immer nur geren Sinne, also in ihrer klassischen Ausprägung
durch ihre eigenen Operationen einen Realitätsbe- etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, konstatieren.
zug herstellen können. Die Frage, wie in der Gesell- Luhmanns Kritik bezieht sich vor allem auf den
schaft Realität konstruiert wird, beantwortet Luh- dort verwendeten ›repräsentationalen‹ Wissensbe-
mann über die Massenmedien, deren Funktion er griff, der im Sinne der Korrespondenztheorie der
darin sieht, Wissen im Sinne von gesellschaftlichen Wahrheit impliziert habe, dass Wissen in einer ein-
Selbstbeobachtungen zu verbreiten (RdM). Dem- deutig bestimmbaren Relation zur Wirklichkeit ste-
nach würde es sich für systemtheoretische wissensso- he. Die klassischen Wissenssoziologen hätten damit
ziologische Studien seit der Neuzeit anbieten, die die erkenntnistheoretischen Konsequenzen des wis-
Semantik insbesondere dort zu untersuchen, wo sie senssoziologischen Ansatzes nicht gezogen. Seine
in Massenmedien wie dem Buch, Zeitungen oder Kritik an dem repräsentationalen Wissensbegriff be-
dem Fernsehen veröffentlicht werden. gründet Luhmann mit der Geschlossenheit von au-
topoietischen Systemen: Erkenntnis könne im Sinne
der Systemtheorie nicht als Operation gedacht wer-
Luhmanns Kritik an der Wissenssoziologie den, mit der die Grenzen des Systems überschritten
und ein systemunabhängiges Wissen über die Um-
Nur vereinzelt hat sich Luhmann explizit zur Wis- welt erzeugt wird; denn eine solche Operation müss-
senssoziologie geäußert, dann jedoch meist ableh- te zwischen System und Umwelt gedacht werden.
nend. Dabei ist er darüber hinweggegangen, wie Wenn aber Kognitionen systeminterne Operationen
wichtig die wissenssoziologische Tradition für seine sind, dann kann auch über Wissen nur innerhalb des
Systemtheorie tatsächlich ist. Er wendet sich gegen Systems entschieden werden. In der Ablehnung des
die marxistische Wissenssoziologie, die Veränderun- repräsentationalen Wissensbegriffs trifft sich Luh-
gen von Wissensbeständen mit Klasseninteressen – mann mit der phänomenologischen Wissenssoziolo-
etwa des Bürgertums – erklärt habe (GS1, 11 f.). Die- gie, namentlich mit Berger/Luckmann, denen er
ser Ansatz hätte nur dazu geführt, dass sich die Klas- zugutehält, dass sie die konstruktivistische Funktion
sen gegenseitig zu durchschauen versuchten. An eine von Wissen durchaus berücksichtigt hätten – aller-
systemtheoretische Wissenssoziologie stellt Luh- dings nur um den Preis, ihr eigenes Wissenskonzept
mann den Anspruch, die Gesellschaft zu beschreiben unbestimmt zu lassen.
ohne eine bestimmte Trägerschicht vorauszusetzen. Luhmann macht den Gegenvorschlag, Wissen als
Für die Systemtheorie selbst würde das bedeuten, eine bestimmte Form von Erwartungen zu begreifen,
dass sie beispielsweise nicht die Theorie einer konser- die im Enttäuschungsfall korrigiert werden (WissG,
vativen Trägergruppe ist, der es um Systemerhaltung 122–166). Das gilt sowohl für wissenschaftliches
geht, sondern dass sie die Gesellschaft von einem Wissen – wenn man beispielsweise feststellt, dass Me-
ausdifferenzierten Wissenschaftssystem aus beob- talle beim Verbrennen schwerer werden, und deswe-
achtet und sich nicht auf einzelne Akteure und ihre gen die Phlogistontheorie verwirft – als auch für
Interessen reduzieren lässt. Alltagswissen – wenn man etwa vor verschlossenen
In dem Aufsatz »Die Soziologie des Wissens: Pro- Türen steht und dann weiß, dass der Supermarkt
bleme ihrer theoretischen Konstruktion«, den Luh- samstags schon um 16 Uhr schließt. Der luhmann-
mann programmatisch als letzten Text im letzten sche Wissensbegriff ist deutlich näher an einem all-
Band von Gesellschaftsstruktur und Semantik plat- tagssprachlichen Wissensbegriff angelehnt als der
ziert hat, geht er der Frage nach, warum es sich bei wissenssoziologische, da er den Geltungsanspruch
der Wissenssoziologie »um einen Seitenweg gehan- von Wissen berücksichtigt: Gerade weil Wissen für
delt« habe, »der alsbald in einer Sackgasse geendet wahr gehalten wird, kann schon eine einzige abwei-
320 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

chende Erfahrung genügen, um den Wissensbestand Wissenssoziologie. Seit ihrer Gründung war die Wis-
zu verändern. senssoziologie mit dem Sachverhalt konfrontiert,
Mit diesem Wissensbegriff lässt sich nicht mehr Wissen als Gegenstand ihrer Untersuchung zu wäh-
sagen, dass alle sozialen Phänomene wissensförmig len und zugleich selbst Wissen zu erzeugen. Die Wis-
wären. Luhmann geht davon aus, dass sich nur einige senssoziologie kann sich daher selbst zum Gegen-
bestimmte Kommunikationen auf Wissen beziehen. stand ihrer Untersuchung machen. Diese autologi-
Dann kann Wissen aber weder die Gesellschaft noch sche Wendung gilt auch für die ›gepflegte Semantik‹,
die gesellschaftliche Wirklichkeit begründen. Das wenn man sie im Sinne Luhmanns als gesellschaftli-
führt im luhmannschen Theoriedesign schließlich zu che Selbstbeschreibung auffasst. Die Lösung der er-
der Konsequenz, dass ›Wissen‹ kein Grundbegriff ist, kenntnistheoretischen Probleme der älteren Wis-
zugleich aber an der Wissenssoziologie als Methode senssoziologie sieht Luhmann in der Selbstreflexivi-
festgehalten wird. tät: Die Wissenssoziologie ist eine Methode, mit der
die Systemtheorie ihre eigene Genese beobachten
kann (Kieserling 2004, 7–45). Um diese Genese aber
Luhmanns systemtheoretische erklären zu können, muss die Geltung der System-
Wissenssoziologie theorie bereits vorausgesetzt werden. Sie ist Teil des
Wissenschaftssystems, durch das sich die Gesell-
Luhmanns Misstrauen gegen den weiten Wissensbe- schaft selbst beschreibt. Der Titel Die Gesellschaft der
griff erklärt seine Entscheidung, die systemtheoreti- Gesellschaft zielt gerade auf die Tatsache ab, dass die
sche Wissenssoziologie gänzlich ohne den Begriff des Beschreibung der Gesellschaft nur aus der Gesell-
Wissens zu konzipieren. Stattdessen greift er auf das schaft möglich ist (GG, 1128–1142) – nicht aber von
begriffsgeschichtliche Konzept der Semantik zurück: einer absoluten, oder mit Mannheim gesprochen:
Die Semantik stellt Luhmann zufolge einen Vorrat an ideologiefreien Beobachterposition. In dieser Wen-
typisierten Sinn bereit, der situationsunabhängig dung ist das systemtheoretische Erbe des Historis-
verfügbar ist und es damit erst ermöglicht, Erwar- mus und der klassischen Wissenssoziologie, die auf
tungen an Kommunikationsanschlüsse zu stellen. einer Beobachtung des eigenen Standorts beruht,
Ohne diese Erwartungsstruktur könne Sinn nicht vielleicht am deutlichsten zu erkennen.
verstanden werden und Kommunikationen könnten
nicht sinnvoll aneinander anschließen.
Im Unterschied zur früheren Wissenssoziologie Literatur
ersetzt Luhmann aber nicht nur ›Wissen‹ mit ›Se-
mantik‹, sondern in seiner Forschungspraxis auch Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche
»Allerweltswissen« (Berger/Luckmann 1980, 16) mit Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wis-
senssoziologie. Frankfurt a. M. 1980 (amer. 1966).
»gepflegter Semantik« (GS1, 20). Er untersucht also
Göbel, Andreas: Theoriegenese als Problemgenese. Eine
nicht alltägliche Semantik, sondern nur eine be- problemgeschichtliche Rekonstruktion der soziologi-
stimmte Form von verschriftlichter Semantik, die in schen Systemtheorie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000.
einer Gesellschaft aufbewahrt wird. Das hat zunächst Keller, Reiner: Wissenssoziologische Diskursanalyse.
die Konsequenz, dass Luhmann die Wissenssoziolo- Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden
gie methodologisch als Begriffsgeschichte auslegt. 2005.
Kieserling, André: Selbstbeschreibung und Fremdbeschrei-
Vor allem aber schlägt Luhmann mit dem Konzept bung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens.
einer gepflegten Semantik eine Lösung des traditio- Frankfurt a. M. 2004.
nellen wissenssoziologischen Problems vor, wie sich Laube, Reinhard: Karl Mannheim und die Krise des Histo-
Ideen und Gesellschaft zueinander verhalten: Gerade rismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspekti-
im Medium des Buches und der Zeitungen habe sich vismus. Göttingen 2004.
Luhmann, Niklas: »Gesellschaftliche Struktur und seman-
ein Bereich für eine eigenständige Ideenevolution tische Tradition«. In: GS1, 9–71.
(vgl. den gleichnamigen Band von 2008; s. Sigle ›I‹) –: »Die Soziologie des Wissens. Probleme ihrer theoreti-
herausgebildet, die immer auf die Gesellschaftsstruk- schen Konstruktion«. In: GS4, 151–180.
tur bezogen bleibe. Damit nimmt die systemtheore- Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie [1929]. Frankfurt
tische Wissenssoziologie über die historische Seman- a. M. 61978.
Meja, Volker/Stehr, Nico (Hg.): Der Streit um die Wissens-
tik die Sozialstruktur selbst in den Blick. soziologie. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1982.
Letztlich reagiert Luhmann mit diesem Konzept Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebens-
der Semantik auf die autologischen Probleme der welt. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1979.
Die ›Leipziger Schule‹ 321

Schützeichel, Rainer: »Systemtheoretische Wissenssoziolo-


gie«. In: Ders. (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und
15. Die ›Leipziger Schule‹:
Wissensforschung. Konstanz 2007, 258–267. Hans Freyer (1887–1969),
Stichweh, Rudolf: »Semantik und Sozialstruktur. Zur Logik
einer systemtheoretischen Unterscheidung«. In: Dirk
Arnold Gehlen (1904–1976),
Tänzler/Hubert Knoblauch/Hans-Georg Soeffner (Hg.): Helmut Schelsky (1912–1984)
Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz
2006, 157–171.
Troeltsch, Ernst: »Die Krisis des Historismus« [1922]. In: Die erstmals von Horst Baier (1994) explizit formu-
Ders: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 15: Schriften zur Po-
litik und Kulturphilosophie (1918–1923). Hg. von Gan- lierte These, dass Niklas Luhmanns Soziologie im
golf Hübinger. Berlin/New York 2002, 433–455. Horizont der ›Leipziger Schule‹ um Hans Freyer, Ar-
Vogl, Joseph: »Für eine Poetologie des Wissens«. In: Karl nold Gehlen und Helmut Schelsky zu verorten sei
Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann (Hg.): Die Li- (zum Schulhintergrund vgl. Üner 1992), muss bei ei-
teratur und die Wissenschaften 1770–1930. Festschrift nem Autor überraschen, der seine Werkautonomie
zum 75. Geburtstag von Walter Müller-Seidel. Stuttgart
1997, 107–127. von biographischen Ursprungseinflüssen durch die
Christian Kirchmeier Wahl neuer Bezugspunkte wie George Spencer-
Brown oder Gotthard Günther, dessen akademische
Anfänge allerdings auch in Leipzig liegen, weitge-
hend zu befreien suchte. So wenig derartige Hinter-
gründe seines Denkens in Luhmanns ohnehin
spärlichen Selbstzeugnissen auftauchen, so sehr le-
gen es auch neuere Arbeiten nahe, dass der ›Leipzi-
ger‹ Akzent auf den modernen ›Sachzwängen‹ und
›Eigengesetzlichkeiten‹ (Schelsky), die Rede von ir-
reversiblen gesellschaftlichen ›Superstrukturen‹ und
›sekundären Systemen‹ (Gehlen, Freyer) und beson-
ders die These einer institutionell abzusichernden
›Entlastung‹ des Handelns von einer ansonsten un-
bewältigbaren Komplexität der Welt (Gehlen) in
Luhmanns Denken unverhoffte Anschlussfähigkei-
ten fanden (vgl. Göbel 2003; Rehberg 2005; Wöhrle
2010). Folgt man diesen Kontinuitätsannahmen ge-
nauer, so stellt sich gar der Eindruck ein, dass Luh-
mann genau dort den Faden aufgenommen habe, wo
insbesondere Hans Freyer ihn fallengelassen hatte,
nämlich bei ›sekundären Systemen‹. Ohne den kul-
turkritischen Hintergrund zu übernehmen, der ›se-
kundäre Systeme‹ noch als Verfallsform gewachsener
Institutionen oder als blutleeres Substitut ›primärer
Systeme‹ erscheinen ließ, verhandelt er deren Selbst-
beweglichkeit und kreisförmige ›Autopoiesis‹ als so-
zial emergente Gegenstände sui generis – und zwar
unter bewusster Abblendung der bei den Leipzigern
noch anzutreffenden Handlungsemphase (vgl. Reh-
berg 2001): »Das letzte Wort der Leipziger Schule war
das Verschwinden der Menschen in den Strukturen,
das erste Niklas Luhmanns die Selbstbewegung und
Selbsterzeugung der Strukturen – ohne Mensch«
(Baier 1994, 74). Dies schuf letztlich Verbindungen
auch zu ›post-strukturalistischen‹ und postmoder-
nen Denkern.
Die Behauptung dieser Kontinuitätslinie, die sich
vor allem auf eine entsprechend ›abgekühlte‹ Inter-
322 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

pretation der Moderne erstreckt, kann sich jedoch minent neben dem Talcott Parsons’ auf, etwa wenn
auf noch mehr stützen als auf lediglich wahlver- Luhmann sein »Interesse für Komplexität reduzie-
wandtschaftliche Evidenzen. Schließlich führt von rende Prozesse, für Mechanismen der Vereinfachung
der ›Leipziger Schule‹ zu Luhmann auch der bil- und Entlastung« (SA1, 104) auf diese Anregungs-
dungsbiographische Umstand, dass die steile sozio- quellen zurückführt.
logische Karriere des Systemtheoretikers ohne Hel- Vor allem aber wird man besonders in den orga-
mut Schelsky kaum vorstellbar gewesen wäre. Dieser nisationssoziologischen Schriften Luhmanns Zeuge
hatte Luhmann enorm gefördert, indem er ihn zuerst einer ›anthropologischen Entkernung‹ Gehlens (vgl.
von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Baier 1994), denn dort interessiert nicht mehr die
in Speyer an die von ihm geleitete Sozialforschungs- Frage, wie Systeme den Menschen entlasten, sondern
stelle Dortmund der Universität Münster holte, ihn wie Systeme sich selbst entlasten. Aus diesem Blick-
im Jahre 1966 innerhalb weniger Monate promovier- winkel treten die menschlichen Leistungssteigerun-
te und habilitierte und seinen ersten Ruf an die neu gen, die Gehlen noch im Rahmen einer anthropolo-
gegründete Universität Bielefeld (mit Schelsky als gischen Handlungstheorie in den Blick nahm,
Gründungsrektor) entscheidend beeinflusste. nunmehr im Gewand systemischer und organisato-
rischer Komplexitätsgewinne in Erscheinung. Aus
Gehlens ›elementaren‹, aus der menschlichen Kör-
Anthropologische ›Entkernung‹ perlichkeit entwickelten ›Kreisprozessen‹ im Um-
und organisationelle Beweglichkeit gang mit Dingen und anderen Lebewesen und der
dadurch gesteigerten ›Plastizität‹ des kommunikati-
Die Unterstützung, die Schelsky dem jungen Luh- ven (!) Weltverhältnisses werden bei Luhmann un-
mann auf diese Weise zukommen ließ, dürfte sich vor versehens Freiheitsgrade, mit denen ein System seine
allem dem Umstand verdankt haben, dass er sich von Grenzen so flexibel hält, dass es sich von direktem
ihm die gegenwartsadäquate ›Modernisierung‹ einer Umweltdruck entlasten kann. Auch in der »relati-
Grundkategorie erhoffte, die sich prominent bei ei- ve[n] Unabhängigkeit des menschlichen Handlungs-
nem anderen ›Leipziger‹, nämlich Arnold Gehlen, vermögens von spezifischen Antrieben« und der
findet. An diesen schrieb er 1970 mit Blick auf Luh- »Chance des ›Führungswechsels‹ der menschlichen
mann: »[S]eine ›Reduktion von Komplexität‹ als so- Funktionen«, wie Gehlens Anthropologie sie heraus-
ziale Handlungsvoraussetzung bei Offenhaltung des arbeitete, sah Luhmann eine Verwandtschaft zu sei-
Bewußtseins für immer höhere Komplizierungen ner »Grundvorstellung wechselseitiger Selektivität«
liegt völlig in der Konsequenz Deiner eigenen ehema- (ZuS, 251). Seine Formalisierung und Abstrahierung
ligen Grundkategorie der ›Entlastung‹« (Brief Schels- des anthropologischen Entlastungsgedankens wird
kys an Gehlen vom 22. Juni 1970, zit. n. Wöhrle 2010, von Luhmann in der berühmten Diskussion mit Ha-
299). bermas, der dessen Gehlen-Nähe polemisch wende-
Wie diese zeitgenössische Einschätzung bereits te, noch zugestanden: In seinem systemtheoretischen
nahelegt, werden die sich später allenfalls mittelbar Ansatz blieben »infolge Abstraktion […] verschiede-
zeigenden, von Luhmann nicht selten verdeckten ne Varianten der Einsicht [übrig], daß hohe Frei-
und am Ende indigniert verleugneten (vgl. Erd/Mai- heitsgrade der Selektion nur bei in spezifischen
hofer 2000, 36) Leipziger Einflusslinien in dessen frü- Richtungen leistungsfähigen Reduktionsweisen ent-
hesten Arbeiten am greifbarsten. Sie zeugen – auch wickelt werden können« (TGS, 308, Anm. 29).
wenn die starke Präsenz des Systembegriffs bei Hans Doch auch institutionentheoretische Grundkate-
Freyer auf den ersten Blick anderes vermuten ließe – gorien Gehlens finden zunächst Eingang in die frühe
vor allem von einer höchst eigenwilligen Aneignung Organisationssoziologie Luhmanns, während er
des Werkes Arnold Gehlens. Im Vergleich zur sich pe- nach der Umstellung auf eine Theorie sozialer Syste-
nibel von anderen Wissenschaften abgrenzenden Be- me die Kategorie ›Institution‹ schließlich ganz fallen
griffs- und Definitionsarbeit des ›reifen‹ Luhmann ließ, da sie den Eindruck erwecke, »daß etwas Höhe-
ist zu diesem frühen Zeitpunkt (obwohl es ihm nie res, Sinnreicheres, vielleicht auch Geheimnisvolleres
um eine ›Anthropologie‹ ging) entsprechend eine im Spiel sei« (Luhmann 1992, 92). Die augenfälligste
Kopräsenz anthropologischer und systemtheoreti- Denkfigur unter diesem Aspekt ist die Kategorie der
scher Begründungsfiguren anzutreffen (vgl. z. B. Trennung von Motiv und Zweck, wonach es Institutio-
SA1, 131, Anm. 9). Beide bedingen einander noch – nen eigen sei, dass sie aufgrund ihres inhaltlich oft
nicht zufällig taucht der Name Gehlens damals pro- unspezifischen, aber verbindlichen Formalismus
Die ›Leipziger Schule‹ 323

eine Vielzahl von Handlungsmotiven in sich aufneh- spricht diese Einsicht erneut dafür, die Bedeutung
men könnten (vgl. Gehlen 1956/2004c, 69). Weder einheitlicher Zweckorientierungen zu relativieren
müssten diese mit der ›objektiven‹ Zweckmäßigkeit und das Hauptaugenmerk darauf zu richten, wie
des institutionellen Handlungszusammenhangs durch die Untergliederung eines Systems in relativ
noch mit derjenigen Zwecksetzung konvergieren, autonome Untersysteme die Bearbeitung kollidie-
welcher eine Institutionenbildung sich einstmals ver- render Systemanforderungen an verschiedenen
dankte. Für Luhmann nun ist die Trennung des Mo- ›Fronten‹ erfolgen kann, die jeweils eigene Zweckho-
tivs vom Zweck – und daher könnte man durchaus rizonte entwerfen.
von einer organisationssoziologischen Modernisie- In diesen Überlegungen kündigt sich zugleich
rung dieser Überlegung sprechen – eine Systemstra- Luhmanns Interesse an der Ausbildung ›reflexiver
tegie, die sich gerade in den internen Differenzierun- Mechanismen‹ an. Die Funktionsweise dieser
gen heutiger Organisationen auffinden lässt. Der ›Selbstanwendungen‹ untersucht er ebenfalls in teil-
durchaus kontraintuitive Vorteil dieser Entkoppe- weisem Rückgriff auf das ›Erbe‹ der gehlenschen In-
lung liegt für Luhmann darin, dass Organisationen stitutionentheorie und deren bereits ›reflexiven‹
bei entsprechendem Umweltdruck Zwecke leichter Dynamisierung bei Schelsky. Dabei erweist er sich
abändern können, »ohne daß das System in Gefahr einmal mehr als konsequenter Entlastungstheoreti-
kommt, bei allzu scharfen Wendungen Mitglieder ker, konsequenter wohl als Gehlen selbst, für den zu-
abzuschleudern, deren Motive konstant bleiben« mindest unter modernitätsdiagnostischen Gesichts-
(ZuS, 141). Was hier bereits anklingt, ist in der Tat die punkten Reflexion stets handlungshemmende Belas-
systemische ›Selbstbeweglichkeit‹, die gerade durch tung bedeutete (vgl. Wöhrle 2010, 157–168). Jener
eine Indifferenz gegenüber den Motivlagen der Betei- Angst, dass Reflexion unabschließbar in sich selbst
ligten einen Freiheitsgewinn ermöglicht und den Be- weiterlaufe, begegnet Luhmann mit dem selbst schon
stand eines Systems auch in einer stark fluktuieren- reflexiv abgekühlten Einwand, dass ›reflexive Mecha-
den Umwelt zu sichern vermag. nismen‹ die Dringlichkeit der Gegenstandsreferenz
zwar vorübergehend suspendierten, der soziale und
zeitliche Weltbezug sich aber nicht in gleichem Maße
Widerspruchssensibilität und reflexive verflüchtigen könne. Doch nicht nur deswegen ist
Stabilisierung Luhmann wie zuvor schon Schelsky (vgl. die Bezug-
nahme auf Schelsky in SA1, 106) gegenüber einer In-
Dieses frühe Interesse Luhmanns für flexible und stitutionalisierbarkeit der ›Dauerreflexion‹ zuver-
adaptationsfähige Stabilisierungsbedingungen er- sichtlicher gestimmt. Ein weiterer Grund ist, dass die
streckt sich im weiteren Verlauf seines Denkens zuse- Erfahrung und Absorption von Komplexität der Un-
hends auf Phänomene, die aus der modernitätskriti- abschließbarkeit dieser Aufgabe in irgendeiner Weise
schen Perspektive Gehlens eher als allgemeine Rechnung tragen muss – und reflexive Schleifen be-
Symptome institutionellen Verfalls in den Blick gera- werkstelligen genau dies. Wie Luhmann am Fallbei-
ten waren. Ähnlich wie schon bei seinem Förderer spiel des Rechtssystems demonstriert, hat dessen
Helmut Schelsky ist auch bei Luhmann das Bestreben positiviertes Reflexivwerden gegenüber naturrecht-
zu erkennen, das soziologische Ordnungsdenken so lichen Begründungsbemühungen den grundsätzli-
weit zu ›modernisieren‹, dass die ›Abstraktheit‹, die chen Vorteil, dass es seinen ›Außenhalt‹ in sich selbst
›Reflexivität‹, ja sogar die ›Selbstwidersprüchlichkeit‹ findet, indem es sich nicht mehr mit Wahrheitsan-
heutiger Institutionen nicht mehr als Bedrohung, sprüchen konfrontiert, die im Naturrechtsdenken
sondern als voraussetzungsreiche Ermöglichung so- den Rechtfertigungsaufwand überstrapazieren und
zialer Erwartungsbildungen verhandelbar wird. So das Recht noch an andere soziale Institutionen fes-
bezieht sich Luhmann in seinen ersten Überlegungen seln. So kann es einerseits seine Grenzen durch
zur Binnendifferenzierung von Sozialsystemen und ›Selbstanwendung‹ eindeutiger markieren, anderer-
zu deren Orientierung an widerspruchsvollen Wer- seits aber auch seine Operationsfähigkeit ins zeitlich
ten explizit auf Schelskys am Beispiel der Evangeli- Unbegrenzte ausdehnen.
schen Akademien entfaltete Diagnose (vgl. Schelsky Die bei Gehlen aus dem Mensch-Tier-Vergleich
1965b), dass in modernen Institutionen der »Wider- gewonnene, zugleich jedoch bürgerliche Haltungs-
spruch der Institution zu sich selbst« nicht zwingend ideale implizierende ›Indirektheit‹ des menschlichen
zu deren Verfall führen müsse, sondern »mitinstitu- Handelns wiederum, die er durch die Selbstbezüg-
tionalisiert« (SA1, 41) werden könne. Für Luhmann lichkeit der ›Dauerreflexion‹ im Verschwinden be-
324 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

griffen sah, ist für Luhmann gerade in reflexiven würden durch eine Dominanz der Sachzwänge, die
Mechanismen gesichert: Im Verbund mit den sich einer normativen Legitimation außerhalb ihres blo-
koextensiv herausbildenden symbolisch generalisier- ßen Funktionierens überhaupt nicht mehr bedürften
ten Kommunikationsmedien werde ›Umweghan- und die Herrschaft von Menschen über Menschen
deln‹ geradezu zum Hauptkennzeichen jener Mecha- durch die kleinteiligen Kompetenzen hochspeziali-
nismen. Die intentionale Grundstruktur des Han- sierter Wissensarbeit ablösten.
delns bleibt zwar unbeeinträchtigt, erstreckt sich Für die frühe Rezeption Luhmanns dürfte ent-
aber zusehends auf ›intermediäre Objekte‹ (Geld, scheidend gewesen sein, dass dessen Neuansatz oft-
Schrift etc.), die ihrerseits systemrelativ ausdifferen- mals in der Tradition dieser ›technokratischen‹
ziert sind und mit symbolisch außengestützten Kon- Denkströmung verortet wurde – nicht zufällig wurde
sensfiktionen auch die Annahmewahrscheinlichkeit in der Habermas-Luhmann-Debatte das pejorativ
von Kommunikation erhöhen (vgl. Göbel 2003). aufgeladene Label der ›Sozialtechnologie‹ titelgebend
und blockierte eine unbefangenere und intensivere
Auseinandersetzung mit Luhmann. Dabei wurden
›Technokratie‹ und der Anachronismus die tatsächlich bestehenden Nähen zu ›den Leipzi-
›moralischer Kommunikation‹ gern‹ – z. B. dass Legitimation zusehends nicht-nor-
mativ durch Verfahren erzeugt werde – gegenüber
Über diese frühen und auch bildungsbiographisch wichtigen Differenzen überpointiert. Nimmt man
plausibilisierbaren Anknüpfungen hinaus war es al- das schelskysche Modell eines ›technischen Staates‹
lerdings vor allem die Grundannahme einer allum- als repräsentativ für den ›technokratischen‹ Denkan-
fassenden und irreversiblen Funktionsorientierung satz, so dürfte Luhmann demselben ebenso distan-
der modernen Gesellschaft, die eine Filiation zwi- ziert gegenübergestanden haben wie den dadurch
schen Luhmann und der Leipziger Schule nahe legte. hervorgerufenen Aufgeregtheiten. Schließlich ging er
In den 1960er und 1970er Jahren als ›technokrati- bereits in seinen »Einführenden Bemerkungen zu
scher Konservatismus‹ bezeichnet und kritisiert, lie- einer Theorie symbolisch generalisierter Kommuni-
gen die Leipziger Wurzeln dieser Grundannahme kationsmedien« von 1974 davon aus (vgl. SA2,
dennoch weiter zurück: In den 1920er Jahren war es 170–192), dass eben diese Medien sich systemrelativ
Hans Freyer, der die Überwindung der kapitalisti- verselbständigt hätten. Daher könne Politik nicht
schen Klassengesellschaft und der ihr korrespondie- plötzlich wahrheitscodiert operieren und Wissen-
renden Soziologie durch die völkische Bewegung schaft nicht plötzlich machtförmig prozessiert wer-
sowie eine politische Handlungslehre propagierte. den, wie es im Modell eines ›technischen Staates‹
Nachdem die ersehnte (Volks-)Gemeinschaft und anklang. Die Technokratie-Diskussion war für Luh-
die von dort aus projizierte große historische Tat- mann aus diesem Grund wenig mehr als ein »guter
chance ebenso wie die rassistische Homogenisierung Testfall« (SA2, 189, Anm. 33) für die hochmoralisier-
durch den Zusammenbruch des Hitlerreiches bla- ten Empfindlichkeiten, mit denen gesellschaftliche
miert war, sah er große Politik abgelöst durch die Selbstbeschreibungen penibel auf die Stabilität der
Herrschaft »sekundärer Systeme« (vgl. Freyer 1955, Code-Differenzen pochen.
79–93), deren soziale Breitenwirkung eine neuartige Was hier an Unterschieden in Erscheinung tritt,
Konformität der Massen war – Handeln werde zuse- kann allerdings auf einer höheren Generalisierungs-
hends zu einem bloßen, habituell schematisierten ebene durchaus als entscheidende Tiefenparallele be-
›Sichverhalten‹ in unumkehrbaren, abstrakt regelge- trachtet werden: Indem Luhmanns Beobachtungen
leiteten Sachzusammenhängen. Die Vorstellung, letztlich sogar Schelskys Steuerungsoptimismus un-
dass der »ethische Schwung« des Fortschritts sich auf terlaufen, lassen sie eine aufklärerische Herrschafts-
diese Weise mittlerweile »auf einen Sachprozeß« kritik, wie etwa Jürgen Habermas sie beharrlich
(Freyer 1965, 298) reduziert habe, findet sich ganz verfolgt, noch deutlicher als Anachronismus hervor-
ähnlich auch bei Arnold Gehlen und Helmut Schels- treten. Zudem zeigt sich auch im Spätwerk Luh-
ky: bei Ersterem vor allem in dessen ›post-histoire‹- manns eine Diskreditierung ›moralischer Kommu-
Diagnose, laut der die Konsequenzen der Aufklärung nikation‹, die sich ganz auf der Linie von Gehlens
weiterlaufen, während ihre Prämissen bereits abge- und Schelskys Intellektuellenpolemik bewegt: Das
storben seien, bei Letzterem im Modell eines ›techni- folgenlose gesinnungsethische »Anmoralisieren«
schen Staates‹, in dem substantielle politisch-ideolo- (Gehlen 1964/1978, 261) ist für Luhmann ein ebenso
gische Handlungsoptionen zunehmend verdrängt großes Ärgernis, erstreckt es sich doch gerade auf
Die ›Leipziger Schule‹ 325

Sachverhalte, die ihre Stabilität immer auch der entierung der modernen Gesellschaft angeschlossen.
Gleichgültigkeit gegenüber ›Gut-Böse-Unterschei- Das ›Verschwinden des Menschen in den Strukturen‹
dungen‹ verdanken (vgl. GG, 1036–1145). Entspre- – und in diesem Sinne handelt es sich vielleicht tat-
chend hätte die wohl prägnanteste Formulierung zu sächlich um eine ›Radikalisierung‹ des Leipziger Ge-
diesem Thema ebenso in Gehlens Moral und Hyper- dankenguts – erstreckt sich für Luhmann also sogar
moral stehen können: »Das ›disembedding‹ der mo- auf jene Bereiche, in denen der Mensch ›als ganzer‹
ralischen Kommunikation hat zur Folge, daß viel in noch zum semantischen Inventar gehört.
moralisierendem Ton geredet wird, ohne daß daraus
kontrollierbare Handlungsverpflichtungen folgten«
(GG, 1044). Das Schicksal der Persönlichkeit
und leerlaufende Subjektivität

Irreversible Funktionsorientierung Luhmanns pointierte These vom Verschwinden des


Menschen mag die Vermutung nahelegen, dass auch
Die deutlichste Tiefenparallele zwischen Luhmann das alte Leipziger Thema der Durchsetzungschancen
und der Leipziger Schule allerdings dürfte sein, dass von ›Persönlichkeit‹ im Zeitalter der vermeintlichen
die Alternativlosigkeit der ›sekundären Systeme‹ – ›Massengesellschaft‹ bei ihm von verfallsgeschichtli-
seien sie nun trennscharf ›codiert‹ oder nicht – in bei- chen Illuminationen befreit und in differenzierungs-
den Fällen aus dem Status quo ein Argument macht. theoretischen Kategorien reformuliert und abge-
Wie Gehlen schon am 9. August 1946 an Schelsky kühlt wird. Das Menetekel Freyers, dass »der
schrieb, beruhe die Verselbständigung der Institutio- Mensch« nur noch von »Fall zu Fall in bestimmten
nen und die im Bewusstsein der Beteiligten »charak- gut definierten Hinsichten betroffen oder bean-
teristische Quasi-Absolutheit« auf eigensinnigen sprucht« werde (Freyer 1965, 266), ist für Luhmann
Spezialisierungen, bei Marx etwa auf den Produkti- schließlich der selbstverständliche Ausgangspunkt
ons- und Eigentumsformen. Diese frühe Beobach- seines Denkens. Von dort aus gerät das Pathos des
tung verdichtete er später zu der Annahme, dass ›Individuums‹ nicht als Widerpart, sondern als
die unmöglich gewordene ›Synthese in den Köpfen‹ Folgeerscheinung funktionaler Differenzierung in
durch die Funktionszusammenhänge der spätin- den Blick, und zwar als Reflex auf die »sozialstruktu-
dustriellen ›Superstrukturen‹ (vgl. Gehlen 1961/ relle Außenstellung des Individuums, also auf de[n]
2004b, 305) kompensiert werde, während Freyer das Umstand, daß es in keines der gesellschaftlichen Teil-
»neue Naturmilieu« der Industriekultur zu einem systeme mit all seinen Ansprüchen und Verdiensten
nicht mehr zurücknehmbaren »Sachzusammen- mehr aufgenommen werden kann« (SS, 365).
hang« (Freyer 1965, 299) erklärte. Entsprechend de- Ganz so konsequent allerdings, wie die Theorie-
kliniert auch Luhmann die Ubiquität der Funktions- anlage es suggeriert, will Luhmann das Schicksal der
orientierung durch, die selbst auf das protestlerische ›Persönlichkeit‹ dann doch nicht in »homme-copie«-
Vokabular ihrer Gegner durchschlage (vgl. SS, Schablonen (SS, 366; vgl. aber auch GG, 1019) leer-
464 f.). Während sich allerdings die Leipziger Schule laufender Individualitätsbehauptungen aufgelöst se-
noch grundsätzlich an dem gebrochenen Verhältnis hen. Bereits in seinem Grundrechte-Buch (1965) gibt
zwischen gewachsener ›erster‹ und konstruierter Luhmann unter Verweis auf Gehlen zu bedenken,
›zweiter‹ Natur abarbeitete und der industriellen dass Institutionen nicht nur von schwierigen Verhal-
Artifizialisierung der menschlichen Lebenswelt ent- tensentscheidungen, sondern auch von bodenlosem
weder eine »metaphysische« Dauerreflexion (vgl. Selbstdarstellungsaufwand entlasten, indem sie Ver-
Schelsky 1965a, 469 ff.) oder ethosbildende Motiva- halten sozial standardisieren. Die Pointe ist dann
tionsressourcen aus der untergehenden Welt ›primä- ganz ähnlich wie in Gehlens Überlegungen, dass
rer Systeme‹ (Freyer) entgegenzusetzen suchte, sind ›Persönlichkeit‹ überhaupt erst vor dem Hinter-
für Luhmann die »zahllosen nichtnatürlichen Selbst- grund dieser standardisierten Verhaltensgrundlage
verständlichkeiten« (GG, 532) heutiger Lebenswelten in Erscheinung treten, also nicht direkt intendiert
eine Tatsache, aufgrund der sich solche Anstrengun- werden kann. Vielmehr schlägt sie sich in einer ›Hal-
gen nicht mehr lohnen. Die Popularisierung des ro- tung‹ nieder, der es gelingt, gerade durch »wider-
mantischen Liebesideals etwa habe die ›primäre‹ spruchsvolle soziale Anforderungen« (Luhmann
Intimsphäre selbst bereits auf bestimmte Weise co- 1965, 71) hindurch an der Stimmigkeit der Selbstdar-
diert und darin an die allumfassende Funktionsori- stellung festzuhalten. Ein solches Verständnis deckt
326 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

sich nahezu vollständig mit Gehlens bekanntem Dik- ausgabe. Bd. 7: Einblicke. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg.
tum von der »Persönlichkeit« als »Institution in ei- Frankfurt a. M. 1978, 253–266.
–: Gesamtausgabe. Bd. 6: Die Seele im technischen Zeitalter
nem Fall«, in welcher die »anspruchsvollen Tenden-
und andere sozialpsychologische, soziologische und kul-
zen des Geistes« nicht etwa in der den ›Realitätskon- turanalytische Schriften. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg.
takt‹ verlierenden Künstler- und Intellektuellenkul- Frankfurt a. M. 2004a.
tur, sondern im »Apparat selbst zur Geltung zu –: »Über kulturelle Kristallisation« [1961]. In: Gehlen
bringen« sind (Gehlen 2004a, 132 f.). Aus diesem 2004a, 298–314 (= 2004b).
Blickwinkel sind einige Einlassungen auch des späte- –: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse
und Aussagen [1956]. Frankfurt a. M. 62004c.
ren Luhmanns durchaus in der Leipziger Tradition Göbel, Andreas: »Institution und System«. In: Hans Joas/
zu verorten, etwa wenn er die Verbindung von ex- Joachim Fischer (Hg.): Kunst, Macht und Institution:
pressivem und instrumentellem Verhalten mit dem Studien zur philosophischen Anthropologie, soziologi-
gehlenschen Begriff der »stabilisierten Spannung« schen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Fest-
belegt (vgl. LdV, 229) oder eine zu weit getriebene schrift für Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt a. M. 2003,
185–197.
Differenzierung von psychischen und sozialen Syste- Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution. Ein Beitrag
men ausdrücklich als Verfallsform brandmarkt, die zur politischen Soziologie. Berlin 1965.
das Individuum in seiner Selbstbeschreibung auf –: »Funktionale Methode und Systemtheorie« [1964]. In:
kaum mehr als auf seine formelhafte und nackte ›In- SA1, 31–53.
dividualität‹ zurückwerfe (vgl. SS, 362; hierzu auch –: »Reflexive Mechanismen« [1966]. In: SA1, 93–111.
–: »Soziologie als Theorie sozialer Systeme« [1967]. In: SA1,
Rehberg 2005, 301 f.; Wöhrle 2010, 327 ff.). Diese 113–136.
letztlich wohl doch von einem großbürgerlichen Per- –: »Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbo-
sönlichkeitsideal getragene Süffisanz gegenüber der lisch generalisierter Kommunikationsmedien« [1974].
Voraussetzungs- und Bindungslosigkeit ›individuel- In: SA2, 170–192.
ler‹ Selbstbeschreibungen lässt es plausibel erschei- –: Universität als Milieu. Hg. von André Kieserling. Biele-
feld 1992.
nen, dass die Leipziger Tradition auch in dieser Rehberg, Karl-Siegbert: »Aktion und Ordnung. Soziologie
Hinsicht »in Luhmann auf eine indirekte Weise den als Handlungslehre: Leipziger Klassiker-Lektüren«. In:
produktivsten Fortsetzer zentraler theoretischer In- Cornelia Bohn/Herbert Willems (Hg.): Sinngenerato-
novationen fand« (Rehberg 2005, 302) – einen »Fort- ren. Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-
setzer« allerdings, der letztlich die Dramatik von historischer Perspektive. Festschrift für Alois Hahn zum
60. Geburtstag. Konstanz 2001, 301–337.
›post-histoire‹-Prognosen ›cool‹ beiseiteschiebt und –: »Konservativismus in postmodernen Zeiten: Niklas Luh-
in der Endlosigkeit systemischen Prozessierens eine mann«. In: Gunter Runkel/Günter Burkart (Hg.): Funk-
›Nach-Geschichte‹ der besonderen Art konzipiert, tionssysteme der Gesellschaft. Beiträge zur Systemtheo-
die weitere Berührungen mit der Postmoderne er- rie von Niklas Luhmann. Wiesbaden 2005, 285–309.
kennen lässt. Schelsky, Helmut: »Der Mensch in der wissenschaftlichen
Zivilisation«. In: Ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit.
Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepu-
Literatur blik. Düsseldorf/Köln 1965a, 449–499.
–: »Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum The-
Baier, Horst: »Die Geburt der Systeme aus dem Geist der In- ma einer modernen Religionssoziologie«. In: Ders.: Auf
stitutionen. Arnold Gehlen und Niklas Luhmann in der der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur
Genealogie der Leipziger Schule«. In: Helmut Klages/ Soziologie der Bundesrepublik. Düsseldorf/Köln 1965b,
Helmut Quaritsch (Hg.): Zur geisteswissenschaftlichen 250–275.
Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussions- Üner, Elfriede: Soziologie als »geistige Bewegung«. Hans
beiträge des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Freyers System der Soziologie und die »Leipziger Schu-
Verwaltungswissenschaften Speyer. Berlin 1994, 69–74. le«. Weinheim 1992.
Erd, Rainer/Maihofer, Andrea: »Biographie, Attitüden, Zet- Wöhrle, Patrick: Metamorphosen des Mängelwesens. Zu
telkasten: Interview mit Niklas Luhmann«. In: Niklas Werk und Wirkung Arnold Gehlens. Frankfurt a. M./
Luhmann: Short Cuts 1. Berlin/Frankfurt a. M. 2000, New York 2010.
7–40. Patrick Wöhrle und Karl-Siegbert Rehberg
Freyer, Hans: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stutt-
gart 1955.
–: Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur.
Stuttgart 1965.
Gehlen, Arnold: »Das Engagement der Intellektuellen ge-
genüber dem Staat« [1964]. In: Arnold Gehlen Gesamt-
327

16. Konstruktivismus Gerade durch den Konstruktivismus hält Luh-


mann das Realitätsproblem für restlos geklärt. Seine
Systemtheorie kann entsprechend als »De-Ontologi-
Niklas Luhmanns Beschäftigung mit dem Konstruk- sierung der Realität« (SA5, 37) beschrieben werden:
tivismus bzw. Radikalen Konstruktivismus – das »Kognitiv muß […] alle Realität über Unterschei-
Problem der Einheit dieser Strömungen soll hier dungen konstruiert werden und bleibt damit Kon-
nicht weiter verfolgt werden – beginnt Ende der struktion. Die konstruierte Realität ist denn auch
1970er Jahre. Seine Haltung zwischen Zustimmung, nicht die Realität, die sie meint; und auch dies ist er-
Ablehnung und Überbietung, die er von Anfang an kennbar, aber wiederum nur mit Hilfe eben dieser
einnimmt, ist in den folgenden zwanzig Jahren im Unterscheidung erkennbar« (SA5, 50). Erkenntnis ist
Wesentlichen gleich geblieben. Einschlägig für seine demzufolge nicht als direkter Austausch zwischen
Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus sind System und Umwelt zu begreifen. Im Gegenteil argu-
vor allem Erkenntnis als Konstruktion (1988 EaK) mentiert Luhmann, »daß Erkenntnis nur möglich ist,
und die Aufsätze in Soziologische Aufklärung 5. Kon- wenn und weil sich Systeme auf der Ebene ihres Un-
struktivistische Perspektiven (1990 SA5) (neben den terscheidens und Bezeichnens operativ schließen
eher knappen Ausführungen Luhmanns in WissG, und auf diese Weise indifferent werden gegen das,
510 ff. oder in KunstG, 442 ff.). was als Umwelt damit ausgeschlossen ist« (EaK, 239).
Die Grundannahme des Konstruktivismus besagt: Entsprechend gipfeln Luhmanns Überlegungen in
Realität kann nicht erkannt oder repräsentiert, son- der Pointe, dass die Realität nicht jenseits von Er-
dern nur im jeweiligen Beobachtungssystem system- kenntnis zu konzipieren ist, sonder dass »Realität die
intern konstruiert werden, basierend auf bestimmten Erkenntnis selbst ist« (WissG, 510).
Selbstbeobachtungs- und Unterscheidungsleistun- Luhmann betont zwar mehrfach, dass der Kon-
gen. Ernst von Glasersfeld bezeichnet den Radikalen struktivismus in vieler Hinsicht nichts Neues bringt.
Konstruktivismus als »vor allem deswegen radikal, »Aber die Theorieform, in der dies zum Ausdruck ge-
weil er mit der Konvention bricht und eine Erkennt- bracht wird, enthält gleichwohl innovative Momen-
nistheorie entwickelt, in der die Erkenntnis nicht te, ja sogar so radikale Innovationen, daß man den
mehr eine ›objektive‹, ontologische Wirklichkeit be- Eindruck haben kann, die Theorie des selbstreferen-
trifft, sondern ausschließlich die Ordnung und Or- tiellen, in sich geschlossenen Erkennens gewinne erst
ganisation von Erfahrungen in der Welt unseres jetzt die Form, in der sie sich als haltbar erweisen
Erlebens. Der radikale Konstruktivist hat ein für al- kann; oder noch besser: sie gewinne erst jetzt die
lemal dem ›metaphysischen Realismus‹ abgeschwo- Form, in der sie sich selbst als Erkenntnis darstellen
ren« (Glasersfeld 1981, 23). Im Unterschied zu kann« (SA5, 33). Luhmann erhöht die Anforderun-
anderen, teilweise ähnlich klingenden philosophi- gen an einen tatsächlich »radikalen« Konstruktivis-
schen Spekulationen ist es vor allem die biologische mus und nennt dafür fünf basale Unterscheidungen
und neurophysiologische Fundierung, die seit An- (hier knapp zusammengefasst): (1) die Unterschei-
fang der 1970er Jahre die Erkenntnistheorie ›radikal‹ dung von System-Operation und Beobachtung, (2)
verändert. »Ein Großteil dessen, was ich gesagt habe, die Unterscheidung des Beobachters erster Ordnung
ist von Philosophen seit der Antike intuitiv erkannt von dem Beobachter zweiter Ordnung, (3) die Unter-
und akzeptiert worden, niemand hat jedoch bis jetzt scheidung von Fremd- und Selbstbeobachtung, (4)
eine Erklärung angeboten, die die biologische Eigen- die Unterscheidung der Beobachtung von dem, was
art der Phänomene Kognition und Realität nachwei- eben genau damit nicht beobachtet werden kann,
sen könnte« (Maturana, zit. nach Schmidt 1987, 7). und (5) die Unterscheidung des binären Codes der
Auf dem Weg zu seinem Hauptziel einer forcierten Systemschließung von anderen Formen der Selbst-
»Kritik des Wissens« (SA5, 7) greift Luhmann vor al- bzw. Fremdbeobachtung. »Nur eine Erkenntnistheo-
lem das ›Geschlossenheits-Postulat‹ des Konstruk- rie, die alle diese Unterscheidungen berücksichtigt,
tivismus, insbesondere das zentrale Konzept der sie aufeinander bezieht und die dabei anfallenden Pa-
›Autopoiesis‹ auf, deren Theorie Luhmann als »Para- radoxien auflöst, sollte das Recht haben, sich als
digmawechsel« (SS, 240) bezeichnet. Hingegen dis- ›konstruktivistisch‹ zu bezeichnen« (EaK, 226). An
tanziert sich Luhmann von apologetischen Versu- der Bezeichnung ›Konstruktivismus‹ meldet Luh-
chen, dem Konstruktivismus »eine kleine Beimi- mann prinzipielle Zweifel an: »[M]it dem neuen (der
schung von Realismus aufzudrängen«, was ihm Mathematik entnommenen) Wort ›Konstruktivis-
»verfehlt« (SA5, 9) erscheint. mus‹ feiert man vorschnelle Triumphe und muß
328 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

dann in Kauf nehmen, daß andere kopfschüttelnd ne autopoietische Systeme« (SA5, 196) an. Der
beiseite treten, um dies durchzulassen« (SA5, 33). Grundannahme Luhmanns, soziale Systeme seien
Die Etikettierung als »radikal« beansprucht Luh- »autopoietische Systeme«, ist verschiedentlich wi-
mann für sich selbst: »Erst die Soziologie der Er- dersprochen worden, nicht zuletzt energisch von
kenntnis ermöglicht einen radikalen, sich selbst Maturana selbst (vgl. hierzu Scheffer 1992, 46–56).
einschließenden Konstruktivismus« (EaK, 227). In Luhmann verwahrt sich gegen jede Zurechnung
Umkehrung der Forschungsgeschichte fordert Luh- des Erkennens auf ›den Menschen‹ bzw. auf ›einen
mann sogar, »daß jeder Konstruktivismus von Sys- bestimmten Menschen‹: »Wenn irgendwo, dann liegt
temtheorie ausgehen muß« (WissG, 546). Und in der hier zu Tage, daß es sich beim ›Konstruktivismus‹ um
Tat ist niemand weiter gegangen als Luhmann mit eine ganz neuartige Erkenntnistheorie handelt. Es
seiner Behauptung, Erkenntnis sei überhaupt nur er- geht um eine post-humanistische Theorie. Damit ist
reichbar, weil es keine operativen Beziehungen zwi- nichts Böses gemeint, sondern nur gesagt, daß die
schen System und Umwelt gebe. Begriffsfigur ›der Mensch‹ (im Singular!), als Be-
Die für seine eigene Systemtheorie relevanten An- zeichnung des Trägers und als Garant der Einheit von
leihen, Übernahmen und Überbietungen des Kon- Erkenntnis aufgegeben werden muß« (SA5, 53).
struktivismus betreffen vor allem das Konzept der Deutliche Unterschiede zu den vielen Varianten des
›Autopoiesis‹ (verbunden mit dem Konzept der Konstruktivismus sieht Luhmann vor allem auch
›strukturellen Kopplung‹) und das Beobachter-Kon- dort, wo er Positionen kritisiert (insbesondere von
zept. Maturana und Foerster), die der Ansicht sind, soziale
Systeme seien Einheiten, die aus menschlichen Indi-
viduen bestehen (vgl. etwa Luhmann 1991, 73). Luh-
Autopoiesis mann kritisiert damit direkt oder indirekt auch alle
Diskussionen, die aus dem Konstruktivismus be-
Maturana schreibt 1970: »Der Ausdruck ›autopoieti- stimmte Regeln der zwischenmenschlichen Interak-
sche Organisation‹ bedeutet […] Prozesse, die auf tion, des sozialen Verhaltens, gar der ethischen
spezifische Weise verkettet sind: auf eine Weise, in der Verpflichtung und schließlich auch noch ›therapeu-
die verketteten Prozesse die Bestandteile erzeugen, tische‹ Vorschläge ableiten wollten. Seine äußerst
die das System als eine Einheit aufbauen und kenn- strikte Trennung zwischen Kommunikation und Be-
zeichnen« (zit. nach Maturana 1982, 186). Autopoie- wusstsein (und sein Desinteresse an Bewusstsein)
tische Systeme sind zwar auf eine Umwelt und auch hebt ihn entschieden von den Vertretern des Kon-
auf Irritationen durch eine Umwelt angewiesen, aber struktivismus (insbesondere von Maturana) ab.
als geschlossene Systeme importieren sie keinerlei In- Über den Konstruktivismus hinaus geht auch
formationen von außen, sondern Informationen Luhmanns Annahme, dass geschlossene autopoieti-
werden (wenn überhaupt) ausschließlich im System sche Systeme konsequenterweise über Codierungen
selbst hervorgebracht, stets als vollständige Eigenleis- verfügen müssen, mit denen sie sich von ihrer Um-
tungen des Systems. Für Luhmann sind autopoieti- welt abschließen. Dies ist keine Überlegung, die sich
sche Systeme in operationaler Weise geschlossene in elaborierter Form schon innerhalb des Konstruk-
Systeme, die »die Elemente, aus denen sie bestehen, tivismus finden ließe. Den Begriff der ›strukturellen
durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst Kopplung‹ schreibt Luhmann indessen wieder aus-
produzieren und reproduzieren« (SA6, 56). Auto- drücklich Maturana zu (SS, 298). Bei Maturana (und
poietische Systeme sind »geschlossene Systeme, denn in diesem Fall weitgehend ähnlich bei Luhmann)
sie lassen in ihrer Selbstbestimmung keine anderen meint der Begriff jene besondere Prozessart, in der
Formen des Prozessierens zu. […] Um deutlich zu sich autopoietische Systeme mit anderen autopoieti-
machen, wie sehr dieser Begriff von basaler Selbstre- schen Systemen koordinieren (aber eben nicht direkt
ferenz sich von älteren Diskussionen über ›Selbstor- austauschen). »Strukturelle Kopplungen produzie-
ganisation‹ unterscheidet, haben Maturana und ren nicht Operationen, sondern nur Irritationen
Varela dafür die Bezeichnung ›Autopoiesis‹ vorge- (Überraschungen, Enttäuschungen, Störungen) des
schlagen« (SS, 60). In seinem eigenen Autopoiesis- Systems, die dann vom System selbst auf Grund des
Konzept unterscheidet Luhmann strikt zwischen »ei- Netzwerks eigener Operationen in weitere Operatio-
ner lebensmäßigen, einer psychischen und einer nen umgesetzt werden« (SA5, 103).
kommunikativen« Ebene und nimmt für »all diese[] Innerhalb der Überlegungen des Konstruktivis-
Ebenen unterschiedliche, gegeneinander geschlosse- mus ist insbesondere bei Maturana die auch für Luh-
Konstruktivismus 329

mann bedeutsame These nachweisbar, dass es beobachtender Beobachter nicht beobachten kann«
aufgrund der Geschlossenheit der (psychischen) Sys- (SA5, 46).
teme keinerlei direkte Informationsübertragung Der wichtigste Unterschied zwischen Luhmann
durch Sprache gibt (Maturana 1982, 57). Auch hier und Maturana besteht darin, dass Maturana den Be-
erzielt Luhmann eine weitreichende Überbietung obachter vermenschlicht, er versteht ihn als eigen-
durch seine strikte Trennung zwischen Kommunika- ständiges autopoietisches System und bindet seine
tion und Bewusstsein und seine spezifische Akzentu- Beobachtungsmöglichkeit zentral an Sprache und
ierung, dass Kommunikation nur mit Kommunika- Konsensualität (Maturana 1987, 110). Luhmann
tion kommuniziert und allenfalls durch Bewusstsein hingegen unterscheidet deutlich zwischen »Auto-
irritiert werden kann. poiesis und (Selbst-)Beobachtung« (SS, 491) und
wehrt sich vor allem gegen die konstruktivistischen
Versuche, mit dem »Beobachter« wieder eine perso-
Beobachter nale Identität oder gar Individualität zu verbinden.
Er kritisiert darüber hinaus Maturanas These, den
›Beobachten‹ heißt bei Maturana (1982, 34) und Va- Begriff des Beobachtens von der gleichzeitigen Ver-
rela (ähnlich bei George Spencer-Brown) nichts an- fügbarkeit über Sprache abhängig zu machen (EaK,
deres als eine Unterscheidung treffen. Wie eng sich 236; WissG, 33), während sich Maturana dagegen
Luhmann in seiner Beobachtungstheorie am Kon- wehrt, die Biologie zu verwenden, um die Entbehr-
struktivismus (und eben nicht nur an Spencer- lichkeit des Individuums innerhalb der Konzeption
Brown) orientiert, kann folgendes Zitat Varelas aus von Gesellschaft zu rechtfertigen (vgl. Maturana
dem Jahr 1975 belegen: »Der Ausgangspunkt dieses 1982, 220 u. 271).
Kalküls […] ist das Setzen einer Unterscheidung. Mit
diesem Urakt der Trennung scheiden wir Erschei-
nungsformen voneinander, die wir dann für die Welt
selbst halten. Davon ausgehend bestehen wir dann Resümee
auf dem Primat der Rolle des Beobachters, der seine Luhmann wirft dem Konstruktivismus vor, »seine
Unterscheidungen an beliebiger Stelle macht. Doch Hausaufgaben noch nicht zureichend erfüllt«
diese Unterscheidungen, die einerseits unsere Welt (WissG, 521) zu haben, wenn dieser lediglich auf die
erschaffen, enthüllen andererseits aber eben dies: Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit
nämlich die Unterscheidungen, die wir machen – hinweise. Sein Konzept sieht er »im Widerspruch
und sie beziehen sich viel mehr auf den Standpunkt […] zum Begriff der Autopoiesis von Maturana, der
des Beobachters als auf die wahre Beschaffenheit der zur Herstellung von System/Umweltbeziehungen ei-
Welt, die infolge der Trennung von Beobachter und nen Beobachter als ein anderes System erfordert.
Beobachteten immer unfaßbar bleibt. […] Im Ge- Wenn man jedoch die Begriffe Beobachtung und
gensatz zur weit verbreiteten Annahme enthüllt die Selbstbeobachtung auf der Ebene der allgemeinen
sorgfältige Untersuchung einer Beobachtung die Ei- Systemtheorie ansetzt und, wie angedeutet, mit dem
genschaften des Beobachters. Wir, die Beobachter, Begriff der Autopoiesis verbindet, wird Selbstbeob-
unterscheiden uns gerade durch die Unterscheidung achtung zur notwendigen Komponente autopoieti-
dessen, was wir anscheinend nicht sind, nämlich scher Reproduktion« (SS, 64).
durch die Welt« (Varela 1975; zit. nach Watzlawick/
Krieg 1991, 9 f.). Im Vergleich dazu Luhmann: »Wäh-
rend im Normalverständnis das Beobachten des Be- Literatur
obachtens sich vor allem auf das richtet, was ein
Beobachter beobachtet (indem es Subjekte und Ob- Foerster, Heinz von: »On Self-Organizing Systems and their
Environments«. In: Marshall C. Yovits/Scott Cameron
jekt unterscheidet, sich aber vor allem für das Objekt (Hg.): Self-Organizing Systems. London 1960, 31–50.
interessiert), beschreibt der Konstruktivismus ein –: Sicht und Einsicht. Versuch zu einer operativen Erkennt-
Beobachten des Beobachtens, das sich dafür interes- nistheorie. Braunschweig/Wiesbaden 1985.
siert, wie der beobachtete Beobachter beobachtet. – /Georg W. Zopf (Hg.): Principles of Self-Organisation.
Diese konstruktivistische Wendung ermöglicht ei- New York 1962.
Glasersfeld, Ernst von: »Einführung in den radikalen Kon-
nen qualitativen Wandel, eine radikale Veränderung struktivismus«. In: Watzlawick 1981, 16–38.
des Stils rekursiver Beobachtung; denn man kann auf –: Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radika-
diese Weise nun auch noch beobachten, was/wie ein len Konstruktivismus. Braunschweig/Wiesbaden 1987.
330 Verbindungen, Bezüge, Differenzen

Luhmann, Niklas: »Autopoiesis als soziologischer Begriff«. –/–: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln
In: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.): Sinn, Kom- des menschlichen Erkennens. Bern/München/Wien
munikation und soziale Differenzierung. Frankfurt a. M. 1987.
1987, 307–324. Riegas, Volker/Vetter, Christian (Hg.): Zur Biologie der Ko-
–: »Vorwort«. In: SA5, 7–13. gnition. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und
–: »Das Erkenntnisproblem des Konstruktivismus und die Beiträge zur Diskussion seines Werkes. Frankfurt a. M.
unbekannt bleibende Realität«. In: SA5, 31–58. 1990.
–: »Gleichzeitigkeit und Synchronisation«. In: SA5, 95–130. Scheffer, Bernd: Interpretation und Lebensroman. Zu einer
–: »Sozialsystem Familie«. In: SA5, 196–217. konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt a. M.
–: »Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?« In: 1992.
Watzlawick/Krieg 1991, 61–74. Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Kon-
–: »Die Autopoiesis des Bewußtseins«. In: SA6, 55–112. struktivismus. Frankfurt a. M. 1987.
Maturana, Humberto R.: Biology of Cognition. Biological Varela, Francisco J.: »A Calculus of Self-Reference«. In: In-
Computer Laboratory. Report 9.0. Urbana, IL 1970 (dt. ternational Journal of General Systems 2. Jg. (1975),
in Maturana 1982, 32–80). 5–24.
–: »Man and Society«. In: Frank Benseler/Peter M. Hejl/ –: Principles of Biological Autonomy. New York 1979.
Wolfram K. Köck (Hg.): Autopoiesis, Communication –: »Autonomie und Autopoiese«. In: Schmidt 1987,
and Society. The Theory of Autopoietic Systems in the 119–132.
Social Sciences. Frankfurt a. M. 1980, 1–31. –: Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine Skiz-
–: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von ze aktueller Perspektiven. Frankfurt a. M. 1990.
Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Watzlawick, Paul (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie
Epistemologie. Braunschweig/Wiesbaden 1982. wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum
–: »Biologie der Sozialität«. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Konstruktivismus. München/Zürich 1981.
Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt – /Krieg, Peter (Hg.): Das Auge des Betrachters. Beiträge
a. M. 1987, 287–302. zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foers-
– /Varela, Francisco J.: Autopoietic Systems. Biological ter. München 1991.
Computer Laboratory. Report 9.4. Urbana, IL 1975. Bernd Scheffer
331

VII. Rezeption

1. Erziehungswissenschaft Bruch mit der Tradition wahrgenommen wurde. In


vielen Reaktionen wird deshalb auch bis heute das
gesamte Inventar der überlieferten normativen und
Rezeptions- und Verbreitungsmuster, anthropologischen Prämissen der Pädagogik mobili-
Phasen der Aufmerksamkeit, Kontexte siert, um deren eigenes Erkenntnispotential gegen-
über der Systemtheorie zu verteidigen. Luhmann
Luhmanns Arbeiten wurden in der deutschsprachi- und Schorr zeigten sogar Verständnis für die Gleich-
gen Erziehungswissenschaft relativ früh wahrge- setzung ihrer Rolle für die Pädagogik mit der des Teu-
nommen. Sie haben zunächst »erheblichen Aufruhr fels in der Gemeinde der Gläubigen und dafür, »daß
hervorgerufen« (Prange 2009, 251), wurden bald re- Pädagogen […] Schwefel riechen« (Luhmann/
lativ breit diskutiert und von einer kleinen Gruppe Schorr 1979/1988, 373, Anm. 19). Innerhalb der an
von Erziehungswissenschaftlern auch intensiv rezi- Habermas und andere anschließenden »kritischen
piert. Neben der deutschsprachigen Rezeption gibt es Erziehungswissenschaft« wurde Luhmann schließ-
auch, eher vereinzelt, Beachtung z. B. innerhalb der lich erneut als Exempel der generell zu kritisierenden
niederländischen Erziehungswissenschaft (vgl. Hey- »Sozialtechnologie« zitiert (Brunkhorst 1983). In der
ting 1987; Vanderstraeten 2004). Man kann trotz der empirischen Bildungsforschung, die zu Beginn die-
Zurechnung zu den »Klassikern der Pädagogik« ses Jahrhunderts stark pädagogisch-psychologisch
(Prange 2008) bzw. zu ihren »Hauptwerken« (vgl. die argumentiert, werden systemtheoretische Argumen-
Beiträge in Böhm/Fuchs/Seichter 2009 zu ErzG sowie te dagegen weniger wahrgenommen, allenfalls für
zu Luhmann/Schorr 1979) allerdings wohl kaum sa- Governance-Analysen berücksichtigt.
gen, dass sich eine schulenspezifisch verfestigte ›sys- In der Vielfalt dieser unterschiedlichen Referen-
temtheoretische‹ oder eindeutig Luhmann verpflich- zen entwickelte sich die bis heute andauernde Rezep-
tete Richtung innerhalb der Erziehungswissenschaft tion. Sie ist einerseits sehr kritisch und dann zum Teil
gebildet hätte. Selbst wenn in einer Einführung in schon in der Abwehr ritualisiert, in den theoretischen
Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft Referenzen aber sowohl für die Erziehungswissen-
eine »systemtheoretische Erziehungswissenschaft« schaft als auch für die Bedeutung Luhmanns wenig
präsentiert wird, geschieht das mit dem warnenden ergiebig, weil sie sich in der Kritik eher auf ein pole-
Hinweis, dass die disziplinäre Zurechnung offen sei misch konstruiertes Syndrom ›Systemtheorie‹ als auf
(Krüger 1997). Die Begriffe ›System‹ oder ›Evoluti- Luhmann selbst bezieht (z. B. Schäfer 1983; Pongratz
on‹ schließlich werden auch in der Erziehungswis- 2009). Diese Art der Bezugnahme gehört zwar zur
senschaft nicht allein aus luhmannschen Texten Luhmann-Rezeption genauso wie die breite, nicht
bezogen oder in seinem Sinne interpretiert. selten unpräzise und kaum kontinuierlich auf Luh-
Die dennoch unbestreitbar große Aufmerksam- mann verweisende Referenz auf ›System‹ in der Er-
keit wurde vor allem dadurch befördert, dass Luh- ziehungswissenschaft. Diese Rezeptionsmuster wer-
mann – zunächst gemeinsam mit Karl-Eberhard den im Folgenden zugunsten einer theoretisch
Schorr, dann mit Dieter Lenzen – den disziplinären distinkten und explizit auf Luhmann zielenden
Kontakt zur Erziehungswissenschaft in eigenen Ver- Wahrnehmung und Diskussion aber weitgehend
anstaltungen selbst gesucht und auch gefunden hat. ausgeklammert. Dieser Fokussierung entsprechend,
Das Erziehungssystem war für ihn ein interessanter werden zunächst die von den Reflexionsproblemen im
Testfall, schon wegen der Probleme, die mit Funktion Erziehungssystem (Luhmann/Schorr 1979/1988) aus-
und Medium der Erziehung aufgeworfen wurden. gelösten Debatten behandelt, anschließend die wei-
Die Aufmerksamkeit für ›die Systemtheorie‹ war in teren Diskussionen bis zu dem posthum erschiene-
der Erziehungswissenschaft auch deswegen groß, nen Erziehungssystem der Gesellschaft (ErzG 2002).
weil Luhmanns Argumentation innerhalb des zu- Beiden Phasen lassen sich auch bereits vorliegende
nächst noch dominierenden geisteswissenschaftlich- eigenständige Analysen zur Luhmann-Rezeption in
philosophischen Mainstreams als gravierender der Erziehungswissenschaft zuordnen, die zuerst
332 Rezeption

»nützliche Provokationen« (Oelkers/Tenorth 1987), on wird gleichzeitig verständlich, dass Luhmann


dann »Irritationen des Erziehungssystems« als »päd- innerhalb des engeren Zirkels der empirischen Bil-
agogische Resonanzen« feststellen (Lenzen 2004) dungsforschung oder der Pädagogischen Psycholo-
und zum Teil auch die Rezeption im Einzelnen um- gie im Grunde wenig wahrgenommen wird.
fassender nachweisen (z. B. Oelkers/Tenorth 1987, Die Rezeption war dabei nicht frei von Missver-
Einleitung). ständnissen, z. B. wenn sie unterstellte, Luhmann
und Schorr wollten eine eigene Erziehungswissen-
schaft vorlegen, während sie doch nur eine »soziolo-
Reflexionsprobleme im Erziehungssystem – gische Theorie pädagogischer Reflexion« beabsich-
Systemtheorie als kritische ›Soziologie tigten (Luhmann/Schorr 1979/1988, 363 ff., v. a.
pädagogischer Reflexion‹ 374 f.). Provokant für das theoretische Selbstver-
ständnis der Pädagogik war diese Analyse dennoch,
Sieht man von einer frühen Wahrnehmung Luh- weil das Referenzproblem nicht in den alten bil-
manns innerhalb der Bildungssoziologie ab und dungstheoretischen, meist emphatischen Formeln
ignoriert man auch seine Einbindung als Organisati- der »Höherbildung der Menschheit« (Kant) gesucht
onssoziologen in die Kommunikation der Erzie- wurde, sondern in der Behauptung »struktureller
hungswissenschaft mit ihren Nachbardisziplinen Defizite« des Erziehungssystems, der Erziehung und
(Luhmann 1969), dann setzt die intensive Wahrneh- ihrer Reflexion (Luhmann 1987). Die strukturellen
mung, behutsame Aneignung und kritische Diskus- Defizite wurden zugleich als »Bedingung der Mög-
sion mit dem Erscheinen der gemeinsam mit Schorr lichkeit ihrer Operationen« eingeführt und als para-
verfassten Reflexionsprobleme im Erziehungssystem dox charakterisiert, wobei »die Sonderparadoxie des
(1979/1988) ein. Die von Beginn an immer auch kri- Erziehungssystems« aus dem Kern der pädagogi-
tische Rezeption wurde institutionell gestützt durch schen Intention hervorgeht: der »Intentionalisierung
eine verstetigte Diskussion innerhalb der Deutschen von Sozialisation« (ebd., 58 f.).
Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und durch Vor diesem Hintergrund sah sich die Pädagogik
Aufsatzveröffentlichungen in der Zeitschrift für Päd- mit einer vollständigen Umdeutung ihrer eigenen
agogik. Die frühe Wahrnehmung gewann Kontinui- Weltwahrnehmung konfrontiert: mit einem ›Tech-
tät, zentrale Beachtung und einen Duktus auch nologiedefizit‹ bezogen auf die zielbezogene Gestal-
jenseits der abwehrenden Kritik durch eine Reihe von tung der Erziehung; mit einem ›Verstehensdefizit‹ im
Publikationen, die – von Luhmann und Schorr ediert Blick auf den Adressaten; mit dem ›Analysedefizit‹,
und aus von ihnen geplanten Tagungen hervorge- das der wertthematischen Behandlung der Erzie-
gangen – seit 1982 und bis 1996 »Fragen an die Päd- hungsfragen und des Erziehungssystems in seiner
agogik« formulierten. Diese Fragen betrafen zwar Umwelt eigen ist, und das zugleich eine klare Sicht
Themen, Diagnosen und Begriffe, von denen die kri- auf das selbstreferentiell erzeugte und konstante Pro-
tische Diskussion der Systemtheorie innerhalb der blem der ›Reform‹ verhindert (Luhmann/Schorr
Erziehungswissenschaft bestimmt war, aber sie ge- 1988); sowie schließlich, systematisch zuspitzend,
wannen in der systematischen Erörterung eigene mit der These von der analytischen Unzulänglichkeit
Dignität: Das Problem von »Technologie und Selbst- des für die Pädagogik zentralen Begriffs der Bildung.
referenz« (1982) stand am Anfang, es folgten »In- Dieser erschien allein als ›Kontingenzformel‹ zur
transparenz und Verstehen« (1986), »Anfang und Thematisierung von Einheit und zur Abwehr von
Ende« der Erziehung (1990), »Absicht und Person« Technologieerwartungen, die zudem noch – im
(1992) sowie »System und Umwelt« (1996) – mit ei- ›Technologieverdikt‹ der idealistischen Bildungsphi-
ner starken Präsenz kritischer Positionen (Ruhloff, losophie – paradoxerweise für ein Können formuliert
Schäfer, Koller) – und, nun in Kooperation mit Len- wurden, das man – systemtheoretisch gesehen – gar
zen, »Bildung und Weiterbildung« (1997). Mit die- nicht können kann (GS2, 105–194).
sen Themen sind erkennbar Fragen der allgemeinen Die »Fragen an die Pädagogik« thematisierten die-
Erziehungswissenschaft angesprochen, grundlagen- se Themen und alternative Analyseperspektiven. Der
theoretische Probleme, für die jetzt systemtheoreti- theoretische Ertrag der dabei vorgelegten Abhand-
sche und insofern distanzierte, von außen vorgetra- lungen im Einzelnen muss hier nicht rekapituliert
gene Reformulierungen klassischer Fragen der Päda- werden, aber man kann sagen, dass sich in diesen
gogik vorlagen, die sofort Diskussionsbedarf erzeug- Debatten die Provokation tatsächlich als ›nützlich‹
ten. In dieser grundlagentheoretischen Konzentrati- erwies. Die beteiligten Erziehungswissenschaftler,
Erziehungswissenschaft 333

meist aus der jüngeren Generation der nach 1975 in behelfe‹, in denen Luhmann und Schorr die Techno-
das Fach eingetretenen Pädagogen, sowohl aus der logieproblematik bearbeitet sahen, systematisch auf
allgemeinen Erziehungswissenschaft (z. B. Heyting, das Wissen der pädagogischen Berufe und auf die
Lenzen, Oelkers, Prange, Tenorth, Treml) als auch Handlungs- und Analyseformen ihrer eigenen Praxis
aus den Subdisziplinen, z. B. der Sozialpädagogik zu beziehen. Neben der Kritik der leichtfertig gene-
(z. B. Brumlik), der Berufspädagogik (z. B. Harney) ralisierten Defizitannahme (Tenorth 1999) zeichnen
oder der Didaktik (z. B. Diederich, Giel, Hiller) und sich neue Überlegungen zur ›operativen‹ Dimension
der Organisationsforschung (z. B. Kuper, Merkens), der Pädagogik (Prange) und dann vor allem zur zen-
entwickelten nicht allein Verständnis für die Außen- tralen Zeitdimension ab (z. B. Diederich), die ohne
sicht, die ihnen zugemutet wurde, sondern entdeck- die Auseinandersetzung mit Luhmann schwerlich er-
ten zentrale Probleme ihrer eigenen Reflexionstradi- klärbar sind. Das gilt auch für die Analyse des Zu-
tion neu, ja räumten hier und da sogar ›Theoriege- sammenhangs von Intention und Wirkung, in denen
winn‹ (Brumlik) ein. Der Begriff der Bildung wurde die Pädagogik ihre normativen Zuschreibungen an
zwar nach wie vor nicht auf die ›Kontingenzformel‹ eine allein als ›gebrochen‹ legitime Erziehungserwar-
reduziert oder aus der Differenz von (als folgenlos tung theoretisch reformuliert. Die Debatte über das
charakterisiertem) ›Programm‹ und dem systemisch ›Verstehensdefizit‹ allerdings hat nicht dazu geführt,
relevanten ›Code‹ der ›Selektion‹ (so Luhmann 1986) dass emphatische Erwartungen etwa an das ›Verste-
verstanden, sondern behielt seine traditionale Rolle. hen‹ des Kindes mehrheitlich ernüchtert wurden;
Schließlich hat Luhmann aber selbst den Begriff nä- auch der Begriff ›Person‹ wird nicht generell soziolo-
her bei der Pädagogik interpretiert (ErzG, bes. gisch distanziert gehandhabt, sondern meist noch in
177–196). der alten wertthematischen Tradition.
Allerdings veränderte sich der Diskurs in der Er- Alle diese Analyseangebote werden aber nicht
ziehungswissenschaft gravierend: Die von Luhmann mehr allein auf den schulischen Kernbereich der Pä-
und Schorr (1979) bestärkte Unterscheidung von dagogik bezogen, sondern befördern in weiteren
›Pädagogik‹ als Reflexionstheorie im Erziehungssys- Handlungsfeldern und ihrer Reflexion eigene Muster
tem und einer beobachtenden ›Erziehungswissen- der Beachtung der Systemtheorie. In der Sozialpäda-
schaft‹ ist inzwischen mit der Unterscheidung von gogik etwa, die Luhmann selbst früh thematisiert hat
›Wissensformen‹ nahezu selbstverständlich, viel- (Luhmann 1973), ist dieser Impuls besonders für den
leicht auch deswegen, weil sie sich mit der Unter- Versuch fruchtbar geworden, die spezifische Funkti-
scheidung von Aussagensystemen verbinden ließ, die on von Sozialpädagogik mit Luhmanns Hilfe zu fi-
wissenschaftstheoretisch bereits vorlag, und weil sie xieren, u. a. im Begriff der ›sozialen Hilfe‹ (bereits
heute sehr gut mit empirischen Analysen pädagogi- Harney 1975), später in der Nutzung des Duals von
schen Wissens verbunden werden kann (Kade/Seitter Inklusion/Exklusion. Auch in der Diskussion der
2007). Luhmann wurde damit sowohl für wissen- Probleme der Sonderpädagogik war die Systemtheo-
schaftstheoretische und -historische Studien als auch rie präsent. Aber selbstverständlich war die Aufmerk-
für die Analyse des Wissens von Professionen und in samkeit in der Schulpädagogik besonders intensiv.
Bildungssystemen in Anspruch genommen, nicht Die Systemtheorie hat hier das didaktische Denken
nur in Bezug auf Schule und Unterricht, sondern herausgefordert und als Reflexion der Reflexion zu-
auch für die Soziale Arbeit (Merten 2000). Selbst die gleich die Tradition in neue Theoriearbeit eingebun-
Debatten über die ›Autonomie‹ der Pädagogik profi- den (Diederich 1988). Auch die Professionstheorie
tierten davon, konnten sie doch dem in der Tradition ist durch die These vom Technologiedefizit befördert
gelegentlich übersehenen Autonomieverständnis – worden, so stark, dass sie gelegentlich zur These von
der Selbstständigkeit in der Abhängigkeit – system- der Unmöglichkeit professionellen Handelns und
theoretisch reformuliert neuen und auch der Tradi- vom unaufhebbaren Wissensdefizit der Pädagogik
tion gegenüber angemesseneren Sinn abgewinnen. radikalisiert wurde (Combe/Helsper 1996 u. a.); da-
Die Kontroversen über das Technologieproblem bei war allerdings Ulrich Oevermann in der Professi-
der Erziehung sind ebenfalls produktiv aufgenom- onsreflexion der Pädagogik insgesamt folgenreicher
men worden, gelegentlich so unhinterfragt, dass die als die luhmannschen Überlegungen. Die Schulfor-
Pädagogik statt des Technologieverdikts das ›Tech- schung hat gleichzeitig aus Luhmanns an Weick an-
nologiedefizit‹ wie ein auszeichnendes Etikett vor schließenden Analysen der Schule als einer loosely-
sich her trug. Inzwischen hat sie aber begonnen, die coupled-Organisation entscheidende Anstöße emp-
Analyse der ›Kausalpläne‹ und professionellen ›Not- fangen (früh: Terhart 1986).
334 Rezeption

Für schulischen Unterricht gibt es auch den selte- 1996) und im Kontext von Beruf und Weiterbildung
nen Fall, dass in einer bei Luhmann entstandenen so- rasch aufgenommen, u. a. mit der These vom ›Beruf‹
ziologischen Habilitationsschrift Antworten auf zen- als Umwelt des Betriebs (Harney), stehen Fragen im
trale Fragen der Pädagogik formuliert wurden. Zentrum, die vom Erziehungssystem selbst als Pro-
Jürgen Markowitz hat insofern für das Problem der bleme einer Theorie selbstreferentieller Systeme auf-
Orientierung in der Situation und für die Schwierig- geworfen werden. Vor allem die Frage nach dem
keit, Kontinuität des Handelns angesichts des immer ›Medium‹ der Erziehung wird dann konstant thema-
drohenden Chaos zu erzeugen, mit dem Verweis auf tisiert. Luhmann selbst hatte zuerst das ›Kind‹ als
die Funktion ›emergenter‹ Realität geantwortet Medium der Erziehung vorgeschlagen (Luhmann
(Markowitz 1986) – ohne dass die einschlägige For- 1991), angesichts der offenen Fragen dann im ›Le-
schung dieses Angebot stark beachtet hätte. In der benslauf‹ (Lenzen/Luhmann 1997) die bessere Ant-
vergleichenden Erziehungswissenschaft (v. a. Schrie- wort gesehen. Pädagogik/Erziehungswissenschaft
wer 1994) werden dagegen im Rückgriff auf ein gan- wird vor diesem Hintergrund bei Lenzen als »Hu-
zes Set von luhmannschen Begriffen – ›Weltsystem‹, manvitologie« (Lenzen 1997, 246 f.) bezeichnet, d. h.
›Überschneidungsbereiche‹, ›Externalisierung‹ etc. – als eine Disziplin, in der »Lebenslauf und Human-
zur Analyse der Dynamik von Bildungssystemen und ontogenese« als »Medium und Form« der Erziehung
für das Gefüge der sich ausbildenden Semantik verstanden werden. Dieser Vorschlag wurde in der
Theorieanstöße aus der deutschen Luhmann-Rezep- operativen Spezifik sogar durch Rückgriff auf alte
tion gegeben, die international folgenreich und an- Denkweisen der Erziehungsphilosophie codiert: »Er-
schlussfähig wurden. Rückblickend war es offenbar ziehung ist eine Zumutung, Bildung ist ein Angebot«
keine schlechte Diagnose und Prognose, die Bedeu- (Lenzen/Luhmann 1997, 7).
tung Luhmanns für die wissenschaftliche Pädagogik ›Irritationen‹ dieser Art diskutiert jetzt allerdings
als »nützliche Provokation« (Oelkers/Tenorth) zu ein eher kleiner Kreis (Lenzen 2004) – dann auch
beschreiben. wieder, und gegen die Unterscheidung von Pädago-
gik und Erziehungswissenschaft, sehr stark auf das
Theorieproblem der Erziehungswissenschaft und
Das Erziehungssystem der Gesellschaft nicht nur auf die Selbstbeschreibungen des Erzie-
hungssystems und die soziologische Beobachtung
Die Erziehungswissenschaft hat natürlich weiterhin der Erziehungswissenschaft bezogen (dazu Kraft
an den »Irritationen« (Lenzen) zu tragen, die die Sys- 2007). Aus der Systemtheorie und aus Annahmen
temtheorie ihr einträgt. Dabei wird in einer bis heute über Evolution, Kommunikation und Interaktion
andauernden Phase der Rezeption die vermeintlich sowie – weniger intensiv diskutiert – Sozialisation
im Kernbestand pädagogischer Begrifflichkeit plat- (aber: Tenorth 2007) stammen jetzt die Theorieim-
zierte Distanz zur Systemtheorie problematisch. Das pulse; man findet auch neue Interpretationen des
wird nirgendwo so deutlich wie in der provokanten pädagogischen Codes jenseits von Selektion, z. B.
These von Lenzen, dass im Konzept der Autopoiesis vermittelbar/nicht vermittelbar (Kade 1997). Die
die theoretisch angemessene Reformulierung des mit Rezeption in der Pädagogik bleibt auch in dieser
›Bildung‹ Gemeinten gegeben sei (Lenzen 1997). Phase selektiv. Die Unterscheidung von Inklusion/
Eine vergleichbar von Luhmann inspirierte ›sinn- Exklusion wird genutzt, aber nicht immer in den
theoretische‹ Rekonstruktion und Neuinterpretation Bahnen der luhmannschen systemtheoretischen
der bildungstheoretischen Problematik hat, in der Debatte, sondern – z. B. in der Sonderpädagogik –
Pädagogik wenig beachtet, Rustemeyer vorgelegt eher wertthematisch und politisch. Systemtheoreti-
(u. a. Rustemeyer 2001). Lenzen wie Rustemeyer si- sche Sonderpädagogik (u. a. Hagmann/Simmen
gnalisieren eine Phase der Rezeption, in der auch die 2000; Ahrbeck u. a. 2010) ist insgesamt keine sich
Analyseofferten der Theorie selbstreferentieller Sys- zentral auf Luhmann beziehende Disziplin gewor-
teme zunehmend beachtet werden. Innerhalb der Er- den, insofern vergleichbar dem eher weiten Ge-
ziehungswissenschaft wird dabei versucht, in der brauch des Systembegriffs in der ›Systemischen
Sprache einer neuen Theorie die alten Probleme der Sozialpädagogik‹, die an Luhmann, Baecker u. a.
Erziehungstheorie alternativ zu bearbeiten und nach zwar anschließen kann, aber sich nicht exklusiv dort
Möglichkeit besser zu lösen. verorten will (vgl. u. a. Ritscher 2005). In der syste-
In der Nutzung der Unterscheidung von System matischen Diskussion der alten Leitfrage von Luh-
und Umwelt früh angebahnt (Lenzen/Luhmann mann und Schorr – »Wie ist Erziehung möglich?«
Erziehungswissenschaft 335

(Luhmann/Schorr 1981) – spielen innerhalb der Er- –: »Berufspädagogik und Systemtheorie am Beispiel eines
ziehungswissenschaft, wenn sie das Thema nicht Versuchs von Jürgen Zabeck«. In: Zeitschrift für Berufs-
und Wirtschaftspädagogik 77. Jg. (1981), 779–784.
traditionell philosophisch behandelt, jetzt auch wei-
Heyting, Frieda: Autonomie en socialiteit in de opvoeding.
tere Theorieangebote neben der pädagogischen Psy- Over de technische en de culturele rol van opvoedkundi-
chologie eine Rolle, z. B. die Ethnologie und Ethno- ge theorieën – introductie van een systeemtheoretische
grafie (früh: Kalthoff 1996). Für Luhmanns eigene benadering. Amsterdam 1987.
Überlegungen zur Logik schulischer Arbeit waren Kade, Jochen: »Vermittelbar/Nicht-Vermittelbar: Vermit-
diese – wie die phänomenologischen – Referenzen teln: Aneignen. Im Prozeß der Systembildung des Päda-
gogischen«. In: Lenzen/Luhmann 1997, 30–70.
immer wichtig, aber in der Erziehungswissenschaft – /Seitter, Wolfgang (Hg.): Umgang mit Wissen. Recher-
sind sie heute doch nicht allein von Luhmann inspi- chen zur Empirie des Pädagogischen. 2 Bde. Opladen/
riert. Farmington Hill, MI 2007.
Andererseits versuchen Erziehungswissenschaft- Kalthoff, Herbert: »Das Zensurenpanoptikum. Eine ethno-
ler (z. B. Treml, Scheunpflug u. a. in Lenzen 2004) in graphische Studie zur schulischen Bewertungspraxis«.
In: Zeitschrift für Soziologie 25. Jg. (1996), 106–124.
der Nutzung z. B. evolutionstheoretischer Annah- Kraft, Volker: »Erziehung im Schnittpunkt von Allgemeiner
men und der Denkformen autopoietischer Systeme Pädagogik und Sozialpädagogik«. In: Zeitschrift für Pä-
nicht nur eine Erziehungswissenschaft als beobach- dagogik 45. Jg. (1999), 531–547.
tende Disziplin zu entwickeln, sondern sie sogar – (Hg.): Zwischen Reflexion, Funktion und Leistung: Fa-
technologisch einzusetzen. Dadurch löst sich die Dis- cetten der Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn 2007.
Krüger, Heinz-Hermann: Einführung in Theorien und Me-
ziplin von Bedenken, die Luhmann und Schorr thoden der Erziehungswissenschaft. Opladen 1997.
schon früh gegenüber solchen Ambitionen vorgetra- Lenzen, Dieter: »Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Au-
gen hatten (Luhmann/Schorr 1979/1988, 374 f.). Sie topoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab?« In:
sahen eher in bewusster Interdisziplinarität eine Lö- Zeitschrift für Pädagogik 43. Jg. (1997), 949–968.
sung der Beobachtungsaufgaben gegenüber dem Er- – (Hg.): Irritationen des Erziehungssystems. Pädagogische
Resonanzen auf Niklas Luhmann. Frankfurt a. M. 2004.
ziehungssystem und – für die Praxis – in der Empirie – /Luhmann, Niklas (Hg.): Bildung und Weiterbildung im
der Professionsstrategien. Pädagogik, so ihre These, Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese
könne zwar »akademisches Fach« werden oder durch als Medium und Form. Frankfurt a. M. 1997.
die Institutionalisierung in Universitäten schon sein, Luhmann, Niklas: »Gesellschaftliche Organisation«. In:
aber theoretisch gesehen »keine Wissenschaft«, son- Thomas Ellwein u. a. (Hg.): Erziehungswissenschaftli-
ches Handbuch. Berlin 1969, Bd. 1, 387–407.
dern nur systembezogene Reflexion (ebd., 378). Den –: »Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Be-
Status der Beobachtungsdisziplin hat dann weiter dingungen«. In: Hans-Uwe Otto/Siegfried Schneider
v. a. die Soziologie. Systemtheorie, das ist die Konse- (Hg.): Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit.
quenz, kann nützlich provozieren und Irritationen Neuwied 1973, 1. Halbbd., 21–43.
erzeugen, aber nicht selbst Erziehungswissenschaft –: »Codierung und Programmierung. Bildung und Selekti-
on im Erziehungssystem« [1986]. In: SzP, 23–47.
sein oder werden.
–: »Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft:
Von der Philanthropie zum Neuhumanismus«. In: GS 2,
105–194.
Literatur –: »Strukturelle Defizite. Bemerkungen zur systemtheoreti-
schen Analyse des Erziehungswesens«. In: Oelkers/Ten-
Ahrbeck, Bernd u. a.: »Psychoanalyse und Systemtheorie in orth 1987, 57–75.
Jugendhilfe und Pädagogik«. In: Jahrbuch für Psycho- –: »Das Kind als Medium der Erziehung«. In: Zeitschrift für
analytische Pädagogik 18. Jg. (2010), 103–123. Pädagogik 37. Jg. (1991), 19–40.
Böhm, Winfried/Fuchs, Birgitta/Seichter, Sabine (Hg.): – /Schorr, Karl-Eberhard: Reflexionsprobleme im Erzie-
Hauptwerke der Pädagogik. Paderborn u. a. 2009. hungssystem. Stuttgart 1979; mit einem »Nachwort
Brunkhorst, Hauke: »Systemtheorie«. In: Dieter Lenzen/ 1988«. Frankfurt a. M. 1988.
Klaus Mollenhauer (Hg.): Theorien und Grundbegriffe –/–: »Das Technologiedefizit der Erziehung und die Päd-
der Erziehung und Bildung. Stuttgart 1983, 193–213. agogik«. In: Zeitschrift für Pädagogik 25. Jg. (1979),
Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.): Pädagogische Profes- 345–365.
sionalität. Frankfurt a. M. 1996. –/–: »Wie ist Erziehung möglich?« In: Zeitschrift für Sozia-
Diederich, Jürgen: Didaktisches Denken. Eine Einführung lisationsforschung und Erziehungssoziologie 1. Jg.
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der Allgemeinen Didaktik. Weinheim/München 1988. –/– (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fra-
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Harney, Klaus: »Sozialarbeit als System«. In: Zeitschrift für an die Pädagogik. Frankfurt a. M. 1986.
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336 Rezeption

ziologische Analysen zur Pädagogik der Moderne«. In:


Zeitschrift für Pädagogik 34. Jg. (1988), 463–480.
2. Ethik
–/– (Hg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Päd-
agogik. Frankfurt a. M. 1990.
–/– (Hg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Päd- Dass die Ethik als Reflexionstheorie der Moral ange-
agogik. Frankfurt a. M. 1992. sehen wird, ist keine Besonderheit der Systemtheorie,
–/– (Hg.): Zwischen System und Umwelt. Fragen an die sondern auch in der Philosophie ist das eine ge-
Pädagogik. Frankfurt a. M. 1996. bräuchliche und geläufige Verwendungsweise des
Markowitz, Jürgen: Verhalten im Systemkontext. Zum Be- Begriffs ›Ethik‹. Synonym wird die Bezeichnung
griff des sozialen Epigramms. Diskutiert am Beispiel des
Schulunterrichts. Frankfurt a. M. 1986. ›Wissenschaft von der Moral‹ verwendet. Neben die-
Merten, Roland (Hg.): Systemtheorie Sozialer Arbeit. Neue ser gibt es in der Philosophie zwei weitere Verwen-
Ansätze und veränderte Perspektiven. Opladen 2000. dungsweisen des Begriffs ›Ethik‹. Verschiedentlich
Oelkers, Jürgen/Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Pädagogik, gebraucht man die Begriffe ›Moral‹ und ›Ethik‹ iden-
Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim/ tisch, was daher rührt, dass das alt-griechische ethos
Basel 1987.
Pongratz, Ludwig A.: Untiefen im Mainstream. Zur Kritik in der Übersetzung ›Gewohnheit‹ und ›Sitte‹ bedeu-
konstruktivistisch-systemtheoretischer Pädagogik. Pa- tet. Der Lateiner übersetzte mit mos/moris, wovon
derborn 2009. sich der Begriff der Moral ableitet, der übersetzt
Prange, Klaus: »Niklas Luhmann (1927–1998)«. In: Bernd ebenfalls ›Gewohnheit‹, ›Sitte‹ oder ›Brauch‹ bedeu-
Dollinger (Hg.): Klassiker der Pädagogik. Die Bildung tet. In Abgrenzung von der Antike nimmt Kant als
der modernen Gesellschaft. Opladen 2008, 311–330.
–: Niklas Luhmann: »Das Erziehungssystem der Gesell- dritte Verwendungsweise des Begriffs ›Ethik‹ in der
schaft«. In: Ders.: Schlüsselwerke der Pädagogik. Bd. 2: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine Zweitei-
Von Fröbel bis Luhmann. Stuttgart 2009, 250–263. lung vor (vgl. AB V). Viele sind ihm darin gefolgt,
Ritscher, Wolf: Systemische Modelle für die Soziale Arbeit. wenn sie die Ethik nun als Frage nach dem guten und
Heidelberg 22005. gelingenden Leben und Moral als Frage nach den all-
Rustemeyer, Dirk: Sinnformen. Konstellationen von Sinn,
Subjekt, Zeit und Moral. Hamburg 2001.
gemeinen Regeln der Handlungskoordinierung an-
Schäfer, Alfred: Systemtheorie und Pädagogik: Konstituti- sprechen. Ethik ist in dieser Verwendungsweise auf
onsprobleme von Erziehungstheorien. Königstein 1983. das Individuum bezogen. Mit ›Moral‹ hingegen be-
Schriewer, Jürgen: Welt-System und Interrelations-Gefüge. zeichnet man nach Kant die Regeln, die zwischen
Die Internationalisierung der Pädagogik als Problem mindestens zwei Personen gelten. – Im Rahmen sys-
Vergleichender Erziehungswissenschaft. Berlin 1994.
Tenorth, Heinz-Elmar: »Technologiedefizit in der Pädago-
temtheoretischer Erörterungen ist die Ethik die Wis-
gik? Zur Kritik eines Mißverständnisses«. In: Thomas senschaft von der Moral, die Reflexionstheorie der
Fuhr/Klaudia Schultheis (Hg.): Zur Sache der Pädagogik. Moral oder eine »soziologische Theorie der Moral«
Untersuchungen zum Gegenstand der allgemeinen Er- (Kneer/Nassehi 1993, 179).
ziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn 1999, 252–266. Die Ethik oder die Moral der Gesellschaft ist von
–: »Soziologie als Bildungstheorie«. In: Jens Aderhold/Olaf
Luhmann lediglich in verstreuten Aufsätzen darge-
Kranz (Hg.): Intention und Funktion. Probleme der Ver-
mittlung psychischer und sozialer Systeme. Wiesbaden stellt worden. Dementsprechend ist dieses Thema
2007, 175–187. nur spärlich und auch eher selten zusammenhän-
Terhart, Ewald: »Organisation und Erziehung. Neue Zu- gend rezipiert worden. Die Moral findet nach der Pu-
gangsweisen zu einem alten Dilemma«. In: Zeitschrift für blikation von Soziale Systeme (1984) im Gegensatz zu
Pädagogik 32. Jg. (1986), 205–223.
Subsystemen wie Wirtschaft, Wissenschaft oder
Vanderstraeten, Raf: »Erziehung als Kommunikation. Dop-
pelte Kontingenz als systemtheoretischer Grundbegriff«. Recht, denen Luhmann jeweils eine eigene Monogra-
In: Lenzen 2004, 37–64. phie widmete, keinen Platz als ein separat zu behan-
Heinz-Elmar Tenorth delndes Subsystem. Das begründet Luhmann so:
»Moral ist eine gesellschaftsweit zirkulierende Kom-
munikationsweise. Sie lässt sich nicht als Teilsystem
ausdifferenzieren, nicht in einem dafür bestimmten
Funktionssystem derart konzentrieren, daß nur in
diesem System und nirgendwo außerhalb moralisch
kommuniziert werden kann« (MdG, 336). Innerhalb
der gesellschaftlichen Subsysteme treten an die Stelle
der moralischen Kommunikationsweise die symbo-
lisch generalisierten Kommunikationsmedien, die
für jedes System spezifisch sind. Weil die Moral in der
Ethik 337

Gesellschaft kein eigenes Subsystem bildet, ist die Re- Aussage daran, dass der Mensch, der sie machte, ein
zeption der Stellung der Moral in der Systemtheorie moralisch anständiger Mensch war (vgl. z. B. De tri-
im Gegensatz zur Rezeption einzelner Subsystem nitate IX, 6, 1). Heute hingegen kann man ein guter
dürftig. Gelegentlich wird von den Rezipienten das Physiker sein, ohne ein moralisch guter Mensch sein
Fehlen einer zusammenhängenden Behandlung der zu müssen (vgl. MdG, 379). Die Durchsetzung funk-
Moral in der Systemtheorie beklagt. tionsspezifischer Medien bedeutet, dass die Moral als
generelles Medium der Koordination in gesellschaft-
lichen Subsystemen nicht mehr wirksam ist. Da der
Probleme der Rezeption Gegenstand der luhmannschen Theorie aber die
funktional differenzierte Gesellschaft ist, ist die Fest-
Eine ausführlichere Würdigung haben allerdings die stellung von Wetzel in der Hinsicht zwar richtig, dass
Sozialwissenschaftler Sighard Neckel und Jürgen die Moral innerhalb der Subsysteme kommunikati-
Wolf 1988 in der Zeitschrift Prokla vorgelegt und die- onshinderlich ist, weil ihre Aufgabe eben von den
se sechs Jahre später auch in englischer Sprache in der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
Zeitschrift Theory, Culture & Society veröffentlicht. übernommen wird. Doch dazu, welche Funktion die
Die beiden Autoren beschreiben zunächst die spezi- Moral in der funktional differenzierten Gesellschaft
fischen Kodierungen innerhalb der Subsysteme. übernimmt, kann er keine Stellung beziehen, außer
Dann fahren sie fort mit der Feststellung: »Luhmann der, dass die Moral bei Luhmann »etwas mit Ausnah-
beschränkt sich jedoch nicht darauf, Moral allein nur me- oder gar Umbruchsituationen« zu tun habe
aus den Funktionssystemen moderner Gesellschaf- (Wetzel 1993, 491).
ten eskamotieren zu wollen. Die Weltbezüge in kom- Damit kommt er dem ganz nahe, was der Sozial-
plexen Gesellschaften insgesamt sollen sich vielmehr wissenschaftler Dietmar Gensicke in seiner Luh-
für moralische Kommunikationen nicht mehr geeig- mann-Monographie herausstellt, dass nämlich die
net zeigen: ›Für komplexer werdende Gesellschaften Moral in der funktional differenzierten Gesellschaft
wird eine Gesamtprogrammierung der Sozialdimen- eine »Alarmierfunktion übernimmt« (Gensicke
sion in der Form von Moral zunehmend inadäquat‹« 2008, 120). Gensicke führt dazu passenderweise ein
(Neckel/Wolf 1988, 70). Luhmann-Zitat an: Die Moral »kristallisiert dort, wo
Ganz hilflos zeigt sich der Philosoph Manfred dringende gesellschaftliche Probleme auffallen und
Wetzel in seiner Rezeption. Er schreibt, dass Luh- man nicht sieht, wie sie mit den Mitteln der symbo-
mann der Auffassung sei, dass die Moralisierung der lisch generalisierten Kommunikationsmedien und in
Kommunikation kommunikationshinderlich ist den entsprechenden Funktionssystemen gelöst wer-
(Wetzel 1993, 491). Das stimmt jedoch nur bezogen den könnten« (GG, 404). Gensicke schreibt weiter,
auf die Subsysteme, weil dort die symbolisch genera- dass die funktional differenzierte Gesellschaft »unter
lisierten Kommunikationsmedien die Aufgabe über- dem Eindruck ihrer zunehmenden funktionalen Dif-
nehmen, die Kommunikation anschlussfähig zu ferenzierung ein erhitztes Bewusstsein gesellschaft-
halten – beispielsweise in der Wirtschaft über das licher Risiken« entwickle. »Solchermaßen ist die
Medium Geld und in der Wissenschaft über das Me- funktional differenzierte Gesellschaft durch die Ent-
dium Wahrheit. Wollte man die wissenschaftliche fesselung moralischer Kommunikation gekennzeich-
Kommunikation über das Medium Moral aufrecht- net« (Gensicke 2008, 121).
erhalten, würde man damit in der Wissenschaft keine Aber es gibt auch weiter reichende Folgen dieser
Anschlüsse finden. Luhmann selbst weist darauf hin, Art von moralischer Kommunikation. Wirtschafts-
dass dies sehr wohl in Gesellschaften möglich war, die organisationen beginnen umwelt- und arbeitneh-
keine Funktionssysteme ausdifferenziert hatten. In- merfreundlich zu produzieren und stellen dies auch
sofern haben Neckel und Wolf Unrecht, wenn sie als »Unternehmerphilosophie« dar, um auf diese
schreiben, dass Luhmann »generalisiert, was histo- Weise den Absatz ihrer Produkte zu gewährleisten
risch erst geworden ist, und damit genau jenem Feh- oder gar zu erhöhen. Diese Tendenz hat beispielswei-
ler verfällt, den er der humanistischen Tradition se zur Gründung von Global Compact geführt, einem
vorwirft: historisch vorfindbare Moralkonzeptionen Zusammenschluss globaler Unternehmen, die sich
unzulässig zu verallgemeinern« (Neckel/Wolf 1988, weltweit für die Einhaltung der Menschenrechte und
65). Luhmann war klar, dass noch zu Zeiten des Au- Sozialstandards, gegen Kinderarbeit, Gefangenenar-
gustinus Wahrheit und Moral eng miteinander ver- beit, Sklavenarbeit, Rassismus und Korruption ein-
knüpft waren. Augustinus erkannte eine wahre setzen. Mehrere tausend Unternehmen weltweit
338 Rezeption

haben diesen Globalen Pakt der Vereinten Nationen als ganze bezieht (vgl. Kneer/Nassehi 1993, 180). So
bereits unterzeichnet. Darüber hinaus sind 300 Ak- kann man beispielsweise einen Arzt, der eine Kolo-
teure aus 50 Ländern darum bemüht, eine ISO- skopie nicht sachgemäß durchzuführen in der Lage
Norm 26000 zu entwickeln, die als Leitfaden eine ist, kritisieren. Spricht derselbe Arzt in Abwesenheit
Orientierung und Empfehlungen für Organisatio- seiner Kollegen aber schlecht über diese, missachtet
nen zu sozialverantwortlichem Wirtschaften geben man ihn. Mit seiner Unterscheidung dieser beiden
soll. Moralische Kommunikation im Alltag kann in Formen der Kritik argumentiert Luhmann – obwohl
Teilsystemen, deren Operationen ansonsten sehr gut er selbst keine normative, sondern eine funktionale
mittels der symbolisch generalisierten Kommunika- Theorie der Moral vorlegt – ganz ähnlich wie die Ver-
tionsmedien funktionieren, also nicht nur Unruhe treter des Kontraktualismus, für die der moralische
stiften und kognitive Irritationen erzeugen, sondern Raum erst dann entsteht, wenn es ein Sanktionssys-
auch die gesellschaftlichen Teilsysteme beeinflussen. tem gibt. Verstößt jemand gegen moralische Regeln,
Für die weitere Beschäftigung mit der Frage nach dann wird er nicht wie noch in den Theorien von
der Bedeutung der Moral innerhalb der Systemtheo- Hobbes und Hume durch den Herrscher bestraft, an
rie sei hier auf den Band Die Moral der Gesellschaft den die Gesellschaftsmitglieder ihre Rechte übertra-
(MdG 2008) verwiesen. Aber auch nach dem Er- gen haben und dadurch eine Schutzpflicht gegenüber
scheinen dieser Zusammenstellung aller luhmann- allen Gesellschaftsmitgliedern zugesprochen bekom-
schen Schriften zur Moral und einem erläuternden men. Heute, so sagt der wohl derzeit bekannteste Ver-
Nachwort tun sich die Philosophen schwer mit der treter der Vertragstheorie, der Konstanzer Philosoph
Rezeption. Im Kern der Auseinandersetzung findet Peter Stemmer, »ist es nicht ein politischer Herr-
sich dabei die Frage nach der gesellschaftsintegrie- scher, sondern die Gemeinschaft, in der wir leben, die
renden Funktion von Moral. Exakt hierauf bezieht von uns bestimmte Handlungen fordert und uns im
sich auch eine Besprechung dieses Buches in der Falle des Anders-Handelns sanktioniert, in Form von
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. August Ansehensverlust, Verlust von sozialer Einbindung, in
2008 durch den Tübinger Philosophen Otfried Höf- Form von Distanzierung oder gar Ausstoßung«
fe. Sein Verständnis der Systemtheorie ist stark von (Stemmer 2012, 348) – und diese Formen sind nichts
seiner eigenen Moralphilosophie geprägt, weswegen anderes als die verschiedenen Möglichkeiten von
er Funktionssysteme immer auch als moralische Sys- Missachtung.
teme auffasst: »In ›Paradigm lost‹ behauptet Luh-
mann, wegen veränderter Gesellschaftsverhältnisse
habe die Moral ihre Funktion verloren. Die moderne Moral in funktionaler Hinsicht
Gesellschaft gliedere sich nämlich in relativ selbstän-
dige Funktionssysteme, die wie die Wirtschaft, die Bei der geschilderten weitgehenden Hilflosigkeit in
Wissenschaft und das Recht einer ihnen eigentümli- der sparsamen Rezeption ist es unbedingt ange-
chen Normativität unterworfen seien. Da die Moral bracht, auf die Ausführungen Luhmanns selbst zu
aber in einer funktionsunspezifischen Normativität blicken und darüber ein paar Worte zu verlieren. Für
bestehe, werde sie, weil unfähig, die Gesellschaft in die Beschreibung und Erläuterung dessen, was Mo-
deren relevanten Bereichen zu integrieren, außer ral in funktionaler Hinsicht leistet, ist es günstig, von
Kraft gesetzt.« Was Höffe hier mit der den Funktions- der doppelten Kontingenz auszugehen. Da morali-
systemen »eigentümlichen Normativität« um- sches Handeln heute nicht mehr an einer allgemein-
schreibt, sind die symbolisch generalisierten Kom- verbindlichen und von allen akzeptierten christli-
munikationsmedien. Höffe hingegen geht davon aus, chen Offenbarung ausgerichtet ist, hat jedes Indivi-
dass es eine spezifische Rechtsmoral und auch eine duum unendlich viele Handlungsalternativen, die
spezifische Moral in den Systemen gibt. Das ist – wie weder notwendig noch unmöglich sind (vgl. SS,
wir gesehen haben – nicht der Fall. 152). Die Kontingenz wird verdoppelt, wenn sich
Zustimmung findet dagegen bei Höffe Luhmanns zwei oder mehrere Menschen gegenüberstehen, von
Konzept eines Moralcodes mit der Unterscheidung denen jeder unendlich viele Handlungsmöglichkei-
von Achtung/Missachtung. Was damit gemeint ist, ten hat. Die doppelte Kontingenz ist demnach die
soll im Folgenden wiederum an Beispielen erläutert beiderseitige Ungewissheit hinsichtlich dessen, was
werden. Georg Kneer und Armin Nassehi betonen, die »andere Seite tun wird, und daraus folgt die Un-
dass sich moralische Kommunikation als Kommuni- bestimmtheit des eigenen Handelns« (Stichweh
kation von Achtung bzw. Missachtung auf die Person 1999, 215). Ungeregelt gäbe es Komplikationen beim
Ethik 339

Anschlusshandeln: »Wenn jeder kontingent han- Funktion erfüllen sollen, die Luhmann ihnen zu-
delt«, sagt Luhmann, »also jeder auch anders han- schreibt, können sie nicht subjektiv sein, sonst könn-
deln kann und jeder dies von sich selbst und den te man von seinem Gegenüber nicht erwarten, was
anderen weiß und in Rechnung stellt, ist es zunächst man erwartet. Es kann sich also nicht jeder seine ei-
unwahrscheinlich, daß eigenes Handeln überhaupt genen Sollensnormen ausdenken. In dem Fall wären
Anknüpfungspunkte […] im Handeln anderer fin- sie völlig funktionslos und man könnte es auch gleich
det« (SS, 165). Dann wäre die Handlungskoordinati- lassen. Sind sie dann intersubjektiver Art? Freilich ist
on höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar un- es jedem unbenommen, über den Sinn von morali-
möglich. schen Normen mit anderen zu sprechen und über die
Welche Lösungen bieten sich in einer so vertrack- Gründe zu diskutieren, die für die Einhaltung der Re-
ten Situation von doppelter Kontingenz an? Diese geln sprechen, doch befolgen muss man sie dessen
Frage beantwortet Luhmann in einem zentralen Auf- ungeachtet trotzdem. Darum bleibt nur die Möglich-
satz zur Moral in der Systemtheorie, in »Normen in keit, dass sie objektiv sind. In einer der Spielarten des
soziologischer Perspektive« (MdG, 25–55). Es muss moralischen Realismus werden die moralischen Sol-
Regeln geben, auf die man sich in interpersonalen lensnormen als natürliche angesehen, die den natür-
bzw. sozialen Beziehungen in der Umwelt von gesell- lichen Tatsachen vergleichbar sind. Man erkennt sie
schaftlichen Subsystemen, aber auch partiell und aber im Gegensatz zu den natürlichen Tatsachen
temporär in den Subsystemen, verlassen kann, d. h., nicht durch Wahrnehmung, sondern durch Intuiti-
es gibt die Erwartung, dass andere sich ebenfalls da- on. Dem Irrtum, dem die Intuition genauso ausge-
nach richten. Die anderen haben wiederum die Er- setzt sein kann wie die Wahrnehmung, wird vorge-
wartung, dass man sich selbst danach richtet. Diese beugt, indem von Vertretern dieser Theorie das
Erwartungen und Erwartungserwartungen sind in Kriterium der Kohärenz eingeführt wird. Jede einzel-
den Sollensnormen enthalten, deren Summe wir ne Intuition muss mit der moralischen Überzeugung
Moral nennen. Das Sollen habe eine funktionale Un- des intuitiv Erkennenden kompatibel sein. Die Intui-
ersetzlichkeit für die Gesellschaft, sagt Luhmann. Da- tionen sind wie auch jede wissenschaftliche Beobach-
bei wird die Frage aufgeworfen, welches Sollen tung theoriegeleitet (vgl. Schaber 1997, 119). Die
gemeint ist, das moralische, das rechtliche oder das Realität ist den Forschern wie den Menschen im All-
konventionelle? Wahrscheinlich sind es alle drei Sol- tag nicht unmittelbar zugänglich. Die Wirklichkeit
lensformen (vgl. MdG, 46 f., 54 f.). Die Funktion von ist viel zu komplex als dass man sie unmittelbar er-
Sollensnormen ist es, eine Struktur für die Interakti- fassen könnte. Um überhaupt etwas wahrnehmen
on zu bilden; seien diese Sollensnormen nun konven- und wissenschaftlich bearbeiten zu können, braucht
tioneller, moralischer oder rechtlicher Art. Mit man Theorien. Theorien sind Konstrukte, die uns
Struktur ist bei Luhmann das Netz von Erwartungen helfen, die hochkomplexe Wirklichkeit zu erfassen
und Erwartungserwartungen gemeint (vgl. MdG, (vgl. Horster 2010, 158 f.). Darum heißt es bei Luh-
32). »Höhere und verläßlichere Wahrscheinlichkei- mann auch nicht: »Es gibt Systeme«, sondern: »Die
ten des Übereinkommens sind nur zu erreichen, folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es
wenn man den Erwartungshorizont des je aktuellen Systeme gibt« (SS 30).
Erlebens einbezieht und das Verhalten über Erwar-
tungen koordiniert. Durch Stabilisierung von Ver-
haltenserwartungen läßt sich die Zahl der aufeinan- Literatur
der abstimmbaren und damit die Zahl der überhaupt Corsi, Giancarlo: »Moral«. In: Claudio Baraldi/Giancarlo
möglichen Handlungen immens steigern« (MdG, Corsi/Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns
28). Und wenn man weiß, was man erwarten kann, Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. 1997, 119–121.
dann kann man ein hohes Maß an Unsicherheit da- Gensicke, Dietmar: Luhmann. Stuttgart 2008.
Höffe, Otfried: »Kein Denker für alle Jahreszeiten«. In:
rüber ertragen, dass den eigenen Erwartungen mög- Frankfurter Allgemeine Zeitung (15. August 2008), 43.
licherweise nicht entsprochen wird (vgl. MdG, 29). Horster, Detlef: »Nachwort«. In: MdG, 375–392.
Diese Erträglichkeit von Unsicherheit führt selbst- –: »Erklären und Verstehen«. In: Ders./Wolfgang Jantzen
verständlich zu einer weiteren Stabilisierung der In- (Hg.): Wissenschaftstheorie. Stuttgart 2010, 157–161.
teraktionen in unserer individualisierten Gesell- – (Hg.): Texte zur Ethik. Stuttgart 2012.
Kneer, Georg/Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie
schaft. sozialer Systeme. 21993.
Welcher Art sind nun die Normen? Sind sie sub- Krause, Detlef: »Moral«. In: Ders.: Luhmann-Lexikon.
jektiv, intersubjektiv oder objektiv? Wenn sie die Stuttgart 1996, 134 f.
340 Rezeption

Luhmann, Niklas: »Konzeptkunst: Brent Spar oder Können


Unternehmen von der Öffentlichkeit lernen?« In: Frank-
3. Gender Studies
furter Allgemeine Zeitung (19. Juli 1995), 27.
Neckel, Sighard/Wolf, Jürgen: »Die Faszination der Amora-
lität. Zur Systemtheorie der Moral, mit Seitenblick auf Missverständnisse zwischen Engagement
ihre Resonanzen«. In: PROKLA 18. Jg., 70 (1988), 57–77 und Kalkül
(engl.: »The Fascination of Amorality: Luhmann’s Theo-
ry of Morality and its Resonances among German Intel- Vor einem knappen Jahrzehnt war folgende Ein-
lectuals.« In: Theory, Culture & Society. Explorations in schätzung immer wieder zu lesen: Zwischen System-
Critical Social Science 11. Jg., 2 (1994), 69–99).
Schaber, Peter: Moralischer Realismus. Freiburg/München theorie und Gender Studies gibt es kaum Austausch;
1997. die Genderforschung ignoriert Luhmann komplett
Stemmer, Peter: »Moralischer Kontraktualismus«. In: Hors- oder kritisiert ihn (bestenfalls), dieser seinerseits er-
ter 2012, 347–350. klärt die Unterscheidung Mann/Frau für obsolet und
Stichweh, Rudolf: »Niklas Luhmann«. In: Dirk Kaesler die Frauenforschung für unterkomplex (Pasero/
(Hg.): Klassiker der Soziologie. Bd. 2. München 1999,
206–229. Weinbach 2003b, 7; Kampmann/Karentzos/Küpper
Wetzel, Manfred: Praktisch-Politische Philosophie: Grund- 2004, 9; Luhmann 2003). Trotz vieler unterstellter
legung. Freiburg/München 1993. Unterschiede (›kühle, analytische Deskription‹ vs.
Detlef Horster ›Engagement und Protest‹, System/Umwelt bzw. Be-
wusstsein/Kommunikation vs. Subjekt/Objekt; vgl.
Pasero/Weinbach 2003b, 8) gibt es jedoch auch eine
Korrelationsebene, denn sowohl Systemtheorie als
auch Gender Studies sind differenztheoretisch fun-
diert und konstruktivistisch geschult.
Zwischen 1994 und 2004 wurde intensiv daran ge-
arbeitet, beide Theoriemöglichkeiten so aufeinander
zu beziehen, dass die Unterschiede und Gemeinsam-
keiten einen Mehrgewinn für die Genderforschung
und die Systemtheorie ergeben. Dabei entstand eine
produktive Verbindung zwischen Luhmanns Sys-
temtheorie und den Gender Studies, in der sowohl
die Korrelationsmöglichkeiten im Hinblick auf die
Theoriedesigns (Pasero/Weinbach 2003a; Heintz
2001b) als auch die Möglichkeiten im Hinblick auf
die Analyse von konkreten Artefakten und Proble-
men genutzt wurden (Kampmann/Karentzos/Küp-
per 2004 für Kunst, Literatur und Musik). Zwei
frühere Versuche, die Systemtheorie an die Gender-
problematik heranzutragen, blieben bis Mitte der
1990er Jahre kaum beachtet (Leupold 1983 in einer
Auseinandersetzung mit Luhmanns Liebes- und Fa-
milienkonzeption und Tyrell 1986).
Heute muss festgestellt werden, dass trotz dieser
intensiven und oft auch vielversprechenden Versuche
die Verbindung von Systemtheorie und Gender Stu-
dies ein wenig beachtetes Forschungsthema gewor-
den ist. Um die Inbezugnahme ist es still geworden
und es scheint so zu sein, dass beide kaum etwas von-
einander ›gelernt‹ haben. Weder ist ›Gender‹ in ei-
nem nennenswerten Maße Teil des systemtheoreti-
schen Theoriegebäudes geworden noch hat die
Genderforschung theoretische, begriffliche oder de-
skriptive Angebote der Systemtheorie in ihre Kon-
zeptualisierungen übernommen (für eine Zwischen-
Gender Studies 341

bilanz zum Theorietransfer vgl. Hellmann 2004). An Feminismus und Frauenforschung« (Pasero/Wein-
den spärlichen Bezügen auf Luhmann in Handbü- ach 2003b, 9).
chern und Einführungen der Gender Studies lässt In seinem Text »Frauen, Männer und George
sich besonders deutlich sehen, wie marginal die Sys- Spencer Brown« (1998) wirft Luhmann der Frauen-
temtheorie rezipiert wird (vgl. Bußmann/Hof 2005; forschung vor, ihre eigenen theoretischen und logi-
Schößler 2008; Aulenbacher/Meuser/Riegraf 2010; schen Bedingungen nicht ausreichend zu reflektie-
Becker/Kortendieck 2010). ren. Dieser Reflexionsmangel führe zu einem Über-
Es gibt viele Gründe für diesen letztlich gescheiter- maß an Selbstreferenz und dazu, dass an die Stelle
ten Versuch der Inverhältnissetzung. Nur einige seien von Analyse, Forschung und Strukturierung der ei-
hier genannt: Da ist zunächst die Konzentration der genen Argumentation ein ideologisch gefärbter Ak-
Systemtheorie auf die Unterscheidungen System/ tionismus tritt. Als soziale Bewegung hat die
Umwelt, Identität/Differenz und Bewusstsein/Kom- Frauenforschung, so Luhmann, weder ein theore-
munikation, die quer zu subjektbezogenen machtpo- tisch und methodisch stichhaltiges Konzept noch
litischen Modellen stehen (Pasero/Weinbach 2003b, eine differenzierte und elaborierte Begrifflichkeit,
8). Es handelt sich hier um eine Kombination von stattdessen propagiert sie Ziele, ohne »den Leitfaden
theoretischem und wissenschaftspolitischem Pro- der Beobachtung […] in den Unterscheidungen zu
blem. Nicht nur in der ersten Phase, in der sich die finden, mit denen die Bewegung ihre Informations-
Frauenforschung auch als Frauenbewegung verstand bearbeitung strukturiert« (Luhmann 2003, 56). Luh-
(1970er/80er Jahre), sondern auch in der zweiten, in mann schlägt vor, mithilfe des spencer-brownschen
der die entstehende Genderforschung (1980er/90er Formenkalküls die informationslose Selbstreferenz
Jahre) ab ovo einen wissenschaftspolitischen Impetus in eine theoretisch fruchtbare Selbstreflexion umzu-
trug, war die Systemtheorie fehl am Platz. Denn dort, wandeln. Er fragt – strikt unterscheidungstheore-
wo wissenschaftliche Analysen und geschlechterpoli- tisch –, ob denn im Hinblick auf die feministisch
tisches Engagement sehr nah beieinander lagen und geforderte Gleichheit von Mann und Frau Unter-
handelnde Subjekte gesucht wurden – auch wenn scheidungen überhaupt symmetrisch und »seiten-
diese als diskursabhängige Konstruktionen (sensu neutral« sein können, oder ob nicht vielmehr nur
Judith Butler) zu denken sind –, kam es zu Konflikten asymmetrische Unterscheidung strukturbildende
und Missverständnissen mit einer Theorie, die an Anschlüsse generieren können (Luhmann 2003,
entsubjektivierten Systemen, Funktionen, Kalkülen, 20 f.). Dann aber erweisen sich sowohl im Hinblick
Abstraktion, Beobachtung und Deskription interes- auf den Kalkül als auch im Hinblick auf die Entwick-
siert ist. Wissenschaftspolitisch war die Theoriear- lung der Gesellschaft nur Asymmetrien als An-
chitektur der Systemtheorie und nicht so sehr ihre schlussgeneratoren.
Inhalte das Problem. Zudem muss bedacht werden, Somit ergeben sich aus systemtheoretischer Per-
dass bis in die 1990er Jahre hinein immer wieder spektive (!) zwei Kritikpunkte an der Frauenfor-
Luhmanns Debatte mit Jürgen Habermas erinnert schung: (1) Mit dem differenzierungstheoretischen
wurde und er sich trotz analytischer Anstrengungen Kalkül lässt sich beobachten, dass die Frauenfor-
nicht gänzlich von der wissenschaftspolitisch belas- schung die Objekt- und Metaebene nicht präzise
tenden Unterscheidung konservativ/progressiv frei- voneinander trennt. Wenn sie Gleichheit fordert, so
machen konnte. propagiert sie zwar Gleichheit für die Objektebene
(Männer und Frauen), im Grunde aber präsentiert
sie ihre eigene Paradoxie, »auf Gleichheit zu pochen
Frauenforschung und/als Frauenbewegung und das mit einer Unterscheidung zu untermauern,
mit der Unterscheidung von Männern und Frauen
Die Zeichen für einen Dialog standen schlecht und nämlich« (Nassehi 2003, 86). Solchermaßen muss
sie wurden sogar noch schlechter, als Luhmann 1988 die Unterscheidung Mann/Frau entweder aufgeho-
einen längeren polemischen und ironischen Aufsatz ben oder die Repräsentation nur schlicht umgekehrt
schrieb, der die Frauenforschung beinahe aus- werden (von Mann/Frau zu Mann/Frau), beides sind
schließlich als soziale Bewegung und nicht als theore- Problemverstärker und keine -lösungen: »Luhmann
tisch-wissenschaftliche Reflexion verstand und zu- unterstellt also der Frauenbewegung eine Art ›self-
dem den gerade stattfindenden Wechsel von Frauen- fulfilling-prophecy‹, da jede Übertragung der Idee
zu Genderforschung ignorierte (Luhmann 2003). der Gleichheit immer nur eines wahrnehmen kann:
Dieser Aufsatz geriet geradezu auf den »Index von Ungleichheit« (ebd., 87). Unterscheidungstheore-
342 Rezeption

tisch wird sichtbar, dass das Ziel – Gleichheit und schaften darum, Sachprobleme ausschließlich als
Symmetrie – von der Logik des Unterscheidungsge- Sach- und nicht als Sozialprobleme zu behandeln.
brauchs unterlaufen wird. Programme und Ziele pas- Ins Zentrum rückt die Problemlösung selbst (wie
sen nicht zu den dazu eingesetzten Mitteln. wird es gelöst?) und nicht die Person, die die Proble-
Hier hat es die systemtheoretische Forschung al- me lösen darf/kann (wer löst es?). Beispielsweise wird
lerdings versäumt, einen wichtigen feministischen Güterknappheit in der Neuzeit als Geldproblem ge-
Diskussionszusammenhang zu berücksichtigen. Er- löst und bei einem Geldschein spielt es keine Rolle,
innert sei an die zwei Modelle der Un/Gleichheit von ob ein Mann oder eine Frau damit zahlt; politisch be-
Simone de Beauvoir und Luce Irigaray. Während die trachtet, finden sich in Regierung und Opposition
erste die Gleichheit zwischen Mann und Frau da- Parteien, Funktionen und Rollen und nicht Männer
durch erreichen möchte, dass die Frau nach dem Fall und Frauen. Diese Argumentation behauptet einen
des Patriarchats auch in die Rolle des Subjekts Relevanzverlust der Geschlechterunterscheidung
schlüpfen kann (ebenso wie der Mann), plädiert Iri- Mann/Frau in der modernen funktional differenzier-
garay dafür, einen Unterschied zu markieren: Die ten Gesellschaft und stellt sich damit diametral gegen
Rolle des Subjekts ist per definitionem eine männli- die in der Geschlechterforschung per definitionem
che Rolle und die ›Frau‹ sollte grundsätzlich Weib- beobachtete Persistenz und Omnipräsenz der Unter-
lichkeit als etwas markieren, das die männliche scheidung. Zweifelsohne muss dies zu Reibungen
Subjekt-Objekt-Logik aushebelt. ›Mann‹ und ›Frau‹ und Missverständnissen führen.
wären gleich in ihrer Ungleichheit. Hieran ließen sich Luhmanns Argumentation ist zwar im Rahmen
Luhmanns Überlegungen zum (Un-)Gleichheitspa- des spencer-brownschen Kalküls plausibel, sie kann
radox der Frauenforschung sicherlich produktiv an- aber nicht erklären, wieso die Geschlechterunter-
schließen. Auch ist darauf hinzuweisen, dass die scheidung Mann/Frau auffällig stabil, d. h. asymme-
Gender-Forschung gegenüber der Frauen-Forschung trisch bleibt und überall beobachtbar ist, obwohl sie
keineswegs einfach auf Gleichheit pocht, sondern die qua funktionaler Differenzierung eigentlich dys-
Logik und die Strukturmechanismen von Ungleich- funktional und unsichtbar sein müsste (Nassehi
heitsprozessen analysiert (Angerer/Doderer 1994, 2003, 87). Die systematische Korrelation von Diffe-
11; Erhart/Herrmann 1996). renzkalkül, Gesellschaftstruktur und Geschlechtsun-
(2) Bezogen auf die Gesellschaftsstruktur argu- terscheidung bleibt Forschungsdesiderat.
mentiert Luhmann, dass die Evolution der Gesell- Luhmanns Argumentationsgeste, seine Ironie und
schaft gezeigt hat, wie und warum Asymmetrisierun- Polemik, vor allem sein Impetus, hier als Berater ein-
gen so gut funktionieren, und dass sie dazu dienen, zugreifen, haben für Verstimmung gesorgt und ver-
Unentscheidbarkeiten und blockierende Paradoxien hindert, dass sein Text (Luhmann 2003) sachlich
zu vermeiden. Die stratifikatorisch differenzierte Ge- wahrgenommen wurde (Esposito 2003, 63). Beson-
sellschaft der Vormoderne reproduzierte ihr Schicht- ders problematisch ist Luhmanns Gleichsetzung von
schema durch Hierarchien, indem sie (unter ande- sozialer Bewegung und Frauenforschung, die die
rem) die Unterscheidung von Mann und Frau analog vielfältigen theoretischen und begrifflichen Anstren-
zur Schichtungshierarchie vorgängig asymmetrisch gungen der sich in den 1980er Jahren entwickelnden
ausstaffierte. Die Ordnung wurde allein und mit star- Genderforschung ignoriert (Kampmann/Karentzos/
ker asymmetrischer Schlagseite vom Mann repräsen- Küpper 2004, 10 f.; für eine nicht-systemtheoretische
tiert, was dieser Gesellschaft zwar nicht Gleichheit zaghafte Diskussion des Luhmann-Textes vgl. Buß-
bescherte, aber Stabilität. In der Vormoderne hatte mann/Hof 2005). Es fällt auf, dass der (sich selbst als
die asymmetrische Unterscheidung Mann/Frau folg- solcher inszenierende) kühle Beobachter Luhmann
lich noch eine ordnungsbildende Wirkung, die sie in dieser Gleichsetzung seine Haltung mitkommuni-
mit dem Wechsel zur funktionalen Differenzierung ziert hat. Warum verliert er gerade bei der Geschlech-
verliert; sie besitzt nicht mehr die »›nötige‹ Repräsen- terdifferenz seine ›analytische Contenance‹? Dies
tations- und Hierarchisierungsfunktion« (Nassehi erschwert die Rezeption unnötigerweise, denn im
2003, 87). Grunde besteht kein sachlicher Grund, den Diffe-
War es in der stratifizierten Gesellschaft noch renzkalkül nicht (probeweise) mit der zwangsweise
maßgeblich relevant, wer (nämlich der Mann in der differenzbasierten Geschlechter-Forschung (Mann/
Sozialdimension) Probleme (in der Sachdimension) Frau) in Kontakt zu bringen oder die Struktur der
lösen konnte und durfte, tritt diese Frage nun in den Gesellschaft zu berücksichtigen.
Hintergrund, geht es doch in komplexeren Gesell-
Gender Studies 343

Genderforschung als Gesellschaftstheorie zialisation, Sprache (Symbolisierung) und Medien


Wahrnehmungsmuster (Stereotype) etabliert haben,
Die seit 1994 einsetzenden intensivierten Versuche die physische Präsenz und Geschlechterstereotype
beide Theorieoptionen in Bezug zu setzen, schließen analogisieren, sodass noch vor dem Einsatz der Kom-
zwar sachlich an Luhmanns »Frauen, Männer und munikation Männer und Frauen wahrgenommen
George Spencer Brown« (2003) an, vor allem aber werden (ebd.).
probieren sie, die gesamte Architektur der System- Ähnlich argumentiert auch Nassehi, wenn er dar-
theorie in Anschlag zu bringen, was günstigere Re- legt, dass im Vergleich zur Ebene der Funktionssys-
zeptionsmöglichkeiten schafft. Neben einigen (weni- teme, die auf Problemlösungen (Sachdimension)
gen) unterscheidungstheoretischen Versuchen mit jenseits der Anwesenheit von Personen (Sozialdi-
Spencer-Browns Formenkalkül (Esposito 2003) wird mension) umgestellt hat, das Sehen in Interaktionen
beispielsweise die Medium/Form-Unterscheidung Personen als Männer und/oder Frauen wahrnimmt.
›gegendert‹ gelesen. So korreliere bei Luhmann das Je »interaktionsnäher Kommunikation gebaut ist«,
›Medium‹ als verfügbar, passiv, weich und viskös und desto sichtbarer werden Männer und Frauen (Nasse-
die ›Form‹ als aktiv, rigide und fest mit Eigenschaf- hi 2003, 91; vgl. Nassehi 1999). Dass wir nicht anders
ten, die der traditionellen Mann/Frau-Semantik ent- können als Männer und Frauen zu sehen, liegt an der
springen. Die Eigenschaften der konstruierten ›Ge- Wahrnehmung von Körpern, die authentisch schei-
schlechtscharaktere‹ (Frau = passiv, empfangend, nen und für eine schlichte Ontologie einstehen. Ent-
prägbar und Mann = aktiv, gebend, prägend) schei- scheidend ist nun, dass Nassehi als Systemtheoretiker
nen unter der Hand bei Luhmanns Medium-Form- und damit als Konstruktivist nicht behauptet, dass
Konzipierung die Feder geführt zu haben (Binczek das Wahrgenommene vorsozial gegeben sei, viel-
2004; Gruber 2004; zum Begriff der ›Geschlechtscha- mehr formuliert er, dass »die Konstruktion natürli-
raktere‹ vgl. Hausen 1976). Vor allem steht die Frage cher Körper […] zur Plausibilisierung der Nicht-
im Vordergrund, wie denn die (systemtheoretisch Konstruiertheit der Körpernatur« diene (Nassehi
überraschende) Stabilität und Sichtbarkeit der Ge- 2003, 93, 98) und dass damit die entstandene Ord-
schlechterunterscheidung in der funktional differen- nung »nicht dem Wahrgenommenen selbst ent-
zierten Gesellschaft, die diese Unterscheidung ei- stammt, sondern der Wahrnehmung« (ebd., 93; vgl.
gentlich entfunktionalisiert, erklärt werden kann auch Wagner 2002). Die Evidenz und Plausibilität
(Pasero 1994; 1995; 1997; Weinbach/Stichweh 2001; des Körpers ergibt sich daraus, dass wir ihm so etwas
Heintz 2001a; 2001b; Nassehi 2003). wie Männlichkeit oder Weiblichkeit zuschreiben.
Die Bearbeitung dieser komplizierten Frage – Und »der Grund für die Persistenz der Asymmetrie
Gleichzeitigkeit von Relevanzverlust der Unterschei- des Unterscheidungsgebrauchs [Mann/Frau] stabili-
dung und Persistenz der Unterscheidung – erfolgt siert sich schlicht durch Erfahrung, also dadurch, daß
von zwei Seiten aus: Erstens wird Luhmanns System- sich der Unterscheidungsgebrauch phylogenetisch
systematik von Interaktion, Organisation und Ge- und ontogenetisch bewährt« (Nassehi 2003, 99). Das
sellschaft herangezogen und zweitens die Form heißt letztlich, dass der Einsatz der (asymmetri-
›Person‹ fokussiert. So ist zu lesen, dass es zwar auf schen) Geschlechterunterscheidung Mann/Frau
der Ebene der Funktionssysteme durchaus irrelevant dazu dient, interaktionsnahe Kommunikationskon-
ist, ob Probleme (Sachdimension) von Männern texte zu strukturieren, weil Interaktionen im Gegen-
oder Frauen (Sozialdimension) gelöst werden, auf satz zur Gesellschaft »viel stärker an Ordnungspro-
der Ebene der Organisationen und vor allem der In- blemen, am Strukturaufbau« laborieren (ebd., 100)
teraktionen jedoch spielt die Geschlechterdifferenz und größere Erwartungsunsicherheiten bereitstellen
immer noch eine wichtige Rolle. Das liegt zum einen (Weinbach/Stichweh 2001).
daran, dass wir bei der Wahrnehmung von Personen In der Forschung wurde immer wieder behauptet,
nicht umhin können, Männer und Frauen bzw. dass die Unterscheidung Mann/Frau in Interaktio-
männliche und weibliche oder eben davon abwei- nen (und Organisationen) dazu diene, schnell und
chende transsexuelle Körper sehen zu müssen. quasi voraussetzungslos, d. h. stereotypisierend,
Wahrnehmung schafft eine evident scheinende Komplexität zu reduzieren und strukturbildend
Wirklichkeit, die im Modus des Erlebens Unmittel- Kontingenz zu bewältigen (vgl. u. a. Pasero 1994;
barkeit suggeriere (Pasero 1999). Hierbei wird kon- 1995; Weinbach/Stichweh 2001; Wilz 2002). Wie es
struktivistisch angemerkt, dass die Wahrnehmung im Kontext von Interaktionen zur Kollision und Kor-
nicht naturhaft operiert, sondern dass sich qua So- relation von Person als Individuum und Person als
344 Rezeption

»geschlechtlich gefaßtes Erwartungsbündel« (Wein- stellt und beantwortet werden (Heintz 2001a und
bach 2003, 152) kommt, und wie (zunächst) gen- 2001b). Und erst im Kontext einer elaborierten Ge-
derfreie »Individualitäts-Erwartungen durch ge- sellschaftstheorie lassen sich auch plausible Kontakte
schlechtstypische Erwartungen durchkreuzt wer- zur Diskurstheorie herstellen (Pasero 1994).
den« (Pasero/Weinbach 2003b, 11), zeigen Pasero Kritisch ist jedoch einzuwenden, dass dieser Dif-
(2003) und Weinbach (2003 sowie ausführlich 2004). ferenzierungsvorteil der drei Systemebenen trotz sei-
Obwohl sich Organisationen nicht über ihre Mit- ner Komplexität gewisse Argumentationsbahnen
glieder, sondern über (im Sinne der Systemtheorie legt, die schwer zu verlassen sind und die zu eindi-
genderfreie) Entscheidungen reproduzieren (Auto- mensionalen Argumentationen führen können. So
poiesis), sind sie im Hinblick auf ihre Struktur unterstellen (beinahe) alle gender-systemtheoretisch
(Selbstorganisation) dennoch auf Mitglieder ange- argumentierenden Ansätze, dass die Persistenz der
wiesen. Und dort, wo es Mitglieder, also Personen Genderdifferenz in der funktional differenzierten
gibt, gibt es auch Männer und Frauen. Um die orga- Gesellschaft einen vormodernen ›Rest‹ darstellt und
nisatorische Kommunikation zu stabilisieren und alte Geschlechterstereotype markiert (Pasero 1995;
Verhaltenserwartungen aufrechtzuerhalten, werden 1997). Während die Geschlechterdifferenz in Inter-
geschlechtstypische Stereotype eingesetzt (Wein- aktionen und Organisationen die Funktion erfüllen
bach/Stichweh 2001). Gerade im Hinblick auf den kann, Komplexität zu reduzieren, Kontingenzen zu
Konnex von Geschlecht und Organisation hat die bewältigen und Strukturen zu stabilisieren, erscheint
systemtheoretische Perspektive sehr differenzierte sie aus der Perspektive der Funktionssysteme als ob-
Beiträge geliefert, sei es, dass netzwerktheoretisch der solet und funktionslos. Damit wird unter der Hand
sogenannte ›glass ceiling effect‹ untersucht wird fortschrittsoptimistisch argumentiert: Die funktio-
(Baecker 2003; Ohlendieck 2003), oder dass gezeigt nale Ausdifferenzierung beseitigt – prinzipiell – die
wird, warum die Hierarchien von Führungspositio- für Modernität störende Orientierung an der Mann/
nen und die Geschlechtsunterscheidung nicht Frau-Unterscheidung. Die entsprechende Frage lau-
schlicht analogisiert werden können (Wilz 2002). tet deswegen: Wie ist es möglich, dass trotz der Irre-
Vielmehr ist es so, dass es in Organisationen je nach levanz der Geschlechterunterscheidung auf funktio-
Bedarf zur Reduktion von Komplexität mithilfe der naler Ebene, die Unterscheidung weiter in der
Geschlechterunterscheidung kommen kann, aber Gesellschaft operiert (Pasero 1997)? Was wäre je-
nicht muss. Die Unterscheidung ist weder irrelevant doch, wenn man fragen würde: Wie funktioniert die
noch notwendig (ebd.; zu Organisation und Ge- Geschlechtsunterscheidung aufgrund der funktiona-
schlecht vgl. auch Pasero 2004 und Weinbach 2004, len Differenzierung? Weinbach und Stichweh argu-
126–143). mentieren ähnlich, wenn sie sich fragen, ob die
Im Hinblick auf die an Interaktionen orientierte Geschlechtsunterscheidung einfach ein Überbleibsel
systemtheoretische Argumentation sind viele An- alter Gesellschaftsstrukturen ist oder ob die Unter-
knüpfungspunkte an die ethnomethodologische scheidung im Rahmen der modernen Gesellschafts-
Genderforschung gegeben (Garfinkel 1967; Kessler/ struktur nicht auch Strukturwert besitzt und immer
McKenna 1978; West/Zimmerman 1987; Goffman wieder notwendigerweise reproduziert werden muss
2001; West/Fenstermaker 2002), die eine »interaktive (Weinbach/Stichweh 2001; ähnlich auch schon Tyrell
Konstruktion von Geschlecht in praxi«, also ein 1986). Die Argumentationsstruktur ›Geschlechter-
doing gender behauptet (Nassehi 2003, 83; vgl. Pasero differenz trotz funktionaler Differenzierung‹ ist zu
1994). Allerdings ist maßgeblich entscheidend, dass eng gebaut, um Formen des gendering beobachten zu
die Systemtheorie eine komplexe und universale Ge- können, die erst im Zuge der funktionalen Differen-
sellschaftstheorie elaboriert hat, innerhalb der die zierung entstanden sind. So wird übersehen, ob und
Interaktion nur einen Teilaspekt markiert. Während welche neuen Formen die Geschlechterunterschei-
die Ethnomethodologie Geschlecht (fast) nur an In- dung annehmen und welche neuen Wirkungen sie
teraktionen bindet, ist für die Systemtheorie die Dif- entfalten kann.
ferenzierung der drei Systemebenen Interaktion,
Organisation und Gesellschaft ausschlaggebend. Erst
im Hinblick auf die Differenzierung und die Korre-
lation dieser drei Ebenen kann die komplizierte Frage
nach modernem Relevanzverlust und der gleichzeiti-
gen Persistenz der Geschlechterunterscheidung ge-
Gender Studies 345

(Verpasste) Chancen jenseits des nis von Konstruktivismus und Genderproblematik


Konstruktivismus vgl. auch Hagemann-White 1993; Kieserling 1995;
Dürr 2001; Moser 2001 u. Weinbach 2004). Somit ist
Es ist sowohl für die Gender Studies als auch für die einerseits die Selbstverständlichkeit des Konstrukti-
Systemtheorie bedauerlich, dass die Gelegenheit ver- vismus die epistemologische Basis der Korrelation
passt wurde, beide nachhaltig in Kontakt zu bringen. von Systemtheorie und Genderforschung, aber ande-
Die begonnene Rezeption lieferte trotz einer starken rerseits ist der Konstruktivismus dann auch zu selbst-
systemtheoretischen Schlagseite – es gab kaum Auf- verständlich, um differenzierte Analysen durchfüh-
sätze, die sich nicht-systemtheoretisch mit der Sys- ren zu können. Die Anknüpfungspunkte müssen auf
temtheorie in Hinblick auf die Geschlechterproble- anderer Ebene gesucht werden, also nicht epistemo-
matik auseinandersetzten (Cornell 1996) – und trotz logisch, sondern gesellschafts- oder diskurstheore-
vieler ungelöster Probleme doch zumindest theoreti- tisch. Hier hat die Forschung noch viel vor sich, auch
sche, methodische und semantische Korrelations- wenn man bedenkt, dass es noch weitere nicht oder
ebenen. Dass die Frauenforschung als Feminismus kaum in den Blick genommene Inverhältnissetzun-
mit Luhmanns Systemtheorie nicht viel anfangen gen gibt. So ist beispielsweise an ganz ähnlich gela-
konnte, ist dadurch erklärbar, dass sie von einer na- gerte Probleme der Indifferenz, des Missverständnis-
türlichen Geschlechterdifferenz, einem monokausa- ses, der Un/Ähnlichkeit der epistemologischen und
len Verhältnis von Geschlechterdifferenz und Patri- theoretischen Anlage, der Schwierigkeit der Inbezug-
archat, der Stabilität der Geschlechteridentität sowie nahme zwischen zwei Theorien für den Fall der Post-
dem schlichten Schema Norm/Abweichung ausging colonial Studies zu denken, nur dass hier das Maß der
und darauf abzielte, bestehende Ungleichheitsse- wechselseitigen Ignoranz und Indifferenz von Sys-
mantiken aufzudecken (Angerer/Dorer 1994, 11; temtheorie und Postcolonial Studies noch größer ist
Schößler 2008, 9). Sie unterlief damit die konstrukti- als beim Verhältnis Genderforschung/Systemtheorie.
vistische, polykontexturale und differenztheoreti- Hier könnte auch die postkoloniale Genderfor-
sche Dimension der Systemtheorie. Es ist aber nicht schung von der Systemtheorie rezipiert werden und
erklärbar, wieso auch die Genderforschung die Sys- vice versa, indem die Konzepte Differenz, Gender
temtheorie ignoriert, da sie doch auf die soziale und und Race nach ihrem Stabilitäts- und Strukturwert
kulturelle De/Konstruierbarkeit der Geschlechterdif- befragt werden.
ferenz abhebt und damit die Konstruktionsmecha-
nismen des doing gender beleuchten möchte, ein
plurikausales und prozessuales Verhältnis der Mann- Literatur
Frau-Beziehung annimmt und die »Differenz der
Differenz«, nicht aber ihr So-Gegebensein annimmt Angerer, Marie-Luise/Dorer, Johanna: »Auf dem Weg zu ei-
ner feministischen Kommunikationstheorie«. In: Dies.
(Angerer/Dorer 1994, 11). Es wird mitunter betont,
(Hg.): Gender und Medien. Theoretische Ansätze, empi-
dass doch gerade die Orientierung an Differenz und rische Befunde und Praxis der Kommunikation. Ein
die epistemologische Basis des Konstruktivismus Textbuch zur Einführung. Wien 1994, 8–23.
Systemtheorie und Genderforschung in ein Boot Aulenbacher, Brigitte/Meuser, Michael/Riegraf, Birgit: So-
bringen müssten und tatsächlich ergeben sich auf ziologische Geschlechterforschung. Eine Einführung.
dieser Basis Synergieeffekte. Wiesbaden 2010.
Baecker, Dirk: »Männer und Frauen im Netzwerk der Hie-
Nun allerdings ist weder die Betonung von Gender rarchie«. In: Pasero/Weinbach 2003a, 125–143.
als Differenz der Differenz noch die allgemein akzep- Becker, Ruth/Kortendieck, Beate (Hg.): Handbuch Frauen-
tierte These »[d]ie Geschlechterunterscheidung ist und Genderforschung. Theorie, Methoden, Empirie.
eine soziale Konstruktion« (Nassehi 2003, 80) beson- Wiesbaden 32010.
ders erkenntnisfördernd in einer Wissenschaftsland- Binczek, Natalie: »Die Biologie der Medium/Form-Unter-
scheidung«. In: Kampmann/Karentzos/Küpper 2004,
schaft, die so gut wie alle Phänomene qua Differenz 77–92.
auf der Basis von sozialen Konstruktionen beobach- Bußmann, Hadumod/Hof, Renate (Hg.): Genus. Ge-
tet, egal ob sie dies als Konstruktivismus ausflaggt schlechterforschung, Gender Studies in den Kultur- und
oder nicht. Die gemeinsame epistemologische Basis Sozialwissenschaften. Ein Handbuch. Stuttgart 2005.
des Konstruktivismus verliert an Erkenntniswert, Cornell, Drucilla: »Enabling Paradoxes: Gender Difference
and Systems Theory«. In: New Literary History 27. Jg.,
wenn gilt: »[E]s lassen sich Gegenstände der Sozial- 2 (1996), 185–197.
wissenschaften überhaupt kaum ernsthaft benennen, Dürr, Renate: »Sex und Gender als Interpretationskon-
die nicht sozial konstruiert sind« (ebd.; zum Verhält- strukte«. In: Eva Waniek/Silvia Stoller (Hg.): Verhand-
346 Rezeption

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347

4. Geschichtswissenschaft könne die Dynamik geschichtlicher Veränderungen


nicht reduziert werden (Wehler 2006, 137).
Dass Luhmann an seiner eigenen Wirkungsstätte
Der jüngst erschienene Band Ideengeschichte (2010) von der dort reüssierenden »Bielefelder Schule«, wel-
aus der Reihe »Basistexte Geschichte« enthält auch che die Geschichtswissenschaft gerade zu den Sozial-
einen Luhmann-Text. Die Herausgeberin Barbara wissenschaften öffnen wollte, praktisch nicht zur
Stollberg-Rilinger zollt damit einer neueren Ent- Kenntnis genommen wurde, pointiert solche Miss-
wicklung in der Geschichtswissenschaft Tribut: Statt verständnisse. Auch mit dem Vorsatz, hiergegen an-
der Ideenwelt im klassischen Verständnis wird die ge- zugehen, wurde 2001 eine Einführung in die
samte gesellschaftliche Sinnproduktion untersucht. Systemtheorie speziell für den Gebrauch von Histo-
Dabei sind auch die Überlegungen Luhmanns zur rikern veröffentlicht, die bis heute das einzige Buch
Ideenevolution in den Blick der Historiker geraten; dieses Typs geblieben ist (Becker/Reinhardt-Becker
die Kultur- und Ideengeschichte erweist sich mögli- 2001). Höchstens am Rande taucht Luhmann nach
cherweise als ein neues ›Einfallstor‹ für die System- wie vor in den regelmäßig erscheinenden Über-
theorie in die Geschichtswissenschaft. blickswerken zur Theorie und Methode der Ge-
Zuvor hatte sich schon manches Einfallstor geöff- schichtswissenschaft auf.
net, aber es war nie zu einer Invasion gekommen. So-
zial-, Politik- und Wissenschaftsgeschichte, um nur
einige Beispiele zu nennen, ließen sich verschiedent- Geschichtstheoretische Debatten
lich von Denkfiguren der Systemtheorie inspirieren,
ohne dass aber eine systematische Aneignung statt- Einige Historiker haben allerdings in den letzten Jah-
gefunden hätte. Ohnehin ist bislang praktisch nur die ren eine selbst wieder theoretische Diskussion um
deutsche Geschichtswissenschaft an Luhmann inte- den Stellenwert der Geschichte in der Systemtheorie
ressiert, eine Rezeption in anderen Ländern ist kaum und der Systemtheorie für die Geschichtswissen-
erfolgt. Aber auch in Deutschland stehen die ein- schaft geführt. Die in der Sozialgeschichte lange Zeit
schlägigen Autoren und Werke noch relativ unver- dominierende Max-Weber-Schule wurde vor allem
bunden nebeneinander. Dies exemplarisch zu än- dadurch herausgefordert, dass Luhmann das gesell-
dern, war und ist die Absicht zweier Sonderfor- schaftliche Handeln als grundlegende Analysekate-
schungsbereiche, die systemtheoretisch konzeptuali- gorie durch die Kommunikation ersetzt hat. Dies hat
siert worden sind – des SFB 485 »Norm und Symbol. z. B. Auswirkungen auf das Verständnis von Religion
Die kulturelle Dimension sozialer und politischer In- im Zeitalter der Konfessionalisierung (Schlögl 2001).
tegration« an der Universität Konstanz (2000–2009) Der Evolutionsbegriff Luhmanns, der anfangs teil-
und des SFB 600 »Fremdheit und Armut. Wandel weise noch als ›biologistisch‹ verkannt wurde, ge-
von Inklusions- und Exklusionsformen von der An- wann durch den Vergleich mit anderen Theorien
tike bis zur Gegenwart« an der Universität Trier (seit sozialer Evolution an historischer Überzeugungs-
2002). Der systemtheoretische Ansatz ist in beiden kraft (Walz 2004). Weitere Verbindungslinien zog
Fällen jedoch auf der Ebene der empirischen For- eine Osnabrücker Dissertation, indem sie beispiels-
schung nicht immer deutlich zum Tragen gekom- weise Luhmanns Überlegungen zu Struktur und Er-
men. eignis diskutierte oder dessen Verständnis von Kultur
Das Problem der Vermittlung von Theorie und als Gedächtnis der Gesellschaft mit dem geschichts-
Empirie ist notorisch, im Hinblick auf Luhmann und wissenschaftlichen Konzept von Erinnerungskultur
die Geschichtswissenschaft aber besonders brisant. konfrontierte (Buskotte 2006).
Im Vergleich zu anderen Theorien eher mittlerer Die Aneignung der Systemtheorie für die empiri-
Reichweite, mit denen Historiker bevorzugt arbeiten, sche Forschung ist bislang in den Teilbereichen der
scheint der Abstraktionsgrad der Systemtheorie au- Geschichtswissenschaft höchst unterschiedlich aus-
ßergewöhnlich hoch zu sein; man wirft ihr zudem gefallen. In der Frühneuzeitforschung und in der
vor, politisch-moralisch indifferent zu sein und die Neueren und Neuesten Geschichte gibt es mittler-
Erlebens- und Erfahrungsperspektive konkret han- weile ein reges Interesse, weil das Konzept der funk-
delnder Individuen zu vernachlässigen. Das histori- tionalen Differenzierung als Theorie der Neuzeit
sche Verlaufsschema von segmentärer, stratifizierter oder der Moderne die Geschichtswissenschaft fraglos
und funktional differenzierter Gesellschaft sei über- mit einer substantiell neuen Perspektive herausfor-
dies zu grob; auf eine solche ›Dreifelderwirtschaft‹ dert. Die für die älteren Epochen zuständigen Histo-
348 Rezeption

riker hingegen üben sich in Zurückhaltung: Der Frühe Neuzeit


Begriff der Stratifikation, den Luhmann für Antike
und Mittelalter verwendet, biete in der Kernaussage Für die Frühneuzeitforschung hat sich vor allem
nichts Neues, ja er beziehe sich sogar teils auf einen Luhmanns Annahme der Vorbereitung und sukzes-
veralteten Forschungsstand, weil z. B. die mittelalter- siven Durchsetzung der Funktionsdifferenzierung
liche Gesellschaft viel weniger stark von stratifikato- seit der Renaissance als fruchtbar erwiesen. Studien
rischer und (verbliebener) segmentärer Differenzie- zu den europäischen Fürstenhöfen haben nachge-
rung geprägt sei, als Luhmann dies unter Bezugnah- zeichnet, wie sich die Politik zu einem eigenständigen
me auf einen veralteten Forschungsstand behaupte Kommunikationsraum entwickelte (Schlögl 2004).
(Oexle 1991). Die sozialen Positionen der höfischen Akteure verlo-
ren nach und nach an Relevanz, während der Zweck-
und Sachbezug politischer Entscheidungen aufge-
Antike und Mittelalter wertet wurde. Die Vorbereitung, letztlich auch die
Fällung von Entscheidungen wanderte in funktional
Als Luhmann-Rezipientin in der Alten Geschichte ist bestimmte Ratsgremien ab. Die Bedeutung der per-
nur Marie Theres Fögen zu nennen, welche die Ent- sonalen Interaktion, auf die sich Herrschaft zuvor ge-
wicklung des römischen Rechts mithilfe der Evoluti- stützt hatte, schwand; stattdessen hielt die Schrift in
onstheorie interpretiert (Fögen 2002). In der Mittel- die Beratungszimmer Einzug: Entscheidungen stütz-
alterlichen Geschichte hat Christian Radtke versucht, ten sich auf Memoranden, Verhandlungen wurden
Prozesse der Urbanisierung systemtheoretisch aufzu- protokolliert. Die Ratsgremien bildeten die Keimzel-
schlüsseln (Radtke 2009). Ansonsten ragen die Stu- le der ›Behörden‹ des modernen Staates; die Bedeu-
dien von Franz-Josef Arlinghaus zum städtischen tung der Höfe, die ihre politische Schlüsselstellung
Gerichtswesen des Mittelalters heraus (Arlinghaus verloren, reduzierte sich auf die Repräsentation.
2007). Der durch Eidschwur erfolgende Beitritt zu ei- Luhmanns Denkfigur der ›Legimitation durch
nem genossenschaftlichen Verband, argumentiert Verfahren‹ ist in ähnlicher Weise auf den Reichstag
Arlinghaus, schloss den Einzelnen als integrales Gan- im Heiligen Römischen Reich angewendet worden
zes in die Gemeinschaft ein. Kam es zu Konflikten, (Sikora 2004). Während die ›Bänke‹ den Rang der
war stets auch diese Mitgliedschaft gefährdet; vor Ge- Stände berücksichtigten, bildeten sich in verschiede-
richt wurde nicht nur der einzelne Streitfall, sondern nen Ausschüssen sachorientierte Verfahren zur poli-
ebenso die grundsätzliche Frage von Inklusion und tischen Entscheidungsfindung heraus. Dabei wurde
Exklusion thematisiert. Deshalb bildeten die Gerich- bei der Gesetzgebung das erfolgreiche Passieren eines
te keine abgesonderten Institutionen, sondern ver- Ausschusses zunehmend als ähnlich verbindlich ak-
körperten gleichsam die Mitte der Stadtgesellschaft – zeptiert wie die Abstimmung durch die Bänke – ein
sie tagten im Freien auf offenen Plätzen. Einrichtun- Verfahren legitimierte eine Entscheidung in ähnli-
gen, die über das künftige Leben einer Person im ur- cher Weise, wie es zuvor nur der soziale Status des
banen Raum entschieden, konnten nach mittelalter- Entscheiders vermocht hatte.
licher Vorstellung nur mit der Stadtgesellschaft Im Anschluss an Luhmanns These, die Medien
identisch sein. Bei den Richtern handelte es sich um bildeten ein eigenes gesellschaftliches Subsystem
Patrizier, die nur zeitweilig juristische Aufgaben (RdM), ist aus mediengeschichtlicher Perspektive die
übernahmen. Bestimmte Rituale zeigten an, dass sie zunehmende operative Schließung dieses Systems in
ihre übliche Rolle ›eigentlich‹ gar nicht verließen: In der frühen Neuzeit konstatiert worden (Arndt 2004).
der Gerichtsverhandlung machten Sprechformeln, Der Nachrichtenfluss in den Druckmedien zur zeit-
eine bestimmte Sitzhaltung und das Aufnehmen ei- genössischen Politik war in hohem Maße zirkulär:
nes speziellen Stabes den temporären Charakter des Die Informationen liefen im System um, wurden von
Vorgangs sichtbar. Die gewohnte Tracht, im Mittelal- der einen zur anderen Stelle weitergereicht und dabei
ter das maßgebliche Zeichen für die Standeszugehö- so umgeformt, dass sie an frühere Berichte anknüp-
rigkeit, wurde beibehalten. fen und ihrerseits den Anknüpfungspunkt für spätere
Berichte bilden konnten. Es gab eine ursprüngliche
Einspeisung in das System und eine letztendliche Ver-
mittlung an den Kunden als ›Endverbraucher‹, aber
dazwischen spielte sich ein autopoietischer Vorgang
ab. Parallel erfolgte eine Ausdifferenzierung inner-
Geschichtswissenschaft 349

halb des Mediensystems. Einerseits kamen neue Me- der Binnendifferenzierung der Wissenschaft hinge-
dien wie Flugschrift und Briefzeitung, schließlich die gen wollte Humboldt abschwächen; Spezialistentum
gedruckte Zeitung und die Zeitschrift hinzu; ande- war ihm ein Gräuel. Stattdessen sollte die Philoso-
rerseits gab es eine Auffächerung innerhalb einzelner phische Fakultät den Blick auf das Ganze wahren.
Medien, z. B. bei der Zeitschrift, aus der verschiedene Das Ideal der umfassenden Bildung hat sich bis zur
Genres wie literarische und politische Zeitschriften Gegenwart in der akademischen Welt erhalten, ob-
sowie moralische Wochenschriften hervorgingen. wohl es durch die Vermehrung des Wissens längst ad
absurdum geführt ist. Die Systemtheorie bietet die
Erklärung an, dass an den Universitäten das Wissen-
Der Umbruch um 1800 schafts- und das Erziehungssystem strukturell ge-
koppelt sind, wodurch der Anspruch, möglichst viele
Die Phase von Revolution und Reform im späten 18. Fähigkeiten und Fertigkeiten zu schulen, der im Er-
und frühen 19. Jahrhundert forcierte die Umstellung ziehungssystem nach wie vor unbestritten gilt, in das
der gesellschaftlichen Leitdifferenz von Stratifikation Wissenschaftssystem eindringt.
auf Funktion. Die Epochenscheide, die Historiker Für denselben Zeitraum hat Frie (2001) den sys-
bislang bevorzugt als »Sattelzeit« (Koselleck 1972, temtheoretischen Ansatz für das Genre der Biogra-
XV) oder Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft phie fruchtbar gemacht. Sein Protagonist, der
verstanden haben, ist von Luhmann neu interpretiert preußische Adelige Friedrich August Ludwig von der
worden. Die schrittweise Verselbständigung der ge- Marwitz (1777–1837), betätigte sich als Militärper-
sellschaftlichen Subsysteme ist mittlerweile von eini- son und Politiker, Agrarier und Gutsherr, Kirchen-
gen historischen Studien nachgezeichnet bzw. zum mann und Familienvater. Auf all diesen Feldern
theoretischen Bezugsrahmen der Analyse gemacht waren Eigenlogiken wirksam, die Marwitz’ Handeln
worden. Weil diese Prozesse langwierig sind, haben prägten; es gelang ihm nicht mehr, sein Tun in den
die Autoren besonders große Zeiträume untersucht. unterschiedlichen Rollen und Kommunikationszu-
Schon Stichweh (1984) hat die Geschichte der Physik sammenhängen zu einem stimmigen Gesamtent-
in Deutschland vor dem Hintergrund der Ausdiffe- wurf zu bündeln. Der Biograph sieht sich gezwun-
renzierung des Wissenschaftssystems über einen gen, dieses Leben in mehrere Lebenssphären aufzu-
Zeitraum von 150 Jahren hinweg verfolgt. Ähnlich gliedern, in denen ihm sehr unterschiedliche ›Mar-
ambitioniert ist die Untersuchung von Schlögl witze‹ begegnen: ein konservativer Politiker und ein
(1995), die den Statuswechsel von Religion zwischen autoritärer Gutsherr, aber auch ein improvisations-
1700 und 1840 nachzeichnet. An den Testamenten bereiter Offizier, ein Agrarier, der die neuesten An-
von Stadtbürgern mehrerer Generationen lässt sich baumethoden umsetzte, und ein Ehemann, der mit
nachweisen, wie sich die Einbettung aller Lebensvor- seiner ersten Frau eine moderne romantische Liebes-
gänge in religiöse Deutungen im Zeitverlauf ver- heirat schloss. Das Leben des Protagonisten kann
flüchtigte. Das Testament wurde zunehmend nur nicht mehr chronologisch und anhand eines einzigen
noch als ein Rechtsakt interpretiert, als eine juristisch Erzählstrangs dargestellt werden, wenn die verschie-
wirksame Bestimmung über den Nachlass, in der re- denen Rollen, die dieser eingenommen hat, faktisch
ligiöse Bekenntnisse keinen Platz hatten. Dieses Ver- unverbunden nebeneinander stehen. Von Luhmann
schwinden der religiösen Formeln ist kein Indiz für inspiriert, findet Frie zu einer innovativen Methode
Irreligiosität, aber ein Hinweis darauf, dass die Reli- biographischer Forschung und Darstellung.
gion sich als Teilsystem auf ihre genuine Funktion
zurückzog und die anderen Teilsysteme ihren spezi-
fischen Eigenlogiken überließ. 19. und 20. Jahrhundert
Die Universitätsreform Wilhelm von Humboldts
wollte die Wissenschaft von allen ›äußeren Zwecken‹ Einen Brückenschlag vom 19. zum 20. Jahrhundert
befreien und auf das reine Wahrheitsstreben ver- vollzieht Reinhardt-Becker (2005), indem sie das
pflichten. Becker (2004b) hat diese Programmatik System der Intimkommunikation für die Ära der Ro-
auf die Durchsetzung der Leitdifferenz wahr/unwahr mantik und für die Weimarer Republik untersucht.
bezogen, welche die Ausdifferenzierung des Wissen- Dabei orientiert sie sich methodisch an Überlegun-
schaftssystems markiert. Humboldts Postulate er- gen Luhmanns zum Wechselspiel von Gesellschafts-
scheinen wie die idealistische Verbrämung einer und Semantikevolution: Der Krise des Individuums
allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz. Die Folgen um 1800, das angesichts der vielfältigen Rollenerwar-
350 Rezeption

tungen in der funktional differenzierten Gesellschaft bild und Selbstverständnis – so wie auch andere Phä-
um einen stimmigen Selbstentwurf ringt, wird in der nomene der modernen Welt im Prozess der Säkula-
gesellschaftlichen Semantik dadurch begegnet, dass risierung Resonanzen im Religionssystem auslösten.
ein Ort entworfen wird, an dem der Einzelne sich als Die funktionsspezifische Gliederung der Gesell-
›Ganzes‹ erlebt – die romantische Liebe. Über Luh- schaft, welche die Differenzierungstheorie impli-
manns Ausführungen in Liebe als Passion (LaP 1982) ziert, ist unvereinbar mit der Dominanz eines
hinausgehend, rekonstruiert Reinhardt-Becker die bestimmten Teilsystems. Das gilt auch für das Teilsys-
Semantiken, die eine Liebesbeziehung zur Ich-Stabi- tem Politik, das häufig für die Steuerungszentrale der
lisierung befähigen. Als Leitdifferenz für das roman- gesamten Gesellschaft gehalten wird: Die Eroberung
tische Liebessystem schlägt Reinhardt-Becker total der politischen Macht scheint der Schlüssel für die
verstehen/nicht verstehen vor. In den 1920er Jahren Umgestaltung aller wirtschaftlichen, juristischen etc.
geriet das romantische Konzept in eine Krise. Die Verhältnisse zu sein. Für die moderne Gesellschaft ist
Massengesellschaft ließ Individualität problematisch der Versuch einer solchen Homogenisierung kontra-
werden; wo Unverwechselbarkeit nicht mehr bean- produktiv. Die Forschung zur Geschichte der DDR
sprucht wurde, erübrigte sich ihre Stabilisierung. Die hat hiervon einen Erklärungsversuch für das Schei-
Neue Sachlichkeit feierte Helden, die in der Liebe nur tern dieses Staates abgeleitet (Meuschel 1992; vgl.
noch rational kalkulierend ein Mehr an Vergnügen auch schon Luhmanns Kritik an der Planwirtschaft
und eine Minderung ihrer Nöte suchten. Ging die in WirtG, 96 f.). Er wurde im Begriff der ›Entdifferen-
Rechnung nicht auf, wurde die Beziehung beendet, zierung‹ gebündelt. Der Versuch der Machthaber, die
die keineswegs, wie die romantische Liebe, die Ewig- Funktionsdifferenzierung wieder zurückzunehmen,
keit beschwor. Aus der veränderten Funktion von die Systeme also aufs neue im Zeichen einer Ideologie
Liebe resultierte auch eine neue Leitdifferenz: Wohl- als Ersatzreligion zu integrieren und sie zentral durch
befinden/Nicht-Wohlbefinden. Im Gegensatz zu den die Politik zu steuern, erstickte geradezu jede Ent-
anderen Subsystemen der modernen Gesellschaft, wicklungsdynamik.
deren Funktionen und Codes seit 1800 stabil geblie-
ben sind, haben wir es bei der Liebe mithin, zumin-
dest auf der Ebene der gepflegten Semantik, mit der Fazit
Infragestellung und dem Austausch zentraler Sys-
temkomponenten zu tun. Vieles spricht dafür, dass Es kann der Geschichtswissenschaft nicht genügen,
die Entwürfe der Weimarer Jahre mittlerweile als die theoretischen Setzungen Luhmanns nur empi-
gleichwertiges Konkurrenzmodell zur romantischen risch zu unterfüttern. Auch die Übersetzung längst
Liebe auch in den semantischen Apparat der Gesell- auf anderem Weg gewonnener Erkenntnisse in ein
schaft eingedrungen sind. systemtheoretisches Vokabular bringt keinen Ge-
Der Statuswechsel von Religion im Prozess der winn. Stattdessen muss deutlich werden, dass die Be-
Systemdifferenzierung ist nicht nur für die Epochen- griffe und Kategorien der Theorie Werkzeuge dar-
scheide von 1800 beschrieben, sondern auch von der stellen, mit denen Sachverhalte aufgeschlossen wer-
zeitgeschichtlichen Forschung aufgegriffen worden den können, die sich andernfalls dem Zugriff
(Ziemann 2007). In der Moderne ist die Religion nur entzögen. Obwohl es kein sinnvolles Ziel sein kann,
mehr eines von verschiedenen Teilsystemen. Diese eine Theorie widerlegen zu wollen – möglicherweise
Systeme können niemals direkt aufeinander einwir- sind Theorien per se nicht widerlegbar –, wäre die
ken, sondern nur Resonanzen im jeweils anderen eine oder andere Modifikation, Verfeinerung oder
System auslösen – ein Umweltreiz wird nach Maßga- Ergänzung der Systemtheorie im Hinblick auf ihre
be der spezifischen Sinnverarbeitungsregeln des historiographisch verwertbaren Komponenten si-
empfangenden Systems beobachtet. Ziemann fragt cherlich wünschenswert. Bekanntlich hat Luhmann
danach, welche Bedeutung sozialwissenschaftliche seine Theorie selbst an der einen oder anderen Stelle
Erkenntnisse für die Umweltbeobachtung und die revidiert. Die Geschichtswissenschaft könnte dies
Planungen der katholischen Kirche in den ersten drei unter Berufung auf empirische Befunde tun, die dem
Jahrzehnten der deutschen Nachkriegsgeschichte Theoretiker Luhmann nur eingeschränkt zur Verfü-
hatten, jedoch nicht in dem Sinne, dass eine unmit- gung standen. Umgekehrt wird sie auch weiterhin
telbare Umsetzung von bestimmten Vorgaben unter- von dem großen Potenzial der Systemtheorie profi-
stellt wird; vielmehr geht es um die Einschmelzung tieren, das sie noch nicht im Entferntesten ausge-
der wissenschaftliche Expertise in das religiöse Welt- schöpft hat.
Geschichtswissenschaft 351

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352 Rezeption

5. Kommunikationswissenschaft les System (1969a), die unter anderem auf Luhmanns


Buch Funktionen und Folgen formaler Organisation
(1964) Bezug nimmt. Rühl betont in Anlehnung an
Auch in der Kommunikationswissenschaft gilt Luh- Luhmann die Bedeutung von Organisationsstruktu-
mann mittlerweile als Klassiker (Meyen/Löblich ren gegenüber der damals verbreiteten Vorstellung
2006). Auf der Jahrestagung 2011 der Deutschen Ge- eines weitgehend frei handelnden Journalisten, der
sellschaft für Publizistik und Kommunikationswis- lediglich seinem Gewissen unterworfen sei. Im sel-
senschaft (DGPuK) hat man ihn sogar als einen der ben Jahr ist in der zentralen deutschsprachigen Fach-
›Säulenheiligen‹ des Fachs bezeichnet. Die sechs Bän- zeitschrift Publizistik der ebenfalls von Rühl verfasste
de der Soziologischen Aufklärung zählen zu den Aufsatz »Systemdenken und Kommunikationswis-
»Schlüsselwerken« für die Kommunikationswissen- senschaft« (1969b) erschienen. Dort wird das Fach
schaft (Marcinkowski 2002). Insbesondere in der dazu aufgefordert, sich auf das ›Denken in Systemen‹
Theoriebildung der Journalismusforschung ist Luh- einzulassen. Hierfür sei es notwendig, soziale Syste-
manns Perspektive dominant. Von einem »Main- me als Handlungssysteme zu begreifen und nicht als
stream« und vom »Siegeszug systemtheoretischer Systeme mit handelnden Personen. Auch für Luh-
Konzepte« ist dort die Rede (Scholl 2001, 384). Lange mann selbst stand in dieser Zeit noch das Handeln
Zeit hat sich die Kommunikationswissenschaft aller- und nicht die Kommunikation im Zentrum seiner
dings schwer getan mit Luhmanns Denkgebäude, Theoriearchitektur.
und in vielen Bereichen ist das immer noch so. Schon Weitere zehn Jahre hat es gedauert, bis mit Journa-
ein Blick in die einschlägigen Einführungen ins Fach lismus und Gesellschaft der erste umfassende, auf
macht Aversionen deutlich. So will Burkart (2002, Luhmann basierende Systementwurf aus dem Fach
464) »nicht verschweigen«, dass die Systemtheorie in publiziert wurde (Rühl 1980). Es handelt sich dabei
der engeren Fachdiskussion keinesfalls unumstritten um Rühls Habilitationsschrift, in der dem Journalis-
ist. Ein kritischer Unterton durchzieht auch die dif- mus die »Primärfunktion« zugeschrieben wird,
ferenzierte Darstellung in Pürers Handbuch (2003). »Themen für die öffentliche Kommunikation« her-
Kunczik und Zipfel (2001, 84) bringen es auf den und bereitzustellen (ebd., 323). In der Zwischenzeit
Punkt: »Diese Theorie widerspricht dem hier vertre- und auch in den Jahren nach Journalismus und Ge-
tenen Wissenschaftsverständnis«, das in weiten Tei- sellschaft erschienen lediglich einige wenige Aufsatz-
len des Fachs dem kritischen Rationalismus ver- publikationen in den Fachzeitschriften, die mehr
pflichtet ist. oder weniger direkt auf Luhmann Bezug nehmen
Insgesamt betrachtet lässt sich die Luhmann-Re- und in denen es meistens darum geht, kommunika-
zeption in der Kommunikationswissenschaft in drei tionswissenschaftliche Ansätze systemtheoretisch zu
Phasen einteilen (Wendelin 2008a). Bis zum Anfang unterfüttern. Merten (1976) hat beispielsweise eine
der 1990er Jahre wurde Luhmanns Kommunikati- Interpretation des »two-step-flow of communica-
onstheorie, von einzelnen wenigen Pionierarbeiten tion« aus systemtheoretischer Perspektive angeboten
abgesehen, wenig beachtet. Danach fand eine vor al- und Kepplinger (1985) »systemtheoretische Aspekte
lem theorieintern geführte Diskussion statt, in der politischer Kommunikation« diskutiert. System-
mehrere eigenständige, auf Luhmann basierende theorie wurde im Fach damals als völlig neue und an-
Systementwürfe miteinander konkurrierten. Erst ab dersartige Betrachtungsweise zwar durchaus zur
Ende der 1990er Jahre war die Luhmann-Rezeption Kenntnis genommen. Langenbucher druckte zum
tatsächlich in der Kommunikationswissenschaft an- Beispiel Luhmanns bereits 1970 in der Politischen
gekommen und Systemtheorie wurde für mehrere Vierteljahresschrift erschienenen Artikel »Öffentliche
Jahre auf einer relativ breiten Basis in unterschiedli- Meinung« in seinem Sammelband Politik und Kom-
chen Forschungsbereichen diskutiert. Der Tenor munikation erneut ab (Luhmann 1979). Eine breite-
blieb allerdings meist negativ. re und kritische Auseinandersetzung mit dieser
Betrachtungsweise fand aber noch nicht statt.
Vorbehalte vieler Fachvertreter gegenüber Luh-
Phase 1: Rühl und der Beginn der Luhmann- manns Systemtheorie lassen sich vor allem an den
Rezeption (bis Anfang der 1990er Jahre) Reaktionen auf die Arbeiten Rühls ablesen. Diese
Vorbehalte bestehen einerseits in der Komplexität des
Als Auftakt der Luhmann-Rezeption gilt Rühls Pro- Ansatzes, die für unnötig gehalten wurde. Anderer-
motion Die Zeitungsredaktion als organisiertes sozia- seits wurden aber auch Bedenken ethischer Natur for-
Kommunikationswissenschaft 353

muliert und dabei ein Werte- und Subjektdefizit treten hat, ›passt‹ aber nicht zur kritisch-rationalisti-
moniert. Weil die »Qualitäten des einzelnen Journa- schen Idee einer kontinuierlichen Annäherung an die
listen« nur noch eine »untergeordnete Rolle« spielen Wirklichkeit, von der die sozialwissenschaftlich-em-
würden, sei der Ansatz auch praxisfern. »Vom Men- pirische Kommunikationswissenschaft geprägt ist.
schen soll doch die Rede sein, nicht von Maschinen Entsprechend wurde 1994 von Saxer auf einer Fest-
allein, wenn der Journalismus das Thema ist« (Boven- rede anlässlich des 60. Geburtstags von Rühl vor ei-
ter 1984, 34 f.). Solche Reaktionen verdeutlichen, wie ner Entwicklung des Fachs »in Richtung neuortho-
weit sich Rühl mit der Bezugnahme auf Luhmann da- doxer Autopoiesis« gewarnt. Diese Konstruktivis-
mals vom restlichen Feld im Fach entfernt hatte. mus-Debatte leitet über zur zweiten Phase der
Neben Rühl lassen sich mit Merten und dem Jour- Luhmann-Rezeption im Fach.
nalismusforscher Weischenberg (1992, 1995), der in Kennzeichnend für die zweite Phase sind diverse
seinen Analysen und Beschreibungen ebenfalls schon Systementwürfe zur öffentlichen Kommunikation,
früh auf systemtheoretische Elemente Bezug genom- die jetzt publiziert wurden. 1993 erschien Marcin-
men hat, drei Hauptvertreter der Luhmann-Rezepti- kowskis Publizistik als autopoietisches System, 1994
on für die erste Phase benennen. Rühl selbst war bei Blöbaums Journalismus als soziales System und 1995
den Recherchen für seine Dissertation auf Luhmann Luhmanns Realität der Massenmedien. Die damit
aufmerksam geworden. Rühls Doktorvater Ronne- einsetzende Debatte blieb zunächst aber noch weit-
berger hatte Luhmann 1966/67 als »sozialwissen- gehend theorieintern – mit Systemtheorie beschäf-
schaftlichen Geheimtipp« zu einem Gastvortrag im tigten sich fast ausschließlich Systemtheoretiker.
Institut Erlangen-Nürnberg eingeladen und Rühl Noch 1996 stellten Görke und Kohring (1996, 15)
war unter den Zuhörern (Scheu 2005, 109). In den deshalb eine Randstellung »systemtheoretischen
folgenden Jahren entwickelte sich neben dem Bam- Denkens« in der Kommunikationswissenschaft fest.
berger Institut, wo Rühl seit 1983 lehrte, vor allem Zu den bereits genannten Vorbehalten gegen die
das Münsteraner Institut zum institutionellen Anker Luhmann-Rezeption im Fach trat die Heterogenität
der Luhmann-Rezeption im Fach. 1982 wurde Wei- der jetzt publizierten Theorieentwürfe hinzu. Das
schenberg dorthin berufen und Merten kam 1984 Medien Journal druckte 1997 ein Themenheft zur
nach Münster zurück. Er hatte hier Publizistik stu- »Systemtheorie der Medien« (Heft 1). Die Herausge-
diert, ging dann aber 1972 mit Luhmann nach Biele- ber schrieben im Editorial, es sei von ihnen nicht in-
feld und wurde 1976 dort von ihm mit einer Arbeit tendiert gewesen, »daß beinahe jeder der allesamt
über Kommunikationsbegriffe und -prozesse pro- von der Systemtheorie inspirierten Autoren mit an-
moviert (Meyen/Löblich 2007, 314 f.). deren Startüberlegungen und begrifflichen Präferen-
zen beginnt«. Rühl (2002, 249) selbst hat eine solche
Theoriekonstruktion auf der Basis von Luhmanns
Phase 2: Theorieinterne Debatte und Texten später als großes »Luhmann-Schütteln« be-
Abgrenzung (Mitte der 1990er Jahre) zeichnet. Die Gegner systemtheoretischer Perspekti-
ven führten den Vorwurf der scheinbaren Beliebig-
Spätestens mit der autopoietischen Wende fühlten keit von theoretischen Prämissen ins Feld.
sich viele Fachvertreter auch erkenntnistheoretisch Gestritten wurde über die Grenzen und Bezeich-
von Luhmanns Systemtheorie herausgefordert und nungen von sozialen Systemen im Bereich der öffent-
gingen auf Distanz. Weitere Abgrenzungsbemühun- lichen Kommunikation. Am deutlichsten manifes-
gen sind für diese Zeit zu beobachten. Das 1990 in tiert sich die Uneinigkeit mit Blick auf die Frage nach
Münster veranstaltete Funkkolleg Medien und Kom- dem Code, mit dem ein System Massenmedien (Luh-
munikation zog innerhalb der Kommunikationswis- mann), Journalismus (Blöbaum), Öffentlichkeit
senschaft eine Auseinandersetzung mit dem »Ge- (Görke, Kohring) oder Publizistik (Marcinkowski)
spenst des Radikalen Konstruktivismus« nach sich operieren soll. Kritisiert wurde an den von Luhmann
(Hachmeister 1992). Ein Jahr später folgte die Jahres- in seiner Realität der Massenmedien gemachten Vor-
tagung der DGPuK bei Rühl in Bamberg ebenfalls ei- schlägen vor allem die Grenzziehung des Systems
ner entsprechenden Schwerpunktlegung, die »eine Massenmedien. »Da die Grenzen eines Funktionssys-
bestimmte Spielart des methodisch-forschungstech- tems als Sinngrenzen zu betrachten sind, die sich aus-
nischen Konservativismus« herausfordern wollte schließlich kommunikativ erschließen lassen, er-
(Bentele/Rühl 1993, 13). Ein radikal beobachterrela- scheint insbesondere die Abgrenzung nach Verbrei-
tives Wirklichkeitsverständnis, wie es Luhmann ver- tungsmedien fragwürdig« (Görke/Kohring 1996,
354 Rezeption

19). Hier wurde mit Luhmann gegen Luhmann ge- werdenden institutionellen Ressourcen für die Luh-
dacht. Auch der Code ›Information‹ versus ›Nicht- mann-Rezeption in der Kommunikationswissen-
information‹ provozierte Widerspruch in den Rei- schaft. Auch aufgrund der Dissertationsthemen, die
hen der kommunikationswissenschaftlichen System- an den jetzt vorhandenen wissenschaftlichen Nach-
theoretiker. Lediglich Blöbaum (1994) ist hier der wuchs vergeben werden konnten, kam die Journalis-
Idee Luhmanns gefolgt. Es hat sich unter anderem als musforschung in den 1990er Jahren »(system-)
problematisch erwiesen, dass ›Information‹ als eine theoretisch und empirisch wieder in Schwung«
der drei Selektionsstufen in Luhmanns Kommunika- (Scholl 1997, 468). Gleich mehrere systemtheore-
tionsbegriff letztlich ein generelles Merkmal aller so- tisch inspirierte Lehrbücher erschienen in dieser Zeit
zialen Systeme ist und damit nicht exklusiv für ein (vgl. Wendelin 2008b). Gemeint sind die 1994 publi-
bestimmtes System beansprucht werden kann (Mey- zierte Wirklichkeit der Medien von Merten, Schmidt
en/Löblich 2006, 294). und Weischenberg, 1992 und 1995 kamen eine
Mit diesem Kommunikationsbegriff ist eine wei- mehrbändige Einführung in die Journalistik von
tere Quelle für Irritationen im Fach angesprochen. Weischenberg hinzu und 1999 Mertens Einführung
Die Vorstellung von Kommunikation als einem drei- in die Kommunikationswissenschaft. Die in der Fach-
stufigen Selektionsprozess (Information – Mittei- zeitschrift Communicatio Socialis geführte Debatte
lung – Verstehen), der die Operationsweise autopoie- zur Frage »Ist der Journalismus autopoietisch?« ver-
tisch geschlossener sozialer Systeme beschreibt und weist zeitlich zwar schon in die dritte Phase der Luh-
der ohne Informationstransfers auskommt, war für mann-Rezeption, gehört inhaltlich aber noch zur
die Kommunikationswissenschaft nur schwer nach- eher theorieinternen Auseinandersetzung (Pörksen
vollziehbar (vgl. z. B. Bentele/Beck 1994, 31). Dort 2001).
wird Kommunikation überwiegend als soziales Han-
deln aufgefasst, dem zumindest eine Mitteilungsab-
sicht zugrunde liegt und die auch auf gegenseitige Phase 3: Breite Diskussion und
Verständigung hin ausgerichtet ist (Burkart 2002). Implementierung (ab Ende der 1990er Jahre)
Marcinkowski (1993, 65) arbeitete im Gegensatz
zu Luhmann und Blöbaum mit den Unterscheidun- Ab Ende der 1990er Jahre lassen sich zwei Entwick-
gen ›veröffentlicht‹ versus ›unveröffentlicht‹ sowie lungen der Luhmann-Rezeption in der Kommunika-
›öffentlich‹ versus ›nicht öffentlich‹, um ein System tionswissenschaft nachzeichnen. Einerseits wehrten
Publizistik zu beschreiben. Bei Görke (2002) setzt sich Fachvertreter mit unterschiedlichen themati-
sich das Funktionssystem Öffentlichkeit mit den schen Hintergründen jetzt deutlich gegen die system-
Leistungssystemen Journalismus und Unterhaltung theoretischen Zumutungen. Andererseits sind ver-
durch den Code ›aktuell‹ versus ›nicht aktuell‹ fort. stärkt Anpassungsbemühungen von Seiten der kom-
Kohring (2004, 141–161) sieht den Journalismus munikationswissenschaftlichen Systemtheoretiker
ebenfalls als ein Leistungssystem des Funktionssys- zu beobachten (Wendelin 2008a). Wichtige Kritik-
tems Öffentlichkeit. Wenn es in der Öffentlichkeit punkte an Luhmanns Systemtheorie in der dritten
um eine gesellschaftliche Selbstbeobachtungs- und Phase sind Empirieferne und weiterhin das »Defizit
Synchronisationsfunktion geht, heißt der Code aber jeglicher normativer Ausrichtung« (Neverla 1998,
›Mehrsystemzugehörigkeit‹ versus ›Nicht-Mehrsys- 293). Interessant ist in dem Zusammenhang auch die
temzugehörigkeit‹. Zum System Öffentlichkeit gehö- teilweise hitzige Debatte, die Klaus und Lünenborg
ren dann solche Kommunikationen, die Relevanz für 2000 in der Fachzeitschrift Medien & Kommunikati-
mehrere gesellschaftliche Teilsysteme haben. Luh- onswissenschaft mit Scholl geführt haben. Den sys-
manns früher Aufsatz (1979) über die öffentliche temtheoretischen Ansätzen aus dem Fach wird hier
Meinung erweist sich auch mit Blick auf die gegen- aus einer kulturtheoretischen Perspektive unter an-
wärtige Theorieentwicklung für die systemtheore- derem die Ausklammerung des Publikums vorge-
tisch arbeitende Kommunikationswissenschaft je- worfen. Zentraler und grundsätzlicher Streitpunkt
denfalls als anschlussfähiger als die Realität der bleibt aber das Fehlen des handelnden Subjekts. Die-
Massenmedien, die in einigen Bereichen schon bei ih- ser Streit ging jetzt bis hin zur Diabolisierung Luh-
rem Erscheinen mit Blick auf den Wissensstand des manns: Das Subjekt sei »aufgegeben und entlassen
Fachs veraltet war. aus der Aufmerksamkeit jener, die mit Niklas Luh-
Die Produktion unterschiedlicher Theorieent- mann den Pakt fürs Forscherleben geschlossen ha-
würfe verweist auf die in den 1990er Jahren breiter ben« (Reus 2006, 433).
Kommunikationswissenschaft 355

Die kommunikationswissenschaftlichen System- im Zuge einer systemtheoretisch informierten De-


theoretiker selbst postulierten in der dritten Phase batte wieder neuzuentdecken. Im Editorial wird in
das Ende der mehr oder weniger rein theoretisch Anlehnung an Langenbucher argumentiert: Die
abgeleiteten Systemkonstruktionen und forderten »Kulturleistung Journalismus« könne »nicht existie-
verstärkt zur empirischen Arbeit auf: »Nach der ren ohne das bewusste Negieren, Brechen und Wei-
Mühe der Berge folgt die Mühe der Ebenen« (Scholl ten der Systemlogik, das Konterkarieren durch
2002, 12). Auf der 2001 vom Münsteraner Institut schöpferischen Genius, von dem sich das System ir-
ausgerichteten DGPuK Jahrestagung sollten ›Me- ritieren und anregen lässt«. Das systemtheoretische
dienwirklichkeiten‹ nicht mehr nur aus der Perspek- Vokabular ist also selbst da präsent, wo explizit eine
tive der Produzenten von Medieninhalten, sondern Gegenposition stark gemacht werden soll (Wendelin
auch aus der Nutzungsperspektive sowie unter dem 2008a, 354).
Gesichtspunkt der Markt- und Machtverhältnisse
diskutiert werden. Von unterschiedlichen Seiten gab
es außerdem Bestrebungen, systemtheoretische Literatur
Grundlagen mit den methodischen Standards im Bentele, Günter/Beck, Klaus: »Information – Kommunika-
Fach zu verbinden (vgl. z. B. Loosen/Scholl/Woelke tion – Massenkommunikation: Grundbegriffe und Mo-
2002; Kohring 2004). Es sei »von vornherein« das delle der Publizistik- und Kommunikationswissen-
Anliegen der Studie »Journalismus in Deutschland« schaft«. In: Otfried Jarren (Hg.): Medien und Journalis-
mus 1. Eine Einführung. Opladen 1994, 15–50.
gewesen, eine »Integration von Theorie und Empi- Bentele, Günter/Rühl, Manfred (Hg.): Theorien öffentli-
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Fach teilweise zu weit. Mit Blick auf die Verknüp- rung in die Systemtheorie [2003]. Köln 32011.
Blöbaum, Bernd: Journalismus als soziales System. Ge-
fung von Luhmanns Konstruktivismus mit »empi- schichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung.
risch-neopositivistischen Verfahren« wurde vor ei- Opladen 1994.
nem »Methodenschisma« gewarnt (Rühl 2004, Boventer, Hermann: »Ethik und System im Journalismus.
181). Der Steuerungsbedarf moderner Mediensysteme. Kriti-
Schon früh setzten außerdem Versuche ein, Sys- sche Anmerkungen zu einem Aufsatz von Manfred Rühl
und Ulrich Saxer«. In: Publizistik 29. Jg. (1984), 34–48.
tem- und Subjektperspektiven miteinander zu ver-
Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. Grundla-
einbaren. Genannt werden muss hier beispielsweise gen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären
die Dissertation von Neuberger (1996). Ein weiteres Sozialwissenschaft [1983]. Wien/Köln/Weimar 42002.
Beispiel für diese Entwicklung ist Löffelholz’ »dis- Görke, Alexander: »Journalismus und Öffentlichkeit als
kursives Handbuch« Theorien des Journalismus Funktionssystem«. In: Armin Scholl (Hg.): Systemtheo-
rie und Konstruktivismus in der Kommunikationswis-
(2004). Der Sammelband kann unter anderem als
senschaft. Konstanz 2002, 69–90.
Versuch beschrieben werden, in Richtung einer Inte- – /Kohring, Matthias: »Unterschiede, die Unterschiede
gration von sich widersprechenden Theorieperspek- machen. Neuere Theorieentwürfe zu Publizistik, Mas-
tiven zu wirken. Aber auch das Angebot an speziellen senmedien und Journalismus«. In: Publizistik 41. Jg.
Einführungen in die Systemtheorie aus dem Fach (1996), 15–31.
wurde größer. Als sehr frühe Zusammenfassung Hachmeister, Lutz: »Das Gespenst des Radikalen Konstruk-
tivismus. Zur Analyse des Funkkollegs ›Medien und
kann Saxers 1992 erstmals publizierter Überblicksar- Kommunikation‹«. In: Rundfunk und Fernsehen 40. Jg.
tikel »Systemtheorie und Kommunikationswissen- (1992), 5–21.
schaft« genannt werden (2004; vgl. Hohlfeld 1999). Hohlfeld, Ralf: Systemtheorie für Journalisten. Ein Vade-
Mit Berghaus’ Luhmann leicht gemacht (2011) ist mekum. Eichstätt 1999.
Luhmann der einzige Wissenschaftler, zu dem das Kepplinger, Hans Mathias: »Systemtheoretische Aspekte
politischer Kommunikation«. In: Publizistik 30. Jg.
Fach ein eigenes Lehrbuch produziert hat. Heute (1985), 247–264.
kann zumindest Journalismustheorie in der Kom- Klaus, Elisabeth/Lünenborg, Margret: »Münsteraner Wie-
munikationswissenschaft kaum noch geschrieben dertäufer Revivals, Teil 2. Eine Antwort auf Armin
werden, ohne sich von systemtheoretischen Ansätzen Scholl«. In: Medien & Kommunikationswissenschaft
zumindest abzugrenzen. Die Fachzeitschrift Me- 48. Jg. (2000), 413–415.
Kohring, Matthias: Vertrauen in Journalismus. Theorie und
dien & Zeit titelt in Heft 3/2007 beispielsweise mit der Empirie. Konstanz 2004.
Begriffstrias ›Journalismus – Person – Werk‹, um die Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid: Publizistik. Ein Studien-
schöpferische Leistung der Person des Journalisten handbuch. Köln/Weimar/Wien 2001.
356 Rezeption

Löffelholz, Martin (Hg.): Theorien des Journalismus. Ein –: »Armin Scholl (Hrsg.): Systemtheorie und Konstrukti-
diskursives Handbuch [2000]. Wiesbaden 22004. vismus in der Kommunikationswissenschaft. Rezensi-
Loosen, Wiebke/Scholl, Armin/Woelke, Jens: »Systemtheo- on«. In: Publizistik 47. Jg. (2002), 248 f.
retische und konstruktivistische Methodologie«. In: Ar- –: »Ist eine Allgemeine Kommunikationswissenschaft
min Scholl (Hg.): Systemtheorie und Konstruktivismus möglich? Eine Autopolemik«. In: Medien & Kommuni-
in der Kommunikationswissenschaft. Konstanz 2002, kationswissenschaft 52. Jg. (2004), 173–192.
37–65. Saxer, Ulrich: »Systemtheorie und Kommunikationswis-
Luhmann, Niklas: »Öffentliche Meinung«. In: Wolfgang senschaft«. In: Roland Burkart/Walter Hömberg (Hg.):
Langenbucher (Hg.): Politik und Kommunikation. Über Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung
die öffentliche Meinungsbildung. München/Zürich [1992]. Wien 32004, 85–113.
1979, 29–61. Scheu, Andreas: Manfred Rühl – Ein Pionier der deutschen
Lünenborg, Margret/Klaus, Elisabeth: »Der Wandel des Kommunikationswissenschaft. Ludwig-Maximilians-Uni-
Medienangebots als Herausforderung an die Journalis- versität München: Magisterarbeit 2005. In: http://
musforschung: Plädoyer für eine kulturorientierte Annä- epub.ub.uni-muenchen.de/733/1/MA_Scheu_Andreas. pdf
herung«. In: Medien & Kommunikationswissenschaft (26.6.2012).
48. Jg. (2000), 188–211. Scholl, Armin: »Journalismus als Gegenstand empirischer
Marcinkowski, Frank: Publizistik als autopoietisches Sys- Forschung. Ein Definitionsvorschlag«. In: Publizistik
tem. Politik und Massenmedien. Eine systemtheoreti- 42. Jg. (1997), 468–486.
sche Analyse. Opladen 1993. –: »Hat die Journalismusforschung alles falsch gemacht?
–: »Niklas Luhmann – Soziologische Aufklärung«. In: Eine Erwiderung auf die Kritik an der Journalismusfor-
Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch (Hg.): Schlüssel- schung durch Elisabeth Klaus und Margret Lünenborg«.
werke für die Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden In: Medien & Kommunikationswissenschaft 48. Jg.
2002, 282–287. (2000), 405–412.
Medien Journal 21. Jg., 1 (1997) (Themenheft »Systemtheo- –: »Weiterentwicklung oder Auslaufmodell? Systemtheore-
rie der Medien«). tische Ansätze in der Journalismusforschung – eine Sam-
Merten, Klaus: »Kommunikation und ›two-step-flow of melrezension«. In: Medien & Kommunikationswissen-
communication‹. Eine Interpretation der Zweistufen- schaft 49. Jg. (2001), 384–395.
flußhypothese aus systemtheoretischer Perspektive«. In: –: »Einleitung«. In: Ders. (Hg.): Systemtheorie und Kon-
Rundfunk und Fernsehen 24. Jg. (1976), 210–220. struktivismus in der Kommunikationswissenschaft.
–: Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Band Konstanz 2002, 7–18.
1: Grundlagen der Kommunikationswissenschaft. Weischenberg, Siegfried: Journalistik. Band 1: Mediensyste-
Münster 1999. me, Medienethik, Medieninstitutionen. Opladen 1992.
– /Schmidt, Siegfried J./Weischenberg, Siegfried (Hg.): Die –: Journalistik. Band 2: Medientechnik, Medienfunktio-
Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kom- nen, Medienakteure. Opladen 1995.
munikationswissenschaft. Opladen 1994. Wendelin, Manuel: »Systemtheorie als Innovation in der
Meyen, Michael/Löblich, Maria: Klassiker der Kommuni- Kommunikationswissenschaft. Inhaltliche Hemmnisse
kationswissenschaft. Fach- und Theoriegeschichte in und institutionelle Erfolgsfaktoren im Diffusionspro-
Deutschland. Konstanz 2006. zess«. In: Communicatio Socialis 41. Jg., 4 (2008a),
–/–:»Ich habe dieses Fach erfunden«. Wie die Kommunika- 341–359.
tionswissenschaft an die deutschsprachigen Universitä- –: »Kanonisierung in der Kommunikationswissenschaft.
ten kam. 19 Biografische Interviews. Köln 2007. Lehrbuchentwicklung als Indikator einer ›kognitiven
Neuberger, Christoph: Journalismus als Problembearbei- Identität‹«. In: Medien & Zeit 4. Jg. (2008b), 28–36.
tung. Objektivität und Relevanz in der öffentlichen
Kommunikation. Konstanz 1996. Manuel Wendelin
Neverla, Irene: »Gewissheiten der Journalistikwissenschaft:
Sichere Referenzpunkte in Bewegung«. In: Publizistik
43. Jg. (1998), 292–294.
Pörksen, Bernhard: »Ist der Journalismus autopoietisch?
Thesen und Anregungen zur Debatte über die Art der
Steuerung und das Ausmaß der Eigengesetzlichkeit eines
sozialen Systems«. In: Communicatio Socialis 34. Jg.
(2001), 59–65.
Pürer, Heinz: Publizistik- und Kommunikationswissen-
schaft. Ein Handbuch. Konstanz 2003.
Reus, Gunter: »Verteidigung des verdächtigen Subjekts in
zehn Punkten«. In: Publizistik 51. Jg. (2006), 433–436.
Rühl, Manfred: Die Zeitungsredaktion als organisiertes so-
ziales System. Bielefeld 1969a.
–: »Systemdenken und Kommunikationswissenschaft«. In:
Publizistik 14. Jg. (1969b), 185–206.
–: Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und
Theorieentwurf. Mainz 1980.
357

6. Kulturwissenschaft de Theorien, Methoden und Gegenstände in den


Blick: Wissenschaftskulturen, Wissenspoetiken, Kul-
turgeschichte der Natur, Historische Anthropologie,
Kulturwissenschaft oder Mentalitätsgeschichte, Geschichte der Sinne und des
Kulturwissenschaften? (weiblichen, männlichen, transsexuellen) Körpers,
Erinnerung und Gedächtnis, Kulturgeschichte der
Der Versuch, die Rezeption der luhmannschen Sys- Technik, Mediale Praktiken sowie Alltags- und Popu-
temtheorie in der Kulturwissenschaft zu beschrei- lärkultur (Böhme/Mattussek/Müller 2000). Hierbei
ben, steht vor dem Problem, dass die beiden ist zu betonen, dass die Systemtheorie, obwohl sie
entscheidenden Begriffe ›Kultur‹ und ›Kulturwissen- auch Wissen beschreibt und eine Medientheorie lie-
schaft(en)‹ kaum verbindlich zu definieren sind und fert, nicht zum Kanon der kulturwissenschaftlich re-
sich in einem fortgesetzten Prozess der Redefinition levanten Theorien gehört, wie etwa die von Friedrich
in einer Vielzahl konkurrierender Definitionsversu- Nietzsche, Jacob Burckhardt, Sigmund Freud, Walter
che befinden. Handelt es sich bei der Kulturwissen- Benjamin, Ernst Cassirer, Aby Warburg, Michel Fou-
schaft um eine Disziplin und eine Einzelwissenschaft cault, Gilles Deleuze oder Stephen Greenblatt.
oder um ein Forschungsprogramm und -paradigma
und/oder um einen Studiengang (Böhme 2000;
Reinfandt 2001; Reckwitz 2004a)? Gibt es einen Kulturwissenschaft vs./und Kulturtheorie
strukturellen Unterschied zwischen den Kulturwis-
senschaften und der Kulturwissenschaft? Im Plural Im Zentrum steht freilich die Frage, was denn als
markieren die Kulturwissenschaften die Modernisie- ›Kultur‹ zu definieren sei. Die Definitionsversuche
rung der Geisteswissenschaften, die ihr altes an Dil- sind Legion und hier nicht zu rekapitulieren. Ent-
they geschultes philologisch-hermeneutisches Para- scheidend ist, dass mit ›Kultur‹ gegenüber der (vor
digma der Objektivation des Geistes in Form von allem deutschen) geisteswissenschaftlichen Tradition
hoch-kulturellen Gegenständen zugunsten der Be- nicht ›anspruchsvolle Kunst‹ gemeint ist, sondern
schreibung kultureller Gegenstände als »materiel- dass der Begriff alle symbolischen, materialen, me-
le[r] und symbolische[r] Praktiken« ablegen, wo- dialen, technischen und performativen Praktiken
durch die »Möglichkeit geschaffen [wird], nicht nur umfasst, an denen Menschen beteiligt sind (auch die
schrift- und bildhermeneutische, sondern ebenso Natur, da sie nur als beschriebene Natur Beobach-
faktographische, struktur- und sozialgeschichtliche, tungsgegenstand sein kann). Luhmann selbst hat den
funktionalistische und systemische Verfahren zu Kulturbegriff für ernsthafte wissenschaftliche Analy-
etablieren« und sich den aktuellen »Herausforderun- sen abgelehnt und damit zunächst einmal ein un-
gen […] der Globalisierung und Interkulturalität, günstiges Klima für eine kulturwissenschaftliche
der Medien- und Kommunikationsentwicklung so- Rezeption geschaffen: Der Begriff der ›Kultur‹ sei »ei-
wie der Informations- und Wissenskulturen« zu stel- ne[r] der schlimmsten Begriffe, die je gebildet wor-
len (Böhme 2000, 357). In diesem Sinne scheinen den sind« (KunstG, 398; vgl. Esposito 2004b, 91–93).
Anschlüsse an eine Systemtheorie als Supertheorie, ›Kultur‹ ist denn auch kein Grundbegriff seiner
die alle sozialen Phänomene zu beschreiben erlaubt, Theorie. Indes arbeitet Luhmann doch bisweilen mit
sehr naheliegend. dem Kulturbegriff – sei es, dass er ›Kultur‹ als Ge-
Demgegenüber ist die Kulturwissenschaft im Sin- dächtnis, Themenvorrat und als (gepflegte) Seman-
gular als Einzelfach »eine eigene disziplinäre Identi- tik beschreibt (SS 224; GS4, 31–54; Burkhart 2004,
tät mit theoretischen Optionen, Fragestellungen, 14 f.) oder dass er Religion als Kultur beobachtet: Bei
Verfahren sowie eigenem Gegenstandsfeld«, die im »›Kultur‹ [geht es] darum, daß eine Religion dem
Grunde alle »von Menschen hervorgebrachten, so- Vergleich mit anderen ausgesetzt wird und dabei die
zialen wie technischen Einrichtungen, die zwischen Souveränität in der Bestimmung der Vergleichsge-
Menschen gebildeten Handlungs- und Konfliktfor- sichtspunkte aufgeben muß« (RelG, 312; Luhmann
men sowie deren Werte- und Normenhorizonte, ins- 1996b). ›Kultur‹ meint bei Luhmann auch, dass Phä-
besondere insoweit diese zu ihrer Konstitution, nomene des Alltags verdoppelt werden. Neben ihrer
Tradierung und Entwicklung besonderer Ebenen der Beschreibung als Alltagsphänomene im Hinblick auf
symbolischen und medialen Vermittlung bedürfen«, ihren Gebrauch erhalten sie einen zweiten Sinn. So
erforscht (Böhme 2000, 356; Böhme/Mattussek/ werden »alle Zeugnisse menschlicher Tätigkeit ein
Müller 2000, 104). Dabei kommen vor allem folgen- zweites Mal registriert« und damit zu Dokumenten
358 Rezeption

der Kultur (KunstG, 341; Luhmann 1996a, 225). ist und die amerikanische Rezeption von Luhmanns
Luhmann erläutert, dass die Beschreibung eines Ge- Systemtheorie fast unmöglich gemacht hat« (Powell
genstandes und seine Wiederbeschreibung parallel 2006). Deshalb verwundert es nicht, dass Luhmann
laufen (RelG, 311 ff.). »Töpfe sind einerseits Töpfe, des Öfteren in Sammelbänden zur Kulturtheorie als
zum anderen aber auch Anzeichen einer bestimmten eigenständiger Beitrag auftaucht (Moebius/Quad-
Kultur, die sich durch die Art ihrer Töpfe von ande- flieg 2011; Hofmann/Korta/Niekisch 2004; Borgards
ren Kulturen unterscheidet. Und was für Töpfe gilt, 2010; bei Müller-Funk 2010 allerdings fehlt er völlig),
gilt auch für Religionen« (Luhmann 1996a, 226). jedoch kaum in Grundlagenwerken der Kulturwis-
Und weiter: »Schließlich ist ein verzierter Topf nicht senschaften. In einigen Bänden zur Kulturwissen-
allein deshalb weniger schön, weil andere Völker ihre schaft findet Luhmann gar keine Erwähnung (vgl.
Töpfe anders verzieren; und der Vergleich mag sogar z. B. Lutter/Reisenleitner 2008), in anderen ist er eine
dazu führen, daß man distinkten Merkmalen mehr Randfigur (vgl. Hansen 2011; Jaeger u. a. 2004).
Beachtung schenkt und die Eigenart von Kulturge- Im Band Luhmann und die Kulturtheorie (Burk-
genständen besser versteht« (RelG, 314). Kultur wird hart/Runkel 2004) geht es in diesem Sinne nur um
von Luhmann als Erfindung der Moderne, genauer Luhmanns Kulturbegriff bzw. um mögliche weitere
des 18. Jahrhunderts aufgefasst und als Vergleichs- Anschlüsse und Redefinitionen (vgl. Burkhart 2004;
technik betrachtet und nicht als Präsentation von Reckwitz 2004a u. 2004b), nicht aber um eine kultur-
Symbolen oder Werten (so Burkhart 2004, 15, vgl. wissenschaftliche Lesart der Systemtheorie. Gerade-
auch Baecker 2001, 46–57), die immer kontingent ist zu als anti-kulturwissenschaftliche Beiträge lassen
und als solche alle Gewissheiten, Selbstevidenzen, sich die Beiträge von Alois Hahn (2004) und Dirk
Selbstidentitäten und Essentialismen auflöst (GS4, Baecker (2004) im Band lesen, die unter dem Motto
31–54; GS4, 145 f.; Luhmann 1996b; Böhme 2000; back to Parsons, back to sociology stehen, dabei jedoch
Esposito 2004b, Reckwitz 2004a; für die Aufnahme darauf ausgerichtet sind, die einfache und überholte
und innovative Weiterentwicklung des Konzepts Frontstellung von Soziologie vs. Kulturwissenschaf-
›Kultur als Vergleich‹ vgl. die Arbeiten von Baecker ten auszuhebeln. Eine ebenfalls konsequent soziolo-
2001; bei Baecker (1999) findet sich auch die diskus- gische Betrachtung des Verhältnisses von System-
sionswürdige These, Systemtheorie und Kultur stün- theorie und Kulturwissenschaften liefert Göbel
den als Vergleichstechniken in einem Verhältnis (2004), während Hettling (2004) in seinen Grundzü-
funktionaler Äquivalenz). gen einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Gesell-
Die luhmannsche Perspektive auf ›Kultur‹ als The- schaft komplett ohne Luhmann-Bezug auskommt
menvorrat, Semantik, Vergleich, Selbstbeschreibung, (vgl. dagegen Baecker 2001, 82: »Kultur ist eine Res-
Gedächtnis, Sinn, Selbstreferenz, Beobachtung oder source der Gesellschaft selbst«).
Kontingenz (vgl. Burkhart 2004; Reinfandt 2001, Es muss also festgestellt werden, dass Luhmanns
97–103) gehört jedoch nur indirekt zur Geschichte Kulturbegriff zum einen kaum kulturwissenschaft-
der Rezeption der Systemtheorie durch die Kultur- lich rezipiert wurde und signifikanterweise gibt es im
wissenschaft(en) (zu Kultur als Gedächtnis vgl. Bae- Band zur Resonanz der luhmannschen Systemtheo-
cker 2001, 81 ff. u. 155–160 sowie Esposito 2002, rie außerhalb der Soziologie (Berg/Schmidt 2000)
183–286). Hinsichtlich der Frage, was denn als ›Kul- zwar Beiträge zur Rezeption in den Kunst- und Lite-
tur‹ beschrieben werden kann, liefert sie einen Bei- raturwissenschaften (Berg 2000) und den Medien-
trag zu einer ›Kulturtheorie‹, jedoch nicht notwendi- wissenschaften (Werber 2000), aber keinen zu den
gerweise einen kulturwissenschaftlichen Ansatz- Kulturwissenschaften (für Ausnahmen, die sich mit
punkt. Die Kulturwissenschaft kommt zwar nicht Luhmanns Kulturbegriff beschäftigen, vgl. Böhme/
ohne Kulturtheorien aus, aber man darf beide nicht Matussek/Müller 2000, 104 f.; Böhme 2000; Gladi-
verwechseln. Der Begriff ›Kultur‹ und seine Theorien gow 2004; Wirth 2008 sowie die punktuell positive
sind zwar ein wichtiger Beobachtungsgegenstand der Aufnahme von Baeckers Kulturanalysen (2001) bei-
Kulturwissenschaft(en), aber eben auch nur einer ih- spielsweise bei Baßler 2005, 148 ff.). Zum anderen
rer möglichen Gegenstände, und vor allem ist der wird sein Kulturbegriff lediglich mit seiner Medien-
anglo-amerikanische cultural turn zwar an Kultur, an und Kommunikationskonzeption kurzgeschlossen,
Praktiken der Kultur, aber nicht unbedingt an einer so wenn beispielsweise bei Borgards (2010) Luh-
Kulturtheorie interessiert: »Der cultural turn ist […] manns Beitrag zur Kulturtheorie ausschließlich in
in den USA derart vollzogen worden, dass er zur seiner Definition von Kommunikation gesehen wird
Anti-Theorie- und Anti-Soziologie-Welle geworden und Böhme/Matussek/Müller (2000) zwar Luh-
Kulturwissenschaft 359

manns Kulturbegriff berücksichtigen, sich aber etwas zu Bühl (1986) gehen sowohl Koschorke/Vismann
ausführlicher nur mit seiner Medientheorie (198 f.) als auch Baecker (1999) explizit davon aus, dass Kul-
beschäftigen (so auch Sandbothe 2003 und Hagen tur nicht als System beschrieben werden kann, ganz
2004). im Gegenteil (Reinfandt 2001, 91). In diesem Sinne
Analog zu den Gender Studies (s. o.) ist einerseits markiere ›Kultur‹ den »gesellschaftlichen Einwand []
entscheidend, dass Luhmanns Konstruktivismus mit von Mehrdeutigkeit gegen die Eindeutigkeiten der
den epistemologischen Grundannahmen der Kultur- Gesellschaft« und »gegen die Zweiwertigkeit aller
wissenschaft(en) kompatibel ist. Denn diese gehen Unterscheidungen« (Baecker 2001, 83 u. 107).
(en gros) davon aus, dass ihre Beobachtungsgegen- Grundsätzlich geht es dem Band Widerstände der Sys-
stände (auch Natur) »nicht mehr als vorgegebene temtheorie – und hier wird unverkennbar ein kultur-
Wirklichkeit verstanden« werden können, sondern wissenschaftlicher Ton angeschlagen – um eine
als »kulturell konstruiert« erkannt werden müssen »Reformulierung der Systemtheorie unter kultur-
(Böhme/Matussek/Müller 2000, 106). Andererseits theoretischen, genauer genealogischen, medienar-
ist dieser Konstruktivismus schon so selbstverständ- chäologischen und ästhetiktheoretischen Prämis-
lich und allumfassend, dass er kaum noch analyti- sen« sowie um den »Testfall für ihre Reichweite und
sche Trennschärfe besitzt. Der Konstruktivismus Aktualität innerhalb einer breiteren, nicht allein so-
markiert mittlerweile einen Unterschied, der keinen ziologischen Fragestellung« (Koschorke/Vismann
Unterschied (mehr) markiert. 1999, 10). Konkret kommen hierbei systemtheore-
tisch oft ausgeblendete Formen unklarer Grenzver-
läufe, (widersprüchlicher) Mehrfachcodierungen,
Kulturwissenschaft der Systemtheorie Mischformen und Hybride in den Blick. Beispiels-
weise kann diesbezüglich der Textbegriff, der be-
Es gibt nun vor allem zwei Möglichkeiten einer expli- kanntlich in der Systemtheorie eine eher marginale
zit kulturwissenschaftlichen Lesart der Systemtheo- Rolle spielt, eingesetzt werden, können ›Texte‹ als
rie: entweder die Systemtheorie kulturwissenschaft- »im vollen Wortsinn […] plurale, a-systemische Ge-
lich gegen den Strich zu lesen (Koschorke/Vismann bilde« verstanden werden (Koschorke 1999, 50; vgl.
1999) oder mithilfe systemtheoretischer Konzepte auch Baßler 2005, 141–175). Das ›Begehren‹, der
die symbolischen, materialen, medialen, technischen ›Körper‹ und die ›Wahrnehmung‹ sind weitere sol-
und performativen Praktiken, an denen Menschen chermaßen sperrige Begriffe (Wellbery 1999; Lüde-
bzw. Sinnsysteme beteiligt sind, zu untersuchen. Ko- mann 1999; Helmstetter 1999).
schorke und Vismann haben einen Band vorgelegt, Bernhard Dotzler (1999) liefert in diesem Band ei-
der sich im Untertitel »kulturtheoretische Analysen nen Beitrag, der eine grundsätzliche kultur- und me-
zum Werk von Niklas Luhmann« nennt und eine kul- dientheoretische Fragestellung diskutiert: Welche
turwissenschaftliche Intervention markiert, da es vor Rolle spielt die (Übertragungs-)Technik der Medien
allem um diskurstheoretisch und dekonstruktiv ge- in der Systemtheorie? Wie ist das Verhältnis von Se-
schulte Beobachtungen geht, die versuchen, die blin- mantik und Algorithmus, von Semantik und Code,
den Flecken der Systemtheorie aufzuzeigen und dem von Übertragungsprozess und Empfänger? Es geht
A-Systemischen und »Sperrigen« im »wohl geordne- um die Fragen, ob Kommunikation als operativ ge-
ten theoretischen Gebäude« nachzugehen (ebd.). schlossener Prozess zu beschreiben ist, für den die
Denn gerade diese Sperrigkeit, diese Widerstände in- Technik der Medien immer nur als äußerliches Hilfs-
nerhalb einer »ökonomische[n] Theorie zur Vermei- mittel dienen kann, um Kommunikation wahr-
dung von Widerständen« besitzen eine »Anziehungs- scheinlich und erfolgreich zu machen, oder ob die
kraft für Nicht-Systemtheoretiker« (ebd.). Technik der Medien als Faktor gesellschaftlicher
Die Herausgeber nehmen an, dass neben der Transformationen mit Strukturwert beschrieben
Spannung von »Norm und Genese« vor allem die werden kann. Luhmann optiert für die erste Version:
Spannung von »System und Kultur« im Mittelpunkt »Schließlich ist zu beachten, dass nicht das mediale
zu stehen habe, da mit ›Kultur‹ eben A-Systemisches, Substrat, sondern nur die Formen im System opera-
Widerständiges, Reibungsvolles, ›Wildes‹ und Unbe- tiv anschlussfähig sind. Mit den formlosen, lose ge-
stimmtes markiert wird und anhand der Auseinan- koppelten Elementen kann das System nichts anfan-
dersetzung mit der Systemtheorie eine »Theorie der gen« (GG, 201). Somit bestimmt das Soziale, was mit
Inkommensurabilität« formuliert werden kann der Technik gemacht werden kann. Medienarchäolo-
(ebd.; vgl. auch Burkhart 2004, 11 f.). Im Gegensatz gisch argumentierende Medienwissenschaftler optie-
360 Rezeption

ren für die zweite Option: der Algorithmus, die kulturwissenschaftlich untersucht. Diese Analyse
technisch prozessierende Hardware determiniert das wird beinahe komplett den (empirischen) Kommu-
Soziale und die Kultur (Dotzler 1996; 1999; 2006; nikationswissenschaften überlassen (Ausnahmen
Ernst 2003; 2007; Kittler 1986; 1993; Siegert 1993; markieren Burkhart 2004, 30–33 und Hagen 2004,
2003; vgl. zu dieser Frontstellung Sandbothe 2003). 197–202; vgl. auch Werber 2000 und strikt soziolo-
Muss man Kommunikation qua Medien entweder gisch Esposito 2002, 253–272), was auch als eine ver-
rein als Algorithmus beschreiben oder als empfänger- steckte Kritik der Kulturwissenschaften an dem
orientierten, Semantik berücksichtigenden Erfolg systemtheoretischen Massenmedienkonzept gelesen
(Luhmann)? Maresch und Werber (1999) inszenie- werden kann.
ren diesbezüglich eine (so nie stattgefundene) Debat-
te zwischen Kittlers Medienwissenschaft und Luh-
manns Systemtheorie. Dem Band geht es vermittelnd Systemtheoretische Kulturwissenschaft
darum, Luhmanns systemtheoretische Medientheo-
rie und Kittlers medienarchäologische Medienwis- In den letzten Jahren sind einige kulturwissenschaft-
senschaft so aufeinander abzustimmen, dass es zu lich inspirierte Studien systemtheoretischer Prove-
einer wechselseitigen theoretischen Befruchtung nienz entstanden, die grundsätzlich der oben be-
kommt. Bei der Debatte geht es insgesamt stark da- schriebenen Modernisierung der Geisteswissen-
rum zu analysieren, ob die Technik Strukturwert be- schaften verpflichtet sind. Sie widmen sich Beobach-
kommt und ob sie als eine positive Systemirritation tungsobjekten, die die Dichotomien von Hoch-/
beschrieben werden kann (Binczek 2002; Stäheli Populärkultur, Kunst/Alltag oder Kultur/Alltag un-
2000). Da die Kulturwissenschaft sowohl als For- terlaufen. Dabei kann nicht klar bestimmt werden,
schungsprogramm als auch als Einzelwissenschaft zu welchem Fach diese Studien zu rechnen sind und
und Studiengang vornehmlich in den Händen der ob sie überhaupt in einem definitorischen Sinne als
genannten Medienarchäologen war/ist (HU Berlin; kulturwissenschaftliche Studien gelten können. Zum
Bauhaus-Universität Weimar), ist dementsprechend einen sind es vornehmlich systemtheoretische Arbei-
Luhmanns Systemtheorie von kulturwissenschaftli- ten, zum anderen jedoch wären sie ohne die kultur-
cher Seite entweder marginalisiert wahrgenommen wissenschaftliche Intervention seit den 1980er Jahren
oder abgelehnt worden. nicht denkbar. Zu diesen Arbeiten zählen Studien zur
Dass die hier rekonstruierte Konfrontation von ›Mode‹ von Elena Esposito (Fach: Soziologie) und
Systemtheorie und kulturwissenschaftlicher Me- Christian Huck (Fach: Anglistik).
dienarchäologie nicht immer nur von einer Entwe- Bei Esposito stehen die historische Semantik und
der-oder-Logik aufgerieben werden muss, sondern Entwicklung der Mode sowie ihre auf Paradoxien
beide Perspektiven komplex korreliert werden kön- aufbauende Logik im Vordergrund (beispielsweise
nen, zeigen neben Maresch und Werber (freilich sys- der Zwang zu Spontanität, Singularität und Genuini-
temtheoretisch geschult) viele Arbeiten Baeckers tät oder die Konstanz des Vorübergehenden) ebenso
(z. B. Baecker 1999; 2002 u. 2004); diesbezüglich her- wie Formen von sozialer und zeitlicher Kontingenz,
vorzuheben ist auch der Band Form und Medium das Verhältnis von Nachahmung und Originalität,
(Brauns 2002; vgl. auch Stanitzek/Vosskamp 2001). die Unterscheidung zwischen Mode und Brauch oder
In Brauns (2002) findet sich eine fundierte Auseinan- die Korrelation von Individuum und Mode, und dies
dersetzung mit Luhmanns medientheoretischer Un- alles vor dem Hintergrund des Wechsels von stratifi-
terscheidung Medium/Form – und zwar sowohl von katorischer zu funktionaler Differenzierung (Esposi-
systemtheoretischer Seite (Binczek 2002; Fuchs 2002; to 2004a). Huck spannt ›Mode‹ in die luhmannsche
Lehmann 2002; Plumpe 2002) als auch von medien- Kommunikationstheorie, in sein Konzept der Mas-
archäologisch-kulturwissenschaftlicher Seite (Balke senmedien, die Inklusion/Exklusion-Unterschei-
2002, Engell 2002; Ernst 2002; Vogl 2002). Die in die- dung sowie in die Systemebenendifferenzierung
sem Band dargestellte Debatte ist signifikant, denn Interaktion, Organisation und Gesellschaft ein. Da-
sie zeigt auf, dass Luhmanns Systemtheorie kultur- bei versteht er seine Arbeit explizit als eine kulturwis-
wissenschaftlich vor allem als Kommunikations- und senschaftliche (›cultural studies‹), weil sie die Ebenen
Medientheorie rezipiert wurde (z. B. Hagen 2004; Beobachtung und Wahrnehmung, Lesen von Texten,
zum Konnex von Kultur und Medien vgl. GG, 409). Kommunikation und Gesellschaft als System in Re-
Interessanterweise wird aber der spezielle Aspekt der lation zueinander setzt. Und dies tut er, indem er –
luhmannschen Theorie der Massenmedien kaum ganz kulturwissenschaftlich – heterogene ›Texte‹ be-
Kulturwissenschaft 361

rücksichtigt, indem er also die Kostüm- und Kon- handelten Probleme in systemtheoretischen Arbeiten
sumgeschichte, die Gender Studies, die Literaturwis- als literatur- und nicht als kulturwissenschaftliche
senschaften, die Literatur, Zeitschriften, Lexika, Probleme firmieren, auch wenn von einer ›Medien-
Reiseberichte, Bilder und Grafiken beachtet und ana- kulturwissenschaft‹ die Rede ist (vgl. Jahraus 2001).
lysiert und hierbei wissenssoziologisch, medien-, Abschließend sei festgestellt, dass sich viele sys-
diskurs- und systemtheoretisch arbeitet und dabei temtheoretische bzw. systemtheoretisch reformulier-
solchermaßen die Unterscheidung von Hoch- und te Konzepte (Kommunikation, funktionale Differen-
Populärkultur dekonstruiert. Huck geht es darum, zierung, Code, Rekursion, Identität/Differenz, Kon-
ein heterogenes Problem mit einer kohärenten Ge- tingenz, Paradoxie …) in kulturwissenschaftlichen
sellschaftstheorie zu korrelieren, was grundsätzlich Arbeiten finden, ohne dass dies eigens markiert oder
als innovativer Beitrag zur Inbezugnahme von Kul- reflektiert wird. Die großen Aufregungen der 1970er
turwissenschaften und Systemtheorie gelesen wer- bis 1990er Jahre für oder wider die Systemtheorie
den kann (Huck 2010). sind einem oft unspektakulären und beiläufigen so-
Ebenfalls aus der Anglistik kommen Christoph wie pragmatischen Gebrauch luhmannscher Ideen
Reinfandts kulturwissenschaftliche Arbeiten, die gewichen. Unter der Hand finden sich versteckte Be-
Kultur als spezifisches Problem der funktional diffe- rücksichtigungen, punktuelle Anleihen und kleinere
renzierten Gesellschaft auffassen, weil sich eben kein Auseinandersetzungen, die einerseits zeigen, dass
kulturspezifisches Funktionssystem ausgebildet hat, sich die Systemtheorie als Paradigma in den Kultur-
das kulturinduzierte Probleme löst (Reinfandt 2001; wissenschaften nicht hat durchsetzen können, dass
2003). In diesem Kontext beschäftigt er sich auch ty- sie aber andererseits viele kulturwissenschaftliche
pisch kulturwissenschaftlich mit Liedtexten der Analysen bereichert. Ob dies als Erfolg der System-
Rock- und Popliteratur, wobei er hier vor allem die theorie oder als ihr Scheitern als große Theorie zu
Begriffe ›Authentizität‹, ›Subjektivität‹ und ›Reflexi- deuten ist, hängt von der theoretischen und wissen-
vität‹ fokussiert (2003). Als kulturwissenschaftlich schaftspolitischen Perspektive ab und lässt sich nicht
relevant dürfte nicht zuletzt die Diskussion der Frage verbindlich beantworten.
sein, »wie es möglich ist, dass sich ein und dieselben
kulturellen Artefakte mal in den Zusammenhang der
Kunst und mal in populäre Kultur (oder in beide Zu- Literatur
sammenhänge zugleich) einreihen lassen« (Dem-
Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropolo-
beck 2004; zur systemtheoretisch inspirierten Dis- gische Wende in der Literaturwissenschaft. München
kussion des Begriffs des Populären und der ›Populä- 22004.

ren Kultur‹ vgl. Stäheli 1999; 2004 u. 2007; Wittkamp –: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen-
2004 sowie Huck/Zorn 2007, aber auch einige Arbei- schaften. Reinbek bei Hamburg 42010.
Baecker, Dirk: »Unbestimmte Kultur«. In: Koschorke/Vis-
ten in Lüdeke 2011). Zu unterscheiden ist solch ein
mann 1999, 29–46.
kulturwissenschaftlicher Ansatz von der Vorgehens- –: Wozu Kultur? Berlin 22001.
weise Markus Heidingsfelders, der sich in seiner Stu- –: »Beobachtung mit Medien«. In: Claudia Liebrand/Irme-
die zu Pop zwar mit einem ähnlichen Thema la Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002, 12–24.
beschäftigt, jedoch ausschließlich systemtheoretisch –: »Kulturelle Orientierung«. In: Burkhart/Runkel 2004,
untersuchen möchte, ob Pop als Funktionssystem im 58–90.
Balke, Friedrich: »Celluloidbälle, Sand, Messer. Die Bewirt-
luhmannschen Sinne konzipiert werden kann (Hei- schaftung des Medialen bei Fritz Heider und Niklas Luh-
dingsfelder 2011; 2012). mann«. In: Brauns 2002, 21–37.
Für eine systematische Diskussion der schwer zu Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Ar-
fassenden Konstellation ›Literaturwissenschaft als chiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theo-
Kulturwissenschaft und Systemtheorie‹ sei auf Rieger rie. Tübingen 2005.
Berg, Henk de: »Kunst kommt von Kunst. Die Luhmann-
(2004) und vor allem wiederum auf Reinfandt (2001) Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft«. In:
verwiesen. Hier wird u. a. diskutiert, wie es denn sys- Berg/Schmidt 2000, 175–221.
temtheoretisch um die Formel ›Kultur als Text‹ steht – /Schmidt, Johannes (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur
(Bachmann-Medick 2004), wenn wir es bei der Sys- Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außer-
temtheorie mit einer Theorie zu tun haben, die den halb der Soziologie. Frankfurt a. M. 2000.
Binczek, Natalie: »Medium/Form, dekonstruiert«. In:
Textbegriff ausklammert und die zudem keine se- Brauns 2002, 113–129.
miotische Perspektive auf literarische Werke bzw. Böhme, Hartmut: »Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft).
Texte liefert. Dabei wird jedoch sichtbar, dass die ver- Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs«. In: Rena-
362 Rezeption

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364 Rezeption

7. Kunstwissenschaft die Interpretation von Kunstwerken überträgt. In


diesem Zusammenhang entwickelt er ein Modell äs-
thetischer Wahrnehmung, das vom ersten Eindruck
Kunstwissenschaft und Systemtheorie sind zwei über die allmähliche Verfestigung der wahrgenom-
Partner, die sich nicht besonders nahestehen. In der menen Gestalt bis hin zur sprachlichen Benennung
traditionellen Kunstwissenschaft gibt es immer noch und der Wirkung ästhetischer Erfahrung reicht. Im
ein großes Misstrauen gegenüber universalistischen Gegensatz zu Luhmann kommt der Auseinanderset-
Konzeptionen, die versuchen, Kunst in ein theoreti- zung mit dem Kunstwerk selbst, seinen materiellen,
sches Korsett zu zwängen. Kunstwissenschaft geht in syntaktischen und semantischen Elementen, eine
der Praxis meist vom Einzelwerk, seiner Beschrei- zentrale Bedeutung zu.
bung und Interpretation aus. Die eigene Tätigkeit als Ein Jahr später folgt die Publikation der holländi-
wissenschaftliche/r Autor/in wird nur in Ausnahmen schen Kunstwissenschaftlerin Kitty Zijlmans mit
reflektiert. Sie läuft oft als blinder Fleck des eigenen dem Titel Kunst, geschiedenis, kunstgeschiedenis
wissenschaftlichen Handelns in der Interpretations- (1990). Sie stammt aus dem Umfeld des Leidener In-
arbeit mit. In diesem immer noch weitgehend histo- stituts für Systemtheorie und Humanwissenschaften
risch und positivistisch orientierten Feld haben es (LISH), einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von
Theorien, die einen universellen Geltungsanspruch Literaturwissenschaftler/innen für Deutsche Litera-
erheben, traditioneller Weise schwer. tur. Ihre Arbeit ist stark an die konstruktivistische
Systemtheorie Niklas Luhmanns angelehnt. Die Dis-
sertation beginnt mit einer Problematisierung des
Chronologie der Ereignisse Verhältnisses zwischen Kunst, Geschichte und Be-
trachter. Die Autorin diskutiert die wichtigsten Inter-
Die Rezeption der Systemtheorie durch die Kunst- pretationsmethoden der Kunstwissenschaft. Das
wissenschaft ist in ihren Anfängen eine Sache von zweite Kapitel setzt sich kritisch mit der kunsthisto-
Grenzgängern wie Hans Dieter Huber, Michael Ling- rischen Hermeneutik auseinander, wie sie insbeson-
ner oder Kitty Zijlmans gewesen. Im Jahr 1980 hat dere von Hermann Bauer, Gottfried Boehm und
Huber erstmals das Kunstwerk als ein System aus Ele- Oskar Bätschmann entwickelt wurde und legt dann
menten beschrieben, zwischen denen Wechselwir- die Position von Niklas Luhmann dar. Im dritten Ka-
kungen von Materialien, Formen, Farben und pitel entfaltet Zijlmans Kunst als ein soziales System.
Flächen zu beobachten sind (Huber 1982). Dies dürf- Sie versteht das Kunstwerk als eine Kompaktkommu-
te der erste Text im deutschsprachigen Raum gewe- nikation, die auf einem Prozess von Selektionen ba-
sen sein, der auf dem Gebiet der Kunstwissenschaft siere (Zijlmans 1990, 47). Sie thematisiert ausführ-
systemtheoretisch argumentierte. 1989 veröffent- lich den Prozess der Musealisierung von Kunst und
lichte er dann seine Dissertation System und Wir- bringt ihn mit dem Konzept des Kunstsystems in Ver-
kung. Rauschenberg – Twombly – Baruchello. Fragen bindung. Ihren Geschichtsbegriff entwickelt sie in
der Interpretation und Bedeutung zeitgenössischer Auseinandersetzung mit Theoretikern wie Robin
Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz (1989). Nach George Collingwood, Quentin Skinner, Hermann
einer Kritik der traditionellen, kunsthistorischen Lübbe und Thomas Nipperdey. Ihr Einwand lautet,
Forschungsmethoden von Ikonographie und Ikono- dass das systemtheoretische Denken Luhmanns ahis-
logie, Semiotik, Strukturanalyse und Ikonik wird das torisch sei (Zijlmans 1990, 58). Der Begriff der ge-
Kunstwerk als ein System aufgefasst, das aus hetero- schichtlichen Objektivität ist Gegenstand von Über-
genen Elementen unterschiedlichster Art besteht. legungen zu einem überzeugenden, zeitgemäßen
Ihre Beziehungen werden als Relationen, Kopplun- Begriff geschichtlicher Abläufe. Gibt es Epochen-
gen oder Interaktionen beschrieben. Die Systemana- schwellen? Handelt es sich um eine linear fortschrei-
lyse der Elemente und ihrer Beziehungen ergibt die tende Geschichtsauffassung? Von welchen gesell-
strukturelle Beschreibung des Kunstwerks (Huber schaftlichen oder historischen Verhältnissen ist das
1989, 45 f.). Huber unterscheidet drei verschiedene Kunstwerk ein Ausdruck? Man spürt in diesem Kapi-
Schichten eines Kunstwerkes, nämlich eine materiel- tel das Ringen um ein Geschichtsverständnis, das
le, eine syntaktische und eine semantische Ebene. Er dem Ende des 20. Jahrhunderts angemessen er-
relativiert die Beschreibung und Interpretation von scheint und das Zijlmans nicht bei Luhmann findet,
Kunstwerken in Bezug auf einen impliziten Betrach- sondern bei Thomas Nipperdey, Max Imdahl oder
ter, den er der Rezeptionsästhetik entnimmt und auf Martin Warnke. Eine Interpretation der Künstler-
Kunstwissenschaft 365

gruppe ›Der Blaue Reiter‹, aus einem systemanalyti- beobachten, mit welchen Medien kommuniziert
schen Ansatz heraus gesehen, und die exemplarische wird, lautete eine der zentralen Einsichten, die zu ei-
Analyse des Bildes Die Nacht von Max Beckmann ner stärkeren Betonung von Kunst als einem Medien-
runden die Dissertation ab. system führte. Als eine weitere Innovation wurde die
Ab 1990 erscheinen dann in schneller Folge eine soziale Umwelt Paolo Veroneses in Venedig genauer
Reihe von Aufsätzen von Huber und Zijlmans, in de- untersucht, die Organisation der Malerzunft, die so-
nen es entweder um eine Erweiterung des system- ziale Schicht seiner Auftraggeber sowie die Selbstbe-
theoretischen Ansatzes oder seine Anwendung auf schreibung des venezianischen Kunstsystems.
Fallbeispiele der modernen und zeitgenössischen 2006 entwickelt der Schweizer Kunstwissenschaft-
Kunst geht (Huber 1991; 1993; 1994; 1999; Zijlmans ler Beat Wyss eine Kunstgeschichte als Systemge-
1991a; 1991b; 1995a; 1995b). In der ersten Hälfte der schichte (Wyss 2006). Sein Ziel besteht darin, den
1990er Jahre hat Huber zahlreiche systemtheoreti- historischen Prozess der Ausdifferenzierung des Bil-
sche Interpretationen ausgeführt, in denen er das des als einen Vorgang zunehmender Autonomisie-
Modell einer systemischen Kunstwissenschaft aus- rung der Kunst zu beschreiben. Seiner Ansicht nach
baut und weiter entwickelt. Mitte der 1990er Jahre wird das Kunstsystem vom Stammsystem ›Herr-
entstand in den deutschsprachigen Ländern ein neu- schaft‹ ausgebrütet und bleibt auch nach dessen Aus-
es Interesse an der Rolle von nicht-künstlerischen differenzierung in ein weltliches und ein geistliches
Bildern. Der pictorial turn wurde verkündet. Aus der System beiden gegenüber jahrhundertelang tribut-
Unzufriedenheit an dem begrenzten Kanon der pflichtig (Wyss 2006, 149). Kunst autonomisiere sich
Hochkunst und seiner immer währenden Interpreta- im Laufe ihrer Geschichte mit Hilfe benachbarter
tion entwickelten einige Kunsthistoriker bildspezifi- Anlehnungskonstexte wie der Wissenschaft, der
sche Fragestellungen, die außerhalb der klassischen Ökonomie, der Literatur und der öffentlichen Mei-
Bereiche der Kunstwissenschaft lagen. Sie öffneten nung.
dadurch das Fach in Richtung Kulturwissenschaft Im selben Jahr erscheint die Dissertation von Sa-
und Visual Studies (z. B. Kampmann u. a. 2004). bine Kampmann (2006). Sie wendet die Systemtheo-
Ab Mitte der 1990er Jahre erweiterte Huber seinen rie von Niklas Luhmann auf die Figur des Künstlers
systemtheoretischen Ansatz einerseits in den Bereich an. Die Begriffe der Kommunikation und der Poly-
der Neuen Medien wie Internet, Netz- und Medien- kontexturalität sind ihr wichtig, um ein multikau-
kunst, auf der anderen Seite aber auch in den Bereich sales und dynamisches Modell künstlerischer Autor-
der alltäglichen Bildsysteme, ihrer spezifischen Ma- schaft entwickeln zu können. Sie nimmt dabei
terialität, ihrem sozialen Gebrauch und ihrer ad- Anregungen aus der polykontexturalen Literaturwis-
äquaten Interpretation. Es wurde der Versuch senschaft von Gerhard Plumpe, Ingo Stöckmann und
unternommen, eine Systemtheorie des Bildes zu ent- Niels Werber auf. Nach einer Einführung in die wich-
wickeln, die auch auf nicht-künstlerische Bilder an- tigsten Grundbegriffe Luhmanns stellt sie die Posi-
wendbar erschien und vor allem die soziale Differen- tionen anderer, systemtheoretisch argumentierender
zierung des Bildgebrauches durch verschiedene Autoren dar und kritisiert sie an den Stellen, an de-
Beobachter- oder Benutzergruppen betonte, die sich nen es notwendig erscheint. ›Der Künstler‹ ist nach
hinsichtlich ihrer sozialen Lage, ihrer Milieus und ih- Luhmann ein Kondensat oder Sediment von Dauer-
rer ästhetischen Präferenzen grundlegend voneinan- kommunikationen des Kunstsystems (Kampmann
der unterschieden (Huber 2004). 2006, 92). Mit Hilfe des Formbegriffs ›Person‹ gelingt
2005 hat Huber das in seiner Dissertation an Bei- es ihr, die Person des Künstlers als eine aktuelle Aus-
spielen zeitgenössischer Kunst entwickelte Modell wahl der Beschreibung eines Menschen vor dem Hin-
auf einen klassischen kunsthistorischen Gegenstand tergrund anderer, ungenutzter Möglichkeiten zu
übertragen, nämlich auf das Werk des veneziani- konzipieren (ebd., 100). Ihre zentrale Frage lautet,
schen Malers Paolo Veronese (Huber 2005). Darin wie Autorschaft durch Kommunikation im Kunst-
wurde die Werkstatt als ein komplexes soziales Sys- system entsteht. Sie stellt den Ausgangspunkt für ge-
tem aufgefasst, in dem die einzelnen Mitarbeiter mit nauere Untersuchungen dar, die sie am Beispiel von
Hilfe verschiedener Medien wie Skizzen, Zeichnun- Christian Boltanski, Eva & Adele, Pippilotti Rist und
gen, Wachsmodellen, Stichen und sog. ricordi, groß- Markus Lüpertz entwickelt.
formatigen Hell-Dunkel-Reproduktionen nach aus- In Kunst als soziale Konstruktion (Huber 2007)
geführten Gemälden, miteinander kommunizierten. entfaltet Huber die Kunst in drei Beobachtungsper-
Wenn Kunst Kommunikation ist, dann muss man spektiven als ein System. Zu Beginn wird das Kunst-
366 Rezeption

werk selbst, im Gegensatz zu Luhmann, als System Die Konzentration auf Kommunikation als grundle-
beschrieben. Es besteht aus verschiedenen Elemen- gender Einheit sozialer Systeme und den binäre Code
ten, die miteinander interagieren. Die Bedeutung des schön/hässlich, der darüber entscheiden sollte, ob
Kunstwerks entsteht aus der Beschreibung und Inter- ein bestimmtes Kommunikationsangebot Bestand-
pretation dieser Interaktionen. Sein Verhältnis zur teil des Kunstsystems sei oder nicht, wurde schon
Umwelt wird mit Hilfe der Begriffe der operationalen frühzeitig kritisiert. Genauso wie ›der Mensch‹ aus
Schließung und der strukturellen Kopplung be- der Systemtheorie herausfiel, wurde ›das Werk‹ aus
stimmt. Im zweiten Abschnitt wird Kunst als Me- dem Kunstsystem ausgelagert und drohte, in Verges-
diensystem aufgefasst. An Beispielen aus der Bilden- senheit zu geraten.
den Kunst wird das Verhältnis zwischen Form und Man sollte die Hauptkritik an der luhmannschen
Medium erörtert. Die spezifische Medialität der Systemtheorie an diesem Punkt beginnen, nämlich
Kunstkommunikation ist von entscheidender Be- an seiner mangelhaften Konzeption des Kunstwerks
deutung für die Schnittstelle zwischen Materialität (Kampmann 2006, 80). Die Kunstwissenschaft ist ne-
und Sinn. Ein Kapitel über die Einheit der Differenz ben der Archäologie und der Denkmalpflege eine der
von Selbstwahrnehmung und Weltwahrnehmung wenigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die es
sowie die grundlegende Sozialität des Beobachtens mit bedeutenden materiellen Artefakten zu tun hat,
durch ihre Versprachlichung leiten über zur Konzep- die als kulturelles Erbe für die Nachwelt erhalten wer-
tion des Kunstsystems als eines Funktionssystems der den sollen. Wäre Kunst nur Kommunikation, könnte
Gesellschaft. Anders als Luhmann unterscheidet der man Urkunden, Gemälde, Skulpturen oder Gebäude
Verfasser mehrere heterogene Komponenten im reproduzieren und die Originale dann entsorgen.
Kunstsystem, nämlich Kunstwerke, Individuen und Dieser Punkt zeigt jedoch, dass es auf die originale
Institutionen. Er beschreibt die Interaktionen zwi- Materialität auf entscheidende Weise ankommt; das
schen den einzelnen Einheiten, ihre Organisation, authentische Original gilt in der Gesellschaft als
Struktur und historische Ausdifferenzierung. Das wichtiger Wahrheitswert. Luhmann lässt jegliche
Buch schließt mit einem Ausblick auf die Möglich- Überlegungen zur Materialität des Kunstwerkes ver-
keiten einer zukünftigen, systemischen Kunstwissen- missen. Sie ist aber die Bedingung der Möglichkeit
schaft. von ästhetischer Erfahrung. Denn sie erzeugt seine
Um die Jahrtausendwende trat eine jüngere Gene- spezifische Präsenz (Gumbrecht 2004). Luhmann
ration von Kunsthistoriker/innen auf die Bühne, die scheint als Soziologe primär am Zirkulieren von
nun sehr intensiv die luhmannschen Theorien rezi- Sinn, Bedeutung und Kommunikation in der Gesell-
pierten. Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, schaft interessiert zu sein. Die Objekte, die diese so-
Peter Bell, Florian Lippert, Carsten Zorn oder Inge zialen Prozesse auslösen, stehen nicht im Mittel-
Hinterwaldner öffneten die Türen für eine neue Re- punkt seiner Theorie.
zeption systemischer Theorien in der Kunstwissen- Auch der binäre Code schön/hässlich, der darüber
schaft. Einige Impulse setzte zwischenzeitlich auch entscheiden soll, ob eine bestimmte Kommunikation
die Zeitschrift kritische berichte. Eine erste Anfrage eine Kommunikation des Kunstsystems ist oder
der Herausgeber an den Verfasser, einen kurzen nicht, stellt ein großes Problem dar. Die Vorstellung
Überblick über die Brauchbarkeit systemtheoreti- ist zu einfach, um die mehrdimensional komplexen
scher Methoden in der Kunstwissenschaft zu schrei- Vorgänge und Funktionen im Kunstsystem erfassen
ben, stammte aus dem Jahr 1994 (Huber 1994). 2008 zu können. Dass Kommunikationen, die nach dem
gab Sabine Kampmann ein Sonderheft zu Niklas binären Code wahr/falsch operieren, dem Wissen-
Luhmann heraus, in dem einige Autoren aus der schaftssystem zugehören sollen, Kommunikationen,
Kunstwissenschaft ausgewählte Grundbegriffe der die nach dem Code Recht/Unrecht funktionieren,
Systemtheorie skizzierten und ihre Verbindung zu dem Rechtssystem zugehören, ist theoretisch interes-
den kunstgeschichtlichen Methoden darlegten sant, aber diese Idee ist eine Schreibtischgeburt. Luh-
(Kampmann 2008). mann selbst hat die Schwierigkeiten erkannt, den
Codewerten der Kunst einen überzeugenden Begriff
zu geben, aber aus prinzipiellen Gründen an der bi-
Kritik an Luhmann – warum? nären Codierung festgehalten (KdG, 306 f.). Wenn
man sich die Heterogenität der Akteure im Kunstsys-
Die Kunstwissenschaft hat die Theorie von Niklas tem ansieht, wird deutlich, dass die Unterscheidung
Luhmann nie unkritisch geteilt oder übernommen. schön/hässlich eine reichlich akademische Idee ist.
Kunstwissenschaft 367

Wir haben es im Kunstsystem mit Künstlern, Samm- senschaftliche Artefaktbildung zu betreiben, ist sehr
lern, Galeristen, Sponsoren, Mäzenen, Kuratoren, groß. Der Kunstbegriff ist selbst innerhalb von
Kustoden, Konservatoren, Restauratoren, Elektri- Kunsttheorie und Kunstwissenschaft sehr schwer zu
kern, Lichttechnikern, Wachleuten, Transporteuren, definieren und umstritten. Denn er ist historisch
Kurieren, Kritikern, Moderatoren, PR-Managern, kontingent und verändert sich permanent an den
Controllern und Registraren zu tun. Für die allerwe- Rändern der Gegenwart. Als ich Niklas Luhmann
nigsten von ihnen ist die Einheit der Differenz schön/ einmal fragte, an welche Art von Kunstwerken er
hässlich von Bedeutung. Hier ist eine Erweiterung denn denken würde, wenn er von Kunst spreche, ant-
durch Pierre Bourdieus Distinktionstheorie, Antho- wortete er zu meinem Erstaunen: »An Literatur!«
ny Giddens Konzeption der Routine, Gerhard Schul- Man müsste daher Die Kunst der Gesellschaft noch
zes milieuspezifischen Präferenzen und Thierry de einmal kritisch daraufhin durchlesen, an welchen
Duves regulativem Urteil ebenso hilfreich wie Peter Stellen, an denen er von Kunstwerken spricht, er in
M. Hejls systemtheoretische Konzeption von sozia- Wirklichkeit eigentlich literarische Kunstwerke
len Akteuren und rekursiver Konnektivität, die einen meint.
Konsens produziert. Systemtheoretische Methoden in der Kunstwis-
Der dritte Einwand gegen die Systemtheorie Luh- senschaft sind nur dann sinnvoll, wenn sie einen his-
manns lautet, dass sie unhistorisch sei. Zwar bringt torisch spezifizierten und keinen universal aufge-
Luhmann gerade in den vier Bänden zu Gesellschafts- blähten Kunstbegriff verwenden. Des Weiteren muss
struktur und Semantik (GS1–4) zahlreiche histori- der Kunstbegriff unbedingt medienspezifisch gefasst
sche Beispiele. Sie sind aber meist willkürlich gewählt werden. Denn nur dadurch entsteht die Möglichkeit,
und besitzen nur den Status, seine Thesen zu unter- die Sinn- und Bedeutungspotenziale von bildender
mauern. Historische Zusammenhänge, die nicht Kunst an die Materialität ihrer physischen Objekte zu
hundertprozentig in den Theorieplot passen, werden binden. Auf diese Weise ließe sich dann erklären, wie
weggelassen. So kann man behaupten, dass die histo- sich aus den materiellen und medialen Bedingungen
rische Grundierung einseitig ist. von Kunst die Möglichkeit ihrer ästhetischer Erfah-
rung generiert, welche die Voraussetzung für eine
spezifische Kommunikation und die Ausbildung ei-
Kritik an der kunsthistorischen Rezeption nes Funktionssystems ist.
von Luhmann
Literatur
Wenn man sich die systemtheoretischen Beiträge, die
aus der Kunstwissenschaft zu stammen scheinen, Fehr, Michael: »Understanding Museums. Ein Vorschlag:
einmal genauer ansieht, stellt man fest, dass es sich in Das Museum als autopoietisches System«. In: Ders. u. a.
(Hg.): Platons Höhle. Das Museum und die elektroni-
vielen Fällen um Ausflüge von Literaturwissenschaft-
schen Medien. Köln 1995, 11–20.
lern in die Nachbardisziplin handelt, z. B. bei Henk Filk, Christian/Simon, Holger u. a. (Hg.): Kunstkommuni-
de Berg, Oliver Jahraus, Siegfried J. Schmidt oder kation. Wie ist Kunst möglich? Beiträge zu einer systemi-
Niels Werber. Häufig ist von Kunst die Rede, ohne schen Medien- und Kunstwissenschaft. Berlin 2010.
dass genauer gesagt wird, welche Epoche oder welche Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die
Art von Kunstwerken gemeint ist. Bei einem genaue- Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004.
Halsall, Francis: Systems of Art. Art, History and Systems
ren Blick stellt man wiederum fest, dass mit dem Theory. Oxford u. a. 2008.
Wort ›Kunst‹ nicht unbedingt Gemälde, Skulpturen Hinterwaldner, Inge: Das systemische Bild. Ikonizität im
oder Grafiken gemeint sind, ja nicht einmal die Bil- Rahmen computerbasierter Echtzeitsimulationen. Mün-
dende Kunst oder die Darstellende Kunst als Ganzes, chen 2010.
sondern literarische Texte. Gemälde oder Skulpturen Huber, Hans Dieter: »Das Kunstwerk als System«. In: Aus-
stellungskatalog Hans Dieter Huber. Städtische Kunst-
mit literarischen Texten über den Begriff des Kunst- sammlungen Augsburg 21.10.-5.12.1982, 42–46 (auch
werks in einen Topf zu werfen, unterschlägt aber ge- unter http://www.hgb-leipzig.de/artnine/huber/aufsaet-
nau diejenige spezifische Differenz, die Bilder zu ze/kunstwerk_als_system.pdf).
einem der wirkungsmächtigsten Mediensysteme al- –: System und Wirkung. Rauschenberg – Twombly – Baru-
ler Zeiten gemacht hat. chello. Fragen der Interpretation und Bedeutung zeitge-
nössischer Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz. Mün-
Mit einem so weit gefassten Kunstbegriff kann chen 1989.
man relativ wenig erklären. Die Gefahr, ein philoso- –: »Interview mit Niklas Luhmann«. In: Texte zur Kunst
phisches Scheinproblem zu konstruieren, also wis- 1. Jg. (1991), 121–133.
368 Rezeption

–: »Installation und Modell. Systemanalytische Interpreta- studie zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des
tionen zum skulpturalen Œuvre von Joseph Beuys«. In: ›Blauen Reiters‹ und von Wilhelm Worringers ›Abstrak-
Klaus Güthlein/Franz Matsche (Hg.): BEGEGNUN- tion und Einfühlung‹. Leiden 1988.
GEN. Festschrift für Peter Anselm Riedl zum 60. Ge-
burtstag. Worms 1993, 300–324. Hans Dieter Huber
–: »Systemische Kunstwissenschaft – ein neues Paradig-
ma?« In: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und
Kulturwissenschaften 22. Jg., 2 (1994), 87–93.
–: »›Lets mix all feelings together!‹ – Ansätze zu einer Theo-
rie multimedialer Systeme«. In: Klaus Sachs-Hombach/
Klaus Rehkämper (Hg.): Bildgrammatik. Interdiszipli-
näre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungssys-
teme. Magdeburg 1999, 297–314.
–: Bild, Beobachter, Milieu. Entwurf einer allgemeinen
Bildwissenschaft. Ostfildern-Ruit 2004.
–: Paolo Veronese. Kunst als soziales System. München
2005.
–: Kunst als soziale Konstruktion. München 2007.
Kampmann, Sabine: Künstler sein. Systemtheoretische Be-
obachtungen von Autorschaft: Christian Boltanski,
Eva & Adele, Pippilotti Rist, Markus Lüpertz. München
2006.
– (Hg.): Niklas Luhmann. Sonderheft von kritische berich-
te. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften
36. Jg., 4 (2008).
– /Karentzos, Alexandra/Küpper, Thomas (Hg.): Gender
Studies und Systemtheorie. Studien zu einem Theorie-
transfer. Bielefeld 2004.
Lingner, Michael: »Kunst aus Kunst. Autopoiesis – die ak-
tuelle Autonomieproblematik aus systemtheoretischer
Perspektive«. In: Wolkenkratzer Art Journal 6. Jg.,
5 (1988), 30–34.
–: »Die Krise der ›Ausstellung‹ im System der Kunst«. In:
Kunstforum international 125 (1994), 182–187.
Schmidt, Siegfried J.: Kunst: Pluralismus, Revolten. Bern
1987.
Weber, Stefan (Hg.): Was konstruiert Kunst? Kunst an der
Schnittstelle von Konstruktivismus, Systemtheorie und
Distinktionstheorie. Wien 1999.
Wulffen, Thomas: Betriebssystem Kunst. Eine Retrospekti-
ve. In: Kunstforum international 125 (1994), 50–58.
Wyss, Beat: Vom Bild zum Kunstsystem. Köln 2006.
Zijlmans, Kitty: Kunst, geschiedenis, kunstgeschiedenis.
Methode en praktijk van een kunsthistorische aanpak op
systeemtheoretische basis. Leiden 1990.
–: »Das Kunstwerk als Einheit von Differenz«. In: Sjaak On-
derdelinden (Hg.): Interbellum und Exil. Liber amico-
rum für Hans Würzner. Zum Abschied von der
Rijksuniversität Leiden. Amsterdam/Atlanta 1991a,
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–: »Kunstgeschichte der modernen Kunst: Periodisierung
oder Codierung?« In: Henk de Berg/Matthias Prangel
(Hg.): Kommunikation und Differenz. Opladen 1991b,
53–68.
–: »Kunstgeschichte als Systemtheorie«. In: Marlite Hal-
bertsma/Dies. (Hg.): Gesichtspunkte. Kunstgeschichte
heute. Berlin 1995a, 251–277.
–: »Differenztheorien in der Kunstgeschichte«. In: Henk de
Berg/Matthias Prangel (Hg.): Differenzen. Systemtheo-
rie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus.
Tübingen/Basel 1995b, 131–152.
– /Hoogeveen, Jos: Kommunikation über Kunst. Eine Fall-
369

8. Literatur- und tur (sowie Kunst und Kultur). Aber daneben darf
nicht vergessen werden, dass Luhmanns Systemtheo-
Medienwissenschaft rie wieder neu auf literatur- und kulturtheoretische
Ansätze wirkt, für die Luhmann selbst mittlerweile
Adaptationen und Rezeption der zu einem Klassiker geworden ist (Jahraus 2010).
Systemtheorie in der Literaturwissenschaft Niklas Luhmann hat sich zwar immer wieder über
Kunst im Allgemeinen geäußert, über Medien jedoch
Der folgende Beitrag konzentriert sich auf den Ein- im landläufigen, technischen Sinne nur, sofern es
fluss und die Auswirkungen der Systemtheorie auf sich um Massenmedien handelt; er hat also weder
Literatur- und Medienwissenschaft. Wer die Erschei- eine Literaturtheorie noch eine Medientheorie im
nungsdaten der meisten systemtheoretisch inspirier- Sinne einer Medienphilosophie entworfen. Die Me-
ten oder fundierten Arbeiten in diesem Feld betrach- dienbegriffe der Systemtheorie (neben dem der Mas-
tet, wird schnell feststellen, dass diese theoretische sen- oder Verbreitungsmedien der Begriff des sym-
Option vor allem in den 1990er Jahren eine Konjunk- bolisch generalisierten Kommunikationsmediums
tur, ja geradezu einen Boom erlebte, ohne jedoch ein und der Medienbegriff der Medium/Form-Diffe-
literatur- bzw. medientheoretisches Paradigma aus- renz) haben nur indirekt zur Beantwortung der kon-
zubilden. Dennoch muss im Rückblick die tiefgrei- zeptionellen Frage beigetragen, was denn ein Medi-
fende Irritation, die die Systemtheorie in den 1990er um sei. Schließlich hat Luhmann immer wieder
Jahren in diesen Bereichen hervorgerufen hat, die Themen im Zusammenhang mit Literatur angespro-
zahlreichen positiven Versuche von Adaptationen chen. Mittlerweile liegen diese Aufsätze gesammelt in
vor allem in der Literaturwissenschaft und generell einer Publikation vor (SKL). Sie ergeben insgesamt
die intensive, teils affirmative, teils kritische und ne- kein literaturwissenschaftliches Profil, aber beleuch-
gative Diskussion der Systemtheorie in Literatur- ten doch spezifische Aspekte der Systemtheorie im
und Medienwissenschaft (vgl. hierzu die Artikelserie Zusammenhang mit Kunst und Literatur.
Jäger 1994; Ort 1995; Jahraus/Marius 1998; Rein- Erschwert wurde die Rezeption der Systemtheorie
fandt 2001) überraschen. Überblickt man einerseits dadurch, dass sie keine Zeichentheorie entworfen
die Attraktivität, die die Systemtheorie gerade in der hat, auf deren Grundlage es möglich gewesen wäre,
Literaturwissenschaft in den 1990er Jahren entfalten Literatur als Zeichensystem systemisch oder gar sys-
konnte, und andererseits gleichzeitig die Heftigkeit temtheoretisch zu rekonzeptualisieren. Moderne Li-
der Ablehnung, dann kann diese Rezeption selbst als teraturtheorien wie z. B. Strukturalismus, Poststruk-
ein Indikator für die theoretische Verfassung der Li- turalismus oder Dekonstruktion haben auf eine
teraturwissenschaft zu dieser Zeit verstanden wer- Qualität der Literatur abgehoben, die nicht allein
den. Vor diesem Hintergrund werden die Bedingun- ihre sprachliche Form, sondern vor allem ihre Zei-
gen einer Rezeption der Systemtheorie in diesem Feld chenstruktur und Zeichenhaftigkeit meint. Aber ge-
sichtbar. nau auf einen solchen Zeichenbegriff verzichtet die
Als günstige Ausgangsfaktoren können sicherlich Systemtheorie. Zwar hat Niklas Luhmann einen Vor-
ein Ungenügen an dem Paradigma der Dekonstruk- schlag geliefert, wie man die zweiwertige Zeichende-
tion, das sich zu dieser Zeit schon längst erschöpft finition von Ferdinand de Saussure, der das Zeichen
hatte, aber auch an sozialgeschichtlichen Modellen als Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem
geltend gemacht werden. Zudem hat sich der nicht- (Signifikant und Signifikat) definiert, systemtheore-
empirische quantitative Charakter der Systemtheorie tisch reformulieren kann, indem man insbesondere
als günstige Disposition für die Rezeption in der Li- auf die Differenz zwischen beiden abhebt, doch lässt
teratur- und Medienwissenschaft erwiesen. Sie hat sich daraus kein Zeichenbegriff ableiten, der als
z. B. nahezu alle Ansätze einer empirischen Literatur- Grundbegriff der Systemtheorie fungieren könnte
wissenschaft beerbt, die seit dieser Zeit keine nen- (Luhmann 1993). Luhmanns Blick auf die Dekon-
nenswerte Rolle mehr in der literaturwissenschaftli- struktion geschieht eher unter der Vorgabe einer Be-
chen Theoriediskussion spielen. Was die System- obachtung zweiter Ordnung (Luhmann 1995), aber
theorie in der Literaturwissenschaft attraktiv ge- nicht im Hinblick auf poststrukturalistische Radika-
macht hat, ließ sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts lisierungen oder Öffnungen eines Konzepts des zwei-
wieder unattraktiv werden, insbesondere: ihr Ver- wertigen Zeichens. Interessanterweise hat auch der
zicht auf die Abkehr von substantialistischen und ge- systemtheoretische Umgang mit dem Sinnbegriff zu
gebenenfalls auch wesenhaften Aussagen über Litera- keiner nachhaltigen Auseinandersetzung mit einer
370 Rezeption

hermeneutischen Grundlegung der Literaturwissen- daher von der Systemtheorie als Literatur- oder Me-
schaft geführt. Weder ein Begriff von Sprache noch dientheorie spricht, ist immer dieses Zusammenspiel
ein Begriff von Zeichen gehören zu den grundlegen- zwischen systemtheoretischer Vorgabe und literatur-
den theoretischen Bausteinen der Systemtheorie. und medienwissenschaftlicher Adaptation gemeint.
Immerhin kann der historische Kontext, den das
Modell der funktionalen Ausdifferenzierung zur Ver-
Literaturtheorie auf Basis der Systemtheorie fügung stellt, helfen, verschiedene systematische Fra-
gen neu anzugehen. Der Reiz der Systemtheorie
Die zentrale literaturtheoretische Frage, was Litera- besteht bei literaturtheoretischen Fragen gerade da-
tur sei, hat Luhmann niemals explizit oder gar mit rin, dass sie traditionelle und vielfach wesenhafte De-
(literatur-)theoretischem Anspruch beantwortet. finitionen mit Hilfe eines umfassenden Redeskripti-
Weder unter den großen Monographien zur Gesell- ons- und Reformulierungsvermögens auflöst und
schaftstheorie und den gesellschaftlichen Funktions- funktionalistisch inspirierte, nominalistische Neu-
systemen noch sonst in diesem umfangreichen Werk definitionen liefert, die von den Was- zu den Wie-
findet sich – abgesehen von dem 1996 entstandenen, Fragen umstellen. So konnte die Frage, was denn Li-
zu Lebzeiten unveröffentlichten, 16 Buchseiten star- teratur sei, umgeformt werden zur Frage, wie denn
ken Manuskript »Literatur als Kommunikation« Literatur System sei. Eine mögliche Antwort darauf
(SKL, 373–388) – eine explizite Auseinandersetzung hat Luhmann selbst in einem Aufsatz durchgespielt,
mit Literatur als Literatur oder gar mit literaturtheo- in dem er mit der im Grunde – wie er selbst sagt – we-
retischen Fragestellungen. nig überraschenden Idee ansetzt, »Literatur als Kom-
In Die Kunst der Gesellschaft (KunstG 1995) wird munikation« zu betrachten (SKL, 373–388). Wenn
gelegentlich auf die Lyrik als sprachliche Form eines man jedoch den systemtheoretischen Kommunikati-
künstlerischen Werkes verwiesen, und in dem Buch onsbegriff in Rechnung stellt, so werden die weitrei-
Liebe als Passion (1982) rekurriert Luhmann nahezu chenden Implikationen sichtbar, die zu einem völlig
durchgängig auf literarische Texte, aber nicht als Li- veränderten Literaturbegriff führen.
teratur, sondern eher als Dokumente einer bestimm- Das wird schon an der sozialen Dimension dieses
ten kulturhistorisch fixierbaren und soziologisch Literaturbegriffs deutlich. Die Systemtheorie erlaubt
relevanten Semantik von Liebe. Wo Luhmann sich es, eine sozialsystemische Dimension von Literatur
sonst explizit zur Literatur bzw. zur Lyrik äußert zu berücksichtigen, ohne in die Literaturferne der
(z. B. KunstG, 45 ff., 291, 410 ff. u. 461), geschieht traditionellen Literatursoziologie zu verfallen. Insbe-
dies vor allem im Rahmen einer systemtheorieti- sondere fragt sie nach dem Zusammenhang von Ge-
schen Kommunikations- und/oder Medientheorie sellschaftsstruktur und genuin literarischer Seman-
oder einer Darstellung seiner Konzeption der gesell- tik – zumal unter den historisch gegebenen gesell-
schaftsstrukturellen Umstellung von der Stratifikati- schaftsstrukturellen Bedingungen der funktionalen
on zur funktionalen Ausdifferenzierung der Gesell- Ausdifferenzierung. Mit ihrer elaborierten Differen-
schaft. zierungstheorie geht sie auch über die Fragestellun-
Die entscheidende Frage lautet also, welche theo- gen einer Sozialgeschichte der Literatur hinaus.
retischen Dispositionen Literatur- und Medienwis- Unter anderen haben Niels Werber und Gerhard
senschaft mitbringen, um das hohe Irritatitionspo- Plumpe (z. B. Werber 1992; Plumpe/Werber 1993;
tential der Systemtheorie plausibel machen oder 1995) vor allem mit Blick auf das 18. Jahrhundert
erklären zu können. Das bedeutet zwar nicht, dass festgestellt, dass sich im Zuge der funktionalen Aus-
die luhmannsche Systemtheorie aus sich selbst he- differenzierung des Kunstsystems nicht nur Bewer-
raus als Literatur- oder Medientheorie verstanden tungskriterien ändern, sondern auch neue Semanti-
werden kann, wohl aber, dass es Ansätze aus diesen ken, neue Themen, neue Interessen und neue
Wissenschaften gibt, die Systemtheorie und system- Faszinosa wie zum Beispiel das ›Böse‹ oder ›Hässli-
theoretische Denk- und Theoriefiguren zu verwen- che‹ für die und mit der Literatur entwickeln. Das Li-
den, um daraus literatur- und medientheoretische teratursystem nimmt dabei eine kulturhistorisch
Positionen zu entwickeln. Die Bedeutung der Sys- bedeutsame Stellung ein, weil es auf besondere Weise
temtheorie für die Literatur- und Medienwissen- andere Systeme, zum Beispiel das Recht (mit Krimi-
schaft stammt weniger aus eigenem Antrieb als nalsujets), beobachtet und so erkennen lässt, wie die-
vielmehr aus den Rezeptionen der Systemtheorie in se andere Systeme beobachten. Plumpe und Werber
der Literatur- und Medienwissenschaft. Wenn man entwickeln daraus die Konzeption einer ›polykontex-
Literatur- und Medienwissenschaft 371

turalen Literaturwissenschaft‹, die den Zugang zu nen« (SKL, 379). Demgegenüber sieht Luhmann eine
den Texten gerade aus diesen Beobachtungsverhält- konstitutive Funktion der Literatur darin, »der Un-
nissen ableitet. bestimmbarkeit der Welt« »die selbsterzeugte Unbe-
stimmtheit des Systems [hier: der Literatur; O.J.]«
(SKL, 375) entgegenzusetzen. Das bedeutet, dass Li-
Text und Kontext aus der Sicht teratur vor dem Letzthorizont allen Sinns, der Welt,
der Systemtheorie bestimmte Sinnkonfigurationen etablieren kann, die
nicht völlig in der Welt aufgehen. Text, so könnte
Henk de Berg und Matthias Prangel arbeiten in den man schlussfolgern, ist nur in dem Maße sinnhaft
1990er Jahren ein auf dem Kommunikationsbegriff und mithin interpretierbar und schließlich auch in-
beruhendes Modell aus, das die System/Umwelt-Dif- terpretationswürdig, wie er eben dies auch immer
ferenz explizit als Text/Kontext-Differenz versteht zugleich zurücknimmt.
(Berg/Prangel 1993; 1995; 1997). Dieses Modell setzt Wenn die System/Umwelt-Differenz als Text/Kon-
sich in der Darstellung Henk de Bergs gegen eine text-Differenz gehandhabt wird, stellen sich grund-
Konzeption von Textverstehen ab, das den Text als ein legende literaturtheoretische Fragen. Die Frage, wie
autonomes Gebilde aus sich selbst heraus betrachtet. Literatur im systemtheoretischen Sinne als Kommu-
Stattdessen wird nach der Kontextthematisierung nikation konzipiert werden kann, verändert nicht al-
des Textes bzw. nach der Konstituiertheit des Textes lein die Ausgangssituation einer Definition von
durch den Kontext gefragt. Das Textverstehen setzt Literatur völlig, weil Kommunikation nicht mehr als
die Rekonstruktion des Kontextes voraus; es blickt – Interaktion zwischen Aktanten, sondern als Prozess
auf der Basis des luhmannschen Kommunikations- verstanden wird. Der einzelne literarische Text be-
und Sinnbegriffs – nicht auf die Übereinstimmun- kommt daher Ereignischarakter in einem großen
gen, sondern gerade auf die Differenzen von Text und kommunikativen Zusammenhang, dessen systemi-
Kontext, die konstitutiv für den Text und seinen Be- sche Eigenschaften in den Blickpunkt rücken. Damit
deutungsaufbau sind. »Ein Text konstituiert sich be- aber verändert sich die Idee von Literaturtheorie: Im
deutungsmäßig erst vor dem Hintergrund von dem, systemtheoretischen Kontext kommt es nicht mehr
was er negiert« (Berg 1991, 199). Der »Wissenschaft- darauf an, zu fragen, was denn Literatur sei, sondern
ler beobachtet, wie sich ein Text in Opposition [bes- zu fragen, wie sich Literatur als System konstituiere.
ser müsste es heißen: in Differenz; O.J.] zu einem Gerade dort, wo die systemtheoretische Reformu-
Kontext bedeutungsmäßig konstituiert«. Bedeutung lierung literaturtheoretischer Fragestellungen ihr
ist demnach die »Einheit der Differenz zwischen höchstes Abstraktionsniveau erreicht, stößt ihre De-
dem, was ein Text sagt, und dem, was er negiert« finition von Literatur an ihre schon eingangs er-
(Prangel 1993, 18). wähnte Grenze: nämlich an jene Grenze des Textes,
Luhmann selbst hat diese differentielle Relationie- hinter der der Text als System semantischer Struktu-
rung von Text und Kontext als entscheidende Kom- ren und mithin als Symbolsystem erscheint. Auch
ponente einer systemtheoretischen Überlegung zur wenn die Frage, ob Kontexte selbst nicht textförmig
Literatur gerade gegenüber der Semiotik ausgegeben: oder gerade textförmig (z. B. in der Definition von
»Man muß entscheiden, ob man vom Begriff der Kultur als Kontext) sind, bejaht wird, so ist eine ent-
Kommunikation ausgeht oder vom Begriff des Zei- sprechende literatur- und texttheoretische Konzepti-
chens. Geht man vom Begriff der Kommunikation on doch um den Preis erkauft, nur wenig über die
aus, klärt sich zugleich das Verhältnis von Text und textuellen Strukturen von Semantiken aussagen zu
Kontext. Der kommunikativ aktualisierte Sinn mit können. Selbst im großen Überblick einer langen
all seinen expliziten und impliziten Verweisungen Tradition systemtheoretischer Adaptationen erweist
(Husserl) ist dann der Kontext, [sic!] der in der Kom- sich eine Überlegung aus Niels Werbers Literatur als
munikation verwendeten Texte; und wir können hin- System (1992) noch immer als maßgeblich: Werber
zufügen: ein nicht textfähiger, ins Unbestimmbare konzipiert die wechselseitige Verschränkung von Ge-
auslaufender Kontext. Die Semiotik hat dagegen be- sellschaftsstruktur und Semantik, von Theorie sozia-
kannte Schwierigkeiten mit dem Unterschied von ler Systeme mit literaturtheoretischen Anforderun-
Text und Kontext und tendiert dazu, ihn in Richtung gen so, dass der systemtheoretische Ansatz bis »auf
auf Texte aufzulösen. Der Kontext, das ist dann nur die Ebene von Texten [durchgreift]« (Werber 1992,
die Gesamtheit anderer Texte, die eventuell für Zwe- 103). Die methodische Vorgabe, dass die System-
cke der Interpretation herangezogen werden kön- theorie als Theorie sozialer Systeme jedes Phänomen
372 Rezeption

in seiner sozialen Verfasstheit oder Relevanz beob- auf den Zusammenhang von Text und Interpretation
achtet, macht diese Grenze offenbar. In seiner späte- blickt, wird dieses Problem virulent. Denn die sys-
ren Arbeit Liebe als Roman (2003) hat Werber eine temtheoretische Konzeption definiert Verstehen aus-
systemtheoretische Konzeption vorgelegt, wie Ge- schließlich als kommunikatives, soziales und eben
sellschaftsstruktur und Semantik am Beispiel des nicht als psychisches Ereignis. Dadurch aber werden
Verhältnisses von Liebe und Roman im europäischen Verstehen und Missverstehen ununterscheidbar, die
Kontext im 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund hermeneutische Idee des richtigen Verstehens wird
gesellschaftsstruktureller Umstellungen als Ko-Evo- hinfällig. Vor diesem Hintergrund hat Hans Ulrich
lution zu beschreiben sind. Gumbrecht »die Abstinenz hinsichtlich des Interpre-
Literaturwissenschaftliche Adaptationen der Sys- tationsbegriffes« konstatiert und diese »als Sym-
temtheorie versuchen, diese Ko-Evolution aufzugrei- ptom von Luhmanns Theoriearchitektonik« gewer-
fen, indem sie neben dem sozialsystemischen Aspekt tet (Gumbrecht 1995, 171 f.). In diesem Zusammen-
der Literatur zugleich ihre semantische, textuelle, hang stehe auch eine »Depotenzierung der Differenz
strukturelle, mithin also ihre symbolische Dimensi- zwischen Verstehen und Mißverstehen« (ebd., 179).
on gleichermaßen als systematisch beobachten und Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit, die engeren
Literatur als Einheit der Differenz von Sozial- und sozialsystemischen Grenzziehungen der Systemtheo-
Symbolsystem definieren (Ort 1993). Damit lässt rie in Richtung auf die strukturelle Kopplung von Be-
sich ein Medienbegriff für die Literatur ableiten, des- wusstsein und Kommunikation zu überschreiten,
sen Funktion es ist, diese Einheit immer wieder neu um eine Idee von Interpretation als Verstehen zwi-
herzustellen oder zu ›prozessieren‹ (Jahraus 2003; schen Systemen oder überhaupt Interpretation als
Reinfandt 2009). Doch als Medium ist Literatur erst Überbrückung einer Differenz zwischen psychischen
dann vollständig zu konzipieren, wenn man die von und sozialen Systemen entwerfen zu können.
Luhmann vorgegebene sozialsystemische Perspekti-
ve verlässt und stärker die Idee der strukturellen
Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein in Literatur
den Fokus rückt. Erstmals hat das Christoph Rein-
fandt (1997) ausgearbeitet. Er macht deutlich, dass Berg, Henk de: »Text – Kontext – Differenz. Ein Vorschlag
eine beiderseitige Konzeptualisierung der Literatur zur Anwendung der Luhmannschen Systemtheorie in
der Literaturwissenschaft«. In: Siegener Periodicum zur
sowohl als Sozial- wie auch als Symbolsystem nur
Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft
möglich ist, wenn dabei Literatur zwischen dem psy- 10. Jg., 2 (1991), 191–206.
chischen und sozialen System, also zwischen Be- – /Prangel, Matthias (Hg.): Kommunikation und Diffe-
wusstsein und Kommunikation situiert wird. Zen- renz. Opladen 1993.
traler Ausgangspunkt seiner Überlegungen in diesem –/– (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekon-
struktion und Konstruktivismus. Tübingen/Basel 1995.
Zusammenhang ist, dass das Sozialsystem Literatur
–/– (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik. Tübingen/Ba-
nicht nur in einem Leistungszusammenhang mit an- sel 1997.
deren sozialen Systemen, sondern auch mit dem psy- Gumbrecht, Hans Ulrich: »Interpretation versus Verstehen
chischen System steht. von Systemen«. In: Berg/Prangel 1995, 171–185.
Daraus ergeben sich Folgen für den Subjektbegriff Jäger, Georg: »Systemtheorie und Literatur. Teil I. Der Sys-
in der Literaturwissenschaft: Mit ihrem Fokus auf tembegriff der Empirischen Literaturwissenschaft«. In:
IASL 19. Jg., 1 (1994), 95–125.
Kommunikation hat die Systemtheorie den Begriff Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution
des Subjekts verabschiedet und damit die Verbin- und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kom-
dung zwischen dem Subjekt als thematischem (lite- munikation. Weilerswist 2003.
raturhistorischem) und operativem (literaturtheore- –: »Niklas Luhmann«. In: Michael Scheffel/Matías Martí-
tischem) Begriff gekappt. Sie ermöglicht es der nez (Hg.): Klassiker der Literaturtheorie. München 2010,
280–300.
Literaturwissenschaft somit, die thematische Adres- – /Marius, Benjamin: »Systemtheorie und Literatur. Teil
sierung des Subjekts im und durch den Text und den III. Modelle systemtheoretischer Literaturwissenschaft
Entwurf einer sich wandelnden Idee von Subjektivi- in den 1990ern«. In: IASL 23. Jg., 1 (1998), 66–111.
tät besser nachzuverfolgen. Luhmann selbst gibt dies Luhmann, Niklas: Ist Kunst codierbar? In: SA3, 245–266.
als Vorteil aus (SKL, 382 f.), doch es bleibt die Frage, –: »Zeichen als Form«. In: Dirk Baecker (Hg.): Probleme
der Form. Frankfurt a. M. 1993, 45–69.
ob man auf eine Idee des Subjekts z. B. als Korrelat –: »Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung«. In:
von Rezeptionsdispositionen oder als Instanz der In- Berg/Prangel 1995, 9–35.
terpretation gänzlich verzichten kann. Wenn man –: »Literatur als Kommunikation«. In: SKL, 373–388.
Organisationstheorie, Management und Beratung 373

Ort, Claus-Michael: »Sozialsystem ›Literatur‹ – Symbolsys-


tem ›Literatur‹. Anmerkungen zu einer wissenssoziolo-
9. Organisationstheorie,
gischen Theorieoption für die Literaturwissenschaft«. In: Management und Beratung
Schmidt 1993, 269–294.
–: »Systemtheorie und Literatur. Teil II. Der literarische
Text in der Systemtheorie«. In: IASL 20. Jg., 1 (1995), Das Thema ›Organisation‹ hat Luhmann in allen sei-
161–178. nen Schaffensperioden auf das Intensivste beschäf-
Plumpe, Gerhard/Werber, Niels: »Literatur ist codierbar. tigt. Das hat zum einen berufsbiographische Gründe.
Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissen- Als Ministerialbeamter war Luhmann mit einem
schaft«. In: Schmidt 1993, 9–43.
–/– (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer po- ganz spezifischen Organisationstypus, der staatli-
lykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen 1995. chen Bürokratie, über Jahre unmittelbar konfron-
Prangel, Matthias: »Zwischen Dekonstruktionismus und tiert. Dieses von Luhmann ausgiebig genutzte Feld
Konstruktivismus. Zu einem systemtheoretisch fundier- empirischer Beobachtungen schimmert als Hinter-
ten Ansatz von Textverstehen«. In: Berg/Prangel 1993, grundfolie bei vielen seiner theoretischen Auseinan-
9–31.
Reinfandt, Christoph: Der Sinn der fiktionalen Wirklich- dersetzungen mit dem Phänomen ›Organisation‹
keiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferen- immer wieder durch. Zum anderen hat Luhmann nie
zierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis einen Zweifel daran aufkommen lassen, welch hohen
zur Gegenwart. Heidelberg 1997. Stellenwert er Organisationen für die Reprodukti-
–: »Systemtheorie und Literatur. Teil IV. Systemtheoreti- onsfähigkeit der modernen Gesellschaft beimisst.
sche Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Neu-
orientierung der Literaturwissenschaften«. In: IASL Auf dem Weg in die Moderne haben sich die Ausdif-
26. Jg., 1 (2001), 88–118. ferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme
–: »Literatur als Medium«. In: Simone Winko/Fotis Janni- und das Entstehen jenes besonderen Typus sozialer
dis/Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Be- Systeme, den wir heute mit dem Begriff ›Organisati-
griff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York on‹ belegen, gleichsam wechselseitig hervorgebracht.
2009, 161–187.
Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Sys-
Die Durchsetzung des Primats funktionaler Diffe-
temtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Op- renzierung wäre ohne die korrespondierende Aus-
laden 1993. prägung und Stabilisierung von Organisationen
Werber, Niels: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung modernen Typs nicht denkbar. Nicht zuletzt aus die-
literarischer Kommunikation. Opladen 1992. sem Grunde spielen Organisationen auch in Luh-
–: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literari-
scher Kommunikation. München 2003.
manns gesellschaftstheoretischen Arbeiten durch-
gängig eine große Rolle. In diesem Sinne ist die
Oliver Jahraus Entwicklung seines organisationstheoretischen Den-
kens auf das Engste mit der schrittweisen Entfaltung
der eindrucksvollen Differenziertheit seiner gesam-
ten Theoriearchitektur verwoben.
Für die Rezeption dieser Seite des luhmannschen
Denkens haben vor allem drei Schlüsselwerke eine
zentrale Bedeutung gewonnen. In der Frühphase
sticht die Arbeit Funktion und Folgen formaler Orga-
nisationen (1964) hervor. Dieses immer noch aus-
gesprochen lesenswerte Buch besticht durch den
Detailreichtum in der Auseinandersetzung mit der
Formalisierung von Verhaltenserwartungen als orga-
nisationalem Strukturbildungsprinzip, insbesondere
mit der entsprechenden Konditionierung der Mit-
gliedschaftsrolle sowie mit den weiterverzweigten
Folgeproblemen dieser Formalisierung. Die Arbeit
Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funkti-
on von Zwecken in sozialen Systemen (1968) leistet die
vielzitierte »Entthronung des Zweckbegriffs« im Ver-
ständnis der Funktionsweise von Organisationen
(Martens/Ortmann 2006, 447). Mit dieser konse-
quent funktionalistischen Analyse des Stellenwertes
374 Rezeption

von Zwecken in der Reproduktion von Organisatio- nen in Luhmanns Systemtheorie« (Martens/Ort-
nen entzieht Luhmann dem klassischen Verständnis mann 2006) aufgenommen worden. Wegen ihres
von Organisationen als Ergebnis einer externen paradigmatischen Charakters wird auf diese Arbeit
Zwecksetzung und der dazu passenden Vorstellung gleich noch etwas näher eingegangen. Intensivere
einer instrumentellen Vernunft seine unhinterfrag- Auseinandersetzungen mit Luhmann sind auch
ten Existenzprämissen. Für die Auseinandersetzun- überall dort zu beobachten, wo man sich um eine ge-
gen und Kontroversen um Luhmanns organisations- sellschaftstheoretische Fundierung organisations-
theoretische Überlegungen sind etwa seit der Jahr- theoretischer Überlegungen bemüht. Beispielhaft
tausendwende vor allem all jene Arbeiten aus seiner dafür ist der von Ortmann, Sydow und Türk heraus-
späteren Schaffensperiode von Bedeutung, die in gegebene Band Theorien der Organisation. Die Rück-
aller Konsequenz die Theoriebausteine einer Kyber- kehr der Gesellschaft (2000) und der darin enthaltene
netik zweiter Ordnung am Thema ›Organisation‹ Beitrag von Martens. Hervorzuheben ist in diesem
durchdeklinieren (zuerst in dem Artikel »Organisa- Zusammenhang außerdem Dreppers Arbeit Organi-
tion«, 1988, und dann grundlegend entfaltet in dem sationen der Gesellschaft (2003), in der er sich durch-
posthum erschienen Werk Organisation und Ent- aus kritisch mit Luhmanns gesellschaftstheoretischer
scheidung, 2000). Vor allem auf diese Texte beziehen Einbettung des Phänomens ›Organisation‹ ausei-
sich die folgenden Überlegungen zu den hauptsäch- nandersetzt (vgl. in diesem Zusammenhang auch
lich beobachtbaren Rezeptionsmustern, weil diese den Band von Tacke Organisation und gesellschaftli-
Arbeiten das größere Irritationspotential für das her- che Differenzierung, 2001).
kömmliche Denken über Organisationen besitzen. Martens und Ortmann (2006) rekonstruieren auf
eindrucksvolle Weise die wesentlichen Schlüsselbe-
griffe im luhmannschen Denken über Organisation
Resonanzen auf Luhmanns und die Differenzen zu traditionellen Konzeptuali-
Organisationstheorie sierungsweisen organisationaler Phänomene. Orga-
nisationen in diesem Verständnis sind ein klar
Beobachtet man die einschlägigen organisations- abgrenzbarer Typus sozialer Systembildung im Un-
theoretischen und managementwissenschaftlichen terschied zu Interaktion, gesellschaftlichen Funkti-
Arbeiten seit den 1990er Jahren, so fällt auf, dass der onssystemen und der Gesellschaft als Ganzer. Sie sind
überwiegende Teil der den management sciences zu- auf die Bearbeitung von Problemstellungen speziali-
zurechnenden organisationstheoretischen Arbeiten siert, die sie zumeist einem gesellschaftlichen Funk-
von Luhmann gar keine Notiz nimmt. Die wissen- tionssystem entnehmen. Durch diese Aufgabenfo-
schaftlichen Standards dieser scientific community kussierung differenzieren sie sich aus ihren damit
orientieren sich an den englischsprachigen A-Jour- gegebenen Umwelten aus und reproduzieren sich
nals. In diesen Denkwelten wird die luhmannsche durch die für Organisationen charakteristische Form
Art der Theoriebildung bis heute als nicht anschluss- der Leistungserbringung. Organisationen forcieren
fähig betrachtet. Deshalb begrenzt sich die Rezeption durch diesen sie selbst konstituierenden Reprodukti-
der organisationstheoretischen Überlegungen Luh- onsmechanismus den evolutionären Prozess der ge-
manns auf einen überschaubaren Kreis an Forschern sellschaftlichen Differenzierung, während die jewei-
und Forscherinnen, die von dem erkenntnisbezoge- ligen Ergebnisse dieses Prozesses ihrerseits Organisa-
nen Geländegewinn dieser Art des Denkens über- tionsbildung forcieren. Beide Entwicklungen stehen
zeugt sind und die Positionen innehaben, von denen zueinander in einem »komplementären Steigerungs-
aus sie sich die damit verbundene Distanz zum verhältnis« (Martens/Ortmann 2006, 449).
Mainstream leisten können. Dieser denkerische Dis- Eine der folgenreichsten Theoriefestlegungen
kussionszusammenhang, hauptsächlich auf den Luhmanns besteht darin, dass er als Basiselement or-
deutschsprachigen Raum begrenzt, ist aber ungeach- ganisationaler Reproduktion die Kommunikation
tet seines Nischencharakters überaus lebendig und von Entscheidungen profiliert. Entscheidungen
produktiv. transformieren Unsicherheit (sprich: Kontingenz) in
Ein gutes Beispiel für dieses Rezeptionsmuster bil- situative Sicherheiten. Bei diesem Transformations-
det der von Alfred Kieser und Mark Ebers 1992 he- prozess greifen sie auf vorangegangene Entscheidun-
rausgegebene Band Organisationstheorien (Kieser/ gen zurück und schaffen durch die jeweils erzeugten
Ebers 1992/2006). Seit der 6. Auflage ist in dieses ein- Festlegungen die Ausgangsbasis für weitere Entschei-
flussreiche Werk ein eigener Abschnitt »Organisatio- dungen. Organisationen bringen sich also durch die-
Organisationstheorie, Management und Beratung 375

se strukturierte Verknüpfung von Entscheidungen, Wo dieser Zugang mehr und mehr gelingt, lässt
d. h. durch rekursiv aufeinander bezogene Kommu- sich am Beispiel des theoretischen Verständnisses
nikationsereignisse als emergente Ordnung selbst dessen, was Familienunternehmen ausmacht, zeigen.
hervor und sorgen damit für eine immer wieder er- Bei Familienunternehmen handelt es sich um einen
neuerte Grenzziehung zu ihren relevanten Umwel- spezifischen Organisationstypus, der durch eine ganz
ten. charakteristische Koevolution einer Organisation auf
Mit der autopoietischen Wende im Denken über der einen Seite und einer Familie auf der anderen Sei-
Organisationen betont Luhmann den spezifischen te hervorgeht. Diese eigentümliche strukturelle
Eigensinn organisationalen Geschehens, d. h. dessen Kopplung zweier, mit einer ganz gegensätzlichen Lo-
Bestimmtheit durch selbsterzeugte Eigenzustände, gik operierender sozialer Systeme führt auf beiden
deren Weiterentwicklung von Außen bestenfalls irri- Seiten zu ungewöhnlichen Strukturbildungen: Das
tiert, aber ganz sicher nicht determiniert werden Unternehmen inkorporiert familiale Elemente und
kann (Organisationen als sich selbst organisierende die Eigentümerfamilie adaptiert im Zeitverlauf Mus-
›nontrivial machines‹ im Sinne Heinz von Foersters). ter, die an sich für organisationale Zusammenhänge
Mit dem luhmannschen Kommunikationsverständ- bezeichnend sind. Wir treffen hier auf einen Organi-
nis, das seinem Entscheidungsbegriff zugrunde liegt, sationstypus, der sich in seinem Verstehen gegen die
sind Theorieannahmen verbunden, die dem her- üblichen disziplinären Zugänge (der BWL, der Ma-
kömmlichen Organisationsverständnis diametral nagementwissenschaften) grundsätzlich sperrt. Des-
entgegenstehen. Der Ereignischarakter der Kommu- halb bietet sich in diesem Zusammenhang eine
nikation von Entscheidungen führt zu einer radika- metatheoretische Perspektive, wie sie sich durch den
len Temporalisierung des organisationalen Gesche- luhmannschen Blick auf Organisationen und Fami-
hens. Die Frage nach geeigneter Anschlusskommuni- lien erschließt, geradezu an (für einen konsequent
kation wird zum zentralen Bestandsproblem von systemtheoretischen Zugang zum Phänomen ›Fami-
Organisationen. Die Vorstellung einer dinghaften lienunternehmen‹ vgl. etwa Wimmer u. a. 2005; Si-
Konstruktion wird damit obsolet. Wie ist unter die- mon 2012).
sen Voraussetzungen das Verhältnis zu den techni- Wohl am fruchtbarsten weiterentwickelt wurde
schen Gegebenheiten und deren Determination das luhmannsche Denken rund um das gesellschaft-
organisationaler Abläufe, zu Produktionsanlagen, zu liche Phänomen ›Organisation‹ von Dirk Baecker.
Rohstoffen, Energie, zur Gebäudeinfrastruktur etc. Einen ersten Höhepunkt seiner diesbezüglichen Ar-
noch sinnvoll zu denken? Mit Luhmanns Kommuni- beiten bildet seine Habilitationsschrift Die Form des
kationsbegriff rückt außerdem das Individuum (das Unternehmens (1993), in der er den form- und diffe-
psychische System) in die Umwelt sozialer Systeme. renztheoretischen Hintergrund nutzend eine durch-
Organisationen bestehen also nicht mehr aus den dachte Theorie von Unternehmen als Organisatio-
Menschen, die sich für eine Mitgliedschaft entschie- nen des Wirtschaftssystems entfaltet. Eine Vielzahl
den haben. Dies zwingt dazu, den Zusammenhang von organisationstheoretischen Arbeiten, die alle auf
von Individuum und Organisation radikal neu zu ihre je eigene Weise luhmannsche Denkfiguren auf-
denken (Luhmann greift hier auf den von Maturana greifen und weiterentwickeln, sind in seinem Band
geprägten Begriff der strukturellen Kopplung zu- Organisation als System (1999) zusammengefasst.
rück). Insbesondere dieser letztgenannte Theorie- Baeckers eingehende Beschäftigung mit der Frage
schritt, der einen Verzicht auf so gewohnte Begriffe nach den Auswirkungen der computerbasierten
wie Handlung, Akteursorientierung, die Bedeutung Kommunikationsmedien auf die Differenzierungs-
von Intentionalität etc. impliziert, richtet enorm dynamik von Gesellschaft hat eine Reihe von Studien
hohe Barrieren gegenüber einer einfachen Rezeption zur nächsten Gesellschaft (2007) hervorgebracht, in
des luhmannschen Theoriegebäudes auf. Es sind ge- denen er den bereits zu beobachtenden Transforma-
nau diese besonders eigenwilligen, in ihren Konse- tionsprozessen auf der Ebene der Organisation (etwa
quenzen aber ganz ungewöhnliche, höchst überra- mit Blick auf die Bedeutung von Netzwerkstruktu-
schende Perspektiven eröffnenden Begrifflichkeiten, ren) breiten Raum gibt. Seine jüngste Aufsatzsamm-
die so vielfältige Abwehrreaktionen auslösen und da- lung Organisation und Störung (2011) bündelt
mit den Zugang zur Entschlüsselung des bei weitem Arbeiten, die mit Hilfe unterschiedlicher Zugänge
noch nicht ausgeschöpften Innovationspotentials der Frage nachgehen, wie sich Organisationen bei all
des luhmannschen Zugangs zu Organisationen ver- ihrer unentrinnbaren Selbstbezüglichkeit mit jenen
sperren. ›Störungen‹ versorgen können, die ihre Selbstent-
376 Rezeption

wicklung so stimulieren, dass sie ungeachtet der stär- lautet das Organisationsproblem, auf das Manage-
ker werdenden Volatilität ihrer relevanten Umwelten ment und Führung eine Antwort sind? Management
ihre basale Antwortfähigkeit aufrechterhalten kön- und Führung sind in Organisationen ausdifferen-
nen. zierte Funktionen, die im Oszillieren zwischen
Selbst- und Fremdreferenz darauf spezialisiert sind,
die Organisation mit jenem Maß an Beunruhigung
Luhmanns Einfluss auf die aktuelle zu versorgen, das erforderlich ist, um organisations-
Diskussion über Führung und Management intern die Frage der eigenen Passung mit Blick auf ex-
terne Gegebenheiten dauerhaft mit Aufmerksamkeit
Wenn man in Luhmanns Organisationstheorie nach auszustatten.
einem charakteristischen blinden Fleck suchen woll- Diese funktionale Sicht auf Management und
te, dann wird man bei den Themen ›Führung‹ und Führung als Teilaspekt der autopoietischen Selbstre-
›Management‹ zweifelsohne fündig. So sehr diese produktion (oder anders formuliert: als organizatio-
Themen das Alltagsleben jedweden Typs von Orga- nal capability) wurde in den letzten Jahren von
nisation prägen, so sehr eine unübersehbare Fülle Baecker (2003; 2011) wie auch von Wimmer (2009)
von Arbeiten der management sciences mit der Suche im Detail ausgearbeitet. Während Baecker nicht un-
nach erfolgreichen Konzepten der Gestaltung und ähnlich der US-amerikanischen Diskussion zwi-
Steuerung von Organisationen beschäftigt sind, so schen Management und Führung unterscheidet (vgl.
wenig kommen diese Aspekte in Luhmanns Überle- insbesondere 2003), verzichtet Wimmer auf diese be-
gungen vor. Er ist die Antwort auf die von ihm rich- griffliche Differenzierung, weil sie aus seiner Sicht
tigerweise gestellte Frage »Was tut ein Manager in mit Blick auf das Organisationsverständnis der neue-
einem sich selbst organisierenden System?« (1990) ren Systemtheorie keinen zusätzlichen Mehrwert
letztlich schuldig geblieben. In diesem Umstand spie- stiftet.
gelt sich die tiefe Skepsis Luhmanns gegenüber allen Ein konsequent ›entpersonalisiertes‹ Verständnis
Versuchen, gezielte Steuerungsbemühungen in kom- von Management und Führung hat in die schon seit
plexen Entscheidungszusammenhängen theoretisch längerem intensiv laufende Leadership-Diskussion
zu konzeptualisieren. Luhmann setzte aus gutem noch kaum Eingang gefunden. Die etablierten Theo-
Grund auf Evolution und nicht auf Planung. rien der Managementwissenschaften (etwa der Prin-
Es fehlt in der Zwischenzeit aber nicht an Bemü- cipal-Agent-Ansatz oder die Stewardship-Theorie)
hungen, die neuere Systemtheorie luhmannscher sind entsprechend dem ökonomischen Grundpara-
Prägung für eine spezifische Theorie von Manage- digma um die Interessen von Personen und ihren Be-
ment und Führung fruchtbar zu machen. Man denke ziehungen herum gebaut. Deswegen müssen sie den
etwa an den Vorstoß von Rüegg-Stürm, das St. Galler Zusammenhang von Führung und Organisation als
Management-Modell in diese Richtung weiterzuent- zwei Seiten ein und derselben Medaille grundlegend
wickeln (1998). Durchaus auch für Führungskräfte verfehlen (vgl. Wimmer 2009).
in der Praxis anschlussfähig sind die Arbeiten von
Wüthrich u. a. (2009), in denen die spezifischen He-
rausforderungen an Führung in Organisationen Die Rezeption Luhmanns in den
heutigen Zuschnitts aus luhmannschen Denkfiguren Beratungswissenschaften
gewonnen werden.
Entgegen der weitverbreiteten Ansicht, die Füh- Seit den 1980er Jahren hat sich unter dem Label der
rung und Management als Fremdsteuerung im Un- systemischen Organisationsberatung ein spezifisches
terschied zu allen Selbstorganisationsprozessen kon- Segment innerhalb des großen Spektrums organisa-
zeptualisiert und deshalb keine Brücke zum Organi- tionsbezogener Beratungsleistungen herausgebildet.
sationsverständnis der neueren Systemtheorie findet, In diesem Segment operieren Berater und Beraterin-
geht es in der diesbezüglichen Theoriebildung doch nen, die ihr professionelles Selbstverständnis aus ei-
darum, die genannten Aspekte des organisationalen ner intensiven Beschäftigung mit den Grundannah-
Geschehens konsequent als Momente der autopoie- men der neueren Systemtheorie gewinnen. Der
tischen Selbstreproduktion genau dieses Typs sozia- Begriff ›systemisch‹ meint im Kern, dass Beratung
ler Systeme zu verstehen. Man schafft in diese ihre Einschätzung der zu lösenden Problemstellun-
Richtung eine erste Annährung, wenn man sich ge- gen im Kundensystem aus einem systemtheoreti-
treu dem luhmannschen Denken die Frage stellt: Wie schen Hintergrund heraus gewinnt und dass genau
Organisationstheorie, Management und Beratung 377

dieser Theoriehintergrund den Begründungszusam- Sozialdimension. Sie bewegten sich damit klar in der
menhang für das beraterische Vorgehen liefert. Die Tradition der Organisationsentwicklung, die stets
Pionierzeit dieses theoriegeleiteten Selbstverständ- davon ausging, dass die ›eigentlichen‹ Kernprobleme
nisses von Beratung ist eng mit dem Namen ›Luh- der Beratung nachfragenden Organisationen im so-
mann‹ verbunden. Eine Gruppe von Beratern und zialen Miteinander der Funktionsträger liegen. Im
Beraterinnen, beheimatet in Wien, mit professionel- Grunde geht es aus dieser Sicht fast immer um Kom-
len Wurzeln in der Tradition der Gruppendynamik munikations- und Kooperationsschwierigkeiten, die
und Organisationsentwicklung sowie in der systemi- aus chronifizierten Beziehungs- und Machtausei-
schen Familientherapie, lud Luhmann 1983 nach nandersetzungen resultieren.
Wien zu einem Workshop, um mit ihm den Stellen- Diese Engführung der Problemwahrnehmung,
wert von Teams in Organisationen zu diskutieren. die eine charakteristische Arbeitsteilung im Verhält-
Aus diesem Kontakt ist eine intensive Zusammenar- nis zu den großen expertenorientierten Beratungs-
beit erwachsen, die Luhmann bis kurz vor seinem unternehmen spiegelt, steht seit der Jahrtausend-
Tod beinahe jedes Jahr für mehrere Tage nach Wien wende heftig in Diskussion. Die kontinuierliche
geführt hat. Steigerung der Eigenkomplexität von Organisatio-
Luhmanns Theorie sozialer Systeme, insbesonde- nen verlangt nach Bearbeitungsformen, die die sach-
re seine organisationstheoretischen Überlegungen, lichen Themen und die Fragen des sozialen Mitei-
haben das theoretische Fundament der systemischen nanders in einer integrierten Prozessarchitektur
Organisationsberatung von Grund auf geprägt (vgl. bearbeitbar machen. Solche Weiterentwicklungen
die ersten Arbeiten dazu Exner/Königswieser/Tit- des systemischen Beratungsansatzes laufen einerseits
scher 1987; Wimmer 1992). Beratung gewinnt in die- unter dem Titel der Komplementärberatung (vgl. Kö-
sem Selbstverständnis ihre Existenzberechtigung nigswieser u. a. 2006). Hier wird versucht, die Per-
primär aus den Möglichkeiten der Beobachtung spektive der Prozessberatung und die der Fach- bzw.
zweiter Ordnung. Organisationen reproduzieren Expertenberatung in einen Kooperationszusammen-
sich, indem sie mit Hilfe eingespielter Differenzsche- hang zu bringen. Über dieses Kooperationsmodell
mata ihre je spezifische Realität konstruieren. Aber hinaus gehen jene Bestrebungen, die zur Zeit unter
gerade die problemerzeugenden Beobachtungsmus- dem Titel ›dritter Modus der Beratung‹ laufen (vgl.
ter und Kommunikationsroutinen des organisatio- Wimmer 2010). Diese Weiterentwicklungen fußen
nalen Geschehens liegen in der Regel im blinden auf einer intensiven Beschäftigung mit den drei luh-
Fleck organisationaler Selbstbeobachtung und mannschen Sinndimensionen und deren synchro-
Selbstreflexion. In diesen unvermeidlichen Begren- ner, miteinander verzahnter Bearbeitung in organi-
zungen des Umgangs von Organisationen mit ihrem sationalen Problemlösungsprozessen.
eigenen Selbstgefährdungspotential liegen die Mög- Diese Theorieanstrengungen und ihr professio-
lichkeiten externer Beratung, jenen Nutzen zu stif- neller Niederschlag in der Beratungspraxis reagieren
ten, der einen echten Unterschied macht. Die auch auf den beobachtbaren Bedeutungszuwachs der
professionelle Herausforderung für diese Art von Be- Zeitdimension im organisationalen Entscheidungs-
ratung liegt dabei in der ›Kunst‹, Kommunikations- geschehen. Die Berücksichtigung ganz unterschiedli-
settings zu bauen, die den Eigensinn des Kundensys- cher Vergangenheits- und Zukunftshorizonte wird
tems irritieren können und die eingespielten, pro- besonders überall dort spürbar, wo es darum geht, in
blemerzeugenden Muster und Entscheidungsrouti- der Gegenwart schwer revidierbare Weichenstellun-
nen soweit erschüttern, dass daraus eine Weiterent- gen für eine Zukunft vorzunehmen, die man nicht
wicklung des Problembearbeitungsrepertoires der kennen kann. Nicht zuletzt deshalb hat die Nutzung
Organisation erwachsen kann (zu dem dafür geeig- der luhmannschen Theoriefiguren für ein system-
neten Interventionsverständnis vgl. Wimmer 2012). theoretisch untermauertes Verständnis von Strate-
Die systemische Organisationsberatung hat seit gieentwicklung so enorm an Attraktivität gewonnen.
den 1980er Jahren dieses Feld selbst weiter aufgefä- Mit der systemischen Organisationsberatung ist ein
chert (eine eindrucksvolle Rekonstruktion dieser Ge- Feld entstanden, das auf eine kreative Weise die luh-
schichte mit ihren vielschichtigen Bezügen zu mannschen Denkwerkzeuge für die eigene Professi-
Luhmann liefert Krizanits 2009). Der prioritäre Fo- onsentwicklung nutzt. Gleichzeitig stimuliert die
kus der Bearbeitung organisationaler Problemstel- systematische Auswertung der mit dieser Art von Be-
lungen lag für die Vertreter der systemischen ratung gewonnenen Einsichten in Organisationszu-
Organisationsberatung in den Anfangsjahren auf der sammenhänge ihrerseits die organisationstheoreti-
378 Rezeption

sche Theoriebildung (vgl. Simon 2007). Solche –: Organisation und Beratung. Systemtheoretische Per-
rekursiven Anregungsprozesse im Umgang mit Luh- spektiven für die Praxis. Heidelberg 22012.
– u. a.: Familienunternehmen – Auslaufmodell oder Er-
manns Art der Theoriebildung sind aus anderen Fel-
folgstyp? Wiesbaden 22005.
dern nicht in einem vergleichbaren Umfang bekannt. Wüthrich, Hans u. a.: Musterbrecher. Führung neu leben.
Wiesbaden 32009.
Rudolf Wimmer
Literatur
Baecker, Dirk: Die Form des Unternehmens. Frankfurt
a. M. 1993.
–: Organisation als System. Aufsätze. Frankfurt a. M. 1999.
–: Organisation und Management. Aufsätze. Frankfurt
a. M. 2003.
–: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2007.
–: Organisation und Störung. Frankfurt a. M. 2011.
Drepper, Thomas: Organisationen der Gesellschaft. Wies-
baden 2003.
Exner, Alexander/Königswieser, Roswita/Titscher, Stefan:
»Unternehmensberatung – sytemisch: Theoretische An-
nahmen und Interventionen im Vergleich zu anderen
Ansätzen«. In: Die Betriebswirtschaft 47. Jg., 3 (1987),
265–284.
Kieser, Alfred/Ebers, Mark (Hg.): Organisationstheorien
[1992]. Stuttgart 62006.
Königswieser, Roswita u. a. (Hg.): Komplementärberatung.
Das Zusammenspiel von Fach- und Prozessknowhow.
Stuttgart 2006.
Krizanits, Joana: Die systemische Organisationsberatung.
Wie sie wurde, was sie wird. Wien 2009.
Luhmann, Niklas: »Organisation«. In: Willi Küpper/Gün-
ther Ortmann (Hg.): Mikropolitik. Rationalität, Macht
und Spiele in Organisationen. Opladen 1988, 165–185.
–: »Was tut ein Manager in einem sich selbst organisieren-
den System? Ein Gespräch mit Niklas Luhmann«. In:
GDI-Impuls 8. Jg., 1 (1990), 11–16.
Martens, Wil: »Organisation und gesellschaftliche Teilsyste-
me«. In: Ortmann/Sydow/Türk 2000, 263–311.
– /Ortmann, Günther: »Organisationen in Luhmanns Sys-
temtheorie«. In: Kieser/Ebers 2006, 427–461.
Ortmann, Günther/Sydow, Jörg/Türk, Klaus (Hg.): Theo-
rien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft.
Wiesbaden 22000.
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ternehmerischer Wandel: Skizze einer systemkonstrukti-
vistischen ›Theory of the Firm‹«. In: Die Unternehmung
52. Jg., 2 (1998), 3–17.
Simon, Fritz B.: Einführung in die systemische Organisati-
onstheorie. Heidelberg 2007.
–: Einführung in die Theorie des Familienunternehmens.
Heidelberg 2012.
Tacke, Veronika (Hg.): Organisation und gesellschaftliche
Differenzierung. Wiesbaden 2001.
Wimmer, Rudolf (Hg.): Organisationsberatung. Neue
Wege und Konzepte. Wiesbaden 1992.
–: »Führung und Organisation – zwei Seiten ein und der-
selben Medaille«. In: Revue für postheroisches Manage-
ment H. 4 (2009), 20–33.
–: »Systemische Organisationsberatung – jenseits von
Fach- und Prozessberatung«. In: Revue für posthe-
roisches Management H. 7 (2010), 88–103.
379

10. Philosophie nicht mehr wirklich am gesellschaftlich relevanten


theoretischen Diskurs teilnähmen (ebd., 388). Die
Diagnose eines Eigenlebens der Philosophie außer-
Im Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokrati- halb ihrer disziplinären Grenzen trifft auf Luhmann
kern bis zu den Neuen Philosophen (2003) gibt es ei- und sein Theorieangebot in dreifacher Weise zu: zum
nen Artikel ›Niklas Luhmann‹. In den Augen des einen auf seine Person, ist er doch Gesellschaftstheo-
Herausgebers war auch er eine »philosophische Exis- retiker und schon deshalb kein Philosoph im eigent-
tenz« (Lutz 2003, V). Doch obwohl Luhmanns Sys- lichen Sinne des Wortes. Zweitens fehle ihm, wie
temtheorie zahlreiche philosophische Bezüge auf- Spaemann konstatiert, der die Philosophie definie-
weist, wurde er in der (akademischen) Philosophie rende »Abschlussgedanke« (Pl, 67) und drittens wur-
kaum rezipiert, sieht man einmal vom Theorie- bzw. de er vor allem außerhalb der disziplinären Philoso-
Terrainstreit mit Habermas zu Beginn der 1970er phie rezipiert. Innerhalb der akademischen Philoso-
Jahre (TGS) ab. Woran mag das liegen? phie findet sich selten mehr als ein Theorievergleich
Zum einen wird in den wenigen, Luhmann tat- mit Hegel (Bergler 1999), Husserl (Landgrebe 1975)
sächlich diskutierenden Publikationen immer wie- oder Heidegger (Clam 2002), bei dem Luhmann
der auf die Verständnisschwierigkeiten hingewiesen, dann regelmäßig unterliegt.
die eine Rezeption fast unmöglich machten (z. B. Trotz dieses Missstandes wird im Folgenden nicht
Gripp-Hagelstange 1997, 11 f.; Clam 2000, 296–299; auf die vielfältigen philosophischen Anschlüsse an
2004, 8 ff.). Bei genauerem Hinsehen lassen sich diese Luhmanns Grundpositionen in allen möglichen Dis-
Verständnisschwierigkeiten mit den Anforderungen ziplinen eingegangen, sondern nur auf die Rezeption
des institutionellen Betriebs als auch mit der Eigenart durch Vertreter der akademischen Philosophie. Es
der Theorie selbst erklären. lassen sich drei Rezeptionsphasen unterscheiden. In
So vermuten Henk de Berg und Johannes der ersten finden sich vor allem kritisch-vernichten-
Schmidt, dass wegen des Anwendungsdrucks, der die de Einlassungen, die bis heute wiederholt werden:
Wissenschaftler zur Produktion von fachadäquaten Die luhmannsche Systemtheorie sei ideologisch und
Ergebnissen zwinge, die Beschäftigung mit Luh- berge kein Kritikpotential, sie sei methodologisch
manns soziologischer Theorie vor allem in Qualifi- unterbelichtet und sie bediene sich fehlerhaft aus an-
kationsarbeiten erfolge. Nur dort könne mit Luh- deren Theoriemodellen. Es folgt eine zweite Phase, in
mann ein »akzeptables Erklärungsmuster« für fach- der hauptsächlich die Begriffskonstrukte Luhmanns
eigene, etwa philosophische Fragestellungen vorge- analysiert werden, ohne sie für die eigene Arbeit an-
schlagen und diskutiert werden, ohne damit die zunehmen. Eine dritte, relativ junge Rezeptionspha-
Selbstverständigung des Faches zu irritieren (Berg/ se reagiert offener und stellt sich konstruktiv den
Schmidt 2000, 19 ff.). Zudem erfordere Luhmanns Herausforderungen, die Luhmanns Theorieangebot
Theorie aufgrund ihrer intern erzeugten Rekursivität in Bezug auf epistemologische bzw. methodologische
von Begriffen stets eine grundsätzliche Einarbeitung. und ontologische Fragen an die Philosophie stellt.
Wer hier nicht auf das dem Stand der Rezeption ge-
mäße Verständnis aufbaue, riskiere, die Pfade der
Anschlussfähigkeit zu verlassen (Clam 2004, 10). Die erste Rezeptionsphase: Ausschließende,
Zum anderen scheint es so, als unterliege Luh- die Philosophie ›rettende‹ Kritiken?
manns Systemtheorie einem institutionellen Pro-
blem der akademischen Philosophie und ihrem Die erste Rezeptionsphase in der Philosophie beginnt
Selbstverständnis, auf das Bourdieu und auch Butler Anfang der 1970er Jahre, erstreckt sich bis zu den Re-
aufmerksam gemacht haben: »dass der Begriff ›Phi- aktionen auf das erste Hauptwerk Soziale Systeme
losophie‹ der Kontrolle derer entglitten ist, die ihre von 1984 und ist geprägt von der Luhmann-Haber-
institutionellen Parameter definieren und schützen mas-Debatte, die unter dem Titel Theorie der Gesell-
wollen« (Butler 2009, 368). Ironisch fügt sie hinzu, schaft oder Sozialtechnologie (TGS 1971) veröffent-
die Philosophie habe sich in skandalöser Weise ver- licht wurde. Zusammengefasst lautet Habermas’
doppelt und führe außerhalb ihrer wohl definierten Vorwurf, Luhmann entwerfe eine affirmative Theo-
Grenzen ein Eigenleben in anderen Disziplinen – ob- rie, die die bestehende Gesellschaft und ihre Verselb-
wohl sie dort doch gar nicht hingehöre. Zugleich be- ständigungsprozesse entgegen einer notwendigen
deute das für die philosophischen Institute und deren Verständigung der Öffentlichkeit durch transparente
Vertreter, dass sie sich zunehmend isolierten und Politik legitimiere (TGS, 144 ff.). Damit unterlaufe
380 Rezeption

sie das kritische Potential der Gesellschaft, diskursiv Ein Beispiel für eine besonnene Auseinanderset-
praktische Belange zu problematisieren. Während je- zung findet sich bei Landgrebe, der den Streit zwi-
doch Habermas entlang sorgfältiger Begriffsarbeit schen Habermas und Luhmann einem ungeklärten
Luhmann innerhalb dessen eigener Theoriearchitek- Verhältnis zwischen »transzendentalphilosophischer
tur als ideologisch auszeichnet, tendieren die Nach- und soziologischer Rückfrage« (Landgrebe 1975, 13)
folger dieser Debatte dazu, in ihrer Kritik ohne deren zuschreibt. Der habermasschen Ablehnung beschei-
methodologischen Tiefgang auszukommen (z. B. nigt er Unverständnis dafür, dass Luhmann den Sub-
Hesse 1999). Habermas hält am Ideologievorwurf jektbegriff deshalb verwirft, weil dieser – handlungs-
auch in Der philosophische Diskurs der Moderne theoretisch motiviert – zu Anthropologisierungen
(1985) fest und bescheinigt Luhmann neben einem verführe. Luhmann gehe es vielmehr um eine »Refle-
mangelnden selbstkritischen Potential in neolibera- xion auf die Bedingungen einer Abgrenzung soziolo-
ler Fasson auch die Nähe zu den postmodernen gisch erforschbarer Problemdimensionen« (ebd., 28).
Nietzsche-Erben in Frankreich (Habermas 1985, 411 Da gesellschaftliche Systeme unausweichlich den
u. 426). Charakter der Reflexivität hätten, sei Selbstthemati-
In eine andere Richtung zielen die Bemerkungen sierung die Kritik davon, ob die Systeme auch die
von Bubner in Dialektik und Wissenschaft, dem es Funktionen erfüllen, die sie sich selbst aufgegeben
als Vertreter einer »undogmatischen Philosophie« haben: »Daher ist die Möglichkeit und Notwendigkeit
(Bubner 1973, 7) um eine Analyse des zeitgenössi- der Kritik in der Reflexivität der Systeme beschlossen«
schen Methodenpluralismus in der Wissenschaftsbe- (ebd.). Reflexivität gelte es aber, mit und nicht gegen
gründung geht. Dazu diskutiert er u. a. die luhmann- Husserl zu theoretisieren – was Luhmann wegen sei-
sche Systemtheorie. Wie wenig Bubner in seinem ner unzulänglichen Husserl-Rezeption verborgen
kritischen Ergebnis tatsächlich Luhmanns Ansatz geblieben sei.
trifft, zeigt sich exemplarisch an folgender Paraphra-
se: Das »allgegenwärtige Prinzip der Reduktion von
Komplexität [übersetzt] ziemlich genau, wenngleich Die zweite Rezeptionsphase:
in technischer Terminologie, die ›Vereinfachung des (Un-)vermeidbare Annäherungen
Mannigfaltigen‹ als die [grundsätzliche] Erkenntnis-
aufgabe« (ebd., 119). Dass Komplexität bei Luhmann Etwa zur Zeit vor Luhmanns ›autopoietischer Wen-
durch Beobachtung erzeugt und zugleich reduziert de‹ setzt eine zweite Rezeptionsphase ein. Neben dem
wird, ist aber ein ganz anderer Gedanke als die Fest- vielfach wiederholten Vorwurf, Luhmann würde
stellung einer vorgängigen Mannigfaltigkeit, die ei- philosophische Klassiker (wie beispielweise Husserl)
nes ordnenden und reduzierenden Zugriffs bedarf. unzulänglich rezipieren, stehen hier oft damit ver-
Bubner kommt so zu dem Schluss, dass sich Luh- bundene Begriffsdiskussionen im Vordergrund. Ob-
mann »die Entdogmatisierung um den Preis einer Tri- gleich in dieser Rezeptionsphase Luhmanns Theorie-
vialisierung erkaufe« (ebd., 124), seine Theorie sei als angebote im philosophischen Kontext wahrgenom-
wissenschaftliche Erkenntnis ungültig, ihr fehle eine men werden, bleiben seine grundsätzlichen Fragen an
transzendentale Reflexionsebene und daraus resul- die Philosophie in detailanalytischen Diskussionen
tierend die Einsicht, so und nicht anders denken zu eher ausgeblendet.
müssen. Eine ausgiebige Auseinandersetzung mit ›fehler-
Auch Eley (1972) fragt nach der Möglichkeit si- haften‹ Konsequenzen im Theorieaufbau liefert
cheren Wissens und verfolgt offensichtlich das Ziel, Schulte, der mit dem programmatischen Titel Der
Luhmann aus dem erkenntnistheoretischen Diskurs blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie (1993) mehr-
auszuschließen. Er beharrt auf der Idee einer philo- fach den Vorwurf äußert, die Theorie verdecke an
sophischen Propädeutik als Grundlegung der Wis- den entscheidenden Stellen vor allem ihre eigenen
senschaft vor aller Wissenschaft, was bedeutet: vor blinden Flecke. Anstelle seine Systeme mit einer To-
aller Sozialität und Phänomenalität, während Luh- desparadoxie zu konfrontieren, welche ihnen durch
mann die Wissenschaft aus der Gesellschaft heraus die Erfahrung, nicht zugleich Subjekt und Nicht-
erklärt. Damit versucht Eley nachzuweisen, dass sich Subjekt sein zu können, zu »leiblicher« Existenz ver-
Luhmann mit seinem an Husserl anschließenden helfen könne, überlasse Luhmann seine Systeme in
und zudem nicht transzendental-dialektisch operie- leibloser Sinnreferenz (Schulte 1993, 34) und ver-
renden Theorieversuch aus einer ernsthaften Grund- dränge eben diese Paradoxie in den blinden Fleck der
legungsdiskussion ausgrenzt. Unterscheidung. Schulte sieht also in Luhmanns Sys-
Philosophie 381

tem ein Subjekt, das sich selbst unterscheidet, und Die dritte Phase: Einschließende, (für) die
die Vorstellung der Einheit der Unterscheidung in ei- Philosophie vernichtende Reflexionen?
nem »imaginären Raum«, »die Verborgenheit des
Zugleichs beider Seiten im blinden Fleck ist demnach Ungefähr seit der Jahrtausendwende hat sich die Phi-
die Anwesenheit Gottes« (ebd., 160). Somit handle es losophie allmählich für eine Rezeption Luhmanns
sich um eine »verkappte Theologie« (ebd., 120). Ins- geöffnet und vermehrt nach einem Zugang zur Ge-
gesamt gelinge der unterstellte Transfer der Vernunft samtkonzeption gesucht. Dabei wurde die Theorie
vom Subjekt auf das System in Form der selbstrefe- nach ihren möglichen Intentionen jenseits aller for-
rentiellen Beobachtung des Systems nicht ohne logi- malen Kritikpunkte befragt. So geraten auch wis-
sche Übersetzungskosten. Das hole ihn aber auf den sen(schaft)stheoretische Topoi in den Blick, etwa mit
Boden einer »großen Metaerzählung« (ebd., 266) Konsequenzen für das Verständnis von Ontologie,
und damit auch zu einem Kernproblem der Philoso- und von dort aus Fragen an die gesamte daraus fol-
phie zurück. gende Theoriekonstruktion: Wie konstruiert sich die
Schmid greift »[d]ie Diskussion zur systemtheo- Theorie in sich selbst (Pfeiffer 1998)? Wie erfüllt sie
retischen ›Überbietung‹ der transzendentalphiloso- ihren Wahrheitsanspruch in Bezug auf das, was sie
phischen Subjekttheorie« (2000) auf und versucht, beschreibt? Hält sie das Versprechen der Selbstbe-
vereinfachende Rezeptionen der Subjektdebatte um gründung? Wie kohärent oder inkohärent ist sie
Luhmann herum aufzuklären. So erscheint ihm Luh- rückblickend auf ihre eigenen Prämissen und Postu-
manns Zurückweisung der Subjektphilosophie nicht late? Zudem geht es aber auch weiterhin um begriff-
immer eindeutig, denn Luhmann wolle eben nicht liche Fragen, nun auch auf der Suche nach deren
die subjektphilosophische Denkfigur überwinden, Funktion innerhalb einer aus sich heraus zu verste-
sondern explizit die intersubjektivistische. Doch henden Theorie.
auch durch die kategorische Verabschiedung der In- So legt Clam eine tiefer gehende Analyse darüber
tersubjektivität, etwa wenn Luhmann psychisches vor, was gerade an der eklektischen Art Luhmanns als
System (Bewusstsein) und soziales System (Kommu- genuin philosophisch interpretiert und gewürdigt
nikation) trennt, löse er das konstruktivistische Er- werden könnte, um die Produktivität seines Denkens
kenntnisproblem nicht. So bleibe eine Tendenz zum zu erforschen. Darin beschreibt er Luhmanns Theo-
›Naturalismus‹, der nicht ohne eine zumindest un- rie als eine Theorie mit einer »involutiven Gangart
terstellte allgemeine, »selbst systemreferenzfreie bzw. Methodik« (Clam 2002, 38): »Die Konsistenz
›Realität‹« (Schmid 2000, 146) auskomme. der Theorie wird nicht garantiert durch die Ordnung
Insgesamt überwiegen jedoch diejenigen Annähe- ihrer Prinzipien, ihre Sammlung an eine einige Spitze,
rungsversuche an Luhmann, die sich auf den Nach- die Strenge ihrer Axiomatik, ihre Methodik […], die
weis fehlerhafter Theorieimporte konzentrieren: An- Reinheit und die Reversibilität ihrer Deduktionen etc.
gefangen mit der Verwendung und Loslösung hus- Ihre Konsistenz ist ihr ›Eigenwert‹, der sich bei genü-
serlscher Begriffe wie ›Sinn‹ oder ›Intersubjektivität‹, gender Redundanz der Kombination ihrer Teile sich
über die Entführung des Autopoiesis-Begriffs aus der [sic] einstellt. Die Theorie […] ist differentiell, besteht
biologistischen Erkenntnistheorie Maturanas hin zur aus Stücken […], die eventuell ausgewechselt werden
Verarbeitung der heiderschen Medientheorie in Luh- können« (ebd., 40). Davon habe sich die Rezeption
manns Theorie der Kommunikationsmedien. Beson- Luhmanns in die Irre führen lassen, denn, »[v]on den
ders Luhmanns tragende und dabei so einfache wie angeliehenen Inhalten ausgehend, hat man die phi-
reduktionistische Anwendung des Formenkalküls losophische Bedeutung der Theorie eruieren wollen,
Spencer-Browns wird heftiger Kritik unterzogen. während das eigentlich philosophisch Instruktive
Der Rezeptionsband Logik der Systeme (Merz- und Anregende in der Idee der Anleihe selbst liegt«
Benz/Wagner 2000), in dem Schmid und Hennig die (ebd., 41). Somit lasse sich Luhmanns Methode auch
Philosophie vertreten, bietet eine kompakte Bünde- als Entfremdung von aus der Philosophie entführten
lung der zweiten Rezeptionsphase, wobei in dem Grundbausteinen und Begriffen beschreiben. Eine
Band auch Autoren anderer Disziplinen eine an phi- Methode, die offensichtlich nicht zum Verständnis
losophischen Themen orientierte Kritik Luhmanns und zur Anerkennung Luhmanns als philosophisch
durchexerzieren. Insgesamt lässt sich die philoso- relevante Theoriealternative beigetragen habe. Wie
phische Rezeption Luhmanns nach Soziale Systeme die Systeme, von denen sie spreche, sei die Theorie auf
(1984) als Vermengung von eher unfruchtbarer Feh- eine nur durch sich und an sich selbst anschließende
lersuche mit Aneignungskritik charakterisieren. Konsistenzerzeugung angewiesen.
382 Rezeption

Begreift man Luhmanns Theorie- und Frageform die Wissenssoziologie zu kämpfen, wie ihn Srubar in
als philosophisches Denken, so finden sich bei ihm »Der Streit der Wissenssoziologie« (2010) in seiner
auch Themen und Begriffe, die originär der Philoso- Entstehungsphase darstellt. An den Kritikern und
phie zugeordnet sind und auf philosophisch heraus- Gegnern der damals zentralen Protagonisten Scheler
fordernde Art behandelt werden. Gleichsam katalo- und Mannheim konturieren sich wesentliche Ausei-
gisierend zählt Clam dazu die ›Theorie der Theorie« nandersetzungen zwischen neomarxistisch-kriti-
die Thematik der ›De-ontologisierung« der ›Refle- scher Gesellschaftstheorie, philosophischer Erkennt-
xion‹, des ›Subjekts‹, der ›Intersubjektivität‹, des nistheorie (inklusive Wissenschaftstheorie) und
›Sinns‹, der ›Operativität‹ sowie die ›Thematik der eben einer in den 1920er Jahren aufstrebenden Wis-
Welt‹ (Clam 2002, 47 ff.). All diese Themen bezieht senssoziologie. Der Streit entzündete sich daran, ob
er wiederum auf ein sich verstärkt herausbildendes, Wissen als eine soziale Konstruktion aufzufassen sei,
de-ontologisierendes, differenztheoretisches Para- die wiederum Rückwirkungen auf die Gesellschaft
digma. habe. Mit der verbindenden These eines lediglich zu
Die produktive Beschäftigung mit Luhmanns klärenden Verhältnisses zwischen Wissen und Sozial-
Theorie wurde auch dadurch blockiert, dass Luh- struktur formiert die Wissenssoziologie den Angriff
mann die Philosophie bezichtigt, einem veralteten gegenüber der Philosophie, indem sie deren apriori-
Denkmodell anzugehören. Die Rezeptionen waren sche Ansprüche durch Einholung in einen gesell-
zumeist damit beschäftigt, den Vorwurf zurückzu- schaftlich bedingten Konstitutionszusammenhang
weisen, weil es dabei um die Verteidigung der (alt)eu- relativiert. In Folge eröffnet die Thematisierung des
ropäischen Philosophie schlechthin geht. Die Frage Wissens im Bereich des Gesellschaftlichen in sich
nach dem Status der Ontologie, die Luhmann in So- selbst einen Kampf um die »Deutungshoheit über le-
ziologische Aufklärung. Konstruktivistische Perspekti- gitime Wissenschaftsproduktion« (Srubar 2010, 61).
ven (SA5 1990) stellt, betrifft den philosophischen Enthüllt man (nun) im Anschluss an diese Kon-
Umgang mit dem Sein schlechthin. »Ontologie«, so fliktkonstellation den euphemistischen Ausdruck
Luhmann, sei »eine bestimmte Form des Beobach- ›Herausforderung‹ und spricht stattdessen von dem,
tens […,] und zwar diejenige, die in der Unterschei- was er verhüllt, nämlich einen massiven Angriff Luh-
dung von Sein und Nichtsein besteht« (SA5, 17). manns auf philosophische Positionen, die in der aka-
Statt diese Beobachtungsform weiterhin zu verwen- demischen Gegenwartsphilosophie zu unhinterfrag-
den, fragt Luhmann nach den Stabilitätsbedingun- ten Prämissen geworden zu sein scheinen, dann zeigt
gen dieser Unterscheidung und folglich nach den sich das kritische Potential dieser Theorie in seiner
Stabilitätsbedingungen bestimmter philosophischer, ganzen Tragweite: Es geht um den Status von Onto-
wissenschaftlicher bzw. akademischer Praktiken logie und Epistemologie in ihrer theoriebegründen-
(GG, 893–912). In die gleiche Richtung geht die er- den und gesellschaftsformierenden Funktion selbst.
kenntnistheoretische Frage nach den Bedingungen Zieht man in Betracht, dass die in der Rezeption Luh-
der Möglichkeit von unweigerlich historisiertem manns oben angedeuteten begriffstheoretischen Fra-
Wissen und dessen Geltung, womit Luhmann auch gen von der systemtheoretischen Re-Konstruktion
die wieder erstarkte Praktische Philosophie und ihre der ontologischen und epistemologischen Prämissen
Vertreter angreift, indem er ihnen den Anspruch auf abhängen, so können diese erst angemessen behan-
absolut sicheres, gleichsam apriorisches Wissen strei- delt werden, wenn sich die Philosophie dem bei Luh-
tig macht – ganz in der häufig ignorierten philoso- mann explizierten Paradigmenwechsel stellt und
phischen Tradition von Hegel über Husserl zu zugleich wenigstens zwei existenziellen Herausforde-
Heidegger. rungen, die dann nicht mehr durch nur partikulare
Analysen verdrängt werden können. Damit ist zum
einen die oben angedeutete Öffnung der selbstgesetz-
Luhmanns Herausforderungen ten Grenzen des philosophischen Denkens gemeint
der Philosophie und zum anderen die damit neu zu behandelnden
Fragen einer erweiterten, sich erneut selbst befragen-
Wie lässt sich nun das Verhältnis der Philosophie zu den Philosophie.
Luhmann interpretieren? Verortet man Luhmanns Die Auflösung von Ontologie und Epistemologie
theoretisches Anliegen in einen diskursiven und his- in relationale Beschreibungen und die damit zusam-
torischen Kontext, dann scheint er immer noch den menhängenden Erschütterungen des Wissens- und
seit knapp hundert Jahren anhaltenden Kampf um Wahrheitsbegriffs in Form solcher »De-ontologisie-
Philosophie 383

rungsprogramme« (Clam 2002) könnten nun me- Butler, Judith: »Kann das ›Andere‹ der Philosophie spre-
thodologisch nach Stringenz und konzeptionell nach chen?« In: Dies. 2009, 367–393 (engl. 2002).
–: Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt a. M.
Problemlösungskapazitäten befragt werden. Ein
2009 (engl. 2005).
möglicher philosophischer Anschluss an Luhmann Clam, Jean: »Unbegegnete Philosophie«. In: Berg/Schmidt
besteht so in der Fortsetzung des modernen Aufklä- 2000, 296–321.
rungsprojektes mit anderen als transzendental-prag- –: Was heißt, sich an Differenz statt an Identität zu orien-
matischen, um nicht zu sagen: dogmatischen Mit- tieren? Zur De-ontologisierung in Philosophie und Sozi-
teln, die zum einen der De-Ontologisierung antisub- alwissenschaft. Konstanz 2002.
–: Kontingenz. Paradox. Nur-Vollzug. Konstanz 2004.
stantialistisch Rechnung trägt und zum anderen die Eley, Lothar: Transzendentale Phänomenologie und Sys-
Frage nach den eigenen sozio-historischen Möglich- temtheorie der Gesellschaft. Freiburg 1972.
keitsbedingungen stellt. Das schließt auch die Forde- Gripp-Hagelstange, Helga: Niklas Luhmann. Eine erkennt-
rung nach einer Philosophie ein, die die Bedeutung nistheoretische Einführung. München 1997.
der Gesellschaft für die Bedingungen des Wissens be- Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moder-
ne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985.
rücksichtigt (ebd., 105 ff.) und die noch lange nicht Hesse, Heidrun: Ordnung und Kontingenz. Handlungs-
erfüllt scheint, aber immerhin auch Anleihen neh- theorie versus Systemfunktionalismus. Freiburg 1999.
men kann an den französischen Theorieversuchen Kneer, Georg/Moebius, Stephan (Hg.): Soziologische Kon-
von Sartre über Foucault zu Derrida. troversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wis-
Eingedenk der Warnung von Butler vor der Mar- senschaft vom Sozialen. Frankfurt a. M. 2010.
Landgrebe, Ludwig: Der Streit um die philosophischen
ginalisierung der akademischen Philosophie in ak- Grundlagen der Gesellschaftstheorie. Wiesbaden 1975.
tuellen Theorieentwicklungen und eingedenk der Luhmann, Niklas: »Soziologische Aufklärung« [1967]. In:
Forderung von Clam, dass sich die Philosophie trotz, SA1, 66–91.
aber eben auch mit der Wissenssoziologie und der –: »Identität – was oder wie?« In: SA5, 14–30.
Gesellschaftstheorie über ihre Möglichkeiten und Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Philosophen Lexikon. Stuttgart
32003.
Aufgaben neu zu verständigen habe, kann es nicht Merz-Benz, Peter-Ulrich/Wagner, Gerhard (Hg.): Die Lo-
reichen, kritische Arbeit an der Systemtheorie nur gik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen So-
durch Fehlersuche zu leisten, um dann Luhmann ziologie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000.
ebenfalls als ›Alteuropäer‹ zu überführen. Es könnte Pfeiffer, Riccarda: Systemtheorie und Philosophie. Die Ar-
also künftig auch in der akademischen Philosophie chitektonik der Luhmann’schen Theorie. Opladen 1998.
Schmid, Hans Bernhard: »Subjektivität ohne Interität. Zur
darum gehen, mit Luhmann zu versuchen, die Mo- systemtheoretischen ›Überbietung‹ der transzendental-
derne adäquater zu verstehen, als dies bislang der Fall phänomenologischen Subjekttheorie«. In: Merz-Benz/
zu sein scheint. Eine produktive Luhmann-Rezepti- Wagner 2000, 127–153.
on in der Philosophie könnte sich also bemühen zu Schmidt, Johannes F. K.: »Die Differenz der Beobachtung.
verstehen, wo sich der Hebel für Veränderungen an- Einführende Bemerkungen zur Luhmann Rezeption«.
In: Berg/Schmidt 2000, 8–37.
setzen ließe und wie Kritik überhaupt noch möglich
Schulte, Günter: Der blinde Fleck in Luhmanns System-
ist, will man nicht einfach dogmatisch setzen, welche theorie. Frankfurt a. M. 1993.
Vernunft die adäquate ist. Schließlich stellte Luh- Srubar, Ilja: »Der Streit um die Wissenssoziologie«. In:
mann bereits in seiner Antrittsvorlesung »Soziologi- Kneer/Moebius 2010, 46–78.
sche Aufklärung« von 1967 (in SA1) sein Theorie- Tatjana Schönwälder-Kuntze und Philip Göldner
projekt als ›Abklärung der Aufklärung‹ dar – und
stellt sich damit (provokativ) in eine Reihe mit der
Aufklärung selbst.

Literatur
Berg, Henk de/Schmidt, Johannes (Hg.): Rezeption und Re-
flexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Luhmanns au-
ßerhalb der Soziologie. Frankfurt a. M. 2000.
Bergler, Andreas: Kommunikation als systemtheoretische
und dialektische Operation. Ein Beitrag zum Verhältnis
von Hegel und Luhmann. München 1999.
Bubner, Rüdiger: Dialektik und Wissenschaft. Frankfurt
a. M. 1973.
384 Rezeption

11. Politikwissenschaft dert haben. Zu ihnen gehören unter anderem seine


vermeintlich konservative gesellschaftspolitische
Haltung oder seine systemtheoretische Begrifflich-
Die in den 1950er und 1960er Jahren in den USA ent- keit, die den traditionellen politikwissenschaftlichen
wickelten politischen Systemtheorien bzw. Theorien Begriffen wie ›Macht‹ oder ›Staat‹ neue Bedeutungen
des politischen Systems werden seit der zweiten Hälf- zuwies, die für den politikwissenschaftlichen Diskus-
te der 1960er Jahre von der deutschen Politikwissen- sionsstand als nicht anschlussfähig beurteilt wurden.
schaft zwar zur Kenntnis genommen, ohne dass man Der ihm immer wieder unterstellte ›Zynismus‹, weil
jedoch bislang den Ehrgeiz besessen hat, sie theore- er den Menschen der gesellschaftlichen Umwelt der
tisch und konzeptionell weiterzuentwickeln (Czer- Politik zugerechnet hat, hat ebenfalls zu (nicht nur in
wick 2011). Während die einen in diesen Theorien der Politikwissenschaft zu beobachtenden) Abwehr-
eher eine Sackgasse politikwissenschaftlichen Den- reaktionen geführt. Es wurde befürchtet, dass mit
kens vermuteten und ihren Erkenntniswert für die dem Ausschluss der Menschen aus der politischen
Politikwissenschaft verneinten, haben andere in den Theorie Fragen nach persönlicher Verantwortung
politischen Systemtheorien Möglichkeiten für poli- und Schuld nicht mehr gestellt werden können. Auch
tikwissenschaftliche Innovationen gesehen, ohne die in seiner Demokratietheorie verkündete Absage
diese jedoch zu nutzen. So blieb es dem Soziologen an das die Politikwissenschaft leitende Prinzip der
Niklas Luhmann vorbehalten, das politikwissen- Volkssouveränität oder die Zurechnung der Parla-
schaftlich relevante Potential systemtheoretischen mente zum politischen Subsystem ›Verwaltung‹ wa-
Denkens im Rahmen seiner Theorie der Gesellschaft ren für viele Politikwissenschaftler nicht nachvoll-
auch für die Politikwissenschaft und die politische ziehbar. Insofern gab es durchaus diskussionswürdi-
Theorie zu erschließen und weiterzuentwickeln. ge Vorbehalte gegen Luhmanns Theorie der Politik.
Allerdings erging es ihm zunächst wie den politi- Es wäre deshalb zu einfach, der Politikwissenschaft
schen Systemtheoretikern David Easton, Gabriel Al- einseitig die ›Schuld‹ zuzuweisen, dass man ihm
mond oder Karl W. Deutsch, an deren Arbeiten er nicht von Anfang an die gebührende Aufmerksam-
sich zunächst, wenn auch auf eher vordergründige keit gewidmet hat, die er aus heutiger Sicht zweifellos
Weise, orientiert hat. So wurden auch seine Beiträge verdient gehabt hätte. Seine gelegentlich gegenüber
von der Politikwissenschaft entweder, von wenigen der Politikwissenschaft geäußerten ironisch-distan-
Ausnahmen abgesehen, nur sehr selektiv rezipiert zierten bis provozierenden Bemerkungen haben si-
oder einfach ignoriert. Es wurden außerdem nur sol- cherlich ebenso dazu beigetragen, einer inhaltlichen
che Arbeiten beachtet, die einen unmittelbaren poli- Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten auszuwei-
tikwissenschaftlichen Bezug hatten, während seine chen, wie seine nicht selten zu beobachtende souve-
darüber hinausgehenden weit ausgreifenden system- räne Ignoranz des jeweiligen politikwissenschaftli-
theoretischen Überlegungen ausgeblendet wurden. chen Forschungsstandes (vgl. z. B. die Hinweise von
Seine soziologischen, verwaltungswissenschaftli- Hellmann 2005, 44–45; Czerwick 2008, passim).
chen, wirtschaftswissenschaftlichen oder rechtswis- Allerdings kann man seit der Veröffentlichung
senschaftlichen Arbeiten wurden ebenso wenig von Politische Soziologie (2010) wissen, dass Luh-
diskutiert wie seine methodischen Überlegungen mann wesentlich mehr aus politikwissenschaftlichen
zum Funktionalismus bzw. Äquivalenzfunktionalis- Erkenntnissen schöpfte, als er bereit war, durch ein-
mus (als Ausnahme vgl. Schmid 1974, 108–144). schlägige Verweise zuzugeben. Aber auch das hat
Stattdessen wurde eine Art ›Rosinenpickerei‹ betrie- nicht verhindert, dass ihm gelegentlich zu simplifi-
ben. Man verwies auf seine Arbeiten, wenn sie sich zierende Aussagen unterliefen, die es seinen politik-
gerade als zitierfähig anboten. Ein Indiz für die viele wissenschaftlichen Kritikern einfach machten, ihn
Jahre lang unbefriedigende politikwissenschaftliche abzuqualifizieren (Vilmar 1973, 44–52). Da sich
Luhmann-Rezeption ist nicht zuletzt, dass es nur we- Luhmann auch nur selten bemüßigt fühlte, auf die
nige politikwissenschaftliche Monographien (Bar- von politikwissenschaftlicher Seite vorgebrachten
ben 1996; Lange 2003; Czerwick 2008) über seine Einwände einzugehen, weil sie vielfach nicht den
politikwissenschaftlichen Publikationen gibt. Kern seiner Argumentation berührten, wurde ihm
Für die viele Jahre andauernde politikwissen- außerdem Arroganz gegenüber der Politikwissen-
schaftliche Distanz gegenüber Luhmann lassen sich schaft unterstellt. In gewisser Weise lag somit eine Art
mehrere Gründe nennen (Hein 2011), die sich im spiegelbildliches Verhalten vor. Luhmann erwies der
Lauf der Zeit in ihrem jeweiligen Stellenwert verän- Politikwissenschaft nicht die Referenz, die sie glaub-
Politikwissenschaft 385

te, von ihm erwarten zu können, wenn er sich auf ihr giert. Dem widersprach die damals noch vorherr-
Terrain begab, während man in der Politikwissen- schende Doktrin der Trennung bzw. Unterscheidung
schaft auf seine Arbeiten häufig mit Indifferenz oder von Staat und Gesellschaft, wonach der Staat entwe-
pauschaler Abwehr reagierte. der als Ordnungsfaktor einer tendenziell heteroge-
nen (›pluralistischen‹) Gesellschaft übergeordnet
war oder als Agentur der herrschenden (ökonomi-
Entwicklungslinien der schen) Klasse begriffen wurde. Vielfach wurde Luh-
politikwissenschaftlichen Luhmann- mann mehr oder weniger verschlüsselt ein techno-
Rezeption kratisch-undemokratisches Politikverständnis vor-
gehalten, das darauf gerichtet war, die bestehenden
Die politikwissenschaftliche Rezeption Luhmanns politischen Herrschaftsverhältnisse zu rechtfertigen.
hat im Verlauf der Jahrzehnte verschiedene Phasen Seit Mitte der 1970er Jahre begann sich die poli-
durchlaufen. Sie war wesentlich davon abhängig, ob tikwissenschaftliche Rezeption Luhmanns langsam
seine Publikationen in den jeweiligen politikwissen- zu ändern, ohne dass man schon von einer intensiven
schaftlichen Diskurs ›passten‹ und in welcher Weise politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
sie den politischen Zeitgeist, der nicht ohne Einfluss seiner Theorie sprechen könnte. Aber einzelne seiner
auf das politikwissenschaftliche Selbstverständnis Arbeiten wurden jetzt intensiver, wenn auch weiter-
war (und ist), widerspiegelten. Folgt man einer gro- hin sehr kritisch, wahrgenommen. Gründe für die
ben Zeiteinteilung, so herrschte von Mitte der 1960er nunmehr etwas weniger voreingenommene Ausei-
bis zur Mitte der 1970er Jahre neben Ignoranz eine nandersetzung mit Luhmann sind die deutliche Zu-
große Distanz und Abwehr gegenüber Luhmanns nahme politikwissenschaftlicher Lehrstühle, die eng
Arbeiten vor. Nur gelegentlich wurde die Originalität damit verbundene inhaltliche Ausdifferenzierung
seiner Arbeiten anerkannt. In der Politikwissenschaft der Disziplin und der rapide um sich greifende Be-
dominierten grundlegende politische und inhaltli- deutungsverlust neomarxistischer und systemkriti-
che Vorbehalte sowohl gegen politische Systemtheo- scher Doktrinen, deren Potential zur Beschreibung
rien im Allgemeinen als auch gegenüber Luhmanns und Erklärung politischer Phänomene sich erschöpft
systemtheoretischer Variante im Besonderen. Sie hatte. Nach wie vor wurde Luhmann aber seine Wei-
wurden als dem (damaligen) politikwissenschaftli- gerung vorgehalten, die »Bedeutung der objektiven
chen Zeitgeist widersprechend empfunden, der sich, Differenz von Kapital und Arbeit« sowie »Klassenbe-
pauschal formuliert, herrschafts- und kapitalismus- wußtsein als Ausdruck von Produktionsverhältnis-
kritisch gab. Die systemtheoretische Betonung der sen zu verstehen« (Sigrist 1989, 846). Das war vom
Systemreproduktion und Systemerhaltung wurde Blickwinkel einer systemkritischen Position gesehen
mit einer Stabilisierung des kapitalistischen Systems gewiss nicht ganz falsch, aber, so kann auch gefragt
und der ihr dienenden Politik gleichgesetzt. Den werden, warum sollte er sich eine solche Perspektive
herrschaftskonformen Charakter seines Ansatzes er- zu eigen machen?
blickte man unter anderem darin, dass mit Luh- Mit dem Abflauen systemkritischer Politik- und
manns zentraler gesellschaftlicher Funktion, der Gesellschaftskonzeptionen stießen Luhmanns Arbei-
Komplexitätsreduktion, ausnahmslos jede politische ten erneut in ein theoretisches Vakuum, was für die
Maßnahme gerechtfertigt schien, sei dies der Krieg in Politikwissenschaft eine erhebliche Herausforderung
Vietnam, die Ausbeutung der sog. Dritten durch die bedeutete (Beyme 1991, 251). So haben Volker Ron-
Erste Welt oder die ›Restauration‹ des kapitalisti- ge und Ulrich Weihe (1976) seine Äußerungen zur
schen Systems in Deutschland. Außerdem wurde kri- (Ir-)Relevanz von politischen Herrschaftsfragen in-
tisiert, dass eine Theorie, die gesellschaftliche Kon- tensiv kritisiert. Seinem Buch Legitimation durch
flikte als Ausdruck nicht aufeinander abgestimmter Verfahren (1969) wurden die Legitimationsprobleme
Funktionslogiken gesellschaftlicher Subsysteme und im Spätkapitalismus (Habermas 1973) entgegenge-
nicht als Ausdruck von Klassenkonflikten interpre- halten und mit den Anstrengungen des kapitalisti-
tierte, den Kern des Politischen und der politischen schen Staates kontrastiert, einerseits die widerstrei-
Auseinandersetzungen verfehlen würde. tenden ökonomischen Interessen ausgleichen und
Inhaltliche Vorbehalte gab es daneben auch ge- andererseits Massenloyalität sicherstellen zu müssen
genüber der gesellschaftlichen Positionierung des (Hegselmann 1976, 42–43). Für die Politikwissen-
politischen Systems, das bei ihm nur als ein System schaft wichtig wurde zudem das Buch Politische
neben anderen gesellschaftlichen Subsystemen fun- Theorie im Wohlfahrtsstaat (1981/2011), welches als
386 Rezeption

systemtheoretische Variante der sog. ›Regierbarkeits- richteten Arbeiten von politikwissenschaftlicher Sei-
debatte‹ und als theoretischer Vorgriff des ›New Pu- te endgültig ernstgenommen, auch wenn die Reak-
blic Management‹ gelesen werden kann. Es nahm, tionen bisher nur wenig Wirkungen erreicht haben.
wie zum Beispiel das Kapitel über »Politik als selbst- Schon deshalb sollte sich die zukünftige politikwis-
referentielles System« (ebd., 33–41) verdeutlicht, vie- senschaftliche Auseinandersetzung mit Luhmann
le Überlegungen vorweg, die später mit der Veröf- nicht darauf beschränken, Einzelaspekte seiner poli-
fentlichung von Soziale Systeme (1984) als system- tischen Theorie zu bearbeiten, sondern vielmehr
theoretischer Wendepunkt charakterisiert worden muss gewagt werden, eine Gesamtdarstellung seiner
sind. politischen Theorie anzugehen (vgl. Lange 2003).
Spätestens aber mit diesen beiden Büchern ließen Darüber hinaus ist es unverzichtbar, seine politische
sich Luhmanns Arbeiten nicht länger ignorieren, Theorie mit anderen politischen Theorien zu verglei-
ohne sich der Gefahr auszusetzen, auch für die Poli- chen, um sowohl ihre Grenzen als auch ihre weiter-
tikwissenschaft relevante theoretische Entwicklun- führenden Möglichkeiten auszuloten.
gen zu verschlafen. Immerhin wurde Luhmann Mitte
der 1980er Jahre bei einer Befragung der politikwis-
senschaftlichen Fachvertreter für den Bereich der Schwerpunkte der politikwissenschaftlichen
»Politischen Theorie« nach Klaus von Beyme, aber Luhmann-Rezeption
noch vor Jürgen Habermas, als zweitwichtigster
Theoretiker genannt (Honolka 1986, 50). Zwar gab Politische Theorie: Luhmanns systemtheoretische Ar-
es immer noch Politikwissenschaftler, die von einer beiten zur Politik und zur politischen Theorie wur-
politischen Theorie ohne Reflexion seiner system- den, wie gezeigt, von der Politikwissenschaft zu-
theoretischen Arbeiten träumten, doch gerieten sie nächst entweder ignoriert oder scharf kritisiert.
in die Defensive und wurden ihrerseits ignoriert. ›Mittlere‹ Positionen waren eher die Ausnahme und
Luhmann beanspruchte aber auch deshalb mehr hatten es schwer, Gehör zu finden. Sein zentraler
politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit, weil er Aufsatz zur »Soziologie des politischen Systems«
sich immer stärker mit aktuellen politischen Proble- (SA1, 154–177) fand weder Gnade bei Vertretern ei-
men auseinandersetzte und damit nolens volens der ner ›emanzipatorischen‹ Politikwissenschaft noch
Politikwissenschaft ihre Deutungshoheit über politi- bei den Verfechtern einer ›traditionalistischen‹ Poli-
sche Phänomene streitig machte. Da es jetzt auch tikwissenschaft. Ersteren war der Aufsatz zu wenig
nicht mehr opportun war, seine Arbeiten mit politi- herrschaftskritisch, während Letztere sich nicht mit
schen Argumenten wie noch in den 1960er und der begrifflichen Ersetzung des Staates durch das po-
1970er Jahren abzuwerten, musste man sich mit ih- litische System abfinden wollten. Sie vermuteten mit
nen inhaltlich befassen. Insofern hatte sich jetzt das Recht, dass ein solcher Austausch nicht einfach nur
Verhältnis der Politikwissenschaft zu Luhmann er- eine terminologische Änderung beinhalten würde,
heblich verändert, auch wenn man sich von politik- sondern dass mit ihm zugleich eine grundlegende
wissenschaftlicher Seite noch immer schwertat, sich konzeptionelle Umorientierung politikwissenschaft-
frei von Vorurteilen mit seinen Publikationen ausei- lichen Denkens und Forschens verbunden sein wür-
nanderzusetzen. Doch begann sich nun immer mehr de. Luhmanns Aufsatz über »Politische Planung«
die Einsicht durchzusetzen, dass seine Theorie der (1966), mit dem er in die Planungsdiskussion ein-
Politik »für die Politikwissenschaft in den nächsten griff, wurde zwar häufiger zitiert, aber inhaltlich
Jahren unverzichtbar« (Greven 1998, 30) sein werde. nicht weiter ausgeführt, vermutlich weil vielen sein
Entsprechend wurden einzelne seiner Arbeiten da- in die Diskussion eingeführter Planungsbegriff
durch gewürdigt, dass sie in Publikationen wie fremd blieb. Auf vorübergehend mehr Resonanz –
Hauptwerke der politischen Theorie (Stammen u. a. dank einer kritischen Intervention von Frieder Na-
1997) oder Politisches Denken im 20. Jahrhundert schold (1968) – stieß er mit seinen Überlegungen zur
(Münkler 1997) diskutiert bzw. aufgenommen wur- Demokratie, die jedoch in der Politikwissenschaft
den. Spätestens seit der posthumen Veröffentlichung auf strikte Ablehnung stießen. Der Grund dafür war,
von Die Politik der Gesellschaft (2000), die eine Reihe dass er sich erneut gegen den vorherrschenden Zeit-
von politikwissenschaftlichen Stellungnahmen pro- geist wandte, indem er einer zu weit gehenden Aus-
voziert hat (Greven 2001; Krumm/Noetzel 2001; weitung von Partizipation und Demokratisierung
Hellmann/Schmalz-Bruns 2002; Hellmann u. a. widersprach. Seine diesbezüglichen Befürchtungen,
2003), werden seine zumindest auf die Politik ausge- dass durch ein Mehr an Partizipation die demokrati-
Politikwissenschaft 387

schen Erwartungen nur enttäuscht werden könnten nen Eingang in die politikwissenschaftliche Ent-
und sich zudem eine weitere Bürokratisierung breit scheidungsforschung gefunden haben. Dagegen
machen würde (Czerwick 2008), wurden als die allzu stößt sein Buch über Legitimation durch Verfahren
pessimistischen Prognosen eines konservativen So- (1969) nach wie vor auf ein großes politikwissen-
ziologen eingestuft. Erst mit Politische Theorie im schaftliches Interesse, obwohl hierbei eher der Titel
Wohlfahrtsstaat (1981) begannen sich die politikwis- des Buches als sein Inhalt Beachtung findet. Ebenfalls
senschaftlichen Vorbehalte zu verringern. Das Buch auf kritische politikwissenschaftliche Aufmerksam-
wurde bei insgesamt eher verhaltener Resonanz dif- keit stießen seine Ausführungen über soziale Bewe-
ferenziert-kritisch aufgenommen (Greven 1982), gungen, die er mit den Begriffen ›Angst‹ und ›Risiko‹
obwohl (oder gerade weil) es der Theorie der Politik assoziierte. Im Gegensatz dazu wurden und werden
neue Wege zu eröffnen schien. Wie wichtig aber die- sie in der Politikwissenschaft als eine notwendige de-
ses Buch noch heute ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, mokratische Ergänzung zu Parteien und Verbänden
dass es, mit einem Nachwort von Michael Hein ver- insbesondere für die Inputseite des politischen Sys-
sehen, 2011 neu aufgelegt wurde und als einzige (!) tems wahrgenommen.
seiner politikwissenschaftlichen Publikationen in die Politik und Verwaltung: Luhmanns Arbeiten über
Schlüsselwerke der Politikwissenschaft (Kailitz 2007) öffentliche Verwaltungen sind primär verwaltungs-
von immerhin 129 ›Schlüsselwerken‹ aufgenommen soziologisch ausgerichtet (Dammann u. a. 1994).
worden ist. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum sie bis
Trotz dieser allmählichen Kanonisierung tut sich heute von der politikwissenschaftlichen Verwal-
die Politikwissenschaft bis heute schwer mit Luh- tungsforschung nur selten wahrgenommen werden.
manns Theorie des politischen Systems. Das liegt si- Übersehen wird deshalb auch, dass seine Ausführun-
cherlich auch daran, dass er dem politischen System gen über das Verhältnis von Politik und Verwaltung
zwar die Funktion allgemeinverbindlichen Entschei- und seine beiden Kreislaufmodelle der Macht für die
dens zuweist, ohne daraus jedoch, wie für politische politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung neue
Theorien sonst allgemein üblich, politische Über- Forschungsimpulse über die Stellung der Verwaltung
und Unterordnungsverhältnisse abzuleiten. Das po- im politischen System eröffnen könnten. Damit wäre
litische System ›herrscht‹ also, wenn überhaupt, nur es möglich, die immer wieder diskutierte Frage, wem
über die Politik, nicht aber über die Wirtschaft, die von beiden, der Politik oder der Verwaltung, der Vor-
Wissenschaft oder die Religion. Eine Kontroverse rang in der politischen Praxis gebührt, endlich ad
entzündete sich auch an der Frage nach den Bedin- acta zu legen.
gungen und Möglichkeiten von politischer Steue- Politische Kommunikationsforschung: Die politi-
rung (vgl. Lange/Braun 2000). Während Luhmann sche Kommunikation ist mittlerweile eines der
die Möglichkeiten der politischen Steuerung aus sys- Hauptarbeitsgebiete der Politikwissenschaft. Hier
temtheoretischer Perspektive verneint, meint Fritz stoßen Luhmanns zahlreiche Arbeiten über Kommu-
W. Scharpf (1989) mit Blick auf empirische Belege, nikation und Massenmedien auf eine vergleichsweise
durchaus Erfolge bei der politischen Steuerung große Aufmerksamkeit. Vor allem sein Aufsatz über
wahrnehmen zu können. Letztlich krankte aber diese »Öffentliche Meinung« (1970) mit den darin vorge-
Debatte daran, dass beide Seiten jeweils von unter- nommenen Unterscheidungen zwischen Darstel-
schiedlichen theoretischen Prämissen und nicht lungspolitik und Entscheidungspolitik, zwischen
komplementären Verständnissen von ›Steuerung‹ Themen und Meinungen sowie seine Ausführungen
ausgegangen sind. über die Herstellung von Aufmerksamkeit für politi-
Politische Soziologie: Die Politische Soziologie ist sche Themen werden immer wieder aufgegriffen. Al-
eine weitere Disziplin, in der Luhmanns Publikatio- lerdings wurde sein von allen demokratietheoreti-
nen auf relativ viel Aufmerksamkeit gestoßen sind. schen Implikationen befreiter Begriff von öffentli-
Dies ist nicht weiter verwunderlich, hat man es doch cher Meinung auch sehr kritisch diskutiert (Göbel
dabei mit einem äußerst heterogenen Gegenstandbe- 2000, 157–161).
reich zu tun. Aber auch für die Politische Soziologie Internationale Politik: In diesem Gegenstandsbe-
gilt, dass Luhmanns Arbeiten, wie zum Beispiel über reich ist man derzeit intensiv darum bemüht, mit Re-
Parteien oder politische Macht, zwar immer wieder kurs auf Luhmanns Arbeiten neue Forschungsgebie-
zitiert, nur selten aber systematisch rezipiert wurden. te zu erschließen (Albert/Hilkermeier 2004). Eine
Besonders schwerwiegend ist, dass seine entschei- besondere Bedeutung wird dabei einerseits dem Be-
dungstheoretischen Arbeiten bislang so gut wie kei- griff der Weltgesellschaft zugemessen (Czerwick
388 Rezeption

2011, 172–186), über die Luhmann das erste Mal im Politikwissenschaft der größte Nutzen nicht aus der
Jahr 1971 publiziert hat. Damals stieß sein Aufsatz einfachen Übernahme oder Anwendung seiner Ar-
zunächst nur bei Ernst-Otto Czempiel (1971) auf beiten, sondern aus ihrer kritischen Rezeption und
größere Aufmerksamkeit und blieb dann viele Jahre Rekonstruktion, welche die Inkonsistenzen und
weitgehend unbeachtet. Andererseits wird aber auch ›blinden Flecke‹ seiner politischen Theorie offen le-
die Frage diskutiert, welche Rolle die Staaten in der gen, ziehen lässt. Insofern darf sich die Politikwissen-
Weltgesellschaft angesichts von Globalisierungspro- schaft auch nicht von Versuchen irritieren lassen, die
zessen überhaupt noch spielen können (vgl. Neves/ darauf abheben, seine Theorie gegenüber politikwis-
Voigt 2007). In beiden Themengebieten – der Welt- senschaftlicher Kritik zu immunisieren (Göbel
gesellschaft und ihren Staaten – darf man Zweifel he- 2000). Das hat sie gar nicht nötig. Der für die Politik-
gen, ob die dabei entwickelten politikwissenschaftli- wissenschaft bleibende Ertrag von Luhmanns politi-
chen Überlegungen den systemtheoretischen Inten- scher Theorie besteht darin, dass mit ihr nicht nur
tionen Luhmanns immer gerecht werden (vgl. GG, neue Perspektiven auf alte politische Probleme einge-
145–171). So hat zum Beispiel Czempiel (1993, nommen werden können, sondern auch der Blick auf
105–132) Luhmanns Begriff der Weltgesellschaft den Probleme frei wird, die zuvor gar nicht oder nicht an-
Begriff der ›Gesellschaftswelt‹ entgegengesetzt, wo- gemessen wahrgenommen worden sind. Auch des-
bei er an die von Luhmann verworfene Unterschei- halb ist Luhmann aus der Politikwissenschaft nicht
dung zwischen Staat(en) und Gesellschaft(en) an- mehr wegzudenken.
knüpft, die im Bereich der Weltpolitik nach wie vor
eine große analytische Bedeutung hat.
Literatur
Albert, Mathias/Hilkermeier, Lena (Hg.): Observing Inter-
Luhmann und die deutsche national Relations. Niklas Luhmann and World Politics.
Politikwissenschaft – ein vorläufiges Fazit London/New York 2004.
Barben, Daniel: Theorietechnik und Politik bei Niklas Luh-
Niklas Luhmann stellt für die Politikwissenschaft so- mann. Wiesbaden 1996.
wohl ein Ärgernis als auch eine Herausforderung dar. Beyme, Klaus von: Theorie der Politik im 20. Jahrhundert.
Das Ärgernis besteht darin, dass der Soziologe Luh- Frankfurt a. M. 1991.
Czempiel, Ernst-Otto: »Soziologische und analytische
mann der Politikwissenschaft kaum verklausuliert
Aspekte der Weltgesellschaft«. In: Josef Mück (Hg.): In-
die Existenzberechtigung als eigenständige wissen- ternationale Politik. Wiesbaden 1971, 98–115.
schaftliche Disziplin abspricht (GG 758, Anm. 311). –: Weltpolitik im Umbruch. München 21993.
Die Herausforderung liegt darin, dass die Politikwis- Czerwick, Edwin: Systemtheorie der Demokratie. Wiesba-
senschaft gar nicht anders kann, als sich mit seinen den 2008.
–: Politik als System. München 2011.
Arbeiten intensiv zu befassen, will sie nicht von den
Dammann, Klaus/Grunow, Dieter/Japp, Klaus P. (Hg.): Die
Diskussionen über politische Theorie abgehängt Verwaltung des politischen Systems. Opladen 1994.
werden. Dabei bleiben aber die Meinungen über die Göbel, Andreas: »Politikwissenschaft und Gesellschafts-
politikwissenschaftliche Relevanz seiner Arbeiten ge- theorie«. In: Henk De Berg/Johannes F. K. Schmidt
teilt. Während die einen darin wichtige Anknüp- (Hg.): Rezeption und Reflexion. Frankfurt a. M. 2000,
fungspunkte für die Weiterentwicklung der politi- 134–174.
Greven, Michael Th.: »Vom Wohlfahrtsstaat zum autoritä-
schen Theorie erblicken, erachten andere seine ren Staat der ›reinen Politik‹«. In: Politische Vierteljah-
Systemtheorie als nur »in der Heuristik« hilfreich, resschrift 23. Jg., 2 (1982), 143–152.
während sie für die Beantwortung genuin politikwis- –: »Endgültige Abschiede?«. In: Ders./Herfried Münkler/
senschaftlicher Fragen kaum weiterhelfen würde, »so Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Bürgersinn und Kritik. Ba-
dass wir hier wieder auf die herkömmliche politik- den-Baden 1998, 29–48.
–: »Luhmanns ›Politik‹ im Banne des Systemzwangs der
wissenschaftliche Forschung zurückverwiesen sind« Theorie«. In: Alex Demirovic (Hg.): Komplexität und
(Reese-Schäfer 2002, 115). Emanzipation. Münster 2001, 197–215.
Insbesondere das Konzept der Autopoiesis wird in Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapita-
der Politikwissenschaft zum Teil sehr kritisch beur- lismus. Frankfurt a. M. 1973.
teilt. Auch deshalb wird die Politikwissenschaft ein Hegselmann, Rainer: »Die Systemtheorie Luhmanns als
technokratischer Institutionalismus und administrative
ständiger kritischer Begleiter seiner Arbeiten zumin- Hilfswissenschaft«. In: Blätter für deutsche und interna-
dest für die nächsten Jahre bleiben. Verallgemei- tionale Politik 21. Jg., 1 (1976), 38–57.
nernd wird man sogar sagen müssen, dass sich für die Hein, Michael: »Systemtheorie und Politik(wissenschaft) –
Psychologie 389

Missverständnis oder produktive Herausforderung?« In:


Christina Gansel (Hg.): Systemtheorie in den Fachwis-
12. Psychologie
senschaften. Göttingen 2011, 53–77.
Hellmann, Kai-Uwe: »Spezifik und Autonomie des politi-
schen Systems«. In: Gunter Runkel/Günter Burkart Akademische Psychologie
(Hg.): Funktionssysteme der Gesellschaft. Wiesbaden
2005, 13–51. Bei der Rezeption Luhmanns in der Psychologie
– /Schmalz-Bruns, Rainer (Hg.): Theorie der Politik. muss zwischen der akademischen und der klinischen
Frankfurt a. M. 2002. Psychologie unterschieden werden. Soweit es um die
– /Fischer, Karsten/Bluhm, Harald (Hg.): Das System der
Politik. Wiesbaden 2003. akademische Psychologie geht, hat eine Rezeption
Honolka, Harro: »Reputation, Desintegration, theoretische Luhmanns bzw. seiner Version der Systemtheorie bis
Umorientierungen«. In: Klaus von Beyme (Hg.): Politik- heute nicht stattgefunden. Das sollte niemanden
wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Politi- wundern, denn es ist ja wenig wahrscheinlich, dass
sche Vierteljahresschrift. Sonderheft 17. Opladen 1986, eine relativ junge, seit ihren Anfängen um ihr Selbst-
41–61.
Kailitz, Steffen (Hg.): Schlüsselwerke der Politikwissen- verständnis und ihre akademische Anerkennung als
schaft. Wiesbaden 2007. Wissenschaft (im Sinne einer science) ringende Dis-
Krumm, Thomas/Noetzel, Thomas: »Exzentrische System- ziplin wie die Psychologie einen theoretischen Ansatz
theorie der Politik«. In: Politische Vierteljahresschrift attraktiv findet, der davon ausgeht, dass ihr Gegen-
42. Jg., 4 (2001), 709–718. stand prinzipiell keiner direkten, objektivierbaren
Lange, Stefan: Niklas Luhmanns Theorie der Politik. Wies-
baden 2003. Beobachtung zugänglich ist. In Bezug auf die luh-
– /Braun, Dietmar: Politische Steuerung zwischen System mannsche Systemtheorie kommt hinzu, dass sie
und Akteur. Opladen 2000. Wörter – um nicht zu sagen: Begriffe – verwendet,
Luhmann, Niklas: »Politische Planung«. In: Jahrbuch für die in der Psychologie ebenfalls gebraucht werden,
Sozialwissenschaft 17. Jg. (1966), 271–296. aber mit nahezu gegensätzlicher Bedeutung (exem-
–: »Öffentliche Meinung«. In: Politische Vierteljahres-
schrift 11. Jg., 1 (1970), 2–28.
plarisch in der Hinsicht: ›Person‹).
–: »Die Weltgesellschaft«. In: Archiv für Rechts- und Sozi- Diese Nicht-Rezeption bezieht sich, um Missver-
alphilosophie 57. Jg., 1 (1971), 1–35. ständnissen vorzubeugen, nicht generell auf Konzep-
–: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München 1981. te der Systemtheorie, der Selbstorganisation oder des
Münkler, Herfried (Hg.): Politisches Denken im 20. Jahr- Konstruktivismus, auf die auch Luhmann zurück-
hundert. München/Zürich 21997.
Naschold, Frieder: »Demokratie und Komplexität«. In: Po-
greift. All dies findet sich durchaus in der fachpsy-
litische Vierteljahresschrift 9. Jg., 4 (1968), 494–518. chologischen Literatur. Zu nennen sind hier die
Neves, Marcelo/Voigt, Rüdiger (Hg.): Die Staaten der Welt- Betrachtung der Psyche als selbstorganisiertes Sys-
gesellschaft. Baden-Baden 2007. tem (z. B. Kriz 1999; Schiepek 1991), die Betrachtung
Reese-Schäfer, Walter: »Parteien als politische Organisatio- des Menschen als Forscher, der Heuristiken entwi-
nen in Luhmanns Theorie des politischen Systems«. In:
ckelt und Hypothesen konstruiert (Kelly 1955), vor
Hellmann/Schmalz-Bruns 2002, 109–130.
Ronge, Volker/Weihe, Ulrich (Hg.): Politik ohne Herr- allem aber die ›genetische Epistemologie‹ Piagets, der
schaft? München 1976. die Entwicklung des Weltbildes beim Kind als Kon-
Scharpf, Fritz W.: Politische Steuerung und Politische Insti- struktionsprozess erklärt (z. B. Piaget 1970), sowie
tutionen. In: Politische Vierteljahresschrift 30. Jg., 1 der sogenannte ›soziale Konstruktionismus‹, der sich
(1989), 10–21.
mit den dialogisch, d. h. in der Kommunikation ent-
Schmid, Günther: Funktionsanalyse und politische Theo-
rie. Düsseldorf 1974. wickelten Mustern der Wirklichkeitskonstruktion
Sigrist, Christian: »Das gesellschaftliche Milieu der Luh- von Individuen beschäftigt (z. B. Gergen 2009).
mannschen Theorie«. In: Das Argument 178 (1989), Diese Arbeiten könnten im Prinzip als Schnittstel-
837–853. le zur luhmannschen Systemtheorie fungieren, wer-
Stammen, Theo/Riescher, Gisela/Hofmann, Wilhelm den aber nicht in diesem Sinne genutzt. Autoren, die
(Hg.): Hauptwerke der politischen Theorie. Stuttgart
1997. dies versuchen, sind in der Regel keine Psychologen,
Vilmar, Fritz: Strategien der Demokratisierung. Band 1: sondern Soziologen (z. B. Fuchs 2005) oder auch
Theorie der Praxis. Darmstadt/Neuwied 1973. Theologen (Kießling 2000) und Philosophen (Was-
Edwin Czerwick ser 2003), gelegentlich auch Psychosomatiker (Bök-
mann 2008), vor allem aber Psychiater, die in der
Tradition Batesons (Ruesch/Bateson 1951) Kommu-
nikation als die ›soziale Matrix der Psychiatrie‹ be-
trachten (Ciompi 2004; Schleiffer 2012; Simon 1988;
390 Rezeption

1995). Der gemeinsame Nenner aller Luhmann-Re- der Rezeption Luhmanns der Fall, aber die Beschäf-
zipienten und -Rezeptionen ist der folgende: Sie ge- tigung mit der luhmannschen Systemtheorie hat zu
hören nicht zum Mainstream der akademischen einer Klärung der Konzepte, vor allem zu einer kla-
Psychologie und sind meist auch in ihren eigenen reren Unterscheidung zwischen Familien und Orga-
Disziplinen eher randständig zu verorten. Wer sich in nisationen geführt. Hier neigen Berater, die in einer
der Psychologie (und in den meisten anderen hu- individuumbezogenen Therapiemethode ausgebil-
manwissenschaftlichen Fächern) auf Luhmann be- det wurden, schon aufgrund mangelnder konzeptu-
ruft, geht das Risiko ein, zu einem akademischen eller Alternativen dazu, Modelle der Kleinfamilie auf
Außenseiter zu werden. größere soziale Systeme hochzurechnen.
Bis zur Publikation von Soziale Systeme im Jahre
1984 blieb das Feld der Familientherapeuten vom
Klinische Psychologie luhmannschen Denken weitgehend unberührt. Das
änderte sich, als 1986 eine Konferenz mit Niklas Luh-
Etwas anders sieht die Situation im Bereich der klini- mann, Heinz von Foerster und Francisco J. Varela in
schen Psychologie aus. Denn dort, wo es nicht nur um Heidelberg nahezu alle Opinion-Leader im Feld der
Theorieentwicklung oder empirische Forschung deutschsprachigen systemischen Therapie mit diesen
geht, sondern um deren praktische Anwendung im drei Autoren konfrontierte (zur Dokumentation die-
Bereich von Therapie und Beratung, wird Luhmann ser Tagung vgl. Simon 1988). In der konkreten Aus-
nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern er er- einandersetzung erwies sich dort Luhmann als
freut sich einer gewissen Popularität. Aber auch für derjenige, von dem die größte Überzeugungskraft
die klinische Praxis muss gesagt werden, dass die ausging; vor allem, weil seine Konzepte bei der An-
Luhmann-Rezeption vorwiegend außerhalb der wendung auf therapeutische Fragestellungen am
Universitäten stattfindet und sich in erster Linie auf nützlichsten erschienen.
die Szene der sogenannten ›systemischen Therapie/ Von nun an wurde er häufiger in Familienthera-
Familientherapie‹ (z. B. Ludewig 2009) beschränkt. pie-Institute zu Workshops eingeladen, und er publi-
So gehört Luhmann in den deutschsprachigen syste- zierte einige Artikel zur Systemtheorie der Familie
mischen/familientherapeutischen Fachzeitschriften (SA5, 196–217 u. 218–228), die nicht aus Zufall in fa-
seit Erscheinen von Soziale Systeme (1984) zu den milientherapeutischen Zeitschriften erstveröffent-
meistzitierten Autoren (Reiter u. a. 1997). Allerdings licht wurden, denn sie wurden auf Bestellung
gilt dies nur für deutschsprachige Zeitschriften, im geschrieben. Damit war Luhmann zu einer festen
internationalen Diskurs spielt er keine wesentliche Größe im Theoriediskurs geworden.
Rolle (vgl. Simon 2000), und bei näherer Betrach- Ein Grund für Luhmanns Attraktivität dürfte ge-
tung zeigt sich, dass dieser häufigen Zitierung keines- wesen sein, dass er seine Aufmerksamkeit auf Sinn-
wegs eine tiefergehende Beschäftigung mit seinem systeme richtete. Und sowohl psychische Systeme als
Theorieansatz entspricht. auch Kommunikationssysteme prozessieren Sinn,
Die Indifferenz der akademischen Psychologie auf d. h. hier eröffnet sich ein Soziologie und Psychologie
der einen Seite, das Interesse von Klinikern auf der verbindendes Untersuchungsgebiet. Jenseits der in-
anderen Seite lässt sich unschwer dadurch erklären, haltlichen Berührungspunkte war Luhmann sicher
dass Luhmann seine Aufmerksamkeit auf Kommuni- aber auch als Reputationslieferant für die um wissen-
kationssysteme richtet; da Therapie und Beratung schaftliche Anerkennung ringende systemische The-
Kommunikationsformen sind, besteht rein pragma- rapieszene von Bedeutung.
tisch ein zentrales Interesse an der Logik von Kom- Seit Ende der 1980er Jahre war Luhmann dann
munikationsprozessen bzw. sozialen Systemen. Es auch als ständiger Gast bei familientherapeutischen
richtet sich zum einen auf die ›Klienten‹-Systeme, Kongressen anzutreffen. Er war in der Lage, ›aus dem
denen man als Therapeut oder Berater seine Dienst- Stand‹ und ohne Mühe die dort präsentierten thera-
leistungen anbieten will/soll (Paare, Familien, Orga- peutischen Strategien zu identifizieren, die vorwie-
nisationen), zum anderen auf die Organisationen, gend darin bestanden, innerfamiliäre Attributionen
denen man als Mitarbeiter angehört (Kliniken, Kran- zu irritieren, Umdeutungen und Neuinterpretatio-
kenstationen, Teams, Beratungsstellen etc.). Dass nen bei der Zuschreibung von Kausalität vorzuneh-
hier eine nicht-psychologische, auf die Muster der men etc. Seine theoretischen Ausführungen und
Kommunikation (vor allem der Interaktion) gerich- Kommentare wurden zwar nicht immer verstanden,
tete Sichtweise angewandt wird, war zwar lange vor aber man war froh, einen respektierlichen Gewährs-
Psychologie 391

mann zu haben, der die eigene therapeutische Praxis kens handelnder Individuen erklären. Das gilt auch
theoretisch legitimierte. Praktische Folgen für die für die konstruktivistische Psychologie und Vertreter
konkrete therapeutische Arbeit mit Patienten und von Selbstorganisationsmodellen.
Familien hatte dies allerdings wohl kaum. Ein besonders gutes Beispiel liefert die Schule der
Seine Wirkung auf die Theorieentwicklung ist sogenannten ›sozialen Konstruktionisten‹, die sich
ambivalent zu beurteilen. Zwei Diskussionsstränge schon durch die leicht abgewandelte Selbstbezeich-
sind dabei zu unterscheiden: Was systemische Thera- nung von den ›radikalen Konstruktivisten‹ zu unter-
peuten und Luhmann miteinander verband, war das scheiden sucht (Gergen 2009; Anderson 1999). Sie
Modell der Autopoiese. Die Familie als autopoieti- untersucht die strukturierende Wirkung von ›Dialo-
sches System zu betrachten, gehörte bereits seit Jah- gen‹ und ›Konversationen‹, d. h. den Prozess des ›ge-
ren zum etablierten Theorierepertoire, da die Kon- genseitigen Wendens und Drehens‹ in der Interakti-
zepte Varelas und Maturanas (Maturana 1982) große on, in dessen Verlauf Geschichten (›narrative Mus-
Resonanz gefunden hatten (vgl. Levold 1984). Hier ter‹) erlebt, geschrieben, ausgehandelt werden, die
ergab sich eine Schnittstelle zur luhmannschen Kon- nicht nur das individuelle Weltbild prägen – und da-
zeptualisierung sozialer Systeme. Schwieriger wurde mit die psychische Struktur des Individuums –, son-
es bei ihrer Definition als Kommunikationssysteme. dern auch die sozialen Spielregeln (vgl. auch White/
Problematisch für Psychologen war, dass psychischen Epston 1990).
Systemen der Status von Umwelten sozialer Systeme ›Soziale Konstruktionisten‹ verwenden keine Mo-
zugewiesen wurde. In der klinischen Praxis wurden delle, die über die Face-to-Face-Kommunikation hi-
Kommunikationsmuster schon seit Mitte der 1950er nausgehen, d. h. sie kennen keine Organisationstheo-
Jahre, d. h. seit den Anfängen familiendiagnostischer rie und keine Gesellschaftstheorie. Diese Begrenzung
und -therapeutischer Ansätze, als Objekt der Thera- ist auf ihre Entstehung als psychologische Theorie
pie – und damit als zu verändernd – definiert. Aber zurückzuführen, denn größere soziale Systeme, die
dies konnte man in der Zeit vor Luhmann tun, ohne Fernkommunikation erfordern und voraussetzen,
damit die Psyche aus der Familie zu ›entfernen‹. liegen außerhalb des Beobachtungs- und Erfah-
Letztlich wurden bis dahin familiäre ›Spiele‹ als das rungsfeldes. In der therapeutischen oder berateri-
Ergebnis der Interaktion handelnder Subjekte be- schen Arbeit mit einzelnen Patienten oder Klienten
trachtet, und die Handlungen dieser Akteure wurden bzw. mit Patienten- oder Klientensystemen, die nicht
durch je individuelle, psychische Prozesse erklärt. über Familien- oder Teamgröße hinausgehen, fällt
Der Schritt, Kommunikationen als Elemente so- diese Beschränkung nicht weiter auf. Ganz anders
zialer Systeme zu sehen und die psychischen Systeme sind die konstruktionistischen Ansätze bei der An-
ihrer Mitglieder in die Umwelt zu verbannen, wider- wendung in Organisationen (etwa in der Supervisi-
sprach dem Selbstverständnis und der professionel- on, von der Organisationsberatung ganz zu schwei-
len Tradition von Psychologen und individuumzen- gen) zu beurteilen. Denn da zeigt sich, dass sie ohne
triert arbeitenden Psychotherapeuten – dies beson- eine eigenständige Theorie sozialer Systeme, die de-
ders, wenn sie sich als Vertreter einer ›humanisti- ren Eigenlogik erfasst, zwangsläufig in der Psycholo-
schen Psychologie‹ sahen, die ›personenorientiert‹ gisierung sozialer Probleme stecken bleiben (was
arbeitet. Denn ›Person‹ ist in diesen Modellen nicht allerdings aus psychologischer Sicht nicht als Pro-
als Adresse der Kommunikation zu verstehen, son- blem, sondern als Lösung erscheint).
dern als Synonym für ein psychisches System, das Dass Psychiater sich mit der luhmannschen Sozio-
durch eine bestimmte ›Persönlichkeit‹ charakteri- logie beschäftigt haben, dürfte seine Wurzeln in einer
siert werden kann. antipsychiatrischen Nach-68er-Tradition haben. Die
Antipsychiatrie-Bewegung interessierte sich für die
Frage nach dem Verhältnis von Wahnsinn und Ge-
Bilanz sellschaft und landete zunächst bei sehr abstrakten
politisch-ökonomischen Erklärungsmodellen, deren
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eines pragmatische Nützlichkeit für die alltägliche Arbeit
der konzeptuellen Haupthindernisse einer umfas- mit Patienten gegen Null tendierte. Hier ermöglichte
senderen Rezeption Luhmanns in der Psychologie Luhmann mit seiner auf Kommunikation als Basis-
generell darin bestehen dürfte, dass Psychologen fast element sozialer Systeme setzenden Theorie den Brü-
immer soziale Systeme, ihre Spielregeln und Kom- ckenschlag zwischen der Gesellschaft bzw. jeweils
munikationsmuster, als Resultat des Zusammenwir- aktuellen und konkreten sozio-ökonomischen
392 Rezeption

Strukturen einerseits und der Kommunikations- Literatur


struktur der Familie als Ort der Sozialisation des In-
Anderson, Harlene: Das therapeutische Gespräch. Der
dividuums wie auch der Produktion – und Therapie gleichberechtigte Dialog als Mittel der Veränderung.
– abweichenden Verhaltens andererseits (Ruf 2005). Stuttgart 1999.
Dass sich an der nur sehr begrenzten Rezeption Bökmann, Martin: Systemtheoretische Grundlagen der
Luhmanns in der Psychologie in absehbarer Zeit viel Psychosomatik und Psychotherapie. Heidelberg 2008.
ändern wird, scheint heute unwahrscheinlich. Denn Ciompi, Luc: »Ein blinder Fleck bei Niklas Luhmann? So-
ziale Wirkungen von Emotionen aus der Sicht der frak-
gegenwärtig ist eher eine Orientierung der Psycholo- talen Affektlogik«. In: Soziale Systeme 10. Jg. (2004),
gie an der Physiologie, speziell der Hirnforschung, 21–49.
festzustellen. Die Suggestivkraft bunter Bilder, die Fuchs, Peter: Die Psyche: Studien zur Innenwelt der Außen-
sich – in größerer oder geringerer Korrelation zu psy- welt der Innenwelt. Weilerswist 2005.
chischen Prozessen – im Computer-Tomogramm Gergen, Kenneth: Einführung in den sozialen Konstruktio-
nismus. Heidelberg 2009.
verändern, scheint einfach zu groß.
Kelly, George A.: The Psychology Of Personal Constructs.
Aber gerade hier läge eine große Chance für die 2 Bde. New York 1955.
Anwendung der luhmannschen Theorie-Architek- Kießling, Klaus: »Selbstorganisation – Multidisziplinäre
tur. Denn die Art und Weise, wie über die Wechsel- Beiträge zur Konturierung einer postcartesianischen
beziehungen zwischen biologischen und psychischen Psychologie«. In: Systeme. Interdisziplinäre Zeitschrift
für systemtheoretisch orientierte Forschung und Praxis
Prozessen (in der Öffentlichkeit, aber zum Teil auch
in den Humanwissenschaften 14. Jg. (2000), 99–131.
in fachlichen Debatten) diskutiert wird, ist von be- Kriz, Jürgen: Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psy-
merkenswerter logischer Inkonsistenz und argumen- chologen und Mediziner. Eine Einführung. Wien 1999.
tativer Schlichtheit gekennzeichnet. Hier könnte eine Levold, Tom: »Einige Gedanken über den Nutzen einer
saubere Buchführung, wie sie von Luhmann vorge- Theorie autopoietischer Systeme für eine klinische Epis-
schlagen und in seinen Arbeiten vorexerziert worden temologie«. In: Zeitschrift für systemische Therapie 2. Jg.
(1984), 173–189.
ist, zu einer Weiterentwicklung der Psychologie als Ludewig, Kurt: Einführung in die theoretischen Grundla-
einer Disziplin zwischen Soziologie und Biologie gen der systemischen Therapie. Heidelberg 2009.
führen. Psychische Systeme entwickeln sich, wenn Luhmann, Niklas: »Sozialsystem Familie«. In: SA5,
menschliche Organismen an Kommunikations-Sys- 196–217.
teme (= überlebenswichtige Umwelten) gekoppelt –: »Glück und Unglück in der Kommunikation in Familien:
Zur Genese der Pathologien«. In: SA5, 218–227.
werden (wie dies mit der Geburt geschieht). Die sich Maturana, Humberto R.: Erkennen: Die Organisation und
im Laufe der Interaktionsgeschichte selbstorganisiert Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten
bildenden psychischen Strukturen und Prozesse stel- zur biologischen Epistemologie. Braunschweig 1982.
len daher so etwas wie die Schnittstelle zwischen so- Piaget, Jean: Abriß der genetischen Epistemologie. Olten
zialen und biologischen Prozessen dar. Diese Phäno- 1970.
Reiter, Ludwig/Steiner, Egbert/Gotwald, Victor: »Kontinui-
menbereiche sind gegeneinander abgegrenzt und tät und Wandel – Die Entwicklungsdynamik der
unterschiedlicher Materialität, d. h. zwischen den sie deutschsprachigen Familientherapie und Systemischen
charakterisierenden Prozessen sind zwar Korrelatio- Therapie aus bibliometrischer Sicht«. In: Systeme 11. Jg.
nen zu beobachten, sie sind einander aber nicht kau- (1997), 4–20.
sal zuzuordnen. Wenn man die Beziehung zwischen Ruesch, Jürgen/Bateson Greogory: Kommunikation. Die
soziale Matrix der Psychiatrie [1951]. Heidelberg 51995.
sozialen und biologischen Systemen untersuchen Ruf, Gerhard Dieter: Systemische Psychiatrie. Stuttgart
will (d. h. wenn man Psychologie betreiben will), 2005.
muss man daher die Kopplung sozialer und biologi- Schiepek, Günter: Systemtheorie der Klinischen Psycholo-
scher Muster untersuchen bzw. als deren Ergebnis: gie. Beiträge zu ausgewählten Problemstellungen. Braun-
psychische Prozesse und ihre Logik. Auf solch einer schweig/Wiesbaden 1991.
Schleiffer, Roland: Das System der Abweichungen. Eine sys-
Basis ließe sich dann eine psychologische Theorie temtheoretische Neubegründung der Psychopathologie.
entwickeln, die auf der einen Seite kompatibel ist mit Heidelberg 2012.
einer Biologie, die autopoietische lebende System Simon, Fritz B. (Hg.): Lebende Systeme. Wirklichkeitskon-
untersucht (= Organismen), und auf der anderen struktionen in der systemischen Therapie. Frank-
Seite mit einer Soziologie, die autopoietische soziale furt a. M. 1998.
–: Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epis-
Systeme (= Kommunikationssysteme) untersucht.
temologie: Grundlage einer systemischen Psychiatrie
und Psychosomatik [1988/93]. Frankfurt a. M. 42004.
–: Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemi-
Rechtswissenschaft 393

schen Krankheits- und Therapietheorie [1995]. Heidel-


berg 22001.
13. Rechtswissenschaft
–: »Name dropping. Zur erstaunlich großen, bemerkens-
wert geringen Rezeption Luhmanns in der Familienfor-
schung«. In: Henk de Berg/Johannes F. K. Schmidt (Hg.): Die Systemtheorie Niklas Luhmanns zählt, neben der
Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheo- ökonomischen Analyse des Rechts, zu den in der
rie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie. Frank- Rechtswissenschaft einflussreichsten sozialwissen-
furt a. M. 2000, 361–386. schaftlichen Theorieangeboten. Die wechselseitige
Wasser, Harald: »Luhmanns Theorie psychischer Systeme Beobachtung von soziologischer Systemtheorie und
und das Unbewußte. Zur Beobachtung strukturfunktio-
naler Differenz«. In: Soziale Systeme 10. Jg., 2 (2004), Rechtswissenschaft liegt bei Luhmann, der zu Beginn
355–391. seiner Karriere als Verwaltungsjurist tätig war, schon
White, Michale/Epston, David: Die Zähmung der Monster. aus biographischen Gründen nahe. Bereits die frü-
Der narrative Ansatz in der Familientherapie [1990]. hen Schriften Grundrechte als Institution (1965) und
Heidelberg 62009. Legitimation durch Verfahren (LdV 1969) wurden in-
Fritz B. Simon
nerhalb der Rechtswissenschaft als Herausforderung
verstanden (LdV, Vorwort zur Neuauflage 1975). In
der Folgezeit und insbesondere seit dem sogenann-
ten ›autopoietischen Paradigmenwechsel‹ werden
sowohl die rechtssoziologischen Schriften (Luhmann
2008; 1999; RechtG) als auch die allgemeine System-
theorie Niklas Luhmanns (SS) in der Rechtswissen-
schaft differenzierter aufgenommen. Luhmanns Ent-
wurf einer soziologischen Systemtheorie als univer-
saler Gesellschaftstheorie wird nun auch konstruktiv
zur präziseren Erfassung und Lösung von rechtswis-
senschaftlichen Fragestellungen herangezogen. Sie
bildet unter anderem den gesellschaftstheoretischen
Bezugsrahmen für innovative rechtstheoretische
Entwürfe zur Globalisierung und Pluralisierung des
Rechts, zur Steuerungskrise des Rechts, zum Verhält-
nis von Religion, Moral und Recht und zur Methode
der Rechtsvergleichung. Dabei beschränkt sich der
Einfluss der Systemtheorie nicht nur auf die juristi-
schen Grundlagenfächer – Rechtssoziologie, Rechts-
theorie, Rechtsphilosophie, Rechtsvergleichung und
Rechtsgeschichte – als Reflexionstheorien des Rechts,
sondern erreicht auch die dogmatischen Hauptfä-
cher Zivilrecht, Öffentliches Recht und Strafrecht.
Jede Form der Rezeption Luhmanns in der Rechts-
wissenschaft sieht sich mit dem Problem konfron-
tiert, dass zwischen deskriptiver soziologischer Sys-
temtheorie und normativer Rechtswissenschaft eine
kategoriale Differenz besteht, die einen Nutzen der
Systemtheorie für die Rechtswissenschaft fraglich er-
scheinen lässt. Methodologisch ist die Fremdbe-
schreibung des Rechts durch die Systemtheorie
(Außenperspektive) von der Selbstbeschreibung des
Rechts durch die Rechtswissenschaft (Innenperspek-
tive) zu unterscheiden (Roellecke 1999). Inhaltlich
besteht eine Spannung zwischen dem explizit nicht
normativen Status der Aussagen der Systemtheorie
über das Recht und der Normativität des Rechts und
der Rechtswissenschaft als Normwissenschaft.
394 Rezeption

Rezeption in den Grundlagenfächern modernen Gesellschaften (Fögen 2002, 213; RechtG,


256).
In der Rechtssoziologie und der Rechtstheorie als In der Theorie der Rechtsvergleichung wird mit
Grundlagenfächern der Rechtswissenschaft nimmt vierzigjähriger Verspätung die Umstellung des Struk-
Luhmann den Status eines modernen Klassikers ein turfunktionalismus auf eine funktional-strukturelle
(Röhl 1987; Raiser 2009; Büllesbach 2011). Hervor- Methode durch Niklas Luhmann rezipiert (Fateh-
zuheben sind insoweit der frühe Entwurf einer Ver- Moghadam 2011). Die traditionelle funktionale Me-
einigung von Rechts- und Systemtheorie durch thode der Rechtsvergleichung ging mit der soziologi-
Werner Krawietz (1984), die Rechtstheorie Gunther schen Jurisprudenz des 19. und beginnenden
Teubners (1989) sowie eine neuere lehrbuchmäßige 20. Jahrhunderts davon aus, dass das Recht in allen
Darstellung, die eng an das rechtstheoretische For- Rechtsordnungen auf dieselben gesamtgesellschaftli-
schungsprogramm der Systemtheorie anschließt chen ›Lebensprobleme‹ stoße, für die es ähnliche Lö-
(Vesting 2007). Neben der Gesellschaftstheorie Luh- sungen produziere. Die operativ funktionale Metho-
manns bildet die systemtheoretisch fundierte quali- de der Rechtsvergleichung (ebd.) setzt dagegen
tative empirische Sozialforschung (Nassehi 2008) stabile rechtliche Strukturen nicht immer schon vo-
eine Referenz für die Rechtssoziologie. So zeigen raus, sondern betrachtet sie als Folge einer konkreten
neuere empirische Arbeiten zur Medizinrechtssozio- Rechtspraxis, für deren Fortsetzung sie zugleich die
logie (Fateh-Moghadam/Atzeni 2009), dass die Ein- Anschlussbedingungen formulieren. Unterschiedli-
richtung von interdisziplinär besetzten Ethikkom- che nationale und transnationale Rechtsordnungen
missionen nicht zu einer Entdifferenzierung von blicken insoweit auf eine je eigene Geschichte recht-
Ethik, Religion und Recht in biomedizinischen Kon- licher Strukturbildung zurück und voraus. Die diffe-
texten führt. Die unterschiedlichen disziplinären renten Anschlussbedingungen für die Rekonstrukti-
Perspektiven der Kommissionsmitglieder verschmel- on eines ›Lebensproblems‹ als Rechtsproblem be-
zen nicht zu einer gemeinsamen ›ethischen‹ Perspek- gründen dann eine Vermutung dafür, dass die
tive, sondern lassen sich weiterhin in ihrer je Differenzen zwischen fragmentierten Rechtsregimen
spezifischen Operationsweise beobachten. Die Ope- relativ stabil bleiben.
rationen des Rechts, die an die Voten von Ethikkom- Die Rezeption Luhmanns in der Rechtsphilosophie
missionen anschließen, folgen ihrerseits einer recht- ist in besonderem Maße durch das oben genannte
lichen Eigenlogik. Die Diagnose der ›Ethisierung des Deskription/Präskription-Problem bestimmt und
Rechts‹, im Sinne einer Konfusion unterschiedlicher wird daher unter dem Gesichtspunkt der normativ
normativer Bewertungsmaßstäbe (Hyper-Materiali- orientierten Ablehnung der Systemtheorie näher
sierung), ist daher falsch. erörtert.
Die Rechtsgeschichte interessiert sich für den histo-
risch-evolutionären Prozess der Ausdifferenzierung
des Rechts als autonomer gesellschaftlicher Sphäre Kritische Rezeption: Normativ orientierte
(Vesting 2007, 141 ff.). Wie sich Kommunikationen Ablehnung der Systemtheorie
zu einem sozialen System verdichten, rekonstruiert
die rechtshistorische Forschung am frühen Beispiel Eine erste, bis heute fortwirkende Rezeptionslinie ist
des römischen (Zivil-)Rechts (Fögen 2002). Die Aus- durch eine kategorische, normativ orientierte Ableh-
bildung eines autonomen römischen Zivilrechts nung der Systemtheorie gekennzeichnet. Die abwei-
nimmt dabei, aufgrund seiner Situierung in einer sende frühe Rezeption (Rottleuthner 1971; Esser
sonst kaum funktional differenzierten Umwelt, eine 1972; Zippelius 1973) des Werks Legitimation durch
Sonderstellung in der antiken römischen Gesell- Verfahren (LdV) beruht zum Teil auf Missverständ-
schaft ein (ebd., 207 ff.). Von einem ausdifferenzier- nissen bezüglich des – zu diesem Zeitpunkt noch
ten Funktionssystem lässt sich daher in diesem nicht vollständig ausgearbeiteten – systemtheore-
Zusammenhang noch nicht sinnvoll sprechen (Ves- tisch-deskriptiven Bedeutungsgehalts von bis dahin
ting 2007, 142 f.). Die schriftlich fixierten Errungen- normativ verwendeten Begriffen wie ›Legitimation‹
schaften des römischen Rechts bildeten indes einen (LdV, Vorwort zur Neuauflage 1975; Theile 2009,
maßgeblichen Bezugspunkt für die Evolution des 101). Umgekehrt beruht auch die Annahme, die Ver-
Rechts zwischen dem 12. und 19./20. Jahrhundert fahrenssoziologie Luhmanns sei durch die Recht-
und damit eine Bedingung der Möglichkeit der Aus- sprechung des Bundesverfassungsgerichts zum
differenzierung eines Funktionssystems Recht in Grundrechtsschutz durch Verfahren »dogmatisch
Rechtswissenschaft 395

aufgenommen und gleichsam zu Verfassungsrecht Positive Rezeption: Systemtheorie als


erhoben [worden]« (Di Fabio 2000, 140), auf der ir- soziologische Jurisprudenz
rigen Annahme, in Legitimation durch Verfahren
gehe es um (Verfahrens-)Richtigkeit im Sinne von Eine zweite Rezeptionslinie verfolgt das Programm
Wahrheit oder Gerechtigkeit. einer Reformulierung zentraler rechtstheoretischer
In späteren Schriften betont Luhmann explizit, Fragestellungen und rechtsdogmatischer Kategorien
dass die Systemtheorie des Rechts normative Impli- auf Grundlage der Systemtheorie. Die externe Be-
kate vermeide (RechtG, 31). Dessen ungeachtet schreibung des Rechts durch die Systemtheorie soll
schreibt die kritische Luhmann-Rezeption in der mithin für die Innenperspektive des Rechts fruchtbar
Rechtsphilosophie und der Staatsrechtswissenschaft gemacht werden. Hauptvertreter dieser Rezeptions-
der Systemtheorie normative Bedeutungsgehalte zu, linie ist der Frankfurter Rechtstheoretiker und Zivil-
die mit überlegenen rechtsphilosophischen Konzep- rechtslehrer Gunther Teubner. Seine in neun Spra-
tionen oder gar der verfassungsrechtlichen Ordnung chen übersetzte Rezeption der Systemtheorie Recht
(Lepsius 1999, 52 ff.) unvereinbar seien. So wird die als autopoietisches System (1989) hat zentrale Ele-
systemtheoretische Konstruktion eines selbstbezüg- mente der luhmannschen Gesellschaftstheorie einem
lich operierenden positiven Rechts als Angriff auf breiten juristischen Publikum zugänglich gemacht.
jede Form nichtfunktionaler Rechtsethik verstanden Darüber hinaus leisten die Schriften Teubners eigene
und als »rechtsethischer Nihilismus« (Pfordten 2011, Beiträge zur Entwicklung einer systemtheoretisch
127 ff.) zurückgewiesen. Diese Kritik verfehlt ihren angeleiteten Rechtwissenschaft, die sich für die Un-
Gegenstand, da die Systemtheorie des Rechts keinen tersuchung vielfältiger rechtstheoretischer und
Beitrag zur inhaltlichen Richtigkeit des Rechts und rechtsdogmatischer Fragestellungen in allen Teilge-
damit zur materialen Rechtsethik leistet. bieten des Rechts als anschlussfähig erwiesen haben
Trotz der normativen Abstinenz der Systemtheo- (vgl. nur die Beiträge in Calliess u. a. 2009).
rie besteht ein Zusammenhang zwischen System-
theorie und Rechtsphilosophie aber insofern, als die
Anerkennung der Autopoiesis des Rechts nur mit im Gesellschaftssteuerung durch
Grundsatz rechtspositivistischen Positionen zum reflexives Recht
Verhältnis von Moral und Recht vereinbar erscheint.
Ein operativ geschlossenes Recht, das den »Ort der Einen zentralen Baustein der »Teubner-Schule« bil-
Gerechtigkeit« in das Rechtssystem der modernen det das Programm der »Gesellschaftssteuerung
Gesellschaft verlegt (Luhmann 1999, 374 ff.) und sich durch reflexives Recht« (Teubner 1989, 81). ›Reflexi-
dadurch »gegen die unbeständige Flut und Ebbe mo- ves Recht‹ bedeutet, dass »das Rechtssystem sich als
ralischer Kommunikationen« (RechtG, 79) differen- ein autopoietisches System in einer Welt von auto-
ziert, ist nicht nur mit naturrechtlichen Konzeptio- poietischen Systemen identifiziert und daraus opera-
nen unvereinbar, sondern provoziert auch vernunft- tive Konsequenzen zieht« (ebd., 87). So müssten
rechtliche Vorstellungen einer Einheit von Moral insbesondere direkte staatliche Steuerungsmodelle
und Recht. auf indirekte Formen der Regulierung umgestellt
Differenzierte rechtsphilosophische Beobachter werden, die die Notwendigkeit der Aufrechterhal-
der Systemtheorie weisen darauf hin, dass Moral im tung der je eigenen Reproduktion der gesellschaftli-
Recht nach Luhmann zwar nicht unmittelbar gelten chen Teilsysteme in Rechnung stellen und sich an der
könne, spezifische moralische Gehalte aber als recht- Funktion der Stabilisierung und harmonischen Ge-
liche transportiert werden könnten (Osterkamp staltung der Systemdifferenzierung orientieren.
2004, 145, 198 f.; RechtG, 85), so dass die System- Recht wird zum »intersystemischen Kollisionsrecht«
theorie des Rechts nicht notwendig jede rechtsphilo- (ebd., 123 ff.), dessen Funktion in der »wechselseiti-
sophische Reflexion obsolet macht. Die moralische ge[n] Abstimmung autonomer pluraler Teilordnun-
Kritik des Rechts bleibt als externe Beobachtung gen« (ebd., 134) besteht. Die Erhaltung des Status
durch die – ihrerseits stark fragmentierte – Moral quo funktionaler Differenzierung moderner Gesell-
(RechtG, 78) möglich, ist dann aber immer schon schaften wird so zu einer übergeordneten normati-
Ausdruck der Entkoppelung von Moral und Recht. ven Zielvorstellung, die die gesamte Rechtsordnung
leiten soll.
Die Theorie reflexiven Rechts beansprucht daher
einen »normativ-analytischen Doppelstatus« (ebd.,
396 Rezeption

86). Instrumente des reflexiven Rechts sind der regu- Elemente – globales Rechtssystem und Rechtsplura-
lierte Verzicht auf Regulierung (ebd., 133 f.; Calliess lismus – verknüpft Gunther Teubner zu einer vielbe-
2000) und die »regulierte Selbstregulierung« durch achteten Theorie eines »globalen Rechts ohne Staat«
prozedurales (Calliess 1999), unbestimmtes (Teub- (Teubner 1996; Fischer-Lescano 2005; Fischer-Lesca-
ner 1989, 129) und fragmentiertes Recht (ebd., 129; no/Teubner 2006; Calliess 2009), die zugleich als
Fischer-Lescano/Teubner 2006). Inhaltlich zielt es Fortentwicklung der Theorie reflexiven Rechts ge-
darauf ab, hoheitliches Staatshandeln und materiell- deutet werden kann. Danach begünstigen die Be-
inhaltliche Vorgaben des Rechts soweit wie möglich dürfnisse einer transnational organisierten und
durch konsensuale Verfahren zu ersetzen, die die ei- agierenden Wirtschaft das Entstehen konkurrieren-
gentliche Konfliktlösung dem jeweils betroffenen der »globaler Zivilregimes«, bei denen es sich nicht
System überlassen (Theile 2009, 312). Konflikte indi- um eine Ausweitung staatlicher, »harter« Rechtsfor-
vidueller Rechtspositionen werden dabei als System- men, sondern um private Ordnungsleistungen und
konflikte rekonstruiert und aufgelöst. »weiche« Formen gesellschaftlicher Selbstorganisati-
Anwendungsfelder für reflexives Recht sind u. a. on handelt, wofür die Lex Mercatoria der internatio-
die Präferenz für die Selbstverwaltung von Medizin nalen Kaufmannschaft als Beispiel steht (Calliess
und Wissenschaft durch Ethikkommissionen (Cal- 2009, 67). Die Herausbildung transnationaler (Pri-
liess 1999), die Konfliktregulierung durch nicht vat-)Rechtsregimes, die ihre Außengrenzen nicht ter-
staatliches, privat-autonom ausgehandeltes soft law ritorial, sondern thematisch-funktional bestimmen,
(Calliess 2006), die Begründung von Grenzen geisti- verweist auf eine weitere Binnendifferenzierung des
gen Eigentums im Immaterialgüterrecht (Wielsch Rechts, die »nicht Rechtseinheit, sondern eine neue
2008), die Rekonstruktion der Inhaltskontrolle von Fragmentierung erzeugt« (Fischer-Lescano/Teubner
Bürgschaftsverträgen als Systemkonflikt zwischen 2006, 36).
Wirtschaft und Familie (Teubner 2000), die Stärkung
konsensualer Elemente im Strafverfahren (Theile
2009) und die Rekonstruktion des Grundsatzes welt- Systemfunktionale Strafrechtsdogmatik
anschaulicher Neutralität des Staates unter dem Ge- (Günther Jakobs)
sichtspunkt des Beitrags der Religionen zur Stabili-
sierung funktionaler Differenzierung (Ladeur/Augs- Neben der nunmehr vorliegenden systemtheoreti-
berg 2007). schen Deutung von Wirtschaftskriminalität und
Strafverfahren durch Hans Theile (2009) wird die
funktionale Strafrechtskonzeption von Günther Ja-
Fragmentiertes Weltrecht – kobs (1993) als bedeutendste Rezeption der System-
Systemtheorie und Globalisierung theorie im Strafrecht betrachtet (Schneider 2004,
70 ff.). Jakobs selbst betont dagegen, dass er der
Die Systemtheorie weist zwei Theoriebausteine auf, Theorie Luhmanns nicht konsequent folge (Jakobs
die für eine Theorie der Globalisierung und Plurali- 1995, 843). Tatsächlich schließt sein strafrechtlicher
sierung des Rechts hochgradig anschlussfähig sind. Funktionalismus nicht an die Theorie autopoieti-
Zum einen geht sie von der Existenz eines weltweiten scher Systeme, sondern ausschließlich an die frühe
Funktionssystems, dem Recht der Weltgesellschaft, Rechtssoziologie Luhmanns an. Er übernimmt die
aus, so dass grenzüberschreitende rechtliche Kom- systemtheoretisch-funktionale Bestimmung von
munikation systemtheoretisch immer schon voraus- (Rechts-)Normen als kontrafaktische Stabilisierung
gesetzt wird (RechtG, 571 ff.; GG, 145 ff.). Zum von Erwartungen (Luhmann 2008, 43; RechtG,
anderen ist der systemtheoretische Rechtsbegriff 134 ff.) und wendet sie normativ, indem er sie zur
nicht auf staatliches Recht beschränkt, sondern lässt Grundlage der Bestimmung von Aufgabe und Inhalt
es zu, überall dort, wo sich ein mittels der recht/un- des Strafrechts, der materiellen Legitimation des
recht-Unterscheidung operierender Kommunikati- Strafrechts sowie der innovativen Rekonstruktion
onszusammenhang schließt, von Recht zu sprechen. der tragenden Elemente der strafrechtlichen Zurech-
Dass Rechtsform und politische Form im Wege nungslehre macht. Mit Blick auf die Strafzwecktheo-
der Europäisierung und Transnationalisierung des rie führt dies zu einer nicht nur an Luhmann,
Rechts auseinandertreten können, versteht sich sys- sondern auch an der Rechtsphilosophie Hegels ori-
temtheoretisch ebenso von selbst wie die Möglichkeit entierten Theorie der positiven Generalprävention,
der Emergenz privater Rechtsregime. Diese beiden wonach Strafe den Widerspruch gegen den Norm-
Rechtswissenschaft 397

bruch kommuniziert und dadurch das Vertrauen in lichkeit ›struktureller Kopplungen‹ garantiere nicht
die Geltung der Norm kontrafaktisch stabilisiert (Ja- Synchronisation oder vernünftige Koordination zwei-
kobs 1993, 6 ff.). er Teilsysteme, sondern lediglich die Möglichkeit
Diese allgemeine Strafzweckbestimmung leitet wechselseitiger Überraschung (RechtG, 443). Struktu-
zugleich seine Analyse der einzelnen Elemente der relle Kopplung ist erst recht – wie Niklas Luhmann
strafrechtlichen Verbrechenslehre, wie dies exempla- betont – »kein Normthema, so als ob sie vorgeschrie-
risch die Konzeption eines funktionalen Schuldbe- ben werden könnte« (RechtG, 445).
griffs (Jakobs 1976; 1993, 476 ff.) zeigt. Strafrechtli- Zudem scheint der Theorie reflexiven Rechts, die
che Schuldfähigkeit wird danach als eine Zuschrei- weitgehend der frühen rechtstheoretischen Konzep-
bung verstanden, deren Zweck es ist, die »Richtigkeit tion der Grundrechte als Institution (Luhmann 2009)
des Vertrauens in die Richtigkeit einer Norm« (Ja- verhaftet bleibt, aus dem Blick zu geraten, dass auch
kobs 1976, 32) zu bestätigen. Der Inhalt des Schuld- das Rechtssystem ein autopoietisch-geschlossenes
begriffs hängt damit nicht primär von subjektiven System ist (Luhmann 1985, 1). Daraus folgt, dass
Voraussetzungen und Fähigkeiten des Täters, son- auch das Recht nur nach Maßgabe eigener Struktu-
dern davon ab, ob die Schuldzuschreibung unter ren, im je gegenwärtigen Anschluss von rechtlichen
dem Gesichtspunkt der Restabilisierung des »gestör- Operationen an rechtliche Operationen resonanzfä-
ten Ordnungsvertrauens« (ebd., 31) als zweckmäßig hig ist (ÖK, 133), wobei es ihm, wie allen codierten
erscheint. Eine von der Frage der positiv generalprä- Systemen, an einem Maß zur Selbstbeschränkung
ventiven Bestrafungsnotwendigkeit unabhängige fehlt (ÖK, 222). So zwingt etwa der rechtsstaatliche
strafbarkeitslimitierende Funktion der Schuld ent- Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu
fällt damit. einer Verrechtlichung von Forschungsethikkommis-
sionen, auch wenn dies aus Sicht der Theorie reflexi-
ven Rechts die Funktionsfähigkeit des Wissenschafts-
Grenzen der Systemtheorie als Jurisprudenz systems beeinträchtigt. Der Grundsatz der Gesetz-
mäßigkeit der Verwaltung wirkt dabei zugleich als
Die Theorie reflexiven Rechts (Gunther Teubner) ›Entdifferenzierungssperre‹ gegenüber Medizin,
stößt auf Grenzen, die sich aus ihren eigenen Prämis- Ethik und Religion, da er sicherstellt, dass rechtliche
sen ergeben. Die funktional differenzierte Gesell- Problemstellungen auch im Bereich der Bioethik
schaft muss gemäß der Lesart Niklas Luhmanns auf ausschließlich rechtsintern gelöst werden. Was
ein Leitsystem, auf eine Spitze oder ein Zentrum ver- rechtssoziologisch als latente Funktion rechtsstaatli-
zichten, weshalb auch das Rechtssystem nicht in sich cher Grundsätze beobachtet werden kann (Fremdbe-
die Gesellschaft reflektieren kann, weil dies die Mit- schreibung), ist aber strikt von ihrer normativen
berücksichtigung der Operationsbeschränkungen al- Begründung im Rechtssystem (Selbstbeschreibung)
ler anderen Funktionssysteme erfordern würde (GG, zu unterscheiden. Eine systemtheoretisch informier-
185 f.). Die epistemologische Prämisse der Theorie te Jurisprudenz zwingt gerade dazu, die Eigensinnig-
des reflexiven Rechts, dass das Recht unter den gesell- keit rechtlicher Entscheidungs- und Begründungs-
schaftlichen Funktionssystemen auf die intersyste- zusammenhänge ernstzunehmen und sich von der
mischen Beziehungen spezialisiert sei und bildlich Idee des social engineering, der planmäßigen Gesell-
gleichsam »inmitten« der Systeme und ihrer Umwel- schaftssteuerung durch (reflexives) Recht, die noch
ten, im »Zwischenraum«, stehe (Wielsch 2009, 73), die traditionelle soziologische Jurisprudenz des
erscheint daher mit den von ihr in Anspruch genom- 19. Jahrhunderts geprägt hatte, zu verabschieden.
menen systemtheoretischen Grundlagen unverein- Nimmt man die Eigenlogik des Rechts ernst, er-
bar (Gutmann 2010, 201). weisen sich auch die Verwirklichungschancen der
Luhmann weist in der Auseinandersetzung mit mit der Theorie reflexiven Rechts transportierten
der Theorie reflexiven Rechts explizit darauf hin, dass normativen Forderung nach einer Umstellung der
es unvorstellbar sei, im Sinne der Regulierung von zentralen Schutzrichtung des Rechts – weg von indi-
Selbstregulierung vom Recht aus die Autopoiesis al- viduellen, subjektiven Rechten, hin zu transindivi-
ler Sozialsysteme kontrollieren und regulieren zu duellen Strukturen der Systemdifferenzierung – als
können – eine solche »Oberregulierung der Gesell- gering. Entsprechend ist auch bei Günther Jakobs die
schaft durch das Recht [wäre] eine Illusion« (Luh- unmittelbare Übernahme der rechtssoziologischen
mann 1985, 7). Auch die von den Vertretern der Fremdbeschreibung latenter gesellschaftlicher Funk-
Theorie reflexiven Rechts häufig strapazierte Mög- tionen strafrechtlicher Zurechnungskategorien in
398 Rezeption

die strafrechtliche Selbstbeschreibung einer system- Gutmann, Thomas: »Die Rechtsverfassung der Wissenstei-
funktionalen Verbrechenslehre mit erheblichen nor- lung. Rezension zu Dan Wielsch, Zugangsregeln. Die
Rechtsverfassung der Wissensteilung, Tübingen 2008«.
mativen Folgekosten verbunden (Schneider 2004,
In: Die Rechtswissenschaft 1. Jg., 2 (2010), 194–203.
312 ff.). So gibt der von Jakobs vertretene funktionale Jakobs, Günther: Schuld und Prävention. Tübingen 1976.
Schuldbegriff die selbständige strafbarkeitsbeschrän- –: Strafrecht Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zu-
kende Funktion des Schuldprinzips preis und instru- rechnungslehre. Studienausgabe. Berlin 21993.
mentalisiert den Einzelnen im Interesse der positiven –: »Das Strafrecht zwischen Funktionalismus und ›alteuro-
Generalprävention. Die verbreitete Ablehnung der päischem‹ Prinzipiendenken. Oder: Verabschiedung des
›alteuropäischen‹ Strafrechts?« In: Neue Zeitschrift für
systemfunktionalen Strafrechtsdogmatik kann inso- die gesamte Strafrechtswissenschaft 107. Jg., 4 (1995),
weit auch als Immunreaktion der an subjektiven 843–876.
Rechten orientierten normativen Eigenlogik des Krawietz, Werner: Recht als Regelsystem. Wiesbaden 1984.
Strafrechts gegen die Übergriffe ›soziologischer Ju- Ladeur, Karl-Heinz/Augsberg, Ino: »Der Mythos vom
risprudenz‹ gedeutet werden. neutralen Staat«. In: Juristenzeitung 62. Jg., 1 (2007),
12–18.
Lepsius, Oliver: Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und
Parlamentarismuskritik. Tübingen 1999.
Literatur Luhmann, Niklas: »Einige Probleme mit ›reflexivem
Recht‹«. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 6. Jg.,
Büllesbach, Alfred: »Systemtheorie im Recht«. In: Arthur 1 (1985), 1–18.
Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann (Hg.): –: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssozio-
Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der logie und Rechtstheorie. Frankfurt a. M. 1999.
Gegenwart. Heidelberg 82011, 428–457. –: Rechtssoziologie. Wiesbaden 42008.
Calliess, Gralf-Peter: Prozedurales Recht. Baden Baden –: Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen
1999. Soziologie. Berlin 52009.
–: »Das Tetralemma des Rechts. Zur Möglichkeit einer Nassehi, Armin: »Rethinking Functionalism. Zur Empirie-
Selbstbeschränkung des Kommunikationssystems fähigkeit systemtheoretischer Soziologie«. In: Herbert
Recht«. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 21. Jg. (2000), Kalthoff (Hg.): Theoretische Empirie. Die Relevanz qua-
293–314. litativer Forschung. Frankfurt a. M. 2008, 79–106.
–: Grenzüberschreitende Verbraucherverträge. Rechtssi- Osterkamp, Thomas: Juristische Gerechtigkeit. Tübingen
cherheit und Gerechtigkeit auf dem elektronischen Welt- 2004.
marktplatz. Tübingen 2006. Pfordten, Dietmar von der: Rechtsethik. München 22011.
–: »Systemtheorie: Luhmann/Teubner«. In: Sonja Buckel/ Raiser, Thomas: Grundlagen der Rechtssoziologie. Tübin-
Ralf Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.): Neue gen 52009.
Theorien des Rechts. Stuttgart 22009, 53–71. Roellecke, Gerd: »Das Recht von außen und von innen be-
– u. a. (Hg.): Soziologische Jurisprudenz. Festschrift für trachtet. Niklas Luhmann zum Gedächtnis«. In: Juristen-
Gunther Teubner zum 65. Geburtstag. Berlin 2009. zeitung 54. Jg., 5 (1999), 213–219.
Di Fabio, Udo: »Luhmann im Recht. Die juristische Rezep- Röhl, Klaus F.: Rechtssoziologie. Ein Lehrbuch. Köln 1987.
tion soziologischer Beobachtung«. In: Helga Gripp-Ha- Zitiert nach: http://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozinfo/
gelstange (Hg.): Niklas Luhmanns Denken: interdiszipli- (18.05.2011).
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Soziologie 399

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14. Soziologie
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tag. München 1973, 293–304. ziologen Niklas Luhmann auf die Soziologie eigens
Bijan Fateh-Moghadam zu beschreiben – denn schon die Tatsache, dass diese
Beschreibung in einem Handbuch erscheint, das sich
ausschließlich dieses soziologischen Denkers an-
nimmt und das verwandte Ausgaben nur über über-
aus prominente und wirkmächtige Vertreter des
Faches und ähnlicher Disziplinen präsentiert, ver-
weist doch darauf, dass der hier verhandelte Denker
eine große Wirkung entfaltet haben muss. Das könn-
te man auch dokumentieren – etwa durch eine Zita-
tionsanalyse, durch Würdigung der Publikationsor-
te, durch seine Präsenz in den Lehrbüchern des
Faches und nicht zuletzt durch die Etablierung der
Zeitschrift Soziale Systeme, die sich eigens der Wür-
digung und Weiterentwicklung einer von Luhmann
inspirierten Soziologie verschrieben hat. Würde man
so verfahren, so käme man in der Tat auf beeindru-
ckende Zeugnisse der Wirkmächtigkeit von Niklas
Luhmann zumindest in der deutschsprachigen So-
ziologie. Er gehört – das kann man schon ohne die
Konsultierung von Zitationsindizes, ohne die Be-
rechnung von Impact-Faktoren oder Hirsch-Indizes
behaupten – sicher zu den in der deutschsprachigen
Soziologie meistzitierten Soziologen, von der öffent-
lichen Präsenz des Namens in intellektuellen Debat-
ten ganz zu schweigen.
Die Schriften Niklas Luhmanns sind sehr sichtbar
publiziert worden – vor allem im Suhrkamp Verlag
sowie im VS-Verlag, früher Westdeutscher Verlag.
Seine Bücher verkaufen sich auch eineinhalb Jahr-
zehnte nach seinem Tod in hohen Auflagen. Der von
seinem Nach-Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Biele-
feld verwaltete Nachlass gebiert nach wie vor neue
Schriften. Die Lehrbücher zur Soziologie führen
Luhmann als ein sicheres Lemma, und auf dem
Buchmarkt kursieren mehrere Einführungen in Luh-
manns Werk (vgl. Kiss 1990; Fuchs 1992; Kneer/Nas-
sehi 1993; Gripp-Hagelstange 1995; Krause 1996;
Reese-Schäfer 1996; Horster 1997; Schuldt 2003;
Berghaus 2004; Dieckmann 2004; Runkel/Burkhart
2005; Willke 2006; Hohm 2006; Gensicke 2008).
Zugleich kann man zeigen, an wie vielen Soziolo-
gie-Standorten Soziologinnen und Soziologen in
Forschung und Lehre tätig sind, die mehr oder weni-
ger explizit an Luhmanns Soziologie anschließen, so
etwa in Bielefeld, Bremen, Friedrichshafen, Ham-
burg, Konstanz, München, Münster, Osnabrück, Sie-
gen, Witten-Herdecke, Würzburg, Luzern, Bologna,
400 Rezeption

Kopenhagen, Tokio, auch wenn so etwas wie eine rauf verzichtet werden, die Diffusion von Luhmanns
Schulenbildung letztlich nicht stattgefunden hat. All Werk und die unterschiedlichen Bezugnahmen auf
diese Indikatoren belegen die Etablierung von Niklas Luhmann in der Soziologie entlang der Chronologie
Luhmann in der deutschsprachigen Soziologie, so des Werkes aufzuzeigen. Vielmehr lohnt es sich, jene
dass man sich nun unterschiedlichen Rezeptions- beiden Texte zu konsultieren, die den Beginn und das
strängen und -epochen widmen, womöglich Weiter- Ende von Luhmanns akademisch-universitärer Tä-
entwicklungen seiner Theorie ordnen und einord- tigkeit markieren, nämlich die im Jahre 1967 gehal-
nen und nicht zuletzt historisierend Relektüren vor tene Antrittsvorlesung nach seiner Habilitation an
dem Hintergrund der Werkentwicklung vornehmen der Universität Münster sowie die Bielefelder Ab-
könnte. Man könnte auch diskutieren, warum diese schiedsvorlesung von 1993 anlässlich seiner Emeri-
Soziologie trotz ihrer Monumentalität und Wirk- tierung, vier Jahre vor Erscheinen des gesellschafts-
mächtigkeit weitestgehend eine deutschsprachige theoretischen Hauptwerkes Gesellschaft der Gesell-
Soziologie geblieben ist, auch wenn Übersetzungen schaft (1997). Es handelt sich um sehr unterschiedli-
seines Werkes u. a. in englischer, italienischer, spani- che Texte – aber beide enthalten zwei Motive, die
scher und japanischer Sprache vorliegen. Luhmanns Werk durchziehen. Das eine Motiv ist das
der theorietechnischen Bedeutung von operativer
Selbstbezüglichkeit, das andere ist die Diagnose, dass
Anatomie einer Distanz die Soziologie nicht in der Lage sei, mit dieser theo-
retischen Herausforderung umzugehen und ihre
Nimmt man aber die Frage der Wirkung der luh- Praxis auf ein entsprechendes theoretisches Niveau
mannschen Systemtheorie auf die Soziologie wirk- zu bringen. Dass diese Diagnose im Abstand von 26
lich ernst, so wird man sich nicht auf Sichtbarkeit Jahren nicht nur identisch ausfällt, sondern sogar
verlassen können. Man wird dann feststellen, dass noch verschärft wird, kann als Indikator für die Wir-
das Werk Luhmanns in der Soziologie durchaus prä- kung der Theorie in der Soziologie gelesen werden.
sent ist. Zugleich aber – und diese These soll hier ent- Die Münsteraner Antrittsvorlesung entfaltet Luh-
faltet werden – wird man auch diagnostizieren manns Programm soziologischer Aufklärung. Es
müssen, dass die Soziologie Luhmanns letztlich nicht geht ihm darum, über jene Restriktionen aufzuklä-
in der Soziologie angekommen ist. Es herrscht eine ren, die es einer womöglich unterkomplex gebliebe-
eigentümliche Distanz zwischen der Soziologie und nen normativen Idee einer allen gemeinsamen
der Theorie Luhmanns, obwohl diese stets nichts an- Vernunft nicht ermöglicht hat, die Gesellschaft zu
deres sein wollte als Soziologie (vgl. dazu Baecker verbessern und ihre Ziele zu erreichen. »Die Soziolo-
1999). Und es herrscht ein eigentümliches Missver- gie wird, wenn sie sich als Teil einer weltaufklärenden
hältnis zwischen Rezeptionsfrequenz und dem Ein- Wirklichkeitswissenschaft begreifen will, das Pro-
lassen auf die Theoriefiguren Luhmanns. blem der sozialen Komplexität in den Mittelpunkt
Luhmanns Soziologie entfaltet ein hohes Anre- rücken müssen« (SA1, 73). Das Problem der sozialen
gungspotential und erregt durchaus Aufmerksam- Komplexität besteht etwa, um ein sehr einfaches Bei-
keit. Begriffe und Theoreme Luhmanns, Einzeldia- spiel zu nennen, darin, dass das Verhältnis von guter
gnosen und v. a. gesellschaftstheoretische Grundbe- Absicht und guter Wirkung eben nicht als Kausalver-
griffe und Analysen werden immer wieder und hältnis gedacht werden kann, sondern komplexer be-
ausführlich zitiert und in den Zeitschriften des Fa- schaffen ist. Daran aber habe »sich die Vernunftauf-
ches diskutiert. Luhmanns Werk wird wie ein Stein- klärung gehalten und die eigentümliche Problematik
bruch verwendet, dem man Einzelstücke entnehmen sozialer Komplexität, daß man der Übereinstim-
kann – was man keineswegs beklagen oder gar für il- mung im Erleben und Handeln mit anderen Men-
legitim oder falsch halten muss. Aber es wäre viel- schen nie sicher sein kann, damit verharmlost« (SA1,
leicht eine zu einfache und nicht zuletzt eine sehr 74).
vereinfachte Auslegung, daran die starke Wirkung So betont Luhmann, dass die Aufdeckung latenter
Luhmanns für die Soziologie zu ermessen. Es soll Funktionen, also unsichtbar bleibender Bedingun-
hier also tatsächlich gezeigt werden, dass sich die gen des Handelns, durchaus eine aufklärerische Be-
wichtigsten Figuren von Luhmanns Theorie letztlich deutung hat – ohne dass durch diese Art Aufklärung
in der soziologischen Theoriediskussion nicht wie- aber der Mechanismus selbst außer Kraft gesetzt
derfinden. würde. »Wenn Latenzbedürfnisse wirklich system-
Um diese These zu belegen, soll im Folgenden da- strukturell bedingt sind, wird ein bloßes Aufdecken
Soziologie 401

des Verborgenen nicht helfen – es sei denn, daß es ge- Niederschlag gefunden habe. Was in der Antrittsvor-
lingt, die Funktion der Latenz anderweitig zu erfül- lesung als Zukunftsprogramm formuliert wird, ent-
len« (SA1, 70). Vielleicht wird an diesen Sätzen faltet er in seiner Abschiedsvorlesung noch einmal
Luhmanns Grundintuition deutlich, eine Intuition, mit den nun zur Verfügung stehenden begrifflichen
die die Unentrinnbarkeit aller Operationen als Ope- Mitteln und bescheinigt der Soziologie: »Die theorie-
rationen von Systemen betont (vgl. dazu Nassehi konstruktiven Anforderungen lägen mithin sehr
2011, 77). Damit ist gemeint, dass es keine Möglich- hoch, und sie lägen auf Gebieten, von denen die heu-
keit gibt, aus der eigenen Praxis, aus der eigenen tige soziologische Methode nichts ahnt« (Luhmann
Operationsweise auszusteigen, dass alles, was ge- 1993, 258). Die Abschiedsvorlesung diskutiert nichts
schieht, an seine operative Gegenwart gebunden ist weniger als die Frage nach der zentralen Frage der So-
und dass man die Systemreferenz nicht einfach wech- ziologie. Luhmann kommt zu der Diagnose, dass es
seln kann. Vielleicht passt auch der kybernetische Be- zwei Fragen sind, die das Fach konstituieren: »Was ist
griff der Zustandsdeterminiertheit (vgl. Ashby der Fall?« und »Was steckt dahinter?«. Diese beiden
1985), der darauf abstellt, dass nur innerhalb, nicht Fragen, so Luhmann, konstituieren eine empirische
außerhalb von Systemen gehandelt werden kann. Soziologie, die klärt, was in der Gesellschaft der Fall
Luhmanns aufklärerischer Impetus besteht darin, ist, sowie eine Soziologie, die genauer angeben kann,
gerade die selbstreferentiellen Strukturbildungen was dahinter steckt. Die eine beschreibt die Gesell-
von Systemen mitzubedenken, die den Eingriff in das schaft in ihrer Faktizität, die andere kritisiert die Ge-
System als Teil des Systems behandeln und ihn damit sellschaft. »Der Projektbetrieb der empirischen
den einfachen Kausalitäten und Durchgriffsmöglich- Forschung läuft weiter unter der Voraussetzung, daß
keiten entziehen. man durch die Realität entscheiden lassen kann, was
Zu Beginn seines Werks macht Luhmann sogar die wahr und unwahr ist. […] Die kritische Soziologie
Einführung von Systemtheorien anstelle von Faktor- fährt fort, sich selbst für gelungen zu halten und die
theorien zur aufklärerischen Geste: »Faktortheorien Gesellschaft für mißlungen. Gesellschaft und Kritik
und streng kausalgesetzliche Methodologie würden werden wechselseitig externalisiert« (ebd., 246). In
die soziologische Forschung in ihrem Fassungsver- Theoriediskussionen werde allenfalls Klassikerexege-
mögen für Komplexität in unerträglicher Weise be- se betrieben – der Grund, sich mit Klassikern zu be-
schneiden. Mit diesem Instrumentarium könnte die fassen, bestehe darin, »daß andere sich mit ihnen
Soziologie nicht einmal das Alltagsverständnis von beschäftigen« (ebd.).
Situationen und Handlungszusammenhängen in sei- Luhmann versucht zu zeigen, wie sich die Sozio-
ner unklaren, aber vielschichtigen Komplexität errei- logie geradezu weigert, die beiden Fragen zusammen
chen, geschweige denn übertreffen. Sie bliebe den zu denken – sich also entweder mit dem, was der Fall
Handelnden selbst glatt unterlegen. Von sinnvoller ist, oder mit dem, was dahinter steckt, beschäftigt.
Aufklärung könnte unter diesen Umständen keine Luhmanns Vorwurf an die Soziologie ist eine gewis-
Rede sein« (SA1, 71). Sinnvolle Aufklärung wäre aber sermaßen ontologische Aufteilung unterschiedlicher
nur die, die in der Lage ist, die Restriktionen, unter Seinsregionen. Die Einheit des Faches könne nur er-
denen Handlungssysteme unvermeidlich stehen, auf reicht werden, wenn man die beiden Alternativen als
den Begriff zu bringen. Bereits hier entfaltet Luh- eine Unterscheidung betrachtet. »Das Unterschiede-
mann das Motiv seiner Soziologie, nämlich die be- ne ist Dasselbe, das ist unser Ausgangsparadox«
sondere Fähigkeit, das, was sie selbst diagnostiziert, (ebd.). Dieses Paradox mache erst den Beobachter
auch auf sich selbst anzuwenden. Bereits in seiner selbst sichtbar, und zwar auf verschiedenen Ebenen –
Antrittsvorlesung mahnt Luhmann eine »Soziologie den Beobachter, der beobachtet, was der Fall ist, den
der Soziologie« (SA1, 85) an. Damit ist gemeint, Beobachter, der das findet, was dahinter steckt, sowie
nicht nur über die Bedingungen der eigenen Mög- den Beobachter, der das unterscheidet und mit bei-
lichkeit selbstreflexiv nachzudenken, sondern über den Seiten rechnen muss – also: die Soziologie.
die Positionierung der Soziologie in der Gesellschaft Interessanterweise findet Luhmann gerade in der
die Bedingungen sozialer Systeme generell zu be- marxschen Theorie am Beginn soziologischen Den-
stimmen. kens ein Beispiel dafür, wie dieses Ausgangsparadox
Sieht man sich die Abschiedsvorlesung von 1993 nicht einfach institutionell und praktisch unsichtbar
an, so diagnostiziert Luhmann letztlich selbst, dass gemacht, sondern zum Ausgangspunkt der Analyse
sein Vorschlag einer Theorie der operativen Ge- wird. Marx habe den Kapitalismus nicht einfach be-
schlossenheit von Systemen in der Soziologie keinen schrieben, also nicht einfach gesagt, was der Fall ist.
402 Rezeption

Er habe auch nicht einfach gezeigt, was dahinter schaft so etwas wie das Spiel des Unterscheidens
steckt – etwa Interessen. Er habe vielmehr demons- unterscheidend vorzuführen. Die Leistung einer sol-
triert, wie sich das Wissen um die Ökonomie selbst chen Soziologie wäre: »sichselbstdisziplinierende
praktisch formiere und warum bestimmtes Wissen [sic] Beobachtungsmöglichkeiten freizusetzen, die
von wem verwendet wird und welches Wissen gerade nicht an die im Alltag oder in den Funktionssystemen
dadurch ausgeschlossen wird. »Marx stellt die Frage: eingeübten Beschränkungen gebunden sind« (ebd.,
wessen Wissen ist dieses Wissen? Und: wie kommt 259). Es wäre eine Soziologie, die die Systemreferenz
der Wissende dazu, sein Wissen zu glauben und nicht in ihren Gegenständen ins Kalkül zieht und die damit
zu sehen, was man mit diesem Wissen nicht sehen rechnet, dass die Gesellschaft sich stets (auch ohne
kann. Wissen wird als Ideologie reformuliert, und Soziologie!) selbst beschreibt. Eine soziologische
der Grund des Nichtwissens wird darin gesehen, daß Selbstbeschreibung müsste dann in der Lage sein, die
andernfalls der Kapitalist seinen eignen Untergang Gesellschaft mit einer Reflexivität auszustatten, die
vor Augen bekäme: oder wie wir lieber formulieren vorführen könnte, wie in der Gesellschaft stets unter-
würden: daß er andernfalls die Paradoxie zu Gesicht schieden wird, damit das Unterschiedene Dasselbe
bekäme, daß Überleben und Wachstum am Markt ist. Luhmann meint sogar, »daß die Soziologie die
auf Selbstdestruktion hinauslaufe« (ebd., 247). Es Gesellschaft zu parodieren hätte« (ebd., 258) – sie
geht also letztlich darum, »das Wissen um das, was solle beschreiben, wie und warum andere Systemre-
dahintersteckt, in die gesellschaftliche Welt der Tat- ferenzen die Gesellschaft beschreiben, wie sie sie be-
sachen zurück« (ebd., 249) zu führen. Denn dahinter schreiben, und warum die Perspektive der jeweiligen
stecke nichts anderes als der Beobachter. Wie also mit Systemreferenz geradezu unentrinnbar an sich selbst
Marx der Kapitalist nur sehen kann, was er sehen gebunden bleibt. Damit lässt sich dann aber nicht
kann, weil er sich als Beobachter nur mit den Unter- mehr alltagsnah formulieren, nicht mehr einfach sa-
scheidungen ausgestattet sieht, die er hat, wäre für gen, was der Fall ist, und auch das Kritisieren wird
Luhmann die Frage relevant, wie etwa ein ökonomi- schwieriger. Man kann auch sagen: Die Verhältnisse
scher Beobachter anders und Anderes sieht als ein werden komplexer. »Alles weitere ist eine Frage der
politischer oder ein wissenschaftlicher Beobachter. unter so strengen Bedingungen noch realisierbaren
Wer das sieht und damit die Selbstreflexivität jeg- Komplexität« (ebd., 259), heißt es dann lapidar, wo-
licher Operation ins Kalkül zieht, findet sich in einer mit das Komplexitätsproblem als Darstellungspro-
Situation vor, in der sich die Unterscheidung, was der blem behandelt wird.
Fall sei und was dahinter stecke, gewissermaßen auf Es sollte deutlich geworden sein, mit welcher Dis-
sich selbst anwende. Es ist der Fall, dass dahinter stets tanz zur Soziologie Luhmann hier Soziologie betreibt
der Beobachter steckt – und zwar das, was der Beob- – und vielleicht wird erst jetzt plausibel, das Rezepti-
achter nicht beobachten kann, weil es der blinde onsverhältnis von luhmannscher Theorie und der
Fleck seiner Beobachtung ist. Dieses aus der Bewusst- Soziologie von Luhmann her zu denken und nicht
seinsphilosophie bekannte Paradox wird dann aber vom Fach her. Vielleicht hilft eine solche Umkehrung
nicht durch die Unterscheidung von Subjekt und der Erklärungsrichtung auch dabei, die Rezeption
Objekt unsichtbar gemacht – mit einem asymmetri- der Soziologie selbst soziologisch besser zu verste-
schen Interesse fürs Subjekt. Sie wird vielmehr in die hen. Deshalb soll im Folgenden an drei Beispielen ge-
Unterscheidung von System und Umwelt überführt zeigt werden, wie sich die Distanz zwischen dem
und macht damit auf die Systemreferenz aller wech- luhmannschen Theorieprogramm und einer Sozio-
selseitigen Beobachtung aufmerksam – und damit logie aufbaut, die die Unterscheidung zwischen dem,
auf Gesellschaft. Erst dann kann man sehen, dass »was der Fall ist« und dem, »was dahinter steckt«
man nur sehen kann, was man sehen kann. Und erst eben nicht als Unterscheidung, sondern nur als zwei
dann wird stets die Systemreferenz wichtig – sowohl alternative Möglichkeiten ansieht. Dabei kann keine
im Gegenstandsbereich der Soziologie als auch für auf Vollständigkeit zielende Analyse von Rezeptions-
die Soziologie selbst. routinen und -hindernissen erfolgen. Es geht hier le-
Luhmann entfaltet damit das Programm einer So- diglich um Illustrationen einer Distanz, die für die
ziologie der Soziologie, wie sie in der Antrittsvorle- Rezeption der luhmannschen Theorie in der Sozio-
sung bereits angekündigt war, indem er zeigt, dass logie prägend ist.
auch die Soziologie nur sehen kann, was sie sehen
kann – dass sie aber mit der besonderen Reflexions-
möglichkeit ausgestattet sein könnte, der Gesell-
Soziologie 403

Habermas-Luhmann-Debatte Ohne die Differenzen von Luhmann und Haber-


mas hier entfalten zu können, sollte schon deutlich
Das erste illustrative Beispiel stammt aus der soge- geworden sein, wie Habermas letztlich so etwas wie
nannten »Habermas-Luhmann-Debatte« aus dem eine generationstypische Theorie der Gesellschaft
Jahre 1971. Im Suhrkamp Verlag erschien ein Diskus- formulierte, die über Wertgeneralisierung und -be-
sionsband zwischen Jürgen Habermas und Niklas gründung (hier übrigens näher an Parsons als Luh-
Luhmann mit dem Titel Theorie der Gesellschaft oder mann) Kriterien gelingender Vergesellschaftung und
Sozialtechnologie, von dem man sicher sagen kann, Ideologiekritik formulieren kann, während für Luh-
dass er Luhmann einer breiteren soziologischen und mann der Ideologiebegriff ein Derivat der System/
intellektuellen Öffentlichkeit bekannt gemacht hat – Umwelt-Differenz ist. Ideologien sind dann funktio-
gewissermaßen als konservativen Gegenpart zum nale Lösungen für das Problem einer standortgebun-
führenden Kopf der zweiten Generation Kritischer denen, d. h. systemrelativen Bearbeitung von Bezugs-
Theorie. Der Titel des Buches markiert letztlich die problemen. Sie haben somit etwas Produktives, wie
Stimmungslage der Diskussion. An einem kleinen er etwa am Beitrag der Rechtsdogmatik für interne
Ausschnitt der Debatte lässt sich das nachverfolgen. Freiheitsgrade des Rechtssystems zeigt. Das Problem
Habermas nimmt Luhmanns Systembegriff des der Komplexität ist demzufolge tatsächlich das Pro-
Handlungssystems auf und kritisiert an Luhmann, blem ihrer Bewältigung und Bearbeitung – nichts
dass dieser zwischen Handlungstypen keinen katego- weiter.
rialen Unterschied mache, sondern letztlich nur ei- Man muss sich wohl vergegenwärtigen, in welcher
nen empirischen. Daraus, so Habermas, lasse sich Zeit diese Diskussion stattgefunden hat. Während
kein Vorrang kommunikativer Handlungstypen ab- sich die empirische Sozialforschung professionali-
leiten, weswegen Werte nur mehr funktional be- sierte, hat die Gesellschaftstheorie v. a. in Auseinan-
trachtet werden könnten. »Die Systemtheorie läßt dersetzung mit marxistischen Positionen und der
allein den Typus zweckrationalen Handelns zu und Kritischen Theorie für das ›Dahinter‹ optiert. Sie hat
trifft damit auf analytischer Ebene eine Vorentschei- dabei den Rekurs auf Gesellschaft selbst schon als
dung, die ausschließt, daß der Übergang von kom- eine kritische Stellungnahme stilisiert, während Luh-
munikativem zu monologischem Handeln als ein mann, gerade berufener Professor aus Bielefeld, bis
empirischer Zusammenhang überhaupt thematisiert dato in erster Linie als Verwaltungsjurist bekannt
werden kann. Deshalb müssen ›Werte‹ als Randbe- war. An der Universität Münster, hier: Sozialfor-
dingungen zweckrationalen Handelns irrational schungsstelle Dortmund, beschäftigte er sich mit
bleiben; ihr Geltungsanspruch kann nur noch als ein Komplexitätsproblemen und der Frage ihrer zu-
Faktum hingenommen, nicht mehr kritisch geprüft nächst organisationsgestützten Reduktion, bevor er
werden« (TGS, 250). dies zu einer Theorie sozialer Systeme und Gesell-
Habermas verwendet hier gewissermaßen die Un- schaftstheorie ausgearbeitet hat. Rezeptionssperren
terscheidung, was der Fall sei und was dahinter stecke waren damit vorprogrammiert – und als konservativ
– und optiert für den Vorrang der zweiten Frage, musste dies schon deshalb erscheinen, weil die Er-
während Luhmann in seiner Antwort keinen Vor- kenntnisinteressen (sic!) so offenkundig unter-
rang einräumen will – für keine der beiden Seiten –, schiedlich waren.
sondern im Begriff der Komplexität die Einheit der Letztlich war Luhmann also in der ersten Auf-
Unterscheidung markiert. Er wehrt sich gegen Ha- merksamkeitsphase seines Werkes so etwas wie ein
bermas’ Ansinnen, »Systemtheorie auf den Typus Sparringspartner für die Kritische Soziologie – u. a.
zweckrationalen Handelns« zu beschränken, um mit dem Effekt, dass der spätere Starnberger Haber-
dann die Unterscheidung zum kommunikativen mas in der Theorie des kommunikativen Handelns
Handeln ganz einzuziehen. »Für mich ist jedoch (1981) mit seinem zweistufigen Gesellschaftsbegriff
zweckrationales Handeln ebenso problematisch ge- durchaus Konzessionen an den Systembegriff ge-
worden wie praktische Wahrheit, und letztlich aus macht hat – freilich geschützt einerseits durch die
dem gleichen Grunde. Mir scheint, daß weder prak- Zweistufigkeit, in der die Unterscheidung von Luh-
tische Diskurse noch zweckrationale Handlungspla- manns Abschiedsvorlesung gewissermaßen nicht als
nungen in ihren historisch entwickelten Formen und Einheit, sondern als zwei unterschiedliche Beobach-
Grenzen ihrer Möglichkeiten dem Problem gerecht terperspektiven mit am Ende dann doch eigenen
werden können, das ich als zentral ansehe: dem Pro- Seinsregionen eingeführt wird. Andererseits behielt
blem der Komplexität« (TGS, 294). Habermas stets die Formulierung der Systeme
404 Rezeption

»zweckrationalen Handelns« bei, um die Differenz zum guten Teil deshalb in ihren Antworten über-
eindeutig zu markieren. Was die Rezeption Luh- zeugt. In der wissenschaftlichen Evolution treten da-
manns in der soziologischen Öffentlichkeit tatsäch- gegen an deren Stelle theorieabhängige wissenschaft-
lich geprägt hat, war, dass Luhmann all die Begriffe, liche Probleme, deren Lösungen nur noch im
die der Soziologie als engagierter Disziplin ans Herz wissenschaftlichen Kontext beurteilt werden kön-
gewachsen sind – Ideologie, Subjekt, Kritik, Gesell- nen« (GG, 23). Hier liegt nun ein Fall vor, in dem sich
schaft etc. –, theoretisch technisiert und in die zweite Luhmann zur Formulierung eines ironisch ›natürli-
Reihe der historischen und empirischen Begriffe ver- ches Problem‹ genannten Phänomens entschließt,
bannt hat. Das war nichts weniger als eine Provoka- und schon wird die Systemtheorie für die Soziologie
tion, die bis heute andauert – und in der Debatte mit interessant. Die »unvermutete Entdeckung der leib-
Habermas Anfang der 1970er Jahre ihren seman- haftigen Menschen und der Not in der Welt durch die
tisch-ästhetischen Ausdruck zu finden begann. Systemtheorie« (Esser 2000) wird gefeiert; oder es
wird anerkannt, dass auch die Systemtheorie »das
Problem, das die Massenarbeitslosigkeit für die Inte-
Inklusion/Exklusion grationsfähigkeit auch der Gesellschaft der Bundes-
republik aufwirft, nicht mehr übersehen« kann
In den 1990er Jahren hat in der deutschsprachigen (Kronauer 1997, 30) – dabei scheint doch gerade die-
Soziologie eine Debatte über Inklusion und Exklusi- ses Theoriestück und v. a. das angedeutete Beispiel
on stattgefunden. Diese Debatte bewegte sich v. a. im noch am wenigsten dazu geeignet zu sein, den ›Men-
Bestimmungsbereich einer angemessenen Theorie schen‹ und die ›Ungleichheit‹ zu entdecken (vgl.
sozialer Ungleichheit. Luhmann hatte auf einer Kon- dazu Nassehi 2006a).
ferenz 1994 an der Universität Hamburg über »Mo- Diese Reaktion ist symptomatisch für das Verhält-
dernität und Barbarei« einen Vortrag gehalten, in nis von Luhmanns Soziologie und dem Fach. Die
dem er die Unterscheidung von Inklusion und Ex- theorietechnische Idee der Unterscheidung von In-
klusion mit der Systemreferenz Gesellschaft ausgear- klusion und Exklusion wird nicht einmal zur Kennt-
beitet hat. Er kam zu Sätzen darüber, dass man an nis genommen. Es wird vielmehr darauf hingewie-
Extremfällen tatsächlich beobachten kann, dass etwa sen, dass an diesem – man könnte fast sagen:
in südamerikanischen Favelas Inklusionen in die schwächsten – Theoriestück von Luhmann endlich
Funktionssysteme der modernen Gesellschaft ausge- ein Andockpunkt an Luhmanns Begrifflichkeit ge-
schlossen werden. »Man findet eine in der Selbst- funden werden kann, auch wenn die Begrifflichkeit
und Fremdwahrnehmung aufs Körperliche reduzier- genau das nicht hergibt, was damit in Anspruch ge-
te Existenz, die den nächsten Tag zu erreichen sucht. nommen wird. Der Begriff der Inklusion ist nämlich
Um zu überleben, braucht man Fähigkeiten zur Ge- kein diagnostischer Begriff, sondern ein Begriff mit
fahrenwahrnehmung und zur Beschaffung des Nö- hohem Auflösevermögen; er rekurriert nicht auf
tigsten; oder auch Resignation und Gleichgültigkeit hochschwellige Teilnahmevoraussetzungen – auch
in bezug auf bürgerliche Bewertungen – Ordnung, wenn Luhmann noch Anfang der 1980er Jahre allzu
Sauberkeit, Selbstdarstellung mit eingeschlossen. stark an die normative Erwartung der Vollinklusion
Und wenn man das, was man so sieht, hochrechnet, als evolutionärer Errungenschaft abzielt (vgl. GS1,
könnte man auf die Idee kommen, daß dies die Leit- 168). Was mit dem Inklusionsbegriff bezeichnet
differenz des nächsten Jahrhunderts sein könnte: In- wird, meint keineswegs eine Art Aufgehobensein des
klusion und Exklusion« (Luhmann 1996, 227 f.). handelnden Individuums in sozialen Systemen. Bei
Es soll hier nun nicht die Frage nach der Plausibi- Luhmann heißt es lapidar: »›Inklusion bezeichnet
lität des Arguments diskutiert werden – denn Zweifel […] die innere Seite der Form, deren äußere Seite
sind womöglich angebracht, ob Luhmanns Exklusi- ›Exklusion‹ ist. Von Inklusion kann man also nur
onsbegriff operativ genug gebaut ist (vgl. dazu Nas- sprechen, wenn es Exklusion gibt« (Luhmann 1994,
sehi 2011, 161 ff.). Von Interesse ist hier die Reaktion 20). ›Inklusion‹ bezeichnet in diesem Sprachge-
auf Luhmann. Changierend zwischen Spott und An- brauch jenen Mechanismus, nach dem »im Kommu-
erkennung scheint man endlich von Luhmann ›na- nikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also
türliche Fragen‹ beantwortet zu bekommen. Im für relevant gehalten werden« (ebd.). Der theoreti-
ersten Kapitel von Die Gesellschaft der Gesellschaft sche Hintergrund dieser Figur ist bekannt: Es geht
schreibt Luhmann: »Die Tradition hatte, wenn man nicht mehr um die Gesamtintegration von Menschen
so sagen darf, auf natürliche Fragen geantwortet und in soziale Strukturen, sondern um die Frage, wie
Soziologie 405

Menschen durch Kommunikation als Personen be- stimmte Systemreferenzen sehen, was sie sehen, und
handelt werden und so an unterschiedliche soziale warum sie nicht sehen können, was sie nicht sehen.
Interaktions-, Organisations- und Funktionssysteme
gekoppelt werden können. Der Vorteil dieses Mo-
dells besteht darin, die Differenziertheit der moder- Handeln und Strukturen
nen Gesellschaft und die soziale Lagerung von
Personen innerhalb eines Theorierahmens beschrei- Ein drittes Beispiel typischer Rezeption schließt an
ben zu können und auf die besondere multiinklusive das Inklusion/Exklusion-Beispiel an. Eine gewisse
Form moderner Lebenslagen aufmerksam zu ma- Versöhnung der Soziologie mit der luhmannschen
chen. Soziologie kann man dort beobachten, wo man über-
›Inklusion‹ bezeichnet keinerlei Mitgliedschafts- individuelle Strukturen gegen die individuellere Ebe-
bedingungen, chiffriert nicht wie in Parsons’ Gesell- ne von Akteuren identifiziert. So wird gerne die Frage
schaftstheorie Zugehörigkeitsbedingungen zu einer verhandelt, ob man die Bildung sozialer Systeme eher
›gesellschaftlichen Gemeinschaft‹ oder auch nur zu als Konstitution »von oben« oder »von unten« den-
einem normativ integrierten Geltungsraum. ›Inklu- ken sollte (vgl. etwa Esser 2000, 259). Dieses Ver-
sion‹ ist zunächst lediglich ein technischer Begriff, ständnis denkt Akteure und Strukturen als unter-
der darauf abstellt, dass soziale Systeme in ihrer schiedliche Entitäten und verfolgt mit dem Begriff
emergenten Operationsweise darauf angewiesen der Handlung letztlich die Bearbeitung jenes ›natür-
sind, auf Menschen/Akteure/Personen zuzugreifen. lichen‹ Problems, wie sich individuelle Personen im
Wenn man nicht vorschnell jede Form der Teilhabe Bestimmungsbereich sozialer Dynamiken behaup-
am Kommunikationsprozess durch komplizierte ten können. So kann man durchaus soziologische
Präsuppositionen einschränkt, wenn man also einen Theorie betreiben – und gerade die empirische Sozi-
möglichst einfachen Begriff der Inklusion bildet, alforschung qualitativer wie quantitativer Natur lebt
dann wird sich daraus eine erheblich größere Band- davon, denn am einfachsten lassen sich Akteure be-
breite dessen ergeben, was der Begriff empirisch be- obachten, womit freilich nur gezeigt werden kann,
zeichnen könnte. Jedenfalls wird nicht weiter disku- dass die Soziologie dasselbe macht wie die Gesell-
tiert, dass es einen Unterschied macht, ob der Begriff schaft. Sie rechnet zu und zieht daraus ihre Schlüsse.
als Theoriebegriff auf bestimmte theorietechnische Und sie macht in dieser Zurechnung Strukturen aus.
Probleme verweist, die dann gerade für die Beschrei- Exakt darum freilich geht es einer systemtheoreti-
bung sozialer Ungleichheit erhebliche Folgen haben schen Perspektive nicht. Sie macht den Beobachter
könnten – für eine Soziologie sozialer Ungleichheit sichtbar, also das, was dahinter steckt, wenn etwas so
wohlgemerkt, die letztlich Ungleichheit als Inklusi- offenkundig der Fall ist. Und insofern lassen sich
onsfolge und Exklusionen als Grenzfälle der System- Handlungen/Kommunikationen eben nur aus ihrer
referenz ›Gesellschaft‹ und als Regelfall mit der jeweiligen Systemreferenz verstehen. Der ›Akteur‹
Systemreferenz ›Organisation‹ diskutieren müsste. wäre dann so etwas wie ein Zurechnungspunkt, der
Vielleicht hätte aber schon der Hinweis genügt, unvermeidlich eingelassen ist in kommunikative
dass ein sozialpolitischer sich von einem soziologi- Strukturen und Prozesse – übrigens nicht nur re-
schen Begriff der Inklusion/Exklusion unterscheiden striktiv, sondern auch mit seinen Freiheitsgraden.
müsse (vgl. dazu Nassehi 2008) – jedenfalls dürfte Wenn man im Sinne Luhmanns den Akteursbezug
deutlich geworden sein, welche Konsequenzen es für nicht summarisch, sondern systematisch in dieser
die Soziologie hätte, wenn überhaupt die Systemre- Weise formuliert, dann können Akteure und Struk-
ferenz eine Referenz fürs soziologische Denken wäre. turen nicht mehr als Gegensätze gedacht werden. Re-
Das aber wird von der soziologischen Fachdiskussion levant wird dann wieder die Systemreferenz.
nicht registriert – also nicht einmal abgelehnt, son- Die Stabilität der Differenzierungsform ist damit
dern nicht einmal registriert. Lieber diskutiert man nicht die Voraussetzung für kommunikative Opera-
dann die Frage nach der Integrationsmöglichkeit der tionen, sondern sie hat sich je neu in praxi zu bewäh-
»beiden Gesellschaftstheorien« (vgl. Schwinn 2004), ren. Es ist vielleicht diese Ironie, die das Besondere
um sich dann doch mit den abgesteckten Claims zu- der luhmannschen Gesellschaftstheorie ausmacht.
frieden zu geben. Vielleicht müsste die Soziologie im Das soziologische Publikum ist daran gewöhnt, in
Sinne von Luhmanns Abschiedsvorlesung wieder seiner Lieblingsunterscheidung, eine system- von ei-
marxistischer werden, um an Luhmann anschließen ner akteurs- oder handlungstheoretischen Soziologie
zu können, denn dann kann man sehen, warum be- zu unterscheiden, das Systemhafte als das Stabilisie-
406 Rezeption

rende zu betonen, das Handlungen und Handelnde vertierten Insuffizienz zu lesen, als arbeite sie mit ei-
einschränkt, und den Akteur oder die Handlung als ner komplementären Selbstbeschränkung zu inter-
jenes dynamisierende Element, das Systeme zum aktionistischen Theorien. Die erfolgreiche Narration
Wandel zwingt oder das sich kreativ den Stabilitäts- vom »mangelnden Akteursbezug« der Systemtheorie
zumutungen entzieht. Man kann dann entweder den und von der Notwendigkeit einer »handlungstheore-
individuellen Akteur als Modell für die Dynamisie- tischen« (d. h. mikrosoziologischen) Ergänzung der
rung von einschränkenden Situationen stilisieren »systemtheoretischen« (d. h. makrosoziologischen)
(vgl. etwa Esser 1996; 2003) bzw. das Individuum als Perspektive, wie sie etwa von Uwe Schimank (2000)
Träger des Sozialen auffassen und es zugleich als Pro- vorgetragen wird, reproduziert nur jene lehrbuch-
testant gegen den Katholizismus der Strukturen pro- adäquaten Rubrizierungen der Soziologie in mikro-
movieren (vgl. etwa Joas 1992). Oder aber man und makrotheoretische Felder. Diese Sprichwörter
versöhnt die Struktur mit dem Akteur und fügt einer der Disziplin zeugen nur davon, dass der soziologi-
reduzierten Menge ›System‹ einen angemessenen sche Gegenstandsbezug dessen, was die Potenz von
Anteil ›Akteur‹ hinzu: Dosis sola facit venenum. Luhmanns Soziologie ausmacht, letztlich ungeklärt
So verfährt etwa Uwe Schimank (1996, 2000), der und unbegriffen bleibt.
für das System und für den Akteur zwar nicht unter-
schiedliche Seinsregionen reserviert, in ihnen aber
gewissermaßen widerstrebende Beharrungskräfte Fazit
sieht, die einerseits dem Common Sense soziologi-
scher Normalbegriffe entsprechen, andererseits aber Ohne Zweifel ist die hier vorgenommene Darstellung
gerade das interessanteste Bezugsproblem einer der eigentümlichen Distanz zwischen Luhmann und
Theorie sozialer Systeme theoretisch wegversöhnen, seinem Fach bei gleichzeitig hoher Aufmerksamkeit
die Frage des Aufbaus von Ordnung nämlich. Das sowie die Illustration an drei Beispielen durchaus
theoretische Problem einer Theorie operativer, tem- idiosynkratisch ausgefallen. Deutlich sollte freilich
poralisierter sozialer Systeme besteht darin, ihren geworden sein, dass der Eindruck, den eine gleichzei-
Aggregatcharakter selbst zu temporalisieren, ohne tige Lektüre von Luhmanns Antritts- und Abschieds-
ihn aufzugeben. Gesellschaft ist dann keine Entität, vorlesung macht, kein Zufall ist. Dabei geht es in
keine Allgemeinheit, als deren vermittelte Entäuße- dieser Rekonstruktion nicht um die Frage, ob Luh-
rung das Besondere geschieht, sondern nur noch ein manns Theorievorschlag zustimmend oder ableh-
Horizont aller möglichen Kommunikationen, deren nend diskutiert wird. Vielmehr erhärtet sich der
unwahrscheinliche Struktur sich durch die Erhö- Eindruck, dass der Theorievorschlag einer völligen
hung ihrer Annahme- und Ablehnungswahrschein- Neuformierung des Gegenstandsbezuges der Sozio-
lichkeit ergibt. So kann sich eben keine Geldzahlung logie kaum zur Kenntnis genommen wird. Es wird le-
der Logik des Ökonomischen entziehen, wie sich diglich die Irritation registriert, die sich mit den
Glauben immer ›religiös‹ vorfindet oder wie sich Begriffsverschiebungen ergibt, nicht aber eine wirk-
noch die ästhetische Dementierung der Kunst an der lich systematische Diskussion der Konsequenzen, die
Kunst zu bewähren hat. Aber erreicht werden kann eine Umstellung auf Beobachtungsverhältnisse für
die Struktur dessen, was als Ökonomie, Religion oder eine Soziologie hätte, die dann mit anderen Unter-
Kunst einen kommunikativen Sog erzeugt, nicht. scheidungen arbeitet als üblich. Ob dem dann zuge-
Man muss sich (die funktional differenzierte) Gesell- stimmt wird oder nicht, wäre nicht die entscheidende
schaft also als einen unerreichbaren Horizont von Frage.
Kommunikationen vorstellen – wäre er erreichbar, er Insofern kann man womöglich behaupten, dass
wäre kein Horizont –, in dem mit Hilfe symbolisch eine ernsthafte Rezeption Luhmanns in der Soziolo-
generalisierter Kommunikationsmedien Anschluss- gie erst beginnen müsste – und zu hoffen bliebe, dass
zusammenhänge höherer Wahrscheinlichkeit entste- das nicht als Klassikerexegese geschieht, die Luh-
hen, die sich als Funktionssysteme dann schließen, mann ja bekanntlich als Perpetuierung der Beschäf-
wenn sie im Hinblick auf ihre Funktion nicht-substi- tigung mit Namen ansieht, deren Legitimation dann
tuierbar geworden sind. in der Perpetuierung vorheriger Beschäftigung liegt.
Es ist in der Rezeption Luhmanns üblich, die Zu- Womöglich würde es weiter helfen, Luhmanns So-
ständigkeit einer systemtheoretischen Perspektive al- ziologie innerhalb der soziologischen Fachgeschichte
lein auf eine gesellschaftstheoretische Perspektive zu genauer zu verorten. Man stößt dann auf zwei unter-
limitieren. Sie ist aber nicht im Sinne einer bloß in- schiedliche Diskursstränge der Soziologie, die sich
Soziologie 407

v. a. dadurch unterscheiden, inwiefern sie sich darauf analyse. Vorschläge für eine anstehende Debatte«. In:
einlassen, in Distanz zu jenen Erfahrungen zu gehen, Bude/Willisch 2006, 27–45.
Luhmann, Niklas: »Soziologische Aufklärung« [1967]. In:
die Luhmann als ›natürliche‹ Erfahrungen beschreibt
SA1, 66–91.
– also solche, die die Gesellschaft sich selbst zur –: »Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische
Selbstplausibilisierung anbietet (vgl. dazu ausführ- Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft«.
lich Nassehi 2006b). In der Abschiedsvorlesung je- In: GS1, 162–234.
denfalls wird besonders betont, dass die Soziologie –: »›Was ist der Fall?‹ und ›Was steckt dahinter?‹. Die zwei
sich in einer Gesellschaft vorfindet, die sich stets und Soziologien und die Gesellschaftstheorie«. In: Zeitschrift
für Soziologie 22. Jg., 4 (1993), 245–260.
immer wieder und immer unterschiedlicher selbst –: »Inklusion und Exklusion«. In: Helmut Berding (Hg.):
beschreibt. Es lohnt sich also, mehr Aufmerksamkeit Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien
darauf zu legen, was eine soziologische von anderen zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins der Neu-
Selbstbeschreibungen der Gesellschaft unterscheidet. zeit 2. Frankfurt a. M. 1994, 15–45.
–: »Jenseits von Barbarei«. In: Max Miller/Hans-Georg
Soeffner (Hg.): Modernität und Barbarei. Soziologische
Literatur Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt
a. M. 1996, 219–230 (nachgedruckt in: GS4, 138–150).
Ashby, William Ross: Einführung in die Kybernetik. Frank- Nassehi, Armin: »Die paradoxe Einheit von Inklusion und
furt a. M. ²1985. Exklusion. Ein systemtheoretischer Blick auf die ›Phäno-
Baecker, Dirk: »Wenn etwas der Fall ist, steckt auch etwas mene‹«. In: Bude/Willisch 2006a, 46–69.
dahinter«. In: Rudolf Stichweh (Hg.): Niklas Luhmann – –: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.
Wirkungen eines Theoretikers. Gedenkcolloquium der 2006b.
Universität Bielefeld am 8. Dezember 1998. Bielefeld –: »Exklusion als soziologischer oder als sozialpolitischer
1999, 35–48. Begriff?«. In: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hg.): Exklu-
Berghaus, Margot: Luhmann leicht gemacht. Wien 2004. sion. Die Debatte über die ›Überflüssigen‹. Frankfurt
Bude, Heinz/Willisch, Andreas (Hg.): Ausgegrenzte, Ent- a. M. 2008, 121–130.
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Dieckmann, Johann: Luhmann-Lehrbuch. München 2004. modernen Gesellschaft II. Berlin 2011.
Esser, Hartmut: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frank- Reese-Schäfer, Walter: Luhmann zur Einführung. Hamburg
furt a. M./New York 21996. 1996.
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class‹: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spal-
tung«. In: Leviathan 25. Jg., 1 (1997), 29–49.
–: »›Exklusion‹ als Kategorie einer kritischen Gesellschafts-
408 Rezeption

15. Theologie in denen es um existentielle Probleme geht, Vertrau-


en und damit der Beziehungsaspekt eine grundle-
gende Rolle. Eine immer höher getriebene Ausdiffe-
Historischer Überblick renzierung vernachlässigt diesen ›quasi-ganzheitli-
chen‹ Beziehungs- und Vertrauensaspekt und erweist
Die Rezeption der Religions- und Systemtheorie sich deshalb gerade im Kontext von Religion und Kir-
Luhmanns erfolgte in der Theologie schon früh. Be- che tendenziell als dysfunktional (vgl. Karle 2008).
reits vor Erscheinen von Funktion der Religion (1977) Sehr früh hat sich auch schon die liberale, subjek-
haben sich vor allem Praktische und Systematische tivitätstheoretisch basierte Theologie mit Luhmann
Theologen mit Niklas Luhmann auseinandergesetzt auseinandergesetzt. Mit Luhmann versuchte man
und das Gespräch mit ihm gesucht (vgl. u. a. Dahm/ hier zu begründen, dass Sinn und Welt immer schon
Luhmann/Stoodt 1972; Kaefer 1977). Hintergrund passiv konstituiert sind (vgl. u. a. Herms 1974). Als
war die durch die Studentenbewegung und Indivi- durch spätere Publikationen Luhmanns unüberseh-
dualisierungsprozesse Ende der 1960er Jahre ausge- bar wurde, dass diese Rezeption ein tiefgreifendes
löste Verunsicherung der Institution Kirche. Die Missverständnis darstellt, hat sich die transzenden-
Frage nach der Funktion von Religion für die Ge- talphilosophisch argumentierende Theologie von
sellschaft war in diesem Zusammenhang von größ- Luhmann weithin abgewandt. Die Rezeption Luh-
tem Interesse für eine Theologie, die sich nicht manns war innerhalb der Theologie niemals unum-
länger offenbarungspositivistisch dem interdiszipli- stritten. Insbesondere das konstruktivistische Theo-
nären Gespräch verweigern wollte, sondern sowohl riedesign, das mit dem Autopoiesiskonzept offen
wissenschaftsintern als auch im Hinblick auf die kon- zutage trat, hat heftige Immunreaktionen innerhalb
krete Ausbildung von Pfarrer/innen und Religions- der Theologie ausgelöst und wirkt bis heute vielfach
lehrer/innen den Kontakt mit der Soziologie suchte, polarisierend.
um eine realistischere Beschreibung der Gesellschaft Einen weiteren Rezeptionsstrang initiierte Micha-
und ihrer strukturellen und semantischen Bedingun- el Welker, der sich nicht nur mit der Religionstheorie
gen zu gewinnen. Luhmanns, sondern auch mit der Systemtheorie ins-
Für diese frühe Phase sind besonders die Arbeiten gesamt konstruktiv auseinandersetzte (Welker 1985;
von Karl-Wilhelm Dahm (Dahm 1972; Dahm/Luh- Welker/Krawietz 1992). Für Welker ist es unbestreit-
mann/Stoodt 1972) hervorzuheben, der mit Luh- bar, dass die Theologie ›gepflegter Außenbeobach-
mann zeigen wollte, dass Religion und Kirche auch in tungen‹ bedarf, um einem unrealistischen Selbstver-
der Moderne noch eine unverzichtbare Funktion er- ständnis vorzubeugen. Die Theologie brauche kriti-
füllen. Entsprechend analysiert Dahm den Pfarrbe- sche Beobachter, »die den Finger nicht in vernarbte,
ruf nicht nur im Binnenhorizont der Kirche, sondern sondern offene Wunden legen und die komplexe kul-
versucht ihn im Kontext gesellschaftlicher Erwartun- turelle Entwicklungen, Perzeptionsweisen und do-
gen und Herausforderungen zu beschreiben und sei- minierende Ansprüche der Gegenwart hochzurech-
ne Funktion (Wertevermittlung und helfende Beglei- nen suchen« (Welker 1991, 151). Es geht Welker
tung) zu bestimmen. Strukturell befürwortet Dahm insofern nicht um eine Soziologisierung der Theolo-
im Anschluss an Luhmanns Theorie der funktiona- gie, sondern um eine verbesserte theologische Selbst-
len Differenzierung eine weitere interne Ausdifferen- reflexion (vgl. Dallmann 2000, 223). Welker selbst
zierung des Pfarrberufs und der kirchlichen Dienste hat Luhmanns Religionsbegriff und die Systemtheo-
(vgl. Dahm 1972). Diese Schlussfolgerung wird ei- rie als unterkomplex kritisiert, zugleich aber die Aus-
nerseits noch im 21. Jahrhundert breit rezipiert, an- einandersetzung mit der luhmannschen Theorie in
dererseits wird ihr – wiederum im Anschluss an seinem engeren und weiteren Umfeld gefördert. Er
Luhmann – auch widersprochen: Aus der Tatsache, ist überdies einer der wenigen Theologen der Gegen-
dass die moderne Gesellschaft durch das primäre wart, mit denen sich Luhmann (in RdG) selbst aus-
Strukturprinzip der funktionalen Differenzierung einandersetzte.
bestimmt ist, resultiert nicht, dass funktionale Diffe- Die folgende Zusammenfassung der theologi-
renzierung und Professionalisierung auf allen Ebe- schen Auseinandersetzung mit dem luhmannschen
nen ständig weiterzutreiben sind. Zum einen bleiben Werk orientiert sich an den zentralen Theorieele-
segmentäre und stratifizierte Differenzierungsfor- menten, die jeweils die Anschlüsse geprägt haben
men in der Moderne als sekundäre Differenzierungs- (vgl. Dallmann 1994).
formen erhalten. Zum anderen spielt in Kontexten,
Theologie 409

Interaktions-, Kommunikations- und Dynamiken der Wirklichkeitskonstruktion in


und Medientheorie den Medien aufmerksamer und differenzierter wahr-
zunehmen und zugleich die leiblich-konkreten For-
Die Kommunikationstheorie Luhmanns wurde ins- men kirchlicher Kommunikation nicht zu unter-
besondere in der Praktischen Theologie, aber auch in schätzen (Thomas 1998).
der Systematischen Theologie rezipiert. Sie erlaubt Bernd Oberdorfer hat die Kommunikationstheo-
es, interaktive und massenmediale Kommunikati- rie Luhmanns für eine Interpretation Friedrich
onsformen zu unterscheiden und damit zugleich die Schleiermachers, des bedeutendsten protestanti-
besondere Typik seelsorgerlicher und gottesdienstli- schen Theologen des 19. Jahrhunderts, als ›Vorsys-
cher Kommunikation zu erfassen (Karle 1996; Din- temtheoretiker‹ genutzt und Schleiermacher von
kel 2002). Das ist zum einen von erheblicher einer subjekttheoretischen Engführung in der Wahr-
Bedeutung für den Begriff der Öffentlichkeit, der nehmung seines Werkes befreit. Oberdorfer zeigt,
nicht auf den der massenmedialen Öffentlichkeit zu dass Schleiermachers Denken zutiefst sozialtheore-
reduzieren ist, sondern auch fragile, auf Anwesenheit tisch orientiert ist. So beschreibt Schleiermacher
basierende ›authentische‹ Öffentlichkeiten (Welker) mehrstellige soziale Wahrnehmungs- und Kommu-
wie Gottesdienste umfasst. Zum anderen ist die Un- nikationsprozesse und vermag es, die Auswirkungen
terscheidung von interaktionsbasierter und massen- sozialer Resonanz auf die individuelle Selbstwahr-
medialer Kommunikation elementar im Hinblick nehmung höchst subtil darzustellen. Schleiermacher
auf die Bedingungen des Gelingens von Kommuni- differenziert öffentliche, private, rechtliche, morali-
kation. Methodologisch geht Luhmann bekanntlich sche und intime Perspektiven und Wahrnehmungs-
von der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von kriterien und zeigt ein großes Interesse an den
Kommunikation aus und lenkt damit die Aufmerk- »Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen selbst-
samkeit auf die Frage danach, welche Bedingungen bildungsförderlicher Sozialformen« (Oberdorfer
erfüllt sein müssen, damit Kommunikation an Kom- 1995, 10).
munikation anschließen kann und nicht etwa ab- Auch auf die Rezeption Luhmanns bei Johann
bricht. Wie können Störungen möglichst vermieden Hafner ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen.
werden? Wie kommt es überhaupt zur vorausset- Hafner beschreibt mit Hilfe von Luhmanns Kommu-
zungsreichen Kommunikation unter Anwesenden? nikationstheorie die kommunikativen Eigendynami-
Wie entsteht das für interaktionsbasierte Kommuni- ken synodaler Prozesse, die institutionell nicht
kation grundlegende Vertrauen? Dazu hat Luhmann steuerbar sind und die das Selbsterregungsniveau der
eine Fülle wertvoller Beobachtungen vorgelegt. katholischen Kirche erheblich gesteigert haben (Haf-
Im Pfarrberuf geht es um Face-to-Face-Kommu- ner 2009).
nikationen, die eine besondere Nachhaltigkeit und
Anschaulichkeit haben und anders als mediale Kom-
munikationen nicht nachträglich korrigiert oder ›ge- Autopoiesis und Individualität
löscht‹ werden können. Das macht interaktive
Kommunikation hochgradig riskant, zumal parallel Das Autopoiesiskonzept ist insbesondere im Hin-
zur Kommunikation auch noch die unmittelbare blick auf Fragen der Identitäts- und Gender-Kon-
Wahrnehmung des jeweiligen Kommunikationspart- struktion (Karle 2006), in der Reflexion der Seelsorge
ners mitläuft, durch die vieles nonverbal (und nicht- (Emlein 2006; Karle 1996; Morgenthaler 2009), aber
intentional) mitkommuniziert wird (Karle 2008; auch des Religionsunterrichtes (Büttner/Dietrich
Dinkel 2006). In religiösen Kommunikationssitua- 2004; Schmidt 2008; Gronover 2006; Büttner u. a.
tionen ist dementsprechend nicht nur nach dem In- 2007) rezipiert worden. Für die Seelsorge erwiesen
halt der Kommunikation zu fragen, sondern zugleich sich insbesondere Luhmanns soziologische Analysen
ist hier auch eine Kommunikationssituation bzw. zu den Paradoxien moderner Individualität (LaP, 55)
eine Kommunikationsatmosphäre zu schaffen, in der und zur psychischen Labilität und (notorischen) Un-
das Erleben von Kontingenz nach Möglichkeit durch zufriedenheit von Individuen in einer polykontextu-
Vertrauen ersetzt wird (Thomas/Schüle 2006, 8). ralen Welt als aufschlussreich. Für die Religionspäda-
Günter Thomas hat in der Rezeption von Luh- gogik ist Luhmanns Diagnose, dass Schulunterricht
manns Medientheorie eine aufschlussreiche Analyse gar nicht anders kann, als Schülerinnen und Schüler
vorgelegt, die die Theologie im Anschluss an Luh- als Trivialmaschinen zu behandeln, hervorzuheben:
mann herausfordert, die dominierenden Prozesse Psychische Systeme sind komplexe, selbstreferentiel-
410 Rezeption

le Systeme, die nach internen, intransparenten Re- Moral


geln auf Anregungen und Erwartungen der sozialen
Umwelt reagieren. Ihr Output ist in keiner Hinsicht Luhmann hat vielfach betont, wie riskant moralische
vorhersehbar oder bestimmbar. Jede Beobachtung Kommunikation ist. Er hat vor der moralischen
psychischer Systeme ist Black-box-Beobachtung. So- Skandalisierung gesellschaftlicher Probleme gewarnt
wohl die pädagogische als auch die seelsorgerliche und der Theologie empfohlen, sich stärker von Mo-
Kommunikation sind deshalb durch ein ausgepräg- ral abzukoppeln. Die Beschreibung moralischer
tes Technologiedefizit geprägt. Menschen ändern Kommunikation als Gabe und Entzug von Achtung
sich zwar, aber nicht teleologisch bestimmbar; ihre hat vor allem in der Homiletik (Karle 2011a, 226 ff.)
Entwicklung ist unvorhersehbar und unberechenbar. und in der Religionspädagogik (Schöpfungs- als Mo-
Input und Output sind nicht aufeinander abbildbar. raldiskurs, vgl. Büttner/Dieterich 2004) Resonanz er-
Vor dem Hintergrund der Würdigung geschöpflicher zeugt, wurde ansonsten aber auch vielfach kritisiert.
Individualität ist die religiöse Kommunikation dabei Vor allem die Vorstellung, dass Ethik lediglich Refle-
in besonderer Weise dazu herausgefordert, Sensibili- xionstheorie von Moral sein solle und nicht mehr
tät für das Nichtwissen, für die Unsicherheit, für die selbst eine normative Disziplin, ist im ethischen Dis-
Grenzen und Risiken seelsorgerlicher und pädagogi- kurs umstritten. Hans-Ulrich Dallmann versucht,
scher Kommunikation zu entwickeln (Karle 2011b). eine theologische Ethik nach und mit Luhmann zu
Unter den skizzierten Bedingungen ist es eine be- entwerfen, die die von Luhmann diagnostizierten
sondere Chance – und nicht Schwäche – von Seelsor- Probleme moralischer Kommunikation ernstzuneh-
ge, dass sie erwartungsoffen und indeterminiert ist. men und zugleich die Konflikt- und Streitnähe von
Wer Seelsorge in Anspruch nimmt, erwartet einen Moral positiv zu würdigen sucht. So sieht er eine
Freiraum, in dem er wohlwollende Unterstützung er- Funktion von Moral darin, die Funktionssysteme zur
fährt. Auf der Grundlage der luhmannschen Diffe- Selbstlimitierung anzuregen, weil Funktionssysteme
renzierungstheorie kann die theologische Argumen- dazu tendieren, sich maßlos zu überschätzen und
tation auch erklären, worin der Unterschied von auszudehnen. Moral wird dabei zur Kommunikation
Seelsorge zu anderen helfenden Kontexten besteht. des Widerspruchs. Ethik dient im Sinne Luhmanns
Anders als in der therapeutischen Begleitung muss in nicht mehr als (Letzt-)Begründung moralischer
der Seelsorge »nichts erreicht werden, […] man Kommunikation, versucht aber gleichwohl »zu re-
muss nicht an Problemen arbeiten. Seelsorge stellt konstruieren, an welchen Maßstäben sich die mora-
Zeit zur Verfügung« (Emlein 2006, 234). Seelsorge ist lische Kommunikation orientiert und mit welchen
insofern nicht primär als Veränderungsarbeit zu ver- Gründen sie gerechtfertigt wird« (Dallmann 2006,
stehen. Das Grunddesign von Seelsorge ist ein ande- 155).
res. Seelsorge ist religiöse Kommunikation. Das heißt Peter Dabrock schließt mit seinem Gerechtigkeits-
nicht, dass in der Seelsorge ständig religiöse Themen diskurs an Luhmanns Unterscheidung von Inklusi-
zu bearbeiten wären, aber es heißt sehr wohl, dass on/Exklusion an und interessiert sich für das Postulat
Seelsorge in besonderer Weise Kontingenzerfahrun- der prinzipiell möglichen Inklusion aller einerseits,
gen zu adressieren vermag. Religion symbolisiert aber auch für die faktische Exklusion vieler und ihre
und bearbeitet die Unbestimmbarkeit der Welt. Seel- prekären Folgen andererseits. Religion muss sich an
sorge muss schon aus diesem Grund keine Lösungen der Verstärkung von Exklusionskarrieren (der Exklu-
anbieten, sondern kann das Nichtwissen, den Zwei- sionsspirale nach unten) nicht beteiligen und kann
fel, die Ambiguität aushalten, gelegentlich sogar ver- Beinahe-Exklusionen aus anderen Funktionssyste-
stärken. Das Unerklärliche, ambivalent Bleibende men souverän ignorieren. Dabrock sieht die Chance
wird nicht als Ende möglicher Kommunikation, son- und Herausforderung für die Kirchen und die diako-
dern als Kommunikationsangebot betrachtet, das nischen Einrichtungen deshalb darin, Themen wie
auch im Schweigen bestehen oder auch im Gebet ›soziale Gerechtigkeit‹ und ›Würde der Person‹ nach-
oder Ritual zum Ausdruck gebracht werden kann. haltig in den sozialpolitischen Diskurs einzubringen
und »der Abwärtsspirale zunehmender Depersonali-
sierung zu begegnen« (Dabrock 2006, 145; vgl. auch
Starnitzke 1996; Karle 2001).
Theologie 411

Funktion und Organisation teraktiven Sozialbeziehungen (und damit auch von


Gemeindereligiosität) für die religiöse Sozialisation
Am breitesten wurden Luhmanns Schriften von An- systemtheoretisch rekonstruiert.
fang an bis in die Gegenwart hinein in der Debatte Die Kirchentheorie hat nachhaltig von der Religi-
über den Zusammenhang und die Unterscheidung ons- und Organisationstheorie Luhmanns profitiert.
von Kirche, Religion und Organisation rezipiert (vgl. Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung ist
u. a. Preul 1997; Kaefer 1977). Die jüngsten Publika- in dieser Subdisziplin nahezu Allgemeingut gewor-
tionen, in denen Luhmanns Religions- und Organi- den, wenngleich die Rezeption manchmal recht se-
sationstheorie eine Renaissance erfährt, sind im lektiv erfolgt.
Zusammenhang der Kirchenreformdebatte seit Mit-
te der 1990er Jahre entstanden. Aber auch in der
Dogmatik finden sich ekklesiologische Ansätze, die Religion
sich unabhängig von gegenwärtigen Entwicklungen
grundlegend mit Luhmann auseinandersetzen (vgl. Luhmanns Religionstheorie gilt gegenwärtig als an-
Wabel 2010). spruchsvollste Religionstheorie mit dem höchsten
Ein von Jan Hermelink und Gerhard Wegner Auflösungsvermögen. Die Bestimmung des Religi-
(2008) herausgegebener Sammelband setzt sich mit onscodes mit der Unterscheidung Transzendenz/Im-
Luhmanns Beitrag zur »Organisierbarkeit von Reli- manenz hat eine enorme Reichweite und öffnet das
gionen und Kirchen« (1972) nach Jahrzehnten er- breite Spektrum aller menschlichen Erfahrungen,
neut produktiv auseinander. Dies geschieht inner- nicht nur das der negativ konnotierten Kontingenz-
halb der evangelischen Kirche vor dem Hintergrund erfahrungen, einer religiösen Deutung. Religion wird
einer Debatte, die die Kirche immer mehr als moder- damit nicht (nur) als Kompensationsmodell für die
ne, ökonomisch effiziente Dienstleistungsorganisati- Deprivierten und Benachteiligten betrachtet und
on begreift und die damit in grundlegende Wider- nicht auf ihre Trostfunktion beschränkt.
sprüche zu ihrem eigenen Selbstverständnis und dem Darüber hinaus hat Luhmann mit seiner Theorie
der christlichen Religion gerät. Der Band ist Aus- funktionaler Differenzierung einen Säkularisie-
druck einer profunden Auseinandersetzung mit Luh- rungsbegriff entwickelt, der direkt an die Ausdiffe-
manns Organisations- und Religionstheorie und renzierung der Funktionssysteme gekoppelt ist und
liefert auf dieser Grundlage viele erhellende und in- auf einen neuen Inklusionsmodus, nicht aber auf ei-
spirierende Beobachtungen zu den Paradoxien kirch- nen Bedeutungsverlust von Religion in der Moderne
licher Organisation (Hermelink/Wegner 2008). hinweist. In einer funktional differenzierten Gesell-
Auch in dem von Isolde Karle herausgegebenen schaft muss jedes System die Inklusion selbständig
Sammelband Kirchenreform. Interdisziplinäre Per- und in Bezug auf seine jeweilige Funktion regeln, das
spektiven (2009) finden sich vorwiegend systemtheo- heißt für alle nicht-religiösen Funktionssysteme:
retisch akzentuierte Beiträge zu den Paradoxien der ohne religiöse Begründung. Säkularisierung ist da-
Modernisierung der Kirche. Zentraler Kritikpunkt mit nicht mit einem Funktionsverlust der Religion
ist hierbei die Beobachtung, dass sich jeweils unter- gleichzusetzen, weist aber womöglich darauf hin,
schiedliche Perspektiven aus der Differenz und Ei- dass das Religionssystem, das sich in der Moderne
gendynamik der unterschiedlichen Systemtypen auf sehr weitreichend umstellen musste und keinen all-
gesellschaftlicher, organisationeller und interaktiver gemeinen Letzthorizont mehr darstellen kann, noch
Ebene ergeben, die sich nicht zentral organisieren nicht optimal an die Bedingungen der modernen Ge-
oder vereinheitlichen lassen. Die Monographie Kir- sellschaft angepasst ist.
che im Reformstress (Karle 2011a) weitet diese Argu- Auch die Vorstellung Luhmanns, dass Religion
mentation aus und befasst sich ausführlich mit den nur das ist und sein kann, was als Religion beobachtet
prekären Folgen der Selbstökonomisierung von Kir- wird, hat erheblich zur Konturierung des Religions-
che. Die Nichtsteuerbarkeit und Nichtentscheidbar- begriffs beigetragen. Religion ist demnach nicht ein-
keit der für Kirche und Religion wesentlichen fach vage und diffus auf der Innenseite von Personen
interaktiven Kommunikationen, Ereignisse und Mo- zu verorten (und damit im Bewusstsein), sondern ge-
tivlagen (sowohl der Gläubigen als auch der Pastorin- sellschaftlich als religiöse Kommunikation erkennbar
nen und Pastoren) werden dabei akzentuiert, die und von anderen Kommunikationen unterscheid-
Funktion von Religion im Anschluss an Luhmann bar.
präzisiert und die Bedeutung von alltagsnahen, in- Etliche Elemente dieser Religionstheorie sind in-
412 Rezeption

nerhalb der Theologie allerdings auch umstritten. Literatur


Vor allem der Gottesbegriff (vgl. Dahnelt 2009; Ni-
Büttner, Gerhard/Dieterich, Veit-Jacobus (Hg.): Religion
ckel-Schwäbisch 2004; Woiwode 1997; von Scheliha als Unterricht. Ein Kompendium. Göttingen 2004.
1999) und der Code der Religion in der Unterschei- Büttner, Gerhard/Scheunpflug, Annette/Elsenbast, Volker
dung von Transzendenz und Immanenz werden kon- (Hg.): Zwischen Erziehung und Religion. Religionspäd-
trovers diskutiert. Günter Thomas (2006) macht im agogische Perspektiven nach Niklas Luhmann. Münster
Anschluss an die jüdisch-christliche Tradition Vor- 2007.
Dabrock, Peter: »Inklusion und soziale Gerechtigkeit. Zur
schläge zu einer konstruktiven Weiterentwicklung theologisch-ethischen Deutung einer Luhmann’schen
von Luhmanns Religionscode. Die Präsenz Gottes in Theoriefigur und ihrer Bedeutung für den aktuellen Ge-
der Immanenz wird dabei positiv akzentuiert und rechtigkeitsdiskurs«. In: Thomas/Schüle 2006, 129–146.
nicht als Tragik betrachtet, wie bei Luhmann, der die Dahm, Karl-Wilhelm: Beruf: Pfarrer. Empirische Aspekte
Unmöglichkeit, von der Seite der Immanenz auf die zur Funktion von Kirche und Religion in unserer Gesell-
schaft. München 21972.
Seite der Transzendenz zu gelangen, als Problem
– /Luhmann, Niklas/Stoodt, Dieter: Religion, System und
markiert. Thomas will die einfache Unterscheidung Sozialisation. Darmstadt u. a. 1972.
von Immanenz und Transzendenz durch eine sys- Dahnelt, Rainer: Funktion und Gottesbegriff. Der Einfluss
temtheoretische Reformulierung der Offenbarung der Religionssoziologie auf die Theologie am Beispiel
als Re-entry der Unterscheidung von Gott (Tran- von Niklas Luhmann und Falk Wagner. Leipzig 2009.
Dallmann, Hans-Ulrich: Die Systemtheorie Niklas Luh-
szendenz) und Welt (Immanenz) auf Seiten der Welt
manns und ihre theologische Rezeption. Stuttgart/Ber-
(Immanenz) ablösen. lin/Köln 1994.
Auch Bernd Oberdorfer (2006) setzt sich mit Luh- –: »Von Wortübernahmen, produktiven Mißverständnis-
manns Gottesbegriff auseinander. Er zeigt, dass die sen und Reflexionsgewinnen. Niklas Luhmanns System-
von Luhmann diagnostizierte Krise des Monotheis- theorie in der theologischen Diskussion«. In: Henk De
mus eine Krise des theistischen Gottesbegriffs ist, Berg/Johannes Schmidt (Hg.): Rezeption und Refle-
xion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luh-
und versucht im Rekurs auf trinitätstheologische manns außerhalb der Soziologie. Frankfurt a. M. 2000,
Konzeptionen des 20. Jahrhunderts den Gottesbe- 222–253.
griff als Kontingenzformel in der funktional differen- –: »Vom Nutzen des Dissenses. Ethik und Religion nach
zierten Moderne zu reetablieren. Luhmann«. In: Thomas/Schüle 2006, 147–160.
Bemerkenswert kreativ hat Johann Hafner Luh- Dinkel, Christoph: Was nützt der Gottesdienst? Eine funk-
tionale Theorie des evangelischen Gottesdienstes. Gü-
manns Religionscode auf die Unterscheidung Him- tersloh 22002.
mel und Erde angewandt. Himmel und Erde sind –: »Face to Face. Beobachtungen zur Bedeutung interakti-
nicht mit (absoluter) Transzendenz und Immanenz ver Kommunikation für die christliche Religion«. In:
zu identifizieren, beide stellen vielmehr Geschöpfe Thomas/Schüle 2006, 161–169.
Gottes dar, wobei der Himmel einen weitgehend un- Emlein, Günther: »Die Eigenheiten der Seelsorge. System-
theoretische Überlegungen«. In: Familiendynamik 31. Jg.
zugänglichen und unverfügbaren Schöpfungsbereich (2006), 216–239.
symbolisiert. Insofern Gott Mensch wurde, ist der Gronover, Matthias: Religionspädagogik mit Luhmann.
Präferenzwert im Christentum nicht wie in anderen Wissenschaftstheoretische, systemtheoretische Zugänge
Religionen die Transzendenz oder der Himmel. Der zur Theologie und Pragmatik des Fachs. Münster 2006.
christliche Gott hat vielmehr beide Welten erschaf- Hafner, Johann Evangelist: »Gott ist nicht der Himmel. Die
Notwendigkeit einer nichtgöttlichen Transzendenz.« In:
fen. Er ist innerhalb des christlichen Codes mithin Stefan Schreiber/Stefan Siemons (Hg.): Das Jenseits. Per-
»weder nur transzendent noch nur immanent, son- spektiven christlicher Theologie. Darmstadt 2003,
dern kann auf beiden Seiten vorkommen« (Hafner 143–175.
2003, 173) und steht zugleich beiden Seiten gegen- –: »Selbsterregung. Organisierte Interaktion der diözesa-
über. nen Reformprozesse in Deutschland seit der Würzburger
Synode (1971–74)«. In: Karle 2009, 97–120.
Es zeigt sich, dass Luhmann nicht nur in den so- Hermelink, Jan/Wegner, Gerhard (Hg.): Paradoxien kirch-
ziologieaffinen Bereichen der Theologie, sondern licher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchenso-
auch in der dogmatischen Selbstreflexion anregend ziologie und die aktuelle Reform der evangelischen
und impulsgebend rezipiert wurde und wird. Zu- Kirche. Würzburg 2008.
gleich bleiben wichtige Fragen offen, insbesondere Herms, Eilert: »Das Problem von ›Sinn‹ als Grundbegriff
der Soziologie bei Niklas Luhmann«. In: Zeitschrift für
im Hinblick auf die luhmannsche Religionsdefiniti-
Evangelische Ethik 18. Jg. (1974), 341–359.
on, die vielen Theologinnen und Theologen noch Kaefer, Herbert: Religion und Kirche als soziale Systeme.
nicht differenziert genug erscheint. Sie harren der N. Luhmanns soziologische Theorien und die Pastoral-
weiteren Bearbeitung und kreativen Forschung. theologie. Freiburg 1977.
Theologie 413

Karle, Isolde: Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psy- Woiwode, Matthias: Heillose Religion? Eine fundamental-
choanalytisch orientierten Seelsorgelehre. Neukirchen- theologische Untersuchung zur funktionalen Religions-
Vluyn 1996. theorie Niklas Luhmanns. Münster 1997.
–: »Funktionale Differenzierung und Exklusion als Heraus-
forderung und Chance für Religion und Kirche«. In: So- Isolde Karle
ziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 7. Jg.,
1 (2001), 100–117.
–: ›Da ist nicht mehr Mann noch Frau‹. Theologie jenseits
der Geschlechterdifferenz. Gütersloh 2006.
–: Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im
Kontext der modernen Gesellschaft. Stuttgart 32008.
– (Hg.): Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven.
Leipzig 2009.
–: Kirche im Reformstress. Gütersloh 22011a.
–: »Evangelium und Erziehung. Eine systemtheoretische
Perspektive auf die evangelische Schule«. In: Martina
Kumlehn/Thomas Klie (Hg.): Protestantische Schulkul-
turen. Stuttgart 2011b, 164–175.
Luhmann, Niklas: »Die Organisierbarkeit von Religionen
und Kirchen«. In: Jakobus Wössner (Hg.): Religion im
Umbruch. Stuttgart 1972, 245–285.
Morgenthaler, Christoph: Seelsorge. Gütersloh 2009.
Nickel-Schwäbisch, Andrea: Wo bleibt Gott? Eine theologi-
sche Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff der Sys-
temtheorie Niklas Luhmanns. Münster 2004.
Oberdorfer, Bernd: Geselligkeit und Realisierung von Sitt-
lichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleierma-
chers bis 1799. Berlin/New York 1995.
–: »Kontingenzformel ›Gott‹. Der christliche Gottesgedan-
ke unter systemtheoretischer Beobachtung – trinitäts-
theologisch beobachtet«. In: Thomas/Schüle 2006,
107–116.
Preul, Reiner: Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktio-
nen der Evangelischen Kirche. Berlin/New York 1997.
Scheliha, Arnulf von: Der Glaube an die göttliche Vorse-
hung. Stuttgart 1999.
Schmidt, Tanja: Die Bibel als Medium religiöser Bildung.
Kulturwissenschaftliche und religionspädagogische Per-
spektiven. Göttingen 2008.
Starnitzke, Dierk: Diakonie als soziales System. Eine theo-
logische Grundlegung diakonischer Praxis in Auseinan-
dersetzung mit Niklas Luhmann. Stuttgart/Berlin/Köln
1996.
Thomas, Günter: Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen
Funktion des Fernsehens. Frankfurt a. M. 1998.
–: »Kommunikation des Evangeliums – oder: Offenbarung
als Re-entry«. In: Thomas/Schüle 2006, 15–32.
– /Schüle, Andreas (Hg.): Luhmann und die Theologie.
Darmstadt 2006.
Wabel, Thomas: Die nahe ferne Kirche. Studien zu einer
protestantischen Ekklesiologie in kulturhermeneuti-
scher Perspektive. Tübingen 2010.
Welker, Michael (Hg.): Theologie und funktionale System-
theorie. Luhmanns Religionssoziologie in theologischer
Diskussion. Frankfurt a. M. 1985.
–: »Niklas Luhmanns Religion der Gesellschaft«. In: Socio-
logia Internationalis 29. Jg. (1991), 149–157.
– /Krawietz, Werner (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Sys-
teme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk.
Frankfurt a. M. 1992.
414 Rezeption

16. Wirtschaftswissenschaft temtheoretische Methode ist Ökonomen prima facie


zu fremdartig (obwohl oder weil die Ökonomik sel-
ber, als allgemeine Gleichgewichtstheorie, eine Sys-
Der Systemtheorie luhmannscher Prägung zufolge temtheorie ist); gewöhnlich haben sich Ökonomen
geht es in der Wirtschaft »um die Erkundung der Fra- angewöhnt, Soziologie generell eher nicht zu rezipie-
ge, wie in der Wirtschaft selbst beobachtet wird, was ren. Sie halten sie, in ihrer Fokussierung auf Interak-
in der Wirtschaft geschieht« (Baecker 1988, 7). Die tionen, für methodisch falsch, da sie selber einen
differenztheoretische Analyseform, die mit keiner in- methodologischen Individualismus pflegen, der
nerhalb der Ökonomie entwickelten Methode und ohne Bezugnahme auf das Handeln anderer auszu-
Theorie konform geht, tritt mit dem Anspruch auf, kommen meint. Dennoch ist es erstaunlich, dass
herauszufinden, »welche Umstellungen in der Wirt- nicht einmal Kritiken existieren; der Aufwand, sich in
schaftstheorie möglich werden« (ebd., 7). Bisher ist diese Denkungsart einzulesen, ist Ökonomen offen-
das Angebot in der Ökonomie kaum aufgenommen bar zu hoch, da sie sich für ihre Konstruktionen so-
worden. Die Wirtschaft arbeitet nicht nach Automa- wieso keinen Gewinn versprechen.
tismen, die von außen beschrieben werden können. In der folgenden Darlegung wird unterschieden
»Operationen wie Zahlungen, Transaktionen und zwischen (1) Ökonomen, die die luhmannsche
Entscheidungen fallen im System an, und sie fallen Theorie für die Konzeptualisierung der ökonomi-
auf. Sie sind Ereignisse, aus denen das Wirtschafts- schen Theorie verwenden, sodann (2) Ökonomen,
system besteht. Diese Ereignisse reproduzieren das die partiell darauf zurückgreifen, und schließlich (3)
System und werden zugleich im System als Informa- Soziologen, die Luhmanns Theorie der Wirtschaft
tionen über das System verwendet. Kein Ereignis der Gesellschaft aufgreifen und entwickeln. Eine klei-
kann ohne weiteres festlegen, welche Anschlußereig- ne Untergruppe sind (4) Ökonomen, die Luhmann
nisse folgen. Ereignisse können von anderen Ereig- entweder rezensieren oder methodisch befragen.
nissen unterschieden werden, und solche Unter-
scheidung ist das Geschäft der Beobachtung. Ausge-
hend von Beobachtungen werden Erwartungen Systemtheoretisch arbeitende Ökonomen
gebildet, an denen sich die Entscheidungen über
Operationen orientieren können« (ebd., 10). Hier ist (1) Ganz wenige Ökonomen arbeiten systemtheore-
das Analyseprogramm markiert: als Theorie kom- tisch, z. B. Michael Hutter (1989; 1990; 2001; Hutter/
munikativer Kontingenz, die aus Beobachtungen Er- Throsby 2008), Markus Giesler (2003; 2004) oder
wartungen kondensiert, die zu Entscheidungen Marius Lüdicke (2005; 2006). Giesler und Lüdicke
führen, die wiederum beobachtet werden. »Die sys- haben in den USA einen starken systemtheoretischen
temtheoretische Rekonstruktion der Wirtschaft Impuls in die Marketingtheorie gebracht. »Social sys-
zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Wirtschaft als tems are an evocative analytical technology that con-
ein sich selbst reproduzierendes und sich so aus dem textualizes a myriad of socio-cultural relationships in
Rest der Kommunikationsereignisse ausgrenzendes marketing and consumer behavior. Social systems
Kommunikationssystem beobachtet« (Hutter 1999). address the socially constructed nature of marketing
Dieses prozessuale Moment ist in der Ökonomie nur and consumption as something more than the sum-
in der hayekschen Marktprozesstheorie wie in der mation of images, meanings, norms and values. So-
evolutionary economics entfaltet, sonst aber fremd, cial systems in marketing hold that consumer culture
insbesondere wegen des damit einhergehenden Ver- is not given and marketing knowledge not constitu-
zichts auf Akteurstheorie. ted – as in the traditional, representationalist frame-
Die luhmannsche Systemtheorie hat in der öko- work – but rather brought forth in the dynamic
nomischen Theorie bisher nur verhaltene Resonanz interaction of observer and observed« (Giesler 2004,
gefunden. Weder Niklas Luhmann mit Die Wirtschaft 2; ähnlich Lüdicke 2005; 2006). Kai-Uwe Hellmann
der Gesellschaft (1988) oder Organisation und Ent- (2003) hat ebenfalls, als Soziologe, eine systemtheo-
scheidung (2000) noch Dirk Baecker, der 1988 bereits retische Theorie der Marke entwickelt. Bei aller
eine systemtheoretische Marktkonzeption offeriert Schwierigkeit, Systemtheorie in US-amerikanisches
(Baecker 1988) und später das Buch Womit handeln Marketingdenken einzubringen, zählen die For-
Banken? (1991) vorgelegt hat, haben mit ihren sozio- schungen von allen dreien, die partiell zusammenar-
logischen Analysen ernstzunehmende Kritiken und beiten, zu der erfolgreichsten Fortentwicklung von
Rezeptionen aus der Ökonomie erfahren. Die sys- Luhmanns Ansatz in der Ökonomie.
Wirtschaftswissenschaft 415

Zu nennen ist vor allem Michael Hutters system- nenökonomisch geprägten Wirtschaftsethik mit der
theoretische Analyse von Kunst- und Medienmärk- Systemtheorie auseinander, nun allerdings kritisch
ten (Hutter 1990; 2001; 2008). Hutter ist, neben Dirk gegen Luhmann. Josef Wieland (2007), der vor-
Baecker, der als Soziologe an der Universität Witten/ nehmlich eine institutionenökonomisch fundierte
Herdecke für Jahre einen betriebswirtschaftlichen Wirtschafts- und Unternehmensethik entfaltet, hat
Lehrstuhl innehatte, der produktivste systemtheore- etliche systemtheoretische Bezüge, insbesondere die
tisch orientierte Ökonom und unter den Ökonomen Frage der Einhaltung von Codes durch Kommunika-
der einzige, der die Ökonomie als Ökonomie system- tion. Ekaterina Svetlova (2008) integriert die System-
theoretisch zu rekonstellieren versucht. Sein Werk ist theorie in ihre Wirtschaftsphilosophie; in Verknüp-
umfangreich: Es reicht von patentrechtlichen Fragen fung und Abgrenzung zu französischen dekonstruk-
(Hutter 1989) über geldtheoretische und -geschicht- tionistischen Ansätzen betont sie die Kontingenzthe-
liche zu medientheoretischen Analysen des Kunst- matik. Stefan Jung (2008) hat eine systemtheoreti-
marktes und der Medienmärkte selber (vgl. systema- sche Analyse moderner Verwaltung geliefert, die die
tisch Hutter 2006). Kenntnis autopoietischer Strukturen von Verwaltun-
(2) Verschiedentlich arbeiten sich einige Ökono- gen zur Voraussetzung jeglicher Verwaltungsreform-
men an systemtheoretischen Aspekten ab, ohne ihre ansätze macht. Zudem haben Peter Littmann und
Konzeption gänzlich auf die Systemtheorie einzustel- Stefan A. Jansen eine systemtheoretisch inspirierte
len. Insofern haben wir es mit einer spezifischen Re- Studie zur Marktdynamik vorgelegt (Littmann/Jan-
zeptionsweise zu tun, die durch die Systemtheorie sen/Kohler 2000), die vornehmlich auf deren para-
angeregt wird, aber sich nicht – oder nicht durchge- doxale Bewegungsformen abstellt.
hend – auf deren Methodologie einlässt. So reformu-
liert Hermann Meemken (2009) die Makroökono-
mie zum Teil nach systemtheoretischen Einsichten. Wirtschaftssoziologie
In Anknüpfung an Keynes’ monetäre Ökonomik ver-
sucht er eine Synthese von dynamischer Handlungs- (3) Neben diesen punktuellen Bezügen auf Luh-
und statischer Entscheidungstheorie (eine systemi- manns Wirtschaftstheorie sind es vornehmlich So-
sche Reformulierung der keynesschen Makroökono- ziologen, die Wirtschaft systemtheoretisch reflektie-
mik). Luhmann ist ihm eher ein Anregungszustand ren: Vor allem Dirk Baecker hat nicht nur zu Fragen
als eine Theorievorlage. Es gibt systemtheoretische der Organisation und Führung systematisch gearbei-
Argumentationsbezüge bei Alihan Kabalak (2009) tet, sondern zur Ökonomie generell (Baecker 1988;
in seiner kommunikationstheoretisch erweiterten 1991; 2006). Elena Esposito hat zwei Bücher zur Ein-
Spieltheorie; die wechselseitige Interpretation der schätzung der Finanz- und Kapitalmärkte offeriert
Aktionen wird wiederum beobachtet und interpre- (Esposito 2007; 2010), ein weiteres zum selben The-
tiert, doch dominieren die spiel- und institutionen- ma stammt von Urs Stäheli (2007). Hanno Pahl
ökonomischen Aspekte. Gerhard Wegner (1996), mit (2008) arbeitet über das Geld im Vergleich der Theo-
einer eher evolutionsökonomisch operierenden rien Marx’ und Luhmanns. Kai-Uwe Hellmanns
Theorie der Wirtschaftspolitik, nimmt systemtheo- (2003) systemtheoretische Soziologie der Marke
retische Bezüge in Anspruch. Anknüpfend an die wurde bereits genannt. Auch Jens Beckert (1997)
Luhmann-Scharpf-Kontroverse über die Steue- setzt sich mit Luhmanns Ökonomie auseinander, al-
rungsfähigkeit von Gesellschaften verwendet er Luh- lerdings mit handlungstheoretischen Konsequenzen.
manns Skepsis für die Reformulierung einer inter- Für einen Überblick über die wirtschaftssoziologi-
ventionssensiblen Wirtschaftspolitik (vgl. auch Bode schen systemtheoretischen Diskurse sei hier auf den
1999). Während Scharpf auf institutional konfor- von Michael Hutter und Dirk Baecker herausgegebe-
mierte Regulierung setzt, hält Luhmann die Konzep- nen Sonderband von Soziale Systeme (1999) verwie-
tion interventionistischer Steuerung für illusionär, sen, aber auch auf Helmut Willkes (2002) ›Ökono-
da durch die Eingriffe wiederum Optionen generiert mie des Wissens‹ im Kontext der Wissensgesellschaft.
werden, die das Eingriffsziel umgehen lassen (vgl. Ursula Pasero (2003), systemtheoretisch geschult, ar-
Glagow/Willke/Wiesenthal 2000). Wegner zeigt, dass beitet zu organisationstheoretischen Themen in der
zwischen Eingriffswirkung und unabhängig vom Gender-Forschung.
Eingriff getätigten Operationen nicht unterschieden Offensichtlich zeigt sich die Dominanz medien-
werden kann (Mitnahmeeffekte). und marketingtheoretischer Bezüge, neben den fi-
Uwe Gerecke (1998) setzt sich in einer institutio- nanz- und kapitalmarkttheoretischen, im Medium
416 Rezeption

Geld. Baecker (1991/2009) und Esposito (2010) ha- hagen Business School (vgl. Bakken/Hernes/Wiik
ben ausgereifte soziologische Erklärungen des Fris- 2009).
ten- und Zukunftshandelns der Finanz- und Kapital- Trotz der genannten Beispiele ist Luhmanns Sys-
märkte vorgelegt, die die Fragen des Erwartungs- temtheorie in der Wirtschaftswissenschaft kaum re-
und Risikoumganges in der Wirtschaft reflektierter zipiert; sie hat keinen Einfluss auf die ökonomische
angehen, als es in der Ökonomik üblich ist. In der Theorieentwicklung. Der Mainstream der ökonomi-
nach der Finanzkrise 2008/09 in der Ökonomik teil- schen Theorien versteht jedoch die Ökonomie selber
weise einsetzenden Reflexion ihrer Theorien werden als ein logisch geschlossenes, mathematisch formu-
generell wirtschaftssoziologische Analysen stärker lierbar ausgereiftes System, wenn auch nur mit einem
beachtet, vornehmlich erst einmal die netzwerktheo- formalen Systembegriff, wonach der Markt ein effi-
retischen (vgl. dazu Baecker 2006). Elena Espositos zientes Allokationssystem ist. So entsteht für Ökono-
Arbeiten sollten daraufhin beobachtet werden, aber men scheinbar kein Bedarf nach einer anderen
auch Dirk Baeckers neu aufgelegte Bankentheorie. Systemtheorie. Die Märkte als Preis-Kommunikati-
onssysteme zu betrachten, wie Luhmann und Bae-
cker (1988), ist nicht zum herausfordernden Impuls
Kritische Rezeption geworden. Das allerdings ändert sich möglicherweise
gerade durch die empirischen Ergebnisse der Verhal-
(4) Wenn sich Ökonomen explizit mit der luhmann- tensökonomik, die die methodologische Dominanz
schen Systemtheorie auseinandersetzen, dann meist der rational-actor- oder Gleichgewichtstheorien auf-
kritisch, so z. B. Karl-Heinz Brodbeck (1991). Er bricht und Fragen der wechselseitigen Verhaltensbe-
wirft Luhmann eine begriffslogische Tautologisie- obachtung, Kommunikation und Geltung von diffe-
rung vor und kritisiert, dass der Dualismus Kapital/ renten mental models aufwirft, die der kommunika-
Arbeit zumindest in der Klassischen Ökonomie tionszentrierten Systemtheorie zuarbeiten. Aber es
Adam Smiths durch die intensive Auseinanderset- werden dafür in der Ökonomie völlig andere kom-
zung mit der Grundrente relativiert werden müsse, munikationstheoretische Ressourcen in Anschlag ge-
was Luhmann nicht rezipiere. Im Ergebnis – so Brod- bracht, wie etwa semantologische sprachtheoretische
beck stellvertretend für (wenige) andere – gäbe es Konzepte, semiologische Konzepte sowie erste Über-
keinen Erkenntnisgewinn für die Ökonomik. Micha- tragungen aus der Neurolinguistik (vgl. Herrman-
el Hutter und Gunther Teubner (1994) hingegen se- Pillath 2010). Über die soziologische Netzwerktheo-
hen in einer systemtheoretischen Perspektive auf das rie, die mit Harrison C. White neuerdings semanto-
Verhältnis von homo oeconomicus und homo juridicus logische Konzepte einbringt, ließen sich über Dirk
durchaus einen Gewinn für das ökonomische Wis- Baeckers Auseinandersetzung mit der Netzwerk-
sen. Andere ökonomische Analysen arbeiten an Ge- theorie (Baecker 2006; und unabhängig davon: Bom-
meinsamkeit und Divergenz zwischen der institutio- mes/Tacke 2010) systemtheoretische Anknüpfungen
nal economics und der Systemtheorie (Kabalak/Klett/ denken. Wahrscheinlich muss die Ökonomik, ange-
Priddat 2007). Es geht darin um eine strukturelle Af- regt durch die Einsichten aus der Finanzkrise 2008/
finität zwischen beiden Konzepten; die Institutio- 09, die in den Märkten laufenden Kommunikationen
nenökonomen verteidigen ihr Konzept, sehen aber verarbeitet haben, um überhaupt theoretische Reso-
spezifische methodische Vorteile und Hinweise in nanz mit der Systemtheorie zu finden. Elena Esposi-
der Systemtheorie, die eigene Theorie zu entwickeln. tos Forschungen können hier nützlich werden, aber
Überhaupt findet die Systemtheorie eine gewisse auch die wirtschaftssoziologischen Netzwerktheo-
Resonanz vornehmlich bei institutionenökonomisch rien (von White bis Latour), die manche Ökonomen
ausgerichteten Ökonomen (Gerecke, Wegner, Wie- anregen, ihre Markttheorien zu überprüfen. Michael
land, Kalabak, Priddat); das mag zusammenhängen Hutters neuere Forschungen hingegen (Hutter 2011;
mit einer etwas unklaren Affinität von Regel- und vgl. bereits Hutter/Throsby 2008) verbinden evoluti-
Systemtheorien, die jedoch nicht zur Schulenbildung onsökonomische mit systemtheoretischen Konzep-
geführt hat. Einzig an der wirtschaftswissenschaftli- tionen in einem neuen werttheoretischen Angang
chen Fakultät der Universität Witten/Herdecke gab (praise/price value).
es in den 1990er Jahren einen systemtheoretischen Hier wird für die Ökonomie ein Feld aufgespannt,
Schwerpunkt in Lehre und Forschung (Baecker, Hut- in dem die kontingenz- und risikotheoretischen
ter, Wimmer, Simon, Nicolai; jetzt noch Giesler, Überlegungen der Systemkommunikationen von
Groth und Schlippe); ähnlich auch an der Copen- Luhmann, Baecker, Hutter und Esposito nicht selb-
Wirtschaftswissenschaft 417

ständig, aber in Anbindung an in der Ökonomie ent- – /Pohlmann, Mali: »The Social Form of Napster: Cultiva-
faltete kommunikationstheoretische Überlegungen ting the Paradox of Consumer Emancipation«. In: Ad-
vances in Consumer Research 30. Jg. (2003), 94–100.
eine späte Resonanz finden können. Die Idee, Risiken
Glagow, Manfred/Willke, Helmut/Wiesenthal, Helmut
der Zukunft abzusichern, ist die basale Idee moder- (Hg.): Gesellschaftliche Steuerungsrationalität und par-
ner Finanzmärkte (Baecker, Hutter, Esposito). Das, tikulare Handlungsstrategien. Pfaffenweiler 2000.
was hier absichern soll, wird aber selber zu einem Hellmann, Kai-Uwe: Soziologie der Marke. Frankfurt a. M.
Agens von Unsicherheit – zu einer emergenten Unsi- 2003.
cherheit, die von Akteuren erzeugt wird, die glauben Herrman-Pillath, Carsten: Meaning and Function in the
Theory of Consumer Choice: Dual Selves in Evolving
oder hoffen, dass ihre Zukunftserwartungen positiv Networks. Frankfurt a. M. 2010.
aufgehen. Es zeigt sich die Riskanz dieser Operatio- Hutter, Michael: Die Produktion von Recht. Tübingen
nen: Die Zukunft, die wir gegenwärtig entscheiden, 1989.
ist nicht die Zukunft, in denen die Ereignisse wirklich –: »Welchen Unterschied macht die Systemtheorie? Ein
werden (Esposito 2010). Keynes’ Diktum, dass wir Übersetzungsversuch von Luhmanns ›Die Wirtschaft der
Gesellschaft‹«. In: Kyklos 43. Jg., 3 (1990), 485–493.
über die Zukunft nichts wissen, wird durch gegen- –: »Wie der Überfluß flüssig wurde. Zur Geschichte und zur
wärtige Simulation von Zukunftserwartungen nicht Zukunft der knappen Ressourcen«. In: Soziale Systeme
ausgesetzt, sondern umgekehrt: Die Zukunft wird zu 5. Jg., 1 (1999), 41–54.
einer Verlängerung der Gegenwart (in der Differenz –: »Structural Coupling Between Social Systems: Art and
einer gegenwärtigen Zukunft gegenüber der zukünf- the Economy as Mutual Sources of Growth«. In: Soziale
Systeme 7. Jg., 2 (2001), 290–313.
tigen Gegenwart). Hier liegen epistemologische –: Neue Medienökonomik. München 2006.
Grundlagen für eine neue Einschätzung der Dyna- –: »Infinite surprises. On the Stabilization of Value in the
mik des Kapitalismus vor. Die Rezeptionschancen für Creative Industries«. In: Jens Beckert/Patrik Aspers
die Systemtheorie steigen. (Hg.): The Worth of Goods. Valuation and Pricing in the
Economy. Oxford/New York 2011, 201–220.
– /Baecker, Dirk (Hg.): Systemtheorie für Wirtschaft und
Unternehmen. Sonderband Soziale Systeme 5. Jg.,
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– /Teubner, Gunther: »Der Gesellschaft fette Beute. Homo
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419

VIII. Diskussionen

1. Theorie ohne Subjekt? Zuviel an Rekurs auf die klassische Subjektphiloso-


phie vorgeworfen, er bemächtige sich, so Habermas,
der »subjektphilosophischen Erbmasse« (1985, 426),
Der Begriff des Subjekts bzw. der Subjektivität andererseits wird ein Zuwenig an Subjektivität als
kommt im Arsenal der luhmannschen Begrifflichkeit Movens des Sozialen kritisiert.
nicht als soziologischer Begriff vor, sondern allenfalls
als Thema von Kommunikation, also auf der Gegen-
standsseite der Theorie, etwa als semantischer Be- Zu viel Subjektphilosophie
stand von Kommunikation. Dass Subjekt und
Subjektivität hier kategorisch nicht als Grundbegrif- Luhmanns Theorie autopoietischer Sozialsysteme
fe geführt werden, hat immer wieder Irritationen nimmt in der Tat die »subjektphilosophische Erb-
ausgelöst, ohne dass man sagen kann, dass der Sub- masse« der Tradition auf, und zwar in zweifacher
jektbegriff selbst für die Soziologie eine systemati- Hinsicht. Zum einen konzipiert sie Systeme nach
sche Bedeutung hat. Denn letztlich beginnt die dem Reflexionsmodell der subjektphilosophischen
Soziologie – ob sie will oder nicht und ob sie es ex- Tradition als operativ geschlossene Einheiten, die je
plizit weiß oder nicht – stets mit einer Dekonstrukti- selbst das subiectum ihrer Welt sind; zum anderen
on des Subjekts und seiner Individualität, zumindest konzipiert sie Systeme, die in dieser Geschlossenheit
mit der Dekonstruktion eines starken, eines grund- gefangen bleiben und deshalb je nur in ein äußerli-
begrifflichen Verständnisses von Subjektivität (vgl. ches Verhältnis, in eine letztlich unüberwindbare
Nassehi 2006, 67 ff.). Die Soziologie sucht den Grund Differenz zu anderen Systemen treten. Pate stand hier
des Verhaltens von Menschen nicht mehr in deren – neben dem Rekurs auf kybernetische und system-
›innerer Unendlichkeit‹, sondern in den sozialen theoretische Ansätze selbstreferentiell geschlossener
Kontexten und Gewohnheiten, den Kulturbedeutun- Ordnungsbildung – die husserlsche Phänomenolo-
gen von Zeichen und Praktiken, den sozialen Lage- gie, die mit dem phänomenologischen Aufweis der
rungen und Zwängen und nicht zuletzt der Klassen- urimpressionalen Gegenwart als Operationsweise
lage der Handlungsträger. Zugleich aber kann des Bewusstseins nicht nur radikale Selbstreferenz,
behauptet werden, dass sich das Soziale gerade im sondern auch die temporalisierte Operativität sol-
Handeln der Individuen beobachten lässt. Damit cher Selbstreferenz auf den Begriff gebracht hat. Der
setzt die Soziologie mit ihren eigenen Grundbegrif- entscheidende ontologische Ausgangspunkt für Hus-
fen um, was sie an ihrem Gegenstand als epochales serls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins
Charakteristikum bereits vorfindet: dass alles, was aber ist die Gegenwärtigkeit der Operationsweise. Man
geschieht, dem Handeln von Individuen entspringt muss sich das Bewusstsein in diesem Sinne als einen
oder wenigstens daran zu beobachten ist. Dass die Operator vorstellen, der gewissermaßen von seiner
Soziologie dabei stets die sozial gebrochene Identität eigenen Gegenwärtigkeit überrascht wird.
des Individuums im Blick hat, die Idee der Wechsel- Es war der Rekurs auf diese Tradition, die etwa aus
seitigkeit sowie die Idee der Eigenlogik und Emer- der Perspektive von Jürgen Habermas’ Rekonstrukti-
genz sozialer Tatsachen oder kultureller Bedeutun- on des Philosophischen Diskurses der Moderne Luh-
gen, versteht sich fast von selbst. mann als »Nachfolger einer verabschiedeten Philoso-
Und dennoch entzündet sich Kritik an Luhmanns phie« (Habermas 1985, 426) erscheinen lässt, die
Theorie sozialer Systeme oft als Kritik an einem an- allenfalls die »Selbstbehauptung selbstbezüglicher
geblichen Desinteresse am Subjekt, an einer systema- Systeme« (ebd., 430) postulieren kann und damit
tischen Ausblendung des Handelnden, gar an einer vom normativen Horizont einer vernünftigen Iden-
Theorie, die sich für Individuen und ihre Perspekti- tität für moderne Gesellschaften nicht nur weit, son-
ven auf die Welt nicht wirklich interessiere. Dabei dern sogar kategorial entfernt ist. Freilich macht
kommt es eigentümlicherweise zu zwei entgegenge- Habermas mit dieser Rekonstruktion aus der Not
setzten Diagnosen. Zum einen wird Luhmann ein eine Untugend. Aus der – wenn man so will – sub-
420 Diskussionen

jektphilosophischen/systemtheoretischen Beschrei- sich »immer weniger in den Reservaten ihrer Eigen-


bung der Not der Systeme, aus ihrer operativen logik abspielt« (1991, 23). Vielleicht resultiert diese
Geschlossenheit nicht ausbrechen zu können, macht halbherzige Anwendung des Gedankens der operati-
Habermas die Untugend des Vorwurfs, die System- ven Geschlossenheit von Funktionssystemen auch
theorie interessiere sich nur für die funktionalen Be- schlicht aus dem Missverständnis, mit Kommunika-
dingungen von Selbsterhaltungsimperativen. Doch tion über die jeweiligen Eigenlogiken ließen sich die-
darum geht es der Systemtheorie luhmannscher Prä- se schon beeindrucken. Vielleicht wird nur überse-
gung gerade nicht, sondern nur um die Frage, wie hen, dass der Kommunikationsbegriff schon für das
operativ geschlossene Sozialsysteme sich wechselsei- blinde Operieren der Systeme steht und nicht nur für
tig irritieren, wie sie sich wechselseitig beobachten. ihre Reflexion in allen möglichen Interpenetrations-
Es interessiert, wie Wechselseitigkeit und Koordina- zonen, in denen sich meist gutbezahlte Experten mit
tion ohne das quasi-transzendentale Postulat eines der Illusion versorgen, viel Kommunikation produ-
Dritten, einer kommunikativen Vernunft oder ver- ziere auch viel Wirkung.
ständigungsorientierter Potentiale, beschreibbar und An diesen halbherzigen Versuchen lässt sich zei-
denkbar gemacht werden können. gen, dass Luhmanns subjektnahe Konzeption von
Luhmanns Systemtheorie schließt also unmittel- Systemen keineswegs als ein Mangel verstanden wer-
bar an eine als Subjekttheorie gebaute Theorieform den muss – auch nicht als etwas, das gewissermaßen
an, so dass man auf den ersten Blick meinen könnte, aus Versehen oder vermeidbar in die Theorie einge-
in der soziologischen Systemtheorie werde die Idee wandert ist. Vielmehr ist diese Idee eines operations-
des Subjekts als Zurechnungspunkt schlicht von der fähigen, sich in Operationsgegenwarten ereignenden
Ebene der Bewusstseine auf die Ebene eines sozialen (bei Husserl: urimpressionalen) Systems das Zen-
Aggregats übertragen, dem nun ähnliche Qualitäten trum der theoretischen Bemühung. Wenn man sich
zugetraut werden wie einem bewussten Subjekt, frei- heutige Versuche einer subjektphilosophischen Re-
lich enteignet jenes Vernunftanspruchs, der diesem konstruktion der Tradition ansieht, so werden nun
Erbe inhärent war (ebd., 408 ff.; vgl. ähnlich Wagner weniger logische Probleme der Bedingung ihrer Be-
1993, 410 u. 428); oder in Habermas’ Formulierung: schreibbarkeit behandelt. Manfred Frank etwa plä-
Der Systemfunktionalismus lasse »die Subjekte sel- diert in Auseinandersetzung v. a. mit Husserl dafür,
ber zu Systemen verwesen« (1985, 408). die radikalen Konsequenzen einer streng operativ ge-
Habermas hat Recht. Luhmann rekonstruiert in bauten Theorie fahren zu lassen und stattdessen dem
der Tat Figuren der Tradition. Und diese gebietet: Subjekt ein vorgängiges »Mit-sich-vertraut-Sein« zu
Wie sich mit Husserls Phänomenologie allenfalls die attestieren, das auch darin besteht, dass wir Bewusst-
Kopräsenz von Bewusstseinen denken lässt, aber In- sein unserer Gegenwart haben könnten (vgl. 1990,
tersubjektivität schlicht unbestimmbar bleibt (wes- 59) – anders wäre Selbsttransparenz auch gar nicht
wegen Husserl für Habermas auch nicht in den theoretisch beschreibbar. Allerdings kann man dann
philosophischen Diskurs der Moderne gehört), so nicht mehr wie Husserl die Bewusstseinstätigkeit auf
kann auch Luhmann nur die Kopräsenz sozialer Sys- die Operativität des inneren Zeitbewusstseins auf-
teme denken, nicht aber so etwas wie Intersystemizi- bauen, dafür aber die alte Idee des autonomen, ent-
tät. Dies scheint Habermas ja vorzuschweben, wenn scheidungsfähigen, sich selbst transparenten Sub-
er Luhmann vorwirft, soziale Systeme seien dem Mo- jekts weiter hypostasieren.
dell des erfolgsorientierten isolierten Subjekts nach- An diese subjektphilosophische Erbmasse schließt
empfunden und nicht dem Modell zwangloser Luhmann nicht an. Systeme sind ihm zufolge nicht
sprachlicher Handlungskoordinierung. operationsfähig, sondern ausschließlich operativ ge-
Ganz im Sinne Habermas’ verfällt dann auch baut. Sie müssen sich gewissermaßen von Gegenwart
manche Anwendung des systemtheoretischen Diffe- zu Gegenwart ›retten‹ und ihre Strukturen operativ
renzierungsparadigmas der Versuchung, die jeweili- reproduzieren. Strukturen sind ihnen gerade nicht
gen Geschlossenheiten von Funktionssystemen nicht vorgegeben, sondern diese müssen prozessual je neu
zu akzeptieren. So findet man etwa bei Helmut Will- erzeugt werden. Was also auf den ersten Blick aus-
ke einen Versuch, eine Art Verständigungsstrategie sieht wie eine bloße Übernahme der subjektphiloso-
der Systeme untereinander zu begründen (vgl. 1989, phischen Erbmasse, ist vielleicht deren radikalste
v. a. 111 ff.), und Richard Münch wird nicht müde, in Dementierung – eine Dementierung, die bereits im
parsonsscher Manier auf »Zonen der Interpenetrati- Kontext der Bewusstseinsphilosophie selbst in Ge-
on der Subsysteme« zu setzen, die dafür sorgen, dass stalt von Husserl (und dessen Scheitern gerade am
Theorie ohne Subjekt? 421

Welt- und Intersubjektivitätsproblem) entscheidend re gemeinsamer Bedeutung gleich die Frage nach der
vorbereitet wurde. Für eine soziologische Subjektkon- Operationsweise der sozialen Welt mit abgewickelt
zeption bedeutet dies also nicht nur eine Dezentrie- hat. Daraus resultiert eine erhebliche diagnostische
rung des individuellen Akteurs als Zurechnungs- und analytische Potenz einer Soziologie, die in der
adresse für Subjektivierungspraktiken, sondern auch Tat sehr sensibel dafür ist, wie sich ›das Subjekt‹ im
eine radikale Dezentrierung sozialer Operanten, die sozialen Rahmen vorfindet und wie es dort trotz aller
eben keine Aktanten sind, sondern von ihrer eigenen Komplexität überleben kann. Den systemtheoreti-
Zustandsdeterminiertheit überrascht werden. Erst schen Schritt freilich, nicht Bewusstseinsakte, son-
eine in dieser Weise sparsam gebaute Theorie sozialer dern kommunikative Operationen als soziale Ereig-
Systeme kann jenen in der Tat mythischen Diskurs nisse zu führen, macht Schütz nicht. Man mag das
über die Intentionalität und den Anthropomorphis- vielleicht als Geschmacksfrage abtun oder darin eine
mus aller Operationen überwinden. Selbstbeschränkung auf bestimmte Fragen und For-
Wenn der Vorwurf von zu viel Subjektivität be- schungsinteressen sehen. Aber gerade diese Selbst-
deutet, dass es sich bei sozialen Systemen um opera- festlegung hat erhebliche empirische Folgen – für die
tiv geschlossene, zustandsdeterminierte, radikal auf Soziologie und ihre Forschung. Das übliche Vorurteil
sich selbst verwiesene Phänomene handelt, dann der an Schütz anschließenden Soziologie lautet dann
kann man darin zumindest aus systemtheoretischer nämlich, die Systemtheorie habe keinen Sensus fürs
Sicht keinen Vorwurf sehen, denn das Potential der Subjekt, ja sie behaupte gar, es gebe keine Subjekte.
Systemtheorie besteht gerade darin, den empiri- Hubert Knoblauch hat dieses Vorurteil jüngst wie-
schen, evolutionären, in Echtzeit sich vollziehenden der erneuert. Er diagnostiziert eine »schroffe Ableh-
Aufbau von Ordnung zu begreifen. Zugleich beinhal- nung von Vorstellungen der Subjektivität« (Knob-
tet dies, dass Systeme andere Systeme in ihrer Umwelt lauch 2007, 349) und wundert sich darüber, dass
vorfinden und gerade nicht mit ihnen verschmelzen, systemtheoretische Beiträge offensichtlich keine
sich nicht mit ihnen verständigen können, aber doch Theoriestelle fürs Subjekt haben. Das haben sie in der
je selbstreferentiell aufeinander verwiesen sind. Sys- Tat nicht – aber dafür können sie womöglich das
tem/Umwelt-Verhältnisse sind keine Inter-System- Subjekt als das Ergebnis und das Resultat sozialer
Verhältnisse. Aus dieser Begriffsfestlegung jedenfalls Praktiken und Operationen in den Blick nehmen.
ergeben sich die besonderen Potentiale der System- Wo ein starker Subjektbegriff zum grundbegriffli-
theorie, das Problem der Einheit etwa des Gesell- chen Arsenal gehört, fehlen womöglich Kriterien da-
schaftssystems als Multiplikation von System/Um- für, wo und wie soziale Praxis Zurechnungsadressen
welt-Verhältnissen zu denken, was erhebliche Folgen erzeugt, die wir wie Subjekte behandeln.
für eine Theorie der Gesellschaft hat. Vielleicht muss man das starke ›Subjekt‹ ernster
nehmen, um zu zeigen, dass es nicht als soziologi-
scher, sondern nur als historischer und empirischer
Zu wenig Subjektivität Begriff taugt. Das ›Subjekt‹ fiel etwa bei Kant keines-
wegs mit dem empirischen Individuum zusammen.
Was der Vorwurf eines Zuwenig an Subjektivität be- Subjektivität wurde zwar Individuen zugeschrieben,
deutet, lässt sich am besten aus der Perspektive sol- ist aber nichts Individuelles im Sinne der konkreten
cher Soziologien beschreiben, die in erster Linie Mannigfaltigkeit des empirischen Auftretens, son-
handlungstheoretisch gebaut sind – erstaunlicher- dern Allgemeinheit schlechthin, mithin also von
weise oftmals selbst Theorien, die sich auf eine phä- konkreten Individuen ebenso Abstrahierendes wie
nomenologische Tradition berufen. Insbesondere diese Verbindendes. Kant hat diese Differenz in der
Alfred Schütz, dessen subjektorientierte Theorie des Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/1983b,
Bewusstseins im sozialen Kontext sogar für die 58 f.) als Differenz zwischen vernünftigen Wesen und
Selbstreflexion von Rational-Choice-Theorien he- mit Begierden und Neigungen als zur Sinnenwelt ge-
rangezogen wird (vgl. Esser 1991), steht in der Sozio- hörigen Menschen ausgearbeitet. Mit dieser Unter-
logie für jene Tradition, die das ›Subjekt‹ ernst scheidung wird das theorietechnische Bezugspro-
nimmt. Für Schütz war das so attraktiv, dass er Hus- blem dieser Art Subjektkonzeption deutlich: Die
serls Scheitern am Intersubjektivitätsproblem letzt- transzendentale, d. h. nicht-empirische Bestimmung
lich gar nicht als Problem seiner Soziologie angese- einer allgemeinen Subjektivität vernünftiger Wesen
hen hat, sondern mit der Generalthesis des Alter Ego korrespondiert offensichtlich mit der empirischen
und dem Postulat der Lebenswelt als mundane Sphä- Erfahrung der Unvernunft empirischer Einzelsub-
422 Diskussionen

jekte, Menschen eben. In der »transzendentalen Ana- mehr als Gesamtperson in die Gesellschaft inkludiert
lytik« schreibt Kant, dass das Selbstbewusstsein, also wird, sondern gleichzeitig mit unterschiedlichen In-
die moderne Figur eines auf sich selbst reflektieren- klusionserwartungen durch unterschiedliche Funk-
den Ichs gerade keine Anschauung sei, sondern »eine tionssysteme, erscheint das Individuum als Adresse
bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit ei- für die Gesamtheit all dieser Inklusionserwartungen.
nes denkenden Subjekts« (1983a, 257). In aller Deut- Exakt deshalb stellt Luhmann von dem der Sin-
lichkeit wird hier gezeigt, dass die Idee der Selbsttä- nenwelt entrückten Subjekt auf die Figur der Exklu-
tigkeit und des denkenden Subjekts nur als denknot- sionsindividualität (vgl. Luhmann 1989, 160) um, die
wendige Bedingung herangezogen wird, um exakt nichts anderes besagen soll, als dass sich die Indivi-
mit jener gesellschaftlichen Erfahrung sich versöh- dualität des Individuums letztlich nur jenseits der
nen zu können, dass die Freiheitsgrade individueller unterschiedlichen Inklusionsanforderungen inklu-
Selbsttätigkeit in einer allgemeinen Struktur grün- dierender Funktionssysteme beschreiben lässt. Ver-
den, die aller Freiheit entzogen ist. wiesen wird das Individuum auf Selbstreferenz – und
Kant schreibt diese Theorie in einer Welt, in der es die historische Genese des bürgerlichen Individuums
für Handlungen keine eindeutigen Algorithmen ist letztlich die Genese einer Reflexionsform, die zur
mehr gibt. Gebote und Verbote vermögen stets exakt Beschreibung von Individualität deren Selbstreferenz
zu sagen, was zu tun und was zu lassen sei. Sie bewe- in Anspruch nimmt. Gleich, so schreibt Luhmann
gen sich in einer Welt, die Situationen konkretistisch (GG, 1017) treffend paradox, gleich seien sich Indi-
prädeterminiert. Auf die richtige Handlung kommt viduen vor allem in ihrer Einzigartigkeit. Das ver-
es ihnen an – Kant dagegen ist es darum zu tun, die weist darauf, dass das Individuum in seiner Indivi-
innere Verbindlichkeit des Handlungsmotivs zu beto- dualität letztlich gesellschaftsstrukturell unterbe-
nen und damit Variation zu promovieren. »Seine stimmt bleibt, sich dafür aber mit einem ›Selbst‹
Plausibilität holt sich dieser Versuch Kants in einer ausstatten muss, dessen Bestimmung immer weniger
Theorie des Bewußtseins, die zeigt und argumentativ durch eineindeutige Personenmerkmale wie Stand,
ausnutzt, daß das Bewußtsein sich auf sich selbst be- Herkunft und Familie möglich war. Und obwohl die
ziehen und seine eigene Einheit als Bedingung aller bürgerliche Gesellschaft durchaus eine Gesellschaft
seiner Operationen (Vorstellungen, Handlungen, mit radikalen sozialen Ungleichheiten war, definierte
Urteile) vorstellen kann« (SA 6, 157). Von Was- wird jene neue Trägergruppe des Bürgertums Stratifikati-
auf Wie-Fragen umgestellt, um die Freiheitsgrade des on weniger über die bloße Faktizität von Zugehörig-
Handelnden zugleich zu erhöhen und zu begrenzen: keiten als über die Fähigkeit, solche Zugehörigkeiten
Sie werden erhöht, weil sie universell anwendbar sein praktisch herzustellen, durch individuelle Selbstbe-
müssen und deshalb rein prozedural angelegt sind; schreibungen, an die sowohl Sprecher als auch Hörer
sie werden begrenzt, weil sie vernünftigen Prinzipien glauben konnten. Motive waren demnach Bildung,
und Maximen unterworfen werden sollen. Hier be- spezifische Formen der Lebensführung, vermittelt
ginnt das Modell der Subjektivität, das zwischen der etwa über vor allem protestantische Formen der Re-
nicht-empirischen Geisterwelt der vernünftigen We- flexion, und später Unternehmertum als spezifische
sen und der realen Welt von Neigungen korrumpier- Form von Freiheit (vgl. Lepsius 1987). All diese Di-
ter Personen oszilliert. stinktionsmerkmale nahmen letztlich einen empha-
Unschwer ist darin das Bezugsproblem einer sich tischen Begriff von Freiheit und Gleichheit in
auf funktionale Differenzierung umstellenden Ge- Anspruch, um Ungleichheit distinktiv begründen zu
sellschaftsstruktur zu entdecken, die sich von der tra- können.
ditionalen, stratifizierten Gesellschaft gerade da- Entscheidend jedenfalls ist, dass die Semantik der
durch unterscheidet, das bürgerliche Individuum Subjektivität des Bewusstseins als Reflexionstheorie
deshalb äußerlich unterbestimmt zu lassen, damit es exakt dieser Trägergruppe gelesen werden muss, die
sich flexibel auf die nun unterschiedlichen, womög- Erfahrungen mit einer multiinkludierenden, sich
lich antinomischen Erwartungen einer Gesellschaft modernisierenden Gesellschaft gemacht hat und die
einlassen kann, die ihre eigene Kontinuität nun vor Handlungskoordination wesentlich mit jener Form
allem auf die Diskontinuität unterschiedlicher gesell- bürgerlicher Freiheit vermitteln und versöhnen
schaftlicher Funktionen und Kontexte nebeneinan- musste, die die äußere Unterbestimmung mit innerer
der gründet. Wenn es stimmt, dass funktionale Überbestimmung kompensierte (vgl. Dülmen 1997,
gesellschaftliche Differenzierung die Inklusionsform 130 ff.). In diesem Milieu erst konnte das Einzelbe-
von Personen insofern ändert, als der Mensch nicht wusstsein jenes ›Subjekt‹ sein wollen (wohlgemerkt:
Theorie ohne Subjekt? 423

nicht sein, sondern sein wollen), als das es mit der jektivität, also die Zurechnungsfähigkeit eines Indi-
epochalen philosophischen Semantik der Subjektivi- viduums als Subjekt, als empirisches Phänomen zu
tät konzipiert wurde. Und in diesem Milieu kann betrachten (vgl. Nassehi 2002a).
Schütz sehr bürgerlich den »Gesamtzusammenhang Man greift tatsächlich zu kurz, das Programm ›In-
der Erfahrung auch definieren als den Inbegriff aller dividualisierung‹ nur jenseits der Funktionssysteme
durch das Ich als freies Wesen in einem gegebenen zu lokalisieren, da diese selbst individualisierte For-
Zeitpunkt seiner Dauer vollziehbaren reflexiven Zu- men der Selbstbeschreibung und damit auch: der
wendung« (Schütz 1981, 104) und ihn zur Bedin- Identitätsbildung hervorbringen. In diesem Sinne er-
gung der Möglichkeit von Selbst- und Fremdverste- weisen sich manche programmatischen Strategien
hen machen. der Funktionssysteme als diejenigen diskursiven
Vor diesem Hintergrund stimmt der Vorwurf an Techniken, in denen man Zurechnungsprogramme
die Systemtheorie eines Zuwenig an Subjektivität – an ›Subjektivität‹ erkennen kann. So greift Ökono-
aber womöglich nimmt man das ›Subjekt‹ empirisch mie nicht nur auf individuelle Zahler zu, sondern
nicht wirklich ernst, wenn man es zum Grundbegriff konstituiert damit auch erst das interessegeleitete
erhebt und am Ende dann nur auf Störungen und Subjekt utilitaristischen Zuschnitts; Recht und Poli-
misslungene Subjektivität stoßen kann, wofür die tik rechnen nicht nur individuell zu, sondern fordern
bürgerliche Gesellschaft noch die Moral und die individuelle Konformität, gesellschaftlichen Zwang
Selbstdisziplin als kuratives Mittel bereit hielt, eine zum subjektiven Selbstzwang, Selbstkontrolle und
subjektorientierte Soziologie dann nur mehr die au- Loyalität als subjektives Vermögen sowie die freiwil-
thentische Rede und Betroffenheit angesichts der Ge- lige Unterwerfung unter (staatliche) Kollektive ein;
fährdung (sic!) von Subjektivität im sozialen Raum. (Human- und Bio-)Wissenschaften ›erfinden‹ den
Wenn man das Traditionsprogramm der Subjektivi- Menschen, verlangen von ihm Autonomie und kon-
tät also tatsächlich ernst nimmt, wird deutlich, wie stituieren ihn als empirisch-transzendentale Dublet-
überfordert subjektorientierte Soziologie mit theore- te (Foucault) oder womöglich bald als industriell-
tischen Argumenten ist. »Was geblieben ist, ist ei- genetisches Produkt; Religion übt Geständnisse ein,
gentlich nur die Gewohnheit, das menschliche die sich dann im Recht, in der Liebe und in der Me-
Individuum als Subjekt zu bezeichnen und es, in ei- dizin säkularisieren und subjektivieren; Erziehung
ner Art Konspiration gegen die Gesellschaft, unter trainiert Triebaufschub und Langsicht und macht
diesem Namen zu verteidigen. Das ist freilich an Ba- aus trieb- und interessengesteuerten Kindern richti-
nalität kaum mehr zu übertreffen – und vermutlich ge Subjekte. Es geht hier nicht um Unterwerfungs-
deshalb meinungsklimatisch wirksam« (SA6, 157). techniken oder Konspiration. Vielmehr zeigt sich,
Diese Konspiration gegen die Gesellschaft hält sich dass die theoretische Annahme, wonach die Form
heute selbst für theoriefähig – und selbst das, was frü- der jeweiligen Subjektivität eine Reaktion auf gesell-
her einmal ›Kritische Theorie‹ hieß und sich für die schaftliche Erwartungsbildung sei, sich der Selbstbe-
gesellschaftliche Vermittlung von Subjektivität als schreibung des (allgemeinen) Subjekts als kollektiv-
Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse interessier- singuläres Versprechen gelungenen Lebens oder des
te, jammert heute eher über den Verlust von Weltre- (besonderen) Individuums als Kontingenzformel für
sonanz (vgl. Rosa 2012). das heldenhafte Aushalten von Verschiedenheit nicht
Soziologisch lässt sich nun beobachten, wie wich- recht fügen will (vgl. dazu ausführlicher Nassehi
tig es ist, diese Kategorie noch viel ernster zu nehmen 2002b; 2003, 89 ff.).
und sie weiter zu fassen, als dies in vielen Handlungs- Dieser typische systemtheoretische Schritt, dem es
begriffen der Fall ist. Die Frage danach, ob es Subjek- eigentlich darum geht, noch näher an das alltägliche
te gibt oder nicht, ist letztlich nicht relevant. Noch Geschehen heranzukommen und abzubilden, was im
weniger relevant ist die Frage, ob sich das Subjekt nächsten Moment passiert, wird verständlicher,
konspirativ gegen die Gesellschaft Handlungsoptio- wenn man zunächst annimmt, dass es keine Subjekte
nen erhalten oder erarbeiten kann – als gebe es das gibt – um dann zu sehen, wie sich Sozialität als Sub-
Subjekt jenseits dessen, wogegen es angeblich kon- jektivität darstellt. Sehen kann man dann auch, dass
spiriert. Entscheidend ist, unter welchen Bedingungen Subjektivität nicht nur in der typischen sachlichen
Individuen als Subjekte angesprochen werden und un- Fassung auftritt – als subjektive Aufklärung über das
ter welchen Bedingungen welche Formen von Subjekti- Motiv zum Handeln –, sondern auch als Frage da-
vität als kommunikativ relevante Zurechnungspunkte nach, wer eigentlich handeln kann, und als Frage
entstehen. Es geht also um die empirische Frage, Sub- nach der zeitlichen Persistenz dieser immer neu sich
424 Diskussionen

wieder ordnenden inneren Erlebniswelt (vgl. dazu 2. Theorie ohne Empirie?


ausführlich Saake/Nassehi 2007).

Aus der Perspektive konventioneller soziologischer


Literatur Forschungsperspektiven muss Luhmanns Gesell-
Dülmen, Richard van: Die Entdeckung des Individuums schaft der Gesellschaft (1997) bereits nach etwa 40 Sei-
1500–1800. Frankfurt a. M. 1997. ten als eine ›Theorie‹ erscheinen, die sich dem, was
Esser, Hartmut: Alltagshandeln und Verstehen. Zum Ver- sonst in der Profession als Forschung firmiert, voll-
hältnis von erklärender und verstehender Soziologie am ständig entzieht. Aus der Perspektive konventioneller
Beispiel von Alfred Schütz und »Rational Choice«. Tü-
bingen 1991. Forschung dürfte die Theorie sozialer Systeme und
Frank, Manfred: Zeitbewußtsein. Pfullingen 1990. insbesondere ihre Gesellschaftstheorie so ähnlich er-
Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moder- scheinen wie weiland Adornos Hochnäsigkeit. Und
ne. Frankfurt a. M. 1985. das wäre schade, weil damit die merkwürdige Triba-
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil lisierung der Soziologie in ›Theorien‹ und ›Metho-
[1781]. Band 3 der Werke in zehn Bänden. Darmstadt
1983a.
den‹ (Sachdimension) bzw. ›Theoretiker‹ und ›Em-
–: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Meta- piriker‹ (Sozialdimension), die schon durch entspre-
physik der Sitten [1785]. Band 7 der Werke in 10 Bänden. chende Lehrstuhlwidmungen karrieretechnisch sta-
Darmstadt 1983b. bilisiert wird (Zeitdimension), wiederum festgezurrt
Lepsius, M. Rainer: »Zur Soziologie des Bürgertums und wird. So sehr man fachöffentlich die luhmannsche
der Bürgerlichkeit«. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und
Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987,
Theorie auch schätzt (schon der Monumentalität
79–100. wegen), so sehr beklagt man doch, dass die Theorie
Luhmann, Niklas: »Individuum, Individualität, Individua- sich weder empirisch widerlegbar präsentiert, noch
lismus«. In: GS3, 149–258. dass sie so etwas wie eine eigene Methodologie anbie-
–: »Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Men- te. In den Debatten über dieses Thema zeigt sich, wie
schen«. In: SA6, 155–168.
weit unser Fach derzeit von epistemologischen Stan-
Münch, Richard: Dialektik der Kommunikationsgesell-
schaft. Frankfurt a. M. 1991. dards entfernt ist, die heute möglich wären. Und
Nassehi, Armin: »Überraschte Identitäten. Über die kom- exakt deshalb dürfte die luhmannsche Theorie einge-
munikative Formierung von Identitäten und Differenzen fleischten Empirikern des Faches dann auch ähnlich
nebst einigen Bemerkungen zu theoretischen Kontextu- erscheinen wie die Kritik der Kritischen Theorie am
ren«. In: Jürgen Straub/Joachim Renn (Hg.): Transitori-
›Positivismus‹, was dann wenigstens einen produkti-
sche Identität. Der Prozesscharakter des modernen
Selbst. Frankfurt a. M./New York 2002a, 211–237. ven Streit nach sich zog, der sich heute schon deshalb
–: »Exclusion Individuality or Individualization by Inclu- nicht einstellen dürfte, weil die neuen soziologischen
sion«. In: Soziale Systeme 8. Jg., 1 (2002b), 124–135. Generationen aufgrund der professionellen Etablie-
–: Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der rung des Faches ihre wissenschaftliche Sozialisation
modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2003. fast nur innerhalb der Soziologie genossen haben.
–: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.
2006. Auch für Erfolge muss man zahlen!
Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Be- Interessanter als das Verhältnis von Methoden/
schleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Empirie und Theorie ist jedoch das Verhältnis von
Berlin 2012. Methoden/Empirie und Gesellschaftstheorie. Hier
Saake, Irmhild/Nassehi, Armin: »Warum Systeme? Metho- bedienen Luhmanns »methodologische Vorbemer-
dische Überlegungen zu einer sachlich, sozial und zeit-
lich verfassten Wirklichkeit«. In: Soziale Welt 58. Jg., kungen« (GG, 36 ff.) exakt das, was aus der Perspek-
3 (2007), 233–253. tive empirischer Forschung erwartet wird: Forschung
Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine sei relativ irrelevant, weil sie letztlich prinzipiell kei-
Einleitung in die verstehende Soziologie [1932]. Frank- nen anderen Realitätskontakt habe als jede andere
furt a. M. 21981. kommunikative Operation, den ihrer eigenen Beob-
Wagner, Gerhard: Gesellschaftstheorie als politische Theo-
logie. Zur Kritik und Überwindung der Theorien nor- achtung nämlich. Und was kann man jenen, die sich
mativer Integration. Berlin 1993. mit Akribie der Erfassung dessen, »was der Fall ist«,
Willke, Helmut: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. verschrieben haben, Schlimmeres antun, als jene
Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Akribie der Beobachterrelativität ihrer eigenen Ope-
Selbstorganisation. München 1989. rationen ansichtig zu machen? Vielleicht ist es naiv
Armin Nassehi zu glauben, Luhmann hätte mit einer anderen Dar-
stellungsform des Problems größere Anschlussfähig-
Theorie ohne Empirie? 425

keit erzielen können, aber genau darum geht es sene Kontrolle hat folglich Methodenwahl und Wis-
letztlich doch – das schwierige Objektverhältnis der senschaftstheorie zu sorgen. Der Kanon reicht vom
Soziologie auch als empirische Herausforderung zu strengen Methodenideal nomothetischer Erklärun-
lesen. gen bis zur hermeneutischen Barmherzigkeit quali-
Die Soziologie laboriert in der Tat an einem tativer Sozialforschung. Diese Vermeidungsstrategie
schwierigen Objektverhältnis. Ihr Gegenstand ist ihr haben beispielhaft Jürgen Friedrichs, M. Rainer Lep-
nicht äußerlich. Als Reflexionstheorie des Sozialen sius und Karl-Ulrich Mayer (1998) zum kanonisier-
hat sie etwas zum Gegenstand, was ihr letztlich nicht ten Königsweg der Soziologie erklärt. In ein klassi-
entgegensteht, da sie in allem, was sie betreibt, diesen sches Objektverhältnis – also gewissermaßen die
ihren Gegenstand mitbetreibt. Ist Soziales (oder wie asymptotische Annäherung der Beobachtung ans
das Objekt der Soziologie auch immer heißen mag) Beobachtete kontrollierend – könne die Soziologie
das Objekt des soziologischen Beobachters, verliert nur dann zu ihrem Gegenstand treten, wenn sie mit
dieser seinen Status als Subjekt: Er kann auf seinem kontrollierbaren Einzelbeobachtungen hantiere, die
eigenen Bildschirm auftauchen und müsste dann die sich in nomothetische Formen bringen ließen. Jede
Paradoxie erleben, dass er zugleich Subjekt und Ob- darüber hinausgehende Generalisierung soziologi-
jekt seiner Bemühungen geworden ist, dass Fremd- scher Beobachtungen versündige sich an wissen-
und Selbstreferenz der beobachtenden Operationen schaftlichen Standards, die in Distanz zu ihrem
partiell zusammenfallen. Das schwierige Objektver- Gegenstand in der Lage seien, den Zusammenhang
hältnis, von dem hier die Rede ist, zwingt also dazu, zwischen einzelnen Variablen zu kontrollieren. Es
den epistemologischen Status der Soziologie zu wird deshalb vor Gesellschaftstheorie gewarnt – und
überdenken – und mit bloßer Epistemologie wird diese Warnung ist konsequent. Sie erkennt in der Tat
man nicht weiterkommen. an, dass die Thematisierung von Gesellschaft als um-
Dieses Problem des Reflexionszirkels ist nicht neu. fassender sozialer Einheit exakt auf das verzichten
Und doch wird man es nicht traditionell lösen kön- müsste, was der erklärenden empirischen Forschung
nen, etwa durch Hypostasierung vorempirischer und als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit erscheint:
damit invarianter Strukturen der reflektierenden auf ein distanziertes Objektverhältnis.
Einheit oder durch Annahmen eines vorgängigen Schon wer ›Gesellschaft‹ sagt, hat diese Distanz
Mit-sich-vertraut-Seins, das die Paradoxie der Im- unweigerlich verloren (GG, 41). Anders als man das
plosion der Subjekt/Objekt-Unterscheidung ins Un- aus der Perspektive der Forschung sehen kann, ist das
beobachtbare verschiebt. Schon in jener Subjekt- Problem der Erkenntnis von Gesellschaft kein quan-
theorie, die Selbstreflexion allein fürs Bewusstsein titatives Problem in dem Sinne, dass der Gegenstand
reserviert hatte, konnten diese Möglichkeiten nicht zu komplex sei, um alle Einzelphänomene in Be-
mehr überzeugen, seit von transzendentalen auf ope- tracht ziehen und Randbedingungen, erklärende Va-
rative Theorieanlagen umgestellt wurde. Freilich ist riablen und ›objektive‹ Beschreibungen aufeinander
das Problem der Soziologie nicht verborgen geblie- zu beziehen. Angesprochen ist hier gewissermaßen
ben, wie man dem Positivismusstreit entnehmen die Frage der Handlichkeit des Gegenstandes und der
konnte. Dieser hatte – auch aufgrund gesellschafts- Komplexität möglicher Wirkursachen, die schwer in
theoretischer Insuffizienzen der Kritischen Theorie, den Griff zu bekommen ist. Die Kritik des Rekurses
die in der Tat den eigenen Beobachterstatus fast aus- auf Gesellschaft macht sich also Sorgen darum, dass
schließlich politisch definieren konnte – letztlich for- man dann nur selektiv auf den Forschungsgegen-
schungspraktisch und nach erneuter Konsolidierung stand zugreifen kann – als gelte das nicht prinzipiell
des Faches zu folgenschweren Nichtthematisierun- für jede Form von Forschung, wie kleinräumig sie
gen des soziologischen Status der Soziologie geführt. sich auch immer geben mag. Wer das nur als Micro-
Am besten scheint man sich soziologischerseits mit Macro-Problem (vgl. Alexander u. a. 1987) disku-
einer klassischen Vermeidungsstrategie eingerichtet tiert, operationalisiert lediglich die Sorgen, aber
zu haben. Man verpflichtet Soziologie auf die Beob- nicht das Problem. Wer ›Gesellschaft‹ sagt, stößt da-
achtung von ihr äußerlichen Einzelphänomenen, zu mit also auf den blinden Fleck einer Art von For-
denen sie tatsächlich in ein klassisches Objektver- schung, die sich zwar als Forschungssubjekt für
hältnis treten kann und deren soziologische Beob- Forschungsobjekte interessiert, nicht aber dafür, wie
achtung dann nur noch einer angemessenen Kon- Subjekte und Objekte durch die und in der Gesell-
trolle des Objektverhältnisses verpflichtet ist. Man schaft konstituiert werden.
nennt dies dann ›Forschung‹, und für die angemes- Was hier als Problem der Forschung erscheint, ist
426 Diskussionen

eher ein Reflexionsproblem. Eine Soziologie, die eine und wird feststellen, dass das Problem der Tatsachen-
Theorie der Gesellschaft stellen will, muss früher feststellung nicht schlicht ›da‹ ist, sondern eine Ei-
oder später auf exakt jene Implosion der Unterschei- genleistung der soziologischen Methode selbst ist, so
dung von Subjekt und Objekt stoßen, die sich daraus weit sie den Funktionalismus tatsächlich ernst
ergibt, dass die Soziologie Gesellschaft nicht extern nimmt. Die funktionale Analyse im luhmannschen
beschreibt, sondern eine Selbstbeschreibung der Ge- Sinne setzt nicht einfach funktionale Bezugsproble-
sellschaft anbietet. Indem sie Gesellschaft beschreibt, me voraus, sondern erzeugt durch ihre eigenen Ope-
vollzieht sie sie mit. Und indem sie etwa auf Struktu- rationen, durch eigene Beobachtungen selbst Pro-
ren und Funktionen anderer, also nicht soziologi- blem/Lösung-Konstellationen. Luhmann betont:
scher, nicht einmal wissenschaftlicher Beobachtun- »Die eigentliche Theorieleistung, die den Einsatz
gen und Beschreibungen ihres Gegenstandes stößt, funktionaler Analysen vorbereitet, liegt demnach in
kann sie an sich selbst erleben, dass sie sich nur jenen der Problemkonstruktion« (SS, 86), also darin, beide
Unterscheidungen verdankt, die ihr als Soziologie Seiten kontingent zu setzen, sowohl Problem als auch
der Wissenschaft der Gesellschaft zur Verfügung ste- Problemlösung (vgl. Nassehi 2011, 65 f.). Erst dann
hen. Damit erst verwandelt sich das epistemologische kann man beobachten, wie auch die beobachtete Pra-
Problem des Reflexionszirkels in das gesellschafts- xis Problem und Problemlösung aufeinander bezieht
theoretische Problem der Frage nach dem gesell- – oder in einer anderen Formulierung: wie Kontin-
schaftlichen Ort und den gesellschaftlichen Bedin- genz durch Praxis eingeschränkt wird (Nassehi/Saa-
gungen der soziologischen (Selbst-)Beobachtung ke 2002; 2007; Saake 2006). Setzt man dies empirisch
von Gesellschaft – was zu paradoxen Beobachtungs- um, lässt sich funktionale Analyse als eine Art inter-
verhältnissen führt. pretatives Verfahren etablieren (vgl. Nassehi 1995;
All das schließt empirische Forschung nicht aus, Nassehi/Saake/Mayr 2008; Saake/Kunz 2006).
im Gegenteil. Worauf man allerdings achten muss, ist In einer solchen Methodologie taucht die Praxis
dies: sichtbarer zu machen, dass man das, was sich des Forschens auf dem Bildschirm der Forschung auf
aus einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie – ohne dass damit Forschung unmöglich wäre. Hier
als Zirkularität und Selbstreferenz im Gegenstands- wäre der Soziologie im Anschluss an Luhmann mehr
bezug ergibt, sogar an den einfachsten empirischen Selbstbezug zu wünschen. Denn es ist schon erstaun-
Operationen konventioneller Forschung entdecken lich, wie sich Sozialwissenschaftler gerne über andere
kann. Entfalten lässt sich das Problem dann aber Disziplinen hermachen und die Konstruktivität und
nicht epistemologisch, nicht wissenschaftstheore- Bedingtheit etwa naturwissenschaftlicher Erkenntnis
tisch oder methodologisch, sondern nur soziologisch. herausstreichen (vgl. etwa Knorr Cetina 1992), die
Empirische Forschung kann von Luhmann lernen, Konstruktivität der eigenen Praxis aber allenfalls wi-
dass sie selbst exakt das betreibt, was große Teile des derwillig anerkennen, weil man nun »der Gesell-
Faches an Supertheorien wie der luhmannschen kri- schaft das ganze Gewicht der Erklärungen aufbür-
tisieren: Unter nachmetaphysischen und nachontolo- det« (Latour 1995, 128) und sie selbst dann aus dem
gischen Bedingungen allenfalls die Bedingung ihrer Horizont des Erklärungsbedürftigen ausklammert.
eigenen Möglichkeit zu sein und darin erst die Mög- Was man eine Krise der empirischen Forschung nen-
lichkeit ihrer eigenen Bedingung zu erzeugen. Auch nen könnte, ist ihre Weigerung, noch sich selbst und
wenn sich das reichlich arrogant anhört: Man hätte ihre Praxis als Teil ihres Gegenstandes anzuerkennen.
ihr das nur in einer Form mitteilen müssen, die sie Die obsessive Limitierung von Wissenschaftstheorie
verstehen kann. auf den Hempel-Oppenheim-Realismus (so paradig-
Die Arroganz dieses Satzes sinkt, wenn man dafür matisch für die Soziologie bei Esser 1993) scheint
plädiert, sich empirischer Forschung selbst empirisch exakt diese Funktion zu haben, das Methodologische
zu nähern. Was ist dort ›der Fall‹? Nimmt man auf, aus dem Gegenstandsbereich der Soziologie zu exter-
was als genuin systemtheoretische bzw. funktionalis- ritorialisieren und so jene Distanz zu erzeugen, die
tische Methode vorgeschlagen wird (vgl. John/Hen- die Schwierigkeiten des soziologischen Objektver-
kel/Rückert-John 2010; Vogd 2009; 2007), muss man hältnisses in der oben angedeuteten Weise zu invisi-
nach den Selektionsbedingungen dessen fragen, was bilisieren hilft.
als empirische Forschung fungiert. So fragt man also Aus der Perspektive der luhmannschen System-
nicht nur danach, ›was der Fall ist‹, sondern auch, theorie stellt sich das Problem empirischer For-
›was nicht der Fall ist‹. Und hier stößt man dann auf schung in doppelter Weise: zum einen als Problem,
die Unterscheidung von Problem/Problemlösung wie mit bereits vorhandenen ›Daten‹ und v. a. ihrer
Theorie ohne Empirie? 427

negativen Selektivität umgegangen werden kann, und ›empirischer‹ Forschung epistemologisch implo-
zum anderen als Problem einer angemessenen sys- dieren.
temtheoretischen Methode/Methodologie, die da-
rauf abstellen muss, Kommunikation als Gegenstand
Literatur
empirischer Analyse anzusetzen sowie nach den Se-
lektions-, Strukturierungs- und Selbsterzeugungsbe- Alexander, Jeffrey u. a. (Hg.): The Micro-Macro-Link. Ber-
dingungen von Kommunikationsprozessen zu fra- keley/Los Angeles/London 1987.
gen. Ergänzt werden müssen diese beiden Fragen Esser, Hartmut: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frank-
durch die Perspektive, wie sich Einzelbeobachtungen furt a. M./New York 1993.
Friedrichs, Jürgen/Lepsius, M. Rainer /Mayer, Karl-Ulrich:
in den Horizont von Strukturen des Gesellschaftssys- »Diagnose und Prognose in der Soziologie«. In: Dies.
tems stellen lassen, wie sie sich also als Folgen und (Hg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. Opladen
Folgeprobleme gesellschaftlicher Strukturen darstel- 1998, 9–31.
len lassen. Letztlich hat es (sozialwissenschaftliche) John, Rene/Henkel, Anna/Rückert-John, Jana (Hg.): Die
Forschung mit der Frage zu tun, wie Kontingenzräu- Methodologien des Systems: Wie kommt man zum Fall
und wie dahinter? Wiesbaden 2010.
me erzeugt werden, wie Unwahrscheinlichkeit trotz- Knorr Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur
dem zu Strukturen führt und wie Selektionsspielräu- Anthropologie der Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1992.
me Freiheitsgrade und selektive Einschränkungen Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer
gewissermaßen gleichzeitig erzeugen. In der Tat be- asymmetrischen Anthropologie. Berlin 1995 (frz. 1991).
kommen dann Fragen der methodischen Kontrol- Luhmann, Niklas: »Sthenographie«. In: Ders. u. a..: Beob-
achter. Konvergenz der Erkenntnistheorien? München
lierbarkeit wissenschaftlicher Beobachtungen eine 1990, 119–137.
ganz neue Bedeutung. Wer im Gegenstandsbereich Nassehi, Armin: »Die Deportation als biographisches Ereig-
auf kausalanalytische Kontingenzdomestikationen nis. Eine biographieanalytische Untersuchung«. In: Ge-
verzichtet, wird darauf auch forschungspraktisch org Weber u. a.: Die Deportation von Siebenbürger
stoßen müssen. Methodische ›Kontrolle‹ ist dann Sachsen in die Sowjetunion 1945–1949. Band 2: Die De-
portation als biographisches Ereignis und literarisches
kein Eindeutigkeitsgenerator mehr, sie sediert nicht Thema. Köln/Weimar/Wien 1995, 5–412.
den Beobachter, was wohl der Traum aller Präzision –: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der
simulierenden Statistik ist. Methodische ›Kontrolle‹ modernen Gesellschaft II. Berlin 2011.
meint auch nicht mehr die (vergebliche) Suche nach – /Saake, Irmhild: »Kontingenz: Methodisch verhindert
gegenstandsadäquaten Methoden, konstituieren die- oder beobachtet? Ein Beitrag zur Methodologie der qua-
litativen Sozialforschung«. In: Zeitschrift für Soziologie
se doch ihre Gegenstände. Methodische ›Kontrolle‹ 31. Jg., 1 (2002), 66–86.
kann dann nur noch heißen: Einsicht in die episte- – /Saake, Irmhild/Mayr, Katharina: »Healthcare Ethics Co-
mologische Verschlingung von Forschung und Ge- mitees without Function? Locations and Forms of Ethi-
genstand sowie Folgenabschätzung von Begriffs- und cal Speech in a ›Society of Presents‹«. In: Barbara Katz
Unterscheidungsumstellungen. Man kann das dann Rothman/Elizabeth Armstrong/Rebecca Tiger (Hg.):
Bioethical Issues, Sociological Perspectives. Amsterdam
›Theorie‹ nennen, vielleicht hieße es besser ›Metho-
u. a. 2008, 131–158.
de‹, oder man lässt die Unterscheidung auf sich be- Saake, Irmhild: »Selbstbeschreibungen als Weltbeschrei-
ruhen. bungen. Die Homologie-Annahme revisited«. In: Socio-
Es scheint immer das gleiche Problem zu sein: Fra- logia Internationalis 44. Jg., 1/2 (2006), 99–140.
gen der angemessenen Beobachtung und Operatio- – /Kunz, Dominik: »Von Kommunikation über Ethik zu
›ethischer Sensibilisierung‹: Symmetrisierungsprozesse
nalisierung von Forschungsgegenständen stoßen auf
in diskursiven Verfahren«. In: Zeitschrift für Soziologie
Probleme, die nicht durch Forschung zu lösen sind, 35. Jg., 1 (2006), 41–56.
weil sie diese bereits im Akt der Beobachtung, der – /Nassehi, Armin: »Warum Systeme? Methodische Über-
Operationalisierung voraussetzen müsste. Sie sind legungen zu einer sachlich, sozial und zeitlich verfassten
zumindest nicht durch eine Art von Forschung zu lö- Wirklichkeit«. In: Soziale Welt 58. Jg., 3 (2007), 233–253.
sen, die sich in erster Linie der epistemologischen Vogd, Werner: »Systemtheorie und Methode? Zum kom-
plexen Verhältnis von Theoriearbeit und Empirie in der
Distanzierung bedient und auf die Nicht-Beobach- Organisationsforschung«. In: Soziale Systeme 15. Jg.,
tung ihrer Subjekt/Objekt-Konstitution setzt. Viel- 1 (2009), 97–136.
leicht hätte auch schon der Hinweis gereicht, dass –: »Empirie oder Theorie? Systemtheoretische Forschung
auch das Forschen nichts anderes ist als Kommuni- jenseits einer vermeintlichen Alternative«. In: Soziale
kation, die gesellschaftliche Autopoiesis mitvollzieht. Welt 58. Jg., 3 (2007), 295–321.
Das lässt in der Tat die Unterscheidung zwischen Armin Nassehi
Theorien und Methoden, zwischen ›theoretischer‹
428 Diskussionen

3. Theorie ohne Kritik? tieren, sondern nach dem kritischen Potential der
Systemtheorie fragen (vgl. Wagner 2005).

Immer wieder ist der Systemtheorie vorgeworfen


worden, unkritisch zu sein. Die systemtheoretische Aufklärung als Abklärung
Frage danach, wie soziale Ordnung möglich ist, laufe
nur auf eine Rechtfertigung bestehender gesellschaft- Aus systemtheoretischer Sicht ist nicht nur interes-
licher Verhältnisse hinaus, lautet ein inzwischen klas- sant, dass die normative Perspektive kritischer Spre-
sischer Einwand. Richtungweisend dürfte für diese cher immer schon Teil der von ihr kritisierten
Auseinandersetzung die Debatte sein, die Jürgen Ha- Gesellschaft und damit sozial und historisch bedingt
bermas Anfang der 1970er Jahre über den Unter- ist. Dies ist ein Befund, den bereits nahezu jede kom-
schied zwischen Kritischer Gesellschaftstheorie und plex gebaute Ideologiekritik benannt und in zum Teil
systemtheoretischer ›Sozialtechnologie‹ mit Niklas beeindruckender Weise problematisiert hat – man
Luhmann geführt hat (TGS). Habermas hat auch denke etwa nur an Adornos Figur des Nicht-Identi-
Jahre nach dieser Debatte den Befund formuliert, schen, mit der dieser auf das Problem reagiert, inner-
dass das Erkenntnisinteresse der Systemtheorie ein halb der falschen Gesellschaft deren Falschheit auf
konservatives sei: Sie könne »gar nicht umhin, sich den Begriff zu bringen. Der entscheidendere Hinweis
auf die Komplexitätssteigerung moderner Gesell- der Systemtheorie zum Thema ›Kritik und gesell-
schaften affirmativ einzustellen« (Habermas 1985, schaftliche Aufklärung‹ ist demgegenüber, dass Se-
426). Die Systemtheorie scheine, so referiert Luh- mantiken des Kritischen oftmals den Anspruch
mann selbst die von Habermas an ihn gerichteten erheben, für die Gesellschaft als ganze zu sprechen,
Vorwürfe, »nur noch die halbe Wahrheit zu errei- während sie doch immer nur eine bestimmte Per-
chen: die Wahrheit der Technik, der Sozialtechnolo- spektive auf die Gesellschaft ermöglichen. Diesen
gie, der durch Herrschaft vermittelten Manipulati- blinden Fleck Kritischer Theorie zu sehen, wird Luh-
on« (TGS, 293). Während Habermas nicht davon mann durch seine Beobachtertheorie ermöglicht. Ihr
ablässt, »Luhmanns Pathos […] einer auf Komplexi- zufolge reproduziert jede soziale Praxis auch immer
tätsreduktion geschrumpften Vernunft« (Habermas einen Referenzrahmen, eine Logik, eine Kontextur,
1985, 431 f.) zu monieren, reagiert Luhmann mit Po- die nicht ohne weiteres auf einen anderen Referenz-
lemik. Kritische Theorie zeichne sich durch »Attitü- rahmen, eine andere Logik, eine andere Kontextur
den des Besserwissens« (GG, 115) aus, sie geriere sich übertragen werden kann. Eine der wichtigsten The-
als konkurrierender Beschreiber mit tadelfreien mo- sen der Systemtheorie ist, dass sich moderne Gesell-
ralischen Impulsen und besserem Durchblick und sei schaft über unterschiedliche, differente Kontexturen
dabei aber nichts weiter als das »Opfer der Zweiwer- reproduziert, die gleichzeitig nebeneinander prozes-
tigkeit ihres Instrumentariums, der ontologischen sieren. Damit ist nicht gemeint, dass man sich die Ge-
Struktur ihrer Leitunterscheidung« (SA5, 229) – all sellschaft als sozialtechnologischen Setzkasten vor-
dies sind Vorwürfe und Bezichtigungen, die dem zustellen hat, etwa in der Art: Wer Religion sucht,
heutigen Leser wie eine Art erbittertes Kinderspiel geht in die Kirche; wer Wahrheit sucht, geht zur Uni-
feixender Professoralität anmuten mögen: »Ich sehe versität; wer Politik sucht, fährt zum Bundestag. Ge-
was, was Du nicht siehst!« (ebd.). Die heutige Debat- meint ist damit vielmehr, dass sich Situationen über
te zum Thema Kritik und gesellschaftliche Aufklä- den Verweis auf bestimmte Erwartungsstrukturen
rung gibt sich da gelassener (vgl. hierzu etwa nur praktisch reproduzieren – dabei können durchaus
Boltanski 2010; Celikates 2009; Gebhard u. a. 2006). unterschiedliche Kontexturen innerhalb einer Situa-
Es lässt sich nun vieles auch anders sagen als – um in tion auftreten; die Frage ist aber dann, wie sich diese
der luhmannschen Diktion zu bleiben – »in Frank- Kontexturen, diese Logiken aufeinander beziehen
furt« von Adorno und Habermas (SA5, 234), ohne und wie sie jeweils übersetzt und füreinander an-
dabei gleich das Thema zu verfehlen. Vor diesem schlussfähig werden. Für eine Soziologie, die solch
Hintergrund bietet Luhmanns Systemtheorie einen eine Perspektive aufwirft, verbietet es sich konse-
Rahmen, der sich für die aktuelle Diskussion sozio- quenterweise, sich für die ›Eine Vernunft‹ der ge-
logischer Fragen von Kritik und gesellschaftlicher meinsam geteilten Welt zu interessieren. Appelle
Aufklärung als durchaus anschlussfähig erweist. Der dieser Art würden nur den vergeblichen Versuch dar-
vorliegende Beitrag möchte sich deshalb nicht an der stellen, eine überkomplexe und different prozessie-
Opposition zwischen Kritik und Affirmation orien- rende Gesellschaft auf einen gemeinsamen Nenner
Theorie ohne Kritik? 429

bringen zu wollen – empirisch stellt sich dieser ver- che plausibilisieren können, welche Sprecherpositio-
meintlich gemeinsame Nenner immer nur als Ver- nen dabei sichtbar werden und vor welchem
schiebung im Sinne seiner Abhängigkeit von einer Publikum sich deren Anliegen bewähren kann und
Beobachterperspektive dar. muss. Luhmann bindet seine Konzeption von Auf-
Luhmanns Verweis auf die Komplexität der Welt klärung als soziologische Aufklärung zwar sehr streng
und die Kontingenz aller Vernunft hat ihm nun gera- an die Ausarbeitung einer soziologischen Theorie
de den Kritikpunkt eingebracht, gar keinen Beitrag und nicht, wie etwa Habermas, direkt an die Teilnah-
mehr zur Debatte um gesellschaftliche Aufklärung me an öffentlichen Diskursen (vgl. SA1, 66 ff.).
leisten zu können – er sei nur mehr (soziologischer) Gleichzeitig geht aber auch Luhmann davon aus, dass
Beobachter differenter Logiken, nicht aber Teilneh- die Praxis und Emergenz des Kritischen eng an die
mer am kritischen Diskurs (vgl. TGS). Man kann Genese von Öffentlichkeit und Medien gebunden ist.
aber hinter Luhmanns Argument einer komplexen Luhmann attestiert öffentlichen Diskursen die Kom-
und different verlaufenden Gesellschaft auch ein kri- petenz des Ausweises von Differenz und Kontingenz
tisches Potential erkennen: Der habermassche Ver- im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung – und
weis auf eine gleichsam monolithische Vernunft – so eben genau in diesem Mechanismus sieht Luhmann
Luhmanns implizite Kritik – gerinnt seinem Publi- auch die Praktiken der Kritik sich vollziehen: als Be-
kum zum unerträglichen Gestus einer Gesellschafts- obachtungen zweiter Ordnung, die keinen besseren,
theorie, weil dieses auch durch neue Verbreitungs- aber einen anderen Blick ermöglichen und damit
medien zunehmend daran gewöhnt wird, dass sich Kontingenz sichtbar machen (GG, 1119). Diese im
neben der im Buchdruckzeitalter entwickelten bür- systemtheoretischen Vokabular formulierte Perspek-
gerlichen Sprecherposition nun tatsächlich jeder tive ermöglicht vor allen Dingen eines: einen empiri-
über nahezu alles äußern darf – auch jenseits von schen Blick auf Praktiken des Kritischen. Daraus
Vernunft und Einsicht in bessere Gründe. Dass sich ergeben sich verschiedene Konsequenzen.
solch eine Praxis im Rückgriff auf eine Theorie der
Differenz und der Komplexität auch politisieren
lässt, haben in gewisser Hinsicht die Cultural Studies Unbestimmtheit vs. Geltung
gezeigt – der Blick der europäischen Aufklärung auf
den Orient erscheint vor diesem Hintergrund nur Die Kritische Theorie Habermas’ bezieht ihr kriti-
mehr als Herrschaftszusammenhang (vgl. Said sches Potential aus geteilten Prinzipien normativer
1979), und die kulturwissenschaftliche Kritik an ihm Geltung. Habermas geht es in erster Linie darum,
macht sichtbar, dass der westliche Blick der Aufklä- »die kritische[n] Maßstäbe auszuweisen« (Habermas
rung auch nur eine mögliche (hybride) Perspektive 1981, 7), über die seine Gesellschaftskritik ihre Gel-
neben vielen anderen ist. Luhmann selbst hat sich in tungsansprüche bezieht. Luhmann schlägt diesbe-
eine derart politisierte Debatte freilich nicht einge- züglich eine gegenteilige Perspektive vor: Anstelle
schaltet, sondern argumentiert, dass soziologische begründete Prinzipien der Geltung von gemeinsam
Aufklärung in der modernen Gesellschaft immer nur geteilten Normen zu entwickeln, hebt er hervor, dass
soziologische Aufklärung (SA1, 66 ff.) sein könne. Für diese Prinzipien empirisch stets aufs Neue in Frage
Luhmann scheint sich eine normative Perspektive gestellt werden können. Für Luhmann gibt es »keine
welcher Art auch immer nur erneut in dem Problem logische Hierarchie von Gründen. Es besteht dem-
zu verheddern, als Teil für das Ganze sprechen zu nach auch keine Hoffnung auf ein Ende der Diskus-
wollen. Aus systemtheoretischer Sicht gibt es deshalb sion; sie hört irgendwann nur auf. Für ihre
keine Möglichkeit einer politisch-normativen Auf- Beendigung muß es soziale, nicht logische oder se-
klärung der Gesellschaft: Aufklärung als Abklärung. mantische Regeln geben« (TGS, 337).
Diese starke Empirisierung von all dem, was ›Ver-
nunft‹, ›Aufklärung‹ oder ›Emanzipation‹ heißen
Soziologie der Kritik könnte, muss einer Soziologie der Kritik nicht als
Nachteil gereichen. Vielmehr sieht Luhmann gerade
Luhmanns Perspektive ermöglicht zwar keine nor- in dem Ausweis von Unbestimmtheit und Unsicher-
mative Konzeption einer Kritischen Theorie; was heit einen möglichen Beitrag zum Aufklärungsdis-
aber möglich wird, ist eine Soziologie der Kritik. In kurs. Der Verweis auf eine konsentierbare Vernunft
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerät dabei die liest sich nur mehr als Ausschaltung von Kontingenz,
Frage, wie sich kritische Praktiken überhaupt als sol- wo doch gerade die Stärke der Soziologie darin be-
430 Diskussionen

stünde, die Kontingenz der Normativität selbst in 18. Jahrhunderts eingeübte Praxis des Austauschs
den Blick zu nehmen. Beobachten lässt sich aus solch von Argumenten, die nun auch auf Phänomene au-
einer Perspektive etwa »daß die Orientierungsmar- ßerhalb des Privaten übertragen wird: es entsteht ein
ken rechts bzw. links, konservativ bzw. sozialrevolu- bürgerlicher Meinungsstreit um Wissensfragen, der
tionär und Apologie bzw. Kritik durcheinanderpur- in seiner Gestalt und Praxis nach wie vor das umfasst,
zeln. Die Gesellschaft verändert sich so schnell, daß was uns heute als normatives Konzept der öffentli-
konservative Kräfte sich nur noch als Opportunisten chen Sphäre vertraut ist. Anstelle einer Neubestim-
halten können, während die Linke in der Bewahrung mung dieser Praxis des bürgerlichen Meinungsstreits
ihrer immer noch nicht erfüllten Ideale konservativ unter veränderten Bedingungen moderner Massen-
wird« (TGS, 398 f.). Gerade in ihrem Verweis auf Un- medien gelangt Habermas zu einer Verfallsgeschichte
bestimmtheit ermöglicht die systemtheoretische Per- des Öffentlichen in der modernen Gesellschaft. Ge-
spektive auf Kritik, kritische Praktiken nicht immer nau hier ist der Ort, an dem für Habermas Kritik ent-
schon voraussetzen zu müssen, sondern sich zu fra- steht.
gen, in welcher Gestalt diese auftreten, sich bewähren Mit Luhmanns Systemtheorie kann man hingegen
und verändern. Die von einer kritischen Theorie be- fragen, ob sich unter veränderten medialen Bedin-
nannten Problemfelder müssen dann nicht immer gungen nicht auch eine veränderte Praxis der öffent-
schon im Bereich der Legitimation von Herrschaft lich hergestellten Kritik etabliert. Kritik wäre demzu-
angesiedelt sein. Und wenn sie darin verortet werden, folge nicht allein an das für Habermas einzig
muss dabei Herrschaft nicht immer schon vorempi- authentische Medium der Sprache gebunden, »Sinn
risch am Werk gesehen werden – vielmehr kann eine ist zwar intersubjektiv, aber nicht allein sprachlich
durch systemtheoretisches Kontingenzdenken ange- konstituiert« (TGS, 303). Medien würden vielmehr
regte Soziologie der Kritik danach fragen, wie und wo Schemata der Thematisierung und der Personalisie-
es eigentlich zur Erzeugung von Asymmetrien rung, die sich auf spezifische Weise auch in die Prak-
kommt, welche Probleme damit produziert und wel- tiken der Negation einschleichen und dabei Plausibi-
che damit gelöst werden. Und schließlich kann sich litäten verwandeln, produzieren. Wenn Kritik eine
eine derart verfahrende Soziologie der Kritik auch er- mediatisierte Praxis ist, die wir dem Buchdruckzeit-
lauben, Krisen und Problemlagen jenseits einer Per- alter zu verdanken haben, dann stellt sich die empi-
spektive sozialer Ungleichheitsforschung zu themati- rische Frage, wie sich diese Praxis unter veränderten
sieren: etwa in dem Verweis auf die zunehmende medialen Bedingungen wandelt.
Komplexität der Gesellschaft. Schließlich lässt das Diese Fragestellung orientiert sich an Dirk Bae-
Kontingenzbewusstsein der Systemtheorie nicht nur ckers (2007) von McLuhans Medientheorie entnom-
thematische Alternativen in Bezug auf das Kritische menen Vorschlag, dass mit jedem neuen Verbrei-
zu – es erlaubt auch, die Frage nach der Erzeugung tungsmedium eine veränderte Form des Sozialen
von Kritik als öffentlicher Praxis neu zu stellen. Was entstehen kann. Die empirische Frage ist, wie sich
Kritik ist, worüber sie sich etabliert, ist nicht schon diese veränderten Sozialformen auch in den Prakti-
immer im Vorhinein geklärt im Sinne von festgeleg- ken des Kritischen wiederfinden lassen: Welche Spre-
ten Geltungskriterien. Was Kritik ist, muss sich im- cherrollen entstehen in einem Zeitalter, in dem das
mer wieder neu sozial bewähren. Vor diesem Buch und zunehmend sogar das Fernsehen zwar
Hintergrund ist der zugegebenermaßen polemische nicht verschwunden sind, aber dennoch auch als Me-
Hinweis Luhmanns zu lesen: »Die Systemtheorie hat dien der Vergangenheit angesehen werden müssen?
sich von Vernunft und von Herrschaft emanzipiert« Welche Schemata der Thematisierung werden plau-
(TGS, 401). sibel, wenn schriftliche Argumente nur mehr eine
neben vielen Möglichkeiten sind, sich öffentlich aus-
zudrücken? Welches Publikum wird erzeugt, wenn in
Medialisierte Publika vs. authentische Online-Foren und Social-Network-Sites längst nicht
Sprache im lebensweltlich geteilten Diskurs mehr nur der informierte Staatsbürger, sondern na-
hezu jeder mitsprechen kann – ob er oder sie nun
In Anlehnung an Habermas (1962) lässt sich auch über besseres Wissen verfügt oder nicht?
mit der Systemtheorie die Genese von Öffentlichkeit
und Kritik als Praxis beobachten, die im Buchdruck-
zeitalter emergiert. Für Habermas ist es bekanntlich
die im bürgerlichen Salon der Lesegesellschaften des
Theorie ohne Kritik? 431

Soziologie der Kritik als kritische Soziologie? proletarischen Revolution Rechnung tragen sollte.
Oder an die Distanzierung einer post-marxistischen
Das Kontingenzbewusstsein der Systemtheorie lässt Perspektive von einem ökonomischen Reduktionis-
Grenzen der Konzepte einer kritischen Theorie er- mus vor dem Hintergrund des Aufkommens identi-
kennen, die diese aus normativen Gründen ausblen- tätspolitischer Debatten in den 1980er Jahren (vgl.
den müsste: Der Konsens eines vernünftigen Diskur- Laclau/Mouffe 1985/1991). Selbst Habermas hat sei-
ses (Habermas) kann immer wieder aufs Neue in ne Kehrtwende vom adornitischen Arbeitspro-
Frage gestellt werden, Glück und Wahrheit (Adorno) gramm der falschen Gesellschaft hin zu einer
verweisen eher auf eine temporalisierte Paradoxie als Kritischen Theorie kommunikativen Handelns da-
auf den vagen und metaphorischen Ausweis einer mit begründet, dass »wirklich etwas besser geworden
möglichen Versöhnung in einer total verwalteten, [ist]« (Habermas 1985, 203), dass also die theoreti-
falschen Welt. Und die bürgerliche Gesellschaft um- schen Vorgaben Adornos nicht mehr so recht zur
fasst mehr als »den gesamten materiellen Verkehr der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er Jah-
Individuen innerhalb einer bestimmten Entwick- re passen wollten. Das kritische Potential der System-
lungsstufe der Produktivkräfte« (Marx 1971, 408). theorie könnte deshalb auch darin liegen, über den
Eben jene Momente, aus denen traditionelle Kri- Ausweis empirischer Praktiken des Kritischen nor-
tische Theorie ihr Kritikpotential zieht, werden sei- mative Konzepte hinsichtlich ihrer Plausibilität zu
tens der Systemtheorie konsequent nach ihrer befragen. Systemtheorie ist nur deshalb eine kritische
empirischen Genese und praktischen Problemlö- Soziologie, weil sie eine Soziologie der Kritik betreibt
sungsfunktion befragt: Vernünftigkeit, Versöhnung und damit kritische Theorie neu lesbar macht – gegen
und der Vorrang einer politischen Ökonomie. Man den Strich.
könnte nun diese Praxis des Aufzeigens von blinden
Flecken und der Empirisierung all dessen, was aus
normativer Sicht Geltung beanspruchen soll, auch Literatur
selbst als Kritik auffassen: Insofern wird die Ideolo- Adorno, Theodor W.: »Minima Moralia. Reflexionen aus
giekritik auf ihre eigene Ideologie hin befragt und dem beschädigten Leben« [1950]. In: Ders.: Gesammelte
kritisiert. Kritik entsteht hier vordringlich über den Schriften. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1980.
Hinweis darauf, auch als Kritiker Teil einer Gesell- Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt
a. M. 2007.
schaft zu sein und immer nur eine Perspektive ein-
Boltanski, Luc: Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter
nehmen zu können, die niemals für das Ganze stehen Adorno-Vorlesungen 2008. Frankfurt a. M. 2010.
kann – selbst wenn sie sich als solche geriert. Celikates, Robin: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche
Die Systemtheorie als kritische Theorie zu be- Selbstverständigung und kritische Theorie. Frankfurt
zeichnen, würde aber genau deshalb in eine falsche a. M. 2009.
Gebhard, Gunther u. a.: »Kritik der Gesellschaft? Anschlüs-
Richtung weisen: Systemtheorie hat sich nie selbst als
se bei Luhmann und Foucault«. In: Zeitschrift für Sozio-
›kritisch‹ im sozialpolitischen Sinne verstanden. Für logie 35. Jg. (2006), 269–285.
diese Form der soziologischen Selbstaufklärung der Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit.
Gesellschaft sollte man deshalb einen anderen Begriff Frankfurt a. M. 1962.
wählen als den seitens traditioneller Kritischer Theo- –: Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1985.
rie ins Politische verschobenen Begriff der Kritik. –: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. [1981].
Frankfurt a. M. 1999.
Gleichzeitig eröffnet der systemtheoretisch infor- Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale
mierte Blick auf empirisch vorfindbare Praktiken des Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien
Kritischen die Möglichkeit, normative Konzepte der 1991 (engl. 1985).
Gesellschaftskritik auf ihre empirische Plausibilität Luhmann, Niklas: »Soziologische Aufklärung«. In: SA1,
hin zu befragen. Und dies ist wiederum ein Gestus, 66–91.
–: »Ich sehe was, was Du nicht siehst«. In: SA2, 228–34.
den auch die traditionelle Kritische Theorie einge- Marx, Karl: Die deutsche Ideologie. Die Frühschriften
setzt hat, wenn eigenständige Fortschreibungen der [1845/46]. Stuttgart 1971.
marxschen Tradition entwickelt wurden. Man denke Said, Edward: Orientalismus. Frankfurt a. M. 1979 (engl.
etwa nur an Horkheimers Vorstellung eines empiri- 1978).
schen Arbeitsprogramms des Frankfurter Instituts Wagner, Elke: »Gesellschaftskritik und soziologische Auf-
klärung. Konvergenzen und Divergenzen zwischen
für Sozialforschung in seiner Antrittsvorlesung aus Adorno und Luhmann«. In: Berliner Journal für Sozio-
dem Jahr 1931, das der vom marxschen Programm logie 15. Jg. (2005), 37–54.
zwar angekündigten aber bis dahin ausbleibenden Elke Wagner
432 Diskussionen

4. Supertheorie? das Feld möglicher Objekte der Theorie in irgendei-


ner Weise beschränken würden. Supertheorien tre-
ten ›nach außen hin‹ als Theorien auf, für die gilt,
Niklas Luhmann stellt mit selbstbewusster Geste fest: dass es aus theorieimmanenten Gründen keine theo-
»Systemtheorie ist eine besonders eindrucksvolle Su- rieimmanente Limitation des intendierten Objekt-
pertheorie« (SS, 19). Damit hat er eine der kontro- bereiches der Theorie geben kann. Knapp gesagt:
versesten, aber gleichzeitig auch eine der aufschluss- Alles kann Gegenstand einer Supertheorie werden.
reichsten Selbstbeschreibungen der Systemtheorie Das allerdings darf nicht mit einer allumfassenden
gegeben, an der sich nicht nur zahlreiche Widerstän- Zuständigkeit verwechselt werden. Eine Supertheo-
de entzünden, sondern die zugleich in den Kern der rie kann deswegen allein nicht zu allen möglichen
systemtheoretischen Theoriearchitektur hinein- Phänomenen Stellung beziehen oder gar normative
führt. Ob Luhmann diesen Anspruch zurecht erhebt, Aussagen machen. Genau dieses Missverständnis hat
hängt von der Definition des Begriffs der Supertheo- der Systemtheorie die unberechtigte Kritik einge-
rie ab, so dass es im Folgenden nur darum gehen bracht, der totale Anspruch werde totalitär. Eine Su-
kann, zu klären, inwieweit die Systemtheorie sinn- pertheorie ist nur insofern universalistisch, als sie
vollerweise sich selbst als eine solche ausweisen kann. jeden möglichen Gegenstand nach Maßgabe ihrer ei-
In einem landläufigen und nicht technischen Ver- genen Leitdifferenzen beobachtet. Insofern kann
ständnis könnte mit diesem Begriff eine Theorie ge- eine Supertheorie gar nicht ohne diese Leitdifferen-
meint sein, die sich selbst in besonderer Weise vor zen gedacht werden, wie Luhmann betont: »Leitdif-
anderen theoretischen Alternativen auszeichnet, die- ferenzen sind Unterscheidungen, die die Informati-
se übertreffen oder gar ins Abseits stellen will und onsverarbeitung der Theorie steuern« (SS, 19). Das
von ihrer eigenen Qualität selbst überzeugt ist. Etwas bedeutet aber, dass solche Theorien grundsätzlich
abstrakter könnte man eine Supertheorie auch als von einer konstruktiven Grundstruktur geprägt sind.
eine Theorie verstehen, die nicht nur besser ist als an- Ihre Gegenstände sind ontologisch nicht autonom
dere Theorien und dies von sich selbst behauptet, von der Beobachtung durch die Theorie, vielmehr ist
sondern auch über den anderen Theorien steht als es gerade diese Beobachtung, die qua Beobachtung
eine Art Übertheorie auf einer von ihr selbst geschaf- diese Gegenstände als solche mit konstituiert.
fenen Metaebene. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die zweite Ei-
Wenn die Systemtheorie Kritik und Ablehnung er- genschaft, die Autoreflexivität und – zeichentheore-
fährt, dann häufig deswegen, weil man ihr in diesem tisch gewendet – Selbstreferentialität der Theorie,
Sinne unterstellt, Supertheorie sein zu wollen. Sie wie Luhmann mehrfach betont. »Es gehört zu den Ei-
wird von vielen als eine Theorie wahrgenommen, die genarten universalistischer Theorien, daß sie selbst
alles erklären will, dabei aber rein formal, abstrakt in ihrem eigenen Gegenstandsbereich wieder vor-
und ohne echten Weltbezug bleibt und überdies in- kommen« (SS, 650). Gerade dieser Umstand ist auf
human, anmaßend und hegemonial agiert. Dahinter den konstruktiven Charakter der Objektkonstitution
verbirgt sich ein Missverständnis, das vor allem die der Theorie in ihrer Beobachtung zurückzuführen:
Idee einer Supertheorie verkennt; vielfach sind die »Sie [die Supertheorien; O.J.] konzipieren ihren Ge-
Widerstände gegen die Systemtheorie darauf zurück- genstand so, daß sie sich selbst als Teil ihres Gegen-
zuführen ebenso wie die Widerstände der System- standes erscheinen müssen« (MdG, 59). Die System-
theorie (Koschorke/Vismann 1999, 9), also die theorie beschreibt sich als Supertheorie, indem sie
Selbstrestriktionen der Theorie im Zuge und in der die Gesellschaft als soziale Totalität beschreibt und
Geste ihrer eigenen Universalisierung. sich darin selbst verortet (Khurana 2000, 327).
Die Selbstreferentialität der Supertheorie meint
aber auch, die Bedingungen von Theoriebildung
Universalismus und Autoreflexivität überhaupt zu erfassen und zu verschieben. Die Sys-
temtheorie als Supertheorie ist eine Theorie über
Als Terminus technicus meint ›Supertheorie‹ ledig- Theorie und Theoriebildung, sie ist ihre eigene Me-
lich eine Theorie, die zwei Eigenschaften erfüllt: Sie tatheorie. Daher erscheint es wenig einleuchtend,
ist universalistisch und sie ist autoreflexiv. Der uni- wenn Carolin Gaiser zwischen universalistischen
versalistische (oder totalisierende; vgl. Khurana Theorien und Supertheorien trennt: »Bedingung ei-
2000, 328 ff.) Charakter verweist darauf, dass sich ner Supertheorie ist die Reflexion des eigenen Status
keine materialen Restriktionen angeben lassen, die als Theorie, während eine Universaltheorie, welche
Supertheorie? 433

nach Luhmann zwingenderweise diese Vorausset- lassen, das man nicht zuletzt aus diesem Grund als
zung erfüllt, darüber hinaus den Anspruch erhebt, seinen discours de la méthode bezeichnen darf. Die
auf alle Phänomenbereiche (und damit auch auf sich Theorie sozialer Systeme ist eine Supertheorie, inso-
selbst) angewandt werden zu können« (Gaiser 2004, fern »sie als soziologische Theorie alles Soziale be-
186, Fn. 625). Und das bedeutet: »Universaltheorien handelt und nicht nur Ausschnitte« (SS, 9, vgl. 19).
sind wegen ihres Anspruchs auf universale Anwend- Als universale soziologische Theorie unterzieht sie
barkeit auch Supertheorien, während dies umge- auch ihr eigenes Entstehen und Vorkommen im
kehrt nicht gilt« (ebd., 69, Fn. 315). Das würde Funktionssystem ›Wissenschaft‹ einer funktionalen,
implizieren, dass nur universalistische Theorien ei- wissenschaftlichen Analyse (GG, 1128–1142).
nen universalen bzw. universalistischen Charakter Dementsprechend konzeptualisiert sie ihre Theo-
und eine autoreflexive Struktur besitzen, wohinge- riebausteine und gewinnt so ihr Design. Systemtheo-
gen Supertheorien sich notwendigerweise nur durch rie definiert Gesellschaft über den Begriff der
ihre Autoreflexion oder Selbstreferentialität aus- Kommunikation und sie definiert Kommunikation
zeichnen. Dennoch muss die Frage leitend sein, wa- als operativ geschlossene, autopoietische und somit
rum denn eine Theorie dazu kommen sollte, sich auf systembildende Operation. So kommt die System-
sich selbst zu beziehen. Eine Theorie, deren einziger theorie zu einer Konzeption, der zufolge nur Kom-
Gegenstand sie selbst wäre, würde gewissermaßen in munikation kommuniziert, ›Menschen‹ aber als
sich zusammenfallen. Gleiches gilt für eine Theorie Theorieelemente ausgeschlossen bleiben. Da die Sys-
mit einem restringierten Objektbereich, zu dem man temtheorie selbst Kommunikation ist bzw. vollzieht,
aber die Theorie selbst zählen würde. Die Ebene der kommt sie in ihrem eigenen Gegenstandsbereich vor.
Theorie und ihr Objektbereich wären ununter- Als Kommunikation über Gesellschaft vollzieht sie
scheidbar, was zur Folge hätte, dass die theoretische gleichzeitig das, was sie untersucht, nämlich Gesell-
Ebene schlichtweg verschwindet. (Das gilt jedoch schaft. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass mit
nicht, wenn Theorien sich mit Theorien – im Sinne dem Universalitätsanspruch einer soziologischen
eines breiten Spektrums oder von Theoriebildung an Theorie die Gesellschaft als allgemeines Theorieele-
sich – beschäftigen.) Aber erst der universalistische ment auftritt, das die Theorie selbst nicht mehr ein-
Anspruch rückt die Theorie in ihren eigenen Fokus, holen kann (Fuchs 1992). Es gibt keinen Beobachter
macht sie zu ihrem eigenen Gegenstand. und keine Beobachtung der Gesellschaft, die nicht
Und dies ist wiederum mit dem Gegenstand bzw. selbst wiederum Gesellschaft reproduzieren würden.
mit dem Verhältnis von Theorie und Gegenstand, Die Beobachtungen von Gesellschaft sind Teil des Be-
also ihrer Objektkonstitution zu erklären. Super- obachteten. Metaebene und Objektebene fallen da-
theorien sind demnach Theorien, die ihren Gegen- bei in eins; so bekommt die Systemtheorie ihr eigenes
stand so konstituieren, dass dieses Konstitutionsmo- Beobachten in den Blick. Festzuhalten bleibt, dass
ment für sie selbst in besonderer Weise gelten muss. sich Status und Anspruch einer Supertheorie, ihre
Insofern sind sie konstitutiv selbstreferentiell: »Einer Selbstreferentialität und vermutlich auch ihr (soge-
Theorie, die ihre Gegenstände als selbstreferentielle nanntes) Theoriedesign bzw. ihre Architektonik
Systeme auffaßt, fällt es um so leichter, ihre eigene (Soentgen 1992) gegenseitig bedingen. Insofern ist
Selbstreferenz zu präsentieren« (SS, 659 f.). jede Supertheorie immer auch eine Endotheorie, also
Für die Systemtheorie im luhmannschen Sinne eine Theorie des implizierten Beobachters (Rössler
sind zwei Dimensionen charakteristisch, erstens die 1992).
Dimension des Systems und zweitens die Dimension Führt man andere Alternativen ins Feld, so wer-
des Sozialen. Diese beiden Dimensionen ließen sich den auch die systemtheoretischen Dispositionen
auch als eine allgemeine und eine spezielle soziologi- deutlich. Thomas Khurana konfrontiert den totali-
sche Systemtheorie unterscheiden, die in der luh- sierenden Charakter der Systemtheorie mit dem
mannschen Theorie sozialer Systeme zusammenflie- Konzept der »theoretical jetty« von Derrida, um auf
ßen. »Für eine Theorie sozialer Systeme werden dieser Basis supplementäre »Theorieverhältnisse« zu
ihrerseits, und deshalb sprechen wir von ›allgemein‹ skizzieren (Khurana 2000, 328). Aber schon Struktu-
[gemeint ist eine allgemeine Systemtheorie; O.J.], ralismus, Hermeneutik oder Konstruktivismus und
Universalitätsansprüche erhoben« (SS, 33). Insofern selbst Varianten der Dekonstruktion können als Su-
ist es kein Wunder, dass sich die deutlichsten Äuße- pertheorien aufgefasst werden. Doch der Zeichenbe-
rungen Luhmanns zur Systemtheorie als Supertheo- griff im Strukturalismus, der Sinnbegriff in der
rie in seinem Buch Soziale Systeme (1984) finden Hermeneutik oder der Begriff der Konstruktion im
434 Diskussionen

Konstruktivismus haben nicht dasselbe theoretische Systemtheorie und Dekonstruktion


Gewicht wie der Begriff des Systems in der System-
theorie. Zwar sind alle diese Begriffe fundierende Be- Dies wird besonders dort interessant, wo man eine
griffe sowie zugleich Beobachtungsbegriffe, und sie andere Supertheorie als potentiell äquivalente Alter-
implizieren mithin auch Leitdifferenzen (z. B. Signi- native ins Feld führt. Ein solches Beispiel wäre – trotz
fikant/Signifikat, Verstehen/Sinn, Konstruierendes/ massiver Unterschiede in der Selbstbeschreibung –
Konstruiertes), aber beim Systembegriff kommt die Dekonstruktion, die gleichermaßen universalis-
noch eine zweite Dimension hinzu: Der Systembe- tisch und selbstreferentiell ist. Systemtheoretisch for-
griff verweist auf die beobachtungsleitende Differenz muliert beobachtet die Dekonstruktion (anders als
(System/Umwelt) und bezeichnet das Beobachtete der Strukturalismus oder auch der Poststrukturalis-
(Gesellschaft als System). In diesem Sinne beobach- mus im engeren Sinn) nicht nur mittels des Zeichen-
tet der Strukturalismus keine Zeichen, sondern das- begriffs, sondern sie beobachtet auch den Zeichenbe-
jenige, was sich zeichenhaft konstituiert. Für den griff (Derrida 1983). Der selbstreferentielle Charak-
Konstruktivismus gilt Vergleichbares. Genau dieser ter der Dekonstruktion wird in der Regel weniger
potentielle Zusammenfall von Beobachtetem und deutlich explizit gemacht; er ist aber, etwa in Form
Beobachtendem ist ein konstitutives Kennzeichen von Paradoxien, die ja immer spezielle Formen des
der Systemtheorie als Supertheorie. Daraus resultie- Selbstbezuges sind, in ihren Texten stets präsent. Sie
ren zum einen die Universalisierung, aber gleichzei- verweisen auf den Zusammenfall von Objekt- und
tig – und das ist entscheidend – auch die engen Metaebene. Der Signifikant wird zum Signifikat,
Grenzen, die diesem Theoretisieren gesetzt sind und etwa wenn Jacques Derrida sein Programm be-
die nur noch tautologisch bestimmt werden können. schreibt: »Ich werde also von einem Buchstaben spre-
Die Systemtheorie kann eben nur beobachten, was chen« (Derrida 1988, 29).
sie beobachten kann, und sie kann nicht beobachten, Dieser Vergleich ist für die Systemtheorie als Su-
was sie mit ihren theoretischen Begriffen nicht beob- pertheorie in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich.
achten kann. Wird dies übersehen oder missverstan- Zunächst wird dadurch sichtbar, dass für eine Super-
den, erregt die Systemtheorie genau jene angespro- theorie die stets mitlaufende Referenz auf das, was sie
chenen Widerstände, obschon es sich um Widerstän- zur Supertheorie macht, charakteristisch ist. Indem
de der Systemtheorie handelt. Oder wie Dietrich sie sich in ihren Gegenstandsbereich einbezieht und
Schwanitz schreibt: »Hier beginnt schon der Ärger, gerade dadurch Objektebene und Metaebene in eins
den Luhmanns Systemtheorie erregt hat. Die meisten fallen, verzichtet eine Supertheorie, anders als es
Theoretiker möchten, daß Luhmann […] vor Frus- manche Kritik sieht, auf den Anspruch einer privile-
tration in Tränen darüber ausbricht, daß alle seine gierten oder universal gültigen Beobachterposition.
Beobachtungen nur ein Teil dessen sind, was sie be- Damit wird – und das ist hier entscheidend – die ei-
obachten. Und weil sie das so gerne sähen, ärgern sie gene Konstitution für die Supertheorie letzten Endes
sich über den Gleichmut und die frohgemute Non- uneinholbar.
chalance, mit der Luhmann gerade auf der Unmög- Verfolgt man den konzeptionellen Theorieaufbau
lichkeit insistiert, die Gesellschaft von außen beob- zu immer grundlegenderen Begründungsinstanzen
achten zu können« (Schwanitz 1990, 14). zurück, so wird man darauf stoßen, dass die Letztbe-
Was aber Systemtheorie als Supertheorie beob- gründungsinstanz selbst kein Element der Theorie
achten kann, das ist das Funktionieren von Theorien. sein kann, obwohl sie konstitutiv für die Supertheo-
Mag sein, dass dieser Umstand als hegemoniale Geste rie ist. Das letzte oder erste Element der Theorie ist
missverstanden wird, die Luhmann vielleicht selbst nicht aussprechbar oder benennbar in einer Sprache,
mitzuverantworten hat, z. B. wenn er schreibt, dass die sich die Welt nicht anders als in raum-zeitlicher
eine Supertheorie »sich selbst und ihren Gegner« Metaphorik erschließen kann und die gerade da-
miteinbezieht (SS, 19). Gemeint ist damit lediglich, durch zur Sprache der Theorie wird. Die Absolutheit
dass der Unterschied zwischen der Systemtheorie der elementaren Selbstreferenz als ›Anfang‹ und
und jeder anderen Theorie selbst wiederum syste- ›Grund‹ der Theorie ist etwas völlig anderes als die
misch und systemtheoretisch modelliert werden Asymmetrie eines zeitlichen Nacheinanders oder ei-
kann – was nicht ausschließt, dass andere Theorien nes räumlichen Nebeneinanders. Zwar gibt es inner-
dasselbe können. halb der Theorien zahlreiche Hinweise auf den
imaginären konzeptionellen Ort, von dem aus die
Supertheorie ihren Ausgang nimmt, aber vom theo-
Supertheorie? 435

retischen Standpunkt aus ist dieser Ort ein »Nicht- ihrem bevorzugten Gegenstand, und an den Anteilen
Ort« (Derrida 1976, 424), den die Supertheorie – der Selbstexplikation, Selbstdarstellung und Selbst-
konstitutiv – nicht mehr einnehmen kann. Man kann inszenierung der Theorie in den Texten mag man
von einem Fluchtpunkt am Horizont der Theorie diese Tendenz ablesen. Selbst in einem groben Über-
sprechen: Dort wäre der Begründungsursprung, der blick scheint es so zu sein, dass Luhmann in den Bü-
axiomatische Ausgangspunkt zu suchen, wenn es chern zu seinem Projekt einer Gesellschaftstheorie zu
möglich wäre, den Horizont zu erreichen. Aber: »Der Recht, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst der Ge-
Horizont ist keine Grenze, man kann ihn nicht über- sellschaft der logischen Selbstexplikation auf der Ba-
schreiten« (SS, 114). Im Begriff bzw. in der Metapher sis von Spencer-Browns Formenkalkül immer mehr
des Horizonts wird das zumindest anschaulich: ›Ho- Platz einräumt.
rizont‹ ist zwar ein räumlicher Begriff, bezeichnet Weiterhin wird deutlich, dass es unmöglich ist, ge-
aber keinen Ort, der zu fixieren wäre. Er markiert in genüber Supertheorien einen Metastandpunkt ein-
diesem Sinne einen imaginären Ort. Stattdessen bie- zunehmen. Das heißt dann aber auch: Das Verhältnis
tet es sich an, vom Horizont als einer Orientierungs- zwischen Systemtheorie und Dekonstruktion ist der
hilfe zu sprechen, an der sich die Theorien in ihren Unterschied zwischen der systemtheoretischen und
Begründungszusammenhängen ausrichten. der dekonstruktivistischen Bestimmung ihres Ver-
Die Begriffe, die auf diesen Ort als einen Nicht- hältnisses bzw. ihres ›Unterschieds‹. Man kann den
Ort hinweisen, sind hier wie dort zahlreich. Derrida Unterschied also mithilfe des Begriffs und des Instru-
setzt einen ganzen Cluster von Begriffen zu seiner Be- ments des Systems oder des Zeichens bestimmen. Su-
zeichnung ein; neben architrace und archi-écriture ist pertheorien wie die genannten werden sich daher
vor allem die Vokabel différance bekannt geworden. immer entweder systemisch oder semiotisch – oder
In der luhmannschen Systemtheorie findet sich Ent- anders, wenn weitere Alternativen denkbar wären –
sprechendes in der Formel von der ›Differenz zwi- konzeptualisieren.
schen Identität und Differenz‹. An die Stelle inner- Der Vergleich zeigt auch, dass Supertheorien trotz
halb des Theoriegebäudes, die früher die Letztbe- aller Differenzen einander in Grundzügen ähneln
gründung eingenommen hätte, tritt in der System- und scheinbar konvergieren. Dieser Konvergenz-
theorie die Referenz auf die Notwendigkeit einer punkt bleibt aber Imagination; er ist letztlich unbe-
kontingent gewählten Differenz(ierung) (!) als Ur- stimmbar, gerade weil er am Horizont von Theorie-
sprung, Initialzündung und Ausgangspunkt jeder bildung überhaupt liegt. Dass sich Systemtheorie
Beschreibung von Welt mittels Theorie. Armin Nas- und Dekonstruktion, zwei Supertheorien unter-
sehi macht auf die Parallelität der Differentialität und schiedlichster Art, im Moment der Uneinholbarkeit
Supplementarität des Zeichens und der Uneinhol- entsprechen, ist symptomatisch für die Bedingungen
barkeit einer Unterscheidung aufmerksam. In beiden von Theorie und Denken schlechthin. Letztlich wäre
Fällen ist kein Ursprung mehr auszumachen (Nasse- zu überlegen, ob die Unhintergehbarkeit, die für die
hi 1995). Das bedeutet aber gleichzeitig, dass dasje- Systemtheorie und andere Supertheorien charakte-
nige, was die Theorie konstitutiv nicht mehr ristisch ist, in der Anlage menschlichen Denkens
einholen kann, selbst nicht mehr theorieabhängig ist. selbst begründet ist, wenngleich diese Überlegung
Beide Supertheorien haben denselben nicht-theore- den Rahmen einer soziologischen Systemtheorie ver-
tisierbaren Ursprung, der sich der Differenzierung lässt.
ebenso entzieht wie der Identifizierung. Und er muss Als letzten Punkt macht der Vergleich zwischen
einen unhintergehbaren Grund, nicht (kontingent) Systemtheorie und Dekonstruktion sichtbar, wie mit
von Theorien, sondern (prinzipiell) des Theoretisie- den genannten Eigenschaften einer Supertheorie,
rens, des Denkens, des Bewusstseins überhaupt dar- insbesondere mit ihrer zunehmenden Selbstreflexi-
stellen. vierung, eine Entwicklung einhergeht: die Selbst-Äs-
Gleichermaßen wird so durchschaubar, wie eine thetisierung der Theorie. Bei der Systemtheorie tritt
Supertheorie mit ihrer eigenen Uneinholbarkeit um- sie erst in dem Maße zutage, wie die Selbstreflexivität
gehen kann. Symptomatisch daran ist, dass dort, wo Fremdreferenzen (nicht zuletzt im ästhetischen Be-
die Supertheorien in ihrer (jeweiligen) Selbstreferenz reich) in den Hintergrund drängt. Darauf hat nach-
konvergieren, sich ihre Verpflichtung einem For- drücklich Claus-Michael Ort aufmerksam gemacht:
schungs-, Erklärungs- oder Konzeptualisierungspro- »Die systemtheoretische Rekonstruktion der Auto-
gramm, also letztlich ihren ›Gegenständen‹ gegen- nomisierung des Ästhetischen droht damit in eine
über, aufzulösen beginnt. Sie machen sich selbst zu Ästhetisierung der Systemtheorie umzuschlagen.
436 Diskussionen

Solche ›sich selbst implizierende‹ und ›autologische‹ Derrida, Jacques: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel
Systemtheorie ›beobachtet‹ keine Kommunikation im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«. In:
Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976
mehr außerhalb ihrer, sondern nur noch sich selbst«
(frz. 1967), 422–442.
(Ort 1995, 177). –: Grammatologie. Frankfurt a. M. 1983 (frz. 1967).
In ihrer Arbeit zur Schrift bei Luhmann hat Nata- –: »Die différance«. In: Ders.: Randgänge der Philosophie.
lie Binczek eine Alternative zu einer so verstandenen Wien 1988 (frz. 1972), 29–52.
Konfrontation von Supertheorien vorgelegt. Ihr geht Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Kon-
es ausdrücklich nicht um einen übergreifenden struktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit.
Frankfurt a. M. 1992.
Theorienvergleich (Binczek 2000, 7), sie will viel- Gaiser, Carolin: Das Potential und Design von Universal-
mehr den dekonstruktiven Anteil an Luhmanns Sys- theorien. München 2004.
temtheorie offenlegen. Jener dekonstruktive Anteil Khurana, Thomas: »Supertheorie, theoretical jetties und
bezieht sich auf bestimmte Elemente der Unhinter- die Komplizenschaft von Theorien. Zu Verständnis- und
gehbarkeit und Uneinholbarkeit, Paradoxierung und Konstruktionsweisen im Feld selbstbezüglicher Theo-
rien«. In: Peter-Ulrich Merz-Benz/Gerhard Wagner
Selbstaufhebung in der Systemtheorie, wie sie insbe- (Hg.): Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheo-
sondere die Dekonstruktion als Spiel, als Praxis, als retischen Soziologie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000,
sich vollziehende différance häufig autoperformativ 327–370.
vorgeführt hat. Das Design der Systemtheorie, gera- Koschorke, Albrecht/Vismann, Cornelia (Hg.): Widerstän-
de als Supertheorie, versucht zwar, solche Fundie- de der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum
Werk von Niklas Luhmann. Berlin 1999.
rungskrisen zu umgehen, dennoch – so argumentiert Nassehi, Armin: »Différend, Différance und Distinction.
Binczek – kommt sie um dekonstruktive Mechanis- Zur Differenz der Differenzen bei Lyotard, Derrida und
men, die aus solchen Konstitutionslücken resultie- in der Formenlogik«. In: Henk de Berg/Matthias Prangel
ren, gar nicht herum. (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekon-
Ebenso wie bei Binczek verbinden sich in Urs Stä- struktion und Konstruktivismus. Tübingen/Basel 1995,
37–60.
helis Arbeit die beiden bestimmenden Vorgaben, we- Ort, Claus-Michael: »Systemtheorie und Literatur. Teil II.
der einen Theorievergleich anstellen zu wollen noch Der literarische Text in der Systemtheorie«. In: IASL
eine systemtheoretische Unterscheidung von Sys- 20. Jg., 1 (1995), 161–178.
temtheorie und Dekonstruktion einzuführen (Stähe- Rössler, Otto E.: Endophysik. Die Welt des inneren Beob-
li 2000). Das lässt zumindest die Vermutung zu, dass achters. Berlin 1992.
Schwanitz, Dietrich: »Selbstreferentielle Systeme«. In: Zeit-
beide Momente ein Charakteristikum der Konfron- schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20. Jg.,
tation dieser Supertheorien darstellen. Explizit ver- 77 (1990), 100–125.
steht sich seine Arbeit als dekonstruktive Lektüre, Soentgen, Jens: »Der Bau. Betrachtungen zu einer Metapher
also als genuin dekonstruktive Praxis, der es dennoch der Luhmannschen Systemtheorie«. In: Zeitschrift für
nicht darum geht, die Systemtheorie in die Dekon- Soziologie 21. Jg., 6 (1992), 456–466.
Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive
struktion ›einzuschreiben‹ (ebd., 20). Vielmehr will
Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers-
Stäheli das zentrale systemtheoretische Theorieele- wist 2000.
ment des Sinns, das Luhmann als differenzlosen, Oliver Jahraus
nicht negierbaren Begriff konzipiert, mit Hilfe der
dafür einschlägigen Dekonstruktion auf sein Schei-
tern hin beleuchten. Stäheli geht also davon aus, dass
Sinn scheitern kann und auch dieses Scheitern wie-
derum Sinn macht. Mit Hilfe der Dekonstruktion
»werden hier das Fehlschlagen von Sinn und der Sinn
des Fehlschlagens in einem systemtheoretischen
Kontext re-iteriert« (ebd.). An einem solchen Chias-
mus wird die Operationsweise der Systemtheorie als
Supertheorie besonders anschaulich.

Literatur
Binczek, Natalie: Im Medium der Schrift. Zum dekonstruk-
tiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns.
München 2000.
437

5. Eine ›deutsche‹ grand theory? amerikanische Bühne mit einer Übersetzung von Es-
says, die er ursprünglich in den 1970er Jahren zu so-
zialer Differenzierung, zur Systemtheorie und zur
Grand theory wurde in den Vereinigten Staaten von zukünftigen Relevanz von (parsonsscher) Theorie
Talcott Parsons erfunden und propagiert, von C. geschrieben hatte, betrat (Luhmann 1982), konnte er
Wright Mills gnadenlos verspottet und schließlich folglich als ein zeitgenössischer Parsons abgetan wer-
vom Positivismus der Nachkriegszeit, der deutschen den; Mills’ alte Anschuldigungen konnten auf eine
Kritischen Theorie (der Frankfurter Schule) und neue Zielscheibe abgefeuert werden. Das einzige, was
dem französischen Poststrukturalismus zu Grabe ge- schlimmer ist als Parsons, ist aus dieser Perspektive
tragen. Bevor Niklas Luhmann, der bei Parsons stu- ein Parsons, der von einem Deutschen in einer Spra-
diert hat und im Hinblick auf die Bandbreite und den che aufgewärmt wird, die noch unklarer ist als die des
umfassenden Gegenstandbereich seiner Systemtheo- Originals.
rie mit Hegel verglichen wurde, in der englischspra- Was viele im Anschluss an Mills bei Parsons, und
chigen Welt ein offenes Ohr finden konnte, mussten, damit ebenfalls bei Luhmann, ungeheuerlich proble-
einmal abgesehen vom offensichtlichen Überset- matisch fanden, ist die Frage nach Macht und sozia-
zungsbedarf, einige Hürden genommen werden. Ich ler Ordnung. Themen wie soziale Integration und
werde mich auf drei von ihnen konzentrieren. Stabilität, aber auch kybernetische Ideen wie Kon-
Erstens gab es da den Geisterschatten von Talcott trolle, Steuerung und Homöostase werden von Par-
Parsons selbst. In seiner Kritik der soziologischen sons und anderen oft herangezogen, um ihr Bild
Denkweise (Mills 1963; engl. Original 1959) stellt C. sozialer Systeme zu beschreiben; grand theory kann
Wright Mills die grand theory, wie sie Parsons prakti- somit leicht mit der ideologischen Rechtfertigung
zierte, als eine der größten Entstellungen der Sozial- des Status quo in Verbindung gebracht werden. Das
wissenschaften dar. Mills beschreibt vier Reaktionen bringt mich dann auch zu der zweiten Hürde, die
auf Parsons’ Werk. Es gibt (1) diejenigen, die es ver- Luhmann in der englischsprachigen Welt übersprin-
stehen und gut finden, (2) diejenigen, die es nicht gen musste: Jürgen Habermas. Bis heute hat sich Ha-
verstehen, weil es in einem unbeholfenen und bermas geweigert, die berühmte Habermas-Luh-
schwerfälligen Stil verfasst ist, (3) diejenigen, die es mann-Debatte (TGS) übersetzen zu lassen. Die
nicht verstehen, es aber trotzdem aufregend finden Auswirkungen dieser Begegnung haben jedoch un-
und (4) diejenigen, die Parsons verstehen und ihn für tilgbare Spuren in den Werken Habermas’ hinterlas-
einen Scharlatan halten (ebd., 65 f.). Sich selbst zählt sen, die übersetzt worden sind. Daher übte Habermas
Mills zu dieser letzten Gruppe. Er zitiert seitenlange für den größten Teil der zwei ihrem Disput folgenden
Passagen aus Parsons’ The Social System (Parsons Jahrzehnte einen beherrschenden Einfluss auf die
1951) und übersetzt sie in einfache und naheliegende englischsprachige Wahrnehmung von Luhmanns
Behauptungen, die von zahlreichen weniger gefeier- Denken aus.
ten Sozialwissenschaftlern ebenfalls aufgestellt wur- In der einfachsten Lesart spielt Habermas seine
den – und zwar besser und in normalem und normative und kritische Theorie gegen das aus, was
leichtverständlichem Englisch formuliert. Mills re- er als Luhmanns affirmativen und technokratischen
duziert beispielsweise eine einseitige Abhandlung Funktionalismus ansieht. In Legitimationsprobleme
über soziale Ordnung, in der Werte normative Ori- im Spätkapitalismus (Habermas 1973; engl. Überset-
entierungen liefern, auf zwei einfache Sätze: »Die zung 1975) charakterisiert Habermas beispielsweise
Menschen weisen häufig gemeinsame Normen auf Luhmanns Betonung des Bedarfs eines Systems, die
und erwarten voneinander, daß jeder sie respektiert. Komplexität seiner Umwelt zu reduzieren, als eine
Sofern dies geschieht, handelt es sich hier um eine ge- »Machtsteigerung«, die »Geltungsprobleme in Verhal-
ordnete Gesellschaft« (Mills 1963, 67). Er verwirft tensprobleme« (also mit anderen Worten ›Sollen‹ in
Parsons’ Theorie wegen ihrer unnötigen Abstraktio- ›Sein‹) überführt; er sieht in Luhmanns »kompre-
nen, ihrer Vorliebe für Unterscheidungen, die keine hensive[r] Begriffsstrategie« (das bedeutet: seiner
sozialen Phänomene erhellen, und ihrer Unfähigkeit, grand theory) eine Form von »[B]egriffsimperia-
von begrifflichem Denken zu empirischen Beobach- lis[mus]« (ebd., 16). Obwohl Habermas in seine mo-
tungen zu gelangen. Kurz: er wirft Parsons eine »sys- numentale Theorie des kommunikativen Handelns
tematische Absage, menschliches Verhalten oder gar (Habermas 1981; engl. Übersetzung 1987b) verstärkt
die Gesellschaft [klar und deutlich] zu beschreiben Aspekte sowohl der parsonsschen als auch der luh-
und zu erklären«, vor (ebd., 74). Als Luhmann die mannschen Systemtheorie einarbeitet, entwirft er
438 Diskussionen

auch ein normatives Schutzgebiet, die Lebenswelt, Die Stoßrichtung der poststrukturalistischen Kri-
von der aus »Sozialpathologien« beobachtet und kri- tik ist jedoch zunächst unmittelbar einleuchtend.
tisiert werden können (ebd., Bd. 2, 552). Für diese Denkt man nur einen Moment an gemeinhin mit
›Pathologien‹ sei Luhmanns ›funktionalistische‹ Per- Luhmann assoziierte Begriffe wie ›System‹, ›Kom-
spektive »unempfindlich« (ebd.). Folglich erkennt munikation‹, ›Information‹, ›Beobachtung‹, ›Diffe-
Habermas in Luhmann einen wohlgefälligen Beob- renzierung‹, ›binäre Unterscheidung‹; und denkt
achter weberscher Rationalisierung und schließt man dann an einige der Begriffe, die von Derrida,
dementsprechend: »Diese ›verwaltete Welt‹ war für Foucault, Deleuze und einer Reihe anderer Denker,
Adorno die Vision des äußersten Schreckens; für die man gemeinhin mit dem Poststrukturalismus as-
Luhmann ist sie zur trivialen Voraussetzung gewor- soziiert, am schärfsten kritisiert worden sind, dann
den« (ebd., 462). Letztendlich wird der ›normative hat man zwei auffällig ähnliche Listen vor sich. Wenn
Gehalt der Moderne‹, den Habermas retten will, von ›System‹ nicht gerade das Bild des ›stahlharten Ge-
einer ›subjektzentrierten Vernunft‹ demontiert, die häuses‹ der verdinglichten Moderne hervorruft, be-
zur reinen ›Systemrationalität‹ verfällt, zu bloßer In- schwört es für viele sogar noch schlimmere Geister
strumentalität ohne die erforderlichen Mittel zu ei- wie etwa Hegel (oder post-marxistischen Karikatu-
ner Kritik von ›Metaphysik‹ und ›Macht‹. Und ren von Hegel). Was sind ›Kommunikation‹ und ›In-
obwohl er einräumt, dass seine laufende Debatte mit formation‹ anderes als die albtraumhaften Versionen
Luhmann ungelöst bleibt, ja vielleicht sogar unlösbar menschlicher Interaktion, die mit einer spezifisch
ist, schließt Habermas seine Pariser Vorlesungen über ›szientistischen‹ Weltsicht assoziiert werden, die von
den Philosophischen Diskurs der Moderne (Habermas Chomskys Linguistik, den Computerwissenschaften,
1985; engl. Übersetzung 1987a) mit dieser Be- der Gentechnik, den empirischen Sozialwissenschaf-
obachtung: »Vielleicht geben die ›sprachlich erzeugte ten, Massenmarketing und der Werbung – kurz: den
Intersubjektivität‹ [Habermas] und das ›selbstrefe- diversen rationalisierten Bürokratien der Seele, die
rentiell geschlossene System‹ [Luhmann] Stichworte regelmäßig von der philosophischen Avantgarde ge-
für eine Kontroverse, die an Stelle der entwerteten geißelt werden (Deleuze/Guattari 1996, 15 f.; engl.
Geist-Körper-Problematik tritt« (ebd., 445). Übersetzung 1994) – repräsentiert werden? Was ist
Ironischerweise wurden Habermas’ Vorbehalte ›Beobachtung‹, wenn nicht ›okularzentrisch‹ und
gegenüber Luhmanns angeblichem technokrati- demzufolge ›logozentrisch‹? Und muss man unbe-
schen Funktionalismus von einem seiner entschie- dingt ein(e) feministische(r) Wissenschaftler(in)
densten Gegner, von Jean-François Lyotard, wieder- sein, um sich über die Effekte von binären Unter-
holt. Auch Lyotard gebraucht in Das postmoderne scheidungen, die heute schlicht ›Binaritäten‹ genannt
Wissen (Lyotard 1986; engl. Übersetzung 1984) die werden, Sorgen zu machen? Wie kann man Luh-
Unterscheidung von traditioneller und kritischer mann bei solchen begrifflichen Altlasten überhaupt
Theorie, um Luhmann als Technokraten zu brand- ansatzweise ernstnehmen?
marken; auch Lyotard erkennt in Luhmanns Kom- Solche Fragen bilden annährungsweise den Zeit-
plexitätsreduktion eine Affirmation der Macht und geist nordamerikanischer geisteswissenschaftlicher
lehnt deshalb eine rein auf den Erfolg von Verfahren Disziplinen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
gegründete Legitimation als eine Form bürokrati- ab, einen Zeitgeist, der sich aus einer Metaphysikkri-
schen Terrors ab (ebd., 43–44 u. 136–139). Mit dem tik gespeist hat, die überall, aber insbesondere in der
Namen Lyotard begegnen wir nun der dritten Hürde Kybernetik und in der Systemtheorie, eine adorno-
für das englischsprachige Verständnis der luhmann- sche ›verwaltete Welt‹ entdeckt hat, die von Nietz-
schen Systemtheorie, nämlich dem enggewebten sches ›letztem Menschen‹ und von Heideggers ›Man‹
Netz von französischem Denken des späten 20. Jahr- bevölkert wird. Dieser Zeitgeist hatte auch die Lek-
hunderts, das unter dem Namen ›Poststrukturalis- tionen der linguistischen Wende gelernt, der Auffas-
mus‹ zusammengefasst wird. Wie wir aber später sung also, dass Bedeutung ein Produkt der selbstre-
sehen werden, ist es gerade dieser Strang post-nietz- ferentiellen Eigenschaften der Sprache ist – und nicht
schescher und post-heideggerscher Metaphysikkri- ihrer Fähigkeit, auf eine außersprachliche Welt zu
tik, der schließlich die Tür zu einer angemessenen verweisen. Die linguistische Wende hat den kogniti-
Würdigung von Luhmanns komplexem Zugang zur ven Geschmack am ›Lesen‹ (readings) gefördert, d. h.
Modernität öffnet – wenn auch nicht so sehr für die an Forschung mit Hilfe von präzisen, rhetorischen
Disziplin der Soziologie als für eine Vielzahl unter- und ästhetischen Auseinandersetzungen mit grund-
schiedlicher Bereiche der Geisteswissenschaften. legenden (verbalen und visuellen) Texten. In dieser
Eine ›deutsche‹ grand theory? 439

Atmosphäre ist Luhmann auf taube Ohren gestoßen. genden Vorwort von Eva Knodt, Art as a Social Sys-
Die Linke konnte sich von Marx distanzieren und tem (Luhmann 2000), die Aufsatzsammlungen Ob-
Frankfurt hinter sich lassen, weil sie jetzt in Paris servations on Modernity (Luhmann 1998b) und
Foucault hatte. Literaturwissenschaftler und Sozial- Theories of Distinction (Luhmann 2002) ebenso wie
wissenschaftler, die sich mit qualitativer Forschung die Neuauflage von Love as Passion (1998a). Darüber
beschäftigten, konnten in der Tradition Heideggers hinaus waren Sonderhefte von Zeitschriften (unter
(von Gadamer zu Derrida) Lesestrategien entdecken, ihnen diejenigen, wie Cultural Critique und New Ger-
die auf Goethe, Godard oder die Semiotik von Ver- man Critique, deren Leserkreis sich den Cultural Stu-
wandtschaftsstrukturen angewendet werden konn- dies und der politischen Linken zuordnen lässt)
ten. In der Dichtung Hölderlins, Mallarmés oder Luhmann und der Systemtheorie gewidmet; es er-
Celans suchte man höchstens die Wurzeln der Kom- schien neue Sekundärliteratur, die das Werk Luh-
munikabilität (oder ihrer Unmöglichkeit), aber si- manns in zeitgenössische Debatten in den Geistes-
cherlich nicht Kommunikation oder Information. und Sozialwissenschaften einbrachte (z. B. Wolfe
Und in den Analysen der Moderne – nun Postmoder- 1998; Rasch 2000; Rasch/Wolfe 2000; Moeller 2006).
ne genannt – fand man hybride, grenzüberschreiten- Weiter wurde argumentiert, dass Luhmanns ›Gro-
de Formationen. Klare Unterscheidungen, insbeson- ße Erzählung‹ der Moderne die umstrittene Debatte
dere repressive binäre Unterscheidungen, waren über die Postmoderne in einen weit umfassenderen
Anathema. Wo konnte in all dem ein Platz für Luh- historischen und theoretischen Kontext setzt, und
mann sein? dass mit dem ›Postmodernismus‹ die Semantik der
Überraschenderweise fanden sich doch Gemein- Moderne eigentlich erst ihre Struktur einhole. Ganz
samkeiten. Mit dem Luhmann der späten 1980er Jah- analog dazu wurden nun die Ähnlichkeiten seiner
re konnte Lyotard eine Art Wiederannäherung ›konstruktivistischen Epistemologie‹ mit poststruk-
initiieren. Er blieb sicherlich kritisch, aber seine Kri- turalistischen Kritiken der Vernunft, der Repräsenta-
tik ist nun von einer zurückhaltenden Selbstironie tion, des intersubjektiven Dialogs und Letztbegrün-
gefärbt: »Alle Politik ist nur – ich sage ›nur‹, weil ich dungsansprüchen entdeckt. Darüber hinaus wurde
eine revolutionäre Vergangenheit und daher eine ge- nun seine Ansicht, dass Kommunikation (und nicht
wisse Nostalgie habe – ein Programm zum Fällen von das Individuum) als Grundelement von Gesellschaft
Verwaltungsentscheidungen, zum Systemmanage- begriffen werden sollte, neben neu entstehende
ment« (Lyotard 1989, 47; engl. Übersetzung 1993). ›post-humanistische‹ und ›Cyborg‹-Perspektiven,
Und nicht ohne Nachprüfung und neugefundener unter anderem auf Fragen von verkörperter Erkennt-
Wertschätzung fügt er hinzu: »Was Niklas Luhmann nis, künstlicher Intelligenz und Tierrechten, gestellt;
›Komplexitätsreduktion‹ nennt, ist keineswegs die und es wurde erkannt, dass seine Lesart von Informa-
Beseitigung von Komplexität, sonder eher, was man tion nichts mit einem konventionellen Übertra-
ihre Handhabbarkeit nennen könnte, ihre Fähigkeit, gungsmodell von Botschaften über einen Kanal zu
ein komplexes Gedächtnis zu benutzen« (ebd., 42). tun hat, sondern vielmehr zu aktuellen Analysen von
Er schreibt sogar eine herzliche Würdigung an Sprache und Sinnerzeugung beitragen kann, die im
»N.L.« und äußert sich zu Luhmanns »Baude- engeren Sinne mit dem Poststrukturalismus assozi-
lair’sche[r] Eleganz« (Lyotard 1990, 307; engl. Über- iert werden.
setzung 1993) und ihrer beider »›Koalition‹ gegen die Diese Diskussionen hinsichtlich der Relevanz
Fluten ökologistischer Beredsamkeit« (ebd., 308) auf Luhmanns für zeitgenössische Debatten entstanden
einer Konferenz in Siegen. Dergleichen gelegentliche hauptsächlich in den Sprach- und Literaturdepart-
Erwähnungen würden freilich nicht ausreichen, um ments (Germanistik, Anglistik, Vergleichende Litera-
einen Durchbruch der internationalen Luhmann- turwissenschaften), in denen ein Großteil der zeitge-
Rezeption zu erzielen; nichtsdestotrotz hat sich das nössischen europäischen Theorie ihr Zuhause findet;
Blatt im Verlauf der 1990er Jahre und am Anfang die- aber auch in den Sozialwissenschaften (z. B. der So-
ses Jahrhunderts ein wenig gewendet, und die positi- ziologie, der Ethnologie und der Wissenschaftsfor-
ve Rezeption seines Denkens erfolgte auf vielgestalti- schung), in denen Systemtheorie gewinnbringend
ge Weise. mit der Netzwerktheorie verglichen werden konnte,
Zunächst einmal hat sich die Stanford University wurde Luhmann nicht länger konsequent als eine
Press der Herkulesarbeit angenommen, Luhmanns parsonssche persona non grata betrachtet. Ungefähr
bahnbrechende Werke zu übersetzen; dazu zählen zur selben Zeit tauchte Luhmanns Arbeit zur Rechts-
Social Systems (Luhmann 1995) mit dem hervorra- und zur Politiktheorie als eine unabhängige Kraft
440 Diskussionen

auf, die die Welt nach 1989 und nach 2001 zu erklä- –: Legitimation Crisis. Boston, MA 1975 (dt. 1973).
ren versuchte. In Großbritannien wurde (zum Teil –: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M.
1981.
durch den Einfluss von Günther Teubner) die Über-
–: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorle-
setzung von Luhmanns Law as a Social System (Luh- sungen. Frankfurt a. M. 1985.
mann 2004) unter anderem von Büchern von –: The Philosophical Discourse of Modernity. Cambridge,
Michael King und Chris Thornhill (2003; 2006) so- MA. 1987a (dt. 1985).
wie von Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos –: The Theory of Communicative Action. Boston, MA
(2010) begleitet. 1987b (dt. 1981).
King, Michael/Thornhill, Chris: Niklas Luhmann’s Theory
Bedeutet all dies, dass Luhmann nun der letzte of Politics and Law. Houndmills/New York 2003.
Schrei in der englischsprachigen Welt ist? Oder dass –/– (Hg.): Luhmann on Law and Politics. Critical Appraisals
grand theory wieder obenauf ist? Nein. In den Verei- and Applications. Oxford/Portland, OR 2006.
nigten Staaten und im Vereinigten Königreich wird Luhmann, Niklas: The Differentiation of Society. New York
eine Vorliebe für Luhmann immer der Geschmack 1982.
–: Social Systems. Stanford, CA 1995.
des Connaisseurs bleiben. Trotzdem ist Luhmann sa- –: Love as Passion: The Codification of Intimacy. Stanford,
lonfähig geworden, insofern eine Nichtkenntnis sei- CA 1998a.
nes Werkes nicht länger als eine Auszeichnung vor –: Observations on Modernity. Stanford, CA 1998b.
sich her getragen werden kann. Die luhmannsche –: Art as a Social System. Stanford, CA 2000.
Systemtheorie ist zu einem Arbeitsgebiet geworden, –: Theories of Distinction: Redescribing the Descriptions of
Modernity. Stanford, CA 2002.
über das jeder wenigstens etwas wissen sollte, auch –: Law as a Social System. Oxford 2004.
wenn seine eigenen kognitiven und politischen Vor- Lyotard, Jean-François: The Postmodern Condition. A Re-
lieben in ganz andere Richtungen tendieren. Abzu- port on Knowledge. Minneapolis, MN 1984 (frz. 1979).
warten bleibt, welchen Einfluss schließlich die –: Das postmoderne Wissen. Wien 1986 (frz. 1979).
Übersetzung von Die Gesellschaft der Gesellschaft –: »OIKOS«. In: Joschka Fischer (Hg.): Ökologie im End-
spiel. München 1989, 39–55.
(sollte sie denn erscheinen) haben wird, aber es lässt –: »Ersiegerungen«. In: Karl Ludwig Pfeiffer/Michael Wal-
sich bezweifeln, ob schließlich Luhmanns magnum ter (Hg.): Kommunikationsformen als Lebensformen.
opus in der Lage sein wird, die Lust an einer grand München 1990, 303–309.
theory in unserer intellektuell pluralistischen Welt –: Political Writings. Minneapolis, MN 1993.
neu zu entfachen. Eine selektive Rezeption durch ei- Mills, C. Wright. Kritik der soziologischen Denkweise. Neu-
wied 1963 (engl. 1959).
nen kleinen Kreis von Eingeweihten mit idiosynkra- Moeller, Hans-Georg: Luhmann Explained. From Souls to
tischen Interessen wird jedoch noch für einige Zeit Systems. Chicago, IL 2006.
anhalten. Luhmann ist ein Teil, wenn auch nur ein Parsons, Talcott: The Social System. Glencoe, IL 1951.
kleiner Teil, des intellektuellen Cocktails, der sich Philippopoulos-Mihalopoulos, Andreas: Niklas Luhmann.
selbst ›Theorie‹ nennt. Law, Justice, Society. Abingdon/New York 2010.
Rasch, William: Niklas Luhmann’s Modernity. The Parado-
xes of Differentiation. Stanford, CA 2000.
Literatur – /Wolfe, Cary (Hg.): Observing Complexity. Systems
Theory and Postmodernity. Minneapolis, MN 2000.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: What is Philosophy? New Wolfe, Cary: Critical Environments: Postmodern Theory
York 1994 (frz. 1991). and the Pragmatics of the »Outside«. Minneapolis, MN
–/–: Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. 1996 (frz. 1991). 1998.
Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapita- William Rasch
lismus. Frankfurt a. M. 1973. (Aus dem Amerikanischen von Martin Stempfhuber)
441

IX. Anhang

1. Zeittafel 1970–95
1971
Soziologische Aufklärung. 6 Bände
Der Band Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
technologie – Was leistet die Systemforschung?
(zusammen mit Jürgen Habermas) macht
1927 Niklas Luhmann wird am 8. Dezember als Luhmann einer breiteren Öffentlichkeit
ältester Sohn eines Lüneburger Brauerei- bekannt.
besitzers und einer Berner Hotelierstochter 1970er Jahre Tätigkeit als Politikberater
geboren. seit 1974 Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Aka-
1937–46 Besuch des Gymnasiums Johanneum in demie der Wissenschaften
Lüneburg 1975/76 Theodor-Heuss-Professur an der New
1943–45 Luftwaffenhelfer und Fronteinsatz sowie mit School for Social Research in New York
Kriegsende fünfmonatige amerikanische 1977 Tod der Ehefrau und Umzug mit den drei
Kriegsgefangenschaft Kindern nach Oerlinghausen bei Bielefeld,
1946 Erwerb der Hochschulreife wo Luhmann bis zu seinem Tod lebt
1946–53 Studium der Rechtswissenschaft in Freiburg; 1980–95 Gesellschaftsstruktur und Semantik. 4 Bände
Erstes Staatsexamen (1949); Referendariate; 1982 Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität
Zweites Staatsexamen (1953) 1984 Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen
1953–56 Anwaltsvertretungen; Assistent des Oberver- Theorie
waltungsgerichtspräsidenten in Lüneburg; 1984 Erstes Ehrendoktorat (Universität Gent)
Konzipierung und Aufbaubeginn des Zettel- 1988 Hegel-Preis der Stadt Stuttgart
kastens 1988–2002 Monographien zu einzelnen Funktionssyste-
1956–62 Referent im Niedersächsischen Kultusminis- men (Wirtschaft, Wissenschaft, Recht und
terium; erst Landtagsreferent, später Ober- Kunst der Gesellschaft), die zum Teil aus dem
regierungsrat Nachlass veröffentlicht werden (Politik, Reli-
1958 »Der Funktionsbegriff in der Verwaltungs- gion und Erziehungssystem der Gesellschaft)
wissenschaft« (erster publizierter Aufsatz) Seit 1989 Verschiedene Gastprofessuren (u. a. Chicago,
1960 Heirat mit Ursula von Walter; drei Kinder New York, Virginia)
(1961 Veronika, 1963 Jörg und Clemens) 1993 Emeritierung
1960/61 Beurlaubung und Stipendium der amerika- 1997 Die Gesellschaft der Gesellschaft
nischen Regierung zur Weiterbildung an der 1998 Niklas Luhmann stirbt am 6. November, er
School of Government der Harvard Univer- wird in Oerlinghausen beigesetzt.
sity; Studium bei Talcott Parsons
1962–65 Referent am Forschungsinstitut der Hoch-
schule für Verwaltungswissenschaften in
Speyer
1964 Funktionen und Folgen formaler Organisation
1965–69 Erst haupt-, dann nebenamtlicher Abtei-
lungsleiter an der Sozialforschungsstelle der
Universität Münster
1966 Von der Rechts- und Staatwissenschaftlichen
Fakultät der Universität Münster promoviert
(im Februar) und kurz darauf für das Fach
Soziologie habilitiert (im Juli); Lehrstuhlver-
tretung; Privatdozent am Institut für Sozio-
logie der Universität Münster
1967 Antrittsvorlesung in Münster mit dem Titel
»Soziologische Aufklärung«
1968–93 Professor für Soziologie an der Universität
Bielefeld
WS 1968/69 Lehrstuhlvertretung an der Universität
Frankfurt
442 Anhang

2. Siglen der Primärtexte TGS Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie –


Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a. M.
1971 (mit Jürgen Habermas).
V Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer
BdM Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992.
Komplexität [1968]. Stuttgart 42000.
EaK »Erkenntnis als Konstruktion« [1988]. In: Niklas WirtG Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.
Luhmann: Aufsätze und Reden. Hg. von Oliver 1988.
Jahraus. Stuttgart 2001, 218–242. WissG Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.
ErzG Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. von 1990.
Dieter Lenzen. Frankfurt a. M. 2002. ZaF »Zeichen als Form«. In: Dirk Baecker (Hg.): Pro-
ES Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg 2002. bleme der Form. Frankfurt a. M. 1993, 45–69.
ETG Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Heidel- ZuS Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die
berg 2005. Funktion von Zwecken in sozialen Systemen [1968].
FdR Funktion der Religion. Frankfurt a. M. 1977. Frankfurt a. M. 1973.
FuF Funktionen und Folgen formaler Organisation. Ber-
lin 1964.
GG Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde. Frankfurt
a. M. 1997.
GS1–4 Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt
a. M. 1980, 1981, 1989 und 1995.
I Ideenevolution. Hg. von André Kieserling. Frank-
furt a. M. 2008.
KunstG Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995.
LaP Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität.
Frankfurt a. M. 1982.
LdV Legitimation durch Verfahren [1969]. Frankfurt
a. M. 1983.
M Macht [1975]. Stuttgart 32003.
MdG Die Moral der Gesellschaft. Hg. von Detlef Horster.
Frankfurt a. M. 2008.
ÖK Ökologische Kommunikation. Kann die moderne
Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen ein-
stellen? Opladen 1986.
OuE Organisation und Entscheidung. Opladen 2000.
P Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Hg.
von Kai-Uwe Hellmann. Frankfurt a. M. 1996.
PdF »Die Paradoxie der Form«. In: Dirk Baecker (Hg.):
Kalkül der Form. Frankfurt a. M. 1993. 197–215.
Pl Paradigm lost. Über die ethische Reflexion der
Moral. Frankfurt a. M. 1990.
PolG Die Politik der Gesellschaft. Hg. von André Kieser-
ling. Frankfurt a. M. 2000.
PS Politische Soziologie. Hg. von André Kieserling.
Berlin 2010.
RdM Die Realität der Massenmedien [1995]. 2., erw.
Aufl. Opladen 1996.
RechtG Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1993.
RelG Die Religion der Gesellschaft. Hg. von André Kie-
serling. Frankfurt a. M. 2000.
RuS Reden und Schweigen. Frankfurt a. M. 1989 (mit
Peter Fuchs).
SA1–6 Soziologische Aufklärung. Opladen 1970, 1975,
1981, 1987, 1990 und 1995.
SdR Soziologie des Risikos. Berlin/New York 1991.
SKL Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. von Niels
Werber. Frankfurt a. M. 2008.
SS Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen
Theorie. Frankfurt a. M. 1984.
SzP Schriften zur Pädagogik. Hg. von Dieter Lenzen.
Frankfurt a. M. 2004.
443

3. Bibliographie Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt


a. M. 1982.
Potere e codice politico. Mailand 1982 (ital. Originalausga-
3.1 Bücher und Herausgeberschaften be).
(chronologisch) Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die
Pädagogik. Frankfurt a. M. 1982 (hg. mit Karl Eberhard
Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz: Möglichkeiten Schorr).
gesetzlicher Regelung der Rücknehmbarkeit von Verwal- Paradigmawechsel in der Systemtheorie: Vorträge in Japan.
tungsakten. Berlin 1963 (mit Franz Becker). Tokio 1983.
Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin Etica e politica. Riflessioni sulla crisi del rapporto fra società
1964. e morale. Mailand 1984 (ital. Originalausgabe).
Grundrechte als Institution: Ein Beitrag zur politischen So- Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie.
ziologie. Berlin 1965. Frankfurt a. M. 1984.
Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch be- Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Ge-
trachtet. Berlin 1965. fährdungen einstellen? Vorträge G 278 der Rheinisch-
Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung: Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Opladen
Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung. Berlin 1985; neugedruckt in: P, 46–63.
1966. Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee. Opla-
Theorie der Verwaltungswissenschaft. Bestandsaufnahme den 1985 (Hg.).
und Entwurf. Köln/Berlin 1966. Die soziologische Beobachtung des Rechts. Frankfurt a. M.
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des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002. Kött, Andreas: Systemtheorie und Religion. Mit einer Reli-
–: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien gionstypologie im Anschluss an Luhmann. Würzburg
der Mode. Frankfurt a. M. 2004. 2003.
Farzin, Sina: Inklusion/Exklusion. Entwicklungen und Pro- Lehman, Maren: Theorie in Skizzen. Berlin 2010.
bleme einer systemtheoretischen Unterscheidung. Biele- Lenzen, Dieter (Hg.): Irritationen im Erziehungssystem.
feld 2006. Pädagogische Resonanzen auf Niklas Luhmann. Frank-
Fuchs, Peter: Die Metapher des Systems, Studie zur allge- furt a. M. 2004.
mein leitenden Frage, wie sich der Tanz vom Tänzer un- Marius, Benjamin/Jahraus, Oliver: Systemtheorie und De-
terscheiden lasse. Weilerswist 2001. konstruktion. Die Supertheorien Niklas Luhmanns und
–: Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Untersuchun- Jacques Derridas im Vergleich. Siegen 1997.
gen. Weilerswist 2004. Merz-Benz, Peter Ulrich (Hg.): Die Logik der Systeme. Zur
–: Die Psyche. Studien zur Innenwelt der Außenwelt der In- Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luh-
nenwelt. Weilerswist 2005. manns. Konstanz 2000.
464 Anhang

Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit. Studien Saake, Irmhild/Vogd, Werner (Hg.): Moderne Mythen in
zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt ²2003. der Medizin. Probleme der organisierten Medizin. Wies-
–: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. baden 2008.
2006. Schützeichel, Rainer: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luh-
–: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziolo- mann. Frankfurt a. M./New York 2003.
gischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive
Gegenwarten. Wiesbaden ²2008. Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilers-
–: Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der wist 2000.
modernen Gesellschaft II. Berlin 2011. Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft. Soziologische Ana-
– /Nollmann, Gerd: Bourdieu und Luhmann. Ein Theo- lysen. Frankfurt a. M. 2000.
rienvergleich. Frankfurt a. M. 2004. –: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheo-
Pasero, Ursula/Weinbach, Christine (Hg.): Frauen, Männer, rie. Bielefeld 2005.
Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt Teubner, Gunther: Recht als autopoietisches System. Frank-
a. M. 2003. furt a. M. 1989.
Plumpe, Gerhard/Werber, Niels (Hg.): Beobachtungen der – (Hg.): Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann. Zur
Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwis- (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerech-
senschaft. Opladen 1995. tigkeit. Stuttgart 2008.
Rasch, William: Niklas Luhmann’s Modernity. The Parado- Vogd, Werner: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialfor-
xes of Differentiation. Stanford, CA 2000. schung – Versuch einer Brücke. Leverkusen ²2011.
– /Wolfe, Cary (Hg.): Observing Complexity. Systems Weinbach, Christine: Systemtheorie und Gender. Das Ge-
Theory and Postmodernity. Minneapolis, MN 2000. schlecht im Netz der Systeme. Wiesbaden 2004.
Reinfandt, Christoph: Der Sinn der fiktionalen Wirklich- Werber, Niels: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung
keiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferen- literarischer Kommunikation. Opladen 1992.
zierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis –: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literari-
zur Gegenwart. Heidelberg 1997. scher Kommunikation. München 2003.
Runkel, Gunter/Burkhart, Günter (Hg.): Funktionssysteme
der Gesellschaft. Beiträge zur Systemtheorie von Niklas
Luhmann. Wiesbaden 2005.
465

4. Die Autorinnen und Autoren Mario Grizelj, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am In-
stitut für Deutsche Philologie an der LMU München
(II.4 Luhmann, die Kybernetik und die allgemeine Sys-
Niels Åkerstrøm Andersen, Professor am Department of temtheorie; IV.16 Medien; IV.20 Operation/Beobach-
Management, Politics and Philosophy an der Copenha- tung; VII.3 Gender Studies; VII.6 Kulturwissenschaft).
gen Business School (V.14 Organisation und Entschei- Victoria von Groddeck, Dr., Wissenschaftliche Assistentin
dung). am Institut für Soziologie der LMU München (IV.26
Gina Atzeni, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Struktur).
für Soziologie der LMU München (IV.11 Interaktion/ Reiner Grundmann, Professor für Wissenschafts- und
Organisation/Gesellschaft). Technikforschung an der Universität Nottingham, Groß-
Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie und -analyse an britannien (V.8 Ökologische Kommunikation).
der Zeppelin Universität Friedrichshafen (I.1 Niklas Luh- Frank Habermann, Dr., Studienstiftung des deutschen Vol-
mann: Der Werdegang; III.3 Systemtheorie als Kommu- kes, Bonn (VI.13 Semiotik).
nikationstheorie, V.17.1 Die Wirtschaft der Gesellschaft). Kai-Uwe Hellmann, PD Dr., Fachvertretung der Professur
Frank Becker, Professor für Neuere und Neueste Geschichte für Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität/Uni-
an der Universität Duisburg-Essen (VII.4 Geschichtswis- versität der Bundeswehr Hamburg (V.17.5 Die Politik der
senschaft). Gesellschaft).
Natalie Binczek, Professorin für Neugermanistik, insbeson- Boris Holzer, Professor für Politische Soziologie an der Fa-
dere Theorie und Geschichte literarischer Kommunika- kultät für Soziologie der Universität Bielefeld (V.12 Pro-
tion und ihrer Medien an der Ruhr-Universität Bochum test. Systemtheorie und soziale Bewegungen).
(V.11 Die Realität der Massenmedien). Detlef Horster, Professor em. an der Philosophischen Fa-
Alfons Bora, Professor für Soziologie (Technikfolgenab- kultät der Leibniz Universität Hannover (VII.2 Ethik).
schätzung) am Institut für Wissenschafts- und Technik- Hans Dieter Huber, Professor für Kunstgeschichte der Ge-
forschung und an der Fakultät für Soziologie der genwart, Ästhetik und Kunsttheorie an der Akademie
Universität Bielefeld (V.17.3 Das Recht der Gesellschaft). der Bildenden Künste Stuttgart (VII.7 Kunstwissen-
Hauke Brunkhorst, Professor für Allgemeine Soziologie am schaft).
Internationalen Institut für Management der Universität Oliver Jahraus, Professor für Neuere deutsche Literatur und
Flensburg (VI.8 Jürgen Habermas und die Kritische Medien am Institut für Deutsche Philologie an der LMU
Theorie). München (IV.22 Psychisches System; IV.27 Strukturelle
Edwin Czerwick, apl. Professor für Politikwissenschaft am Kopplung; V.17.4 Die Kunst der Gesellschaft; VI.5 Martin
Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau Heidegger; VII.8 Literatur- und Medienwissenschaft;
Campus Koblenz (VII.11 Politikwissenschaft). VIII.4 Supertheorie?).
Sina Farzin, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Insti- Klaus P. Japp, Professor für Politische Kommunikation und
tut für Soziologie an der Universität Bremen (IV.10. In- Risikosoziologie an der Fakultät für Soziologie der Uni-
klusion/Exklusion). versität Bielefeld (V.9 Soziologie des Risikos).
Bijan Fateh-Moghadam, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbei- Isolde Karle, Professorin für Praktische Theologie an der
ter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphiloso- Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universi-
phie und Medizinrecht und im Exzellenzcluster »Religi- tät Bochum (VII.15 Theologie).
on und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Thomas Khurana, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Moderne« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Lehrstuhl für Praktische Philosophie und im Exzellenz-
Münster (VII.13 Rechtswissenschaft). cluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an
Peter Fuchs, Professor em. für Allgemeine Soziologie und der Goethe Universität Frankfurt am Main (VI.10
Soziologie der Behinderung an der Hochschule Neu- Jacques Derrida).
brandenburg (I.2 Sphinx ohne Geheimnis – Zur Un- André Kieserling, Professor für Allgemeine Soziologie und
kenntlichkeitsbiographie Niklas Luhmanns; IV.12 Kom- Soziologische Theorie an der Fakultät für Soziologie der
munikation; IV.17 Mensch/Person; V.17.6 Die Religion Universität Bielefeld (V.1 Funktionen und Folgen formaler
der Gesellschaft). Organisation; V.2 Zweckbegriff und Systemrationalität;
Jan Fuhse, PD, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl V.3 Vertrauen; V.4 Legitimation durch Verfahren).
für Politische Soziologie an der Universität Bielefeld Christian Kirchmeier, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
(VI.19 Harrison White). Institut für Deutsche Philologie der LMU München
Michael Geiss, wissenschaftlicher Assistent am Institut für (IV.19 Moral; IV.24 Semantik; IV.25 Sinn; VI.14 Wissens-
Erziehungswissenschaft der Universität Zürich (V.17.7 soziologie).
Das Erziehungssystem der Gesellschaft zusammen mit Jür- Iryna Klymenko, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Insti-
gen Oelkers). tut für Soziologie der LMU München (IV.1 Autopoiesis).
Andreas Göbel, Professor für Soziologie am Institut für Po- Elmar Koenen, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am In-
litikwissenschaft und Sozialforschung der Julius-Maxi- stitut für Soziologie der LMU München (V.5 Theorie der
milians-Universität Würzburg (IV.23 Selbstbeschrei- Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Sys-
bung; V.10 Beobachtungen der Moderne). temforschung?).
Philip Göldner, Doktorand an der Fakultät für Philosophie, Barbara Kuchler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld (II.15
LMU München (VII.10 Philosophie, zusammen mit Tat- Macht).
jana Schönwälder-Kuntze).
466 Anhang

Klaus Mainzer, Professor für Philosophie und Wissen- Tatjana Schönwälder-Kuntze, PD, Fakultät für Philosophie,
schaftstheorie und Direktor des Munich Center for Tech- Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der
nology in Society der TU München (IV.13 Komplexität). LMU München (II.5 Luhmann und Spencer-Brown;
Katharina Mayr, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Insti- VI.1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel; VII.10 Philosophie,
tut für Soziologie der LMU München (IV.9 Geschlossen- zusammen mit Philip Göldner).
heit/Offenheit). Katharina Seßler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Insti-
Katja Mellmann, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am tut für Soziologie der LMU München (IV.6 Erwartung).
Seminar für deutsche Philologie der Georg-August-Uni- Fritz B. Simon, Professor für Führung und Organisation am
versität Göttingen (IV.7 Evolution). Institut für Familienunternehmen der wirtschaftswis-
Julian Müller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut senschaftlichen Fakultät der Universität Witten/Herde-
für Soziologie der LMU München (III.4 Systemtheorie cke (VII.12 Psychologie).
als Medientheorie; IV.3 Differenz, Differenzierung; VI.2 Jasmin Siri, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Insti-
Gabriel Tarde; VI.4 Ernst Cassirer). tut für Soziologie der LMU München (IV.28 System/
Richard Münch, Professor für Soziologie in der Fachgruppe Umwelt).
Soziologie der Universität Bamberg (II.2 Luhmann und Urs Stäheli, Professor für Allgemeine Soziologie am Institut
Parsons.) für Soziologie der Universität Hamburg (V.16 Gesell-
Armin Nassehi, Professor für Soziologie am Institut für So- schaftsstruktur und Semantik; VI.12 Ernesto Laclau und
ziologie der LMU München (II.1 Luhmann und Husserl; Chantal Mouffe).
III.2 Systemtheorie als Evolutionstheorie; III.5 System- Martin Stempfhuber, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter
theorie als Gesellschaftstheorie; IV.8 Funktionale Analy- am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Uni-
se; IV.21 Paradoxie; IV.30 Zeit; V.7 Soziale Systeme. versität Mainz (IV.18 Moderne).
Grundriß einer allgemeinen Theorie; V.13 Die Gesellschaft Florian Süssenguth, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am In-
der Gesellschaft; V.15 Soziologische Aufklärung; VI.3 stitut für Soziologie der LMU München (IV.2 Code/Pro-
George Herbert Mead; VII.14 Soziologie; VIII.1 Theorie gramm).
ohne Subjekt?; VIII.2 Theorie ohne Empirie?). Heinz-Elmar Tenorth, Professor für Historische Erzie-
Jürgen Oelkers, Professor für Allgemeine Pädagogik am In- hungswissenschaft am Institut für Erziehungswissen-
stitut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich schaften der Humboldt-Universität zu Berlin (VII.1
(V.17.7 Das Erziehungssystem der Gesellschaft, zusammen Erziehungswissenschaft).
mit Michael Geiss). Werner Vogd, Professor für Soziologie an der Fakultät für
Sven Opitz, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Kulturreflexion – Studium fundamentale der Universität
für Soziologie an der Universität Hamburg (IV.4 Dop- Witten/Herdecke (V.17.2 Die Wissenschaft der Gesell-
pelte Kontingenz). schaft).
Nina Ort, PD, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Elke Wagner, Juniorprofessorin für Mediensoziologie am
für Deutsche Philologie der LMU München (VI.6 Gott- Institut für Soziologie der Johannes-Gutenberg Univer-
hard Günther). sität Mainz (VIII.3 Theorie ohne Kritik?).
Günther Ortmann, Professor für Allgemeine Betriebswirt- Manuel Wendelin, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
schaftslehre an der Helmut Schmidt Universität Ham- Institut für Kommunikationswissenschaft und Medien-
burg (II.3 Luhmann und die Organisationssoziologie). forschung der LMU München (VII.5 Kommunikations-
Birger P. Priddat, Professor für Politische Ökonomie an der wissenschaft).
Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/Herdecke Niels Werber, Professor für Neuere deutsche Literaturwis-
(VII.16 Wirtschaftswissenschaft). senschaft am Germanistischen Seminar der Universität
Tanja Prokić, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am In- Siegen (V.6 Liebe als Passion).
stitut für Deutsche Philologie der LMU München (VI.7 Rudolf Wimmer, apl. Professor für Führung und Organisa-
Michel Foucault). tion an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Uni-
William Rasch, Professor für Germanic Studies am Institute versität Witten/Herdecke (VII.9 Organisationstheorie,
of Germanic Studies der Indiana University Blooming- Management und Beratung).
ton (VIII.5 Eine ›deutsche‹ grand theory?). Tobias Werron, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Karl-Siegbert Rehberg, Professor für Soziologische Theorie, Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld (IV.29
Theoriegeschichte und Kultursoziologie am Institut für Welt).
Soziologie der Technischen Universität Dresden (VI.15 Patrick Wöhrle, Dr., Wissenschaftler Mitarbeiter am Insti-
Die ›Leipziger Schule‹: Hans Freyer, Arnold Gehlen, Hel- tut für Soziologie der Technischen Universität Dresden
mut Schelsky, zusammen mit Patrick Wöhrle). (VI.15 Die ›Leipziger Schule‹: Hans Freyer, Arnold Geh-
Irmhild Saake, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am In- len, Helmut Schelsky, zusammen mit Karl-Siegbert Reh-
stitut für Soziologie der LMU München (III.1 System- berg).
theorie als Differenzierungstheorie; IV.5 Erleben/Han-
deln; IV.14 Kultur; VI.11 Pierre Bourdieu).
Bernd Scheffer, Professor für Literatur- und Medienwissen-
schaft am Institut für Deutsche Philologie der LMU
München (VI.16 Konstruktivismus).
Johannes F. K. Schmidt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an
der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld (I.3
Luhmanns Zettelkasten und seine Publikationen).
467

5. Personenregister Burke, Kenneth 181


Büscher, Christian 175–176
Butler, Judith 267, 341, 379, 383

Adorno, Theodor W. 2, 57, 151, 159, 277, 288–289, 424, Campbell, Donald T. 49
428, 431, 438 Cassirer, Ernst 59–60, 272–275, 292, 357
Alexander, Jeffrey 47, 425 Celan, Paul 439
Alkemeyer, Thomas 313 Chomsky, Noam 438
Almond, Gabriel 384 Clam, Jean 30, 381–383
Amstutz, Marc 235 Clarke, Lee 177
Apel, Karl-Otto 288–290, 292, 294 Coleman, James 24, 166
Aristoteles 16, 69, 75, 128, 151, 184–185, 197, 241 Collingwood, Robin George 364
Arlinghaus, Franz Josef 348 Comte, Auguste 41, 139, 220
Ashby, W. Ross 31, 33, 280 Cyert, Richard 25
Augustinus 337 Czempiel, Ernst-Otto 388
Austin, John L. 291
Dabrock, Peter 410
Bachelard, Gaston 183 Dahm, Karl-Wilhelm 408
Baecker, Dirk 27, 29, 31, 73, 97, 208, 277, 297–298, 334, Dallmann, Hans-Ulrich 410
358, 360, 375, 414–417, 430 Darwin, Charles 81
Baier, Horst 321 Dawkins, Richard 82
Barber, Bernard 144 De Giorgi, Raffaele 2
Bardmann, Theodor M. 27 de Man, Paul 301
Barnard, Chester 23, 203 Deflem, Matthieu 235
Bateson, Gregory 52–53, 55, 155, 389 Deleuze, Gilles 74, 267–268, 357, 438
Baudelaire, Charles 306 Derrida, Jacques 6, 74, 105, 186, 202, 232, 267, 277–278,
Beauvoir, Simone de 342 300–301, 303, 309, 383, 433–435, 438–439
Beavin, Janet H. 54–55 Descartes, René 1, 15, 182, 263
Beck, Ulrich 177, 195 Deutsch, Karl W. 384
Becker, Frank 349 Dewey, John 270
Becker, Kai Helge 27 Diederich, Jürgen 333
Beckert, Jens 415 Dilthey, Wilhelm 357
Beckmann, Max 365 Döbert, Rainer 288
Bell, Peter 366 Dotzler, Bernhard 359
Benjamin, Walter 357 Drepper, Thomas 27, 374
Berg, Henk de 367, 371, 379 Duchamp, Marcel 100
Berger, Johannes 221 Dülmen, Richard van 422
Berger, Peter L. 318–320 Duns Scotus, Johannes 75
Berghaus, Margot 355 Durkheim, Émile 41–42, 44, 47, 63, 74–75, 105, 168, 200,
Bertalanffy, Ludwig von 24, 29–30, 33, 123 265–266, 268, 272, 289, 305
Beyme, Klaus von 386 Duve, Thierry de 367
Binczek, Natalie 436
Blöbaum, Bernd 353–354 Easton, David 384
Blumenberg, Hans 275 Ebers, Mark 374
Boltanski, Christian 365 Eder, Klaus 155, 288
Bonß, Wolfgang 175 Ehrlich, Eugen 233
Borch, Christian 268, 286 Einstein, Albert 123, 269, 275
Borgards, Roland 358 Eisenstadt, Shmuel N. 144
Boulding, Kenneth E. 24 Eley, Lothar 380
Bourdieu, Pierre 57, 74, 272, 305–307, 367, 379 Elias, Norbert 139
Brandom, Robert 294 Ellrich, Lutz 31
Brauns, Jörg 360 Esposito, Elena 32, 360, 415–417
Brodbeck, Karl Heinz 416 Esser, Hartmut 421, 426
Brumlik, Micha 333 Eva & Adele 365
Brunkhorst, Hauke 331 Exner, Alexander 377
Brunsson, Nils 3, 25, 177
Bubner, Rüdiger 380 Febbrajo, Alberto 235
Bühler, Karl 289–290 Festenberg, Nikolaus von 156
Bunsen, Frederick 5 Feyerabend, Paul 224
Burckhardt, Jacob 357 Fichte, Johann Gottlieb 112, 263, 293
Burkart, Roland 352 Flaubert, Gustave 306
468 Anhang

Foerster, Heinz von 2, 24, 31–33, 52, 155, 204, 250, 280, Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 5, 34, 63, 112, 261–265,
328, 375, 390 276, 278, 288–289, 292, 379, 382, 396, 437–438
Fögen, Marie Theres 348 Heidegger, Martin 34, 247, 276–279, 294, 379, 382,
Foucault, Michel 113, 115, 158–159, 216, 284–287, 291, 438–439
309, 357, 383, 423, 438–439 Heider, Fritz 61, 100, 381
Frank, Manfred 420 Heidingsfelder, Markus 361
Freud, Sigmund 288, 357 Heidtmann, Bernhard 155
Freund, Julien 106 Hein, Michael 387
Freyer, Hans 321–322, 324–325 Heisenberg, Werner 123
Frie, Ewald 349 Hejl, Peter M. 156, 367
Friedeburg, Ludwig von 2 Hellmann, Kai-Uwe 193, 414–415
Friedrichs, Jürgen 425 Hempel, Carl Gustav 426
Fromm, Erich 288 Henkel, Anna 426
Fuchs, Peter 32, 44, 73, 101, 109, 113, 122, 314 Henrich, Dieter 150
Fuchs, Stephan 298 Hentig, Hartmut von 155, 257
Fuhse, Jan 298 Hermelink, Jan 411
Hettling, Manfred 358
Gadamer, Hans-Georg 294, 439 Heyting, Frieda 333
Gaiser, Carolin 432–433 Hiller, Gotthilf G. 333
Gambetta, Diego 144 Hinterwaldner, Inge 366
Gehlen, Arnold 19, 24, 321–326 Hobbes, Thomas 76, 291, 338
Geißler, Heiner 156 Höffe, Otfried 338
Gensicke, Dietmar 337 Hohl, Friedrich Rudolf 1
Gerecke, Uwe 415 Hölderlin, Friedrich 1, 439
Gibson, David 297 Holzer, Boris 298
Giddens, Anthony 83–84, 144, 195, 367 Homer 5
Giegel, Hans-Joachim 155 Horkheimer, Max 288, 431
Giel, Klaus 333 Huber, Hans Dieter 364–365
Giesecke, Michael 314 Huck, Christian 360–361
Giesler, Markus 414, 416 Humboldt, Alexander von 294
Glanville, Ranulph 31, 33 Humboldt, Wilhelm von 349
Glasersfeld, Ernst von 327 Hume, David 338
Göbel, Andreas 358 Husserl, Edmund 1–2, 6, 13–19, 24, 29, 48, 117, 125,
Godard, Jean-Luc 439 127–128, 140, 151, 181, 271, 276, 292–294, 300, 309, 314,
Gödel, Kurt F. 224, 228 318, 379–382, 419–421
Goethe, Johann Wolfgang von 5, 275, 439 Hutter, Michael 298, 414–416
Goffman, Erving 102
Goody, Jack 60 Imdahl, Max 364
Görke, Alexander 353–354 Innis, Harold A. 60
Granovetter, Mark 219 Irigaray, Luce 342
Greenblatt, Stephen 357
Gripp-Hagelstange, Helga 277 Jackson, Don D. 54–55
Grizelj, Mario 31, 109 Jäger, Georg 239
Groth, Thorsten 416 Jahraus, Oliver 109, 367
Guattari, Félix 267 Jakobs, Günther 396–398
Guibentif, Pierre 230, 235 Jansen, Stefan A. 415
Gumbrecht, Hans Ulrich 372 Japp, Klaus P. 175–176
Günther, Gotthard 2, 183, 280–283, 321 Jean Paul 159
Günther, Klaus 232 John, Rene 426
Jung, Stefan 415
Habermas, Jürgen 2, 6, 13, 17–18, 25, 45–46, 57–58, 74–75,
77, 105, 112, 134, 149, 151–156, 231, 253, 276, 278, 284, Kabalak, Alihan 415
288–292, 294, 300, 322, 324, 331, 341, 379–380, 386, Kampmann, Sabine 365–366
403–404, 419–420, 428–431, 437–438 Kant, Immanuel 5, 76, 240, 263, 273, 275, 286, 293, 332,
Hafner, Johann Evangelist 409, 412 336, 421
Hahn, Alois 3, 80, 358 Karafillidis, Athanasios 298
Harney, Klaus 333 Karentzos, Alexandra 366
Hart, Herbert L.A. 231 Karle, Isolde 411
Hartmann, Martin 144 Kastner, Fatima 235
Havelock, Eric A. 60 Kepplinger, Hans Mathias 352
Hayek, Friedrich August von 220 Keynes, John Maynard 415
Personenregister 469

Khurana, Thomas 433 Marchart, Oliver 309


Kieser, Alfred 374 Marcinkowski, Frank 353–354
Kieserling, André 2–3 Marcuse, Herbert 288
King, Michael 235, 440 Maresch, Rudolf 360
Kirsch, Werner 27 Markowitz, Jürgen 334
Kittler, Friedrich 60–61, 360 Marshall, Thomas H. 21
Klaus, Elisabeth 354 Martens, Wil 27, 374
Kluge, Alexander 2 Marwitz, Friedrich August Ludwig von der 349
Kneer, Georg 29–30, 336, 338 Marx, Karl 25, 153, 181, 193, 220–221, 288–289, 294,
Knoblauch, Hubert 421 401–403, 405, 431, 439
Knodt, Eva 439 Maturana, Humberto R. 6, 24, 32–33, 69, 94, 121–122,
Knorr-Cetina, Karin 426 163, 280, 328–329, 375, 381, 391
Koenen, Elmar 155 Mayer, Karl-Ulrich 425
Kohring, Matthias 353–354 Mayntz, Renate 2
Königswieser, Roswita 27, 377 Mayr, Katharina 426
Koschorke, Albrecht 359 McCulloch, Warren 280
Koselleck, Reinhart 115, 215, 217, 349 McLuhan, Marshall 60, 430
Krämer, Sybille 100 Mead, George Herbert 53, 81, 166, 269–271, 289, 294
Krawietz, Werner 394 Meemken, Hermann 415
Krieger, David J. 30 Merkens, Hans 333
Krizanits, Joana 377 Merten, Klaus 352–354
Krüger, Heinz-Herrmann 331 Meyer, John W. 3
Kühl, Stefan 27 Michel, Karl M. 151, 155
Kunczik, Michael 352 Mills, C. Wright 437
Kunz, Dominik 426 Montesquieu, Charles de 258
Kuper, Harm 333 Morris, Charles W. 289
Mouffe, Chantal 105, 309–311
Lacan, Jacques 309, 311 Münch, Richard 47, 420
Laclau, Ernesto 267, 309–311
Landgrebe, Ludwig 380 Narr, Wolf-Dieter 155
Langenbucher, Wolfgang R. 352, 355 Naschold, Frieder 386
Latour, Bruno 56, 265, 268, 416, 426 Nassehi, Armin 29–30, 46, 73, 79, 81, 86, 97, 128, 273, 307,
Lehmann, Maren 298 336, 338, 343, 419, 423, 426, 435
Leibniz, Gottfried Wilhelm 34, 251 Neckel, Sighard 337
Lenin, Wladimir Iljitsch 290 Neuberger, Christoph 355
Lentz, Carola 97 Neumann, Franz 288
Lenzen, Dieter 3, 253, 331–334 Neves, Marcelo 235
Lepsius, M. Rainer 422, 425 Nicolai, Alexander 416
Lévi-Strauss, Claude 83, 119, 307 Nietzsche, Friedrich 277, 357, 380, 438
Lichtblau, Klaus 2 Nikolaus von Kues 184
Lingner, Michael 364 Nipperdey, Thomas 364
Link, Jürgen 285 Nollmann, Gerd 79
Lipp, Wolfgang 156 Nunner-Winkler, Gertrud 288
Lippert, Florian 366
Littmann, Peter 415 Oberdorfer, Bernd 409, 412
Löffelholz, Martin 355 Octavian 247
Löfgren, Lars 280 Oelkers, Jürgen 333–334
Löwenthal, Leo 288 Oevermann, Ulrich 3, 333
Lübbe, Hermann 364 Offe, Claus 144, 221, 288
Luckmann, Thomas 318–320 Olsen, Johan P. 177
Lüdicke, Marius 414 Ong, Walter J. 60
Lukács, Georg 288–289 Oppenheim, Paul 426
Lünenborg, Margreth 354 Ort, Claus-Michael 435–436
Lüpertz, Markus 365 Ortmann, Günther 27, 374
Lyotard, Jean-François 105, 180, 438–439
Pahl, Hanno 415
Maciejewski, Franz 155 Parsons, Talcott 1–2, 6, 19–24, 26, 29, 32, 41, 47, 53–54, 59,
Malinowski, Bronislaw 1, 83 74–76, 83, 85, 87, 100, 119, 124, 142, 154, 165, 167, 210,
Mallarmé, Stéphane 439 219, 243, 268, 272, 288–289, 296, 305, 307, 309, 322, 403,
Mannheim, Karl 77, 317–318, 382 405, 437, 439
March, James G. 24–25, 177, 203 Pasero, Ursula 344, 415
470 Anhang

Pask, Gordon 280 Schreyögg, Georg 27


Peirce, Charles S. 289, 294, 313–315 Schulte, Günter 380
Perrow, Charles 177 Schulze, Gerhard 367
Pfürtner, Stephan H. 106 Schütz, Alfred 297, 318, 421, 423
Philippopoulos-Mihalopoulos, Andreas 440 Schwanitz, Dietrich 256, 434
Piaget, Jean 389 Schwingel, Markus 306
Plumpe, Gerhard 239, 370 Seidl, David 27
Pollock, Friedrich 288 Serres, Michel 52
Popper, Karl R. 224, 227 Shannon, Claude E. 52–53, 164
Prange, Klaus 331, 333 Shaw, Bernhard 159
Prangel, Matthias 371 Shils, Edward A. 20
Prewo, Rainer 23 Short, James F. Jr. 177
Pürer, Heinz 352 Simmel, Georg 57, 63, 74, 219, 296
Simon, Fritz B. 27, 30, 32, 378, 416
Quine, Willard Van Orman 182 Simon, Herbert A. 23, 25–26, 139, 203
Skinner, Quentin 364
Radcliffe-Brown, Alfred 1, 83 Smelser, Neil J. 219
Radtke, Christian 348 Smith, Adam 416
Rasch, William 81, 105 Spaemann, Robert 261, 379
Reckwitz, Andreas 97 Spencer, Herbert 41, 47, 94, 272, 289
Reinfandt, Christoph 361, 372 Spencer-Brown, George 2, 6, 24, 26, 29–30, 33–38, 73, 92,
Reinhardt-Becker, Elke 285, 349–350 108, 125, 144, 183, 186, 194, 203, 225, 248, 264, 274,
Richardson, Samuel 157 278–279, 298, 301, 321, 329, 341–343, 381, 435
Rieger, Stefan 361 Srubar, Ilja 382
Rist, Pippilotti 365 Stäheli, Urs 109, 126, 285, 311, 314, 415, 436
Ritsert, Jürgen 23 Steinbacher, Karl 155
Ronge, Volker 385 Stemmer, Peter 338
Ronneberger, Franz 353 Stichweh, Rudolf 3, 64, 126, 217, 338, 344, 349
Rosa, Hartmut 423 Stöckmann, Ingo 365
Rousseau, Jean-Jacques 76, 185, 258 Stollberg-Rilinger, Barbara 347
Rückert-John, Jana 426 Stracke, Elmar 23
Rüegg-Stürm, Johannes 376 Svetlova, Ekaterina 415
Ruesch, Jürgen 52 Sydow, Jörg 374
Rühl, Manfred 352–353
Runze, Dieter H. 155 Tacke, Veronika 27, 374
Rustemeyer, Dirk 334 Tarde, Gabriel 265–268
Tenbruck, Friedrich H. 44
Saake, Irmhild 79, 97, 307, 424, 426 Tenorth, Heinz-Elmar 333–334
Sacks, Harvey 53 Teubner, Gunther 208, 234–235, 302, 394–397, 416, 440
Sartre, Jean-Paul 383 Theile, Hans 396
Sassen, Saskia 3 Thomas, Günter 126, 409, 412
Saussure, Ferdinand de 53, 266, 313–315, 369 Thornhill, Christopher 235, 440
Saxer, Ulrich 353, 355 Titscher, Stefan 2, 377
Scharpf, Fritz W. 387, 415 Tjaden, Karl-Hermann 155
Scheibmayr, Werner 313 Treml, Alfred 333
Scheler, Max 77, 382 Troeltsch, Ernst 317
Schelsky, Helmut 1, 213, 255, 321–325 Tugendhat, Ernst 288, 292
Schiller, Friedrich 240 Türk, Klaus 374
Schimank, Uwe 134, 406
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 409 Unseld, Siegfried 150
Schlippe, Arent von 416
Schlögl, Rudolf 349 Valéry, Paul 91
Schmid, Hans Bernhard 381 Varela, Francisco J. 24, 33, 122, 328–329, 390–391
Schmid, Michael 50 Veronese, Paolo 365
Schmidt, Johannes 379 Vismann, Cornelia 359
Schmidt, Siegfried J. 354, 367 Vogd, Werner 426
Schmitt, Carl 291 Vogl, Joseph 319
Schmitt, Marco 297–298 Voltaire 251
Scholl, Armin 354
Scholz, Frithard 2 Wacquant, Loïc 305
Schorr, Karl Eberhard 253, 331–333, 335 Walter, Ursula von 1
Personenregister 471

Walter-Busch, Emil 24 Wieland, Josef 415


Warburg, Aby 275, 357 Wiener, Norbert 31–33, 52, 123, 164
Warnke, Martin 364 Willke, Helmut 27, 30, 235, 313–314, 415, 420
Watt, Ian 60 Willms, Bernard 155
Watzlawick, Paul 54–55, 155 Wimmer, Rudolf 27, 376, 416
Weaver, Warren 52–53 Wittgenstein, Ludwig 53, 289, 292, 294
Weber, Max 29, 41, 43, 45, 63, 74, 77, 168, 182, 219, 242, Wolf, Jürgen 337
288–290, 297, 305, 307, 347, 438 Wüthrich, Hans 376
Wegner, Gerhard 411, 415 Wyss, Beat 365
Weick, Karl E. 23–24, 333
Weihe, Ulrich 385 Zeeuw, Gerard de 29
Weinbach, Christine 344 Ziegert, Klaus A. 235
Weinrich, Harald 155 Zijlmans, Kitty 364–365
Weischenberg, Siegfried 353–354 Zima, Peter V. 63
Welker, Michael 408–409 Zipfel, Astrid 352
Werber, Niels 239, 360, 365, 367, 370–372 Žižek, Slavoj 310, 465
Wetzel, Manfred 337 Zorn, Carsten 366
White, Harrison 3, 219, 296–299, 416 Zumbansen, Per 235
Whitehead, Alfred North 16, 81, 128, 269–271

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