Institut Klinik für Hals-, Nasen- und Ohren-Heilkunde und Plastische Operationen, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck
Steffen A et al. Zur Epidemiologie von … Handchir Mikrochir Plast Chir 2007; 39: 98 – 102
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Tab. 1 Vergleich der Alters- und Geschlechtsverteilung bei dem untersuchten Patientenkollektiv mit Ergebnissen der Literatur in absoluten Zahlen und Prozent
Tab. 2 Analyse der Unfallursachen nach Altersklassen absolut (n) und relativ (%) aus dem Patientenkollektiv (n = 141)
Tab. 3 Ursachen der Ohrmuschelverletzungen des untersuchten Patientenkollektivs im Vergleich zur Literatur
Patienten und Methode ereigneten sich zwischen dem elften und 40. Lebensjahr
! (l" Tab. 2). Die Hauptursachen waren Unfälle im Straßenverkehr
Bei 141 von 197 Patienten, die zwischen dem 1.1.1991 und (43 %), häusliche Verletzungen (33%) und Verletzungen bei Tät-
dem 31.12. 2001 wegen einer Ohrmuschelverletzung behandelt lichkeiten (14%) (l " Tab. 3). Bei einem Drittel der betroffenen Pa-
wurden, konnten die Krankenunterlagen aufbereitet werden. tienten waren Abrissverletzungen zu verzeichnen (l " Tab. 4).
Othämatome und -serome fanden keine Berücksichtigung. An- Die Dominanz verschiedener Unfallursachen variiert in den un-
gaben zu Alter und Geschlecht der Patienten, zur Unfallursache terschiedlichen Altersgruppen und nach Geschlecht erheblich
sowie die Unfallmechanismen wurden erfasst. (l" Abb. 1, l" Tab. 2).
Die Daten wurden mit dem Statistikprogramm SPSS for Win- Eine Aufgliederung der Verkehrsopfer zeigt ein Überwiegen der
dows® zur deskriptiven Analyse ausgewertet. Aufgrund des mittleren Altersgruppen, wobei die mit dem Pkw Verunfallten
retrospektiven Studiendesigns wurden keine statistischen Sig- deutlich jünger waren (Median 23 Jahre) als die verunglückten
nifikanzen berechnet. Fahrradfahrer oder Fußgänger (Median 38 Jahre). Männer waren
Die Resultate wurden den Ergebnissen aus der Literatur gegen- in dieser Gruppe dreimal häufiger vertreten.
übergestellt. Ohrverletzungen im häuslichen Umfeld resultierten häufig aus
Stürzen, aber auch beim Spielen und durch Bisse von Hunden.
Das Geschlechtsverhältnis war ausgeglichen. Zwar lag der Al-
Ergebnisse tersmedian bei 31 Jahren, jedoch existieren zwei Häufigkeits-
! gipfel in der ersten Lebensdekade und bei Patienten, die älter
Im untersuchten Patientengut von 141 Patienten waren Männer als 60 Jahre waren.
mehr als doppelt so häufig betroffen wie Frauen (98 zu 43 Pa- Die dritthäufigste Ursache waren Ohrmuschelverletzungen bei
tienten, l
" Tab. 1). Unter den dokumentierten Fällen dominierten Tätlichkeiten. Bis auf eine Ausnahme waren Männer, vor allem
die jüngeren Personengruppen; knapp zwei Drittel der Unfälle der mittleren Altersklassen, betroffen.
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auf (l
" Tab. 5).
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Diskussion 20
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! 15 14 13 12
Verletzungen der Ohrmuschel ereignen sich überwiegend bei 10
alltäglichen Unfällen, selten sind es so spektakuläre Umstände
5
wie 1997 der Biss des Boxers Mike Tyson in das Ohr seines Geg-
0
ners Evander Holyfield. Angaben zu den Unfallursachen finden 0 – 10 11 – 20 21 – 30 31 – 40 41 – 50 51 – 60 > 60
sich häufig in anekdotischer Form, wie der Arbeit von Gubisch
Altersklassen in Jahren
und Bach [3], die über Hundebisse berichteten. Lediglich die Un-
tersuchungen von Bardsley und Mercer mit 50 Verletzungen [1] Abb. 1 Verteilung nach Altersklassen bei dem untersuchten Patienten-
und von Schewior [8], die aus der Literatur 101 Unfälle aufarbei- kollektiv in absoluten Zahlen.
tete, berichten über Unfallursachen, Geschlecht und Alter. Es
wurde ein Literaturrückblick mit 135 publizierten Fallberichten
bei Ohrmuschelverletzungen aus den Jahren 1885 bis 2002 hohe Anteil menschlicher Bissverletzungen mit 50 % ist erstaun-
durchgeführt, die durch Angaben zu Alter, Geschlecht und Un- lich.
fallursachen charakterisiert sein mussten [10]. Der Vergleich Für die Behandlung von Abrissverletzungen, insbesondere von
dieser Population mit den Ergebnissen von Bardsley und Mercer Teilen der Ohrmuschel, wurde lange Zeit die Aufbewahrung des
und mit der vorliegenden eigenen Untersuchung belegt sowohl Ohrknorpels unter der Haut des Mastoids (Pocket-Methode) fa-
die Übereinstimmung der drei Hauptunfallursachen Verkehrs- vorisiert [4, 8]. Bei unseren Patienten sahen wir nach einer Pri-
unfälle, häusliche Unfälle und Tätlichkeiten (l
" Tab. 2 und 3), als märversorgung mit dieser Methode häufiger ausgedehnte Ver-
auch der Dominanz der 10- bis 40-Jährigen und des männlichen narbungen der periaurikulären Haut, sodass in derartigen Fällen
Geschlechts (l " Tab. 2). Bei Gemperli und Mitarb. [2] waren 85% sekundäre Rekonstruktionen mit autologem Rippenknorpel nur
der Patienten zwischen dem 25. und 45. Lebensjahr und Männer unter erschwerten Bedingungen durchgeführt werden konnten,
viermal häufiger betroffen. auch wenn heute der axial gestielte temporoparietale Faszien-
Häusliche Unfälle mit überwiegend Einrissverletzungen fanden lappen die operativen Möglichkeiten erweitert [7,14]. Auch die
wir häufiger bei Kindern und Senioren; Teil- und Totalamputa- druckärmere Lagerung des Ohrknorpels in der Bauchregion
tionen dominierten bei Verkehrsunfällen und bei Tätlichkeiten führt vielfach zum Verlust der typischen anatomischen Archi-
[10]. tektur und zu histologisch nachweisbaren Veränderungen mit
Bei der Betrachtung unserer Patientengruppen im Vergleich mit Einwachsen von Bindegewebe und Ossifikationszentren [9]. In
der Literatur und der Gruppe von Bardsley und Mercer [1] muss einem Vergleich der unterschiedlich aufwendigen Methoden
auch auf die unterschiedliche Qualität der Notfallversorgung zur Replantation von Ohrmuschelteilen wurde deutlich, dass
hingewiesen werden [10]. Auffallend ist die hohe Anzahl der bei minimalen Gewebebrücken die Durchblutung gewährleistet
Bissverletzungen, die in unterschiedlichen Kollektiven zwischen war und bei kleineren Abrissverletzungen die direkte, schicht-
12 in unserem Patientengut und 40 Prozent in der Literaturana- weise Readaptation als gestieltes composite graft versucht wer-
lyse, insgesamt aber bei über 30 Prozent lag (l" Tab. 5). Auch der den sollte [8,11,13].
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Wenn es die Wundverhältnisse erlauben und die technischen nach einem primären Wundverschluss und einer späteren Re-
Voraussetzungen gegeben sind, d. h. ein Replantationsteam mit konstruktion mit autologem Rippenknorpel ästhetisch bessere
Erfahrung in mikrovaskulären Techniken vorhanden ist, so kann Ergebnisse erwarten kann (l " Abb. 2 und 3).
unter vorsichtiger Präparation der Anschlussgefäße wie der A. Eine Besonderheit stellen Bissverletzungen der Ohrmuschel dar,
auricularis posterior beziehungsweise A. temporalis superficia- bei denen eine ausgiebige Wundreinigung und Desinfektion er-
lis die mikrochirurgische Replantation versucht werden. Häufig forderlich sind. Die Behandlung sollte unter antibiotischer Ab-
ist die Interposition von Venen für einen spannungsfreien An- schirmung erfolgen. Bei tiefen Einrissverletzungen und kleine-
schluss erforderlich. Die Gefäßversorgung des temporoparieta- ren Amputatsegmenten bietet sich die dreischichtige Readap-
len Faszienlappen (fan flap) sollte unbedingt erhalten bleiben tation an [13]. Bei ausgedehnten Amputationen ist aufgrund der
[6,14,15], da dieser Bindegewebelappen für die sekundäre Re- häufig zu sehenden Quetschungen der Wundränder eine sichere
konstruktion unverzichtbar ist [5, 7,13]. Wie eingangs bereits be- Identifikation der Gefäße zur mikrovaskulären Rekonstruktion
tont, sollten Pocket-Methoden sehr zurückhaltend und lediglich erschwert; hier sollte einem sekundären Ohrmuschelaufbau
bei kleineren Amputaten benutzt werden, da man bei Patienten der Vorzug gegeben werden.
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Schlussfolgerung Literatur
! 1 Bardsley AF, Mercer DM: The injured ear: a review of 50 cases. Br J Plast
Ohrmuscheltraumen ereignen sich besonders häufig zwischen Surg 1983; 36: 466 – 469
2 Gemperli R, Neves RI, Ferreira MC: Traumatismos extensos do pavilhao
dem 10. und 40. Lebensjahr, wobei Männer deutlich häufiger be- auricular: conduta cirurgica. Rev Paul Med 1991; 109: 19 – 23
troffen sind. In Übereinstimmung mit vergleichbaren Arbeiten 3 Gubisch W, Bach S: Our concept in the reconstruction of traumatic
sind Verkehrsunfälle, häusliche Unfälle und Verletzungen bei auricular defects. Face 1998; 6: 83 – 87
Tätlichkeiten und Bissverletzungen die Hauptunfallursachen. 4 Haug M, Schoeller T, Wechselberger G, Otto A, Piza-Katzer H: Ohr-
muschelverletzungen – Klassifizierung und Therapiekonzept. Unfall-
Bei der Auswahl der Behandlungsmethoden bei Abrissverletzun-
chirurg 2001; 104: 1068 – 1075
gen sollte eine zusätzliche Traumatisierung vermieden werden, 5 Kind GM: Microvascular ear replantation. Clin Plast Surg 2002; 29:
um bei einem Scheitern eine sekundäre Rekonstruktion mit 233 – 248
autologem Rippenknorpel durchführen zu können. 6 Nagata S: A new method of total reconstruction of the auricle for mi-
crotia. Plast Reconstr Surg 1993; 92: 187 – 201
7 Nagata S: Secondary reconstruction for unfavorable microtia results
utilizing temporoparietal and innominate fascia flaps. Plast Reconstr
Armin Steffen Surg 1994; 94: 254 – 265
8 Schewior S: Die Behandlung des Ohrmuschelabrisses: Ein geschicht-
Geb. am 4. 5. 1977 in Rostock. 1999 bis
licher Überblick. Med. Diss. Lübeck, 1995
2005 Studium an der Universität zu Lübeck. 9 Staudenmaier R, Aigner J, Hölzl J, Schilling V, Rotter N, Naumann A, Kas-
Auslandsaufenthalte: 2002 Chirurgie, Santi- tenbauer E: Subkutane Konservierung einer abgetrennten Ohrmu-
ago de Cuba, Kuba; 2005 Plastische Chirur- schel. Laryngo Rhino Otol 2000; 79: 233 – 238
gie, Dartmouth Hospital, New Hampshire. 10 Steffen A: Die Verletzung der Ohrmuschel – eine retrospektive Analyse
von Ursachen und Behandlungskonzepten. Med. Diss. Lübeck, 2004
Promotion: 2001 bis 2005 bei Frau Prof. Dr. 11 Steffen A, Klaiber S, Katzbach R: A comparison of ear reattachment
B. Wollenberg, begonnen bei Prof. Dr. med. methods: a review of 25 years since Pennington. Plast Reconstr Surg
Dr. med. dent. H. Weerda („Die Verletzung 2006; 118: 1358 – 1364
der Ohrmuschel – eine retrospektive Analyse von Ursachen und 12 Weerda H: Das frische Ohrmuscheltrauma. HNO 1996; 44: 701 – 709
13 Weerda H: Traumen und nichtentzündliche Prozesse. In: Weerda H
Behandlungskonzepten“). Seit 2005 Assistent an der Klinik für
(Hrsg): Chirurgie der Ohrmuschel. Stuttgart: Thieme, 2004: 24 – 41
Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde (Frau Prof. Dr. B. Wollenberg), 14 Weerda H: Klassifikation und Chirurgie der Ohrmuscheldefekte. In:
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck. Weerda H (Hrsg): Chirurgie der Ohrmuschel. Stuttgart: Thieme, 2004:
42 – 104
15 Weerda H: Surgery of the Outer Ear. Stuttgart, New York: Thieme,
2007, im Druck
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