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Die kritische Rekonstruktion von Marx

Zur Wertformanalyse in der neuen Marx-Lektüre

Bachelorarbeit für die Prüfung zum Bachelor of Arts


Im Studiengang Kultur und Technik
Kernfach Philosophie
An der Technischen Universität Berlin
Fakultät I – Geistes- und Bildungswissenschaften

Berlin, den 18. Juli 2021

Erstgutachter: Prof. Dr. Thomas Gil


Zweitgutachter: Dr. Vangelis Bantekas
Von Salome M. König
Mehringdamm 85
10965 Berlin
Matrikelnr.: 386572
Inhalt

Einleitung ..............................................................................................................1

1. Zum theoretischen Verhältnis von Marx und Engels ...............................2


1.1. Ingo Elbe: Kritik am traditionellen Marxismus als ‚Engelsismus‘ .........2
1.1.1. Zum ontologisch-deterministischen Geschichtsverständnis ............3
1.1.2. Zur logisch-historischen Lesart .......................................................5
1.2. Hans-Georg Backhaus: Engels als Lupenglas für Inkonsistenzen in
Marx‘ Denken ....................................................................................................7

2. Michael Heinrich: Die systematische Rekonstruktion der


Wertformanalyse ...............................................................................................11
2.1. Ökonomische Formbestimmungen .......................................................11
2.2. Handlungsebene ....................................................................................16
2.3. Geldfunktionen ......................................................................................19

3. Kritik an der neuen Marx-Lektüre mit Joachim Bruhn........................19

Abschließende Bemerkungen............................................................................23

Bibliografie .........................................................................................................26
Einleitung
Thema dieser Abschlussarbeit ist die kritische Würdigung eines akademischen
Randphänomens: der neuen Marx-Lektüre im deutschsprachigen Raum. Aufgrund der
ohnehin schon besonderen Spezifizität des Themas, die sich nicht allein aus der Fülle der
Lesarten des Marxismus sowohl international als auch im deutschsprachigen Raum, sondern
ebenso aus der Fülle des diesen zugrunde liegenden Marxschen Werks ergibt, werden hier
jeweils nur Fragmente drei einflussreicher Positionen der neuen Marx-Lektüre im
deutschsprachigen Raum dargestellt. Obwohl keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit
erhoben werden kann, war dennoch der Anspruch dieser Auswahl, die charakteristischen
Züge der Lesart und den jeweiligen Tenor der Positionen zu illustrieren. Ziel ist nicht,
desjenigen Wissen, der sich im betreffenden Diskurs ohnehin schon auskennt, um ein
interessantes Puzzlestück zu erweitern, sondern der Spezifizität des Themas zum Trotz einen
allgemeineren Zugang zu ihm bieten zu können. Der besondere Fokus auf die
Wertformanalyse und dessen methodologische Rezeption ist deswegen gewählt, weil sie
nicht allein das zentrale Moment des Marxschen Werks, sondern auch der Kritik durch die,
als auch an der neuen Marx-Lektüre darstellt. Die akribisch detaillierte und systematische
Auseinandersetzung mit der Wertformanalyse und ihrer Rezeption, insbesondere durch den
traditionellen Marxismus, zeichnet die neue Marx-Lektüre unter den postmarxistischen
Lesarten aus und stellt in ihrer Breite ein Novum innerhalb der Marxrezeption insgesamt
dar. Die Frage nach der Marxschen Methodologie polarisiert aktuell mehr denn je innerhalb
Marxscher Diskurse, woran die neue Marx-Lektüre einen befeuernden Anteil hat.
Bemerkenswerterweise ist sie in diesem Punkt weitestgehend einig, was darin begründet
liegt, dass ihr Kritikpotenzial eben in der Entgegenstellung einer formtheoretischen
Interpretation zur traditionellen logisch-historischen Lesart der Wertformanalyse besteht.
Zunächst wird Ingo Elbes Kritik am traditionellen Marxismus hinsichtlich dessen
Geschichtsverständnisses nachvollzogen, weil hierin die Grundlage von Elbes
Zurückweisung der traditionellen Lesart besteht, auf die im Folgenden eingegangen wird.
Anschließend wird seine Darstellung anhand Hans-Georg Backhaus‘ Auseinandersetzung
mit der Rolle des Denken Engels‘, die Elbes Reflexionen selbst zugrunde liegen, kritisiert,
wodurch eine Tendenz innerhalb der neuen Marx-Lektüre subtil angedeutet werden soll. Der
zweite Teil der Arbeit dient der Illustration der systematischen Auseinandersetzung mit der
Wertformanalyse, welche maßgeblich durch Michael Heinrich geleistet wird. Im gleichen
Kontext wird der Begriff der »abstrakten Arbeit« innerhalb der neuen Marx-Lektüre
reflektiert. Im abschließenden dritten Teil werden einige zentrale Kritikpunkte an der neuen

1
Marx-Lektüre angeführt, die von Joachim Bruhn, einem ihrer schärfsten Kritiker, vertreten
wurden, um das Themenfeld in einen über sich hinausragenden kritischen Diskurs
einzuordnen.
Die Auswahl der Quellen orientiert sich einerseits an ihrer Relevanz für das dargestellte
Themenfeld und andererseits an zentralen Werken der dargestellten Positionen. Da für
keines der zugangsbeschränkten Werke universitärer Zugang gegeben ist, beschränkt sich
die Auswahl auf frei zugängliche Texte und die jeweils wichtigsten Werke. Verweise auf
Quellen, die nicht auch eigenständig zur Bearbeitung dieser Arbeit verwandt wurden, die
lediglich dazu dienen, Bezüge innerhalb einer referierten Quelle zu illustrieren, werden in
der Bibliografie nicht angegeben, sondern mit einem vollständigen Quellenverweis in der
Fußnote belegt. Alle übernommenen Verweise werden als solche gekennzeichnet, auch
wenn die Quelle zusätzlich eigenständig zur Bearbeitung des Themas herangezogen wurde.

1. Zum theoretischen Verhältnis von Marx und Engels


Die kritische Rekonstruktion der Marxschen Kritik ist im Kontext der neuen Marx-Lektüre
vor allem als eine des theoretischen Verhältnisses von Marx und Engels zu verstehen. Die
bereits in den 1920er Jahren mit Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein anhebende
Kritik an der Vorstellung einer Einheit von Marx‘ und Engels‘ Denken wird hier maßgeblich
von Backhaus, einem der Gründer der neuen Marx-Lektüre, in den 1990ern und aktuell von
Elbe ausbuchstabiert. Während Elbe systematisch eine ideologische Konsequenz vom
Denken Engels‘ über Kautsky, Lenin bis hin zu Stalin nachzuvollziehen versucht und vor
diesem Hintergrund die Rezeption durch den traditionellen Marxismus kritisiert, untersucht
Backhaus vor allem anhand historischer Quellen (wie beispielsweise Briefwechseln
zwischen Marx und Engels) die Entwicklung der teils widersprüchlichen Positionen von
Marx und Engels (Backhaus zeigt nicht nur Widersprüche zwischen Marx‘ und Engels‘
Positionen auf, sondern auch widersprüchliche Tendenzen innerhalb beider
Gedankengänge).

1.1. Ingo Elbe: Kritik am traditionellen Marxismus als ‚Engelsismus‘


Elbes Kritik am traditionellen Marxismus läuft darauf hinaus, ihm den Anspruch in Marx
theoretischer Tradition zu stehen abzusprechen. Es handele sich bei der mit dem Erscheinen
von Engels‘ Anti-Dühring ins Leben gerufenen Marxschen Schule, welche über u.a. Kautsky
und Lenin schließlich in Stalins parteioffizieller Marx-Deutung des weltanschaulichen

2
Marxismus-Leninismus gegipfelt sei, vielmehr um einen „Engelsismus“1. Dieser zeichne
sich durch ein ontologisch-deterministisches Geschichtsverständnis und eine logisch-
historische Lesart insbesondere der Wertformanalyse aus. Kennzeichnend sei ein
übersimplifizierter, lediglich als Gegenstück zu statischen Betrachtungsweisen konstituierter
Dialektikbegriff, welcher über klassische philosophische Grundprobleme, wie die Frage
nach dem Primat von Leib oder Seele, nicht hinauskomme. 2 Damit einher gehe eine
Aufspaltung in subjektive und objektive dialektische Gesetze, wobei die subjektiven als
nicht mehr denn ein passives Abbild der objektiven aufgefasst werden. 3 Diese Aufspaltung
und der damit einhergehende Mangel an dialektischem Verständnis der Relation zwischen
Subjekt und Objekt begründe eine „falsche Analogisierung historisch-gesellschaftlicher
Prozesse mit Naturphänomenen“4 und führe zu einem Verständnis von materialistischer
Dialektik als „Wissenschaft von den allgemeinen [sich durch Diskontinuitäten
auszeichnenden] Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der
Menschengesellschaft und des Denkens“ 5.6

1.1.1. Zum ontologisch-deterministischen Geschichtsverständnis


Engels habe insbesondere drei praxisphilosophische Aspekte der Marxschen Theorie
verzerrt. Erstens kippe bereits bei Engels die Erkenntnis, dass nicht nur der Gegenstand, die
Geschichte und Logik der kapitalistischen Produktionsweise, sondern auch die Anschauung
des Gegenstandes durch den Gegenstand selbst vermittelt ist, also das dialektische
erkenntnistheoretische Moment, in einen „naiven Realismus“. 7 Bei Marx stelle diese
Erkenntnis dagegen eine zentrale Grundannahme der Analyse der unbewusst
vorausgesetzten Formen der kapitalistischen Praxis, d.h. seines kritischen
Fetischismusbegriffs, dar. Engels‘ vor allem im Anti-Dühring zum Tragen kommender
„ontologisch gedeuteter Materialismusbegriff“8 finde sich schließlich als systematisierte

1
Elbe: „Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen – Lesarten der Marxschen Theorie.“ In: Maulwurfs-arbeit
III, 2015(b), S. 97. Kennzeichnend sei dafür das Verstecken der Sprecher hinter „Eponymen“: Wie Engels den
Marxismus, so ließ Stalin den Marxismus-Leninismus für sich sprechen (s. ebd.).
2
Vgl. Elbe, 2015b, S. 98.
3
Vgl. ebd.
4
Ebd.
5
Ebd.: MEW 20, S. 307.
6
Die deterministische Tendenz resultiere bei Engels demnach insbesondere aus der Assoziierung von Dialektik
mit Gesetzmäßigkeit im naturwissenschaftlichen Sinne und daraus abgeleiteter Notwendigkeit und
Entwicklung.
7
Elbe, 2015b, S. 98.
8
Elbe verweist in Bezug auf den naiven Realismus von Engels‘ ontologisch gedeuteten Materialismusbegriff
auf dessen Rede von „materialistische[r] Naturanschauung“ als „weiter nichts als einfache Auffassung der
Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat. [MEW 20, 469]“ (Elbe, 2015b, S. 98).
3
Widerspiegelungstheorie bei Lenin und bei Stalin in Form einer „Abbildtheorie“ wieder.9
Zweitens verweist Elbe auf einen ins Positive gewendeten Begriff von Naturwüchsigkeit10,
der, anstatt auf die Aufhebung von auf Fetischismus beruhenden gesellschaftlichen
Gesetzen, auf die Anwendung von pseudo-dialektischen Bewegungsgesetzen abziele.
Drittens vertrete Engels einen auf die naturwissenschaftlich-experimentelle Tätigkeit
reduzierten, demnach rein positivistischen, unkritischen Praxisbegriff. 11 Diese
„Akzentverschiebung von einer Theorie gesellschaftlicher Praxis hin zu einer kontemplativ-
widerspiegelungstheoretische[n] Entwicklungslehre“ hat, so Elbe, „den Weg zu einer
mechanizistischen, fatalistischen Auffassung des historischen Materialismus [geebnet].“12
Auch in Bezug auf Kautskys spätere Rede, „nicht die Revolution zu machen, sondern sie
zu benutzen“13, verweist Elbe auf das Engelssche deterministische Geschichtsverständnis.
Die vorausgesetzte Notwendigkeit eines wünschenswerten gesellschaftlichen Wandels, die
zum Ausdruck kommt, wenn er von „Ausblicken auf Zustände, die kommen müssen, [als]
notwendig“ spricht, deute auf eine lineare Vorstellung von kapitalistischen Zwängen hin zu
einem Proletariat als erfolgreich handelndes revolutionäres Subjekt und impliziere einen
„unwiderstehlichen immanenten ökonomisch-geschichtlichen Zwang zur Revolution“.14
Auch Lenin, der die „Lehre von Marx“ als Religionsersatz propagierte, 15 habe die Theorie
als „Entwicklungslehre“ verstanden. 16 Seine These, dass die Arbeiterklasse spontan nur ein
systemimmanent-‚trade-unionistisches‘ Bewusstsein hervorbringe, weise zwar auf kritische
Aspekte seines Ideologiebegriffes hin, diese seien vom anknüpfenden Marxismus-
Leninismus jedoch ignoriert und der Begriff der Ideologie schließlich auch von Lenin selbst

9
Unter „Abbildtheorie“ versteht Elbe eine „kontemplative Ontologie, die lehrt, dass das Bewusstsein nur ein
Abbild des unabhängig und außerhalb seiner existierenden Seins darstellt“ (Ebd., S. 99), also eine
positivistische Seinslehre, die das Subjekt aus der Relation von Subjekt und Objekt völlig außer vorlässt. Somit
stellt die „Abbildtheorie“ eine radikal weiter gedachte Version der „Widerspiegelungstheorie“ dar, auf die im
Folgenden noch weiter eingegangen wird: Subjektives Bewusstsein spiegelt nicht ‚bloß‘ die erlebte Außenwelt
wider, sondern ist sogar ein absolutes (und somit auch absolut passives) Abbild dessen.
10
Elbe verweist darauf, dass Engels den Begriff in der Deutschen Ideologie noch in seiner negativen Form
vertrat. Im Detail beschäftigt er sich mit diesem Widerspruch jedoch nicht.
11
Auch hier verweist Elbe auf widersprüchliche Begriffskonzeptionen bei Engels. Die traditionell marxistische
Rezeption begrenze sich jedoch auch hier auf eine abgeflachte Variante des Begriffs.
12
Elbe, 2015b, S. 98.
13
Ebd., S. 99: Kautsky zitiert nach Steinberg, H.-J.: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie
der Partei vor dem 1. Weltkrieg, Berlin/Bonn 1979, S. 61.
14
Elbe, 2015b, S. 99: Kautsky, Karl: „Ethik und Materialistische Geschichtsauffassung“, in: Sandkühler, H.J./
R. de la Vega (Hg.): Marxismus und Ethik, Frankfurt am Main 1974 [1906], S. 261. Auch Kautsky, so verweist
Elbe, hat von der Marxschen Theorie als „neues Evangelium“ gesprochen. (vgl. Elbe, 2015b, S. 99: Kautsky,
Karl: Das Erfurter Programm, Berlin 1965 [1892], S. 230.)
15
Elbe, 2015b, S. 99.
16
Ebd.: Lenin, Wladimir Iljitsch: „Karl Marx“, in: Ders., Werke, Bd. 21, Berlin/ DDR 1960 [russ. 1915], S.
43.
4
zu dem einer „proletarische[n] Ideologie“ 17 verklärt worden. Wie bei Kautsky werden dem
Proletariat providentiell missionarische Züge zugesprochen und ins Zentrum des
traditionellen Marxismus gestellt. 18
Stalin hat, Elbe zufolge, die naturalistisch-objektivistische Strömung schließlich zur
Staatsdoktrin (»Was für die Natur gilt, muss auch für die Geschichte gelten«) erhoben, nach
der es sich bei politischer Praxis um den Vollzug historischer Gesetze handele. 19 Sein Begriff
des historischen Materialismus weist, Elbe zufolge, sowohl einen epistemologischen
Essenzialismus als auch einen sozialtheoretischen Naturalismus auf, d.h. einen Fetischismus
ausklammernden Begriff von Sein und Bewusstsein, der einhergeht mit einer „vom
menschlichen Handeln unabhängigen Entwicklungslogik, die von der Partei als obersten
Sozialtechnologen bewusst angewendet oder beschleunigt wird“ 20 und erinnere damit stark
an Engels‘ ontologisch-deterministisches Verständnis des Begriffs.

1.1.2. Zur logisch-historischen Lesart


Ein weiterer zentraler Kritikpunkt Elbes am traditionellen Marxismus bzw. „Engelsismus“
ist die logisch-historische Lesart des Marxschen Werks, insbesondere der Wertformanalyse:

„Vor dem Hintergrund seiner Widerspiegelungskonzeption deutet Engels die ersten Kapitel des
‚Kapital’ als zugleich logische und historische Darstellung eines ‚einfachen Warentauschs’ bis hin
zum kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis, «nur entkleidet der historischen Form und der störenden
Zufälligkeiten» [MEW 13, S. 475].“ 21

Kritisiert wird hier ein Verständnis des historischen Materialismus als logische
Beschreibung historischer Entwicklungen, wobei die beiden Ebenen (logische und
historische) als parallel zueinander verlaufend angesehen werden. 22 Was Elbe als
widerspiegelungstheoretische Auffassung Engels‘ bezeichnet, wird besonders in dessen
Nachtrag zum 3. Band des Kapital „1. Wertgesetz und Profitrate“ deutlich, wo er schreibt,
„daß es sich [beim Marxschen Wertgesetz] nicht nur um einen rein logischen Prozeß handelt,
sondern um einen historischen Prozeß und dessen erklärende Rückspiegelung im

17
Elbe, 2015b, S. 99: Lenin, Wladimir Iljitsch: „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“, in: Ders.,
Werke, Bd. 19, Berlin/DDR 1965 [1913], S. 3 f.
18
Vgl. Elbe, 2015b, S. 98.
19
Vgl. ebd., S. 99.
20
Ebd.
21
Ebd., S. 100.
22
Die Vorstellung der Parallelität von logischer und historischer Ebene findet sich, so Elbe, über den
Marxismus-Leninismus hinaus auch in der Lesart des westlichen Marxismus der kritischen Theorie. Umso
erstaunlicher sei es, dass gerade Georg Lukács, den Elbe diesem zurechnet, in den 1920ern als erster das Dogma
der Einheit von Marx und Engels kritisierte.
5
Gedanken“23. Explizit formuliert wird diese Konzeption außerdem in dem auf das von Elbe
oben angeführte Zitat folgenden Satz in der „Rezension zu Karl Marx: Zur Kritik“:

„Womit diese Geschichte anfängt, damit muß der Gedankengang ebenfalls anfangen, und sein
weiterer Fortgang wird nichts sein als das Spiegelbild, in abstracter und theoretisch consequenter
Form, des historischen Verlaufs“ 24

Auch Kautsky, kritisiert Elbe, habe das Kapital als „wesentlich historisches Werk“
verstanden und Marx dabei prophetisch als denjenigen dargestellt, dem es vorbehalten
gewesen sei, die Logik des Kapital als historische Kategorie zu erkennen. 25
Wie oberflächlich diese auf einer paradoxen Mischung aus positivistischer Reduktion des
Werks und religiöser Erhebung dessen Autors beruhende Interpretation mit dem Marxschen
Formbegriff umgeht, zeige sich nicht nur am Begriff des »Historischen«, der bei Engels und
in der marxistischen Tradition zwar als ständiges Schlagwort auftauche, gleichzeitig jedoch
jegliches gesellschaftstheoretisches Verständnis der ökonomischen Verhältnisse als
historisch spezifische missen lasse.26 Darüber hinaus folge daraus eine Lesart der
Wertformanalyse, die in einer von Engels grob auf den Zeitraum von 6000 Jahren v.u.Z. bis
ins 15 Jh. datierten Periode der „einfachen Warenproduktion“ ansetze, als
produktionsmittelbesitzende Warenbesitzer geldlos mit „nicht-preisbestimmte[n]
vorkapitalistische[n] Ware[n]“ handelten. 27 Wert sei damals, als die Warenproduzenten noch
Warenbesitzer waren, individuell anhand des Arbeitsaufwandes bemessen worden, was
aufgrund der übersichtlichen, weil einfachen Verhältnisse noch möglich daher üblich
gewesen sei.28 Diese Rolle von Arbeit als Wertsubstanz sei schließlich durch die Etablierung
von Geld verschleiert worden, 29 welches außerdem als „Hilfs- und Schmiermittel“30 des
Warentausches fungiert habe (so Elbes Interpretation der Engelsschen Darstellung). Geld
komme bei Engels keine konstitutive Rolle zu. Stattdessen vertrete er eine
Arbeitsnutzentheorie, bei der Smiths Hirsch- und Biberjäger lediglich durch Handwerker

23
Engels, Friedrich: „Wertgesetz und Profitrate. Erster Nachtrag zu Buch 3 des «Kapitals»“, in: MEW. Bd. 25,
S. 905.
24
Elbe, 2015b, S.100: Engels, Friedrich: „Rezension zu Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie.
Erstes Heft“, in: MEW 13, S. 475.
25
Vgl. Elbe, 2015b, S. 100.
26
Vgl. ebd., S. 101.
27
Ebd., S. 100. Elbe stellt dem die Marxsche Konzeption der Ware des ersten Kapitel des Kapitals als
„abstraktes Konkretum der bürgerlichen Gesellschaft“ gegenüber. »Konkretum«, weil aus mehreren
Bestimmungen Zusammengesetztes (MEW 42, S. 35). »Abstraktum«, „weil mit ihrer Werteigenschaft die
höchstmögliche Abstraktion von komplexeren kapitalspezifischen Reichtumsformen erreicht ist“ (Elbe: „Die
Beharrlichkeit des ‚Engelsismus‘. Bemerkungen zum Marx-Engels Problem“, in: Marx-Engels Jahrbuch,
2007, S. 99).
28
Vgl. Engels, Friedrich: „Wertgesetz und Profitrate. Erster Nachtrag zu Buch 3 des «Kapitals»“, in: MEW.
Bd. 25, S. 907.
29
Vgl. ebd.
30
Elbe, 2015b, S. 102.
6
und Bauern ersetzt werden. So finden sich bei ihm genau die Fehlkonzeptionen, die Marx
an der (insbesondere Smithschen) klassischen Ökonomie kritisierte:

„Projektion des nur im Kapitalismus systematisch entstehenden Scheins der Aneignung durch eigene
Arbeit in die Vergangenheit [Elbe, 2015, S. 101: Vgl. MEGA II/2, S. 49], Ausblendung des
notwendigen Zusammenhangs von Wert und Wertform [Elbe, 2015, S. 101: Vgl. MEW 23, S. 95],
Verwandlung der ‚objektiven Gleichung’, die der gesellschaftliche Zusammenhang zwischen den
ungleichen Arbeiten vollzieht, in subjektive Erwägungen der Produzenten“31

Die „Irrelevanz des Formbegriffs“ fördere einen „‚adjektivistischen Sozialismus‘ (R.


Kurz)“, in dem es lediglich darum gehe, die Rechnungsart, im Sinne einer bewussten
Einsetzung des Werts, zu revolutionieren, den kapitalistischen Rahmen jedoch
beizubehalten. Es gehe dann nicht um das Überwinden kapitalistischer Formbestimmungen,
sondern dessen alternative Nutzung. 32 Durch das Übernehmen von Hegels Formel von
Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, in Verbindung mit einer Parallelisierung von
Naturgesetzen und gesellschaftlichen Prozessen, habe Engels ein Verständnis des
Marxismus als „sozialtechnologisches ‚Emanzipationskonzept‘“ 33 mit folgender
Kernaussage begünstigt:

„‚Die im Kapitalismus anarchisch und unkontrolliert wirkende gesellschaftliche Notwendigkeit (v.a.


das Wertgesetz) wird, mittels des Marxismus als Wissenschaft von den objektiven Gesetzmäßigkeiten
in Natur und Gesellschaft, im Sozialismus planmäßig verwaltet und bewusst angewandt’.“34

Nicht nur hier wird deutlich, wie unvermittelt Elbe einen Zusammenhang zwischen Engels‘
Wirken und dem Realkommunismus der UdSSR zieht. Damit wendet er sich zwar gegen das
in linken, kommunistischen und marxistischen Kreisen gängige Argument, das (als
einheitlich verstandene) Werk von Marx und Engels sei zu totalitären Zwecken missbraucht,
dabei aber im Kern verfehlt worden. Seine radikal daherkommende Kritik büßt jedoch
insofern an kritischer Radikalität ein, als dass sie das totalitäre Potenzial des traditionellen
Marxismus mit Engels von Marx lediglich abspaltet und so doch wieder das Dogma der
Unantastbarkeit von Marx, dessen Notwendigkeit der Kritik er so sehr hervorhebt,
reproduziert.

1.2. Hans-Georg Backhaus: Engels als Lupenglas für Inkonsistenzen in Marx‘


Denken
Obwohl Elbe sich in den Grundzügen seiner Kritik an Engels weitestgehend auf Backhaus‘
Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Engels und Marx stützt, ist letztere als Kritik
an seiner These des ‚Engelsismus‘ anführbar. Zwar attestiert auch Backhaus (vor allem dem

31
Ebd., S. 101.
32
Vgl. Elbe, 2015b, S. 101.
33
Ebd.
34
Ebd.
7
späten Engels) einen Hang zur Projektion seiner eigenen Träume und Vorstellungen in die
Marxsche Theorie.35 Dennoch verweist er vehement darauf, dass es nicht zu leugnen sei,
dass „zumindest gewisse Formulierungen und Konstruktionen im ersten Kapitel der zweiten
Ausgabe des Kapital von 1872 eine historizistische Interpretation im Sinne der Engelsschen
Theorie der einfachen Warenproduktion suggerieren.“36 Dies deutet Backhaus als
Inkonsistenzen im Marxschen Werk. 37
In seinen akribischen Untersuchungen der MEW und dem damit einhergegangenen
Briefwechsel zwischen Marx und Engels arbeitet Backhaus Engels‘ Denken und Wirken als
widersprüchlich und dennoch einer Logik folgend heraus. Auch er verortet „die
Geburtsstunde der »Dialektik von Logischem und Historischem«“, die so prägend für die
Rezeption des traditionellen Marxismus war in Engels‘ Frühschriften, und zwar in seiner
Rezension zu Marx‘ Zur Kritik von 1859.38 Anders als Elbe, der den Anti-Dühring nahtlos
in die Geschichte der deterministisch historisierenden Methode Engels‘ einreiht,
differenziert Backhaus hier zwischen Engels‘ Verständnis von Marx‘ dialektischer Methode
und seiner damit einhergehenden Interpretation von Marx‘ Denken. So weist Backhaus auf
den Wiederspruch hin, der sich aus folgender Kombination ergibt: Engels‘ Gleichsetzung
von Logischem und Historischem in der 1859 erschienenen Rezension von Marx Zur
Kritik,39 seiner Betonung im Anti-Dühring von 1877/78, dass die Marxsche Argumentation
ausdrücklich keine historische sei,40 und seiner 1894 vertretenen Interpretation der
Wertformanalyse wiederum als Darstellung der historischen Entwicklung des Werts.41
Backhaus deutet das Hin- und Herschwenken Engels‘ zwischen logischer und historischer
Interpretation als Versuch einer dialektischen Synthese beider Pole. Dieser Ansatz lasse sich
bereits in seiner Rezension von 1859 herauslesen. Seine Interpretation der Werttheorie folge
daraufhin dem Muster einer Spirale, führe ihn zunächst zum einen Pol, dann wiederum zum

35
Vgl. Backhaus: Die Dialektik der Wertform, 2018, S. 237, 247 f.
36
Ebd., S. 230.
37
Vgl. ebd. S. 229 ff.
38
Vgl. ebd. S. 237.
39
„Diese [die logische Behandlungsweise der Kritik der Ökonomie] ist in der Tat nichts andres als die
historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten.“ (Backhaus, 2018, S. 241:
MEW 13, S. 474 f.).
40
„[…] daß in dem ganzen Abschnitt des ‚Kapital‘ über den Wert auch nicht die geringste Andeutung darüber
vorkommt, ob oder in welcher Ausdehnung Marx diese Theorie des Warenwerts auch auf andere
Gesellschaftsformen [außer der kapitalistischen] anwendbar hält.“ (Backhaus, 2018, S. 239: MEW 20, S. 184).
41
„Danach wird es wohl klar sein, warum Marx am Anfang des ersten Buchs, wo er von der einfachen
Warenproduktion als seiner historischen Voraussetzung ausgeht, um dann weiterhin von dieser Basis aus zum
Kapital zu kommen - warum er da eben von der einfachen Ware ausgeht und nicht von einer begrifflich und
geschichtlich sekundären Form, von der schon kapitalistisch modifizierten Ware.“ (Backhaus, 2018, S. 239:
MEW 25, S. 20).
8
entgegengesetzten.42 Dass es sich dabei lediglich um eine pseudodialektische Methode
handelt, gehe daraus hervor, dass die Anwendung dieser Methode zu unterschiedlichen
Zeitpunkten zu unterschiedlichen Ergebnissen führe: Im Nachtrag zum dritten Band kommt
Engels zu einer „anfechtbaren, doch in sich widerspruchsfreien Werttheorie: zur
historizistischen Werttheorie der einfachen Warenproduktion“, wobei dies in der Rezension
noch offen bliebe. Dies sei Backhaus zufolge „der positive Aspekt der Tatsache, daß ihn
seine Pseudodialektik von Logischem und Historischem in eine verzerrte, ja sogar
widersprüchliche Darstellung des Marxschen Vorgehens verstrickt, womit sie sich
gleichsam selbst dementiert.“43 Vor diesem Hintergrund kritisiert Backhaus ebenjene beiden
Orthodoxien, die „[f]ixiert auf den historischen Engels – gelobt von jenen, die das
›Historische‹ akzentuieren, getadelt von den anderen, die vielmehr das ›Logische‹
hervorkehren“ ebendiese Passagen ignorieren, welche unzweideutig belegen, dass Engels
„mehr als zehn Jahre lang die »einfache Zirkulation« dezidiert im ›logischen‹ Sinn
verstanden hat.“44
Der weitaus grundlegendere Unterschied zu Elbes kritischer Auseinandersetzung mit dem
Verhältnis von Marx und Engels liegt jedoch in dem Akzent, den Backhaus auf die Frage
setzt, inwieweit Marx selbst zur „Verstümmelung seines Werks“ mitbeigetragen habe.
Anders als Elbe, der nahelegt, dass Engels Marx‘ in sich geschlossenes Werk in
populistischer Absicht verfälscht an die Nachwelt übergeben habe, deutet Backhaus die
Rolle Engels‘ deutlich passiver:

„Engels hat weder 1869 noch 1895 den Ehrgeiz besessen, eine eigene Methode und eine eigene Wert-
und Geldtheorie zu entwickeln […]. Er verstand sich immer als Dolmetscher der Marxschen
Ökonomie, deren methodologische Eigentümlichkeiten er […] lediglich zu interpretieren […] suchte.
Die Engelsschen Missverständnisse und Verzerrungen sollten daher als das verstanden […] werden,
was sie sind: eine Art Vergrößerungsglas oder Zerrspiegel, mittels dessen sich gewisse Bruchstellen
der Marxschen Konzeption ausfindig machen lassen.“45

Obwohl zwar auch einige Textstellen bei Marx ein historisches Verständnis der
Wertformanalyse suggerieren, geht Backhaus davon aus, dass Marx ein solches nicht
ernsthaft im Sinn gehabt haben könne. Das vielumstrittene zehnte Kapitel des dritten Bandes
des Kapital, in dem Marx eine über das Theoretische hinausgehende historische
Betrachtungsweise der Werte als „Prius der Produktionspreise“ explizit affirmiert,46 deutet
Backhaus dahingehend, dass Marx hier, unabhängig von seiner rein logisch entwickelten

42
Backhaus, 2018, S. 240.
43
Ebd., S. 242.
44
Ebd., S. 238.
45
Ebd., S. 249.
46
MEW 25, S. 186.
9
Werttheorie, lediglich eine wirtschaftstheoretische Hypothese aufgestellt habe. Außerdem
stehe die entsprechende Passage in Widerspruch zu anderen Textstellen des Rohentwurfs,
sei daher (ebenso wie Engels, der sich im Nachtrag zum dritten Band insbesondere auf diese
Passage bezieht und davon ausging, dass es sich dabei um für die Wertformanalyse
grundlegende Überlegungen handele, die Marx noch bedeutend weiter ausgeführt hätte)
nicht allzu ernst zu nehmen. 47 Backhaus‘ Begründung dieser These bleibt jedoch recht vage:
So verweist er darauf, dass die Aufforderung zur historischen Betrachtungsweise im zehnten
Kapitel überflüssig sei, wenn Marx in den ersten Kapiteln des ersten Bandes des Kapital
tatsächlich eine Theorie der einfachen Warenproduktion entwickelt habe. Diese
Argumentation erinnert stark an die juristische systematische Auslegungsmethode des
Gesetzes, in der bei der Interpretation von Gesetzestexten vorausgesetzt wird, dass die
Rechtsordnung als Ganzes widerspruchsfrei aufgebaut ist. Davon kann bei Marx, wie
Backhaus selbst herausgearbeitet hat, jedoch nicht die Rede sein. Noch weiter lehnt
Backhaus sich aus dem Fenster, wenn er versucht, ein ominöses Schweigen in Kombination
mit einigen recht breit interpretierbaren Andeutungen auf Seiten Marx‘ im Briefwechsel mit
Engels zwischen 1859 und 1867 als Beleg dafür zu interpretieren, dass Marx sich im Grunde
klar darüber gewesen sein müsse, dass eine historische Interpretation seiner
Wertformanalyse nicht gerecht werde, dies Engels jedoch aus Gründen eigener
Unsicherheiten nicht deutlich kommuniziert habe, was wiederum zu einem grundlegenden
Missverständnis auf Seiten Engels‘ geführt habe.48 Diese Spekulation klingt auf Grundlage
des Quellenmaterials, auf welches sich Backhaus stützt, zwar plausibel, ist jedoch kaum
damit begründbar. Darüber hinaus lässt sich grundsätzlich darüber streiten, ob ihr überhaupt
Relevanz für die Deutung des Marxschen Werks zukommen sollte.
Stichhaltiger wird Backhaus‘ Argumentation in dem Verweis auf die Differenz zwischen
der Marxschen Kritik und der politischen, sowie akademischen Ökonomie: Während sich
die neoricardianische, neoklassische und auch marxistische Ökonomie mit der Frage nach
der Existenz des Geldes, also dem Grunde dessen Existenz, aufhielten, wendete sich Marx
der Frage nach dem Wesen des Geldes zu. Wie auch Engels setze der Hauptstrom der
Ökonomie voraus, dass sie wüssten, wonach sie fragen, wenn sie sich mit den Ursachen
dessen auseinandersetzen, was sie »Geld« nennen. Auf die Frage nach dem Wesen des
Geldes, gebe schon allein deshalb nur eine logische Entwicklung der Wertform zur Geldform
eine Antwort, da es andernfalls kaum zu bestimmen sei, ob man es bei einer bestimmten

47
Vgl. Backhaus, 2018, S. 236.
48
Vgl. ebd., S. 257, 259, 261 und 264.
10
historischen Erscheinung schon mit Geld oder noch mit einer Vorform des Geldes zu tun
habe.49

2. Michael Heinrich: Die systematische Rekonstruktion der Wertformanalyse


Für eine systematische Ausarbeitung der Wertformanalyse im Sinne einer
Begriffsentwicklung der Wertform ist, wie bereits vorweggenommen, Michael Heinrich
bekannt. Diese soll hier in ihren Grundzügen dargestellt werden. Dabei werden insbesondere
die drei von Heinrich herausgearbeiteten Analyseebenen, wie auch das zugrundeliegende
Begriffskonzept »abstrakte Arbeit« berücksichtigt. Zunächst werden die ökonomischen
Formbestimmungen herausgearbeitet, anschließend widmet sich die Analyse der
Handlungsebene der Warenbesitzer und abschließend werden die Funktionen des Geldes als
Ausdruck des Werts dargestellt. Im Sinne dieses Verständnisses von Marx‘ Darstellung als
begrifflichen Entwicklungsverhältnisses kritisiert, wie bereits dargestellt, nicht nur Heinrich.
Der gesamte Kanon der neuen Marx-Lektüre weist eine historisierende bzw. abstrakt-
historische Lesart der Wertformanalyse zurück, die die einfache Wertform im Sinne einer
Beschreibung eines präkapitalistischen, zufälligen Austauschverhältnisses deutet, welches
dann über die totale bis hin zur allgemeinen Wertform den logischen Kern der historischen
Etablierung einer Geldware bis hin zur Geldform, der Ankunft in kapitalistischen
Verhältnissen, nachzeichne.50 Die Wertformanalyse stelle eben keine chronologische, vom
Konkreten des Empirischen bereinigte, logische Struktur der geschichtlichen Entwicklung
dar. Dieser Interpretation steht hier ein abstraktes Verständnis der Wertformanalyse als
Analyse der verschleierten marktlogischen Voraussetzungen des Kapitalismus, der
Handlungen der sich der kapitalistischen Rationalität entsprechend konstituierenden
Subjekte (oder besser: der sich in der 2. Natur der Menschen als Charaktermasken
materialisierenden Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse) und schließlich die
über das Geld im Tausch stattfindende Vermittlung der gesellschaftlichen Zusammenhänge
entgegen.

2.1. Ökonomische Formbestimmungen


Die den gesamten Formbestimmungen der Marxschen ökonomischen Theorie zentrale
Unterscheidung von konkreter Naturalform und abstrakter gesellschaftlicher Form, in der
einfachen Wertform als äußerer Gegensatz aus relativer Wertform und Äquivalentform
dargestellt, sei nicht nur der „Springpunkt, um den sich das Verständnis der politischen

49
Vgl. ebd., S. 261.
50
Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, 2005, S. 54 f.
11
Ökonomie dreht“51, sondern Heinrich zufolge zudem aufgrund mangelnder
Berücksichtigung seiner Tragweite häufiger Grund von Missverständnissen über den
Charakter wertbildender »abstrakter Arbeit« und dem damit einhergehenden Verständnis
des Zusammenhangs von individueller Privatarbeit und gesellschaftlicher Gesamtarbeit. 52
Bemerkbar mache sich dies in einem prämonetären Verständnis von
Wertgegenständlichkeit, wie im Folgenden noch weiter ausgeführt wird. Auf den in seiner
innermarxistischen Kritik zentralen Begriff der »abstrakten Arbeit« soll an dieser Stelle
näher eingegangen werden.
Anders als bei bloßen Denkabstraktionen, wie der Bildung und Verwendung von
Begriffen, bei denen also verschiedenste konkrete Bezugsobjekte gedanklich auf ihr
Gemeinsames reduziert werden, handele es sich, so führt Heinrich an den Begriff heran, bei
»abstrakter Arbeit« um eine „Realabstraktion“.53 Die Abstraktion finde hier, wenn auch
unbewusst, in der Realität, nicht bloß im Denken statt. Die Waren erscheinen tatsächlich als
Wertgegenstände, obwohl ihnen ihre Wertgegenständlichkeit nur im Austauschverhältnis
mit anderen Waren, nicht an sich, zukommt. Hierin deutet sich bereits die Analyse der
einfachen Wertform an:

„Wert ist etwas rein Gesellschaftliches, er drückt die gleiche Gültigkeit zweier ganz
verschiedener Arbeiten aus, also ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis. Dieses
gesellschaftliche Verhältnis erhält in der Äquivalentform die Gestalt eines Dinges, in
unserem Beispiel scheint Wert unmittelbar identisch mit Rock zu sein.“ 54

»Abstrakte Arbeit« stelle demnach die für den Warenaustausch notwendige und durch ihn
vollzogene Abstraktion von individueller Privatarbeit und Reduktion auf gesellschaftliche
Gesamtarbeit dar. Diese Reduktion sei eine dreifache. Erstens werde individuell verausgabte
Arbeitszeit auf »gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit« reduziert. Zweitens werde auf die
beiden Determinanten der »gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit« reduziert: die
Produktionsbedingungen und die den Waren auf dem Warenmarkt gegenübertretende
zahlungsfähige Nachfrage. 55 Und drittens werde Arbeit in jeglicher Komplexität auf
»einfache Durchschnittsarbeit« reduziert.
In der Analyse der totalen Wertform werde die Abstraktion insofern nachvollzogen, dass
jede Ware sich auf jede andere als solche bezieht, wodurch sich verdeutliche, dass der

51
MEW 23, S. 56.
52
Heinrich, 2005, S. 45.
53
Ebd., S. 47.
54
Ebd., S. 58.
55
Heinrich kritisiert an dieser Stelle vor allem ein traditionell marxistisches Verständnis der »gesellschaftlich
notwendigen Arbeitszeit«, welche die technologischen Voraussetzungen der Produktion als einzige
Determinante wertbildender Arbeit ausmachen und dabei die sich erst im Austausch geltend machende
zahlungsfähige Nachfrage außer Acht lassen. Siehe dazu im Text weiter unten. (Vgl. Ebd., S. 49 f.).
12
abstrakte Warenwert hier bereits „gleichgültig ist gegen die besondere Form des
Gebrauchswerts, in der er erscheint“ 56. Die Verselbständigung der Wertform im Geld werde
somit angedeutet. Erst die allgemeine Wertform, die die Waren schließlich als Werte
aufeinander bezieht, leiste jedoch die absolute Reduktion auf den Tauschwert, welche die
Zirkulationssphäre zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Verhältnisse werden lässt. Mit
der Analyse dieser Wertform gelingt Heinrich zufolge der Verweis auf die Notwendigkeit
einer „Wertform […], die diesen gesellschaftlichen Charakter ausdrückt.“ 57
Prämonetäre Interpretationen der Marxschen Werttheorie, also solche, die Wert bereits in
der Produktionssphäre gebildet sehen, lassen den gesellschaftlichen Charakter der
Wertgegenständlichkeit außer Acht und sitzen damit demselben Missverständnis auf wie
klassische und neoklassische Werttheorien, nach welchen das Entstehen von Wert stets
individualistisch betrachtet wird.58 Wert bemesse sich jedoch weder am einzelnen Produkt
der individuellen Privatarbeit, noch am bloßen Tauschhandel des Individuums, sondern
konstituiere sich im Tausch durch die Vergesellschaftung der Produkte der Privatarbeiten,
da erst in der Zirkulationssphäre von der individuell verausgabten Arbeit abstrahiert werden
könne. Diese »substanzialistische« Fehlkonzeption des Begriffs der Wertsubstanz, bei der
davon ausgegangen wird, dass „[d]er Arbeiter […] ein bestimmtes Quantum abstrakter
Arbeit verausgabt [habe] und dieses Quantum […] jetzt als Wertsubstanz in der einzelnen
Ware [stecke] und […] das einzelne Ding zu einem Wertgegenstand [mache]“ 59, die vor
allem im traditionellen Marxismus zu finden sei, werde als solche daran deutlich, dass der
Wert einer individuell produzierten Ware im Produktionsprozess quantitativ noch gar nicht
festlegbar sei. Denn inwieweit die konkret verausgabte Arbeitszeit tatsächlich
gesellschaftlich notwendig ist, hänge von der zahlungsfähigen Nachfrage ab, welche der
Ware erst in der Zirkulation gegenübersteht. So verweist Heinrich hier auf folgende Stelle
im Kapital:

56
Ebd., S. 58.
57
Ebd., S. 61.
58
Sowohl die Smithsche Arbeitswerttheorie, welche zwar Arbeit als konstitutiven Faktor des als Tauschwert
erscheinenden Werts, diesen jedoch immer nur im einzelnen Tauschakt betrachtet, als auch neoklassische
Theoreme, wie das Marginalprinzip oder die Kosten-Nutzen-Analyse, welche Wert durch subjektive
Wertschätzung der letzten Einheit oder durch die Schnittstelle von Kosten und subjektivem Nutzen entstehen
lassen, stellen Wert als rationale Überlegung einzelner Individuen dar. Das gesellschaftliche Moment der
Wertkonstitution, die sich in der Marktlogik niederschlagenden gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sich die
Individuen schließlich in ihrem Handeln unterwerfen, wird dabei außer Acht gelassen und so die spezifisch
kapitalistische Tauschlogik naturalisiert bzw. in die Natur des Menschen projiziert (s. Heinrich, 2005, S. 43).
Siehe dazu auch Heinrich: „abstrakte Arbeit“, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, 1, 1994,
S. 1 f.
59
Ebd., S. 47.
13
„Vermag der Marktmagen das Gesamtquantum Leinwand, zum Normalpreis von 2 sh. per
Elle, nicht zu absorbieren, so beweist das, daß ein zu großer Teil der gesellschaftlichen
Gesamtarbeitszeit in der Form der Leinweberei verausgabt wurde.“60

Erst durch diesen Verweis auf das Verhältnis von Produktion und Zirkulation werde man
der Frage nach dem Wesen des Werts und somit Marx‘ Begriff der »abstrakten Arbeit« als
„ein im Tausch konstituiertes Geltungsverhältnis“ 61 gerecht.
Robert Kurz wurde von Heinrich vorgeworfen, den Begriff der »abstrakten Arbeit« nicht
deutlich genug von dem der »entfremdeten Arbeit« abgegrenzt und somit ein irreführendes
Verständnis des Begriffes nahegelegt zu haben, welches »abstrakte Arbeit« anhand der
bestimmten Art und Weise, wie zusammengearbeitet werde, charakterisiere, anstatt der
spezifischen gesellschaftlichen Bedeutung, wertbildend zu sein. Elbe führt diese
Verwirrungen der Begriffe »abstrakter« und »entfremdeter Arbeit« auf eine definitorische
Inkonsistenz bei Marx selbst in den früheren Manuskripten und seinem Spätwerk zurück.62
Er verweist unter anderem darauf, dass Marx im ersten Manuskript von »abstrakter Arbeit«
als einseitiger Tätigkeit im Zusammenhang mit der Verelendung der Arbeiter spricht. 63 Im
dritten Manuskript spricht Marx wiederum zunächst von Arbeit als „subjektive[m] Wese[n]
des Privateigentums, […] [das sich dann] als Arbeit überhaupt geltend [macht]“64, also als
Wertsubstanz, und kurz darauf von der „besondre[n] Weise der Arbeit – als nivellierte,
parzellierte und darum unfreie Arbeit“, d.h. von Arbeit als entfremdeter.65 Im weiteren
Verlauf spricht Marx außerdem von entfremdeter Arbeit als einer „Tätigkeit“, die „auf die
abstrakteste mechanische Bewegung reduziert [ist]“.66 Auf der Grundlage der folgenden von
Dieter Wolf herausgearbeiteten differenzierten Bedeutungen des Arbeitsbegriffes 67 im
Marxschen Werk stellt Elbe eine Vermischung verschiedener Bedeutungen in Marx‘
früheren Schriften fest. Folgendermaßen wird der Arbeitsbegriff bei Wolf differenziert:

1) eine bestimmte konkrete Arbeit, wie bspw. Schneiderarbeit

60
Vgl. ebd, S. 49 f.: MEW 23, S. 122.
61
Heinrich, 2005, S. 49.
62
Ein entsprechende, jedoch weitaus oberflächlichere Deutung findet sich auch bei Heinrich, 1994, S. 2. In
diesem Zusammenhang geht Heinrich auch oberflächlich auf den Diskurs ein, welche Relevanz die
unterschiedliche begriffliche Bestimmung von abstrakter Arbeit für die Frage nach deren historischen bzw.
überhistorischen Charakter hat.
63
MEW 40, S. 477.
64
Ebd., S. 533.
65
Ebd., S. 534.
66
Ebd., S. 549.
67
Elbe: „Entfremdete und abstrakte Arbeit.“ In: Paradigmen anonymer Herrschaft: Politische Philosophie von
Hobbes bis Arendt, 2015(a), S. 360 f.: Wolf, Dieter: „Marx’ Verständnis des Werts und der abstrakt
menschlichen Arbeit in den ‚Grundrissen’“, 2008. Da sich der gesamte Text kapitelweise mit diesen
verschiedenen Bedeutungen von ‚Arbeit‘ auseinandersetzt, wäre es hier zu kurz gegriffen, bloß einzelne Seiten
anzugeben.
14
2) eine bestimmte Art und Weise der Ausübung konkreter Arbeit, wie bspw. monotone
Fließbandarbeit (als Resultat der reellen Subsumtion)
3) konkrete Arbeit im allgemeinen, als Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur durch
Arbeitsmittel bewirkte und bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes
4) abstrakte Arbeit als allgemeine Eigenschaft aller konkret-nützlichen Arbeiten68
5) abstrakte Arbeit als Wertsubstanz

In den Manuskripten wie in der Einleitung zu den Grundrissen vertrete Marx die These,
„dass die objektive Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber jeder bestimmten konkreten
Arbeit (Bedeutung 1)[…] dazu führt, dass der Begriff der ‚Arbeit als solcher‘ auf dieser
Abstraktionsstufe gebildet werden kann und »Arbeit schlechthin« (MEW 42, [S.] 38), nicht
eine bestimmte Sorte konkreter Arbeit […], als reichtumsproduzierend identifiziert wird.“ 69
Durch diese Gleichgültigkeit, so das rekonstruierte Argument weiter, werde von der
Besonderheit der konkret nützlichen Arbeit abstrahiert, sodass „übrig [bleibe], was allen
konkret nützlichen Arbeiten als Verbindung des lebendigen Arbeitsvermögens mit
verschiedenen Naturstoffen gemeinsam ist [(Bedeutung 3, so Elbe)].“70 Diese „Abstraktion
der Kategorie «Arbeit», «Arbeit überhaupt», Arbeit sans phrase, der Ausgangspunkt der
modernen Ökonomie, [wird] hier71 erst praktisch wahr“, so Heinrich. Marx spricht hier also
einerseits von einem auf Abstraktion von konkreter Arbeit basierenden allgemeinen
Arbeitsbegriff, ‚Arbeit schlechthin‘. Dieser werde jedoch nicht historisch spezifisch, als
gesellschaftliche Form, sondern als theoretische Bestimmung entwickelt. Und in diesem
Sinne werde der Begriff wiederum als Voraussetzung der politischen Ökonomie, was Marx
in seinem Spätwerk deutlich mit Arbeit in der Bedeutung 5) assoziiert 72, gesetzt. Elbe
zufolge vermische Marx in seinen früheren Schriften insbesondere Arbeit in den
Bedeutungen 3) und 5). Dabei sei jedoch zu beachten, „dass der wesentliche, innere
Zusammenhang des Reichtums, den Marx im Kapital herausarbeitet und von dem ausgehend
er die komplexen, gegeneinander verselbständigten Formen erklärt, keineswegs mit den in
den Manuskripten verwendeten Begriffen der abstrakten, entfremdeten Arbeit bzw. ‚Arbeit

68
Elbe sieht zwischen Bedeutung 3 und 4 keinen Unterschied, da es sich ihm zufolge bei beiden um
Nominalabstraktionen, d.h. theoretische Bestimmungen von Arbeit schlechthin handelt (Vgl. Elbe, 2015a, S.
361).
69
Ebd.
70
Ebd.: Wolf, Dieter: „Kritische Theorie und Kritik der politischen Ökonomie“, in: Berliner Verein zur
Förderung der MEGA-Edition (Hrsg.): Wissenschaftliche Mitteilungen. Heft 3: Zur Konfusion des
Wertbegriffs, Berlin, 2004, S. 70.
71
Marx bezieht sich an dieser Stelle auf die USA als modernste Daseinsform der bürgerlichen Gesellschaft als
Paradebeispiel dafür, dass entfremdete Arbeit Mittel zum Schaffen des Reichtums überhaupt geworden sei (s.
MEW 42, S. 38).
72
So verweist er auf den Doppelcharakter der Ware und der darin enthaltenen Arbeit als „Springpunkt […],
um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht.“ (MEW 23, S. 56).
15
überhaupt‘ übereinstimmen.“73 Die Inkonsistenz der Verwendung der verschiedenen
Arbeitsbegriffe führt Elbe also nicht auf einen Mangel in Marx theoretischer Analyse zurück,
sondern auf den intellektuellen Entwicklungsprozess seiner Kategorien, die in seinem
Hauptwerk schließlich kohärent zum Tragen kämen.

2.2. Handlungsebene
Die Analyse der Geldform, welche nichts von der allgemeinen Wertform unterscheide, als
die gesellschaftliche Gewohnheit 74 der Warenbesitzer, Gold als Geldware und somit
allgemeingültiges Äquivalent etabliert zu haben, bewege sich bereits auf der
Handlungsebene der Warenbesitzer. Die Unterscheidung dieser ersten zwei Ebenen ist
Heinrich zufolge für eine Analyse in Marx‘ Sinne zwingend notwendig, denn erst so würden
die impliziten Voraussetzungen der Handlungen der Warenbesitzer analysierbar. 75 Die
objektiven Gedankenformen, welche sich als „sozialen Zusammenhang des
gesellschaftlichen Verhältnisses der Sachen, sachlichen Verhältnisses der Personen“76 und
somit in den Zwängen der Marktlogik darstellen, werden erst durch die im Tausch
vollzogene Realabstraktion, das Aufeinanderbeziehen der Gegenstände als Waren durch die
Warenbesitzer, indem sich also die Subjekte in »gesellschaftlicher Tat« zu den Dingen als
Waren verhalten, wieder hervorgebracht. 77 Die einzelnen, rechtlich freien Individuen treten
in ihrer ökonomischen Charaktermaske als Warenbesitzer auf und sind so den zwar
abstrakten, aber dennoch realen, weil gesellschaftlich konstituierten Gesetzen der
Warennatur unterworfen. Dieser Widerspruch aus an sich freien Subjekten, die sich im
gesellschaftlichen Rahmen als Naturgesetze erscheinenden, durch eigene Tat
hervorgebrachten Zwängen unterwerfen, ergibt sich erst durch das unbewusste Voraussetzen
dieses gesellschaftlichen Zusammenhangs und das dadurch bedingte Auftreten der Subjekte
als »Personifikation ökonomischer Kategorien« 78, als Agenten der Marktlogik. Geld, durch
das dieser Zusammenhang im Tausch vermittelt wird, ist dabei „notwendiges (wenngleich
bewusstloses) Resultat des Handelns der Warenbesitzer“. 79

73
Elbe, 2015a, S. 360.
74
MEW 23, S. 84.
75
Elbe zufolge hat die Analyse der Handlungen der Warenbesitzer dagegen nichts in der Wertformanalyse des
ersten Bandes zu suchen und referiert hierauf als Beispiel problematischer Stellen im Marxschen Werk (vgl.
Elbe, 2007, S. 104).
76
Elbe, 2015a, S. 366. Oder bei Marx: »Personifizierung der Sachen und Versachlichung der
Produktionsverhältnisse« (MEW 25, S. 838).
77
Vgl. Heinrich, 2005, S. 61.
78
Vgl. MEW 23, S. 16.
79
Heinrich, 2005, S. 62 (Fußnote).
16
Das Außerachtlassen ebendieser marktlogischen Voraussetzungen kritisiert Heinrich
insbesondere an klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorien, nicht allein wegen der
daraus folgenden verkürzten Werttheorie. Während Adam Smiths Vorstellung vom »Hang
zum Tausch«, der den Menschen überhaupt erst vom Tier unterscheide, etwas
Gesellschaftliches in die Natur des Menschen projiziere, verschleiere der neoklassische
homo oeconomicus den existenziellen Zwang der Anpassung an die Rationalität der
ökonomischen Verhältnisse. Individualistische Ansätze, die den Warenbesitzer als autonom
handelndes Individuum verstehen und somit die Diskrepanz und das dadurch entstehende
Spannungsfeld zwischen der Charaktermaske und der menschlichen Natur des Subjekts
unterschlagen, lassen Geld als „auf praktischer Ebene nur einfach ein Hilfsmittel des
Tausches und auf theoretischer nur ein Anhängsel der Werttheorie“ und marktlogische
Zwänge als Naturgewalt erscheinen. Dass es sich dabei jedoch um gesellschaftliche
Verhältnisse handelt, denen die Gesellschaft als Ganze nicht wie den Gesetzen und Zwängen
der Natur ohnmächtig ausgeliefert ist, sondern sie erst selbst hervorbringt, kann auf
individualistischer Ebene ebenso wenig erschlossen werden, wie der gewaltvolle Status80
von Geld als verselbstständigtem Wert und notwendigem Resultat einer durch
Warenaustausch vermittelten Reproduktion der Gesellschaft.81
Darüber hinaus ergibt sich aus den folgenden drei Aspekten eine Tendenz der
Personalisierung der fetischistischen Verhältnisse: erstens die fehlende Differenzierung
zwischen sozialer Formbestimmung und deren stofflichen Inhaltes, wodurch der
Kapitalismus als „die fortgeschrittenste Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozess[es]“
anstatt als historisch spezifisches Produktionsverhältnis erscheint. Zweitens das
Unterworfensein des Individuums (in seiner Personifikation 82 ökonomischer Verhältnisse)
unter die Marktlogik und die damit einhergehenden existenziellen Zwänge und Krisen, die
als unausweichliche Sachzwänge erscheinen und drittens die scheinbare Immunität des
Kapitalismus als Ganzes gegen Kritik, die durch die „Personifizierung83 der Sachen und
Versachlichung der Produktionsverhältnisse“84 begründet wird. Eine Variante davon ist die

80
Dieser Ausdruck bezieht sich auf den Umstand, dass die materielle Existenz des Warenbesitzers von der
Anerkennung der in seinem Produkt vergegenständlichten Arbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit
abhängt. Da die Wertgrößen ständig wechseln und dabei vom „Willen, Vorwissen und Tun der
Austauschenden“ unabhängig sind, erscheint die gesellschaftliche Bewegung ihnen als „Bewegung von
Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ (MEW 23, S. 89; vgl. Heinrich, 2005, S.
73).
81
Siehe dazu Heinrich, 2005, S. 43 ff. & S. 72.
82
Eine Person gehorcht lediglich der Logik einer Sache (vgl. Heinrich, 2005, S. 187).
83
Einer Sache werden Eigenschaften einer Person beigelegt (vgl. ebd.).
84
Heinrich verweist darauf, dass der Fetischismus, oft auf die Phrase „Die gesellschaftlichen Beziehungen der
Menschen erscheinen als Beziehungen von Dingen“ verkürzt, keinesfalls bloß einen verschleiernden Irrtum
17
Spaltung in einen guten Kapitalismus der kleineren Unternehmer, die dem schlechten,
skrupellosen, ausbeuterischen Kapitalismus der Monopolisten und Großunternehmer
gegenüberstehen. Letzteren wird dabei die Macht zugesprochen, sich den Marktzwängen
entziehen zu können und diese in eigenem Interesse erst hervorzubringen. Eine andere
Variante ist die Unterscheidung von gutem industriell-produktivem Kapital und schlechtem
Finanzkapital, wofür in Nazi-Deutschland die Begriffe »schaffendes« und »raffendes«
Kapital verwendet wurden. Wie bereits angedeutet, ist hier der Antisemitismus, die
Projektion „zentraler Konstitutionsprinzipien der eigenen Gesellschaft «nach außen» auf
eine «fremde» Gruppe“85, nicht mehr weit. So schreibt Heinrich:

„Für den modernen Antisemitismus spielt das religiöse Moment keine bedeutende Rolle mehr. […]
Allerdings erhält das, was «den Juden» als ökonomisches Verhalten zugeschrieben wird, nämlich
einzig an Geld und Gewinn interessiert zu sein, aufgrund der Macht des Geldes, selbst nicht arbeiten
zu müssen, sondern von der Arbeit anderer zu leben, ein ganz neues Gewicht: Geld,
Kapitalverwertung, Profitmaximierung und Zins spielen nicht nur am Rande der Gesellschaft eine
Rolle, sie sind konstitutiv für die kapitalistische Produktionsweise.“86

Zwar werde sich auf reale soziale Unterschiede bezogen, so haben Großunternehmer durch
mehr verfügbares Kapital tatsächlich einen größeren Spielraum, um ihre Machtposition
auszunutzen oder sich gelegentlich über ökonomische Zwänge hinwegzusetzen, insgesamt,
so Heinrich, sind jedoch alle Marktteilnehmer der Marktlogik unterworfen. So hält er dem
Vorwurf, dass es Großkonzernen, Banken und Spekulanten lediglich um ihren Profit geht,
entgegen, dass es genau darum im Kapitalismus gehe, und zwar „unter dem Zwang der
Konkurrenz, bei jedem Kapitalisten, ob groß oder klein“. 87 Zwar ist Marx im Kapital weder
auf Personalisierungen dieser Art noch Antisemitismus explizit eingegangen, sein Verweis
im Vorwort „um mögliche Missverständnisse zu vermeiden“88 leuchtet jedoch insbesondere
vor diesem Hintergrund ein. So verweist er darauf, dass es sich bei den Gestalten von
Kapitalist und Grundeigentümer nur insoweit um Personen handelt, als sie Träger der
Verhältnisse sind, die Marx analysiert: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt
[…] den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt,
sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ 89

darstellt, den es lediglich aufzuklären gilt, führt daraufhin Komplexität der Dimensionen des Begriffs aus und
verweist unter anderem auf die materielle Gewalt, die vom Fetischismus ausgeht (siehe dazu ebd., S. 69 ff.).
85
Ebd., S. 190.
86
Ebd.
87
Ebd., S. 188.
88
MEW 23, S. 16.
89
Ebd.
18
2.3. Geldfunktionen
Die Wertformanalyse abschließend werden letztlich noch die Funktionen des Geldes
analysiert. Zunächst ist Geld Wertmaß, d.h. gemeinsamer Bezugspunkt des Bezugs der
Waren auf abstrakte Arbeit, die sich im Wert darstellt. Geld sei für die Bemessung der Werte
insofern notwendiger Zwischenschritt bzw. Vermittler, als dass die Vergesellschaftung, d.h.
der Bezug der Produkte von Privatarbeiten auf die gesellschaftliche Gesamtarbeit, worin sich
die Privatarbeit als gesellschaftlich notwendige bestätigen muss, erst durch den Tausch
vermittelt stattfinde. Gerade weil die Gleichheit der Privatarbeiten (im Tausch) keine
Eigenschaft ist, die ihnen an sich zukomme, es sich stattdessen um eine gesellschaftliche
Beziehung handele, ist der gemeinsame Bezug auf etwas abstraktes Gemeinsames
notwendig.90 Dass sich der Wert tatsächlich erst im Tausch, in der Vermittlung mit Geld,
realisiert und dadurch in Proportion zum gesamten gesellschaftlichen Wertverhältnis gesetzt
wird, anstatt vor dem Tauschverhältnis bereits festgelegt zu sein, unterscheidet die Marxsche
Theorie grundsätzlich von sowohl klassischen als auch neoklassischen Werttheorien. Als
Zirkulationsmittel vermittelt Geld den endlosen Prozess der Warenzirkulation und berge
damit immer auch die Möglichkeit seiner Unterbrechung, der Krise. 91 Als Einheit von
Wertmaß und Zirkulationsmittel stellt Geld schließlich wirkliches Geld dar, d.h. die
selbständige Gestalt des Werts. Als solches fungiert es als Schatz92, als Zahlungsmittel93 und
als Weltgeld94. Dass es heute, in Zeiten des Giralgeldes, keine Ware mehr gibt, die die Rolle
des Geldes spielt, stehe Heinrich zufolge in keinem Widerspruch zu Marx‘ Analyse. Zwar
habe die Wertformanalyse ergeben, dass die Warenbesitzer ihre Waren tatsächlich auf ein
allgemeines Äquivalent beziehen müssen. Dass dieses selbst eine Ware sein müsse, habe
Marx jedoch nicht gezeigt, sondern lediglich unterstellt. 95

3. Kritik an der neuen Marx-Lektüre mit Joachim Bruhn


Vernichtende Kritik erhält die kritische Rekonstruktion der neuen Marx-Lektüre von
Joachim Bruhn, der die Positionen in eben die Tradition einordnet, die vermeintlich kritisiert

90
Vgl. Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert, 1999, S. 209.
91
Vgl. Heinrich, 2005, S. 65.
92
Hier wird, zwecks Geld als eigenständige Gestalt des Werts festzuhalten, verkauft, ohne anschließend zu
kaufen.
93
Im Marxschen Gebrauch beziehe sich Geld als Zahlungsmittel (entgegen dem Alltagsgebrauch) auf einen
Warentausch, in dem die Zahlung zeitverzögert erfolgt, sodass der Käufer zum Schuldner und der Verkäufer
zum Gläubiger wird. Die Reihenfolge der Tauschakte dreht sich hier demnach um. Verkauft werde zwecks
Erlangung von Geld als selbstständige Gestalt des Werts (vgl. Heinrich, 2005, S. 67).
94
Weltgeld ist Geld immer dann, wenn es sich auf den Weltmarkt bezieht. Dabei kann es sowohl als
Zirkulations-mittel, als Zahlungsmittel oder als »absolut gesellschaftliche Materiatur des Reichtums« (MEW
23, S. 158), wie beispielsweise bei Reparationszahlungen in Folge von Kriegen, auftreten.
95
Vgl. Heinrich, 2005, S. 68.
19
werden soll: die Popularisierung der Marxschen Kritik.96 Indem sie den Wertbegriff
ökonomistisch reduziere, verfehle sie nicht nur deren Quintessenz. Indem sie diese zu einer
logisch einwandfreien Theorie verkommen ließe, reihe sie sich zudem unkritisch in den
Pluralismus des akademischen Diskurses ein und widerspricht damit grundlegend der
materialistischen Intention Marx‘.
Bruhn wirft der neuen Marx-Lektüre vor, bereits den ersten Satz des Kapital
missinterpretiert zu haben. 97 Aus diesem folge keineswegs, so Bruhn, dass am Anfang die
Ware sei. Vielmehr sei der Reichtum Gegenstand der Untersuchung, der die Analyse der
Ware formell untergeordnet sei. Sinn der Analyse der Ware sei dabei lediglich, die
Antinomien, die den Reichtum als Nationalreichtum charakterisieren, aufzuzeigen. 98 Der
Reichtum „erscheint“99 als Privateigentum, als „ungeheure Warensammlung“ 100, dessen
Elementarform, die Ware, „den Ausschluss aller durch alle vom Genuss der […] nützlichen
Dinge, die darüber zu Gebrauchswerten verkommen müssen, zum stofflichen Träger des
Tauschwerts“ darstellt.101 Bruhn verweist in diesem Zusammenhang auf Marx‘ kritische
Auseinandersetzung von 1842 mit dem Holzdiebstahlgesetz102, in welcher Marx sich
erstmals eingehend mit dem Begriff des Werts befasste: Durch die Übernahme der
Revolutionsgesetzgebung im Rheinland wurde Gemeineigentum zu Privateigentum erklärt.
Menschen, die in ehemaligen Allmendewäldern Holz sammelten, begingen fortan eine
Straftat. Der Landtag, der über diesen Sachverhalt urteilte, beschloss das Maß der Strafe am
Wert des entwendeten Holzes zu bemessen. Eben hier werde der immanente Antagonismus
im Reichtum als Privateigentum deutlich: „[I]n einer Gesellschaft, wo jeder jeden durch das
Privateigentum von allem anderen ausschließt und diese Form des allgemeinen Ausschlusses
aller durch alle zugleich den allgemeinen Einschluss aller mit allen in dieser Gesellschaft
bedeutet“ ist Wert das „logische Wort, das die Synthese dieses vollendeten Paradoxes
benennt.“103 Und genau diesem Verständnis von Wert stellt Bruhn die auf den Begriff einer

96
Vgl. Bruhn, Joachim: „Die »Bibel der Arbeiterklasse« als Koran der Linksdeutschen. Wie man das
Marxsche »Kapital« gemeinverständlich zubereitet“. Rezension zu: Bruschi, Valeria et. al.: PolyLux Marx.
Bildungsmaterial zur „Kapital“-Lektüre. Erster Band, Berlin, 2012 (a), erster Absatz (mitte).
97
Bruhn, 2012a, sechster Absatz f.
98
Vgl. Bruhn, Joachim: „Warum Marxisten nicht lesen können“, 2012 (b), Min 38:59.
99
MEW 23, S. 49. ‚Erscheinung‘ ist hier, Bruhn zufolge, im Sinne Hegels zu verstehen, meint demnach keine
Mystifikation, sondern die Verkehrung von Qualität in Quantität dessen was erscheint, sodass es als sein
gerades Gegenteil sich darstellt, als Ausdruck des inneren Antagonismus (im Sinne einer Selbstzerrissenheit)
der menschlichen Gattung, der im unvermittelten Verhältnis der Menschen zueinander als Herr und Knecht
liegt (Bruhn, 2012b, Min 51:50).
100
MEW 23, S. 49.
101
Bruhn, 2012b, Min 41:50.
102
MEW 1, S. 109- 148.
103
Bruhn, 2012b, Min 49:44.
20
ökonomischen Größe reduzierte Variante von Engels, der traditionellen marxistischen
Schule als auch der neuen Marx-Lektüre gegenüber. Daraus ergibt sich (einerseits) ein
grundlegend anderes Verständnis von Arbeit, und zwar eben nicht als wertkonstituierende
Tätigkeit, wie sie auch von den Theoretikern der neuen Marx-Lektüre aufgefasst wird 104 und
woraus dann traditionell ein Anspruch „auf vollständige Aneignung des Mehrwerts durch
das produktive Volk“ abgeleitet wird.105 Abstrakte Arbeit als Wertsubstanz ist Bruhn zufolge
wie auch jegliche andere ökonomische Form eine abgeleitete Kategorie des Wertes selbst,
„weil sich eben nicht die Arbeit selbst abstraktifiziert, sondern vielmehr die konkrete
produktive Tätigkeit als Lohnarbeit gesetzt wird und damit der Lohnarbeiter, wie Marx sagt,
als Menschenware gesellschaftlich gebildet wird.“ 106
Zwar spielt der Begriff der abstrakten Arbeit als Wertsubstanz insbesondere bei Heinrich
eine zentrale Rolle. Genauso zentral ist in seiner Argumentation jedoch die Rolle des Werts
als Vermittlungszusammenhang, welcher sich erst durch gesellschaftliche Tat, wie auch die
Abstraktion von qualitativer auf quantitative Arbeit, ergibt.107 Indem jedoch die
Wertformanalyse als in einem linearen Sinne logische Begriffsentwicklung interpretiert
wird, der Wert zwar in mehreren Schritten, dennoch direkt aus einem ursprünglich in der
Arbeit verorteten Widerspruch abgeleitet wird, handelt es sich dabei nur noch um ein
ökonomisches Problem mit gesellschaftlichen Konsequenzen: eine auf Ausbeutung
beruhende Anwendung von Arbeit, die ein Frankenstein-Monster von Warenzirkulation
hervorbringt, das dann sein Unwesen treibt. 108 Nicht nur hier werde der ideologiekritische
Charakter der Marxschen Kritik ausgeblendet, der auf den vermittlungslosen also
selbstnegatorischen Zustand von Gesellschaft in Form von Herrschenden und Beherrschten
und den Wert als bloßes Substitut dieser Vermittlung verweist.109
Auch die ontologische Setzung der Marxschen Kategorien als explizit nicht historische
kritisiert Bruhn vor dem Hintergrund einer ideologieunkritischen Betrachtungsweise, indem
er fragt, woher es komme,

„dass all diese Marxisten, die diese erst historisch [durch den Sturm auf die Bastille, den symbolischen
Anfang der neuen Ordnung von 1789 und des Ingeltungsetzens der neuen Produktionsweise]

104
Siehe oben zu Bedeutung 5 von Arbeit als Wertsubstanz bei Wolf und Elbe (S. 15) oder auch Heinrich,
1994, S. 2.
105
Bruhn, 2012b, Min 1:01:09.
106
Ebd., ab Min 1:01:50.
107
Vgl. bspw. Heinrich, 2005, S. 46 ff. & explizit bei Heinrich, 2020, S. 258.
108
Heinrich, 2005, S. 186 & Heinrich, 2020, S. 257.
109
Bruhn, 2012b, Min 51:01, 1:00:20- 1:08:00.
21
entstandene Gültigkeit ihrer eigenen Kategorien voraussetzen, […] niemals über die Wannsee-
Konferenz sprechen?“110

Und beantwortet seine Frage daraufhin selbst:

„Man macht sich also über die historische Gültigkeit seiner Kategorien keine Gedanken, weil man
beschlossen hat, […] den Kapitalismus als ein selbstreproduktives System […] zu setzen, statt […]
den Umschlag des Kapitals in einen Zustand, in dem er mit proletarischen Mitteln nicht mehr
revolutionierbar ist, zu bedenken.“111

Das Ausblenden des geschichtsphilosophischen Gehalts des Marxschen Denkens112, der


eben nicht in Engelsscher Manier als Begründung des Kapitals als logische Notwendigkeit
der Menschheitsgeschichte im Sinne einer letzten Haltestelle vor dem Kommunismus zu
verstehen ist, vermeint ebenjene Widersprüche in totale Rationalität auflösen zu können, die
erst auf das Irrationale, das an sich Unverständliche und Unvernünftige des Gegenstandes
der Marxschen Untersuchung verweisen.113 Zwar setzt sich Heinrich in seinem
Einführungswerk auch mit Antisemitismus auseinander. Allerdings begrenzt sich seine
Auseinandersetzung auf eine oberflächliche Beschäftigung im Sinne eines interessanten
Exkurses, Antisemitismus wird hier allenfalls als Randphänomen fetischistischer
Gesellschaftsverhältnisse behandelt.114 Anstelle der Kritik, deren Arbeit eben „darin
bestünde, den logischen Gang des Geschehens zu brechen und das Resultat der Geschichte,
die vollendete Barbarei, in der Konstruktion des Anfangs aufzuzeigen“115, setzen die
akademischen Marx-Rekonstrukteure, so der Vorwurf Bruhns, „lupenreine Theorie, die
allen Standards der wissenschaftlichen Praxis genügt, und dann auch noch kritisch.“ 116
Somit schrecken die Theoretiker der neuen Marx-Lektüre auch nicht davor zurück, den
Frühsozialismus als wichtigste Quelle des Marxschen Telos der freien Assoziation in ihrer
Rezeption vollkommen außer Acht zulassen,117 sodass die Marxsche Methodologie
unentschlüsselbares Mysterium bleiben müsse.118 Während Marx‘ Methode grundsätzlich
als lineare Gedankenführung behandelt und nachvollzogen wird, eröffnen sich den Marx-

110
Bruhn, 2012b, Min 32:00.
111
Ebd.
112
Vgl. Heinrich, 2020, S. 120.
113
Vgl. Bruhn, 2012b, Min 13:36, 43:30 & 46:04 & Bruhn, 2012a, erster Absatz (unten).
114
Heinrich, 2005, S. 186- 192.
115
Bruhn, 2012b, Min 1:07:45.
116
Ebd., Min 21:50; vgl. auch Bruhn, 2012a, sechster Absatz.
117
Bei Heinrich finde sich sogar eine explizite Zurückweisung des utopischen Frühsozialismus als Quelle des
Marxschen Denken, indem Heinrich ihm lediglich die Rolle des Gegenstandes der Marxschen Kritik zuweist.
Gegenstand der Marxschen Kritik sei er insofern, dass er in seiner Kritik in „»bürgerlichen« Voraussetzungen“
verhaften bleibe. Dass Marx‘ kategorischer Imperativ, auf dessen Grundlage er kritisiert, selber auf dem
Wertekatalog der bürgerlichen französischen Revolution fußt, blendet Heinrich dabei aus (siehe dazu Heinrich,
2020, S. 383).
118
Vgl. u.a. Backhaus, 2018, S. 245, Heinrich, 2005, S. 48.
22
Rekonstrukteuren allerlei methodologische Probleme, die Bruhn zufolge keine sind.
Verfehlt werde dadurch das Zirkuläre des Marxschen Denkens, durch das er einerseits immer
wieder destruierend anstatt reproduzierend seinen eigenen Anfang einhole und andererseits
die spiralförmige Bewegung der Ökonomie einkreisen wolle. Dabei verfahre er gerade nicht
nach akademischer Methode von ‚Hypothese – Verifikation/Falsifikation – reproduzierbares
Resultat als Konsens‘, sondern entfalte den kategorischen Imperativ, wonach der Mensch
kein erniedrigtes, kein geknechtetes, kein verlassenes, kein verächtliches Wesen sein soll.119
Indem Marx dies nicht versuche zu begründen 120, sondern von Vornherein als evident
voraussetzt und dies dann „an den Scheußlichkeiten, die diese falsche und negative
Vergesellschaftung an sich hat und mit sich bringt“ illustriere, drücke sich ebenjener
Sollensbegriff aus, der nicht auf Moral sondern Vernunft setze, den er aus dem französischen
Frühsozialismus bezogen habe. 121
Die „gewaltsame Depotenzierung der Kritik zur Theorie“, wie Bruhn es nennt, liege
gerade darin, dass die Theoretiker der neuen Marx-Lektüre dem Marxschen Denken den
Max Weberschen Gegensatz von Tatsache und Werturteil unterschieben122 und damit nicht
nur eine Positivismuskritik in positivistische Wissenschaft verwandeln, sondern ihr die
Quintessenz der materialistischen Vernunft entziehen. Ignoriert werde, dass es sich bei Marx
um Kritik sans phrase handele und damit eine anti-akademische Aktion, die ihren Gegner
nicht widerlegen, sondern vernichten will: um eine Waffe und ihren Gebrauch, eben
Ideologiekritik.123 Stattdessen bringen die akademischen Marx-Rekonstrukteure eine
Bewegung zu Ende, um mit Bruhns Worten abzuschließen,

„die mit dem historischen Vorwort von Friedrich Engels zum Kapital begonnen hat, wo Engels das
Kapital eine Bibel der Arbeiterklasse genannt hatte. Heute, wo die Arbeiterklasse sich nicht mehr für
die Bibel interessiert, ist es eben zum Koran der Intellektuellen geworden, die sich endlos die
einzelnen Suren gegenseitig vorkauen.“124

Abschließende Bemerkungen
Aus dem bisher Angeführten lässt sich folgendes resümieren: Die neue Marx-Lektüre
zeichnet sich durch eine überaus gründliche Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk
wie auch dessen Erbe aus. Die Ansätze stellen den Versuch dar, die Werke von Marx und
Engels und insbesondere deren traditionelle Rezeption in ihrer Gesamtheit und dennoch
detailliert kritisch zu reflektieren. Ungereimtheiten, Widersprüche und Lücken sollen

119
Vgl. Bruhn, 2012b, Min. 27:11.
120
Vgl. Backhaus, 2018, S. 422.
121
Vgl. Bruhn 2012b, Min. 27:35.
122
Vgl. Heinrich, 2020, S. 380; Elbe, 2010, (bspw.) S. 549, 562 & 568 f., 572.
123
Vgl. Bruhn, 2012b, Min. 22:02.
124
Vgl. ebd., Min. 12:10 & Bruhn, 2012a, vierter Absatz (oben).
23
aufgearbeitet und so zu neuen Erkenntnissen gelangt werden. Die Akribie, mit der sie dieser
umfassenden Aufgabe nachgehen, ist nicht nur beeindruckend, sondern zudem unter
wissenschaftlichen Gesichtspunkten herausragend und bedeutsam. Es ist einleuchtend,
warum die Beschäftigung mit der Wertformanalyse ein zentrales Moment darstellt: Die
bisherige Rezeption spaltet sich in ihren Grundzügen in einen ökonomischen und einen
philosophischen Ansatz. Ersterer setzte sich zwar intensiv mit der Wertformanalyse
auseinander, wies jedoch nicht selten eine mangelhafte Berücksichtigung von Marx‘
dialektischer Methode auf. Der philosophische Strang mied dagegen eine
Auseinandersetzung mit der Wertformanalyse, dem Kernstück des Marxschen Spätwerks.
Die neue Marx-Lektüre beansprucht, diese Lücke zu füllen. Fraglich ist jedoch, ob sie
diesem Anspruch auch gerecht wird.
Es ist nicht zu leugnen, dass der lebhafte Diskurs, der von der neuen Marx-Lektüre
ausgeht, spannend und teilweise aufschlussreich ist. Nicht nur liefert er eine umfangreiche
Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext der MEW, sondern diskutiert auch die
Bedeutung zentraler Begriffe unter teils neuen Aspekten, die sich beinahe nahtlos in das
Gesamtgebilde der neuen Marx-Lektüre einfügen. Das wirkt zunächst sehr überzeugend.
Doch muss man gar nicht so weit gehen wie Bruhn, um der neuen Marx-Lektüre eine
gewisse Blindheit gegenüber der eigenen Befangenheit in den von ihr kritisierten Punkten
vorwerfen zu können: Elbe schreibt es sich zwar groß auf die Fahne, mit dem Mythos der
Unantastbarkeit Marx‘ und Engels‘ abzurechnen, scheint jedoch auf Biegen und Brechen
jegliche kritische Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk vor dem Hintergrund des
Realsozialismus oder auch des Nationalsozialismus abwenden zu wollen. Es ist keineswegs
falsch, sich kritisch mit der Rolle Engels‘ auseinander zu setzen. Dass jedoch das kritische
Potenzial, welches bei Backhaus‘ Auseinandersetzung mit Engels noch deutlich vorhanden
war, Elbe so vollkommen abhandengekommen ist, lässt Elbes ‚Engelsismus‘ eher als
verzweifelten Rettungsversuch des Marxschen Werks erscheinen. Dabei treibt eine
tatsächlich kritische Reflektion die Marxsche Kritik keinesfalls in den Ruin, sondern könnte
doch gerade aus Marxscher Sicht als überaus produktiv und fruchtbar erachtet werden, ja,
der Kritik erst wieder zu neuer Aktualität verhelfen.
Ähnliche Kritik lässt sich an Heinrich äußern: Obwohl er sich an anderer Stelle ausgiebig
gegen einen Marxismus als Weltanschauung ausspricht,125 verwandelt er die Marxsche

125
Vgl. Heinrich: „Weltanschauungsmarxismus oder Kritik der politischen Ökonomie?“ Replik auf Martin
Birkner, Der schmale Grat (grundrisse 1/2002), S. 26 & Heinrich: "Weltanschauung oder Strategie? Über
Dialektik, Materialismus und Kritik in der Kritik der politischen Ökonomie." Kritik und Materialität,
Westfälisches Dampfboot, Münster, 2008, Abschnitt „Materialismus“, 2. & 3. Absatz.
24
Kritik in eine lückenlose Wirtschaftstheorie und liefert somit lediglich eine alternative
rationale Erklärung der ökonomischen Zusammenhänge, die Marx als widersprüchlich und
irrational kritisierte. Zwar verweist er selbst darauf, dass es sich bei Marx‘ Begriff des
Fetischismus nicht einfach um ein Missverständnis handele, welches es aufzuklären gilt. 126
Und dennoch scheint er genau dies zu intendieren. Vor diesem Hintergrund ist es schwer
verständlich, woher der Anspruch kommt, jegliche Lücken in Marx‘ Kritik systematisch
schließen zu wollen.
Backhaus scheint einen angemesseneren Ansatz zu verfolgen: Der Ausgangspunkt ist
zwar ein ähnlicher – im traditionellen Marxismus unhinterfragte Dogmen werden
aufgedröselt –, als Ergebnis liefert er jedoch keine Katharsis, lässt stattdessen einiges offen.
Da seine teils spekulative Analyse dies auch zwingend tun muss und weil er sich eher mit
dem Kontext befasst, in dem sich das Marxsche Werk bewegt, erscheint sein Ansatz zwar
weniger progressiv als Elbes oder Heinrichs. Der Wert seiner stattdessen in die Breite
gehenden und äußerst interessanten Reflektion ist dennoch nicht zu missachten,
insbesondere weil er sich vor dem Hintergrund der Marxschen Kritik mit traditionellen wie
auch aktuelleren Diskursen innerhalb der konventionellen Wirtschaftswissenschaften
auseinandergesetzt und Bezüge zu Georg Simmels Theorie des Geldes herausgearbeitet
hat.127
So wird durch alle drei Ansätze auf verzweifelte bis ratlose Weise deutlich, dass es sich
bei der neuen Marx-Lektüre um einen post-Marxistischen Ansatz handelt: Die Einschnitte
des 20. Jahrhunderts sind von so grundsätzlicher Relevanz, dass sie auch am Marxschen
Werk nicht bloß peripher vorüberziehen können. ‚Wie nun also damit umgehen, wo alles
Praktische potenziell fatal und alles Theoretische zu belanglos erscheint?‘ ist die Frage, die
Elbe fast neurotisch zu klären, Heinrich zu umgehen sucht und Backhaus auf dafür
fruchtbarere Zeiten vertagt.

126
Heinrich, 2005, S. 69.
127
Siehe dazu Backhaus, 2018, S. 303 ff. und auch Backhaus: „Zum Problem des Geldes als Konstituens
oder Apriori der ökonomischen Gegenständlichkeit.“, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische
Sozialwissenschaft, 16 (63), 1986.
25
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