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Zum Zusammenhang von Fetischismus, Entfremdung

und Ideologie bei Marx

Von t H O M A S MARXHAUSEN (Halle)

Die Sicherung des Friedens und damit die Gewinnung aller friedliebenden Kräfte
zum Zusammenschlug in einer Koalition der Vernunft sowie die Mobilisierung der
Werktätigen unseres Landes zur weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen
Gesellschaft verpflichten dazu, ein höheres Niveau, eine größere Ausstrahlung und
Wirksamkeit in der ideologischen Arbeit zu erreichen. 1 Das erfordert einen lebendi-
gen Kontakt zwischen der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung, der Lehre des
Marxismus-Leninismus und der Propagandatätigkeit. Dabei ist zu beachten: „Die
Theorie (des Marxismus-Leninismus - Th. M.) darf bei aller Geschlossenheit auch
nicht für abgeschlossen gehalten werden, sondern mufj in Aufarbeitung der Erfah-
rungen, wie sie sich in der politischen Praxis ergeben, weiterentwickelt werden . . .
Weiterentwicklung der Theorie heißt: Vergewissernder Rückgang in ihre Begrün-
dungssituation." 2
Ein solches Vorgehen trägt dazu bei, Gleichzeitigkeit und Einheitlichkeit der Ent-
stehung und Entwicklung der drei Bestandteile des Marxismus-Leninismus bewufjt-
zumachen. 3 Es wirkt der Tendenz entgegen, Problemfelder in Einzelprobleme zu
zerlegen, die ohne oder mit nur unzureichendem Verweis auf den Gesamtzusammen-
hang behandelt werden. Die Darstellung von Fetischismus, Entfremdung und Ideolo-
gie in der massenwirksamen gesellschaftswissenschaftlichen Literatur (wie ζ. B. in
Lehrbüchern) ist dafür ein Musterfall. Deshalb verstehen sich die folgenden Aus-
führungen als ein Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion der Beziehungen von
Entfremdung und Fetischismus, und sie möchten die Lehrenden auf einen theoreti-
schen und theoriegeschichtlichen Zusammenhang aufmerksam machen, der m. E. zu
selten herausgestellt wird.

Zum Zusammenhang von Fetischismus und. Entfremdung

1984 fand an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED


eine interdisziplinäre wissenschaftliche Diskussion zum Inhalt und zur Funktion des
Entfremdungsbegriffs im Marxschen Werk statt. Die Autoren des Referates orien-
tierten darauf, „die Frage zu beantworten, welchen Platz er (der Entfremdungs-
begriff - Th. M.) im Theoriegebäude des historischen Materialismus einnimmt. Es
geht also darum, ,Entfremdung' als einen Begriff des historischen Materialismus auf-
zufassen und ihn inhaltlich zu bestimmen.'"· Auf diese Anregung reagierten die zehn

1 Vgl. E. Honecker: Die Aufgaben der Parteiorganisationen bei der weiteren Verwirk-
lichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED. Berlin 1987. S. 97 f.
2 F. To'mberg: Begreifendes Denken. Berlin 1986. S. 25
:l Vgl.: Theorie der Revolution. AK-Leiter: R. Bauermann. Berlin 1986
Λ Η. Drohla/S. Heppener/H. Pötzscher: Zum Marxschen Entfremdungsbegriff, seiner
Herausbildung, seinem Inhalt und seinem Plate im Marxschen Denken. In: Thematische
Information und Dokumentation (im folgenden TID). Reihe B. Heft 50. Berlin 1985.
S. 6 f.

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Diskussionsteilnehmer in unterschiedlicher Weise; zwei sprachen sich direkt dagegen
aus, „Entfremdung" in das „Kategoriensystem" der marxistisch-leninistischen Philo-
sophie aufzunehmen.·'
Im Konferenzreferat wurde zu Recht betont, dafj die Wirkung der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse auf die Produzenten und das Verhältnis der Menschen zu
den objektiven Wirkungen ihres gesellschaftlichen Handelns von verschiedenen
Kategorien bzw. Begriffen - „Ausbeutung", Spontaneität", „Entfremdung", „Waren-
fetischismus" - erfafjt werden, die jeweils nur einzelne Seiten dieses Gesamtkom-
plexes widerspiegeln. Die Untersuchung der Beziehungen von Warenfetischismus
und Entfremdung mufj von Marx' Reproduktionstheorie und damit von seiner Er-
kenntnis ausgehen, dafj Produktion, Distribution, Zirkulation und Konsumtion Glie-
der einer dialektischen Einheit sind, in der die Produktion übergreift. 6 Die Autoren
schlufjfolgerten: Der Entfremdungsbegriff diente im „Kapital" dazu, bestimmte
Aspekte der antagonistischen Beziehungen von Individuum und Gesellschaft zu
erfassen, die mit solchen Kategorien wie Ausbeutung oäer Spontaneität nicht zu
charakterisieren sind. Denn der Begriff der Entfremdung erfafjt die für den Produ-
zenten als unterjochende und deformierende Herrschaft der vergegenständlichten
Arbeit fühl- und erfahrbaren Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsverhält-
nisse: das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital und die dem Kapitalismus wesens-
eigene Trennung des Produzenten von den unmittelbaren Bedingungen seiner pro-
duktiven Tätigkeit . . . Die Bedeutung und den Inhalt des Entfremdungsbegriffs
sehen wir also darin, dafj er ein Moment der kapitalistischen Produktionsverhältnisse
erfafjt, ihre unmittelbare Wirkung auf den Produzenten und dessen Entwicklung als
Individualität."7
Es steht fest, dafj Marx mit „Entfremdung der Arbeit" im 'Frühwerk wie im „Kapi-
tal" Sachverhalte der kapitalistischen Gesellschaft untersuchte. Autoren und Dis-
kussionsteilnehmern ist zuzustimmen, dafj- der Marxsche Entfremdungsbegriff nicht
auf den Sozialismus angewendet werden kann. 8
Wichtig ist aber der Gedanke von H. Schliwa, dafj das Phänomen Entfremdung
nicht ausschließlich an die kapitalistische Warenproduktion und den Verwertungs-
prozefj zu binden, sondern in den Begriffsinhalt die nichtbeherrschte Vergesellschaf-
tung in der sozialen, ökonomischen und politischen Sphäre aufzunehmen. sei.9 Diese
Orientierung erscheint um so berechtigter, als im Referat neben der zitierten Be-
stimmung, Entfremdung charakterisiert ein Moment der Produktionsverhältnisse, wie-
derholt formuliert wurde, dafj der Entfremdungsbegriff in den „Grundrissen" und im
„Kapital" ein allgemeiner Ausdruck der Herrschaft des Kapitalverhältnisses „in der
Produktion" bzw. „im Produktionsprozeß" sei. 10
Die Autoren werteten die Sätze im „Kapital" aus, in denen Marx darstellte, da§ der

' 5 Vgl. R. Bauermann: Zur Stellung des Entfremdungsbegriffs in der marxistisch-leni-


nistischen Theorie. In: TID. Reihe B. Heft 50. S. 87 f.; B. Rothe: Einige Bemerkungen
zum Entfremdungsbegriff bei Marx aus der Sicht der Philosophie und der politischen
Ökonomie. In: TID. Reihe B. Heft 50. S. 99. Fu§n. 3
6 Vgl. H. Drohla/S. Heppener/H. Pötzscher: Zum Marxschen Entfremdungsbegriff
A. a. O. S. 20
7 Ebd. S. 26

8 Vgl. ebd. S. 2 7 ; I. S. Narski: Das Problem der Entfremdung bei der Herausbildung und

Entwicklung der Lehre von Karl Marx und einige unserer gegenwärtigen Probleme. In:
TID. Reihe B. Heft 50. S. 58 ff.; H. Luft: Überwindung von Entfremdung und Anonymi-
tät durch die sozialistische Planwirtschaft. In: TID. Reihe B. Heft 50. S. 67 ff.; W. He-
deler: W. I. Lenin : Über die Aufhebung der Entfremdung. In: TID. Reihe Β Heft 50
S. 101 ff.
9 Vgl. H. Schliwa: Entfremdung als Ausdruck nichtbeherrschter Vergesellschaftung. In:
TID. Reihe B. Heft 50. S. 62 ff.
10 Vgl. H. Drohla/S. Heppener/H. Pötzscher: Zürn Marxschen Entfremdungsbegriff
A. a. O. S. 21, 23 f.

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Lohnarbeiter mit der Produktion und Reproduktion des Kapitals eine ihm fremde,
beherrschende Macht selbst produziert, er somit seiner Arbeit uiid ihren geistig.en
Potenzen entfremdet ist." Sie bestimmten „Entfremdung" als Erfahrungen, die die
Arbeiter bei ihrer Arbeitstätigkeit, sozusagen in der Werkhalle, machen. Aus dieser
Diktion der Problembehandlung könnte geschltißfolgert werden: Alle anderen Werk-
tätigen, die nicht im unmittelbaren Produktionsprozeß beschäftigt sind, und die.
Arbeitslosen sind von der Entfremdung nicht betroffen. Zu dieser unzulässigen
Schlußfotgerung kann es nur kommen, wenn man übersieht erstens, daß Marx hier
aus Gründen der logischen Darstellung nur auf die Beziehungen Kapitalist - Lohn-
arbeiter im Produktionsprozefj des Kapitals einging und deshalb auch keinp Aussagen
zu allen in den kapitalistischen Reproduktionsprozeß einbezogenen Werktätigen
machte, und zweitens, dafj im „absoluten, allgemeinen Gesetz der kapitalistischen
Akkumulation" (das von den Autoren ignoriert wurde) als Kern zunehmenden Elends
der Arbeiterklasse die Wechselwirkung von Arbeitsqual unc} Arbeitslosigkeit heraus-
gestellt ist.12 Der Versuch, „Entfremdung" als Begriff des historischen Materialismus
zu bestimmen, kann sich m. E. nicht auf die Auswertung von drei oder fünf Sätzen
im „Kapital" beschränken, in denen davon verbal die Rede ist, sondern diese Sätze
sollten als ein Impuls zum produktiven Weiterdenken verstanden werden, die „unter-
jochende und deformierende Herrschaft der vergegenständlichten Arbeit"13 als so-
ziales Phänomen zu erfassen, dem alle' Ausgebeuteten ausgesetzt sind. (Diese Herr-
schaft ist gegenüber den Arbeitslosen sogar absolut, weil sie diese vom Arbeitsprozeß
ausschließt.)
Dafj die Autoren unter der Hand mit einem zweiten Entfremdungsbegriff operie-
ren, wird bei der Bestimmung des Warenfetischismus sichtbar. Dazu heißt es: „Marx
charakterisierte also im .Kapital' den Warenfetischismus als ein dem Widerspruch
von privater und gesellschaftlicher Arbeit entspringendes objektives Verhältnis, das
in der Zirkulationssphäre als Verkehrung von Subjekt und Objekt, als Herrschaft
des Produkts über den Produzenten erscheint. In diesem Sirine stellt sich der Waren-
fetischismus als ein wesentliches Moment der Entfremdung dar, die durch die kapi-
talistischen Verhältnisse in der Zirkulation entsteht und durch diese ständig reprodu-
ziert wird . . . Die Theorie des Warenfetischismus erfafjt jedoch nicht alle gesell-
schaftlichen Erscheinungen, die Marx 1844 unter dem Begriff der entfremdeten Arbeit
subsumierte. Sie ist deshalb hinreichend zur Charakterisierung gesellschaftlicher Ver-
hältnisse des Kapitalismus als entfremdete im Bereich der Zirkulation, das heißt dann,
wenn Mystifikationen bezeichnet werden, deren objektiver Ursprung in der Zirku-
lation liegt. Sie reicht aber nicht aus - und wird von Marx auch nicht benutzt
wenn es um entfremdete Arbeit, um Entfremdung im Produktionsprozeß geht."1'1
Es gibt somit „Entfremdung" im unmittelbaren Produktionsprozeß und in der Zirku-
lation; letztere wurde von Marx mit „Warenfetischismus" bezeichnet. Damit wird
„Warenfetischismus" als eine Artikulation einer Produktion und Zirkulation umfas-
senden, allgemeinen, aber von den Autoren substantiell nicht bestimmten Entfrem-
dung verstanden.
Mit der Darstellungsmethode des „Kapitals" realisierte Marx unter anderem das
Prinzip des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten. In diesem Prozeß entfalten
sich definitorische An- und Einsätze zu Theorien und Begriffe zu Kategorien. Das
gilt auch für „Fetischismus", „Fetischcharakter der Ware" oder „Fetischcharakter der
Warenwelt", wie Marx das Problem bezeichnete.15 Die Warenform, deren Fetisch-

11 Vgl. K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. In: MEW. Bd. 23. S. 596, 674; H. Drohla/S. Heppener/
H. Pötzscher: Zum Marxschen Entfremdungsbegriff . . . A. a. O. S. 24 f.
12 Vgl. K. M a r x : Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 673 ff.
13 H. Drohla/S. Heppener/H. Pötzscher: Zum Marxschen Entfremdungsbegriff . . . A. a. O.
S. 24
14 Ebd. S. 22 f.
15 Vgl. K. M a r x : Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 87

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Charakter enthüllt wird, ist die Form aller im „Kapital" behandelten ökonomischen
Verhältnisse. Die Ausführungen zürn Fetischcharakter der Ware im 1. Kapitel des
ersten Bandes des „Kapitals" - von denen die Autoren ausgehen - beinhalten somit
zweierlei: Erstens wird das Wesen der Versachlichung gesellschaftlicher Verhältnisse
im kapitalistischen Reproduktionsprozefj als Totalität („ontologisch" und gnoseolo-
gisch) dargestellt und zweitens die Versachlichung auf der Abstraktionsebene von
Ware und Wert (der einfachen Zirkulation als abstrakter Sphäre der kapitalistischen
Produktionsweise) charakterisiert.
Bei Aufsteigen vom Abstraktem zum Konkreten defetischisierte Marx die kapi-
talistischen ökonomischen Verhältnisse. Das Ergebnis dieses Vorgangs wurde im
letzten Abschnitt des dritten Bandes des „Kapitals" zusammengefafjt und - auf der
Abstraktionsebene der dialektischen Einheit von Produktions- und Distributionsver- ·
hältnissen - abgeschlossen. Im Mittelpunkt dieser Ausführungen steht die kritische
Analyse der Produktionsfaktorentheorie. Nach dieser sind an jeder Gütererzeugung
die drei Faktoren Kapital, Erde und Arbeit beteiligt, deren Besitzer f ü r die „Leistung"
ihrer Faktoren einen entsprechenden Wertanteil am Produkt - Profit (Zins), Grund-
rente und Arbeitslohn - zu beanspruchen haben. Somit werden die Momente des
Produktionsprozesses in der Distributionssphäre in Revenuequellen verwandelt, denen
die Revenueformen „entspringen".
Hier erbrachte M a r x den Nachweis, da§ die kapitalistischen Produktionsverhält-
nisse in der Distributionssphäre als mechanisches Aggregat von Revenuequellen und
-formen erscheinen. Dieser Schein ist insofern objektiv, als Kapital- sowie Boden-
besitz und Arbeitsleistung ihren Eigentümern jahraus und jahrein ein Einkommen
abwerfen. 1 6 Die dialektische Identität von Produktions- und Distributionsverhält-
nissen präsentiert sich als sachlicher Schein: Kapital als Produktionsverhältnis wird
rein dinglich mit bearbeitetem Boden gleichgesetzt; Ausbeutung und kapitalistische
Lohnarbeit sind verschwunden; die drei Revenueformen erscheinen als Verteilungs-
kategorien. 1 7 Zugleich entquillt auf geheimnisvolle Weise toten Dingen wie Produk-
tionsmitteln und Erde Wert und Mehrwert. 1 8 Marx resümierte in diesem Zusammen-
hang die wichtigsten der die drei Bände des „Kapitals" durchziehenden Mystifika-
tionen, 1 9 und er skizzierte an Hand einer Gegenüberstellung von klassischer Ökono-
mie und Vulgärökonomie die in den „Theorien über den Mehrwert" detailliert aus-
gewiesenen Spezifika der bürgerlichen ökonomischen Denkweise in Theorie und All-
tagsbewufjtsein. 2 0
Aus all dem läfjt sich verallgemeinern: Fetischismus und Entfremdung sind zwei
Phänomene der der kapitalistischen Produktionsweise als Totalität wesenseigenen
Verkehrung von Subjekt und Objekt. Mit „Fetischismus" wird der objektive Schein
und seine Reflexion im Bewufjtsein bezeichnet, nach denen Produkte als gesellschaft-
liche Wesen agieren. „Entfremdung" bringt das subjektive Empfinden dieser Ver-
kehrung zum Ausdruck. So gesehen bezeichnen „Entfremdung" und „Fetischismus"
verschiedene Aspekte eines komplexen Phänomens, wobei jeder Aspekt je nach der
Sphäre, der die Aufmerksamkeit gilt, zergliedert werden k a n n : Waren-, Geld- und
Kapitalfetischismus usw.; Entfremdung der Arbeit, die die Werktätigen als Arbei-
tende und Lohnabhängige erfahren, oder Entfremdung des gesellschaftlichen Zu-
sammenhangs durch seine sachliche Vermittlung.
16
Vgl. K. Marx: Das Kapital. 3. Bd. In: MEW. Bd. 25. S. 829 f.
17
„. . . die angeblichen Quellen des jährlich disponiblen Reichtums . . . verhalten sich
gegenseitig etwa wie Notariatsgebühren, rote Rüben und Musik." (K. Marx: Das Kapi-
tal. 3. Bd. A. a. O. S. 822
18
Vgl. ebd. S. 824, 829 f., 889 f.
19
Vgl. ebd. S. 835 ff.
20
Vgl. ebd. S. 838 f. - Marx verweist sogar auf die Versachlichung in der Weltmarkt-
bewegung des Kapitals, deren Behandlung allerdings außerhalb des Themenkreises des
„Kapitals" liegt. Vgl. ebd. S. 838

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Zur Bedeutung der Theorie des Fetischismus iiir die marxistische Ideologiekritik

Die wissenschaftliche, marxistisch-leninistische Ideologietheorie macht seit langem


auf die Bedeutung der Theorie des Fetischismus für das Ideologieproblem aufmerk-
sam und hat die Grundzüge der bürgerlichen Ideologie sowie ihre Spezifik im impe-
rialistischen Stadium des Kapitalismus herausgearbeitet. 21 Untersuchungen zur Ge-
schichte des Ideologiebegriffs verdeutlichten dessen semantische Entwicklung vomv
Ende des 18. Jh. über den Begriffsinhalt bei Marx und Engels bis zum Leninismus. 2 '
Die folgenden Ausführungen schliefen daran an; sie konzentrieren sich auf einen
Gesichtspunkt des Zusammenhangs von Fetischismus und Ideologie im Marxschen
Werk, den jüngste Forschungsergebnisse prononcierter herausstellten, als das bisher
der Fall war.
Mit der Theorie des Fetischismus enthüllte Marx im „Kapital" den „gedoppelten"
oder zweifachen Charakter der Verkehrung: gesellschaftliche Produktionsverhältnisse
wie Wert oder Kapital erlöschen im Arbeitsprodukt, das aber die unheimliche Quali-
tät besitzt, sozialökonomische Beziehungen einzugehen. T. Tairako weist m. Ε als
erster darauf hin, da§ sich Marx dieser doppelten Verdrehung nicht nur bewufjt war
(das ist bekannt), sondern sie auch mittels „Verdinglichung" und „Versachlichung"
begrifflich exakt voneinander abhob. Seine Analyse geht vom bereits angeführten
letzten Abschnitt des dritten Bandes des „Kapitals" aus, wo Marx die Entfaltung des
Fetischismus zusammenfalte: „Im Kapital - Profit, oder noch besser Kapital - Zins,
Boden - Grundrente, Arbeit - Arbeitslohn, in dieser ökonomischen Trinität als dem
Zusammenhang der Bestandteile des Werts und des Reichtums überhaupt mit seinen
Quellen ist die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verding-
lichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der
stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit voll-
endet: die ve.rzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le
Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere, und zugleich unmittelbar als
bloße Dinge ihren Spuk treiben." 23
Daraus wird von Tairako der Schlug gezogen: „„Unter Verdinglichung versteht
Marx daher das unmittelbare Zusammenwachsen der Momente des Arbeitsprozesses
überhaupt mit der spezifischen konkret historischen gesellschaftlichen Bestimmtheit,
welche die kapitalistische Produktion charakterisiert, oder allgemeiner gesagt, das
Zusammenwachsen des Stoffs mit der Form und aufgrund dessen das Verschwinden
der Formbestimmung als solcher." 24 „ .Versachlichung' bezeichnet den Prozefj, worin
sich die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen zueinander von den Personen
loslösen und verselbständigen und als gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen zu-
einander erscheinen." 25 Tairakos Argumentation ist logisch schlüssig und wird durch
Ausführungen von Marx belegt, in denen das Fetischismus-Problem in konzentrier-
ter Weise behandelt ist. Dafj Marx diese terminologische Differenzierung nicht immer,
wenn er die Worte „sachlich" oder „dinglich" verwandte, durchhielt, spricht keines-
wegs gegen die angeführte Schlugfolgerung, dafj „Verdinglichung" und „Versach-
lichung" zwei spezifische Aspekte des Fetischismus benennen. Welche ideologieana-
lytischen Konsequenzen ergeben sich daraus?
21
Vgl. W. Heise: Aufbruch in die Illusion. Berlin 1964. S. 216 ff.; E. Hahn·. Ideologie.
Berlin 1969. S. 25 ff.
22
Vgl. H.-Ch. Rauh: Zur Herkunft, Vorgeschichte und ersten Verwendungsweise des
Ideologiebegriffs bei Marx und Engels bis 1844. In: DZfPh. Heft 6/1970; H.-Ch. Rauh:
Ideologietheorie heute. In: DZfPh. 8/1980
23
K. Marx: Das Kapital. 3. Bd. Α. ε. Ο. S. 838
24
Τ. Tairako: Der fundamentale Charakter der Dialektik im „Kapital" von Marx. Zur
„Logik der Verkehrung". In: Marxistische Dialektik in Japan. Hrsg, v. S. Bönisch .u. a.
Berlin 1987. S. 111; vgl. auch T. Tairako: Versachlichung und Verdinglichung in ihrer
Beziehung zur Hegeischen Dialektik. Zur Erschließung der Logik der Verkehrung. In:
Hokudai Economic Papers. Vol. XII. 1982-83. S. 65 ff.
25
T. Tairako: Der fundamentale Charakter . . . A. a. O. S. 111

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Mit „Ideologie" bezeichneten Marx und Engels die Formen des Bewufjtseins, in
denen „die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den
Kopf gestellt erscheinen."26 Die materielle 'Ursache dieser Verkehrung ist das Privat-
eigentum an den Produktionsmitteln und die diesem entsprechende Arbeitsteilung,
vornehmlich die bis zum Antagonismus erfolgte Separierung der geistigen von der
körperlichen Arbeit. „Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewufjtsein wirklich
einbilden, etwas Andres als das Bewufjtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich
etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen - von diesem Augenblicke an
ist das Bewufjtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der
,reinen' Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen."27
Daraus folgt, dafj Marx und Engels - bezogen auf die kapitalistische Gesell-
schaft - „Ideologie" nicht schlechthin mit „bürgerlichem Bewufjtsein" identifizierten,
sondern unter den Ideologie-Begriff idealistisch-spekulatives Denken als einen
Grundzug des bürgerlichen Bewufjtseins subsumierten. Deshalb ist bei ihnen von
einer „ökonomischen Ideologie" auch keine Rede.28 Mit jder Analyse des Fetischis-
mus enthüllte Marx die Eigentümlichkeit des bürgerlichen ökonomischen Denkens -
als Alltagsbewußtsein und in theoretischer Form - , ohne selbst „ideologisch" zu sein,
wesentlich zur Ausprägung und Reproduktion der im Kapitalismus herrschenden
Ideologie (in seinem Begriffsverständnis) beizutragen.
In den „Grundrissen" formulierte Marx: „Der grobe Materialismus der Oekono-
men, die gesellschaftlichen Productionsverhältnisse der Menschen und die Bestim-
mungen, die die Sachen erhalten, als unter diese Verhältnisse subsumirt, als natür-
liche Eigenschaften der Dinge zu betrachten, ist ein ebenso grober Idealismus, ja
Fetischismus, der den Dingen gesellschaftliche Beziehungen als ihnen immanente
Bestimmungen zuschreibt und sie so mystificirt."29 Insoweit die bürgerlichen Ökono-
men die Verdinglichung reflektieren, entwickeln sie ein empirisches Denken, und
in dem Mafje, wie sie sich auf die Versachlichung konzentrieren, wird die sozial-
ökonomische Wirklichkeit mystifiziert. Die ideelle Auflösung des kapitalistischen
Produktionsprozesses in einen Arbeitsprozefj führt zur Erkenntnis der grundlegen-
den und bestimmenden Rolle der Arbeit für die kapitalistische Produktion und Kapi-
talverwertung. Zugleich aber wird Kapital als „arbeitendes", sich „selbst verwerten-
des" „Ding" mystifiziert. Dieser in sich ambivalente Erkenntnisvorgang ist ein imma-
nentes und grundlegendes Moment der „metaphysischen Denkweise", wie Engels
(wohl in Anlehnung an Hegels Kritik des „metaphysizierenden Empirismus"30) die
„spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte" bezeichnete: ein undialektisches
und ahistorisches Denken, das an der Erfassung dialektischer Beziehungen scheitert
und in die Mystifikation des Gegebenen flüchtet.31 Engels skizzierte dieses Denken
mit ironischen Seitenhieben zum Spiritismus führender englischer Naturwissenschaft-

26 K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. In: MEW. Bd. 3. S. 26


27 Ebd. S. 31
28 In den seltenen Fällen, in deneh .Marx von der „Ideologie" der bürgerlichen Ökonomen
sprach, meinte er nicht die strikt ökonomischen Theorien, sondern die von den Öko-
nomen vertretenen philosophischen und juristischen Anschauungen, die der Natur-
rechtsvorstellung entlehnt, direkt oder potentiell den Kapitalismus apologetisierten. Vgl.
K. Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Frankfurt a. M. 1969. S. 133;
K. Marx: Das Kapita]. 1. Bd. A. a. O. S. 792 - Es ist auch charakteristisch, dafj Marx
bei einem kritischen Vergleich der Werttheorien von Ricardo und Destutt de Tracy die
„Elements d'ideologie" des letzteren zitierte, es ihm aber nicht einfiel, die offenkundi-
gen Mängel beider Werttheorien mit „Ideologie" zu bezeichnen. Vgl. ebd. S. 94
Fufjn. 31
29 K. Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/58. In: MEGA. 2. Abt. Bd. 1.2. S. 567
30 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. 3. Bd. Leipzig 1982.
S. 270
31 F. Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: MEW. Bd. 20.
S. 20

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ler hin. In Analogie zu seiner Formulierung „Naturforschung in der Geisterwelt"3-'
kann man von einer „Geisterseherei in der bürgerlichen Ökonomie" sprechen. Marx
tut das auch, und zwar im Umkreis der von ihm gebildeten Analogie zwischen Feti-
schismus und Religion.
Den Begriff „Fetischismus" entlehnte Marx bereits am Anfang der 40er Jahre dem
herrschenden religionswissenschaftlichen Sprachgebrauch, 33 demzufolge darunter der
Glaube an die Machtgeladenheit sakraler Gegenstände zu verstehen und der Fetisch-
Kult (oder: Fetisch-Dienst) als Ur- und Grundform jeder Religion aufzufassen war.
Neuere Forschungen haben diese Auffassung nicht bestätigt. Für unsere Unter-
suchung ist es wichtig, dag Marx die damalige Anschauung: Fetischismus ist der
Wesenskern jeder Religion, teilte. Denn so besag der Begriff für ihn ein semanti-
sches Grundmuster, das ihn geradezu prädestinierte. Verkehrung auch außerhalb der
religiösen Sphäre zu bezeichnen bzw. zu analogisieren.
Marx probierte das bereits in Artikeln in der „Rheinischen Zeitung", indem er den
Kult um politische Körperschaften bzw. den gegenständlichen Privatbesitz mit einem
Fetisch-Dienst verglich.:>/' In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" fun-
gierte „Fetischismus" schon zur Kritik der bürgerlichen Ökonomie. Marx bezeichnete
mit dem Begriff den Kult der Monetaristen und Merkantilisten um den gegenständ-
lichen, sinnfälligen Reichtum in Gestalt von Edelmetall (-Geld). 35 Dieser Ansatz wurde
in der reifen ökonomischen Theorie verallgemeinert. Jetzt diente „Fetischismus" dazu,
die bürgerliche ökonomische Denkweise zu typisieren. 36 Schließlich wurde er ein-
gesetzt, die der privaten Warenproduktion und vornehmlich der kapitalistischen Pro-
duktionsweise eigene Versachlichung und Verdinglichung zu charakterisieren, ohne
dag der vorgenannte - gnoseologische - Begriffseinsatz aufgegeben wurde; vielmehr
verschmolzen beide miteinander.37
Marx transformierte „Fetischismus" aus der Naturreligion in die Kritik der politi-
schen Ökonomie. Dabei wurde der Begriffsinhalt bis auf jenen semantischen Kern
„entideologisiert", durch den die Analogie zwischen Fetischismus und Religion ge-
sichert blieb. In beiden Fällen agieren menschliche Produkte als „mit eignem Leben
begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige
Gestalten" 38 . Es handelt sich dabei um eine sogenannte Proportionalitätsanalogie, mit
der die Existenz voneinander unabhängiger Relationen, zwischen denen Verschieden-
heit und Übereinstimmung besteht, abgebildet wird. 39
Fetischismus - Religion fungiert im reifen ökonomischen Werk von Marx als ein
Topos, um den ein breites Wortfeld gruppiert ist (Zauber, Magie, Spuk, irrationale

32 Vgl. F. Engels: Dialektik der Natur. In: MEW. Bd. 20. S. 337 ff.
33 Vgl. K. M a r x : Exzerpte aus Charles De Brosses: Ueber den Dienst der Fetischgötter,
und aus Karl August Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. In: MEGA. 4. Abt. Bd. 1.
S. 320 ff.
3 4 Vgl. K. M a r x : Die Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags. 1. Artikel. Debatten
über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen. In: MEGA.
1. Abt. Bd. 1. S. 135; K. M a r x : Der leitende Artikel in Nr. 179 der „Kölnischen Zei-
tung". In: MEGA. 1. Abt. Bd. 1. S. 176 f.
3 5 Vgl. K. M a r x : ökonomisch-philosophische Manuskripte. Erste Wiedergabe. In: MEGA
1. Abt. Bd. 2. S. 257, 259
3 6 Vgl. K. M a r x : Ökonomische Manuskripte 1857/58. A. a. O. S. 567; K. M a r x : Resultate
des unmittelbaren Produktionsprozesses. S. 10 f.; K. M a i x : Das Kapital. Kritik der
politischen Ökonomie. 1. Bd. Hamburg 1867. In: MEGA. 2. Abt. Bd. 5. S. 50. K. M a r x :
Das Kapital. 2. Bd. In: MEW. Bd. 24. S. 2 2 8 ; K. M a r x : Das Kapital. 1. Bd. A. a. ö .
S. 97
3 7 Vgl. K. M a r x : Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 1. Bd. Hamburg 1867.
A. a. O. S. 637; K. Marx:-Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 8 6 f .
3 8 K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 86

3 9 Vgl. H. J. Sandkühler: Historischer Materialismus und die Analogie von Natur und
Gesellschaft. In: DZfPh. Heft 1/1979. S. 32

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Form, Mystifikation, Mystizismus, Verrücktheit, Mystik usw.40), mit dem Magie,
Mystizismus und Wahnsinn assoziiert werden.
Die dem Fetischismus eigene Mystifizierung der ökonomischen Verhältnisse als
unkalkulierbare Reaktion von „Dingen" (Arbeitsprodukte, Waren usw.) bewirkt „Ent-
fremdung", die eine fatalistisch-depressive Grundstimmung auszeichnet: Sinnverlust,
Werteverlust und Perspektivlosigkeit. Zugleich herrscht im Denken ein ausgeprägt
empiristischer Grundzug: Die gesellschaftlichen Verhältnisse präsentieren sich in
handgreiflicher, sinnfälliger Gestalt (Waren, Geld, Produktionsmittel, die Ausbeutung
als Arbeitsprozefj usw.). Das ökonomische Alltagsbewufjtsein zeichnet somit ein
Schwebezustand aus: Selbst auf dem „Boden der Tatsachen" stehend, weiß es nie mit
Sicherheit, ob nicht die Tatsachen nur vermeintliche und in Wirklichkeit doch Schein-
formen sind. Die Mystifizierung macht die empirischen Erfahrungen schillernd und
zweifelhaft; durch das empiristische Denken werden in der Mystifikation Fix- und
Haltepunkte erfafjt, nämlich die stoffliche Gestalt der gespenstischen Sachenherr-
schaft.
Der Fetischismus ist ein wichtiger Katalysator für die Breiten- und Tiefenwirkung
der bürgerlichen Ideologie im Sinne von „verkehrtem Bewufjtsein". Zusammen machen
sie das gesellschaftliche Alltagsdenken aus - ein „Schwebebewufjtsein", das seinen
wahren Grund und Boden nicht kennt. Das heißt, die Erfahrung und das Erlebnis des
Fetischismus bestärken die Ideologiebildung, und das geschieht um so nachhaltiger,
je stärker Wirtschaft, ideologische Verhältnisse und Ideologie miteinander verfloch-
ten sind, wie das im staatsmonopolistischen Kapitalismus der Fall ist.
Am Beispiel der von Marx als „Wissenschaft" gewürdigten klassischen bürgerlichen
politischen Ökonomie41 wird deutlich, da§ vor dem offenen Klassenkampf zwischen
Kapital und Arbeit seitens bürgerlicher Ökonomen die Mystifikation der sozialöko-
nomischen Verhältnisse zwar zurückgedrängt, aber nicht aufgehoben werden konnte.
Die Crux der klassischen Ökonomie bestand darin, mit ihrer wichtigsten Entdek-
kung - der Arbeitswertbestimmung - sich selbst den Zugang zu einer widerspruchs-
freien Erklärung der Kapitalverwertung verschüttet zu haben. Durch eine zu weit
gehende Abstraktion verwandelte sie die kapitalistische Lohnarbeit in eine gleichsam
anthropologische Gröfjö; sie behielt folgerichtig den Grundsatz bei, dafj der Aus-
tausch vom Wertgesetz geregelt wird, und mufjte konstatieren: Arbeitslohn ist das
„Entgelt der geleisteten Arbeit", aber Profit ist auch Resultat einer Arbeitsleistung,
die jedoch auf Grund der ersten Annahme mit der Arbeiterklasse nichts mehr zu tun
hat. 42 Der ungelöste Widerspruch zwischen der Wert- und der Profittheorie legte den
Grund für die Kapitalmystifizierung und damit auch für die Apologetisierung der
kapitalistischen Verhältnisse. Mit der sozialökonomischen und politischen Tendenz-
wende von 1830 43 wurden die wissenschaftlichen Untersuchungen der klassischen
Ökonomie von vulgärökonomischen Reflexionen zurückgedrängt. Eine wissenschaft-
liche politische Ökonomie konnte nur noch ausgearbeitet werden, wenn die Forschung
von den Bedürfnissen und Interessen der revolutionären Arbeiterklasse getragen war.
40 Vgl. u. a. K. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861-1863). In:
MEGA. 2. Abt. Bd. 3.4. S. 1453, 1454, 1489, 1516, 1525; K. Marx: Das Kapital. 1. Bd.
A. a. O. S. 90,107; K. Marx: Das Kapital. 3. Bd. A.a.O. S. 823,838
41 Vgl. Th. Marxhausen: „Klassische bürgerliche politische Ökonomie" in marxistischer
und bürgerlicher Sicht. In: Arbeitsblätter zur Wissenschaftsgeschichte. Martin-Luther-
Univ. Heft 11/1982
42 Vgl. K. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861-1863). In: MEGA.
2. Abt. Bd. 3.3. S. 1020 ff.
43 Vgl. K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. A. a. O. S. 20 f.

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Zur Stellung der Fetischismus-Theorie in der Marxologie

Seit der Erstveröffentlichung der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte"


(1932) beharrt eine Hauptlinie der Marxologie darauf, dafj „Entfremdung" der Schlüs-
selbegriff des Marxismus sei. Die konservativ-militanten Angriffe gegen den Marxis-
mus, wie sie seit der Mitte der siebziger Jahre vorgetragen werden/ 1 ' 1 drängten diese
Linie etwas zurück. Zugleich bildete sich eine ihr analoge Linie heraus, die dem
Fetischismus jene zentrale Stellung im Marxismus zuschreibt, welche die Marxologie
bislang der Entfremdung vorbehielt. Für die Auseinandersetzung ist es recht in-
struktiv, den politischen Werdegang dieses „Fetischismus-Fetischismus" an Hand eini-
ger Arbeiten, so von Erckenbrecht, Helmich und Wimmer, zu verfolgen.
U. Erckenbrechts Ausgangspunkt ist die „kritische Theorie". Er ordnet seine Aus-
führungen in die Traditionslinie der „großen Theoretiker des Marxismus" Adorno,
Benjamin, Korsch, Sohn-Rethel und Lukäcs ein, für die - wie er den letztgenannten
aus „Geschichte und Klassenbewufjtsein" zustimmend zitiert® - „das Kapitel über den
Fetischcharakter der Ware den ganzen historischen Materialismus" enthält, weshalb
der Warenfetischismus auch das .Schlüsselwort" der Marxschen Theorie sei/' R . Ob-
gleich der Marxismus getrennt vom Leninismus und ohne Revolutionstheorie vor-
gestellt wird, erhebt der Verfasser noch den Anspruch, marxistische Positionen zu
vertreten. Er grenzt sich von der konservativen Marxismus-Kritik ab.
H.-J. Helmich geht einen Schritt weiter. Für ihn ist die „Idee der verkehrten Welt"
die „Bezeichnung des zentralen Grundgedankens des Marxschen Werkes: des .ver-
kehrten' Verhältnisses von Produzent und P r o d u k t . . . Mit der .verkehrten Welt' ist
ein allgemeiner Rahmen gefunden, in den sich alle anderen Marxschen Zentral-
begriffe integrieren lassen." 47 Im Zentrum des „Kapitals" stehe die Behandlung des
Warenfetischismus. Und indem Marx dort eine Analogie zwischen diesem und der'
Religion bildete, setze er damit die Religionskritik der vierziger Jahre fort. So
erweise sich Marx „bis in sein ökonomisches Spätwerk hinein (als) Junghegelia-
ner'"/' 8 Hier wird der Anspruch, eine marxistische Interpretation vorzulegen, bereits
nicht mehr erhoben. Es bleibt aber noch bei der Ausstellung des Marxismus als Ver-
such einer Kapitalismuskritik.
Die dieser Linie immanente Konsequenz zieht E. Wimmer. Für ihn ist Marx ein
Epigone Hegels, der seine ausschließlich mit „Verkehrung" befafjte Theorie dadurch
gebildet habe, dafj er unter Beibehaltung des Hegeischen Systems dessen Kategorien
nur neue Bezeichnungen gab. Auf Garaudy zurückgreifend, behauptet Wimmer, der
Marxismus sei ebenso „spekulativ" wie die Hegeische Philosophie; die „Umstülpung"
Hegels sei eine Wortspielerei gewesen, die folglich noch unter dem Niveau der Vor-
lage geblieben sei.® Damit hat die anfänglich als „marxistisch" aufgetretene Inter-
pretationslinie den Anschlug an die konservative Marx-Tötung gefunden.
Immer dann, wenn man sich dem Marxismus ohne Verbindung mit dem proleta-
rischen Klassenkampf und der Partei der Arbeiterklasse nähert, aber sein kritisches
Potential, aus verschiedenen Gründen, nicht von vornherein, in Abrede stellen will,

44
Vgl. R. Dlubek/H. Wettengel/G. Wisotzki: Marxologie im Dienste des Antikommunismus.
In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Heft 13 (1982); R. Dlubek/G. Wisotzki: Grund-
positionen konservativer Marxverfälschung. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung.
Heft 15 (1984). S. 20 ff.
43
Vgl. G. Lukäcs: Geschichte und Klassenbewufjtsein. Neuwied 1968. S. 354
46
Vgl. U. Erckenbrecht: Das Geheimnis des Fetischismus. Grundmotive der Marxschen
Erkenntniskritik. Frankfurt a. M./Köln 1976. S. 7 f.
47
H.-J. Helmich: „Verkehrte Welt" als Grundgedanke des Marxschen Werkes. Ein Beitrag
zum Problem des Zusammenhangs des Marxschen Denkens. Frankfurt a. M./Bern/
Cirencester U. K. 1980. S. 260, 265 f.
48
Ebd. S. 263
49
E. Wimmer: „Verkehrung" als Grundfigur des Marxschen Denkens. (West-)Berlin 1984.
S. 277, 278, 389

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konzentriert sich die Beschäftigung mit ihm statt auf seine Zielsetzung, den revolu-
tionären Klassenkampf in allen Formen zu organisieren, auf seine Kritik der bürger-
lichen Ideologie.
Die Untersuchungen der Verkehrung von Subjekt und Objekt, welche die Analyse
von Entfremdung, Fetischismus und Ideologie einschließen, waren unter dem Ge-
sichtswinkel der Entstehungsgeschichte des Marxismus zweifellos ein wichtiges
methodisches Instrument für die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Gesellschafts-
und Revolutionstheorie. Wirkungsgeschichtlich gesehen erweisen sie sich allerdings
weder als Selbstzweck noch von nur entstehungsgeschichtlicher Bedeutung, sondern
als ein wichtiges Mittel, der revolutionären Klasse zu helfen, ein wissenschaftlich
fundiertes revolutionäres Bewufjtsein auszubilden. Dieses Mittel verwandelt sich in
den angeführten Deutungen in den Zweck des Marxismus, der damit entweder mit
idealistischen Aufklärungsillusionen oder mit junghegelianischen Spekulationen über
die Mittel und Methoden einer Wirklichkeitsveränderung gleichgesetzt wird. Die
theoretische Fehlinterpretation oder Verfälschung erhöht den Stellenwert der Feti-
schismus-Theorie, was eine Abwertung des ganzen Marxismus bedeutet. Bewufjt oder
unbewufjt läuft die Behauptung, „Warenfetischismus" sei das zentrale Problem im
„Kapital" wie im historischen Materialismus darauf hinaus, dem Marxismus die Ab-
sicht einer bloßen Bewufjtseinsänderung zu unterstellen, deren Realisierung (natür-
lich!) der „neuen führenden Kraft" - den „linken" Intellektuellen - aufgegeben
wird.
(Verl.: Dr. sc. phil.; Sektion Marxismus-Leninismus der Martin-Luther-Universität, Neu-
werk 11, 4010 Halle)

* * * Neuerscheinungen * * *
Im IV. Quartal 1987 erscheinen folgende Hefte des INFORMATIONSBULLETINS WISSEN-
SCHAFTLICHER SOZIALISMUS:
Heit 3/1987
Enthalten sind u. a. Berichte über wissenschaftliche Veranstaltungen zu folgenden Themen:
Aktuelle Probleme der Gestaltung der Politik der friedlichen Koexistenz und des Dialogs;
Sicherheitstheorie und Sicherheitspolitik im Dialog marxistischer und nichtmarxistischer
Friedensforscher; Anforderungen an die politische Leitung bei der Vorbereitung und Ein-
führung automatisierter Prozesse unter Berücksichtigung neuer Informationstechnologien.
Heft 4/1987
„Sozialistische Demokratie in den Kombinaten der DDR unter den Bedingungen umfassen-
der Intensivierung" (Materialien der 10. Tagung des Problemrates „Politische Organisation
der sozialistischen Gesellschaft" beim Rat für Wissenschaftlichen Kommunismus der Aka-
demie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED)
Heit 5/1987
„Theoretische Probleme und praktische Erfahrungen zur Wirkungsweise des politischen
Systems und zur Demokratieentfaltung im städtischen Territorium" (Materialien des ge-
meinsamen Kolloquiums des Franz-Mehring-Instituts der Karl-Marx-Universität Leipzig,
der SED-Stadtleitung Leipzig und des Problemrates „Politische Organisation der sozialisti-
schen Gesellschaft" beim Rat für Wissenschaftlichen Kommunismus der Akademie für Ge-
sellschaftswissenschaften beim ZK der SED vom Oktober 1986 in Leipzig)

In der Reihe INFORMATIONEN ZUR SOZIOLOGISCHEN FORSCHUNG (SID) erschien kürz-


lich das Heit 4/1987 mit Beiträgen zu folgenden Themen:
- Entwicklung von Beziehungen in Arbeitskollektiven (Materialien einer gemeinsamen
Konferenz der Martin-Luther-Universität Halle und der Universität Lodz)
- Wachsende Anforderungen an die Produktionskollektive der Genossenschaftsbauern bei
der Bewältigung des WTF
- Berufsmotivation junger Genossenschaftsbauern
- Funktion des Kollektivs in Forschung und Entwicklung bei der Förderung des
Leistungsverhaltens seiner Mitglieder im Prozefj der Intensivierung
- Operationalisierung theoretischer Begriffe in der soziologischen Forschung
- Lebensweise von Familien unter den Bedingungen der intensiv erweiterten Reproduktion

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