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Forschungsschwerpunkt | Leibniz 2016

»… es weis bisweilen ein solcher Mensch


mehr als mancher Gelehrter«
THEORIE UND PRAXIS BEI LEIBNIZ

Das Verhältnis von Theorie


und Praxis in Naturwissen­
Der Theoretiker Leibniz stieß schaften, Technik und Medizin
war zur Zeit von Leibniz ein
in seinem Leben immer wieder anderes als heute. Gewiss,
auch heute handelt es sich
auf Probleme, wenn es um die keineswegs immer um die An­
wendung einer fertigen The­
Umsetzung praktischer Projekte orie auf ein Problem der Pra­
xis, doch damals war dies fast
ging. Dennoch schätzte er nie der Fall. Edgar Zilsel hat
im Einzelnen herausgearbeitet,
die Arbeit von Handwerkern dass die wissenschaftliche Re­
volution des 16. und 17. Jahr­
und Praktikern sehr. hunderts wesentlich aus der
Vereinigung zweier unter­
Ein Professor vom Philo- schiedlicher Quellen entstan­
den ist: Die Universitäts­
sophischen Institut beschreibt gelehrten und Humanisten
waren intellektuell geschult,
Leibniz‘ Bemühungen, Theorie verschmähten aber Hand­
arbeit, Experiment und Sektio­
und Praxis zusammenzuführen, nen. Ein Teil der Handwerker
(Künstler wie Leonardo da
um die Wissenschaft Vinci, Ingenieure, Wundärzte,
Hersteller nautischer Instru­
voran zu bringen. mente usw.) experimentierte,
sezierte und benutzte quanti­
tative Methoden; sie waren
Pioniere des kausalen Den­
kens. Erst die Vereinigung bei­
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der Strömungen führte zur
Entstehung der neuzeitlichen
Naturwissenschaft und Medi­
Abbildung 1 zin. Das bekannteste Beispiel arzt von Königin Elisabeth I., nach der Promotion angebote­
Zeichnung eines Handwerkers dafür ist Galilei, der von den verfasste erste Buch über Mag­ ne Professur lehnte er ab, weil
einer Windmühle Handwerkern im Arsenal von netismus beruhte wesentlich er nur im Dienst eines Fürsten
Quelle: Gottfried Wilhelm Leibniz Venedig hörte, dass die ge­ auf Kenntnissen von Kom­ Aussichten sah, soziale,
Bibliothek – Niedersächsische Landes- bräuchlichen Pumpen Wasser passmachern. ökonomische und technische
bibliothek (GWLB/NLB), Hannover: nur etwa zehn Meter heben Reformgedanken umsetzen zu
LBr 264 Bl. 14 konnten. Diese Mitteilung reg­ Obwohl Leibniz ein Theoreti­ können. Er lebte vier Jahr­
te Galilei und seinen Schüler ker war und seine Bemühun­ zehnte in Hannover, aber er
Torricelli zu Studien an, die gen um anwendbare Wissen­ liebte das Reisen. Nicht die
zur Entdeckung des Luft­ schaft nicht immer zum Erfolg Urlaubsreise, sondern Infor­
drucks und der Herstellung führten, war seine Wertschät­ mations­, Erkundungs­ und
eines Vakuums führten. Auch zung der Praxis gegenüber Kontaktreisen, die seine um­
das von Gilbert, einem Leib­ stark ausgebildet. Die ihm fangreiche Korrespondenz mit

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mehr als tausend Briefpart­ unterhalten, sie ruiniret, und Zu dieser Zusammenarbeit
nern vom Handwerker bis zur in verderben und Verachtung zum Zweck freier Forschung
Kaiserin ergänzen sollten. bringet. Gewislich es weis kam es nicht; Leibniz erhielt
bisweilen ein solcher Mensch stattdessen den Auftrag, sich
Schon als 25­Jähriger bemerkt mehr aus der erfahrung und um Windmühlen für den Har­
Leibniz in einer medizinischen natur genommene realitäten, zer Silberbergbau – der wich­
Aufzeichnung, dass man ver­ als mancher in der welt hoch tigsten Einnahmequelle des
suchen müsse, die Kenntnisse angesehener Gelehrter, der hannoverschen Herzogs – zu
»der alten weiber und Marckt­ seine aus den Büchern zusam­ kümmern. Die Windmühlen
schreyer« über Heilkräuter mengelesene wißenschafft mit sollten Pumpen treiben, mit
zu sammeln. Und in einer an­ eloqvenz, adresse, und andern denen das sich in den Gruben
deren, etwa gleichzeitigen politischen streichen zu ansammelnde Grundwasser
Aufzeichnung bemerkt er: schmucken, und zu marck zu herausgepumpt werden sollte.
»Die Laboranten, Charlatans, bringen weis, dahingegen der Die fachmännisch erstellte

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Marckschreyer, Alchymisten, andere mit seiner extrava­ technische Zeichnung als Mit­ Abbildung 2
und andere Ardeliones [= ge­ gance sich verhaßet oder ver­ tel der Kommunikation zwi­ Antwortnotiz von Leibniz an den
schäftige Nichtstuer], Vagan­ acht macht.« Ein kluger Fürst schen Theoretiker oder Inge­ Mittelsmann zur kaiserlichen
ten, und Grillenfanger sind dürfe sich davon nicht abhal­ nieur und Handwerker oder Akademie Scheffer Mitte April
gemeiniglich Leüte von gro­ ten lassen, solchen Leuten eine Facharbeiter gab es noch nicht; 1682
ßen ingenio, bisweilen auch Anstellung zu geben. Und in rohe Skizzen mussten genü­ Quelle: (GWLB/NLB), Hannover:
experienz, nur daß die dispro­ einer Eingabe an den hanno­ gen. Leibniz hatte Windmüh­ LBr 805 Bl. 18 verso
portio ingenii et judicii [das verschen Herzog betonte Leib­ len in Holland gesehen; es
Missverhältnis von Erfin­ niz, dass er mit fünf oder sechs zeigte sich aber, dass in Hol­ Abbildung 3
dungsgeist und Urteilskraft], Praktikern mehr in Physik und land der Wind gleichmäßig Manuskript von Leibniz zur
oder auch bisweilen die wol­ Technik entdecken könnte als von der See blies, während im Horizontalwindmühle
lust, die sie haben, sich in mit zwanzig der größten Ge­ Harz der Wind böig war; da Quelle: (GWLB/NLB), Hannover:
ihren eitelen hofnungen zu lehrten Europas. als Material nur Holz zur Ver­ LH XXXVIII Bl. 313 recto

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Abbildung 4 fügung stand, gab es mehr rie und Praxis zu tun: Der Bau der Zahnräder addierten sich
Venedig im 17. Jahrundert, in der Bruch als gut war. Schwierig­ seiner Rechenmaschine zog zur Funktionsunfähigkeit oder
Mitte das Arsenal, aus: Merian: keiten der Kommunikation mit sich über Jahrzehnte hin; als zu einem falschen Rechen­
Topographia Italiae, 1688 den Bergleuten kamen hinzu; Handwerker kamen nur Uhr­ ergebnis auf.
Quelle: (GWLB/NLB), Hannover: CIM es gelang dem fürstlichen Hof­ macher in Frage, die Kommu­
7/3603 nach S. 136 rat aus der Hauptstadt, der im nikation war schwierig. Immer Für sein großes philosophi­
Erfolgsfall an der Silberaus­ wieder musste Leibniz einen sches Projekt einer Characte­
beute beteiligt worden wäre, neuen Handwerker finden, ristica universalis – man wür­
nicht, das Vertrauen der an weil der bisherige das Interes­ de heute sagen: einer Mathe­
ihren Vorrechten hängenden se an der schwierigen Arbeit matisierung des menschlichen
Bergleute zu gewinnen. verloren hatte. Es gab keine Denkens – wollte Leibniz zu­
Werkzeugmaschinen, jedes nächst eine Sammlung des
Auch bei einem anderen seiner Zahnrad musste von Hand menschlichen Wissens organi­
Projekte hatte Leibniz hautnah gefeilt werden und kleine Feh­ sieren, da dieses der größte
mit den Problemen von Theo­ ler in der Dimensionierung Schatz der Menschheit sei. Wie

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später d’Alembert in der Ency­ sammenarbeit mit Handwer­ Pariser Akademie, dass in Apl. Prof. Dr. Herbert Breger
clopédie sah er einen Teil die­ kern vor. Doch der Akademie­ ­wenigen Jahren ein großer Jahrgang 1946, ist Vorstands-
ses Wissens in der Praxis der präsident lehnte ab, weil er Fortschritt der Wissenschaft mitglied der Leibniz-Gesell-
verschiedenen Berufe; auch ­darin nur eine Art Volkshoch­ erreicht werden könne, wenn schaft und außerplanmäßiger
dieses ungeschriebene Wissen schul­kurs (wie wir heute sa­ man Frauen und Handwerker Professor am Institut für Philo-
müsse gesammelt und mittels gen würden) für Handwerker einbeziehe. Denn dann könn­ sophie. Der diplomierte Ma-
Register auffindbar gemacht sah; ohne Bezahlung wären ten sie die Gegenstände und thematiker hat in Sozialwis-
werden. Es sei der Haupt­ die Akademiemitglieder dazu Materialien, mit denen sie täg­ senschaft mit einer wissen-
fehler vieler Gelehrter, dass sie nicht bereit. Leibniz notierte in lich umgehen, mikroskopisch schaftshistorischen Arbeit zur
sich mit vagen Abhandlungen einem Briefentwurf an den näher untersuchen. Vielleicht Entstehung des Energiebegriffs
begnügten, statt das große Mittelsmann, dass er über die­ wurde auch dieser Vorschlag promoviert. Seine Forschungs-
Feld der reellen Kenntnisse ses Missverständnis »hätte nicht ernst genommen, weil er schwerpunkte sind die Ge-
zum Nutzen der Öffentlichkeit bald lachen müßen«. Er hatte mit dem Prestige der könig­ schichte und Philosophie der
zu bearbeiten. Was wir brau­ an Wissensaustausch und For­ lichen Akademie nicht verein­ Mathematik sowie Gottfried
chen, betonte Leibniz, ist schung gedacht; die Handwer­ bar schien. Wilhelm Leibniz. Er ist zudem
ein wahrer Schauplatz des ker könnten Empirie und Pra­ der Herausgeber der »Studia
menschlichen Lebens nach der xis beisteuern, die bisher eher Leibniz’ eigene Bemühungen Leibnitiana. Zeitschrift für Ge-
Praxis der Menschen darge­ als Buchgelehrte tätigen Aka­ um eine Verbesserung der Zu­ schichte der Philosophie und
stellt. Die Durchführung eines demiker theoretische Frage­ sammenarbeit von Wissen­ der Wissenschaften«. Kontakt:
solchen Projekts war nach stellungen und Systematisie­ schaftlern und Praktikern wa­ herbert.breger@gmx.de
Leibniz nicht von einem klei­ rungen liefern und so zu ech­ ren nicht besonders erfolgreich
nen Fürsten zu erwarten, der ten Naturforschern werden. und seine zahlreichen wissen­
stets damit beschäftigt ist, sich »Was mich betrifft«, so schrieb schaftsorganisatorischen Pro­
seiner Feinde zu erwehren, Leibniz an anderer Stelle, »so jekte, bei denen nicht zufällig
sondern bedarf eines großen habe ich Gelegenheit gehabt, Akademien und Akademie­
Königs, der die erforderlichen nicht nur mit einer Menge gu­ gründungen eine besondere
organisatorischen Mittel zur ter Handwerker umzugehen, Rolle spielten, wurden nur
Verfügung stellen kann. sondern auch etwas aus ihnen teilweise oder erst nach sei­
herauszuziehen.« Heute hat nem Tod realisiert. Leibniz’
Als der preußische König eine sich längst der Beruf des Inge­ wichtigste Leistungen lagen
Akademie gründen wollte, nieurs in seinen mannigfachen eindeutig in der Theorie, aber
verfasste Leibniz eine Auf­ Schattierungen zwischen er wusste auch: »Je theoreti­
zeichnung zu den Aufgaben den Theoretiker und den Fach­ scher eine Wissenschaft ist,
der Akademie; sein Ziel war, arbeiter geschoben. desto praktischer ist sie, das
mit der Akademie »theoriam heißt sie ist umso mehr für die
cum praxi« zu vereinigen. Auch der Pariser Académie Praxis geeignet, je besser die
Die Berliner Akademie hatte des Sciences unterbreitete Sache selbst in ihr erfasst ist.«
relativ wenige Mitglieder, an­ Leibniz einen unkonventionel­ Diese Einstellung hat sich
ders sah es bei der kaiserlichen len Vorschlag. Mikroskopische langfristig als richtig erwiesen.
Akademie aus, die heute Leo­ Untersuchungen hatten in den Die von Leibniz (und unab­
poldina genannt wird. Ihre letzten anderthalb Jahrzehnten hängig davon von Newton)
Mitglieder waren meist fürst­ Aufsehen erregt; unter ande­ entwickelte Differential- und
liche Leibärzte, angesehene rem hatte man entdeckt, dass Integralrechnung ist heute ein
Stadtärzte und Medizin-Pro­ sich in einem Wassertropfen unentbehrliches Hilfsmittel für
fessoren. Leibniz wollte die Mikroorganismen befinden. Physiker und Chemiker eben­
Chancen nutzen, die das weit Nun hatte Leibniz von einem so wie für Ingenieure.
verzweigte Netz ihrer Mitglie­ neuen Verfahren gehört, mit
der bot, und schlug dem Präsi­ dem sich billig Mikroskope
denten dieser Akademie über herstellen ließen. Er schrieb an
einen Mittelsmann eine Zu­ einen wichtigen Vertreter der

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