Knapp hundert Tage verbrachte Georg Büch- ner in Zürich, als er 1837 erst 23-jährig starb. Trotz seines kurzen Aufenthalts gehört der Literat, Mediziner und Revolutionär wohl zu den berühmtesten Toten der Stadt. Es waren eher unglückliche Umstände als freier Wille, die Büchner nach Zürich führten. Der junge Medizinstudent aus Darmstadt, der in einer Flugschrift mit der Losung «Friede den Hütten! Krieg den Palästen» die Land- bevölkerung zu einer Revolution gegen die Obrigkeit anstacheln wollte, wurde wegen «Teilnahme an staatsverräterischen Hand- Künstlerische Intervention – Harun Farockis Videoinstallation am Zürcher Limmatplatz. lungen» angeklagt und steckbrieflich gesucht. Büchner sah sich gezwungen, nach Strass-
Die Kunst und die Stadt
burg und schliesslich in die Schweiz zu flüch- ten. Im Herbst 1836 traf der Schriftsteller, der mit seinen Dramen «Woyzeck» und «Dan- Das deutliche Nein zum geplanten Kongresszen- Girot eingesetzt, der die Planungen von Uni- tons Tod» und seiner Erzählung «Lenz» Lite- trum am See hat gezeigt, dass eine breite Öffent- versität, ETH und Universitätsspital in den raturgeschichte geschrieben hat, in Zürich lichkeit in Zürich sich über die Veränderung kommenden Jahrzehnten regelt. Welches wird ein und fand an der Spiegelgasse 12 seine im Klaren ist, die die Stadt zurzeit durchmacht. die Rolle der Kunst sein? Auch hier ist alles im neue Bleibe. In unmittelbarer Nachbarschaft, «Stadt» heisst nicht mehr nur «Innenstadt». Die Fluss. In erster Linie geht es darum, die Fixie- nämlich im Haus mit der Nummer 14, wird Stadt ist kein statisches Objekt, sondern ein rung von Kunst an einzelne Objekte – Stichwort einige Zeit später ein weiterer Revolutionär dynamisches Netzwerk, kein fixes Bild, son- «Kunst am Bau» – zu lösen und sie in einem sein Exil verbringen, Wladimir Iljitsch Ulja- dern ein Film. Wenn ich einen Blick auf die urbanen Zusammenhang zu sehen. now, genannt Lenin. Baustelle bei der Hardbrücke werfe und die Die Stadt hat bereits gehandelt und eine Da Büchner bei Wiederaufnahme politi- Hochhaus-Bauprofile der Gegend betrachte, Kommission für die Kunst im öffentlichen Raum scher Tätigkeiten die Wegweisung drohte, wenn ich durch das neue Grünauquartier eingesetzt. Sie kann sich auf die Pionierarbeit begann er sich vermehrt seiner wissenschaft- bummle oder die Plätze von Oerlikon besuche, stützen, die eine Gruppe um Christoph Schenker lichen Karriere zu widmen. Mit Lorenz Oken, kann ich mir schon jetzt ausmalen, wie sich an der Zürcher Hochschule der Künste seit dem Gründungsrektor der Universität Zürich, das Gleichgewicht von Zürich in zwei, drei Jah- mehreren Jahren leistet und die Zürich mit fand er einen einflussreichen Gönner. Bereits ren verschieben und zum jetzigen Zentrum an die Spitze der internationalen Auseinan- im September 1836 erhält er seine Promotion neue Zentren hinzukommen werden. dersetzung um die Frage der Kunst und der und nach einer Probevorlesung «Über Schädel Auch die Universität ist von dieser Dynamik Stadt stellt. Zu den schönsten Resultaten des nerven» konnte er im November sogar eine erfasst. Die Frage, wo sie lokalisiert ist, können Projekts gehört das Video «Übertragung» von Privatdozentur für Physiologie und verglei- wir nicht mehr so eindeutig beantworten wie Harun Farocki am Limmatplatz. Es zeigt Auf- chende Anatomie antreten. Sein Kolleg hielt vor einem Jahrhundert. Damals legte Karl nahmen von Menschen aller Kulturen, die sich Büchner in seinen privaten Räumlichkeiten Moser eine riesige Villa auf den grünen Gürtel religiöse oder politische Ereignisse vergegen- an der Universität vor bloss fünf Hörern. Trotz der nutzlos gewordenen früheren Befestigun- wärtigen. Und es macht deutlich, dass Kunst, der spärlich fliessenden Kollegiengelder, auf gen – in unmittelbare Nachbarschaft, aber egal in welchem Medium, selbst an exponier- die er als Privatdozent ohne fixes Einkommen zugleich unabhängig vom Eidgenössischen ten Knotenpunkten der Stadt funktioniert. Es angewiesen war, liess er sich jedoch nicht ent Polytechnikum. Heute sind die Gebäude der zeigt, dass nicht nur die Stadt als solche in Bewe- mutigen und bereitete seine Vorlesung minu- Universität wie ein zerlegtes Puzzle über weite gung ist und wächst, sondern dass sie längst ziös vor: «Ich sitze am Tage mit dem Skalpell Bereiche der Stadt ausgebreitet. Mit anderen Teil eines viel weiter gespannten, internatio- und die Nacht mit den Büchern.» Gerade sein Worten: Auch die Universität ist ein Netzwerk, nalen Netzes von Handlungen und Erinnerun- rastloses Arbeiten wurde ihm wohl zum Ver- ein Raum in Bewegung. gen ist. hängnis. So brachte möglicherweise ein mit Der Regierungsrat hat nun einen neuen Mas- Philip Ursprung ist Professor für Moderne und zeit- Typhus infiziertes Skalpell Georg Büchners terplan des Landschaftsarchitekten Christophe genössische Kunst. frühen Tod. Maurus Immoos
Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe: Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon
Exploration urbaner Räume – Wien 1918–38: (Alltags)kulturelle, künstlerische und literarische Vermessungen der Stadt in der Zwischenkriegszeit. Unter Mitwirkung von Dominic Depner, Sabine Erbschwendtner, André Heitmann-Möller, Anne Koppenburger