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6 Die Welt als Wille und Vorstellung Schopenhauers, denn dort – besonders bei den Par-
erga und Paralipomena – sind die Unterschiede zwi-
6.1 Zur Entwicklung des Hauptwerks schen der Ausgabe letzter Hand und den posthumen
Ausgaben mit den Zusätzen meist noch gravierender.
Die Welt als Wille und Vorstellung entstand in den Jah- Die Welt als Wille und Vorstellung wurde immerhin
ren 1814 bis 1818 in Dresden und erschien im Dezem- 1919 einmal in einer vorbildlichen Edition von Otto
ber 1818 mit der Jahreszahl 1819 bei Brockhaus in Weiß vorgelegt, der nicht nur die Varianten der ver-
Leipzig. Unmittelbar nachdem das Hauptwerk er- schiedenen Auflagen genau verzeichnete, sondern
schienen war, habilitierte sich Schopenhauer mit sei- auch alle Zusätze aus den Handexemplaren Schopen-
nem Buch an der Berliner Universität und wurde dort hauers verwendete und kenntlich machte. Diese Aus-
Privatdozent. Für seine Vorlesungen arbeitete er die gabe, die als Teil einer niemals fertiggestellten Ge-
darin niedergelegte Philosophie didaktisch und auch samtausgabe der Werke Schopenhauers konzipiert
inhaltlich aus (s. Kap. 10.3). Schon bald zog er eine war, fand zwar seinerzeit Anerkennung, aber weder
zweite Auflage des Werks in Erwägung, doch auf- gingen die Resultate der Editionsarbeit in die nachfol-
grund der fehlenden Resonanz war der Verleger abge- genden Editionen ein und wurden in diesem Zusam-
neigt, und das Vorhaben musste immer wieder ver- menhang überprüft (vgl. Lütkehaus 2006, 26; Hüb-
schoben werden. Von 1821 an finden sich im Nachlass scher 1946, 383) noch wurden sie philosophisch aus-
Entwürfe zu Vorreden zu einer zweiten Auflage des gewertet. Eine partielle Überprüfung ergab indessen,
Hauptwerks – sieben allein bis zur Ankunft in Frank- dass auch diese Ausgabe unvollständig ist. Die Hand-
furt 1833 –, die zum einen die zunehmende Verbitte- exemplare sind übrigens heute noch erhalten und
rung gegenüber den ihn ignorierenden Zeitgenossen werden in sechs Bänden an der Fondation Bodmer in
dokumentieren, zum anderen die immer wieder ent- Cologny in der Schweiz aufbewahrt.
täuschte, aber ungebrochen bleibende Erwartung ei- Aufgrund dieser unbefriedigenden Editionslage
ner breiten Wirkung seiner Philosophie. In diesem existiert bis heute keine vergleichende Untersuchung
Vertrauen hat Schopenhauer in seinen Manuskript- zu den drei Auflagen von Schopenhauers Hauptwerk.
büchern Reflexionen, Beobachtungen, Exkurse ge- Im Folgenden können daher nur allgemeine Aussagen
sammelt, die viel später in die zweite Auflage der Welt getroffen werden, deren Überprüfung im Einzelnen
als Wille und Vorstellung als deren zweiter Band ein- noch aussteht. Um die Entwicklung des Hauptwerks
gehen sollten. Erst 1844 war es so weit, und die um detailliert nachzeichnen zu können, müssen neben
diesen Band erweiterte und auch im ersten Band er- den drei Auflagen auch Schopenhauers Handexempla-
heblich überarbeitete zweite Auflage erschien. Noch re, die Vorlesungsmanuskripte und der handschriftli-
einmal erweitert wurde die Welt als Wille und Vorstel- che Nachlass berücksichtigt werden. Die auffälligste
lung schließlich in dritter Auflage 1859 – von Scho- Veränderung besteht zweifellos darin, dass die zweite
penhauer noch selbst veröffentlicht. Auflage einen zweiten Band erhalten hat, der, wie ge-
Alle heute im Umlauf befindlichen Ausgaben ge- sagt, aus den Notizen und Entwürfen der seit der ers-
ben den Text der dritten Auflage wieder, häufig auch ten Auflage verstrichenen 25 Jahre hervorgegangen ist.
mit den Zusätzen, die Julius Frauenstädt in seiner Schopenhauer selbst hat sich in den Vorreden zu
posthumen Gesamtausgabe aus Schopenhauers Hand- den späteren Auflagen zu Veränderungen geäußert.
exemplar und Notizen hinzugefügt hatte. Für die wis- Zur zweiten Auflage schreibt er, die Modifikationen im
senschaftliche Bearbeitung der Welt als Wille und Vor- ersten Band, der den Text des ursprünglichen ganzen
stellung ist das von großem Nachteil, zumal die erheb- Werks enthält, beträfen »theils nur Nebendinge« (W I,
lichen Veränderungen in den späteren Auflagen nicht XXI), meist bestünden sie aber in kurzen erläuternden
kenntlich gemacht sind und Variantenverzeichnisse – Zusätzen. Lediglich der die »Kritik der Kantischen
wenn überhaupt vorhanden – unvollständig sind. Philosophie« enthaltende Anhang habe »bedeutende
Wenn die erste Auflage von Die Welt als Wille und Vor- Berichtigungen und ausführliche Zusätze erhalten«
stellung nicht noch vorhanden wäre (sie wurde 1988 (ebd.). Wenn Schopenhauer betont, dass die Verände-
von Rudolf Malter als Faksimile herausgegeben, auch rungen im Haupttext des ersten Bandes nur unwesent-
dieses ist aber längst vergriffen), wäre der ursprüng- lich seien, so ist seine Begründung für die Zugabe eines
liche Text nicht rekonstruierbar. Es fehlt immer noch zweiten Bandes mitzubedenken. Er bezieht sich dabei
eine zuverlässige historisch-kritische Ausgabe. Das auf Unterschiede im Stil, in der »Darstellungsweise
gilt übrigens noch mehr von den übrigen Werken und im Ton des Vortrags« (ebd.), die sich seit der Ab-
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fassung in der Jugendzeit so stark geändert hätten, dass lisches Handeln, also auf die Tugenden der Gerechtig-
durch Umarbeitung kein einheitlicher Text mehr ent- keit und Menschenliebe bezogen waren, durch »Mo-
stehen könne. Soweit es möglich war, hat er den ur- ral« und »moralisch« ersetzte (vgl. Koßler 1999, 391).
sprünglichen Wortlaut beibehalten wollen, auch wenn Die Änderungen, die Schopenhauer an dem An-
er nun manches »ganz anders ausdrücken würde« hang »Kritik der Kantischen Philosophie« vorgenom-
(W I, XXII). Es ist klar, dass sich ›ganz anders aus- men hat, sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass er
zudrücken‹ in philosophischen Texten durchaus gra- frühestens im Jahr 1826 die erste Auflage von Kants
vierendere Folgen haben kann, als es hier den Ein- Kritik der reinen Vernunft kennengelernt hatte. Da für
druck erweckt. Schopenhauer ist indessen davon über- ihn die Überarbeitung Kants »einen verstümmelten,
zeugt, dass sich die nötigen Klarstellungen dem Leser verdorbenen, gewissermaaßen unächten Text« (W I,
durch die Lektüre des zweiten Bandes von selbst er- 516) hervorgebracht hatte, musste die Entdeckung des
geben. Umgekehrt bezieht sich der zweite Band mit ursprünglichen Textes zu Modifikationen seiner Kri-
seinen einzelnen Kapiteln als Ergänzung unmittelbar tik an Kant führen, die an anderer Stelle behandelt
auf bestimmte Teile des ersten, der aus diesem Grunde werden (s. Kap. 6.7; 17).
auch eine neue Einteilung in Paragraphen erhielt. Einen Hinweis darauf, dass möglicherweise Teile
Demnach verhalten sich beide Bände derart ergänzend aus dem zweiten Band mehr enthalten als bloße Aus-
zueinander, »daß nicht bloß jeder Band Das enthält, führungen und gründlichere Durcharbeitungen des
was der andere nicht hat, sondern auch, daß die Vor- im ersten Band Dargelegten, könnte man in dem Um-
züge des einen gerade in Dem bestehn, was dem ande- stand erblicken, dass bei manchen Kapiteln kein Ver-
ren abgeht« (ebd.). Dabei kommt dem ersten Band der weis auf entsprechende Paragraphen des ersten Ban-
Entwurf des Ganzen in seinem systematischen Zusam- des zu finden sind. Das betrifft die Kapitel »Von den
menhang zu, dem zweiten dagegen die ausführlichere wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts«,
Begründung und Entwicklung der einzelnen Teile. »Von der Materie«, »Transzendente Betrachtungen
Wie man diese Zuordnung zu bewerten hat, hängt mit über den Willen als Ding an sich«, »Vom Instinkt und
dem schwierigen Problem der Methodologie Scho- Kunsttrieb«, »Leben der Gattung«, »Erblichkeit der
penhauers zusammen (s. Kap. 6.2). Er selbst gibt im- Eigenschaften«, »Metaphysik der Geschlechtsliebe«,
merhin doch einen Hinweis auf den Vorrang des ers- »Die Heilsordnung« und »Epiphilosophie«. Cum gra-
ten Bandes, wenn er empfiehlt, ihn wenigstens einmal no salis lässt sich aus diesen Themen ersehen, dass
gelesen zu haben, bevor man an die Lektüre des zwei- Schopenhauer das Verhältnis zwischen seiner Phi-
ten geht (vgl. W I, XXIII). Andererseits hebt er – aus losophie und den Naturwissenschaften zumindest in
verständlichen Gründen – in seinem Gesuch an den besonderem Maße beschäftigt hat. Schon in der
Verleger Brockhaus um den Druck einer zweiten Auf- Schrift Ueber den Willen in der Natur von 1836, die
lage die »bedeutende[n] Vorzüge« des zweiten Bandes zwischen der ersten und der zweiten Auflage des
vor dem ersten hervor, zu dem sich jener verhalte, »wie Hauptwerks erschienen war, war es ihm ein Anliegen,
das ausgemalte Bild zur bloßen Skitze« (GBr, 195). In die Übereinstimmung seiner Lehre mit den rasant
der Vorrede zur dritten Auflage schließlich betont fortschreitenden naturwissenschaftlichen Erkennt-
Schopenhauer, er habe die zweite nur um weitere Zu- nissen nachzuweisen (s. Kap. 7). Zugleich zeigen die
sätze bereichert, zu denen eigentlich die Gedanken ge- im Vergleich mit der ersten Auflage wesentlich präzi-
hörten, die zuvor im zweiten Band der Parerga und Pa- seren Ausführungen über seine philosophische Me-
ralipomena veröffentlicht worden waren. thode mit dem Anspruch auf eine ›immanente‹ Meta-
Freilich sind diese Ausführungen des Autors nicht physik in den Kapiteln »Ueber das metaphysische Be-
ausschlaggebend für die Frage nach den tatsächlichen dürfniß des Menschen« und »Epiphilosophie« des
Entwicklungen und Modifikationen innerhalb des zweiten Bandes des Hauptwerks, dass sich Schopen-
Hauptwerks. Eine in der Forschung seit langem beste- hauer um eine genauere Bestimmung des Anspruchs
hende Diskussion betrifft mögliche Veränderungen in der Philosophie gegenüber und dennoch im Einklang
Schopenhauers Materiebegriff und in seiner Stellung mit den Naturwissenschaften bemühte.
zum Materialismus (vgl. Cornill 1856, 60 ff.; Volkelt Sieht man von der »Kritik der Kantischen Philoso-
1923, 84 ff.; Schmidt 2004, 129 f.). Als eine bemerkens- phie« ab, so lassen sich drei Bereiche festhalten, in de-
werte Modifikation wurde auch festgestellt, dass Scho- nen die Modifikationen der späteren Auflagen über ei-
penhauer ab der zweiten Auflage die Begriffe »Ethik« ne bloße Ergänzung bzw. ausführlichere Darstellung
und »ethisch« an allen Stellen, an denen sie auf mora- des in der ersten Auflage Vorgebrachten hinauszuge-
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hen scheinen: (1) der Vorstellungsbegriff, (2) das Ver- Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden
hältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft und Zusammenhang bewährt« (W II, 202 f.).
(3) die Behandlung der Materie. 3) In Bezug auf die Auffassung der Materie findet
1) Das Wort ›Vorstellung‹, das Kant eher unspezi- sich ihre grundlegende Bestimmung als die Verknüp-
fisch verwendet, spielt in Schopenhauers System eine fung von Raum und Zeit durch den Verstand schon in
zentrale Rolle in verschiedenen Teilen seiner Lehre. der ersten Auflage von 1819. Allerdings scheint es, als
Im Hinblick darauf hat er in der zweiten Auflage sei- ob damit die Erörterung des Materiebegriffs noch
nes Hauptwerks bei der Bestimmung der Vorstellung nicht abgeschlossen war, denn es finden sich zu dieser
vieles vertieft und erläutert. Ausführlichere Behand- Zeit auch abweichende Fassungen. Erst in der zweiten
lung in diesem Zusammenhang erhielten das Verhält- Auflage werden diese verschiedenen Ansätze klarer
nis der anschauenden zur abstrakten Erkenntnis, die differenziert und in einen umfassenden metaphysi-
Bestimmung von Vernunft und Verstand, die Lehre schen Rahmen gestellt. »Die Lehre von der Materie ist
von der empirischen Anschauung und die Funktions- ein besonders schwieriges und dunkles Stück der
weise der Vernunft (z. B. spielt der Syllogismus in der Schopenhauerschen Erkenntnistheorie. Die Materie
ersten Auflage eine geringere Rolle; s. Kap. 10.2). bietet bei Schopenhauer mehrere Anblicke dar je
Im Allgemeinen kann man sagen, dass Schopen- nach dem Gesichtswinkel, unter dem man sich ihr
hauer, obwohl er betont, die kantische Unterscheidung nähert« (Volkelt 1984, 382). Diese Schwierigkeit und
zwischen Erscheinung und Ding an sich beizubehal- Dunkelheit hängt nicht nur damit zusammen, dass
ten, eine radikale Veränderung der transzendentalen Schopenhauer das Thema im Lauf der Jahre aus ver-
Methode vornimmt, die in der zweiten Auflage akzen- schiedenen Perspektiven betrachtet, sondern auch
tuiert wird. Diese Neufassung des Transzendentalis- damit, dass er auf verschiedene Quellen zurückgegrif-
mus kann man als »physiologische Orientierung« fen hat. Letzteres zeigt sich sowohl in den vielen Be-
(Mandelbaum 1980) des Philosophieverständnisses zugnahmen auf die klassisch-aristotelische Lehre als
Schopenhauers kennzeichnen, die bereits in dem Werk auch auf die Lehren über die Materie bei Giordano
Ueber den Willen in der Natur bemerkbar ist. Bruno und Plotin. Das Problem der Materie ist in den
Es ist bezeichnend, dass das zweite Buch im zweiten Kapiteln 1 (»Die Lehre von der anschaulichen Vor-
Band des Hauptwerks (»Die Objektivation des Wil- stellung«) und 4 (»Von der Erkenntnis a priori«) der
lens«, d. h. die ausgebildete Willensmetaphysik) den zweiten Auflage behandelt, besonders ausführlich
Teil der Lehre ausmacht, der am stärksten verändert und gründlich aber im Kapitel 24 (»Von der Mate-
wurde. Das Problem, das Schopenhauer hier zu lösen rie«), das nicht auf bestimmte Teile des ersten Bandes
hat, ist eine neue Begründung der Naturphilosophie, referiert. Das deutet darauf hin, dass die Materie in
nachdem er Schellings Projekt derselben für un- Schopenhauers System immer wichtiger wird, bis zu
zulänglich erklärt hatte (vgl. Segala 2009, 258–348). dem Punkt, an dem sie zum Anknüpfungspunkt des
2) In diesem Zusammenhang stellt sich auch die empirischen Teils unserer Erkenntnis an den der rei-
Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft nen und der apriorischen wird:
und Philosophie. Dieses Problem wird besonders im
Kapitel 17 »Ueber das metaphysische Bedürfniß des »Demzufolge ist die Materie Dasjenige, wodurch der
Menschen« behandelt. Einerseits wird die Forderung Wille, der das innere Wesen der Dinge ausmacht, in die
erhoben, die wissenschaftlichen Erkenntnisse seien Wahrnehmbarkeit tritt, anschaulich, sichtbar wird. In
die »berichtigte Darlegung des Problems der Metaphy- diesem Sinne ist also die Materie die bloße Sichtbar-
sik, [...] daher soll Keiner sich an diese wagen, ohne keit des Willens, oder das Band der Welt als Wille mit
zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründli- der Welt als Vorstellung« (W II, 349).
che, klare und zusammenhängende Kenntniß aller
Zweige der Naturwissenschaft sich erworben zu ha- Die Auseinandersetzung mit dem Materialismus ist
ben« (W II, 198). Andererseits ist die Aufgabe der Phi- ein weiterer Aspekt in Schopenhauers Behandlung
losophie die Entzifferung der Welt, und die Metaphy- der Materie. Er verwarf schon in der ersten Auflage
sik soll ihr Kriterium der Wahrheit im Hinblick auf ei- den Materialismus, d. h. die Auffassung von der Mate-
nen Zusammenhang, den die Wissenschaften nicht rie als ontologische Struktur der Wirklichkeit. Man
gewährleisten, haben (vgl. Mollowitz 1989): »Das muss bei all dem daran erinnern, dass die Verände-
Ganze der Erfahrung gleiche einer Geheimschrift, rung in den späteren Auflagen nicht nur in den Zusät-
und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren zen im zweiten Band bestehen, sondern dass auch vie-
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le Formulierungen des ersten Bandes erst in den nach- 6.2 Konzeptionelle Probleme und Inter-
folgenden Auflagen hinzugefügt wurden. Die Ent- pretationsansätze der Welt als Wille und
wicklung der Naturwissenschaften und der Physik, Vorstellung
die vor allem in den 1820er und 30er Jahren des neun-
zehnten Jahrhunderts aufgetreten ist, führt bei Scho- Nicht nur der Inhalt und die Argumentation des ers-
penhauer zu einer starken Reaktion gegen das reduk- ten Bandes von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt
tionistische Denken. Die Widerlegung des Materialis- als Wille und Vorstellung (= WWV) sind ausschlag-
mus, unter welchem Schopenhauer den mechanis- gebend für ein Verständnis des Werks, sondern auch
tischen Materialismus versteht, zeigt sich in den der Aufbau, die Gliederung, die Argumentationsform
späteren Auflagen in der Ablehnung der Atomtheorie. und die Systematisierung. Allerdings herrscht in der
Ein Teil der Sekundärliteratur sieht Schopenhauer Forschung hinsichtlich der strukturellen Interpretati-
aber als einen Denker mit starken materialistischen on kein Einvernehmen. Im Wesentlichen drehen sich
Tendenzen an (vgl. Schmidt 2004), so dass sein Platz die Diskussionen um vier Fragen oder Konfliktfelder:
in der philosophiehistorischen Entwicklung noch ge- (1) Wie ist Schopenhauers Hinweis zu verstehen, dass
nauer zu bestimmen ist. sein Werk einen einzigen Gedanken mitteilt? Welche
Rolle spielt dieser für das Werk? (2) Wie hängen die
Literatur einzelnen Bücher der WWV zusammen? Architekto-
Cornill, Adolph: Arthur Schopenhauer als Übergangsform nisch, systematisch, organisch? (3) In welchem Ver-
von einer idealistischen in eine realistische Weltanschau- hältnis steht das Werk zum Leser und zur Welt? Nor-
ung. Heidelberg 1856.
Hübscher, Arthur: Die kritische Schopenhauer-Ausgabe. In:
mativ in Bezug auf den Leser oder deskriptiv in Bezug
Zeitschrift für philosophische Forschung 1 (1946), 380–387. auf die Welt? (4) Wie verhält es sich mit den oft bean-
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral. standeten Widersprüchen und Aporien im Werk? Fol-
Zur Differenz einer areligiösen und einer religiösen Grund- gen Sie einem Konzept oder sind sie Denkfehler?
legung der Ethik am Beispiel der Gegenüberstellung Scho- Die folgenden Darstellungen sollen die verschiede-
penhauers mit Augustinus, der Scholastik und Luther.
nen Positionen, die in den Diskussionen aufgetaucht
Würzburg 1999.
Lütkehaus, Ludger: Einleitung zu Schopenhauers Werken sind, konturieren und einen Überblick über zum Teil
nach den Ausgaben letzter Hand. In: Arthur Schopen- alte, aber nach wie vor ungelöste Probleme der Scho-
hauer: Werke in fünf Bänden. Beibuch. Hg. von Ludger penhauer-Forschung geben.
Lütkehaus. Frankfurt a. M. 2006, 7–34.
Mandelbaum, Maurice: The Physiological Orientation of
Schopenhauer’s Epistemology. In: Michael Fox (Hg.): Der eine Gedanke
Schopenhauer. His Philosophical Achievement. Sussex
1980, 50–67. Gleich im zweiten Satz der Vorrede zur ersten Auflage
Mollowitz, Gerhard: Bewährung aus-sich-selbst als Krite- der WWV findet sich eine Formulierung, die eine brei-
rium der philosophischen Wahrheit. In: Schopenhauer- te Kontroverse bestimmt: »Was durch dasselbe [das
Jahrbuch 70 (1989), 205–225. Buch; J. L./D. S.] mitgetheilt werden soll, ist ein ein-
Morgenstern, Martin: Schopenhauers Philosophie der Natur-
ziger Gedanke« (W 1, V). Obgleich das Werk nur einen
wissenschaft. Bonn 1985.
Morini, Maurizio: Trascendentalismo e immantismo nelle tre Gedanken artikuliere – so Schopenhauer weiter –, las-
edizioni del Mondo come volontà e rappresentazione di se sich dieser nur mittels Zergliederung in vier Teile –
Arthur Schopenhauer. Macerata 2017. die vier »Bücher« des ersten Bandes – mitteilen; aller-
Schmidt, Alfred: Schopenhauer und der Materialismus. In: dings habe man sich nach Schopenhauer »zu hüten,
Ders.: Tugend und Weltlauf. Vorträge und Aufsätze über nicht über die nothwendig abzuhandelnden Einzelhei-
die Philosophie Schopenhauers (1960–2003). Frankfurt
ten den Hauptgedanken dem sie angehören und die
a. M. 2004, 105–149.
Segala, Marco: Schopenhauer, la filosofia, le scienze. Pisa Fortschreitung der ganzen Darstellung aus den Augen
2009. zu verlieren« (W 1, VIII; vgl. auch HN I, 386 f.). Da
Volkelt, Johannes: Arthur Schopenhauer. Seine Persönlich- Schopenhauer nirgends eine explizite Formulierung
keit, seine Lehre, sein Glaube. Stuttgart 51923. derart anbietet, dass der eine Gedanke dieses oder
Volkelt, Johannes: Korrelativismus und Materialismus. In: jenes sei (vgl. Atwell 1995, 18; Janaway 1999, 4), so
Volker Spierling (Hg.): Materialien zu Schopenhauers »Die
Welt als Wille und Vorstellung«. Frankfurt a. M. 1984, 371–
scheint es eine in der Forschung allerdings umstrittene
386. Interpretationsleistung zu bleiben, diesen Gedanken
zu finden und als solchen zu erläutern. Dabei könnte es
Matthias Koßler / Maurizio Morini – wie Rudolf Malter vermerkt – nicht unwichtig sein,
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zwischen Sätzen und Gedanken zu unterscheiden; der menfassung einzufangen, aber, inwiefern sie Stellen
eine Gedanke sei »obzwar selber kein Satz, nur in Sät- im Werk Schopenhauers integrieren kann, die beto-
zen, bestehend aus abstrakten Vorstellungen, präsent« nen, dass zwischen den mitgeteilten Gedanken als Tei-
(Malter 1991, 47). Im Wesentlichen lassen sich in der le des einen Gedankens und dem einen Gedanken
Forschung drei Positionen voneinander unterscheiden selbst zu unterscheiden ist (vgl. HN I, 387). Zu fragen
(zur Diskussion des »einen Gedankens« im franzö- wäre also, ob die Annahmen der erwähnten Autoren
sischsprachigen Raum s. Kap. 51): zutreffen, dass erstens der eine Gedanke abstrakt und
direkt mitteilbar ist und zweitens in der Zusammen-
1) Eine weit verbreitete Lesart versteht den einen Ge- fassung der einzelnen Werkteile besteht (vgl. Schubbe
danken als eine Art inhaltliches Extrakt der zentralen 2010, 51 f.).
Lehrstücke der WWV, dem sich über eine pointierte
Zusammenfassung nahekommen lässt. So versteht 2) Einer anderen Lesart zufolge ist die Mitteilung eines
Rudolf Malter den einen Gedanken über den Satz: einzigen Gedankens zwar ebenfalls zentrales Ziel der
»[D]ie Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens« WWV, allerdings leugnet diese Lesart die Möglich-
(W I, 526 (Lü); vgl. Malter 2010, 32). Dieser Satz lässt keit, den einen Gedanken in einem Satz zusammen-
sich auf eine Äußerung Schopenhauers zurückbezie- zufassen oder aus der WWV zu extrahieren. Vielmehr
hen, die sich auf 1817 datiert in seinen Manuskripten verweise das Werk auf den einen Gedanken: Dem
finden lässt (»Meine ganze Ph[ilosophie] läßt sich zu- Werk ist somit gleichsam ein performativer Zug zu ei-
sammenfassen in dem einen Ausdruck: die Welt ist gen. So betont beispielsweise Matthias Koßler mit
die Selbsterkenntniß des Willens«, HN I, 462) und Blick auf die »Thebenmetapher« (s. u.), dass der eine
schließlich – wie zitiert – auch Eingang in das Haupt- Gedanke »im Mittelpunkt der sich kreuzenden, je-
werk gefunden hat. Wolfgang Weimer erweitert diese doch nicht ineinanderlaufenden Richtungen zu su-
Bestimmung des einen Gedankens noch um den Zu- chen ist« (2006, 375). Von einer explizit performativen
satz: »Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens Deutung des einen Gedankens spricht Daniel Schub-
von seiner Leidhaftigkeit. Dieses Leiden kann in Stu- be. Die Vorgabe des einen Gedankens hat in seiner
fen aufgehoben werden« (Weimer 1995, 17). Volker Aussprache selbst die Aufgabe, die vier Perspektiven
Spierling sieht den einen Gedanken in der Formulie- des Werkes, die sich in den vier Büchern bieten, zu
rung ausgedrückt, dass »diese Welt, in der wir leben bündeln. Demzufolge verbürgt der eine Gedanke
und sind, ihrem ganzen Wesen nach, durch und durch nicht einen Inhalt, sondern die Einheit des Werks
Wille und zugleich durch und durch Vorstellung ist« selbst. Die verschiedenen Perspektiven der vier Bü-
(W I, 227 (Lü); vgl. Spierling 1998, 63). Einen anderen cher der WWV auf die Mensch-Welt-Bezogenheit
Kandidaten für den einen Gedanken sieht beispiels- werden durch den einen Gedanken derart zusammen-
weise Jochem Hennigfeld (2006, 465) in dem als gehalten, dass dieser vielmehr die »Gemeinsamkeit
Grundsatz interpretierten Schopenhauerschen Lem- der verschiedenen Perspektiven oder Wirklichkeits-
ma: »Der Wille als das Ding an sich macht das innere, bereiche« verbürgt (Schubbe 2010, 195). Der eine Ge-
wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus« danke ist somit auf theoretischer Ebene eine Art Pa-
(W II, 232 (Lü)). rallelbegriff zur Welt, in der ebenfalls die einzelnen
John Atwell merkt hinsichtlich des Versuchs einer auszulegenden und zu beschreibenden Gehalte ge-
Formulierung des einen Gedankens an, dass auch die meinsam vorliegen.
entscheidenden Erkenntnisse des dritten und vierten
Buches berücksichtigt werden müssen (vgl. Atwell 3) Eine dritte Lesart lokalisiert dagegen die von Scho-
1995, 30; Janaway 1999, 5). Nachdem er einige Kandi- penhauer vorgegebene und für die Erfassung des ei-
daten und deren Konsequenzen diskutiert hat, kommt nen Gedankens maßgebende Zielsetzung der WWV
er schließlich zu der Formulierung: »The double-si- nicht in der Vorrede, sondern erst am Ende von § 15.
ded world is the striving of the will to become fully Die Vorrede stellt mit dem »einen Gedanken« nur ein
conscious of itself so that, recoiling in horror at its in- Traditionsargument dar, das zum einen aus der bis-
ner, self-divisive nature, it may annul itself and thereby lang noch ungenügend erforschten Ideengeschichte
its self-affirmation, and then reach salvation« (Atwell des einen Gedankens von beispielsweise Descartes,
1995, 31). Spinoza, Jacobi oder Fichte übernommen wurde (vgl.
Fraglich ist bei dieser ersten Lesart, die versucht Lemanski 2011, 316; Koßler 2006) und das zum ande-
den einen Gedanken über eine inhaltliche Zusam- ren nur für die Beantwortung der Frage, wie das Buch
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zu lesen ist, instrumentalisiert wird. Die eigentliche chen, in welchem immer ein Theil den andern trägt,
Zielsetzung Schopenhauers finde man dagegen in nicht aber dieser auch jenen, der Grundstein endlich
§ 15: Schopenhauer erklärt dort, dass es die Aufgabe alle, ohne von ihnen getragen zu werden, der Gipfel ge-
seiner Philosophie sei, »alles Mannigfaltige der Welt tragen wird, ohne zu tragen. Hingegen ein einziger Ge-
überhaupt, seinem Wesen nach, in wenige abstrakte danke muß, so umfassend er auch seyn mag, die voll-
Begriffe zusammengefaßt, dem Wissen zu überlie- kommenste Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum
fern« (W I, 131 (Lü)). Er beruft sich dabei, wie auch Behuf seiner Mittheilung, sich in Theile zerlegen; so
bei der Parallelstelle in der Ethik (vgl. W I, 494 (Lü)), muß doch wieder der Zusammenhang dieser Theile
auf Francis Bacon und bekennt sich somit sowohl zu ein organischer, d. h. ein solcher seyn, wo jeder Theil
einem empirischen Ansatz (vgl. Koßler 1999) als auch ebenso sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen ge-
zu einer neuzeitlich-aufklärerischen Tradition, die das halten wird [...]« (W I, 7).
philosophische Buch über die Welt an die Stelle der Bi-
bel setzt (vgl. Blumenberg 1986, bes. Kap. VIII). Obgleich es kontrovers ist, ob Schopenhauer den Be-
Die Zielsetzung, d. h. die »vollständige Wieder- griff ›System‹ synonym zu ›architektonisch‹ und als
holung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstrak- Gegenbegriff zu ›organisch‹ (vgl. Schubbe 2010, 50)
ten Begriffen« (W I, 131 (Lü)), verdeutlicht sich in ei- oder ob er ›System‹ als Oberbegriff für die beiden kon-
ner Analogie: Wenn der »Erkenntnißgrund« für die trären Teilbegriffe ›architektonisch‹ oder ›organisch‹
philosophischen Urteile »unmittelbar die Welt selbst« verwendet (vgl. Strub 2011, 106; ferner Bloch 1985,
(W I, 131) sei und diese durch die WWV abgespiegelt 369), lässt sich festhalten, dass in beiden Fällen ›archi-
werde, dann umfasst »Welt« als höchster Begriff (con- tektonisch‹ die Gegenmetapher zu ›organisch‹ bleibt,
ceptus summus) alle anderen Begriffe der WWV (con- so dass wir im Folgenden nur diese Dichotomie ver-
ceptus inferiores) ebenso wie auch die reale-unmittel- wenden. Somit lässt sich generell sagen: Schopenhau-
bare Welt alle anderen Entitäten in sich umfasst (vgl. er möchte sein Werk explizit nicht als Architektur ver-
Lemanski 2017). Ähnlich bringt für Arthur Hübscher standen wissen, sondern als Organismus. Der Unter-
auch schon der Titel »Die Welt als Wille und Vorstel- schied: Während die Architektur nach Schopenhauer
lung« den einen Gedanken »auf eine kurze Formel«: linear konstruiert ist, trägt in einem Organismus jeder
Er »kommt, in jeder Zeile gegenwärtig, in vier Bü- Teil den anderen, sie sind aufeinander verwiesen.
chern wie in vier symphonischen Sätzen zur allseiti- Schopenhauer versteht sein Werk also so, dass der
gen Entfaltung« (Hübscher 1952, 69). Sieht man auf letzte Teil ebenso den ersten trägt, wie der erste den
die letzten Sätze von § 15, so findet man eine Verbin- letzten. Die Zergliederung des Werks in vier Teile liegt
dung der beiden zuletzt genannten Ansätze: Wille und nach Schopenhauer somit nicht in der Sache, sondern
Vorstellung inklusive der darunter enthaltenen Glie- in der Problematik ihrer Mitteilung: Da nach ihm ein
der sind allesamt Teilbegriffe des Begriffs ›Welt‹, d. h. Buch eben eine erste und letzte Zeile haben müsse,
in dessen Begriffsumfang enthalten. Als höchster Be- bliebe kein anderer Weg, aber dies dürfe nicht mit
griff soll somit hier der Weltbegriff zwischen den an dem Gegenstand, mit dem einen Gedanken selbst ver-
sich widersprüchlichen Dichotomien vermitteln; »ih- wechselt werden. Dadurch kommt es nach Schopen-
re Harmonie zu einander, vermöge welcher sie sogar hauer zwangsläufig zu einem Widerspruch zwischen
zur Einheit eines Gedankens zusammenfließen, [...] Inhalt und Form (vgl. W I, 8 (Lü)), der aber mit einer
entspringt aus der Harmonie und Einheit der an- (mindestens) zweimaligen Lektüre des Buches be-
schaulichen Welt selbst« (W I, 132 (Lü)). hoben werden könne.
Allerdings wird in der neueren Forschung dis-
kutiert, ob der Widerspruch zwischen Inhalt und Form
Architektonik, System oder Organismus?
nicht weitreichendere Konsequenzen hat, als Schopen-
Die Forschungskontroverse, wie der Zusammenhang hauer einzugestehen bereit ist. So hebt Martin Booms
der vier Bücher der WWV zu verstehen ist, eröffnet (vgl. Booms 2003, 141–146) hervor, dass es bei Scho-
sich an den drei Metaphern ›Architektur‹, ›System‹ penhauer zwei unterschiedliche Selbsteinschätzungen
und ›Organismus‹, die im Kontext des einen Gedan- bezüglich der Anfangsproblematik gibt: Zum einen ist
kens auftauchen: dies die berühmte Thebenanalogie aus dem Jahr 1841
(vgl. E, 327 f. (Lü), häufig auch »Thebenmetapher«),
»Ein System von Gedanken muß allemal einen archi- derzufolge der Einstieg in Schopenhauers Philosophie
tektonischen Zusammenhang haben, d. h. einen sol- beliebig sei, da man von überall zum Mittelpunkt kom-
46 II Werk

men könne; zum anderen ist dies der im zweiten Band Begriff wie ›Welt‹ bis beispielsweise zu den konkreten
der Parerga und Paralipomena formulierte Gedanke, Vernunftdefinitionen von ›Lachen‹, ›Witz‹ und ›Narr-
dass »jede Philosophie anzuheben [hat] mit Unter- heit‹ (vgl. W I, 102 f. (Lü)) reicht. Aufgrund dieser stu-
suchung des Erkenntnißvermögens, seiner Formen fenförmigen Begriffsstruktur, die sich durch die ganze
und Gesetze, wie auch der Gültigkeit und der Schran- WWV hindurchzieht, ist es ratsam, anhand einschlä-
ken derselben« (P II, 24 f. (Lü)). Nach Booms kommt es giger Stellen zu verfolgen, dass Schopenhauer mit der
damit bereits am Anfang zu einer antinomischen Ver- Architekturmetapher eine aus Allgemeinbegriffen
wicklung – er spricht von einer Methodenantinomie –, und Prinzipien nur ableitende Philosophie kritisiert
da die eine Bestimmung die andere ausschließt. Mehr (vgl. W I, 130 (Lü)), wie er sie exemplarisch für die
noch: Nach Booms ist die Form inhaltsprägend, so dass Neuzeit bei Spinoza oder Wolff sieht (vgl. Strub 2011,
der Beginn mit der Erkenntnislehre – die er transzen- 106 f.). Die Begriffsstruktur der WWV ist somit eine
dentalistisch interpretiert – derart theorieinitiierend der bedeutenden Leistungen des Werks, aber sie kann
wirkt, dass Schopenhauers Philosophie insgesamt zu nur ein Gesamtresultat und nicht die Methode der
einer Transzendentalphilosophie wird. Die Primärstel- WWV sein, da Schopenhauer sonst wiederum an Spi-
lung der Erkenntnislehre werde damit zu einer Fun- noza und Wolff anknüpfen würde. Die genaue Struk-
damentalstellung. Für Booms trägt die Anfangsproble- tur ist in der gegenwärtigen Forschung noch nicht
matik entscheidend zur Frage nach einer Charakteri- ausgearbeitet (vgl. Lemanski 2017).
sierung des Werks insgesamt bei. b) Die Forschung hat sich hingegen bislang intensi-
Angesichts der gegenseitigen Abhängigkeit von ver mit der Themenstruktur beschäftigt, die einerseits
Form und Inhalt fragt Schubbe gegenüber Booms zu- für die noch genauer zu untersuchende Linearität von
nächst danach, was denn bei Schopenhauer über- Bedeutung ist, andererseits sich teilweise der Archi-
haupt als Inhalt und Form bestimmt werden soll (vgl. tekturmetapher dadurch annähert, dass sie die Positi-
Schubbe 2010, 25–31). Indem Schubbe den deskripti- on bestimmter Themen innerhalb des Werks festsetzt:
ven Charakter der Erkenntnislehre und den von Scho- Wie am Beispiel von Booms bereits gezeigt, steht von
penhauer herausgestellten didaktischen Sinn des Be- einigen Interpreten die Behauptung im Raum, dass
ginns mit der Erkenntnislehre betont, versucht er zu der Anfang der WWV mit der Erkenntnislehre nicht
zeigen, dass der Erkenntnislehre weder ein Begrün- ohne weiteres beliebig sei, da »[j]eder transzendente
dungsstatus zukommt, noch diese die Form des Werks Dogmatismus [...] vermieden werden« soll (Spierling
festlegt; vielmehr müsse die Gesamtform des Werks 1998, 49), bzw. weil sie »das Teilstück der Darstellung
als die Form angesehen werden, von der der Inhalt des prozessualen Geschehens [ist], wodurch dieses
nicht abstrahiert werden kann. Da Schubbe zwischen Geschehen eröffnet wird« (Malter 1991, 53). Ebenso
dem performativ-indirekten einen Gedanken und festgesetzt erscheint für viele Interpreten der Schluss
vielen direkten Gedanken unterscheidet, liegen für der WWV. Besonders einschlägig für diese Position
ihn die Thebenanalogie und die Anfangsbestimmtheit war Franz Rosenzweigs Rede von der Schopenhauer-
schlicht auf verschiedenen Ebenen: Die Thebenanalo- schen Innovation eines »systemerzeugten Heiligen
gie bezieht sich auf den einen Gedanken, die didak- des Schlußteils«, der »den Systembogen schloß, wirk-
tisch verstandene Anfangsbestimmtheit auf die direk- lich als Schlußstein schloß, nicht etwa als ethisches
ten Gedanken, durch die hindurch der eine Gedanke Schmuckstück oder Anhängsel ergänzte« (Rosen-
im günstigen Fall provoziert wird. zweig 1921, 8 f.). Eduard von Hartmann spricht eben-
Doch zurück zur Frage, was für die Metapher der falls von einer Hervorhebung des Nichts, die von
Architektonik (1) oder des Organismus (2) spricht. Schopenhauer »wiederholentlich und mit Nachdruck
als der Gipfel nicht nur seiner Ethik, sondern auch sei-
1) Trotz der expliziten Vereinnahmung der Organis- nes ganzen philosophischen Systems bezeichnet wor-
musmetapher für sein Werk findet man (a) bei Scho- den« ist (Hartmann 1924, 54). Schopenhauers Religi-
penhauer selbst (vgl. z. B. W II, 420 (Lü)) und (b) in onsphilosophie, der Heilige und das Nichts werden, so
der Forschung eine Annäherung an die Architektur- Hans Zint, somit zum »leuchtenden Schlußpunkt sei-
metapher. ner ganz Philosophie« (Zint 1930, 63). Insofern weist
a) Die meisten gesperrt gesetzten Allgemeinbegrif- auch Gerhard Klamp darauf hin, dass das dritte Buch
fe in der WWV bilden eine der klassischen Begriffs- nur eine »Vorschule« für die »eindrucksvolle[n]
logik entsprechende hierarchische Struktur (vgl. z. B. Schlusspartien« (Klamp 1960, 83) des vierten Buchs
W II, 76 (Lü); VN I, 259–276), die vom abstraktesten sein könne. Das feste Themenarrangement ausgehend
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 47

von der Erkenntnistheorie bis hin zur ›mystischen und dessen Flucht ins Nichts beschreibt, so war es für
Ontologie‹ geht bei den meisten Forschern mit einem viele Interpreten naheliegend, dass der Autor seinem
linearen Verständnis des Aufbaus der WWV einher. Leser »zumuthe[.], den Willen zum Leben [...] zu ver-
Ein anderes architektonisches Bild, das die Position neinen« (Weigelt 1855, 156). Daher erklärt auch Paul
der Ethik festsetzt, kann aber auch mit der Theben­ Deussen, dass Schopenhauers Ethik zuletzt doch »ei-
analogie erreicht werden, wenn man auf das Verhältnis ne Imperativische Form hat. Sie liegt für ihn darin,
von Peripherie und Zentrum rekurriert: Johann Au- dass er die Verneinung des Willens zum Leben der Be-
gust Becker (vgl. Becker 1883, 4) und Karl Werner Wil- jahung durchweg als das Höhere, Bessere gegenüber-
helm (vgl. Wilhelm 1994, 10) interpretieren die The­ stellt« (Deussen 1917, 555). Allerdings wird in diesem
ben­analogie so, dass die ersten drei Bücher der WWV Zitat eine Differenz verwischt, die anderen Interpre-
periphere Zugangswege bilden, alle Zugänge aber zum ten zufolge einen »Zwischenweg« zwischen einer nor-
zentralen Kern führen, welcher die Ethik im letzten mativen oder deskriptiven Lesart aufzeigen kann: Es
Buch sei. ist durchaus möglich, einzuräumen, dass Schopen-
hauer sein Werk deskriptiv verstanden wissen will,
2) An die Vereinnahmung der Organismusmetapher aber dennoch den Figuren der Weltüberwindung ei-
für sein Werk halten sich sowohl (a) Schopenhauer nen wertvolleren, höheren Status einräumt als den Le-
selbst an vielen Stellen als auch (b) in jüngerer Zeit im- bensbejahern. Eine solche axiologische Lesart ist wer-
mer mehr Forscher. tend, aber nicht präskriptiv. Eine deskriptive Lesart ist
a) Schopenhauer selbst hebt hervor: Wenn man hingegen weder normativ noch axiologisch. Da sich
den einen Gedanken »von verschiedenen Seiten be- die drei Lesarten am deutlichsten in der Interpretation
trachtet, zeigt er sich als Das, was man Metaphysik, der Schopenhauerschen Willensverneinung zeigen,
Das, was man Ethik und Das, was man Aesthetik ge- kann man orientierungsweise festhalten:
nannt hat« (W I, 7 (Lü)).
b) Aus diesem Grund, meint Robert Jan Berg, gebe (1) Normative Interpretation: Schopenhauer will sei-
es »prinzipiell beliebige Zugangswege« (Berg 2003, 99) nen Leser von der Willensverneinung überzeu-
in den Organismus des Werks. Obwohl Schopenhauer gen, so dass dieser sie praktisch umsetzt.
im ersten Buch der WWV die Welt als Wille aus der (2) Axiologische Interpretation: Schopenhauer be-
Welt als Vorstellung argumentativ entwickelt, könnte schreibt die Willensverneinung nur, bewertet sie
ein Leser doch ebenso gut mit dem zweiten Buch be- aber als besser im Vergleich zur Lebensbejahung.
ginnen, da Schopenhauer dort anders herum auch die (3) Deskriptive Interpretation: Schopenhauer be-
Welt als Vorstellung aus der Welt als Wille genetisch schreibt Willensverneinung und -bejahung nur
erklärt und beide Bücher sich somit wechselseitig er- und zwar beide gleichwertig.
gänzen, also die Priorität der jeweiligen ›Welt‹ nur
durch die Methodik des Themas – Erkenntnistheorie Das von Schopenhauer nicht verwendete, aber in der
oder Naturphilosophie – entschieden wird. Die belie- Forschung intensiv diskutierte Reizwort ›Soteriologie‹
bige Stellung der Schlusspassagen wird zudem durch (bzw. Erlösungslehre, ferner: Befreiungslehre) fällt in
die Neuformulierung der WWV in den Vorlesungen den Bereich der Willensverneinung und kann daher
Schopenhauers deutlich, in der Schopenhauer nicht (1) normativ, (2) axiologisch oder aber (3) deskriptiv
mit »Nichts«, sondern mit einem metaphilosophi- interpretiert werden. Prinzipiell divergieren aber alle
schen Thema endet (vgl. VN IV, 271 ff.). Innerhalb der drei Lesarten auch an anderen Fragestellungen, bei-
organischen Lesart wäre somit auch eine alternative spielsweise an der Interpretation von Idealismus und
Fassung der WWV denkbar, die nicht mit der Vernei- Empirismus im ersten Buch der WWV.
nung, sondern mit der Bejahung des Willens endet. Zu den Vertretern einer axiologischen Interpretati-
on der Soteriologie könnte man Malter zählen, dem-
zufolge das Hauptwerk als ein vom Autor beschriebe-
Die WWV: Normatives, axiologisches oder
ner Prozess der Befreiung zu verstehen ist: »Die for-
deskriptives Gedankengebäude?
melhafte Nennung des einen Gedankens indiziert ei-
Sehr früh hat die architektonische Festsetzung und nen Prozeß: den Prozeß, in welchem die Befreiung des
Fokussierung auf das Ende der WWV die lineare In- Subjekts von seiner negativen Befindlichkeit stattfin-
terpretation mit einer normativen gekoppelt: Wenn det« (Malter 1991, 52). Der Fortgang erfolgt nach
Schopenhauer am Ende seines Werks den Asketen Malter über verschiedene Krisen bis zur Erlösung:
48 II Werk

»Die Philosophie Schopenhauers kann sich nur deswe- covery of what the world is, disclosure of the world’s
gen als Soteriologie [...] artikulieren, weil das befrei- essence« (De Cian/Segala 2002, 31). Jens Lemanski
end-erlösende Moment schon ursprünglich im Subjekt versucht in diesem Zusammenhang zu zeigen, dass
angelegt ist. Nachzuzeichnen, wie es zu seiner Aktivie- die normative Interpretation, die die WWV auch im
rung kommt und wie der Wille – trotz seiner ihm eige- deutschen Sprachraum als negatives, pessimistisches
nen Substantialität – das Subjekt nicht mehr be- und lebensverneinendes Werk deutet, selbst durch
stimmt, ist das Ziel, auf das hin sich das Schopenhau- Schopenhauers Spätschriften und Überarbeitungen
ersche System dank des Transzendentalismus, der es begünstigt wurde und sich aufgrund der Fehlinterpre-
leitet, bewegt« (Malter 1991, 55). tationen Mainländers, Hartmanns und besonders
Nietzsches in der Philosophiegeschichte etablieren
Hieran sieht man, dass der Zusammenhang zwischen konnte. Deutlich wird dies Lemanski zufolge an der
›Transzendentalismus‹ (Leitgedanke) und ›Erlösungs- sogenannten »Weigelt-Becker-Kontroverse«, in der
lehre‹ (Ziel) zu einer linearen Interpretation des Schopenhauer und seine engsten Schüler in den
Werks führt. Die zielgerichtete Interpretation Malters 1850er Jahren sich selbst gegen die linear-normative
schränkt den Ausdruck ›Soteriologie‹ auf eine norma- Lesart wehren und zur Deutlichkeit der Erstauflage
tive oder axiologische Interpretation ein, da auch Mal- der WWV zurückfinden, in der die Abspiegelung der
ter zwischen den beiden Interpretationsrichtungen Welt stärker heraussticht als im Spätwerk (vgl. Le-
schwankt. Entsprechende Konnotationen finden sich manski 2013, 153–161).
auch bei Alfred Schmidt: »Resignation ist die schwer Einen weiteren Gegenpart findet die linear-soterio-
beschreibbare Grundstimmung, in die Schopenhau- logische Interpretation in einer morphologischen Les-
ers Denken einmündet« (Schmidt 1986, 75). Die Me- art (vgl. Schubbe 2010 und 2012). Nach dieser sind die
tapher des »Einmündens« drückt hier eben diese Ziel- in den vier Büchern der WWV explizierten Erkennt-
gerichtetheit aus, die entweder eine Prävalenz der nisformen und Mensch-Welt-Beziehungen erkennt-
Willensverneinung ausdrücken kann (axiologisch) nistheoretisch und ontologisch als gleichrangig zu be-
oder eine Lenkung zu derselben bewirken soll (nor- trachten (vgl. Schubbe 2012).
mativ). Ein Verständnis des Werks im Zeichen einer Allerdings könnte es sein, dass die Rede von einer
Linearität und Normativität oder Axiologie speist sich reinen Deskriptivität der WWV noch von einer ande-
somit vor allem aus einer spezifischen Interpretation ren Seite als der einer normativen oder axiologischen
des Stils, des Kontextes der Schlusspasssagen und aus Lesart eingeschränkt werden muss: Da Schopenhauer
späteren Selbstaussagen Schopenhauers. Komple- in Bezug auf seine Metaphysik nicht nur von einer Be-
mentär zur axiologischen oder normativen Soteriolo- schreibung der Welt spricht, sondern auch von ihrer
gie in der Ethik, die besonders in der deutschsprachi- Auslegung (s. Kap. 40), knüpft sich hier die schließlich
gen Forschung diskutiert wird (Stichwort: ›Erlösung auch im Kontext der Phänomenologie und Herme-
durch Erkenntnis‹), wird in der spanisch- und beson- neutik viel diskutierte Frage an, inwiefern ›Beschrei-
ders in der englischsprachigen Forschung eine axiolo- bung‹ und ›Auslegung‹ sich gegenseitig ausschließen
gische oder normative Befreiungslehre in der Ästhetik oder aufeinander verweisen.
diskutiert (Stichwort: ›art as liberation‹).
Vertreter einer rein deskriptiven Lesart berufen
Widersprüche und Aporien in der WWV
sich dagegen vor allem auf die Anfangspassagen des
vierten Buchs der WWV, in denen Schopenhauer er- Sehr früh – so bereits 1819 von einem anonymen Re-
klärt, dass auch seine Ethik nur theoretisch-betrach- zensenten – wurde in der Schopenhauer-Rezeption
tend bleibt und nichts vorzuschreiben empfiehlt (W I, auf Aporien oder Widersprüche in der WWV auf-
357 f. (Lü)). Für Koßler ist dies der Grund von einer merksam gemacht. Diese Diskussion durchzieht die
»empirischen Ethik« zu sprechen und mehrfach zu Schopenhauer-Forschung bis in die Gegenwart, wobei
betonen, dass Schopenhauer auch »Ethik nicht prae- auffällt, dass weder Einigkeit darüber herrscht, welche
skriptiv, sondern ›deskriptiv‹ versteht« (1999, 434). Sachverhalte denn als ›Widersprüche‹ anerkannt wer-
Nicoletta De Cian und Marco Segala behaupten, dass den sollen, noch wie diesbezüglich terminologisch
besonders die englischsprachige Schopenhauer-For- verfahren werden soll – so ist beispielsweise von Wi-
schung eine simplifizierte und verzerrte Interpretati- dersprüchen, Aporien, Antinomien und Zirkeln die
on und Rezeptionsgeschichte beschworen hat, wäh- Rede. Zudem lassen sich verschiedene Einschätzun-
rend Schopenhauers hauptsächliches Ziel lautet: »dis- gen und Bewertungen der Problematik finden, die
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 49

sich grob in vier Gruppen einteilen lassen (zu einer er ein Philosoph, »der besonnen reflektiert, der der
Zusammenstellung von Autoren, die sich zu dem The- Differenz von Begriff und Sache methodisch ein-
ma geäußert haben vgl. Malter 1991, 48, Anm. 25; zur gedenk bleibt, der dem apriorisch-idealistischen Iden-
folgenden Systematisierung vgl. auch Booms 2003, titätsdenken Einhalt gebietet« (Spierling 1998, 240).
23 f.): Während einige Interpreten die ›Widersprüche‹ Im Anschluss an die Rede von der »vergessenen
bei Schopenhauer als Missverständnisse der Ankläger Dialektik« hat Matthias Koßler den Versuch unter-
zu entlarven versuchen bzw. diese wohlwollend hinter nommen, anhand eines Vergleichs mit Hegels Phäno-
den Leistungen Schopenhauers zurücktreten sehen menologie des Geistes eine implizite, durch die Wider-
(z. B. Hübscher 1988, 254–265), lesen andere Interpre- sprüche hindurchgehende spekulativ-dialektische
ten die ›Widersprüche‹ als Ausdruck einer misslun- Entwicklung in der WWV nachzuweisen, die in der
genen Theorie (z. B. Booms 2003; Hösle 2002, 78). »Erfahrung des Charakters« kulminiert (vgl. Koßler
Während diese beiden Gruppen trotz ihrer Divergen- 1990 und 2002).
zen die ›Widersprüche‹ einheitlich als negativ oder In neuerer Zeit ist das Problem der Aporien ins-
problematisch erachten, lässt sich eine dritte Gruppe besondere von Booms, Kai Haucke und Schubbe auf-
identifizieren, die diese als konstitutiven, positiven gegriffen worden (zu den folgenden Ausführungen
Bestandteil des Denkens Schopenhauers versteht vgl. Bernardy/Schubbe 2011, 250 ff.). Martin Booms
(vgl. z. B. Spierling 1998, 223–240; Schubbe 2010). Ei- (vgl. Booms 2003) radikalisiert die transzendentalisti-
ne vierte Gruppe bilden diejenigen, die die begriff- sche Lesart Rudolf Malters, indem er die verschiede-
lichen Widersprüche in der WWV als Abbild einer nen transzendentalen Ebenen, die Malter bei Scho-
realen Widersprüchlichkeit in der Welt auffassen (vgl. penhauer ausgemacht hat, zu einem Transzendentalis-
Haucke 2007; Lemanski 2013, 170 ff.). mus verbindet. Allerdings handelt es sich nach Booms
Die jüngere Forschung ist wesentlich durch den Zu- – darin wird seine pejorative Bewertung der Aporetik
gang zu diesem Problem geprägt, den Volker Spierling sichtbar – um einen fehlerhaften Transzendentalis-
1977 mit seiner Dissertation Schopenhauers transzen- mus, der sich aus einem Missverständnis der Philoso-
dentalidealistisches Selbstmißverständnis in die Diskus- phie Kants seitens Schopenhauers ergibt. Aus einer
sion eingebracht und nachfolgend wiederholt auf- falschen Konzeption des Transzendentalismus im ers-
gegriffen und präzisiert hat. Im Kern dieses Ansatzes, ten Buch ergibt sich eine Aporetik zwischen subjekti-
der zugleich einen Blick auf die Gesamtkonzeption der vistischen und materialistischen Aspekten. Die drei
WWV eröffnet, macht Spierling auf sich wiederholen- folgenden Bücher des Hauptwerks versuchen nach
de Stellen im Gesamtwerk Schopenhauers aufmerk- Booms nichts anderes als den jeweiligen Bruch im
sam, an denen dieser davon spricht, dass jeder Gedan- nächsten Buch wieder aufzuheben. Da der Fehler sich
ke in der Philosophie gleichsam durch einen Perspek- aber auf jeder Ebene wiederhole, erzeuge jedes Buch
tivenwechsel in seiner Einseitigkeit kompensiert wer- einen neuen Versuch, bis das Werk – derart in sich
den müsse (vgl. z. B. P II, 39 (Lü)). Mit diesem Hinweis selbst verwickelt – schließlich im Nichts endend sich
versucht Spierling zu zeigen, dass das Werk Schopen- selbst erlöse (vgl. Booms 2003, 153).
hauers an drei entscheidenden Stellen eben jene Form Der zweite hier vorzustellende Versuch, sich der
der Kompensation – die von Spierling sogenannten Aporetik in Schopenhauers Hauptwerk im Sinne einer
»Kopernikanischen Drehwenden« – aufweist, und die Gesamtinterpretation des Werks zu nähern, ist der
›Widersprüche‹ vielmehr methodologisch als »Stand- von Kai Haucke (vgl. Haucke 2007). Wie Haucke zu
punktwechsel« im Sinne einer »vergessenen Dialektik« zeigen versucht, ist die grundlegende Aporie bei Scho-
(so ein Teil des Untertitels von Spierling 1977) zu ver- penhauer in seinem Pessimismus zu suchen. Dieser ist
stehen sind. Die Wechsel zwischen Materialismus und nur zu verstehen, wenn man seine beiden Bestandteile
Idealismus, zwischen metaphysischer und hermeneu- – nämlich einen Maximalismus und einen Aktivismus
tischer Betrachtung des Dinges an sich und des Lebens – berücksichtige: Überzogene Erwartungshaltung
als zu bejahend und verneinend – so die drei »Dreh- kombiniert mit dem Anspruch, diese auch erreichen
wenden« nach Spierling – lassen sich damit als kon- zu können. Gerade aber weil diese Kombination fak-
zeptionelle Figuren des Aufbaus der WWV verstehen. tisch nicht gelingen kann, komme es bei Schopenhau-
Der konstitutiv-positive Sinn der Drehwenden besteht er zu einem Umschlag von Allmacht in Ohnmacht,
für Spierling darin, dass diese einer Ambivalenz Rech- aus dem sich die einzelnen Aporien ergeben. Ihren
nung tragen, die es vermeiden hilft, einen absoluten Sinn erhalten die Aporien in der »Wunschlogik«
Standpunkt zu postulieren. Vielmehr sei Schopenhau- (Haucke 2007, 109) des Pessimismus.
50 II Werk

Wie bereits erwähnt, versucht Schubbe im An- digen und allgemeiner Metaphysik. Betrachtungen in kri-
schluss an Spierling den Aporien einen systemati- tischem Anschluss an Schopenhauer. In: Ders. (Hg.):
schen Status zu verleihen (vgl. Schubbe 2010). Im Metaphysik. Herausforderungen und Möglichkeiten. Stutt-
gart-Bad Cannstatt 2002, 59–97.
Zentrum seiner Auslegung steht der Versuch, Scho- Hübscher, Arthur: Schopenhauer. Biographie eines Weltbil-
penhauers Philosophie nicht von den in den einzelnen des. Stuttgart 1952.
Büchern explizierten Polen (Subjekt, Objekt; Selbst- Hübscher, Arthur: Denker gegen den Strom. Schopenhauer:
bewusstsein/Leib, Ding an sich; reines Subjekt des Er- Gestern – Heute – Morgen. Bonn 1988.
kennens, Idee; Mitleidender, Leidender) her zu lesen, Janaway, Christopher: Introduction. In: Ders. (Hg.): The
Cambridge Companion to Schopenhauer. Cambridge 1999,
sondern von den Beziehungen zwischen diesen Polen:
1–17.
Korrelation, Analogie, Kontemplation und Mitleid. Klamp, Gerhard: Die Architektonik im Gesamtwerk Scho-
Im Mittelpunkt steht somit ein »Zwischen«, aus dem penhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 41 (1960), 82–97.
die einzelnen Pole erwachsen. Die Aporien zeigen sich Koßler, Matthias: Substantielles Wissen und subjektives Han-
schließlich als Figuren, die dieses Zwischen deutlich deln, dargestellt in einem Vergleich von Hegel und Schopen-
werden lassen sollen. Indem die Aporien Grenzen der hauer. Frankfurt a. M. 1990.
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral.
jeweiligen Position aufzeigen, weisen sie über diese hi- Zur Differenz einer areligiösen und einer religiösen Grund-
naus in einen Bereich, der sich sprachlich-begrifflich legung der Ethik am Beispiel der Gegenüberstellung Scho-
oder propositional nicht oder nur eingeschränkt ver- penhauers mit Augustinus, der Scholastik und Luther.
deutlichen lässt. Wie bei Spierling werden die Aporien Würzburg 1999.
so zu einem Bestandteil der Explikationsform des Koßler, Matthias: Die Philosophie Schopenhauers als Erfah-
rung des Charakters. In: Dieter Birnbacher/Andreas
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Weigelt, G[eorg Christian]: Zur Geschichte der neueren Phi- tet hier: An welchen Maßstäben müssen sich Erkennt-
losophie. Populäre Vorträge. Hamburg 1855.
Weimer, Wolfgang: Ist eine Deutung der Welt als Wille und
nisansprüche messen lassen? Sobald es um Erkenntnis
Vorstellung heute noch möglich? In: Schopenhauer-Jahr- als Erlösung geht, bedient sich Schopenhauer einer
buch 76 (1995), 11–51. vorwiegend psychologischen Sprache: Wie stellen sich
Wilhelm, Karl Werner: Zwischen Allwissenheitslehre und die zu erreichenden Erkenntniszustände dar und wie
Verzweiflung. Der Ort der Religion in der Philosophie Scho- kommen sie zustande? Wie Kant und die Philosophie
penhauers. Hildesheim 1994.
seiner Zeit generell trennt Schopenhauer dabei nicht
Zint, Hans: Das Religiöse bei Schopenhauer. In: Jahrbuch
der Schopenhauer-Gesellschaft 17 (1930), 3–76. ganz konsequent zwischen den normativen und den
psychologischen Aufgabenstellungen der Erkenntnis-
Jens Lemanski / Daniel Schubbe theorie. Die Frage nach den Maßstäben der Erkenntnis
wird nicht immer unterschieden von der Frage, wie Er-
kenntnis – in ihren verschiedenen Arten – de facto
6.3 Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie funktioniert. Und noch in einem weiteren Punkt, der
die Darstellung seiner Erkenntnistheorie erschwert, la-
Schopenhauers Erkenntnis- und Wissenschaftstheo- boriert Schopenhauers Erkenntnistheorie an einer Hy-
rie ist kein einheitlicher und zusammenhängender pothek seines Lehrmeisters Kant, der engen Verzah-
Entwurf. Wie seine Philosophie insgesamt weist sie nung von Erkenntnistheorie und Metaphysik. Auch
Ambivalenzen und Unentschiedenheiten auf, begrün- bei Schopenhauer wird Erkenntnis von vornherein in
det in der Mittlerstellung dieser Philosophie zwischen einen metaphysischen Rahmen gestellt und mit Über-
der kantischen Transzendentalphilosophie und einem legungen zum metaphysischen Verhältnis zwischen
neuen Typus von Philosophie, dem einer auf die Exis- Ich, Welt und Wesen der Welt verbunden.
tenzphilosophie vorausweisenden Welt-Hermeneu- Im Folgenden seien zunächst die Züge von Scho-
tik. Auf der einen Seite übernimmt Schopenhauer von penhauers Erkenntniskonzeption genannt, die er von
Kant den transzendentalphilosophischen Rahmen Kant – zumeist leicht modifiziert – übernimmt. Im
und stellt die a priori und unabhängig von der Erfah- Anschluss wende ich mich dann den für Schopen-
rung zu erkennenden »Bedingungen der Möglich- hauer eigentümlichen Aspekten seiner Erkenntnis-
keit« der Erfahrung in den Mittelpunkt. Auf der ande- theorie sowie seiner Wissenschaftstheorie zu. Gerade
ren Seite erweitert er diesen Rahmen um weitere Er- mit der letzteren macht Schopenhauer einen großen
kenntnisarten intuitiver Art, auf die er zur Begrün- Schritt über Kant hinaus und kommt zu Einsichten,
dung der Willensmetaphysik nicht verzichten kann: die gemeinhin erst späteren Denkern zugeschrieben
die Selbsterkenntnis des Subjekts als Wille, die Er- werden.
kenntnis der Welt als Ausprägung (»Objektivierung«)
des »Willens«, nicht zuletzt diejenigen Formen der Er-
Das Erbe Kants
kenntnis, von denen er die Erlösung aus der Tretmüh-
le des Willens erhofft. Für Schopenhauer wie für Hume und Kant unter-
Die Vielfalt der »Erkenntnisformen« in Schopen- scheiden sich die Kriterien, aber auch die Quellen und
hauers Philosophie (vgl. Schubbe 2012, 364 ff.) bedingt Verfahrensweisen der einzelnen Erkenntnisarten, und
eine entsprechende Vielgestaltigkeit seiner Theorie der zwar nach ihren Gegenständen und den Arten von
52 II Werk

Wahrheit und Wissen, auf die sie jeweils zielen. Das Logik auf Aussagen beliebiger Art anwendbar, vor al-
heißt nicht, dass es nicht auch einige allgemeine Merk- lem auch auf aus der Anschauung gewonnene empiri-
male der Erkenntnis gibt. Diese Gemeinsamkeiten sche Aussagen. Die Axiome, von denen sie ausgeht,
sind allerdings mehr oder weniger formal. So geht sind nicht notwendig ihrerseits apriorischer Art.
Schopenhauer wie Kant davon aus, dass Erkenntnis Schopenhauer geht sogar so weit, das axiomatische
eine Bewusstseinsleistung ist und dass das Subjekt der System, bei dem eine Vielzahl von Aussagen aus einer
Erkenntnis (die Person, das Ich) notwendig bewusst begrenzten Zahl von Prämissen abgeleitet wird, zum
ist. Eine unbewusste Erkenntnis lässt auch Schopen- schlechthinnigen Modell und Ideal der empirischen
hauer, der Philosoph des Unbewussten, nicht zu. Au- Wissenschaft zu erklären. Erst in ihrer abstrakten Ge-
ßerdem teilt Schopenhauer die Annahme seiner Vor- stalt, als System, in dem das Einzelne und Konkrete
gänger, dass Erkenntnis jedes Mal eine Relation zwi- aus »obersten Sätzen« (W I, 75) abgeleitet werden
schen einem Erkenntnissubjekt und einem Erkennt- kann, erreichen wissenschaftliche Theorien die Voll-
nisobjekt ist, wobei sich dieses Verhältnis allerdings ständigkeit, die sie über das stets bruchstückhafte All-
verschieden darstellt, je nachdem, ob es sich bei den tagswissen erhebt: »Die Vollkommenheit einer Wis-
Objekten um analytische Sachverhalte handelt (wie in senschaft als solcher, d. h. der Form nach, besteht da-
der Logik), um transzendentale (wie in der nach den rin, dass so viel wie möglich Subordination und wenig
Bedingungen der Erfahrung überhaupt fragenden Koordination der Sätze sei« (W I, 75 f.). Die Folge da-
Transzendentalphilosophie) oder um empirische (wie von ist, dass Schopenhauer Wissenschaften wie die
in den Wissenschaften). Physik, die eine solche axiomatische Behandlung zu-
Die auffälligsten Übereinstimmungen mit Kant lassen, deutlich höher bewertet als Wissenschaften
zeigen sich bei Schopenhauer in drei Punkten: in dem, wie die Geschichtswissenschaft, die überwiegend Ein-
was er über die für die Logik und für die Transzenden- zeltatsachen und ihre Hintergründe erforschen und
talphilosophie zuständigen Erkenntnisarten zu sagen insofern hinter dem Ideal des durchstrukturierten
hat sowie in seiner konstruktivistischen Theorie der Systems zurückbleiben. Zwar betont Schopenhauer
Wahrnehmung empirischer Sachverhalte. immer wieder den unersetzlichen Wert der Anschau-
Die Logik hat es für Schopenhauer mit analytischen ung, sowohl bei den a priori erkennbaren Wahrheiten
Relationen zwischen Aussagen zu tun, und zwar mit- der Mathematik als auch bei den empirischen Wahr-
hilfe deduktiver Ableitungs- und Schlussregeln. Inso- heiten der Naturwissenschaften (»Die ganze Welt der
fern sei die Logik nicht nur gänzlich a priori, sondern Reflexion ruht auf der anschaulichen als ihrem Grun-
sogar »abgeschlossen«, »in sich vollendet« und »voll- de des Erkennens«, W I, 48 f.). Aber seine Forderung,
kommen sicher« (W I, 55). Allerdings führe eine Ab- mathematische Begründungen so weit wie möglich
leitung, auch wenn sie gültig ist, nur dann zu wahren durch anschauliche Begründungen zu ersetzen, be-
Aussagen, wenn auch die Voraussetzungen, mit denen zieht sich, sieht man genauer hin, durchweg auf den
sie operiert, wahr sind. Eine logisch gültige Schluss- Aspekt der Vermittlung und nicht auf die systemati-
folgerung ist insofern nur dann ein Beweis, wenn un- sche Begründung. So sollen etwa die Wahrheiten der
abhängig die Wahrheit der Prämissen gesichert ist. Geometrie im Unterricht vorzugsweise nicht mithilfe
Dass die Logik »vollkommen sicher« ist, heißt aller- ihrer Ableitung aus der euklidischen Axiomatik, son-
dings auch, dass sie keinerlei neuen Gehalte hervor- dern aus der unmittelbaren Anschauung erklärt wer-
bringt. Sie arbeitet stets nur das heraus, was an Gehal- den, oder die Fallgesetze aus der anschaulichen De-
ten in den Prämissen – möglicherweise verborgen – monstration ihrer konkreten Erscheinungsformen
enthalten ist. Sie erweitert die Erkenntnis über die Er- statt durch ihre Ableitung aus den Newtonschen Axio-
kenntnis der Prämissen hinaus nur in dem Sinne, dass men. Zu einem wirklichen Verständnis eines Lehrsat-
sie explizit macht, was vorher implizit war. zes bedürfen wir in der Regel einer anschaulicheren
Daraus ergeben sich zwei wichtige und von Scho- Erklärung, als sie eine logische Ableitung aus den
penhauer immer wieder betonte Folgerungen: Erstens Axiomen bieten kann. Diese bleibt eine »Krücke für
kann die Logik, da ihre Erkenntnis stets nur Relatio- gesunde Beine« (W I, 86). Das durch wie immer über-
nen betrifft, nicht selbst die Voraussetzungen begrün- zeugende Einzelbefunde erreichte Wissen ist jedoch
den, von denen sie ausgehen muss. Diese müssen an- noch kein eigentliches wissenschaftliches Wissen.
derweitig begründet sein, etwa, wie in der Logik Dieses erfordert für Schopenhauer zwingend die logi-
selbst, in unmittelbar evidenten Sätzen wie dem Satz sche Zurückführung des Einzelnen auf die obersten
vom ausgeschlossenen Widerspruch. Zweitens ist die Grundsätze.
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 53

Kant ist Schopenhauer auch in seiner Darstellung rerseits folgt, dass, soweit das Kausalprinzip auf die
des transzendentalen Wissens verpflichtet. Transzen- Welt der Erfahrung begrenzt ist, eine Metaphysik, die
dentales Wissen bezieht sich auf a priori erkennbare die Erfahrungswelt übersteigen will, auf kausale Er-
Wahrheiten, die gleichzeitig synthetisch sind, insofern klärungen verzichten muss. Soweit sie darauf zielt,
sich bei ihnen die Folgerungen nicht aus den implizi- die Existenz und Beschaffenheit der Erfahrungswelt
ten Gehalten ihrer Voraussetzungen ergeben, sondern als Ganzer zu erklären, muss sie sich anderer, nicht-
diesen Gehalt erweitern und etwas über die Erfah- kausaler Formen der Erklärung bedienen. Auch die
rungswelt aussagen. Als Aussagen über die grund- Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und
legenden Strukturen der Erfahrungswelt sind sie zu- seinen Gegenständen kann nicht als ein Kausalver-
gleich für jede Art von empirischem Wissen verbind- hältnis gedacht werden, schon deshalb, weil das Sub-
lich. Dazu gehören für Schopenhauer sowohl die jekt der Erkenntnis notwendig außerhalb der Welt
raumzeitliche Struktur der Erfahrungswelt (das »prin- der »Vorstellungen« und damit außerhalb des An-
cipium individuationis«) als auch das Kausalprinzip, wendungsbereichs der Kausalität liegt: »Das erken-
verstanden als das Prinzip, dass jede Veränderung ei- nende und bewußte Ich [...] hat [...] nur eine beding-
ne Ursache hat, aus der sie mit Notwendigkeit folgt te, ja eigentlich bloß scheinbare Realität« (W II,
(wobei »Veränderung« bei Schopenhauer so zu ver- 314 f.). Wir müssen es aus logischen Gründen anneh-
stehen ist, dass ausnahmsweise die gleichförmige Be- men, da es eine formale Voraussetzung jeder Er-
wegung eines Körpers im Raum keine Veränderung, kenntnis ist. Aber seinem Wesen nach ist es un-
sondern lediglich die Änderung seiner Bewegungsart erkennbar. Ebenso wenig lässt es eine Erkenntnis da-
oder -richtung eine Veränderung bedeutet). Erkannt rüber zu, in welcher Weise es am Prozess der Er-
werden diese Prinzipien nach Schopenhauer auf- kenntnis beteiligt ist.
grund ihrer Evidenz: »Die Apriorität eines Theils der An Kants theoretische Philosophie knüpft auch
menschlichen Erkenntniß wird von ihr [der Metaphy- Schopenhauers kausale Theorie der Wahrnehmung an,
sik] als eine gegebene Thatsache aufgefasst« (W II, nach der das von uns scheinbar unmittelbar Wahr-
201). Ebenso wenig, wie wir eine unräumliche und genommene auf unbewusst vollzogene Kausalschlüs-
unzeitliche Erfahrungswelt denken können, sollen wir se zurückgeht. Wie für Kant ist das, was sich in der
uns auch eine Welt ohne die universale Geltung des Anschauung darbietet, das Ergebnis von komplexen
Kausalprinzips denken können. Zur Erklärung greift Konstruktionsleistungen (»Synthesis«), mit denen der
Schopenhauer auf den kantischen transzendentalen Verstand (für Schopenhauer weniger das Vermögen
Idealismus zurück: Die Sicherheit darüber, dass die des Urteilens als des Wahrnehmens) das Material der
Grundstruktur der Erfahrungswelt nicht anders sein unmittelbar gegebenen Empfindungen zu einer ge-
kann, als wir sie vorfinden, liege in ihrem »subjektiven ordneten und verständlichen Welt formt. Insofern
Ursprung« (ebd.), darin, dass die Formen der Welt in spricht Schopenhauer von der »Intellektualität der
uns selbst, in unserem Erkenntnisapparat angelegt empirischen Anschauung«. Anders als Kant deutet
sind und wir diese in den Strukturen der Welt ledig- Schopenhauer diesen Prozess jedoch als dem wissen-
lich widergespiegelt finden. schaftlichen Verfahren analog, mit dem von den Wir-
Die Reichweite der transzendentalen Erkenntnis kungen (den Symptomen, den Phänomenen, den In-
ist bei Schopenhauer wie bei Kant auf die formalen dizien) auf die zugrundeliegende Ursache geschlossen
Aspekte der Erfahrungswelt beschränkt. Aus den wird. So »schließt« der Verstand aus dem auf der Reti-
transzendentalen Wahrheiten lassen sich weder em- na umgekehrten Bild der Gegenstände auf ihre tat-
pirische Erkenntnisse im Einzelnen noch Folgerun- sächliche Lage, von dem zweidimensionalen Abbild
gen für den Bereich der Transzendenz ziehen. Den- der Gegenstände im Auge auf ihre dreidimensionale
noch wirkt sich die transzendentale Geltung des Kau- Gestalt, von den sich aus verschiedenen Perspektiven
salprinzips gravierend sowohl auf das empirische bietenden Ansichten eines Gegenstands auf dessen
Wissen wie auf etwaige metaphysische Überlegungen Einheit und von seiner scheinbaren Größe auf seine
aus. So herrscht für Schopenhauer in der gesamten wirkliche Größe bzw. seine Entfernung vom Wahr-
Erfahrungswelt ein strenger Determinismus. Jedes nehmenden (vgl. G, 58 ff.). Daraus, dass sich der Ver-
Ereignis der Erfahrungswelt einschließlich der Welt stand bei der Konstitution der Anschauung – obgleich
der psychischen Phänomene lässt sich im Prinzip auf unbewusst – kausaler Schlüsse bedient, glaubt Scho-
eine vorangehende Ursache zurückführen, aus der sie penhauer im Übrigen – fälschlicherweise – eine zu-
nach Naturgesetzen folgt. Für die Metaphysik ande- sätzliche Begründung für die Apriorität des Kausal-
54 II Werk

prinzips ableiten zu können: Da wir die Gegenstände Die Leistungen des Verstands in diesem Sinn erfolgen
bereits mithilfe von Kausalschlüssen wahrnehmen, weitgehend unbewusst. In unserem Bewusstsein fin-
könnten diese gar nicht anders als durchgängig kausal den wir von Anfang an das vom Gehirn zugerichtete
geordnet sein (vgl. G, 52). Produkt vor. Entsprechend besteht das Ausgangs-
material der Synthesis nicht mehr – wie bei Kant – aus
ungeordneten »Empfindungen«, sondern aus den
Über den Transzendentalismus hinaus
physischen Reizungen der Sinnesorgane. Der Ver-
Kant hatte den Verstand als das Vermögen definiert, stand »erschafft« die Welt der materiellen Gegenstän-
auf das in der Anschauung Gegebene Begriffe an- de, indem er die empfangenen Sinnesreizungen kausal
zuwenden und diese zu Urteilen zu verbinden. Scho- interpretiert und die verursachenden Gegenstände
penhauer definiert den Begriff des Verstands radikal aus ihren Wirkungen erschließt. Die Beteiligung leib-
um, nicht nur dadurch, dass er ihn als die Fähigkeit licher Faktoren geht bei Schopenhauer aber noch ei-
erklärt, Gegenstände in der Welt wahrzunehmen, nen Schritt weiter. Der jeweils eigene Körper ist an je-
sondern auch durch eine im Rahmen von Kants der Sinneswahrnehmung nicht nur als »Schaltstelle«
Transzendentalphilosophie undenkbare Naturalisie- zwischen Sinnesreizung und Gegenstandswahrneh-
rung. Indem Schopenhauer den kantischen Begriff mung beteiligt, sondern auch als »unmittelbares Ob-
des Verstands naturalisiert, überführt er die Trans- jekt« (W I, 13). Zumindest teilweise sollen die mit der
zendentalphilosophie in etwas mit ihr radikal Unver- Wahrnehmung erfolgenden Veränderungen des Lei-
einbares, eine durch und durch naturalistische Er- bes auch zum Gegenstand eines »unmittelbaren Be-
kenntnistheorie. Zwar behält Schopenhauer die wußtseyns« (W I, 23) werden können, so dass wir bei
grundlegende Intuition Kants bei, dass die raumzeit- allen oder zumindest einigen Wahrnehmungsakten –
lich und kausal geordnete Erscheinungswelt erst auch bei denen, die sich auf unsere inneren Erlebnisse
durch eine Reihe von »synthetischen« Leistungen des richten (vgl. W I, 121) – die damit einhergehenden
Subjekts zustande kommt. Aber während Kant diese leiblichen Vollzüge als Hintergrundphänomene mit-
Leistungen einem mysteriösen »transzendentalen empfinden. Auf diese Weise übernimmt der Leib nicht
Subjekt« zuschreibt, das, da es allererst Raum und nur in Schopenhauers Anthropologie, sondern auch
Zeit konstituiert, außerhalb von Raum und Zeit ge- in seiner Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie ei-
dacht werden muss, schreibt Schopenhauer die für ne Schlüsselrolle (vgl. Dörpinghaus 2000).
die Wahrnehmung erforderlichen synthetischen Schopenhauers Erkenntnistheorie vollzieht mit der
Leistungen dem empirischen Gehirn als natural-phy- Naturalisierung der kantischen Synthesis einen ent-
siologische Vorgänge zu (s. Kap. 43). Das »Subjekt« schiedenen, wenn auch von ihm niemals vollständig
der transzendentalen Leistungen ist für Schopenhau- reflektierten Schritt vom Idealismus zum Realismus.
er nichts anderes als das Gehirn, d. h. ein Teil des Innerhalb einer idealistischen Metaphysik und Er-
leibhaftigen Menschen. In diesem Sinn kommt »Ver- kenntnistheorie führt die Idee, die Konstitution der
stand«, da er nicht mehr an die Fähigkeit zu begriff- Wahrnehmungswelt dem Gehirn zuzuweisen, zwangs-
lichem Denken gebunden ist, auch Tieren zu, die läufig zum »Gehirnparadox« – dem Paradox, dass ein
zwar über Wahrnehmungen, aber nicht über Begriffe Teil der Erfahrungswelt, das Gehirn, zugleich als Be-
verfügen (vgl. W I, 24 ff.). Nicht das Bewusstsein oder dingung der Möglichkeit der gesamten Erfahrungs-
ein wie immer geartetes hinter dem Bewusstsein ste- welt fungieren soll. Die Naturalisierung des Verstands
hendes transzendentales Subjekt verarbeitet die gege- geht bei Schopenhauer dabei Hand in Hand mit einer
benen Daten zu artikulierter Anschauung, sondern funktional-biologischen Erklärung seiner Entstehung:
das Gehirn: Der Verstand (»Intellekt«) sei eine »Frucht, ein Pro-
dukt, ja, insofern ein Parasit des übrigen Organismus«,
»Alles Objektive, Ausgedehnte, Wirkende, also alles der »dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch
Materielle [...] ist ein nur höchst mittelbar und beding- dient, dass es die Verhältnisse desselben zur Außen-
terweise Gegebenes, demnach nur relativ Vorhande- welt regulirt« (W II, 224).
nes: denn es ist durchgegangen durch die Maschinerie Eine ähnlich naturalistisch-funktionalistische Um-
und Fabrikation des Gehirns und also eingegangen in deutung wie das Vermögen des Verstands erfährt bei
deren Formen, Zeit, Raum und Kausalität, vermöge Schopenhauer das Vermögen der Vernunft, ein Ver-
welcher allererst es sich darstellt als ausgedehnt im mögen, das Schopenhauer – wie zuvor Hume – zur
Raum und wirkend in der Zeit« (W I, 33). Gänze auf die analytische Erkenntnis beschränkt. Ab-
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 55

weichend von der gesamten rationalistischen wie auch vernünftige sowohl als bloß anschauliche, geht [...] ur-
von der kantischen Philosophie ordnet Schopenhauer sprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum
der Vernunft nicht nur eine sehr begrenzte Reichwei- Wesen der höhern Stufen seiner Objektivation, als ei-
te, sondern auch einen zutiefst unselbständigen und ne bloße mechané, ein Mittel zur Erhaltung des Indivi-
lediglich abgeleiteten Status zu. Schopenhauers na- duums und der Art, so gut wie jedes Organ des Lei-
turalistische Sicht der Vernunft erinnert nicht von un- bes« (W I, 181). Dieses Mittel bleibt unauslöschlich
gefähr an die Ansätze der modernen evolutionären mit den Spuren seiner Entstehung behaftet: »Ur-
Erkenntnistheorie. Unter dem Einfluss der französi- sprünglich also zum Dienste des Willens, zur Voll-
schen Materialisten nähert sich Schopenhauer der bringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch
darwinistischen Sichtweise von der Emergenz der fast durchgängig gänzlich dienstbar« (ebd.). Noch die
Vernunft als Ergebnis der Rivalität um knappe Über- scheinbar kältesten und reifsten Erkenntnisprozesse
lebensressourcen und Fortpflanzungschancen. Nicht sind imprägniert von – zumeist unbewussten – Wil-
anders als die physischen Fähigkeiten sei die Vernunft lensregungen und Gefühlen, etwa als Wunschdenken,
ein Mittel der blinden Natur zur Gewährleistung der Vorurteile und Ideologien (vgl. Birnbacher 1996). Ob-
Erhaltung und Fortpflanzung ihrer Wesen. Unter ähn- jektivität – die vollständige Befreiung des Kognitiven
lich funktionalen Aspekten sieht Schopenhauer die vom Emotionalen – ist eine seltene Ausnahmeerschei-
Emergenz des Bewusstseins. Auch das Bewusstsein nung. Die Fähigkeit, den Willen – die Affekte – mit-
und die gesamte Vorstellungswelt sei nur deshalb ent- hilfe der Vernunft in Schach zu halten ist »die ganz ex-
standen, weil sie auf einer bestimmten Entwicklungs- ceptionelle [...], die man als Genie bezeichnet« (W II,
stufe der Natur zur Erhaltung des Individuums und 247). In diesem Zitat deutet sich bereits etwas für
der Gattung unerlässlich waren (vgl. W I, 179). Schopenhauers Philosophie hochgradig Bezeichnen-
Einen bloß sekundären Status verleiht Schopen- des an: Für ihn fällt die Ehre der Objektivität am ehes-
hauer der Vernunft aber auch hinsichtlich ihrer Leis- ten der ästhetischen und philosophischen Kontempla-
tungsfähigkeit als Erkenntnisorgan. Als Vermögen tion zu – nicht, wie für viele Erkenntnistheoretiker
der Erfassung der logischen Beziehungen zwischen nach ihm, der Wissenschaft.
Begriffen und Urteilen ist sie zur Gewinnung ihres
Materials auf die Anschauung angewiesen. Sie ist
Aufgaben und Grenzen der Wissenschaft
»weiblicher Natur: Sie kann nur geben, nachdem sie
empfangen hat« (W I, 59). Aussagen über eine mögli- Auch wenn Schopenhauer dem Rang nach die Er-
che Welt jenseits der Erfahrung liegen ebenso jenseits kenntnisleistungen der Wissenschaft denen der Phi-
ihres Horizonts wie die Kenntnis oder Konstitution ei- losophie und Kunst nachordnet, wertet er sie doch als
nes »Sittengesetzes«. Aber auch in ihrem angestamm- unerlässliche Vorstufe und Eingangsbedingung zur
ten Bereich vermag sie sich nur in höchst begrenztem Philosophie: Niemand solle sich an die Metaphysik
Maße Respekt zu verschaffen. Als evolutionäres Pro- wagen, »ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine,
dukt des »Willens« ist sie auch dann noch Werkzeug doch gründliche, klare und zusammenhängende
unbewusster Willensstrebungen, wenn sie sich über Kenntniß aller Zweige der Naturwissenschaft sich er-
die Anfechtungen des Bedürfnisses erhaben dünkt. worben zu haben« (W II, 198). Der naturwissen-
Nicht die Vernunft steuert unsere Gefühle, sondern schaftlich gebildete Schopenhauer schätzt dabei nicht
die Gefühle haben die Vernunft im Griff – erkennbar nur die Naturwissenschaften insgesamt höher als die
an der Gewalt, die wir uns antun müssen, wenn wir ei- Geisteswissenschaften (und insbesondere die Ge-
nen Affekt durch Erkenntnis korrigieren wollen (vgl. schichtswissenschaft, die »zwar ein Wissen, aber keine
W II, 236). Das späteste Produkt der Evolution ist Wissenschaft«, W I, 75, sei). Auch seine Wissen-
auch das schwächste. Affekte und Wille verhalten sich, schaftstheorie ist eindeutig am Modell der Naturwis-
so Schopenhauer in einem einprägsamen Bild, zur senschaften orientiert. Das zeigt sich bereits daran,
Vernunft wie »der starke Blinde, der den sehenden dass er zwar die Aufgabenstellung der Wissenschaft
Gelähmten auf den Schultern trägt« (W II, 233). sowohl in der Beschreibung als auch in der Erklärung
Diese funktional-anthropologische Sichtweise der anschaulich gegebenen Phänomene sieht, die we-
wendet Schopenhauer auch auf die Erkenntnis als sentlichere Funktion dessen, was er »induktive Me-
Ganze an. Wie die Vernunft ist die Erkenntnis ins- thode« nennt, jedoch allein in der Erklärung der Ein-
gesamt ein Notbehelf der Evolution, das Überleben ih- zelbeobachtungen durch allgemeine Gesetzeshypo-
rer Geschöpfe zu sichern: »Die Erkenntniß überhaupt, thesen. Wie sich bereits in seiner Bevorzugung der
56 II Werk

axiomatischen Methode in den Wissenschaften an- ist die Wahrheit hier auch nie unbedingt gewiß« (W I,
deutet, ist für ihn das Paradigma der Wissenschaft die 92). Andererseits können sie durch einen einzigen
nomologische Wissenschaft, die Naturgesetze (Scho- Fall, der ihnen nicht entspricht, widerlegt werden: »So
penhauer spricht zumeist von »Naturkräften«) ermit- sehr viel leichter ist widerlegen, als beweisen, umwer-
telt und diese auf die Erklärung und Prognose von fen, als aufstellen« (W II, 117; vgl. Morgenstern 1985,
konkreten Phänomenen anwendet. Naturerkenntnis 159). Schopenhauer sieht allerdings richtig, dass ein
ist für Schopenhauer primär Gesetzeserkenntnis und negatives Ergebnis nicht in jedem Fall zur Aufgabe
die Zurückführung des Einzelnen aufs Allgemeine, der überprüften Gesetzeshypothese zwingt. Bei jeder
des Einzelfalls aufs Prinzip und in diesem Sinne der scheinbaren Falsifikation einer Gesetzeshypothese
Folge auf ihren Grund: »Alle empirische Anschauung bleibt der Ausweg, eine falsche Prognose auf die »Ver-
und der größte Theil aller Erfahrung [geht] [...] von schiedenheit der Umstände« zurückzuführen und an-
der Folge zum Grunde« (W I, 92). zunehmen, dass nicht alle im Vordersatz der Gesetzes-
In seiner Theorie der induktiven Methode verwen- hypothese aufgeführten Faktoren realisiert waren. Es
det Schopenhauer den Ausdruck »Induktion« in zwei- sei Aufgabe der wissenschaftlichen Urteilskraft zu ent-
facher Weise (vgl. W I, 79; Morgenstern 1985, 160): scheiden, »ob eine Verschiedenheit der Erscheinung
Induktion besteht zunächst in der Erzeugung von Ge- von einer Verschiedenheit der Kraft [der Gesetze],
setzeshypothesen auf dem Hintergrund der Beobach- oder nur von Verschiedenheit der Umstände, unter
tung von Einzeltatsachen. Dies erfolgt auf zweierlei denen die Kraft sich äußert, herrührt« (W I, 166).
Weise, einerseits durch die Verallgemeinerung der Schopenhauers Wissenschaftstheorie nimmt zahl-
stets begrenzten Zahl von Einzelbeobachtungen zu ei- reiche Elemente der modernen, insbesondere durch
ner allgemeinen Gesetzeshypothese (also durch einen den Falsifikationismus Poppers geprägten Wissen-
»Induktionsschluss«, der »Zusammenfassung des in schaftstheorie vorweg. So sieht Schopenhauer wie
vielen Anschauungen Gegebenen in ein richtiges un- Popper den Prozess der Wissenschaft als sukzessive
mittelbar begründetes Urtheil«, W I, 79), andererseits Annäherung an die Wahrheit, paradigmatisch in der
durch »Versuch und Irrtum«: durch den Versuch, eine sukzessiven Verbesserung und Vereinheitlichung der
Reihe von zunächst unklar zusammenhängenden Theorien der Planetenbewegung von Kopernikus bis
Einzelbeobachtungen durch eine einheitliche, typi- Newton (vgl. W I, 80). Erstaunlicher noch ist Schopen-
scherweise mathematische Konstruktion abzubilden, hauers Vorwegnahme vieler Details der modernen
so wie es Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton in Theorie der kausalen Erklärung. Dazu gehört erstens,
Bezug auf die Planetenbewegungen getan haben (vgl. dass Schopenhauer ausschließlich Ereignisse (genau-
W I, 80). »Induktion« nennt Schopenhauer aber auch er: Veränderungen) als kausale Relata gelten lässt,
den zweiten Schritt: die gezielte Überprüfung der auf- während Kant (ähnlich wie Hume) den Kausalitäts-
gestellten Gesetzeshypothesen an weiteren Erfahrun- begriff unterschiedslos auf Veränderungen, Dinge,
gen als denen, die zu ihrer Formulierung geführt ha- Handlungen und Zustände angewendet hatte (vgl.
ben, wobei Schopenhauer wie die moderne Wissen- Brunner 2008, 47). Kausalgesetze (»Naturkräfte«) sind
schaftstheorie von »Bestätigung« (W I, 79) spricht. Es zwar für kausale Erklärungen unabdingbar, überneh-
reicht nicht, Gesetzeshypothesen aufzustellen, die die men selbst aber keine kausale Funktion. Ursächlich für
verfügbaren Beobachtungen zutreffend beschreiben. ein Wirkungsereignis sind stets nur die vorangehen-
Wenn Gesetzeshypothesen ihrer Aufgabe genügen den Veränderungen, nicht die Gesetze, nach denen sie
sollen, über die Beschreibung hinaus Erklärungen für wirken. Zweitens ist Kausalität für Schopenhauer an
die beobachteten Phänomene zu liefern sowie verläss- Gesetzlichkeit gebunden. Sobald zwei Einzelereignisse
liche Prognosen über erst in der Zukunft liegende Er- kausal aufeinander bezogen werden, wird implizit das
eignisse und Beobachtungen, bedürfen sie weiterer Bestehen eines naturgesetzlichen Zusammenhangs be-
Überprüfung. Dabei verlieren gut bestätigte Gesetzes- hauptet (vgl. ebd., 46). Drittens konzipiert Schopen-
aussagen, auch dann, wenn sie »in der Praxis die Stelle hauer die kausale Erklärung unverkennbar im Sinne
der Gewißheit einnehmen« (W I, 92) nicht ihren des später so genannten Hempel-Oppenheim-Mo-
grundsätzlich hypothetischen Charakter. Schon des- dells: Jede kausale Erklärung bedarf zweier Elemente,
halb, weil sie so allgemein formuliert sind, dass sie einer Aussage über ein ursächliches Ereignis und eines
auch für zukünftige Fälle Geltung beanspruchen, las- Kausalgesetzes, das die Beziehung zwischen Ursache
sen sie sich niemals vollständig verifizieren: »Da die und Wirkung formuliert. Erst aus beiden Elementen
Fälle [...] nie vollständig beisammen seyn können, so zusammen folgt eine entsprechende Aussage über das
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 57

zu erklärende oder zu prognostizierende Folgeereig- zugleich physisch erklärbar und auch wieder nicht
nis. Entsprechend versteht Schopenhauer – allerdings physisch erklärbar sei (vgl. W II, 193). Selbst noch das
nicht immer ganz konsequent – »Ursache« als das, was Denken sei einerseits physikalisch erklärbar, da es
John Stuart Mill später »complete cause« oder »Ge- nach Schopenhauer mit einem Gehirnprozess zusam-
samtursache« genannt hat, als kausal hinreichende – menfällt. Aber andererseits bleibe letztlich auch das,
aber nicht notwendig auch kausal notwendige – Ge- was derartige physikalische Erklärungen voraussetzen
samtheit der zusammen das Wirkungsereignis herbei- (z. B. Expansion, Undurchdringlichkeit, Beweglich-
führenden Bedingungen (vgl. G, 35). keit, Härte) »dunkel« (ebd.), eine »qualitas occulta«
Historische Bedeutsamkeit kommt Schopenhauers (W I, 96). Auch hinsichtlich ihrer Motivationen beste-
Wissenschaftstheorie vor allem dadurch zu, dass er hen zwischen Wissenschaft und Metaphysik keine
die induktive Methode über den Bereich der Wissen- tiefgreifenden Differenzen. In der Metaphysik ist das-
schaft hinaus erweitert und das Modell einer Meta- selbe Bemühen um Aufhellung des Woher und Wa-
physik entwirft, die sich wissenschaftsanaloger Me- rum der Erscheinungen am Werk, das sich auch in den
thoden bedient. Was eine solche Metaphysik mit der Wissenschaften betätigt, nur dass es sich in der Meta-
Wissenschaft verbindet, ist ihr hypothetischer, nie- physik in größerem Umfang intuitiver und spekula-
mals in Gewissheit übergehender und zwangsläufig tiver Mittel bedient. Die methodologischen Bedin-
vorläufiger Charakter. Dieses Modell einer »indukti- gungen, denen eine derartige »Vermutungsmetaphy-
ven Metaphysik«, wie Oswald Külpe es später genannt sik« genügen muss, hat Schopenhauer in Kapitel I des
hat, finden wir auch bei späteren Denkern des 19. Jahr- zweiten Bands der Parerga und Paralipomena, »Ueber
hunderts wie Hermann Lotze, Gustav Theodor Fech- Philosophie und ihre Methode« (P II, 10 ff.; vgl. Birn-
ner und Eduard von Hartmann (vgl. Morgenstern bacher 1988, 9 ff.), entwickelt. Es sind dies Mitteilbar-
1987, 606 ff.), später dann u. a. bei Alfred N. White- keit, Rationalität, Hypothetizität, Revidierbarkeit und
head (vgl. Birnbacher 2018) und Karl R. Popper. Auch Unvollständigkeit (eine in vielem ähnliche Liste findet
in diesem Punkt macht Schopenhauer einen mutigen sich später bei Whitehead, 1974, 55 ff.). Ebenso wenig
Schritt über Kant hinaus. Für Kant war die Metaphy- wie die Wissenschaft vermag die Metaphysik Letzt-
sik vom Begriff her eine apriorische Disziplin und an erklärungen zu liefern, die keine Frage offen lassen:
apodiktische Gewissheit gebunden. Die Grundfrage
seiner theoretischen Philosophie war, wie eine Meta- »Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum
physik als Wissenschaft möglich sein könne. Scho- sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont
penhauers Idee einer »induktiven« Metaphysik zufol- von tiefer Nacht umgränzt bleiben. Denn die letzte Lö-
ge fallen die Grenzen der Wissenschaft nicht notwen- sung des Räthsels der Welt müßte nothwendig bloß
dig mit den Grenzen der (methodisch verfahrenden) von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erschei-
Metaphysik zusammen. Während die Wissenschaft nungen reden. Aber gerade auf diese allein sind alle
die innerweltlichen, natürlichen Bedingungen der unsere Erkenntnißformen angelegt« (W II, 206).
Phänomene aufsucht, zielt die Metaphysik auf die
Strukturen jenseits der erfahrbaren Welt, durch die
»Philosophische Wahrheit«
die natürlichen Bedingungen ihrerseits bedingt sind.
Wie die Wissenschaft hat die Metaphysik die Aufgabe, Schopenhauer liegt es fern, die Kriterien, die er für ei-
Erklärungen zu liefern, die Phänomene verständlich ne induktive Metaphysik fordert, uneingeschränkt
zu machen. Im Unterschied zur Wissenschaft setzen auch für seine eigene Willensmetaphysik gelten zu las-
ihre Erklärungsbemühungen aber erst da ein, wo die sen. Hierin liegt eine der zentralen erkenntnistheo-
Erklärungen der Wissenschaft aufhören. Die Meta- retischen Ambivalenzen seiner Philosophie. Es ist
physik soll die Wissenschaft ergänzen, indem sie sich nicht zu verkennen, dass der Grad der Gewissheit, den
diejenigen Fragen vornimmt, die die Wissenschaft er für seine Deutung der Welt als Ganzer als Ausfor-
notwendig unbeantwortet lässt, u. a. die Frage nach mung eines übergreifenden »Willens« beansprucht,
dem Ursprung und Wesen der Welt als Ganzer sowie die von seiner Konzeption einer »Vermutungsmeta-
die Frage nach Wesen und Ursprung der Naturgesetze physik« vorgesehenen Grenzen der Erkennbarkeit
(der »Naturkräfte«), die zwar in allen wissenschaftli- deutlich überschreitet. In der Tat soll es neben der lo-
chen Erklärungen vorausgesetzt werden, aber ihrer- gischen, der transzendentalen und der empirischen
seits von der Wissenschaft nicht erklärt werden. Inso- Wahrheit eine weitere Art von Wahrheit geben, die sui
fern meint Schopenhauer sagen zu können, dass alles generis ist und von Schopenhauer mit dem Namen
58 II Werk

»philosophische Wahrheit« (W I, 122) belegt wird. Annäherung ausdrücklich: Die Methode der Meta-
Die Erkenntnis, die zu dieser Wahrheit führt, soll physik sei »der Kunst fast so sehr als der Wissenschaft
»ganz eigener Art« sein: eine unmittelbare, weder verwandt« (W II, 140). Wie beim Künstler zeigt sich
durch logisch noch durch empirisch begründete die Genialität des Philosophen für Schopenhauer
Schlussfolgerungen vermittelte Form von Intuition nicht in diskursiven, sondern in intuitiven Fähigkei-
(vgl. ebd.). Unter diese Form von Erkenntnis fallen so ten: »Nicht dem Warum gehe der Philosoph nach, wie
gut wie alle Kernthesen seiner Metaphysik: die These, der Physiker, Historiker und Mathematiker, sondern
dass wir, wenn wir introspektiv in uns hineinsehen, er betrachte bloß das Was, lege es in Begriffen nieder
wir uns unserer selbst am unmittelbarsten als Wollen- (die ihm sind wie der Marmor dem Bildner), indem er
de, als Willenssubjekte gewahr werden; die These von es sondert und ordnet, jedes nach seiner treu die Welt
der Identität der Willensregungen mit leiblichen Pro- wiederholend, in Begriffen, wie der Maler auf der
zessen; schließlich die kühne Deutung der Gesamtheit Leinwand« (HN I, 154 Anm.). Die richtige Deutung
der Erfahrungswelt als Manifestation (»Objektivati- der Phänomene misst sich daran, dass sich aus ihnen
on«) desselben Willens, den wir in uns spüren, mit der ein Sinn – ein positiver oder ein negativer – ablesen
Folge, dass sich so unser – typischerweise »romanti- lässt. Ihr Kriterium ist nicht die Korrespondenz mit
sches« – Gefühl erklärt, mit dem Ganzen der Welt ver- den Tatsachen, sondern die adäquate Wiedergabe des
traut zu sein und mit allen Wesen, zumindest den le- Eindrucks, den ein moralisch und ästhetisch sensibler
benden, eine basale Wesensgleichheit zu empfinden. Beobachter von der Welt empfängt, wie die Welt auf
Bei Schopenhauer finden sich nur wenige Erläute- ihn wirkt. Entscheidend ist, dass die auf die »philoso-
rungen zu der Methode, derer er sich bei der Begrün- phische Wahrheit« zielende Intuition dasjenige in den
dung der Willensmetaphysik bedient. Eindeutig ist Erscheinungen erfasst, was »mächtig«, »bedeutend«
allerdings, dass diese Methode weder mit der der und »deutlich« ist (W I, 149), d. h. was den Menschen
Transzendentalphilosophie noch mit der der Wissen- beeindruckt, ihn interessiert, ihn nicht nur kognitiv,
schaften zusammenfällt. Während es in der Transzen- sondern auch affektiv anspricht. Ein weiteres Kriteri-
dentalphilosophie um die Formen der Erfahrungs- um – das die so verstandene Metaphysik mit der Wis-
welt geht, geht es der Willensmetaphysik um den In- senschaft teilt – ist Kohärenz. Wie die Kunst soll die
halt der Erfahrung (vgl. W I, 144). Und bereits der Metaphysik danach trachten, die Phänomene in einer
Name, den Schopenhauer dem »Willen« gibt, näm- einheitlichen, zusammenhängenden Weise zu be-
lich »Ding an sich«, zeigt, dass es sich hier um etwas schreiben, sie auf ein zentrales Organisationsprinzip
handelt, das für die Erkenntnismethoden der Wissen- als ihren Kern zurückzuführen. Die verwirrende und
schaft unzugänglich ist. Auch unterscheidet sich diese rätselhafte Vielfalt der Phänomene, die uns in der Welt
Art metaphysischer Erkenntnis sowohl von der logi- begegnen, ist für Schopenhauer ein Rätsel, eine Ge-
schen als auch der empirischen Erkenntnisart da- heimschrift (vgl. W II, 202), die entziffert werden
durch, dass sie weder deduktiv noch kausal verfährt muss, wenn sie in ihrer Bedeutung erfasst und ver-
(keiner Variante des »Satzes vom Grunde« folgt). Ihre ständlich gemacht werden soll. Kohärenz ist der Maß-
Verfahrensweise ist am ehesten als hermeneutisch zu stab, der darüber entscheidet, welcher Schlüssel das
kennzeichnen (vgl. Schubbe 2010, 43 ff.; s. Kap. 40). Rätsel am besten auflöst: »Das gefundene Wort eines
Worauf sie zielt, ist keine propositionale Wahrheit, Räthsels erweist sich als das rechte dadurch, daß alle
sondern Sinnverstehen. Ziel der Metaphysik ist nicht Aussagen desselben zu ihm passen« (W II, 206).
die Ermittlung von Tatsachen, sondern die Erfassung
des »Sinnes und Gehaltes« (W II, 204) der Welt. Inso-
Erkenntnis als Zustand und Vollzug
fern gehe diese »nie eigentlich über die Erfahrung hi-
naus, sondern eröffnet nur das wahre Verständniß Außer der hermeneutischen Erkenntnisform der Me-
der in ihr vorliegenden Welt« (ebd.), wobei Schopen- taphysik kennt Schopenhauer noch zwei weitere For-
hauer sogar so weit geht, sie kurzerhand als »Erfah- men der Erkenntnis, die über die dem »Satz vom
rungswissenschaft« zu charakterisieren – Erfahrung Grund« folgende logische und kausale Erkenntnis hi-
dabei allerdings nicht als einzelne Erfahrung, son- nausgehen: die Erkenntnis der platonischen Ideen in
dern als »das Ganze und Allgemeine aller Erfahrung« der ästhetischen Kontemplation und die mit der
(ebd.) verstanden. Selbstverneinung des Willens einhergehende Er-
Damit nähert sich die Erkenntnisart der Metaphy- kenntnis der letztlichen All-Einheit aller Wesen. Beide
sik der der Kunst an. Schopenhauer bestätigt diese Erkenntnisformen haben gemeinsam, dass sie nicht
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 59

wie die Logik und die kausale Erklärung lediglich Re- wird von sich selbst und dem Gedanken an das eigene
lationen zu erkennen erlauben und »nichts weiter, als Ich weggezogen, »verliert« (W I, 210) sich an den Ge-
das Verhältniß einer Vorstellung zur anderen kennen« genstand, überwindet auf diese Weise die Spaltung
(W I, 34) lehren. Beiden ist eigentümlich, dass sie sich zwischen Subjekt und Objekt und erlebt diesen Zu-
auf das Wesen der Dinge selbst richten. Eine weitere stand als »Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereini-
Gemeinsamkeit ist, dass es sich bei ihnen beiden um gung mit Gott« (W I, 485). Da mit dem Subjekt zu-
nicht-propositionale Erkenntnisformen handelt und gleich das Objekt verschwindet, ist dieses nicht mehr
dass ihr Sinn und Wert nicht in dem Erwerb von Wis- eindeutig zu charakterisieren. Deshalb schwankt
sen über Sachverhalte, d. h. in ihren Ergebnissen liegt, Schopenhauer auch, ob er diesen Zustand überhaupt
sondern in ihrer inhärenten Qualität als Zustände und noch Erkenntnis nennen soll. Einerseits ist er Er-
Vollzüge. Darin sind sie (wie bereits Schopenhauers kenntnis insofern, als die Erlösung bzw. die Begeg-
Benennung »platonische Idee« nahelegt) sowohl der nung mit der Idee nicht mehr von der »überlegten
platonischen Ideenschau als auch der aristotelischen Willkür«, dem intentionalen Handeln, religiös ge-
theoria verwandt, der Betrachtung der ewigen Wahr- sprochen: von den »Werken« abhängt (W I, 482). An-
heiten um ihrer selbst (und nicht um eines irgendwie dererseits ist er, indem die Subjekt-Objekt-Differenz
gearteten Ergebnisses) willen (vgl. Hamlyn 1999, 56). aufgehoben (und der Gehalt dieser Erfahrung nicht
Mit der Erkenntnis der platonischen Ideen und der mehr mitteilbar) ist, »nicht eigentlich Erkenntniß zu
Erkenntnis der All-Einheit der Welt als Wille zeichnet nennen« (W I, 485). Als eine Form visionärer Er-
Schopenhauer insofern zwei Formen von Erkenntnis kenntnis geht er über das, was üblicherweise Erkennt-
aus, bei denen es – mit Russell gesprochen – eher um nis genannt wird, ein Stück weit hinaus.
ein knowledge by acquaintance als um ein knowledge
by description geht (vgl. Schubbe 2012, 374 f.). Aus- Literatur
schlaggebend bei dem ersteren ist die Bekanntschaft Birnbacher, Dieter: Induktion oder Expression? Zu Scho-
mit etwas, bei dem letzteren das Wissen über etwas. penhauers Metaphilosophie. In: Schopenhauer-Jahrbuch
69 (1988), 7–19.
Beide sind weitgehend unabhängig voneinander. Man Birnbacher, Dieter: Schopenhauer als Ideologiekritiker. In:
kann mit etwas gut bekannt sein, ohne viel über es zu Ders. (Hg.): Schopenhauer in der Philosophie der Gegen-
wissen. Andererseits kann man viel über etwas wissen, wart. Würzburg 1996, 45–58.
ohne mit ihm bekannt zu sein. Wesentlich für die Birnbacher, Dieter: Whitehead und die Tradition der induk-
nicht-propositionalen Wissensformen ist die Präsenz tiven Metaphysik. In: Christoph Kann/Dennis Sölch
(Hg.): Whitehead und Russell. Freiburg/München 2018
des Gegenstands, die konkrete Begegnung mit ihm in
(im Erscheinen).
der Erfahrung. Die Kenntnis des Gegenstands muss Brunner, Jürgen: Schopenhauers Kausalitätstheorie. Teil I:
unmittelbar sein. Sie muss auf einer konkreten Wahr- Empirische Ereigniskausalität und transzendentale
nehmung beruhen und nicht nur auf Hörensagen. Das Akteurskausalität. In: Schopenhauer-Jahrbuch 89 (2008),
bedeutet allerdings nicht, dass diese Kenntnis nicht 41–64.
durchaus in anderer Hinsicht vermittelt sein kann Dörpinghaus, Andreas: Der Leib als Schlüssel zur Welt. Zur
Bedeutung und Funktion des Leibes in der Philosophie
oder sogar muss. So ist die Erkenntnis der plato-
Arthur Schopenhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 81
nischen Ideen – der idealisierten Prototypen des (2000), 15–32.
Wirklichen als Gegenstände der Kunst – nicht denk- Hamlyn, David: Schopenhauer and knowledge. In: Christo-
bar ohne die Kenntnis des Mediums (etwa der bild- pher Janaway (Hg.): The Cambridge Companion to Scho-
lichen Darstellungen), in denen diese Idealisierungen penhauer. Cambridge 1999, 44–62.
jeweils – mehr oder minder vollkommen – zur Er- Langnickel, Robert: Schopenhauers Theorie der empiri-
schen Vorstellung: Eine zu Unrecht vergessene Wahrneh-
scheinung kommen. Der vollkommene Körper von mungstheorie? In: Schopenhauer-Jahrbuch 93 (2012),
Michelangelos David bedarf des Marmors, aus dem er 221–238.
geformt ist, um Wirklichkeit zu werden. Auch die Ein- Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphi-
sicht in die Nichtigkeit der Welt im Zustand der Wil- losophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann-
lensverneinung, in der das »Rad des Ixion« (W I, 231) statt 1991.
Morgenstern, Martin: Schopenhauers Philosophie der Natur-
stillstellenden Kontemplation, ist in gewisser Weise
wissenschaft. Aprioritätslehre und Methodenlehre als
vermittelt, nämlich durch die intensive Bekanntschaft Grenzziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Bonn
mit der Welt als Unheilszusammenhang. Obwohl Vo- 1985.
raussetzungen dieser Erkenntnisformen, rücken diese Morgenstern, Martin: Schopenhauers Begriff der Metaphy-
doch beide Male in den Hintergrund: Das Subjekt sik und seine Bedeutung für die Philosophie des 19. Jahr-
60 II Werk

hunderts. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 41 existiert nur als meine Vorstellung; eine anderweitige
(1987), 592–612. Realität kann ihr nicht zugesprochen werden. Dieser
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik mögliche Einwand ist von Schopenhauer nicht unbe-
und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010.
Schubbe, Daniel: Formen der (Er-)Kenntnis. Ein morpholo-
rücksichtigt gelassen worden. Er führt zwei Argumen-
gischer Blick auf Schopenhauer. In: Günter Gödde/ te gegen ihn ins Feld.
Michael B. Buchholz (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe Erstens sieht er die Welt als Vorstellung als durch-
fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. gängig relativ an. Diese »Relativität« (W I, 41) zeigt
Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität. sich ihm in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist die vor-
Gießen 2012, 359–385.
gestellte Welt relativ auf ein erkennendes Subjekt. Zum
Whitehead, Alfred N.: Die Funktion der Vernunft [1929].
Stuttgart 1974. anderen unterliegt die Welt als Objekt dem Satz vom
Grunde: Für jede Erscheinung, die in der Vorstellung
Dieter Birnbacher gegeben ist, muss sich ein Grund angeben lassen, wa-
rum sie ist. Die in diesen zwei Hinsichten deutlich wer-
dende Relativität soll laut Schopenhauer nun darauf
6.4 Metaphysik hinweisen, dass die Welt als Vorstellung gleichsam nur
die »äußere Seite der Welt« (W I, 36) ist und dass ihr
Schopenhauer bekennt sich im ersten Buch der Welt innerster Kern etwas von der Vorstellung grundsätz-
als Wille und Vorstellung zu der idealistischen Grund- lich Verschiedenes sein muss. Dieses Argument ist je-
ansicht, der zufolge die Welt meine Vorstellung, also doch nicht sonderlich stichhaltig, denn es setzt schon
Objekt in Beziehung auf ein sie erkennendes Subjekt das voraus, wohin erst noch geführt werden soll: näm-
ist. Zu Beginn des zweiten Buchs akzentuiert er nun, lich dass es ein Ansich der Welt gibt, dessen Erschei-
diese »erste Thatsache des Bewußtseyns« (W I, 40) nung in der Anschauung als Vorstellung gegeben ist.
deute auf ein Problem hin. Denn wenn die Welt nichts Zweitens: Dass die Welt noch mehr sein muss als
anderes als meine Vorstellung ist, dann drängt sich mein bloßes Vorstellungsprodukt, legt sich für Scho-
doch der Verdacht auf, dass sie nur Schein, dass sie ein penhauer allein schon deswegen nahe, weil wir ein
bloßes Phantasma, ein leeres Phantomgebilde sein »Interesse« an unseren Vorstellungen nehmen und
könnte. Wodurch unterschiede sich das erkennende ihre »Bedeutung« fühlen. Denn, wie er hervorhebt,
Subjekt dann von einem Träumenden, dem im Traum die uns in der Vorstellung gegebenen »Bilder« ziehen
Phantasiegestalten und Chimären vorgegaukelt wer- nicht »völlig fremd und nichtssagend« an uns vorü-
den? Dieses Problem wird Schopenhauer zum Anlass, ber, sondern sprechen uns »unmittelbar« an (W I,
der Frage nachzugehen, ob die Welt, außer dass sie 113). Bloß die Frage ist: Wie gelangt man über die
Vorstellung ist, nicht noch etwas anderes, von der Vor- »gefühlte Bedeutung« der Vorstellungen (ebd.) zu de-
stellung Verschiedenes ist. Hierbei ist für ihn die An- ren realem Inhalt? Wie kommt man von den Erschei-
nahme leitend, dass die Dinge, die uns in der An- nungen zur Welt an sich? Ein Weg ist von vornherein
schauung als Vorstellungen gegeben sind, über sich versperrt: Wie die Dinge an sich selbst beschaffen
hinausweisen zu dem, was sie an sich selbst, das heißt sind, kann nicht am Leitfaden des Satzes vom Grunde
unabhängig davon, dass das Subjekt sie vorstellt, sind. aufgefunden werden, denn dieser ist auf den Bereich
Diese Annahme hat ihre Wurzel in der kantischen Un- der Erscheinungen eingeschränkt und kann infol-
terscheidung von Ding an sich und Erscheinung. Kant gedessen nicht herangezogen werden, wenn Auf-
verneinte bekanntlich die Möglichkeit der Erkenntnis schluss erlangt werden soll über das, was außerhalb
der Dinge an sich. Schopenhauer hingegen nimmt für dieses Bereichs liegt.
sich in Anspruch, in Die Welt als Wille und Vorstellung Also wendet sich Schopenhauer der philosophi-
das Ding an sich »in seinem Verhältniß zur Erschei- schen Tradition sowie der Mathematik und den Natur-
nung« (GBr, 291; zu dieser Einschränkung vgl. auch wissenschaften zu und befragt sie daraufhin, ob sie
W II, 228) bestimmt und bezeichnet zu haben. In die- Aufschluss geben können über die Bedeutung der Vor-
sem Sinne versteht er seine Philosophie als Fortfüh- stellungen. Was nun zunächst die Philosophie an-
rung der kantischen. betrifft, so räumt Schopenhauer ein, dass die verschie-
Ein Idealist Berkeleyscher Prägung könnte gegen denen Schulen – von einigen wenigen Ausnahmen ab-
Schopenhauers Auffassung die Frage stellen: Wieso gesehen – darin übereinkommen, dass sie ein Objekt
weisen die Vorstellungen über sich hinaus zu etwas, annehmen, das der Vorstellung zugrunde liegen soll,
was von der Vorstellung verschieden ist? Die Welt ihr aber doch ähnlich ist. Für Schopenhauer jedoch
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 61

sind ›Objekt‹ und ›Vorstellung‹ austauschbare Begriffe, Objekt unter Objekten. Als solcher unterliegt er, wie
setzt doch jedes Objekt ein Subjekt voraus und bleibt alle Objekte, den Gesetzen der phänomenalen Welt,
somit Vorstellung. Folglich ist der erhoffte Aufschluss allem voran dem Satz vom Grunde. Darüber hinaus
von der traditionellen Philosophie nicht zu erlangen. erfahre, erlebe ich meinen Leib andererseits auf eine
Auch die Mathematik vermag nicht weiterzuhelfen, noch ganz andere Weise: nämlich als »Wille«, der, wie
denn sie betrachtet die Vorstellungen nur insofern, als Schopenhauer meint, das »Jedem unmittelbar Be-
sie Raum und Zeit füllen, das heißt insofern sie Grö- kannte« ist (W I, 119). Schopenhauer gelangt zu dieser
ßen sind. Die Mathematik setzt lediglich Größen mit- Einsicht im Ausgang von den »willkürlichen Bewe-
einander in Beziehung; sie stellt aber nicht einmal die gungen dieses Leibes«. Diese sind für ihn nichts ande-
Frage, ob es etwas von den Vorstellungen Verschiede- res als die »Sichtbarkeit der einzelnen Willensakte«
nes geben könne. (W I, 126), in denen sich »mein Wille selbst überhaupt
Eben so wenig wie die Mathematik vermögen die und im Ganzen« ausspricht (W I, 127).
Naturwissenschaften den gesuchten Aufschluss über Mit dem Gegebensein des Leibes als Wille gibt
die Bedeutung der Vorstellung zu liefern. Schopenhau- Schopenhauer also zu verstehen: Die einzelnen Bewe-
er unterscheidet zwei große Gattungen der Naturwis- gungen des Leibes sind Erscheinungen, sind Aus-
senschaften: die Morphologie und die Ätiologie. Der druck von einzelnen Willensakten. Diese Willensakte
Morphologie (gr. morphé: Form, Gestalt) geht es um ihrerseits sind nun keine bloß subjektiven Phantas-
die Beschreibung von Formen und Gestalten, die Ätio- men, sondern müssen als in den Bewegungen des Lei-
logie (gr. aitia: Grund, Ursache) betreibt Ursachenfor- bes in die Erscheinung tretende Akte meines Willens
schung und versucht die Veränderungen zu erklären, überhaupt angesehen werden. Was mir so in der Vor-
die sich in der Natur antreffen lassen. Sie ist auf die Re- stellung als leibliche Bewegung gegeben ist, enthüllt
gel aus, gemäß der auf einen Zustand der Materie not- sich demzufolge seiner inneren Seite nach als Wille.
wendig ein bestimmter anderer erfolgt. Sie unter- Daher kann Schopenhauer mit gutem Grund von ei-
nimmt es mithin, Kausalerklärungen der Natur zu ge- ner »Identität« (W I, 121) von Leib und Wille spre-
ben und Naturgesetze aufzustellen. Nun zeigt sich für chen, einer Identität, die er in vierfacher Hinsicht ent-
Schopenhauer, dass die Morphologie den erhofften faltet (vgl. W I, 119 ff.). Erstens ist jeder Willensakt so-
Aufschluss nicht zu geben vermag, denn sie führt in ih- fort und unausbleiblich auch eine Bewegung des Lei-
ren genealogischen Aufzählungen, also in ihrer Auf- bes. Man kann den Akt, wie Schopenhauer festhält,
stellung von Stammbäumen der Lebewesen, immer »nicht wirklich wollen, ohne zugleich wahrzuneh-
nur Vorstellungen vor. Auch die Befragung der Ätiolo- men, daß er als Bewegung des Leibes erscheint« (W I,
gie führt zu einem negativen Ergebnis: Sie legt dar, wie 119). Schopenhauer unterscheidet streng zwischen
ein bestimmter Zustand der Materie einen anderen Wünschen und Wollen. Umgekehrt ist zweitens jede
herbeiführt und sieht damit ihre Aufgabe als beendet Einwirkung auf den Leib sofort und unmittelbar auch
an. Folglich gibt auch sie keinen Aufschluss über das Einwirkung auf den Willen. Ist sie dem Willen zu-
Wesen und die Bedeutung der vorgestellten Erschei- wider, erlebt man sie als »Schmerz«; ist sie ihm hin-
nungen. Sie hat zwar einen Namen für das, was die ma- gegen gemäß, als »Wohlbehagen« und »Wollust« (W I,
teriellen Veränderungen bewirkt – nämlich ›Natur- 120). Zudem wirkt drittens jede heftige und über-
kraft‹; diese zu erklären liegt allerdings außerhalb ihres mäßige Bewegung des Willens ganz unmittelbar auf
Gebiets und wird von ihr auch gar nicht versucht. den Leib und seine vitalen Funktionen ein. Und vier-
Um dennoch die Frage nach der Bedeutung der tens schließlich ist die Erkenntnis, die ich von meinem
Vorstellungen beantworten zu können, schlägt Scho- Willen habe, von der meines Leibes gar nicht zu tren-
penhauer einen bis dato völlig neuartigen Weg ein. nen. Mein Leib, sagt Schopenhauer, ist die Bedingung
Dieser Weg führt bei ihm über den Leib (vgl. Schön- der Erkenntnis meines Willens, denn ich kann diesen
dorf 1982; Tiemersma 1995; Dörpinghaus 2000; Dörf- Willen ohne meinen Leib doch eigentlich gar nicht
linger 2002; Jeske/Koßler 2012). Damit rückt er eine vorstellen.
Entität ins Zentrum der Betrachtung, die in der Was in der Vorstellung als Bewegung des Leibes ge-
abendländischen Philosophie bislang mehr als stief- geben ist, enthüllt sich mithin seiner inneren Seite
mütterlich behandelt worden ist. Der Leib, so betont nach als Wille. Mein Leib als ganzer ist »mein sichtbar
Schopenhauer, ist auf zweifache Weise gegeben; wir gewordener Wille«, ist »mein Wille selbst« (W I, 128).
haben eine zweifache Erfahrung von ihm. Einerseits Oder wie Schopenhauer mit einem von ihm geprägten
nämlich ist er mir gegeben als Vorstellung, also als Begriff auch sagt: Der Leib ist die »Objektität des Wil-
62 II Werk

lens« (W I, 120), ist das Sichtbarwerden oder Sichdar- hat, was gar nicht Vorstellung ist, sondern ein von die-
stellen des Willens in der Erscheinungswelt. Aus dieser ser toto genere Verschiedenes: Wille«. Aufgrund ihrer
so verstandenen Identität von Leib und Wille leitet Sonderstellung nennt Schopenhauer sie daher »ϰατ’
Schopenhauer ab, die Teile des Leibes müssten den εξοχην philosophische Wahrheit« (W I, 122).
»Hauptbegehrungen, durch welche der Wille sich ma- Offensichtlich ist sich Schopenhauer des Sachver-
nifestiert, vollkommen entsprechen, müssen der sicht- halts bewusst gewesen, dass er hiermit das aufgezeigte
bare Ausdruck derselben seyn« (W I, 129). Als Bei- Problem nicht gelöst, sondern nur mit einem Begriff
spiele führt er an: Zähne, Schlund und Darmkanal sei- zugedeckt hat. Denn anders wäre es kaum zu erklären,
en der objektivierte Hunger, die Genitalien der objekti- dass er in Kap. 18 des zweiten Bandes der Welt als Wille
vierte Geschlechtstrieb, und die greifenden Hände und und Vorstellung erneut darauf zu sprechen kommt und
die raschen Füße entsprächen dem schon mehr mittel- eine etwas modifizierte Antwort anbietet. Dort stimmt
baren Streben des Willens, welches sie darstellen. er insoweit mit Kant überein, als er es als unmöglich
Schopenhauers Vorgehen, den Leib zur Erkennt- ansieht, das Ding an sich objektiv erkennen zu können,
nisbedingung des Willens zu machen, wirft ein Pro- denn das hieße »etwas Widersprechendes verlangen.
blem auf. Zu der Erkenntnis des Willens gelangt das Alles Objektive ist Vorstellung, mithin Erscheinung, ja
Subjekt Schopenhauer zufolge unmittelbar, betont er bloßes Gehirnphänomen«. Folglich, schließt Schopen-
doch, der Wille sei das »Jedem unmittelbar Bekannte« hauer, kann das Ding an sich »nur ganz unmittelbar ins
(W I, 119). Hiermit stellt er darauf ab, die Erkenntnis Bewußtseyn kommen, nämlich dadurch, daß es selbst
des Willens sei nicht durch Anschauung vermittelt. sich seiner bewußt wird« (W II, 219). Die innere Er-
Vielmehr, so seine Überlegung, wird die Identität von kenntnis ist zwar frei von den Formen des Raumes und
Leib und Wille im unmittelbaren Bewusstwerden des der Kausalität, nicht jedoch von der der Zeit. Deshalb
Willens erfasst. Dieser Akt des Bewusstwerdens des ist der Wille dem Subjekt immer nur in der Sukzession
Willens ist ein unmittelbares, gleichsam ›inneres‹ Er- der einzelnen Willensakte gegeben. Insofern stimmt
kennen, das die Entgegensetzung von Subjekt und Schopenhauer hier noch mit der vorhin skizzierten,
Objekt von sich ausschließt, ist die unmittelbare Ge- von ihm ursprünglich vertretenen Auffassung überein.
wissheit, welche jeder von seinem Willen hat. Die so Sprach er jedoch im ersten Band vom Willen aus-
verstandene Erkenntnis des Willens kann nach Scho- drücklich als dem jeden unmittelbar Bekannten, so
penhauer immer nur nachgewiesen, im Sinne von nimmt er im zweiten Band eine Einschränkung vor,
›aufgezeigt‹ werden. Niemals jedoch, so hebt er her- wenn er statt von ›unmittelbar‹ von ›unmittelbarer‹
vor, könne man sie beweisen, »d. h. als unmittelbare spricht. Zwar gibt die innere Wahrnehmung, wie er
Erkenntniß aus einer andern unmittelbarern« (W I, festhält, keine »erschöpfende und adäquate Erkennt-
122) ableiten. Damit stellt sich die Frage nach ihrem niß des Dinges an sich« (W II, 220). Gleichwohl aber
Wahrheitsgehalt. ist diese Wahrnehmung, »in der wir die Regungen und
Dem Schopenhauerschen Wahrheitsbegriff liegt Akte des eigenen Willens erkennen«, so betont er nun,
das Verständnis von Wahrheit als »Beziehung eines »bei Weitem unmittelbarer, als jede andere: sie ist der
Urtheils auf etwas von ihm Verschiedenes, das sein Punkt, wo das Ding an sich am unmittelbarsten in die
Grund genannt wird« (G, 105), zugrunde. Die Bezie- Erscheinung tritt, und in größter Nähe vom erkennen-
hung eines Urteils auf seinen zureichenden Grund den Subjekt beleuchtet wird« (W II, 220 f.).
teilt sich nach Schopenhauer in vier Arten auf. Diesen Der erkannten Identität von Leib und Wille kommt
vier Arten entsprechend verzweigt sich Wahrheit vier- für den Fortgang der Schopenhauerschen Überlegun-
fach in logische, empirische, transzendentale und me- gen eine heuristische Funktion zu, soll sie doch dazu
talogische Wahrheit (vgl. G, §§ 30–33). Diesen vier- verhelfen, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was
fach entfalteten Wahrheitsbegriff nun kann die Er- ist die Welt, außer dass sie meine Vorstellung ist?
kenntnis des Willens nicht für sich in Anspruch neh- Schopenhauers Überlegungen schlagen folgenden
men, »denn sie ist nicht [...] die Beziehung einer Weg ein. Die anhand des Leibes gewonnene Erkennt-
abstrakten Vorstellung auf eine andere Vorstellung, nis des Willens will er als einen »Schlüssel« zum We-
oder auf die nothwendige Form des intuitiven, oder sen aller uns in der Welt begegnenden Erscheinungen
des abstrakten Vorstellens«. Vielmehr wird die Er- gebrauchen. Das besagt nichts weniger, als dass Scho-
kenntnis des Willens von Schopenhauer begriffen als penhauer alle – streng genommen wirklich alle – Ob-
»die Beziehung eines Urtheils auf das Verhältnis, wel- jekte, die uns als unsere Vorstellungen gegeben, aber
ches eine anschauliche Vorstellung, der Leib, zu dem nicht unser Leib sind, »nach Analogie« des Leibes be-
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 63

urteilen will (W I, 125). Auch wenn Schopenhauer Einzig im Ausgang vom Menschen erschließt sich uns
hier von einer Analogie spricht, so hat diese analogi- die Natur, erschließt sich uns die Welt. »Seit den ältes-
sche Beurteilung bei ihm doch keineswegs den Cha- ten Zeiten«, hält Schopenhauer fest, hatte man »den
rakter eines bloßen ›Als-ob‹. Vielmehr will er die da- Menschen als Mikrokosmos angesprochen. Ich«,
mit vorgenommene Übertragung und Ausdehnung fährt er fort, »habe den Satz umgekehrt und die Welt
des Willensbegriffs auf die Welt insgesamt als notwen- als Makranthropos nachgewiesen; sofern Wille und
dige Annahme verstanden wissen. Vom Ansatz seines Vorstellung ihr wie sein Wesen erschöpft« (W II, 739;
Konzepts her kann das ja auch gar nicht anders sein, vgl. Decher 1992).
denn über die Vorstellung und den Willen hinaus ist Aufgrund ihrer methodischen Vorgehensweise füh-
uns ja nichts außerdem gegeben! »Außer dem Willen ren die Naturwissenschaften laut Schopenhauer nie
und der Vorstellung«, schreibt Schopenhauer, »ist uns zum letzten Grund ihrer Forschungsobjekte (vgl. Mor-
gar nichts bekannt noch denkbar. [...] Wir können da- genstern 1985). So versucht beispielsweise die Physik
her eine anderweitige Realität, um sie der Körperwelt die Erscheinungen zu erklären anhand des Kausalitäts-
beizulegen, nirgends finden« (ebd.). gesetzes. In der Kette der Ursachen und Wirkungen
Diese Übertragung der Erkenntnis des Willens aber ist – soll das Gesetz der Kausalität sich nicht selbst
vom Menschen auf die Welt insgesamt soll durch aufheben – ein erster Anfang dieser Kette nie zu errei-
»fortgesetzte Reflexion« (W I, 131) geleistet werden. chen, so dass die naturwissenschaftlichen Erklärungs-
Die fortgesetzte Reflexion bringt die Erkenntnis der versuche auf einen unendlichen Regress hinauslaufen
Erscheinungen und die unmittelbare Gewissheit, wel- (vgl. W II, 191). Dazu kommt für Schopenhauer: Alle
che jeder von seinem Willen hat, zusammen und er- Erklärungen aus Ursachen beruhen letztlich auf einem
öffnet damit die Möglichkeit, zu erkennen, dass eben- Unerklärbaren. Denn die Tatsache, dass eine Ursache
so wie in den Bewegungen des Leibes auch in der Viel- eine Wirkung zeitigt, wird »zurückgeführt auf ein Na-
zahl der Naturerscheinungen es der eine und selbe turgesetz und dieses endlich auf eine Naturkraft, wel-
Wille ist, der erscheint. Zwar tritt der Wille im Selbst- che nun als das schlechthin Unerklärliche stehn bleibt«
bewusstsein am deutlichsten zutage, aber durch die (W II, 195; ähnlich W I, 145 ff.; N, 4). Über dieses
fortgesetzte Reflexion wird das erkennende Subjekt schlechthin Unerklärliche führt die naturwissen-
dahin geführt, »auch die Kraft, welche in der Pflanze schaftliche Erklärung nicht hinaus. Sie muss es als un-
treibt und vegetirt, ja die Kraft, durch welche der Krys­ erklärbar hinnehmen und sich dabei bescheiden, denn
tall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol auch wenn es den Naturwissenschaften im Laufe der
wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung he- Zeit gelungen ist, eine Vielzahl von Naturkräften auf
terogener Metalle entgegenfährt, die, welche in den einige wenige zurückzuführen, kann das nach Scho-
Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehn und Su- penhauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese
chen, Trennen und Vereinen erscheint, ja zuletzt sogar ›Urkräfte‹ letztlich als qualitates occultae stehen blei-
die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, ben müssen (vgl. W I, 149; W II, 191). Daher bildet die
den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht« Deutung der Welt im Ausgang vom Willen als dem un-
(ebd.), als identisch anzusehen mit dem Willen, der mittelbar Bekannten für Schopenhauer die »einzige
dem erkennenden Subjekt unmittelbar bekannt ist. enge Pforte zur Wahrheit« (W II, 219). Da die Natur-
Demnach sind alle Erscheinungen, die das erkennen- wissenschaften diese Pforte nicht durchschreiten, ge-
de Subjekt vorstellt, verschieden nur qua Erscheinun- langen sie nicht auf den Weg, der zur letztgültigen
gen; ihr inneres Wesen hingegen ist in allen das eine Deutung und Erklärung der Welt führt, derzufolge
und selbe: Wille. Oder anders gesagt: Die Welt mit der sich die Kräfte der Natur als Wille enthüllen. Diese von
Vielzahl ihrer Erscheinungen ist die Sichtbarwerdung Schopenhauer gelieferte Erklärung geht, indem sie,
oder Objektivation des Willens. ausgehend vom Menschen, Aufschluss gibt über das
Mittels dieser Leib-Welt-Analogie kommt Scho- innere Wesen der Dinge und der Welt, über die physi-
penhauer seiner Forderung nach, wir müssten die kalische Erklärung der Erscheinungen hinaus. Für
Natur verstehen lernen aus uns selbst und nicht um- Schopenhauer ist dies eine metaphysische Erklärung
gekehrt uns selbst aus der Natur (vgl. W II, 219). (vgl. W I, 167; Morgenstern 1986; 1987; 1988; Malter
Nicht aufgrund der Erkenntnis der Naturerscheinun- 1988; Zöller 1996; Dürr 2003).
gen, die uns die Naturwissenschaft liefert, können wir Der Metaphysik weist er als Aufgabe die Zusam-
Erkenntnisse über das Wesen des Menschen gewin- menfügung von äußerer und innerer Erfahrung sowie
nen. Vielmehr gilt für ihn gerade das Umgekehrte. die Deutung des so verstandenen Ganzen zu. Damit
64 II Werk

ist Metaphysik, wie er sie versteht und konzipiert, »ein jektiviert. Ist demnach die Einheit des Willens zu ver-
Wissen, geschöpft aus der Anschauung der äußern, stehen als ein aus der Vielheit abgezogenes Abstrak-
wirklichen Welt und dem Aufschluß, welchen über tum? Eine so verstandene Einheit des Willens weist
diese die intimste Thatsache des Selbstbewußtseyns Schopenhauer zurück. Der Wille ist einer, weil er
liefert, niedergelegt in deutliche Begriffe« (W II, 204). außerhalb von Raum und Zeit, mithin außerhalb des
Eine so verstandene Metaphysik, schreibt er, »bleibt principium individuationis, also außerhalb der Mög-
daher immanent und wird nicht transzendent. Denn lichkeit der Vielheit liegt. »Er selbst ist Einer«, schreibt
sie reißt sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern Schopenhauer, »jedoch nicht«, wie er sogleich hervor-
bleibt die bloße Deutung und Auslegung derselben« hebt, »wie ein Objekt Eines ist, dessen Einheit nur im
(W II, 203; zu Interpretationen der Metaphysik Scho- Gegensatz der möglichen Vielheit erkannt wird: noch
penhauers, die diese methodologisch als »herme- auch, wie ein Begriff Eins ist, der nur durch Abstrakti-
neutisch« auffassen, vgl. u. a. Schubbe 2010; s. auch on von der Vielheit entstanden ist: sondern er ist Eines
Kap. 40). Die Metaphysik reißt sich von der Erfahrung als das, was außer Zeit und Raum, dem principio in-
nie ganz los, sofern sie in der inneren und äußeren Er- dividuationis, d. i. der Möglichkeit der Vielheit, liegt«
fahrung fundiert ist. Sie geht gleichzeitig aber über die (W I, 134).
Erfahrung hinaus, indem sie diese nach Analogie des Mit der Einheit des Willens ist für Schopenhauer
Leibes deutet und den Willen als »das Ansich der ge- zugleich dessen Unteilbarkeit gegeben. Weil alle Viel-
sammten Natur« erkennt (W I, 155). Während Kant in heit nur in Raum und Zeit liegt, der Wille an sich da-
der Kritik der reinen Vernunft die Erkennbarkeit der von aber nicht berührt wird, bleibt er der Vielheit un-
Dinge an sich abstritt (vgl. KrV, A 190), nimmt Scho- geachtet unteilbar. »Nicht ist etwan«, führt Schopen-
penhauer demgegenüber für sich in Anspruch, das hauer aus, »ein kleinerer Theil von ihm im Stein, ein
Ding an sich mit der erwähnten Einschränkung er- größerer im Menschen: da das Verhältniß von Theil
kannt und bezeichnet zu haben. Geradezu lapidar er- und Ganzem ausschließlich dem Raume angehört
klärt er: »Kanten war es = x, mir Wille« (P II, 96). Und und keinen Sinn mehr hat, sobald man von dieser An-
der Wille allein ist das Ding an sich (vgl. W I, 131). schauungsform abgegangen ist; sondern auch das
Schopenhauer schließt also die Möglichkeit, dass in Mehr und Minder trifft nur die Erscheinung; d. i. die
den Erscheinungen etwas anderes erscheinen könne Sichtbarkeit, die Objektivation: von dieser ist ein hö-
als der Wille, dezidiert aus. herer Grad in der Pflanze, als im Stein; im Thier ein
Als das Ding an sich, als das Ansich der gesamten höherer als in der Pflanze« (W I, 152). Demzufolge
Natur nun unterscheidet sich der Wille von seiner Er- manifestiert sich der Wille in jeder seiner Erscheinun-
scheinung und ist völlig frei von deren Formen (vgl. gen ganz und ungeteilt. Infolgedessen kann Schopen-
W I, 134). Dies bedeutet zunächst, dass er nicht von hauer von der »numerischen Identität des innern We-
dem Auseinanderfallen in Subjekt und Objekt berührt sens alles Lebenden« (W II, 700) sprechen. Der Wille
wird. Das besagt für Schopenhauer insbesondere: Er als das Ansich der Welt ist numerisch einer. Deshalb
kann nicht erkannt werden als ein dem Subjekt ent- vermag er sich »eben so ganz und eben so sehr in einer
gegenstehendes Objekt. Es bedeutet ferner, dass der Eiche wie in Millionen« (W I, 153) zu offenbaren.
Wille nicht in Raum und Zeit ist und nicht am Leitfa- Wenn es dergestalt ein Wille ist, der in allen Teilen
den des Kausalitätsprinzips erkannt werden kann. Für der Natur erscheint, dann resultiert daraus die Über-
den Willen als Ding an sich lässt sich demnach kein einstimmung aller Objektivationen (vgl. W I, 190 ff.),
Grund angeben, warum er ist. Insofern ist er »grund- und diese macht für Schopenhauer sowohl die innere
los« (W I, 162). Grundlossein ist für Schopenhauer ei- als auch die äußere Zweckmäßigkeit aller Naturwesen
ne Bedeutung von Freiheit (vgl. z. B. W I, 337). Der unleugbar (vgl. W I, 184; W II, 372 ff.). »Angemessen
Wille als Ding an sich ist daher als frei zu bezeichnen darum«, hält er fest, »ist jede Pflanze ihrem Boden
(zu dem sich damit stellenden Problem der mensch- und Himmelsstrich, jedes Thier seinem Element und
lichen Willensfreiheit s. Kap. 8.1). Verschiedensein der Beute, die seine Nahrung werden soll, ist auch ir-
von seiner Erscheinung bedeutet schließlich, dass der gendwie einigermaßen geschützt gegen seinen natür-
Wille an sich jegliche Vielheit von sich abweist. Folg- lichen Verfolger; [...] und so bis auf die speciellsten
lich muss er gedacht werden als »einer« (W I, 152). und erstaunlichsten äußeren Zweckmäßigkeiten he-
Wie indessen ist diese Einheit des Willens zu ver- rab« (W I, 190). Was so von dem Verhältnis der an-
stehen? Vorgestellt werden doch immer nur die vielen organischen Teile der Natur zu den organischen bzw.
einzelnen Erscheinungen, in denen sich der Wille ob- von dem der organischen zueinander gilt, nämlich
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 65

dass durch dieses Verhältnis »die Erhaltung der ge- jegliche Erkenntnis seiner selbst. Auf der nächsthöhe-
sammten organischen Natur oder auch einzelner ren Stufe stellt sich der Wille dar »im stummen und
Thiergattungen« ermöglicht wird »und daher als Mit- stillen Leben einer bloßen Pflanzenwelt« (P II, 152).
tel zu diesem Zweck unserer Beurtheilung entgegen- Auch hier ist er lediglich als blinder und dumpfer
tritt« (W I, 184), gilt nach Schopenhauer in gleichem Drang aktiv, »noch völlig erkenntnisloß, als finstere
Maße von dem Verhältnis der Teile im einzelnen Or- treibende Kraft« (W I, 178). Gleiches gilt vom »vegeta-
ganismus: Aus der »Uebereinstimmung aller Theile tiven Theil« animalischen Lebens, welches die dritte
eines einzelnen Organismus« geht »die Erhaltung des- große Objektivationsstufe darstellt. Und die vierte
selben und seiner Gattung« hervor, welches »als Stufe seiner Objektivation erreicht der Wille im Men-
Zweck jener Anordnung sich darstellt« (ebd.). Innere schen. Auf diese Weise, so könnte man sagen, arbeitet
und äußere Zweckmäßigkeit in der Natur resultieren sich der Wille gleichsam Stufe um Stufe empor: Aus
so gesehen aus der Identität des Willens in allen seinen dem blinden, dumpfen, erkenntnis- und bewusstlosen
Erscheinungen. Weil es in allen Naturprodukten der Willen wird am Ende ein von Erkenntnis und Be-
eine und selbe Wille ist, der in ihnen sich objektiviert, wusstsein begleiteter Wille. Im Menschen als der
stimmen alle Teile der organischen Wesen überein, höchsten Stufe hat sich der Wille gleichsam »ein Licht
sind alle Naturprodukte aufeinander ausgerichtet, angezündet« (W I, 179), das heißt differenzierte Er-
passen sie sich gegenseitig an und kommen sie sich so kenntnisorgane und -kräfte geschaffen.
weit wie möglich entgegen. Allerdings haben solche Die Herausbildung dieser Erkenntniskräfte ergibt
Zweckmäßigkeiten für Schopenhauer nur insoweit sich für Schopenhauer aus ihrer primären Funktion,
Geltung, als es für die Erhaltung der Welt und der in die Erhaltung des Menschen sicherzustellen. Sie sind
ihr lebenden Wesen vonnöten ist. Jene Harmonie, so demnach biologisch bedingt, weil nämlich überlebens-
stellt er nämlich klar, gehe nur so weit, dass sie den Be- notwendig. In den unteren Bereichen der scala naturae
stand der Welt und ihrer Wesen möglich macht, wel- erhalten sich die Lebewesen, indem sie sich, auf Reize
che ohne sie längst untergegangen wären. Folglich er- reagierend, die notwendige Nahrung einverleiben. Im
streckt sie sich nur auf den Bestand der Spezies und Zuge der Ausbildung höherer Stufen tritt die Indivi-
der allgemeinen Lebensbedingungen, nicht hingegen dualität der Lebewesen immer deutlicher hervor, bis
auf den der Individuen (vgl. W I, 192). sie im Menschen ihren höchsten Ausprägungsgrad er-
Bei all dem ist sich Schopenhauer darüber im Kla- reicht. Dabei wird auch die zur Selbsterhaltung un-
ren, dass er eine Erweiterung des Begriffs ›Wille‹ vor- abdingbare Nahrung eine speziellere. Zudem kann auf
genommen hat (vgl. W I, 132), wenn er etwa den Kris- dieser hohen Entwicklungsstufe der Eintritt eines Rei-
tall oder den Magneten, anorganische Erscheinungen zes nicht abgewartet werden – die Häufigkeit der auf
also, als Erscheinungen des Willens deutet. Für ge- Reize erfolgenden Nahrungsaufnahme wäre nämlich
wöhnlich nämlich wird, wie Schopenhauer keines- zu gering. Also muss das höher entwickelte Lebewesen
wegs verkennt, unter ›Wille‹ der von Erkenntnis gelei- seine Nahrung selbst aufsuchen und auswählen. Zu
tete, nach Motiven und unter Leitung der Vernunft diesem Zweck hat der Wille differenzierte Erkenntnis-
sich äußernde Wille verstanden. Für Schopenhauer strukturen hervorgebracht, hat er sich im Laufe der
jedoch ist dies »nur die deutlichste Erscheinung des höherstufigen Entwicklung einen »Intellekt« geschaf-
Willens« (ebd.). fen. Von dieser Warte aus betrachtet ist der Intellekt
Was die von Schopenhauer vorgenommene Erwei- zunächst einmal ein bloßes Hilfsmittel zur Erhaltung
terung des Willensbegriffs konkret bedeutet, lässt sich des Individuums und der Art wie jedes andere Körper-
am besten durch eine Betrachtung der Art und Weise, organ auch (vgl. W I, 181).
wie der Wille sich in der Welt objektiviert, veranschau- Aber der Wille hat es nicht bei dieser lebenserhal-
lichen. Und zwar objektiviert er sich in der Welt auf tenden Funktion der Erkenntnis und der Erkenntnis-
vier großen Stufen, die Schopenhauer auch im Sinne organe belassen. Vielmehr hat er zudem im Menschen
einer zeitlichen Aufeinanderfolge begreift (vgl. P II, über die anschauliche Erkenntnis hinaus eine abstrak-
151 ff.), so dass man – nebenbei angemerkt – bei ihm te, das ist die Vernunft, erzeugt, um ihn durch eine
Ansätze eines evolutionären Denkens findet. Die ers- »doppelte Erkenntniß« (W I, 180) zu erleuchten. Die-
te, unterste Stufe der Objektivation des Willens bilden se abstrakte Erkenntnis begreift Schopenhauer als ei-
die Kräfte der anorganischen Natur. Hier wirkt der ne »höhere Potenz« der anschaulichen, als eine »Re-
Wille »blind, dumpf, einseitig und unveränderlich« flexion« jener, als »das Vermögen abstrakter Begriffe«
(W I, 141), hier fehlt ihm also jegliches Bewusstsein, (ebd.). Mit Hilfe dieser abstrakten Erkenntnis wird
66 II Werk

der Mensch zur Besonnenheit befähigt, das heißt mit jedoch so, dass sie das Wesen der niedrigeren auf eine
Hilfe der Vernunft vermag er, sich die Vergangenheit untergeordnete Weise bestehen lässt, indem sie »ein
präsent zu halten, für die Zukunft zu planen, sich von höher potenzirtes Analogon« (W I, 173) davon in sich
der Gegenwart zu lösen, die Sorge für seine Existenz aufnimmt. Die jeweils niedrigere Stufe wäre dann in
zu übernehmen und sich der eigenen Willensent- der nächst höheren aufgehoben. Auf dieser höheren
scheidungen als solcher deutlich bewusst zu werden Stufe wiederholt sich der Streit der Erscheinungen un-
(vgl. ebd.). tereinander von Neuem, so dass aufs Ganze gesehen
Allerdings hat das Licht, das der Wille sich mittels ein Streben nach immer höherer Objektivation er-
dieser Erkenntniskräfte angezündet hat, auch Schat- kennbar wird, bis am Ende im Menschen die ›Spitze
tenseiten, wird doch mit der Vernunft der Irrtum der Pyramide‹ (W I, 182) erreicht wird.
möglich. Mit dem Eintritt der Vernunft, so legt Scho- Dieses Streben nach immer höherer Objektivation
penhauer dar, geht die Sicherheit und Untrüglichkeit begreift Schopenhauer als Kampf, denn der Wille ver-
der Willensäußerungen fast ganz verloren: Der In- mag auf einer höheren Stufe nur durch Übermächti-
stinkt tritt mehr und mehr zurück, und die Über- gung der niedrigeren in Erscheinung zu treten. So er-
legung, die abstrakte Denktätigkeit, die ihn ersetzen weist sich der Stufenbau der Natur von seiner dyna-
soll, gebiert »Schwanken und Unsicherheit«, wodurch mischen Seite her als Resultat eines Kampfes um
in vielen Fällen die adäquate Objektivation des Wil- Übermächtigung und Überwältigung, mithin eines
lens durch Taten verhindert wird (vgl. ebd., 180 f.). Kampfes um Macht (hieran konnte Nietzsche mit sei-
Dergestalt wertet Schopenhauer die Herausbildung ner Konzeption des Willens zur Macht anschließen;
von Intellekt und Vernunft durchaus ambivalent. Ei- vgl. Decher 1984; s. Kap. 30). Dazu kommt: Wenn die
nerseits sind sie unabdingbar zum Überleben des jeweils höhere Stufe ein Analogon der überwältigten
Menschen. Andererseits bringen sie die unerwünsch- in sich aufgehoben hat, dann bleibt die Eigenart der
te Begleiterscheinung mit sich, dass Hand in Hand mit übermächtigten erhalten. Auch sie strebt nach wie vor
ihnen der Irrtum heraufkommt, wodurch der Mensch danach, ihr Wesen adäquat zu äußern. Das lässt sich
anfällig wird für Täuschung, Manipulation und Ver- beispielsweise am menschlichen Organismus studie-
führung (vgl. Decher 2011, 154 ff.). ren, denn in diesem findet ein dauernder Kampf ge-
Gleichwohl gilt es zu sehen: Mit Hilfe dieser Er- gen die vielen physischen und chemischen Kräfte
kenntniskräfte vermag sich der Wille sein eigenes We- statt, die als niedrigere Stufen ein früheres Recht auf
sen zum deutlichsten Bewusstsein zu bringen und zu jene Materie haben. Indem so die höheren Objektiva-
erkennen, was dasjenige ist, das er will. Dieses ist die tionsstufen nur sind durch Übermächtigung und
Welt, ist das Leben. Anders gewendet: Die Welt oder Überwältigung der niedrigeren und schwächeren,
das Leben ist der sich in den Formen aller Erschei- gleichwohl aber im Tod eben diese schwächeren Ob-
nung, Raum und Zeit, objektivierende eine Wille. Die jektivationen, die physischen und chemischen Kräfte,
Welt ist so gleichsam der »Spiegel«, in den der Wille wieder die Oberhand gewinnen, wird deutlich, dass
blickt und in dem er in den unzähligen Erscheinungen die Welt als Wille nichts anderes ist als eine ständige
immer nur sich selbst gespiegelt findet. Daher ist es, Selbstentzweiung, ja streng genommen Selbstzerflei-
wie Schopenhauer festhält, »einerlei und nur ein Pleo- schung des Willens (vgl. May 1949/50). Der Wille,
nasmus, wenn wir, statt schlechthin zu sagen ›der Wil- stellt Schopenhauer in lakonischer Kürze klar, zehrt
le‹, sagen ›der Wille zum Leben‹« (W I, 323 f.). »durchgängig an sich selber« und ist »in verschiede-
Die mit der Willensobjektivation gegebene vierfa- nen Gestalten seine eigene Nahrung« (W I, 173).
che Stufung der Welt erfolgt für Schopenhauer mit In seinen 1820 in Berlin gehaltenen Vorlesungen
Notwendigkeit, denn sie entspringt daraus, »daß der hat Schopenhauer diesen Sachverhalt mit einer Reihe
Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts von instruktiven, der Natur entnommenen Beispielen
daist und er ein hungriger Wille ist« (W I, 183), das zu illustrieren versucht. Pars pro toto sei das folgende
heißt ein steter Drang, ein unermüdliches Streben angeführt: »Sie wissen«, trägt Schopenhauer vor,
nach Dasein. Dieser Sachverhalt lässt sich bereits auf
der Ebene des Anorganischen feststellen, denn schon »daß die Fortpflanzung der Armpolypen so geschieht,
hier geraten die Erscheinungen des Willens miteinan- daß das Junge als Zweig aus dem Alten hervorwächst
der in Konflikt, indem jede sich der vorhandenen Ma- und nachher sich von ihm absondert. Aber während es
terie bemächtigen will. Aus diesem Streit geht als Re- noch auf dem Alten als Sprößling festsitzt, hascht es
sultat die Erscheinung einer höheren Stufe hervor – schon nach Beute mit seinen Armen und da geräth es
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 67

oft mit dem Alten in Streit über die Beute, so sehr, daß 118). Je nachdem, wie man hier den Schwerpunkt
eines sie dem andern aus dem Maule reißt. Ein ein- setzt, ergibt sich ein anderes Bild der Metaphysik: als
faches deutliches Beispiel des Widerstreites der Er- Fundament oder Ergänzung der Betrachtung der Welt
scheinungen des Willens zum Leben gegen einander! als Vorstellung.
So ists in der ganzen Natur« (VN II, 175 f.).
Literatur
Dieser an sich selber zehrende Wille kennt kein end- Decher, Friedhelm: Wille zum Leben – Wille zur Macht. Eine
gültiges Ziel, ist »ein endloses Streben« (W I, 195), Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche. Würzburg/
Amsterdam 1984.
dem eine dauernde, letztgültige Befriedigung versagt Decher, Friedhelm: Arthur Schopenhauer. Die Welt als
bleiben muss. Durchaus kennt er vorläufige Ziele; aber »Makranthropos«. In: Ders./Jochem Hennigfeld (Hg.):
jedes, das er erreicht hat, ist ihm »stets nur der Aus- Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert. Würz-
gangspunkt eines neuen Strebens« (W I, 365). Wo ihn burg 1992, 95–108.
Erkenntnis beleuchtet, weiß der Wille, was er jetzt und Decher, Friedhelm: Die rosarote Brille. Warum unsere Wahr-
nehmung von der Welt trügt. Darmstadt 22011.
hier will. Nie aber weiß er, was er überhaupt will: »je-
Dörflinger, Bernd: Schopenhauers Philosophie des Leibes.
der einzelne Akt hat einen Zweck; das gesamte Wollen In: Schopenhauer-Jahrbuch 83 (2002), 43–85.
keinen« (W I, 196). Da nun auch wir Menschen in den Dörpinghaus, Andreas: Der Leib als Schlüssel zur Welt. Zur
Stufengang der Objektivationen des Willens einbezo- Bedeutung der Funktion des Leibes in der Philosophie
gen sind, müssen auch wir wohl oder übel damit le- Schopenhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 81 (2000),
ben, dass auch in uns dessen nie endgültig zu befriedi- 15–32.
Dürr, Thomas: Schopenhauers Grundlegung der Willens-
gende Daseinsgier nicht zur Ruhe kommt. Die daraus
metaphysik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 84 (2003),
resultierende Dramatik und Tragik menschlichen Da- 91–119.
seins entfaltet Schopenhauer im vierten Buch der Welt Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781]. In: Ders.:
als Wille und Vorstellung (s. Kap. 6.6). Werke in sechs Bänden. Bd. II. Hg. von Wilhelm Weische-
Schopenhauers Metaphysik ist von einer Reihe von del. Darmstadt 1983 [KrV].
Problemen begleitet. So hat beispielsweise Volker Kisner, Manja: Der Wille und das Ding an sich. Schopenhau-
ers Willensmetaphysik in ihrem Bezug zu Kants kritischer
Spierling darauf hingewiesen (vgl. u. a. Spierling 1998, Philosophie und dem nachkantischen Idealismus. Würz-
230 f.), dass es in Bezug auf die Bestimmung des »Din- burg 2016.
ges an sich« bei Schopenhauer zu einem Standpunkt- Jeske, Michael/Koßler, Matthias: Philosophie des Leibes. Die
wechsel kommt, insofern er zum einen dieses als un- Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach. Würzburg
erkennbar und den Willen nur näherungsweise als 2012.
Malter, Rudolf: Wesen und Grund. Schopenhauers Konzep-
Entzifferung desselben versteht, zum anderen aber
tion eines neuen Typs von Metaphysik. In: Schopenhauer-
auch den Willen in einem absoluten Sinn als Ding an Jahrbuch 69 (1988), 29–40.
sich bezeichnet. Dieser »Standpunktwechsel« hat zu Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilo­
einer Vielzahl von Interpretationen geführt, die vom sophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann-
Vorwurf des Widerspruchs über terminologische Dif- statt 1990.
ferenzierungen bis hin zu einer systematischen oder May, Eduard: Schopenhauers Lehre von der Selbstentzwei-
ung des Willens. In: Schopenhauer-Jahrbuch 33 (1949/50),
methodologischen Rollenzuweisung innerhalb des 1–9.
Werks reichen (s. Kap. 6.2). Morgenstern, Martin: Schopenhauers Philosophie der Natur-
Eine weitere Frage, die in der Forschung umstritten wissenschaft. Bonn 1985.
ist, bezieht sich darauf, ob die Differenz zwischen der Morgenstern, Martin: Die Grenzen der Naturwissenschaft
Welt als Vorstellung und der Welt als Wille als eine und die Aufgabe der Metaphysik bei Schopenhauer. In:
Schopenhauer-Jahrbuch 67 (1986), 71–93.
Zwei-Welten- oder Zwei-Aspekte-Lehre zu verstehen
Morgenstern, Martin: Schopenhauers Begriff der Metaphy-
ist (vgl. Schubbe 2010a, 195, Anm. 554). Diese Proble- sik und seine Bedeutung für die Philosophie des 19. Jahr-
matik speist sich u. a. aus Schopenhauers nicht ein- hunderts. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 41/4
deutiger Selbstcharakterisierung seiner Metaphysik: (1987), 592–612.
So finden sich Stellen, die die Metaphysik als ein Un- Morgenstern, Martin: Schopenhauers Grundlegung der
ternehmen kennzeichnen, herauszufinden, was »hin- Metaphysik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 57–66.
Schöndorf, Harald: Der Leib im Denken Schopenhauers und
ter« der Welt steckt (vgl. u. a. W II, 180). Einen ande- Fichtes. München 1982.
ren Akzent setzen hingegen Stellen, mit denen Scho- Schubbe, Daniel: Der doppelte Bruch mit der philosophi-
penhauer die Metaphysik unter die Leitfrage stellt, »ob schen Tradition – Schopenhauers Metaphysik. In: Michael
diese Welt nichts weiter, als Vorstellung sei« (W I, Fleiter (Hg.): Die Wahrheit ist nackt am Schönsten. Arthur
68 II Werk

Schopenhauers philosophische Provokation. Frankfurt a. M. Beiträge. In Hinsicht auf den metaphysischen Ansatz
2010, 119–127. erweist sich Schopenhauer als ein Spätberufener in-
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik mitten der arbeitsteiligen wissenschaftlichen For-
und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010a.
Spierling, Volker: Arthur Schopenhauer. Eine Einführung in
schung des 19. Jahrhunderts. Das heißt aber nicht,
Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1998. dass Schopenhauer die einzelwissenschaftliche For-
Tiemersma, Douwe: Der Leib als Wille und Vorstellung. schung in ihrer Bedeutung unterschätzt. Er sieht ihre
Struktur und Grenzen der Schopenhauerschen Philoso- Fruchtbarkeit vor allem dann, wenn sie sich der Erfas-
phie des Leibes. In: Schopenhauer-Studien 5 (1995), 163– sung der Wirklichkeit auf dem Weg der Anschauung
172.
nähert, wie dies bei Goethe der Fall war (s. Kap. 19).
Zöller, Günter: Schopenhauer und das Problem der Meta-
physik. Kritische Überlegungen zu Rudolf Malters Deu- Unter Anschauung versteht Schopenhauer mehr als
tung. In: Schopenhauer-Jahrbuch 77 (1996), 51–64. die bloße Wahrnehmung. Er unterstellt einen an-
schauenden Verstand, der die Wahrnehmung bereits
Friedhelm Decher deutend verarbeitet (s. Kap. 6.3). Die Wissenschaften
tun dies gemäß den Varianten des Satzes vom Grund
und gelangen dabei zur Feststellung der Relationen
6.5 Ästhetik unter den Erscheinungen bzw. den Dingen, nicht aber
zur Einsicht in das Wesen der Dinge, um die sich die
Der besondere Status der ›Ästhetik‹ in
Metaphysik bemüht. Mit den Konzepten einer Meta-
Schopenhauers System
physik des Schönen, bzw. einer Metaphysik der Kunst,
Einen philosophischen Diskurs über die Künste, die behandelt Schopenhauer, strukturell betrachtet, die
Künstler und besondere sinnliche Eigenschaften wie Mitte seines Systems, von der aus sowohl neue zusätz-
z. B. das Schöne und das Erhabene nennen wir für ge- liche Einsichten in der Rückschau auf seine Erkennt-
wöhnlich eine Ästhetik, vor allem dann, wenn dieser nislehre als auch in der Vorausschau auf seine Ethik
Diskurs Teil eines systematisch aufgebauten Philoso- möglich werden. Die Stimmigkeit des Systems hängt
phems ist. Arthur Schopenhauer hat zwar im dritten wesentlich von diesen Bezügen ab, denn Schopenhau-
Buch seines Hauptwerks und in den späteren Ergän- er vertritt eine organismische Konzeption seines Sys-
zungen hierzu, also in einem umfangreichen Teil sei- tems, für die eigentlich nur eine ganzheitliche Be-
nes Systems, die Kunst behandelt – die Künstlerper- trachtung angemessen wäre (s. Kap. 6.2). In der Vor-
sönlichkeit und die ästhetischen Eigenschaften –, aber rede zur 1. Auflage seines Hauptwerks erklärt er, dass
der herkömmliche Name ›Ästhetik‹ für die Behand- in diesem Werk in Wahrheit nur »ein einziger Gedan-
lung dieser Gegenstände will in diesem Fall nicht ke« entwickelt werde, dessen Darstellung in Buchform
recht passen. Anders nämlich als in den meisten phi- allerdings notgedrungen die Reihung von Teilen er-
losophischen Systemen wird hier die ›Ästhetik‹ nicht fordere, obwohl diese sich allesamt gegenseitig be-
allein durch Hinwendung zu einem bestimmten wei- dingten (vgl. W I, VIII).
teren Gegenstandsbereich motiviert, dessen Behand- Trotz dieser selbstkritischen Überlegungen Scho-
lung auch fehlen könnte, weil er lediglich in einem ad- penhauers scheint doch die Mittelstellung der ›Ästhe-
ditiven Verhältnis zum übrigen System steht und die- tik‹ mit der Darlegung der eigentlichen, tiefsten und
ses nicht modifiziert. Die uneigentlich so genannte wahrhaftesten Erkenntnis, nämlich der Schau der Ide-
›Ästhetik‹ in Schopenhauers Werk ist aus der Sicht des en, überzeugend gewählt, denn von hier aus gibt es die
Autors vielmehr eine »Metaphysik des Schönen« (VN stärksten Ausstrahlungen in alle Richtungen des Sys-
III, 37; W II, 331 u. ö.), die kein Additum des übrigen tems, das ja auf der Überzeugung ruht, dass der vorzu-
Systems ist, sondern dessen integraler, unabdingbarer tragende »einzige Gedanke« inhaltlich lauten kann:
Bestandteil, ohne den weder die Erkenntnislehre noch »Die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens« (W I,
die Ethik dieses Philosophen hinreichend verstanden 485). Es geht also überall um die Formen und Grade
werden können. der Erkenntnisweisen der Welt. Dieses systematische
Schopenhauers Metaphysik des Schönen unter- Interesse ist auch in Schopenhauers ›Ästhetik‹ vorherr-
steht, wie das Werk insgesamt, der totalisierenden, schend, ohne eine Geringachtung der vielen ästheti-
systembildenden Fragestellung: Was ist diese Welt? schen Einzelbeobachtungen daraus folgern zu müssen.
Was ist das Wesen der Welt? Durch die Beantwortung Schopenhauers Philosophie ist durch eine beson-
dieser Frage von Seiten der Kunst und des Schönen er- dere Hochschätzung der Anschauung gekennzeich-
wartet sich Schopenhauer authentische, folgenreiche net. Im Begriff ›Anschauung‹ zielt sie sowohl auf die
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 69

Methode des Anschauungserwerbs wie auch auf den tik‹, d. h. der Metaphysik des Schönen. Schopenhauer
gewonnenen Gegenstand, das Anschauliche oder das selbst weist darauf hin, dass auch seine Ethik von der
zur Anschauung Gebrachte. Es versteht sich, dass das hier maßgeblich entwickelten Konzeption der An-
Konzept der Anschauung für die ›Ästhetik‹ von be- schauung ausgeht und betont, dass »die Erkenntniß,
sonderer Bedeutung ist, und so sind schon Schopen- aus welcher die Verneinung des Willens hervorgeht,
hauers Äußerungen hierzu in seiner Erkenntnis- und eine intuitive ist und keine abstrakte« (W I, 453). Nur
Wissenschaftslehre aufschlussreich für die später in eine solche sei auch in der Lage, unmittelbar die ent-
der ›Ästhetik‹ zu erörternde Funktion der ›reinen An- sprechende Tat oder Verhaltensweise auszulösen (vgl.
schauung‹. Es ist wichtig, dass die als fundamental an- W II, 83). Auch das ethisch so bedeutsame Gefühl des
zusetzende Tätigkeit der Anschauung, schon als em- Mitleids gründet in der Anschauung, d. h. in der intui-
pirische Anschauung, nicht in der bloßen Hinnahme tiven Erkenntnis des Leidens der Kreaturen, nicht in
des Angeschauten liegt, sondern bereits in der An- begrifflicher Argumentation über ihren Zustand oder
wendung von und der Sensibilität für die Strukturen in Regeln der Moral.
des Wirklichen. Es geht dabei um das Erkennen eines Der Vorrang der Anschauung vor dem begriff-
an ihm selbst nicht sinnlichen Gestaltungsmoments, lichen Denken, wie ihn Schopenhauer in seiner Er-
nämlich der Kausalität, deren Auffassung die An- kenntnislehre und Ethik vertritt, erhält seine Bekräfti-
schauung, d. h. der anschauende Verstand, a priori gung und Bewährung im vollen Sinne in der ›Ästhe-
mächtig ist. Dies führt Schopenhauer zu dem Grund- tik‹, denn hier wird das Schöne als eine ›Erkenntnis-
satz: »Alle Anschauung« ist »intellektual« (W I, 13) art‹ bestimmt, aber nicht als irgendeine Form der
und bereitet darauf vor, in der Metaphysik des Schö- Erkenntnis, sondern als die tiefste Art des Erkennens,
nen von der Erkenntnis der Ideen durch die reine An- nämlich als reine Anschauung des Wesens oder der
schauung zu erfahren. Auch die Ideen können als Idee der Dinge. Damit kommt der ›Ästhetik‹ im Sys-
strukturbildende Faktoren der Wirklichkeit verstan- temganzen eine ungewöhnlich hohe Bedeutung zu,
den werden und sich Schopenhauer zufolge in der rei- denn sie findet Schopenhauer zufolge auf dem Weg ei-
nen Kontemplation zeigen. nes anschauungsbezogenen Philosophierens den
Im ersten Buch seines Hauptwerks betont Schopen- Schlüssel zum gesuchten Wesen der Dinge.
hauer den originären, authentischen und verlässlichen
Charakter der Anschauung und kontrastiert ihn mit
Die Idee als ›Hauptgegenstand‹ von
der Abkünftigkeit der Begriffe, die jeden möglichen
Schopenhauers ›Ästhetik‹
Gehalt aus der Anschauung herleiten müssten (vgl.
W I, 41). Während dies hier noch klingt wie die An- Aus Schopenhauers Willensmetaphysik (s. Kap. 6.4)
erkennung der Anschauung als Fundament wissen- geht hervor, dass der natürlicherweise vom Willen be-
schaftlicher Redlichkeit, wie sie der Empirist David stimmte Mensch kaum eine Chance hat, der Anschau-
Hume gefordert hat, weisen andere Äußerungen schon ung um ihrer selbst willen nachzugehen. Er verharrt
deutlich auf den Selbstwert der Anschauung und die für gewöhnlich nur so lange bei der Anschauung, als es
Überlegenheit der Anschauung über die Reflexion hin. ihm um die Auswahl der Gegenstände seines Begeh-
In der Vorwegnahme des emphatischen Konzepts der rens geht oder um die Feststellung der Relationen un-
Anschauung, das Schopenhauer in der Metaphysik des ter den Dingen. Ein rein objektives Interesse an dem in
Schönen entwickelt, erklärt er in seiner Erkenntnisleh- der Anschauung Gegebenen liegt fast allen Menschen
re: »Die Anschauung ist sich selber genug; daher was fern, »weil ihr Erkennen immer an den Dienst des Wil-
rein aus ihr entsprungen und ihr treu geblieben ist, wie lens gebunden bleibt« (VN III, 95 f.). Diese Abhängig-
das ächte Kunstwerk, niemals falsch seyn, noch durch keit des Intellekts von den Willensregungen des Men-
irgend eine Zeit widerlegt werden kann denn es giebt schen führt Schopenhauer darauf zurück, dass ent-
keine Meinung, sondern die Sache selbst« (W I, 41 f.). wicklungsgeschichtlich betrachtet der Intellekt als ein
Die Anschauung soll also nicht nur die Quelle aller Er- Instrument des Willens aus diesem selbst hervor-
kenntnis, sondern, als reine Anschauung, sogar selbst gegangen sei, um die Bedürfnisse des Willens leichter
die Erkenntnis schlechthin sein (vgl. W II, 83), wie zu befriedigen. Eine der Schwierigkeiten in Schopen-
Schopenhauer in dem späteren Zusatz zum ersten hauers System liegt darin zu verstehen, dass sich in be-
Buch seines Hauptwerks ausführt. sonderen Fällen der Intellekt dennoch vom Willen
Damit erfährt der emphatische Begriff der An- emanzipieren kann. Schopenhauer erklärt dies mit der
schauung seine Bewährung wesentlich in der ›Ästhe- Vorstellung eines Überschussphänomens: Bestimmte
70 II Werk

Individuen sind von Natur aus mit einem solchen Schopenhauer nimmt für seine Ausdeutung der
Grad an Intellekt, bzw. ›Gehirnkraft‹, ausgestattet, dass platonischen Idee in Anspruch, sie nicht zu mystifizie-
nur ein Teil davon zur Dienstbarkeit am Willen benö- ren und sie nicht auf dogmatische Weise als eine trans-
tigt wird. Ein »Ueberschuß der Erkenntniß wird nun zendente Entität zu veranschlagen. Sie ist vielmehr
frei« (VN III, 68) und ermöglicht die Abwendung vom Vorstellung, wenngleich das empirische Wissen über-
willensbestimmten Ich und die völlige Hingabe an das schreitend. Wenn man Schopenhauers metaphysi-
zu erkennende Objekt. Schopenhauer sieht hierin das scher Hypothese folgt, der Weltprozess sei die Selbst-
Kennzeichen der Genialität. Er nennt sie »die Fähig- erkenntnis des Willens, so stellen die Ideen einen ers-
keit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die An- ten Ansatz des Willens dar, sich selbst Objekt werden
schauung zu verlieren und die Erkenntniß, welche ur- zu können, dies aber noch, ohne sich in Raum und
sprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Zeit auslegen zu müssen, sondern nur in unbewegte
Dienste zu entziehn« (W I, 218 f.). Diese geniale Bega- Prägeformen, die je für bestimmte Stufen der Objekti-
bung beobachtet Schopenhauer bei den Künstlern und vation des Willens maßgeblich sein sollen. Die Ent-
den großen Philosophen. Trotz der unterschiedlichen äußerung des Willens bleibt also hier noch im Forma-
Darstellungsmittel von Kunst und Philosophie unter- len, Ungegenständlichen. Schopenhauer nennt sie die
stellt Schopenhauer ein beide Disziplinen auszeich- adäquate Objektität des Willens je nach den Stufen
nendes Erkenntnisverfahren. Er erklärt, dass »die Fä- seiner Bewusstwerdung. Diesen objektiven Gesichts-
higkeit zur Philosophie eben darin besteht, worein Pla- punkt der Idee entwickelt Schopenhauer in seiner Me-
to sie setzte, im Erkennen des Einen im Vielen und des taphysik des Willens. Da aber in jeder Erkenntnis eine
Vielen im Einen« (W I, 98) und dies bei Schopenhauer Korrelation von Subjekt und Objekt herrschen muss
wie bei Platon mit deutlichem Vorrang des Einen vor und die Ideen erkannt werden, wenn auch nur von
dem Vielen. den genialischen Menschen, so bedarf es einer Auffas-
Es zeigt sich in Schopenhauers ›Ästhetik‹, dass die sungsmöglichkeit des Subjekts für diese anschauli-
hier beschriebene »Fähigkeit zur Philosophie« auch chen, aber nicht unmittelbar sinnlichen Formen, die
die Fähigkeit der Kunst ist; nur verfolgt sie das ge- Schopenhauer als die platonischen Ideen bezeichnet.
meinsame Ziel mit anderen Methoden. Auch der Phi- Diese Auffassung nennt Schopenhauer die reine
losoph muss wie der Künstler in der Lage sein, einen oder ästhetische Kontemplation. Gemeint ist eine sol-
Reichtum an Anschauungswissen zu erwerben und in che Steigerung und Intensivierung der Anschauung
der reinen Anschauung das Eine (die Idee) im Vielen bei der Betrachtung von Naturdingen, dass das Objekt
zu erkennen. Sowohl das Eine wie das Viele überträgt das Bewusstsein so völlig einnimmt, dass das Subjekt
er als Philosoph in abstrakte Begriffe, während der mit ihm in geradezu mystische Vereinigung gelangt,
Künstler dazu fähig ist, die in reiner Anschauung er- mit ihm Eins wird und sein Selbst, d. h. seinen Willen,
fasste Idee in einem sinnlichen Gebilde zur Darstel- darüber vergisst. Der Motor für diese Intensivierung
lung zu bringen. Dies kann aus Schopenhauers Sicht der Anschauung ist Schopenhauer zufolge das rein
umso eher gelingen, als in seinem Konzept der Idee objektive Interesse, eine Erkenntnisintensität, die den
ein anschauliches Allgemeines gedacht ist, das im pla- genialen oder zumindest kongenialen Menschen vor-
tonischen Sinn das Urbild vieler möglicher Abbilder behalten ist und stets nur auf Augenblicke gelingt, in
ist. Daher fügt Schopenhauer dem Begriff der Idee fast denen alles subjektive Interesse und das willentliche
überall das Prädikat ›Platonisch‹ bei und vertraut da- Verfolgen eines Ziels verabschiedet ist. In diesen Au-
bei auf das rechte, d. h. ursprüngliche Verständnis von genblicken entspricht das rein erkennende Subjekt,
idea und eidos als schaubare Gestalt. Damit wird die das seinen Willen aufkündigt und sein Erkennen nicht
umgangssprachliche Verflachung des Ausdrucks mehr nach dem Satz vom Grund ausrichtet, indem es
›Idee‹ abgewehrt, aber auch jegliche Nähe der Idee der Idee gewahr wird, nicht mehr dem Individuum,
zum Begriff vermieden. Die hohe Bedeutung des Ide- sondern »ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitlo-
enkonzepts betont Schopenhauer, wenn er erklärt: ses Subjekt der Erkenntniß« (W I, 210 f.). Dies ist Scho-
»Die Platonische Idee« mache den »Hauptgegenstand penhauer zufolge nur dadurch möglich, dass »durch
des dritten Buchs« (W I, 48), also der ›Ästhetik‹ aus. die Kraft des Geistes gehoben«, der in reiner Kontem-
Mit diesen Worten weist Schopenhauer schon im ers- plation Befindliche »die ganze Macht seines Geistes
ten Buch auf den Gegenstand voraus, durch den sein der Anschauung hingiebt« (W I, 210). Die Ausfüh-
Argument über die Sonderstellung der Anschauung rungen Schopenhauers zu diesem außergewöhnli-
erst völlig eingelöst werden soll. chen Ereignis der Selbstüberwindung und des Sich-
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 71

Offenbarens der Idee oder des Typus einer Klasse von Schönen, wenn er erklärt: »Der Zustand des reinen völ-
Dingen sind von solcher stilistischer Eindringlichkeit, lig willenlosen Erkennens ist es auch ganz allein, der
dass sie sich von selbst als die Schlüsselpassage der uns ein Beispiel giebt, von der Möglichkeit eines Da-
›Ästhetik‹ darbieten und den Vorrang des metaphysi- seyns, das nicht im Wollen besteht, wie unser jetziges«
schen vor dem ästhetischen Interesse des Autors be- (VN III, 96).
zeugen. Zugleich bewährt sich die früher schon be-
hauptete Vorrangstellung der Anschauung vor der Be-
Der Doppelaspekt des Schönen und das ­
griffsarbeit, indem die in der Erkenntnislehre fest-
Verhältnis von ›Ästhetik‹ und Hermeneutik
gestellte Intellektualisierung der Anschauung hier zur
Vergeistigung der Anschauung im Sinne mystischer Der in jeder philosophischen Ästhetik zentrale Begriff
Schau gesteigert wird. des Schönen lässt sich in Schopenhauers ›Ästhetik‹
Schopenhauers Metaphysik (und seine Lebens- erst im Anschluss an seine Ideenlehre terminologisch
erfahrung) lehrt die strikte Korrelation von Willens- genau entwickeln. So ist auch Schopenhauers Ent-
bestimmtheit und Leiden. Wenn in der ästhetischen scheidung, das dritte Buch seines Hauptwerks wie
Kontemplation wenigstens auf Zeit eine Aufhebung auch die zugehörige Vorlesung als »Metaphysik des
der Willensherrschaft über den Menschen erreicht Schönen« zu bezeichnen, wohl begründet, denn zu-
werden kann, so erfährt sich das rein erkennende Sub- nächst muss die Möglichkeit der reinen ästhetischen
jekt zugleich als »schmerzlos« und ohne Bedingtheit Betrachtung mit der in ihr ermöglichten Schau der
durch die Zeit. Dieser, einer Erlösung gleichkommen- Ideen vorgetragen werden, wenn Schopenhauers Be-
de Zustand, in dem sich die Idee als Wesen des Dinges stimmung des Schönen verständlich werden soll.
»offenbart«, hat mit seinen Momenten der Befreiung Schopenhauer lässt nicht nur in seiner Erkenntnis-
und des Heilbringens eher Verwandtschaft mit religiö- lehre, sondern auch in seiner ›Ästhetik‹ die Position
ser Erfahrung als mit der traditionellen Vorstellung der kritischen Transzendentalphilosophie Kants wirk-
von ästhetischem Genuss an der gegebenen sinnlichen sam werden. Eine Bestimmung des Schönen ›an sich‹
Qualität der Dinge. In der Tat führt Schopenhauer die ist daher unmöglich geworden. Sowohl Kant wie
aus der ästhetischen Kontemplation hervorgehende Schopenhauer sehen im Schönen oder in der Schön-
»Freude« auch primär auf die Entlastung vom Willens- heit nicht länger eine Zuschreibung von dogmatisch
druck zurück und auf die befreiende Erkenntnis der bestimmbaren Eigenschaften an Produkte der Kunst
Ideen, die das wahrhaft Seiende bedeuten. Unter dieser oder der Natur. Vielmehr muss die Fähigkeit des Sub-
Entlastung tritt »Ruhe im Anschauen, Befriedigung in jekts zur Empfindung und Wertung des Schönen mit
der Gegenwart« ein (W I, 411), also ein Zustand, der veranschlagt werden. In dieser Forderung vereinen
normalerweise durch die Begehrungen und das Stre- sich aus Schopenhauers Sicht transzendentale und
beverhalten des Willens vereitelt wird. Schopenhauer hermeneutische Voraussetzungen für die Schönheits-
weist auf das Außergewöhnliche der ästhetischen Kon- erfahrung. Kant hatte die Subjektivierung des Schö-
templation hin, das darin besteht, dass ein vom Willen nen schon so weit vorangetrieben, dass er in seiner
Abkünftiges, der Intellekt (das Akzidenz), die Herr- Kritik der Urteilskraft sagen konnte: »Schönheit ist
schaft über das Grundständige, den Willen (die Sub- kein Begriff vom Objekt« (KdU, § 38, 152 Anm.). Für
stanz) gewinnt. Das Ungewöhnliche dieser Begeben- Schopenhauer hat das Schöne dagegen sowohl eine
heit erklärt ihre Seltenheit. Systematisch hoch bedeut- subjektive wie auch eine objektive Voraussetzung.
sam ist Schopenhauers Feststellung, dass der Zustand Während Kant das Schöne als Ausweis des begriffs-
der ästhetischen Kontemplation eine »Analogie und losen Wohlgefallens anlässlich reflektierender Beur-
sogar Verwandtschaft« mit der »Verneinung des Wil- teilung und Schätzung von Dingen der Natur und der
lens« (W II, 422) aufweist. Hier ergibt sich ein Erklä- Kunst dargelegt hatte, bei denen allenfalls eine Vorstu-
rungsmoment für das in Schopenhauers Ethik behan- fe der Erkenntnis, nämlich deren subjektive Kom-
delte Verhältnis von Erkenntnis und Resignation und ponenten als eine »Erkenntnis überhaupt« zutage trat,
für die außergewöhnlichen Existenzen des Asketen erklärt Schopenhauer das Schöne als eine »ganz be-
und des Heiligen (s. Kap. 6.6), die sich in der Vernei- sondere Erkenntnißart« (VN III, 38). Zu deren sub-
nung des Willens üben. Die hohe ethische und genauer jektiver Bedingung erläutert Schopenhauer: »Indem
soteriologische Bedeutung der Möglichkeit willensrei- wir einen Gegenstand schön nennen, sprechen wir da-
ner ästhetischer Betrachtung betont Schopenhauer im durch aus, daß er Objekt unserer ästhetischen Be-
Rahmen seiner Vorlesung über Die Metaphysik des trachtung ist« (W I, 247). Zu dieser ästhetischen Kon-
72 II Werk

templation gehört, wie dargelegt, dass das Subjekt sich Naturprozess ein Darstellungsgeschehen ist, einsich-
nicht mehr als Individuum bewusst wird, sondern tig für diejenigen, die ihn in rein kontemplativer An-
sich zum willenlosen reinen Subjekt des Erkennens schauung betrachten. Am Beispiel der rein objektiven
verändert. Zugleich wandelt sich auch das Objekt die- Betrachtung der Natur durch die genialen Land-
ses Erkenntnisprozesses in der Weise, »daß wir im Ge- schaftsmaler und die Maler der Stillleben setzt Scho-
genstande nicht das einzelne Ding, sondern eine Idee penhauer deren absichtslose Hinwendung zu den Na-
erkennen. [...] Denn die Idee und das reine Subjekt des turdingen mit dem Verhalten der Liebe, dem bedin-
Erkennens treten als nothwendige Korrelata immer gungslosen Seinlassen des Gegenübers, gleich (vgl.
zugleich ins Bewußtseyn« (W I, 247). W I, 257 ff.). In dieser Betrachtung ›sprechen‹ die Din-
Wenn Schopenhauer in seiner Vorlesung erklärt: ge und geben die ihnen zugrundeliegenden Ideen
»Wir betrachten [...] das Schöne als eine Erkenntniß preis. Der Typus einer Gattung von Dingen, d. h. das
in uns, eine ganz besondere Erkenntnißart« (VN III, Charakteristische, wird dabei gestalthaft deutlich.
38), so ist nun deutlich geworden, dass die Erkennt- Diese Anschaubarkeit des Wahren, nämlich des Typi-
nisart eine intuitive, ganzheitliche Auffassung von et- schen der Entäußerung des Willens auf einer be-
was sinnlich Gegebenem ist, das aber nicht selbst stimmten Stufe, ist für den Schauenden die Erkennt-
schon das erkannte Objekt ist, sondern in der reinen nis der Ideen, bzw. des Schönen. Bei Erfüllung des
ästhetischen Anschauung quasi transparent wird hin- subjektiv-objektiven Doppelaspekts des Schönen
sichtlich des im äußeren Objekt sich auswirkenden können alle Dinge prinzipiell schön sein, »denn in je-
Wesens oder der Idee. Die Erkenntnisart ist also, kurz dem Falle ist das Objekt der ästhetischen Betrachtung
gefasst, ein Schauen der Ideen, und eben dies, die nicht das einzelne Ding, sondern die in demselben zur
Schaubarkeit der Idee, ist das Schöne. Das Schauen Offenbarung strebende Idee« (W I, 246).
selbst ist der Modus des Erkennens der Idee. Schopenhauers Auffassung des Schönen lehnt sich
Schopenhauer betont in solchem Kontext, dass die deutlich an die große Tradition neuplatonischer
Idee, von Zeit und Raum völlig enthoben, gleichwohl Schönheitslehre an, wie sie durch Plotin schon in der
aber anschaulich sei, »denn nicht die mir vorschwe- Antike einsetzte, im christlichen Mittelalter mit der
bende räumliche Gestalt, sondern der Ausdruck, die Theologie kompatibel gemacht wurde und in der ita-
reine Bedeutung derselben, ihr innerstes Wesen, das lienischen Renaissance einen Höhepunkt durch die
sich mir aufschließt und mich anspricht, ist eigentlich Verbindung mit der Kunsttheorie erreichte. Wenn
die Idee« (W II, 247). Nach dieser Erläuterung wird Schopenhauer annimmt, dass die Schönheit der Din-
Schopenhauers Charakterisierung der ästhetischen ge im Bereich von Natur und Kunst durch den mög-
Erkenntnis als »Erkenntniß in uns« besser verständ- lichst reinen Ausdruck ihres Wesens, also der Idee, ge-
lich. Die Rede vom »Ausdruck« der Idee, von ihrem steigert werde, so folgt er mit dieser Bestimmung der
Sich-Aufschließen und ihrem Anspruch weist darauf Schönheit genau der neu-platonischen Idea-Lehre des
hin, dass es sich bei dieser »Erkenntniß in uns« we- Marsilio Ficino, eines führenden Vertreters des Neu-
sentlich um einen Verstehensprozess, weniger um ei- Platonismus der Renaissance. Ficino formuliert in
ne punktuelle Einsicht handeln muss. klarer Anlehnung an Plotin, die Schönheit sei die
Generell lässt sich in Schopenhauers Werk eine en- »deutlichere Ähnlichkeit der Körper mit den Ideen«
ge Beziehung zwischen Ästhetik und Hermeneutik (zit. nach Panofsky 1960, 28, 92). Analog erklärt Scho-
beobachten. Auch wurde mit Bezug auf Schopenhauer penhauer diejenigen Dinge für besonders schön er-
mit Recht von einer »hermeneutischen Verschiebung scheinend, die ihre zugrundeliegende Idee klar zum
der Philosophie« (Schubbe 2010, 43–49 und passim) Ausdruck bringen, ihr also möglichst ähnlich werden.
überhaupt gesprochen (s. Kap. 40). Trotz der von Daher kann er auch sagen, das Schöne sei eine »Er-
Schopenhauer vollzogenen transzendentalphiloso- kenntnißart« (VN III, 38), denn die als schön wahr-
phischen Wende ist die Erkenntnis nicht in dem Maße genommenen Dinge geben in reiner ästhetischer An-
als Konstruktion gedacht wie bei Kant, sondern weit- schauung ihr Wesen, d. h. die Idee, zu erkennen.
gehend als Prozess des Deutens, Verstehens und Sein- Schopenhauers Metaphysik des Schönen lässt deut-
lassens auf der Grundlage empirischer und reiner An- lich werden, dass das Schöne keinen im engeren Sinn
schauung. In ausdrücklicher Anlehnung an den Mys- ästhetischen Eigenwert besitzt. Es hat seine hohe Be-
tiker Jakob Böhme, der eine Art Natursprache ver- deutung vielmehr durch sein Erscheinen-Lassen der
anschlagt, in der die Dinge ihre innere Gestalt Idee. So wird auch bei Schopenhauers Einzelbeobach-
offenbaren, geht Schopenhauer davon aus, dass der tungen über Kunstwerke einsichtig, dass er ihre Schön-
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 73

heit nach dem Grad des Ausdrucks der in ihnen jeweils unkünstlerisch ab. Ein Schlüsselbegriff für die Bewer-
zur Darstellung gebrachten Ideen bemisst, nicht nach tung des Sinnlichen ist bei Schopenhauer das ›Bedeut-
Kunst- oder Schönheitsregeln irgendeiner Art. Scho- same‹ an dem sinnlichen Material. Nur dort, wo sein
penhauer verfährt bei der Konzeption des Schönen Ausdruck durch Artikulation Bedeutung gewinnt, ist
zwar undogmatisch, und auch in diesem Sinn nicht-äs- es auch in der Lage, die Idee zur Darstellung zu brin-
thetisch, aber nicht kriterienlos, denn das Kriterium gen. Das Ausdrucksverstehen sowohl an Produkten
des Schönen ist die Anschaubarkeit des Wahren, des der Natur wie an denen der Kunst verankert Schopen-
Wesens bzw. der Idee der Dinge in Natur und Kunst. hauer letztlich in seiner Metaphysik des Willens: So-
Schön sind die Dinge, deren Wesen klar hervortritt. wohl der Naturbetrachter wie der Kunstkenner haben
Die große Kunst kann die Offenbarung des Wesens ein Gegenüber, das Objektivation des Willens ist, so
durch die ihr je eigenen Verfahren und Materialien be- wie sie selbst »das Ansich der Natur, der sich objekti-
fördern, über die aber allein das künstlerische Genie vierende Wille, selbst sind« (W I, 262). Mit Bezug auf
und nicht der Philosoph oder ›Kunstrichter‹ zu befin- Empedokles weist Schopenhauer darauf hin, dass hier
den hat. Nach Schopenhauers eigenen Kriterien für das Gleiches von Gleichem erkannt werde, ein Prinzip,
metaphysisch gedeutete Schöne könnte Picassos Guer- das Schopenhauer von seinem metaphysischen An-
nica als schön bezeichnet werden, weil es das Grauen satz her teilt, da er den Weltprozess als einen Prozess
des Krieges unmittelbar zur Anschauung bringt und des Sich-selbst-Begreifens des Willens ansieht.
damit das Wesen der Kriege überhaupt erkennen lässt. Für die Verschränkung von ›Ästhetik‹ und Herme-
Dem Kriegerischen schlechthin als einer Naturmacht neutik gibt Schopenhauer ein eindrucksvolles Beispiel
kann im Sinne Schopenhauers eine Idee zugesprochen im Rahmen seiner Wissenschaftslehre. Den Verste-
werden als Wesensausdruck des mit sich selbst ent- hens- und Deutungscharakter anschauungsgebunde-
zweiten Willens oder als »unvergängliche Gestalt« ner Erkenntnis, wie sie in ästhetischer Betrachtung
(W I, 578 f.) des als tragisch konzipierten Weltlaufs. vorliegt, erläutert Schopenhauer unter anderem an
Nicht zuletzt bei der Vergegenwärtigung dieses dem Verfahren der Physiognomik. Er behandelt sie im
oder ähnlicher Beispiele lässt sich fragen, was es mit Kontext seiner Kritik an der spezifischen Beschrän-
der ›ästhetischen Freude‹ oder sogar dem ›Genuss‹ bei kung begrifflicher Erkenntnis, die er vom Erkennen
der reinen ästhetischen Kontemplation auf sich hat. durch Anschauung absetzt, bei dem es um die Er-
Mancher Interpret der Philosophie Schopenhauers kenntnis der »signatura rerum« und um »die feinen
sieht in der Freude am Schönen, die Schopenhauer Modifikationen des Anschaulichen« (W I, 67) gehe.
hervorhebt, einen Widerspruch zu seiner pessimisti- Am Beispiel der Deutung des Ausdrucks eines
schen Grundhaltung, die doch eigentlich jede Affir- menschlichen Antlitzes wird Schopenhauers Gewich-
mation des Bestehenden ausschließe (vgl. Schmidt tung nichtbegrifflichen Erkennens, hier des Aus-
2005, 11, 17). Schopenhauer erklärt, dass die »ästheti- druck-Verstehens, deutlich. Die Physiognomik liefert
sche Freude [...] der Hauptsache nach, ganz im subjek- wie die ›Ästhetik‹ Beispiele für die enge Beziehung
tiven Grunde des ästhetischen Wohlgefallens wurzelt von Schönheit und Erkenntnis. In einer Anmerkung,
und Freude über das reine Erkennen und seine Wege die Schopenhauer über den Erkenntnisgewinn der
ist« (W I, 236). Diese Erkenntnisfreude ist eine intel- Physiognomik macht, die für ihn eine Mittelstellung
lektualisierte Freude, bei der man kaum mehr von zwischen Wissenschaft und Metaphysik einnimmt,
Empfindung sprechen kann, denn das reine Subjekt charakterisiert er die in einem menschlichen Antlitz
der ästhetischen Kontemplation ist sich seines Leibes aufscheinende Schönheit »als Angemessenheit zu
nicht mehr bewusst. Schopenhauer konzipiert offen- dem Typus der Menschheit« (W I, 68 Anm.). Hier be-
sichtlich einen Intellekt, der nicht in purer Ratio auf- stätigt sich für Schopenhauer die Konzeption des
geht, sondern so etwas wie ein Selbstgefühl besitzt. Schönen als Anschaubarkeit des Wahren, hier des
Entscheidend ist für Schopenhauer, dass es bei der äs- wahren, alle menschlichen Individuen prägenden Ty-
thetischen Freude um die Freude an der Erkenntnis, pus. Das Schöne erweist sich als Anschauung eines
nicht um die Freude an sinnlicher Brillanz oder tech- Allgemeinen mit Hilfe einer individuellen Erschei-
nischer Perfektion als solcher geht, wie unter anderem nung, die zum Repräsentanten der Idee geworden ist
aus seinen Bemerkungen über gewisse Auswüchse der und damit als schön empfunden wird.
Stilllebenmalerei der Niederländer hervorgeht. Wo Schopenhauers terminologisch erarbeiteter Begriff
die Opulenz des Sinnlichen einen Eigenwert präten- des Schönen ist allein anzuwenden auf die in reiner äs-
diert, lehnt Schopenhauer das entsprechende Werk als thetischer Kontemplation sich offenbarende Idee, d. h.
74 II Werk

auf die Schaubarkeit des Wahren, auf die sich selbst im des Lichts und Schattens und der Ton des ganzen Bil-
willensfreien Schauen anschaulich präsentierende Er- des« (W II, 481 f.). In anderen Kunstgattungen lassen
kenntnis. Damit wird ausgesprochen, dass die ent- sich Äquivalente für diese Mittel zur Entfaltung des
scheidende Erkenntnis, nämlich die des Wesens der empirisch Schönen finden. Ihr Effekt ist »nicht das
Dinge, nicht aus einer willentlichen Anstrengung, Wesentliche, aber das zuerst und unmittelbar Wirken-
sondern aus der intensivierten Aufnahmebereitschaft de« (W II, 482). Indem Schopenhauer dem empirisch
und Hingabe des Menschen hervorgeht, in deren Ge- Schönen eine propädeutische Funktion zuerkennt – es
folge sich das Schöne plötzlich, »mit Einem Schlage« erleichtert das Hineinfinden in die reine ästhetische
(W I, 211), von ihm selbst her auftut. Der Gedanke, Kontemplation –, hat er einen theoretisch plausiblen
dass das Schöne sich wesentlich von ihm selbst her Bezug zwischen dem metaphysisch-apriorisch Schö-
zeigt, ist eine wichtige Annahme in Platons Dialog nen und dem Schönen der Erfahrung hergestellt.
Phaidros, auf den Schopenhauer des Öfteren in sei- Der späte Schopenhauer hat sich nicht gescheut, an
nem Werk hinweist. In diesem Dialog wird ein My- die Etymologie des Ausdrucks ›schön‹ eine metaphy-
thos von der Ideenschau der menschlichen Seele vor sische Spekulation im Sinne seiner eigenen Theorie
ihrer Inkarnation erzählt. In dem Reigen der Ideen, anzuschließen: »›Schön‹ ist, ohne Zweifel, verwandt
dem die Seele zuschaut, wird die Idee der Schönheit mit dem Englischen to shew und wäre demnach
als die »Hervorleuchtendste« (250c–e) bezeichnet, shewy, schaulich, what shews well, was sich gut zeigt,
wodurch auch in allen schönheitlichen Gebilden das sich gut ausnimmt, also das deutlich hervortretende
Schöne »durch den deutlichsten unserer Sinne« Anschauliche, mithin der deutliche Ausdruck bedeut-
[durch das Auge] vermittelt werde (ebd.). Das Schöne samer (Platonischer) Ideen« (P II, 451).
befördert also offensichtlich die Schau der Ideen, so- Die zweite üblicherweise zentrale Kategorie der Äs-
fern es um die sichtbaren Dinge geht. Die Überzeu- thetik, das Erhabene, erfährt im Vergleich zum Schö-
gung, dass das empirisch Schöne den Weg zur Erfas- nen bei Schopenhauer eine recht knappe Behandlung.
sung der Ideen erleichtert, findet sich auch in anderen Das liegt nicht an einer Geringschätzung dieser Emp-
Dialogen Platons, nicht zuletzt im Symposion. Für findung im Gefolge der reinen ästhetischen Betrach-
Schopenhauer ist dieser Gedanke in dem Moment tung als vielmehr an der weitgehenden systemati-
ausschlaggebend, in dem man sich fragen muss, in schen Äquivalenz der subjektiven Seite dieses Zu-
welchem Verhältnis der strenge, apriorische Begriff stands sowohl beim Schönen wie beim Erhabenen. In
des Schönen zum ästhetischen Prädikat ›schön‹ bzw. beiden Fällen kommt es bei der reinen ästhetischen
zu den umgangssprachlichen Gebrauchsweisen von Kontemplation zu einer Selbstüberwindung, d. h. zu
›schön‹ steht. In Schopenhauers Einzelbeobachtungen einem Ausschalten jeder Bedrängung durch den Wil-
über Naturerscheinungen oder Kunstwerke werden len und zu der vollen Konzentration auf das rein Ob-
diese gebräuchlichen Versionen von ›schön‹ reichlich jektive bei der Betrachtung des Gegenstands. Eine
angewandt. Es ist offensichtlich, dass die Macht der Differenz bei den beiden Empfindungsqualitäten tritt
Umgangssprache auch in den ästhetischen Diskurs hi- jedoch dadurch ein, dass es sich beim Erhabenen um
neinreicht. Schopenhauer belässt es jedoch nicht bei solche Gegenstände handelt, die das Wollen bzw. das
einem beziehungslosen Nebeneinander von termino- Nicht-Wollen unmittelbar herausfordern, sei es durch
logisch bestimmtem Schönheitsbegriff und den vor- Bedrohung der leiblichen Unversehrtheit oder starker
theoretisch verwandten Begriffen des Schönen. Am Einwirkung auf das Affektleben des Menschen, wie es
Beispiel der Malerei erörtert er eine »untergeordnete beim Trauerspiel der Fall sein kann. Es muss also bei
Art der Schönheit« (W II, 482), die dazu geeignet sei, scheinbar überwältigenden Natureindrücken wie
den Betrachter durch spezifische Mittel der Malkunst auch Darstellungen der Kunst die ästhetische Distanz
leichter in den Zustand der reinen willenlosen Kon- gewahrt werden können, was beim Erhabenen einer
templation gelangen zu lassen. Wenngleich Schopen- gewissen Anstrengung und stärkerer Selbstkontrolle
hauer hier von einer »untergeordneten Art« des Schö- bedarf, bei der der allgemeine Willensanspruch, dem
nen spricht, weil es nicht schon Resultat der Ideen- der Mensch qua leiblichem Wesen ausgesetzt ist, stets
schau ist, so billigt er diesen künstlerischen Mitteln im Bewusstsein bleibt, während beim Schönen die
der Malerei durchaus »eine davon unabhängige und »untergeordnete Art« des empirisch wahrgenom-
für sich gehende Schönheit zu« (W II, 481). Beispiel- menen Schönen den Betrachter fast »unmerklich« in
haft sind ihm die »Harmonie der Farben, das Wohl- den Zustand ästhetischer Betrachtung hinüberleitet
gefällige der Gruppierung, die günstige Vertheilung und der Willensdruck völlig aus dem Bewusstsein
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 75

weicht (vgl. W I, 238). Schopenhauer beschränkt sich und der Kunstproduzenten erkennen und behaupten.
auf eine relativ kurze Erörterung des Erhabenen, weil Schopenhauer selbst traut sich diese genialische Re-
dasjenige, was ihn aus systematischen Gründen inte- konstruktion zu und ist durch intuitives Erkennen da-
ressiert, nämlich die Möglichkeit der reinen ästheti- von überzeugt, dass der sich selbst bewusst werdende
schen Kontemplation, bei beiden Empfindungen Wille im Künstler und dessen Kreationen eine ent-
gleichartig begründet werden kann. Entscheidend ist scheidende hohe Stufe seiner Objektivation oder
in beiden Fällen das Sich-über-den-Willen-Erheben- Selbsterkenntnis erreicht, weil es hier um die Erkennt-
Können, das einmal fast unbewusst, das andere Mal nis und Darstellung (oder Mitteilung) der unmittel-
bewusst vollzogen wird. In der ästhetischen Literatur baren Objektität des Willens, nämlich der Ideen geht.
vor Schopenhauer, vor allem im angelsächsischen Be- Das oben so rigoros, weil ausschließlich auf diese
reich (Burke, Hutcheson, Hume) und auch bei Kant Weise bestimmte Ziel der Kunst scheint sie auf die im-
hat man sich noch viel mehr für die psychologische mer gleiche Aufgabe, nämlich die Darstellung der
Differenz beider ästhetischer Gefühle interessiert, ins- selbst zeitlosen Ideen zu verpflichten. Kann die Kunst
besondere auch für die zwiespältige Gefühlslage beim dann überhaupt etwas anderes als Traditionspflege
Erhabenen. sein? Kann das Neue, das uns im Leben begegnet,
überhaupt für sie zum Gegenstand werden? Schopen-
hauers Antwort hierauf könnte lauten, dass es bei den
Die Kunst und die Künstlerpersönlichkeit
eigentlichen Gegenständen der künstlerischen Dar-
Unter Schopenhauers zahlreichen Charakterisierun- stellung, die ja zeitenthoben sind, in der Tat kein Neu-
gen der Kunst findet sich eine Bestimmung geradezu es geben kann, wohl aber bei den Darstellungsmitteln
rigoristischer Art. Ihr voran steht nicht von ungefähr und Methoden, die das Schauen der Idee ermöglichen
ein knappes Resümee über die Erkenntnismöglichkeit und erleichtern sollen. Vor allem bei der Auswahl des
der Wissenschaften mit dem Fazit, dass sämtliche ih- empirisch Schönen, das als idealer Repräsentant sei-
rer Disziplinen mit den verschiedenen Gestaltungen ner Gattung die Idee aufscheinen lassen soll, ist eine
des Satzes vom Grunde operieren und hierbei allein größtmögliche Vielfalt denkbar.
bei den Erscheinungen und deren Relationen verblei- In Schopenhauers Definitionsversuch wird die
ben. Zum Wesentlichen der Welt, den Ideen, finden Kunst als »Werk des Genius« bezeichnet. Was aber ist
sie mit ihrem Erkenntnisverfahren keinen Zugang. Genialität abgesehen davon, dass sie angeboren ist?
Gegen dieses Versagen der Wissenschaften stellt Zur weiteren Erläuterung führt Schopenhauer aus,
Schopenhauer die als höherrangig erachtete Erkennt- Genialität sei »nichts Anderes, als die vollkommenste
nisart, die zur Betrachtung des wahren Gehalts der Er- Objektivität« (W I, 218). Das »rein objektive Interes-
scheinungen, dem Wesentlichen der Welt vordringt se« wurde von Schopenhauer schon zur Erklärung der
und es zur Darstellung bringt: »Es ist die Kunst, das Möglichkeit der reinen ästhetischen Kontemplation
Werk des Genius [...] Ihr einziger Ursprung ist die Er- vorgestellt und als außergewöhnliche und seltene Ei-
kenntniß der Ideen; ihr einziges Ziel Mittheilung die- genschaft der Menschen bezeichnet. Das völlige Auf-
ser Erkenntniß« (W I, 217). Zum einen verleiht die Ge- gehen des Subjekts in der Betrachtung seines Gegen-
genstellung zur Wissenschaft der Kunst ein Moment stands, das völlige Vergessenkönnen der Willens-
des Reaktiven, das ihre Selbständigkeit einschränkt, bestimmtheit des Menschen waren ebenso plötzlich
zum andern schaltet Schopenhauers rigoristische De- wie selten sich ereignende Zustände, die nicht unbe-
finition von Ursprung und Ziel jede Bedeutung der dingt zu kreativen Handlungen führten. Das Genie
Geschichtlichkeit der Kunst aus. Selbstverständlich ist dagegen sieht Schopenhauer dadurch ausgezeichnet,
sich Schopenhauer bewusst, dass dasjenige, was in der dass es »eben in der überwiegenden Fähigkeit zu sol-
Neuzeit Kunst genannt wird, auch andere Funktionen cher Kontemplation« (W I, 218) besteht. Es löst die
erfüllt hat als die in seiner Definition dekretierte. Die Erkenntnis völlig vom Dienst des Willens ab, ist sich
geschichtliche Entwicklung erreicht aus Schopenhau- seiner Persönlichkeit nicht mehr bewusst, sondern
ers Sicht jedoch nur eine ›äußere Bedeutsamkeit‹ und wird zum »rein erkennenden Subjekt«, bzw. »klaren
bleibt den Zufällen unterworfen. Eine verbindliche Be- Weltauge«. Was aber für den Künstler, bzw. das Genie,
gründung der Möglichkeit und Wirklichkeit der Kunst das Entscheidende ist: Dies geschieht »nicht auf Au-
ist nur von ihren genialen Schöpfern und der genia- genblicke: sondern so anhaltend und mit so viel Be-
lischen Rekonstruktion ihres Schaffens zu erwarten. sonnenheit, als nöthig ist, um das Aufgefaßte durch
Nur dies lässt die ›innere Bedeutsamkeit‹ der Kunst überlegte Kunst zu wiederholen« (W I, 219). Es wird
76 II Werk

deutlich, dass beim Genie schon in der ästhetischen Schopenhauer wie zuvor schon Kant den Künstlern
Kontemplation ein kreativer Impuls ausgelöst wird, Genialität zusprechen, folgert Schopenhauer nicht
der danach verlangt, die reine Anschauung bis zur ebenso wie Kant hieraus die völlige Ablehnung des Mi-
Reife einer, wenn auch noch vagen, Vorstellung der mesis-Konzepts für die künstlerische Produktion.
Wiedergabe des Geschauten auszudehnen. Kant hatte erklärt: »Darin ist jedermann einig, daß Ge-
Der von Schopenhauer reklamierte »einzige Ur- nie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegenzuset-
sprung« der Kunst liegt in dieser genialischen Kon- zen sei« (KdU, § 47, 161). Sofern es bei der Nach-
templation mit der Erkenntnis der Ideen. Zum ein- ahmung um imitatio geht, ist Schopenhauer gleicher
zigen Ziel der Kunst erklärt Schopenhauer die »Mit­ Meinung. Seinen Unmut hierüber drückt er durch die
theilung« dieser Erkenntnis. Bei der Verfolgung dieses Kritik an der Wachsbildnerei aus. Das pure Nachbil-
Ziels stellen sich jedoch etliche Probleme ein, die dem den der individuellen äußeren Form führt im Effekt
Rezipienten von Schopenhauers Kunsttheorie Ver- zum Grauen über die leichenhaften Figuren, die aus
ständnisschwierigkeiten bereiten können. Es stellt diesem Prozess hervorgehen. Schopenhauer kennt je-
sich die Frage, mit welcher Art künstlerischer Tätig- doch eine Nachahmung höherer Ordnung, die sich
keit der Schritt von der kontemplativen Auffassung nicht auf die individuelle Erscheinung der Naturdinge
der Ideen zu ihrer ›Übertragung‹ (dies sei eine mög- oder Artefakte bezieht, sondern auf die gestaltbilden-
lichst neutrale Bezeichnung) in das Kunstwerk voll- den Ideen in den Gattungen des Seienden, deren Dar-
zogen wird. Schopenhauer benutzt einen ganzen Ka- stellung Schopenhauer als den Zweck der Künste an-
talog von Ausdrücken, die diese Arbeit des Künstlers sieht. Das tiefere Verständnis der künstlerischen Mi-
bezeichnen sollen. Es ist unter anderem die Rede vom mesis, wie es sich bei Aristoteles und Thomas von
Wiederholen der zuvor aufgefassten Ideen, vom Spie- Aquin findet, hatte das ars imitatur naturam ohnehin
geln, vom Mitteilen, vom Abbilden und vom Darstel- nicht als bloße Nachbildung von Naturgegenständen
len. Die künstlerische Antwort auf das Erlebnis der äs- verstanden, sondern als methodische Anleitung, so zu
thetischen Kontemplation, zu der das Genie sich he- verfahren wie die Natur, die gewisse Mittel zum Errei-
rausgefordert fühlt, steht unter der Bedingung, im chen eines Zwecks einsetzt (vgl. Panofsky 1960, 22). In
Medium der Anschauung zu verbleiben, denn »die der Kunsttheorie des Mittelalters wurde das Prinzip
Ideen [...] sind wesentlich ein Anschauliches und da- des ars imitatur naturam als Nachahmung des Produk-
her, in seinen nähern Bestimmungen, Unerschöpf- tionsverfahrens der Natur und nicht als Nachahmung
liches. Die Mittheilung eines solchen kann daher nur von individuellen Gegebenheiten verstanden. Fasst
auf dem Wege der Anschauung geschehen, welches man die Ideen bei Schopenhauer einmal als generative
der der Kunst ist« (W II, 466). Kräfte für die Erzeugung und Erkennbarkeit von Indi-
Unter den von Schopenhauer angebotenen Begrif- viduen einer bestimmten Gattung auf (Schopenhauer
fen zur Bezeichnung der künstlerischen Produktion, spricht vom Urbild-Abbild-Verhältnis), so nimmt er
die eine Konsequenz aus der ästhetischen Kontempla- das letztlich auf Aristoteles zurückgehende Prinzip in
tion ist, scheint der Begriff der Darstellung am ehesten einer platonistischen Variante auf. Das Modell einer
tauglich. Es geht darum, dem Geschauten in einem Erkenntnis durch Abbildlichkeit verwendet Schopen-
selbst geschaffenen Anschauungskontext eine erkenn- hauer in der Konsequenz seiner Hochschätzung der
bare Existenz zu verschaffen, mit andern Worten: sol- Anschauung nicht nur für die Künste, mit Ausnahme
che sinnlichen Gebilde zu schaffen, die den zuvor ge- der Musik, sondern auch für die Philosophie: »Das
schauten Idealtypus klar zum Ausdruck bringen. Aus ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich
Schopenhauers Sicht führt dies zu einer leichteren Auf- in Begriffen zu wiederholen, und es so als reflektiertes
fassung der Ideen als dies unter äußeren Naturbedin- Abbild in bleibenden und stets bereit liegenden Begrif-
gungen der Fall wäre. Dass damit bereits das Kunst- fen der Vernunft niederzulegen; dieses und nichts an-
schöne bei Schopenhauer einen höheren Rang einnäh- deres ist Philosophie« (W I, 453).
me als das Naturschöne, sei hier nicht behauptet, denn Auch der Philosoph muss sich zunächst der An-
es gibt in seinem Werk Schilderungen des Naturschö- schauung hingeben, um das Wesen (die Ideen) der
nen, die geradezu das vollkommen Schöne feiern. Weltinhalte zu erfassen, muss aber dann, anders als
Mit der Aufgabe des Künstlers zur Darstellung der der Künstler, die Transponierung des Geschauten in
Ideen ergibt sich für den Interpreten das Problem, den Begriff leisten. Die Kategorie des »reflektierten
Schopenhauers Position in Bezug auf die traditionelle Abbilds«, mit dem der Philosoph sich des Wirklich-
Mimesis-Konzeption zu klären. Obgleich sowohl keitsbezugs seines Denkens versichert, könnte auch
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 77

für den Künstler eine Hilfsvorstellung für die Mög- nischen Idee klarmacht, dass es hier um eine ganz
lichkeit sein, das in der reinen Kontemplation Ge- grundsätzliche Strukturbestimmung der Idee gehen
schaute zunächst zu bewahren und dann in eigener soll. Das anschauliche Moment ist durch die Phantasie
Produktion anschaulich zu machen. Das »reflektierte abgedeckt. Sie vertritt auch das potentiell Viele, in
Abbild« kann aus der von Schopenhauer immer wie- dem die Idee sich verkörpern und ausdrücken kann;
der hervorgehobenen notwendigen Besonnenheit des die Vernunft, als Vermögen der Vereinheitlichung im
Künstlers hervorgehen. Unter ›Besonnenheit des Begriff, vertritt dagegen das Eins-Sein der Idee, wobei
Künstlers‹ versteht Schopenhauer unter anderem die die Vernunft offensichtlich auch das Einheitliche der
Fähigkeit, »das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu Gestalt, nicht nur der Zahl, schätzen kann.
wiederholen« (W I, 219), wobei der Begriff »wieder- Schopenhauers grundsätzliche Äußerung über die
holen« zu inhaltsleer und blass bleibt, um die Leistung platonische Idee spielt auch auf sein Konzept der um-
des Künstlers zu würdigen. Das »reflektierte Abbild«, fassenden gemeinsamen Aufgabe von Philosophie
das gewissermaßen zwischenzeitlich stillgestellt wird, und Kunst an, die darin besteht, die wahren Verhält-
muss sich dann in der künstlerischen Darstellung der nisse zwischen Einheit und Vielheit zu erkennen. Das
Idee wieder verflüssigen, denn die Idee ist »un- Eine, das bedeutsam wird für das Viele, bezeichnet die
erschöpflich« und voller Lebendigkeit, weil sie in un- Denkbewegung der Philosophie, es bezeichnet aber
endlich vielen Verkörperungen auftreten kann. Diese auch das Anschauungsgeschehen zwischen apriori-
ihre Möglichkeit wird der Phantasie des Künstlers und scher und empirischer Anschauung.
des Betrachters bewusst und gehört notwendig zur Er- Schopenhauers Satz über die Möglichkeit der plato-
kenntnis der Ideen wie auch zur Sensibilisierung für nischen Ideen ist auch eine Hilfe für die Abwehr von
die Kunst. Für die Darstellungsweise des Künstlers be- Missverständnissen hinsichtlich des Status der Ideen.
deutet das, dass sein anschauliches Gebilde nicht pla- Werden sie als transzendente Entitäten missinterpre-
kativ und mit quasi behauptendem Gestus daher tiert, so ist die ›Sperre‹ des heutigen Lesers gegenüber
kommen darf, sondern genügend Raum für die Phan- der ›Ästhetik‹ Schopenhauers nicht zu überwinden.
tasie lassen muss, mit der man sich stets auch andere Was Schopenhauer selbst anbietet, sind die plato-
Verwirklichungen der Idee soll vorstellen können. nischen Ideen als Vorstellungen einer rein anschauli-
Die Phantasie ist für den Künstler von höchster Be- chen und damit künstlerisch fruchtbaren Auslegung
deutung, denn die vorrangige Erkenntnisweise der der Welt. Zu einer vorurteilsfreien Lektüre ermutigen
Anschauung scheint das Genie allein auf die Ideen die zahlreichen Beispiele der sehr produktiven Rezep-
von augenblicklich Gegenwärtigem festzulegen. Diese tion dieser Ästhetik durch Künstler aller Kunstgattun-
vermeintliche Einschränkung wird durch die Kraft gen, die den durch Thomas Mann vergebenen Ehren-
der Phantasie aufgehoben. Sie erweitert den Horizont titel einer »Künstlerästhetik« rechtfertige (s. Kap. IV.C).
»weit über die Wirklichkeit« hinaus auf das Mögliche,
das in imaginären Bildern ins Bewusstsein tritt (W I,
Die Sonderstellung der Musik
219). Die herausragende Bedeutung, die Schopenhau-
er der Phantasie zuspricht, wird nicht erst bei der Dar- Die stärkste Zustimmung erfuhr Schopenhauers Phi-
stellungsproblematik der Ideen offenbar, sondern ist losophie der Kunst von Seiten der Komponisten und
schon mit der grundsätzlichen Konzeption der Idee Musiker, die sich durch Schopenhauers Metaphysik
verbunden. Schopenhauer spricht von der plato- der Musik in ihrer eigenen Musikerfahrung bestätigt
nischen Idee im Sinne einer Vorstellung, »welche sahen (s. Kap. 47), vielleicht aber auch der Verführung
durch den Verein von Phantasie und Vernunft mög- durch Schopenhauers Apotheose der Musik erlagen
lich wird« (W I, 48). Mit der Phantasie als dem Bild- (vgl. Adamy 1980, 72). Er nannte die Musik eine
vermögen und dem Vermögen des Imaginierens hat- »überaus herrliche Kunst« (W I, 302) und eine »wun-
ten die meisten Interpreten Schopenhauers hier kein derbare Kunst« (W I, 303). Dabei erweist sich Scho-
Problem, wohl aber mit dem Erfordernis der Ver- penhauers ›Ästhetik‹ zunächst als ungenügend für die
nunft, um die platonische Idee zu konzipieren, nach- philosophische Deutung des Wesens der Musik, denn
dem in Schopenhauers Erkenntnis- und Wissen- in ihrer Sprache der Töne geht es gar nicht um die
schaftslehre die Vernunft fast bis auf das Niveau ihrer Darstellung der Ideen bestimmter Erscheinungen in
Unterbewertung durch die Empiristen herabgewür- der Welt. Das Urbild-Abbild-Paradigma, welches das
digt worden ist. Es ist jedoch hilfreich, wenn man sich Verfahren der übrigen Künste begründet, scheint die-
bei der obigen Definition der Möglichkeit der plato- ser ›ungegenständlichen‹ Kunst nicht gemäß zu sein.
78 II Werk

Ein ähnliches Problem hatte sich auch schon bei mungen, wie sie das Erleben der konkreten Ereignisse
Schopenhauers Behandlung der Architektur ergeben, und Dinge der Welt begleiten. Sie sind vertraut, ohne
deren Produktionen er nur sehr bedingt als Darstel- bezeichnet werden zu können. Diese Vorstellungen,
lung von Ideen bestimmter Gegenstandsbereiche an- die Schopenhauer andernorts auch »primäre« Vor-
sehen konnte. Schopenhauer half sich mit der Feststel- stellungen nennt (W II, 76), verbleiben im Fall der
lung, hier würden statt der Ideen von Gegenständen Musikrezeption ganz im Modus des sinnlichen Nach-
die Ideen der wesentlichen Qualitäten der Materie, al- empfindens und der unbestimmten Bilder. Der ideale
so der Naturkräfte, zur Darstellung kommen. Im Fall Musikhörer erzeugt dabei nicht in sich selbst die Af-
der schönen Baukunst nämlich Schwere und Starrheit, fekte und Leidenschaften, deren Ausdruck ihm die
deren widersprüchliche Energien dort zu einem au- Musik vermittelt, sondern bleibt ein rein Erkennen-
genscheinlichen Ausgleich im Verhältnis von Stütze der, der quasi die »Quintessenz« der jeweiligen Ge-
und Last gelangen müssten. fühlslagen sich bildhaft vergegenwärtigt (vgl. W II,
Während Schopenhauer in der Architektur die Er- 516). In der Musik wird so etwas wie die Grundierung
fahrung der Schönheit mit der reinen Anschauung der bestimmter Gefühle ausgedrückt. Diese Möglichkeit
Ideen von Naturkräften begründet, die auch schon im der Musik, das Wesen der bewegten Innerlichkeit zu
rohen Material herrschen, muss er einräumen, dass gestalten, nähert sich dem Verfahren der übrigen
die Musik in ihrem tonalen Material keine Ideen zur Künste, die Ideen darzustellen. Im Erkennen der Ge-
Darstellung bringt. Damit kommt ihr unmittelbar ei- fühle als solcher durch die Musik Hörenden wird das
ne Sonderstellung zu. Schopenhauer betont, dass »im Individuationsprinzip überwunden, eine wichtige Vo-
systematischen Zusammenhang« seiner bisherigen raussetzung für alles ethische Handeln.
Darstellung »gar keine Stelle für sie passend war« Die musikalischen Vorstellungen werden vom Ver-
(W I, 302; vgl. VN III, 214), ein erstaunliches Ein- stand nicht vergegenständlicht und erlauben keine
geständnis für einen Philosophen, dem so viel an der Übersetzung in den abstrakten Begriff. Bei der Musik
Einheitlichkeit des Systems liegt. Es wird sich erwei- sind daher der Philosophie deutlichere Grenzen der
sen, dass nur im Analogieverfahren oder im Paralle- theoretischen Bearbeitung gesetzt als bei den bilden-
lismus zu den anderen Künsten und schließlich durch den Künsten, philosophisch kann sie von der Musik
Bezugnahme auf den grundlegenden »einen Gedan- nur als Metaphysik handeln (vgl. W I, 312 f.), denn an-
ken« (s. Kap. 6.2) die auffallende Sonderstellung der stelle gegenständlicher Erfahrung ist der Musik Hö-
Musik begründet werden kann. Auch versucht Scho- rende auf seine innere Empfindung verwiesen. In die-
penhauer die systembedingte Lücke zwischen der ser inneren Wahrnehmung löst sich zugleich mit dem
Tonkunst und den anderen Künsten durch einen Be- Fluss der Töne die Begrenzung eines bestimmbaren
richt über sein eigenes exzeptionelles Musikverstehen Objektiven auf. Ähnlich wie in dem Prozess des füh-
zu schließen (vgl. W I, 303 f.): Aus einem in völliger lenden Erkennens, in dem Schopenhauer zufolge das
Hingabe verlaufenen Musikhören, bei dem offenbar Innere des Menschen als Wille zum Bewusstsein
alles Individuelle des Hörenden aus dem Bewusstsein kommt (vgl. W I, 121 f.), wird in einer empfindenden
verschwunden war, kehrt dieser zur Reflexion zurück Rezeption der Musik deren Dynamik und universale
und gewinnt, noch unter dem Eindruck des völligen Ausdruckskraft zum Erfühlen der Gestimmtheit des
Aufgegangenseins in der Musik, die Überzeugung, Willens schlechthin. In der Musik verleiht der Wille
dass auch sie ein nachbildliches Verhältnis zur Welt Schopenhauer zufolge noch vor aller Objektivation
habe, aber zu ihr nicht als Summe von Erscheinungen, sich selbst unmittelbaren Ausdruck. In dieser Unge-
sondern zu ihrem Ansich, das heißt zum Willen. Es teiltheit ist er zugleich Ausdruck oder Abbild der Welt.
geht also um »ein Verhältniß der Musik, als einer Vor- Mit der Musik thematisiert Schopenhauer den
stellung, zu Dem, was wesentlich nie Vorstellung seyn Ausdruck der unerschöpflichen Quelle aller Transfor-
kann« (ebd., 303). Diese Konstellation scheint selbst mationen der Willensenergie selbst, aus der die Ideen
Schopenhauers transzendentalphilosophische Ein- als adäquate Objektivationen des Willens erst hervor-
sicht außer Kraft setzen zu wollen. Wie lässt sich gehen sollen. Somit vereinigt er in seiner Metaphysik
gleichwohl Schopenhauers Intention nachvollziehen? der Künste ein statisches Konzept des wahrhaft Seien-
Die sinnlichen Eindrücke der Musik erzeugen im den (die Idee) mit einem bewegten, ursprünglicheren
Rezipienten unmittelbar Vorstellungen, jedoch nicht des Energieflusses. Letzteres ist eine Vorstellung eher
Vorstellungen von Objekten, sondern von den we- der asiatischen (vor allem chinesischen) Metaphysik,
sentlichen Atmosphären, Gefühlslagen und Stim- während die alteuropäische, griechische Metaphysik
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 79

die Vorstellung der zeitlosen Idee als ratio essendi des springen der Ideen, hin zum Willen selbst zu ermögli-
Seienden und der Kunst im Besonderen favorisiert chen. Schopenhauer warnt allerdings davor, diese
(vgl. Jullien 2012 passim). So gewinnt Schopenhauer und andere Analogien zwischen den bildenden Küns-
einen doppelten Begriff des Schönen, zum einen das ten und der Musik als zu direkt einzuschätzen, »da sie
Schöne der Form, das sich anschaulich veräußern lässt nie die Erscheinung, sondern allein das innere We-
und zum andern das Schöne des Miteinanders der Be- sen, das Ansich aller Erscheinung, den Willen selbst,
wegungsimpulse, das im inneren Gefühl aufgenom- ausspricht« (W I, 308).
men und wohl verstanden wird, aber unsagbar bleibt. Gemessen an dem einen Gedanken, der Schopen-
Unter diesen Voraussetzungen nennt Schopenhauer hauers gesamte Metaphysik bestimmen und entfalten
auch die Musik trotz ihrer Sonderstellung »eine schö- soll, nämlich die Überzeugung: »Die Welt ist die
ne Kunst« (W I, 302), das heißt, es muss mit ihr die Selbsterkenntnis des Willens« (W I, 485), lässt sich sa-
Möglichkeit gegeben sein, ein Erkennen im Modus gen, dass in der Musik ein erstes Zu-sich-selbst-Kom-
der Anschauung zu erlangen. Inwiefern geben Töne, men des kosmischen Willens in seinem irrationalen
Rhythmus und Melodien der Musik zwar keine Ideen, Streben ausgedrückt sei und zwar in einem perma-
aber gleichwohl ein Inhaltliches, das nicht Erschei- nenten Bewegtwerden zwischen den Polen von Wohl
nung ist, als Selbstausdruck des Willens zu erkennen? und Wehe, wie es auch der individuelle Wille erlebt.
Schopenhauer sucht den Verstehensprozess bei der Der geniale Komponist leistet es, diese gesamte Ge-
Musikrezeption wie bei der Aufnahme anderer Kunst- fühlswelt in eine musikalische Ordnung, das heißt in
werke durch eine Analogie mit verbalsprachlichem eine nicht-signifizierende Sprache, zu versetzen und
Verstehen zu erläutern. Während in Schopenhauers sie damit für sich selbst und die Rezipienten erkenn-
Einschätzung »Worte [...] für die Musik eine fremde bar zu machen. Dieses Erkennen beschreibt Schopen-
Zugabe« (W II, 512) sind, kommen die nicht-signifi- hauer wie ein Wiedererkennen, weil der Ausdruck
kativen Momente der Sprache, also vor allem Laut-, vertrauter Gefühle im Medium der Töne keine Ver-
Bewegungs- und Ausdruckqualitäten, in der Musik fremdung durch Diskursivität erfährt, sondern der
voll zum Tragen. Der späte Schopenhauer resümiert Gefühlsausdruck der inneren Willensnatur bleibt.
nochmals die schon im Hauptwerk herausgestellten Schopenhauers Philosophie der Musik ist wesent-
Momente der Allgemeinverständlichkeit der Musik lich Metaphysik der Musik, womit auch gesagt werden
und hebt hervor, dass dieses Verstehen ganz und gar soll, dass der doktrinäre Teil seiner Musiktheorie eher
auf der Ansprechbarkeit und Empfindsamkeit des Ge- unwesentlich, das heißt zeitgebunden, dogmatisch
fühls eines jeden Menschen beruht: und übermäßig bemüht ist, die metaphysische Aus-
legung der Musik als anschlussfähig an gängige Mu-
»Die Musik ist die wahre allgemeine Sprache, die man siklehren zu erweisen.
überall versteht. [...] Jedoch redet sie nicht von Dingen,
sondern von lauter Wohl und Wehe, als welche die al- Literatur
leinigen Realitäten für den Willen sind: darum spricht Adamy, Bernhard: Schopenhauer und einige Komponisten.
sie so sehr zum Herzen, während sie dem Kopfe unmit- In: Schopenhauer Jahrbuch 61 (1980), 70–89.
Baum, Günther/Birnbacher, Dieter (Hg.): Schopenhauer und
telbar nichts zu sagen hat« (P II, 457).
die Künste. Göttingen 2005.
Jacquette, Dale (Hg.): Schopenhauer, philosophy, and the arts.
Schopenhauer hatte schon im Hauptwerk betont, dass Cambridge 1996.
die Menschen in der Musik »das tiefste Innere unsers Jullien, Francois: Die fremdartige Idee des Schönen. Wien
Wesens zur Sprache gebracht sehn« (W I, 302). Das 2012 (frz. 2010).
Jung, Joachim: Die Bewertungskriterien in der Ästhetik Scho-
tiefste Innere der Menschen, ihr Wesen, ist erklärter-
penhauers. Diss. Mainz 1985.
maßen der Wille. Korfmacher, Wolfgang: Ideen und Ideenerkenntnis in der
Schopenhauer hatte diejenigen Werke der bilden- ästhetischen Theorie Arthur Schopenhauers. Pfaffenweiler
den Kunst als besonders schön angesehen, deren 1992.
sinnliche Gestalt eine Art Durchlässigkeit zur Idee, Koßler, Matthias: Zur Rolle der Besonnenheit in der Ästhe-
zum Wesen des dargestellten Gegenstandes gewährte, tik Arthur Schopenhauers. In: Schopenhauer-Jahrbuch 83
(2002), 119–133.
aber mehr noch scheint die Musik durch ihren Rück- Koßler, Matthias (Hg.): Musik als Wille und Welt. Schopen-
zug aus dem Raum und durch das monistische Mate- hauers Philosophie der Musik. Würzburg 2011.
rial der Töne eine vergleichbare, wenn nicht stärkere Malter, Rudolf: Der eine Gedanke. Hinführung zur Philoso-
Durchlässigkeit hin zum Wesen, nämlich im Über- phie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 1988.
80 II Werk

Neymeyr, Barbara: Ästhetische Autonomie als Abnormität. auf den Ursprung einer als gegeben vorausgesetzten
Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont moralischen Handlung – sofern damit gesagt ist, dass
seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996. eine Handlung dann und nur dann als moralische gel-
Panofsky, Erwin: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der
älteren Kunsttheorie [1924]. Berlin 21960.
ten kann, wenn sie diesen Ursprung aufweist – eine
Pothast, Ulrich: Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Über notwendige und hinreichende Bedingung für die Mo-
Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch ralität der Handlung und somit ein Kriterium mora-
Samuel Beckett. Frankfurt a. M. 1982. lischen Handelns benannt. So ist für Schopenhauer
Schmidt, Alfred: Wesen, Ort und Funktion der Kunst in der Mitleid nicht nur der Entstehungsgrund moralischer
Philosophie Schopenhauers. In: Baum/Birnbacher 2005,
Handlungen, sondern auch Kriterium der Moralität.
11–55.
Schubbe, Daniel: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik Es erstaunt daher nicht, dass Schopenhauers Ethik,
und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010. seiner programmatisch verkündeten normativen Abs-
Wilhelm, Karl Werner: Zwischen Allwissenheitslehre und tinenz zum Trotz, von häufig hochgradig emotional
Verzweiflung. Der Ort der Religion in der Philosophie Scho- gefärbten moralischen Stellungnahmen wertender
penhauers. Hildesheim 1994. oder normativer Art durchzogen ist: Da der von der
Brigitte Scheer Ethik zu erklärende und zu deutende Phänomen-
bereich sich nicht anders als mittels inhaltlicher mora-
lischer Aussagen erfassen lässt, ist – und hierüber soll-
te die Bezeichnung der Schopenhauerschen Ethik als
6.6 Ethik deskriptiv nicht hinwegtäuschen – eine Beschreibung
der Erfahrungswelt für Schopenhauer notwendig
Schopenhauers Ethikverständnis
auch expressiv, d. h. Ausdruck moralischer Wertun-
In genauer Entsprechung zu dem für die Willensmeta- gen und normativer Überzeugungen.
physik grundlegenden Ansatz einer hermeneutischen
– also die Erfahrungswelt als Text deutenden und sie
Freiheit und Notwendigkeit
erklärenden – Metaphysik charakterisiert Schopen-
hauer auch sein Vorgehen im Bereich der Ethik als Eine vorherrschende moralische Intuition besagt, dass
deutend und erklärend (vgl. W I, 321): Aufgabe der moralische Verantwortlichkeit Freiheit voraussetzt.
Ethik ist es demnach nicht, moralische Sollensforde- Daraus ergibt sich als eine zentrale Frage einer jeden
rungen zu formulieren, sondern vielmehr, das als gege- Ethik diejenige, ob der Mensch frei ist oder seine
ben vorausgesetzte Phänomen der Moral zu rekon- Handlungen determiniert sind. Schopenhauer beant-
struieren und zu systematisieren, es durch Rückfüh- wortet diese Frage in Die Welt als Wille und Vorstel-
rung auf seine Ursprünge moralpsychologisch zu er- lung, ausführlicher dann in der »Preisschrift über die
klären und im Kontext der Willensmetaphysik auf Freiheit des Willens« (s. Kap. 8.1), im Sinne einer Ver-
seine metaphysische Bedeutung hin zu befragen. Scho- einbarkeitstheorie, behauptet also die Möglichkeit des
penhauers Ethik wird daher häufig als eine deskriptive Zusammenbestehens von Freiheit und Notwendig-
Ethik eingestuft (vgl. z. B. Malter 1991, 393) und als sol- keit. Anders als Hume, der in seiner klassischen Vari-
che sowohl von der deontologischen Ethik Kants als ante des Kompatibilismus zu zeigen versucht, dass die
auch von konsequentialistischen, insbesondere utilita- Notwendigkeit der Willensakte mit Handlungsfrei-
ristischen Ethiken als den beiden wichtigsten Theorie- heit, also der Abwesenheit von Zwängen, kompatibel
strängen der normativen Ethik abgegrenzt. ist (vgl. Hume 1984, Abschn. VII und VIII), lokalisiert
Auch für eine Ethik, die ihre Aufgabe in der Deu- Schopenhauer jedoch Freiheit und Notwendigkeit auf
tung und Erklärung des Moralphänomens sieht, ist je- verschiedenen Ebenen: Der metaphysische Wille ist,
doch die Frage nach den Kriterien moralischen Han- als außerhalb von Raum und Zeit stehend und dem
delns, die gemeinhin der normativen Ethik zugeord- Satz vom Grunde nicht unterworfen, frei; der in den
net wird, unabweisbar. Zum einen nämlich gilt, dass, Erscheinungen objektivierte Wille hingegen befindet
wenn das Phänomen der Moral als gegeben voraus- sich in Kausalrelationen und ist determiniert. Jede
gesetzt werden soll, moralische Handlungen zunächst menschliche Handlung findet mit naturgesetzlicher
einmal spezifiziert und von nicht-moralischen abge- Notwendigkeit statt.
grenzt werden müssen; das aber erfordert eine Aus- Als handlungsdeterminierende Faktoren setzt
sage darüber, ›was das Moralische ist‹, die als solche Schopenhauer dabei die auf den Menschen einwir-
nicht wertfrei ist. Zum anderen ist mit dem Hinweis kenden Motive und seinen Charakter an, aus deren
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 81

Zusammentreffen die Handlung »ganz nothwendig und infolgedessen Verantwortungszuschreibungen


hervorgeht« (W I, 340). Unter »Motiven« versteht ›instrumentalistisch‹, also als soziale Regulations-
Schopenhauer also nicht – wie in der jüngeren Hand- mechanismen auffassen, hält Schopenhauer damit am
lungstheorie üblich – Erklärungsmuster für Handlun- stärkeren Verständnis menschlicher Verantwortlich-
gen, sondern Gegenstände, die als (anschauliche oder keit fest: Diese liegt nur vor, wenn Handlungen Per-
abstrakte) Vorstellungen gegeben sind. In Bezug auf sonen als ihre eigenen und freien Handlungen zu-
den Charakterbegriff unterscheidet er, an Kant an- geschrieben werden können. Um diese Verantwort-
knüpfend, zwischen dem empirischen und dem intel- lichkeit im intelligiblen Charakter verankern zu kön-
ligiblen Charakter. Der empirische Charakter ist der- nen, muss dieser als – vorpersonal – gewählt aufgefasst
jenige, der sich uns durch Erfahrung enthüllt; der in- werden (vgl. E, 96). Die Schwierigkeit dieser Kon-
telligible Charakter hingegen, dessen determinierte struktion besteht – abgesehen von ihrer Bindung an
Erscheinung der empirische ist, wird als Ausdruck des kontroverse willensmetaphysische Prämissen – darin,
metaphysischen Willens, also eines »außerzeitliche[n] dass unklar ist, wer als Subjekt dieses Wahlaktes nam-
Willensaktes« (W I, 355) aufgefasst; er legt fest, »was haft gemacht werden kann. Offensichtlich kann es sich
der Mensch eigentlich und überhaupt will« (W I, 347). dabei nicht um das empirische Subjekt handeln. Ver-
Während in der aristotelischen, in jüngerer Zeit z. B. mutlich wird man, analog zur Figur der ›Wendung des
von Ryle (vgl. Ryle 1969) fortgeführten Tradition der Willens gegen sich selbst‹ bei der Willensverneinung,
Charakterbegriff als bloße Abstraktion aus Hand- diese vorpersonale Wahl als eine Art Selbstobjektivie-
lungsbeschreibungen interpretiert und angenommen rung des metaphysischen Willens auffassen müssen
wird, dass Charaktereigenschaften vollständig von (s. Kap. 8.1) – womit dann aber personale Verantwort-
Handlungen abhängen (»esse sequitur operari«), fasst lichkeit gerade nicht begründet wäre.
Schopenhauer den intelligiblen Charakter als hand- Für die Determiniertheit des Willens im Bereich
lungsvorgelagert auf: Was der Mensch tut, lässt sich der Erscheinungen, also der willentlichen mensch-
aus dem erklären, was er ist (»operari sequitur esse«). lichen Handlungen, führt Schopenhauer im Haupt-
Anders als der empirische und der intelligible Charak- werk drei Argumente an:
ter ist die dritte von Schopenhauer angesetzte Form
des Charakters, der erworbene Charakter, keine 1) Der Wille im Bereich der Erscheinungen steht not-
Handlungsdisposition und erklärt keine Handlungen; wendig in Kausalrelationen. »Verursacht sein« und
es handelt sich vielmehr um die Kenntnis des eigenen »notwendig sein« aber sind nach Schopenhauer
empirischen Charakters: Wer einen erworbenen Cha- »durchaus identisch« und »Wechselbegriffe« (W I,
rakter hat, ein ›Mensch von Charakter‹ ist, ›weiß, was 338); daher sei alles, was verursacht ist, auch notwen-
er will‹, ist sich über seine Neigungen, Stärken und dig. Diese Gleichsetzung von »verursacht sein« und
Schwächen bewusst und wird sich entsprechend zu »notwendig sein« ist keinesfalls selbstverständlich;
verhalten wissen. gerade in der jüngeren Diskussion zur Willensfreiheit
Warum schreibt Schopenhauer dem Menschen ei- wird zunehmend die Möglichkeit erwogen, dass es
nen intelligiblen Charakter zu? Der Grund hierfür nicht-determinierende Handlungsursachen geben
wird im Hauptwerk nur angedeutet, in der »Preis- könnte (vgl. hierzu Keil 2007, 39–42); insbesonde-
schrift« (E, 93 f.) hingegen ausführlich erläutert: Er re Handlungsgründe scheinen Kandidaten hierfür
liegt im Bewusstsein der Verantwortlichkeit für eigene zu sein.
Taten, welches voraussetzt, dass wir »jede einzelne
That [der Person] dem freien Willen zuschreiben« 2) Den »Schein einer empirischen Freiheit des Wil-
(W I, 340) können. Der intelligible Charakter ver- lens« (W I, 342) erklärt Schopenhauer damit, dass uns
bürgt diese Möglichkeit: Er ist frei, weil der Wille als unser Charakter als determinierender Faktor unseres
Ding an sich, dessen Ausdruck der intelligible Cha- Handelns entweder gar nicht oder erst nach der Hand-
rakter ist, frei ist. Für Schopenhauer ist also das lung epistemisch zugänglich ist. Der intelligible Cha-
Sprachspiel der Verantwortlichkeit an Freiheitsunter- rakter tritt, weil er der in einem Individuum erschei-
stellungen gebunden: Soll jenes aufrechterhalten wer- nende Wille als Ding an sich ist, überhaupt nicht in
den, muss auch an diesen festgehalten werden. Anders den Erkenntnisbereich des Intellekts (W I, 342 f.). Der
als in den auf Hume zurückgehenden kompatibilisti- empirische Charakter andererseits ist uns erst a poste-
schen Theorien, die fast durchweg für eine Entkoppe- riori, d. h. nach unseren Entscheidungen, epistemisch
lung von Verantwortlichkeit und Freiheit plädieren zugänglich. So könnten wir im Januar darüber nach-
82 II Werk

denken, ob wir uns im Juli für eine Urlaubsreise in die Charakter für angeboren und unveränderlich: Velle
Berge oder für eine Großstadtreise entscheiden wer- non discitur. Scheinbare Änderungen des Charakters
den. Wie wir uns im Juli tatsächlich entscheiden wer- werden von ihm auf Änderungen der Motive zurück-
den, hängt von unserem intelligiblen Charakter ab, geführt, die durch das Medium der Erkenntnis auf
der uns aber grundsätzlich nicht zugänglich ist. Unse- den Menschen einwirken: Nicht das Wollen ändert
ren empirischen Charakter werden wir erst nach der sich, sondern, bedingt durch die Einwirkung anderer
Entscheidung im Juli kennen, da wir erst an unseren Motive, das Handeln. So könnte jemand einen Mord
Taten erkennen, was wir wollen. Weil uns also zum begehen wollen, sich aber hiervon durch den Gedan-
früheren Zeitpunkt weder intelligibler noch empiri- ken abhalten lassen, dass ihm eine empfindliche Strafe
scher Charakter zugänglich sind, werden wir uns, so droht. Die Tatsache, dass er unter dem Eindruck sei-
Schopenhauer, zu diesem Zeitpunkt (fälschlich) für ner möglichen Bestrafung von seinem Plan Abstand
frei halten. Damit ist sicherlich kein zwingendes Ar- nimmt, ließe nach Schopenhauer nicht den Schluss
gument für den Determinismus formuliert, aber ei- darauf zu, dass er diesen nicht mehr ausführen will,
nes, dass geeignet ist, ein allzu naives Vertrauen in un- sondern nur darauf, dass sein Handeln sich unter dem
sere vorphilosophische Unterstellung menschlicher Eindruck des neuen Motivs (der vorgestellten Strafe)
Willensfreiheit zu untergraben: Es könnte sein, dass geändert hat. Da beim Menschen – anders als beim
die determinierenden Faktoren unseres Handelns uns Tier, auf das nur anschauliche Vorstellungen als Moti-
aus prinzipiellen Gründen epistemisch nicht zugäng- ve wirken können – auch abstrakte Vorstellungen als
lich sind. Motive wirken können, ist sein Handeln ungleich
komplexer und schwerer berechenbar als das des Tie-
3) Angedeutet wird auch ein drittes, für die sprach- res; dies ändert nichts daran, dass »was der Mensch ei-
analytische Debatte um Willensfreiheit im 20. Jahr- gentlich und überhaupt will« (W I, 347) konstant
hundert zentrales Argument (vgl. W I, 343; ausführ- bleibt. Schopenhauers Festhalten an der These von der
licher E, 41–44): Selbst wenn die Überzeugung, dass Unveränderlichkeit des Charakters führt jedoch auch
wir anders hätten handeln können – auf die wir uns im zu einigen Forcierungen, wie insbesondere seine
Alltagsverständnis zu berufen pflegen, um Willens- kaum überzeugende Erklärung des Phänomens der
freiheit zu begründen – wahr ist, heißt das nicht, dass Reue zeigt: Während wir Reue im Allgemeinen gerade
wir frei gehandelt hätten, denn es könnte sein, dass das als Indikator für eine Veränderung des Wollens auf-
›Können‹ in dem Satz »Ich hätte anders handeln kön- fassen – der reuige Täter ist jemand, der jetzt etwas
nen« ›falls-gebunden‹ ist, d. h. dass dieser Satz aus- fundamental anderes will als der Täter und der ent-
zubuchstabieren ist als »Ich hätte anders handeln kön- sprechend andere Handlungsdispositionen hat als die
nen, falls X der Fall gewesen wäre«, und die im Kon- frühere Person –, bestimmt Schopenhauer sie als Ein-
ditionalsatz genannten Bedingungen können ihrer- sicht darin, dass ich »etwas Anderes that, als meinem
seits determiniert sein. Schopenhauer plädiert, eine Willen gemäß war« (W I, 349). Damit werden be-
spätere Debatte zwischen G. E. Moore und Austin stimmte Formen des Bedauerns darüber, dass man ei-
(vgl. hierzu Pothast 1978, 137–200) andeutungsweise gentlich Gewolltes nicht getan hat, erfasst, aber das
antizipierend, für eine konditionale Analyse von Phänomen der Reue wird verfehlt, da der Reuige er-
›Können‹, um zu zeigen, dass die auf die Wahrheit des kennt, dass das, was er einst getan hat, seinem frühe-
Satzes »Ich hätte anders handeln können« insistieren- ren Willen durchaus gemäß war, sich aber jetzt von
de Auffassung des Alltagsverstandes nicht ausrei- diesem distanziert.
chend ist, um Freiheit zu beweisen; sie lässt außer So eindeutig deterministisch die Argumentation
Acht, dass diese Aussage wahr sein, aber das ›Können‹ Schopenhauers in Bezug auf menschliche Handlun-
selbst durch Faktoren, die ihrerseits determiniert sind, gen auch ist, scheint er doch an mindestens zwei Stel-
restringiert sein könnte. len diesen Determinismus einzuschränken. Zum ei-
nen billigt er dem Menschen, der im Gegensatz zum
Wenn der Charakter gemäß dem Prinzip operari se- Tiere auch von abstrakten Vorstellungen als Motiven
quitur esse Handlungen gesetzesmäßig erklären soll, geleitet werden kann, eine Wahlentscheidung zwi-
kann er nicht in Abhängigkeit von Handlungen variie- schen den Motiven zu. Allerdings ist der Stellenwert
ren, sondern muss konstant sein (vgl. Koßler 2002, dieser »Wahlentscheidung« unklar. Wenn es sich um
93). Schopenhauer, dessen Charakterlehre eine aus- eine genuine Wahl, also eine Vorzugsentscheidung
geprägt nativistische Tendenz hat, erklärt daher den zwischen mindestens zwei Alternativen, handeln soll,
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 83

wird damit ein Freiheitsspielraum zugestanden, der mus – notwendig eintretenden Handlung führen. Die
mit einem Determinismus schwer in Einklang zu Determination unserer Handlungen ändert also
bringen ist. Es fragt sich dann, ob diese Wahl nicht – nichts daran, dass wir uns notwendig für frei halten
im Rahmen des Determinismus konsequent – ihrer- müssen, weil wir uns entscheiden müssen, eben diese
seits als determiniert zu gelten hat, so dass der Ein- Handlungen herbeizuführen.
druck, dass wir zwischen verschiedenen Motiven
wählen könnten, als ebenso illusionär einzustufen ist
Philosophischer Pessimismus
wie derjenige der Willensfreiheit. Wenn andererseits
kein Freiheitsspielraum zugestanden werden soll, son- Dem Etikett ›philosophischer Pessimismus‹ verdankt
dern der Mensch lediglich »Kampfplatz des Konflikts Schopenhauers Philosophie einen Großteil ihrer Po-
der Motive ist« (W I, 355), »davon das stärkere ihn pularität. Schopenhauers Pessimismus formuliert eine
dann mit Nothwendigkeit bestimmt« (W I, 351), Antwort auf die Frage nach dem Wert des Lebens (vgl.
scheint der Ausdruck »Wahlentscheidung« zur Be- Janaway 1999a, 318). Er besagt im Kern, dass das Le-
zeichnung dieses Motivkonflikts irreführend. Mögli- ben »etwas ist, das besser nicht wäre« (W II, 662), und
cherweise lässt sich Schopenhauers Hinweis auf die dass das Nichtsein dem Dasein vorzuziehen ist (W II,
Möglichkeit einer Wahlentscheidung wie folgt verste- 661). Zur Begründung dieser Ansicht, die auch in der
hen: Spezifikum des Menschen ist, dass er durch Ur- jüngeren philosophischen Diskussion Anhänger fin-
sachen einer bestimmten Art, nämlich durch »Grün- det (vgl. z. B. Benatar 2006), werden im Wesentlichen
de« (W I, 351), die er als besser oder schlechter, mehr die folgenden Behauptungen angeführt:
oder weniger überzeugend einstufen kann, bestimmt
werden kann, und dies rechtfertigt es, ihm die Mög- (1) Alles Leben ist Leiden.
lichkeit einer »Wahlentscheidung« zuzusprechen. Um (2) Individuelles Glück ist unmöglich.
von einer (eingeschränkten) Freiheit im Bereich (3) Die Nutzenbilanz eines jeden Lebens ist negativ.
menschlichen Handelns sprechen zu können, wäre (4) Angesichts der bloßen Existenz von Übel und
demnach weder Akausalität noch eine spezifische Ak- Leiden ist das Dasein abzulehnen.
teurskausalität erforderlich, sondern lediglich, dass
bestimmte Kausalfaktoren – eben Gründe – eine Die erste These wird aus der schon im zweiten Buch
Handlung determinieren (vgl. hierzu auch E, 33–36). des Hauptwerks fixierten Bedeutung der Ausdrücke
Noch in anderer Hinsicht schränkt Schopenhauer »Wille« und »Leiden« abgeleitet. Der Anwendungs-
einen strengen Determinismus ein. Er streitet ab, dass bereich des Ausdrucks »Wille« war mit dem Analo-
die Unveränderlichkeit des Charakters es überflüssig gieschluss in § 19 über den Bereich der mit Bewusst-
mache, sich um dessen Besserung zu bemühen: Man sein ausgestatteten und zu intentionalen Akten be-
müsse sich um die Besserung des eigenen Charakters fähigten Wesen hinaus auf die gesamte Vorstellungs-
bemühen, weil die Tatsache, dass man dies tue, eben welt ausgedehnt worden, so dass »die Welt« – nicht
Teil der Ursachen dafür sei, dass die Handlung als Pro- nur die bewusstseinsfähigen Wesen in ihr – als Wille
dukt von Motiv und Charakter dann notwendig statt- aufgefasst werden konnte. Gilt aber die Welt als Wille
finde. Da wir unseren Charakter erst a posteriori, aus und gilt weiterhin, wie Schopenhauer definitorisch
unseren Handlungen, erkennen, können wir ihm festsetzt, jede »Hemmung des Willens durch ein Hin-
auch nicht »vorgreifen«, sondern müssen genau das dernis, welches sich zwischen ihn und sein einstwei-
tun, was wir später als Teil einer notwendig zur Hand- liges Ziel stellt« (W I, 365), als Leiden, so ist auch Lei-
lung führenden Ursachenkette erkennen werden. In den nicht notwendig empfundenes Leiden. Schopen-
diesen Ausführungen kann man ein Argument ange- hauers Ethik ist eine Leidensethik in dem Sinne, dass
deutet sehen, das im 20. Jahrhundert von Vertretern sie die Welt als Leidensgeschehen auffasst. Ebenso wie
des epistemischen Indeterminismus formuliert wird die Welt auch dort Wille ist, wo keinerlei Intentionali-
(vgl. bes. MacKay 1978): Wenn, wie der Determinis- tät oder Bewusstsein vorliegt, ist das Dasein auch dort
mus behauptet, unsere Handlungen determiniert Leiden, wo dieses nicht als solches empfunden wird.
sind, ändert dies nichts daran, dass diese Handlungen Allerdings bedeutet dies – worüber Schopenhauers
von unseren Entscheidungen abhängen und wir diese suggestive Verwendung des Leidensbegriffs leicht
nicht an eine Schicksalsmacht »delegieren« können. hinwegtäuscht –, dass die Frage, wieso dieses Leidens-
Die Entscheidungen sind Teil der Kausalkette, die geschehen nicht sein soll, als eine offene, d. h. nicht-
dann zu der – unter Voraussetzung des Determinis- triviale und nicht bereits durch die Bedeutung des
84 II Werk

Ausdrucks ›Leiden‹ beantwortete Frage anzusehen ist. den kann, streitet Schopenhauer nicht ab (vgl. W I,
Aus der Annahme, dass alles Leben Leiden ist, folgt, 376). Damit provoziert er den Einwand, dass indivi-
setzt man Schopenhauers weiten Leidensbegriff vo- duelles Lebensglück statt von der Anzahl und Dauer
raus, weder, dass Leben nicht sein sollte, noch auch von Glücksmomenten von deren Intensität abhängen
nur, dass Leiden beseitigt oder gelindert werden sollte. und dass eine kurzzeitige Glücksempfindung derma-
Sie ist kompatibel mit einer trotzigen Lebens- und Lei- ßen intensiv sein könnte, dass das vorhergehende Lei-
densbejahung, etwa im Sinne von Nietzsches »Jasagen den durch sie kompensiert wird. Zweitens beruht
ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, Schopenhauers Analyse auf der Annahme, dass wir,
zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins wenn wir etwas erstreben, notwendig der intellektua-
selbst« (Geburt der Tragödie, § 2; KSA 6, 311). Ein phi- listischen Illusion anheimfallen würden, dass wir es
losophischer Pessimismus wird also durch (1) allein erstreben würden, weil es von unserem Wollen un-
nicht begründet. abhängige Werteigenschaften besitzt. Es ist aber nicht
Das Argument für These (2) entwickelt Schopen- ersichtlich, warum wir dieser Illusion anheimfallen
hauer konsequent aus seiner Anthropologie, ins- müssten. Häufig empfinden wir das Streben selbst als
besondere der Behauptung eines Primats des Wollens positiv und beglückend (vgl. Janaway 1999a, 333;
gegenüber dem Erkennen (vgl. W II, Kap. 19). Es lässt Birnbacher 2009, 106 f.; Soll 2012, 303; kritisch hierzu
sich wie folgt rekonstruieren: Da der Mensch ein pri- in Anknüpfung an Schopenhauer: Benatar 2006, 76–
mär wollendes, erst sekundär erkennendes Wesen ist, 81). Jemand kann z. B. illusionslos der Tatsache ins
liegt der Grund dafür, dass wir bestimmte Dinge an- Auge blicken, dass die Erreichung eines lang erstreb-
streben, nicht darin, dass wir zunächst erkennen wür- ten beruflichen Ziels ihm kein langandauerndes Glück
den, dass sie Werteigenschaften hätten, die ihnen un- bescheren wird, aber das Erstreben dieses Ziels und
abhängig von unserem Wollen zukämen; vielmehr gilt die Überwindung von Hindernissen auf dem Weg zu
umgekehrt, dass sie uns wertvoll erscheinen, weil wir seiner Erreichung als beglückend empfinden. Drittens
sie wollen, also ihren Besitz wünschen. Wenn aber ein nimmt Schopenhauer an, dass Güter und Vorteile –
begehrtes Objekt erlangt wird, entschwindet damit etwa Jugend, Gesundheit und Freiheit – uns, solange
auch das Begehren. Ein Wunsch, der erfüllt wird, hört sie präsent sind, nicht bewusst sind, sondern nur,
auf zu existieren, weil wir diesen Wunsch nur solange wenn wir ihrer ermangeln, d. h. wenn wir sie entweder
besitzen, wie er nicht erfüllt wird. Also entschwindet erstreben, also noch nicht besitzen, oder wenn wir sie
mit der Erfüllung eines Wunsches auch genau das, was verloren haben, also nicht mehr besitzen. Glück, so
das gewünschte Objekt wertvoll erscheinen ließ. Wo drückt es Schopenhauer aus, ist wesentlich negativ
wir erreichen, was wir erstrebten, verliert dieses Ob- (vgl. W I, 376). Gegenstand einer Glücksempfindung
jekt seinen Reiz, denn es erschien uns nur deswegen könne nur die Aufhebung eines Mangels sein, aber
wertvoll, weil wir es erstrebten, und nur solange, wie nicht das Gut selbst, dessen wir ermangeln. Das
wir es begehrten: »Das Ziel war nur scheinbar: der Be- stimmt jedoch nur eingeschränkt: Selbst wenn wir be-
sitz nimmt den Reiz weg« (WI, 370). Statt einer stimmte Güter, sofern wir sie besitzen, nicht aktual
Glücksempfindung kann daher nach der Erfüllung ei- wahrnehmen, können wir uns ihrer dennoch – zu-
nes Wunsches nur entweder ein neues Wollen ent- mindest dispositional – bewusst sein. Der Gesunde
stehen oder aber Langeweile eintreten; letztere be- nimmt zwar im Allgemeinen seine Gesundheit nicht
schreibt Schopenhauer eindringlich als einen Zu- in gleicher Weise wahr wie deren Einschränkung oder
stand, in dem die Dinge uns farblos und uninteressant Verlust, aber er kann sich des Besitzes dieses Gutes
erscheinen, eben weil wir sie nicht mehr erstreben. So durchaus in dem Sinne bewusst sein, dass ihn Stim-
ist das Leben des Menschen, das mit Glücksverspre- mungen wie Dankbarkeit oder Zufriedenheit mit der
chungen lockt, die es nicht einhalten kann, ein »Pen- eigenen Lebenssituation auch dann begleiten, wenn er
deln zwischen Schmerz und Langeweile« (W I, 368), das fragliche Gut nicht aktual wahrnimmt.
ein »fortgesetzter Betrug« (W II, 657). These (3) wird als »Bestätigung a posteriori« (W I,
Schopenhauers Leugnung von Glück ist mit min- 382) der in (2) aufgestellten Behauptung über die Un-
destens drei Problemen konfrontiert: Erstens zeigt er möglichkeit des Glücks aufgefasst. »Das Leben«, so
keinesfalls die Unmöglichkeit von Glück, sondern al- Schopenhauer, sei auch für den Einzelnen »ein Ge-
lenfalls die Unmöglichkeit andauernden Glücks (vgl. schäft, das nicht die Kosten deckt« (W II, 658), und
Soll 2012, 304–306). Dass die Erfüllung eines Begeh- wohl niemand würde am Ende seines Lebens aufrich-
rens zumindest kurzzeitig als Glück empfunden wer- tig wünschen können, es noch einmal durchzuma-
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 85

chen (W I, 382). Dies ist eine empirische Behauptung, rische Verneinung der Optimismusthese zu einer
und sie ist, in dieser Allgemeinheit – auf jedes Leben konträren verschärft. Die Annahme, dass die Welt die
bezogen – formuliert, empirisch sehr unplausibel. Ih- schlechteste aller möglichen Welten sei, ist allerdings
re Begründung würde erfordern, die Selbstauskunft – wenngleich Schopenhauer sie durch kosmologische
zumindest einiger Individuen, die von ihrem Leben und biologische Erwägungen zu stützen versucht (vgl.
behaupten würden, dass es eine positive Nutzenbilanz W II, 669–671) – intuitiv ebenso wenig einleuchtend
aufweist, als irrig nachzuweisen. Zudem wird mit ihr wie diejenige, dass sie die beste aller möglichen sei, da
ausgeblendet, dass der Wert des Lebens sich an ande- zu jedem Weltzustand sowohl ein besserer als auch ein
ren Faktoren bemessen könnte als der individuellen schlechterer zumindest denkbar ist. Die Mahnung,
Nutzenbilanz. Auch ein Leben mit einer negativen das Leiden in der Welt ernstzunehmen, kann daher
Nutzenbilanz könnte insgesamt als positiv eingestuft schwerlich die Hauptthese des philosophischen Pessi-
werden, etwa weil in ihm von der Empfindung des mismus begründen, dass die Welt schlechthin nicht
Subjekts ganz unabhängige Werte – z. B. Erkenntnis sein sollte.
oder die Produktion eines Kunstwerks – realisiert
wurden. Schopenhauers Eudämonismus, d. h. die he-
Unvergänglichkeit
donistische Wertbasis seiner Ethik (vgl. Janaway
1999a, 334; Birnbacher 2009, 93), die erstmals von Die pessimistische Stoßrichtung der Ethik Schopen-
Nietzsche kritisiert wurde (vgl. Gemes/Janaway 2012, hauers wird nicht dadurch abgeschwächt, dass diese
290 f.), lässt ihn die Möglichkeit ignorieren, dass ein auch eine Lehre der »Unzerstörbarkeit unseres We-
Leben als Ganzes auch dann als glücklich eingestuft sens« durch den Tod beinhaltet. Deren Kernaussage
werden könnte, wenn in ihm die Momente subjekti- ist, dass der Tod nur dem Bereich der Erscheinungen
ven Unglücks diejenigen des Glücks überwiegen. zugehört, der Wille als Ding an sich hiervon jedoch
Die in (4) ausgedrückte Überzeugung, dass die unberührt bleibt. Zwar ist das Leben des Individuums
Welt angesichts der bloßen Existenz des Übels nicht als »stetes Sterben« auf den Tod als dessen Ziel- und
gerechtfertigt sei, richtet sich, mit polemischem Bezug Endpunkt bezogen (W I, 367). Der Tod des Individu-
vor allem auf Leibnizens Theodizee, gegen den Ver- ums steht jedoch in zeitlichen Relationen, ist also dem
such, vorhandenes Leiden als notwendig zur För- Bereich der Erscheinungen zugeordnet. Der Wille als
derung eines überindividuellen Gesamtglücks zu Ding an sich hingegen steht außerhalb von Zeit und
rechtfertigen. Solche leidensquantifizierenden Argu- Raum und ist insofern »ewig«. Er wird vom Tod nicht
mente lehnt Schopenhauer ab, denn »dass Tausende berührt: Unser Wesenskern, der metaphysische Wille,
in Glück und Wonne gelebt hätten, höbe ja nie die ist unvergänglich (vgl. hierzu z. B. Jacquette 1999,
Angst und Todesmarter eines Einzigen auf« (W II, 293–300).
661). Den Versuch, vorhandenes Leiden dadurch zu Aus zwei Gründen ist diese Unvergänglichkeitsthe-
relativieren, dass es als einem Gesamtglück zuträglich se mit keinerlei Trostfunktion verbunden. Zum einen
nachgewiesen wird, sieht er als kennzeichnend für geht mit ihr kein Gedanke an individuelle Seelen-
den philosophischen Optimismus an, den er eben unsterblichkeit einher, weshalb Schopenhauer den
deswegen als eine »wahrhaft ruchlose Denkungsart« »prahlerischen Namen der Unsterblichkeit« (W II,
(W I, 385), als einen Zynismus gegenüber individuel- 551) zur Bezeichnung dieses Theoriebestandteils ab-
lem Leiden, brandmarkt. So verstanden, läuft These lehnt. Die Unvergänglichkeit des Willens als Ding an
(4) auf einen Appell hinaus, das vorhandene Leiden sich fällt für das Individuum mit der Fortdauer der
der Welt nüchtern und illusionslos zur Kenntnis zu Außenwelt zusammen, und aus der Einsicht hierin
nehmen (vgl. Birnbacher 2009, 92 f.). lässt sich keine Hoffnung auf individuelles Fortleben
Allerdings ist damit nicht gezeigt, dass die Welt gewinnen. Sie bietet auch keinen Trost für den Ego-
grundsätzlich nicht sein sollte, sondern allenfalls, dass ismus des Individuums, da sie nichts daran ändert,
sie so, wie sie ist – angesichts des in ihr vorhandenen dass die Erfüllung individueller Interessen und Wün-
Leidens –, nicht sein sollte. Es kennzeichnet Schopen- sche mit dem Tod des Individuums unterbunden wird
hauers Neigung zu rhetorischer Überspitzung, dass er (vgl. W I, 333). Zudem bietet Schopenhauers Unver-
von der Verneinung der Leibnizschen These, die Welt gänglichkeitslehre keinen Ansatzpunkt dafür, gerade
sei die beste aller möglichen Welten, recht umstands- in der Auflösung der Individualität durch den Tod
los zu derjenigen übergeht, dass sie die schlechteste al- und dem Überdauern des überindividuellen Wesens-
ler möglichen Welten sei, und damit die kontradikto- kerns, des Willens als Ding an sich, einen Trost zu er-
86 II Werk

blicken. Da der Wille als Ding an sich bei Schopen- nach die Tendenz, sein Wollen auf Kosten des Wohl-
hauer als ziel- und zweckloses Streben negativ kon- ergehens der anderen durchzusetzen und in deren
notiert und als Urgrund des Leidensgeschehens gera- Willensbestrebungen einzugreifen. Grundlage dieser
de zu verneinen ist, ist sein Überdauern frei von jeder sozialanthropologischen Annahme ist die erkenntnis-
Heilsversprechung. Das Fortbestehen des Wesens- theoretische These, dass dem Individuum die anderen
kerns des Menschen angesichts seines individuellen Individuen im Normalfall nur Erscheinungen, Objek-
Untergangs enthält daher nichts Hoffnungsvolles. te unter anderen Objekten sind und deren Wohlerge-
hen und Leiden daher für das eigene Handeln stets ge-
ringere Bedeutung haben als das eigene. Nur in dem
Bejahung des Willens und Staatsphilosophie
Ausmaß, in dem das Individuationsprinzip durch-
Die Ausdrücke »Bejahung des Willens zum Leben« schaut wird und die anderen Individuen nicht mehr
und »Verneinung des Willens zum Leben« werden nur als Erscheinungen, sondern als ›Ich noch einmal‹
von Schopenhauer in einem sehr eigenwilligen Sinne wahrgenommen werden, kann der Egoismus über-
verwendet. Während man intuitiv dazu neigt, den da- wunden werden.
mit bezeichneten Gegensatz als konträren aufzufassen Die These, dass der Mensch von Natur aus ein ego-
– also einen Zwischenbereich anzusetzen, in dem man istisches, auf die Förderung des eigenen Wohls auch
dem Willen zum Leben weder bejahend noch vernei- auf Kosten des Wohls der anderen bedachtes Wesen
nend, sondern z. B. in der Haltung der Indifferenz ist, erinnert an die pessimistische Sozialanthropolo-
oder der Ironie gegenübertreten kann –, wird er bei gie, die Hobbes – auf den sich Schopenhauer in die-
Schopenhauer als kontradiktorischer verstanden, so sem Zusammenhang zustimmend beruft (W I, 393,
dass gilt, dass wir den Willen zum Leben notwendig 408) – seiner Staatsphilosophie zugrunde legt. Auch
entweder bejahen oder verneinen: tertium non datur. die im § 62 dargestellte Staats- und Rechtsphilosophie
Diese strikte Dichotomisierung ergibt sich aus den Schopenhauers bewegt sich weitgehend in den Spuren
willensmetaphysischen Prämissen der Schopenhauer- der von Hobbes entwickelten kontraktualistischen
schen Ethik, da es auch hier zu Wollen oder Nicht- Theorie, wenngleich die Rechtfertigungsfigur des Ver-
Wollen keine Alternative gibt. Zudem versteht man trags bei Schopenhauer nicht die gleiche zentrale Rol-
unter »Bejahung« im Allgemeinen eine – mehr oder le spielt wie im klassischen Kontraktualismus. Das
minder reflektierte – Einstellung oder Haltung zu Grundanliegen des Kontraktualismus ist es nach-
dem, was bejaht wird. Schopenhauer hingegen fasst zuweisen, dass die Einrichtung eines Staates und sei-
Willensbejahung, wenngleich er sie gelegentlich auch ner Institutionen im aufgeklärten Eigeninteresse des
als »Haltung« bezeichnet, im Allgemeinen und primär Individuums liegt. Dieser Idee folgt Schopenhauer:
gerade nicht als Haltung, geschweige denn als eine re- Ihm zufolge liegt die Aufgabe des positiven Rechts
flektierte Haltung zum Wollen auf, sondern identifi- nicht etwa darin, den Egoismus der Menschen zu
ziert sie mit dem Wollen: »Die Bejahung des Willens überwinden – was eine illusionäre Zielvorgabe wäre –,
ist das von keiner Erkenntniß gestörte beständige sondern darin, das wohlverstandene Eigeninteresse
Wollen selbst« (W I, 385). Unmittelbarer Ausdruck des Individuums zu schützen, indem es die negativen
der Willensbejahung ist nicht etwa ein positiv werten- Folgen eines unbegrenzten Egoismus unterbindet.
des Urteil über das Wollen, sondern das Wollen selbst, Bliebe der individuelle Egoismus ungezügelt, müssten
wie es sich für Schopenhauer am deutlichsten im Ge- Individuen, ähnlich wie es im Hobbesschen Ur-
schlechtstrieb kundtut, dessen eingehender Erörte- zustand des bellum omnium contra omnes der Fall ist,
rung er das berühmte Kapitel »Metaphysik der Ge- stets mit Übergriffen anderer Individuen in ihre Wil-
schlechtsliebe« im zweiten Band der Welt als Wille und lensbestrebungen rechnen. Das egoistische Interesse
Vorstellung widmet. der Individuen daran, dass solche Übergriffe vermie-
Der Mensch ist, so die grundlegende These Scho- den werden, kann am effektivsten geschützt werden,
penhauers, als Objektivation des Willens ein durch wenn jeder bereit ist, sich selbst Restriktionen bei der
und durch wollendes, also (normalerweise) den Wil- Verfolgung eigener Willensbestrebungen aufzuerle-
len zum Leben bejahendes Wesen. Darüber hinaus gen, und dafür der Etablierung einer mit Sanktions-
vertritt er die weitergehende Ansicht, dass die Beja- macht ausgestatteten Gewalt, des Staates und seiner
hung des Willens beim Menschen normalerweise, Institutionen, zustimmt, die sicherstellt, dass auch an-
d. h. sofern er im Individuationsprinzip verharrt, die dere sich diesen Restriktionen zu unterwerfen haben.
Form des Egoismus annimmt. Der Mensch hat dem- Positives Recht hat es also – anders als Recht und Un-
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 87

recht als moralische Kategorien – nicht mit den Ge- Willensgeschehens in den Blick. Unter der Perspektive
sinnungen der Menschen, sondern ausschließlich mit eines Willensmonismus muss das gesamte Leidens-
den Auswirkungen ihrer Handlungen auf andere zu geschehen als Ausprägung dieses einen metaphysi-
tun. Der Staat hat nicht zur Moral zu erziehen, son- schen Prinzips, des Willens, gesehen werden. Meta-
dern als ›Nachtwächterstaat‹ die vitalen Interessen des physisch betrachtet besteht daher zwischen dem Lei-
Einzelnen zu schützen. Er ist ein Instrument des auf- den Zufügenden und dem es Erleidenden kein Unter-
geklärten Egoismus. schied: »Der Quäler und der Gequälte sind Eines«
Auch die Rechtfertigung einzelner staatlicher Insti- (W I, 419). Jede Zufügung von Leiden ist demnach ein
tutionen orientiert sich bei Schopenhauer an der Idee Zeichen dessen, dass der Wille »die Zähne in sein ei-
des Schutzes individueller Interessen vor den Über- genes Fleisch schlägt, nicht wissend, daß er immer nur
griffen anderer. Die staatliche Institution des Strafens sich selbst verletzt« (W I, 418). Es herrscht metaphysi-
rechtfertigt er – in Abgrenzung zur Vergeltungstheorie sche Gerechtigkeit, so dass aus dieser Perspektive über
der Strafe, welche die Strafe als eine angemessene Re- das Geschehen »von keiner Seite weiter eine Klage zu
aktion auf ein bereits geschehenes Übel legitimiert – erheben ist« (W I, 390).
durch eine Theorie der negativen Generalprävention Irritierend ist die Lehre von der ewigen Gerechtig-
(vgl. hierzu Hoerster 1972). Ihr zufolge liegt die Recht- keit, weil sie die Annahme nahelegt, Schopenhauer
fertigung der Strafe in dem Ausmaß, in dem sie durch wolle jegliches Leiden als selbstverschuldet und vom
Abschreckung (›negativ‹) zukünftige Straftaten nicht Leidenden verdient kennzeichnen (vgl. Hauskeller
nur des bestraften Täters, sondern jedes potentiellen 1998, 69–82). Dieser Eindruck täuscht jedoch. Für
zukünftigen Täters (›generell‹) zu verhindern oder un- den Bereich der Erscheinungen, in dem der Unter-
wahrscheinlich zu machen geeignet ist. Die Leidens- schied zwischen dem Leiden Zufügenden und dem es
zufügung durch die Strafe wird dabei als ein in Kauf zu Erleidenden gewahrt bleibt, und die in diesem Bereich
nehmendes Übel angesehen, das notwendig ist, um das stattfindenden Zuschreibungen von Schuld und Ver-
Interesse der Bürger daran, in Zukunft keine Opfer von dienst hat die These von der metaphysischen Gerech-
Straftaten zu werden, bestmöglich zu schützen. Scho- tigkeit keine Konsequenzen und ist nicht schuldent-
penhauer geht so weit zu sagen, dass, »wo möglich, das lastend. Nur aus der Perspektive dessen, der das Indi-
scheinbare Leiden [der Strafe] das wirkliche überwie- viduationsprinzip durchschaut, der sich also nicht
gen sollte« (W II, 686), so dass, wenn eine fingierte mehr auf den Bereich der Erscheinungen und Indivi-
Strafvollstreckung den gewünschten Abschreckungs- duationen des Willens bezieht, wird das Leidens-
effekt zeitigt, auf deren faktische Vollstreckung ver- geschehen sich als eines enthüllen, in dem zwischen
zichtet werden kann. Im Hintergrund dieser Straftheo- Quäler und Gequältem nicht mehr unterschieden
rie steht Schopenhauers Willensdeterminismus: Wenn werden kann und in dem daher keinerlei Anhalts-
der Charakter eines Menschen, seine Disposition, auf punkte dafür bestehen, individuelle Schuld zu-
Motive auf eine bestimmte Weise zu reagieren, und zuschreiben. Zudem sollte ›Gerechtigkeit‹ im Kontext
sein charakterbedingtes Wollen unveränderlich sind, der Lehre von der ewigen Gerechtigkeit eher als ein
kann eine Strafe niemals im strengen Sinne als verdient quasi-ästhetischer denn als ein normativer Ausdruck
gelten, weil der Straftäter ja nicht anders konnte, als die aufgefasst werden. Er hat keinerlei präskriptive Impli-
Straftat zu begehen. Darum kann die Strafe nicht ei- kationen, besagt also nicht, dass das in dieser Weise als
gentlich auf die Person, die ja zu ihrem Handeln deter- gerecht Bezeichnete sein soll. Vielmehr akzentuiert
miniert war, sondern nur auf deren beobachtbare Ta- der Ausdruck hier das sich in metaphysischer Hin-
ten gerichtet und der Täter »bloß der Stoff [sein], an sicht einstellende Gleichgewicht zwischen zugefüg-
dem die That gestraft wird; damit dem Gesetze, wel- tem und erlittenem Leiden. Die Affinität zur Ästhetik
chem zu Folge die Strafe eintritt, die Kraft abzuschre- wird auch dadurch unterstrichen, dass die Erkenntnis
cken bleibe« (W II, 685). ewiger Gerechtigkeit mit der Schau der Ideen gleich-
gesetzt, also mit ästhetischer Kontemplation analogi-
siert wird (vgl. W I, 418).
Ewige Gerechtigkeit
Die Lehre von der ewigen Gerechtigkeit verweist
Während der Staat für die zeitliche Gerechtigkeit zu- auf ein wesentliches Element der Lehre von der Wil-
ständig ist, betrifft die Lehre von der ›ewigen Gerech- lensverneinung: Indem sie das Leidensgeschehen
tigkeit‹ die Betrachtung des Leidens sub specie aeterni- über Individuengrenzen hinweg als Ausprägung eines
tatis. In ihr kommt das Leiden als Ausprägung eines metaphysischen Willens in den Blick nimmt, macht
88 II Werk

sie deutlich, dass eine Überwindung dieses Leidens Erkenntnisbegriff bei Schopenhauer auf problemati-
nur durch eine Verneinung des Willens als Ganzem sche Weise unterbestimmt; es lässt sich hierüber je-
möglich ist (vgl. Malter 1991, 375). Sie verweist auf die doch immerhin so viel sagen: (1) Die dem tugendhaf-
Beschränktheit der Rolle der zeitlichen Gerechtigkeit ten Handeln zugrunde liegende Erkenntnis ist intuitiv.
bei der Überwindung des Leidens: Wer das Leidens- Das bedeutet nicht, dass zu ihrer Erklärung ein beson-
geschehen durchbrechen will, kann dies angesichts deres Erkenntnisvermögen der Intuition in Anspruch
der metaphysischen Identität von Quäler und Gequäl- genommen werden müsste, sondern zum einen, dass
tem nicht durch die Verneinung des Individualwillens es sich um eine anschauliche, d. h. nicht abstrakt-dis-
des Täters tun, sondern nur durch die Verneinung des kursive Erkenntnis, zum anderen, dass es sich um eine
metaphysischen Willens selbst. nicht-inferentielle, also nicht aus anderen Erkenntnis-
sen abgeleitete und insofern »unmittelbare« Erkennt-
nis handelt. (2) Schopenhauer glaubt, mit dem Hin-
Schopenhauers Tugendlehre
weis auf Mitleid – anders als Kant, der eben dies ver-
Ein wesentlicher Bestandteil der Ethik Schopenhauers säumt habe – eine Motivationsquelle der Moral nach-
ist seine Tugendlehre, in deren Zentrum die Fragen gewiesen zu haben. Die Erkenntnis, auf der Mitleid
nach dem Ursprung moralischen Handelns und den als »kognitives Gefühl« (Hauskeller 1998, 46) basiert,
Kriterien der Moralität stehen. Sie ist aufs engste mit muss daher selbst als handlungsmotivierend gedacht
seiner Metaphysik verknüpft, denn der moralische werden. Sie kann nicht ein rein propositionales Wis-
Wert einer Handlung wird nach dem Ausmaß bemes- sen, dass jemand anders leidet, sein (da dieses nicht
sen, in dem der Handelnde zur Durchschauung des handlungsmotivierend wäre), sondern muss eo ipso
Individuationsprinzips gelangt und die metaphysi- mit einer Handlungstendenz in Form des Bestrebens,
sche Einheit aller Wesen als Willensobjektivationen Leiden zu minimieren, verbunden sein. Eine genauere
zu erkennen vermag. Der »böse Wille« ist, nebst sei- Explikation des Erkenntnisbegriffes hätte zu erläu-
ner Heftigkeit, durch seine Befangenheit im Indivi- tern, wie dies möglich ist.
duationsprinzip gekennzeichnet; die anderen Indivi- Zwar ist es angesichts der prozessualen Darstellung
duen sind ihm bloße Erscheinungen. Der tugendhafte der Abfolge von Gerechtigkeit, Menschenliebe und
Charakter hingegen wird dadurch charakterisiert, Mitleid im Hauptwerk exegetisch unklar, ob Scho-
dass er »weniger, als sonst geschieht, einen Unter- penhauer hier ebenso wie in der »Preisschrift« auch
schied macht zwischen Sich und Andern« (W I, 439), Gerechtigkeit auf Mitleid zurückführen möchte, aber
also das Individuationsprinzip als scheinhaft erkennt. der Sache nach besteht kein Zweifel, dass auch ge-
Da das Leben essentiell Leiden ist, wird ihm damit rechtes Handeln – als Handeln, das uneigennützig ist
auch der Unterschied zwischen eigenem und frem- und vom Leiden des anderen, auf dessen Vermeidung
dem Leiden weniger bedeutsam. Der das Individuati- es abzielt, motiviert ist – als mitleidsbasiert verstan-
onsprinzip Durchschauende wird, anders als der da- den wird. Dies wirkt intuitiv unplausibel, würde man
rin Befangene, vom Leiden der anderen in gleicher doch z. B. die Handlungen des Gerechtigkeit aus-
Weise motiviert werden wie sonst nur von seinem ei- übenden Richters gerade nicht als Handlungen aus
genen. Darum identifiziert Schopenhauer echte Men- Mitleid einstufen. Der Anschein der Kontraintuitivi-
schenliebe mit Mitleid und erhebt – in Die Welt als tät verschwindet jedoch, wenn man berücksichtigt,
Wille und Vorstellung nur in einem Paragraphen, aus- dass Mitleid für Schopenhauer kein bloßes Gefühl,
führlicher und weitgehend unabhängig von willens- sondern in dem Sinne universalisierbar ist, dass es
metaphysischen Prämissen dann in der »Preisschrift sich nicht nur auf aktuell wahrnehmbare Leidens-
über die Grundlage der Moral« (s. Kap. 8.2) – Mitleid zustände, sondern auch auf antizipiertes oder vergan-
zum Zentralbegriff seiner Ethik. Seine Tugendlehre ist genes, also nicht unmittelbar wahrgenommenes Lei-
also gesinnungsethischer Natur; der moralische Wert den beziehen kann (vgl. Birnbacher 1990, 30 f.). Auch
einer Handlung bemisst sich ihr zufolge nicht etwa an das Handeln des Richters kann daher insofern als
ihren Folgen, sondern einzig an der Motivlage, aus der mitleidsbasiert verstanden werden, als er bei seiner
heraus sie vollzogen wird. Verurteilung die Leidensfähigkeit potentieller weite-
Indem Schopenhauer als Grundlage der Tugend- rer Opfer des zu verurteilenden Täters berücksichtigt.
haftigkeit die Erkenntnis der Scheinhaftigkeit des In- Dass Mitleid für Schopenhauer nicht an unmittel-
dividuationsprinzips ansetzt, akzentuiert er die kogni- bares affektives Betroffensein gebunden ist, zeigen ei-
tive Komponente moralischen Handelns. Zwar ist der nige der von ihm gewählten Beispiele, etwa der Ver-
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 89

weis auf Fälle von Selbstaufopferung zugunsten des- ihr wird die Verneinung des Willens, das Aufhören al-
sen, »was der gesammten Menschheit zum Wohle ge- len Wollens als Kulminationspunkt und als »der letzte
reicht« (W I, 443). Der von Tugendhat (vgl. Tugendhat Zweck« (W II, 698) des menschlichen Daseins dar-
1993, 177–196) gegen die Mitleidsethik erhobene gestellt. Für Schopenhauer ist also nicht Moralität der
Vorwurf, Mitleid sei als ein bloß punktuelles Gefühl höchstmögliche zu erreichende Zustand des Men-
nicht universalisierbar, geht daher an der Konzeption schen, sondern Willensverneinung. Exemplifiziert
Schopenhauers vorbei. Der universalistische An- wird Willensverneinung durch die Lebensweise der
spruch der Mitleidsethik zeigt sich auch in der Ein- Asketen und Heiligen, deren Zustand Schopenhauer
beziehung der Tiere, die nach Schopenhauer – der als als einen hedonisch eindeutig positiv getönten be-
einer der Pioniere der Tierethik gilt – als leidensfähi- schreibt, als »unerschütterliche[n] Friede[n], [...] tiefe
ge Wesen ebenso als Objekte der moralischen Rück- Ruhe und innige Heiterkeit« (W I, 461).
sichtnahme zu gelten haben wie Menschen. Hieran Auch das Verhältnis der Ethik im engeren zur Ethik
knüpft in neuerer Zeit z. B. Ursula Wolf in ihrer Kon- im weiteren Sinne ist nicht frei von Spannungen. Die
zeption des generalisierten Mitleids an (vgl. Wolf Lehre von der Willensverneinung geht aus der Tu-
1990, Kap. III. 6, 7). gendlehre einerseits zwanglos hervor, denn Willens-
Auch für die gegenwärtige moralphilosophische verneinung wird als eine weitergehende Folge jener
Diskussion ist Schopenhauers Tugendlehre noch von Durchschauung des Individuationsprinzips verstan-
Interesse. Dabei bemüht man sich, ihre Grundideen den, die schon die Möglichkeit des Mitleids erklärt
so zu formulieren, dass sie auch unabhängig von wil- hatte. Sie ist insofern eine Steigerung der Moralität:
lensmetaphysischen Prämissen akzeptabel sind. Die Werden jemandem die Grenzen zwischen Ich und
These, dass gutes Handeln sich an dem Ausmaß be- Nicht-Ich nicht nur teilweise, sondern vollkommen
misst, in dem der Handelnde das Individuationsprin- durchsichtig, so »folgt« nach Schopenhauer »von
zip zu durchschauen vermag, kann z. B. im Sinne des selbst«, dass er nicht nur Mitleid empfinden, sondern
metaethischen Prinzips verstanden werden, dass mo- den Willen verneinen wird (vgl. W I, 447). Anderer-
ralische Urteile aus begriffslogischen Gründen uni- seits besteht zwischen Mitleid und Willensverneinung
versalisierbar sind und ihre Gültigkeit daher un- ein Gegensatz: Während der Mitleidige das Leiden des
abhängig von individuellen Rollenverteilungen ist. anderen zu mildern bemüht ist, gilt dies für den den
Für Konzeptionen, die sich auf ein solches Prinzip be- Willen verneinenden Asketen nicht. Vielmehr verhält
rufen, spielt auch der von Schopenhauer als Mitleid er sich, da er gar nichts mehr will, indifferent gegen-
beschriebene Empathievorgang eine bedeutende Rol- über dem Leiden des anderen und ist – hierin dem
le. Anders als bei Schopenhauer wird dieser jedoch Egoisten verwandt – auf seinen eigenen Zustand bezo-
meist nicht als Identifikationsvorgang im wörtlichen gen, da er, Genüsse verabscheuend, einen Zustand der
Sinne, also als Übernahme der Leiden des anderen – Freiheit von allem Wollen, der mit einem Zustand der
der dann mit dem Mitleidenden metaphysisch iden- Leidensfreiheit zusammenfällt, anstrebt.
tisch sein muss – aufgefasst, sondern so, dass wir, um Das Verständnis der Willensverneinungslehre wird
Zugang zu den Leidenszuständen des anderen zu fin- dadurch erschwert, dass mit »Willensverneinung« bei
den, in propria persona Präferenzen ausbilden müs- Schopenhauer kein einheitliches Phänomen bezeich-
sen, die denen des anderen an Intensität entsprechen net wird (vgl. Koßler 2014). Der Ausdruck bezeichnet
(vgl. Hare 1992, Kap. 5). Darüber hinaus ist Schopen- sowohl – und dies primär – einen Zustand, in dem al-
hauers Mitleidsethik für Probleme der modernen Me- les Wollen überwunden ist, als auch eine Praxis der
dizinethik fruchtbar gemacht und mit neueren rekon- Willensverneinung. Zum Zustand der Willensvernei-
struktivistischen Ansätzen verbunden worden (vgl. nung führen nach Schopenhauer zwei Wege: erstens
Birnbacher 1990). die aus der Durchschauung des Individuationsprin-
zips resultierende reine Erkenntnis des Leidens (vgl.
W I, 447) und zweitens – weit häufiger – die Erfah-
Willensverneinung
rung eigenen Leidens (vgl. W I, 463 f.). In Bezug auf
Schopenhauers praktische Philosophie umfasst eine den ersten Weg behauptet Schopenhauer, dass der das
»Ethik im engeren« und eine »Ethik im weiteren Sin- Individuationsprinzip gänzlich Durchschauende alle
ne« (vgl. Cartwright 1999, 252 f.). Erstere ist identisch Lebewesen als Objektivationen des Willens, somit als
mit der Tugendlehre, letztere umfasst die in den leidend erkennen wird, so dass er die Leiden der ande-
§§ 68–71 des Hauptwerks entfaltete Soteriologie. In ren als seine eigenen betrachten und den Willen zum
90 II Werk

Leben verneinen wird. Zur Plausibilisierung der The- Zu fragen ist auch, wie sich der Freiheitsspielraum,
se, dass dieser Übergang »von selbst folgt«, wäre aller- der in der Willensverneinung zum Ausdruck zu kom-
dings auch hier eine genauere Explikation des Er- men scheint, mit der Lehre von der Totaldeterminati-
kenntnisbegriffs erforderlich. Ohne den Nachweis, on des Willens im Bereich der Erscheinungen verein-
dass und wie diese Erkenntnis handlungsmotivierend baren lässt. Wieso können wir überhaupt den Willen
sein kann, liegt folgender Einwand nahe: Weder muss, verneinen, wo doch Schopenhauer für die These plä-
wer erkennt, dass die anderen leiden, sich deren Lei- diert, dass jede Handlung ein notwendiges Produkt
den notwendig zu eigen machen – er könnte sie wei- von Motiv und Charakter ist? Schopenhauer beant-
terhin als Erscheinungen und ihre Leiden als ihm wortet diese Frage mit dem Hinweis darauf, dass es im
selbst nicht zugehörig betrachten –, noch muss, wer Falle der Willensverneinung nicht zu einer Änderung,
sich die Leiden der anderen zu eigen macht, diese des- sondern zu einer »gänzlichen Aufhebung des Charak-
wegen verneinen, denn auch die Übernahme der Lei- ters« (W I, 477) käme. Damit ist gemeint, dass Wil-
den des anderen schließt keinesfalls eine Bejahung des lensverneinung nicht auf die Wirkung bestimmter
Leidens und damit des Lebens aus (vgl. Hallich 1998, Motive, sondern darauf zurückzuführen ist, dass ein
32–34). Auch der zweite geschilderte Übergang zum Zustand erreicht wird, in dem Motive grundsätzlich
Zustand der Willensverneinung beruht auf psycho- nicht mehr wirksam werden. Das ›Quietiv‹, als das die
logischen Kontingenzen und hat, wie Schopenhauer Einsicht in das Leiden oder dessen Erfahrung wirken
selbst betont, nicht den Charakter eines notwendigen soll, ist kein Motiv einer bestimmten Art, sondern gar
Übergangs (vgl. W I, 467): Infolge des eigenen Leidens kein Motiv. Diese Aufhebung des Charakters aber geht
kann eine Willensverneinung (die dann gar nicht auf nicht vom Willen des Individuums aus, sondern viel-
Tugendhaftigkeit als vorhergehende Stufe angewiesen mehr von einer veränderten Erkenntnisweise, eben
ist) erreicht werden, muss es aber nicht. der Durchschauung des Individuationsprinzips. Da-
Bezieht man sich auf Willensverneinung nicht als her ist die Möglichkeit der Willensverneinung mit der
Zustand, sondern als Praxis der Askese, so fällt auf, deterministischen Annahme der Unausweichlichkeit
dass diese von Schopenhauer als ein durchaus aktiver der Handlungen bei gegebenem Motiv und Charakter
Prozess geschildert wird, als eine »vorsätzliche Bre- kompatibel: Kommt es zur Willensverneinung, ist die
chung des Willens« (W I, 463), bei der der Asket seine Voraussetzung dafür, dass Motive überhaupt wirken
eigenen Begierden »absichtlich« (W I, 451) unter- können, aufgehoben.
drückt und einen »beständigen Kampf mit dem Wil- Allerdings wird das Problem, wie Willensvernei-
len zum Leben« (W I, 463) zu führen hat. Dies zieht nung möglich ist, damit nur auf die Frage verschoben,
das Problem eines Widerspruchs zwischen Willenlo- wie jene veränderte Erkenntnisweise möglich ist, in de-
sigkeit und Motivation nach sich: Wieso kann der As- ren Folge es zur Aufhebung des Charakters als Ganzem
ket – da er nichts mehr will – dieses Nicht-mehr-Wol- kommt. Zur Beantwortung dieser Frage greift Scho-
len wollen? Schopenhauer reagiert hierauf, indem er penhauer auf religiöse, aus dem Fundament christli-
das in der Askesis zum Ausdruck kommende Wollen cher Erlösungslehre geschöpfte Topoi zurück. Die Ver-
entindividualisiert: Im Wollen des den Willen Vernei- änderung der Erkenntnisweise sei nur als eine »Wie-
nenden zeige sich die Freiheit des metaphysischen dergeburt« und eine Art der »Gnadenwirkung« ver-
Willens, des Dings an sich, welche hier ausnahmswei- stehbar, analog dazu, dass in der christlichen Heilslehre
se in die Erscheinung trete (vgl. W I, 467, 476). In der der die Erlösung ermöglichende Glaube als »Werk der
Willensverneinung wendet sich demnach der meta- Gnade« (W I, 477 f.) aufgefasst würde. Entgegen Scho-
physische Wille gegen sich selbst. Auch diese Kon- penhauers eigenen abschwächenden Bemerkungen hat
struktion ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, die Inanspruchnahme theologischer Motive, insbeson-
denn dass der Wille sich gegen sich selbst wendet, un- dere des Motivs der Gnade, im Rahmen der Lehre von
terstellt zum einen eine Intentionalität des metaphysi- der Willensverneinung nicht nur illustrative Funktion
schen Willens, die seiner Charakterisierung als nicht und geht über eine bloße Analogie hinaus (vgl. Malter
intentional gerichtet widerspricht; zum anderen wird 1991, 414 f.). Ohne den Bezug auf die Gnadenwirkung
der Widerspruch zwischen der Willenlosigkeit des wäre die Möglichkeit einer veränderten Erkenntnis-
Asketen und seinem Wollen dadurch kaum aufgeho- weise, somit auch die der Willensverneinung, über-
ben, denn es ist immer noch das Individuum, nicht haupt nicht verständlich. In der Angewiesenheit der
der Wille als Ding an sich, das den »beständigen philosophischen Soteriologie Schopenhauers auf die
Kampf der Verneinung« zu kämpfen hat. theologische Kategorie der Gnadenwirkung kann man
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 91

ein Indiz dafür sehen, dass Schopenhauers Erlösungs- dass, was nach der Aufhebung der Welt der Erschei-
lehre mit der christlichen konvergiert, zumindest mit nungen übrig bleibt, für den den Willen Bejahenden
ihr kompatibel ist (zu Differenzen zwischen der Scho- ›nichts‹ sei, zweitens, dass die Welt der Erscheinungen
penhauerschen und der christlichen Ethik und ihren für den den Willen Verneinenden ›nichts‹, d. h. nicht
Gemeinsamkeiten vgl. grundlegend Koßler 1999; zum mehr von Bedeutung, kein Objekt seines Willens mehr
Erlösungsbegriff bei Schopenhauer vgl. auch Sauter- sei. Keine dieser Verwendungsweisen rechtfertigt es
Ackermann 1994). Verlangt man allerdings, dass die aber, Schopenhauer als einen Nihilisten zu bezeich-
Lehre von der Willensverneinung auch ohne Rekurs nen, jedenfalls dann nicht, wenn man etwa die später
auf Bestandteile der christlichen Erlösungslehre kon- von Nietzsche formulierte Bestimmung von ›Nihilis-
sistent erläuterbar sein muss, so wird man hierin einen mus‹ zugrunde legt, der zufolge Nihilismus bedeutet,
Ausdruck der Aporie sehen, in den die Willensvernei- dass »die obersten Werthe sich entwerthen« (KSA 12,
nungslehre schließlich gerät. 350): »es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das
Eine weitere Schwierigkeit der Willensverneinungs- ›Warum?‹« (ebd.). Da die Aufhebung des Willens bei
lehre betrifft die Frage, ob diese sich mit Schopenhau- Schopenhauer als letzte und höchste Stufe eines Erlö-
ers Ablehnung des Suizids (vgl. W I, § 69) in Einklang sungsprozesses verstanden wird und die Willensver-
bringen lässt oder letztere nicht vielmehr als der Ver- neinungslehre insofern gerade eine Antwort auf das
such angesehen werden muss, der letzten Konsequenz ›Warum?‹ formuliert, ist Schopenhauer zumindest in
des eigenen Systems, nämlich einer Empfehlung des diesem Sinne von ›Nihilismus‹ kein Nihilist.
Suizids, auszuweichen. Zwar übernimmt Schopenhau-
er Humes Zurückweisung der traditionellen metaphy- Literatur
sisch-theologischen Argumente gegen den Suizid, Benatar, David: Better never to Have Been. The Harm of
lehnt aber die Selbsttötung aus willensmetaphysischen Coming into Existence. Oxford 2006.
Birnbacher, Dieter: Schopenhauers Idee einer rekonstrukti-
Gründen ab: Da der Suizident, verzweifelt über seine ven Ethik (mit Anwendungen auf die moderne Medizin-
Lebensumstände, sich vom Bild eines glücklichen Le- Ethik). In: Schopenhauer-Jahrbuch 71 (1990), 26–44.
bens, das ihm allerdings unerreichbar sei, leiten lasse, Birnbacher, Dieter: Schopenhauer. Stuttgart 2009.
sei seine Handlung – weit entfernt davon, das Leben zu Cartwright, David E.: Schopenhauer’s Narrower Sense of
verneinen – gerade ein Ausdruck der Willensbeja- Morality. In: Janaway 1999, 252–292.
Gemes, Ken/Janaway, Christopher: Schopenhauer and
hung. Diese Ausgrenzung suizidaler Handlungen aus
Nietzsche on Pessimism and Asceticism. In: Vandenabeele
dem Bereich der Willensverneinung ermöglicht es 2012, 280–299.
zwar, die Lehre von der Willensverneinung aufrecht- Hallich, Oliver: Mitleid und Moral. Schopenhauers Leidens-
zuerhalten, ohne hieraus eine Empfehlung des Suizids ethik und die moderne Moralphilosophie. Würzburg 1998.
ableiten zu müssen, ist aber mit dem Preis erkauft, dass Hare, Richard: Moralisches Denken: seine Ebenen, seine
Schopenhauer nur einen Teilbereich suizidaler Hand- Methode, sein Witz. Frankfurt a. M. 1992.
Hauskeller, Michael: Vom Jammer des Lebens. Einführung in
lungen erfasst, da er dem Suizidenten eine Motivlage Schopenhauers Ethik. München 1998.
unterstellen muss, die dieser zwar haben kann und Hoerster, Norbert: Zur Verteidigung von Schopenhauers
häufig haben wird, aber keinesfalls notwendig haben Straftheorie der Generalprävention. In: Schopenhauer-
muss: Warum eine Suizidhandlung nicht z. B. aus einer Jahrbuch 53 (1972), 101–113.
bloßen Einsicht in die Vergeblichkeit menschlichen Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen
Verstand. Hamburg 1984 (engl. 1748).
Strebens oder als Bilanzsuizid begangen werden kann,
Jacquette, Dale: Schopenhauer on Death. In: Janaway 1999,
bleibt unklar. 293–317.
Angesichts der teleologischen Struktur der Lehre Janaway, Christopher (Hg.): The Cambridge Companion to
von der Willensverneinung – die diese als Zweck und Schopenhauer. Cambridge 1999.
Kulminationspunkt des menschlichen Daseins auffasst Janaway, Christopher: Schopenhauer’s Pessimism. In: Ders.
– ist Zurückhaltung gegenüber der Bezeichnung Scho- 1999, 318–343 [1999a].
Keil, Geert: Willensfreiheit. Berlin/New York 2007.
penhauers als eines ›Nihilisten‹ angebracht. Diese Ein-
Koßler, Matthias: Empirische Ethik und christliche Moral.
stufung wird durch den Abschlussparagraphen des Zur Differenz einer areligiösen und einer religiösen Grund-
Hauptwerks, in dem das Wort ›Nichts‹ eine prominen- legung der Ethik am Beispiel der Gegenüberstellung Scho-
te Rolle spielt, durchaus nahegelegt. Nachdem Scho- penhauers mit Augustinus, der Scholastik und Luther.
penhauer hier an die Relativität des Ausdrucks ›nichts‹ Würzburg 1999.
erinnert hat (vgl. hierzu Lütkehaus 1999, 627–635), Koßler, Matthias: Die Philosophie Schopenhauers als Erfah-
rung des Charakters. In: Dieter Birnbacher/Andreas
formuliert er mit dessen Hilfe zwei Thesen: erstens,
92 II Werk

Lorenz/Leon Miodonski (Hg.): Schopenhauer im Kontext. dersetzung mit der kantischen vorausgesetzt wird,
Deutsch-polnisches Schopenhauer-Symposion 2000. Würz- aber auch deren »bedeutende Fehler« (W I, XI) be-
burg 2002, 91–110. rücksichtigt werden müssen, wird die Lektüre des An-
Koßler, Matthias: Schopenhauers Soteriologie (WI §§ 68–­
71). In: Matthias Koßler/Oliver Hallich (Hg.): Arthur
hangs sogar vor derjenigen der Welt als Wille und Vor-
Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung stellung nahegelegt. Diese Vorgehensweise lässt kei-
(= Klassiker Auslegen, Bd. 42). Berlin 2014. nen Zweifel daran, dass Kants Philosophie Schopen-
Lütkehaus, Ludger: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der hauer entscheidend geprägt hat (s. auch Kap. 17) – ob
Angst. Zürich 1999. sein eigenes Denken nun von ihr aus- oder über sie
MacKay, Donald M.: Freiheit des Handelns in einem mecha-
hinausgeht, auf ihr aufbaut oder sie widerlegt.
nistischen Universum. In: Pothast 1978, 303–321.
Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphi- In den ersten einleitenden Bemerkungen des An-
losophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cann- hangs behauptet Schopenhauer, »unmittelbar an ihn
statt 1991. [Kant] anknüpfen« zu müssen, weil die »wirkliche
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienaus- und ernstliche Philosophie noch da steht, wo Kant sie
gabe in 15 Bänden [1967 ff.]. Hg. von Giorgio Colli und gelassen hat« (vgl. W I, 493), es seither also keine
Mazzino Montinari. München 1999 [KSA].
Pothast, Ulrich (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determi-
ernstzunehmende Entwicklung des Denkens gegeben
nismus. Frankfurt a. M. 1978. habe. Die Tatsache, dass der junge Denker sich selbst
Ryle, Gilbert: Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1969 (engl. als den Philosophen betrachtet, der den ›großen‹ Kant
1949). zu Ende denkt – ungeachtet des vergleichbaren An-
Sauter-Ackermann, Gisela: Erlösung durch Erkenntnis? Stu- spruchs der berühmten Kollegen des deutschen Idea-
dien zu einem Grundproblem der Philosophie Schopenhau-
lismus, Fichte und Hegel –, bildet den Hintergrund
ers. Cuxhaven 1994.
Soll, Ivan: Schopenhauer on the Inevitability of Unhappi- dieses ungewöhnlichen Rahmens seines Hauptwer-
ness. In: Vandenabeele 2012, 300–313. kes. Allein dadurch werden die in allen Schriften auf-
Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. zufindenden Lobpreisungen der Leistungen Kants re-
1993. lativiert, auch wenn die »Kritik der Kantischen Phi-
Vandenabeele, Bart (Hg.): A Companion to Schopenhauer. losophie« noch vom »größten Verdienst« (W I, 494)
Oxford 2012.
im Bereich der Erkenntnistheorie ausgeht. Der größte
Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral. Frankfurt a. M. 1990.
Teil der Schopenhauerschen »Kritik« bezieht sich in-
Oliver Hallich folgedessen auf Kants Kritik der reinen Vernunft, in
der zwar bahnbrechende Einsichten vorgelegt worden
seien, diese aber entscheidender Korrekturen bedürf-
6.7 »Kritik der Kantischen Philosophie« ten. Richtigstellungen und kritische Kommentare be-
zogen auf die beiden weiteren Kritiken Kants, die der
Schopenhauer schließt sein Hauptwerk Die Welt als praktischen Vernunft und der Urteilskraft, nehmen
Wille und Vorstellung (= WWV) mit einem Anhang nur ein knappes Fünftel des Anhangs ein. Schopen-
ab, der »Kritik der Kantischen Philosophie«, den er hauers detaillierte kritisch-polemische Auseinander-
bereits in der »Vorrede« zur ersten Auflage der WWV setzung mit Kants Ethik findet erst in der moralphi-
von 1818 ankündigt. Dort werden von dem jungen losophischen Schrift »Preisschrift über die Grundlage
selbstbewussten Autor drei Forderungen an die Leser der Moral« statt (s. Kap. 8.2).
erörtert: erstens, das vorliegende Werk zwei Mal zu le- Auf wenigen Seiten zu Beginn erörtert Schopen-
sen, zweitens, die Dissertation Ueber die vierfache hauer Kants Verdienste, beginnend mit dem größten,
Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde und drit- der erkenntnistheoretischen Einsicht, dass die Er-
tens, Kants Hauptschriften gründlich studiert zu ha- scheinung vom Ding an sich zu unterscheiden ist (vgl.
ben. Dass Schopenhauer der Auseinandersetzung mit W I, 494), und schließend mit der Konsequenz dieser
der kantischen Philosophie im Anschluss an die Prä- Unterscheidung für die praktische Philosophie, die
sentation des eigenen philosophischen Systems ein in »ethische Bedeutsamkeit der Handlungen« von der
sich beschlossenes Schriftstück von mehr als 100 Sei- Erscheinung und der naturgesetzlichen Kausalität zu
ten widmet, begründet er in der »Vorrede« damit, trennen (vgl. W I, 503). Es wird sich im weiteren Ver-
»nicht [die] eigene Darstellung durch häufige Polemik lauf des Anhangs zeigen, dass sich nahezu alle Kritik-
gegen Kant zu unterbrechen und zu verwirren« (W I, punkte auf – aus Schopenhauers Sicht – falsche Folge-
XII). Insofern von Schopenhauer zum Verständnis rungen Kants aus dieser grundlegenden transzenden-
seiner eigenen Philosophie die intensive Auseinan- talphilosophischen Einsicht zurückführen lassen. Der
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 93

Text selbst ist in nicht weiter gekennzeichnete, unbe- auf die Kant zurückgreifen konnte. Doch neu und ori-
titelte Abschnitte gegliedert, im Überblick ergibt sich ginell sei der Nachweis aus der Analyse der Erkennt-
folgende Struktur: Auf eine kurze Einleitung (W I, nisvermögen selbst, dass aus den Gesetzen der Erfah-
491–494) folgt das Hervorheben der Verdienste Kants, rung das Dasein weder abgeleitet noch erklärt werden
der sich nach einer kurzen Überleitung zu den Fehlern kann, dass diese Gesetze und die aus ihnen verstande-
die Kritik des Grundgedankens, bzw. der falschen ne natürliche Welt vielmehr »als durch die Erkennt-
Schlussfolgerungen daraus, nach systematischen As- nißweise des Subjects bedingt« verstanden werden
pekten geordnet anschließt. Die Durchführung der müssen (W I, 498). Damit ist das Fundament gelegt
Kritik erfolgt danach mit Bezugnahme auf die Kritik für die kritische, bzw. Transzendentalphilosophie, de-
der reinen Vernunft, geordnet nach deren Schwer- ren Untersuchung die dogmatischen Prinzipien der
punkten. Schopenhauer beginnt mit dem ihm zufolge traditionellen Philosophie, d. h. die veritates aeternas,
gelungenen Teil, der Transzendentalen Ästhetik, kom- als Ausdruck subjektiver Formen des Erkennens ent-
mentiert dann die Irrtümer der Analytik, sich konzen- larvt und über diese hinausführt: Das, was wir für die
trierend auf die Kategorientafel und die Deduktion objektive Welt halten, erkennen wir, bedingt durch die
der reinen Verstandesbegriffe insgesamt; zusammen apriorischen Formen unseres Verstandes, nur wie sie
mit einem kleineren Absatz zur Beharrlichkeit der uns erscheint, nicht wie sie an sich ist. Soweit das
Substanz bildet dieser Abschnitt den Schwerpunkt des »größte Verdienst«.
Anhangs. Es folgt ein systematischer Einschub zu den Auch wenn Kant, so Schopenhauer weiter, nicht
Formen des Denkens, wodurch Schopenhauer zu sei- zur Erkenntnis gelangt sei, »daß die Erscheinung die
ner Analyse der »Transzendentalen Dialektik« in der Welt als Vorstellung und das Ding an sich der Wille
Kritik der reinen Vernunft überleitet. Er kritisiert in sei« (W I, 499), habe er die Moralität des Menschen als
verhältnismäßig kurzen Abschnitten Kants unbeding- von der erscheinungshaften Welt zu trennen dar-
ten Vernunftbegriff, seine Ideenkonzeption, die Anti- gestellt, »als etwas, welches das Ding an sich unmittel-
nomien sowie das transzendentale Ideal und kom- bar berühre« (W I, 500). Das wird als zweiter Aspekt
mentiert kurz die kantische Widerlegung der spekula- der verdienstvollen Einsicht gewürdigt. Der dritte be-
tiven Theologie. Der Anhang wird beschlossen mit steht nach Schopenhauer darin, durch den Verzicht
Schopenhauers kritischen Bemerkungen zum Begriff auf »ewige Wahrheiten« der spekulativen Theologie
der praktischen Vernunft, wie ihn Kant in der Kritik und der rationalen Psychologie jegliche Grundlage
der praktischen Vernunft entwickelt, zur Ethik, ins- entzogen zu haben; Kants Lehre der Unterscheidung
besondere der Rechtslehre, die Kant in der Metaphysik von Erscheinung und Ding an sich habe einem in
der Sitten vorstellt, und schließlich einem kurzen der Philosophie verbreiteten, jahrhundertelang wirk-
Kommentar zur Kritik der Urteilskraft. – Die folgende samen wahnhaften und falschen Realismus erfolg-
Darstellung einzelner Aspekte und Argumente der reich eine »idealistische Grundansicht« entgegen-
»Kritik der Kantischen Philosophie« orientiert sich an gesetzt, der zufolge die Dogmen der traditionellen
dieser Struktur. Metaphysik als unhaltbar und unbeweisbar anzuse-
Auf den ersten Seiten erläutert Schopenhauer die hen sind. Das impliziert auch die Entwertung meta-
Absichten, die er mit dem Anhang verfolgt, der »ei- physischer Begriffe, die im Rahmen der Ethik verwen-
gentlich nur eine Rechtfertigung« der eigenen Lehre det wurden (insbesondere den der Vollkommenheit),
sei, insofern diese »in vielen Punkten« zu Kants Phi- als »Gerede« und »gedankenleere Worte« (W I, 503).
losophie im Widerspruch steht (vgl. W I, 492). Um Ebenso wenig wie die Gesetze der Erscheinungswelt
nicht undankbar oder gar bösartig zu erscheinen, zu metaphysischen Wahrheiten erhoben werden kön-
schicke er der durchaus notwendigen, da ernsthafter nen, darf die Bedeutung moralischen Handelns nach
und angestrengter Wahrheitssuche geschuldeten »Po- Maßgabe der Erscheinung und ihrer Gesetze beurteilt
lemik gegen Kant« eine Würdigung der Verdienste des werden. Damit erneut auf das zweite Verdienst Bezug
»Riesengeistes« (W I, 493) voraus. nehmend schließt Schopenhauer seine Darstellung
Die »Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge der positiven Aspekte der kantischen Transzendental-
an sich« aufgrund der Unterscheidung der Erkenntnis philosophie ab – um sich mit der ihm eigenen Polemik
a priori von derjenigen a posteriori wird zwar als ihren Mängeln und Fehlern zuzuwenden. Diese lassen
»Kants größtes Verdienst« bezeichnet (W I, 494), zu- sich in formaler Hinsicht kurz zusammenfassen: Da
gleich aber auch relativiert als eine Bestätigung und Kant kein vollständiges System entwickelt habe, muss-
Erweiterung von Erkenntnissen Lockes und Humes, te seine Philosophie »negativ und einseitig« bleiben
94 II Werk

und »die größte Revolution in der Philosophie« letzt- den 4 × 3 Kategorien abgeleitet. Die Symmetrie dieser
lich scheitern, was die Philosophiegeschichte deutlich Tafel wiederholt sich auf verschiedenen Ebenen: Die
belege (W I, 505 f.). Tätigkeit des Verstandes, seine Begriffe (die ihn struk-
Inhaltlich besteht der grundlegende Fehler Kants turierenden apriorischen Kategorien) auf die Sinn-
darin, die Metaphysik, die das Wesen der Welt erken- lichkeit anzuwenden, soll die Erfahrung und deren
nen und verständlich machen will, kategorisch von Grundsätze a priori erklären. Die Tätigkeit der Ver-
der Erfahrung, d. h. der Weise unseres Zugangs zur nunft, ihre Schlüsse auf die Verstandesbegriffe an-
Welt, zu trennen. Schopenhauer folgert, dass die Er- zuwenden, bringt Vernunftbegriffe oder Ideen hervor,
kenntnis der Welt und des Daseins aus etwas von die- den drei Modi des relationalen Schließens entspre-
sen Verschiedenem hervorgehen muss, wenn sie nicht chen die drei transzendentalen (traditionell metaphy-
aus empirischen Quellen stammt; ein derart gewon- sischen) Ideen Seele, Welt und Gott. Gemäß den vier
nenes Selbst- und Weltverständnis ist damit nicht un- Titeln der Kategorien lassen sich vier Thesen über die
mittelbar und gewiss, sondern mittelbar und aus abge- Welt und die jeweiligen Antithesen aufstellen.
leiteten Begriffen erschlossen. Schopenhauer zufolge Die polemisch vorgestellten Ableitungen beruhen
ist gerade »die innere und äußere Erfahrung«, die auf Kants Konzeption von Verstand und Vernunft –
Kant aus der Metaphysik ausschließt, die »Hauptquel- Schopenhauer fasst zusammen: Beide sind Denk- und
le aller Erkenntniß« (W I, 507). Eine »Lösung des Urteilsvermögen. Ist der Grund des Urteils empirisch,
Räthsels der Welt« ist daher nicht von einer Metaphy- transzendental oder metalogisch, ist es vom Verstand
sik zu erwarten, die mit Erkenntnis a priori gleichge- hervorgebracht; ein rein logisches Urteil – so die De-
setzt wird, sondern es bedarf vielmehr einer Philoso- finition des Schlusses – ist Sache der Vernunft. Der Ver-
phie, die erklären kann, wie äußere und innere Erfah- stand verfährt nach Regeln, die Vernunft nach Prinzi-
rung verknüpft sind, d. h. wie aus der formalen Struk- pien. All diese Bestimmungen, die durch zahlreiche Zi-
tur unseres Erkenntnisapparates und dem der äußeren tate aus der Kritik der reinen Vernunft belegt werden,
Erfahrung zugänglichen ›Material‹ das ›richtige‹ Ver- hält Schopenhauer für irreführend, die Sache verdun-
ständnis der Welt erlangt werden kann. Was Schopen- kelnd, ja, willkürlich; denn ihre Bedeutung ist rein be-
hauer fordert, ist eine neue Auffassung von ›Metaphy- grifflich, besteht in Worten und Wortverbindungen.
sik‹ als erfahrungsbasierter philosophischer Weltdeu- Darüber, »wie [...] die empirische Anschauung ins Be-
tung. Diesem Anspruch kann Kants Konzeption der wußtseyn kommt« (W I, 511), wird nichts ausgesagt.
Metaphysik als ›reine‹, rationale Philosophie, die per Die Hauptabschnitte der Schopenhauerschen »Kri-
definitionem erfahrungsunabhängig sein muss, nicht tik an der Kantischen Philosophie« sind daher der
genügen. Es scheint für Schopenhauer nicht nachvoll- »Transscendentalen Ästhetik« und der »Transscen-
ziehbar, wieso Kant trotz der Unterscheidung von We- dentalen Analytik« gewidmet, wobei die Lehre von
sentlichem und Erscheinungshaftem, Ding an sich den apriorischen Anschauungsformen gewürdigt
und Erscheinung, übersieht, dass der Zugang zum in- wird, auch wenn die Ableitung des Dinges an sich
nersten Wesen des Daseins nur über die (nicht über nach Schopenhauer fehlerhaft ist. Die Analytik der
der) Welt, die wir wahrnehmen, nicht jenseits der Er- Verstandesbegriffe sowie ihre Deduktion, die Katego-
fahrung zu suchen ist. rienlehre, finden vor ihm keine Gnade. Seinem eige-
Daraus ergeben sich für die Vorgehensweise ebenso nen philosophischen Anspruch nach müssten die
wie für die daraus folgende Argumentationsstruktur Wahrnehmungslehre und die Begriffsanalytik ver-
notwendige Konsequenzen, die Kant ignoriere: Die bunden werden, und wie im ersten Buch der WWV
Fragen nach der Eigenart von Anschauung und Refle- dargelegt, ist die Kausalitätskategorie (als die einzig
xion, nach den Funktionen von Verstand und Ver- sachlich begründete) in die Lehre von den reinen An-
nunft wurden nicht gestellt, die Untersuchung und schauungsformen Zeit und Raum zu integrieren, um
Abgrenzung von intuitiver und abstrakter Erkenntnis das Entstehen der materialen empirischen Anschau-
nicht vorgenommen. Stattdessen, so Schopenhauers ung zu erklären. Dass Kant die Genese der Wahrneh-
Deutung, folgt Kant zum Teil unbesonnen – man mung, das heißt die Verbindung von äußerer und in-
möchte sagen: unbewusst – seiner Vorliebe zur Sym- nerer Erfahrung, gar nicht thematisiert, sondern mit
metrie, eine »ganz individuelle Eigenthümlichkeit des der Aussage übergeht, der empirische Inhalt der An-
Geistes Kant« (W I, 509). Einem formalen Ordnungs- schauung sei »gegeben«, wird wiederholt moniert. So
streben ist die Urteilstafel, die »logische Grundlage ist für Schopenhauer schon die Trennung einer Wahr-
seiner ganzen Philosophie«, geschuldet, von ihr wer- nehmungslehre, wie sie in der »Transzendentalen Äs-
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 95

thetik« dargelegt wird, von einer Begriffslehre wie die ben keinen Zweck; als reine (formale, also inhaltslose)
der »Transzendentalen Analytik« ein fataler Irrtum – Verstandesbegriffe können sie die eigentliche Funk-
ist es doch die Kausalitätserkenntnis des Verstandes, tion von Schemata nicht erfüllen, den materialen In-
die eine Erklärung der Entstehung von Wahrneh- halt von Begriffen denkend zu strukturieren, wozu sie
mung bzw. Erfahrung im Ausgang vom unmittelbaren von der empirischen Anschauung abstrahiert werden
Bewusstsein einer Gegenstandswelt ermöglichen soll. müssten.
Der Schwerpunkt der Kritik, die Schopenhauer an Insofern Kant die völlige Unabhängigkeit der Kate-
der Transzendentalen Ästhetik übt, setzt genau dort gorien von erfahrbaren Objekten fordert, ist aus Scho-
an: Es ist Kant vorzuwerfen, dass er die Intellektualität penhauers Perspektive grundsätzlich nicht nachvoll-
der Anschauung leugnet. Bereits in der Anschauung – ziehbar, dass die Annahme von derartigen Schemata
und nicht durch etwas zu ihr hinzu Gedachtes – sind – die etwas anderes sein sollen als »Repräsentanten
die Gegenstände gegeben, die Kant dem Denken zu- unserer wirklichen Begriffe durch die Phantasie«
schreibt (vgl. W I, 524 f.). Kants Aussage wird zitiert, (W I, 534) – irgendeinen Nutzen für die Erfahrungs-
dass etwas »wenn gleich nicht angeschauet, dennoch erkenntnis haben könnte. In folgendem Satz, dessen
als Gegenstand überhaupt gedacht« (KrV, B 125) wer- Anfang berühmt ist und oft zitiert wird, fasst Scho-
den könne; für Schopenhauer zeigt sich in der Annah- penhauer als Konsequenz seiner Kritik an Kant den
me eines solchen »absoluten Objekts«, das durch den eigenen Standpunkt zusammen:
denkenden Verstand erst konstituiert wird und durch
die Hinzufügung der apriorischen, begrifflichen Kate- »Ich verlange demnach, daß wir von den Kategorien elf
gorien die objektive Welt bedingt, »ein altes, eingewur- zum Fenster hinauswerfen und allein die Kausalität
zeltes, aller Untersuchung abgestorbenes Vorurtheil in behalten, jedoch einsehn, daß ihre Thätigkeit schon
Kant« (WI, 524). die Bedingung der empirschen Anschauung ist, wel-
Die empirische Realität oder Erfahrung entsteht che sonach nicht bloß sensual, sondern intellektual ist,
nach Schopenhauer dadurch, dass die Verstandes- und daß der so angeschaute Gegenstand, das Objekt
erkenntnis von Ursache-Wirkungsverhältnissen, also der Erfahrung, Eins sei mit der Vorstellung, von wel-
von Kausalität, schon auf die Sinnesempfindung ange- cher nur noch das Ding an sich zu unterscheiden ist«
wendet wird. Daraus ergibt sich auch die richtige Be- (W I, 531).
weisführung der (von Kant richtig erkannten, aber
falsch bewiesenen) Apriorität des Kausalitätsgesetzes, Die grundsätzliche Ablehnung der kantischen Wahr-
nämlich »aus der Möglichkeit der objektiven empiri- nehmungstheorie wird ausgedehnt zu einer umfas-
schen Anschauung selbst« (W I, 527). Durch seine senden Fehleranalyse, die die gesamte Erkenntnis-
Funktion der Kausalitätserkenntnis macht der Ver- theorie betrifft: Schopenhauer sieht als Quelle zahlrei-
stand aus dumpfen Empfindungen für uns verständli- cher Widersprüche der Transzendentalen Logik eine
che oder begreifbare Anschauung und konstituiert die unzulässige »Vermischung« der Erkenntnisarten,
Wirklichkeit, nicht indem er unter Anwendung von nämlich der anschaulichen und der abstrakten, oder
12 Kategorien die »in der Anschauung gegebenen« anders ausgedrückt, eine mangelnde Differenzierung
Dinge denkt, wodurch sie uns zu »Erfahrung« wer- der Vermögen und Funktionen von Verstand und
den. Der Gegenstand der Kategorien, in concreto das Vernunft, was entsprechend falsche Ableitungen und
angeschaute Einzelding, wird in abstracto als »absolu- die Verdunkelung von einfachen philosophischen
tes Objekt« oder »Objekt an sich« (nicht gleichzuset- Sachverhalten nach sich zieht. Vorgeführt wird das
zen mit dem Ding an sich) vorgestellt, das nicht An- z. B. an der »synthetischen Einheit der Apperception«,
schauung, also nicht in Zeit und Raum, aber auch kein die sich in dem kantischen Diktum »Das ›Ich denke‹
Begriff ist. Statt der begründeten Unterscheidung der muß alle meine Vorstellungen begleiten können« aus-
Vorstellung – anschaulich oder abstrakt – vom Ding drückt, und eine irreführende Identität von Vorstellen
an sich, werde, so Schopenhauers Vorwurf, von Kant und Denken, Anschauung und Begriff nahelege. Die
unberechtigterweise ein Drittes eingeschoben, und kategoriale Bestimmung von Urteilen durch Quanti-
Vorstellung, Gegenstand der Vorstellung und Ding an tät, Qualität, Relation und Modalität lehnt Schopen-
sich unterschieden. Der Grund dafür liegt nicht in der hauer mit detaillierten Argumenten als überflüssig
Sache, sondern in der – im Wortsinne gegenstands- und grundlos ab: All diese »Kategorien« lägen in der
losen und ebenfalls sachlich unbegründeten – Katego- Natur der abstrakten Begriffe, und die vorgenom-
rienlehre: Schemata der reinen Verstandesbegriffe ha- menen Differenzierungen der Begriffs- und Urteils-
96 II Werk

eigenschaften seien nur im Rückgriff auf die intuitive unmittelbare Wirklichkeitserkenntnis gewonnen wer-
Erkenntnis möglich, nicht aber umgekehrt ein Begrei- den kann.
fen der Erfahrung von der abstrakten Erkenntnis aus, Ein weiterer Ausdruck des kantischen Irrtums ist
wie Kant glaubte vorgehen zu müssen. Die angebli- die in der »Transzendentalen Dialektik« der Kritik der
chen Verstandesbegriffe beschreiben entweder als reinen Vernunft dargestellte Suche nach dem Unbe-
»Qualität« das völlige Getrenntsein der Begriffssphä- dingten, das dem »Vernunftprincip« folgend in syn-
ren durch Bejahung und Verneinung oder das partiel- thetischen Sätzen a priori erfassbar sein soll: Schopen-
le Getrenntsein und Ineinandergreifen der Begriffs- hauer bestreitet als »Unding«, dass die Vernunft in der
sphären als »Quantität«. Und die Formen der Urteile, Lage sein soll, erkenntniserweiternde Aussagen über
die Kant unter der Kategorie der Modalität anführt – etwas zu machen, das nicht erfahrbar ist. So wird aus
wie die problematische, assertorische oder apodikti- der transzendentalphilosophischen Reflexion über
sche Urteilsform – seien zweifelsohne von den jewei- die Vollständigkeit aller Bedingungen die Idee des Un-
ligen Begriffen des Möglichen, Wirklichen und Not- bedingten, die Idee Gottes, erklärt, aus der Totalität
wendigen hervorgebracht; in keinem der genannten der Erscheinungen die Idee der Welt mit den ihr eige-
Fälle handle es sich aber um apriorische Erkenntnis- nen Antinomien und aus der falschen Forderung nach
formen des Verstandes, sondern um Beschaffenheiten einem unbedingten Substanzbegriff die Idee der Seele.
von Begriffen, der »Hauptform« aller reflexiven, abs- Die kantische Vernunftkritik endet also wieder bei
trakten Erkenntnis der Vernunft. Besonderen Wert den traditionellen metaphysischen Disziplinen, der
legt Schopenhauer auf die kritische Analyse der Rela- Theologie, Kosmologie – und der (rationalen) Psycho-
tionskategorie, unter der drei völlig heterogene Be- logie, und ihren Gegenständen Gott, Welt und Ich
stimmungen von Urteilen zusammengefasst worden oder Seele, die zudem noch als »Ideen« bezeichnet
seien, die aber nichts anderes als »metalogische Prin- werden, verstanden als Produkte der Vernunft, die als
cipien« oder Denkgesetze zum Ausdruck brächten – solche mit Schopenhauers Ideenbegriff, dem von Pla-
das kategorische Urteil die Sätze der Identität und des ton entlehnten ›Original‹, völlig unvereinbar sind.
Widerspruchs, das disjunktive den Satz des Ausge­ Schopenhauer würdigt zwar in diesem Zusammen-
schlossenen Dritten und das hypothetische die »all- hang, dass Kant die rationale Psychologie auf einen
gemeinste Form aller unserer Erkenntnisse«, den Satz Fehlschluss (»Paralogismus«) der Vernunft zurück-
vom Grund selbst. Schopenhauer verweist in diesem führt und damit widerlegt, nimmt aber gerade diesen
Kontext darauf, dass seine Dissertation »als eine Abschnitt auch zum Anlass, zum wiederholten Mal
gründliche Erörterung der Bedeutung der hypotheti- auf den Qualitätsverlust in der zweiten Auflage der
schen Urtheilsform anzusehn« sei (W I, 542). Kritik der reinen Vernunft von 1787 im Vergleich zur
Schopenhauers Auseinandersetzung mit den von ersten von 1781 hinzuweisen (s. auch Kap. 17).
Kant als Kategorien des Verstandes falsch verstande- Den Abschluss der auf die Kritik der reinen Ver-
nen und zu einer Tafel systematisierten Aspekten einer nunft bezogenen Kommentare bildet die Problematik
rationalen Metalogik oder Abstraktionstheorie nimmt des Freiheitsbegriffes, dessen Ursprung Schopenhau-
in der »Kritik der Kantischen Philosophie« eine zen- er im Willen und dessen unmittelbarer Präsenz im
trale Stelle ein: Es liegt nun nämlich auf der Hand, dass menschlichen Bewusstsein sieht; Kant dagegen habe
die »grundlose« Kategorientafel nicht auch noch auf auch die Freiheit unnötigerweise zunächst als Idee der
die Naturwissenschaft und deren Grundsätze hätte an- spekulativen, dann der praktischen Vernunft er-
gewendet, oder gar deren Erkenntnisstruktur auf die schlossen, vergeblich zu beweisen versucht und letzt-
dialektisch verfahrende Vernunft hätte übertragen lich als notwendige Bedingung der Moralität gesetzt.
werden dürfen. Kants bereits für Verfahrensfehler ver- Bei aller Dankbarkeit für die Einsichten in die Un-
antwortlich gemachte Liebe zur Symmetrie lässt ihn – terscheidung von Ding an sich und Erscheinung sowie
so Schopenhauer – undifferenziert alle Dinge, ob phy- die Apriorität des Kausalitätsgesetzes – den Schwer-
sische oder moralische, durch die Brille der Katego- punkt der Schopenhauerschen Kritik bilden ungnädi-
rientafel sehen. Das führt nicht nur in der theoreti- ge Analysen von Kants Fehlern in Ableitungen und
schen, sondern auch in der praktischen Philosophie bis Beweisführung, die falschen Voraussetzungen und
hin zur Theorie des Geschmacksurteils in der Kritik der Prämissen geschuldet sind: »Er setzt nicht, wie es die
Urteilskraft zu falschen Ergebnissen als Konsequenz Wahrheit verlangte, einfach und schlechthin das Ob-
aus der falschen Grundannahme, dass aus abstrakten jekt als bedingt durch das Subjekt, und umgekehrt;
Verstandesbegriffen und abgeleiteten Denkgesetzen sondern nur die Art und Weise der Erscheinung des
6 Die Welt als Wille und Vorstellung 97

Objekts als bedingt durch die Erkenntnißformen des Literatur


Subjekts [...]« (W I, 596). Statt die unmittelbar erkann- Bäschlin, Daniel Lukas: Schopenhauers Einwand gegen Kants
te, in Zeit und Raum kausal geordnete Materie als Transzendentale Deduktion der Kategorien (= Zeitschrift
für philosophische Forschung, Beiheft 19). Meisenheim
wahr und wirklich zu akzeptieren, und den Willen als 1968 (Diss. Bern 1967).
das unmittelbar dem menschlichen Bewusstsein be- Baum, Günther: Ding an sich und Erscheinung. Einige
kannte Ding an sich auszumachen, entwickelt Kant Bemerkungen zu Schopenhauers Kritik der Kantischen
wirklichkeitsfremde abstrakte Begriffssysteme, seien Philosophie. In: Wolfgang Schirmacher (Hg.): Zeit der
es die Kategorien des Verstandes, die Ideen der Ver- Ernte. Festschrift für Arthur Hübscher. Stuttgart-Bad
Cannstatt 1982, 201–211.
nunft oder deren praktische Postulate und kategori-
Bozickovic, Vojislav: Schopenhauer and Kant on Objectivity.
sches Moralgesetz – und verstellt sich den Weg in eine In: International Studies in Philosophy 28 (1996), 35–42.
neue, erfahrungsbasierte Philosophie, die das Welträt- Dotzer, Wilhelm Josep: Über Schopenhauers Kritik der
sel zu lösen im Stande ist. Kant’schen Analytik. Diss. Erlangen 1891.
In diesem Sinne wurde Schopenhauers Kant-Kritik Fleischer, Margot: Schopenhauer als Kritiker der Kantischen
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auch rezi- Ethik. Würzburg 2003.
Friedlaender, Salomo: Versuch einer Kritik der Stellung Scho-
piert und ins eigene Denken integriert – von Geistes-
penhauer’s zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen der
wissenschaftlern, die die Auseinandersetzung mit »Kritik der reinen Vernunft«. Diss. Jena 1902.
Kant zur Entwicklung und Ausbildung einer eigenen Königshausen, Johann-Heinrich: Schopenhauers »Kritik der
Position suchten, und die von der Philosophie, ver- Kantischen Philosophie«. In: Perspektiven der Philosophie
gleichbar mit Schopenhauer, einen deutlichen Welt- 3 (1977) [erschienen 1978], 187–203.
und Lebensbezug erwarteten, oder ihr sogar soziolo- Koßler, Matthias: »Ein kühner Unsinn« – Anschauung und
Begriff in Schopenhauers Kant-Kritik. In: Stefano Bacin/
gische oder politische Funktionen zusprachen. Der Alfredo Ferrarin/Claudio La Rocca/Margit Ruffing (Hg.):
bekannteste von Schopenhauer inspirierte Kant-Kriti- Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten
ker ist sicher Friedrich Nietzsche (s. Kap. 30). Aber des XI. Internationalen Kant-Kongresses Pisa 2010. Bd. 5.
auch der Neukantianer Hermann Cohen ist hier zu Boston/Berlin 2013, 569–578.
nennen, der mit dem Ziel der »Neubegründung des Nussbaum, Charles: Schopenhauer’s Rejection of Kant’s
Analysis of Cause and Effect. In: Auslegung 11 (1985),
kritischen Idealismus« u. a. über Kants Theorie der Er-
33–44.
fahrung (1871) arbeitet, in der er Schopenhauers Kri- Philonenko, Alexis: Schopenhauer critique de Kant. In:
tik folgend eine veritable Wahrnehmungstheorie ver- Revue International de Philosophie 42 (1988), 37–70.
misst; oder etwa Cohens jüngerer Zeitgenosse Georg Philonenko, Alexis: Schopenhauer critique de Kant. Paris
Simmel, der 1881 mit Über das Wesen der Materie 2005.
nach Kants Physischer Monadologie promoviert, sein Richter, Raoul: Schopenhauer’s Verhältnis zu Kant in seinen
Grundzügen. Leipzig 1893.
philosophisches Schaffen 1907 aber mit Schopenhauer Ruffing, Margit: »Muss ich wissen wollen?« ‒ Schopenhauers
und Nietzsche abschließt, bevor er sich der Soziologie Kant-Kritik. In: Norbert Fischer (Hg.): Kants Metaphysik
zuwendet (s. Kap. 32). Ebenso widmet sich Salomo und Religionsphilosophie. Hamburg 2004, 561–582.
Friedlaender Schopenhauers Analysen, was seine Dis- Salaquarda, Jörg: Schopenhauers kritisches Gespräch mit
sertation von 1902 belegt: Versuch einer Kritik der Stel- Kant und die gegenwärtige Diskussion. In: Schopenhauer-
Jahrbuch 56 (1975), 51–69.
lung Schopenhauers zu den erkenntnistheoretischen
Schweppenhäuser, Hermann: Schopenhauers Kritik der
Grundlagen der »Kritik der reinen Vernunft«. Er be- Kantischen Moralphilosophie. In: Ders.: Tractanda. Bei-
fasst sich als Philosoph und literarischer Schriftsteller träge zur kritischen Theorie der Kultur und Gesellschaft.
immer wieder mit den konfligierenden Positionen Frankfurt a. M. 1972, 22–33 (Nachdr. in: Schopenhauer-
Schopenhauers, Kants und Nietzsches. Bis heute ist Jahrbuch 69 [1988], 409–416).
Schopenhauers »Kritik der Kantischen Philosophie« Tsanoff, Radolslev Andrea: Schopenhauer’s Criticism of
Kant’s Theory of Experience (= Cornell studies in philoso-
ein Schlüsseltext der kritischen Kant-Rezeption, der
phy, Bd. 9). New York 1911.
nicht nur in unnachahmlicher Weise die Schwächen Wartenberg, Mścisław: Der Begriff des »transscendentalen
der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheo- Gegenstandes« bei Kant – und Schopenhauers Kritik des-
rie und die spezifische Manier kantischen Argumen- selben (I). In: Kant-Studien 4 (1900), 202–231; (II) in:
tierens darstellt, sondern einen ganz besonderen Zu- Kant-Studien 5 (1901), 145–176.
gang zum System der WWV anbietet, den jeder Scho- Weimer, Wolfgang: Schopenhauer. Darmstadt 1982.
penhauer-Leser nutzen sollte. Margit Ruffing

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