Sie sind auf Seite 1von 8

100 Fragmente vermischten Inhalts

5) a Es handelt sich nicht um »Verwirklichung« der göttlichen


Gewalt. Dieser Prozeß ist einerseits selbst die höchste Wirklichkeit
und die göttliche Gewalt andrerseits hat ihre Wirklichkeit in sich.
(Schlechte Termini!)
b Die Frage nach der Manifestation ist zentral
c »Religiös« ist Unsinn. Zwischen Religion und Konfession
besteht kein wesentlicher Unterschied, aber das letzte ist ein enger,
in den meisten Zusammenhängen unzentraler Begriff. (fr 73)

KAPITALISMUS ALS RELIGION

Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h. der Kapitalis-


mus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen,
Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort
gaben. Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus,
nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes,
sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute
noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir
können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird dies
jedoch überblickt werden.
Drei Züge jedoch sind schon der Gegenwart an dieser religiösen
Struktur des Kapitalismus erkennbar. Erstens ist der Kapitalismus
eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben
hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kul-
tus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theolo-
gie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine
religiöse Färbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein
zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer
des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans
reve et sans merci. Es gibt da keinen »Wochentag«(,) keinen Tag
der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen
sakralen Pompes(,) der äußersten Anspannung des Verehrenden
wäre. Dieser Kultus ist zum dritten verschuldend. Der Kapitalis-
mus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern
verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im
Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbe-
wußtsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um
in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen,
dem Bewußtsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den
Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 101

Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen (,) um endlich ihn


selbst an der Entsühnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht
im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser
Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müßte halten können,
noch in der Absage an sie. Es liegt im Wesen dieser religiösen
Bewegung, welche der Kapitalismus ist(,) das Aushalten bis ans
Ende (,) bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den
erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch
gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalis-
mus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen
Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum reli-
giösen Weltzustand aus dem die Heilung zu erwarten sei. Gottes
Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Men-
schenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des Planeten
Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Ein-
samkeit seiner Bahn ist das Ethos das Nietzsche bestimmt. Dieser
Mensch ist der Übermensch, der erste der die kapitalistische Reli-
gion erkennend zu erfüllen beginnt. Ihr vierter Zug ist, daß ihr
Gott verheimlicht werden muß, erst im Zenith seiner Verschul-
dung angesprochen werden darf. Der Kultus wird vor einer unge-
reiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie
verletzt das Geheimnis ihrer Reife.
Die Freudsche Theorie gehört auch zur Priesterherrschaft von die-
sem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrängte, die
sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender
Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewußten ver-
zinst.
Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens findet sich
großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. Der Ge-
danke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen »Sprung«
nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die
scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende, diskonti-
nuierliche Steigerung. Daher sind Steigerung und Entwicklung
im Sinne des »non facit saltum« unvereinbar. Der Übermensch ist
der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchge-
wachsne, historische Mensch. Diese Sprengung des Himmels
durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religiös (auch für Nietz-
sche) Verschuldung ist und bleibt(,) hat Nietzsche pr(ä)ju-
diziert. Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus
102 Fragmente vermischten Inhalts

wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe
die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialis-
mus.
Kapitalismus ist eine Religion aus bloßem Kult, ohne Dogma.
Der Kapitalismus hat sich - wie nicht allein am Calvinismus, son-
dern auch an den übrigen orthodoxen christlichen Richtungen zu
erweisen sein muß - auf dem Christentum parasitär im Abendland
entwickelt, dergestalt, daß zuletzt im wesentlichen seine Geschich-
te die seines Parasiten, des Kapitalismus ist.
Vergleich zwischen den Heiligenbildern verschiedner Religionen
einerseits und den Banknoten verschiedner Staaten andererseits.
Der Geist, der aus der Ornamentik der Banknoten spricht.
Kapitalismus und Recht. Heidnischer Charakter des Rechts So-
rel Reflexions sur la violence p 262
Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung Unger Poli-
tik und Metaphysik S 44
Fuchs: Struktur der kapitalistischen Gesellschaft o. ä.
Max Weber: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie 2 Bd 1919120
Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der chr. Kirchen und Gruppen
(Ges. W. I 1912)
Siehe vor allem die Schönbergsche Literaturangabe unter 11
Landauer: Aufruf zum Sozialismus p 144
Die Sorgen: eine Geisteskrankheit, die der kapitalistischen Epoche
eignet. Geistige (nicht materielle) Ausweglosigkeit in Armut,
Vaganten- Bettel- Mönchtum. Ein Zustand der so ausweglos ist, ist
verschuldend. Die »Sorgen« sind der Index dieses Schuldbewußt-
seins von Ausweglosigkeit. »Sorgen« entstehen in der Angst
gemeinschaftsmäßiger, nicht individuell-materieller Ausweglosig-
keit.
Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen
des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalis-
mus umgewandelt.
Methodisch wäre zunächst zu untersuchen, welche Verbindungen
mit dem Mythos je im Laufe der Geschichte das Geld eingegangen
ist, bis es aus dem Christentum soviel mythische Elemente an sich
ziehen konnte, um den eignen Mythos zu konstituieren.
Wergeld / Thesaurus der guten Werke / Gehalt der dem Priester
geschuldet wird (.) Plutos als Gott des Reichtums
Adam Müller: Reden über die Beredsamkeit 1816 S 56ff
Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik 1°3

Zusammenhang des Dogmas von der auflösenden, uns in dieser


Eigenschaft zugleich erlösenden und tötenden Natur des Wissens,
mit dem Kapitalismus: die Bilanz als das erlösende und erledigende
Wissen.
Es trägt zur Erkenntnis des Kapitalismus als einer Religion bei, sich
zu vergegenwärtigen, daß das ursprüngliche Heidentum sicherlich
zu allernächst die Religion nicht als ein »höheres« »moralisches«
Interesse, sondern als das unmittelbarste praktische gefaßt hat, daß
es sich mit andern Worten ebensowenig wie der heutige Kapitalis-
mus über seine "ideale« oder »transzendente« Natur im klaren
gewesen ist, vielmehr im irreligiösen oder andersgläubigen Indivi-
duum seiner Gemeinschaft gen au in dem Sinne ein untrügliches
Mitglied derselben sah, wie das heutige Bürgertum in seinen nicht
erwerbenden Angehörigen. Ur 74)

HITLERS herab geminderte Männlichkeit -


zu vergleichen mit dem femininen Einschlag des Verelendeten
wie ihn Chaplin darstellt
soviel Glanz um so viel Schäbigkeit
Hitlers Gefolgschaft
zu vergleichen mit Chaplins Publikum
Chaplin - die Pflugschar, die durch die Massen geht; das Gelächter
lockert die Masse auf
der Boden des dritten Reiches wird festgestampft und da
wächst kein Gras mehr
Verbot der Marionetten in Italien, der Chaplinfilme im dritten
Reich -
jede Marionette kann Mussolinis Kinn und jeder Zoll von
Chaplin den Führer machen
Der arme Teufel will ernst genommen werden und sogleich muß er
die ganze Hölle aufbieten
Chaplins Gefügigkeit liegt vor aller Augen, Hitlers nur vor denen
seiner Auftraggeber
Chaplin zeigt die Komik von Hitlers Ernst; wenn er den feinen
Mann spielt, dann wissen wir, welche Bewandtnis es mit dem
Führer hat
Chaplin ist der größte Komiker geworden, weil er das tiefste
Grauen der Zeitgenossen sich einverleibte
Anmerkungen zu Seite 100-103

100-103 [fr 74] KAPITALISMUS ALS RELIGION

Den Titel der zweiteiligen Aufzeichnung, in der u. a. eine der wenigen


Äußerungen Benjamins über Nietzsche und Freud sich findet (101), setzte
er, nach einem Einschub von Notizen über Geld und Wetter (s. Bd. 4,
941), erst über den zweiten Teil. Der terminus a quo ist durch die Litera-
turangaben im ersten gesichert: das spätest erschienene Buch ist das
Ungersche von 1921 (s. Nachweis zu 102,16); den terminus ad quem hel-
fen die Angaben in Benjamins Leseliste bestimmen: unter den sicher nicht
später als bis zur Jahreshälfte 1921 verzeichneten Autoren finden sich
Sorel, Landauer und Adam Müller (s. Nr. 734, 736 und 748, Bd. 7; s.
auch u., Nachweise). Da das Müllersehe Buch im zweiten Teil der Auf-
zeichnung zitiert ist, kann als sicher gelten, daß sie um Mitte 1921 abge-
schlossen wurde.

ü: Erster Notizblock, Ms 700-702 - Blätter [26], [27], [28]; titelloser


erster Teil auf Blättern [26] und [27], Fortsetzung mit Titel auf Rück-
seite, Geld und Wetter (s. Bd. 4, 941) auf Vorderseite von Blatt [28].
D: bis um Mitte 1921

LESARTEN 100,9 Religion] vom zweiten Teil der Aufzeichnung (Das bis
Angehörigen, 102,3°-1°3,14) übernommener Titel- 101,18f. ihr Gott]
lies ihr dativisch - 102,25 Mönchtum] gemeint wohl Vaganten- und Bet-
telmönchtum
NACHWEISE 101,13 nicht tot] s. das konträre Diktum bei Nietzsehe, etwa
Die fröhliche Wissenschaft, Aph. II5, 127,2°7, oder Also sprach Zara-
thustra, Vorrede 2 und Von den Mitleidigen - 101,34 im bis ウ。ャエオュセ@ ] seil.
der lex continuitatis, wonach "la nature ne fait jamais des sauts«; Leibniz,
Nouveaux Essays (Pref.), in: Philosophische Schriften, hg. von c.J. Ger-
hardt, Berlin 1875-189°, Bd. 5,49 - 102, II Banknoten] s. Bd. 4, 139
(Einbahnstraße. Steuerberatung, 3. Aph.) - 102,14 violence] s. Georges
Sorel, Reflexions sur la violence, 5e M., Paris 1919 - 102,16 Metaphysik]
s. Erich Unger, Politik und Metaphysik (Die Theorie. Versuche zu philo-
sophischer Politik, I. Veröffentlichung), Berlin 192 I - 102, 17 Gesell-
schaft] s. Bruno Archibald Fuchs, Der Geist der bürgerlich-kapitalisti-
schen Gesellschaft. Eine Untersuchung über seine Grundlage und Vor-
aussetzungen, Berlin, München 1914 - 102,18 Religionssoziologie] s. Max
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 2 Bde., Tübingen
192of. - 102,19 Gruppen] s. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christ-
lichen Kirchen und Gruppen. Gesammelte Schriften, Bd. I, Tübingen
1912 - 102,22 Sozialismus] s. Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus.
Vortrag, Berlin 191 I; ders., Aufruf zum Sozialismus. Revolutionsaus-
gabe, 2. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1919 - 102>39 Beredsamkeit] s.
Anmerkungen zu Seite 100-108

Adam Müller, ZwöU Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in
Deutschland, gehalten zu Wien im Frühlinge 1812, Leipzig 1816

103f. [fr 75] HITLERS HERAB GEMINDERTE MÄNNLICHKEIT ...

Durch den Passus Hitlernahm den Reichspräsidententitel nicht an (104) ist


der terminus a quo der Aufzeichnung fixiert; nach Hindenburgs Tod am 2.
8. 1934 übernahm Hider gemäß dem »Gesetz über das Staatsoberhaupt des
Deutschen Reiches« vom I. 8. 1934 das Amt des Reichspräsidenten unter
Verzicht auf den Titel. Die Aufzeichnung dürfte nicht lange danach in
Svendborg entstanden sein, wo sich Benjamin zwischen Juli und Oktober
1934 bei Brecht aufhielt. Man verfolgt [die Weltgeschichte] hier leicht im
Radio; aber auch von Gazetten ist man nicht abgeschnitten (Sommer 1934,
an Siegfried Kracauer).

ü: Ms I178 - Briefbogen ca. 26,5 x 2 I cm.


D: etwa August 1934

LESART 104,2 bessere Herr] für {Gent}


NACHWEIS 104, 16 キゥ・、イNセ@ 1Schlager aus dem Film »Der Kongreß tanzt«
von 1931

104-108 [fr 76] DAS RECHT ZUR GEWALTANWENDUNG BLÄTTER FÜR


RELIGIÖSEN SOZIALISMUS I 4

Ein Hinweis Benjamins auf seine Absicht, den Aufsatz zu rezensieren, ist
nicht bekannt, doch legt die detaillierte Durchgliederung der Niederschrift
den Gedanken an eine wie immer geplante Arbeit nahe. Dem Verweis auf
den - verlorenen - Aufsatz .Leben und g・キ。ャエセ@ (106) zufolge kann die
Aufzeichnung nicht früher als April 1920, der Zeit der Entstehung jener
sehr aktuellen Notiz (Briefe, 237; s. auch 241), niedergeschrieben sein. Der
Hinweis auf die Aufgaben meiner Moralphilosophie (106) ist auf das
Schema in fr 65 (s. 91-93) von 1918 zu beziehen; er zeigt, wie sehr die dort
fixierte systematische Disposition Benjamin noch Jahre später als zu reali-
sierender Plan gegenwärtig war. Nicht auszuschließen ist, daß die Auf-
zeichnung in die Vorstudien zum Gewalt-Aufsatz von 1921 einging und so
den eventuellen Plan einer Rezension hinfällig machte.

ü: Ms 812 - Faltblatt ca. 21 X 15,5 cm, herausgetrennt aus einer Kladde.


D: nicht vor April 1920
Walter Benjamin
Gesammelte Schriften
VI
Herausgegeben von
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser

Suhrkamp
Die Editionsarbeiten wurden durch
die Stiftung Volkswagenwerk, die Fritz Thyssen Stiftung
und die Hamburger Stiftung zur Förderung
von Wissenschaft und Kultur ermöglicht.

Die vorliegende Ausgabe ist text- und seitenidentisch


mit Band VI der gebundenen Ausgabe
der Gesammelten Schriften Walter Benjamins.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek


Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie
http://dnb.ddb.de

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 936


Erste Auflage 1991
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1985
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vortrags, der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen
sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme verarbeitet,
vervielfältigt oder verbreitet werden.
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
ISBN 3-p8-28n6-X

3 4 5 6 7 8 - 09 08 07 06 05 04

Das könnte Ihnen auch gefallen