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22, 17:11
Der Limmatplatz ist das soziale und funktionale Zentrum des ehemaligen
ArbeiterInnen- und Industriequartiers, das sich vom Hauptbahnhof zwischen
Bahngeleisen und Limmat Richtung Nordwesten erstreckt. Es ist
Samstagmittag, rund um den Platz herrscht emsiges Treiben: Hier plaudert man
in kleiner Runde, die vollen Einkaufstaschen neben sich. Dort debattiert ein
bärtiger Gemeinderat der Alternativen Liste mit einem skeptischen Yuppie. Den
Eingang zum Einkaufszentrum im Sockel des Migros-Hochhauses flankiert eine
Flügelwache aus Surpriseverkäuferin und freikirchlichem Seelenretter, der mit
wenig Erfolg seine kleinformatigen Heftchen an Mann und Frau zu bringen
versucht.
Die für die Verwaltung und Teile der Öffentlichkeit traumatischen Erfahrungen
jener Jahre sollten Eingang finden in die Planung der neuen Tramhaltestelle: Ihr
kam nicht nur die Aufgabe zu, wartenden PassagierInnen Schutz vor Wind und
Wetter zu bieten. Sie konsolidierte auch die um die Jahrtausendwende schnell
einsetzende «Aufwertung» des Quartiers. Dabei organisierten Zürichs
StadtplanerInnen mit bemerkenswerter Sorgfalt, was der französische Soziologe
Henri Lefebvre in seiner Untersuchung «Die Revolution der Städte» bereits den
StadtplanerInnen der siebziger Jahre angekreidet hatte – den repressiven Raum.
In diesem Zug wurde die Strategie der Raumkontrolle ergänzt mit einer
Architektur der Transparenz: Diese zeigt sich nicht nur in der Neugestaltung der
wieder zugänglich gemachten Innenhöfe, sondern auch bei der Konzeption der
neuen Haltestelle.
Die neue Haltstelle besteht aus zwei beidseits der Tramgeleise angeordneten
elliptischen Betondeckeln, die von verschieden grossen zylinderförmigen
Körpern getragen werden. Die Deckel werden von mehreren rundlichen
Öffnungen durchbrochen, durch welche die bereits vor dem Neubau am Platz
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Auf den bunten Visualisierungen hingegen, die während der Bauphase rund um
den Platz von Plakaten prangten, hatte sich diese temporäre Bewohnerschaft des
öffentlichen Stadtraumes in Luft aufgelöst. Auch heute Mittag bleiben die Bänke
oft leer. Nur gelegentlich setzt sich jemand für ein paar Minuten, andere
deponieren kurz ihre Einkäufe darauf. Wer hat schon Lust, länger auf den mitten
im nackten Raum platzierten Bänken zu verweilen, dem Durchzug ebenso
ausgesetzt wie den Blicken der Leute im Rücken?
An einem Ort, der ein Sichabwenden nicht zulässt, muss man sich immer zu
Still und unbemerkt wird in diesem betonüberdachten Raum der Haltstelle ein
immerwährendes Fest der Blicke gefeiert, das Sehen des unablässig
beobachteten Beobachters angezogen von subtilen architektonischen
Elementen: Leuchtwerbeflächen, die an den zylindrischen Tragelementen
angebracht sind. Von den Passagieren weitgehend unbeachtet wandern Bilder
einer künstlerischen Videoinstallationen über einen an der Säule montierten
Bildschirm.
Dass die Geste des Berührens zum blossen Bild verkommt, passt in wunderbarer
Weise zur Raumkonzeption des Limmatplatzes. Es handelt sich hier im
wortwörtlichen Sinne um «lichte» Architektur: Die Stofflichkeit tritt zurück
https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 4 von 8
Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11
Sowohl die abweisende Eigenheit des Materials als auch seine forcierte
Abwesenheit verunmöglichen eine Beschreibbarkeit des Raumes – und das im
doppelten Wortsinn: Weder Tags und Kritzeleien noch Erleben und Zeitlichkeit
vermögen sich an dieser Leerstelle im Gefüge des städtischen Raumes
festzumachen. Die abgekratzten Überreste von FCZ-Auslebern nehmen sich
zwischen den Stahlstreben und Glasscheiben verloren aus.
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Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11
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