Sie sind auf Seite 1von 8

Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.

22, 17:11

Nr. 23 – 9. Juni 2011

Zürich: Der Limmatplatz

Ein immerwährendes Fest der Blicke


Die vor vier Jahren neu gestaltete Tramhaltestelle am Limmatplatz in Zürich ist
mehr als eine Verbindung von Form und Funktion. Ihre Architektur ist bewusst
gesetzte sozialräumliche Disziplinierung.

Von Tobias Scheidegger

Gebäude sind Instrumente der Politik. Das hat niemand so deutlich


herausgearbeitet wie Michel Foucault Mitte der siebziger Jahre in «Überwachen
und Strafen»: Am historischen Beispiel von Gefängnissen zeigte er auf, wie
Mechanismen der sozialräumlichen Disziplinierung auch mit der Architektur
verknüpft sind. Die 2007 neu errichtete Tramhaltestelle am Limmatplatz in
Zürich ist ein Paradebeispiel eines solch betongewordenen Machtinstruments.

Der Limmatplatz ist das soziale und funktionale Zentrum des ehemaligen
ArbeiterInnen- und Industriequartiers, das sich vom Hauptbahnhof zwischen
Bahngeleisen und Limmat Richtung Nordwesten erstreckt. Es ist
Samstagmittag, rund um den Platz herrscht emsiges Treiben: Hier plaudert man
in kleiner Runde, die vollen Einkaufstaschen neben sich. Dort debattiert ein
bärtiger Gemeinderat der Alternativen Liste mit einem skeptischen Yuppie. Den
Eingang zum Einkaufszentrum im Sockel des Migros-Hochhauses flankiert eine
Flügelwache aus Surpriseverkäuferin und freikirchlichem Seelenretter, der mit
wenig Erfolg seine kleinformatigen Heftchen an Mann und Frau zu bringen
versucht.

Fast 30 000 Fahrgäste frequentieren an jedem Tag die Tramhaltestelle


Limmatplatz. Am nördlichen Ende der Langstrasse gelegen, ist der Limmatplatz

https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 1 von 8


Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11

ein Knotenpunkt des öffentlichen Stadtverkehrs. Konzipiert wurde er im


ausgehenden 19. Jahrhundert, als die Tramlinie entlang der Limmatstrasse
stadtauswärts gebaut wurde. Noch in den dreissiger Jahren zeigen Fotografien
den Platz als nackte, kreisrunde Asphaltscheibe, hälftig von den Tramgeleisen
durchschnitten. Ein erstes Wartehäuschen kam erst 1942 dazu. Es versah seinen
Dienst über Jahrzehnte hinweg, bis es 2007 ein auffälliger Neubau ersetzte, ein
eigentlicher Platz im Platz, eine Traminsel im wahrsten Sinne des Wortes.

In den neunziger Jahren haben die Geschehnisse rund um die offenen


Drogenszenen am Platzspitz und am Oberen Letten die Biografie des
Industriequartiers nachhaltig geprägt: Noch heute riegeln stachelbewehrte
Metallzäune Innenhöfe und Hauseingänge ab und geben darüber Auskunft, wie
man der Drogenproblematik mit hilfloser Repression zu begegnen suchte. Auch
am Tramhäuschen aus den vierziger Jahren war diese Zeit nicht folgenlos
vorbeigezogen. Da der Warteraum zeitweise intensiv von Heroinsüchtigen
aufgesucht wurde, sahen sich die städtischen Verkehrsbetriebe 1992 veranlasst,
ihn vorübergehend zu schliessen.

Die für die Verwaltung und Teile der Öffentlichkeit traumatischen Erfahrungen
jener Jahre sollten Eingang finden in die Planung der neuen Tramhaltestelle: Ihr
kam nicht nur die Aufgabe zu, wartenden PassagierInnen Schutz vor Wind und
Wetter zu bieten. Sie konsolidierte auch die um die Jahrtausendwende schnell
einsetzende «Aufwertung» des Quartiers. Dabei organisierten Zürichs
StadtplanerInnen mit bemerkenswerter Sorgfalt, was der französische Soziologe
Henri Lefebvre in seiner Untersuchung «Die Revolution der Städte» bereits den
StadtplanerInnen der siebziger Jahre angekreidet hatte – den repressiven Raum.
In diesem Zug wurde die Strategie der Raumkontrolle ergänzt mit einer
Architektur der Transparenz: Diese zeigt sich nicht nur in der Neugestaltung der
wieder zugänglich gemachten Innenhöfe, sondern auch bei der Konzeption der
neuen Haltestelle.

Ausgestellt im nackten Raum

Die neue Haltstelle besteht aus zwei beidseits der Tramgeleise angeordneten
elliptischen Betondeckeln, die von verschieden grossen zylinderförmigen
Körpern getragen werden. Die Deckel werden von mehreren rundlichen
Öffnungen durchbrochen, durch welche die bereits vor dem Neubau am Platz

https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 2 von 8


Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11

stehenden Platanen weiterhin dem Himmel zustreben dürfen. Gegenüber


seinem Vorgängerbau habe dieser durchlöcherte Betonbaldachin den Vorteil, so
liest man in der Publikation des städtischen Hochbaudepartements, dass keine
«düsteren Rückseiten» mehr bestünden. Will heissen: Der Platz, seine
BenutzerInnen und ihre Tätigkeiten sind mehr oder weniger von allen Seiten her
einsehbar.

In der planerischen Abwehr des Rückwärtigen gibt sich eine Denkweise zu


erkennen, die Aktivitäten, die der Sichtbarkeit entzogen sind, automatisch in die
Nähe des Gefährlichen und Verbotenen rückt. Das Gebot der Öffnung und
Durchdringbarkeit zeitigt in den Augen der Verantwortlichen zudem den
nützlichen Nebeneffekt, dass die – wie das auf technokratisch so schön heisst –
«Verweildauer» unerwünschter NutzerInnen gesenkt wird.

Demgegenüber boten die Sitzbänke entlang der überdachten Vorderwand des


Wartehäuschens der alten Haltestelle noch einen geschützten Raum. Dort
bildete ein Freiluftstamm von AlkoholikerInnen das unverrückbare – durch
knallrote Denner-Tragtaschen subtil als Privatsphäre abgegrenzte – Zentrum
stetig sich ablösender Grüppchen.

8 Wochen für 25
Franken
Mit einem Probeabo der WOZ
sind Sie jede Woche der Zeit
voraus.

Auf den bunten Visualisierungen hingegen, die während der Bauphase rund um
den Platz von Plakaten prangten, hatte sich diese temporäre Bewohnerschaft des
öffentlichen Stadtraumes in Luft aufgelöst. Auch heute Mittag bleiben die Bänke
oft leer. Nur gelegentlich setzt sich jemand für ein paar Minuten, andere
deponieren kurz ihre Einkäufe darauf. Wer hat schon Lust, länger auf den mitten
im nackten Raum platzierten Bänken zu verweilen, dem Durchzug ebenso
ausgesetzt wie den Blicken der Leute im Rücken?

An einem Ort, der ein Sichabwenden nicht zulässt, muss man sich immer zu

https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 3 von 8


Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11

erkennen geben, sein Gesicht zeigen. Diesem Transparenzimperativ wird am


Limmatplatz auch durch technische Mittel gehuldigt: Als ob man ihrer offenen
Architektur nicht gänzlich trauen würde, ist die Haltestelle zusätzlich mit
sechzehn dezent platzierten Überwachungskameras ausgestattet. Sie sind so
angeordnet, dass kaum eine Handbreit des Raumes sich dem starren Blick der
Sicherheitselektronik entziehen kann. Rund um die Uhr zerlegen sie das Leben,
wie es sich eine Woche später an einem Freitagabend auf dem Platz abspielt, in
handhabbare Videosequenzen: das weinende Kind, das an seiner Mutter zerrt,
das Pärchen, das einen flüchtigen Abschiedskuss tauscht. Wer immer in der
vergangenen Nacht neben der Sitzbank sein Abendessen erbrochen hat – auch
er ist auf Band gespeichert.

Still und unbemerkt wird in diesem betonüberdachten Raum der Haltstelle ein
immerwährendes Fest der Blicke gefeiert, das Sehen des unablässig
beobachteten Beobachters angezogen von subtilen architektonischen
Elementen: Leuchtwerbeflächen, die an den zylindrischen Tragelementen
angebracht sind. Von den Passagieren weitgehend unbeachtet wandern Bilder
einer künstlerischen Videoinstallationen über einen an der Säule montierten
Bildschirm.

Vandalensicherer heller Schein

Ironie des Schicksals beziehungsweise der städtischen Kunsthochschule, die als


Initiantin dieses «Kunst im öffentlichen Raum»-Projektes zeichnet: Die
Videokunst stammt vom deutschen Filmemacher Harun Farocki, der in seinem
filmischen Œuvre immer wieder auf intelligente Weise die machtvolle Rolle von
Sichtbarmachung und Bildproduktion – beispielsweise im Zusammenhang mit
der Kontrolle des öffentlichen Raumes – thematisiert.

In seiner Installation am Limmatplatz montiert Farocki Aufnahmen von


BesucherInnen verschiedenster Gedenkstätten. «Es geht um die Gesten derer,
die eine Stätte aufsuchen oder passieren», schreibt er dazu: «Das Berühren ist
der Versuch, etwas ‹greioar› zu machen, das nicht direkt erfahrbar ist, etwas
körperlich anzueignen, das ausserhalb liegt.»

Dass die Geste des Berührens zum blossen Bild verkommt, passt in wunderbarer
Weise zur Raumkonzeption des Limmatplatzes. Es handelt sich hier im
wortwörtlichen Sinne um «lichte» Architektur: Die Stofflichkeit tritt zurück
https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 4 von 8
Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11

zugunsten von Aussparungen und hellem Schein. An jenen Stellen hingegen, wo


der Einsatz von greioarem Material unumgänglich war, bevorzugte man
Baustoffe, die sich durch die Eigenschaft der «Vandalensicherheit» auszeichnen,
wie man der einschlägigen Broschüre des Hochbaudepartements entnehmen
kann.

Sowohl die abweisende Eigenheit des Materials als auch seine forcierte
Abwesenheit verunmöglichen eine Beschreibbarkeit des Raumes – und das im
doppelten Wortsinn: Weder Tags und Kritzeleien noch Erleben und Zeitlichkeit
vermögen sich an dieser Leerstelle im Gefüge des städtischen Raumes
festzumachen. Die abgekratzten Überreste von FCZ-Auslebern nehmen sich
zwischen den Stahlstreben und Glasscheiben verloren aus.

In unsichtbaren Lettern prangen über diesen sich entziehenden Räumen die


Worte Adolf Muschgs: «Mehr als andere Schweizer Städte erkennt man Zürich
sofort daran, dass die Oberflächen nicht altern dürfen. Auf nichts reagiert
Zürich so empfindlich, ja gereizt wie auf Anzeichen von Verfall.» Spuren des
Alterns perlen an der zeit- und makellosen Botoxarchitektur der
allgegenwärtigen Glasflächen buchstäblich ab: Sie sind die Kulisse einer
flüchtigen Öffentlichkeit. Erlaubt ist, was nicht bleibt.

Teilen

Spenden
Hat Ihnen dieser Text gefallen? Hat er Ihnen geholfen, Ihre
Haltung zum Thema zu schärfen oder hat er Sie vortrefflich
provoziert? Und was ist Ihnen das Wert? Unabhängiger
Journalismus ist auf einen Beitrag vieler angewiesen.

Einen Betrag spenden

https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 5 von 8


Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11

Das könnte Sie auch interessieren

Zürcher Stadtplanung Europaallee in Zürich

«Chreis 5 isch min


Name»
Das Herz Zürichs ArbeiterInnen- und
ImmigrantInnenviertel, Ort des
Widerstandes, so genannte Problemzone,
Sandkasten für Spekulation und
Stadtplanung: Im Zürcher Kreis 5 wird auch
gelebt. Wie?

29.04.2004 Stadtplanung

Bitte ja nicht
verweilen!
16.04.2020

Stellenmarkt

Verantwortliche:n Finanzen und Leiter:in Fundraising & Abteil


Administration (70-100 %) Kommunikation Regio
Freidenker-Vereinigung der Schweiz Alpen-Initiative | Altdorf | Riggis
| Home Office | Schweiz | Festanstellung | 80% Region
Festanstellung | 80% Riggis
Riggis

Start

Aktuelle Ausgabe

App

https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 6 von 8


Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11

Newsletter

Schweiz

International

Kultur/Wissen

Wobei

Le Monde diplomatique

Abonnieren

Aboservice

Inserieren

WOZ Markt

Shop

Kontakt

Über uns

Archiv

Spenden

ProWOZ

Nutzungsbedingungen

Datenschutzerklärung

AGB Webshop
ANB App
https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 7 von 8
Zürich: Der Limmatplatz: Ein immerwährendes Fest der Blicke | WOZ Die Wochenzeitung 11.12.22, 17:11

ANB App

Genossenschaft Infolink
WOZ Die Wochenzeitung
Hardturmstrasse 66
8031 Zürich
044 448 14 14
woz@woz.ch

https://www.woz.ch/1123/zuerich-der-limmatplatz/ein-immerwaehrendes-fest-der-blicke Seite 8 von 8

Das könnte Ihnen auch gefallen