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Zürcher U-Bahn-Träume | NZZ 15.05.

23, 13:32

Zürcher U-Bahn-Träume
Mit dem Bau einer U-Bahn wollte Zürich vor vierzig Jahren zur
Metropole aufsteigen. Das Projekt scheiterte, weil die Bevölkerung die
Wachstumseuphorie nicht mehr teilte. Ob der Entscheid richtig war, ist
heute umstritten.
Marc Tribelhorn
30.07.2013, 06.00 Uhr

Aufbruch in eine grossstädtische Zukunft: zeitgenössische Skizze der nie verwirklichten


U-Bahn-Station am Zürcher Schaffhauserplatz. (Bild: pd)

Zürich sei ein Dorf, hört man allenthalben: überschaubar, aufgeräumt,


ein bisschen kleingeistig. Glaubt man den Kritikern, so lässt sich wahre

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Weltläufigkeit nur an wenigen Orten erleben, etwa im


Langstrassenquartier, am Paradeplatz oder nachts in Zürich-West.
Grossstädtisch ist die Limmatstadt aber auch dort, wo es niemand
erwarten würde: in Schwamendingen – wenn die Tramlinien 7 und 9 in
die Dunkelheit des Milchbucktunnels eintauchen und für drei Stationen
zur Untergrundbahn mutieren. Der Tunnel ist das Relikt aus einer Zeit,
als sich die Stadtoberen anschickten, mit dem Bau einer U-Bahn in die
Spitzenliga der europäischen Metropolen aufzusteigen. Sie scheiterten
kläglich, weil die Wachstumseuphorie der Bevölkerung bereits verflogen
war, als die Vorlage vor vierzig Jahren an die Urne kam.

Astronomisch hohe Kosten

Am 20. Mai 1973 musste der Zürcher Stadtpräsident Sigmund Widmer


vor den Medien im Kaspar-Escher-Haus zerknirscht seine wohl grösste
politische Niederlage eingestehen. Gerade hatten 71 Prozent der
Stimmenden die Zürcher U-Bahn-Pläne bachab geschickt; im ganzen
Kanton waren es 57 Prozent gewesen. Widmer gab sich diplomatisch und
flüchtete ins Floskelhafte: Man müsse den Entscheid akzeptieren und
nach vorne schauen. Er selbst vermochte es nicht; der «Fehlentscheid»
des Volks sollte zeitlebens an ihm nagen. Zusammen mit dem Bund und
dem Kanton hatte Zürich während Jahren eine Vorlage ausgearbeitet,
welche die zeitgenössischen und zukünftigen Verkehrsprobleme der
Stadt samt ihrer wuchernden Agglomerationsgebiete hätte beheben
sollen.

Geplant war ein Monsterprojekt aus U-Bahn und S-Bahn, inklusive des
Baus des Bahnhofs Museumstrasse unter dem Zürcher Hauptbahnhof
sowie des Zürichbergtunnels zwischen Stettbach und Stadelhofen. Die
U-Bahn-Strecke bestand aus zwei Ästen – vom Zürcher HB aus ins
Limmattal nach Dietikon und ins Glatttal zum Flughafen. Sie umfasste
stattliche 27,5 Kilometer, knapp die Hälfte davon verlief unterirdisch. 30
Haltestellen waren für die U-Bahn vorgesehen, viele an bester Lage auf
dem Zürcher Stadtgebiet, am Schaffhauserplatz, am Central, am
Stauffacher oder an der Sihlporte. Der Ausbau um weitere Linien wäre
möglich gewesen, wurde von den Planern in den Projektskizzen aber
noch als «Zukunftsmusik» bezeichnet. Die Kosten der U-Bahn betrugen
1,8 Milliarden Franken, ausgeglichen verteilt auf den Bund, den Kanton
und die beteiligten Gemeinden. 545 Millionen Franken hätte die Stadt
Zürich aufbringen müssen. Mit einer 13-jährigen Bauphase wurde
gerechnet.

Trotz astronomisch hohen Kosten und dem zu erwartenden jahrelangen


Baulärm kam die Ablehnung des Jahrhundertprojekts überraschend.

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Noch im Dezember 1972 hatten es in einer Umfrage 81 Prozent der


Bevölkerung befürwortet, bei den politischen Parteien und in den
Parlamenten war es ebenfalls nur vereinzelt auf Widerstand gestossen.
Überdies war 1971 schon das eineinhalb Kilometer lange U-Bahn-
Teilstück durch den Milchbuck wegen Strassenbauten vorgezogen und
vom Volk gutgeheissen worden. Dass dieser Abschnitt heute einsamer
Zeuge einstiger ÖV-Visionen ist, hat viel mit Untergrund-Phantasien,
konjunktureller Euphorie und Wachstumsängsten zu tun.

Städtebau-Utopien

Seit der Eröffnung der London Underground im Jahr 1863 waren auch
die Zürcher von U-Bahn-Träumen beflügelt gewesen. Doch erst der
rasante Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg führte
dazu, dass die Verlegung des öV in die Tiefe ernsthaft debattiert wurde.
Mit der Hochkonjunktur hatte nicht nur das Mobilitätsbedürfnis
zugenommen, sondern auch die Bevölkerung: In der Stadt Zürich lebten
1950 rund 390 000 Personen, zehn Jahre später waren es bereits 440 000.
Immer mehr Menschen siedelten sich zudem im Vorortgürtel an und
pendelten zur Arbeit. Ein modernes Massenverkehrsmittel musste her.

1962 wurde über eine sogenannte Tiefbahn abgestimmt. Die


innerstädtische Verbannung der Tramlinien in den Untergrund würde
den täglichen Kampf auf den Strassen beenden, die Fussgänger schützen
und den Automobilisten mehr Raum schaffen, argumentierten die
Befürworter. Doch die Mehrheit entschied sich anders. Manche wollten
sich nicht unter die Erde begeben, solange sie noch lebten. Viele hatten
schlichtweg genug von halbherzigen Lösungen und präferierten statt
des «Kellertrams» gleich eine «richtige» U-Bahn. Diese rückte nach der

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Abstimmung auch tatsächlich in den Fokus der Stadtplaner, die


unentwegt an Zürichs Entwicklung zur Metropole glaubten.

Die sechziger Jahre sind die goldene Zeit der nie verwirklichten
städtebaulichen Würfe. So lancierte etwa der Architekt André E.
Bosshard in der NZZ die Idee einer «City im See», die einen neuen
Stadtteil auf Aufschüttungen im unteren Seebecken vorsah. Richard
Allemann propagierte für den Sihlraum eine Art Zürcher «Manhattan»
mit Hochhäusern und höchster baulicher Verdichtung. Weitere
ehrgeizige Projekte wie ein neues Schauspielhaus, das der Architekt des
Opernhauses in Sydney, Jørn Utzon, hätte bauen sollen, oder der 165
Meter hohe «Züriturm» am Seeufer in Wollishofen stammen ebenfalls
aus jenen Jahren. Doch es gab bereits am Ende der Dekade Anzeichen
dafür, dass die Bevölkerung mit der langsam abflauenden Wirtschaft die
Wachstumsvisionen der Stadtgestalter zunehmend skeptisch sah: Die
Planung eines mehrspurigen Autobahnrings rund um die Innenstadt
verschwand nach kritischen Einwänden aus den Quartieren wieder in
der Schublade, und eine Kandidatur Zürichs für die Olympischen
Winterspiele von 1976 blieb 1969 in einer Volksabstimmung chancenlos.

Grenzen des Wachstums

Die Gegner der U-Bahn-Vorlage von 1973, allen voran die Stadtzürcher
Sozialdemokraten, machten sich die wachstumskritische Stimmung
zunutze. Im hitzigen Abstimmungskampf führten sie neue Leitbegriffe
wie «Wohnlichkeit», «Lebensqualität» und «Umweltschutz» ins Feld.
Der Geist, welchen der Club of Rome 1972 mit den «Grenzen des
Wachstums» weltweit beschwor, beseelte auch Teile der Zwinglistadt.
Unaufhörliches Anheizen des Wirtschaftsmotors, Bodenspekulation
entlang der U-Bahn-Strecke, höhere Mieten, Gefährdung von Wohnraum
durch Büronutzungen, Verdrängung von Arbeitnehmern in die Vororte:
Das alles wurde befürchtet und mit dem «grössenwahnsinnigen»
Verkehrsprojekt in Verbindung gebracht.

Die Warnung der Gegenseite, es drohe ohne U-Bahn ein


«Verkehrsinfarkt», verfing nicht mehr – nicht zuletzt, weil die
Bevölkerungszahlen wieder rückläufig waren. Die historische Forschung
ist sich einig: Wäre die U-Bahn-Abstimmung etwas früher gekommen,
hätte das Resultat wohl anders ausgesehen und wäre Zürich nicht die
ausgeprägte Tramstadt, die sie heute ist.

Zukunft mit «Metrotram»?

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Statt eine U-Bahn zu bauen, optimierte Zürich das bestehende Tram-


und Bussystem. Zentrale Bestandteile der Vorlage von 1973 sind dennoch
realisiert worden, wenn auch in anderer Form: Die S-Bahn wurde 1990 in
Betrieb genommen, die Glatttalbahn fährt seit geraumer Zeit, die
Limmattalbahn wird es ihr bald gleichtun. Der öV im Grossraum Zürich
gilt heute als vorbildlich. Die blau-weissen Trams sind fester Bestandteil
der Stadtzürcher Identität. Hätte es die U-Bahn also gar nicht gebraucht?

Das schnelle Bevölkerungs- und Verkehrswachstum der letzten Jahre hat


zu einem Umdenken geführt. Ulrich Weidmann, Professor am Institut
für Verkehrsplanung und Transportsysteme an der Zürcher ETH ist
überzeugt davon, dass sich Zürich mit der U-Bahn eine Option vergeben
hat: «Weder die S-Bahn noch das Tram in seiner heutigen Form sind in
der Lage, für eine Stadt Zürich mit substanziell mehr Einwohnern und
Arbeitsplätzen die erforderliche zusätzliche Kapazität und Qualität am
richtigen Ort zu liefern.» Beide Systeme stiessen an natürliche Grenzen.
«Tramzüge können nicht länger oder breiter werden und behindern sich
bereits heute selbst; neue Möglichkeiten für zusätzliche S-Bahn-
Haltepunkte auf dem Stadtgebiet gibt es ebenfalls nicht mehr», erklärt
Weidmann.

Als langfristige Perspektive für Zürich stellt er sich deshalb eine U-Bahn
oder aber ein «Metrotram» vor, ein weiterentwickeltes schnelles Tram
mit Tieferlegung in der Innenstadt. Solche Transportsysteme bieten
zudem einen gewichtigen zusätzlichen Vorteil: Weicht der öV in den
Untergrund aus, schafft er an der Oberfläche Platz für das urbane Leben
und eröffnet völlig neue städtebauliche Gestaltungsmöglichkeiten.
Weidmanns Metrotram-Vision hat von offizieller Seite bisher wenig
Resonanz erfahren. Das U-Bahn-Debakel von 1973 ist noch nicht
vergessen.

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