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VOM
GOLDSTANDARD
ZUM EURO
Eine deutsche Geldgeschichte am
Vorabend der dritten Währungsreform
1. Auflage September 2012
Vorwort 10
Einführung: Geschichte wiederholt sich 15
Wer Dr. Bandulets Schrift gelesen hat, der weiß nicht nur, dass staat-
liche Papierwährungen kommen und (immer wieder unter)gehen,
sondern dass das Gold bleibt. Der Leser erfährt auch, warum das bis-
her so war, und warum das auch künftig so sein wird. Denn solange
die Regierungen und nicht die freien Märkte bestimmen, was Geld
ist, wird das Geld schlecht sein: Es wird inflationär und ungerecht
sein und mitunter - wie beim Euro - eine kurze Lebensdauer haben.
Das vorliegende Buch ist eine Pflichtlektüre für alle, die danach stre-
ben, der deutschen Währungsgeschichte, die immer wieder so viel
Unheil gebracht hat, auf den Grund zu gehen - und insbesondere
auch das Euro-Debakel, seine Gründe und seine Folgen zu verstehen.
Bruno Bandulets Buch wird ein Klassiker der deutschen Geldge-
schichte werden, in dem Wahrheit, Klarheit und Klugheit zu Wort
kommen und ideologische Verklärung sowie politischer Opportunis-
mus mehr als entzaubert werden.
Thorsten Polleit
Königstein i. T., im August 2012
Einführung:
Geschichte wiederholt sich
Wiederholt sich Geschichte? Nein, nicht als Kopie, aber sehr wohl in
ihren Moden, Methoden und Möglichkeiten. Im Verlauf meiner Re-
cherchen war ich erstaunt und fasziniert, wie oft und wie skrupellos
das staatliche Geldmonopol missbraucht wurde, wie wenig sich am
Werkzeugkasten der Geldpolitik verändert hat, wie sehr sich viele
Abläufe ähneln oder zumindest vergleichbar sind. Im Versailler Ver-
trag verpflichtete sich Deutschland unter Androhung von militäri-
scher Gewalt, auf Generationen hinaus zu zahlen - diesmal wird
ohne Not für fremde Schulden gehaftet. 1923 konnte die Unabhän-
gigkeit der Reichsbank die Katastrophe nicht verhindern - 2010
begann auch die Europäische Zentralbank trotz vertraglich veran-
kerter Unabhängigkeit, Staatsanleihen aufzukaufen. 1939 wurde
Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht gefeuert, weil er Hitlers
Kriegsfinanzierung nicht mehr verantworten konnte - 2011 gaben
Axel Weber und Jürgen Stark auf, weil sie die Politisierung der EZB
nicht mittragen wollten. Es ist wenig zu entdecken, das neu erfunden
wurde. Nichts hat sich auch daran geändert, dass es am Ende der
brave Steuerzahler und Sparer ist, dem die Rechnung präsentiert
wird.
16 Einführung
Eine andere Konstante der vergangenen 100 Jahre konnte ich entde-
cken: Die Währungen kamen und gingen, Gold blieb. Nach 1914
nicht mehr als Geld des Goldstandards, sondern als alternative Pri-
vatwährung, auch als Notenbankreserve und vor allem als Schutz ge-
gen Inflation und Währungsreformen, als gemünzte Freiheit. In ei-
nem Punkt kann ich diejenigen Leser, die ein neues Goldverbot
befürchten, beruhigen: Es war nicht einmal im Dritten Reich mit den
Möglichkeiten einer Diktatur wirklich durchsetzbar.
Bruno Bandulet
Bad Kissingen, im August 2012
Münzchaos, Wendezeit
und eine Frankfurter
Firmengründung 1843
Wenn wir auf eineinhalb Jahrhunderte deutsche Geldgeschichte zu-
rückblicken, auf die harten und weichen und wertlosen Währungen,
die kamen und gingen, auf Gold, Silber und Papier, auf zwei Wirt-
schaftswunder und zwei monetäre Katastrophen - dann können wir
das deutsche Drama durchaus am Main beginnen lassen: in Frank-
furt, der alten Furt der Franken.
In Frankfurt, wo Johann Wolfgang von Goethe am 28. August
1749 geboren wurde, wo er aufwuchs und vier Jahre lang eher lustlos
eine kleine Anwaltskanzlei betrieb, bis er nach Weimar ging, wo er
sein Opus magnum Faust verfasste - ein im zweiten Teil propheti-
scher Einblick in den Prozess der Geldschöpfung, der in seiner gan-
zen Dämonie erst im 20. Jahrhundert Realität wurde. Goethe, der
große Realist, lehnte es grundsätzlich ab, sich mit »Zetteln« bezahlen
zu lassen, wie man die Banknoten damals nannte. Er bevorzugte
Gold und Silber.
Aber auch in Frankfurt, dem vor dem Aufstieg Berlins nach der
Reichsgründung 1871 führenden deutschen Börsenplatz, wo am
23. Februar 1744 Mayer Amschel Rothschild geboren wurde, der Be-
gründer einer Dynastie, die mit Edelmetallen handelte, Wechsel an-
nahm und diskontierte, Regierungen und Eisenbahngesellschaften
finanzierte, als Marktmacher im europäischen Anleihegeschäff fun-
gierte und die im Laufe des 19. Jahrhunderts mit ihren von den Söh-
nen des Gründers geleiteten Niederlassungen zum weltgrößten
Bankhaus aufstieg. Die besondere Beziehung der Rothschilds zum
Gold lebte fort in der Londoner Bank N. M. Rothschild & Sons in der
St Swithin's Lane, wo in zwei täglichen Sitzungen unter den Gemäl-
den europäischer Staatsoberhäupter, früherer Kunden von Roth-
schild, der Preis des Goldes bis 2004 fixiert wurde.
Fixiert wurde eine Zeit lang auch in Deutscher Mark in Frankfurt,
dem nach dem Zweiten Weltkrieg wieder größten deutschen Finanz-
20 Münzchaos, Wendezeit
Am 23. März 1841 berief der Rat der Stadt Frankfurt Friedrich Ernst
Roessler zum Münzwardein und beauftragte ihn damit, eine Scheide-
anstalt auf Staatskosten einzurichten. Der Münzwardein, eine auf das
Mittelalter zurückgehende Berufsbezeichnung, hatte in amtlicher
Funktion die Aufgabe, die Legierungen und damit den Feingehalt an
Gold und Silber sowie das Gewicht der Münzen zu kontrollieren. Ein
22 Münzchaos, Wendezeit
Münzwardein war jemand, der dafür sorgte, dass es bei der Geldpro-
duktion mit rechten Dingen zuging und dass die Qualitätsstandards
eingehalten wurden, was im Laufe der deutschen Geldgeschichte seit
Karl dem Großen keineswegs immer selbstverständlich gewesen war.
In der Euro-Zone fehlt bis heute das Amt eines Geldwardeins.
Schon nach zwei Jahren ergriff Friedrich Ernst Roessler die Chan-
ce, sich selbstständig zu machen. Er wollte die Scheideanstalt nicht
mehr als städtischer Beamter, sondern auf eigenes Risiko führen. Die
zuständige Behörde willigte mit dieser Begründung ein: »Solche Fab-
rikate werden immer für Rechnung von Privaten weit schwungvoller
und erfolgreicher betrieben als für Staatsrechnung.« Eine frühe Er-
kenntnis der Vorteile, die Privatisierungen mit sich bringen können!
So wurde die Scheiderei dem Herrn Roessler gegen Pacht und Sicher-
heitsleistung überlassen. Es war ein kapitalintensives Geschäft, für
die zinslosen Vorschüsse bürgte sein Schwiegervater. Am 2. Januar
1843 nahm Roessler mit fünf Mitarbeitern den Betrieb auf. Damit
entstand das, was sich später zum Weltkonzern Degussa entwickeln
sollte.
Noch 1871, zu Beginn der Währungsreform auf Raten, belief sich der
Metallgeldvorrat in Deutschland nach einer plausiblen Schätzung auf
knapp zwei Milliarden Mark, davon 82 Prozent in- und ausländische
Silbermünzen, zwölf Prozent ausländische Goldmünzen und vier Pro-
zent in Deutschland geprägte Goldmünzen. Der Rest entfiel auf
Scheidemünzen, bei denen der Metallwert - wie bis heute üblich -
keine Rolle spielt. Das vermittelt eine Vorstellung davon, welche Ar-
beit auf die Scheideanstalten zukam, welche Mengen an Metall einzu-
schmelzen waren, nachdem sich das Kaiserreich für den Goldstandard
entschieden hatte.
In der Praxis sah das vor 1871 so aus, dass ein größerer Zahlungsein-
gang aus einem Dutzend ganz verschiedener Silber- und Goldmün-
zen aus dem In- und Ausland bestehen konnte. Dann kam es immer
wieder zum Streit zwischen Zahlenden und Empfängern, wie Spren-
ger in seiner Geldgeschichte schildert. An den großen Finanzplätzen
Frankfurt und Hamburg, aber auch an den kleineren Börsen, wurden
regelmäßig Kurse für Münzen und Papiergeldsorten gestellt. Bei
20 Mitgliedern des Deutschen Bundes befand sich staatliches Papier-
geld als gesetzliches Zahlungsmittel im Umlauf, und noch 1871 emit-
Sieben Währungsgebiete und ein Dutzend Münzsysteme in Deutschland 25
Die Ursachen der Misere waren dieselben wie bei allen früheren und
späteren Inflationen: massive Geldmengenausweitung durch die Re-
gierungen. Nur wurde damals zu diesem Zweck kein Papiergeld ge-
druckt. Die deutschen Fürsten setzten minderwertiges Geld in Um-
lauf, indem sie den vorgeschriebenen Silbergehalt der Münzen auf
die Hälfte oder ein Drittel herabsetzten, manchmal auch auf ein
Sechstel oder auf null. So wurde der Finanzbedarf für den Krieg ge-
deckt - im Prinzip nicht anders als in allen großen Kriegen.
Und nicht anders als unter dem Papiergeldstandard erzeugte die
Geldmengenexplosion des 17. Jahrhunderts zunächst eine kurze, in-
flationäre Scheinblüte, die, so berichtet Sprenger, vor allem zulasten
der Festbesoldeten ging, zulasten der Rentiers, Zinsempfänger, der
Auch früher versuchte die Obrigkeit zu inflationären 27
Lehrer, Pfarrer und der »kleinen Leute«. Der Volksmund sprach von
der Kipper- und Wipperzeit, benannt nach der Geldwaage, die wipp-
te und zu der Seite kippte, auf der die besseren und schwereren Mün-
zen lagen. 1623 beendeten die Münzherren das böse Spiel, prägten
wieder gutes Geld und hielten sich an die Regeln der Reichsmünz-
ordnung.
Etwas anderes muss erwähnt werden, weil es sich bis zum heutigen
Tag unter anderen Umständen immer wieder einmal wiederholt: Die
Leute ließen sich anfangs täuschen und wechselten ihre Ersparnisse
an guten Reichstalern und Goldmünzen in minderwertige Kipper-
münzen ein, »in dem Wahn, dadurch reicher zu werden, da man ja
eine nominal höhere Summe erhielt«, so Sprenger. Gold in solchen
Zeiten loswerden zu wollen und in Nominalwerte zu tauschen, hat
sich noch nie ausgezahlt.
Die beste Währung
aller Zeiten
Bevor wir uns mit der Währungsneuordnung der Siebzigerjahre des
19. Jahrhunderts und dem Goldstandard befassen, dem besten Geld,
das Deutschland jemals hatte, müssen wir uns noch einmal der Fami-
lie Roessler und dem Aufstieg ihrer Scheideanstalt zuwenden. Maß-
geblich für die Firmengeschichte waren damals die großen politi-
schen Umbrüche, insbesondere der Anschluss Frankfurts an Preußen
1866 und die Reichsgründung 1871, auf die eine neue Währungsord-
nung folgte.
Nachdem Frankfurt im innerdeutschen Krieg auf die falsche Karte
gesetzt hatte, nämlich auf Österreich, verlor die Stadt ihre Unabhän-
gigkeit. Per Gesetz vom 20. September 1866 wurde Frankfurt preu-
ßisch. Die »Kriegssteuer« in Höhe von 5,7 Millionen Gulden musste
noch 1866 gezahlt werden. Sie wurde in Form von Silbermünzen in
acht Eisenbahnwaggons nach Berlin geschafft. Als die Preußen zu-
sätzliche 25 Millionen Gulden verlangten, worauf sie später dann
doch verzichteten, nahm sich der Bürgermeister das Leben.
Die politische Wende von 1866 hatte zur Folge, dass aus der Münz-
prägeanstalt der Stadt eine preußische Behörde wurde. Sie wurde
dem Finanzminister in Berlin unterstellt, und der war nicht damit
einverstanden, dass der Münzwardein Friedrich Ernst Roessler in
den Räumen der Münze auch noch seine private Scheideanstalt be-
trieb. Roessler entschied sich dafür, lieber Münzwardein zu bleiben.
1873 schied er mit 60 Jahren aus dem Amt. 1879 wurde die Frankfur-
ter Münze geschlossen.
Die Scheideanstalt musste aus dem Gebäude Münzgasse 20 auszie-
hen, sie wurde am 1. Januar 1868 als privates Unternehmen neu eröff-
net, nachdem die Söhne Heinrich und Hector den Betrieb zunächst
in die Schneidwallgasse umgelagert hatten. Die Firma nannte sich
jetzt »Friedrich Roessler Söhne«. Heinrich (1845-1924) übernahm
die Scheiderei, Hector (1842-1915) schon vorher das Chemikalien-
30 Die beste Währung aller Zelten
Voll ausgelastet war die Belegschaft in den ersten Jahren nach Grün-
dung der AG mit den bereits erwähnten Reichsscheidungen, das
heißt mit dem Einschmelzen und Scheiden der Landesmünzen im
Auftrag der Reichsregierung. Mit 800 Tonnen war im Geschäftsjahr
1877/78 der Höhepunkt erreicht. 1879 beendete Berlin die Reichs-
scheidungen, und der Frankfurter Betrieb verlor 90 Prozent seiner
Aufträge.
Der lange Zeit mit der Degussa verbundenen Norddeutschen Affi-
nerie, die ebenfalls von der Münzumstellung profitiert hatte, erging
es nicht anders. Dass die Degussa weiterhin gut im Geschäft blieb,
verdankte sie einer auf die Reichsscheidungen folgenden Innovation,
nämlich dem Glanzgold, das zur feuerfesten Dekoration von Porzel-
lan und Glas verwendet wurde - ein fulminanter Erfolg für die Firma
auch in den USA. Das Glanzgold habe das Fortbestehen des Unter-
nehmens für viele Jahre gesichert, urteilt die Firmengeschichte »Im
Zeichen von Sonne und Mond«. Aber dies gehört zusammen mit der
wachsenden Chemiesparte eigentlich nicht mehr zu unserer Erzäh-
lung, die sich im weiteren Verlauf auf das Edelmetallgeschäft im en-
geren Sinne und auf die deutsche Geldgeschichte beschränken wird.
32 Die beste Währung aller Zelten
Auf dieser Basis baute die Währungsumstellung von 1871 auf, und sie
wurde in mehreren Schritten bedachtsam so weiterentwickelt, dass
sie mit dem Wachstum der Wirtschaft, der Steigerung des Lebens-
standards und der Expansion des Welthandels kompatibel blieb. Der
Goldstandard behinderte die rapide Industrialisierung Deutschlands
und den Aufstieg zur Großmacht nicht nur nicht, er schuf vielmehr
die soliden monetären Vorbedingungen dafür.
Das erste diesbezügliche Gesetz, dem spätere folgten und das nicht
mehr als 13 Paragrafen umfasste (man vergleiche damit die unsägli-
chen Hervorbringungen der EU-Bürokratie), datiert vom 4. Dezem-
ber 1871. Paragraf 1 lautete: »Es wird eine Reichsgoldmünze ausge-
prägt, von welcher aus Einem Pfunde feinen Goldes 139 / Stück1
2
ausgebracht werden.«
Paragraf 2 führte das Dezimalsystem im Reich ein und lautete:
»Der zehnte Theil dieser Goldmünze wird Mark genannt und in hun-
dert Pfennige eingetheilt.«
Paragraf 3 bestimmte, dass außer der Reichsgoldmünze zu
10 Mark eine solche zu 20 Mark ausgeprägt werden sollte, und zwar
aus einem Pfund Feingold 69 % Stück. Paragraf 4 legte das Mi-
schungsverhältnis fest: »900 Tausendtheile Gold und 100 Tausend-
theile Kupfer.«
Somit wog die größere Goldmünze 7,965 Gramm bei einem Fein-
goldgehalt von 7,168 Gramm und die kleinere 3,982 Gramm bei ei-
nem Feingoldgehalt von 3,584 Gramm. (Auch bei den heutzutage be-
Mit der Reichsgründung kam die neue Währung 35
Umrechnung von den alten auf die neuen Münzen noch weitaus
komplizierter.)
Erst das Münzgesetz vom 9. Juli 1873 beendete de jure den Bi-
metallismus und bestimmte: »An die Stelle der in Deutschland gel-
tenden Landeswährungen tritt die Reichsgoldwährung.« Zugleich
wurden verschiedene Scheidemünzen eingeführt, deren Material-
wert unter dem Nennwert lag: Kupfermünzen zu 1 und 2 Pfennig,
Nickelmünzen zu 5 und 10 Pfennig und Silbermünzen zu 20 und
50 Pfennig und zu 1, 2 und 5 Mark mit einem Mischungsverhältnis
von 900 Teilen Silber und 100 Teilen Kupfer.
Gesetzliche Zahlungsmittel wurden die neuen Silbermünzen nicht.
Der Gesamtbetrag sollte bis auf Weiteres 10 Mark pro Kopf der Bevöl-
kerung nicht übersteigen. Und sie mussten nur bis zu einer Obergren-
ze von 20 Mark in Zahlung genommen werden. Außerdem blieb ein
Teil der alten silbernen Ländermünzen im Verkehr - auch nachdem
der wertmäßige Anteil der Goldmünzen am Münzgeldumlauf den der
Silbermünzen Ende der 1870er-Jahre deutlich überholt hatte.
Die alten silbernen 1-Taler-Stücke blieben bis zum 1. Oktober
1907 gesetzliches Zahlungsmittel. Erst das Münzgesetz vom 1. Juni
1909 erklärte die Goldwährung als vollständig eingeführt. Damit en-
dete die »hinkende Goldwährung« im Reich.
»Es ist etwas schwierig zu bestimmen, wann eigentlich Deutsch-
land zur Goldwährung übergegangen ist«, schreibt Knut Borchardt
in dem von der Bundesbank herausgegebenen Band Währung und
Wirtschaft in Deutschland 1876-1975. Die Münzgesetze von 1871
und 1873 gaben den Weg vor, 1874 und 1875 wurde die auf Mark lau-
tende Reichswährung nach und nach von allen Bundesstaaten außer
Bayern eingeführt - bis sie dann zum 1. Januar 1876 vom Kaiser im
ganzen Reich in Kraft gesetzt wurde.
Die Reichsbank war bis 1907 berechtigt, ihren Verpflichtungen in
Silber nachzukommen. Sie hätte damit sogar ein gutes Geschäft ge-
Mit der Reichsgründung kam die neue Währung 37
Alles andere wurde im Bankgesetz von 14. März 1875, dem wohl be-
deutendsten Rechtsakt der neuen Geldordnung, in 66 Paragrafen ge-
regelt. Dessen Aufbau ist aus heutiger Sicht gewöhnungsbedürftig.
Titel I befasst sich mit den Rechten und Pflichten der Banken im All-
gemeinen, nicht nur der Reichsbank, bei der Ausgabe von Bank-
noten. Titel II widmet sich speziell der Reichsbank, die zum 1. Januar
1876 ihre Arbeit aufnahm. Und Titel III ist den Privatnotenbanken
vorbehalten, deren Befugnisse schon in Titel I angesprochen wurden.
Diese etwas umständliche Gliederung des Gesetzes erklärt sich
daraus, dass ein staatliches Geldmonopol im 19. Jahrhundert keines-
Der rechtliche Rahmen des Goldstandards 39
Die Rolle der privaten Notenbanken müssen wir nur kurz streifen.
1875 existierten noch 32 von ihnen. Später ging die Zahl zurück, und
juristisch endete dieses Kapitel der deutschen Geschichte erst unter
der staats- und parteimonopolistischen Hitler-Diktatur. Dabei ist es
bis heute geblieben.
Gefahren für die Geldwertstabilität gingen von den privaten No-
tenbanken zu keiner Zeit aus. Dafür sorgten die Vorkehrungen des
Bankgesetzes. Erstens waren die Banken verpflichtet, »ihre Noten so-
fort auf Präsentation zum vollen Nennwerthe einzulösen«, und zwar
gegen Bargeld - und damit waren nicht etwa eigene Noten oder No-
ten der Reichsbank gemeint, sondern Edelmetall.
Zweitens mussten die Banken eine Steuer von fünf Prozent an die
Reichskasse entrichten, sobald ihr Notenumlauf ihren Barvorrat und
einen Höchstbetrag überstieg, der ihnen in einer Anlage zum Bank-
gesetz zugewiesen wurde. Für die Lübecker Privatbank zum Beispiel
lag die Obergrenze für ungedeckten Notenumlauf bei 500.000 Mark,
für das Institut Bayerische Banken bei 32 Millionen und für die
Reichsbank, die insofern gleich behandelt wurde, bei 250 Millionen.
Die Wirkung dieser Vorschrift: Der noch 1874 weit überhöhte Bank-
notenumlauf der Privatbanken, mit dem sie den Gründerboom ange-
heizt hatten, schrumpfte bis 1876 auf die Hälfte. Danach überschrit-
ten die privaten Notenbanken nie die ihnen zugeteilten Kontingente
und vermieden damit die Steuer von fünf Prozent.
Drittens musste jede Bank viermal im Monat die Höhe des Barvor-
rats und der ausgegebenen Noten feststellen und dies den Aufsichts-
behörden melden.
Und viertens war der Reichskanzler »jederzeit« befugt, die Bücher,
Kassenbestände und Geschäftsräume der Banken überprüfen zu las-
sen. Wenn ein Institut die Vorschriften verletzte oder wenn sich das
Private Notenbanken? Warum nicht? 41
Der Begriff »coursfähiges Deutsches Geld« bezog sich auf Gold und
Silber, und dementsprechend hätte die Reichsbank ihre Noten auch
in Silber zahlen können. Das hat sie jedoch gegen den Willen der Ein-
reicher nie getan. Schon die Preußische Bank war 1875 vom Reichs-
42 Die beste Währung aller Zelten
Flexibel und kein Hindernis für die bis 1914 stark expandierende
deutsche Volkswirtschaft war der Goldstandard auch deswegen, weil
nur die Banknoten gedeckt sein mussten, nicht aber das Buchgeld.
Letzteres ist bekanntlich auch im Euro-System von geringerer Quali-
tät und weniger sicher als die Banknoten.
Die Deckung nur durch Goldmünzen und Goldbarren ging nach der
Gründung der Reichsbank von 41,9 Prozent auf ein Tief bei 28 Pro-
zent im Jahre 1882 zurück, stieg dann wieder auf über 60 Prozent und
betrug 1913 noch 44,5 Prozent und damit mehr als 1876. Das war
ausreichend, denn dass alle Besitzer von Banknoten diese einlösen
würden, war schwer vorstellbar.
Dies auch deswegen, weil keine bisherige deutsche Regierung das
Recht so hoch geachtet hat wie die des Kaiserreichs und weil die Bür-
ger dem Einlöseversprechen voll vertrauten - bis es dann 1914 kriegs-
bedingt doch gebrochen wurde.
Nach den Spielregeln des Goldstandards, die hier nicht erschöp-
fend untersucht werden können, mussten die Ansprüche des Auslan-
des ebenso honoriert werden wie die der Inländer. Daran hielt sich
die Reichsbank, freilich mit kleinen Einschränkungen. Ebenso wie
bei der Bank of England und der Banque de France, die auf den größ-
ten Goldreserven überhaupt saß, sah man es in Berlin ungern, wenn
Gold ins Ausland abfloss. Die Französische Zentralbank weigerte
sich gelegentlich schon einmal, Gold abzugeben. Und die Bank of
Wie der Goldstandard funktionierte 45
Die andere wichtige Neuerung durch die Novelle vom 1. Juni 1909
betraf die Reichsbanknoten. Sie wurden jetzt mit der Eigenschaft ei-
nes gesetzlichen Zahlungsmittels ausgestattet. In der Praxis bedeutete
das, dass der Kunde einer Bank Reichsbanknoten nicht mehr ableh-
nen und nicht mehr auf der Zahlung in Goldmünzen bestehen konn-
te - was bei höheren Beträgen von der Bank als Schikane empfunden
wurde. Damit folgte Deutschland dem Beispiel Englands und Frank-
reichs, wo die Noten schon seit 1834 bzw. 1870 gesetzliche Zahlkraft
besaßen. In aller Regel wurden im Reich schon vor 1909 Banknoten
akzeptiert, obgleich die Goldmünzen populärer blieben.
Das Prinzip der Goldwährung wurde durch die Novellierung des
Bankgesetzes nicht angetastet. Es wurde eher noch verschärft, indem
der Begriff des kursfähigen deutschen Geldes durch »deutsche Gold-
münzen« ersetzt wurde. Die Reichsbank war fortan verpflichtet, wie
bereits dargelegt, ihre Noten nur noch gegen Gold einzulösen, nicht
mehr gegen Silber - was sie aber auf Verlangen schon vorher getan
hatte.
Wenn Verdacht auf unerwünschte, größere Exporte von deut-
schem Gold bestand, wurde die Einlösung manchmal behindert oder
verzögert. Dann wurden die eingereichten Noten oder die auszuzah-
lenden Goldmünzen umständlich geprüft, oder man wurde von den
Zweiganstalten der Reichsbank an die Hauptkasse in Berlin verwie-
46 Die beste Währung aller Zelten
sen. Rechtswidrig war das nicht, denn die Filialen mussten Gold nur
nach Lage ihrer Kassenbestände abgeben. Jedenfalls wurde die Einlö-
sepflicht bis 1914 nie aufgehoben, und es wurde auch kein Exportver-
bot für Gold verhängt. Die Mark war so gut wie Gold.
Das war der Amerikanische Dollar - im Außenverhältnis - unter
dem System von Bretton Woods auch, bis Präsident Nixon im August
1971 das Goldfenster schloss und die vertragliche Verpflichtung der
USA einseitig aufkündigte, im Verkehr mit ausländischen Zentral-
banken auf Verlangen Dollars in Gold zum Preis von 35 Dollar je
Feinunze einzutauschen. Damit endete die stark abgespeckte Version
des klassischen Goldstandards - abgespeckt, weil die amerikanischen
Bürger selbst ihre Dollars nicht einlösen durften und weil ihnen
überdies bis 1974 der Besitz von monetärem Gold verboten war.
Auch wenn die Großhandelspreise, was immer noch gilt, nicht iden-
tisch waren mit den Verbraucherpreisen, auch wenn solche Statisti-
ken grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen sind, ändert das nichts an
dem Befund, dass Hartgeld, das heißt gedecktes Geld, permanente
Inflation verhindert hat. Trotz aller Schwankungen blieb die Kauf-
kraft eines Talers oder einer Goldmünze vom Beginn der Industriali-
sierung in den 1840er-Jahren bis zum Ende der langen Friedensperi-
ode mehr oder weniger konstant.
Dass der Krieg monetäre Konsequenzen haben würde, war den Deut-
schen im Sommer 1914 schon klar. Dafür sprach die historische Er-
fahrung. In den letzten acht Julitagen verlor die Reichsbank Gold im
Wert von 100 Millionen Mark, weil die Bevölkerung Banknoten ge-
gen Goldmünzen eintauschte. Am 31. Juli beendete die Reichsbank
die Einlösung. Damit endete der klassische Goldstandard.
Die gesetzliche Grundlage für den Übergang zur Papierwährung
wurde am 4. August 1914 geschaffen. Pro forma blieb die Dritteide-
54 Das deutsche Trauma: Wenn Geld wertlos wird
Hilfreich für die Akzeptanz der Rentenmark war ein kluger Einfall
der Reichsbank. Man beschloss, den offiziellen Dollarkurs einzufrie-
ren, als dieser am 20. November 1923 einen Stand von 4,2 Billionen
Mark erreicht hatte. Damit konnte 1 zu 1 Billion umgestellt werden.
Das machte den Übergang zur Rentenmark leichter. Es brauchte nur
60 Das deutsche Trauma: Wenn Geld wertlos wird
noch das Komma versetzt zu werden. Jetzt kostete der Dollar wieder
4,20 Mark - wie zu Zeiten der guten alten Goldmark. Schon im De-
zember begannen die Preise in Deutschland deutlich zu sinken.
Den juristischen Schlussstrich unter die Hyperinflation zog das
Währungsgesetz vom 30. August 1924. Die Reichsbank wurde (über
das Gesetz von 1922 hinaus) vollkommen unabhängig von der Regie-
rung - ein Status, den sie im Dritten Reich wieder verlor. Neue Wäh-
rungseinheit wurde die Reichsmark. Für 1 Billion alte Mark gab es
1 neue Reichsmark - und diese entsprach 1 Goldmark.
Die Reichsgoldmünzen zu 20 und 10 Mark blieben gesetzliche
Zahlungsmittel. Sie waren jedoch aus dem Verkehr verschwunden
und wurden - anders als die Reichssilbermünzen - auch nicht mehr
geprägt. Die auf Reichsmark lautenden neuen Banknoten waren
nicht einlösbar in Gold, Deutschland kehrte nicht zum klassischen
Goldstandard zurück.
mal Großmacht spielte, relativ arm. Gold war kein gängiges Invest-
ment wie in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren.
In den Jahren nach der Währungsreform war der Umgang der Behör-
den mit dem Silbergeld kein schlechtes Indiz für den sich im Guten wie
im Schlechten anbahnenden Zustand der Wirtschaft und des Geld-
wesens. Schon am 20. März 1924 wurde ein Gesetz über die Ausprä-
gung neuer Reichssilbermünzen erlassen, und zwar zu 1,2 und 3 Mark.
Allerdings betrug das Mischungsverhältnis nicht mehr 900 Teile
Silber und 100 Teile Kupfer, sondern je zur Hälfte Silber und Kupfer.
Dabei sollte, wie es in der Begründung hieß, eine neue Inflation »unter
allen Umständen« vermieden werden. Deswegen durften die Neu-
prägungen nur in dem Maße in den Verkehr gebracht werden, in dem
andere Zahlungsmittel zurückgezogen wurden. Am 30. August 1924
beschloss der Reichstag überdies, Goldmünzen über 10 und 20 Reichs-
mark auszuprägen - ganz so, als kehre die gute alte Zeit zurück. Ge-
prägt wurden die Münzen nie.
Sie gaben Gold für Eisen 63
Wer sich noch Illusionen machte, bekam im Januar 1939 eine weitere
Chance, aufzuwachen. Hitler feuerte den Reichsbankpräsidenten
Hjalmar Schacht und mit ihm sechs von acht Mitgliedern des Reichs-
bankdirektoriums. Alle acht hatten eine vertrauliche »Eingabe an den
Führer und Reichskanzler« am 7. Januar unterzeichnet. Entlassen
64 Das deutsche Trauma: Wenn Geld wertlos wird
wurde auch Wilhelm Vocke, der von 1948 bis 1957 der Bank deut-
scher Länder, der Vorläuferin der Bundesbank, vorstand, sowie Karl
Blessing, Präsident der Bundesbank von 1958 bis 1969.
Derselbe Schacht, der mit seinen Mefo-Wechseln bis 1937 nahezu die
Hälfte der Aufrüstung finanziert hatte, stellte sich vor die Reichsmark
und gegen Hitler, als er den Ruin der ihm anvertrauten Währung
kommen sah. Das Memorandum forderte nichts weniger als ein Ende
der staatlichen Schuldenmacherei und eine Rückkehr zu einer soli-
den Finanz- und Geldpolitik. Wörtlich: »In entscheidendem Maße
aber wird die Währung von der hemmungslosen Ausgabewirtschaft
der öffentlichen Hand bedroht. Das unbegrenzte Anschwellen der
Staatsausgaben sprengt jeden Versuch eines geordneten Etats, bringt
trotz ungeheurer Anspannung der Steuerschraube die Staatsfinanzen
an den Rand des Zusammenbruchs und zerrüttet von hier aus die
Notenbank und die Währung. Es gibt kein noch so geniales und aus-
geklügeltes Rezept oder System der Finanz- und Geldtechnik, keine
Organisation und keine Kontrollmaßnahmen, die wirksam genug
wären, die verheerenden Wirkungen einer uferlosen Ausgabenwirt-
schaft auf die Währung hintan zu halten. Keine Notenbank ist im-
stande, die Währung aufrechtzuerhalten gegen eine inflationistische
Ausgabenpolitik des Staates.« Wie aktuell!
ber 1923 urteilte, dass die Rückzahlung von Schulden mit entwerte-
tem Geld nicht als Tilgung der Schuld gelte. Es folgten Millionen von
Prozessen, in denen sich die Gläubiger mit ihren Schuldnern ausein-
andersetzten.
Abbau der Kosten der Lebenshaltung und damit der Löhne und Ge-
hälter kommen kann.«
Das war 1920, nicht 1923! Im Sommer 1920 war der Höhepunkt
der Kurve nicht annähernd erreicht. Die Hyperinflation und die voll-
ständige Entwertung der Papiermark standen erst noch bevor. Nur
konnte das niemand ahnen - nach vier Jahrzehnten einer wertbe-
ständigen Goldmark, nach vier Jahrzehnten, in denen sich zwar
Preissenkungen und Preissteigerungen abwechselten, eine perma-
nente und sich beschleunigende Inflation jedoch unvorstellbar blieb.
Am 5. März 1923 berichtete der Degussa-Vorstand dann über eine
Geldentwertung, »wie wir sie nie für möglich gehalten hätten«. Han-
del und Industrie seien sich über die Entwicklung »erst nach und
nach mit Staunen und Schrecken klar geworden«.
Und am 31. März 1924, als der Spuk vorüber war, meldete der Vor-
stand, dass die bislang in Papiermark geführten Bücher keinen An-
halt über den Vermögensstand der Gesellschaft geben könnten und
dass auf den 30. September 1924 eine Goldmark-Bilanz aufgestellt
werde.
gen, jetzt stieg er auf 60 Prozent. Völlig neu waren der automatische
Lohnsteuereinbehalt und die Außenprüfungen der Finanzämter.
Am 23. Januar 1925 nannte der Degussa-Vorstand Einkommens-
besteuerungen, die vom Umsatz oder vom Vermögen ausgehen, ein
»Unding«. Moniert wurde überdies die sich ausbreitende Bürokratie,
die »Steuer- und sonstigen Behörden«, die die Unternehmen »mit ei-
nem Übermaß unfruchtbarer Arbeit« belasteten. »Es wäre dringend
zu wünschen, dass bei dem erhofften Wiederaufblühen des deut-
schen Wirtschaftslebens auch die bisher für solche Zwecke bean-
spruchten Arbeitskräfte wieder produktiven Aufgaben zugeführt
werden könnten.« Die Hoffnung trog, der Befund ist auch nach
87 Jahren immer noch hochaktuell.
nicht mehr der Fall zu sein.« Die Rede war von einer »früher ganz
ungewohnten Gleichmäßigkeit der Entwicklung« in den USA, und:
»In unserem eigenen Lande liegt es nicht anders.«
Ein paar Monate später krachte die Börse in New York. Am 7. Januar
1930 konstatierte der Degussa-Vorstand eine »fortschreitende Verwil-
derung der Zahlungssitten« in Deutschland. Am 13. Juli 1931 wurde
die Darmstädter und Nationalbank zahlungsunfähig. In Deutschland
kam es zu einem Run auf die Geldinstitute, und am 14. und 15. Juli
blieben die Banken und Sparkassen geschlossen.
Ebenfalls am 15. Juli 1931 entschloss sich die Berliner Regierung
zur Devisenbewirtschaftung. Sie wurde erst ein Vierteljahr hundert
später, in den Fünfzigerjahren, nach und nach aufgehoben. Im Juli
1931 wurden Devisen, das heißt Fremdwährungen wie der Dollar,
anzeigepflichtig. Sie wurden fortan kontingentiert, das heißt auf An-
trag zugeteilt. Auch für den Kauf ausländischer Aktien und Anleihen
musste eine Genehmigung eingeholt werden. Zweck der Übung war
es, den Kapitalabfluss aus Deutschland zu bremsen, was auch gelang.
Übrigens sehen auch die Euro-Verträge die Möglichkeit von Kapital-
verkehrskontrollen vor.
Ein solches System war nicht kompatibel mit einem freien Gold-
markt. Der Edelmetall verarbeitenden Industrie wurden Kontingente
zugeteilt. Die Degussa als führende Scheideanstalt übernahm die
Verteilung und arbeitete mit der staatlichen Überwachungsstelle für
Edelmetalle zusammen. Die Informationen, die sich für die Zeit bis
1948 aus den Degussa-Geschäftsberichten herausziehen lassen, sind
dürftig. Nach 1945 wurde die Firma, deren Werke größtenteils zer-
stört waren, »entnazifiziert«. Der Vorstandsvorsitzende Hermann
Schlosser, im Krieg »Wehrwirtschaftsführer«, musste seinen Hut
nehmen, wurde vor Gericht gestellt, später aber rehabilitiert.
Als in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre die USA die Rolle der
Schweiz im Zweiten Weltkrieg aufs Tapet brachten, musste auch die
Degussa ihre Vergangenheit noch einmal bewältigen. Das Unterneh-
men und später die Evonik Industries, die die Chemiesparte der De-
gussa übernahm, entschieden sich für eine rückhaltlose Aufklärung,
finanzierten die Recherchen und gaben unabhängigen Wissenschaft-
lern uneingeschränkten Zugang zum Unternehmensarchiv. Die For-
schungsergebnisse zu rekapitulieren, würde den Rahmen unserer
Deutschland unter dem nationalen Sozialismus 77
Darstellung, die sich mit der deutschen Geldgeschichte aus Sicht des
Anlegers befasst, sprengen. Interessierte Leser seien auf die im Litera-
turverzeichnis aufgeführten Arbeiten von Ralf Banken und Peter
Hayes von der Northwestern University Illinois verwiesen.
Devisenkontrollen, Goldablieferung,
Kapitalflucht
Auch wenn das Hitler-Regime von der soliden Finanzpolitik der vor-
herigen Regierungen profitiert hatte, so blieb doch die Knappheit an
Devisen und Gold, die für die Bezahlung der Importe benötigt wur-
den. Daher die Bewirtschaftung und Kontingentierung der Edelme-
talle, auch des für die Rüstung wichtigen Platins. Daher auch die
Fortführung und Verschärfung der im Jahr 1931 eingeführten Devi-
senkontrollen.
Um die Devisenreserven des Reichs aufzufüllen, kam Berlin 1936
auf die Idee, dass die deutschen Anleger ihre ausländischen Wertpa-
piere und andere Auslandsvermögen verkaufen sollten - zunächst
freiwillig. Am 16. Oktober 1937 folgte die gesetzliche Verkaufspflicht.
Devisenkontrollen, Goldablieferung, Kapitalflucht 79
In einer ganz anderen Situation als die Mehrheit der Deutschen war
die entrechtete jüdische Minderheit. 1933 und 1934 konnten jüdische
Bürger, die auswandern wollten, Schmuck und Gegenstände aus Edel-
metall noch mitführen - nicht aber in- und ausländische Goldmün-
zen. Ab 1936 wurde die Gestapo eingeschaltet, Schmuck und andere
Edelmetallwaren wurden bei Auswanderern beschlagnahmt. Schließ-
lich wurde die Mitnahme von Gold und Platin generell verboten.
Was 1948 übrig blieb 81
Arbeit im März 1946 und legte schon zwei Monate später ihren
Schlussbericht vor, nachdem sie 30 verschiedene deutsche Pläne für
eine Währungsreform begutachtet hatte. Man empfahl eine Umstel-
lung 10 zu 1 sowie einen Lastenausgleich in Deutschland.
Schon bald nach Kriegsende verkehrten sich die politischen Fron-
ten in Europa. Die USA gingen auf Konfrontation zur Sowjetunion,
mit der zusammen sie eben noch Deutschland besiegt hatten, und
diese Umkehr der Allianzen ersparte den Deutschen eine unabsehbar
lange, miserable Besatzungsexistenz. Bereits 1946 zeichnete sich ab,
dass sie - aus amerikanischer Sicht - wieder gebraucht würden.
In dieser Zeit setzte die neue Währung Muskeln an. In den Fünfziger-
jahren verdoppelte sich das reale Sozialprodukt Deutschlands. Bis
Ende 1958 konnte die Notenbank Auslandsaktiva in Höhe von
27 Milliarden Mark anhäufen, darunter Goldreserven im Gegenwert
Schon 1958 hatte Deutschland Großbritannien überholt 91
von elf Milliarden Mark. Bereits 1958 hatte Deutschland 9,2 Prozent
der Weltexporte erobert. Die Periode von 1951 bis 1961 erbrachte fast
ununterbrochen hohe Überschüsse in der Handels- und Leistungsbi-
lanz, die sich auf 43 Milliarden Mark kumulierten. Ein krasser Unter-
schied zum Euro-Regime, unter dem die deutschen Handelsbilanz-
überschüsse ebenso wie der Großteil der Bundesbankgewinne
europäisiert werden und sich damit verflüchtigen - siehe dazu die
Publikationen von Professor Dieter Spethmann.
Verglichen mit den frühen Fünfzigerjahren nahmen sich spätere
Herausforderungen, vor die die deutsche Wirtschaft gestellt war, ge-
radezu harmlos aus. Aber in der Ära Erhard stimmten eben die Vor-
gaben und Rahmenbedingungen der Politik. Bürokratie wurde in
großem Maßstab abgebaut, es wurde dereguliert, die Steuern wurden
gesenkt, die Regierung bunkerte Überschüsse im sogenannten Julius-
turm, es wurde investiert statt umverteilt.
Ein gutes Beispiel dafür, dass in der Politik eine Kraftprobe nicht früh
genug gesucht werden kann, wenn es um Grundsätzliches geht.
In den allerersten Jahren sah es um die junge D-Mark nicht gut aus.
Die Preise stiegen nach der Währungsreform rasant, die Gewerk-
schaften organisierten im November 1948 einen Generalstreik, die
Zahlungsbilanz verschlechterte sich im Sommer 1950 dramatisch,
die deutsche Kreditquote bei der neu gegründeten Europäischen
Zahlungsunion (EZU) war fast völlig ausgeschöpft. 1951 stiegen die
Verbraucherpreise um 7,7 Prozent. Eine Zeit lang wurde sogar über
die Möglichkeit einer DM-Abwertung diskutiert.
Auf Bitten der Regierung hatte der Zentralbankrat seine Sitzung
an jenem 26. Oktober 1950 in das Museum König in Bonn verlegt, in
dem damals vorübergehend das Kanzleramt untergebracht war. Ade-
nauer und die übrigen Regierungsmitglieder waren im Protokoll als
»Gäste« aufgeführt.
Der Kanzler plädierte gegen die geplante Zinserhöhung. Dazu hat-
te er sich offenbar mit seinem Freund, dem Bankier Pferdmenges, be-
raten, der in Bonn als graue Eminenz galt. Adenauer beschloss seinen
Vortrag mit dem Argument: »Im Übrigen ist Herr Pferdmenges als
Sachkenner absolut gleicher Meinung.« Nur Bundeswirtschaftsmi-
nister Erhard sprach sich für eine Zinserhöhung aus. Nur so könne
man hoffen, die Zahlungsbilanz wieder zu verbessern. Darauf Ade-
nauer unwirsch: »Ach, hören Sie nicht auf den.«
Die Notenbanker waren nicht beeindruckt. Nachdem der Kanzler
und seine Minister abgezogen waren, beschloss der Zentralbankrat,
den Diskontsatz von vier auf sechs Prozent anzuheben. Im Februar
1956 kam es noch einmal zum Krach, als Adenauer in einer Rede in
Köln gegen zwei Diskontsatzerhöhungen polemisierte. Wieder stand
Erhard auf der Seite der Notenbank, auch diesmal konnte sich der
Regierungschef nicht durchsetzen.
94 Wohlstand für alle: Der unglaubliche Aufstieg der Deutschen Mark
1949 war die Mark, die zuvor bei 3,33 zum Dollar fixiert war, zur Vor-
kriegsparität von 4,20 Mark zurückgekehrt. Dabei blieb es bis zur
Aufwertung von 1961, mit der den inflationären Tendenzen und
übermäßig großen Leistungsbilanzüberschüssen entgegengewirkt
werden sollte, die damals im Ausland Missfallen erregten.
Es sagt sich leicht und ist allgemeiner Konsens, dass die Deutsche
Mark seit den Fünfzigerjahren bis zu ihrem Ende neben dem Schwei-
zer Franken die stabilste Währung Europas oder sogar der Welt war.
Aber was ist damit eigentlich gemeint? Wie kann eine Währung »sta-
biler« als andere sein? Entweder ist sie stabil oder instabil. Fragt sich
nur, in Bezug worauf.
Wenn wir uns den Binnenwert anschauen, dann war überhaupt
keine Währung stabil. Im Zeitraum von 1948 bis 1998, dem letzten
Jahr der deutschen Währungssouveränität, verlor die D-Mark gemes-
sen an den offiziellen Verbraucherpreisen gut drei Viertel ihrer Kauf-
kraft - in Wirklichkeit wahrscheinlich noch mehr.
Inflation und Schulden in der Ära der D-Mark 95
Von Preisstabilität wie zu Zeiten des klassischen Goldstandards,
als die Preise zeitweise fielen und zeitweise stiegen, per Saldo der
Geldwert aber erhalten blieb, konnte keine Rede sein. Relativ zu an-
deren Währungen schnitt die Mark allerdings hervorragend ab. Der
Französische Francs etwa oder die Italienische Lira hatte schon in der
Mitte der Siebziger)ahre und nicht erst 1998 im Vergleich zu 1950
drei Viertel ihrer Kaufkraft eingebüßt.
Selbstverständlich verlief der inflationäre Prozess auch in Deutsch-
land nicht linear, sondern zyklisch. In der ersten Phase von 1948 bis
1969 erfreute sich Deutschland, um die Diktion der Bundesbank zu
verwenden, eines »hohen Maßes an Preisstabilität«. Es kam zu inflati-
onären Ausreißern (1951 mit einem Anstieg der Verbraucherpreise
um 7,7 Prozent, 1966 mit einem Plus von 3,5 Prozent), aber am Ende
der Sechzigerjahre lag die Preissteigerungsrate wieder bei 1,9 Prozent.
Die Spitze wurde 1974 mit einer Inflationsrate von 6,9 Prozent im
Jahresvergleich erreicht. Ende 1973 hatten die ölexportierenden Staa-
ten beschlossen, die Ölpreise zu vervierfachen. Und Anfang 1974
meldeten sich die Gewerkschaften mit exorbitanten Lohnforderun-
gen. Es drohte eine Lohn-Preis-Spirale, eine Vorwegnahme erwarte-
ter Inflation durch hohe Tarifabschlüsse, wodurch die Inflation wei-
ter angeheizt wurde.
Die Experten waren sich nicht mehr sicher, ob die Geldentwertung
in Deutschland noch zu zügeln sei. Die Bundesbank trat auf die
Bremse, die Inflation schwächte sich ab, und eine Jahresrate von über
sechs Prozent wurde erst 1981 vorübergehend wieder erreicht. Da-
nach ging die Inflation in den Achtzigerjahren deutlich zurück. 1986
sanken die Preise sogar um 0,2 Prozent. Erst die Wiedervereinigung
brachte Anfang der Neunzigerjahre einen neuen Inflationsschub.
Einmal abgesehen davon, dass Deutschland 1948 nicht zur Gold-
deckung zurückgekehrt war, war es der Bundesbank trotz Geldmen-
96 Wohlstand für alle: Der unglaubliche Aufstieg der Deutschen Mark
schen Mark am 6. März 1961 bekam man für 1 Mark mehr Gold als
zuvor, nämlich 0,222168 Gramm (1 Unze = 31,1035 Gramm).
Es handelte sich um eine stark abgespeckte Version des klassischen
Goldstandards, die immerhin den Vorteil hatte, dass nicht beliebig
inflationiert und aufgeschuldet werden konnte. Sobald die USA Defi-
zite in der Außenbilanz fuhren, mussten sie damit rechnen, dass aus-
ländische Währungsbehörden ihre überschüssigen Dollars in New
York präsentierten und deren Einlösung in Gold verlangten. Frank-
reich machte unter Charles de Gaulle zum großen Missfallen der
Amerikaner von der Goldeinlösungspflicht Gebrauch, die Bundesre-
publik als treuer Verbündeter nicht.
der ihr anvertrauten Währung gemeint ist. Ja, wenn wir darauf abhe-
ben, dass die Mark mit einer fast immer soliden Leistungsbilanz, mit
wachsendem Wohlstand und mit einer auf dem Weltmarkt sehr kon-
kurrenzfähigen Volkswirtschaft kompatibel war. Und ja, wenn wir
die Entwicklung des Außenwertes mit dem anderer Währungen ver-
gleichen - ein in der Regel brauchbarer Maßstab, denn langfristig
folgt der Außenwert im Wesentlichen dem Binnenwert, das heißt den
Inflationsunterschieden.
In den vier Jahrzehnten von 1953 bis 1993 glänzte die Deutsche Mark
mit einer enormen Aufwertung, die das Land reicher machte und die
übrigens keineswegs die deutsche Exportwirtschaft ruinierte. In die-
sem Zeitraum rutschte das Britische Pfund von 11,70 auf 2,48 Mark,
100 Französische Francs sackten von 119,47 auf 29,19 Mark ab, und
der Dollar verlor von 4,20 auf 1,65. Die südeuropäischen Währungen
wurden mehr oder weniger pulverisiert, während der Österreichi-
sche Schilling und der Holländische Gulden nur relativ wenig im Au-
ßenwert nachgaben. Ein bisschen Studium der Währungsgeschichte
- und schon hätte man gewusst, wer zu einem überlebensfähigen
Euro gepasst hätte und wer nicht. Währungen, die schon im EWS
nicht stabil waren, würden das nach menschlichem Ermessen auch
unter dem Euro-Regime nicht sein.
Wie Deutschland in die
Falle lief
Große historische Ereignisse kommen manchmal auf triviale Weise
zustande. In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1991, als sich
die Vertreter von zwölf europäischen Regierungen im niederländi-
schen Grenzort Maastricht auf die Entmachtung der Deutschen Bun-
desbank und das Ende der Deutschen Mark einigten, waren die bei-
den Herren, die aus den 30-stündigen Beratungen als Sieger
hervorgingen, mit ihren Gedanken nicht mehr bei der Sache. Italiens
Ministerpräsident Andreotti gab sich einem ausgedehnten Konfe-
renzschlafhin, aus dem er nur gelegentlich aufschreckte. Und Frank-
reichs Präsident Mitterrand döste mit offenen Augen und war ganz
eindeutig abwesend, wie ein indiskreter Konferenzteilnehmer später
ausplauderte.
In der Tat waren die verhängnisvollen Beschlüsse von Maastricht
derart kompliziert, dass man - nach Meinung des britischen Wirt-
schaftsmagazins Economist - Masochist sein musste, um den Text
von A bis Z zu lesen. Gründlich gelesen hat ihn wohl keiner der in
Maastricht versammelten Staatsmänner, sonst wäre ihnen aufgefal-
len, dass sich einige Artikel widersprachen. Der Text wurde später in
aller Heimlichkeit bereinigt und am 7. Februar 1992 offiziell unter-
zeichnet.
Aber selbst da hatten die Engländer, die sich in Maastricht tapfer
gegen die Pressionen Kohls und Mitterrands verteidigt hatten, immer
noch ihre Zweifel. »Wir sollten jetzt besser herausfinden, was wir da
unterschrieben haben«, flüsterte Außenminister Douglas Hurd ei-
nem Landsmann zu.
Sie fanden es heraus und kamen zu dem Schluss, dass sie dem Euro
besser fernbleiben sollten. Nicht nur die stets kühl kalkulierenden
Briten, auch die Skandinavier zogen es vor, ihre eigenen Währungen
zu behalten. So kam es, dass bis 2012 nur 17 von 27 EU-Mitgliedern
der Währungsunion beitraten, darunter eine Reihe von wirtschaftlich
unbedeutenden Ministaaten, hauptsächlich aber die romanischen
106 Wie Deutschland in die Falle lief
Wie es den anderen gelang, die Deutschen in die Falle von Maastricht
zu locken, wie die Währungshüter der Deutschen Bundesbank über-
tölpelt wurden, wie Helmut Kohl hart am Rande des Verfassungsbru-
ches manövrierte, wie die deutsche Öffentlichkeit bis zuletzt im Un-
klaren gelassen wurde - dies alles trug die typischen Kennzeichen
eines Komplotts.
Die Geschichte dieses Komplotts und seiner Konsequenzen wollen
wir hier aufzeichnen. Vieles lässt sich dabei auf das eigenartige Drei-
ecksverhältnis zwischen dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl,
dem französischen Präsidenten François Mitterrand und dem Präsi-
denten der EG-Kommission, Jacques Delors, zurückführen.
Die Motivation der beiden Franzosen war, wie wir sehen werden,
von Anfang an leicht durchschaubar. Nur Kohls Rolle war nicht ganz
eindeutig. Er handelte als Getriebener und Antreiber zugleich. »D-
Mark und Bundesbank nähern sich mit einem dunklen Rätsel ihrem
Ende«, kommentierte dazu der ZDF-Korrespondent Dieter Balkhau-
sen.
Die Deutsche Mark wird nicht abgeschafft, behauptete Waigel 107
Wer versuchen will, das Rätsel zu lösen, kann sich das Studium re-
gierungsamtlicher Erklärungen sparen. Unsere Nachbarn, die Fran-
zosen, wussten schon immer, dass Politiker im Zweifelsfall lügen. Die
Franzosen haben ein zynisches und daher richtiges Verständnis des
politischen Betriebs. Den Deutschen hingegen kann man ziemlich
leicht ein X für ein U vormachen. »In keinem anderen Staat der mo-
dernen Welt ist so beharrlich-feierlich von Amts wegen gelogen wor-
den«, formulierte es schon der große Historiker Heinrich von
Treitschke.
Die offiziellen Erklärungen hatten denn auch mit der Realität nur we-
nig zu tun:
»Die Kriterien für die Qualifikation zur Währungsunion lauten:
strikte Preisstabilität, unbedingte Haushaltsdisziplin«, erklärte Bun-
deskanzler Kohl am 13. Dezember 1991 vor dem Deutschen Bundes-
tag. Er bezog sich damit auf den soeben ausgehandelten Vertrag von
Maastricht. Nur, von strikter Preisstabilität und unbedingter Haus-
haltsdisziplin war dort mit keinem Wort die Rede.
Oder, ebenfalls Originalton Kohl auf derselben Bundestagssitzung:
»Zu diesem Erfolg - auch das will ich hier dankbar erwähnen - hat
die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Deutschen
Bundesbank in diesen Verhandlungen entscheidend beigetragen.«
Auch davon war kein Wort wahr. Kohl hatte in Maastricht die
Bundesbank vielmehr überrumpelt. Und als sein Presseamt schließ-
lich auch noch millionenteure Zeitungsanzeigen schaltete, in denen
sich die Regierung auf Bundesbankpräsident Schlesinger berief, wa-
ren einige Mitglieder des Zentralbankrates in Frankfurt über diese
108 Wie Deutschland in die Falle lief
Stoltenberg weigerte sich sogar, den Text der Präambel dem Bundes-
bankpräsidenten Karl Otto Pohl zuzustellen. Pohl musste ihn sich bei
seinem französischen Kollegen besorgen. Die deutsche Öffentlichkeit
wurde wach und stellte sich auf die Seite der Bundesbank. Der Zen-
tralbankrat legte ein Veto ein, Kohl musste einen Rückzieher machen.
Die Währungshüter in Frankfurt hatten sich ein letztes Mal durchge-
setzt.
Dass in jenem Jahr 1988 dann doch die Weichen für Maastricht
gestellt wurden, war der schier unerschöpflichen Energie und dem
Machtwillen von Jacques Delors zu verdanken, des heimlichen Dik-
tators von Brüssel, eines hochintelligenten Bürokraten und eines
Workaholic, der vor Übermüdung und unter dem Einfluss von Medi-
kamenten (und gerne auch eines Schlucks Fernet Branca) manchmal
die Maske starrer Höflichkeit fallen ließ.
Frankreich missfiel die Dominanz der Bundesbank 111
Die Bundesbank geriet unter Druck. Sie sah ihre Existenz bedroht.
Ohne die - damals nach außen hin unsichtbare - Rückendeckung
Kohls für Delors wäre dies alles nicht möglich gewesen. Der Kanzler
hatte schon Mitte 1988, als er den Zentralbankrat in Frankfurt auf-
suchte, seine Karten aufgedeckt. »In der Währungsunion«, so ließ er
die Herren des deutschen Geldes damals wissen, »muss Frankreich
entgegengegangen werden. Dies muss man wie das Wetter hinneh-
men. Wenn man merkt, so geht es nicht, muss man es anders ma-
chen. Das ist ein wesentlicher Weg der Politik.«
112 Wie Deutschland in die Falle lief
Dass Kohl, Delors und Mitterrand schon Ende der Achtzigerjahre ge-
gen die Bundesbank und gegen die Mark konspirierten und dass die
Bundesregierung die deutsche Öffentlichkeit mit voller Absicht im
Unklaren ließ, geht auch aus einer Äußerung von Bundesbankpräsi-
dent Pohl im Jahre 1989 hervor: »Wenn der Plan bekannt wird und
die deutsche Bevölkerung begreift, was es damit auf sich hat, vor al-
lem, dass es um ihr Geld geht und dass die Entscheidungen künftig
nicht mehr von der Bundesbank gefällt werden, sondern von einer
neuen Institution, dann, nehme ich an, wird sich erheblicher Wider-
stand regen.«
Und selbst Hans Tietmeyer, ein früherer Staatssekretär im Bundes-
finanzministerium und enger Vertrauter Kohls, warnte am 11. Juni
1991 in seiner damaligen Eigenschaft als Vizepräsident der Bundes-
bank, das vereinte Deutschland könne bei der anstehenden Wäh-
rungsunion viel verlieren, »nämlich eine der erfolgreichsten und bes-
ten Geldverfassungen der Welt«.
Wie also konnte etwas zustande kommen, das kein deutscher No-
tenbankier und kaum ein führender regierungsunabhängiger Fi-
nanzexperte in Deutschland jemals ernsthaft anstrebte? Dafür gibt es
eine plausible Erklärung: Sie liefen alle in eine Falle. Nur die Rolle des
Bundeskanzlers, eines ökonomischen Laien, bleibt streckenweise un-
klar. Einerseits operierte er hinter dem Rücken der Bundesbank und
klärte wohl auch Tietmeyer über seine letzten Absichten nicht immer
Wie Kohl, Mitterrand und Delors gegen die Mark konspirierten 113
Tatsächlich einigten sich Kohl und Mitterrand vier Monate nach dem
entscheidenden Europagipfel in Straßburg vom 8. Dezember 1989
darauf, »parallel« über Währungsunion und Politische Union zu ver-
handeln. Paris sah den politischen Teil der Gespräche allerdings eher
als Tarnung für das Einkreisungsmanöver gegen die Deutsche Mark.
Aber es gibt auch Indizien, dass Kohl ohne klare Zielsetzung auf
Maastricht zusteuerte.
Der Brüsseler ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause über das
diplomatische Tauziehen des Jahres 1991: »Zeitweise wussten nicht
einmal Bonns Unterhändler in der Regierungskonferenz über die Po-
litische Union, was ihr Kanzler darunter verstanden wissen wollte.
Genaue Verhandlungsziele, konkrete Vorgaben wurden ihnen kaum
gemacht.«
114 Wie Deutschland in die Falle lief
Dennoch hielt Kohl nach außen hin bis zuletzt am Junktim fest.
Kurz vor dem Gipfel in Maastricht wurde er gefragt, was er denn tun
werde, falls es am Ende zwar eine Einigung über die Währungsunion,
aber nur einen Minimalkompromiss über die Politische Union geben
werde. Ob er dann den Vertrag unterschreiben werde? Kohls Ant-
wort: »Dann gibt es Krach.«
Zum Krach kam es nicht, der Kanzler gab klein bei. Es war viel-
leicht nicht so, dass er die Mark von Anfang an opfern wollte, sie hat-
te nur keinen großen Stellenwert in seinen Überlegungen. Hinzu
kam, dass ihm die Bundesbank, als es um die Einzelheiten der deut-
schen Währungsunion ging, schon einmal in die Parade gefahren
war. Kohls Verhältnis zu deren Präsidenten Pohl war alles andere als
gut. Die Macht der Bundesbank mit französischer Hilfe zu beschnei-
den - auch das wird ihm nicht ganz ungelegen gekommen sein.
Wie aber war es möglich, dass selbst die Bundesbank in die Falle von
Maastricht lief? Zum einen hatte sie letztlich keinen Einfluss darauf,
was Kohl mit Mitterrand verabredete. Sie konnte nur warnen. Es
stand im Belieben des Kanzlers, auf die Fachleute zu hören oder auch
nicht.
Ein geschickter Schachzug war es überdies, Karl Otto Pohl in die
Vorverhandlungen einzubinden und ihn selbst das Statut einer Euro-
päischen Zentralbank mit ausarbeiten zu lassen. Dem konnte sich
Pohl nicht verweigern. Er machte allerdings den Fehler, zu lange an
die Ernsthaftigkeit des deutschen Junktims zwischen Politischer Uni-
on und Währungsunion zu glauben. Er nahm an, er könne auf Zeit
spielen.
Pohl spielte auf Zeit - und verkalkulierte sich 115
Paris war aber bereit, nahezu alles zu unterschreiben, wenn Kohl nur
die Bundesbank und die D-Mark fallen ließ. Dass Mitterrand nie
ernsthaft vorhatte, die für ihn unbequemen Teile des Maastrichter
Vertrages zu respektieren, hat er dann sehr bald und ganz offen zu
verstehen gegeben. Aber da war es für Bonn schon zu spät, einen
Rückzieher zu machen.
Ein notwendiger Preis für die Wiedervereinigung war der Euro nicht 117
ter, als der Deal in Maastricht endgültig besiegelt wurde, stellte sich
heraus, dass Kohl seinen Gegenspielern Mitterrand und Andreotti
verhandlungstaktisch nicht gewachsen war.
Das war derselbe Andreotti, der 1993 in Rom beschuldigt wurde,
als langjähriger Ministerpräsident die Interessen der Mafia vertreten
zu haben. Die Mafia pro Maastricht, warum nicht? Schließlich hielt
sie in den Neunziger jähren bis zu einem Drittel der italienischen
Staatsanleihen, schließlich war und ist sie Hauptnutznießer des von
Brüssel ermöglichten Subventionsbetruges. Selbstverständlich denkt
und operiert die Mafia europäisch. Sie profitiert vom Verschwinden
der Grenzen, und der Gedanke, die Lira-Anleihen in Papiere von
besserer Bonität umtauschen zu können, musste ihr sympathisch ge-
wesen sein.
Als die Würfel in Maastricht fielen, war der deutsche Kanzler nicht ein-
mal präsent. Bereits am Sonntagabend, dem 8. Dezember 1991, noch
vor Eröffnung der Gipfelkonferenz, empfing François Mitterrand in
seinem außerhalb der Stadt gelegenen Hotel den italienischen Minis-
terpräsidenten Giulio Andreotti. Was sich die beiden ausdachten, war
vollendeter Macchiavellismus. Sie würden die strengen deutschen Ver-
tragsbedingungen akzeptieren, obwohl Italien sie gar nicht erfüllen
konnte, und dafür die deutsche Verpflichtung einfordern, spätestens
1999 automatisch und unwiderruflich mit der Währungsunion zu be-
ginnen. Die anderen Südeuropäer und Irland sollten mit der vertragli-
chen Zusage neuer Umverteilungsgelder geködert werden.
Als ihm die französisch-italienische Abmachung präsentiert wur-
de, konnte oder wollte Kohl nicht mehr Nein sagen. In einem eigen-
artigen, fast kindischen Akt des Widerstandes lehnte er dann auf
einer mitternächtlichen Pressekonferenz am 9. Dezember den Vor-
schlag aus Rom und Paris scharf ab, das geplante Europageld »ECU«
zu nennen. Aber auch diese Bezeichnung wurde im Vertrag festge-
Die Regierung hat nur billige Reklame gemacht... 119
Zu dem Fiasko konnte es nur kommen, weil das politische Bonn sich
ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende immer noch mit der Formu-
lierung nationaler Interessen schwertat. »Die Regierung hat nur billi-
ge Reklame gemacht«, sage der wirtschaftspolitische Chefkommenta-
tor der Süddeutschen Zeitung, Franz Thoma, als ihm am 16. Januar
1993 in München der Freiheitspreis der Stiftung Demokratie und
Marktwirtschaft verliehen wurde. Thoma wunderte sich darüber,
dass sich die Politiker hinter einen Vertrag stellten, den sie selbst für
schlecht hielten. »Das Meinungsdiktat einiger Weniger in Bonn hat
sich durchgesetzt. Es ist erstaunlich, wie wenig Zivilcourage es in der
Politik gibt. So mancher Spitzenpolitiker sagte mir vertraulich, er sei
gegen die Währungsunion. Offiziell aber ist er dafür.« Wie man sieht,
hat sich mit dem Umzug von Bonn nach Berlin im deutschen Politik-
betrieb nicht sehr viel geändert.
In der Realität aber wurden die Staatshaushalte von der Mehrzahl der
Euro-Aspiranten im entscheidenden Stichjahr 1997 nach Kräften fri-
siert. Die Bundesregierung hätte es wissen müssen, sie wusste es, sie
sah weg. Auch der im Vertrag verankerte Grundsatz, wonach kein
Land für die Schulden anderer haftet, las sich gut auf dem Papier. Nur
landete das Prinzip auf dem Kehricht, als 2010 zum ersten Mal die
Probe aufs Exempel gemacht werden musste.
Und die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank? Die war
vertraglich nicht schlechter abgesichert als die der Deutschen Bun-
desbank. Was sie in Wirklichkeit wert ist, wissen wir seit Mai 2010.
Die EZB kaufte Staatsanleihen, ein Verstoß gegen ihr eigenes Statut.
Dann flutete sie die Banken mit Geld, damit diese noch mehr Staats-
anleihen kaufen konnten, und in den Entscheidungsgremien der EZB
verstehen sich die Vertreter der früheren Schwachwährungsländer
zunehmend als verlängerter Arm ihrer Regierungen. Die Bundes-
bank ist in der Minderheit und isoliert. Sie kann nur noch warnen.
War das alles absehbar? Ja, von Anfang an. Nie wurde vor einem
Währungsexperiment so früh, so eindringlich, von so vielen Fachleu-
Das Fiasko war absehbar, gewarnt wurde genug 121
Nach einem Jahrzehnt der Scheinstabilität des Euro von 1999 bis
2008/2009 haben die frühen Gegner der Einheitswährung auf der
ganzen Linie Recht bekommen. Dass es ungleich leichter ist, eine
falsch konzipierte Währung einzuführen, als sie wieder loszuwerden,
wird sich auch noch herausstellen. Die Politiker aber, die den Vertrag
von Maastricht unterschrieben haben - eine Gesellschaft ohne Haf-
tung - haben entweder das Zeitliche gesegnet oder genießen ihren
gut gepolsterten Ruhestand oder waschen ihre Hände in Unschuld
wie Theo Waigel.
»Ich würde es wieder tun«, beteuerte Waigel bei einem Vortrag in
Zürich laut NZZ vom 26. März 2012. Europa erlebe doch gegenwärtig
die beste aller Zeiten, wozu auch der Euro einen Beitrag geleistet
habe. Ein krasser Fall von Realitätsverlust oder Ruchlosigkeit in ei-
nem bereits weit vorgerückten Stadium des Euro-Zerfalls mit horren-
der Arbeitslosigkeit und Rezession im Süden der EU.
Euro-Dämmerung:
Eine Währung auf Abruf
Die Finanzgeschichte kennt Zäsuren, an denen Schicksal in Stein ge-
meißelt wird, an denen Verlierer und Profiteure definiert werden, an
denen Prozesse in Gang kommen, die in der Folge schwer umkehrbar
sind und eine Eigengesetzlichkeit entfalten.
Ein solcher Tag der Entscheidung für Deutschland und Europa
war Freitag, der 7. Mai 2010. An diesem Tag und dann in der Nacht
vom 9. auf den 10. desselben Monats wurden die Pfeiler demoliert,
auf denen ein stabiler Euro ruhen sollte, wurde deutsches und euro-
päisches Recht gebrochen, mutierte der Euro von einem gedachten
Ersatz für die Deutsche Mark zu einem Notgeld auf Abruf.
So entwickelte sich seit dem Sündenfall des Mai 2010 ein EU-konfor-
mer Krisenmodus, eine fatale Rettungsdramaturgie: Die Europa-
Verträge wurden fortwährend gebrochen; die Politiker flüchteten
sich in Worthülsen, Vernebelung, Täuschung und Selbsttäuschung;
nach Griechenland mussten auch Irland, Portugal und Spanien geret-
tet werden; mit der Zahl der Gipfelkonferenzen - vorzugsweise an
einem Wochenende - wuchs die Gesamtsumme der verbürgten, ein-
gezahlten oder abgerufenen Hilfsgelder; die Missstimmung zwischen
den Europäern, die in den Vor-Euro-Zeiten gut miteinander ausge-
kommen waren, steigerte sich zur Feindseligkeit und manchmal bis
zu offenem Hass; mit der Entmachtung der Parlamente begann ein
Prozess des Abbaus von Souveränität und Demokratie; und die Re-
gierung Merkel gab Positionen auf, kaum dass sie sie bezogen hatte.
Seit dem Mai 2010 lieferte sie nur noch Rückzugsgefechte. Sie kapitu-
lierte auf Raten, aber - zumindest bis zum Sommer 2012 - nicht
bedingungslos.
Rettung in Permanenz: Vom EFSF zum ESM
mittelbar vor der Sommerpause und unter größtem Druck bis in die
Abendstunden hinein dem Vertrag über den Europäischen Stabili-
tätsmechanismus (ESM), dem sogenannten Fiskalpakt und den Be-
gleitgesetzen zustimmen mussten. Wieder blieb den Abgeordneten
keine Zeit, die Texte gründlich zu lesen. Und wieder war es nur eine
Minderheit von Parlamentariern des Parteienkartells aus CDU, CSU,
FDP, SPD und Grünen, die den Mut aufbrachte, Nein zu sagen.
Ratifiziert werden sollte das alles schon zum 1. Juli, und das wäre
auch gelungen, hätte Bundespräsident Gauck, wie von der Regierung
Merkel gewünscht, die Gesetze unverzüglich unterschrieben. Der
Plan scheiterte, weil das Bundesverfassungsgericht intervenierte und
sich entschied, die in Karlsruhe eingehenden Verfassungsbeschwer-
den und die Anträge auf einstweilige Anordnung ernst zu nehmen.
Das oberste deutsche Gericht setzte für Dienstag, den 10. Juli, eine
mündliche Verhandlung an und gab schließlich bekannt, dass es sich
bis September Zeit nehmen würde, um über die Eilanträge zu ent-
scheiden. Damit war die Euro-Rettungsmaschine erst einmal ge-
stoppt.
Die Kläger, das waren unter anderen eine von Professor Karl Alb-
recht Schachtschneider vertretene Professorengruppe, deren Verfas-
sungsbeschwerde ich mich angeschlossen hatte, außerdem der CSU-
Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, die Linkspartei mit Gregor
Gysi und der Verein Mehr Demokratie e.V. mit über 23.000 Be-
schwerdeführern. Noch nie seit der ersten Hälfte der Neunzigerjahre,
als sich das Bundesverfassungsgericht erstmals mit der Währungs-
union befassen musste, war der Widerstand so breit angelegt.
Am 10. Juli wurde in Karlsruhe verhandelt 131
hen davon ist es absurd, in der Regel davon auszugehen, dass die zu
rettenden Staaten sich selbst an ihrer Rettung finanziell beteiligen.
Womit denn? Sie würden mit der einen Hand einzahlen und mit der
anderen in den Topf greifen.
Woher der Wind weht, lässt sich der Auslassung des Vorstandsspre-
chers der italienischen Großbank Unicredit entnehmen, zitiert in der
Wirtschaftswoche vom 18. Juni 2012. Die Deutschen müssten zahlen,
sagte er, schließlich hätten sie auch am kräftigsten vom Euro profitiert.
Finanziell sei das kein Problem, denn das Geld- und Immobilienver-
mögen der Deutschen betrage nach Abzug der Kredite 8500 Milliar-
den Euro. »Das ist mehr als alle Schulden im Euro-Raum.« So also
klingt der Versuch, Raub zu legalisieren.
Eine Vermögensvernichtungsmaschine
nennt es Professor Sinn
Der Kampf um den Euro ist eben noch lange nicht ausgereizt. Wenn
von Europa im Allgemeinen, von Solidarität und Vergemeinschaftung
die Rede ist, geht es im Wesentlichen um Geld - nicht um das eigene,
um das der anderen. Solche Zusammenhänge klar zu benennen und
den Mut zu haben, sie auszusprechen, ist das große Verdienst des
Münchener ifo-Chefs Hans-Werner Sinn. In der mündlichen Ver-
Eine Vermögensvernichtungsmaschine ... 137
Der wahre Grund des Debakels war der Einheitszins, mit dem 1999
Volkswirtschaften gleichgeschaltet wurden, deren Strukturen, deren
Produktivität und deren Wettbewerbsfähigkeit ganz unterschiedlich
waren. Noch in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre rentierten zehn-
jährige italienische Staatsanleihen zeitweise mit 13 Prozent. Später
sank die Rendite dank Euro auf vier Prozent oder sogar noch darun-
ter.
Jahrelang, bis etwa 2007, war der Realzins (nach Abzug der Inflati-
onsrate) in Deutschland zu hoch und an der Peripherie der Euro-Zo-
ne zu tief. Ohne den Einheitszins wären weder der absurde Immobi-
lienboom in Spanien und in Irland noch die überzogenen Lohn- und
Falsche Diagnose, falsche Therapie 139
Tatsächlich lässt sich die Schieflage, in die der Euro - unbemerkt von
den meisten Ökonomen und Politikern - schon lange vor Ausbruch
der Griechenlandkrise geriet, an folgenden Zahlen festmachen: Im
Zeitraum 1999 bis 2009 eskalierten die Schulden der fünf Problem-
länder gegenüber den solideren Mitgliedern der Euro-Zone von 463
auf 2033 Milliarden! Davon entfielen 822 Milliarden auf Italien,
613 Milliarden auf Spanien, 348 Milliarden auf Irland, 141 Milliarden
auf Griechenland und 110 Milliarden auf Portugal. Mit anderen Wor-
ten: Die Südeuropäer und die Iren gaben mehr aus, als sie verdienten.
Das tun seit einigen Jahren auch die Franzosen.
Theoretisch möglich sind laut UBS zwei Auswege: Erstens könnten
Deutschland und andere Länder des harten Kerns (Österreich, die
Niederlande, Finnland) einem innereuropäischen Finanzausgleich
zustimmen und einen erheblichen Teil ihres Wohlstandes an die Pe-
ripherie abgeben. Dazu müsse jedoch der Bundestag eine wesentliche
Erhöhung des deutschen Haushaltsdefizits tolerieren, und zwar über
Jahre hinaus. Das sei, vermutet die UBS, nicht durchsetzbar.
Die andere Lösung bestünde darin, dass die südeuropäischen Län-
der ihre Preise und Löhne so lange und so weit senken, bis sie wieder
wettbewerbsfähig sind. Das aber würde sie für lange Zeit zu hoher
Arbeitslosigkeit und zu Rezession verurteilen. Und dabei würden die
dortigen Staatsschulden wegen der Steuerausfälle vermutlich noch
mehr steigen.
Traum daran denken, dem Euro beizutreten. Sie finden es aber wün-
schenswert, dass diejenigen, die ihn haben, dabei bleiben und für den
Schaden zahlen. Die Blase darf nicht platzen.
Sie Verluste mit ein. Im Grunde ist es großartig, wenn Sie nur
50 Prozent verlieren - wenn die anderen 90 Prozent oder mehr ein-
büßen.«
Unter solchen Szenarien ist Gold der Krisenschutz par excellence,
weil es kein Länderrisiko trägt, keine Forderung an einen Dritten
darstellt, somit nie pleitegehen kann, und weil es ein besonders liqui-
des und fungibles Investment ist, mit dem sich der Anleger außerhalb
des maroden Bankensystems und außerhalb des Universums der un-
gedeckten Papier- und Computerwährungen stellt. Gold trägt keiner-
lei Bonitätsrisiko, wohl aber ein (überschaubares) Preisrisiko, das für
den hier beschriebenen Zweck einer Goldanlage sekundär ist. Aus
der Sicht des defensiven Investors liegt die Bedeutung des Goldes im
Besitz, weniger im Preis.
Am besten, Sie bilanzieren Ihr Gold nicht in Euro oder Dollar, son-
dern in Unzen. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es spielt
keine Rolle, mit welcher Währung Gold gekauft wird. Die Preisbil-
dung kann anschließend in jeder beliebigen Währung verfolgt wer-
den, und beim Verkauf kann in jede andere Währung zurückgewech-
selt werden. Silber eignet sich als Ergänzung, vor allem in Form von
Ein-Unzen-Münzen, die in Notzeiten als Kleingeld dienen können.
Auch gegen Kilobarren ist nichts einzuwenden. Sie übersteigen aller-
dings schnell die Kapazität eines normalen Schließfachs.
besser mit Gold bedient war. Hingegen erwies sich die Inflation der
1970er-Jahre bis Anfang 1980 als günstiges Umfeld für Silber.
Das Argument, ein angemessenes Preisverhältnis von Gold zu Sil-
ber müsse 17 betragen, weil Silber in der Erdkruste 17-mal häufiger
vorkommt als Gold, ist unsinnig. Nach derselben Logik müsste das
sehr seltene Rhodium Fantasiepreise erzielen. Sicher ist nur, dass das
Preisverhältnis schwankt. 1980 bekam man vorübergehend nur
14 Unzen des weißen Metalls für 1 Feinunze Gold - damals war Sil-
ber extrem überbewertet. 1940 und 1990 war Silber absolut und rela-
tiv derart billig, dass man mit 1 Unze Gold 100 Unzen Silber kaufen
konnte. Seit 1971 liegt der Median des Preisverhältnisses bei 55.
Mit einem Jahresangebot von 1 Milliarde Unzen, 75 Prozent davon
aus der Minenproduktion, ist Silber ein vergleichsweise kleiner
Markt. Von der Gesamtsumme, die 2011 in Edelmetalle investiert
wurde, das heißt ohne den Industrie- und Schmuckverbrauch, entfie-
len 87 Prozent (= 80 Milliarden Dollar) auf Gold, elf Prozent auf Sil-
ber, zwei Prozent auf Platin und weniger als ein Prozent auf Palladi-
um. Silber bewegt sich wie ein Hebelprodukt auf Gold. In der Hausse
steigen die Preise meist schneller, in der Baisse fallen sie tiefer. Positiv
anzumerken ist, dass China seit 2010 erheblich mehr Silber nachfragt
als im Land gefördert wird. Damit drehte die chinesische Silberbilanz
ins Defizit.
Seit Beginn der Goldhausse 2001 ist der Goldpreis in Euro bis Ende
2011 im Mittelwert jährlich um 13,93 Prozent gestiegen und gegen
Dollar um 16,44 Prozent. In Dollar gerechnet gab es kein einziges
Jahr mit einem Preisrückgang, in Euro nur zwei Jahre mit einem mi-
nimalen Minus von 0,50 und 2,10 Prozent in den Jahren 2003 und
Das unverstandene Metall 153
2004. Das hielt freilich nicht wenige Journalisten und Volkswirte der
Banken nicht davon ab, immer wieder ein Ende des Bullenmarktes zu
proklamieren. Sie verpassten den Preisanstieg in einer Zeit, in der
Gold fast alles andere mit Abstand schlug, den DAX ebenso wie die
vermeintlich sichere Anlage in Euro-Festgeld.
Dahinter verbirgt sich eine Reihe von unausrottbaren Fehlurteilen
und Missverständnissen. Einmal wird behauptet, am Goldmarkt
habe sich eine Blase gebildet, ein andermal davor gewarnt, dass der
Schmuckabsatz bei steigender Investmentnachfrage zurückgegangen
und dass Gold überteuert und überhaupt nicht knapp sei.
Letzteres ist im Prinzip richtig, weil der größte Teil des seit Jahrtau-
senden aus der Erde gegrabenen Goldes noch existiert. Aber nur
deswegen kann das gelbe Metall seine Funktion als offizielle oder al-
ternative Währung erfüllen! Nur so erklären sich die tiefe Liquidität
und das reibungslose Funktionieren des Goldmarktes im globalen
Maßstab. Der gesamte oberirdische Bestand wird auf annähernd
170.000 Tonnen geschätzt, auch wenn das niemand genau wissen
kann. Davon sind angeblich 84.100 Tonnen zu Schmuck verarbeitet,
31.400 Tonnen befinden sich in Privatbesitz und 31.347 Tonnen in
den Tresoren der Zentralbanken. Damit wächst die Goldmenge bei
einer Neuproduktion von etwa 2800 Tonnen um 1,6 Prozent im Jahr.
Die Zunahme liegt weit unter der Ausweitung der Zentralbankbilan-
zen, der Weltgeldmenge und der internationalen Devisenreserven.
Unsinnig ist es auch, den in den letzten Jahren gestiegenen Invest-
mentanteil an der Goldnachfrage zu beklagen. Auf der Angebotsseite
sah die Goldbilanz 2011 so aus, dass außer den 2800 Tonnen der Mi-
nenförderung gut 1600 Tonnen Altgold auf den Markt kamen, jedoch
- im Gegensatz zu den Jahren bis 2009 - netto kein Gold mehr aus
den Zentralbankreserven verkauft wurde. Seit 2010 sind vielmehr die
Notenbanken der Schwellenländer Käufer.
154 Was tun? Rat für den defensiven Investor
Nachdem die Preise länger als ein Jahrzehnt gestiegen sind, ist das
Metall nicht mehr billig, aber auch noch nicht wirklich überteuert
wie 1980. Wie lässt sich das messen? Zum Beispiel an der Verbrau-
cherpreisinflation, so fragwürdig deren Berechnung auch ist. Kauf-
kraftbereinigt müsste die Unze nach gegenwärtigem Stand mehr als
2300 Dollar kosten, um das Niveau vom Januar 1980 wieder zu errei-
chen. Mit zunehmender Inflation in den kommenden Jahren erhöht
sich selbstverständlich dieses Preisziel.
Aussagekräftiger ist die Analyse verschiedener Preisverhältnisse.
Im Vergleich zu Öl war Gold im Sommer 2012 keineswegs überbe-
wertet, sondern so teuer wie Anfang der 1970er-Jahre. Das bedeutet,
dass Sie heute mit der Währung Gold ungefähr dieselbe Menge an
Rohöl oder Benzin kaufen können wie damals - mit Dollar oder Euro
hingegen nur einen Bruchteil davon. Oder dividieren Sie den Dow
Jones durch den Goldpreis. 1932 sank das Preisverhältnis auf zwei,
1980 bis auf 1,3. Von einer derart extremen Aktienunterbewertung
und Goldüberbewertung sind wir noch ein ganzes Stück weit ent-
fernt.
Im Übrigen war das Ende der letzten Goldhausse 1980 auch daran
zu erkennen, dass sich der Preis innerhalb weniger Monate und eben-
so im Vergleich der Jahresdurchschnittspreise verdoppelte. Ein der-
artiger irrationaler Überschwang blieb bisher aus. 1980 waren es der
Amtsantritt von Paul A. Volcker im Vorjahr, das Ende der laxen ame-
rikanischen Geldpolitik, exorbitant hohe nominale und reale Zinsen
und eine entschlossene Inflationsbekämpfung, die die damalige
Goldhausse beendeten.
Es kann nicht oft genug betont werden, dass ein grundlegender Un-
terschied zwischen einer Goldforderung und Goldeigentum besteht.
Wenn ich einen Goldfonds kaufe oder Gold auf mein Metallkonto bei
einer Bank buchen lasse, habe ich - manchmal mit Einschränkungen
- Anspruch auf die Lieferung einer bestimmten Unzenmenge. Ich
kann aber nie ganz sicher sein, dass bei Ausbruch einer großen Fi-
nanzkrise auch geliefert werden kann oder dass das Gold nicht zwi-
schenzeitlich ausgeliehen wird. Am Terminmarkt ist die Bedienung
des Großteils der Kaufpositionen von vornherein praktisch unmög-
lich. Zertifikate repräsentieren nicht einmal einen Lieferanspruch.
Sie eignen sich nur für Differenzgeschäfte. Nur Gold, das man anfas-
sen kann, auf das man jederzeit Zugriff hat, garantiert ultimative
Sicherheit.
Wie hoch der Goldanteil am gesamten Portfolio sein sollte, ist eine
Frage der Mentalität. Das muss jeder selbst entscheiden. Es sollte so
viel sein, dass man damit ruhig schlafen kann. Marc Faber selbst teilt
so auf: 25 Prozent in Edelmetalle, 25 Prozent in Aktien, 25 Prozent in
asiatische Immobilien und 25 Prozent in Unternehmensanleihen,
hauptsächlich in den Schwellenländern. Damit sichert er sich ein lau-
fendes Einkommen aus Dividenden, Mieten und Zinsen.
158 Was tun? Rat für den defensiven Investor
Gegen eine hohe Gewichtung von Aktien schon jetzt spricht, dass
die führenden Indizes seit der Jahrtausendwende in einer langfristi-
gen Baisse stecken, bestenfalls in einer Seitwärtsbewegung mit großer
Spannbreite, und dass aus jetziger Sicht nur Zwischenerholungen zu
erwarten sind. Der monatliche MACD des DAX, ein sehr brauchba-
rer langfristiger Indikator, war im Sommer 2012 immer noch leicht
negativ und sogar dabei, wieder nach unten abzudrehen.
Richtig ist aber auch, dass die Eigentümer von Qualitätsaktien
nach Währungsreformen ungleich besser dagestanden haben als die
Couponschneider. Auch deutsche Bundesanleihen bieten bei histo-
risch tiefen und real negativen Renditen nur noch Risiko ohne Chan-
ce, Aktien immerhin Risiko mit Dividende und der Chance auf Kurs-
gewinne irgendwann in der Zukunft.
Wer dann auch noch in einzelne Branchen statt in Länderindizes
investiert, kann durchaus überdurchschnittlich abschneiden. Verglei-
chen Sie nur einmal den Branchenindex Euro Stoxx Banken mit dem
Sektor Food & Beverage: Der eine war 2012 billiger als Anfang der
1990er-Jahre, der andere teurer als 2000!
Multinationale Konzerne mit starken Marken und hohem Um-
satzanteil in Schwellenländern sollten grundsätzlich in jedem Portfo-
lio vertreten sein. Beispiele sind Unilever (56 Prozent Schwellenlän-
deranteil), SABMiller (71 Prozent), Diageo (65 Prozent), Coca Cola
(42 Prozent) und British American Tobacco (62 Prozent).
Andere erstklassige Titel sind McDonald's (USA), Nestle (CH), Re-
ckitt Benckiser (GB), Royal Dutch Shell (GB) und Novo Nordisk (DK)
- um nur einige zu nennen. Mit Schweizer Aktien, britischen, ameri-
kanischen und norwegischen Titeln (Beispiel Statoil) entgeht man
zugleich den Risiken des Euro-Raumes. Unter den deutschen Blue
Chips sind BASF und Linde erste Qualität. Mit beiden setzt man auch
auf den chinesischen Wachstumsmarkt. Sie werden sich allerdings
dem übergeordneten Trend des DAX nicht entziehen können.
160 Was tun? Rat für den defensiven Investor
Überprüfen Sie vor einem Kauf, wie ein Fonds den Crash 2008 ge-
meistert hat und wie er aktuell investiert ist. Positive Beispiele, die auf
Ihre Beobachtungsliste gehören:
Wie ein »Bank Run«, ein Sturm auf die Banken, abläuft, konnte man
im September 2007 sehr schön in Großbritannien beobachten, als die
Kunden der Hypothekenbank Northern Rock vor den 76 Filialen an-
standen, um ihre Konten abzuräumen. Die Regierung versuchte ver-
geblich, die Leute zu beruhigen. Die Bank brach zusammen und wurde
verstaatlicht. So etwas kann sich immer und überall wiederholen, weil
das Geschäftsmodell der Banken nur so lange funktioniert, wie die
Kunden das Geld auf ihrem Konto für sicher halten. Verfügbar ist be-
kanntlich nur ein kleiner Teil der auf den Konten geparkten Liquidität.
Als in Deutschland im Oktober 2008 die Gerüchteküche kochte,
trat die Bundeskanzlerin vor die Mikrofone und erklärte: »Wir sagen
164 Was tun? Rat für den defensiven Investor
den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch
dafür steht die Bundesregierung ein.« Worauf sich das Versprechen
stützte, sagte sie nicht. Es war ein Bluff. Er wirkte.
Aber haben wir nicht in Deutschland den Haftungsverbund der
Sparkassen, die Sicherungseinrichtung der Volks- und Raiffeisenban-
ken und vor allem die Einlagensicherung der »Entschädigungsein-
richtung deutscher Banken« (EdB) mit einer Obergrenze von 100.000
Euro je Kunde und Bank?
Letztere ist gesetzlich verankert und angeblich absolut sicher. Ge-
nau das wird neuerdings von Fachleuten, die es wissen müssen, be-
stritten. In Nummer 23/2012 zitiert Focus Money einen leitenden
Mitarbeiter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young: »Ei-
nen gesetzlichen Anspruch auf Staatsgeld gibt es nicht.« Selbst der
Bundesverband deutscher Banken warnte: »Die gesetzliche Absiche-
rung ist nicht für den Einsatz von mehreren Pleiten oder im schlimms-
ten Fall einer Staatspleite gedacht.«
Halten Sie genügend Bargeld, um notfalls ein paar Wochen lang da-
von leben zu können.
Parken Sie nicht zu viel Geld auf Giro- oder Festgeldkonten bei einer
einzelnen Bank. 100.000 Euro sind schon zu viel.
Wie sicher ist die Entschädigungseinrichtung? 165
Wie es dazu kam, dass der Weltkonzern Degussa im Jahr 2000 das
Traditionsgeschäft Edelmetalle abspaltete, 2002 aus dem DAX 30
ausschied, 2006 ganz von der Börse genommen und 2007 in den neu-
en Chemiekonzern Evonik Industries eingegliedert wurde, ist eine
komplizierte und windungsreiche Geschichte. 1999 fusionierte die
Degussa mit der VEBA-Tochter Hüls. Nachdem sich die Energieun-
ternehmen VEBA und VIAG zur Eon zusammengeschlossen hatten,
wurde Degussa-Hüls mit der VIAG-Tochter SKW Trostberg zusam-
mengelegt. Damit wurde die Eon zur dominierenden Muttergesell-
schaft und diese wiederum verkaufte ihre Aktien an die Ruhrkohle
AG. Seit 2007 figuriert der frühere Chemiekonzern Degussa - ohne
die längst veräußerte Edelmetallsparte - unter dem Kunstnamen
Evonik.
Aus den Geschäftsberichten der Degussa AG, wie die Scheidean-
stalt seit 1980 offiziell hieß, lässt sich nachverfolgen, wie die Bedeu-
tung des Edelmetallhandels nach und nach abnahm. In den Jahren
169 Die Rückkehr einer Goldmarke, die nie verschwunden war
des Wirtschaftswunders, als der Goldpreis fixiert war, hatte das Ge-
schäft mit Privatinvestoren ohnehin keine besondere Rolle gespielt -
bis dann die Deutschen im Währungschaos der 1970er-Jahre Gold
als Investment wiederentdeckten.
Noch in den Achtziger jähren waren die stets abgewogenen und
bestens informierten Analysen der Degussa zum Gold- und Silber-
markt fast Pflichtlektüre für interessierte Investoren. Am 7. Januar
1980, als Gold gerade den Spitzenpreis von 850 Dollar ansteuerte,
brachte Der Spiegel ein Interview mit dem Degussa-Generalbevoll-
mächtigten Werner Knies. Der ließ sich von der Euphorie nicht an-
stecken, wollte einen Preisrutsch nicht ausschließen und erzählte,
dass der Hauptlieferant Südafrika im Oktober 1979 nur 104.000 Krü-
gerrand loswerden konnte, im Dezember aber wieder fast 700.000.
Als der Spiegel suggerierte, dass der Goldpreis doch bald die 1000-Dol-
lar-Marke nehmen würde, antwortete Knies: »In diesem Jahr wohl
kaum.« Auf lange Sicht könne er allerdings einen solchen Rekord-
preis nicht ausschließen. Es sollte ziemlich lange dauern, nämlich bis
Anfang 2008. Danach rutschte der Unzenpreis noch einmal unter 700
Dollar, bevor er Ende 2009 die Marke von 1000 endgültig hinter sich
ließ.
Mit den seit den Achtziger jähren fallenden Goldpreisen schwand das
Interesse der Anleger auch in Deutschland, bis sie schließlich in den
Neunzigerjahren kräftig enthorteten und sich mehr und mehr von
ihren Beständen trennten. Als Anfang 1993 der Verkauf von Gold-
barren und Goldmünzen, die als gesetzliche Zahlungsmittel einge-
stuft waren, von der Mehrwertsteuer befreit wurde, belebte sich das
Geschäft noch einmal. Die Degussa konnte eine deutlich höhere
Nachfrage nach der gesamten Bandbreite ihres Barrenprogramms
melden. Damals, im Januar 1993, schwankte der Goldpreis zwischen
327 und 331 Dollar je Feinunze.
170 Die Rückkehr einer Goldmarke, die nie verschwunden war
2003 lebte der alte Glanz noch einmal auf. Als Eigentümer von
Deutschlands einziger vollständiger Münzsammlung in der Wäh-
rung Mark von 1871 bis zur Einführung des Euro 1999 übergab die
Degussa ihren Schatz als Dauerleihgabe an die Stadt Frankfurt. »Die
Degussa und Frankfurt gehören weiterhin zusammen«, beteuerte
Oberbürgermeisterin Petra Roth. Die Frankfurter Allgemeine schrieb
am 12. Juni, dass Frankfurt dank der dort ansässigen Gold- und Sil-
berscheideanstalt bis in die Gegenwart hinein eine führende Stellung
im deutschen Münzwesen behalten habe.
Die Degussa-Barren aber verschwanden nie aus dem Umlauf in
Deutschland. Sie behielten das international respektierte Gütesiegel
»good delivery«. Zunächst wurden sie von der Umicore weiterhin ge-
prägt und verkauft, bis die Belgier dann die Herstellung zum 1. Janu-
ar 2006 einstellten.
Der Name »Degussa« ging nicht unter, er blieb mit einem sehr ho-
hen Marktanteil die bekannteste deutsche Barrenmarke - auch in den
Interimsjahren 2006 bis 2011, als nur noch ältere Prägungen zu be-
kommen waren. »Die Degussa ist wieder da«, meldete die Frankfur-
ter Allgemeine am 22. Dezember 2011. Inzwischen wurde in Zürich
die Degussa Goldhandel AG gegründet und der Vertrieb über das
Internet aufgenommen. Nach München und Frankfurt sind Ver-
171 Die Rückkehr einer Goldmarke, die nie verschwunden war