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Psychoakustik | UE 160079 | WS 2023 | Saleh Siddiq

Äußeres Ohr
1 Lokalisation

Lokalisation ist die psychoakustische Beschreibung unseres räumlichen Hörens.

Lokalisation ist der Prozess, bei dem das Gehör versucht, dass Hörereignis im (mentalen) Hörraum so zu platzieren,
dass es mit der Position der Schallquelle im Raum übereinstimmt.

Schallquelle im Raum
→ Lokalisation
→ Hörereignis im Hörraum

1.1 Orientierung im Hörraum und Lokalisationsunschärfe

Zur Orientierung ist der Hörraum in drei Ebenen geteilt (die den anatomischen Körperebenen entsprechen).
• Horizontalebene
• Frontalebene
• Sagittalebene

1.1.1 Einfallswinkel

Die Position der Schallquelle im Bezug zum Kopf kann mit zwei Winkeln (horizontal und vertikal) beschrieben
werden.

Der horizontale Einfallswinkel wird, wie in der Geografie, als Azimut bezeichnet.
Es gibt verschiedene Systeme, um den Azimut zu beziffern:

360 Grad Hemisphären Hemisphären


+/– L/R

vorne 0 0 0

rechts 90 +90 90R

hinten 180 180 180

links 270 –90 90L


Der vertikale Einfallswinkel wird Erhebungswinkel genannt. Er beschreibt die Auslenkung aus der Horizontalebene:
0° sind vorne, 90° sind oben, hinten sind wieder 0°

Der kleinste wahrnehmbare Richtungsunterschied wird engl. „minimal audible angle“ (MAA) genannt.

Die Raumauflösung ist


• vorne (ungefähr 0° Azimut und Erhebnung) am besten (MAA ~ 1°),
• hinten etwa halb so gut und
• direkt seitlich (rund um 90° und 180° Azimut) am schlechtesten (Unschärfekegel).

Abb. 4: Links: Ebenen des Hörraums, Mitte: Azimut, minimal audible angle, Unschärfekegel, rechts: Erhebungswinkel (Blauert 1974, 11, Yost
2008, 174)

2 Kopfbezogene Übertragungsfunktion
Engl.: head-related transfer function (HRTF)

Alle Einflussfaktoren des Richtungshörens werden als kopfbezogene Übertragungsfunktionen zusammengefasst.


• Kopf
• Oberkörper (v.a. Schulter)
• Ohrmuschel

HRTFs sind Messungen der richtungsabhängigen Filterfunktion des Oberkörpers, des Kopfs und des Außenohrs
(vgl. z.B. Hellbrück & Ellermeier 2004, 151f.).

Dazu wird:
1 der Schall vor dem Ohr (im freien Raum) gemessen (Raumimpulsantwort, room impulse response, RIR)
2 der Schall am Trommelfell gemessen (kopfbezogene Impulsantwort, head-related impulse response, HRIR)
3 RIR (Input) und HRIR (L bzw. R) miteinander verglichen (zeigt die richtungsabhängige Filterwirkung des
„Gehörs“)

Übrigens… IR = Antwort im Zeitbereich, aber: HRTF = Darstellung im Zeitbereich

Mittels Diskreter Fourieranalyse (DFT) kann von der Zeit- in die Frequenzdomäne umgerechnet werden.
Abb. 5: Messung im Zeitbereich Abb. 6: Darstellung im Frequenzbereich

Mittels HRTF-Messung können die unterschiedlichen Signale beider Ohren vergleichen werden:

Abb. 7: Vergleich der Ohrsignale bei Schall von 270° Azimut. Cyan: linkes Ohr,
magenta: rechtes Ohr (Yost 2007, Abb. 6.5, S. 72).

Der Einfluss einiger Faktoren kann im Frequenzgang identifiziert werden:


Abb. 8: Cyan: Linkes Ohr, 0° Azimut (Daniel et al. 2007, Abb. 1.2.1, S. 5),
magenta: Referenzlinie aus dem Freifeldsignal (Pegel bei allen Frequenzen
„genullt“)
(1) tieffrequenter Bereich (λ > Kopf-⌀, Laufzeitunterschiede)
(2) Interferenz aufgrund der Schulterreflexion
(3) Ungerade Vielfache der Gehörgangsresonanz
(4) Interferenz aufgrund der Conchareflexion

Achtung! Da vom Zeit- in den Frequenzbereich umgerechnet wurde, werden tatsächliche Zeitunterschiede als
Frequenzunterschiede dargestellt.
Kunstkopf

Messungen der Außenohrfilterwirkung werden oft am Kunstkopf vorgenommen.

In älteren Modellrechnungen und Versuchen wurde der Kopf als ideale Kugel mit einem Durchmesser von meist
22 bis 23 cm angenommen (Gelfand 2018, 326).

In jüngerer Zeit ist man vom Kugelmodell abgerückt und setzt verstärkt künstliche Köpfe (eben „Kunstköpfe“)
ein.

Kunstköpfe sollen die


anatomischen Verhältnisse der
Kopf- und Oberkörperregion
möglichst genau simulieren.

Bei der Qualität von Kunstköpfen


(und damit der Realitätstreue sowie
im Preis) gibt es massive
Abb. 9: Soundman Kunstkopf aus Holz
Unterschiede.

Die Spanne reicht von einfachen


Einsätzen für Mikrofone
(Soundman) bis zu z.T. voll
konfigurierbaren Komplettlösungen
mit eigener Hard- und Software.
Abb. 11: GRAS 45BM Kemar

Abb. 10: HEADacoustics II.3 LN

Übrigens…
Kunstköpfe kommen in fast allen Bereichen zum Einsatz, in denen die Psychoakustik eine Rolle spielt. Vor
allem:
• Telekommunikation und Kopfhörertechnik
• Fahrzeug(innenraum)akustik
3 Interaurale Differenzen

inter: latein → „zwischen“


aural: von lateinisch: auris („Ohr“) → „das Ohr betreffend“

Interaurale Differenzen sind also Unterschiede zwischen den Ohren – genauer gesagt: Zwischen den Ohrsignalen.
Entsprechend sagt man auch auf Deutsch: „Unterschiedliche Ohrsignale“.

Es gibt zwei Arten von interauralen Differenzen:

• Interaurale Pegeldifferenzen (IPD, engl. „interaural level differences“, ILD)


• Interaurale Laufzeitdifferenzen (IZD, engl. „interaural time differences“, ITD)

Abb. 12: Interaurale Laufzeitdifferenzen. Der Abb. 13: Interaurale Pegeldifferenzen. Wenn die
Schall ist zum entfernten Ohr länger unterwegs Frequenzen hoch genug sind, werden sie durch
und kommt deswegen später an. den Kopf abgeschattet, wodurch der Schall am
entfernten schwächer ankommt.

3.0.1 Interaurale Pegeldifferenzen

Nur Gegenstände, die (deutlich) Größer sind als die Wellenlänge (λ) sind effektive Hindernisse für Schall.

Der Ohrabstand beträgt im Durchschnitt etwa 13,5 bis 18,5 cm (vgl. Blauert 1999, 301; Guski 1996, 88; Spitzer
2002,65; Terhardt 1998, 53).

• Kopf schattet Frequenzen ab, deren Wellenlänge deutlich kleiner als sein Durchmesser ist (IPD)
• Kopf ist für tiefe Frequenzen unter ca. 1,5 bis 1.6 kHz kein Hindernis mehr (keine IPD)
• bei seitlicher Beschallung und um 6 kHz maximal: 20 bis 30 dB im Labor, etwa 6 bis 12 dB in natürlichen
Hörsituationen.
3.0.1 Interaurale Zeitdifferenzen
Der unterschiedlich weite Weg zum linken bzw. rechten Ohr führt zu phasenverschobenen Ohrsignalen.

• Phasenverschiebungen sind nur verwertbar, wenn die halbe Periode länger als die maximale Laufzeitdifferenz
dauert.
• Ab rund 1,3 bis 2 kHz, entspricht die Gesamtperiode der maximalen Laufzeitdifferenz. Dadurch sind
Phasenverschiebungen praktisch unbrauchbar
• bei seitlicher Beschallung maximal: Etwa 0,5 bis 0,8 ms

Kurz: IPD greifen v.a. bei hohen Frequenzen, IZD v.a. bei tiefen Frequenzen:

Relevanz

IZD IPD
100 %

1 kHz Frequenz [Hz]

Abb. 14: Bedeutung von Laufzeit- bzw. Pegeldifferenzen in Abhängigkeit von


der Frequenz(Breebaart 2007, Abb. 3.8, S. 34)

Binaurales Hören ist nur in der Horizontalebene möglich.


Da sich unser Leben direkt über dem Boden abspielt, ist dies keine große Einschränkung.
Andere Spezies haben andere Anforderungen:

Abb. 15: Beim Menschen sitzen Ohren auf Abb. 16: Bei Eulen sitzen beide Ohren
gleicher Höhe. unterschiedlich hoch. Daher haben Eulen auch
vertikal interaurale Differenzen.

4 Resonanzen des äußeren Ohrs

Die Richtungsempfindlichkeit der Ohrmuschel greift besonders da ein, wo interaurale Differenzen versagen, also
speziell in der Medianebene und bei jeglichen Erhebungswinkeln. Mit anderen Worten:

Die Ohrmuschel ist besonders für die vertikale Lokalisation verantwortlich

Bei vertikalen Einfallswinkeln (Erhebungswinkel) kommt es nicht zu unterschiedlichen Ohrsignalen.

Entscheidend sind Ohrmuschelresonanzen: Je nach Einfallswinkel werden dadurch unterschiedliche


Frequenzbereiche betont

4.1 Blauertsche Bänder


vorne hinten vorne oben hinten
Blauert stellte fest, dass ein Sinus-Sweep auf der
100
Medianebene mehrfach die scheinbare
Schallquellenrichtung ändert (Blauert 1974, 87).
80
Beschreibung des Versuche ab S. 89 (Blauert 1974).

60 • Vpn in verdunkeltem Raum, Kopfrichtung „fixiert“


• terzbreites Rauschen, div. Mittenfrequenzen u.
Wahrscheinlichkeit in %

Richtungen
• Vpn sollten Richtung (vorne, hinten, oben) benennen

Abb. 17, links, zeigt die Häufigkeit der drei


Antwortmöglichkeiten für jede Mittenfrequenz.
0
100 Hz (Frequenz) 1k 10k

Abb. 17: Richtungsbestimmende oder Blauert'sche Bänder (modifiziert n. Bänder, in denen eine Antwort öfter gegeben wurde
Blauert 1974, Abb. 66, S. 89) als
beide anderen Antworten zusammen, wurden
richtungsbestimmende Bänder genannt.

Obwohl Blauert selbst in Überprüfungen den Einfluss des äußeren Ohrs auf die Versuchsergebnisse ausschließt (S.
90), zeigt er, dass die richtungsbestimmenden Bänder mit der richtungsabhängigen Filterwirkung des äußeren Ohrs
zusammenfallen (S. 92, u.a. Abb. 70).

Mittlerweile ist aber der Einfluss der Ohrmuschel auf das Hören in der Medianebene aber gesichert (vgl. z.B.
Gelfand 2018, 328).
Ohrmuschel: Antennenschüssel oder Resonator?

Traditionell wird die Ohrmuschel als Trichter


beschrieben, der Schall auf direktem oder indirektem
(Reflexion) Weg Richtung Gehörgang führt.

Das Problem: Die Ohrmuschel ist zu klein.

Abb. 18: (Spitzer 2002, 56) Die Muschel ist etwa 5 bis 7 cm hoch und nur 3 bis 4
Abb. 19: (Everest 2001, 65)
cm breit.
Bei 4 kHz beträgt die Wellenlänge aber noch 8,5 cm.
Selbst bei 20 kHz ist die Welle noch 1,7 cm lang.

Eine Alternative: Statt die einzelnen Vorgänge (z.B. Reflexionen) zu untersuchen, kann die insgesamte
Filterwirkung des äußeren Ohrs betrachtet werden. Wie bei HRTFs wird der Schall außerhalb des Ohrs mit dem
Schall direkt am Trommelfell verglichen:

Schall vor der Muschel äußeres Ohr Schall am Trommelfell („Ohrsignal“)


(Freifeldschall) → („Filter“) →
HRTF-Kurven aus verschiedenen Winkeln (Azimut) verdeutlichen den richtungsabhängigen Einfluss des
äußeren Ohrs und damit der Ohrmuschel auf den Frequenzgang der Ohrsignale:

Abb. 20: HRTF-Kurven aus verschiedenen Richtungen zeigen die


Filterwirkung des äußeren Ohrs. Cyan: 0° Azimut, magenta: 90° Azimut,
dunkel: 180° Azimut

Die Spektrale Filterkurve der Außenohrübertragung zeigt einige Maxima, die sich mit Eigenresonanzen des äußeren
Ohrs erklären lassen.

Die bekannteste und auffälligste davon ist die Gehörgangsresonanz. Der ÄHG ist einseitig durch das Trommelfell
verschlossen, funktioniert akustisch also wie ein „gedacktes“ (einseitig geschlossenes) Rohr.
Die Resonanzen in Concha und Gehörgang (vgl. Abb. 18, f01 & f02) sind verantwortlich für die auffällige Senke der
Hörschwelle zwischen 2 und 5 kHz:

Abb. 21: Ruhehörschwelle mit der auffälligen Senke zwischen 2 und 5 kHz
(nach Zwicker & Feldtkeller 1967, 54)

4.2 Weitere identifizierbare Resonanzen

Messungen an Latexohren zeigen, welche Frequenzen in welchen Strukturen resonieren:

Abb. 22: Resonanzen der Ohrmuschel. Die gepunkteten Linien deuten


Knotenlinien an, Plus und Minus zeigen relative Schwingungsphasen (Blauert
1974, 54)

Die schwingenden Luftsäule im Gehörgang regt das Trommelfell zum Schwingen an und setzt dadurch die
Übertragungskette des Mittelohrs in Gang, die den Luftschall an die Gegebenheiten im Innenohr anpasst.

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