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Nachdenken über Vorurteile

Andreas Dorschel
Inhaltsübersicht

Vorwort

Analytisches Inhaltsverzeichnis

I. Über Aufklärung und ihr Vorhaben, alle Vorurteile abzuschaffen (§§ 1 - 17)

II. Über die vertrackten Beziehungen zwischen Vorurteil und Erfahrung, und über
die den Vorurteilen nachgesagte Dummheit (§§ 18 - 43)

III. Über die hermeneutische Verteidigung des Vorurteils, und weshalb sie nicht
gelingt (§§ 44 - 54)

IV. Über die Paradoxie im Empfehlen von Vorurteilen, und wie sie zu umgehen ist
(§§ 55 - 74)

V. Über Moralität, Sadismus und Verwandtes, oder weshalb Vorurteile nicht zu


vermeiden sind (§§ 75 - 100)

Literaturverzeichnis

Sachregister

Personenregister
Vorwort

“In gewissen Unternehmungen ist


sorgsame Unordnung die wahre Methode”
(Melville, Moby-Dick)

Der Fortschritt ist seit der Aufklärung wesentlich verstanden worden als ein
Vorgang, in welchem der menschliche Geist sich aller Vorurteile entledigt. “Prejugès
detruits, les progres de l’esprit humain”: so resümierte Friedrich Schlegel 1 1797,
wofür das 18. Jahrhundert den Kampf aufgenommen hatte. Daß dieser Kampf
einstweilen nicht erfolgreich gewesen ist, muß man wohl einräumen; doch ist dies
kein Einwand. Tatsächlich besteht ja kein Grund zu glauben, im 20. Jahrhundert
hätten die Menschen weniger (und nicht lediglich andere) Vorurteile gehabt als im
18. Doch dieser Umstand könnte einfach den Schluß begründen, jener Feldzug sei
bislang nicht entschieden genug geführt worden. Ob diese Folgerung sich ergibt,
hängt jedoch davon ab, wie eine tiefere Frage entschieden wird: die nämlich, ob
Vorurteile überhaupt ein geeignetes Angriffsziel bilden. Darzulegen, daß sie kein
solches sind, ist Ziel des folgenden Gedankenganges.
Die Behauptung, der Kampf der Aufklärung gegen die Vorurteile gehe fehl,
ist allerdings so alt wie dieser Kampf selbst. Als er zuerst aufgenommen wurde, hat
man bereits gesagt, Vorurteile verkörperten die Weisheit der Tradition; sie sollten
darum verehrt statt dem Spott preisgegeben und zerstört werden. Die
naheliegendste Alternative zu einer unhaltbaren These ist eben stets ihr Gegenteil;
doch braucht sie deshalb nicht die richtige zu sein. Wenn das in diesem Buch
entwickelte Argument stimmt, dann steht es mit der dem Vorurteil zuteil
gewordenen Verehrung nicht besser als mit der aufklärerischen Kampagne zu seiner
Ausmerzung. Vorurteile können wahr oder falsch sein, gescheit oder dumm, weise
oder töricht, positiv oder negativ, gut oder schlecht, rassistisch oder humanistisch, und
sie sind jeweils dies oder jenes anderer Eigenschaften halber als der, daß es sich bei
ihnen um Vorurteile handelt.
Innerhalb des Unterfangens der Aufklärung, Vernunft und Unvernunft
voneinander zu scheiden, war dem Begriff des Vorurteils eine Schlüsselrolle
zugedacht; es wird indes zu zeigen sein, daß er ungeeignet ist, diese Rolle zu
spielen. Vorurteile sind verschieden von, jedoch weder notwendig schlechter noch
besser als, zum Beispiel, Urteile, Gedanken, Überzeugungen oder Meinungen. Jene
so gut wie diese können vernünftig oder unvernünftig sein. Mit diesen figurieren
Vorurteile im Repertoire des Geistes. Sie haben ihren Platz als eine der Weisen, in
welchen Menschen sich auf die Welt beziehen, und können darum, gleich anderen
solchen Weisen, am Platz oder fehl am Platz sein. Vorurteile werden in bestimmten
Zusammenhängen unangebracht sein, doch eben dies wird auch jede andere Weise
sein, in der wir denken. Argumente sind deplaciert etwa in einer Liebeserklärung,
aber auch dies beweist nicht, daß an Argumenten qua Argumenten etwas faul ist.
Bestimmte Vorurteile können und sollten selbstverständlich nach den jeweils
angemessenen Maßstäben kritisiert (oder gewürdigt) werden; doch Kritik oder Lob
1 Philosophische Lehrjahre I, S. 57. Akzentzeichen sic.
von Vorurteilen qua Vorurteilen ist beliebig: diejenigen, die ein Vorurteil nicht
mögen, nennen seinen Vertreter befangen, diejenigen, die es mögen, bezeichnen es
als Intuition.
Auf den ersten Blick scheint es leicht, das bislang im Umriß vorgestellte
Beweisziel einzulösen. Denn man könnte, wie es scheint, einfach eine Definition von
Vorurteil festsetzen, die keine negative oder positive Wertung enthielte. Doch eine
solche Abstraktion wäre wertlos. Aus jenem Vorgehen könnte sich nichts ergeben,
das Überzeugungskraft besäße; Kritiker wie Verteidiger von Vorurteilen würden
einwenden, sie hätten das ja nicht gemeint, als sie von Vorurteilen sprachen. Solche
Einwände beständen zu Recht, insofern eine festgesetzte Definition nicht auf die
jeweiligen Behauptungen jener bezogen, sondern ihnen bloß gegenübergestellt wäre.
Und sich darauf zu berufen, daß die Worte, die jene gebrauchten, doch auch heute
noch im Umlauf seien, wäre allzu treuherzig. Denn was ein Wort bedeutet, steht
nicht ein für allemal fest. Wie eine Farbe kann es sich ändern je nach dem Grund, auf
und vor dem es erscheint.
Eine festgesetzte Definition würde jeweils nur den überzeugen, der schon
dächte wie man selber: aus diesem Grund führt nichts daran vorbei, sich mit den
Bestimmungen des Begriffs Vorurteil auseinanderzusetzen, die die philosophische
Tradition aufgebracht hat. Die Geschichte des Denkens über diesen Begriff seit dem
späteren 17. Jahrhundert ist eine Geschichte von Versuchen, ihm eine Wertung
einzuschreiben. Vor dieser Zeit war er, als Begriff, in seiner Allgemeinheit, neutral
gewesen, und hatte nur in besonderen Zusammenhängen positive oder negative
Bedeutung angenommen. (Der Terminus ‘Vorurteil’ stammt aus der Sprache der
Jurisprudenz und bezeichnete ursprünglich ein Urteil, das vor dem Endurteil
erging 2 .) Erfolgreich ist das Unternehmen, den Begriff des Vorurteils negativ zu
besetzen, zweifellos gewesen, aber stichhaltig ist es nicht. Will man Politik von Logik
noch unterscheiden, ergibt sich daraus die Aufgabe. Eine Prüfung der Argumente
von Belang, der tatsächlich angeführten wie der möglichen, bezeichnet diejenige
Methode, die im Hinblick auf ihren Gegenstand nicht an jener Abstraktheit krankt,
die einem stipulativen Verfahren anzulasten war.
Analyse der Alltagssprache, diese eine Weile lang im Schwange gewesene
Methode der Philosophie, ist im vorliegenden Fall kein geeigneter Ersatz für eine
Untersuchung der Ideengeschichte. Die Weise, in der Menschen sich heute im Alltag
mit dem Hinweis auf die Vorurteile des jeweils anderen ins Gewissen reden, ist ein
Reflex des Kampfes der Aufklärung gegen die Vorurteile, mag dies den Beteiligten
üblicherweise auch unbekannt sein. Verdünnt wie er nun einmal ist, läßt sich aus
dem Sprachgebrauch des Alltags weit weniger ziehen als aus dem philosophischen
Original, von welchem er abgeleitet ist; es ist daher dieses, nicht jener, wovon sich
empfiehlt, es näher anzusehen.
Der geschichtlichen Betrachtung von Begriffen und Ideen kommt darum eine
bedeutsame Rolle in dieser Monographie zu. Und doch ist sie die Rolle eines Mittels,
nicht des Zwecks. Die Absicht ist eine systematische. Es geht nicht darum, eine
chronologische Aufstellung all dessen zu geben, was über Vorurteile gesagt worden
ist. Wo immer ein vergangener Denker zitiert wird, interessiert auschließlich dies:
seine Gedanken in einer Auseinandersetzung zur Geltung zu bringen, die jetzt
2 Meiszner, Art. ‘Vorurteil’, Sp. 1856
geführt wird. Die Ordnung, in der die Argumente vorgestellt werden, ist daher
bestimmt durch die Logik der Frage, um die es geht; man wird nicht erwarten, daß
sie zusammenfällt mit der Reihenfolge, in der die Überlegungen in der Geschichte
aufgetreten sind.
Der Gedankengang ist im ganzen folgender. Kapitel I (§§ 1 - 17) unternimmt es
nachzuvollziehen, worin der maßgebliche Einwand der Aufklärung gegen
Vorurteile bestand. Deren Schluß, alle Vorurteile seien abzuschaffen, wird in Frage
gestellt. Im Blick auf Zusammenhänge, in denen wir entscheiden und handeln, wird
eine vorläufige Verteidigung von Vorurteilen versucht.
Den Grundfehler von Vorurteilen haben einige Aufklärer darin gesehen, daß
ihnen Erfahrung mangele. Der Vorwurf, Gegenstand von Kapitel II (§§ 18 - 43), ist
nicht abwegig; doch das Verhältnis zwischen Vorurteil und Erfahrung stellt sich
verwickelter dar, als jener Vorwurf es erscheinen läßt.
Kapitel III (§§ 44 - 54) ist mit einer einflußreichen Verteidigung von
Vorurteilen befaßt, der hermeneutischen. Sie behauptet, Vorurteile seien eine
Bedingung der Möglichkeit, etwas zu verstehen. Freilich lebt diese Ehrenrettung
davon, daß sie den Begriff des Vorurteils inflationiert. Sie konfundiert ihn mit einer
Reihe von Ideen, die zwar benachbart sind, doch zu denen der Unterschied gewahrt
bleiben sollte. Insbesondere verwischt sie die feinen Grenzen zu dem, was besser
Erwartung, Antizipation, Perspektive oder Gesichtspunkt genannt wird.
Kapitel IV (§§ 55 - 74) tritt einen Schritt zurück und erörtert das Problem auf
einer grundlegenden methodischen Ebene. Vorurteile zu empfehlen scheint ein
paradoxes Unterfangen. Um empfohlen, d.h., als etwas Gutes gekennzeichnet zu
werden, muß ein Vorurteil geprüft worden sein. Dann aber, so scheint es, ist es kein
Vorurteil mehr. Es ist zu einem Urteil geworden. Doch indem wir Empfehlungen
von Vorurteilen im allgemeinen, Empfehlungen aus der Außenperspektive sowie
solche aus der Innenperspektive unterscheiden, zeigt sich, wie das Paradox zu
umgehen ist.
Kapitel V (§§ 75 - 100) zieht den Schluß aus dem vorherigen und soll die
Hauptthese des Buches einlösen. Die vorgeschlagene Revision des Vorurteilsbegriffs
vollzieht sich auf umstrittenem Terrain. Das Kapitel muß sich dem stellen, was die
Idee des Vorurteils gegenwärtig wohl am einschneidendsten diskreditiert: dem
Vorwurf des Dogmatismus und Fundamentalismus. Insoweit dieser Vorwurf etwa
auf rassistische Vorurteile zutrifft, gilt er auch, so die Gegenthese, für einen
Humanismus, der so stark ist, daß er jenem Rassismus etwas entgegenzusetzen
vermag. Die Pointe dieser Überlegung ist selbstverständlich nicht, dann sei das eine
so gut wie das andere. Vielmehr ist die Folgerung, daß kritische Maßstäbe anderswo
herzunehmen sind als aus einer Kritik von Vorurteilen. Während diese letztere das
Versprechen enthielt, ein moralisches Problem ohne viel Moral, nämlich
erkenntnistheoretisch zu lösen, wird sich zeigen, daß an Moral auf diesem Wege
nicht vorbeizukommen ist. Erkennbar wird, daß die Vertilgung aller Vorurteile eine
Aussicht ist, die keinen Anlaß zur Begeisterung bietet; ja gegen Ende zeichnet sich
ein Sinn ab, in welchem Vorurteile gar nicht zu vermeiden sind.
(Der Gedankengang ist weit genauer entfaltet im Analytischen
Inhaltsverzeichnis, das den nächsten Abschnitt dieses Buches bildet.)
Der Zweck dieser Arbeit ist demnach klarerweise nicht, zur Ausrottung aller
Vorurteile beizutragen. Doch ist dies kein Grund, umgekehrt, etwa im Geist Joseph
de Maistres 3 , Vorurteile zu feiern. Solch ein ‘Weder - noch’ wiederum verschafft der
Untersuchung ihrerseits keine bequeme Mittellage, in der sich eine maßvolle Lehre
von den Vorurteilen gefahrlos niederlassen könnte. Im Gegenteil geht es auf den
folgenden Seiten darum, die Schwierigkeiten und Abgründe im Nachdenken über
diesen Gegenstand auszuloten. Vorurteile sind ein Thema, das ohne weiteres
greifbar scheint und sich doch auf eigentümliche Weise entzieht. Ein solches Thema
bedarf des Denkens in mehr als einem Register; und literarische Phantasie hat sich
für es als ebenso sehr Aufschluß gebend erwiesen wie Logik, Swift und de Sade als
ebenso lehrreich für seine Untersuchung wie Descartes und Kant.
Zugleich bedeutet der schillernde Charakter der Materie keine Lizenz, sie in
einer ausweichenden Art zur Darstellung zu bringen; im Gegenteil werde ich auf
Schlußfolgerungen dringen, wo immer dies möglich ist. Der Versuch, den dieses
Buch unternimmt, ruht auf der Annahme, daß der Begriff des Vorurteils sich mit
Sinn erörtern läßt, auch wenn aus einer solchen Erörterung kein Verzeichnis
‘notwendiger und hinreichender Bedingungen’ dieses Begriffs herzuleiten ist.
Letzteres trifft ohnehin auf die meisten Begriffe zu, die nicht entweder unerheblich
oder auf termini technici bezogen sind. Zuweilen ist freilich das Äußerste, was sich
im Hinblick auf den Vorurteilsbegriff erreichen läßt, ihn von seiner logischen
Peripherie her einzukreisen, indem man Irrtum gegen Irrtum ausbalanciert. Doch
selbst dies zugestandenermaßen mühselige Vorgehen stellt die Dinge in klareres
Licht. Jene Passagen, die eher Schwierigkeiten aufzuhäufen denn Schlüsse zu bieten
scheinen, bleiben doch an die Richtung des Gedankengangs im ganzen gebunden,
nämlich wieder zu jenem Verständnis von Vorurteilen vorzudringen, demzufolge
diese wahr oder falsch sein können, intelligent oder unbedarft, gut oder schlecht. Die
Argumentation sucht dies zu erreichen, indem sie sich mit der vorherrschenden
Tradition des Denkens über Vorurteile auseinandersetzt, die ihnen die jeweils
negative Qualität jener Paare von Eigenschaften zuschreibt. (Die entgegengesetzte
Tradition, die Vorurteilen in der selben Manier jeweils die positive Beschaffenheit
nachsagt, ist nie vorherrschend gewesen.)
‘Vorurteil’, wie die Aufklärung diesen Ausdruck benutzt hat, ist ebensosehr
eine Waffe wie ein Begriff gewesen. Die einflußreichen modernen Bestimmungen
von ‘Vorurteil’ enthalten dessen Mißbilligung. Sie stellen Vorurteile als etwas dar,
das Fehler nicht nur hat, sondern ein Fehler ist; womit gesagt sein soll, daß wir gar
nicht angeben können, was Vorurteile sind, ohne zugleich anzugeben, daß und
worin sie verkehrt sind. Solche Definitionen sagen etwa, Vorurteile seien übereilt
oder gar falsch; obschon dies nicht alles ist, was sie sagen. Mit den Autoren
derartiger Bestimmungen kann man sich nur auseinandersetzen, indem man sich
auch an ihre leidige Verschränkung der beiden einschlägigen Fragen heranwagt:
Was sind Vorurteile? und: Was ist verkehrt an Vorurteilen? Alles andere würde
bedeuten, daß man lediglich von außen etwas zu verfügen suchte. Daß aber
irgendjemand eine Definition annehmen würde, die er selber nicht teilt, steht nicht
zu erwarten, solange kein Gedanke vorgetragen worden ist, der Schwächen oder
sogar Widersprüche seiner eigenen Auffassung an den Tag gebracht hätte.
So sind die sachliche und die historische Frage der Vorurteile unauflösbar
verbunden: der systematische Gedanke kann nur auf dem Wege einer Untersuchung
3 Etude sur la souveraineté, I,10, S. 375
der inneren Geschichte des Problems zur Geltung gebracht werden; letztere aber
zwingt dazu, die beiden Angelegenheiten - nämlich: was Vorurteile sind und was
falsch an ihnen sein soll - in der Verbindung zu behandeln, die Ergebnis eben dieser
Geschichte ist.
In dieser Weise vorzugehen scheint unvereinbar mit einem strengen
Methodenideal. Doch eine Methode ist gut, und nicht lediglich streng, sofern sie
Einsichten erbringt. Und gerade die Beantwortung der zweiten Frage, ob Vorurteile
abzulehnen sind oder sich verteidigen lassen, wird sich für die Klärung der ersten
Frage, was Vorurteile sind, als lehrreich erweisen. Bloß dem Anschein nach eine
Paradoxie, kann man die Vermengung von Beschreiben und Bewerten im Fall der
Vorurteile auf keine andere Weise hinter sich lassen, als indem man sich zunächst
einmal auf sie einläßt. Irrtümer, die Epoche gemacht haben, entziehen sich
schulmeisterlicher Zensur. Das philosophische Problem der Vorurteile zu verstehen
bedeutet mindestens in einem ersten Schritt, daß man der Plausibilität der
überlieferten Formulierungen dieses Problems gewahr wird. Die Plausibilität einer
Auffassung erkennen ist aber nicht das selbe wie diese Auffassung übernehmen.
Plausibel ist, was uns applaudieren läßt, unmittelbar nachdem es gezeigt worden ist;
unser Applaus ist nichts, das Dingen vorbehalten wäre, die wahr sind. Doch die
unmittelbare Wirkung könnte selbst vorüber sein, während die Plausibilität bliebe.
Genau so kommt Dissens mit einer Auffassung, die in der Geschichte des Denkens
bedeutsam war, oft, ja vielleicht in der Regel, zustande: von einer Auffassung, die
wir in verschiedener Hinsicht angemessen fanden - verständlich, klar, von Belang,
interessant, überlegt - und darum eingehenderer Beschäftigung für wert hielten,
erweist sich im Verlauf eben dieser Beschäftigung mit ihr, daß sie nicht stimmt. So
macht auch der Gedankengang dieses Buches mehrfach Ansichten plausibel, von
denen sich im weiteren Verlauf herausstellt, daß sie nicht haltbar sind. Nur wenn
man den Stärken einer Tradition ins Auge sieht, die erreicht hat, daß ihre Irrtümer
als Einsichten gelten, mag es einem gelingen, über sie hinauszugelangen.
Analytisches Inhaltsverzeichnis

1. Vorurteil ist nicht das selbe wie ein vorzeitiges Urteil. Es gibt vorzeitige Urteile,
die wir nicht als Vorurteile bezeichnen.

2. Ein Schluß der Aufklärung: (a) Vorurteilen mangelt Erfahrung. (b) Das Selbst
sollte seiner Überzeugungen mächtig sein, und dies ist der Fall, wenn sie seiner
eigenen Erfahrung entstammen. (c) Deshalb sollten Vorurteile abgeschafft werden.

3. Doch ist (entgegen § 2 (b)) Erfahrung keine notwendige Bedingung dafür, seiner
Überzeugungen mächtig zu sein.

4. Kant: Freiheit von Vorurteilen erfordert Selbstdenken. Scheitern dieses Gedankens


in einer ersten Deutung.

5. Scheitern dieses Gedankens (§ 4) in einer zweiten Deutung.

6. Scheitern dieses Gedankens (§ 4) in einer dritten Deutung. Wir können gar nicht
vermeiden selbst zu denken, wie sehr wir auch auf die Urteile anderer bauen
mögen.

7. Kant mag gemeint haben, wir sollten nachdenken, nicht bloß denken. Doch,
soweit es hier um Interpretation Kants geht, würde er dann nicht, oder sollte
zumindest nicht, von Selbstdenken geredet haben. Soweit es um Logik geht, ist
festzustellen, daß sich auch im Nachdenken Vorurteile bekunden können.

8. Wie Vorurteile Selbstdenken voraussetzen (§ 6), setzt umgekehrt auch das Prüfen
einer Sache Vorurteile voraus.

9. Was bleibt, ist eine Unterscheidung zwischen der Kenntnis einer Sache entweder
aus erster oder aus zweiter Hand. Aber jene ist nicht an und für sich besser als diese.

10. Ferner handelt es sich bei Kenntnis aus zweiter Hand, falls diese den Mangel von
Vorurteilen bezeichnen sollte, um einen Mangel, der sich gar nicht vermeiden läßt.
Duclos, Burke, Hazlitt: Der Sprung aus den Vorurteilen wäre ein Sprung aus der
Gesellschaft.

11. Zweifel über Originalität.

12. Die Rechtfertigung von Vorurteilen aus intellektueller Ökonomie beim


Entscheiden und Handeln.

13. Einwand: Wissen als solches ist gut. Antwort: Menschliches Wissen ist stets ein
Kompromiß zwischen Breite und Tiefe.

14. Einwand: Die ökonomische Rechtfertigung von Vorurteilen ist (a) begrenzt und
(b) problematisch.
15. Doch sie enthält einen entscheidenden kritischen Gedanken. Burkes Argument
des Notfalls.

16. Selbst in Notfällen bleibt es jedoch bei einem bezeichnenden Unterschied


zwischen Verdacht und Vorurteil.

17. Der gegen das Vorurteil abgesetzte Verdacht (§ 16) ist in Wahrheit auch ein
Vorurteil.

18. Wiederaufnahme der Frage, ob Vorurteilen Erfahrung mangelt (§ 2 (a)). Selbst in


Fällen, die unumstritten als solche von Vorurteil gelten, berufen sich die
Betreffenden auf Erfahrung.

19. Tatsächlich mögen sie auch Erfahrung von dem haben, worüber sie ein Vorurteil
unterhalten; doch ihre Erfahrung ist geformt durch ihr Vorurteil.

20. Unser Einwand etwa gegen die Berufung eines Antisemiten auf seine Erfahrung
ist nicht, daß unsere Erfahrungen mit Juden anders sind als seine; zwar ist dies wahr,
doch es wäre zirkulär, diesen Umstand als Argument zu verwenden.

21. Vorurteil avant la lettre?: Sokrates über das Entstehen von Menschenhaß.

22. Kiesewetter: Vorurteile sind vorschnelle Verallgemeinerungen, d.h. Fälle


fehlerhaften induktiven Schließens.

23. Einwand: Versuche, Vorurteile durch unangenehme Erfahrungen mit dem,


worüber sie Vorurteile sind, zu erklären, stellen eine petitio principii dar. Denn sie
erklären gerade das Entscheidende nicht, nämlich wie Haltungen zu bestimmten
Kategorien von Menschen entstehen.

24. Nicht daß solche Kategorien verwendet werden, sondern wie sie verwendet
werden, scheint Vorurteile zu unterscheiden.

25. Noch einmal: Vorurteile als vorschnelle Verallgemeinerungen.

26. Negative und positive Vorurteile.

27. Was ist gegen Verallgemeinern zu sagen? Es tut dem Individuum Unrecht,
indem es dieses in eine gesellschaftliche Rubrik einordnet. Antwort: Solches
Klassifizieren scheint nicht immer falsch.

28. Einem anderen zu helfen hat stets einen Aspekt des Verallgemeinerns seiner
Lage.

29. Der Einwand gegen das Verallgemeinern neu formuliert: Vorurteile über
Personen vs. Vorurteile über Sachen.
30. Doch die Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft, in welcher die
Kritik am Verallgemeinern (§§ 27, 29) gründet, ist unangemessen. Die
Unangemessenheit ist eine doppelte: (a) hinsichtlich des Zugeschriebenen und (b)
hinsichtlich des Zuschreibenden. (Ad a) Individualität ist selbst ein gesellschaftliches
Merkmal.

31. (Ad § 30 (b)) Wir erfassen die Individualität anderer (wie unsere eigene) stets
durch Sprache, und Sprache klassifiziert in jedem Falle. - De Bonald: Sprache ist
durchzogen von Vorurteilen, daher sind Vorurteile nicht zu vermeiden.

32. De Bonalds Behauptung scheint auf einem Kategorienfehler zu beruhen.


Widerlegung dieses Einwandes.

33. Aber der Hinweis darauf, daß sowohl Vorurteile wie Sprache klassifizieren,
verschiebt in Wahrheit das Problem. Nicht Klassifizieren als solches tut Unrecht.
Zwei Arten des Klassifizierens. Klassifizieren nach Vorurteil: ‘Du bist ein X - und
mehr brauche ich nicht von dir zu wissen’.

34. ‘...und mehr brauche ich nicht zu wissen’ zeigt kein bloßes Verallgemeinern an,
sondern Absehen und Absondern von Eigenschaften. Vergleich mit der Rolle, die
diese Vorgehensweisen in der Wissenschaft spielen.

35. Vorurteile und Macht.

36. Vorurteil ist nicht definiert durch Ungleichheit oder Diskriminierung.

37. Was ist verkehrt an Vorurteilen? Vorschlag: Sie sind dumm. Was ist Dummheit?

38. Was Dummheit nicht ist: weder Unwissenheit noch Irrtum.

39. Verteidigung einer Implikation der vorigen Überlegung: Dummheit und


Zufriedenheit.

40. Was Dummheit ist: Engstirnigkeit.

41. Einwand: Kann es nicht vorkommen, daß wir Dummes tun, gerade weil wir zu
viele Gesichtspunkte haben? Antwort: Dies wäre genaugenommen kein Fall von
Dummheit.

42. Vorurteile können dumm sein. Doch ist dies keine Eigenschaft, die Vorurteilen
als solchen innewohnte.

43. Was ist verkehrt an Vorurteilen? Wir wollen nicht mit Vorurteilen angesehen
werden. Doch auch dies trifft nicht immer zu. Manchmal ist es besser für uns, mit
Vorurteil (a) angesehen und (b) behandelt zu werden.

44. Urteile scheinen Vorurteile (a) in positiver oder (b) in negativer Hinsicht
vorauszusetzen. (a) Etwas, das noch nicht beurteilt ist, muß unsere Aufmerksamkeit
leiten, wenn es je zu einem Urteil kommen soll. (b) Eigenschaften von Dingen
werden wir gerade dann gewahr, wenn sie unseren Vorurteilen widersprechen.

45. Gadamer: (a) Die Aufklärung hatte ein Vorurteil gegen Vorurteile. (b) Alles
Verstehen gründet in Vorurteilen.

46. Was Gadamer das Vorurteil der Aufklärung gegen Vorurteile (§ 45 (a)) nennt, ist
weder ein Vorurteil, noch läßt es sich ‘der’ Aufklärung zuschreiben. Daß es falsch ist,
folgt nicht aus dem von Gadamer angeführten Grund; es folgt aus einem Grund, den
Gadamer nur um den Preis der Inkonsistenz anerkennen könnte.

47. Einwand: Die Kennzeichnung der Aufklärung als selber in einem Vorurteil
befangen läßt sich verteidigen, da die Aufklärung lediglich die neue Autorität der
Vernunft an die Stelle der alten Autoritäten gesetzt hat. Gegeneinwand: Der Glaube,
das Denken bedürfe einer solchen autoritativen Stütze, ist widersprüchlich.

48. Entgegen der Auffassung einiger Aufklärer ist nicht gezeigt worden, daß
Vorurteile falsch sein müssen (§ 46). Doch hilft dies Gadamers positiver Behauptung
(§ 45 (b)) nicht; sie verkennt, inwiefern in Vorurteilen geurteilt wird.

49. Gadamer konfundiert Vorurteil mit Erwartung.

50. Vorurteil muß auch von Standpunkt oder Blickwinkel unterschieden werden.

51. Gadamers ‘Rehabilitierung der Vorurteile’ soll nicht unterschiedslos sein. Doch
Gadamer gibt keine Antwort auf die Frage, auf welche Weise illegitime Vorurteile
von legitimen zu scheiden seien.

52. Daß Vorurteile gerade dank der ihnen eigenen Grenzen aufschließende Kraft
haben (Gadamer), wäre überzeugend, wenn sie in Entsprechung zu Werkzeugen
begriffen werden könnten.

53. Doch eine derartige Entsprechung scheint es nicht zu geben.

54. Wir haben Abstand zu Gerätschaften, die wir benutzen; Vorurteile hingegen sind
ein Stück Identität: wir sind nicht schon auf Distanz zu ihnen, sondern können uns
allenfalls von ihnen distanzieren.

55. Burke: Der Sprung aus den Vorurteilen wäre ein Sprung aus der Zeit. Moderne
Erkenntnistheorie starrt auf die Gegenwart; das ‘Vor-’ in ‘Vorurteil’ hingegen ist die
Vergangenheit.

56. Erster Einwand gegen Burke (§ 55): Die guten alten Dinge gäbe es nicht, wären
sie nicht einmal neu gewesen.

57. Zweiter Einwand gegen Burke (§ 55): Die Dauer einer Sache verbürgt deren Güte
nicht.
58. Dritter Einwand gegen Burke (§ 55): Die Vergangenheit muß vergegenwärtigt
werden, wann immer wir vernünftigerweise etwas aus ihr übernehmen.

59. Die Idee der Präzedenz verschafft Burkes Behauptungen keine überzeugende
Grundlage.

60. Auch die Idee der Tradition leistet dies nicht.

61. Gegeneinwand: Eine konservative Präsumtion ist eine Maßregel, die die Vorsicht
gebietet: Ein Gut, das wir kennen, sollte nicht leichtfertig für etwas vermeintlich
Besseres, das wir noch nicht kennen, aufs Spiel gesetzt werden.

62. Aber moderne Gesellschaften machen es unwahrscheinlich, daß irgendetwas in


ihnen unverändert bleiben kann; dies scheint den Konservativen die Beweislast
aufzubürden.

63. Die konservative Präsumtion ist jedoch zu retten, wenn man entweder (a) der
Modernität entsagt, oder (b) einen Ausgleich innerhalb der Modernität anstrebt:
Gerade weil sie ohnehin im Zerstören des Überkommenen so rücksichtslos vorgehe,
müsse dieses durch eine Präsumtion gegen Neuerungen besonders geschützt
werden.

64. Für das Überkommene eingenommen zu sein, ohne es geprüft zu haben, mag
zunächst angemessen sein, da Wechsel nicht an sich ein Gut darstellt; ist jedoch das
gute Alte einmal angefochten, muß gezeigt werden, wie gut es wirklich ist.

65. Empfehlungen von Vorurteilen (Hume, Chesterfield, Burke) sind paradox. Denn
Empfehlungen müssen Gründe haben. Sind aber einmal Gründe angeführt, dann ist
das Vorurteil keines mehr: es ist zum Urteil geworden.

66. Sofern Vorurteile nur im allgemeinen (und nicht bestimmte Vorurteile)


empfohlen werden, läßt sich die Paradoxie (§ 65) umgehen.

67. Insofern Vorurteile Gemeinschaft stiften oder erhalten, hat man Grund zu ihrer
Billigung gesehen.

68. Sofern Vorurteile aus der Außenperspektive empfohlen werden, läßt sich die
Paradoxie (§ 65) umgehen.

69. Coleridges Garten als eine Empfehlung von Vorurteilen aus der
Außenperspektive: Weder wäre es gut noch ist es auch nur möglich, Kinder nach
dem Grundsatz aufzuziehen, daß alle Vorurteile vertilgt oder vermieden werden
müssen.

70. Diese Empfehlung von Vorurteilen aus der Außenperspektive (§ 69) scheint
allgemein für das Erlernen von Fertigkeiten zu gelten, sofern sie nicht ganz
anspruchslos sind.
71. Selbst wenn Vorurteile aus der Innenperspektive empfohlen werden, läßt sich die
Paradoxie (§ 65) in bestimmten Fällen umgehen.

72. Wo ein Vorurteil aus der Innenperspektive empfohlen (§ 71) und die Paradoxie (§
65) umgangen werden soll, müssen wir, wie es scheint, den Nutzen des Vorurteils
von seiner Wahrheit scheiden. Doch manchmal können wir nicht einmal dies.

73. Lob von Vorurteilen aus der Außenperspektive nimmt sich elitär und zynisch
aus. Doch weder braucht es elitär zu sein.

74. Noch muß es zynisch sein.

75. Noch einmal: Was ist verkehrt an Vorurteilen? Lockes Prüfstein: Sie widerstehen
ihrer Berichtigung.

76. Lockes Unterscheidungsmerkmal, gegen seinen Wortgebrauch gewendet:


Präsumtion vs. Vorurteil.

77. Vorurteile als eine Weise, die Welt zu sehen: Dies erklärt, wie Vorurteile so
beharrlich sein können.

78. Doch (a) es ist manchmal das Vernünftigste, widerstreitende Evidenz zu


übergehen, (b) Lockes Kriterium (§ 75) ist zirkulär.

79. Wären wir ohne Widerstand gegen Berichtigung, dann stände grundsätzlich alles
auf der Tagesordnung. Daß das wünschenswert wäre, ist aber zweifelhaft. Ein
Beispiel dafür.

80. Die Jagd auf Vorurteile ist so beliebt, weil sie scheinbar erlaubt, ein moralisches
Problem ohne viel Moral, nämlich erkenntnistheoretisch zu lösen.

81. Ein Problem mit dem Beispiel (§ 79). Ein anderes Beispiel.

82. Der Gedanke, daß dem Untersuchen Grenzen gezogen sind, ist kein Überbleibsel
der Finsternis vergangener Zeiten.

83. Einwände: Der Gedanke, daß dem Untersuchen Grenzen gezogen sind, ist
entweder (a) widersprüchlich, weil jeder solche Vorschlag selbst untersucht werden
muß, oder (b), sofern nicht widersprüchlich, dann doch mindestens irregeleitet, weil
er den Unterschied zwischen zwei Arten von Aufgeschlossenheit übersieht.

84. Doch der Gedanke, daß dem Untersuchen Grenzen gezogen sind, ist
widersprüchlich (§ 83 (a)) nur, wenn ‘Untersuchen’ doppeldeutig für ‘eine Sache
durchdenken’ und ‘andere Menschen Versuchen unterziehen’ gebraucht wird.

85. Es ist möglich, zwei Arten von Aufgeschlossenheit (§ 83 (b)) zu unterscheiden;


aber beide passen nicht auf unsere grundlegenden moralischen Überzeugungen.
86. Swifts ‘Bescheidener Vorschlag’.

87. Gegen ein Sichverschließen des Geistes: Über eine Sache zu reden kann doch
nicht schaden. Antwort: Eine Sache der Rede wert zu schätzen, kann ihr derart
nützen, daß diejenigen, welchen sie schaden kann, wirklich den Schaden
davontragen.

88. Alles steht auf der Tagesordnung: de Sade.

89. Vorurteilsfreiheit: von der Theorie zur Praxis.

90. Unsere grundlegenden moralischen Überzeugungen sind Vorurteile.

91. Voltaire über Moralität und Vorurteile, mit einer zweifelnden Anmerkung.

92. Ein historisch aufgeklärter Begriff von Unvoreingenommenheit.

93. Ist Geist, der sich verschließt, zur Gewalt gesonnen? Erste Fallstudie: Antigone.

94. Exkurs: Die Jagd auf die Vorurteile anderer ist selbstgerecht.

95. Fortsetzung des Exkurses: Dieser Selbstgerechtigkeit (§ 94) ist nicht abzuhelfen,
indem man jedermann verpflichtet, unparteiisch nur die eigenen Vorurteile zu
untersuchen; denn dieser Rat ist zirkulär.

96. Toleranz und Intoleranz.

97. Zweite Fallstudie zu Überzeugungen und Gewalt: Hitler.


98. Der historisch aufgeklärte Begriff von Unvoreingenommenheit (§ 92) wird
unseren grundlegenden moralischen Überzeugungen nicht gerecht.

99. Über Gründe.

100. Von Aufklärung, als einer Haltung, die Erfolg noch aus ihren Fehlschlägen
zieht, mag sich herausstellen, daß sie gerade so sehr auf sich beharrt, wie sie es den
Vorurteilen nachsagt.
I. Über Aufklärung und ihr Vorhaben, alle Vorurteile abzuschaffen

1. Was ist das: ein Vorurteil? Viele europäische Sprachen kennzeichnen dies
fragwürdige Ding auf die gleiche Weise. µ , praeiudicium, pregiudizio, prejuicio,
préjugé, prejudice, Vorurteil: Der erste Teil dieser Wörter sagt, daß es sich um etwas
handelt, das ‘vorher’ kommt: ein Vorurteil haben heißt urteilen, wenn es noch nicht
an der Zeit ist zu urteilen 4 . Ein Vorurteil scheint demnach schlicht ein verfrühtes
Urteil zu sein.
Was die Herkunft des Wortes anlangt, ist es richtig, unter Vorurteil ein
vorzeitiges Urteil zu verstehen; aber begrifflich scheint dies zu weit. Denn selbst
belanglose Irrtümer, die uns beim Urteilen unterlaufen mögen, müßten so als
Vorurteile gelten. Urteile ich, nachdem ich bloß einen einzigen Türgriff, nämlich
einen aus Messing, gesehen habe, daß alle Türgriffe goldene Farbe aufweisen, so ist
mein Urteil gewiß ergangen, ehe es Zeit zum Urteilen war. Aber es darum als
Vorurteil zu bezeichnen, wäre etwas eigenartig 5 . Vorurteile mögen etwas mit
solchen unerheblichen Mißgriffen des Erkennens gemein haben; aber das Wort
‘Vorurteil’ deutet doch auf etwas Spezielleres. Tatsächlich wäre es ja nicht abwegig,
alle Irrtümer als Ergebnis verfrühten Urteilens anzusehen. Wer sich irrt, urteilt über
Gegenstände, die er noch nicht ganz begreift. Er könnte, so unterstellen wir in einem
solchen Fall, durch fortgesetzte Untersuchung beim richtigen Ergebnis anlangen.
Doch Vorurteil bedeutet nicht das gleiche wie Fehler. Falls Vorurteile Irrtümer sein
sollten, sind sie jedenfalls Irrtümer von einer ganz besonderen Sorte.

2. Dies heißt nicht, daß der gewählte Ausgangspunkt verkehrt war. Wie sich ein
Wort gebildet hat, ist bedeutsam. Selbst wenn der Sinn des Wortes ‘Vorurteil’ sich
gewandelt hat - wie es wohl tatsächlich im Zeitalter der Aufklärung geschehen ist -,
mußte dieser Wandel selbst im Blick auf den ursprünglichen Sinn, von dem er
ausging, verstanden werden können. Es muß, mit anderen Worten, einen Grund
gegeben haben, weshalb gerade diesem bestimmten Wort diese besondere Aufgabe
zugewiesen wurde. Es war also richtig, so zu beginnen, wie wir begonnen haben;
wir müssen nur genauer sein.
Der erste Teil des deutschen Wortes ‘Vorurteil’ und der entsprechenden
Wörter anderer europäischer Sprachen sagt, wie wir bemerkten, es handele sich um
etwas, das vor etwas anderem kommt. Aber wovor? Bevor, so liegt es nahe zu
meinen, man das kennenlernt, worüber das Vorurteil sich ein Urteil erlaubt. In
Vorurteilen urteilen wir über einen Gegenstand, ehe wir Erfahrung von ihm haben.
Wenn Vorurteile aber der Erfahrung vorausgehen, können sie ihren Grund nicht in
4 Vgl. Sailer, Vernunftlehre, S. 77: “Vorurtheil ist, wie das Wort sagt, Urtheil vor der Zeit”. - Kant, Reflexionen
zur Logik, Nr. 2532, S. 407: “Vorurtheile sind Urtheile, die dem Verstand zuvor kommen und da dieser nachher
zu spät kommt”. Kant folgt Georg Friedrich Meier, dessen Auszug aus der Vernunftlehre er seinen
Logikvorlesungen zugrundelegte: “In dem letzten Falle übereilen wir uns (praecipitantia), und die ungewisse
Erkenntniss, die wir aus Übereilung annehmen oder verwerfen, ist eine erbettelte Erkenntniss, ein Vorurtheil,
eine vorgefasste Meinung (praecaria cognitio, praeiudicium, praeconcepta opinio)” (§ 168, S. 399 - 400).

5Trotz seiner zitierten Erklärung von Vorurteil als voreiligem Urteil erkennt Kant dies an: “Das Vorwahrhalten
aus unzureichenden Gründen ist nicht Vorurtheil, sondern Muthmaßung” (Reflexionen zur Logik, Nr. 2517, S.
401).
dieser haben. So wird die Feststellung über Vorurteile zum Einwand gegen sie: Da
Vorurteile vor dem Vorliegen empirischer Belege ergehen, sind sie ohne empirischen
Beleg. Jemand, der Opfer seiner Vorurteile ist (“la victime de ses préjugés”), so
behauptet du Marsais, der Autor einer Streitschrift über diesen Gegenstand aus der
Zeit der Aufklärung, hat weder Erfahrung noch Vernunft (“n’a ni expérience ni
raison”). Dieser Schrift, dem von d’Holbach 1770 herausgegebenen Essai sur les
préjugés, zufolge hat ein Mensch mit Vorurteilen das Pech, bloßer Spielball der
eigenen Unerfahrenheit zu sein (“le jouet infortuné de son inexpérience propre”) 6 .
Die Behauptung, daß Vorurteilen Erfahrung mangelt, wirft zwei Fragen auf:
Warum sollte gerade Erfahrung so wichtig sein? Und: Was folgt eigentlich, wenn es
so ist, daß Vorurteilen die Erfahrung abgeht?
Wieso, erstens, sollte Erfahrung so wichtig sein? Erfahrung ist in einem
bezeichnenden Sinn stets meine Erfahrung. Wenn jemand anders mir eine bestimmte
Erfahrung berichtet, dann kann stenggenommen nicht von mir gesagt werden, ich
hätte diese Erfahrung gemacht. Daraus folgt, daß, solange Erfahrungen die
Grundlage meiner Überzeugungen bilden, ich selbst deren Urheber bin. Solange
mein Denken Vorurteilen unterliegt, bin ich hingegen, wie es scheint, nicht der
Urheber meiner Überzeugungen. Diese sind vielmehr durch Meinungen anderer
bestimmt. Freiheit von Vorurteilen ist danach geistige Selbstbestimmung. Erreicht ist
sie, sobald all meine Urteile in meinen Erfahrungen begründet sind. Dies scheint zu
untermauern, daß in der Tat, wie du Marsais ein ums andere Mal hervorhebt 7 , der
Erfahrung einzigartiges Gewicht zukommt.
Zweitens: Wenn es so ist, daß Vorurteile der Erfahrung ermangeln, was folgt
eigentlich daraus? Du Marsais’ Wortwahl (zum Beispiel “infortuné”) zeigt an, daß
seine Bemerkungen Vorurteile nicht lediglich beschreiben sollen. Sie schätzen
zugleich ab. Vorurteile, so meint du Marsais, sind etwas, dessen wir uns gänzlich
entledigen sollten. Da ihnen Erfahrung erster Hand abgehe, trennten sie uns von der
Wirklichkeit ab. (Der Ausdruck ‘erster Hand’ gibt in diesem Zusammenhang keine
zusätzliche Bedingung an. Er macht bloß ausdrücklich, was im Begriff der Erfahrung
enthalten sein soll. Was zweiter Hand wäre, würde strenggenommen gar keine
Erfahrung darstellen.) Zur Wirklichkeit gelangen hieße, wie du Marsais es
ausdrückt, den Schleier des Vorurteils durchschneiden 8 .
Die Aufklärung, die ‘Vorurteil’ als Gegenstand philosophischen Denkens
erfunden - oder soll man sagen: entdeckt - hat, hat es vorwiegend zu dem Zweck
aufgebracht, es los zu werden. Daß es von einem unscheinbaren Wort der
Juristensprache zu einer erkenntnistheoretischen, moralischen und politischen cause
célèbre befördert wurde, sollte bloß dazu dienen, ihm desto sicherer den Garaus zu
machen; dieses Motiv hält sich von der frühen bis zur späten Stufe der Aufklärung.
Bacons Vorrede zur Instauratio Magna von 1620 9 etwa und Poullain de la Barres
6du Marsais, Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 6 - 7. Für d’Holbachs eigene Auffassung von Vorurteilen s. seine
Lettres à Eugénie, durchgehend, und sein Système de la Nature, z.B. S. XXIX

7 z.B. Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 3, 32; Bd. II, S. 79, 92

8 Ebd., Bd. I, S. 152: “déchirer le voile du préjugé”. Vgl. S. 11

9‘Præfatio’, S. 132: “exutis opinionum zelis et præjudiciis” (“nachdem man den Eifer für Meinungen und die
Vorurteile abgelegt hat”).
Abhandlung über die Gleichheit der Geschlechter aus dem Jahr 1673 (die, wie ihr
Untertitel - “Où l’on voit l’importance de se défaire des Préjugez” - andeutet und ihr
Vorwort ausführt, als Fallstudie einer Cartesianischen Kur der Vorurteile gemeint
war) 10 , d’Alemberts Einleitung in die Encyclopédie von 1751 11 , du Marsais’ 1770
veröffentlichter Versuch über die Vorurteile 12 , Kants Aufsatz über Aufklärung von
1783 13 oder Condorcets Umriß der Fortschritte des menschlichen Geistes aus den
Jahren 1793/94 14 erwähnen Vorurteile bloß als etwas, dessen die Menschen sich
kraft ihrer Vernunft zu entledigen hätten. Zu entledigen hätten sie sich der
Vorurteile aber, so wollen die Autoren es, vollständig; denn würden nur einige
Vorurteile beseitigt, andere aber beibehalten, so wäre das Ergebnis unstimmig 15 .

3. Auf dem Wege der Analyse haben sich drei Bestandteile einer kritischen Theorie
der Vorurteile unterscheiden lassen: Erstens, Vorurteilen mangelt Erfahrung;
zweitens, das Selbst sollte seiner Überzeugungen mächtig sein, und dies ist der Fall,
wenn sie seiner eigenen Erfahrung entstammen; deshalb, drittens, sollten Vorurteile
abgeschafft werden.
Diese Folge von Aussagen nimmt sich wie ein zwingender Schluß aus. Doch
in Wahrheit sind sie logisch nicht so streng verknüpft, wie dies scheinen mag. Man
erkennt dies an der zweiten Aussage, die ja den Schluß zusammenhalten soll. Das
Band zwischen Erfahrung und Autonomie des Erkennenden ist weniger eng, als dies
10 De L’Égalité des Deux Sexes, S. ii: “Dans le progrez de leur recherche, il leur arrive necessairement de
remarquer que nous sommes remplis de préjugez [C’est à dire de iugemens portez sur les choses, sans les avoir
examinées.] & qu’il faut y renoncer absolument, pour avoir des connoisances claires & distinctes”. (Die
Erläuterung in eckigen Klammern findet sich am Rand der Seite.) Zum Charakter des Buches als Fallstudie
einer Cartesianischen Therapie der Vorurteile s. S. ii - iv. Vgl. Descartes, Meditationes, Synopsis sex
sequentium meditationum, S. 12: “dubitatio [...] ab omnibus præjudiciis nos liberet” (“der Zweifel [...] befreit
uns von allen Vorurteilen”); Principia Philosophiæ, pars I, § 75, S. 38: “omnia præjudicia sunt deponenda”
(“alle Vorurteile sind abzulegen”).

11 Discours préliminaire, S. 132: “détruisant autant qu’il est en nous les erreurs et les préjugés”. Vgl. Jeaucourt,
Art. ‘préjugé’, S. 239: “Que l’homme donc dépose ses préjugés, & qu’il approche de la nature avec des yeux &
et des sentimens purs, tels qu’une vierge modeste a le don d’en inspirer, il la contemplera dans toute sa beauté,
& il méritera de jouir du détail de ses charmes”.

12 Essai sur les Préjugés, Bd. II, S. 187: “Réformer le genre humain et le détromper de ses préjugés”.

13 ‘Was ist Aufklärung?’, S. 54 - 55

14 Esquisse, S. 242 - 243 (über die Segnungen der Wissenschaft): “Le plus important peut-être est d’avoir
détruit les préjugés”.

15 In Friedrich Nicolais Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (S. 151)
allerdings ist es, nicht ganz untypisch für die deutsche Spielart der Aufklärung, der Gegner der Aufklärung, ein
rechtgläubiger Prediger, der auf die Unstimmigkeit einer halbherzigen Beseitigung der Vorurteile hinweist,
während der Verteidiger der Aufklärung, der Held des Romans, solche Unstimmigkeit in Kauf zu nehmen bereit
ist: “Dieser [der Pfarrer] fuhr fort: ‘Und unsere neumodischen Theologen, die die Welt haben erleuchten
wollen, die so viel untersucht, vernünftelt, philosophiert haben, wie wenig haben sie ausgerichtet! wie müssen
sie sich krümmen und winden! Sie philosophieren Sätze aus der Dogmatik weg und lassen doch die Folgen
dieser Sätze stehen; [...] sie sind aufs äußerste inkonsequent. -’ Sebaldus fiel ihm schnell in die Rede: ‘Und
wenn sie denn nun inkonsequent wären? Wer einzelne Vorurteile bestreitet, aber viele andere damit verbundene
nicht bestreiten kann oder darf, kann, seiner Ehrlichkeit und seiner Einsicht unbeschadet, inkonsequent sein
oder scheinen [...]’”.
nahegelegt wurde. Gewiß muß Erfahrung in dem behaupteten Sinne die jeweils
eigene sein. Doch daraus folgt nicht, daß umgekehrt auch jede Einsicht, von der mit
Recht gesagt werden kann, sie sei die eigene, eine Erfahrung sein muß. Nach
empirischen Belegen für etwas Ausschau zu halten ist nur ein Sonderfall dessen,
eine Frage selber zu prüfen; die Angelegenheit zu durchdenken ist eine andere
Weise, dies letztere zu tun, besonders dann, wenn es sich gar nicht um etwas
handelt, das durch Beobachtung zu entscheiden wäre. Was ich selber gedacht habe,
kann mir mit nicht geringerem Recht als meine Einsicht zugeschrieben werden, als
das, was ich erfahren habe.
Der Schluß bricht also gewissermaßen in der Mitte auseinander. Es bleiben
drei Behauptungen zurück, deren logische Verbindung nicht vorauszusetzen,
sondern zu untersuchen ist: Erstens, Vorurteilen mangelt Erfahrung; zweitens, in
Vorurteilen ist der Erkennende bar der Autonomie, die er eigentlich besitzen sollte;
drittens, Vorurteile sind abzuschaffen. Die zweite Behauptung haben wir eben
bereits zu untersuchen begonnen; wir fahren sogleich damit fort (§§ 4 - 7). Die erste
Behauptung, Erfahrung betreffend, wird im weiteren Verlauf aufgenommen (§§ 9, 18
- 34). Die dritte Frage, ob alle Vorurteile liquidiert werden können und sollen, ist
Gegenstand dieser Untersuchung bis zum Schluß (im gegenwärtigen Kapitel §§ 8, 10
- 17).

4. “Selbstdenken”, bemerkt Kant, “ist die Maxime der vorurteilfreien [...]


Denkungsart” 16 ; und wiederum “die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die
Aufklärung” 17 . Wer Vorurteile hat, denkt demnach nicht selber; sein Zustand ist, in
Kants Ausdruck, “Heteronomie der Vernunft” 18 . Jemand denkt nicht selber, sagt
Kant ferner, wenn sein Verstand durch einen anderen geleitet ist 19 . Um die Frage zu
beantworten, was verkehrt ist an Vorurteilen, müßten wir demnach nur verstehen,
was es heißt, nicht selber zu denken. Unter welchen Umständen ist es der Fall, daß
jemandes Verstand nicht durch ihn selber, sondern durch einen anderen geleitet ist?
Eine erste Vermutung könnte sein, jemand denke nicht selbst, wenn er
berücksichtige, was andere denken. Das aber kann nicht richtig sein. Selbstdenken,
so verstanden, wäre weder zu wünschen noch zu erreichen 20 . Ein Selbstdenker
dieser Art wäre von der Verständigung mit anderen abgeschnitten; aber daß jemand,
dem diese fehlte, überhaupt denken könnte, ist bereits zweifelhaft.
Man sollte jedenfalls in der Lage sein, Autonomie von Autismus zu scheiden.
Ein Eklektiker, und das ist ja kraft Bedeutung des Wortes einer, der berücksichtigt,
16 Kritik der Urteilskraft, § 40, S. 390. Vgl. Kiesewetter, ‘Ueber Vorurtheil’, S. 356

17‘Was heisst: Sich im Denken orientieren?’, S. 283. Vgl. a. Reflexionen zur Metaphysik, Nr. 6204, S. 488:
“Aufgeklärt seyn heißt: selbst denken”.

18 Kritik der Urteilskraft, § 40, S. 390

19 ‘Was ist Aufklärung?’, S. 53

20 Bittner, ‘What is Enlightenment?’, S. 346


was andere denken, denkt selber (“penser de lui-même”), bemerkt Diderot 21 : Er
denkt selber, was andere vor ihm gedacht haben, und darin liegt kein Widerspruch.

5. Es gibt eine zweite Deutung der Idee, daß einer nicht selber denkt. Es könnte dann
angemessener sein zu sagen, daß jemandes Verstand durch einen anderen geleitet
ist, wenn er auf der Grundlage des Urteils eines anderen handelt, ohne selber
nachzuprüfen, ob es stichhaltig ist. Eine verbreitete Losung der Aufklärer war ja, die
Menschen sollten ihre Köpfe von allen Auffassungen reinigen, die sie übernommen
statt jeweils unabhängig untersucht hätten. Kant selbst legt diese Lesart nahe. In
seinem Aufsatz über Aufklärung läßt er den Unmündigen sagen: “Ich habe nicht
nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche
Geschäft schon für mich übernehmen” 22 . Der Unmündige wird hier, wie Rüdiger
Bittner bemerkt, vorgestellt in Entsprechung etwa zu einem, der, unwillens seine
Fenster zu putzen, jemanden bezahlt, diese Arbeit für ihn zu tun. Wie hier der,
welcher den anderen anstellt, sich am Ende einer klaren Sicht erfreut, ohne sich
angestrengt zu haben, so bedient sich der Unmündige nach Kants Auffassung der
Ergebnisse dessen, was ein anderer sich überlegt hat, ohne die Gedankenschritte zu
vollziehen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben.
Doch auch so verstanden scheint Selbstdenken, wie Bittner durch ein Beispiel
zeigt, nicht unbedingt begehrenswert: Jemand haßt es, seine Steuererklärung zu
machen, und läßt den Steuerberater dies erledigen. So braucht er in der Tat nicht zu
denken, wenn er nur bezahlen kann. Er nimmt das Urteil des Steuerberaters an,
ohne es auf seine Richtigkeit zu überprüfen, und handelt gleichwohl auf dessen
Grundlage; denn es ist immer noch der Steuerzahler, nicht der Steuerberater, der da
sein Einkommen dem Finanzamt gegenüber erklärt und für die Steuererklärung
rechtlich verantwortlich ist. Und doch scheint so gar nichts Entsetzliches daran zu
sein, sich das Denken auf diese Art durch Zahlen zu ersparen. Es bleibt fraglich,
inwiefern es grundsätzlich falsch ist, nicht selber zu denken, wenn dies in der
angeführten Weise verstanden wird 23 .

6. Bittner umreißt eine dritte Deutung der Idee, daß einer nicht selber denkt. Sie läßt
sich als Antwort auf das Scheitern der vorigen verstehen. Gewiß, so mag man
einräumen, ist nichts im Allgemeinen verkehrt daran, sich auf das Urteil anderer zu
verlassen. Verkehrt ist dies unter besonderen Umständen. Manchmal mißt man dem
Urteil eines anderen mehr Gewicht bei, als im gegebenen Fall gerechtfertigt ist. So ist
es in Ordnung, jemanden dafür zu bezahlen, daß er einem die Steuererklärung
ausfüllt. Aber es wäre ein Desaster, wenn man jemanden dafür bezahlte, daß er
einem in jeder Lebenslage sagt, was man tun soll, und man sich an diese
Anweisungen gebunden fühlte. Dies, so die dritte Deutung, sei die Art von Fehler,
21 Art. ‘éclectisme’, S. 36. Diderot behauptet allerdings auch, Selbstdenken und Vertrauen auf Autorität
(“autorité”, ebd.) bildeten einen Gegensatz. Dies wird im folgenden als die dritte Deutung des Begriffs
‘Selbstdenken’ erörtert werden, vgl. § 6.

22 ‘Was ist Aufklärung?’, S. 53

23 Bittner, ‘What is Enlightenment?’, S. 346 - 347


welche Kant im Sinn hatte, als er vor der Leitung des Verstandes durch andere
warnte: diese Art von Fehler auszuräumen, sei Ziel der Aufklärung 24 .
Doch, wie Bittner deulich macht, wird die Mahnung, “sich seines Verstandes
ohne Leitung eines anderen zu bedienen” 25 , in dieser Lesart nutzlos. Sie besagt in
ihr: Miß’ dem Urteil anderer nicht zu viel Gewicht bei. Dies nun ist zwar schwer zu
erreichen; doch es zu fordern ist eine Belanglosigkeit. Denn wir müßten wissen,
wieviel Gewicht jeweils das richtige ist, um von jener Regel Gebrauch machen zu
können, und gerade das wissen wir nicht 26 .
Einige Aufklärer haben Autorität als eine wichtige Quelle von Vorurteilen
gekennzeichnet 27 . Die gegenwärtige dritte Deutung bezieht sich offenkundig auf
Fälle, in denen Leute zu sehr auf das bauen, was Autoritäten verkündigt haben. So
hat es zur Zeit Kants, neben vielen anderen, Thomas Reid verstanden. In einem
Kapitel über Vorurteile als die Ursachen des Irrtums (‘Of Prejudices, the Causes of
Error’) macht Reid es sich zur Aufgabe, die berühmteste Einteilung der Vorurteile zu
erläutern, nämlich jene von Francis Bacon, “that wonderful genius” 28 . Von den bei
Bacon als “Idola Tribus” 29 (“Idole des Stammes”, das heißt hier: “der Gattung”)
bezeichneten Vorurteilen handelnd, nennt Reid es einen Fehler, der der Gattung
Mensch in ihrer Gesamtheit anhänge, deren Mitglieder seien zu sehr geneigt, in
ihren Meinungen von Autorität geleitet zu werden (“Men are prone to be led too
much by authority in their opinions”) 30 . Doch die Aussage, dabei handele es sich um
einen Fehler, ist leer; denn es gibt gar nichts, das man ‘zu sehr’ tun sollte.
(“Nichts zu sehr”) war bereits ein müßiger Lehrsatz, weil der Sinn von ‘zu sehr’
nicht anders zu erläutern ist denn als Hinausgehen über das, was sein sollte.
Doch in ihrer dritten Deutung wird Kants Aufforderung, selber zu denken
statt seinen Verstand von einem anderen leiten zu lassen, nicht bloß unnütz. Die
Deutung gibt einen schiefen Begriff von dem, was in Fällen der Art, an die dabei
gedacht ist, vor sich geht. Man kann sich nämlich überhaupt nicht auf das stützen,
was eine Autorität geäußert hat, als indem man sie als Autorität anerkennt, mithin,
indem man selber denkt, der Betreffende sei mit den maßgeblichen Fähigkeiten
begabt. (John Toland behauptete, ein Mensch, der ein Vorurteil habe, sei ‘wie ein
Vieh von Autorität geleitet’ (“led like a Beast by Authority”) 31 , als ob man unter
Tieren je von dieser Idee gehört hätte.) Selbstverständlich machen Menschen dabei,
24 Ebd., S. 347

25 Kant, ‘Was ist Aufklärung?’, S. 53

26 Bittner, ‘What is Enlightenment?’, S. 347

27Vgl. z.B. Thomasius, ‘De Praejudiciis oder von den Vorurteilen’, S. 32 - 34, 38, 40; Watts, Logick, II,iii,4, S.
221 - 228; du Marsais, Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 8, 27; Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, § 170, S.
413

28 Essays on the Intellectual Powers, S. 368

29 Novum Organum, aph. XXXIX, S. 163

30 Essays on the Intellectual Powers, S. 369

31 ‘The Origin and Force of Prejudices’, S. 16


wie bei allem Denken, Fehler. Sie verlassen sich auf Autoritäten, die ihnen schaden;
sie schreiben anderen Eigenschaften zu, die diesen nicht zukommen. Doch diese
Irrtümer sind solche im Selberdenken, nicht etwas, das sich diesem gegenüberstellen
ließe. Auf jemandes Autorität zu bauen, schließt die Betätigung des eigenen
Verstandes nicht aus, sondern ist eine bestimmte (und, wie alle anderen Weisen,
zuweilen fehlgehende) Weise der Betätigung des eigenen Verstandes.
Es ist vernünftig, vielen, wenn auch nicht allen, Steuerberatern in Fragen der
Steuerrückerstattung zu trauen, da diese Fragen deren Metier bilden und
Steuerberater kein Interesse daran haben, daß ihren Klienten vom Staat weniger als
der jeweils zustehende Betrag zufließt. Es mag minder vernünftig sein, sich in
anderen Fragen auf Steuerberater zu verlassen, etwa solchen des Betriebs von
Kraftwerken oder der Formensprache der französischen Lyrik. Und es war auf jeden
Fall für einen deutschen Arbeiter im Jahr 1933 ein Fehler, auf Hitler zu setzen,
beeindruckt durch den Umstand, daß dessen Partei sich Arbeiterpartei nannte. Denn
die Zwecke eines Politikers sind nicht den Etiketten abzulesen, die er benutzt, um
seine Vorhaben zu verkaufen. Wer sie so zu erkennen versucht hat, hat sich in der
Regel geirrt; aber er hat sich geirrt im Selberdenken. Der Unterschied zwischen ihm
und demjenigen, der einen Steuerberater beschäftigt, ist weder, daß dieser selber
gedacht hat, jener aber nicht. Noch ist der Unterschied, daß der eine einer Autorität
gefolgt ist, der andere aber nicht, oder daß der Verstand des einen durch einen
Dritten geleitet gewesen ist, der des anderen aber nicht. Beide haben sich ein
gewisses Maß der Mühsal erspart, die das Durchdenken einer Angelegenheit
bereitet, indem sie sich an einem bestimmten Punkt auf jemand anderen verließen.
Der Unterschied ist, daß der eine, indem er sein Vertrauen Hitler schenkte, einen
Fehler gemacht hat, während der andere, als er seinem Steuerberater traute, mit weit
größerer Wahrscheinlichkeit richtig lag. Damit ist nicht dem wohlfeilen Zweifel das
Wort geredet, es könne eigentlich nie zu einem Autoritätsverhältnis kommen, da
man ja ebenso erst einmal an etwas erkennen müßte, daß jemand eine Autorität
darstellt, wie man sonst an etwas erkennt, wie es mit einer Sache steht. Die Prämisse
dieses Schlusses stimmt zwar, doch die Konklusion folgt nicht. In der Tat stützt man
sich hier wie dort auf bestimmte (wirkliche oder vermeintliche) Sachverhalte, aber
dies beweist nicht, daß es so etwas wie Autorität in Wahrheit nicht gibt. Denn was
für Sachverhalte einem als hinlängliches Zeugnis gelten, wird in den beiden Fällen
unterschiedlich sein 32 . Daß ich aber etwas als hinlängliches Zeugnis anerkenne, ist
nichts, was ein anderer für mich erledigen könnte.
“Man kann den Ausdruck Selbstdenken häufig hören, als ob damit etwas
Bedeutendes gesagt wäre. In der Tat kann keiner für den anderen denken, so wenig
als essen und trinken; jener Ausdruck ist daher ein Pleonasmus”, notiert Hegel 33 .
Selbstdenken ist keine Errungenschaft, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wer
überhaupt denkt, in welchem Maße auch immer er sich dabei auf das Urteil anderer
verläßt, denkt selber. Kant suchte seinen Adressaten einzuschärfen: “Habe Mut, dich
deines eigenen Verstandes zu bedienen!” 34 . Doch diese Mahnung mahnt etwas an,
32 Vgl. Hobbes, Leviathan, I,7, S. 54 - 55

33 Enzyklopädie, § 23 Anm., S. 80

34 ‘Was ist Aufklärung?’, S. 53


das überhaupt nicht zu vermeiden ist. Sich des Verstandes eines anderen zu
bedienen und sich seines eigenen Verstandes zu bedienen bilden keine Alternative;
vielmehr setzt das erstere das letztere voraus. Ein Arbeiter, der darauf baute, es
müsse ihm im Deutschland Hitlers gut gehen, da dieser sich als Nationalsozialist
deklariert hatte und Sozialisten sich ums Wohlergehen von Arbeitern kümmerten,
bediente sich seines eigenen Verstandes, und zu beklagen ist nur, wie er dies machte
und, insbesondere, daß er es nicht besser machte. Es ist unmöglich, daß einer einem
anderen bestimmte Gedanken, auch wenn sie diesem nicht einleuchten,
aufoktroyiert. Wenn dieser sich nicht Anschauungen zu eigen macht, weil er meint,
sie hätten Hand und Fuß, kann Gewalt ihn allenfalls dazu bringen, so zu tun als ob er
sie teilte. Selbst der Eiferer, der im Namen der kirchlichen Autorität Ketzer
verbrennt, muß zunächst einmal selber denken, er wisse, welche Kirche im Besitz
der Autorität ist. Selbstdenken schließt keinen Inhalt des Denkens aus, nicht einmal
den unaufgeklärtesten.

7. Alles Denken, wie viel Irrtümer auch immer es einschließen, in welchem Maße
auch immer es sich der Überlegungen anderer bedienen und was immer sein Inhalt
sein mag, ist Selbstdenken (§ 6).
Diese Darlegung begegnet allerdings einem Einwand. Sie scheint auf einer
Doppeldeutigkeit zu beruhen. Der Eiferer (§ 6) denkt, daß er weiß, welche Kirche im
Besitz der Autorität ist, aber er denkt nicht über die Kirche nach. Ganz allgemein
kann man denken, daß etwas der Fall ist, ohne viel über es nachzudenken 35 .
Nun ist es klarerweise vernünftig, zwischen Denken und Nachdenken zu
unterscheiden. Nachdenken ist eine Form des Denkens, aber es erfordert mehr als
nur zu denken, daß etwas der Fall ist. Das Denken bezieht sich auf Dinge, das
Nachdenken hingegen auf Gedanken über Dinge. Das Fremdwort für das letztere ist
daher auch Reflexion.
Doch es ist nicht leicht auszumachen, wie daraus ein Einwand zu der vorigen
Darlegung erwachsen soll. Hätte Kant uns wirklich dazu anhalten wollen, daß wir
nachdenken statt bloß zu denken, wäre kaum begreiflich, weshalb er nicht just dies
gesagt hat. Schließlich hält die Sprache den Gegensatz von Denken und Nachdenken
ohne weitere Umstände bereit, während der Terminus ‘Selbstdenken’ erst künstlich
zu schaffen war, und als Gegensatz ein nicht bloß künstliches, sondern wahrhaft
seltsames ‘Fremddenken’ mitgedacht werden muß. Jener Gegensatz ist verschieden
von diesem; als Kant den letzteren, ungewöhnlichen, einführte, muß es ihm gerade
auf ihn angekommen sein. Das Argument, durch den Rekurs auf das Selbst sei
nichts auszurichten (§ 6), gilt für das Denken wie für das Nachdenken
gleichermaßen. Im selben Sinne, in dem alles Denken der Art ist, daß einer selber
denkt, ist auch alles Nachdenken der Art, daß einer selber nachdenkt. Doch eine
Unterscheidung, in der das Ganze unter einen der unterschiedenen Begriffe fällt,
unterscheidet nichts.
Selbst wenn man aber zugunsten des Einwands annimmt, Kant habe uns
dazu anhalten wollen, nachzudenken statt bloß zu denken, verfängt er nicht. Gewiß
ist der Unterschied zwischen Denken und Nachdenken, anders als der zwischen
Selbstdenken und seinem Gegensatz, dessen Name sich kaum sehen lassen kann,
35 Vgl. Henry James, ‘Letter to Thomas Sergeant Perry’, S. 45 - 46
sinnvoll. Doch erstens: Obgleich Denken und Nachdenken voneinander
unterschieden werden können, bilden auch sie keine Alternative in dem Sinne, daß
man das letztere statt des ersteren tun könnte. An jeder Reflexion läßt sich finden,
daß ihre Möglichkeit von zahllosen Gedanken abhängt, welche der Nachdenkende
als selbstverständlich betrachtet, das heißt, über welche er gerade nicht nachdenkt.
Und zweitens: Es ist nicht glaubhaft, daß, würde die Aufforderung nachzudenken
befolgt, man im Ergebnis aller Vorurteile ledig sein müßte. Vielleicht denkt ja der
Eiferer (§ 6) nicht lediglich, er wisse, welche Kirche im Besitz der Autorität ist; er
mag darüber hinaus nachdenken über die Quelle des Umstands, daß er so denkt.
Tatsächlich wird er typischerweise imstande sein, das Merkmal der wahren Kirche
anzugeben; er hat die Zeichen der göttlichen Gnade überall in ihrer Vergangenheit
und ihrer Gegenwart erblickt. Diese Reflexion nicht zu mögen ist kein guter Grund
zu glauben, es sei keine; der Betreffende ist tatsächlich von der einen Ebene,
derjenigen des Behauptens einer Überzeugung, zu jener anderen, der Ebene des
Rechtfertigens der Überzeugung, gewechselt. Eine Überzeugung rechtfertigen ist ein
Gedanke über einen Gedanken: ein Fall von Nachdenken. Sehen wir die Haltung des
Eiferers gleichwohl als unaufgeklärte, so zeigt dies nur, daß Nachdenken als solches
unaufgeklärte Haltungen nicht ausschließt. Mit der Forderung des Nachdenkens
gerät man in die gleiche Art von Formalismus, zu der die Mahnung, sich seines
eigenen Verstandes zu bedienen, geführt hatte (§ 6). Dürftige Reflexionen sind
immer noch Reflexionen, sie helfen bloß nicht weiter.

8. Was hilft dann weiter, wenn Selberdenken (§§ 4 - 6) und Nachdenken (§ 7) als
solche es nicht tuen? Jene besondere Art des Nachdenkens, die man als Untersuchen
oder Prüfen bezeichnet, mag ein vielversprechender Bewerber dafür sein.
Zugestandenermaßen ist nicht offensichtlich, daß damit die religiösen Eiferer (§§ 6 -
7) ausgeschlossen wären, die vielen Aufklärern als ein Paradebeispiel für
Befangenheit in Vorurteilen galten. Schließlich hatten die religiösen Eiferer für ihre
Zwecke eine Einrichtung namens Inquisition geschaffen, und dies Wort ist bloß der
romanische Name dessen, was im Deutschen Untersuchung heißt. Allerdings wäre
die Frage am Platze, ob die Selbstbeschreibung der Namengeber in diesem Fall für
bare Münze zu nehmen ist.
Um jede Art von Vorurteil von sich abzutun, sagt Descartes, ist nichts weiter
nötig als daß man sich entschließe, nichts von dem zu bejahen oder zu verneinen,
was man zuvor bejaht oder verneint hatte, man habe es denn aufs neue untersucht 36 .
Du Marsais bestimmt entsprechend Vorurteil als ein vor Prüfung der Sache gefälltes
Urteil: “le préjugé est un jugement porté avant d’examiner” 37 . Und er setzt hinzu:
“L’homme est grand dans toutes les choses qu’il s’est permis d’examiner; il n’est
resté petit que dans celles qu’il n’a point osé voir de ses propres yeux” 38 . Wenn wir
36 ‘Lettre à M. Clerselier’, S. 204: “pour se defaire de toute sorte de préjugez, il ne faut autre chose que se
resoudre à ne rien assurer ou nier de tout ce qu’on auoit assuré ou nié auparauant, sinon aprés l’auoir derechef
examiné”.

37 Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 7. Vgl. Watts, Logick, II,iii, S. 187: “it [sc. das Wort ‘prejudice’] signifies a
Judgment that is formed concerning any Person or Thing before sufficient Examination”; Sailer, Vernunftlehre,
S. 77: “vor der Prüfung”.

38 du Marsais, Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 69


nur alles prüfen, so lautet hier das Versprechen, muß jedes Vorurteil verschwinden.
Das Prüfen aber beginnt nach Descartes, sobald der Geist vom Glauben zum Zweifel
übergeht.
Doch selbst dieser Vorschlag leuchtet nicht recht ein. Schließlich bezweifelte
sogar die Heilige Inquisition eine Menge an denjenigen, die sie prüfte, zum Beispiel
die Ehrlichkeit der Ketzer. (Und es ist wert festzuhalten, daß die Inquisition diese
Eigenschaft tatsächlich bezweifelte und nicht einfach verneinte; denn bevor man
einen Ketzer dem Verfahren unterzogen hatte, stand nicht fest, ob er als unehrlich zu
gelten hatte oder ob er vielmehr die jeweilige Irrlehre tatsächlich glaubte.)
Umgekehrt scheint es unmöglich oder sinnlos etwas zu bezweifeln, ohne zugleich
etwas anderes zu glauben. Wenn jemand eine Aussage bezweifelt, das heißt, wenn
er fragt, ob sie wahr ist, so setzt dies nicht nur voraus, daß er zu wissen glaubt, was
diese Aussage bedeutet; es setzt auch voraus, daß er zu wissen glaubt, unter
welchen Bedingungen sein Zweifel denn ausgeräumt wäre (auch wenn er vielleicht
nicht weiß, welches Verfahren den Zweifel ausräumen würde).
Eine Überzeugung hat ihre Bedeutung - ist also die Überzeugung, die sie ist -
je nach ihrem Platz innerhalb eines Zusammenhangs unbestimmt vieler (wenngleich
nicht unendlich vieler) weiterer Überzeugungen. Prüft man eine Überzeugung, so
kann man wohl auch damit beginnen, die mit ihr zusammenhängenden
Überzeugungen auseinanderzuklauben. Doch jede Überzeugung, die man aus dem
Zusammenhang heraushebt, um sie der Prüfung zu unterziehen, setzt wiederum
weitere Überzeugungen voraus, um auch nur verstanden zu werden. Gewiß gelingt
es, Probleme aus dem Zusammenhang auszusondern und sie zum Gegenstand von
Untersuchungen zu machen. Doch selbst dann entsteht die Schwierigkeit noch
einmal auf anderer Ebene. Die Lösung der Schwierigkeit durch das Absehen von
Beziehungen, in denen etwas steht, macht eine weitere Dimension des
Zusammenhangs, von dem die Rede war, kenntlich: er erstreckt sich nicht nur, wie
es bisher schien, in die Weite, sondern auch in die Tiefe.
Wann immer wir etwas untersuchen, stoßen wir darauf, daß es sich noch
genauer untersuchen ließe. Allemal könnten wir noch gründlicher sein. In jedem
einzelnen Fall wäre es denkbar, weiter ins Einzelne zu gehen. Jemand, der seinem
Verstand freien Lauf ließe, würde in dem, was wir herausgefunden haben, stets
etwas finden können, das nicht erledigt ist. Doch jede Untersuchung, als das
bestimmte Vorhaben, das sie ist, benötigt Grenzen hinsichtlich der Gründlichkeit
und Detailliertheit. Diese Grenzen sind nicht selber ein Ergebnis der Untersuchung.
Man weiß nie, was man entdecken würde, wenn man noch genauer wäre und sich
weiter auf die Einzelheiten einließe. Zugleich aber müssen Grenzen gezogen
werden, wenn die Schritte, die wir tun, überhaupt den Namen einer Untersuchung
verdienen sollen. Gezogen werden sie durch unser Zutrauen, das an einem
bestimmten Punkt sagt: ‘So viel ist genug’. Nur wenn solcher Art von Zutrauen
stattgegeben wird, kann man bestimmte Verfahren ‘Untersuchungen’ nennen. Jenes
Zutrauen aber ist nichts, das in irgendeinem Sinne in Gegensatz zu Vorurteilen
stünde. Vielmehr scheint es ein Fall derselben zu sein.
Wie Vorurteil sich nicht dem Selbstdenken (§§ 4 - 6) und dem Nachdenken (§
7) entgegensetzen ließ, so ist umgekehrt auch alles Prüfen oder Untersuchen von
Überzeugungen, das wir unternehmen, Vorurteilen nicht in jener Weise
entgegengesetzt, die Descartes und du Marsais nahegelegt haben.
9. Eine Reihe von Gegensätzen haben sich als unhaltbar gezeigt: Vorurteil vs.
Selbstdenken (§§ 4 - 6), Vorurteil vs. Nachdenken (§ 7), Vorurteil vs. Prüfen oder
Untersuchen (§ 8). Daraus folgt selbstverständlich nicht, daß zwischen der Kenntnis
von etwas aus erster oder aus zweiter Hand kein Unterschied besteht. Klarerweise
geht alles, was wir glauben, teils auf uns selber, teils auf andere zurück. Wir sind
von bestimmten Dingen überzeugt, entweder weil wir sie selbst beobachtet haben,
oder weil sie uns erzählt worden sind.
Dies Zugeständnis scheint geeignet, die durch die Aufklärung in Umlauf
gebrachte kritische Theorie der Vorurteile samt der mit ihr verknüpften Forderung
nach Erfahrung erster Hand doch noch zu retten (§ 2). Denn indem Wissen von der
ersten Hand einer zweiten, von dieser einer dritten und von der vielleicht noch
weiteren Händen überliefert wird, scheint es gängigerweise immer schlechter zu
werden.
Wenn man aus erster Hand Kenntnis von etwas hat und es dann in Gestalt
einer Geschichte unter die Leute zu bringen sucht, begegnet einem oft ein
bestimmter Widerstand. Ist das, was man erzählen will, spannend genug? Die Frage
ist da, ob die Geschichte zu fesseln vermag, aber was den Erzähler der Geschichte
wahrhaft beunruhigt, ist, daß er in Frage gestellt sein könnte: der Verdacht mag in
der Luft liegen, er selber könne ein herzlich langweiliger Zeitgenosse sein. In einem
derartigen Notfall - und jeder betrachtet es als Notfall, wenn sein Ruf auf dem Spiel
steht -, ist jedoch erprobte Hilfe zur Hand. Sie besteht darin, das, was als schwache
Stelle der Geschichte empfunden werden könnte, mit einem bunten Flicken
aufzubessern 39 . Nicht nur Furcht zu langweilen kann zu dergleichen gutgemeinten
Ergänzungen und Änderungen anregen. Paradoxerweise hält man es nicht selten
gerade im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit für geboten, etwas von der
Wahrheit abzuweichen.
Will es das Schicksal der Geschichte, daß sie in der Folge weiteren Zuhörern
aufgetischt wird, so mag sich neuer und anders beschaffener Widerstand einstellen;
dann werden neue und andere Zusätze und Änderungen für nötig erachtet. Neben
solchen scheinbaren oder wirklichen Erfordernissen erfolgreichen Schwadronierens
gibt es auch noch den Luxus der Eitelkeit, deren Tugend ja darin besteht, nie zu
knausern. “[N]ous faisons naturellement conscience de rendre ce qu’on nous a
presté sans quelque usure et accession de nostre creu”, sagt Montaigne 40 : wir
machen uns natürlicherweise ein Gewissen daraus, das, was man uns geliehen hat,
ohne Zinsen und ohne eigenes Hinzutun weiterzugeben. Spitz setzt Montaigne
hinzu, der entfernteste Zeuge sei näher vom Geschehnis unterrichtet als der nächste,
und der, dem es zuletzt kolportiert ward, fester überzeugt als der erste. Dieser
Fortschritt sei durchaus natürlich. Denn wer immer etwas glaube, halte es für ein
Werk der Nächstenliebe, einen anderen von der selben Sache zu überzeugen, und zu
diesem Zweck scheue er sich nicht, so viel von seiner eigenen Erfindung
hinzuzufügen, wie ihm seiner Geschichte notzutun scheine, um den Widerstand
39 Vgl. Montaigne, ‘Des boyteux’ [= Essais III,11], S. 1027

40 Ebd.
oder Mangel zu überwinden, die er dem Fassungsvermögen des anderen
zuschreibe 41 .
Ist damit nicht genau getroffen, wie Vorurteile entstehen?
Montaigne ist an dieser Stelle, wie stets, ein scharfer Beobachter der
menschlichen Dinge. Besser wäre kaum zu kennzeichnen, was es mit Klatsch auf
sich hat. Aber ist damit auch die ganze Wahrheit über Wissen erster und zweiter
Hand gesagt? Montaigne selber hätte keinen solchen Anspruch erhoben. Denn
worauf es ihm ankam, war, nach seinem eigenen Zeugnis, das Disputieren als
solches, und nicht die Wahrheit; schließlich könne der Erstbeste die Wahrheit sagen,
doch nur wenige vermöchten mit Geschick ein Argument auszufechten 42 .
Jene Beobachtungen entheben uns also nicht der Frage, ob Kenntnisse erster
Hand besser sein müssen als solche aus zweiter Hand. Nehmen wir an, jemand sei
Ohren- und Augenzeuge eines bestimmten Vorkommnisses geworden. Einerseits ist
er nun in der Lage zu beschreiben, was er gehört und gesehen hat, und eben dies
macht er einem anderen gegenüber. Andererseits, so nehmen wir weiter an, hat er
mißverstanden, was das Geschehnis, dessen Zeuge er geworden ist, bedeutete, da er
dessen Zusammenhang nicht kennt. Derjenige aber, dem beschrieben wird, was sich
ereignet hat, mag jene Kenntnis besitzen, und darum in der Lage sein, das Ereignis
zu verstehen. Er mag, wiederum lediglich aus zweiter Hand, wissen, daß einer
bestimmten Gebärde, die der andere ihm so beschrieben hatte, wie er sie sah, in der
beobachteten Gruppe diese oder jene eigentümliche Bedeutung zukommt. Obschon
alles, was er weiß, lediglich zweiter Hand ist, ist sein Wissen besser als das des
unmittelbaren Zeugen.
Was wir bloß aus Berichten kennen, kann die Grenzen dessen weit hinter sich
lassen, was wir ‘mit eigenen Augen gesehen’ haben. Wenn es sich aber manchmal in
dieser Weise verhält - und dem ist so -, dann läßt sich die Lehre der Aufklärung in
diesem Punkt nicht halten: die Lehre, es gebe eine Rangordnung des Wissens, die
sich aus genügender Kenntnis seiner Quellen ableiten lasse, dergestalt, daß
Überzeugungen aus erster Hand eo ipso höher rangierten als solche aus zweiter
Hand.

10. Zudem, abgesehen von der Frage, ob Kenntnisse aus zweiter Hand jemals besser
sein können als solche aus erster Hand (§ 9), scheinen jene einfach unerläßlich. Wenn
Kenntnis aus erster Hand - “voir de ses propres yeux”, in der zuvor zitierten
Formulierung du Marsais’ (§ 8) - die Bedingung eines echten Urteiles wäre, dann
stünde fest, daß jeder weit mehr Vorurteile als Urteile hätte. Es ist offenkundig, daß
jeder einzelne weder Kraft noch Zeit genug hat, alles für sich selbst zu erforschen 43 .
41 Ebd., S. 1028: “le plus esloigné tesmoin en est mieux instruict que le plus voisin, et le dernier informé mieux
persuadé que le premier. C’est un progrez naturel. Car quiconque croit quelque chose, estime que c’est ouvrage
de charité de la persuader à un autre; et pour ce faire, ne craient poinct d’adjouster de son invention, autant qu’il
voit estre necessaire en son compte, pour suppleer à la resistance et au deffaut qu’il pense estre en la conception
d’autruy”.

42 ‘De l’art de conferer’ [= Essais III,8], S. 927 - 928; vgl. S. 924 - 925

43 Aus diesem Grund verschmähten es die antiken Skeptiker, alles zu bezweifeln und zu prüfen, und waren
selbst bereit, sich bei Vorurteilen zu beruhigen. Vgl. Sextus Empiricus, Pyrrhoneion hypotyposeon I, §§ 23 -
24, 226, 237 - 238, S. 16/17, 138/139, 146/147 - 148/149
Sowohl quantitativ wie qualitativ sind andere Menschen die bedeutsamste Quelle
der Überzeugungen jedes einzelnen. Im strengen Sinne eigenes Wissen, nämlich das,
was ein Einzelner durch eigene Beobachtung entdeckt und nun im Gedächtnis hat,
oder was er aus diesen gegenwärtigen oder erinnerten Beobachtungen schließt,
machen lediglich ein winziges Bruchstück dessen aus, was dieser Einzelne sein
Wissen nennt.
Ein Anhänger der Aufklärung könnte freilich so weit gehen, anzuerkennen,
daß jene Bemerkungen eine Eigenschaft der meisten unserer Überzeugungen im
Alltag richtig wiedergeben - wenn auch eine Eigenschaft, die er tief bedauerlich
findet. Demgegenüber ist aber wissenschaftliches Wissen aus seiner Sicht das Muster
dafür, wie menschliches Wissen eigentlich beschaffen sein sollte.
Doch der Gegensatz zwischen der Alltagssphäre bloß übernommener
Meinungen und der Wissenschaft als dem Herrschaftsgebiet unmittelbarer
Erfahrung trägt nicht. Ein Physiker etwa wird nur einen Bruchteil der Experimente,
von deren Ergebnissen er in seiner Arbeit Gebrauch macht, selber durchgeführt
haben. Forscher kommen nicht umhin, hinsichtlich dessen, was ihnen als Tatsache
gilt, auf die Autorität anderer Wissenschaftler zu bauen, ganz so wie dies allgemein
Menschen im Verhältnis zu ihren Vorfahren und Mitmenschen tun müssen. Selbst
die kühnsten Neuerungen der Wissenschaften entspringen allemal einem
ausgedehnten Korpus von Kenntnissen, die als Hintergrund des jeweiligen
Problems unangefochten bleiben.
Was menschliche Gesellschaften schon erreicht haben, scheint zu dem, was
ein Einzelner erreichen kann, selbst wenn er sein ganzes Leben an eine Sache
wendet, in einem Verhältnis zu stehen, für das es kein Maß gibt. Darum haben
Charles Pinot-Duclos, Edmund Burke und William Hazlitt die Behauptung gewagt,
der Sprung aus den Vorurteilen komme einem Sprung aus der Gesellschaft gleich.
“[L]e préjugé est la loi du commun des hommes”, bemerkte Duclos 44 ; denn der Stoff,
aus dem das ist, was man gesunden Menschenverstand nennt, sind, wie Duclos
aufgefallen war, nicht so sehr Urteile als vielmehr Vorurteile. Im Vorurteil, so Burke,
greifen unsere Auffassungen und die anderer ineinander; es repräsentiert nicht nur
alte (§ 55), sondern auch gemeinsame Anschauung. Durch Autorität vermittelt
blieben uns die Auffassungen anderer nicht länger fremd, sondern würden zu
gleichsam natürlichen Gewohnheiten unseres Denkens. Ohne Vorurteile hingegen
müßte jeder einzelne auf der Grundlage seines je eigenen Privatvorrats an Vernunft
(“on his own private stock of reason”) Handel treiben 45 , und damit käme keiner
weit. Des von der Gesellschaft aufgehäuften Schatzes an Überzeugungen beraubt,
sei das Individuum bloß mehr ein Narr 46 , nämlich, um es etwas verhaltener zu
formulieren, ziemlich beschränkt in seinen An- und Aussichten.
Die Pointe der Überlegung ist jedoch nicht bloß, daß der einzelne weniger
zustandebrächte, wenn man ihm oder er sich alle Vorurteile abgenommen hätte;
vielmehr will Burke darauf hinaus, daß menschliches Leben so gar keinen Bestand
haben könnte. Die Auslöschung der Vorurteile, auf der die reine Vernunft bestehe,
44 Considérations sur les mœurs, S. 25

45 Burke, Reflections, S. 168

46 ‘On the Reform of the Representation in the House of Commons’, S. 97: “The individual is foolish”.
löse zunächst Gemeinsamkeit und schließlich die in ihr gegründete Gemeinschaft
auf. Wo persönliche Selbstgenügsamkeit und Anmaßung, die sicheren Begleiter all
derer, denen nie Weisheit begegnet sei, die größer als ihre eigene (“wisdom greater
than their own”) war, sich der richterlichen Gewalt bemächtigten, würde, prophezeit
Burke, das Gemeinwesen selbst innerhalb weniger Generationen morsch werden, in
den Staub der Individualität (“the dust and powder of individuality”) zerfallen, und
in dieser Gestalt schließlich in die vier Winde verstreut werden 47 . Die Vorurteile
auszumerzen hieße, in den Worten William Hazlitts, das Gewebe der Beziehungen,
aufgrunddessen die Mitglieder einer Gesellschaft einander verstehen, aufzutrennen
(“to unravel the whole web and texture of human understanding and society”) 48 .
Doch es gibt kein menschliches Leben außerhalb der Gesellschaft. Deshalb können
Menschen nicht umhin, an einem gemeinsamen Bestand von Überzeugungen
teilzuhaben. Selbstverständlich, so ist hinzuzufügen, müssen sie nicht jedes Stück
dieses Bestandes annehmen. Doch gerade um einen Teil des gesellschaftlichen
Bestandes an Überzeugungen zu prüfen, haben sie sich auf den weit größeren Teil
desselben zu verlassen, d.h., ihn in Gestalt von Vorurteilen zu übernehmen. Von
einigem aus erster Hand überzeugen können sie sich nur, weil sie dem meisten
trauen, wovon sie lediglich aus zweiter Hand unterrichtet sind.
11. So verteidigt hat man Vorurteile (§ 10), als die Spätaufklärung in erbittertem
Kampf mit ihnen lag. Der konservative Zug jenes Plädoyers, das Tradition gegen
Neuerungen setzt (vgl. § 55), und sein gegen Individualismus gerichteter Impuls,
aus welchem es Vertrauen auf Gemeinschaft dem Abhängen des einzelnen von
seiner Privatration an Geist vorzieht, sind verschränkt. Die zwei Haltungen, die auf
diese Weise abgelehnt werden, stellten sich, als diese Verteidigung des Vorurteils
begonnen wurde, als eine einzige dar: Originalität. Was auf Originalität Anspruch
macht, muß beides sein: neu und individuell. Dieser Anspruch war zu jener Zeit
soeben Mode geworden; ‘originell’ und ‘Originalgenie’ erscheinen in Buchtiteln nach
1750: Edward Young, Conjectures on Original Composition (1759); William Duff, An
Essay on Original Genius (1767); Robert Wood, An Essay on the Original Genius and
Writings of Homer (1769, 1775). Young tat die in der Gesellschaft herausgebildeten
und weitergegebenen Auffassungen - eben jene, die Duclos am Beginn des selben
Jahrzehnts gepriesen hatte - als bloß geliehenes Wissen (“borrowed knowledge”) ab,
als etwas Gemeines und Niedriges im Vergleich zum im Genie verkörperten Wissen,
das angeboren und vollständig unser eigen (“knowledge innate, and quite our
own”) sei 49 .
Nicht alle Jünger der Originalität, so ist zuzugeben, erblickten in dem
selbstherrlichen Glauben an unbelehrte Spontaneität das Abzeichen des Genies;
doch einige sahen es in dieser Weise. Wenn aber der Reichtum dessen, was man
Kultur nennt, ein Gemeinschaftliches ist, dann ist nicht viel zu erwarten von dem,
47 Reflections, S. 182 - 183

48 ‘Prejudice’, S. 321

49 Conjectures on Original Composition, S. 283


was darum neu ist, weil es nur einem Individuum entsprang 50 . Die Folgerung, von
Goethe ausdrücklich gezogen 51 , ist, daß Gedanken kaum je gut und originell sind;
die meisten originellen Gedanken werden Narrheiten sein. Gerade daß das
Originalgenie ein Seher ist, d.h., daß es - wie der Jubel seiner Bewunderer verkündet
- ‘Dinge gesehen hat, die andere nicht gesehen haben’, könnte ja Anlaß zur Vorsicht
sein. Und, um das Bedenken noch deutlicher auszudrücken: Ein gänzlich originelles
Werk würde ganz und gar unverständlich sein. Soweit jemand von Sprache
Gebrauch macht, verwendet er etwas, das seinen Ursprung nicht in ihm hat, sondern
das alle anderen, die vor ihm gewesen sind, hervorgebracht haben. Die Neuerungen,
welche er ersinnen mag, sind, aus voneinander nicht ablösbaren Gründen der
Sprache und der sie verwendenden Gesellschaft, Erweiterungen und
Abwandlungen von Konventionen, die kraft früheren Gebrauchs der Sprache da
sind (vgl. §§ 31 - 32).
Wie der Titel des Buches von Robert Wood anzeigt, wurde auch die
Vergangenheit nach dem Begriff von Originalität gemustert, den sich das 18.
Jahrhundert gemacht hatte. Dazu war mit der Geschichte wenig zimperlich
umzuspringen; schließlich hatte auch Homer seine Vorgänger, ja er mag seine
Vorgänger gewesen sein, falls die Theorie zutrifft, daß es sich bei ‘Homer’ um eine
Tradition handelte, nicht um ein Individuum.
All dies bedeutet selbstverständlich nicht, jene Künstler, die sich um 1800 als
Originalgenies sahen, hätten keine große Kunst hervorbringen können. Was es
bedeutet, ist, daß sie im Theoretisieren darüber, was sie hervorbrachten und wie sie
es hervorbrachten, im Unterschied zu ihrem künstlerischen Hervorbringen selber,
einem Phantom aufsaßen. Kein Geist ist eine leere Tafel, noch weniger eine, die die
Zeichen, die auf ihr erscheinen, aus nichts als sich selber schafft.

12. Vorurteile, so sahen es Duclos, Burke und Hazlitt, bilden ein unentbehrliches
Moment menschlichen Wissens (§ 10). Der Wunschtraum des siècle des lumières, die
Ausmerzung der Vorurteile, würde danach Aufklärung selber zunichte machen: in
die Tat umgesetzt würde er menschliches Wissen als solches zerstören. Was Duclos,
Burke und Hazlitt als Forderung der rationalistischen Aufklärung begriffen: seinen
Kopf all dessen zu entleeren, was ihn bislang kolonisiert hatte und so neu mit dem
Denken zu beginnen, als ob nie etwas dagewesen wäre, schien ihnen eine Art
Wahnwitz. Im Geist dieser Autoren ließe es sich so ausdrücken: Von jedem zu
verlangen, alles zu bezweifeln, einen neuen Anfang zu machen, und nurmehr eigene
Erfahrungen und eigenes Nachdenken anzuerkennen, wäre gerade so verstiegen, als
wenn man jedem zumutete, selber die Stadt zu bauen, in der er allein leben werde.
Denn Wissen, so legen Duclos, Burke und Hazlitt es nahe, ist ebensosehr ein
50 Vermutlich der erste, der dies aussprach, noch bevor Originalität zur Mode aufgerückt war, war Jonathan
Swift; vgl. seine Satire ‘The Battle of the Books’ (1710), S. 148 - 150. So ist es kein Wunder, daß Swift auch
etwas für Vorurteile übrig hatte; vgl. § 86.

51 ‘Den Originalen’: “Ein Quidam sagt: ‘Ich bin von keiner Schule! / Kein Meister lebt, mit dem ich buhle; /
Auch bin ich weit davon entfernt, / Daß ich von Toten was gelernt’. - / Das heißt, wenn ich ihn recht verstand: /
Ich bin ein Narr auf eigne Hand”. Diesen Zweifeln an Originalität geht Goethe in einem Gedicht aus den
Zahmen Xenien VI weiter nach, das den Kern seines Selbstverständnisses berührt. Dem ironischen Beginn
“Gern wär’ ich Überliefrung los / Und ganz original” antwortet im weiteren die denkwürdige Bemerkung, er
selber sei Tradition: “Wenn ich nicht gar zu wunderlich / Selbst Überliefrung wäre”.
gemeinschaftliches Werk wie Städte es sind: das Ergebnis der ungeplanten
Zusammenarbeit vieler Menschen vieler Generationen. Wo menschlicher Geist am
Werk ist, gibt es keinen self-made man.
Denken, das in einer Hinsicht etwas ist, das jeder unvermeidlich selber
vollbringt (§ 6), ist ja etwas, das in einer anderen Hinsicht ebenso unvermeidlich
über den, der es vollbringt, hinausweist. Ein Beweis etwa, den einer zu führen sucht,
gilt entweder für jeden, oder er gilt, wenn das nicht der Fall ist, nicht einmal für den,
der ihn zu führen sucht. Dies zeigt freilich auch die Grenzen des Gedankens, Wissen
sei etwas Gesellschaftliches. Denn jenes Verhältnis läßt sich nicht umkehren. Weil
etwas wahr ist, gilt es für alle; aber daß allen etwas für wahr gilt - daß es ein
allgemeines Vorurteil ist -, tut nicht seine Wahrheit dar. Diese Einsicht in die
Beschaffenheit theoretischer Überlegungen scheint ungünstig für die Sache derer,
die Vorurteile als notwendig erachten. Eine Einsicht in die Beschaffenheit
praktischen Überlegens ist hingegen ihrer Absicht günstig. Denn praktische
Überlegungen haben eine andere intellektuelle Ökonomie als theoretische.
“Daß wir Vorurtheile haben müssen, folgt schon daraus, daß wir eher
handeln als denken”, bemerkt Friedrich Schlegel 52 . Gewiß verhalten sich Handeln
und Denken nicht dergestalt zueinander, daß man nur entweder das eine oder das
andere tun könnte. Stets oder manchmal denkt man auch, wenn man handelt. Doch
wann immer sich das Denken in den Dienst des Handelns stellt, sind auch Vorurteile
im Spiel, die es einem erlauben, eine Menge Tatsachen nicht zur Kenntnis zu
nehmen. Sobald Entscheidungen anstehen, verliert die Behauptung an Kredit,
Vorurteile seien etwas, dessen man sich entledigen sollte oder auch nur könnte.
Dabei geht es nicht bloß darum, daß Vorurteile viel Kopfzerbrechen ersparen und
das Leben leichter machen 53 . Im Hinblick darauf ließe sich ja immerhin noch
einwenden, Kopfzerbrechen sei zuweilen nötig und das Leben müsse nicht
unbedingt leicht sein. In Wahrheit aber braucht man nicht nur länger und hat mehr
Mühe, wenn man im Moment des Entscheidens jede Möglichkeit - alles, was der Fall
sein könnte, sowie alles, was man wählen könnte (jede ‘Option’) - erwägt; vielmehr
kann man gar nicht jede Möglichkeit erwägen. Nicht einmal jede Wirklichkeit
vermag man in Rechnung zu stellen. Die Notwendigkeit zu entscheiden zwingt
dazu, das meiste dessen nicht in Betracht zu ziehen, was wir sehen; und unendlich
mehr noch bleibt außer Betracht, weil wir es nicht sehen. Ohne eine Auswahl zu
treffen, die nicht selber Ergebnis einer Prüfung ist, das heißt, ohne eine durch
Vorurteile geleitete Auswahl, kämen wir nicht voran: nicht erst später kämen wir
voran, sondern überhaupt nicht. Auf diese Weise, eine nüchternere noch als die
nüchterne Burkes, lassen sich Vorurteile, wie es aussieht, aus Gründen der
Ökonomie des Denkens und Handelns, sofern beide gefragt sind, rechtfertigen. Und
52 Philosophische Lehrjahre I, S. 408. - Über den Zusammenhang von Vorurteil und Handeln vgl. a. Amiel:
“Pour agir, il faut croire; pour croire, il faut se décider, trancher, affirmer, et au fond préjuger les questions. Est
impropre à la vie pratique, celui qui ne veut agir qu’en pleine certitude scientifique. Or nous sommes faits pour
agir, car nous ne pouvons décliner le devoir; donc il ne faut condamner le préjugé” (Journal intime, S. 961).

53 Dies ist ein Aspekt von Lichtenbergs Bemerkung: “Die Vorurteile sind so zu reden die Kunsttriebe der
Menschen, sie tun dadurch vieles, das ihnen schwer würde bis zum Entschluß durchzudenken, ohne alle Mühe”
(‘Sudelbücher Heft A, Aphorismus 58’, S. 23). Ein anderer Aspekt wäre, der “Kunst” nachzugehen, die
Lichtenberg in Vorurteilen am Werk sieht.
daraus scheint zu folgen, daß die aufklärerische Hoffnung, alle Vorurteile zu
vertilgen, eitel ist.

13. Alles selber zu prüfen ist eine logische Unmöglichkeit, weil jegliches, das als
Prüfung gelten könnte, etwas enthält, das selbst nicht geprüft wurde (§ 8). In einem
Leben, das der Prüfung unterzogen würde 54 , müßte, gerade damit es geprüft
werden könnte, vieles ungeprüft bleiben. Alles selber zu prüfen ist ebenso eine
empirische Unmöglichkeit. Den überwiegenden Anteil seiner Überzeugungen kann
ein Mensch nicht selbst fabriziert haben; der Einzelne kommt nicht umhin, ihn von
anderen zu beziehen (§§ 10 - 12). Sowohl begriffliche Analyse wie Erfahrung führen
auf den Umstand, daß Wissen auf Vertrauen ruht. Der Grund des Wissens ist nicht
selber Wissen. Denn wo wir vertrauen, da wissen wir, nimmt man das Wort ‘wissen’
im strengen Sinne, nicht.
Es ließe sich freilich einwenden, daß Wissen als solches gut ist 55 . Wenn dem
so ist, dann folgt, wie es aussieht, daß man von Wissen nie zu viel haben kann. Und
daraus wiederum scheint man ableiten zu dürfen, jedes Vorurteil und jedes anderen
geschenkte Vertrauen, da es ja nicht Wissen ist, sondern eher ein Stück
Unwissenheit, stelle etwas dar, das es besser nicht geben sollte.
Der Einwand ist indes nicht schlüssig. Man kann auch des Guten zu viel
haben. Gold mag etwas Gutes sein; doch wie König Midas erfahren mußte, bedeutet
das nicht, daß es einem desto besser ergeht, je mehr man davon hat.
Jener Einwand ist, anderem Anschein zum Trotz, kein Argument gegen die
Verteidigung des Vorurteils aus Gründen intellektueller Ökonomie. Vielmehr wird
damit nur die Auffassung wiederholt, gegen die eben jene Verteidigung des
Vorurteils sich wandte. Wider diese lediglich in der Formulierung veränderte
Ansicht kann man das ökonomische Argument ohne weiteres noch einmal ins Feld
führen. Die allgemeine Behauptung, Wissen sei gut, ignoriert bloß, wo die
eigentliche Schwierigkeit liegt. Was Wissen anlangt, ist gar nicht zu vermeiden,
hinsichtlich seiner Menge Zugeständnisse zu machen. Selbst wenn wir darin klug
verfahren, bleibt ein Preis zu entrichten. Wir müssen Breite des Wissens für Tiefe
opfern, oder, so weit dies überhaupt möglich ist, Tiefe für Breite. Spezialisierung
und Oberflächlichkeit sind die beiden Weisen, auf die wir uns in unserem Wissen
Schranken zu setzen haben. Ein endliches Wesen vermag schlechterdings nicht alles
über alles zu wissen. Selbst wenn wir suchten, auch nur etwas über alles zu wissen,
so die Tiefe der Breite opfernd, würden wir im Hinblick auf keinen einzigen
Gegenstand etwas erlangen, dem der Name Wissen gebührte. Insofern ist jeder
genötigt, Spezialist zu sein. Der Unterschied zwischen den Menschen ist an diesem
Punkt nur einer des Grades.
Um viel über weniges zu wissen, oder auch nur gerade so viel, wie für unsere
jeweiligen Zwecke not tut, müssen wir uns hinsichtlich einer Unzahl anderer Dinge
mit Vertrauen und Vorurteilen begnügen: so ließe sich die Überlegung
zusammenfassen. Die Aufklärer glaubten, der Besitz eines guten Dings vertrage sich
54Vgl. Platon, Apologie 38a: (“das ungeprüfte Leben ist für den Menschen nicht wert
gelebt zu werden”).

55 Wieland, ‘Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren’, S. 496
mit dem Besitz jedes anderen guten Dings; die Kompromisse des Wissens sind ein
Gegenbeispiel.
Sind diese Erwägungen triftig, dann stimmt etwas nicht mit dem wie
selbstverständlich dahingesagten Grundsatz, man solle für alles offen sein. Zwar ist
es sicher wünschenswert, daß Ideen, von denen es zumindest möglich ist, sie seien
gut, ihren Eindruck auf einen hinterlassen. Zugleich aber ist es auch wünschenswert,
daß man seine Zeit nicht verschwende. Wäre man wirklich für alles aufgeschlossen,
so verschwendete man seine Zeit in einem Ausmaß, daß man gar nicht dazu käme,
auch nur eine gute Idee zu durchdenken. Gewiß müßte man von einem derartigen
Geist zu sagen, er sei offen; doch er wäre so offen, daß nichts in ihm zurückbliebe.
Im Interesse weiterer Offenheit hätten die Ideen, auch die guten - um derentwillen
doch Offenheit gefordert wurde -, spurlos durch ihn hindurchzugehen. So kann sich
das Ideal, nach allen Seiten hin offen zu sein, um den eigenen Sinn und Zweck
bringen.
Zugänglich sein für Ideen, die etwas versprechen, und vermeiden, daß man
seine Zeit vergeudet: diese beiden Zielsetzungen weisen in entgegengesetzte
Richtungen. Im besten Fall kann man zwischen ihnen balancieren. Und eine Balance
ist kein stabiler Zustand. Im gegenwärtigen Fall wird sie sozusagen aus Fehlern
bestehen: aus Schritten, die das eine Mal zu weit in die eine, das andere Mal zu weit
in die andere Richtung gehen. Manchmal wird man zum Beispiel seine Zeit damit
verschwenden müssen, ein bestimmtes Buch durchzulesen, nur um am Ende
festzustellen, daß es die Lektüre nicht wert war. Häufiger gelingt es einem, Bücher
nicht zu lesen, deren Lektüre verbindlichst von einem erwartet wird. Das, worauf
man sich dabei verläßt, etwa das Aussehen von Buchumschlägen oder den Ruf von
Verlagshäusern, ist nicht eben verläßlich. Es konstituiert sich aus Vorurteilen. Deren
Rechtfertigung ist eine ökonomische: Sie begrenzen die Verschwendung von Zeit
und Kraft so, daß einem von beiden genug bleibt, um sich in das zu vertiefen,
wovon man weiß, daß es die Mühe lohnt.
Von Möglichkeiten dessen, was der Fall sein könnte, und von
Wahlmöglichkeiten (den sogenannten Optionen) hat sich zuvor herausgestellt, daß
mehr von ihnen uns nicht notwendigerweise in eine bessere Lage versetzen (§ 12):
das selbe gilt allgemein von Ideen.

14. Die Rechtfertigung von Vorurteilen aus Gründen einer Ökonomie des
Entscheidens ist jedoch sowohl begrenzt als auch problematisch.
Darin, daß jene Rechtfertigung des Vorurteils das aufklärerische Ansinnen in
einer Hinsicht beanstandet, ist enthalten, daß sie es in einer anderen Hinsicht - und es
handelt sich um eine solche von gleichem Gewicht - anerkennt: dieser Umstand
bezeichnet ihre Grenze. Es ist wahr, daß das Ziel der Aufklärung in ihrer Hauptlinie
gewesen ist, eine Welt zu schaffen, die sich selbst ohne Rest durchsichtig wäre: das
‘klar’ in ‘Aufklärung’ meinte eben diese Transparenz. Diesem Ziel galt der Einwand,
niemand könne jede Frage für sich selbst neu beantworten 56 . Doch offenkundig ist
dieser Einwand ein bloß partieller. Denn wenn man sagt, man könne nicht jede Frage
56 Daß jeder dies tun solle, konnten selbst Aufklärer den Menschen nur auf den Höhen reiner Theorie ansinnen.
Ihre Praxis entsprach ihrem Ideal nicht. Was ist die Encyclopédie, wenn nicht ein großangelegter Versuch, es
dem einzelnen zu ersparen, jede Frage für sich selbst neu beantworten?
für sich selbst neu beantworten, so liegt darin, daß man immerhin einige Fragen für
sich selbst neu beantworten kann. Solche Kritik der Aufklärung räumt dieser mithin
ein, daß sie zumindest bis zu einem gewissen Grad richtig liegt.
Insofern der Einwand das besagte Zugeständnis enthält, verlangt er nach
einer Unterscheidung. Wenn es sinnvoll und sogar notwendig ist, einiges der
Gewohnheit, dem Herkommen und den Vorurteilen zu überlassen 57 , während
anderes ihnen nicht überlassen zu bleiben braucht, dann würde man gerne erfahren,
was denn nun zu welcher Sorte von Dingen gehört. Wer über das Wesentliche selber
entscheiden will, muß das minder Wesentliche für gegeben nehmen. Um das zu
verstehen, was für einen zählt, schützt man sich vor der Beanspruchung durch
allerhand Nichtigkeiten, indem man ihnen keinen Gedanken schenkt. Gewiß bringt
alles Denken, Wissen und Verstehen, das verdient, eins von diesen genannt zu
werden, mehr zustande als lediglich seinen Gegenstand in eine Schublade zu
stecken und diese mit einer Aufschrift zu versehen. Aber keiner erreicht ein Niveau,
das wert wäre, als eines des Denkens, Wissens oder Verstehens bezeichnet zu
werden, auch nur für ein paar Gegenstände, wenn er nicht für andere Gegenstände
Schubladen bereithält, auf denen dergleichen steht wie ‘Nicht meine Sache’ oder
‘Nie daran denken’ 58 . Eine solche Einteilung der eigenen Kraft ist vernünftig und
sogar unvermeidlich. Doch diese Feststellung bedeutet keine Lösung. Denn mit ihr
ist unmittelbar die weitere Frage aufgeworfen: Was ist wesentlich und was nicht?
Wie läßt sich entscheiden, was man besser selber entscheidet? Im Hinblick darauf ist
die ökonomische Rechfertigung des Vorurteils problematisch in dem genauen Sinne,
daß sie ein Problem aufwirft, welches sie aus eigener Kraft nicht zu lösen vermag.
Denn ökonomische Erwägungen sind auf Fragen der Mittel beschränkt. Die
Erkundigung nach dem Wesentlichen im menschlichen Leben aber ist eine Frage der
Zwecke.

15. Trotz dieser Einschränkungen (§ 14) enthält die ökonomische Rechtfertigung von
Vorurteilen einen entscheidenden kritischen Gedanken. Um eine allgemeine
Behauptung zu widerlegen - eine Behauptung wie die, man solle alle Vorurteile
zerstören -, genügt es, das Recht einer eingeschränkten Behauptung aufzuzeigen:
manchmal sind Vorurteile am Platze. So ist der Gedanke besonders im Hinblick auf
eine Art von Situationen vorgetragen worden, die Edmund Burke in seiner
Verteidigung des Vorurteils hervorgehoben hat: Wenn ein Notfall eintrete, so sagt
er, müsse man etwas zur Hand haben, das sich ohne weiteres anwenden lasse. Eben
dazu taugten nur Vorurteile. Von vonherein, wie ihr Name sage, hielten sie uns auf
einem stetigen Kurs der Weisheit und Tugend, statt uns im Augenblick des
Entschlusses zögern zu lassen, und uns so dem Zweifel, der Verwirrung und
57 Diese Begriffe hat Montaigne in Verbindung gebracht, ‘De la coustume et de ne changer aisément une loy
receüe’ [= Essais I,23], durchgehend, und besonders S. 117: “prejudice de la coustume”. Viele andere sind
Montaignes Wink gefolgt.

58 Eine solche Arbeitsteilung zwischen Vernunft und Vorurteil legt Fontenelle nahe: “Les Préjugez sont le
suplément de la raison. Tout ce qui manque d’un costé, on le trouve de l’autre”. Wie angedeutet ist die Teilung
der Arbeit zwischen beiden keine bloß quantitative, sondern eine qualitative: “Elle [sc. la raison] laisse à faire
au Préjugé ce qui ne mérite pas qu’elle le fasse elle-mesme” (Nouveaux Dialogues des Mortes, S. 344, 340). -
Für eine andere Ausarbeitung von Fontenelles Gedanken, Vorurteile ergänzten die Vernunft, vgl. § 99.
Unentschiedenheit preiszugeben 59 Cf. Henry James, ‘Letter to Thomas Sergeant
Perry’, pp. 45 - 46 60 Cf. Henry James, ‘Letter to Thomas Sergeant Perry’, pp. 45 - 46 61 .
Wenn Burke Vorurteile als etwas beschreibt, das uns als Handelnde von
vornherein auf festem Kurs hält und uns so vor Zaudern bewahrt, dann nehmen sie
auffallende Ähnlichkeit mit dem an, was man Instinkt nennt; vor Burke war diese
Parallele ausdrücklich bereits von Hume 62 und Chesterfield 63 gezogen worden. Um
es paradox auszudrücken ist Vorurteil für Burke nichts anderes als sozialer Instinkt.
Vorurteilen fällt genau die Aufgabe zu, von der früher im 18. Jahrhundert behauptet
worden war, nur der Instinkt - als Teil der natürlichen Ausstattung verstanden, nicht
als gesellschaftliche Errungenschaft - erfülle sie; in Popes Worten: “Reason, however
able, cool at best, / Cares not for service, or but serves when prest, / Stays till we
call, and then not often near; / But honest Instinct comes a Volunteer. / This too
serves always, Reason never long; / One must go right, the other may go wrong. /
See then the acting and comparing pow’rs / One in their nature, which are two in
ours” 64 .
An der Behauptung, Vorurteil sei als eine Art sozialer Instinkt zu begreifen,
der zur Anwendung in Notfällen bereitstehe, sind zwei Gesichtspunkte zu
unterscheiden. Der erste von ihnen soll nahelegen, daß Vorurteile als
gesellschaftliches Gegenstück zum natürlichen Instinkt einen niemals irreführen.
Nüchtern besehen gilt dies indes nicht einmal vom Instinkt im biologischen Sinne.
Es ist gerade der Instinkt, der die Maus in die Mausefalle lockt. Dieser Gesichtspunkt
soll daher an dieser Stelle bereits wieder verabschiedet sein. Der zweite
Gesichtspunkt besagt, daß es in Notfällen Weisen des Reagierens auf sie gibt, in
denen Vorurteilen eine Schlüsselrolle zukommt. In dieser Hinsicht drückt Burkes
Bemerkung den Gedanken geradezu auf zurückhaltende Art aus; beinahe stellt sie
eine Untertreibung dar.
Wenn ich nachts in einem Außenbezirk von Berlin herumliefe und eine
Gruppe kahlköpfiger junger Männer sähe, so wäre ich von einem Vorurteil geleitet,
wenn ich mich vor ihnen versteckte. Meine Haltung ginge einer einschlägigen
eigenen Erfahrung voraus, wäre also auch nicht in einer solchen begründet. Denn
ich habe Leute, die so aussehen, nie selber irgendwelchen Schaden anrichten sehen,
59 Reflections, S. 168: “Prejudice is of ready application in the emergency; it previously engages the mind in a
steady course of wisdom and virtue, and does not leave the man hesitating in the moment of decision, sceptical,
puzzled, and unresolved”. - Henry James verallgemeinerte Burkes Gedanken über Situationen von Notfällen
hinaus: “Cannot you imagine the state of irresolution and scepticism and utter nothingness a man would be
reduced to, who set to work to re-cast his old opinions, pick them clean of prejudice and build them into a fairer
structure? I’m afraid that he would find he had pulled out the chief corner stones, and that the edifice was
prostrate, and he almost crushed in its ruins. In his desire to believe nothing but what his reason showed him to
be true, I think he would end by believing nothing at all” (‘Letter to Thomas Sergeant Perry’, S. 46 - 47

60

61).

62 ‘Of Moral Prejudices’, S. 371

63 ‘On Prejudices’, S. 258

64 An Essay on Man, III, 89-96, S. 43


geschweige denn dergleichen am eigenen Leibe verspürt. (In diesem Beispiel
machen wir von du Marsais’ Kriterium der Vorurteile (§ 2) Gebrauch; berechtigt
scheint dies, weil der Schaden, den Leute anrichten, tatsächlich eine Sache der
Erfahrung ist.) Des weiteren ist die Deutung, die darin beschlossen liegt, daß ich
mich verberge, durchaus nicht die einzig mögliche. Bei jenen Jugendlichen könnte es
sich schließlich um eine Selbsthilfegruppe von Krebskranken handeln, die sich vor
kurzem einer Chemotherapie unterzogen haben. Doch wenn ich den Nachteil,
diesen Heranwachsenden möglicherweise Unrecht zu tun, gegen den Nachteil
abwäge, möglicherweise niedergeschlagen zu werden, so erscheint mir das
Vorurteil, das sie als gewalttätig einstuft, vernünftiger denn die vorurteilslose
Haltung, in aller Offenheit auf sie zuzugehen, um dann aus der, so oder so,
unausbleiblich sich einstellenden Erfahrung zu lernen.
Selbstverständlich lassen sich bestimmte Situationen nur dann mit Sinn als
Notfälle kennzeichnen, wenn man bestimmte andere Situationen als normal
einschätzt. Ein Vorkommnis wie das beschriebene aber ist normal in einer modernen
Großstadt, und kann schwerlich ein Notfall genannt werden (wenngleich es
unversehens in einen solchen umschlagen könnte). Tatsächlich wäre es nicht
übertrieben, würde man behaupten, daß einer ohne Vorurteil kaum die Straße zu
überqueren vermöchte 65 . Die gegenwärtige Wirklichkeit würde rechtfertigen, für
Burkes Gedanken eine stärkere Formulierung zu wählen als jene, zu welcher er sich
berechtigt gefühlt hatte.

16. Das vorgetragene Beispiel (§ 15) scheint zunächst einmal zu belegen, daß
Vorurteile durchaus vernünftig sein können. Bei näherem Hinsehen aber mag man
unterscheiden wollen zwischen einem vorläufigen Verdacht, der vernünftig ist, und
einem Vorurteil, das dies nicht ist 66 . Wenn ich nach Anbruch der Dunkelheit in einer
Berliner Vorstadt spazieren ginge und eine Gruppe glatzköpfiger junger Männer
erblickte, so wäre es in der Tat vernünftig, mich vor ihnen zu verstecken. Aber damit
diese Handlungsweise als vernünftig gelten kann, muß ich keineswegs glauben, alle
glatzköpfigen jungen Männer seien gefährlich. Die Überzeugung, jeder junge Mann
mit Glatze stelle eine Bedrohung dar - das einschlägige Vorurteil - ist eine Sache,
und kein Grund ist erkennbar, was daran vernünftig sein sollte; eine bloße
Vermutung hingegen, auch wenn sie sich praktisch als Argwohn und Mißtrauen
äußerte, ist eine andere, klarerweise unterscheidbare Sache, und im vorliegenden
Fall eben diejenige Haltung, die als vernünftig gelten darf. Was sie vernünftig macht,
ist eine äußerst einfache Abwägung von Möglichkeiten (§ 15): Wenn ich mit meiner
Vermutung falsch liege, habe ich den jungen Leuten Unrecht getan, was diese gar
nicht mitbekommen und was ihnen darum auch nicht weh tut; doch wenn ich richtig
liege, mag es sein, daß ich durch meine Vorsicht mein Leben gerettet habe. Dabei bin
65 Horkheimer, ‘Über das Vorurteil’, S. 87

66 Kant verwendet das Begriffspaar ‘vorläufiges Urteil’ und ‘Vorurteil’, um die Unterscheidung zu ziehen:
“Alle Untersuchung erfodert ein Vorläufig Urtheil, auf welcher Seite wir die Wahrheit vermuthen”, “Vorläufig
urtheil ist nicht das Vorurtheil, sondern ist eine Behutsamkeit, um solches zu vermeiden” (Reflexionen zur
Logik, Nr. 2519, 2523, S. 403 - 404. Vgl. Logik, S. 511).
ich gerade nicht sicher, Recht zu haben, wie einer in seinen Vorurteilen es ist 67 ,
sondern räume ohne weiteres ein, daß ich mich irren mag. Von nichts weiter muß
ich überzeugt sein als davon, daß es in diesem Fall das bei weitem kleinere Übel
darstellt, aufgrund einer verkehrten Annahme zu handeln, unerheblich wie mein
persönliches Urteil über die Halbwüchsigen schon einmal ist. Anders gesagt
betrachte ich meine Annahme nicht als eine von mir erkannte Wahrheit; mir erscheint
es bloß Klugheit, mich in dem, was ich tue, von ihr leiten zu lassen.
Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, es stehe stets zu unserer Wahl,
entweder einen vorläufigen Verdacht oder ein Vorurteil zu haben. Leidenschaften,
die ja oft dasjenige sind, was einen handeln macht, haben etwas Dogmatisches an
sich. Wer Schrecken an sich erfährt, dem liegt es nahe genug, zu glauben, daß der
Gegenstand seiner Gemütsbewegung schrecklich ist. Die Flucht verstärkt das
Gefühl, daß jemand hinter mir her ist. Panik besitzt die Macht, Überzeugungen
einzupflanzen und bis zur Verbohrtheit zu steigern; sie kann davon abhalten, noch
irgendeine Alternative zu wägen, wie simpel diese auch immer beschaffen sein mag.
Doch all dies ist kein Einwand. Zwei Haltungen unterscheiden ist nun einmal nicht
das selbe wie behaupten, man könne nach Gutdünken zwischen ihnen wählen.

17. Die als Berichtigung gemeinte neue Deutung des Beispiels (§ 16) spielt jedoch
den Unterschied der beiden Haltungen hoch, insbesondere wenn sie die eine als
annehmbaren, lediglich vorläufigen Verdacht dem verworfenen Vorurteil
gegenüberstellt. Ein Gedanke kann nur dann vorläufig genannt werden, wenn eine
abschließende Feststellung des Sachverhalts beabsichtigt ist. Doch damit es als
vernünftig gelten darf, sich nachts vor Glatzköpfen zu verstecken, ist es nicht
erfordert, daß einer, der das tut, nicht ruht, bis er dieselben am hellichten Tag an
sicherer Stelle ausfindig gemacht hat, und nun ermitteln kann, ob sie manierlich sind
oder nicht. Vielmehr scheint es vollkommen vernünftig, die Angelegenheit als
abgeschlossen zu betrachten, sobald man die nächtliche Begebenheit unbeschadet
überstanden hat. Folglich ist der Gedanke, der als vernünftig bezeichnet wurde,
jedenfalls nicht aus dem Grunde vernünftig, daß er vorläufig wäre; denn er ist gar
nicht vorläufig. Die als Stütze des Gedankens bemühte Unterscheidung von
Wahrheit und Klugheit jedoch ist zu schwach, ihn zu tragen. Denn was in einem
derartigen Fall klug wäre, muß Anhalt in der Wirklichkeit besitzen. Es wäre nicht
länger klug, mich zu verbergen, sähe ich statt zehn kahlköpfiger Burschen zwei
kleine Mädchen auf der Straße. Mindestens im Sinne einer Wahrscheinlichkeit
schreibe ich den Betreffenden ein Verhalten einer bestimmten Sorte zu, ohne sie zu
kennen; insofern handelt es sich um einen Fall von Vorurteil.
Der gegen das Vorurteil abgesetzte Verdacht (§ 16) ist in Wahrheit auch ein
Vorurteil. Was ihn von einer Überzeugung - der Kontrastfolie der revidierten
67 Kant drückt dies so aus: “Die Ursache von dieser Täuschung ist darin zu suchen, daß subjektive Gründe
fälschlich für objektive gehalten werden, aus Mangel an Überlegung” (Logik, S. 505 - 506), “Der subjektive
Grund einer Regel zu urtheilen der vor aller Überlegung vorhergeht, so fern er zur obiectiven Regel wird, ist
Vorurtheil” (Reflexionen zur Logik, Nr. 2520, S. 403 (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. Nr. 2528, ebd., S.
406; Nr. 2533, S. 408; Nr. 2547, S. 411; Nr. 2550, S. 412). Wenngleich es zutrifft, daß jemand, der Vorurteile
hat, diese für wahr hält, gelingt Kant so keine überzeugende Definition. Denn seine Bestimmung erlaubt es
nicht, Vorurteile von irrigen Urteilen im allgemeinen begrifflich zu scheiden ( - ein Unterschied, den doch auch
Kant machen möchte). Man hält ja allgemein Irrtümer subjektiv für wahr, während sie objektiv falsch sind, und
könnte sie vermieden haben, hätte man sich die Sache richtig überlegt. Vgl. § 1.
Deutung des Beispiels (§ 16) - unterscheiden mag, scheint vielmehr die gegenüber
dem Vorurteil eingenommene Haltung zu sein.
An dieser Stelle besteht für das Denken die Versuchung, noch weiter zu
gehen und den folgenden Weg einzuschlagen: Die entscheidende Alternative ist
nicht, wie viele Aufklärer meinten, entweder Vorurteile zu haben oder keine zu
haben; worauf es ankommt, ist vielmehr, wie man sich zu den eigenen Vorurteilen
stellt. Nicht die Abwesenheit von Vorurteilen, sondern der Geist, in dem man ihnen
begegnet und mit ihnen verfährt, wäre demnach das, was Vernunft von Unvernunft
unterscheidet. So will es Karl Kraus: “Das Vorurteil ist ein unentbehrlicher
Hausknecht, der lästige Eindrücke von der Schwelle weist. Nur darf man sich von
seinem Hausknecht nicht selber hinauswerfen lassen” 68 . Die Attraktion dieser
Denkfigur ist nicht zu leugnen; sie ist jedoch einer Schwierigkeit ausgesetzt, die
nicht leicht auszuräumen scheint. Die Attraktion ist diese: Vorurteile ziehen
Grenzen, und Grenzen stiften nicht notwendigerweise Schaden, ja sie können von
Nutzen sein. Doch die Schwierigkeit folgt auf dem Fuße: Grenzen können von
Nutzen sein - vorausgesetzt, man weiß, wo sie verlaufen. Eine bestimmte Haltung
zu seinen Vorurteilen einnehmen kann einer nur dann, wenn er weiß, was seine
Vorurteile sind. Doch wenn ein Vorurteil als solches erkannt ist, hört es auf, ein
Vorurteil zu sein. Beunruhigend scheinen Vorurteile gerade des Umstands halber,
daß es denjenigen, die bestimmte Vorurteile haben, ganz fernliegt, sie als solche
anzusehen 69 . Was sie glauben, so meinen sie, ist ganz einfach die natürlichste Sache
von der Welt. Die Philosophie, seit der griechischen Aufklärung, hat Natur dem bloß
Konventionellen als ein streng Geschiedenes gegenüberstellen wollen; aber die
Nichtphilosophen (und zuweilen gar die Philosophen selber) haben es sich nicht
nehmen lassen, das Wörtchen ‘natürlich’ stets da zu verwenden, wo sie sich an eine
Konvention so sehr gewöhnt hatten, daß sie ihnen schon gar nicht mehr als
Konvention vorkam. In Montesquieus Lettres persanes wird von den Parisern
vermeldet, sie hätten Rica gefragt: “Comment peut-on être Persan?” 70 . ‘Wie kann
man nur persisch sein?’: offenkundig fanden diejenigen, die so fragten, es
unnatürlich, kein Europäer zu sein. Insofern wir unsere Vorurteile nicht als
Vorurteile gewahren, eignet ihnen die paradoxe Unsichtbarkeit des Offensichtlichen,
welche hintertreibt, daß man sie bemeistert (vgl. §§ 53, 65).

68 Sprüche und Widersprüche, S. 172. - Kant empfahl eine vergleichbare Haltung nicht gegenüber Vorurteilen,
doch gegenüber falschen Urteilen: solange man deren problematischer Beschaffenheit gewahr sei, könnten sie
eine bedeutsame Rolle für das Erkennen spielen (Kritik der reinen Vernunft A 75 = B 100, S. 115).

69 de Quincey, ‘Philosophy of Herodotus’, S. 132

70 Nr. xxx, S. 129


II. Über die vertrackten Beziehungen zwischen Vorurteil und Erfahrung, und
über die den Vorurteilen nachgesagte Dummheit

18. Die Schwierigkeiten, mit denen wir uns im vorigen Kapitel herumgeschlagen
haben, scheinen indes nicht wirklich von du Marsais’ Lehre herzurühren, Vorurteile
mangelten der Erfahrung (§ 2). Vielmehr sieht es so aus, als ob sie aus der
Verknüpfung dieser (möglicherweise wahren) Behauptung mit der Forderung
stammen, alle Vorurteile aus der Welt zu schaffen (einer Verknüpfung, die freilich
du Marsais selber nahelegt (§ 2)). Unabhängig davon aber, ob es richtig wäre, alle
Vorurteile auszutilgen, möchten wir doch wissen, ob es stimmt, daß Vorurteile über
eine Sache und Erfahrung von ihr einander ausschließen.
Selbst die letztere Behauptung, für sich betrachtet, scheint indes einigermaßen
zweifelhaft. Man müßte die Angelegenheit schon reichlich drehen und wenden,
wollte man leugnen, daß zumindest einigen Personen, die Vorurteile hatten,
Mitglieder jener Gruppen, die sie nicht leiden konnten, tatsächlich begegnet sind. In
Wirklichkeit ist es ja so, daß selbst Leute, die, nimmt man einmal den heute
gängigen Sprachgebrauch zum Maßstab, den Tatbestand des Vorurteils nachgerade
lückenlos erfüllen, gleichwohl ständig von ihren Erfahrungen berichten.
Zum Beispiel läßt sich ein berüchtigter Antisemit folgendermaßen
vernehmen: “Als ich einmal so durch die innere Stadt strich, stieß ich plötzlich auf
eine Erscheinung in langem Kaftan mit schwarzen Locken. Ist dies auch ein Jude?
war mein erster Gedanke. So sahen sie freilich in Linz nicht aus. Ich beobachtete den
Mann verstohlen und vorsichtig, allein je länger ich in dieses fremde Gesicht starrte
und forschend Zug um Zug prüfte, um so mehr wandelte sich in meinem Gehirn die
erste Frage zu einer anderen Fassung: Ist dies auch ein Deutscher? [...] [D]aran, daß
es sich hier nicht um Deutsche einer besonderen Konfession handelte, sondern um
ein Volk für sich, konnte auch ich nicht mehr gut zweifeln; denn seit ich mich mit
dieser Frage zu beschäftigen begonnen hatte, auf den Juden erst einmal aufmerksam
wurde, erschien mir Wien in einem anderen Lichte als vorher. Wo immer ich ging,
sah ich nun Juden, und je mehr ich sah, um so schärfer sonderten sie sich für das
Auge von den anderen Menschen ab. Besonders die innere Stadt und die Bezirke
nördlich des Donaukanals wimmelten von einem Volke, das schon äußerlich eine
Ähnlichkeit mit dem deutschen nicht mehr besaß” 71 .

19. Wie also ist das Verhältnis zwischen Vorurteilen und Erfahrung beschaffen,
wenn sie einander nicht einfach wechselseitig ausschließen? Sehen wir uns das
Beispiel näher an. Hitler erläutert seinen Sinneswandel dahingehend, er habe aus
Erfahrung gelernt: “Anschauungsunterricht” ist der Ausdruck, mit welchem er
belegt, was ihm geschah 72 . Er hatte, so stellt Hitler es dar, bestimmte Unterschiede
71 Hitler, Mein Kampf, S. 59 - 60

72 Bemerkenswert ist auch die Betonung der Rationalität in diesem Wandel: “Wenn dadurch langsam auch
meine Ansichten in bezug auf den Antisemitismus dem Wechsel der Zeit unterlagen, dann war dies wohl meine
schwerste Wandlung überhaupt. Sie hat mir die meisten inneren seelischen Kämpfe gekostet, und erst nach
monatelangem Ringen zwischen Verstand und Gefühl begann der Sieg sich auf die Seite des Verstandes zu
schlagen. Zwei Jahre später war das Gefühl dem Verstande gefolgt, um von nun an dessen treuester Wächter
und Warner zu sein. In der Zeit dieses bitteren Ringens zwischen seelischer Erziehung und kalter Vernunft hatte
mir der Anschauungsunterricht der Wiener Straße unschätzbare Dienste geleistet” (ebd., S. 59).
beobachtet und habe sodann aus diesen Beobachtungen seinen Schluß gezogen.
Tatsächlich aber änderte Hitler gerade nicht seine Auffassung der Wirklichkeit
(oder, im vorliegenden Fall, seine Auffassung davon, was es heißt, Deutscher zu
sein) unter dem Eindruck gegenteiliger Erfahrung. Vielmehr maß er umgekehrt die
Wirklichkeit an seiner Auffassung von ihr. Da jene dieser nicht entsprach, konnte sie
nicht, so Hitlers Schluß, diese Art von Wirklichkeit sein: Dies Gewimmel da sind keine
Deutschen. Der umgekehrte Fall, Lernen aus Erfahrung, hätte möglicherweise zum
umgekehrten Ergebnis geführt. Hätte Hitler aus Erfahrung gelernt, wäre er vielleicht
zu der Folgerung gelangt, daß ‘Deutsche’ (oder Österreicher - denn Hitler gilt es hier
als selbstverständlich, daß Österreicher eine Unterart der Deutschen bilden) nicht
immer so aussehen, wie er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht hätte sich gar der
Schluß ergeben, daß es ein deutsches Aussehen genaugenommen nicht gibt, da
Deutschsein keine sichtbare natürliche Eigenschaft ist, sondern eine politische und
historische Zuschreibung.
Hitlers Deutung der eigenen Erfahrung ruht auf der vorgängigen Annahme,
Nationalität sei ein rassisches Merkmal. Nur daß Hitler bereits Rassist war, versetzte
ihn in die Lage, eine Erfahrung der von ihm beschriebenen Art zu machen. Nicht
etwa hatte Erfahrung seine Vorstellung von Juden hervorgebracht, vielmehr erklärt
umgekehrt die letztere seine Erfahrungen. In diesem Sinne ließe sich selbst am
ursprünglichen Verständnis von Vorurteilen als etwas, das einer vor der Erfahrung
schon hat, festhalten; dies wäre nur dahingehend geklärt, daß nicht etwa Leute mit
Vorurteilen, wie du Marsais nahezulegen schien, keine Erfahrung von dem haben,
worauf ihre Vorurteile sich beziehen. Auch solche Leute mögen ihre Erfahrungen
haben, aber ihre Erfahrungen sind durch ihre Vorurteile geformt.

20. Unser Einwand gegen Hitlers Sichberufen auf Erfahrung ist demnach nicht, daß
unsere Erfahrungen mit Juden andere sind als die seinen. Das stimmt zwar und ist in
anderen Hinsichten bedeutsam; aber diese Tatsache als Argument zu benutzen hieße
vorauszusetzen, was allererst zu zeigen wäre.
Gewiß, der Empirismus der Aufklärung unterstellte, indem er dafür die
Autorität der Wissenschaft beschwor, jedermanns Erfahrung sei wesentlich die
gleiche, und sofern sie das nicht sei, sollte sie es doch wenigstens sein, nämlich
gerade so wie die Erfahrung eines aufgeklärten Menschen ist. Schließlich beruhte
der Fortschritt des menschlichen Wissens darauf, daß sich das gleiche Experiment
und die gleiche Beobachtung in Tübingen oder Tokio wiederholen ließen. Doch
wenngleich dies für bestimmte Bezirke innerhalb der Naturwissenschaften gilt, dank
des Umstands, daß sie von ungezählten Eigenschaften absehen und andere so
abgesondert betrachten (§ 34), ist Gleiches doch nicht außerhalb dieser Nische wahr.
Die Behauptung, jedermanns Erfahrung sei wesentlich die gleiche, wird gerade
durch die Erfahrung dementiert; ein Empirismus, der sie aufrecht zu erhalten sucht,
ist widersprüchlich.

21. Sofern das Verhältnis zwischen Vorurteil und Erfahrung so beschaffen ist, wie
hier angenommen wurde (§ 19), schließen beide einander nicht aus. Doch selbst
wenn eingeräumt ist, daß jemand, der Vorurteile hat, nicht notwendigerweise keine
Erfahrung von dem hat, was jeweils Thema ist, mag man vielleicht sagen wollen, er
berücksichtige jedenfalls nicht genug Erfahrung. Ein Vorurteil wäre demnach ein
Urteil, dem kein hinreichendes Maß an Erfahrungen zugrunde liegt. Mit anderen
Worten, es wäre eine vorschnelle Verallgemeinerung. (Diese Auffassung entwickelt
den anfänglichen Gedanken, ein Vorurteil sei ein vorzeitiges Urteil (§ 1).)
In Platons Phaidon sucht Sokrates in einer knappen Abschweifung (89d - 90b)
zu erklären, wie sich die Haltung des Menschenhasses (µ ) herausbildet. Ohne
Erfahrung ( , wörtlich: ohne Geschick, nämlich, im Umgang mit Menschen) zu
haben, so beschreibt es Sokrates, setze einer sein Vertrauen auf jemanden, der sich
indes bald darauf als unzuverlässig erweise 73 . So gehe es ihm mit einer weiteren
Person, und sodann wieder mit einer anderen. Nach diesen wiederholten Schlägen
gelange der Held der Geschichte dahin, alle Menschen zu hassen (µ ). Am
Ende sei er überzeugt, Ehrlichkeit sei ein Ding, das sich nirgends auf der Welt
auftreiben lasse ( ).
Doch dem Menschenhasser sei ein Fehler in seiner Statistik unterlaufen. Wäre
er nicht so voreilig gewesen, behauptet Sokrates, dann hätte ihm auffallen müssen,
daß sowohl ganz üble wie auch vollendet gute Charaktere selten sind. Bei weitem
die Mehrzahl der Menschen stehe, was Gewissenhaftigkeit anlangt, zwischen jenen
Extremen. Indem er auf entsprechende Verhältnisse hinweist, sucht Sokrates zu
zeigen, wie der Menschenhasser in seinem Verallgemeinern irrt. Es ist hier, sagt
Sokrates, gerade so wie mit extrem großen und kleinen Dingen. Nichts sei
ungewöhnlicher als daß einem ein extrem großer oder extrem kleiner Mensch
begegne, oder ein solcher Hund, oder was auch immer. Und ebenso stehe es mit
allem, was äußerst schnell oder langsam, häßlich oder schön, hell oder dunkel sei.
Betrachte man all diese Fälle ohne Hast, so ergebe sich jedesmal, daß die Extreme rar
seien, während sich, was zwischen ihnen liegt, in Hülle und Fülle finde.

22. In dem vorgestellten Passus des Phaidon (§ 21) führt Platon nicht den Begriff des
Vorurteils ein. Das genaue Gegenstück zu diesem Wort wäre µ , ein Substantiv,
das im klassischen Griechisch nicht vorkommt; es fehlt ganz bis zum dritten
Jahrhundert v. Chr. War Platon in jenem Abschnitt auf eine allgemeine Lehre aus, so
dürfte es eher die vom unbesonnenen und überstürzten Wesen der Leidenschaften
gewesen sein, deren eine der Haß ja vorstellt. Selbstverständlich folgt daraus nicht,
daß Sokrates’ Überlegungen für die Frage nach dem Vorurteil sachlich ohne
Bedeutung wären; immerhin ließen sich ja Mutmaßungen darüber anstellen, ob nicht
Leidenschaften der Ursprung jener Übereilung sind, die manche den Vorurteilen
nachgesagt haben.
Doch erst in neuerer Zeit, im 18. Jahrhundert, ist Platons Herleitung einer
besonderen Haltung als allgemeine Erklärung von Vorurteilen verkündet worden
(einschließlich, als einem Fall derselben, des Menschenhasses (vgl. § 36)). Im Jahr
1790 trug Johann Gottfried Kiesewetter die Theorie, bei Vorurteilen handele es sich
um vorschnelle Verallgemeinerungen, in recht klarer Weise vor: “Der Mensch muß,
in so fern er ein vernünftiges Wesen ist, dahin streben, sich allgemeine Sätze zu
verschaffen, die ihm zu Principien dienen. Die Vernunft strebt nehmlich dahin, alles aus
Gründen zu erkennen, mit andern Worten, das Besondre aus dem Allgemeinen
herzuleiten, und der Mensch wird also, um diesen Zweck zu erreichen, sich
73Bis zu dieser Stelle schildert Sokrates etwas ähnlich dem, was ihm selbst widerfuhr, als er die Probe auf den
Spruch des Delphischen Orakels machte; er prüfte jeden, der sich selbst weise nannte, und fand nichts als
Schein (Apologie 20d - 23a); was im Phaidon folgt, mag erklären, weshalb Sokrates dennoch kein
Menschenhasser wurde.
allgemeine Sätze verschaffen müssen. Dieß Streben nun, allgemeine Sätze zu haben,
um sie als Principien der Erkenntnisse und der Urtheile zu brauchen, verleitet oft
dazu, daß man Urtheile, die bey weitem noch nicht allgemein sein können, dennoch
als allgemein ausspricht. Man findet, daß mehrern Dingen einer Art ein gewisses
Merkmal zukomme, und dehnt es, um eine allgemeine Regel zu haben, auf die
ganze Art aus; man sieht und erfährt, daß unter gewissen Umständen einigemal sich
etwas zugetragen habe, und man setzt fest, daß dieß unter diesen Umständen sich
immer zutragen werde. Man hat gefunden, daß mehrere Juden, niedergedrückt von
Kummer und Elend, gleichsam ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, aller
Erwerbsquellen beraubt, durch Wucher und Betrug sich zu ernähren streben, - und
man spricht der Bequemlichkeit halber den Satz aus: Alle Juden sind Betrieger” 74 .

23. Diese Theorie scheint ohne weiteres anwendbar auf den Fall von Hitlers
Antisemitismus. Schaut man sich an, wie dieser üblicherweise untersucht wird, so
findet man manche Forscher damit beschäftigt, Hitlers Jugendjahre nach mißlichen
Begegnungen mit Juden abzusuchen 75 . Ließen sich solche finden, so die Annahme,
dann wäre sein rassistisches Vorurteil erklärt: In ungerechtfertigter Weise
generalisierend, muß Hitler von einigen Juden, die er getroffen hatte, auf alle Juden
geschlossen haben. Andere Biographen haben allerdings herausgefunden, daß Hitler
in den Jahren, in denen er Not litt, von einigen Juden, die selber arm waren, Hilfe
empfing und sogar Freundschaft erfuhr 76 ; diese Autoren staunten nun darüber, daß
Hitler ‘trotzdem’ ein so scharfer Antisemit war. In beiden Auffassungen wird die
Genese von Vorurteilen als eine Art von induktivem Folgern betrachtet, bei dem
etwas schiefgegangen ist. Im Fall der angeblichen Erklärung war die Grundlage der
Induktion schlicht zu klein. Im Fall der notierten Überraschung hätte Hitler
eigentlich von seinen guten Erfahrungen mit Juden verallgemeinern sollen, hat dies
aber bedauerlicherweise unterlassen.
Allerdings besteht Grund zu der Annahme, daß Vorurteile auf diese Weise
unerklärt bleiben. Es ist nicht glaubhaft, daß Menschen Antisemiten werden, weil sie
ein paar unerquickliche Begegnungen mit Juden haben. Und diese Behauptung ist
nicht Ergebnis einer Feldstudie, in der Leute mit Vorurteilen der Beobachtung
unterworfen worden wären. Das Argument ist vielmehr, daß die Ätiologie der
Vorurteile, die diese unerquicklichen Begegnungen zuschreibt (und selbst die
Überraschung, wenn man vielmehr erquickliche findet), als gegeben voraussetzt,
was gerade zu erklären wäre. Denn sie macht nicht einsichtig, was doch an dieser
Stelle den Ausschlag gibt, nämlich wie es zu Einstellungen gegenüber bestimmten
74 ‘Ueber Vorurtheil’, S. 351. - Auch Hume scheint der Auffassung gewesen zu sein, Vorurteile rührten von
vorschnellen Verallgemeinerungen her. Vgl. Treatise, S. 146 - 147: “A fourth unphilosophical species of
probability is that deriv’d from general rules, which we rashly form to ourselves, and which are the source of
what we properly call PREJUDICE. An Irishman cannot have wit, and a Frenchman cannot have solidity; for
which reason, tho’ the conversation of the former in any instance be visibly very agreeable, and of the latter
very judicious, we have entertain’d such a prejudice against them, that they must be dunces or fops in spite of
sense and reason. Human nature is very subject to errors of this kind; and perhaps this nation as much as any
other”.

75 Z.B. Shirer, The Rise and Fall of the Third Reich, S. 26, unter Berufung auf Olden, Hitler, S. 47

76 Z.B. Toland, Adolf Hitler, S. 45 - 46


Kategorien von Personen kommt. Schließlich hat einer bereits an ‘die Juden’ als
Kategorie zu denken, um mißliche Begegnungen gerade mit Juden zu haben statt
mit Zahnärzten oder Männern oder was immer die Betreffenden sonst auch noch
sein mögen. Um die Schuld am mißlichen Charakter einer Begegnung nicht etwa der
Tatsache zu geben, daß derjenige, der einem über den Weg lief, Wiener war oder gar
einfach dieses bestimmte Individuum, möglicherweise auch dem Umstand, daß der
Tag, an dem die Begegnung stattfand, außergewöhnlich heiß war, oder dem Faktum,
daß man schlechte Laune hatte, weil das Frühstücksei zu hart geraten war, vielmehr
das Ärgernis ausgerechnet der dem anderen zugeschriebenen Eigenschaft
anzulasten, er sei Jude, dazu muß man schon Antisemit sein. Die Situation einer
Begegnung hat zahllose Aspekte, auf die man sich beziehen könnte, und die Wahl
unter diesen, die einer trifft, bezeichnet den entscheidenden Schritt, welchen die
Erklärung von Vorurteilen als dem Ergebnis unangenehmer Erfahrungen nicht
einsichtig macht. Timon von Athen soll mit Athenern aneinandergeraten sein; aber
Sokrates’ Theorie (§ 21) erleuchtet uns nicht, wenn wir wissen wollen, weshalb er ein
Hasser der Menschen wurde, statt ein Hasser der Athener oder der Griechen zu
werden.
Gewiß gibt es für Vorurteile keine hinreichende empirische Evidenz (denn
bestünde sie, dann wären sie gerechtfertigte Urteile). Und doch ist es nicht dies, was
Vorurteile kennzeichnet. Jemand, der Vorurteile hat, gleicht nicht, wie Kiesewetter
es nahelegt, einem faulen Statistiker, der aufhört, Proben zu sammeln, weil er seine
Zeit lieber im Bett verbringt 77 . Denn mit welchem Fleiß auch immer einer Beispiel
auf Beispiel häufen würde, nie gelangte er dahin, die Gültigkeit seiner Aussage für
alle Fälle zu begründen. Kiesewetters eigenes Beispiel (§ 22) würde sich auch auf alle
künftig lebenden Juden beziehen, und kein Fleiß der Welt könnte diesen Rechnung
tragen. Wo aber jede vorstellbare Anstrengung vergebens wäre, ist die angemessene
Beanstandung jedenfalls nicht die, daß der Betreffende zu faul war.
Sollte einer, der Vorurteile hat, überhaupt einem Statistiker zu vergleichen
sein, dann müßte das wohl ein solcher sein, der der Ergebnisse seiner Statistik sicher
ist, bevor er diese erstellt, und der sie gerade so erstellt, daß seine Zahlen dem
entsprechen, dessen er bereits sicher war. In Platons Menon (80d) wird das Paradox
aufgestellt, Erkennen, und das heißt doch: Neues herausfinden, sei unmöglich,
gerade insofern es sich bei dem Entdeckten um etwas Neues handele. Die Stelle
lautet in Schleiermachers Übertragung: “Und auf welche Weise willst du denn
dasjenige suchen, Sokrates, wovon du überall gar nicht weißt, was es ist. Denn als
welches besondere von allem, was du nicht weißt, willst du es dir denn vorlegen
und so suchen? Oder wenn du es auch noch so gut träfest, wie willst du denn
77 ‘Ueber Vorurtheil’, S. 351: “der Bequemlichkeit halber”, S. 352: “Solche allgemeine Sätze sind ein Polster
für die faule Vernunft”. Kant, Kiesewetters Lehrer, behauptete bereits 1746, Vorurteile entstünden, mindestens
auch, aus “Bequemlichkeit” (Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, Vorrede, Nr. IV, S.
17). Vgl. a. du Marsais, Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 7. Locke legt nahe, man müsse Vorurteil aus Trägheit
erklären, wenn er es ‘faule Vorwegnahme’ (“lazy anticipation”) nennt (Of the Conduct of the Understanding, §
10, S. 229). Schon in Descartes’ Kritik der Vorurteile mag dergleichen intendiert gewesen sein: “præpostera &
imbecillia sunt multorum judicia, ut magis a primum acceptis opinionibus, quantumvis falsis & a ratione alienis,
persuadeantur, quàm a verâ & firmâ, sed posterius auditâ, ipsarum refutatione” (“so verkehrt und schwach ist
das Urteilsvermögen vieler, daß sie sich eher von den von ihnen zuerst angenommenen Meinungen beeinflussen
lassen, wie falsch und der Vernunft fremd diese auch immer sein mögen, als von der wahren und festen, aber
erst nachher gehörten Widerlegung eben dieser Meinungen”) (Meditationes, Præfatio ad lectorem, S. 9)
erkennen, daß es dieses ist, was du nicht wußtest?”. Vorurteile scheinen dem in
diesem Sophisma ausgesprochenen strengen Maßstab gerecht zu werden. Sie suchen
nur, was sie schon gefunden haben. Gewiß, ein Vorurteil konkretisiert sich in
Erfahrungen; doch es wacht auch schon darüber, was erfahren wird und was nicht.

24. Den vorigen Überlegungen liegt allerdings eine Unterscheidung zugrunde, die
ganz ins Klare gebracht sein muß, soll das Argument nicht mißverstanden werden.
Wenn einer sagt, eine bestimmte Erfahrung sei darum schlecht gewesen, weil sie ihn
mit Juden in Berührung brachte, so liegt ein antisemitisches Vorurteil vor. Keines
hingegen liegt vor, wenn einer bloß meint, es gebe Juden. Gewiß muß man der
letzteren Überzeugung sein, um zu der ersteren zu gelangen; aber man kann
selbstverständlich die letztere Überzeugung ohne die erstere haben. Vorurteile als
vorschnelle Verallgemeinerungen zu erklären setzt voraus, diejenigen, die schlechte
Erfahrungen mit Juden gemacht zu haben behaupten, müßten den Begriff ‘Juden’
haben; aber es ist nicht dies, was die Erklärung dem Vorwurf aussetzt, sie behandele
das allererst zu Erklärende, als sei es bereits klar (§ 23). Was sie diesem Vorwurf
aussetzt, ist etwas anderes: Die Erklärung macht nicht einsichtig, weshalb
diejenigen, die schlechte Erfahrungen mit Juden gemacht zu haben behaupten,
gerade dem Jüdischsein derer, denen sie begegnet sind, die Schuld daran geben, daß
die Erfahrungen schlechte Erfahrungen waren. Hierin, und nicht etwa darin, daß
einer den Begriff ‘Jude’ hat, manifestiert sich Antisemitismus. Wird dies nicht erhellt
- und es wird nicht erhellt, solange man Vorurteile als vorschnelle
Verallgemeinerungen zu erklären sucht -, dann bleibt mithin gerade das
Entscheidende im Dunkeln.
Die getroffene Unterscheidung ist uns schon bekannt, falls wir recht begriffen
haben, was eigentlich in dem angeführten Passus aus Mein Kampf vor sich geht.
Hitlers vorgeblicher Empirismus sucht gerade dadurch zu überreden, daß er jene
Unterscheidung, oder doch mindestens eine nah verwandte Unterscheidung,
verwischt. Was Hitler seinen Adressaten einreden möchte, ist dies: Er, Hitler, habe
doch nichts getan, als sich die Leute auf der Straße genauer anzusehen. Und keiner
werde ja bestreiten wollen, daß es in Wien Juden gab: diese harmlose Feststellung
könne doch wohl schwerlich als Vorurteil gelten. Sie kann es in der Tat nicht. Weder
ist sie ein Vorurteil, noch falsch, noch antisemitisch; sie ist (falls man mit der
Geschichte jener Zeit so weit vertraut ist, wie Hitlers Leser es tatsächlich waren)
einfach eine Trivialität. An dem Punkt aber, an dem Hitlers Behauptungen keine
Trivialität mehr darstellen (und antisemitisch werden), erweist sich auch sein
Empirismus als ein bloß vorgeblicher. Denn worauf Hitler hinauswill, ist ja nicht,
daß es in Wien Juden gab, sondern daß Juden unter keinen Umständen
(österreichische und somit) deutsche Bürger sein können. Diese Folgerung aber ist
nicht zu haben, indem man sie sich lediglich anschaut.

25. Freilich könnte die getroffene Unterscheidung uns veranlassen, es noch einmal
mit der Erklärung der Vorurteile als vorschneller Verallgemeinerungen zu
versuchen. Ein solcher Versuch würde das Vorurteil gewissermaßen mitten inne
zwischen jenen beiden Überzeugungen ausmachen, die wir unterschieden haben (§
24). Sagt einer, es gebe in Wien Juden, weil er einige gesehen hat, so dürfte
unbestritten sein, daß er ein Urteil fällt und nicht etwa damit schon einem Vorurteil
Ausdruck verleiht. Doch dem neuen Vorschlag zufolge liegt ein Vorurteil nicht erst
dann vor, wenn einer meint, eine bestimmte Erfahrung sei darum schlecht gewesen,
weil sie ihn mit Juden in Berührung brachte. Gewiß hat derjenige, der so denkt, ein
Vorurteil; aber jemand muß nicht so weit gehen, um ein Vorurteil an den Tag zu
legen. Ein Vorurteil legt einer vielmehr auch dann bereits an den Tag, wenn er
meint: ‘Alle Juden sind so und so’. Dies gilt selbst dann, wenn der Betreffende meint,
alle Juden seien nett. Was solche Ansichten zu Vorurteilen stempelt, ist, daß sie
verallgemeinern, unabhängig davon, ob sie dies nun im Bösen oder im Guten tuen.
Was aber heißt das eigentlich: zu verallgemeinern? Zu verallgemeinern heißt,
so scheint es, daß man von dem, was man erfahren hat, auf das schließt, was man
nicht, oder noch nicht erfahren hat. Nach dieser Erklärung sind in einem bestimmten
Sinn alle Verallgemeinerungen vorschnell 78 . (Dem ursprünglichen Vorschlag (§ 22)
lag hingegen eine Unterscheidung vorschneller Verallgemeinerungen von
wohlerwogenen Verallgemeinerungen zugrunde.) Was wir tun, würde nicht als
vorschnell zu gelten haben, wenn wir jeden einzelnen Fall kennen würden, der unter
einen allgemeinen Befund fiele; aber das wäre eben ein allgemeiner Befund, keine
Verallgemeinerung. Verallgemeinernd folgern wir aus dem Bekannten das
Unbekannte, und dabei bleibt es immer möglich, daß das Unbekannte anders ist als
das Bekannte: daß es unbekannt ist, enthält in sich ja die Unmöglichkeit, eben dies
auszuschließen. Was aber ist dann das Verhältnis zwischen Verallgemeinerung und
Vorurteil? Verallgemeinerungen übertragen das, was sie an Vergangenem und
Gegenwärtigem finden, auf Künftiges; sie übertragen mithin das, was vor etwas
war, auf das, was angeblich nachher kommt: und jenes ‘vor’ scheint das ‘Vor-’ des
Vorurteils zu sein.

26. Ein Verdienst jedenfalls hat der Vorschlag, Vorurteile als Verallgemeinerungen
zu verstehen, unabhängig davon, ob dabei jeweils günstige oder aber ungünstige
Eigenschaften allgemein zugeschrieben werden. Denn er schließt einen Zug aus, der
in diesem Zusammenhang besonders hinderlich ist: den nämlich, den Ausdruck
‘Vorurteil’ abträglichen Ansichten vorzubehalten. Daß man lieber von frommen
Irrtümern als von Vorurteilen spricht, wenn einer behauptet, ‘die Franzosen’ seien
großartige Liebhaber oder ‘die Engländer’ höfliche und kultivierte Leute, mag noch
verständlich sein, selbst wenn ohne weiteres zugestanden wird, dergleichen sei in
dieser Allgemeinheit ganz und gar unhaltbar. Doch wenn es einmal darauf
ankommt, fällt auf, daß negative und positive Vorurteile einander aufs genaueste
entsprechen und ergänzen. Ein Nationalist hat nicht nur eine abträgliche Sicht
anderer Nationen, sondern tut auch und vor allem - denn deshalb eigentlich nennt
man ihn einen Nationalisten - mit der eigenen groß. Da dies so wenig wie jenes sich
einer näheren Prüfung der betreffenden Gegenstände verdankt, ist der positive
Bestandteil einer derartigen Weltanschauung mit ebenso gutem Grund ein Vorurteil
zu nennen wie der negative. Der Vorschlag einer Erklärung, mit dem wir hier befaßt
sind, würde es so deuten, daß die positive Sicht im Hinblick auf die Nation, der der
Nationalist zugehört, verallgemeinert, die negative hingegen im Hinblick auf andere
Nationen, und daß es dies Verallgemeinern ist, nicht aber der negative Charakter
einer dieser Anschauungen, was sie zu Vorurteilen macht.
78 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 32, S. 51
Eine historische Betrachtung ist an dieser Stelle von Interesse, auch wenn sie
zum Argument als solchem nichts beiträgt. In der Sprache der Jurisprudenz bis zum
17. Jahrhundert konnte ein Vorurteil, je nach seinem Inhalt, ebenso ein richterlicher
Bescheid sein, der jemandes Chancen schmälerte, möglicherweise auch in
ungebührlichem Maß, wie ein solcher, der einen Vorteil zuerkannte. Während das
englische Substantiv ‘prejudice’ heute entweder für ein im voraus getroffenes Urteil
oder für einen jemandem zugefügten Schaden steht, bezeichnet das griechische Verb
, im antiken wie im modernen Gebrauch, entweder daß jemand eine Angelegenheit
im voraus entscheidet, oder aber, häufiger, daß er einer Sache den Vorzug gibt. So
aktualisieren diese beiden Sprachen zwei gegensätzliche, einander ergänzende
Aspekte des Begriffs. - Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß der
positive Gebrauch des Begriffs Vorurteil im 18. Jahrhundert noch lebendig war.
Rousseau etwa sprach von seinen Vorurteilen zugunsten David Humes, bevor er
diesen kennenlernte: “J’avois donc toute sorte de préjugés en faveur de Hume” 79 .
(Nicht so leicht einzusehen ist, wie man sich ein solches Beispiel als
Verallgemeinerung zurechtlegen soll; zu dieser Schwierigkeit vgl. § 27.) Noch
Johann Michael Sailer redete in seiner zuerst 1785 veröffentlichten Vernunftlehre vom
“Vorurtheil für oder wider” 80 . Als eine der Nachwirkungen der Aufklärung ist diesem
Sprachgebrauch allerdings nahezu ein unverdientes Ende beschieden gewesen.
Tatsächlich aber hat er einen guten Sinn und wäre eine Wiederbelebung wohl wert.

27. Auch die Erklärung von Vorurteilen als Verallgemeinerungen (§ 25) will nicht
bloß darüber belehren, was Vorurteile sind, sondern zugleich klarstellen, was so
schlimm an ihnen sein soll. Vorurteile tuen uns Unrecht, so sagt diese Erklärung; nur
wo wir vorurteilslos gesehen und behandelt werden, widerfährt uns Gerechtigkeit.
Damit ist folgendes gemeint. Vorurteile bringen einen Menschen unter eine
gesellschaftlich bestimmte Rubrik, um ihm sodann diese oder jene Eigenschaft
anzuhängen: ‘Er ist Akademiker, und Akademiker sind, wie jeder weiß, anmaßend’.
Der vom Vorurteil Betroffene findet sich dergestalt, einem Schmetterling gleich, mit
einer Nadel im Rücken auf einem Stück Papier aufgespießt und klassifiziert. Eine
vorurteilslose Sicht hingegen würde ihn als das besondere Individuum, das er ist,
betrachten. Statt eines bloßen Etiketts würde sie uns seine Lebensgeschichte in
umfassender Weise darbieten.
In solcher Kritik an Vorurteilen ist ein moralischer Grundsatz vorausgesetzt:
Jeder hat das Recht, als Individuum beurteilt zu werden; es ist unzulässig, jemanden
aufgrund einer Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe geringzuachten.
Mißbilligung von Menschen ist demnach nur erlaubt, wenn sie auf wohlgeprüften
Einzelurteilen fußt 81 .
79Confessions, S. 630. Vgl. ebd., S. 112: “Les préjugés même qu’avoit conçûs la pauvre femme en faveur de
mon mérite”, S. 378: “préjugés si favorables qui sembloient ne chercher qu’à m’applaudir“.

80 S. 118 - 119 u.ö.

81 Wilhelm von Humboldt, der den Begriff der Individualität ins Zentrum seiner Philosophie rückte,
beanstandete Vorurteile in dieser Weise. “Auch soll der Staat nicht gerade die Juden zu achten lehren, aber die
inhumane und vorurtheilsvolle Denkungsart soll er aufheben, die einen Menschen nicht nach seinen
eigenthümlichen Eigenschaften, sondern nach seiner Abstammung und Religion beurtheilt und ihn, gegen allen
wahren Begriff von Menschenwürde, nicht wie ein Individuum, sondern wie zu einer Race gehörig und gewisse
Diese Kritik an Vorurteilen scheint nicht eben stark. Wenn der Antisemit sagt:
Die Juden sind unehrlich, so antwortet ihm der blasse Einwand: Es sind doch nicht
alle so! Dieser Einwand nimmt Einzelfälle als Gegenbeweis, und muß sich daher
gefallen lassen, daß ihm anderslautende Einzelfälle als Bestätigung der
antisemitischen Ideologie entgegengehalten werden. Das Widerlegen von
Vorurteilen hat sich damit in eine Frage der Quantität verwandelt. Eine solche aber
ist zu entscheiden, indem man Köpfe abzählt. Je mehr derer zu finden wären, desto
mehr wäre der Antisemit im Recht?
Träfe es zu, daß der eigentliche Frevel der Vorurteile, ihr Verstoß gegen die
guten Sitten der Vernunft, im Verallgemeinern läge, dann folgte selbstverständlich,
daß es keinen stärkeren Einwand gegen sie gäbe, selbst wenn sie rassistischen
Inhalts wären, als eben den quantitativen. Doch daß jene Charakterisierung zutrifft,
ist zweifelhaft. Denn sie scheint auf eine Voraussetzung festgelegt, die gerade so
anfechtbar ist, wie jene, die sie mit Erfolg vermeidet, die Einschränkung von
Vorurteilen auf abträgliche Ansichten nämlich. Wie sich die Angelegenheit
ausnimmt, ist es eine in gleichem Maße ungerechtfertigte Einschränkung, zu
behaupten, Vorurteile müßten sich immer auf ganze Gruppen von Personen
beziehen. Es scheint schließlich auch Vorurteile zuungunsten und zugunsten von
Individuen zu geben 82 ; so mag etwa mancher ein Vorurteil gegen seinen Nachbarn
haben. (Vorurteile gegen Gruppen mögen in gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen von größerem Interesse sein als Vorurteile gegen Individuen,
doch das ist eine andere Frage - eine Frage danach, was man mehr und was man
weniger interessant findet -; hier hingegen ist die Frage, ob es einen Grund gibt, aus
einer allgemeinen Bestimmung von Vorurteilen solche, die sich auf Individuen
beziehen, auszuschließen.) In Mozart-da Pontes Così fan tutte pflegen Ferrando und
Guglielmo offensichtlich jeweils ein Vorurteil zugunsten ihrer Verlobten, der
Individuen Dorabella und Fiordiligi, nicht aber eines für oder gegen einen ganzen
Schlag von Menschen, insbesondere nicht alle Frauen, während Alfonso, der
aufgeklärte und aufklärende Philosoph, der Ferrandos und Guglielmos Vorurteile
einer experimentellen Prüfung unterwirft, eine Verallgemeinerung behauptet, wie
sie allgemeiner kaum sein könnte: ”Così fan tutte” 83 .
Gewiß könnte man diesen Einwand unterlaufen, indem man zum
Ausgangspunkt zurückkehrt: Was Vorurteile zu Vorurteilen macht, war da am
Verallgemeinern festgemacht worden, und Behauptungen über ganze Gruppen von
Personen aufzustellen ist ja nur ein spezieller Fall des Verallgemeinerns. Es gibt
Weisen des Verallgemeinerns über Individuen, die nichts mit Gruppen von
Personen zu tun haben. Wenn einer behauptet, sein Nachbar sage nie die Wahrheit,
so findet darin wohl auch ein Vorurteil seinen Niederschlag. Aber dem scheint so zu
sein, weil die Behauptung verallgemeinert (das ‘nie’ impliziert ein ‘immer’

Eigenschaften gleichsam nothwendig mit ihr theilend ansieht” (‘Über den Entwurf zu einer neuen Konstitution
für die Juden’, S. 99).

82Kant etwa will dies ausschließen: “z.E. von dem kann man nicht sagen, daß er ein Vorurtheil habe, wenn er
jemanden für keinen ehrlichen Mann hält” (Philosophische Enzyklopädie, S. 25) - doch ein Argument, das die
Frage beantworten würde, warum man das “nicht sagen” “kann”, fehlt.

83 Mozart, Così fan tutte, II,13 (Nr. 30), S. 491


hinsichtlich des Gegenteils), nicht weil sie sich auf eine bestimmte Gruppe bezieht -
gewiß nicht auf die aller Nachbarn, doch nicht einmal auf die aller Lügner. Sieht
man indes näher hin, dann gewahrt man, daß das hier angewandte Kriterium nicht
wirklich Vorurteile von Auffassungen anderer Art abhebt. Denn wir wollen uns
nicht darauf festlegen lassen, auch in der Feststellung, unser Nachbar habe immer in
unserer Stadt gewohnt, aus dem Grund ein Vorurteil zu sehen, daß sie über jeden
Abschnitt seines Lebens generalisiert.
Dem Einwand wäre also auf andere Art zu begegnen. Aussichtsreicher
scheint man sich auf die folgende Weise gegen ihn zu verteidigen: Sicher kann einer
Vorurteile gegen ein bestimmtes Individuum haben, etwa gegen seinen Nachbarn.
Sind es aber Vorurteile und keine echten Urteile, dann bedeutet dies auch, daß der
Betreffende nicht wirklich über seinen Nachbarn im Bilde ist. Kennt er diesen aber
nicht eigentlich als das besondere Individuum, das er ist, dann bleibt ihm nichts
übrig, als ihn als Mitglied einer Gruppe einzuordnen, die er zu kennen glaubt. Diese
Erklärung scheint auch vollkommen auf das ursprüngliche Beispiel des angeblich
arroganten Akademikers zu passen.
Menschen bestimmten Gruppen zuzuordnen wäre gewiß ein Unrecht, ließe
sich zeigen, daß jeder ein Recht darauf hat, als Individuum beurteilt zu werden.
Doch ist nicht klar, wie ein solcher Nachweis geführt werden sollte. Sicher gibt es
Zusammenhänge, in denen es angezeigt ist, individuell zu beurteilen. Doch ihnen
stehen andere gegenüber, in denen gerade durch eine Beurteilung von Individuen
über die Allgemeinheit eines Mißstands hinweggetäuscht würde, indem der falsche
Eindruck entstünde, die Welt wäre in Ordnung, hätte nur dieser oder jener ein
bißchen mehr guten Willen. Kein Grund a priori ist erkennbar, daß es an sich selbst
falsch wäre, bestimmten Gruppen zu opponieren. Schließlich sind den Mitgliedern
einer Gruppe manchmal bestimmte Dinge gemein, und manchmal stiften diese
Dinge Schaden. Die Personen, die ich anklage, sagt Zola in seinem bewunderswerten
Angriff auf die französische Militärbürokratie, kenne ich nicht; für mich sind sie
bloße Entitäten, bloße Beispiele des Geistes gesellschaftlicher Verfehlung 84 . Zolas
Feststellung ist insofern bemerkenswert, als für die Antisemiten, die Dreyfus
anklagten, dieses Individuum auch eine bloße Entität war, ein bloßes Beispiel des
Geistes gesellschaftlicher Verfehlung. Indes ist dies kein Grund, die Antisemiten mit
Zola gleichzustellen. Beide bekämpften bestimmte Gruppen, und nur in
Unterordnung unter dieses Ziel bestimmte Individuen; der wesentliche Unterschied
aber scheint einfach der, daß Zola Recht hatte und die Antisemiten Unrecht mit
ihren Anklagen gegen die jeweils beschuldigte Gruppe.

28. Daß Verallgemeinern das wahre Übel der Vorurteile darstellt, ist nicht in sich
schlüssig (§ 27).
Noch scheint die These stimmig als Beschwerde der Aufklärung, die die
Kritik der Vorurteile ja im wesentlichen betrieben hat. Denn diese will schließlich
darauf hinaus, daß, wie etwa Hume sagt, die Besinnung auf den Menschen im
84 Die Übersetzung ist ein wenig umständlicher als das Original: “Ils ne sont pour moi que des entités, des
esprits de malfaisance sociale” (‘J’accuse’, S. 931). Ersichtlich läßt sich der zweite Teil des Satzes nicht
wörtlich wiedergeben. Durch die Bezeichnung “esprits” unterwirft Zola die Individuen, die er anklagt, einer
Abstraktion. Er will zu verstehen geben, sie repräsentierten bloß etwas anderes, allgemeineres, nämlich einen
Zustand institutioneller Korruption. Die hier gewählte Übersetzung soll diesen Verweischarakter ausdrücken.
allgemeinen (“man in general”) uns vom Vorurteil (“prejudice”) kuriere 85 . Es fällt
schon einigermaßen schwer, dem Humanismus der Aufklärung, der allemal von der
Menschheit im allgemeinen deklamiert, noch irgend Sinn abzugewinnen, sollte die
mit diesem Humanismus einhergehende Kritik der Vorurteile wirklich besagen, daß
Verallgemeinerungen häufig individuelle Ausnahmen übersehen.
Ebensowenig ist deutlich, daß Menschen miteinander besser umgehen
würden, nähmen sie nur endlich den Einspruch Ernst, daß Verallgemeinern den
Individuen Unrecht zufügt, indem es sie gesellschaftlichen Kategorien zuordnet. In
einer ziemlich flachen Fassung führt dies Ideal zu einer Moralpädagogik, die so viel
wie möglich über die Individuen, mit denen sie befaßt ist, zu ermitteln sucht. Der
Erfolg kann durchschlagend sein, doch den Individuen, denen er gilt, mag dabei
mulmig werden: vorwiegend besteht er nämlich in gesteigerter Kontrolle über sie.
Diesen Verdacht einmal beiseite lassend, besteht die wesentliche Einsicht im
vorliegenden Zusammenhang darin, daß Wissen um den Einzelnen allgemeine
Begriffe nicht einfach aussparen kann. Es baut, im Gegenteil, auf sie auf. Wenn wir
jemandem helfen, begreifen wir ihn als eine Person, die in einer unserem Verstehen
zugänglichen Hinsicht Mangel leidet. Wir erkennen sie als einen Bettler, einen
Gefangenen, einen Kranken, und nur aufgrund irgendeiner solchen Identifikation ist
überhaupt an Mittel und Wege zu denken, die eine Hilfe darstellen: Geld, Befreiung,
Medikamente. Die langwierigen Gespräche des Psychoanalytikers mit seinem
Patienten bilden keine Ausnahme; seine Behandlung richtet sich an einem
generalisierenden Schema seelischer Störungen aus, das die Patienten in Klassen wie
die der Neurastheniker, Zwangsneurotiker, Konversionshysteriker, Psychotiker und
so fort einteilt. Wie durchgreifend die Analytiker diese Klassen seit ihrer ersten
Einführung nach eigenen Absichten und Einsichten gemodelt haben mögen, ändert
nichts daran, daß es sich um Klassen handelt.
Ein einzelner, der sich selbst in Nöten sieht, die schlechthin ohne Beispiel
sind, muß sich auch schlechthin auf sich selbst zurückgeworfen sehen; nicht genauer
ist seine Lage auszudrücken als in den Worten Heinrich von Kleists am Tag seines
Selbstmords: “die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war” 86 . Vor dieser
äußersten Grenze steht die Philosophie ohne einen Trost; auch starb Kleist nicht
darum, weil die Segnungen der Psychotherapie noch im Dunkeln lagen.

29. Verzweiflung oder Inkonsequenz scheinen demnach die unumgänglichen


Begleiter des Protests gegen das Verallgemeinern im Namen der Individualität zu
sein. So ist es kein Wunder, daß wissenschaftliche Untersuchungen, die Vorurteile
als eine psychische Haltung, die verallgemeinert, definieren, selber voller
Klassifikationen vorurteilsbehafteter Charaktertypen sind.
Vielleicht aber haben die Theoretiker, die sich den Vorurteilen widmeten,
bisher einfach nur keine glückliche Hand gehabt, wenn sie ihren Gegenstand in so
widerspruchsvoller Weise erörterten. Neue, selbstkritische Theorien des Vorurteils
müßten sich doch ersinnen lassen, die keine Klassifikationen vorurteilsbehafteter
Charaktertypen mehr enthielten, sondern ausschließlich Fallstudien. Denn man mag
85 ‘Of the Standard of Taste’, S. 276

86 ‘Brief an Ulrike von Kleist, 21. November 1811‘, S. 272


daran unvermindert festhalten wollen, daß jede Behauptung über eine Gruppe
Gefahr läuft, den Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, Unrecht zu tun;
reicht unsere Zeit nicht hin, jeden Einzelnen für sich zu betrachten, dann müßten wir
uns eben des Urteils enthalten.
Dies Festhalten am Anspruch auf streng individuelle Beurteilung scheint sich
auf den folgenden Gedanken stützen zu können. Es gibt Vorurteile gegenüber
Dingen und solche gegenüber Personen. Jemand könnte ein Vorurteil gegen Butter
haben, oder ein Vorurteil gegen Intellektuelle. Nun sind es offenkundig Vorurteile
gegen Personen, nicht solche gegen Dinge, gewesen, die einen Feldzug gegen sich
herausgefordert haben. Diese Divergenz will erklärt sein. Eine schnelle Erklärung
wäre die, daß Butter sich nicht wehren kann, wohl aber Intellektuelle. Der Hinweis
ist so wahr wie er platt ist; doch er reicht nicht hin. Denn in anderen
Zusammenhängen werden ja oft genug Menschen für Dinge geopfert, opfern sich
gar selbst für Dinge. Wenn Vorurteile gegen Personen solchen Zorn auf sich gezogen
haben, liegt es vielleicht doch noch an einer anderen, Personen zugeschriebenen
Eigentümlichkeit. Folgen wir der zuvor angedeuteten Linie, so scheint eine derartige
Erklärung möglich.
Der Grund, weshalb sich an einem Vorurteil gegen Intellektuelle Aufregung
entzünden wird, nicht aber an einem Vorurteil gegen Butter, kann offenkundig keine
Sache von Wahrheit und Falschheit sein. Klar genug ist, daß beiderlei Vorurteile
falsch sein können. Einer, der ein Vorurteil der zweiten Art unterhält, mag etwa
sagen: Wenn etwas schon wie Butter aussieht, kann es nur schauerlich schmecken.
Würde er aber einmal Butter probieren, dann könnte es wohl passieren, daß sie ihm
ganz gut schmeckt. In einem solchen Fall war das Vorurteil irrig. Folglich muß die
festgestellte Divergenz eine andere Ursache haben. Und diese ist nun bereits leicht
zu erraten. Wir glauben nämlich gewiß nicht, daß das Vorurteil gegen Butter, wie
irrig auch immer es sein mag, sich zusätzlich eines besonderen Unrechts gegen ein
Individuum schuldig macht. Kein Mensch würde auch nur einen Moment die
Vorstellung ernst nehmen, jenes Vorurteil sei eigens auch noch furchtbar unbillig
gegenüber dem dritten Block Butter auf dem zweiten Regal der Kühleinheit des
Supermarktes. Ein Gegenstand, der hergestellt worden ist, um ein Bedürfnis zu
befriedigen, und nun zum Gebrauch oder, wie im vorliegenden Fall, zum Verbrauch
angeboten wird, kann ohne Verlust durch einen anderen Gegenstand von der selben
allgemeinen Beschaffenheit ersetzt werden; und umgekehrt gilt demzufolge auch,
daß, weist man einen Gegenstand der jeweils in Frage stehenden Art zurück, man,
ceteris paribus, nur konsequent ist, wenn man alle Gegenstände dieser Art
zurückweist.
Daß dem Individuum Unrecht geschieht, ist hingegen der entscheidende
Vorwurf, wenn jemand nach seiner Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse
oder Gruppe eingeschätzt wird, etwa danach, daß er ein Intellektueller, ein Iraner,
oder ein Moslem ist. In einem solchen Fall ist unser Bedenken nicht einfach, einer
bestimmten Art von Dingen werde eine Eigenschaft zugeschrieben, die sie nicht
besitzt, oder eine Eigenschaft abgesprochen, die sie besitzt. Vielmehr scheint in
Vorurteilen gegen Personen ein Unrecht zu liegen, das tiefer als jedes Unrecht ist,
dessen Vorurteile gegen Dinge sich schuldig machen können. Und der Grund dafür
scheint zu sein, daß Personen, nicht Dinge, im maßgebenden Sinne des Wortes
Individuen sind. Personen sind mehr als bloß Belegstücke für die allgemeinen
Eigenschaften ihrer Art. Wenn man sie gesellschaftlichen und mithin allgemeinen
Kennzeichnungen unterordnet, reduziert man sie auf etwas, das niemals erschöpft,
was sie sind. Zu Recht registrieren sie mit Empfindlichkeit, daß darin etwas von
Mißachtung liegt, und zwar - dies ist bemerkenswert - selbst dann, wenn sie stolz
sind, zu der Gruppe zu gehören, auf die sich die allgemeine Kennzeichnung bezieht,
also etwa Intellektuelle, Iraner, oder Moslems zu sein. Der sich ergebende Unterschied
zwischen den Beispielen für Vorurteile gegenüber Dingen einerseits, Personen
andererseits ist ein moralischer Unterschied, doch dieser moralische Unterschied
scheint nur die Folge eines tieferen Unterschiedes in dem zu sein, was wir unter
‘Ding’ einerseits und ‘Person’ andererseits verstehen.

30. Allerdings besteht Grund, eine Kritik an Vorurteilen für undurchführbar zu


halten, die diese bezichtigt, gesellschaftliche Kategorien einzuführen, wo in
Wahrheit nur von individuellen Eigenschaften die Rede sein dürfe. Denn die
Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft, auf der dieser Vorwurf beruht,
ist zu simpel. Sie ist dies in zweifacher Hinsicht: hinsichtlich der Eigenschaften, die
zugeschrieben werden (§ 30), wie hinsichtlich desjenigen, der sie zuschreibt (§ 31).
Jene Entgegensetzung versteht sich aus der Voraussetzung, es gebe
Individuen unabhängig davon, wie sie in der Gesellschaft gesehen werden.
Tatsächlich aber ist Individualität selbst etwas Gesellschaftliches, ein Merkmal, das
andere uns zuschreiben. Individuen werden stets und unvermeidlich als Träger
bestimmter gesellschaftlicher Eigenschaften beurteilt, geschätzt oder mißachtet.
Individualität kommt allererst zustande, wo es unterschiedliche Kreise
gesellschaftlichen Lebens gibt, etwa Familie, Staat, Beruf. Je mehr solcher Kreise es
gibt, und je mehr von ihnen einer angehört, desto eher kann es geschehen, daß sich
bei anderen unterschiedliche und selbst einander widersprechende Erwartungen an
ihn herausbilden, und sie ihn daraufhin differenziert, das heißt, als ein Individuum
wahrnehmen. Individualität ist so gleichsam als der Punkt zu verstehen, an dem jene
Kreise sich überschneiden. Der Manager einer Bank, der bekennt, überzeugter
Kommunist zu sein, oder das Photomodell, das sich in Philosophie promoviert hat,
werden leicht als Individuen wahrgenommen werden; doch nicht, weil das, was wir
von ihnen sagen, jenseits der Gesellschaft läge. Jemandem Individualität zuerkennen
ist nichts, das der Art nach verschieden davon wäre, ihm allgemeine,
gesellschaftliche Attribute zuzuschreiben; es besteht vielmehr darin, ihm eine
Kombination (im Fall exzentrischer Individualität eine äußerst seltene Kombination)
allgemeiner, gesellschaftlicher Attribute zuzuschreiben 87 .

31. Zweifelhaft ist die Idee von Individualität, welche der einschlägigen Kritik an
Vorurteilen zugrundeliegt, jedoch nicht nur im Hinblick auf die jeweils
zugeschriebenen Eigenschaften. Auch wenn wir denjenigen ins Auge fassen, der
diese Eigenschaften jeweils zuschreibt, erscheint sie fragwürdig. Denn wir beurteilen
andere (wie uns selber) und erfassen die Individualität anderer (wie unsere eigene)
durch Sprache, und diese ist notwendig gesellschaftlich. Der sprachliche Bezug auf
eine Einzelheit ist durch allgemeine Ausdrücke vermittelt. Ich kann etwas Einzelnes
mit meiner Hand ergreifen, doch ich kann nicht etwas meinen, ja nicht einmal
‘dieses’ dazu sagen, ohne bereits eine abstrakte Bezeichnung zu verwenden, die
87 Simmel, Über sociale Differenzierung, S. 239 - 241; Soziologie, S. 467 - 478
auch auf anderes Einzelne anwendbar wäre 88 . Der Gebrauch von Sprache ist zwar
niemals nur, doch stets auch ein Zuordnen zu etwas Allgemeinem.
In seiner Kritik der Aufklärung hat de Bonald darauf hingewiesen, daß
Sprache, von der ja auch jedes Verdikt über Vorurteile Gebrauch machen muß, kein
indifferentes Medium ist; sie ist vielmehr durchtränkt von Vorurteilen.
Geschwätzige Wesen, die wir sind, leben wir von ihnen und sie von uns. Die
Philosophen, die sich mit solcher Bitterkeit gegen das erhoben haben, was sie
Vorurteile nannten, sagt de Bonald, hätten sich vorab der Sprache begeben sollen, in
der sie schrieben; denn das sei die erste Quelle der Vorurteile, und diejenige, die alle
übrigen in sich enthalte 89 . Die Entscheidung, vor die de Bonald stellt, ist mithin
diese: Frei von allen Vorurteilen, möchte der Aufklärer ganz von vorne anfangen.
Doch wo ist ‘vorne’? Ist ‘vorne’ nach dem Erwerb von Sprache? Dann befindet sich
der vermeintlich voraussetzungslose Ausgangspunkt schon im Bezirk des
Vorurteils. Oder ist ‘vorne’ selbst noch vor aller Sprache? In diesem Fall muß es in
der Tat jenseits aller Vorurteile liegen, doch es wird nie zum Neuanfang kommen,
da nun, sprachlos, nichts übrig ist, die Stelle zu bestimmen, von der das
Unternehmen ausgehen soll.
Selbst wenn wir zugestehen, daß jede Verallgemeinerung Ausnahmen
erleidet, können und müssen wir anscheinend doch zugleich auch anerkennen, daß
ohne Verallgemeinerungen nicht auszukommen ist. Im Verstehen eines Satzes gehen
wir vom Bekannten auf Unbekanntes über, und schließen von dem, was wir in der
Vergangenheit gehört haben, auf Gegenwärtiges. Einem Wort eine Bedeutung
zuzuschreiben heißt bereits zu verallgemeinern. Sollen wir nun folgern, es sei ein
Fehler, Sprache zu verwenden?

32. Als de Bonald bemerkte, Sprache sei von Vorurteilen durchsetzt, konnte er sich
auf Vertreter der Aufklärung, gegen die er sich mit seinem Argument wandte,
berufen; manche von ihnen hatten eben dies selber festgestellt 90 . Freilich meinten sie
es als Beschwerde über die Unvollkommenheit natürlicher Sprachen, während de
Bonald den Gedanken in eine Ehrenrettung des Vorurteils ummünzte. Im Licht der
Ideengeschichte erscheint de Bonalds Deutung des Gedankens als die plausiblere.
Während der Epoche der Aufklärung, von Bacon (1620/22) bis zu Condorcet
(1793/94), hatten die Philosophen bekanntlich von einer universellen Kunstsprache
geträumt, die auf rationalen Prinzipien aufgebaut und von den Vorurteilen aller
Zeiten gereinigt sein sollte; und eben dies Unternehmen war am Ende des 18.
Jahrhunderts in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten.
Ist dieser Umstand der Ideengeschichte entscheidend? Allenfalls könnte er es
doch sein, wenn schon geklärt wäre, daß die geteilte Prämisse, die dem Streit der
Deutungen zugrundelag, haltbar ist: daß nämlich Sprache von Vorurteilen
88 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 82 - 92

89 de Bonald, ‘Pensées sur la morale’, Sp. 1387: “Les philosophes qui se sont élevés avec tant d’amertume
contre ce qu’ils ont appelé des préjugés, auraient dû commencer par se défaire de la langue elle-même dans la-
quelle ils écrivaient; car elle est le premier de nos préjugés, et il renferme tous les autres”. Vgl. ‘Sur les
préjugés’, Sp. 805

90 Z.B. Watts, Logick, II,iii,2, S. 195 - 198


durchzogen ist. Über diese Voraussetzung mag man schon einigermaßen verdutzt
sein. Denn liegt ihr nicht sichtlich ein Kategorienfehler zugrunde? Gewiß, so wird
man einräumen, kann eine Sprache Ausdrücke enthalten, die gebraucht werden
können, ein Vorurteil verlauten zu lassen. Das deutsche Verb ‘mauscheln’, das sich
von ‘Mausche’, der jiddischen Form des biblischen Namens Mose, herleitet 91 , und
dessen Bedeutungen, neben ähnlichen, ‘zweifelhafte und undurchsichtige Geschäfte
machen’, ‘beim Spiel betrügen’, aber auch ‘undeutlich reden’, sind 92 , kann als
Beispiel dienen. Und doch sitzt, so lautet der Einwand, das Vorurteil nicht in der
Sprache. Vielmehr liegt es in der Verwendung der Sprache, oder, vielleicht noch
genauer, es steckt im Kopf desjenigen, der die Sprache verwendet. Ein Wort wie
‘mauscheln’ vorurteilslos zu gebrauchen, ist gerade so leicht, wie mit ihm ein
Vorurteil zu äußern; ersteres wäre etwa gegeben, wenn einer sagt: ‘Es ist anstößig,
zweifelhafte und undurchsichtige Geschäfte mit dem Wort ‘mauscheln’ zu belegen’.
Dieser Einwand ist begreiflich, aber doch nicht wirklich zwingend. Denn
wenn einer sagt: ‘Es ist anstößig, zweifelhafte und undurchsichtige Geschäfte mit
dem Wort ‘mauscheln’ zu belegen’, gebraucht er genaugenommen das Wort
‘mauscheln’ nicht, sondern erwähnt es nur. (Dafür stehen in der Schriftform die
Anführungszeichen.) Und der ganze Zweck dieser Erwähnung ist bloß, daß man
dieses Wort nicht gebrauchen soll. Das Wort ‘mauscheln’ ist nicht bloß zufälligerweise
auch dazu verwendbar, einem Vorurteil Luft zu machen; es verkörpert vielmehr ein
Vorurteil.
Übrigens mag diese Antwort dem Einwand insofern schon zu weit
entgegenkommen, als sie sich auf die Alternative zwischen Sprechern und Sprache
mehr als nötig einläßt. Sicher besteht ein Unterschied zwischen Sprechern und
Sprache. Als Alternative hingestellt aber gerät er zu einer schiefen Abstraktion. Denn
hinsichtlich der Frage, ob ein Wort ein Vorurteil manifestiert, scheint, wenn man sie
für ‘mauscheln’ bejaht, für das Verb ‘türken’, das ‘fälschen’ bedeutet 93 , die selbe
Antwort fällig zu sein. Dessen Herkunft indes ist unklar; keineswegs steht fest, daß
es etwas mit ‘den Türken’ zu tun hat 94 . Aber das tut anscheinend gar nichts zur
Sache. Die von fast allen Sprechern geteilte falsche Volksetymologie von ‘türken’
wird als solche ebenso Teil ‘der Sprache’ wie die wissenschaftlich gesicherte
Herkunft von ‘mauscheln’.
Die Beispiele entkräften noch einen anderen Einwand gegen de Bonald, den
nämlich, die Sprache könne doch allenfalls Vorbegriffe - im Sinne von: vorgeformte
Begriffe -, nicht Vorurteile enthalten. Im Begriff ‘mauscheln’ liegt eben ein Vor-Urteil
über einen Zusammenhang von Judentum und Betrügereien, und so legt sich
allgemein einer, der einen Begriff gebraucht und nicht lediglich erwähnt (zum
Beispiel, um festzustellen, er sei ein leerer Begriff), auch bereits auf Urteile fest, etwa
das, der Begriff treffe etwas in der Wirklichkeit.
91 Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 468

92 Duden, Bd. IV, S. 1754

93 Ebd., Bd. VI, S. 2644

94 Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 745


Das Erlernen unserer Muttersprache besteht nicht darin, daß wir über Wörter,
gleichsam Atome der Sprache, informiert werden und ihre jeweilige Bedeutung, wie
sie im Wörterbuch verzeichnet ist, auswendig lernen. Ein Kind kann die
Bedeutungen der Wörter nicht lernen, ohne zugleich mit ihnen Urteile und sogar
eine ganze Lebensform zu erlernen 95 . Jene Urteile, die feststellenden wie die
bewertenden, nimmt das Kind eine Zeit vertrauend an; so hingenommen sind sie
Vorurteile.
Damit sind wir auch bereits über solche von der Oberfläche der Sprache
genommenen Beispiele wie die zuvor erwähnten, ‘mauscheln’ und ‘türken’, hinaus.
Denn de Bonald schürft tiefer. Er denkt nicht so sehr an derartige leicht
aufzudeckende Fälle, die vielleicht viel zu tun, aber wenig zu denken geben,
sondern an Züge, erstens, von Sprache überhaupt und, zweitens, bestimmter
Sprachen oder Familien von Sprachen, die den Gebrauch der Sprache auf ebenso
grundlegende und folgenreiche Weise regeln, wie sie zugleich in ihm nur den
vermeintlich selbstverständlichen und daher unbeachteten Hintergrund bilden. Zum
ersten: Werden beispielsweise Dinge mit dem selben Wort belegt, so ergibt sich das
Vorurteil, sie müßten ein gemeinsames Wesen haben. Anders gesagt macht der
Umstand, daß wir nur einen einzigen Ausdruck für eine Anzahl von Dingen haben,
glauben, sie seien alle von der selben Art (‘unum nomen - unum nominatum’) 96 .
Zum zweiten: Eine natürliche Sprache verkörpert diejenigen Unterscheidungen, die
Generationen von Sprechern dieser Sprache getroffen haben; sie trägt in sich ein
Vorurteil, daß diese Unterscheidungen die maßgebenden sind, nicht etwa andere,
die die Sprache nicht erkennen läßt. Dies ist offenkundig, wenn wir auf die Inhalte
sehen, die eine Sprache als Wortbedeutungen kennt, aber es gilt auch für ihre Form.
So drückt die Grammatik der indogermanischen Sprachen etwa im Aufbau von
Sätzen aus Subjekt und Prädikat eine Weise der Auffassung aus, wie sich die Welt
selber aufbaut - eine Weise der Auffassung, die andere Sprachen nicht teilen mögen.
Wenn es in einer Sprache Substantive, Adjektive und Verben gibt, dann sehen wir
die Wirklichkeit als etwas, das aus Dingen, Eigenschaften und Handlungen besteht;
doch es könnte andere Weisen geben, sie aufzuteilen.
Obgleich wir die Sprache, in der wir aufwachsen, zunächst hinnehmen, ohne
Zweifel an ihr zu hegen, muß das nicht für immer so bleiben. Auch Sprache kann
zum Gegenstand von Kritik werden. Wäre dem nicht so, hätten sich nicht einmal die
soeben angestellten Überlegungen vortragen lassen. Aber während man ein in
Sprache verkörpertes Vorurteil kritisiert, setzt man doch zugleich jede Menge
anderer voraus 97 .

33. Jede Kritik an Vorurteilen ist, wie es scheint, zurückzuweisen, da sie


unweigerlich auf Sprache überhaupt ausgedehnt werden müßte, während wir doch
nicht umhin können, Sprache zu verwenden, sobald wir solche Kritik üben.
95 Barbauld, ‘On prejudice’, S. 326, und passim

96 Hutcheson, Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections, I,iii,1, S. 58

97Vgl. hierzu a. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 152 - 153, und Nietzsche,
Morgenröthe § 115, S. 107 (“Die Sprache und die Vorurtheile, auf denen die Sprache aufgebaut ist”).
Doch dieser Versuch, alle Kritik an Vorurteilen eines Widerspruchs zu
überführen, unterliegt einem Zweifel. Denn sein Bezugspunkt war, daß der Einzelne
einem Begriff eingeordnet wird: daß man ihn, mit einem Wort, klassifiziert (§§ 25 -
31). Wenn darin jedoch der Einwand besteht, so muß er sich nachsagen lassen, das
Problem zu verschieben. Es mag immerhin so sein, daß Vorurteile klassifizieren und
daß Sprache klassifiziert. Doch besteht darin ja nicht wirklich das Problem. Es ist
schließlich nicht Klassifizieren als solches, das Individuen kränkt. Schwerlich wird es
jemand als erniedrigend empfinden, wenn er in einer statistischen Übersicht unter
der Rubrik ‘Fußgänger’ oder ‘Steuerzahler’ erfaßt wird. Denn der Umstand, daß er
in dieser Weise rubriziert wird, schließt ja in keiner Weise die Möglichkeit aus, es
lasse sich noch vieles andere, namentlich weit Wesentlicheres über ihn sagen. Eine
Verallgemeinerung hingegen, in der sich ein Vorurteil ausdrückt, scheint nicht so
bescheiden zu sein. Die Behauptung, ‘die Deutschen’ seien kalt und roh, ist eine über
ihr Wesen, selbst dann, wenn hinzugefügt wird, sie seien gewiß fleißige Leute und
hätten ungewöhnlich viel Sinn für Musik. Bei einem Vorurteil scheint es sich um
eine Abstraktion zu handeln, deren Anspruch ist, das, worauf sie sich bezieht, im
Wesentlichen erschöpfend zu bestimmen. Hierin durchaus anders als jede
statistische Klassifikation, scheint es etwas zu sagen wie: ‘Du bist schwarz - oder
weiß -, und mehr brauche ich nicht von Dir zu wissen’.

34. Was zu einer kritischen Einschätzung von Vorurteilen Anlaß gibt, ist nach den
eben angestellten Überlegungen nicht mehr das selbe wie zuvor. Nicht
Verallgemeinerungen scheinen nunmehr der Stein des Anstoßes zu sein, denn sie
können offenbar harmlos sein. Sollte die Wendung ‘... und mehr brauche ich nicht
von Dir zu wissen’ das wirklich fragwürdige Merkmal von Vorurteilen bezeichnen,
dann stoßen wir uns nicht am Verallgemeinern, sondern am Absehen und
Absondern von Eigenschaften.
Doch auch das Absehen und Absondern von Eigenschaften sind uns als
durchaus ehrbare Züge im Bilden von Theorien geläufig: sie sichern die Rationalität
bestimmter Verfahren. Abstrahieren und Isolieren sind ein wesentliches Element
wissenschaftlicher Methodik. Je besser es einem Naturwissenschaftler gelingt, einen
bestimmten Faktor zu isolieren und für sich zu erforschen, desto genauer werden
die Ergebnisse seiner Untersuchung ausfallen. Philosophisch beschlagene
Journalisten, denen es um eine kulturkritische Pointe zu tun ist, wenden ein, solche
Wissenschaftler kümmerten sich nicht ums große Ganze; diese aber wissen ganz gut,
daß sie sich nicht ums große Ganze kümmern dürfen, solange sie als
Naturwissenschaftler und nicht als Sonntagsredner agieren, und geben sich alle
Mühe, es draußen zu halten. Sie schirmen ihre Retorten und ihre Thermometer wie
ihre Laboratorien im ganzen nach allen Regeln der Kunst ab.
Solches Vorgehen hebt sich allerdings in einer bedeutsamen Hinsicht von der
anscheinend doch herzlich dummen Haltung ab, die durch die Wendung ‘... und
mehr brauche ich nicht von Dir zu wissen’ gekennzeichnet wurde. Was die
Wissenschaften entdecken, indem sie absehen und absondern, ist ‘alles, was sie zu
wissen brauchen’ nur solange, wie sie eine bestimmte Frage untersuchen, die
unumgänglich in entsprechender Weise definiert ist; ‘definieren’ heißt Grenzen
setzen. Jener Methode verschreiben sich Wissenschaftler schlicht deshalb, weil jeder
von ihnen stets nur eine Sache auf einmal erfolgreich traktieren kann; was aber die
Wissenschaft wissen will, ist im Grunde alles - nur eben nicht alles auf einmal.
Sowohl statistische (§ 33) wie allgemein wissenschaftliche Abstraktionen
gehen einher mit einem Bewußtsein davon, daß der Teil der Sache, den sie
herausheben, gerade indem sie von anderen ihrer Teile absehen, eben nicht mehr als
ein Teil dieser Sache ist. In Vorurteilen hingegen sehen wir, folgt man einer
Bemerkung William Hazlitts, einen Teil und unterschieben ihn dem jeweiligen
Ganzen 98 . Bekundungen wie etwa die, daß “ein Schwarzer häßlich ist” 99 , oder auch
wie ‘Black is beautiful’, erklären von dem Aspekt, den sie ausdrücklich nennen, in
diesen Fällen also der Hautfarbe, er sei oder, genauer, repräsentiere und fundiere
das Ganze. (‘Das Ganze’, da ‘häßlich’ und ‘schön’ in jenen Sprüchen nicht in einem
eingeschränkten Sinn, als bloß ästhetische Prädikate, gemeint sind.)
Abstrahieren heißt absehen. Von etwas abzusehen ist manchmal durchaus
angemessen und notwendig. Selbst wenn Vorurteile von etwas absehen, kann dies
für sich genommen nicht ihr Fehler sein. Dieser könnte aber in der Dummheit
bestehen, in ihrem Abstrahieren zugleich zu vergessen, daß sie bloße Abstraktionen
geltend machen.

35. ‘Vorurteile wie etwa, daß “ein Schwarzer häßlich ist”, oder auch wie ‘Black is
beautiful’, erklären von dem Aspekt, den sie ausdrücklich nennen, in diesen Fällen
also der Hautfarbe, er sei oder, genauer, repräsentiere und fundiere das Ganze’ (§
34).
Ist es indes recht und billig, jene beiden Sprüche auf eine Stufe zu stellen? Ist
es etwa gleichgültig, daß der erstere Übel anrichtet, wenigstens, sofern er
ernstgenommen wird, letzterer hingegen nichts schadet oder gar als Wohltat
empfunden wird? Darf man den maßgeblichen Umstand übergehen, der ‘Schwarze
sind häßlich’ von ‘Black is beautiful’ unterscheidet: Macht? Wenn die Unterdrücker
das erste sagen, versuchen sie die Unterdrückten zu demütigen; wenn die
Unterdrückten das zweite antworten, versuchen sie ihren Stolz gegen diesen Entzug
gesellschaftlicher Achtung zu behaupten. (Gewiß ist es Monostatos, der Machtlose,
der sagt, daß “ein Schwarzer häßlich ist”; doch nur, weil die weißen Mächtigen es
ihm oft genug vorgesagt haben.)
Der besagte Unterschied ist wichtig. Aber er ist kein Unterschied zwischen
etwas, das Vorurteil wäre, und etwas, das keines wäre. Ein umgedrehtes Vorurteil
bleibt immer noch ein Vorurteil. Gewiß ändert sich beim Wechsel vom einen zum
anderen eine Menge, besonders das Aroma dessen, was uns jeweils zu kosten
gegeben wird - was widerwärtig schmeckte, ist nun süß -; was sich aber nicht ändert,
ist die erkenntnistheoretische Dignität der Sache, um die es jeweils geht. Kehren wir
das Vorurteil ‘Alle Moslems sind gewalttätig’ um in ‘Kein Moslem ist gewalttätig’,
dann wenden wir uns von einer gehässigen Ansicht zu einer gefälligen; doch dieser
Fortschritt ist keiner der Erkenntnis. Als Urteil genommen mag eines nicht besser
sein als das andere.
Es macht einen Unterschied, ob Macht mit Vorurteilen in Berührung kommt,
aber dieser Unterschied ist überhaupt kein theoretischer. Er ist ein praktischer: ein
Unterschied in der Wirkung. Was nicht viel Übles anrichtet, kann durch das
98 ‘Prejudice’, S. 319: “we see a part, and substitute it for the whole”.

99 Mozart, Die Zauberflöte, II,7 (Nr. 13), S. 221


Hinzutreten von Macht verheerend wirken; denn Macht ist auch die Macht, Schaden
zu stiften. Macht kann Vorurteile zum Ausdruck in Wort und Tat ermutigen. Ein
Antisemit, der es zugleich zu seiner Gewohnheit gemacht hätte, sich jeweils den
herrschenden Machtverhältnissen anzupassen, hätte während der Weimarer
Republik seiner Haltung Juden gegenüber kaum einmal in Worten und schon gar
nicht in Taten Ausdruck verliehen; die nationalsozialistische Herrschaft bot
Gelegenheit und Aufstachelung zu beidem. Diese Herrschaftsform institutionalisierte
rassistische Vorurteile. Sind Vorurteile einmal institutionalisiert, dann hören sie auf,
subjektive Meinungen zu sein. Staatliche oder gesellschaftliche Einrichtungen
machen sie verbindlich. Sie erscheinen dadurch als etwas Objektives; zugleich
werden sie zu Vorrechten. Helvétius’ Bemerkung erfaßt dies so knapp wie genau:
“Les préjugés des grands sont les lois des petits” 100 . Es kommt, mit anderen Worten,
immer darauf an, wer ein Vorurteil hat - seine Vorurteile durchsetzen zu können,
heißt, in der Lage zu sein, sie zu Urteilen über andere zu machen. Daß
institutionalisierte Vorurteile als etwas Objektives erscheinen, rührt von ihrer Macht
her, als Recht und Gesetz die gesellschaftliche Wirklichkeit nach ihrem Bilde zu
formen. Da wir keine Gesetze zur Anwendung bringen können, die auf die
Menschen passen, sagt Edmund Spenser in seiner Schrift zur Verteidigung der
Unterdrückung Irlands durch die englische Krone, werden wir von den Menschen
Verwendung machen und sie den Gesetzen anpassen 101 . Die Umkehrung der
Reihenfolge, in der das vorausgeht, was man nachher erwartet haben mochte,
enthält das ‘Vor-’ des Vorurteils. Doch Maßnahmen, die durch Macht gedeckt sind,
können in bestimmten Hinsichten ihre Gegenstände zu eben dem machen, als was
sie diese definiert haben. Was private Vorurteile zumeist bloß im Kopf derer
zustandebringen, die ihnen anhängen - ihre fortwährende Bestätigung - (vgl. § 77),
das bewerkstelligen institutionalisierte Vorurteile auch in der Wirklichkeit. Das
abgestandene Vorurteil, Juden seien schmutzig 102 , wurde unter den grauenhaften
sanitären Bedingungen der nationalsozialistischen Konzentrationslager wahr. Wird
Macht zu Gewalt, dann nimmt die Wahrheit selbst eine zynische Fratze an.
Die Gewalt, mit der Unterdrücker ihre Abstraktionen den Menschen
aufzwingen, macht ihre Vorurteile so viel furchtbarer als die der Unterdrückten. Das
beweist indes nicht, daß Ressentiment unter den Geknechteten seltener ist als unter
den Herren der Erde 103 . Daß die Unterdrückten auf die Vorurteile ihrer
Unterdrücker mit umgekehrten Vorurteilen von der Art ‘Black is beautiful’
antworten, mag allerdings eine wichtige psychologische Funktion für sie erfüllen.
Selbst das ist aber kein Grund zu behaupten, solche Umkehrungen stellten keine
Vorurteile dar. Möglicherweise erfüllen Vorurteile ja sehr häufig wichtige
psychologische Funktionen für diejenigen, die ihnen anhängen.
100 De l’Esprit, S. 551

101A view of the present state of Ireland, S. 141 - 142: “Therefore, since we cannot now apply laws fit to the
people, as in the first institution of commonwealths it ought to be, we will apply the people and fit them to the
laws, as it most conveniently may be”.

102 Vgl. Corbin, Le Miasme et la Jonquille, S. 170

103 Vgl. Russell, ‘The Superior Virtue of the Oppressed’


36. Die Frage, wie sich Vorurteil und Macht zueinander verhalten (§ 35), gilt als in
eindeutiger Weise geklärt in der Vorstellung, Vorurteile müßten Überzeugungen
sein, welche Ungleichheit und Diskriminierung manifestieren.
In dieser Vorstellung schlägt sich nun doch einmal ein Irrtum nieder, von
dem das 18. Jahrhundert durchaus frei war; erst das 20. Jahrhundert hat ihn
ausgiebig gepflegt. Nur die jüngste Zeit hat sich bei dem Glauben beruhigt, Haß und
Vorurteile müßten sich in Wohlgefallen auflösen, wäre bloß erst einmal die
Gleichheit aller anerkannt. Dem 18. Jahrhundert hingegen war die Tatsache geläufig,
daß es ein gar nicht einmal sonderlich ausgefallenes Vorurteil gibt, welches sich
unterschiedslos gegen die ganze Menschheit richtet 104 . Dies Vorurteil frönt in
vollendeter Weise dem Ideal der Gleichheit: ein folgerichtiger Misanthrop haßt
Menschen als solche, ohne Ansehen der Person, und ohne im mindesten nach
Geschlecht, Rasse, Zugehörigkeit zu einem Volk oder religiöser Überzeugung zu
diskriminieren. Seine Redensart könnte dem nun bereits notorischen (§ 33) Muster
folgen: ‘Du bist ein Mensch - und mehr brauche ich nicht von Dir zu wissen’. Sein
Vorurteil ist in der Tat so tief allen gleich gesonnen und derart frei selbst von der
Fähigkeit, zu diskriminieren, daß es sich letztlich, ob er nun möchte oder nicht, auch
auf ihn selber erstreckt. Timon, wie Libanios den Typus hellsichtig erfaßt hat, konnte
den eigenen Schatten und das eigene Spiegelbild nicht ertragen, weil sie menschliche
Gestalt zeigten; schließlich ertrug er sich selber nicht 105 . Ein Menschenfeind, insofern
er selbst ein Mensch ist, muß sich am Ende selber feind sein; oder vielmehr muß er
es von Anfang an gewesen sein, um ein Menschenfeind zu werden, denn keine
Haltung könnte jemandes Dasein mit größerer Sicherheit mißglücken lassen als eben
diese.

37. Weder Macht und Unterdrückung (§ 35) noch Ungleichheit und Diskriminierung
(§ 36) definieren Vorurteile, auch wenn sie mit ihnen schreckenerregende
Verbindungen eingehen können. Ob ein Vorurteil in Verbindung mit einem jener
Dinge steht, macht einen wichtigen Unterschied; aber der Unterschied ist nicht
derjenige zwischen einem Vorurteil und etwas, das keines ist. Indes was uns
überhaupt erst auf diese Erörterung gebracht hat, vermag vielleicht besseren
Aufschluß zu geben, wenn wir wissen wollen, was so schlimm an Vorurteilen ist.
Die Wendung ‘... und mehr brauche ich nicht von Dir zu wissen’ (§ 33) scheint ihren
Mangel unumwunden zu benennen: Vorurteile, so die neue Erklärung, sind einfach
dumm (§ 34).
Dummheit als Eigenschaft von Vorurteilen kam tatsächlich bereits in einigen
Überlegungen zum Thema vor, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben.
Besonders die Plausibilität, die Kiesewetters Beispiel eines Vorurteiles - ‘Alle Juden
sind Betrüger’ - auf den ersten Blick besitzt, beruht weit eher auf jener Eigenschaft
als auf dem von Kiesewetter angegebenen Kennzeichen, nämlich “daß man Urtheile,
die bey weitem noch nicht allgemein sein können, dennoch als allgemein ausspricht”
104Daß auch der entgegengesetzte Glaube - der nämlich, der Mensch sei von Natur aus gut - ein Vorurteil ist,
und daß er es aus dem selben Grund ist, waren freilich, so ist zuzugeben, Einsichten, die den illusionsloseren
Geistern der Epoche vorbehalten blieben.

105 µ
(§ 22). Letzteres kommt auch in Fällen vor, die sich schwerlich als Vorurteile
ansprechen lassen. Und es kommt nicht einmal selten vor, weil wir nicht bloß
hinsichtlich der Quantität der Ideen, mit denen wir uns befassen können,
Zugeständnisse machen und sogar Opfer bringen müssen (§ 13), sondern häufig
auch hinsichtlich ihrer Qualität, sobald wir diese Ideen mitteilen wollen. Der
Kompromiß, der dann ansteht, ist einer zwischen der Gültigkeit unserer Aussagen
und ihrem Reiz. Wer etwa Aphorismen schreibt, und die Form, in der er schreibt,
begriffen hat, wird bereit sein, die erstere dem letzteren nachstehen zu lassen.
“[W]er gewohnt ist, sich im Spiegel zu schauen, vergisst immer seine
Hässlichkeit”, sagt Nietzsche 106 . Ist diese Behauptung gültig? Sie könnte es werden,
wenn wir sie etwas verändern, und sagen, daß solches Vergessen manchmal oder
allenfalls öfter einmal vorkommt, gewiß aber nicht “immer”, da es doch ein paar
Leute geben wird, denen Spiegel ihre eigene Häßlichkeit vielmehr gerade in
Erinnerung rufen. Je mehr Einschränkungen und nähere Bestimmungen wir
hinzufügen, desto genauer und unangreifbarer wird das, was wir sagen, sein. Jede
weitere Abmilderung eines kühnen Satzes läßt uns in höherem Maße sichergehen -
und verkehrt ihn in eine Banalität. Jeder Vorbehalt, den wir Nietzsches Gedanken
über die verdummende Wirkung der Gewohnheit anfügen mögen, schützt ihn vor
ein paar Einwänden - und garantiert Langeweile. Pedanterie ist genau des
unschuldigen Umstands halber so ermüdend, daß sie äußerste Genauigkeit im
einzelnen anstrebt. Was sie immerhin an Gültigkeit in dem, was sie sagt, erreichen
mag, geht an Reiz verloren. Nietzsche ‘spricht ein Urteil, das bei weitem noch nicht
allgemein sein kann, dennoch als allgemein aus’ 107 . Doch, was er sagt, ist alles eher
denn dumm. Und das scheint der Grund zu sein, der uns zögern läßt, es ein
Vorurteil zu nennen.
Ist das Kennzeichen der Vorurteile also Dummheit? Ehe wir das entscheiden
können, müssen wir zunächst einmal wissen, was Dummheit ist. Doch ist Dummheit
ein Begriff, der der Erklärung fähig ist? Man könnte immerhin meinen, Dummheit
sei überhaupt kein Begriff, sondern eine Beleidigung. - Mit diesem Bedenken hat es
freilich nicht viel auf sich. Weshalb sollte etwas nicht zugleich ein Begriff und eine
Beleidigung sein können? Sicher ist es so, daß man das Wort ‘dumm’ benutzt, um
jemanden zu beleidigen. Doch auch die Sprache des Beleidigens hat ihre Logik, und
daß diese zu durchdenken unter der Würde philosophischer Überlegungen sei, setzt
ein hochgestochenes Ideal von Philosophie voraus, das man nicht unbedingt teilen
muß.
Daß Dummheit in beleidigender Absicht nachgesagt wird, ist freilich für die
Logik dieses Begriffs selber aufschlußreich. Offenbar wird das Wort verwendet, um
jemandem einen Mangel zuzuschreiben. Den Dummen scheint etwas zu fehlen, was
diejenigen besitzen, die nicht dumm sind. Worin aber besteht dieser Mangel?

38. Fehlt einem, der dumm ist, vielleicht einfach Wissen? Sicher, manchmal hört man
Bemerkungen wie: ‘Sie ist einfach dumm. Sie weiß nicht einmal, wie toll Prinzessin
Diana immer angezogen war!’. Aber derlei ist begriffsloses Gerede. Dummheit ist
106 Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, § 316, S. 692 - 693

107 Der Aphorismus enthält die Wendungen: “immer”, “nach dem allgemeinen Gesetze”, “in allen Fällen”.
nicht Unwissenheit. Anders als Dummheit ist Unwissenheit mit vollständiger
Klarheit über die eigene Unwissenheit und Unzufriedenheit mit ihr vereinbar. Sind
wir unwissend über etwas, so mag es doch der Fall sein, daß wir mehr darüber
wissen wollen. Oder wir könnten auch wissen, daß der Gegenstand gar nicht wert
ist, mehr als nahezu nichts über ihn zu wissen: etwa, wenn es sich um den des
genannten Beispiels handelt. Dummheit hingegen schreiben wir im allgemeinen
anderen zu - und uns selber allenfalls nachträglich: ‘Wie konnte ich nur so dumm
sein?’. Wären wir uns ganz im klaren darüber, daß wir etwas Dummes tuen oder
sagen, während wir es tuen oder sagen, dann sagten oder täten wir es eben nicht.
Allerdings kann man absichtlich etwas Dummes sagen, dann nämlich, wenn
man sich berechnend verhält, etwa darauf bedacht ist, unterschätzt zu werden. Im
Ruf der Dummheit zu stehen ist unter bestimmten Umständen die beste Politik.
Manchmal bringt sich einer so geschickt in diesen Ruf, daß kein anderer es mehr der
Mühe wert findet, ihm entgegenzutreten. Auch das ist eine Art, sich freie Bahn zu
schaffen. Doch wer sie wählt, ist nicht dumm, sondern schlau; er spiegelt Dummheit
lediglich vor.
Wirkliche Dummheit verträgt sich bestens damit, massenhaft Information
parat zu haben. Quizsendungen im Fernsehen bieten dafür mehr Belege, als man
sehen möchte: Offensichtlich können Menschen eine Menge, ja alles, über
Olympiasieger im Tontaubenschießen, Beuteltiere und die Lebensgeschichte von
Buddy Holly wissen, und dennoch ernstlich im Verdacht der Dummheit stehen.
Umgekehrt sind Intelligenztests, was immer man in anderen Hinsichten von ihnen
halten mag, darin jedenfalls angemessen, daß sie von den Teilnehmern nicht einfach
verlangen, im Gedächtnis gespeicherte Kenntnisse wiederzugeben.
Wird die Erklärung überzeugender, wenn man sie dahingehend abwandelt,
daß dumm sein heißt, sich zu irren, nicht einfach unwissend zu sein? Der Dumme
würde danach falsch liegen, statt daß ihm lediglich die Wahrheit nicht bekannt wäre.
Immerhin wird auch in Intelligenztests von den Prüflingen verlangt, daß sie so oft
wie möglich richtig liegen, wenngleich nicht durch korrekte Wiedergabe auswendig
gelernten Wissens. Doch auch Dummheit und Irrtum scheinen zwei verschiedene
Dinge zu sein. Man kann recht behalten und dumm sein; den Beleg dafür liefert der
Sieger im Fernsehquiz sowie, sollte gerade keiner vor Augen sein, im Alltag jeder
ganz gewöhnliche Rechthaber. Umgekehrt gibt es Irrtümer, die einem Dummkopf
nie eingefallen wären, Fehler, auf die nur ein gescheiter Mensch kommen konnte.
Das, was man Geistesgeschichte nennt, mag in weiten Teilen eine Abfolge
glänzender Mißverständnisse sein.

39. In den vorgetragenen Überlegungen war enthalten, es sei, um das mindeste zu


sagen, möglich, daß einer dumm ist und zugleich zufrieden mit dem eigenen
Verstand. Doch wenn einer mit seinem Verstand zufrieden ist, setzt dies nicht
voraus, daß dieser gut arbeitet, und, genauer, nicht schlechter als der anderer, so daß
kein Grund besteht, diese zu beneiden? Man hat keinen Grund, andere zu beneiden,
worin man ihnen gleich steht. Jemanden dumm, im Gegensatz zu intelligent,
nennen, heißt aber, Ungleichheit behaupten. Ein Dummer scheint anderen in einer
Hinsicht nicht gleich zu stehen, in der ihnen gleich zu stehen wünschenswert wäre:
wie wäre ein solches Mißverhältnis vereinbar mit Zufriedenheit?
Der Behauptung, Dummheit sei vereinbar mit Zufriedenheit hinsichtlich des
eigenen Verstandes, widerspricht ein Argument, das eine grundlegende Annahme
modernen Philosophierens entfaltet. Daß der Verstand gleich unter den Menschen
verteilt sei, haben Descartes und Hobbes daraus geschlossen, daß jeder mit seinem
eigenen zufrieden sei. Nichts auf der Welt, so Descartes, ist derart gleichmäßig
verteilt wie gesunder Verstand. Denn jedermann glaube, so wohl damit versehen zu
sein, daß selbst diejenigen, die in allen anderen Dingen nur sehr schwer zu
befriedigen seien, für gewöhnlich nicht mehr davon begehrten, als sie besäßen. Daß
sich hierin alle täuschten, sei aber nicht wahrscheinlich. Vielmehr beweise es, daß
die Kraft, recht zu urteilen und Wahres von Falschem zu unterscheiden - also das,
was man recht eigentlich ‘gesunden Verstand’ oder ‘Vernunft’ nenne - bei allen
Menschen von Natur gleich sei 108 . Hobbes versieht seine Fassung des
entsprechenden Arguments mit einer Anzahl von Kautelen. Aber der Kern der Sache
bleibt der gleiche: Die Zufriedenheit eines jeden mit dem eigenen Verstand beweise,
daß die Menschen in dieser Hinsicht eher gleich als ungleich seien; denn es gebe
gewöhnlich kein besseres Zeichen der gleichmäßigen Verteilung eines Dinges, als
daß jeder mit seinem Anteil zufrieden sei 109 .
Descartes’ und Hobbes’ Überlegung schließt von einer Wirkung, von der
gesagt wird, sie sei bei allen die gleiche, nämlich Zufriedenheit mit der je eigenen
Intelligenz, auf eine Ursache, die demzufolge auch bei allen die gleiche sein müsse,
nämlich gleiche Verteilung der Intelligenz. Dieser Schritt aber überzeugt nicht. Sind
zwei Leute zufrieden mit der Menge Geldes, die sie jeweils besitzen, so sind wir
schwerlich berechtigt zu folgern, es müsse sich in beiden Fällen um die gleiche
Menge Geldes handeln. Der eine mag mit dem wenigen, das er hat, zufrieden sein,
weil er äußerst anspruchslos ist, während der andere vielleicht hohe Ansprüche
stellt, und nur darum zufrieden ist, weil er Geld im Überfluß besitzt. Im
gegenwärtigen Zusammenhang scheint ein Schluß von jener Art noch weniger
zulässig. Denn eher glaubhaft ist doch, nach Graciáns überlegener Einsicht 110 , die
Regel, die Menschen seien desto zufriedener mit ihrem Verstand, je dümmer sie
sind. Gewiß ist das nur eine Behauptung; sie ist allererst der Erklärung bedürftig.
Aber sie ist auch der Erklärung fähig. Denn Dummheit setzt dem Verstand
Schranken von eigentümlicher Beschaffenheit: diese Schranken beschränken ihn
derart, daß er nicht einmal sie selber sieht.
Weiter oben wurde die Schwierigkeit so bezeichnet: Ein Dummer scheint
anderen in einer Hinsicht nicht gleich zu stehen, in der ihnen gleich zu stehen
wünschenswert wäre: wie wäre ein solches Mißverhältnis vereinbar mit
Zufriedenheit? Die Antwort auf diese Frage ist: Es ist vereinbar, sofern man die
Qualitäten, die einem selber fehlen, nicht kennt, und darum auch ihr Fehlen nicht
bemerkt. Dummheit muß bloß hinreichend phantasielos machen, um einem
108 Discours de la Méthode I,1, S. 1 - 2: “Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée: car chacun
pense en être si bien pourvu, que ceux même qui sont les plus difficiles à contenter en toute autre chose, n’ont
point coutume d’en désirer plus qu’ils en ont. En quoi il n’est pas vraisemblable que tous se trompent; mais
plutôt cela témoigne que la puissance de bien juger, et distinguer le vrai d’avec le faux, qui est proprement ce
qu’on nomme le bon sens ou la raison, est naturellement égale en tous les hommes”.

109 Leviathan I,13, S. 111: “But this [nämlich: jedermanns Zufriedenheit mit dem eigenen Verstand] proveth
rather that men are in that point equal, than unequal. For there is not ordinarily a greater sign of the equal
distribution of any thing, than that every man is contented with his share”.

110 Oráculo manual, Nr. 107, S. 126/127 - 128/129


unwillkommene Vergleiche zu ersparen. Intelligenz hingegen kann unzufrieden
machen, insofern sie den, bei dem sie nicht zu karg bemessen ist, befähigt, sich eine
Intelligenz vorzustellen, die größer als seine eigene ist, und ihn überhaupt mit
Zweifeln und Bedenken plagt, die einem Dümmeren nie kämen; zufrieden mag so
jemand in anderer Hinsicht sein: mit Dümmeren tauschen möchte er nicht. Doch
dann ist die Quelle seiner Zufriedenheit gründlich verschieden von der Quelle, aus
der die Dummen ihre Zufriedenheit schöpfen. Kann aber Zufriedenheit mit dem
eigenen Verstand so unterschiedliche Ursachen haben, dann ist der Schluß auf eine
gemeinsame Ursache, gleich verteilte Intelligenz, ungerechtfertigt. Descartes betont,
es sei nicht wahrscheinlich, daß alle (“tous”) irren in ihrer Zufriedenheit mit der je
eigenen Intelligenz. In der Tat ist dies nicht wahrscheinlich. Aber man muß auch gar
nicht annehmen, es sei wahrscheinlich, wenn man Descartes’ Schluß ablehnt. Was
man dann annehmen muß, ist lediglich, daß einige in dieser Hinsicht irren. Und dies
letztere ist wahrscheinlich. Einige irren schließlich auch in jeder anderen Hinsicht.

40. Wird Dummheit als Unwissenheit oder Irrtum erklärt (§ 38), dann ist sie als
negative und komparative Eigenschaft begriffen, und dieser Gesichtspunkt ist es,
der jenen Erklärungen einen Hauch von Plausibilität verleiht. Dummheit scheint
darin zu bestehen, daß man nicht sieht, was andere sehen, gerade so wie Schwäche
darin besteht, daß man nicht zu tun vermag, was andere schaffen. Wo keiner etwas
sehen oder tuen kann, gibt es keine Dummheit beziehungsweise Schwäche. Doch
davon abgesehen beantworten jene Erklärungen die Frage, was Dummheit ist, nicht
überzeugend.
Besser versteht man anscheinend, was es mit Dummheit auf sich hat, wenn
man der Spur folgt, die in dem Synonym ‘Engstirnigkeit’ gelegt ist, und an der auch
Ausdrücke wie ‘Beschränktheit’, ‘Borniertheit’ und ‘Einfalt’ auf jeweils etwas
unterschiedliche Weise teilhaben. Einem dummen Menschen mangelt nicht so sehr
Wissen oder die Wahrheit, als vielmehr ein weiter Gesichtskreis. Sollte es ihm auch
an Wissen oder der Wahrheit mangeln, dann ist dies allenfalls eine Folge seines
eingeschränkten Horizonts, und es ist bloß eine mögliche, durchaus keine
notwendige Folge davon.
Dummsein bestände demnach darin, die Welt aus beschränkter Perspektive
zu sehen. Doch jede Perspektive ist beschränkt - sonst wäre sie keine Perspektive,
das heißt: ein Gesichtspunkt. Ist es dann etwa dumm, eine Perspektive zu haben?
Dieser Schluß überzeugt erst recht nicht. Denn haben wir keine Perspektive auf die
Dinge, dann haben wir auch kein Urteil über sie, kein dummes gewiß, aber eben
auch kein gescheites 111 . Als dumm muß einer vielmehr gelten, wenn wenige Ideen
und wenige Gesichtspunkte alles, was er äußert, beherrschen. Wenn wir von
‘wenigen’ sprechen, wird Dummheit ersichtlich zu einer Sache des Grades. Und wie
es aussieht, ist das auch angemessen; zwischen Dummheit und Intelligenz scheint
ein Kontinuum zu bestehen. Eine Bemerkung kann mehr oder weniger gescheit,
mehr oder weniger dumm sein. Wer nicht dumm ist, ist darum doch nicht der Art
nach verschieden von einem Dummen. Sein Gesichtskreis ist bloß weiter. Dumm zu
sein heißt nicht, keinen Verstand zu besitzen, sondern einen schwerfälligen,
langsamen, nur mit wenigen Formen vertrauten Verstand, eine ins Stocken geratene
111 Vgl. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung, §§ 309 - 317, S. 187 - 195
Intelligenz, der es nicht gelingt, ihr Feld zu erweitern. (Und selbstverständlich sind
wir in der Lage, unser Urteil je nach Alter des Beurteilten zu relativieren: Was bei
einem Erwachsenen nicht gerade als Ausweis besonderer Intelligenz gelten würde,
mag bei einem Kind durchaus als solcher genommen werden. Die genau gleichen
Ideen, die uns an einem Zweijährigen als beispielloser Reichtum beeindrucken,
würden einem Zwanzigjährigen das intellektuelle Armutszeugnis ausstellen. Aber
dies ist eine vertrackte Sache, denn etwas in dem, was man Erziehung nennt, besteht
tatsächlich im Verengen, nicht im Erweitern des Blickwinkels.)
Wie immer die Gesichtspunkte eines Menschen schrumpfen, stets wird es
doch dabei bleiben, daß jeder Gesichtspunkt, den ein solcher Mensch noch hat, oder,
äußerstenfalls, der eine Gesichtspunkt, den er noch hat, sein Gesichtspunkt ist.
Darum können dumme Menschen wahre Originale sein. (Tatsächlich ist es nicht
einmal wahrscheinlich, daß Originalität mit besonderer Weisheit einhergeht (§ 11).)
Insofern Originalität manchmal lehrreich oder unterhaltsam oder auch beides
zugleich ist, kann auch Dummheit erfreuliche Seiten haben. Meistens ist sie freilich
ein Ärgernis. Die Griechen nannten einen, der sich nur ums Eigene, , kümmerte,
einen Idioten, . Wenn Dumme sehr dumm werden, nennt man sie Idioten.
(Natürlich wollen wir sie nicht mit Egoisten verwechseln. Sollte Dummheit eine Art
Egoismus sein, dann ist sie ein logischer Egoismus, der von Egoismus im
moralischen Sinne zu unterscheiden ist - denn letzteren kann man klarerweise
höchst intelligent verfolgen. Tatsächlich ist ein Egoist im moralischen Sinne gut
beraten, kein Egoist im intellektuellen Sinne des Wortes zu werden. Insofern er
andere für sich nutzen möchte, und der Weg dahin über ihre Interessen führt, ist er
auf die Fähigkeit angewiesen, sich ihre Blickpunkte vorzustellen.)
Wie Dummheit und Unwissenheit sich zueinander verhalten, erklärt sich so
einleuchtender als in ihrer zuvor erwogenen Gleichsetzung (§ 38). Mit Mangel an
Wissen hat Dummheit nur insofern zu tun, als größeres Wissen einem zusätzliche
Gesichtspunkte verschaffen kann, wenngleich nicht muß. Unwissenheit und
Dummheit können zu wechselseitigem Gewinn im Bunde stehen; Unwissenheit mag
Dummheit ausbrüten, und diese wiederum noch größerer Unwissenheit Vorschub
leisten.

41. Der Vorschlag, im Ausdruck ‘Engstirnigkeit’ einen Schlüssel zu sehen, der uns
das Phänomen Dummheit aufschließen könnte, ist allerdings einem Einwand
ausgesetzt. Denn könnte es nicht umgekehrt vorkommen, daß jemand etwas
Dummes tut, gerade weil er in einer bestimmten Situation zu viele Gesichtspunkte
hat? Durch die schiere Vervielfältigung von Perspektiven ist noch keiner klug oder
intelligent geworden. Jede Situation, besonders wenn sie eine solche ist, in der wir
handeln müssen, erfordert, daß wir die verwickelten Zusammenhänge, in denen sie
steht und die sie in sich trägt, auf ein überschaubares Maß zurückführen. Dazu
müssen wir einige wenige Gesichtspunkte wählen, und eine Unzahl anderer
ausschließen. Tuen wir das nicht, so werden wir einen minder klaren Kopf als
andere haben. Wir werden aber in dieser Hinsicht nicht nur im Vergleich zu denen
schlecht abschneiden, die ein paar angemessene Gesichtspunkte gewählt haben,
sondern selbst im Vergleich zu denen, die, ohne gewählt zu haben, aus purer
Dummheit nun einmal nur über wenige Gesichtspunkte verfügen. Ein beschränkter
Geist kann die wenigen Ideen, die in seinem eng gezogenen Gesichtskreis liegen,
klar auffassen, gerade weil sie so wenige sind. Ein solcher Geist ließe sich einem
Bettler vergleichen, der die Prägung und Jahreszahl jedes seiner wenigen Pfennige
kennt. Er wird nicht so reich sein wie einer, der zu viele Gesichtspunkte hat, aber
mag größere Deutlichkeit erlangen.
Kant, obschon er den Dummen einen “eingeschränkte[n] Kopf” nennt,
bestimmt Dummheit als “Mangel an Urteilskraft”. Diese Definition enthält, daß
jemand, der dumm ist, zu wenige, aber auch zu viele Gesichtspunkte haben kann;
denn Urteilskraft vermittelt uns die einer Situation angemessene Sicht 112 . Erklärte
man Dummheit in dieser veränderten Weise, dann hätte man offensichtlich jenem
Einwand Rechnung getragen.
Aber man braucht dem Einwand nicht Rechnung zu tragen. Denn er läßt sich
entschärfen. Soweit der Einwand nur beschreibt, hat es mit ihm seine Richtigkeit;
aber soweit er das Beschriebene auch analysiert, ist er ungenau. Denn es wäre zu
unterscheiden, ob einer viele Gesichtspunkte hat, einerseits, und ob er sie zur
Anwendung bringt, andererseits. Was die Fälle kritisch macht, auf die sich der
Einwand stützt, ist nicht, daß einer über viele Gesichtspunkte verfügt, sondern daß
er sie alle auf einmal zur Anwendung zu bringen sucht, obwohl die Zeit drängt.
Dieser Unterschied ist wert, beachtet zu werden, und mit ihm wird der Schluß
hinfällig, Weite des Geistes sei so gut eine Form von Dummheit wie Enge des
Geistes. Was nurmehr folgt, ist, daß ein weiter Gesichtskreis zu Klugheit und
Intelligenz nicht hinreicht, wenn diese beiden Begriffe, in unterschiedlichen
Hinsichten, den Gegensatz zur Dummheit bezeichnen. So mag es viele Weisen
geben, unklug zu sein, ohne doch damit schon dumm zu sein. Manche
Verhaltensweisen möchte man weder geradezu dumm noch auch wirklich klug
nennen; sie würden zwischen die oder jenseits der beiden Kategorien fallen. Ja selbst
einer, der ‘zu viele’ Gesichtspunkte nicht nur hätte, sondern auch in Anschlag
brächte, bräuchte weder klug oder intelligent noch wirklich dumm zu sein.
Kants Bestimmung geht auf Kosten der Fähigkeit zu differenzieren. Und wir
wollen nun einmal unterscheiden zwischen Personen, die sich gar nicht vorstellen
können, aus welcher Vielzahl von Perspektiven eine Sache gesehen werden kann -
dieser Beschränktheit halber nennt man ihre Auffassung ja dumm -, und Personen,
die einer Vielzahl von Perspektiven gewahr sind, selbst wenn diese sie verwirrt.
Solche Verwirrung kann einen Grad erreichen, daß der Betreffende überschnappt; er
wird toll oder, mit welchem Ausdruck Jean Paul diesen vom Dummsein
charakteristisch verschiedenen Geisteszustand zu bezeichnen suchte, närrisch.
Während Dumme phantasielos sind, werden tolle oder närrische Leute gerade von
Überfluß an Phantasie geplagt 113 . Das lateinische Wort für dumm, ‘stupidus’, leitet
sich von ‘stupeo’, ‘unbeweglich sein’, her; sind die Dummen nicht ganz
unbeweglich, so doch langsam und schwerfällig. Phantasie hingegen ist beweglich;
bei närrischen Leuten ist sie es so sehr, daß ihnen am Ende keiner mehr folgen kann.
Man bescheinigt ihnen ‘Ideenflucht’ und nennt sie ‘rasend’. Der Dumme und der
Tolle unterscheiden sich stärker vom jeweils anderen als von denen, die man
‘normal’ nennt. Die Dummen haben keinen Witz in dem Sinne des Wortes, den das
18. Jahrhundert geprägt hat: ihnen fehlt die Gabe, Ideen, die weit auseinanderliegen,
112 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 172 - 173, S. 185

113 Jean Paul, ‘Unterschied zwischen dem Narren und dem Dummen’, S. 263: “Das Übel des Dumkopfs besteht
darin, daß er zu wenig Einbildungskraft hat; das des Narren, daß er zuviel hat”.
zueinander in Verbindung zu setzen 114 . Narren hingegen treiben es darin bis zur
Ausschweifung: sie assoziieren Vorstellungen, auf deren Zusammenhang sich außer
ihnen kein Mensch einen Reim machen kann.
Der Vorschlag, den Ausdruck ‘Engstirnigkeit’ als einen Schlüssel anzusehen,
der das Phänomen Dummheit aufschließt, wird also, so unser Schluß, durch den
vorgetragenen Einwand nicht hinfällig.

42. Als dumm muß einer gelten, wenn wenige Ideen und wenige Gesichtspunkte
alles, was er äußert, beherrschen. Daraus aber folgt, daß Vorurteile, wenngleich sie
sicher dumm sein können, keineswegs dumm sein müssen. Daß sie dumm sein
können, versteht sich von selbst, und bedeutet keinen Einwand: Gedanken können
dumm sein, aber das ist kein Argument gegen das Denken. Entscheidend ist, daß
Vorurteile nicht an und für sich dumm sind. Wenn Vorurteile etwas sind, das man
im Kopf hat, bevor man eine Sache untersucht hat, ist keineswegs ausgeschlossen,
daß sie raffinierteste Unterscheidungen in sich enthalten. Solche Raffinesse könnte
sogar, kraft Intuition oder aus Zufall, der tatsächlichen Komplexität der Sache
entsprechen. Natürlich ist eine solche Übereinstimmung alles eher denn notwendig.
Vielmehr kann es zum Beispiel Theorien geben, die weit vielschichtiger sind als ihr
Gegenstand erfordert, und die dies genau deshalb sind, weil es sich bei ihnen um
Vorurteile handelt: ihre Autoren haben sich von ihrer Liebe zum Schwierigen leiten
lassen, dieser déformation professionnelle der Gelehrten, statt sich den Gegenstand
anzusehen. Manchmal mögen solche Theoretiker sogar nur recht unlustig von ihren
Lehren Abschied nehmen, wenn sie gemerkt haben, wie simpel das Stück
Wirklichkeit, von dem sie handeln sollten, eigentlich ist - sie haben viel Mühe in ihre
Spekulationen gesteckt und so wird es ihnen sauer, einzuräumen, daß ihr Grübeln
verlorene Liebesmüh war. Selbst das ist kein Beweis dafür, daß sie Dummköpfe
sind, sondern weist sie allenfalls als Narren aus - oder, falls sie jene Haltung sich
zum System machen, als Verrückte.

43. Vielleicht sind Vorurteile nicht an sich dumm. Aber gilt nicht mindestens, daß
Vorurteile ein Bild von uns entwerfen, das wir nicht mögen, gerade so wie es uns
unlieb ist, wenn uns jemand auf dumme Art und Weise darstellt? Auf das eine wie
das andere scheinen wir übel anzusprechen, mag diese Reaktion auch jeweils
unterschiedlichen Zügen zuzuschreiben sein.
Im Fall eines Vorurteils werden wir auf eine zum voraus festliegende Weise
gesehen. Unser Reagieren darauf läßt uns eine neue Antwort auf die Frage
erschließen, was an Vorurteilen eigentlich so schlimm sein soll: Nicht auf eine zum
voraus festliegende Weise wollen wir gesehen werden, lautet der Bescheid, sondern
so, wie wir sind.
Selbst diese Behauptung scheint indes nicht wahr zu sein. Denn oft wollen
wir durchaus nicht so gesehen werden, wie wir sind. Vielmehr wollen wir in
günstigem Licht gesehen werden, und nichts verbürgt, daß wir in günstigerem Licht
erscheinen, wenn wir gesehen werden, wie wir sind, als wenn wir durch die Augen
114 Jean Paul, ‘Von der Dumheit’, S. 267: “Wiz ist Bemerkung des Verhältnisses zwischen entfernten Ideen
[...]. Bei dem Dummen ist iede Idee isolirt; alles ist bei ihm in Fächer abgeteilt und zwischen entfernten Ideen
ist eine Kluft, über die er nicht hinüberkommen kan”.
eines Vorurteils gesehen werden. Es kann sich leicht umgekehrt verhalten. Wenn
einer das Vorurteil hat, die Deutschen seien ein Volk von Dichtern und Denkern,
mag er ein Buch, bloß weil ein Deutscher es geschrieben hat, bedeutend finden, -
und welcher Autor hat es nicht gern, daß man seine Bücher bedeutend findet?
(Vorurteile können günstig sein; vgl. § 26.) Umgekehrt kann man jemanden kaum
schwerer strapazieren, als indem man sich ausschließlich mit ihm beschäftigt, bis zu
dem Punkt, an dem sich auch die letzte wohltuende Täuschung über ihn in nichts
aufgelöst hat. Das Unbehagen an alten Bekanntschaften und die Sucht nach neuen
verdankt sich zu einem guten Teil der Angst, diejenigen, die uns allzu gut kennen,
möchten keine hohe Meinung von uns haben, sowie der Hoffnung, diejenigen, die
uns minder gut kennen, möchten besser von uns denken.
Verfolgen wir diese Überlegung weiter, indem wir von der Art, wie Leute
gesehen werden, zu Formen, mit ihnen umzugehen, fortschreiten, ergibt sich ein
gleiches Ergebnis. Als die Spanier die ‘Neue Welt’ betraten, wurden sie zumindest
von einigen Bewohnern derselben in einer Weise behandelt, die bemerkenswert frei
von Vorurteilen war. Im Jahr 1508 entschieden sich Indianer Puerto Ricos, die Frage,
ob Spanier sterblich seien, dadurch einer Lösung zuzuführen, daß sie einige von
diesen unter Wasser hielten und zusahen, ob sie ertranken. Der holländische
Zeichner Theodore de Bry bildete dieses beachtliche experimentum crucis ab, das
einen wahrhaft wissenschaftlichen, zugleich offenen und kritischen Geist verrät 115 .
Ohne Vorurteil behandelt zu werden, muß ersichtlich keineswegs angenehmer sein
als mit Vorurteil behandelt zu werden. So ergibt sich auch aus dieser Eigenschaft
keine Antwort auf die Frage, was denn so schlimm ist an Vorurteilen.

115 Hanke, The First Social Experiments in America, S. 68 - 69


III. Über die hermeneutische Verteidigung des Vorurteils, und weshalb sie nicht
gelingt

44. Der Versuch, zu erklären, was an Vorurteilen verkehrt ist, ist in Schwierigkeiten
geraten. Vielleicht liegt das an der Weise, in der hier der Frage nachgegangen
wurde; sie mag unnötig skrupulös gewesen sein, und man könnte forscher zur Sache
gehen. Vielleicht ist aber auch die Zielsetzung, zu erklären, was an Vorurteilen
verkehrt ist, keine gute Idee. Schließlich ist ja gar nicht klar, daß Vorurteile als solche
verkehrt sind. Denn selbst Erfahrung erster Hand und Urteile scheinen von
Vorurteilen abzuhängen; in zweifacher Hinsicht scheint dem so zu sein.
Erstens orientieren Vorurteile uns in positiver Weise: sie können unsere
Aufmerksamkeit auf Dinge lenken, die uns andernfalls entgehen würden. (Eine
umfassendere und stärkere Fassung dieses Gedankens hat bekanntlich Burke
vertreten; er behauptete, unser Leben im ganzen sei darauf angewiesen, sich positiv
durch Vorurteile leiten zu lassen 116 .)
Vorurteile geben aber auch negative Orientierung. Bestimmte Dinge bemerken
wir nur darum, weil sie nicht so sind, wie wir sie erwartet hatten. Sie fallen uns auf,
weil sie unseren Vorurteilen nicht entsprechen. Wissenschaft schreitet fort kraft der
Entdeckungen, die Wissenschaftler machen. Im Entdecken aber liegt Neuheit und
Überraschung. Doch ein Geist, der erst einmal dergestalt gereinigt worden wäre, wie
es etwa Bacon vorschwebt 117 , könnte von nichts überrascht sein, weil keiner
Erfahrung einer Sache eine gewohnte Ansicht von ihr gegenüberstünde.
Diese zweifache Überlegung könnte wohl geeignet sein, den Glauben,
Vorurteile seien etwas, das man entweder gar nicht haben sollte, oder das man, falls
man welche hat, schleunigst loswerden sollte, in Frage zu stellen. Denn ihr zufolge
sind Vorurteile sowohl notwendig wie auch (als ‘Bedingung’ von deren
‘Möglichkeit’) grundlegender als Urteile.
Daß Vorurteile Aufmerksamkeit lenken und wie in einem Brennpunkt
sammeln können, hängt mit ihrer spezifischen Ökonomie zusammen, von der früher
die Rede war (§§ 12 - 17). Der geläufige Gegensatz von Urteil und Vorurteil -
zahlreiche aufklärerische Traktate spielten ja jenes gegen dieses aus - stellt sich etwa
so dar: Urteilen heißt, zu einem Schluß zu gelangen, nachdem man alle Faktoren in
Rechnung gestellt hat, ein Vorurteil hat einer hingegen, wenn er sie nicht in
Rechnung stellt und darum voreilige Schlüsse zieht. Doch, so lautet nun der
Einwand, wir werden nie so weit sein, daß alle Faktoren in Rechnung gestellt sind.
116 Reflections, S. 153

117 Novum Organum, aph. LXVIII, S. 179: “Atque de Idolorum singulis generibus, eorumque apparatu jam
diximus; quæ omnia constanti et solenni decreto sunt abneganda et renuncianda, et intellectus ab iis omnino
liberandus est et expurgandus; ut non alius fere sit aditus ad regnum hominis, quod fundatur in scientiis, quam
ad regnum cœlorum, in quod, nisi sub persona infantis, intrare non datur” (“Und über die einzelnen Gattungen
der Idole und ihr Zubehör haben wir schon gesprochen; sie alle sind mit dauerndem und feierlichem Entschluß
zu verwerfen und aufzukündigen, und der Geist ist von ihnen ganz und gar zu befreien und zu reinigen, so daß
ungefähr kein anderer Zugang zum Reich des Menschen, welches in den Wissenschaften gegründet ist, besteht,
als zum Himmelreich, in welches nur eintreten kann, wer wie ein Kind ist”) (Bacon bezieht sich mit der
Schlußwendung auf Luk. 18,17); aph. LXIX, S. 179: “absolutis istis expiationibus et expurgationibus mentis”
(“nachdem jene Sühnungen und Reinigungen des Geistes vollzogen sind”). - Bacons ‘idolum’ wurde später
zum ‘préjugé’ der französischen Aufklärung.
Denn jedes Ding hat unbestimmt viele Seiten. Da wir sie nicht alle zu erkunden
vermögen, sind wir zu einer Auswahl genötigt, die nicht auf einer vollständigen
Untersuchung der Sache beruht. Es muß ein Vorurteil sein, das die für uns
maßgebenden Züge der Sache heraushebt.

45. Vorurteile als solche zu beanstanden, wie das zahlreiche Aufklärer getan haben,
kann verfänglich sein. Denn es setzt den Kritiker dem Verdacht aus, er gleiche dem
Kind, welches sein Bild im Spiegel für etwas Fremdes hält. Wirklich ist, was die
Aufklärung über Vorurteile behauptet hat, in dieser Weise gerügt worden. In seinem
1960 erschienenen Hauptwerk Wahrheit und Methode hat Hans-Georg Gadamer der
Aufklärung ein “Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt” 118 vorgeworfen.
Gadamer fordert die “Anerkennung der wesenhaften Vorurteilshaftigkeit
alles Verstehens” 119 ; er sieht “Vorurteile als Bedingungen des Verstehens”. Damit ist
gemeint, Vorurteile machten Urteile allererst möglich, indem sie unserer
Aufmerksamkeit eine den Anforderungen einer bestimmten geschichtlichen
Situation gemäße Richtung gäben. “Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr
als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins”. Gadamer schließt: “Es
bedarf einer grundsätzlichen Rehabilitierung des Begriffes des Vorurteils”; so ist ihm
darum zu tun, die “Lehre von den Vorurteilen, die die Aufklärung in kritischer
Absicht entwickelt hat, nunmehr ins Positive [zu] wenden” 120 .

46. Daß die Aufklärung, wie Gadamer sagt, ein “Vorurteil gegen die Vorurteile”
gehabt habe, ist keine neue Behauptung. Bereits Samuel Johnson spottete, jeder, der
sich als gewandter Geist auf der Höhe der Zeit (“a smart, modern thinker”) zeigen
wolle, sei gehalten, das Denken mit einem Vorurteil gegen Vorurteile (“a prejudice
against prejudice”) zu beginnen 121 . Und Friedrich Schlegel meinte: “Das
französ.[ische] Schimpfen auf die Prejugés war selbst ein Prejugé” 122 . - Auf den
ersten Blick mag es verwundern, einen solchen Vorwurf bei Autoren wie Johnson,
Schlegel oder Gadamer zu finden, die Vorurteile ja gar nicht als Fehler ansehen,
sondern als notwendiges Ingrediens des menschlichen Geistes - dies angenommen,
fragt man sich, weshalb nicht auch die Aufklärung ein Recht auf ihr besonderes
Vorurteil haben solle. Aber die Formel vom Vorurteil gegen Vorurteile beansprucht
natürlich, einen Widerspruch im Denken der Aufklärung aufgespürt zu haben. Wer
ganz vorurteilslos wäre (wie es die Aufklärung für sich reklamierte), müßte es auch
gegen Vorurteile sein.
118 S. 255

119 Ebd., S. 254

120 Ebd., S. 261

121 Boswell, Life of Johnson, S. 51. - Vgl. selbst Kant, Logik Blomberg, S. 169: “man kann wircklich wiederum
eine Art von Vorurtheilen wieder die vorurtheile selbst antreffen, wenn man nemlich so gleich geradezu alles
dasjenige verwirft, was durch Vorurtheile entstanden ist”. Ferner Lou von Salomé, ‘Stibber Nestbuch’, S. 191:
“Die Idee Vorurtheile finden zu müssen, kann auch zum Vorurtheil werden”.

122 Philosophische Lehrjahre I, S. 117. Akzentzeichen sic.


Worin besteht Gadamer zufolge das Vorurteil der Aufklärung gegen die
Vorurteile? Es soll darin bestehen, zu glauben, alle Vorurteile müßten falsch sein 123 .
Zunächst ist an dieser Stelle zu fragen, wann es denn vertretbar ist, eine
Auffassung ‘der Aufklärung’ zuzuschreiben. Man wäre zu zimperlich, wollte man
behaupten, was man ‘die Aufklärung’ nenne, umfasse so vieles und verschiedenes,
daß eine derartige Zuschreibung niemals vertretbar sei. Wer so dächte, würde in
Einzelheiten versinken. Solange wir bei allem gebührenden Respekt vor den
einzelnen Bäumen noch den Wald sehen wollen, kommen wir ohne handliche
Abkürzungen wie ‘die Aufklärung’ nicht aus. Im Ergebnis liefe es selbstverständlich
auf die gleiche pedantische Einschränkung hinaus, würde man eine Zuschreibung
der Art, von der hier die Rede ist, nur dann gelten lassen, wenn sie sich selbst bei
ausgesprochenen Randfiguren der Aufklärung finden ließe. Soweit es um wichtige
Positionen geht, wird sich kaum eine finden lassen, die ganz und gar
unwidersprochen geblieben wäre. Was also sinnvollerweise gemeint sein kann,
wenn man sagt, ‘die Aufklärung’ habe dies oder jenes vertreten, ist nicht, daß man
Übereinstimmung der Meinungen ohne Ausnahme finden wird. Was vielmehr
gemeint sein muß, ist Übereinstimmung der anerkannt zentralen Figuren jener
geistigen Bewegung. So läßt sich entscheiden, ob es sachgemäß ist, eine Auffassung
‘der Aufklärung’ zuzuschreiben. Genügt die Behauptung, ‘die Aufklärung’ habe
gemeint, alle Vorurteile müßten falsch sein, diesem Prüfstein der Angemessenheit?
Sie tut es nicht. Denn die notwendige Falschheit aller Vorurteile war unter den
einflußreichsten Vertretern der Aufklärung durchaus umstritten. Behauptet wurde
sie von de Jeaucourt 124 und du Marsais 125 . Fontenelle 126 , Voltaire 127 und Kant 128
hingegen hingen dieser Doktrin nicht an. Selbst wenn es sich also bei dem Lehrsatz,
Vorurteile seien falsch, um ein Vorurteil handelte, wäre es schwerlich vertretbar, ihn
ein Vorurteil ‘der’ Aufklärung zu nennen. Er war allenfalls ein Vorurteil einiger
Aufklärer. Wenden wir uns dem berühmtesten Beispiel zu.
In der Encyclopédie wird Vorurteil als ein falsches Urteil definiert, das sich die
Seele nach einer unzureichenden Anstrengung der Verstandesfähigkeiten bilde 129 .
Hat das ‘Vor-’ in Vorurteil überhaupt eine Bedeutung, so muß an dem, was der
Relativsatz sagt, etwas sein: ein Vorurteil kann nicht vollständig begründet sein. Die
Schwierigkeit liegt auch gar nicht in der differentia specifica dieser Definition, sondern
im genus proximum, “faux jugement”. Weshalb ist Gadamer zufolge eine solche
123 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 256

124 Art. ‘préjugé’

125 Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 153

126 Nouveaux Dialogues des Mortes, S. 334 - 344

127 ‘Préjugés’

128 Logik, S. 505

129 Jeaucourt, Art. ‘préjugé’, S. 237: “PRÉJUGÉ, s. m. Logique, faux jugement que l’ame porte de la nature des
choses, après un exercise insuffisant des facultés intellectuelles”. - Vgl. du Marsais, Essai sur les Préjugés, Bd.
I, S. 153: “Respecter les opinions reçues, c’est presque toujours respecter le mensonge”.
Subsumption von Vorurteilen unter die falschen Urteile abzulehnen? Gadamer
bemerkt, das Wort Vorurteil sei vor der Epoche der Aufklärung, insbesondere in der
Rechtsprechung, in einem positiven Sinne gebraucht worden. Damit hat es zwar
seine Richtigkeit; doch als Argument verwendet ist dieser Hinweis recht schütter.
Denn jener positive Gebrauch könnte ja gerade aufgekommen sein, um durchaus
zweifelhafte Verfahrensweisen zu decken. Tatsächlich belehrt uns das Grimmsche
Wörterbuch, daß man sich in Deutschland bereits 1538 gegen Vorurteile in der
Rechtsprechung als gegen einen Mißbrauch der richterlichen Gewalt wandte 130 , und
das Verdienst der Aufklärung könnte ja genau darin liegen, diese Einsicht
systematisiert zu haben - eine Einsicht, die zuvor nur hie und da, von vereinzelten
Stimmen geäußert worden war. Gadamers Feststellung versieht uns mit überhaupt
keinem Grund dafür, in der einen oder anderen Weise Stellung zu nehmen. Sie
informiert uns lediglich darüber, was Europäer einmal glaubten und inzwischen
nicht mehr glauben. Ist der Vorschlag auf dem Tisch, unseren Sprachgebrauch zu
ändern, um endlich einmal die Dinge beim richtigen Namen zu nennen - und so
verstanden die Aufklärer ihre Erörterungen des Begriffs Vorurteil -, dann nützt es
nichts, sich auf just den Sprachgebrauch zu berufen, gegen den dieser Vorschlag sich
richtete. Gewiß könnte es sein, daß unsere Vorfahren es besser wußten als wir. Aber
daß sie es wirklich besser wußten, dafür wären Argumente fällig. Ohne solche bloß
zu berichten, was sie glaubten, heißt, die Sache von vornherein als erwiesen
ansehen.
Folgt also, daß alle Vorurteile falsch sind? Dies folgt nicht, falls wir die
Prämisse der folgenden Überlegung annehmen: Insofern die Welt ist, wie sie ist,
unabhängig davon, wie wir glauben, daß sie ist, kann eine Meinung, die ich von
etwas habe, bevor ich es untersucht habe, falsch, sie kann aber auch wahr sein. Es
gibt mithin ein Argument gegen den Satz, alle Vorurteile seien falsch, das besser als
dasjenige Gadamers, einfach und schlüssig ist. Warum macht Gadamer dann nicht
von ihm Gebrauch? Der Grund scheint zu sein, daß er einer Art von Idealismus
zwar nicht des Bewußtseins, aber der Sprache anhängt, welcher ihm verbietet,
anzunehmen, die Welt sei, wie sie ist, unabhängig davon, wie wir glauben, daß sie
ist 131 . Kurz gesagt folgt Gadamers Konklusion aus einer Prämisse, die zu
verschmähen ihn seine Lehre anhält.
Es gibt noch eine letzte Frage, der in diesem Zusammenhang nachzugehen ist:
Stimmt es, daß die Auffassung, welche Gadamer angreift, ein Vorurteil darstellt?
Gadamer sagt nicht, weshalb er glaubt, daß dem so sei. Aber ein Grund dafür läßt
sich denken. Seit der Umdeutung des Begriffs Vorurteil durch eine Anzahl von
Vertretern der Aufklärung scheinen Leute, die von Vorurteilen reden (selbst dann,
wenn sie von ihren eigenen reden) ihre Überlegenheit über sie zu unterstellen. Wenn
man jemandem sagt: ‘Du hast Vorurteile’, entsteht bei diesem unmittelbar der
Eindruck, man diskutiere nicht länger mit ihm, sondern rede bloß mehr über ihn.
Was einer die Vorurteile des anderen nennt, mögen für diesen Urteile,
Überzeugungen, Prinzipien, Glaubenssätze sein; und so mag es auch in umgekehrter
130Meiszner, Art. ‘Vorurteil’, Sp. 1856, zitiert seine Quelle wie folgt: “eyn groszer miszbrauch an unsern
heuptgerichten geübt, nemlich, das dieselbigen eynem jeden auff sein ersuchen, des gegentheils unerfordert und
ohne alle rechtliche erkanntnisz der sachen, bescheidt, die sie vürurtheil gnent, mitgetheilt haben”.

131 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 419


Richtung gehen. Auf diese Weise kann der Vorwurf des Vorurteils hin- und
hergeschoben werden, ohne daß sich der Gedanke von der Stelle bewegte. Sobald
man jemandes Auffassungen als Vorurteile abgetan hat, hat man sich auch schon mit
Erfolg gegen seine Argumente abgeschirmt. Es scheint, der Vorwurf des Vorurteils
suchte, statt einen Streit auszufechten, ihn zu präjudizieren 132 .
Einander vorzuwerfen, man habe Vorurteile, wirft, so viel ist wahr, keinerlei
Einsichten ab. Was diese Beschäftigung abwirft, schmeichelt nur der Eitelkeit derer,
die den Vorwurf erheben. Die Jagd auf Vorurteile ist selbstgerecht (§§ 95 - 96).
Daraus folgt allerdings nicht, daß die Aufklärer, auf die Gadamer schlecht zu
sprechen ist, ein Vorurteil hatten. Die Einsicht, daß der intellektuelle Ertrag der
Schelte von Vorurteilen gleich null ist, läßt sich durchaus mit der Ansicht
vereinbaren, einige Aufklärer hätten wirkliche Urteile über Vorurteile, wenn auch
inkorrekte Urteile, gefällt, statt bloß einem Vorurteil zu folgen. Sieht man zu, wie sie
tatsächlich vorgingen, ist dies auch die bei weitem überzeugendere Kennzeichnung.
Das sogenannte Vorurteil gegen Vorurteile ist, seiner Logik wie seiner
Ausprägung in der Geschichte des Denkens nach, gar kein Vorurteil. Was einige
philosophes im Hinblick auf Vorurteile vertraten, war einfach nur eine falsche
Meinung. Sie beruhte auf einer Verwechslung zwischen den Bedingungen dafür,
daß etwas wahr ist, und den Bedingungen dafür, herausgefunden zu haben, daß es
wahr ist. Selbst wenn bei einem Vorurteil die letzteren nicht gegeben sind, könnten
es die ersteren doch sein. Einige Aufklärer, wie der Chevalier de Jeaucourt, schieden
nicht recht zwischen Form und Inhalt: das Vorurteil mag eine ungenügende Form
sein (falls es nämlich ungenügend sein sollte, etwas auf Vertrauen anzunehmen),
aber sein Inhalt mag gleichwohl wahr sein. Diese Autoren begingen den genetischen
Fehlschluß in seiner negativen Fassung. Statt ihre Beurteilung der Vorurteile unter
den Vorbehalt zu stellen, daß die Wahrheit einer Sache allemal für sich betrachtet
werden muß, schlossen sie daraus, daß bestimmte Überzeugungen auf eine
bestimmte Weise zustande gekommen waren, diese müßten falsch sein. Daran ist in
der Tat etwas auszusetzen, doch eben nicht das, was Gadamer daran auszusetzen
hat. Jene Autoren verdammten Vorurteile nicht, indem sie lediglich ihr Vorurteil
zum besten gaben, ohne das Problem zu studieren. Vielmehr untersuchten sie es im
einzelnen, doch in diesen Untersuchungen begingen sie einen logischen Fehler und
gelangten so zu einer Lehre von den Vorurteilen, die nicht überzeugt. - All das mag
man nicht sehr interessant finden. Das freilich würde nur zeigen, daß einen nichts
interessiert als Rhetorik. Denn natürlich klingt es einfach weit besser, von einem
Vorurteil gegen Vorurteile zu reden, als von einer falschen Meinung über sie.
Ich fasse zusammen. Was Gadamer das Vorurteil der Aufklärung gegen
Vorurteile nennt, ist weder ein Vorurteil, noch läßt es sich ‘der’ Aufklärung
132 Folgerichtig war es eine der wichtigsten rhetorischen Funktionen, die diesen Worten seit der Aufklärung
zugewachsen ist, sich gegen Kritik zu verwahren; sollte jemand etwas auszusetzen haben, so suggeriert man
vorsorglich, dann könne das nur daran liegen, daß der Kritiker voreingenommen sei. Vgl. z.B. den Schlußabsatz
der Vorrede zu d’Holbachs Système de la Nature: “Près de descendre au tombeau, que les années lui creusent
depuis long-temps, l’auteur proteste de la façon la plus solennelle ne s’être proposé dans son travail que le bien
des ses semblables. Sa seule ambition est de mériter les suffrages du petit nombre des partisans de la vérité, et
des âmes honnêtes qui la cherchent sincèrement. Il n’écrit point pour ces hommes endurcis à la voix de la
raison, qui ne jugent que d’après leurs vils intérêts ou leurs funestes préjugés: ses cendres froides ne craindront
ni leurs clameurs ni leur ressentiment, si terribles pour ceux qui osent, de leur vivant, annoncer la vérite” (S.
XXXIII - XXXIV). Ähnlich die Schlußwendung in dem anonymen Traité des trois imposteurs, VI,vii, S. 102.
zuschreiben. Daß es falsch ist, folgt nicht aus dem von Gadamer angeführten Grund;
es folgt aus einem Grund, den Gadamer nur um den Preis der Inkonsistenz
anerkennen könnte.

47. Der Vorwurf an die Adresse der Aufklärung, sie sei selbst einem Vorurteil
erlegen, ließe sich jedoch durch die folgende Überlegung stützen. Der Angriff der
Aufklärung auf die Vorurteile habe sich selbst als Infragestellung aller Autoritäten
dargestellt 133 . Diese Kritik sei nicht umhin gekommen, von bestimmten Maßstäben
Gebrauch zu machen: denjenigen der Vernunft. Um alle Autoritäten in Frage zu
stellen, habe die Aufklärung sich auf die Autorität der Vernunft stützen müssen. Sie
habe Autorität nicht überwunden und hinter sich gelassen, sondern lediglich eine
Autorität durch eine andere ersetzt.
Dieser Einwand kann sich auf eine Selbstdeutung der Aufklärung berufen.
Condorcet zufolge hat die Menschheit die Wahl zwischen der Autorität der
Menschen (“l’autorité des hommes”) und der Autorität der Vernunft (“celle [sc.
l’autorité] de la raison”). Während das Mittelalter die erstere beachtet habe, sei die
Aufklärung, so Condorcet, von der letzteren geleitet 134 . Obschon Condorcet dies als
ein Lob meint, bietet sich eine minder wohlwollende Deutung jenes Verhältnisses
an. Nur indem sie ein Vorurteil zugunsten der Vernunft voraussetzte, konnte die
Aufklärung, wie es scheint, dem den Krieg erklären, was sie selbst als Vorurteil
bezeichnete.
Die Prüfung aller Autoritäten durch die Aufklärung, so besagt das Argument,
führe in einen stets wiederkehrenden Zirkel. Jedes Denken, auch wenn es eine
Autorität in Frage stelle, müsse sich dabei selber auf eine Autorität berufen. Denn
alle Kritik setze einen Maßstab voraus, anhand dessen sie kritisiere. Die Kritik müsse
ihrem eigenen Maßstab Gehorsam zollen. Denn wenn sie selber ihrem Maßstab nicht
entspreche, wie könnte sie dann anderes eben dafür rügen? Insofern stehe der
Maßstab der Kritik höher als diese selbst: ihm eigne autoritativer Rang sowohl für
das Subjekt wie (dem Kritiker zufolge) für das Objekt der Kritik. Daher habe die
Kritik an Autorität, die die Aufklärung vorgetragen habe, weit entfernt davon, sich
über alle Autorität zu erheben, unvermeidlich bloß einer anderen Autorität
gehuldigt.
Doch die Auffassung vom Denken, die in dieser Überlegung enthalten ist, ist
untriftig. Denn es ist nicht möglich, daß sich der Verstand, bevor er operiert, eine
normative Stütze besorgt, damit er dann operieren kann. Angenommen, der
Verstand setzt sich einen solchen normativen Gedanken voraus: in diesem Fall
operiert er bereits, und zwar, ex hypothesi, ohne eine derartige Norm. Weiter
angenommen, das Denken hält sich nun an diesen autoritativen Gehalt: woran hält
es sich dann? Erstens an einen von ihm selbst hervorgebrachten ideellen Gehalt und
zweitens an seinen eigenen Gedanken, daß dieser Gehalt unbedingt gültig sei. Man
kann nicht einer Autorität folgen, bevor man gedacht hat und damit man dann
denken kann. Denn um einer Autorität zu folgen, muß man sie als Autorität
anerkennen, und dazu kommt es nicht ohne Denken (§ 6).
133 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 261 - 263

134 Esquisse, S. 175


48. Die gerade geführte Diskussion hat nur einen einzigen Einwand gegen einige
Vertreter der Aufklärung ins Recht setzen können: Urteile ich über etwas, bevor ich
es geprüft habe, so kann ich doch mit meinem Vorurteil richtig liegen (§ 46).
Begründet diese negative Erkenntnis - Vorurteile müssen nicht falsch sein -,
Gadamers positive Rehabilitierung der Vorurteile?
Es ist schwer zu sehen, wie sie das könnte. Die Möglichkeit, daß Vorurteile
wahr sind, zuzugeben ist eine Sache, Gadamers Forderung nach “Anerkennung der
wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens” 135 zu folgen, eine andere. Es mag
schon so sein, wie Gadamer behauptet, daß sich uns etwas nur dann je erschließt,
wenn wir ihm mit bestimmten Erwartungen begegnen. Aber sind alle Erwartungen
Vorurteile? Wird die Bedeutung von ‘Vorurteile’ so gedehnt, dann muß ihnen wohl
unterlaufen, was Gadamer von ihnen behauptet, nämlich, daß sie unvermeidlich
werden. Aber die Frage ist doch, ob man das Wort so dehnen sollte.
Man sollte es besser nicht so dehnen. Denn Vorurteil, wie der Name nahelegt,
meint nicht jede erwartungsvolle Vorwegnahme der Eigenschaften von etwas,
sondern ein vorwegnehmendes Urteil. Was ist ein Urteil? Der Begriff entstammt der
Rechtsprechung 136 . Der Richter fällt ein Urteil über den Angeklagten. Auch
außerhalb dieses Bereichs seines Ursprungs ist ein Urteil nicht einfach diese oder
jene Meinung, die einer hat. Im Urteil wird vielmehr ein Fall entschieden. Diese
Erläuterung klärt auch den Begriff des Vorurteils. Der zweite Bestandteil des Wortes
legt nahe, daß es sich um ein Urteil handelt, aber der erste sagt, daß es (noch) keines
ist. Ein Vorurteil ist ein Urteil und ist doch keines: Ein Fall wird als entschieden
betrachtet, aber der Prozeß, der hätte geführt werden müssen, um zu der
Entscheidung zu gelangen, ist nicht geführt worden. Denn ein Urteil hätte
vorausgesetzt, daß man das Für und Wider der Sache erwogen hätte. Abwägend
aber sind Vorurteile nicht.

49. Selbstverständlich gilt von Vorurteilen, daß sie antizipieren. Aber Gadamers
Erklärungen helfen nicht weiter, wenn wir wissen wollen, was für eine Art von
Antizipationen sie sind. Im Gegensatz zu Heidegger, der sorgfältig zwischen
“Vorhabe”, “Vorsicht” und “Vorgriff”unterschied 137 , und in Wahrheit und Methode als
Stütze des Gedankens bemüht wird 138 , macht Gadamer durch seinen Gebrauch des
Ausdrucks Vorurteile so gut wie ununterscheidbar von Vorbegriffen, Vorannahmen,
Hypothesen, Voraussetzungen, Präsumtionen, Einstellungen, Perspektiven,
Erwartungen oder Antizipationen im allgemeinen. Natürlich ist nicht klar, wie all
dies sich unterscheidet; dem nachzugehen, wäre wohl der Mühe wert. Sicher auch
werden jene Denkweisen und Haltungen in vielfältigen Beziehungen zueinander
stehen (vgl. bereits § 32); aber gerade jede Beziehung setzt einen Unterschied voraus.
Jedenfalls ist bemerkenswert, daß für Fälle, in denen wir etwas im Geiste
vorwegnehmen, eine nicht ganz undifferenzierte Begrifflichkeit bereitsteht, und es
135 Wahrheit und Methode, S. 254

136 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, 2a2ae, qu. LX, art. 1, S. 145

137 Sein und Zeit, § 32, S. 150 - 153

138 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 254


gibt keinen Grund, deren Unterscheidungen in dem Ausdruck ‘Vorurteil’ zergehen
zu lassen.
Weshalb meint Gadamer, daß unser Verstehen, eines Textes zumal, immer
von Vorurteilen geleitet sei? Der Grund ist dieser: Der Ausgangspunkt, von
welchem aus wir uns dem Text nähern, muß stets von uns kommen, da er von dem
schließlich noch unbestimmten Text selber keinesfalls kommen kann. Aus dieser
Überlegung folgt allerdings, daß wir allemal selber etwas beitragen müssen, wenn
wir etwas uns Unbekanntes kennenlernen wollen; kein zwingender Schluß ist aber,
daß dieser Beitrag in einem Vorurteil bestehen muß, und nicht, zum Beispiel, in
einer bloßen Erwartung. Auch diese schwächere Schlußfolgerung hat Bedeutung,
doch eben eine andere als Gadamers Folgerung. Ihre Bedeutung will ich zunächst
herausstellen; danach erläutere ich den Unterschied zwischen einem Vorurteil und
einer bloßen Erwartung anhand eines Beispiels.
Daß Erkenntnis der Wirklichkeit Erwartungen voraussetzt, ist nicht belanglos.
Auch diese Einsicht richtet etwas aus gegen das simple Gegeneinander von Licht
und Finsternis, das manche Aufklärer gezeichnet haben. Ein solches lag in der
Behauptung, Wissen werde erlangt, wenn man sich nur von der Natur der Sache
leiten lasse, nicht von dem, was man etwa selber mitbringt. In diesem Geist sagt
Montesquieu in der Vorrede zu seinem Hauptwerk, er habe dessen Grundsätze nicht
aus Vorurteilen abgeleitet, sondern unmittelbar aus der Natur der Dinge 139 . Die
Wendung reicht ins Zentrum aufklärerischer Rhetorik. Sie äußert sich, nur scheinbar
gegensätzlich, durch die Insistenz auf Unmittelbarkeit vielmehr gleichen Sinnes,
entweder in der (dann doch wieder sprachlich artikulierten) Forderung nach
sprachfreiem Denken 140 oder in der Behauptung einer Sprache der Dinge. Und wer
wagte schon etwas gegen den Grundsatz einzuwenden, man müsse die Tatsachen
für sich selbst sprechen lassen? Doch in Wahrheit sprechen Tatsachen gar nicht für
sich selbst; sie sprechen, wenn, weil und insofern wir ihnen unsere Sprache geliehen
haben. Montesquieu zufolge ist der verfehlte Zugang zur Wirklichkeit der
vermittelte, der rechte hingegen ein unmittelbarer. Wenn Erkennen hingegen von
Erwartungen ausgeht, dann ist der Zugang zur Wirklichkeit stets ein vermittelter,
auch dann, wenn wir den Nagel auf den Kopf treffen. Vermittelt allerdings kann der
Zugang auf verschiedene Weise sein. Wenn unser Denken fähig bleibt, Erwartungen,
als eine solche Weise, von Vorurteilen, als einer anderen, zu unterscheiden, so kann
ihm dies nur zustatten kommen.
Ein Beispiel vermag das deutlicher zu machen. Wenn ich mir Fichtes
Wissenschaftslehre zur Lektüre vornehme, so mag ich vielleicht eine Abhandlung
über die Verfahrensweisen der Wissenschaften erwarten, da ich vermute, dies sei die
Bedeutung des Titelwortes von Fichtes Buch. Was ich in diesem tatsächlich finde, ist
aber eine Theorie davon, wie Subjektivität in einem ursprünglichen Akt des
Bewußtseins sich selber setzt und die objektive Welt aus Erscheinungen konstruiert.
Sobald ich dessen gewahr werde, gehe ich von meiner anfänglichen Vorwegnahme
des Inhalts des Buches ab. Nun mag ich entweder zu lesen aufhören, weil ich
139 De l’esprit des lois, S. 84: “Je n’ai point tiré mes principes de mes préjugés, mais de la nature des choses”.

140 Watts etwa empfiehlt gegen Vorurteile “separating our Thoughts and Ideas from Words and Phrases, to
judge of Things in their own Natures, and in their natural or just Relation to one another, abstracted from the
Use of Language” (Logick, II,iii,2, S. 197 - 198). Vgl. §§ 31 - 32
enttäuscht bin - ich erwartete schließlich, darüber belehrt zu werden, wie in Physik,
Chemie und Biologie vorgegangen wird -, oder aber der unerwartete Gegenstand
des Buches vermag mein Interesse zu wecken und mich dazu zu veranlassen, weiter
in ihm zu lesen. Gadamer nennt Vorwegnahmen dieser Art Vorurteile.
Selbstverständlich kann er sie nennen, wie er möchte. Doch wenn ich wirklich, wie
wir angenommen haben, von meiner Vorwegnahme abgehe, sobald meine
Erfahrung - in diesem Fall die beim Lesen gemachte Erfahrung - ihr widerstreitet, so
zeigt dies an, daß hier etwas anderes vorliegt, als was man sonst ein Vorurteil nennt:
etwas, an dem auch gegen widerstreitende Erfahrung festgehalten wird (§ 77). Es
mag sehr wohl so sein, daß Erkenntnisse nicht zu haben sind, ohne das zu
Erkennende bis zu einem gewissen Grad vorwegzunehmen; doch es ist zu
unterscheiden, ob einer auf dem Vorweggenommen beharrt, also ein Vorurteil hat,
oder nicht. Meine Haltung Fichtes Wissenschaftslehre gegenüber war kein Vorurteil,
sondern eine ganz gewöhnliche Erwartung, und wenn wir sie ein Vorurteil nennen
wollen, dann müssen wir Bezeichnungen wie ‘Vorurteil erster Art’ und ‘Vorurteil
zweiter Art’ einführen, um die Einsicht zu retten, daß in ihr etwas anderes am Werk
ist als etwa in der Weltanschauung eines Antisemiten.

50. Gadamers Forderung nach “Anerkennung der wesenhaften Vorurteilshaftigkeit


alles Verstehens” 141 ist unbegründet; sofern an ihr etwas ist, fällt sie mit dem
zusammen, was soeben (§ 49) über die Rolle bemerkt wurde, die Erwartungen für
das Erkennen spielen. Falsch ist jene Forderung, wenn ‘Vorurteil’ eine Haltung
konnotiert, an der einer, in der als Beispiel angeführten Situation des Lesens, auch
dann festhält, wenn der Text ihr widerspricht. Immerhin ändern Leser ja manchmal
ihre Auffassung vom Sinn eines Wortes, einer Stelle, oder eines ganzen Textes im
Zuge ihres Verstehens und Deutens; Gadamer selbst möchte dieser Möglichkeit
gerecht werden 142 . Wird sie aber ernstgenommen, dann kann ‘Vorurteil’ bei ihm
nicht mehr bedeuten als: die Haltung, die einer zu etwas einnimmt, wenn er es zu
verstehen sucht. Selbst dann ist es noch wert, auf folgendes aufmerksam zu machen:
Entgegen der eingeschliffenen Redensart ist es Einbildung, daß die Tatsachen je für
sich sprächen. Doch daß dem so ist, läßt sich formulieren, ohne irrezuführen, indem
man auf Erwartungen, nicht auf Vorurteile Bezug nimmt.
Um der hermeneutischen Verteidigung des Vorurteils auf ihrem eigenen Feld
zu begegnen, handelte das gewählte Beispiel (§ 49) von einem Versuch, einen Text
zu verstehen. Eine ähnliche Unterscheidung, wie die, zu der der Fall des Verstehens
Anlaß gab, hätte man zu ziehen, wenn man betrachtet, wie Texte abgefaßt werden.
Das nimmt nicht wunder. Wie und was einer schreibt, hängt ja, wenngleich in
unterschiedlichem Maße, auch davon ab, wie und was er gelesen hat.
Edward Gibbons Werk über den Niedergang und Fall des römischen Reiches
entstand, weil ihren Autor die Frage nach der Beständigkeit politischer Ordnungen
von der Dimension eines Weltreiches beunruhigte, und sie beunruhigte ihn, weil sie
sich gerade für das britische Weltreich, das seine nordamerikanischen Kolonien
141 Wahrheit und Methode, S. 254

142 Ebd., S. 366


verloren hatte, drängend stellte 143 . Beunruhigend waren diese Vorgänge für einen
Briten der herrschenden Klasse; für manchen anderen war, was sich da
abzuzeichnen schien, eine Erleichterung. Gibbon war von 1774 bis 1783
Abgeordneter im Parlament, und verfaßte 1779, zwischen der Veröffentlichung des
ersten und zweiten Bandes von The Decline and Fall of the Roman Empire, seine
Mémoire justificatif, die die Politik der britischen Regierung im amerikanischen
Unabhängigkeitskrieg zu rechtfertigen suchte. Was ihm in der eigenen Zeit auf den
Nägeln brannte, gab Gibbon zugleich Fragen an die Hand, auf die er in den antiken
Quellen nach Antworten suchte. Es verhalf ihm zu einem Blick auf die überlieferten
Zeugnisse, wie ihn vor ihm keiner gehabt hatte und an anderen Orten keiner hatte.
Sein Blickwinkel mag zu einer verzerrten Sicht bestimmter Ereignisse der Geschichte
des römischen Reiches geführt haben; entscheidend ist, daß er ihn allererst in die
Lage versetzte, Probleme der Dauerhaftigkeit politischer Ordnungen zu sehen.
Die Erwartungen, die einer hegt, sind bestimmt durch die Perspektive, die er
auf die Welt hat. Doch so wie zwischen Erwartungen und Vorurteilen differenziert
werden sollte, besteht auch Grund, zwischen einer Perspektive und einem Vorurteil
zu unterscheiden. Beide sind oder enthalten in sich eine Sicht auf die Wirklichkeit.
Aber Perspektiven stehen zu Vorurteilen in einem Verhältnis, das sich dem von
Fragen zu Behauptungen in der Sprache vergleichen ließe. Wenn ich jemandes
Perspektive kenne, weiß ich darum doch noch nicht, was er unter dieser Perspektive
sieht, ähnlich wie eine Frage, falls sie nicht lediglich rhetorischer Natur ist, es
offenläßt, was die Antwort auf sie sein wird. Entnehme ich hingegen jemandes
Äußerung, welches Vorurteil er hat, dann weiß ich, was er zu sehen vermeint, den
Inhalt seiner Überzeugung. Gewiß ist die Unterscheidung zwischen Fragen und
Behauptungen keine absolute. Jede Behauptung kann als Antwort auf eine Frage
verstanden werden. Fragen bestimmen die Grenzen dessen, was jeweils als sinnvolle
Antwort gilt und was nicht. Sie nehmen vorweg, welche Art von Behauptungen zu
machen jeweils angemessen oder unangemessen ist 144 . Genauer gesagt besteht
wechselseitige Abhängigkeit: Behauptungen haben Bedeutung als Antworten auf
Fragen, und weitere Fragen ergeben sich aus vorausgegangenen Antworten. Doch
all dies bedeutet nicht, daß zwischen Fragen und Behauptungen kein Unterschied
besteht. Auch ein relativer Unterschied ist noch ein Unterschied.
Es liegt auf der Hand, was dies für unser Beispiel bedeutet. Hätte Gibbon
geglaubt, die Ursachen für den Niedergang des römischen Reiches müßten die
selben sein wie die für die Schwierigkeiten des British Empire, so wäre dies ein
Vorurteil gewesen. Aber nicht dies war Gibbons Überzeugung. Was er in seiner
eigenen Zeit wahrnahm, machte ihn nicht bloß auf Ähnlichkeiten, sondern auch auf
Unterschiede in den Geschehnissen der Vergangenheit aufmerksam.

51. Gewiß ist Gadamer nicht dahingehend zu verstehen, wir müßten Vorurteilen
blind folgen. So nachdrücklich er “einer grundsätzlichen Rehabilitierung des
Begriffes des Vorurteils” 145 das Wort redet, so wenig möchte er darauf verzichten,
143 Als Beispiel in die Diskussion um Vorurteile eingeführt wurde Gibbons Werk von Collingwood, ‘Can
historians be impartial?’, S. 211

144 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, ‘Vorrede zur zweiten Auflage’, B XIII, S. 23

145 Wahrheit und Methode, S. 261


auch hier die Böcke von den Schafen zu scheiden: “Damit wird die für eine wahrhaft
geschichtliche Hermeneutik zentrale Frage, ihre erkenntnistheoretische Grundfrage,
formulierbar: Worin soll die Legitimität von Vorurteilen ihren Grund finden? Was
unterscheidet legitime Vorurteile von all den unzähligen Vorurteilen, deren
Überwindung das unbestreitbare Anliegen der kritischen Vernunft ist?” 146 .
Die Ausführungen, die dieser Bemerkung folgen, führen Autorität als Quelle
der Legitimation von Vorurteilen an 147 . Dies aber kommt einer petitio principii gleich.
Von Vorurteilen heißt es, sie gründeten in anerkannter Autorität, doch welche
Autorität einer anerkennt, hängt von seinen Vorurteilen ab. Gadamer gelingt es
nicht, zu erklären, wie oder weshalb wir in der Lage sind, legitime von illegitimen
Vorurteilen zu unterscheiden.
Werden Vorurteile dessen gerühmt, sie könnten Aufmerksamkeit lenken und
wie in einem Brennpunkt sammeln (§ 44), so bleibt doch die Schwierigkeit, daß
Aufmerksamkeit in viele verschiedene Richtungen gelenkt und an vielen möglichen
Punkten gesammelt werden kann. Manchen dieser Richtungen zu folgen und sich
auf manche dieser Punkte hin orientieren zu lassen, mag einen in eine Sackgasse
führen. Nietzsche, offenbar wach für diese Gefahr, sah in Vorurteilen
Koordinatensysteme des Denkens von jeweils nur relativer Gültigkeit, an denen wir,
sind wir einmal in ihnen, festhalten könnten und sollten, “wenn wir nur wenigstens
innerhalb dieser Vorurtheile fortschreiten und nicht stillestehen” 148 .
Doch weder deutet etwas darauf hin, daß Gadamer sich dies Kriterium der
Legitimität von Vorurteilen zu eigen gemacht hat; vielmehr scheint in seiner Lehre
für einen solchen Begriff von Fortschritt kein Platz zu sein 149 . Noch ist klar, daß
Nietzsches Überlegung das Problem wirklich löst. Denn soll das Fortschreiten, von
dem er spricht, nicht leere Prahlerei sein, dann scheint man um einen kritischen
Vergleich verschiedener Vorurteile nicht herumzukommen. Was im
Koordinatensystem eines Vorurteils als Fortschritt erschiene, könnte eben nur dort
so erscheinen, und Rückschritt sein. Fangen wir aber einmal damit an, Vorurteile zu
vergleichen und gegeneinander abzuschätzen, dann sind wir auch schon über sie
hinaus. Wir haben sie unserem Urteil unterworfen.
Selbst wenn die Schwierigkeit, die aus der Frage der Richtung erwächst, sich
lösen ließe, wäre im übrigen die Frage des Maßes geeignet, uns neuerliches
Kopfzerbrechen zu bereiten. Fortschritt meint einen Vorgang, in dem man etwas zu
erreichen sucht und schrittweise den Punkt approximiert, an dem man sagen
könnte, man habe es erreicht. Es muß möglich sein, anzugeben, in welchem Maße es
uns schon gelungen ist, unserem Ziel näher zu kommen. Sobald wir aber beginnen,
verschiedene Vorurteile unter dem Gesichtspunkt zu vergleichen, in welchem Maße
sie Fortschritt zuwege bringen, sind wir auch schon frei von ihnen. In Wirklichkeit
146 Ebd. Vgl. a. Gadamer, ‘Semantik und Hermeneutik’, S. 181 - 182

147 Wahrheit und Methode, S. 261 - 264

148 Nietzsche, ‘Vom Nutzen und Nachtheil’, § 1, S. 256

149 Wahrheit und Methode, S. 280: “Verstehen ist in Wahrheit kein Besserverstehen, weder im Sinne des
sachlichen Besserwissens durch deutlichere Begriffe, noch im Sinne der grundsätzlichen Überlegenheit, die das
Bewußte über das Unbewußte der Produktion besitzt”.
stellen wir nur Arbeitshypothesen zusammen, um herauszufinden, welche den
größten Gewinn an Erkenntnis verspricht; Vorurteile sind sie für uns keine mehr.

52. Gadamer sieht seine wesentliche Einsicht darin, entdeckt zu haben, daß
Vorurteile Welt erschließen. Einige Vertreter der Aufklärung hingegen hatten im
Vorurteil eine Macht gesehen, die Menschen für die Wirklichkeit blind macht 150 .
Man hat seine Not, zwischen diesen rivalisierenden Behauptungen zu
entscheiden. Denn beide scheinen jeweils nur auf eine von zwei Seiten zu sehen, aus
denen zusammengenommen die ganze Erscheinung besteht. Einerseits kann mich
ein Vorurteil gegen jemanden ungewöhnlich wach für seine Schwächen machen,
und da es sich bei diesen um Schwächen handeln kann, die er hat, nicht um solche,
die ich mir bloß einbilde, erschließt mir mein Vorurteil ein Stück Wirklichkeit. Haß,
eine Gemütsbewegung, die häufig mit Vorurteilen in Verbindung gebracht wird,
kann meinen Blick schärfen. Andererseits mag ich aus eben dem selben Grund alles
andere als wach sein für das, worin der andere sich auszeichnet, was er gut kann
und, insbesondere, besser als ich. In dieser Hinsicht verschließt mir mein Vorurteil
ein Stück Wirklichkeit. Das selbe gilt, umgekehrt, für Liebe. Eltern hegen für ihre
Kinder gerade in Fällen, in denen ihre Beziehung keine gestörte ist, ein günstiges
Vorurteil; es liegt ihnen fern, sie unparteiisch zu sehen. Solche Zuneigung kann
blind machen. Aber versteht eine Mutter ihr Kind besser, wenn sie es aus
theoretischer Distanz beobachtet, mit jener Unvoreingenommenheit, die ein
Wissenschaftler seinen Versuchsobjekten gegenüber hat? Die Frage stellen bedeutet
auch schon, zu sehen, wie abwegig der Gedanke ist.
In Montesquieus Lettres persanes ist Ricas und Usbeks Blick auf die
europäische Gesellschaft zugleich enthüllend und verdeckend, weil sie diese mit
orientalischen Vorurteilen sehen - und die ironische Balance zwischen beiden
Wirkungen macht genau den Witz dieses literarischen und philosophischen
Meisterwerkes aus. Vorurteile, so scheint es, erschließen bestimmte Seiten der
Wirklichkeit und verschließen andere.
Diese zweifache Wirkung ist keine Besonderheit von Vorurteilen. Sie ist aus
vielem vertraut, was Menschen ersinnen, Konventionen zum Beispiel. Ein
künstlerisches Genre, etwa die Oper, besteht aus einer Reihe von Konventionen, die
ästhetische Kreativität in geordnete Bahnen zu lenken suchen. In ihnen erteilt es
Freiheiten und errichtet Verbote. Man darf manches tuen, so der Sinn eines Genres,
aber nicht alles. Jedes Genre hat einen bestimmten Blick auf die Welt. Es eröffnet
Ausdrucksweisen, technisch wie geistig, aber es eröffnet sie, indem es zugleich
beschränkt, was innerhalb dieser erlaubt ist. Ein Genre kanalisiert künstlerische
Impulse, und Kanäle gleichen nicht offener See: Sie ermöglichen die Durchfahrt,
indem sie die Grenzen festlegen, innerhalb deren sie sich vollziehen kann. Ist man
dieser Grenzen gewahr, dann bereiten sie keine Verlegenheit. Von allen möglichen
künstlerischen Inhalten bemächtigt sich ein Genre im Werk dessen, der sich seiner
zu bedienen versteht, nur derjenigen, die zu ihm stimmen. Die Geschichte von Così
fan tutte war geeignet für eine Oper, nicht für ein Lied; die von Goethes Veilchen
150 Frühe Beispiele sind La Bruyère, der den in Vorurteilen Befangenen (“[u]n homme sujet à se laisser
prévenir”) einem Blinden (“un aveugle”) vergleicht (Les Caractères, S. 23), und Spinoza (Tractatus de
intellectus emendatione, S. 18: “animo occæcatos [...] à præjudiciorum causâ” (“im Geiste mit Blindheit
geschlagen [...] durch die Vorurteile”)).
stand einem Lied an, wäre aber als Vorwurf für eine Oper nicht zu brauchen
gewesen. Was allemal mißlingen muß, ist der Versuch, einen Inhalt, der zu einem
Genre nicht paßt, in dessen Form zu pressen.
Ein ähnlicher Zusammenhang läßt sich an Werkzeugen finden. Daß sie uns
instand setzen, etwas zu machen, liegt gerade an ihren jeweiligen Beschränkungen.
Ein Hammer ist nicht als Schraubenzieher zu brauchen. Wäre er es, dann könnte
man nicht mit ihm hämmern, und das bedeutete schließlich nichts anderes, als daß
er kein Hammer wäre. Was ein Werkzeug erfaßt, ist durch seinen Zugriff
beschränkt; aber diese Schranke ist zugleich die Bedingung dafür, daß es überhaupt
Zugriff auf etwas hat. Ein Werkzeug für alle möglichen Zwecke gibt es nicht.
Sind Vorurteile aber etwas ähnliches wie diese Phänomene, oder sind sie gar
unter deren Begriffen befaßt, in dem Sinn, daß sie eine besondere Art von
Konventionen oder Werkzeugen darstellen? Wäre dies zu bejahen, dann gewänne
Gadamers Lehre eine starke Stütze. Gadamer behauptet, wie angeführt wurde, die
“wesenhafte [...] Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens” 151 . Faßt man Vorurteile als
etwas Werkzeugen ähnliches auf, oder gar als eine besondere Art von Werkzeugen,
dann liegt es nahe, zu bezweifeln, wir hätten je die Wahl, die Welt mit oder ohne
Vorurteile zu sehen. Die Wahl, die wir hätten, wäre vielmehr, entweder der Welt
ohne diese Werkzeuge des Verstehens gegenüber und darum in restloser
Verwirrung vor ihr zu stehen, oder mit den verfügbaren Werkzeugen wenigstens
das uns mögliche Maß an Verstehen zu erreichen.

53. Allerdings scheint die Analogie zwischen Vorurteilen einerseits und


Konventionen oder Werkzeugen andererseits, oder gar die Behauptung, jene ließen
sich unter die Begriffe dieser fassen, schlecht begründet.
Eine Konvention ist, wie das Wort sagt, eine Übereinkunft; wird das
Übereinkommen widerrufen, indem man beginnt, Verschiedenes und
Gegensätzliches zu glauben und zu tun, so ist die Konvention zerfallen. Wenn wir
ein Werkzeug nicht mehr benutzen möchten, so machen wir es ebenso: Wir treffen
unsere Entscheidung, und hören dann auf, von ihm Gebrauch zu machen. Ein
Vorurteil hingegen lassen wir nicht hinter uns, weil wir es hinter uns lassen wollen;
vielmehr sind wir anscheinend erst imstande, es als Vorurteil zu erkennen, wenn wir
es hinter uns gelassen haben. Vorurteile, sagt Thomas de Quincey, vertreibt man
nicht durch den guten Vorsatz, sie zu vertreiben. Man dürfe schon einmal laut
lachen, wenn man den großen Descartes als goldene Regel zur Leitung seiner
Untersuchungen aufstellen sehe, er werde sich gegen alle Vorurteile schützen. Denn
wenn ein Vorurteil als solches erkannt sei, habe es auch schon aufgehört, ein
Vorurteil zu sein. Von den Vorurteilen, mit denen es wirklich ernst sei, falle uns
nicht einmal im Traum ein, sie seien welche 152 .
151 Wahrheit und Methode, S. 254

152 ‘Philosophy of Herodotus’, S. 132: “We laugh long and loud when we hear Des Cartes (great man as he
was) laying it down amongst the golden rules for guiding his studies that he would guard himself against all
‘prejudices’; because we know that, when a prejudice of any class whatever is seen as such, when it is
recognised for a prejudice, from that moment it ceases to be a prejudice. Those are the true baffling prejudices
for man, which he never suspects for prejudices”.
Wie wir sahen (§ 52), kommt es beim vernünftigen Befolgen von
Konventionen wie beim verständigen Gebrauch von Werkzeugen darauf an, sich
innerhalb ihrer jeweiligen Grenzen zu halten. Sich innerhalb der jeweiligen Grenzen
zu halten heißt freilich nicht notwendigerweise, ihrer bewußt zu sein. Um einen
Schraubenzieher zweckmäßig zu gebrauchen, muß man nicht daran denken, daß er
zum Umgraben des Gartens kaum sehr geeignet wäre. Man muß das Werkzeug bloß
innerhalb der Grenzen anwenden, die durch die Art von Werkzeug, die es ist,
bestimmt sind; dessen, was jenseits dieser Grenzen liegt, braucht man überhaupt
nicht gewahr zu sein. Ein Vorurteil nur innerhalb recht bestimmter Grenzen
anwenden, hieße hingegen bereits, über es hinaus zu sein. Denn das würde genau
ein Urteil über seinen Gegenstand erfordern, und ein solches Urteil zu fällen, ist eben
die Leistung, im Gegensatz zu der, in einer Hinsicht wenigstens 153 , das Befangensein
in einem Vorurteil verstanden werden muß. Kurz gesagt: Nur solange wir einen
Schraubenzieher für einen Schraubenzieher halten, können wir ihn angemessen
verwenden; sehen wir hingegen ein Vorurteil als Vorurteil, dann ist es für uns keines
mehr.
Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß Vorurteile als solche
schrankenlos sind. Viele von ihnen kommen mit Einschränkungen daher. Doch sind
diese anscheinend nicht durch den Gegenstand des jeweiligen Vorurteils gesetzt.
Wie sich die Sache ausnimmt, erlauben Vorurteile ihren Anhängern, die Grenzen
ihrer Duldsamkeit jeweils selber zu ziehen. Ein Antisemit glaubt, Juden sollten der
öffentliche Dienst und die Ehe mit Nichtjuden verschlossen bleiben, ein anderer
meint, man müsse sie in den Nahen Osten abschieben, ein dritter will gleich alle
umbringen. Dieser meint, Juden, die sich angepaßt hätten, dürften im Lande bleiben,
jener befindet, die Angepaßten seien die gefährlichsten. So tragen sich auch
Vorurteile oft mit Einschränkungen vor, doch was diese Einschränkungen
kennzeichnet, ist die Willkür, mit der sie gemacht werden. Mit Werkzeugen ließe
sich so jedenfalls nicht umspringen; kein Hammer duldet seinen versuchten
Gebrauch als Schraubenzieher.
(Und es bleibt nicht einmal dabei, daß das noch Geduldete und das nicht
mehr Geduldete jeweils nach Gutdünken gefaßt wird. Die wahre Tücke von
Vorurteilen, oder einer bestimmten Art von Vorurteilen, scheint darin zu liegen, daß
derjenige, der so die Grenzen des Duldens zieht, sein eigenmächtiges Gebaren gleich
auch noch als guten Grund für sein Vorurteil beansprucht. Wer von sich behauptet,
einer seiner besten Freunde sei Jude, fühlt sich um so eher berechtigt, ‘die Juden’ in
Verruf zu bringen (vgl. § 77).)
Gewiß ist es unmöglich, die Welt im ganzen zu sehen, sieht man sie von
einem bestimmten Gesichtspunkt aus; unmöglich aber ist auch, daß etwas an der
Welt verständlich wird, versucht man sie aus allen möglichen Gesichtspunkten
zugleich zu sehen. Erkennen ist nicht die Wiedergabe all dessen, was draußen ist, im
Bewußtsein. Etwas hören kann nur der, der nicht alles hört. Aufmerksamkeit
bedeutet immer, weniger als alles zu bemerken, sonst wäre sie keine. Auswählen
und übersehen sind dem Wahrnehmen wesentlich. Etwas muß unseren Sinnen wie
unserem Denken Richtung geben. Aber dies etwas heißt, wie es scheint, richtiger
Erwartung oder Perspektive als Vorurteil (§§ 49 - 50).
153 Der Grund für diesen Vorbehalt wurde in § 48 benannt.
54. Um Vorurteile innerhalb recht bestimmter Grenzen anzuwenden, müßte man
schon über sie hinaus sein (§ 53, vgl. § 17). Dieser Umstand verweist auf einen in
noch höherem Maße irritierenden Zug an ihnen: Das, was man persönliche Identität
nennt, kann als ein - im einzelnen Fall sehr empfindliches oder aber leidlich fest
geknüpftes - Gewebe aus Vorurteilen verstanden werden, wenngleich natürlich
nicht nur aus Vorurteilen, sondern auch aus Erinnerungen, Geschichten,
Gewohnheiten, Vorlieben und anderem mehr. Je tiefer die Vorurteile sitzen, desto
bedeutsamer sind sie für die Antwort auf die Frage, wer einer ist; und je tiefer sie
sitzen, in desto höherem Maße sind sie Vorurteile.
Mich gibt es im Unterschied zu meinen Werkzeugen, auf Abstand zu ihnen;
darum kann ich, wenn mir daran liegt, ohne weiteres daran denken, sie durch
andere zu ersetzen. Gibt es mich aber auch jenseits meiner Vorurteile? Es ist nicht
klar, was dies für ein Ich sein könnte, das als Richter über dem stehen sollte, was es
in einer bedeutsamen Hinsicht erst zu dem macht, was es ist.
Damit ist selbstverständlich nicht geleugnet, daß Menschen zumindest von
einigen ihrer Vorurteile Abstand nehmen können, und eben dies auch wirklich
zuweilen tun. Doch genau daß sie Abstand allererst nehmen müssen, schließt ein,
daß dieser Abstand nicht von vornherein bestand, wie er demgegenüber schon
besteht, wenn wir bestimmte Zwecke haben, und uns sodann überlegen, mit
welchen Mitteln wir sie am rationellsten erreichen.
IV. Über die Paradoxie im Empfehlen von Vorurteilen, und wie sie zu umgehen
ist

55. Die hermeneutische Verteidigung des Vorurteils vermag nicht zu überzeugen.


Vielleicht aber liegt in ihr doch eine wichtige Einsicht - eine solche freilich, die nicht
der Hermeneutik selber entstammt, sondern die von ihr der Überlieferung entlehnt
wurde.
Als Gadamer Vorurteilen erschließende Kraft zusprach, mag er einen das
Verhältnis von Wissen und Zeit betreffenden Gedanken im Sinn gehabt haben, der
auf jene Kritiker der Aufklärung zurückgeht, die noch deren Zeitgenossen waren 154 .
Diesen Gedanken haben wir schon früher berührt; er war enthalten in de Bonalds
Hinweis auf einen Zusammenhang von Vorurteil und Sprache (§§ 31 - 32). Wann
immer wir einen Satz sagen, spricht durch uns Vergangenheit. Wie revolutionär
auch immer der Satz klingen mag, sofern er verständlich ist, können wir nicht
umhin, Worte und damit auch Begriffe zu gebrauchen, die andere vor uns
entwickelt und die wir von ihnen übernommen haben. Wer Vorurteile bejaht,
erkennt diesen Zusammenhang an: das ‘Vor-’ der Vorurteile ist die Vergangenheit.
Diejenigen, die für Vorurteile plädierten, gewahrten in der aufklärerischen
Zurückweisung derselben die logische und geschichtliche Folge einer
Erkenntnistheorie, die Wissen an Präsenz, zu deutsch: Gegenwart, band. Jede
Behauptung, lehrte solche Erkenntnistheorie, solle nur so viel Kredit genießen, wie
Evidenz für sie präsent wäre. Wahrhaftes, und das heißt: experimentelles Wissen,
meint etwa Thomas Sprat, ist Wissen von Gegenwärtigem (“present”), von dem, was
uns vor Augen ist (“what is before us”), und ist eben darin der Ordnung der Natur
selber (“the Design of Nature it self”) gemäß: schließlich habe diese die Augen, die
vorzüglichsten Werkzeuge der Beobachtung, vorn und nicht hinten an unseren
Köpfen angebracht (“has plac’d the Eies, the chief instruments of observation, not in
our Backs, but in our Foreheads“) 155 . Wissen an Präsenz binden wollten offenbar beide
sonst einander befehdende Lager der neuen Philosophie des 17. Jahrhunderts, die
Empiristen wie die Rationalisten. Unübersehbar ist dies Band bereits in der ersten
von Descartes’ vier Regeln der Methode geknüpft 156 . In einem Kapitel, das die in
dieser Regel niedergelegten Kriterien der “clarté” und “distinction” erläutern soll,
assoziiert die Logik von Port Royal die Vergangenheit mit Vorurteil und Irrtum, die
Gegenwart mit vorurteilsloser Einsicht 157 .
154 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 260, 264 - 267, 269 - 275

155 History of the Royal-Society of London, III,xi, S. 338. Vgl. Glanvill, The Vanity of Dogmatizing, S. 138

156 Descartes, Discours de la Méthode, II,7, S. 18: “Le premier était de ne recevoir jamais aucune chose pour
vraie, que je ne la connusse évidemment être telle: c’est-à-dire, d’éviter soigneusement la précipitation et la
prévention; et de ne comprendre rien de plus en mes jugements, que ce qui se présenterait si clairement et si
distinctement à mon esprit, que je n’eusse aucune occasion de le mettre en doute”. Descartes wünschte jedoch
die Moral von der Anwendung dieser Regel auszunehmen (vgl. ebd., III,1-3, S. 22 - 25; Principia Philosophiæ
I,3, S. 5). Der erste, der darauf drang, die Regel von den bei Descartes intendierten Bereichen ihrer
Anwendung, Metaphysik und Wissenschaft, auf unsere Sicht anderer Menschen auszudehnen, scheint La
Bruyère gewesen zu sein (Les Caractères, S. 24).

157 Arnauld und Nicole, La Logique ou L’Art de penser, I,9, S. 107


Einspruch gegen diesen Schritt hat, wohl mit größerem rhetorischen Glanz als
irgendeiner sonst, Edmund Burke erhoben. Im gegenwärtigen aufgeklärten Zeitalter
sei er, Burke, verwegen genug, zu bekennen, die Briten seien im allgemeinen Leute
von unbelehrtem Gefühl. Statt all ihre alten Vorurteile auszutreiben, hielten sie sie
ordentlich hoch. Ja, um noch mehr Schande auf sich und sie zu laden, die Briten
hielten ihre Vorurteile just darum hoch, weil sie Vorurteile seien. Je länger sie
gewährt und je allgemeiner sie vorgeherrscht hätten, desto höher schätzten sie sie.
Bange sei ihnen davor, daß ein jeder dazu gebracht würde, von seinem Privatkapital
an Vernunft zu leben und nur mit ihm seinen Handel zu bestreiten. Denn die Briten
hätten nun einmal den Verdacht gefaßt, jenes Kapital im einzelnen sei gering. Besser
daran seien die einzelnen, wenn sie sich bei der Bank bedienten, auf welcher alle
Völker und Zeitalter ihr Vermögen aufgehäuft hätten. Statt die allgemeinen
Vorurteile zu sprengen, wendeten daher auch die besseren Köpfe der Nation ihren
Scharfsinn daran, die verborgene Weisheit in diesen Vorurteilen zu entdecken.
Würden sie fündig - und kaum je würden sie es nicht -, dann dünke es ihnen auch
weiser, in dem Vorurteil zu beharren 158 .
Wenn Burke sagt, die Briten hielten ihre Vorurteile hoch, weil sie Vorurteile
seien (“because they are prejudices”), so scheint die mit Bedacht gesetzte Tautologie
nahezulegen, in seiner, Burkes, Sicht, bestehe keinerlei Anlaß, für Vorurteile einen
guten Grund anzuführen. Doch der Eindruck trügt. Denn schon im nächsten Satz
führt Burke einen Grund dafür an, Vorurteilen Achtung zu zollen, der durchaus
nicht auf eine Tautologie hinausläuft. Vorurteile verkörperten die gesammelte
Erfahrung ungezählter unserer Vorfahren, und hätten infolgedessen denen, die sich
an sie gehalten hätten, stets gute Dienste geleistet; wer Vorurteile habe, sei aufs beste
beraten, nämlich von der Wirklichkeit selbst 159 . Wenn Burke einen solchen Mann
zugleich unbelehrt (“untaught”) nennt, will er nur auf die polemische Pointe hinaus,
daß er den Lehren der Aufklärung kein Gehör geschenkt haben wird; und das, so
legt Burke nahe, konnte er sich erlauben, da ihm unvergleichlich bessere Belehrung
zuteil geworden war. Entgegen du Marsais’ Behauptung, so jemandem gehe
gründliche Bekanntschaft mit der Welt ab (§ 2), tut sich ihm Burke zufolge im
158 Burke, Reflections, S. 168: “You see, Sir, that in this enlightened age I am bold enough to confess, that we
are generally men of untaught feelings; that instead of casting away all our old prejudices, we cherish them to a
very considerable degree, and, to take more shame to ourselves, we cherish them because they are prejudices;
and the longer they have lasted, and the more generally they have prevailed, the more we cherish them. We are
afraid to put men to live and trade each on his own private stock of reason; because we suspect that the stock in
each man is small, and that the individuals would do better to avail themselves of the general bank and capital
of nations and of ages. Many of our men of speculation, instead of exploding general prejudices, employ their
sagacity to discover the latent wisdom which prevails in them. If they find what they seek, and they seldom fail,
they think it more wise to continue the prejudice”. Vgl. § 10. - Vorweggenommen wurde Burkes Überlegung
von Herder: “[W]enn man alle diese Bilder und Vorurtheile (praejudicata) als Vorurtheile (praeiudicia) und
leere Idole zerstören will: so hat man freilich die leichte Arbeit der Gothen in Italien oder der Perser in
Ägypten; allein man behält auch nichts als eine Wüste nach. Man hat sich eben damit selbst von der Beihülfe
aller Jahrhunderte der Väter entblößet, und steht nackend da, um aus dem kleinen Haufen von Materialien, die
man selbst zusammengetragen, und von willkührlichen Worten, die man etwa selbst untersuchet, ein
Systemchen aufzuführen, das jenem Werk der Jahrhunderte so gleicht, als die kleinen Tempel, die die Verehrer
der Diana sich machen ließen, dem grossen Wundergebäu zu Ephesus” (Abhandlung über den Ursprung der
Sprache, S. 153).

159 Vgl. Burke, Reflections, S. 79


Zutrauen auf Vorurteile vielmehr gerade die reichste Quelle solcher Bekanntschaft
auf, die Vergangenheit 160 .
Das Neue hingegen, meint Burke, ist selten das Gute, weil das Gute nur kurze
Zeit das Neue ist. Und was uns bloß durch Neuheit reize, werde uns nicht lange
fesseln 161 . Es befriedige nichts weiter als unsere Neugier, und keine Stimmung sei
oberflächlicher als eben diese 162 . Verstehe man Vorurteile erst einmal recht, dann
sehe man ein, daß das Neue verdiene, daß man ihm hartnäckig widerstehe 163 , das
Alte hingegen, daß man aufs stärkste voreingenommen für es sei 164 . Neuerungen
versuchten diejenigen einzuführen, die glaubten, etwas entdeckt zu haben, und eben
dies letztere schlössen Vorurteile aus. Wer Vorurteile habe, entdecke nichts und
brauche nichts zu entdecken, da er es, wie das ‘Vor-’ anzeige, ja immer schon
gewußt habe. Wir wissen, sagt Burke von den Briten, daß wir keine Entdeckungen
gemacht haben; denn im Moralischen gebe es nichts zu entdecken 165 .

56. Nicht herablassend oder ablehnend, sondern mit tiefer Achtung, schließt Burke,
begegneten wir Vorurteilen in angemessener Weise, voll Ehrfurcht für die Weisheit
unserer Ahnen 166 . Am Ende erwiesen sich Vorurteile allemal als gescheiter denn ihr
aufgeklärter Kritiker. Weiter als mit allem Entdecken komme man durch
Nachahmung (“imitation”) 167 . Alt (“old”) und neu (“new”) ist so der Gegensatz, auf
den Burke seine Verteidigung der Vorurteile gründet 168 .
Diese beiden Adjektive freilich bezeichnen vertrackte Kategorien. Denn was
jetzt alt ist, war einmal neu. Alles nun Reife schmeckte vordem sauer. Und manches
von dem, auf das Burke im England des Jahres 1790 mit Wohlgefallen blickte, war
dort im 17. Jahrhundert revolutionär gewesen; es hatte damals geheiligte
Traditionen über den Haufen geworfen. So hätte also manches, das Burke durch
seinen Grundsatz zu rechtfertigen suchte, nach eben dem selben Grundsatz gar nicht
erst in die Welt kommen können. Wäre es aber nicht in die Welt gekommen, dann
hätte Burke trivialerweise auch nicht sein Wohlgefallen daran haben können. Die
fest eingesessene Ordnung von heute verehren ist nichts anderes als den
160 Vgl. a. Gibbon, Memoirs, S. 4: “The Satirist may laugh, the Philosopher may preach: but reason herself will
respect the prejudices and habits which have been consecrated by the experience of mankind”.

161Burke, A Philosophical Enquiry, S. 121 - 122: “those things, which engage us merely by their novelty,
cannot attach us for any length of time”.

162 Ebd., S. 122: “curiosity is the most superficial of all the affections”.

163 Reflections, S. 166: “sullen resistance to innovation”.

164 Ebd., S. 76: “the powerful prepossession towards antiquity”.

165 Ebd., S. 166: “We know that we have made no discoveries; and we think that no discoveries are to be made,
in morality”.

166 ‘Speech on Moving his Resolutions’, S. 81: “a profound reverence for the wisdom of our ancestors”.

167 Burke, Reflections, S. 83

168 Ebd., S. 169; vgl. § 55


Neuerungen von gestern seine Reverenz erweisen. (Und einzuwerfen, die
Einrichtungen, in denen sich die maßgeblichen politischen Vorurteile ausgeprägt
hätten, seien etwas Gewachsenes, nichts Gemachtes, mutet uns zu, darüber
hinwegzusehen, wie viele Köpfe der Henker im Tower of London erst einmal
abzuhacken hatte, auf daß jene recht wuchsen: diese Voraussetzung aber zählt
unzweifelhaft zu dem, was Leute machen.)

57. Worauf es Burke ankommt, wenn er das Alte lobt, ist natürlich, daß es lange
Bestand gehabt hat. Und wenn er gegen das Neue den Verdacht hegt, es sei
schwächlich, so darum, weil es der Probe, ob es dies etwa nicht ist, noch gar nicht
unterzogen wurde.
Doch es ist nicht glaubhaft, daß die Dauer (“duration”) 169 einer Sache als
solche deren Güte verbürgt. Ein Stein, der Bestand hat, ist nicht darum schon edler
als eine duftende Rose, von der wir doch wissen, daß sie alsbald ihre Blätter verloren
haben wird. Das Beste im Menschenleben könnte flüchtig sein. Diese allgemeinen
Bemerkungen gehen, so ist einzuräumen, nicht auf politische und geschichtliche
Zusammenhänge ein, in welchen Burke die Frage aufwirft. Doch es ist nicht
einzusehen, warum die Frage in solchen Zusammenhängen anders beantwortet
werden müßte. Einrichtungen wie die Folter haben sich als dauerhaft erwiesen;
belegt dies eine Weisheit an ihnen, der mit Ehrfurcht zu begegnen wäre, welche über
die Weisheit schierer Effizienz hinausginge?
Was der Lauf der Geschichte nicht aus dem Verkehr gezogen hat, so muß
man allenfalls einräumen, mag wert sein, daß man es sich genauer ansieht. Aber dies
Zugeständnis reicht nicht hin für Burke; ja zwischen diesem Zugeständnis und
Burkes Behauptung besteht sogar eine Spannung (§ 58).

58. Der aufklärerischen Austreibung der Vorurteile hielt Burke vor, ihr Verhältnis
zur Zeit sei provinziell: Während sie beschränkt sei und den menschlichen Geist
beschränke auf die verschwindend kleine Provinz der Zeit, welche wir Gegenwart
nennen, liege der Reichtum des Vergangenen brach. Hatte die Aufklärung
behauptet, Vorurteile seien provinziell, die Vernunft aber universal, meinte Burke,
gerade die Art von Vernunft, welche die Aufklärung und ihre Erkenntnistheorie
angepriesen hätten, eine an Präsenz gebundene nämlich (§ 55), sei provinziell,
Vorurteile hingegen gemeinsam (§ 10), wennschon nicht universal 170 , wie auch
unendlich reicher und gehaltvoller. So sah Burke den mit einer wie in der
Aufklärung definierten Vernunft verschwisterten Ehrgeiz zu neuern - den “spirit of
innovation” - als Ergebnis beschränkter Ansichten (“confined views”) 171 . Weise man
Vorurteile zurück und sage sich so von der Vergangenheit los, dann entarte
menschliches Handeln zu einer Abfolge beziehungsloser Akte (“a series of
169 Burke, Reflections, S. 169

170 Burke betont, eine gute politische Ordnung stütze sich auf “the peculiar circumstances, occasions, tempers,
dispositions, and moral, civil, and social habitudes of the people” (‘On the Reform of the Representation in the
House of Commons’, S. 97; Hervorhebung nicht im Original). Vgl. Reflections, S. 36

171 Reflections, S. 78. Vgl. ebd., S. 65, und ‘On the Reform of the Representation in the House of Commons’,
S. 96 - 97
unconnected acts”) 172 , von denen jeder einzelne sich sprunghaft in seiner jeweiligen,
vorwegnehmendem oder rückblickendem Verstehen unzugänglichen Gegenwart
ereigne.
Das Bild, das Burke von seinem Gegner entwirft, ist indes eine Karikatur. Wer
Vorurteile meiden und dabei konsequent bleiben will, ist darum doch nicht
gehalten, ‘der Bank, auf welcher alle Völker und Zeitalter ihr Vermögen aufgehäuft
haben’, fernzubleiben. Er wird nur vermeiden, dort unbesehen Schulden zu machen.
Daß man dort unbesehen Schulden machen solle, empfiehlt gewiß auch Burke nicht.
Er sagt ja selber, man müsse nach den Schätzen der Vergangenheit suchen. Dies aber
bedeutet, daß sie, indem man sie findet, einem präsent werden müssen. Nichts weiter
ist jedoch von einem, der Vorurteile vermeiden möchte, gefordert. Er braucht die
Vergangenheit eben nicht, wie Burke glauben machen will, zurückzuweisen,
sondern muß sie nur prüfen. Und wie könnte einer, erstens einmal, je ‘die
verborgene Weisheit in den Vorurteilen entdecken’, wenn er sie nicht untersucht?
Zweitens aber: Selbst wenn es einer könnte, sollte er es besser unterlassen. Die
Weisheit, die in Vorurteilen verkörpert sein mag, ist Weisheit nicht nur vergangener
Welten, sondern, aus dem selben Grunde, Weisheit über vergangene Welten. Bevor
wir sie übernehmen, müssen wir uns darum allemal erst davon überzeugen, daß
jene vergangenen Welten, in denen wir nicht leben, den gegenwärtigen und
künftigen Welten, in denen wir leben und leben werden, hinreichend ähnlich sind.
Was gut ist, brauchen wir nicht zu ändern, wohl aber zuweilen, was lediglich einmal
gut war. Zu glauben, beides müsse zusammenfallen, wäre denn doch zu arglos. Die
Wendung der Konservativen, jene Einrichtungen, die sie schätzen, hätten die Probe
der Zeit bestanden, ist Schönrednerei: genaugenommen haben sie nichts weiter
bestanden als die Probe ihrer jeweiligen Zeit. Drittens ist das ärgerlichste an der
Vergangenheit, daß es so viel von ihr gibt. In der Geschichte liegt ein großes Buch zu
unserer Belehrung vor uns aufgeschlagen, versichert Burke 173 . Aber die Botschaft
dieses Buches ist alles eher denn klar und eindeutig. Falls es Rat für uns enthält -
und das will Burke ja nahelegen -, ist dieser oft widersprüchlich. Die Geschichte
versieht uns mit Beispielen für alles und jedes. Überdies wird sie unentwegt
umgeschrieben. “Es ist”, bemerkt Nietzsche, “gar nicht abzusehen, was Alles einmal
noch Geschichte sein wird” 174 . Doch selbst wenn wir uns, wie wir müssen, auf die
Geschichte beschränken, wie sie sich uns jetzt darbietet, und innerhalb ihrer
wiederum, wie Burke verlangt, auf das, was lange und in weitem Umfang bestanden
hat, sehen wir uns immer noch einer Menge von Dingen unterschiedlichster
Beschaffenheit gegenüber. Man muß darum nicht gleich sagen, die Geschichte könne
uns nichts lehren. Doch wo man sich Ratschläge holen kann, die miteinander
unvereinbar sind, gibt es jedenfalls kein simples Annehmen von Rat. Denn den
einen Ratschlag annehmen hieße, den anderen ablehnen. Was also not tut, ist
überlegte Wahl. Diese aber erfordert, daß man prüft und wägt.
Solches Prüfen und Wägen kann selbstverständlich Rücksicht darauf nehmen,
daß bestimmte Ideen nicht einfach die Erfindung nur eines Menschen oder nur einer
172 Reflections, S. 168

173 Ebd., S. 258: “In history a great volume is unrolled for our instruction”.

174 Die fröhliche Wissenschaft, § 34, S. 404


Generation sind, sondern von vielen Generationen ersonnen, entwickelt und
geschätzt wurden. Dieser Umstand kann als Hinweis darauf verstanden werden,
daß diese Ideen etwas taugen (wenngleich nur als schwacher Hinweis, vgl. § 57);
was im Lauf der Zeiten nicht untergegangen ist, mag wert sein, daß man es sich
näher besieht. Entscheidend aber ist, daß selbst eine solche wohlwollende Haltung
bereits keine unkritische Übernahme mehr bedeutet. Kritisch geprüft aber hat ein
Vorurteil aufgehört, ein Vorurteil zu sein. Obschon Burke sich selber dessen rühmte,
von keinem einzigen Strahl des Lichtes der Aufklärung erleuchtet gewesen zu
sein 175 , hatte er ihm in Wahrheit bereits so viel Raum gegeben, daß er das Ansinnen
auf kritische Prüfung nicht mehr zurückzuweisen vermochte. Ein bloßer
Unterschied im Ton - und Burke spricht natürlich in wärmeren Worten von der
Vergangenheit als die meisten Aufklärer - macht noch keinen Unterschied in der
Sache.

59. Um den Vorrang der Vergangenheit vor der Gegenwart, den die Aufklärung
seiner Auffassung nach umgestoßen und gegen eine umgekehrte Vorrangstellung
ausgewechselt hatte, wiederherzustellen, beschwor Burke die beiden miteinander
verbundenen Ideen der Präzedenz 176 und der Tradition 177 .
Präzedenz: das ist etwas, das zuvor vor sich ging. In der rechtlichen
Bedeutung des Ausdrucks - und die Sphäre des Rechts hat den Ausdruck geprägt
und prägt ihn - ist, was vor sich gegangen ist, freilich nur von Belang, so weit es in
Form eines Gerichtsurteils festgehalten ist. Was man Gewohnheitsrecht und
rechtliche Billigkeit nennt, ruht, besonders in den Rechtsordnungen Englands und
der Vereinigten Staaten, auf dem Korpus von Präzedenzfällen, den die Gerichte
geschaffen haben. Als ein früheres Urteil anderer, das wir im Vertrauen auf ihre
Autorität übernehmen, zeigt der Rückgriff auf Präzedenzfälle Verwandtschaft zu
dem, was Burke ‘prejudice’ nennt (§ 10).
Auf Präzedenzfälle wird verwiesen, um zu erreichen, daß in einem
bestimmten Fall in einer bestimmten Weise entschieden werde, weil in einem
früheren Fall so entschieden worden sei. Kurz gesagt fordert man, etwas solle jetzt
so gemacht werden, weil man es damals auch so gemacht habe. Dafür aber sind, so
scheint es, Argumente fällig. Denn es ist sinnvoll, zu fragen, warum eigentlich etwas
heute genauso gemacht werden solle wie gestern. Voltaire behauptete gar, wenn
man dies täte, und daraus einen Grundsatz mache, sei dies schiere Unvernunft. Es
widerspreche dem Wesen der Zeit, die unwiderstehlich vorwärts schreite 178 .
Betrachtet man indessen, weshalb im Recht, in dem ja der Ursprung solchen
Vorgehens liegt, auf Präzedenzfälle rekurriert wird, so erkennt man mindestens drei
Gründe dafür. Der erste von ihnen ist funktionaler, der zweite funktionaler wie
175 Reflections, S. 147: “not being illuminated by a single ray of this new-sprung modern light”.

176 Reflections, S. 75, 119

177 Ebd., S. 55, 75 - 76, 78 - 81, 83 - 84, 166 - 167, 181, 183 - 185, 436 - 437

178 Essai sur les mœurs et l’esprit des nations, ch. lxxxv, S. 79: “C’est donc une idée bien vaine, un travail bien
ingrat, de vouloir tout rappeler aux usages antiques, et de vouloir fixer cette roue que le temps fait tourner d’un
mouvement irrésistible”.
moralischer, der dritte gänzlich moralischer Natur. (Daß man gut daran tut, den
Rückgriff auf Präzedenzfälle vom Recht auf andere Bereiche des menschlichen
Lebens zu übertragen, wie Burke offenbar wünscht, ist freilich eine weitergehende
Behauptung, die als solche vielleicht zusätzlicher Gründe bedarf.)
Der erste der drei Gründe ist ein ökonomischer; er legt eine Teilung der
Arbeit nahe. Dinge zu durchdenken, die andere schon durchdacht haben, kann
heißen, daß man seine Zeit verschwendet, vorausgesetzt, daß die Ergebnisse des
früheren Durchdenkens in angemessener Weise zugänglich gemacht werden. (Daß
sie es werden, dafür läßt sich durch Veröffentlichung sorgen.) Der Rückgriff auf
Präzedenzfälle bedeutet dann für diejenigen, die Entscheidungen zu treffen haben,
daß sie nicht jede Frage von neuem beantworten müssen. Er spart Kraft, und erlaubt,
daß frühere Einsichten, statt ins Vergessen zu sinken, nutzbar gemacht werden.
(Diese Überlegung ist ein Fall dessen, was zuvor als ‘Rechtfertigung von Vorurteilen
aus intellektueller Ökonomie’ (§ 12) bezeichnet wurde.)
Der zweite Grund für den Rückgriff auf Präzedenzfälle ist ebenfalls ein
funktionaler, doch zugleich ein moralischer. Ein wichtiger Zweck des Rechts ist, daß
es denen, die unter seiner Ordnung leben, erlaubt, Erwartungen auf Dauer zu
stellen. Zusammenarbeit ist oft nur möglich aufgrund solcher Beständigkeit von
Erwartungen. Nichts auf der Welt könnte freilich vollkommene Beständigkeit
verbürgen. Doch Zwang gegen diejenigen, die legitime Erwartungen nicht erfüllen,
und Schadenersatz für diejenigen, deren legitime Erwartungen nicht erfüllt wurden,
können die Beständigkeit von Erwartungen im gesellschaftlichen Verkehr
hinreichend verbürgen, sofern nur jene Maßnahmen, Strafen wie ausgleichende
Leistungen, selber erwartet werden können. Sie können es aber, wenn die Gerichte
Präzedenzfälle berücksichtigen. (Man könnte einwenden, jene Bedingung sei auch
durch Gesetzesrecht zu erfüllen, und ganz gewiß tragen Gesetze dazu bei, daß
Erwartungen auf Dauer gestellt werden; doch von keinem Gesetzgeber der Welt
ließe sich jeder Zusammenstoß voraussehen, der zwischen Mitgliedern einer
Gesellschaft eintreten könnte.) Wo Strittiges auf der Grundlage früherer Urteile
entschieden wird, wird der gesellschaftliche Umgang, soweit er vom Recht
beherrscht ist, vorhersehbar; dies ist zweckmäßig. Präzedenzfälle respektieren heißt
jedoch zugleich auch, legitime Erwartungen respektieren, und dies hat moralische
Bedeutung. - Allerdings kann es leicht so aussehen, als sei dieser zweite Grund
zirkulär. Er scheint genau die Verfahrensweise vorauszusetzen, die er rechtfertigen
soll. Schließlich hätte man ja keinen Anlaß, die fraglichen Erwartungen auszubilden,
würde eine Rechtsordnung sich den Grundsatz, Präzedenzfälle zu achten, gar nicht
erst zu eigen machen. Dieser Zirkel läßt sich nur umgehen, wenn in einem ersten
Schritt, unabhängig von dem, was folgen mag, anerkannt wird, daß
gesellschaftliches Leben ganz allgemein nur möglich ist, sofern Erwartungen auf
Dauer gestellt werden können, und daß es unter den besonderen Bedingungen der
Moderne nur möglich ist, sofern richterliche Entscheidungen in Einklang mit
früheren richterlichen Entscheidungen erwartet werden können. Unerwartetes wird
selbstverständlich in jeder Gesellschaft passieren, und manches davon wird nicht,
oder mindestens nicht bei jedermann, Angst und Enttäuschung, sondern
Überraschung und Freude auslösen. Und doch kann das Maß, in dem sich die
Ereignisse in der Umgebung eines Menschen seiner Voraussage entziehen,
klarerweise einen Grad erreichen, der ihn unfähig macht, verständig zu reagieren;
ein Zweck von Rechtsordnungen ist, zu verhindern, daß dieses Maß je erreicht wird.
Der dritte Grund dafür, Präzedenzfällen zu folgen, ist gänzlich moralischer
Art. In ihm geht es um Gerechtigkeit, dahingehend verstanden, daß Gleiches gleich
und Ähnliches ähnlich behandelt werden solle. Ist einer für eine bestimmte
Handlung nicht verurteilt und bestraft worden, scheint die Gerechtigkeit zu
gebieten, daß anderen dies auch nicht widerfährt, sofern kein wesentlicher
Unterschied zwischen ihren Fällen besteht. Ebenfalls im Sinne einer so begriffenen
Fairneß hält eine Regel, die Richtern vorschreibt, vergangene Entscheidungen zu
beachten, diese dazu an, Neigungen und Abneigungen, die sie als Einzelne haben
mögen, tunlichst aus dem Spiel zu lassen. Die Gleichheit, die im zweiten Grund als
Bedingung für den Bestand geordneten gesellschaftlichen Verkehrs sowie als eine
Form, legitime Erwartungen zu respektieren, beschrieben wurde, ist auch eine Sache
der Gerechtigkeit in jener einfachsten Bedeutung des Ausdrucks.
All dies sind einleuchtende Argumente für den Grundsatz ‘stare decisis’.
Doch zugleich muß seiner Geltung eine Grenze gezogen werden. Selbst wenn es
wahr ist, daß ein Irrtum, wenn er nur allgemein angenommen wird, Gesetzeskraft
erlangt (‘communis error facit lex’) (vgl. § 67), so gilt doch auch, daß etwas bereits
kein allgemeiner Irrtum mehr ist, sobald einer es als Irrtum erkennt und eben darum
nicht länger akzeptiert. Andere Irrtümer sind ohnehin von Beginn an keine
allgemeinen, sondern bloß solche einzelner gewesen. Wollen wir sie nicht für immer
fortschreiben, dann muß es möglich sein, sich über Präzedenzfälle hinwegzusetzen.
Wären Richter genötigt, dem Urteil ihrer Vorgänger zu folgen, sagt Hobbes, dann
hinge alle Gerechtigkeit der Welt vom Spruch einiger weniger gelehrter oder
ungelehrter, unwissender Männer ab, und hätte mit vernünftigem Untersuchen der
jeweiligen Angelegenheit nicht das mindeste zu schaffen 179 . Angesichts der
vorgebrachten funktionalen und moralischen Gründe ist zu bemerken, daß es
dysfunktional und auch unmoralisch sein kann, Präzedenzfällen zu folgen.
Dysfunktional wird es, sobald genügend viele Mitglieder einer Gesellschaft
überzeugt sind, ein bestimmtes Verhaltensmuster, das bislang anerkannt gewesen
war, müsse aufgegeben werden. Unmoralisch kann es sein, Präzedenzfällen zu
folgen, weil die formale Gerechtigkeit, die sich in dem Grundsatz ausdrückt,
Gleiches müsse gleich behandelt werden, die Idee der Gerechtigkeit nicht erschöpft,
und selber am Maß eines inhaltlich bestimmteren Begriffs von Gerechtigkeit zu
messen ist. Es ist ungerechtfertigt, gegen jemanden vorzugehen, der dies nicht
verdient, bloß darum, weil einem anderen früher unter gleichen Umständen das
Leben schwer gemacht worden war; so können Überlegungen der Gerechtigkeit mit
dem Grundsatz, Präzedenzfällen zu folgen, in Streit liegen und ihn, wenn man den
vernünftigen Schluß zieht, aus dem Feld schlagen.
Darin liegt, daß man in Präzedenzfällen, zu denen man die Vergangenheit
kondensiert, nicht jenen offenbar ersehnten festen Boden unter die Füße bekommt,
dem man bedenkenlos vertrauen dürfte. Die Idee der Präzedenz macht das
aufklärerische Anliegen, das Vergangene und das Gegenwärtige zu prüfen,
durchaus nicht gegenstandslos. Die selben Tatsachen, wie sie einem Gericht in einem
Präzedenzfall vorlagen, kehren nie wieder. So stellt sich allemal die Frage, ob die
179 Dialogue between a Philosopher and a Student of the Common Laws of England, S. 86: “if judges were to
follow one another’s judgments in precedent cases, all the justice in the world would at length depend upon the
sentence of a few learned, or unlearned, ignorant men, and have nothing at all to do with the study of reason”.
Unterschiede, die am späteren Fall auszumachen sind, zu schwer oder nicht schwer
genug wiegen, um den Präzedenzfall zur Richtschnur zu machen, nach der der
spätere Fall beurteilt werden kann.
Der Wille, gerecht zu verfahren, indem man Gleiches gleich behandelt, ist
wertlos, tritt ihm nicht, wie Hobbes im Dialogue between a Philosopher and a Student of
the Common Laws of England formuliert, das Vermögen zur Seite, das Unähnliche an
solchen Fällen wohl zu unterscheiden, von denen das gemeine Urteil annimmt, sie
seien gleich. Ein geringfügiger Unterschied der Umstände zweier Fälle könne für
deren Beurteilung einen großen Unterschied machen 180 . Was als gleiche Behandlung
gleicher Fälle gelten darf, versteht sich durchaus nicht von selbst, sondern ist Sache
kritischen Prüfens; es erfordert sorgfältiges, durch die Belange der jeweiligen
Gegenwart geleitetes Untersuchen, festzustellen, auf welche Ähnlichkeiten es
ankommt und welche Unterschiede nicht rechtfertigen, daß man mit jemandem
anders verfährt.
Auch nur festzulegen, was als maßgebender Präzedenzfall gelten darf, bedarf
eigener Erörterung. Oft gibt es mehrere widerstreitende Präzedenzfälle; in diesem
oder jenem den entscheidenden zu sehen, ist selbst eine Entscheidung. Die unruhige
Geschichte Englands, dessen Herrschaft stets zwischen Übertretung der
Machtbefugnis und anerkanntem Vorrecht schwankte, sagt Hume, würde uns
unterschiedliche Präzedenzfälle liefern, auf die sich beide Seiten im politischen Streit
berufen könnten 181 . Präzedenzfälle sind nicht etwas, das es einfach gibt; sie sind
vielmehr etwas, das behauptet und bestritten wird.
Wessen Burke bedarf, um den Vorrang der Vergangenheit vor der Gegenwart
zu retten, ist darum etwas anderes als die erwähnten Argumente. Burke benötigt,
wie es scheint, die Idee, die Vergangenheit verdiene unsere Achtung einfach
deshalb, weil sie die Vergangenheit ist.
Doch eine solche Behauptung wäre nahezu unverständlich. Denn was könnte
es heißen, die Vergangenheit um ihrer selbst willen zu ehren? Ehren heißt,
bestimmte Vorzüge anerkennen. Wer ehrt, beansprucht, Ausgezeichnetes am zu
Ehrenden bemerkt zu haben. Doch einfach nur einen Platz im Ablauf der Zeit zu
haben, ist schwerlich ein Vorzug. Das mindeste, was wir sagen wollen, ist, daß die
Gründe für etwas schon recht dünn sein müssen, wenn sich zu seinen Gunsten
nichts weiter anführen läßt als ein zurückliegendes Datum. Nun spricht ja, wie wir
sahen, durchaus mehr als dies dafür, von Präzedenzfällen Gebrauch zu machen.
Doch die im Blick nach vorn gefaßten Gründe der Ökonomie des Entscheidens, des
Bestands der Gesellschaft und der Beständigkeit ihres Verkehrs, sowie der
Gerechtigkeit, erscheinen, wenngleich sie unter bestimmten Bedingungen stehen,
stark genug, um einen im Blick zurück gefaßten Grund für Präzedenz, Ehrfurcht vor
der Vergangenheit, überflüssig zu machen.
Man mag hier wiederholen wollen, was Burke zugunsten der Vorurteile sagt
(§ 55): ein festgehaltener Präzedenzfall, wie ein Vorurteil und wie die bestehenden
rechtlichen und allgemein gesellschaftlichen Institutionen, verkörpere eine Antwort
180Ebd.: “a faculty of well distinguishing of dissimilitudes in such cases as common judgments think to be the
same. A small circumstance may make a great alteration”.

181 History of England, ch. xlviii, S. 580: “The turbulent government of England, ever fluctuating between
privilege and prerogative, would afford a variety of precedents, which might be pleaded on both sides”.
auf strittige Umstände, die uns der Unsicherheit, wie mit ihnen umzugehen wäre,
enthebe. Der Hinweis lebt abermals von der Suggestion des Bewährten. Doch auch
hier gilt der Einwand, daß die Dauer einer Sache nicht ihre Güte verbürgt (§ 57).

60. An dieser Stelle setzt das Argument der Tradition (§ 59) ein. Der Einwand, dem
Burkes Lehre sich gegenübersah, war der, die Dauer einer Sache verbürge nicht, daß
sie gut ist. Die Idee der Tradition aber scheint einen Gegeneinwand an die Hand zu
geben. Denn wie finden wir denn heraus, daß etwas gut ist? Wir bewerten es anhand
bestimmter Maßstäbe. Woher aber haben wir diese Maßstäbe? Die Antwort scheint
unvermeidlich, daß wir sie mindestens zum Teil der Überlieferung entnehmen. Wir
sind, darauf will Burke hinaus, das, wozu Tradition uns gemacht hat. Und da dem
so sei, könne die Tradition, in der wir jeweils ständen, nie gänzlich Gegenstand
unserer Kritik werden. Das Argument besagt also, wir müßten uns der
Vergangenheit beugen, von der es sich jeweils so gefügt hat, daß sie die unsere ist,
weil diese Vergangenheit uns allererst zu dem gemacht hat, was wir sind.
Überlieferung bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen unser Denken, mithin auch
unser Kritisieren, erst möglich wird. Sollten wir je dem Zustand nahekommen, in
welchem unsere Tradition gänzlich Objekt unserer Kritik geworden wäre, so würde
das Subjekt solcher Kritik, wir selber, gleich mit verschwunden sein.
In seinen Schriften stellt Burke die Tradition, um die es ihm vor allem geht,
die politische Tradition Großbritanniens, als einen Organismus dar, als etwas, das,
wenn auch nicht gleichförmig, so doch ein von Widersprüchen freies Ganzes sei.
Tatsächlich aber liegen Traditionen miteinander im Streit, und zwar nicht nur
diejenigen verschiedener Länder, sondern auch innerhalb eines einzelnen Landes. So
gibt es zum Beispiel, und gab es schon im 18. Jahrhundert, eine Tradition des
Antisemitismus, in die auch Burke selber gehört 182 , ferner, zweitens, eine Tradition
des Philosemitismus, und schließlich drittens eine Tradition des Denkens, die man
Humanismus nennt, und die behauptet, man solle in demjenigen, der einem
begegnet, zunächst und vor allem nicht den Juden, sondern den Menschen sehen.
Daß wir aber Überlieferung einfach als etwas Gegebenes hinnehmen könnten oder
gar müßten, verliert allen greifbaren Sinn, sobald einmal Alternativen sich deutlich
abzeichnen. Von vornherein, wie auch immer sie genau zueinander stehen mögen,
ist es untriftig, daß einer bloß darum, weil er in einer jener Traditionen aufwuchs,
nicht später einer anderen von ihnen anhängen könnte. Ist Burke durch seine
Auffassung von Tradition auf die ganz unglaubwürdige Behauptung festgelegt,
dergleichen könne nicht geschehen, da die Tradition, in der der Betreffende
aufwuchs, ihn schließlich zu dem gemacht habe, der er ist? Die Frage ist wohl zu
verneinen, wenngleich in Burkes Bemerkungen doch immerhin mitschwingt, daß
jemand, der einen unversöhnlichen Bruch mit seiner Tradition vollzieht, diese
verrät 183 . Worauf Burke indes mindestens festgelegt ist, ist die Behauptung, wie
unnachgiebig auch immer jemand ein Stück seiner Tradition prüfe, so setze er dabei
doch unvermeidlich andere Bestände derselben voraus.
182 Reflections, S. 102, 104, 113, 163

183 Z.B. ebd., S. 30, 60 - 61, 65 - 66, 81 - 85, 181 - 185


Die Behauptung, Tradition mache uns zu dem, was wir sind, ist freilich einer
Schwierigkeit ausgesetzt. Tradition, so müßte selbst ein halsstarriger Traditionalist
zugeben, ist nicht das einzige, das uns zu dem macht, was wir sind. Gibt es jedoch
auch anderes, das uns zu dem macht, was wir sind, so entsteht ein Widerstreit der
Autoritäten, und es ist nicht länger einzusehen, warum gerade ‘die Vergangenheit’
stets Oberhand gewinnen sollte. Nun wäre der Traditionalist wohl kaum von dem
Einwand beeindruckt, auch unsere Biologie mache uns zu dem, was wir sind, so daß
wir, der Logik seiner Gedankenführung folgend, auch von Ehrfurcht vor der Natur
erfüllt zu sein hätten. Er würde antworten, es sei zwar wahr, daß unsere Biologie
uns zu dem mache, was wir sind, doch dem sei unmittelbar die Einschränkung
anzufügen: nämlich zu Tieren. Den Traditionalisten aber interessiert etwas anderes,
nämlich was uns urteilsfähig gemacht hat, und auf diese Frage antwortet er: unsere
Vergangenheit. Gewiß ist die Frage damit eine bestimmtere; doch daß die Antwort
auf sie erschöpfend ist, bleibt zweifelhaft. Denn ‘was wir’ in diesem Sinne ‘sind’,
liegt nicht ein für allemal fest; vielmehr entwickelt sich unsere Antwort auf die
Frage, was und wer wir sind, gerade dadurch weiter, daß wir unsere eigenen
Vergangenheiten kritisieren.
Tatsächlich liegt an dem Gedanken des Traditionalisten der Hinweis auf die
eigenen Grenzen klar genug zutage. Die Folgerung, die der Gedanke trägt, ist, daß
nicht alles auf einmal kritisiert werden kann. Daraus aber ist weiter nichts zu
schließen, als daß Kritiker einer Tradition eins nach dem anderen an ihr sich
vornehmen müssen. Aufklärung mag mühsam sein und Durchhaltevermögen
erfordern, weil sie nie auf einen Schlag erfolgt, sondern die Überlieferung stets nur
Stück für Stück auf die Probe zu stellen vermag. Ein Einwand gegen sie ist das nicht.
Von einem Vorgang, der sich in ganzen Zeitaltern vollzieht, zu erwarten, er müsse
auf einmal zum Erfolg führen, wäre unbillig.
Diese Antwort könnte freilich eine andere Überlegung herausfordern.
Vielleicht stimmt es schon, so mag man einräumen, daß viele Teile einer Tradition
sich verwerfen lassen; zugleich aber müsse es an ihr einen Kern geben, der nicht
kritisiert werden könne, weil er die Identität der Kultur ausmache, in welcher allein
diese Kritik als sinnvoll zu verstehen sei. Würde auch dieser Kern noch kritisch
aufgebrochen, dann wäre die Tradition, und die Kultur, die auf ihr ruht, nicht länger
diese Tradition. Doch diese Wendung des Gedankens verfängt nicht. Annehmen, daß
eine Kultur sich im Kern gleich bleiben müsse, hieße, das eigene traditionalistische
Beweisziel von vornherein als erwiesen ansehen. Veränderungen, die das Innerste
der Wertschätzungen einer Kultur betrafen, hat es in der Geschichte gegeben - daß
etwa die Christianisierung Europas eine solche Veränderung darstellte, ließe sich
mit Grund vertreten -; und während es durchaus eine sinnvolle Frage ist, ob die eine
oder andere dieser Veränderungen denjenigen, an denen sie sich vollzogen hat, gut
bekommen ist, kann man jedenfalls nicht einfach voraussetzen, das könne nie der Fall
sein. Denn mit dieser Voraussetzung würde das Plädoyer für Tradition zirkulär.
Das Argument der Tradition ist untauglich, einen Vorrang des Vergangenen
vor dem Gegenwärtigen zu begründen. Am Ende ist in ihm mißverstanden, was
Tradition ist. Eine Tradition ist nicht eine archaische Wesenheit, die sich durch lange
Zeiten hindurch gehalten hat. Vielmehr meint Tradition eine Folge beispielhafter
Gestalten. Beispiel zu sein ist aber keine immanente Qualität von Personen, die es
einmal gab. Es ist vielmehr ein Verhältnis, - das Ergebnis dessen, wie eine Nachwelt
über solche Personen spricht. Damit ist nicht gesagt, solches Sprechen sei willkürlich
und jeder beliebige ließe sich als beispielhafte Gestalt herausheben; was aber in jener
Bemerkung liegt, ist, daß nicht die Vergangenheit als solche den Ausschlag gibt,
sondern was wir in ihr sehen. Eine Tradition ist nicht etwas in gewesenen Zeiten,
sondern ein Konsens in der Gegenwart. Daß etwas als Präzedenzfall zur Richtschnur
des Entscheidens wird, hängt davon ab, wie es jetzt gesehen wird, nicht davon, wie
es seinerzeit wirklich war; genauso steht es mit Traditionen.
Eine Tradition zu behaupten ist ein Versuch, in einer gegenwärtigen
Generation einen Konsens zu schmieden, andere und sich selbst in einem
bestimmten Licht zu sehen. Traditionen werden aus dem Blickwinkel der jeweils
Lebenden entworfen, und dieser Blickwinkel verdankt sich ihren jeweiligen
Bedürfnissen und Absichten. Wir fertigen etwa bestimmte Schriftsteller kurz ab,
wenn wir Literaturgeschichte schreiben, mögen sie sich selbst noch so wichtig
genommen und als die wahren und ausschließlichen Erben einer großen Tradition
betrachtet haben, und wir heben andere, die in ihrem Leben als von früherer
Meisterschaft gänzlich abgeschnittene, unbedeutende Sonderlinge galten, hoch über
die Geringschätzung ihrer Zeitgenossen. So kann es geschehen, daß Gestalten der
Vergangenheit - Künstler oder Denker zum Beispiel - von uns zu einer Tradition
zusammengeschlossen werden, die einander nicht einmal namentlich kannten. Und
dies ist vertretbar, insofern es uns zustatten kommt, sie so zu sehen. Statt der
Vergangenheit Vorrang vor der Gegenwart zu geben, bezeichnet die begriffene Idee
der Tradition vielmehr einen Vorrang der Gegenwart vor der Vergangenheit.

61. Gegen Burke wurde eingewandt, daß auch der Konservative, der uns ermahnt,
im Vertrauen auf das Überlieferte zu leben, nicht darum herumkommt, es zu prüfen
(§ 58). Auf zwei Wegen kann man versuchen, diesem Einwand zu begegnen.
Obwohl beide Male der Versuch unternommen wird, Burke zu verteidigen,
ergänzen sich die Überlegungen wohl nicht; eher scheint es, daß man zwischen den
zwei Wegen wählen muß.
Zum einen könnte man sagen, daß doch auch Burke die besagte Möglichkeit
nicht ausschließen müsse: Menschen verwerfen Traditionen und entscheiden sich
für andere (§ 60). Nimmt man diesen Weg, so bleibt freilich eine Schwierigkeit.
Während Burke behauptet, in Vorurteilen sei die Weisheit vergangener Zeiten
versammelt (§ 55), lautet der kritische Vorbehalt, er solle erst einmal zeigen, daß es
sich dabei nicht um die gesammelte Torheit handele. An dieser Stelle nun trumpft
die andere Strategie auf. Ihr zufolge ist der Konservative gerade nicht gehalten, zu
zeigen, daß das Alte auch das Bessere ist.
Denn, so lautet nun das Argument, wir sollten ein Vorurteil zugunsten der
bestehenden Institutionen haben. Der Kontext dieser Überlegung, wie der meisten
Burkes, ist ein politischer. Daß Institutionen und Vorurteile etwas miteinander zu
tun haben, war eine Überzeugung, die Verteidiger und Kritiker derselben teilten.
Burke glaubte, alteingesessene Institutionen verkörperten gesunde Vorurteile;
Rousseau suchte den natürlichen Menschen von dem künstlichen Blendwerk von
Mensch zu unterscheiden, das Institutionen und Vorurteile jenem unterschoben
hätten 184 . Freilich würde man an dieser Stelle, im Zusammenhang mit Institutionen,
passender von Präsumtionen statt von Vorurteilen sprechen.
184 Rousseau juge de Jean Jaques, S. 728: “distinguer la realité de l’apparence, et l’homme de la nature de
l’homme factice et fantastique que nos institutions et nos préjugés lui ont substitué”.
Burke nennt die Präsumtion zugunsten des Bestehenden einen weiteren
Grund von Autorität in der Beschaffenheit des menschlichen Geistes (“another
ground of authority in the constitution of the human mind”); daß ein Volk geraume
Zeit unter einer bestimmten Herrschaftsordnung gelebt habe und dabei gediehen
sei, begründe eine Präsumtion für diese und gegen jedes noch nicht versuchte
Projekt 185 . Schlage einer vor, die Verhältnisse zu ändern, so liege die Beweislast
allemal bei ihm, nicht bei denen, die mit dem status quo zufrieden seien. So seien
auch diese, anders als jener, dessen enthoben, die bestehenden Verhältnisse auch nur
zu prüfen. Da Änderungen nicht an und für sich bereits etwas Gutes seien, müßten
diejenigen, welche Änderungen fordern, zeigen, was denn jeweils gut an ihnen
sei 186 . Betreibe man Veränderung um ihrer selbst willen, dann verschwende man
entweder seine Zeit und seine Kraft, oder beschwöre gar Gefahren herauf. Rasch sei
etwas zerstört, und lange brauche es, um wieder zu wachsen. Vom britischen
Unterhaus bemerkte Burke, es einzusetzen und zu erhalten habe Beträchtliches an
Zeit, Fleiß und Ausdauer erfordert, ungewöhnliche politische Gewandtheit, den
Zusammenschluß zahlreicher Menschen und unterschiedlicher Temperamente, und
das Zusammentreffen von Ereignissen, die nicht jeden Tag geschähen. Seine
Zerstörung hingegen habe nur einen Moment gebraucht, und gewöhnliche Kräfte
hätten sie erreicht. Doch zu bauen sei einmal Sache der Geschicklichkeit; das
Gebaute in Schutt zu legen, langten dagegen Gewalt und Raserei hin 187 . Wie ein
Bewunderer Burkes sagte, bedarf es, um eine Stadt niederzubrennen, bloß eines
Kindes oder eines Verrückten; sie aber wiederzuerrichten, benötige man Baumeister,
Steine, Arbeiter, Geld, vor allem aber Zeit 188 .
Wut und Tollheit werden in einer halben Stunde mehr einreißen, als Klugheit,
Überlegung und Voraussicht in hundert Jahren zu errichten vermögen, heißt es in
den Reflections on the Revolution in France 189 . Die konservative Präsumtion versteht
sich so als eine Maßregel, die die Vorsicht gebietet: Ein Gut, das wir kennen, sollte
nicht leichtfertig für etwas vermeintlich Besseres, das wir noch nicht kennen, aufs
185‘On the Reform of the Representation in the House of Commons’, S. 96: “It is a presumption in favour of
any settled scheme of government against any untried project, that a nation has long existed and flourished
under it”.

186Whately, Elements of Rhetoric, S. 114; vgl. § 76. - Man treibt den Konservativismus weiter, wenn man von
vornherein bezweifelt, es könne irgendein überzeugendes Argument für Änderungen geben; so etwa
Montaigne, ‘De la præsumption’ [= Essais II,17], S. 655: “Et pourtant, selon mon humeur, és affaires
publiques, il n’est aucun si mauvais train, pourveu qu’il aye de l’aage et de la constance, qui ne vaille mieux
que le changement et le remuement”.

187 ‘A Representation to his Majesty’, S. 136: “It required a great length of time, very considerable industry and
perseverance, no vulgar policy, the union of many men and many tempers, and the concurrence of events which
do not happen every day, to build up an independent house of commons. Its demolition was accomplished in a
moment; and it was the work of ordinary hands. But to construct, is a matter of skill; to demolish, force and fury
are sufficient”.

188 de Maistre, Essai sur le principe générateur des constitutions politiques, xxxviii, S. 274: “Pour brûler une
ville, il ne faut qu’un enfant ou un insensé; pour la rebâtir, il faut des architectes, des matériaux, des ouvriers,
des millions, et surtout du temps”.

189 S. 303: “Rage and phrensy will pull down more in half an hour, than prudence, deliberation, and foresight
can build up in an hundred years”.
Spiel gesetzt werden. (Montaigne meint gar, selbst ein Übel, sei es nur alt und gut
bekannt, sei allemal erträglicher als ein neues, unerprobtes Übel 190 .) Burke schließt,
wir dürften nur mit unendlicher Behutsamkeit - und das heißt im Grunde: gar nicht -
wagen, ein Gebäude abzutragen, wenn es lange Zeit auch nur in gerade erträglichem
Maß unseren gemeinsamen Zwecken entsprochen habe 191 . So glaubt der
Konservative sagen zu dürfen, er sei solange im Recht, wie die anderen nicht den
Beweis geführt hätten, daß er im Unrecht sei.

62. Die konservative Präsumtion will darauf hinaus, daß die Beweislast im Hinblick
auf eine Veränderung immer bei dem liegt, der sie fordert. Allerdings ist die Frage
angebracht, ob der Gedanke sich so, ohne einen Blick auf den Stand der Geschichte,
halten läßt.
Denn es scheint, daß moderne Gesellschaften nicht bestehen können, ohne
“sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren”, wie es
in Marx’ und Engels’ berühmter, durchaus nicht verstaubter Diagnose heißt. “Die
fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller
gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die
Bourgeoisepoche vor allen früheren aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit
ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden
aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische
und Stehende verdampft” 192 .
Moderne Gesellschaften existieren anscheinend unter der Bedingung, daß es
ihnen gelingt, in stets beschleunigtem Tempo neue Technologien sowohl des
Produzierens wie des Kommunizierens zu entwickeln und mit ihnen neue Märkte
zu erobern. Dies wiederum verlangt, daß sie fortwährend in gleichermaßen
gesteigerter Geschwindigkeit ihre politischen, rechtlichen und allgemein
gesellschaftlichen Arrangements den sich verändernden Umständen anpassen. So
mag eine konservative Präsumtion traditionellen Gesellschaften angemessen
gewesen sein - zumindest, wenn man ihr Fortbestehen wünschte -, während sie zu
modernen Gesellschaften anscheinend nicht stimmt - auch und gerade dann, wenn
man ihr Fortbestehen wünscht.
Demnach ist es unwahrscheinlich, daß irgendetwas, das so bleibt, wie es ist,
zu modernen Gesellschaften paßt. Dies könnte dafür sprechen, die Beweislast gerade
umgekehrt zu verteilen, und so die aufklärerische Infragestellung des Vergangenen
190 ‘De la vanité’ [= Essais III,9], S. 959: “le plus vieil et mieux cogneu mal est tousjours plus supportable que
le mal recent et inexperimenté”.

191 Reflections, S. 125: “it is with infinite caution that any man ought to venture upon pulling down an edifice,
which has answered in any tolerable degree for ages the common purposes of society”.

192 Manifest der Kommunistischen Partei, S. 465. Die Auflösung der “altehrwürdigen Vorstellungen und
Anschauungen”, die Marx und Engels mit Genugtuung quittieren, ist natürlich der Untergang der Vorurteile
und “pleasing illusions”, den Burke beklagt: “All the decent drapery of life is to be rudely torn off. All the
superadded ideas, furnished from the wardrobe of a moral imagination, which the heart owns, and the
understanding ratifies, as necessary to cover the defects of our naked, shivering nature, and to raise it to dignity
in our own estimation, are to be exploded as a ridiculous, absurd, and antiquated fashion” (Reflections, S. 151).
Die selbe Erscheinung wird von Marx und Engels als geschichtliche und damit vergängliche, von Burke
hingegen als immerwährendes Erfordernis der menschlichen Natur gesehen; daraus ergibt sich die jeweils
unterschiedliche Bewertung.
zu institutionalisieren. Wenn in einer modernen Gesellschaft etwas unverändert
bleiben soll, müßte erst einmal gezeigt werden, daß dies, entgegen aller
Wahrscheinlichkeit, möglich ist.

63. Mit dem raschen Schrittmaß moderner Gesellschaften scheint die konservative
Präsumtion abgetan. Doch der Konservative könnte all die spezifisch modernen
Umstände, die erwähnt wurden (§ 62), als Teil jener Krankheit einstufen, die er
heilen will.
Nimmt man diese unnachgiebige Haltung an, fallen die angeführten Gründe
in der Tat flach; die Frage ist nur, ob da wirklich noch ein Konservativer spricht. Er
scheint sich zum Reaktionär gewandelt zu haben. Ob Burke sich jene Haltung zu
eigen gemacht hätte, darf bezweifelt werden. Denn er war kein Verächter der
Moderne. Daß moderne Gesellschaften gerade im Interesse ihrer Erhaltung des
Wechsels bedürfen, hat er anerkannt. Eine Staat ohne Mittel zur Veränderung sei
ohne die Mittel zu seinem Fortbestand 193 . Konservativ war Burke nur insofern, als
Mittel zum Fortbestand zu sein aus seiner Sicht die einzige Rechtfertigung
absichtlich herbeigeführten Wandels darstellte. Auch er schließe Veränderung nicht
aus, bemerkt er einmal, doch wenn er verändere, so tue er dies, um zu bewahren 194 .
Bleibt so Raum für eine Haltung, die konservativ wäre, ohne die Modernität
einfach preiszugeben? Einer solchen Haltung könnte die folgende Überlegung
zugrundeliegen: Eben weil die Moderne ohnehin so unnachsichtig im Abwerfen des
Überkommenen sei, sollte dieses durch eine Präsumtion gegen Neuerungen behütet
werden, gerade so, wie Tiere und Pflanzen besonderen Schutz erhielten, weil die
industrielle und landwirtschaftliche Ausbeutung der Natur durch ihre Erfolge schon
viele Arten habe aussterben lassen.

64. Lassen wir also den Einwand, die konservative Beweislastverteilung sei überlebt.
Fällt er fort, dann nimmt sie sich durchaus vernünftig aus. Freilich müssen wir
darüber ins Klare kommen, was genau sie bedeutet. In ihr liegt kein bestimmter
Grund zugunsten irgendeiner Institution, die wir haben. Genaugenommen ist die
konservative Präsumtion gar kein Argument. Sie legt nur fest, wer, wenn es zu
einem Austausch von Argumenten kommen soll, den ersten Schritt tun muß.
Die Präsumtion für das Gewohnte und gegen das Ungewohnte, für das
Wirkliche und gegen das bloß Mögliche mag noch so vernünftig sein; sobald wir
herauszufinden suchen, was wir am besten tun sollten, kommt ein Punkt, an dem sie
nicht mehr hinreicht. Vernünftig ist, an keinen die Erwartung zu richten, daß er eine
bestehende Institution verteidige, solange ein nennenswerter Grund gegen sie nicht
angeführt worden ist. Hat indes jemand einen solchen Grund angeführt, dann
erwartet er, daß dieser ernstgenommen wird. Ernstgenommen wird ein Grund aber
erst, wenn man sich bemüht, ihn zu verstehen, zu beurteilen, und den Einwand, der
in diesem Fall ja mit ihm erhoben wird, zu beantworten. Die Beweislast verteilen ist
der Beginn einer Auseinandersetzung, nicht ihr Ende. Insbesondere dispensiert es
nicht davon, Einwänden Beachtung zu schenken. Wenn Beweislasten Lasten sind,
193 Burke, Reflections, S. 59: “A state without the means of some change is without the means of its
conservation”.

194 Ebd., S. 436: “I would not exclude alteration neither; but even when I changed, it should be to preserve”.
dann muß es zumindest möglich sein, daß einer sie schultert; andernfalls handelt es
sich bei ihrer Zuweisung an den Gegner lediglich um eine List, den eigenen
Standpunkt sakrosankt zu machen. Statt eine Aufforderung zu sein, einen Beweis zu
versuchen, und so die Diskussion in Gang zu bringen, würde die Verteilung der
Beweislast dann zum Mechanismus ihrer Blockade. Der Konservative würde sich
auf die Verteilung der Beweislast berufen, der Progressive auf seine Argumente, und
so würden beide behaupten, die Beweislast liege nun beim anderen. Gerade der
Appell an den anderen, die Beweislast aufzunehmen und so den Fortgang des
Disputs zu ermöglichen, machte den Fortgang des Disputs unmöglich.
Hat jemand bedenkenswerte Überlegungen gegen den status quo und für eine
Veränderung entwickelt, dann liegt die Beweislast nun wieder beim Anhänger des
status quo. Sonst könnte man niemals andere davon überzeugen, Veränderungen
täten not. Und das wollen doch, wie wir sahen, auch Konservative manchmal (§ 63);
haben sie auch sonst keinen Wunsch, so möchten sie wenigstens die Leute von ihrer
Neuerungssucht abbringen. Burkes Verteidigung der Vorurteile war Teil eines
politischen Programms mit der ausgesprochenen Absicht, den Revolutionären das
Handwerk zu legen. Der Wert oder Unwert all dessen, was er tue, sagt Burke in
einem Brief von 1795, bemesse sich für ihn daran, ob es die Sache des Jakobinertums
hindere oder fördere. Unter Jacobinism verstand Burke den zu seiner Zeit nur zu
erfolgreichen Versuch, den Menschen ihre Vorurteile auszutreiben, um alle Macht
und Autorität in die Hände derer zu legen, die sie gelegentlich aufklären könnten 195 .
Die Definition des Konservativen als eines, der konserviere, vermag nicht zu
befriedigen; schließlich haben auch Konservative Mülltonnen vor ihren Häusern, im
wörtlichen wie im übertragenen Sinne, und zeigen so durch die Tat, daß sie nicht
alles konservieren. Ob man Konservativismus richtig findet oder nicht, -
verständlich wird diese Haltung überhaupt erst, wenn man dem Konservativen die
Überzeugung zuschreibt, das, was er zu konservieren suche, sei wert, konserviert zu
werden.
Hat also der Anwalt einer Neuerung herausgestellt, was wir von dieser zu
hoffen haben, so ist dagegen nur anzukommen, indem man herausstellt, was von ihr
zu befürchten ist, nämlich der Verlust von Bewährtem, an dessen Stelle das Neue
treten soll. Nur mit Bewußtsein davon, daß wir etwas zu verlieren haben, und was
wir zu verlieren haben, hat Konservativismus einen Sinn. Ist einmal bestritten, daß
das, was der Konservative als Verlust ansehen würde, wirklich einer wäre, dann
obliegt ihm, zu zeigen, daß uns so eben doch etwas Gutes abhanden käme. Das aber
ist nicht anders zu leisten, als indem man die je besonderen Verdienste der
überkommenen Institutionen, ihre behauptete tiefe und weittragende Weisheit 196 ,
zunächst einmal nachprüft.
Der Konservative mag noch so gut daran tun, sich die Behauptungen des
angehenden Neuerers zweimal anzusehen; indem er hinschaut, und zweimal
195 ‘Letter to William Smith, 29 January 1795’, S. 404: “My whole politicks, at present, centre in one point; and
to this the merit or demerit of every measure (with me) is referrible; that is, what will most promote or depress
the cause of Jacobinism. What is Jacobinism? It is an attempt (hitherto but too successful) to eradicate prejudice
out of the minds of men, for the purpose of putting all power and authority into the hands of the persons capable
of occasionally enlightening the minds of the people”.

196 Burke, Reflections, S. 176: “profound and extensive wisdom”.


hinschaut, steckt er auch schon in einer Untersuchung der Angelegenheit. Ein
Vorurteil zugunsten des Bestehenden, das diese Möglichkeit ausschließen würde,
wäre Sturheit.

65. Wenn es auch Vorurteile gibt, die ihre Meriten haben, ist nicht zu leugnen, daß
sich in anderen nur zu offenkundig Dummheit manifestiert. Zwar ist die Ansicht
widerlegt, Vorurteile müßten dumm sein (§ 42). Doch einige sind es zweifellos. Man
mag den Rat annehmen, nach verborgener Weisheit Ausschau zu halten, wo uns
Meinungen früherer Generationen überliefert worden sind (§ 58). Aber es kann sich
herausstellen, daß, was da von Hand zu Hand gereicht wurde, der Niederschlag
schierer Ignoranz ist. Wie ein Held der Aufklärung, Sokrates, ins Licht gerückt hatte,
weiß man über die Dinge und Begriffe, die man ständig gebraucht, oft am
wenigsten. Man bemerkt sie gar nicht recht, gerade weil sie einem unentwegt vor
Augen sind. Was sich von selbst versteht, wird nicht eigens verstanden; man spitzt
die Ohren nicht für das, was dauernd gesagt wird. Blind- und Taubheit für das
Gewohnte ist ein stets wiederkehrendes Motiv in Platons frühen Dialogen. Kephalos,
zu Beginn des ersten Buches der Politeia, bleibt das Problem des Moralischen
unzugänglich, eben weil ihm das Moralische so vertraut ist. Thrasymachos hingegen
wiederholt nicht einfach das herkömmliche Vorurteil, sondern ist in der Lage, ein
wirkliches Urteil über das Moralische zu fällen, gerade aufgrund des Abstands, den
er zu ihm besitzt. Gewiß hält Sokrates dies Urteil für grundverkehrt; ebenso gewiß
ist aber, daß es ihm als weit bedenkenswerter und aufschlußreicher gilt als
Kephalos’ Haltung.
Überdies widersprechen Vorurteile einander manchmal. Falls einige stimmen,
muß es der Fall sein, daß andere nicht stimmen. Deshalb läßt sich, wie es scheint,
keine Verteidung von Vorurteilen vertreten, die diese unterschiedslos in Schutz
nähme. Um aber einen Unterschied zu ziehen, benötigt der Verteidiger von
Vorurteilen ein Kriterium. Er muß angeben können, welche Vorurteile wir haben
sollten.
Dies spiegelt sich in den Plädoyers für Vorurteile, aus denen sich in
Großbritannien fast eine Tradition formte, nachdem in Frankreich zum Angriff auf
jene geblasen worden war. So spricht Hume in seinem Aufsatz über moralische
Vorurteile von nützlicher Voreingenommenheit (“useful Byasses”) 197 . Lord
Chesterfield fragt in seinem Essay über Vorurteile im Hinblick auf die Masse der
Menschen (“[t]he bulk of mankind”), ob ehrlicher Instinkt und gesunde Vorurteile
197 ‘Of Moral Prejudices’, S. 371: “There is another Humour, which may be observ’d in some Pretenders to
Wisdom, and which, if not so pernicious as the idle petulant Humour above-mention’d, must, however, have a
very bad Effect on those, who indulge it. I mean that grave philosophic Endeavour after Perfection, which,
under the Pretext of reforming Prejudices and Errors, strikes at all the most endearing Sentiments of the Heart,
and all the most useful Byasses and Instincts, which can govern a human Creature. The Stoics were remarkable
for this Folly among the Antients; and I wish some of more venerable Characters in latter Times had not copy’d
them too faithfully in this Particular. The virtuous and tender Sentiments, or Prejudices, if you will, have
suffer’d mightily by these Reflections; while a certain sullen Pride or Contempt of Mankind has prevail’d in
their Stead, and has been esteem’d the greatest Wisdom; tho’ in Reality, it be the most egregious Folly of all
others”. - Zu Nützlichkeit als Rechtfertigung von Vorurteilen vgl. Voltaires Gedicht “Il est des préjugés utiles”
in seiner ‘Lettre à Théodore Tronchin’, S. 158. - Klinger, Betrachtungen und Gedanken I, Nr. 307, S. 184 - 201,
bes. S. 185
sie nicht weit besser leiteten als nur halb gemeistertes Denken 198 . Und Burke sagt in
dem angeführten Passus seiner Reflections, durch gerechte Vorurteile werde die
Pflicht dem Menschen zu einem Teil seiner Natur 199 . Von nützlicher
Voreingenommenheit indes kann nur die Rede sein, wenn sie unvoreingenommen
auf ihre Nützlichkeit hin untersucht wurde. Hat sich von der Voreingenommenheit
aber erwiesen, daß sie etwas taugt, dann ist sie insofern keine mehr. Und
Chesterfield wie Burke haben sicher recht, wenn sie meinen, eine glaubwürdige
Verteidigung von Vorurteilen könne sich nicht auf jedes beliebige Vorurteil
erstrecken; werden aber die Vorurteile, die eine Apologie verdienen, als gesund oder
gerecht bezeichnet, so liegt darin der Anspruch, sie seien geprüft und für gut
befunden worden. Sie müssen einem Urteil unterlegen haben, nicht lediglich einem
weiteren Vorurteil. Da die Kriterien der Nützlichkeit, Gesundheit und Gerechtigkeit
auf Vorurteile angewandt werden, können sie ihnen nicht entnommen sein. Wären sie
selber aus Vorurteilen abgeleitet, müßte man nämlich wissen, was denn das für
Vorurteile wären. Und damit geriete man ersichtlich unmittelbar in einen Regreß.
Die Verteidiger der Vorurteile dürfen dieselben nicht als Vorurteile teilen. Was
den Gegenstand jener angeht, müssen sie sich jeweils ein wirkliches Urteil gebildet
haben. Sie sind darauf festgelegt, die Sache, um die es geht, untersucht zu haben,
wenn das, was sie äußern, verdient, eine Empfehlung genannt zu werden.
Empfehlungen, sind sie mehr als der Ausdruck von Launen, müssen Gründe haben.
Darum sind Empfehlungen von Vorurteilen paradox. Was sie empfehlen, kann nicht
das bleiben, als was es empfohlen wird: ein Vorurteil. Ist die Empfehlung eines
Vorurteils nicht grundlos, dann ist dieses geprüft worden und damit zu einem Urteil
geworden. Wer die Dunkelheit beleuchtet, um zu zeigen, wie gut sie ist, zerstört sie.

66. Zumindest Hume mögen Überlegungen dieser Art beeindruckt haben. Denn er
zog seinen Aufsatz zurück. Dem Geist der Zeit folgend wollte auch er sich als
unerbittlicher Streiter wider die Vorurteile sehen lassen; in allem, woran man seinen
Verstand wende, so rügte Hume, bedeute Vorurteil die Zerstörung gesunden Urteils
und die Perversion aller Leistungen unserer geistigen Vermögen 200 . Verhält es sich
in der Tat so, daß man sich notwendig Widersprüche einhandelt, indem man
Vorurteile befürwortet, wird ein Verdikt über sie wie das Humes begreiflich. Aber
vielleicht ist jener Zusammenhang nicht notwendig. Denn es scheint, das Paradox,
ein empfohlenes Vorurteil sei keines mehr, lasse sich umgehen.
Zunächst einmal sollte man unterscheiden, ob Vorurteile nur im allgemeinen
oder ob ganz bestimmte Vorurteile empfohlen werden. Ist letzteres der Fall, dann
muß der jeweilige besondere Inhalt der Vorurteile geprüft worden sein. Damit ergibt
sich die Paradoxie: sie hören so auf, Vorurteile zu sein. Anders steht es, wenn
198 ‘On Prejudices’, S. 258: “Will not honest instinct prompt, and wholesome prejudices guide them, much
better than half reasoning?”

199 S. 169: “Through just prejudice, his duty becomes a part of his nature”. - Unverkennbar besteht eine
Spannung zwischen dieser einschränkenden Bestimmung der annehmbaren Vorurteile durch das Adjektiv “just”
und der Behauptung, die Briten schätzten Vorurteile als solche: “we cherish them because they are prejudices”
(S. 68; vgl. § 55).

200 ‘Of the Standard of Taste’, S. 277: “It is well known, that in all questions, submitted to the understanding,
prejudice is destructive of sound judgment, and perverts all operations of the intellectual faculties”.
Vorurteile nur im allgemeinen empfohlen werden. Darin scheint kein Widerspruch
zu liegen. Gewiß muß man dazu im allgemeinen der Frage nachgegangen sein, was
es mit Vorurteilen auf sich hat. Denn handelt es sich wirklich um eine Empfehlung,
dann muß sie begründet sein. Der Grund könnte sein, daß wir Vorurteile brauchen,
um mit unserem Leben zu Rande zu kommen. Oder er mag besagen, daß Vorurteile
für den Bestand von Gesellschaft notwendig sind. In solchen allgemeinen
Behauptungen ist nicht auf bestimmte einzelne Vorurteile Bezug genommen.
Folglich braucht man sich der einzelnen Vorurteile nicht vergewissert zu haben, um
solche Behauptungen aufzustellen. Diese verwandeln mithin jene nicht in Urteile,
und vermeiden so die Paradoxie.
Vorurteile im allgemeinen zu empfehlen kann hier nicht bedeuten, sie
ausnahmslos zu empfehlen (vgl. allerdings § 67). Wie Hume, Chesterfield und Burke
erkannt hatten, ist die Behauptung, alle Vorurteile seien vernünftig, unhaltbar. Daß
unter den Vorurteilen auch ein paar Dummheiten sind, die kein vernünftiger
Mensch im Ernst empfehlen wollte, läßt sich nicht leugnen. So ist es wohl nötig, eine
Auswahl unter den Vorurteilen zu treffen, und dazu muß man, wie es scheint, nun
doch vom Allgemeinen zum Besonderen übergehen. Tut man dies, dann, so scheint
es, verstrickt man sich in die Paradoxie. Wer Vorurteile im allgemeinen empfiehlt,
kann demnach nicht mehr sagen als etwa dies: ‘Jeder kann nur eine begrenzte Zahl
von Fragen zum Gegenstand seiner Überlegungen machen, und das als fraglich
Genommene muß gegen anderes balanciert werden, das man unbefragt hinnimmt.
Dazu braucht man Vorurteile - aber welche Vorurteile man haben soll, folgt nicht aus
dieser Empfehlung’. Damit aber ist nichts besonders Aufschlußreiches gesagt. Ganz
uninteressant ist es freilich auch nicht.
Die Lage, in die man sich bringt, indem man Vorurteile im allgemeinen
empfiehlt, ließe sich der Tertullians vergleichen, als er seinen Glauben mit dem
Argument empfahl, die Fleischwerdung Christi sei gewiß, weil sie unmöglich sei
(“certum est, quia impossibile”) 201 . Der Satz ist bemerkenswert, zugleich aber auch
auf eine verfängliche Art unbestimmt. In Tertullians Bemerkung steckt natürlich, das
Göttliche müsse der menschlichen Vernunft widersinnig vorkommen, da es sie in
unendlichem Maß übersteige. Doch selbst wenn man dies wohlwollend gelten läßt,
gibt uns das Argument keinen Grund, weshalb wir von all dem Unmöglichen, das je
behauptet worden ist, gerade die christliche Unmöglichkeit glauben sollten. Das
Ergebnis ähnelt dem der Empfehlung von Vorurteilen im allgemeinen: eine
aufregende Ansicht wird geboten, doch in ihrer Mitte klafft eine Lücke, die sich
nicht füllen läßt, ohne daß man das verlöre, was die Ansicht aufregend macht.
201 De carne Christi, 5. Der Versuch einer Rationalisierung von Tertullians Ausspruch liegt in Augustinus’
Vergleich der Geschichten von Jona und Arion vor. Jona, so berichtet die Bibel, wurde von einem “großen
Fisch” verschluckt und nach drei Tagen wieder ausgespien (Jona 2.1); Arion, so sagt der heidnische Mythos,
brachte, als er sich von einem Schiff ins Wasser gestürzt hatte, ein von seiner Musik bezauberter Delphin sicher
an die Küste (Herodot 1.23). “Verum illud nostrum de Iona propheta incredibilius est. Plane incredibilius, quia
mirabilius, et mirabilius quia potentius” (“Aber jene unsere Geschichte über den Propheten Jona ist in höherem
Maße unglaublich. Und es ist klar, daß sie in höherem Maße unglaublich ist, denn sie ist ja wunderbarer, und
wunderbarer, weil sich in ihr größere Macht zeigt”) (De civitate Dei I,14, S. 66). Doch wenn sie unglaublicher
ist, weil sie wunderbarer ist, und wunderbarer, weil sich in ihr größere Macht zeigt, dann, so legt Augustinus
nahe, ist sie letztlich glaubhafter: daher das “Plane”. Anders gesagt ist, sobald man einen allmächtigen Gott
unter seinen Prämissen hat, ein Ding, wie schon Bayle spottete, desto glaubhafter, je unmöglicher es erscheint
(“il résulteroit de là que plus une chose paroit impossible, plus est elle digne de croiance”) (Art. ‘Jonas’, S.
465). Vgl. a. Locke, Essay, IV,xviii,11, Bd. III, S. 147
67. Wer Vorurteile im allgemeinen empfiehlt, könnte freilich den Standpunkt
beziehen, auf deren besonderen Inhalt komme es gar nicht an - sofern sie nur eine
Bedingung erfüllen: sie müßten, nach Duclos’ Ausdruck, das Gesetz des den
Menschen Gemeinsamen (“la loi du commun des hommes”) sein (§ 10).
Mit Bedacht spielt Duclos auf die Jurisprudenz an; deren Lehre, daß Irrtum,
wenn er nur allgemein ist, Recht wird (vgl. § 59), auf Dig. 1.14.3 gemünzt, hat
Duclos’ Auffassung der Vorurteile Pate gestanden. Ein von Ulpian (Sabinus, l. 38)
angeführtes Beispiel diente dazu, den Satz communis error facit ius zu erläutern:
Einem entlaufenen Sklaven namens Barbarius Philippus war es nicht nur gelungen,
das Leben eines freien Bürgers zu führen, er wurde sogar zum Prätor ernannt und
versah dieses öffentliche Amt. Als seine Herkunft entdeckt wurde, erhob sich die
Frage, ob die Dekrete und Edikte, die er als Prätor erlassen hatte, null und nichtig
seien. Ulpian kam zu dem Schluß, keine seiner Verordnungen sei ungültig, da die
gesamte Rechtsgemeinschaft dem Schein getraut habe. Außerhalb des Rechts sei es
nicht anders, befindet Pascal in seinen Pensées; wenn wir die Wahrheit über etwas
nicht wüßten, sei es gut, wenn das Suchen wenigstens durch einen vermeintlichen
Fund, einen unumstrittenen, weil allgemein geglaubten Irrtum stillgestellt werde;
zum Beispiel, wenn wir den Wechsel der Jahreszeiten, den Verlauf von Krankheiten
und anderes mehr auf den Mond zurückführten 202 .
Auf Vorurteile nimmt Pascal in diesem Fragment nicht ausdrücklich Bezug.
Doch manche der Irrtümer, um die es geht, könnten sehr wohl Vorurteile sein. Sollte
Pascal es nicht so gesehen haben, dann gilt doch mindestens, daß eine solche
Auffassung sich vertreten ließe.
Anzumerken ist auch, daß Pascal, anders als Duclos, Burke und Hazlitt (§ 10),
die Gemeinsamkeit von Vorurteilen lediglich als Mittel schätzt; der Zweck, um den
es ihm zu tun ist, besteht darin, nutzloser Neugier (“curiosité inutile”) Einhalt zu
gebieten. Da Uneinigkeit dazu führe, daß man sich eingehender mit der jeweils
umstrittenen Sache beschäftige, könnten nur allgemein geglaubte Irrtümer verhüten,
daß die Menschen ihre Nasen in alles steckten: nichts anderes macht ihre
Allgemeinheit anziehend für Pascal.
Will man den Standpunkt überprüfen, den Pascal hier einnimmt, so ist
zwischen zwei Fragen zu unterscheiden: erstens, ob in ihm ein Widerspruch steckt,
und zweitens, ob er richtig ist. Nur wenn die erste Frage zu bejahen ist, unterliegt
Pascals Behauptung, wie wir sie hier verstehen, der am Empfehlen von Vorurteilen
gefundenen Paradoxie (§ 65). Natürlich ist die zweite Frage auch wichtig; es wäre
seltsam, ginge man über sie hinweg.
Nun ist, zum ersten, nichts daran widersprüchlich, daß ein Irrtum, wenn, weil
und insofern er allgemein ist, eine bestimmte Funktion erfüllt und in diesem Sinne
etwas Gutes ist. Das Paradox im Empfehlen von Vorurteilen rührt ja daher, daß
man, um ein Vorurteil zu empfehlen, es prüfen muß - wodurch es zu einem Urteil
wird und somit aufhört, ein Vorurteil zu sein (§ 65). Das besagte Erfordernis entsteht
im vorliegenden Fall jedoch nicht. Prüfen muß man in ihm nämlich nichts weiter, als
202 Pascal, Pensées, frgm. 744*-926* (Lafuma), S. 409: “Lorsqu’on ne sait pas la vérité d’un chose il est bon
qu’il y ait une error commune qui fixe l’esprit des hommes comme par exemple la lune à qui on attribue le
changement des saisons, le progrès des maladies, etc.”. - Vgl. frgm. 745*-926*, ebd.
daß das Vorurteil allgemein ist - denn dies war von Anfang an die einzige
Bedingung -, und dem nachzugehen, hindert kein Vorurteil daran, eines zu bleiben.
Der springende Punkt an Pascals Standpunkt war ja gerade, daß man nicht ins
Einzelne gehen muß.
Kein Widerspruch liegt in der Lösung, die Ulpian für den Fall des Barbarius
Philippus vorschlägt - mehr noch, sie scheint durchaus vernünftig. Ist indes jeder
Irrtum so wenig anstößig? Gewiß, in der Rechtsprechung kommt es stets weit mehr
darauf an, daß Fälle überhaupt entschieden werden, als darauf, ob sie gerecht
entschieden werden; nur das erstere, nicht das letztere, wird einem Herrscher die
erheblichen Ausgaben wert sein, die eine funktionierende Justiz bekanntlich
verschlingt. Indes, dieser Umstand erklärt bloß manches, er rechtfertigt nichts.
Wie also steht es um die Rechtfertigung? Ist Pascals Standpunkt der richtige?
Erwägen wir ein Beispiel, das nicht als Anachronismus zum Horizont von Pascals
Denken steht, doch selbstverständlich auch nicht ganz so unschuldig ist wie Pascals
eigenes, die Ansichten der Leute von den Wirkungen des Mondes.
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war es in der christlichen Welt
allgemein üblich, daß man Frauen, welche als Hexen angesehen wurden, ums Leben
brachte. (Die ‘Hexen’ auf dem europäischen Festland und in Schottland wurden
verbrannt, die ‘Hexen’ Englands gehängt.) Staunenswerte Eintracht herrschte
zwischen den sonst einander vielfältig befehdenden Parteien der Zeit, den
protestantischen Reformatoren, den Päpsten und Heiligen der Gegenreformation,
und führenden Intellektuellen wie etwa Jean Bodin, sobald es darum ging, Gottes
Gebot an Mose - “DIE Zeuberinnen soltu nicht leben lassen”(Exodus, 22:18), wie
Luther es übersetzt 203 - zu erfüllen. Die Leute von Clermont waren überzeugt, daß
eine Krankheit, an der Pascal im Alter von zwölf Monaten litt, von einem Zauber
herrührte, den ein mit dem Teufel im Bunde stehendes Weib über ihn
ausgesprochen habe; Blaises Vater ließ die angebliche Hexe zu sich kommen, und
drohte ihr an, sie müsse sterben, wenn sie den verhängten Zauber nicht auf eine
schwarze Katze ableite 204 . Es könnte wohl allgemeines Vorurteil gewesen sein, daß
es Hexen gebe und daß man sie umbringen müsse. Steht es nun schlechter, wenn
dieser allgemeine Irrtum angefochten wird? Um diejenigen, welche in der Folge
nicht umgebracht werden, steht es doch anscheinend wenigstens insoweit besser;
und um die anderen mindestens nicht offensichtlich schlechter. Wenn es keine
Hexen gibt, dann gibt es auch keinen Schaden, der der Hexerei zuzuschreiben wäre.
Ist aber der Schaden bloß ein eingebildeter, dann nützt auch das Verbrennen
sogenannter Hexen nichts, und umgekehrt kann der Verzicht darauf die Welt nicht
schlechter machen, als sie schon ist. So folgt aus dem Gegenbeispiel, daß Pascals
Standpunkt unhaltbar ist.
Pascal scheint der Auffassung gewesen zu sein, Konsens als solcher sei gut.
‘Als solcher’ soll dabei nicht so viel wie ‘in sich’ bedeuten. Wie schon angedeutet, ist
Konsens aus Pascals Sicht nicht als Zweck, sondern bloß als Mittel gut: er verleihe
dem Geist der Menschen Festigkeit, und vertreibe so ruhelose Neugier, “curiosité
inquiète”. An sich gut ist Konsens für Pascal anscheinend vielmehr in dem Sinne,
203 Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrifft: Deudsch, S. 163

204 Vgl. Périer, ‘Mémoire’, S. 59 - 61


daß es gar nicht darauf ankommen soll, worüber denn Konsens besteht. Das aber ist
verkehrt. Konsens ist gut, wenn er Konsens ist, Gutes zu bewahren oder von
Schlechtem abzugehen, er ist schlecht, wenn er Konsens ist, an Schlechtem
festzuhalten oder Gutes fallenzulassen. Und sollte die Unterdrückung leerer
Neugier das einzige Gut gewesen sein, das Pascal hier im Sinn hatte, so würde der
Einwand lauten, daß in solchen Dingen immer noch anderes auf dem Spiel steht.
Allerdings ist die Kritik an Pascal möglicherweise der ihr zugrundeliegenden
Interpretation halber unangemessen. In der Präsentation des Gegenbeispiels wurde
nämlich ohne weiteres unterstellt, wir wüßten, daß es so etwas wie Hexerei nicht
gibt. Das ist zwar vernünftig, mag aber Pascals Überlegung nicht gerecht werden.
Denn Pascal denkt, wie er ausdrücklich sagt, an Fälle, in denen wir die Wahrheit
nicht kennen: “Lorsqu’on ne sait pas la vérité d’un chose ...”. Gewiß besteht da eine
Zweideutigkeit. Während des 17. Jahrhunderts kam über die vermeintlichen Hexen,
sowohl über das, was sie anrichten können, als auch darüber, wie mit ihnen
umzugehen sei, Dissens auf. Pascals Worte könnten dahingehend verstanden
werden, solcher Dissens sei schlechter als Konsens, selbst wenn man sich einig nur
über Irriges war. Doch der Zusammenhang im Text legt eher etwas anderes nahe.
Denn da verpönt Pascal die Neugier der Menschen auf Dinge, die sie nicht wissen
können: “choses qu’il ne peut savoir”. Während es richtig scheint, zu sagen, im
Europa des 17. Jahrhunderts hätten die meisten Leute die Wahrheit über Hexerei
nicht gewußt, nämlich daß sie sich die Wirkungen, die sie ihr zuschrieben, nur
einbildeten, wäre es schon recht gewagt, zu behaupten, sie hätten sie schlechterdings
nicht wissen können. Nehmen wir an, sie hätten sie wissen können, dann wäre Pascals
Standpunkt logisch nicht mehr darauf festgelegt, einen Konsens gutzuheißen, den
man nur abscheulich nennen kann. So wohlwollend gedeutet, ist Pascals
Bemerkung: Wissen wir über etwas die Wahrheit nicht, dann ist es gut, wenn ein
allgemein geglaubter Irrtum den Geist der Menschen fixiert, zu lesen als: Können
wir über etwas die Wahrheit nicht wissen, dann ist es gut, wenn ein allgemein
geglaubter Irrtum den Geist der Menschen fixiert. Und zu diesem Satz gibt es
mindestens kein auf der Hand liegendes Gegenbeispiel. Allenfalls ist es seltsam, von
Irrtum zu sprechen, wenn das Gegenteil, Wissen, nach der Voraussetzung nicht
einmal möglich sein soll.
Doch selbst wenn wir die Frage nach Wahrheit oder Falschheit offenlassen, so
bedeutet Pascals Verteidigung geteilter Irrtümer schon darum ein Gegenbeispiel zur
These, Empfehlungen von Vorurteilen müßten in sich unlogisch sein (§ 65), weil in
ihr jedenfalls kein Widerspruch liegt.

68. Die Paradoxie, daß ein Vorurteil, sobald es empfohlen wird, aufhört, ein
Vorurteil zu sein, läßt sich für Empfehlungen von Vorurteilen im allgemeinen
umgehen (§ 66). Mindestens Chesterfield indes war nicht damit zufrieden,
Vorurteile bloß in dieser wenig bestimmten Weise zu sanktionieren. In seinem Essay
diskutiert er einzelne Vorurteile, und empfiehlt sie. Ist das Paradox auch zu
vermeiden, wenn man diesen Schritt tut?
Wenn wir etwas empfehlen, dann ist unser Anspruch, es sei gut für andere.
Wir müssen nicht meinen, es sei auch für uns selber gut. Genau dieser Unterschied
scheint sich in Chesterfields Ausführungen zu finden. Er sagt ja, Vorurteile seien für
die Masse der Menschen (“the bulk of mankind”) gut. Zu der aber zählte er sich
selber nicht. So sagt Chesterfield in der Tat, Vorurteile seien gut für andere.
Unzweifelhaft verwandeln sie sich, wenn er sie dann erörtert, in Urteile. Aber sie
verwandeln sich in Urteile nur für ihn, Chesterfield, und für uns, wenn wir seinen
Essay lesen. Für diejenigen, die diese Vorurteile haben, bleiben sie welche. Und
daran, fügt Chesterfield hinzu, sei auch gar nichts zu beklagen. Will man es in heute
gängiger Manier ausdrücken, könnte man sagen, daß Chesterfield die Haltung eines
Soziologen einnimmt, der beschreibt, wie Vorurteile zum Erhalt eines
Gesellschaftssystems beitragen - vielleicht bloß weil die Leute sich bereits so sehr an
ihre Vorurteile gewöhnt haben, daß diese in ihrem Leben, als eine Art zweiter Natur,
gebieterisch geworden sind (was vermutlich die schwächste Form einer Empfehlung
von Vorurteilen im allgemeinen (§ 66) darstellt), vielleicht aber auch des besonderen
Inhalts der Vorurteile halber.
Von heutigen funktionalistischen Soziologen hebt Chesterfield ab, daß er weit
freimütiger ist als jene, die ja den selben Einfall als ‘Theorie’ ausbieten müssen. Von
der Masse der Leute, so formuliert Chesterfield, könne man kaum sagen, daß sie je
dächten; fast jeder ihrer Begriffe sei übernommen. Doch daß dem so sei, sei kein
Unglück, sondern ein Glück, da solche gemeinen Vorurteile mehr zu Ruhe und
Ordnung beitrügen, als es unter solchen Leute je für sich angestelltes Räsonnieren
täte, ungeschliffen wie sie schon einmal seien. In England gebe es viele nützliche
Vorurteile, von denen es ihm sehr leid täte, würden sie entfernt 205 . Chesterfield
unterscheidet verschiedene Schichten der Gesellschaft, und umgeht so das Paradox.
Obwohl auch er den Bestand der Gesellschaft, zu der er gehört, will, teilt er nicht die
Vorurteile, deren Funktion für den Bestand dieser Gesellschaft er untersucht. Man
kann dies als Empfehlung von Vorurteilen aus der Außenperspektive bezeichnen.
Eine solche Empfehlung kann weit signifikantere Aussagen enthalten als eine bloß
allgemeine Empfehlung von Vorurteilen.
Bemerkenswert ist, wie geringfügig eine Empfehlung von Vorurteilen aus der
Außenperspektive sich zunächst von dem aufklärerischen Bann über die Vorurteile
unterscheidet, gegen den sie doch gerichtet ist. Tatsächlich waren sich die Verfechter
dieser gegensätzlichen Auffassungen kaum sonderlich uneins in ihren Befunden.
Was sie unterschied, war die Haltung zu diesen Befunden. Die Unversöhnlichen
unter den Aufklärern, besonders in Frankreich, lehrten, Vorurteile seien nichts als
die üblich gewordenen Lügen einer Gesellschaft. (Das zu aller Polemik Übertreibung
gehört, versteht sich von selbst.) Und unversöhnlich wie sie waren, lag ihnen nichts
am Fortbestand der Gesellschaft, in der sie lebten. Unzufrieden sowohl mit ihrer
staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung wie mit ihrer religiösen Rechtfertigung,
schlossen sie, sowohl diese Gesellschaft wie die Vorurteile, die sie zusammenhielten,
sollten aufgelöst werden. Chesterfield und andere, die Vorurteile aus der
Außenperspektive empfahlen, gingen im Grunde d’accord mit der Auffassung,
Vorurteile, oder doch viele Vorurteile, seien die üblich gewordenen Lügen einer
Gesellschaft, auch wenn sie es nicht so scharf formuliert hätten. Ihnen lag aber,
besonders in Großbritannien, am Fortbestand der Gesellschaft, in der sie lebten,
205 Chesterfield, ‘Letter to his son, 7 February 1749’, S. 1307: “The herd of mankind can hardly be said to
think; their notions are almost all adoptive; and, in general, I believe it is better that it should be so, as such
common prejudices contribute more to order and quiet than their own separate reasonings would do,
uncultivated and unimproved as they are. We have many of those useful prejudices in this country, which I shall
be very sorry to see removed”.
denn sie waren im ganzen zufrieden mit deren staatlicher und wirtschaftlicher
Ordnung.
Die festgestellte Ähnlichkeit überrascht nicht. Denn eine Außenansicht der
Gesellschaft, in der man lebt, scheint selbst eine Errungenschaft der Aufklärung zu
sein; zum ersten Mal überhaupt findet sich dergleichen wohl in der griechischen
Aufklärung, der Sophistik.
Der Auffassung nahe zu stehen, die man angreift, kann als Schwäche
angesehen werden, aber auch als Stärke. Einerseits kann es sich als die
Halbherzigkeit dessen ausnehmen, der, obschon er die Prämissen eingeräumt hat,
vor der Radikalität der Konklusion zurückschreckt. Andererseits kann man solcher
Nähe entnehmen, wie schlagend ein Argument doch sein muß, da seine Folgerung
sich selbst dann ergibt, wenn dem Gegner seine Voraussetzungen zugestanden
werden. Im vorliegenden Fall indessen wäre diese wie jene Betrachtungsweise
irreführend. Die Schlüsse lagen nicht darum auseinander, weil die eine oder andere
Seite schärfer nachgedacht hätte, sondern weil beide Seiten in unterschiedlichen
Umständen unterschiedliche Interessen verfolgten. (Oder es könnte, anders
gewendet, selbst die erste, kritische Deutung, der Vorwurf der Halbherzigkeit also,
im Lichte bestimmter Interessen in ein Kompliment umgebogen werden: Es ist oft
als die politische Klugheit Englands bewundert worden, jeder Theorie unbedenklich
die Spitze abgebrochen zu haben, bevor sie verletzen konnte.)
In logischen Gegensatz zum Empfehlen bestimmter Vorurteile aus der
Außenperspektive stellt man sich, wenn man Vorurteile im allgemeinen aus der
Außenperspektive verwirft. So abschätzig hat du Marsais 206 Vorurteile, sie am
Maßstab der Nützlichkeit messend, beurteilt. Und Kant sagt: “Auch sucht man das
Stehenlassen der Vorurteile damit zu entschuldigen, daß aus ihrer Ausrottung
Nachteile entstehen würden. Aber man lasse diese Nachteile nur immer zu; - in der
Folge werden sie desto mehr Gutes bringen” 207 . Dies ist eine komparative
empirische Behauptung. Sie mißt zwei Mengen von Wirkungen aneinander und läßt
uns wissen, welche von ihnen langfristig in ihrem Nutzen schwerer wiegen werde.
Doch es gebricht an jeder Spur dessen, was erfordert wäre, eine solche Behauptung
einzulösen. Es bleibt bei der bloßen Versicherung.

69. Das Paradoxe daran, Vorurteile zu empfehlen (§ 65), kann man auch so
ausdrücken: Wer Vorurteile verteidigt, muß helle sein, damit er ihnen nicht selber
ins Garn geht, - aber wenn er so helle ist, sollten wir dann nicht erwarten, daß er ein
Gegner von Vorurteilen ist? Man kann das aber erwarten oder sollte es besser nicht
erwarten je nach den Wertschätzungen der betreffenden Personen - so lautete die
Antwort auf die Frage, insoweit sie das Empfehlen von Vorurteilen aus der
Außenperspektive anging. Den Ausschlag geben mag, ob den betreffenden Personen
nichts so sehr am Herzen liegt, wie daß für alles, was wir glauben, hinreichende
Gründe bestehen, oder ob sie finden, daß es Wichtigeres im Leben gibt, etwa den
206 Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 23: “il n’est point de préjugé qui ne produise tôt ou tard les effets les plus
nuisibles et les plus étendus”; S. 43: “il n’est point de préjugé qui n’ait des suites plus ou moins terribles pour la
société”.

207 Logik, S. 511


Zusammenhalt der Gesellschaft, für den ihnen gewisse Vorurteile unabdingbar
scheinen (§ 68).
Es gibt eine Empfehlung von Vorurteilen aus der Außenperspektive, die
besondere Bedeutung hat. Was sie veranlaßt, sind Zweifel daran, ob es
wünschenswert oder auch nur möglich ist, Kinder nach dem Grundsatz
aufzuziehen, jedes Vorurteil sei zu vermeiden. Was folgt, falls diese Zweifel
berechtigt sind, liegt auf der Hand. Die Gattung Mensch könnte, wenn sie sich
besagtem aufklärerischen Prinzip verschriebe, nicht fortbestehen. Die Empfehlung
von Vorurteilen, die sich an jene Zweifel knüpft, ist in kritischer Absicht entwickelt
worden; sie wurde Ansichten über Erziehung entgegengehalten, die auf die Anfänge
der britischen Aufklärung zurückgehen. Um die Empfehlung zu verstehen, ist es
daher tunlich, die Schelte der Vorurteile anzuführen, als Antwort auf die sie gemeint
war.
Im Jahr 1661 beklagte Joseph Glanvill, eine Quelle des selbstischen Hanges,
aufgrund dessen wir die Wissenschaft verdürben, sei das beinah unüberwindliche
Vorurteil des Brauches und der Erziehung, das unseren Geist behindere und die
meisten in verhängnisvoller Unwissenheit halte. Selbst wenn jemand in so
vorteilhafter Verfassung geschaffen werden könnte, daß die Bilder in seinem Geist
unverfälscht wären, brächte die in jenem Vorurteil gesetzte zweite Natur alles
wieder durcheinander und stiftete dieselbe Verwirrung in den Köpfen, wie sie
allenthalben zu beobachten sei. Wäre der Geist in seiner natürlichen Verfassung
auch ein gänzlich unbeschriebenes Blatt, dann würden Brauch und Erziehung es
doch so beklecksen und beschmieren, daß in der Folge kaum Platz bliebe, noch
etwas Neues auf ihm zu verzeichnen. Man beurteilte dann alle Dinge nach dem, was
man vorwegnehme, verdamme sie, wenn sie von dem abwichen, wofür wir durch
unsere Erziehung voreingenommen seien, und zolle ihnen Beifall, wenn sie ihm
entsprächen 208 .
Glanvills berühmterer Zeitgenosse John Locke meinte zu wissen, wie man
dem Übel beikommen könne, das jener für beinah unüberwindlich gehalten hatte.
Anders als die meisten Aufklärer, die nachsannen, wie man die durch die Erziehung
eingepflanzten Vorurteile wieder ausreißen könne 209 , überlegte sich Locke, wie man
solche Saat von vornherein verhindern könne. Keinerlei Grundsatz sollten wir Locke
zufolge empfangen, bis wir als vernünftige Wesen völlig von der Solidität, Wahrheit
und Gewißheit eines solchen überzeugt seien (“till we are fully convinced, as
rational creatures, of their solidity, truth, and certainty”) 210 . Wer diesem Gebot
208 The Vanity of Dogmatizing, S. 125 - 126: “ANother genuine derivation of this selfish fondness, by reason of
which we miscarry of Science, is the almost insuperable prejudice of Custom, and Education: by which our
minds are encumber’d, and the most are held in a Fatal Ignorance. Now could a man be composed to such an
advantage of constitution, that it should not at all adulterate the images of his mind; yet this second nature
would alter the crasis of the Understanding, and render it as obnoxious to aberrances, as now. And though in
the former regard, the Soul were a pure µµ [unbeschriebene Tafel]; yet custom and education will so
blot and scrible on’t, as almost to incapacitate it for after-impressions. Thus we judge all things by our
anticipations; and condemn or applaud them, as they agree or differ from our education-preposseßions”. - Vgl.
Locke, Essay, IV,xx,9, Bd. III, S. 165 - 166, sowie den anonymen Traité des trois imposteurs, I,i, S. 4.

209 Z.B. Hutcheson, Inquiry concerning Beauty, Order, Harmony, Design, VII,4, S. 85: “rooting out the
prejudices of education”.

210 Of the Conduct of the Understanding, § 12, S. 231


zuwiderhandle, mache sich dessen schuldig, was Locke “imposition” nennt; so dem
anderen die eigene Meinung aufzuerlegen sei ein häufig gemachter Fehler, der
allenthalben vermieden werden sollte, besonders aber in der Erziehung 211 . Darin
scheint zu liegen, die rechte Pädagogik bestünde darin, den Geist des Kindes von
allen Überzeugungen frei zu halten, bis es diese begründen könne.
Einem Nachfahren im Geiste Glanvills und Lockes begegnete ein Jahrhundert
später Samuel Taylor Coleridge in Gestalt seines Freundes John Thelwall. Thelwall,
so berichtet Coleridge, fand es unlauter, einem Kind Vorurteile einzupflanzen,
indem man ihm die eigenen Ansichten nahebringe, bevor es das Alter erreicht habe,
in welchem sein Unterscheidungsvermögen entwickelt sei, und es selber wählen
könne. Er nun, Coleridge, habe Thelwall eine Wiese auf seinem Grundstück mit der
Bemerkung gezeigt, dies sei sein botanischer Garten. ‘Wie das?’, habe der erwidert,
‘da ist ja nichts als Unkraut’. Das sei doch bloß so, weil er das Alter noch nicht
erreicht habe, in dem er unterscheiden und wählen könne, sei Coleridges
Entgegnung gewesen. Da habe sich das Unkraut eben erlaubt, zu wachsen, und er,
Coleridge, hätte es unlauter gefunden, dem Boden ein Vorurteil für Rosen und
Erdbeeren aufzudrängen 212 .
In seiner aufklärerischen Sicht von Erziehung muß Thelwall es als intolerant
und tyrannisch betrachtet haben, Vorurteile in die zarte Seele eines Kindes zu
senken. Nur aus vernünftigen Gründen dürfe man etwas für wahr halten; woraus
folge, daß ein Kind, insofern es noch nicht fähig sei, solche Gründe zu würdigen,
jeglicher Überzeugung entraten müsse. Was Coleridge dem entgegenhielt, war
gewiß nur ein Bild, kein Argument. Aber dies Bild war gemeint als Hinweis auf ein
Argument. Enthaltung vom Urteil, so etwa lautet das Argument hinter dem Bild, ist
etwas Spätes und Raffiniertes; einem Kind stehe dieser Kunstgriff der Skepsis nicht
offen. Das Feld, von dem Thelwall sich einbilde, es frei halten zu können, bis das
Alter des Unterscheidens und Wählens gekommen sei, werde dann längst von
wilden Phantasien, gleichsam dem Unkraut des Geistes, bedeckt sein.
Wenn der kindliche Geist, sich selbst überlassen, nicht warten wird, bis er in
der Lage ist, aus sich selber einen blühenden Garten zu machen, dann bleibt Eltern
vernünftigerweise nichts anderes übrig, als ihren Kindern das zu geben, wovon sie
selber überzeugt sind, auch wenn dies für die Kinder Vorurteile sind 213 . Man kann
dann freilich noch fragen: Wie können wir sicher sein, daß das, was wir selber
211 Ebd., S. 232: “These are the common and most general miscarriages which I think men should avoid, or
rectify, in a right conduct of their understandings, and should be particularly taken care of in education”.

212 Table Talk, S. 181: “Thelwall thought it very unfair to prejudice a child’s mind by inculcating any opinions
before it should have come to years of discretion and be able to choose for itself. I showed him my garden and
told him it was my botanical garden. ‘How so?’ said he - ‘it is covered with nothing but weeds’. ‘O’ I replied -
‘that is only because it has not yet come to its age of discretion and choice. The weeds, you see, have taken the
liberty to grow, and I thought it unfair in me to prejudice the soil towards roses or strawberries’”. ‘Years of
discretion’ ist ein terminus technicus des Rechts; er bezeichnet das Alter der freien Willensbestimmung. Aber
natürlich nutzt Coleridge gleichzeitig die Bedeutung des lateinischen ‘discretus’; die Geschichte lebt schließlich
davon, daß es einen Unterschied macht, ob man Unkraut hat oder Rosen und Erdbeeren.

213 Sailer, Vernunftlehre, S. 108: “Auch die wichtigsten Wahrheiten, die die Kinder auf das Vaterwort hin
glauben, sind im Grunde für Kinder Vorurtheile. Denn sie glauben nicht, weil sie die Wahrheiten einsehen,
sondern weil sie der Vater für Wahrheiten ausgiebt. Also sind nicht alle Vorurtheile der Kinderstube giftige
Pflanzen. Also giebt es heilsame Vorurtheile”.
glauben, und darum unseren Kindern geben, Blumen und Früchte bringen wird und
nicht Unkraut? Vielleicht sind wir nicht sicher. Aber dieser Zweifel ist leer. Denn die
Alternative, uns des Urteils zu enthalten, steht nicht offen, wenn wir ein Kind
aufziehen. Eltern und Lehrer müssen für etwas stehen, oder Erziehung findet nicht
statt.
Deutet man Coleridge so, dann ist man freilich schon bei der stärkeren der
beiden anfangs genannten Behauptungen. Coleridges Bild gibt genaugenommen nur
den Wink, es sei nicht zu wünschen, daß man versucht, Kindern Freiheit von allen
Vorurteilen zu verschaffen. Nicht zu wünschen sei dies, weil die Kinder dann
ungehobelt blieben. Daß es aber unmöglich sei, liegt nicht in Coleridges Bild.
Schließlich gibt es Wiesen, die man sich selbst überlassen hat, und die infolgedessen
von Unkraut bedeckt sind. Sie mögen in ihrer eigenen, natürlichen Weise sogar
gedeihen. Ob aber der Geist eines Kindes ohne Vorurteile gedeihen kann, ist nicht so
klar.
Ein Kind lernt, indem es seinen Eltern glaubt, oder den Erwachsenen, die es
aufziehen; Zweifel kommt später 214 . Das Leben des Geistes beginnt bei jedem
Menschen mit angenommenen Überzeugungen, und kann nicht anders beginnen.
Kein Zweifel an etwas kann uns je kommen, wenn wir nicht meinen, es stehe in
Gegensatz zu einer von uns angenommenen Überzeugung.
Was immer einem Kind beigebracht wird, ist in ihm zunächst als Vorurteil;
die Fähigkeit zur Kritik kann nicht die erste sein, die sich entwickelt. Man muß
vieles schon bejaht haben, um auch nur etwas verneinen zu können. Ein Kind kann
nicht als erstes beurteilen, bezweifeln oder beanstanden, was man ihm beibringt;
denn das könnte nur bedeuten, daß es gar nicht imstande wäre, es zu erlernen 215 .
Ohne Vertrauen auf diejenigen, die in seinen ersten Jahren für es sorgen, wird ein
Kind nicht bloß ungehobelt, wie Coleridge nahelegt, werden; es wäre vielmehr
verloren, weil es nicht einmal die Muttersprache lernen könnte (§ 32). (In seinen
Some Thoughts concerning Education hatte Locke positiven Rat zu erteilen und kam
daher nicht umhin, über seinen kritischen Grundsatz hinauszugehen; so erstaunt es
nicht, daß dieses Buch von englischen Vorurteilen, christlichen Vorurteilen und
Vorurteilen des 17. Jahrhunderts strotzt, die man dem Kind, nach Lockes
Formulierung, so früh wie möglich in den Geist drücken solle (“to be wrought into
the mind, as early as may be”) 216 .)
Die Empfehlung von Vorurteilen, die unsere Interpretation aus Coleridge
geschöpft hat, erfolgt aus der Außenperspektive: sie besagt, daß Eltern Vorurteile bei
ihren Kindern zu Recht als unvermeidlich ansehen. Die behauptete Notwendigkeit
ist vorläufig. Im Vorurteil wird etwas gesehen, das wir entweder in ein wirkliches
Urteil überführen können oder aber, falls wir es als Irrtum erkennen, zurücknehmen
werden, sobald wir erwachsen sind.

214 Barbauld, ‘On prejudice’, S. 323 - 324, 334 - 335

215Vgl. ebd., S. 332: “Without this principle of assent he [sc. ein Kind] could never gain even the rudiments of
knowledge”.

216 § 46, S. 36
70. Das Band zwischen Vorurteilen und Unmündigkeit, das da geknüpft wurde (§
69), läßt das Lob jener recht verhalten klingen; ja schwingt nicht gar Herablassung
mit? Denn in ihm steckt anscheinend doch, daß Vorurteile kindlich sind und
kindisch werden können.
In Wahrheit aber ist das, was Coleridges Bild zu verstehen gibt, nichts, das
auf Kinder beschränkt wäre; es kommt ebensogut ins Spiel, sobald ein reifer Mensch
etwas Neues lernt - beispielshalber die Kunst, zu malen. Auch für einen
Erwachsenen kann vor solchen Herausforderungen Zweifel und Kritik nicht der
erste Schritt sein. Wird die Kunst kraft Beispiel vom Meister zum Lehrling
weitergegeben - und anders kann sie nicht weitergegeben werden -, so gelangt jener
immer wieder an einen Punkt, an dem er nicht mehr sagen kann als: ‘So wird es
gemacht’ - und es dann so macht; was der Lernende an jedem solchen Punkt in sich
aufnimmt, sind die Vorurteile des Metiers. Und da der Lehrende es einst nicht
anders gemacht hat, läßt ein jeder sich so zunächst auf eine Tradition ein, wie scharf
auch immer er später einmal von ihr abweichen mag. Ohne solches Sicheinlassen
gibt es kein Lernen; wir würden nicht einmal blutige Anfänger, sondern blieben da
stehen, wo all diejenigen sind, die sich überhaupt nicht auf die betreffende Kunst
verstehen. Der Grund dafür ist nicht, daß die schönen Künste etwas Esoterisches
und Ungreifbares sind. Ob wir das glauben oder nicht, spielt keine Rolle. Denn sich
auf die Vorurteile des Metiers einlassen muß auch einer, der, um etwas Exoterisches
und vergleichsweise Banales zu nennen, mit den Anfangsgründen des Kochens
vertraut gemacht wird. Wo immer jemand Fertigkeiten erlernt, die nicht ganz
anspruchslos sind, und sich darin einübt, wie man etwas macht, geht es nicht ohne
Vorurteile.
Doch auch hier, wie in der Erziehung eines Kindes, ist die zu beobachtende
Nötigkeit von Vorurteilen nur eine vorläufige; sonst würden wir, nach Joshua
Reynolds’ Warnung, wirklich kindisch. Von Vorurteilen, sagt Reynolds, wird meist
absprechend geredet; man meine damit eine Vorliebe, die nicht in Vernunft oder
Natur gründe. Einem solchen Hang sollten wir uns mit aller Kraft widersetzen.
Doch, meint Reynolds, wir könnten nicht hoffen, uns in fortgeschrittenem Alter ganz
dessen zu begeben, was uns in jüngeren Jahren so sehr geholfen habe. Daß es so
schwer sei, ein solches Vorurteil, das einmal eine notwendige Stütze war,
aufzugeben, sei eine der Ursachen dafür, daß wahre Vortrefflichkeit so selten sei.
Wer in irgendeiner Kunst oder Wissenschaft gute Fortschritte machen wolle, müsse
unweigerlich seinem Lehrer vertrauen und sogar ein Vorurteil für ihn haben; doch
nie von dem Glauben zu lassen, er sei unfehlbar, hieße für immer ein Kind zu
bleiben 217 .

217 Reynolds, ‘Notes on ‘The Art of Painting’‘, S. 148 - 149: “Prejudice is generally used in a bad sense, to
imply a predilection not founded on reason or nature, in favour of a particular manner, and therefore ought to be
opposed with all our force; but totally to eradicate in advanced age what has so much assisted us in our youth, is
a point to which we cannot hope to arrive. The difficulty of conquering this prejudice is to be considered in the
number of those causes which makes excellence so very rare. Whoever would make a happy progress in any art
or science, must begin by having great confidence in, and even prejudice in favour of, his instructor; but to
continue to think him infallible, would be continuing for ever in a state of infancy”. Reynolds verteidigte
Vorurteile nicht nur aus der Natur des Lernens, sondern auch, und weit entschiedener, aufgrund einer Ästhetik
des Geschmacks, s. seine Discourses on Art, S. 156, 180 - 182, 184.
71. Stand zuvor jede Empfehlung eines Vorurteils im Verdacht eines
Selbstwiderspruchs, so scheint es nun, als seien nur Empfehlungen von Vorurteilen
aus der Innenperspektive unmöglich. Und selbst das unterliegt Zweifeln. Ein
Gegenbeispiel läßt sich, wie es scheint, an dem Phänomen entwickeln, das man
Kreativität nennt. Kreativität ist nur möglich, wo sich einer ganz in eine Sache
versenkt. Er muß in seine Arbeit vertieft sein, als gäbe es nichts anderes auf der
Welt. Und da es offenbar nicht wahr ist, daß es nichts anderes auf der Welt gibt,
wird einer in solcher Konzentration sich nur einbilden können und einzubilden
haben, außer seiner Arbeit sei alles andere unwichtig.
Wer so all seine Kraft an die gewählte Aufgabe wendet, kann anderes nie voll
und ganz würdigen. Bildung, Toleranz und Verständnis sind nicht stets und überall
eine Gnade; sie könnten einen, der das Zeug zum Dichter hatte, auf einen Gelehrten
oder Kritiker herunterbringen. Man kann nicht zu viel Talent haben, aber man kann
ein Talent zu viel haben. Wer es dahin brächte, jedes anderen Meinung und
Sichtweise zu verstehen, verlöre vielleicht die Stetigkeit, die er bräuchte, etwas
Großes zustandezubringen. Gegen diese Gefahr, abgelenkt zu werden und
abzuschweifen, muß ein kreativer Geist sich schützen. Es kann so aussehen, als sei
der einzige Gegenstand seiner Aufmerksamkeit er selber - einer so verzehrenden
Aufmerksamkeit freilich, wie ihrer kein gewöhnlicher Egoist fähig ist. (‘So aussehen’
kann es aus der Innenperspektive - ein Anschein, der Teil des kunsttheoretischen
Mythos der Originalität ist (§ 11). Von außen betrachtend, etwa so, wie ein
Kunsthistoriker es sieht, findet man an jedem Kunstwerk Abhängigkeiten von
früheren Werken und vorgängigen Erwartungen von Zuhörern, Zuschauern oder
Lesern. Aber daß selbst ein in höchstem Maße schöpferischer Künstler einerseits mit
Bildern arbeitet, von denen wenigstens einige übernommen sind, enthebt ihn nicht
der Notwendigkeit, sich andererseits gegen Einflüsse abzuschirmen, die seine
Kreativität gefährden würden.)
Wie sich zuvor (§§ 13, 41) herausgestellt hat, gibt es nicht nur ein Versagen
aus Stumpfheit, etwa weil man zu wenig sieht oder zu langsam erkennt, sondern
auch ein Versagen aus Schärfe und Schnelligkeit im Wahrnehmen, einem
Wahrnehmen nämlich, das darum jeder Einzelheit, noch der belanglosen, zugänglich
ist. Wie uns das entgehen kann, das wir bemerken sollten, so können umgekehrt
auch zu viele Dinge, oder Dinge, von denen es besser wäre, sie würden uns
überhaupt nicht auffallen, unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken. In letzteren
Möglichkeiten liegt eine Gefahr für Kreativität.
Den eigenen Geist sammeln kann nur, wer ihn nicht durch Eindrücke von
außen zerstreuen läßt. Dies kann geschehen, indem man ihnen gar nicht erst
Aufmerksamkeit schenkt; doch wenn sie sich einem aufdrängen, bleibt oft nichts
anderes übrig, als ihnen eine Abfuhr zu erteilen. Tatsächlich findet man in Briefen
und Aufzeichnungen von Gesprächen schöpferischer Menschen wie Goethe in
auffallendem Maße scharf absprechende Bemerkungen über Zeitgenossen, und
wiederum besonders über die Dichter unter ihnen. Man geht nicht fehl, wenn man
behauptet, solche Äußerungen von Künstlern verdankten sich kaum je einem
eingehenden Studium der Arbeiten ihrer Konkurrenten; man darf ferner annehmen,
die Künstler, die sich so äußern, wüßten sehr wohl, daß sie sich zu einem solchen
Studium nicht die Zeit genommen haben, und daß sie sich der Mühe eines solchen
zu unterziehen auch gar nicht gewillt sind. In diesem Fall wissen sie, daß ihre
mangelnde Wertschätzung ein Vorurteil ist. Sie wissen aber auch, daß sie eine
Bedingung des eigenen Schaffens ist. Jeder von ihnen könnte von sich sagen: Gut,
daß ich Vorurteile habe, sonst gäbe es mein Werk nicht 218 . Zumindest liegt darin
kein ersichtlicher Widersinn. Im Gegenteil. Nur so widerfährt einer Eigenart des
menschlichen Geistes Gerechtigkeit: Stets ist es möglich, daß einen Umstand nicht zu
kennen oder nicht zu schätzen, weit entfernt davon, einen zu behindern, vielmehr
etwas in einem freisetzt. Daß dabei die Überzeugung mit einem Interesse verbunden
ist, ist an sich nichts Verwerfliches (§ 75). Ein solches Band kann sogar als ein
Vorzug der Vorurteile angesehen werden, und ist von Burke in der Tat als solcher
betrachtet worden: Im Vorurteil, sagt er, liegt mit seinem Grund zugleich ein Motiv,
um den Grund in Handeln umzusetzen, und eine Neigung dazu, die ihn beständig
macht 219 .
So scheint es also auch möglich, Vorurteile aus der Innenperspektive
gutzuheißen.

72. Oder sind wir damit zu weit gegangen? Denn wie Vorurteile aus der
Außenperspektive empfohlen werden konnten, nur indem wir zwischen denen, die
das Vorurteil haben, und dem, der es prüft, schieden, so scheint es auch nur
möglich, ein Vorurteil aus der Innenperspektive gutzuheißen, wenn sein Nutzen
und seine Wahrheit auseinandergehalten werden. Denn im Beispiel für letzteres (§
71) ist ja nicht als wahr erwiesen worden, daß die Anstrengungen anderer nicht viel
taugen. Ob dem so ist oder nicht, ist zu unterscheiden von der Frage, ob es gut ist -
in diesem Fall: ob es eine Bedingung von Kreativität sein kann -, zu glauben, daß es
sich so verhält. Freilich, aus der Innenperspektive kann einer so nicht
unterscheiden 220 ; denn dann bräche die Überzeugung, die Bedingung seiner
Kreativität ist, zusammen. Aus der Außenperspektive aber muß der Unterschied
gezogen werden.
Ein funktionalistisches Plädoyer für Vorurteile hat zu zeigen, daß Vorurteile
nötig sind. Ist das gezeigt, so folgt dennoch nicht, daß Vorurteile wahr sind; denn es
könnte auch nötige Irrtümer geben. Um das zweite aus dem ersten zu schließen,
müßte man annehmen, es gebe eine gute und wahre Vorsehung, die alles Nötige
auch wahr schafft; und das ist nicht glaubhaft.
Allerdings gibt es Fälle, in denen man selbst diesen Unterschied nicht machen
kann. Es sind die, für welche Vergil die Wendung “possunt, quia posse videntur” 221
geprägt hat: sie können es, weil sie es zu können glauben. Daß ich glaube, ich könne
jenen Felsspalt überspringen, mag ein bloßes Vorurteil sein. Denn ich habe mein
218 Etwas dergleichen mag Goethe im Sinn gehabt haben, als er 1823 schrieb: “so läßt sich ein
außerordentlicher Geist denken, der nicht allein irrt, sondern sogar Lust am Irrtum hat” (Maximen und
Reflexionen, S. 531).

219 Reflections, S. 168: “prejudice, with its reason, has a motive to give action to that reason, and an affection
which will give it permanence”. Auf bemerkenswerte Weise nähert Burke Vorurteile Vorlieben an (letztere hier
verstanden nicht als beliebiges Faible für etwas, sondern als im voraus feststehender Hang), oder, besser gesagt,
an deren negatives Gegenstück, gewissermaßen ‘Vor-Abneigungen’: “The dislike I feel to revolutions” (ebd., S.
65), “The very idea of the fabrication of a new government is enough to fill us with disgust and horrour” (ebd.,
S. 75).

220 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, § 34, S. 53 - 55

221 Aeneis, V, 231, Bd. II, S. 460


physisches Leistungsvermögen nicht, etwa auf sicherem Grund, der den gleichen
Abstand aufwiese, getestet; ich vertraue einfach darauf, daß ich es schaffen werde.
Doch genau dieser Glaube mag mich in die Lage versetzen, den Sprung zu schaffen.
Hätte ich bezweifelt, daß ich es kann, dann hätte ich es nicht gekonnt. Was die
Überzeugung bewahrheitet hat, war die Überzeugung selbst.
Diese Möglichkeit scheint von Belang, sowohl wenn Vorurteile aus der
Innenperspektive, als auch wenn sie aus der Außenperspektive gutgeheißen werden.
Ein Beispiel für letzteres führt Chesterfield an. Ausgangspunkt ist ein Passus einer
Geschichte, die Addison im Spectator vom 20. Mai 1712 erzählt hatte. Ein verdienter
englischer Patriot läßt sich da unter anderem vernehmen, ein Engländer werde in
der Schlacht gegen drei Franzosen bestehen. Addison nennt dies ein ehrliches
Vorurteil, das ein wahrer Engländer ganz natürlich im Herzen trage 222 . Chesterfield
aber nimmt die Sache gründlicher. Es handele sich, so sagt er, um ein in England
allgemein geglaubtes Vorurteil, das Ergebnis eines Irrtums sei, und von dem doch
niemand, der bei Sinnen sei, wollen könne, daß es als Irrtum entlarvt oder
aufgegeben werde 223 . Denn, so lautet hier die Ehrenrettung des Vorurteils, wenn
man Unvernunft nur recht gebrauche, werde sie Vernunft.
In England, so Chesterfield, sei der gemeine Mann, wie seine Ahnen seit
vielen hundert Jahren, fest überzeugt, daß ein Engländer drei Franzosen in der
Schlacht schlage, und vor der Probe darauf werde keiner zurückschrecken. Doch
Chesterfields eigener Überzeugung nach, die aus den Gesetzen der körperlichen
Natur abgeleitet sei, könne ein Engländer es mit nicht mehr als zwei Franzosen
gleicher Statur aufnehmen. Gleichwohl liege es ihm, Chesterfield, völlig fern, dem
gemeinen Mann jenen nützlichen Irrtum zu nehmen, der seinesgleichen auf den
Schlachtfeldern von Poitiers und Crécy habe siegen lassen 224 . Obschon Chesterfield
das Vorurteil einen Irrtum nennt - aufgrund einer Prüfung des Sachverhalts,
“deduced from physical principles” -, deutet er zugleich an, daß es in einem
bestimmten Sinne kein Irrtum ist, sondern die Wahrheit. Insofern die englischen
Soldaten aus den Schlachten von Poitiers und Crécy tatsächlich als Sieger
222 Nr. 383, S. 198: “Sir ROGER obliged the Waterman to give us the History of his Right Leg, and hearing
that he had left it at La Hogue, with many Particulars which passed in that glorious Action, the Knight in the
Triumph of his Heart made several Reflections on the Greatness of the British Nation; as, that one Englishman
could beat three Frenchmen; that we cou’d never be in Danger of Popery so long as we took care of our Fleet;
that the Thames was the noblest River in Europe; that London-Bridge was a greater Piece of Work than any of
the Seven Wonders of the World; with many other honest Prejudices which naturally cleave to the Heart of a
true Englishman”.

223 Chesterfield, ‘On Prejudices’, S. 260: “I shall now give an instance of a common prejudice in this country,
which is the result of error, and which yet I believe no man in his senses would desire should be exposed or
removed”. Wie man erwarten wird, glaubte Chesterfield, daß manche Vorurteile wahr, manche falsch sind.
Ebd., S. 257: “A prejudice is by no means, though generally thought so, an error. On the contrary, it may be a
most unquestioned truth, though it be still a prejudice in those who, without any examination, take it upon trust
and entertain it by habit”.

224 Ebd., S. 260: “Our honest cobler is thoroughly convinced, as his forefathers were for many centuries, that
one Englishman can beat three Frenchmen; and, in that persuasion, he would by no means decline the trial.
Now, though in my own private opinion, deduced from physical principles, I am apt to believe that one
Englishman could beat no more than two Frenchmen of equal strength and size with himself, I should however
be very unwilling to undeceive him of that useful and sanguine error, which certainly made his countrymen
triumph in the fields of Poictiers and Crecy”.
hervorgingen, und die fraglichen Zahlenverhältnisse dort bestanden, hat ein
Engländer drei Franzosen geschlagen. Und die Überzeugung, dazu imstande zu
sein, war die Ursache davon, daß die englischen Soldaten dies vermochten: sie ließ
sie siegen (“made his countrymen triumph”).

73. Das Beispiel ist freilich geeignet, einen Verdacht zu bestärken, der bereits
aufgekommen sein mag, als von Empfehlungen von Vorurteilen aus der
Außenperspektive zum ersten Mal die Rede war (§ 68). In diesen wird ja gesagt,
Vorurteile seien gut - für andere. Solche Empfehlungen beruhen auf Wissen, das
man mit diesen anderen nicht teilen möchte. Wird es publik gemacht, so geschieht
dies in der berechtigten Hoffnung, daß nicht jeder darin lesen wird. Würde dem
Soldaten klar, daß seine Selbstgewißheit schieres Vorurteil ist, dann begänne diese
vielleicht an Zweifeln zu zerbröckeln, und er wäre als Kanonenfutter für die
herrschende Klasse nicht mehr so recht zu brauchen. Gewiß, Chesterfield klärt uns
auf; aber er kann nicht die aufklären wollen, über die er uns aufklärt. Denn derart
aufgeklärt würden sie im Dienst jener, die sie, wie Chesterfield, zu ihrer Verfügung
haben möchten, so anstandslos nicht mehr spuren. Wer entdeckt hat, wie Vorurteile
zu seinem eigenen Vorteil wirken, und dies schätzt, der zieht anscheinend Gewinn
aus der eigenen Unehrlichkeit. Chesterfields Lehre, wie der Zusammenhang
zwischen Selbstvertrauen und der Bereitschaft, sich in Gefahr zu begeben, zu nutzen
ist, verweist, wie es aussieht, auf etwas allgemeineres: Vorurteile aus der
Außenperspektive zu empfehlen, ist elitär und zynisch 225 .
Wir müssen freilich zusehen, ob es wirklich an sich elitär und zynisch ist,
Vorurteile aus der Außenperspektive zu empfehlen, oder ob dies bloß elitär und
zynisch sein kann, aber nicht muß. Ersteres müßte man gewiß ernstnehmen, obwohl
selbst darin nicht ohne weiteres ein Einwand liegt. Eine elitäre Haltung, ja selbst
Zynismus könnte ja genau das Richtige sein; bislang ist nichts vorgebracht worden,
das das Gegenteil zeigte. Das als zweites genannte mögliche Ergebnis - daß es elitär
und zynisch sein kann, Vorurteile aus der Außenperspektive zu empfehlen - wäre
gänzlich trivial. Überzeugungen und Meinungen können elitär und zynisch sein,
aber sicher beweist das nicht, man dürfe keinerlei Überzeugungen oder Meinungen
haben.
Nun kann es in der Tat elitär sein, Vorurteile aus der Außenperspektive zu
empfehlen, aber es braucht durchaus nicht elitär zu sein. Elitär ist es, wenn es eine
Rangordnung voraussetzt und zugleich begrüßt. In Chesterfields Rede von der
Masse (“bulk”) 226 oder Herde (“herd”) der Menschen ist beides unleugbar gegeben.
Gleiches gilt für die Verteidigung der Vorurteile, die Friedrich der Große, gegen du
Marsais gerichtet, in den Satz faßte, Vorurteile seien die Vernunft des gewöhnlichen
Volks 227 . So zu reden ist elitär, insofern es die einfachen Leute der, angeblich
225 Vgl. Wieland, ‘Etwas über die Vorurtheile überhaupt’, S. 147. - Riem, ‘Ueber Aufklärung’, S. 315. -
Klinger, Betrachtungen und Gedanken I, Nr. 301, S. 180 - 181

226 Auch Hume (‘Of Commerce’, S. 288) spricht abschätzig von “the bulk of mankind”.

227 Anonymus [d.i., Friedrich der II., ‘der Große’], Examen de l’essai sur les préjugés, S. 8: “Les préjugés sont
la raison du peuple”. Die pointiertere Übersetzung, Vorurteile seien die Vernunft des Pöbels, legt sich nahe,
mag aber um etwas zu scharf zu sein. Friedrich entlehnte seine Bemerkung Voltaire, wich dabei aber auf
kennzeichnende Weise von ihm ab; vgl. Voltaires ‘Poëme sur la loi naturelle’, IV, S. 460: “les préjugés sont la
gebührenden, Verachtung durch diejenigen, die sich ihnen überlegen dünken,
aussetzt.
Doch sich selbst einen anderen Rang beimessen als denjenigen, denen man
Vorurteile zuschreibt, ist nicht der einzige Unterschied, der Innenperspektive und
Außenperspektive auseinandertreten lassen kann. Schon auf den Unterschied
zwischen Eltern und Kindern (§ 69), obgleich er gewiß unter anderem auch ein
Unterschied der gesellschaftlichen Stellung und Macht ist, paßt jene Beschreibung
nicht wirklich. Auch ein zeitlicher Unterschied kann eine Sache von außen anders
erscheinen lassen als von innen. Ein Beispiel dafür findet sich in Heines Briefen über
die französische Bühne: “Als ich jüngst mit einem Freunde vor der Kathedrale zu
Amiens stand, und mein Freund dieses Monument von felsenthürmender
Riesenkraft und unermüdlich schnitzelnder Zwergsgeduld mit Schrecken und
Mitleiden betrachtete, und mich endlich frug: wie es komme, daß wir heut zu Tage
keine solchen Bauwerke mehr zu Stande bringen? antwortete ich ihm: ‘Theurer
Alphonse, die Menschen in jener alten Zeit hatten Ueberzeugungen, wir Neueren
haben nur Meinungen, und es gehört etwas mehr als eine bloße Meinung dazu, um
so einen gothischen Dom aufzurichten’” 228 . Die Baukunst steckte vielleicht noch in
den Kinderschuhen, hätten “die Menschen in jener alten Zeit” nicht geglaubt, Gott
Häuser zu bauen. Dieser fromme Glaube war für den aufgeklärten Atheisten Heine
schieres Vorurteil. Sein Nachdenken darüber, welcher Geist die mittelalterlichen
Kathedralen möglich gemacht hatte, führte Heine dazu, Vorurteile aus der
Außenperspektive zu billigen. Solche Bauwerke zu errichten erforderte, daß
Menschen lange ohne Bedenken und Zweifel in einem Glauben beharrten - so
beharrten, wie es nur Vorurteile fertigbringen. Der Unterschied, der die Perspektive
zu einer von außen macht, ist keiner in der gesellschaftlichen Rangordnung; er liegt
vielmehr im geschichtlichen Abstand.
Vielleicht klingt noch etwas von Herablassung in Heines Bemerkungen an,
auch wenn das Wort ‘elitär’ diesen Ton nicht trifft. Aber es gibt Rechtfertigungen
von Vorurteilen, die weder eine Rangordnung voraussetzen noch gönnerhaft sind.
Eine solche Rechtfertigung stützt sich auf den Umstand, daß es Arbeitsteilung nicht
nur in unserem Tun, sondern auch in unserem Wissen gibt. Jeder Art von Arbeit ist
Erfahrung erster Hand von bestimmten Dingen eigen, von welchen diejenigen, die
anderen Beschäftigungen nachgehen, nur aus zweiter Hand wissen. Die
unterschiedlichen Berufe können gewiß in einer Rangordnung stehen, aber sie
brauchen es nicht. Ein Fachmann kann sich in einer Hinsicht auf einen anderen
verlassen, dieser andere aber auf den ersten in einer anderen Hinsicht, ohne daß eine
Hierarchie zwischen ihnen bestünde. Keiner von ihnen steht höher; sie wissen
einfach bloß verschiedenes. So lassen sich Vorurteile ohne elitären Unterton oder
herablassenden Beiklang legitimieren.

74. Wer zynisch ist, ist nicht bloß herablassend. Nicht gönnerhaft denkt er von den
anderen, sondern wegwerfend. Andere als Kanonenfutter gebrauchen zu wollen,
und den dazu passenden Glauben zu empfehlen: darin liegt unzweifelhaft etwas

raison des sots”. - Friedrichs Überlegungen in ihrem Anspruch, den gemeinen Mann vor den Zumutungen der
Aufklärung zu bewahren, wurden von Diderot angegriffen: ‘Lettre sur l’Examen de l’essai sur les préjugés’.

228 S. 279
von dieser Haltung. Aber wer Vorurteile aus der Außenperspektive billigt, braucht
nicht im angedeuteten Sinne zynisch zu sein.
Jemand mag glauben, er sei trotz gelegentlicher Unpäßlichkeiten im großen
und ganzen gesund und kräftig. Sein Arzt aber mag wissen, daß der Betreffende
Krebs hat. In diesem Fall hat der Arzt ein Urteil, denn er hat den Patienten
untersucht; dieser aber hat ein Vorurteil, insofern er das Untersuchungsergebnis
nicht kennt. Doch vielleicht will der Arzt dem Patienten seinen Glauben nicht
nehmen. Denn er weiß, daß dieser kraft des Glaubens an die eigene gute
Konstitution seine Krankheit meistern kann. Der Arzt bejaht also ein Vorurteil aus
der Außenperspektive. Man muß durchaus nicht behaupten, dem Fall sei gar nichts
gemein damit, die Selbstüberschätzung von Soldaten zu einem Bestandteil
militärischen Kalküls zu machen. Hier wie da besteht ein Gefälle zwischen dem
Wissen der jeweils beteiligten Parteien, das die überlegene Partei absichtlich
aufrechterhält. Hier wie dort scheint die an Einsicht unterlegene Partei zu einem
gewissen Grad der anderen blind zu folgen. Die Haltung des Arztes ist gewiß
paternalistisch. Aber sie ist in keiner Weise wegwerfend oder verächtlich. Dies wird
dadurch beglaubigt, daß der Arzt wünschen könnte, daß andere sich ihm gegenüber,
sollte er je in die gleiche Lage kommen, genauso verhalten würden, wie er jetzt zu
seinem Patienten, und daß er diesen Wunsch hegen könnte, ohne daß ihn dies dazu
treiben müßte, sich selbst zu verachten. Nichts daran wäre widersprüchlich oder
auch nur seltsam.
Der Begriff Paternalismus leitet sich von der Beziehung eines Vaters zu
seinem Kind her, die ja auch nicht von Zynismus geprägt sein muß, wenn das Kind
in ihr Vorurteile empfängt (§ 69). Zynismus schließt aus, daß einer wahrhaft um das
Wohlergehen des anderen besorgt ist. Die Billigung von Vorurteilen aus der
Außenperspektive schließt solche Sorge nicht aus. Also muß sie nicht zynisch sein.
V. Über Moralität, Sadismus und Verwandtes, oder weshalb Vorurteile nicht zu
vermeiden sind

75. Es hat sich gezeigt, daß dem Paradox, das anscheinend im Empfehlen von
Vorurteilen liegt (§ 65), zu entgehen ist (§§ 66 - 74). Selbstverständlich mag man nach
wie vor seine Zweifel an den allerhand guten Eigenschaften haben, derer Vorurteile
in den präsentierten Argumenten gerühmt wurden. Denn in einigen dieser
Argumente waren empirische Behauptungen aufgestellt und Voraussagen gemacht,
deren Prüfung nicht unternommen wurde, freilich auch nicht beabsichtigt war. Was
im vorigen Kapitel beabsichtigt war und unternommen wurde, war, der Frage
nachzugehen, ob es widersprüchlich ist, Vorurteile zu empfehlen, und es hat sich
herausgestellt, daß dem nicht so ist.
Jede Verteidigung von Vorurteilen wäre freilich auf Sand gebaut, hätte es die
Aufklärung, wie manche ihrer Vertreter behaupteten, fertiggebracht, einen Maßstab
auszuweisen, anhand dessen Vorurteile zu verwerfen sind. Gibt es allem Scharfsinn
der Anwälte des Vorurteils zum Trotz vielleicht doch eine klare und
allgemeingültige Antwort auf die Frage, was an Vorurteilen eigentlich verkehrt sein
soll?
Mehrere Versuche, eine solche Antwort zu geben, sind bereits gescheitert.
Aber John Locke versichert, er vermöge das eine Merkmal anzugeben, an welchem
Vorurteile sich erkennen ließen. Wer von einer Ansicht überzeugt sei, müsse auch
meinen, seine Überzeugung ruhe auf guten Gründen; könne er das nicht vertreten,
dann verdamme er sich selbst. Er müsse glauben, seine Zustimmung gehe nur so
weit, wie die Evidenz der Wahrheit ihn zur Zustimmung zwinge. Ausschließlich
Argumente, so habe er anzunehmen, nicht Neigung oder Laune machten ihn so
zuversichtlich und bestimmt in seinen Behauptungen. Habe er nun seine Ansicht
geäußert, könne aber Widerspruch zu ihr nicht ertragen und geduldig anhören, erst
recht die Argumente der Gegenseite nicht prüfen und abwägen, bekenne er dann
nicht einfach, daß ein Vorurteil ihn beherrscht? Nicht in der Evidenz der Wahrheit,
sondern in irgendeiner faulen Antizipation, einer ihm lieben Präsumtion wolle er
ungestört bleiben. Denn, fragt Locke, bräuchte der Betreffende Furcht davor zu
haben, das, was er glaube, auf die Probe gestellt zu sehen, wenn es, wie er vorgebe,
durch Evidenz gut gesichert wäre, und er sähe, daß es wahr ist? Weshalb sollte er
eine Prüfung scheuen, wenn seine Ansicht auf festem Grund ruhte, und die
Argumente, die sie stützten, und denen er beigepflichtet habe, klar, gut und
überzeugend wären? Wessen Zustimmung zu etwas über die Evidenz für es
hinausgehe, der schulde solchen Überschuß an Anhänglichkeit an es nur einem
Vorurteil, und zeige dies Vorurteil, wenn er sich weigere anzuhören, was gegen es
vorgebracht werde. Er erkläre damit selber, daß er nicht Evidenz suche, sondern die
von ihm geschätzte Ansicht in Ruhe zu genießen wünsche. Stehe ihr irgendetwas
entgegen, dann verdamme er es ungehört und ungeprüft im voraus - was sei das
anderes als ein Vorurteil? 229 .
229 Of the Conduct of the Understanding, § 10, S. 229 - 230: “I shall offer this one mark whereby prejudice may
be known. He that is strongly of any opinion must suppose (unless he be self-condemned) that his persuasion is
built upon good grounds; and that his assent is no greater than what the evidence of the truth he holds forces
him to; and that they are arguments, and not inclination, or fancy, that make him so confident and positive in his
tenets. Now if, after all his profession, he cannot bear any opposition to his opinion, if he cannot so much as
Lockes Analyse hat einzelnes gemein mit den Einwänden gegen Vorurteile,
die früher vorgestellt wurden und sich als nicht schlagend erwiesen haben. Aber sie
geht an einem Punkt über diese hinaus. Eine Ansicht ist nach Locke nicht dann
bereits als Vorurteil zu bezeichnen, wenn sie ungeprüft ist. Sicher ist auch Locke
zufolge jemand, der Vorurteile hat, an der eigenen Überzeugung stärker interessiert
als an der Wahrheit. (Im angeführten Abschnitt ist der Ausdruck ‘Interesse’ nicht
verwendet; doch sagt Locke von der Präsumtion des Voreingenommenen, sie sei
diesem lieb, er wolle in ihr ungestört bleiben und suche die von ihm geschätzte
Ansicht in Ruhe zu genießen: all diese Haltungen - “beloved”, “desires”, “seeks”, “is
fond of”, “enjoyment” - sind entweder selber Fälle von Interesse, oder deuten
mindestens darauf hin, daß ein Interesse im Spiel ist.) Darum vermöge jemand, der
ein Vorurteil habe, dieses nicht interesselos zu überprüfen. Doch auch ganz
vernünftige Leute überprüfen viele ihrer Überzeugungen nicht. Und so faßt Locke
den Fall, in dem man ihm zufolge den wahren Prüfstein dafür findet, ob etwas ein
Vorurteil ist, bestimmter: es handele sich um ein solches, wenn der Betreffende sich
über widerstreitende Evidenz hinwegsetze. Weder daß man sie aus zweiter Hand
hat, noch daß die Gründe für sie schwach sind, macht eine Überzeugung aus Lockes
Sicht schon zum Vorurteil. Der neue und vielversprechende Gedanke Lockes ist, daß
ein Vorurteil dann vorliegt, wenn sich Widerstand dagegen regt, den gegen es
sprechenden Gründen Rechnung zu tragen. Wer jemandem Einwände vorträgt, der
Stellung bezogen hat, hofft, daß der andere diesen zugänglich sein werde; stellt sich
aber heraus, daß man da, wo man eine Tür erwartete, gegen eine Wand läuft, dann,
so Locke, kann man sicher sein, daß die Stellung, die der andere bezogen hat, ein
Vorurteil ist.
Diese Überlegung, sollte sie sich als zwingend erweisen, könnte stark genug
sein, die Behauptung, Vorurteile zu empfehlen schließe einen Widerspruch ein (§
65), in gewissen Fällen wieder ins Recht zu setzen - zumindest, wenn Vorurteile aus
der Innenperspektive empfohlen werden (§ 71). Denn niemand könnte eines
Vorurteils im Lockeschen Sinne an sich vollkommen gewahr sein, sich also ganz
bewußt der Berichtigung seiner Auffassungen widersetzen. (Wir deuten hier nicht
mehr Lockes Text, sondern verfolgen die Sache weiter; doch immerhin sind die
Wendungen “he cannot so much as give a patient hearing”, “to rest undisturbed”,
und das Wort “quiet” in der Wendung “the quiet enjoyment of the opinion he is
fond of” aufschlußreich.) In dem Sinne Vorurteile zu haben, daß man sich der
Berichtigung seiner Überzeugungen widersetzt, kann keine bewußte Haltung sein,
da es sich widersprechen würde, eine Überzeugung zu haben und zugleich
zuzugeben, daß die entgegengesetzte Auffassung die besser begründete ist. Denn im

give a patient hearing, much less examine and weigh the arguments on the other side, does he not plainly
confess it is prejudice governs him? and it is not the evidence of truth, but some lazy anticipation, some beloved
presumption, that he desires to rest undisturbed in. For, if what he holds be, as he gives out, well fenced with
evidence, and he sees it to be true, what need he fear to put it to the proof? If his opinion be settled upon a firm
foundation, if the arguments that support it, and have obtained his assent, be clear, good, and convincing, why
should he be shy to have it tried whether they be proof or not? He whose assent goes beyond this evidence,
owes this excess of his adherence only to prejudice, and does in effect own it, when he refuses to hear what is
offered against it; declaring thereby that it is not evidence he seeks, but the quiet enjoyment of the opinion he is
fond of, with a forward condemnation of all that may stand in opposition to it, unheard and unexamined; which,
what is it but prejudice?”. Eine weitere bedeutsame Erörterung der Frage des Vorurteils findet sich in Lockes
‘Third Letter for Toleration’, S. 297 - 299
äußersten Falle würde dies heißen, daß man zugibt, die entgegengesetzte
Auffassung sei wahr. Doch dies ist unmöglich. Niemand kann eine Überzeugung
haben und zugleich meinen, sie sei falsch. Überzeugungen zielen auf Wahrheit: Wer
sagt, er sei von diesem oder jenem überzeugt, erhebt den Anspruch, dies oder jenes
sei wahr. Davon überzeugt zu sein, daß etwas so und so ist, und davon überzeugt zu
sein, es sei wahr, daß es so und so ist, ist ein und dasselbe. Der äußerste Fall, gedacht
als ein solcher vollen Bewußtseins, bestünde folglich ganz einfach darin, daß man
zur entgegengesetzten Überzeugung käme. Doch wenn Vorurteile in Lockes Sinne
nicht als Vorurteile bewußt sein können (wenngleich ihr Inhalt einem natürlich
bewußt sein muß), dann kann auch das, was sie hervorgerufen hat und bestimmt,
einem nicht als ein solches bewußt sein 230 .
Das, was Vorurteile hervorruft und bestimmt, haben die vorigen
Bemerkungen als Interesse gekennzeichnet. Natürlich kann ich wissen, und weiß es
oft, daß ich ein bestimmtes Interesse habe. Außerdem erweist selbst der Umstand,
daß eine Überzeugung mit einem Interesse verbunden ist, sie noch nicht als
Vorurteil; wollte man dies behaupten, hätte man weder Lockes Vorschlag recht
gedeutet, noch uns, abgesehen von jeder Frage, wie dieser Autor zu verstehen ist,
ein haltbares Kriterium für Vorurteile an die Hand gegeben. Denn dies schließt sich
ja nicht aus: daß ich an einer Überzeugung interessiert bin und daß, wie ich
herausgefunden habe, gute oder selbst die denkbar besten Gründe für sie bestehen.
Worauf es ankommt, ist, daß in diesen Gründen, nicht in jenem Interesse die
Antwort auf die Frage liegt, weshalb ich an der Überzeugung festhalte. Mir kann
also durchaus bewußt sein, daß ich ein Interesse an einer Überzeugung habe; aber
ich kann nicht wissentlich nur darum an einer Überzeugung festhalten, weil ich ein
Interesse an ihr habe.

76. Es wurde früher (§ 49) beanstandet, daß Gadamer den Unterschied zwischen
Vorurteil und Präsumtion verwischt. Was die Terminologie angeht, sind beide bei
Locke ersichtlich ebensowenig geschieden. Wo Locke “some beloved presumption”
schreibt, könnte offenbar vom Sinn her auch ‘some beloved prejudice’ stehen 231 .
(Und es liegt zutage, daß Locke gleich unbekümmert mit dem Ausdruck
‘anticipation’ verfährt; auch er wird behandelt, als bedeute er so viel wie Vorurteil.)
Das Wort ‘presumption’ scheint Locke nur einzuführen, um ein wenig sprachliche
Abwechslung in seine Erörterung des Vorurteils zu bringen. Sieht man indes von
der Frage der Terminologie ab, dann scheint gerade Locke durch das, was er zur
Sache zu sagen hat, dem Anliegen entgegenzukommen,Vorurteil und Präsumtion
auseinanderzuhalten (vgl. §§ 61, 64).
230 Vgl. Duclos’ Beobachtungen: “Ils [sc. les faux préjugés] naissent et croissent insensiblement par des
circonstances fortuites, et se trouvent enfin généralement établis chez les hommes, sans qu’ils en aient aperçu
les progrès. Il n’est pas étonnant que de fausses opinions se soient élevées à l’insu de ceux qui y sont le plus
attaches” (Considérations sur les mœurs, S. 27).

231 § 38 des Conduct of the Understanding (S. 271 - 272), über ‘Presumption’, trägt zur Frage der
Unterscheidung von Vorurteilen nichts bei. - Selbst nachdem Jurisprudenz (Best) und Rhetorik (Whately) den
Begriff der Präsumtion klar umrissen hatten, fuhren die Philosophen oft genug fort, so zu reden, als bestünde
kein Unterschied zu Vorurteilen. Vgl. z.B. Peirce, ‘The Order of Nature’ (6.424.), S. 299: “There are minds to
whom every prejudice, every presumption, seems unfair”.
Wie die Vorsilbe anzeigt, teilen Präsumtionen mit Vorurteilen, daß sie, in
einem freilich erläuterungsbedürftigen Sinne, ‘früher’ sind (vgl. § 1). Während indes
Leute, die ein Vorurteil haben, überzeugt sind, das, was sie glauben, sei wahr, sind
alle, die eine Präsumtion hinsichtlich einer Sache machen, überzeugt, sie seien von
Wissen über diese Sache noch ein ganzes Stück entfernt. Folgt man Locke, dann sind
Vorurteile überdies Widerlegungen nicht zugänglich; mit einer Präsumtion
hingegen gibt man zu verstehen, daß sie sich anfechten und umstoßen läßt. Gewiß,
solange einer etwas präsumiert, behauptet er, es sei bislang nicht mit Erfolg
bestritten; zugleich aber fordert er die interessierten Parteien auf, es zu bestreiten.
Wie das Wort Vorurteil, so entstammt auch der Ausdruck Präsumtion der
Rechtsprechung 232 . In ihr freilich gehören Präsumtionen, anders als Vorurteile, zum
Recht des Beweiserhebungsverfahrens. Eine Präsumtion ist eine Rechtsregel,
derzufolge Richter aus bestimmten Umständen einen bestimmten Schluß zu ziehen
gehalten sind, solange dieser nicht widerlegt ist 233 . Das Musterbeispiel ist die
Unschuldsvermutung zugunsten des Beklagten vor Gericht: ‘quilibet praesumatur
bonus, donec probetur contrarium’. Daß diese Präsumtion solange, aber auch nur
solange gilt, bis die Schuld des Beklagten erwiesen ist, zeigt den Unterschied zu
einem Vorurteil, wie Locke es beschrieben hat, an: von letzterem heißt es ja, an ihm
werde selbst dann noch festgehalten, wenn das Gegenteil erwiesen sei. Indes wird
die Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten selbst dann aufrechterhalten
und muß aufrechterhalten werden, bis er rechtskräftig verurteilt ist, wenn niemand
glaubt, daß er unschuldig ist, und die Belege dafür, daß er es nicht ist, bereits vor
aller Augen sind. Wird dadurch der Unterschied zwischen Präsumtion und
Vorurteil, wie Locke es versteht, wieder nivelliert?
Die Unschuldsvermutung zugunsten Angeklagter ist in der Tat nicht darin
begründet, daß sich von Personen, gegen die ein Prozeß angestrengt wurde,
meistens herausgestellt hat, daß sie unschuldig waren. Aller Erfahrung nach könnte
wohl das Gegenteil der Fall sein. Insofern wird eine praesumptio juris, ähnlich einem
Vorurteil, wie Locke es sich vorstellt, auch angesichts entgegengesetzter Evidenz
aufrechterhalten. Diese scheinbare Ähnlichkeit beider führt jedoch unmittelbar auf
einen tieferen Unterschied. Während Locke zufolge der Inhalt des Vorurteils und die
verfügbare Evidenz logisch unvereinbar sind, besteht etwa zwischen der Präsumtion
des Gerichts, der Angeklagte sei unschuldig, und den bereits ermittelten Belegen
dafür, daß er es nicht ist, kein Widerspruch; denn Präsumtionen behaupten nicht
Tatsachen, sondern regeln Verfahren, mögen in diesen auch Tatsachen erörtert
werden. (Insofern ist es schon irreführend, von einer Unschuldsvermutung zu
sprechen.) Präsumtionen sind Richtlinien, denen zufolge die an einer
Auseinandersetzung Beteiligten nicht gleichermaßen gehalten sind, die Wahrheit
ihrer Behauptungen darzutun. Eine Präsumtion verteilt also Beweislasten; die
genannte Präsumtion etwa mutet sie dem zu, der die Unschuld des Angeklagten
bestreitet, im Zivilrecht also dem Kläger, im Strafrecht dem Staatsanwalt 234 .
232 Vgl. Best, A Treatise of Presumptions of Law and Fact

233 Stephen, A Digest of the Law of Evidence, S. 3 - 4

234 Whately, Elements of Rhetoric, S. 112 - 113


Die Präsumtion der Unschuld des Angeklagten im Gerichtssaal besagt also
nicht, es sei ersichtlich, daß der Angeklagte unschuldig ist, denn dann hätte er
Anspruch nicht etwa auf ein faires Verfahren, sondern darauf, ohne weiteres auf
freien Fuß gesetzt zu werden. Ebensowenig besagt sie, daß es von vornherein
wahrscheinlicher ist, daß der Angeklagte unschuldig ist, oder daß die Mehrzahl
derer, die bislang vor Gericht gestellt wurden, unschuldig waren. Wenn aber keine
solche Statistik der Grund für die Präsumtion ist, warum geht man dann überhaupt
von der Unschuld des Angeklagten aus? Betrachten wir, um einer Antwort auf diese
Frage näher zu kommen, die Präsumtion im Licht ihrer Folgen.
Es kann schwer sein, jemandes Schuld zu beweisen, weit schwerer aber noch
für einen Unschuldigen, die eigene Unschuld darzutun; der gewöhnliche Fall bei
Dingen, die es nicht gibt. ‘Qui s’excuse, s’accuse’: der Eindruck, der entsteht, wenn
einer sich bemüht zu zeigen, daß er ein Verbrechen nicht begangen hat, kann leicht
der gegenteilige sein. Man braucht sich nur vorzustellen, jemand sei einer gänzlich
unbegründeten Anschuldigung ausgesetzt, und nehme nun die Beweislast auf sich.
Statt die Anschuldigung einfach als falsch zu bezeichnen und von dem Kläger zu
fordern, sie zu beweisen, fange er also an, eine negative Tatsache, seine Unschuld, zu
untermauern, indem er alle Umstände, die seines Erachtens für sie sprechen,
zusammentrage: das Ergebnis könnte leicht sein, daß die beigebrachte Evidenz keine
Gewißheit darüber verschafft, daß er die Tat nicht begangen hat, ja sogar einem
Verdacht gegen ihn Nahrung gibt. Und dies wäre sein eigener Fehler: denn indem er
gestattete, daß die Beweislast an ihn überging, hat er selber aus dem Blick geraten
lassen, daß dem von ihm Vorgetragenen, wie dünn auch immer es sein mag,
platterdings nichts auf der anderen Seite gegenübersteht 235 .
Wird Unschuld präsumiert - liegt also die Beweislast beim Kläger, nicht beim
Beklagten -, dann werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so viele Beklagte
verurteilt werden, wie wenn Schuld präsumiert wird. Infolgedessen werden weniger
von denen, die schuldig sind, bestraft werden, aber auch weniger Unschuldige.
Diejenigen, die keine Verbrechen begangen haben, sind vergleichsweise gut gegen
Justizirrtümer geschützt; doch manche, die Verbrechen begangen haben, werden aus
Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Wird hingegen Schuld präsumiert -
liegt also die Beweislast beim Angeklagten oder seinem Verteidiger -, dann werden
die Gerichte mehr von denen, die schuldig sind, verurteilen können, zugleich aber
werden sie wahrscheinlich auch mehr Unschuldige schuldig sprechen. Zweierlei
Paare von Folgen sind also mit den gegensätzlichen Präsumtionen gesetzt; zwischen
ihnen muß man wählen. Es sei besser, wenn zehn Schuldige entkämen, als daß ein
Unschuldiger Unrecht erleide, schrieb William Blackstone 1770 236 . Das Bessere ist
damit zum Maßstab erhoben, während der früher zurückgewiesenen Begründung
von Präsumtionen der Gedanke zugrundelag, da die Frage, ob jemand gegen ein
Gesetz verstoßen habe, eine von wahr und falsch sei, müsse auch die Präsumtion der
Unschuld oder Schuld von Beklagten eine Sache von wahr und falsch sein. Wie
Blackstone sah, gründet die Präsumtion der Unschuld von Angeklagten auf der
Furcht vor ungerechter Verurteilung, also auf etwas, das wir wollen (und hier
235 Ebd., S. 114

236 Commentaries on the Laws of England, S. 358: “It is better for ten guilty persons to escape than that one
innocent suffer”.
genauer: etwas, das wir vermeiden wollen), nicht auf etwas, das wir wissen. Und so,
wie man allerhand wollen kann, kann man auch allerhand präsumieren. Die
Präsumtion der Unschuld von Angeklagten ist durchaus keine notwendige
Wahrheit. Eine Rechtsordnung könnte die Schuld von Angeklagten in Form einer
Präsumtion unterstellen, wenn man stärkeres Interesse daran hätte, daß die Justiz
keinen Schuldigen ungestraft laufen lassen muß, als daran, daß über Unschuldige
kein Schuldspruch ergeht. Manche Rechtsordnungen vor dem 18. Jahrhundert
waren so beschaffen; das mittelalterliche Strafprozeßrecht etwa verlangte, daß nicht
etwa der Kläger die Schuld, sondern der Beklagte seine Unschuld beweise 237 .
Der Grund dafür, von der einen oder anderen Präsumtion auszugehen, ist ein
ausdrücklich erkanntes und anerkanntes Interesse, ein Ziel, von dem man weiß, daß
man es erreichen will. Nun ist oft behauptet worden, daß auch Vorurteile auf
Interessen beruhen (vgl. § 75) - indes, und dieser Unterschied ist einer ums Ganze,
auf Interessen, die man nicht eingesteht, nicht einmal sich selbst. Würde einer,
entsprechend dem an Präsumtionen Bemerkten, sagen, er habe seine Vorurteile
gewählt (schon das ist eine merkwürdige Zusammenstellung von Worten), weil er
ein bestimmtes Interesse habe, ein Ziel, das er erreichen wolle, so scheint dies dem
Eingeständnis gleichzukommen, er fröne purem Wunschdenken (vgl. allerdings §§
71 - 72). Sagt er etwa, er sei aus dem Grund der Auffassung, Schwarzen mangele es
an Intelligenz, daß er sie in einer niedrigen gesellschaftlichen Stellung halten wolle,
dann hat er eben nicht nur alle Rationalität, sondern selbst den mindesten Anschein
derselben fahrengelassen; will er solchen aufrechterhalten, dann muß er seine
Geschichte schon umgekehrt aufbauen: man solle solche Leute nur an grobe
Arbeiten heranlassen, da ihr Geist dumpf sei.

77. Vorurteile widersetzen sich ihrer Berichtigung: daran, so Locke, kann man sie
erkennen (§ 75). Obwohl dies Kriterium bereits früher in dieser Abhandlung
aufschien (§ 49), ist es noch nicht ausführlicher erörtert worden. Bemerkenswert ist
zunächst, daß Vorurteile in ihrem Verhältnis zur Zeit seltsam gegensätzlich
charakterisiert worden sind. Rasch hat man sie genannt, doch auch beharrend. Die
erste Eigenschaft soll sich freilich darauf beziehen, wie sie zustandekommen, die
zweite darauf, wie sie sind, nachdem sie einmal zustandekamen. Descartes mag
beides im Sinn gehabt haben, als er in der ersten seiner vier Regeln der Methode
“précipitation” und “prévention” sowohl unterschied wie aufeinander bezog 238 .
Man nimmt demnach ein Vorurteil in Hast an; habe man es aber einmal
angenommen, dann erweise es sich als höchst ausdauernd 239 . Nun bestehen
allerdings erhebliche Zweifel an der ersten Behauptung, die ja zugleich eine
Erklärung darstellen soll (§ 23). Um die zweite hingegen scheint es besser zu stehen.
Erlaubt uns das, was wir über Vorurteile gelernt haben, ihr Beharren zu verstehen?
237 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 185. Wie Radbruch ausführt, brachte sich das
mittelalterliche Strafrecht indes durch seine Auffassung von den Beweismitteln selbst um die beabsichtigte
Wirkung (S. 185 - 186).

238 Discours de la Méthode, II,7, S. 18

239 Kant spricht von der “Hartnäckigkeit der Vorurtheile” (Reflexionen zur Logik, Nr. 2546, S. 410). Vgl. ebd.,
Nr. 2517, S. 402: “Die Vorurtheile wiederstehen der Belehrung, indem sie 1. nicht wollen belehrt werden, 2.
indem sie die Belehrung durch dasselbe Vorurtheil beurtheilen, welches hat sollen abgeschafft werden”.
Vorurteile, so haben wir herausgefunden, sind weder unvereinbar mit
Erfahrung, noch sind sie durch ungenügende Erfahrung zu definieren; vielmehr
bestimmen Vorurteile, welche Art von Erfahrung einer machen wird (§ 19). Hätten,
wie du Marsais nahelegte, Leute mit Vorurteilen keine Erfahrung von dem, worauf
ihre Vorurteile sich beziehen, dann wäre damit zu rechnen, daß sich Vorurteile
auflösen, sobald Erfahrung ins Spiel kommt. Selbst gemäß der Theorie, Vorurteile
seien vorschnelle Verallgemeinerungen (§ 22), sollte man erwarten, die Betroffenen
würden, sobald jemand mehr Beispiele anführte, ihres vorschnellen Schließens inne
und korrigierten dann ihre Verallgemeinerungen. Tatsächlich ist aus aufklärerischen
Prämissen die Folgerung gezogen worden, Vorurteile müßten verschwinden, sobald
diejenigen, die ihnen anhängen, mit denen konfrontiert werden, auf die sie zielen 240 .
Doch Erfahrung ist nicht unabhängig von den Urteilen, die einer hat. Erfahrung setzt
Gedanken voraus; ohne solche käme sie nie zustande. Keine Erfahrung spiegelt bloß
Wirklichkeit ab. Selbst was die empirischen Wissenschaften herausfinden, bildet
hiervon keine Ausnahme. Als man in der Physik Experimente ersann, mit deren
Hilfe Eigenschaften atomarer Teilchen ‘aufgrund von Erfahrung’ bestimmt werden
könnten, ging man von etwas aus, das sich weit eher dem Denken als irgendeiner
unmittelbaren Erfahrung verdankte: von der Annahme, daß es Atome gebe. Newton
war von der Existenz von Kräften, wie sie in seinem Gravitationsgesetz unterstellt
ist, nicht darum überzeugt, weil er sie gesehen hätte, sondern weil er der Auffassung
war, sie in Abrede stellen hieße Gott leugnen; die physikalischen Experimente
führten nicht etwa zu jener Voraussetzung, sondern gingen von ihr aus.
Erfahrung, wissenschaftliche so gut wie alltägliche, kommt nur zustande,
wenn wir an der Wirklichkeit Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden.
Aber es ist nicht die Wirklichkeit, die uns mit einer solchen Unterscheidung versieht.
Ein Ding ist nicht wirklicher als das andere. Unser Urteil ist es, das Ereignisse so
aufeinander bezieht, daß sie eine Erfahrung ausmachen. Ohne es gelangte man nie
weiter als zu verstreuten Wahrnehmungen. Es ist kein Mangel bestimmter
Erfahrungen, daß ihnen Urteile zugrundeliegen, sondern ein Konstituens aller
Erfahrungen, die diesen Namen verdienen. William Hazlitt glaubte, gute Vorurteile
ließen sich, zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit, von schlechten durch das
Merkmal unmittelbarer Sinneserfahrung unterscheiden. Faßte man ein Vorurteil
gegen jemanden, nachdem man ihm ins Gesicht gesehen hätte, dann läge man
wahrscheinlich richtig; gelangte man zu seinem Vorurteil aber aufgrund dessen, was
andere über jenen gesagt hätten, dann läge man wahrscheinlich falsch 241 . Doch die
Unmittelbarkeit, die Hazlitt dem ersten der beiden von ihm unterschiedenen Fälle
zuschreibt, ist Täuschung. Wir werden etwa darin eingeübt, Gesichter als die von
Fremden oder die solcher, die zu uns gehören, zu sehen, und diese Übung ist
vermittelt durch Unterscheidungen, deren Quelle auch nichts Besseres als
Hörensagen ist.
Erfahrung ist die immer bereits beurteilte Konfrontation des Menschen mit
der Welt um ihn her. Wir nehmen beispielshalber nicht ein abstraktes Farbspektrum
240 Diese Lektion suchte Lessing mit seinen Komödien Der Misogyn und Die Juden zu erteilen.

241 ‘Paragraphs on prejudice’, S. 328: “If I take a prejudice against a person from his face, I shall very probably
be in the right; if I take a prejudice against a person from hearsay, I shall quite as probably be in the wrong”.
Hazlitt bleibt hinter seiner eigenen Einsicht zurück, vgl. § 10.
wahr, sondern identifizieren das, was wir sehen, sogleich etwa als einen Garten. Wie
hierin eine Leistung des Verstandes, möglicherweise auch eine Fehlleistung
desselben, enthalten ist, so auch, wenn einer Deutsche oder Juden erkennt und
Erfahrungen mit ihnen macht. Und solange er sein falsches Urteil über sie (falls es
denn falsch ist, was Vorurteile schließlich nicht sein müssen (§ 46)) nicht
richtiggestellt hat, so lange gilt es für ihn eben als Maßstab zur Beurteilung der
erfahrenen Welt. Vorurteile können darum so beharrlich sein, weil die Erfahrungen,
die man macht, wenn man Vorurteile hat, diesen entweder von vornherein
entsprechen oder mindestens, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sich ihnen
anpassen lassen. Wirklich sind Menschen mit Vorurteilen nicht einfach Starrköpfe:
so fest sie im Hinblick auf die Vorurteile selbst sein mögen, so geschmeidig sind die
Techniken, kraft derer sie sie aufrechterhalten.
Schon ob solcher Beweglichkeit sollte man Vorurteile nicht mit Stumpfsinn
oder Grobschlächtigkeit des Geistes verwechseln. Sie können es bis zum Scharfsinn
bringen. Entgegen der zweiten Hälfte von du Marsais’ eingangs angeführter
Bemerkung, wer Vorurteile habe, habe “ni expérience ni raison” 242 , scheint es, daß
gerade je gewandter einer im Räsonnieren ist, desto verfänglicher seine Vorurteile
sind. Wenn Philosophen Vorurteile haben, sagt Fontenelle, dann sind sie ihnen noch
schwerer zu nehmen als gewöhnlichen Leuten; denn die Denker von Profession
hingen nicht nur an ihren Vorurteilen, sondern auch an den Gründen, die sie erdacht
hätten, um sie zu stützen 243 .
Doch selbst wo Vorurteile stumpf und grob sind, hat man es nicht einfach mit
so etwas wie Bauchschmerzen zu tun 244 , einem Zustand also, der jenseits aller
Vernunft läge und sich darum rationaler Analyse entzöge. Noch die seltsamsten
Wendungen, die Vorurteile nehmen können, bedeuten etwas, haben ihre Regeln und
selbst ihre Logik. In besonderem Maße meistern Vorurteile die Logik der Ausnahme.
Der Topos, Ausnahmen bestätigten die Regel, ist ihnen geläufig, ohne daß sie sich je
auf das hoffnungslose Unterfangen einlassen, zu erklären, wie das Abweichende
denn die Norm erst recht befestigen kann 245 . Indem sie diesem riskanten Geschäft
von vornherein aus dem Weg gehen, entziehen sie sich der Erörterung der Frage, ob
das, was da Ausnahme genannt wird, nicht vielleicht auf die Heraufkunft einer
neuen Regel vorausweist, oder gar anzeigt, daß die Umstände, um die es geht, von
keiner Regel beherrscht werden.
242 du Marsais, Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 6. - Bereits Zollikofer fragt im Hinblick auf Menschen, die
Vorurteile haben, rhetorisch: “Was ist aber wol unvernünfftiger, als sich selbst seiner Sinnen und der Vernunfft,
welche der weiße Schöpffer dem Menschen nicht umsonst geschencket hat, berauben, und solche andern
blindlings unterwerffen, die gleichfals Menschen, und folglich fallible sind?” (‘Neunter Discours’, S. 66).

243 Fontenelle, ‘Histoire des oracles’, S. 117: “Quand les philosophes s’entêtent une fois d’un préjugé, ils sont
plus incurables que le peuple même, parce qu’ils s’entêtent également et du préjugé et des fausses raisons dont
ils le soutiennent”. Ähnlich Rousseau, Confessions, S. 285. Ein Einwand gegen Fontenelle bei Duclos,
Considérations sur les mœurs, S. 27. - Über die philosophische Rationalisierung von Vorurteilen vgl. a.
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, ‘Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen’, §§ 1 - 23, S.
15 - 39, besonders § 5, S. 18 - 19

244 Vgl. Nietzsche, Ecce homo, ‘Warum ich so klug bin’, 1, S. 281: “Alle Vorurtheile kommen aus den
Eingeweiden”.

245 Flaubert, Dictionnaire des idées reçues, S. 172: “Exception. Dites qu’elle ‘confirme la règle’; ne vous
risquez pas <à> expliquer comment”.
Gustave Flaubert hat in seinem Dictionnaire des idées reçues Beispiele solcher
Logik vorgeführt (Beispiele, am Rande bemerkt, die sich geradezu unschuldig
ausnehmen gemessen an den Fortschritten, die Vorurteile anscheinend im 20.
Jahrhundert gemacht haben). So empfiehlt diese Sammlung von Vorurteilen, wenn
etwa das Gespräch auf englische Frauen kommen sollte, seiner Verwunderung
Ausdruck zu verleihen, daß ein paar von ihnen ganz hübsche Kinder hätten; würden
Neger erwähnt, dann sei es passend zu bemerken, man sei erstaunt, daß einige es
vermocht hätten, Französisch zu lernen 246 . Vorurteile sind durchaus nicht auf ihre
ausnahmslose Bestätigung festgelegt. Gegen nichts wird jemand, der Vorurteile hat,
sich so sehr verwahren, wie gegen den Vorwurf, er sei dogmatisch; kein Dogma ist
ihm so sehr ans Herz gewachsen wie Verachtung für Dogmatiker 247 . Indem er
Ausnahmen zuläßt, gibt sich ein wahrhaft moderner Anhänger von Vorurteilen
menschlich und zeigt sich als lernfähig, wenngleich er das Lernen nicht bis zur
Aufgabe seiner Vorurteile übertreiben mag. Im Gegenteil sind ja Ausnahmen deren
fortgesetzte Bestätigung. Jeder Einwand wird mit der Bemerkung zum Schweigen
gebracht, ein paar anständige Leute gebe es überall. Und in ihr ist mitgedacht:
überall - selbst unter jenem Gelichter, das im übrigen wirklich nichts wert ist. ‘Du
bist nicht wie die anderen’ ist nur eine Variation über den Refrain ‘Im Grunde sind
die alle gleich’. Die Bereitschaft zu differenzieren gerät so zum Mittel der
Intransigenz. Ein Nationalist, der nicht vollends wie der Ochs vorm Berge steht,
wird allemal auf einen guten Ausländer verweisen können; tatsächlich ist sogar
einer seiner besten Freunde Ausländer, was nicht nur zeigt, wie differenziert er
denkt, sondern ihm darüber hinaus das Recht zu dem Urteil gibt, der Überfremdung
des Volkskörpers müsse endlich Einhalt geboten werden.
Selbstverständlich gibt es noch andere Kunstgriffe, um Vorurteile aufrecht zu
erhalten. Die Logik von Regel und Ausnahme läßt sich zwanglos dadurch ergänzen,
daß man von der Oberfläche der Erscheinungen zur Tiefe des Wesens überwechselt
(§ 33). Gegenbeispiele vermögen einen Antisemiten nicht zu entmutigen, da es ihm
um das Wesen des Juden geht. Wenn er selber Beispiele anführt, dann sollen sie die
Beschaffenheit dieser eigentlichen Natur des Juden bebildern, und nicht wirklich
eine allgemeine Theorie durch empirische Daten stützen. Augenzwinkern oder
bestätigendes Kopfnicken sind die Reaktionen, auf die das Erzählen solcher Beispiele
berechnet ist. Die Vorfälle, die man da durchzugehen pflegt, Geschichten von
Betrug, Verführung und Kindesmord, von denen manche sich durch die
Jahrhunderte kaum gewandelt haben, sind nicht im Ernst als unparteilich
recherchierte Informationen gemeint, auf die die antisemitische Lehre aufgebaut
wäre; sie sollen bloß illustrieren, worüber man sich ohnehin bereits einig ist. Es
handelt sich um Anekdoten, nicht um Evidenz.
Doch selbst wenn etwas als Evidenz angesehen wird, ist zu beachten, daß es
nur dann Evidenz ist, wenn es als solche verstanden wird. Was sonst Evidenz des
Gegenteils wäre, kann für ein Vorurteil zusätzliche Evidenz zu seinen Gunsten
werden. Man bekommt es dann mit Schlüssen der folgenden Art zu tun: (1) Der Jude
ist betrügerisch. (2) Dieser Mann ist Jude. (3) Es hat keinen Anlaß gegeben, ihn für
246 Ebd., S. 53: “Anglaises. S’étonner de ce qu’elles ont de jolis enfants”; vgl. S. 146; - S. 102: “nègres.
s’étonner que leur salive soit blanche. - et de ce qu’ils parlent français”; vgl. S. 198

247 Ebd., S. 72: “Doctrinaires. Les mépriser [...] <<pr. quoi?>> <<on n’en sait rien>>”.
betrügerisch zu halten. (4) Er ist also ein so geschickter Betrüger, daß selbst ich es
nicht bemerke. (5) Je anständiger ein Jude scheint, desto betrügerischer ist er. (Da,
was sonst Evidenz des Gegenteils wäre, für ein Vorurteil zu zusätzlicher Evidenz zu
seinen Gunsten wird, ist die Hoffnung, Vorurteile würden verschwinden, wenn man
sie widerlegt, eitel. Um den Begriff des Widerlegens selbst steht es verwickelter, als
in solcher Hoffnung geglaubt wird. Was bestimmte Vorurteile von Zeit zu Zeit
verschwinden läßt, ist gewöhnlich, daß sie aus der Mode kommen 248 .)
Den genannten und ähnlichen Techniken, Vorurteile aufrecht zu erhalten, ist
gemeinsam, Schläue mit Sturheit zu verbinden. Dies wäre nicht zu erklären,
bestünden Vorurteile einfach in Unerfahrenheit (§§ 2, 18) oder unvollständiger
Erfahrung (§ 22). Verständlich wird es, wenn Vorurteile vielmehr Weisen sind, die
Welt zu sehen. Denn wenn ich fortfahre, auf die selbe Weise zu sehen, wird selbst
das, was anders ist, mich nicht zwingen, meine Ansicht zu ändern; vielmehr wird
die Sichtweise sich auch dies noch anpassen.

78. Wie wir sahen, gehen Vorurteile mit bestimmten Techniken, sie
aufrechtzuerhalten, einher. Darüber hinaus haben einige der erwähnten Beispiele
gezeigt, daß es unvernünftig sein kann, eigene Ansichten im Licht gegenteiliger
Evidenz nicht ändern zu wollen.
Nicht gezeigt ist jedoch, daß Unwille, eigene Ansichten im Licht gegenteiliger
Evidenz zu ändern, unvernünftig sein muß. Vielmehr scheint es Fälle zu geben, in
denen solcher Unwille höchst vernünftig ist. Galilei erklärte seine tiefe
Bewunderung für Kopernikus’ Beharren auf seiner Theorie, das dieser unter
bewußter Mißachtung der ihr zuwiderlaufenden Evidenz, der Helligkeit des
Planeten Mars etwa, durchgehalten habe 249 . Ein rational verfahrender Forscher
bleibt auch angesichts widerstreitender Tatsachen bei seiner Theorie, bis er eine
bessere Theorie hat (und nicht lediglich konfligierende Daten) - und er hat Recht
damit, weil die alte Theorie ihm erlaubt, Prognosen zu stellen, die er ohne sie nicht
stellen könnte. Sich einer Berichtigung zu widersetzen, kann also nicht das Kriterium
sein, an dem sich zeigt, daß Vorurteile zu haben verwerflich ist. Locke oder
diejenigen, die ihm folgen wollen, schulden uns ein zusätzliches Kriterium, das
anzugeben hätte, unter welchen Umständen es verkehrt ist, sich der Berichtigung zu
widersetzen.
Es mag ja eine Eigenschaft von Vorurteilen sein, der Berichtigung zu
widerstehen - die Gründe dafür werden durch die vorige Erwägung nicht widerlegt.
Aber diese Gründe haben nicht gezeigt, daß Widerstand gegen Berichtigung
Kriterium der Vorurteile ist. Denn ein Kriterium ist mehr als eine Eigenschaft. Ein
Kriterium ist eine Eigenschaft, die uns befähigt, ein bestimmtes Ding, oder eine Art
von Dingen, aus einer Anzahl anderer Dinge, oder Arten von Dingen,
herauszuheben. Lockes Vorschlag (§ 75) soll gar noch mehr leisten als dies. Im
Herausheben mit Hilfe des von ihm angegebenen Merkmals (“mark”) soll zugleich
248 Duclos, Considérations sur les mœurs, S. 27 - 28: “Ce n’est pas la raison qui les proscrit, elles se succédent
et périssent par la seule révolution des temps. Les unes font place aux autres, parceque notre esprit ne peut
même embrasser qu’un nombre limité d’erreurs”. (Auch die von Duclos angebotene ökonomische Erklärung hat
ihre Entsprechung in der Mode.)

249 Vgl. Dialogue Concerning the Two Chief World Systems, S. 328
der Finger auf den Defekt der Vorurteile gelegt sein. Das Kriterium soll sowohl die
Frage beantworten, was Vorurteile sind, wie auch die, was verkehrt an ihnen ist.
Daß Widerstand gegen Berichtigung nicht zum Kriterium taugt, die
Verkehrtheit von Vorurteilen auszumachen, wird durch eine zweifache
weiterführende Erwägung bestätigt. Erstens beweist ja Widerstand als solcher
weder, daß etwas nicht richtig, noch, daß es richtig ist. Vielleicht ist unser
Unterredner bloß besonders standhaft. Ob einer seine Auffassung fest oder weich
vertritt, kann kein Maßstab sein, anhand dessen sich ihre Wahrheit oder Falschheit
feststellen ließe. Ihre Falschheit aber wird einfach nur vorausgesetzt, wenn,
zweitens, das Kriterium Widerstand gegen Berichtigung ist. Was der Berichtigung
bedarf, muß klarerweise falsch sein. Aber damit bewegen wir uns im Kreis. Denn
unsere Frage war ja: ‘Was ist falsch an Vorurteilen?’. ‘Daß sie falsch sind (und nicht
aufhören, es zu sein)!’ ist aber die Antwort, auf die das Kriterium, sie widerständen
der Berichtigung, hinausläuft. Diese Antwort ist ein Fall dessen, was sich als, von
einigen Aufklärern vertretene, falsche Auffassung von Vorurteilen erwiesen hat (§
46).

79. Der zirkuläre Charakter des betrachteten Vorschlags bezeichnet jedoch nur die
Oberfläche einer tieferen und substantielleren Schwierigkeit. Ihrer wird man
gewahr, sobald man sich klar macht, was es heißen würde, von allen Widerständen
gegen Berichtigung frei zu sein. Dies könnte man von jemandem sagen, sofern er
bereit wäre, alles, was er glaubt, der Prüfung zu unterwerfen 250 . Eine aufgeklärte
Welt, eine solche also, in der man alle Vorurteile beseitigt hätte, wäre darum auch
eine solche, in der alles auf der Tagesordnung gestanden hätte.
Natürlich kann man den pragmatischen Einwand erheben, wir hätten weder
Zeit noch Kraft dazu, eine Tagesordnung, auf der alles stünde, abzuhandeln (vgl.
den entsprechenden, doch nicht gleichen Einwand §§ 10, 12 - 13). Doch auf der Stufe,
die der Gedankengang jetzt erreicht, wäre dieser Einwand allzu arglos. Denn er setzt
voraus, es sei an sich wünschenswert, alles auf die Tagesordnung zu setzen und
abzuhandeln; nur stießen wir damit bedauerlicherweise an die Grenzen dessen, was
wir zu leisten vermöchten. Erwägt man, wohin unsere Überlegungen nun führen,
dann wird man gerade im Hinblick auf das Wünschenswerte seiner Sache nicht
mehr so sicher sein.
Bezeichnet jemand die Ureinwohner Australiens als Untermenschen, so sehen
wir darin den Ausdruck eines verwerflichen Vorurteils. Bestände das Übel der
Vorurteile im Widerstand gegen Berichtigung, dann wäre leicht anzugeben, worin
im Fall dieses Vorurteils der Fehler besteht: Der Vertreter dieses Vorurteils hat es
unterlassen, diejenigen, auf die sich sein Vorurteil bezieht, an Ort und Stelle
aufzusuchen und eine repräsentative Auswahl von ihnen Experimenten zu
unterwerfen, die geeignet gewesen wären, seine Behauptung zu prüfen.
Doch es ist nicht diese Unterlassung, in welcher wir das Verfehlte jenes
Vorurteils erblicken. Viel eher scheint es ja, daß die Kur, die von dem Vorurteil
heilen sollte, schlimmer wäre als dieses selber, da sie das Vorurteil, eine bloße
Meinung, in eine Tat übersetzen würde. Statt lediglich eine anstößige Sicht jener
250 Kant, Kritik der reinen Vernunft, ‘Vorrede zur ersten Auflage’, A 11, S. 13: “Unser Zeitalter ist das
eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß” (Hervorhebung nicht im Original).
Leute zu haben, ginge der Betreffende einen Schritt weiter und würde in infamer
Weise in ihr Leben eingreifen.
Was nun umgekehrt die einzig annehmbare Sicht der Aborigines angeht, so
würden wir auch sie nicht der Prüfung unterziehen wollen. Denn das würde die
gleichen beleidigenden Eingriffe in ihr Leben erfordern. Schließlich geht es um die
selbe Sache, und die einander gegenüberstehenden Behauptungen unterscheiden
sich nur dadurch, daß die eine bejaht, was die andere verneint. Ist aber auch die
einzig annehmbare Sicht ein Vorurteil, dann folgt, daß wir rassistische Vorurteile
zurückweisen müssen, weil sie rassistisch sind, nicht weil sie Vorurteile sind.
Das Problem der Vorurteile ist ein solches der Reihenfolge 251 . Den ersten
Schritt zuerst zu tun, den zweiten als zweiten, und nicht umgekehrt, ist die
Forderung, die ihnen entgegengehalten wird. Etwas als Vorurteil zu kritisieren, kann
eine verhängnisvolle Untertreibung darstellen, da darin liegt, das, was vorher getan
wurde, hätte danach getan werden sollen, und wäre, wenn es danach getan worden
wäre, in Ordnung gewesen. Unser Einwand gegen den Antisemitismus der
Nationalsozialisten besteht nicht darin, oder sollte nicht darin bestehen, daß diese
leider nicht mehr empirische Forschung über das Verhalten der Juden betrieben
hätten - als ob sie unsere Zustimmung verdienen würden, hätten sie sie betrieben.

80. ‘Rassistische Vorurteile müssen wir zurückweisen, weil sie rassistisch sind, nicht
weil sie Vorurteile sind’ (§ 79): Warum ist es dann so beliebt, sie zurückzuweisen,
weil sie Vorurteile sind?
Die Antwort ist unschwer zu erraten. Die Jagd auf Vorurteile ist so beliebt,
weil sie scheinbar erlaubt, moralische Probleme ohne viel Moral, nämlich
erkenntnistheoretisch zu lösen: ‘vorher geurteilt’ statt die nötige Evidenz
abzuwarten, dies scheint dann als Einwand hinreichend. Die Ökonomie, die darin
liegt, einen ganzen Wust moralischer Schwierigkeiten in eine vergleichsweise
einfache Frage der Erkenntnis zu überführen, ist bewundernswert. Doch der
Einwand, der uns bleibt, sobald diese Umwandlung einmal vollzogen ist, ist dürftig.
Ja er spielt Erscheinungen wie etwa Rassismus herunter. Gewiß handelt es sich bei
diesen um Vorurteile. Aber daß sie Vorurteile sind, teilen sie mit einer Menge
harmloser und sogar vernünftiger Haltungen. Folglich muß man seine kritischen
Maßstäbe anderswo hernehmen als aus einer Kritik von Vorurteilen: will man jene
Erscheinungen kritisieren, dann kommt man um Moral nicht herum.

81. Logische wie historische Konsequenz der Austreibung aller Vorurteile wäre, so
wurde behauptet, alles menschliche Verhalten wissenschaftlich zu erforschen und
experimentell zu testen. Ein Beispiel wurde erwähnt, welches anschaulich machen
sollte, daß dies Ergebnis uns eher erschrecken als mit Stolz auf neuerliche
Fortschritte erfüllen sollte (§ 79). Doch ist das Beispiel schlüssig, jedenfalls so weit,
wie Beispiele dies überhaupt sein können? Einwenden ließe sich ja, die Behauptung
über die Aborigines sei ein Werturteil, und für solche gebe es keine Tests. Wenn
jemand anfängt, von ‘Untermenschen’ zu reden, dann hängt offenbar alles an einer
251 Spinoza, Tractatus de intellectus emendatione, S. 17: “Ratio autem, cur in Naturæ inquisitione rarò
contingat, ut debito ordine ea investigetur, est propter præjudicia” (“Der Grund aber, weshalb es in der
Untersuchung der Natur so selten geschieht, daß sie in gehöriger Ordnung erforscht wird, liegt in den
Vorurteilen”).
normativen Definition dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Hätte man einmal
eine Definition gewählt, die den eigenen Absichten zupaß käme, ließen sich
beliebige Behauptungen ohne weiteres beweisen oder widerlegen. Jedes zusätzliche
experimentelle Verfahren wäre dann aber schlicht überflüssig.
Die Bedenken gegen das Beispiel sind triftig; aber die Behauptung, die das
Beispiel anschaulich machen sollte, entkräften sie nicht. Denn sie läßt sich
verteidigen, wenn wir zu Fällen übergehen, die empirisch sind und anhand
wissenschaftlicher Tests entschieden werden könnten. Daß etwa Menschen durch
besondere Arten der Folter weniger empfindlich gegen Schmerz gemacht und
danach noch besser in Kriegen gegen einander benutzt werden könnten, ist
empirisch keineswegs unmöglich. Während es selbstverständlich ein blankes
Vorurteil wäre, zu glauben, solche Ursachen könnten solche Wirkungen
hervorbringen, angenommen, dies sei nicht getestet worden, würde von der
gegenteiligen Überzeugung ersichtlich aus den gleichen Gründen das Gleiche gelten.
Wenn es im Fall der Behauptung ein Mangel ist, daß sie nicht auf empirische
Evidenz gebaut ist, dann ist die selbe Eigenschaft auch ein Mangel, wenn man die
Behauptung bestreitet. Was Wissen anlangt, ist nicht mit zweierlei Maß zu messen.
Während klar ist, daß eine vorurteilslose Sicht der Sache erfordern würde, daß man
sie ausprobiert, schließt wiederum die einzig rechte Intuition jene Schindereien aus.
Denn daraus, daß die Frage empirisch ist und sich anhand wissenschaftlicher Tests
entscheiden läßt, folgt ja nicht, daß sie mit Recht als reine Faktenfrage behandelt
wird. Sollte jemand nichts als Tatsachen in den Ergebnissen entsprechender Tests
sehen, so würde das vielmehr zugleich einiges über seine Werte verraten.

82. Gewiß, manche Aufklärer waren überzeugt, solche Sorgen (§§ 79, 81) seien
notwendigerweise gegenstandslos, da ganz im Gegenteil Experimente
(“Experiments”), wie Thomas Sprat es ausdrückte, uns von allen moralischen
Unvollkommenheiten der Menschennatur (“moral imperfections of human Nature”)
heilten. Denn wo, so Sprat, sei in einem Geist, der einer so nützlichen Beschäftigung
mit Erfolg nachgehe, Platz für niedrige und gemeine Dinge? 252 Zu antworten wäre,
daß für solche Dinge allemal genug Platz ist. Weder ist der menschliche Geist,
wenngleich endlich, eine Schachtel, noch sind Nützlichkeit und Erfolg an sich
moralische Qualitäten; stets fragt es sich ja, wem etwas nützlich und für wen etwas
ein Erfolg ist. Welcher Ärger, welcher Neid, welcher Haß und welche Rachsucht,
fragt Sprat rhetorisch weiter, könnten denn lange die Brust eines Menschen plagen,
den jedes Sandkorn, jeder Kiesel, jedes Gras, jedes Stückchen Erde und jede Fliege
abzulenken vermöchten? 253 Aber vielleicht sind Aufwallungen des Gemüts wie die
genannten auch gar nicht mehr notwendig, um Schaden anzurichten, sobald einmal
ein Wille, um jeden Preis etwas herauszubekommen, am Werk ist. Sprat verwechselt
Objektivität mit Achtung vor anderen Subjekten.
Grenzen der Neugier: das ist nicht der Wunschtraum machtbesessener
Kirchenväter, in dessen Folge der Geist freien Forschens das Mittelalter hindurch
252History of the Royal-Society of London, III,xiii, S. 344: “What room can there be for low, and little things in
a mind so usefully and successfully employd?”.

253 Ebd., S. 345: “What anger, envy, hatred, or revenge can long torment his breast, whome not only the
greatest, and noblest objects, but every sand, every pible, every grass, every earth, every fly can divert?”.
geknebelt war, bis die tollkühnen Vorkämpfer moderner Wissenschaft ihn wieder
befreiten. Grenzen der Neugier hat es immer gegeben, auch in der Neuzeit, und was
dem Wandel unterlag, war nur, wo sie jeweils gezogen wurden. - Hat
wissenschaftliche Neugier sich je irgendwo nahezu schrankenlos betätigen können,
dann war dies in Auschwitz. In diesem nationalsozialistischen Vernichtungslager
genossen Kapazitäten der deutschen medizinischen Forschung eine bis dahin und
anderwärts beispiellose Freiheit des Experimentierens, weil weder die Zufuhr von
Versuchspersonen Grenzen unterlag, noch, was man ihnen antun konnte 254 . Es wäre,
in den Worten Robert Jay Liftons, schwer gewesen, irgendwo sonst für medizinische
Versuche eine derart ideale Forschungsstätte zu finden 255 . Vergleichbar den
imaginären Konzentrationslagern des Marquis de Sade, die selber bereits aus dem
Geist des Experiments geboren waren (§ 89), war auch in Auschwitz fast alles
erlaubt 256 . So überrascht es nicht, daß der Herr über dieses System, Heinrich
Himmler, nach Lifton ein gleichermaßen entschiedener Kritiker des
Traditionalismus und der ‘christlichen’ Vorurteile der eingesessenen Ärzte, die
Humanexperimente in den Konzentrationslagern als eine Form der Befreiung von
solchen Beschränkungen im Namen kühner wissenschaftlicher Innovation ansehen
konnte 257 . Wahre Wissenschaft sei objektiv und experimentell, argumentierte
Himmler 258 ; wollten die Mediziner ihre Disziplin zur Wissenschaft erheben, dann
müßten sie in der Weise, wie sie vorgingen, die Konsequenzen ziehen.
Das zuvor eingeführte Beispiel (§ 81) ist also kein bloßes Hirngespinst. In
Abwandlungen war es geschichtliche Tat. Lernen aber wollen wir aus ihr nichts als
daß solches Grauen sich nie wiederholen darf.
Was in den Todeslagern geschah, die Vivisektion von Menschen, taugt nicht
als Beweis der These mancher Geschichtsphilosophen, der Nationalsozialismus sei
die historische Konsequenz der Aufklärung gewesen. Gewiß galt es in der
Aufklärung als ein höchst respektables Projekt, die Vivisektion von Menschen als
Versuchsmethode in die Medizin einzuführen; kein geringerer als der Präsident der
Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin forderte in seinem Brief Sur le
progrès des sciences von 1752 die Benutzung von Strafgefangenen zu diesem
254 Hilberg, The Destruction of the European Jews, S. 600 - 609; Lifton, The Nazi Doctors, ch. 15: “The
Experimental Impulse”, S. 269 - 302, besonders S. 301 - 302: “Removal of Limits”; vgl. Kater, Das
‘Ahnenerbe’ der SS, S. 228, 231 - 234 über Experimente an Menschen in den Konzentrationslagern
Buchenwald, Natzweiler-Struthof und Dachau.

255 The Nazi Doctors, S. 295: “it would have been hard to find so ideal a surgical laboratory”.

256 Ebd., S. 270: “the Auschwitz principle that anything is permitted”, S. 271: “anything was possible”.

257 Ebd., S. 279: “an equally ardent critic of traditionalism and ‘Christian’ prejudices of establishment doctors,
he could view human experimentation in concentration camps as a form of liberation from these constraints in
the name of bold scientific innovation”.

258 ‘Brief an Reichsgesundheitsführer Dr. Leonardo Conti, 26. August 1942’: “Die Forderung, die im Rahmen
einer anständigen Wissenschaft an jeden erhoben werden muß, daß nämlich exakte Versuche von objektiver
Seite gemacht werden”; ‘Brief an Reichsarzt-SS Dr. Ernst Grawitz, 30. September 1942’: “Wenn ein Problem
untersucht werden soll, so hat dies wissenschaftlich zu geschehen, d.h. also wirklich ernsthaft in einer genauen,
jeder Prüfung standhaltenden Versuchs-Anordnung - ohne Für und Wider - mit dem heiligen Ernst, etwas
erforschen zu wollen” (Kater, Das ‘Ahnenerbe’ der SS, S. 100 und 259).
Zweck 259 . Doch wer eine Ähnlichkeit zwischen einer früheren Idee und einer
späteren Handlungsweise entdeckt, sollte nicht den Anspruch erheben, er habe die
Handlungsweise erklärt. Daß jene Beobachtung einen geschichtlichen
Zusammenhang beweist, wäre ein Fehlschluß. Kein Fehlschluß liegt aber darin, sich
von jener Beobachtung, statt mit ihr etwas auf seine vermeintliche Ursache
zurückzuführen, darauf aufmerksam machen zu lassen, daß Grenzen der Neugier
nicht das Anliegen von Dunkelmännern sein müssen.

83. Die vorgetragene Auffassung (§§ 79, 81, 82) ist selbstverständlich alles eher denn
unumstritten. Zwei unterschiedlichen Einwänden soll nachgegangen werden.
Der erste Einwand besagt, jene Auffassung sei in sich unstimmig; der
Gedanke, es könne Grenzen des Prüfens geben, scheint sich selbst zu widersprechen,
da man ihm vernünftigerweise nicht zustimmen kann, ohne ihn selbst geprüft zu
haben (§ 84).
Der zweite Einwand will darauf hinaus, daß jene Auffassung zwar nicht
unstimmig ist, aber ins Leere geht. Sie verschleiere dies, so legt der Einwand nahe,
indem sie das Ideal geistiger Aufgeschlossenheit derart überdehne, daß es desto
leichter als undurchführbar abgetan werden könne. Verzichte man jedoch darauf,
das Ideal der Aufgeschlossenheit zu überdehnen, dann bedeute es nicht etwa, jeden
möglichen Test durchzuführen. Vielmehr sei sein Sinn dann, die eigene Ansicht
zurückzunehmen, sobald man sich anderslautenden Testergebnissen gegenübersehe
(§ 85).

84. Den ersten Einwand haben die britischen Freidenker (“Free-Thinkers”) des
frühen 18. Jahrhunderts zur Geltung zu bringen versucht. Anthony Collins zufolge
zeigt das dem Einwand zugrundeliegende Argument, daß es eine vernünftige
Beschränkung des Denkens nicht geben kann 260 . Die Überlegung ist folgende. Jede
Beschränkung des Denkens aus Vernunft ist, in Collins’ Worten, in sich absurd.
Keine legitime Beschränkung könne jemandes Denken auferlegt werden, als
wiederum ein Gedanke, ein Satz oder Argument, welches zeigte, daß es für ihn
unrechtmäßig wäre, über den Gegenstand nachzudenken, den er sich vornehmen
möchte 261 . Was immer der Einwand besage, der gegen die Prüfung einer Sache
erhoben werde, offensichtlich müsse doch, so Collins, das beschränkende Argument
frei bedacht und geprüft werden; denn würde man es nicht prüfen, dann könnte
man nicht wissen, daß man durch es beschränkt sein sollte, und dürfte mit der
vorgeschlagenen Untersuchung einfach anfangen 262 . Was unser Denken
beschränken will, sagt Shaftesbury in gleichem Geiste, muß unser eigener Gedanke
259 Briefe des Herrn von Maupertuis, S. 125 - 129

260A Discourse of Free-Thinking, S. iii: “[The] Argument shows that there can be no rational Restraint upon
Thinking”.

261 Ebd., S. 25: “ANY Restraint whatsoever from Reason on Thinking, is absurd in it self. No just Restraint can
be put to my Thinking, but some Thought, some Proposition, or Argument, which shews me that it is not lawful
for me to think on the Subject I propose to do”.

262Ebd., S. 26: “IT is evident this restraining Argument must be thought freely on or examin’d; for if I do not
examine it, I cannot know that I ought to be restrain’d by it, but may proceed in my propos’d Enquiry”.
sein. Und wie sollten wir je beurteilen, ob der beschränkende Gedanke richtig ist,
ohne ihn frei und ohne Beschränkung zu prüfen? 263 . Ein Einwand gegen das
Untersuchen einer Sache aber sei ein Gedanke gegen das Denken. Er setze voraus,
was er auszuschließen suche: die Untersuchung der fraglichen Angelegenheit. So
liege in ihm ein Widerspruch.
Offensichtlich ist etwas an diesem Argument. Es wäre beispielshalber
geeignet, den Versuch christlicher Theologen zu Fall zu bringen, uns davon zu
überzeugen, unsere Vernunft sei durch die Erbsünde verderbt. Wann immer es
ihnen gelänge, uns von ihrer Behauptung zu überzeugen, wäre ihr Erfolg damit
auch gleich keiner. Denn von etwas überzeugt werden, ist Sache der Vernunft, und
die ist, der Behauptung zufolge, verderbt. Heißt unsere Vernunft die Behauptung
gut, dann fällt nur zusätzlicher Verdacht auf die letztere 264 .
Der Einwand der Freidenker lebt von dem Umstand, daß jedes Argument
sich als solches ans Denken wendet. Der Widerspruch, auf den das Argument
hinweist, muß sich immer dann ergeben, wenn ein Argument einem sagen will:
Denk’ nicht! Schon in früher Ausgeführtem (§ 6) steckte die Einsicht, daß man sich
selbst eine derartige Maxime nicht zu eigen machen kann, ohne selbst zu denken, es
sei eine gute Idee, ihr zu folgen. Liegt hierin die Überzeugungskraft des Einwands
der Freidenker, dann wird zugleich seine Schwäche offenbar, sobald man ihn auf die
zuvor aufgestellten Behauptungen (§§ 79, 81, 82) anzuwenden suchte. Denn auf sie
angewandt wäre die in dem Einwand enthaltene Analyse, wie das Beschränkende
und das von ihm Beschränkte sich zu einander verhalten, nicht spezifisch genug.
Weigere ich mich, Tests durchzuführen, die klären sollen, ob die
Ureinwohner Australiens Untermenschen sind, dann habe ich selbstverständlich
bereits gedacht. Auch nur den Verdacht zu hegen, etwas sei ein unvertretbarer
Eingriff in das Leben anderer, heißt bereits zu denken. Aber es heißt nicht mehr als
das. Insbesondere erfordert es nicht, Tests irgendwelcher Art durchzuführen. Ein
Widerspruch ergäbe sich nur, wenn jenes Erfordernis bestünde. Es besteht nicht,
weil wir denkend etwas im Geist vorwegnehmen und unser Handeln so einrichten
können, daß unerwünschte Folgen vermieden werden. Mißlingt dies zuzeiten, so
zeigt das nicht, daß es keine solche Fähigkeit gibt. Vielmehr kann von Mißlingen nur
die Rede sein, weil es eine solche Fähigkeit gibt. Die Entscheidung gegen bestimmte
Arten von Tests bleibt allerdings, darin haben die Freidenker unvermindert Recht,
ein Gedanke über sie. Nur setzt dieser Gedanke eben nicht voraus, daß man die Tests
unternommen hat. Sonst müßte man, ganz entsprechend, auch einen Mord begehen,
um über Mord ein Urteil fällen zu dürfen, da, wer keinen begangen hätte, im
Grunde nicht wüßte, wovon er redet. Wie das Beispiel deutlich macht, ist die dem
Argument zugrundeliegende Logik trügerisch. Nicht nur können wir von Dingen
wissen, die wir nicht getan haben; unser Wissen von ihnen kann sogar besser sein als
263 Characteristics VI,5,3, S. 342: “‘Tis our own thought which must restrain our thinking. And whether the
restraining thought be just, how shall we ever judge, without examining it freely and out of all constraint?”.

264 Vgl. Rousseau, Émile, S. 615 - 616: “M’apprendre que ma raison me trompe, n’est-ce pas réfuter ce qu’elle
m’aura dit pour vous? Quiconque veut récuser la raison doit convaincre sans se servir d’elle. Car, supposons
qu’en raisonant vous m’ayez convaincu; comment saurai-je si ce n’est point ma raison corrompue par le pêché
qui me fait acquiescer à ce que vous me dites?”.
das derjenigen, die sie getan haben. Denn manche Leute tuen eine Menge und
befinden sich doch im Irrtum über das, was sie tuen.
So ist der erste Einwand nicht zu halten. Was in ihm vage als Prüfen oder
Untersuchen der Sache beschrieben ist, kann sich auf zwei unterschiedliche Dinge
beziehen, und diese Unterscheidung löst den Anschein eines Widerspruchs auf.

85. Der zweite Einwand gegen die zuvor aufgestellten Behauptungen (§§ 79, 81, 82)
anerkennt, daß sie nicht in sich widersprüchlich sind. Er wirft ihnen aber vor, sie
liefen ins Leere. Das Ideal der Aufgeschlossenheit werde in ihnen überdehnt, um es
desto leichter zurückweisen zu können.
Aufgeschlossenheit muß hier wohl bedeuten, daß man bereit ist, seine
Ansichten der Prüfung zu unterwerfen. Doch wann solche Bereitschaft gegeben ist,
unterliegt einer Zweideutigkeit. Es ist zu unterscheiden zwischen einer schwächeren
und einer stärkeren Deutung. Die schwächere Deutung besagt, jene Bedingung sei
erfüllt, wenn man willens sei, die eigene Auffassung aufzugeben, sobald man
Evidenz zu Gesicht bekommt, die ihr nicht entspricht. Die stärkere Deutung
hingegen besagt, jene Bedingung sei erfüllt, wenn man willens sei, jeden möglichen
Test der eigenen Auffassung durchzuführen. Aufgeschlossenheit in dem letzteren,
stärkeren Sinne würde uns zur Aktion verpflichten, Aufgeschlossenheit im ersteren,
schwächeren Sinne nur zur Reaktion. Nun scheint aus offensichtlichen Gründen -
unsere Kräfte sind begrenzt - nur in der schwächeren Bedeutung des Wortes
Aufgeschlossenheit ein sinnvolles Ziel darzustellen. Man mag daher in
Aufgeschlossenheit in der stärkeren Bedeutung des Wortes einen Strohmann sehen.
Und es scheint, daß einzig dieser Strohmann das Ziel des oben geführten Angriffs
bildet.
Doch dem ist nicht so. Denn wenn es um grundlegende moralische
Überzeugungen geht, sind wir weder im stärkeren noch im schwächeren Sinne
aufgeschlossen. Nicht nur würden wir uns weigern, jene Experimente selber zu
vollziehen, vor deren Vorstellung uns bereits Entsetzen ergreift. Dies wäre mit
Aufgeschlossenheit im schwächeren Sinne bei einiger Anstrengung vielleicht noch
vereinbar. Hätte jedoch ein anderer jene Experimente bereits durchgeführt, dann
wäre das mit ihnen verbundene Leid bereits durchlitten, und nichts auf der Welt
könnte dies ungeschehen machen. Da Aufgeschlossenheit im schwächeren Sinne
jedoch nur erlaubt, davon abzustehen, Leid zuzufügen, nicht aber gestattet, sich
über vorliegende Evidenz hinwegzusetzen, hätte man die Ergebnisse der
Folterexperimente aus den Vernichtungslagern zu einer möglichen positiven
Richtschnur künftigen Handelns zu erheben. Aber dazu kann uns der Hinweis auf
den Umstand, daß doch nicht wir, sondern andere jene methodisch geregelten
Mißhandlungen vollzogen haben, nicht überreden; womit wir uns solchen Ansinnen
gegenüber auch nicht in der schwächeren Bedeutung des Wortes als aufgeschlossen
erweisen.

86. ‘... womit wir uns solchen Ansinnen gegenüber nicht als aufgeschlossen
erweisen’: - aber wir könnten uns ihnen gegenüber aufschließen, wenn wir alle
Vorurteile aufgäben. Aus diesem Gedanken hat zur Zeit der frühen Aufklärung
Jonathan Swift die letzte Konsequenz gezogen. Kein Autor hat die moralische
Bedeutung des seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geführten Streits um die
Vorurteile schärfer wahrgenommen als Swift 265 . Indem er die Idee der Austreibung
aller Vorurteile satirisch auf die Spitze trieb, machte er sie erst kenntlich.
Die Aufklärung machte sich, indem sie das christliche Ideal des Dienstes
säkularisierte, zu einer Bewegung der, wie Burke es ausdrückt, Projektemacher und
Projekte aller Art 266 . Swifts Satire mit dem abgründig diskreten Titel ‘Bescheidener
Vorschlag, wie man verhüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren
Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar
gemacht werden können’ entwickelt ein solches Projekt zur Beförderung der
allgemeinen Wohlfahrt. Ihr vorgespiegelter Verfasser äußert sich als ein Bürger, dem
es darum zu tun ist, die öffentliche Meinung zu berichtigen. Endlich einmal möchte
er die Dinge, deren Sicht bisher so viele Vorurteile getrübt haben, ins Reine gebracht
sehen. Um seinem Projekt beim Publikum Geltung zu verschaffen, verfügt er über
keine andere Waffe als die aller Aufklärung: gute Gründe 267 . Rational, wie er ist, hat
der Autor des Projekts die möglichen Alternativen zu seinem Vorschlag im
einzelnen erwogen, mußte sie jedoch als undurchführbar verwerfen 268 ; was er zu
sagen hat, ist genau überlegt. Fortschrittlich, wie er ist, stützt sich der Verfasser auf
die neuesten wissenschaftlichen Einsichten, die der eben erst sich herausbildenden
Disziplin der Politischen Ökonomie; die Erkenntnis, daß die Bevölkerung den
Reichtum der Nationen ausmacht, untermauert er durch sorgsame statistische
Analyse und verfolgt sie unbeirrbar zu praktisch bedeutsamen Folgerungen. Frei
endlich auch von herkömmlichen Vorurteilen und bloß gefühlsmäßigen
Rücksichten, wie er ist, schlägt der aufgeklärte Geist nach gründlicher Untersuchung
aller relevanten Faktoren als in höchstem Maße rationale Lösung der sozialen
Probleme Irlands vor, mit der Zucht von Babys zum Zweck ihrer Vermarktung als
Frischfleisch zu beginnen 269 . - Für sich genommen, oder in einem anderen
Zusammenhang gesehen, wäre dieser Vorschlag vielleicht nur ekelerregend. In dem
Zusammenhang aber, in den Swift ihn stellt, ist die Wirkung eine andere: nicht Ekel,
sondern Entsetzen. Denn der von Swift fingierte Verfasser ist keine Bestie bar aller
Vernunft. Die Schlußfolgerung, zu der er gelangt, ist vielmehr gerade Ergebnis eines
konsequenten Durchdenkens der Angelegenheit im Licht aufgeklärter Vernunft.

87. Doch vielleicht ist es ein Fehler, daß wir für solche Vorschläge nicht
aufgeschlossen sind, mögen sie auch noch so ungewohnt sein. Vielleicht sollte man
über alles mit sich reden lassen. Eine Sache besprechen kann doch nicht schaden.
Nur sie tun kann das.
265 Vgl. ‘Thoughts on Various Subjects’, S. 243

266 Reflections, S. 242; vgl. S. 91. Argwöhnisch gegen diese Säkularisierung, betonte Burke, daß er, “having no
general apostolical mission” (ebd., S. 33 - 34), in seinen politischen Vorschlägen nicht auch ein weiteres Projekt
der Menschheitsbeglückung verfolge.

267 Vgl. Swift, ‘Modest Proposal’, S. 109, 111

268 Ebd., S. 110: “As to my own Part, having turned my Thoughts for many Years, upon this important Subject,
and maturely weighed the several Schemes of other Projectors, I have always found them grosly mistaken in
their Computation”.

269 Ebd., S. 111


Doch dies einwenden könnte nur, wer von menschlichen Verhältnissen nicht
viel verstünde. Ein einziges Wort kann genügen, um das Band zwischen zwei
Menschen zu zerreißen. Das ausgesprochene Wort läßt sich weder ungesagt machen
noch zurückrufen. Selbst wenn es vergeben wird, wird nichts mehr sein wie zuvor.
Auch spielt der Einwand den Zusammenhang zwischen dem Erörtern einer
Sache einerseits und Handeln andererseits herunter. Ihre Trennung, wie sie in jenem
Einwand vorgestellt wird, wäre den Wünschen der Monarchen des aufgeklärten
Absolutismus wohl zupaß gekommen. “[R]äsonniert, so viel ihr wollt, und worüber
ihr wollt; aber gehorcht!” - so wird Friedrich der Große von Kant beifällig zitiert 270 .
Doch schon dem Zeitgenossen Johann Georg Hamann fiel das Schiefe an diesem
Grundsatz auf. Wenn von vornherein feststeht, was wir zu tun haben, dann ist es
mit dem Räsonnieren über die Frage, was wir tun werden, auch nicht ganz ernst 271 .
Wir ‘ziehen die Konsequenzen’ nicht nur in Worten, sondern auch in Handlungen,
und wir ziehen sie in Handlungen, weil wir sie in Worten gezogen haben, sofern wir
zu diesen stehen. Zu Recht nennt man die Tagesordnung einer Unterredung, die
zählt, ihre Agenda: ‘was zu tun ist’.
Gewiß gibt es folgenlose Unterredungen: Diskussionen, die leerlaufen. Auf
dergleichen selbstgenügsame Plaudereien hatte es die Aufklärung mit ihrer
Forderung, alles auf die Tagesordnung zu setzen, indes gerade nicht abgesehen. Und
im übrigen können selbst Diskussionen, die nicht in dem resultieren, was man
gemeinhin Taten nennt, jemandem etwas antuen. Im bloßen Umstand, daß ein
Vorschlag diskutiert wird, liegt bereits das Werturteil, daß er diskutabel ist. Man
schätzt ihn der Rede wert. Diskutiert eine Gesellschaft die Vernichtung einiger ihrer
Mitglieder, so verändert das diejenigen, die die Diskussion führen, wie diejenigen,
über die sie geführt wird, in ihrer Stellung zu einander unwiderruflich, selbst wenn
es bei der bloßen Erwägung jener Möglichkeit bleibt. In einem ihrer Ausläufer hat
die Aufklärung selber noch an diese Einsicht gerührt.

88. Alles auf die Tagesordnung zu setzen ist die logische Konsequenz des
aufklärerischen Ideals einer Aufgeschlossenheit, zu der man gelangen soll, indem
man alle Vorurteile ablegt. In der Geschichte tatsächlich gezogen hat diese
Konsequenz kein anderer als de Sade. Donatien-Alphonse-François, Marquis de
Sade übernahm das aufklärerische Lehrstück von den Vorurteilen aus d’Holbach.
Mit der Aufklärung sah er die Gelegenheit gekommen, alles ohne Vorurteil zu
betrachten, und dieser Umstand traf sich aufs beste mit dem, was er selber
vorhatte 272 . Zugleich war sich de Sade darüber im klaren, daß mit der Aufklärung
kaum mehr gekommen war als die bloße Gelegenheit. Gewiß wollte er nicht
bestreiten, daß gewisse Fortschritte in der Liquidation von Vorurteilen sich schon
erkennen ließen 273 . Doch de Sade sah, daß die Aufklärung, entgegen ihrem
270 ’Was ist Aufklärung’, S. 55

271 Dies ist der Haken an Friedrichs und Kants Trennung des ‘Privatgebrauchs der Vernunft’ von ihrem
‘öffentlichen Gebrauch’ (‘Was ist Aufklärung?’, S. 57): “Was hilft mir das Feyerkleid der Freiheit, wenn ich
daheim im Sclavenkittel” (Hamann, ‘Brief an Christian Jacob Kraus’, S. 22).

272 Vgl. La philosophie dans le boudoir, S. 478

273 Ebd., S. 479: “Déjà nos préjugés se dissipent”.


Anspruch, mit Vorurteilen ganz und gar aufzuräumen, zahlreiche Tabus
unangetastet gelassen und sogar einige neue eingeführt hatte.
Während de Sade das Ziel der Aufklärung, wie er sie sah, teilte, galt ihm die
Gestalt, die sie zu seiner Zeit angenommen hatte, als durchaus unvollkommen.
Gegen ihren Mangel an Konsequenz pochte de Sade auf das, was ihm als wahrer
Anspruch der Aufklärung galt: totale Freiheit des Geistes. “Encore un effort; puisque
vous travaillez à détruire tous les préjugés, n’en laissez subsister aucun, s’il n’en faut
qu’un seul pour les ramener tous” 274 . (Wenn dies hier eine Forderung de Sades
genannt wird, so ist nicht übersehen, daß sie in einem Roman erscheint. Dem
Verfasser zugeschrieben wird sie aus Konvenienz, und nicht etwa, weil wir sicher
wären, daß de Sade dem, was er seinen Gestalten - genauer gesagt: den Tätern unter
ihnen, zum Unterschied von den Opfern - in den Mund legte, durchweg zugestimmt
hätte. Ganz abgesehen davon, daß diese Frage unbeantwortbar ist, ist sie für uns
ohne Belang. Es geht um de Sades Werk, in dem eine kühne und bedeutsame
Position greifbar wird, nicht um seine Person.)
Daß Mord verwerflich sei, war eines der Vorurteile, vor deren Prüfung das
18. Jahrhundert zurückgeschreckt war. Eher dem Programm der Aufklärung
verpflichtet als von den vor ihm unternommenen Versuchen zu seiner
Durchführung überzeugt, forderte de Sade, die heilige Fackel philosophischer
Vernunft müsse unsere Seele auch hierüber erleuchten 275 . Das Verdienst der
Aufklärung sah de Sade nicht darin, daß sie eine vernünftige Antwort auf die Frage
nach dem Mord gegeben hätte, sondern darin, daß sie uns das Recht verleihe, nach
einer solchen zu suchen - zwar nicht ausdrücklich, doch sehr wohl, wenn man sie zu
Ende denke: “N’avons-nous pas acquis le droit de tout dire?” 276 . Das Boudoir, in
dem der Mord im Licht vorurteilsloser Vernunft betrachtet wird, ist ringsum mit
Spiegeln ausgestattet, so daß alles allseits im Blick ist (“tout soit en vue”) und nichts
verborgen bleiben kann 277 . Einen solchen Raum sucht Sades Werk im ganzen zu
schaffen. Seine einzigartige philosophische Pornographie beschreibt Prozesse der
Aufklärung als solche schrankenloser Thematisierung von zuvor der
Thematisierung Entzogenem und ineins damit als Ablegen von Vorurteilen. Nichts
wird ausgelassen. Erst nachdem Juliette alle Laster versucht hat, ist sie wissend
geworden; erst am Ende der 120 journées de Sodome, nachdem alles gesagt und getan
ist, ist der Libertin ganz vom Vorurteil befreit und somit vollkommen.
Ohne Vorurteil gesehen 278 , geht Mord durchaus in Ordnung. Das an ihm
nichts weiter auszusetzen ist, läßt sich leicht einsehen. De Sades Überlegung ist aufs
geradlinigste rational: sie übersetzt das Problem in ein ökonomisches. Ganz auf der
274 Ebd., S. 483

275 Ebd., S. 516: “Daignons éclairer un instant notre âme du saint flambeau de la philosophie”. - Zur
Rechtfertigung des Mordes bei de Sade vgl. a. L’Histoire de Juliette, Œuvres, Bd. IX, S. 170 - 203. Die
Prinzessin Borghese wird von Juliette dazu ausersehen, gefoltert und getötet zu werden, da sie “tenant encore à
ses préjugés” gewesen sei (ebd., S. 419).

276 La philosophie dans le boudoir, S. 513

277 Ebd., S. 387

278 Ebd., S. 513 - 514


Höhe des Standes der Disziplin macht Sade sich die Arbeitswertlehre zu eigen. Ein
Arbeiter schätze sein Produkt nach der Mühe und Zeit, die seine Herstellung ihn
koste. Die Herstellung eines Menschen koste die Natur jedoch keine große
Anstrengung. Sei es jedoch keine sonderliche Leistung, einen Menschen zu
erzeugen, dann könne es auch kein großes Übel sein, ihn zu beseitigen. Und selbst
wenn man darauf beharren wollte, daß die Herstellung eines Menschen die Natur
eben doch gewisse Mühe koste, dann koste sie die Herstellung eines Elefanten
wenigstens ebensolche Mühe, und man dürfe gegen Mord mindestens nicht mehr
haben als gegen Elefantenjagd.
Aller Stoff, aus dem Lebewesen gemacht seien, komme ohnehin aus der
Zerstörung früherer Lebewesen. Hätten diese ewiges Leben gehabt, dann hätte die
Natur keine neuen Wesen erschaffen können. Sei ewiges Leben der Natur aber
unmöglich, dann folge, daß die Beseitigung von Lebewesen eines ihrer Gesetze ist.
Anders gesagt: Wo Vernichtung eine notwendige Bedingung der Entstehung von
Neuem sei, da finde eigentlich gar keine Vernichtung statt, sondern nur Wandlung.
Was zu verschwinden scheine, werde in Wahrheit lediglich in etwas anderes
umgeformt, zu dem es sonst nicht hätte kommen können. “A dessein de conserver
vos absurdes préjugés, oserez-vous me dire que la transmutation est une
destruction?” 279 , fragt de Sade: die Rede von Zerstörung sei nichts weiter als eine
Rationalisierung des Vorurteils, daß Mord verwerflich ist. Recht besehen sei die
sogenannte Zerstörung Metamorphose, Wandel der Form. Gebe es aber keine
Zerstörung, und könne es keine geben, dann bleibe jeder Versuch zu beweisen, daß
an Mord etwas falsch sei, haltlos 280 .
Doch nicht nur ist de Sade zufolge an Mord nichts verkehrt; jedem
aufgeklärten Leser (“lecteur éclairé”) sollte an dem vorigen bereits aufgegangen sein,
daß Mord etwas Notwendiges und Gutes ist. Denn er verschaffe der Natur das
Rohmaterial, das sie brauche, um Neues hervorzubringen 281 . Die Vorurteile, die uns
daran hinderten, dies zu erkennen, seien rein emotionaler Natur 282 ; doch wie die
Aufklärung ein für allemal klar gemacht habe, sei die einzige Autorität, die zähle,
die der Vernunft und des besseren Arguments.

89. La philosophie dans le boudoir beschreibt einen Prozeß der Aufklärung. Die
Gestalten, die in diesem Buch auftreten, sind, wie in allen Werken de Sades, keine
gewöhnlichen Verbrecher; sie tuen nicht einfach, was Verbrecher eben tuen, sondern
kommentieren und erklären es fortwährend. Die Untertitel der Philosophie im
Boudoir, Les instituteurs immoraux, Dialogues destinés à l’éducation des jeunes
279 Ebd., S. 515

280 Ebd.: “il devient alors audessus des forces humaines de prouver qu’il puisse exister aucun crime dans la
prétendue destruction d’une créature, de quelque âge, de quelque sexe, de quelque espèce que vous la
supposiez”.

281 Ebd., S. 515 - 516: “Conduits plus avant encore par la série de nos conséquences, qui naissent toutes les
unes des autres, il faudra convenir enfin que, loin de nuire à la nature, l’action que vous commettez, en variant
les formes de ses différents ouvrages, est avantageuse pour elle, puisque vous lui fournissez par cette action la
matière première de ses reconstructions, dont le travail lui deviendrait impracticable si vous n’anéantissiez pas”.

282 Ebd., S. 513: “préjugés de l’amour-propre”, S. 514: “préjugés de notre orgueil”, “préjugés de l’orgueil”.
demoiselles, sind nur zum Teil Ironie. Gegenstand der Erziehung, von der diese
Untertitel sprechen, ist Eugénie, ein Mädchen von 15 Jahren. Bevor man sie von
ihren Vorurteilen über den Mord befreit, wird sie noch über etwas anderes
aufgeklärt: Eltern. Die vorurteilslos ernüchternde Erklärung für deren Liebe sei, daß
sie im Austausch für diese im Alter umsorgt werden wollten. In Wahrheit seien
Eltern einfach ohne jede Bedeutung; nichts als Vorurteile machten Kinder glauben,
daß an ihnen etwas liege 283 . Indes ist leider manchen Eltern selber die eigene
Wertlosigkeit nicht bekannt. Madame de Mistival, Eugénies Mutter, ist der
Täuschung verfallen, sie sei für ihre Tochter verantwortlich; sie erscheint, um
nachzusehen, was ihr geschehen ist. Die Behandlung, die Eugénies Mutter
widerfährt, ist frei von Vorurteil - hinsichtlich Mordes wie hinsichtlich Eltern. Es ist
ist, ganz und gar angemessen für die aufgeklärten Menschen, die sie ins Werk
setzen, eine Behandlung nach dem neuesten Stand der Wissenschaft. Ein an Pocken
erkrankter Diener wird angewiesen, Madame durch Geschlechtsverkehr zu
infizieren, und Eugénie vernäht ihre Vagina, um sicherzustellen, daß die
Ansteckung nicht vereitelt wird 284 . Zwar hatte Eugénie schon vor dieser
abschließenden Handlung Freiheit vom Vorurteil erreicht; doch ganz beglaubigt sich
die Freiheit vom Vorurteil erst im Vollzug jenes Akts. Auch Libertinage, so bezeugt
de Sade ein ums andere Mal, kommt nicht ohne Rituale aus, in denen sie sich selbst
bestätigt.
Verglichen etwa mit Les 120 journées de Sodome oder L’Histoire de Juliette ist La
philosophie dans le boudoir geradezu maßvoll. Doch nicht durch ihr Ausmaß sind die
Grausamkeiten, die de Sade imaginiert, bezeichnend, sondern durch ihre raison
d’être. Es wurde früher bemerkt, daß in der Ausmerzung aller Vorurteile die
Konsequenz beschlossen ist, alles menschliche Verhalten wissenschaftlich zu
erforschen und experimentell zu testen (§§ 79, 81, 82). Die methodische Genauigkeit,
mit welcher de Sades Menschen ihre Orgien arrangieren, wie die Vollständigkeit, auf
welche sie dabei zielen - nichts soll der Untersuchung entgehen - bestätigen dies. Sie
sind wissenschaftliche Experimente. Der Feier des Mordes, die der göttliche Marquis
in Worte setzt, eignet der Charme eines chemischen Laboratoriums: “Et voilà donc
ce que c’est que le meurtre: un peu de matière désorganisée, quelques changements
dans les combinaisons, quelques molécules rompues et replongées dans le creuset de
la nature, qui les rendra dans quelques jours sous une autre forme à la terre; et où
donc est le mal à cela?” 285 . Die Akteure sind so distanziert und leidenschaftslos, wie
es von einem Forscher in den exakten Wissenschaften erwartet würde; ihre Herzen
dürfen nicht beteiligt sein und sind es nicht 286 . Selbst ihre Lust bleibt eigentümlich
kühl. Nie ist es genug für sie, zu genießen; Subjekte, wie de Sade sie entwirft,
müssen stets so nüchtern bleiben, daß sie den eigenen Genuß noch zu zergliedern
vermögen.
283 Ebd., S. 467, 505

284 Ebd., S. 536 - 549

285 L’Histoire de Juliette, Œuvres, Bd. VIII, S. 399

286 Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 86 - 87


De Sade radikalisiert so die innere Konsequenz der Aufklärung. Sein Werk ist
zugleich ihre Erfüllung und ihre Kritik.

90. Wenn nichts daran verkehrt ist, einen anderen zu ermorden, dann ist auch nichts
daran verkehrt, den Mörder zu ermorden 287 . Mit anderen Worten: Ist die Welt erst
einmal aller Vorurteile ledig, selbst der über den Mord, dann befindet sie sich in
einem allgemeinen Kriegszustand. Und umgekehrt: Wenn und insofern sie sich noch
nicht in diesem Zustand befindet, könnte das an Vorurteilen liegen, die man
freundlicher auch unsere Moral nennt.
Unsere grundlegenden moralischen Überzeugungen sind Vorurteile in einem
wohlumschriebenen Sinne. Sie sind durch Erziehung uns zur Gewohnheit gemachte
Intuitionen; wir haben sie von anderen empfangen. (Wie manche Aufklärer zu Recht
betont haben, ist Autorität eine wichtige Quelle von Vorurteilen (§ 6).) Auch formen
grundlegende moralische Überzeugungen Identitäten (§ 54); sie reichen tief in das
hinein, was man Charakter nennt, und spielen so eine bedeutsame Rolle in
Antworten auf die Frage, was für ein Mensch jemand ist. Sie haben sich ferner vor
aller Prüfung gebildet. Wir sind nicht bereit, sie zu testen, das heißt: sie sind keine
bloßen Präsumtionen. Denn sie zu testen hieße bereits, dem zuwiderzuhandeln, was
diese Überzeugungen verkörpern.
Verdeutlichen läßt sich dies an der Idee der Menschenwürde. Beobachtet man
Menschen vorurteilslos, dann muß man, soll das Wort nicht alle Bedeutung
verlieren, sagen, daß sie sich manchmal, vielleicht oft, unwürdig verhalten. Wenn
wir behaupten, daß jeder Mensch Würde besitzt, dann drücken wir aus, wir seien,
was immer sich beobachten läßt, willens, sie in einer Weise zu sehen, die der
empirischen Evidenz vorausliegt und die wir nicht ablegen werden, wenn uns
ungünstige empirische Evidenz vorgelegt wird. Diese Haltung ist nicht bloß
hypothetisch, wie etwa (wenn wir § 16 folgen) die des Sichverbergens vor Leuten,
die gewalttätig sein könnten. Menschenwürde ist keine Sache des Abwägens von
Alternativen. Hat diese Idee überhaupt einen Wert, dann muß sie dogmatisch
behauptet werden, unbeeindruckt von jedem empirischen Mangel an Würde im
Verhalten von Menschen. Wird uns Achtung für die Würde der Menschheit
zugeschrieben, dann ist keine Bedingung dafür, daß dies zu Recht geschieht, wir
müßten die Individuen kennen, aus denen sich die Menschheit zusammensetzt. Es
wäre nicht einmal richtig zu sagen, wir achteten die Menschheit trotz unserer
Unkenntnis der Individuen, aus denen sie besteht. (Der Wahrheit näher käme es
schon, zu sagen, wir achteten die Menschheit, wenn wir dies denn tuen, weil wir die
Individuen nicht kennen, aus denen sie sich zusammensetzt, oder weil wir ihre
Eigenheiten mit Absicht ignorieren.) Die moralische Überzeugung von der Würde
des Menschen ist ein Vorurteil.
Solche grundlegenden moralischen Überzeugungen sind der Widerlegung
entzogen. Aber sie sind nicht der Widerlegung entzogen, weil sie ein letztes sind;
vielmehr sind sie umgekehrt darum ein letztes, weil sie sich der Widerlegung
entziehen. Es gibt keine metaphysische Qualität, die ihnen Unfehlbarkeit verliehe; es
ist eben nur so, daß unsere Begründungen, da sie nicht ins Unendliche zurückgehen
können, an Überzeugungen Halt machen, die uns als grundlegend gelten. Auf
287 Vgl. Sade, La philosophie dans le boudoir, S. 521
diesen bestehen wir, wie eben darauf, daß die Menschen Würde besitzen, wie oft
auch immer sich das Gegenteil zeigt. Sie sind weit eher Weisen, die Welt zu sehen,
als etwas, das sich von ihr ablesen ließe.

91. Die Aufklärung teilte, wie ihre Namen im Französischen und Englischen -
lumières, Enlightenment - sagen, die Welt in Licht und Finsternis. (Die große
Ausnahme war selbstverständlich Leibniz, der die Wirklichkeit weniger in
Gegensätzen als in Übergängen beschrieb; doch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts
verstand sich zum Teil gerade als Zurückweisung dieser Metaphysik.) Die Finsternis
wurde der unheilvollen Allianz von ‘Vorurteil und Barbarei’ zugeschrieben 288 . Das
Licht aber, welches sie vertreiben sollte, sahen die philosophes als das eines
umfassenden Humanismus. Indes könnte es sehr wohl eine barbarische Freiheit von
Vorurteilen geben, und ebenso humane Vorurteile.
Einer der bedeutsamsten Denker der Aufklärung kam dieser Einsicht nahe. In
seinem Dictionnaire philosophique aus dem Jahr 1764 behauptet Voltaire, es gebe
einige universale, notwendige Vorurteile, die die Tugend selbst ausmachten. In allen
Ländern lehre man die Kinder Ehrfurcht vor Gott wie Achtung und Liebe der Eltern;
man bringe ihnen bei, Diebstahl als Verbrechen und selbstsüchtiges Lügen als
Untugend zu sehen, bevor sie irgendeinen Begriff von Tugend oder Untugend
hätten 289 .
Die Erklärung zeigt, daß es empirische Gründe waren, die Voltaire
veranlaßten, jenen Vorurteilen Universalität und Notwendigkeit zuzuschreiben.
Doch das 20. Jahrhundert hat die Heraufkunft von Formen gesellschaftlichen Lebens
gesehen, in denen Kinder dazu erzogen wurden, ihre Eltern nicht zu achten und zu
lieben, sondern ihnen zu mißtrauen und sie etwa beim Führer ihrer Jugendgruppe
zu denunzieren, wenn sie Unzufriedenheit mit der Staatsgewalt äußerten, unter der
sie zu leben hatten. Gewiß nennt Voltaire jene moralischen Überzeugungen zu Recht
Vorurteile; aber diese Vorurteile unterscheiden sich von anderen Vorurteilen nicht
durch Universalität und Notwendigkeit.

92. Daß grundlegende moralische Überzeugungen nicht zur Revision stehen sollten
(§ 90), scheint historisch aufgeklärtem Geist schlechterdings unannehmbar.
Historisch aufgeklärter Geist, ein Erzeugnis des 19. und 20. Jahrhunderts, ist noch
aufgeklärter als aufgeklärter Geist des 18. Jahrhunderts. Der letztere denkt Vernunft
als reine, gereinigt selbst von den Schlacken der Geschichte. Der erstere sieht
Vernunft in historischer Perspektive. Für historisch aufgeklärten Geist ist die
Gegenwart von provinzieller Beschränktheit - ganz wie Burke es behauptete (§§ 55,
58), doch aus dem gerade umgekehrten Grunde: nicht verglichen mit der
Vergangenheit, sondern verglichen mit der Zukunft. Es werde doch Wahrheiten
288 d’Alembert, Discours préliminaire, S. 95 - 96: “le joug de la scolastique, de l’opinion, de l’autorité, et un
mot des préjugés et de la barbarie”. Selbst die zu leiseren Tönen aufgelegte deutsche Aufklärung mochte den
schrillen Akkord von Vorurteil und Barbarei nicht missen; vgl. z.B. Lessing, ‘Das Neueste aus dem Reiche des
Witzes’, S. 84.

289 Voltaire, ‘Préjugés’, S. 456: “Il y a des préjugés universels, nécessaires, et qui sont la vertu même. Par tous
pays on apprend aux enfants à reconnaître un Dieu rémunérateur et vengeur; à respecter, à aimer leur père et
leur mère; à regarder le larcin comme un crime, le mensonge intéressé comme un vice, avant qu’ils puissent
deviner ce que c’est qu’un vice et une vertu”.
geben, von denen sich jetzt keiner etwas träumen lasse - die eingeschlossen, daß das,
was wir heute glauben, Irrtum ist. Die Vergangenheit ist für historische Aufklärung
freilich insofern interessant, als sich anhand ihrer über die Zukunft mutmaßen läßt.
Vieles, was wir jetzt unmoralisch nennen, ist irgendwo irgendwann einmal
moralisch gewesen; was also verbürgt, daß es seinen Namen nicht noch einmal
ändert? Wer dies nicht anerkenne, lege bloß sein Unvermögen an den Tag, sich
vorzustellen, was ihm nicht vertraut sei: ihm fehle Phantasie.
Diese Auffassung ist besonders schlau; denn außer der Vergänglichkeit
unserer Überzeugungen scheint sie auch unserem Überzeugtsein selber Rechnung
zu tragen. All unsere Meinungen sind flüchtig. Könnte es mit unseren
grundlegenden moralischen Überzeugungen nicht gerade so stehen wie etwa mit
der Euklidischen Auffassung des Raumes oder der Newtonschen Auffassung von
Zeit? An einer bestimmten Stelle in der Geschichte stehend, können wir uns eine
annehmbare Alternative zu der Auffassung, von der wir überzeugt sind, einfach
nicht vorstellen. Doch Köpfe von größerer Vorstellungskraft als der, über die wir
verfügen, legen Alternativen vor, die uns, zu unserer eigenen Überraschung, in
höherem Maße einleuchten, als das, was wir bisher glaubten. Im Bewußtsein, daß
dies wieder und wieder geschehen ist, gelingt es uns, die beiden Auffassungen als
miteinander vereinbar zu sehen, die früheren Generationen unvereinbar schienen:
wir glauben nunmehr, daß alles, wovon wir überzeugt sind, zur Revision steht, auch
wenn wir uns nicht im entferntesten vorstellen können, worin diese Revision
bestehen würde. Ist es nicht diese historisch reflektierte Sicht, und keine naiv
dogmatische, mit der wir auf unsere grundlegenden moralischen Überzeugungen
blicken?
Aus der Geschichte belegen läßt sich dies anscheinend nicht nur für die
Naturwissenschaften, sondern auch für moralische Intuitionen. Als die Forderung,
alles auf die Tagesordnung zu setzen, historisch zum ersten Mal angemeldet wurde,
von der griechischen Aufklärung des fünften Jahrhunderts v. Chr., der Sophistik,
nämlich, stellte sich Aristoteles ihr in einer Weise entgegen, die uns ebenso einfältig
wie reaktionär vorkommen mag. In seiner Topik sagt er, man solle nicht jede These
erörtern, die einer zur Diskussion stelle. So verdiene einer, der Zweifel äußere, ob
man die Götter ehren oder seine Eltern lieben solle, nicht etwa Gegenargumente,
sondern Züchtigung 290 . Gewiß ist, was das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern
angeht, die Einhelligkeit mit Voltaire (§ 91) bemerkenswert, bedenkt man, daß zwei
Geister der Art und den Zusammenhängen, in denen sie stehen, nach sonst kaum
verschiedener sein könnten. Das andere Beispiel aber scheint Wasser auf die Mühlen
historischer Aufklärung zu leiten. Vermochte sich Aristoteles aus seinem
Blickwinkel nicht vorzustellen, die Leugnung des Polytheismus könne auch nur einen
Einwand wert sein, so schien es nur wenige Jahrhunderte später den Menschen
einfach unglaublich, die Behauptung, es gebe viele Götter, könne auch nur einen
Einwand wert sein, und nicht vielmehr Züchtigung, wenn auch von rabiaterer Art
als die, welche Aristoteles im umgekehrten Fall empfohlen hätte. Denn die Christen
290 Aristoteles, Topica I,11, 105a3-7: µ , ’ µ µ
[...] µ “ µ ” (“Man soll nicht jedes Problem und jede
These untersuchen, sondern nur solche, bei denen der Zweifelnde dessen bedarf, daß man mit ihm argumentiert,
und nicht etwa, daß man ihn züchtigt [...]. Die etwa zweifeln, ‘ob man die Götter ehren soll und die Eltern
lieben, oder nicht’, bedürfen der Züchtigung”).
waren sicher, die Götter, von denen Aristoteles und die übrigen Heiden Wesens
gemacht hatten, seien in Wahrheit Dämonen 291 ; mit Dämonen aber debattiert man
nicht, man bekämpft sie.

93. Aristoteles’ Ratschlag, diejenigen zu züchtigen, die die später heidnisch


genannten Götter nicht zu ehren erwogen, und die christliche Verfolgung derer, die
damit fortfuhren, sie zu ehren, scheint einem gravierenden Verdacht gegen
Vorurteile Nahrung zu geben. Stehen für jemanden wenigstens einige seiner
Überzeugungen nicht zur Diskussion, dann scheint zu folgen, daß er gegen
diejenigen, die diese Überzeugungen nicht teilen, zur Gewalt greifen wird.
Doch dies folgt nicht. Was aus jener Haltung folgt, ist anderes. Erstens folgt
aus ihr, daß der Betreffende bei dem, wovon er überzeugt ist, bleiben wird. Zweitens
wird er das, wovon er überzeugt ist, nicht als eine Frage behandeln, die zur
Diskussion steht. Drittens wird er es moralisch nicht über sich bringen können 292 ,
bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, die zu tun oder zu unterlassen andere
ihn veranlassen wollen; wo seine Überzeugungen die Grenze ziehen, wird er
unbestechlich und unerpreßbar sein. Mehr noch wird ihm, viertens, nicht einmal in
den Sinn kommen, daß er sich gewisse Vorteile verschaffen könnte, wenn er sich nur
dem, was die anderen ihm nahelegen, öffnete; von den für alles Aufgeschlossenen
und stets Anpassungsbereiten unterscheidet er sich, wie Nietzsche sagt, “dadurch,
dass er eine Anzahl Gewohnheiten und Gesichtspuncte nicht zur Hand hat” 293 . All
dies ist gewiß geeignet, denen allerhand Ungelegenheiten zu bereiten, die ihn zu
etwas zu bringen oder von etwas abzubringen entschlossen sind; aber Gewalt kann
man die vier Dinge, die in jener Haltung liegen oder aus ihr folgen, nicht nennen.
Antigone, in Sophokles’ Tragödie, ist überzeugt, sie dürfe und müsse ihren
Bruder bestatten und betrauern. Diese Überzeugung ist unerschütterlich. Antigone
ist nicht bereit, sie lediglich als eine Anregung zu behandeln, die zur Diskussion zu
stellen wäre. Ihre Haltung ist auch nicht einfach ein Beispiel der allgemeinen
Wahrheit, daß diejenigen, die einer Sache gewiß sind, kaum je sehr rührig im
Erörtern dieser Sache sind. Denn für Antigone wäre es nicht lediglich verschwendete
Zeit, ihre Absicht zu diskutieren. Vielmehr stände damit bereits ihre Integrität auf
dem Spiel. Ihren Bruder zu bestatten und zu betrauern: damit ist für Antigone der
Punkt bezeichnet, an dem sie keinem Druck weichen und hinter den sie unter keinen
Umständen zurückgehen wird, auch wenn dies bedeuten sollte, daß sie ihr Leben in
Gefahr bringen oder selbst mit Sicherheit verlieren würde. Ihr Anliegen zum
Gegenstand einer Debatte zu machen, hieße für sie bereits, ihrem toten Bruder die
Treue zu brechen; der Widerstand dagegen ist ein moralischer. Erörtern hieße nach
Gründen suchen, nicht zu dürfen oder wenigstens nicht zu müssen; Ismenes
anfängliche Argumente belegen dies. Antigone hört nicht auf Argumente - weder
auf die in Klugheit gründenden ihrer Schwester noch auf Kreons Argumente aus
Staatsräson. Beide müssen erkennen, daß sie argumentieren können, so viel sie
wollen; was immer sie sagen, Antigone muß Polyneikes ehren, wie es ihm gebührt.
291 So zum Beispiel Tatian, Oratio ad Graecos

292 Vgl. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 284 - 285

293 Morgenröthe, § 267, S. 211


Daß sie dies muß, ist, wie sie es ausdrückt, das ältere Gesetz. Es rührt von alter
Überlieferung her, deren Ursprung in der Zeit keiner weiß (450 - 457). Gründe dafür,
daß sie dieser Überlieferung folgen muß, vermag Antigone nicht anzuführen. Sie
handelt aus Pietät. Doch die Toten, so haben Aufklärer mindestes seit Lukrez
eingewandt, haben keine Sinnesempfindungen; mit Ehrerbietung behandelt zu
werden, nützt ihnen nichts. Pietät ist demzufolge bloßer Aberglaube. Nur wer ihren
Nutzen nie untersucht hat - wobei herausgekommen wäre, daß sie keinen hat -, kann
pietätvoll bleiben. Modern und nüchtern läßt sich Antigones Überzeugung nur als
Vorurteil bezeichnen.
Die Beobachtung mancher Aufklärer, daß Vorurteile Menschen für bestimmte
Wirklichkeiten blind machen können, ist nicht von der Hand zu weisen, auch wenn
solche metaphorische Blindheit, anders als das entsprechende leibliche Gebrechen,
nichts ist, das Menschen einfach befallen würde (§ 6). Ihr Vorurteil veranlaßt
Antigone in gewissem Sinn, ihre Augen vor Wirklichkeiten zu schließen, die sie
nicht sehen will. Gewiß ist sie sich von Anfang an im klaren darüber, daß Kreon die
Macht und die Absicht hat, sie zu töten (72 - 76, 96 - 97). Doch mindestens handelt
sie so, als ob dies keinen Unterschied machte. Indem ihr Vorurteil all ihr Denken
und Fühlen in dem einen Punkt sammelt, die Würde ihres Bruders zu wahren, läßt
es sie zugleich viele unter den ungezählten Aspekten der Situation nicht zur
Kenntnis nehmen. So weit reicht die Beobachtung, die manche Aufklärer gemacht
haben. Die Frage ist, ob sich aus ihr ein Einwand herleiten läßt. Denn Antigones
Fähigkeit, überhaupt zu handeln, wie im besonderen ihr Standvermögen, die
Moralität ihres Handelns, beruhen auf jener Blindheit. Moralischer Charakter wird
nicht nur in den Gründen offenbar, die man erwägt, und in den Handlungen, die
man tut, sondern auch in den Handlungen, die man nicht tut, und - was
entscheidend ist - den Gründen, die man nicht einmal erwägt.
Anders als Antigone, die zu dem, wovon sie überzeugt ist, steht, paßt Kreon
seine Prinzipien den Erfordernissen des Machterhalts an. Der erste Wunsch eines
Vaters, erklärt er, sei es, gute Söhne zu haben (642 - 643). Doch er verrät die so
bekundete Achtung vor dem Band der Verwandtschaft in dem brutalen Bann, den er
über die Ehrung des getöteten Polyneikes verhängt hat, “daß keiner ihn begrabe,
keiner traure, / daß unbegraben er gelassen sey, zu schaun / ein Mahl, zerfleischt
von Vögeln und von Hunden” (205 - 206). Daß dies Mißverhältnis in Kreons
Charakter den Ausschlag gibt, geht daraus hervor, daß es mit dem von Sohn und
Frau ausgestoßenen Fluch über ihn und mit der Zerstörung seiner Familie vergolten
wird.
Die Behauptung, Vorurteile führten zu Gewalt, wird manchmal auf den
Mittelbegriff des Fanatismus gegründet 294 . Wer Vorurteile habe, sei ein Fanatiker,
und Fanatiker seien gewalttätig. Aber der Gedanke trägt nicht. Antigone ist im
Wortsinne fanatisch. All ihr Denken und Fühlen kreist um eine einzige Idee, die
Bestattung ihres Bruders in Würde. Es ist so auf das bezogen, was die lateinische
Sprache das fanum nennt, den Sitz der Gottheit (vgl. 450 - 460). Das fanum verleiht ihr
jene Art von Gewißheit, die den Fanatiker kennzeichnet. Doch obwohl Antigone ihre
Haltung vor Einwänden abgeschirmt hat, greift sie nicht zur Gewalt. Sie zwingt
294 du Marsais, Essai sur les Préjugés, Bd. I, S. 23. - La Mettrie, L’homme machine, S. 17: “les ont conduits à
mille préjugés, et pour tout dire en un mot, au fanatisme”.
anderen ihre Überzeugung nicht auf. Sobald Antigone bemerkt, daß Ismenes
Haltung eine andere ist, versucht sie vielmehr sogar, sie von der Teilnahme an dem
abzuhalten, was aus ihrer eigenen Überzeugung zwingend folgt (69 - 71, 83). Es ist
Kreon, der andere, besonders Antigone, seinen Absichten zu unterwerfen sucht. Er
droht; verfehlt dies seine Wirkung, wendet er Gewalt an. Wann immer ihm der
Gedanke an Gewalt in den Sinn kommt, wird dieser phantasielose Charakter
einfallsreich. Seine ursprüngliche Weisung verfügt Tod durch Steinigen (36), später
scheint ihm die Hinrichtung Antigones vor den Augen Haemons, ihres Bräutigams,
reizvoller (760 - 761), am Ende entscheidet er sich dafür, sie solle lebendig begraben
werden (773 - 776).
Gewiß führt die moralische Entschlossenheit, der Gewalt nicht zu weichen,
mit der die Inhaber der Macht einen verfolgen - jene Entschlossenheit also, die
Antigone an den Tag legt -, nicht notwendig zu einer Situation, in der es keine
Gewalt gibt. Aber das ist kein Einwand gegen sie. Denn nichts auf der Welt könnte
einen solchen Ausgang verbürgen. Entscheidend ist, daß solche moralische
Entschlossenheit nicht die Quelle der Gewalt ist. Antigone hätte es vorgezogen,
ihrem Bruder in Frieden die letzte Ehre zu erweisen. Mehr noch kann in bestimmten
Situationen Zweifel daran sein, ob dem Einsatz von Gewalt noch irgendwelche
Grenzen gezogen wären, gäbe es nicht den moralischen Widerstand derer, die unter
keinen Umständen bereit sind, sich ihr zu beugen.
Die Folgerung läßt sich in ein Bild fassen, von dem früher in umgekehrter
Absicht Gebrauch gemacht worden war. Vorurteile hat man dafür gerügt, sie bauten
sich einer Mauer gleich vor einem auf, wo man Einlaß durch eine Tür erwartet hatte
(§ 75). Doch einer Mauer gleich zu sein, wie Antigone es Kreons Zumutungen
gegenüber ist, kann eine Tugend sein. Es wäre faul, wenn unsere der Welt
zugewandte Seite ein Zugang für Beliebiges wäre. Selbst wenn sie einer Tür zu
vergleichen ist, soll nicht vergessen sein, daß Türen unter bestimmten Umständen
geschlossen und unter bestimmten Umständen sogar abgeschlossen werden.

94. Doch ist Antigone so durchaus bewundernswert? Macht ihr Vorurteil sie nicht
selbstgerecht? Vielleicht ist dem so. Ein Vorurteil kann jemanden selbstgefällig und
selbstgerecht machen - aber ob es dazu kommt, hängt ganz davon ab, was für ein
Vorurteil es ist. Es gibt Vorurteile, die Menschen bescheiden machen, und andere,
die ihnen Dünkel einpflanzen. Der Inhalt des jeweiligen Vorurteils, und wie er
aufgenommen wird, geben den Ausschlag in die eine oder andere Richtung. Den
Glauben, Kunst sei ausschließlich Sache des Genies, kann einer als Vorurteil haben,
und dies Vorurteil kann den, der es pflegt, bescheiden machen; obwohl er etwa ein
talentierter Bildhauer ist, beharrt er aufgrund seines Vorurteils, er sei gar kein
Künstler, sondern bloß ein Handwerker. Die Ansicht, jeder andere sei ein
Schwachkopf, ein unter Menschen nicht ganz rares Vorurteil, ist hingegen schiere
Anmaßung. Und so unterschiedlich prägen Vorurteile Haltungen auch sonst je nach
ihrem Inhalt. “Der Stolz des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung
von Thieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die grosse Kluft legt”, schreibt
Nietzsche, “dieser Stolz hat seinen Grund in einem Vorurtheil über Das, was Geist
ist: und dieses Vorurtheil ist verhältnismässig jung. In der grossen Vorgeschichte der
Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht
des Menschen zu ehren. Weil man im Gegentheil das Geistige (nebst allen Trieben,
Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so
schämte man sich nicht, von Thieren oder Bäumen abzustammen (die vornehmen
Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste Das,
was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man
sich in der Bescheidenheit, - und ebenfalls in Folge eines Vorurtheils” 295 .
Es ist also nicht der Umstand, daß etwas ein Vorurteil ist, der
Selbstgefälligkeit erklärt, sondern der Inhalt dessen, was man glaubt. Anderen
Vorurteile zuzuschreiben scheint hingegen in sich einen Zug zur Selbstgefälligkeit
zu tragen (§ 46). Behauptet einer, andere hätten Vorurteile, so setzt dies anscheinend
voraus, man selber unterliege gerade keinem solchen ( - denn wäre einem bewußt,
daß man nur aufgrund eines Vorurteils glaubte, die anderen hätten Vorurteile, dann
sollte man seine Behauptung zurückziehen). Die Jagd auf Vorurteile gewährt die
Befriedigung, daß man, auf die Vorurteile seiner Mitmenschen herabschauend, sich
selbst bescheinigen kann, um wie viel höher man steht als sie. Diese Überlegenheit
zu genießen, scheint dem Feind der Vorurteile indes schwerlich je zu reichen. Ihm
genügt es nicht, die Wahrheit zu wissen; vielmehr muß anscheinend auch jeder
andere seine Weltsicht übernehmen. Geschieht dies nicht, dann sind, wie er es sieht,
die Bedingungen erfüllt, den Einsatz von Gewalt als gerechtfertigt anzusehen. Gewiß,
der Feind der Vorurteile behandelt diejenigen, denen er Vorurteile zuschreibt, in
dieser Weise, weil er sich selbst im Recht sieht und seine Gegner im Unrecht; doch
könnte es nicht sein, daß sie, mit umgekehrten Vorzeichen, das selbe meinen?
“Der Mangel an Einsicht und die erworbenen Missvorstellungen werden”,
sagt Eugen Dühring in seinem Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher
Weltanschauung und Lebensgestaltung 296 , “mit den ursprünglich falschen Richtungen
der Naturantriebe oder Culturverzerrungen die Haupthindernisse einer
Verständigung im Wollen bilden. Handelt der Eine nach Wahrheit und
Wissenschaft, der Andere aber nach irgend einem Aberglauben oder Vorurtheil, so
ist Uebereinstimmung nur zufällig, und es müssen der Regel nach gegenseitige
Störungen eintreten. Die Entscheidung solcher moralischer Conflicte auf dem Wege
echter Verständigung, nämlich durch schliessliche Aufklärung des irrenden Theils,
wird selbst dann nur selten gelingen, wenn kein ursprüngliches Uebelwollen im
Spiele ist. Für die menschlichen Gesammtgruppen ist zu einer solchen, durch die
Erkenntniss zu vermittelnden Ausgleichung, noch eher als dem Einzelnen
gegenüber einige Aussicht vorhanden; indessen wird bei einem gewissen Grad von
Unfähigkeit, Rohheit oder böser Charaktertendenz in allen Fällen der
Zusammenstoss erfolgen müssen. Die Verletzung kann schon in dem unberechtigten
Widerstande des unwissenden oder sonst fehlgreifenden Theils gegen das an sich
zulässige Verhalten des andern Theils liegen, der alsdenn ein Recht haben wird, sich
auch gegen den Willen des andern freie Bahn zu schaffen. Es sind nicht blos Kinder
und Wahnsinnige, denen gegenüber die Gewalt das letzte Mittel ist. Die Artung
ganzer Naturgruppen und Culturclassen von Menschen kann die Unterwerfung
ihres durch seine Verkehrtheit feindlichen Wollens im Sinne der Zurückführung
desselben auf die gemeinschaftlichen Bindemittel zur unausweichlichen
Notwendigkeit machen. Der fremde Wille wird auch hier noch als gleichberechtigt
295 Morgenröthe, § 31, S. 41

296 S. 216 - 217


erachtet; aber durch die Verkehrtheit seiner verletzenden und feindlichen
Bethätigung hat er eine Ausgleichung herausgefordert, und wenn er Gewalt erleidet,
so erntet er nur die Rückwirkungen seiner eignen Ungerechtigkeit”.
Wenn die vorurteilsbehafteten Opfer solcher Gewalt mit dem Schaden auch
den Spott davontragen, ihr Wille sei als gleichberechtigt anerkannt, indem er
gebrochen werde, mag man fragen, ob dieser Spott des Autors Absicht war oder ihm
bloß unterlief; ob, mit anderen Worten, Zynismus oder Naivität ihm die Feder
führte. Wie dem auch sei, in jedem Fall ist man, sofern man Intoleranz und Gewalt
fürchtet, gut beraten, vor einer Sache eher noch auf der Hut zu sein als vor
Vorurteilen: vor der Jagd auf Vorurteile.

95. Unter den Gegnern des Vorurteils war Locke derjenige, dem auffiel, daß es
selbstgerecht ist, anderen Vorurteile zuzuschreiben. Die Frage ist natürlich, ob man
ein Gegner des Vorurteils bleiben kann, hat man jene Entdeckung erst einmal
gemacht. Locke glaubte, man könne es; die Behandlung, die er vorschlägt, soll die
Menschen von Selbstgerechtigkeit und Vorurteilen zugleich kurieren.
Jeder, sagt Locke, ist so vorlaut, sich zu beschweren, andere würden durch
Vorurteile in die Irre geführt - als ob er selber frei von welchen wäre. Da dieser
Vorwurf nun einmal auf allen Seiten erhoben werde, sei man sich wenigstens
darüber einig, daß Vorurteile einen Fehler, ein Hindernis der Erkenntnis darstellten.
Worin bestehe nun die angemessene Behandlung? In nichts anderem als darin, daß
jeder die Vorurteile der anderen in Ruhe lasse und nur die eigenen untersuche.
Keiner lasse sich von der Vorurteilshaftigkeit der eigenen Auffassungen dadurch
überzeugen, daß andere sie behaupten; jeder bringe Gegenbezichtigungen vor und
fühle sich damit selber von Schuld frei. Die einzige Art und Weise, wie sich diese
große Ursache von Unwissenheit und Irrtum aus der Welt schaffen lasse, sei, daß
jeder unparteiisch sich selbst prüfe 297 .
Doch Lockes Rat ist zirkulär. Wie ‘Widerstand gegen Berichtigung’ als
Kriterium von Vorurteilen voraussetzt, was zu zeigen wäre (§ 78), so unterstellt auch
die Empfehlung, die Locke hier gibt, unter dem Titel der Unparteilichkeit bereits
jene Vorurteilsfreiheit, die sie doch allererst hervorbringen soll 298 .

96. Die Frage der Selbstgerechtigkeit, insofern sie für unseren Gegenstand,
Vorurteile, bedeutsam ist, hat uns in einen Exkurs geführt (§§ 94 - 95). Wir nehmen
nun die Überlegungen vor der Stelle wieder auf, an der wir abgeschweift waren.
Fanatismus (§ 93) ist der eine Mittelbegriff, mit Hilfe dessen man
Überzeugungen und Gewalt in Zusammenhang bringen will. Der andere
Mittelbegriff, der zum selben Zweck bemüht wird, ist der der Intoleranz 299 . Ist
297Of the Conduct of the Understanding, § 10, S. 228: “Every one is forward to complain of the prejudices that
mislead other men or parties, as if he were free, and had none of his own. This being objected on all sides, it is
agreed that it is a fault and an hindrance to knowledge. What now is the cure? No other but this, that every man
should let alone others’ prejudices, and examine his own. Nobody is convinced of his by the accusation of
another; he recriminates by the same rule, and is clear. The only way to remove this great cause of ignorance
and error out of the world is, for every one impartially to examine himself”.

298 Vgl. ebd., § 42, S. 279, wo Vorurteile als eine Form von Parteilichkeit bestimmt sind.

299 du Marsais, Essai sur les Préjugés, Bd. II, S. 105


Antigone intolerant? Wenn diese Kennzeichnung bedeutet, daß jemand anderen
seine Auffassungen aufzwingt, dann ist sie es nicht (§ 93). Doch folgt daraus, daß
Antigone tolerant zu nennen wäre? Wenn mit diesem Ausdruck gemeint sein soll,
daß man jeder anderen Meinung gleiches Recht zugesteht, dann ist auch diese Frage
zu verneinen. Pluralismus ist eine Haltung, die Antigone gänzlich fern liegt. Sie
würde nicht ihr Leben für etwas aufs Spiel setzen, glaubte sie, daß Ansichten, die
das Gegenteil ihrer eigenen sind, gleiche Achtung verdienten. Für Antigone ist
Kreons Diktat nicht tolerabel.
Indes ist Antigone nicht nur überzeugt, daß sie das Rechte tun will und Kreon
Unrechtes. Sie glaubt darüber hinaus, das, worum es ihr geht, sei von größter
Bedeutung. Doch man ist tolerant nur gegen das, woran einem nicht viel liegt.
Heinrich IV. von Frankreich wechselte dreimal seine Konfession; in Einklang mit
dem Umstand, daß er so viel Gleichgültigkeit gegen seinen eigenen Glauben an den
Tag gelegt hatte, sagt sein Bewunderer, der liberale Historiker Buckle, finden wir,
daß er der Urheber der ersten öffentlichen Toleranzakte war, die eine Regierung in
Frankreich erklärt hat, seit das Christentum die Religion des Landes geworden war.
Nur fünf Jahre, nachdem er feierlich dem Protestantismus abgeschworen hatte,
verkündete er das Edikt von Nantes, mit dem zum ersten Mal Häretikern durch
einen katholischen Herrscher ein gerechter Anteil an den bürgerlichen und
religiösen Rechten zuerkannt wurde 300 . Heinrichs Gegner in der katholischen Liga
legten nur zu gutes Gespür für seine Nonchalance an den Tag, als sie ihm anläßlich
seines Übertritts zum Katholizismus am 25. Juli 1593 in St. Denis die unehrbietige
Bemerkung zuschrieben, Paris sei eine Messe wert; ein Einfall, der Heinrich durch
den Sinn gegangen sein könnte, aber den zu äußern er gewiß zu klug gewesen wäre.
Das Edikt von Nantes geriet außer Kraft, nachdem Heinrich 1610 einem Attentat
zum Opfer gefallen war; denn während ihm die Frage der Konfession (als Frage des
rechten Glaubens, selbstverständlich nicht als Frage der Macht) gleichgültig war,
war sie es den Franzosen noch nicht. Indifferenz ist der Boden, auf dem die Pflanze
der Toleranz wächst, und Indifferenz ist das, was Antigone abgeht. Für sie macht es
den größten Unterschied, ob ihr Bruder in Ehren bestattet ist oder nicht.
Doch nicht nur Antigone geht die Indifferenz ab. Jedem fehlt sie - an
irgendeinem Punkt. Wo es jemandem ernst wird, wo ihm an etwas wirklich liegt, da
endet seine Toleranz. Wenn der Staat Schiedsrichter zwischen den Konfessionen
wird, ist der Anspruch der Kirche, absolut zu gelten, durch einen solchen des Staates
ersetzt; und mit der Macht des Staates, die er durch Toleranz gegenüber den
Konfessionen so klug festigte, war es Heinrich ernst: folglich war er auch durchaus
nicht tolerant denen gegenüber, die sie in Frage zu stellen suchten. In modernen
Gesellschaften ist es in Sonderheit das Geld, bei dem der Spaß aufhört 301 . Und
300 History of Civilization in England, S. 10. - Wie Gibbon bemerkt hat, kann ein und dasselbe Ergebnis,
Toleranz, mit höchst unterschiedlichen, ja logisch unvereinbaren Formen von Indifferenz verbunden sein: “The
various modes of worship which prevailed in the Roman world were all considered by the people as equally
true; by the philosopher as equally false; and by the magistrate as equally useful. And thus toleration produced
not only mutual indulgence, but even religious concord” (The History of the Decline and Fall of the Roman
Empire, S. 28).

301 Aus diesem Grund ist Geld, und insbesondere eine größere Summe desselben, wie Kant bemerkt, zum
Prüfstein ernstlicher Überzeugung geworden: “Der gewöhnliche Probierstein: ob etwas bloße Überredung, oder
wenigstens subjektive Überzeugung, d.i. festes Glauben sei, was jemand behauptet, ist das Wetten. Öfters
spricht jemand seine Sätze mit so zuversichtlichem und unlenkbarem Trotze aus, daß er alle Besorgnis des
darum toleriert auch keiner Toleranz, wenn ein Bankangestellter diese Tugend
hinsichtlich der Zahlen auf dem eigenen Konto entwickelt. Gilt dies aber, dann ist
das Befremden wahrhaft verräterisch, daß der bescheidenen Reflexion
entgegenschlägt, es gebe vielleicht noch ein paar andere ernsthafte Probleme, die
Intoleranz verdienten. Das Zufügen von Gewalt könnte eines von ihnen sein. Wann
immer sich jemand, etwa in den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts, weigerte,
daran teilzunehmen, dann geschah dies nicht aus Indifferenz, sondern aus fester
Überzeugung, aus einem jener Vorurteile, die, um Voltaire zu zitieren, die Tugend
selbst sind 302 . Das Intolerable ist das Unerträgliche, und die wenigen, die etwa
Widerstand leisteten gegen das, was in den deutschen Todeslagern der 1940er Jahre
vorging, hatten das Gefühl, es sei unerträglich, es müsse aufgehalten werden, und
liege dies nicht in ihrer Macht, so müßten sie sich mindestens dagegen auflehnen.

97. Die Behauptung, das Festhalten an Überzeugungen führe als solches zu Gewalt,
scheint nach dem Gesagten nicht glaubwürdig. Warum ist es dann zum
Gemeinplatz geworden, die Geschichte der Herrschaft im 20. Jahrhundert, so weit
ihre Form totalitär war, stelle den bündigen Beweis für jene Behauptung dar?
In Mein Kampf 303 schreibt Adolf Hitler: “Der Mangel einer großen
neugestaltenden Idee bedeutet zu allen Zeiten eine Beschränkung der Kampfkraft. Die
Überzeugung vom Recht der Anwendung selbst brutalster Waffen ist stets gebunden an das
Vorhandensein eines fanatischen Glaubens an die Notwendigkeit des Sieges einer
umwälzenden neuen Ordnung dieser Erde. Eine Bewegung, die nicht für solche höchste Ziele
und Ideale ficht, wird daher nie zur letzten Waffe greifen”.
Hitlers Bemerkungen scheinen zu beglaubigen, daß Überzeugungen und
Gewalt verschränkt sind. Doch der Unterschied zu der Behauptung, mit der wir es
zu tun hatten, ist wert, beachtet zu werden. In jener Behauptung waren moralische
Ideale das erste, Gewalt aber das zweite, nämlich ein bloßes Mittel. Hitlers Gedanke
besagt gerade das Gegenteil. Nicht um eine Idee zu verwirklichen, benötigt man die
Waffen. Es ist umgekehrt. Man braucht eine Idee, um die brutalsten Waffen zur
Anwendung bringen zu können. Die Ideale rücken damit auf den zweiten Rang.
Hitler versteht sie als Mittel, um Widerspruch oder Skrupel zum Schweigen zu
bringen. Das erste ist der Glaube an die Waffe, an die Gewalt selber. Es ist dieser
Glaube, nicht moralische Überzeugung als solche, woraus Gewalt folgt.

98. Daß das Beharren auf bestimmten Überzeugungen, die wir nicht zur Debatte zu
stellen bereit sind, notwendig in Gewalt mündet, ist nicht gezeigt worden. So folgt
auch nicht, wie historische Aufklärung (§ 92) es für sich selbst in Anspruch nimmt,
wir seien nur dann dagegen gefeit, Gewalt auszuüben, wenn wir all unsere
Überzeugungen auf unseren jeweiligen Standpunkt und Blickwinkel relativierten.

Irrtums gänzlich abgelegt zu haben scheint. Eine Wette macht ihn stutzig. Bisweilen zeigt sich, daß er zwar
Überredung genug, die auf einen Dukaten an Wert geschätzt werden kann, aber nicht auf zehn, besitze. Denn
den ersten wagt er noch wohl, aber bei zehnen wird er allererst inne, was er vorher nicht bemerkte, daß es
nämlich doch wohl möglich sei, er habe sich geirrt” (Kritik der reinen Vernunft A 824 - 825 = B 852 - 853 , S.
690 - 691).

302 Voltaire, ‘Préjugés’, S. 456: “préjugés [...] qui sont la vertu même”; vgl. § 91

303 S. 596 - 597


Antigones Überzeugung ist unbedingt, doch obgleich sie unbeirrbar ist, fügt sie
anderen nicht Gewalt zu (§ 93). Umgekehrt kann darin, daß man seine
Überzeugungen auf seinen jeweiligen Standpunkt und Blickwinkel relativiert, eine
subtile, wenn auch unbeabsichtigte Rechtfertigung von Gewalt liegen.
Inkonsequente Nazis leugnen den Massenmord an den Juden. Konsequente
Nazis heißen ihn gut. Der naive Dogmatiker ist in seinen moralischen Vorurteilen
überzeugt, daß der Mord an den Juden ein Verbrechen von kaum vorstellbarer
Brutalität war. Ein historisch aufgeklärter Geist möchte, wenn nun einmal seine ganz
persönliche Meinung gefragt ist, den Holocaust auch nicht gutheißen, muß aber
zugeben, daß in ein paar hundert Jahren Köpfe von größerer Vorstellungskraft als
der, über die er selber verfügt, neue Argumente vorbringen könnten, in deren Licht
Auschwitz gerechtfertigt wäre; wer dies nicht anerkenne, lege sein Unvermögen an
den Tag, sich vorzustellen, was ihm nicht vertraut sei: ihm fehle einfach Phantasie (§
92). Diese Antwort ist nicht nur schlau, wie wir es der historischen Aufklärung oben
bescheinigen mußten; sie ist zu schlau, um dem Phänomen der Moralität gerecht zu
werden. Für alles aufgeschlossen und empfänglich zu sein, kann, so beharrt die
Moral, in bestimmten Fällen zum Verbrechen werden. Denn was damit von
Auflösung ergriffen wird, ist gerade, was Antigone zweifach auszeichnet: sie ist
nicht zu allem fähig, und es gibt etwas, mit dem es ihr ernst ist. Was ihr moralische
Größe gibt und sie in der Welt, in der sie handelt, zur tragischen Figur erhebt, ist,
gewiß, daß es ihr ernst ist mit etwas, das ernst ist. Wäre dem nicht so, dann stände
eine komische Figur vor uns: Don Quixote, nicht Antigone. Doch selbst dann noch:
Sind wir, wenn wir Cervantes lesen, je so sicher, daß Don Quixote verrückt
geworden ist, nicht seine Zeit?

99. In historischer Aufklärung ereignet sich die Selbstaufhebung des europäischen


Rationalismus. Vernunft stand in dieser Tradition für die Fähigkeit, die
Begrenzungen von Raum und Zeit zu transzendieren, und die Einschränkungen,
denen man infolge des eigenen Standpunkts und Blickwinkels unterliegt, selbst noch
zu berücksichtigen. Historische Aufklärung behauptet, daß wir die Wirkungen
unserer Situiertheit in der Geschichte auf unsere Auffassungen nie einzuschätzen
vermögen, daß aber die Geschichte unsere Auffassungen als Wirkungen unserer
Situiertheit in ihr und damit als obsolet erweisen wird. Abstrakt, wie er ist, gilt
dieser Denkzettel jedem Standpunkt, dem des Nationalsozialismus so gut wie dem
seines Gegners. Sämtlich sind sie relativ auf ihre Situiertheit in der Zeit; die Zukunft
könnte und wird, wie Erfahrung uns warnt, sie alle außer Kurs setzen. Die
Aufklärung des 18. Jahrhunderts, wie anfechtbar viele ihrer Behauptungen im
einzelnen gewesen sein mögen, hatte zumindest noch konkrete Einwände gegen
bestimmte Begriffe, an die die überlieferte Metaphysik und Theologie ihr Herz
gehängt hatte. Historische Aufklärung hingegen hat keinerlei konkrete Einwände
gegen die Begriffe, von denen wir Gebrauch machen. Sie behauptet nur, diese
Begriffe seien geschichtlich bedingt, womit gesagt sein soll, sie sähen ihrer Ablösung
durch andere entgegen. Schließlich sei es doch jederzeit möglich, daß neue
Argumente vorgetragen würden. Und dem ist ja in der Tat so. Doch die Frage ist
nicht, ob es möglich ist, daß eines Tages neue Argumente vorgetragen werden. Die
Frage ist, ob das derart wesentlich ist. Sind Gründe so wichtig, wie Aufklärer es
geglaubt haben?
Einem gängigen Schema der Aufklärung zufolge unterscheidet Vorurteile zu
ihren Ungunsten von Urteilen auch dies: daß sie nicht auf Gründen beruhen.
(Selbstverständlich war dies Schema zu ergänzen um eine Theorie dessen, was
Gründen ähnlich sieht und doch nicht gleichkommt: ‘Rationalisierungen’; vgl. § 77.)
Folgerichtig entspricht der aufklärerischen Vorurteilskritik eine universelle Pflicht
zur Begründung 304 .
Die Forderung, für alles müsse ein Grund angegeben werden, unterliegt
jedoch einem Dilemma. Entweder kann sie erfüllt werden, doch in diesem Fall liegt
in ihrer Erfüllung kein Verdienst; oder aber sie kann nicht erfüllt werden. Die erste
Deutung hilft dem Kritiker des Vorurteils nicht, und die zweite hilft seinem
Verteidiger.
Erstens. Man kann nicht begründen, ohne auf etwas bestimmtes hinzuweisen
und vieles andere zu übergehen. Gründe vereinzeln. Das wird kaum je bemerkt,
bevor es weh tut (und wie wir sehen werden, tut es normalerweise nicht weh,
sondern wohl). “Ich liebe Dich.” - “Warum?”. Nun muß ein Grund angeführt
werden, und, insofern ein Grund, ein einzelner Sachverhalt: “Weil Dein Haar schön
ist” - “Ist das alles?” Der Grund ist, im Grunde, bereits das Dementi der behaupteten
Liebe. Was an solchem Begründen schmerzt, ist die Reduktion, die alles Begründen
erfordert; aber es schmerzt, wenn wir inne werden, daß auch wir uns ihr
unterziehen müssen. Wo es auf das Ganze ankommt, wie in Liebe und Freundschaft
(denn ein Mensch sieht sich, solange er nicht gebrochen ist, als ein Ganzes),
schmecken Gründe nach Beleidigung. Doch zu Besserem als einer Reduktion auf
Einzelnes bringen wir es nicht, solange wir Gründe anführen. Es gibt nicht so etwas
wie eine vollständige Begründung. Da alles, was es gibt, unbestimmt viele Seiten
hat, müssen wir wählen, wenn wir uns in unserem Begründen auf eine von ihnen
beziehen. Es ist aber paradoxerweise gerade dieser Mangel, dem Gründe ihre Macht
verdanken. Ihre Partikularität begründet ihren universalen Anspruch. Weil
Begründungen unvollständig bleiben dürfen - und sie dürfen es, weil sie müssen -,
gibt es Gründe für alles, und alles kann als Grund dienen. Hat sich die Kultur des
Räsonnierens erst einmal ein paar Jahrhunderte lang entwickelt und verbreitet, dann
wird es, wie Hegel beobachtet hat, gute Gründe nur so regnen 305 . Dies stiftet
zweifachen Nutzen: in affirmativem wie in kritischem Gebrauch. Ersterer ist
304 Vgl. z.B. Locke, Essay, IV,xvii,24, Bd. III, S. 136 - 137; Of the Conduct of the Understanding, § 6, S. 217.
Die Rhetorik der Gründe ist ganz entfaltet bei Kant, der sie am Ende einer therapeutischen Prozedur erscheinen
läßt; diese hebt an mit der ‘Reinigung’ von Vorurteilen - worin liegt, daß sie eine Art Schmutz sind - und der
Heilung von der Blindheit, mit der sie uns geschlagen hätten: “Ich habe meine Seele von Vorurteilen gereinigt,
ich habe eine jede blinde Ergebenheit vertilgt, welche sich jemals einschlich, um manchem eingebildeten
Wissen in mir Eingang zu verschaffen. Jetzo ist mir nichts angelegen, nichts ehrwürdig, als was durch den Weg
der Aufrichtigkeit in einem ruhigen und vor alle Gründe zugänglichem Gemüte Platz nimmt” (Träume eines
Geistersehers, I,4, S. 960).

305 “In unserer reflexionsreichen und räsonierenden Zeit muß es einer noch nicht weit gebracht haben, der nicht
für alles, auch für das Schlechteste und Verkehrteste, einen guten Grund anzugeben weiß. Alles, was in der
Welt verdorben worden ist, das ist aus guten Gründen verdorben worden. Wenn auf Gründe provoziert wird, so
ist man zunächst geneigt, davor zurückzutreten; hat man dann aber die Erfahrung gemacht, wie es sich damit
verhält, so wird man harthörig dagegen und läßt sich dadurch nicht weiter imponieren” (Enzyklopädie, § 121
Zus., S. 252; vgl. § 122 Anm., S. 253). - Folgerichtig gibt es einen positiven Gebrauch des Begriffs Vorurteil
bei Hegel. Vgl. z.B. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 23: “Es ist ein altes Vorurteil, daß
das, wodurch sich der Mensch von dem Tiere unterscheidet, das Denken ist; wir wollen dabei bleiben”.
einschlägig, wo einer seine Interessen zu behaupten sucht. Was immer diese sind,
immer wird sich ein Grund für sie finden lassen. Umgekehrt ist es gleichfalls nicht
schwieriger, an allem und jedem, was Menschen gemacht haben, Mängel und
Unzulänglichkeiten zu finden; so geraten auch Kritiker nie in Beweisnot. Für alles
kann man mithin Gründe haben, doch es fällt schwer, darin ein Verdienst zu sehen -
ein Verdienst, im besonderen, das etwas, das durch Gründe in diesem inflationären
Sinne gedeckt wäre, über ein Vorurteil, das nicht durch dergleichen gedeckt wäre,
erheben würde.
Es gibt eine zweite, enger gezogene Deutung der Forderung, für alles, was
wir glauben, müsse ein Grund angegeben werden. Wenn jede Erkenntnis einer
Begründung bedarf, so heißt dies so viel wie, daß sie eine andere als ihren Grund
voraussetzt, auf die sie, um als wahr behauptet werden zu können, zurückgeführt
werden muß. - Doch darin steckt ein Widerspruch. Denn wenn jede Erkenntnis nur
durch eine andere, ihr zugrunde liegende möglich ist, so müßten wir, um zu
irgendwelcher wahren Erkenntnis zu gelangen, einen unendlichen Regreß
ausführen 306 , und es wäre daher gar keine Begründung von Erkenntnissen möglich.
Gewiß ist dies selber ein Grund. Doch die gegenwärtige Deutung besagte ja nicht,
Gründe seien nichts wert. Vielmehr mag es sehr wohl einen Sinn geben, in dem sie
wesentlich sind. Was die gegenwärtige Deutung in ihrer Konsequenz besagt, ist, es
müsse, wenn einiges von dem, was wir glauben, auf Gründen beruht, zugleich
etwas geben, das nicht auf Gründen beruht. Begründen oder beweisen können wir
gewisse Dinge nur, wenn und weil wir für anderes keine Gründe und Beweise
haben.
Jedes Argument muß von etwas ausgehen. Die Wahrheit der Konklusion aber
ist nur dann (vorausgesetzt auch, man begeht keinen Fehler beim Schließen)
gewährleistet, wenn die Prämissen wahr sind. Sind die Prämissen falsch, dann kann
ebensogut Falsches wie Wahres folgen; ex falso quodlibet, wie die Scholastik
formulierte. Wer eine wahre Konklusion erreichen will, muß von etwas beginnen,
das nicht in Zweifel steht. Ist es zweifelhaft, wird die Konklusion es auch sein; so
kommt man nicht weiter. Freilich gibt es auch Zweifel, der weiterbringt: Zweifel, aus
dem etwas folgt. Es ist der Zweifel, der einen darüber belehrt, daß etwas nicht wahr
ist. Doch wenn man die Prämissen des Arguments in diesem Sinn bezweifelt, dann
setzt man zu einem anderen Argument mit anderen Prämissen an, und für dieses
gilt das selbe wie zuvor. Auch in einer reductio ad absurdum tut man nicht das
Gegenteil, sondern folgt der gleichen Logik, nur in umgekehrter Ordnung: man muß
sicherstellen, daß die Konklusion falsch ist, und nur wenn dies sichergestellt ist, ist
man berechtigt zu schließen, daß mindestens eine der Prämissen nicht stimmt.
Woher haben wir die Prämissen unserer Argumente? Sie können das
Ergebnis eines früheren Arguments sein. Doch man kann nie den ersten Satz einer
Gedankenkette beweisen oder er wäre nicht der erste. Wie wir sahen, können wir
nur dann etwas aus Gründen wissen, wenn wir anderes ohne Gründe wissen. Soll
der circulus vitiosus vermieden werden, sagt Aristoteles in der Schlußpassage seiner
Zweiten Analytik, muß es einen Ausgangspunkt geben, der nicht begründet werden
306 Vgl. Aristoteles, Metaphysica III,4, 1006a8-9: µ ( , µ ’
) (“Denn überhaupt für alles einen Beweis zu führen ist unmöglich (denn sonst ginge es ins Unendliche, und es
würde auch so kein Beweis stattfinden)”).
kann noch muß: Intuition, das heißt, ein unmittelbares Ergreifen der Wahrheit 307 .
Doch verschiedene Leute haben verschiedene Intuitionen über die selbe Sache. Die
behaupteten evidenten Wahrheiten sind noch stets manchem durchaus nicht evident
gewesen, um dessen Geist es auch nicht schlechter bestellt war als um den jener, die
solche Intuitionen hatten. Selbstverständlich zeigt dies nicht, daß es nichts gibt, das
Intuition genannt zu werden verdiente. Aber es legt doch nahe, daß Intuitionen,
insofern sie je nach dem, was Menschen an Verschiedenem gedacht und erfahren
haben, glauben und wissen, unterschiedlich ausfallen, etwas Vermitteltes eher denn
ein Unmittelbares sind. Die Vermittlungen sind lediglich vergessen. Natürlich kann
etwas nur dann eine Intuition genannt werden, wenn es nicht das Ergebnis einer
Untersuchung der Sache ist, auf die sie sich bezieht. Doch in diesem Fall ist Intuition
nur eine wohlklingendere Bezeichnung für Vorurteil. Man nennt die Vorurteile, die
einem lieb sind, Intuitionen, und die Intuitionen, die man nicht ausstehen kann,
Vorurteile; die Wahl der Worte ist nichts weiter als rhetorische Übung.
Manchen Leuten sind ihre Intuitionen in besonderer Weise ans Herz
gewachsen. Indem sie sie zu Erleuchtungen stilisieren, mögen sie ihnen auch das
Attribut notwendiger Wahrheit nicht vorenthalten. Doch sind Intuitionen schlicht
Vorurteile mit einem schöneren Namen, dann gibt es keine Garantie dafür, daß sie
wahr sind. (Das Argument ist das selbe wie jenes, das zeigt, daß sie nicht falsch sein
müssen, § 46.) Sie sind indes einfach unumgänglich, soll es je dazu kommen, daß wir
begründend über etwas reden. Unser Begründen könnte nicht den kleinsten Schritt
vorwärts tun, hielten wir nicht im vorhinein etwas für selbstverständlich. Vorurteil
ist daher nicht das Hindernis der Vernunft, als das es manche Aufklärer hingestellt
haben. Im Gegenteil beruht Vernunft auf Vorurteil. Umgekehrt beruht aber auch
Vorurteil, und zwar selbst dann, wenn es falsch ist, auf Vernunft. Der Schematismus,
welcher Vernunft und Vorurteil einander entgegensetzt, um dann zur einen sich zu
bekennen und das andere zu verachten, ist in seinen beiden möglichen Spielarten
gleich gedankenlos.

100. Mit der Vernichtung aller Vorurteile hat die Aufklärung sich ein Problem
vorgesetzt, das entweder unlösbar ist, oder dessen Lösung gar nicht zu wünschen
ist. Heißt dies, daß die Aufklärung an dieser Stelle einen Fehler begangen hat? Nicht
unbedingt oder, genauer, nicht in jeder Bedeutung des Wortes ‘Fehler’. In der
Erreichung der eigenen Ziele erfolgreich zu sein ist für einen selber nicht immer ein
Erfolg. Denn wer ein Problem definitiv löst, macht sich mindestens in dieser
Hinsicht überflüssig. Kaum könnte die von ihr selbst behauptete Notwendigkeit der
Aufklärung nachhaltiger in Frage gestellt werden als durch die vollzogene
Beseitigung aller Vorurteile 308 . Wer immer hingegen sein Ziel nicht erreicht, kann
diesen Umstand benutzen, die anhaltende Notwendigkeit dessen, was er verlangt,
darzutun. Intellektuelle Strömungen, hierin gar nicht so verschieden von politischen
307 Analytica posteriora II,19, 100b13-15: , ’ ’ µ µ. µ ’ µ
µ , µ (“Dasjenige, mit welchem das Beweisen anfängt, ist nicht selber ein Beweis, und so
ist auch dasjenige, mit welchem das Wissen anfängt, nicht selber Wissen. Wenn wir nun außer dem Wissen
keine andere Gattung der Erkenntnis des Wahren haben als die Intuition, so muß sie dasjenige sein, mit dem das
Wissen anfängt”). - Vgl. II,3, 90b19-27.

308 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 404, 413


Bewegungen, leben in einer Art Symbiose mit den Problemen, die sie entdecken
oder erfinden; die behauptete Fortdauer des Problems beweist schließlich, daß es
ihrer dringend bedarf. “Der Kampf für Licht und Recht fordert von ihren
Vertheidigern beständige Wachsamkeit, und das eben darum, weil der Feind im
Finstern schleicht” 309 . Das eigene Versagen bei der Lösung des Problems, das man
ausgemacht zu haben glaubt, zeigt nur, daß noch nicht genug von dem, was man
immer schon fordert, getan wird; folgerichtig antwortet man auf Fehlschläge mit,
kurz gesagt, ‘mehr vom selben’ - im vorliegenden Fall also: mehr Aufklärung. Wie
im Vorwort bemerkt wurde, gibt es ja keinen Anlaß zu glauben, im 20. Jahrhundert
hätten die Menschen weniger (und nicht lediglich andere) Vorurteile gehabt als im
18.; aus aufklärerischer Sicht bedeutet das bloß, man müsse so weitermachen wie
bisher, nur freilich mehr als bisher.
Damit dieser Schluß vernünftig aussieht, ist einerseits der Schein aufrecht zu
erhalten, die Schwierigkeit sei eine vorläufige, werde also in Zukunft überwunden
werden. Mit diesem Schein steht und fällt das Unternehmen der Aufklärung. Ihn zu
wahren, konnte und kann sich die Aufklärung stets auf die eigenen guten Absichten
berufen. Die Schuld an ihrem Mißlingen trägt allein das Problem selber, die
Vorurteile; denn diese, statt bei ihrer eigenen Abschaffung mitzuhelfen, widersetzen
sich ihr (§ 77). Andererseits vermag die Aufklärung Einwände gegen sich dadurch
aufzufangen, daß sie bis zu einem bestimmten Punkt anerkennt, sie habe es mit
einem unlösbaren Problem zu tun. Sie tut dies, indem sie ihre eigene Idee der
Befreiung von allen Vorurteilen nach der Art und Weise behandelt, die Kant, das
aufklärerische Denken vervollkommnend, den ”regulativen Gebrauch der Ideen” 310
genannt hat. Von einem Ziel, das als regulative Idee bestimmt ist, darf man sich
unter keinen Umständen vorstellen, es könne je verwirklicht sein. Dies Zugeständnis
hat den Vorzug, daß es die möglichen Verdienste jeder konkurrierenden Sichtweise
von vornherein schmälert; denn in ihm ist beschlossen, daß zumindest auch
niemand sonst das Problem der Vorurteile gelöst haben kann. In dieser zweifachen
Weise, selbstgewiß, doch zugleich vorsichtig, stellt Aufklärung sich auf Dauer. Ihr
eignet, so mag sich herausstellen, als einer Haltung, die Erfolg noch aus ihren
Fehlschlägen zieht, gerade solches Beharrungsvermögen, wie sie es den Vorurteilen
nachsagt.

309 Klinger, Betrachtungen und Gedanken II, Nr. 722, Bd. VIII, S. 185

310 Kritik der reinen Vernunft A 642 - 668 = B 670 - 696, S. 563 - 582
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Bd. 6: Ecce homo: Wie man wird, was man ist [1888], S. 255 - 374

Olden, Rudolf, Hitler (Amsterdam: Querido, 1936)

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Bd. XXXVI (1994): ‘Préjugés’, Dictionnaire philosophique [1764], hg. v.
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Lindinner, 1722), S. 65 - 71
Sachregister

Die Zahlen bezeichnen Abschnitte, V bezeichnet das Vorwort.

Aberglaube 93 - 94
Absondern (von Eigenschaften) 8, 20, 34
Abstraktion(en) 20, 27, 33 - 35
alt vs. neu 10, 55 - 57, 61, 64
Antisemitismus 18 - 20, 22 - 24, 27, 35, 49, 53, 60, 77, 79
Antizipation, Vorwegnahme, Vorgriff V, 23, 48 - 49, 69, 75 - 77
Aufbauen vs. Zerstören (Burke, de Maistre) 61
Aufgeschlossenheit 13, 43, 83, 85 - 86, 88, 92 - 93, 98
Aufklärung V, 2, 4 - 6, 8 - 12, 14, 17, 20, 26 - 28, 31 - 32, 44 - 49, 52, 55, 58 - 60, 62, 65
- 66, 68 - 69, 73, 75, 78, 82, 86 - 93, 99 - 100
Aufmerksamkeit 44 - 45, 51, 53, 71, 76, 93
Ausnahme(n) 28, 31, 77
Autonomie, geistige vs. Heteronomie, - 2-4
Autorität 4, 6 - 7, 10, 20, 47, 51, 59, 61, 64, 86, 88, 90

Barbarei 91
Beharrlichkeit (von Vorurteilen) 75 - 79, 95, 100
Beweislast 61 - 64, 76
Blindheit gegenüber dem Vertrauten 17, 53, 65
Breite vs. Tiefe (von Wissen) 13

communis error facit lex / ius 59, 67

Dauer 57, 59 - 60, 88


Diskriminierung 36 - 37
Dummheit 34, 37 - 43, 65 - 66

Eitelkeit 9, 46
Eklektizismus 4
elitär 73 - 74
Emotion, Affekt, Leidenschaft, Gefühl 16, 19, 21 - 22, 52, 55, 82, 86
Empfehlungen von Vorurteilen 66 - 75
- im allgemeinen 66 - 68
- im besonderen 66, 68 - 69
- aus der Außenperspektive 68 - 70, 72 - 74
- aus der Innenperspektive 71 - 73, 75
Empirismus 20, 24, 55
Encyclopédie 2, 14, 46
Engstirnigkeit 40 - 41
Entdecken 44, 55 - 56, 58, 92
Entscheiden 12, 14 - 15, 59
Erfahrung 2 - 3, 9 - 10, 12 - 13, 15, 18 - 34, 44 - 45, 49, 55, 73, 77, 99
Erkenntnistheorie 55, 58, 80
Erwartung 30, 48 - 50, 53, 59, 71, 77
Erziehung 40, 69 - 70, 89
Evidenz 2 - 3, 6, 49 - 50, 55, 76 - 78, 80 - 81, 85, 90
Experimente 10, 20, 27, 43, 55, 77, 79, 81 - 82, 84 - 85, 89

Falschheit (von Vorurteilen) 46, 48, 78


Fanatismus 93, 96
Faulheit (als Erklärung von Vorurteilen) 23, 75
Fortschritt V, 20, 51, 77, 86, 88
Fragen vs. Antworten 50
Freethinkers 84

Gegenwart, Präsenz 10, 25, 31, 55, 58 - 60, 92


Geld 96
Gemeinsamkeit 10, 58, 66 - 67
genetischer Fehlschluß 46
Genre 52
Gerechtigkeit 59
Geschichte 11, 58 - 60, 68, 82, 92, 97, 99
Gesellschaft 10 - 12, 30, 59, 61, 68 - 69
Gewalt 35, 93 - 94, 96 - 98
Gewohnheit, Gepflogenheit, Brauch 10, 14, 17, 54 - 55, 58, 69, 72, 93
Gewohnheitsrecht 59
Glaubwürdigkeit 9
Gleichheit vs. Ungleichheit 36 - 37, 39, 59
Grenzen, Schranken 17, 52 - 54, 82 - 84
Gründe 16, 48, 65 - 66, 69, 75, 77, 86, 90, 93, 99
Gruppen 27, 29, 77

Handeln 12, 41, 71 - 72, 79, 84 - 85, 87


Hermeneutik 45 - 55
Hexen 67
Hilfe 28
historische Aufklärung 92, 98 - 99

Ideengeschichte V, 32, 38, 46


Identität von Personen 54, 60
idola (Bacon) 6, 44, 55
Indifferenz 96
Individualität 10 - 11, 23, 27 - 31, 59, 90
Induktion 23
Inquisition 8
Instinkt 15, 65
Institutionen 35, 56 - 59, 61, 64
Integrität 93
Interesse 62, 68, 71, 75 - 76
Intuition(en) V, 42, 81, 90, 99
Irrtum 1, 6 - 8, 16, 22, 29, 38, 40, 55, 59, 65, 67, 69, 72, 92, 94 - 95
-, frommer 26
-, geteilter communis error facit lex / ius

Jakobinertum 64
Jurisprudenz, Recht V, 26, 35, 46, 48, 59, 67, 76

Klassifizieren 6, 27, 29, 33


Klatsch 9
Klugheit 16 - 17, 41, 61, 67 - 68, 93
Konsens 60, 67
Konservativismus 11, 55 - 64
Konventionen 11, 52 - 53, 68
Kreativität 52, 71 - 72
Kunst 11 - 12, 52, 70 - 71, 73, 94

Lernen 19, 32, 69 - 70


Lesen 49
Liebe 52, 89, 91 - 92, 99

Macht 35 - 37, 64, 73, 93, 96


Menschenhaß 21 - 23, 36
Mode 77
Modernität V, 46, 58, 62 - 63, 73, 77, 82, 96
Moralität V, 27 - 29, 40, 55, 59, 62, 65, 80, 82, 85, 90 - 94, 97 - 98
Mord 88 - 90

Nachahmung 56
Nachdenken 7 - 9, 12, 59
Natur 17, 55, 60 - 62, 65, 70, 88 - 89, 94
- der Dinge (nature des choses) (Montesquieu) 49
Neuerung(en) 10 - 11, 55 - 56, 58, 62 - 64, 82
Neugier 55, 67, 82
Notfall 15

Oberflächlichkeit 13, 55
Ökonomie 12 - 14, 44, 59, 79
Orientierung 44 - 45, 53
Originalität 11, 40, 71
Panik 16
Paradox im Empfehlen von Vorurteilen 65 - 75
Paternalismus 74
Personen vs. Sachen 29
Perspektive 40 - 41, 50, 53, 60
Pietät 93
Plausibilität V
positiv vs. negativ (von Vorurteilen und Verallgemeinerungen gesagt) V, 25 - 27
Präsumtion 49, 61 - 64, 75 - 76, 90
Präzedenz 59 - 60
Prinzipien 22, 46
Privileg 26, 59, 94
Projekte 61, 82, 86
Prüfen, Testen, Untersuchen 2 - 3, 5, 8 - 10, 12 - 13, 26 - 27, 42, 44, 46 - 48, 58 - 61, 65
- 66, 68, 72, 75, 83 - 86, 89 - 90, 93, 95
Psychoanalyse 28

Rassismus V, 19, 23, 79 - 80


Rationalisierungen 77, 88, 99
Rationalismus 55
regulative Ideen (Kant) 100
Reihenfolge (und Begriff des Vorurteils) 79
Reiz vs. Gültigkeit (einer Bemerkung) 37
Ressentiment 35
Rhetorik 24, 46, 49, 55, 76, 99

Schaden 6, 15, 17, 26 - 27, 35, 59, 67, 82, 87


Schrecken, Grauen 16, 82, 86
Selbstdenken (Kant) 4 - 9, 84
Selbstgerechtigkeit 46, 94 - 96
Soziologie 68
Spezialisierung 13
Sprache V, 1, 11, 26, 31 - 33, 46, 49 - 50, 55, 69
Stabilität 59, 66

Toleranz 53, 69, 71, 96


Tradition V, 11, 14, 56, 59 - 63, 65, 70, 82, 86, 93

Übereilung, Hast 1, 21 - 25, 77


Unterdrückung 35, 37
Unterredungen 87, 92 - 93
Unwissenheit 13, 38, 40, 65, 69, 95
Urteil 1 - 2, 6, 8, 10, 16 - 17, 27, 35, 41, 44 - 46, 48, 51, 53, 59 - 60, 65 - 70, 77, 99

Veränderung, Wechsel 14, 50, 58, 60 - 64, 92


Verallgemeinern 21 - 29, 31, 33 - 34, 77
Verdacht 16, 76
Vergangenheit 11, 25, 31, 50, 55 - 65, 91 - 92
Vernunft V, 2, 10 - 11, 14 - 15, 19, 22, 39, 47, 51, 55, 58 - 59, 66, 69 - 71, 73, 77, 84, 86
- 88, 92, 99
Verständigung 4, 9, 62
Vertrauen 6, 8, 10 - 11, 13, 32, 46, 69, 72
Vorbegriffe (i.S. vorgeformter Begriffe) 32
Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff (Heidegger) 49
Vorsicht 16, 61

Wahrheit 9, 12, 16 - 17, 29, 35, 38, 40, 46, 48, 67, 69, 72, 75 - 76, 78, 94, 99
Wahrscheinlichkeit 17, 22, 76 - 77
Weisheit 10, 15, 40, 55 - 59, 61, 64 - 65
Werkzeuge 52 - 54
Wesen 33, 77
Widerlegen 27, 76 - 77, 90
Wissen aus erster Hand vs. aus zweiter Hand 2, 9, 10, 44, 73, 75
Wissenschaft 2, 10, 20, 34, 42, 44, 55, 69 - 70, 77 - 78, 81 - 82, 86, 89, 92, 94
Witz 22, 39, 41
Würde 90, 93

Zeit 1, 10, 29, 34, 41, 55 - 61, 64, 73, 77, 79, 88, 92 - 93, 99
-, verschwendete 13, 59, 61, 93
Zufriedenheit 38 - 39
Zukunft 25, 58, 85, 92, 99 - 100
Zweifel 8, 10, 12, 69 - 70, 72 - 73, 92, 99
Zynismus 35, 73 - 74
Personenregister

Die Zahlen bezeichnen Abschnitte, V bezeichnet das Vorwort.

Addison, Joseph 72
Adorno, Theodor W. 89
d’Alembert, Jean Le Rond 2, 91
Amiel, Henri-Frédéric 12
Aristoteles 92 - 93, 99
Arnauld, Antoine 55
Augustinus, Aurelius 66

Bacon, Francis 2, 6, 32, 44


Barbauld, Anna Lætitia 32, 69
Bayle, Pierre 66
Best, W.M. 76
Bittner, Rüdiger 4-6
Blackstone, William 76
Bodin, Jean 67
Bonald, Louis Gabriel Ambroise de 31 - 32, 55
Boswell, James 46
Bruyère, Jean de La 52, 55
Bry, Theodore de 43
Buckle, Henry Thomas 96
Burke, Edmund 10, 12, 15, 44, 55 - 67, 71, 86

Cervantes Saavedra, Miguel de 98


Chesterfield, Philip Dormer Stanhope, Earl of 15, 65 - 66, 68, 72 - 73
Chladenius, Johann Martin 40
Coleridge, Samuel Taylor 69 - 70
Collingwood, Robin George 50
Collins, Anthony 84
Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de 2, 32, 47
Corbin, Alain 35

Descartes, René V, 2, 8, 23, 39, 53, 55, 77


Diana, Princess of Wales 38
Diderot, Denis 4, 73
Diogenes von Sinope 74
Dreyfus, Alfred 27
Duclos, Charles Pinot- 10, 12, 67, 75, 77
Dühring, Eugen 94
Duff, William 11
Engels, Friedrich 62

Fichte, Johann Gottlieb 49


Flaubert, Gustave 77
Fontenelle, Bernard Le Bovier de 14, 46, 77
Friedrich der II., ‘der Große’ 73, 87

Gadamer, Hans-Georg 45 - 52, 55, 76


Galilei, Galileo 78
Gibbon, Edward 50, 55, 96
Glanvill, Joseph 55, 69
Goethe, Johann Wolfgang von 11, 71
Gracián, Baltasar 39

Hamann, Johann Georg 87


Hanke, Lewis 43
Hazlitt, William 10, 12, 34, 67, 77
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 6, 31, 99 - 100
Heidegger, Martin 49
Heine, Heinrich 73
Helvétius, Claude-Adrien 35
Heinrich der IV. von Frankreich 96
Herder, Johann Gottfried 32, 55
Herodot 66
Hilberg, Raul 82
Himmler, Heinrich 82
Hitler, Adolf 6, 18 - 20, 23 - 24, 97
Hobbes, Thomas 6, 39, 59
Holbach, Paul-Henry Thiry d’ 2, 46, 88
Hölderlin, Friedrich 93 - 94
Horkheimer, Max 15, 89
Humboldt, Wilhelm von 27
Hume, David 15, 22, 26, 28, 59, 65 - 66, 73
Hutcheson, Francis 32

James, Henry 7, 15
Jean Paul 41
Jeaucourt, Louis Chevalier de 2, 46
Johnson, Samuel 46

Kant, Immanuel V, 1 - 2, 4 - 7, 16 - 17, 23, 41, 46, 68, 77, 79, 87, 96, 99 - 100
Kater, Michael H. 82
Kiesewetter, Johann Gottfried Carl Christian 4, 22 - 23, 37
Kleist, Heinrich von 28
Kleist, Ulrike von 28
Klinger, Friedrich Maximilian 65, 73, 100
Kopernikus, Nikolaus 78
Kraus, Karl 17

La Mettrie, Julien Offray de 93


Leibniz, Gottfried Wilhelm 91
Lessing, Gotthold Ephraim 77, 91
Libanios 36
Lichtenberg, Georg Christoph 12
Lifton, Robert Jay 82
Locke, John 23, 66, 69, 75 - 78, 95, 99
Luther, Martin 67

Maistre, Joseph de V, 61
Marsais, César Chesneau du 2, 6, 8, 10, 15, 18, 23, 46, 55, 68, 73, 77, 93, 96
Marx, Karl 62
Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 82
Meier, Georg Friedrich 1, 6
Meiszner, Rudolf V, 46
Melville, Herman V
Montaigne, Michel Eyquem Seigneur de 9, 14, 61
Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de La Brède et de 17, 49, 52
Moses 32
Mozart, Wolfgang Amadeus 27, 34, 52

Newton, Isaac 77
Nicolai, Friedrich 2
Nicole, Pierre 55
Nietzsche, Friedrich 25, 32, 37, 51, 58, 72, 77, 93 - 94

Olden, Rudolf 23

Pascal, Blaise 67
Peirce, Charles Sanders 76
Périer, Marguerite 67
Platon 13, 21 - 23, 65
Ponte, Lorenzo da 27
Pope, Alexander 15
Poullain de la Barre, François 2

Quincey, Thomas de 17, 53

Radbruch, Gustav 76
Reid, Thomas 6
Reynolds, Joshua 70
Riem, Andreas 73
Rousseau, Jean-Jacques 26, 61, 77, 84
Russell, Bertrand 35

Sade, Donatien-Alphonse-François, Marquis de V, 82, 88 - 90


Sailer, Johann Michael 1, 8, 26, 69
Salomé, Lou von 46
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 93
Schlegel, Friedrich V, 12, 46, 74
Schleiermacher, Friedrich 23
Sextus Empiricus 9
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of 84
Shirer, William L. 23
Simmel, Georg 30
Sokrates 21 - 23, 65
Sophokles 93 - 94, 96, 98
Spenser, Edmund 35
Spinoza, Benedictus 52, 79
Sprat, Thomas 55, 82
Stephen, James Fitzjames 76
Swift, Jonathan V, 11, 86

Tatianus 92
Tertullianus, Quintus Septimius Florens 66
Thelwall, John 69
Thomas von Aquin 48
Thomasius, Christian 6
Toland, John (18. Jh.) 6
Toland, John (20. Jh.) 23

Ulpian 67

Vergilius Maro, Publius 72


Voltaire 46, 59, 65, 73, 91 - 92, 96

Watts, Isaac 6, 8, 32, 49


Whately, Richard 61, 76
Wieland, Christoph Martin 13, 73
Wood, Robert 11

Young, Edward 11

Zola, Émile 27
Zollikofer, Daniel Cornelius 77

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