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Hartmut Stöckl

1. Multimodalität – Semiotische und


textlinguistische Grundlagen
Abstract: Dieses Kapitel skizziert einen theoretischen Rahmen für die Betrachtung
und empirische Analyse multimodaler Texte. Dabei werden erstens die elementaren
Unterschiede in der Funktionsweise der zentralen Zeichenmodalitäten Sprache, Bild
und Ton (Musik, Geräusch) erläutert – hier kommen grundlegende semiotische Para-
meter und Modelle zum Tragen. Zweitens wird der multimodale Text als kohäsives
und kohärentes Ganzes beschrieben, das die unterschiedlichen Modalitäten struktu-
rell und funktional integriert. Hier übertrage ich zentrale textlinguistische Kategorien,
wie Textsorte, Themen- und Handlungsstruktur oder Kohäsion/Kohärenz etc., und
prüfe deren Beschreibungspotenzial für multimodale Artefakte anhand ausgewählter
Beispiele. Die Grundthese ist, dass uns Multimodalität immer in Gestalt konkreter
multimodaler Genres begegnet, die wir nur produzieren und verstehen können, wenn
wir um die Ausdruckspotenziale der Zeichenmodalitäten wissen und die genrespezi-
fische multimodale Textur kennen.

1 Anknüpfungspunkte – Desiderate – Thesen


2 Ein Konzept von ‚Zeichenmodalität‘
3 Zentrale Zeichenmodalitäten im semiotischen Vergleich
4 Beschreibungsdimensionen des multimodalen Texts
5 Fazit und Ausblick
6 Literatur

1 Anknüpfungspunkte – Desiderate – Thesen


Es ist dem rasanten Aufschwung der Multimodalitätsforschung zu verdanken,
dass Linguisten heute weder „blind für Bilder“ (Schmitz 2003) noch „besinnungs-
los“ gegenüber den Zeichenmodalitäten anderer Sinneskanäle, wie z. B. Musik und
Geräusch sind. Im Zuge einer konsequenten Orientierung auf den Sprachgebrauch
und dank der Hinwendung zu den semiotischen Oberflächen und Körper der Texte
(z. B. Kesselheim 2011) sieht man heute alle die Sprache begleitenden Zeichenmoda-
litäten als ihren notwendigen Ko- und Kontext. Der Stand der Forschung zu multimo-
daler Kommunikation (s. dieses Handbuch, Jewitt 2014; Björkvall 2012; Norris/Maier
2014) zeigt sich festigende, v. a. sozialsemiotische terminologische Grundlagen, eine
zunehmende Inventarisierung der „grammatischen“ Ressourcen einzelner ‚modes‘
und, im Ansatz, die empirische Untersuchung ausgewählter multimodaler Gesamt-
texte. Trotz aller Fortschritte ist Björkvall (2012, 18) zuzustimmen, wenn er meint,


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dass die Multimodalitätsforschung „[is] still very much an emerging field and there
is both room and need for methodological development“. Vor allem die Integration
von Zeichenmodalitäten in multimodalen Gesamttexten ist m. E. noch unzureichend
beschrieben, so dass die Verknüpfungsmuster von ‚modes‘ und die Prinzipien der
intersemiotischen Sinnstiftung einen weitestgehend blinden Fleck markieren.
Das Wesen multimodaler Texte besteht darin, dass zumindest zwei Zeichenmoda-
litäten strukturell und funktional integriert werden bzw. sich ein und dieselbe Moda-
lität in verschiedenen Medien manifestiert (Fricke 2012, 49 f.). So kombiniert ein Film
bewegte Bilder und gesprochene Sprache mit Musik und Geräusch; Sprache manifes-
tiert sich zugleich im der Rede und der Gestik. Ist das Phänomen Multimodalität als
textuelles und rhetorisches Prinzip der Vielgestaltigkeit von Zeichentypen und ihrer
Verknüpfung recht klar umrissen, so ist der Begriff des ‚mode‘ noch ungenügend
geklärt. Forceville bringt die Folgen dieses Defizits treffend zur Sprache:

if there was no agreement on what constitutes a mode, any dimension of discursive meaning
could qualify for modal status, and that would make the concept useless. (Forceville 2014, 51 f.,
Hervorhebung im Original)

Zwei Herangehensweisen lassen sich diesbezüglich unterscheiden. Die eine vermei-


det dezidiert eine klare Unterscheidung von Zeichenmodalitäten, indem sie argumen-
tiert, dass „a mode is what a community takes to be a mode and demonstrates that
in its practices“ (Kress 2014, 65). Die andere unterscheidet prototypische Modalitä-
ten (wie Rede, Schrift, Bild, Ton, Gestik, Mimik etc.), die uns als Alltagskategorien
vertraut sind, konzediert deren potentielle Überlappungen und mangelnde Trenn-
schärfe, bietet aber auch keine kategoriale Definition. Diese Lücke nehme ich als
ersten Anknüpfungspunkt und werde zeigen, wie sich ‚Zeichenmodalität‘ „im Kraft-
feld der Konzepte Medium, Kode und Sinneswahrnehmung“ (Klug/Stöckl 2015, 244)
klären lässt.
Ein zweiter Anknüpfungspunkt ergibt sich aus der Diskussion um die Gemein-
samkeiten und Unterschiede zwischen den Zeichenmodalitäten. Die grundlegende
Frage, welche ‚modal affordance‘ (Jewitt/Kress 2003, 14 ff.), d. h. welches distinkte
Ausdruckspotenzial die verschiedenen ‚modes‘ haben, welcher Logik (vgl. ‚modal
logic‘ – ibid.) sie folgen und über welche semantisch-pragmatische Reichweite (vgl.
‚reach of mode‘  – Kress 2014, 63 f.) sie verfügen, ist bisher ungenügend beantwor-
tet worden. Forceville (2014, 51) sieht deren Klärung aber als wesentlich, wenn er
schreibt:

If the study of multimodal discourse is to develop into a respectable scholarly humanities disci-
pline, each of the modes/modalities partaking in multimodal discourse must also be theorized
separately. The question is thus first of all what, and how, a mode can communicate on its own.

Van Leeuwen (2005a, 73) erkennt daher folgendes Desiderat:


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   5

Comparisons between various ‘grammars’ are especially needed. We need to know more about
the extent to which different modes can do the same kind of communicative work and about the
extent to which they differ in their semiotic potential […].

Ich will in diesem Beitrag einen solchen direkten Vergleich der Zeichenmodalitäten
Sprache, Bild, Musik und Geräusch anstellen und aufzeigen, welche semiotischen
Basiskategorien und -modelle dazu nützlich sind.
Der dritte Anknüpfungspunkt betrifft die oft aber nie systematisch angestell-
ten Projektionen textlinguistischer Konzepte (wie z. B. Genre  – vgl. van Leeuwen
2005a/b; Bateman 2008 oder Kohäsion – vgl. Royce 1998 und Kohärenz – vgl. Stöckl
2012a, 251 ff.) auf multimodale Kommunikate. Die Texthaftigkeit multimodaler Arte-
fakte steht außer Frage (wie auch die von Bildern und Musik für sich genommen),
jedoch muss es darauf ankommen, multimodale Textualität zu fassen, indem man ein
systematisches Mehr-Ebenen-Modell des multimodalen Text entwickelt, das wich-
tige Konzepte zueinander in Beziehung setzt. Ein solches Modell will ich in diesem
Beitrag auch grob skizzieren, wobei das Augenmerk auf der inhärenten Typen- und
Sortenzugehörigkeit multimodaler Texte liegt.
Die dargelegten Anknüpfungspunkte und Desiderate lassen sich in zwei Thesen
bündeln, die diesen Beitrag leiten sollen:
1. Grundlegende semiotische Konzepte und Modelle sind hilfreich, um die prototy-
pischen Merkmale der verschiedenen Zeichenmodalitäten aufzuzeigen. Ein sys-
tematischer ‚mode‘-Vergleich stellt ihre kategorialen Unterschiede in der Funkti-
onsweise und im Ausdruckspotenzial heraus und verdeutlicht die wesenseigene
Spezifik jeder einzelnen Zeichenmodalität. Die semiotische Gegenüberstellung
basaler Modalitäten führt zwangsläufig auch zu einer Bestimmung des Begriffs
der Zeichenmodalität. Solche konzeptuellen Überlegungen begründen unser
Wissen über die tatsächlichen Funktionsweisen von Modalitäten im multimoda-
len Text; insbesondere leiten sie unser Verständnis der zahlreichen ‚mode‘-Über-
lappungen und -integrationen.
2. Die Kombination mehrerer Zeichenmodalitäten ist ein text-konstitutives Handeln,
bei dem die einzelnen ‚modes‘ formal-strukturell und semantisch-funktional in
den Gesamttext eingebunden werden. Jeder multimodale Text realisiert eine
Textsorte (z. B. Infografik, Zeitungsnachricht, Werbeanzeige), die sich in einem
Mehr-Ebenen-Modell beschreiben lässt. Dabei sind textlinguistische Basiskon-
zepte wie Kohäsion, Kohärenz oder Textstruktur (thematisch, Handlungsstruk-
tur) etc. hilfreich, um multimodale Integration im Gesamttext zu erklären. Von
zentraler Bedeutung ist die Frage, wie stark typisiert die einzelnen Modalitäten
verwendet werden und wodurch sich die multimodalen Texturen der einzelnen
Textsorten unterscheiden. In anderen Worten: Gibt es z. B. ein typisches Werbe-,
Zeitungs- oder infographisches Bild? Und inwiefern ist die multimodale Kohärenz
einer Infografik distinkt?


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2 Ein Konzept von ‚Zeichenmodalität‘


Prinzipiell ruft die Idee einer Synthese mehrerer Zeichenmodalitäten im kommunika-
tiven Gebrauch die typologisierende Frage auf den Plan: Welche Modalitäten gibt es
und wie kann man sie voneinander abgrenzen? Dass für die Beschreibung multimoda-
ler Texte generell eine semiotische Perspektive zielführend ist, habe ich a. a. O. (Stöckl
2014) bereits gezeigt. Hier möchte ich einen direkten und systematischen Vergleich
zentraler Zeichenmodalitäten anstellen. Dabei beschränke ich mich auf Sprache, Bild,
Musik und Geräusch, weil sie im Alltagsverständnis der Zeichenverwender zweifels-
frei als basale Modalitäten gelten können und weil deren Kombination eine einfache
aber weithin gültige Typologie multimodaler Texte (Print-Text, Audio-Text, Audiovisu-
eller Text) etabliert (s. dazu Schmitz i. d. B; Stöckl 2012b, 20). Eine solche Engführung
schließt zum einen bestimmte für mediatisierte textuelle Artefakte eher randständige
Modalitäten der Sinneswahrnehmung wie Geruch, Geschmack oder Taktiles aus.
Zum anderen lässt sie solche Zeichenmodalitäten wie Gestik und Mimik, aber auch
Typographie oder Intonation/Stimmgestaltung unberücksichtigt, weil diese in dem
Sinne peripher und kaum autonom sind, dass sie in andere Modalitäten integriert
werden und nur bei der gleichzeitigen Realisierung von Rede, Schrift oder Bild ins
Spiel kommen. Für alle typologischen Fragen gilt, dass „many categories allow for
subdivisions and, second, that they tend to have fuzzy borders“ (Forceville 2014, 52);
Schmitz (i. d. B.) warnt zudem vor „pedantischem Positivismus“.
Bevor die Funktionsweisen zentraler Zeichenmodalitäten miteinander vergli-
chen werden, entwickle ich hier zunächst kurz ein Konzept von Zeichenmodalität (s.
Abb. 1). In erster Linie wird der Begriff in seinem psychologischen Sinn als Zeichentyp
verstanden, der durch die jeweilige Sinnesmodalität oder den Wahrnehmungskanal
begründet ist, in denen die Zeichen prozessiert werden. Auf diesem Verständnis fußt
auch die ursprüngliche Prägung des Begriffs ‚Multimodalität‘ (van Leeuwen 2011,
549). Koch (1971, 219 ff.) schlägt diesbezüglich fünf große Zeichentypen vor: visuell,
auditiv, taktil, olfaktorisch und gustativ (s. auch die Überlegungen von Eco 1977,
174 ff.). Obgleich diese Einteilung valide ist, reduziert sie das Konzept der Zeichen-
modalität, vergröbert stark und erweist sich als nicht trennscharf: So ist gesprochene
Sprache auditiv, geschriebene hingegen visuell – soll man Sprache deshalb als zwei
Modalitäten (Rede und Schrift) auffassen, obwohl ihnen beiden die gleiche Lexik und
Grammatik zugrunde liegt? Oder: Bild und Schrift sind klar getrennte Modalitäten,
rangieren aber beide als visuelle Zeichentypen. Diese Probleme deuten darauf hin,
dass ‚Zeichenmodalität‘ ein breiter gefasstes Konzept ist, das Aspekte der Kodiertheit
und der Medialität von Zeichen einschließt.


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen 

Abb. 1: Ein Konzept von Zeichenmodalität. Eine Synthese mehrerer Zeichenmodalitäten im kommunikativen Gebrauch wirft die Frage nach ihrer Abgrenzbarkeit
und Typologisierung auf. Dieses mehrdimensionale Modell des Konzepts Zeichenmodalität unterscheidet Aspekte der sinnlichen Wahrnehmbarkeit von


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Zeichen (psychologisch), ihrer strukturierten Kodiertheit (semiotisch) und ihrer materiell-technischen Realisierung (medial).

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Aus semiotischer Sicht scheint vor allem die Zugehörigkeit von Zeichen zu einem
Kode oder Zeichensystem der zentrale Aspekt bei der Abgrenzung von Zeichenmo-
dalitäten. Kodiertheit setzt voraus, dass es ein kulturell etabliertes und konventio-
nalisiertes Zeicheninventar gibt, das den Benutzern als Werkzeug für absichtsvolle
Kommunikation und praktisches Handeln dient. Die Zeichenrepertoires sind intern
strukturiert, d. h. sie verfügen über „Zuordnungsvorschriften“ für Zeichenform und
-inhalt sowie über Regeln der Kombinierbarkeit der Zeichen zu größeren Aussageein-
heiten. Interne Strukturiertheit lässt sich mit Blick auf Sprache kurz als ‚Lexiko-
Grammatik‘ etikettieren. Morris (1971, 28 ff.) hat die Idee stark gemacht, dass jedes
semiotische System, jede Zeichenmodalität, in den Dimensionen Syntax („relations
of signs to one another“ – Morris 1971, 28), Semantik („relations of signs to their desi-
gnata“ – Morris 1971, 35), Pragmatik („relation of signs to their interpreters“ – Morris
1971, 43) funktionieren muss. Die Sozialsemiotik betont, dass Zeichenmodalitäten
jeweils über ihnen eigene semiotische Ressourcen verfügen. Unterschiede zwischen
Sprache, Bild, Musik, Geräusch etwa sind also demnach daran festzumachen, wie
sie sich syntaktisch, semantisch und pragmatisch verhalten und welches ihre spe-
zifischen Ressourcen sind (z. B. Sprache: Zeitformensystem der Verben, Satztypen,
Sprechakte vs. Musik: Melodie, Harmonie, Rhythmus, Dynamik etc.).
Es ist eine bekannte Tatsache, dass zentrale Zeichenmodalitäten medial unter-
schiedlich realisiert werden können: Sprache wird gesprochen und geschrieben;
Bilder lassen sich z. B. fotografieren, malen oder collagieren etc.; Musik wird gespielt
oder notiert. Ganz gleich, wie weit oder eng man Mediales fassen will, ob physika-
lisch – als materielle Voraussetzung oder technologisch – als technische Hilfsmittel
zur Kommunikation bzw. auch handlungsbezogen  – als „sozial konstituierte Ver-
fahrensformen“ (Schneider 2008, 246 f.) der Zeichenverarbeitung, mediale Aspekte
haben einen konstitutiven Einfluss auf Struktur und Gebrauch der Zeichenmodali-
täten. Medien ermöglichen überhaupt erst die Wahrnehmung und Kodierung von
Zeichen, und sie hinterlassen Spuren in den Textsorten und kommunikativen Darstel-
lungsformen. Es verwundert daher nicht, dass der Begriff ‚Zeichenmodalität‘ auch
über Mediales definiert worden ist  – etwa, wenn Jewitt/Kress (2003, 1 f.) die „work
of culture in shaping material“ hervorheben, die ‚modes‘ erst erschaffen. Allerdings
plädiert die Sozialsemiotik für eine Trennung von ‚modes‘ und ‚media‘ (s. z. B. Kress/
van Leeuwen 2001, 21 f.). Die germanistische Medien(text)linguistik schlägt mit ‚Kom-
munikationsform‘ (z. B. Gespräch, Zeitung, TV, Radio, Ansichtskarte, Plakat, Waren-
verpackung) ein Konzept vor, in dem alle medial-materiellen, zeitlich-räumlichen
und situativen Aspekte von Kommunikation gefasst und typisiert werden können.
Diese medialen Rahmen der Zeichenverwendung bedingen auch jeweils verfügbare
Zeichenmodalitäten und typische Verknüpfungsmuster (z. B. kombiniert das Radio
Rede, Musik und Geräusch). Holly bezeichnet Kommunikationsformen als „medial
bedingte kulturelle Praktiken“ (Holly 2011, 155) oder auch als „kommunikative Dis-
positive, die sich auf der Basis verfügbarer technischer Möglichkeiten und sozialer
Bedürfnisse allmählich herausbilden“ (Holly 2011, 155). A. a. O. (Klug/Stöckl 2015,


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245) habe ich dafür plädiert, die Begrifflichkeiten wie folgt zu ordnen: Materialien
und Technologien ermöglichen Kommunikationsformen, diese setzen die größe-
ren medialen und situativen Konfigurationen für die Produktion von multimodalen
Texten, die wiederum – je nach Sorte – verschiedene Zeichenmodalitäten in unter-
schiedlichen Verknüpfungen verwenden.
Zusammenfassend lässt sich die mehrdimensionale Natur des Konzepts Zeichen-
modalität erkennen: Jede Zeichenmodalität ist an einen Kanal der Sinneswahrneh-
mung gebunden. Sie muss materiell-medial realisiert werden und in einer raumzeit-
lichen und sozialen Situation verwendet werden. Semiotische Modalitäten verfügen
über eine interne Strukturierung, die Bedeutungen, Kombinationsmöglichkeiten
und Gebrauchsfunktionen ihrer Zeicheninventare regelt. Aus dieser Auffassung lässt
sich der Schluss ziehen, dass bei der Zuordnung von Phänomenen zu modes Vor-
sicht geboten ist. Farbe z. B. scheint eher Bestandteil, d. h. Ressource von Bild oder
Typographie; Film, Comics, Oper, Tanz etc. sind medial bestimmte Kommunikati-
onsformen bzw. ihre multimodalen Textsorten, nicht aber Zeichenmodalitäten. Die
Einteilung in übergeordnete Klassen wie etwa verbale, non-verbale und paraverbale
Zeichen macht Sinn, wirft aber vor allem die alte logozentrische Frage nach der Rolle
der Sprache und nach der Nähe/Ferne anderer Modalitäten zu ihr innerhalb der mul-
timodalen Semiosphäre auf (s. dazu Sebeok 1994, 105 ff.; Eco 1977, 172 ff.)

3 Zentrale Zeichenmodalitäten im semiotischen


Vergleich
Sinn und Zweck des nun anzustellenden Vergleichs ist es, Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zwischen zentralen Zeichenmodalitäten aufzuzeigen, indem einzelne
semiotische Parameter  – wie z. B. Semiotisierungsgrad, Zeichenkomplexion, Refe-
renzherstellung, Kommunikationsfunktionen – herangezogen und überprüft werden.
Der Einfachheit halber werden diese Kriterien in den drei großen Dimensionen Syntax
(Form), Semantik (Inhalt), Pragmatik (Funktion) (s. o.) geordnet (s. Tab. 1). Dabei
gehören Beobachtungen über die Beschaffenheit der Kodes und zeichentypologische
Fragen zu den syntaktischen Aspekten, Aussagen über die Wahrnehmung und die
kognitive Verarbeitung der Zeichenmodalitäten zu ihrer pragmatischen Dimension.
Im Ergebnis steht ein kontrastives Portrait der jeweils modespezifischen Logik, ihrer
Ausdruckspotenziale (und -beschränkungen) sowie der zugrunde liegenden Funkti-
onsweisen.


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3.1 Syntax – Beschaffenheit und interne Struktur

Zuallererst stellt sich die Frage, über welchen Sinneskanal die Zeichen verarbeitet
werden. Während Geräusche rein auditive und Bilder rein visuelle Zeichenphäno-
mene sind, erlauben Sprache und Musik eine duale mediale Realisierung und bedie-
nen daher entweder den auditiven oder visuellen Sinneskanal. Ursprünglich und
wesenseigen sind Sprache und Musik phonischer Natur. Mit Schrift und Notation
stehen Aufschreibsysteme zur Verfügung, die akustische Phänomene visuell kodie-
ren und erfahrbar machen. Diese Phonographien entreißen Sprache und Musik ihrer
zeitlichen Flüchtigkeit; sie ermöglichen und erleichtern das systematische Studium
der Zeichenstrukturen. Obwohl Sprache und Musik sehr verschiedene Modalitäten
sind, weisen sie also in dieser Hinsicht Parallelen auf. Die gemeinsame Motivation
von Schrift und Notation liegt vermutlich in der linearen Syntax der Zeichen von
Sprache und Musik, die eine flexible Rekonstruktion und Weitergabe von Textteilen
bedingt haben mag. Für Bilder und Geräusche gibt es derartige sekundäre mediale
Realisierungen nicht.
Semiotisierung bezeichnet den Prozess, in dem ein Rezipient ein beliebiges mate-
rielles Phänomen als Zeichenkörper anerkennt und ihm einen bestimmten Inhalt
oder Sinn zuschreibt. Damit ist verbunden, dass einzelne Zeichen zu Systemen oder
Ressourcen zugeordnet werden und dementsprechend semiotisches Wissen über die
jeweilige Zeichenmodalität abgerufen wird. Wir sprechen von Graden der Semioti-
sierung, um auszudrücken, dass die Sinnstiftung mit Zeichen kein entweder oder,
sondern ein mehr oder weniger ist. Manche Modalitäten generieren Sinn fast axioma-
tisch, automatisiert; bei anderen schreiben wir Sinn erst nach gründlicher Reflexion
der Zeichen und ihrer Strukturen zu. Geräusche weisen eine niedrige Semiotisierung
auf; wir nutzen sie primär, um unser praktisches Verhalten in den uns umgeben-
den Situationen auszurichten. Die massenmediale Semiotisierung von Geräuschen,
etwa im Film oder Radiotext orientiert sich in starkem Maße an unseren auditiven
Umwelterfahrungen. Musik ist in einem höheren Maße semiotisiert, als kulturelles
Artefakt deuten wir ihre Zeichen im Rahmen eines komplexeren ‚Texts‘, nicht in Ana-
logie zur Wahrnehmung der uns umgebenden Welt, sondern nach system- und gen-
reimmanenten ‚Regeln‘. Ähnliches lässt sich für Bilder behaupten, wenngleich die
Semiotisierung hier in gewissem Maße auf Analogien zwischen Umweltsehen und
Bildbetrachten zurückgreifen kann. Die Sprache schließlich weist eine hohe Stufe der
Semiotisierung auf. Eigens als Mittel zur effizienten Verständigung geschaffen, ver-
stehen wir Sprache immer nur in einer klaren Kommunikationssituation und einem
Ko- und Kontext. Im Unterschied zu Musik, Geräusch und Bild ist die Beschäftigung
mit sprachlich kodierten Informationen total – ihr Sinn kann nur aufgrund der weit-
gehenden Kenntnis des Kodes erschlossen werden. Bei Bildern, Musik und Geräusch
scheint eine nur periphere Zuwendung von Aufmerksamkeit möglich – das Lesen der
Botschaften nach festen Koderegeln stellt eher eine Ausnahme dar und diese Regeln
sind inhärent genre-, situations- und kontextabhängig. Bezüglich des Semiotisie-


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rungsgrads ergibt sich also ein Kontinuum vom niedrig semiotisierten Geräusch über
die im mittleren Maße semiotisierten Modalitäten Bild und Musik bis hin zur hoch
semiotisierten Sprache. Der niedrige Semiotisierungsgrad von Geräuschen erklärt
sich auch aus der Tatsache, dass es sich bei ihnen im Sinne von Eco (1977, 177 f.) um
natürliche und sekundäre Zeichen handelt. Geräusche werden von den Gegenstän-
den unserer Umwelt und im praktischen Alltagshandeln erzeugt ohne kommunika-
tive Absichten zu verfolgen. Erst in sekundärer Weise können sie Funktionen in der
Kommunikation übernehmen; dabei ergeben sich ihre einfachen Bedeutungen erst
aus dem Gesamttext. Musik, Bild (außer natürlichen und Spiegelbildern) und Sprache
hingegen sind vom Menschen geschaffene zeichenhafte Ausdrucksmittel und dienen
primär kommunikativen Zwecken.
Betrachten wir nun die interne Struktur der Modalitäten. Sprache gilt als Zei-
chensystem par excellence, weil sie eine große Menge distinkter Einzelzeichen hat
(Lexik), die vielfältige und systematische Sinnbezüge (Paradigmatik) zueinander her-
stellen und nach syntaktischen Regeln (Grammatik) zu größeren Aussageeinheiten
verknüpft werden (Syntagmatik). Diese Kombination aus geordnetem Lexikon und
expliziter Grammatik macht ganz wesentlich die semantisch-kommunikative Stärke
von Sprache aus. Hinzu kommt, dass Sprache ein doppelt gegliedertes Zeichensystem
ist: lediglich bedeutungsunterscheidende Sprachlaute kombiniert sie auf der ersten
Gliederungsebene zu Morphemen (lexikalisch oder grammatisch) und fügt sie auf der
zweiten Gliederungsebene zu Wörtern unterschiedlicher Komplexität. Dieses semio-
tische Abstraktionsprinzip sorgt dafür, dass man aus einer begrenzten Zahl von Pho-
nemen unendlich viele (lexikalische) Morpheme und Wörter bilden kann.
Über eine solche doppelte Artikulation verfügt das Bild nicht. An die Stelle der
linearen Verkettung von Einzelzeichen tritt in Bildern die quasi simultan verlaufende
Integration visueller Gestalten zu größeren flächig-räumlichen Konfigurationen. Von
distinkten Zeichen kann dabei an sich nicht die Rede sein; Eco (1977, 176) spricht von
„gradated continua“, d. h. Zeichenangebote, bei denen verschiedene materiell wahr-
nehmbare Parameter bedeutungsrelevant werden können. Nöth (2011, 307) meint
daher, Bilder als „wahrnehmungsnahe Zeichen“ (Sachs-Hombach 2003, 73 ff.) haben
eine „iconic syntax“, d. h. die Konfiguration der Bildelemente entspricht der Ordnung
der Dinge in den uns bekannten realen oder fiktiven Welten. Zwei syntaktische Prin-
zipien im Bild sind die meronymische, d. h. auf Teil-Ganzes-Bezügen beruhende
Ordnung von Einzelzeichen und die Konvertierung flächiger Zeichen-Arrangements
in räumliche Vorstellungen. In Anbetracht dieser syntaktischen ‚Schwächen‘ des
Bildkodes spielen Vorwissen, Kontext, Seherfahrungen und inferierende Prozesse
beim Bildverstehen eine vergleichsweise große Rolle.
Musik verfügt über eine ausgeprägte und komplexe Syntax. Zum einen werden
einzelne Töne zu größeren Einheiten, wie Melodien, Themen/Motiven, Sätzen etc.
verknüpft (syntagmatisch), zum anderen verbinden sich paradigmatisch ‚passende‘
Töne zu Akkorden oder Harmonien. Hinzu kommt, dass die so entstehenden Zei-
chenkomplexe z. B. in Rhythmus, Tempo, Dynamik und Instrumentierung ‚flektiert‘,


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d. h. modifiziert werden können. Diese multiplen syntaktischen Dimensionen sind so


zentral für die Funktionsweise der Zeichenmodalität Musik, dass man sie in vielleicht
zu radikaler Sicht als „ein genuin syntaktisches Gebilde“ sieht, „dessen Bedeutung
seine wahrgenommene Syntax ist“ (Faltin 1985, 187). Auch wenn das konstruierende
Spiel mit den Strukturen des Klangmaterials wesentlich für die Funktionsweise von
Musik ist, kann sich ihre Semantisierung nicht auf das rein Syntaktische beschrän-
ken (s. u.). Geräusche schließlich sind einzelne nicht-verbale und nicht-musikalische
Schallereignisse (Wolff 1996, 5 f.). Man kann sie zwar paradigmatisch, d. h. nach the-
matischen Gruppen ordnen (Wolff 1996, 189 ff.), aber – außer rein kumulativ-additiv
in „Geräuschatmosphären“ (Wolff 1996, 206) haben sie ein geringes syntaktisches
Potenzial. Bedenkt man zudem ihre einfache indexikalische Semantik als raum-zeit-
liche Verweise auf Dinge, Zustände oder Handlungen, so scheinen Geräusche syntak-
tisch und semantisch schwach kodiert.
Wir haben gesehen: Die vier Zeichenmodalitäten unterscheiden sich bezüglich
der internen Struktur ihrer Zeicheninventare und deren ‚grammatischen‘ Funktions-
prinzipien deutlich. Diese Unterschiede interpretieren wir als Spezifik, die Auswir-
kungen auf ihre Verwendung in multimodalen Texten hat. Dass man geneigt ist, die
‚modes‘ als stärker oder schwächer einzustufen, hängt primär mit Urteilen über den
Grad ihrer Konventionalität oder Motiviertheit zusammen. Sind die Form-Inhalts-
Zuordnungen der Zeichen willkürlich (arbiträr) und erklärt sich die Funktionsweise
des Kodes nicht aus Umwelterfahrung oder Analogien, so ist die jeweilige Zeichen-
modalität stark konventionell und nicht motiviert. Die vier Modalitäten ordnen sich
auf einer Skala von ‚stark konventionell/kaum motiviert‘ zu ‚schwach konventionell/
stark motiviert‘ wie folgt: Sprache, Musik, Bild, Geräusch. D. h. Sprache und Musik
sind konventionell, weil man ihre komplexe und arbiträre Syntax erlernen muss.
Bilder und Geräusch hingegen verstehen wir in Analogie zum Umweltsehen bzw.
als Anzeichen für die raumzeitliche Präsenz von Objekten und Prozessen; sie sind
schwach konventionell.

3.2 Semantik – Bedeutungsgenerierung

Peirce hat Bedeutung pragmatisch als „Wirkung (effect) des Zeichens im Bewusst-
sein eines Interpreten“ (Nöth 1985, 38) verstanden und drei generelle Wirkungswei-
sen unterschieden. Sie eignen sich, um den prinzipiellen Wirkungsmechanismus
jeder Zeichenmodalität zu beschreiben. Emotionale Bedeutungen wecken unmit-
telbar Gefühle, energetische Bedeutungen bewirken eine Handlung im Sinne einer
„körperlichen oder geistigen Anstrengung des Interpreten“ (Nöth 1985, 38) und logi-
sche Bedeutungen führen zu einer axiomatischen Korrelation von Zeichenform und
-inhalt und zu Veränderungen im Denken und Verhalten. Demnach generiert Musik
vorwiegend emotionale Bedeutungen, weil sie Gefühle des Rezipienten evoziert.
Juslin/Sloboda (2001, 3) meinen dazu: „emotional experience is probably the main


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   13

reason behind most people’s engagement with music“. Sprache neigt insofern zur
logischen Wirkungsweise, als ihre Zeichen automatisch Verknüpfungen von men-
talen Konzepten und Referenzobjekten herstellen. Geräusche wirken hauptsächlich
energetisch; der Rezipient orientiert an ihnen sein praktisches Handeln und bindet
sie über assoziative und kausale Schlüsse an sekundäre Bedeutungen. Bilder werden
sowohl logisch als auch energetisch gedeutet. Der Betrachter erkennt in ihnen dank
kognitiver Invarianten (visuelles Wissen), Seherfahrung und Darstellungskonvention
bestimmte Objekte und Sachverhalte (logisch). Bilder erlauben aber auch assozia-
tive und inferierende gedankliche Operationen, die zu weiteren Deutungen führen
(energetisch). Auch wenn Peirce meint, jedes Zeichen könne im Gebrauch alle drei
Zeichenwirkungen entfalten, gibt es m. E. für jede Zeichenmodalität jeweils einen
dominanten prototypischen Wirkungsmechanismus.
In der Semiotik ist die Idee verbreitet, dass man Zeichenarten auch danach dif-
ferenzieren kann, welche materiell-medialen Eigenschaften des Zeichenkörpers in
welchem Maße für Deutung und Verstehen relevant werden. Goodman (1976) spricht
in diesem Zusammenhang von syntaktischer Fülle und Peirce unterscheidet Quali-,
Sin- und Legizeichen (Nöth 1985, 39). Für Sprache scheint die konkrete Formausprä-
gung (graphisch oder phonetisch) der ‚token‘nebensächlich (abgesehen von paraver-
baler Typographie oder Stimmgestaltung). Wesentlich für die Bedeutungsgenerierung
ist lediglich das Erkennen des ‚types‘, d. h. das Verstehen der gesetzmäßigen Verbin-
dung von Form und Inhalt. In diesem Sinne ist Sprache abstrakt, die Verwender sind
auf wenige, die Bedeutung unterscheidende Formmerkmale fixiert – Sprache gilt als
Set von Legizeichen. Im Falle von Bildern, Musik und Geräuschen kann prinzipiell
die ganze Fülle der individuellen Formeigenschaften und die Materialität der Zeichen
in die Deutung eingehen. Einfach gesagt, spielt für die Sinnstiftung bei diesen Zei-
chenmodalitäten nicht allein eine Rolle, was gezeigt wird oder zu hören ist, sondern
eben auch wesentlich und vordergründig, wie die Objekte visuell (z. B. Farbe) und
auditiv (z. B. Instrumentierung) genau beschaffen sind. Im Unterschied zu Sprache
kann man daher Bilder, Musik und Geräusch auch als Zeichenmodalitäten bezeich-
nen, deren Singularität (Sinzeichen) und Qualität (Qualizeichen) semantisch relevant
ist – sie sind syntaktisch dicht(er) und voll(er).
Am grundlegendsten für die semantische Funktionsweise von Zeichentypen ist
sicherlich ihr „Objektbezug“ (Nöth 1985, 39 f.), d. h. die Art und Weise der Bezug-
nahme von Zeichen auf die zu bezeichnenden Konzepte und Sachverhalte. Danach hat
Peirce Ikone, Indices und Symbole unterschieden (Chandler 2007, 36–38). Auch wenn
es Mischformen gibt, lässt sich jede Zeichenmodalität einem dominanten Objektbe-
zug zuordnen. So gilt Sprache als überwiegend symbolisch, denn hier besteht eine
willkürliche Zuordnung von Zeichen zu Referenzobjekten. Nur ein kleiner Teil des
sprachlichen Repertoires funktioniert ikonisch (Lautmalerei) oder indexikalisch
(deiktische Ausdrücke). Bilder sind typische Ikone: ihre Zeichen ähneln den Objek-
ten, die sie abbilden, im Sinne einer Analogie von Umweltsehen und Bildbetrach-
tung. Manche Bilder erlangen durch häufigen Gebrauch sekundäre symbolische


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14   Hartmut Stöckl

Bedeutungen in bestimmten Kontexten. Musik und Geräusch eint ihr indexikalischer


Charakter. Ihre Zeichen sind relativ unbestimmte Symptome für emotionale Befind-
lichkeiten und Stimmungen (Musik) oder Hinweise auf Objekte, Zustände und Hand-
lungen (Geräusch), die durch Kontiguität oder Kausalität motiviert sind. Musik kann
aber auch ikonisch funktionieren, wenn sie Naturphänomene nachahmt; Geräusche
können symbolische Bedeutungen erwerben (z. B. Glocken für Tod).
Schließlich gilt es, die spezifischen Ausdruckspotenziale der Zeichenmodalitäten
zu vergleichen, d. h. jeweils zu fragen, welche Bedeutungen oder Aussagen sich gut,
schwer oder gar nicht kommunizieren lassen. Die Semantik der Sprache wird dabei
zumeist als beinahe unbeschränkt gesehen. Dies lässt sich einerseits mit der internen
Struktur und den Ressourcen des linguistischen Systems begründen. Hier ist insbe-
sondere an die doppelte Gliederung, an klare grammatische Kategorien (wie Tempus,
Kasus oder Modus) und an das große Inventar distinkter autosemantischer Zeichen,
aber auch an das eindeutige Anzeigen von Sprechakten und deren illokutiver Kraft zu
denken. Andererseits sieht man sprachliche Ausdrucksgewalt darin, dass „not only
every human experience but also every content expressed by means of other semiotic
devices can be translated into the terms of verbal language“ (Eco 1977, 172). Die große
effability (Eco 1977, 172) von Sprache ist aber dennoch nicht total: Obwohl prinzipi-
ell mit willkürlichen Zeichen die ganze Vielfalt realer wie fiktiver Wahrnehmungen
und Denkwelten darstellbar wird, tut sich Sprache z. B. schwerer mit der Schilderung
räumlicher Objektanordnungen und physischer Details wie auch mit der Beschrei-
bung komplexer Sinneswahrnehmungen (Geschmack, Geruch und Klang).
Das Ausdruckspotenzial von Bildern ist zunächst insofern eingeschränkt, als sie
prinzipiell nur Visuelles/Sichtbares darstellen können. Der Merkmalsreichtum der
dargestellten Objekte führt andererseits zu einem Bedeutungsüberschuss; zudem
sorgt die „syntactic indeterminacy“ (Messaris 1997, xff.) für eine Vagheit der Aussagen
in Bildern. Im Vergleich mit Sprache (Stöckl 2004, 94 ff. u. 245 ff.; Nöth 2011, 307 ff.)
treten einige bildliche ‚Schwächen‘ zutage; diese beziehen sich meist auf das Fehlen
entsprechender grammatischer Kategorien. So können Bilder Verneinungen, logische
Verknüpfungen von Sachverhalten, Modalität (Wirklichkeitsbezug und Sprecherein-
stellung), deiktische Verweise oder direkte und explizite Sprechakte (vgl. hierzu die
gegenteiligen Meinungen in Nöth 2011, 309 f. vs. Schmitz 2007) nicht (klar) ausdrü-
cken. Die semantische ‚Stärke‘ von Bildern liegt in ihrem graphischen Darstellungs-
reichtum, der informatives Explorieren wie auch konnotative Bedeutungen und emo-
tionale Anmutungen ermöglicht.
Von einer Semantik der Musik zu reden, ist problematisch, weil ihr die Fähigkeit
zur Darstellung fehlt  – man bescheinigt ihr bestenfalls eine „ephemere denotative
Kraft“ (Karbusicky 1990, 11). „Musik als Zeichensystem in spé“ (Karbusicky 1987, 241)
wird individuell verschieden und in starker Abhängigkeit von Erfahrungen, Einstel-
lungen, Stimmungen wie auch von Wissen über Musikgenres und -kulturen semanti-
siert. Wenn Musik auch nicht – wie Sprache und Bild – denotieren kann, so schreiben
Hörer ihr Sinn zu, indem sie musikalische Strukturen, Themen oder Genres als asso-


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   15

ziative Verweise auf Bewusstseinsinhalte, Orte oder Ereignisse deuten. Als expres-
sive Zeichenmodalität macht Musik Gefühlszustände und seelische Befindlichkeiten
erlebbar. Insgesamt scheint das adäquate Einpassen von Musik in soziale Kontexte
oder Gesamttexte eine der wesentlichen Umgangsweisen mit Musik.
Das semantische Potenzial von Geräuschen ist stark eingeschränkt, weil sie ‚nur‘
auf Objekte, Handlungen oder Zustände verweisen können und weil sie keiner Syntax
unterworfen sind. Geräusche zu ‚verstehen‘, bedeutet den raum-zeitlichen Bezug
zum jeweiligen Referenzobjekt herzustellen und dessen Präsenz zur Kenntnis zu
nehmen. Daher haben Geräusche meist die Funktion, Sachverhalte und Handlungen
zu authentifizieren und sie situativ zu verorten. Ein erweitertes Bedeutungspotenzial
ergibt sich, wenn Geräusche nicht nur indexikalisch-assoziativ (z. B. Ticken für Uhr),
sondern übertragen-symbolisch (z. B. Ticken für Zeit, Schicksal) oder intertextuell-
gattungsspezifisch (z. B. Action-Film-Atmo) verwendet werden. Eine Semantik der
Geräusche lässt sich modellieren, wenn man sie in eine enzyklopädische Ordnung
von Geräuschfamilien bringt, die auf den klanglich-materiellen Eigenschaften oder
den thematischen Verwendungsbereichen der Geräusche basieren. Im Unterschied
zu Sprache, Bild und Musik hat das Geräusch keine kommunikative Autonomie.
Da Geräusche nur in Verbindung mit anderen Zeichenmodalitäten funktionieren
können, hängen deren Gebrauchs- und Wirkungsweisen immer von den Strukturen
des Gesamttexts ab.
Zusammenfassend zeigen sich auf der semantischen Ebene erneut deutliche
modalitätsspezifische Unterschiede. Sie betreffen die Zeichenwirkungen, die Art und
Weise, wie die materiell-medialen Zeichenkörper zur Bedeutungsgenerierung ver-
wendet werden, die Objektbezüge sowie generelle Potenziale und Defizite der Moda-
litäten beim Herstellen von Sinn. Die Unterschiede in der Semantik von Zeichentypen
sind mit den vergröbernden Begriffsdichotomien vage vs. präzise, eindeutig vs. mehr-
deutig und zuverlässig vs. unzuverlässig beschrieben worden (Nöth 1985, 96 u. 54).
Diese stellt man sich jedoch vielleicht besser als gradierte Skalen vor. Musik z. B. kann
als vergleichsweise unzuverlässige Modalität gelten, weil sie zur Denotation nicht
fähig ist. Alle Zeichenmodalitäten können eindeutig oder mehrdeutig sein, allerdings
scheint z. B. das Bild inhärent mehrdeutig(er) als z. B. Sprache. Mehrdeutigkeit ist
gegeben, wenn Zeichen zugleich mehrere Denotate bezeichnen. Vagheit schließlich –
hier ist die Bestimmung des Umfangs der Denotatklasse von Zeichen schwierig – ist
ein generelles und graduierbares Phänomen für alle Modalitäten.

3.3 Pragmatik – Zeichenverarbeitung und kommunikative


Funktion

Die pragmatische Dimension umfasst die Art und Weise der Wahrnehmung und
mentalen Verarbeitung sowie die Gebrauchsfunktionen einer Zeichenmodalität. Hier
zeigen sich wiederum klare Unterschiede auf verschiedenen Ebenen.


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Betrachten wir zunächst die Perzeption und Kognition, so erscheint Sprache auf-
grund ihrer bindenden Linearität als vergleichsweise zeitaufwändige Modalität. Die
abstrakte, willkürliche und wahrnehmungsferne Natur ihrer Zeichen hat zudem zur
Folge, dass weniger Sinneseindrücke für die mentale Verarbeitung und das Behal-
ten zur Verfügung stehen. Damit Laut- oder Buchstabenkombinationen Sinn bekom-
men, bedarf es seitens der Rezipienten einer Umkodierung. Er muss die Zeichen, die
den Objekten seiner Umwelt nicht ähneln, in Anschauung und sensorisches Erleben
transponieren, um ihnen Sinn zu geben. Bilder hingegen verfügen über wahrneh-
mungsnahe Zeichen, die im Unterschied zu Sprache ganzheitlich-simultan wahrge-
nommen werden. Außerdem verfügen Bilder über einen großen visuell-graphischen
Merkmalsreichtum, der die Wahrnehmung befördert und Erinnern begünstigt. Diese
Eigenschaften führen zu einer Überlegenheit von Bildern gegenüber Sprache, die
Schnelligkeit und Effektivität von Verarbeitung und Behalten aber auch die Unmit-
telbarkeit der Wahrnehmungseindrücke betrifft. Für die Perzeption von Musik ist
sowohl die lineare (z. B. Melodien, Motive) als auch die ganzheitliche Dimension
(Akkorde) relevant; dies potenziert das Wahrnehmungserlebnis. Unsere auditive
Wahrnehmung lässt sich im Unterschied zur visuellen nicht ‚ausschalten‘. Daraus
kann man schließen, dass akustische Mittel „noch unterschwelliger und emotionaler
wirken“ und „für die Aufmerksamkeitssteuerung eine stärkere Wirkung als Bilder“
(Holly 2004, 47) haben. Im Vergleich mit den anderen Zeichenmodalitäten scheint
die Wirkungskraft von Musik besonders rasch, intensiv und unmittelbar. Die Zielori-
entierung der Musik auf Bewegung und Gefühl hebt Engel (1990, 55 f.) hervor, wenn
er die perzeptiv-kognitiven Wirkungen von Musik als „rein emotionell sensitiv-phy-
siologisch-motorisch erregte Affekte“ bezeichnet. Geräusche schließlich haben eine
vergleichsweise geringere Chance überhaupt wahrgenommen zu werden, weil der
Mensch meist in komplexen Geräuschkulissen agiert und darauf aus ist, Geräusche
bewusst auszublenden. Dieser unterbewussten Wahrnehmung muss ein hypertro-
phes Sound-Design in Film oder Radio z. B. entgegenwirken. Während die Perzeption
von Geräuschen darin besteht, eine auditive Gestalt aus dem Klangfluss zu isolieren,
erschöpft sich ihr Verstehen auf das Erkennen der jeweiligen Verweisfunktion.
Für die Beschreibung von Kommunikationsfunktionen stehen v. a. Hallidays Meta-
funktionen (Halliday 1978) sowie Bühlers und Jakobsons Sprachfunktionen (Bühler
1934/1990; Jakobson 1960) zur Verfügung. Nach Hallidays metafunctional principle
muss jede Zeichenmodalität drei Grundfunktionen erfüllen: Weltausschnitte und
konzeptuelle Logik repräsentieren (ideational), soziale Bezüge zwischen den Kommu-
nizierenden gestalten (interpersonal) und die Botschaft intern strukturieren (textual).
Bei einem Vergleich ergeben sich aber deutliche Unterschiede: So sind Sprache und
Bild in allen drei Dimensionen pragmatisch funktionsfähig, Musik und Geräusch hin-
gegen nicht. Musik hat zwar ein großes textbildendes Potenzial, taugt aber nicht zur
Darstellung und ist kaum zur Beziehungsgestaltung fähig. Geräusche sind in ihrer
Darstellung auf den raumzeitlichen Verweis zu einem Objekt etc. eingeschränkt; in
der interpersonellen und textuellen Funktion versagen sie fast gänzlich.


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   17

Bei der Anwendung von Bühlers Kommunikationsfunktionen (Darstellung, Aus-


druck, Appell) zeigen sich modalitätstypische Dominanzverhältnisse. Obwohl gene-
rell appell- und ausdrucksfähig liegt die pragmatische Domäne von Sprache und Bild
in der Darstellung (s. o.). Musik hingegen dient primär der expressiven Entäußerung
des Senders (Ausdrucksfunktion) und Geräusche werden im weitesten Sinne als
Appell gedeutet, so sie nicht allein die Präsenz eines Objekts anzeigen (s. o.).
Jakobson fügt den Funktionen Bühlers zwei wichtige hinzu, die metakommuni-
kative und die poetische. Erstere bezeichnet die Fähigkeit von Zeichen, den verwen-
deten Kode zu thematisieren und zu kommentieren. Zur Metakommunikation ist nur
die Sprache fähig. Bilder, Musik und Geräusche können ihre interne Strukturiertheit
nicht reflektieren. Die poetische Kommunikationsfunktion bezieht sich auf die Mög-
lichkeit, die Form einer Botschaft im Verstehen vordergründig zur Geltung kommen
zu lassen. Dieses auch als Ästhetisierung von Kommunikation bekannte Phänomen
(Stöckl 2013, 99 ff.) schließt vor allem das Spiel mit Formen und Strukturen einer
Botschaft ein. Wir hatten bereits argumentiert, dass der visuelle und auditive For-
menreichtum der Gestaltung bei Bild und Musik (bei Geräuschen weniger) eine tra-
gende Rolle für die Sinnstiftung spielt. Daher lässt sich die poetische Funktion als ein
Wesensmerkmal piktorialer und musikalisch-tonbildender Botschaften verstehen.
Natürlich ist Sprache zur poetischen Kommunikation grundsätzlich in der Lage, neigt
aber zumindest im Gros der informativen Gebrauchstextsorten des Alltags weniger
dazu.
Abschließend will ich fragen, zu welchen typischen Kommunikationsaufgaben
sich die vier Zeichenmodalitäten in Gesamttexten eignen und diese nach Möglichkeit
syntaktisch oder semantisch begründen. Sprache dient aufgrund ihrer „great arti-
culatory and combinational flexibility“ (Eco 1977, 172) vor allem dazu, Geschehnisse
und Prozesse in ihrer zeitlichen Abfolge zu schildern (Narration). Ebenso hat Sprach-
liches einen großen Vorteil bei der Erklärung logischer Zusammenhänge (Explika-
tion) und der Konstruktion von Argumentationen. Zum Vorteil gereichen der Sprache
bei all diesen Aufgaben eine flexible und klare Referenz auf Sachverhalte (der/ein
Wein, dieser Wein dort, Rot-/Weißwein, Chardonnay, 2006er Bordeaux etc.), Aussagen
verknüpfende Wortarten (deshalb, weil, aufgrund) sowie die Fähigkeit, die Intention
einer Aussage (erlauben, bitten, versprechen etc.) zu erkennen zu geben.
Bilder als wahrnehmungsnahe visuelle Zeichenkonfigurationen haben ihre
Stärken beim Vor-Augen-Führen von Objekten und ihrer Lage im Raum. Ihr seman-
tischer Überschuss, ihre Mehrdeutigkeit und Offenheit eignen sich zudem für kon-
notationsreiche Botschaften, die, besonders wenn visuelle Schlüsselreize bedient
werden, ein hohes emotionales Aktivierungspotenzial haben. Aufgrund ihrer Eigen-
schaft, visuelle Realität zu simulieren, können manche Bildtypen auch zur Hand-
lungsanleitung verwendet werden.
Musik wird einerseits als eigenständiger Text, andererseits in „dienender Funk-
tion“ (Holly 2004, 49) verwendet. Für sich allein kann sie eine Reihe spezifischer
Funktionen übernehmen, wie z. B. eine sozial-kommunikative  – d. h. Gebrauch in


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bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und zu definierten Anlässen (rituell-magisch,


Feiern, Tanz, Sport etc.) und eine individualpsychologische  – d. h. die persönliche
Befindlichkeit zu regulieren (entspannen, unterhalten, aktivieren etc.) (vgl. dazu
Bullerjahn 2001, 56). Gerade weil Musik semantisch defizitär ist und nichts darstellt,
entlastet sie vom Faktisch-Informativen anderer Zeichenmodalitäten. Musik erbaut
uns, „weil unser Gehör nicht dazu verpflichtet ist, in jeder Tonformel ein ‚Zeichen‘
zu dechiffrieren“ (Karbusicky 1987, 229). In multimodalen Gesamttexten kann Musik
verschiedene Funktionen übernehmen: z. B. den Text strukturieren, eine Grundstim-
mung erzeugen, Personen oder Handlungen charakterisieren u. a. (vgl. Holly 2004,
49 ff.; Stöckl 2007, 195 f.).
Aufgrund ihrer syntaktischen und semantischen Eigenschaften scheinen Geräu-
sche funktional relativ eingeschränkt und sind allein kaum textbildend. Allerdings
verweisen sie effektiv auf Orte, Situationen und Handlungen – auch und gerade bei
Abwesenheit einer bildlichen oder sprachlichen Darstellung. Historisch gesehen
ist die Bedeutung des sound design (Flückiger 2007) gestiegen; der Variationsreich-
tum der klanglich-materiellen Gestalt von Geräuschen hat medientechnisch bedingt
zugenommen und sie haben sich vom Rand in das Zentrum der Semiosphäre bewegt.
Trotz ihrer semiotischen Defizite reichern Geräusche multimodale Gesamttexte (Film,
Radio) mit „Ausdrucks- und Informationswert“ (Flückiger 2007, 142) an, der u. a. darin
besteht, dass sie den Realitätseindruck verstärken, Vorstellungen evozieren, Teil bzw.
Auslöser von Handlungen sind oder Aufmerksamkeit lenken und die Darstellung dra-
matisieren (s. Wolff 1996, 258 ff.; Stöckl 2007, 196 f.).

Tab. 1: Dimensionen und Kriterien zur Differenzierung von Zeichenmodalitäten

SYNTAX SEMANTIK PRAGMATIK

Sinneskanal Zeichenwirkung Wahrnehmung


Semiotisierung Qualität/Singularität Kognition
Interne Struktur Objektbezug Kommunikative Funktion
Ausdruckspotenzial Potenziale/Defizite

3.4 Der Wert semiotischer Vergleiche und Typologien

Mit Hilfe einzelner Vergleichskriterien der Dimensionen Syntax, Semantik und Prag-
matik haben wir Unterschiede der Zeichenmodalitäten Sprache, Bild, Musik und
Geräusch herausgearbeitet (s. Tab. 1). Dabei zeigt sich: Sie folgen einer unterschiedli-
chen internen Logik, haben verschiedene semantische Reichweiten und erlauben je
spezifische kommunikative Funktionen.
Zunächst scheinen die gewählten Kriterien gut zum Vergleich geeignet. Ihre
Anwendung auf andere Zeichenmodalitäten sollte daher problemlos möglich sein.


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   19

Insofern ist mit dem vorgeschlagenen Raster ein systematisches Fundament für die
Beurteilung der semiotischen Potenziale und ‚Grammatiken‘ von modes gelegt. Eine
gewisse Schwäche mag man in der strukturalistischen Vorgehensweise sehen, die
suggeriert, die Kategorien wären trennscharf und distinkt. Wir haben aber gesehen,
dass dies nicht immer der Fall ist: z. B. können Bilder, Musik und Geräusch symbo-
lisch, indexikalisch und ikonisch verwendet werden. Solche Unschärfen deuten auf
die interne Heterogenität der Zeichenmodalitäten, vor allem was ihren Gebrauch
angeht. Diesem Problem bin ich begegnet, indem Redundanzen eingebaut sind (Kri-
terien und Ebenen überlappen teilweise) und die Abstufung von Merkmalen nach
typischen Gebrauchsformen vorgenommen wird.
Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, dass viele der verwendeten Kriterien
primär an der Funktionsweise von Sprache ausgerichtet sind. Sie dient (zwangsläu-
fig) als semiotisches „modelling system“ (Sebeok 1994, 117 ff.), so dass man den hier
angestellten Vergleich als ‚logozentrisch‘ bezeichnen könnte. Ich habe es vermieden,
von Stärken oder Schwächen im Sinne der sprachähnlichen Leistungsfähigkeit einer
Zeichenmodalität zu sprechen und stattdessen jeweils mode-Spezifisches und -Typi-
sches hervorgehoben. Ob und inwiefern es richtig ist, Sprache als semiotisch starkes
„Gravitationszentrum“ (Krämer 2005, 153) oder „Archimedium“ (Jäger 2002, 34) zu
sehen, das kann letztlich nur ein Blick auf die tatsächliche multimodale Praxis in
Gebrauchsdomänen und Textsorten zeigen.
Diesem Beitrag fehlt nun noch die textlinguistische Perspektive. Nach der Erörte-
rung der Spezifik einzelner Zeichenmodalitäten bleibt jetzt zu fragen, wie sie multi-
modale Texte bilden und wie man diese beschreiben kann.

4 Beschreibungsdimensionen des multimodalen


Texts

4.1 Multimodale Textualität

Obwohl es mit Blick auf das Alltagskonzept von Text (d. h. sprachlich und schriftlich
verfasst) kontraintuitiv scheinen mag, Infografiken, TV-/Radiowerbespots, Webseiten
oder Opern als Texte zu bezeichnen, kann die Betrachtung von Multimodalität m. E.
theoretisch sinnvoll nur im Rahmen eines semiotisch erweiterten Textbegriffs erfol-
gen, wie ihn Fix (2001) fordert. Sie schreibt: „Texte müssen als Komplexe von Zeichen
verschiedener Zeichenvorräte betrachtet werden“ (Fix 2001, 118). Dafür spricht eine
Reihe von Gründen: Erstens reklamieren Sprache, Bild und Musik für sich bereits
Textstatus, da sie zentrale Kriterien der Textualität erfüllen; sie sind also zugleich
eigenständige Texte und Textteile in multimodalen Gesamttexten. Zweitens macht
gerade die Verknüpfung der Zeichenmodalitäten das Spezifikum von Multimodalität


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aus – diese Verbundenheit von semiotisch unterschiedlich konstituierten Textteilen


lässt sich nur als kohäsive und kohärente Bezüge zwischen Textelementen deuten.
Drittens schließlich argumentiert Posner (1991, 46), dass Gegenständen dann Text-
status zukommt, wenn sie als Artefakte absichtsvollem kommunikativem Handeln
entspringen und ihnen als kodierten Instrumenten eine kulturell abgesicherte Funk-
tion und Bedeutung zukommt. Ein multimodaler Text ließe sich also als Zusammen-
schluss mehrerer unterschiedlicher Zeichenmodalitäten zu einem kohäsiven und
kohärenten Ganzen definieren, dessen musterhafte Inhalts- und Handlungsstruktur
sowie Verwendungsweisen der Modalitäten typisierten Gebrauchssituationen ent-
springen und bestimmte kommunikative Funktionen erlauben.
Einen textlinguistischen Rahmen zur Behandlung von Multimodalität legt
die noch wichtigere Tatsache nahe, dass Produzenten wie Rezipienten ein klares
Bewusstsein davon benötigen, welchen Typ oder welche Sorte Text sie gestalten bzw.
verstehen. Textbenutzer fällen nämlich vordergründig keine pauschalen Textualitäts-
urteile; vielmehr müssen sie sicher gehen, dass ein multimodaler Text so beschaffen
ist, dass er als Exemplar eines Typs oder einer Sorte erkannt und gedeutet wird. Diese
Idee der Typisiertheit und Musterhaftigkeit von Texten in Abhängigkeit von Situa-
tion/Kontext, Inhalt, Medium oder Funktion liegt neben Texttyp und -sorte (Schu-
bert 2012, 96 ff.) auch den Begriffen Genre, Register und Stil (Biber/Conrad 2009)
zugrunde (s. u.). Dass das Textherstellen wie auch das Textverstehen in essentieller
Weise Typisierungsleistungen voraussetzt und diese ein Grundbedürfnis im Umgang
mit Kommunikationsangeboten darstellen, zeigt sich u. a. auch in den Namen, die wir
(multimodalen) Texten geben – z. B. Live-Ticker (Situation), Expertenrunde (Kontext),
Kochshow (Inhalt), Radio-Interview (Medium), Infografik (Funktion/Modalität).
Zuletzt stellt Kesselheim (2011) die Frage, wie wir die Textsortenzugehörigkeit in der
Rezeption bestimmen und behauptet,

sie wird beim Lesen konstruiert, und zwar dadurch, dass wir bei der Lektüre eine große Band-
breite von Hinweisen auf Textsortenzugehörigkeit auswerten“ (Kesselheim 2011, 362 f.); und
weiter: „Textsorten ergeben sich also aus expliziten Textsortenhinweisen und der musterhaften
Ausprägung anderer Textualitätshinweise (Kesselheim 2011, 364).

Solche Hinweise auf (multimodale) Textsorten beziehen wir prinzipiell aus drei mit-
einander in Beziehung zu setzenden Quellen: den Strukturen und Verwendungswei-
sen der einzelnen Zeichenmodalitäten, der wahrnehmbaren Textoberfläche inklusive
Aspekten der Situation und Materialität sowie dem Erfahrungswissen über Textmus-
ter und -verwendungen (vgl. Kesselheim 2011, 339 f.). Ich plädiere hier dafür, Multi-
modalität nicht als kategoriales, sondern als ein typisiertes Textphänomen zu sehen;
Multimodalität zu verstehen bedeutet multimodale Textsorten/Genres differenzie-
rend wahrzunehmen.


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   21

4.2 Textklassifikation und multimodaler Text

Auffassungen über Kommunikationstypen oder Arten von Texten machen zwei


Grundannahmen. Erstens: Textsorten beruhen auf Wissen über typische Korrelatio-
nen zwischen externen Situationen/Funktionen und internen Texteigenschaften. In
diesem Sinne sind Genres soziokognitive Größen, die uns Orientierung bieten; einer-
seits als Erwartungen in der Rezeption, andererseits als Muster in der Produktion und
Gestaltung. Beides gibt unserem Umgang mit Texten einen organisierenden Rahmen.
Zweitens: Textsorten sind komplexe Phänomene, die auf mehreren Ebenen und mit
Hilfe diverser Kriterien zu beschreiben sind. Diese Poly-Dimensionalität erlaubt auch
eine Gewichtung der verschiedenen Merkmale und hilft, Textsorten als prototypisch
organisierte Kategorien zu charakterisieren (Sandig 2000)  – d. h. mit jeweils typi-
schen und weniger typischen Exemplaren.
Lomborg (2014, 45) sieht Genres (= Textsorten) als „socio-cognitive devices for
sense-making in everyday life“ und streicht drei grundsätzliche Ebenen ihres Funk-
tionierens heraus (Lomborg 2014, 45–48). Aus pragmatischer Sicht bestehen Texts-
orten erstens aus musterhaften Abfolgen von kommunikativen Handlungen. In kog-
nitiver Perspektive erscheinen Textsorten zweitens als musterhafte Konfigurationen
von Wissensbeständen. Drittens sind Textsorten in sozialer Hinsicht semiotische
Instrumente, die stets in Abhängigkeit von Situation bzw. Kontext gestaltet werden.
Hinzu kommt der wichtige Gedanke, dass es trotz aller „normative orientations
within a social situation“ (Lomborg 2014, 46) neben einer prototypischen Umsetzung
des Musters auch starke Variationsgrade, Individualisierungen und Hybridisierun-
gen von Textsorten gibt. Die drei Komponenten Handlungsstruktur, Themenstruktur
und Kontextsensitivität liegen allen Ansätzen zur Textklassifizierung zugrunde, sie
werden aber in den Modellen jeweils verschieden gewichtet.
In der systemisch-funktionalen Linguistik werden unter dem Begriff Genre vor
allem die stages, d. h. die einzelnen kommunikativen Handlungen hervorgehoben,
die in einer Textsorte in je typischer Weise strukturiert sind. Sie dienen einer überge-
ordneten sozialen Aktivität, wie z. B. dem Erklären oder dem Überzeugen, und zeich-
nen sich jeweils durch markante sprachliche Muster aus (vgl. Muntigl 2011, 317). Die
funktionale Linguistik hat auch den Gedanken stark gemacht, dass Kulturen letzt-
lich durch die miteinander in vielfältigen Bezügen stehenden Textsorten, also durch
in Familien, Netzen oder Gruppen organisierte Textsortenrepertoires konstituiert
werden (Martin/Rose 2008, 235 ff.). Ohne einen Einbezug multimodaler Texte sind
diese Repertoires und Kulturen nicht denkbar.
Das Konzept Register betont in neueren Ansätzen (Biber/Conrad 2009, 6–11) den
systematischen Zusammenhang zwischen Aspekten der Situation und den sprachli-
chen Mitteln. Die Gestaltung einer Textsorte resultiert hier funktional aus situativen
Faktoren und diese Sicht muss für multimodale Textsorten auf typische Ressourcen
aller beteiligten Zeichenmodalitäten ausgeweitet werden. Der Register-Perspektive


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22   Hartmut Stöckl

auf Textsorten kommt zugute, dass sie über ein komplexes Bild aller situativen Fakto-
ren verfügt (s. Martin/Rose 2008, 36–47).
An dem Stil-Begriff scheiden sich die Ansichten; klar ist nur, dass Stilmerkmale
auf allen Textbeschreibungsebenen relevant werden können und somit Teil eines Kon-
zepts von Textsorte sind. Während die anglistische Linguistik dazu neigt, Stil als Resul-
tat individueller oder sozialer ästhetischer Vorlieben zu sehen und nicht als direkte
Funktion des situativen Kontexts (Biber/Conrad 2009, 72), tendiert die germanistische
Linguistik eher zu der Auffassung, es gibt Textsortenstile, die dann – im Sinne von
Register (s. o.) – typische Gestaltungsmittel beinhalten. Es spricht m. E. viel dafür, Stile
als Bezeichnungen für Sub-Textsorten (sub-registers/sub-genres) zu reservieren, die
dadurch zustande kommen, dass Textsortenmuster variierend durchgeführt werden.
Anzahl und Art der Stile einer Textsorte bestimmen dann, wie sie intern strukturiert ist;
d. h. ob die betreffende Textsorte über einen klaren Prototyp verfügt und welche peri-
pheren Typen sie hat. Multimodale Stile, etwa für Zeitungsartikel, Werbeanzeigen oder
Infografiken (s. u.) sind u. a. von medialen und sozialen Faktoren bedingt – wie z. B.
Material, Technologien oder Trends, Einstellungen und Präferenzen von Agenturen.

4.3 Multimodale Textsortenanalyse – Ein Modell

Ganz gleich wie man Textsorte fasst, wichtig scheint ein Modell, das konkrete (mul-
timodale) Textsorten auf möglichst vielen Beschreibungsebenen zu charakterisieren
vermag. Das hat sich bewährt und entspricht den oben erläuterten Vorstellungen zur
Textklassifikation. Traditionell (z. B. Heinemann/Heinemann 2002, 144 ff.) kommen
dabei vergröbernd die folgenden Grunddimensionen zum Einsatz: Situation/Kontext,
Inhalt, Handlung (Funktion), Form (Struktur, Gestaltung, Formulierung etc.); diese
können flexibel spezifiziert werden. Für multimodale Textsorten stellt sich nun die
Frage, ob und wie die Parameter adaptiert oder erweitert werden müssen. Muntigl
(2011, 333) argumentiert, dass wir aufgrund der multimodalen Konstruktion von
Genres ein Modell benötigen, das „zeigen kann, wie Genres als multi-modaler Prozess
entstehen“. Van Leeuwen (2005a, 80) meint, „the generic structure of the text is […]
multimodally realised“ und unterscheidet diesbezüglich zwei Grundkonstellationen.
Entweder werden für verschiedene funktionale Handlungsabschnitte (stages) unter-
schiedliche Zeichenmodalitäten gewählt – z. B. kann ein Online-Nachrichtentext das
Authentifizieren einer berichteten Tatsache mit einem Bild oder Videoclip bewerkstel-
ligen (statt mittels eines sprachlichen Zitats). Hier entsteht eine Textstruktur, in der
sich die modes abwechseln. Oder: ein funktionaler Abschnitt kann durch eine gezielte
Kombination von modes realisiert werden – z. B. konstruieren moderne Werbeanzei-
gen ihre Argumentation nicht rein sprachlich, sondern verbal-visuell. Hier besteht die
Textstruktur aus einer Abfolge semiotisch gemischter stages. Insgesamt kann man m. E.
eher von einer integrativen Mischung der Zeichenmodalitäten in multimodalen Text-
strukturen ausgehen, so dass „these different modes fuse (Hervorhebung im Original)


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in the realisation, rather than that they have distinct functional roles to play“ (van
Leeuwen 2005a, 80). In jedem Falle muss es darauf ankommen, das Zusammenspiel
aller beteiligten Zeichenmodalitäten in der Struktur und Gestaltung des multimodalen
Texts als Funktion von typischen Kontext- und Situationsfaktoren beschreiben und so
zur Charakterisierung einer spezifischen multimodalen Textsorte gelangen zu können.
Auf diesen Grundüberlegungen aufbauend, will ich im Folgenden ein kompaktes
heuristisches Modell zur Analyse multimodaler Textsorten vorschlagen und illustrie-
ren (s. Abb. 2). Dabei nutze ich allgemein akzeptierte Kriterien bzw. Ebenen der
Beschreibung (Kesselheim 2011) und adaptiere sie für die Bedingungen multimodaler
Textualität.
1. Gliederung/Abgrenzung: Texte signalisieren durch diverse Mittel ihre interne
Gliederung in größere oder kleinere Textteile. So lassen textgraphische oder
-rhythmische Ressourcen eine Binnenstruktur entstehen, die dem Rezipienten
in der Wahrnehmung als sortentypische multimodale Gestalt oder Konfiguration
bewusst wird und die Grundlage für die Ordnung von Handlungen und Themen
schafft. Aber auch nach außen markieren Texte ihre Grenzen gegenüber benach-
barten Kommunikationsangeboten in Textsortennetzen, Sendungsstrukturen
oder Programmflüssen – etwa durch Linien, Rahmen, Texturwechsel, akustische
Signale oder Pausen etc.
2. Handlungsstruktur: Wenn es stimmt, dass Textsorten vor allem durch bestimmte
Abfolgen oder Anordnungen von funktionalen Handlungsabschnitten gekenn-
zeichnet sind, so muss eine multimodale Analyse bestimmen, wie sich die Zei-
chenmodalitäten auf diese ‚stages‘ verteilen. Oder anders: Die pragmatischen
Leistungen der einzelnen ‚modes‘ und deren Gewicht und Status für das überge-
ordnete Handlungsziel (z. B. Erklären, Instruieren) sind zu ermitteln. Dabei stellt
sich die theoretisch noch ungeklärte Frage, ob alle Zeichenmodalitäten über-
haupt kommunikative Handlungen im Sinne von Sprechakten ausführen können
(s. dazu z. B. van Leeuwen 2005b, 122).
3. Themenstruktur: Unter dem Aspekt ihrer Repräsentationsfunktion sind Texte
Konfigurationen von Teilthemen, die in einer größeren Struktur entfaltet und
geordnet werden. Für multimodale Texte soll untersucht werden, welche Teilthe-
men die einzelnen Zeichenmodalitäten zum Gesamttext beitragen und wie sie in
der Kombination der Zeichentypen strukturiert werden. Hier ist nach den Korefe-
renzen von Textelementen über die Grenzen von ‚modes‘ und deren Organisation
in Wissensrahmen zu fragen.
4. Multimodale Verknüpfung: Im Kern einer multimodalen Textsortenanalyse muss
die Frage stehen, wie die beteiligten Zeichenmodalitäten verknüpft sind. Darauf
geben Themen- und Handlungsstruktur nur zum Teil eine Antwort. Der genaue
Blick auf die Bezüge zwischen den Modalitäten erhellt, welche Elemente sich in
welcher Weise kohäsiv oder kohärent zueinander verhalten und welche pragma-
tischen oder rhetorischen Funktionen die Modalitäten in wechselseitiger Bezo-
genheit füreinander übernehmen.


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24   Hartmut Stöckl

Abb. 2: Multimodale Textsortenanalyse. Dieses Modell der multimodalen Textanalyse nutzt tradierte
linguistische Beschreibungskriterien wie z. B. Kontext/Situation, Inhalt, Funktion, Form/Struktur
und adaptiert sie für die Untersuchung multimodaler Textualität. Die Infografik demonstriert die
Analyseebenen bzw. -schritte des Modells (s. 1–5) anhand der Werbeanzeige Volkswagen Front
Assist. It knows what’s ahead (s. Abb. 4) und illustriert deren Ergebnisse.


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   25

5. Intertextualität: Wie ein Text intern strukturiert und multimodal verfasst ist,
hängt auch von seinen Bezügen zu benachbarten Zeichenangeboten ab. Hier ist
darauf zu schauen, welche expliziten Verweise auf Nachbartexte vorkommen und
welche gestalterischen Ähnlichkeiten zwischen dem aktuellen und verwandten
Texten es gibt.

Man mag die Kriterien anders einteilen oder weitere hinzunehmen – aber mit diesem
Grundraster haben wir m. E. die wesentlichen Elemente eines multimodalen Texts-
ortenmodells beschrieben. Zu bedenken bleibt dabei, dass die einzelnen Beschrei-
bungsebenen nur in der Analyse zu trennen, in den Prozessen des Textherstellens und
-verstehens aber ineinander verwoben sind. Wichtig ist auch, dass diese textinternen
Charakteristika sortenbildend gestaltet werden, indem sie jeweils auf die situativen
Faktoren zugeschnitten werden. Unter diesen text-externen Charakteristika kommt
der Textfunktion, d. h. dem kommunikativen Zweck der Sorte das größte Gewicht zu.
Alle Situationsfaktoren sind in dem übergeordneten Begriff der Kommunikations-
form aufgehoben (s. Kap. 2).

4.4 Empirische textsortenkontrastierende
Multimodalitätsanalyse

Im Folgenden sollen drei multimodale Textsorten der Kommunikationsform


Zeitung/Zeitschrift (Print) – Nachricht (Abb. 3), Werbeanzeige (Abb. 4) und Infogra-
fik (Abb. 5) – mit Hilfe des vorgestellten Modells analysiert werden. Das Ziel besteht
darin, die Eignung der Kriterien zu überprüfen und zu zeigen, wo genau die Unter-
schiede zwischen den multimodalen Textsorten liegen und wie sie in der Konstitution
der Texte zustande kommen. Insbesondere ist es interessant, die durch die einheit-
liche Kommunikationsform bedingten Gemeinsamkeiten gegen die sortenbedingten
Unterschiede abzuwägen.
Die drei Textsorten zeigen eine je eigene multimodale Gliederung: Die Nachricht
(s. Abb. 3) besteht aus Überschrift, Textkörper, Bild und Bildunterschrift. Die Anzeige
(s. Abb. 4) gliedert sich in die (vier) Bilder, die Schriftzeile und das Logo. Die Infogra-
fik (s. Abb. 5) ist in Textkörper, Bild, Namen-/Zahlen-Etiketten und weißes Schrift-
band geteilt. Die Textteile der multimodalen Gestalt werden durch verschiedene text-
graphische Mittel signalisiert, wie z. B. Schriftstil und -größe, Linien/Rahmen sowie
Form und Farbe, und durch Positionierung konfiguriert. Diese Ressourcen gibt die
Kommunikationsform vor, sie werden aber so verwendet, dass (wieder)erkennbare
Textformen entstehen. Die Abgrenzung der Texte gegenüber benachbarten Kommu-
nikationsangeboten ist durch Texturunterschiede der Flächen bzw. durch Abstände
und Rahmen gegeben. Für die Nachricht scheint typisch, dass trotz Abgrenzung auch
Bezüge zu angrenzenden Texten ermöglicht werden; die bebilderte Hauptnachricht


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stellt einen graphischen Konnex mit dem thematisch verwandten, rechts stehenden
Kommentar her.

Abb. 3: Hollande und Sarkozy in der Stichwahl (Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ 23.04.2012,
Titelseite/Ausschnitt)

Die textgraphische Konturierung einer sortentypischen Gestalt bildet die Basis für die
Etablierung von Handlungs- und Themenstruktur. In der Nachricht (s. Abb. 3) kündigt
die Überschrift den Inhalt an (Wahl in FR), der Textkörper berichtet die Details, das
Bild führt einen Akteur vor Augen und die Bildunterschrift nimmt eine Bewertung vor
und ergänzt Details. Die Anzeige (s. Abb. 4) beinhaltet drei funktionale Abschnitte:
die vier Bilder präsentieren Tarot-Karten, die Schriftzeile beschreibt und bewertet ein
Merkmal des Autos und der Slogan fasst verallgemeinernd zusammen und schließt
den Text ab. Für die Infografik (s. Abb. 5) ergeben sich die folgenden Teilhandlungen:
der Textkörper stellt Fragen (Mordrisiko, Mordraten), das Bild zeigt einen Mord, die
Namen-/Zahlen-Etiketten beantworten die Fragen, indem sie nennen und quantifi-
zieren, das weiße Schriftband gibt Quellen und Autoren an. Gemeinsam ist den mul-
timodalen Textsorten also, dass sie die einzelnen Handlungen (stages) klar auf die
Modalitäten verteilen und dass Sprache dabei eine zentrale Stellung einnimmt, wenn
ihr Status auch anteilsmäßig verschieden ist (am geringsten in der Anzeige). Unter-
schiedlich fällt aber die Beziehung der modes zueinander aus (s. u.). Dies lässt den
Schluss zu, dass multimodale Textsorten eine jeweils spezifische Matrix funktionaler
Abschnitte haben und diese in je eigener, sorten-typischer Weise auf die Modalitäten
verteilen.
Gleiches lässt sich für die Themenstruktur sagen. Eine narrative Matrix in der
Nachricht (s. Abb. 3) beinhaltet das Hauptereignis (Überschrift) und seine Details


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   27

(Textkörper, Bild, Bildunterschrift); dabei wählt das Bild den Hauptakteur und bewer-
tet ihn in der Bildunterschrift. So folgt die multimodale Themenentfaltung einer
Ganzes-Teil-Struktur. Die Themenstruktur der Anzeige (s. Abb. 4) beruht auf einer
argumentativen Matrix, indem sie zwei scheinbar inkompatible Themen (Tarot-Spiel
und Kfz-Sicherheitssystem) verbindet und durch das Logo auf die Marke VW bezieht.
Hier muss Multimodalität für den Vergleich der Themen sorgen und ihren logischen
Konnex herstellen. Die Infografik (s. Abb. 5) gehorcht einer explikativen Matrix; in ihr
erklären Bild und Namen-/Zahlen-Etiketten das Thema Gewaltverbrechen, indem sie
Quantitäten lokalisieren. Multimodalität gewährleistet hier Übersichtlichkeit und das
selektive Explorieren der Daten.

Abb. 4: Volkswagen Front Assist. It knows what’s ahead. VW, DDB London UK,
(Lürzer’s Archiv 4/2012, 26, 4.1235)

Die Verknüpfung der Zeichenmodalitäten lässt sich als eine spezifische Form von
Kohäsion und Kohärenz verstehen, bei der Form- und Bedeutungszusammenhänge
sowie Sinnkontinuitäten zwischen semiotisch unterschiedlich konstituierten Texttei-
len hergestellt werden. Die Konnektivität und Vernetzung von Sprache, Bild, Text-
graphischem und Musik/Geräusch folgt dem generellen Prinzip der intersemiotischen
Komplementarität (Royce 1998), nach dem sich die einzelnen modes gegenseitig
ergänzen und zur Sinnstiftung wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Auch
bedeutet die Annahme einer multimodalen oder intersemiotischen Kohäsion (Stöckl


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2012a, 251 ff.), dass es in der Struktur der Texte „Kontaktstellen“ (Stöckl 1997, 143) oder
„edit points“ (van Leeuwen 2005b, 184) gibt, an denen sich Zeichen unterschiedlicher
Modalitäten (z. B. Wörter oder Bildelemente etc.) explizit oder implizit aufeinander
beziehen und so eine Junktion (Wetzchewald 2012, 233–238) oder ein cohesive tie (Hal-
liday/Hasan 1976) entsteht. Folgt man der textlinguistischen Theorie, so lassen sich
zumindest drei große Typen multimodaler Textkonnektivität unterscheiden und als
analytische Instrumente verwenden.
Lexikalische Kohäsion (s. Schubert 2012, 46 ff.) stellt Beziehungen zwischen
eigenständig bedeutungstragenden Zeichen her, d. h. z. B. zwischen Lexemen, dar-
stellenden Bildelementen, verweisenden Geräuschen und symbolischer Musik. Hier
können Elemente wiederholt bzw. paraphrasiert werden, zueinander in intersemi-
otic sense-relations stehen (wie z. B. Antonymie, Hyperonymie oder Meronymie) und
als Kollokationen (im Sinne von Halliday/Hasan 1976) oder „lexical sets“ (Schubert
2012, 54) in assoziativen Feldern oder Sachgruppen verknüpft sein. Grammatische
Kohäsion (s. Schubert 2012, 32 ff.) ist stärker in der spezifischen Funktionsweise von
Sprache verankert, lässt sich aber auch auf intermodale Konnektivität projizieren.
Hierzu gehören alle Zeichen, die auf andere Textelemente verweisen können, wie
z. B. Demonstrativ- und Personalpronomina, elliptische Strukturen, Parallelismen
und Konjunktionen. ‚Grammatisch‘ kohäsiv wirken aber auch solche textgraphisch-
bildlichen Mittel wie Pfeile, Linien, Balken, Rahmen, Farben und alles, was für einen
formalen Zusammenhalt der Modalitäten sorgt.
Kohärenz schließlich wird vom Rezipienten als Sinnkontinuität eines Textes durch
aktives Interpretieren und Inferieren unter bestimmten Wissensvoraussetzungen und
Kontextannahmen hergestellt (Schubert 2012, 65). Insofern ist sie formal nicht direkt
repräsentiert, wird aber insbesondere durch Mittel der lexikalischen Kohäsion sig-
nalisiert. Kohärenz kann im multimodalen Text zum einen als logisch-semantische
Relationen zwischen Propositionen, d. h. sogenannte relational propositions (Mann/
Thompson 1986) oder discourse relations (Renkema 2004, 108 ff.) modelliert werden.
So z. B. kann ein Bild die logische Folge einer sprachlich ausgedrückten Ursache
sein. In ähnlicher Weise hat man versucht, rhetorische Figuren (z. B. Metapher) als
mentale Operationen zwischen Aussagen in verschiedenen Zeichenmodalitäten zu
beschreiben (s. Gaede 1981; Bonsiepe 1965/1996). Zum anderen lässt sich Kohären-
zaufbau dadurch zeigen, dass einzelne Elemente verschiedener Zeichenmodalitäten
in bestehende Wissensrahmen und mentale Skripte (frames/scripts) passen, die so
multimodal präsentierte Inhalte integrieren. Im Folgenden will ich – aufbauend auf
den erörterten Theorien von Kohäsion/Kohärenz – illustrieren, wie multimodale Ver-
knüpfungen in den drei Textsortenbeispielen funktionieren.


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Abb. 5: Murder International!, GOOD Worldwide Inc. & Chris Korbey, USA 2009
(www.good.is/infographics, s. Korpus in Stöckl 2012c)

In der Nachricht (s. Abb. 3) entsteht grammatische Kohäsion in erster Linie durch das
Personalpronomen ihn in der Bildunterschrift, das zugleich auf das zentrale Bildele-
ment wie auch auf den Namen Hollande in Über- und Unterschrift rekurriert. Die Linie
unterhalb von Nachricht und Bild ‚unterstreicht‘ die formale Zusammengehörigkeit.
Ein lexikalischer Konnex kommt in zweifacher Weise zustande: Die bewertende For-
mulierung Alle Blicke sind auf ihn gerichtet wird im Foto bildlich paraphrasiert; dabei
stehen ‚Blick‘ und ‚Kameras‘ in metonymischem Sinnbezug. Zudem liefert die Bildun-
terschrift Lexeme, die im Bild nicht erfahrbare Informationen geben (Sonntag, nach
der Stimmabgabe = Zeit, in Tulle in Zentralfrankreich = Ort) und in das vom Thema
vorgegebene und im Text elaborierte Begriffs-Set Wahl passen. Schließlich legen
diese inhaltlichen Bezüge eine relationale Proposition des ‚Background‘ nahe, d. h.
die Bildunterschrift enthält Hintergrundinformationen zum im Bild Dargestellten und
kontextualisiert es so. Rhetorisch fällt die bedeutungsspielerische Literalisierung des
metaphorischen Ausdrucks Alle Blicke sind auf ihn gerichtet im Bild auf. Vielleicht
am stärksten für multimodale Kohärenz sorgt das Bildmotiv, das einen Hauptakteur
im dem Text zugrunde liegenden Skript Präsidentenwahl zeigt. Rezipienten verfügen
diesbezüglich über stereotypes Wissen und deuten die Stimmabgabe des Favoriten
als herausgehobenes Ereignis in der Narration der Nachricht.
Die Werbeanzeige (s. Abb. 4) erhält grammatische Kohäsion mittels des Relativ-
pronomens what, das auf die Bildinhalte hinweist. Formal werden Schrift und Bild


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nur dadurch in Beziehung gebracht, dass sie auf dem gleichen texturierten Unter-
grund montiert sind. Lexikalische Kohäsion ist signalisiert, indem die vier Kartenbe-
schriftungen (learner driver, old lady, courier, van man) Kohyponyme zum Oberbegriff
‚Personen (im Straßenverkehr)‘ bilden und damit die vier Einzelbilder konzeptuell
zu einer Sachgruppe bündeln und auf what rekurrieren lassen. Das Verstehen der
Anzeige beruht auf zwei Inferenzen: Erstens, die dargestellten Personen sind die
Objekte, die das Front Assist beispielsweise erkennt. Zweitens, der Text öffnet mit
Bild(ern) und Sprache zwei an sich zusammenhangslose Wissensrahmen (Tarot-Kar-
ten = Wahrsagen, Front Assist = Sicherheitssystem), die bei näherer Überlegung in
einen antonymischen Sinnbezug (Ungewissheit vs. Gewissheit) zu setzen sind. Diese
Frame-Antithese legt den argumentativen Schluss nahe, dass man sich auf Front
Assist verlassen kann, weil es Gefahren nicht wahrsagt, sondern erkennt. Die relati-
onale Proposition, die hier zustande kommt, ist die der Elaboration; die Bilder geben
illustrative Beispiele.
In der Infografik (s. Abb. 5) sorgen die Interrogativpronomina where (in the world)
und which (countries) für grammatische Kohäsion, da die im Bild ‚aufgestellten‘
Schilder Ländernamen und Zahlen beinhalten und somit die Fragen beantworten.
Der Bildbegleittext und die Etiketten haben die gleiche graphische Form, zudem kor-
relieren lowest und highest mit den Farben hellblau und rot sowie Zahlen mit Schil-
dergrößen – auch dadurch entsteht formale Kohäsion. In lexikalischer Hinsicht zeigt
der Text multimodale Kohäsion durch ausgedehnte hyponymische Sinnbezüge und
lexikalische Felder (countries – USA, Malta, Ireland etc.; homicide rates/murders per
100.000 people – 0.7, 45.7 etc.). Intermodale Kohärenz ergibt sich hier dadurch leicht,
dass ein Wissensrahmen (Mordratenverteilung) sprachlich wie bildlich aktiviert und
dann konsequent durch Daten (Orte und Zahlen) gefüllt wird. Der Text folgt dem rhe-
torischen Grundmuster der Frage-Antwort, das sich auf die Modalitäten verteilt. Das
Hintergrundbild kann mit Blick auf den Begleittext als Restatement (being stabbed by
a murderer), die Schilder als lokalisierende und quantifizierende Elaboration verstan-
den werden.
Die drei multimodalen Textsorten unterscheiden sich auch in ihrer Intertextu-
alität. Die Nachricht verweist explizit (Fortsetzung Seite 2, Vorteil Hollande) auf die
benachbarten Texte Bericht und Kommentar, mit denen sie ein thematisches Texts-
ortennetz bildet. Die Werbeanzeige beinhaltet keine expliziten Intertextualitätshin-
weise. Das Markenlogo VW und der Begriff Front Assist können aber als implizite
Verweise auf andere Textwelten (Markenkommunikation, technische Dokumenta-
tion, Technikjournalismus) gedeutet werden. Die Infografik zeichnet wiederum ein
expliziter Intertextualitätsverweis aus, in diesem Falle auf die verwendeten Quellen
(Sources), die für ihre Qualität und Aussagekraft wichtig sind.


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Multimodalität – Semiotische und textlinguistische Grundlagen   31

5 Fazit und Ausblick


Abschließend will ich zusammenfassen, welche Haupterkenntnisse über Multimoda-
lität die dargelegten theoretischen Reflexionen und praktischen Analysen bringen.
Dabei ist zunächst zu fragen, was sich aus den exemplarischen Textsortenanalysen
lernen lässt. Der Vergleich der drei Beispiele liefert sowohl typische Merkmale mul-
timodaler Texte allgemein als auch Hinweise auf Spezifika der Sorten. Zuallererst
bedingt die Kommunikationsform Zeitung/Zeitschrift eine textgraphische Binnenglie-
derung, die den Raum einer Seite in textsortentypischer Weise zu wiedererkennbaren
Gestalten konfiguriert. Texte audiovisueller Kommunikationsformen z. B. müssen
hingegen den linear-zeitlichen Fluss der Zeichen rhythmisch konturieren und nutzen
dazu Charakter und Tempo der Musik, Sprechgeschwindigkeit und -rhythmus oder
den Schnitt der bewegten Bilder. Die Handlungs- und Themenstruktur der Sorte und
des konkreten Exemplars bestimmt dabei – wie die Beispiele zeigen – die graphische
Gliederung der multimodalen Texte. Für die Strukturierung von Handlungen und
Themen wiederum ist die Textfunktion, d. h. der Texttyp maßgebend. Hier scheint es
jeweils eine entsprechende funktionale Matrix zu geben (d. h. z. B. zugrunde liegende
narrative, argumentative oder explikative Muster), die einen größeren organisieren-
den Rahmen für semantische und pragmatische Strukturierungsentscheidungen
vorgibt.
Bezüglich der Verknüpfung der Zeichenmodalitäten zur Herstellung von intermo-
daler Kohäsion/Kohärenz gibt es die markantesten Unterschiede zwischen den Texts-
orten. So kann v. a. lexikalische Kohäsion unterschiedlich dicht (d. h. mit wenigen
oder vielen Elementen) und mit verschiedenen Mitteln (Paraphrase vs. Sachgruppe vs.
Hyponymie) hergestellt werden. Außerdem resultieren aus den inhaltlichen Bezügen
der Modalitäten unterschiedliche relationale Propositionen (z. B. Background) und
verschiedene rhetorische Muster (z. B. Metapher), die textsortenprägend sein können.
Schließlich scheint die Art und Weise, wie Frames oder Skripts signalisiert und auf-
gebaut werden, ein klares differenzierendes Kriterium für multimodale Textsorten.
Während für Nachricht und Infografik Frame- bzw. Skriptkontinuität typisch sind,
zeigt die Werbeanzeige Divergenz bzw. kalkulierte semantische Gegensätze. Die
drei Beispielanalysen legen aber auch sortenübergreifende Gemeinsamkeiten in der
multimodalen Verknüpfung nahe; diese betreffen die grammatische bzw. formale
Kohäsion. In den sprachlichen Begleittexten gibt es jeweils Ausdrücke (Pronomina),
die auf die Bilder verweisen und so explizite intermodale Bezüge herstellen. Außer-
dem verhelfen verschiedene graphisch-bildliche Mittel (Farbe, Form, Größe, Linien,
Textur) den Modalitäten zu einem formalen Zusammenhang, so dass eine einheitli-
che textgraphische Gestalt entsteht.
Das Konzept der multimodalen Textsorte folgt dem Grundgedanken, dass die
Strukturierung und semiotische Gestaltung einer Sorte durch die jeweils relevan-
ten Aspekte der Situation – vornehmlich durch die Funktion – geprägt und typisiert
werden. Diese typisierende Prägung erfolgt auf zwei großen Ebenen: Erstens bezieht


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32   Hartmut Stöckl

sie sich, wie oben gezeigt, auf die Verknüpfung der Modalitäten bzw. die Herstellung
von intermodaler Kohäsion/Kohärenz, zweitens aber auch auf den Gebrauch der ein-
zelnen Modalitäten für sich. So muss man fragen, wie Sprache in den verschiedenen
Textteilen einer Nachricht, Werbeanzeige oder Infografik typischer Weise gebraucht
wird. Genauso ist zu fragen ist, welche Gestaltungsmerkmale ein Nachrichten-,
Werbe- oder infographisches Bild auszeichnen. Dabei ist prinzipiell von einer Vielfalt
der Muster auszugehen, die um einen Prototypen herum organisiert sind. Für diese
Variabilität der Gestaltung multimodaler Textsorten und ihrer einzelnen Zeichenmo-
dalitäten kann m. E. der Begriff des Stils (d. h. multimodale Textsortenstile) sinnvolle
Anwendung finden.
Blicken wir schließlich auf die Prozesse des Verstehens und der Produktion von
multimodalen Texten, so legen die Ausführungen in den Kapiteln 3 und 4 die Not-
wendigkeit einer Dreifachkompetenz nahe. Rezipienten müssen – um multimodale
Zeichenangebote sinnvoll interpretieren zu können – 1) einzelne Zeichenmodalitäten
in ihren syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimensionen different ver-
stehen (semiotische Kompetenz), 2) formale, inhaltliche und funktionale Zusammen-
hänge zwischen den Zeichenmodalitäten erkennen (integrative Kompetenz) und 3) die
typisierte, musterhafte Verwendung der Modalitäten als einer Textsorte und einem
Stil zugehörig deuten (Textsortenkompetenz).
Für die weitere Entwicklung der Multimodalitätsforschung machen die hier dar-
gelegten Konzepte, Modelle und Reflexionen zwei Paradigmen stark: Einerseits ist
die kontrastive Erforschung multimodaler Textsortenrepertoires geboten, um der
situativ-funktionalen Wandelbarkeit multimodaler Gestaltung und historischen Ver-
änderungen multimodaler Textsortenstile nachgehen zu können. Andererseits benö-
tigen wir mehr Produkt-, Produktions- und -rezeptionsforschung zum multimodalen
Text, damit wir die inhaltlich-funktionalen Besonderheiten der Modalitäten und ihre
daraus resultierenden Gebrauchsweisen noch besser verstehen lernen.

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