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1 Prämissen
2 Text- und diskurssemantische Prinzipien
3 Ebenen text- und diskurssemantischer Analyse
4 Methoden text- und diskurssemantischer Analyse
5 Standortbestimmung und Ausblick
6 Literatur
1 Prämissen
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1.2.1 Kollektives Wissen
Was Menschen in ihren Köpfen haben, mag privat sein. Der Weg, auf dem es hineingekommen ist
[…] ist aber ein sozialer, kulturell vermittelter Weg. Verstehensrelevantes Wissen ist in beschreib-
barer Weise sozial konstituiert und aufgrund gesellschaftlich organisierter, kulturell determi-
nierter Bewegungen und Prinzipien strukturiert (Busse 2008, 78).
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Multimodale Text- und Diskurssemantik 167
Daraus folgt notwendig, dass Frames rekursive Strukturen sind: Frames ,enthalten‘ Frames und
Frames ,sind Teil von‘ übergeordneten Frames (Busse 2012, 819).
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Lässt sich der Charakter des Sprachgebrauchs bereits in seiner ‚Grundform‘ als
multimodal bezeichnen (immerhin können sprachliche Zeichen als parole erst über
die Verknüpfung mit paraverbalen Zeichenmodalitäten wie Intonation bzw. Typo-
graphie/Handschrift als Schrift oder Rede realisiert und erfasst werden, s. Kress/van
Leeuwen 1998; zur Typographie vgl. Spitzmüller i. d. B), so zeigt spätestens ein flüch-
tiger Blick auf bzw. in die zeitgenössischen Massen- bzw. Leitmedien: Gesprochene
und/oder geschriebene Sprache wird hier ganz selbstverständlich auch mit weiteren,
nonverbalen Zeichenressourcen zu komplexen kommunikativen Einheiten, zu multi-
modalen Texten und Diskursen verknüpft. Das gilt sowohl für Texte in Printmedien
(z. B. Zeitschrift, Zeitung, Plakat, Flugblatt) wie auch für solche, die von Audiome-
dien (z. B. Hörfunk), audiovisuellen Medien (AV-Medien: v. a. Film und Fernsehen)
und sogenannten Neuen (elektronischen/digitalen) Medien (E-Medien: z. B. Computer
bzw. Internetdienste wie Webseiten) getragen werden. Bilder (statisch/bewegt), gra-
phische Elemente (z. B. Tabellen, Diagramme) und Ton (Geräusche und/oder Musik),
immer häufiger sogar taktile und/oder olfaktorische Zeichen (s. dazu z. B. die wach-
sende Zahl von Sprache-Bild-Duft- und Sprache-Bild-Tast-Büchern im Bereich der
didaktischen und damit schon von der Anlage her auf Wissenskonstitution abzielen-
den Kinderliteratur, u. a. Rhyner/Mettler 2011 und Cottin u. a. 2011) bilden den mul-
timodalen Kontext, in den Sprache geschriebener und/oder gesprochener Art intra-
und eingebettet wird, mit dem sie zu multimodalen Texten unterschiedlicher Sorten,
transtextuell zu multimodalen Diskursen verknüpft wird (s. zu einem ähnlich weiten
Multimodalitätsbegriff auch Wienen 2011). Sie illustrieren auf eine schlagende Weise:
Die multimodalen Kontexte von Sprache sind fest in unseren kommunikativen Alltag
integriert (z. B. Steinseifer 2005; Meier 2008; Klug 2013; zur historischen Dimension
multimodaler Kommunikation s. Klug 2012). Will man Sprache so beschreiben, wie
sie gebraucht wird, lässt sie sich nicht aus ihren multimodalen Kontexten lösen.
Vor dem Hintergrund der kommunikativen Einbettung von Sprache in den Kontext
multimodaler Zusammenhänge erscheint es also notwendig, etablierte, allein auf der
Basis des sprachlichen Zeichensystems entwickelte Begriffe von Text und Diskurs wei-
terzuentwickeln.
Entsprechend gebrauchsorientierter framesemantischer Prämissen, die diesem
Handbuchartikel zu Grunde liegen, werden Texte und Diskurse im Folgenden als
zweckgerichtete Formen des menschlichen Zeichenhandelns in der Welt verstan-
den, die Zeichennutzern mit ihren Signifikanten sprachlicher, parasprachlicher und/
oder nichtsprachlicher Art ein komplexes Wahrnehmungsangebot im Sinne kogni-
tiver Stimuli bereitstellen. Durch diese können auf Seiten der Rezipienten aus dem
Gedächtnis abrufbare, kultur- bzw. kontextabhängige Wissensbestände (Frames)
aktiviert werden, die sich im Rahmen der Konstitution von Textbedeutung als intra-
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3.1 Kommunikativ-pragmatischer Rahmen
Zunächst spielt bei jeder pragmasemantischen Text- und Diskursanalyse der Einbezug
des kommunikativ-pragmatischen Rahmens eine Rolle. Bei dieser Ebene der Analyse
geht es um die gesellschaftliche, kulturelle Kontextualisierung der zu untersuchenden
Texte. Hier stehen Fragen im Mittelpunkt, wie sie sich in vier Aspekten (quis, ubi,
quando, quibus auxiliis?) der klassischen, siebengliedrigen rhetorischen Suchformel
(Wer? Was? Wann? Wo? Warum? Wodurch/Worüber? Wie?) zusammenfassen lassen:
Wer sind die Akteure, die Produzenten und die (antizipierten) Rezipienten der Texte? Wie lassen
sich ihre Diskurspositionen und -interessen bestimmen?
Wann und wo wurden die Texte produziert/rezipiert, d. h. welche kulturellen, z. B. politischen,
religiösen, gesellschaftlichen Verstehensrahmen bestimmen den zeitlichen und räumlichen Aus-
gangs- und Zielbereich der Texte?
Worüber/Wodurch werden die Texte verbreitet, d. h. welche Medien werden zur Distribution der
Texte genutzt? Welche Rolle nehmen diese Medien innerhalb der zeitgenössischen Kommunika-
tionsstruktur ein, wie lässt sich ihre Relevanz für die öffentliche Meinungsbildung beschreiben?
Wie hoch ist ihre Auflage, wie weit ist der Radius ihrer Verbreitung?
Um ein Beispiel zur Veranschaulichung zu geben: Eine Kampagne wie Liking isn’t
helping (s. Abb. 1) der christlichen Hilfsorganisation Crisis Relief Singapore (CRS) aus
dem Jahr 2013 kann nur vor dem Hintergrund des soziokulturellen Wissens um die
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Abb. 1: CRS, Crisis Relief Singapore, Liking isn’t helping. Be a volunteer. Change a life, Singapur
2013 (Publicis).
Bei der Analyse der Rezipientenstruktur und der damit verbundenen potenziellen Wir-
kungsmacht der CRS-Anzeigen, die auf diese aktuelle kulturelle Praxis Bezug nehmen,
spielt auch die Betrachtung der Medien eine nicht zu vernachlässigende Rolle, über
die die Texte der Kampagne publiziert wurden: Ruft der Anzeigenappell durch eine
Verbreitung via Facebook – weltweit! – v. a. diejenigen zur Reflexion (und Obligation)
auf, die die expressive Praxis des Likens selbst ausüben und sich deshalb in beson-
derer Weise durch den Appell der Anzeige angesprochen fühlen müssten, kommt
der printmedialen Veröffentlichung zwar eine geringere distributive Reichweite zu,
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innerhalb des Verbreitungsradius können jedoch auch über den Facebook-User hin-
ausgehende Rezipientenkreise erreicht und zum Handeln aufgerufen werden. Medien
bestimmen u. a. (mit), von wem der Text gelesen und wie der Text gelesen wird.
3.2 Makroebene
Die zweite Ebene der Analyse stellt die Makroanalyse der Texte dar. Hier geht es um
die Beschreibung der textuellen/diskursiven Binnenstruktur, d. h. der Art und Weise,
WIE (quomodo?) die Zeichen in Text oder Diskurs miteinander in funktionale, seman-
tische oder syntaktische Interaktion treten, wie sie intra- und/oder intermodal mit-
einander verknüpft werden. Man kann sagen: Eine Analyse multimodaler Zusam-
menhänge fragt danach, wie sich die Zeichen gleicher und unterschiedlicher (i.e.
sprachlicher, parasprachlicher und nichtsprachlicher) Modalität zu einem kommu-
nikativen Ganzen, einem multimodalen Text bzw. einer Textsorte oder einem Diskurs
zusammenfügen – und zwar vor dem Hintergrund des semiotischen Potenzials der
einzelnen Zeichenressourcen. Jedes Zeichensystem unterscheidet sich von anderen
und hat seine eigenen semiotischen Stärken und Schwächen (s. z. B. Jewitt/Kress
2003, 14 ff.). Jedem Zeichensystem kommen innerhalb der Kommunikation deshalb
relevante Aufgaben zu, die seinem individuellen semiotischen Potenzial, seinem
„reach of mode“ entsprechen (Kress 2009, 57; s. auch Stöckl i. d. B.).
So werden z. B. (gegenständliche) Bildzeichen u. a. als besonders wahrnehmungs-
nahe Zeichen begriffen (Sachs-Hombach 2003, 73 ff.; s. auch Nöth i. d. B.), denen
ein deutlich höherer Aufmerksamkeitswert zukommt als sprachlichen Zeichen. Sie
wecken schneller das Interesse potentieller Textrezipienten, sie können leichter kon-
zeptualisiert und memoriert werden (s. zum Bildüberlegenheitseffekt z. B. Engelkamp/
Zimmer 1996). Ihnen kommt durch ihre Wahrnehmungsnähe ein Glaubwürdigkeits-
bonus gegenüber der Sprache zu (s. Klug 2015; Holly i. d. B.). Durch ihre Verarbeitung
in der rechten Hirnhemisphäre, in der auch Emotionen verarbeitet werden, haben
sie – ebenso wie musikalische Zeichen (Töne) – die Eigenschaft, Inhalte leichter emo-
tionalisieren zu können als sprachliche Zeichen.
In diesem Sinne evozieren die Bilder in Abb. 1 und Abb. 3 (PETA 2013) beim
Betrachter in größter Unmittelbarkeit ein den Appell des Textes verstärkendes (nega-
tiv-deontisches) Gefühl von Mitleid (Abb. 1) bzw. Ekel (Abb. 3), wenn es ihm einen im
Bürgerkrieg getöteten Jungen in den Armen seiner trauernden Mutter oder die stark
vereiterte Kloake einer Legehenne in Massentierhaltung fotografisch direkt vor Augen
führt, statt ‚einfach nur‘ davon zu berichten.
Auf Grund ihrer genuin räumlichen Komposition eignen sich Bilder besser zur
Darstellung räumlicher Verhältnisse oder äußerer Charakteristika von Objekten.
Sprache ist dem Bild dagegen bei der Darstellung von Zeiträumen oder -verläu-
fen, Negierungen, kausalen oder abstrakten Zusammenhängen überlegen. Während
Sprache sowohl Abstraktes als auch Konkretes, Einzelnes wie Allgemeines darzustel-
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len vermag, ist das Bild auf die Darstellung des Einzelnen (statt der Klasse) festgelegt.
Es kann Abstraktes nur metaphorisch visualisieren. Der Sprache kommt mit Blick
auf die Darstellbarkeit demnach ein klarer Bonus zu (s. dazu z. B. Nöth 2000; Stöckl
i. d. B.). In diesem Sinne kann die Bedeutung des in Abb. 2, einer Anzeige der süd-
afrikanischen Tierschutzorganisation Endagered Wildlife Trust (2009) mit dem Titel
If you don’t pick it up, they will, bildlich dargestellten toten Albatross-Jungtiers erst
durch die sprachliche Proform they über das Einzelexemplar hinaus auf die Art bzw.
die gesamte Klasse der (See)vögel erweitert werden. Umgekehrt kann die Sprache in
Abb. 1 (CRS 2013) durch das Bild konkretisiert werden, indem dieses eine konkrete
Möglichkeit des Helfens (Be a volunteer. Save a life) in Krisengebieten veranschau-
licht: die (Bürger)Kriegshilfe.
Abb. 2: Endagered Wildlife Trust, If you don’t pick it up, they will. Johannesburg, Südafrika 2009
(TBWA/Hunt/Lascaris).
Im Rahmen der Konstitution von Text- und Diskursbedeutung werden die einzelnen
Zeichenmodalitäten (hier: Bild und Sprache) auf vielfältige Weise intra- und intermo-
dal, intra- und intertextuell miteinander verknüpft (s. dazu im Einzelnen z. B. Klug
2012, 160–199; Wetzchewald 2012, 139–170; 233–384). Eine Analyse der Makroebene
fragt deshalb danach, wie sich die Zeichenmodalitäten im Rahmen der Bedeutungs-
bildung wechselseitig transkribieren, wie sie sich bestätigen (und damit fokussieren),
ergänzen oder engführen (zum Konzept der Transkriptivität s. Jäger 2002). Während
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bei der textsemantischen Analyse vor allem intratextuelle Formen der wechselsei-
tigen Semantisierung der Zeichenressourcen in den Blick rücken, stellen für eine
transtextuelle, an diskursiven Zusammenhängen interessierte Untersuchung auch
die intertextuellen Bezugnahmen der Texte aufeinander einen nicht zu vernachläs-
sigenden Gegenstand dar: Sie illustrieren u. a., welche Texte innerhalb des Diskurses
die Rolle von Schlüsseltexten einnehmen oder wie Diskurspositionen verteilt werden.
Im Folgenden werden Muster der bedeutungsbildenden Verknüpfung verschiedener
Zeichenmodalitäten an einigen Beispielen illustriert.
3.2.1 Intratextuelle Verknüpfungen
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Der Satz If you don’t pick it up, they will verweist mit seinen sprachlich-anaphorischen
Proformen they (Agens) und it (Patiens) in Abb. 2 auf das Bild, er kann erst durch
seine visuellen Antezedenzien, dem dargestellten Albatross (Agens-Referenz) und
dem Müll in seinem Magen (Patiens-Referenz) verstanden werden. Die für Seevögel
tödlichen Folgen ihres ‚Müllsammelns‘ können hier ausschließlich auf der Basis
bildlicher Signifikanten erschlossen werden; der daraus resultierende Appell an den
Betrachter, seinen Müll selbst aufzuheben (bzw. bei Abb. 3: keine Eier mehr zu essen),
um derartige Folgen zu vermeiden, wird ausschließlich auf sprachlichem Wege expli-
ziert. Weder sprachliche noch bildliche Teile eines multimodalen Gesamttextes sind
im Rahmen der Bedeutungs(re)konstruktion also verzichtbar. Textzeichen bildlicher
Natur können innerhalb des multimodalen Textes oder Diskurses i. d. R. erst dann
erschlossen werden, wenn sie in ihren sprachlichen Kontext eingebettet werden. Vice
versa lassen sich die sprachlichen Konstituenten zumeist nur vor dem Hintergrund
ihrer multimodalen Kontexte verstehen (zu denen neben dem Bild im multimodalen
statischen Text eigentlich auch die paraverbale Zeichenmodalität der Typographie
gehört, die hier allein der Kürze wegen vernachlässigt wird. Vgl. dazu aber im Detail
Stöckl 2004b, 2014; Spitzmüller 2013 und i. d. B.).
3.2.2 Intertextuelle Verknüpfungen
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Abb. 4: Intra- und intermodale Intertextualität, links oben: PETA, People for the Ethical Treatment of
Animals, Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu, Deutschland 2012
(PETA.de); links unten: Ohrmaus (www.osumaterials.wordpress.com); rechts oben: Jede Wahrheit
braucht einen Mutigen, der sie ausspricht (Quelle: der-weg-info.blogspot.com), rechts unten:
Ausschnitt Mk 5, 1–4 Lutherbibel.
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3.3 Mikroebene
Neben der Frage nach dem Wie (quomodo?) des kommunikativen Zusammenspiels
der Zeichenmodalitäten in Text und Diskurs besteht eine zentrale Aufgabe text- und
diskurssemantischer Analyse schließlich in der Beschreibung des Was (quid?) und
des Warum (cui?), d. h. der konkreten Themen und Funktionen der Texte. Eine Mikro-
analyse fragt danach, welches Wissen sich implizit oder explizit im Text bzw. Diskurs
niederschlägt, welche Bedeutungen, Begriffe, Konzepte, Frames (im Folgenden nur
noch: Frames) in welcher Funktion konstituiert bzw. modifiziert und textuell oder
diskursiv miteinander vernetzt werden. Das bedeutet vor dem Hintergrund einer
framesemantischen Bedeutungskonzeption, wie sie hier vertreten wird: Auf dieser
Analyseebene wird das verstehensrelevante Wissen erfasst, das gegeben sein muss,
um den multimodalen Text, den multimodalen Diskurs erschließen zu können, kurz:
um ihn bedeuten zu können. Die Mikroebene stellt die zentrale Ebene jeder text-
und diskurssemantischen Untersuchung dar (auch wenn sie stets den Einbezug des
kommunikativ-pragmatischen Rahmens und der Makroebene voraussetzt). Ob ihrer
herausgehobenen Position sollen im Folgenden einige Methoden text- und diskursse-
mantischer Mikroanalyse illustriert werden.
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4.1 Toposanalyse
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Argument These/Konklusion
A B
Topos
C
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Multimodale Text- und Diskurssemantik 181
Die Argumente, die aus diesem Topos schöpfen, werden in den konkreten Texten u. a.
folgendermaßen realisiert:
Beispiel 1, Gerechtigkeitsargumentation Abb. 7 links: Wenn man keine Hunde „töten“ würde,
weil man sie als Haustiere des Schutzes würdig erachtet und „liebt“, dann sollte man auch keine
Ferkel „töten“, die Hunden – und das zeigt das Bildargument der visuellen Gegenüberstellung
von Dackel und Ferkel, das dem Betrachter relevante Gemeinsamkeiten der Entitäten explizit
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vor Augen führt – bereits ihren äußerlichen Charakteristika nach ähneln (Größe, Blick, gefleckte
Fellzeichnung etc.).
Beispiel 3, Gerechtigkeitsargumentation Abb. 4 links: Wenn man nicht möchte, dass man selbst
für Forschungszwecke missbraucht wird (indem beispielsweise fremde Körperteile am eigenen
Körper gezüchtet werden), dann sollte man diese Qual auch keinen anderen Lebewesen, z. B.
Mäusen antun.
Abb. 7: Gerechtigkeitsargumente, links: PETA, People for the Ethical Treatment of Animals, Wieso
lieben wir die einen und töten die anderen?, Deutschland 2014 (PETA.de); rechts: Circles of
Compassion: Connecting Issues of Justice, Auschwitz/Factory Farm, 2014 (www.facebook.com/
circlesofcompassion).
4.2 Schlagwörter/-bilder
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den Kontext kaum mehr bedürfen“ (zum Schlagwort Dieckmann 1975, 103). Ist ein
Wort einmal als Schlagwort etabliert, ein Bild(zeichen) zum Schlagbild geworden,
kann es ohne näher erklärt oder erläutert zu werden bei der Rezeption unmittelbar
wirken. Das bedeutet: Wort und Bild evozieren auf Seiten der Rezipienten sofort einen
umfangreichen Wissensrahmen (Frame), der sowohl denotatives Wissen (worum geht
es hier?) wie auch deontisches Wissen umfasst (wie habe ich das, worauf das Wort/
Bildzeichen sich bezieht, zu bewerten? Wie habe ich mich dem Gegenstand gegenüber
zu verhalten?). Deontisches Wissen vereint die Aspekte des Konnotativen und Appel-
lativen miteinander (vgl. Hermanns 1989, 71). Je nach Richtung des Appells (fordert
mich das Wort/Bildzeichen implizit zu einer Befürwortung oder Ablehnung des bezeich-
neten Referenzobjekts auf?) können Schlagwörter/Schlagbilder die Stellung positiv-
deontischer Fahnenwörter/-bilder oder negativ-deontischer Stigmawörter/-bilder ein‑
nehmen (z. B. Hermanns 1994a). Übertragen auf den argumentativen Dreischritt lässt
sich deshalb sagen: In Schlagwort und -bild ist das Enthymem auf ein Ein-Wort/Bild-
Argument verkürzt (vgl. Abb. 5 A). Bei seiner Rezeption wird sowohl die These (Abb. 5
B), d. h. der Befürwortungs- oder Ablehnungsappell, als auch der Argument und
Appell verbindende Topos (Abb. 5 C), das Argumentationsmuster, implizit mitgesagt
bzw. mitgezeigt, mitgemeint und mitverstanden. In diesem Sinne kann ein Wort wie
Neugeborenes im Rahmen der Kommunikation die Funktion eines verkürzten Ein-
Wort-Arguments einnehmen, von dem auf der Basis eines kollektiven Schutztopos
(wenn ein Mensch/Lebewesen neugeboren ist, dann ist sein Leben, das noch vollständig
vor ihm liegt, in besonderer Weise vor dem Tod zu schützen) auf den impliziten Appell
(These) geschlossen werden kann: Es ist zu schützen! Schlagbilder können eine ähn-
liche Funktion einnehmen. So wird in Abbildung 8, einer Anzeige der italienischen
Tierschutzorganisation ENPA aus dem Jahr 2013 (vgl. Abb. 8), das deontische Potenzial
von Schlagbild (Fahnenbild) und Schlagwort (Fahnenwort) argumentativ instrumen-
talisiert. Prinzipiell würde das Schlagbild ‚Schnullerlamm‘ seine deontische Bedeu-
tung hier auch ohne die verstärkende Wiederaufnahme durch das die Bedeutung des
Bildes vom dargestellten Einzelexemplar pluralisch ausweitende Schlagwort neonati
entfalten, denn Schlagbilder sind nicht zwingend auf einen sprachlichen Kontext
angewiesen (das lässt sich in diesem Beispiel leicht dadurch nachweisen, dass man
den Appell des vorliegenden verbal-visuellen Textes wohl auch dann weitgehend ver-
steht, wenn man der italienischen Sprache nicht mächtig ist und die sprachlichen
Teile deshalb nicht mit in die Deutung einbeziehen kann).
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Abb. 8: ENPA, Ente Nazionale Protezione Animali, Buona Pasqua a chi non
mangerà i neonati, Italien 2013 (www.enpa.it).
Das Wort Neugeborene/neonati, v. a. aber das Bildzeichen ‚Schnullerlamm‘ rufen den
Frame Neugeborenes auf, die mit ihm verbundenen denotativen und deontischen
Wissensbestände: Wenn es in unserem Kulturkreis eine Selbstverständlichkeit dar-
stellt, dass neugeborenes Leben in besonderer Weise zu schützen ist, dann gilt das
auch für Lämmer, deren Eigenschaft des Neugeborenseins den Schutz ihres noch
nicht gelebten Lebens fordert. Und dieser positiv-deontische Schutz-Appell schließt
ein, sie nicht zu töten, in Fleischschalen zu verpacken und, z. B. an Ostern, zu ver-
speisen (Buona Pasqua a chi non mangerà i neonati/Frohe Ostern dem, der die Neu-
geborenen nicht essen wird.) Deutlich zeigt sich hier die ideologische Polysemie bei
der gesellschaftlichen Konzeptualisierung des Referenzobjekts bzw. des Framekerns
Lamm. Die verbreitete Bedeutung von Lamm als Fleisch (das als Lebensmittel dient,
getötet und gegessen werden kann, s. die Fleischverpackung in Abb. 8) steht in Bedeu-
tungskonkurrenz zum hier aufgezeigten Verständnis vom Lamm als neugeborenem
Leben, als Lamm Gottes (Agnus Dei), das in seiner Reinheit, Unschuld und Wehrlosig-
keit zu schützen ist.
Schlagwörter und -bilder haben also gemeinsam: Sie veranschaulichen in kürzest
möglicher Weise, welche Themen im gesellschaftlichen Diskurs eine herausgehobene
Stellung einnehmen, welche Meinungen und Positionen innerhalb der jeweiligen
Diskursgemeinschaft argumentativ vertreten werden. Sie sind in besonderer Weise
„Vehikel von Gedanken” (Hermanns 1994a, 55) und stellen deshalb einen äußerst
relevanten Gegenstand kulturorientierter semantischer Analyse dar, die danach
fragt, wie und in welcher Form sich das Denken, Fühlen, Wollen und Meinen, kurz:
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Mit dieser Ausweitung muss nicht der Verlust oder die völlige Entgrenzung des
linguistischen Gegenstandsbereichs befürchtet werden. Vielmehr kann darin eine
Chance phänomenorientierter pragmatischer Sprachwissenschaft gesehen werden,
die es sich zum Ziel macht, ihre kommunikativen Gegenstände in möglichst holis-
tischer Weise zu beschreiben. Da Sprachgebrauch seinem Wesen nach multimodal
ist, können kommunikative Eigenschaften und Funktionen von Sprache im Gebrauch
nicht isoliert, sondern prinzipiell erst aus dem Zusammenspiel mit und dem Kontrast
zu anderen kommunikativ instrumentalisierten Zeichenressourcen in einer dem Phä-
nomen angemessenen Weise beschrieben werden. Hier eröffnet sich ein weites und
vielversprechendes Feld für zukünftige text- und diskurssemantische Forschung.
6 Literatur
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Multimodale Text- und Diskurssemantik 187
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